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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE
PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
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HERAUSGEGEBEN VON
O. SCHEIBNER UND W. STERN
UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON
A. FISCHER UND H. GAUDIG
XXIV. JAHRGANG
1923
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
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Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig
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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
XXIV. JAHRGANG
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Erziehung und sittlicher Aufbau.
Gedanken über den Beruf unserer Zeit zur Erziehungsreform
und ihre Hemmungen.
Von Aloys Fischer.
Zeiten der Verelendung, der nationalen Not und der gesellschaftlichen
Setzung öffnen den Völkern regelmäßig die Augen für die Notwendig¬
keit und unersetzlichen Werte einer guten Erziehung und der ihr dienen¬
öffentlichen Einrichtungen. Sie sind deshalb fast immer Zeiten,
denen nicht nur ungewöhnlich viel über Erziehung geredet wird,
idern auch in einer Art Hellsichtigkeit vieles Richtige erkannt wird.
i wenigen noch vorhandenen Hoffnungen klammern sich an die neuen
schlechter. In dem Wunsch, sie durch eine veränderte Erziehung
einem Schicksal zu bewahren, wie man es selbst durchleidet, fassen
die besten Regungen einer sonst trostlosen Gegenwart zusammen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist unsere Lage gewiß vergleichbar mit
sner des deutschen Volkes nach dem dreißigjährigen Kfieg oder nach
kdem Zusammenbruch Preußens unter den Napoleonischen Angriffen,
kann sagen, daß die Erziehungsfrage den Mittelpunkt in den Aus-
sungen der öffentlichen Meinung bildet, und man würde ungerecht,
epn man in der Flut der Kritiken und Vorschläge nicht viele gute
sogar ausgezeichnete Gedanken und Anregungen anerkennen wollte.
.Aber Zeiten schöpferischer Tat und wirklicher Erneuerung der Er-
ehungspraxis sind Epochen der Not doch nur unter der Voraussetzung,
die von der Allgemeinheit ergriffenen Ideen triebkräftig und in ihren
idzügen einheitlich sind, mindestens auf eine letzte Einheit kon¬
vergieren, und daß die für die nächste Arbeit maßgebende Generation
moralische Intaktheit bewahrt hat.
Wir spüren alle, daß von Geist, Haltung und Tatkraft der nach-
shsenden Geschlechter die Wendung zum Besseren abhängt, deshalb
ilihen wir uns, die gedanklichen und organisatorischen Grundlagen
eine erneuerte deutsche Erziehung zu legen, kämpfen wir mitein-
Jer um unsere Jugend. Solcher Reformwille lebt nicht nur in jenen,
unsere bisherige pädagogische Tradition, den herrschenden Geist der
iehung für verfehlt gehalten haben und noch halten, sondern auch
denen, die im großen Ganzen den Zusammenhang mit unserer Ver-
snheit nicht zerschneiden wollen. Auch sie sehen ein, daß in einer
^Wesentlich veränderten Weltlage die deutsche Erziehung trotz ihres im
gemeinen richtigen Gehaltes und Geistes nicht unverändert bleiben
Schwärmerische Naturen vollends berauschen sich an dem Zu-
i)ild einer neuen Menschheit und eines neuen Menschen und
f. pädagog. Psychologie. 1
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2
Aloys Fischer
strecken die Hand nach der Erziehung aus, weil sie damit den Hebel
erfassen, der die Maschinerie der Entwicklung in die von ihnen er¬
träumte Richtung entscheidend dirigiert. In allen politischen Lagern
die gleiche Einsicht und trotz aller Gegensätzlichkeit der Ziele der gleiche
Wille, die deutsche Erziehung neu zu gestalten! Diese formale Ein¬
mütigkeit ist jedenfalls beachtlich als Symptom dafür, daß unsere Gegen¬
wart Anlässe hat, dem Erziehungsproblem nachzusinnen und nachzu¬
gehen; temporäre Anlässe jene, die nur in der erziehungszerstörenden
Wirkung der Kriegs- und Nachkriegszeit den Feind erblicken, der über¬
wunden werden muß, tiefere jene, die in dem vielfach elementar sich
regenden Gesinnungswandel einer in Bewegung geratenen Jugend den
hoffnungsvollen Keim einer durch umgestaltete Erziehung zur Reife zu'
.bringenden Erneuerung des deutschen Menschen begrüßen oder den
schon organisch werdenden Anfang der Zuchtlosigkeit und des Verfalls
durch eine, ebenfalls nicht mehr in den bisherigen Formen ausreichenden
Erziehung bekämpfen, die tiefsten jene, die in unserer geistigen Lage
nur eine Teilerscheinung der geistigen Krisis Europas erblicken und
der Erziehung die Macht Zutrauen, den „Untergang des Abendlandes“
zu beschwören.
Vergleicht man mit diesen hochgestimmten Ansprüchen an die Er¬
ziehung und mit der einmütig erkannten Notwendigkeit ihrer vertiefenden
Reform die praktische Arbeit dazu, so kann man irre werden an dem
Glauben, daß unsere Zeit den Beruf und die geistige Schöpferkraft zur
Erziehungsreform besitze. Die Anläufe und Versuche bleiben vereinzelt,
liegen vielfach auf sekundären, methodischen und organisatorischen
Gebieten, und die für die Praxis ausschlaggebende Umstellung des ein¬
zelnen Erziehers, er sei dies als Vater oder Mutter, als Lehrer oder
Seelsorger, als Verwaltungsbeamter oder nur als beispielgebender Er¬
wachsener ohne ausdrückliche Erziehungsaufgabe, ist in der ungeheuren
Mannigfaltigkeit der unerfreulichen Erscheinungen des Lebens der Gegen¬
wart ohne die Diogeneslaterne kaum noch zu entdecken.
Die Hemmungen, welche der praktischen Erziehungs- und Schulreform
auf Schritt und Tritt begegnen und heute schon so viel Enttäuschungen
gebracht haben, daß mancher, der vom Beruf unserer Zeit zur Schul¬
reform innerlich durchdrungen ist, anfängt an ihrer Fähigkeit dazu
zu zweifeln, müssen ihre Ursachen wenigstens zum Teil auch im Geistes¬
zustand der heute verantwortlichen Generation haben. Ich will nicht
über uns jetzt lebenden Menschen zu Gericht sitzen; selbst einer von
ihnen fühle ich dazu weder Fähigkeit noch Recht. Ich glaube, daß auch
heute noch viele 'Menschen in unserem Volke ehrlich das Gute wollen,
weil es das Gute ist, nicht weil es ihnen Vorteil oder Macht bringt;
ich glaube, daß auch noch viele Menschen unverblendet genug sind,
echte Werte von solchen zu unterscheiden, die sich nur durch die „Be¬
leuchtung“ (z.B. der Parteigedanken oder der jeweiligen politischen Tages¬
situationen) als Scheinwerte präsentieren. Ich habe keinen entscheidenden
Grund zu der Annahme, daß der menschliche Faktor in unserem Vater¬
lande geringwertiger sei als bei anderen Völkern und zu unserer Zeit
geringer als je in einer Vorzeit. Denn auch in jeder Vorzeit waren die
Fackelträger und großen Uneigennützigen nicht in Massen vorhanden.
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Inhaltsverzeichnis,
A. Abhandlungen.
Seite
faiWiWig und sittlicher Aufbau. Gedanken über den Beruf unserer Zeit zur Erziehungs¬
reform und ihre Hemmungen. Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer in
München. 1
Das Pordenmgsrecht der Schule gegenüber der Nation. Von Oberstudiendirektor Pro¬
fessor Dr. H. Gaudig in Leipzig.19
Ks p sr im entalpsychologie und Pädagogik. Von Privatdozent Dr. M. Honecker in Bonn 22
Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend. Von Universitätsprofessor
Dr. W. Stern in Hamburg.34
ftkm die Motive der Berufswahl und des Berufswechsels. Von Dr. A. Argeiander
in Mannheim.46, 98
Ein BUder-Ordnungstest Von Lehrer Dr. 0. Mann in München.51
Sehfllerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen. Von Studienrat Dr. Fr. Malsch
in Weidenau-Sieg. 56
Me Erforschung des Erziehungszwecks. Von Studienrat Professor Dr. J. Kretzschmar
in Leipzig.81
Wesen und Arten der Fehler. Von Oberstudiendirektor H. Weimer in Biebricha.Rh. 84, 267, 353
üatersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde. Von Studien¬
lehrer J. Filbig in Amberg.105, 156
Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung. Ein Beitrag zur kultur¬
pädagogischen Reform. Von Dr. W. Saupe in Leipzig.129
Bas Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen. Von Amtsgerichtsrat Dr. W. Hof f-
mann, Jugendrichter in Leipzig.138
Ober Zahlsynopsien. Von Prof. Dr. A. Fischer in Zürich.152
Erfahrungen bei den Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für
Jugendkunde. Von Institutsleiter Dr. Th. Valentiner in Bremen . . . 169, 238
Bas Problem der psychischen Strukturen. Von Studienrat Dr. Julius Wagner, Dozent
a. d. Universität Frankfurt a. Main. 193
Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern.
Von Rektor A. Franken in Brackwede.209
Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr. Von H. Klüver in Hamburg .... 215
Zar Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung.
Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer in München.. 219
Grundfragen der Denkpsychologie. Von Studienrat Dr. Karl Reumuth in Leipzig . . 257
P by chol ogie der frühen Kindheit und Psychoanalyse. Von Universitätsprofessor Dr. W. S t e r n
in Hamburg.282
Bas Obergangserlebnis und der Vergleich. Von Kreisscbulrat E. Hy 11a, Hilfsarbeiter im
Ministerium für Volksbildung in Berlin.296
Bftwuif einer systematischen Typologie des Bilderbuches. Von Dr. Julius Schneider
in München.324
Ae Vorstellungsentfaltung und ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzung and Schul¬
leistung. Von Stndienrat Dr. Fritz Malsch in Weidenau-Sieg.345
Är Tbaotio des Stotterns. Von Universitätsprofessor Dr. Aloys Fischer in München 372
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UNIVERSUM 0F MICHIGAN
VI
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Verfasser.
Argeiander, Anneliese
Seite
. ... 46, 38
Kretzschmar, Johannes
Seite
. . . . 81
Filbig, Joseph ....
. . . 105, 166
Malsch, Fritz ....
... 56, 345
Fischer, Aloys ....
. . 1, 219, 372
Mann, O.
... 51
Fischer, Arthur ....
.152
Reumuth, Karl . . .
... 257
Franken, August . . .
.209
Saupe, Walter . . .
... 129
Gaudig, Hugo. . . , .
.19
Schneider, Julius . .
• •
... 324
Hottmann, Walther . .
.138
Stern, William . . .
. . 34, 282
Honecker, Martin . . .
.22
Valen^iner, Theodor
. .169,238
Hylla, Emst.
. .... 296
Wagner, Julius . • . .
... 193
Klüver, Heinrich . . .
.214
Weimer, Hermann . .
• •
. 84, 267, 353
B. Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Seite
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung.115
Aufnahme- und Beobachtungsstation der Landesanatalt Chemnitz-Altendorf.118
Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer in Bayern.181
Erziehungswissenschaftlicher Interessenbegriff.113
Fürsorge für sprachkranke Schüler in Wien.180
Frankfurter Reform Volksschulen.116
Geistige Jugendpflege durch die Jugendämter. 176
Institut für Jugendkunde in Bremen.249
Kritische Darstellung der Methoden zur Erforschung der Lehrerpersönlichkeit ... 62
Nachrichten. 71. 118, 183, 251, 313, 378
Nachruf auf Hugo Gaudig.321
Pädagogisches Institut der Stadt Wien.182
Professur für Heilpädagogik. 304
Provinzialabteilung für praktische Psychologie Münster i. W... 305
Psychologische Beobachtung der Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht . . . 179
Psychologisch-pädagogisches Laboratorium in Amsterdam.312
Psycho-pathologlsches Schema.304
Richtlinien zur Aufnahme in die Hilfsschule.244
Sexuelle Erziehung der Jugend. 68
Stellipig der Gewerbeschüler zum Unterrichtsfach.178
Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie in der Gesellschaft für angewandte
Psychologie.69
Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M.. . . . 81
Wahrnehmung der menschlichen Lautsprache durch den Tastsinn T.303
Wilhelm Wundt zu Ehren. 70
Inhalt der Nachrichten.
Seite
v. der Aa, Prof.183
Akademischer Ferienkursus in München 251
Akademische Lehrerausbildung .... 184
Bogen, Hellmuth.119
Bühler, Karl.72
Cornelius, Hans.378
Deuchier, Gustav.183
Eitz, Karl.313
Frischeisen-Köhler, Max.378
Giese, Fritz.313
Institut für angewandte Psychologie in
Berlin.184
Institut für experimentelle Pädagogik
und Psychologie in Leipzig . ... 71
Seite
Institut für praktische Psychologie in Halle 314
Institut t Wissenschaft]. Pädag. Münster 71
Jerusalem, Wilhelm.378
Kafka, G.72
Kongreß der internationalen Gesellschaft
für vergleichende Individualpsychologie 119
Kongreß für Ästhetik.251
Kongreß für Individual Psychologie . . 251
Kongreß für Logopädie.119
Kroh, Oskar.72, 183
Landesbeirat für Jugendpflege . ... 184
Lehrerbildung in Thüringen.184
Lehrgang für Jugendwohifahrtspflege . 184
Montessori-Kinderhaus.184
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UNIVERSETY 0F MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis
VII
Seite
Mnsikpädagogisches Forschungsinstitut . 313
Peters, Wilhelm.183
Petersen, Peter.378
Pädagogische Ausbildung der Philologen 251
Pädagogische Ferienkurse in Jena . . 184
Pädagogische Gesellschaft in Mannheim 71
Pädagogisches Institut in Dresden. . . 251
Pädagogisches Institut Wien. / . . . 119
Pädagogische Preisaufgabe . . . . 72, 119
Pädagog.-peychol. Institut Amsterdam . 251
Seite
Pädagog.-psychol. Institut München . 71, 251
Psychologische Ausstellung.118
Psychologischer Schulberater .... 184
Scbeibner, Otto . , ..378
Scheunert, Karl Arthur.251
Schneider, Friedrich.183
Schneider, Hermann ..378
Sganzini, Prof.183
Toischer, Wendelin.313
Zentralinstitut für Erzieh, u. Unterricht . 118
C. Literaturbericht.
Seite
Apfelbach, Das Denkgefühl.127
Behrend, Felix, Bildung und Kulturgemeinschaft.124
Bernhard, Ernst Adolf, Psychische Vorgänge betrachtet als Bewegungen.190
Bernadt, Karl, Fest und Arbeit.192
Blanm, Riebesell, Storck, Reichsjugeid-Woblfahrtsgesetz.320
Böhme, Edwin, Das Kind und seine Pflege.319
Bopp, Linus, Moderne Psychoanalyse, katholische Beichte und Pädagogik ...... 187
Bühl er, Charlotte, Quellen und Studien zur Jugendkunde.125
Bürckstümmer, Christian, Das „Erleben“ im Religionsunterricht.191
Cohn, Jonas, Führende Denker.. 75
Dahl, F., Vergleichende Psychologie.72
Danzel, Th. W., Prinzipien und Methoden der Entwicklungspsycbologie.254
Dix, Kurt Walther, Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes.882
Descoudres, Alice, Le döveloppement de l’enfant de deux k sept ans.76
Epstein, Max, Die Erziehung im schulpflichtigen Alter nach der Grundschule .... 122
Faßbender, Martin, Wollen eine königliche Kunst...381
Frank, Ludwig, Seelenleben und Rechtsprechung.126
diese, Fritz, Psychologisches Praktikum.* 253
Groos, Karl, Das Seelenleben der Tiere.186
Grueber, Erwin, Einführung in die Rechtswissenschaft.879
Haase, K., Die psychologischen Strömungen der Gegenwart..253
Häberiin, Paul, Der Leib und die Seele..\.315
Häberlin, Paul, Wege und Irrwege der Erziehung ..256
Hart mann, Eduard v., Phäenomenologie des sittlichen Bewußtseins.252
Heman-Moog, Geschichte der neueren Pädagogik.317
Herwagen, Karl, Der Siebenjährige.76
Heymans, G., Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens.190
Hildebrand, Rudolf, Vom deutschen Sprachunterrichte in der Schule und von deutscher
Erziehung und Bildung überhaupt.191
Hag, Oskar, Zur Biologie der Leibesübungen...191
Httth, Albert, Die Münchner Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer ... 79
Kammel, Willibald, und Sigmeth, Melanie, Experimentelle Untersuchungen über die
mimischen Ausdruckssymptome der Aufmerksamkeit.77
Katz, David, Der Vibrationssinn. 383
Kawerau, Siegfried, Das Weißbuch der Schulreform.320
Kerrl, Die Lehre von der Aufmerksamkeit . ..255
Kesseler, Dr. K., Die deutsche Nationalerziehung in ihren wichtigsten Vertretern . . 319
Kiener, Wolfgang, Staatsbürgerliche Erziehung als Unterricht.191
Kiesow, Wilhelm, Jugendgerichtsgesetz.320
Kroh, Oswald, Subjektive Anscbauungsbilder bei Jugendlichen.254
Lange-Ltiddeke, A., Zur Psychologie des Psychographierens.318
Landesarbeitsamt Sachsen-An halt, Psychologisches Beobachten für die Berufsberatung 79
Labmann, Rudolf, Die deutschen Klassiker.119
Lagrün, Aloys, Die Schülerschrift in zeitgemäßer Betrachtung.128
Lipmann, Otto, Bibliographie zur psychologischen Berufskunde.319
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VIII
Inhaltsverzeichnis
Seite
Liepmann, W., Psychologie der Frau.. 187
Lüdtke, Franz, Menschen um 18. . 76
Lutz, Karl, Tierpsychologie.186
Meier, Matthias, Der Seelenbegriff in der modernen Psychologie.127
Meyrich, O., Pflichtstunden und Arbeitstag der Lehrer .... ..317
Moede, Walter, Experimentelle Massenpsychologie.124
Mönkemöller, Otto. Die geistigen Krankheitszustände des Kindesalters.127
de Montet, Cb., Medizinische Psychologie... 186
Münch, Elsa, Sexuelle Belehrung der Kinder.191
Nitzsche, Max, Der bunte Vogel. 189
Pallat u. Hilker, Künstlerische Körperschulung.316
Pauli, R., Psychologisches Praktikum..318
Peters, Ullrich, Die soziologische Bedingtheit der Schule.317
Pfister, Oskar, Was bietet die Psychoanalyse dem Erzieher.318
Prandtl, Antonin, Einführung in die Philosophie.186
Prüfer, Johannes, Die Kinderlüge — ihr Wesen, ihre Behandlung und Verhütung . . 128
Reformabteilung des Österreichischen Unterrichtsamtes, Anleitung zur Führung
der Schülerbeschreibung. 78
Rothe, Karl Cornelius, Die Sprachheilkunde, eine neue Hilfswissenschaft der Pädagogik 319
Rühle, Otto, Kind und Umwelt.•.127
Sauer, Wilhelm, Werkunterricht.320
Scharrelmann, Heinrich, Bausteine für intime Pädagogik.190
Scharrel mann, Heinrich, Die Technik des Schilderns und Erzählens.126
Schmeing, Karl, Freie Rede.319
Schneider, Ernst, Über das Stottern.372
Schneider, Friedrich, Schulpraktische Psychologie.126
Sch renk, Johannes, Aussagepsychologie. Eine Darstellung der wichtigsten experimentellen
Untersuchungen, ihrer Methoden, Ergebnisse und Aufgaben.188
Schweizer Bund, Soziale Erziehung.128
Smiles, Samuel, Der Charakter. 881
Siemsen, Anna, Erziehung und Gemeinschaftsgeist.192
Spranger, Kultur und Erziehung.314
Stark, Jodoc, Über den Bildungswert des Geschichtsunterrichts.266
Stern, Erich, Einleitung in die Pädagogik.80
Strohmayer, Wilhelm, Die Psychopathologie des Kindesalters.316
Suter, Intelligenz und Begabungsprüfungen.189
Tews, Joh., Elternabende und Elternräte.192
Thorndike, Edward L., Psychologie der Erziehung. 73
Thurau, Elfriede, Die rhythmische Gymnastik in der Schule.191
Verweyen, J. M., Form als Wesensausdruck.123
Verweyen, J. M., Neuere Hauptrichtungen der Philosophie. 76
Vorländer, Karl, Französische Philosophie.318
Weltjugendliga, Erziehung zum Menschentum. 320
v. Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens . . ..384
Zeißig, Emil, Vorbereitung auf den Unterricht.192
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, Theorie und Praxis der
Arbeitsschule.74
Ziehen, Theodor, Das Seelenleben der Jugendlichen.186
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Erziehung und sittlicher Aufbau
3
Wenn aber das Werk der reinigenden und vertiefenden Umgestaltung der
deutschen Erziehung trotz aller Konferenzen, Beschlüsse und Reden
praktisch so wenig fortschreitet, so müssen wir dafür doch ein Moment
in unserem geistigen Zustand verantwortlich machen, die Unlust: alle
persönlichen Konsequenzen aus unserer Einsicht zu ziehen. Die Er¬
ziehung eines Volkes wird nicht erneuert, wenn nur schöne Ideen ver¬
kündet, lockende Ziele auf gestellt werden, sondern wenn die Generationen,
die als relativ reife höhere Verantwortung tragen, so leben, daß die
nachwachsenden sich an ihnen sicher zu orientieren ver¬
mögen. Der sittliche Aufbau durch die Erziehung kann nicht anfangen,
wenn nicht die Lebenswelt der Erwachsenen den Boden bereitet und
das Gehege bildet. Anders reißt das Vorbild ein, was Zucht und Lehre
aufbauen wollen. Wir haben uns an ein eigentümlich verhängnisvolles
arbeitsteilig-technisches Denken gewöhnt, das für das Gebiet der Er¬
ziehung sicher zur Verkennung statt zur Meisterung der Wirklichkeit
führt Viele, die für eine Reform der Erziehung stimmen und agitieren,
meinen, die Durchführung ginge nicht sie mehr an, sondern die pädago¬
gischen Fachleute, die Berufserzieher und Lehrer. Es ist hier nicht der
Ort, den Ursachen der Entstehung eines eigenen reichgegliederten päd¬
agogischen Berufsstandes nachzugehen und allgemein den Wert oder Un¬
wert dieser soziologischen Tatsache zu diskutieren, eine Wirkung muß ich
aber hervorheben, weil sie gerade für das Verständnis unserer Lage ent¬
scheidend ist: Die Erziehung als allgemeine Menschenpflicht und Men schen-
leistung wird im Denken einer Gesellschaft mit hoch entwickeltem Lehr¬
stand leicht verdunkelt; das allgemeine Gefühl der Verantwortlich¬
keit für die Jugend wird eingeschläfert, wenn man glaubt, daß es nur
den amtlichen und privaten Berufserziehem zukomme, nicht allen er¬
wachsenen Gliedern einer Gesellschaft. Es ist sicher unrichtig zu denken,
eine Gesellschaft tue als Erziehungsgemeinschaft ihre Pflicht, wenn sie
einen eigenen pädagogischen Berufsstand schafft, ausliest und vorbildet
und ihm dann als ihrem Organ allein die Wahrnehmung ihrer Erziehungs¬
pflichten und Erziehungsaufgaben überträgt; eine Gesellschaft tut ihre
Pflicht als Erziehungsgemeinschaft nur dann, wenn auch jeder einzelne
Erwachsene an seinem Ort und in seiner Lebensführung mit dafür Sorge
trägt, daß der Geist des Ganzen ein richtiger und gesunder bleibt
oder wird.
So muß auch die Reform der Erziehung damit anfangen, daß wir Er¬
wachsenen alle uns unserer Verantwortlichkeit vor der Jugend und für
die Jugend bewußt werden, unserer Erzieherpflichten nicht nur als
Eltern und Lehrer, sondern als Bürger und Vorbilder. Der Wille zur
Reform verpflichtet; die Reform kann nicht behördlich angeordnet, nicht
von den Berufserziehem sozusagen referatsmäßig durchgeführt werden,
wenn wir anderen alle fortfahren, die letzten heute noch gemeinsamen
sittlichen Ideen praktisch zu verraten und preiszugeben. Jeder Mensch,
der im kleinsten Kreis, in seiner Berufsarbeit, in seiner Familie, in
seiner Vereinstätigkeit, in seinem Verkehr, von Not und Unmut un¬
beirrt, den beschwingenden Glauben an beste objektive Werte festhält
und zur Richtschnur seiner Lebensführung und Pflichterfüllung macht,
bereitet die Reform der Erziehung vor, wirkt sie, auch wenn er von
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
Aloys Fischer
den Ideenkämpfen nichts weiß, zu denen sie Anlaß gibt, in sie einzu¬
greifen weder Fähigkeit noch Willen hat Die sittliche Selbsterziehung
der Erwachsenen ist die Voraussetzung für den sittlichen Aufbau
durch die Jugenderziehung und ein Mittel, innere Hemmungen der
Erziehungsreform zu überwachsen. Ohne die bewegenden Kräfte der
sittlichen Selbstzucht bleibt der Ruf nach Reform leere Deklamation.
Ist so ein Mangel an Tatfreude, an sittlichem Aktivismus bei uns selbst
ein Hindernis des Aufbaus, so leiden unsere pädagogischen Reform¬
absichten unleugbar auch unter den Hemmungen unserer außen¬
politischen und materiellen Lage. Um nicht in Gefahr zu geraten,
als Voreingenommener zu sprechen, führe ich ein Wort Francesco Nitti’s
an, das den unlöslichen Zusammenhang der gegenwärtigen Erziehungs¬
zustände mit unserer Wirtschaftslage unzweideutig kennzeichnet. Er
schreibt: „Die Ausländer, die nach Deutschland kommen, werden sich bei
der äußerlich gefaßten Haltung der Bevölkerung der Lage kaum bewußt.
Aber der Hunger greift immer mehr um sich, und die Schließung von
Erziehungs- und'Hilfsanstalten geht immer weiter. Die Lage der Kriegs¬
verstümmelten und Arbeitsunfähigen wird täglich furchtbarer, da die
Staatshilfe nicht ausreicht und die Familien verarmt sind. Die Schulärzte
finden täglich mehr Kinder, die keine Wäsche mehr tragen oder monate¬
lang dieselbe Wäsche tragen müssen. So wird das Problem der Existenz
stets unlösbarer, und der Haß gegen die Bedrücker steigt .täglich, sei
es im Volk, das nach stets extremerer Demokratie drängt, sei es bei
den reaktionären Parteien, die auf Rückkehr des alten Regimes hinarbeiten.
Über dieser Wirtschaftstragödie schwebt drohend das Problem der
Reparationen; Deutschland weiß nicht, was es geben soll; es weiß nur,
daß es nicht geben kann, was man verlangt, und daß man es verlangt,
nur um es zu erwürgen. Dieses Bewußtsein verbreitet sich immer mehr,
zugleich mit dem Entschluß zum Widerstand, des passiven Widerstandes
gegen die Gewalttat, der sich immer mehr zum wachsenden Haß verdichtet.“
Über den auf Zerstörung unserer Wirtschaft und unserer politischen
Einheit gerichteten Tendenzen des Friedens von Versailles wird seine
m. E. entscheidendste und tötlichste Tendenz gegen unsere Kulturarbeit
und ihre Grundlagen, die deutsche Erziehung, zu wenig beachtet. Nach
dem erklärten Willen Frankreichs kommt es ihm zunächst darauf an,
die deutsche Wissenschaft, Kunst, Technik, kurz Kulturarbeit, je länger
je endgültiger von der fruchtbaren Wechselwirkung mit der übrigen Welt
abzuschnüren, durch die Kontrolle unserer Kulturausgaben ihr die
materiellen Mittel zu weiterer gesunder Entfaltung, nach und nach auch
zur bloßen Erhaltung zu entziehen, um nach zwei oder drei Jahrzehnten
auf die tatsächliche Zurückgebliebenheit des deutschen Geisteslebens
hinter dem der übrigen Kulturnationen hinweisen zu können und so alle
die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die heute noch in gerechterer
Würdigung des Anteils Deutschlands am Geistesleben Europas und im
Vertrauen auf seine Kulturkraft gegen den Vernichtungswillen Frankreichs
heimlich oder öffentlich protestieren. Frankreich verfolgt eine Politik,
die ihm in absehbarer Zeit gestatten soll, diesen Glauben an den deutschen
Geist als Irrtum zu erweisen; um dieses Ziel zu erreichen, muß es die
deutsche Erziehung entscheidend treffen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Erziehung und sittlicher Aufbau
5
Wir dürfen uns darüber nicht täuschen. Schon heute ringt die deutsche
Wissenschaft und die deutsche Hochschule mit einer Not, die ihre Er¬
haltung in Frage stellt. Sinkt aber die Höhenlage der Forschung und
wissenschaftlichen Lehre, so ist die Folge eine weniger leistungsfähige,
eine sinkende Beamten- und Lehrerschaft. Mit ihr mindert sich die
Höhenlage der deutschen Mittelschule, deren ständig wachsende Kosten
überdies heute schon immer mehr Schüler, oft gerade die begabten und
energischen, zum Abbruch ihrer Studien nötigeh und immer mehr Familien
zwingen, ihre Söhne und Töchter einem rascheren Broterwerb zuzuführen.
Lebenserfahrene Schulmänner fast aller größeren bayrischen Städte
erzählen mir übereinstimmend von dep sich mehrenden Fällen, in denen
die begabtesten Schüler der oberen Klassen, die zur Reife zu bringen
ursprünglich in der Absicht der Eltern lag und von den Lehrern warm
befürwortet wird, mitten im Schuljahr in eine praktische Tätigkeit, eine
Banklehre, eine Kanzlei übersiedeln: Viele Eltern erklären unverhohlen,
sie ließen ihre Kinder nur noch die Schule besuchen, weil sie im Augen¬
blick keine lohnende Arbeit für sie wissen und sie nicht bummeln sehen
mögen, sie seien aber genötigt und entschlossen bei der ersten greif¬
baren Gelegenheit den Bildungsgang derselben abzubrechen. In anderen
Fällen ist festgestellt worden, daß begabte Schüler, die ohne viel häus¬
liche Arbeit mitzukommen in der Lage sind, ihre schulfreie Zeit ganz
dem Erwerb widmen. Sie wollen die Schule nicht ganz preisgeben, in
der Hoffnung, einmal vielleicht doch studieren zu können, sie können
sich ihr aber auch nicht rein und sorgenlos überlassen, weil die Familie
ihre mitwirkende Arbeitskraft benötigt. Werden solche Erscheinungen
noch mehr die Regel, so kann sich jeder ausrechnen, daß wir vor der Gefahr
stehen, unsere gehobenen und selbst unsere studierten Berufe mit An¬
wärtern überflutet zu sehen, die halb vorgebildet sind, deren Reife in
mancher Beziehung nur Schein sein kann.
In unseren Fachschulen beobachten wir dieselbe unheilvolle Erscheinung
einer erzwungenen und in ihren Folgen zerstörenden Sparwirtschaft der
Kommunen und des Staats, einer immer weiter um sich greifenden Inter¬
esselosigkeit der erwerbenden und arbeitenden Stände an einer die Höhe
unserer Produktion garantierenden langdauernden und vertieften fachlichen
Ausbildung und einer notgedrungenen oder leichtsinnigen Überschätzung
der oft ebenso hoch bezahlten Gelegenheitsarbeit. Bei einer weiteren
Entwicklung dieser Verhältnisse ist der Zeitpunkt nicht mehr fern, in
dem der deutschen Wirtschaft das Rückgrat, der solid gebildete Arbeiter,
der qualifizierte Arbeiter fehlt. Die Jugend hat es heute vielfach nicht
mehr nötig, in harter Lehre und langer Schule gründlich zu lernen; sie
will es z. T. nicht mehr, und sie kann es auch nicht mehr, entweder aus
Körperschwäche oder weil die Schulen nicht mehr in der Lage sind, die
Mittel für eine bessere Ausbildung bereitzustellen.
Ich führe für die Bedrohung unserer Arbeitsqualität durch den er¬
zwungenen Verfall unseres fachlichen Bildungswesens und das schwin¬
dende Interesse der Arbeiterschaft an einer gediegenen Ausbildung nur
die Schwierigkeiten an, die es dem bisher an der Spitze marschierenden
Fortbildungsschulen Münchens macht, für die Schneider, Schuster, Tape¬
zierer die nötigen Materalien zu beschaffen, an denen gelernt und geübt
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werden kann; selbst die Fachschulen für Holz- und Metallbearbeitung
leiden bereits unter dem Mangel an Material und Werkzeugmaschinen.
Kontrollen der Fertigfabrikate in Großbetrieben ergeben vielfach, daß
Werkstücke, die früher von den Arbeitern selbst, jedenfalls aber von
den Prüfern und Käufern zurückgewiesen worden wären, heute passie¬
ren müssen, wenn sie nicht geradezu unverkäuflich mangelhaft sind. Ich
habe selbst in diesem Sommer in den von einer berufsstolzen Fach¬
arbeiterschaft bevölkerten Kristallglashütten des bayrischen Waldes
beobachtet, wie unter dem Warenhunger der Welt die Qualität der Produk¬
tion selbst gegen den Willen der Arbeiter sich mindert und die Lehrlinge
vielfach nicht mehr Gelegenheit und Zeit genug haben zu lernen, was
ihre Meister heute noch können, aber auszuführen immer seltener den
Auftrag erhalten.
Schließlich wird das Fundament der deutschen Erziehung, die Bildungs¬
arbeit der Volksschule und der Familie getroffen. Trotz aller Liebe zu
ihren Kindern und allen heute noch lebendigen Interesses an ihrer guten
Erziehung brir gt die deutsche Familie mit ihrer sinkenden Lebenshaltung
immer weniger die Mittel auf, die für eine bescheidene Pflege und durch¬
greifende Erziehung nicht entbehrt werden können, wird sie nach und
nach anfangen, auch schon die Kinder der Schule zu entziehen.
In einzelnen ländlichen Bezirken Bayerns hat die Bevölkerung den
Schulstreik durchgeführt, um zu erzwingen, daß die Zahl der täglichen
Schulstunden herabgesetzt werde. Der Bauer will heute die beträchtlich
hohen Löhne nicht arf fremde Dienstboten zahlen und entzieht lieber
seine Kinder der Schule. Noch bekannter ist der Widerstand gegen die
Verlegung des Fortbildungsunterrichts auf die Werktage, der denselben
Motiven entspringt. Ein sehr einsichtiger Mann unserer Volksschul¬
verwaltung erklärte mir, daß die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht,
wenn sie heute erst zu beschließen wäre, von der ländlichen Bevölke¬
rung zweifellos in großem Umfang bekämpft werden würde. Wie soll
ein Volk seine Erziehung verbessern, das alle Mühe hat, sie über¬
haupt zu erhalten?
Allenthalben erhebt die Not den Ruf nach schaffenden und leider
auch bettelnden Kinderhänden, bröckelt sie langsam ein kleines Stück
nach dem anderen von dem, wenn auch nicht immer und alle befriedigen¬
den, so doch recht stattlichen deutschen Schulhaus ab. Und interessanter¬
weise glauben manche Reformer, daß die Verarmung gerade unser
Segen sei, weil sie uns zwinge, mit dem kleinsten Kraftmaß die größten
Wirkungen, mit dem geringsten Aufwand die tiefste, innerlichste Bildung
zu schaffen. Der wirtschaftliche Aufstieg und der Reichtum in seinem
Gefolge habe uns veräußerlicht, entsittlicht, geistig verflacht; die Armut
werde uns mit einem anderen, dem geistigen, sittlichen und kulturellen Auf¬
schwung segnen. Ich will nichts zur Ehrenrettung des Reichtums sagen,
aber daß erzwungene Armut gerade sittigender wirke, müßte auch erst
bewiesen werden. Und außerdem: nicht Armut überhaupt in einer die
Freiheit des Geistes und die Muße der produktiven Kräfte noch ermög¬
lichenden Form steht uns bevor, ist uns zugedacht, sondern die erdrosselnde
Armut der bis zum letzten ausgebeuteten Besiegten, denen man mit
der Möglichkeit einer guten Erziehung jede Hoffnung auf Erholung
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Erziehung und sittlicher Aufbau
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nimmt, bis sie stumpf geworden wie Fellachenvölker schließlich darein¬
willigen, keinen andereh Zweck zu haben, als für ihre Fronvögte zu
schuften und zu darben.
Wenn heute noch angesichts dieser raffinierten Psychologie des Ver¬
nichtungsfriedens von vielen aus der Not eine Tugend gemacht wird
and die Verbindung von wirtschaftlicher Kinderarbeit und Geistesbildung
geradezu als der Kern der langersehnten „Produktionsschule“ gefeiert
wird, so möchte ich doch daran erinnern, daß wir die Produktionsschule,
zu der die Not zwingt, eigentlich hinter uns haben, nicht vor uns sehen
sollten. Es ist noch nicht viele Jahrzehnte her, daß die Masse der Volks¬
kinder, wie Joh. Tews scharf, aber richtig gesagt hat: „der Produktions¬
schule auf der Viehweide, den Rübenfeldern, in der Holz- und Beeren¬
lese, in den Heimarbeitshöhlen, in den Fabriksälen entrissen wurde“ und
wenigstens einige Kinderjahre in den hellen Zimmern eines Schulhauses,
wie unsere Väter und Vorväter meinten, eine bessere Geistes- und
Gemütspflege zu genießen als in jener rohen Verbindung von Arbeit
und Erziehung. Wenn unsere Hochschüler heute als Werkstudenten ihr
Leben fristen, um nicht betteln zu müssen wie der mittelalterliche Vagant,
so mag das uns für künftige Zeiten durchaus zugute kommen, aber es
zum System zu erheben und in den festen Plan einer aus Arbeit und
Studium wunderbar gemischten Erziehung zu bringen, wird nur der
begnadete Einzelne vermögen.
Ich weiß nicht, ob sich die weitere Öffentlichkeit des Zusammenhangs
unserer Erziehungslage mit unserer durch Versailles beherrschten poli¬
tischen Situation schon so bewußt geworden ist; deshalb wollte ich mit
Nachdruck auf die Hemmung eines sittlichen Aufbaues durch eine gründ¬
liche Erziehung hinweisen, die weniger im Wortlaut, als hinter den
Zeilen dieses Friedensvertrags als Tendenz zur Vernichtung des deutschen
Elements in der Kultur lebt. Wir klagen darüber, daß die politische und
wirtschaftliche Bedrückung, die Entrechtung und Herabwürdigung eine
t atsächliche Bedrohung unserer Kultur darstelle; wir müssen erkennen,
daß es sich hier nicht um eine vielleicht unbeabsichtigte, wenn auch
notwendige Folge der anderen Friedensbedingungen, sondern um die
letzte und tiefste Absicht handelt, die den Frieden diktiert hat. Ich
bezweifle, ob allen Urhebern des Friedens dieses Ziel Frankreichs deut¬
lich gewesen ist; die mißbilligenden Stimmen auch aus den Ländern
unserer Feinde zeigen, daß ihnen erst nachträglich und noch immer
nicht entscheidend die schließlich unsere Jugend leiblich und geistig
mordende Tendenz zu Bewustsein kommt. _
Die entscheidenden Taten in der Erziehungsreform, vor allem in der
Ausgestaltung unseres öffentlichen Bildungswesens, bleiben bis heute
aus, weil wir sie nicht tun dürfen, nicht tun können. Wir dürfen
sie nicht tun, denn eine Konsolidierung und Verbesserung der deutschen
Jugenderziehung wurde von den Feinden als möglicher Ausgangspunkt
einer Erholung Deutschlands vorausgesehen und deshalb durch den Geist
des von ihnen festgesetzten Friedens verboten. Wir können sie nicht
tun, weil alle Erübrigungen unserer Wirtschaft, die uns sonst zu Kultur¬
leistungen befähigten und unsere Erziehung ermöglichten, uns unter dem
Titel der Sühne und Reparation genommen werden.
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Aloys Fischer
Während unsere Erziehung Hand in Hand mit unserer Lebenshaltung
unaufhörlich sinkt, von den die Grundlagen der Stetigkeit und Produktivität
des geistigen Lebens gewährleistenden Hoch- und Spitzenschulen bis zu
den das allgemeine Fundament legenden Erziehungsstätten des deutschen
Hauses und der deutschen Volksschule herab, gewinnen andere Länder
und Völker mit ihren prosperierenden Wirtschaften einen immer größeren
Vorsprung vor uns, zum Teil mit den persönlichen Kräften aus unserem
eigenen Volk, die wir nicht mehr zu ernähren und zu halten vermögen.
Ich will auch hier nur einige Beispiele zur Illustration anführen, um zu
zeigen, wie entschlossen andere Völker Europas die Erziehung in den
Dienst ihrer Kulturstellung nehmen.
Unmittelbar nach dem Krieg haben Belgien, Frankreich und Italien
nationale Erziehungsgesetzwerke zum Abschluß gebracht, in deren
Auswirkung eine gewaltige Hebung der Volksbildung, der Wirtschafts¬
und Wehrkraft dieser Länder liegt. Und vor allem hat die amerikanische
Nation, schon vor dem Krieg von dem unersetzlichen Wert der Erziehung
als Staatsfaktor durchdrungen, unermüdlich weitergearbeitet. Die Welt¬
geltung der deutschen chemischen Industrie beruhte auf etwa ejnem
Dutzend Betrieben von der Größe der badischen Anilin- und Sodafabrik;
während des Krieges hat Amerika 60 Werke von diesen Dimensionen
erbaut. Gewiß ist nicht nur die Massenhaftigkeit der Erzeugung aus¬
schlaggebend, sondern die vom wissenschaftlichen Fortschritt abhängende
Neuerung und die Tüchtigkeit der Arbeiterschaft. Mögen wir vorläufig
noch in der chemischen Wissenschaft mit an der Spitze stehen, mögen
wir noch die durchgebildetere Arbeiterschaft haben — warum sollte uns
die helle und harte amerikanische Nation nicht auch den „Deutschen
Arbeiter“ nachmachen können, wie sie, um ein Wort Bismarcks zu
variieren, den „Deutschen Leutnant“ schon nachgemacht hat, den
„Deutschen Doktor“ nachmacht? Kein Volk, auch wir nicht, kann auf
den Lorbeeren seiner Vergangenheit schlafen; es kann seine Geltung im
Geistesleben nur durch immer neue Taten aufrecht erhalten. Werden
die neuen Leistungen immer spärlicher, bleiben sie schließlich aus, so
wird sich die übrige Welt damit abfinden, daß es, in diesem Falle das
deutsche Volk, eben seine Kräfte aufgezehrt, seine Rolle ausgespielt
habe. Und andere Völker bleiben nicht immer in der Lage, in der sie
sich befanden, als der Krieg begann. In der Erziehung besitzen sie die
Mittel, sich umzustellen und zu entwickeln. Speziell für die amerikanische
Einstellung hat mir ein Wort zu denken gegeben, dessen Kenntnis ich
einem seit 27 Jahren in den Staaten wirkenden deutschen Arzte ver¬
danke. Als das erste amerikanische Geschwader gegen Deutschland
auslief, verabschiedete sich Präsident Wilson von den Offizieren in einer
Ansprache, die mir in der Aufzeichnung eines Ohrenzeugen Vorgelegen
hat. Er führte an den entscheidenden Stellen aus: „Ihr zieht hinaus
gegen eine Nation, die den Ruf genießt, die besten Fachleute und Tech¬
niker der Welt zu besitzen, und die diesen Ruf verdient. Aber ihr braucht
euch deshalb nicht zu fürchten. Wenn ich vor einem Meeting zwischen
einem Amateur und einem Professionisten im Zweifel bin, auf wen ich
wetten soll, so wette ich auf den Amateur. Wenn dieser auch nicht
alles weiß und nicht in jeder Kleinigkeit kunstgerecht geschult ist, so bin
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Erziehung und sittlicher Aufbau
ich doch sicher, daß er im entscheidenden Augenblick auch weniger
durch methodische Zweifel gehemmt wird, während der Fachmann lieber
eine Chance verpaßt, als gegen die Kunstregel und die Vorschrift der
Methode verstoßen will.“
Eine Nation, die so offen nicht nur unsere Vorzüge erkennt und an¬
erkennt, sondern auch die damit verbundenen Schwächen erfaßt hat,
braucht nur ernstlich zu wollen, um uns gerade auf den Gebieten, auf
denen Deutschland früher das Leben und die geistigen Strömungen der
anderen Länder als die „Gedankenschmiede der Welt“, wie F. Naumann
einmal sagte, vielfach beeinflußt hat, nach und nach aus dem Felde zu
schlagen. Noch ist die Gewohnheit, zum Studium nach Deutschland zu
kommen, nicht ganz erloschen, noch werden viele unserer Einrichtungen
für andere anregend, noch verfolgt man mit gespanntem Interesse unsere
krampfhaften Bemühungen, die Lage zu meistern und auf der Höhe zu
bleiben, aber schon heute spüren wir, wie der Weltstrom der Studenten
um Deutschland herumzufluten, in den amerikanischen und englischen
Universitäten sich zu stauen anfängt, und wenn noch ein bis zwei Jahr¬
zehnte an den materiellen Fundamenten unserer Geistesarbeit zerstörend
gewirkt haben, während die Nationen um uns sich erheben, sind wir
trotz unserer Kopfzahl ein „kleines Volk“ geworden.
Deshalb müssen wir die ganze Furchtbarkeit unserer Lage einsehen,
müssen auch erkennen, daß Politik und Erziehung, so wenig sie im
Einzelnen miteinander zu tun zu haben scheinen und so wenig die Er¬
ziehung nur als politisches Instrument, als Waffe gedacht werden darf,
weder für die Wechselwirkung der Völker noch innerpolitisch im Kampf
der Parteien, doch durch zahlreiche Fäden miteinander verbunden sind,
und müssen gerade im Dienst einer gesunden Erhaltung und Entfaltung
der deutschen Erziehung mit allen erlaubten und möglichen politischen
Mitteln gegen die tödliche Bedrohung unserer Erziehung durch einen
Frieden kämpfen, der um so gefährlicher ist, als seine letzte Absicht,
nirgends ausgesprochen und sozusagen juristisch faßbar, vielfach in
unserem eigenen Volke nicht erkannt, von der übrigen Welt, wenn er¬
kannt, leichter genommen wird, als mit ihrer Verantwortlichkeit ver¬
einbar erscheint.
Der Druck der Not, von dem ich eingangs als einer fruchtbaren Vor¬
aussetzung für das pädagogische Denken und Wollen gesprochen habe,
ist doch zugleich eine Hemmung für die pädagogische Tat. Er er¬
scheint übermächtig; alle Anläufe, ihn zu überwinden, erscheinen uns
als aussichtslos oder werden von den Feinden verboten und unter¬
drückt; alle Mittel, ihm zu steuern, werden uns genommen. Auf die
Dauer kann sich daraus die Stimmung resignierter Ergebung in ein
unabwendbares Schicksal, die Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit an
Erziehungsfragen ergeben, mit oder ohne das billige Gefühl der Schaden¬
freude, daß ein weiter der Armut und Unbildung anheimfallendes
Deutschland seine Ausbeuter noch weniger zu entschädigen vermag
als ein wieder zur Arbeit aufgerafftes und zur Höchstleistung erzogenes.
So verständlich derartige Anwandlungen sein mögen, sie übersehen,
daß erst mit dieser resignierten Ergebung und abdumpfenden Gleich¬
gültigkeit der Wille der Feinde wirklich erreicht wird, daß wir uns in
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Aloys Fischer
eine seelische Lage hineinmanöverieren lassen, die unseren Untergang
als Staats- und Kulturnation besiegelt.
Ich wäre auf diesen Zusammenhang nicht so ausführlich eingegangen,
wenn die großen staatlichen und politischen Wandlungen nicht auch im In¬
nern die deutsche Erziehung, vorab die deutsche Schule in verwandter
Weise bedrohten. Der deutsche Staat, auf dessen Grund sie errichtet
wurde, in dem, mit dem und durch den sie emporgestiegen ist, liegt
in Trümmern; der neue Staat hat offenbar weder die Autorität noch
die Kraft, den sinkenden Bau der deutschen Erziehung zu stützen. Er
ist selbst noch Gegenstand des Kampfes und zwar zwischen den wirt¬
schaftlichen Mächten. Von der einen Seite wollen ihn die Arbeiter ganz
für sich erobern, von der anderen Seite ihn ebenso ausschließlich und
ganz die Besitzenden und Arbeitgeber in ihre Gewalt bringen. Wirt¬
schaftsgegensätze, Klassen- und Interessenkämpfe hat es auch im alten
Staat gegeben, aber der Staat selbst hat sich als überwirtschaftliche
Macht, als Träger des Gemeinwohls und Vormund aller seiner Bürger
sowohl gefühlt als auch betätigt. Gerade die deutsche Schule ist eine
Schöpfung dieses überwirtschaftlichen Staates, und wer die Geschichte
des Kampfes um die allgemeine Schulpflicht, um Schuldotation und
Lehrerbildung, um die fortschreitende Hebung aller Zweige des öffent¬
lichen Erziehungswesens auch nur im Umriß kennt, weiß, daß der Staat
oft genug im Interesse der Kinder aller Klassen und Parteien, im Dienst
rein humaner Ziele seine Bildungsideen den wirtschaftlichen Mächten
abgerungen und aufgezwungen hat. Gewiß, er hätte mehr leisten können;
er hätte die Bildungsfragen stärker, ja ausschließlich in den Mittelpunkt
seiner Sorge rücken müssen — aber die Linie der bisherigen Entwick¬
lung war richtig; die sittliche und geistige Bildung als Eigenreich einer
den Ansprüchen der Wirschaftsinteressen entzogenen Schule war ein
Grund, auf dem sich weiterbauen ließ. Ich weiß nicht, ob wir diesen
Grund noch festhalten können, noch festzuhalten Besonnenheit genug
haben, wenn die Wirtschaftsmächte, einerlei ob getrennt oder geeinigt,
dem Staat der nächsten Jahrzehnte das ausschließliche Gepräge eines
Wirtschaftsstaates geben. Wer nicht blind ist, muß sehen, daß auch
heute schon Gewerkschaften und Unternehmerverbände mehr als
Regierung und Volksvertretung die Gesetzgebung und Verwaltung be¬
stimmen; sie werden die Hand auch nach der Erziehung ausstrecken.
Gewiß ist im Augenblick der Sieg noch nicht entschieden. Die immer
straffer zusammengefaßten Gegenseiten der Wirtschaftswelt, Arbeiter-
tum und Besitz, halten mit dem entscheidenden, letzten Ringen noch
zurück; es gibt auch noch andere Geistesrichtungen, die an einer in der
bisherigen Linie der Entwicklung besser begründeten Tendenz vom Schutz-
Rechts-Machtstaat zum Kultur- und Erziehungsstaat festhalten. Aber
sie verlieren zusehends an Boden in den Massen, und wenn der Staat,
den wir heute noch suchen, faktisch der reine Wirtschaftsstaat ist, einer¬
lei ob eines einigen oder eines klassenkämpferisch dauernd ent¬
zweiten Wirtschaftsvolkes, dann endigt die Phase des staatlichen Schul-
und Bildungswesens, wie in den Gesellschafts-, Geistes- und Religions¬
bewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts die kirchliche Epoche der
deutschen Bildungsgeschichte ihren Abschluß fand. Die Auslieferung
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Erziehung und sittlicher Aulbau
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der Bildung an einen Staat, den die Wirtschaftsmächte beherrschen,
könnte niemand verantworten, weil er — genau wie unsere äußeren
Feinde — die deutsche Erziehung lediglich unter dem Gesichtspunkt
der Kosten und der wirtschaftlichen Produktivität betrachten würde.
Auch die in unserem eigenen Volk selbst dann herrschend gewordenen
Einstellungen würden speziell dem auch in Zukunft nicht verschwin¬
denden Arbeitertum nur ein Ausmaß und eine Art von Erziehung und
Bildung zubilligen und schaffen, daß nur für die nutzbringende Anwend¬
barkeit im Wirtschaftszweck ausreichend wäre. Um dem darin ent-
enthaltenen Rückfall in den Primitivismus zu entgehen, müßte eine sich
noch kulturell verantwortlich fühlende deutsche Volksgemeinschaft ent¬
gegen ihrer Tradition in den letzten Jahrhunderten auf die Entstaat¬
lichung ihres Erziehungs- und Bildungswesens bedacht sein, denn weiter¬
hin verstaatlicht würde es in den Dienst der Wirtschaft, die ihrer ganzen
Struktur nach Mittel, nicht Selbstzweck und Selbstwert ist, gezwungen
werden, und seine Seele, die Geistespflege ist und bleibt, verlieren.
Waren die bisher betrachteten Hemmungen der Erziehungsreform und
des sittlichen Aufbaus noch in außerpädagogischen Verhältnissen be¬
gründet, in der sittlichen Verworrenheit der Erwachsenen, in materieller
Not und politischer Unfreiheit, im Mangel eines festen Staatsgefüges,
das imstande wäre, die Wirtschaftskörper und Wirtschaftsmächte zu
meistern, statt ihr Spielball zu sein, so dürfen wir doch nicht über¬
sehen, daß auch die Lage des pädagogischen Denkens selbst Hemmungen
in sich trägt. Ich habe eingangs gesagt, daß nach den Lehren der
Geschichte Zeiten der Not zu schöpferischer Erneuerung der Erziehung
und des Erziehungswesen nur dann führten, wenn die Reformideen
einheitlich sind oder wenigstens einen einheitlichen Kern bergen. Bei
einer ersten Musterung der Reformforderungen und -Vorschläge drängt
sich der Eindruck auf, daß der Umschlag schon im pädagogischen
Denken ein zu radikaler ist, die Aufsplitterung in Meinungen und
Richtungen zu weitgehend, als daß die Möglichkeit zur gesunden Ver¬
ständigung leicht gefunden werden könnte. Wie immer, wenn ein Zeit¬
alter sich in zu viele Projekte verliebt und zu viele Richtungen erörtert,
ist der Kampf um die Vorherrschaft auch schon auf dem Gebiet der
Ideen die notwendige Folge; sie absorbiert vielfach auch die Kräfte, die
der praktischen Auswertung dienen sollten, und die organische Synthese
ist in Frage gestellt, mindestens hinausgeschoben.
So führt der Reichtum an Gedanken, sonst gerade ein günstiger Boden
für eine lebhafte Bewegung, zur Stagnation sich gegenseitig eifersüchtig
überwachender und in Schach haltender pädagogischer Parteien, und
was an wirklichem pädagogischen Leben nicht erstickt werden kann,
entfaltet sich in der Unbeachtetheit dieser und jener Familie, Schul¬
stube, Anstalt, im kleinen. Der erwartete größere Zug und Zuzug von
Erziehern ist augenblicklich noch keiner Richtung beschieden, und die
Richtungen selbst scheinen so unversöhnlich auseinander zu gehen, daß
sachliche Berührungen sich nicht zu einem Programme verdichten
können, weil sie in jeder der Richtungen anders gewertet und be¬
gründet werden, die Übereinstimmung also mehr eine äußere Ähnlich¬
keit als eine Gemeinsamkeit der pädagogischen Gesinnung bedeutet.
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Aloys Fischer
In dem Versuch, diese immanenten Hemmungen des sittlichen Aufbaus
zu beseitigen, besteht die Zeitaufgabe der wissenschaftlichen
Pädagogik.
Ich habe ausgeführt, daß der erste Eindruck des Erziehungsdenkens
ein solcher der chaotischen Zersplitterung und Unversöhnlichkeit der
Gegensätze ist, der Mangel einer oder einiger beherrschender, von allen
Volksgenossen oder mindestens von ihrer urteilsfähigen Mehrheit willig
erfaßter Ideen. Mir scheint, daß dieser Zustand weniger durch die
Sachnatur der schwebenden Fragen bedingt ist, als durch den indi¬
vidualistischen Doktrinarismus, der wie das deutsche wissenschaftliche
Denken überhaupt, so auch das pädagogische kennzeichnet. Deshalb
scheint mir der Versuch unerläßlich, unter Verzicht auf Schattierungen
und Nuancen, jene Zielgedanken herauszustellen, die nicht bloß im
Augenblick entstanden und für die Interessen kleiner oder großer Grup¬
pen gedacht, sondern in der ganzen pädagogischen Entwicklung vor¬
bereitet und enthalten als die Konvergenzpunkte zu gelten berechtigt sind,
auf die sich die gesammelte Reformenergie einheitlich einstellen sollte.
Schon während des vorigen Jahrhunderts haben meines Erachtens
drei große Entwicklungstendenzen ■) Wandlungen im deutschen Bildungs¬
ideal und Bildungswesen angebahnt; da sie bislang zu einer vollen
Verwirklichung nicht gelangt sind, dürfen sie auch für unsere Gegen¬
wart und nächste Zukunft noch maßgebend sein, mithin die Linie be¬
zeichnen, in der sich die vielen Einzelheiten zusammenfassen lassen
oder zusammenfassen sollten. Nach dem Prinzip der Stetigkeit im
Kulturwandel ist es nicht wahrscheinlich, daß Tageseinfälle oder nur
aus der fluktuierenden Situation geborene Ideen imstande sein werden,
die sachliche Logik einer langfristigen Entwicklung aufzuheben. Sie
können nur stören.
Diese drei Haupttriebkräfte, die nicht nur von mir so gesehen und
benannt werden, sind die nationale, die soziale und realistische
Bildungstendenz.
Die nationale Tendenz in der deutschen Erziehung ist seit dem Be¬
ginn des 19. Jahrhunderts ständig gewachsen. Mag man auch die Art,
in der Fichte die deutsche Nationalerziehung meinte aufbauen zu können,
als zeitlich bedingte Utopie heute nicht mehr für diskutabel halten,
seine Idee der Bildung der Nation als solcher, oder anders ausgedrückt
die Abschwächung der inneren Unterschiede von Klassen und Ständen
durch ihre gleichmäßige Aufnahme in die Einheit der Bildung, hat ihren
Glanz in all den Jahrzehnten ihres Lebens bewahrt. „Mit unserer Ge¬
nesung für Nation und Vaterland hat die geistige Natur unsere voll¬
kommene Heilung von allen Übeln, die uns drücken, unzertrennlich
verknüpft.“ Es liegt mir fern, den einzelnen Menschen den Vorwurf
unnationaler Gesinnung machen zu wollen, das System der höheren
Schulen, wie es war, zerriß objektiv die deutsche Volksgesellschaft, in-
*) Vgl. dazu auch Hans Richert, Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule
(Tübingen 1920), sowie meine früheren Arbeiten: „Die Lage der höheren Schule in der Gegenwart
und ihre Aufgaben in der Zukunft“ (Riga 1914) und „Gedanken über die Form der deutschen
höheren Schule“ (in Norrenbergs Sammelwerke: „Die deutsche höhere Schule nach dem Welt¬
krieg“ (Leipzig 1916).
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Erziehung und sittlicher Aufbau
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sofern es als die wesentliche Bedingung für die Zugehörigkeit zur Bildungs¬
schicht einen Lehrgang vorschrieb, von dessen Hauptgrundlagen alle
anderen Deutschen faktisch ausgeschlossen waren. Ich verfolge nicht
weiter, wie Fichtes Gedanke einer geistig-sittlichen Einigung der Deutschen
in und durch die nationale Erziehung nach der Reichsgründung bei
R. Hildebrand, Paul Lagarde, F. Nietzsche, Ernst Laas fortlebte, wie er
von seinen Anhängern heute formuliert und begründet wird. Nur ein
Wort des größten Historikers der deutschen Bildung, Friedrich Paulsens,
sei noch angeführt; ihm scheint die ganze neuzeitliche Entwicklung „zu
konvergieren auf eine allgemeine, das Ganze umfassende, alle Glieder
des Volkes durchdringende, auch den vierten Stand in die Bildungs¬
einheit aufnehmende nationale Bildung“.
Wir erinnern uns noch alle, mit welcher Energie diese nationale Ent¬
wicklungstendenz des Bildungsgedankens beim Ausbruch und im Ver¬
lauf des Krieges uns zum Bewußtsein kam und in immer weitere Kreise
werbend eindrang. Viele Einzelforderungen, denen bis dahin nur geringe
Gefolgschaft zuteil geworden, fanden allgemeinen Anklang, so der Ein-
iieilsgedanke in der Bildungsorganisation, ferner der Vorschlag einer
deutschen höheren Schule, die aus dem Eigenleben unseres Volkes, aus
dem nationalen Kulturgut ihre humanistischen Bildungsmittel schöpft,
einer Volksbildung im nachschulischen Alter, die die gemeinsamen
menschlichen und staatsbürgerlichen Belange vor einer Hörerschaft be-
, bandelt, die sich aus allen Vorbildungen und Berufsständen rekrutiert.
Ich frage nun: sind nach dem Krieg entscheidende Tatsachen auf-
> getreten, Gründe geltend gemacht worden, die imstande und berechtigt
i wären, uns an dieser nationalen Zielung unserer Erziehung irre zu
machen? Ich muß die Frage mit aller Entschiedenheit verneinen.
I Wenn es heute den Anschein hat, als müßten wir die bisherige Ent¬
wicklung verleugnen und unter Mißachtung von Volk und Vaterland
| an einer abstrakten Menschheitserziehung und Erziehung für die Mensch¬
heit arbeiten, so ist daran nur die Verwirrung der Köpfe durch die
Leidenschaft des Tages schuld. Wenn heute die wesentlich bürgerliche
Bildungsschicht, die sich vor dem Krieg zum Teil, während des Krieges
fast ganz zu der nationalen Tendenz auch in der Erziehungsreform be-
i kannt hat, davon zum Teil wieder zurückweicht, so tut sie das, weil
sie in einer auch über die Volksschule hinausführenden, wesentlich mit
deutschem, also jeder deutschen Seele grundsätzlich zugänglichem Kultur¬
gut arbeitenden Bildung ein Mittel mehr erblickt, durch das der Macht¬
wille der aufstrebenden unterbürgerlichen Volksschichten Vorschub
geleistet und ihre eigene, teilweise in der schwerer zugänglichen Bildung
^gründete Vorgeltung weiter erschüttert werden kann, also aus poli-
| tischen, nicht bildungstheoretischen Motiven. Und wenn der Sozialismus,
dessen innere Gespaltenheit und Kampf um den „wahren“ Sozialismus
deuüich verrät, daß er — abgesehen von den Wirtschaftsfragen — kein
einheitliches weltanschauliches Programm besitzt, die nationale Tendenz
zuia Teil bekämpft, weil der „Nationalitätswahnsinn die europäische
Kulturgemeinschaft zerschlagen“, das Wachsen der Nationalität ein
Sinken der Humanität und aller humanen Werte sei, weil er eine
neu ® Humanität, die alle Völker zur sittlichen Kulturgemeinschaft der
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Aloys Fischer
Menschheit Zusammenschlüße, ersehnt, so ist auch er machtpolitisch,
nicht bildungstheoretisch eingestellt und übersieht, was Fichte schon,
den er zu seinen Ahnherren rechnete, richtig gesehen hat: „Kosmo¬
politismus ist der herrschende Wille, daß der Zweck des Daseins des
Menschengeschlechts im Menschengeschlechte wirklich erreicht, Patrio¬
tismus ist der Wille, daß dieser Zweck zu allererst erreicht werde in
der Nation, deren Mitglieder wir sind, und daß von dieser aus der
Erfolg sich verbreite über das ganze Geschlecht.“
Sieht man von den durch Leidenschaften des Augenblicks bedingten
Über- und Unterschätzungen ab, so wird man anerkennen müssen, daß
die nationale Tendenz auch heute noch ein Einheitsmoment in dem Chor
der Reformstimmen sein kann; das um so mehr, wenn man bedenkt, daß in
der deutschen Jugend selbst, und zwar in der Jugend aller Schichten und
Klassen von aller Vätern, der nationale Lebenswille sich mit einer Ent¬
schiedenheit Bahn bricht, die jedes Urteil, unsere Nation wäre schon
im Niedergang, Lügen straft und auch dadurch nicht entwertet wird,
daß er wesentlich vom Gefühl, weniger von der klaren Einsicht gespeist
wird. In einem Europa, das sich unter der Nationalitätsidee allüberall
zu kräftigen anschickt, wäre ein Deutschland, das in seiner Erziehungs¬
reform darauf verzichtet, endgültig verloren. Wenn uns das sonst so
feierlich proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auf vielen
Gebieten verwehrt und versagt wird, geschieht es doch nur in der Absicht,
daß wir auch auf anderen Gebieten darauf selbst verzichten. Hüten wir
uns, durch einen Verzicht in der Erziehung zum Vollstrecker eines
Willens zu werden, der nicht der unsere sein kann! Wenn eine Nation,
wie man gesagt hat, durch die Erziehung sich geistig fortpflanzt, so ist
der Verzicht auf nationalen Gehalt und nationale Zielung der Erziehung,
auch wenn er im Namen der Humanität befürwortet wird, geistiger
Selbstmord der Nation.
Als zweite, die Entwicklung bis zu den Erschütterungen der Gegenwart
beherrschende Tendenz habe ich oben die Sozialisierung der Erziehung
und der Bildungseinrichtungen hervorgehoben. Seit das Volk und seine
gebildete Oberschicht nicht mehr eine verschiedene Sprache sprechen,
wie in der „lateinischen“ und „französischen“ Zeit der Wissenschaft,
Rechtspflege, Staatsverwaltung und Gesellschaft, wäre die Möglichkeit
gegeben gewesen, durch entsprechende Schulschöpfungen die sonst noch
bestehenden Differenzen zwischen „Volk“ und „Gebildeten“ abzutragen
und auszugleichen. Man darf auch nicht übersehen, daß im Laufe des
19. Jahrhunderts die Angleichung der verschiedenen Stände und Gesell¬
schaftskreise in ihrer Bildung tatsächlich Fortschritte machte und daß
ein Bildungsminimum jedem, auch dem ärmsten Deutschen, sichergestellt
war. Mit Erfolg sind die in ihrer Entstehungszeit verständlichen und
berechtigten ständischen Einschläge in unserem höheren, mittleren und
elementaren Bildungswesen zurückgedrängt worden bis auf kleine Nach¬
klänge in der gesellschaftlichen Sitte und Schätzung. Die Bildung wurde
je länger je mehr tatsächlich demokratisiert.
Es bedarf nicht vieler Hinweise auf die Bestrebungen der jüngsten
Vergangenheit, um zu zeigen, daß diese Tendenz auch heute noch tat¬
sächlich sich auswirkt. Aber leider ist es so gekommen, daß sie heute
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(rmvi-^T 1
Erziehung und sittlicher Aufbau
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vielen, die nicht mehr geschichtlich denken wollen, nur als Frucht der
Revolution erscheint und deshalb von ihnen, Gegnern der Revolution und
Unzufriedenen mit der nachrevolutionären Politik, bekämpft wird. Daraus
erklärt sich die Stagnation in jener Bewegung, die die Kraft und Mittel
der Nation für den Aufstieg aller Begabten und Tüchtigen forderte, in
der Bewegung für Angleichung der Lehrerbildung an die älteren soge¬
nannten akademischen Bild ungsgänge, für die Schaffung von V erbi ndungen
und Übergängen zwischen Volksschule und höherer Lehranstalt und
zwischen den verschiedenen Arten der letzteren selbst. Wer die nach¬
revolutionäre Entwicklung als durchaus verfehlt bekämpft und eine
Restauration, erstrebt, glaubt, dieses auch auf schulischem und schul¬
politischem Gebiet tun zu müssen. Die Frage, ob der Bildungshunger
der Massen, ihr geistiger Emanzipations wille, der sich doch gerade unter
den früheren politischen Verhältnissen entwickelt und schon im 19. Jahr¬
hundert zur sozialen Erziehungsbewegung geführt hat, sich durch eine
Kulturpolitik der Restauration entweder befriedigen oder ersticken ließe,
wird gar nicht ernsthaft erwogen. Die Verachtung der Massen setzt
deä über solche Einwände hinweg, wie mir scheint, weil sie die heutigen
Massen in ihrer Struktur doch noch ebenso betrachtet wie die der Massen
anderer Zeiten. Kein einsichtiger Beurteiler kann sich darüber täuschen,
daß Deutschland bildungspolitisch heute zerrissener ist als früher. Wo
eine linke Majorität bestimmend ist, treibt sie die Entwicklung ganz in
ihrem Sinn und in raschem Tempo weiter; wo die Gegenstimmung den
konservativen Elementen zur Macht geholfen, nehmen diese ein Stück
nach dem anderen der angeblich übereilten und revolutionären Errungen¬
schaften planmäßig zurück. Die Erziehungs- und Bildungsfragen werden
stärker und offenkundiger als je nicht nur vom politischen Standpunkt
aus betrachtet — staatspolitische Fragen sind sie immer gewesen und
müssen sie bleiben —, sondern vom Standpunkt der Partei. Einer wieder
erstarkten antisozialistischen Bewegung muß natürlich die Demokratie
des Geistes und der Bildung ebenso als der Feind gelten, wie sie der
sozialistischen Bewegung das Ziel ist.
Auch abgesehen von dieser Verflochtenheit mit den innerpolitischen
Gegensätzen ist die Würdigung der sozialen Entwicklungstendenz in der
Bildung nicht so einfach, weil die heutigen Auslegungen oft die rechte
Kontinuität mit dem Gegebenen und den klaren Blick für das Mögliche
vermissen lassen.
Bestimmte Berufs- und Kulturaufgaben werden auch in aller Zukunft
eine differenzierte Mannigfaltigkeit der Bildungsbahnen notwendig
machen, genau so, wie die Verschiedenheit der Begabungen und geistigen
Interessenrichtungen sie psychologisch bedingen. Wenn den höheren
Schulen von radikalen Parteien das Daseinsrecht überhaupt abgestritten
wird, so verkennen sie die psychologischen und kulturellen Wurzeln,
verschließen sich, weil sie das alte System der höheren Schule be¬
kämpfen, der anderen Einsicht, daß Erziehung auch Auslese ist, und mit
aller Auslese bleibt unentrinnbar Differenzierung der Lebens- und
Bildungsbahnen und Distanzierung der Ausgelesenen verbunden. Und
wenn auf der anderen Seite in der bisherigen volkstümlich-demokra¬
tischen Tendenz eine Nivellierungstendenz bekämpft wird, die auf eine
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Aloys Fischer
Einerleischule hinauslaufe, wenn der Gemeinschaftsschule die Sonder¬
schule um jeden Preis und für jeden Sonderzweck programmatisch ent¬
gegengehalten wird, so übersieht diese Denkweise, daß die Differenzierung
nur allmählich eintritt, verschieden weit reicht, und daß es neben allem,
was different ist und differenzierend wirkt, in jedem Volksgenossen
Anlagen, für jeden Volksgenossen Aufgaben und Pflichten gibt, die
schlechthin gemeinsam sind.
Auch hier scheint mir ein Ausgleich möglich. Trotz aller Verschieden¬
heit der Begabung, Kulturaufgaben und Lebenszwecke, die eine Diffe¬
renzierung immer wieder herbeiführen oder einschließen, wird im Inter¬
esse der inneren Einheitlichkeit des Volkes und der seiner Leistungs¬
fähigkeit im Ganzen die soziale Tendenz, die auf Hebung des allge¬
meinen Bildungsdurchschnittes abzielt, auf Erfassung und Förderung
aller bildsamen Kräfte eingestellt ist, die Grundlegung der Erziehungs¬
reform tragen können. Je höher schon die allgemeine Bildungslage
ist, die in einer Ration als Ganzes vorhanden ist, um so höher werden
sich darüber auch die Eliteminoritäten erheben können, die auf differente
Bildung in Sonderschulen für Sonderzwecke nicht verzichten können
und nicht verzichten brauchen. Die Lebenssteigerung, die aller Erziehung
vorschwebt, hat eben zwei Ziele, nicht neben- sondern ineinander, die
Hebung des Volkes im Ganzen und die ihr notwendig immer voraus¬
eilende Hebung seiner geistigen Spitzen. Beschränkten wir uns auf
die aristokratisch-exklusive Pflege nur der kleinen Gruppen auserlesener
Geister und schöpferischer Menschen, weil schließlich sie für die Gesamt¬
entwicklung richtunggebend seien, so könnte eines Tages die Kluft
zwischen diesen Spitzen des Volkes und seiner Masse so weit geworden
sein, daß kein Ruf der Verständigung mehr von der einen zur andern
Seite dringt. Der Führer ohne Gefolgschaft, der einsame Prediger in
der Wüste wäre die Folge — auch wenn diese echolose Wüste ein
menschenwimmelndes Volk wäre, das zu seinen größten Repräsen¬
tanten keinen Zugang mehr hat Noch aus anderen Gründen ist die
soziale Entwicklungstendenz auch heute tragfähig: alle Differenzierung
wächst heraus, wird getragen von gemeinsamen Unterbauten und wird
zusammengehalten, überwölbt von gemeinsamen Inhalten. Die staats¬
bürgerlichen und sittlichen Aufgaben sind dem Genius und dem Massen¬
menschen gemeinsam, so verschieden ihre beruflichen und kulturellen
sind. Wenn wir nicht ganz und gar in einer Leistungskultur uns ver¬
äußerlichen wollen, sondern die Kultur des Seins über die Leistung
zu stellen eben wieder anfangen, wird man als Folgerung und Mittel
dazu die Durchbildung jeder Person in ihren charakterlichen staats¬
bürgerlichen, menschlich-sittlichen Seiten, die Wesenskultur als Funda¬
ment der Leistungskultur nicht missen wollen. Oder täusche ich mich
in der Annahme, daß uns über dem Virtuosentum der spezialistischen
Leistung die wahre Bildung, nicht nur des Herzens, sondern auch des
Geistes doch mehr und mehr verloren gegangen war?
Am strittigsten erscheint die realistische Bewegung, die unsere Bil¬
dungsentwicklung bisher je länger je mehr durchwaltete. Von vornherein
berührt sie freilich weniger den Erziehungsgedanken als die Frage des
Lehrgutes und der Lehrform der deutschen Schule jeder Gestalt. Legten
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Erziehung und sittlicher Aufbau
die Lehrpläne früherer Jahrhunderte ihren Nachdruck auf alles, was wir
kurz gesagt, gesinnungsbildend nennen können, auf Sprache und Literatur,
Religion und Geschichte, so wird unter den heutigen Verhältnissen einer
ständig gewachsenen Selbstverwaltung, einer auf angewandter Wissen¬
schaft beruhenden Wirtschaft, Produktion und kaufmännischen Betriebs-
führung sehr viel mehr an positivem Wissen gerade aus den Gebieten
nötig, die wir als „Realien“ zunächst zur Rekreation des Geistes in die
Schule einziehen sehen. Wir entdecken dann, daß diesen „realen“ Wissen¬
schaften auch imanente Bildungswerte spezifisch sind. So schaffen sie
sich eigene Schulen und Hochschulen, dringen selbst ins Zentrum des
Gymnasiums, in die Mädchenbildung ein, durchsetzen auch die Lehrpläne
der Volksschule mit realistischen Zügen, erobern die Seele der Jugend,
die in immer größeren Scharen dem von ihnen gewerteten neuen Lebens-
gefühl zuströmt und immer mehr von dem halb ästhetischen Ideal der
Kultur der Persönlichkeit als eines Kunstwerks weg und sich zu dem
praktisch politischen Ideal des Wirkens für andere zuwendet. Sie ist
unleugbar eine Nachwirkung des Bildungsutilitarismus der Aufklärungs¬
zeit, des Positivismus des 19. Jahrhunderts; sie ist aber auch gesättigt
mit den unleugbaren großen Ergebnissen der modernen Forschung, nicht
nur auf naturwissenschaftlichem, sondern ebenso auf den geistes- und
kulturwissenschaftlichen Gebieten. Auf Gegenwart und Wirkung gestellt,
hat der Realismus die Bildung in jedem Sinne als das Mittel betrachtet,
das Leben nach den Forderungen der Vernunft, die ihm in der Wissen¬
schaft zusammengefaßt erscheinen, zu gestalten, ohne Rücksicht auf das
geschichtlich Gewordene, und tendiert zu solcher Einstellung auch immer
wieder, ob schon er durch die wissenschaftliche Kritik selbst wie durch
den neuen Aufschwung gerade der Geisteswissenschaften und einer
geisteswissenschaftlich orientierten Philosophie zu Beginn unseres Jahr¬
hunderts bereits wesentlich korrigiert wurde.
Noch schwieriger wird die Lage durch den anderen Umstand, daß jene
bedrohliche Vorherrschaft des rein ökonomischen Interesses, die wir oben
erwähnten, in der realistischen Bildungstendenz einen Bundesgenossen
hat, und leicht dazu verleitet, das Leben, für das Erziehung und Schule
vorbereiten wollen, als das Interessenleben des wirtschaftlichen Menschen,
richtiger des Menschen als Wirtschaftssubjekt, zusammenschrumpfen zu
lassen.
Wie weit, so fragen wir auch hier, ist die realistische Tendenz
auch heute noch nicht nur mächtig, sondern auch gültig? Ich habe
bereits ausgeführt, daß ihre Gefahren erkannt sind, demgemäß ver¬
mieden werden können; ihre Zugkraft ist in den breiten Schichten
nicht geringer geworden, mit Recht, denn das Leben, auf das die Er¬
ziehung vorbereitet, muß jedenfalls das Gegeuwartsleben sein, das Leben
eines modernen Wirtschafts- und Kulturvolkes. Auch der Einstellung
der Jugend als solcher kommt sie entgegen, die sich in erster Linie als
einen Anfang, nicht als Fortsetzung und Erben fühlt und zur Geltung
bringt. Es bleibt nur ein allerdings gewichtiger Umstand, der berücksichtigt
zu werden verdient. Das gerade auch in der Jugendbewegung, der bürger¬
lichen wie der proletarischen, neu erwachte metaphysische Bedürfnis.
Ich glaube aber, daß dieser bald mehr soziologisch-philosophische, bald
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 2
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Aloys Fischer, Erziehung und sittlicher Aufbau
mehr religiöse Zug in der neuen Jugend nur die praktische Abkehr von
der ungeschichtlichen Nebentendenz des Realismus, nicht eine Abkehr
von ihm selbst ist. Zwischen unserem Leben und seiner Bildung soll
keine Kluft mehr bestehen, wie vielfach in der Vergangenheit; das scheint
mir der realistische Einschlag in der neuen Erziehungsgesinnung auch
in Zukunft zu bleiben. —
Der sittliche Aufbau durch die Erziehungsreform hat zur Voraus¬
setzung, daß wir uns über den individuellen Nuancen und Unterschieden
in erster Linie als Glieder der bisherigen Entwicklung auf deren gemein¬
samen Leitideen: Volk und Vaterland, die Humanisierung aller Glieder
unserer Gemeinschaft durch bewußte Auswertung des allen verständ¬
lichen nationalen Kulturgutes und die Bedürfnisse unseres Gegenwarts¬
lebens einstellen. So befriedigen wir die Sehnsucht der Jugend selbst
und nehmen Kräfte, die sie heute, von ihren Erziehern vielfach ent¬
täuscht und im Stiche gelassen, im Protest oder in unmöglicher Schwär¬
merei verzehrt, für die möglichen großen Zwecke des Lebens in Dienst.
Mit einem Wort möchte ich zum Schlüsse doch auch auf die Hem¬
mungen des sittlichen Aufbaus durch die Erziehung hinweisen, die
nicht in unserer deutschen, sondern in der gesamten europäischen Lage
begründet sind. Andere Zeiten der Not, die wir oder ein Großvolk
Europas durchlitten haben, unterschieden sich von der heutigen Lage
nicht nur den Dimensionen, sondern auch der Art nach in einem wesent¬
lichen Punkte: ein Autoritätsprinzip, ein Repräsentant der Ordnung
ist, so viel auch sonst niederbrach, unangefochten, unerschüttert ge¬
blieben und die ihm anhangende mehr oder minder kleine Schicht
tatkräftiger Persönlichkeiten konnte die Orientierung der steuerlos
gewordenen Massen von ihm aus übernehmen. Fragen wir, ob das
heute auch der Fall ist, so werden wir von den bangsten Zweifeln
geängstigt. Es gehört zu den imheimlichsten Selbsttäuschungen der
Zeit, den letzten Krieg und seinen Frieden als Episode zu betrachten,
die in der geistig-sittlichen Entwicklung Europas ohne Folgen sei, zu tun,
als hätten die Ereignisse der letzten Jahre nichts anderes bewirkt als
den Übergang des politischen Prestiges und der ökonomischen Führung
von einer Mächtegruppe auf eine andere und als handle es sich dem¬
gemäß nur um eine Stabilisierung der Verhältnisse zwischen Siegern auf
der einen, Besiegten auf der anderen Seite. In dieser Selbsttäuschung
sind unsere Sieger stärker befangen als wir: sie vor allem glauben, in
ihrer militärischen Macht das Mittel zu besitzen, die durch den Krieg ent¬
schiedene Umgruppierung zu ihren Gunsten dauernd machen zu können.
Die wichtigsten Auswirkungen der Ereignisse sind aber jene, die sich unab¬
hängig von den Absichten der aktiven Politiker vollzogen haben, die sich
einbilden, die Geschichte gemeistert zu haben und meistern zu können, und
die sich fortgesetzt noch vollziehen. Es ist die Frage, ob in der allgemeinen
Auflösung Europas, das heute nur noch durch zusammengeballte Macht
vor dem äußeren Zerfall bewahrt wird, uns wenigstens noch der Geist
Europas als Autorität bleibt, ob der Europäer einen bestimmten Besitz
von sittlichen Begriffen und Grundsätzen, von absoluten Werten und
Kulturzielen als unverlierbares Besitztum für einen Wiederaufbau in
die Zeit der völligen Anarchie hinüberrettet, die aus der Staatsverdrossen-
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Hugo Gaudig, Das Fordernngerecht der Schule gegenüber der Nation
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heit, den Wirtschaftskämpfen und der Kulturskepsis uns täglich näher-
gerückt bedroht. Noch kann Europa sich auf seinen eigenen Geist besinnen,
noch kann die Erziehung als Selbsterziehung der Erwachsenen und Jugend¬
bildung den sittlichen Wiederaufbau in Angriff nehmen — je länger wir
warten oder die einzelnen Völker von anderen zu warten gezwungen
werden, desto mehr greift die geistige Auswanderung aus Europa um
sich—die ideelle Flucht in die Fremde, in den Buddhismus Ostasiens, in den
Quietismus einer spielenden Mystik, in die Ideenlosigkeit der Business¬
idee einer reinen Wirtschaftskultur, wenn man Kultur und Wirtschaft
zusammenzusetzen nicht als Widerspruch empfinden müßte. Noch glauben
wir, es mit Einzelerscheinungen zu tun zu haben, mit Erscheinungen der
Not und geistigen Ratlosigkeit — aber die Geschichte Europas sah schon
einen Kulturuntergang, 1 ) den der Antike, freilich einen solchen, in dessen
Trümmerfall der neue Geist des Christentums als rettende und führende
Macht unser Europa schuf. Geht die alte Welt zum zweiten mal unter —
wo ist die neue geistige Idee im heutigen Trümmerfall, die uns den Auf¬
stieg zur dritten Phase der europäischen Geschichte verspricht? Die
geistige Auswanderung, auf die ich hindeutete, zeigt, daß sie nicht mehr
ans Europas Geist geboren wäre. Es ist die Verantwortung der Er¬
ziehung, nicht bloß in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern
dafür zu sorgen, daß der europäisch-christliche Geist, der sein letztes
Wort nicht gesprochen hat, der noch immer unerschöpflich-schöpferisch
in seinen Quellen und Kräften sprudelt, den sittlichen Aufbau nach den
Zerrüttungen durch äußere und innere Katastrophen in Angriff nimmt.
Wenn Deutschland in diesem Aufbau die Führung gewinnt, wird es mit
sich die Welt retten.
Das Forderungsrecht der Schule gegenüber der Nation.
Von Hugo Gaudig.
Von den Forderungsrechten der Nation gegenüber der Schule zu
sprechen, ist der deutschen Pädagogik zwar nicht geläufig, immerhin
haben wir’s hier mit einer Denkrichtung zu tun, auf die wir uns einzu¬
stellen vermögen. Nur daß die Feststellung des Verhältnisses von Nation
und Schule, auf Grund dessen Forderungen erhoben werden können,
Schwierigkeiten bereitet. Ganz ungeläufig ist der deutschen Pädagogik,
in der umgekehrten Richtung von den Forderungsrechten der Schule
an die Nation zu sprechen; und doch ist diese Denkrichtung äußerst
wichtig. Allerdings nach einigen Seiten hin pflegt die Schule ihre
Forderungen an die Nation geltend zu machen; so .besonders über¬
all dort, wo es sich um die „Daseinsbedingungen“ der Schule, die
inneren und nicht zuletzt die äußeren, handelt. Hier fordert die Schule
von der Nation, daß sie der Schule z. B. die Mittel des äußeren Daseins,
aber auch die Rechte ihrer Stellung innerhalb des nationalen Lebens
*) Es ist kein geringes Verdienst des Historikers der Stadt Rom, Guglielmo Ferrero in seinem
neuestem Werk: „Der Untergang der Zivilisation des Altertums“ (deutsch von Ernst Kapff, Stutt¬
gart 1922, Julius Hoffinann) uns einen Spiegel unserer Lage vorgehalten zu haben.
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Hugo Gaudig
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gewährt. Die Nation müsse sich, so meint man etwa, stets dessen be¬
wußt sein, daß sie in der Schule das Organ ihrer Selbstverjüngung zu
pflegen und zu ehren habe.
Hingegen fehlt eine Denkweise, die mir von größter Wichtigkeit zu
sein scheint und die meinem pädagogischen Denken gerade in der letzten
Zeit nicht unerhebliche Schärfe gegeben hat. Es handelt sich, kurz
gesagt, um Forderungen an die Daseinsweise der Nation, nicht um ein
Verhalten gegenüber der Schule, etwa im Geben und Anerkennen. Die
Schule erhebt als Schule Forderungen an die allgemeinen Daseins- und
Wirkensformen der Nation, und zwar im Interesse ihres Daseins und
Wirkens.
Die Schule, die sich so der Nation gegenüber fordernd stellt, ist nicht
eine „Institution“ oder eine Anstalt; der Gedanke, daß eine Anstalt sich
wider ihre Schöpferin und Trägerin erhebe, hätte etwas Groteskes. Die
Schule, die „Forderungsrechte“ geltend machen kann, ißt ein Teil des
nationalen Lebens; sie führt innerhalb des Ganzen des nationalen Lebens
ein „Schulleben“, und zwar ein eigenwesenhaftes und eigengesetzliches
und besitzt eine Organisation, dank derer sie ihre Rechte wahrnehmen
kann. Diese Organisation muß so gestaltet sein, daß sie von unten her,
d. h. von der Gesamtheit der Schulen an, aufsteigend, alle Kräfte des
gesamten Schullebens organisatorisch zusammenfaßt; zu diesen organi¬
satorisch zusammengefaßten Kräften zählen nicht nur die eigentlichen
Kräfte der Schule, sondern auch die Kräfte aller Kulturgebiete, die auf
das Schulleben gestaltend einwirken, etwa der Kunst und der Wissen¬
schaft.
Die so organisierte Schule, die sich als ein Teil des nationalen Kultur¬
lebens weiß, erhebt nun im Rahmen des nationalen «Lebens an die
Nation Forderungen, die für ihr Dasein wesentlich sind. Und zwar be¬
ziehen sich diese Forderungen auf Dasein und Wirken der Nation außer¬
halb der Schule.
Die Aufgabe der Schule ist die Eingliederung der Jugend in den
nationalen Kulturprozeß; unsere Jugend muß sich eindenken, einfühlen,
einleben in den Kulturprozeß, durch den die Nation sich zu höheren
Daseinsformen emporbildet Im Namen dieser ihrer Aufgabe, die als
eine von der Nation selbst gesetzte zu gelten hat, muß die Schule von
der Nation fordern, daß sie in eben dem Kulturprozeß steht, sich in
eben den Richtungen der Kulturentwicklung bewegt, auf die hin die
Schule ihre Jugend erzieht. Wenn die nationale Kulturentwicklung
sich nicht in diesen Richtungen bewegt so kommt die Nation mit sich
selbst in Widerspruch, und zwar in um so peinlicheren Widerspruch,
als sie ihrer eigenen Jugend Aufgaben stellt, deren Erfüllung sie selbst
nicht ermöglicht. Die Mängel des nationalen Lebens können dazu führen,
daß die Schule ihre Forderungen entweder auf das Gegenwartsleben
der Nation richtet oder auf die Entwicklung des nationalen Lebens in
die Zukunft hinein; im letzteren Falle wird das eine Mal die Forderung
auf leitende Gedanken (Ideen), das andere Mal auf tragende Kräfte
hinausgehen. .
Nehmen wir einen grundwesentlichen Fall: die Schule muß das Be¬
wußtsein haben, daß das gesamte nationale Leben von einem großen
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Das Forderungsrecht der Schule gegenüber der Nation
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Kulturwillen getragen wird; hat die Schule dies Bewußtsein nicht,
muß sie vielmehr wie etwa in unseren Tagen der Überzeugung sein,
daß im Grunde der Nation ein geschlossener, einheitlicher Kulturwille,
der auf die Emporbildung der Nation zu höherer Gesamtform des Lebens
gerichtet ist, fehlt, so muß die Schule mit dem stärksten Pathos bedrohten
Daseins diesen Kulturwillen von der Nation fordern, denn wo bleibt sie
sonst mit ihrer Absicht, der Jugend den Kulturwillen der Nation auf¬
zuweisen, sie in diesen Kulturwillen sich so eindenken und einfUhlen
zu lassen, daß er ihr zum starken Erlebnis wird? Sie selbst kann ja
gar nicht anders, als sich selbst zur Mitträgerin des nationalen Willens
zu machen; fehlt aber der nationale Wille, so kann die Schule ihre
Lebensaufgabe nicht erfüllen. Es ist ein gewaltig Ding für den Lehrer,
sich als Mitträger der nationalen Kultur zu wissen; geht aber durch die
Nation kein starker Kulturzug, so muß er darauf verzichten, seine Kultur¬
aufgaben unter den entscheidenden Gesichtspunkt zu rücken. Beruhigte
ersieh dann dabei, seine Kulturaufgabe etwa mit der Lektüre der
Aeneis des Virgil oder der Tragödien des Corneille erledigt zu sehen,
so kennt er nichts von der Daseinsnot, die verfehlter Lebenslauf heißt.
Wir rücken der Tragik unseres Standes um so näher, je mehr wir uns
als Mitträger des nationalen Kulturwillens wissen. Gewiß werden wir
unsere Jugend oft auf Glauben und Hoffnung hin in das nationale Kultur¬
leben eingliedern müssen, aber wenn wir uns des Kulturwillens der
Nation nicht wenigstens in dem Glauben und der Hoffnung sicher fühlen,
die „eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und ein Nichtzweifeln
an dem sind, das man nicht sieht“, so können wir im Grunde nicht er¬
ziehen, denn wir können unserer Jugend den Kulturprozeß nicht auf¬
weisen, für den wir sie erziehen wollen. Zwingt uns dann unsere Lebens¬
lage, auch nach der Erkenntnis, daß das nationale Leben die Voraus¬
setzungen für erziehliche Arbeit nicht bietet, doch noch Schularbeit zu
treiben, dann bleibt uns nichts als die Stumpfheit der Seele, die sich
genügen läßt, Stunden zu geben, Unterricht zu erteilen — natürlich mit
strengster Gewissenhaftigkeit besonders gegen den Lehrplan, diese Ein¬
richtung, die vom Leben in der Gewissenhaftigkeit großen Stils befreit,
— oder aber wir werden von dem tragischen Gefühl des verfehlten Be¬
rufs ergriffen und vielleicht vernichtet.
Das Ziel des Kulturprozesses darf nicht utopisch sein, es muß aber
idealen Zug tragen; wohl wird man die idealen Endziele oft als ferne End¬
ziele ansehen, aber man wird sich einen Weg Vorhalten, der von Etappe
zu Etappe zum idealen Endziel führt. Läßt aber die Kultur, in der wir
leben, den idealen Zug vermissen, sowie etwa die Kultur unserer Gegen¬
wart, aber auch die unter der Einwirkung der wirtschaftlichen Hoch¬
konjunktur vor dem Ausbruch des Weltkrieges stehende Kultur, so gerät
unsere Erziehungsarbeit in die peinliche Verlegenheit des Mangels idealer
Orientierung, es sei denn, daß man sich mit einem Abstraktum von
idealer Zielsetzung begnügt, so wie man’s jetzt vielfach tut. Die Schule
steht im Dienste der werdenden Persönlichkeit; dieser Dienst bedeutet
Bereitschaft für angespannte Arbeit, für die tiefgrabende Arbeit, die sich
einbohrt in die tiefste Wesenheit der Zöglinge und die ihre Eigenart in der
Totalität erfaßt, vor allem aber in ihnen die Kräfte der Selbstentwick-
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Hugo Gaudig, Das Forderungsrecbt der Schule gegenüber der Nation
lung mobil macht. Führt nun aber ein tieferes Eindringen in die kulturelle
Wirklichkeit zu der Erkenntnis, daß unsere Zeit für die feinen Prozesse
des Personwerdens keinen Raum hat, daß vielmehr das eigenwesentliche
Leben in der unpersönlichen Massenhaftigkeit, oder wenn man lieber
will, der massenhaften Unpersönlichkeit, erstickt, dann mag man entweder
resignieren und mit Bewußtsein umsonst am Werden der Persönlichkeit
arbeiten, oder aber man hilft schon in der Schule mit dazu, daß der
einzelne Massenmensch wird, ein wohl angepaßtes „Glied“ der Menschen¬
masse.
Und um nur noch zwei weitere Beispiele zu nennen: Wie schlimm ist
die Schule beraten, wenn sie mit aller Kunst darauf hinwirkt, daß der
einzelne Zögling in möglichst starkem Maße Träger der Nationalität
wird, wenn aber die Jugend jenseits der Schule als Nation eine zersetzte
Volksmasse wahmimmt! Oder: Die Schule tut alles um ihre reifere
Jugend zur Teilnahme an einem tüchtigen nationalen Denkleben zu
erziehen; die Nation aber ist z. B. nicht fähig, sich zu einer wertvollen
„öffentlichen Meinung“ emporzuheben.
Auf welchem Gebiete nun immer die Schule keine Aussicht hat, ihre
Jugend in einen nationalen Kulturprozeß einzugliedern, dort resigniere
sie nicht in Hoffnungslosigkeit, dort tröste sie sich auch nicht mit der
Hoffnung, daß ihre Jugend, wenn sie herangewachsen sein wird, einen
eigenen Weg zur Kultur finden wird, sondern sie erhebe mit stärkstem
Pathos an die gegenwärtige Nation die Forderung, den Kulturprozeß
zu wirken, in den die Schule ihre Jugend einzugliedem vermag. Eine
Nation, die zur Einstellung auf einen Kulturprozeß nicht fähig ist, ist
nicht „schulfähig“.
Experimentalpsychologie und Pädagogik.
Von Martin Honecker.
Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß trotz aller Fortschritte einer
experimentell gerichteten pädagogischen Psychologie, trotz aller Zeitschriften
und aller Institute für experimentelle Pädagogik in manchen Kreisen der
Pädagogen die Opposition gegen die experimentelle Psychologie nicht ver¬
schwinden will. Tritt sie auch heute in der Literatur weniger zutage, so
wirkt sie doch nicht minder im stillen. Noch immer gibt es Pädagogen, die
in ihrer Unterrichtstätigkeit (z. B. an Lehrerseminaren) die Experimentalpsycho¬
logie fast nur erwähnen, um sie radikal abzulehnen. 1 )
Den Ursachen solcher Stellungnahme soll hier nicht nachgegangen werden.
Doch wird Inan kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß nicht wenige
Gegner mangels persönlicher Kenntnis der Methoden und des Betriebes der
Experimentalpsychologie eine gänzlich falsche Vorstellung von ihr und von
der Bedeutung des psychologischen Experimentes haben. Darum sei in diesen
Zeilen der Versuch gemacht, eine allseitig befriedigende Lösung des Problems
') Die Gegnerschalt mancher Junglehrer gegen den Seminarunterricht mag zu einem Teil auch
in dieser nicht selten vorkommenden stiefmütterlichen Behandlung der experimentellen Psycho¬
logie wurzeln.
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Martin Honecker, Experimentalpsychologie und Pädagogik
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der möglichen Beziehungen zwischen Experimentalpsychologie einerseits und
Pädagogik anderseits durch eine grün d legende Untersuchung anzubahnen,
die vor allem die Bedeutung des Experimentes in der Psychologie selbst betrifft
und auf diesem Wege dann leicht nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch
die Grenzen seiner Anwendung beleuchtet. 1 )
Es bandelt sich somit um folgende Fragen:
1. Worin besteht die Eigentümlichkeit jener Psychologie, die sich die „ex¬
perimentelle“ nennt? Doch da diese Frage sich sogleich von selbst durch
den Hinweis auf das Experiment beantwortet, so muß man weiter fragen:
Welche Rolle spielt das Experiment gerade in der Psychologie?
2. Welche Beziehungsmöglichkeiten ergeben sich alsdann für die
Pädagogik im Hinblick auf die so gekennzeichnete Experimentalpsychologie
und das in ihr verwendete Experiment?
Was ein wissenschaftliches Experiment ist, bedarf hier keiner weiteren
Untersuchung. Es läßt sich für unsre Zwecke vorab kurz bestimmen als die
planmäßige und willkürliche Herbeiführung eines Vorganges zum Zweck seiner
wissenschaftlichen Betrachtung. So handelt es .sich in der Psychologie um
eine derartige Herbeiführung eines seelischen Vorganges.
Das Experiment stellt sich somit als eine Methode dar, als ein planmäßiges
Verfahren, demnach als Mittel zu einem Zweck. Alle Mittel aber sind, will
man sie beurteilen — und darum dreht es sich in unserm Falle — vom
Standpunkt ihres Zweckes aus zu beschauen.
Es entsteht also die neue Frage: Welche Zwecke können bei wissenschaft¬
licher Betätigung überhaupt in Rede stehen? Und weiter: Inwiefern kann
solchen Zwecken. das Experiment, speziell das psychologische Experiment
dienen? Wir sehen uns somit veranlaßt, zur Lösung unseres Problems all¬
gemeine wissenschaftstheoretische Betrachtungen zu Hilfe zu nehmen, deren
Ort die Methodenlehre der Logik ist. 2 ) Wem eine solche Grundlegung un¬
nötig weit auszuholen scheint, wird wohl in der Folge eines anderen belehrt
werden.
Die reine, d. h. lediglich der Wahrheitsermittlung dienende Wissenschaft
erstrebt zunächst einmal die Beschreibung der in ihrem Tatsachengebiet
liegenden Einzelgegenstände. So sucht der Chemiker die Eigenschaften
der Elemente zu ermitteln, der Literaturgeschichtler die einzelnen literarischen
Produkte zu beschreiben, der Psycholog die seelischen Elementarerschei-
mrngen zu erfassen.
Sodann geht der Wissenschaftler dazu über, die tatsächlichen Beziehungen
der Einzelgegenstände untereinander festzustellen, d. h. zu zeigen, in welchen
konkreten oder allgemeinen (gesetzmäßigen) Verknüpfungen sie stehen. Dazu
gehört vor allem die Ermittlung von Abhängigkeitsrelationen. Auf solche
') Die folgenden Ausführungen decken sich inhaltlich mit Teilen von Vorträgen, die der Verf.
5i ® gleichen Thema im Jahre 1922 auf einigen „Pädagogischen Wochen 11 des Zentraliostituts
tär Erziehung und Unterricht gehalten hat. Mehrfache Anfragen aus dem Zuhörerkreise haben
'«tznlaßt, daß diese grundlegenden Erörterungen in der vorliegenden Form einer breiteren öffent-
***hkeit zugänglich gemacht werden.
*) Man vergleiche die grundsätzlichen Untersuchungen zur Methodenlehre in meinem Buche
»Qegenstandslogik und Denklogik“ (Berlin 1921, S. 87 ff.).
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Martin Honecker
Art untersucht der Chemiker die gegenseitige Wirkung der Elemente und
ihrer Verbindungen, während der Literarhistoriker den Entstehungsbedingungen
der literarischen Werke nachgeht. Der Psycholog seinerseits widmet sein
Augenmerk der gesetzmäßigen Verflechtung der seelischen Erscheinungen,
z. B. dem Zusammenhang zwischen Empfindung und Vorstellung, zwischen
Gegenstandserlebnis und Gefühl, zwischen Werten und Wollen usf. Er
geht bekanntlich sogar über diese innerpsychischen Relationen hinaus
und sucht psychophysische Zusammenhänge aufzudecken, d. h. Be¬
ziehungen zwischen seelischen Sachverhalten einerseits und anatomischen,
physiologischen und physikalischen Tatsachen anderseits.
Diese beiden Betätigungsweisen des Wissenschaftlers machen den Kern
desjenigen Teiles der Wissenschaft aus, der gemeinhin „Forschung“ ge¬
nannt wird. Gegenstandsbeschreibung und Gegenstandsverknüpfung bilden
demnach auch das Herzstück der psychologischen Forschung. 1 )
Ein anderes Ziel .wissenschaftlicher Tätigkeit, das vom Forschungszweck
vollkommen verschieden ist, besteht in der Darstellung, d. h. in der
Fixierung der Forschungsergebnisse und ihrer mündlichen oder schriftlichen
Mitteilung an andere. Wie in jeder andern Wissenschaft, so hat natürlich
auch in der Psychologie dieser Gesichtspunkt sein Recht.
Wiederum ändert sich das Bild, wenn es nicht mehr auf interesselose Er¬
mittlung oder Mitteilung der Wahrheit, sondern auf die praktisch-tech¬
nische Verwertung der Forschungsresultate ankommt. So wird die reine
Wissenschaft zur Technik, die reine Psychologie zur angewandten Psycho¬
logie.
Daß beides, Darstellung wie Anwendung, die Forschung voraussetzt, ergibt
sich aus der Sachlage von selbst.
Besteht somit im ganzen ein dreifacher Zweck wissenschaftlicher Arbeit,
so liegt — kehren wir zu unsrer Frage nach den Mitteln zurück — von
vornherein die Annahme nahe, daß diese dreifache Zweckverschiedenheit
auch eine Verschiedenheit der Mittel, d. h. der wissenschaftlichen Methoden
bedingen werde. Für unser Thema gestaltet sich das Problem genauer zu
der Frage, welchen Sinn das psychologische Experiment in der forschen¬
den, in der darstellenden und in der anwendenden Psychologie besitze.
Wir beginnen mit der psychologischen Forschung, die, wie wir sahen,
als Beschreibung und als Verknüpfung auftritt. Doch will die forschende
Psychologie die Lösung dieser ihrer Aufgabe in Angriff nehmen, so steht
sie (wie jede wissenschaftliche Forschung) vor einer neuen Frage: Sind
denn die Gegenstände ohne weiteres der wissenschaftlichen Erfassung zu¬
gänglich, oder bedarf es dazu weiterer Mittel? 2 ) Das Problem, das hier auf¬
taucht, bezeichnen wir als das der Gegenstandsgewinnung. Es macht
sich in jeder Wissenschaft geltend. So gewinnt etwa der Historiker, der
z. B. einen alten Vertrag beschreiben will, diesen Gegenstand, indem er ihn
') Der also innerhalb der psychologischen Forschung liegende Unterschied von beschreiben¬
der und verknüpfender Psychologie deckt sich nicht ganz mit der sonst oft betonten Differenz
zwischen deskriptiver und explikativer Psychologie. Auch die Unterscheidung von ana¬
lytischer und synthetischer Psychologie meint nicht genau dasselbe.
*) Wir beschränken uns im folgenden der Einfachheit halber auf die Vorarbeit zur Gegen¬
standsbeschreibung unter Vernachlässigung der Gegenstandsverknüpfung, für die jedoch ähnliches
gilt wie für jene.
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Experimentalpsycbologie und Pädagogik
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in einer Handschrift findet, diese entziffert und auslegt. Das Problem der
Methoden der Gegenstandsgewinnung entpuppt sich also als das alte Problem\
der Forschungsquellen, das besonders für die historischen Wissenschaften
bereits eingehend behandelt worden ist.
Sehen wir näher zu, so spaltet sich das Problem in drei Unterfragen:
a) Wo ist der Gegenstand zu suchen? — Quell-Ermittlung.
b) Wie wird die Quelle zugänglich? — Quell-Ersjrtüießung.
c) Wie ist sie auszuschöpfen? — Quell-Benutzung.
Das erste Problem der Gegenstandsgewinnung, das der Quell-Ermitt¬
lung, löst sich für die Psychologie ganz von selbst durch die Erwägung
ihrer Gegenstände. Wo anders sind seelische Erscheinungen zu suchen als
beim erlebenden Individuum? Dabei wird es gewiß einen nicht zu über¬
sehenden, aber doch nicht grundwesentlichen Unterschied bedeuten, ob der
Psychologe jene seelischen Phänomene im eigenen oder im fremden Er¬
leben aufsucht. Es entsteht dann nur die weitere Frage, wie mir das Fremd-
erteben zugänglich wird.
Doch dies leitet schon zum zweiten Problem, zu dem der Quell-Erschließung
Ober. Mit dem Hinweis auf mein eigenes Bewußtsein oder das des Mit¬
menschen ist erst der Ort aufgezeigt, sozusagen die Bühne angegeben, wo
ach etwas abspielen kann. Will ich aber Seelisches erforschen, so muß es
selbstverständlich zunächst tatsächlich da sein. Ist diese Voraussetzung
erfüllt, so kann ich das seelische Geschehen einmal direkt erfassen, sei
es, daß ich in der Selbstbeobachtung auf mein eigenes Erleben hinschaue,
sei es, daß der Fremde ein Gleiches tut und das also Geschaute mir, dem
Forscher, mitteilt. Ein andermal kann es jedoch geschehen, daß mir dieser
direkte Weg verschlossen ist und ich gezwungen bin, mich auf einem Um¬
wege, indirekt, dem Gegenstände zu nähern. Darüber wird weiter unten
einiges zu sagen sein.
Beide Wege der Erfassung, der direkte wie der indirekte, setzen, wie ge¬
sagt, voraus, daß das gesuchte Erlebnis da ist oder einmal da war. An
dieser Stelle hebt die weitere Betrachtung an.
Wir bleiben zunächst beim direkten Erfassen. Das Erlebnis selbst trete
zuvörderst als ein zufälliges auf. Ich habe etwa plötzlich eine Empfindung,
die mir auffällt, z. B. eine Tonempfindung, und widme ihr meine beobachtende
Aufmerksamkeit. Oder ich versuche ein Gefühl, einen Willensakt, einen
Traum in rückschauender Beobachtung zu erfassen. 1 )
Für die psychologische Forschung ist es nun vorteilhafter, weil fruchtbarer,
wenn diese natürliche Beobachtung von Erlebnissen durch eine eingestellte
ersetzt wird; wenn ich also etwa mit dem Vorsatz einhergehe, alle Ton¬
empfindungen, die mir kommen, zu beobachten.
Doch auf den Zufall des Eintretens sind beide Verfahrensweisen ebenso
angewiesen, wie der Astronom auf den freilich voraus bestimmbaren Eintritt
eines Sterndurchganges oder einer Sonnenfinsternis, wie der Meteorolog auf
das schon schwerer zu berechnende Auftreten einer atmosphärischen Er¬
scheinung, wie der Seismolog auf das unvorhersehbare Erscheinen eines
Erdbebens.
Es hatte sich nun bekanntlich in den Naturwissenschaften gezeigt, daß
’) Nicht viel anders ist’s, wenn ein fremder Beobachter mir seine Erlebnisse übermittelt.
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Martin Honecker
wir einen Vorgang um so besser erfassen können, je genauer wir seinen Ein¬
tritt vorauszuseben vermögen; je erschöpfender ferner unsere Kenntnis seiner
Bedingungen ist; je besser es schließlich gelingt, den Vorgang isoliert, mit
andern möglichst wenig verquickt zu beobachten. Die Naturwissenschaften
waren daher schon lange dazu Obergegangen, die zu beobachtenden Er¬
scheinungen einzeln zu erzeugen, d. h. experimentell herzustellen.
Da aber der Psycholog für seine Gegenstände dieselben Wünsche betreffs
Voraussehbarkeit, Bedingungskenntnis und Isolierungsmöglichkeit hegen muß,
so lag die experimentelle Erzeugung oder Herstellung psychischer Vor¬
gänge nahe.
Wir stehen hier bei der ersten Aufgabe des psychologischen Ex¬
perimentes. Unter möglichst genauer Kenntnis seiner Bedingungen und
des Zeitpunktes seines Eintretens wird ein einzelnes Erlebnis künstlich,
d. h. willkürlich und mit besonderen Mitteln hervorgerufen, damit es vom
Erlebenden beobachtet und beschrieben werde. Man kann diesen Sinn des
Experimentes durch die Bezeichnung „Darstellungsexperiment“ 1 ) oder
„Herstellungsexperiment“ 2 ) ausdrücken. 3 )
All das betraf das direkte Erfassen des selbstbeobachteten Eigen- oder
des mitgeteilten Fremderlebens. Wie aber schon vorhin angedeutet wurde,
steht' uns noch ein zweiter, indirekter Zugang zum Erleben offen, und auch
hier begegnen wir dem Experiment. Dieses indirekte Erfassen hält sich an
die Äußerungen des Seelenlebens und sucht von diesen Zeichen aus deutend
und rückschließend zum Seelischen selbst vorzudringen. Dabei macht es
allerdings einen Unterschied aus, ob das zu erfassende Phänomen sich in
der Gegenwart abspielt oder in der Vergangenheit liegt.
Das gegenwärtige Seelenleben erschließe ich aus seinen Leistungen
oder aus seinen Symptomen. An die Leistung wende ich mich, wenn
ich etwa Vorstellungsverläufe aus Gedächtnisleistungen, Aufmerksamkeits¬
schwankungen aus Rechenresultaten, psychische Ermüdung aus ähnlichen
geistigen Leistungen oder am Effekt körperlicher Arbeit ablesen will. Die
schon im täglichen Leben übliche Symiptomverwertung ist bekanntlich
wissenschaftlich zu der sog. Ausdrucksmethode verfeinert worden. Nach-
*) Einen engeren Sinn hat das Wort „Darstellungsexperiment“ bei W. Baade (Ober psycholo¬
gische Darstellungsexperimente, Archiv lür die ges. Psychol. 35, 1916, S. 1—23; man ver¬
gleiche vom selben Vert. den Aufsatz „Aufgaben und Begriffe einer darstellenden Psychologie“,
Zeitschr. fUr Psychol. 71, 1916, S. 366—367). Für Baade besitzt das Darstellungsexperiment
nicht nur den Zweck, das Erlebnis herzustellen, sondern auch besondere Maßnahmen filr die
Beobachtung zu treffen.
*) Das Wort meint etwas anderes als die z. B. in der Psychophyaik gebräuchliche sog. „Her-
stellungsmethode“.
3 ) Der Vorteil, durch Wiederholung der gleichen Bedingungen das gleiche Erlebnis beliebig
oft erneuern, somit Beobachtungen desselben Erlebenden oder gar verschiedener Erlebender mit¬
einander vergleichen zu können, steigert bekanntlich die Brauchbarkeit des Experimentes. Ver¬
nachlässigt man nämlich die Tatsache, daß verschiedene Beobachter um einige Nuancen ver¬
schiedene Erlebnisse beschreiben, hält man 6ich also an das allen Gemeinsame, so gelangt man
zu den üblichen Durchschnittsresultaten der al 1 gemeinen Psychologie. Berücksichtigt man
aber bei gleichen Versuchsbedingungeu die Abweichungen der einzelnen Beobachter, so ge¬
winnt man die persönlichen Eigentümlichkeiten, die den Gegenstand der differentiellen
Psychologie bilden. Weisen diese individuellen Differenzen wiederum untereinander gewisse
gruppenmäßige Übereinstimmungen auf, so kommt man in der Typologie zur Aufstellung be¬
stimmter Erlebnistypen.
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Eiperimentalpsychologie nnd Pädagogik
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dem z. B. festgestellt war, daß Gefühlsverläufe ihren charakteristischen Aus¬
druck in Veränderungen des Pulses, des Atems, des Gefäßvolumens usw.
j finden, war der umgekehrte Weg, vom Ausdruck auf das Erleben zurück-
r zuschließen, von selbst gegeben. 1 )
Fragen wir uns nun, was in diesen Dingen das Experiment vermag, so
ist festzuhalten, daß es auch hier in erster Linie die willkürliche Erzeugung
eines isolierten Erlebnisses zu bestimmtem Zeitpunkt und unter bekannten
: Bedingungen bezweckt.
Allerdings tritt in diesem Falle noch einiges hinzu. Erhält schon bei dem
i vorhin besprochenen einfachen Herstellungsexperiment der Beobachter (die
Versuchsperson) eine Instruktion, die in der Anweisung zum Be¬
obachten besteht, so gewinnt diese Instruktion im Leistungsexperiment
' eine erhöhte Bedeutung. Sie umfaßt neben der Beobachtungsaufgabe noch
die Vorschrift zum Vollziehen der Leistung, etwa der Rechenoperation oder
! des Auswendiglernens usw.
Diese Leistung selbst ist entweder eine rein psychische, z. B. eine
Rechenaufgabe. Alsdann wird sie von der Vp: mündlich oder schriftlich
fixiert. In andern Fällen stellt sie jedoch einen physikalisch meßbaren
Effekt dar, etwa eine Gewichtshebung. Damit erwächst aber dem Experiment
i noch eine letzte Aufgabe, und das gleiche bat bei jedem Symptom¬
versuch statt: es ist die Aufgabe der Leistungs- und Symptom¬
registrierung. Äußerlich, d. h. an dem Aufwand von Apparaten gemessen,
mag diese Funktion sogar als die wichtigste Seite solcher Experimente er-
, scheinen. Doch für die innerliche und wesentliche Betrachtung bleibt die
| künstliche Erlebniserzeugung nach wie vor die Hauptsache.
Bislang sprachen wir noch vom gegenwärtigen Erleben. Das ver-
j gangene ist für unsern Gesichtspunkt ohne Belang. Zugänglich ist es in
i objektiven, bleibenden Niederschlägen, sei es in mitteilenden Briefen,
I Tagebüchern, Memoiren usw., sei es in Produkten künstlerischer oder gewerb¬
licher Tätigkeit, die unter Umständen einen Rückschluß auf das Erleben des
Schaffenden gestatten. Vom Experiment ist hier nicht die Rede. Denn
I im Vergangenen läßt sich nicht experimentieren. Wohl lassen sich — aber
das ist ein anderer Gesichtspunkt — gegenwärtige Erlebnisse gerade mit
I Hilfe des Experimentes gewissermaßen aufbewahren, so daß auf solche Weise
vergangenes Erleben der späteren Forschung zugänglich bleibt. Denn die
moderne Psychologie betrachtet nicht allein die Registrierung von Leistungen
und Symptomen, sondern mehr noch die genaue Protokollierung der aus¬
führlichen Aussagen der Beobachter über die Versuchserlebnisse als ein un¬
entbehrliches Zubehör eines jeden psychologischen Forschungsexperimentes.
Doch das führt uns bereits zum dritten Problem der Gegenstandsgewinnung,
nämlich zur Frage der psychologischen Quellbenutzung.
Auch dieser Punkt braucht in unserm Zusammenhänge nur kurz behandelt
zu werden; das für das Experiment Bedeutungsvolle soll dabei im Vorder¬
gründe stehen.
Zwar bedarf es zur Beobachtung und Feststellung der Eigenschaften
■ psychischer Erscheinungen im Grunde genommen nur eines gelegentlichen
*) Nicht immer wird bei der Anwendung dieser Methode genügend beachtet, daß, wie in der
Medizin, nicht einzelne Symptome, sondern nur bestimmte Symptom komplexe oder Aus-
druckskombinationen eine halbwegs sichere Diagnose erlauben.
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28
Martin Honecker
oder künstlichen Erlebnisses 1 ). Dennoch wird man der größeren Sicherheit
halber, sowie zur Ausschaltung zufälliger Bedingungen und auch' zur Aus¬
merzung persönlicher Differenzen auf eine Häufung von Erlebnissen nicht
verzichten. Darum sammelt der Psycholog die Gelegenheitserlebnisse
in Fragebogen (Umfragen), vervielfacht er die künstlichen Erlebnisse
in langen Versuchsreihen mit vielen Versuchspersonen.
Das Vorgehen der psychologischen Gegenstandsgewinnung mag damit
für unsere Zwecke genugsam gekennzeichnet sein 2 ). Auf den beschriebenen
Wegen wird das Material für die Gegenstandsbeschreibung und die Gegen¬
standsverknüpfung herangeschafft, damit also die eigentliche Forschung
vorbereitet. Diese selbst hat für das Experiment keinen Patz. Sie be¬
dient sich nämlich auf Grund des mit oder ohne Experiment zusammen¬
getragenen Stoffes ganz eigener Methoden, als da sind: Analyse, Ver¬
gleich, Klassifikation, statistische Berechnung und Interpretation 2 ).
Es beschränkt sich also das Experiment im Gebiete der psycho¬
logischen Forschung durchaus auf die vorbereitende Gegenstands¬
gewinnung und dient dort 1. der Herstellung von Erlebnissen, 2. der Aus¬
lösung von Leistungen, 3. der Aufzeichnung von Leistungen und Sym¬
ptomen.
Diese gewiß nicht unwichtigen Funktionen des psychologischen Experimentes
können die Tatsache nicht verschleiern, daß es sich, weil nur der Gegen¬
standsgewinnung dienend, lediglich im Vorhofe der Forschung abspielt.
Der Kern der Forschung besteht ja in der wissenschaftlichen Beschreibung
der Gegenstände und ihrer Verknüpfung. Hier ist somit ein Wesensunter¬
schied zwischen der auf Experimente gestützten und der auf gelegentlicher
Beobachtung fußenden Psychologie in der Methode nicht möglich. Die
experimentelle Psychologie ist also nur durch die eigentümliche Art
ihrer vorbereitenden Gegenstandsgewinnung gekennzeichnet.
Nachdem die Rolle des Experimentes in der Forschung festgestellt ist,
wenden wir uns zu der andern Frage, welches seine Bedeutung für die
übrigen wissenschaftlichen Tätigkeiten sei. Hat es etwa auch einen Platz
in der Darstellung? Die Frage muß schon allgemein im Hinblick auf
das Demonstrations-Experiment bejaht werden. Dieses besteht bekannt¬
lich, ohne selbst Forschungszweck zu haben, durchweg in einer meist ver¬
kürzten und dem Darstellungszweck angepaßten Nachahmung des Forschungs¬
experimentes, will mithin, da dieses der Gegenstandsgewinnung gilt, seiner¬
seits nur das jeweils in Rede stehende Phänomen vorfuhren, falls es nicht
die Darlegung des Forschungsverfahrens selbst bezweckt. Auch das psycho¬
logische Experiment kann, ähnlich wie das physikalische, chemische oder
physiologische, die Form einer für den Unterricht berechneten Demonstration
annehmen. Da in diesem Falle der Darstellungszweck die Hauptsache ist,
! ) Das gilt jedoch nicht für die Gegen Stands Verknüpfung, die vielmehr einer langwierigen,
auf zahlreiche Einzelfälle gestützten Induktion nicht entarten kann.
2 ) Die Gegenstandsverknüpfung bedarf naturgemäß einer ähnlichen Vorbereitung wie die oben
allein beachtete Gegenstandsbeschreibung. Ihr dient das Experiment in Gestalt des induktiven
„Kausalexperimentes“ (vgl. W. Baade, Über psycholog. Darstellungsexperimente, S. 7ff.).
3 ) Es sind diejenigen Methoden, die William Stern (Die differentielle Psychologie in ihren
methodischen Grundlagen, 3. Aufl. Leipzig 1921, S. 28) als „Verarbeitungsmethoden“ von den
„Feststellungsmethoden“ scheidet, wobei er unter den letzteren die Methoden zur Beschaffung
des Rohmaterials, also unsere „Methoden der Gegenstandsgewinnung“ versteht.
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Experimentalpsychologie und Pädagogik
29
dieser aber allen Demonstrationsexperimenten gemeinsam ist, so werden hier
etwaige Besonderheiten des psychologischen Experimentes, die uns in diesem
Zusammenhänge interessieren könnten, nicht zu erwarten sein.
Als letzter Gesichtspunkt trat oben jener der angewandten Wissen¬
schaft auf. Auf unser Problem übertragen, gestaltet er sich zu der Frage
nach der Bedeutung des Experimentes für die angewandte Psychologie.
Daß es für diese Disziplin unentbehrlich geworden ist, lehrt ein Blick in
ihren gegenwärtigen Betrieb. Daß es aber auch theoretisch betrachtet ein
überaus brauchbares Hilfsmittel der angewandten Psychologie darstellen muß,
«gibt sich aus folgender kurzer Überlegung.
Die angewandte Psychologie sieht ihre Aufgabe wesentlich darin, das
Vorhandensein bestimmter psychischer Vorgänge oder Dispositionen zu prak¬
tischem Behufe* nachzuweisen. Da bieten sich von vornherein zwei Wege:
Der Schluß aus den Leistungen und der Schluß aus den Symptomen. Auf
beiden Wegen aber können wir nach früher Gesagtem das Experiment
benutzen. Freilich, ein erheblicher Unterschied liegt jetzt vor; er macht
ach auch im Charakter des Experimentes geltend. Diente das Leistungs¬
und das Symptomexperiment, so wie es oben beschrieben wurde, der
Forschung, so tritt es hier als Probe, als „Test“, als Zeugnisversuch zu
rein praktischem Zweck auf. Daher fehlt hier das Unsichere, Tastende,
Suchende des Forschungsexperimentes, fehlt vor allem die hin und her
gehende Bedingungsvariation nicht minder als auch der eingehende Erlebnis¬
bericht. Dafür bietet das Experiment der angewandten Psychologie das Bild
eines festen, wohlerprobten Schemas, dessen Durchführung fast zur hand¬
werklichen Fertigkeit werden kann.
Betrachteten wir im vorstehenden auch vornehmlich die positive Be¬
deutung des psychologischen Experimentes, so wurde doch gelegentlich
auf die negative Seite, auf seine Grenzen hingewiesen. Darüber noch
einige Worte! Wir beschränken uns dabei auf das Forschungsexperiment,
über dessen Grenzen auch die andern Arten nicht hinausreichen können.
Die Beschränkung des Forschungsexperiraentes auf die Gegenstands¬
gewinnung war oben schon dargetan. Aber auch in diesem Bereich ist es
von der Alleinherrschaft weit entfernt. Die gelegentliche Beobachtung
wird daneben stets ihr gutes Recht behaupten können. Denn das im Labo¬
ratorium Festgestellte trägt — wenn auch heute komplizierte Erlebnisse des
Denkens und Wollens mit Erfolg in den Rahmen des Experimentes gebracht
worden sind — immer einen gewissen Hauch künstlicher Zucht an sich; es
fehlt ihm die Nähe des frischen Lebens, zumal da es das Einzelerleben viel¬
fach nicht nur isoliert, sondern auch vereinfacht und schematisiert. Die ge¬
legentliche Selbstbeobachtung wird daher überall dort ergänzend einspringen
müssen, wo es etwa der Psychologie daran liegt, dem unermüdlich fließen¬
den, reichen Strom des Alltagserlebens nicht allzu ferne zu bleiben.
Dazu tritt als zweites, daß es der Erlebnisse genug gibt, welche dem Ex¬
periment in ihrer spezifischen Eigenart nie ganz zugänglich sein werden*)
°der gegen deren künstliche Erzeugung im Experiment Recht, Sitte und
Sittlichkeit Einspruch erheben müßten 2 ).
') Dabin gehören unseres Erachtens, trotz aller Mühen und aller scheinbaren Erfolge einer
experimentierenden Religionspsychologie, ihrem Wesen nach die religiösen Erlebnisse zentraler Art.
*) Man denke etwa an das Erlebnis der Todesangst oder an tiefgreifende Gewissenskämpfe.
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I
30 Marlin Honecker
Kurz: das Experiment ist auf keinen Fall Alpha und Omega der ganzen
Psychologie. Die Gelegenheitsbeobachtung wird als zweite Quelle der
Materialbeschaffung niemals zu entbehren sein 1 )* Erst in ihrer Gesamtheit
bilden beide für die Psychologie das „fruchtbare Pathos der Erfahrung“.
n.
Von fundamentalen Gedanken aus haben wir uns (im ersten Teil des Auf¬
satzes)' die Rolle des Experimentes innerhalb der Psychologie vor Augen
geführt. Unser Thema leitet uns nunmehr zu der Frage: „Was bedeuten
Experimentalpsychologie und psychologisches Experiment für die Päda¬
gogik?“ Diese Hauptfrage soll in mehreren Richtungen verfolgt werden.
Daß die Psychologie überhaupt als Hilfsdisziplin und Grundwissenschaft
der Pädagogik anzusprechen sei, ist eine Binsenwahrheit, deren Bestreitung
niemand unternehmen wird. Nun dürfte es aber außer Zweifel stehen, daß
eine auch experimentell verfahrende Psychologie einer andern, welche auf
das Experiment verzichten zu müssen glaubt, einmal durch eine gewisse
Exaktheit überlegen ist. Sie kommt ferner eher zum Ziel als ein Verfahren, das
alle seine Gegenstände erst abwarten muß, und hat infolgedessen einen größeren
Reichtum an Resultaten aufzuweisen. Darum wird die Pädagogik, sofern sie bei
der Psychologie Anlehnung sucht, an der experimentellen Psychologie keines¬
wegs achflos vorübergehen dürfen, wenn gerade diese etwas für die Psycho¬
logie Belangreiches aufgedeckt hat. Freilich, dieses „Wenn“ ist von ausschlag¬
gebender Bedeutung. Man müßte also die Resultate eben der Experimental¬
psychologie daraufhin durchmustern, ob sie von pädagogischer Bedeutung sind.
Wir können uns aber diese Arbeit erlassen. Es ist zu bekannt, daß die
Pädagogik auf allen experimentell bearbeiteten Gebieten der Psychologie
Anknüpfungspunkte gefunden hat oder finden kann, sei es in der Sinnes¬
oder in der Vorstellungs-, in der Aufmerksamkeits- oder in der Gedächtnis-,
in der Gefühls-, der Denk- oder der Willenspsychologie. Wer demnach eine
pädagogische Bildung erhält und dabei naturgemäß auch in Psychologie
unterrichtet wird, dem sollte man gerade die Resultate der experimentellen
psychologischen Forschung nicht — wie es hie und da immer noch ge¬
schieht — vorenthalten 2 ).
Doch nicht allein die mit Hilfe des Experimentes gewonnenen Resultate
der Psychologie dürfen uns als mögliche Beziehungspunkte für die Pädagogik
erscheinen. Auch an der Methode selbst, also an das Experiment als solches
müssen wir denken.
Das psychologische Experiment tritt nach früher Gesagtem in drei Formen
auf: als Forschungs-, als Demonstrations- und als Testversuch. Vom
') Es verdieut Beachtung, wenn Job. Lindworsky sein Buch „Experimentalpsychologie“
(Philos. Handbibliotb., Bd. 6, Manchen 1921) zwar nach der experimentellen als der haupt¬
sächlichen Methode benennt, dabei aber durchaus die Bedeutung der gelegentlichen Beobachtung
anerkennt. Man vgl. auch 0. Kttlpe, „Ober die Methoden der psycholog. Forschung“, Inter¬
nat. Monat8schr. 8 (1914).
2 ) Wir besitzen bereits genug Leitfäden der Psychologie, weiche auch die pädagogisch be¬
langreichen Resultate der Experimentalpsychologie berücksichtigen, sei es mit pädagogischen
Anwendungen, sei es ohne solche. Derartige Darstellungen mit dem Titel „Pädagogische
Psychologie“ zu belegen, ist aber angesichts der vielgestaltigen Bedeutung dieses Ausdrucks
nicht empfehlenswert. Besser ist die von O. Lipmann gewählte Bezeichnung: „Psychologie lür
Pädagogen“ bzw. „für Lehrer“.
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Experimentalpsychologie und Pädagogik
31
Forschungsexperiment wird weiter unten die Rede sein. Daß ferner der
psychologische Unterricht im pädagogischen Bildungsgänge sich des Demon¬
strationsexperimentes bedienen kann, bedarf als Selbstverständlichkeit
keiner weiteren Erörterung. So steht jetzt nur noch das Testexperiment
der angewandten Psychologie zur Betrachtung.
Oberall, wo dieser Versuch zur Feststellung psychischer Eigenschaften und
Dispositionen auftritt, herrscht ein ganz bestimmter leitender Gesichtspunkt
vor. Nun stellt aber die Pädagogik in gewissem Sinne eine Anwendung
der Psychologie dar, und auch sie bringt spezielle, eben pädagogische
Gesichtspunkte dazu mit. Es liegt somit von vornherein der Gedanke nahe,
dafi sie gleichfalls von den experimentellen Methoden der angewandten
Psychologie Gebrauch machen könne.
Wir können, wie oben, auch hier auf eine genauere Darlegung der tat¬
sächlichen Ausgestaltung dieser Beziehungen verzichten. Die Pädagogik hat
sch als „experimentelle Pädagogik“ der Testmethode in einer Weise
bemächtigt, daß noch gar kein Ende der Ausnutzung solcher Versuche für
Dtiterrichts- und Erziehungszwecke abzusehen ist. Es sei nur stichwortartig
darauf hingewiesen, daß sich das psychologische Experiment für die Prüfung
der Sinnes- und Beobachtungsfähigkeiten der Schüler, ihres Vor¬
stellungsbesitzes und ihrer Vorstellungseigenart sowie für die
Feststellung der Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Arbeits-, ins¬
besondere der Lerntypen überaus fruchtbar gezeigt hat. Namentlich ist
der Testversuch in Form des Begabungsexperimentes in letzter Zeit von
den Pädagogen vielfach praktisch ausgewertet worden. Die Intelligenz¬
präfungen beim Schuleintritt zur Ausscheidung geistig schwacher Kinder,
die Begabungsprüfungen während des normalen Schullehrganges zur Auslese
hochbegabter Schüler und endlich die Prüfung der Sonderbegabung beim
Verlassen der Schule zur Unterstützung der Berufsberatung erobern sich ein
immer breiteres Feld der Anwendung und gewinnen eine stets wachsende
Anhängerschaft. Über die viel umstrittene Frage, ob die Schule der rechte
Ort für solche Versuche und ob der Lehrer der geeignete Versuchsleiter
sei, wird gleich noch einiges zu sagen sein.
Der eben angedeutete Gedanke, daß die Pädagogik mit ganz bestimmten
Gesichtspunkten an die Psychologie herantrete, gibt Anlaß zu einer dritten
Betrachtung. Unter neuen Gesichtspunkten entstehen der Forschung allemal
neue Aufgaben. Daher ist der pädagogische Standpunkt geeignet, der
psychologischen Forschung neue Aufgaben aufzuzeigen, neue Themata zu
stellen, zu deren Bearbeitung unter Umständen psychologische Forschungs¬
experimente erforderlich sind.
So wird von der Unterrichtslehre her die psychologische Untersuchung des
Unterrichtsmaterials (etwa der Schriftarten) sowie der Unterrichtsform (z. B.
der Bedingungen der anschaulichen Darbietung, der Anordnung der Stoffes
im Stundenplan, der Mittel zur Beeinflussung der Aufmerksamkeit, der
psychischen Wirkungen körperlicher und geistiger Ermüdung usf.) angeregt.
All das bedeutet aber nicht bloße Resultatausnutzung und Anwendung,
sondern vielfach ganz neue Themenstellung und neue Forschung, die nicht
selten ohne Experiment gar nicht auszukommen vermag 1 ).
') Vgl. E. Meuraann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I,
Aufl. Leipzig 1916, S. 14, 44, 49 !!.
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32
Martin Honecker
Das ist aber ein Punkt, an dem sich ein Streit erhebt. Stehen wir hier
vor einer neuen Wissenschaft, die, zwischen Pädagogik und Psychologie
liegend, die mit jener nur das Thema, mit dieser nur das Experiment gemein¬
sam hat? Oder liegen die gekennzeichneten Aufgaben in einem Zweig der
Psychologie? Oder fallen sie endlich der Pädagogik selbst anheim?
Bevor wir jedoch hier eine Lösung versuchen, müssen wir uns eins klar
machen: Kompetenzstreitigkeiten und Grenzkonflikte sind ein bevorzugter
Tummelplatz moderner wissenschaftlicher Kontroverse. Nicht selten ist die
Zuweisung einer Frage an diese oder jene Wissenschaft von tiefreichender
Bedeutung, wenn nämlich beide Disziplinen im Grunde genommen ver¬
schiedene Gegenstände oder mindestens wesensverschiedene Gesichtspunkte
und einander völlig fremde Methoden aufzuweisen haben 1 ). In andern Fällen
liegt jedoch eine Sachlage vor, die von der oben beschriebenen gänzlich ver¬
schieden ist. Manche wissenschaftliche Grenzkontroverse übersieht, daß die
Welt der Tatsachen nicht überall in scharf abgegrenzte, sozusagen durch
unüberwindliche Stacheldrahtzäune getrennte Bezirke zerfällt, daß es viel¬
mehr an vielen Punkten genug und übergenug hin- und herwebende Be¬
ziehungen gibt, daß also die Tatsachengebiete nicht selten unmerklich in¬
einander übergehen und eine scharfe Grenzscheide darum nicht immer zu
ziehen ist. Die Wissenschaftsgebiete sind oft mit Feldern zu vergleichen,
die zwar von verschiedener, aber doch verwandter und dazu ineinander
überfließender Bodenbeschaffenheit sind, so daß ich manchmal erst an den
fremden Blumen, die da wachsen, merke, daß ich von dem einen Boden
zum andern hinübergewechselt bin.
So ähnlich ist’s bei Psychologie und Pädagogik in bezug auf bestimmte
Forschungen und die Anwendung des Forschungsexperimentes. Ob psycho¬
logische Forschungsversuche mit pädagogischer Themenstellung in die Psycho¬
logie oder in die Pädagogik oder zwischen beide gehören, ist eine Frage,
die sich wohl nicht glatt nach einer Seite beantworten läßt 2 ). Fordern
aber die konkreten Umstände eine klare Antwort, fragt man etwa, welche
Persönlichkeit zu solchen Experimenten berufen sei, so lautet wohl die
beste Lösung: Es arbeite auf diesem Gebiete der, welcher beides, Psychologie
und Pädagogik, in seinem Können vereinigt. Der bloße Experimentalpsycholog,
dem die pädagogische Einstellung abgeht, tut’s ebensowenig wie der Pädagog
mit psychologischer Durchschnittskenntnis. Namentlich verdient hervorgehoben
zu werden, daß ein gedeihliches experimentelles Forschen nur dem möglich
ist, der sich in langer und sorgfältiger praktischer Schulung an einem psycho¬
logischen Laboratorium eine innige Vertrautheit mit diesem fehler- und
tückereichen Verfahren erworben hat und auch mit den physikalisch-tech¬
nischen Faktoren aufs genaueste bekannt ist. Vor der Vernachlässigung
dieser Vorbedingungen und vor dem leichtsinnigen Drauflosexperimentieren
kann nicht nachdrücklich genug gewarnt werden. Und noch ein zweites:
Wer sich zu experimentell-pädagogischer Forschung befähigt glaubt, der
arbeite an einem psychologischen oder pädagogisch-psychologischen Institut
*) Man denke an den vom Verf. in der obengenannten Schrift nachgewiesenen Unterschied
zwischen der Gegenstandslehre und der eigentlichen Logik als Denklehre sowie an die oft be¬
handelte Differenz zwischen der letzteren und der Denkpsychologie.
a ) Meum&nn weist psychologische Experimente mit pädagogischer Einstellung der „experi¬
mentellen Pädagogik“, d. h. aber einem Zweige der Pädagogik zu (a. a. 0. S. 13, 27, 42).
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Experimentalpsycbologie und Pädagogik
33
oder doch in steter Verbindung mit einem solchen. Denn unentbehrlich ist
nicht allein die Benutzung der teilweise sehr kostspieligen Apparatur, sondern
mehr noch die ständige persönliche Berührung mit einem Fachmann von
Ruf, der bei der Auswahl des Themas, dem Entwurf des Versuchsplanes und
der Versuchstechnik, der Durchführung der Experimente und der Auswertung
ihrer Ergebnisse mit seinem Rat fortwährend zur Seite steht
Der praktische Schulmann, der etwa dem psychologischen Versuch sym¬
pathisch gegenübersteht, wird hier vielleicht erstaunt fragen, ob denn
das Experiment gänzlich aus der Schule verbannt sein solle. Darauf ist
zunächst zu antworten, daß jetzt vom Forschungsexperiment die Rede
ist Dieses aber, das muß zugegeben werden, macht unter Umständen den
Klassen versuch erforderlich, und dieser ist somit unter diesen Umständen
an sich berechtigt. Der Psycholog muß natürlich dabei auf Beachtung der
oben dargelegten Bedingungen Wert legen, während man von pädagogischer
Seite verlangen wird, daß die Schulaufsichtsbehörden vorher ihre Einwilligung
gtben müssen und der Unterricht unter dem Versuch in keiner Weise leiden
darf.
Etwas anders liegt die Sache beim Testexperiment 1 )* Zwar verlangt
auch seine Anwendung im Klassenzimmer das Einverständnis, u. U. sogar
den Auftrag der Vorgesetzten. Ebenso sollte auch dieser Versuch niemals
in spielerischem Dilettantismus, sondern nur in der ernsten Absicht, das
Wohl der Schüler selbst zu fördern, unternommen werden. Allein die An¬
forderungen an den Versuchsleiter können etwas herabgestimmt werden.
Denn wer Testversuche unternimmt, braucht sich seine Technik nicht erst
selbst zu suchen und zu bilden, sondern kann von der angewandten Psycho¬
logie ein fertiges und wohlerprobtes Schema übernehmen. Immerhin ver¬
langen auch diese Experimente eine gute Schulung und vor allem viel Liebe
und Sorgfalt bei der Durchführung. Nicht umsonst hat William Stern
die Einrichtung des Amtes eines Schulpsychologen, der ein Analogon
zum Schularzt bilden würde, gefordert. Allein für viele, vielleicht für die
meisten Fälle wird dieses heutzutage ein frommer Wunsch bleiben 2 ). Da
mag füglich der mit dem Testexperiment vertraute Lehrer einspringen. Die
Notwendigkeit einer gründlichen, fachmännisch geleiteten Vorbereitung muß
auch in diesem Falle ausdrücklich bptont werden; daß sie auch in „Arbeits¬
gemeinschaften“ oder „Kursen“ erworben werden könne, ist nur unter der
einen Bedingung zu bejahen, daß die Leitung in der Hand einer besonders
befähigten und im Experiment gründlich geschulten Persönlichkeit liegt.
Eine Vorbildung zur Testverwendung von jedem Kandidaten des Schulamtes
zu verlangen und darauf auch bei der Neugestaltung der Lehrerbildung
Rücksicht zu nehmen, würde unseres Erachtens zu weit gehen. Selbst wenn
die Veranstaltung von Testversuchen, etwa zur Vervollständigung der Personal¬
bogen, künftig einmal offiziell angeordnet werden sollte, wäre doch zu be¬
achten, daß zum Experimentieren nicht nur Wissen, sondern auch eine ge¬
wisse Veranlagung gehört — und die ist nicht jedem eigen, noch ist sie zu
erwerben. Alsdann würde es sich wohl empfehlen, das Ideal des Schul-
') Manchenorts ließe sich vielleicht in Verbindung mit der Berulsberatung einiges erreichen.
*) Beachtenswerte Winke gibt neuerdings Friedr. Schneider, Schulpraktische Psychologie.
(Handbücherei der Erziehungswissenschalt, Bd. 2 ) Paderborn 1022 , S. 161.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3
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34 Martin Honecker, Experimentalpsychologie und Pädagogik
Psychologen in kleinerem Maßstabe durchzuführen, indem man befähigten
und geeigneten Kandidaten die Möglichkeit gäbe, sich in der Praxis der Test¬
versuche auszubilden, und sie dann in kleineren oder größeren Schulver¬
bänden mit der Vornahme solcher Experimente betraute. Der Klassenlehrer
selbst müßte natürlich mit dieser Persönlichkeit Hand in Hand arbeiten;
einige Sparten des Personalbogens würde er seinerseits selbst auszufüllen
haben.
Unsere Frage nach der Bedeutung der experimentellen Psychologie und
des psychologischen Experimentes für die Pädagogik dürfte im vorstehenden
wenigstens den allgemeinen Umrissen nach und hinsichtlich der positiven
Seite beantwortet sein. Die grundsätzliche Orientierung, mit der wir an¬
hoben, gestattet uns die Hoffnung, eine allseitige Betrachtung def Haupt¬
frage erzielt zu haben.
Auch hier soll zum Schluß die negative Bedeutung, d. h. die Begrenztheit
des Experimentes nach der Sdite der Pädagogik hin, kurz behandelt werden.
Kein besonnener Psycholog oder Pädagog — und mag er sonst dem Ex¬
periment noch so sehr das Wort reden — wird etwa die Meinung vertreten,
daß die „experimentelle Pädagogik“ das gesamte Problemgebiet der Päd¬
agogik umfasse. Denn die Erziehungswissenschaft kann, wie wir schon sahen,
auch eine nichtexperimentierende Psychologie zu Rate ziehen. Ferner ist zu
bedenken, daß eine experimentell-psychologische Bearbeitung pädagogisch
belangreicher Fragen für die pädagogische Theorie nicht mehr als eine
Hilfe darstellen kann. Eine solche Forschung kann nur das Material, besser
gesagt: nur einen Teil des Materials herbeischaffen, mit dem die eigentliche
Theorie der Pädagogik arbeitet, um ihr Normsystem zu errichten *).
Ebenso wäre es töricht, wollte der praktische Schulmann in der Ver
wendung des Testexperimentes mehr als eine willkommene Unterstützung
seines pädagogischen Wirkens erblicken. Die Testversuche können für den
pädagogischen Praktiker immer nur eine wegebnende Hilfsarbeit darstellen,
hinter der sein eigentliches Schaffen niemals zurücktreten darf. Nicht minder
wäre es verwerflich, wenn ein Pädagoge sich in allen konkreten Fällen der
Praxis auf die Unterstützung durch das Experiment verlassen wollte. Manch
wirkliches Vorkommnis liegt so kompliziert,, daß es nicht nur aller Lehrbuch¬
weisheit, sondern auch jeglicher experimenteller Technik spottet. In solchen
Fällen haben von jeher nur ein gutes Maß praktischer Menschenkenntnis
und die Fähigkeit, sich in die Seele des Zöglings einzuleben, zum Ziele
führen können.
Über die Entwicklung
der Idealbildung in der reifenden Jugend.
Von William Stern.
Vorbemerkung: Auch dieser Aufsatz ist ein Abschnitt aus dem Buche „Das Seelenbild
der reifenden Jugend 14 , dessen Abschluß sich leider über den ursprünglich angesetzten Zeitpun
verzögert Die vorliegende Betrachtung über die Stellung der Jugendlichen zu den objektiven
Wertgebieten schließt sich an das bereits früher veröffentlichte Kapitel an, das die Entdeckung
Ähnlich Meumann (a. a. 0. S. 56 f.).
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William Stern, Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend 35
des Ichwertes durch den Jugendlichen behandelt („Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen“. Diese
Zeitschrift 23. Jahrg., Heft 1, 2, S. 8ff. 1922). Ebenso wie der erste Aufsatz bezieht sich auch
dieser auf allgemeine Wesenszüge des mit der Pubertät einsetzenden Jugendalters; deshalb
I wird auf die zahlreichen Spezialuntersuchungen über die Ideale Jugendlicher nicht Bezug ge¬
nommen. (Vgl. die Vorbemerkung zu dem früheren Aufsatz).
, Die Entdeckung und Betonung des Ich-Wertes gibt die eine Seite des jugend-
| liehen Seelenbildes; sie erhält ihre notwendige Ergänzung in dem Verhältnis
za den Nicht-Ich-Werten, das in der Pubertätszeit eine ähnliche grundstürzende
Wandlung erfährt. Selbst bei noch so intensiver Innenwendung vermag doch
der junge Mensch nicht von der Existenz der Außenwelt abzusehen, von
deren Vergangenheit er bedingt, von deren Gegenwärtigkeit er bedrängt,
von deren Zukunft er beansprucht wird. Im Gegenteil: sein Ich selbst erhält
| erst Sinn und Begrenzung durch das Aufeinanderprallen seiner eigenen un-
; bestimmten Sehnsüchte mit objektiven Aufgaben und Forderungen, welche
| aus der Welt zu ihm herüberdringen. Erotik und Berufswahl, Kunstgenuß
' und Andacht, soziale Empfindung und politische Gesinnung — sie alle haben,
* abgesehen davon, daß sie brennende Erlebnisse des Subjekts sind, ihr trans-
j subjektives Ziel, ihren kosmischen Gehalt: Wie steht der Jugendliche zu
diesen Gehalt, zu den objektiven Werten?
Anch das Kind weiß von Vaterland, von Menschheit, von Gott; es kennt
Gefühle der Liebe oder der Verehrung zu den Eltern und Erziehern, dem
Herrscher, dem Freunde; es weiß um das Bestehen von Regeln, denen
es sich zu fügen, von Aufgaben, die es zu erfüllen hat. Insofern sind also
die objektiven Werte längst in seinen Gesichtskreis getreten. Und doch kann
man beim Übergang zur Reifezeit auch hier von einer Entdeckung sprechen.
\ Dem Kind sind die Werte gegeben als Tatsächlichkeiten, für den Jugend-
üchen verlieren sie die harte Zufälligkeit des bloßen Daseins; hinter ihrer
augenblicklichen Wirklichkeit wird ihr tieferer Sinn, ihre erst zu verwirk-
i liebende wahre Bedeutung gesucht. Dem Kinde sind die Regeln des
| Handelns auferlegt als Muß-Prinzipien, die mit gleicher Bündigkeit für Äußer-
I lichkeiten und innerliche Verhaltungsweisen, etwa für die Innehaltung ge-
wiser Betragensvorschriften in der Schule ebenso wie für das eigentliche
moralische Tun gelten; das „Du sollst“ klingt ihm in keiner Weise anders
ab das „Du mußt“. Für den Jugendlichen geht diese äußere Zwangsläufigkeit
1 der Forderungen verloren; ja er bäumt sich mit Macht dagegen auf. Dafür
' entwickelt sich das „Soll-Bewußtsein“ als eine besondere diesem Müssen
j entgegengesetzte Erlebnissphäre; es ist das Bewußtsein von Forderungen, die
zwar da draußen in dem — zu verwirklichenden — Wertträger ihren Ursprung
1 and ihr Ziel haben, die aber für das Individuum nur deshalb Geltung ge¬
winnen, weil die Objekte und ihr Wert innerlich erkannt und bejaht, zu
Idealen erhoben werden.
Man hat im Hinblick darauf, daß der Jugendliche der Ideale und Grund-
[ sitze fähig wird, behauptet, daß sich in dieser Zeit erst die „Abstraktions-
1 fähigkeit“ entwickle; wir mußten dieser Behauptung schon einmal, bei Be-
, l sprechung der Ichwert-Entdeckung, entgegentreten. Allgemeines erfassen
• kann auch schon das ältere Kind; es versteht z. B. den Begriff der Lüge und
den generellen Sinn des Gebotes „Du sollst nicht lügen“; durch richtige
Nennung von Beispielen erweist es, daß ihm Begriff und Gebot als Ausdruck
des Gemeinsamen für viele verschiedenartige Einzelfälle geläufig ist. Was
sich erst in der Reifezeit entwickelt, ist demnach nicht die Abstraktionsfähigkeit
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überhaupt, sondern eine höhere Art der Abstraktionsfähigkeit: das Allgemeine:
was jetzt gedacht wird, ist überhaupt nicht mehr aus den einzelnen Erfahrungen
extrahiert, sondern wird ihnen als sinngebender Maßstab gegenübergestellt;
es wird zur regulativen Idee 1 ). Fast ist man bewogen, die alte Scheidung
von Verstand und Vernunft wieder einzuführen: verständig denkt das Kind,
wenn es das Einzelne zu Begriffen generalisiert, vernünftig denkt der Jugend¬
liche, wenn er das Einzelne an Idealen mißt. Der Begriff der Lüge ergibt
sich dem Kinde durch Verallgemeinerung aus vielen Erfahrungen von (ver¬
botenen und bestraften) Lügenfällen, dem Jugendlichen durch die Abweichung
des empirischen Geschehens von dem Ideal der Wahrhaftigkeit.
So zeigt sich also beim Jugendlichen in einem ganz anderen Sinne eine
Überwindung der bloßen Erfabrungsgegebenbeit: er fragt — was das Kind
noch nicht tut — nach der Bedeutung der erfahrbaren Welt; „Bedeutung“
aber heißt stets: Hindeutung auf etwas anderes, und dies andere ist eine Welt
der Ideale, die dem Kinde noch fremd ist. Wir haben an dieser Stelle nicht
nach dem Recht und der objektiven Geltung dieser Ideale zu fragen; nur
der psychologische Zug geht uns an, daß die Reifezeit nach einer solchen
Idealwelt sucht, sie sich konstruiert und sie sogar in einen möglichst weiten
Abstand von der Wirklichkeit bringt. In jedem Jugendlichen steckt stets ein
Stück Platonismus; allgemeiner ausgedrückt: der metaphysische Trieb
erwacht.
Der metaphysische Zug muß hier in möglichster Allgemeinheit, nicht etwa
nur in seinem spezifisch philosophischen Sinne verstanden werden. Es wird
immer nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen sein, bei denen jene
Tendenz eine Hinwendung zur eigentlichen Philosophie bewirkt; damit dies
möglich sei, müssen als mitbestimmende Faktoren eine spezifisch wissen¬
schaftliche Einstellung und eine besondere Fähigkeit und Neigung zu be¬
grifflicher Spekulation hinzukommen. Aber auch die anderen großen Kultur¬
gebiete: Religion, Kunst und Sittlichkeit haben ihren metaphysischen Kern,
zu dem die Jugendlichen durch die siebenfache Schale der empirischen Ge¬
gebenheiten hindurchzudringen suchen. Sehen wir in diesem metaphysischen
Kern die eigentliche Bedeutung jener Geistesgebiete, dann dürfen wir sagen,
daß es religiöses, ästhetisches und ethisches Erleben im tiefsten Sinne zur
Zeit der Kindheit noch nicht gibt, daß es aber umso gewaltiger und gewalt¬
samer in der Reifezeit hervorbricht. Gewiß können und sollen wir schon
im Kinde eine naive Hingebung an das Göttliche erwecken, es zur Freude
an künstlerischen Werten in Schrifttum, Musik und Bildkunst heranbilden
und durch Erziehung und Belehrung seine Gesinnung und seine Hand¬
lungsweise im Sinne sittlicher Forderungen beeinflussen; aber wir dürfen
nicht vergessen, daß wir es hier nur mit Vorstufen und Vorbereitungen echter
Religiosität, echt ästhetischen Verhaltens und echter Moralität zu tun haben —
was leider sowohl im althergebrachten Religionsunterricht, wie in vielen Reform¬
bestrebungen für „Kunst im Leben des Kindes“ und für Moralunterricht ver¬
gessen worden ist. Diese Vorstufen sind erst dann überschritten, wenn der
Sinn für die in Religion, Kunst und Sittlichkeit liegenden Ideale und Normen
wach wird — und dies geschieht in der Pubertät. Sie ist also auch in diesem
Sinne eine „Reifungs“-Zeit.
*) S. auch den Aufsatz über das Ichbewußtsein S. 11.
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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend
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Hierbei ist es nicht durchaus nötig, daß die Idealbildung sofort in posi¬
tivem Sinne erfolgt. Das Wesentliche ist, daß die Problematik erwacht;
der metaphysische Trieb braucht nicht sogleich aufbauend zu wirken; auch
im Niederreißen kann er unter Umständen Genüge finden, wenn er nur die
bisherige Selbstverständlichkeit dumpfen Hinnehmens aufhebt. In den inneren
Kämpfen eines Jugendlichen, die ihn zum Atheismus führen, mag oft mehr
echte Religiosität stecken, als in dem philisterhaften Herübernehmen der Kind¬
heitsreligion in die Zeit der Erwachsenheit.
Eine solche geistige Revolution, wie sie in der Erarbeitung eigener Ideale
und Grundsätze besteht, geht oft genug unter Sturmeszeichen vor sich. Die
Unbedingtheit, die der Epoche eigen ist, macht sich geltend als Monomanie
und als Radikalismus; das Ideal wird verabsolutiert, sei es, daß man kein
anderes Ideal daneben anerkennt, sei es, daß man es über alle Grenzen
hinaus von der Realität entfernt. Im ersten Falle entsteht eine völlige
Hingabe an einen einzigen Wertträger; an die Gottheit oder die Kunst, an
eine bestimmte philosophische oder künstlerische Richtung, an eine politische
Utopie oder eine sittliche Forderung, an ein leidenschaftliches Interesse oder
auch an eine Marotte, an einen vergötterten Führer oder an einen idealisiert
gedachten jungen Menschen des anderen Geschlechts. Diesem Ideal gegenüber
»erden dann andere Wertgebiete und Wertträger überhaupt nicht gesehen;
ein fast götzendienerischer Fanatismus verbindet sich mit völliger Unduld¬
samkeit. — Im zweiten Falle ergibt sich eine entsprechende Intoleranz der
Wirklichkeit gegenüber. An der erhabenen Gradlinigkeit des Ideals gemessen,
erscheint die Alltagswelt mit ihren krausen Linien, ihren Verwicklungen, ihren
Halbheiten und Widersinnigkeiten als das schlechthin Unzulängliche, mit
dem man überhaupt gar nicht erst paktieren und kompromissein darf, aus
der man sich vielmehr in die reine Sphäre des Gedankens flüchtet; so neigt
der Jugendliche oft zum doktrinären Radikalismus.
Eines der interessantesten, aber bisher noch dunkelsten Probleme dieser
jugendlichen Idealbildung ist die Ursachenfrage. Hier sind nämlich äußere
und innere Faktoren des Zustandekommens unübersehbar ineinander ver¬
schränkt.
Was zunächst die äußeren Einflüsse anlahgt, so ist ja der Jugendliche
allerdings aus jenem vorwiegend rezeptiven Stadium, als welches die Kindheit
sich darstellt, heraus; aber auch die nun sich vordrängende Spontaneität ist
doch weit mehr von Rezeptivität durchsetzt, als der Jugendliche selbst ahnt.
Wir sahen es ja, 1 ) daß für sein Ichbewußsein vor allem der subjektive Glaube
an die eigene Selbständigkeit notwendig ist; mit diesem subjektiven Unab-
hängigkeitsglauben verträgt sich aber sehr wohl eine weitgehende objektive
Abhängigkeit. Nur ist die Art, wie jetzt die äußeren Einflüsse sich geltend
machen, in eine mehr mittelbare gewandelt. Die Stellungnahmen der Um¬
gebung werden jetzt nicht mehr in dem Maße wie zur Kinderzeit einfach
cachgesprochen und dem eigenen Überzeugungsbestand kritiklos einverleibt.
Sie wirken mehr unterirdisch, beeinflussen die inneren unterbewußten Vor¬
aussetzungen des Wertens und Denkens, aus denen dann, wie „aus
Eigenem“, die Stellungnahmen des Jugendlichen entspringen. Die Umwelt
') Vgl, den ersten Aufsatz.
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William Stern
bietet bestimmte Lebensgebiete dar, auf die sich der metaphysische Trieb des
Jugendlichen stürzt; sie hält schon gewisse Fragestellungen und Lösungs-
alternativen in Bereitschaft, durch die dem Verlangen nach eigenem Ent¬
scheiden nun ein engerer Spielraum abgesteckt wird. So kann das gleiche
Bedürfnis nach Idealbildung bei einem in positiv kirchlichen Kreisen auf¬
wachsenden Jugendlichen zu religiöser „Erweckung“, bei einem Großstadt¬
proletarier zu fanatischer Hingabe an die Dogmatik des Marxismus führen.
So werden die Debatten der Jugendlichen über künstlerische oder literarische
Fragen in jeder Epoche ästhetischer Mode mit den gerade neu auftretenden
Schlagwörtern arbeiten und die Probleme der eben im Vordergrund stehenden
Richtung für die absolute Problemstellung überhaupt halten').
Sehr stark kann der Inhalt der Idealbildung durch überlegene Persönlich¬
keiten beeinflußt werden, mit denen der Jugendliche in Berührung kommt.
Wie intensiv das Bedürfnis der Jugend ist, an solchen Menschen einen Halt
zu finden, beweist die große Rolle, welche das „Führerproblem“ in der
Jugendbewegung spielt. Natürlich gilt auch hier der Konvergenzstandpunkt:
Der Jugendliche ist nicht einfach passiv dem Einfluß des Führers hingegeben,
sondern es muß in ihm etwas diesem Einfluß entgegenkommen, damit aus
dem Zusammenklingen beider Strukturen die wirkliche Umgestaltung des
jugendlichen Seelenlebens hervorspringt. Schon in der Art der unbewußten
Wahl desjenigen, an den sich ein Jugendlicher anschließt, spielen wieder die
inneren Momente mit; ein Führer, der von Tausenden umjubelt wird, mag
in der Psyche eines bestimmten Jugendlichen keinerlei Resonanz erwecken:
dieser aber schließt sich einem Menschen an (und verdankt ihm Unendliches),
der vielleicht nur gerade in dieser individuellen Wirkung seine Führergabe
bekundet.
Es ist hier nicht der Ort, die sehr schwierige Psychologie der Führer¬
persönlichkeit zu erörtern; nur eine Andeutung sei gestattet. Ein Mensch,
der von Jugendlichen als Führer anerkannt wird, muß in inniger Ver¬
schmelzung Überlegenheit und Kameradschaftlichkeit besitzen. Überlegenheit
vor allem dadurch, daß er schon Festigkeit und Abgeklärtheit erweist in allen
jenen Gebieten, auf denen der Jugendliche noch der Sicherheit und des Anker¬
grundes entbehrt, ferner dadurch, daß er Ideale nicht nur durch das Wort,
sondern auch durch die Tat vertritt, die dem Jugendlichen nachahmenswert
erscheint. Kameradschaftlichkeit dadurch, daß er den Jugendlichen durchaus
voll und ernst nimmt, ihm trotz der Überlegenheit doch nahe ist, ein feines
Verständnis für seine Nöte und Sehnsüchte besitzt und — negativ — da¬
durch, daß er auf die gröberen Maßnahmen des Schulmeistems, Gängelns und
Bevormundens verzichtet. Die echte Führernatur muß demnach eine sittlich
sehr hochstehende Persönlichkeit sein, die das Wirken für die Jugend und
das Leben mit ihr als innere Sendung empfindet. Aber eine merkwürdige
äußere Ähnlichkeit mit diesen Naturen zeigen andere, denen an der Über-
*) Hierbei ist es merkwürdig, wie wenig doch dieser ständig sich wandelnde, durch äußei' 1
Einwirkung bedingte Inhalt der Idealbildung an der inuerlich bedingten jugendpsychologischen
Form zu ändern vermag: vor genau einem Menschenalter habe ich als 18jähriger die leiden¬
schaftlichen Erörterungen und Kämpfe um den gerade aulkomraenden Naturalismus in unmittel¬
barer Nähe mitgemacht; w f as ich 30 Jahre später bezüglich der Stellungnahme der Jugend zu
dem weltenweit davon verschiedenen Expressionismus erlebte, hatte in der seelischen Struktuc
des Verhaltens die auffallendste Ähnlichkeit.
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Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reitenden Jugend
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iegenheit vor allem das Machtbewußtsein, an der Kameradschaft vor allem
die Anhängerschaft entscheidend ist. Es sind Menschen, die ihren Einfluß
auf die jungen Menschen genießen als eine Steigerung des eigenen Ich und
sich darin sonnen; ihnen ist die Kameradschaft eine mehr oder minder be¬
wußte Pose, hinter der im Grunde Herablassung steckt, und sie finden an
der Gefolgschaft der Jugend gerade deshalb ein feinschmeckerisches Gefallen,
weil es nicht mehr die groben Mittel der Autorität, sondern die sublimeren
äner unmerklichen Suggestion und geistigen Ver-Führung sind, durch die
äe die sich frei wähnenden in Hörigkeit halten. Wenn man als Außen¬
stehender sieht, wie manche blendende Literaten, gewandte, der Jugend zum
Munde redende Egoisten oder auch Fanatiker einer Idee, denen jedes Mittel
recht ist, auf die Jugend zu wirken vermögen, dann erkennt man, daß
zwischen Führertum und Verführertum leicht Verwechselungen möglich sind
and daß jene Kritik, zu der die Jugend das Recht beansprucht, oft genug
gerade den Führern gegenüber versagt.
Gehen wir nun zu den im Jugendlichen selbst liegenden Bedingungen der
khlbildung über. Hier scheinen sich zwei Typen jugendlichen Wesens zu
scbdden, die bisher hauptsächlich auf einem Gebiet (nämlich dem der indivi¬
duellen religiösen Entwicklung) untersucht worden, die aber zweifellos von
allgemeinerer Bedeutung sind: sie seien als der „evolutive“ und der
..revolutive“ Typ bezeichnet.
Beim evolutiven Typ knüpft die Idealbildung organisch an die in der Um¬
gebung und in der eigenen Vergangenheit des Jugendlichen 'vorhandenen
Vorbedingungen an. Das spezifisch Jugendliche kommt dann mehr in der
Bewußtmachung, der Auffrischung und Radikalisierung der geltenden Werte
zum Ausdruck. Was blind befolgte Vorschrift war, wird selbstgesetzte Norm;
die Ideale werden gereinigt von den Wirklichkeitskompromissen, werden gelöst
aus der Mechanisierung und Erstarrung, in die sie durch Gewohnheit geraten
waren, werden durch den jugendlichen Fanatismus ins Unbedingte empor-
fpsteigert. Immerhin bleibt der ständige Zusammenhang zu Umwelt und
Vorwelt durchaus gewahrt; der Prozeß der Idealbildung ist ein ruhigerer,
Kritik und Opposition wenden sich mehr Einzelheiten zu, als daß sie die
Grundlage in Frage stellen.
Für den revolutiven Typ dagegen ist die Idealbildung vor allem ein Bruch
mit dem, was dem jungen Menschen selbst bisher galt und was in der Um¬
gebung gilt. Die Wirklichkeit, die ihm bekannt ist, erscheint infolge der fest¬
gewordenen Gewohnheiten und der eingewurzelten Laster so brüchig und
minderwertig, daß sie überhaupt keine Anziehungskraft für sein erwachendes
metaphysisches Bedürfnis hat. Daß unter der Asche von Konvention und
Erstarrung doch noch wahrhafte Werte glimmen, will der Jugendliche nicht
sehen; ganz neue, andersartige, ja der gewohnten Wirklichkeit entgegen¬
gesetzte Ideale werden ihm heilig', haben sie doch die Reinheit und Un¬
berührtheit der Irrealität für sich.
Die beiden Typen machen sich nun an zwei verschiedenen Ursprungsstellen
der jugendlichen Idealbildung geltend, nämlich ontogenetisch und phylo¬
genetisch; dort handelt es sich um die Verhältnisse innerhalb der Ent¬
wicklung des Einzelindividuums, also insbesondere um das organische Hinein¬
gleiten oder sprunghafte Hinüberspringen aus der Kindheit in die Jugendideale;
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hier handelt es sich um das positive oder negative Verhältnis des jugendlichen
Individuums zu seiner Umgebung, insbesondere dem Elternhaus und den dort
geprägten Idealen.
Innerhalb der Entwicklung des Einzelindividuums hat naturgemäß
das Verhalten des evolutiven Typs weniger die Aufmerksamkeit auf sich
gezogen als das des revolutiven. Als das Normale und nicht weiter der Be¬
achtung Bedürftige muß eine solche Entwicklung erscheinen, die aus der
Kindheit in die Erwachsenheit allmählich hinübergleitet; und wenn wir auch
gesehen haben, daß diese Übergänge nie ganz ohne Knicke und Unstetig¬
keiten vor sich gehen können, daß vielmehr in jedem Jugendlichen gewisse
Revolutionen ablaufen, so sind immerhin die zahlreichen Fälle, in denen diese
Wandlungen weniger plötzlich und katastrophenhaft vor sich gehen, als solche
anzusehen, die nicht nur der Behandlung, sondern auch dem Verständnis
weniger Schwierigkeiten bieten. Im evolutiven Typ ist doch das, was werden
soll, schon deutlich in den vorausgehenden Stadien vorgedeutet und vor¬
bereitet; es treten nicht von heute auf morgen absolute Überraschungen auf,
und das Erklärungsbedürfnis findet für alles Neue, das sich in der Ent¬
wicklung zeigt, doch irgendwelche Kategorien, die hierfür ursächlich in An¬
spruch genommen werden können.
Daneben aber gibt es nun Entwicklungen, die geeignet sind, uns an dem
Satz „natura non facit saltum“ irre zu machen; sie scheinen gleichsam mit
einem hörbaren Ruck und ohne ausreichende vorgängige Verursachung in
ein neues Idealgebiet einzumünden. Der Schulfall hierfür ist die religiöse
Erweckung oder Bekehrung; es ist das Verdienst der amerikanischen Reli¬
gionspsychologen, die psychologische Bedeutung dieser Erscheinung heraus¬
gearbeitet zu haben. James hat zuerst allgemein (d. h. unabhängig vom
Lebensalter), die „Einmal-Geborenen“ und die „Wieder-Geborenen“ als zwei
psychologische Typen gegenübergestellt. Starbuck hat dann die wichtige
Feststellung gemacht, daß es sich bei der „Wiedergeburt“ ganz überwiegend
um eine psychische Erscheinung des Jugendalters handelt. Wenigstens ergab
die Erhebung, die er vermittels einer Fragebogenmethode veranstaltete, daß
die weitaus meisten Fälle von religiöser Bekehrung und Erweckung beim
weiblichen Geschlecht zwischen 11 und 18 Jahren, beim männlichen zwischen
14 und 19 Jahren liegen; Höhepunkte der Bekehrungshäufigkeit stellen für
die Mädchen die Altersstufen 13 und 16 Jahr, für die Knaben die Alters¬
stufe 16 Jahr dar.
Die Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit, mit der zuweilen solche scheinbar
völligen Wandlungen der Persönlichkeit eintreten, hat hier oft an eine un¬
mittelbare Wunderwirkung glauben lassen: insbesondere sehen ja alle religiösen
Gemeinschaften, in denen die Bekehrung und Erweckung eine Rolle spielt,
in dem Eintritt dieses Phänomens das mystische Eingreifen der göttlichen
Macht in das individuelle Leben. Der Psychologe kann sich hierbei nicht
beruhigen. Daß die Wandlung nicht grundlos vor sich gehe, ist ja Voraus¬
setzung jedes Versuches wissenschaftlichen Verstehens überhaupt; und wenn
wir auch zurzeit weit von einer Lösung dieses vielleicht dunkelsten Problems
der Jugendpsychologie entfernt sind, so müssen wir doch versuchen, es nach
Möglichkeit mit anderen Tatbeständen unserer psychologischen Erkenntnis in
Beziehung zu setzen und dadurch seinem Verständnis näher zu kommen.
Da darf schon die fast ausschließliche Abgrenzung des Vorganges auf die
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Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend
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Jahre der Reifung als ein Hinweis darauf gelten, daß ganz bestimmte innere
Entwicklungsbedingungen vorhanden sein müssen, um einen solchen Knick
der Lebenslinie zu ermöglichen. In gleiche Richtung weist uns der Tatbestand,
daß derartige stürmische Wandlungen nicht etwa nur auf dem Gebiet reli¬
giöser Idealbildung Vorkommen, sondern auch auf allen anderen Gebieten
des Werfens; es gibt plötzliche Jüngerschaft auch für ästhetische oder poli¬
tische Glaubenslehren; es gibt auf erotischem Gebiet das unvermittelte Auf-
taochen von Leidenschaften usw.; und es gibt schließlich auf allen Gebieten
auch die entsprechende Wendung mit negativem Vorzeichen — also ein
scheinbar unvorbereitetes Verfallen in Glaubenslosigkeit, in moralische Gleich¬
gültigkeit, in erotische Unempfindlichkeit. Daraus ergibt sich, daß nicht sowohl
ein von außen her kommender spezieller (nämlich religiöser usw.) Inhalt
das Wesentliche der Erscheinung ist, sondern eine allgemeine und formale
Funktionsweise des psychischen Verhaltens, die uns das Recht gibt, hier von
einem psychologischen Typus zu sprechen.
Der Vorgang der Erweckung im Jugendalter wird dann noch mehr seiner
Bniigkeit entkleidet, wenn wir uns erinnern, daß verwandte, wenn auch
nicht ganz so schroffe und explosive Entwicklungssprünge auch zu anderen
Zeiten Vorkommen. Das genaue Studium der frühen und späteren Kindheit
bat gezeigt, wie hier eigentlich nirgends die glatte Stetigkeit des Verlaufs
existiert, die man a priori ännimmt; vielmehr gehört ein Wechsel von Stag¬
nation und plötzlichem Fortschritt geradezu zum Wesen seelischer Entwicklung
überhaupt. Wenn ein sprechenlemendes Kind monatelang kaum ein Wort
zulemt und dann über Nacht seinen Wortschatz gleich um eine ganze Reihe
von Wörtern vermehrt — wenn ein Schulkind, das mit seiner Verständnis¬
losigkeit für irgendeinen Unterrichtsstoff den Lehrer zur Verzweiflung brachte
und dann nach den Ferien (in denen notorisch keinerlei Beschäftigung mit
dem Stoff stattgefunden hatte) die früher unüberwindlich scheinenden Schwierig¬
keiten spielend bewältigt, so liegen ja ebenfalls solche Brüche der Entwicklung
vor, die wie Wunder anmuten , können.
Wir sind nun auch besser in der Lage, die Triebkräfte des Vorgangs zu
erfassen. In welchem Sinne haben wir überhaupt das Recht, von einem
•Sprung“ in der Entwicklung zu reden? Sprunghaft erscheint der Vorgang
zunächst dem äußeren Beobachter, der zwischen den früher bekundeten
idealen und Verhaltungsweisen des jungen Menschen und seinen jetzigen
keine Brücke zu finden vermag. Sprunghaft erscheint sie auch dem Erlebenden
selbst, weil auch seine Bewußtseins zustände keinen stetigen Übergang vom
Einst zum Jetzt zeigen. Aber das Bewußtsein ist eben nicht die letzte Instanz
für die tatsächliche Kraftentfaltung des persönlichen Lebens. Der Seelen-
denter gräbt tiefer. Ihm ist die Einheit der Person als eines sinnhaltigen
Ganzen ein Grundsatz, der durch noch so große Mannigfaltigkeit im Neben¬
einander und noch so schroffe Metamorphosen im Nacheinander nicht er¬
schüttert werden kann. Auf die Konvergenz innerer Angelegtheiten und
äußerer Entwicklung müssen auch jene katastrophenhaften Vorgänge zurück¬
zuführen sein; jede Beschaffenheit des Menschen, die irgendwann zur Wirk¬
lichkeit wird, muß in einer Anlage ihre Vorbedingung haben, und jede solche
Anlage muß, ehe sie hervortritt, eine unterirdische Vorbereitungszeit durch¬
machen, die sich mehr oder weniger der Beobachtung des Außenstehenden
und auch dem Bewußtsein des Individuums selbst entziehen kann. Aber für
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den suchenden Blick zeigen sich doch verräterische Symptome, die zum
mindesten nachträglich als Vorzeichen des nun neu Gewordenen gedeutet
werden können. Es sind oft Zustände einer eigentümlichen seelischen Inhalts¬
losigkeit und Leere: das Alte hat seine Wirkungskraft verloren, aber das
Neue hat noch nicht Gestalt und Durchbruchskraft gewonnen. Unbefriedigt-
heit an allem, was bisher schön und gut erschien, Ekel vor allem Liebens¬
werten und vor sich selbst, Blasiertheit, Sündenbewußtsein usw. sind die
Formen, in denen sich ankündigt, daß der Mensch bereit ist, alte Hüllen
abzustreifen und eine bisher versteckte tiefere Schicht seines Ich hervortreten
zu lassen. Eine zunächst noch substanzlose Sehnsucht drängt nach Gestaltung,
und wenn dieser lange aufgespeicherte und vorbereitete Drang nun hervor¬
bricht, wenn die Spannkräfte sich entladen, dann kann der spezielle Inhalt
dieser Umorientierung freilich als etwas ganz Neues auftreten; denn er ist
in hohem Grade durch äußere Eindrücke bedingt. Das soll natürlich nicht
heißen, daß jedes beliebige Ideal, das sich ihm zufällig von außen anbietet,
als Verkündung der Seligkeit, als Leitstern eines neuen Lebens ergriffen wird;
es muß vielmehr, um so zu wirken, auf irgendwelche verwandte Töne in
seiner inneren Anlage stoßen. Aber die Möglichkeit einer solchen Resonanz
ist doch einer Mehrheit von Idealen gegeben; und die Entscheidung, welches
nun .zum Inhalt der „Erweckung“ wird, ist doch stark von den Umständen
der Darbietung abhängig. Ein in Zurückgezogenheit gelesenes Buch, eine
Wanderung in die freie Natur, die Unterredung mit einer suggestiven Persön¬
lichkeit kann auf eine so in Bereitschaft gesetzte Jugendseele auslösend und
richtunggebend wirken; es werden vor allem die feineren stilleren Menschen
sein, die solchen individuellen Einflüssen zugänglich sind. Für die große
Masse der gröber zugeschnittenen jungen Menschen hingegen sind Massen¬
suggestionen wirksamer: darum sind es oft Erweckungsversammlungen von
frommen Gemeinschaften mit ihrer nervenaufpeitschenden und affekterregenden
Inbrunst, die zum Ausgangspunkt von seelischen Metamorphosen werden.
Gehen solche Massensuggestionen gar durch das ganze Volk, dann ist die
Zahl der Jugendlichen, die sich mit plötzlicher Hingabe dem neuen Ideal ver¬
schreiben, außerordentlich groß — und zwar ist hier der Vorgang durchaus
nicht nur auf eine Neugeburt des religiösen Erlebens beschränkt, kn
Sommer 1914 ergriff die Vaterlandsbegeisterung die Jugend bis weit in die
sozialdemokratischen Kreise, die bis dahin dem patriotischen Gedanken fremd
oder gegnerisch gegenübergestanden hatten. Und umgekehrt hat dann 1918
der Revolutionsaffekt gerade in der Jugend zu starken seelischen Umwälzungen
geführt und hat auch solche jäh ergriffen, die in bürgerlicher oder gar mili¬
taristischer Gesinnung herangewachsen waren.
Aber gerade diese letzte Erscheinung gibt uns Anlaß, die Erweckung auf
ihre Echtheit hin zu prüfen. Echt nennen wir eine Erweckung dann, wenn
sie den Anfang einer wirklich neuen und dauernden Lebensform darstellt, so
daß sich die Existenz eines solchen Menschen gleichsam in zwei Leben zer¬
legt. Der Ausdruck „Wiedergeburt“ setzt eine solche sukzessive Spaltung
des Ich voraus. Sind nun diese beiden so disparaten Lebenszustände') von
gleicher Ichwesentlichkeit für das Individuum? Ist der junge Mensch in dem
zweiten Zustand ganz ebenso sehr er selbst wie in dem ersten, wird die neue
•) Die Amerikaner sprechen von der „präkonversionellen“ und der postkonversioneilen“ (d. Ii.
der vor bzw. nach der Bekehrung liegenden) Phase.
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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reitenden Jugend
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Form nun zur dauernden Determinante seines weiteren Lebens? Eine Erwägung
dieser Frage läßt die Zahl der echten Erweckungserscheinungen beträchtlich
zusammenschrumpfen. Vieles, was unter dem ersten Eindruck der neuen
Gesinnung wegen der Intensität und Plötzlichkeit des Vorganges als Er¬
weckung erscheinen mag, erweist sich später als Episode. Die Lebenslinie
hat nicht in scharfem Winkel eine endgültige Richlungsänderung erhalten,
sondern nur gewisse plötzliche Ausbiegungen, die nach einiger Zeit wieder
im Sinne der alten Richtung ganz oder doch teilweise rückgängig gemacht
werden. Es sind dies Naturen von einer gewissen Labilität und von starker,
doch nicht nachhaltiger Beeinflußbarkeit; sie können unter Umständen
mehrere solche Pseudo-Erweckungen erleben, von denen aber doch keine
ihr innerstes Wesen von Grund auf umwandelt. Starbuck berichtet, daß in
einer amerikanischen Gemeinde auf Grund der Erweckungsversammlungen
eines „Evangelisten“ 92 Bekehrungen stattgefunden hatten. Von diesen Be¬
kehrten waren nach 6 Wochen bereits 62 abgefallen; nach etwas längerer
Zeit waren nur 12 übriggeblieben, bei denen von dauernden Nachwirkungen
gnprochen werden konnte. Und sind die Erfahrungen der „Revolutions¬
erweckung“ bei unseren Jugendlichen nicht ganz ähnlich gewesen? Wieviele
von all den jugendlichen Aposteln und Jüngern, die sich berauschten an den
neuen sittlichen, sozialen, politischen, künstlerischen, religiösen Idealen, sind
wieder zurückgesunken in den Alltag und haben ihre Prophetenrolle auf¬
gegeben! Wie klein ist der Bruchteil all der damals gegründeten Jugend¬
vereine, die noch nach 3 Jahren die dereinst aufgestelllen Ziele verfolgen!
Wie sind die Schülergemeinden, die in die Schule den neuen Jugendgeist
hineintragen wollten, versandet! Damit soll nicht gesagt seih, daß jene starke
Welle neuer Idealbildung nun abgeebbt wäre, gleich als wäre sie überhaupt
nie dagewesen. Die Jugendlichen, die hindurcbgegangen sind, waren in
ihrem Persönlichkeitskern noch plastisch genug, um nachhaltig von jenen
Erlebnissen weiterhin bestimmt zu werden. Nur jener katastrophenhafte Bruch
zwischen altem und neuem Leben hat sich bei den meisten als’unecht er¬
wiesen; sie blieben, wie dieEolgezeit erwies, sich selbst doch ähnlicher, als
sie es damals für möglich hielten.
Aber selbst in den Fällen, irt welchen das „neue“ Leben von Dauer ist,
muß die Deutung mit Vorsicht erfolgen. Dies neue Leben steht gewiß in
schroffem Widerspruch zu der unmittelbar vorausgegangenen Lebensphase;
nun aber kann diese wiederum eine — vielleicht ziemlich ausgedehnte —
Episode gewesen sein, welche die Wesensbeschaffenheit des Individuums zeit¬
weise zu überschatten vermochte. Man wird vermutlich nicht selten in weiter
zurückliegenden Kindheitsphasen des Individuums dann Züge finden, die
deutlich als Frühsymptome jener „zweiten“ — in Wirklichkeit nur wieder
zum Durchbruch gekommenen ersten oder besser eigentlichen — Lebens¬
richtung im jungen Menschen gelten können. Das unmittelbare Interesse des
„Erweckten“ an seiner Umwandlung ist eben nur der ganz unmittelbaren
Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit zugewendet; wird zwischen diesen
beiden Zuständen ein scheinbar übergangsloser Gegensatz gefühlt, so ist ihnen
der Tatbestand der Erweckung gegeben. Der Blick des Psychologen aber
muß nach vorwärts wie nach rückwärts weiter reichen, um das Verhältnis
des „neuen“ Lebens zur Totalität dieses individuellen Lebenszusammenhanges
richtig beurteilen zu können.
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William Stern
All diese Gesichtspunkte — die zum Teil mehr Programmpunkte für künftige
Studien als fertig vorliegende Ergebnisse darstellen — lassen jedenfalls schon
so viel erkennen, daß zwischen dem ausgesprochen evolutiven und dem aus¬
gesprochen revolutiven Typ zahlreiche Zwischenformen vorhanden sind.
Nur kurz sei auf die entsprechende Typenverschiedenheit im Verhältnis zur
Phylogenese hingewiesen. Auch seinen Vorfahren gegenüber verhält sich
der Jugendliche entweder mehr evolutiv oder mehr revolutiv. Im ersten Falle
schließen sich seine Idealbildungen stetig an die seiner Eltern an, die organisch
fortgeführt oder in jugendlicher Weise radikalisiert werden. Die Umwelt¬
atmosphäre des Elternhauses und die direkten von den Eltern überkommenen
Erbvalenzen wirken dann gleichsinnig. Im zweiten Fall ist die kämpferische
Stellung der Jugendlichkeit gegen die ältere Generation auch gerade gegen
deren Idealbildung gerichtet. Das junge Geschlecht sieht in den Überzeugungen
und Werthaltungen der Eltern nur die Erstarrung, die Halbheit und Hohlheit
und richtet neue Göttergestalten auf.
Aber auch dieser Bruch in der phylogenetischen Entwicklung ist kein
absoluter, die gegensätzliche Idealbildung kein völlig unvorbereiteter Neu¬
anfang. Sowie wir für die Individualentwicklung darauf hinwiesen, daß in
weiter zurückliegenden Kindheitsphasen Vorbereitungen und Vordeutungen
für die scheinbar ursachlosen jugendlichen Idealwandlungen zu erblicken
sind, so gibt es auch phylogenetisch ein Wiederaufleben länger zurückliegender
Erbvalenzen.
Daß eine latente Vererbung existiert, ist zweifellos. Oft bleiben gewisse
physische und psychische Beschaffenheiten, Streberichtungen, Gesinnungs¬
weisen durch eine oder mehrere Generationen hindurch verborgen, um dann
in einer späteren Generation wieder aktuell zu werden. Jener rhythmische
Wechsel von innerer Stauung und äußerer Entladung der psychischen
Spannungen und Tendenzen ist eben nicht nur ein Gesetz der Einzelentwicklung,
sondern erstreckt sich auch auf größere Lebenseinheiten — einer Familie, eines
Volkes — durch die Geschlechterfolgen hindurch. Vieles, was längst erledigt
oder höchstens noch dem rückschauenden Blick historisch bemerkenswert zu
sein schien, erweist dann plötzlich seine Gegenwartslebendigkeit; der genera¬
tionenlange Winterschlaf hatte dazu gedient, neue Kräfte abseits des bewußten
Daseins aufzuspeichern und zu organisieren.
Nun scheint die Pubertätszeit, vielleicht gerade wegen ihrer allgemeinen
Labilität, ein besonders günstiger Boden für den Durchbruch einer solchen
lange latent gebliebenen Erbvalenz zu sein; und so enthüllen sich die Neu¬
orientierungen in den Überzeugungen und Gesinnungen der jungen Generation
zum Teil als merkwürdige Atavismen. Umwelt und Erbvalenz -wirken hier
nicht mehr gleichsinnig, sondern gegeneinander. Alte Lebensformen, scheinbar
längst verschollen, klingen wieder in der Seele auf und machen den ihnen
widerstrebenden modernen Anschauungen und Auffassungen der unmittelbaren
Umgebung den Boden streitig, den diese mit voller Sicherheit zu besitzen
wähnten. Auch hier also wieder eine seltsame Antinomie in der Seele des
Jugendlichen: einmal der bereits früher besprochene Zug des Antihistorismus,
und dann wieder das instinktive Zurückgreifen auf Daseinsformen der Ver¬
gangenheit. Aber freilich dies Instinktmäßige zeigt, daß es sich auch hier
nicht um eigentlich geschichtliches Bewußtsein handelt. Nicht das stetige
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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend
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Hervorgehen der Gegenwart aus der Abfolge der historischen Entwicklungs¬
phasen soll begriffen und jede Phase in ihrer historischen Bedingtheit, in
ihrer Notwendigkeit, aber zeitlichen Begrenztheit gewürdigt werden; sondern
altes „Gewesenes“ soll als Neues, noch jetzt „Wesendes“ sich erweisen; nicht
beliebige Vergangenheit wird vergegenwärtigt, sondern die eigene Vorzeit
wird als immer noch Lebendiges, als wieder lebendig Werdendes empfunden.
So kann man auch hier von einem Typus des „Wiedergeborenen“ sprechen,
mir eben im phylogenetischen, nicht ontogenetischen Sinne.
Allerdings hat nun diese grundsätzliche Betrachtung der zur Rede stehenden
Etscheinung eine Zuspitzung gegeben, die in der Wirklichkeit kaum je wieder¬
zufinden ist. Das atavistische Moment im Jugendleben kreuzt und verschmilzt
sich mit all den anderen Momenten und prägt sich in sehr verschiedenen
Gradabstufungen dem Gesamtbilde des Jugendlichen auf. Aber daß es vor¬
handen ist, läßt sich aus mannigfachen Symptomen erkennen. So ist die
ganze Wandervogelbewegung mit ihrem Zurückgreifen auf ursprüngliche Formen
deutschen Volkstums, auf Volkstanz, Volkslied, Wanderwesen, Volksbrauch
kdnesfalls nur so äußerlich zu verstehen, daß die bloße Opposition gegen
die überfeinerte und entartete Lebensweise der Gegenwart nach möglichst
entgegengesetzten primitiven Formen suchen ließ; sondern es war eben in
diesen jungen Menschen ein alt vererbter, aber lange eingeschläferter Instinkt
wieder lebendig geworden 1 )*
Freilich besagt nun das Aktuellwerden an sich noch nichts über den Tief¬
gang dieser alt-neuen Gesinnungsweisen. Wir müssen wieder an das Analoge
innerhalb der Individualentwicklung erinnern, daß eine „Erweckung“ im
Augenblick ihres Auftretens eine unüberbietbare Intensität und alle Gewähr
für Dauer zu haben scheint — und nach einiger Zeit wieder abgeklungen
ist. Ähnliches ist auch bei diesen Atavismen möglich. Auch sie können
unter Umständen nur das Aufflackern alter gattungsmäßiger Restbestände sein,
die sich aber gegenüber der Wucht der ganzen späteren und höheren Ent¬
wicklungsformen nicht dauernd zu halten vermögen. Vielleicht daß es diesen
ererbten Momenten gegenüber auch eine Art „Abreagieren“ geben muß, daß
der junge Mensch noch einmal durch sie hindurch muß, um sich endgültig
von ihnen zu befreien. Zahllose Wandervögel haben es doch an sich erlebt,
daß die Primitivität von Lautenspiel und Reigentanz nicht auf die Dauer ihre
Kultur- und Kunstbedürfnisse zu befriedigen vermag, die nun einmal von einer
großen über jene Elementarformen weit hinausführenden Entwicklung getränkt
and bestimmt sind.
So gibt es auch phylogenetisch zwischen lebenbestimmender „echter Er¬
weckung“ alter Instinkte und dem nur episodenhaften Aufleben atavistischer
Regungen alle möglichen Zwischenstufen.
’) Etwas Ähnliches findet sich zurzeit in weiten Kreisen der jüdischen Jugend: wenn viele
junge Menschen aus ganz assimilierten Elternhäusern, denen selbst Brauch, Kult, Sprache der
jüdischen Vorfahren ganz entschwunden waren, stark von dem zionistischen Ideal ergriffen
werden, so ist auch hier vermutlich neben der Suggestionskraft einer neuen Idee auch das
Wiederaktuellwerden alter Stammesinstinkte wirksam.
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Annelies Argeiander
(Aus dem Institut für Psychologie und Pädagogik der Handels¬
hochschule Mannheim.)
Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels.
Von Annelies Argeiander.
Das Material zu vorliegender Arbeit wurde von Herrn Oberlehrer F. Münzer,
Mannheim, auf dem Wege der Umfrage gesammelt. Da er infolge einer Er¬
krankung verhindert war, das Material vollständig auszuwerten, habe ich an
seiner Stelle die endgültige Verarbeitung übernommen.
Der Zweck der Umfrage war, Aufschluß zu erhalten über die Motive der
Berufswahl. Es unterscheidet sich das vorliegende Material von ähnlichen
Arbeiten über Berufswünsche und .Berufsideale (Baumgarten, Lobsien u. a.)
dadurch, daß die Antworten von jugendlichen Arbeitslosen stammen, also von
Personen, die bereits im Berufsleben gestanden haben und die damals im
Begriff waren, sich eine neue Stelle zu suchen. Es ist zu erwarten, daß
die Gründe für die Wiederwahl des alten oder die Wahl eines neuen Berufes
wesentlich mehr mit den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen rechnen,
aber auch eher in der Erkenntnis der persönlichen Eignung wurzeln, als es
bei den Kindheitswünschen der Fall ist.
Die Gelegenheit zu einer Befragung von Arbeitslosen ergab sich, als Herr
Oberlehrer Münzer während des Wintersemesters 1919/20 an mehreren
Zwangsfortbildungskursen für jugendliche erwerbslose Arbeiter unterrichtete.
In drei getrennten Kursen von insgesamt 65 Personen, 42 männlichen und
23 weiblichen, wurde folgender Fragebogen vorgelegt und ausgefüllt.
1. Name
2. Alter
3. Lebt Ihr Vater noch?
4. Beruf des Vaters
5. Beruf der Mutter
6. Zahl der Geschwister a) Brüder
b) Schwestern
7. Welche Schule haben Sie besucht?
8. Was wollten Sie als Kind werden?
9. Welchen -Beruf haben Sie gelernt? Wie
lange?
10. Wo haben Sie gelernt? (Handwerk oder
Fabrik)
11. Warum haben Sie diesen Beruf ergriffen?
12. Wer hat Ihnen dazu geraten?
13. Hat Ihnen dieser Beruf gefallen?
14. Wie wurden Sie behandelt?
15. In wievielen Stellen waren Sie?
16. Warum haben Sie die Stelle gewechselt?
17. Haben Sie auch den Beruf gewechselt?
18. Welchen Einfluß hat der Krieg auf Ihr
Schicksal gehabt ?
19. Welchen Beruf wollen Sie jetzt ergreifen ?
20. Warum gerade diesen?
21. Welchen Beruf würden Sie bei freier Wahl
ergreifen?
22. Warum gerade diesen ?
23. Wodurch wurden Sie arbeitslos?
24. Warum mußte das Geschäft Sie entlassen?
25. Besteht das Geschäft noch?
Die 25 Fragen wurden im allgemeinen durchaus befriedigend beantwortet.
Zu. bemerken ist allerdings, daß die Formulierung der Frage 21: Welchen
Beruf würden sie bei freier Wahl ergreifen? nicht ganz glücklich war. Wir
dürfen annehmen, daß bei einer großen Anzahl der befragten Personen das
Gefühl einer gewissen Freiheit in der Wahl des neuen Berufs gegenüber der
ersten Berufswahl, die unter dem Einfluß der Eltern oder auch unter dem Zwang
der äußeren Verhältnisse stand, vorhanden war. Daher mag es rühren, daß
unter dem „bei freier Wahl" in Aussicht genommenen Beruf anscheinend
öfters nicht das Berufsideal angegeben wurde, sondern daß die Wahl stark
bestimmt war durch praktisch erreichbare Möglichkeiten. Vielleicht liegt aber
überhaupt das Berufsideal dieser Gesellschaftsschicht in der Sphäre des Er-
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über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels
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reichbaren, denn die vereinzelten hochfliegenden Ideale, wie „Opernsänger,
Theater“ usw. stehen ihrerseits wieder dem Phantastischen zu nahe.
Den in der Kindheit gewünschten Beruf (Frage 8) werden wir im folgen¬
den kurz als Kindheitswunsch bezeichnen. Die Auffassung der gefragten
Personen scheint mit wenigen Ausnahmen diese gewesen zu sein, daß es
sich um den kurz vor dem Eintritt in den Beruf ernsthaft gefaßten Entschluß
oder wenigstens um ein mit Überlegung erstrebtes Ziel handelte, nicht etwa
am die vom kindlichen Standpunkte als wünschenswert betrachteten Berufe,
wie etwa: Schornsteinfeger, Zuckerbäcker u. a. Die Beantwortung in diesem
Sinne ist insofern ganz wertvoll, als sie ersehen läßt, in welchem Maße
durch die wirtschaftlichen Verhältnisse oftmals die Verwirklichung des Berufs¬
wunsches unmöglich gemacht wurde.
1. Allgemeine Angaben. Das Alter der jugendlichen Arbeitslosen betrug
im Durchschnitt 17,7 Jahre bei den männlichen und 17,4 Jahre bei den weib¬
lichen Personen. Leider sind die Altersangaben nicht sehr genau, da sie
nicht mit dem Geburtsdatum, sondern nur in Jahren gemacht wurden.
Im einzelnen beträgt das Alter der männlichen Gruppe 4 mal 16, 10 mal 17,
25mal 18 und 3 mal 19 Jahre, das der weiblichen Gruppe 1 mal 14, 1 mal 15,
1 nud 16, 10 mal 17, 6 mal 18, 3 mal 19 und 1 mal 20 Jahre. Nimmt man an,
daß die Jugendlichen im allgemeinen mit 14 Jahren nach der Entlassung
aus der Schule beruflich zu arbeiten beginnen, so wären die befragten
Personen durchschnittlich bereits 3—4 Jahre im Beruf gewesen; sie hatten
also Zeit gehabt, ihren Beruf und seine Anforderungen gründlich kennen zu
lernen.
Das soziale Milieu, aus dem die 65 Personen stammen, ist im großen
Ganzen einheitlich. Als Beruf des Vaters wurde angegeben, sowohl in der
männlichen wie in der weiblichen Gruppe, in etwa 50 °/ 0 der Fälle gelernte
Arbeit der verschiedensten Art; etwa 30—33°/o der Väter verrichteten un¬
gelernte Arbeit, und nur wenige Jugendliche sind Söhne oder Töchter von
selbständigen Gewerbetreibenden oder Beamten und Angestellten.
In der Mehrzahl der Fälle lebte der Vater noch, nämlich in 29 von 42
bei den männlichen, in 16 von 23 bei den weiblichen Personen.
Die Mutter hat nur ganz ausnahmsweise einen Beruf; sie ist in der männ¬
lichen Gruppe 4 mal Näherin und 1 mal Zeitungsträgerin, in der weiblichen
Gruppe 1 mal Artistin und 1 mal näht sie nebenbei aus Erwerbsgründen.
Die Zahl der Geschwister schwankt bei den männlichen Personen zwischen
I und 11. Bei den weiblichen kommen sogar einmal 13 Geschwister vor.
Im Durchschnitt beträgt die Geschwisterzahl bei der männlichen Gruppe 4,0,
bei der weiblichen 5,4.
Die Vorbildung der befragten Personen ist ziemlich gleichmäßig. Von den
12 männlichen Personen haben 41 die Volksschule und 1 die Bürgerschule
besucht. Leider ist aus den Angaben nicht ersichtlich, ob es sich um Haupt-
blassen oder Förderklassen der Volksschule handelt; nur in einem Fall wurde
Hilfsschule angegeben. Nach der Schulentlassung besuchten 28 männliche
Jugendliche die Fortbildungsschule und 14 die Gewerbeschule. Ebenso haben
die 23 Mädchen sämtlich die Volksschule besucht und danach zum Teil die
Kochschule (16) oder die Fortbildungsschule (4).
2. Der Kindheitswunsch. Wie bereits erwähnt, wurde die Frage nach
dem in der Kindheit gewünschten Beruf wohl so aufgefaßt, daß der etwa
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4g Annelies Argeiander
im letzten Schuljahr, also unmittelbar vor Eintritt in das Berufsleben in Aus¬
sicht genommene Beruf angegeben wurde. Die Berufswünsche erheben sich
nur in ganz wenigen Fällen (2 mal Lehrer, 1 mal Maler) über das soziale
Niveau der Wünschenden, wenn auch damit nicht behauptet werden soll,
daß sie mit den vorhandenen Mitteln im Einzelfall erreichbar waren. Be¬
sonders bevorzugt ist bei den männlichen Personen der Schlosserberuf, der
von 42 Fällen 13 mal gewünscht wurde, eine Tatsache, die durch die Aus¬
dehnung der Mannheimer Metallindustrie verständlich wird. Von den übrigen
Personen gaben als Kindheitswunsch an je 3 Schreiner und Kaufmann,
je 2 Lehrer, Schornsteinfeger, Chauffeur, Techniker, „an die Bahn“,
ferner je 1 Lokomotivführer, Maschinenschlosser, Bäcker, Friseur, Dreher,
Fuhrmann, Schiffer, Maler, Arbeiter; 2 Personen waren noch unschlüssig
und 2 mal blieb die Antwort aus.
Auch bei den weiblichen Personen überstiegen die KindheitswünBche nur
in 3 Fällen (Kinderfräulein, Zitherlehrerin, Krankenpflegerin) die soziale
Schicht, aus der sie stammen. Sonst wird angegeben: 7 mal Schneiderin,
6mal Verkäuferin, 3mal Büro, je 1 mal Handelsschule, Gesang, Stickerin;
1 mal blieb die Antwort aus. Wie man sieht, ist die Zahl der vorkommenden
Berufe bei den weiblichen Personen, entsprechend den weniger zahlreichen
Möglichkeiten, viel geringer als bei den männlichen.
Nach dem Grund für die Wahl eines bestimmten Berufes in der Kindheit
war nicht gefragt worden. Sehr stark maßgebend war wohl die soziale Wert¬
schätzung bestimmter Berufe innerhalb der in Betracht kommenden Gesell¬
schaftsschicht, so z. B. der technischen Berufe, die als Schlosser, Chauffeur,
Techniker, Lokomotivführer, Maschinenschlosser im ganzen 19 mal unter
42 Fällen vertreten sind. Dasselbe trifft vielleicht zu bei Kaufmann und
Lehrer. Bei den Mädchen gehören Schneiderin (7 mal), Verkäuferin (6 mal)
und Büro (4 mal) zu den sozial angesehensten Berufen. Kindheitswünsche,
die auf reiner Zuneigung zu der betreffenden Beschäftigung beruhen, sind
wohl abgesehen davon, daß in der vorigen Gruppe solche Fälle natürlich
ebensowohl vorhanden sein können, die Fälle: Schiffer, Maler, Gesang,
Stickerin, Krankenpflege, Zitherlehrerin.
Bei der Knabengruppe ist ferner zu fragen, inwieweit der Kindheitswunsch
mehr oder weniger beeinflußt ist vom Beruf des Vaters, besonders wenn
dieser ein Handwerk ausübt und der Knabe frühzeitig mit den Berufs¬
anforderungen bekannt wird. Das scheint in 10 Fällen zuzutreffen, wo
nämlich der in der Kindheit gewünschte Beruf völlig identisch ist mit dem
Beruf des Vaters. Unter diesen 10 Fällen kommt 4 mal der Schlosserberuf
vor, die übrigen Fälle sind 2 mal Bahnarbeiter (oder -beamter?) und je 1 mal
Schreiner, Schiffer, Taglöhner, Friseur. Zum Teil mag* der Berufswunsch
auf häuslicher Gewöhnung begründet sein, nämlich in den Fällen: Schreiner,
Friseur, Schlosser (sofern es sich um selbständige Handwerker handelt, was
aus den Angaben nicht ersichtlich ist), zum anderen Teil kann es Interesse
an der väterlichen Beschäftigung sein, mit der der Knabe zuweilen in Be¬
rührung kommt (Bahnarbeiter oder Schiffer). Jedenfalls ergibt sich daraus,
daß fast 25°/o der Berufswünsche der Knaben durch das Arbeitsrailieu, in
dem sie aufgewachsen sind, beeinflußt wurde.
3. Der erste Beruf. Wenn es sich auch bei der Angabe der Kindheits¬
wünsche in der Hauptsache um Wünsche gehandelt hat, die in gewissem
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Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels
49
Maße mit der Möglichkeit einer Durchführung rechnen durften, so haben
sieb anscheinend in Wirklichkeit doch noch zahlreiche Hindernisse der Ver¬
wirklichung in den Weg gestellt. Wie wir später noch sehen werden, sind
es wohl zum großen Teil die Kriegsverhältnisse gewesen, die die wirtschaft¬
liche Leistungsfähigkeit zahlreicher Familien stark herabgemindert haben,
so daß die Söhne und Töchter oftmals auf schnellen Geldverdienst sehen
mnßten, statt ihrer Neigung zu einem bestimmten Beruf nachgeben zu
können.
So heben von den 42 Knaben 16 keinen Beruf erlernen können, sondern
mußten imgelernte Arbeit tun. Die technischen Berufe, die 19 mal gewünscht
wurden, wurden nur 11 mal erreicht, nämlich 5 mal Schlosser, 3 mal Mechaniker,
2 mal Bauschlosser, 1 mal Maschinentechniker. Ferner ist keiner der beiden
Knaben Lehrer geworden, die es sich gewünscht hatten; auch von den 3 Kauf¬
leuten erreichte nur einer sein Ziel. Sonst kommen noch vor: 3 mal Schreiner,
2 mal Dreher, 1 mal Buchbinder, Spengler, Schweißer, Schiffsjunge, Maurer,
Schriftsetzer, Friseur, Fuhrmann, Installateur.
Hoch einschneidender haben anscheinend die Kriegsverhältnisse bei der
Benfswahl der Mädchen gewirkt. Hier sind unter 23 Fällen 15 Personen
auf ungelernte, hauptsächlich Fabrikarbeit, angewiesen. Anstatt 7 Mädchen
konnten nur 4 den Schneiderinnenberuf erlernen, Verkäuferin und Büroarbeit
kommt nur 3 mal vor, daneben noch 1 mal Sängerin.
Betrachten wir nun den tatsächlich ergriffenen Beruf in seiner Beziehung
zum Kindheitswunsch, so zeigt es sich, daß nur verhältnismäßig wenige ihr
Ziel erreichten. Nur in 10 Fällen der männlichen und in 6 Fällen der weib¬
lichen Gruppe ist der gelernte Beruf identisch mit dem Kindheitswunsch.
Daneben geben allerdings noch 7 weitere männliche Personen als Grund für
die Wahl ihres Berufes, der nicht mit dem Kindheitswunsch übereinstimmt,
Vorliebe an, so daß anzunehmen ist, daß in diesen Fällen der Kindheits¬
wunsch eine Änderung erfahren hat. Jedenfalls können wir insgesamt 23
gleich 35°/o der Fälle feststellen, wo die erste Berufswahl durch das Motiv
der Zuneigung zu einem bestimmten Beruf begründet war.
Ebenso wie der Kindheitswunsch scheint andererseits auch die tatsächliche
Berufswahl in einigen Fällen vom Milieu, vom Beruf des Vaters, beeinflußt
zu sein. In der männlichen Gruppe ist dies 7 mal der Fall, worunter aller¬
dings 4 mal enthalten ist, daß der Sohn entgegen seinem Kindheitswunsch
ungelernter Arbeit wie der Vater wird. Die übrigen 3 Fälle (Friseur, Schlosser,
Schiffer) gehören zu der obenerwähnten Gruppe, wo schon der Kindheits¬
wunsch durch den Beruf des Vaters bestimmt war. Unter den weiblichen
Personen tritt nur 1 mal der Fall auf, daß die Berufswahl der Tochter, aller¬
dings nicht gemäß ihrem eigenen Wunsch, sich nach dem Beruf des Vaters
richtet, wo nämlich die Tochter, anstatt in ein Büro zu gehen, bei ihrem
Vater, der Schneider ist, das Nähen lernt.
Von den befragten Personen selbst werden verschiedene Gründe als ma߬
gebend für die Berufswahl angegeben. Es kommt vor „Vorliebe", „Geld
verdienen", „keine andere Gelegenheit". Von den 42 männlichen Personen
haben angeblich 12 aus Vorliebe ihren Beruf gewählt, 10 weil sie Geld ver¬
dienen mußten, 5 weil sie nichts anderes fanden und 3 weil sie keine Lehr¬
stelle in dem gewünschten Beruf bekamen. Schließlich gehören folgende
Angaben: 2mal „Kriegsumstände", „Gelegenheit", „konnte keinen Beruf
Zeitschrift f. pttdagog. Psychologie. 4
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50 Annelies Argeiander, Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels
erlernen“, lmal „nichts anderes gewollt“, „weil der Vater dazu geraten hat“,
„keine andere Wahl“, „um später Ingenieur zu werden“ auch in eine der
obenerwähnten Gruppen hinein. Stärker noch war der Zwang zum Geld-
verdienen bei der weiblichen Gruppe, wo 15 Personen dies als Grund zur
Berufswahl angeben. Vorliebe kommt hier nur 2 mal vor, allerdings neben
2 Fällen, in denen Talent oder Eignung als Grund zur Berufswahl angegeben
wurde. Außerdem treten wie bei der männlichen Gruppe als Gründe auf
je lmal „Gelegenheit“, „konnte keinen Beruf erlernen“, „um vorwärts zu
kommen“, „weil man es später brauchen kann“.
Es ist nicht anzunehmen, daß die Jugendlichen bei ihrer Berufswahl völlig
unbeeinflußt waren und daß die von ihnen angegebenen Motive sämtlich
ihrer eigenen Überlegung entsprungen sind. Auch wenn auf die Frage, wer
zu der Berufswahl geraten habe, 18 männliche Persozen angeben, sie seien
von niemand beraten worden, so werden auch bei ihnen, wie in den 17 Fällen,
wo Vater oder Mutter als Berater genannt wurden, die Eltern nicht ohne
Einfluß gewesen sein. In der Hauptsache sind es die Eltern, auf deren Rat
die Berufswahl vorgenommen wurde; daneben finden sich noch folgende An¬
gaben: bei den männlichen Personen 2mal Bruder, lmal Onkel, 2mal Be¬
kannte. Bei den Mädchen wird von 6 Personen freie Wahl, von 10 Personen
die Eltern, daneben 2mal Schwester, lmal Lehrer, lmal ein Freund und.l mal
eine Freundin angegeben.
Aus den eben beschriebenen Angaben ist ersichtlich, wie stark die Kriegs¬
verhältnisse auf das Berufsschicksal der heutigen Generation eingewirkt haben.
Natürlich wären auch unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht
alle Berufswünsche in Erfüllung gegangen, man kann aber doch wohl an¬
nehmen, daß der hohe Prozentsatz der ungelernten Arbeiter (38,0 °/o bei den
männlichen und 65,2 °/ 0 bei den weiblichen Personen) eine Kriegserscheinung ist
4. Der Berufswechsel. Eine weitere Kriegserscheinung mag es sein, daß
einzelne der Jugendlichen schon eine ganze Anzahl von Stellen innegehabt
haben. Nur 10 Personen von den 42 männlichen Arbeitslosen hatten vor der
Arbeitslosigkeit ihre Stelle noch nicht gewechselt. Dann folgen 11 Personen,
die bereits in 2 Stellen waren, 7 mit 3, 5 mit 4, 2 mit 5, 3 mit 6, 2 mit 9
und 1 mit 10—11; lmal fehlt die Angabe. In der weiblichen Gruppe ist der
Wechsel nicht so stark, neben 9 Personen mit nur einer und 8 Personen mit
2 Stellen finden sich nur noch 4 mit 3 und 1 mit 4 Stellen. 1 Person war
im Haushalt der Eltern beschäftigt gewesen.
Man könnte vermuten, daß vielleicht die Unzufriedenheit mit einer auf¬
gezwungenen Arbeit in vielen Fällen den Anlaß zum Stellenwechsel gegeben
hat. Dagegen hat aber die Frage: Hat Ihnen dieser Beruf gefallen? ergeben,
daß unter den 42 männlichen Personen 25 ihr Beruf gefallen hat, teilweise
sogar „sehr gut“; 5 waren „teilweise“, „nicht ganz“, „ziemlich“ damit zu¬
frieden und nur 12 antworteten mit „nein“. Unter den 23 weiblichen Per¬
sonen antworteten 13 mit „ja“, bzw. „sehr gut“ und 10 mit „nein“; der
Prozentsatz der Unzufriedenen ist also hier etwas höher, was erklärlich ist,
wenn man bedenkt, wie viele der Mädchen ungelernte Arbeit tun mußten.
Angeblich schlechte Behandlung durch den Arbeitgeber scheint ebenfalls
nicht mit dem häufigen Stellenwechsel in engerer Beziehung zu stehen, denn
nur in wenigen Fällen wird darüber geklagt. Von den 42 männlichen Per¬
sonen wurden 34 „gut“, teilweise „sehr gut“ behandelt, 2 „geht so“ und
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0. Mann, Ein Bilder-Ordnungstest
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,vom Chef gut, vom Meister aber schlecht“ und nur 6 „schlecht“. Unter den
Mädchen bezeichnen die Behandlung 17 als „gut“ und „sehr gut“, 4 als „ganz
gut“, „nicht schlecht“, „wie es sich gehört“, „nicht so gut“ und 2 als „schlecht“
und „schnippisch“.
Die Gründe, die von den befragten Personen selbst für ihren Stellenwechsel
angegeben wurden, kann man trennen in freiwillige und unfreiwillige. Die
letzteren sind in starkem Maße ebenfalls durch die Kriegsverhältnisse bedingt,
denn unter 16 Fällen wird angegeben 11 mal Arbeitsmangel, 2 mal Geschäfts¬
aufgabe, 2mal „weil der Meister eingerückt war“ und lmal die Besetzung
Straßburgs. Ein freiwilliger Grund, der häufig vorkommt, wenn auch vielleicht
bedingt durch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern, ist das Streben
nach höherem Verdienst, das 8 mal genannt ist. Daneben wird noch angegeben
von 4 Personen „weitere Ausbildung - , von 2 „nicht mehr gefallen“, von 2
weiteren, daß die Arbeit zu schwer war, schließlich 1 mal der Tod des Vaters
und lmal Entlassung wegen Rauchens in der Fabrik; 9mal fehlte die Angabe.
Eidsprechend dem höheren Prozentsatz ungelernter Arbeiter unter den weib¬
lichen Personen ist hier auch die Entlassung wegen Arbeitsmangel häufiger
(?ml, darunter lmal wegen Einstellung von Männern), auch höherer Ver¬
dienst kommt vor und zwar 3mal, außerdem 2mal Krankheit, lmal war die
Arbeit zu schwer und 2 mal hat sie nicht mehr gefallen.
Daß der häufige Wechsel nicht wesentlich durch Unzufriedenheit mit dem
ergriffenen Beruf bedingt ist, geht auch daraus hervor, daß in den meisten
Fällen (32 und 17) nur die Stelle, nicht aber der Beruf gewechselt wurde.
In den 9 Fällen von Berufswechsel in der männlichen Gruppe wurde als Grund
dafür angegeben 2mal „nichts gelernt“, lmal „weitere Ausbildung“, lmal
«Mangel an beruflicher Arbeit“, ferner lmal „Geld verdienen“, lmal „nicht
gefallen“, 1 mal „Eltern gestorben“, 2 mal ohne Angabe. In den 5 Fällen der
weiblichen Gruppe war der Grund 3mal „Geld verdienen“ und lmal „Mangel
an beruflicher Arbeit“; 1 mal fehlte die Angabe des Grundes.
• (Schluß folgt.)
Ein Bilder-Ordnungstest.
Von O. Mann.
In aller Kürze und unter Verzicht auf eingehendere theoretische Betrach¬
tung soll im folgenden ein Testversuch beschrieben werden, der an 20 Schülern
einer Münchener Abschlußkasse (13 und 14 Jahre) durchgeführt wurde. Das
Schülermaterial war zu einem derartigen Versuch außerordentlich ge¬
eignet, weil die Begabungsunterschiede sehr groß waren. In solchen Ab¬
schlußklassen sind nämlich alle diejenigen Volksschüler vereinigt, die aus
irgendeinem Grunde eine frühere Klasse repetieren müssen und deshalb nun
die normale 8. Klasse nicht besuchen können. Die Ursachen des Sitzen¬
bleibens sind aber sehr verschiedene, einerseits Unbegabtheit oder Faulheit,
anderseits oft rein äußere Umstände, wie längere Krankheit, Schulortswechsel,
Zuzug vom Ausland u. a.; es ist klar, daß in einer solchen Klasse häufig
deutlich erkennbare intellektuelle Extreme Zusammenkommen — für eine
Testerprobung eine glückliche Konstellation.
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0. Mann
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Die Tendenz des ganzen Versuches wird am besten im Laufe der Be¬
schreibung an Hand von einzelnen Beispielen erläutert.
Versuchsanordnung.
Aus mehreren hundert Ansichtskarten wurden 40 derart ausgewählt, daß
10 Sinngruppen zu je 4 Stück zustandekamen. Die Karten wurden von
1—40 fortlaufend numeriert, aber so, daß in jeder Sinngruppe eine Nummer
ausfiel (in einer zwei).
Es handelte sich um folgende Bilder:
1. Rosenstrauß (Gemäldekarte)
2. Lilien „ „
3. Vase mit Rosen „ „
[4.] Großer Blumengarten (Farbenphot.)
9. Wohnzimmer (Interieur)
10. Musikzimmer „
11. Holländische Wohnstube (Interieur)
[12.] Zimmer, an dessen in einen Garten füh¬
rende Türe ein Hund sitzt (Interieur)
17. Zerstörte Ortschaft (Photographie)
18. Innenansicht einer zerstörten Kirche (Phot.)
[19.] Front „ „ „
20. Zerstörte Ortschaft (Photographie)
25. Logissuche auf d. Leipziger Messe (Scherzk.)
26. Entdeckung des Nordpols „
[27.] Steiler Berg mit Maßkrug auf dem Gipfel
(Scherzkarte)
28. Münchener Kindl mit Faß „
33. Steiler Berg (Photographie)
[34.] Berglandschaft mit Dorf (Farbenpbot.)
35. Matterhorn (Farbenphotographie)
36. Berg mit Gipfelkreuz (Farbenphoi)
5. Zwei junge Katzen (Photographie)
6. Zwei Foxterrier (Farbenphotographie)
7. Junge Dachshunde „ „
[8.] Rehkopf (Gemäldekarte).
13. Kirche mit zwei Türmen (Photographie)
[14.] Altfranzösische Kirche „ „
15. Kirche (Gemäldekarte)
16. Zwei nebeneinanderstehende Kirchen (Phot.)
21. Katze, die Diabolo spielt (Karikatur)
[22.] Katze mit Blumenstrauß (Neujahrskarte)
23. Zwei futteraeidige Hunde (Karikatur)
[24.] Dachshundschliefen im Bett „
29. Osterhasen i mit aufge-
30. Froschkonzert (Pfingstk.) ! drucktem
31. Weihnachtskarte I Glückwunsch
[32.] Symbolische Neujahrskarte (als solche
nicht bezeichnet durch Aufschrift).
37. Schnitter im Felde (Gemäldekarte)
38. Garbenbinder „ „
39. Stehende Garben „ . „
[40.] Zwei betende Personen, ihnen zur Seite
ein Korb voll Kartoffeln (Gemäldek.)
Die nummerlosen Karten [ ] waren derart ausgewählt, daß sie leicht auf
falsche Plätze gelegt werden konnten, wenn der eigentliche Sinn oder
Charakter des Bildes nicht richtig aufgefaßt wurde; die Karte Nr. 8 z. B.
konnte verlegt werden auf Platz Nr. 12 oder 22 oder 24. Nr. 27 auf 34,
diese nach 40 usw.
Das Paket Karten wurde der Vp., die vor einem großen Tisch stand, mit
folgender Instruktion übergeben:
„Hier sind 40 Ansichtskarten, 29 haben rechts oben eine Nummer, 11 haben
keine; ordne sie in der Reihenfolge 1—40 und lege die nummerlosen so ein,
daß sie dem Sinn nach zu einer vorhergehenden Nummer passen. Merke
dir auch die Bilder, aber schau sie nicht zu lange an, damit du zum Ordnen
nicht zu viel Zeit brauchst!“ — Die zu dieser Tätigkeit benötigte Zeit wurde
nach Sekunden gemessen (mit Abrundung auf 5).
Wenn die Vp. mit dieser Arbeit fertig war, wurden eventuell falsch gelegte
Karten richtig eingeordnet und 10 (bei allen Vp. gleiche) Fragen gestellt,
warum diese oder jene Karte gerade hier oder dort ihren Platz hat; die
Zahl der Fehlantworten wurde vermerkt.
Gck igle
Original fro-m
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Ein Bilder-Ordnungstest
53
Hiernach wurde der Auftrag gegeben, die Karten nach einer auf einem
Zettel vorgeschriebenen Zahlenreihe wieder zusammenzulegen und zwar
möglichst rasch; auch hier Messung der Zeit. Schließlich wurde nochmals
gefragt: „Ist dir bei dieser letzten (auf dem Zettel vermerkten) Ziffernreihe
etwas aufgefallen?“ Erfolgt die Antwort „nein“, so wurde die Vp. darauf
hingewiesen, daß auch in dieser anscheinend willkürlichen Reihenfolge eine
bestimmte Ordnung zu erkennen sei und sie aufgefordert, diese herauszufinden
(halbe Minute Bedenkzeit).
In der betreffenden Ziffernfolge wurden nämlich jeder Vp. die Karten ur¬
sprünglich vorgelegt, um begünstigende oder erschwerende Zufälligkeiten
auszuschließen.
Zum Schlüsse mußte jeder Schüler (in Klausur mit 15 Min. Zeit) noch die
Bilder aufschreiben, die er sich gemerkt hatte und diejenigen unterstreichen,
die ihm besonders gefallen hatten. /
Auswertung.
Gewertet wurde:
1. mit welcher Schnelligkeit die Karten richtig geordnet wurden;
2. mit welcher Schnelligkeit das Einsammeln nach der vorgelegten Ziffem-
reihe vor sich ging;
3. wieviele und welche Bilder falsch eingefügt waren;
4. die Zahl der Fehlantworten auf die zehn Sinnverständnisfragen;
5. inwiefern das System in der vorgelegten Ziffemfolge erkannt wurde:
6. die Zahl der gemerkten Bilder.
Folgende Überlegungen, die aus einer Reihe von Vorversuchen *) (angestellt
am Verfasser selbst, an anderen Erwachsenen und an einer andern Klasse)
sich ergaben, waren für die Bewertung maßgebend:
ad 1 u. 2: Das Ordnen nach der richtigen Reihenfolge erfordert:
A) Eine gewisse Methode, die entweder für den augenblicklichen Zweck
erst erdacht, oder auf Grund früherer ähnlicher Arbeiten ohne besonderes
Besinnen gleich angewandt wird.
Folgende Methoden wurden beobachtet:
I. Auf suchen jeder einzelnen Nummer (zuerst Nr. 1, dann Nr. 2 usw.);
die nummerlosen Karten wurden zugleich irgendwo vorläufig eingelegt
(lmal, bei Schüler H.);
II. Planloses Auflegen der Karten und dann Bilden von gewissen (sich
meist zufällig ergebenden) Gruppen (5mal); die nummerlosen Karten wurden
von den Schülern teilweise vorläufig beiseite gelegt und am Schluß ein¬
gereiht, teilweise wurde verfahren wie bei I;
in. Planvolles Auslegen, und zwar so, daß nach dem Augenmaß bestimmte
Lücken für die noch fehlenden Nummern freigelassen wurden (12 mal),
die unnumerierten Karten wurden hier von allen vorläufig beiseite gelegt
and am Schlüsse eingeordnet;
IV. Wie bei DI., aber mit Anlage von Zehnerreihen (2 mal, von den
Schülern Kr. und Ld.);
’) Die Anregung, den ursprünglich nur eis „Beobachtungsaufgabe“ durchgeführten Versuch
weiter aoBzugestalten, ebenso manch andere wertvolle Hinweise und Ratschläge verdankt der
Vertaner Herrn Prof. Al. Fischer, München.
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54
O. Mann
V. Mit irgendeiner Karte wurde angefangen und die folgenden dann je¬
weils hinter oder vor die schon geordneten eingesteckt; die nunmehr richtig
geordneten Karten wurden dann auf den Tisch ausgebreitet und die nummem-
losen eingereiht (lmal, bei Schüler Wet.).
Mehrfache vom Verfasser selbst angestellte Versuche ergaben, daß die
Verfahren III, IV, V fast gleichwertig in bezug auf beanspruchte Zeit sind;
von einer besonderen Auswertung wurde deshalb Abstand genommen; die
Minderwertigkeit der Verfahren I und II aber kommt sowieso in der Zeit¬
berechnung deutlich zum Ausdruck.
B) Ferner hängt die Schnelligkeit ab von einer gewissen manuellen Ge¬
schicklichkeit, vom natürlichen Augenmaß und von der Geschwindigkeit des
Schauens und
C) vor allem von Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Schnelligkeit
der Auffassung und Sinn- (oder Sachverhalts-)verständnis für die Bilder.
Es ist klar, daß allen diesen Anforderungen nicht alle Vp. in gleicher
Weise gerecht werden konnten. Die Gesamtschnelligkeit kann z. B. dadurch
bedeutend herabgesetzt werden, daß ein an und für sich intelligenter und
auch manuell geschickter Schüler schon beim Auslegen der Karten zuviel
„denkt“. Solchen ist durch die zweite Ordnungsaufgabe, bei der es sich nur
um Geschicklichkeit handelt, Gelegenheit gegeben sich zu verbessern, während
jene Schüler, die beim ersten Ordnen schon mit voller Geschwindigkeit
gearbeitet haben, ohne sich irgendwie mit „Denken“ zu belasten, bei der
zweiten Ordnungsaufgabe sicher nicht viel besser abschneiden werden. Die
Berechnung der Leistungsreihe erfolgte in Anlehnung an die von Deuchler
und Huth l ) vorgeschlagenen Methoden, die auch allen folgenden Auswertungen
zugrunde gelegt wurden.
ad 3 u. 4; Hier handelt es sich vor allem um das Sinnverständnis. Unter
den nummernlosen Karten waren solche, die sehr leicht zu verwechseln
waren, und solche, deren falsche Einordnung schon auf ein ziemliches Maß
von Unverständnis schließen ließ. Durch Berechnung von Häufigkeitswerten
für die einzelnen Fehler wurde eine zahlenmäßige Darstellung ihrer Schwere
versucht (s. folg. Tab.):
Nr. 4 = 0,90; Nr. 8 = 0,30; Nr. 12 = 0,60; Nr. 14 = 0,85;
Nr. 19 = 0,85; Nr. 22 = 0,70; Nr. 24 = 0,50; Nr. 27 = 0,70;
Nr. 32 = 0,55; Nr. 34 = 0,65; Nr. 40 = 0,70.
Wenn z. B. die Karte Nr. 8 von 14 Vp. falsch gelegt wurde, so ergab sich
hieraus ein Wert von 0,30 ^aus — ^ — j • Hatte eine Vp. die Karten Nr. 8,
24, 27 nicht richtig eingeordnet, so hatte sie den Gesamtfehler 1,50.
Um aber eine gewisse Kontrolle darüber zu bekommen, daß das richtige
Einlegen der Bilder nicht durch Zufall zustande gekommen war, wurden
jeder Vp. die gleichen 10 Fragen vorgelegt, die prüfen sollten, ob die Sinn¬
gruppen als solche auch richtig aufgefaßt waren; z. B. warum gehört Nr. 22
nicht an Stelle von Nr. 8. Die Fehlantworten wurden nach dem üblichen
Verfahren ausgewertet 2 ).
') Vgl. A. Huth „Die Münchner Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer*.
Leipzig 1922.
2 ) Der Abdruck der Tabellen mußte aus technischen Gründen unterbleiben.
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Ein Bilder-Ordnungstest
55
ad 5: Diese Aufgabe gehört nicht notwendig zur Versuchsanordnung; sie
hat sich aus der Technik des Verfahrens eigeben und ließ sich ungezwungen
r mit Nr. 2 verbinden. Die Ziffemreihe war untereinander geschrieben und
lautete: 2, 11, 20, 29, 38, 7, 16, 25, 34, 3, 12, 21 ubw. Folgende Antworten
wurden (innerhalb Vj Min. Bedenkzeit) gegeben:
1 I- 4 mal gar keine; II. „es sind immer mehr zweistellige beisammen und
dann kommt 1 einstellige“ (6mal); III. „es sind zuerst immer 4 zweistellige,
| dann 1 einstellige, dann 3 zweistellige“ 5mal); IV. „es kommt immer der
| nächstfolgende Zehner“ (2mal); V. „die Zahlen sind um 9 auseinander“ (3mal),
j Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die übrigen Leistungsreihen (mit
t einer gewissen Willkür, die aber in diesem Falle nicht zu umgehen war)
derart, daß Antwort V. mit 0, IV. mit 25, III. mit 75, II. mit 100, und I.
mit 125 angesetzt wurde.
[ ad 6: Das Merken der Bilder ist bedingt durch eine gewisse Gedächtnis*
anlage (Sinngedächtnis!), durch die Art des Vorstellungstypus und vor allem
I . durch ein gewisses Maß von Konzentrationsfähigkeit (Aufmerksamkeit). Die
* Btteehnung erfolgte durch Fehlerauswertung; wenn also eine Vp. 26 Karten
gaaerkt hatte, so wurden 14 Fehler angesetzt.
* Oer endliche Gesamtwert ergab sich aus dem arithmetischen Mittel der
sediB Leistungsreihen (L.-R.). Ob die gleichmäßige Bewertung aller Reihen
' gerechtfertigt ist, oder ob eine oder die andere (etwa 1 und 3) höher an-
gesetzt werden soll, ist zweifelhaft, und eine Entscheidung darüber kann wohl
erst auf Grund von vielfachen zukünftigen Erfahrungen getroffen werden.
Aus eben diesem Grunde wurde auf eine Berechnung von Korrelationen
, zwischen den einzelnen L.-R. verzichtet. Die Korrelation zwischen der durch
■ den Test gefundenen Rangordnung und der vom Lehrer (auf Grund anderer
Int-Prüfungen und Kenntnisbewertung) ermittelten ergab (nach Bravais) 0,96.
Zum Vergleich wurden noch ein Hilfsschüler und ein Erwachsener zu
der Untersuchung herangezogen und ihre Leistungen zu den L.-R. der
20 Schüler in rechnerische Beziehung gesetzt.
*
i Ergebnis.
| A. Vorteile des Tests: 1. Weitgehende Variationsmöglichkeiten (Ver¬
änderung der Zahl der Karten und der Schwierigkeit der Bildsachverhalte);
= 2. eine gewisse Unabhängigheit von Sprachfertigkeit und Schulkenntnissen;
j dadurch isj die Möglichkeit gegeben, den Test in den verschiedensten Lebens-
. altern und Schularten anzuwenden (bei Hilfsschülern und Taubstummen allen¬
falls durch Anwendung von Zahlbildem statt der Ziffern);
3. gute Auswertungsmöglichkeiten;
4. weitgehende Ausgestaltungsfähigkeit (Druck besonders geeigneter Karten,
deren Bilder genauestens durchdachte Sachverhalte wiedergeben; auf solchen
Bildern können alle möglichen logischen Beziehungen versinnbildlicht und
ihre Antinomien verwechslungsmöglich gemacht werden);
5. gegenüber den schon vorhandenen Bilder- und Ordnungstesten eine viel
größere inhaltliche Mannigfaltigkeit 1 ).
t l l VgL u. a. Münsterbergs „Kartenversuch“ in „Psychologie und Wirtschaftsleben“, Leip¬
zig 1912, -S. 55ff., ein Experiment zur Erprobung der Eignung für den Schiffsdienst; Franken;
„BUderkombination“ in Zeitschr. f. angew. Psych. 12, 1917.
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56
O. Mann, Gin Bilder-Ordnungstest
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6. Prüfung der natürlichen (praktischen) und reflektierenden (theoretischen)
Intelligenz im Rahmen eines Tests 1 )*
B. Nachteile: Als Einzeltest beansprucht er bei einer größeren Schüler¬
zahl ziemlich viel Zeit zur Durchführung. Außerdem haften dem Verfahren
in der jetzigen Form noch manche Mängel an, die aber nicht grundsätzlicher
Natur sind, sondern durch genaue Analyse einer Vielzahl von Versuchsergeb¬
nissen im Laufe der Zeit wohl eliminiert werden könnten.
Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen.
Von Fritz Malsch.
Weit verbreitet ist sowohl im Schul- wie im öffentlichen Leben die Auf¬
fassung, daß Begabung und Leistungen in den Fächergruppen Mathematik
und Sprachen einander widersprechen. Ich habe schon anderenorts darauf
hingewiesen, daß nach dem mir vorliegenden Material davon keine Rede sein
kann. Ebensowenig scheint mir aus diesem Tatsachenmaterial hervorzugehen,
daß die Leistungen in den sprachlichen Fächern im Durchschnitt besser sind
als in den realistischen; das Gegenteil scheint mir der Fall. Gelegentlich
meiner in den letzten zwei Jahren durchgeführten Untersuchungen über das
Interesse für die Unterrichtsfächer an höheren Knabenschulen (8u. 9) 2 ) ging
ich auch dieser Frage eingehender nach und möchte das Material hier der
Öffentlichkeit unterbreiten.
Diese Frage ist ja für unser schulpolitisches Leben von großer Bedeutung.
Noch immer müssen die Vertreter der realistischen Fächer um die Berechtigung
ihrer Fächer kämpfen, wie erst jüngst die Lehrpläne für die neuesten Schul¬
typen zeigen. Um so mehr scheint es geboten, in diesem oft aus Tradition
oder sonstigen Gründen geführten Kampfe nur Tatsachen sprechen zu lassen,
wie dies mit den Schülerinteressen schon in der oben angeführten Arbeit
geschehen ist.
1. Abschnitt.
Über das Thema „Schülerleistungen“ liegen aus den letzten zehn Jahren nur
ganz wenige Arbeiten vor und diese beruhen meist auf sehr beschränktem
Material. Die erste mir bekannte ist eine Arbeit von Lobsien, (1) die sich
mit 42 Schülern befaßt. Diese geringe Zahl erklärt wohl die manchmal er¬
staunlich hohen Korrelationen, die Lobsien aus seinen Zahlen bestimmt. So
erhebt sich denn auch bald die Kritik und fordert die Nachprüfung an einem
größeren Material. Der erste, der es tut, ist Schüßler (2), der aus den Zeug¬
nissen von 1000 Volksschülern die Beziehungen zwischen Rechnen und Singen
untersucht. Da sich beide Arbeiten nur auf Volksschüler beziehen, so sei
weiteres Eingehen hier unterlassen, wie auf eine Arbeit von Deuchler (5) aus
dem gleichen Grunde, ferner deshalb, weil sie im wesentlichen methodische
und formale Betrachtungen bringt, die uns hier neben dem sachlichen Inhalt
weniger interessieren. Wichtiger sind für uns die Arbeiten von Bobertag (3)
') Zu bemerken ist noch, daß die Übereinstimmung der das Sinnverständnis bewertenden
L.-R, mit jenen, die die manuelle Geschicklichkeit charakterisierten, eine Überraschend weit¬
gehende war.
*) Die Zahlen bedeuten die Nummern der Literaturliste.
Go igle
Original fro-m
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Fritz Malzcb, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen
57
und Margis (4), die im inhaltlichen Zusammenhang stehen. Bobertags Arbeit
behandelt 53 Abiturienten eines Charlottenburger Realgymnasiums aus den
Jahren 1911 bis 1914, und zwar nur solche, die die Schule von VI bis 01 un¬
unterbrochen besuchten. Es werden Durchschnittsnoten von VI bis 01 be¬
rechnet und dann mit den Korrelationsformeln r berechnet zwischen r=0,18
und r=0,79; starke Korrelation zeigen die sprachlichen Fächer untereinander,
ebenso wie die realistischen untereinander, während die Korrelationen z. B.
zwischen Englisch und Mathematik, Französisch und Mathematik, Französisch
und Chemie, Französisch und Physik schwach sind. Bereits Margis hat gegen
die Bobertagsche Arbeit Bedenken vorgebracht, denen wir uns nur anschließen
können. Die Schüler, die Bobertag seiner Arbeit zugrunde legt, stellen schon
eine Auswahl dar und zwar eine recht einseitige Auswahl, in den Leistungen
im allgemeinen Sowohl wie besonders hinsichtlich der Sprachen. Die von
ihm gegebene Kurve der Abweichung von der Durchschnittszensur — einer
ÄrtGauss’scher Fehlerkurve — zeigt nach der Seite der negativen Abweichungen
starkes Fallen, während sie auf der positiven langsam steigt. Aber auch im
Bnzelfach überragen die 53 den Durchschnittsschüler — berechnet, aus sechs
Jabgängen — beträchtlich. Nur ist der Unterschied hier sehr verschieden.
Biese Differenz (Zensur der Abiturienten — Zensur des Durchschnittsschülers)
beträgt z. B.:
Deutsch: 0,30 Mathematik: 0,17
Latein: 0,32 Physik: 0,09
Französisch: 0,18 Chemie: 0,15
Englisch: 0,18
Diese Zahlen zeigen, daß offenbar eine Auslese der sprachlich tüchtigeren
Schüler im Laufe des Schullebens stattfand, wie durch die Tabelle 3, die diese
Differenz auf den Klassenstufen festhält, genau belegt wird. In den Sprachen
bleibt der Unterschied Abiturienten—Durchschnitt stets positiv und hält sich
mit zwei Ausnahmen auf beträchtlicher Höhe. In den realistischen Fächern
dagegen sinkt z. B. in Mathematik dieser Unterschied von OIII ab auf — 0,05
nnd bleibt negativ, in Physik bleibt er zwischen -j- 0,04 und — 0,01. Diese
53 Abiturienten stehen also auf Mittel- und Oberstufe in den realistischen
Fächern unter dem Durchschnitt.
Ebenso wie Margis habe ich große Bedenken, nur die Osterzensur zu nehmen:
.denn niemals entsprechen die Prädikate den tatsächlichen Schulleistungen
weniger als zu Ostern.“ (4.) Die Gründe lese man bei Margis nach. Seine
sonstigen Bedenken gegen die Arbeit halte ich nicht für so wichtig. Der
größte Einwand gegen Bobertags Arbeit ist die einseitige Auslese der Schüler
durch die Schule; ich komme darauf weiter unten noch zurück (Abschn. 3).
2. Abschnitt.
Das von mir bearbeitete Material sind die Zeugnisbücher einer Oberreal¬
schule aus drei Jahren: 1919—1921. Es waren 1919: 310, 1920: 346,
1921: 364 Schüler. Für jeden Schüler wurden zunächst die Jahresdurch¬
schnittszensuren berechnet, und zwar sei bemerkt, daß dem Verfasser fast
alle Schüler wie Lehrer persönlich bekannt waren, so daß irgendwelche
Lücken und Unklarheiten durch persönliche Rücksprachen ausgeglichen
werden konnten. Jahresdurchschnittszensuren deshalb, weil sehr oft die
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58
Fritz Maisch
Herbstzensur noch unsicher ist, während bei der Osterzensur häufig un¬
kontrollierbare Rücksichten eine Rolle spielen, worauf schon Margis hin¬
gewiesen hat.
Da es mir nun wesentlich darauf ankam, die Beziehungen zwischen
fremden Sprachen und realistischen Fächern aufzustellen, so entschied ich
mich, aus dem Gesamtzensurenmaterial zunächst einmal diese Fächer heraus¬
zugreifen und weiter die Durchschnittszensur zwischen Französisch—Englisch
einerseits lind zwischen Mathematik—Physik andererseits zu berechnen. Die
Wahl Französisch-Englisch'ergab sich von selbst. Zur Mathematik nahm ich
nur ein zweites Fach: Physik, um nicht ungleichgewichtige Mittelwerte
(Sprachen 2, Realien 4 Fächer) zu bilden; Chemie und Naturkunde ließ ich
unbeachtet, weil mir die Physik am meisten das charakteristische Gepräge
der Mathematik zu haben scheint im Gegensatz zu den beiden * die einen
stark historischen Einschlag haben und viel mehr Ansprüche an das Ge¬
dächtniswissen stellen. So ergab sich für jeden Schüler und jedes Jahr
eine Durchschnittszensur in beiden Fächergruppen:
Beispiel Herbst Weihnachten Ostern Durchschnitt
Französisch: 2 — 3 2 2,42
Englisch: 3 3+ 2— 2,66
. Gesamtdurchschnitt 2,54
Die Zensuren 2 — usw. sind dabei mit 0,25 im positiven bzw. negativen Sinne
gerechnet. Diese Durchschnittswerte wurden dann einer der fünf Gruppen:
2, 2 /s, 3, 3 /i, 4 zugeteilt, wobei zu Gruppe 2 alles gerechnet ist zwischen 1
und 2,25, zu Gruppe 2 /y alles zwischen 2,25 und 2,75, zu Gruppe 3 alles
zwischen 2,75 und 3,25 usw. Zu bemerken ist noch, daß in den Klassen
VI—V nur Rechnen und Französisch, in IV Rechnen mit Mathematik, in UIII
Französisch-Englisch im Gegensatz zur Mathematik genommen ist.
Trägt man die in dieser Weise ermittelten Zensurkombinationen, deren es
ja 25 gibt, in das übliche Korrelationsschema ein, so erhält man für die
3 Jahre die folgenden 3 Tabellen, die Schülerzahlen umgerechnet in Prozente
von der Gesamtschülerzahl:
Tab. 1. a—c.
1919 Math.-Phys._ 1920_Math.-Phys.
2
7»
3
7 ^
*
2
73
3
74
d
2
4,2
2,5
_
_ d
2
i 7,7
2,7
0,8
0,3
©
V»
6,1
11,3
6,1
4,7
—
7»
5,8
10,1
5,2
3,8
ö
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3
4,5
6,5
4,2
0,3 §
3
1.4
6,1
5,5
2,0
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—
10,3
6,7
20,0
2,5 S,
74
0,9
8,1
9.8
19,4
4
1
0,6
1
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5,8
1,6 ®
4
—
1,7
1,7
4,9
1921 Math.-Phys.
2 *
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3
2.4
5,0
13,7
7,1
1,9
a
74
1,1
4,1
8,5
11,0
4,4
CG
4
0,3
1,1
3,0
6,6
3,6
Berechnet man aus diesen Tafeln, unter Geltung der Gruppe 3 als Mittel¬
wert, nach der Bravaisschen Korrelationsformel die Korrelation zwischen
den Leistungen in der Mathematik und den Sprachen, so erhält man:
Gck igle
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Sciiülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen
59
1919, r = 0,56; 1920, r = 0,51; 1921, r = 0,51; im Durchschnitt also 0,53,
wobei die wahrscheinlichen Fehler sind: 1919 :0,026; 1920:0,027; 1921: 0,026.
Wichtig erschien es mir aber auch, diesen Zusammenhang auf den einzelnen
Klassenstufen festzustellen, während im Vorstehenden alle Schüler von VI
bis I zusammengefaßt sind. Um nicht die Übersichtlichkeit zu gefährden
und zuviel Rechenarbeit zu haben, sind die*Schüler nunmehr nach den Jahres¬
durchschnittszensuren in Französisch-Englisch einerseits, Mathematik-Physik
anderseits nur in 8 Gruppen eingeteilt: 2, 3 und 4. Hierbei ist zu 2 alles
zwischen 1 und 2,5, zu 3 alles zwischen 2,5 und 3,5 usw. gerechnet; ferner
werden hier die Anzahlen der Noten jeder Gruppe für jede Klasse über alle
S Jahre zusammengefaßt und die Gruppen in Prozente der Schülerzahl der
Klassen umgerechnet; ein Beispiel wird dies sofort klar machen.
Sprachen in OII: Jahr Schülerzahl 2 3 4
1919 19 2 11 5
1920 17 3 12 3
1921 14 7 6 1
3 Jahre 60 12 29 9
In Prozent: 24,0 68,0 18,0
h Tabellen zusammengestellt erhalten wir bei 340 Schülern im Jahres¬
durchschnitt _ Sprachen_Math.-Phya.
2
3
4
2
3
! 4 '
Ol
13,9
50,0
36,1
27,8
58.3
13,9
UI
19,7
50,0
30,3
27,3
66,7
6,0
on
24,0
58,0
18,0
25,0
69,0
6,0
un
17,4
63,7
18,9
22,7
65,4
11,9
OIII
21,5
55,0
23,4
18,7
61,2
20,1
um
15,8
53,7
31,3
26,6
55,8
17,6
IV
15,9
55,8
28,3
21,2
65,4
13,4
V
23,1
55,2
22,7
24,5
60,5
15,0
VI
17,6
60,2
22,2
24,2
66,0
9,8
Abb. 1 Abb. 2
Digitizedl
bv Google
Original fro-m
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60
Fritz Malsch
3. Abschnitt.
Betrachten wir das im Vorstehenden Festgestellte näher, so können wir
schon aus Tabelle 1 ersehen, daß von besonders ungünstigen Leistungen in
den realistischen Fächern keine Rede sein kann. Im wesentlichen kann man
wohl behaupten, daß die Leistungen in den beiden Fächergruppen fast gleich¬
wertig sind, mit einem geringen Mehr der guten und genügenden Leistungen
in Mathematik-Physik. Das Gleiche geht aus Tabelle 2 bzw. Abb. 1 hervor.
Die zahlenmäßigen Ergebnisse vergleiche man dort. Ferner entspricht die
Verteilung der Leistungen auch dem allgemeinen Ergebnis der Intelligenz¬
prüfungen (7, S. 158) insofern, als die Mittelleistungen in der angegebenen
Bewertung ungefähr 50°/o, die Extremleistungen beiderseits kaum über 25°/o
betragen. Völlig konform geht aber dies Ergebnis dem meiner Arbeiten Uber
die Schülerinteressen (8 und 9). Dort habe ich in eingehender Untersuchung
auch die Gründe für die dem Pädagogen wie Psychologen zunächst etwas
seltsamen Tatsachen klarzulegen gesucht und kann mir daher eine noch¬
malige ausführliche Darlegung sparen.
Von mancher Seite wird nun gegen derartige Feststellungen der Einwand
erhoben, das zugrunde liegende Material — die Schulzeugnisse — sei keine
reine und sichere Darstellung der Schülerleistung; die erteilte Zensur sei eine
auf äußerst vielen oft zufälligen Faktoren beruhende Feststellung. Nicht nur
beim Einzelschüler, wo der Lehrer, die Methodik, die Begabung, der Fleiß
und häusliche Hilfe manche 2 und 3 hervorzauberten, sondern auch an den
einzelnen Anstalten im Lande sei die Beurteilung der Schülerleistungen j
durchaus ungleichmäßig. Das ist alles bis zu einem gewissen Grade richtig; i
doch glaube ich nicht, daß das jemals ganz gleichmäßig zu machen ist. i
Absolute Normen für die Schülerbewertung wird es nie geben, praktisch ist
für die Gleichmäßigkeit durch die Organisation der Schulen ausreichend ge¬
sorgt. Weiter, wir haben es hier nicht mit Dingen der theoretischen Päda¬
gogik, sondern der praktischen zu tun. Der Praktiker kann aber nicht immer j
warten, bis Reinkulturen des Materials beschafft sind, sondern muß sich mit 1
dem Bestehenden bzw. dem Möglichen befassen und hier mit dem kritisch
betrachteten Material zur Lösung der praktischen Fragen zufrieden sein.
Dieses Problem der Schülerleistungen und -interessen scheint mir aber im
Hinblick auf Schulpolitik, den Streit um Fächer und Lehrpläne für alte und
neue Schultypen sehr bedeutsam zu sein.
Eine andere Frage möchte ich hier anschneiden. Von Vaerting (6) wird
seit Jahren ein Kampf gegen die höheren Schulen geführt mit dem Einwand,
diese seien viel zu sehr Schulen der Gedächtnis-, aber nicht der Veretandes-
bildung; zum mindesten aber werde auf ihnen eine ganz einseitige Auslese
zugunsten der Sprachbegabten, zu ungunsten der mathematisch-technisch
Begabten getrieben. Die Zahlen von Bobertag scheinen mir dies für das
Gymnasium sehr zu bestätigen, während es nach meinen Ergebnissen für die
Oberrealschule kaum der Fall ist. Ich habe im Abschnitt 2 schon die ent¬
sprechenden Zahlen aus Bobertags Tabelle 2 und 3 mitgeteilt. Ist aber diese
Auslese der Sprachbegabten eine Tatsache, dann ist auch Bobertags Material
als zu einseitig zu beanstanden. Die große Menge det sprachlich weniger,
aber dafür mathematisch-technisch begabten Schüler wird am Gymnasium
und Realgymnasium, wo eine Hochleistung in drei Fremdsprachen verlangt
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Schmerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen
61
wird, spätestens in der Mittelstufe schöitem. Noch einen zweiten Beleg für
diese Auslese zugunsten der Sprachbegabten glaube ich anführen zu können.
Melchert hat (10) für 2000 Schüler einer Lübecker Oberrealschule aus den
Zeugnissen festgestellt (das Material erstreckt sich über 18 Jahre), woran diese
in den Klassen VI—UII gescheitert sind. Ich verweise auf seine Arbeit und
gebe nur die runden Zahlen. An Mathematik allein scheiterten 8,5 "/o, an
Sprachen allein 34,5°/o, an Mathematik und Sprachen 53,5°/o. Auch hier
also eine Auslese zugunsten der Sprachbegabten. Das scheint mir eine recht
traurige Bestätigung des Vaertingschen Vorwurfs zu sein. Wenn man neben
dies einen Satz von Vosslar hält, der kürzlich auf dem deutschen Neuphilo¬
logentage gesprochen wurde, wird man sich über solche Ergebnisse nicht
wundern: „Einen sonderlichen Ertrag aber hat, soweit ich beurteilen kann, der
französische Unterricht an den höheren Lehranstalten trotz des langjährigen
und intensiven Betriebs nicht gegeben.“ (11)
Das von mir in Tabelle 1, a—c niedergelegte Ergebnis scheint mir
schließlich noch einen kleinen Beitrag zu der Frage der Gesamtverteilung
der Intelligenz zu liefern. Galton hat bekanntlich bereits die Vermutung
ausgesprochen, daß die Begabungsgrade einer größeren nicht besonders aus¬
gewählten Menge von Individuen sich nach der Gaußschen Kurve verteilen
müßten, eine Vermutung, die Stern (7) nach den bisher vorliegenden Er¬
gebnissen als bestätigt sieht. Auch unser Beitrag soll nur ein kleiner Bau¬
stein sein am Gebäude der zahlenmäßigen Festlegung der massenpsycho¬
logischen Gesetze. Zu dem Zwecke betrachten wir — siehe Tabelle 1 —
wieviel Schüler — in Prozenten — von gleichmäßiger Leistung in Sprachen und
Mathematik abweichen; sie können abweichen durch eine bessere Leistung in
den Sprachen z. B. Sprachen 2, Mathematik 2 /a, oder in der Mathematik z. B.
Sprachen 3 /«, Mathematik 3, und zwar sind Abweichungen um vier halbe
Stufen möglich, in einer ganzen Menge Kombinationen: z. B. 2— 2 /a, 2—3,
2 —*/<, 3— 3 / 4 , 3 / 4 —2, 3—4 usw. Stellen wir diese Zahlen für alle 3 Jahre
im Durchschnitt zusammen, so ergibt sich:
Leistgs. Diff.
mehr in Spr.
mehr in Math.
0
V*
15,0
42,9
25,2
l
5,1
10,9
IV,
0.7
1.8
2
0,0
0.1
Die Kurve Abb. 2 (S. 59) gibt die charakteristische Form der Gaußschen
Fehlerkurve, wobei allerdings der Abfall auf der Seite: + in Sprache steiler
ist, als auf der anderen. Ein Ergebnis, das erstens meinen Darlegungen wie
denen von Melchert durchaus gemäß ist und gleichzeitig die Annahme be¬
stätigt, daß die ganze Intelligenzverteilung — denn die Leistung hängt mit
ihr aufs Engste zusammen — dem Gaußschen Fehlergesetz folgt.
Literatur:
1. Lobsien, Korrelationen zw. d. Unterrichtsleistungen einer Schülergruppe. Z. exp. Päd.
tÖU. 146.
2. Schüßler, Korrelationen zwischen Rechnen und Singen. Arch. Päd. 1914. 153.
3. Bobertag, Korrelat.-stat. Untersuchungen ü. die Unterrichtsleistungen der Schüler einer
höheren Lehranstalt Z. ang. Ps. 1915. 169.
4. Margis, Bemerkungen zu 3. Ebenda. 188.
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62 Fritz Malsch, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen
5. Deuchler, Über die Bestimmung von Hangkorrelationen aus Zeugnisnoten. Z. ang. Ps.
1917. 395.
6. Vaerting, Die fremden Sprachen und die deutsche Schule. Leipzig 1920.
7. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung.
Leipzig 1920.
8. Malsch, Das Interesse für die Unterrichtsfächer an höheren Knabenschulen. Z. pd. Hs.
1921. 234.
9. Malsch, Gleicher Titel wie 8. Kölner Dissertation, 1922 im Druck. Manns, pädag.
Magazin. Längensalza.
10. Melchert, Fremdsprachen und Mathematik an den höheren Schuten. Dtsch. Philologen-
blatt 1922. 147.
11. Vossler, Vom Bildungswert der romanischen Sprachen. Neuere Sprachen. 1922. S. 233.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Eine kritische Darstellung der Methoden zur Erforschung der Lehrer¬
persönlichkeit gibt Dr. Friedrich Schneider in der Zeitschrift für christ¬
liche Erziehungswissenschaft (1922). Er zeigt zuerst die Unzulänglichkeit des
historischen und deduktiven Verfahrens und führt dann über die induktive
Arbeitsweise u. a. das Folgende aus:
„Bei ihrer Anwendung geht der Forscher nicht aus von dem Begriff des
Erziehers und Lehrers, dem Begriff des Erziehens und Lehrens, sondern von
der Lehr- und Erziehungspraxis. Der Lehrende selbst macht — auch ohne
absichtlich darauf gerichtete Selbstbeobachtungen — sowohl an sich als auch
an Kollegen mancherlei Erfahrungen zu unserem Problem (ebenso der Schul¬
aufsichtsbeamte). Er erkennt vielleicht, daß er körperliche und geistige Eigen¬
schaften besitzt, die ihm bei seiner erzieherischen und unterrichtlichen Tätig¬
keit förderlich sind, oder ihr Mangel kommt ihm bei seiner Berufstätigkeit
zum Bewußtsein. Vielleicht erfährt er auch, daß einzelne seiner körperlichen
und geistigen Qualitäten eine gedeihliche Berufsarbeit erschweren oder gar
unmöglich machen. Leider blieb diese Kenntnis bisher wenigstens auf den,
der die Erfahrung machte, beschränkt, blieb der Forschung unzugänglich und
konnte daher zur Lösung des Problems der Berufspsychologie des Lehrer¬
berufes nicht benutzt werden. Wenn es gelänge, derartige Erfahrungen in
größerem Umfange zu sammeln, so wäre es möglich, allmählich eine der
Tendenz nach vollständige Liste der erforderlichen Lehrereigenschaften auf¬
zustellen. Ein ähnliches Verfahren hat man auch bei den berufskundlichen
Untersuchungen mancher handarbeitenden Berufe angewandt. Das .Verfahren
ist beim Lehrerberuf natürlich viel leichter anzuwenden als bei jenen Be¬
rufen, da der Lehrer mehr als der Handwerker, der Fabrikarbeiter, der Kauf¬
mann die Fähigkeit und auch wohl Neigung zu psychologischer Selbst¬
beobachtung besitzt und weil seine Tätigkeit überdies von psychologisch ge¬
schulten Personen (Schulleiter, Schulrat) beobachtet wird. Das Mittel, um zu
eigens angestellten Beobachtungen zu veranlassen und die zerstreuten Er¬
fahrungen zu sammeln, ist die Umfrage, in der psychologischen Methodenlehre
auch als Erhebung, Enquete, bezeichnet. Diese Umfrage enthält eine oder
mehrere Fragen, die auf Grund von Selbst- oder Fremdbeobachtungen beant¬
wortet und an den Aussender dann zurückgesandt werden sollen. Man kann
eine solche Umfrage in unserem Falle so gestalten, daß ihre Beantwortung
kein größeres psychologisches Wissen erfordert, als durchschnittlich jeder
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
63
Lehrer besitzt, und sie dann an eine möglichst große Zahl von Lehrern
schicken, um auf diese Weise ein Massenmaterial zu erhalten, das dann
statistisch verarbeitet wird. Mao nennt eine solche Erhebung eine Quantitäts¬
eihebung. Man kann aber auch von vornherein auf Massenmaterial ver¬
zichten und sich auf einen engeren Kreis der Befragten beschränken, sich
z. B. nur an solche Pädagogen wenden, von denen man weiß (etwa auf
Grund persönlicher Bekanntschaft oder auf ihre literarischen Veröffentlichungen
hin), daß sie gründlicher psychologischer Selbst-, bzw. Fremdbeobachtung
fähig sind, ln diesem Falle spricht man von einer Qualitätserhebung.
Die älteste mir bekannte Enquäte zum Problem der Psychologie des Lehrer¬
berufes wurde von dem damaligen Professor am Lehrerseminar in Brüssel
M. Tobie Jonckheere vorgenommen und im Oktoberheft 1908 in der Zeit¬
schrift „Archives de Psychologie“ veröffentlicht. Diese Enquöte war ver¬
anstaltet unter 35 Schülern der ecole normale im Alter von 15 Jahren undf
weniger und beschäftigte sich noch mit einer Vorfrage der Berufspsychologie
das Lehrerberufes. Sie sollte Aufschluß geben über die Beweggründe, welche
<fie jungen Leute bei der Wahl des Lehrerberufes geleitet hatten. Das Er¬
gebnis der Enquäte war wenig erfreulich. Keiner der Schüler hatte sich aus
innerem Beruf für den Lehrerberuf entschieden. Die meisten hatten den
Lehrerberuf gewählt auf den Rat ihrer Eltern oder anderer Autoritätspersonen
(11 von 35), mit Rücksicht auf die Vorteile, die der Beruf (la vie d’instituteur)
in ihren Augen besaß (15 von 35), oder aus Nützlichkeitsgründen oder
egoistischen Erwägungen. Das wenig erfreuliche Ergebnis seiner Enquete
formuliert Jonckheere folgendermaßen:
Le choix n’est jamais motive par des raisons nobles, Alevees (par exemple
le desir de se perfectionner, de se consacrer ulterieurement ä l’education des
enfants).
Diese Enquete veranlaßte mich, die Frage: „Aus welchen Gründen haben
Sie sich ftir den Lehrerberuf entschieden?“ von einer größeren Zahl deutscher
Seminaristen beantworten zu lassen. Interessenten verweise ich auf die Ver¬
öffentlichung der Umfrageergebnisse im Septemberheft 1920 der Zeitschrift
für christliche Erziehungswissenschaft. Wenn sie auch nicht so traurig sind
wie die Brüsseler, so zeigte doch auch meine Umfrage die große Oberfläch¬
lichkeit und Äußerlichkeit der Motive der Wahl des Lehrerberufes und die
Notwendigkeit besonderer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Änderung
dieser unerfreulichen Erscheinung.
Nachträglich wurde mir eine andere EnquÖte bekannt, die auch durch das
Beispiel, das Jonckheere gegeben hatte, veranlaßt wurde. C. Huguenin 1 )
sandte eine 12 Fragen enthaltende Umfrage an mehr als 100 Personen zur
Beantwortung. Die wichtigsten der Fragen suchten festzustellen, ob der Stand
der Eltern und Vorfahren auf die Wahl des Lehrerberufes eingewirkt habe,
bei wem innere Neigung und Beruf die Veranlassung der Berufswahl waren.
Auf die vielen Anfragen liefen nur 20 Antworten, 17 von Damen und 3 von
Herren ein. Diese verhältnismäßig geringe Antwortenzahl führt Huguenin
darauf zurück, daß manche befürchteten, sich durch wahrheitsgetreue Beant¬
wortung bloßzustellen.
') Einen eingebenden Bericht in französischer Sprache gibt Huguenin in der vom Institut
1. J. Rousseau herausgegebenen Zeitschrift L’Intermödiaire des Educateurs, IUme Armee Nr. 29—30,
Juin, JuilJet 1915, Genßve.
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64
Kleine Beiträge und Mitteilungen
Während diese drei Enqueten noch nicht direkt auf das Problem der
Eignung zum Lehrerberuf eingingen, liegen bis jetzt auch zwei Umfragen in
deutscher Sprache vor, die unmittelbar auf den Kern des Problems losgehen.
Die erste wurde von mir veranstaltet. Sie lautete:
Eine Umfrage über das Wesen der Eignung zum Lehrerberuf.
Gegenwärtig geht man in Deutschland — vor allem in den Großstädten — daran, die Be¬
rufswahl zu rationalisieren. Die erstrebte Neugestaltung der Berufswahl hat zur Voraussetzung
die möglichst exakte Feststellung der körperlichen uud geistigen Eigenschaften, welche für den
einzelnen Beruf unentbehrlich sind. Diese Feststellung ist besonders schwierig bei allen höheren
Berufen, so auch beim Lehrerberuf.
Trotz des vielen, das uns die historische Pädagogik an Ausführungen der verschiedensten
Pädagogen über die Persönlichkeit des Lehrers und ihre Eigenschaften bietet, trotz auch einiger
von der modernen Berufsberatungsbewegung angeregten Untersuchungen über die Eigenschaften,
welche zum Lehrerberuf geeignet bzw. ungeeignet machen, ist das Problem der Berufseignung
des Lehrers noch nicht gelöst. Selbst über den Kern des Problems sind wir wissenschaftlich
noch nicht einmal im klaren: genügen Intelligenz, Fleiß und guter Wille, um ein wirklich
tüchtiger Lehrer zu werden? Können wir von einem Jungen Menschen, der diese Dreiheit be¬
sitzt, sagen, er eigne sich zum Lehrer, er sei berufen zum Lehrerberuf? Nie werden wir
jemandem nur auf diese drei Eigenschaften hin raten, sich der Erlernung und Ausübung einer
der Künste zu widmen. Wir wissen alle, daß da noch ein notwendiges Attribut hinzukommen
muß: künstlerische Begabung. Verlangt nun vielleicht der Lehrerberuf zu seiner möglichst voll¬
kommenen Ausfüllung auch noch ein Mehr: pädagogische Begabung? Wenn ja, worin besteht
sie? Wie offenbart sie sich beim Jugendlichen? Wie zeigt sie sich beim Lehrer in seiner
Berufsarbeit? Ist die pädagogische Begabung und Anlage häufig anzutreffen? Wenn wir bei
der großen Zahl der erforderlichen Lehrer von ihr auch schon absehen müssen, welche Eigen¬
schaften muß der künftige Lehrer unbedingt besitzen, bzw. welche machen ihn ungeeignet?
Meines Erachtens müßte reiches Material zur Beantwortung der Fragen zu gewinnen sein,
wenn man die in der Lehrpraxis Stehenden dazu hörte. Ich bitte daher alle diejenigen Kollegen
und Kolleginnen, die sich für die Frage der Berufseignung des Volksschullehrers interessieren,
die obigen, besonders aber die nachfolgenden Fragen, soweit es ihnen möglich ist, zu beant¬
worten. Wer außer den Antworten auf die gestellten Fragen Zweckdienliches zum Thema der
Umfrage zu sagen weiß, der fördert die Bearbeitung des Problems, wenn er es gleichzeitig mit-
teilt Die Beantwortung bitte ich an meine Adresse zu richten.
1. Haben Sie unter Ihren Schülern solche gehabt, die Sie für besonders geeignet zum Lehrer¬
beruf hielten? Worauf stützten Sie diese Meinung? Haben Sie Gelegenheit gehabt, solche
Schüler im späteren Leben im Auge zu behalten? Gab deren spätere Entwicklung
Ihnen recht?
2. Nehmen Sie eine spezielle pädagogische Begabung an? Wenn ja, worauf stützen Sie diese
Annahme? Worin besteht sie nach Ihrer Ansicht?
3. Kennen Sie einen Kollegen, der ein intelligenter, fleißiger Mensch ist und trotz allen guten
Willens in seinem Berufe nichts Tüchtiges leistet oder sich in seinem Beruf nicht wohl
fühlt? Woran liegt das nach Ihrer Ansicht?
4. Welche geistigen Fähigkeiten sind bei einem Ihnen etwa näher bekannten hervorragend
tüchtigen Lehrer besonders ausgeprägt?
5. Waren in Ihrer Seminarzeit diejenigen, die in den wissenschaftlichen Fächern am meisten
leisteten, die besten Lehrer in der Übungsschule und auch — soweit Sie es verfolgen
' konnten — nach der Seminärzeit im Amt? Oder wie war das Verhältnis?
Diese Umfrage ist dann außer in der Zeitschrift für christliche Erziehungs¬
wissenschaft auch von den „Pädagogischen Blättern“ und von der „Zeitschr.
für päd. Psychol. und experimentelle Pädagogik“ veröffentlicht worden. Bei
der großen Verbreitung, die so die Umfrage gefunden hatte, erhoffte ich
auch eine dementsprechend große Zahl von Antworten zu erhalten. Es liefen
aber so wenig Antworten ein, daß von einer Quantitätserhebung gar keine
Rede sein konnte. Die Erklärung für diese Tatsache liegt meines Erachtens
vor allem darin begründet, daß die Lehrerschaft für diese Fragen nicht hin-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
65
reichend interessiert ist. Wodurch sollte dieses Interesse auch geweckt worden
sein? Während der Vorbildung zum Lehrerberuf spielte das Problem der
Berufspsychologie des Lehrerberufes eine ganz geringe oder gar keine Rolle.
In den Seminarlehrbüchem für den pädagogischen Unterricht wird das Problem
nicht berührt. In der pädagogischen Presse wird das Thema nur höchst selten
berührt, am häufigsten noch in den von Muthesius herausgegebenen „Päd¬
agogischen Blättern“, die aber in Volksschullehrerkreisen nur wenig verbreitet
sind. Die Veranstaltungen zur Fortbildung des Lehrers gehen auch an diesem
Problem vorbei. Ich habe alle Studienpläne von Lehrerarbeitsgemeinschaften,
die mir in die Hände kamen, auf unsere Themata hin durchgesehen. Selbst
da, wo eingehende psychologische Arbeitspläne aufgestellt waren, fehlte die
Berufspsychologie des Lehrerberufes, obwohl gerade dieses Arbeitsgebiet zur
Mitarbeit so reiche Gelegenheit bietet und die Erforschung dieses Problem^
auf die Mitarbeit des Lehrers angewiesen ist. Auch auf den Programmen der
vielen vom Zentralinstitut veranstalteten „Pädagogischen Wochen“ fehlt bei
allem Reichtum der Themata die Berufspsychologie, ebenso wie die nicht
weniger wichtige Berufsethik, des Lehrerberufes, noch vollständig. Für die
Lehrerwelt als Ganzes existiert das Problem, mit dem wir uns beschäftigen,
noch gar nicht. Sie hat über die damit zusammenhängenden Fragen weniger
fast nachgedacht und ihre Beobachtungen noch nicht darauf gerichtet.
Mir kam es bei Vornahme der Umfrage vor allem darauf an, Massen¬
material zur Beantwortung der Frage zu gewinnen, ob es eine besondere
pädagogische Anlage und ob es den „geborenen“ Lehrer gebe und wie das
Verhältnis von Intelligenz, theoretischer Neigung und Wissen zum pädago¬
gischen Geschick sei. — Der Gedanke an eine besondere pädagogische An¬
lage taucht in der historischen Pädagogik erst spät — soweit ich feststellen
konnte — erst bei den humanistischen Pädagogen auf, aber sie hat bis heute
noch keine allgemeine Geltung errungen. So lehnt — um einige Beispiele
zu nennen — Theodor Waitz in seiner „Allgemeinen Pädagogik“ ') ein all¬
gemeines Erziehertalent, dem bei seiner Betätigung allgemeine theoretische
Gesichtspunkte entbehrlich wären, ab; Seidenberger vertritt in Roloffs
Lexikon die Meinung, daß Begabung, Fleiß und guter Wille für den Präpa-
randen genüge und daß sich dann während seiner Ausbildungszeit auf unseren
tüchtigen Lehrerbildungsanstalten Geschick und Befähigung zum pädagogischen
Beruf von selber entwickeln würden. Es scheint bei ihm die Ansicht sich
auszusprechen, die schon von Aristoteles und nach ihm von Thomas von
Aquin vertreten wurde. „Der Satz: Merkmal des Wissenden ist, lehren zu
können, geht auf ein allgemeines Gesetz zurück; denn jedweder erreicht erst
die Vollendung seines Tuns, wenn er sich ein anderes angleichen kann. Wie
es Merkmal der Wärme ist, daß sie etwas erwärmen kann, so ist es Merkmal
des Wissenden, daß er zu lehren versteht, was ja ist: Wissen in einem
anderen erzeugen 2 ).“
Der Pädagoge Schiller behauptet in seinem Handbuch der praktischen
Pädagogik für höhere Lehranstalten mit derselben Bestimmtheit eine beson¬
dere pädagogische Anlage, wie die eben genannten Pädagogen sieverneinten:
„Wenn bei irgendeinem Berufe das Wort Geltung hat, daß der Künstler ge-
') Herausgegeben von Otto Willmann, Braunschweig, Vieweg & Sohn. 4. Auflage. 1898.
*) Otto Willmann, „Aristoteles als PSdagogiker und Didaktiker“. Reuther und Reichard.
Berlin 1909. S. 151.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 5
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66
Kleine Beiträge und Mitteilungen
boren, nicht geschaffen wird, so ist dieB bei dem Lehrerstande der Fall *).“
Die Existenz einer besonderen pädagogischen Anlage wird besonders von
manchen modernen Schulreformern vertreten 2 ). Sicherlich würde es in diesen
Meinungsverschiedenheiten nun von Wert sein, die begründete Ansicht recht
vieler praktischer Pädagogen zu hören. Auf meine Umfrage sind aber so
wenige Antworten eingelaufen, daß ich vorläufig die Bearbeitung derselben
noch zurückstellen muß. Vielleicht wird durch diese Ausführungen noch
der eine oder andere Leser veranlaßt, sich der Umfrage jetzt noch anzunehmen.
Eine weitere Umfrage, deren Resultate auf Bearbeitung warten, ist von
Hy Ha, dem jetzigen Kreisschulrat und Mitarbeiter im Ministerium für Wissen¬
schaft, Kunst und Volksbildung, vorgenommen worden. Der von ihm auf¬
gestellte, sehr ins einzelne gehende, den fachmännisch geschulten Psychologen
verratende Fragebogen wird vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht
versandt. Er lautet:
Psychologischer Fragebogen zur Feststellung der für den Lehrberuf erforder¬
lichen Anlagen und Eigenschaften.
Sind nach Ihrem Urteil folgende Eigenschaften
A) für die Ausübung des Lehrberufes,
B) für die ihm vorangehende Berufsausbildung
(3) unbedingt erforderlich — (2) sehr wichtig — (1) wünschenswert — (0) gleichgültig —
(— 1) unerwünscht — (— 2) sehr hinderlich, — (— 3) ein unbedingter Gegengrund?
1. Eine feste Gesundheit im allgemeinen. 2. Besondere körperliche Widerstandskraft auf
bestimmten Gebieten. Auf welchen? 3. Eine besondere Widerstandskraft des Nervensystems
finkl. Sexualität). 4. Große Kraft der Körperbewegungen (Muskelkraft) eventuell welcher Muskel-
gruppe im besonderen? 5. Eine kräftige, klangreiche und ausdauernde Stimme. 6. Geschick¬
lichkeit der Bewegungen. Eventuell in welcher speziellen Form. 7. Die Fähigkeit deutlichen
Sprechens. 8. Die Fähigkeit schnellen Sprechens. 9. Die Fähigkeit, seinen Gefühlen durch
Gesten, Mimik, Modulation der Stimme adäquaten Ausdruck zu verleihen. 10. Die Fähigkeit,
unwillkürliche Ausdrucksbewegungen (z. B. Zeichen der Unruhe, des Mißvergnügens) willkürlich
zu unterdrücken. 11. Besondere Schärfe und Feinheit der Sinneswahrnehmungen (auf welchem
Sinnesgebiet: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast). Eventuell in welcher besonderen
Ausprägung (Empfindlichkeit für Farbenunterschiede, Unterscheidungsvermögen für Geräusche,
speziell: Gute Auffassung gesprochener Worte, Feinheit der Tastempfindung, der Gewichts-
scbätzung, Lage- und Bewegungsempfindung, d. h. Orientierung über Stellung und Bewegung
einzelner Körperteile ohne Kontrolle des Auges, Unterscheidungsvermögen für Differenzen der
Temperatur, Richtungsschätzung, Größenschätzung, Zeitschätzung usw. 12. Die Fähigkeit, auf
Grund eines bestimmten Sinneseindrucks schnell eine bestimmte Bewegung auszuführen. 13. Die
Fähigkeit, unter verschiedenen in einem bestimmten Falle möglichen Bewegungen (Handlungs¬
weisen) schnell und sicher die richtige, bzw. zweckmäßige Wahl zu treffen. 14. Die Fähigkeit
zu schneller und richtiger Entscheidung in gefährlichen Lagen (Geistesgegenwart). 15. Die
Fähigkeit zur Unterdrückung unwillkürlicher Reaktionen (z. B. Zusammenzucken, Abwehr¬
bewegungen, Mitbewegungen usw.). 16. Ein bestimmter Vorstellungstyp, d. h. Gedächtnis- und
Vorstellungsweise gründen sich vorwiegend auf: 1) Gesichtseindrücke (optischer oder visueller
Typ); 2) Gehörseindrücke (akustischer Typ); 3) Bewegungseindrücke (speziell Sprech- und Schreib¬
bewegungen, motorischer Typ); 4) Gehörs- und Bewegungseindrücke (akustiko-motorischer Typ).
Welcher? 17. Eine gute Beobachtungsgabe für sinnlich-anschauliche Dinge, bzw. Vorgänge.
Eventuell für welche bestimmten Sachgebiete? 18. Die Fähigkeit zu rascher Auffassung äußerer
Eindrücke. 19. Eine gute Beobachtungsgabe für menschliches Seelenleben, psychologisches Ver¬
ständnis, sogenannte Einfühlung. 20. Eine gute Auffassungsgabe für abstrakte Gedanken. 21. Die
Fähigkeit, Beobachtungen zu machen, ohne daß bewußt und willkürlich die Aufmerksamkeit auf
sie gerichtet ist. 22. Eine wache, leicht erregbare Aufmerksamkeit. 23. Die Fähigkeit zu rascher
*) Leipzig, Reisland 1904. S. 54.
2 ) Von ausländischen Pädagogen vertritt vor allem Clapardde in seiner Psychologie de
l’Enfant, 6. Auflage 1916, S. 13 ff., den angeborenen Charakter der pädagogischen Anlage.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
67
Umfcfaaltong der Aufmerksamkeit 24. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit scharf auf einen
Gegenstand za konzentrieren, ohne sich durch störende Nebenreize ablenken zu lassen. 25. Die
Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gleichzeitig mehreren Gegenständen zuzuwenden (Umsicht).
26. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit längere Zeit hindurch gleichmäßig demselben Gegenstand
zozuwenden. 27. Vorwiegende Richtung der Aufmerksamkeit auf die äußeren Dinge („nach
außen leben“). 28. Vorwiegende Richtung der Aufmerksamkeit auf die eigenen Vorstellungen
i^nach innen leben“). 29. Die Fähigkeit zu schneller Einprägung neuer Vorstellungen („Leichtes
Lernen“). 30. Die Fähigkeit, sich viel (und eventuell vielerlei Verschiedenes) auf einmal zu
oerken. 31. Ein dauerhaftes Gedächtnis, d. h. die Fähigkeit, Erinnerungen lange Zeit auf-
mbewabren. 32. Ein treues Gedächtnis, d. h. die Fähigkeit, Erinnerungen genau (in unverän¬
derter Gestalt) aufznbewabren. 33. Ein umfangreiches Gedächtnis, d. h. ein großer Schatz von
^mnenrngsvorsteliungen (Kenntnisse, Gedächtniswissen). 34. Ein vielseitiges Gedächtnis, das
rieteriei Verschiedenes aufbewahrt. 35. Ein gutes Spezialgedächtnis für bestimmte Gebiete, z. B.
a) für bestimmte Sinnesgebiete (Ton-, Farben- usw. -gedächtnis); b) für realistisch-zeitliche Ein¬
drücke (Ortsgedächtnis usw.); c) für anschauliche Dinge und Vorgänge (Personengedächtnis);
di für ananschauliche Zeichen und Symbole (Gedächtnis für Namen, Zahlen, Vokabeln usw.)
Für welche? 36. Schnelle und sichere Verfügung über das Gedächtniswissen („schlagfertiges
Gedächtnis“). 37. Kritische Begabung, d. h. Unterscheidungsvermögen für das Wesentliche,
Wertvolle, Richtige a) gegenüber Personen und ihren Handlungen; b) gegenüber Gedanken
ad fertigen Werken, ln welcher speziellen Richtung? 38. Die Fähigkeit zum Denken in ab-
Bitten (allgemeinen) Begriffen. 39. Schnelligkeit der Kombination (Vorstellungs-, Gedanken¬
verbindung). *40. Sicherheit der Kombination, d. h. die Fähigkeit, unter verschiedenen Kombi-
Mtionsmöglichkeiten die richtige (bzw. zweckmäßige) herauszufinden. 41. Vielseitigkeit der
fonbination, d. h. ein umfassender Überblick über alle in einem bestimmten Falle möglichen
^oftteUungsverknüpfungen, und zwar a) wertvolle Verknüpfungen (Erfindungsgabe), b) über¬
raschende Verknüpfungen (Witz). In welcher speziellen Form? 43. Eine lebhafte Phantasie,
®d zwar a) sinnliche Phantasie, b) konstruktive Phantasie (*= Vorstellungskraft für räumliche
Anordnung), c) begriffliche Phantasie (= freischaffendes, begriffliches Denken, Spekulation).
Welcher spezielle Typus? 43. Eine vorwiegend synthetische Denkweise (induktiver Verstand).
15. Eine vorwiegend analytische Denkweise (deduktiver Verstand). 46. Ein stark entwickeltes
Gefühlsleben („warme Natur“). 47. Ein gering entwickeltes Gefühlsleben („kalte Natur“). 48. Eine
leichte Erregbarkeit der Gefühle („sensitive Natur“). 49. Eine leichte Erregbarkeit der Affekte
»lddenschaftliche Natur“). 50. Neigung zu Ungeduld, Ärger, Zorn (Reizbarkeit). 51. Neigung
langer Nachwirkung imangenehmer Erlebnisse. 52. Empfindlichkeit gegenüber körperlichen
Beschwerden (Schmerzen, Entbehrungen). 53. Empfindlichkeit gegen unangenehme Sinnes-
äodrücke (Geräuschempfindlichkeit, Ekel, Empfindlichkeit gegen Gerüche usw.). 54. Neigung
ra plötzlichem Stimmungswechsel. 55. Verlust des inneren Gleichgewichtes (der Gemütsruhe)
® ungewohnten, wichtigen oder feierlichen Situationen (Befangenheit). 56. Verlust desselben bei
Parker Häufung und zeitlichem Drängen der Anforderungen. 57. Verlust desselben in gefähr¬
lichen Situationen (Kopflosigkeit). 58. Vorherrschen lustbetonier Gefühle und Stimmungen
‘fetteres, sanguinisches Temperament). 59. Vorwiegendes Interesse für das Besondere, Konkrete,
Persönliche (subjektive Einstellung). 61. Vielseitigkeit der Interessen. 62. Ein besonderes Interesse
fär bestimmte Gebiete (z. B. Religion, Kunst, Philosophie, Literatur, Wissenschaft, Politik, soziale
Probleme, menschliches Seelenleben, Kinder, Natur, Technik, Verkehr, Besitz, Ehrungen
asw. usw.). Für welche? 63. Ein vorwiegend rezeptives Verhalten (Ausführung empfangener
Anregungen). 64. Die Fähigkeit zu selbständigem Schaffen (Produktivität, Gestaltungskraft).
*>5. Neigung zu zähem Festhalten an Anschauungeh, Gewohnheiten, Neigungen usw. (Kon¬
servatismus). 66. Beweglichkeit des inneren und äußeren Verhaltens. 67. Die Fähigkeit zur
Unterordnung (Subordination, Disziplin). 68. Die Fähigkeit zur Einordnung (Kollegialität). 69. Die
Fähigkeit, sich innerlich und äußerlich der Umgebung anzupassen. 70. Rascher Ablauf der
körperlichen und geistigen Leistungen. 71. Rasche Ermüdbarkeit bei körperlichen und geistigen
Leistungen. 72. Weitgehende Übungsfähigkeit (Routine, Automatisierung der Leistungen). 73. Ab¬
neigung und Versagen gegenüber der Forderung einer häufigen Wiederholung derselben Leistung.
74. Die Fähigkeit zu rascher Stellungnahme bei Urteilen und Entschlüssen. 75. Langsame und
vorsichtige Stellungnahme (abwägendes Verhalten). 76. Die Fähigkeit, an Urteilen und Ent-
ftehUUsen festzuhalten. 77. Die Fähigkeit zu nachdrücklicher Stellungnahme (Entschiedenheit).
78. Die Gabe, seine Überzeugung und seinen Willen auch anderen mitzuteilen (suggestive Wir¬
kung, eindrucksvolle Persönlichkeit). 79. Unsicherheit der Stellungnahme, Beeinflußbarkeit durch
innere Hemmungen (Zweifel, Befürchtungen, Mangel an Selbstvertrauen). 80. Abneigung gegen
Übernahme von Verantwortungen. 81. Bestimmbarkeit durch Vorbilder und fremde Einwirkungen
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
(imitatives Verhalten, Suggestibilität). 82. Vorwiegend gefühlsmäßige Stellungnahme. 88. Vor¬
wiegend verständige Stellungnahme (auf Qrund vernünftiger Überlegungen). 84. Abwartendes,
reaktives, kritisierendes Verhalten, Neigung zu ruhiger Beobachtung und theoretischer Reflexion
(kontemplative Natur, Typus des theoretischen Menschen). 85. Aktives Verhalten, Neigung zu
' spontaner Stellungnahme und persönlichem' Eingreifen (Willens- und Tatenmenscben, Typus des
praktischen Verhaltens). 86. Zusammenstimmen der verschiedenen Eigenschaften (eine harmonische
Gesamt Persönlichkeit). 87. Eine klare, leicht faßliche Darstellungsweise. 88. Eine interessante
Darstellungsweise (Anregung mannigfacher eventuell neuer Vorstellungsverknüpfungen). 89. Eine
eindrucksvolle Darstellungsweise (= Wirkung auf das Gefühl). 90. Eine überzeugende Art der
Darstellung (Wirkung auf Urteil und Entschluß). 91. Die Fähigkeit zu scharfer und klarer
Formulierung abstrakter Gedanken, nüchterne und sachliche Darstellungsweise (objektiver Typ).
92. Die Fähigkeit zu lebendiger und anschaulicher Schilderung konkreter Dinge und Ereignisse,
gefühlsmäßige und pbantasievolle Dastellungsweise (subjektiver Typ). 93. Begabung für münd-
' liehe Darstellung (Rednertalent). 94. Begabung für schriftliche Darstellung (Schriftstellertalent).
95. Organisationstalent. 96. Führertalent. 97. Pädagogisches Talent. 98. Gesellschaftliche Talente
(Gewandtheit in den Umgangsformen, Unterhaltungsgabe usw.). 99. Wissenschaftliche Talente
(mathematische, spekulative Begabung, Sprachtalent usw.). 100. Künstlerische Talente. Welche?
101. Sind bestimmte moralische Eigenschaften (Tugenden oder Fehler) für den Lehrberuf be¬
sonders wichtig oder verhängnisvoll? Welche? 102. Welche sonstigen in dem Schema nicht
aufgezählten Eigenschaften oder Fähigkeiten sind erforderlich oder hindernd?
Dieser umfangreiche, psychologisch tief schürfende Bogen ist natürlich nur
zu einer Qualitätserhebung geeignet. Massenmaterial wird da schon deshalb
nicht eingehen, weil doch nur für diese Frage tiefer Interessierte sich die
nicht unerhebliche Arbeit einer überlegten Beantwortung auferlegen werden.
In der Instruktion wäre meines Erachtens ein Hinweis darauf nicht über¬
flüssig gewesen, daß man nicht alle Fragen zu beantworten brauche, sondern
nur diejenigen, bei denen man wirklich zu einem sicheren Ergebnis gekommen
sei, und ferner, daß man sich zur Beantwortung der Fragen Zeit lassen und
die Ergebnisse nach einiger Zeit nachprüfen und dann erst einsenden solle.
Außer seiner eigenen Beobachtung und der eben besprochenen Methode der
Erhebung wird derjenige, der das Problem der Eignung zum Lehrerberuf
nach der empirischen, induktiven Methode bearbeiten will, vielleicht auch
noch das pädagogische bzw. psychologische Experiment heranziehen.
Ein solches Experiment, das auch schon vorgeschlagen wurde, würde z. B.
darin bestehen, daß man zwei oder mehreren Lehrern ein und dieselbe Lehr¬
aufgabe bei gleichaltrigen Schülern übertrüge und davon feststellte, welcher
von beiden die Aufgabe am besten löste und auf welche geistigen eventuell
auch körperlichen Eigenschaften diese Besserleistung zurückzuführen sei. Aber
große Aussicht auf häufige Anwendung dieses Verfahrens besteht schon des¬
halb nicht, weil es an denen fehlen wird, die sich zu solchen Vergleichsleistungen
hergeben werden.
Ober die sexuelle Erziehung der Jugend faßte die sexualpädagogische
Tagung in Dresden einstimmig folgende von Max Döring, dem wissenschaft¬
lichen Leiter des Instituts für experimentelle Pädagogik in Leipzig, eingebrachte
Entschließung: „Die vom sächsischen Ministerium des Kultus und öffentlichen
Unterrichts und vom Ministerium des Innern veranstaltete, von über 400 Ärzten,
Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen aller Schul gattungen besuchte Tagung für
Sexualpädagogik erblickt in der sexuellen Erziehung der Jugend eine ernste
und bedeutsame Aufgabe. Diese Aufgabe muß gelöst werden im Geiste
stärkster Verantwortlichkeit für die körperliche und geistige Gesundheit der
gegenwärtigen und der kommenden Generation. Die sexuelle Erziehung muß
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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erfolgen durch verständnisvolle Fahrung und Hilfe, in Unbefangenheit und
Wahrhaftigkeit. Elternhaus, Schule und Ärzteschaft müssen sich fUr diese Auf¬
gabe in erster Linie verpflichtet fühlen. Von der Regierung erwartet die Tagung,
daß sie die Frage der sexuellen Erziehung dauernd im Auge behält und die
Lösung dieser Frage nach. Kräften unterstützt.“
Die erste Tagung der „Gruppe für angewandte Psychologie“ in der „Ge¬
sellschaft für experimentelle Psychologie“ (vom 10.—14. Oktober 1922 in
Berlin). Die bereits für das Frühjahr 1922 geplante erste Tagung der auf
dem Marburger Kongreß der „Gesellschaft“ begründeten Sondergruppe für
angewandte Psychologie hat nunmehr mit halbjähriger Verspätung unter sehr
reger Beteiligung aus Psychologen- und Praktikerkreisen in Berlin statt¬
gefunden. Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand das sogenannte Be¬
währungsproblem, das sich im wesentlichen als die Frage nach der gegen¬
seitigen Beziehung von Psychologen- und Praktikerurteil darstellt. Während
za Beginn der praktischen psychodiagnostischen Arbeit und zum Teil in praxi
noeh heute die Eichung und Bewährungsfeststellung für psychologische Intelli¬
genz- und Eignungsprüfungen ohne weiteres durch Vergleich mit. dem Lehrer-
bzw. Meisterurteil vorgenommen wurde und der Grad der Korrelation zwischen
beiden das Kriterium für die Brauchbarkeit der psychologischen Methoden
abgab, trat nunmehr doch deutlich zutage, daß die Erfahrungen bei den psycho-
technischen sowohl, als auch bei den schulischen Eignungsprüfungen zu einer
gründlichen Revision dieser Methode drängen. Es ist nicht ohne weiteres
angängig, das in seinen psychologischen Grundlagen sehr sorgfältig und mit
wissenschaftlicher Genauigkeit durchgearbeitete Urteil des Psychologen einfach
za dem Praktikerurteil, von dessen Grundlagen wir nichts oder bestenfalls
sehr wenig wissen, in Beziehung zu setzen; sondern es bedarf vorher einer
gründlichen Untersuchung dieser Grundlagen. Das Problem des Praktiker-
arteils bildete denn auch das Thema eines der Verhandlungstage und wurde
von psychologischer wie von praktischer Seite her lebhaft erörtert. Es scheint,
als läge in dieser Frage das zurzeit dringendste und wichtigste Problem der
Eignungspsychologie. Noch vermochten die Aussprachen der Tagung keine
endgültige Klärung zu bringen; die sorgfältige Beachtung des Problems in
jeglicher praktisch-psychologischen Arbeit und das dauernde Zusammenwirken
des Psychologen mit einsichtigen Praktikern muß zunächst weitere Erfahrungen
zusammenbringen helfen, bevor es grundsätzlich gelöst werden kann.
Eingehende Behandlung — soweit bei der Überfülle des in den fünf Tagen
des Kongresses zu Bewältigenden von „eingehenden“ Erörterungen die Rede
sein kann *) — fanden neben diesem zentralen Problem einige prinzipielle
Fragen über die psychologischen Feststellungsmethoden. Reiches Anschauungs¬
material an Prüfmitteln boten die ausgezeichnete Ausstellung, für die man
nur gern mehr Zeit gehabt hätte, und zahlreiche Besichtigungen psychotech-
nischer Prüfstellen. und -laboratorien, z. B. in der Technischen Hochschule
Charlotten bürg, bei der A. E. G., bei Siemens & Halske, in der Osram G. m.
b. H., bei der Oberpostdirektion Berlin, im Telegraphentechnischen Reichsamt
nnd bei der Reichseisenbahnverwaltung (Psytev), die zum Teil dadurch be-
*) Man wird das aber wohl entschuldigen müssen, da es sich um ein erstes Treffen der
Gruppe handelte, bei dem ein Oberblick über das gesamte Arbeitsfeld natürlich auch 'Seine Be¬
rechtigung hatte.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
sonders instruktiv wirkten, daß die Tagungsteilnehmer gleichzeitig Gelegen¬
heit hatten, in den Betrieben selbst die berufswichtigen und eventuell zu
prüfenden Tätigkeiten kennen zu lernen. — Die für den Ausbau und die
kritische Bearbeitung der psychologischen Feststellungsmethoden unbedingt
notwendige unabhängige, d. h. durch Anforderungen der Praxis nicht ge¬
drängte und übereilte Forschungsarbeit auf psychotechnischem Gebiet wurde
von verschiedenen Seiten betont und dringend die Einrichtung und Unter¬
stützung geeigneter Forschungsstätten gefordert. Die wichtigen Probleme
der Rangreihenkonstanz, der Übungsfähigkeit, des Einflusses der Versuchs¬
umstände auf die Prüfungsergebnisse u. a. bedürfen hier noch eingehender
Untersuchung. Beachtenswert für die Methodik der künftigen psychologischen
Eignungsdiagnostik wird sicher die verschiedentlich, besonders von Poppel¬
reuter, betonte Scheidung der beiden Hauptaufgaben der Eignungsfeststellung
auch in ihrer methodischen Behandlung sein. Konkurrenzauslese, d. h. Aus¬
lese der besten oder schlechtesten Arbeiter, Lehrlinge, Schüler aus einer
größeren Zahl, und psychologische Begutachtung von Einzelfällen, z. B. zum
Zwecke der Wahl eines geeigneten Berufes für einen Schulabgänger oder
einen Kriegsverletzten, können nicht mit dem gleichen methodischen Hilfs¬
mittel bewerkstelligt werden. Die Serientestmethode hat ihren Platz vor¬
wiegend bei der ersteren, für die psychologische Begutachtung bedarf sie der
Ergänzung durch andere Methoden. Poppelreuter stellte auf Grund seiner
Erfahrungen als ergänzende oder besser als mit der Testmethode als gleich¬
wertige Faktoren zu kombinierende Methoden die folgenden auf: a) die prak¬
tische, b) die rein ärztlich-klinische, c) die menschenkundliche (pädagogische),
d) die symptomatisch-typologische und e) die Methode der psychologisch¬
monographischen Arbeitsprüfung. In der Richtung auf die letzterwähnte,
die Arbeitsprobe, scheint überhaupt eine Entwicklungsmöglichkeit der psycho-
technischen Feststellungsmethoden zu liegen, besonders auch aus dem Grunde,
weil sie eine außerordentlich zweckmäßige Grundlage für die nach dem Urteil
der Mehrheit aller psychologischen Praktiker wichtigsten qualitativen Beob¬
achtungen über das Verhalten des Prüflings bei der Durchführung seiner
Aufgaben abgibt.
Angeregt durch die von Hildegard Sachs (Hamburg) vertretenen Leitsätze
über die Beziehungen zwischen der psychologischen und der sozialpolitisch¬
volkswirtschaftlichen Seite der Eignungsprüfungen, wurde zum Schluß der
Tagung eine Resolution gefaßt und der zuständigen Stelle übermittelt, in der
dringend gefordert wurde, daß der Psychologie die ihrer Bedeutung und
ihren praktischen Erfolgen entsprechende Berücksichtigung bei der neuen
Organisation der Berufsberatungsstellen zuteil werde.
Hamburg. Martha Muchow.
Zu Ehren Wilhelm Wundts soll seine Büste, geschaffen von Professor
Pfeifer, dem Psychologischen Institute der Universität Leipzig, der Forscbungs-
stätte Wundts, geschenkt und dort aufgestellt werden. Die ursprüngliche
Stiftungssumme, die seinerzeit vornehmlich durch amerikanische Schenkungen
aufgebracht worden ist, vermag aber heute die Kosten für den Erwerb und
die Aufstellung des Kunstwerkes nicht mehr zu decken. Es ergeht darum
an die Schüler und Verehrer Wundts der Aufruf, die Sammlung fortzusetzen.
Beiträge werden entgegengenommen auf das Postscheckkonto 59383 Leipzig
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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des Privatdozenten Dr. F. Sander. Ein etwa verbleibender Überschuß würde
dem psychologischen Institute zu Forschungszwecken zufallen.
Nachrichten. 1. Das Institut für wissenschaftliche Pädagogik in
Münster i. W. kündigt einen vierseinestrigen Kursus zur Ausbildung von
Dozenten der Pädagogik an, um für die Zukunftsaufgaben der Pädagogik die
katholischen Grundsätze fruchtbar zu machen und für das Schul- und Hochschul¬
wesen katholische Dozenten heranzubilden. Der Kursus soll für eine beschränkte
Zahl von Mitgliedern- bestimmt sein, die sich auf die Teilnahme an dem ganzen
Studiengang einschl. einer Abschlußprüfung verpflichten. Für die Zulassung
wird in der Regel die Vollendung eines Studiums von sechs Semestern an
der philosophischen oder theologischen Fakultät einer Hochschule und der
Nachweis einer lehramtlichen Tätigkeit erfordert. Ausnahmsweise kann an
Stelle des akademischen Studiums die Vorlage einer selbständigen wissen¬
schaftlichen Arbeit als ausreichend anerkannt werden. Die Aufnahme als
ordentlicher Hörer ist in jedem Falle von der Genehmigung der wissenschaft¬
lichen Leitung des Instituts abhängig.
2. Von Lehrern der Volksschule, der höheren Schulen und der Hochschule
ist in Mannheim eine Pädagogische Gesellschaft gegründet worden,
die in gemeinsamer Arbeit die Zeitfragen des pädagogischen Lebens auf
wissenschaftlicher Grundlage und in ihren Beziehungen zu den sozialen und
kulturellen Erscheinungen untersuchen will.
3. Das pädagogisch-psychologische Institut München arbeitet im
Winterhalbjahr 1922/23 nach folgendem Plane: A. Dr. Aloys Fischer, Uni¬
versitätsprofessor und wissenschaftlicher Leiter des Instituts: DieDichtung
in der Schule. (Überlegungen und Vorschläge zur Methodik der emotio¬
nalen Bildung. — Begriff der emotionalen Bildung. Das „literarische“ Interesse
des Schulkindes. Die Zwecke und Formen des Lesens. Methoden der Bildung
des literarischen Geschmacks.) B. Albert Huth, Volksßchullehrer und Assistent
am Institut: Einführungskurs in die Methoden und Apparate der
pädagogischen Psychologie. Erster Teil: Die psychologischen
Grundlagen der allgemeinen Didaktik. Mit Demonstrationen, prak¬
tischen Übungen und Berechnungsbeispielen. (Arbeit und Ermüdung: Die
Methoden der Arbeitsforschung. Der Ablauf geistiger Arbeit. Arbeitstypen.
Übungsgesetze. Das Wesen der Ermüdung. Pädagogische Folgerungen: Er¬
müdungswert der Unterrichtsfächer. Stundenplan. Pausenordnung. Schuljahrs-
einteilung. — Technik und Ökonomie des Lernens: Äußere und innere Bedin¬
gungen des Lernens. Lernmethoden.)
4. Der Winterarbeitsplan des Instituts für experimentelle Päd¬
agogik und Psychologie enthält folgende Vorträge: Über die Struktur der
mathematischen Begabung; Soziologie des Kindes; Zur Psychologie der Klasse;
Zur Psychologie der Jugendbewegung; Über geisteswissenschaftliche Psycho¬
logie; Phänomenologie und Pädagogik; Das taubstumme Kind; Zur Psycho¬
logie und Methodik des Nadelarbeitsunterrichts; Zur Psychologie der Ver¬
wahrlosung des Kindes; Zur Psychologie des Eidetikers. — An Vortrags¬
reihen sind vorgesehen: Fuß: Über Wahrnehmung, unter besonderer Be¬
rücksichtigung der phänomenologischen Betrachtungsweise; Schlotte: An¬
leitung zur Auslese für Sprachklassen (mit Demonstrationen); Kupky: Grund-
züge der geistigen Entwicklung des jungen Menschen; Winkler: Testunter-
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Literaturbericht
Buchungen im Dienste des Unterrichts; Döring: Besprechung sexualpsycho¬
logischer Fragen. — Wie früher sind wieder eine Reihe Führungen und
Unternchtsbesuche vorgesehen.
5. Eine pädagogische Preisaufgabe schreibt das Institut für wissen¬
schaftliche Pädagogik in Münster aus. Sie lautet: Welche Fort¬
schritte hat die theoretische Pädagogik in ihrer systematischen
Begründung seit Herbart zu verzeichnen? Die Untersuchung soll sich
auf das deutsche Schrifttum erstrecken und die Wissenschaft des Auslandes nur
heranziehen, insoweit sie von richtunggebendem Einfluß auf jenes gewesen ist. |
Sie hat anzustreben: eine historische Darstellung der bedeutendsten Systeme der j
allgemeinen Pädagogik im Zusammenhang mit der Entwicklung der Philosophie,
eine Auseinandersetzung mit den kritischen Bedenken gegen die Begründung
der wissenschaftlichen Pädagogik seit Herbart, eine Bewertung der bisherigen
Ergebnisse vom Standpunkt katholischer Weltanschauung. — Bedingung:
Die zur Bewertung zuzulassenden Arbeiten sind in lesbarer Handschrift oder
Maschinenschrift in einem Exemplar bis zum 1. Januar 1924 an die Geschäfts¬
stelle des Instituts, Münster i. Westf., Melcherstraße 41, als eingeschriebene-
Sendung einzureichen. Der Termin kann auf Beschluß der wissenschaftlichen j
Leitung gegebenenfalls hinausgeschoben werden. Als Preis sind vorläufig aus- !
zuwerfen 10000 M; die Beurteilung der bis 1. Januar 1924 einzusendenden
Arbeit liegt in den Händen von Geh. Reg.-Rat Univ.-Prof. Dr. Dyroff,
Bonn, Hochschulprof. Dr. Eggersdorfer, Passau, Univ.-Prof. Dr. Ettlinger,
Münster i. Westf., Univ.-Prof. Dr. Mausbach, Münster i. Westf., Geh. Rat Ober¬
studiendirektor Dr. Werra, Münster i. Westf.
6. Dr. Karl Bühler, Prof, der Psychologie und Pädagogik an der Tech¬
nischen Hochschule in Dresden folgt dem Rufe an die Universität Wien;
seinen Dresdner Lehrstuhl wird Prof. Dr. G. Kafka in München einnehmen. j
7. Der neubegründete Lehrstuhl für Philosophie, insbesondere Psychologie
und Pädagogik, an der Technischen Hochschule in Braunschweig ist mit
Dr. 0. Kroh, vorher Privatdozent in Göttingen, besetzt worden.
8. Dr. Hellpach, Prof, für Pädagogik und Psychologie in Karlsruhe, ist zum
Kultusminister in Baden ernannt worden.
Literaturbericht.
Selbstanzeigen.
Fr. Dahl, Vergleichende Psychologie oder die Lehre von dem Seelenleben des
Menschen und der Tiere. Mit 25 Textabb. Jena 1922. G. Fischer. S. 110.
Das vorliegende Bach ist keine Gehirnphysiologie, die neuerdings vielfach auch Psychologie
genannt wird, sondern es beschäftigt sich lediglich mit den Bewußtseinsvorgängen, die wir
zunächst nur bei uns selbst kennen. Mit naturwissenschaftlicher Methode sucht es festzustellen,
wie weit wir durch Tatsachen gezwungen sind, auch bei Tieren Bewußtsein anzunehmen. Da
wir sogar bei unsem Mitmenschen nur aus ihrem Handeln und aus ihrem homologen Körperbau
schließen, daß sie ähnlich denken und fühlen wie wir, ist nur die indirekte Forscbungs-
methode möglich, die auch in der Naturwissenschaft oft allein zur Anwendung kommen kann.
So schließen wir aus dem Auf- und Untergehen der Gestirne auf die Achsendrehung der Erde. —
Bei den niedersten Tieren kennen wir nur Bewegungen, die sehr wohl mechanisch, d. h. als Reflex
und Automatismus zu verstehen sind, und da diese niedersten Tiere kein Zentralnervensystem,
das bei uns der Bewußtseinsapparat ist, besitzen, da außerdem Automatismen, wie die Herz¬
tätigkeit es ist, und Reflexe, wie die Verengung der Pupille, auch bei uns ohne Bewußtsein
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Literaturbericht
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verlaufen, haben wir keinen Qrund, bei Jenen Bewußtsein anzunehmen. Auch der Krebsfang
des Polypen und dessen Bewegung zum Licht sind mechanisch möglich. Nach dem Gesetz der
Sparsamkeit in der organischen Natur, das als Ergebnis der Naturauslese von der weitaus
größten Zahl der Fachzoologen allgemein anerkannt ist, wird die Natur nur da einen Bewußt¬
seinsapparat geschaffen haben, wo er unumgänglich nötig war. Bei allen Tieren mit wohl¬
entwickeltem Zentralnervensystem, sogar schon beim Regenwurm, beobachten wir nun in der Tat
Tätigkeiten, die wir ohne Bewußtseinsvorgänge nicht verstehen können. Die einfachsten Bewußt-
9emsvorgänge sind Gefühle, die teils mit Sinneswahrnehmängen, teils mit Muskeltätigkeiten,
teils auch, wie der Hunger, mit Körperzuständen verbunden sind. Sie sind angeboren, d. h.
mit ihren Grundlagen im Nervensystem von den Eltern ererbt. Was wir bei den Tieren Instinkt
nennen, erkennen wir daran, daß Tätigkeiten, die zur Erhaltung der Art dienen, ausgeführt
werden, ohne daß eine Erfahrung vorausging, und mit dem Erkennen derselben sind manche
Forscher zufrieden. Verstehen können wir sie nur, wenn wir sie mit Vorgängen bei uns
vergleichen. Würde ein Tier schlechte Luft meiden, so würden wir dieses Meiden instinktiv
nennen, weil das Tier nicht wissen kamt, daß die Luft gesundheitsschädlich ist. Wir selbst
meiden schlechte Luft, weü sie unangenehm auf unser Geruchsorgan einwirkt. Der Gefühls¬
wert der Sinneswahrnehmung (und der Muskeltätigkeit) ist also der Instinkt Mit dieser Auf¬
fassung können wir alle Instinkte^ auch die Kunsttriebe erklären, ohne auf Widersprüche zu
stoßen. Bei höheren Insekten und Spinnentieren kommt zum Instinkt noch die Assoziation
hinzu, die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln. Um frühere Vorgänge mit gegenwärtigen ver¬
gleichen zu können, ist das Gedächtnis nötig, eine Fähigkeit, in der manche Tiere (Biene,
Vogel) dem Menschen weit überlegen sind. Das Gleiche gilt auch von der Beobachtung. Der
Verstand, der darin besteht, daß mehrere Erfahrungen kombiniert werden und ein Ziel auf
Umwegen erreicht wird, ist nur bei den höchsten Tieren, sicher erst bei den höheren Säuge¬
tieren (Hund, Affe) nachweisbar. Beim Menschen kommt zum Verstand noch das Abstrahieren
und das logische Schließen hinzu. Mittels logischen Schließens von den Ursachen auf die
Wirkungen kann der Mensch gewissermaßen in die Zukunft sehen und für die Zukunft sorgen,
was allen Tieren abgeht. Das Sammeln von Vorräten bei Tieren ist nachweislich rein instinktiv.
Mit dem Blick in die Zukunft trat beim Menschen auch das Hoffen auf, da eine vollkommene
Kenntnis aller Ursachen und Bedingungen unmöglich ist Damit lag eine Personifizierung des
Glücks und Unglücks (Gott, Teufel) nabe. Auch der Naturforscher vermag sich derartigen reli¬
giösen Gefühlen nicht ganz zu entziehen. — Die Arbeitsteilung, die wir schon unter den Or¬
ganen im Einzeltiere erkennen, geht mit den sozialen Gefühlen über das Einzeltier hinaus
und führt zum Staatenleben. Im Insektenstaate liegt Kommunismus vor, indem das Geschlechts¬
leben, das Sonderinteressen unbedingt verlangt, durch Verkümmerung der Geschlechtsorgane
bei den „Arbeitern“ ausgeschaltet wird. Der einheitliche Mittelpunkt der Gesellschaft (der dem
Gehirn im Einzeltier entspricht), ist hier das eierlegende Weibchen, das durch Interessen¬
gemeinschaft fest mit den Arbeitern verbunden ist. Auch der menschliche Staat, der, im
Gegensatz zum Insektenstaat, aus dem Familienleben entsprang, ist auf Arbeitsteilung begründet.
Interessengemeinschaft sollte also auch* hier bei Wahl des Leiters maßgebend sein. Alle Be¬
wegungen und Vorgänge im Körper können durch Gewohnheit zu Automatismen werden, wie
z. B. das Gehen. Mit derartigen Automatismen ist der Traum in Parallele zu bringen. Die
Frage, was ein Bewußtseins Vorgang ist, ist zugunsten des „psychophysischen Parallelismus“ zu
beantworten, da die „Identitätslehre“ sich in Widersprüche verwickelt. Die Kantscbe Erkenntnis¬
theorie, daß unsern. Sinneswahrnehmungen bis in alle Einzelheiten hinein ein Etwas in der
Wirklichkeit („Ding an sich“) entspricht, wird durch die Selektionslehre gestützt; denn die Er¬
haltung des Tieres und des Menschen ist nur dann gesichert, wenn die Sinnesorgane von den
Gegenständen der Außenwelt ein möglichst getreues BUd geben. Auch dem Raum-, Zeit- und
Kausalitätsbegriff entspricht ein Etwas in der Wirklichkeit, wie denn überhaupt alles Denken in
der Sinneswahrnehmung, der Erfahrung seine Grundlage hat. Nur die Fähigkeit zu fühlen und
zu denken ist angeboren, also a priori vorhanden. — Das sind in Kürze die Gedanken, die in
dem Buche zum Ausdruck gelangen. Auf die nähere Begründung hier einzugehen, gestattet der
Raum nicht
Edward L. Tborndike, Psychologie der Erziehung. Übersetzt und herausgegeben von
Otto Bober tag. Jena 1922. Gustav Fischer. 351 S.
Im Jahre 1913/1914 erschien (in New York im Verlag des Teachers College, Columbia
Umveraity) E. L. Thorndikes „Educational Psychology“ in 3 Bänden: I. The Original Nature of
Man, IL The Psychology of Learning, III. Work and Fatigue, Individual Differences. Der die
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Literaturbericht
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individuellen Differenzen behandelnde Teil war bereits früher (1903 und 1910) herausgekcmmaiL
Eine beträchtlich verkürzte Ausgabe des Gesamtwerkes erschien noch im Jahre 1914 unter dem
Titel „Educational Psychology, Briefer Courae“. Das vorliegende Buch stellt eine im wesentlichen
unverkürzte Übersetzung des „Briefer Course“ ins Deutsche dar; es sind nur einige wenige Stellen
(insbesondere Zitatei sowie einige Kurventafeln fortgelassen worden.
Der Inhalt des Buches gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil behandelt „Die ur¬
sprüngliche Naturanlage des Menschen“, also seine sogenannten Instinkte und Fähigkeiten, die
als „ursprüngliche Tendenzen“, d. h. als Tendenzen zu nichterlernten Verhaltungsweisen bezeichnet
werden. Die für Erziehung und Unterricht wichtigste ursprüngliche Tendenz ist die „Fähigkeit
zum Lernen“, zum Erwerben neuer, in der ursprünglichen Naturanlage * des Menschen nicht vor¬
gesehener Verhaltungsweisen. Außerdem werden in diesem ersten Teile behandelt: das „Prinzip
der Bereitschaft (und Nicht-Bereitschaft)“ als Grundlage der Lust- und Unlusterlebnisse, ferner
die Anatomie und Physiologie der ursprünglichen Tendenzen, die Reihenfolge und die Zeitpunkte
ihres Erscheinens und Verschwindens, endlich ihr Wert und ihre Verwertung im Hinblick an!
die Erziehung. — Der zweite Teil enthält die spezielle „Psychologie des Lernens“. Den Aus¬
gangspunkt büdet hier das tierische Lernen, an das sich zunächst das „assoziative Lernen“ beim
Menschen anschließt Von diesem führt eine kontinuierliche Entwicklung — die die Annahme
neuer „Denkfähigkeiten ausschließt — zum „analytischen und selektiven Lernen“. Ein Kapitel
über „Geistige Funktionen“ leitet über zu den für die Pädagogik wichtigsten beiden Begriffen
aus der Psychologie des Lernens: den Begriffen „Leistungsfähigkeit“ und „Leistungssteigerung“.
Die folgenden Kapitel behandeln dann ausführlich alle Einzelfragen der Leistungssteigerung
(Umfang, Tempo und Grenze; Faktoren und Bedingungen; Tempoänderungen; Dauerhaftigkeit),
einschließlich der Fragen der „formalen Übung“ oder Mitübung und der geistigen Ermüdung. —
Der dritte Teil hat die „individuellen Unterschiede (in der ursprünglichen Naturanlage des
Menschen) und ihre Ursachen“ zum Gegenstände. Als solche Ursachen kommen in Betracht:
Geschlecht, Rasse, Familienabstammung, Reife und Umgebung. Die beiden Schlußkapitel erörtern
die Themata: Wesen und Stärke individueller Unterschiede in einzelnen Eigenschaften und
Wesen und Stärke individueller Unterschiede* in Kombinationen von Eigenschaften: Intelligenz-
und Charaktertypen.
Im Vorwort sagt der Verfasser: „Die Methode des Buches ist die einer leichtfaßlichen, ge- i
ordneten Darstellung des Grundsätzlichen. Der einsichtige Lehrer wird seine Schüler an der
Hand von Fragestellungen, die ihnen auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen zum Bewußtsein
gekommen und verständlich geworden sind, in diese Grundsätze einführen und wird seinen
Schülern helfen, sie durch Beobachtung und Experiment als solche zu erweisen, sowie sie auf
geeignete Gegenstände der Erziehungstheorie und -praxis anzuwenden.“ Und ferner: „Manches
von dem hier Behandelten geht ein wenig über die Interessen und Fähigkeiten eines Teiles der
Studierenden hinaus .... Die hierher gehörigen Tatsachen und Grundsätze werden jedoch,
wenn sie erst bewältigt sind, das Nachdenken über wichtige Erziehungsfragen vereinfachen und
erleichtern, und so bedarf ihre Mitberücksichtigung wohl keiner Entschuldigung. Wenn die
Erziehung ein ernster Beruf sein soll, so darf die Vorbereitung auf ihn nicht Dinge umgeben,
die ein wirkliches Studium erfordern und jenseits der Interessen minderbegabter Geister liegen.“
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, Theorie und Praxis der
Arbeitsschule. Berlin 1922. Selbstverlag. 104 S.
Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht hat in den letzten Jahren in den ver¬
schiedensten Teilen Deutschlands und auch im Auslande „Pädagogische Wochen“ eingerichtet,
deren Zahl mehr als einhundertfünfzig beträgt. Im Mittelpunkte dieser Lehrgänge hat zumeist
der Gedanke der Arbeitsschule gestanden. Aus dem großen Kreise der Teilnehmer ist nun immer
wieder ein Buch gewünscht worden, das den Hauptinhalt der gebotenen Vorträge bietet und
so ermöglicht, sich weiter in die mannigfaltigen Gedankengänge und Anregungen der Päda¬
gogischen Wochen versenken zu können. Es erschien Pflicht, diesen Wunsch zu erfüllen. Das
so entstandene Buch hat folgenden Inhalt: Otto Scheibner, Theoretisches aus dem Problemkreise
der Arbeitsschule; C. L. A. Pretzel, Über die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die
Grundschule; Lindhorst, Zum Lehrplan der einklassigen Schule; Paul Werth, Neuzeitlicher Anfangs¬
unterricht; Hermann Bachmann, Schreiben in der Arbeitsschule; Georg Wolff, Das Arbeitsprinzip
im deutschen Unterricht; R. Karselt, Der Arbeitsgedanke im Rechenunterricht; Hellwig, Staats¬
bürgerliche Erziehung und Geschichtsunterricht im Lichte der Arbeitsschule; Paul Knospe, Der
Arbeitsgedanke im ‘Erdkundeunterriebt; Walter Schoenichen, Der Arbeitsgedanke im natur-
geschichtlichen Unterrichte; G. Stiehler, Arbeitsunterrichtliches Zeichnen und Formen; Joseph
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Literaturbericht
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Haffmann, Welche Aulgaben hat der Gesangsunterricht der Volksschule im Sinne der Arbeits¬
schule zu erfüllen?; F. Lampe, Lehrfilm und Arbeitschale.
Einzelbesprechungen.
ProtDr. J. 1L Verweyen, Universität Bonn, Neuere Hauptrichtungen der Philosophie
(Die Bücherei der Volkshochschule, Band 15.) 2. AufL Bielefeld und Leipzig 1922. Vel-
hagen & Klasing. 81 S. 1
Einer Sammlung gemeinverständlicher Darstellungen sich eingliedemd, will das Schriftchen
vornehmlich didaktisch bewertet sein. Denn bewußt versucht es volkspädagogisch mitzuwirken
dafi Philosophie „aulhören soll, eine Angelegenheit enger nnd engster Fachkreise zu sein.“ In
dieser Absicht verzichtet Verweyen auf den Gebrauch der fremdsprachlichen Fachausdrücke, die
weiteren Kreisen den Zugang zu philosophischen Werken so oft erschweren oder unmöglich machen.
Nor ist es mit dem Bemühen, sich außerhalb einer nur den Eingeweihten verständlichen Geheim¬
sprache nicht getan. Das Wesentliche ist eine pädagogisch wohlerwogene Auswahl des Stofflichen,
die anreizt und anleitet zu eigenem Denken, ist ein Heraustreten des Fachgelehrten aus der dünnen
Loft des Abstrakten, ist eine weniger akademisch gehaltene innere Formung der gedanklichen Ent¬
wicklungen, ohne daß freilich jene Zugeständnisse an sachlicher Gediegenheit zulässig wären,
die zuallermeist recht peinlich an volkstümlichen Darstellungen spürbar werden. Nicht durchweg,
so scheint es uns, meistert Verweyen diese Forderungen. Streckenweise stellt sein Buch doch
Ansprüche an ein geschultes Denken und an Vorkenntnisse, denen die Gemeinde der Volks¬
hochschule — in der geistigen Höhenlage zumeist weit überschätzt — nicht zu genügen vermag.
Wohl aber ist für den einigermaßen philosophisch Vorgebildeten die Schrift in ihrem schönen
Sprachgewande wie dem Gebalte ein hoher Genuß. In klaren, durchsichtigen, ruhigen Dar-
1 egtmgen — rein hinstellend gehalten, durch kritische Betrachtungen nicht unterbrochen — ent¬
faltet Verweyen das vielgestaltige Stromgebiet der neueren Philosophie, ln der naturphilo-
lophischen Richtung wird den Anschauungen Mache, Verwoms, Ostwalds, Häckels und
Wondts nacbgegangen. Die Marburger und Badener Schule, Husserl, Bolzano, Simmel sind als '
Vertretungen der Kulturphilosophie gekennzeichnet. Es tut sich ferner der Blick auf die
religionsphilosophischen Bestrebungen der Gegenwart auf, wie sie auf protestantischer
ond katholischer Seite in die Erscheinung treten. Zuletzt finden Nietzsche, Schopenhauer,
v. Hartmann, Dühiing, Johannes Müller nnd Bergson ihre Würdigung als Lebensphilosophen.
Daß die bedeutsame Richtung des Personalismus — in der Diltheyschen Schule, bei den Süd¬
westdeutschen, bei Eucken, Simmel, Troeitsch, Scheler angebahnt und von W. Stern syste¬
matisch ausgebaut — in der Überschau Verweyens ungewürdigt bleibt, bedeutet eine empfindliche
Lücke, die eine kommende Auflage ausfüllen möchte. Wegfallen mögen dafür die den einzelnen
Abschnitten angehängten schulmeisterlichen Fragen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Jonas Cohn, Professor an der Universität Freiburg, Führende Denker. Geschichtliche Ein¬
leitung in die Philosophie. Leipzig 1921. Teubner. 116 S.
Wir zeigen dieses Bändchen aus „Natur und Geisteswelt“ bei seinem vierten Erscheinen
darum an, weil es sich hier und da im Gebrauche an höheren Schulen, wo der philosophische
Unterricht immer noch in seiner Verlegenheit um brauchbare Schriften geeignete Literatur
ffir die Hand der Schüler empfohlen wünscht, gut bewährt hat Die Eignung zu solcher Ver¬
wendung leitet sich her aus dem Entstehen des Buches aus Hochschulvorträgen und aus der
Einstellung des Dargebotenen. Unter „führenden“ Denkern versteht nämlich Jonas Cohn in un¬
gewöhnlichem eigenartigen Sprachgebrauch solche Philosophen, die geeignet sind, zur Philosophie
hinzuführen. So wählt er Sokrates, Plato, Descartes, Spinoza, Kant und Fichte aus und geht
vorüber an den großen Systematikern Aristoteles, Leibniz, Hegel.
Leipzig. • Rieh. Tränkmann.
Alice Descoeudres, Le däveloppement de l’enfant de deux ä sept ans. Neu-
chatel-Paris, fiditions Delacbaux et Niestlä S. A. 1921. 327 S.
Das Buch, das zu der vom Institut J. J. Rousseau in Genf herausgegebenen „Collection d’aetu-
alites p6dagogiques“ gehört, enthält einen ausführlichen Bericht über umfangreiche Versuche an
zwei- bis siebenjährigen Genfer Kindern, teils aus gebildeten, teils aus Proletarierkreisen. Unter
Verwendung einiger bekannter, sowie einer größeren Reihe neuer Tests sucht die Verfasserin
den Binetschen G edank en einer experimentellen Bestimmung der intellektuellen Reife bei Kindern
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Literaturbericht
der niederen Altersstufen genauer als bisher und mit Berücksichtigung der qualitativen Differen¬
zierung der Intelligenzleistungen nach einzelnen Leistungsgebieten durchzuführen. Die Eichung
der Tests erfolgt nach Halbjahrsstufen und für die beiden obengenannten Kategorien von Kindern
gesondert. Der größere Teil des Buches ist der Begründung eines Stufenmaßes (öchelle mätrique)
der Sprachentwicklung gewidmet, und zwar wird hier eine „vollständige“ Testreihe — die aber
für praktische Zwecke zu umfangreich ist — und eine „abgekürzte* 4 Testreihe geboten. Diese
letzte enthält neun Gruppen von Aufgaben: 1. Nennen der Gegensätze von Eigenschaften vor¬
gezeigter Gegenstände oder Bilder („Dieser Pilz ist groß und der hier —?“); 2. Textlücken- ;
ergäuzung nach Ebbinghaus (mündlich); 3. Wiederholen vorgesprochener Zahlen; 4. Benennen
von Berufen („Wer verkauft Brot?“); 5. Benennen von Stoffen („Woraus sind Schlüssel gemacht?“); !
6. Nennen von Gegensätzen aus dem Gedächtnis („Wenn die Suppe nicht warm ist, so ist
sie — ?“); 7. Zehn Farben benennen; 8. Benennen, teilweise auch Nachahmen von Tätigkeiten,
die der Prüfende Vormacht; 9. Feststellung des Wortschatzes: 25 Wörter, über deren Bedeutung 1
das Kind befragt wird. Die Idee, auf diese Weise das „Sprachalter“ eines jüngeren, normalen I
Kindes — oder eines älteren, geistig zurückgebliebenen — festzustellen, ist sicherlich wertvoll,
und die sorgfältigen Versuche der Verfasserin zeigen, daß auf dem Gebiete der „Intelligenz-
messung" noch mancherlei geleistet werden kann. Allerdings ist die Anzahl der von der Ver¬
fasserin geprüften Kinder doch wohl zu gering, als daß man den von ihr aufgestellten Norm-
werten Allgemeingültigkeit zuschreiben könnte. Namentlich bei einer Übertragung in andere
Sprachen und Kulturkreise würden vollständig neue Versuche notwendig sein. Und ferner darf
der Gedanke einer quantitativen Beurteilung gerade auch auf sprachlichem Gebiete das Interesse
an der qualitativen Seite der sprachlichen Entwicklung des Kindes nicht zurückdrängen, wozu
der Besitz einer Methode zur Bestimmung des Sprachalters leicht verführen kann. Die praktische
Verwertbarkeit der Methode (im Kindergarten, bei Schulneulingen, in der Hilfsschule), die zweifellos
vorhanden ist, ist von diesen Gesichtspunkten aus zu beurteilen. |
Von „stummen Tests 44 beschreibt die Verfasserin folgende: 1. Perlen aufzählen zur Prüfung
der Handgeschicklicbkeit; 2. Zuordnen von Formen, Bildern usw. nach dem Prinzip des Lotto- j
spiels zur Prüfung der Beobachtungsfähigkeit; 3. einfache Zählaufgaben zur Prüfung der Zahl- j
Vorstellungen; 4. vier Tests zur Prüfung der Urteilsfähigkeit, deren wertvollster darin besteht,
daß unter einer größeren Anzahl von Bildchen, die zu ein und derselben Art (Blumen, Tiere,
Handwerkszeug, Nahrungsmittel usw.) gehörigen herausgesucht werden müssen. Die stummen
Tests bilden eine gute Ergänzung zu den Sprechtests, wenn zu ihrer Kritik auch das oben von
diesen letzten Ausgeführte gesagt werden muß. Da es sich aber in den Versuchen der Ver¬
fasserin überwiegend noch um erste Anfänge handelt, so darf ihnen die Anerkennung nicht j
versagt werden. Hoffentlich geben sie den Anstoß zu weiteren gründlichen Arbeiten auf diesem
Gqbiete, von denen wir in theoretischer und in praktischer Hinsicht gleich viel Förderung
erwarten dürfeq.
Berlin. Otto Bobertag. 1
Franz Lüdtke, Menschen um 18. 3. Auflage. Barmen-U. 1922. (Verl, des Westdeutschen ,
Jünglingsbundes A.-G.). 231 S.
In Form eines Erziehungsromanes will das Buch der heranreifenden Jugend Aufklärung |
über sexuelle Fragen bringen, — im Grunde genommen eine unlösbare Aufgabe; denn wo eine
solche „Aufklärung 44 notwendig wird, liegt bereits ein schwerer Erziehungsfehler vor, weil man
es versäumt hat, den Jugendlichen schrittweise, seinem Entwicklungsgänge angepaßt,, an diese
Fragen heranzuführen. Unter diesem Vorbehalt, der für dieses ganze Literaturgebiet gilt, ist j
doch dieser Erziehungsroman als eine Bereicherung der zur Auswahl stehenden Schriften zu be- j
grüßen. Wo sonst innere Hemmungen oder äußere Rücksichten eine Aufklärung erschwerten,
wird vielleicht diese Schrift manchem Erzieher die Aufgabe erleichtern. Eine der schwersten
Gefahren, die heute der Großstadtjugend aller Kreise droht, die homosexuelle Verführung, ist
allerdings nicht berücksichtigt.
Leipzig. Walter Hoffmann.
Karl Herwagen, Der Siebenjährige. Versuch einer Gefühls- und Vorstellungstypik und
ihre Anwendung auf den Gesinnungsunterricht. Mit 3 Abbildungen. 92 S. (Beihefte zur „Zeit¬
schrift für angewandte Psychologie“ Nr. 22.) Leipzig 1922. J. A. Barth.
Verfasser will Richtung, Färbung, Entwicklung und Gestaltung der Neigungen und Fähig¬
keiten seiner Klasse (2. Schuljahr eines Arbeiterviertels in Köln) feststelleh. Dabei läßt er
das Experiment ganz in den Hintergrund treten. Vorbildlich und meist stark anregend
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Literaturbericht
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zeigt Herwagen auch, wie er hemmend, fördernd, richtunggebend eingreift und ansetzt. Das
Buchlein ist für den Lehrer mit Einstellung auf „arbeitsbetonten Unterricht* wertvoller als sämt¬
liche bisher erschienenen Küchenzettel für das 2. Schuljahr. Besonders den werdenden Lehrer
macht H. mit der „Arbeitsverfassung der Schüler und der Klasse* vertraut und zeigt ihm den *
Weg ins innere Erleben der Siebenjährigen. Landschaft und Herkommen des Schülers bedingen
wohl z. T. starke Abweichungen zwischen der Klasse des Verfasser« und der des Beurteilers —
auch einem 2. Schuljahr — in Fragen der Schülerlüge. Schadenfreude, Selbstlosigkeit der Kindesliebe,
Furcht vor Dunkelheit und Strafen, Einwirkung der Mitschüler. Der Abschnitt über „Erleben,
Bedeutung und Darstellung der Örtlichkeit* bedürfte bei einer Neuauflage starke Berücksichtigung
der Jaensch’schen Forschungen über den Bildsehertypus bei Kindern und Jugendlichen. Wann
schenkt uns H. eine Ergänzung und Fortsetzung seiner wertvollen Beobachtungen?
Essen. Anton Glückmann.
Universitätsdozent Dr. Willibald Kammei und Oberlehrerin Melanie Sigmeth, Experi¬
mentelle Untersuchungen über die mimischen Ausdruckssymptome der Auf¬
merksamkeit in ihrer Bedeutung für die Schülercharakteristik. Wien und
Leipzig 1921. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 90 S.
Überschaut man, was in der so kurzen Zeit von kaum zwei Jahrzehnten, seit jugendkundliche
and experimental-pädagogische Forschungsstätten am Werke sind, in ihnen gearbeitet worden
ist, so ergibt sich, daß die in ansehnlicher Breite vorgelegten Untersuchungen auffällig
häufig außerhalb des pädagogischen Fragengebietes liegen. Man wilderte vielfach im fremden
Reviere. War Verlegenheit um echte erziehungswissenschaftliche Problemstellungen schuld? Wohl
kaum! Denn das pädagogische Tun und Denken unserer Zeit weist für die empirische Forschung
geradezu eine Überfülle praktisch wie theoretisch bedeutsamster Fragen auf, die einer exakten
Lösung dringend bedürfen. Offenbar hat vielmehr u. a. die methodologische Unzulänglichkeit
des jungen Gebietes verhindert, daß man selten in das innere Feld eindrang und sich mehr an
den Rändern bewegte. Vor allem sind in der experimentellen Pädagogik, deren Bedeutung
and Reichweite man im Übereifer des Anfangs wohl überschätzte, die unt er rieht s wissenschaf t-
chen Ermittlungen zugunsten begabungspsychologischer Untersuchungen arg versäumt worden. Er¬
freulicherweise zeigen aber die Abhandlungen der jüngsten Zeit, wie z. B. die letzten Veröffent¬
lichungen des Institutes für experimentelle Psychologie und Pädagogik im Leipziger Lehrerverein,
eine Hinwendung zu echten erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen. So auch die vor¬
liegende Arbeit, die hervorgegangen ist aus dem Institute für Jugendkunde an der Bundeslehrer¬
akademie in Wien.
Die Abhandlung bietet einen sehr schätzenswerten Beitrag zur Lehre von den Ausdrucks¬
erscheinungen des im Unterrichtserlebnis stehenden Schülers und bezweckt letzthin,' die Frage
der pädagogischen Einfühlung zu klären, eine Frage, die heute um so gründlicher untersucht
werden möchte, weil von ihr aus die Möglichkeit, Berechtigung und Begrenztheit einer auf „Er¬
leben* gerichteten Unterrichtsgestaltung erkennbar wird.
Das zur Unterlage verwendete Material ist durch photographische Aufnahmen gewonnen
worden und zwar im Gruppen versuch und im unwissentlichen Verfahren. Die auf der Hand
liegenden nicht unbedeutenden Schwierigkeiten sind dabei durch alle nur möglichen äußeren und
inneren Maßnahmen so weit behoben worden, daß im ganzen die erzielten Bilder als eine nach
Möglichkeit einwandfreie Grundlage für wissenscbafllicbe Auswertung gelten können. Die reich¬
lich in den Text eingestreuten Bildproben überzeugen davon. So spricht z. B. Nr. 6 — eine Szene
aus dem Rechnen darstellend — ganz offenbar von dem natürlichen, unbefangenen Sich geben der
Kinder, wie es dem Lehrer aus dem Schulalltage geläufig ist, und Nr. 7 — gewonnen bei der bewußt
mißbräuchlich gestellten Frage: „Hat euch die Geschichte gefallen? Sie wahr schön, nicht wahr?*
— zeigt übeiTascbende Lebenswabrheit darin, daß sich auf den Gesichtern in der Form eines
erzwungenen, höflichen, verkrampften, verklemmten, versteiften Lächelns die innere UnWahrhaftig¬
keit des suggestiv entstandenen „Jal“ aufs deutlichste verrät. Dies Verfahren photographischer
Aufnahmen für Gefühlsuntersuchungen ist bekannt. Rudolf Schulze hat es in zwei methodisch
wie sachlich glänzenden Untersuchungen (Die Mimik der Kinder beim künstlerischen Genießen,
Leipzig, und Unsere Kinder nnd der Krieg, Leipzig 1917) ausgebildet und angewendet. Erst¬
mals aber haben die Wiener die mimischen Ausdrucksformen an Schülern inmitten wechseln¬
der Unterrichtslagen photographisch festgehalten — freilich auch das ist nicht durchaus neu:
u. a. habe ich selbst in mehreren meiner Arbeiten (vergl. die Zeitschrift „Die Arbeitsschule“,
schon früher, wenn auch nicht ausgesprochen nur zu mimographischen Zwecken,
„didaktische Naturaufnahmen* 4 dargeboten. Aber Kammei und Sigmeth sind planvoller, ver-
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Literaturbericht
suchsmäßiger xfnd ausgiebiger mit dem Photographieren vorgegangen. Sie haben in sechs eigens
dazu entworfenen kurzen Lehrstunden aus Rechnen, Lesen, Singen und Naturgeschichte die
Schülerinnen (10 jährige Mädchen der Volksschule) an didaktisch entscheidenden Stellen (z. B.
vor und nach Beginn, bei der Darbietung des Stoffes, der Entwicklung, Wiederholung, Ver¬
arbeitung, Zusammenfassung) bildlich festgehalten und dabei einen selten schönen, leider für
mimische Untersuchungen in zu kleinem Maßstabe gehaltenen Bilderschatz erzielt
Die Auswertung des Materials geschieht wesentlich durch einfache Deutung: Man weiß
sich durch eingehendes Studium der Literatur über den menschlichen Gesichtsausdruck (sie wird
in dem Buch ausgiebig verwertet) für die Kunst des Ausdeutens mimischer Züge einigermaßen
vorgebildet, hält sich die Unterrichtsreize, deren Reaktionen bildlich vorliegen, im Bewußtsein,
und fühlt sich in die Bilder ein. Hiermit bleibt aber die Untersuchung gegen Schulze zurück,
dem es durch einen klugen methodischen Gedanken gelungen ist, die Subjektivität des ein¬
fühlenden Deutens dadurch abzumindern, daß er einen Zuverlässigkeitskoeffizienten gewann.
Er legte u. a. die Bilder seiner Schülerversuchspersonen verschiedenen für Bildverständnis be¬
gabten und ausgebildeten Erwachsenen — die nun gewissermaßen eine zweite Schicht von Ver¬
suchspersonen in der langen Untersuchung abgeben — mit der Aufgabe vor, die Photographien
den Reizen, auf die jeweils von den Schülern reagiert worden war, zuzuordnen. In den Treffer¬
zahlen war ihm dann ein Maß für die Sicherheit des Deutens gegeben. Mir erscheint dieses
Verfahren weiterer Anwendung und Ausbildung wert. Auch das Unternehmen von Kammei
und Sigmeth würde bei besonderer Einrichtung dieser verfeinerten Methode zugänglich gewesen
sein und hätte damit eine noch höhere wissenschaftliche Wertigkeit bekommen, als sie ihm
ohnedies zuzusprechen ist.
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind nicjit, wie es Schulze formelhaft in seiner zweiten
Arbeit unternimmt, zu bestimmten Sätzen verdichtet worden. Im Ganzen ergibt sich, daß im
allgemeinen auf den Gesichtern des gleichen Bildes große Übereinstimmungen in bestimmten
Zügen festzustellen und so gesetzmäßige Beziehungen zwischen Reiz und Ausdruck erwiesen
sind. Daneben aber fallen in der vergleichenden Betrachtung an den einzelnen Schülerinnen
persönliche Unterschiede auf, die auch hier und da durch die ganze Bilderreihe Als bleibend ver¬
folgbar werden. Sie bezeugen den symptomatischen Wert der Ausdrucksbewegung für die Schüler¬
charakteristik und regen an, die bedeutsamen Untersuchungen weiter auszubauen. Es wird sieb
mit differentialpsychologischen Befunden lohnen, sie vor allem auf andersartige Versuchspersonen
auszudehnen: für Schulze wie auch für Kammel-Sigmeth wurden diese nur von Mädchen der Volks¬
schule gestellt. Weiter wird es aber für den Ausbau einer „pädagogischen Mimographie“ er¬
forderlich sein, unter weitgehender sachlicher Besonderung in Einzeluntersuchungen ganz bestimm¬
ten, engbegrenzten Fragen nachzugehen, so z. B. — den Ausdruckssymptomen der Aufmerksamkeit;
denn entgegen der Titelfassung des Buches wird das Bildmaterial in der Arbeit von Kammel-Sigmeth
nicht in der angegebenen Richtung der Aufmerksamkeit, sondern mehr allgemein nach dem Ausdruck
des gesamten Unterrichtserlebnisses der Schülerinnen ausgedeutet. Übrigens: diese Deutung ge¬
schieht hier mit einer gewiß nicht häufigen Kunst des einfühlenden Eindringens in die Kinder¬
seele, einer Kunst, wie sie nur bei einer besonderen Begabung und in langem persönlichen Unler-
richtsverkehr mit Kindern sich entwickelt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Reformabteilung des österreichischen Unterrichtsamtes, Anleitung zur Führung
der Schülerbeschreibung. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. Wien und Leip¬
zig 1922. 53 S.
Die Bezeichnung „Schülerbeschreibung 1 * hat sich bei uns im Reiche eingebürgert für eine
in freierer Form gehaltene Charakteristik der einzelnen Schülerpersönlichkeiten. Nach amt¬
lichem Sprachgebrauch in Österreich aber will unter ihr das verstanden sein, was wir gewöhnlich
„Schülerbogen“ nennen. Einen solchen nun hat auch die Reformabteilung des österreichischen
Unterrichtsamtes für eine versuchsweise Einführung ausgegeben. Er benutzt, einiges Eigene
einfügend, die zahlreichen deutschen Vorbilder, Zwischen allzu weitgehender Aufgliederung der
Beobachtungsrichtungen und allzu allgemein gestalteten Abteilungen hält er mit praktischem
Sinne eine gesunde Mitte. Ein Vorzug an ihm ist unter andern die klare und schlichte Fassung
der Fragen.
Für den Gebrauch dieses Schülerbogens nun gibt die vorliegende Schrift, der trefflichen
Sammlung „Lehrerbticherei“ zugehörig, eine Einführung und Anleitung. Wie der Bogen selbst
ist auch sie bewußt einfach gehalten. Unter Verzicht auf gelehrte Fachausdrücke gibt sie in
den psychologischen Teilen sehr geschickt verfaßte Darstellungen über die Sachverhalte, die
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Literaturbericht
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festzustellen sind, entfaltet die verschiedenen Richtungen, in denen Ermittlungen erwünscht oder
erforderlich sind, und zählt dazu Beobachtungsmöglichkeiten auf. Aus dem einscblagenden Schrift¬
tum ist dabei mit geschickter Hand und klugem Abwägen das Wesentliche aufgegriffen und mit Ein¬
gliederung auch neuer Gedanken verarbeitet worden. Nicht versäumt wird, auf leichter zugängliche
Quellen zu weiterer Belehrung und Vertiefung hinzuweisen. Im ganzen ist in dieser tüchtigen
Arbeit fast eine praktisch gehaltene, knappeste Schülerkunde gelungen. , Sch.
Albert Huth, Assistent am Pädagogisch-psychologischen Institut München, Die Münchner
Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer. (Heft 21 der Schriften zur
Psychologie der Berufseignung und des Wirtschaftslebens, herausgegeben von Otto Lipmann
und William Stern.) Leipzig 1922. Barth. 28 S.
Die Veranstaltung, über die Huth in erfreulicher Knappheit und durchsichtiger Gliederung
berichtet, erfüllte in München erstmals die Forderung der Lehrlingsordnung für das deutsche
Buchgewerbe, nach den Methoden der angewandten Psychologie die Eignungsprüfungen für
den Setzer- und Druckerberuf einzuführen. Die Durchführung war dem pädagogisch-psycho¬
logischen Institute übertragen worden. Voran gingen eingehende Beratungen mit Vertretern des
Buchgewerbes und dem Lehrkörper der Fachschule. Die Aufstellung der Tests konnte sich
stützen auf die guten Vorarbeiten über die psychotechnische Analyse des Setzerberufes durch
Piorkowski, Lipmann, Krais. Eingestellt wurde die Prüfung auf einen dreifachen Zweck: Aus¬
scheidung von zweifellos Ungeeigneten, Beratung für den Entscheid bei der Wahl zwischen
Setzer- und Druckerberuf, Charakterisierung der Aufgenommenen zur Verwertung beim Lehrer-
urteil in der Fachschule. In der Setz er prüfung ermittelte man an vier Aufgaben (Dreiwort-
methode, Nachschreiben von Sätzen, Aufkleben von Schildchen, zeitlich bestimmtes Abschreiben
von schlechtem Manuskript) die Fähigkeit im Rechtschreiben, den Auffassungsumfang für
Sprachstoff, die sprachliche Gewandtheit, das Zeitmaß des Arbeitens, den Sinn für Raumeinteilung
and Sauberkeit, das Augenmaß und die allgemeine Intelligenz. Dagegen zielte die Untersuchung
der Drucker vor allem ab auf die Unterscheidung für Farben und Helligkeiten, auf Verteilung*
Konstanz und Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit, auf den „Maschinensinn“, diesen geprüft in An¬
lehnung an bekannte Ermittlungsverfahren. Die Auswertung geschah zahlenmäßig. Ein Vergleich
der Ergebnisse mit den Bewäbrungsbefunden nach acht Monaten (an allerdings äußerst geringer Zahl
von Versuchspersonen) ergab eine überraschend gute Übereinstimmung zwischen Prüfungsleistung
und Zeugnis der Fachschule. Sch.
Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt, Psychologisch es Beobachten für die Berufs¬
beratung. Erste Anleitung für die Zusammenarbeit von Schule und BerufBamt. Magdeburg
1922. Rathke. 12 S. und ein Schülerbogen mit der Anweisung.
Das Schriftchen steht in Verbindung mit dem Schülerbogen, den das Landesarbeitsamt
Sachsen-Anhalt herausgegeben hat. Es will in aller Kürze anleiten, wie psychologisch eingestellte
Beobachtungen in der Schule zu betreiben sind, wenn sie brauchbare Unterlagen für die Berufs¬
beratung ergeben sollen. Einzig auf so lebenspraktische Ziele eingestellt, zeigt der Bogen und sein
Erlauterungsheft eine wesentlich andere Gestaltung, als sie von den Anleitungen in den Schüler¬
bogen bekannt sind, die schulpädagogischen oder wissenschaftlich-psychologischen Zwecken
dienen sollen. Grundsätzlich verzichtet wird auf sonder beruf lieh bedeutsame Feststellungen, die
nicht anders als durch messende experimentelle Untersuchungen zu gewinnen sind (Augenmaß,
Reaktionsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsumfang usf.). Es gilt vielmehr die Beschränkung
auf berufswichtige Allgemeinanlagen, die ganz oder teilweise dem Experiment unzugänglich
bleiben. Die Berufsberatung bedarf dabei im einzelnen sicherer Aufschlüsse über eine Charakte¬
risierung des Anwärters, die für jegliche Berufstätigkeit belangvoll ist, ferner über Besonderes,
in dem er sich nach oben oder unten vom Durchschnitt entfernt und über die Eigenart der
Arbeitsleistung. Als „Arbeitsanlagen“ werden z. B. angeführt:
1. Geistige Regsamkeit: Die allgemeine Auffassungsgabe, das Begreifen, geistige Geweckt¬
heit, die intellektuelle Beweglichkeit, Geistesgegenwart, Aufmerksamkeit im volkstümlichen Sinne.
2. Das Gedächtnis: Gedächtnis im allgemeinen, wie auch auf Sondergebieten, als Merkfähig¬
keit für Neues und Altes.
3. Selbständigkeit der Arbeit: Denkt er beim Arbeiten? Tut er nur genau Vorgeschriebenes?
Ist er hilflos bei neuartigen Sachlagen? Wie verhält er sich zu seinen Mitarbeitern?
4. Zähigkeit: Ist er zäh bei der Arbeit? Zielstrebig? Irrt er flatterhaft ab? Verfolgt er sein
Arbeitsziel ausdauernd oder gibt $r es schnell auf?
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5. Sorgsamkeit: Präzision der Arbeit. Arbeitet er meist sorgfältig, pedantisch? Oder ist
er flüchtig, hastig, bleibt er am einzelnen hängen, ungenau, pfuschend? Zeigen sich hier (und
im folgenden!) Verschiedenheiten auf den einzelnen Arbeitsgebieten?
6. Schnelligkeit: Arbeitstempo. Ist er durchschnittlich ein flotter oder langsamer Arbeiter?
Wo ist er besonders geschwind, wo besonders langsam? Zeigen sich dabei Beziehungen zur
allgemein geistigen t Anlage oder zum Fleiß?
7. Gleichmäßigkeit: Variation der Leistungen. Arbeitet er bei den verschiedenen Gelegen¬
heiten, Lagen, Stunden gleichförmig? Oder schwanken seine Leistungen gern? Ist er regellos
oder ausgeglichen? Gibt es besondere Gebiete, auf denen sich dieses oder jenes zeigt?
8. Eingewöhnung: Übung. Ist er schnell anzulernen? Oder ist er bei neuen Stoffen schwer¬
fällig? Bessern sich seine Arbeitsergebnisse zumeist? Einheitlich? Oder nur auf Sondergebieten?
9. Ermüdbarkeit: Ist er körperlich oder geistig schwächlich? Zeigte sich daher Leistungs¬
abfall bei längerer Arbeitsdauer? Muß er sich zum Schluß sehr anstrengen? usw.
Wie nun in diesen Richtungen brauchbare Befunde zu erhalten nnd einzutragen sind, legt
das Schriftchen in knappesten Anweisungen dar. Nach dem Vorbilde anderer bekannter Bogen,
von denen eine Reihe in dem angefügten Schrifttum zur psychologischen Berufsberatung auf¬
geführt ist, werden dabei auch Beobachtungsgelegenheiten namhaft gemacht. Zu psychologischen
Schulversuchen — ausgenommen die u. E. aber auch überflüssigen Grundversuche für Intelligenz¬
prüfungen nach Binet-Simon — wird mit gutem Grunde nicht geraten.
Der Schülerbogen und das Anweisungsheft gewinnen sehr durch seine praktische
innere und äußere Einrichtung. Offenbar ist ihm zum großen Gewinne geworden, daß hier ein
Ergebnis vorliegt aus langen Verhandlungen, in denen sich Vertreter der Lehrerschaft, Ärzte,
der Elternbeiräte, der Berufsstände, des Arbeitsnachweises und der Berufsberatung vereinigt und
geeinigt hatten. Sch.
Dr. Erich Stern, Privatdozent an der Universität Gießen, Einleitung in die Pädagogik.
Halle 1922. Niemeyer. 395 S.
Der Verfasser plant mit seiner „Einleitung* Vorarbeit für weitere systematische Unter¬
suchungen zum Aufbau der Pädagogik als Wissenschaft zu leisten. Der Absicht entspricht die
streng wissenschaftliche Methode. Schon die Art und Weise, die Probleme zu sehen und za
behandeln, erscheint mir, ganz abgesehen von der stofflichen Behandlung, als wertvolle Be¬
reicherung der Literatur. Die Untersuchung der wissenschaftlichen Struktur der Pädagogik ist
ausführlich dargestellt; von der inneren Struktur einer Wissenschaft muß ja letzten Endes deren
Aufbau und Ausbau abhängen. „Nur durch eine Verbindung von kulturphilosophischer und
psychologischer Forschung in allen ihren Teilen erscheint der Aufbau der Pädagogik überhaupt
möglich.“ Die Pädagogik erscheint in dieser Synthese aber nicht als ein Nebeneinander zweier
gesonderter Reihen — wie etwa im System Herbarts, in der die philosophischen und psycho¬
logischen Probleme in (Ethik und Psychologie) eine durchaus selbständige Behandlung erfahren
—, sondern beide gehen in der GeißtesWissenschaft auf. So gewinnt der Verfasser auch seine
Stellung zur Psychologie, Nicht die atomistisch verfahrende experimentelle, sondern die geistes¬
wissenschaftliche Seelenforschung ist der Pädagogik nötig.
Eine reine empirische Pädagogik lehnt Stern mit Recht ab. Aber auch da ist ihm recht
zu geben, wenn er in reiner spekulativer Behandlung der Probleme nicht den möglichen Ausbau
der Pädagogik erblickt. Empirie und Spekulation gehören zusammen. In der wissenschafts¬
theoretischen Untersuchung erfahren die Probleme eine gründliche, vielseitige Behandlung und
mannigfache Bezugnahme besonders auf die grundlegenden Untersuchungen Diltheys. Wir be¬
gegnen überall dem Bemühen, die Problematik in ihrem ganzen Ausmaß zu umspannen und
die Lösung anzudeuten. Wir sehen der Wetterführung der Untersuchungen mit Interesse
entgegen.
Der zweite Abschnitt umfaßt das Wesen der Erziehung und des Erziehers. Hier ist in
Anlehnung an Sprangers Lebensformen eine Einführung in Sprangers Buch gegeben. Der dritte
Abschnitt behandelt das Problem der Bildung und Bildsamkeit. Der individuelle und kollekti¬
vistische Gesichtspunkt erfährt eine gründliche Darstellung. Auch Gedanken zu einer pädago¬
gischen Wertlehre werden abgehandelt. Besonderes Interesse verdient noch der Schlußabschnitt
Uber Erziehung und Zeitgeist.
Frankfurt a. M. Julius Wagner.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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Die Erforschung des Erziehungszwecks.
Von Johannes Kretzschmar.
In Heft 9/10 des Jahrgangs 1922 der Zeitschr. f. päd. Psych. (S. 321—324)
hat Prof. A. Messer in dem Artikel „Ist das Erziehungsziel wissenschaftlich
erkennbar?“ einige Gedanken grundsätzlicher Art,.die in meinem Aufsatze
.Schulreform und Bildungszweck" in Heft 5/6 desselben Jahrgangs aus¬
gesprochen worden waren, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ich habe
mich sehr gefreut, daß meine Ausführungen nicht ganz unbeachtet geblieben
sind, wenn sie auch keine restlose Zustimmung fanden; jedoch kann ich von
dem, was Messer sagt, nicht alles ohne Widerspruch hingehen lassen und
hoffe, zur Klärung der strittigen Fragen etwas beizutragen, wenn ich im fol¬
genden auf zwei mir als besonders wichtig erscheinende Punkte kurz näher
eingehe.
1. Wir beide, Messer und ich, stimmen im Anschluß an ein bekanntes
Wort von W. Dilthey darin überein, daß wir scharf scheiden zwischen der
Erziehung, wie sie ist, und der Erziehung, wie sie sein soll — also auch
zwischen der darstellenden (oder deskriptiven) Pädagogik und der syste¬
matischen (oder praktischen) Pädagogik. Wir scheiden infolgedessen auch
scharf zwischen dem als Erfahrungstatsache gegebenen und dem für die Er¬
ziehung als verbindlich zu betrachtenden Gesamtzweck der Erziehung,
und nur um den letzteren handelt es sich bei unserer Auseinandersetzung.
Wir sind wohl auch beide der Ansicht, daß dieser Gesamtzweck nicht bloß
ein Teilzweck sein darf, sondern die Erziehungsarbeit in ihrem vollen
Umfange bestimmen muß; daß er ein als allgemeingültig anerkannter
Zweck ist, d. h. ein solcher der für jedes Volk und jede Kulturperiode gilt, der
schon für unsere Vorfahren bindend sein mußte — soweit er ihnen bewußt
wurde — und auch für die Bedingungen gilt, unter denen der Erzieher der
Gegenwart seine Tätigkeit ausübt Aber Messer wird der praktischen
Bedeutung dieses Begriffs nicht ganz gerecht, obgleich er S. 321 erfreulicher¬
weise meinem Satze zustimmt, daß alle pädagogischen Maßnahmen an den
Gesamtzweck der Erziehung gebunden sind und daß der Zweckgedanke es
ist, der die Aufnahme irgendeines Kulturgutes in den Erziehungsplan über¬
haupt erst möglich macht. Messer faßt nämlich meiner Meinung nach den
Begriff der systematisch-praktischen Pädagogik viel zu eng. Er weist diesem
Forschungsgebiet die Aufgabe zu, die „Mittel und Wege* festzustellen, um
gewisse Erziehungsziele zu erreichen (S. 323). Auch in seiner Schrift „Welt¬
anschauung und Erziehung* bekennt er sich zu der Auffassung, daß die
Erziehungswissenschaft psychologisch gesicherte Technik, Methodik sei
(S. 124 f.). Nun steht er freilich mit dieser Auffassung nicht allein da,
sondern spricht nur das aus, was heute leider auch in den Universitäts-
kreisen eine weit verbreitete Anschauung ist. 1915 hat F. Krueger in einer
Besprechung meines Buches „Entwicklungspsychologie und Erziehungswissen-
Mtsdutft f. p&tlagog. Psychologie. 6
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Johannes Kretzschmar
Schaft“ tadelnd bemerkt, die praktische Pädagogik sei Oberhaupt nicht Wissen*
schaft, sondern Technik; ich erinnere ferner an die Kundgebung der Berliner
Universität zur Lehrerbildungsfrage von 1920, in der man sich ebenfalls auf
den Standpunkt stellte, die Pädagogik sei nur Methodik. Aber diese Auf¬
fassung ist nicht richtig, sie ist zu einseitig und zu eng. Das Wesen
der Erziehung besteht erfahrungsmäßig nicht bloß in dem richtigen metho¬
dischen Verfahren, die Kulturgüter dem Zögling zu übermitteln, sondern auch
in der richtigen Auswahl der zu übermittelnden Güter. Der Erzieher hat
es ja bekanntlich nicht mit dem abstrakten Begriff des Individuums, sondern
mit einer Reihe bestimmt geprägter und unter bestimmten Lebensbedingungen
aufwachsender jugendlicher Personen zu tun, und der ungeheuren Fülle der
Kulturgüter gegenüber muß er eine gewisse Auslese vornehmen. Das hat
offenbar auch G. Kerschensteiner erkannt, wenn er in seiner Schrift
„Das Grundaxiom des Bildungsprozesses“ verlangt, nur solche Kulturgüter
in den Lehrplan aufzunehmen, die der seelischen Struktur des Individuums
ganz oder teilweise adäquat sind. Kerschensteiner hat nur zu wenig betont,
daß sich die Notwendigkeit dieser Anpassung an die Psyche des Zöglings,
auch wenn sie nur die Berufsbildung betrifft, logisch aus einem über¬
geordneten Prinzip ergeben muß und daß dieses nur der Erziehungszweck
sein kann. Ich halte hier den Standpunkt Herbarts für den durchaus rich¬
tigen, der in der „Allgemeinen Pädagogik“ deutlich die zweite Hälfte der
Pädagogik von der ersten trennt: einen die Mittel, Wege und Hinder¬
nisse der Erziehung erforschenden Teil von einem den Gesamtzweck bis
zu den Einzelmaßnahmen detaillierenden Teil. Es ist leider bisher viel
zu wenig beachtet worden — auch im Lager der Herbartschüler —, daß
Herbart, indem er. alle Unterrichtsgegenstände streng logisch auf den einen
und ganzen Zweck zurückgeführt wissen wollte, eben das für die Praxis un¬
entbehrliche Ausleseprinzip und damit einen den Kulturwerten gegenüber-
stehenden spezifisch pädägogischen Wertmaßstab schuf; daß er mit
der Sittlichkeit der Charakterstärke diesen Wertmaßstab zu einseitig be¬
stimmte, kann sein eigentliches Verdienst nicht schmälern. Der Zweckbegriff
entscheidet auch nicht bloß darüber, ob überhaupt ein bestimmtes Kultur¬
gut für einen bestimmten Einzelfall notwendig ist. sondern auch darüber, in
welchem Grade diese Notwendigkeit besteht, ob das Kulturgut nur als wahl¬
freier Gegenstand oder aber als Pflichtfach aufzutreten hat. In meinem
Aufsatz habe ich hierauf besonders hingewiesen. So ist also die systema¬
tische Pädagogik in erster Linie die Lehre von der Notwendigkeit und Zweck¬
mäßigkeit der einzelnen Kulturgüter und erst in zweiter Linie die Lehre von
der richtigen methodischen Übermittelung derselben. Messer unterschätzt
die Aufgabe des Pädagogen, wenn er in ihm lediglich einen mehr oder
minder geschickten Methodiker sieht.
2. Bei der so außerordentlich großen praktischen Bedeutung des pädago¬
gischen Gesamtzwecks und der ebenso großen Verantwortung, die der Erziehe
gegenüber jedem einzelnen seiner Zöglinge in sich fühlt, muß unbeding 1
eine Zweckformulierung gefordert werden, die sich für die pädagogiß coe
Kleinarbeit als brauchbar erweist und die insbesondere in formaler Hin¬
sicht so umfassend ist, daß sie die Gefahr der Einseitigkeit völlig a u ®*
schließt. Aus diesem Grunde erscheint es mir als uuerläßlich, den Gesam
zweck so weit auf die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu stelle 0 ’
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Die Erforschung des Eniehungsswecks
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als dies irgend möglich ist. Das Zeitalter Kants und Herbarts hat diesen Ver¬
such bereits gewagt und sich bemüht, den Zweck aus der Bestimmung des
Menschen, also aus der Metaphysik heraus, streng logisch zu deduzieren.
Gegen dieses Verfahren wäre an sich nichts einzuwenden, zumal sich diese
Berufung auf ein metaphysisches Prinzip auch auf historisches und ethno¬
logisches Tatsachenmaterial stützen ließe. Aber die ethische Zielset?ung
Herbarts hat sich in der Praxis nicht bewährt, weil sie sich als zu eng und
einseitig erwiesen hat. M. leugnet nun die Möglichkeit, auf dem Wege
wissenschaftlicher Erkenntnis zum Erziehungszweck zu gelangen; er will ihn
gefühlsmäßig durch das unmittelbare Erleben der Kulturwerte erfassen. Aber
auch er kann auf die Wissenschaft nicht völlig verzichten; er erlebt nicht
den Erziehungszweck unmittelbar, sondern den Kulturwert und braucht
die logische Schlußfolgerung: Weil ich bestimmte Gestaltungen des mensch¬
lichen Lebens als so wertvoll erlebe, daß sie das Ziel meines Strebens
bilden, deshalb müssen sie auch nach meiner Überzeugung das Ziel der
Erziehung bestimmen. M. verfährt eigentlich genau so wie die Zeit Kants
UDd Herbarts: auch er deduziert den Erziehungszweck aus dem Daseinszweck
und bestimmt nur den letzteren anders. Aber selbst wenn wir annehmen,
er sei im Rechte, so muß doch auch in diesem Falle der Erziehungspraktiker
die neue Zielsetzung daraufhin prüfen, ob sie umfassend ist und nicht, wie
die Herbartsche, ebenfalls zur Einseitigkeit führt. Fordert die kultur¬
philosophische Grundlegung der Pädagogik als Gesamtziel die Hingabe des
Individuums an die Gemeinschaft, so darf die Erziehungswissenschaft fragen,
ob hier nicht wiederum ein Teilzweck zum Gesamtzweck erhoben wird und
ob nicht das Leben des Zöglings auch einigen Anspruch auf eigene Gel¬
tung bat; schließlich ist ja doch wohl das Individuum nicht bloß um der
Gemeinschaft willen, sondern auch die Kultur um des einzelnen Menschen
willen da. Daß man von den Bedürfnissen dter pädagogischen Praxis aus
die wertphilosophische Grundlegung einer kritischen Prüfung unterziehen
darf, bezeugt J. Cohn, wenn er in seinem Buche „Geist der Erziehung“
gegen R. Hönigswald den berechtigten Vorwurf erbebt, er übersehe die
„wesentliche personale“ Richtung aller Erziehung. Cohn bestätigt damit,
daß man sehr wohl die Erziehung im allgemeinen als Kulturübertragung
ansehen kann, daß aber mit dieser ganz allgemeinen Feststellung — ab¬
gesehen von ihrer Einseitigkeit — der mitten in der Berufstätigkeit stehende
Erzieher nicht sehr viel anfangen kann. Mir erscheint es schließlich auch
als recht zweifelhaft, ob man überhaupt von einer wertphilosophischen
Grundlegung sprechen darf, und in diesem Zweifel bat mich die als Ergän-
aungsheft der „Kantstudien“ veröffentlichte Schrift von K. Wiederhold
„Wertbegriff und Wertphilosophie“ sehr bestärkt. Wiederhold bezeichnet den
Wertbegriff als ein Zwittergebilde, als das Schlagwort einer Modephilosophie
und kommt zu dem Ergebnis: „So meinen wir denn, es wäre an der Zeit,
den Wertbegriff, in der wissenschaftlichen Terminologie, ausschließlich der
Nationalökonomie und Psychologie zu überlassen. In diesen Wissenschaften
hat seine Verwendung einen begründeten Sinn. Die Philosophie aber sollte
ihn vor allem nicht als Systembegriff verwenden, mag er innerhalb erkennt¬
nistheoretischer oder methodologischer Betrachtungen seine sachliche Berech¬
tigung haben.“ Die wertphilosophische Grundlegung der systematisch-prak¬
tischen Pädagogik scheint mir hiernach auf sehr schwachen Füßen zu stehen.
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Johannes Kretzschmar, Die Erforschung des Erziebnngszwecks
Ich bin deshalb in meiner Schrift „Das Ende der philosophischen Pädagogik“
zu dem Schlüsse gekommen, daß die wertphilosophische „Besinnung“ in
der Erziehungswissenschaft Gegenstand einer als besonderes Erkenntnisgebie'
neben der systematischen Pädagogik bestehenden Erziehungsphilosophie
sein muß, die in die induktive Metaphysik einmündet; für diese besondere
Erziebungsphilosophie bin ich bereit? 1912 in dem Buche „Entwicklungs¬
psychologie und Erziehungswissenschaft“ (S. 174f.) eingetreten, was ich hier
ausdrücklich hervorheben möchte. Wird nun aber der für die Praxis taug¬
liche pädagogische Gesamtzweck nicht durch das unmittelbare Erleben der
Kulturwerte gegeben, so muß die pädagogische Forschung einen andern Ver¬
such wagen: sie muß an die darstellende— vor allem die historische —
Pädagogik herangehen und untersuchen, ob sich nicht doch noch von der
Tatsachenforschung aus eine brauchbare Zweckbestimmung finden läßt. Der
empirische Erziehungszweck ergibt sich ja aus bestimmten Lebensnotwen¬
digkeiten; auf diese habe ich in meinen Arbeiten wiederholt hingewiesen,
und auch Messer selbst hat 1921 im „Deutschen Philologenblatt“ (S. 43t) „bio¬
logisch dringliche“ Erziehungsziele anerkannt. Die systematische Pädagogik
muß die Bedingungen, unter denen die gegebene Erziehung arbeitet,
daraufhin prüfen, ob sie auch für das Leben der Gegenwart gelten. Soweit
ich augenblicklich das historische und ethnologische Tatsachenmaterial zu
überblicken vermag, müßte es sehr wohl möglich sein, auf diesem Wege zu
einem als allgemeingültig anzuerkennenden Erziehungszweck zu gelangen.
Sollte aber dieser Versuch wider Erwarten doch mißglücken, dann bliebe
für die pädagogische Wissenschaft immer noch etwas zu tun übrig: sie könnte
die mit reichem Taktgefühl und hellseherischem Blick begnadeten Erzieher
beobachten und zur Selbstbeobachtung veranlassen und das auf diese Weise
gewonnene Erkenntnismaterial den weniger Glücklichen zur Verfügung stellen,
die das richtige pädagogische Gefühl nicht durch Veranlagung besitzen, sondern
es erst mühsam durch Übung erwerben müssen. Jedenfalls liegt meines Er¬
achtens vorläufig weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit vor, dem
Beispiele von Messer zu folgen und auf die wissenschaftliche Erkenntnis in
einer so überaus wichtigen Frage, wie es die nach dem Gesamtzweck der
Erziehung ist, zu verzichten. Muß ja doch auch der berufsmäßig tätige Er¬
zieher, der eine bessere Erziehung gewährleisten will als der Mann aus dem
Volke, auch über eine klarere und vollkommnere pädagogische Einsicht ver¬
fügen als dieser, und um sie zu gewinnen, dürfte die wissenschaftliche
Forschung unentbehrlich sein; vor jener Überschätzung der Wissenschaft, vor
der Messer warnt, sind wir damit immer noch weit genug entfernt.
Wesen und Arten der Fehler.
(H. Teil.)')
Von Hermann Weimer.
Ist es klar, daß seelische Vorgänge das eigentliche Quellgebiet fehler¬
hafter Handlungen bilden, so erhebt sich eine weitere Frage als Folge dieser
Erkenntnis: Sind die seelischen Vorgänge, die sich in Fehlleistungen äußern,
*) Der I. Teil ist veröffentlicht im 23. Jahrg. d. Zeitschr. (1922) S. 17 ö.
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
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von den übrigen Formen psychischen Geschehens verschieden? 1 ) Die Ver¬
mutung liegt jedenfalls nahe, daß Entgleisungen, wie sie die Fehler darstellen,
auf ein normwidriges oder krankhaftes Verhalten der Seele zurückzuführen
seien. Aber Meringer hatte schon aus der Beobachtung, daß Erscheinungen
des Versprechens auf psychische Gesetze hinweisen, die auch in der Ent¬
wicklungsgeschichte der Sprachen eine Rolle spielen, den Schluß gezogen,
daß solche Fehler nichts Krankhaftes an sich haben 2 ). Und diesen Schluß
fanden wir in vieltausendfacher Analyse von Fehlem der verschiedensten
Art bestätigt. Wären wirklich die zahllosen Fehler^ die täglich und stündlich
von allen Menschen gemacht werden, das Erzeugnis kranker Seelen, so müßte
die Welt ein großes Irrenhaus sein. Wir können also jetzt schon mit ziem¬
licher Sicherheit die Behauptung aufstellen, daß die meisten menschlichen
Fehlhandlungen sich durchaus in der Breite normalen seelischen Geschehens
bewegen 3 L
Vielleicht aber wäre noch ein Unterschied zu machen zwischen den Fehl¬
leistungen dessen, der das Gebiet, in dem sie entstehen, beherrscht, und
dessen, der es noch nicht beherrscht, also eines Lernenden. Die meisten
Fehler, mit denen sich bis jetzt die sprachwissenschaftliche und die psycho¬
logische Forschung beschäftigt hat, sind Fehler der ersten Art; es sind die
bekannten mechanischen Entgleisungen des Versprechens, Verlesens, Ver¬
schreibet», Vergreifens usw. Sie können gelegentlich jedem unterlaufen,
selbst bei sonst vollkommener Sicherheit des Handelns. Die im Schulleben
vorkommenden Fehler aber sind meist Erzeugnisse unfertiger Menschen, der
Ausfluß eines unzulänglichen Wissens und Könnens. Die scheinen doch
Fehler anderer Art zu sein. Sie scheinen es, aber sie sind es in der Regel
nicht; das muß schon jetzt gesagt werden. Wir werden im folgenden fast
nur Fehler behandeln, die von Schülern, also von Lernenden im Zustand
der Unfertigkeit gemacht worden sind; aber wir werden kaum Schülerfehler
nennen können, deren psychische Grundlagen anderer Art sind als diejenigen
der eben erwähnten mechanischen Entgleisungen. Eine kurze Erwägung
mag schon jetzt dem später zu erbringenden Tatsacbenbeweis als Erklärung vor¬
greifen. Von keinem Schüler wird normalerweise eine Leistung verlangt,
die er nicht „können müßte“, wie man gewöhnlich sagt. Man läßt ihn
keine Multiplikationsaufgabe rechnen, bevor er nicht das Einmaleins gelernt
und geübt bat; man läßt ihn kein Diktat schreiben, dessen Wortbestand ihm
unbekannt wäre; man mutet ihm keine fremdsprachliche Übung zu ohne
die erforderliche grammatische und lexikalische Vorbereitung; man verlangt
keine geschichtlichen oder naturwissenschaftlichen Kenntnisse von ihm, die
er sich nicht vorher in irgendeiner Weise angeeignet hätte. Wo es wirklich
einmal anders ist, wo der Schüler etwas falsch macht, weil ihm die Voraus¬
setzungen der richtigen Leistung unbekannt waren, da macht er ja keinen
Fehler, sondern begeht eine irrtümliche Handlung (vgl. das Beispiel von
') Gemeint sind natürlich die positiven seelischen Vorgänge; denn der negative Vorgang des
Versagens bestimmter psychischer Funktionen scheidet als bereits bewiesenes wesentliches
Merkmal der Fehlhandlungen (23. Jahrg. S. 1911.) jetzt von der Betrachtung aus.
*) Meringer u. Meyer, a. a. O., 8. Vif.
*1 Diese Tatsache zeigt, nebenbei bemerkt, wie wichtig die Feststellung des erwähnten nega¬
tiven Merkmals der Fehlhandlung ist (S. 1911.). Dieses vor allem trennt den Fehler von der richtigen
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Hermann Weimer
Christoph Columbus usw. 23. Jahrg. S. 18f.). Sind aber die Voraussetzungen für
die richtige Leistung beim Lernenden gegeben, dann unterscheidet er sich von
dem Meister nur im Grade der Beherrschung. Darum braucht auch die
psychische Grundlage seiner Fehlhandlungen keine andere zu sein als die¬
jenige, aus der die Fehler des Könnenden erwachsen. Nur die Zahl der
Entgleisungen wird im ersten Falle viel größer sein als im letzten, und
gewisse Arten von Fehlern werden sich beim Lernenden mit besonderer
Vorliebe einstellen 1 )*
Eine letzte Betrachtung führt uns unmittelbar in die Untersuchung der
Fehlerarten selber ein. Die meisten Fehler haben eine inhaltliche oder
formale Beziehung zu der geforderten richtigen Leistung; sie liegen mehr
oder weniger im psychischen Bereich derselben. Der Urheber des Fehlers
will ja das Richtige treffen; seine Psyche bewegt sich also in der Richtung
der zu erwartenden Leistung. Darauf beruht es, daß eine überwältigende
Zahl von Fehlern der zugehörigen richtigen Leistung inhalts- oder gestalts-
oder funktionsähnlich isL Sie um dieser Ähnlichkeit willen als eine beson¬
dere Gruppe von anderen Fehlerarten abzusondern, ist nur da möglich, wo
andere wesentliche Merkmale des Fehlers sich nicht nachweiBen lassen. Wo
jedoch das Moment der Ähnlichkeit neben anderen Merkmalen auftritt,
können nur diese das Kennzeichen einer besonderen Fehlergruppe bilden.
a) Die Geläufigkeitsfehler.
Wo etwas Falsches statt des Richtigen geleistet wird, da muß dieses Falsche
im Augenblick der Leistung in größerer psychischer Bereitschaft gestanden
haben als das Richtige. Bei der ungeheueren Mannigfaltigkeit und Ver-
wickeltheit seelischen Geschehens scheint es fast unmöglich, zu sagen, was
jeweils diese größere Bereitschaft bedingt hat. Gleichwohl ist wenigstens
eine dieser Bedingungen als Ursache schnelleren Bereitseins allgemein an¬
erkannt: die Häufigkeit der Wiederholung*). Es ist bekannt, daß jeder
seelische Vorgang eine Disposition hinterläßt, der seine Wiederholung er¬
leichtert. Wie sich ein Tuch, ein Stück Papier bei geeignetem Anlaß von
selbst wieder in die Falten legt, in die es einmal gelegt wurde, so bewegt
sich ein psychischer Vorgang — wenn nicht besondere Hemmungen da¬
zwischen treten — im Wiederholungsfälle in den gleichen Bahnen wie vor¬
her. Je öfter der Vorgang wiederholt wird, um so leichter tritt er ein, um
so sicherer läuft er in der einmal angenommenen Weise ab 3 ). Auf dieser
Tatsache beruht der rasche und leichte Vollzug gewohnheitsmäßiger Hand¬
lungen. Man bezeichnet ihn jetzt gerne mit dem Ausdruck „ Ge lä ufigkeit“ 4 )*
Thumb und Marbe, Menzerath, Dauber u. a. haben durch zahlreiche
Assoziationsversuche nachgewiesen, daß öfter gebrauchte Wörter und Wort¬
verbindungen geläufiger sind als seltener gebrauchte 3 ). Das Ergebnis ihrer
') Noch in einem andern Punkte unterscheidet sich der Lernende von dem Könnenden. Jener
wird häufiger als dieser in dem Glauben befangen sein, daß seine Leistung richtig sei; odot er
wird da, wo das Gefühl sicheren Könnens fehlt, wohl Zweifel in die Richtigkeit der Leistung
setzen, aber nicht bestimmt sagen können, wie oder oft auch wo der Fehler zu verbessern >s.
*) Vgl. Max Offner, Das Gedächtnis. 3. AuO. S. 178ff.
*) Karl Groos, Das Seelenleben des Kindes. S. 65ff.
4 > Vgl. Paul Menzerath in der Zschr. f. Psych. 46. Bd. 1908. S. 33. Anm. 4.
s ) Thumb u Marbe, Experimentelle Untersuchungen über die psychologischen Grundlage^
der sprachlichen Analogiebildungen. Leipzig 1901. — Paul Menzerath, Die Bedeutung e
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Wesen und Arten der Fehler
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Untersuchungen ist nicht nur für die Sprachgeschichte wichtig, sondern auch
für die Fehlerforschung. Denq auch hier zeigt sich, daß das Falsche oft
nur darum rascher und leichter ins Bewußtsein tritt, weil es den Vorzug der
häufigeren Wiederholung, also des Gewohnheitsmäßigen besitzt Die erste
und umfangreichste Fehlerart, die wir zu betrachten haben, bildet daher die
Gruppe von Fehlern, deren Erscheinen auf der Häufigkeit der Wieder¬
holungen beruht Ich nenne sie gewohnheitsbedingte oder Geläufig¬
keitsfehler.
Sie finden sich auf allen Gebieten menschlichen Handelns; aber besonders
häufig erscheinen sie im Bereiche des Sprachlichen. Auf Fehler aus diesem
Gebiete beschränken wir uns aus Raummangel in der folgenden Nachweisung.
Unter den optischen Wahrnehmungs- oder Sehfehlern nehmen Lesefehler
dieser Art einen großen Raum ein. Das geläufigere Wort ist hier in der
Regel das „sprachhäufigere“, d. h. dasjenige, welches im Sprachgebrauch öfter
vorkommt als das sprachseltenere von ähnlicher Form oder ähnlichem In¬
halt. Wir besitzen im F. W. Kaedings „ Häufigkeitswörterbuch der deutschen
Sprache" (Steglitz bei Berlin 1898) einen verhältnismäßig zuverlässigen Grad¬
messer der Sprachhäufigkeit eines Wortes. Dieses ursprünglich für Zwecke
der Kurzschrift bestimmte Wörterbuch ist aufgebaut auf der Zählung von
nahezu 11 Millionen Wörtern oder 20 Millionen Silben aus Schriften und
Reden verschiedenster Art 1 )* Wir geben daher im folgenden (in Ober¬
einstimmung mit Da über, Stoll u. a.) den „Häufigkeitswert“ (Hw.) der
richtigen und falschen Wörter „nach Kaeding“ an. Bemerkt sei dabei, daß
Kaeding Wörter, die er und seine Mitarbeiter in dem von ihnen bewältigten
Lesestoff weniger als viermal vorfanden, aus Platzmangel in seinem Wörter¬
buch überhaupt nicht aufgenommen hat. Solche Wörter sind also sehr sprach-
selten. Wir bezeichnen sie im folgenden mit Null.
Nun zu den Lesefehlern selbst! Es lasen Schüler zwischen 6 und 14 Jahren:
»ich abmuhen (6) statt sich abmüden (0) 2 ), allerlei (426) st allerhand (127),
Anzahl (1215) st Unzahl (24), bißchen (180) st. bissei (14), denn (18488) st
denen (6098), erstaunen (331) st. verstauen (0), gemacht (5337) st gewacht (17),
Greise (175) st. Greife (Fabeltier 0), Halter (177) st. Halfter (24), Kavallerie-
(berg) (1554) st. Kalvarien(berg) (0), lebendiges (81) st. lebendes (22), ließt (56)
st ließet (9), Stellung (8348) st. Stallung (21), Vater (6561) st. Vetter (285),
vergeben (251) st. vorgeben (19), weh (744) st. wehe (324), wonach (326) st
womach (7).
Die häufigsten Verlesungen, die in dieses Gebiet fallen, sind wohl die über¬
sehenen Druckfehler (Verbinduug st. Verbindung). Der Druckfehler entstellt
das vom Verfasser gewollte Wort meist zu einem sinnlosen Buchstabengebilde;
von allen aber, die ihn übersehen, wird das vom Satzsinn geforderte sprach-
sprachlichen Geläufigkeit oder der formalen sprachlichen Beziehung für die Reproduktion« Zschr.
I Pfcych. 48. Bd. 1908. S. 1 ff. — Johann Dauber, Ober bevorzugte Assoziationen und ver¬
wandte Phänomene. Zschr. f. Psych. 59. Bd. 1911. S. 176ff. — Edwin Huber, Assoziations-
▼eraache an Soldaten. Zschr. f. Psych. 59. Bd. 1911. S. 241 ff.
x ) Es muß zugegeben werden, daß Kaedings Wörterbuch in erster Linie den schriftlichen
Sprachschatz gebildeter Erwachsener berücksichtigt Für Jugendliche aber besitzen wir bis Jetzt
nar lexikalische Zusammenstellungen von recht beschränktem Umfang.
*) Die eingeklammerten Ziffern geben den Häufigkeitswert nach Kaeding an; 6 bedeutet also,
daß Kaeding und seine Mitarbeiter den Ausdruck „sich abmüben* unter den 11 Millionen Wörtern
Gmal vorfanden, „sich abmüden 41 gar nicht oder doch weniger als 4mal.
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Hermann Weimer
richtige Wort gelesen, das naturgemäß auch das sprachhäufigere und darum
geläufigere ist.
St oll hat in seiner Untersuchung über die Schreibfehler festgestellt, daß
das sprachhäufigere Fehlwort dem richtigen Textwort meist auch bedeutungs¬
ähnlich ist, daß es also den Sinn des Satzes nicht entstellt (a. a. O. S. 36 f.).
Ich habe gefunden, daß jüngere und schwächere Schüler, die den Satzsinn
nicht schnell genug erfassen, oft auch bloß klangähnliche, im Satzzusammen¬
hang sinnlose Wörter lesen, die ihnen geläufiger sind. Beispiele dieser Art
finden sich darum öfter unter den eben genannten Lesefehlern.
Bei fremdsprachlichem Lesestoff ist die Klang- bzw. Gestaltsähnlichkeit
noch viel häufiger hinreichend für das Verlesen, da hier der Sinn des Satzes
noch weniger rasch erfaßt wird. Einen Gradmesser der Sprachhäufigkeit,
wie das Kaedingsche Wörterbuch, haben wir bei solchem Lesestoff nicht
zur Verfügung. Es würde uns auch für die Betrachtung, der Lesefehler
deutscher Schüler wenig nützen. Denn bei diesen kann es sich nicht um
die Feststellung der allgemeinen Sprachhäufigkeit, sondern nur um die
individuelle Geläufigkeit eines Wortes handeln. Geläufig sind den Schülern
diejenigen Wörter, die sie am frühesten gelernt und am häufigsten wiederholt
haben. Ich führe Beispiele dieser Art aus dem Französischen und Eng¬
lischen an.
Französisch (9—16jährige Schüler) 1 ): aile st. ail, autre st. outre, cahier
st. casier, derniere st derriere, m’embrasse st. m’embarasse, fruit st. fuit,
Jambe st jambon, livre st. lievre, montez st montrez, passer st. pariser,
soeur st. sueur, Volontaire st. Voltaire u. a.
Englisch (12—14jährige Schüler) 2 ): about st. abound, bacon st beacon,
cub st. cube, even st. event, father st feather, heart st. hearth, least st. lest,
made st. mad, pleasant st. pheasant, saw st. sow, talk st. tall, war st. wäre u. a.
Wo gestalts- und sinnähnliche Wörter einer früher gelernten Sprache in
assoziativer Bereitschaft stehen, macht sich deren größere Geläufigkeit bei
fremdsprachlichen Lesefehlern häufig geltend, wie folgende Beispiele beweisen:
Französisch: la courage (die Kourage) 8t. le courage, exemplar st.
exemplaire, la garbe (die Garbe) st. la gerbe, mänagerie st. mdnagöre, le
salade st. la salade, le title st le titre.
Im Englischen sind neben deutschen die früher gelernten ähnlichen
französischen Elemente wegen ihrer größeren Geläufigkeit irreführend, be¬
sonders hinsichtlich der Betonung: constant st. cgnstant 3 ), effort st. effort,
forest st forest, lantem st. lantem, music st. music, novel st. novel, origin
st. origin, peril st. peril, Senate st sgnate.
Die zahlreichsten fremdsprachlichen Lese- und Aussprachefehler erwachsen
natürlich aus dem Einfluß der gewohnten muttersprachlicben Lauterzeugung.
Bekannt ist allen Sprachlehrern die Neigung der Anfänger, ungewohnte
Laute der Fremdsprache durch ähnlich klingende, altgewohnte Laute der
Muttersprache zu ersetzen. So sprechen norddeutsche Schüler gerne statt
*) Die Schüler waren nach den franz. Lehrbüchern von Kühn u. Diehl (Velhagen & Klaßing)
unterrichtet. Diese Feststellung ist wichtig, weil der Lehrgang dieser Bücher den Gradmesser
für die größere oder geringere Sprachgeläufigkeit abgibt Das Fehl wort war nach meiner
Prüfung stets das früher gelernte und öfter gebrauchte.
*) Den Gradmesser der Sprachgeläufigkeit bildet hier das Lehrbuch von Hausknecht, The
English Student (Sarasin, Leipzig).
*) Der Punkt unter den Buchstaben bezeichnet den Silbenton.
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Wesen and Arten der Fehler
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der französischen Nasenlaute ö, e, 5, cs 1 ) die ihnen geläufigeren Lautver¬
bindungen ai /, etj, 3>Jt «'/ in Amüsemang u. ä. Mittel- und süddeutsche
Schüler ersetzen mit großer Hartnäckigkeit die ihnen unbekannten stimm¬
haften Laute (b, d, g, z, ?) durch die in ihrer Mundart allein vorkommen¬
den entsprechenden stimmlosen Konsonanten. Man denke nur an Beispiele
wie die französischen: bord, dans, grand, rose, manger, die englischen: mb,
rod, big, rose, change. Das englische th wird von deutschen Schülern
massenhaft durch einen s-Laut wiedergegeben, mag es nun stimmhaft oder
stimmlos zu sprechen sein. Wenn der Franzose muter st. des deutschen
Mutter, der Engländer boza oder buza st. böse spricht, so zeigt sich auch
hier als gleiche Fehlerursache die sieghafte Macht der geläufigen heimischen
Sprechweise.
Lese- und Aussprachefehler wie die eben erwähnten beruhen in letzter
Linie auf ungenauer akustischer Wahrnehmung. Sie haben also die gleiche
psychische Grundlage wie die folgenden Hörfehler, denen ich in deutschen
Diktaten begegnet bin: alle (Hw. n. Kaeding 15511} st. alte (2936', befehlen
(174) st. befehden (7), Ecke (314) st. Egge (0), herzlich (561) st. herzig
(137), Kämpfen (673) st. Kämpen (7), leidlich (103) st. leidig (37), reiten
(830) st. reuten (4), Teppich (84) st Eppich (0).
Die irreführende Macht geläufiger Reproduktionen ist auch aus zahlreichen
Gedächtnisversagern zu erkennen, die sich in fremdsprachlichen Schreib¬
fehlern feststellen lassen. Bei Anfängern im Französischen drängt sich
häufig die deutsche Schreibweise vor; so in la bonn, la femm, la lamp, la
pomm, la oach, petit (st. petite) mit Auslassung des stummen Schluß-e.
Schreibungen wie letter st. lettre, fabel st. fable zeigen ebenfalls den Ein¬
fluß der gewohnten deutschen Endungen. In Fehlwörtern wie beurse st.
bourse, dizembre st decembre, grazon (Gras) st. gazon, jur (mit deutschem
Q-Zeichen) st. jour, otour st. autour, üne st. une, uein (Wein) st. vin verrät
sich nicht minder deutlich die muttersprachliche Schreib- und Sprach-
gewohnheit 2 ).
Das früher gelernte Französisch macht sich in ähnlicher Weise beim
Schreiben später gelernter englischer Wörter von gleicher Bedeutung
geltend, so z. B. in Australie st. Australia, captaine st. captain, labeur st.
labour, riche st. rieh, soupe st. soup, tourn (frz. tour) st. tum.
Im muttersprachlichen Unterricht spielen besonders bei jüngeren
Schülern die gewohnten mundartlichen Laute eine ähnliche Verführerrolle.
Wo in der heimatlichen Rede g und j verwechselt werden, kommen Recht¬
schreibungsfehler vor, wie: geder, gemand, getzt, Jabel, Jarten, Jemse, jut.
Rheinfränkische Schüler (Gegend von Mainz und Wiesbaden), die in der
gewohnten Aussprache im In- und Auslaut g, ch und sch unterschiedslos als
f (sch) aussprechen, schreiben: abspenstisch, Eische, Pflrsisch, Teisch st Teich
und Teig. Die schlechte Aussprache der Umlaute in Mittel- und Süddeutsch¬
land veranlaßt Fehler wie: Becker st. Bäcker, hert st hört, kimmert st.
kümmert. Die mangelhafte Aussprache der Verschlußlaute im mitteldeutschen
Sprachgebiet spiegelt sich in Fehlern wie: Blage st. Plage, Dor st Tor,
') Es sind die Lautschriftzeichen der Association phonötique gewählt, die heute in der phone¬
tischen Schreibuog allgemein üblich sind.
*) Auch falsch geschriebene Fremdwörter wie ifaschiene (nach Schiene, Biene), Eumenieden,
Uosich, Siezion gehören hierher.
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Hermann Weimer
hlüchlich st. glücklich, Wech st. Weg. — Ungebildete Erwachsene aus diesen
Gegenden sprechen und schreiben: Direkter, Dokter (Dockier), Professer
wie Bäcker, Schneider, Schuster.
Aber auch die hochdeutsche Aussprache kann zu Schreibfehlern verführen,
so die uns allen geläufige stimmlose Aussprache der auslautenden Verschlu߬
laute in Apt st. Abt, Kleit st. Kleid, Magt st. Magd, Rauhe Alp st. Rauhe Alb.
Schreibgewohnte Einflüsse machen sich in zahlreichen Fehlleistungen
bei Schülern und Erwachsenen geltend. Ich erinnere nur an die häufige
Schreibung von du, sie, ihnen, ihr usw. in Briefen statt der vorgeschriebenen,
aber sprachselteneren Formen: Du, Sie, Ihnen, Ihr usw. Auch das (Hw. n.
Kaesl. 127137) wird selbst von Gebildeten in unbewachten Augenblicken
öfter statt daß (Hw. 87971) gesetzt als umgekehrt. — Bei älteren Leuten,
die sich sonst der heutigen Rechtschreibung bedienen, kommen gelegentliche
Rückfälle in altgewohnte Formen vor. Sie schreiben: Blüthe, Thal, Theil,
— thum, thun, Wirth; sie schreiben die Verbalendung — iren st. — ieren in
halbiren, illustrirt, marschiren usw. — Sprach häufigere Lautgruppen bzw. Buch¬
stabenkomplexe führen nicht nur bei Schülern öfter zu Umstellungen sprach-
seltenerer. So habe ich wiederholt Völkerspychologie st. Völkerpsychologie
geschrieben. Der Häufigkeitswert von sp im Silbenanlaut ist nach Kaeding
65567, der von ps in gleicher Stellung nur 474. Auf die gleiche Ursache
ist wohl die Schreibung Alexander Yspilanti st. Ypsilanti zurückzuführen.
Auch Verschreibungen wie Drat (—at 105558) st. Draht (—aht 292), Hein
(—ein 497916; st. Hain (— ain 243), in (188078) st. ihn (20785), Prüfet
(/ 979418) st. Prophet {ph 18704), Räzel (z 1024609) st. Rätsel ( ts 23715),
Rendergabe (nd 774235) st. Rednergabe (dn 994), Röhn (—öhn 4097) st. Rhön
( rh — 579), seelig (nach Seele 2927) st. selig (503), wieder ( wied — 14713)
st. wider ( wid— 2329) dürften ihren Ursprung in der gleichen Tatsache der
größeren Sprach- und Schreibgeläufigkeit der falschen Buchstabenkomplexe
haben. — Die in deutschen Wörtern selten vorkommenden Buchstaben j
und t) werden besonders von älteren Schülern höherer Lehranstalten sehr
oft durch die lateinischen Schriftzeichen x und y ersetzt, da ihnen diese aus
dem fremdsprachlichen und mathematischen Unterricht, in welchem sie häufiger
Vorkommen, geläufiger sind.
Eine eigentümliche, aber sehr oft anzutreffende Auslassung gleichen
Ursprungs bildet das Fehlen der Umlautstriche bei ä, ö, ü, äu in Wörtern
wie Kahne st. Kähne, öfter st öfter, Bürste st. Bürste, Hauser st. Häuser.
Ein Blick in Kaedings Wörterbuch (S. 632), das den Gebrauch der Vokale
ohne Oberzeichen (a, e, o, au) nach Millionen, den der Umlaute ä, ö, äu
nur nach Hunderttausenden bzw. Zehntausenden verzeichnet, gibt uns die
Erklärung für diese Vergeßlichkeit vieler Schreiber. Auch der u-Bogen und
der i-Punkt werden oft weggelassen, weil der Körper dieser Buchstaben
ohne Oberzeichen zur Bezeichnung anderer Buchstaben (n) oder Buchstaben-
teile um ein vielfaches häufiger vorkommt als mit den Oberzeichen.
Im Französischen teilen die Akzente, das Trema und die Cödille
dasselbe Schicksal des häufigen Vergessenwerdens aus dem gleichen Grunde.
Man vergleiche Beispiele wie ane st. äne, denoncer st. dinoncer, ou st. oü,
hair st. hair, francais st. frangais. Auch das Auslassen des Bindestrichs
(d. Feld und Qartenfrüchte, frz. trente six, engl, plum pudding) gehört in
diesen Fehlerbereich. Im Gebiet der Zeichensetzung ist das Auslassen des
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Wesen und Arten der Fehler
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Frage- und Ausrufezeichens ebenfalls auf die sieghafte Macht der Ge¬
wohnheit zurOckzufilhren. Die Aussagesätze überwiegen bei weitem die Frage-
nnd Ausrufe-, bzw. Wunsch- und Befehlssätze. Infolgedessen ist der ge¬
bräuchlichste Satzabschluß der Punkt. Nach Kaeding (S. 648) kommen auf
100 Wörter 5,45 °/ 0 ' Punkte, 0,36 °/ 0 Ausrufezeichen, 0,27 u / 0 Fragezeichen, also
etwa erst auf etwa 15 Punkte 1 Ausrufezeichen, auf 20 Punkte ein Frage¬
zeichen. Aus diesem Grunde wird so oft von den Schülern statt dieser Zeichen
der geläufigere Punkt gesetzt Dieser selbst wird seltener zwischen zwei
Sätzen vergessen als da, wo er nicht zu trennen hat, also am Ende eines
größeren Ganzen, hinter Überschriften usw. , ). Auch das Vergessen der An¬
führungszeichen zu Anfang und öfter noch am Ende einer direkten Rede
ist auf die verhältnismäßige Seltenheit dieser Zeichen zurückzuführen.
Gewohnheitsbedingte Entgleisungen, die über bloße Lese-, Hör- und Schreib¬
fehler hinausgeben, kommen ebenfalls in großer Zahl vor. Wir betrachten
zunächst das Gebiet der Wortbedeutung. Im fremdsprachlichen Unterricht
begegnen Übersetzungsfehler, die darin bestehen, daß ein gestaltsähnliches
geläufigeres Wort die Übersetzung bestinynt. Beispiele dieser Art aus dem
Französischen sind: amande Geliebte (amante) st. Kern, coüter hören
(ecouter) st. kosten, fil Sohn (filsj st. Faden, mür Mauer (mur) st. reif, se
noyer sich langweilen (s’ennuyer) st. ertrinken, vide schnell (vite) st. leer. —
Aus dem Englischen: alder älter (older) st. Erle, bag Rücken (back) st Sack,
county Land (country) st. Grafschaft, flour Fußboden (floor) st Mehl, hole
ganz (whole) st Loch, launch Frühstück (lunch) st. Stapellauf, see See (sea)
bL Bischofssitz, witch welches (which) st. Hexe.
Das geläufigere Feblwort kann auch ein gestalts- oder klangähnliches
andersprachliches Wort sein. Beispiele aus dem Französischen: le berger
der Bürger st. Schäfer, la glace Glas st. Eis, hier hier st. gestern, mödecin
Arznei (Medizin) st Arzt, siöge Sieg st. Belagerung. — Englisch: cloak
Kloake st. Mantel, fabric Fabrik st. Fabrikat, mason Haus (frz. maison) st.
Maurer, pain Brot (frz. pain) st. Schmerz, rod rot st. Stab, vile Stadt (frz.
ville) st. gemein. — Beim Hinübersetzen in die Fremdsprache kommen natürlich
dieselben Fehler vor» So wurden aus dem Deutschen ins Französische über¬
setzt: die Mark la marque st. le marc, laut sprechen parier laut st. parier haut,
die Ware la marchande (nach le marchand der Kaufmann) st. marchandise.
Deutsch-englische Übersetzungen derart waren: also also st. so, drohen throw
st. threaten, jetzt yet st. now, Schwester swister st. sister, Welle well st. wave.
Auf rein grammatischem Gebiet sind Geläufigkeitsfehler überaus zahl¬
reich. Hier bedingt die tägliche Umgangssprache und damit vor allem der
mundartliche Sprachgebrauch die Geläufigkeit. Um eine Übersicht über die
Fülle der Erscheinungen zu gewinnen, wähle ich bei der Betrachtung dieser
Fehler die übliche grammatische Einteilung. Im Bereiche der deutschen
Wortbiegungslehre macht sich sowohl in der Deklination wie in der Kon¬
jugation der Zwang mundartlicher Gewohnheiten in vielen Fehlern geltend.
Wo die Mundarten auslautendes n fallen lassen, kommen Pluralbildungen vor
wie: Kartoffel, die Vorübergehende, Kartespielen, mit Schneebälle. Aus der¬
selben Quelle stammt die falsche Akkusativbildung ein st. einen in Sätzen
wie: Sie bemerkten ein Priester. Die in Süddeutschland verbreitete Vorliebe
*) Ober das Komma sind meine Untersuchungen noch nicht zum Abschluß gelangt.
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Hermann Weimer
fOr den Umlaut als Pluralzeichen der starken Deklination veranlaßt dort
Schülerfehler wie Arme, Kästen, Läger, Täge, Wägen. Desselben Ursprungs sind
Pluralbildungen wie Bretter, Hemder, Mädcher, Steiner, Stücker. 8 als Plural¬
zeichen in Kerls, Jungens, Mädchens ist aus dem Niederdeutschen in die hoch¬
deutsche Umgangssprache norddeutscher Gebiete eingedrungen und wird
nicht mehr als Fehler empfunden. Über das Dativ-m in.den Endungen der
Geschlechts-, Für- und Eigenschaftswörter klagt Theodor Matthias in seinen
„Aufsatzsünden“ (7. Tausend, S. 14), daß es Tausende deutscher Schüler
nicht einmal mehr schreiben, geschweige denn sprechen (vor den König
erscheinen, bei meinen Großvater, mit frischen, heitern Mute). Die Ursache
liegt darin, daß dieses Endungs-m in mitteldeutschen Mundarten vielfach,
im Niederdeutschen überhaupt in n übergegangen ist. Auch falsche Ge¬
schlechtsbildungen (die Bach, der Butter, die Floh, das Schirm, der Sofa),
ferner die Neigung zur Vorsetzung des Artikels vor Personennamen (der
Wallenstein, der Tilly, die Sappho) haben ihre Wurzeln in mundartlichem
Gebtauch. Dagegen sind Schreibungen wie Göttinen, Päärchen, Säälchen
auf die häufiger vorkommenden Grundformen Göttin, Paar, Saal zurück¬
zuführen.
Im Bereiche des Eigenschaftswortes macht sich die fehlerbildende
Macht der Geläufigkeit besonders in falschen Steigerungsformen geltend.
Die tausendfache Übung, den Komparativ und Superlativ durch Anhängung
von -er und -st an das Ende der Grundform zu bilden, verführt zu der
gleichen Formung bei adjektivischen Zusammensetzungen, deren zweiter Teil
dem Sinne nach gar nicht gesteigert werden kann: weitgreifender st. weiter¬
greifend, die naheliegendsten (st. nächstliegenden) Gründe, die hochgestell¬
testen (st. höchstgestellten) Männer. Nach dem Muster von dortig, übrig
wurde das Adjektiv zuig, nach offen wurde zuen in zuene Tür gebildet
Der häufige Gebrauch des reflexiven Verbs sich befinden verführt öfter zu
der falschen Adjektivbildung sich befindlich.
Am stärksten tritt der Einfluß des Gewohnheitsmäßigen wohl in der Ab¬
wandlung der Zeitwörter zutage. Das sieghafte Vordringen der schwachen
und das entsprechende Zurückweicben der starken Konjugationsfonnen ist
allgemein bekannt. Der Vorgang zeigt sich in der Imperativbildung und
öfter 1 noch in der Bildung des Präteritums. Formen wie komme st. komm,
lasse st. laß, siehe st. sieh gelten heute als durchaus sprachrichtig. Die
Form werde (Landgraf, werde hart!) hat das ältere wird ganz verdrängt.
Kein Wunder, daß unter dem begünstigenden Einfluß der Mundart auch
Befehlsformen wie breche, helfe, gebe, lese, nehme, trete sich in die Aufsätze
unserer Schüler eindrängen. Längst schwach geworden sind die ehemals
starken Präterita von greinen, neiden, reihen, seihen, schmiegen, bläuen,
reuen, brauen, kauen, bellen, gellen, hinken, winken, kneten, jähten, mahlen,
nagen, waten u. a. *). Das schwache Präteritum backte droht die ältere Form
buk auch schon zu verdrängen; ähnlich saugte das ältere sog, schnaubte
das ältere schnob, webte das ältere wob. In der Schule zeigt sich die Un¬
sicherheit der Lernenden in falschen Vergangenheitsformen wie biegte,
bleichte , gärte, haute, acheinte, schwörte, speite, triefte u. ä. Bedenkt man,
daß wir heute nur noch etwa 200 selbständige starke Verba in der deutschen
') Vgl. Sütterlin u. Waag, Deutsche Sprachlehre für höhere Lehranstalten. 1905. § 1V1 181-
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Sprache haben 1 ), denen Tausende von schwachen Verben gegenüberstehen,
bedenkt man ferner, daß die Vergangenheit der letzteren stets in derselben
Weise gebildet wird (-te und -t), während das Präteritum der starken Kon¬
jugation je nach der Ablautsreihe in verschiedenartiger Form, gelegentlich
sogar mit Unterscheidung der Singular- und Pluralformen (ward, wurden)
oder in Doppelformen (hob und hub, schwor und schwur) erscheint, so
dürften solche falschen Präteritalformen als Folge der größeren Sprach-
bäufigkeit des schwachen Präteritums hinreichend erklärt sein.
Das Schicksal des Zurückgedrängtwerdens und der daraus folgenden Falsch¬
bildung erleidet auch häufig der Konjunktiv. Die sprachlich richtigen Bildungen
beföhle, begönne, börste, gölte, rönne, schölte, spönne, stände können sich
trotz Wustmann und anderen Sprachreinigern kaum noch durchsetzen, da
die unterstützenden alten Pluralformen des Ind. Praet. (borsten, gulten, runnen,
saummen usw.) längst verloren gegangen sind. Bei den allermeisten schwachen
Verben ist der Konjunktiv von dem Indikativ überhaupt nicht zu unterscheiden.
(Ind.: er lobte, Konj.: er lobte , dagegen im Präsens wenigstens noch er lobt,
er lobe.) Dieser Mangel an deutlich unterscheidenden Merkmalen hat das
Bedürfnis nach Ersatzformen geweckt. Die beliebteste ist der Konj. Praet.
des Hilfszeitworts werden: würde. Ursprünglich im Bedingungshauptsatz der
Nichtwirklichkeit gebraucht, greift er von Österreich und Süddeutschland her
immer weiter um sich. Man trifft ihn in Schülerarbeiten auch in Neben¬
sätzen und als Kennzeichen der indirekten Rede. (Er sagte, sein Freund
würde kommen. Wenn er es versprechen würde.) Seinen Rückhalt findet
er in den genannten Gegenden in dem Gebrauch der Umgangssprache 2 ). —
Aus österreichischem Sprachgebiet stammen auch die falsche Betonung und
die falsche Konjugation zusammengesetzter Zeitwörter, wie anerkennen, über¬
siedeln, unterlegen, unterordnen, bei denen nach der Regel im Präsens und
Präteritum die Präposition hinter das Verb tritt (ich erkenne an usw.). Der
Österreicher anerkennt, übersiedelt, unterlegt. Durch das Zeitungswesen sind
derartige Falschbildungen auch in nördliches Sprachgebiet eingedrungen 3 ).
Aus der niederdeutschen Volkssprache stammt dagegen die Neigung, das
Partizip worden im Perf. Pass, wegzulassen auch da, wo es sich nicht um
die Beschreibung eines Zustandes (Perf. Präs.), sondern um die Erzählung
eines Vorgangs handelt: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist in
Deutschland die Gegenreformation eingeführt (st. eingeführt worden).*).
Im Bereiche der Satzlehre verführen die Gewohnheiten der Mundarten
und der Umgangssprache ebenfalls zu mannigfachen Verstößen. Die Ver¬
wechslung von mir und mich usw. im Berliner Dialekt und weit darüber
hinaus ist allgemein bekannt. Der tägliche Gebrauch der mündlichen Rede
erzeugt hier zahlreiche Fehler besonders im Volksschulunterricht. — Der
starke Rückgang des Genitivs in der Sprache des niederen Volkes führt
zur Anwendung volkstümlicher Umschreibungen, wie meinem Vater sein Haus,
des Kaufmanns seine Waren (seltener), der Garten von seinem Großvater, der
Fuß von dem Pferde; oder Akkusativkonstruktionen ersetzen die ältere
Genitivkonstruktion: etwas (st. einer Sache) bedürfen. Das österreichische
vergessen auf, vergessen an ist im Schulunterricht bis jetzt kaum über den
*) VgL Sütterlin u. Waag, a. a. O., S. 98.
*) Vgl. G. Wustmann, Allerband Sprachdummheiten. 3. Aufl. 1903, S. 157.
*) VgL Wnstmann, a. a. 0., S. 57. 4 ) VgL Wustmann, a. a. 0., S. 106.
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Bereich der schwarz-gelben Grenzpfähle hinausgedrungen. Dagegen wirkt der
mundartliche Gebrauch auf dem Gebiete der Präpositionalkonstruktionen sonst
auch in der Schule öfter fehlerbildend. Verstöße wie außerhalb Deutschland,
er geht bei seinen Freund st. zu seinem Freund, ohne dem Korb, statt den
Äpfeln, während dem Kampfe, wegen seinem Fleiß legen Zeugnis dafür ab.
Der Umstand, daß die meisten Präpositionen vor ihrem Bestimmungswort
stehen, verführt zu Stellungsfehlern wie entlang dem Rheine, gegenüber
dem Hause, zufolge einer Nachricht, zuwider seiner Neigung 1 ). — Wie die
gewohnte Satzstellung beim Aufsagen von Gedichten das Gedächtnis ver¬
wirrt, zeigen Vortragsproben wie: und alle die Männer und Frauen umher
st. alle die Männer umher und die Frauen (Schillers „Taucher“); drauf greift
der König nach dem Becher schnell st. drauf der König greift nach dem
Becher schnell (ebenda); auf zum Schwarzwald schwingt sich mein Lied st.
. . . schwingt mein Lied sich („Gruß an den Schwarzwald“ von Scheffel);
habt ihr ein Geschäft? st. habt ein Geschäft ihr? (Homers „Odysee“).
Eine häufige und berechtigte Klage der Lehrer des Deutschen gilt dem
unbegründeten Tempuswechsel in deutschen Aufsätzen. Es kommt in¬
dessen viel seltener vor, daß eine Darstellung in der Gegenwart durch Ver¬
gangenheitsformen gestört, als daß umgekehrt eine das Präteritum fordernde
Erzählung durch Gegenwartsformen unterbrochen wird. Das geschieht in
Schüleraufsätzen nicht nur in lebhafter Erzählung, sondern auch sonst, und
zwar weil die Gegenwartsformen dem Schüler geläufiger als die Präterital-
formen sind. (Ich sage mit Absicht Präteritalformen; denn das zusammen¬
gesetzte Perfekt, das in der Umgangssprache — wenigstens in Österreich
und Süddeutschland — häufiger als das Präteritum (Imperfekt) ist, hat in
seinem flektierten Teil, dem Hilfszeitwort, ja auch präsentische Form (ich
habe gegeben, ich bin gegangen). Der Grund dieser Geläufigkeit liegt in
der größeren Sprachhäufigkeit des Präsens, das nach Lage der Dinge die
gebräuchlichste aller Zeiten ist. Es bezeichnet nicht nur die Handlungen
und Zustände der Gegenwart, die den Anlaß zu den meisten sprachlichen
Äußerungen der Menschen geben, sondern dient auch zur Angabe zeitloser
Beziehungen (die Bäume gehören zu den Pflanzen). Seine Geläufigkeit gibt
sich auch darin zu erkennen, daß es oft statt des Futurums gebraucht wird
(ich komme morgen zu dir, ich warte, bis du kommst), ohne daß dies als
faUch empfunden würde 2 ).
Ähnlich ist das zahlenmäßige Verhältnis von Indikativ und Konjunktiv:
jener ist sprachhäufiger als dieser. Daraus erklärt es sich, daß Schüler mit¬
unter in einer Darstellung, die den Konjunktiv erfordert (indirekte Rede),
diesen durch den Indikativ ersetzen: Dämon sagte, er habe Dionysius töten
wollen, weil dieser ein Tyrann war. Das Umgekehrte, eine unberechtigte Ver¬
tauschung des Indikativs durch den Konjunktiv, ist mir in Schülerheften noch
nicht begegnet 3 ).
In ähnlichem Verhältnis der Sprachhäufigkeit stehen Haupt- und Neben-
*) Man beachte, daß die betr. Präpositionen (von gegenüber abgesehen) im Sprachschätze
der Schulkinder noch selten Vorkommen.
*) Vgl. Sütterlin u. Waag, S 94.
3 I Wust mann a. a. 0. S. 140 gibt wohl Beispiele dieser Art von Erwachsenen an, bemerkt
aber dabei, daß Fälle dieser Art selten seien. Um so öfter, meint er, werde der entgegen¬
gesetzte Fehler begangen, und er führt zahlreiche Belege dafür an: S. 141 ff., 149ff., ]53f.
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satz zueinander. Der Hauptsatz ist nach Lage der Dinge die meist ge¬
brauchte Satzform *), ganz besonders bei der Jugend schulpflichtigen Alters.
Daraus erklären sich falsche Satzgebilde wie dieses: Alle zwei Jahre feierten
die Griechen auf der Landenge von Korinth ein Fest, bei dem Kampfspiele
stattfanden, Theaterstücke aufgeführt wurden und die Sänger trugen ihre
Lieder vor. Während hier der Rückfall in die geläufigere Hauptsatzstellung
klar zutage liegt, ist in den folgenden Sätzen zwar die Satzstellung des
Nebensatzes (Prädikat am Ende) bewahrt, das Relativpronomen dagegen
durch Fürwörter anderer Art ersetzt worden: Das Bild, das der Maler ge¬
malt und damit großen Beifall gefunden hat (st. und mit dem er .. .); Perikies,
den die Athener für den ersten Mann der Stadt hielten und ihm (st. und
dem sie) die Regierung des Staates überließen . 2 ) Man sieht, diese Fehler
kommen in mehrgliederigen Nebensätzen vor. Der erste Nebensatz gerät
gewöhnlich richtig, erst beim zweiten oder folgenden Nebensatze fällt der
Schüler aus der Konstruktion. Warum? Weil die eingliederigen Nebensätze
wieder sprachhäufiger, also geläufiger sind als die mehrgliederigen. Jede
neue Erweiterung des Satzgefüges erschwert die Satzbildung und verstärkt
bei den Unfertigen die Neigung, mit den meist gewohnten Mitteln das weniger
Gewohnte zu bewältigen. So erklären sich fehlerhafte Satzbildungen, wie:«
Neben ihm steht das Roß, auf welches er seinen Begleiter festgebunden hat
und ihn mit der einen Hand festhält oder: Das Schwert, das in der Brust
des Jünglings steckt und aus der Blut rieselt, wo scheinbar Gleichartiges
(Nebensätze verschiedenen Grades) mechanisch mit dem beiordnenden und
aneinandergereiht werden 3 ).
Im fremdsprachlichen Unterricht begegnen grammatische Fehler auf
der Grundlage der Geläufigkeit in reicher Fülle. Drei uns schon bekannte
Quellen bilden auch hier die Führer in falsche Bahnen: das früher Gelernte,
das öfter Wiederholte und die an Wiederholungen besonders reiche mutter¬
sprachliche Ausdrucksweise. Wenn im Gebiet der französischen Dekli¬
nation Schüler mit Auslassung des Plural-s les champ, les femme, les rose
schreiben, so rührt das vornehmlich daher, daß die Singularform bei den
meisten Wörtern nicht nur gebräuchlicher, sondern auch als die Grundform
im Wörterbuch verzeichnet und vom Schüler zuerst gelernt worden ist.
Fehlerfördernd kommt allerdings noch hinzu, daß das Plural-s in der
häufigeren mündlichen Rede, von der Bindung abgesehen, überhaupt nicht
in Erscheinung tritt. Im Englischen wird nach meiner Erfahrung das Plural-s,
da es gesprochen wird (books, boxes), in der Schreibung viel seltener
vergessen. Dagegen ist im Französischen s als Pluralzeichen wieder häufiger
denn jr, und das macht Fehler wie les corbeaus st. corbeaux, les jeus st. jeux,
les genous st. genoux verständlich. — Schreibungen wie cets hommes st.
ces hommes sind aus derselben psychischen Wurzel zu erklären, da der. Fall
des Ausstoßens eines zum Wortstamm gehörigen Buchstabens im Französischen
viel seltener ist als die .bloße Anhängung eines s.
Im Englischen zeigt sich der beherrschende Einfluß einer einmal ge¬
lernten Grundform in falschen Pluralbildungen wie brushs st. brushes von
*) Kein Nebensatz kommt obne Hauptsatz vor, wohl aber viele Hauptsätze ohne Nebensätze.
*) Beispiele aus Vookeradt, Praktische Ratschläge für die Anfertigung des deutschen Auf-
*»ties für obere Klassen. ’
*) Beispiele aus Th. Matthias, Aufsatzsiinden.
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brush, calfs st. calves von calf, cattles st cattle, feets st feet von foot, mouses
st. mice von mouse, seamans st. seamen von seaman , ferner in falscher Bil¬
dung von Ordnungszahlen wie nineth st. ninth von nine, twenty-twoth st
twenty-second von fwenty-two. Falsche Ableitungen wie fivteen st. fifteen
von five, fourty st. forty von four gehören ebenfalls hierher.
Auch Konjugationsfehler auf der Grundlage der größeren Sprachhäufig-
keit sind im fremdsprachlichen Unterricht nicht selten. Im Französischen
machen sich die zuerst eingeprägten und häufig vorkommenden regelmäßigen
Konjugationen in zahlreichen Falschbildungen unregelmäßiger Verben geltend:
oous allerez st. irez, il envoiera st. enverra, ils conquerirent st conquirent,
on courit st. courut, vorn disez st. vous dites, faisez-vous? st faites-vom?,
nous mourirons st mourrons, venira-t-il? st. viendra-t-il? il oivit st vecut,
voulez st veüillez. Die sprachhäufigsten Endungen der 1. Konjugation
drängen sich im Gedächtnis der Schüler besonders vor: ils battirent st
battin nt, il connaissa st connut, il ecrivera st. öcrira, il faisa st fit, il mente
st. ment, tu vendes st vends. — Im Englischen zeigt sich der Einfluß der
Sprachhäufigkeit und der Grundform in Falschbildungen der 3. Sing. Ind.
Praes.: he shut st. shuts, she wish st. wishes und umgekehrt he cans st.
cait, ferner im Vergessen orthographisch notwendiger Veränderungen cuting
st. cutting von to cut, dieing st. dying von io die, they carryed st. carried
von to carry, he gos st. goes von to go, prefered st. preferred von to prefer.
Auf dem Gebiete der Präteritalbildung verleitet der Einfluß der sprach-
häufigeren schwachen Endung -ed zu Fehlern wie: we catched st caught von
to catch, they choosed st. chose von to choose, eated st. eaten von to eat,
they feeled st. feit von to feel, he makea st made von to mähe, swimmed
st. swum von to swim. Sehr oft macht sich auf dem Gebiete der Konju¬
gation der irreführende Einfluß der den Schülern geläufigen Muttersprache
geltend. Man sieht es an Fehlem wie im Englischen: brake (brach) st.
brohe, he commes (kommt) st. comes, fand (fand) st. found, ritten (geritten)
st. ridden, sleepen (geschlafen) st slept, sught (suchte) st. sought , sunken
(gesunken) st sunk; im Französischen: il est couru (er ist gelaufen)
st. a couru, il s’a döfendu (er hat sich verteidigt) st. s'est difendu, il est noye
(er ist ertrunken) st. s’est noye, le soleil leoe, le s. couche (die Sonne geht
auf, geht unter) st. le sol. se leve, se couche, il se craint (er-fürchtet sich)
st il a peur.
Doch die Hauptmasse fremdsprachlicher Fehlerbildung nach Analogie der
geläufigen muttersprachlichen Redeweise begegnet uns im Bereich der Satz¬
lehre. Konstruktionen wie: il lui est. reussi (es ist ihm gelungen) st il
a reussi, ils se trouoent des gens (es finden sich Leute) st il se trouoe des
gens, il a rencontri ä son ami (er ist seinem Freunde begegnet) st. il a r.
son ami, il demanda Vofficier (er fragte den Offizier) st. ä Voffider, on le
fit lire la lettre (man ließ ihn den Brief lesen) st. on lui fit ..., Ouillaume
I er fut proclame comme empereur (. ... wurde zum Kaiser ausgerufen) st.
.. . proclame empereur, il aime jouer le piano (er spielt gerne Klavier) st.
. . .jouer du piano bilden einige Proben aus dem Gebiete der französischen
Verbalrektion. Ihnen entsprechen etwa folgende Fehler aus dem eng¬
lischen Unterricht: I can my lesson (ich kann meine Aufgabe) st I know
m. I., if they had could seen (wenn sie hätten sehen können) st. if they conld
haue seen, Augustine should go to the King of Kent (Augustin sollte gehen ...)
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Wegen und Arten der Fehler
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st A was told to go ..do always aa it is told to you (. .. wie dir gesagt
wird) st ... as you are told, they obeyed to this Order (sie gehorchten diesem
Befehl) st ... ob. this order, people thougt him high (man schätzte ihn hoch)
st ... th. high of him, such a hing was deemed for impossible (wurde für
unmöglich gehalten) st. w. d. impossible, it succeeded him to defeat the
Danes (es gelang ihm die D. zu besiegen) st ... he s. in defeating the D. —
Die sklavische Nachahmung der geläufigen^ deutschen Ausdrucksweise zeigt
sich auch in falschen Zeit- und Modusbildungen: Französisch: il me de-
tnanda si je vinsse (... ob ich käme) st. ... si je viendrais, les Frangais
eraignirent que les Aüemands conquirent leur capitale (daß die Deutschen
ihre Stadt eroberten) st. que l. A. ne prissent l. c., je veux que tu viens (daß
du kommst) st. que tu viennes, on presse le raisin avant que la fermentation
est complete (bevor die Gärung zu Ende ist) st. avant que l. f. soit c.,
Louis IX fut le meilleur roi que la France a jamais eu (den Fr. je gehabt
hat) st que l. Fr. ait j. eu, je ne sais pas que je dois faire (was ich tun soll)
st je n. 8. p. que faire, le colonel envoya des soldats, ä chercher du bois
(Holz zu holen) st. ... envoya d. s. chercher du b. — Englisch: yesterday
my friend has told me (gestern hat mein Fr. mir gesagt) st. y. m. fr. told
me, how long are you here? (wie lange bist du hier?) st. h. I. have you
been here? the man asked him how old he were (wie alt er wäre) st. how
old he was, the Pope bade him to improve their heathen custm os (... befahl
ihm ihre heidnischen Sitten zu verbessern) st. .. . bade him improve th. h. c.
kn Bereiche der Lehre von den Hauptwörtern erwachsen auf dieser
Grandlage falsche Geschlechtsbildungen. Französisch: la chdne (die
Eiche) st. le ch., la cigare st. le cigare, la Danube (die Donau) st le D., le
conduite (das Betragen) st la c. Im Englischen läßt das Vordrängen der
entsprechenden deutschen Formen die einfache Geschlechtsregel, daß Sachen
sächlich sind, vergessen: where is my sponge (Schwamm)? there he is st
there it is. — Im Gebrauch der Länder- und Ortsnamen und ihrer Ab¬
leitungen ist die deutsche Ausdrucksweise ausschlaggebend für Übersetzungen
wie: Allemagne (Deutschland) st. VAllemagne, la ville New York (die Stadt
New York) st la v. de N. Y. — the Turkey (die Türkei) st. Turkey ohne
Artikel, he was German by birth (er war Deutscher von Geburt) st. h. w. a
German b. b. — Ähnliche Fehler kommen sonst bei Substantiven vor. Fran¬
zösisch: vers sud-ouest st vers le sud-ouest, on mangepain (man ißt Brot)
st o. m. du pain, beaucoups soldats st. beaucoup de s. — Englisch: to-
mrds north (gegen Norden) st. towards the n., the King Alfred (der König
Alfred) st. King Alfred, after the breakfast (nach dem Frühstück) st. a. break¬
fast, he became Student (er wurde Student) st h. b. a Student, Augustine
was sent as missionary (... wurde als M. gesandt) st. A.. w. s. as am. —
Das Adverb nimmt wie im Deutschen öfter die Gestalt des Adjektivs an.
Französisch: un homme qui parle mauvais de ses bienfaiteurs (der Übel
von seinen Wohltätern spricht) st qui p. mal ...., je vois clair qu'on
nou8 a trompes (ich sehe klar . . .) st. je vois clairement . . . Englisch:
most comfortable we sat in our chairs . . . (höchst bequem) st most com-
fortablg . . ., they were warm received (warm empfangen) st. warmly r. —
Das Adjektiv selbst wird im Französischen in prädikativer Stellung nach
deutscher Gewohnheit imverändert gebraucht: to vie est dur st. dure, cette
statue est beau st belle, les soldats furent brave st. braves. Im Englischen
Zeitschrift 1 pldagog. Psychologie. 7
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
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wird das stellvertretende one beim attributiven Adjektiv vergessen, da der
deutsche Sprachgebrauch keine analoge Bildung kennt: mag I have another
pen? J have an old st. an old one. — Hinsichtlich der Stellung des Adjektivs
folgen Schiller bisweilen auch der ihnen geläufigen deutschen Ausdrucks¬
weise: franz. les grecs guerriers st. les g. grecs; engl.: the both horses st.
both the h., a half hour st. half an hour, the Lost Paradise st. Paradise Lost.
Überhaupt bildet die Wortstellung ein weites Feld für Entgleisungen, die durch
die muttersprachlicbe Gewohnheit veranlaßt sind. So im Französischen: apres
le travail rentrent les eleves ä la maison (kehren die Schüler) st. . . . les
Cleves rentrent . . ., Charles-Quint donna au duc Maurice la Saxe st. donna
la Saxe a. d. M., Goethe naquit en 1749 ä Francfort st. ä Fr. en 1749, vous
n’avez pas vous ddfendus (habt euch nicht v.) st. vous ne vous etes pas
dif., le reste des pommes de terre il vendit (den Rest . . . verkaufte er) st.
il vendit le reste . . ., quelle tribu germanique a vaincue Charlemagne
(welchen g. Stamm hat K. d. Gr. besiegt) st. quelle tr. g. Ch. a-t-il vaincue,
il me demande quel mon nom dtait (welches mein Name wäre) st. quel
etait m. n. Im Englischen: after the discoverg of America became the
Spaniards . .. (wurden die Spanier) st. ... the Spaniards became ..., when
he of his arrival heard (als er von seiner Ankunft hörte) st. wh. he heard
of h. a., there has he a house (dort hat er ein Haus) st. there he has a. h.,
he paid the Citg a visit (stattete der Altstadt einen Besuch ab) st. paid a
visit to the C., what told theg to him? st. what did theg teil him?, theg
got about twelve to Barnet (gelangten um 12 Uhr nach B.) st. ... got to *B.
about t. —
Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels.
Von Annelies Argeiander.
(Schluß.)
5. Die neue Berufswahl. Sämtliche von uns befragte Jugendliche standen
also vor der Notwendigkeit, sich eine neue Arbeitsgelegenheit zu suchen,
wenn nicht gar einen neuen Beruf zu ergreifen, veranlaßt durch den Arbeits¬
mangel in verschiedenen Industriezweigen und die Umstellung des Wirtschafts¬
lebens in der Nachkriegszeit. Es ist zu erwarten, daß die neue Berufswahl
durch diese Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt beeinflußt wurde. So gibt
ein Teil der Jugendlichen (9 Fälle) spezielle Berufswünsche gar nicht an,
sondern erklärt, jeden Beruf ergreifen zu wollen, der sich ihnen bietet. Mit¬
bedingt mag diese Antwort sein durch die Tatsache, daß die jugendlichen
Arbeitslosen verpflichtet waren, jede Stelle anzunehmen, die sich ihnen bot.
Ein anderer Ausdruck für dieselbe Gleichgültigkeit dem neuen Beruf gegenüber
ist es wohl nur, wenn 4 weitere Personen als Berufswunsch „Tagelöhner“
und 2 andere. „nichts mehr lernen“ zu wollen (also imgelernte Arbeit)
angeben. Unter den übrigen Berufswünscben stehen wieder die technischen
Berufe an erster Stelle, 5 Personen wollen Schlosser werden, 8 Elektrotechniker,
3 Mechaniker, 2 Maschinentechniker, 1 Fahrradmechaniker, die übrigen Fälle
verteilen sich auf 1 Bäcker, 1 Metzger, 1 Fuhrmann, 1 Buchbinder, 1 Ver¬
käufer, 1 Installateur, 1 Dreher, 1 Maschinensetzer, 1 Maurer, 1 Bahnarbeiter,
Google
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Annettes Argeiander, Ober Uotive der Berufswahl und des Berufswechsels
9 »
1 Hafenarbeiter, 1 Heizer und 1 Schornsteinfeger. Oie ungelernte Arbeit
nimmt also bei den neuen Berufswünschen einen beträchtlichen Raum ein,
etwa 18—20 Fälle unter 42 männlichen Jugendlichen, d. i. 43—48°/o. Be¬
gründet wird wohl dieser Verzicht auf einen gelernten Beruf neben dem
Zwang, Geld zu verdienen, und den unsicheren wirtschaftlichen Verhältnissen
auch durch die Tatsache sein, daß ein großer Teil dieser Jugendlichen bereits
weit über das Alter hinaus war, in welchem sonst die Lehrzeit begonnen
wird, und daß ihnen der Gedanke, noch einmal ganz von vorn anfangen zu
müssen, unangenehm war.
Ein Grund für die Wahl des neuen Berufes wird von 10 Personen nicht
angegeben, und zwar sind dies überwiegend solche der oben beschriebenen
Fälle, wo ein bestimmter Berufswunsch nicht geäußert wurde. 8 Personen
bezeichnen als Grund den Zwang, Geld zu verdienen, daneben wird je einmal
angegeben: „keine andere Neigung“, „wegen der Vorteile“, „will nichts
mehr lernen“, „weil kein Beruf erlernt“. Nur 13 Personen der männlichen
Gruppe wählen den neuen Beruf aus „Vorliebe* (öfters ist es der bereits
gelernte Beruf, der wieder gewünscht wird), 3 ihres weiteren Fortkommens
wegen, 2 weil sie eingearbeitet sind und 2 weil ihnen der gewünschte Beruf
«interessant“ ist
Die weiblichen Jugendlichen scheinen mehr Mut zu haben, einen neuen
Beruf zu lernen; wenn auch 6 von den 23 Personen Fabrikarbeit annehmen
wollen und eine „nicht weiß“, was für einen Beruf sie wählen soll, so wird
doch in 6 Fällen die Absicht gezeigt, Näherin zu werden; daneben wird
gewünscht 2 mal Verkäuferin, 3 mal Haushalt lernen, 2 mal Büro und je 1 mal
Stickerin, Friseuse, Magazinbeamtin und Sängerin. Trotzdem die weiblichen
Personen weniger nach ungelernter Arbeit suchen, ist der Erwerbsgrund bei
den Mädchen noch stärker maßgebend als bei den männlichen Jugendlichen.
Geld verdienen wird unter den 23 Fällen als Motiv 7 mal angegeben, außerdem
aber 9 mal Vorliebe, 2 mal weil man es später brauchen kann (nämlich die
Haushaltsführung), 2 mal weil kein Beruf erlernt ist, 2 mal weil die erste
Stelle besetzt ist oder keine Aussicht auf eine'neue Stelle besteht, lmal
fehlt die Angabe des Grundes.
War schon die erste Berufswahl stark beeinflußt durch die ungünstigen
Verhältnisse der Kriegszeit, so ist die Wahl des neuen Berufes noch mehr
abhängig vom Erwerbsinteresse. Trotzdem ist jedoch von einer nicht geringen
Zahl von Personen ein gelernter Beruf gewünscht worden, teils der bereits
erlernte, teils ein neuer, und es ist hier von besonderem Interesse festzustellen,
welche Motive im einzelnen für die Berufswahl maßgebend waren, soweit
eben nicht diese neue Wahl aus Resignation geschah. Besonders ist nachzu¬
forschen, inwieweit die neue Berufswahl abhängig ist von dem bereits ge¬
lernten Beruf oder andrerseits vom Kinderwunsch.
Der bereits innegebabte Beruf wird unter den 42 männlichen Jugendlichen
20 mal wieder als neuer Beruf gewünscht, und zwar handelt es sich hierbei
teils um gelernte Berufe (3 Mechaniker, 3 Schlosser, 1 Heizer, Maurer,
Installateur, Fuhrmann, Buchbinder, Dreher, Setzer, Maschinentechniker), teils
um Tagelöhnerarbeit (6 Fälle). Als Grund für die Wiederwahl wird angegeben
8mal Vorliebe oder Lust, 5mal Verdienst, 2mal weil eingearbeitet, lmal des
weiteren Fortkommens wegen und 2mal weil kein Beruf erlernt ist; 2mal
fehlt die Angabe eines Grundes.
7*
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100
Annelies Arge]ander
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Auch von den weiblichen Personen wählt eine Anzahl, nämlich 10, den
früheren Beruf wieder, darunter sind aber 6 Fälle ungelernter Arbeit Von
diesen wird als Grund für die Wahl der Verdienst angegeben, während die
übrigen 4 Personen teils Vorliebe für diesen Beruf angeben, teils die Tatsache,
daß kein anderer Beruf erlernt sei.
Neben diesem Entschluß, den bereits erlernten Beruf wieder zu ergreifen,
besteht noch ein zweiter Weg, nämlich das Streben, den Kindheitswunsch, von
dem wir sahen, daß er der ungünstigen Kriegsverhältnisse wegen oft nicht
verwirklicht werden konnte, nunmehr durchzuführen. Bei der männlichen
Gruppe kommt dieser Fall verhältnismäßig selten vor, nur 3 mal, und zwar
handelt es sich um die Berufe Schlosser, Maschinenschlosser und Elektro¬
techniker. öfters (6 mal) wird bei der Gruppe der weiblichen Arbeitslosen
der Kindheitswunsch (Verkäuferin, Stickerin, Näherin, Büro) wieder aktuell,
was wohl damit zusammenhängt, daß ein größerer Teil der weiblichen Jugend¬
lichen ungelernte Arbeit tun mußte. Als Grund für die Wiederaufnahme
des Kinderwunsches wird vor allem angegeben: Lieblingswunsch oder Vorliebe
(7 mal), ferner „um etwas zu können“ und „um Geld zu verdienen“; also zum
überwiegenden Teil Neigung zu einem bestimmten Beruf.
Die übrigen Berufswünsche beziehen sich auf neue Berufe, die weder mit
dem Kindheitswunsch noch mit dem erlernten Beruf identisch sind. Welche
Motive für die Entscheidung maßgebend waren, wird zum Teil im nächsten
Abschnitt ersichtlich, wenn wir den neuen Beruf mit dem Berufsideal
vergleichen.
6. Das Berufsideal. Wie schon in der Einleitung gesagt wurde, lautete
die Frage nach dem Berufsideal: Welchen Beruf würden sie bei freier Wahl
ergreifen?, und diese Fragestellung hat vielleicht in den jugendlichen Arbeits¬
losen nicht genügend die Voraussetzung wirtschaftlicher Unabhängigkeit bei
der Wahl des Idealberufs hervorgerufen. So nur läßt es sich erklären, daß
von Berufsidealen, die über das soziale Milieu hinausreichen, nur sehr selten
die Rede ist
Wenn man abBieht von ‘ dem etwas kindischen Wunsch, „Millionär“ zu
werden, so lassen eine stärkere Phantasie in ihrem Berufsideal nur 5 Fälle
der männlichen Gruppe durchblicken, die Jugendlichen nämlich, die Matrose,
Volkswehrmann, Opernsänger, Photograph und Maler werden wollen. Ob unter
Maler wirklich Kunstmaler, oder nicht etwa der leichter realisierbare Beruf
des Dekorationsmalers gemeint ist, läßt sich aus dem Fragebogen nicht er¬
sehen. Unter den übrigen 37 Jugendlichen fungiert als Berufsideal 6 mal
Schlosser, 4 mal Elektromonteur, 3 mal Mechaniker, 2 mal Tagelöhner und je
1 mal „weitere Ausbildung“, Kaufmann, Bäcker, Metzger, Schuhmacher, Fuhr¬
mann, Installateur, Maschinenschlosser, Maschinensetzer, Techniker, Dreher,
Isolierer, Maurer, Bahnarbeiter, Heizer, Straßenkehrer, Hafenarbeiter, außerdem
fehlt 3 mal die Angabe des Ideals. Die technischen Berufe sind, wie man
sieht, auch unter den Berufsidealen stark vertreten, andrerseits treten aber
auch eine Reihe ungelernter Berufe auf, Fälle, von denen man nicht sagen
kann, ob es sich vielleicht um Jugendliche handelt, denen die wechselnde
Beschäftigung des Tagelöhners wirklich Ideal ist, oder ob die Frage nicht
richtig aufgefaßt wurde. Daß letzterer Fall vorgekommen ist, geht aus den
Gründen hervor, die von den Jugendlichen für die Wahl dieses Ideals an¬
gegeben wurden, denn es kommt darunter 2 mal die Antwort vor „weil kein
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I
Ober Motive der Berufswahl und des Berufswechsels
101
anderer Beruf erlernt“ und 2 mal „weil eingearbeitet“. Unter den sonstigen
Motiven nimmt „Vorliebe“ den breitesten Raum ein (25 FSlle), „hoher Ver¬
dienst“ Wird nur 2 mal angegeben, daneben finden sich noch Antworten, die
zum Teil auch als Vorliebe zu betrachten sind, nämlich 2 mal „Talent“, lmal
„um die Welt zu sehen“ (der Matrose), „große Zukunft“, „leichte Arbeit»,
„keine Sorge“ (Millionär) und 5 mal fehlt die Angabe.
Unter den weiblichen Jugendlichen wird als Ideal 6 mal der Beruf der
Näherin genannt, 3 mal Verkäuferin, 2 mal Büro, 3 mal Arbeiterin und je
lmal Druckerei, Sängerin, Stickerin, Haushalt, Friseuse, Magazinbeamtin,
Theater und Krankenpflege. Nur die beiden letzten Fälle lassen sich als
Idealberufe im engeren Sinn ansprechen, der des jungen Mädchens, das zum
Theater will, und ebenso des andern, das sich der Krankenpflege widmen will,
da in diesem Fall die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse den Wunsch
ziemlich undurchführbar erscheinen lassen. Der Fall der Sängerin gehört
dagegen nicht dazu, da es sich um die Tochter einer Artistenfamilie handelt
und das Mädchen bereits als Sängerin auf Jahrmärkten usw. aufgetreten ist.
Unter den Motiven Bteht auch bei der weiblichen Gruppe Vorliebe mit 13
Fällen an erster Stelle, etwa in gleichem Verhältnis wie bei der männlichen
Gruppe. Auch hier wird in zwei Fällen als Grund angegeben, daß die be¬
treffende Person an den Beruf „gewöhnt“ sei, was auf falsche Auffassung
der Frage schließen läßt Das Verdienstmotiv kommt 3 mal vor, davon 2 mal
mit der Begründung, „um die Eltern zu unterstützen“. Außerdem wird noch
als Grund angegeben: lmal „bestes Geschick“, lmal „um am besten durchs
Leben zu kommen“, lmal „das braucht man“ (das Haushaltführen) und
lmal weil eine Schwester im selben Beruf tätig ist.
7. Zur Psychologie der Berufswahl. In welcher Beziehung der Ideal¬
beruf zu Kindheitswunsch, erstem Beruf und neuem Beruf steht und in
welcher Weise im Verlauf der einzelnen Berufsschicksale sich typische Bilder
erkennen lassen, wird am besten aus der folgenden Gruppierung der Fälle
hervorgehen.
Wir können nämlich in der Mannigfaltigkeit der 65 einzelnen Fälle nach
den Beziehungen zwischen Kindheitswunsch, erstem Beruf, neuem Beruf und
Berufsideal und nach den Motiven, die vor allem für die neue Wahl auftreten,
3 größere Gruppen unterscheiden. Die eine dieser Gruppen scheint in ihrer Wahl
vor allem durch die Neigung zu einem bestimmten Berufsideal bestimmt
za werden und versucht mehr oder weniger hartnäckig, wenn es das erste
Mal fehlgeschlagen ist, diesen Beruf nunmehr zu ergreifen. Die zweite Gruppe
wird zu dieser neuen Wahl nicht aus ursprünglicher Neigung zu einer
speziellen Tätigkeit bestimmt — diese hatte vielmehr einem anderen Beruf
gegolten —, sondern sie hat sich an den ihr vielleicht aufgezwungenen Beruf
gewöhnt, so sehr sogar, daß er nunmehr an die Stelle des früheren kind¬
lichen Berufsideals getreten ist Die dritte Gruppe wird in ihrer Wahl weder
von einem bestimmten Ideal, noch von der Gewöhnung an den innegehabten
Beruf geleitet, bei ihr sind ausschlaggebend wirtschaftliche Interessen,
wobei der Beruf nur Mittel zum Zweck ist.
In die erste Hauptgruppe, die durch eine bestimmte Neigung in ihrer Berufs¬
wahl geleitet wird, gehören 30 Fälle (18 männliche und 12 weibliche Personen).
Die 30 Fälle lassen sich wieder nach gemeinsamen engeren Merkmalen in
ihrer Berufsbahn zu kleineren Untergruppen zusammenfassen. Zuerst eine
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102
Annelies Argeiander
solche von 10 Personen (7 männliche und 3 weibliche), die darin überein-
• stimmen, daß sie den Beruf, den sie sich als Kind gewünscht haben, auch
tatsächlich ergreifen konnten. Als Grund für diese erste Berufswahl wurde
in 7 Fällen Vorliebe angegeben, in 2 Fällen Eignung oder Talent und in
f Fall der Wunsch, Geld zu verdienen. Die Berufe sind nicht so bescheiden
gewählt, daß sie unter allen Umständen erreicht werden mußten: es sind
2 Mechaniker, 1 Schlosser, 1 Installateur, 1 Maurer, 1 Schiffer und 1 Fuhr¬
mann. Die Erfüllung des Berufswunsches scheint auch nicht durch besonders
günstige materielle Verhältnisse der Familie erleichtert gewesen zu sein, denn
die soziale Stellung der Väter ist zwar bei der einen Hälfte etwas gehoben
(Wagemeister an der Bahn, Metzger, Messerschmied, Meister(?), Straßenbahn¬
schaffner), bei der anderen Hälfte aber, wie anzunehmen ist, unter dem
Durchschnittsniveau (Artist, Schiffsheizer, 2 Tagelöhner, 1 Invalide). Auch
sind die Personen dieser Gruppe nicht etwa einzige Kinder; die Geschwister¬
zahl beträgt in 1 Fall 1, 1 mal 2, 2 mal 3, 2 mal 4, lmal 7, lmal 8, lmal 9,
lmal fehlt die Angabe. Man darf deshalb vielleicht annehmen, daß ein
starker Wunsch, gerade diesen Beruf zu erlernen, rege gewesen ist und dahin
gewirkt hat, das Ziel zu erreichen. Alle diese Personen wollen nun auch
nach der Arbeitslosigkeit den früheren Beruf wieder ergreifen: in 6 Fällen,
weil sie Lust daran haben, 2mal wegen des Verdienstes und lmal wegen
der Vorteile, die der Beruf ihnen bietet. Einmal fehlt die Angabe eines
Grundes, doch war bei der ersten Wahl dieses Berufes Vorliebe angegeben
worden, so daß man bei der Neuwahl wohl dasselbe Motiv annehmen darf.
Schließlich ist bei allen 10 Personen der gelernte und wiedergewünschte Beruf
auch das Berufsideal, — wobei das Ideal mit all den Vorbehalten zu ver¬
stehen ist, die wir in der Einleitung gemacht haben —, so daß bei diesen
Fällen Kindheitswunsch, erster Beruf, neuer Beruf und Idealberuf identisch
sind. Den Personen dieser Gruppe haben sich also anscheinend bei ihrer
Berufswahl keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg gestellt, wobei
vielleicht die starke Neigung zu dieser Berufsarbeit dazu beigetragen hat,
etwaige Schwierigkeiten zu überwinden. Auch während der beruflichen Arbeit
sind sie sich in der Wertschätzung ihres Berufes gleichgeblieben.
Nicht so glücklich in ihrer Berufswahl waren die 9 Fälle, die die nächste
Untergruppe bilden. Auch hier lagen ganz bestimmte Berufswünsche in
der Kindheit bereits vor (Elektr. Fach, Maschinenschlosser, Schlosser, 2 mal
Verkäuferin, 2 mal Näherin, Stickerin, Büro); die Jugendlichen waren aber
nicht *in der Lage, ihren Wunsch erfüllt zu sehen, sondern mußten Ersatz¬
berufe (in 6 Fällen imgelernte Arbeit) ergreifen. Bemerkenswert ist, daß sich
unter den 9 Fällen dieser Gruppe 6 weibliche Personen befinden. Die Schuld
an dem Fehlschlagen ihres Wunsches scheinen in der Hauptsache die Kriegs¬
verhältnisse zu tragen, denn als Grund für die Ersatzwahl wird in 5 Fällen
der Zwang zum Verdienen angegeben, 2 mal konnte keine entsprechende
Lehrstelle gefunden werden und 2 mal mußten die Mädchen zu Hause teils
Hausarbeit tun, weil die Mutter auf Arbeit ging, teils dem Vater (Schneider)
helfen. Sämtliche 9 Personen haben sich indessen durch das Fehlschlagen
ihrer Hoffnung nicht entmutigen lassen, sie wollen vielmehr versuchen, nach
der Arbeitslosigkeit den schon in der Kindheit gewünschten Beruf zu er¬
greifen, wobei in 6 Fällen als Grund Vorliebe angegeben wird, 1 mal um
etwas zu können, 1 mal um Geld zu verdienen und 1 mal weil die erste
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Ober Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 103
Stelle besetzt ist, was wohl nur erklären soll, warum der ungelernte Beruf
(Kleberin) nicht wieder ergriffen wird. In 6 von diesen 7 Fällen (1 Fall gibt
kein Ideal an) ist wiederum der in der Kindheit gewünschte und jetzt wieder
gesuchte Beruf Ideal geblieben, begründet in der Hauptsache mit Vorliebe.
Der Drang nach Verwirklichung des bereits in der Kindheit erstrebten Be*
rufes ist also bei allen Personen dieser Gruppe so stark, daß sie sich durch
den Zwang zu ungelernter oder wenigstens nicht gewünschter Arbeit nicht
haben entmutigen lassen.
Schließlich gehören zu dieser unter dem Gesichtspunkt der Neigung zu
einem bestimmten Beruf zusammengefaßten Gruppe noch weitere 11 Fälle, die
sich aber von den beiden vorigen Untergruppen wesentlich dadurch unter¬
scheiden, daß der neue Beruf nicht mit dem ersten Beruf oder dem Kindheits¬
wunsch übereinstimmt. Bei ihnen hat sich eine bestimmte Neigung anscheinend
erst während der beruflichen Arbeit entwickelt und zwar bei 4 Fällen trotz¬
dem die erste Berufswahl dem KindheitBwunsch entsprach. Bei den anderen
7 Fällen war der Kindheitswunsch nicht in Erfüllung gegangen; diese Per¬
sonen mußten mit 2 Ausnahmen ungelernte Arbeit tun. Gemeinsam ist allen
11 Fällen jedoch, daß der neuerstrebte Beruf (mit 2 Ausnahmen sind es ge¬
lernte Berufe) auch als Berufsideal angegeben wird. Die Gründe, die für
diese Wahl angegeben werden, sind in 8 Fällen Lust, Vorliebe oder Interesse,
in den 3 anderen Fällen des späteren Fortkommens wegen, weil man es
später brauchen kann (Haushalt) und um Geld zu verdienen.
Neben dieser ersten Hauptgruppe, die die Fälle umschließt, die mehr oder
weniger hartnäckig bei ihrer Berufswahl sich von einem Berufsideal leiten
lassen, finden wir eine zweite Hauptgruppe von 18 Fällen, deren Gemeinsam¬
keit darin hegt, daß die Gewöhnung an den ersten Beruf, auch wenn dieser
dem eigenen Wunsch nicht entsprach, maßgebend war für die Wiederwahl
and sogar teilweise den ergriffenen Beruf zum Berufsideal machte. Letzteres
ist der Fall bei den 9 Jugendlichen, bei denen der erste Beruf, der ohne
Ausnahme ergriffen wurde aus Not oder um Geld zu verdienen oder weil
keine Stelle in dem gewünschten Beruf zu bekommen war, zum Berufsideal
wird. Zuxn Teil sind diese Ersatzberufe gelernte Berufe (Buchbinder, Dreher,
Maschinensetzer), zum größeren Teil ungelernte Arbeit (1 Fall in der männ¬
lichen Gruppe und sämtliche 5 weiblichen Personen). Ein Grund für die
Wiederwahl des früheren Berufes wird in 3 Fällen nicht angegeben; von den
übrigen 6 Personen geben 2 Fabrikarbeiterinnen an, daß sie eben keinen Be¬
ruf erlernt hätten, 1 Jugendlicher, daß er eingearbeitet sei, 1 wegen des Ver¬
dienstes, 1 wegen des weiteren Fortkommens und 1 Mädchen, weil ihr der
Beruf (Magazinbeamtin) gefalle. Bei der Begründung des Berufsideals läßt
sich vermuten, daß hier eben die Frage nach dem Ideal nicht ganz richtig
aufgefaßt worden sei, da Lust oder Interesse an dem Beruf nur 3 mal an¬
gegeben wird und zwar von einem Dreher, einer Magazinbeamtin und einer
Fabrikarbeiterin. Dagegen findet sich 2 mal als Antwort „daran gewöhnt",
1 mal „zu spät, um einen Beruf zu erlernen" (von einem Taglöhner), 1 mal
„zufrieden" und 1 mal „wegen des hohen Verdienstes".
Hat sich bei den oben beschriebenen 9 Personen die Anpassung an den
Beruf so weitgehend vollzogen, daß der aufgezwungene Beruf sogar als Ideal
fungiert, so geschieht bei den folgenden 9 Jugendlichen die Wiederwahl des
ersten Berufes, der nicht dem Kindheitswunsch entsprach, mehr unter Be-
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104
Annelies Argeiander, Über Motive der Berufswahl and des Berufswechsels
rück8ichtigung der wirtschaftlichen Lage. Denn das Motiv, für die Wieder¬
wahl ist überwiegend der Verdienst. Als Ideal wird zum Teil (4 Fälle) der
Kindheitswunsch angegeben (2 mal Schlosser, 1 mal Techniker, 1 mal Kranken¬
pflegerin), zum Teil (5 Fälle) ist es diese Gruppe, in der sich die einzigen
hochfligenden Ideale finden, nämlich Matrose, Volkswehr, Opernsänger,
Theater, Näherin.
Charakteristisch für diese zweite anpassungsfähige Hauptgruppe ist es also,
daß die zu ihr gehörigen Jugendlichen sämtlich an ihrem zuerst ergriffenen
Beruf festhalten, trotzdem sie ihn ursprünglich nicht gewünscht hatten. Eine
andere Wirkung hatten wohl die ungünstigen Wirtschafts- und Arbeitsver¬
hältnisse bei der dritten Hauptgruppe. Hier finden wir statt der vernünftigen
Überlegung, die den Berufswunsch zurücktreten läßt hinter der Notwendigkeit
des Verdienens, ohne ihn jedoch aufzugeben, eine mehr oder weniger starke
Gleichgültigkeit gegenüber dem ferneren Berufsschicksal. Die ersten drei
Jugendlichen dieser Gruppe vermochten zwar ihren Kindheitswunsch (Schlosser,
Kaufmann, Büro) zu verwirklichen und haben ihn auch als Idealberuf bei¬
behalten, einen Plan für den neu anzutretenden Beruf haben sie aber an¬
scheinend nicht gefaßt, denn sie geben keinen Wunsch an, sondern wollen
„keinen“ oder „jeden* Beruf ergreifen, teilweise ohne Angabe des Grundes,
oder wegen des Verdienstes, oder weil keine Aussicht auf eine Stelle in dem
früheren Beruf ist. Bei den übrigen 9 Personen geht die Gleichgültigkeit
noch viel weiter, allerdings mußten diese zum überwiegenden Teil ungelernte
Arbeit tun, anstatt daß sie den gewünschten Beruf eigreifen durften. Auf
die Frage nach dem jetzt erstrebten Beruf lauten die Antworten „ich weiß’
nicht*, „egal*, „was ich bekomme* und ähnlich. In 5 Fällen wird sogar
nicht einmal ein Berufsideal angegeben, während die 4 anderen Personen als
Ideal Isolierer, Photograph, Schuhmacher und Maler nennen.
Schließlich bleiben noch 5 Fälle übrig, die sich in keine dieser 3 Gruppen
einordnen lassen, weil als Kindheitswunsch, erster Beruf, neuer Beruf und
Berufsideal stets andere Berufe genannt werden. Ein Beispiel davon ist etwa
Kindheitswunsch: Lehrer, erster Beruf: Modellschlosser, neuer Beruf: Tag¬
löhner, Berufsideal: Elektromonteur. Oder ein anderes aus der weiblichen
Gruppe: Kindheitswunsch: Kinderfräulein, erster Beruf: Einlegerin (in einer
Wäschefabrik), neuer Beruf: Nähen, Berufsideal: Verkäuferin. Es ist nicht
zu durchblicken, welche Faktoren bei der Berufswahl und dem Berufsschicksal
dieser 5 Jugendlichen tätig waren.
So hätten wir also 3 Gruppen mit wesentlich verschiedener Einstellung bei
der Wahl des neuen Berufes kennen gelernt: diejenigen Jugendlichen, die
aus Neigung zu einer bestimmten Tätigkeit bei der Neuwahl an ihrem Berufs¬
ideal festhalten und es zu verwirklichen suchen (30 Fälle = 46,2 °/o), die¬
jenigen Personen, die sich an den ungern ergriffenen Beruf gewöhnt haben
(18Fälle = 27,7°/o) und schließlich diejenigen Jugendlichen (12Fälle — 18,ö°/o),
bei deren Wahl des neuen Berufes sich eine starke Anpassung an die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse zeigt, die so weit gehen kann, daß vollständige
Gleichgültigkeit gegenüber dem ferneren Berufsschicksal Platz gegriffen hat
Die Feststellung der verschiedenen Typen und die Beschreibung ihrer Berufs¬
bahn, soweit sie vor uns liegt, möge ein kleiner Beitrag sein zu der Frage
der Einwirkung des Krieges auf das Berufsschicksal der Jugend sowie zu
der weiteren Frage nach dem Wert, den man dem von den jungen Menschen
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Josef Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahl Vorstellungen im Kinde 105
selbst geäußerten Wunsch bei der Berufswahl beilegen darf. Wenn auch
eine ganze Anzahl von Jugendlichen ihre Berufswünsche und Ideale gewechselt
hat, so ist doch in 46°/o der Fälle anscheinend wirkliche Neigung für die
Wahl maßgebend gewesen und nur in 28°/o der Fälle hat sich so viel Freude
an der beruflichen Arbeit entwickelt, daß dieser gegen den Willen angenommene
Beruf zum Berufsideal wurde.
Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen
im Kinde.
Von Josef Filbig.
In seiner Arbeit „Psychologische Vorfragen des ersten Rechenunterrichjp“ l )
gibt Deuchler Mittel und Wege an, die einen Einblick gestatten sollen in
den Grad der Entwicklung der Vorstellung über Zahlen und Zahlenoperationen.
Der Zweck seiner Aufgabenreihe ist also, jenen entwicklungsgeschichtlichen
Querschnitt zu schaffen, der uns gestattet, Normalleistungen des Kindes für die
einzelnen Entwicklungsjahre festzustellen — eine Forderung, wie sie Meumann
stellt Nach unseren Untersuchungen wird diese Aufgabe gelöst Bei der
Behandlung der einzelnen Aufgabenserien werden wir darauf hinweisen.
Der Betrachtung der speziellen Frage schickt Deuchler einen Versuch voraus,
die Probleme einer Psychologie des mathematischen Denkens beim Kinde und
beim Schüler zu skizzieren. „Von drei Gesichtspunkten her läßt sich dieser
umfassenden Frage nahekommen: von dem rein phänomenologischen, vom
fibungspsychologischen und lernökonomischen und vom begabungstheo-
retischen. Wir müssen zunächst jede Entwicklungsstufe des mathematischen
Denkens charakterisieren und zwar dadurch, daß wir alle die vorstellenden,
sprachlichen und darstellenden Symptome von Zahl« und Raumbegriffen, von
i Operationen und Konstruktionen, die beim Kind auf jeder Stufe spontan oder
| reaktiv zu erreichen sind, in Erfahrung bringen, und daß wir in die Natur der
i psychischen Prozesse beim Kind, wenn es diese Leistungen ausführt, ein-
i dringen... Die zweite Aufgabe geht auf die Feststellung des erreichten und des
aus allgemeinen Überlegungen der Ökonomie der psychischen Kräfte heraus zu
normierenden Übungsgrades der einzelnen Leistung auf jeder Entwicklungs¬
stufe aus ... Die dritte Aufgabe betrachtet die so oder in ähnlicher Weise
zu erhaltenden Resultate unter dem Gesichtspunkt der Begabung und der
Begabungsverschiedenheiten; sie stellt also die Beziehungen der Leistung zum
einzelnen Individuum her. Unsere Betrachtungen stellen sich im wesentlichen
in den Dienst des ersten Problems und beschränken sich hinsichtlich der
mathematischen Gegenstände auf das Gebiet der elementaren Zahlen- und
Operationenlehre.*
Es hat nun wenig Sinn, -nach den Elementen des Zahlbegriffs zu suchen
mit der Aussicht, dadurch das didaktische Problem des ersten Rechenunter¬
richts gelöst zu haben. Wenn wir aber bestimmen wollen, bis zu welchem
Grade sich das Vorstellen oder Denken eines mathematischen Gebildes oder
‘) Zeitechr. t. PSdag. Psychologie. Bd. XIII (1912), S. 36».
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Jose! Fi 1 big
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Begriffes entwickelt hat, so müssen wir notwendigerweise den Begriff oder
das Gebilde selbst in seiner idealen oder vorbildlichen Gestalt kennen; außer¬
dem müssen wir alle für das Erfassen oder das Erzeugen notwendigen all¬
gemeinen Bewußtseinsfaktoren zu bestimmen suchen.
Deuchler geht also von einer logischen Analyse des Zahlbegriffs aus.
Nicht des Zahlbegriffs in seiner allgemeinsten Form, sondern der Zahl¬
begriffe, wie sie in den natürlichen Zahlen — 1, 2, 3 usw. gegeben sind.
Die Zahlenreihe unter diesem Gesichtspunkte betrachtet gibt ihm die Möglich¬
keit, die einzelnen Merkmale in eine Stufenfolge zu bringen, „so daß das
Folgende das Vorangehende im allgemeinen voraussetzt.“ Solcher Merkmale
unterscheidet Deuchler fünf:
1. die Reihenform selbst;
2. die Ordnungsbedeutung;
3. die Zusammenfassung mehrerer Glieder;
£ 4. die gegenseitige Beziehung des „größer oder kleiner“ zweier
Zahlen;
5. als abschließend charakterisierendes Merkmal den richtigen
Begriff des Zählens.
Die Untersuchungsreihe entspricht den Merkmalsbezeichnungen.
Ich habe die Versuchsreihe durchprobiert mit der Einschränkung, daß
meine Frage nur dem Grad der Entwicklung galt
Der Kindergarten „Marienheim Amberg“ war im Wintersemester 1920/21
von etwa 100 Kindern, Knaben und Mädchen, besucht, die teils einfachen
Arbeiterfamilien, teils gut situierten, wohlhabenden Bürgersleuten entstammten.
Der Kindergarten beschäftigte die Kleinen bescheiden in Fröbels Sinn. Ein
eigentlicher Unterricht wurde nicht erteilt Die Kinder lernten nur die tfig-
lichen Gebete, für Weihnachten einige Bühnenspiele, zum Familienfest wohl
auch ein Gratulationsgedicht
An Beschäftigungsspielen wurde bei den Mädchen hauptsächlich das
Perlenaufziehen betrieben: Mehrfarbige Perlen werden nach ganz be¬
stimmter Anordnung auf einen Faden gezogen, eine goldene, eine silberne,
dann wieder eine goldene Perle usw. in stetem Wechsel Andere Variationen
wurden auch geübt, zwei goldene, eine silberne usw. Diese Arbeit be¬
schäftigte auch die Kleinsten, die dreijährigen. Die älteren Kinder lernten
hierbei unzweifelhaft zu den bereits gewonnenen Zahlvorstellungen hinzu
und umgekehrt kam ihnen ihr Wissen an Zahlengrößen dabei zu statten.
Die Kleinen machten wohl noch manchen „Fehler“; doch kam das Spielen
der Zahlentwicklung entgegen.
Mit quadratisch geformten Papierblättchen machten die Mädchen außerdem
Faltarbeiten. Je nach der Art und der Zahl der Faltung entstand aus
demselben Blatt bald ein Kreuz, eine Hose, ein Stern, ein Wagen usw.
Diese Aufgaben schienen mir äußerst kompliziert. Sie verlangten von den
Mädchen außerordentlich viel Gedächtnisarbeit, ziemlich konzentrierte Auf¬
merksamkeit, motorische Übung und letzten Endes auch noch ein beschei¬
denes Maß von Verständnis für die kleinsten Zahlen. Die Blättchen sind
vielseitig zu verwerten, so daß auch hier die Kleinsten Beschäftigung fanden.
Die Knaben betrieben Papierflechten, allerdings in der einfachsten Art:
einmal wurde stets ein, ein andermal wurden stets zwei Streifen aufgehoben.
Die Streifchen wurden dann verklebt, die Flechtarbeiten zu Körbchen, Pan-
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Untersuchungen über die Entwicklung der Za hl vors teil ungen im Kinde
107
töffelchen usw. verwertet. Rechen- und Raumlehrunterricht verdanken u. a.
diesen Kindergartenübungen sehr viel.
Auf der Straße spielten Knaben und Mädchen das sogenannte Himmel-
und Höllspiel: die Spieler hatten fünf Rechtecke, davon vier in der Längs¬
ausdehnung, das fünfte an der Breitseite angesetzt, mit geschlossenen, oft
auch verbundenen Augen, auf einem Bein hüpfend, zu durchschreiten, ohne
die Begrenzungslinien zu berühren. Ältere Kinder numerierten wohl die
einzelnen Felder; ich sah es aber auch Kinder spielen, die die Schreibweise
der Ziffern noch nicht beherrschten. Bei den Kleinsten haben wir es hier wie
bei vielen anderen Spielen unzweifelhaft mit einem anschaulichen Zählen lange
vor Erwerb von deutlichen Zahlvorstellungen, schließlich von Zahlnamen zu tun.
Es sollen noch die Kinderverschen folgen, die den Kleinen die Zahl¬
namen in bestimmter Reihenfolge übermitteln konnten. Dabei soll eine Tat¬
sache vorweggenommen werden, die ein helles Licht auf den Mechanismus
der ersten Assoziation wirft. Ich wußte von manchen Kindern gewiß, daß
sie im Versehen die Zahlnamen bis 10 und noch weiter kannten. Bei der
Aufforderung zum Zählen war es ihnen unmöglich, die Zahlnamen aus dem
festgefügten Verband der Verschen-Wortreihe zu lösen und isoliert darzu¬
bieten. Ähnliches berichten C. und W. Stern in dem Werke „Die Kinder¬
sprache“, Leipzig, J. A. Barth, S. 248: „Das Nachplappem der niederen
Zahlen lernt das Kind ebenso mechanisch wie so manche unverstandene
Versehen . . . Erst spät verbindet sich mit ihnen wirklicher Zahlensinn.“
In obigen Fällen wurde den Kindern nicht einmal bewußt, Zahlnamen mit
eingelernt zu haben; um so weniger konnten sie ein Verständnis für die
Zahlbedeutung besitzen.
An solchen Versehen singen oder lernen die Kinder: 1,2, Polizei — 3,4,
Offizier — 5,6, alte Hex — 7,8, gute Nacht — 9,10, Wiedersehn — 11,12,
komm’n die Wölf* usw. — Aufzählreime, auch von den 3jährigen benützt:
„1, 2, 3, die Mutter kocht ’nen Brei, die Mutter schneidet Speck und du
mußt weg.“ Oder: „1, 2, 3 und du wirst frei.“ Die Zahl ähnlicher Spiele
ist sicherlich eine vielmal größere und schließlich wäre ihre systematische
Durchforschung auf die Momente hin, die für die Ausbildung der Zahlbegriffe
und der Operationen wertvoll sind und diesen Einfluß auch tatsächlich aus-
fiben, von Bedeutung. Doch kam es hier vor allem darauf an, gleichsam die
Umgebung zu kennzeichnen, in welcher die untersuchten Kinder einen großen
Teil des vorschulpflichtigen Alters verbringen. Dabei sind wir uns klar, daß
andere Einflüsse — immer in Hinblick auf unsere Frage nach Entwicklung
der Zahlvorstellungen gesprochen — ebenfalls von einschneidender Bedeutung
sind: Familienerziehung, Beispiel älterer Geschwister, wirkliche Beeinflussung
bis zum direkten Unterricht, Betätigung im Sinne häuslicher Hilfe — Dinge,
deren Kenntnis und restlose Erforschung sich zunächst jeder Möglichkeit
entzieht.
Der Reihenprozeß >).
Zahl der untersuchten Kinder: 51 Knaben und 51 Mädchen.
Zeit der Untersuchung: Nachmittagsstunden der Monate Januar/Mai 1921.
') Hillen: Herr Seminarassistent Schön-Amberg, dem ich hier herzlichen Dank sagen
■flöchte, und die Schwestern des Kindergartens, die mir äußerst liebenswürdig entgegenkamen,
Haum und Zeit zur Verfügung stellten und mit Interesse den Verlauf der Untersuchungen ver¬
folgten; auch ihnen hin ich zu Dank verpflichtet.
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Jose! Filbig
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Der Versuch (Einzelversuch) zerfällt in zwei Teile:
1. Durchführung des Reihenprozesses an sinnlichen Inhalten;
2. Kontrolle des Reihenprozesses an reproduzierten Inhalten — Zahl¬
wörtern.
Zu 1. Benutzt wurden Bauklötzchen und Bonbons. Letztere wurden den
Kindern als Belohnung in Aussicht gestellt Auf diese Weise sollte geprüft
werden, welchen Einfluß besonders gefühlsbetonte Inhalte auf die Leistungen
der Kinder ausüben. Beide Arten von Dingen würden zunächst in Reihen-
form geboten, d ann in Gruppenstellung und zwar
a) in Form der Bomschen Zahlbilder;
b) „ „ „ Layschen Quadratfiguren.
Die Handlungen der Kinder wurden durch die Frage: „Welches Klötzchen
kommt zuerst?" angeregt und dann durch die weitere Frage: „Welches dann?“
fortgeleitet
Die Kontrolle wurde in der Weise durchgeführt, daß plötzlich außer der
Reihe gefragt wurde: „Welches Klötzchen (welcher Zuckerstein) kommt nach
diesem?" (Prüfung bei mehr passivem Verhalten der Kinder 1 ).)
Zu 2. Im zweiten Teil des Versuchs wurden die Kinder durch die Auf¬
forderung: „Zähle einmal!" zur Reaktion veranlaßt Unter Umständen wurde
die Leistung erleichtert durch die Frage: „Was kommt nach eins? ÜDd
dann?" Zur Bewertung der Leistung wurde die Anzahl der gebrachten Zahl¬
wörter registriert ohne Rücksicht auf die Richtigkeit der Folge, jedoch unter
Ausschluß der „rückläufigen Assoziationen". Als besonderes Kennzeichen
wurde auch die Länge der folgerichtig gebrachten Zahlreihe gebucht (Prüfung
bei mehr aktiver Betätigung seitens der Kinder.)
Den Ergebnissen entnehmen wir folgendes:
1. 1. Bei einem gewissen Alter erscheint der Reihenprozeß als erledigt 2 ).
Als Zeitpunkt kann bei Knaben der 65. Monat, bei Mädchen bereits der
60. Monat angesehen werden.
2. Im jüngeren Alter (45. Monat) sind die Knaben den Mädchen Überlegen;
bis zum 55. Monat etwa ist der Vorsprung ausgeglichen; die Mädchen eilen
voran.
3. Die Sicherheit der Leistung zeigt sich in der Bestimmtheit der Handlung,
der Schnelligkeit des Ablaufs und in der Bewältigung auch der größten Reibe.
') Alice Descoeudres unterscheidet in ihrem Werk „Le Ddveloppement de l’enfant de
deuz ä sept ans, fiditions Delachsux et Niestld, Neuchätel et Paris“, das mir nur durch das
Referat W. Sterns in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Band 20, Heft 8/4, S. 226, 1622 )
und erst nach Fertigstellung der Arbeit bekannt wurde, zwei Hauptgruppen von Untersuchungen-
sprachliche Tests und stumme Tests. „Schon diese Trennung ist wichtig: denn die sprachlichen
Tests sind nunmehr ausdrücklich auf die Untersuchungen der Sprachfähigkeit beschränkt, wäh¬
rend die stummen Tests an diejenigen geistigen Leistungen heranzukommen suchen, die ohne
Beteiligung der Sprache überhaupt oder unter bloßer Zuhilfenahme des Sprachverständnisses
Zustandekommen“ (Stem). Im allgemeinen ist auch in der Deucblerschen Untersuchungsreibe
diese Zweiteilung vorgesehen. Wo dagegen bei der Unabhängigkeit der Gestalt- (Gruppen-) und
der Zablauffassung Zweifel am Zahlenverständnis aulkommen konnten, mußte an der sprach¬
lichen Fixierung des Ergebnisses festgehalten werden (siehe Addition, Subtraktion usw.l. t
*) Stern, Kindersprache, S. 248: „Die Reihungen sind primitiver als das wirkliche Zählen
und „Die ersten wirklichen Vorbereitungen der Zahltitigkeit bewegen sich um 2:0 herum ui
zwei Richtungen . . . Reibung . . . und . . . Mengenaulfassung u .
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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvoratellongen im Kinde
109
Die Unsicherheit und vor allem das totale Unvermögen kennzeichnet sich
dadurch, daß
a) meist wahllos mitten in der Reihe begonnen wird,
b) sehr viele Gegenstände direkt überhüpft werden,
c) die Reihe mehrmals, sinnlos oft durchlaufen wird. Deuten mit dem Finger
ist allen Kindern eine Erleichterung, bloßes Benennen (nach Farbe) ist
mit Hemmungen verbunden, die sehr schwer überwunden werden. Bei
den Kleinsten läuft der Prozeß oft in der Weise ab, daß zum Finger¬
tippen noch die stereotype Form hinzutritt: eins, noch eins, noch eins usw.
4. Ein Unterschied in der Leistung beim Arbeiten mit Holzklötzchen und
mit Bonbons war kaum bemerkbar. Haben die Kinder das Vertrauen zum
Versuchsleiter gewonnen (was unter Umständen sehr schwer ist), so arbeiten
sie gern und interessiert weiter.
n. Der Versuch in der Gruppendarstellung brachte manche interessante
Tatsache.
1. Die meisten Kinder beachteten die Gruppen überhaupt nicht. Meist wurde
die untere Reihe (die dem Kinde am nächsten liegende) ausgewertet, die
zweite Reihe erst nach Zwischenfragen: „Sind keine Zuckersteine mehr da?
Wo? Welcher kommt da zuerst?" erledigt. Bei den Bomschen Zahlbildern ist
diese Tatsache leichter verständlich; bei den Layschen gibt sie zu denken Anlaß.
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110
Josef Filbig
2. Nach Gruppen (bei den Layschen Zahlbildern) wurde dann erst ge¬
arbeitet, als der Abstand der Quadrate mindestens Gruppenbreite betrug.
Dann wurde eben jedes Quadrat als Einheit betrachtet, die aber wiederum
den Konnex mit den anderen Gruppen vermissen ließ 1 ).
3. Bei diesem Versuch prfifte ich die Suggestibilität der Kinder, indem ich
beim Kontrollversuch „Reihende“ den „Gruppierenden“ zuschauen ließ und
umgekehrt. In der Mehrzahl der Fälle war daraufhin die Reaktionsweise
eine andere.
m. Die Feststellung, ob der Reihenprozeß an reproduzierten Inhalten aus¬
gebildet ist, deckt sich in der Hauptsache mit einem Versuch über den Zähl¬
prozeß, weshalb von einer Diskussion des Resultats hier abgesehen wird.
In unserer beigegebenen graphischen Darstellung über den Entwicklungs¬
gang des Reihenprozesses ist die Einteilung nach Lustren willkürlich ge¬
wählt, hauptsächlich deshalb, um für die Abszisse mehr Zwischenwerte zu
bekommen als bei der Einteilung nach Lebensjahren. Um jedoch die Wir¬
kung eines interkurrierenden Faktors abzuschwächen, wurde die Spanne
50.—55. Monat nicht eigens aufgeführt, nachdem sehr wenig Kinder dieses
Alters den Kindergarten besuchten.
Die Ordnungszahl.
Für die Bearbeitung dieses psychogenetischen Problems stellt Deuchler
zwei Gesichtspunkte auf: einmal die Tätigkeit des Ordnens nach einem
qualitativen (oder steigerungsfähigen) Merkmal, sodann das Ordnen lediglich
im Anschluß an die Reihung, also im Sinne des Numerierens. Den Gesichts¬
punkten sollte durch drei Versuchsreihen Rechnung getragen werden.
Deuchler scheint die Schwierigkeiten der Versuchsdurchführung richtig ge¬
würdigt zu haben: „Bei der zweiten Aufgabe ist zu beachten, daß nicht bloß
der Reihenprozeß sich betätigt, sondern auch wirklich das Numerieren, falls
der Prozeß ohne die Ordnungszahlnamen durchgeführt wird; doch sollen
besondere Kennzeichen dafür hier nicht weiter erörtert werden. Es geschieht
dies am besten im Zusammenhang mit der konkreten Darstellung.“
Die praktische Durchführung gliedert sich also in drei Teile:
1. Verschiedenschöne Gegenstände (Bleisoldaten) werden (von den Knaben
allein) dem Grad des Gefallens nach aufgestellt;
2. die Mädchen brachten gleichgroße und gleichschöne Gegenstände (far¬
bige Pappdeckelblättchen) in eine Reihe (sprachlich-passives Verhalten);
3. Knaben und Mädchen wurden an Hand der gegebenen Reihen die Aus¬
drücke: „Der erste, der zweite usw.“ entlockt (sprachlich-aktive Tätig¬
keit).
Zu 1. Ein mit allen Knaben begonnenes Soldatenspiel stellte den Knaben
die Aufgabe, aus ihrer Mitte einen „Hauptmann“ auszusuchen, dann die
stärksten Soldaten auszuwählen zum Kampf gegen eine zweite Abteilung, die
sich ähnlich gruppiert hatte. Durch diese etwas umständliche Einleitung
*) Bühl er, Die geistige Entwicklung des Kindes (Fischer-Jena) bringt auf S. 96 eine schöne
Bestätigung hierfür: Das Kind Decrolys und Degauds hatte die simultane Auffassung der Vierer¬
gruppe bereits gelernt. Daraufhin bängte man je ein Kirschenpaar an beide Ohren des
Mädchens (4; 9) und wollte von der beglückten Besitzerin nun die Gesamtzahl ihrer Kirschen
erfahren, konnte aber keine andere Antwort erhalten, als daß sie hier ein Paar und dort noch
ein Paar habe.
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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
in
wurden die Kinder mitten in eine Situation hineingestellt, die den nachfol¬
genden eigentlichen Versuch unterstützen sollte. Das Vorspiel ging um so
leichter, als die kleinen ja täglich Gelegenheit haben, die Amberger Garnison
ein- und ausmarschieren zu sehen.
Die Reaktionsweise beim Versuch war bei den verschiedenen Altersstufen
verschieden. Die jüngeren Knaben wählten fast ausnahmslos aus den
15 Bleisoldaten (darunter drei Reiter) den einen Reiter mit langem Fahnen¬
schaft als ihren Hauptmann aus; dann folgten die übrigen Reiter, schließlich
das stehende Fußvolk und zuletzt die liegenden Schützen. Auf Farben —
die Soldaten waren verschieden uniformiert — wurde wenig Rücksicht ge¬
nommen. Das Hauptaugenmerk richtete sich auf die Form, in diesem Falle
auf die Größe. Die Aufstellung geschah durchwegs in Reihenform, obwohl
die Kinder an der Wirklichkeit doch stets Gruppen konstatieren mußten.
Eine Beschränkung der Anzahl der Bleifiguren brachte keine wesentliche
Ergebnisänderung, d. h. keine besondere Erleichterung der Auswahl.
Die älteren Kinder brachten der Aufgabe mehr lebenfligen Sinn entgegen.
Die Auswahl der drei Formen geschah zunächst ebenfalls in Rücksicht auf
die Größe, innerhalb der gleichen Sorte jedoch wurde auch auf die Unifor¬
mierung Wert gelegt. Eine kleinere Anzahl von Figuren gleicher Form (3—5)
wurde leichter gesichtet, was ich auf eine zahlenmäßige Erfassung der Anzahl
and einer dadurch möglichen Übersichtlichkeit zurückführe. Ebenso arbeiten
die Kinder rascher, wenn die Soldaten „aufgestellt* waren. Die Anordnung
geschah oft in der Weise, daß die Reiter in eine Linie, das Fußvolk in eine Linie,
oft auch in eine Kolonne dahinter und die Schützen in eine dritte Abteilung ge¬
bracht wurden. In zwei Fällen führten emotionelle Einflüsse dazu, eine weitere
Unterscheidung vorzunehmen — es wurden Deutsche und Franzosen erkannt.
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112 Josef Filbig, Untersnchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
Der Versuch war in der Hauptsache eine Prfifung des Fonnensinns der
Knaben, in zweiter Linie auch Feststellung der Einflüsse, die in Richtung der
Farbengebung und der konkreten Wirklichkeit lagen. Für unsere Zwecke
ließ sich lediglich der Reihenprozeß an einem anderen Beispiel konstatieren;
neue Momente, insonderheit solche, die den psychogenetischen Aufbau der
Zahlenvorstellungen erkennen ließen, konnten nicht beobachtet werden. Damit
fand ich bestätigt, was Meumann 1 ) bei der kritischen Würdigung der
Deuchlersehen Versuchsreihe vermutete.
Von einer weiteren Verwertung der Ergebnisse soll deshalb hier abgesehen
werden. Die Anzahl der zahlenmäßig erfaßten Einheiten — siehe Auswahl
durch die älteren Knaben — findet Berücksichtigung beim Zählprozeß, bzw.
beim „Zusammenfassen“, dem dritten Merkmal der Reihe nach Deuchler.
Zu 2. Die Mädchen taten sich leichter. Die verschiedenfarbigen, aber
gleichgeformten Blättchen ordneten sie nach Farben in der Weise, daß ungefähr
vom 50. Monat ab zunächst alle Blättchen von satter roter Farbe aneinander¬
gereiht wurden, denen blaue folgten. Hernach kamen die anderen Nuancen:
blaßrot, gelb, grau usw.
Die jüngeren Mädchen ordneten ohne ersichtlichen Einteilungsgrund. Die
Anzahl der zu ordnenden Blättchen hatte keinen Einfluß auf die Schnellig¬
keit der Lösung.
Auch hier läßt sich sagen, daß der Versuch an einer anderen Stelle (Analyse
des kindlichen Farbensinnes) von größerem Nutzen wäre.
Zu 3. In Abänderung des Deuchlerschen Vorschlags, der rein repro¬
duktiv die Ordnungszahlen gewinnen wollte, wurde die dritte Aufgabe an
der aufgestellten Reihe von Fußsoldaten durchprobiert. Die Aufforderung
lautete kindertümlich einfach: „Das ist der erste Soldat Und dieser?“ Auch
hier zeigten sich bemerkenswerte Tatsachen.
a) Die Kenntnis der Ordnungszahlen ist bei allen Kindern gering. Die
Anzahl der bekannten Grundzahlen ist um ein Vielfaches größer. Die
kleinsten Kinder kennen meist nur „den ersten“ und „den letzten“,
manchmal folgt noch „der allerletzte“.
b) Bei den meisten Kindern ist die folgerichtig durchlaufende Ordnungs¬
reihe sehr klein, namentlich in Hinsicht auf die bekannte Reihe der
Grundzahlen. Selbst die größeren Kinder kennen in vielen Fällen „den
zweiten“ nicht Analogiebildungen kommen häufig vor: „der erste,
der zweite, der dreite“. Die Reihe bricht oft mitten in der Dekade
ab, während die Grundzahlen meistens bis zum nächsten Zehner fort¬
geführt werden können. Als Ursache ist in erster Linie die sprachliche
Schwierigkeit, dann aber auch die geringe Anschaulichkeit und letzten
Endes auch die selten sich bietende praktische Notwendigkeit der Anwen¬
dung anzusprechen. Zur Kontrolle der abgegebenen Urteile wurde inner¬
halb des bekannten Umfangs nach dem 3., 5., 2., 4. usw. gefragt (siehe
graphische Darstellung).
c) Die viel umstrittene Frage: Geht die Erwerbung der Ordnungszahlen
der Erwerbung der Grundzahlen parallel voran oder folgt sie hinter¬
drein? dürfte damit eindeutig beantwortet sein. 2 )
*) Meumann, Vorlesung zur Einf. in die exp. Pädagogik.
*) Eine andere Frage ist die; Ist die Bedeutung der Ordnungszahl eher ausgeprägt als die
der Kardinalzahl? Stern S. 261, beantwortet die Frage mit Ja und stützt sich dabei auf folgende
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. Kleine Beiträge und Mitteilungen
113
d) Deuchlers Analyse der Zahlenreihe und damit zusammenhängend die
Stufenfolge der Merkmale derart, „daß das Folgende das Vorangehende
im allgemeinen voraussetzt“, erfährt durch diese Festsetzung eine wesent¬
liche Berichtigung.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Der erziehungswissenschaftliche Interessenbegriff bedarf noch immer, so
grundlegend auch die pädagogische Theorie seit Her hart mit ihm zu arbeiten
gewöhnt ist, der Klärung. Manche Arbeiten der experimentellen Pädagogik
haben einiges dazu beigetragen, so besonders die Untersuchungen über jugend¬
liche Ideale, Werthaltung, Neigungen, Wünsche und über die Beliebtheit der
Untersuchungsfächer, ohne das Ganze aber zu erschöpfen. Auf phänomenolo¬
gischem Wege versucht auch Kerschensteiner in einem seiner jüngsten Auf¬
sätze 1 ) den komplexen Sachverhalt durchsichtig zu machen. Aus Beispielen
heraus entwickelt er die folgende Anschauung:
„Echte Interessen sind (wie die angeborenen Triebe und Neigungen)
seelische Wachstumsbedürfnisse mit mehr oder weniger umfangreichen in¬
tellektuellen Beachtungs-Dispositionen oder Reproduktionsgrundlagen. Alle
Versuche, sie als bloß intellektuelle oder als bloß emotionale oder als reine
Willenszustände hinzustellen, sind verfehlt. Wir erfassen den pädagogischen
Begriff des Interesses mm, wenn wir den Nachdruck auf den Gesamtzustand
legen. Wer nur die emotionale Seite betont oder das Ziel der Neigung oder
Beobachtung: Wenn man H. die 5 Finger hinhält und fragt: wieviel Finger sind das? so
sagt sie: ich will mal zählen und zählt richtig von 1-5. Sagt man nun gleich im Anschluß an
die letzte Zaiml: also wieviel Finger sind es ? dann fängt sie wieder von vorn an zu zählen und
so noch mehrmals. Der letzte Finger ist ihr zwar der fünfte, aber die Gesamtzahl der Finger
bedeutet für sie noch nicht die Summe fünf. tt
Bfihler S. 5)5 schreibt: Wenn man von einem Kinde nach dem Abzählen etwa drei von den
Dingen verlangt, reicht das Kind das dritte. Das ist ein Beweis dafür, daß die gesprochenen
Wörter Jetzt Kamen sind, die einsichtig den einzelnen Dingen nach ihrer Reibenstellung gegeben
werden, und man sagt mit Recht, da habe sich also die Funktion der Ordinalzahlen ausgebildet.
Unrichtig aber wäre die Behauptung, diese trete schlechthin früher auf als die
der Kardinalzahlen, denn es leuchtet ein, daß die Mengeneindrücke und die
Auffassung bestimmter Gruppen zum mindesten als Vorläufer der Kardinalzahlen
betrachtet werden müssen.“
Ein Vergleich der Ergebnisse bei den verschiedensten Versuchsreihen führt uns zu folgender
Betrachtung: bei einem Kontrollversuch in der Frage nach der Ordnungsbedeutung waren von
je 51 Knaben und Mädchen nur 14 Knaben und 21 Mädchen fähig, den „zweiten Stein“ zu zeigen
(sprachlich passives Verhalten der Kinderl). Von denselben 102 Kindern waren 41 Knaben und
35 Mädchen imstande, die Anzahl 2 ohne Zählen zu benennen. Die simultane Erfaßbarkeit (als
Schwierigkeitssteigerung gegenüber dem Nur-Abzäblen) war demnach bei diesen Kindern der
Ordnungsbedeutung vorangeeilt. Diese Tatsache zeigte sich noch weit ausgeprägter bei reiferen
Kindern, die additiv und subtraktiv bereits etwas leisten konnten, deren sonstiges rechnerisches
Verhalten aber verriet, daß die Ordnungsbedeutung ihnen noch nicht ganz geläufig war. Wenn
die Gewinnung der Zahlvorstellung sich in charakteristischen Perioden vollzieht, so könnte man
nach dem Reihenprozeß und der Auffassung einer unbestimmten Vielheit die Zählperiode untere
scheiden mit dem Anfangsstadium derart, daß die gesprochenen Zahlwörter als Namen den ein¬
zelnen Dingen in ihrer Reihendarstellung gegeben werden. M. E. gehören die von Stern und
Bühler gebrachten Beispiele dieser Periode an, so daß ich sagen kann: Die Bedeutung der Kar-
dinalzahl geht in der Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kind der Ordnungsbedeutung voran.
') „Pädagogische Blätter*, 61. Jahrg., 12. Heft. 1922.
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 8
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
nur den Gegenstand, der als Mittel zum Ziel dient, hat einen unvollständigen
Interessenbegriff. Jeder solche unvollständige Interessenbegriff ist fQr die
Bildungstheorie verhängnisvoll.
Fassen wir die Grundmerkmale des echten Interesses zusammen, so können
wir die folgenden drei hervorheben:
a) das innerlich Angetriebensein auf Grund einer gewissen, ange¬
borenen oder erworbenen Beschaffenheit der Seele (Merkmal der Spon¬
taneität),
b) das Gerichtetsein auf einen Gegenstand, auf eine Vors e ung
Idee, Angelegenheit, Tätigkeit auf Grund eines Werterlebnisses (Merkmal
der Objektivität),
c) das völlige Erfülltsei-n, die In-eins-Setzung von Person und
Sache im Werterlebnis, also die Verschmolzenheit des Ichs mit der
Angelegenheit (Merkmal der Emotionalität).
Genetisch können wir diesen Zustand uns folgendermaßen vorstellen: Ein
bestimmtes seelisches Bedürfnis (Trieb, Neigung, rätselhafte Wahrnehmung)
will Befriedigung und stellt sich gemäß früher erworbener Beachtungsdispo¬
sitionen auf ein bewertetes Ziel ein, von dem es diese Befriedigung erhofft
Der dadurch ausgelöste Bewußtseinsstrom beginnt sich aus sich selbst her¬
aus, aus seinen eigenen Antrieben heraus zu richten und eine Auswahl der
Mittel zu diesem Ziele zu treffen. Er gebraucht die Mittel so lange, bis Erfolg
eintritt‘Oder ein deutlicher Mißerfolg nicht zu vermeiden ist. Mit dem er¬
folgreichen Gebrauch des Mittels, auf das der Bewußtseinsstrom gerichtet ist,
überträgt sich das am Ziele haftende Wertgefühl mit oder ohne ausgesprochenem
Werturteil auch auf das Mittel. Hier sieht man deutlich: Man kann nicht
sagen, Interesse ist ein Lustgefühl (Elsenhans, Ebbinghaus) oder ein Wert¬
schätzungsgefühl (Ostermann) oder ein Aufmerksamkeitsgefühl (Ziegler) oder
ein Gefühl sui generis (Nagy). Man kann auch nicht sagen, es wurzelt im
Gefühl. Im betätigten Interesse, mit seinem wertenden Handeln erlebt das
Ich mehr und mehr sich selbst, seinSein, seinen Eigenwert. Denn
das Wesen unseres Ichs sind unsre Triebe, Gefühle und Neigungen, nicht
unsre Vorstellungen. Gleichzeitig erlebte es aber den Wert des Gegen¬
standes (Dinges, der Handlung, der Person), das dem Interesse zum Ziele
verhilft. Daher nun die in jedem starken Interesse eintretende Identifi¬
kation von Objekt und Subjekt Beide sind im gleichen Wertgefühle
eingeschmolzen. Das Ichbewußtsein geht im Gegenstandsbewußtsein auf.
Große Dichter sind im Moment des Schaffens ihrer dramatischen Person fast
regelmäßig diese Person selbst. Dickens lebte mit seinen Gestalten wie mit
seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie sich der Katastrophe näherten und
fürchtete sich vor. dem Augenblick ihres Unterganges (vgl. dazu W. Dilthey,
„Das Erlebnis und die Dichtung“, Seite 187).
Die pädagogische Tragweite dieser Theorie des Interesses ist bedeutend.
Zunächst weist diese Theorie den Erzieher, der ein vielseitiges Inter¬
esse erzeugen will, vor allem auf die angeborenen Neigungen, Be¬
gabungen und Wachstumsbedürfnisse seines Zöglings. Damit stellt sich von
vornherein die Pädagogik auf die Individualitätstypen ein und lehnt alle Lehr¬
pläne ab, die ohne Rücksicht auf Individualitätstypen aufgestellt sind. Weiter¬
hin aber führt diese Theorie unmittelbar zur Idee der Arbeitsschule. Die
Verwirklichung des Arbeitsschulgedankens ist nur möglich, wenn das Interesse
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Original from
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
115
i den oben angegebenen Charakter der Spontaneität, Objektivität und Emotio-
I nalität besitzt. Die Theorie widerstrebt dem Gedanken, die sogenannte All*
gemeinbildung zeitlich vor die Berufsbildung zu setzen, das heißt vor die
Bildung zu dem, wozu der Einzelne durch seine angeborenen Neigungen und
Veranlagungen zunächst berufen ist. Sie warnt vor dem billigen Interessant-
machen eines Lehrgegenstandes, für den keine Neigung vorhanden ist und
der keine Beziehung zum Subjekt hat. Sie lehrt, daß es nur eine wirk¬
same Methode gibt, uninteressante Lehrgegenstände interessant zu machen,
. nämlich: sie als Mittel zu selbstgewollten Zwecken einzuführen.
Dies ist mein Fundamentalsatz. Wenn die Persönlichkeit nichts anderes ist,
als die Vollendung der Individualität in den ihr zugänglichen Wertbereichen,
' dann bietet diese Interessentheorie allein den Weg zur Erlangung der eigenen
: Persönlichkeit.“ •
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung. Zu den Ausführungen
von Dr. Piorkowski im September/Oktober-Heft dieser Zeitschrift möchte
ich folgendes bemerken:
In unserem Aufsatz heißt es Seite 204: „Die Entwicklung und Ausbildung
der beiden Fähigkeiten, der Konzentration aus Interesse und aus dem Willen
heraus, stehen sich also entgegen. Jede Ausbildung und Übung der einen
Fähigkeit bedeutet einen Rückgang der andern.“ P. nennt diese von uns
aufgedeckte psychologische Gesetzmäßigkeit eine völlig willkürliche Behauptung.
Wir haben dieses Gesetz in jahrelangen Beobachtungen geprüft und bestätigt
gefunden. Diese Behauptung von P. ist deshalb als Willkürlichkeit zu bezeichnen.
P. bezeichnet ferner als Ziel seiner Begabtenprüfungen, die Schüler heraus¬
zufinden, die in kürzerer Zeit als sonst üblich sich den Lehrstoff der höheren
Schule anzueignen vermögen. Was P. also anstrebt mit seinen Begabten¬
prüfungen, ist eine Auslese der besten Eignung für eine Art von Presse. Für
ein solches Ziel mögen seine Methoden auch durchaus geeignet sein. Nur
ist es ein Mißbrauch der Psychologie, wenn P. diese Art von Prüfungen
„Begabtenprüfungen“ nennt. Denn bei solchen Prüfungen wird nicht die
Begabung, sondern hauptsächlich die Lernfähigkeit untersucht, die mit Be¬
gabung nichts zu tun hat. Nach dieser Erklärung von P. würde die Schule
zu einer Vorbereitungsanstalt für Berufe „ausführenjler“ Art, wie Rein sie
nennt, herabsinken.
Daß einem „Genie alles in den Schoß fällt“, ist mit keinem Worte von uns
behauptet worden. Wir haben im Gegenteil nachgewiesen, daß bei der Hoch¬
begabung die Arbeitsintensität viel größer ist als bei der Durchschnittsbegabung,
weil sie ihren Antrieb im Interesse und nicht im Willen hat. Wenn aber P.
schreibt, daß es das Kennzeichen des „verbummelten Genies“ ist, daß es durch
jede Schwierigkeit auf dem Wege zur Erreichung eines Zieles, wo sein spon¬
tanes Interesse erlöscht und nur willensmäßige Konzentration helfen kann,
zum Erlahmen gebracht wird, so zeigt diese Erklärung wenig Verständnis für
die Psychologie des Genies. Genies verbummeln nicht, weil ihr Wille nicht
genügend geschult ist, sondern umgekehrt, weil durch die Willensschulung
das angeborene Interesse entwurzelt und seiner über alle Schwierigkeiten
hinwegtragenden Kraft beraubt worden ist. Diese Individuen kommen zu
keiner Leistung, well einerseits das Interesse infolge der Willensschulung
nicht mehr als Arbeitsantrieb ausreicht, während es der Erziehung andrerseits
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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nicht gelungen ist, an Stelle des zerstörten Interesses den Willen als Antrieb
zu geistiger Arbeit zu setzen.
Meistens aber hat die eiserne Willenserziehung Erfolg bei den Hochbega¬
bungen, und wir haben dann keine „verbummelten Genies“ vor uns, sondern
eisern fleißige, aber unproduktive Willensmenschen, die sich trotz einer ur¬
sprünglich überragenden Begabung noch kaum von einer guten Durchschnitts¬
intelligenz unterscheiden. Diese Typen sind sehr viel zahlreicher als die
verbummelten Genies, nur werden sie im Gegensatz zu letzteren zumeist nicht
als leistungslose Genies erkannt, da sie sich durchaus in den Rahmen fleißiger
Durchschnittsmenschen einpassen, so daß niemand ein zerstörtes Genie in ihnen
vermutet Das Übel liegt genau in entgegengesetzter Richtung, wie P. annimmt
Nicht der Mangel an Erziehung und Schulung des Willens zu geistiger Arbeit
hat die Menschheit unt die Produktion zahlreicher, genialer Begabungen ge¬
bracht, sondern umgekehrt der Überfluß daran.
Wenn P. am Schlüsse seiner Ausführungen versichert, daß er in Zukunft
die Begabungsprüfungen in Richtung auf die Willenskonzentration ausbauen
will, so können wir ihm unsererseits versichern, daß er durch seine Begabten¬
prüfungen nie ein Talent oder ein Genie entdecken wird. Alles in allem,
wenn man die Angriffe von P. auf unsere Ausführungen liest, so ist man
geneigt, die Befürchtungen von Johannes Wittmann zu teilen, der schreibt:
„Ich kann mich kaum des Gedankens erwehren, daß in nicht mehr allzu
ferner Zukunft über unser liebes Vaterland eine Piüfungsseuche, gefährlicher
noch als die Grippe, hereinbrechen wird. Die unintelligenten Menschen werden
ehrlich bemüht sein, die wahrhaft intelligenten Menschen auszulesen I“
Berlin. Dr. Matthias Vaörting.
Die Frankfurter Reformvolksschulen. Um Pädagogen und Laien durch die
Tat von der Fruchtbarkeit der als notwendig erkannten Reformbestrebungen
zu überzeugen, um die Durchführbarkeit an einigen Beispielen zu zeigen
und die bestehenden Schulen dadurch anzuspornen, sich innerlich um-
zustellen, wurden Ostern 1921 in Frankfurt a. M. zwei Reformvolksschulen
errichtet: die Reform Volksschule Röderberg und die Reformvolksschule
Schwarzburg.
Sie wurden ganz auf die Individualität bewährter moderner Pädagogen
eingestellt. Jede Bindung durch Lehr- und Stundenplan fiel fort. An die
Stelle der Lehrberichte traten ausführliche Unterrichtsprotokolle. Die Durch¬
führung der Arbeitsschulbestrebungen auf der Grundlage einer entwicklungs-
treuen Pädagogik war ihre besondere Aufgabe. Dazu kam für die Reform¬
schule Röderberg die Erprobung der Koedukation. Der gemeinsame Auf¬
gabenkreis wurde zwischen beiden Schulen so geteilt, daß die Reformschule
Schwarzburg, ohne die manuelle Seite der Arbeitsschulbewegung zu ver- ,
nachlässigen, in erster Linie auf die geistigen Arbeitsschulbestrebungen ihr
Augenmerk richten und die Reformschule Röderberg größeres Gewicht auf
den Gartenbau- und Werkstättenunterricht legen sollte.
Ganze Schulsysteme auf Reformbetrieb umzustellen, hielt man in Frank¬
furt a. M. nicht für ratsam, da nach den gemachten Erfahrungen Kinder,
die sechs oder sieben Jahre nach der fragend-entwickelnden Methode unter¬
richtet worden waren, sich nicht leicht umstellten. Andrerseits wollte man
bewußt auf den Fundamenten nicht aufbauen> welche die alte Schule ge-
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
117
legt hatte, um die Beurteilung der neuen Schule nicht zu erschweren oder
zu trOben.
Die Reformschule Röderberg wurde mit je einer gemischten 8. und 7. Klasse
(1. und 2. Schuljahr) eröffnet Die Reformschule Schwarzburg begann mit
einer 8. Knaben- und einer 8. Mädchenklasse. Jahr für Jahr sollen sich
neue Aufnahmeklassen anschließen, so daß im Laufe von 6 bzw. 7 Jahren
zwei neue Schulorganismen entstehen werden. Die Kinder der beiden Reform¬
schulen entstammen teils der Arbeiterschaft, teils der geistigen Schicht des
Mittelstandes. Es besteht die Gefahr, daß die letzteren nach vierjährigem
Besuch der Grundschulklassen in die höheren Schulen abwandern werden,
wenn den Eltern nicht die Gewißheit gegeben wird, daß ihre Kinder durch
Aufbauklassen die mittlere oder höhere Reife erlangen können. An ihre
Stelle müßten nach vier Jahren durch Umschulung andere Kinder treten,
worunter die Reinheit der beiden Versuche leiden würde. Eigenartig ist an
der Reformschule Schwarzburg die starke Anmeldung von Knaben und die
verhältnismäßig geringe von Mädchen. Eine nicht kleine Anzahl der 1921
aufgenommenen Mädchen war körperlich und geistig wenig entwickelt Ihre
Eltern hatten sich offenbar von der Hoffnung leiten lassen, durch die neue
Schule und ihre besondere Methode würden die Schwachen leichter und
! besser gefördert. Sie sind nicht getäuscht worden.
Das Wesen der Arbeitsschule für die ersten Schuljahre ist den Frankfurter
Reformpfidagogen gekennzeichnet durch die bewußte Anknüpfung an die
Naturform des kindlichen Selbstunterrichts vor der Schulzeit. Mehr als die
alte Forderung der Selbsttätigkeit bedeutet ihnen die neue Ansicht des „Aus-
sich-selbst-tätigseins“. In spontaner Selbstentfaltung wählen sich die Kinder
ihre Aufgaben selbst. Der Lehrer gibt nur Anregungen und Richtlinien. Er
vermeidet möglichst den äußeren Zwang. Sein Bestreben ist, Sinn und Geist
der Kinder durch Berücksichtigung der spontanen Selbsttätigkeit zum Wachs¬
tum zu bringen. Die pädagogische Reform ist mehr als bloße methodische
Angelegenheit, sie ist eine Erziehungsfrage, die als Voraussetzung eine gegen
früher andersartige Grundgesinnung hat. Das Triebhafte im Kind soll durch
die Schulerziehung nicht abgeknickt und durch den Unterricht nicht erstickt
werden. Das Doppelleben in und außer der Schule mit seiner die Charakter¬
bildung stark gefährdenden Divergenz soll vermieden, die Gesamtentwicklung
des Kindes dafür in einheitliche Bahnen gelenkt werden. Der Lehrer ist
Kamerad und väterlicher Freund. Der Geist der kalten Autorität ist dem
der hingebenden Liebe gewichen.
Lesen, Rechnen und Schreiben traten in den Aufnahmeklassen in der
ersten Hälfte des Schuljahres stark in den Hintergrund. Begonnen wurde
in allen Aufnahmeklassen mit dem großen Antiquaalphabet. Nach seiner
Bewältigung wurden die übrigen Alphabete spielend hinzugelernt, so daß
am Ende des ersten Schuljahres die übliche Lese- und Schreibfertigkeit bei
allen Kindern vorhanden war. Die aus spontaner Selbsttätigkeit entspringenden
Vorstöße in die Zahlenräume machten bei der Zahl 20 nicht halt, sondern
wagten sich weit darüber hinaus. Die Eroberung der Heimat ging damit
Hand in Hand. Die Bodenständigkeit und Wurzelbaftigkeit gaben dem ge¬
samten Unterricht sein Gepräge.
In diesem Geiste und auf dieser Grundlage wurde die Arbeit im Schul¬
jahr 1922 weiter fortgesetzt. Ostern 1923 umfaßt die Reformschule Röder-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
berg die 4 Grundschulklassen. Die Reformschule Schwarzburg zählt dann je
zwei 8., 7. und 6. Klassen.
Die Eltern, die ihre Kinder den beiden Schulen anvertrauten, sind mit den
neuen Erziehungs- und Unterrichtsmethoden zufrieden. — Der Andrang inter¬
essierter Besucher aus den Reihen der Frankfurter Lehrer- und Elternschaft
und darüber hinaus aus ganz Deutschland und dem Ausland war so groß,
daß besondere Besuchstage eingerichtet werden mußten. Die anregende
und belebende Wirkung der beiden Reformschulen ist in vielen Frankfurter
Schulklassen deutlich 'spürbar. Mögen sie sich gedeihlich weiterentwickeln
zum Segen unseres Schulwesens, zum Besten unserer Jugend und unseres
Volkes!
Die Aufnahme- und Beobachtungsstation der Landesanstalt Chemnitz-Alten¬
dorf ist hervorgegangen aus systematischen Intelligenzuntersuchungen bildungs¬
fähiger schwachsinniger Kinder der Landesanstalt. Nach dem Kriege wurde
es möglich, auch alle Neuaufnahmen zu prüfen, um sie möglichst genau dem
fein verzweigten Organismus der Anstalt einzuordnen. Zu diesen Arbeiten
wurden besondere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt; in einem Tages¬
raum wurden die Kinder von einer eigens dazu vorgebildeten Schwester
ebenfalls beobachtet. Dem besonderen Entgegenkommen der Vorgesetzten
Dienststellen ist es zu danken, daß die Station ihr Instrumentarium bedeutend
vergrößern konnte. Seit drei Jahren ist die Station im Krankenhause der
Anstalt untergebracht, und es hat sich hier in geeigneten Räumen ihr Arbeits¬
gebiet wesentlich erweitert. Geprüft werden jetzt nicht nur Zuführungen, sondern
vor allem auch Kinder, bei denen sich plötzlich psychische Veränderungen
zeigen. Die Beobachtung hat dann neben der des Psychiaters zu ergeben, welche
Erziehungsmaßnahmen in der Folge zu treffen sind und wohin das Kind neu
einzuordnen ist. Weiter sind von Wert die statistischen Bearbeitungen der
Aufnahmeergebnisse, die angeregten Überarbeitungen der Zensur- sowie der
Aufnahmebogen. Allgemeinen Wert haben die systematischen Gedächtnis-
Untersuchungen sowie die Feststellung der Bedeutung von Farbe und Licht
bei anormalen Kindern 1 )* Gerade die Untersuchung der Lichtwirkung auf
Schwachsinnige hat bereits Ergebnisse gezeitigt, an denen die Heilpädagogik
nicht vorübergehen kann. — Mit den Arbeitseigebnissen und Methoden der
Station werden sowohl die Erzieher wie auch die zahlreichen Besucher laufend
bekannt gemacht. Ferner werden Verbindungen hergestellt mit Gleich¬
strebenden. So wird z. B. dem Problem der Färb- und Lichtbehandlung
gleichzeitig nacbgegangen an der Landesstrafanstalt für Jugendliche in Bautzen
und an der Landesstrafanstalt Hoheneck. — Es dürfte so die Station geeignet
sein, sich zu einem Institut für die Erforschung des kindlichen Schwachsinns
auszugestalten.
Nachrichten. 1. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltet unter
Mitwirkung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen von Januar bi*
März 1923 seminariscbe Obungen zur Einführung in die Psychopathenfürsorge.
2. Eine dauernde psychologische Ausstellung ist von der Auskunftsstelle für Jugend-
kunde am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin eingerichtet worden. Sie u ®'
faßt: 1. Lehr- und Anschauungsmittel für den Psychologieunterricbt mit besonderer Rücksicn
') Siebe dazu Zeitschr. für Päd. Psycb., Heft 11/12, 1922.
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Literaturbericht
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auf die Lehrerbildung, 2. Untersuchungs- und Prüfungsmittel, die in der pädagogisch-psycho¬
logischen Forschung verwendet werden.
3. ln München tagte vom 8. bis tO. Dezember 1922 der Kongreß der internationalen
Gesellschaft für vergleichende Individualpsychologie. In Vorträgen und Berichten
wurde die Lehre Alfred Adlers und ihre Stellung zu Fragen der Psychologie; Charakterologie,
Psychiatrie, Psychotherapie, Pädagogik erörtert.
4. Unter den neuen Preisaufgaben der Universität Leipzig findet sich die folgende: „Die
Methoden und Ergebnisse der Komplexpsychologie sind hinsichtlich ihrer Bedeutung für die
wissenschaftliche Pädagogik zu prüfen 44 .
5. Für einen Kongreß für Logopädie 1923 in Wien hat ein Ausschuß die Vorarbeiten be¬
gonnen. Es ist in Aussicht genommen, über Aphasie, periphere Sprachstörungen und Phonetik *
in Berichten und Einzelvorträgen eine Aussprache über Theorie und Behandlung herbeizuführen.
Mitteilungen und Anmeldungen werden erbeten: für Österreich an Dozent Dr. Froeschels,
Wien 9, Ferstelgasse 6, für Deutschland an Dr. Th. Hoepfner, Saalfeld, Ostpr.
6 . Die Stadt Wien hat, nachdem die Lehrerakademie nunmehr für immer geschlossen worden
ist, ein Pädagogisches Institut errichtet: seine Vorlesungen gliedern sich in philosophische,
emehungswissenschaftliche, didaktische und in solche für Ergänzungsprüfungen an Mittelschulen.
7. Das Landesberufsamt Berlin verpflichtete den Berliner Lehrer Hellmuth Bogen als
wissenschaftlichen Assistenten der psychologisch-medizinischen Abteilung.
8 . Zum Ehrendoktor der Philosophie bat die philosophische Fakultät der Universität
Heidelberg den Mannheimer Volksschullehrer Ernst Krieck in Anerkennung seiner Arbeiten
auf dem Gebiete der Geschichte und der Philosophie der Pädagogik ernannt. Er schrieb unter
anderem „Persönlichkeit und Kultur, kritische Grundlegung der Kulturphilosophie 44 . „Lessing
and die Erziehung des Menschengeschlechts 44 . „Die Revolution der Wissenschaft 44 . „Philosophie
der Erziehung 44 .
Literaturbericht
Besprechungen.
Rudolf Lehmann, Die deutschen Klassiker (Herder—Schiller—Goethe. Band 9 und 10
der Sammlung: Die großen Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme). Leipzig 1921.
F. Meiner. 341 Seiten.
Es wäre ein naiver Irrtum, in der Geschichte der Pädagogik nur die Professionellsten der
Erziehung zu suchen; bei den unlöslichen wechselseitigen Zusammenhängen zwischen Kultur und
Büdtmg, Gesellschaftszustand und Erziehungseinrichtungen, Weltanschauung und Zielgedanken
des Menschenlebens wird Jede große Persönlichkeit den einen oder anderen Zugang zum päd¬
agogischen Problem haben und suchen; die Menschenaufgabe der Erziehung und Bildung bewegt
schöpferische Geister, auch wenn sie der praktischen Erziehertätigkeit fernbleiben und der Mittel¬
punkt ihres Lebenswerkes auf dem politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, religiösen,
wirtschaftlichen oder technischen Gebiet liegt. In einem ursprünglichen Sinn ist jede säkulare
Gestalt Erzieher ihres Volkes, Erzieher der Menschheit: durch die beispielgebende Vorbildlichkeit
ihres Seins und Schicksals wie durch den Einfluß des den Generationen der Zeitgenossen und
Nachgeborenen Richtung gebenden, in ihren Werken und Leistungen ausgeformten geistigen Gehalts
ihrer Persönlichkeit.
Die deutschen Klassiker gehören aber nicht nur in diesem allgemeinen Sinne in die Reihe
der großen Erzieher des deutschen Volkes: sie haben unmittelbar in die Gestaltung der Bildunga¬
zastände und in die Entwicklung der Bildungsideen eingegriffen, haben Fürsten und Erzieher
erzogen und die lebendige Wirkung auf Volk und Menschheit als den schönsten Teil der Ver¬
antwortlichkeit des Genies gefühlt. So ist es nicht ein Akt der Helden Verehrung, sondern
Aasfluß sachlicher Erkenntnis, wenn Rudolf Lehmann io der von ihm begründeten und vor¬
trefflich geleiteten Schriftenreihe „Die großen Erzieher 44 den deutschen Klassikern Herder,
Schiller, Goethe einen eigenen stattlichen Band widmet.
Die Einleitung entwickelt wie eine Ouvertüre in musterhafter Kürze den geistigen Zusammen¬
hang des pädagogischen Denkens mit der Persönlicbkeitsphilosophie der Zeit und klärt die Haupt¬
motive der Zielsetzung (Herder: Humanität, Schiller: Die schöne Seele, Goethe: die harmonische
Allseitigkeit), den Zwiespalt zwischen dem Ideal reiner Persönlichkeitskultur, die Bildung als Sein
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Literaturbericht
versteht, und den Forderungen des Gemeinschaftsgedankens mit ihrer Betonung von Tat, Wirkung
und Leistung, die Unterschiede der Bildungswege (Herder: am meisten noch im Rationalismus
befangen; Schiller: entdeckt die Kunst als erziehende Madit; Goethe: überwindet die Einseitig¬
keit sowohl der intellektuellen wie der künstlerischen Bildung), und die bei jedem der drei
Repräsentanten des deutschen Bildungsgedankens etwas anders gelagerten inneren Schwierig¬
keiten und Grenzen ihrer begrifflichen Formulierungen und praktischen Versuche bezw. Vor*
Schläge. Als Vertreter des Übergangs zweier pädagogischer Epochen — der Aufklärung und
der Romantik, des rational konstruktiven Denkens und der organisch-entwickelnden Weisheit —
sollen Herder, Schiller, Goethe historisch verstanden werden: als die das Berechtigte zusammen¬
fassende Überwindung der pädagogischen Linie von Locke bis Rousseau und als die grund¬
legende Vorbereitung der neuen Linie von Humboldt und Pestalozzi bis zur Gegenwart.
Ich habe es für nötig erachtet, die wenigen Seiten der Einleitung so ausführlich zu würdigen,
weil sie mir ein Muster gestaltender Geschichtsschreibung der Pädagogik zu sein scheinen, die
Aufzeigung großer Zusammenhänge, die nur dem gelingt, der die Stoffmassen der Detail¬
forschung intellektuell bewältigt hat Daß Shaftesbury als der große Anreger des persona-
listischen Bildungsgedankens und zugleich als Prototyp des Gebildeten im Sinne der Klassiker
zu voller Anerkennung gelangt, ist ein Verdienst; ob diese Einsicht abgeschwächt oder ver¬
dunkelt worden wäre, wenn das Problem Rousseau auch in dieser großen Überschau schon
seine Würdigung gefunden hätte (nicht erst an den einschlägigen Stellen der nachfolgenden
Kapitel), glaube ich anders beurteilen zu sollen als der Verfasser; die reichlich belegte ver¬
schiedene Stellung namentlich Schillers und Goethes zu den Rhapsodien und Programmen Rousseaus
hätte m. E. ebenso Licht auf die inneren Verwandtschaften und Fremdheiten fallen lassen wie
diä von R. Lehmann in erster Linie angezogenen Momente. Soweit Geschichtsschreibung Aus¬
wahl ist, verstehe ich es, wenn man über die leitenden Werte verschiedener Meinung ist, soweit
sie — wie bei Lehmann selbst im Zusammenhang der einzelnen Abhandlungen — nachfühlendes
Verstehen des Werkes aus dem Erlebnis ist, dürfte aber auf Rousseau nicht verzichtet werden,
denn für die pädagogische Richtung ihrer Denkbewegung ist Rousseau ein Erlebnis der großen
Deutschen gewesen.
An die Einleitung reihen sich die drei schön abgerundeten und fesselnd geschriebenen Ab¬
handlungen. „Herder und das Ideal der Humanität*, „Schiller und der Gedanke der ästhetischen
Erziehung*, „Goethe und das Problem der individuellen Bildung*. Sie wirken in der sorgfältigen
Abgewogenheit ihrer Maße, dem gepflegten sprachlichen Ausdruck und in der vollen Beherrschung
des Stoffes wie Kunstwerke und lebendige Zeugnisse der Bildung, die sie darstellen. Durch die
Analyse der Persönlichkeit und ihres Erlebnisses bereitet der Verfasser das Verständnis ihrer
pädagogischen Konzeptionen vor; aus den Schriften, den Entwürfen und praktischen Leistungen,
den Zeugnissen der Zeitgenossen und Kritiker schöpft er das quellenmäßige Bild der Ideen und
Bestrebungen; durch die Zeichnung des allgemeinen geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen
Hintergrundes, die Aufhellung der feindlichen und freundlichen Berührungen mit anderen führenden
Geistern gewinnt er den Maßstab einer immanenten Würdigung; durch den Ausblick aut die
nachfolgenden Wirkungen, die übersehenen oder ungelöst gebliebenen Probleme der deutschen
Geistigkeit, Gesellschaft und Kultur, fließen die Anhaltspunkte für eine Abschätzung des absoluten
Beitrags, den sie zur Entwicklung der pädagogischen Idee geleistet haben. Den Gang der Dar¬
stellung im einzelnen zu verfolgen und durch eine notwendig stichwortmäßige Inhaltsskizze
wiederzugeben, versage ich mir: in der festen Überzeugung, daß das Buch selbst gelesen werden
muß und gelesen werden wird. Gerade in der Farbe der Darstellung und in der Herausge¬
staltung der tieferen Zusammenhänge liegt der überlegene Wert des Werkes, das nicht eine
äußerlich ordnende Blütenlese pädagogischer Aphorismen und Gedanken aus den Werken der
drei behandelten Männer ist, sondern der gelungene Versuch, in den sich ergänzenden und durch-
dringenden Konzeptionen die innere Einheitlichkeit einer die Totalität, d. h. die Durchbildung
aller Kräfte und Anlagen eines individuellen Menschen zur schöpferischen Leistung bezweckenden
Persönlichkeitsbildung als den praktisch erst in der Gegenwart zu ansatzweiser Auswirkung ge¬
langenden Kern einer neuen Pädagogik aufzuweisen. So liegt in den Ausführungen über Goethe
der notwendige Abschluß der Gedankenbewegung des Lehmann’schen Werkes, und in der über¬
all spürbaren Aufforderung an das pädagogische Denken unserer Zeit, sich aus der Beschäftigung
mit der Pädagogik der Klassiker die schmerzlich vermißte Einheitlichkeit der neuen Richtung zu
erarbeiten, ihre praktische Tendenz.
An sich ist es gewiß möglich, daß eine spätere Zeit ihre besonderen Aufgaben durch Ge¬
danken einer klassischen Epoche sozusagen vorgezeichnet und vorgelöst finden und durch ein
entschieden bewußtesVeriassen der Bahnen der unmittelbaren Tradition, durch eine Renaissance älterer
Kulturg es i nn u n gen, ihre Mission und Aufgabe besser erkennen und erfüllen kann. Aber die von
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Literaturbericht
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Lehmann selbst wiederholt festgestellte Einflufilosigkeit der Klassiker auf die tatsächliche Er-
xiehnngsbewegung und die Beschränkung ihrer Gedanken auf eine verhältnismäßig dünne Schicht
| selbst des geistigen Deutschlands wird zu prüfender Bestimmung Anlaß geben müssen. Es ist
! sicher — geschichtlich betrachtet — ein Unglück gewesen, daß nicht Schiller und Goethe, sondern
Humboldt und Herbart die erfolgreichen Wegweiser für die Organisation und den Geist der
höheren Schule und der Volksschule geworden sind, zwei trotz aller Verschiedenheit der
Individualität stärker im Rationalismus und Ästhetizismus der Aufklärung verwurzelte Persön¬
lichkeiten, als die in jeder Dimension ihnen überlegenen Geister von Weimar. Aber dieses ge¬
schichtliche Schicksal ist doch nicht eine zufällige Folge etwa der epigonischen Verständnislosig¬
keit und Kleinmaßigkeit der nach ihnen verantwortlich an der deutschen Erziehung schaffenden
Generationen, sondern — mindestens teilweise — auch die notwendige Folge der gerade in der
klassischen Zeit in Deutschland endgültig gewordenen Entfremdung zwischen der höheren geistigen
Kultur und den allein regenerativ wirkenden Kräfte des breiten Volkstums, weiter auch eine Folge der
völlig anderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die von der
reinen Geistigkeit einer Persönlichkeit um so lieber außer acht gelassen, ja in ihrem Recht negiert
werden, je weniger sie von ihr siegreich gestaltet werden können. Ich räume gern ein, daß
Goethe, der ja am längsten und tätigsten gelebt hat, den Wandel der Zeiten noch erfuhr und
als Persönlichkeit die meisten Organe für die Wirklichkeit besaß, die Problematik des beginnenden
19. Jahrhunderts noch durchlebt und durchdacht hat; so hätte seine Zielbestimmung der Erziehung
-die Fähigkeit zu gesammelter Selbstbeschränkung im Zögling auszubilden und dadurch den
Grand zu aller Tüchtigkeit zu legen“ (bei Lehmann Seite 304) vielleicht eine Brücke werden
, können zwischen der in voller Autarkie über aller Wirklichkeit schwebenden ästhetisch-forma¬
listischen Persönlichkeitskultur und einer aus den verschiedenen Kräften der Nation und den
dringenden Bedürfnissen der Gemeinschaft, ihrer Wirtschaft und ihren Lebensordnungen planmäßig
zu schaffenden Volkskultur. Aber man darf doch wohl fragen, ob die Verwirklichung dieses Ideals
oicht zu einer — sicherlich fein ausgeformten — Neuauflage ständischer Kultur geführt hätte,
die der Blüte des Gesittungslebens in der städtischen Zeit des späteren Mittelalters allenfalls in
der Höhe der Leistung, nicht im inneren Geist überlegen gewesen wäre. Ich verstehe, daß auch
heute wieder — aus verschiedenen Gründen — die deutschen Menschen rückwärtsblicken auf die
Zeiten einer religiösen Volkskultur und vorwärts sich sehnen nach ähnlicher, beruhigter Geschlossen¬
heit der Lebensführung und Stabilität der Kulturarbeit, aber mir will es eine große Selbsttäuschung
scheinen, wenn man ernsthaft glaubt, dieses Ziel anders als im Durchleben unserer Zeit er¬
reichen zu können. Gewiß ist die Erziehung — im Großen betrachtet — nicht nur wie Friedrich
Paalsen gemeint hat, der nachhinkende Ansdruck der vorhandenen Kulturlage, sondern auch
ein Faktor der Kulturbewegung, in diesem Sinn schöpferisch, aber sie kann allein nicht die neue
Lebens- und Gesellschaftsordnung schaffen, darüber sollte nach den Mißerfolgen des pädagogischen
18. Jahrhunderts und dem geschichtslosen Optimismus Rousseaus kein Zweifel mehr bestehen.
Der wesentliche Grund für die — äußerliche — Einflufilosigkeit des pädagogischen Klassizis¬
mus liegt in seiner Distanz zu den'realen Kräften der sozialen Wirklichkeit, den staatlichen, wirt¬
schaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen der liberalen, industriealistischen, kapitalistischen,
parlamentarischen Epoche der modernen Nationalstaaten. Wer glaubt, daß die entschlossene und
konsequente Verwirklichung selbst der Goetheseben Erziehungsgedanken — ihre Möglichkeit ohne
weiteres zugegeben, denn historisch möglich ist, was Ziel volksmäßigen Willens ist — uns als
Ersatz für die Unterbindung der neuen Wirtschafts- und Geseilschaftsentwicklung eine wirkliche
Volkskultur gebracht hätte? Ich glaube, der kleinbürgerliche Geist mit allen seinen Vorzügen,
aber sicher auch mit all seinen Verengungen und Schattenseiten wäre die wahrscheinlichere
Folge gewesen. Das bitte ich nicht etwa so mißzuverstehen, als ob Goethe der Repräsentant des
Kleinbürgertums gewesen wäre; ein Genius wird niemals durch eine soziologische Kategorie begrenzt,
ich stelle es fest, um auf den falschen Schluß aufmerksamzu machen, daß jeder Schuster und Schneider
nach dem Rezept der pädagogischen Provinz in seiner Art ein Goethe werden könnte, wenn er
dessen organische Maxime der Selbstbeschränkung auch für seinen Bildungsweg annimmt oder —
! durch die gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen — vorgeschrieben bekommt. So liegt der
. tiefere Grund für die unzweifelhaften Mängel der deutschen Erziehung im 19. Jahrhundert weit
weniger in dem geringen Einfluß der Klassiker als in der — wie mir scheint — noch beträcht¬
lich klassizistischen Wirklichkeitsferne ihrer geistigen Gefolgschaft, auch der Humboldts und
| Herbarts, und deshalb bleibt der Wegbereiter der neuen Erziehungsgedanken Pestalozzi, dessen
mächtig aufragende Persönlichkeit doch wohl auch für die Gedanken Goethes mitbestimmend
trewesen ist
Es wäre ein Mißverständnis, wollte jemand aus meinen hier nur flüchtig angedeuteten Be¬
denken eine Art historischer Widerlegung der Pädagogik der Klassiker heraushören; Ideen
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Literaturbericht
werden'nicht durch Tatsachen widerlegt oder bestätigt, und es ist kein Einwand gegen Platonische
Erziehungsstaatsgedanken, daß sie bis zum heutigen Tage nicht verwirklicht wurden. Aber wenn
sie zu Zielgedanken einer suchenden Entwicklung erhoben werden sollen, obliegt uns zu prüfen,
an welche Bedingungen die Realisierung bestimmter Ideen geknüpft ist Aus solcher Ober¬
legung heraus meine ich anerkennen zu müssen, daß unsere geistige Lage wesentliche Wert¬
momente enthält, auf die wir durch eine entschlossene Renaissance der personalistischen Pädagogik
verzichten müßten, aber nicht verzichten dürfen; von unseren Voraussetzungen aus, vom Boden
der Massen probleme und des Problems der Masse müssen wir die Erziebungsaufgabe durch¬
denken und zu lösen versuchen. Und diese Probleme sind in der Zeit der klassischen Kultur
teilweise noch nicht vorhanden gewesen, teilweise vom Bildungsdenken beiseite geschoben werden.
Gewiß hat Rudolf Lehmann auch diese Zusammenhänge beobachtet; aber nicht eigentlich
auf die Fragen der Volksbildung als solcher eingestellt, nimmt er zu ihrer Bedeutung anders
Stellung. Wenn ich mich seiner Bewertung für unsere Zeit nicht durchweg anschließen kann,
so möchte ich aber doch betonen, daß ich gerade seiner lichtvollen Darstellung die volle Klar¬
heit über die persönliche Bedingtheit und damit über die Geltungsgrenzen der klassischen
Pädagogik verdanke.
Das Buch ist sorgfältig gedruckt und erleichtert durch ein Namenregister den Überblick
über die Berührungen der in den drei großen Essays mit zur Behandlung gelangten, für die
Erziehung bedeutsamen Zeitgenossen Herders, Schillers und Goethes.
München. Aloys Fischer.
Dr. Max Epstein, Die Erziehung im schulpflichtigen Alter nach der Grundschale.
Karlsruhe i. B, 1922. G. Braun. 585 S.
Es ist kulturgeschichtliche Gesetzmäßigkeit, daß völkische Notzeiten große Erziehungsrefor¬
men einleiten, ln der Bedrohung des Volkstums erwacht das pädagogische Gewissen. Das
schicksalsbedrängte Volk besinnt sich im Niederbruch auf sein Bildungswesen, wird sich der Be¬
deutung der Erziehung bewußt und wirft nun Anklage und Hoffnung auf seine Erziehungsmächte.
Ein leidenschaftlicher Reformwille springt auf; ein heftiges Suchen nach neuen Gestaltungen
hebt an — heute bei uns um so ungestümer, weil lange schon vor dem Kriege eine starke
Schulreformbewegung in Deutschland eingesetzt hatte, ohne zum Durchbruch kommen zu können.
Der starke Affekt aber ist einem so hochverantwortlichen Tun wie der Erziehungserneuerung
nicht zuträglich. Wir haben ja erfahren müssen, wie gefährlich das Gebaren eines pädago¬
gischen Radikalismus und einer schwärmerisch romantischen Pädagogik unserer deutschen Schul-
und Hauserziehung zu werden drohte. Hinwiederum gilt es, an dem pädagogischen Ungestüm
und der schwärmerischen Stimmung eine bedeutsame Erscheinung nicht zu verkenneu. In dem
Heraustreten aus der Enge zünftigen Fachdenkens, in dem Abwerfen der Fesseln^ überlieferter
Erziehungsmeinungen, in der Erschütterung einer seelischen Aufwüblung, in der Beschwingung
durch einen leidenschaftlichen Lebenswillen geht — fast hellsichtig — mancher richtige Ge¬
danke auf, für den anders sonst Fähigkeit und Mut, ihn zu erkennen und zu bekennen,
mangeln würde. Nur daß nun die mehr aus der Ergriffenheit als dem Begreifen, mehr im
Schauen als Erkennen geborenen Meinungen nicht in der Stimmung, der sie zu danken
sind, verharren dürfen, sondern daß sie herübergenommen werden auch in die Besonnen¬
heit und Erwägung eines zwar ebenfalls gefühlsgetragenen, aber doch von schädlichen Affekten
freien Denkens — eines echten pädagogischen Denkens, das vor allem gereinigt ist von Bei¬
mischungen, die heute unsere Auseinandersetzungen über Erziehungsfragen so sehr trüben.
Was in unseren Tagen sich in solcher Weise an erziehlichen Sehnsüchten, Gedanken,
Vorschlägen, Forderungen, Entwürfen, Ansprüchen bervorgedrängt hat, rumort in dem Epstein-
8 chen Buch durcheinander. Ein Jahrmarkt pädagogischer Neuheiten. Gegen vierzig Rufer —
meist Fachleute, unter denen sich aber u. a. auch ein Primaner mit komischem Pathos tummelt
— haben sich zusammengefunden, um ein Buch erstehen zu lassen, das über die Lehrerschaft
hinaus die weitesten Kreise aufruft, mitzuwirken an dem Werden einer von Grund aus neuen
Erziehung. Sie alle, die da durchaus nicht gleichsinnig das Wort nehmen, eint die Oberzeugung,
der auch wir sind: „Das Volk soll Erzieher sein: Väter, Mütter, Arzt und Arbeiter, Alt und
Jung!* Zum Begreifen dieser Aufgabe, zur Erregung des eigenen Denkens, zur Entschlossen¬
heit des Handelns — »Fangt an!* — wollen sie wecken und anspornen. Darum eben kein
Lehrbuch „mit Schulmeistersicherheit!* Aus dem vielstimmig-unstimmigen Chorus soll jeder
Leser — unterwegs immer wieder „sich selbst entschließend, selbst abwägend und entscheidend*
seinen ihm liegenden Ton heraushören. „So kämen wir voran!“
Mit der Oberfülle der Wünsche und Forderungen, Anregungen und Gedanken, die das Buch
in sich trägt, sich einzeln auseinanderzusetzen, wäre im Rahmen einer Besprechung oder auch Ab-
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Literatorbericht
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bandlung eine unmögliche Aufgabe. Hier and da steht in dem Werke selbst Meinung gegen
Meinung; ganz bewußt ist auch Widersprüchen nicht ausgewichen. Einigermaßen aber hat
man sich mehr oder minder auf den geistvollen und leidenschaftlichen Paul Österreich und
damit auf die Gedankenwelt derer aus dem Bunde entschiedener Schulreformer eingestellt. So
darf nicht zuerst Vollendetes, Ausgereiftes, Endgültiges in dem farbigen Buche gesucht werden.
Man begegnet in den allgemeinen Erörterungen mehr Werdendem, Programmatischem, vielem
Glauben. Manches ist Utopie. Zum Teil wieder geben sich — besonders dort, wo rein didak¬
tische Fragen erörtert werden — die Verfasser keineswegs so kühn und ketzerisch, als man es
nach dem „Allgemeinen Vorwort“ Epsteins und der temperamentvollen Erklärung Österreichs
„Was wollen wir“ vermuten müßte. Streckenweise werden doch auch recht geläufige Gedanken-
ginge eingeschlagen, werden Meinungen vorgetragen, die nunmehr durchaus als gesichert gelten
können, wird sogar auch manchmal Urväterhausrat pftdagogisober Weisheit hingestellt. Auf¬
fällig schwankt die Höhe der formalen geistigen Haltung; zwischen der streng wissenschaftlichen
Untersuchung des Leipziger Universitätsprofessors Theodor Litt über die „Methodik des päd¬
agogischen Denkens“ und so mancher Plauderei wie vom Stile des Beitrages über den „Lebens¬
wert des Spieles“ und des Primaner-Ergusses „Der höhere Schüler und die höhere Tochter“ tut
dch ein fataler Abstand auf. Eine Ausscheidung sachlich belangloser und in der Form niedrig
gelegener Abschnitte wäre dem ohnedies zu dickleibigen Bande heilsam. Soll aus dem Be¬
deutenderen der und Jener Aufsatz genannt werden, so sei außer auf Litts Abhandlung — dem
wohl besten Stück — verwiesen auf: Paul Österreich, „Der Aufbau der Zukunftsschule", Sieg¬
fried Kawerau, „Gemeinschaftskunde“, Max Epstein, „Die Kunst im System der Erziehung“,
Anna Siemsen, „Fortbildung»- und Fachschulen“, Otto Liepmann, „Schule und Beruf 4 .
Das Buch, das Jugendleben zwischen dem 11. und 18. Lebensjahre umfassend, gliedert sich in
die drei Abschnitte: Der Aufbau der Schule als Kern- und Wablunterricht, die Erziehung im
xholpflichtigen Alter, der Übergang ins praktische Leben. Es ist gedacht als Teil eines um-
hßsenderen Erziehungswerkes. Zu erwarten sind noch ein Band über die Erziehung des Kindes
vor und nach der Geburt, im Säuglings-, Kleinkind- und Grundschnlalter, und ein weiterer, der
die Bildung nach der Schule in Praxis und Akademie behandeln soll. Das dreibändige Ganze
kam dann, wenn der Plan sich so glücklich durchführen läßt, wie es alles in allem genommen
bei dem vorliegenden Mittelteile gelungen ist, ein wertvolles Dokument werden für die starke
pädagogische Gedankenerregung in einer Zeit schwersten deutschen Schicksals.
Leipzig. Otto Scheibner.
Joh. M. Verweyen, Form als Wesensausdruck. Prien 1921. Anthropos-Verlag. 174 S.
Von den verschiedensten Seiten her hat man in den letzten Jahren das Formproblem auf-
geroüt: zur Analyse des ästhetischen Schaffens, zur Aufhellung soziologischer Zusammenhänge,
endlich zur Phänomenologie aller Lebensformen schlechthin. Der bekannte Bonner Philosoph
Verweyen nimmt im ersten Kapitel seines vorliegenden Buches von derartigen Untersuchungen
über die „Bedeutung der Form 44 seinen Ausgang: für die Wissenschaft, ohne freilich das Ver¬
hältnis der Form zu Methode und System hier restlos zu klären; für den moralischen Typus
des Menschen (im engen Anschluß an Fichte); für Kunst (leider sehr kurz und ganz im Sinne
von Schell ings berühmter Münchner Rede) und für Religion (freilich fast nur im Hinblick auf
ihr meistenteils abweisendes Verhältnis zur Kunstform).
Doch soll „die Einsicht in die Bedeutung der Form 44 nicht nur „den Aufbau aller Kultur¬
gebiete erhellen“, was entschieden eine Übertreibung darstellt (nicht nur wenn es in so „gro߬
zügigen“ Umrissen geschieht wie bei Verweyen auf den ersten 10 Seiten), sondern „über sie
hinaus zu der Erkenntnis gewisser allgemeiner Beziehungen zwischen Form und Inhalt“ führen:
also zur Frage nach dem „Was 44 die Frage nach dem „Wie 44 treten lassen. Dabei werden die
Gefahren des Auseinanderklaffens von Inhalt und Form kurz gestreift und wird sehr schnell das
Zentrum im Problem der charakterologischen „Strukturen“fragen erreicht Nach einer an dieser
Sieüe wenig passenden Exkursion ins Parteileben (S. 13 f.) wird schließlich die Frage der Rang¬
ordnung der Werte erhoben: „ob das Was oder das Wie den Vorrang verdient", und zugunsten
des letzteren entschieden. Ob man in dem folgenden Überblick über die Methoden auch der
Phrenologie und Psychoanalyse so große Bedeutung beimessen darf, wie es V. tut, erscheint
doch sehr fraglich, seitdem der moderne Ausbau der geisteswissenschaftlichen Psychologie so
bedeutsame Fortschritte gezeitigt hat. ln der Literaturübersicht fehlt deren Literatur (Spranger,
Scbeler, Litt, A. Reinach) freilich leider vollständig bis auf einen kurzen Hinweis auf E. Cassierers
Bach: „Freiheit und Form“ (S. 29). — Das 2. Kapitel, „Form und Weltanschauung* 4 über-
whrieben, geht mit Recht von dem Trieb des Menschen aus, aus Zerstreuung zur Sammlung,
aus Mannigfa ltigkeit zur Einheit zu gelangen, und weist bei der Überschau über die vier Formen
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Literaturbericht
des Erkenntnisstrebens der Weltanschauungslebre (Metaphysik, Religionsphilosophie) neben Logik,
Ethik und Ästhetik ihren Platz an. Sie wird sogleich in Seins- und Wertanschauung gespalten,
erhält in Kunst und Religion ein doppeltes Ziel; und für beide Fälle gilt nun das Bemühen
des Verfassers, religiöse und ästhetische Typen aufzustellen. Wie sinnvoll und fördernd
man hierfür die Aufstellung von Gegensätzen beurteilen mag, so bewegt sie sich doch für
Goethe und Schiller in allzu ausgetretenen Bahnen und betritt gar mit dem Gegensatz von
Bach und Rieh. Strauß jenen Irrgarten eines uferlosen, nicht planmäßig vergleichenden Ver¬
fahrens, das früher besonders von dem ReligionBbistoriker Soederblom (Natürliche Theologie
und Religionsgeschichte, Leipzig 1918, S. 56 ff.), jüngst von dem Wiener Kunsthistoriker Strry-
gowski (Die Krisis der Geisteswissenschaften, Wien 1923, S. 61 ff.) entschieden abgeiehnt
worden ist. '
Das Zentrum der Betrachtungen bildet dann das Kapitel „Form und Gemeinschaft“. Hier
gilt es, mit soziologischen Methoden (in phänomenologisch-deskriptiver und wertethischer Hin¬
sicht) „sowohl die Fragen nach der Einstellung des Einzelmenschen aut die Gemeinschaft ..
als auch nach der Daseins- und Lebensform der Gemeinschaft als des Ausdrucks ihres eigenen
Wesens“ zu beantworten. Das geschieht nun nach den verschiedensten Richtungen (wobei oft
weitere Abschweifungen nicht vermieden werden) in den Unterabteilungen: „Die Kunst des
Brückenbauers“, „Der Typus des Sonderbaren“, „Blut und Eisen“, „Macht und Recht“, „Das
Heereswesen und seine Formen“, „National und International“, „Aristokratie und Demokratie“,
und „Die Form im neuen Deutschland“. Der Raum zur Besprechung und die aus den Prinzipien
der phänomenologischen Darstellung hergeleitete Betrachtungsweise, die sich oft in kaum mehr
noch innerlich zusammenhängende Einzelbetrachtungen verliert, verbieten auf Einzelheiten
einzugehen. Dagegen bedarf es noch eines kurzen Blicks auf das Schiußkapitel: „Erziehung
zur Form“. Neben sehr anfechtbaren Gedanken findet sich doch hier sehr gut und deutlich das
Grnndproblem unserer Krisenzeit ausgesprochen (S. 168): „Bildung aber ist, wie der ursprüng¬
liche Wortsinn ankündigt, die Fähigkeit zur Gestaltung, daher nichts Passives, Ruhendes, sondern
etwas Lebendiges, Eigenes, „Persönliches“, kein bloßes Verfügen über Kenntnisse, sondern vor
allem über die Art ihrer Verwertung und Fruchtbarmachung. Erziehung zur Form in diesem
Sinne also bedeutet die Kunst des Gestaltens, der Bezwingung einer stofflichen Mannigfaltigkeit.“
Wird das im Folgenden für die einzelnen Unterrichtsfächer und Erziehungsideale (die Pflicht
zur Selbsterziehung mit eingeschlossen) durchgefübrt und am Schluß die Identifikation von
Formerziehung und Kulturerziehung erreicht, so bleibt nach der Lektüre doch der Eindruck
zurück, daß durch sehr zahlreiche sachliche Abirrungen, stilistische Entgleisungen, peinliche
Druckfehler und die oft merkwürdigen Versuche der Popularisierung der Gedanken (Beifügung
von wissenschaftlichen Fremdwörtern in Klammem) die Forderungen der ästhetischen Formung
keine Erfüllung finden könnten.
Pegau bei Leipzig. Walter Saupe.
Felix Behrend, Bildung und Kulturgemeinschaft. Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 364 S.
Fünfundzwanzig gesammelte Aufsätze und Vorträge, die um ihres sachlichen Inhalts und um ihres
Verfassers willen — Behrend ist der führende Schulpolitiker der deutschen Philologenschaft — das
volle Interesse der pädagogischen und schulpolitischen Öffentlichkeit verdienen. Wir wandern
in dem Buche durch fünf große Gebiete: Methodik, Hochschulpädagogik, Geschichte der Er¬
ziehung, Organisation des höheren Schulwesens, Didaktisches. Die Aufsätze sind aus einer ein¬
heitlichen Grandanschauung entstanden (starke Einflüsse Goerlands und Natorps), zeigen gründ¬
lichste Kenntnis der Literatur, ein feines Einfühlungsvermögen in die verschiedenen Ansichten
und einen sichern Ausgleich zwischen frischem Vorwärtsdrängen und bewußtem Festhalten am
geschichtlich Gewordenen und Wertvollen. Am besten gelungen sind die Arbeiten über die
Probleme der Hochschulpädagogik — Behrend kommt aus der freistudentischen Bewegung —
und die Aufsätze über Reformen im höheren Schulwesen (Reifeprüfung, freiere Gestaltung des
Unterrichts auf der Oberstufe, Planwirtschaft). In den Fragen, in denen sich Volksschule und
höhere Schulen schneiden, vertritt B. vielfach einen dem unsera entgegengesetzten Standpunkt,
aber auch hier wird die Auseinandersetzung sachlich, ruhig und vornehm geführt. Das Bach
ist des Studiums sehr würdig.
Berlin. Georg Wolff.
Dr. Walter Moede, Experimentelle Massenpsychologie. Beiträge zur Experimental¬
psychologie der Gruppe. Leipzig 1920. Hirzel. 289 S.
Die Notwendigkeit, das unüberschaubare Gebiet kollektivpsychologischer Erscheinungen
wissenschaftlich zu erschließen, ist nicht erst heute erkannt worden, wo menschliche Massen,
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Literaturbericht
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Verbände, Gemeinschaften, Gruppen in gegen früher unvergleichlicher Vielgestaltigkeit und Fülle
als Träger kulturellen Lebens auftreten. Von jeher hat vor allem die Erziehung sieh um die
| Erkenntnis und die praktische Auswertung des gruppenpsychologischen Sachverhalts ihres Gebietes
bemüht und so z. B. auch manches Wertvolle zur Psychologie der Schulklasse für die Theorie
and Praxis sichergestellt. Moede, dem mancher kühne und wagemutige Zugriff in der letzten,
erstaunlich schnellen Entwicklung der Psychologie als eines Wissenschaftsbereiches von ganz
hervorragender Kulturbedeutung zu danken ist, stößt nun frisch mit den Mitteln experimenteller
Forschung in die Massenpsychologie vor, und zwar vornehmlich in Richtungen, die für die Päd¬
agogik wertvolle Eroberungen erhoffen lassen. Seine Versuchspersonen Bind vielfach Schüler
der Volksschule, und sie werden u. a. auch in Versuchstätigkeiten gebracht, die — wie das
i Lernen sinnvoller Stoffe — von unmittelbarer Bedeutung für die Schulbildungsarbeit sind. Auch
die Fragestellungen Beiner schon vor dem Kriege ausgeführten Untersuchungen, sind
durchaus von näherer oder entfernterer Wichtigkeit für psychologische Grundlegung erziehungs-
und Unterrichts wissenschaftlicher Lehren. Sie beziehen sich auf: Triebartige Reaktionen in der
Gruppe; kollektivistische Schwellen (akustische Intensitätsschwellen; Schmerzempfindlichkeit);
Willenserscheinungen (zeitliche Verhältnisse der Willenshandlung, Kraftleistung des Willensim¬
palses); Aufmerksamkeit; Gedächtnis und Assoziation. In dem einleitenden theoretischen Teile
[ werden die massenpsychologischen Grundbegriffe geklärt, ist weiter kurz einiges Geschichtliche
angegeben und finden sich Ausführungen zur Methodik der experimentellen Gruppenpsycho¬
logie. — Ein Buch, das in ein ebenso schwieriges wie bedeutsames Gebiet entschlossen und
tapfer die Bahn bricht und sich nicht scheut vor den Unzulänglichkeiten, die jedem solchen
ersten Zugriff anhaften müssen. Wichtig sind für die weiter vordringenden Forschungen die
durch Moede gewonnenen Ansätze: es bleibt sein Verdienst, auch wenn die Ergebnisse ver¬
mutlich bei der Wiederholung und feineren Ausbildung der Versuche ganz gewiß manche Be-
: richtigung erfahren werden, daß er auf bedeutsame Fragestellungen hinweist, die nicht länger
[ mehr vernachlässigt werden dürfen, und daß er zu ihrer Lösung die gangbaren methodischen
Wege zu finden sucht und sie ausprobt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Charlotte Bühler, Privatdozentin an der Technischen Hochschule Dresden, Quellen und
Stadien zur Jugendkunde. Heft 1: Tagebuch eines jungen Mädchens. Jena 1922.
Gustav Fischer. 77 S.
Bereits in dritter Auflage liegt heute das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens* vor,
obwohl es erst 1919 im Internationalen psychanalytischen Verlage erschienen ist. Als Heraus¬
geberin hat sich nachträglich Hug-Hellmuth bekannt. Woher der Erfolg? Wie wir beobachten
konnten, wurde es (auch als sensationelle Lektüre „ausgeboten“) vielfach geschmökert Die Wissen¬
schaft war vorsichtig, es als jugendkundliche Quelle für den weiblichen Entwicklungsgang in
der Unruhe beginnender Reife zu werten. Mit Recht. Denn wer gleich uns seit zwei Jahrzehnten
in den freieren Formen neuzeitlichen Lehrens und Lernens, das ganz anders als alte Schul¬
meisterei in jugendliches Seelenleben einschauen läßt, „höhere Töchter“ und Seminaristinnen
unterrichtet bat und wem dabei im persönlichen, menschlich aufgeschlossenen Verkehre mancher¬
lei Bekenntnisse, Aussprachen, Elternberichte, Briefe, Aufsätze, Zeichnungen und auch Tage¬
bücher die Unterrichtsbeobachtungen ergänzen, der wußte, daß jenes Wiener Mädchen durch¬
aus nicht einen Typus, sondern einen höchst orginellen Einzelfall — nicht zuletzt bedingt durch
das Milieu — darstellt. Es mag sich darum rechtfertigen lassen, daß in einer Zeit, in der un¬
vergleichlich Wertvolleres als Mädchentagebücher — und seien sie als Quelle gedacht — nicht
mehr gedruckt werden kann, ein Seitenstück, ein Gegenstück zu jener Wiener Veröffent¬
lichung erscheint. Was sich hier an seelischem Werden niedergeschlagen hat, ist im ganzen
Zuge und dem meisten des Einzelnen viel gesünder, natürlicher, unverbogener, bei aller Aufgewühlt¬
beit ruhiger und vor allem deutscher. In beigegebenen sparsamen Anmerkungen weist die Heraus¬
geberin, die in ihrem Buche „Das Seelenleben der Jugendlichen“ den „Versuch einer Analyse
\ and Theorie der psychischen Pubertät“ gegeben hat, auf dies und jenes, was ihr typisch erscheint,
mit kurzer Bemerkung hin.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Br. Friedrich Schneider, Prorektor in Enskirchen, Schulpraktische Psychologie.
Eine Einführung in die experimentellen und statistischen Arbeitsweisen der differentiellen
Psychologie. Paderborn 1921. Schöningh. 228 S.
Behandelt werden: Untersuchung der Schulneulinge; Auslese der Begabten und der Schwachen;
Ermittlungen über die geistige Arbeit des Schulkindes; die Lehre von den Vorstellungstypen;
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Literaturbericht
die Beobachtung- und Aussagefähigkeit der Schüler; die Klasse als Individualität Beigegeben
ist der Entwurf eines Individualitätsbogens. — Im Ganzen für den auf Fortbildung bedachten
Lehrer eine brauchbare Einführung, die aus dem umfänglichen Gebiete auswählt, was unmittel¬
bare Beziehung zur Schultäligkeit hat und ohne Apparatur ausführbar ist. Gleichmäßig berück¬
sichtigt werden die Entwicklung der wichtigsten Fragestellungen, die Erörterung der Haupt¬
methoden und die Anführung bedeutsamer Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung.
Auch Aufgaben finden sich angegeben. — Eine Verleitung des Lehrers zum Drauflosexperimen-
tieren an seinen Schülern, die er zu unterrichten und zu erziehen und nicht zum Gegenstände
dilettantischen Wissenschafteins zu machen hat, verschuldet hoffentlich diese schul praktische
Psychologie nicht. So unerläßlich eine genaueste Kenntnis des Gebietes in der Lehrerbildung
ist, so gefährlich die Meinung: es seien die ausgebildeten Untersuchungsverfahren durchweg so
geklärt, geeicht, technisiert, daß sie ohne besondere fachwissenschaftliche Schulung gehandhabt
werden könnten, und es vermöchten — wenn diese Bedingungen erfüllt wären — die experi¬
mentellen Befunde dem Lehrer gerade die psychologischen Aufschlüsse darzureichen, die für
sein Amt am Schüler die allerwichtigsten sind. Zuletzt wird die unerläßliche Einschau in
den Schüler und in die Wirkung der Unterrichtsverfahren doch immer gestellt bleiben auf die
Kunst freien psychologischen Beobachter, das dann allerdings hier und da durch vor¬
sichtige, in die unterrichtliche Tätigkeit mit geschulter Hand zwanglos eingegliederte Versuche
eine Stütze gewinnen kann und zu dem man sich freilich kaum besser heranzubilden vermag
als im Experimentieren — nur daß dieses, wenn es in solcher Ausbildungsabsicht in die
Schule hineingefordert wird, den Sinn der Lehrertätigkeit am Kinde verschiebt Überdies
ergeben sich im laufenden Unterrichte, besonders wenn er arbeitsschulmäßig gestaltet wird, un¬
ausgesetzt Lagen, die ganz natürlich als Versuche aufgefaßt, eingerichtet und ausgewertet
weiden können — wie letzthin schließlich alle unterrichtliche Tätigkeit in gewissem Sinne als
ein stetes Experimentieren vornehmster Art zu begreifen ist.
Heinrich Scharrelmann, Die Technik des Schilderns und Erzählens. Braun-
schweig 1921. Westermann. 2. Aufl. 176 S.
Das Buch ist geschrieben im Sinne eines Unterrichts, der im Kinde die produktiven
Kräfte anregen will. „Je mehr das Kind durch den Lehrer seine alten Vorstellungen, Erfahrungen
und Beobachtungen wieder ins Bewußtsein hebt, um so produktiver wird es innerlich. Die tiefe
Wirkung ist nur dann zu erreichen, wenn der Lehrer seine Worte nach künstlerischen Gesetzen
formt und der Psyche des Kindes anpaßt.“ Ein theoretischer Teil skizziert die Arbeitstechnik
des Lehrers; der praktische zeigt die Bearbeitung von gedruckt vorliegenden Schilderungen.
Sammeln von Material, Mittel zur Belebung des Stoffes und die Erzählung. Die Schrift bringt
mancherlei Anregungen für den schaffenden Lehrer. Nur daß es bei einer Lehrertecbnik nicht
bleibe! Es gilt, vor der Kunst des Lehrers die freie Wirkensweise des Schülers zu
pflegen, ln der neuzeitlichen Pädagogik der Freitätigkeit des Schülers stehen verschiedene An¬
schauungen des Verfassers durchaus fremd da, etwa: „Ich sehe in dem Redenlassen der Kinder,
wenn es dem Lehrer mehr als ein Mittel für seine unterrichtlicben Zwecke ist, nur eine Über-
gipfelung des Arbeitsschulgedankens. Er (der Lehrer) läßt dann die Stunde gehen, wie sie gehen
will. Einen derartigen Unterricht kann jeder halbwegs gescheite Mensch geben. Der Lehrer
hat mehr zu tun und wichtigere Arbeit zu leisten, als eine debattierende Kinderschar zu über¬
nehmen.' 4 Eine grobe Verkennung des bildenden Werts eines freien Lehrgespräches! — Für
Seminaristen und Arbeitsgemeinschaften, denen das Buch wohl in erster Linie zugedacht ist, mag
dieses Werk, das durchaus einfach und verständlich geschrieben ist, ein brauchbarer Wegweiser
in der Technik des Gestaltens sein. In Kauf nehmen muß man freilich die peinlich wirkende
Art Scharre] manns, eine durchaus nicht immer 60 belangvollen Lehren in recht persönlicher Be¬
tonung vorzutragen.
Hainichen bei Otterwisch in Sa. Paul Stenzei.
Kurze Anzeigen.
Dr. med. Ludwig Frank, Spezialarzt für Nerven- und Gemütskrankheiten in Zürich, Seelen¬
leben und Rechtsprechung. Zürich und Leipzig. Grethlein & Co. 410 S.
Vorträge vor Richtern und Rechtsanwälten über forensisch bedeutsame Erscheinungen des
Seelenlebens. Die Darstellung stützt sich durchweg auf „Fälle“ aus eigener Beobachtung in
langer ärztlicher Praxis. Die Deutungen psychoanalytisch, ohne unbedingte Bindung an eine der
herrschenden Schulen. Am ausführlichsten behandelt sind Hypnose und Suggestion und die
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Literaturbericht
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sexuellen Anomalien. Voran geht eine gemeinverständliche allgemeine Einführung in die Grund-
tatsacben und das Gefüge seelischen Geschehens.
Inhalt und Form des Buches ist nicht so eng auf die psychologische Grundlegung der richter¬
lichen Tätigkeit eingestellt, daß es nicht auch anderen Kreisen nützlich und verständlich werden
könnte. Besonders den Pädagogen ist das Gebotene überwiegend unentbehrlich. Der Verfasser
hat ohnedies schon früher in seinem trefflichen Buche „Seelenleben und Erziehung* bewiesen,,
wie er von medizinischer Seite her pädagogisch zu denken versteht. Wenn er jetzt nun Er¬
scheinungen aus dem Seelenleben des Erwachsenen darstellt, so bleiben doch Kindheitserlebnisse,
besonders in ihrer oft entscheidenden Bedeutung für das spätere Leben, nicht unerwähnt. Ober
die Jugenderziehung hinaus ist dann noch sozialpädagogisch wertvoll, wie Frank in psychisch*
Untergründe des Ehelebens hineinleuchtet.
Matthias Meier, Der Seelenbegriff in der modernen Psychologie. München o. J.
I Hoeber. 24 S.
Kritische Erörterungen vom Standpunkte katholischer Weltanschauung mit dein Versuche,
die „Psychologie ohne Seele u abzutun. „Mit starkem wissenschaftlichen Akzente und mit be¬
sonderer persönlicher Wärme dagegen lehrt und erlebt Augustinus die Verschiedenheit und
Selbständigkeit des Ich gegenüber dem psychischen Geschehen. In dieser lebendigen Sub-
stantialität und immaterialen Realität der Menschenseele haben wir die wahre Heimat der Be¬
wußtseinsvorgänge.* 4
Hans Apfelbach, Das Denkgefühl. Eine Untersuchung über den emotionalen Charakter
der Denkprozesse. Wien 1922. Braumüller. 65 S.
Der Versuch, auf Grund von Erscheinungen, wie sie im Traume, bei genialer Geistestätigkeit
t usw. gegeben sind, dem begriffsmäßigen Wortdenken ein Denkfiihlen gegenüberzustellen und
schließlich alles menschliche Denken auf ein Fühlen zurückzuführen. Die so entwickelte neu*
Theorie der Denkvorgänge wird zu erweisen versucht an ihrer Kraft, die und jene psycho-
pathologiscben, tierpsychologischen, parapsychischen Phänomene aufzuhellen. Versäumt ist, zu¬
vor eine klare begriffliche Festlegung von Gefühl und Denken herbeizuführen.
Dr. Karl Boehm, Prof. a. d. Technischen Hochschule Karlsruhe, Begriffsbildung. Karls¬
ruhe 1922. G. Braun« 46 S.
Eine rein erkenntnistbeoretiscb eingestellte Darstellung, in deren Mittelpunkt das Wesen
der Definition steht Dabei noch eingeengt auf die Begriffslogik der Mathematik, ohne damit
aber dem, der nicht im Fache steht, unverständlich zu werden, wenn er nur einigermaßen im
philosophischen Denken bewandert ist
Otto Rühle, Kind und Umwelt. Eine sozialpädagogische Studie. Berlin-Fichtenau 1920.
Verlag Gesellschaft und Erziehung. 32 S.
Familie, Haus, Straße, Heimat als Lebensstätte des Kindes — heute und früher. Beschrieben -
und bewertet aus der pädagogischen Sehnsucht und Leidenschaft des Kommunisten heraus. Und
in Schwarzweißmalerei gehalten. Das Jugendleben alter Zeit in zu freundlich helles Licht ge¬
taucht; das Proletarierkind unserer Tage in dunkelste Schatten gerückt. Die Eingliederung
statistischen Materiales darf nicht darüber wegtäuschen, daß unzulässige Verallgemeinerung,
gefährliche Herauslösung aus dem Lebepsganzen und einseitige Deutung vom politischen Partei¬
dogma aus — einzig die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist verantwortlich! — die Sachlich¬
keit und Richtigkeit vielfach trübt. Bei alledem aber: richtig ist die Forderung, daß die öffent¬
liche Erziehung das Kind erfassen und nehmen soll nicht in einem künstlichen Ftir-sich-sein,
sondern es zu sehen und zu begreifen hat in seiner soziologischen Bedingtheit; richtig auch ist es,
in tiefer menschlicher Ergriffenheit rastlos aufzuspüren, wo Kinderelend nach Hilfe schreit. Nur
glaube man heute von vornherein nicht, es nicht auch in Bürgerhäusern suchen zu müssen.
Dr. med. Otto Mönkemöller, Direktor der Heil-und Pflegeanstalt Hildesheim, Die geistigen
Krankheitszustände des Kindesalters. Leipzig 1922. Teubner. 127 S.
Eine Schrift der vorliegenden Art ist oft geäußerter Wunsch gewesen. Lehrer, Fürsorge¬
beamte und auch wohl Eltern verlangen nach einer knappen, gemeinverständlichen, zuverlässigen
Einführung in das bedeutsame Gebiet. Durch die berufene Hand des Arztes wird sie in dem
vorliegenden Bändchen aus der Sammlung „Natur und Geisteswelt* dargereicht. Sie läßt den
berechtigten Wunsch nach Einfügung von „Fällen* in die behandelten Erscheinungen offen*
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Literaturbericht
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Inhalt: Die Ursachen der geistigen Abweichungen des Kindesalters; der angeborene Schwach¬
sinn; die Epilepsie; die Hysterie; Nervosität und Nervenkrankheiten; die Psychopathen; die
Psychopathologie der Pubertätszeit; die Geisteskrankheiten des Kindesalters; die kindlichen
Verbrecher; Behandlung.
Dr. Johannes Prüfer, Die Kinderlüge — ihr Wesen, ihre Behandlung und Ver¬
hütung. Leipzig 1920. Teubner. 48 S.
Ein Heftchen aus der verdienstlichen Sammlung „Die Elternbücherei“. Darum mit bewußtem
Verzicht auf wissenschaftliche Behandlung des reizvollen Gegenstandes, der in fachpsychologischen
Untersuchungen heute bis in alle seine weiten Verzweigungen und in die Verflechtung mit be¬
nachbarten seelischen Erscheinungen ziemlich durchsichtig geworden ist. Sollten aber deutsche
Eltern — auch die ohne gelehrte Bildung — nicht eine tieferführende Darstellung vertragen und
verlangen? Wer von sich aus den Zugang zum pädagogischen Buche sucht, darf in seinen
geistigen Bedürfnissen und seiner Kraft nicht unterschätzt werden. Eine einfachere Darstellung
über Gestaltung und Ergebnisse der Aussageversuche wäre z. B. in einem Schriftchen über Kinder¬
lüge auch für weitere Kreise anziehend und lehrreich. Dafür könnte dann Ähnliches wie S. 13
und 14 das seichte Gescbichtchen Salzmanns von 1780 — das heute selbst Kindertanten älteren
Stiles unerträglich sein dürfte — ohne Schaden wegfallen. — Inhalt: 1. Arten der Kindeslüge
und ihre pädagogische Behandlung (Erinnerungslügen, Phantasielügen, Abwehr-, Angst- und Not¬
lügen, heroische Lügen, Verstandes- und Gewobnheitslügen). 2. Verhütung der Kinderlügen durch
allgemeine Erziehung zur Wahrhaftigkeit („Die Heilkraft der Pädagogik ist verschwindend“. S. 31;.
3. Lüge und Gott
Aloys Legrün, Die Schülerschrift in zeitgemäßer Betrachtung. Mit 65 Abbildungen
Wien 1922. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 137 S.
Zu den zahlreichen Arbeiten über „Schreiben im neuen Geiste* gesellt Aloys Legrün, der
schon früher Grundlagen und Wege eines naturgemäßen Schreibunterricbtes in einem an¬
sprechenden Schriftchen behandelt hat, den vorliegenden Beitrag, in dem er, auf dem aus¬
gebreiteten einschlagenden Schrifttum fußend, mancherlei Neues zu bieten hat Ein vordring¬
licher Zug seiner Darlegungen ist der Versuch, zu zeigen, wie eine freiwüchsige, d. h. nicht auf
Erlernung eines Normalduktus gestellte, sondern durchaus persönliche Handschrift zu beurteilen
ist und in psychologischer Auswertung für die Schülerbeschreibung wertvoll wird. Darum
werden u. a. auch die Pathologie der Schrift, die Schreibweisen der Hilfsschüler und die Frage
der Graphologie ausführlicher, als es sonst in ähnlichen Darstellungen geschieht, behandelt
Der Verfasser schöpft dabei aus wissenschaftlichen Quellen, verwertet aber durchweg auch
eigene Untersuchungen. Bemerkenswert ist, wie vielenorts auf Sachverhalte hingewiesen wird,
die für forschende psychologische Arbeit des Schreiblehrers ein ergiebiges, reizvolles und
nicht zu schwieriges Betätigungsfeld bieten. Von allen Lehrern aber, die es in ihrem Unterrichte
irgendwie mit „schreibendem Lernen* zu tun haben, fordert Legrün — was so oft mangelt —:
„Schriftgewissen*.
Erziehungskunst, 5.—7. Heft der „Sozialen Zukunft*, herausgegeben vom Schweizer Bund
für Dreigliederung des sozialen Organismus. Dörnach 1922. Verlag „Der kommende Tag*.
S. 167—262.
Eine Sammlung kleiner pädagogischer Skizzen vornehmlich aus dem Kreise derer, die aus
der Freien Waldorfschule in Stuttgart im Geiste Rudolf Steiners eine neue Erziehung zu verwirk¬
lichen streben. Einige Beispiele: Arbeitsfreude und Arbeitszwang; Der Rhythmus in der Er¬
ziehung; Vom Geschichtsunterricht; Das Prügeln als Erziehungsmittel; Der fremdsprachliche
Unterricht in der Freien Waldorfschule. Sympathisch ist einer der Einleitungsartikel: „Die päd¬
agogische Zielsetzung* von Steiner selbst. Caroline v. Heydebrand dagegen berichtet sehr belanglos
ihre Beobachtungen über Phantasie und künstlerische Betätigung bei den 10—11 jährigen Kindern
der fünften Schulklasse. Im Ganzen: meist pädagogische Stimmungen, Anschauungen und Ge¬
danken, die auch sonst — ohne der anthroposophischen Lehren zu bedürfen — der großen
pädagogischen Reformbewegung in Deutschland nicht fremd sind. Sch.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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■Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung.
K Ein Beitrag zur kulturpädagogischen Reform.
I Von Walther Saupe.
B Wenden wir uns zunächst den subjektiv-psychologischen Grundlagen
HDseres Erziebungsproblems zu, so haben in letzter Zeit besonders Konrad
Siedler 1 ) und Heinr. Rickert 2 ) den Begriff der „Erlebniswirklichkeit“
bum Zentrum ihrer ästhetischen Untersuchungen gemacht und zugleich in
Ehr die Wurzeln für das wissenschaftliche und für das künstlerische Verhalten
Mlafgedeckt. Beide gelten ihnen als Umformungen jener Erlebniswirklichkeit,
Ifod daraus gewannen sie als methodischen Kunstgriff die Möglichkeit der
wnsicht in ihr Wesen durch die gegenseitige Abgrenzung von wissenschaft-
jphem und künstlerischem Verhalten. Jenem fiel die begriffliche, diesem die
jpschauliche Methode zu. Fiedler konstituierte auf dieser Grundlage das
{Weltbild der Wissenschaft als Begriffszusammenhang und im Gegensatz hierzu
[jflfaa Weltbild der Kunst als Anschauungszusammenhang. Schärfer und unter
Beseitigung mancher dabei sich findender logischer Mängel hat dann Rickert
0(4 a. 0. S. 6f.) die Stellung des ästhetischen Wertgebiets im transzendentalen
Bßystem bestimmt: als heterogenes Kontinuum, das sich ihm darstellte als ein
Wartwährend wechselndes Gewühl von in jedem Augenblick erlebbaren Ein¬
blicken. Und war dieses auch als Ganzes zunächst von ebenso extensiver
Wie intensiver Unübersehbarkeit, so fand er gerade in deren Überwindung
-feen Sinn eines jeden mehr als nur erlebenden Verhaltens. So galt ihm also
:das ästhetische Verhalten zunächst schon als sinnvoll, und die Frage nach
dar notwendigen Geltung der Kunst sah er beantwortet in der Ableitung der
l/sinnvollen ästhetischen Erscheinung aus dem ästhetischen Werte. Wenden
1 ‘ärir uns nun dem Leben in seiner Unmittelbarkeit selbst zu, indem wir den
Widerhaarigen Komplex dieser psychologischen Fragen an seiner gefährlichsten
Stelle packen: der zum Schlagwort gewordenen Erlebnisfrage.
Was ist Erlebnis? Einer jungen, feingebildeten Dame wurde der drei¬
malige Besuch und vor allem die stets wechselnde „Besetzung“ der bekannten
Operette „Das Dreimäderlhaus* zu stets größerem „Erlebnis“, während die
'Schickseisschläge ihrer Liebe, die in ihr den Entschluß gezeitigt hatten, niemals
Iteiraten zu wollen, nur den Grad der „Erfahrung“ erhielten. Und auf der
, anderen Seite denke man an das ungeheure „Erlebnis“, das Pfitzners Palestrina
ftr einen Th. Mann 3 ) wurde. Mit solcher Begriffsverwirrung kommen wir
• *) Siehe „Schriften über Kunst“, herausgeg. von Herrn. Konnerth (2 Bde., München 1913ff.).
Zur Geschichte dieses Problems vgl. Fr. Kreis: Die Autonomie des Ästhetischen in der neueren
^Philosophie (Tübingen 1922) S. 79ff., 91 ff.
I .*) Siehe „System der Philosophie“ Bd. I (Tübingen 1921).
!f V. Siehe Betrachtungen eines Unpolitischen (Berlin 1919) S. 407—423; neuerdings auch als
' Säparaidrnck.
* Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 9
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Walther Saupe
nicht weiter, wenn eben der Mut fehlt, auch durch die Welten des reinen
Gefühls und des triebhaften Willens rationale Linien zu ziehen 0*
Nur bei einem vielversprechenden Denker und Schüler Ed. von Hartmanns
scheint mir diese psychologische Durchdringung und logische Umgrenzung
des „Erlebnisses“ gelungen zu sein: in Leopold Zieglers bedeutungsvollem
Buche „Der ewige Buddho“ 2 ). Formen und Stufen ergaben sich seiner vor¬
sichtig-eindringlichen Analyse fast von selbst, die auch auf dem ästhetischen
Gebiete unterschieden werden dürfen. An erster Stelle steht die Forderung,
das der Intuition verdankte ästhetische Erlebnis vom Stoff der bloßen Er¬
fahrung loszulösen, wenn wir diese im intellektuell-begrifflichen Sinne ver¬
stehen. Sicherlich ist, wie oben erwähnt, auch diese letztere Auffassung
eine Umformung der Erlebniswirklichkeit, aber doch im Sinne eines all¬
gemeingültigen, stets wiederholbaren Begriffszusammenhangs. Im ästhetischen
Erlebnis hingegen liegt ein Anschauimgszusammenhang vor, und damit stehen
wir schon vor der zweiten Forderung: das Erlebnis der ästhetischen Sphäre
bedarf kraft seines subjektiven Charakters zu seiner Konstituierung der Ein¬
maligkeit und streng individuellen Bezogenheit — Und dazu tritt als drittes
Kennzeichen die schicksalhaft-plötzliche Offenbarung, die beim ästhetischen
Erlebnis im Eruptivcharakter des Schaffens und in dem Erregungszustand
des künstlerischen Genießens oder reproduktiven Gestaltens sich ausprägt.
Von hier ist dann nur noch ein Schritt zur letzten und höchsten Form und
Stufe: der totalen Verschmelzung von realem Sein des schaffenden Künstlers
und ästhetischem Gegenstand, wo dem Schaffenden oder Genießenden die
künstlerische Form als Seinsform gilt (a. a. 0. S. 129). —
Dies führt nun schon von selbst zum zweiten wichtigsten Problem des
ästhetischen Bewußtseins: zur ästhetischen Einfühlung. Daß sie ebenso
wie die Form des Erlebens zu den psychologischen Erregungszuständen gehört,
wird bei ihr noch deutlicher als bei jener. Denn die Einfühlung ist plastischer
und aktiver als das Erleben und das kontemplative Sichversenken; sie be¬
deutet eine Verschmelzung der Persönlichkeit mit dem Wesenszusammenhang
des objektiven Kunstwerks, der sinnlichen Anschauung mit Affekten und
Leidenschaften 3 ). Das eigene innere Leben wird in daB künstlerische Objekt
projiziert, und dessen Schönheit ist dann nur der Widerschein der individuellen
Persönlichkeit mit allen ihren seelischen Stimmungen und Strebungen, und
allein diese unmittelbare Verbindung unseres Wesens mit dem Kunstwerk ver¬
dient den Namen des intuitiven Erlebens 4 ).
Zunächst gehört die Einfühlung dem Gebiete der allgemeinpsychologischen
Probleme an, stellt aber andererseits nur einen, allerdings beträchtlichen Teil
des ästhetischen Verhaltens dar. Damit kehrt die Untersuchung zu der aus¬
führlichen Behandlung der „Umformung der Erlebniswirklichkeit“ zurück:
Die sinnlich wahrnehmende Betrachtung nimmt den Gegenstand in seiner
oft noch ganz chaotischen Realität hin; die intellektuelle Erfahrung spaltet
■) E. Spranger, Lebensformen (Halle 1921 *) S. IX.
*) Leop. Ziegler, Der ewige Buddho. Ein Tempelschriftwerk in 4 Unterweisungen (Darm¬
stadt 1922) S. 123ff.
3 ) Vgl. „System der Ästhetik“ 3 Bde. (München 1905—1914).
4 ) Sehr eindrucksvoll hat M. Weber in seinem vielumstrittenen Vortrag: „Wissenschalt als
Beruf“ seine Gefahren bekämpft (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Tübingen 1922)
S. 524ff.; bes. S. 531).
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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung
131
das reale Sein in Wesen und Erscheinung und glaubt erst mit dem Denken
der Wissenschaft und mit ihren Begriffen die wahre Realität als eine andere
Realität aufzufinden, welche hinter der gegebenen irrationalen Wirklichkeit
des unmittelbaren Lebens liegt (Rickert a. a.O. S. 200); die ästhetische Be¬
trachtung endlich erfaßt in ihm zugleich „das ideell darin gegebene Leben*,
zu dem das sinnliche Objekt nur das Symbol darstellt Ob man nun mit
Lipps 1 ) die Einfühlung in ihrem strengen Sinne für unser Bewußtsein als
schöpferischen Einfühlungsakt auffaßt, das ästhetische Verhalten geradezu
einer restlos ausschöpfenden, vollkommenen Einfühlung gleichsetzt und als
ihre Hauptwerte die reflexionsfeindliche Unmittelbarkeit des Gefühls und die
ungewöhnliche Vielgestaltigkeit ihres Vermögens, in die Kunstobjekte aller
Arten einzudringen, statuiert oder mit Volkelt 2 ) vorsichtiger nur von ob¬
jektiv-gegenständlichem Einfühlungsergebnis spricht, steht hier nur insoweit in
Frage, als für die pädagogische Einstellung, wie sie hier vorliegt, die
dynamisch-teleologische Auffassung von höherem Werte ist
n.
Schon ist damit ein Grenzgebiet betreten. — Die ästhetische Wertlehre
ist bisher vielleicht weniger ausgebaut als umgrenzt worden, und in diesem
Sinne mag hier nochmals — im Anschluß an Rickerts Gedankengänge
(a.a. O. S. 335f.) — betont werden: nicht die Kunst in ihrer geschichtlichen
Entwicklung, noch der reale psychische Prozeß des künstlerischen Schaffens
und Genießens, noch die Behandlung der gesellschaftlichen und wirtschaft¬
lichen Gesetze, denen das künstlerische Leben etwa unterworfen sein dürfte,
ist Sache der Ästhetik als Wertwissenschaft, sondern ihre Bearbeitung ist den
Wirklichkeitswissenschaften (Kunstgeschichte, Psychologie des künstlerischen
Schaffens, Soziologie der Kunst u. a.) zuzuweisen, die ihrerseits natürlich
ästhetische Wertbegriffe verwerten dürfen, um vielleicht ihr Gebiet abzugrenzen
oder zu zergliedern 3 ).
Das sieht alles wie Verengerung des ästhetischen Wertgebietes aus, und doch
muß umgekehrt von Erweiterung hier die Rede sein; denn ebenso wie im
Schönheitsbegriff neben dem Anmutigen auch das Charakteristische Aufnahme
finden soll, so treten neben die Kunstwerke auch Natur dinge als Träger
ästhetischer Werte, wodurch sich zugleich erweist, daß mit dem Kulturbegriff
allein das Gebiet der ästhetischen Werte sich nicht umfassen läßt Rickert
(a. a. 0. S. 337) hat sogar betont, daß das Naturschöne in der Tat das ästhetisch
Ursprüngliche sei, wodurch die Kunst dann zu einer besonderen Ausbildung
der Naturgegebenheiten ward.
Das Interessanteste für die pädagogische Einstellung ist nun, daß die Sach¬
lage sich hier gerade ins Gegenteil verkehrt: ist für die Ästhetik als Wissen¬
schaft das Naturschöne zu bewerten als das Vorkünstlerische, so soll
(Rickert a. a. O. S. 338) für die Pädagogik gelten, daß wir erst an Kunst-
') Die Probleme sind unter verwandten Gesichtspunkten klar dargelegt von Job, Richter,
Bildende Konst und Vergeistigung der Erziehungsarbeit (Leipzig—Prag—Wien 1916) und von
Th.A. Meyers Vortrag „Die ästhetische Erziehung in der Schule“ (Tübingen 1919).
*) Siehe Volkelt, Das ästhetische Bewußtsein (München 1922) S. 531.
*) Zur systematischen Grundlegung dieser Gedanken vgl. die früheren, hier veröffentlichten
Arbeiten; .Bildsamkeit und Persönlichkeit* (Bd. 20 [1919] S. 289ff.) und .Das Wertproblem in
«einer Bedeutung für die innere Organisation des höheren Schulwesens* (Bd. 22 [1921] S. 87ff.).
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132
Walther Saupe
werken lernen sollen, die Natur sei schön, also wie ein Kunstwerk an¬
zusehen.
M. E. verläuft gerade zwischen Anerkennung und Ablehnung dieser For¬
derung die Trennungslinie zwischen den sogenannten wissenschaftlichen und
den sogenannten kunsttechnischen Fächern schlechthin: jene mögen ausgehen
vom Kunstwerk und einer historisch-psychologischen Analyse seines Ent¬
stehungsprozesses (darüber später!), diesen aber soll man die unmittelbare
Verbundenheit mit Lebenswirklichkeit und Naturschönheit belassen, auf daß
sie, wie es Medicus 1 ) zum Ausdruck gebracht hat, unter Wiederbelebung der
platonischen Metaphysik, den „Geist in der Wirklichkeit selbst suchen: in ihr
und nur id ihr ist er wirklich. ... Denn eben dieses Leben des Wirklichen
ist die Wirklichkeit des Geistes“ (a. a. O. S. 32).
Haben wir bisher den Umkreis der ästhetischen Werte abzustecken ver¬
sucht, so taucht natürlich nunmehr auch die Frage nach ihrer Ableitung
auf, und da hat zunächst als oberster Satz zu gelten: der ästhetische Wert
darf an sich nur aus dem Werke selbst genommen werden. Und doch ergäb e
das eine Betrachtungsweise, die nur den Standpunkt des Genießenden ins
Auge faßt, der nur das Fertige und damit vom Prozeß des künstlerischen
Schaffens Losgelöste vor sich hat, der somit vergißt: daß es die „Ausstrahlung
eines Genies, die Tat eines Schaffenden und die Auswirkung lebendiger
Kräfte darstellt. Deshalb soll aus der im Kunstwerk gegebenen Kristallisation
der künstlerischen Persönlichkeit der ästhetische Wert abgeleitet werden“
(Moritz Geiger).
Aber neben den Engherzigkeiten der rationalistischen und formalistischen
Ästhetik drohen auch innerhalb der normativen Ästhetik selbst schwere Ge¬
fahren der Einschnürung und Fesselung der Reichtümer des ästhetischen
Gebietes in den zu engen und festen Rahmen einer einzigen ästhetischen
Norm. Es ist deshalb eines von Volkelts bedeutsamsten Verdiensten, durch
eine sich zuletzt doch wieder zur „föderativen“ Einheit (System Bd. Hl,
S. 534 ff.) zusammenschließende Vierzahl von ästhetischen Selbstwerten einer
zugleich psychologischen und wertenden Durchdringung des ästhetischen Ge¬
biets den festen Boden bereitet zu haben (System Bd. I, S. 388ff.; 554ff.;
Bd. III, S. 435ff.), eine Basis, die er in seinem Buche „Das ästhetische. Be¬
wußtsein“ wesentlich erweiterte, indem er zur gegenständlichen Fassung
dieser Normen noch ihr Verhältnis zur ästhetischen Einfühlung hinzubrachte
(a. a. 0. S. 45ff). — Und weiterhin verdanken wir Volkelt die weit über
die experimentelle und psychologische Betrachtungsweise hinauBgreifende
Erkenntnis, daß der Zusammenschluß der ästhetischen Elementarbedürfnisse
unseres seelischen Lebens nicht nur einen gemeinsamen Urgrund, sondern
auch ein gemeinsames Ziel verfolgen müßten: die Harmonisierung
des Seelenlebens (System Bd. III, S. 437ff.), das erst jenen Bedürfnissen
ihre Befriedigung bereiten könnte, und diese fand er auf der objektiven
Seite: der Gegenständlichkeit des Kunstwerks.
Aber die ästhetische Wertforschung hat damit noch nicht ihr letztes Ziel
erreicht, und damit sind auch wir noch nicht mit unseren Fragen am Ende :
vor uns-erhebt sich zunächst das Problem der Abgrenzung alles ästhe-
') Vgl. den Aufsatz: „Bildende Kunst und Wirklichkeit“ in seinem wertvollen, anscheinend
wenig beachteten Buche „Grundlagen der Ästhetik“ (Jena 1917) S. 16 ff.
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Grundsätzliches zum Problem der kflnstlerischen Erziehung
133
tischen Erlebens und Schaffens vom außerästhetischen, dem das pädagogische
Problem der allgemeinen künstlerischen Erziehung korrespondiert und
sodann: das Problem der Wertscheidung von berechtigtem und un¬
berechtigtem ästhetischen Erleben und Schaffen, von guter und schlechter
Kunst, der die spezifisch-ästhetische Bildung korrespondiert Wieder
um erhebt sich dabei allenthalben der dringende Ruf nach philosophischer
Begründung und nach dem metaphysischen Hintergrund. Nur so kann
schließlich auch — in Abwehr gegen Tolstoi — die Kunst als Kulturgut
und Lebensform gerechtfertigt werden; nur so auch das berühmte Problem
• des Aristokratismus 1 ) entschieden werden.
IU.
Es wird nun Zeit, in die Schule gleichsam selbst einzutreten.
Von vornherein ist auch hier zu betonen: in der Schule handelt es sich
\ in erster Linie um künstlerische Erziehung, nicht um die Vorherrschaft
von künstlerischem Genießen und Gestalten, und an die Spitze tritt somit
das Verständnis für das Schöne und'die Kunst Und fernerhin steht im
Zentrum dieser Untersuchungen der Lehrer und die Frage seiner ästheti¬
schen Bildung, weil ja doch von drei Seiten her die Wogen des künstlerischen
Lebens ihm zufluten: vom Kunstwerk her, von der Persönlichkeit seines
Schöpfers (oder Vermittlers) und endlich vom Schüler oder Zögling her.
| Nach drei Seiten lenkt er also seine Aufmerksamkeit: auf die ästhetischen
Lebensformen des Künstlers, fernerhin des seiner Führung sich anvertrauenden
(nur diese Beziehung hat wahrhaft erzieherischen Wert!) Zöglings und auf
das Kunstwerk als Tat eines Künstlers und Kristallisation seines Persönlich¬
keitswertes. — Führen wir nun zunächst das Ästhetische der Natur und der
Künste auf eine Form geistiger Sinngebung zurück 2 ) und wollen wir sie in
uns und im Zögling zur ästhetischen Lebensform sich entfalten lassen, so gilt
es zunächst, den Blick auf eine individuell-konkrete, bildhafte Ge¬
gebenheit zu lenken, mag sie nun der Wirklichkeit oder der Phantasie
angehören. Die zweite Forderung aber besteht darin, alle aus anderen
Kulturgebieten stammenden geistigen Akte unter die Herrschaft des
ästhetischen Aktes herabzudrücken. Man kann dies unter dem Aus¬
druck „Entstofflichung“ oder „Entlastung“ zusammenfassen und zur näheren
Verdeutlichung hier auch von imaginativer Gegenständlichkeit 1 ) sprechen,
in die das ästhetische Gebilde emporgehoben werden solL — Aber jene
seelischen Funktionen sind nicht nur die Kraftquellen für das ästhetische
Genießen, sondern schließen auch in sich den Trieb, den ästhetischen Ge¬
halt dieser Erlebnisse in einer produktiven Schöpfung (s. Spranger,
a. a. 0. S. 149 ff.) zur Entfaltung und zum seelischen Ausdruck zu bringen.
Hier wurzelt jenes Gesetz des höchsten Ausdrucks, und, wie schon
erwähnt, kommt es hier keineswegs auf die volle Realität des Objekts an,
da eine photographisch getreue Wiedergabe der ästhetischen Schöpfung zu-
' wider sein könnte. Nur den Gesetzen der Sache und der Seele erweist sich
1 RTroeltsch, Ges. Schrift. Bd. UI; I, S. 148.
*) Ober die psychologischen Voraussetzungen vgl, besonders Sprengers „Lebensformen*“
8- 21 ft. n. 47fL
*) Ober die ihr korrespondierende imaginativ» Befriedigung vgL die Ausführungen von
Lsop. Ziegler in seinem Buche: „Volk, Staat und Persönlichkeit“ (Berlin 1917) S. 201fL
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134
Walttaer Saupe
diese Qestaltung als untertan. Und auch sie dürfen nicht bewußt werden
als theoretische Einsichten von allgemeiner, zeitloser Geltung, sondern sollen
nur geahnt werden am konkret-sinnlichen Gebilde. Nur so kommt es zur
Bildung der Form als der Verschmelzung von seelischer Bewegung und objektiver
Gegenständlichkeit des Kunstwerks im Phantasieerlebnis.
In diesem Zusammenhang erhebt sich vor allem die Frage nach der All¬
gemeingültigkeit ästhetischer Urteile. Soweit man hier überhaupt
von Urteilen sprechen darf, die doch stets einen metaästhetischen, also
intellektuellen Grundzug in die ästhetische Reinheit hinein bringen, ist eine
solche Allgemeingültigkeit im Sinne der Zeitüberlegenheit a priori nicht
denkbar, da ästhetisches Erlebnis der Einzelseele und seelischer Gehalt des
Kunstwerks historisch, geographisch, auch soziologisch bedingt sind ')• Nur in
dem einen Falle, wo die ewigen rational erfaßbaren und erfaßten Gesetze
der objektiven Welt mit dem im Kunstwerk zum Ausdruck kommenden
allgemeinsten Seelengesetze verschmolzen werden, haben wir die Darstellung
des Allgemeinen am besonderen konkret-sinnlichen Fall. Mit Recht hat man
hierin den Typus der sogenannten klassischen Kunst aufgedeckt:
nicht nur der griechischen, sondern auch einer jeden ihrer Nachfolgerinnen,
die nach den gleichen Idealen strebt.
Fassen wir-zunächst in aller Kürze den Anteil des ästhetischen Ver¬
haltens an den wissenschaftlichen oder Kulturfächern ins Auge.
In den historisch-ethischen Fächern — der Religion, der Geschichte, auch
der Geographie, die doch auf Grund ihrer Geltung als „Brücke vom natur¬
wissenschaftlichen zum historisch-geistigen Denken" 2 ) auch zu den genannten
Fächern gehören muß — ergibt sich von allein die Forderung, die monumentalen
und schriftlichen Kunstdenkmäler in den Umkreis der Betrachtung zu ziehen,
um den Anteil des Ästhetischen am Geiste der Zeit, an den Sitten der
Gegenden, an den religiösen oder sozialen Anschauungen der Bewohner klar
werden zu lassen. — Und was ,die fremdsprachlichen Fächer anbetrifft,
so wird es leicht sein für jeden denkenden Jugendbildner, der sich nicht
mit dem starren Festhalten an der durch „Alter geheiligten Tradition" (die
dann den Ehrennamen der „Erfahrung" erhält!) begnügt, auf die mathematisch¬
gesetzmäßige Schönheit, auf die innere Logik und Symmetrie, auf Analogie
und Anomalie als auch ästhetisch fesselnde Erscheinungen der sprachlichen
Gebilde und ihren Aufbau nach historischen und systematischen Gesichts¬
punkten hinzuweisen, von den klanglichen, rhythmischen und phonetischen
Gesetzen und Entwicklungsprozessen ganz zu schweigen. Doch auch hier
ist das Wichtigste, den Geist der Zeiten, der Völker, der schöpferischen
Individuen und ihrer ästhetischen und ethischen Anschauungen aufleuchten
zu lassen und so dem anscheinend Öden, abstrahierenden Netz der Begriffe
den schimmernden Untergrund der konkreten Fülle individueller Er¬
scheinungen, Schöpfungen und gedanklicher Prägungen zu unterbreiten.
») Die Erkenntnis der soziologischen Grundlagen für die einzelnen Kunstgattungen danken wir
unter anderem besonders den Forschungen von P. Bokker (Das deutsche Musikleben« Berlin 19131
Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler. Berlin 1918); Ad. Weiß mann (Die Musik in der Welt¬
krise. Stuttgart—Berlin 1922, S. 29ff.) und Max Weber’s posthumen Torso: „Die rationalen
und soziologischen Grundlagen der Musik.“ München 1921).
*) Vgl Hettners bekannten Vortrag »Die Einheit der Geographie in Wissenschaft und Unter¬
richt*^ Geograph. Abende im »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 44 1919.1. Berlin) S. 16 ff.
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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung
135
Die Hauptprobleme der modernen, auf kulturphilosophischer Grundlage
sich aufbauenden Pädagogik liegen m. E. freilich an anderer Stelle, und von
dieser Neuorientierung am Wesen des modernen Geistes wird auch das Gebiet
der künstlerischen Erziehung ergriffen. Es handelt sich um den Versuch,
die Kategorien der formalen Geschichtslogik 4 ) auf den Anteil, den historische
und systematische Betrachtungsweise und Methode an der künstlerischen
Erziehung nehmen, in Anwendung zu bringen. Stellen wir nun wiederum
in deren Mittelpunkt die Interpretation monumentaler und-literarischer Kunst¬
schöpfungen (im weitesten Sinne bis hin zu Inschriften, Tagebüchern und
Briefen), so erscheint als erste Pflicht: an einem oder an einer kleinen An¬
zahl von Beispielen einen bestimmten Typus herauszuarbeiten und an ihm
die weiteren Beispiele nach dem Maße ihrer Zugehörigkeit und individuellen
Sondergestaltung zu prüfen, zu bewerten und in den Prozeß der universalen
Kulturentwicklung einzuordnen. An diesem Punkte läßt sich vielleicht ein
zweifacher nie zur Ruhe gelangender Streit auf pädagogischem Gebiete
schlichten: der Antagonismus zwischen Dogma und Selbsttätigkeit
und zwischen Deduktion und Induktion. Um mit diesem zu beginnen: der
Typus muß letzten Endes doch durch Deduktion, d. h. in der möglichst fertigen
Form des Ergebnisses, dem Zögling übermittelt werden, und erst mit der
weiteren vergleichenden und bewertenden Orientierung der Einzel- und Sonder-
fille an diesem Typus beginnt die induktiv-empirisch-experimentelle Betätigung
des Zöglings. Damit ist aber auch schon gesagt, daß die in oft unendlich langer
und mühsamer, wissenschaftlicher Arbeit errungenen und gesicherten
Erkenntnisse den Anspruch auf dogmatische Geltung in gewissem, für jeden
Fall näher zu bestimmenden Umfang beanspruchen dürfen und daß die
selbsttätige geistigeBetätigung des Schülers erst von dieser festen
Baste aus mit Aussicht auf wertvollen und nachhaltigen Erfolg begonnen
werden kann 3 ). — Von allein verlangt jede Darstellung des kulturellen Ent¬
wicklungsprozesses sodann nach sachlicher und geschichtlicher Gliederung in
Quer- und Längsschnitte. Das führt zu dem Problem der Akzentuierung:
in unserem Falle der besonderen Heraushebung der ästhetisch orientierten
und akzentuierten Epochen, und damit zugleich zum Problem der Periodi-
sierung in der Kunstgeschichte (im weitesten, geistesgeschichtlichen Sinne).
Diese Periodisierung ist gerade im Laufe der letzten Jahre durch die Neu¬
festsetzung der periodischen Gliederung in heftige Bewegung 3 ) geraten
und hat besonders bei den Konstrukteuren des universalhistorischen Pro¬
zesses zur Konstituierung fester Gesetzmäßigkeiten geführt. Hierbei ist die '
Kategorie, der individuellen Totalität besonders wirksam geworden,
und man möchte sie auch auf ästhetischem Gebiete angewandt sehen, wo es
0 Das geschieht im engsten Anschluß an den bahnbrechenden Vortrag von Troeltsch:
..Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung“, der jetzt den Grundstock zu dem
Kapitel (I, 3): Die formale Geschichtslogik“ seines großen Buches über den „Historismus und seine
Probleme“ (—• Ges. Schriften Bd. UI, I. Tübingen 1922, S. 27—67) bildet. Der jähe Tod des be¬
deutenden Forschers hat nun alle Hoffnungen auf den 2. Band seines Werkes zunichte gemacht.
*) Schon in meinem anläßlich der Lauterberger Weltanschauungswoche verfaßten Aufsatz
„Natur und Geschichte“ (Ilbergs Neue Jahrbücher 1917. H. S. 283 ff.) habe ich im Anschluß an
ähnliche Betrachtungen anf Windelbands eindrucksvollen Warnungsruf in den „Präludien“
(ü*. Tübingen 1915. S. 27) hingewiesen.
*) VgL jetzt die Referate bei Troeltsch a. a. O. S. 763, 414 und K. Heussi: „Altertum, Mittel-
alter und Neuzeit in der Kirchengeschichte“ (Tübingen 1921).
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Walther Saupe
sich um die Notwendigkeit der Stoffauslese und -Verkürzung handelt Das
gilt z. B. für die Behandlung von Vergil und Homer, für griechisches und
römisches Drama, aber auch für die religiöse Kunst u. a. Kurz gesagt: es
handelt sich hier um die Forderung der Bildung von größeren Sinn- und
Werteinheiten, deren Einzelbestandteile sich gegenseitig tragen, wäh¬
rend sie ohne diesen oft gerade durch künstlerische Intuition des Lehrers
gefundenen Totalzusammenhang in eine chaotische, das suchende Auge nur
verwirrende Wirklichkeitsfülle auseinanderfallen würden. Hier wird die
Methode schließlich vorwiegend biographisch oder monographisch, und
bei ihrer Konstituierung bleibt vieles der individuellen kulturphilosophischen
Einstellung des Betrachters überlassen, wobei sich schließlich oft genug auch
die Wirksamkeit ästhetischer Aufbaugesetze geltend gemacht hat *)• — .Endlich
aber, freilich nur an der Peripherie der höheren Schulen, erscheint über
allem die Kategorie des Schöpferischen oder der Freiheit im Will¬
kürsinne im ästhetischen Gestalten. Brennender wird sie jedoch beim
ästhetischen Genießen und Nachschaffen, kurz bei der Reproduktion. Hier
muß vor allem der innere Erregungszustand aus der seelischen Struktur
des Künstlers 2 ), aus seinem innerseelischen und sachlichen Verhältnis zu
seinen stofflichen Vorlagen und seiner psychischen Lage, aus der sein Kunst¬
werk herauswuchs, gewonnen werden. Dazu bedarf es der Heranziehung
biographischen Materials von Tagebüchern, Briefen, Selbstbeurteilungen; sodann
einer Einführung in den Geist der Zeit auf dem zur Betrachtung stehenden
Gebiete der Kultur oder Kunst. Das ist alles viel, viel wichtiger als das
heute noch immer so übliche und oft so sentimentale, breite „Stimmung¬
machen“, das die Stimmung meistens von vornherein verwässert oder den
Eindruck, den der Dichter durch seine Schöpfung erst hervorrufen will, im
voraus verdirbt und zerstört. Denn man darf diese vorbereitenden Einleitufigen
nur soweit führen, daß das Neue, das Schöpferische, auch über den
Betrachter wie ein ästhetisches Erlebnis hereinbricht und ihn von
der Größe seines Schöpfers selbst volle Überzeugung gewinnen läßt 3 ).—
Und nur unter Erfüllung dieser Voraussetzungen kann das Erlebnis über
die reine Empfängnis sich hinaussteigem zur Erlebnisvollendung im
ästhetischen Gestalten oder Nachgestalten, die schließlich als ästhetische
Selbsterziehung im weitesten Sinne das gesamte Wesen und Verhalten
der Persönlichkeit selbst ergreift. Erst in dieser Entzündung zur Aktivität,
zur Praxis (im urtümlichsten Sinne des Wortes) kann das Erlebnis seinen
‘ Wert und seine Rechtfertigung gewinnen. Und ihr dienen nunmehr,
*) K. Groos bat das an der Architektonik der großen Systeme des deutschen Idealismus nach¬
gewiesen (Zeitschr. f. Psychol. 1908 -1917 und Zeitschr. 1. Philos. 1918).
a ) Der unfruchtbare Angriff, den Heumann gegen Diltheys bekannte Auffassung vom
„Genie“ eröffnet batte, ist inzwischen durch die außerordentlich fördernden Untersuchungen voD
K. Jaspers („Strindberg und van Gogh“ in den „Arbeiten zur angewandten Psychiatrie“Bd. V,
Leipzig 1922) über den Einfluß der Schizophrenie auf das Künstlertum (einerseits auf Strind¬
berg und Swedenborg, andererseits auf Hölderlin und van Gogh) abgeschlagen worden. VgL
besonders S. 96, 104, 124ff.; zusammenfassend S. 84: „Es könnte vielleicht die größte Tiefs
des metaphysischen Erlebens, das Bewußtsein des Absoluten des Grauens und der Seligkeif
im Bewußtsein der Empfindung des Obersinnlichen da gegeben sein, wo die Seele so weit 8 ®'
gelockert wird, daß sie als zerstört zurückbleibt.“
*) Ein glänzendes Beispiel hierfür gibt z. B. soeben (für G. Hauptmann u. R. Tagore) Eufl'
Kühnemann in „Gerh. Hauptmann. Aus dem Leben des deutschen Geistes in der Gegenwart
(5 Reden, München 1922) S. 9fL, 420.
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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung
137
mit den historisch-ethischen Fächern zum Bildungsorganismus
zusammengewachsen, die kunsttechnischen Fächer, denen man
nun nicht mehr den Ehrentitel der „praktischen Fächer" (wobei der Akzent
auf der Wertgestaltung liegen soll I) vorenthalten darf. — Berührt mag
wenigstens zunächst der bedeutende Wert, der in den Bemühungen um die
ästhetische Ausgestaltung der Klassenräume, der persönlichen Haltung und
Kleidung, der sprachlichen Ausdrucksweise, der körperlichen Bewegung und
Ertüchtigung im Spielen und Turnen gelegen ist. Dazu tritt die Beherr¬
schung der Form als der Herrschaft des Geistes über den Körper, die
sich auswirkt in der freiwilligen Unterordnung um der gemeinsamen Ord¬
nung willen, und nicht ohne Grund hat Schiller deshalb immer wieder
diese schöne Form der Selbstzucht als Vorstufe und Symbol des Sittlichen
gepriesen. —Wo sich aber diese Form zur Kunstform wandelt, da beginnt
das Reich der ästhetischen Erziehung im engeren Sinne. Hier
waltet die Erziehung zur Form nicht als formalistischer Zwang, sondern als
Anleitung zum Selbstsuchen und Selbstfinden der schönen, phantasievollen
Kunstformen und Kunststile, sei es im Zeichen- oder im Musikunterricht.
Überall gilt es, drei Grundforderungen im Auge zu behalten: das Natur¬
schöne als die Vorstufe des Kunstschönen erst einmal zu entdecken; aus
seiner Gestaltung oder Selbstgestaltung das Verständnis fremdseelischen Lebens
aus dem eigenen zu gewinnen 3 ); endlich aber: den Geist und die Kunst-
gesinnung der Völker, vor allem aber ihr Hervorwachsen aus deren Welt¬
anschauung aufzudecken. Damit aber stehen wir wiederum an den Grenzen
von Kunstphilosophie und Metaphysik.
IV.
Mit alledem ist doch eigentlich die Frage nach der. Autonomie der künst¬
lerischen Erziehung und Selbstbildung noch nicht endgültig gelöst aus den
Bedürfnissen unserer Zeit heraus. Das alte „Ideal der Harmonisierung des
Seelenlebens" und der statischen Befriedigung ist zerbrochen, und aller
bewußt auf Stillstand oder ein Zurückschreiten bedachte Klassizismus verfällt
dem Fluche des Epigonentums. Wir leben in einer Zeit der Krisen und der
Vorherrschaft der dynamischen Lebensprinzipien und Tendenzen, wie die
formflüchtigen Erscheinungen 1 ) des Impressionismus und Expressionismus
beweisen, denen die innere, verbindende und formende Kraft immer wieder
von der Wucht des Erlebnisstroipes zerstört oder zu subjektivistischer Ver¬
zerrung gesteigert wird. Es gilt auf den Gebieten der Kultur wieder — freilich
in tieferem Sinne — das alte Wort des Heraklit vom Ttoltfidg naxi)Q ndvxtav.
In diesem Sinne erscheint es als Pflicht der Lebenden, die Forderung der
Autonomie des Ästhetischen in der Form eines ethischen Kampfrufes
zur Gewinnung der inneren Form zum Ausdruck zu bringen und somit
die formalistisch-harmonisierte in eine dynamisch-teleologisch-ago-
mstische Ästhetik umzugestalten. Mit anderen Worten: wenn einmal die
Eigenwerte der Kunst im ästhetischen Genießen oder Gestalten oder auch in
*) Den besten Oberblick über die Geschichte (Sprenger, Scheler, Rickert) and Bedeutung dieses
Problems gab Pfingsten 1922 E. Troeltsch in seiner Rede aut der Tagung der Kant-Gesellschaft
(jetzt eingearbeitet in „Ges. Schrift.“ Bd. DI, I, S. 679 ff.).
*) Vgl. besonders den ausgezeichneten Aufsatz von A. Tumarkin „Dichtung und Welt¬
anschauung“ im Logos VIU (1920—1921) 8.195ff.
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138
Walttaer Saupe, GrandsStzlicbea zum Problem der kflnatlerischen Erziehung
der künstlerischen Selbstgestaltung akzentuiert werden, dann darf es keine
Beschränkung geben auf ihre Gewinnung und Beschreibung durch ihre eigene
Wesensgesetzlichkeit und Terminologie, sondern in Auseinandersetzung
mit den anderen Kulturgebieten soll das Ästhetische seine Eigen- und
autonome Normbegründung sich erringen. Sprang er hat diese Kämpfe in
seinen „Lebensformen" an den Vorbildern großer Denker, Dichter und Staats¬
männer dargestellt (S.114ff., 135f., 149ff., 175f., 195f., 230ff., 262), und die
Auswertung dieser Darlegung für die ethisch-historischen Lehrfächer kann
reichen Gewinn bringen. Aber wird nun in diesen Unterrichtsstunden der
Lehrer zum Führer, so kann umgekehrt auf dem Gebiete der ästhetischen
Gestaltung, d. h. in den „praktischen Fächern" der dytbv zugunsten des
Schülers entbrennen, wenn ihm die geniale Veranlagungund das Talent die Führer¬
schaft zusprechen. Und während in jenen Fächern der Lehrer in der Ab¬
grenzung der wahren Erkenntnis sein Ziel sah, dem er zum Siege
verhelfen mußte, so wird auf den Gebieten der ästhetischen Gestaltung im
Schüler die Gefühlserweiterung, die Uferlosigkeit der Phantasie die
treibende Kraft darstellen, bis aus diesem Wettkampf zwischen Lehrer und
Schüler, zwischen Erkenntnis und Erlebnis, zwischen Intellekt und Gefühl
die Erlebnisvollendung emporströmt: als Gestaltung durch den
Willen und im Rahmen einer wahren, weil kämpfend erworbenen
Bildungsgemeinschaft.
Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen.
(Nach einem im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht zu Berlin gehaltenen Vortrag.)
Von Walter Hoffmann, Leipzig.
Jeder Erzieher kommt in Lagen, wo sich ihm die Frage aufdrängt, ob ein
Fall noch als „normal" zu betrachten sei. Was ist damit gemeint? — Im
schlimmsten Falle denkt man an die Anzeichen einer geistigen Erkrankung,
bei der alle Kunst des Erziehers versagt und nur noch der Arzt helfen kann.
Von diesen Fällen, die außerhalb aller pädagogischen Tätigkeit liegen, soll
hier nicht die Rede sein. Bekanntlich besteht aber ein fließender Übergang
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit, und die Grenzbestimmung ist
immer mehr oder weniger willkürlich, weswegen die Wissenschaft den Be¬
griff der Krankheit am liebsten ganz beiseite stellen würde, wenn nicht ge¬
wisse Fragen des praktischen Lebens diesen Gesichtspunkt immer wieder
hervorkehrten. Gerade diese fließenden Übergänge vom Gebiete des Normalen
ins Pathologische sind es, mit denen wir uns - gegenwärtig näher befassen
wollen, jene Charaktereigentümlichkeiten, die man als psychopathisch zu
bezeichnen pflegt. Sie gehören — erkannt oder unerkannt — zum täglichen
Arbeitsgebiet des Erziehers, so daß also die der Pädagogik wissenschaftlich
und praktisch gezogenen Grenzen in keiner Richtung überschritten werden
sollen.
In erster Linie müssen wir uns natürlich darüber Rechenschaft geben, wo
die Grenzen des normalen Seelenlebens zu suchen sind. Seit Sterns klaren
Ausführungen sollte darüber eigentlich kein Zweifel mehr sein; aber wenn
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Hoümann, Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
139
Vera Strasser*) recht hätte, so dächte man sich den Typ des Normalen meist
immer noch gleichbedeutend mit dem statistischen Durchschnitt. Folglich
wQrde die normale Intelligenz etwa der Stufe des leichten Schwachsinns ent¬
sprechen? — Wir müssen also unbedingt daran festhalten, daß in der Be¬
zeichnung „normal“ ein Werturteil liegt. Wir werten Psychisches, und
gerade deswegen kann der Maßstab, nach dem wir werten, nicht wieder
Psychisches sein, sondern wir setzen es in Beziehung zu den Anforderungen
der Umwelt. Normal ist also eine Seelenverfassung, die den Anforderungen
des Lebens zu genügen pflegt. Damit ist ohne weiteres gesagt, daß es sich
am keinen festen Maßstab handelt; er verschiebt sich ganz allgemein mit
dem Wechsel der Kulturverhältnisse und ebenso im einzelnen nach den in¬
dividuellen Lebensbedingungen. Jeder Versuch, absolute Grenzen zu ziehen,
wäre unfruchtbare Theorie. Darauf beruht eben die Relativität des Krank¬
heitsbegriffes wie des Verbrechensbegriffes.
Viel bedeutungsvoller ist für unsere Untersuchung ein anderer Gesichts¬
punkt Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie psychisch den Anforderungen
des Lebens genügt werden kann. Das beruht auf der Komplexität des Seelen¬
lebens und der praktischen Erfahrung, daß schwächere Leistungen in einer
Richtung durch Mehrleistungen anderer Art kompensiert werden können. Am
bekanntesten ist diese ungleichmäßige Nivellierung der Psyche auf dem Ge¬
biete der Intelligenz. Bei derselben Persönlichkeit ist das Gedächtnis für
einzelne Stoffgebiete ganz verschieden (Zahlengedächtnis, Namengedächtnis,
Farbengedächtnis), und davon ganz unabhängig bewegen sich wieder die
Leistungen der Aufmerksamkeit, der Kombination, des logischen Urteils usf.
Oft finden sich auffällig schwache Stellen, beinahe Null-Werte, und trotzdem
bezeichnen wir die Intelligenz noch als normal, wenn die Schwächen prak¬
tisch durch die Gesamtleistung wieder ausgeglichen werden. Was sich auf
diesem Sondergebiete zeigt, gilt in erhöhtem Maße für das Gesamtbild des
Seelenlebens. Selbst geringe Intelligenz kann durch geistige Vorzüge anderer
Art ausgeglichen werden. Umgekehrt werden bedenkliche Schwankungen
des Gefühlslebens korrigiert durch verstandesmäßige Umbildungen. Die Möglich¬
keiten im einzelnen zu verfolgen, sind wir gamicht in der Lage. Für uns
kommt es nur auf den einen Punkt an: Es gibt unzählige Varianten seelischer
Veranlagung, die alle den Anforderungen eines normalen Seelenlebens
genügen.
Wenn man außerdem berücksichtigt, daß für die seelische Struktur nie
die Anlage allein maßgebend ist, sondern sehr wesentlich die Einwirkung der
Umwelt, insbesondere die zielbewußte Einwirkung durch die Erziehung, so
ergibt sich weiter, daß auch die pädagogischen Möglichkeiten unerschöpflich
sind und es letzten Endes von der Kunst des Erziehers abhängt, wie weit
wir die Grenzen normaler Veranlagung rechnen dürfen. Man kann daher
sagen: Der normale Mensch wird nicht geboren, sondern erzogen, — wenn
Erziehung im weitesten Sinne des Wortes verstanden wird, der Einfluß der
Umwelt, die Selbsterziehung eingeschlossen. Das wird bei manchen sehr
leicht gelingen, bei anderen schwerer, und schließlich wird stets eine für den
Erzieher unüberwindliche Grenze bleiben. Jenseits dieser Grenze sind die
für unsere Kultur Verlorenen, sei es, daß sie den Kampf gegen diese Kultur
') Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen (Berlin 1922) S. 144.
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140
Walter Holtmann
aufnehmen als Verbrecher, sei es, daß sie seelisch zusammenbrechen in Form
geistiger Erkrankung.
Fragen wir uns noch einmal, wo wir den psychopathischen Jugendlichen
einzureihen haben, so sind es gerade jene Schwer-Erziehbaren, deren An¬
lagen so eigenartig gestaltet sind, daß sie nur unter Aufwendung besonderer
Sorgfalt der Norm angepaßt werden können. Dabei ist immer an die seelische
Veranlagung der Gesamtpersönlichkeit gedacht, nie bloß an Intelligenzdefekte,
da sie ja in anderer Weise, ausgeglichen werden könnten; ja die herrschende
Theorie will diese überhaupt vom Begriffe der Psychopathie ausschalten 1 ).
Im übrigen wird nun klar erkenntlich sein, daß mit der Bezeichnung „Psycho¬
path“ für das psychologische Verständnis wenig gewonnen wird; es handelt
sich einfach um eine Sammelbezeichnung für Charakteranlagen, die sich schwer
oder nur unvollkommen der Norm anpassen und deswegen der Gefahr patho¬
logischer Entartung besonders ausgesetzt sind. Vor allem kann darin nie¬
mals eine Entschuldigung für die Fehler eines Kindes oder seiner Erzieher
liegen, wie es leider nur allzuoft versucht wird. Mit vollem Hecht sagt Gruhle 1 ):
Der Nachweis, daß ein Kind psychopathisch ist, darf für den Lehrer nie eine
Entschuldigung sein, daß seine Kunst versagt hat Der Unerziehbare ist des¬
wegen nicht schon krankhaft, aber auch der Kranke ist oft noch erziehungs¬
fähig.
Ja, man k ann noch einen Schritt weiter gehen: Zum Teil enthält die Gruppe
der Psychopathen ein hochwertiges Bildungsmaterial; es sind jene besonders
fein organisierten Seelenstrukturen, zu Höchstleistungen befähigt, aber gleich¬
zeitig auch infolge ihrer feineren Organisation viel leichter Störungen aus¬
gesetzt. Ich erinnere daran, daß in diesem Sinne auch Goethe und Bismarck
zu den Psychopathen gerechnet werden. Es wäre ganz verfehlt, den Begriff
des Psychopathen nur* auf sozial minderwertige Elemente anzuwenden; denn
damit würde man die eben gewonnene wissenschaftliche Grundlage wieder
aufgeben, nämlich die Erkenntnis, daß es Anlagen gibt, die sich nach ganz
verschiedener Richtung entwickeln können.
Es war mir bei dieser Vorerörterung um mehr zu tun als bloße Begriffs¬
bestimmung. Es sollte vor allem dargelegt werden, warum dieses Grenzgebiet
der Psychologie für jeden Erzieher von größter Bedeutung ist. Hier liegt
geradezu der Prüfstein seiner Kunst. Darum hilft ihm bekanntlich eine Psycho¬
logie, die nur mit dem Schema eines sogenannten nonnalen Menschen arbeitet,
so wenig. Sie reicht aus für die Schulung elementarer Funktionen (Gedächt¬
nis, Aufmerksamkeit), die verhältnismäßig wenig individuelle Verschieden¬
heiten aufweisen; diese sind selbst bei geistigen Erkrankungen am wenig¬
sten verändert Alle individuellen Unterschiede (Gesundheit, Geschlecht, Alter)
offenbaren sich erst in komplexeren Leistungen. Der Strukturzusammenhang
der Gesamtpersönlichkeit gibt daher den Ausschlag.
Damit gelangen wir zu der entscheidenden Frage, von welchem Gesichts¬
punkte aus der Charakter des Psychopathen verständlich wird. Zwei Wege
sind denkbar: Man kann ausgehen vom Bilde der geistigen Erkrankung und
im Psychopathen gewissermaßen die letzten Ausläufer krankhafter Züge in
das Gebiet des Normalen sehen. Diese Auffassung liegt natürlich für den
Arzt am nächsten. In diesem Sinne hat man z. B. die Stimmungsschwankungen
') Vgl. Hanselmano, Zeitschr. f. Psych. 77,138. *) Vererbung und Erziehung, Arch. I.Päd. 2,369.
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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
141
Goethes in Verbindung gebracht mit - dem Krankheitsbilde des manisch-de¬
pressiven Irreseins (Moebius). Man wird aus diesem Beispiele aber auch so¬
fort erkennen, daß damit für das psychologische Verständnis wenig gewonnen
wird. Das manisch-depressive Irresein ist ein aus den Erfahrungen der Klinik
gewonnenes Krankheitsbild, über dessen biologische Bedingungen wir voll¬
kommen im Unklaren sind. Wo es sich um seelisches Verständnis handelt,
geht daher auch die Psychopathologie. den umgekehrten Weg. Sie sucht'das
Krankhafte zu deuten als eine Verschiebung des normalen Seelenbildes und
sich so in das Innenleben des Kranken einzufühlen. Allerdings hat das seine
Grenzen, da bei schwereren Erkrankungen das Seelenbild vollkommen ver¬
zerrt erscheint. Der Psychoanalytiker sucht sich daher durch allerlei Um¬
deutungen, Symbole, Fiktionen über diese Schwierigkeit hinwegzuhelfen.
Bleuler hat in dieser'Weise selbst für die dementia praecox noch den Ver¬
such einer seelischen Einfühlung unternommen.
Auf dem Grenzgebiete, das für uns in Frage kommt, bestehen jedenfalls
keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Freilich müssen wir unsere psycho¬
logischen Kenntnisse wesentlich vertiefen und uns vor allem von jedem wissen¬
schaftlichen Aberglauben freimachen. Zu solchem Aberglauben rechne ich
insbesondere die Vorstellung, als sei. das Seelenleben aus dem anatomischen
Bau des Großhirns zu erklären und es müsse daher jede Veränderung oder
Störung des Seelenlebens auf einer anatomisch nachweisbaren Veränderung
des Großhirns beruhen. Gewiß kennen wir eine große Anzahl Krankheiten,
bei denen wir bestimmt wissen, daß sie auf organischen Veränderungen des
Hirns beruhen, und bei manchen vermuten wir es. Aber im Gegensatz dazu
steht eine andere Gruppe geistiger Störungen, die allem Anscheine nach nicht
auf organische Veränderungen zurückgeführt werden können und die man
daher als funktionelle Störungen bezeichnet. Ein epileptischer Anfall ist in
der Regel organisch bedingt, ein hysterischer funktionell. Im ersten Falle
können wir nur durch organische Beeinflussung (Medikamente, Operation)
helfen, im anderen Falle durch seelische Beeinflussung. Wenn wir also nicht
schon am Anfänge unserer Untersuchung stecken bleiben wollen, müssen wir ~
uns notgedrungen auch noch über das Verhältnis von Hirn und Seele Rechen¬
schaft geben. Aber vielleicht ist man dieser Frage nach all dem, was dar¬
über bereits geschrieben worden ist, so überdrüssig, daß ich sie gleich noch
etwas weiterspinnen will. Neuere Forschungen haben uns immer mehr Auf¬
schluß darüber gegeben, wie stark das Seelenleben beeinflußt wird von der
inneren Sekretion einzelner Blutdrüsen. Von der Schilddrüse, deren Entartung
zum Kretinismus führt, ist dies längst bekannt Ähnliche Zusammenhänge
vermuten wir bekanntlich auch für die Keimdrüsen, die Nebennieren, die
Zirbeldrüse usf. Aber wiederum darf man sich diesen Zusammenhang nicht
so einfach vorstellen, als ob z. B. der Geschlechtstrieb lediglich eine Funk¬
tion der Keimdrüsen sei, sondern es bestehen offenbar sehr innige Wechsel¬
beziehungen der verschiedensten Drüsen unter sich und mit dem Gesamt¬
nervensystem, und es kommt nur den Keimdrüsen eine sehr wesentliche Be¬
deutung für diesen Wirkungszusammenhang zu. Wie auch umgekehrt See¬
lisches von Einfluß auf die Drüsentätigkeit werden kann, also nicht etwa in
einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht. Ich glaube sogar, daß man
die Bildung des Vorstellungslebens, die Suggestion, den hysterischen Mecha¬
nismus nur verstehen kann, wenn man auch die Wechselbeziehungen zwischen
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142
Walter Holtmann
Großhirn und Bewegungsapparat mit in Rechnung zieht Sicher wird uns die
Forschung in dieser Richtung noch manche Überraschung bringen. Aber das
Eine steht bereits fest: Die einfache Formel „Seelentätigkeit — Gehimfunktion“
ist endgültig erledigt und damit alles, was sich auf dieser Hypothese auf-
baute, einschließlich der Assoziationspsychologie. Das Hirn bedeutet eine
wesentliche, aber nicht die einzige Bedingung für die Seelentätigkeit
Auch die Theorie von der Lokalisierung der Geistesfunktionen hat mit dem Fort*
schritt der himanatomischen Forschung eine wesentliche Umbildung erfahren:
wir suchen nicht mehr im Bau des Organes die Erklärung für seine Funktion,
sondern verstehen umgekehrt den Bau des Organes aus der ihm zugewiesenen
Funktion 1 )*
Somit stünden wir wieder vor dem verrufenen Dualismus von Körper
und Seele, der als eine ganz unerhörte Zumutung an wissenschaftliches Denken
gilt, weil zwei verschiedene Kausalordnungen nebeneinander bestehen sollen,
eine Zumutung, die sonst nirgends in der Naturwissenschaft an uns heran*
trete. Wirklich? — Kennen wir sonst nirgends die Erscheinung, daß es ver¬
schiedene organische Entwicklungsstufen gibt und wir eben deswegen von
höheren Entwicklungsstufen sprechen, weil sie auch qualitativ etwas voll¬
kommen anderes» darstellen als der vorausgegangene Zustand, sodaß wir nie
die höhere Entwicklungsform aus den kausalen Beziehungen der vorausgehen¬
den begreifen können, sondern gewissermaßen unsere Rechnung jedesmal nen
beginnen müssen? — Liegt hierin nicht gerade der wissenschaftliche Grand
für die Einführung des Entwicklungsgedankens? — Die Pflanze ist etwas voll¬
kommen Neues gegenüber dem Samenkorn, der Körper etwas anderes als
die zum Aufbau verwendete Nahrung. Dasselbe wiederholt sich bei see¬
lischen Phänomenen. Die Vorstellung ist qualitativ ganz verschieden von
den einzelnen Sinnesreizen, die ihr zugrunde liegen; ein Akkord ist mehr
als die Summe von Einzeltönen, ein ethischer Wert ist mehr als die Resul¬
tante verschiedener Lebenserfahrungen. Überall wo wir von psychischer
Komplexbildung sprechen, wollen wir damit zum Ausdruck bringen, daß
etwas qualitativ Neues im Seelenleben auftritt, abhängig von den zugrunde
liegenden Phänomenen und doch aus ihnen allein nicht mehr verständlich.
Anders gesagt: Wir kommen bei organischen Wachstumsvorgängen ohne die
Annahme von Kausalreihen niederer und höherer Ordnung nicht aus. 3 ) Wir
haben es also bei dem Verhältnis Körper und Seele nur mit einem Sonder¬
fall des Entwicklungsgedankens zu tun; wir haben diesen Sprung von einer
Kausalreihe in eine andere nicht einmal zu vollziehen, sondern unzähligemal,
vom einfachsten Nervenreflex angefangen bis zum höchsten Aufbau der Ge¬
samtpersönlichkeit, dessen oberste Spitze in die komplexeste Form des Seelen¬
lebens übergeht, das Ich-Bewußtsein. Die Eigentümlichkeit des ganzen Phä¬
nomens liegt lediglich darin, daß wir die Ergebnisse eines Entwicklungs-
Verlaufs hier gleichzeitig nebeneinander und in ihrer gegenseitigen Ab-
’) Brodmann, Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde (Leipzig 1909) S. 285.
*) Immer wieder wird die falsche Frage gestellt, wie es möglich sei, daß ans einer Zu¬
sammenfassung elementarer Einheiten etwas Neues „entstehe". Man leugnet dann aus logischen
Gründen entweder die Existenz eines Neuen, betrachtet z. B. geistige Phänomene als Illusion,
oder stellt an den Anfang, ein unsichtbares X, eine „Anlage“ (Erbanlage, Wertanlage). Beides
ist mechanistisch gedacht; wir können nur feststellen, unter welchen „Bedingungen“ Entwick¬
lung oder Wachstum fortschreitet.
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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
143
hingigkeit wirken sehen; jedoch ist eine Teilung in zwei große Entwicklungs¬
stufen „Körper, Seele“ viel zu grob und willkürlich, sondern es ist eine un¬
endlich fein gegliederte Stufenfolge mit fließenden Übergängen, deren letzte
Ausläufer in das Bereich des Seelischen führen. Oder wenn man das Ein¬
heitliche stärker betonen will, so läßt sich sagen, daß auch im Seelischen
dieselben Prinzipien wirken wie im organischen Unterbau, nur bis zur höch¬
sten Vollkommenheit und letzten Konsequenz durchgeführt, wobei die Frage
ungelöst bleibt, ob es noch höhere, ins Übersinnliche führende Entwicklungs¬
formen gibt.
Jetzt wird ohne weiteres verständlich sein, was mit funktionellen Störungen
des Seelenlebens gemeint ist, auf die sich unsere Untersuchung ausschließlich
richten soll. Ihre Ursache ist nicht in biologischen Veränderungen der be¬
teiligten Körperörgane, etwa des Großhirns, zu suchen, sondern sie vollziehen
sich auf einer höheren Entwicklungsstufe, im Seelischen. Damit ist nicht
ausgeschlossen, daß seelische Veränderungen rückwirken auf die organische
Grundlage und so gewissermaßen ein Keil den anderen treibt. Es handelt
rieh dabei nicht etwa um ein rein philosophisches Problem, sondfrn gerade
aus der praktischen Erfahrung heraus hat sich in der Psychopathologie die
Erkenntnis durchgesetzt, daß nur vom psychologischen Standpunkt aus f unk -
tionelle Störungen zu begreifen und zu behandeln sind. Was sich im Be¬
reiche des Geisteslebens abspielt, vollzieht sich nach Gesetzmäßigkeiten,
für die es keine andere Erfahrung gibt als das eigene Ich. Nur soweit uns
eine solche Einfühlung gelingt, können wir fremdes Seelenleben verstehen.
Wir sehen, wie Jaspers sagt, Seelisches aus Seelischem mit „Evidenz“ her¬
vorgehen; wir verstehen, daß man nach Lust strebt, Unlust abwehrt; das
sind letzte Erfahrungstatsachen des unmittelbaren Erlebens, die sich erkennt¬
nismäßig nicht weiter analysieren lassen. Da wir selbst aber verschiedene
Entwicklungsstufen durchlebt haben, so können wir aus der Erinnerung auch
bis zu einem gewissen Grade verstehen, wie die geistige Verfassung .ver¬
schiedener Altersstufen mit einander in Beziehung steht. Psychologische
Erkenntnisse sind daher nicht lehrbar, sondern nur die Methoden psycho¬
logischen Denkens. So will auch ich mit meiner Untersuchung nur eine
Methode zeigen, sie an Beispielen illustrieren, aber kein geschlossenes System,
worin alles Erfahrungsmaterial aufginge. Dazu ist das Gebiet viel zu groß
and längst nicht genügend durchforscht.
Der Entwicklungsgedanke in dem zuvor dargelegten Sinne liefert uns so¬
fort eine Reihe Einblicke in Abnormitäten des jugendlichen Seelenlebens.
In der Kindheit ist die seelische Struktur noch verhältnismäßig einfach, erst
in den Reifejahren tritt eine größere Differenzierung ein. Dem entspricht
es, daß in der Kindheit die seelischen Varianten noch gering sind und see¬
lische Störungen ihrer Art und Zahl nach beschränkt sind. Beispielsweise
wird man Zwangsvorstellungen bei Kindern selten finden. Wenn die viel¬
seitige Verzweigung des Seelenlebens in den Reifejahren einsetzt, nehmen
auch die seelischen Varianten zu, doch scheint beim Knaben die Variations¬
breite nach oben wie nach unten größer zu sein als beim Mädchen. Die
ungünstige Seite zeigt sich besonders deutlich in der stärkeren Kriminalität
der Knaben; dafür gibt aber die größere Komplexität ihres Seelenlebens
eher die Möglichkeit einer Kompensation abnormer Züge. Das Mädchen
wird seltener unsozial, aber die Prognose ist ungünstiger.
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Walter Hoffmann
Entsprechend der stärkeren Differenzierung des Seelenlebens nehmen auch
in den Reifejahren auffällig die seelischen Störungen zu. Sie bilden geradezu
eine kritische Periode für den Ausbruch geistiger Erkrankungen. Aber hier
muß man vorsichtig sein; die Reifezeit enthält eine Reihe seelischer Eigen¬
tümlichkeiten, die man in einem späteren Entwicklungsalter als pathologisch
bezeichnen würde, die aber in dieser Periode unvermeidliche Übergangs¬
erscheinungen darstellen. Man beachtet sie nur in der Regel nicht und er¬
schrickt, wenn sie einmal mit besondere!: Dauer oder Stärke hervortreten.
So erklären sich viele abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben
einfach durch ein Zurückbleiben der geistigen Entwicklung, und erst dann,
wenn ein deutlicher Stillstand der Entwicklung eintritt, werden wir sie als
pathologisch bezeichnen dürfen. Dabei braucht es nicht zu einem Stillstände
der Gesamtentwicklung zu kommen, sondern die merkwürdigsten Verschie¬
bungen und Verzerrungen des Seelenbildes ergeben sich gerade dann, wenn
lediglich einzelne Züge in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind. Be¬
ginnen wir mit einfachen Beispielen: Daß ein Säugling unsauber ist, er¬
scheint Älbstverständlich; näßt auch das Schulkind noch ein, so ist das
bereits ein infantiler Zug, der es wahrscheinlich macht, daß die Entwicklung
auch in anderer Hinsicht Störungen aufweist. — Das Kind greift anfangs
nach allem, was ihm gefällt, es will alles „haben“. Geschieht das auch
noch in der Schulzeit, so entwickelt sich daraus das diebische Kind. Freilich
handelt es nicht mehr so naiv; die geistige Entwicklung ist im allgemeinen
fortgeschritten, und es treten verstandesmäßige Korrekturen ein. Die Situation
muß also günstig sein. Anfangs liefert sie der Zufall; aber wenn es Erfolg
hatte, d. h. nicht erwischt und nicht bestraft wurde, setzt das Verhängnis
ein: Das Kind sucht die geeignete Situation. Darum wiederholen jugend¬
liche Diebe meist immer denselben Trick: Die einen führen immer wieder
Taschendiebstähle aus, die anderen Ladendiebstähle. Das Spezialistentum
geht aber noch viel weiter; der eine verübt alle Taschendiebstähle auf dem
Bahnhofe, der andere sucht dazu regelmäßig die elektrische Straßenbahn
auf. Der Rauchwarenhandel Leipzigs hat als besonderen Sport das Stehlen
von Fellen gebracht, indem die Kinder auf einen fahrenden Wagen auf¬
springen und Felle herunterwerfen. Man kann das in einen ganz allgemeinen
Erfahrungssatz zusammenfassen: Eine Szene der Kindheit, die einen beson¬
deren Erlebniswert brachte, wird immer von neuem gespielt. Dieser Satz
gilt, wie gesagt, ganz allgemein, nicht etwa bloß für sexuelle Erlebnisse,
wie die psychoanalytische Schule annimmt.
Ich habe absichtlich Beispiele gebracht, wo der Infantilismus sehr deutlich
hervortritt. Meist liegt jedoch der Zusammenhang verborgener, wie ich eben¬
falls an einigen Beispielen darlegen wilL
Bekanntlich sind die geistigen Beziehungen des Kindes zur Umwelt noch
sehr dürftig. Es betrachtet sich als Mittelpunkt aller Erlebnisse; sein Welt¬
bild ist eine eigentümliche Verschmelzung von Phantasie und Wirklichkeit;
seine Spiele sind zum Teil Traumdichtungen. Bereits in der Schule treten
aber die Anforderungen der Wirklichkeit härter an das Kind heran. Was
.geschieht nun, wenn das Kind seiner geistigen Entwicklung nach dem Unter¬
richtsstoffe noch nicht gewachsen ist? — Es wird träumen und heimlich
spielen. Ganz wird sich dieses Zurückweichen von der rauhen Wirklichkeit
in das kindliche Traumleben bei keinem Kinde vermeiden lassen, Bodaß
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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
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gelegentliche Aufmunterungen zu den unvermeidlichen Beigaben jedes Unter¬
richtes gehören. Aber in jenen kritischen Fällen wird das nichts nützen;
entweder gewöhnt sich das Kind ein dickes Fell an, es stumpft ab gegen
Ermahnungen und Strafen, oder es schwänzt die Schule, um sieb träumend
und spielend herumzutreiben. So harmlos der Anfang aussieht, so schwer¬
wiegend sind doch die Folgen. Es behält nämlich diese Einstellung leicht
gegenüber allen Anforderungen des Lebens bei. Es entwickeln sich jene halt¬
losen, unsozialen Naturen, die jeder Unbequemlichkeit, also vor allem der
Arbeit aus dem Wege gehen, abgestumpft gegen das Urteil der Umgebung
und gegen die Wirkung von Strafen. Gruhle fand unter den von ihm unter¬
suchten Fürsorgezöglingen über 58°/o Schulschwänzer. Ich denke allerdings
gegenwärtig weniger an die Fälle des angeborenen Schwachsinns, die ja einen
ähnlichen Verlauf nehmen können und daher in jener Zählung inbegriffen
sind, sondern in erster Lini e an das Versagen der seelischen Spannkraft,
an die Psychasthenie.
Etwas ähnliches beobachtet man in den Reifejahren. Die Wirklichkeit
offenbart sich dem jungen Menschen jetzt unverhüllter und rücksichtsloser.
Der egozentrische Standpunkt der Kindheit läßt sich in der Berührung mit
dem Gemeinschaftsleben nicht mehr aufrecht erhalten. Eine totale innere
Umstellung wird notwendig, die zeitweise das einheitliche Gefüge der Persön¬
lichkeit zu sprengen droht. Unsicherheit, ein Chaos neuer Erlebnisse, starke
Stimmungsschwankungen, häufiger Wechsel, eine Art Experimentieren in den
äußeren Zielsetzungen kennzeichnen diesen Übergang. Es ist wohl die stärkste
seelische Kraftprobe, an der viele zusammenbrechen. Kein Wunder also,
wenn auch hier wieder viele die Flucht in die Kindheit antreten. Die Neigung
zum Träumen und Dichten, die spielerische Beschäftigung mit phantastischen
Plänen gehört zur Regel. Aber bedenklich wird es schon, wenn der Jugend¬
liche sich einsam zurückzieht, um sich ganz in seine Träumereien einzuspinnen.
Schundliteratur und Kino, Mystik und Anthroposophie sind nur verschiedene
Zugangspforten in das gefährliche Traumland. Man pflegte früher jene
menschenscheuen Naturen mit dem träumerischen, unsicheren Blick als Opfer
der Onanie anzusehen, indem man Ursache und Folge verwechselte, infolge¬
dessen auch erzieherisch an der falschen Stelle einsetzte, sie mit Vorwürfen
und Angstbildem quälte, statt ihnen über die seelische Not hinwegzuhelfen.
Oft ist der Verdacht nicht einmal begründet, die Selbstvorwürfe erweisen sich
häufig als hypochondrische Angstvorstellungen.
Im Arbeiter- und Mittelstände ist es vor allem der frühzeitige und imver¬
mittelte Übergang in die Gebundenheit und Eintönigkeit des Erwerbslebens,
der es dem Jugendlichen erschwert, die richtige Beziehung zur Wirklichkeit
zu finden. Das Festhalten am kindlichen Standpunkt führt notwendig zu
einer Abwehrstellung gegenüber dem Erwachsenen. Verschlossenheit und
Zurückhaltung sind typische Charakterzüge und werden von den Eltern
besonders schmerzlich empfunden. Oft entwickelt sich daraus eine dauernde
Trotzeinstellung; man begeht Unarten und Torheiten aus Prinzip, man spielt
eine jugendliche Heldenrolle, die leider gelegentlich im Gefängnis endet
Manchmal bereiten sich solche Krisen lange vor, ohne von der Umgebung
bemerkt zu werden. Der Jugendliche führt ein Doppelleben: äußerlich erfüllt
er seine Pflichten, innerlich flüchtet er in das Traumland der Kindheit Bis
eines Tages die Spannung unerträglich wird. Kopflos läuft er davon, treibt
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 10
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sich ziellos herum; der eine hungert und bettelt, der andere nimmt die Kasse
seines Geschäftsherm mit, fährt in der Welt herum und verjubelt das Geld.
Was der Schulschwänzer im kleinen konnte, das führt der Ausreißer im
großen aus. Es ist ja. oft dieselbe Persönlichkeit. Forscht man später nach
den Motiven, so sind es Wünsche kindlichster Art: man wollte Filmschauspieler,
Chauffeur, Schiffsjunge werden, nach Amerika fahren, Gold suchen usf. Aber
wiederum darf man nicht an Intelligenzmängel denken, sondern die Burschen
erkennen ihre Torheit ganz klar und sind darum schwer zur Preisgabe ihrer
heimlichen Träume zu bewegen. Die schlimmsten Erfahrungen, reuevolle
Versprechungen hindern nicht, daß sie den Streich bei nächster Gelegenheit
wiederholen. Auch sie spielen immer wieder eine Szene aus der Kindheit.
Daß die Szene nicht erlebt, sondern erträumt war, ändert nichts an ihrer
psychologischen Bedeutung. Natürlich kommt es nicht immer zu solchen
dramatischen Abschlüssen — es ist das eine Spezialität der Knaben —; bei
vielen bleibt es ein träumerisches Gedankenspiel, das jedoch immer auf Kosten
der geistigen Spannkraft geht — der Typ des „nervösen“ Kindes.
Bisher waren wir davon ausgegangen, daß sich die geschilderten Vorgänge
ganz bewußt im Seelenleben des Jugendlichen vollziehen. Aber wir treffen
auf zahlreiche Fälle, wo mit dieser Erklärung nicht mehr auszukommen ist,
auch wenn wir mit Lücken der Erinnerung und absichtlichem Verschweigen
rechnen. Schon die alltägliche Erfahrung lehrt das. .Ständig führen wir eine
Reihe Handlungen aus, deren Einzelheiten uns kaum noch zum Bewußtsein
kommen, beim Gehen und Sprechen, beim Radfahren und Klavierspielen. Sie
sind so sicher eingeübt, daß sie ganz automatisch ablaufen, sobald die erste
Anregung gegeben worden ist Ohne diese Automatismen würden wir nie im
Leben auskommen; wir würden wie ein Kind so mit den einfachsten Auf¬
gaben des Lebens beschäftigt sein, daß gar keine Zeit zu höheren geistigen
Leistungen bliebe. So erwünscht uns dieser Übungsgewinn auch im allgemeinen
ist, ebenso kann er uns doch gelegentlich tolle Streiche spielen, weil er eben
zwangsläufig wie ein Automat wirkt Ich erinnere an alle die kleinen Ver¬
sehen bei Zerstreutheit und Ermüdung, an die sogenannte „Macht der Gewohn¬
heit“. James 1 ) führt folgendes Beispiel an: Jemand ist zu einer Abend¬
gesellschaft eingeladen und will sich in seinem Schlafzimmer umkleiden; er
beginnt damit, zieht sich aber in Gedanken ganz aus, legt sich zu Bett und
schläft. — Ebenso wirken die in der Kindheit angenommenen Gewohnheiten
als Automatismen im späteren Leben nach, und es ergeben sich leicht allerlei
Störungen, wenn die seelische Entwicklung an Schwächen leidet. Ein solcher
jugendlicher Ausreißer hat vielleicht die typische Szene seiner infantilen
Träumereien längst vergessen; aber irgendein zufälliger äußerer Anlaß genügt,
um automatisch die Handlung ablaufen zu lassen, so daß der Jugendliche
sich über das Motiv keine Rechenschaft mehr geben kann. Ein 16 jähriger
Kaufmannslehrling brauchte nur in die Nähe des Bahnhofs zu kommen
und Lokomotivdampf zu „riechen“, so erwachte schon ein unerklärlicher
Reisetrieb in ihm, gegen den er sich vergeblich stemmte. Eines Tages kam
er ganz verstört nach Hause und erzählte, daß er „beinahe“ wieder durcb-
gebrannt wäre, als ihn eine Besorgung nach dem Hauptbahnhofe führte. Da
er trotzdem immer wieder Geschäftsgelder anvertraut erhielt, geschah es
*) Psychologie. Übersetzt von Dürr, Leipzig 1909, S. 137.
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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
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natürlich bald darauf. — Ähnlich liegt der Fall eines 16jährigen Schlosser¬
lehrlings, der in einem Bäckerladen zwei vor ihm stehenden Frauen mit einer
Schere Löcher in die Kleider geschnitten hatte. Vergeblich forschte man
nach seinen Motiven, hinter denen man sexuelle Regungen vermutete. Er
konnte nur angeben, daß ihn das Warten gelangweilt habe, er zufällig eine
kleine Schere in der Tasche getragen hätte, die er sonst zum Abschneiden
seiner Zeichenblätter benutzte, und mit dieser hätte er die Löcher in den Kleider¬
stoff geschnitten, wobei er „sich gar nichts weiter gedacht hätte“; erst bei
seiner Festnahme sei er erschrocken Aber den angerichteten Schaden. Auf¬
fällig war, daß er regelmäßige ovale Stücke aus den Kleidern herausgeschnitten
hatte. Meine Nachforschungen ergaben, daß er seine Mußestunden aus¬
schließlich mit Laubsägearbeiten verbrachte, sonst aber ganz zurückgezogen
und teilnahmlos dahinlebte. Auch hier war also eine gewohnte Handlung
automatisch durch die Situation ausgelöst worden.
Der soeben geschilderte Fall berührt bereits ein Problem, das mit dem
vielumstrittenen Begriff des „Unterbewußtseins“ zusammenhängt. Es handelt
sich, im Grunde genommen, nur um die für den Entwicklungspsychologen
selbstverständliche Tatsache, daß für den Verlauf aller Seelenvorgänge nicht
bloß die im Augenblick wirkenden Einflüsse maßgebend sind, sondern daß
sich mehr .oder weniger auch die Einflüsse früherer Erlebnisse beteiligen. Der
besondere Ton liegt nur darauf, daß die. Nachwirkung früherer Erlebnisse
uns vielfach gar nicht zum Bewußtsein kommt, wofür die automatisch ge¬
wordenen Handlungen nur einen besonders eindrucksvollen Sonderfall bieten.
Es handelt sich also nicht um eine geheimnisvolle Kraft, die aus mystischer
Dunkelheit auf die Gestaltung unseres Seelenlebens wirkt, sondern es ist
die eigene Vergangenheit, mit der wir seelisch dauernd verbunden bleiben,
eine Folge der seelischen Kontinuität schlechthin. Ich ziehe daher die Be¬
zeichnung „seelischer Unterbau“ vor, um zugleich anzudeuten, daß es sich
um seelische Prozesse handelt, die einer tieferen Entwicklungsstufe angehören
und die sich daher auch qualitativ von Bewußtseinsvorgängen unterscheiden.
Bei einer normalen Entwicklung macht sich dieser seelische Unterbau nicht
weiter bemerkbar, als daß gewisse Gewohnheiten und Charaktereigentümlich¬
keiten bleibend den Denkverlauf bestimmen, wobei immer das bewußte
Denken der höheren Entwicklungsstufe die Leitung behält. Das Bild ändert
sich jedoch, wenn der Übergang zu höheren Entwicklungsstufen nur unvoll¬
kommen gelingt. Während beim Infantilismus einfach das Denken auf einer
tieferen Stufe stehen bleibt, eigibt sich nun ein Widerstreit zwischen dem
bewußten Denkverlauf und dem seelischen Unterbau. Dieser ist verhältnis¬
mäßig besser eingeübt und schaltet daher in kritischen Lagen den bewußten
Denkverlauf aus, so daß die bewußte Leitung des Seelenlebens gestört er¬
scheint Am leichtesten ist das in den Fällen zu erkennen, wo eine längst in
Vergessenheit geratene Kindheitsszene den bewußten Denkverlauf so beein¬
flußt, daß sie immer wieder in neuen Variationen gespielt wird, wie bei jenem
jugendlichen Ausreißer»
Meist ist aber der Zusammenhang verwickelter. Angenommen, ein Jugend¬
licher fühlt sich in der Schule oder im Berufe nicht wohl: er ist den An¬
forderungen nicht gewachsen, er fürchtet ein Examen, aber er sieht auch,
daß es keine Möglichkeit gibt, sich diesen Anforderungen zu entziehen, ja
er zwingt sich vielleicht aus übertriebenem Ehrgeiz, weil er seine Schwäche
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Walter Hoflmann
nicht eingestehen mag. In dieser kritischen Lage setzen nervöse Störungen
ein: Ohnmächten, Erbrechen, Krampfanfälle, Lähmungen oder ähnliche Schreck¬
schüsse für' besorgte Eltern. Der innere Konflikt hat plötzlich seine Lösung
gefunden; denn durch die Krankheit ist der Jugendliche allen Unbequemlich¬
keiten der Schule oder des Berufes entzogen, ohne sich irgendwelchen Vor¬
würfen auszusetzen. Ist die kritische Situation vorüber, so stellt sich meist
die Gesundheit wieder ein, aber sobald neue Gefahr droht, wiederholen
sich die Anfälle; allerdings kann sich daraus leicht ein Dauerzustand ent¬
wickeln. Man erkennt sofort das typische Bild eines jugendlichen Hysterikers.
Wie erklärt sich nun der psychologische Zusammenhang? — Man könnte
an eine schlechtgespielte Komödie denken, und tatsächlich kommt dies oft
genug vor. Aber dann handelt es sich überhaupt nicht um eine krankhafte
Erscheinung. Für uns kommen nur die Fälle in Betracht, wo der Jugend¬
liche 'zweifellos schwer unter den Anfällen leidet und ihnen wehrlos aus¬
geliefert ist. Eine fremde, geheimnisvolle Macht scheint störend in das
Seelenleben einzugreifen, und dies ist nichts anderes als ein undiszipliniertes
Mitwirken des seelischen Unterbaues. Dem Bewußtsein gelang es nicht,
über einen inneren Konflikt hinwegzukommen; infolgedessen schaltet sich
automatisch der besser eingeübte infantile Denkmechanismus ein und schafft
überraschend die Lösung. Die Lösung erfolgt daher immer im Sinne kind¬
lichen Denkens, also rein egozentrisch, auf das Mitleid und die Hilfe der
Umgebung berechnet, möglichst drastisch im Ausdruck. Man weint und klagt
nicht bloß, sondern es stellen sich gleich Wein- und Schreikrämpfe ein —
der Kopfschmerz wird zur Migräne — die Angst ist so groß, daß Zittern und
Schwindelgefühle sie nicht genügend zum Ausdruck bringen würden, sondern
das vermögen nur Schüttelkrämpfe, lange Ohnmächten, Lähmungen. Wo diese
infantilen Automatismen einmal zum Durchbruch kommen, wirken sie eben
hemmungslos und maßlos. Daher wird so leicht der Eindruck des Schau¬
spielerhaften erweckt. Im Grunde genommen wirken auch hier Szenen der
Kindheit nach: Weinen und Schreien hatten stets die Hilfsbereitschaft der
Umgebung alarmiert und Krankheiten von mancherlei lästigen Verpflichtungen
befreit. Am schwersten bleibt zu verstehen, wie von diesen rein seelischen
Vorgängen aus nun auch die mannigfachsten äußeren Symptome einer Krank¬
heit ausgelöst werden können. Das beruht auf der stärkeren Suggestibilität
des Hysterischen, einer im Kindesalter ganz normalen Eigenschaft, die mit dem
Zurückgleiten auf eine infantile Entwicklungsstufe wieder einsetzt und nun¬
mehr sich in krankhaft verzerrter Form äußert. Wie stark die Suggestibilität
auch normaler Jugendlicher ist, davon kann sich niemand eine Vorstellung
machen, wenn er nicht praktisch auf diesem Gebiete gearbeitet hat. Da eine
Erörterung der Suggestion im Rahmen dieses Vortrages unmöglich ist, so muß
ich notgedrungen hier die Grenze meiner Untersuchungen ziehen.
Der streckenweise Einblick in pathologische Erscheinungen reicht hoffentlich
doch schon aus, um das methodische Prinzip klarzulegen. Ergänzend möchte
ich nur noch darauf hinweisen, daß die Hysterie kein einheitliches Krank¬
heitsbild darstellt, sondern daß es sich um ganz verschiedenartige Erscheinungen
handelt, die außerordentlich häufig Vorkommen, und zwar ebenso bei Knaben
wie bei Mädchen. Das Bild kompliziert sich noch dadurch, daß die Hysterie
mit organischen Minderwertigkeiten, aber auch mit bewußter Verstellung und
Lüge Zusammentreffen kann. Daraus ergeben sich dann die schwierigsten
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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
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Fälle fflr den Arzt wie für den Erzieher. Die psychologische Betrachtung
wird also immer davon ausgehen müssen, dafi ein ungelöster innerer Kon¬
flikt zugrunde liegt, der infantile Automatismen zur Wirkung kommen läßt
Systematische Vernachlässigung ist d^her bei Kindern eine bewährte Heil¬
methode. Besser ist es, man erkennt den Konflikt, k ann ihn dem Jugend¬
lichen zum Bewußtsein bringen und ihm durch erzieherische Beeinflussung
darüber hinweghelfen. Selbstverständlich gibt es kein Schema für solche
Analysen; insbesondere läßt sich nicht alles auf verdrängte Sexualität zurück¬
führen, wie Freud meint. Hier ist besondere Vorsicht am Platze, damit man
nicht mehr schadet als nützt.
Dagegen möchte ich nicht unterlassen, auf einige praktische Schlu߬
folgerungen hinzuweisen, die sich schon aus diesem skizzenhaften Überblick
für den Erzieher ergeben. Man sieht zunächst, welche große Bedeutung der
erzieherischen Behandlung des Psychopathen zukommt. Trotzdem darf man
nicht in das Extrem verfallen, nunmehr den Pädagogen ausschließlich für
zuständig zu erklären, unter Ausschaltung des Arztes, nachdem man gelegentlich
im umgekehrten Sinne verfahren ist. Um festzustellen, ob eine krankhafte
Erscheinung organisch oder seelisch bedingt ist, bedarf es Spezialkenntnisse,
über die nicht einmal jeder Arzt, geschweige denn der Pädagoge verfügt.
Hiervon hängt aber die ganze Behandlung ab, und ein Irrtum könnte sehr
verhängnisvolle Folgen haben. Bei allen pathologischen Erscheinungen ist
also ein verständnisvolles Zusammenarbeiten von Arzt und Erzieher notwendig.
Sind demnach hier dem Erzieher gewisse Grenzen gezogen, so eröffnet sich
doch in anderer Richtung ein unbegrenztes Arbeitsfeld, nämlich für die vor¬
beugende Tätigkeit. Es gilt, auf Grund der gewonnenen Erfahrungen die
Erziehung so zu gestalten, daß sie nach Möglichkeit Schädigungen der jugend¬
lichen Entwicklung meidet. In dieser Richtung lassen sich wenigstens einige
allgemeine Grundsätze aufstellen. Zunächst stehen wir vor der nieder¬
schmetternden Erkenntnis, daß die pathologischen Erscheinungen bis zu einem
gewissen Grade Folgen der Erziehung sind. Unsere Kultur verlangt eine Ver-
frühung der Entwicklung, wenn der jugendliche Nachwuchs auf dieselbe
Kulturhöhe gebracht werden soll, und dieser künstlichen Beschleunigung der
Entwicklung, die wir Erziehung nennen, sind leider die jugendlichen Seelen¬
kräfte nicht immer gewachsen. Seit Rousseau sieht sich daher jeder Erzieher
immer wieder vor eine schwere Gewissensfrage gestellt. Die Erfahrung, daß
Naturvölker durch die Berührung mit der europäischen Kultur entartet}, scheint
eine besonders ernste Warnung zu sein. Aber zum Glück zeigt sich dieser
Pessimismus bei genauerer Nachprüfung unbegründet. Nicht die Kultur ist
verantwortlich für die Entartung, sondern der sprunghafte Übergang, die
plötzliche Änderung aller Lebensverhältnisse, denen sich der Mensch nicht so
schnell anzupassen vermag *)- Was für Völker gilt, wiederholt sich im Leben
des Einzelnen. Deswegen sind Jugendliche, die vom Lande in die Großstadt
übersiedeln, besonders gefährdet. Ebenso bringt der Übergang von der Schule
in die Gebundenheit des Berufslebens eine kritische Periode. Kraepelin 2 )
hat diese Gefahrenquellen unter dem Begriffe der „Entwurzelung“ zusammen¬
gefaßt, wobei weiter auch an die Störung des Familienlebens, an die Lösung
') Bnmke, Über nervöse Entartung. Berlin 1912. S. 86.
*) Zeitschrift fflr die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 63, 1.
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Walter Hottmann
sozialer und religiöser Bindungen gedacht ist. Selbst ein frühzeitiges Betreibe n
von Fremdsprachen hält er aus diesem Grunde für bedenklich. Aus alledem
ergibt sich jedenfalls die erzieherische Notwendigkeit, sprunghafte Übergänge
zu vermeiden oder zu mäßigen. Instinktiv hilft sich die Jugend selbst, indem
sie während ihrer Erholungszeit zurückkehrt zu kindlichem Spiel und Phantasie¬
leben. Aber wir hatten auch gesehen, welche Gefahren damit verbunden
sind, wenn der Jugendliche die Beziehungen zur Wirklichkeit vollkommen
verliert und sich ganz in seine Träumereien einspinnt. Selbst Künstlern wie
Strindberg, van Gogh, Hölderlin ist dies zum Verhängnis geworden,
indem die innere Spaltung zur Schizophrenie führte. Die schöpferische
Phantasie, die das Leben braucht und die der Erzieher wecken will, bleibt
immer in Verbindung mit dem Wirklichen und Möglichen, sie ist nie ein
bloßes Ausweichen vor der Gegenwart in das Traumland des Kindes. Hier
setzt mein Gedanke einer Jugendkultur ein l ). Ihre Aufgabe erblicke ich vor
allem darin, die Erholungszeit des Jugendlichen als Erziehungspause zu
gestalten, wo er Gelegenheit hat, Lebensformen und Lebenskreise aufzusuchen,
die seiner Entwicklungsstufe entsprechen. Diese Erziehungspause ist etwas
anderes als die von Klatt behandelte „schöpferische Pause“ 2 ), denn sie ist
mit Betätigung ausgefüllt und soll gerade das Zurückziehen des Jugendlichen
von der Realität entbehrlich machen. Umgekehrt halte ich solche Bestrebunge n
der Jugendpflege für verfehlt, die auch die Erholungszeit des Jugendlichen
ausschließlich unter den Gesichtspunkt der Erziehung stellen wollen.
Man wird sich vielleicht wundern, daß ich bei Darstellung der verschiedene n
Entartungserscheinungen nicht weiter auf das Geschlechtsleben eingegangen
bin, obwohl es naheliegt, gerade die Störungen der Reifezeit mit dem Er¬
wachen dieses Triebes in Verbindung zu bringen. Eine genauere Behandlung
des jugendlichen Sexuallebens ist in diesem Zusammenhänge unmöglich, doch
will ich wenigstens ganz kurz meine Stellungnahme andeuten, da meiner
Überzeugung nach trotz aller Sexualforschung noch wenig Klarheit herrscht.
Der Grund liegt darin, daß man die Verschiedenheit des Seelenbildes beim
Jugendlichen und beim Erwachsenen nicht genügend berücksichtigt. Im
vollen Gegensätze zum Charakter des Erwachsenen steht der erwachende
Geschlechtstrieb beipi Kinde zunächst noch in keiner geistigen Beziehung
zur Gesamtpersönlichkeit, sondern entwickelt sich nebenher als gesonderte
Funktion, anfangs kaum beachtet, bis allmählich diese Spaltung der körper¬
lichen und geistigen Triebe eine innere Stellungnahme notwendig macht
und nach einer Lösung des Konfliktes drängt 3 ). Dies kann in ganz ver¬
schiedener Weise geschehen. Minderwertige Naturen, vor allem aber Jugend -
liehe, die bereits in andererWeise seelisch leiden, sind der Spannung nicht
gewachsen. Bei ihnen kann die geistige Synthese nur in der Weise ge¬
lingen, daß sie Hemmungen ethischer und sozialer Art, die bereits die Er¬
ziehung geschaffen hatte, durchbrechen und sich triebhaft ausleben. Es ergibt
sich dann nicht bloß ein Stillstand der sozialen und ethischen Entwicklung,
sondern häufig ein Herabsinken auf ein tieferes Niveau. Guterzogene Kinder
verfallen auf diese Weise plötzlich der Verwahrlosung und Kriminalität So
bringt die Sexualität eine weitere Komplikation in die zuvor behandelten
') Die Reifezeit Leipzig 1922. S. 248.
*) Die schöpferische Pause. Jena 1922, S. 25. 3 ) Kretzschmar, Körperbau und Charakter.
1921, 3. 76.
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Das Pathologische in dar Entwicklung der Jugendlichen
151
pathologischen Erscheinungen; man kann bei jedem Psychopathen annehmen,
daß er auch sexuell leidet, oh*e daß deswegen hier die Ursache zu suchen
wäre. Heilung und Erziehung muß vielmehr immer bei den seelischen Kon¬
flikten einsetzen. '
Ganz anders verläuft die Entwicklung beim vollwertigen Jugendlichen.
Bei ihm weckt das eigentümliche Spannungsverhältnis alle Kräfte, die der
Charakterbildung dienen, leitet eine höhere geistige Synthese ein, der sich
auch das neuerwachende Triebleben .einordnet, Deswegen beginnt in dieser
Zeit das Ringen nach ethischen und religiösen Leitlinien, um die sich die
Qesamtpereönlichkeit fest kristallisieren kann. Hier setzt zugleich der Pla¬
tonische Gedanke des Eros ein, der körperliche und seelische Kräfte in
einem tieferen Sinnzusammenhang vereint sieht 1 )«
Es ist klar, daß eine Sexualforechung, die sich nur auf klinische Erfah¬
rungen stützt, ein ganz verzerrtes Bild des jugendlichen Seelenlebens liefern
muß. Beim geistig. Minderwertigen kann allerdings der Sexualbetrieb zu
einer das ganze Seelenleben beherrschenden Macht werden. Höhere geistige
Werte erscheinen dann lediglich als seelischer Oberbau, der sich hemmend
der Auswirkung des Trieblebens gegenüberetellt und den Konfliktsstoff zu
allerlei pathologischen Entartungen liefert. Ethische und religiöse Ideale
müssen entwertet werden, damit ein solcher Charakter bestehen kann. Das
Erlebnis des Eros ist ihm fremd. — Aber die gesunde Entwicklung nimmt
eben einen vollkommen entgegengesetzten Verlauf. Die sexuelle Frage be¬
schäftigt natürlich auch den gesunden Jugendlichen mächtig, jedoch nicht
um der Sexualität willen, sondern weil er die Brücke vom Körperlichen zum
Geistigen sucht. Das muß der Erzieher natürlich erkennen, wenn er dem
Jugendlichen helfen will. Eine Belehrung über die Folgen geschlechtlicher
Erkrankung ist daher weit davon entfernt, dem Jugendlichen zur Lösung
der Frage zu verhelfen, sondern läßt den Konflikt erst recht in seiner ganzen
Schärfe bestehen. v
Damit gelange ich zum Schluß meiner Ausführungen. Es war mir mit
diesem Vortrag eine sehr schwere Aufgabe gestellt. Ich konnte sie nicht
andere lösen, als daß ich einige Grundlinien zeichnete. Immerhin wird viel¬
leicht dadurch der methodische Gesichtspunkt klar hervorgetreten sein: Den
Schlüssel zum Verständnis seelischer Varianten liefert uns die Entwicklungs-
Psychologie. Wir haben insbesondere gesehen, wie ein großer Teil Entartungs-
erscheinungen zu verstehen ist als ein Stehenbleiben der Entwicklung auf
einer tieferen Stufe. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen nicht um
einen totalen Stillstand der Entwicklung, sondern es werden nur gewisse
Einzelleistungen davon betroffen, wodurch sich dann jene merkwürdigen Ver¬
schiebungen und Verzerrungen des Seelenbildes ergeben. Insbesondere greifen
bei neurotischen Erkrankungen Funktionen störend in das bewußte Denken
ein, die in einer früheren kindlichen Entwicklungsperiode eingeübt waren und
als seelische Automatismen fortwirken. Die Frage, inwiefern hier unabänder¬
liche Anlagen oder Umweltseinflüsse wirken, hat für den Erzieher wenig
Bedeutung, denn an Anlagen läßt sich nichts ändern,, sondern wir können
nur die Umgebungseinflüsse bis zu einem gewissen Grade erzieherisch richtig
abstimmen. Aber gerade die entwicklungspsychologische Betrachtung lehrt
') Spranger, Eros (Kultur und Erziehung, Leipzig 1923, S. 217).
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152
Walter Holtmann, Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen
uns, wie stark die Ausgestaltung der Anlagen von äußeren Bedingungen ab¬
hängt Was trotzdem als unabänderlicher Grund^zug bestehen bleibt, das
können wir leider erst am Erfolg unserer Bemühungen erkennen. Alle
statistischen Erhebungen über die Vererbung von Anlagen fördern uns nicht,
weil bekanntlich die Statistik nie für den Einzelfall zutrifft, ganz abgesehen
davon, daß wir über solche Gesetzmäßigkeiten viel weniger wissen, als man
früher annahm. Zur Erziehung gehört nun einmal ein starker Optimismus,
ein Glauben an die Jugend, wobei ich unter Erziehung selbstverständlich
nie bloße Wortbelehrung oder Buchbildung meine. Diesen erzieherischen
Optimismus müssen wir auch dem jugendlichen Psychopathen gegenüber auf¬
bringen. Zu zeigen, daß wir hierzu auch wissenschaftlich berechtigt sind,
darauf kam es mir an.
Über Zahlsynopsien.
Von Arthur Fischer.
Aus dem Grenzgebiete der Mathematik und Psychologie 1 ) sind die Zahl¬
synopsien von besonderem Interesse für die Psychologie und den mathe¬
matischen Unterricht. Ich gebe im folgenden drei Beiträge zu dem bereits
bestehenden Material, die in mancher Hinsicht wertvolle Einblicke zu ge¬
währen vermögen.
1. Flora, 15jährig, in Italien aufgewachsen, ist mathematisch gut, wenn
auch nicht hervorragend veranlagt. Ihre stärksten Interessen liegen im Kunst¬
gewerbe. Die hier zu beschreibende chromatisch-diagrammatische Zahlen¬
vorstellung besitzt sie nachweislich seit'mindestens zwei Jahren.
Es können damit alle ganzen Zahlen zwischen 1 und 10 Millionen dar¬
gestellt werden. Zu diesem Zwecke bedient sich Flora eines Systems von
zehn regelmäßigen Achtecken mit gemeinschaftlichem Mittelpunkt, die in
gleichen Abständen aufeinander folgen, gleich gelagert sind und eine hori¬
zontale Seite enthalten. Durch die Eckstrahlen wird die Figur in acht gleiche
aber verschieden gerichtete Ausschnitte zerlegt. Diese entsprechen, von rechts
angefangen im positiven Drehsinn den Einern, Zehnern, Hundertern usw. bis
Zehnmillionern. Jeder Ausschnitt zerfällt in ein kleines Dreieck und neun
gleichschenklige Trapeze. Diesen Feldern sind, von innen nach außen, die
Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 0 zugeordnet und zwar in den Farben gelb,
ocker, Zinnober, karmin, violett, indigo, kobaltblau, sepia, grün, schwarz, die
in ihrer Gesamtheit ein Bild geben, das nach dem Urteil künstlerisch empfin¬
dender Personen meiner Umgebung das ganze Wesen Floras symbolisch
wiederzugeben scheint.
Zur Vorstellung einer bestimmten Zahl werden die betreffenden Zahlfelder
herausgegriffen und unter Beibehaltung ihrer Größe, Richtung und Farbe
nebeneinander gereiht Die Fig. 1 gibt, allerdings unter Verzicht auf die
Farben, das Zahldiagramm wieder.
2. Helene, 17*/2jährig, besitzt ein chromatisches Zahldiagramm, das in
vielem mit bereits in der Literatur vorkommenden verwandt, doch wesent¬
lich neue Züge aufweist. Dazu gehört vor allem, daß das Unendliche nicht
') David Katz: Psychologie und math. Unterricht Abh. der I.M.U.K., Bd. III, Heft 8 (1918).
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Arthur Fischer, Ober Zahlsynopsie»
als Punkt oder Linie, sondern als eine unbegrenzte Fläche Unkß oben
erscheint (Fig. 2 a u. b). Auch für die negativen Zahlen besieht eine Kurve,
die aber nur bis höchstens 1Ö0 zu verwenden ist und von da an bloiVnoch
als Richtung sich zu erkennen gibt. Das negativ Unendliche ist eine in bezug
Bildung entsprechend wird auch den imaginären Zahlen ein Oirt sugewieses
r,v,
lli tti-Li >1
sonderbarerweise aber nur jenen rait positiven Vorzeichen. Sie verlaufen
paraltei zu den negativen Zahlen auf deren rechter Seite. Ea ist fraglich,
ob hier nicht eine bewußte Konstroküon vorhegt. (Pig, 2c V
Jeder Zahl ist ferner eine beattomta Farbe ad|utigiert;
t — weiß i V .«*=» and weiß
2~höllbfau 1$. -m*. kui>U:rr,n
ä «» kaffeebraun / i& ** er tefciX•., : 3ü ^ rtWtu c*£me .'Xr^v;
i «rot • •; iisirniöberrot *ß -*» rot;
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9 H isteu 00 ^ mahibku [dunkle? &U 9)«
i 0 & get&ieh-w «iß 20 ^ ettbiotf (sehr dunkel t
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ÄrWi^ifrcf
UNfVEF
154
Artbur Fischer
Von 100 an sind alle dekadischen Zahlen mit gleicher Farbe versehen, wie
die dekadischen zwischen 10 und 90, nur immer blasser werdend, bis sie
bei einer Million in ein unbestimmtes Hellgelb übergehen. Unendlich selber
ist farblos.
Einer zweistelligen Zahl über 20 entsprechen zwei Farben, die sich aus
den Farben der Zehner und Einer zusammensetzen, z. 26 — graublau und
gelb. Die Farben der drei- und mehrstelligen Zahlen werden auf die Farben
der beiden ersten Ziffernwerte beschränkt, z. B. 3525 = 3500 — dunkelcröme
und dunkelblau.
Da Helene auch für Buchstaben Chromatismen besitzt, so ist nicht ver¬
wunderlich, daß für imaginäre Größen die Farbe des i, d. h. blendend weiß,
eine vorwiegende Bedeutung gewinnt.
Ebenso spielen in algebraischen Zahlen die Größen a, b, c, ... die Rolle
von Attributen und nehmen die Farben der entsprechenden Buchstaben an.
Die Buchstaben ihrerseits liegen wieder auf einer doppelt gekrümmten
Kurve (Fig. 2d), für die ich zum bessern Verständnis den Grundriß und
einige Koten eingezeichnet habe.
Vom Zahlendiagramm wird nicht nur für das Fixieren von Zahlen, sondern
auch für die einfacheren Operationen erster Stufe des Kopfrechnens selber
Gebrauch gemacht, besonders bei geistiger Ermüdung.
3. Georg, 15jährig, genoß in Rußland Privatunterricht, zunächst lange
allein (Zahlraum 1—100), dann mit seinem älteren Bruder zusammen (Zahl-
raum über 100). Der Junge ist an mathematischer Begabung seiner Klasse
weit voraus. Das hier folgende Zahldiagramm besaß er seit jeher, d. h. sein
Gedächtnis vermöchte sich nicht einer Zeit zu erinnern, in der die Vorstellung
nicht bestanden hätte. Hingegen kann er sich ganz schwach erinnern, daß
die Synopsie zuerst nur die ersten hundert Zahlen umfaßte.
Dieser Teil seiner Kurve trägt denn auch ein besonderes Gepräge (Fig. 3).
Die Zahlen 1—20, mit denen im Unterricht lange allein operiert wurde,
liegen auf einer schwach nach rechts ansteigenden Strecke; von da an bilden
je weitere zehn Zahlen eine bald stärker, bald schwächer ansteigende Strecke,
die in ihrer Gesamtheit einen offenen Linienzug in Form einer halben Rechts¬
schraube ausmachen. Darauf sind besonders deutlich die Teile bis zur Zahl 50.
Kleine Knickungen finden sich noch bei 27 und 36, da ihm „diese Zahlen
immer besonders gut gefallen haben". Ich habe auch hier, um den Verlauf
etwas deutlicher veranschaulichen zu können, die Kurve in Parallelprojektion
wiedergegeben und darin Grundriß und Koten eingezeichnet, obschon diese
in der Vorstellung selber nicht vorhanden sind, sowenig wie die beigefügte
Grundrißebene.
Von 100—200 schließt sich eine ähnliche Kurve an, jedoch mit dem wesent¬
lichen Unterschied, gegenüber der ersten um etwa 135 0 gedreht zu sein und
einer vollen Schraubung zu entsprechen. Eine Besonderheit liegt auch
darin, daß die sympathische Zahl 144, der mehr Bedeutung zugemessen wird
als der Zahl 140, durch eine Knickung ausgezeichnet ist. Der Zahlort für 200
liegt genau über dem Zahlort von 100.
Hieran können sich weitere Schraubungen bis zur Zahl 1000 anschließen;
doch wird von diesen wenig Gebrauch gemacht. An ihrer Stelle benützt
Ge^rg folgende Vorstellung: In derselben Richtung, in der die Zahlen 100—120
schwach ansteigend nach links hinten verlaufen, nur weitergehend, liegen
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Über ZahJsynopeien
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alle Hunderter zwischen 100 und 1000. Je nach Bedarf kann in einem dieser
sehn Punkte spontan eine zur Kurve 100—200 kongruente Schraubung an-
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UNIVERSITÄT 0F MICHIGAN
156
Arthur Fischer, Über Zahlsynopsien
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gesetzt werden oder vielmehr: alle zehn Kurven sind immer vorhanden, ver¬
schwinden aber vollständig gegenüber der einen, die gerade benötigt wird.
Die Zahl 453 z. B. läge demnach entweder auf der vierten Schraube über 100
im Punkte 53 oder auf der durch den Punkt 4 der gradlinigen Strecke
100—1000 gehenden Schraube im Punkt 53.
Zahlen, die über 1000 liegen, werden von rechts nach links in Klassen zu
drei Stellen eingeteilt, z. B. 8’678’453. Jeder Zahl in einer Klasse entspricht
ein besonderer Zahlort, der eben genannten Zahl also drei. Die Zahlen der
zweiten Klasse werden im wesentlichen gleich vorgestellt, wie die der ersten,
nur weiter entfernt, weniger deutlich und auf größeren Schrauben. Der
einzige bedeutende Unterschied ist der, daß die Kurve 1—100 durch eine
ganze Schraube vom zweiten Typus vertreten wird. Der Zahl 678*453 sind
demnach die zwei Orte 678*000 und 453 zugeordnet Der erste liegt im
Punkte 78 der Kurve, die im sechsten Punkte der Strecke 100000—1*000000
auf steigt; der zweite ist bereits beschrieben worden. (Vgl. Fig. 3.) Zur
Vorstellung einer bestimmten Zahl wird nicht der ganze zum entsprechenden
Zahlort hinführende Linienzug benötigt, sondern es wird der Punkt, gewisser¬
maßen durch ein absolutes Raumempfinden, sofort an seiner charakteristischen
Stelle wahrgenommen, gerade so wie der Musiker ohne Hilfe von Intervallen
die Höhe eines Tones festzuhalten vermag.
Für jede folgende Klasse gilt genau dasselbe wie für die zweite; streng
genommen besteht die Vorstellung nur noch biB zu 1 Milliarde, dann ent¬
windet sie sich ihrem Träger, sie „geht dann gleichsam über einen Rahmen
hinaus, der früher, wie ich mich genau erinnere, bei einer Million war.*
Das Diagramm dient nicht zur Ausführung rechnerischer Operationen, leistet
aber besondere Dienste im Kopfrechnen zur Fixierung der gegebenen und
gefundenen Zahlen und zum gedächtnismäßigen Auseinanderhalten zweier
Zahlen, die sich nur durch ihre Stellenzahl unterscheiden.
Untersuchungen Ober die Entwicklung der Zahlvorstellungen
im Kinde.
(Schluß.)
Von Josef Filbig.
Das Zusammenfassen.
Diese Funktion wurde im Zusammenhang mit rechendidaktiscben Fragen
schon oft erörtert und zwar meistens im Anschluß an die rechenexperimentellen
Untersuchungen über Auffassungsumfang. Bei unseren Versuchen stützten
wir uns auf die Ergebnisse von Lay, Pfeifer, Nanu u. a. Von einer suk¬
zessiven Darbietung wurde abgesehen; denn einesteils können jüngere Kinder
das Abzählen der Eindrücke nicht vermeiden, andernteils zeigten sich bei
einigen Voruntersuchungen so viele Schwierigkeiten, daß das Resultat wenig
diskutabel geworden wäre.
Die Versuchsanordnung war äußerst primitiv. Sie mußte es sein. Je weniger
Nebeneindrücke auf das Kind einwirken und die Aufmerksamkeit ablenken,
um so sicherer ist die Einstellung, um so exakter das Resultat
Dargeboten wurden runde Holzscheibchen von 1 cm Durchmesser, einfarbig,
hell auf dunklem Hintergrund. Die Anordnung war in der ersten Versuchs-
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Jose! Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 157
reihe linear, in der zweiten wurden die Formen der Layschen Zahlbilder ge¬
stellt Die Expositionszeit betrug im Mittel eine Sekunde, bei den jüngeren
Kindern etwas mehr ( 4 /$ Sek.), bei den älteren weniger. Die Aufmerksamkeits¬
einstellung wurde durch ein etwa 2 Sekunden vorher zugerufenes „Jetzt*
betätigt Die Ergebnisse sind in nachfolgender Kurve festgelegt
Ihr entnehmen wir folgendes:
1. Eine zusammenfassende Tätigkeit ist vor dem vierten Lebensjahr kaum
festzustellen.
2. Die Knaben sind anfangs in der Entwicklung voran. Der Vorsprung
wird aber nach dem fünften Lebensjahr von den Mädchen rasch eingeholt
und dann weit überschritten. Mit dem Ende des sechsten Lebensjahres er¬
fassen die Knaben in einem Aufmerksamkeitsakt 2—3, die Mädchen 3—4 (5)
Elemente.
8. Die Gruppen werden mit zunehmendem Alter und dem damit zunehmen¬
den Aufmerksamkeitsumfang etwas bevorzugt. Eine entschiedene Überlegen¬
heit ist auf dieser Stufe noch nicht feststellbar. Ein einziges Mädchen arbeitete
sichtlich leichter und rascher mit. der Gruppe als mit der Reihendarstellung.
Die Mehrzahl der anderen Kinder dagegen sah in den Gruppen etwas Un¬
gewohntes, Neues.
In diesen Ergebnissen liegt ein Gegensatz zu Lays Ansichten 1 ), wenn er
behauptet, daß Gruppenauffassung das primäre Moment in der Entwicklung
der Zahlvorstellung sei. Gerade am Anfang der meßbaren Entwicklungsstufe,
') Lay, Führer durch den Rechenunterricht der Unterstufe.
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158
Josef Filbig
die r nach unseren Untersuchungen in das 4. Lebensjahr fällt, zeigen alle
Kinder die Neigung, zählend die dargebotenen Einheiten zu erfassen. In
diesem Lebensalter wird im allgemeinen — nach unseren Ergebnissen durch¬
aus — die Zahlvorstellung ZWEI gewonnen. Die DREI bietet erste Gelegen¬
heit zur Gruppendarstellung. In 23 Fällen von 32 Möglichkeiten hielten sich
auch hier Reihe und Gruppe das Gleichgewicht, in den übrigen 9 Fällen nur
wurde „3“ in der Reihe und „4“ in der Gruppe aufgefaßt Hier wie dort
konnte aber beobachtet und durch Versuche festgestellt werden, daß deswegen
viele Kinder versagten, weil man ihnen die Gelegenheit zum Zählen nahm.
Exponierte man länger, so zählten die Kinder ab und gaben dann einwand¬
freie Urteile. Mit wachsender Reife erst erlangt die Gruppe dominierende
Bedeutung. Dann aber hat sich auaji die Auffassungsp-enze in der Reihe
beim Kinde der Auffassungsgrenze beim Erwachsenen ziemlich genähert —
eine weitere Steigerung ist schlechterdings normalerweise unmöglich.
Wir können sagen, daß die Gruppenauffas'sung die Auffassung
von wenigen Elementen der Reihe zur Grundlage hat, daß diese
Elemente zählend zu den ersten Zahl Vorstellungen zusammengefaßt werden
und daß diese die Voraussetzung bilden zu der durch Übung und Erfahrung
erworbenen Abschätzung simultan gesehener Elemente. Damit ist auch Küh¬
nei 1 ) widerlegt, wenn er sagt, daß erst von fünf ab die weiteren Zahl¬
vorstellungen zählend erworben werden. — Eine Weiterführung dieser Ver¬
suchsreihe ist in den Untersuchungen über das Zahlbild gegeben.
Quantitätsbeziehungen.
In weiteren vier Versuchsreihen soll nun die Ausbildung des Gebrauchs
von „mehr“ oder „weniger“ untersucht werden. Im wesentlichen wurde die
angegebene Versuchsanordnung von Deuchler beibehalten. Der Einheitlich¬
keit zuliebe wurden die Layschen Gruppenbilder gestellt.
1. Versuchsreihe: Die Gegenstände (Holzblättchen) sind in Reihen angeord¬
net; die eine Reihe enthält eine Einheit mehr als die andere. Frage: Wo
sind mehr? Variation: die eine Reihe hat größere Gegenstände; die eine
Reihe bedeckt einen größeren Raum.
2. Versuchsreihe: Gleiche Versuche mit Gruppen (Laysche Zahlbilder).
3. Versuchsreihe: Untersuchung der Begriffsbedeutung von „mehr“ oder
„weniger“ an den reproduzierten Zahlwörtern. Frage: „Was ist mehr, 2oder 3?“
4. Untersuchung der Begriffsbedeutung von „viel“ und „wenig“ an an¬
schaulichen Inhalten. Die Kinder bekommen Gegenstände in die Hand und
geben dann an, ob es viel sind oder wenig.
Ergebnisse.
1. Die Leistungen der Kinder beim Vergleich zweier Reihen, deren Ele-
mentenzahl um eine Einheit variiert, sind geradezu erstaunlich. Es winden
oft Aufgaben gelöst, die auch bei den Erwachsenen Maximalleistungen sein
könnten. „Hier (beim Versuch) kommt wohl nur der Gesamteindruck der Ob¬
jekte in Betracht, der eben wechselt mit der Zahl der Objekte; es handelt sich
um einen Vergleich mehr oder weniger bestimmter Mengeneindrücke.“ (Katz.)
2. Fehlleistungen kamen unter ganz bestimmten Voraussetzungen vor. Im
allgemeinen mußte die in einem Aufmerksamkeitsakt erfaßbare Anzahl von
’) Kühnei, Neubau des Rechenunterrichts 1. Teil.
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Untersuchungen über die Entwicklung der Zehlvoretellungen im Kinde
159
Objekten weit überschritten sein. Tatsächlich zeigt sich eine Korrelation
zwischen simultaner Auffassung und den Quantitätsbeziehungen. Innerhalb
der fest erworbenen Zahlvorstellungen ist ein Versagen auch unter schwierigen
Bedingungen (ungleicher Abstand, ungleiche Größe der Elemente) kaum mög¬
lich. Außerhalb derselben wird in fast allen Fällen die Größe des bedeckten
Raumes gemessen: von zwei Reihen mit je gleicher Anzahl, aber verschieden
großen Elementen, wird die Reihe mit größeren Objekten als größer bezeichnet,
bei Elementen gleicher Größe diejenige Reihe, welche einen größeren Raum
bedeckt In unserer Tabelle sind nur die sicheren Fälle verzeichnet 1 )*'
3. Die Gruppe gewährt in der gewählten Form entschiedene Vorteile. Um
einwandfreiere Resultate zu erzielen, müßte man auch weniger einheitlich
aufgebaute Zahlenbilder als Vergleichsmaterial herbeiziehen.
4. Die 3. Versuchsreihe gewährt einen vortrefflichen Einblick in den Ent¬
wicklungsgang des rechnerischen Denkens. Sie setzt eine gewisse Verfüg¬
barkeit der erworbenen Zahlvorstellungen voraus, prüft die Festigkeit der
Assoziationen, auch das Gedächtnis und das funktionale Denken. Insofern
man die besten Erfolge erzielt durch kurzen Hinweis auf konkrete Dinge, ist
sie auch ein Beweis für den auf dieser Stufe noch vorwaltenden Konkretis-
mus des Kindes.
5. Bei der Prüfung der Verhältnisse von »viel“ und „wenig“ zeigten sich
die Knaben viel anspruchsvoller. „Viel“ beginnt oft bei relativ hohen Zahlen;
eine mehr oder minder große Zahlenfolge, eine indifferente Zone, trennt den
unbestimmten Mengenbegriff vom Beginn des „nicht viel“, des „wenig“ ab.
Bei den Mädchen ist diese Übergangsschwelle weniger deutlich ausgeprägt
Eine Deutung des Resultats begegnet manchen Schwierigkeiten. Im allgemeinen
ist anzunehmen, daß „wenig“ auf dieser Stufe, wo bereits bestimmte Zahl¬
begriffe gewonnen sind, mit der erfaßbaren Anzahl von Einheiten zusammen¬
fällt
Zu der Versuchsdurchführung sei noch erwähnt, daß dem Problem von
zwei Seiten nähergerückt wurde: einmal wurden den Kindern bestimmt
viele Gegenstände in die Hand gegeben, von denen sie nach und nach ab¬
treten mußten bis zu „wenig“, ein andermal lief der Weg umgekehrt.
6. Auch hier zeigt sich eine deutliche Überlegenheit der Mädchen, die den
Knaben weit voraneilen.
Der Zählprozeß
ist nach Deuchler in fünf Versuchsreihen zu untersuchen:
1. Rein reproduktives Aufsagen der Zahlnamen;
2. Prüfung der Festigkeit durch Wiederholung eines Substantivs nach dem
Zahlwort, also „ein Federhalter, zwei Federhalter usw.“;
3. Einfluß der Verschiedenartigkeit der Gegenstände auf den Zählprozeß;
damit zugleich der Grad der Selbständigkeit des Zählens, der Abstraktion
des Zählens vom einzelnen Inhalt usw.;
4. Wirkung der verschiedenen Anordnung auf den Akt des Zählens;
5. Anzahlschätzen.
*) Vgl. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, S. 89.
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Josef Filbig
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Die psychologische Analyse „wirklichen Zählens" ist wohl der Einheitlich¬
keit und Vollständigkeit halber vollkommen durchgeführt. Tatsächlich finden
wir in den fünf Elementen manche bekannte Versuchsaufgabe. Wir selbst
haben z. B. Reihe 1, 3 und 4 heim Reihenprozeß schon erledigt, Reihe 5
deckt sich vollkommen mit dem 3. Merkmal der Zahlenreihe, der Zusammen¬
fassung, so daß als ureigenstes Problem Reihe 2 und der Teil der Reihe 3
übrigbleibt, der als Vergleichsmoment zum reproduktiven Aufsagen der Zahl*
namen dienen muß.
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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorotellungen im Kinde
181
Um die Festigkeit der Reihen zu prüfen, mußten die Kinder nach jedem
Zahlwort ein Substantiv wiederholen. Um aber auch gleichzeitig den be¬
sonderen Einfluß, den Wörter mit gefühlsbetontem Inhalt einerseits und gleich¬
gültigem andererseits auf die Zähltätigkeit haben, festzustellen, wurden folgende
Wörter gewählt:
Blei leicht auszusprechendes Wort von gleichgültigem,
Klöss “ leicht auszusprechendes Wort von stark gefühlsbetontem,
Schwester =■ schwieriges Wort mit gefühlsbetontem Inhalt.
Die Ergebnisse sind in vorstehender Kurve festgelegt.
Zeitschrift f. pSdagog. Psychologie. 11
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Josef Filbig
162
Diskussion der Werte.
1. Benannte Zahlen hemmen den ungestörten Ablauf der assoziierten Reihe.
Die Reproduktion geht stockender vor sich, schließlich wird die Reihe unter¬
brochen, es folgt ein wahlloses Zuordnen von Zahlwörtern. Jedoch haben
nicht alle Wörter den gleichen Einfluß auf den Ablauf der Reihe. Die Steigerung
der Leistungsfähigkeit bei den gefühlsbetonten Inhalten ist unverkennbar,
ebenso der Einfluß schwieriger Bildungen.
2. Im Zusammenhang damit muß auch auf die Tatsache hingewiesen werden,
daß die Leistung beim Abzählen eine gehobenere ist gegenüber dem rein
reproduktiven Aufsagen der Zahlwörter. In den meisten Fällen nehmen die
Kinder bei der Reproduktion ihre Finger zu Hilfe. Auf diesen psychologischen
Grundlagen ruhen die Fragen der Veranschaulichung. Weiterhin geben sie
der Didaktik wichtige Fingerzeige. Der Konkretismus des Kindes verlangt
mit Entschiedenheit namentlich auf den ersten Wegstrecken einen anschaulich
■begründeten Rechenunterricht. Die Auswahl der Sachaufgaben muß psycho¬
logisch fundiert sein; sie muß dem geistigen Standpunkt des Schülers entgegen-
kommen, seine Interessen berücksichtigen samt seinen Beschäftigungen und
Spielen. Andererseits darf die Veranschaulichung nicht falsch gedeutet werden.
Es bedeutet einen überflüssigen Kräfteverbrauch, wenn man beim Operieren
mit benannten Zahlen jedesmal die Benennung wiederholen läßt. Deuchler
hat Recht: „man kann ja trotzdem konkret rechnen“.
3. Der Zehnerübergang ist fast für alle Kinder eine Klippe, die ihnen das
Weiterzählen unmöglich macht. Gibt man den folgenden Zehner, so läuft
die Reihe meistens ungehindert bis zum nächsten Zehner ab. Die Analogie¬
bildung — um eine solche handelt es sich hier — ist oft so stark, daß selbst
sinnlose Wörter mit den Grundzahlen verknüpft werden: wiederholt gab ich
als nächstes Zehnerzahlwort „kutzig“, oder „lechzig“ und ganz selbstverständ¬
lich wurde weiter gezählt: ein-und-kutzig, zwei-und-kutzig usw. Eine relativ
hohe Leistung im Abzählen bringt zwar die Zahlbegriffe auf keine höhere
Stufe der Auffassung; das Kind jedoch hat eine solche Freude am Erfolg und
zählt dann mit Interesse alle möglichen Dinge ab, daß man Kühnei u.a. recht
geben muß, wenn sie die aus logisch-didaktischen Erwägungen heraus gemachte
künstliche Cäsur nach 10 oder 20 aufgehoben wissen möchten. Aus später
noch zu erörterndem Grunde pflichten wir ihnen bei, verlangen eine additive
und subtraktive Behandlung bis zu Hundert, auch darüber hinaus, und halten
eret dann die multitiven Operationen für berechtigt.
4. Auch auf dieser Stufe sind die Mädchen den Knaben überlegen.
Addition und Subtraktion.
Neue Versuchsgruppen sollen die Prozesse des kindlichen Denkens, welche
Elementaroperationen (vier Spezies) zugrunde liegen, näher erörtern. Zwei
Fragen sind es, die zunächst interessieren:
Welchen Einfluß hat die Aktivität des Kindes beim Addieren sowohl als
auch beim Subtrahieren auf die Leistung? Als Vergleichsmoment könnten
die Leistungen bei mehr passivem Verhalten herangezogen werden.
Welchen Einfluß hat das Rechnen mit konkreten Sachen auf den Erfolg?
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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
ies
Deuchler schlägt zur Beantwortung dieser Fragen drei Versuchsgruppen vor:
1. Addieren bezw. Subtrahieren an Gegenständen in einer für das Kind
mehr passiven Form, wobei der Versuchsleiter das Hinzufügen bezw.
Wegnehmen ausführt, das Kind bloß zuschaut und das Resultat angibt.
2. Gleiche Versuchsreihe in aktiver Form; die Kinder betätigen sich auch
beim Hinzufügen bezw. Wegnehmen.
3. Gleiche Reihe ohne Veranschaulichungsmittel. Das Rechnen kann ent¬
weder rein verbal oder mehr illustrativ erfolgen.
Wir haben im Kindergarten die Versuchsreihe vollständig durchgeführt, bringen
jedoch in der Tabelle nur die aktive und verbale (reinverbale) Form. Als
Gegenstände dienten farbige Blättchen, wie sie die Kinder beim Legen von
Mustern benutzen. Sie wurden nach der Art der Layschen Zahlbilder zusammen¬
gestellt. Die Instruktion lautete für die erste Reihe: „Nimm (von dem Haufen
weg) ein Blättchen und lege es hier her! Nimm noch eins! Wieviel liegen
jetzt da?“
Dem sehr lehrreichen Versuch entnehmen wir folgendes:
1. Das äußere Bild schon zeigt den begünstigenden Einfluß konkreter An¬
schauungsmittel auf den Erfolg. Das rein verbale Rechnen sieht viele Ver¬
sager, die beim illustrativen Rechnen, noch mehr aber beim Arbeiten mit
konkreten Dingen noch hübsche Leistungen aufweisen. Auch jene Kinder,
die bereits einigermaßen mit abstrakten Zahlen zu rechnen vermögen, leisten
hierbei um ein Vielfaches mehr. Noch ein Umstand, der in der Tabelle nicht
verzeichnet werden konnte, verdient Beachtung. Während beim rein verbalen
Rechnen die Ermüdung viel rascher eintrat und gleichermaßen auf die
Arbeitsdauer und Arbeitsqualität einwirkte, machten sich beim konkreten
Rechnen Ermüdungserscheinungen noch lange nicht geltend. Bei den unter- ’
suchten Kindern zeigte sich diese subjektive Wirkung noch in anderer Weise.
Die Kinder arbeiteten bei den Versuchen gern und freudig mit und drängten
sich förmlich zu den Experimenten heran. Das Interesse erlahmte jedoch
rasch und machte einem gewissen reservierten Benehmen Platz, das bis zum
nächsten Tag oft anhielt, sobald die Kinder einmal einige Minuten unanschau¬
lich arbeiten mußten. Für die Didaktik ergeben sich hieraus wichtige Folge¬
rungen, die die Fragen der Veranschaulichungen, den Wert des Tatrechnens,
das Aktiv-tätig-sein (Kaufmann spielen!) berühren.
2. Die Aufgaben finden verschiedenfache Behandlung: Die Addition
x +1, (x 4-1) 4-1 usw. gingen auf größerer Altersstufe reibungslos vor sich.
Das Kind hat also das Bewußtsein, daß in der Reihe die Glieder in der Weise
Zusammenhängen, daß je zwei aufeinanderfolgende immer um die Einheit
verschieden sind. Nach Deuchler ist damit der richtige Begriff des Zählens
zum Ausdruck gebracht. Denn das Zählen wird ja „als diejenige Tätigkeit
definiert, durch welche das folgende Glied der Zahlenreihe mit der aus den
vorhergehenden Gliedern gebildeten Einheit zn einer neuen Einheit verknüpft
wird“. Daß das Zählen sein natürliches Ende am Schlüsse der dem Kinde
bekannten Zahlwörter findet, ist für den Zählprozeß an sich belanglos. In
der Tabelle sind selbstredend nur die Fälle bezeichnet, die zum festen Wissen
des Kindes gehören.
Die Aufgaben x -i- 2, (x + 2) + 2 usw. wurden oft ähnlich wie die vor¬
stehenden gelöst. Das kam hauptsächlich beim anschaulichen Rechnen zum
Ausdruck (während wir bei den Aufgaben x + 1 usw. nur das verbale Rechnen
n*
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
1
164 Jose! Filbig
im Auge hatten). Die Kinder bemerkten bald die Aufgabenstellung, behielten
(bei fortschreitender Reihenvergrößerung) relativ hohe Zahlen im Gedächtnis
und zählten dann leise um zwei Einheiten weiter. Damit hatten sie das
Resultat. Auch in solchen Fällen können wir von einem „richtigen" Zählen
reden. Es erscheint fraglich, ob in den Leistungen ein Verständnis für Zahl¬
beziehungen in mathematischem Sinn zu erblicken ist In den Lösungen er¬
kennt man wieder den vom Kinde auf dieser Stufe beherrschten Zahlenraum.
1 -f-1 wird häufig (verbal) gelöst. Allein in den meisten Fällen ist damit
noch nichts über das Zahlenverständnis, das Verständnis für Operationen,
ausgesagt. 1 + 1 ist ein Sätzchen, das sich den Kindern einprägt weit vor
dem schulpflichtigen Alter wie lange vor einem multiplikativen Verständnis
der Satz: 6 mal 6 ist 36.
Auf eine andere merkenswerte Tatsache sei noch hingewiesen: Die meisten
Kinder stellen beim aktiven Rechnen nach gleichen Farben zusammen. Mit
Rot wurde begonnen.
3. Die Subtraktion macht auf dieser Stufe noch mehr Schwierigkeiten,
als man gemeinhin annimmt. Die Resultate beim verbalen Rechnen sind
gleich Null, beim aktiven wurden bessere erarbeitet. Das hängt wohl mit
dem ganzen Beschäftigungsspiel der Kleinen zusammen, vielleicht auch mit
dem Entwicklungscharakter dieser Stufe, der auf Synthese eingestellt ist.
Die Aufgabe x—x löst Befremden aus. Es leuchtet dem Kind nicht ein, daß
man erst 6 Steine herzählt uiqj dann 6 wegnimmt
Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Stufe der Gewinnung einer Reihe
von Zahlvorstellungen der Gewinnung operativer Beziehungen vorangeht In
allen Fällen, wo bei 5—6jährigen Kindern von einem verständnisvollen Addieren
bzw. Subtrahieren die Rede sein kann, hat man es mit mathematisch besonders
Entwickelten zu tun. Diese zeigen ihren Vorsprung im rein verbalen Rechnen,
das ja eine gewisse Abstraktionsfähigkeit voraussetzt. Den gleichen Gedanken
spricht Kühnei aus, wenn er in bezug auf die monographische Methode von
einer „Verkennung der Kindesnatur“ spricht (obwohl die Schule es bereits
mit 6—7jährigen Kindern zu tun hat). Meumann präzisiert die Tatsache
folgendermaßen: „Nachdem die Zahlvorstellungen sich entwickelt haben, fehlt
dem Kinde jede Fähigkeit, die einfachsten Operationen auszuführen". Im
ersten Unterricht kann deshalb von einem eigentlichen Rechnen kaum die
Rede sein. Sein Augenmerk muß zunächst auf die Gewinnung von Zahl¬
vorstellungen gerichtet sein. Dann erst sind die Kinder reif für die einfachsten
Fälle des beziehenden Denkens; jetzt erst können die additiven und sub-
traktiven Beziehungen mit Erfolg einsetzen.
Multiplizieren und Dividieren.
Noch deutlicher zeigen sich diese Erscheinungen bei den Untersuchungen
über das Multiplizieren und Dividieren, die nach den gleichen Grundsätzen
wie die Additon und Subtraktion durchgeführt wurden. Um den Anreiz
besonders stark zu machen, wurden Bonbons als Gegenstände benutzt. Wir
besprechen für die Multiplikation nur die aktive und verbale Form, für die
Division nur das Enthaltensein und das Teilen. Bei der aktiven Form der
Multiplikation lautete die Aufforderung: „Nimm einmal zwei Zuckersteine!
Wieviel sind dies?" Analog mit 3, 4, usw. als Multiplikator. Das Enthalten-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
- c -
165
sein wurde durch folgende Fragen angeregt: „Wieviel Zuckersteine liegen
hier? (4). Wie oft kannst du 2 wegnehmen?“ Das Teilen wurde als Verteilen
praktisch durchgeführt: Das Kind mußte eine bestimmte Anzahl von Bonbons
an 2, 3 usw. Kinder verteilen.
1. Ein Verständnis für die multiplikative Form ist auf dieser Stufe nicht
gegeben. Nur drei Mädchen im Alter von 5‘/2 Jahren waren imstande,
einige Aufgaben sinngemäß durchzuführen. In allen anderen Fällen wurde
zwar der Aufforderung: „Nimm 1 mal 3 Zuckersteine usw.“ stattgegeben,
dabei blieb es aber. Unter Berücksichtigung der Gesamtlage scheint die An¬
nahme berechtigt, daß, abgesehen von den obenerwähnten drei Fällen, alle
Kinder in der Aufforderung: „Nimm einmal x“ lediglich einen Umstand der
Zeit erblicken, wie er ihnen in dem stereotypen Märchenanfang: „Es war ein¬
mal“ geläufig ist Denn bei der Aufforderung „Nimm 2 mal 3 x“ nahmen
alle Kinder 2-f-3 x. Die verbale Form zeigte keine Resultate.
2. Die Division findet ebenfalls wenig Verständnis. Das Enthaltensein ist
allen Kindern fremd; beim Verteilen betätigten sich einige in der erwähnten
anschaulichen Weise. Höhere Werte, wie 8, 9, usw. wurden dabei unter
2,3, 4, Kinder so verteilt, daß zunächst jedes Kind zwei Zuckersteine bekam,
and dann der Rest Stück um Stück abgegeben wurde. Fehler wurden von
den älteren Kindern selbst korrigiert. Ergab die Aufgabe einen Rest (7:3)
so wurde in allen Fällen der Rest vom Verteiler beansprucht, obwohl nach
der Instruktion alle Kinder gleichviel erhalten sollten. Einen diesbezüglichen
Hinweis beantwortete ein kleiner Knabe mit folgenden, sehr bezeichnenden
Worten: „Die Gustie ist größer und kriegt daher um eins mehr.“ *)
Das Teilen (nicht Verteilen) von mehreren Gegenständen wurde häufig in
der Weise betätigt, daß beim 2-Teilen z. B. Häufchen von je 2 Dingen
gebildet wurden, bei der Dreiteilung Häufchen zu je 3 Gegenständen usw.
Uns interessiert nun die Frage, ob in diesem Verteilen ein Teilen im mathe¬
matischen Sinn zu verstehen ist Kühnei spricht sich so darüber aus: „Mancher
Lehrer, ja eigentlich jede beobachtende Mutter hat schon die Erfahrung ge¬
macht, daß das Teilen eine Tätigkeit ist, die dem Kinde einer gewissen
Altersstufe noch so gut wie fremd ist. Die Erziehung in dieser Richtung
beginnt mit der Gewöhnung, einen Teil, d. h. ein kleineres Stück von dem
eigenen Gut an andere abzutreten, an Geschwister oder an Tiere usw. Und
selbst wenn dieses Teilen wirklich schon von der Kinderseele gewonnen
worden ist, so hat es noch sehr wenig zu tun mit dem Teilen im mathe¬
matischen Sinne. Es ist dann noch auf lange Zeit hinaus ein Abtreten: Von
einem Teller Nüsse bekommen die Geschwister jedes zwei und wenn sich
noch genügend darauf befinden und sie nicht aufgehoben werden sollen,
noch eine oder zwei. Ein Rechnen tritt hier nicht ein, am ehesten noch bei
mathematisch besonders Entwickelten und dann erst, wenn eine gewisse,
nicht zu niedrige Stufe dieser Entwicklung erreicht ist. Bei vorschulpflich¬
tigen Kindern konnten wir das noch niemals beobachten. Aber daß in jenem
kindlichen Teilen eine frühe Vorstufe des mathematischen Teilens gegeben
ist, erscheint unzweifelhaft“
Eine frühe Vorstufe — nicht mehr. Was wir bei der Addition und Subtrak¬
tion allgemein über die Zahlbeziehungen sagen konnten, gilt in erhöhtem
Maße auch für die Operationen der zweiten Stufe.
x ) Vgl. Büiiler, Die geistige Entwicklung des Kindes S. 97.
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166
Josef Filbig
Den Schluß unserer Untersuchungen möge eine tabellarische
Übersicht über die Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kind
geben (vgl. die nebenstehende Tabelle); in ihr ist auch der Grad der Entwicklung
auf den Stufen zum Ausdruck gebracht. Es sei betont, daß unser Ergebnis keines¬
wegs generelle Gültigkeit beansprucht. Eingangs schon haben wir erwähnt,
daß gute und schlechte Begabung, häusliche Beeinflussung, ob absichtlich oder
mehr ungewollt, wie auch Anregung durch Spiel, Umgang und Beschäftigung
die Entwicklungskurve in hohem Maße bestimmen. Deshalb wird ein scharf
umrissenes Bild geistigen Werdens und Könnens auf dieser Stufe, wo alles
„fließt“, kaum entworfen werden können. Wir haben es getan, zahlenmäßig
sogar, weil wir dabei immer den Entwicklungsgang von 102 Kindern im Auge
haben, deren rechnerisches Können in vielen Einzeluntersuchungen festgestellt
wurde. Deshalb wurde auch die Altersabstufung von 5 bezw. 10 Monaten
beibehalten. Unsere Diagnose soll also lediglich für die angeführten Verhält¬
nisse Geltung haben. Im übrigen sind die mühevollen Untersuchungen während
eines halben Jahres vielleicht ein kleiner Beitrag zur Kinderpsychologie. Denn
die Aufeinanderfolge in der Entwicklung der rechnerischen Fähigkeiten und
ihrer einleitenden Prozesse wird im allgemeinen gleich verlaufen, wenn auch
der Grad sich ändert.
Es war natürlich unmöglich, dem Überblick rein statistische Verhältnisse,
wie sie den Tabellen ohne weiteres zu entnehmen wären, zugrunde zu
legen. Die Fälle weit fortgeschrittener und weit rückständiger Entwicklung
mußten ausgeschaltet werden, um ein Normalbild zu erhalten. Neue Unter¬
suchungsreihen waren nötig, um ein abschließendes Urteil über die Reich¬
weite der anschaulichen, klaren und deutlichen Zahlvorstellungen sowohl
als auch deren Gewinnung zu bekommen. Als solche deute ich an: Prüfung
der Aussagen über Anzahl der gegebenen anschaulichen Einheiten (weil das
Kind wohl die Zahlvorstellung 4 haben kann, ohne das Zahlwort hierfür zu
kennen) und Umsetzen des Klangbildes in bildliche Darstellung, anschließend
ebenfalls Prüfung der Aussagen.
Prüfung des Zahlenverständnisses an Schulneulingen.
Darüber hat in interessanter Weise K. Eckhardt berichtet. Seine Fest¬
stellungen beziehen sich auf die rechnerischen Leistungen des Schulrekruten
überhaupt, in gewissem Sinne bilden sie einen speziellen Teil der Unter¬
suchungen über das „geistige Inventar“ der Kinder.
Während hier hauptsächlich die Kenntnisse der Kinder festgesteüt wurden,
d. h. ihr Besitz an komplexen Vorstellungen über die Zahl und deren Be¬
ziehungen, wurde in nachstehendem mehr auf das „elementare Material“
eingegangen, auf dem sich das Zahlenverständnis aufbaut Die Untersuchungen
.wurden von Professor Strauss der Lehrerbildungsanstalt alljährlich nach dem
Muster des „Leipziger Blattes“ angestellt und gewinnen an Bedeutung, weil
ihnen zum Vergleich die Resultate nach einhalbjähriger Schulzeit gegenüber
gestellt sind.
Zur Beurteilung diene folgendes:
Die Kinder werden in eigener Methode sowohl mit den Gruppen als auch
mit den Reihen bekannt gemacht und daran unterrichtet, was zu einer ge-
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Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kinde.
Nach den Untersuchungen im Kindergarten „Marienheim* Amberg.
Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
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168 Josef Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde
wissen Selbständigkeit in der Anwendung und Darstellung der Zahlvorstellungen
der Form nach führt. Ein eigentliches „Rechnen“ im Sinn des Lehrplans
beginnt ziemlich spät und wird durch Ausbildung aller Sinne im Werk- und
Arbeitsunterricht planmäßig vorbereitet Alle Schüler sind im Besitze selbst¬
verfertigter Anschauungsmittel. Die Kinder gehören großenteils gut situierten
Familien an. Uns interessiert vom psychologischen Standpunkt aus fol¬
gendes:
1. Die Schüler 8, 6, 8 bevorzugen auffällig die Gruppendarstellung und
behalten die Tendenz zu räumlicher Gruppierung bei. Nach halbjährigem
Schulbesuch ist die Zahlauffassung bei gegliederter Reihenvorstellung eine
gehobene und noch mehr gesteigerte bei Gruppendarstellung. Der Schüler 12
bevorzugt anfangs die Reihe, seine Leistungen übersteigen das Durchschnitts¬
maß; der Unterricht beeinflußt ihn im Sinne der gruppierten Anordnung der
Elemente.
2. Die Auffassungsgrenze für simultan dargebotene Eindrücke liegt beim
Schuleintritt bei drei Elementen, wird im Laufe des Jahres aber für Reihen¬
darstellung auf 4, für Gruppendarstellung auf 5 Einheiten erhöht. In diesem
Wert kommt die durch Übung steigerungsfähige und frühzeitig mechanisierte
Auffassungsmöglichkeit zum Ausdruck. Denn normalerweise werden diese
Zahlen erst im zehnten bis zwölften Lebensjahre erreicht
3. Die Deckungsmethode zeigt einige Fälle der von Freemann konstatierten
Ungenauigkeit der assimilierenden Apperzeption. Obwohl hier die Kinder
mit Muße das Zahlbild nachkleben konnten, kamen in der Nachbildung sub¬
jektiv gefärbte Auffassungen vor. Die Fälschungen betrafen die den Kindern
ungewohnten Zahlbilder; einfache Formen, zu denen die horizontale Reihe
und das Quadrat zählt wurden richtig wiedergegeben. Diese Feststellung stimmt
mit anderen experimentell gefundenen Tatsachen überein, wonach das Vier¬
eck nicht die geometrisch, wohl aber die psychologisch einfachere Form dar¬
stellt Die vertikale Reihe ist gleichfalls etwas Ungewohntes; sie wird zur
horizontalen Reihe umgeformt. In diesen Beobachtungen liegen wichtige
Fingerzeige für die Ausgestaltung der Zahlbilder.
4. Die Darstellung nach Aufruf (Versuch nach jährigem Schulbesuch)
zeigt bei manchen Schülern inmitten ausgeprägter Reihendarstellung un¬
motiviert auftretende Gruppenzusammenstellungen. In der Hauptsache sind
es die Zahldarstellungen „5 U und „10“, die gruppiert ausgestaltet werden.
Diese Reaktionsweise findet in der bei Knaben vorherrschenden Formen-
beliebtheit, die die Diagonalstellung der „5“ bezw. der „10“ noch unterstützt,
ihre Erklärung.
Es ist schade, daß die Untersuchungen einseitig der Zahlversinnlichung bezw.
der Wirkung der Unterrichtsmethode galten. Denn wichtiger als diese Fragen
erscheinen die Feststellungen der beginnenden und fortschreitenden Abstraktion
in der fortschreitenden assoziativ-reproduktiven Mechanisierung des Rechen¬
prozesses.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
!**. -
r, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut I. Jugendkunde 169
Erfahrungen bei den Eigmmgspr&fungen industrieller
Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 1 ).
Von Theodor Valentiner.
Bremen besitzt bekanntlich eine hochentwickelte Metallindustrie. Wir haben
hier die beiden großen Werften, die Aktiengesellschaft „Weser“ und die Atlas¬
werke und andere große Industriewerke, die zusammen mehr als 500 Lehr¬
linge jährlich einstellen. Da war es ganz natürlich, daß man sich in den
letzten Jahren die Frage vorlegte, ob nicht auch hier die Lehrlinge psycho-
technisch auf ihre Eignung geprüft werden sollten. In den Kreisen der Gro߬
industrie und besonders in den Ingenieurvereinen wurde die Frage wieder¬
holt behandelt Doch war man längere Zeit zurückhaltend aus verschiedenen
Gründen: Einmal lagen die Einstellungen zum Teil in den Händen von Prak¬
tikern, die bei der Auslese im allgemeinen glücklich gewesen waren. Wozu
also etwas Ungewisses, Neues an die Stelle setzen? Und dann lauteten die
Gutachten und Urteile, die man von anderen auswärtigen Betrieben über den
Wert dieser Prüfungen einholte, nicht durchweg günstig. Man war vielfach
mißtrauisch und skeptisch, wie das ja bei solchen Neuerungen ganz selbst¬
verständlich ist Auch von seiten des Institutes für Jugendkunde, das der
psychotechnischen Forschung von Anfang an seine vollste Aufmerksamkeit
zugewandt hat und das in Bremen der gegebene Ort für Vornahme von Eignungs-
Prüfungen ist, bestanden anfänglich Bedenken, vor allem wissenschaftlicher
Art. Es mußten erst die nötigen Vorbereitungen getroffen, die vorhandenen
Prüfverfahren durchgeprüft, eventuell ergänzt und den Bedürfnissen gemäß
ungestaltet werden, ehe das Institut eine solch verantwortungsvolle Aufgabe
übernehmen konnte. So kam es, daß in Bremen erst im vorigen Jahre mit
Eignungsprüfungen begonnen wurde. Und zwar wurden im letzten Winter
diejenigen Lehrlinge geprüft, die nach dem Wunsche der einzelnen Werke
dem Institut zu diesem Zweck zugesandt wurden.
Die bisherigen Erfahrungen haben uns Recht gegeben, daß wir mit Vor¬
nahme der Prüfungen gewartet haben, bis wir sicheren Boden unter den Füßen
hatten. Ich bin überzeugt, daß uns infolge der gründlichen Vorbereitungen
manche Enttäuschung erspart geblieben ist. Der äußere Erfolg ist vorhanden:
Wir hatten im vorigen Jahr etwas mehr als 300 Lehrlinge von 5 Werken zu
prüfen. Dieselben Werke haben auch für dieses Jahr ihre Lehrlinge zur
Prüfung wieder angemeldet. Weitere Werke haben sich angeschlossen, so
daß wir mit einer viel größeren Zahl von Prüflingen zu rechnen haben.
Diesen äußeren Erfolg haben wir hauptsächlich den Prüfungsergebnissen zu
verdanken, die bei Prüfung älterer Lehrlinge erzielt wurden. Von 2 Werken
(den Hansa-Lloyd-Werken und der A.-G. „Weser“) wurden uns nämlich außer
den neu einzustellenden Lehrlingen 17 ältere Lehrlinge zur Prüfung geschickt,
die nach denselben Methoden und in derselben Weise wie die anderen ge¬
prüft wurden. Man schickte sie uns wohl in der Erwägung, hierdurch einen
Maßstab für die Beurteilung der Prüfergebnisse durch das Institut zu gewinnen.
Ganz natürlich! Nur an Urteilen über ihm bekannte Lehrlinge kann ein
Meister sehen, wieweit er Urteilen über ihm fremde Jungen Vertrauen schen¬
ken kann. Uns war diese Sonderprüfung sehr erwünscht. War uns doch
’) Vortrag, gehalten am 20. Mai 1922 im Institut für praktische Psychologie in Dortmund.
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170
Theodor Valentiner
so Gelegenheit geboten, zu zeigen, daß wir mit unserem Verfahren auf dem
richtigen Wege sind und was viel wichtiger, konnten wir doch aus dem Ver¬
gleich der Zeugnisse des Institutes mit denen der Werkstatt, um deren Aus¬
fertigung, unabhängig von dem Institutsurteil, und Zusendung nach Ein¬
treffen unserer Prüfkarten ersucht wurde, voraussichtlich vieles für Ver¬
besserung unseres Verfahrens lernen. Das Ergebnis war sehr günstig. Die
Antwort, die wir von den Hansa-Lloyd-Werken auf Zusendung der Prüfkarten
von 11 Lehrlingen erhielten, lautete: . . c . . Die Ergebnisse zeigen durch¬
weg eine auffallend gute Übereinstimmung mit der Beurteilung durch die
Meister, welche die Lehrlinge seit Jahren kennen.“ Und die A.-G. „Weser“
schrieb uns: „Wir stellen mit Befriedigung fest, daß die von Ihnen ermittelten
Wertzahlen sehr gut mit unseren Beobachtungen der genannten Lehrlinge
übereinstimmen. Wir schöpfen hieraus die Hoffnung, daß Ihre Vorprüfungen
uns bei der Auswahl, Unterweisung und Beobachtung neuer Lehrlinge von
Nutzen sein werden.“ — Von den Hansa-Lloyd-Werken war nicht die Rang¬
reihe der 11 Lehrlinge angegeben; dagegen über jeden Lehrling mehr oder
weniger eingehende Bemerkungen über Begriffsvermögen, Zusammenarbeiten
der Hände, Tastgefühl, Meßgefühl, Betragen und Willenseigenschaften. Außer¬
dem war das allgemeine Werturteil so deutlich ausgesprochen oder erkenn¬
bar, daß die Rangreihe unschwer zu erschließen war. Wir waren so in der
Lage, bis ins einzelne zu vergleichen und konnten die von uns gebrauchten
Prüfmittel gleichsam im Lichte der Werkstatt sehen. Auch die A.-G. „Weser“
schickte uns ausführliche Zeugnisse über die von uns geprüften 6 älteren
Lehrlinge, dazu eine Rangreihe. Die Rangreihe stimmte mit der von uns
hergestellten bis auf eine geringfügige Abweichung: der 2. und 3. unserer
Reihe hatten nämlich von der Werft denselben Platz (2.) erhalten. Erwähnen
möchte ich, daß bei den neueingestellten Lehrlingen, soweit bis jetzt fest¬
gestellt, sich eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen Instituts- und Werk-
stattsurteil ergeben hat Es konnten die Werkstattsurteile über das Gesamt-
verhalten von 94 Lehrlingen der A.-G. „Weser“ zu den Institutsurteilen in
Beziehung gesetzt werden. Die Werkstatt hatte sich der üblichen Schul¬
zensierung (1 = sehr gut, 2 gut, 3 ■= genügend, 4 => mangelhaft, 5 -■
ungenügend) bedient Verglich man damit das entsprechende Institutsurteil,
so ergab sich, wie dem Werk am 24. Mai 1922 unter Beilage der Ausrechnung
mitgeteilt wurde, „bei einer Wertabstufung von 1, 2, 3, 4, 5 für die Tüchtig¬
keit der Lehrlinge bis jetzt eine mittlere Abweichung von 0,36. Abweichungen,
die über 1 hinausgehen, fanden sich nur bei 4 (d. h. 4,3°/«) Lehrlingen, dar¬
unter als größte Abweichung einmal 1,3.“ Natürlich werden die Urteile der
Meister, die die Lehrlinge ja erst 2 Monate unter den Händen haben, unter
allem Vorbehalt und oft mit dem Hinweis abgegeben, daß sich voraussicht¬
lich noch manches ändern wird. Immerhin darf man nicht ganz gering ein¬
schätzen, wenn Meister, die z. T. seit langen Jahren die Ausbildung der jugend¬
lichen Lehrlinge vornehmen, im allgemeinen nach 6—8 wöchentlicher Beob¬
achtungszeit zu ganz ähnlichen Werturteilen über die Lehrlinge kommen wie
das Laboratorium. Es verdient dies um so mehr Beachtung, als die Meister
im allgemeinen derartigen „theoretischen“ Feststellungen mit gewissem Miß*
trauen begegnen. Selbstverständlich müssen weitere Erfahrungen gesammelt
werden. Meine Mitarbeiter (Senator Feuss und Frl. E. Schütte) und ich sind
fast wöchentlich auf einem Werke zu finden, wo wir die Schicksale unserer
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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 171
Prüflinge weiter verfolgen. Der fortlaufende persönliche Austausch der Er¬
fahrungen, der auf diese Weise gepflegt wird, hat, abgesehen davon, daß er
für Fragen der Bewährung und Verbesserung der Methoden den sichersten
Weg weist, noch den Vorteil, daß er dem vielbeklagten Aneinandervorbeireden
und Vorbeiurteilen von Laboratorium und Werkstatt auf die natürlichste Weise
ein Ende macht.
Es ist selbstverständlich, daß bei Ausarbeitung des Prüfplans und Prüf¬
verfahrens an Bewährtes angeknüpft wurde. Die Berufsanalyse ist ja auf
diesem Gebiete schon so fortgeschritten, viele Prüfmittel schon so vielfach
erprobt, daß man sich einer schweren Unterlassungssünde zeihen müßte, wollte
man hier nicht einfach weiterbauen. Ich erwähne nur Arbeiten von Moede,
Lipmann, Stolzenberg, W. Stern, E. Stern, F. Giese, Bonhof, Dr. Heilandt,
Roloff, ferner Prüfverfahren wie sie bei Löwe & Co., Berlin, MAN in Augs¬
burg-Nürnberg, Zeiss, Jena usw. angewendet werden, um festzustellen, daß
hier bleibend Wertvolles geschaffen worden ist, das im folgenden als bekannt
vorausgesetzt werden muß. Doch sind wir noch nicht so weit, daß wir heute
irgendein Verfahren einfach kopieren können. Die Verfahren sind noch
zu sehr durch die Eigenart der Persönlichkeiten, die sie verwenden, bedingt
und lassen sich noch nicht ohne weiteres auf ganz andere Verhältnisse über¬
tragen. Eine Verpflanzung würde jedesmal eine Verschlechterung eines viel- <•
leicht sonst sehr brauchbaren Verfahrens bedeuten.
Wir haben es daher auch in Bremen so gemacht, wie es unter heutigen
Verhältnissen die Regel sein wird: Manches wurde einfach übernommen,
manches wurde abgelehnt, und vielfach wurden neue Wege eingeschlagen.
Dabei waren weniger psychologische Erwägungen — wie das noch vielfach
der Fall ist — als vielmehr Erfahrungen maßgebend, die ich bei Intelligenz-
und Begabungsprüfungen gesammelt hatte, die ich an Jugendlichen voraahm,
die mir aus mehrjähriger Unterrichtsbeobachtung genau bekannt
waren.
Bei Prüfung der industriellen Lehrlinge hielt ich es für zweckmäßig, fol¬
gende 5 Gruppen von Eigenschaften als Hauptgruppen anzusehen.
1. Die Intelligenz. Ich nehme das Wort in dem Sinne, in dem es nach
W. Sterns Vorgang jetzt wohl allgemein in der angewandten Psychologie ge¬
braucht wird, dem Sinne der „geistigen Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben
des Lebens". Im Sprachgebrauch verwenden wir dafür häufig Ausdrücke wie
Auffassung, Auffassungsgabe, Begriffsvermögen, Verstand u. a. Jeder weiß, was
damit gemeint ist, und daß die Intelligenz eine äußerst wichtige Rolle im Be¬
rufsleben des industriellen Lehrlings spielt. Dieser darf nicht zu schwerfällig
im Denken sein; er soll sich nicht gar zu dumm anstellen, muß verstehen,
was ihm erklärt wird. Ein guter Lehrling wird eine neue Arbeit, einerlei
um was es sich dabei handelt, verhältnismäßig schnell begreifen und bei der
Ausführung eine gewisse Intelligenz beweisen.
2. Das technische Verständnis; eine spezielle Begabung, die bei guter
Allgemeinbegabung gelegentlich wenig entwickelt ist Von jedem Lehrling
wird ein gewisses Verständnis für Bau und Funktionieren einer Maschine,
technische Einfühlungsfähigkeit und- technische Kombinationsgabe verlangt
Der Lehrer ist in den seltensten Fällen in der Lage, hierüber ein Urteil ab¬
zugeben. Ich machte selbst überraschende Erfahrungen bei Schülern eigener
Klassen, die ich im Institut auf ihre technischen Fähigkeiten prüfte. Hier
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172
Theodor Valentiner
stellte sich heraus, daß gelegentlich Jungen, die von allen unterrichtenden
Lehrern für allgemeinbegabt gehalten wurden, technisch recht mäßig befähigt
erschienen, während es vorkam, daß einer, der in keinem Fach Besonderes
leistete und als dumm galt, gute technische Begabung zeigte. Da bekannt¬
lich die Technik noch keinen Platz in den Lehrplänen hat, begreift man, daß
die Schule auch kein Urteil über die sich bei Beschäftigung mit technischen
Dingen zeigende Sonderbegabung haben kann. Schon daraus ergibt sich
die Notwendigkeit der psychotechnischen Prüfung dieser Eigenschaft.
3. Der Handgebrauch. Voraussetzung ist hier, daß Tast-, Druck- und Ge¬
lenksinn ausreichend entwickelt sind, da sie bei der Handarbeit oft ent¬
scheidend mitwirken. Auch eine gewisse Handruhe wird bei vielen Arbeiten
verlangt, insbesondere bei Ausführung von Präzisionsarbeiten. Besonderes
Gewicht legt die Werkstatt bekanntlich auf gutes Zusammenarbeiten der Hände.
Oft müssen feinabgestufte verschiedensinnige Bewegungen von beiden Hän¬
den gleichzeitig ausgeführt werden, und es scheint, daß die Übungsfähigkeit
bei solchen Leistungen im allgemeinen gering ist
4. Das Augenmaß. Hier besteht im Gegensatz zur Sehschärfe und anderen
Leistungen des Auges eine nicht ungünstige Beziehung zur Intelligenz: Eine
an 160 Versuchspersonen im Institut durchgeführte Untersuchung über die
Korrelation ergab den Koeffizienten e —» 0,61 — psychologisch sehr wohl ver¬
ständlich, handelt es sich doch dabei in erster Linie um intellektuelle Lei¬
stungen. Wenn aber bei einer Reihe von Fällen (8 Vp.) gute Intelligenz mit
mangelhaftem Augenmaß zusammentraf, so weist das darauf hin, daß das
Augenmaß eben auch physiologisch bedingt ist Dies wird um so deutlicher
dadurch, daß wohl gute Intelligenz mit sehr mangelhaftem Augenmaß, nie¬
mals aber das Umgekehrte: gutes Augenmaß mit sehr schwacher Intelligenz
zusammentraf. Schon aus diesem Grunde muß das Augenmaß gesondert
geprüft werden. Aber auch als geistige Leistung zeigt das Messen und Ver¬
gleichen von Größen mit den Augen eine gewisse Selbständigkeit innerhalb
der geistigen Funktionen. Wenn wir 6, 7 jährige Kinder den Mittelpunkt eines
Kreises bestimmen lassen und vergleichen damit die Prüfergebnisse an Er-
wachsenep bei demselben Versuch, so finden wir keine auffallenden Unter¬
schiede. Das weist schon darauf hin, daß die Augenmaßfunktion von der
geistigen Reife relativ unabhängig ist. —
5. Die Willenseigenschaften. Zu ihnen rechne ich einen ganzen Kom¬
plex von Eigenschaften verschiedenster Art: Fleiß, Arbeitswillen, Ausdauer,
Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, auch
das Betragen.
In diesen 5 Gruppen ist alles Wesentliche enthalten, was unter den berufs¬
wichtigen Eigenschaften von den Psychologen geprüft werden muß. Es wird
auffallen, daß hier manches fehlt, das notwendig festgestellt werden muß,
z. B. manches aus dem Gebiet der Sinnesfunktionen. Da sind wir nun in
Bremen in der günstigen Lage, die Gutachten der Schulärzte mit verwerten
zu können. Hier wird jedes Kind, das die Schule verläßt, vor seinem Ab¬
gang vom Schularzt untersucht und zwar mit besonderer Rücksicht auf den
gewählten Beruf. Das ärztliche Gutachten wird der Medizinalbehörde über¬
mittelt, die wiederum dem Institut in dankenswertem Entgegenkommen Ein¬
blick und Abschrift gestattet Wir haben daher auf unserer Prüfkarte einen
Raum freigelassen, wo der ärztliche Befund eingetragen wird. Bei Bewertung
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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 173
des Lehrlings wird das Urteil des Arztes selbstverständlich gebührend be¬
rücksichtigt. An Orten, wo eine ärztliche Untersuchung fehlt, muß natürlich
Auge, Ohr, Körperkraft, Gesundheitszustand usw. irgendwie festgestellt werden.
Von den 5 Gruppen von Eigenschaften, die ich kurz bezeichnet habe,
enthält jede einen wesenhaften Kern der Berufsanforderungen, ln ihrer Gesamt-
1 heit — richtig bezogen und bewertet — bilden sie die psychische Struktur
des Berufs. Vor allem ist es wichtig zu beachten, daß jede Gruppe ihre
selbständige Bedeutung hat. Jede muß auf das sorgfältigste geprüft werden,
eine weitere Reduktion ist bei dem Beruf des industriellen Lehrlings nicht
möglich. Auch der Nichtpsychologe weiß, daß guter Handgebrauch mit ge¬
ringer Intelligenz (bei unseren oben erwähnten 160 Versuchspersonen 9 mal)
oder mit hoher Intelligenz (8 mal) verbunden sein kann. Versagt der Lehrling
in einer Gruppe oder in einer „kritischen" Funktion einer Gruppe *) gänzlich,
so ist er ungeeignet. Ist er in allen gut und besser, so haben wir den voll¬
kommenen Lehrling.
Die Prüfung dieser Eigenschaften erfolgte'nach scharf getrennten Methoden,
je nachdem es sich um eine psycho-physische oder um eine rein psychische
Funktion handelte. Es bildet ein besonderes Kennzeichen des Bremer Ver¬
fahrens, daß diese Trennung im Laboratorium streng durchgeführt wurde.
Der Unterschied ist kurz folgender: Bei Tast-, Druck- und Gelenksinn, auch
Prüfung des Augenmaßes und des Handgebrauchs waren wir bemüht, in der
üblichen Weise möglichst exakte quantitative Feststellungen zu machen. Dem
Prüfling wurde genaue Anweisung gegeben, was er zu tun hatte, und er
wurde gleichsam gezwungen, auf eine an ihn ergehende Forderung tunlichst
mit der Funktion zu reagieren, die eben geprüft werden sollte. Für jeden
gelten die gleichen Bedingungen; nur war bei Ausführung des Versuches
jedesmal auf die besondere Körperbeschaffenheit (Körpergröße usw.) des
Prüflings Rücksicht genommen.
Bei Prüfung rein psychischer Funktionen verfuhren wir anders. Hier wurde
dem Prüfling möglichst weiter Spielraum zur Betätigung gegeben. Jede äußere
und innere Hemmung wurde möglichst beseitigt. Wir zeigten nicht den Weg,
den der Prüfling gehen mußte, sondern ließen ihn selbst suchen und finden,
und dabei stellten wir sein Verhalten und seine Leistungsfähigkeit fest.
Gewisse Ausgangsfragen waren gemeinsam; auch das Ziel wurde im Auge
behalten; doch war immer eine Entfernung von dieser Basis möglich, wenn
es der Prüfer im Interesse sicherer Feststellungen für geboten hielt Kurz,
es war keine Prüfung, sondern eine freie Besprechung. Einer sich irgendwie
zeigenden auffallenden Erscheinung oder Äußerung des Jungen wurde so lange
nacbgegangen, bis sich alles geklärt hatte. Ich halte es für unbedingt erforder¬
lich, daß wir diesen Trennungsstrich ziehen und auch im Laboratorium beide
Verfahren, das Experiment und die Beobachtung 2 ), zu ihrem vollen Recht
kommen lassen.
Ich möchte an einem Beispiel zeigen, wie wir prüften. Ich wählte dazu
Gottschalck’s Zitterschreiber. An diesem Apparat ließ sich die Prüfung
von 3 der genannten Gruppen, nämlich Intelligenz, technisches Verständnis
') Vergl. Rapp, Beiheft für angew. Psychologie, 29, S. 32 f.
*) W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen 1920* S. 48 f., vgl. auch dasselbe
in den Beiheften z. Zeitscbr. f. angew. Psych. 29. 6. 3.
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MW»
Theodor Valcntiner
und Handgebrauch vornehmen. Hier sind also beide Verfahren deutlich zu
machen: bei Prüfung der Handruhe und derHandgeschicküehkei! das Experiment
bei Prüfung der höheren geistigen Funktionen das freie Verfahren.'— Oer
Apparat dient eigentlich nur dazu, die Ruhe der Hand bei Ausführung von
Präzisionsleistungen zu prüfen, ln einem mit Öffnung nach oben versehenen
Holzgehäuse (s, Abbildung, Abdruck aus demBeiü.29 d.Z&tschr. 1 augtnv. Psydi.V
befindet sich eirre Messlugtronirael, die durch ein Laufwerk gedreht wird. Bei
Druck auf eine seitlich angebrachte Taste setzt sich die Trommel in Bewegung
und dreht sich einmal herum. In die Trommel ist ein 8 (eiliger Zickzack-
schlitz eingeachmtteö, feder folgende Schlitz ist um ^ öim enger als der
vorliergeirende. Es M nun die Aufgabe, mit einem Metallstab in dem Schlitz
der bewegten Trommel zu bleiben,..ohne die Ränder zu berühren Jeder
Anstoß wird mittels elekhomaghetischefi Farbschreibers registriert. Bei Prüfung
der Bändrühe ist auf manches zu achten, wenn die Prüfung ihren volles
■Wert haben soll Die Beleuchtung tüuß so sein, daß die Versuchspersoii
durch den Metaifglaaz nicht geblendet wird. Der Apparat sieht an; bestes
von eben die sieb nunc;
’ ^.• seiner Iland MnbefAhigenile
Trommel beobachten *kann. Ferner muß immer ein Tuch bereit seit',
damit feuchte Hände vor Ausführung des Versuchs abgetrocknet werden
können. Es genügt auch, wenn ein, Löschblatt auf die pokerte Holzplatte
gelegt wird, Vor allem »st aber wichtig, daß der Prüfling die richtige Rand¬
lage hat Es gibt eine Steile, wo die Hand ruhig aufliegt und nicht hin
und bemitschen muß, um den Versuch auazuführen.. Diese Stelle muß fut
|ede Hand gesucht werden. Kurz, wir bereiten den Versuch so vor, daß
alle unter relativ gleichen • und"R*Sgtfel#günstigen • Bedingungen arbeiten,
damit wir zu vergleichbaren Ergebnisaen über die Ruhe der Hand kötnBtftC
Beachten wir beispielsweise nicht, ob einer feuchte Hände hat, so kann das
Ergebnis ungünstig werden, obwotd der Betreffende rteUeiebt eine sehr ruhig«
Hand hat, aber infolge des Bandeehweißes auf der polierten Platte attsreUold
Nach einem Varversucfr, der nur der ricbtigea Einstellung dient und l>ci
einmaligem Tromrnelumlauf erledigt werden kann, folgen 3 Versuche (drei¬
maliger Umlauf der Trommelt mit aufgelegten Regishiersbeifen. Diese 3 Ver¬
suche reichen aus, uro zu einem Urteil über die Handrahe des Lehrlings
kommen. Daß die Prüfung bei jedem Lehrling ausgeführt werden muß«
bewies mir vor allem folgender Fall.: Unter den älteren Lehrlingen d«
Hansa-Lloyd-Werke war einer, au« dem man, wie wir später erfuhren, w
der Werkstatt nicht recht klug werden konnte, Er war anscheinend aufgeweckt
und anstellig, aber als Schlosser und Dreher nicht zu gebrauchen. Er bestand
auch unsere Prüfung — vor aUem die Intelligenz-, Augenmaß'und technische
Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 175
Prüfung — ganz gut, aber versagte völlig an diesem Apparat. Es stellte
sich heraus, daß er eine vollkommen nervöse Hand hatte. Der Versuch
konnte nicht bis zu Ende geführt werden. In der Werkstatt war dies nicht
erkannt worden. Ich schrieb nun in das Zeugnis „nervöse Hand; ärztliche
Untersuchung wünschenswert“. Es wurden darauf die erforderlichen Schritte
getan. — Außer der Handruhe konnte auch das Zusammenarbeiten der Hände
am Zitterschreiber geprüft werden und zwar bei Auflegung des Registrier¬
streifens auf die Holzrolle, die auf die Welle der Trommel aufgesetzt wird.
Ich ließ das Auflegen des Papiers von dem Prüfling ausführen und stellte
dabei seine Handgeschicklichkeit fest. Die Aufgabe sieht sich sehr leicht
an und stellt doch hohe Anforderung an die Zusammenarbeit der Hände.
Wenn ich das eine Ende des Streifens unter das Metallband legen will, muß
ich dieses Band, das durch eine Feder auf die Rolle gedrückt wird, so lange
mit der einen Hand hochdrücken, bis ich den Streifen mit der anderen Hand
untergeschoben habe. Das Auflegen des 2. Endes ist noch schwieriger: Hier
muß ich gleichzeitig das Metallband hochdrücken, mit derselben Hand das
erste Ende des Streifens auf der Rolle festhalten und das 2. Ende richtig
unterschieben. Auch hier geben wir dem Prüfling genaue Anweisung, wie
es gemacht werden muß. Die Prüfergebnisse dieses dreimaligen Auflegens
des Registrierstreifens zeigten eine günstige Beziehung zu dem Werkstatt-
urteil über das Zusammenarbeiten der Hände. Die Bewertung war nicht
schwierig, da sich deutliche Unterschiede zeigten: Der eine mußte nach vielen
vergeblichen Bemühungen den Versuch aufgeben, das Papier fiel immer
wieder herunter, zerknüllte, zerriß und war nicht mehr zu gebrauchen —
ein anderer war fix und gewandt und brachte es fertig, daß der Streifen
schön stramm auflag. Und dazwischen waren deutlich erkennbare Zwischen¬
stufen.
In diese Prüfung des Handgebrauchs war eine Prüfung der Intelligenz und
des technischen Verständnisses eingeschoben. Sie war ganz darauf angelegt,
daß nicht nur die „reaktiven sondern vor allem die spontanen Kräfte“ ')> die
im Prüfling schlummerten, zum Vorschein kommen mußten. Sie war außer¬
dem so, daß die besonders durch die W. Stern’sehen Untersuchung genugsam
bekannten Schwächen der Testprüfung tunlichst vermieden wurden. Wenn
nämlich uach der Voruntersuchung die Trommel einmal herumgelaufen war,
so wurde eine leichte Unterhaltung über den Apparat angeknüpft. „Wir
wollen uns jetzt mal ausruhen und den Apparat studieren. — Was bewegt
sich da unter deiner Hand vorbei? Für wie groß hältst du den Durchmesser
der Trommel; zeig es mir mit der Hand. — Wir wollen mal sehen, ob du
recht hast. Sieh es dir einmal von hier aus an. Da sieht die Welle der
Trommel etwas heraus. Für wie groß hältst du, von hier aus betrachtet,
den Durchmesser? Also größer oder kleiner als du ihn vorhin angegeben
hast?“ Aber dieses Gespräch spielt sich niemals genau so ab, wie man
hiernach vermuten könnte. Schon nach den ersten Fragen und Antworten
habe ich gewisse Eindrücke darüber bekommen, ob ich es mit einem lang¬
samen oder schnellen Denker, mit einem schwerfälligen oder klaren Kopf,
mit einem guten oder schlechten Beobachter zu tun habe — Eindrücke, die
sich im Lauf der weiteren Besprechung vollständig verändern können, die
*) Vergl. W. Stern, Beiheft 29 d. Zeitsch. f. angew. Psych., S. 3 u. ö.
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1 76 Tb. Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde
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aber doch dazu dienen, der Besprechung eine leise Wendung nach dieser
oder jener Richtung zu geben, in der ich noch sicheren Aufschluß über
meine anfänglichen Vermutungen zu bekommen hoffe. Die Besprechung
wird auch immer so geführt, daß der Prüfling nie das Gefühl bekommt: das
kann ich nicht — dazu bin ich zu dumm, sondern es wird immer das
Gefühl in ihm wachgehalten: das ist ja gar nicht so schwierig, darüber
weiß ich doch allerlei zu sagen. Inzwischen geht die Besprechung weiter
und tiefer. „Was hat denn dieser Knopf zu bedeuten? Wenn ich drauf
drücke, setzt sich die Trommel in Bewegung. Wie geht das zu? Und wie
kommt es, daß die Trommel stehen bleibt, wenn sie einmal herumgelaufen
ist? Wie sieht das wohl da drinnen im Kasten aus? Wie würdest du den
Apparat innen einrichten, daß die Trommel nach einmaliger Umdrehung
stehen bleibt? ... .* Wir haben bei dieser Besprechung schon zahllose Be¬
obachtungen gemacht und viele Anhaltspunkte zur Beurteilung der Intelli¬
genz und der technischen Fähigkeiten gewonnen. Wir brechen nun diese
Intelligenzprüfung ab und führen den Versuch zur Prüfung des Handge¬
brauchs fort. „Wir- wollen jetzt diesen Papierstreifen auf die Rolle legen.
Ich zeige dir, wie es gemacht wird“ (geschieht). Während der Prüfling sich
mit Auflegen des Papiers abmüht, protokolliere ich die Beobachtungen und
Eindrücke bei der Intelligenzprüfung. Es wäre eine Störung der freien Be¬
sprechung gewesen, wenn ich gleichzeitig protokolliert hätte. Gleichzeitig
beobachte ich und protokolliere, wie er sich beim Papierauflegen anstellt.
Es folgt dann der erste Versuch zur Prüfung der Handruhe mit aufgelegtem
Registrierstreifen. Wenn der erste Streifen von dem Prüfling abgenommen
und in das Heft eingeklebt ist, so habe ich Gelegenheit, die unterbrochene
Intelligenz- und Begabungsprüfung fortzusetzen. Wir sehen uns jetzt den
Papierstreifen an. „Was bedeuten die Striche und Punkte, die vorhin nicht
da waren; wie sind sie darauf gekommen?“ Der Prüfling ist mit Interesse
dabei: Es sind ja seine Fehler auf dem Papier verzeichnet; die meisten
kommen schnell dahinter. „Was bedeuten die 6 Felder, die auf dem Streifen
zu sehen sind? Welche Beziehung haben sie zu den Schlitzen?“ usw. Die
Ergebnisse dieser zweiten Besprechung schreibe ich nieder, während der
Prüfling den zweiten Streifen auflegt, die Rolle aufschiebt, die Hand auf¬
legt, kurz den Versuch ein zweites und dann noch ein drittes Mal ausführt.
Freilich muß ich meine Aufmerksamkeit dabei etwas teilen und ihn hierbei
auch fortwährend im Auge behalten. (Fortsetzung folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Geistige Jugendpflege durch die Jugendämter. Der geschäftsführende Aus¬
schuß des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins hat an das Reichsministerium
des Innern eine Eingabe gerichtet, die sich mit dem Reichsjugendwohl¬
fahrtsgesetz befaßt. Es wird in ihr festgestellt, daß in dem Gesetze die
zu seiner Durchführung unerläßliche Mitarbeit der Schule und der Lehrer¬
schaft nur gestreift ist, und es wird gebeten, den Einzelstaaten für ihre zu
erlassenden landesgesetzlichen Vorschriften für die Mitwirkung der Schule be¬
stimmtere Fassungen zu empfehlen. Als von entscheidender Bedeutung er¬
achtet die Eingabe insbesondere auch den Anteil der Lehrerschaft bei der
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Kleine Beiträge i^nd Mitteilungen
177
Durchführung von § 4 Ziffer 5 „Wohlfahrt der schulentlassenen Jugend*;
sie unterbreitet darüber in einer Anlage unter der Überschrift „Geistige
Jugendpflege durch die Jugendämter* besondere Vorschläge. Sie lauten:
1. Ihr Gegenstand ist der ganze Jagendliche Mensch. — Den rficksichtslosen Forderangen der
bestehenden Lebensformen, an die Jugend steht ihr eigenes Recht auf Menschentum gegenüber.
2. a) Aufgabe der Jugendpflege ist es, der Jugend zu helfen, ihr eigenes Wesen zu empfinden
und auszudrücken. Der heranwachsende Mensch muß durch Beobachtung und Tat sein
Dasein als Frucht und Same der Gemeinschaft erleben. Ziel ist Weckung des Formwillens
zur eigenen Persönlichkeit als Mitglied der Volksgemeinschaft
b) Die Gesellschaft in großen und kleineren Formen verlangt lebendige Teilnahme, Verstehen
des fremden Lebens, Erkenntnis der Bedeutung des eigenen Tuns: also Rücksicht und
Förderung, im letzten Sinne Menschenliebe.
Als wählender Staatsbürger hat der Zwanzigjährige Pflichten, die ohne geistiges Em¬
leben in Gemeinschaftsformen sinnlos erscheinen. Das Wirtschaftsleben fordert Pflicht¬
bewußtsein, Hingabe, Selbstzucht. Innerer Anteil am Kulturleben ist Grundlage eines
gesunden Verhältnisses zu Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, das von stofflicher
Bindung frei ist.
3. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Jugendpflege ergibt sich daraus, daß sie aus leicht
erkennbaren Gründen fast ausschließlich Körperkultur betrieb, die bei der Einseitigkeit vieler
Arbeitsarten und der Lust der Jugend am freien Spiel eigener Kräfte durchaus notwendig ist.
Aber Sport und Spiel allein können nicht den ganzen Jugendlichen Menschen wecken; ihre
inseitige Pflege bedeutet eine neue Unterdrückung von Lebenskeimen. Die Jugendämter müssen
deshalb vor allen Dingen ihr Augenmerk auf dip geistige Jugendpflege richten.
4. Für die geistige Jugendpflege werden sich früher oder später besondere Einrichtungen
als notwendig erweisen. — Führer auf diesem Wege müssen Lebensfülle und eigenen Form-
wülen vereinen mit vollem Verständnis für die Jugend.
5. Das Jugendamt muß bei dieser Arbeit bestrebt sein, die Jugend für sich selbst wirken
za lassen; es soll nur belebend, werbend und erhaltend wirken, aber nicht ein eigenes Bildungs-
Unternehmen entwickeln. Möglich ist:
a) alle Kräfte der Jugendbildung zusammenzufassen zur Förderung der gemeinsamen Arbeit
In äußeren Dingen ist gegenseitige Hilfe und Unterstützung denkbar, aber auch Erfahrungs¬
tausch wird nützlich sein. Einzelne Unternehmen werden für alle wirksam gemacht
werden können;
b) gemeinsame Werbung für alle Jugendverbände, vielleicht die wichtigste Aufgabe des
Jugendamtes;
c) Führerbesprechung aller freien Jugendverbände;
d) Anregung für Heimatbetrachtung und Erleben;
e) Bereitstellung des Buches. Ausstellung, Verzeichnisse nach verschiedenen Gesichtspunkten,
Heranziehung etwaiger Volksbüchereien;
f) Unterstützung der Bemühungen zur Stärkung der Eindrucksfähigkeit für alles Leben in
Natur und Kunst:
zur Gesundung des Unterhaltungswesens, Schaffen von Stimmungsganzen durch ein¬
fache Mittel für Volks- und Jugendfeste,
zur Pflege des eigenen Ausdrucks in Wort und Lied, eigener Volkskunst, geboren
aus der Freude am Auswirken, frei vom Beifall der Menge,
zur Pflege des Jugend- und Liebhabertheaters, Volkskunst der Alten,
zur Hebung des Vortragswesens, das zur Fragestellung und Lust am Weiterforschen
reizen muß mit dem Ziel der Jugendhochschulgemeinden als Mutterboden der Volks¬
hochschulen;
g) Kampf gegen die Verbildung, besonders gegen Schund und Kino.
6. Alle Arbeiten in der geistigen Jugendpflege bedürfen der Zusammenfassung durch das
Reichsministeri um des Innern.
Die Jugendpflege in ihrer geistigen Form ist kein neues, aber ein wenig angebautes Gebiet.
Für ihre Methodik und praktische Vervollkommnung müssen durch Zusammenstellung und
Bekanntgabe alles wirklich Fruchtbaren und Beachtenswerten weitere Wege gezeigt werden. Von
ihrer Entwicklung ist die Zukunft unseres Volkes wesentlich mitbestimmt.
Zeitschrift l pädagog. Psychologie.
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178 Kleine Beit räge und Mitteilungen
Die Stellung der Gewerbeschttler zum Unterrichtsfache hat Dr. Julius
Wagner in Frankfurt erstmals zum Gegenstand einer exakten Untersuchung
gemacht. 1 ) Seine Arbeit bedeutet einen bemerkenswerten Beitrag zu den
theoretisch wie praktisch gleichwichtigen Beliebtheitsuntersuchungen, die in
jüngster Zeit gegen andere Fragengebiete der experimentellen Pädagogik etwas
zurückgetreten sind, trotzdem zuletzt ihre methodische Behandlung eine be¬
achtliche Hohe an klarer und sicherer Durchbildung gewonnen hatte. Zu¬
gleich eröffnet die Wagnersche Untersuchung wertvolle Einblicke in weitere
jugendpsychologische und auch berufspädagogische Sachverhalte, so vor allem
in die Werthaltung und den Entwicklungsgang der Reifenden. Weiter klärt
sie die Begriffe Interesse und Wert Die Ergebnisse in allen diesen Rich¬
tungen aber drängen zu pädagogischen Anwendungen.
Versuchspersonen waren 14—17 jährige Schüler — meist der Volksschule
entstammend — aus jeder Stufe der dreiklassigen Frankfurter Fachschule für
Elektrotechnik und Mechanik: 14 Klassen mit 305 Schülern. Mit allen
Sicherungen gegen Fehlerquellen wurde von ihnen gefordert, die folgende
Fragen- und Aufgabenreihe schriftlich zu beantworten:
1. a) Welches ist das leichteste Fach für Sie? b) Warum? c) Welches ist das schwerste
Fach für Sie? d) Warum?
2. a) Welches Fach halten Sie für am nützlichsten für Sie? b) Warum?
3. Ordnen Sie die Fächer in der Reihenfolge, wie sie Ihnen am liebsten^sind; das liebste
Fach zuerst!
4. Womit beschäftigen Sie sich am liebsten in Ihrer freien Zeit?
5. Ordnen Sie die Fächer in drei Gruppen: a) angenehm, b) nicht angenehm, c) gleichgültig.
6. Möchten Sie noch andere Fächer als die gegenwärtig vorgeschriebenen in der Fachschule
treiben und welche?
7. Schaffen Sie sich in der freien Zeit noch weitere Belehrung in Ihrem Lieblingsfach
und wie?
Die allgemeineren Ergebnisse, zu denen sich die zahlreichen einzelnen
Ermittlungen aus dem umfangreichen Materiale verdichten, beziehen sich vor
allem auf die Begriffe: Beliebtheit,' Nützlichkeit, Leichtigkeit des Faches. Es
hat sich ergeben, daß die darauf gerichteten Bekundungen zu sehr ver¬
schiedenen Rangreihen führten: bei einigen Fächern liegen die drei Urteile
„leicht, nützlich, beliebt" näher zusammen —, bei anderen entfernen sie
sich. Erblickt man in diesen drei Wertungen die Komponenten für das
Interesse, so ist mit dem Wagnerschen Befunde erwiesen, daß Interesse¬
untersuchungen, wenn sie nur — wie es geschehen ist — die Beliebtheits¬
frage stellen, verfehlt, sind.
Geordnet nach der Leichtigkeit, stellte sich mit sehr guter Übereinstimmung
in allen Klassen das Zeichnen an die Spitze; es folgten Gescbäftsaufsatz,
Werkkunde, Geschäftsrechnen, Gemeinschaftskunde, gewerbliches Rechnen.
Dagegen stuften sich die Fächer nach ihrer Nützlichkeit so ab: Zeichnen,
Werkkunde, gewerbliches Rechnen, Geschäftsrechnen, Geschäftsaufsatz, Ge¬
meinschaftskunde. Die Beliebtheitsreihe schließlich war: Zeichnen, Werkkunde,
gewerbliches Rechnen, Geschäftsrechnen, Gescbäftsaufsatz, Gemeinschafts¬
kunde. — Beachtlich ist für das allmähliche Hineinwachsen des Schülers in
seinen Beruf, wie das Interesse an beruflicher Weiterbildung sichtlich ansteigt,
während das an der Fortführung der Allgemeinbildung fällt. „Am bildungs-
*) Zeitschrift „Die Berufsschule 11 (Beltz, Langensalza) Jahrg. 1922.
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
179
frohesten fQr weitergehende Allgemeinbildung ist der jüngste, für fachliche
Weiterbildung der älteste Jahrgang* — ein Ergebnis, das wichtig ist für die
Entscheidung über die beiden großen Bildungszüge, von denen der eine von
der möglichst frühen Einstellung auf die engere Welt des Berufes den Weg
ins Weitere nehmen will, der andere von der Allgemeinbildung her erst
eine bestimmte Berufszuwendung gewinnen möchte.
Zur psychologischen Beobachtung der Schüler im naturwissenschaftlichen
Unterrichte legte Studienrat Chaim auf der 1. Tagung der Gruppe für
angewandte Psychologie (Gesellschaft für experimentelle Psychologie) die
folgenden Leitsätze'vor: Allgemeines.
1. Die Schülerbeobachtungen sollen nicht nur, wie es jetzt meist gewünscht wird, berufs¬
psychologischen, sondern auch didaktischen und pädagogischen Zwecken dienen.
2. Die gegenwärtigen höheren Schulen haben aus mehreren Gründen wenig Möglichkeiten
für die durch jene Zwecke bestimmten Beobachtungen.
3. In der Ausbildung der Lehrer für die höheren Schulen muß die Erwerbung psychologischer
Kenntnisse und die Übung im psychologischen Beobachten einen sehr viel größeren Raum als
bisher einnehmen.
4. Die Ergebniftse von Arbeitsgemeinschaften, die das Beobachtungsmaterial sammeln und
sichten, lassen sich für die Weiterbildung der Didaktik der Lehrfächer der höheren Schulen
verwerten, besonders was die individualisierende Behandlung der Schüler betrifft.
Besonderes:
1. Die Liebhabereien der Schüler, besonders in den Mittelklassen, für gewisse naturwissen¬
schaftliche und technische Bestände sind nicht ohne weiteres Anzeichen und Maßstab etwaiger
Begabung in dieser Richtung, da oft Anregungen einer starken Lehrerpersönlichkeit, Tages-
strömungen und Nachahmung maßgebend sind.
2. Ein richtig geführter Physikunterricht und die physikalischen Übungen, insofern jener sich
nicht auf die Demonstration durch den Lehrer beschränkt, sondern den Schülern die Möglichkeit
zu selbständigen Problemstellungen und Lösungen, einschließlich der technischen, gibt, und
insofern diese sich nicht nur mit quantitativen Bestimmungen befassen (gelegentlich auch die
biologischen Übungen), kann die Grundlage geben für die Beurteilung der Produktivität der
Schäler, als der Fähigkeit, aus gegebenen Gegenständen neue Komplexe zu bilden oder neue
Wege der Komplexbildung zu finden.
8. Der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Lehrfächern sollte sich daher mehr auf die
Förderung und Erkennung der produktiven als der auch in diesen Lehrfächern noch sehr ge¬
pflegten rezeptiven Tätigkeit einstellen.
4. Die physikalischen Übungen in allen Gebieten, die biologischen besonders in Mikroskopier-
öhungen, geben die Möglichkeit zu Urteilen über die Sinnesschärfe der Schüler.
5. Der naturwissenschaftliche Unterricht, überwiegend Sachunterricht, verlangt von Schülern
eine Umstellung aus dem an den Schülern stärker betriebenen Wortunterricht. Es ist zu be¬
obachten, daß manchen Schülern diese Umstellung etwa nach einer Sprechstunde schwer gelingt;
es Ist ferner zu beobachten, daß gewisse Schüler den sachlichen Vorgängen ohne Anteilnahme
gegenüberstehen und sich aus der Unfähigkeit, mit den Dingen und den Vorgängen an ihnen
etwas Rechtes anzufangen, in das Wortlernen flüchten.
6. Es läßt sich die Güte der im Erkennen des Wesentlichen bestehenden Denkfunktion be¬
urteilen aus der Art, wie miterlebte physikalische Vorgänge wiedergegeben werden.
7. Dabei kann auch der Umfang der Aufmerksamkeit, die Vorstellungstypik, die Beobachtungs¬
schärfe und die Aussagetreue beurteilt werden.
8. Die Denkfunktion der Begriffsbildung wird im physikalischen Unterricht leicht beobachtet.
9. Die im physikalischen Unterricht leicht auftretende Notwendigkeit der Einfühlung in tech¬
nische Bewegungsvorgänge gestattet die Unterscheidung des motorischen Dynamikers und des
visuellen Konstrukteurs.
10. ln den physikalischen und biologischen Übungen und auf den Exkursionen läßt sich die
Ausdauer, Sorgfalt, Peinlichkeit und Pünktlichkeit beurteilen.
lt. Die sich im Erkennen und Bewerten ursächlicher Zusammenhänge äußernde Denkfunktion
läßt sich sowohl bei der Wiedergabe dargestellter physikalischer Vorgänge wie auch besonders
bei der Voraussage des Schlußablaufs gerade bestehender Vorgänge beurteilen.
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Kleine Beitrüge und Mitteilungen
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12. Ein biologischer Unterricht, der das lebende Tier stark benutzt, läßt die Fähigkeit zur
Einfühlung in das tierische Seelenleben wie auch das Mitgefühl mit den Tieren erkennen.
18. Der erdkundliche Unterricht läßt, sofern in ihm nicht bloßes Auswendiglernen getrieben
wird, die Raumphantasie und den Orientierungssinn erkennen; bei diesem ist besonders zu
beachten, daß er nicht notwendig mit einem visuellen Typus verbunden sein muß.
14. Vorsichtige und sorgfältige Vergleiche des Verhaltens und der Leistungen in den natur¬
wissenschaftlichen und den anderen Unterrichtsfächern können Aufschluß geben, ob den Schüler
die mehr aufs Konkrete oder die mehr aufs Abstrakte gehende Geistestätigkeit stärker ermüdet,
und ob hierfür mehr die starke innere Anteilnahme oder der äußere Schulzwang verantwortlich
ist: was zu wertvollen Schlüssen über den Arbeitswillen des Schülers führen kann.
Die Fürsorge für sprachkranke Schulkinder in Wien wurde durch den Krieg,
nachdem sie 1914 durch Eröffnung einer offiziellen Sonder-Elementarklasse
in ein neues Stadium getreten war, in ihrer weiteren Entwicklung gehemmt
Nach dem Kriege hieß es auch hier neu aufbauen. Zunächst wurde durch
den Spracharzt Dozent Dr. E. Fröschels und den Berichterstatter ein Aus¬
bildungskursus für Lehrer gehalten, im selben Jahre noch von Mai bis Juli
eine Anzahl Heilkurse für Schüler vom III. Schuljahre an durchgeführt Im
Schuljahre 1921/22 traten dann zu den Kursen auch Sonder-Elementarklassen.
Im heurigen Schuljahre 1922/23 bestehen 7 Elementarklassen und 5 Heilkurse.
Die Zahl der sprachkranken Schulkinder Wiens kann nur geschätzt werden,
da eine Statistik noch nicht besteht. Wir errechnen etwa 2760 Kinder mit
Sprachstörungen (Stottern, Stammeln, Agrammatismus, Aphasie, chronische
Heiserkeit usw.). Von diesen aber konnten bisher im Schuljahre 1922/23
nur 260 Kinder der Fürsorge zuteil werden. Das sind allerdings nur 9,4 °/o.
Der Erfassung aller sprachkranken Kinder stehen leider besondere Schwierig¬
keiten entgegen. Jede neue Angelegenheit muß sieb gegen Mißverständnisse
erst durchsetzen. So wird die dem Schulkinde durch sein Sprachgebrechen
entstehende Schädigung namentlich in Elternkreisen oft nicht entsprechend
gewürdigt. Die Eltern haben ja leider schwere wirtschaftliche Sorgen, durch
die ihr Interesse ganz in Anspruch genommen wird. Es konnte heuer mehr¬
fach beobachtet werden, daß die erfolgreiche Arbeit des Klassen- oder Kursus¬
lehrers das Interesse in Eltern- und Kollegenkreisen weckt, und so erklärt es
sich dann auch, daß aus einzelnen Bezirken der Stadt viel mehr sprachkranke
Kinder gemeldet werden als aus anderen. — Das größte Hemmnis aber bildet
die viel zu geringe Zahl der entsprechend ausgebildeten Lehrer, so daß nicht
einmal für alle als sprachkrank gemeldeten Kinder Klassen oder Kurse eröffnet
werden konnten. Die Zahl der diesmal erfaßten 260 Kinder ist aber noch
nicht die Schlußzahl dieses Schuljahres, da ja aus den Kursen geheilte Kinder
entlassen und andere vorgemerkte aufgenommen werden. — In den Elementar
klassen befinden sich außer Kindern des ersten auch einige des zweiten Schul¬
jahres; dadurch ist ein „Abteilungsunterricht“ notwendig, der sich aber nicht
als günstig erweist. — Allmonatlich findet eine Sitzung der Lehrer der Klassen
und Kurse statt; in dieser „Arbeitsgemeinschaft“ wird die sachliche und beil¬
pädagogische Weiterbildung gefördert. — Besondere Förderung der Fürsorge
. erhofft sich die Lehrerschaft durch den geplanten Logopädenkongreß, der fQr
dieses Kalenderjahr in Wien in Aussicht genommen ist. — Die Wiener Fürsorge
hat trotz der ungünstigen Verhältnisse einen erfreulichen Aufschwung genommen.
Man muß die bisher erreichte Ausgestaltung dankbar anerkennen, wenn sie
auch noch immer ein Anfang ist. Hoffentlich werden die Wiener Schul- und
Sanitätsbehörden die weitere Ausgestaltung dieser Fürsorge trotz aller Schwierig-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
181
keiten durchführen. — Bemerkenswert für die Wiener Fürsorge ist die Er¬
richtung der Sonder-Elementarklassen. Weiter ist die enge und dauernde
Zusammenarbeit zwischen Arzt und Lehrer anzuerkennen. Herr Dozent
Dr. E. Fröschels berät die Lehrer in ihrer Therapie und untersucht die Kinder
mehrmals im Jahre. Durch seine aufopferungsvolle Tätigkeit wird die Wirksam¬
keit der Lehrer in Klassen und Kursen ganz bedeutend unterstützt und ge¬
fördert — Administrativ unterstehen die Klassen und Kurse den Schulleitungen
und Bezirksschulinspektoren ihres Schulsprengels. Der pädagogische Leiter
nimmt an den Untersuchungen der Kinder teil; er besucht die Klassen und
Kurse und berät die Kollegenschaft in didaktischer, pädagogischer und thera¬
peutischer Richtung.
Wien. Karl C. Rothe.
Der erste bayerische Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer umfaßt 20 Teil¬
nehmer, die auf Staatskosten ein Jahr und mit vollem Gehalt beurlaubt sind.
Der Kurs gliedert sich in drei Abteilungen: das Wintersemester 1922/23, ein
Zwischensemester und das Sommersemester 1923. Die Kursisten sind an der
Universität als ordentliche Studenten mit kleiner Matrikel immatrikuliert. Im
Winterhalbjahr war ihnen zur Pflicht gemacht, folgende Vorlesungen zu be¬
legen: Begutachtung schwachsinniger Kinder (Prof. Gott); Psychopathologie
des Kindesalters (Prof. Gott); allgemeine und umschriebene geistige Ausfalls¬
erscheinungen nach Himschädigung (Aphasie, Agnosie, Apraxie, traumatische
Demenz) und ihre Behandlung (Prof. Isserlin); pädagogische Pathologie mit
Vorführungen (Prof. Isserlin); allgemeine Psychiatrie (Prof. Rüdin); soziale
Jugendfürsorge (Prof. Uffenheimer). Daneben wurden nach freier Wahl
andere Vorlesungen besucht. Dazu traten als praktisch eingestellte Übungen:
Pädagogisch-psychologische Untersuchungstechnik (Egenberger und Göpfert);
Heilpädagogische Diagnostik mit Praktikum (Egenberger); Heilpädagogik,
Phonetik, Artikulieren, Sprachheilkunde (Schubeck). Im Zwischensemester
wirken ausschließlich Praktiker, neben den schon genannten, unter anderen
Lehr (Werkunterricht, Einführungin diePraxis), Schwendner(Rechenstörungen),
Fink (Schwaohsinnigenfürsorge). Außerdem wird an den Münchner Hilfs¬
schulen und den übrigen heilpädagogischen Anstalten der Stadt, vor allem
auch an der Zentraltaubstummenanstalt und in den Hörklassen, hospitiert und
praktiziert. Im Sommersemester soll in den Universitätsinstituten für Pädagogik
(Prof. Dr. A. Fischer) und Psychologie (Prof. Dr. Becher) gearbeitet werden.
An Universitätsvorlesungen kommen dann noch in Betracht unter anderen:
Untersuchung schwachsinniger Kinder (Kinderklinik, Gott); Heilpädagogisches
Kolloquium (Psychiatrische Klinik, Prof.Isserlin); Sprachentwicklung und deren
Hemmungen (Poliklinik, Nadolecsny). — Der Kursus schließt mit einer Prüfung.
Die Vereini g un g für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a.*M. hielt
im letzten Jahre 9 Sitzungen ab, die eine durchschnittliche Besucherzahl von
32 aufwiesen. Die vielgestaltige Arbeit zeigte auf:
Aus der Pädagogik: 1. Die Arbeit in der Grundschule. 2. Der Heimat¬
gedanke in der Grundschule. 3. Der naturkundliche Unterricht in der
Grundschule. 4. Der Rechenunterricht in der Grundschule. 5. Der Recht-
schreibeunterricht in der Grundschule. Eine psychologische Grundlegung und
methodische Ausgestaltung. 6. Die pädagogische Herbstwoche in Köln.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
7. Frankfurt in der Geschichte der Pädagogik und Methodik. 8. Eine Buch¬
besprechung: H. Grupe, Natur und Unterricht;
Aus der Psychologie: 1. Die optische Muskeltäuschung. 2. Das Verhältnis
von intellektueller und musikalischer Begabung, nachgeprQft an einer Ober¬
gangsklasse n. 3. Unsere Eichung von Fabeltests;
Eigene Arbeiten der Vereinigung: 1. H. Schüßler: Die optische Muskel¬
täuschung. Erschienen in der Zeitschr. f. Päd. Psychol. u. exp. Päd. Bd. 23,
S. 25, Leipzig 1922. 2. H. Schüßler: Intelligenz und Musikalität. Ebenda
Bd. 19, S. 401. Leipzig 1921. 3. H. Schüßler: Experiment und Lehrerurteil.
Ebenda Bd. 23, S. 379. Leipzig 1922. 4. H. Schüßler: Die Koinstruktion in
psychologischer Beleuchtung. Pharus, Bd. 13, S. 229. Leipzig 1922.
Lehrgänge: Wie in früheren Jahren, so veranstaltete die Vereinigung
auch diesmal wieder einen Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen.
Außerdem beteiligten sich der erste Vorsitzende und der erste Schriftführer an
verschiedenen pädagogischen Veranstaltungen der Nachbarstädte: in Koblenz,
Offenbach, Marburg, Siegen, Gelnhausen, Darmstadt, Worms; in Homburg,
Offenbach, Marburg, Gelnhausen.
Lehrplanarbeit: Es wurde im letzten Vereinsjahre der Entwurf zu einem
neuen Frankfurter Volksschullehrplan fertiggestellt, dessen Bearbeitung der
V. f. K. vor zwei Jahren übertragen worden war.
Den Vorstand bilden künftig: 1. Vorsitzender: Heinrich Grupe, 2. Vor¬
sitzender: Stadtschulrat H. Schüßler, 1. Schriftführer: Ludwig Klarmann,
2. Schriftführer: Fritz Grebenstein, Kassenführer: Wilhelm Reinbold, Beisitzer:
Hans Dasch.
Das pädagogische Institut der Stadt Wien ist hervorgegangen aus dem
„Pädagogium“, das durch mancherlei Wandlungen sich nunmehr zu der Form
einer neuzeitlichen, erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und Lehrstitte
entwickelt hat. Vornehmlich ist es darauf eingestellt, der beruflichen Fort¬
bildung der Lehrer zu dienen. Unter seinen Einrichtungen steht obenan das
psychologisch-pädagogische Laboratorium. Es ist in sieben Räumen
im Gebäude des Stadtschulrats untergebracht. Seine Leitung liegt in Händen
von Prof. Dr. K. Bühler, dem Nachfolger Stöhrs an der Universität Er gedenkt
sich mit seinen Schülern besonders vorerst der Erforschung des Schulkindes
zuzuwenden. Im gleichen Gebäude befindet sich weiter die Versuchs-
klassenzentrale, von der aus die sehr umfänglich angelegte Wiener Ver¬
suchsarbeit geregelt wird. Ferner sind dort bereits die Räume für eine
pädagogische Zentralbücherei eingerichtet worden. Angegliedert wird ihr
eine Beratungsstelle für die Einrichtung pädagogischer Büchereien
und eine Jugendmusterbücherei. In den Lesezimmern sollen Ausstellungen
von Schülerarbeiten und Lehrmitteln fortwährend wechseln. Weiter beher¬
bergt das Stadtschulratsgebäude auch die Lehrmittelzentrale mit ihren
Werkstätten und Lagerräumen. Räumlich abgelegen ist aber noch die Zentral¬
stelle für die Lehrerfortbildung. Als weitere Abteilung des Instituts
sind noch geplant eine Sammelstelle für kinderpsychologisches Material
und eine Pädagogische Auskunftei für die Lehrerschaft und die Be¬
völkerung. — Das laufende erste Studienjahr dient vor allem zunächst den
Einführungen in die verschiedenen Arbeitsgebiete. Es soll danach im engen
arbeitsgemeinschaftlichen Wirken zwischen Dozenten und Hörem der Ausbau
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Klein« Beitrüge und Mitteilungen
183
der Korse so erfolgen, daß in zwei- bis dreijährigen Vortragsreihen ein ge-
i wisser Abschluß in den einzelnen Fächern erzielt wird. Das Vorlesungs¬
verzeichnis läßt erkennen, wie durchweg auf die in Österreich sehr kräftig
betriebene Schulreform und die Umgestaltung im Wiener Schulwesen eine
innere Beziehung genommen ist Es wirken darum neben den Wissenschaftlern
auch praktische Schulmänner an dem Institute. Die Wiener Versuchs- und
Hospitierklassen und die Versuchsschulen — annähernd 400 Klassen — stehen
nicht bloß zu planmäßigen Besuchen und Übungen zur Verfügung, sondern
auch zur Veranstaltung von didaktischen und psychologischen Versuchen. So
ist der Rahmen des Institutes weit gespannt; ihn mit lebendigstem pädagogischen
Leben zu erfüllen, wird es zäher, aufopferungsvoller Arbeit bei Dozenten und
Lehrern bedürfen.
Nachrichten: 1. Der Hamburger Lehrstuhl für Pädagogik ist nunmehr mit Prof.
Dr. Gustav Deuchler besetzt worden. Aus dem Lehrerseminare und der Oberrealschule
hsrvorgegangen, studierte Deuchler in Leipzig und arbeitete hier besonders im Wundtschen
psychologischen Institute. Er war dann wissenschaftlicher Assistent im Institute für experi¬
mentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins. Als an der württembergischen
Universität das erziehungswissenschaftliche Studium eingerichtet wurde, bekam er einen Ruf als
Dozent für Pädagogik nach Tübingen. Unter seiner Leitung sind dort aus dem Pädagogischen
Seminare, das er unter Schwierigkeiten einrichtete und ausgestaltete, bedeutsame Arbeiten von
ihn und seinen Schülern hervorgegangen. Die Lehrerschaft Württembergs dankte ihm bei seinem
' Weggange öffentlich, daß die Auswirkung seiner wissenschaftlichen und organisatorischen Tätig-
j keit bis in die Lehrerbildungsanstalten, die Volksschule und die pädagogischen Ausschüsse ge¬
gangen sind.
2. Der Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Braunschweig, Dr. Oswald
Kroh, hat einen Ruf auf den Lehrstuhl der Pädagogik an der Universität Tübingen
erhalten. Kroh, ursprünglich Volksschullehrer, studierte Mathematik und Naturwissenschaften,
später vorwiegend Psychologie und Philosophie in München und Marburg, besonders bei Pro¬
fessor Jaensch. Von 1919 bis 1922 war er Assistent am Psychologischen Institut unter
G. E. Müller. Ebenda habilitierte er sich im Sommer 1921 für Philosophie und Pädagogik und
( leitete dann das Institut für angewandte Psychologie und psychologische Pädagogik. Michaelis 1922
übernahm Kroh die an der Technischen Hochschule zu Braunschweig neuerrichtete planmäßige
außerordentliche Professur für das Gesamtgebiet der Philosophie, einschließlich Psychologie und
Pädagogik.
3. Auf den an der Thüringischen Landesuniversität begründeten ordentlichen Lehrstuhl
der Psychologie ist der ordentliche Professor der Psychologie an der Mannheimer Handels¬
hochschule Dr. W. Peters berufen worden. Peters studierte in Wien, Zürich und Leipzig
Philosophie, Psychologie und Medizin. Er promovierte bei Wilhelm Wundt in Leipzig, um da¬
nach im physiologischen Institut der Wiener Universität unter Exner und im psychologischen
Laboratorium der Münchner psychiatrischen Klinik unter Kraepelin zu arbeiten. 1909 ging
Peters als Assistent an das psychologische Institut der Frankfurter Akademie, 1910 als Privat¬
dozent an die Universität Würzburg. Seit 1915 wirkte er ebendort als außerordentlicher Professor.
4. An der Universität Köln hat sich Dr. Friedrich Schneider, Prorektor am Lehrer¬
seminar in Euskirchen, für Pädagogik habilitiert. Seine Habilitationsarbeit beschäftigt sich mit
der Psychologie des Lehrerberufes; die Antrittsvorlesung behandelte das Problem der Berechtigung
des pädagogischen und psychologischen Experimentes in der Praxis. An Vorlesungen werden
von ihm für das Sommerhalbjahr angekündigt: Theorie und Praxis der Individualitätserfassung
(mit Obungen); Psychologie und Ethik des Lehrerberufes. Dr. Schneider ist Schriftleiter der
»Zeitschrift für christliche Erziehungswissenschaft und Schulpolitik 41 und Herausgeber der „Hand¬
bücherei der Erziehungswissenschaft 44 (Schöningh, Paderborn). Er hat bisher veröffentlicht: „Das
Studium der Individualität” (Paderborn 1918); „Schulpraktische Psychologie* (Paderborn 1918);
•Psychologie des Lehrerberufes“ (Frankfurt 1923).
5. Auf den neubegründeten Lehrstuhl für Handelsschulpädagogik an der Leipziger .
\ Handelshochschule ist Prof. v. der Aa, bisher Handelsschuldirektor in Bautzen, berufen worden
6. tm n Nachfolger von ProL Dr. Häberlin auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik
au der Universität Bern ist Prof. Dr. Sganzini gewählt worden.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
7. Vereinbarungen über die akademische Lehrerausbildung haben Sachsen, Thüringen,
Anhalt, Mecklenburg, Lippe, Hamburg und Bremen am 14. Februar auf einer Tagung in Berlin
getroffen. Sie lauten: 1. Bei der künftigen Volksschullehrerbildung findet eine Trennung von
allgemeiner und Berufsbildung statt. Die bisherigen Sonderlehranstalten für Volksschullehrer¬
bildung sind abzubauen. 2. Die allgemeine Bildung erwirbt sich der Volksschullehrer durch
den erfolgreichen Besuch einer zur Hochschulreife führenden Bildungsanstalt oder durch Ab¬
legung einer Prüfung mit den gleichen Zielforderungen. 3. Für die Berufsausbildung der Volks-
schullehrer sind mindestens zwei Jahre anzusetzen. 4. Die Berufsausbildung der Volksschul¬
lehrer gliedert sich in einen wissenschaftlichen und in einen praktisch-pädagogischen Teil. Sie
vollzieht sich in ihrem wissenschaftlichen Teil auf einer Hochschule (Universität, Technische
Hochschule), in ihrem praktisch-pädagogischen Teil in einem Pädagogischen Institut, das mit
der Hochschule verbunden wird. 5. Die wissenschaftliche Ausbildung auf der Hochschule um¬
faßt in erster Linie ein gründliches Studium der Erziehungswissenschaften. Im übrigen bleibt
die Ausgestaltung des Studienplanes bis auf weiteres der Entscheidung der Länder Vorbehalten.
6. Für die Länder, die dieser Vereinbarung über die Ausbildung der Volksschullehrer beitreten,
gilt Freizügigkeit der Lehrerstudenten. 7. Die grundlegende praktisch-pädagogische Ausbüdung
erfolgt in dem pädagogischen Institut. 8. Für die Durchbildung in künstlerischen und tech¬
nischen Fächern ist ausreichend Gelegenheit zu schaffen. Spätestens biq zur Erteilung der
Fähigkeit zur festen Anstellung ist der Nachweis ausreichender Beherrschung dieser Fächer zu
erbringen. Nähere Bestimmungen werden von den Ländern getroffen. 9. Die erforderlichen
Prüfungsbestimmungen erlassen die Länder. 10. Das Zeugnis der Anstellungsfähigkeit wird von
allen Ländern, die sich dieser Vereinbarung angeschlossen haben, anerkannt.
8. ln Mannheim ist durch Stadtratsbeschluß die Verwendung einer Lehrkraft der Volks¬
schule für psychologische Aufgaben unter Anleitung des Leiters des Instituts für
Psychologie und Pädagogik genehmigt. Der „psychologische Berater* soll a) die für die
Mannheimer Volksschule nötigen und nützlichen Erhebungen, Schülerbeobachtungen durchführen,
b) an der Bereitstellung der wissenschaftlichen Grundlagen zur Lösung praktisch bedeutungs¬
voller, psychologisch-pädagogischer Probleme mitarbeiten, c) die Lehrerschaft auf ihren Wunsch
bei der Erkundung eigenartiger Schülerindividualitäten unterstützen und ihr in besonderen Sprech¬
stunden Rat und Auskunft erteilen.
9. Das Thüringische Ministerium für Volksbildung hat bestimmt, daß die Lehrer¬
bildung in Zukunft an der Universität durch ein viersemestriges Studium zu erfolgen hat Deo
Abiturienten, die auf Grund dieser Bestimmung ihr Studium an der Universität Jena aufzu¬
nehmen gedenken, sowie den bereits im Amte stehenden Lehrern, die noch ein Studium beab¬
sichtigen, erteilt der Akademisch-Pädagogische Verein zu Jena über alle äußeren und inneren
Studienangelegenheiten Jederzeit Auskunft und wird ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.
(Anschrift: Lehrer A. Hempel, Jena, Forstweg 39.)
10. Ein Landesbeirat für Ju gendpflege und Jugendbewegung ist Ende November 1922
im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt gegründet worden. Er hat die Aufgabe, das
Ministerium in allen Fragen zu beraten, die von grundlegender Bedeutung für die Jugendpflege
sind, sowie bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen und wichtigeren Maßnahmen der Ver¬
waltung sein Gutachten abzugeben. Er soll ferner die Jugendverbände bei dem Ministerium
vertreten, Anregungen zur Förderung der Jugendpflege geben und auf ein reibungsloses Zu¬
sammenarbeiten der Jugendvereinigungen der verschiedenen Richtungen hinarbeiten. Auch soll
durch den Beirat dem Ministerium die unmittelbare Fühlungnahme mit führenden Vertretern der
Jugendpflege ermöglicht werden.
11. Ein Montessori-Kinderhaus, zunächst als Halbtagskindergarten, ist in Wilmers¬
dorf eröffnet worden. Angegliedert werden noch später eine Montessori-Versuchsklasse für
schulpflichtige Kinder. Die Einrichtung geht von den beiden deutschen Montessori-GeseU-
schatten, unterstützt vom Jugendamt Wilmersdorf, aus.
12. Die diesjährigen pädagogischen Ferienkurse in Jena finden vom 6 .— - 18 . August statt.
13. DaB Institut für angewandte Psychologie in Berlin, unter der Leitung
0. Lipmanns stehend, ist aus dem Eigentums der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬
logie übergegangen in den Besitz der neugegründeten Gesellschaft zur Förderung der an¬
gewandten Psychologie (e. V.). Es befindet sich von Ostern 1923 ab in den Räumen, die das
Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt in der Schützenstraße 26 zur Verfügung gestellt hat-
14. Wie alljährlich seit 1920 veranstaltet auch in diesem Jahre das Fürsorgeseminar
der Universität Frankfurt a. M. zusammen mit der Zentrale für private Fürsorge und
dem Berufsamt für Akademiker aller Fakultäten mit abgeschlossenem Studium einen Lehr¬
gang zur Einführung in die Aufgaben der Jugendwohlfahrtspflege. Die notwendige
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Literaturbericht
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gegenseitige Ergänzung von theoretischer Aasbildung and praktischer Erfahrung ist diesmal da¬
durch besonders sichergestellt, daß die eine Hälfte der Teilnehmer bereits in diesem Winter in Er¬
ziehungsanstalten oder Jugend-und Wohlfahrtsämtern das vorgesehene praktische Halbjahr verbracht
hat Die neu hinzutretenden Teilnehmer werden dies Praktikum im kommenden Winter nachholen.
Für das theoretische Halbjahr bleibt di$ in den Erfahrungen der bisherigen Kurse bewährte
Form bestehen: beschränkte Teilnehmerzahl, um eine enge Fühlungnahme der Teilnehmenden
untereinander und mit der Leitung zu wahren, Eingliederung der theoretischen 8tudien in das
Univereitätssemester unter Berücksichtigung des bisherigen Bildungsganges des Einzelnen, be¬
sonders Ausbildung der seminaristischen Obungen usw. Den Kursus leiten: Professor
Dr. Klumker und Dr. Polligkeit Der Lehrgang hat Mitte April begonnen. Nähere Auskunft
erteilt die Geschäftsstelle: Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M., Stiftstraße 80.
Literaturbericht.
Einzelbesprechungen.
Antonin Prandtl, Privatdozent a. d. Universität Würzburg, Einführung in die Philosophie.
Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 127 S.
So bunt der Begriff „Philosophie* im Sprachgebrauchs schillert, so artverschieden nach Inhalt
und Form sind die zahlreichen gemeinverständlichen Darstellungen, die in das anlockende Gebiet
etnführen wollen. Prandtls Schrift stellt sich nicht wie ähnliche Versuche darauf ein, das
«philosophische* Bedürfnis nach einem geschlossenen Weltbilde und einer einheitlichen Lebens¬
gestaltung zu befriedigen, wie beides oft nur in einer mehr schöngeistigen Sehnsucht wurzelt,
sondern sie stellt sich auf ausgesprochen wissenschaftliches Erkennen ein. Sie faßt damit Philo¬
sophie in einem engeren Sinne und leitet hin auf die Fragestellungen und deren Lösungen, die
an der Schwelle den philosophischen Fachgelehrten bewegen. Weltanschauliche Erörterungen
über Sinn und Wert menschlichen Daseins bleiben mit ihrem notwendigen Einschlag gläubiger
Meinung und subjektiven Wertes ausgeschlossen. Den Weg einer solchen Einführung nimmt
Prandtl nicht historisch, wie es andere vor ihm getan haben, die mit dem Einzuführenden
den geschichtlichen Gang menschlichen Erkennens verfolgten. Er greift vielmehr unmittelbar
in die Problemgruppen hinein, die einer ersten ernsten Beschäftigung mit philosophischen Ge¬
danken nach unserem Stande der Erkenntnis sich auftun.
Die Frage nach dem „eigentlich Wirklichen* eröffnet den Zutritt. Wertprobleme, Geist-
Körper, das Psychische und Physische, der Begriff des Gegenstandes, das Ich, das Wesen der
Erkenntnis, Kausalität, Teleologie ist dann weiteres Gelände, das aufgeschlossen wird. Am
Ende stehen wir dann vor mehr wissenschaftlich theoretischen Erörterungen über die Gewinnung
allgemeingültiger Erkenntnis, die über Aufgabe der Wissenschaft und den Wert der menschlichen
Erkenntnis. In der Behandlung ist erstrebt, unter Verzicht auf weitgeführte kritische Ausein¬
andersetzungen vorerst einmal möglichst „gedankliche Tatsachen* zu bieten. Auf Hinweise auf
die großen Denker und ihre Werke verzichtet die Schrift in der Absicht, die Gedanklichkeit
nicht durch solche Einschläge zu stören; vielleicht hierin allzu ängstlich. Soll noch eine Kenn¬
zeichnung der Richtung gegeben werden, in der die Auffassungen Prandtls im wesentlichen
liegen, so mag der Positivismus genannt sein. — In der philosophischen Propädeutik, die neuer
dings die höheren Schulen mit mehr Ernst betreiben als früher, mangelt es trotz reichlichen
Angebotes an knapp gehaltenen Schriften mit wissenschaftlichem Gepräge, die verhüten, daß
dieser Unterricht der Gefahr verwaschenen kulturpbilosophischen Redens verfällt. Wir empfehlen
Prandtls „Einführung in die Philosophie* trotz seines gehobeneren Anspruchs an Denkschulung
dort in die Hand der Schüler zu legen, wo man den Mut hat, den propädeutischen Unter¬
weisungen das feste Rückgrat wissenschaftlichen Denkens zu geben.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Ch. de Montet, Dozent für medizinische Psychologie an der Universität Lausanne, Medi¬
zinische Psychologie. Leipzig 1922. Bircher. 95 S.
„Wir möchten dazu beitragen, eine experimentelle (ärztliche) Behandlung zu begründen, die
der experimentellen Pädagogik zur Seite stünde. Das beste wäre, wenn der Arzt seine Arbeit mit
einem psychologisch geschulten Mitarbeiter teilen könnte, wobei letzterem die systematische Be¬
obachtung zufiele. Denn wir haben gesehen, daß systematische Beobachtung und Praxis nicht
zugleich vor sich gehen können.* (S. 94) Ein Gedanke, der ähnlich im pädagogischen Gebiete
zu der Forderung führte, neben den Lehrer den Schulpsychologen zu stellen. — Aus dem In-
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Literaturbericht
halte: L Verselbständigte Erlebnisse (Traum und Wirklichkeit, Wahrnehmung, Irrtum, Läge;
Affekt und Gesamtzustand; Halluzinationen und primitives Leben; Schmerzempfindung und Ge¬
samtzustand) II. Das Erfassen von Zusammenhängen (Beziehung zwischen Leib und Seele).
Leitende Grundauffassung: Leben und Bewußtseinsleben ist „durchgreifender Zusammenhang
aller Geschehnisse, in dem allein jegliches Ereignis. seine Bedeutung findet „Eine Handlung
ist weder durch Ursachen noch Motive bestimmt; ihre Erklärung ist immer nur aus dem Lebens¬
zusammenhang zu gewinnen. 1 * — Das Titelwort „Medizinische Psychologie* mag nicht bewirken,
daß sich der Leserkreis des Buches auf Ärzte beschränkt; besonders auch die pädagogische
Theorie und Praxis kann ihm für Förderung dankbar werden. Tr.
Prof. Dr. Karl Lutz, Tierpsychologie. Eine Einführung in die vergleichende Psychologie.
Leipzig 1923. Teubner. 120 S. Grundpreis 1,20 M.
Im Rahmen eines Bändchens der Sammlung „Aus Natur- und Geisteswelt“ erfüllt Lutz im
wesentlichen die Ansprüche, die man nach Stoffauswahl und -gestaltung an eine gemein¬
verständliche Darstellung erheben kann. Gegenüber ähnlichen Versuchen hält er sich vorsichtig
von allen naiven und vorwissenschaftlichen Auffassungen fern (so z. B. in den Ausführungen
über die rechnenden Pferde und den Hund Rolf). Nachdrücklich wird überall auf die Methoden
tierpsychologischer Forschung hingewiesen. Der Auseinandersetzung mit umstrittenen Theorien
ist — und dies bei dem Zwecke des Buches, das einer ersten Einführung dienen soll,
mit allem Rechte — ausgewichen worden. Ansprechende Abbildungen sind mit gutem
didaktischen Griff in den Text eingefügt Ein Literaturverzeichnis gibt Winke für tieferes Ein¬
dringen in das reizvolle Gebiet, das so leicht zum Tummelplätze von Aberglauben, IrrtÜmern und
Täuschungen wird, wenn man es nicht mit streng wissenschaftlicher Haltung und Schulung in
den ihm eigenen Methoden betritt Sch.
Dr. Karl Groos, Prof, der Phil. a. d. Universität Tübingen, Das Seelenleben des Kindes.
6. unveränderte Auflage. Berlin 1923. Reuther & Reichard. 312 S. Grundpreis 7 M.
Das bekannte Werk, das sich in den ersten Zeiten einer neuen kinderpsychologischen For¬
schung bald einen festen Platz erobert hatte und ihn heute inmitten eines nunmehr vielseitigen und
hochliegenden jugendkundlichen Schrifttums noch behauptet, ist in seinen früheren Auflagen
von uns ausführlicher gewürdigt worden« Es mag zur Kennzeichnung der Hinweis wiederholt
werden, daß Groos in seinem Buche nicht wie Stern, Bühler, Tumlirz, Hoffmann u. a. eine ge¬
schlossene Darstellung des so umfänglichen Gebietes, sondern ausgewählte Vorlesungen vorlegt
und daß die wechselnden Abschnitte in der Betrachtungsweise ihrer Probleme verschiedene
Richtungen einschlagen.
Empfindlicher werden die Gegenstände der kindlichen Sprachentwicklung und der jugend¬
lichen Sexualität vermißt. Geschätzt aber ist an dem Buche von jeher gewesen, daß es ge¬
eignete Abschnitte, so den des Spielens von biologischen Fragestellungen beherrscht sein läßt,
daß es andernorts die experimentelle Pädagogik in den Vordergrund rückt und ferner fast durch-
gehends über die engere kinderpsychologische Betrachtung hinaus auch auf allgemeinpsychologische
Probleme wünschenswerte Blickwendungen nimmt. Dagegen ist in die fortschreitend neuen
Auflagen nicht hineingearbeitet worden, vras methodisch und sachlich nunmehr denn doch in
der Lehre vom Seelenleben des Kindes der psychanalytischen Forschung als unbestritten Ge¬
sichertes zu danken ist, Sch.
Theodor Ziehen, ord. Prof. a. d. Universität Halle, Das Seelenleben der Jugendlichen.
Heft 6 der „Philosophischen und psychologischen Arbeiten“. Langensalza 1923. Beyer u. Sohn.
90 S. 2,80 M. und Teuerungszaschlag.
Die seelenkundliche Forschung wendet sich schon seit längerem — nachdem vorher die
Psychologie der frühen Kindheit einseitig das Interesse auf sich gezogen hatte — mit besonderem
Eifer der Untersuchung der Reifezeit zu. Eine ansehnliche Reihe von zusammenfassenden
Schriften sind neben Darstellungen über einzelne Fragen des Gebietes die Früchte, ln dem engen
äußeren Rahmen, auf den Theodor Ziehen sich in seinem Schriftchen beschränkt, kann von vorn¬
herein eine annähernde Vollständigkeit nicht erwartet werden, und da nach der Datierung des
Vorworts die Niederschrift bereits inmitten 1922 abgeschlossen worden ist und das Heftchen die
Vortragsstoffe aus früheren Jahren verarbeitet, bleiben vor allem die bedeutsamen Ergebnisse
jüngster Untersuchungen — so die von Stern, Bühler, Tumlirz, W. Hoffmann, Jaensch — außer
Betracht. Die Erfahrungen, auf die Ziehen sich stützt, hat er aus weit zerstreuter Literatur —
auch weiter zurückliegender und ausländischer — in offenbar langer Sammeltätigkeit zusamfhen-
getragen; er stützt sich auch auf wichtige eigene Befunde, darunter solche seiner nerven-
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Literaturbericht
187
ärztlichen Praxis. Es leitet der frühere Mediziner selbstverständlich auch mit physiologischen
Erörterungen, die dann weiterhin noch einfließen, die Betrachtungen ein. Desgleichen ist kenn¬
zeichnend, wie am gelegenen Orte kurze Streifen auf pathologische Erscheinungen vorgenommen
werden. Und wo ein pädagogischer und soziologischer Einschlag erfolgt, wird wiederum in der
Art der aufgegriffenen Fragen und ihrer Lösungen der ärztliche Beobachter und Gutachter
spürbar: z. B. bei den Problemen der sexuellen Aufklärung und der Koedukation. Im Aufbau
seines Gesamtbildes folgt Ziehen der systematischen Ordnung der seelischen Funktionen. So
wird zuerst der Bereich der Empfindlings- und Denkvorgänge durchschritten, dann finden Ge¬
fühls- und Willenserscheinungen eine etwas längere Behandlung, worauf die jugendliche Ge¬
schlechtlichkeit, in ihrem Erwachen und ihrer Eigenart dargestellt, als besonderes Erlebnis der
Jugendlichen — aber nicht so betont wie in der psychanalytischen Lehre — den Schluß bildet.
Durchblickt die Schrift in diesem Aufbau die jugendliche Seele in bestimmten Begriffskategorien,
so muß notwendig das Erstehen eines lebendigen Gesamtbildes von der werdenden Persönlich¬
keit darunter leiden. Worauf die neue Richtung der Gestaltpsychologie ausgeht: auf die Heraus¬
arbeitung der typischen Struktur des Totais, darf man nicht suchen, wenn man zu Ziehens Schrift
greift, die ein großes Tatsachenmaterial aus verschiedensten Wissenschaftsgebieten beherrscht
und heranzieht, aber bei dem Stande der jüngsten Literatur nicht mehr behaupten sollte: „Die
meisten bisherigen Veröffentlichungen lassen eine umfassende Sachkenntnis vermissen.*
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
W. Liepmann, Psychologie der Frau. Versuch einer synthetischen, sexualpsychologischen
Entwicklungslehre in zehn Vorlesungen. Mit zwei Tafeln und 12 Textabbildungen. Zweite,
umgearbeitete Auflage. Berlin 1922. Urban & Schwarzenberg. 322 S. Grundzahl 10,50 M.
Die bedeutsame Schrift trägt einen irreführenden Namen; zutreffender ist ihr Untertitel.
Im Ganzen stellt sie sich dar als eine Sexuallebre, die — weit im Pflanzen- und Tierleben aus-
bolend — das Bereich des menschlichen Sexualismus physiologisch, psychologisch und völker¬
kundlich durchmißt und dabei die weibliche Geschlechtlichkeit in den Vordergrund rückt. —
Auf die Psychologie der Frau ist dabei nur so weit Licht geworfen, als im sexuellen Ge¬
biete Seelisches mit Leiblichem eine unlösliche Einheit bildet Hervorgegangen aus Vorlesungen,
Obungen und volkstümlichen Hochschulkursen des Frauenarztes, will das Buch vor allem auch
emesexualp&dagogische Aufgabe erfüllen: es will mit werben, „daß die Heiligkeit alles Seins
statt der Lüge in die Herzen der neuen Generation einzieht 41 „Höheres Menschentum und wahre
Erkenntnis des Weibes hängen so eng miteinander zusammen, daß man sie nicht zu trennen
vermag.“ — Angefügt sind dem Buch „Bekenntnisse“ aus dem Hörerkreise des Verfassers. Sie
haben dem Pfidagogen Eindringliches zu sagen. Sch.
Prof. Dr. Linas Bopp, Moderne Psychanalyse, katholische Beichte und Pädagogik.
Kempten 1923. Köset 100 S.
»Die psychanalytische Weltanschauung ist jedenfalls die Feindin des positiven Christentums
und der christlichen Moral* (!) (S. 98). Aber Verdienste sind nicht zu verkennen: sie hat das
pädagogische Gewissen auf eine feinere Verantwortlichkeit für die Frühkindheit geschärft, hat
in neuer Betrachtungsweise die Bedeutung unbewußter Gegebenheiten aufgezeigt, hat weiter in
der Lehre von der Verdrängung ein pädagogisch sehr wichtiges Gebiet erschlossen, hat schließlich
die Heilkraft seelischer Betätigung, für die nach Aufhellung der Verwimmgsuntergründe eine
klare Zielwirkung gegeben wird, kennengelehrt. In der vergleichenden Betrachtung zur Beichte
ergeben sich manche übereinstimmende und unterscheidende Züge „Der religiöse Arzt findet
in seiner Tradition alle die heilenden Vorstellungen, die erbraucht; der nichtreligiöse, moderne
Psychotherapeut aber kommt mit seiner geistigen Heilbehandlung zunächst in eine sehr schwierige
Situation .. .* (S 99). Es wird aber die Beiohtpädagogik die wertvollen psychologischen Ein¬
sichten und erzieherischen Anregungen, die von der Psychanalyse erarbeitet worden sind, für
sich nutzbar machen müssen. — Trotzdem die Schrift in einer kirchlichen Weltanschauung, die
grundsätzlich alle naturalistische und relativistische Betrachtungsweise ablehnt, befangen ist, darf
ihr Bemühen nicht verkannt werden, in diesem beengenden Rahmen dem Wesen und Wirken
psychanalytischer Theorie und Praxis gerecht zu werden. Der Verfasser hat in guter Kenner¬
schaft der jüngsten psychanalytischen und individualpsychologischen Literatur das Für und Wider
scharf und ruhig herausgearbeitet und versucht, von seinem Standpunkte aus in sachlicher Aus¬
einandersetzung manches bisher noch nicht Entschiedene zu klären. Wir persönlich verdanken
der Schrift trotz unserer abweichenden Grundstellung mancherlei.
Zschopau: Paul Ficker.
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Literaturbericht
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Johannes Schrenk, Aussagepsychologie. Eine Darstellung der wichtigsten
experimentellen Untersuchungen, ihrer Methoden, Ergebnisse und Aufgaben.
Leipzig 1922. Quelle u. Meyer. 106 S. und 3 Bildwiedergaben«
Die Stellung, die Schrenks trefflicher Arbeit in den zahlreichen, aber sehr weit verstreuten
Veröffentlichungen zur Aussagepsychologie zuerkannt werden muß, kann nicht zutreffender und
schöner in der Fassung gekennzeichnet werden, als es Gustav Deuchler in dem Geleitworte tut,
das der Schrift vorangestellt ist. Er schreibt dort unter anderem: „In der Aussagepsychologie
ist in den letzten Jahren ein Stillstand eingetreten, nachdem dieses Gebiet zuvor in einer großen
Zahl von Arbeiten von den mannigfachsten Gesichtspunkten aus in Angriff genommen war. Die
Ursachen des Stillstandes sind für den Kundigen leicht ersichtlich. Mit technisch und wissen¬
schaftlich einfachen Mitteln waren gewisse sinnfällige Ergebnisse von praktischer Bedeutung ge¬
wonnen worden, so auf dem Gebiete der Zeugenaussagen, der Suggestion, der Auffassungs- und
Ausdrucksformen. Das sicherte den ersten Arbeiten sofort eine zahlreiche Nachfolge. Die Frage¬
stellungen erweiterten sich, neue traten hinzu, der Schwerpunkt des Forschungsgebietes ver¬
schob sich, indem an Stelle der ganzen psychologischen Fragen mehr und mehr solche der
Anschauung*-, Denk- und Sprachpsychologie (insbesondere des Schülers) traten. Dabei zeigte
es sich nun aber auch bald, daß die Fragen viel verwickelter waren, als man zuerst geglaubt
hatte, und daß die Erforschung der tieferliegenden Bedingungen der Aussage nicht ohne wirk¬
same Arbeit und strenge methodische Schulung möglich ist. Das lähmte den Eifer in der
Aussageforschung empfindlich. Dazu kam noch das Fehlen einer die bisherigen Ergebnisse für
die pädagogische Psychologie sichtenden und zusammenfassenden Darstellung als zuverlässiger
Rückblick auf das Erreichte und als klar und bestimmt schauender Ausblick auf die noch zu
lösenden Aufgaben. Diese Lücke versucht Johannes Schrenk mit den vorliegenden Ausführungen,
wie ich glaube, in vortrefflicher Weise zu schließen. Da er durch seine früheren Arbeiten, in
denen er die Anregungen der Sternschen und Meumannschen Schule aufnahm und weiterbildete,
neue Fragestellungen und neue Verfahren hinzufügte, die Aussageforschung sachlich und methodisch
wesentlich gefördert hat, so brachte er die bestmöglichen Vorbedingungen dazu mit*
Das umfassende, einheitliche Bild, das Schrenk von dem bedingungsreichen Gebiete aus den
zahlreichen Einzelabhandlungen sorgfältig herausgearbeitet hat, erfreut durch eine durchsichtige
Gliederung. Eine allgemeine Einführung macht mit Umfang, Ziel und Bedeutung der Anssage¬
forschung bekannt, stellt die Hauptarten des vielgestaltigen Gegenstandes heraus, gibt einen aller-
knappesten Oberblick der geschichtlichen Entwicklung und zählt ein fast halbes Hundert
Veröffentlichungen der einschlagenden Literatur auf. Es wird dann dargestellt, in welchen
verschiedenen Formen die Aussageversuche ausgebildet worden sind und wie die Verarbeitung
der Versuchsstoffe geschieht. Von den Ergebnissen legt Schrenk zuerst die bedeutsamsten
allgemeinpsychologischen Befunde *der Aussagestatistik vor (Gesamtumfang, Zuverlässigkeit,
Fehlerhaftigkeit, Kategorienbestand). Es schließen sich die gewonnenen differenzialpsycho¬
logischen Aufschlüsse an (Geschlechtsunterschiede, Entwicklungstatsachen und -gesetzmäßig*
keiten, Begabungstypen, Aussagetypen). Eindringend wird darauf die psychologische Analyse
des Aussagevorganges durchgeführt. (Wahmehmungs- und Auffassungsvorgang, Gedächtnis*
beteiligung, sprachliche Wiedergabe). Damit verbunden ist eine Obersicht über die Bedingungen
der normalen Aussage (Zwischenzeit, Aufmerksamkeit, Vorstellungstypus, Mitteilsamkeit, Interesse,
Ehrgeiz und Wahrheitswirken). Der Suggestion ist dabei eine besondere Erörterung gewidmet
(Begriff, Arten, experimentelle Untersuchung, Bedingungen). Den Abschluß bilden die Grund*
züge der Aussageentwicklung und ihre Beeinflussung durch Erziehungsmaßnahmen. Einiges im
Anhang gebotene Versuchsmaterial (Sternsche Verhörsliste, Abfrage, Beispiele von Kinder*
aussagen über Versuchsbilder) sind willkommene Beigaben.
Bei der Vollständigkeit, die Schrenk in seinem zusammenfassenden Überblick sonst anstrebt
kann es verwundern, daß er der praktischen Bedeutung der Aussageforschung nur in der
pädagogischen Richtung einigermaßen ausreichend nachgeht. Vor allem wird ungern die Er¬
örterung der Zeugenaussage vermißt werden, umsomehr, als die deutschen Arbeiten, so die von
Stern, zu Anfang des Jahrhunderts von Juristischen Sachverhalten und Einstellungen aus¬
gegangen sind und in dieser Wendung die bedeutsamsten Auswertungen verfolgt sind. Was
insbesondere zuletzt — u. a. durch das Verdienst des Leipzigers Max Döring — über die
Vernehmung jugendlicher Zeugen in verschiedenen Ländern geregelt worden ist, hätte eine
würdigende Darstellung finden müssen, unbeschadet des einheitlichen Zuges einer mehr
methodisch theoretischen Haltung, die das Buch einnimmt. Bis auf diese Lücke aber dürfte
Schrenk das reizvolle Gebiet der Aussageforschung annähernd vollständig durchschritten haben,
und seine wissenschaftliche, dabei schlichte und faßliche Darstellungsweise entwickelt ein
schönes Bild von der methodischen Durchbildung und den wichtigen gesicherten Ergebnissen,
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Literaturbericht
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die in etwa zwei Jahrzehnten eifriger Untersuchung gelungen sind. Schrenk selbst sind dabei
durch seine aus dem Tübinger Institut unter Deuchler hervorgegangenen Arbeiten be¬
merkenswerte Förderungen zu danken, nicht bloß durch Nachprüfungen und Richtigstellungen,
sondern auch dadurch, daß er die Verarbeitung der Berichte und Beschreibungen nach Kategorien
verbesserte und durch Einführung der „Parallelversuche* 4 zu einer genaueren Analyse des Aus-
sagevorganges und seiner Bedingungen gelangte. Es ist an der Zeit, daß aus dem Gebiete der
pädagogischen Psychologie und experimentellen Pädagogik auch andere Fragenkreise die \n Einzel-
ontersuchungen fleißig und ergebnisreich durchforscht sind, solche sichtende und sichernde
Zusammenfassung erfahren möchten, wie sie Schrenk in seiner trefflichen Schrift gelungen ist.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Suter, Intelligenz-und Begabungsprüfungen. Zürich 1922. Rascher & Cie. 180 S.
Broschiert Fr. 6.—.
Nach langjährigen Vorversuchen in Fabriken, Schulen, im psychologischen Institut der
Universität und praktischen Anwendungen im Jugendamt des Kantons Zürich, bei denen es ihm
zunächst weniger darauf ankam, ein einheitliches Material und abschließende Ergebnisse zur
Intelligenz und Begabung mit einer einmal festgesetzten Methode zu gewinnen, als jeder ein¬
zelnen Aufgabe nach Möglichkeit gerecht zu werden und fortwährend die Methoden zu ver¬
bessern, gibt der Züricher Privatdozent Dr. Suter einen Einblick in seine Auffassungen,
Methoden und Apparate. Mit Befriedigung erkennt man die in der experimentellen Psychologie
verankerte klare Wissenschaftlichkeit und die im Gegensatz zu der noch vorherrschenden Ein¬
stellung auf Maßzahlen, Mittelwerte und Quotienten erfreuliche Einschätzung der Qualitätszensur.
Es handelt sich nicht nur um die Bewertung sichtbarer Leistungen, sondern vor allem auch um
Anblicke in die Bewußtseinsvorgänge, die dazu führen. Darum auch wird für alle Intelligenz-
nod Begabungsprüfungen ausnahmslos an Stelle des Massenversuches die individuelle Prüfung
gesetzt
Die Intelligenz, d. h. das Erleben von Vorgestelltem und das Fortschreiten zu Zusammenhangs-
edebnissen wird in der Erscheinung als Denken (Prämissenpaare), Phantasie (Tafeln von Rohr¬
schach) und Gedächtnis (zweistellige Zahlen zwischen 21 und 98) auf Spontaneität, Genauig¬
keit, Reichhaltigkeit und Beweglichkeit hin geprüft, wobei es auf Leistungen unter guten Be¬
dingungen im Zustand voller Aufmerksamkeit ankommt. Zur Erreichung dieses Zustandes
werden wertvolle Winke für das Verhalten des Versuchsleiters angegeben.
Die Begabung wird mehrfach an neu konstruierten Apparaten geprüft. An natürlichen
Fähigkeiten, an denen Körper und Geist zugleich beteiligt sind und die das wesentliche Ele¬
ment der Begabung ausmachen, werden geprüft: die Sehschärfe nach der Tiefe (Zeißsches
Stereoskop mit Stereomikrometeraufsatz) und nach der Seite (Metaliplatte mit zwei spaltförmigen
Öffnungen), die Unterschiedsempfindlichkeit des Tastsinnes (Platte mit Vergleichsschlitzen), die
Bewegungsfeinheit (Bleistiftstrich von vorgegebener Länge) und die Bewegungsgeschwindigkeit
(Chronoskop nach Hipp).
Der ausführlichen Publikation der psychologischen Ergebnisse der Untersuchung wird man
mit Interesse entgegensehen.
Zürich. Arthur Fischer.
Max Nitzsche, Der bunte VogeL Von der Schönheit der Kinderzeichnung und ihrer Pflege.
1. Heft: Bäume und Vögel, 2. Heft: Blumen und Schmetterlinge. Dresden-Hellerau 1921.
0. u. R. Becker.
Der bekannte Zeichenlehrer führt in zwei schmucken Heften seine Gedanken über das
Wesen der Kinderzeichnung und die Pflege durch Eltern und Lehrer vor. Ausgehend von
den freudebetonten Kritzeleien der frühen Kinderjahre stellt er die Entwicklung über Schema,
Scheinform zur Wirklichkeitsform dar, wobei er das oft unbewußte Streben nach Rhythmus,
Symmetrie, Raumfüllung, Perspektive und Farbgebung nachweist. Neben dem Zeichnen
als Sprache liegt Nietzsche vor allem daran, Schönheitswerte zu wecken und fördern, Geschmack
zu bilden und dadurch den Schüler für Kunstwerke empfänglich zu machen. Durch Selbst¬
tätigkeit — so heißt seine Formel — hinüber in die Welt der Schönheit!
Das Werk gibt Anregungen fürs Elternhaus, das der Kinderzeichnung meist wenig Verständnis
totgegenbringt, für den Grundschullehrer, dem es Möglichkeiten und Ansatzpunkte zu entwicklungs-
gemäßem Zeichnen aufdeckt, und schließlich noch dem Zeichenlehrer der Oberstufe. Auch der
Psychologe wird dem Buche dies und jenes danken, wenn es auch seiner Einstellung nach unter
Jas unterrichtspraktische Schrifttum einzuordnen ist.
Hainichen. Paul Stenzel.
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Literaturbericht
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Heinrich Scharrelmann, Bausteine für intime Pädagogik. Braunschweig 1922/23.
Westermann. 1. Heft. 19 S. 2. Heft. 26 S. 3. Heft 16 S. Je 1000 M.
In die Schriften führender Pädagogen ist von den Gedanken, mit denen Heinrich Scharrel¬
mann vor mehr als zwei Jahrzehnten mutig hervortrat, alles Wesentliche fest eingeschmolzen.
Was heute über die Fragwürdigkeit der Lehrerfrage, über freie Unterrichtsgestaltung und anderes
mehr aus einer „herzhaften Pädagogik“ verkündet wird, geht auf ihn zurück, mag gleichwohl
seine Vaterschaft vielfach nicht genannt werden. Die spätere unterrichtswissenschaftliche Ge*
Schichtsdarstellung aber wird seine Verdienste wie die anderer Schrittmacher ans Lehrerkreisen —
wir denken z. B. an Ernst Linde — zu würdigen und herauszustellen wissen. In der Gemein¬
schaftsschule in Bremen ist Scharrelmann nun ein Wirkensfeld aufgetan, auf dem er unbeengt
seine Gedanken einer Lebens- uud Kulturschule verwirklichen und weiter entwickeln kann. Die
zwanglos erscheinenden Hefte „Bausteine für intime Pädagogik“ wollen den Ertrag literarisch
darstellen, ln den bis jetzt erschienenen Heften steht aus seiner und seiner Mitarbeiter
Feder manch Beachtliches und Klärendes. Wir behalten uns eine Stellungnahme vor,
bis der Gedankenkreis noch weiter ausgebaut ist. Es liegen vorerst nur die folgenden Aus¬
führungen vor: „Von der Arbeitsschule zur Gemeinschaftsschule 1 * (Scharrelmann); „Unsere
Bremer Gemeinschaftsschule“ (Riebau); „Erlebnis — Erzählkunst — Selbeterziehung“ (Specht);
„Schulrevolution und Elternschaft“ (Riebau). Sie alle zeugen davon, wie Scbarrelmann nicht mit
einigen matten Zugeständnissen an die neue Zeit nur ein wenig an der Schule herumreformiert,
sondern eine „Revolution der deutschen Schule von Grund auf“ erstrebt. Gehen wir auch in
sehr vielem keinesfalls mit ihm gleichen Schrittes, so schätzen wir ihn doch als einen ehrlichen
und von seinem Werke begeisterten Sucher, der nicht nach großem Beispiel neuerer pädagogischer
Propheten über alles und jedes aus der Volksschulerziehung nur gewaltig redet, sondern ans
der eigenen Erprobung in der Wirklichkeit des pädagogischen Lebens heraus denkt und schreibt
Freilich läßt ihn sein Glauben, daß Verstand und Vernunft nicht ausreiche, die Welt zu erfassen,
und daß es darum gelte, in der bislang zu intellektualistischen Erziehung nun künftig den
Kräften des Gemütes weitesten Raum zu geben, einer wissenschaftsfeindlichen Romantik ver¬
fallen. Zeitmode! Es klingt gewiß gewinnend, wenn er bekennt: ich will mit dem Herzen
suchen. Aber wurzelten seine Gedanken bei aller Gefühlsergriffenheit, die echtem pädagogischen
Tun und Denken unerläßlich ist, doch auch in wissenschaftlichem Bewußtsein, so wären die
Darstellungen seines Wollens und Wirkens sicher oft weniger dunkel und — überheblich.
Leipzig. Otto Scheibner.
Kurze Anzeigen.
Dr. G. Heymans, Professor der Philosophie an der Universität Groningen, Die Gesetze und
Elemente des wissenschaftlichen Denkens. 4. durchgesehene Auf!. Leipzig 1923.
Barth. 440 S. Grundpreis 12 M.
Wie bei seiner „Einführung in die Metaphysik“ darf sich der in Deutschland angesehene
niederländische Philosoph auch bei seinem Lehrbuch der Erkenntnistheorie neuer Auflagen er¬
freuen. Grund des Erfolges: die didaktische Fähigkeit, unter Beschränkung auf Probleme und
deren Lösungen, die sich auch ohne besondere philosophische Fachstudien dem wissenschaftlich
Gebildeten nicht allzu schwierig erschließen, in das Gebiet einzuführen. Ihrem Wesen nach
erfaßt Heymans die Erkenntnistheorie als empirische Wissenschaft, die im wesentlichen den
Weg der Psychologie zu gehen habe. So eingestellt sieht er sich genötigt, obwohl er sonst die
Erörterung und Widerlegung ihm entgegenstehender Anschauungen zumeist vermeidet, eine Aua-
einandersetzung mit den Neokritizisten herbeizuführen (S. 21 ff.). Aus dem Inhalte: Die längere
Einleitung erörtert in klarer Weise das unentbehrlich Prinzipielle; im allgemeinen Teile werden
dann die Tatsachen des logischen Denkens hingestellt und erklärt, und ein spezieller Teil zeigt
schließlich die erkenntnistheoretische Untersuchung am Beispiel der Mathematik und der Natur¬
wissenschaften.
Ernst Adolf Bernhard, Psychische Vorgänge betrachtet als Bewegungen. Berlin
1923. Simion. 88 S. Grundpreis 1,00 M.
Der Verfasser glaubt in seinem Buch erstmals nachgewiesen zu haben, „daß Empfindungen,
Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Träume, Gedächtnis, Erkennen dem Gesetz von der Erhaltung
der Energie unterworfen sind“ und somit „mechanische Vorgänge“ darstellen. Das bedeutet, eo
verkündet er, den Anbruch einer neuen Seelenlehre: der energetischen Psychologie, die ein«
„technische Wissenschaft“ sein wird. Auf welcher Höhe die Beweisgänge der Schrift sich be¬
wegen, mag die Naivität belegen, in der sie sich mit dem Träumen schnellfertig abfindet*
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Literaturbericht
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T
„Wenn man beim Einschlafen eine Hand z. B. [an! die Brust oder unter den Kopf legt, dann
müssen die durch einen solchen Druck während des Schlafes hervorgerufenen Druckkräfte als
iußere Energien wie im wachen Zustande auf das Körperorgan einwirken und daher mechanische
Arbeiten und Zunahme der lebendigen Kraft erzeugen; dann müssen also während des Schlafes
Empfindungen, Empfindtutgsänderungen und Gedanken entstehen; in solchen Fällen sagt man:
man träumt.“
Elsa Münch, Sexuelle Belehrung der Kinder. Langensalza'1923. Beyer u. Sö. 42 S
Grundpreis 1,26 M.
Nicht viel mehr als ein Bericht, wie die Verfasserin im naturgeschichtlichen Unterricht un¬
befangen in die Kenntnis des Befruchtungsvorganges einführt Gut, wenn es so natürlich ge¬
schieht wie hielt Aber in der so unheimlich breiten Literatur über die Frage der sexuellen
Erziehung bedeutet das Heftchen nicht einen Beitrag, der durchaus gedruckt werden mußte in
einer Zeit, in der Doktordissertationen nicht mehr erscheinen können.
Dr. Oskar Hug, Zur Biologie der Leibesübungen. Bern 1923. Drechsel. 48 S.
Grundpreis 1,50 M.
Zwei gehaltvolle Vorträge. Im ersten: das Auseinandertreten der Leibesübungen in die
Typen des Spiels, Turnens, Sports und Kampfes, zwischen denen dann die mannigfaltigsten Ver¬
flechtungen und Obergänge (z. B. spielerisches, turnerisches, sportliches, kämpferisches Turnen)
und ihr hygienischer Wert aufgezeigt werden; im zweiten: die kulturgeschichtliche Entwicklung
der Leibesübungen vom Altertum herauf bis zum englischen Sport, deutschen Turnen und
schwedischer Gymnastik. Unberücksichtigt bleiben leider durchaus die jüngsten Richtungen einer
ästhetisch gerichteten Körperkultur. Der psychische Einschlag, der zum Teil das unterscheidende
Merkmal der auseinander gehaltenen Formen abgibt, wird gut herausgearbeitet,
D. Dr. Christian Bürckstümmer, Professor an der Universität Erlangen, Das „Erlebnis*
im Religionsunterricht Langensalza 1923. Beyer u. Sö. 66 S. Grundpreis 1,75 M.
Nicht, wie der Titel vermuten läßt, eine psychologisch gehaltene Untersuchung, sondern
sine kurze Oberschau über Gestaltungsfragen kirchlich gebundenen Religionsunterrichtes in der
ausgesprochenen Konfessionsschule, mit Frömmigkeit als Ziel, Erlebnis als Weg.
Wolfgang Kiener, Staatsbürgerliche Erziehung als Unterricht Kallmünz 1923.
Laßleben. 68 S. Grundpreis 0,80 M.
Die unlogische Verknüpfung der Begriffe Erziehung und Unterricht in der Titelfassung — der
Verfasser ist offenbar aber klassischer Philologe — ist symptomatisch für die innere und äußere
Gedankenprägung des gutgemeinten, mit pathetischer Retborik durchsetzten und auf katholisch¬
christlicher und pazifistischer Ethik fußenden Aufsatzes. Über Parteiegoismus, über Gemeinsinn,
über die Frau als Staatsbürgerin, über den Geschichtsunterricht und anderes werden inmitten
von verwaschenen weltbürgerlichen Auffassungen und Allgemeinheiten zwischendurch auch ein
paar verständige Worte gesagt. Außer in einer Wendung des Vorworts ist von deutschem
Wesen nirgends die Rede. Bezeichnend, daß die beigegebene, nur sachlich eingestellte Lehr*
probe, die als Beispiel für gelegentliche staatsbürgerliche Belehrung im Geschichtsunterricht
gelten soll, einen antiken Stoff — die Zeit von Solon bis Kleisthenes — aufgreift. Sch.
Rudolf Hildebrand, Vom deutschen Sprachunterrichte in der Schule und von
deutscher Erziehung und Bildung überhaupt. 16. Auflage. Leipzig 1922. Klink-
hardt 238 S. Grundpreis 5 M.
Dieses Buch, das unumstritten heute als ein literarisches Schatzstück von der deutschen
Lehrerschaft lieb und wert gehalten wird — 1867 erschienen, erst 1879 in zweiter Auflage und
1887 zum dritten Male — bedarf keiner würdigenden Empfehlung mehr. Es genügt bei ihm,
der Pflicht der Anzeige zu genügen. Erfüllt von dem Geiste, der heute in dem Werden eines
neuen Unterrichtslebens lebendig ist, erhebt es sich in bedeutsamer Höhe aus dem weiten Flach¬
land« pädagogischen Schrifttums.
Ellriede Thurau, Die rhythmische Gymnastik in der Schule. Berlin 1922. Winckel-
mann und Söhne. 36 S.
Das Schriftchen führt in knappester Darstellung den Stoff an, der aus der Bildungsanstalt
fßr rhythmische Gymnastik in Hellerau übergeführt werden könnte in das öffentliche Schulwesen.
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Literaturbericht
Es werden genannt für die Unterstufe: Unbetontes Geben, Willensübnngen, Betontes Gehen, Tak¬
tieren, Schreiben von Zeitwerten, Pansen, Auftakt, Phrasierung, Unabhängigkeit»-, Atemübungen,
Spiele; für die Mittelstufe: Realisationsketten, Raum- und Zeitmessen, Doppelte Schnelligkeit,
Synkopen, Zwei-gegen-drei, Unabhängigkeitsübungen, Kontrapunkt, Praktischer Akzent, Doppel¬
thema, Atmungsübungen, Spiel-Plastik; für die Oberstufe: Rhythmische Übungen, Formenlehre,
Improvisationen. Für Jeden dieser Stoffkreise ist kurz der methodische Aufbau gegeben. Dabei
bleibt es unter Verzicht auf theoretische Begründung und Beschreibung der technischen Aus¬
führung bei einer rein lehrplanmäßigen Aufzählung, und es bietet, methodisch eingestellt, in dieser
Beschränkung die anspruchslose Schrift auch dem Kenner des Gebietes eine kleine Handreichung
für den Unterrichtsgebrauch.
Karl Bernadt, Fest und Arbeit. Vom Schaffen des schlesischen Großquickbora. Habel-
schwerdt 1922. Frankes Buchhandlung. 67 S. Grundpreis 0,70 M.
Ein stimmungsvolles Schriftchen; uns über einige schöne Lesefreuden hinaus wertvoll, weil
es einen willkommenen Einblick bietet in Wollen und Wirken eines Zweiges der katholischen
Jugendbewegung — mögen wir gleichwohl ihren kirchlichen Anschauungen fernstehen. Es ist
Liebe zur Natur, Wille zur Volksgemeinschaft und Ringen nach christlicher Lebensgestaltung, was
die Großquickboraer in den hier vereinigten kurzen und formgepflegten Beiträgen — Betrach¬
tungen, Berichten, künstlerischen Gaben — behandeln. Mit dem romantischen Zuge und der
idealisierenden Einstellung für den Jugendkundler psychologisch wichtig. Wer das Ganze der
deutschen Jugendbewegung erfassen will, darf jene Vereinigungen, die anspruchslos, be¬
scheidener und oft öffentlichkeitsscheu im Stillen ihre vielleicht etwas altmodischen Wege
gehen, nicht übersehen.
Studienrat Emil Zeißig, Vorbereitung auf den Unterricht. Mit Erörterungen von
Fragen des Lehrplans, der Lehrmethode und der Lehrerpersönlichkeit 2., erweiterte Auflage,
Langensalza 1922. Beyer u. Sö. Grundpreis 4,40 M.
Seminarmethodik bekannten Stiles. Mit viel didaktischen Handgriffen für die Stoffzurichtung
Soll in neuem pädagogischen Geiste der unterrichtende Lehrer aber weniger Bearbeiter des
Stoffes und des Schülers 6ein, als vielmehr Anreger und Pfleger des kindlichen eigentätigeo
Schaffens, dann muß seine Vorbereitung sich viel stärker in psychologischen Erwägungen
bewegen. Immerhin mag Zeißigs Anleitung für die didaktischen Radikalsten, die den Unter-
* rieht lediglich auf Laune und Stimmung der Schüler, auf die Gunst der zufälligen Lage und auf
die Eingebung des sich rein künstlerisch gebärdenden Lehrers stellen, zur Schärfung ihres Form¬
gewissens gut und nützlich zu lesen sein.
J. Tews, Elternabende und Elternräte. Freie und gesetzlich geordnete Mitarbeit der
Eltern an der Schulerziebung. 5. AufL Langensalza 1922. Beyer u. Sö. 50 S. Grundpreis 1,60 M.
Seit das Schriftchen erstmals erschienen ist, hat sich der Gedanke, daß die Schule nicht
nur eine Angelegenheit der Lehrer sei, sondern auch zur Eltern- und Volkssache werden müsse,
durchgesetzt und verwirklicht Tews bietet das Grundsätzliche. Für die praktische Gestaltung
sind von anderer Seite unterdessen auf Grund der Erfahrungen — sie waren in der ersten Zeit
nicht immer ermutigend — eingehendere Gedanken, Vorschläge, Anregungen, Bilder geboten
worden. Dabei hat man bald erkannt, daß Elternabende und Elternräte allein nicht die große
innerliche Erziehungsgemeinschaft zwischen Haus und Schule herzustellen vermögen. Wirksamer
ist unter anderem offensichtlich der persönlichere Verkehr in den Unterrichtsbesuchen der Eltern
und Schulsprechstunden der Klassenlehrer.
Dr. Anna Siemsen, Erziehung und Gemeinschaftsgeist Stuttgart 1922. Moritz.
Im Gedankenkreise der entschiedenen Schulreformer sich bewegend. Aufdeckung von Man¬
geln des überlieferten Erziehungswesens. Wegweisung zu pädagogischer Erneuerung. Mit Wärme
geschrieben. Aber durch politische Einstellung des pädagogischen Denkens einseitig. Inhalt:
Erziehung und Gesellschaft; Erziehung und Wirtschaft; Erziehung und Kirche; Erziehung und
Staat; Was heißt Gemeinschaft und was ist Erziehung zur Gemeinschaft?; Kinder unter sich;
Kind und Umwelt; Kind und Erzieher; Erziehung zur Gemeinschaft
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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Das Problem der psychischen Strukturen.
Von Julius Wagner.
I.
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v, Beim Verfolg einer Reihe namhafter psychologischer Veröffentlichungen
der letzten Jahre will es so scheinen, als ob wir an einem Wendepunkt der
Einstellung zu den Problemen des Psychischen stehen. Die psychologische
Forschung der letzten fünfzig Jahre hat ein gewaltiges Tatsachenmaterial
tusammengetragen und ist erfolgreich bemüht, in den gesetzmäßigen Zu¬
sammenhang der seelischen Teilfunktionen einzudringen. Hierbei ent¬
spricht dem naturwissenschaftlichen, experimentellen Rüstzeug der modernen
-Psychologie die wissenschaftstheoretische Voraussetzung: Aufbau des
Seelischen aus Elementen. Analyse und Synthese sind die beiden
Forschungsrichtungen. Atomismus ist das Grundgepräge der seitherigen
Forschung. Nicht daß damit behauptet sein soll, daß das Bewußtsein der
Unzulänglichkeit des Aufbaues des Psychischen aus Elementen vollkommen
.Abhanden gekommen sei. Im Gegenteil ist oft auch von der atomistisch
verfahrenden Psychologie darauf hingewiesen worden, daß, um z. B. in der
Terminologie Wundts zu reden, sich das psychische Gebilde nicht restlos
aus der Summe seiner Elemente aufbauen lasse, daß ein Prinzip der
^schöpferischen Synthese" bestehe, daß die Isolierung der Elemente
mir unter Abstraktionen möglich ist. Es soll die Bedeutung dieser Art
Psychologie durchaus nicht verkannt werden. Die nach naturwissenschaft¬
lichen Methoden arbeitende Seelenforschung ist groß geworden, hat befruch¬
tend auf andere Wissenschaften gewirkt und in mehreren Kulturgebieten
erfolgreiche Anwendung gefunden. Auch für die Pädagogik hat sie ihre
Bedeutung erwiesen. Und doch wird gerade eine pädagogische
Psychologie, die uns bis heute nur erst in ihrer Problematik vorschwebt —
denn pädagogische Psychologie ist durchaus nicht bloß angewandte ex¬
perimentelle Psychologie —, weit über jene naturwissenschaftliche, atomi-
stische Psychologie hinausgreifen müssen.
Dem Aufbau der pädagogischen Seelenlehre kommt ein Umschwung in
der Einstellung zu den psychologischen Problemen zu statten. Schaut
die alte Forschung von unten, von den Elementen, in das Wechselspiel
'4er Funktionen, so bemüht sich eine neue Richtung von oben herab,
yjam Ganzen ausgehend, in die psychischen Prozesse zu schauen. Es ist
der Begriff der Gestaltsqualität, der immer stärker betont wird und eine
Psychologie der Gestalten aufzubauen versucht. Sie begegnet sich mit einer
faderen, die mit ähnlicher Einstellung, wenn auch auf Grund ganz anderer
Foraussetzung, an die psychischen Probleme heran tritt; es ist die geistes¬
wissenschaftliche Psychologie. Auch ihr ist der Aufbau des Seelischen
Son unten aus Elementen durch das Ausgehn von der psychischen Gesamt-
||$ruktur ersetzt. Strukturpsychologie hat sie Spranger bezeichnet, dem
- Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 13
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Julius Wagner
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wir in seinen „Lebensformen“ einen geistreichen, wertvollen Versuch einer
Strukturpsychologie verdanken. Nicht daß sich der Begriff der Struktur mit dem
der Gestaltsqualität deckt, doch ist ihre innere Verwandtschaft unverkennbar:
Das Abrücken von der atomisierenden Seelenanalyse. WilldiePsy-
chologie der Gestaltsqualität durchaus exakt im Sinne naturwissenschaftlicher
Forschung bleiben, so ist die Strukturpsychologie geisteswissenschaftlich ge¬
richtet. Das bestimmt ihren Forschungsinhalt. Es sind die im Persönlichkeits¬
komplex zutage tretenden geistigen Bindungen des Individuums. Für die Päda¬
gogik muß eine auf die Totalität des Individuums eingestellte Strukturanalyse
— nicht Elementaranalyse — viel fruchtbarer und zum Aufbau einer besonderen
pädagogischen Psychologie unbedingt nötig erscheinen. Besonders das In¬
dividualproblem, das in der pädagogischen Psychologie im Mittelpunkte
steht in Rücksicht sowohl' auf den Schüler, der erzogen werden soll, als auch
auf den Lehrer, der durch seine Persönlichkeit und vermittels der Bildungs¬
güter auf den Schüler einwirkt, kann erfolgreich nur durch eine strukturelle
Betrachtung der Persönlichkeit gelöst werden.
Was nützt der pädagogischen Psychologie die Kenntnis einer noch so großen
Zahl elementarer Anlagedispositionen, selbst wenn wir korrelativ die Ab¬
hängigkeit derselben untereinander nach den Methoden der Korrelations¬
forschung feststellen, wenn wir auf dem Wege des Aufbaues des Seelischen
aus Elementen den tieferen Kern der Persönlichkeit nicht treffen, da wir
ihn nicht treffen können, weil das Individuum kein Aggregat von Elementen,
sondern eine Struktur darstellt mit mannigfaltiger und doch einheitlicher
Totalität. Wir versuchen in der Psychographie ein möglichst vollständiges
Bild des Individuums zu entwerfen, verfügen auch über einige Kenntnisse
des Wechselverhältnisses verschiedener Teilfunktionen, aber die eigentliche
personale Lebensart ist nicht aus analytisch gewonnenen Elementen
synthetisch aufzubauen. Es soll damit keineswegs der psychologische Nutzen
und die praktische Verwendbarkeit solcher psychographischen Untersuchungen
überhaupt bestritten werden, sondern nur auf die Grenzen der Leistungs¬
fähigkeit dieser Forschungen soll aufmerksam gemacht sein. Stelle ich
das Problem nach der Eigenschaft der Elemente und ihrer korrelativen
Beziehung, dann ist die Psychographie wohl berechtigt. Frage ich aber
nach der Wesensstruktur, dann muß die Psychologie der Elemente versagen,
da Strukturelles nicht aus isolierten psychischen Elementen aufgebaut werden
kann. Nur beim psychologischen Mechanismus wäre das möglich.
Solche auf das Problem des Elementes eingeengten Fragen liegen cum grano
salis in den psychotechnischen Untersuchungen niederer, manueller Berufe
vor. Die Beanlagung auf sensomotorischem Gebiet bedeutet für die Psycho-
technik einen relativ einfachen Komplex, relativ einfach gemessen an den
höheren Funktionen des Geisteslebens. Und selbst diese mehr peripher
gelagerten psychophysischen Akte des Sensomotorischen sind in Wirklichkeit
keine Elementaggregate, sondern gleichfalls Strukturen.
II.
Das folgende Bild soll uns den Unterschied der beiden Richtungen der
Psychologie verdeutlichen. In der Psychologie der Elemente bedeutet
das Element den kleinsten Baustein, den die Analyse ergibt. Es unter- ■
scheidet sich qualitativ von allen anderen. So sind die Empfindungen von
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Das Problem der psychischen Strukturen
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den Gefühlen durch qualitative Andersartigkeit getrennt, und in der Klasse
der Empfindungseieinente unterscheiden wir weiter nach den verschiedenen
Sinnesgebieten, und innerhalb dieser dringt die Analyse weiter vor. So
lösen wir die Gesichtsempfindungen in Farben auf und unterscheiden an
diesen wieder Ton, Helligkeit und Sättigung. In der Psychologie der Elemente
herrscht das Interesse an begrifflicher Absonderung der Teile vor. Das
Element erhält Verselbständigung im hohen Maße, so daß auf die Analyse
eine Synthese des Komplexes folgen kann in ähnlicher Weise, wie der Bau¬
handwerker aus den einzelnen Bausteinen das Gebäude errichtet. Das
Element ist der Baustein des psychischen Gebildes. Der Baustein bleibt
als solcher, eiperlei ob er vor dem Bau regellos aufgeschichtet auf der Bau¬
stelle liegt, beim Bauen in einen Schichtverband gefügt, oder beim Abbruch
des Gebäudes achtlos zur Seite geworfen wird. Kommt nun dem psychischen
Element eine solche Selbständigkeit zu? Mit anderen Worten: haben wir es
im Bewußtseinsvorgang mit einem Aggregat zu tun, in dem das Prinzip der
Addition herrscht im Sinne einer Anhäufung oder auch Aneinanderreihung
von Einzelnem, Besonderem, oder tritt hier zum Element noch etwas wesent¬
lich Neues? Es ist oben schon darauf hingewiesen, daß selbst in der
Psychologie der Elemente das Bewußtsein lebt, daß der Verlauf des Seelischen
nicht restlos aus den Elementen erklärt werden kann, daß vielmehr aus dem
Beisammensein der Teile etwas Eigenartiges hinzukommt. Das gilt ja bereits
schon für die chemischen Verbindungen, die gleichfalls in ihrem Merkmals-
bestand keine Addition ihrer konstifahrenden Stoffe darstellen. Jenes
Eigenartige, Neue, das im Verband der Elemente zu den Eigenschaften der
Konstituenten tritt, ist das strukturelle Moment. Wie ein Bau mehr als
bloßes Aggregat von Bausteinen ist, diese vielmehr, nach teleologischen
Prinzipien verwandt, sich der Idee der Architektur fügen, so hat neben die
Betrachtungsweise nach Art der Psychologie der Elemente eine besondere
Psychologie der Struktur zu treten. Die erstere kann, wie wir weiter
unten ausführen, infolge ihrer wissenschaftstheoretischen Einstellung diese
Strukturbetrachtung nicht leisten. Die Aufgabe fällt aus ihrem Rahmen als
heterogen heraus und muß einer besonderen Strukturpsychologie Vorbehalten
bleiben.
Uns erscheint sie nach zwei Richtungen möglich. Einmal in der Weise
des Ausgehens von der Gestaltsqualität und zum anderen als geisteswissen¬
schaftliche Psychologie. Das Verhältnis beider läßt sich so bestimmen, daß
jene das Strukturproblem in Anlehnung an die experimentellen Verfahrungs-
weisen, diese aber im Anschluß an die Methoden der Geisteswissenschaften
die psychologischen Probleme zu lösen versucht. Beide Richtungen sind
bereits in der Literatur vertreten. Für die erste wäre hinzuweisen auf die
Untersuchungen der Gestaltsqualitäten besonders auf dem Gebiete der Gesichts¬
und Gehörswahmehmungen (räumliche Gestalt, Bewegung und Rhythmus).
Für diese wäre aufmerksam zu machen auf die Darstellungen im Gebiete
der Charakterologie. Von den den Pädagogen besonders interessierenden
Werken nennen wir E. Sprangers 1 ) Lebensformen an erster Stelle. Die
wiederholten Auflagen, die das Buch in kurzer Zeit erfahren hat, lassen
seine Bedeutung ohne weiteres erkennen. Sprangers Lebensformen gehören
') E. Spranger, Lebensformen. Halle, 3. Aufl. 1922.
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zu dem Wertvollsten auf diesem Gebiete. Der Verfasser tritt stark für eine
besondere Strukturpsychologie ein und liefert in den Lebensformen einen
geistreichen Lösungsversuch des psychologischen Strukturproblems. Auch
Kerschensteiners 1 ) beide Versuche in den Schriften: „Grundaxiom des
Bildungsprozesses“ und die „Seele des Erziehers“ gehören hierher. In ersterem
stellt er in Anlehnung an zwei polare seelische Verhaltungsweisen, die kon¬
templative und die aktive, zwölf Strukturen auf und bringt sie in einen
theoretisch interessanten und praktisch wertvollen Zusammenhang mit der
Theorie des Bildungsprozesses. In der „Seele des Erziehers“ gibt er eine
Strukturanalyse der Lehrerpersönlichkeit Als wertvoll erscheinen mir ferner
die Ausführungen Grunewalds in seiner Pädagogischen Psychologie. End¬
lich möchte Schreiber dieser Zeilen auf einen eigenen Versuch auf wert¬
theoretischer Grundlage in seinem demnächst erscheinenden Werk: Kultur¬
pädagogische Wertlehre, Untersuchungen und Betrachtungen zur Theorie
pädagogischer Werte als Grundlage der Kulturpädagogik hinweisen. Ferner
sei hingewiesen auf W. Sterns Personalismus, der das Strukturproblem durch
seine philosophischen und psychologischen Arbeiten in fruchtbarer Weise
vertiefte. Der Personalismus verspricht gerade für die pädagogischen Konse¬
quenzen des Strukturproblems wertvoll zu werden. 2 )
Gerade für die pädagogische Psychologie gewinnt das Strukturproblem
hervorragende Bedeutung. Wir verweisen hier auf die wertvollen Aus¬
führungen Kerschensteiners in seiner Schrift „Grundaxiom der Bildung“. Wir
wenden uns nun der Frage nach ger Bedeutung der psychischen Strukturen
zu. Die Struktur wollen wir definieren als einen psychischen Funk¬
tionszusammenhang. Damit stellt sich die Strukturpsychologie ganz auf
seelische Leistungen ein. Nur aus diesen allein können wir bekanntlich auf
das geistige Innere einer Persönlichkeit Schlüsse ziehen. Es erscheint dann
das Seelische nicht aufgebaut aus isolierten Elementen, sondern eben jener
Zusammenhang von Funktionen, das Verschränktsein derLeistungs-
dispositionen ist das Wesentliche für die Betrachtung der Struk¬
turpsychologie. Dadurch erhalten wir auch den Grundcharakter alles
Geistigen als einer Aktivität, vollkommen frei von substanziellen Akziden-
tien. Das Seelische erscheint uns als reine Aktivität. In der Struktur der
einzelnen Seele liegt deren Architektur. Wir würden sogar diesen Begriff
als passender finden und deshalb von der Architektur der Seele reden,
wenn ihm nicht der Beigeschmack des Beharrenden, des Starren.anhaften würde.
Es ergibt sich nun die Frage, kann bei dieser Auffassung denn überhaupt
noch von einer bestimmt charakterisierten, vom Einzelgeschehen, das doch
sehr wechselnd ist, unabhängigen Eigenart der Einzelseele gesprochen werden,
da doch der Leistungszusammenhang ein stets anderer ist? Die Frage ist
berechtigt und veranlaßt uns zu weiteren Ausführungen. Es bedarf die
Definition der Struktur als Funktionszusammenhang einer näheren Bestimmung.
In den tausenden von seelischen Akten, die wir täglich vollziehen, treten
uns mannigfache Funktionszusammenhänge entgegen. Sinnliche Struktur-
x ) G. Kerschensteine r, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen
für die Schulorganisation. Berlin 1917. Derselbe, Die Seele des Erziehers und das Problem der
Lehrerbildung. Leipzig 1921.
2 ) In Sterns Personalismus erblicken wir einen wertvollen Versuch, die Zersplitterung der
pädagogischen Richtungen in einer Synthese zusammenzufassen.
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Das Problem der psychischen Strukturen
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gruppen mischen sich mit intellektuellen, emotionalen, volitionalen. Wenn
wir denken, fohlen und handeln, so denkt, fühlt und handelt unsere ganze
seelische Vergangenheit mit. Das psychische Erlebnis entsteht auf der Tota¬
lität des Seelischen; es iBt getragen vom Gesamtbewußtsein. Der einzelne
psychische Akt ist darum etwas Einzigartiges, etwas Einmaliges, der genau
in gleicher Weise nicht wiederholt werden kann. Das gilt besonders für
die höheren geistigen Akte. Wie weit wir bei der Wiederholung derselben
Akte unter den vereinfachten Bedingungen des psychologischen Experimentes
von einer Gleichartigkeit des Vollzugs der Akte reden können, steht hier
nicht zur Diskussion. Für die strukturelle Betrachtungsweise kommt die
isolierende Bedingung der gekünstelten Versuchssituation nicht in Frage, da
die Versuchsbedingung schon durch jene Isolierung wesentlicher Teile die
Struktur zerstört. Wie wollen wir nun aus der Einzigartigkeit der psychischen
Akte den durchgehend konstanten Grundcharakter der Einzelpsyche her¬
leiten? Denn wenn wir von seelischen Strukturen reden, denken wir nicht
nur an die Struktur des einzelnen Aktes, sondern vor allen Dingen auch an
die seelische Gesamtstruktur als charakteristische Wesensart des Menschen.
Das führt zunächst zur Unterscheidung von Elementarstrukturen und
Qesamtstrukturen niederer Ordnung. Jene umfassen das strukturelle
Moment des einzelnen Aktes, diese aber greifen über mehrere Elementar¬
strukturen hinüber. Bei aller Einzigartigkeit der Akte gehen Strukturelemente
eines Aktes in die anderer als Konstituenten über. Hierauf beruht das indi¬
viduelle Grundgepräge der Persönlichkeiten. Was in den verschiedenen
Temperamenten sich als relativ konstante Struktureigentümlichkeit der Einzel¬
wesen verrät, beruht auf der Wiederkehr gewisser Strukturelemente in den
mannigfachen Bewußtseinsvorgängen. So ist der Grad der Reagibilität, der
Impressionabilität, der-Spontaneität, der Passivität, der Objektivität oder Sub¬
jektivität u. dgl., den wir als charakteristisch für die Gesamtstruktur der
Einzelseele finden, aus der Wiederkehr gewisser Strukturelemente in der
Fülle der Einzelakte zurückzuführen. Das Problem der Charakterologie erfährt
durch die strukturelle Betrachtungsweise eine viel fruchtbarere Vertiefung,
al6 das nach elementarischer der Fall ist. Die Charakterisierung einer Person
nach ihren Struktureigentümlichkeiten trifft den Kern der Wesenheit tiefer
als die bloße Angabe von isolierten Elementen.
Wir unterschieden oben Elementar- und Gesamtstrukturen niederer Ordnung.
Unter Totalstruktur oder Gesamtstruktur höherer Ordnung wollen wir
die Gesamtheit aller Strukturen — der Elementar- und Gesamtstrukturen
niederer Ordnung — eines Individuums verstehen. Die Totalstruktur um¬
grenzt das Problem der Persönlichkeit Der Begriff der Elementar-
Btruktur deckt sich mit dem Begriff des psychologischen Typus der differen¬
tiellen Psychologie; Vorstellungs-, Gedächtnis-Willenstypen, Anschauungs-
Denktypen usw. gehören zu den Elementarstrukturen. In ihnen handelt es
sich um -relativ einfache Akte. Die Gesamtstrukturen niederer Ordnung
greifen weiter. Zu ihnen möchte ich die Temperamente rechnen. Was in
ihnen sich z. B. an Reagibilität verrät, vollzieht sich in verschiedenen psy¬
chischen Sphären gleichzeitig: Ablauf von Willenshandlungen, Impressiona-
hilität, Motivationskraft der Gefühle, Kontemplation u. dgl.
Hat die Gesamtstruktur, niederer Ordnung Beziehung zum Temperament,
so weist die Gesamtstruktur höherer Ordnung oder die Totalstruktur auf die
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Julius Wagner
Gesamtpersönlichkeit hin. An ihr hängt besonders das praktische Interesse
der Menschenbeurteilung und -behandlung. In dem Maße, wie das Hinein*
versetzen in eine Persönlichkeit gelingt, verschaffen wir uns Einblicke in
deren Totalstruktur. In seinen „Lebensformen“ sind von Spranger sechs solcher
Totalstrukturen entwickelt worden: der theoretische, der ökonomische, der
ästhetische, der soziale, der politische und der religiöse Mensch, ln
diesen Strukturen liegen durchweg Wertstrukturen vor. In jeder Lebensform
erhält die Lagerung der Anlagen ihren charakteristischen Akzent durch das
Prävalieren bestimmter Wertgebiete. Die Persönlichkeit läßt sich zwar gleich¬
zeitig von mehreren Werten beeinflussen, aber ein besonderer Spitzenwert
krönt die Architektur der psychischen Totalstruktur. Für den religiösen
Menschen ist das Heilige, für den theoretischen der logische Wahrheitswert,
für den Ästheten der Wert des Schönen usw. in erster Linie verpflichtend.
Die Zugrundelegung der Werte als Einteilungsprinzip der Strukturen gilt mir
als das wichtigste Klassifizierungsmerkmal der Strukturen. Man kann zwar
noch von anderen Gesichtspunkten aus — z. B. von psychologischen Begriffen
her — eine Einteilung und Beschreibung der Strukturen vornehmen. Wenn
uns die Welt der Werte aber als Ausgangspunkt für Einteilung und Be¬
schreibung wichtiger als die psychologischen Kategorien ist, liegt der Grund
im Folgenden. In der Stellung zu den verschiedenen Wertklassen
offenbart sich am tiefsten des Menschen Sein und Wesen. Die
Erkenntnis, welche Werte er anerkennt oder ablehnt, ist für die Charak¬
terisierung der Menschen viel wichtiger als Einblick in ihre Struktur, die
nach rein psychologischen Gesichtspunkten aufgezeigt und beschrieben ist
Werte sind die Motive des Handelns; handelnd aber hat sich das Individuum
mit den Forderungen der Natur und der Gesellschaft auseinander zu setzen.
Aus seinem Handeln — den Begriff hier im weitesten Sinne genommen —
kann ich am besten auf den strukturellen Gehalt seines Ichs schließen. Die
Handlung ist der tiefste Reflex der Seele; das Werk spricht am besten für
die Qualitäten seines Meisters.
Wegen der Bedeutung des Wertbegriffs für das Strukturproblem erscheint
es mir als wichtige Aufgabe der Strukturpsychologie, uns zunächst einmal
Einblick in die reinen Wertstrukturen zu verschaffen. Sprangers Lebens¬
formen mögen die tatsächlich im Lehen vorkommenden wichtigsten Struktur¬
möglichkeiten erschöpfen. Daß es zwischen jenen sechs Formen noch Über¬
gangsstufen als Mischformen gibt, wird ohne weiteres zugestanden. Welche
Klassifikation könnte überhaupt auf diesem Gebiete erschöpfend sein wollen!
Mischformen der verschiedenen Wertklassen bieten zudem auch Sprangers
Lebensformen. Es mag überhaupt keine psychische Struktur gefunden werden,
die nicht mehrere der geltenden Wertgebiete in sich vereint: Das Heilige,
Wahre, Gute, Schöne, Nützliche, Angenehme. Aus theoretischen Gründen
erscheint es mir darum zweckmäßig, einmal solche reine Werttypen als
Strukturen darzustellen. Es kämen da alle sechs Wertklassen ajs Grund¬
motive für die Strukturen in Frage. - Wir hätten dann folgende reine Wert¬
strukturen zu analysieren: den religiösen, den ethischen, den logischen,
den ästhetischen, den praktischen und den sinnlichen Menschen. Eine
Aufgabe, die an dieser Stelle im Rahmen des Aufsatzes nicht gelöst werden
kann und einer späteren Veröffentlichung Vorbehalten bleibt. Den Vorzug
dieser reinen Werttypen jenen Sprangerschen sechs Formen gegenüber
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Das Problem der psychischen Strukturen
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erblicke ich in dem reinen Einteilungsprinzip nach Wertgesichtspunkten der
einzelnen Wertklassen. Solange wir auf dem Gebiete der Strukturpsychologie
im Anfang stehen, dürfte sich schon aus methodischen Gründen das Zurück*
greifen auf jede, einzeln^ Wertklasse als Strukturprinzip empfehlen. Es wird
auch eine wichtige Aufgabe 0er pädagogischen Psychologie sein, an diesem
Ausbau mitzuhelfen. Die Pädagogik wird den größten Nutzen davon haben.
Neben den reinen Wertstrukturen unterscheiden wir nach psychologischen
Prinzipien aufgebaute Strukturen. Solche Versuche liegen in der weiten
Literatur überdieTemperamente vor. K a n t in seiner Anthropologie, H e r b a r t
in dem Briefe über die Anwendung' der Psychologie auf die Pädagogik,
Bahnsen in den Beiträgen zur Charakterologie (1867), Meumann in In¬
telligenz und Wille, ferner Lipmann, Wundt, Ebbinghaus, Elsenhans
u. a. haben Beiträge geliefert. Zu den Strukturversuchen gehören weiter die
Darstellungen der Charakterologie und des Individualitätsproblems
überhaupt. Eine große Anzahl Schriften liegt vor. Die meisten kranken
leider an dem Fehler, daß der Autor automatisch das Individuum aus Elementen
aufzubauen versucht. Es sind dann keine eigentlichen strukturellen, sondern
elementarische Analysen. Für den interessierten Leser seien unten weitere
Werke, die unser Problem berühren, angegeben. Ihr Wert ist recht ver¬
schieden i).
Die charakterologischen Untersuchungen sind indessen meist keine reinen
psychologischen Darstellungen der Strukturen. In die psychologische Be¬
trachtung mischt sich ein ethisches Moment. So entsteht neben den reinen
Strukturen auf der Grundlage der Werte oder der Psychologie eine dritte
Form, die es mit einer Mischung der Strukturprinzipien zu tun hat. Als
Beispiel greife ich Kerschensteiners Versuch 2 ) heraus. Er unterscheidet
auf Grund psychologischer Begriffe einen kontemplativen und einen
aktiven Typus, mischt aber weiter diese beiden Richtungen mit Wertgesichts¬
punkten, indem er den kontemplativen, theoretischen, ästhetischen und
religiösen Menschen unterscheidet und unter den aktiven, neben den erwähnten
Richtungen der vorigen Grundtypen, noch folgende Unterteilung vomimmt:
egozentrisch, sozial und sachlich.
m.
Wir treten nun in einen Vergleich der atomisierenden und strukturellen
Psychologie ein, suchen ihre Unterschiede und ihr beiderseitiges Verhältnis
darzustellen. Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie sucht
das Seelenleben aus Elementen aufzubauen. Sie geht zwar aus vom
Erlebnisganzen, aber dieses verliert in dem Maße das Interesse, je weiter die
! ) Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität. Berichte d. Akad. d. Wissen sch. Berlin.
1896. — Bahnsen, Beiträge zum Studium der Charakterologie. Leipzig 1867. — Ostwald,
Große Männer. Leipzig 1909. — Lucke, Das Problem der Charakterologie, Archiv !. d. ges.
Psychol. 1908. — Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Leipzig 1910. — Hey-
roann. Ober einige psychol. Korrelationen. Zeitschr. !. angew. PsychoL 1908. — Klages, Prin¬
zipien der Charakterologie. Leipzig 1911. — Huther, Grundztige der allgem. Charakterologie.
Leipzig 1910. — Sigwart, Die Unterschiede der Individualitäten. Tübingen 1881. — Foulläe,
Sur les diverses formes du caract&re, Rev. phil., Bd. 34. — Elsenhans, Charakterbildung.
Leipzig 1894. — Kerschensteiner, Charakterbegriff und Charakterbildung. Leipzig 1912.
*) Kerschensteiner, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen für
die Schulorganisation. Berlin 1917.
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Julius Wagner
Analyse vordringt. Wie der Spürsinn des analytischen Chemikers sich au!
Auffindung der chemischen Elemente der zusammengesetzten Verbindung
richtet, so stellt sich diese psychologische Forschung auf das Aufsuchen der
letzten seelischen Elemente ein. So ergibt die »Analyse einer Gesichts-
Wahrnehmung eine Summe von Teilinhalten: räumliche und zeitliche Grund¬
formen und Beziehungen, die Mannigfaltigkeit der Farben nach Ton, Sättigung
und Helligkeit, die an all diesen Elementen haftenden elementaren Gefühle.
Dabei versucht die Forschung, die Analyse immer weiter zu treiben. Was
heute noch als Element gilt, wird durch den Fortgang der Untersuchung als
etwas Zusammengesetztes in neue, kleinere, elementare Bestandteile zerlegt,
genau wie unsere naturwissenschaftliche Forschung über das Atom zum Ion
und Elektron vordrang, frühere „Elemente“ durch die radioaktive Forschung
weiter zerlegte. Die Zahl jener letzten seelischen Elemente ist in den einzelnen
Systemen der Psychologie verschieden; die pluralistischen meist mit der Drei¬
zahl entsprechend den drei Grundrichtungen des Seelischen — Denken, Fühlen
und Begehren — herrschen vor. Ist so das Element gefunden, so blickt der
Psychologe gleichsam von unten in den seelischen Prozeß hinein und baut
aus den Elementen die Verbindungen, den Prozeß auf. Das Auge
ist den Dingen nahe, sieht sie in ihrer vermeintlichen Klarheit. Ganz anders
verfährt die Strukturpsychologie. Blickte die atomisierende von unten auf
den Strom des dahinfließenden geistigen Leben, so sie von oben herab,
gleichsam auf höherem Posten stehend. Den Nachteil der Ferne dem Ein¬
zelnen gegenüber nimmt sie gerne in Kauf, da er ausgeglichen erscheint
durch den Vorteil, von oben das Gesamterlebnis, die Totalität der
Seele, zu überschauen. Ein Vergleich sei gestattet. Der Beschauer eines
gotischen Domes, dicht am Bauwerk stehend, erfreut sich an der minutiösen
Ausbildung der Kleinformen, genießt das Kleinrelief des Bauwerkes. Der
erhabene Gesamteindruck geht ihm verloren. Er erschließt sich nur dem, der
die nötige Distanz der Beobachtung wahrt, indem er bewußt den Blick aufs
Ganze richtet. Mag manche Einzelheit in der Fülle des Erschauten zurück¬
treten, das Ganze, die Gesamtstruktur, interessieren und lohnen seine Be¬
trachtung. Beobachtungspunkt und Einstellung sind verschieden. So unter¬
schiedlich letztere ist — dort Blick auf die Teile, hier auf das Ganze —, so
sehr müssen auch die Ergebnisse und Wirkungen in dem Maße ausein¬
andergehen, wie Teil und Gesamtheit, Element und Struktur verschieden sind.
Die naturwissenschaftliche Psychologie denkt und arbeitet ele¬
mentarisch, die Strukturpsychologie strukturell. In jener herrscht
das Prinzip der Additionen, in dieser das der Synthese, der aufbauenden
schöpferischen Gestaltung vor. Nun hat zwar z. B. Wundt auch für die
experimentelle Psychologie ein Prinzip der schöpferischen Synthese aufgestellt,
nach der wir das seelische Gebilde nicht restlos als die Summe seiner Teile
auffassen und erklären können. Kann aber in einem solchen Zusammenhang
von diesem Prinzip als von einem psychischen Gesetz geredet werden? Mit
dem Gesetz verbinden wir die Vorstellung des kurzen prägnanten Ausdrucks
der rationalen Erfassung von Gegebenheiten. Nun liegt aber in jenem
Schöpferischen ein Moment, das sich der Rationalisierung entzieht, das
Schöpferische ist stets Irrationalität, und das Gesetz der schöpferischen Synthese
muß einen Widerspruch in sich schließen. Über Irrationales kann es nie ein
„Gesetz“ im Sinne einer gesetzmäßigen Erklärung geben. Es läßt sich eine
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Das Problem der psychischen Strukturen
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geistige Welt nicht aus Elementen auf bauen, viel weniger erklären. Das
Prinzip der Addition gilt überhaupt nur für den starren Mechanismus,
nicht für den lebenden Organismus, ein Organismus aber ist die schaffende
Einzelpsyche; organische Gestaltung ist auch die gesamte Welt des Geistes.
Sehr treffend hat E. Spranger 1 ) die Verhältnisse bezeichnet, indem er den
Gesichtspunkt umkehrt „und das Prinzip der schöpferischen Synthese durch
ein Prinzip der zerstörenden Analyse“ ersetzt. Es erhebt sich nämlich die
Frage nach der Berechtigung einer elementarisierenden und strukturellen
Betrachtungsweise des Psychischen. Deuten wir den Strom des geistigen
Erlebens als einen Mechanismus, dann ist eine elementarisierende Be¬
trachtungsweise wohl am Platze; denn der Mechanismus ist dadurch charak¬
terisiert, daß jeder seiner Teile eindeutig durch die Elemente bestimmt ist.
Der Mechanismus einer Maschine läuft zwangsläufig nach bestimmten Ge¬
setzen. Der Mechanismus ist durch und durch ein rationales Phänomen. Ich
vermag die einzelnen Komponenten zu ändern und damit die Reihe der Be¬
wegungsabfolgen qualitativ und quantitativ zu beeinflussen; aus dem Bereich
eindeutiger Bestimmtheit und Bestimmbarkeit tritt das mechanische Geschehen
jedoch nie heraus. Handelt es sich nun beim Geistigen um eine solche
rationale Determiniertheit? Die für uns zweifelsfreie Tatsache psychischer
Kausalität ist kein Beweis für den mechanistischen Charakter des Psychischen.
Wir sind geneigt, dem Begriff der Kausalität im Bereich des Physischen und
Psychischen verschiedenen Inhalt zu geben. Diesem Satze soll durchaus
nicht die Verflüchtigung des Seelischen ins Metaphysische folgen. Aber was
bestimmt statuiert werden soll, ist die Forderung der seelischen Eigengesetz¬
lichkeit dem physischen, genauer gesagt, dem physikalischen Geschehen gegen¬
über. Wir stellen die physische Kausalität aus der physikalischen heraus
und fassen damit das Phänomen des Bewußtseins nicht als Mechanismus,
sondern als Organismus. War jener definierbar als rationale, erfaßbare Be¬
stimmtheit — die Tatsache, daß auch im Mechanismus unserer unvollkommenen
Einsicht manches realiter als nicht bestimmt erscheinen kann, verstößt nicht
hiergegen, da jedes X im Mechanismus eruiert werden kann —, so ist der
Organismus mit einem starken Einschlag des Irrationalen bedacht. Vor allem
ist es der sinnvolle Zusammenhang, der uns verbietet, den geistigen
Prozeß als Mechanismus aufzufassen. Treten wir an die Zer¬
gliederung heran, so zerstören wir diesen Sinn. Schon für die Unter¬
suchung des physiologischen Organismus gilt, daß das Leben entflieht, sobald
wir den Organismus zerlegen. Die Isolierung der Teile etwa eines Tieres bringt
die Lebensfunktion zum Stillstand. Wieviel mehr muß für den psychischen
Prozeß gelten, daß eine zergliedernde Betrachtung sein Leben tötet, d. h. aber
hier, den Sinn zerstört. Was für den physiologischen Körper das Leben, das
alle Teile durchströmende und zu zielstrebigem Zweckverband einende Lebens¬
prinzip ist, das ist für das geistige Gebilde der Sinn, d. h. der teleologische
Zusammenhang des Ganzen. Im sinnvollen Zusammenhang besteht
die Immanenz des geistigen Lebens. Sobald die psychologische Zer¬
gliederung in der Weise einer atomisierenden Seelenforschung sich ans Werk
macht, verschwindet dieser sinnvolle Zusammenhang. Es ist das Wesentliche
einer Struktur, daß ich keinen Teil isolieren kann, ohne die gesamte Struktur
') E. Spranger, Lebensformen. 3. Aufl. 1922. S. 13.
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Julius Wagner
in ihrenr inneren Wesen zu ändern, das aber heißt für eine Struktur, sie
zerstören. Die Struktur ist durchaus etwas Individuelles, etwas Einmaliges.
Greifen wir wieder das Beispiel einer Gesichtswahmehmung heraus und isolieren
wir aus dem Komplex etwa nur das Erlebnis des Farbigen und in ihm etwa
den Farbton, muß damit nicht das Erlebnis als Ganzes seinen Sinn, in diesem
Falle die normgemäße Beziehung auf das Ding außer mir verlieren? Wieviel
mehr muß die analysierende und isolierende Betrachtungsweise den Sinn zer¬
stören, wenn es sich um höhere komplizierte Erlebnisse handelt? Wie will
man z. B. Teils Psyche in der Apfelschußszene durch analysierende und
atomisierende Zerpflückung seiner gewaltigen Erregungen gerecht werden
und sein Handeln aus einzelnen Elementen ableiten? Das Schaffen des
Dichters, des Künstlers verläuft nicht in diesem Bauen von unten auf. Der
Wurf ist etwas Ganzes, die Konzeption des Kunstwerkes ist strukturell und
darum sinnvoll von Anbeginn. Daran ändert nichts die Tatsache, daß das
Kunstwerk im Laufe seiner Entwicklung sich ändern kann, aber jede Phase
ist Einheit, ist Geschlossenheit, ist Totalität.
Nun finden wir in der Psychologie tatsächlich beide Forschungsrichtungen,
die atomisierende und die strukturelle vor. Wo liegt die Grenze der Be¬
rechtigung ihrer Anwendung im einzelnen Falle? Da, wo ich das Psychische
betrachte, in seiner Gebundenheit an äußere Reize, wie es die Psychophysik
tut, oder in seiner Wechselwirkung mit dem körperlichen Substrat wie in
der physiologischen Psychologie oder endlich unter der besonderen wissen¬
schaftstheoretisch zulässigen bewußten Einstellung, einen Bewußtseinsverlauf
unter isolierenden Bedingungen zu verfolgen, bei der jene künstlichen Iso¬
lationen und deren Einfluß auf den Verlauf den Kern des Problems bilden,
da ist jene Richtung der Forschung auf Elemente zulässig, ja notwendig.
Diese drei Situationen liegen der experimentellen Seelenforschung zugrunde.
Wenn ich z. B. den Einfluß der Wiederholung auf die Zahl der behaltenen
Glieder im Memorierversuch feststelle, so folgt die Einstellung auf den Be¬
griff des seelischen Elementes aus der Problemlage von selbst. Man kann
darum auch mit Recht Ebbinghaus’ klassische Untersuchungen über das
Gedächtnis zum Wertvollsten zählen, was die psychologische Literatur auf¬
weist. Aber wir kommen gerade bei diesem Beispiel sofort an die Grenze
der Berechtigung einer Psychologie der Elemente, wenn wir vor die Aufgabe
gestellt werden, aus jenen klassischen Untersuchungen Regeln für unsere
Gedächtnisarbeit im gewöhnlichen Leben abzuleiten. Warum stimmen dann
jene Ergebnisse der Gedächtnispsychologie nicht mehr? Sie sind gewonnen
unter künstlichen Bedingungen, unter möglichst weitgehendem Ausschluß der
Wirkung der seelischen Totalität. Die Totalität der Seele aber stellt sich stets
dar als etwas Strukturelles. Bei allen Fragen über ein Gesamtverhalten
der Seele muß die atomisierende Betrachtungihre Grenze erblicken,
eben weil die Psyche als Totalität in dem Gesamtverlauf immanent
ist. Hierzu gehören alle Probleme des höheren geistigen Lebens: Die Prozesse
der Sprachschöpfung, des religiösen, künstlerischen Erlebens, das Denken im
eigentlichen Sinne jenseits der elementaren, mechanistisch-assoziativen Prozesse,
unsere Einfügung in das geschichtliche Leben, den gesellschaftlichen Verband
usw. Diesen Problemen wird nur eine Psychologie der Struktur, die vom
Ganzen ausgehend, keinen Sinn für die isolierten Elemente haben kann,
gerecht, eben weil das Ganze nicht aus isolierten Elementen aufgebaut ist,
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Das Problem der psychischen Strukturen
203
weil im Ganzen sich ein Sinn, ein Wesenszusammenhang manifestiert. Es
sind darum die Probleme, in denen das Ich in einer geistesgeschichtlichen
Bindung lebt, niemals vor das Forum der Psychologie der Elemente, sondern
vor das der Strukturpsychologie zu stellen. Mit Recht bezeichnen wir darum
diese als geisteswissenschaftliche Seelenforschung im Gegensatz zur
naturwissenschaftlichen. Somit beschränken wir beide auf ganz
bestimmte Problemkreise.
Aus diesen inneren Wesensverschiedenheiten folgen weitere Unterschiede.
Aus dem oben ausgeführten ergibt sich zunächst ein verschiedener Um¬
fang beider Richtungen. Es leuchtet die Enge des Forschungsfeldes
der Psychologie der Elemente gegenüber der Strukturpsychologie sofort ein.
Bei aller Achtung vor den Leistungen der ersteren sind es doch nur relativ
kleine Ausschnitte des Seelischen, die von ihr bearbeitet werden können. Es
sind mehr periphere Gebiete Gegenstand ihrer Forschung. In der Tat ent¬
wickelte sich diese Richtung, von den Problemen der Psychophysik aus¬
gehend, zur physiologischen Psychologie und nahm zunächst die sinnes¬
psychologische Forschung in Angriff. Im Laufe der Entwicklung hat sie
weiter nach innen vorgetastet, die Psychologie des Gedächtnisses, der elemen¬
taren Gefühls- und Willensabläufe und der einfachen Schlußprozesse in An¬
griff genommen. Sie hat sich damit an schon recht komplexe Funktionen
gewagt und eine Reihe fruchtbarer Ergebnisse gewonnen, doch was will,
wenn wir einmal rein bildlich-räumlich ihr Feld überschauen, das besagen
gegen das weite Gebiet, das Gegenstand der Strukturpsychologie ist: das
Geistesleben der Kunst, der Religion, der Sprache, der Sitte, der Rechtsnormen,
der Gesellschaft in allen kulturellen Verschränkungen, das Problem der Indi¬
vidualität und der Soziabilität! Es liegt der Einwand nahe, daß sich die
Grenzen bei weiter fortschreitender Entwicklung nach innen verschieben mögen.
Es ist zweifellos, daß es der Psychologie der Elemente gelingen wird, auf
jenen aufgezählten Gebieten Teilforschung zu treiben, diese aber werden nur
möglich sein bei sinnzerstörender, den Wesenszusammenhang aufhebender
Abstraktion: Isolierung von Einzelfunktionen aus der seelischen Totalität.
Damit bestimmt sich dann auch der Gültigkeitsbereich ihrer Ergebnisse,
der sich auf die vereinfachten Bedingungen jener abstraktiven Isolierung be¬
schränkt. Jene geistesgeschichtlichen psychologischen Probleme sind mit
dem Begriff der Struktur, nicht mit dem des Aufbaues aus Elementen ver¬
bunden; ihnen kann darum auch nur eine Strukturpsychologie gerecht werden.
So umspannt diese ein weit größeres Forschungsgebiet In ihr erscheint die
Psychologie tatsächlich als Grundlage aller Geisteswissenschaften. Alles, was
uns z. B. im Problem des historischen Verstehens in den Geschichtswissen¬
schaften interessiert, wird das Rüstzeug der Strukturpsychologie entlehnen
müssen. Weiter die Fragen der Ethik, der Religion und Kunst sind in ihren
Lösungsversuchen auf sie angewiesen. In der Strukturpsychologie liegt über¬
haupt das Kernproblem aller Philosophie über Mensch und Menschheit im
zeitlichen und überzeitlichen Sinne eingeschlossen. Sie wird gar nicht bis
zu den Elementen Vordringen wollen, nein, nicht Vordringen können. Sie
bleibt auf einem viel höher gelegenen Querschnitte stehen und sucht
nur Orientierung in Zusammenhängen und nicht in Elementen.
Aus dem so verschiedenartigen Wesen der beiden Richtungen ergeben sich
weiter eine Anzahl differenter formaler Unterschiede, teils methodischer,
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204
Julius Wagner
teils prinzipieller Natur. Was die Methode anbelangt, ist die Psychologie
der Elemente in enger Anlehnung an die naturwissenschaftliche Forschung
groß geworden. 'Ihre methodologischen Prinzipien sind der Natur¬
wissenschaft entlehnt. Sie macht Gebrauch vom experimentellen Ver-
fahren in den mannigfachen Ausbildungen. Auch Zahl und Maß als rationale
Ausdrücke des Quantifizierbaren sind in Anwendung gebracht Man erinnere
sich der Formeln der Psychophysik, der Maßzahlen der Korrelationsforschung,
der mathematischen Formulierungen der Vorstellungsmechanik auch über die
mechanistische Auffassung Herbarts hinaus. Wenn auch die Möglichkeit
einer quantifizierbaren Feststellung nicht zum notwendigen Kriterium der
naturwissenschaftlichen Exaktheit wird — denn auch in den Naturwissen¬
schaften begnügen wir uns sehr oft mit einer Untersuchung ohne mathema¬
tische Fixierung, z. B. in der Biologie —, so ist doch ein Zug zur Quanti¬
fizierung in numerischen Werten auch in der Psychologie der Elemente un¬
verkennbar. Den besten Beleg bildet die Korrelationsforschung der diffe¬
rentiellen Psychologie. Mit Maß und Zahl verbindet sich, wie schon oben aus¬
geführt, ein Streben nach genereller Gültigkeit. Es ist im Wesen der
mathematischen Behandlung begründet, daß sie unserer Forschung in hohem
Grade ein Gefühl der Sicherheit verleiht. Was ich in exakter Formel nieder¬
legen kann, ist mit starkem Akzent der Gültigkeit behaftet. Das Vertrauen
in diese Gültigkeit wird noch gesteigert durch das Streben nach allgemein
gültigen Ergebnissen der generellen Psychologie, die auf Grund eines großen
Versuchsmaterials die individuellen Momente nach induktiven Methoden
zurücktreten läßt und das Allgemeine in den Vordergrund rücken kann. So
gewinnt in der Psychologie der Elemente das Generelle eine besondere Be¬
deutung. Was von der Psychophysik und Sinnespsychologie z. B. zusammen
getragen ist, erhebt Anspruch auf einen weiten Gültigkeitsbereich. Erst ver¬
hältnismäßig spät gewann das Individuelle in der differentiellen Psychologie
Interesse, in der das Einmalige, das Besondere Gegenstand der Forschung
geworden ist. In der experimentellen Methode, in der Anwendung von Maß
und Zahl, im gesamten Rüstzeug naturwissenschaftlicher Begriffsbildung, in
der isolierenden Vereinfachung und dem Aufbau aus Elementen verrät sich
eine starke Tendenz der Rationalisierung.
Ganz im Gegensatz hierzu steht methodisch und auch prinzipiell die Struktur¬
psychologie. Nehmen wir den hier nicht zu diskutierenden Gegensatz zwischen
Natur- und Geisteswissenschaft als Einteilungsprinzip, so müssen wir die
Strukturpsychologie in viel tieferem Sinne zu den Geisteswissenschaften
rechnen, als das bei der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie der
Elemente der Fall ist. Wir bezeichneten darum oben jene auch als geistes¬
wissenschaftliche Psychologie. Hiermit hängt die Besonderheit ihrer Methoden
zusammen. Für sie kommt nicht das Experiment in Frage. Das ver¬
bietet einmal die Höhenlage der Probleme, die einer rein rationalen Lösung
nach naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden nicht zugänglich sind, und
zum anderen die prinzipielle Richtung des Blickes auf das Ganze, eben auf
die Struktur. Diese aber verbietet ein Herauslösen einzelner Elemente. Nicht
nur die Unzulässigkeit der Isolierung und der Auflösung, sondern auch sämt¬
liche übrigen, logischen, methodologischen Voraussetzungen zur Anwendung
des Experimentes verbieten sich für die Strukturpsychologie. In ihr gibt es
z. B. keine Variation der Bedingungen. Die Gesamtstruktur und die
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Das Problem der psychischen Strukturen
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etwa in ihr unterscheidbaren Teilstrukturen besitzen ihre Architektur, ihr
inneres Gefüge auf Grund ganz bestimmter Bedingungen, die nicht beliebig
variierbar sind, ohne die Strukturen von Grund aus zu ändern. Sodann
rechnen wir in dem wiederholbaren Ablauf des Prozesses bei experimenteller
Forschung mit dessen Konstanz. Für die Probleme der Strukturpsychologie
ist das psychische Geschehen in viel tieferem Sinne mit dem Charakter
des Einmaligen, nur So- und nicht Anderssein behaftet. Das Erlebnis beim
Genuß eines Kunstwerkes ist ein anderes jetzt als nachher, die Beurteilung
und Stellungnahme zu Fragen des öffentlichen Lebens heute anders als morgen.
Der stete Fluß des Bewußtseins schafft besonders für die höheren geistigen
Leistungen immer neue Strukturen. Es besagt diese Festsetzung nichts gegen
die Tatsache, daß bei allem Wechsel des Geschehens in der ausgereiften
Persönlichkeit ein gewisses Grundgepräge konstant bleibt, gleichsam
eine fixierte Struktur jeder Mensch in sich trägt. Die Tatsache, die wir eben
berührten, bezieht sich nicht auf den Begriff einer fixierten Struktur als
Charaktertypus des Menschen, sondern richtet sich nur auf die Struktur eines
Einzelerlebnisses. Solche Erlebnisstrukturen aber wechseln fortgesetzt, sind
also nicht wiederholbar. Für die geistesgeschichtliche Psychologie trägt das
Erleben viel mehr aktuellen denn substantiellen Charakter. Die
Psychologie der Elemente geht zwar auch bei fast allen modernen Systemen
vom aktuellen Seelenbegriff aus, indem ihr das Seelische als Verlauf, als
Funktion erscheint, und doch verführt die öftere Wiederholung desselben
Versuches leicht zur Verquickung der Aktualität mit substantiellen psychischen
Akzidenzien. Was oft wiederholbar ist, wird «leicht als fixierte Substanzialität
vorgestellt. So wird dann auch leicht der funktionale Gehalt einer psychi¬
schen Disposition zu etwas Starrem und mehr zu einer substanziellen denn
funktionellen Spur des Psychischen. Wenn wir ferner oben die naturwissen¬
schaftliche Psychologie als stark rational gerichtet bezeichneten, so gilt für
die Strukturpsychologie ein wesentlicher irrationaler Zug als notwendig
zur Charakterisierung. Die Kompliziertheit der Struktur löst sich nicht
restlos auf wie die Elementenfolge eines bloßen Mechanismus; stets bleibt
ein irrationaler Rest. Dieser besteht schon für die einzelnen speziellen Geistes¬
wissenschaften und in viel größerem Maße für die geistesgeschichtliche
Psychologie. Es sind besonders die geistesgeschichtlichen Bindungen, die
zwischen den Individuen bestehen, die soziale „Verschränkung“, um uns eines
Ausdruckes von Th. Litt 1 ) zu bedienen, welche für die strukturelle Betrach¬
tung einen starken irrationalen Rest .in der Lösung des Problems des Ver¬
stehens ausmachte. Zum Irrationalen drängt auch die ganze Auffassung des
Geistigen. Dem naturwissenschaftlichen Denken drängt sich leicht eine natu-'
ralistische Betrachtungsweise des Seelischen auf. Sie braucht nicht zum
Materialismus zu führen, aber schon die in der Wissenschaft der Natur üblichen
Kategorien der Substanz, der Kausalität, der Konstanz u. dgl. legen das
Rationale besonders nahe Tmd lassen das Irrationale leicht zurücktreten.
Dem Irrationalen kann aber nur die Intuition nahe kommen. So ist
dann auch für die Strukturpsychologie die Intuition, die künstlerische Schau,
neben der logischen Methode berechtigt. Das tiefe Erfassen eines Kunst¬
werkes, das Ergriffensein von großen Ideen ist in erster Linie Sache der
') Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft. Leipzig 1919.
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206
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Intuition. Und beruht nicht auch die praktische Meisterung des Individualitäts¬
problems im Verkehr von Mensch zu Mensch auf ihr? Sind nicht Mitleid,
Mitfreude, der zündende Geistesfunke, der in das Herz der Massen fällt und
sie begeistert, die großen Erschütterungen, die seelisch der Einzelne und die
Gesellschaft durchmachen, Wirkungen in erster Linie einer gefühlsmäßig
intuitiven Assimilation? Der „wissenschaftliche“ Mensch wird geneigt sein,
hierin einen Abweg von der Wahrheit zu erblicken. Dem ist indes entgegen¬
zuhalten, daß das emotionale Denken, der tiefere Sinn des „Verstehens“, um
den es sich bei jenen Wechselwirkungen zwischen Einzelwesen und Gemein¬
schaft handelt, über den Weg der Intuition geht. Das erklärt die irrationalen
Reste der strukturellen Betrachtung. Die irrationalen Momente verbieten in
ihr nicht nur die experimentelle Methode, sondern auch die Quantifizierung
nach Maß und Zahl. Die Verhältnisse liegen sehr viel komplizierter, als daß
das exakteste der Darstellungsmittel, die mathematische Formel, eine sinn¬
gemäße Anwendung finden könnte.
Von wesentlicher Bedeutung für das Verhältnis der beiden Richtungen ist
weiter die Beziehung zum Kollektiven. Für die experimentelle Psychologie
ist die Seele stets Einzelseele. Nur an sie kann die naturwissenschaftliche
Forschung heran. Das kollektive Denken, das Fühlen und Wollen der Massen
bleibt ihr verschlossen. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich das Gebiet der
Strukturpsychologie umfangreicher als das der experimentellen. Dieser
repräsentiert sich das Kollektive überhaupt nur über den Weg des
Einzelnen, des Individuellen, Für sie besitzt das Kollektive keine un¬
mittelbare Realität. Wenn Massen begeistert sind, dann ist es immer der
Einzelmensch, welcher Emotionen erlebt Im Gegensatz hierzu ist der geistes¬
wissenschaftlichen Psychologie die Gesamtseele unmittelbar real.
Neben dem individuellen Geistesleben besteht e in überindividuelles
als etwas Objektives. Die Gedanken, die als treibende Ideen eine Epoche
bewegen, sind etwas Objektives für die Geisteswissenschaften. Wir sind um¬
geben von zahlreichen Objektivationen dieser überindividuellen, geistigen
Sphäre. Alle diese Objektivationen der einzelnen Kulturgebiete bleiben der
naturwissenschaftlichen Psychologie ein Buch mit sieben Siegeln. Was soll
sie mit ihren begrifflichen Kategorien, mit ihren Methoden den folgenden
Objektivationen gegenüber beginnen: Institutionen des Rechts, der Wirtschaft,
der politischen Organisationen, der Organisation des Erziehungswesens? Wie
soll sie die Hebel ansetzen, um dem Gesamtgeist einer Kulturepoche etwas
an psychologischer Einsicht abzugewinnen? Alles Transsubjektive scheidet
für sie vollkommen aus. Ganz anders für die geisteswissenschaftliche Psycho¬
logie, die ein hervorragendes Interesse für das Transsubjektive hat und diesen
Problemen auch näher zu treten vermag. Das objektive Reich des Geistes
jenseits eines zufälligen IchsbesitztRealitätin den Objektivationen
jenes Geistes. Auch in ihnen erkennen wir eine sinnvolle Struktur. Wir
besitzen von den verschiedensten Epochen Strußuranalysen ihres Geistes, in
denen das Kulturwerk der einzelnen Gebiete wieder mit Geist beseelt sich
uns darstellt.
Durch diese Strukturanalyse finden wir auch den Anschluß an das Reich
des Normgemäßen. Alles, was im kollektiven Geist gesetzlich ver¬
läuft, steht jenseits der bloßen individuellen Willkür und wird für
uns zur Norm. Die naturwissenschaftliche Psychologie ist normfrei und
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Das Problem der psychischen Strukturen
207
wertfrei. Nur der Ablauf der Funktion an sich ist Gegenstand der Forschung.
Sie verfolgt nur den theoretischen Zweck der wertfreien Naturwissenschaft.
Ob eine psychische Produktion wahr oder falsch, eine Handlung gut oder
böse, eine Situation schön oder häßlich ist, das sind Unterscheidungsmöglich¬
keiten, für die sie nicht zuständig ist. Sie interessiert der Bewußtseins¬
vorgang als solcher ohne Rücksicht auf die Normwissenschaften, für die nur
die Strukturpsychölogie ein starkes Interesse hat. Das Normgemäße der ein¬
zelnen Werte ist, wie wir'oben ausführten, ein wichtiges Strukturelement.
Wenn wir geisteswissenschaftlich etwa die Aufklärungsperiode analysieren,
bat das Herausschälen gerade der Normen der einzelnen Wertgebiete für die
Untersuchung eine besondere Bedeutung. Dabei stellen wir diese nicht nur
objektiv im Gesamtbild fest, sondern nehmen zugleich irgendwie innerlich
Stellung zu ihnen. Auch hierin ist ein wesentlicher Unterschied der beiden
Richtungen begründet Nach Rickert und Windelband liegt gerade in der
wertfällenden Stellungnahme das Unterscheidungsmerkmal zwischen wertfreier
Natur- und wertfällender Kulturwissenschaft. Diese wertende Stellungnahme
ist überaus wichtig, wenn wir aus den psychologischen Erkenntnissen An¬
wendungen für die Praxis zu ziehen gedenken. Was uns an einer Erkenntnis
wertvoll oder wertlos erscheint, ist implizite von uns während des Weges zur
Eikenntnis hineingelegt worden. Die Frage des objektiven Wertes bleibt hier
unerörtert.
Aber noch in einem anderen Sinne ist die geisteswissenschaftliche Psycho¬
logie der Richtung auf transsubjektive Forschung fähig. Der naturwisserl-
schaftlichen Seelenwissenschaft erscheint das Psychische nicht nur in indi¬
vidueller, sondern auch in zeitlicher Beschränkung. Die Bewußtseins-
tatsacbe ist zeitlich an ein bestimmtes Individuum gebunden, das zudem dem
Untersuchenden leiblich gegenwärtig sein muß. Die geisteswissenschaftliche
Analyse überspannt auch zeitlich 'ferne Perioden. Der Einwand, daß in der
Psychographie längst Verstorbener auch der Psychologie der Elemente eine
zeitliche Zusammenschau oder gar eine Souveränität über die Zeit zum Aus¬
druck komme, ist nicht berechtigt, und keine Entkräftigung des oben statuierten
-Unterschiedes; denn solche Psychographien sind nur der Methode nach natur¬
wissenschaftlich. Der Problemanlage nach gehören sie zur Strukturpsychologie.
Die Beschränkung der Psychologie der Elemente auf das individuelle Ich
eigibt sich ferner aus folgender Überlegung. Die Struktur wird beherrscht
von den Gesetzen der Struktur, die ihr die Architektur vorschreibt. Das
Gesetz der Struktur ist Träger des Sinnes. Nim kann die individuelle
Struktur eingehen als Teil einer kollektiven, doch wohlgemerkt nicht im
Sinne eines bloßen additiven Elements, während das Element eines Einzel-
ichs an dieses gebunden bleibt und nicht in den Zusammenhang einer Element¬
verbindung eines anderen Ichs treten kann. Elemente sind stets etwas Un¬
selbständiges; sie sind auf das Subjektive beschränkt. Zum Aufbau einer
objektiven geistigen Welt fehlt ihnen alle Voraussetzung dazu, außerhalb
eines Ichzustandes als real existierend zu gelten. Das Element ist eine Fiktion,
ein Abstraktionsprodukt, das gibt selbst die experimentelle Seelenkunde zu.
Aus Fiktionen aber läßt sich nichts Objektives aufbauen.
Vermöge der Gesetzlichkeit, die der Struktur des Geistigen zugrunde liegt,
kann das Einzelich am Geistesleben außer ihm teilnehmen. In einer atomi-
stischen Betrachtung, die schon bei der Analyse des Einzelichs dessen sinn-
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208
Julius Wagaer
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vollen Zusammenhang durch Setzung von Elementen als Bausteinen aufhebt,
besteht keine Möglichkeit für uns, den für das Geistesleben so wichtigen
Vorgang des Verstehens als soziale und historische Funktion zu erklären.
Zerstört die Analyse in Elemente schon beim Einzelich den Sinn,
indem sie den Wesenszusammenhang aufhebt, so muß ein Zerstören der
sinnvollen Struktur beim Äußernden und beim Verstehenwollenden
das Verstehen ganz unmöglich machen.
IV.
Zum Schluß wollen wir noch auf den Wert der Strukturpsychologie für
den Ausbau der pädagogischen Psychologie kurz hinweisen. So wertvoll im
einzelnen die Ergebnisse der Psychologie der Elemente auch für die Pädagogik
sein mögen, wird der Aufbau einer besonderen pädagogischen Psychologie
doch mehr von der Strukturpsychologie abhängen; denn einmal haben wir
es bei den pädagogisch-psychologischen Problemen niemals mit isolierten
Elementwirkungen, sondern stets mit Gesamtpersönlichkeiten zu tun und
zwar in Rücksicht auf den Erzieher und den Zögling. Eine pädagogische
Psychologie wird es stets mit beiden, nicht mit der Psychologie des Schülers
allein zu tun haben, und zum andern widerspricht der Naturalismus einer
nur experimentellen Seelenforschung dem ideellen Grundcharakter, ohne den
eine Pädagogik nun einmal nicht denkbar ist. Eine einseitige Vernatur-
wissenschaftlichung der pädagogisch-psychologischen Probleme wird nicht
über die Grenze der bloßen Anwendung der psychologischen Einzelergebnisse
auf die Pädagogik hinauskommen. Auf dieser Stufe der Wissenschafts¬
entwicklung befindet sich, von einzelnen strukturpsychologischen Ansätzen
abgesehen, die pädagogische Psychologie bis heute immer noch. Der päd¬
agogischen Behandlung ist der Schüler mehr als ein psychologischer Mecha¬
nismus, mehr als Aggregat seelischer Elementarfunktionen: er ist eine Struktur.
Struktur ist auch die Lehrerpersönlichkeit, Struktur auch das Bildungsgut.
Auf letzteres hat besonders Kerschensteiner im Grundaxiom des Bildungs¬
prozesses ßingewiesen. So erscheint uns der Strukturbegriff für die
Pädagogik wichtig in bezug auf den Schüler, den Lehrer und das
Bildungsgut. Von der Struktur aus allein ist das Problem der Persön¬
lichkeit und ihrer Bildsamkeit zu bewältigen 1 ). Was uns ferner als Ideal
in der Erziehung vorschwebt, findet stets seinen Niederschlag in einer struk¬
turierten Idealperson. „Ein jeder muß sich seinen Helden wählen, dem
er die Wege zum Olymp sich nacharbeitet.“ Welche Struktur diese Helden¬
seele besitzt, hängt ab von den Werten, die wir verehren, hängt also ab
von unserer eigenen Wertstruktur. Das Strukturproblem ist endlich
didaktisch wertvoll. Das Verstehen einer Person, das Erfassen einer
Situation, wie sie im Unterricht dem Schüler nahegebracht werden, fällt
gleichfalls unter das Strukturproblem. Auch da hat die didaktische Form¬
gebung zu beachten, daß sich das Verstehen nicht über den Weg einer Zer¬
legung in isolierte Elemente, sondern über das Erfassen der Gesamtstruktur
der Persönlichkeit und der Situation erschließt.
') Man vgl. auch, was E. Stern S. 203ff. in seiner „Einleitung in die Pädagogik“ ausführt
Go 'gle
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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 209
Psychologische Nebenergebnisse
einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern.
Von August Franken.
•
Psychologische Nebenprodukte als Ergebnis von psychologischen Unter¬
suchungen stellen eher Regeln als Ausnahmen dar, nur pflegen sie mit dem
eigentlichen Gegenstand zusammen verarbeitet zu werden. Zuweilen ist aber
der Zusammenhang zwischen dem Hauptprodukt und den Nebenprodukten
rein äußerlich. So standen bei den tachistoskopischen Zahlbilderversuchen
des Verfassers unterrichtsmethodische Fragen im Vordergrund. Ihre Lösung
mit Ergebnissen aus der allgemeinen und differentiellen Psychologie zusammen
verarbeiten, würde eine überflüssige Belastung des pädagogisch eingestellten
Interesses bedeuten. Andrerseits verlangt das Gewicht der angestellten
Versuche eine möglichst vielseitige Auswertung. Bisher wurden in 10 Ver¬
suchsreihen 104 Volksschüler der oberen Klassen in 544 halbstündigen Einzel¬
sitzungen geprüft.. 24480 Fragen wurden in 40545 Lesungen beantwortet.
Trotz ihres relativen Gewichts haben die Ergebnisse keine allgemeine Be¬
deutung, sondern gelten vorläufig nur für die besonderen Bedingungen, denen
sie ihr Dasein verdanken. Wie schon angedeutet, handelt es sich um tachisto-
skopische Einzel versuche, wobei das Zimmermann sehe Kymographion mit
Rotationstrommel und Schleudervorrichtung benutzt wurde. Der vergrößerte
Trommelau8schnitt 7:22 cm exponierte das Objekt bei jeder Umdrehung
1 ji Sek. lang. Dargeboten wurden sämtliche 45 Additionsaufgaben im Zahlen-
kreis des ersten Zehners an einem Zahlkörperapparat, der bei Exposition
hinter dem Trommelausschnitt sichtbar wurde. Die Darstellung an wirklichen
Dingen — auch der Laysche Rechenkasten wurde in die Untersuchung mit
einbezogen — glich vollkommen den Bedingungen des praktischen Rechen¬
unterrichts. — Die erste Sitzung begann mit einer Instruktion am Zahlkörper¬
apparat über die Darstellung von Additionsaufgaben, ging über zu einigen
Probelesungen am Apparat, wobei auf die Möglichkeit der Selbstbeobachtung
hingewiesen wurde, und schloß die Aufgaben in scheinbar bunter, für die
einzelnen Methoden und Versuchsreihen aber stets gleicher Ordnung an.
Mit Instruktion währte eine Sitzung zu 45 Aufgaben nach Befähigung und
Obung im tachistoskopischen Lesen 20 Minuten bis 1 Stunde.
Jede Aufgabe wurde zur Vermeidung von Zufallstreffern so oft dargeboten,
bis zweimal hintereinander die richtigen Lesungen kamen, auch dann,
wenn die subjektive Sicherheit noch nicht ihren höchsten Stand erreicht
hatte. Als Maßstab der subjektiven Sicherheit dienten die Indizes „sicher"
bzw. „unsicher“, womit jede Beobachtung seitens der Versuchsperson ver¬
sehen wurde. Beispiel einer Aufgabe: 7 + 2. Lesungen 1 ): 6 + 3?, 6 + 3!,
7+2?, 7 + 3?, 7 + 2?, 7+2! Zahl der nötigen Lesungen —■ 5. Fehler¬
zahl — 4 2 ). Zweifel *> 4, imberechtigte Zweifel = 2; Behauptungen = 2;
falsche Behauptungen = 1. Beispiel einer Sitzung: Lesungen = 102, nötige
Lesungen 102—45 — 57, Fehler 57—45 =» 12, Zweifel =• 38, unberechtigte
Zweifel =■ 23, falsche Behauptungen =■ 2. In der Rubrik „unberechtigte
Zweifel" werden die unsicheren Lesungen gezählt, die objektiv richtig sind,
') ? — unsicher, ! = sicher. 2 ) Die dritte Antwort wird als Zufallstreffer zu den Fehlern
gezihlt die letzte Antwort wird als Lesung nicht mitgerechnet.
Zeitschrift f. pttdagog. Psychologie.
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14
Original fro-rn
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210
August Franken
in der Rubrik „falsche Behauptungen“ die sicheren Lesungen, welche
objektiv falsch sind.
Obige Daten bieten das Material zur Berechnung folgender Werte:
1. FeHlerprozente. Darunter ist verstanden die Zahl der fehlerhafter
Lesungen, die durchschnittlich* bei 100 Aufgaben gemacht werden.
Fehler 12
Formel: ^ u fg a ^ en * 100. In der angeführten Sitzung also ^ • 100 — 27
Die Fehlerprozente geben den objektiven Befund der Untersuchung wieder.
2. Der Zweifel in Prozenten dient als Maß der subjektiven Unsicher¬
heit und mißt die Zahl der unsicheren Beobachtungen an der Gesamtzahl der
t r, •* i • d i Zweifel • 100 . . 38 • 100
Lesungen. Zweifel m Prozenten =» -= ., , — =- Beispiel: — r--—= 37.
Zahl der Lesungen 102
3. Die Urteilsvorsicht stellt das Verhältnis der unberechtigten Zweifel
und falschen Behauptungen fest. Sie ist den unberechtigten Zweifeln direkt
und den falschen Behauptungen umgekehrt proportional. Um, wie bei 1 und 2
Werte zu erhalten, die zwischen 0 und 100 schwanken, werden mit den falschen
Behauptungen auch die unberechtigten Zweifel in den Nenner gesetzt Somit
ist die Urteilsvorsicht =--
23 • 100
Unberechtigte Zweifel + falsche Behauptunge r
920/,
23 + 2
Nach ihrer Definition drückt die Urteilsvorsicht mehr als der Zweifel die
subjektive Stellungnahme zum eigenen Urteil aus und gehört deshalb zu den
Charakterwerten im engeren Sinne.
4. Die Variationskoeffizienten bieten die notwendigen Ergänzungen
der Hauptwerte. £ur Charakterisierung der Gleichmäßigkeit der Ein el-
leistungen einer Versuchsperson dient nach Sterns Vorschlag der Intra¬
variationskoeffizient. Bezeichnen wir das arithmetische Mittel der Lesefehler
einer Versuchsperson mit aM, die aufeinander folgenden Lesefehler mit f 1 ,
f 2 , f 3 ..., bo sind die Abweichungen (a) der Einzelfehler vom arithmetischen
Mittel ai =■> aM — f', a 2 =■ aM — f", a 3 = aM — f. ’. . . Das Mittel von
v a . ioo
sämtlichen (n) Abweichungen ist die Intravariation = -—- ode’ ■
_ 1 (Einzelfehler — Fehlermittel einer Vp.) __
= Zahl der Aufgaben 1UU ‘
Der Intervariationskoeffizient stellt die Übereinstimmung in de’
Leistungen der Vp. untereinander fest. An Stelle der Einzelleistungen treten
die Durchschnittsleistungen der Personen oder Reihen, an Stelle der Fehler¬
mittel einer Vp. treten die mittleren Gesamtleistungen, und die Zahl der Auf¬
gaben wird durch die Zahl der Vp. bzw. die Zahl der aufeinanderfolgender
Reihen ersetzt. Bezeichnen wir die Abweichungen der Durchschnittsleistungen von
va
ihrem a M mit A, ihre Anzahl mit N, so ist die Intervariation = • 100.
Um die Ergebnisse der einzelnen Versuchsreihen auch für die differentielle
Psychologie nutzbar zu machen, bedienen wir uns außerdem, soweit Alter ,
und Milieu der Vp. es gestatten •)> des Bravaisschen Korrelationskoeffizienten.
*) Es kommen hier die Versuchsreihen III—X in Frage, wobei ausgesucht Jedesmal gleich
alte und möglichst gleichfähige Schüler und Schülerinnen der Hamfeldschule in Schildesch f
geprüft wurden.
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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 211
Ergebnisse.
Tachistoskopische Experimente verfolgen im allgemeinen den Zweck, die
hemmenden und fördernden Momente der optischen Sinneswahrnehmung zu
untersuchen. Nach den bisherigen Erfahrungen ist das Zahlenbildermaterial
hierfür besonders geeignet Unsere eignen Versuche bestätigen, modifizieren
und erweitern die bisher bekannten Tatsachen. Tab. l^gibt ein Bild der
Hemmungen, soweit sie durch den Umfang des Zahlbildes (= Summe der
Zahlkörper) veranlaßt und durch die Fehlerprozente gekennzeichnet werden.
Tab. 1.
Summe
2
3
4
5
6
7
8
;
9
10
Lesefehler
0
8 o/o
17 °/o
19 o/ 0
43 °/o
65 %
8l°/o
138 o/o
o“
O
o
Sie ist der Auszug einer einzigen, für unseren Zweck besonders passenden
Versuchsreihe. Charakteristisch sind der schwache Anstieg der Fehlerkurve
im Gebiet des simultanen Aufmerksamkeitsumfanges, ihr beschleunigtes An¬
wachsen von der 6 bis 9 und die Remission bei 10. Letztere ist erklärt
durch das „Wissen“ der Vp. von der absoluten Zahl der Zahlkörper. Auf¬
gaben, deren Summen über 10 lagen, kamen nicht in Frage. Der Spielraum
für Fehler war somit bei den Aufgaben der letzten Rubrik einseitig, bei den
übrigen doppelseitig. Subjektiv hatten die Schüler das Gefühl, als ob die
Zahlenreihe nicht weiter anwachsen könne. Die Darbietung einer Zahl als
Additionsaufgabe gestattet ferner den Nachweis der inneren Hemmung
der einzelnen Summanden. Wenn das einemal die Aufgabe 2 + 3, das
andremal die Aufgabe 4 + 3 gezeigt wird, so leidet nicht nur das Gesamt¬
resultat infolge Vergrößerung der Summe — die Lesbarkeit beider Summanden
verschlechtert sich —, sondern es wird daneben die Trefferzahl für den ersten
Summanden wegen verstärkter innerer Hemmung prozentual mehr herab¬
gesetzt als die Trefferzahl für den zweiten Summanden. Tab. 2 (S. 212) er¬
läutert die Tatsachen in Zahlen.
Wir sehen in der ersten Rubrik die Lesbarkeit der einzelnen Summanden
der Aufgaben 1 + 1, 1 + 2, 1 + 3 ... 1 + 8, — von den 2. Summanden den
Durchschnitt —, verglichen mit der Lesbarkeit der Aufgaben 2 + 1, 2 + 2,
2 + 3 ... 2 + 8. Da die zweite Aufgabenreihe eine durchschnittlich größere
Summe ergibt, ist sie im ganzen schwerer lesbar als die' erste Aufgabenreihe.
Die Summanden 1,2 ... 8 sind durchschnittlich größer als die Summanden
1 und 2 und darum mit höheren Fehlerprozenten behaftet. Endlich ist 2
von größerer innerer Hemmung als 1, wodurch das Fehlerverhältnis der
beiden Summanden verschoben wird. Es beträgt für die erste Aufgaben¬
reihe 5: 39 = 0,13, für die folgende 0,45. Dieselben Erscheinungen können
mit einer Ausnahme an den übrigen Spalten festgestellt werden. Die Werte
der letzten Spalte kommen aus dem bereits angeführten Grund für den Ver¬
gleich nicht in Frage. Ob neben der inneren Hemmung der Summe und
einzelnen Summanden noch gegenseitige Hemmungen der Summanden bei
tachistoskopischer Beobachtung eine Rolle spielen, läßt sich an dem vor¬
handenen Material nicht nachweisen.
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14 *
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212
August Franken
Tab. 2. Hemmungserscheinunge n
Summand:
i+
1,2..7
3+
1,2..6
4+
1
Zahl der Auf¬
gaben
800
800
700
700
600
700
500
500
Prozentualer
Lesefehler
5 v
39^
24
53
21
51
40
54
37
45
44
43
45
37
1
25
70
Dagegen bietet es Gelegenheit, die allgemeinen Gesetze der Obungskurve
in einem besonderen Fall zu bestätigen. Die Zahlenkurven der Tab. 3 ver¬
einigen die Ergebnisse eines nach Bedarf mehr oder weniger umfangreichen
Materials.
Tab. 3. Übungskurven.
Sitzung
1
2
3
D
Versuchsreihe
Prozentualer Lesefehler . . .
107
66
50
46
42
m-vni
aM der Intervariation ....
12
7
6,3
5,7
5,6
H
aM der Intravariation ....
1.47
0,81
0,64
0,61
0,59
VI
Zweifel in Prozenten ....
44
46
40
36
35
m-vni
Mittlere Variation des Zweifels
21
17
13
20
23
r»
UrteilBvorsicht in Prozenten
61
68
66
62
62
tt
Urteilsvorsicht in Prozenten
Mittlere Variation der Urteils¬
54
76
79
71
66
VI
vorsicht .
31
21
19
29
28
99
Die Fehlerkurve verrat das erwartete anfangs starke, später schwächere
Sinken. Die Übung gleicht nicht nur die Leistungen der verscniedenen
Individuen einander an, sondern macht auch die Leistungen des Einzelnen
stetiger (Spalte 2 und 3). Unsicherheit und Vorsicht (Spalte 4, 6 und 7)
scheinen nach der ersten Sitzung durch die fortwährende Selbstkontrolle zu
gewinnen, um sich später auf dem Wege der Gewöhnung wieder ihrem
natürlichen Wert zu nähern. Hiernach dürfte insbesondere die Urteilsvorsicht
ein sehr empfindliches Reagens auf Instruktionsmotive sein. Die mittleren
Variationen der Verhältniswerte folgen keiner klar erkennbaren RegeL
Dagegen springt die Übereinstimmung zwischen der Zweifel- und Vorsicht¬
kurve in die Augen und legt den Gedanken einer Korrelation beider Werte
nahe. Wir wollen dieser Frage aber in einem größeren Zusammenhang nach¬
gehen. 8 von den 10 Untersuchungsreihen waren so eingerichtet, daß jedesmal
je 10 gleich alte Schüler, Knaben und Mädchen aus gemischten Klassen in
gleicher Zahl, geprüft wurden. So konnten für sämtliche Werte je 8 Rang¬
reihen zu 10 Personen aufgestellt werden. Hiervon wurden zuerst die ein¬
zelnen Korrelationskoeffizienten, alsdann von den 8 gleichsinnigen Werten
das arithmetische Mittel und die mittlere Abweichung berechnet. Bei der
Berechnung des wahrscheinlichen Fehlers wurde für n die Gesamtzahl der
Versuchspersonen eingesetzt Tab. 4 deckt die Beziehungen der Werte auf.
Unsere oben ausgesprochene Vermutung über die Beziehung zwischen Zweifel
und Urteilsvorsicht wird zahlenmäßig erhärtet. Zweifel und Urteilsvorsicht
entspringen allem Anschein nach denselben inneren Motiven. Auch zwischen
den Lesefehlern und der Intravariation besteht eine ausgesprochene Korre¬
lation. Ungleichmäßigkeit und Fehlerhaftigkeit der Leistungen weisen somit
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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 213
an den Summanden.
H
M
1,2. .4
o»
+
9+
1
1. Raum¬
lage
2. Raum-
läge
I
400
400
300
300
200 [
200
100
100
7200
7200
1
27
75
38
75
37
133
44
156
33
100
24
129
5
85
32
37
55
ebenfalls eine ausgeprägte psychologische Verwandtschaft auf, wie auch im
praktischen Leben mangelhafte und unzuverlässige Arbeit begrifflich selten
gesondert werden. Weniger deutlich, doch immer noch sicher als Durch¬
schnitt von 8 Koeffizienten ist die positive Beziehung zwischen den objektiven
und subjektiven Werten. Sie beweist, daß unter normalen Bedingungen, soweit
keine Motive die Aussagen fälschend beeinflussen, der Zweifel besonders bei
Personen auftritt, für die er objektiv infolge geringerer Beobachtungsfähigkeit
auch am meisten berechtigt ist. Parallel mit dieser Tatsache geht eine andere:
Relativ fehlerlose Reihen enthalten verhältnismäßig wenig Zweifel. Den
zahlenmäßigen Beweis hierfür wird die methodische Arbeit über Zahlbild¬
versuche bringen. Vom pädagogischen Standpunkt aus wäre es wünschens¬
wert, wenn die korrelative Beziehung zwischen Fehlerhaftigkeit der Beobach¬
tung und Vorsicht der Aussage größer wäre, als sie tatsächlich vorhanden ist.
Tab. 4. Korrelationen X 100.
J.
Intra¬
variation
wahrsch.
Fehler
mittlerer
Fehler
Zweifel
wahrsch.
Fehler
mittlerer
Fehler
Urteils¬
vorsicht
wahrsch.
Fehler
mittlerer
Fehler
Lesefehler ....
72
5
32
40
7
26
23
8
29
Intravariation . . .
:
31
8
33
25
8
23
Zweifel.
90
3
8
Die Korrelationstabelle macht uns auch die Art der ziemlich geringfügigen
Unterschiede zwischen den Geschlechtern verständlich. (Vgl. Tab. 5.)
Tab. 5. Knaben und Mädchen.
arithmetische Mittel
•und mittlere Abweichungen für
Lesefehler
Intra¬
variation
Zweifel
Urteils¬
vorsicht
41 Knaben.
66,6 ± 11
79,6 ± 8
33 ± 13
69 ± 21
41 Mädchen.
65 ± 12
86 ± 14
30 ± 23
66 ± 24
Daß die Mädchen eine geringere Unsicherheit und Vorsicht in den Be¬
hauptungen aufweisen, verdanken sie höchst wahrscheinlich nicht ihrem
Geschlecht, sondern ihrer etwas besseren tachistoskopischen Lesefertigkeit.
Die Unterschiede werden aber auch hier mit fortschreitender Übung aus¬
geglichen. (Vgl. Tab. 6.)
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214 A. Franken, Psychol. Nebenergebnisse einer tachißtoskopiscben Untersuch, v. Zahlbildern
Tab. 6. Prozentuale Lesefehler.
in Sitzung
1
2
3
4
5
für die Knaben . .
109
68
50
47
42
für die Mädchen .
106
62
49
45
41
Ein Beispiel dafür, daß man mit der Konstatierung typischer Unterschiede
recht vorsichtig sein muß.
Gleiche Zurückhaltung ist bei der Deutung der wiedergegebenen Beziehungen
am Platze. In diesem Sinne verdienen unsere Zahlenskizzen einen etwas
breiteren Rahmen. Wir fanden Analogien im Verhalten des Einzelnen und
der Gesamtheit nicht nur, was selbstverständlich ist, im allgemeinen Übungs¬
verlauf, sondern auch in den Veränderungen der Inter- und Intravariation,
zwischen den korrelativen Beziehungen der verschiedenen Leistungen und
der Beeinflussung dieser Leistungen durch objektive Bedingungen. Bestehen
hier geheimnisvolle Beziehungen zwischen Massen- und Einzelbewußtsein, oder
haben wir es nur mit mathematischen Folgerungen zu tun?
Augenscheinlich mit den letzteren. So ist die Parallelität zwischen Inter-
und Intravariation eine mathematische Notwendigkeit. Mathematisch betrachtet
ist das Individuum ein Bündel von Reaktionsmöglichkeiten, dessen Umfang
mit steigender Übung abnimmt. Im Anfangsstadium der Übung gleicht der
Einzelne einem Zwölfflächner, der «zum Würfeln benutzt wird. Nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeit ist für jede Fläche die Möglichkeit, Bild zu
werden, gleich groß. Eine „Sitzung“ mit dem Würfel ergäbe somit 6,5 als
wahrscheinliches arithmetisches Mittel und 3 als Intravariation. Nehmen wir
ebensoviele Zwölfflächner, als wir in der Sitzung geworfen haben, so erhalten
wir mit einem Wurf die gleiche Intervariation. Im Endstadium der Übung
gleicht der Einzelne einem Sechsflächner mit einer lntravariation von 1,5.
Dieselbe Einschränkung erfährt unter Benutzung vieler Würfel der Inter¬
variationskoeffizient. Somit ist die größere Homogenität der Masse bei fort¬
geschrittener Übung eine mathematische Folgerung der gleichmäßiger werden¬
den Reaktion. In derselben Weise lösen sich die korrelativen Beziehungen
in Tatsachen des Einzelbewußtseins auf. Komplizierte bzw. labile Leistungs¬
verhältnisse beim Individuum führen notwendig zu geringen Korrelations¬
koeffizienten.
Über diese mehr theoretischen Beziehungen hinaus sind die aufgedeckteh
Verhältnisse außerdem von praktischem Wert für die methodische Unter¬
suchung. Während man sich bisher bei Zahlbilderversuchen mit den ge¬
machten Fehlern als einzigem Kriterium der Güte einer Versuchsreihe be¬
gnügte, bieten unsere Ergebnisse mehrere wertvolle Hilfskriterien: die subjektive
Sicherheit, die Abweichung (absolute und relative) der Reihen und Aufgaben.
Man sollte in psychologischen Untersuchungen von diesen Werten zur Ver¬
stärkung des Gewichts der Ergebnisse und zwecks Entscheidung zweifelhafter
Fälle mehr als bisher Gebrauch machen.
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Heinrich Klüver, Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr
215
Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr.
Von Heinrich Klüver.
Es ist hicht zu bestreiten, daß bis vor kurzem bei schulorganisatorischen
Reformen psychologische Gesichtspunkte erst in zweiter oder letzter Linie
berücksichtigt wurden. Daß sie nicht berücksichtigt werden „konnten“, ist
selbst eine Tatsache, die in sozialpsychologischer und soziologischer Hinsicht
interessant ist. Der Ruf nach einer „entwicklungstreuen“ Pädagogik wurde
überall gehört; aber die damit erhobene Forderung blieb zumeist Forderung.
In der letzten Zeit jedoch wird öfter als früher der Schulbau psychologisch
fundiert. Über den organisatorischen Versuch Ederts, in seinem „Parallel¬
klassensystem“ die individuellen Begabungsdifferenzen zu berücksichtigen,
habe ich bereits kurz berichtet (Zeitschr. f. Päd. Psychol., Bd. XXHI, S. 190 f.).
In der Mädchen-Volksschule Moortwiete und der Knaben-Volksschule Bahren¬
felder Str., Altona, bestehen die von ihm vorgeschlagenen Parallelklassen.
Die Kinder jedes Schuljahres sind hierauf drei Züge verteilt: A-Zug begabte,
B-Zug mittel- und C-Zug Schwachbegabte Schüler. Die Ostern 1921 diesen
Schulen zugewiesenen Kinder wurden am 11. März 1922 vom Psychologischen
Laboratorium Hamburg einer Prüfung unterzogen, um die von -den Lehrern
vorgenommene Differenzierung nachzuprüfen. (Einzelprüfungen: jedes Kind
etwa 40—45 Minuten). In Nr. 6 der „Hamburger Arbeiten zur Begabungsfor¬
schung“ wird ein eingehender Bericht über diese Untersuchung erscheinen:
eine Übersicht über das Gesamtverfahren, eine genauere Darstellung der
einzelnen Prüfmittel und der Bewertungsmethoden, ein Beobachtungsbogen
für das erste Schuljahr usw. Hier sollen nur einige wesentliche Ergeb¬
nisse der Prüfung festgehalten werden.
Von den Schulen waren 252 Kindern angemeldet: Mädchen-V. 119,
Knaben-V. 133. Die Zahl der Schüler, über welche nach Auswertung der
Protokolle ein psychologisches Urteil vorlag, stimmte natürlich nicht mit der
Zahl der Angemeldeten überein: Ausbleiben am Prüfungstag, Fehlen einiger
Protokollblätter, Abmeldungen, zu hohes Alter usw. So zählte die endgültige
Testrangordnung der Mädchen-V. 112 Namen, die der Knaben-V. 107.
* Folgende Tests, von denen 1—V stumme sind, wurden angewandt:
I. Ordnungsaufgaben:
1. Ordnen von 3 Kästchen nach der Schwere. I Dem Kind wird der Ordnungs-
2. Ordnen von 5 Kästchen nach der Schwere, j geeichtspunkt gegeben.
3. Ordnen von Kreisen nach der Größe. I Vo m Kind wird der Ordnungs-
4. Ordnen von Kreisen nach der Helligkeit. | geeichtspunkt verlangt.
II. Bilderbogentest. (Ordnen einer Bilderserie.)
IR. Schraubensortiertest: Schrauben verschiedener Größe sortieren und
in Kästchen einordnen.
IV. Mittel zur Prüfung des räumlichen Vorstellens.
1. Zusammensetzen einer Kirche: Die Teile der Abbildung einer Kirche,
die ungeordnet durcheinanderliegen, sind zusammenzusetzen.
2. Zusammensetzen eines Rechtecks aus drei Teilstücken.
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Heinrich Klüver
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V. Haltungslotto. 1 ) (S. Alice Descoeudres: Le Döveloppement de l’enfant
de deux ä sept ans.)
VI. Betrachten von drei Bildern. (S. Bobertags Staffelsystem.) 1. Schnee¬
ball. 2. Blindekuh. 3. Unachtsamkeit.
VII. Ergänzungstest.
Vin. Vergleich konkreter Begriffe.
IX. Mittel- zur Prüfung der Merkfähigkeit. 1. Wörtliche Wiedergabe von
Sätzen. — 2. Inhaltliche Wiedergabe von Sätzen. — 3. Ausführen
von drei Aufträgen.
Belangvoll für die Schulen war die Beantwortung der Frage: Wie verhält
sich die auf Grund der psychologischen Prüfung gewonnene Rang¬
reihe zu unserer auf einjähriger Beobachtung fußenden Ran¬
gierung? Es ergab sich für die
Mädchen.
1. a) Die ersten 5°/n der „psychologischen“ Rangordnung sind die besten
Schüler des A-Zuges, die letzten 5°/o Schüler des C-Zuges.
. b) Zu den ersten 25°/o gehören nur Schüler des A-Zuges und — bis auf
eine Ausnahme — Schüler der ersten Hälfte des B-Zuges; die letzten 25o/#
bestehen aus Kindern des C-Zuges und — bis auf vier Fälle — der letzten
Hälfte des B-Zuges.
2. Hätten wir auf Grund nur der Testprüfung eine Einteilung der Kinder
in drei Gruppen, die zahlenmäßig den Klassen des Parallelklassensystems
entsprechen, vornehmen sollen, wäre das Ergebnis folgende Verteilung ge¬
wesen: A-Zug auf Grund der psychologischen Untersuchung: Kinder aus dem
jetzigen A-Zug, aus der ersten Hälfte des B-Zuges; kein Kind des C-Zuges. —
C-Zug: Kinder aus dem jetzigen C-Zug, aus der letzten Hälfte von B,
kein Kind aus der ersten Gruppe des B-Zuges, kein Kind des A-Zuges. —
B-Zug: in seiner letzten Hälfte acht Kinder, die jetzt im C-Zug sind.
3. Abweichungen sind vorhanden, aber Urteilsdifferenzen extremer Art
fehlen ganz.
Knaben.
Die Abweichungen sind hier größer. A-Zug auf Grund der Testprüfung: #
zwei Kinder des C-Zuges, im übrigen Kinder aus dem A- und B-Zug.
C-Zug: kein Kind des A-Zuges, Kinder des C- und B-Zuges. (Hier auch
aus der ersten Hälfte von B.) In unseren B-Zug würden dementsprechend
auch Kinder des jetzigen A- und C-Zuges gehören.
In bezug auf die Abweichungen ist im allgemeinen zu bemerken: 1. Be¬
gabungsfeststellungen für das hier in Betracht kommende Alter sind schwie¬
riger als auf höheren Altersstufen. 2. Unser Urteil gründet sich auf eine
Experimentaluntersuchung von 40—45 Minuten für jedes Kind. 3. Angaben
über häusliche Verhältnisse des Kindes — über körperliche Beschaffenheit,
Fleiß usw. — waren nicht gemacht worden. (Fehlen des Beobachtungsbogens 1)
4. Das Lehrerurteil berücksichtigt Komponenten nicht-psychologischer Natur.
l ) Die Lottokarte enthält 8 Silhouetten von Knaben mit verschiedener Arm- und Beinhaltung.
Das Kind muß 8 Einzelbilder richtig auflegen.
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Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr
217
Es ist klar, dafi sich — unter Beachtung dieser Faktoren — itv Besprechungen
mit den Lehrern des Parallelklassensystems viele Abweichungen aufklären.
In der Tat zeigte sich, daß die Übereinstimmung zwischen Test- I
und Lehrerurteil bei weitem größer war als der Vergleich der
beiden Rangreihen ergeben hatte. In Fällen, wo wir die Kinder niedriger
einrangiert hatten als die Schule, hieß es etwa: viele häusliche Hilfe, kann
deshalb folgen; erzählt außerordentlich gut; antwortet schlagfertig; außer¬
gewöhnlich fleißig, stets eifrig usw. In Fällen, wo die Schule niedriger ein¬
geschätzt hatte: Schulläufer, auf der Straße recht munter; schlechte häusliche
Verhältnisse; beim Spiel aufgeweckt, kommt aber sonst nicht aus sich heraus;
sehr schüchtern usw. Wenn in den Besprechungen mit den Lehrern die bei
dem psychologischen und Schulurteil mitsprechenden Faktoren herausgehoben
wurden, sah man auf beiden Seiten die relative Berechtigung der jeweiligen
Einrangierung. Der Leiter der Mädchen-V. fand
keinen Fall, in dem er nicht unserer Fähigkeits¬
feststellung zustiramen konnte. In der Knaben-V.
lagen die Verhältnisse ähnlich: dort blieben im
gesamten Schülermaterial etwa drei bis vier Fälle,
wo Urteil gegen Urteil stand. Bemerkt werden
mag noch, daß zwei B-Zügler, die bei uns für den
A-Zug angesetzt waren, früher bereits im A-Zug
gewesen waren, daß hingegen vier A-Zügler be¬
reits in den B-Zug geschoben waren, die nach
unserem Urteil in den B- bzw. C-Zug gehörten.
Das Ziel unserer Untersuchung war nicht, Ent¬
scheidungen über die Schulbahn Siebenjähriger zu
treffen. Nur in einigen Fällen wurde auf unsere
Einreihung hin versuchsweise eine Verschiebung
vorgenommen (z. B. ehemaliger A-Zügler wieder
in den A-Zug). Unser Ziel war vielmehr eine „Nach¬
prüfung“ der bereits gewonnenen Differenzierung mit psychologischen Mitteln,
und hier darf wohl als allgemeines Ergebnis festgehalten werden: eine mit
psychologischen Methoden vorgenommene Begabungsdifferen¬
zierung siebenjähriger Volksschüler weicht nicht erheblich von
einer von Lehrern auf Grund sorgfältiger und gewissenhafter Be¬
obachtung vorgenommenen Differenzierung ab. Ferner: intensive Be¬
obachtung in den ersten Schulwochen -f- Experiment dürften eine halbwegs
stabile Gliederung schaffen. In unserem Fall führten Abweichungen im Test-
Schul-Vergleich zur schärferen Beobachtung des jeweiligen Kindes, um über
die Grundlagen des eigenen und des in so präziser Form vorliegenden psycho¬
logischen Urteils größere Klarheit zu gewinnen.
Neben diesen das pädagogische Gebiet berührenden Feststellungen seien
einige Ergebnisse psychologischer Natur mitgeteilt.
- A. Verteilung der Leistungen.
Die Leistung eines jeden Kindes in jedem Test fand ihren Ausdruck in einer
Prozentzahl. Die Prozentzahlen aller Tests wurden addiert. Die Leistungen
der Knaben schwanken zwischen 992 °/o und 359 °/o, die Leistungen der
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Heinrich Klüver, Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr
Mädchen zwischen 1179 °/o und 49°/o. (2 Leistungen unter 350 °/o, eine
Prozentzahl Ober 1150.)
K.: mittlere Leistung 720, mittlere relative Abweichung 16°/o
» » 722, „ „ n 22°/o.
Bildet man in jeder Rangreihe 8 Stufen, so ergibt sich für Knaben und
Mädchen Tabelle I (s. auch die Kurve):
Tabelle I. Tabelle II.
Leistung in Prozent¬
zahlen
Anzahl der
Knaben in
Prozenten
Anzahl der
Mfldchen in
Prozenten
Leistungen in
Prozentzahlen
Anzahl der
Schiller in
Prozenten
über 1050
0
2,8
über 1050
1,5
1050 — 950
4,4
1 112
1050 — 950
8,1
950 — 850
15,6
j 14.0
950 — 850
14,7
850 — 750
20,0 |
13,1
850 — 750
162
750 — 650
31,1
22,4
750 — 650
26,4
650—550
14,4
17,8
650 — 550
16,2
550 — 450
11,1
13,1
550 — 450
122
450 und weniger
3,3
5,6
450 — 350
4,6
Die Knaben haben also auf den mittleren Stufen gegenüber den Mädchen
ein Plus, während die Mädchen auf den höheren und niedrigeren Stufen die
Knaben überragen:
Leistungen von 1050—850: K. 20°/o, M. 28°/o,
650—350: K. 28,8%, M. 36,5%.
Dagegen Leistungen von 850—650: K. 51,1%, M. 35,5 °/o.
In der Gesamtheit der geprüften Schüler (Knaben-V. + Mädchen-V.) ver¬
teilen sich die Leistungen nach Tabelle II (s. auch die Kurve).
B. Korrelation der Testrangordnung zur Schulrangordnung. (Tab.IQ.)
Testrangordnung und Rangreihe der Knaben-V. 0,56, Testrangordnung und
Rangreihe der Mädchen-V. 0,71. Schon oben war erwähnt worden, daß die
Abweichungen bei der
Knaben-V. größer sind.
Man darf jedoch nicht
vergessen, daß auch bei
einerpsychologisch fun¬
dierten Schulgliederung
Momente nicht-psycho¬
logischer Natur berück¬
sichtigt werden: Milieu
des Kindes, hygienische
Verhältnisse usw. Bei
der Zuweisung des ein¬
zelnen Kindes in einen
bestimmten Zug ist
solchen Tatsachen Rechnung zu tragen. Vielleicht mußten bei dem Schüler¬
material der Knaben-V. solche Faktoren stärker berücksichtigt werden. Die
Gesamtrangordnung der Schule muß in diesem Fall, auch wenn die innerhalb
Tabelle HI.
Einzeltest
Schulrangordnung
Gesamttestreihe
| Knaben
Mfldchen
Knaben
Mfldchen
Ordnungsaufgaben . .
0,38
0,50
0.75
0,75
Räuml. Vorstellungsf. .
1
a) Kirche ....
0,56
0,44
0,62
0,57
b) Rechteck . . .
0,50
0,49
0,53
0,43
Haltungslotto ....
0,56
0,44
0,62
0,57
Betrachten der Bilder
a) Sprachl. Form .
0,13
0,52
0,55
0,70
b) Erklärung'. . .
0,18
0,28
0,58
0,70
Bilderbogentest . . .
| 0,56
—
0,25
—
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A. Fischer, ZurTheorie d. emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 219
einer Klasse vorgenommene Rangierung zutreffend ist, gewisse Unstimmig¬
keiten enthalten. Zu beachten ist ferner, daß der Lehrer die Kinder der
anderen P.-S.-Klassen nicht oder nicht genau kennt.
i i
C. Korrelation von Einzeltests zur Schulrangordnung und zur
Gesamttestreihe.
Im allgemeinen sind die Korrelationen zur Gesamttest-R. höher als zur
Schul-R. Eine Ausnahme macht der Bilderbogentest. Er korreliert nur wenig
mit der Gesamttest-R., hat jedoch zur Schul-R. dieselbe Korrelation wie die
Gesamttest-R. selbst: 0,56.
D. Unterschiede der Knaben- und Mädchenleistungen in den
stummen Tests.
Weil durch eine zu starke Berücksichtigung der sprachlichen Komponente
wirkliche Begabungsunterschiede bei den Siebenjährigen oft verdeckt werden,
hatten wir eine große Anzahl stummer Tests in die Serie aufgenommen. Die
Auswertung dieser Aufgaben ergab bemerkenswerte Differenzen in den
Knaben- und Mädchenleistungen:
1. Ordnungsaufgaben:
niedrige Punktzahlen (0—6 P.): K. 14,1%, M. 22,6°/ 0 ,
mittlere „ (7—15 P.): K. 61,60/ 0 , M. 53,1«/«,
höhere „ (16—21 P.): K. 23,4°/o, M. 23,4<>/o.
2. Bilderbogentest. Legen einer Serie von 5 Bildern (Apfeldiebe):
K. 43,5<>/o, M. 39,6 0 / 0 .
2. Schraubensortiertest (80—100°/oigeLeistungen), a) nach Zeit: K. 39,75°/o,
M. 36,75°/o, b) hinsichtlich der Richtigkeit der Einsortierung: K. 65°/o, M. 54°/o.
4. Mittel zur Prüfung der räumlichen Vorstellungsfähigkeit:
a) Kirche. Volle Pluslösungen: K. 65o/ 0 , M. 540 / 0 .
b) Rechteck. Volle Pluslösungen: K. 40o/ 0 , M. 24°/o.
5. Haltungslotto: Lösung mit 0 Fehlern: K. 34°/o, M. 18°/o.
Ergebnis: Es scheint, daß, wo es sich bei siebenjährigen Volksschul¬
kindern um die Lösung von Aufgaben, bei welchen sprachliche Befähigung
keine oder eine nur geringe Rolle spielt, handelt, die Knaben in ihren
Leistungen den Mädchen voranstehen.
Zur Theorie der emotionalen Bildung —
am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung.
Von Aloys Fischer.
Die Arbeit der intellektuellen Bildung ruht seit Jahrhunderten auf
einer mehr oder minder festen Theorie. Die psychologische Grundlegung
hat die Entwicklung der sensorischen, mnemischen und intellektuellen Funk¬
tionen so weit aufgehellt, daß ein Stufengang der planmäßigen Pflege dieser
Kräfte und Hand in Hand damit eine geordnete Erweiterung des geistigen
Besitzstandes und Blickkreises möglich ist In den Bemühungen zur Lehr¬
plantheorie und in den immer wieder umgeschaffenen Lehrplänen sind
einigermaßen feste Zielsetzungen der intellektuellen Bildung sowohl für die er-
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Aloys Fischer
ziehenden wie für die fachlichen Schulen vorhanden. Die Unterrichtsverfahren
und Unterrichtshilfsmittel haben den. Zusammenhang mit den Fortschritten
der Wissenschaft niemals dauernd verloren, und in der Lehrerbildung — sowohl
für die höheren Schulen wie für die Volksschule — stand die Sachlichkeit des
theoretischen Bildungsgutes immer im Mittelpunkt. So besitzen wir heute
eine Theorie der intellektuellen Bildung, die nach Reichtum und Feinheit
ihrer Gedankengänge zweifellos das Glanzstück der pädagogischen Wissen¬
schaft bildet und jedem Lehrer eine Summe wohlerprobter Verfahren an die
Hand stellt, mit denen er auch ohne besondere eigene didaktische Erfindungs¬
gabe und starkes Eigenleben Erträgliches zu leisten vermag.
Der Vorsprung der Didaktik beruht nicht nur auf dem hohen Alter der
einschlägigen Überlegungen und der daraus entsprungenen Traditionen, er
erklärt sich wohl auch aus der größeren Leichtigkeit,und Systemfähigkeit der
intellektuellen Bildungsarbeit. Intellektuelle Prozesse lassen sich in der Tat
bis zu einem gewissen Grad kommandieren. Darauf kommt es aber bei
einer nach festem Plan auf bestimmte Ziele hinarbeitenden Massenlehranstalt
wie der Schule an. Wir brauchen nur Anschauungsgegenstände zu bieten,
um sicher zu sein, daß sich bei dem größten Teil der Schüler daran geistige
Akte knüpfen, deren Bearbeitung den Lehrinhalt gewinnen hilft, brauchen
nur Fragen zu stellen, um eine Ablaufsrichtung des Vorstellungs- und Denk¬
lebens anzubahnen, die die Kunst des Lehrers dann weiter zu verwerten
vermag. Die Betätigung der intellektuellen Funktionen ist in hohem Maße
willkürlich möglich, darum auch didaktisch regulierbar nach festem zeitlichen
Plan und unter Einsatz bestimmter Lehrverfahren.
Vergleichen wir mit der hohen Blüte der reinen Didaktik den imsicheren
Stand unserer Theorie der emotionalen Bildung, so treten hier nur wenige
Kapitel uns in ähnlicher Geschlossenheit entgegen, so etwa die Lehre von
der Schulzucht und ihren Hilfsmitteln (Beaufsichtigung, Schulordnung, Strafe)
oder die Lehre von der Erziehung zu sozialer Eingliederung und Brauch¬
barkeit. Aber bei genauerer Prüfung stellt sich heraus, daß dabei die äußer¬
liche Angleichung und sozusagen rechtliche Dressur stärker im Vordergrund
steht und sicherer erreicht wird als die Tiefendimension der inneren Bildung:
des Gemüts-, Willens- und Wertlebens der werdenden Persönlichkeit. Ja, es
fehlt nicht an pessimistischen Stimmen, die es überhaupt für unmöglich er¬
klären, die emotionale Bildung in ähnlicher Weise zu systematisieren, in
einen lückenlosen und planmäßigen Aufbau zu bringen wie die intellektuelle
Bildung, die alle Erziehung im engeren Sinne für prinzipiell „gelegenheit-
lich“ erklären und jedenfalls der Schule, wenn sie ihr überhaupt noch
Erziehungsaufgaben zuerkennen, eine durchaus subsidiäre Bedeutung für das
eigentliche Erziehungswerk zuschreiben: mittelbare Beiträge durch die Schulung
der Denkkräfte, gelegentliche durch Heranziehung irrationaler Kulturgüter wie
der Kunst, der Religion, der Sitte und Sittlichkeit Man hält Irrationales nicht
für „lehrbar“ und glaubt sogar, Erhebliches geleistet zu haben, wenn man
die Intellektualisierung bekämpft, während man doch faktisch übersieht, daß
das irrationale Leben, ob lehrbar oder nicht, ein notwendiger und sogar der
entscheidende Gegenstand der Bildungsarbeit auch der Schule ist. Etwas
„lehren“ heißt eben nicht nur, richtige Kenntnisse und Einsichten vermitteln.
Mit einem so eng gefaßten Begriff könnten wir Kinder nicht einmal sprechen
und gehen lehren, geschweige denn fromm sein. Gäbe es nicht einen ur-
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 221
sprünglicben Sinn von Lehre, aus dem die verständige Lehre unter bestimmten
Bedingungen erst als Spezialfall abgeleitet ist, so müßten wir in der Tat
sagen, daß weder die grundlegenden noch die höchsten Lebensgebiete lehr¬
bar sind, sondern der spontanen Selbstentwicklung oder der blinden Gewöhnung
überlassen werden müssen. So ist die Bestreitung der Lehrbarkeit von Tugend
und Sitte, Glauben und Frömmigkeit, sozialer Treue und Verantwortlichkeit
weit davon entfernt, eine unerschütterliche Wahrheit zu sein, vielmehr nur
der Ausfluß eines willkürlichen Schulbegriffs vom Lehren, den für richtig zu
halten niemand und nichts verlangen darf. Die erzieherische Praxis hat zu
keiner Zeit darauf verzichtet, auch auf den irrationalen Lebensgebieten die
Jugend zu lehren, und sie hat das mit instinktiver Sicherheit in einer Weise
versucht, die die Verengung der Lehre in Verstandesaufklärung beiseite schob.
Das Wort „lehren“ hat in der Theorie der intellektuellen und in jener der
emotionalen Bildung denselben Sinn; nur wenn man auch auf intellektuellem
Bildungsgebiet das Lehren sich schon erschöpfen läßt in Vermittlung und
verstehend-gedächtniStnäßiger Aneignung fertiger Einsichten, entsteht zwischen
den beiden Hauptgebieten der Bildungsarbeit eine Kluft derart, daß auf der
einen Seite die Lehrbarkeit der Wissenschaft, auf der anderen die Unlehrbar¬
keit der Tugend, Kunst, Religion — also letzten Endes des Lebens — liegt.
Hält man im Gegensatz zu durchaus unberechtigten Verengungen und Ver¬
schiebungen als Urintention aller Lehre der Jugend fest, daß sie den heran-
wachsenden Menschen „leben“ lehren soll, so bleibt das Gebiet der emotio¬
nalen Bildung das zentrale auch der Lehre. Und die wissenschaftliche Päda¬
gogik hat kein Recht, unter Bestreitung der Lehrbarkeit aus einem vor¬
gefaßten Begriff heraus die höchsten Bildungsaufgaben beiseitezuschieben,
sondern sie muß in vorurteilsloser Versenkung in die gegebenen Zusammen¬
hänge sachlich bestimmen, was hier lehren heißt, so wie die Theorie'des
Unterrichts — wenigstens teilweise — bereits herausgearbeitet hat, was auf
wissenschaftlichem Gebiet lehren heißt und einschließt.
Es ist hier nicht der Ort, grundsätzlich die Aufgaben der Schule zu er¬
örtern; daß sie heute noch tatsächlich Erziehungsaufgaben hat und haben
muß, steht fest, und von dieser — meinetwegen nur zeitbedingten, aber für
uns verbindlichen — Anschauung aus erhebt sich die schwere Frage, wie
die Schule das unendlich feine und verwickelte Aufgabenbereich der emo¬
tionalen Bildung sich eingliedem kann, wie sie ihre ganze pädagogische
Arbeit von ihr beseelen lassen muß. Daß die Herbart’sche Theorie des
„erziehenden Unterrichts“, daß namentlich Zillers moralisierende Auslegung
dieses Gedankens nicht der einzige, ja nicht der fruchtbarste Weg dazu ist,
dürfte die tatsächlich abnehmende Befolgung dieser Einstellung ebenso unzwei¬
deutig gezeigt haben wie die theoretische Kritik derselben. Ob die neuen
Gedanken der „Arbeitspädagogik“, einer Schule als verkleinerten Spiel- und
Übungsform des Gemeinschaftslebens und der „Erlebnispädagogik“ von ihren
berechtigten Ausgangspunkten her je länger je mehr fähig werden, eine neue,
umfassende Theorie auch der emotionalen Bildung zu schaffen, steht noch
offen. Jedenfalls haben sie, namentlich die „Erlebnispädagogik“, das Verdienst,
direkter im Zentrum der Persönlichkeit anzugreifen als die Theorie der in¬
tellektuellen Bildung, die schließlich, so imponierend ausgestaltet sie ist, doch
Funktionen erfaßt, die vom Standpunkt des Lebens aus Mittel, Instrumente,
nicht aber Kerntriebe der Persönlichkeit sind.
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222
Aloys Fischer
Im Sinne eines Beitrags zur Theorie der emotionalen Bildung soll in den
folgenden Leitsätzen auf eine Frage eingegangen werden, welche, in der Zeit
der Kunsterziehung lebhaft erörtert, heute in Gefahr ist, über den staats¬
bürgerlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Belangen der Persönlichkeit
übersehen und so um ihre Auswirkung gebracht zu werden, nämlich die
Bedeutung der Dichtung als Hilfsmittel der emotionalen Bildungs¬
arbeit gerade der Schule.
Geschichtlich betrachtet enthält unser Problem im Einzelfall den Einfluß
der nur „auf Lehre“ bedachten Einwertung der Schule in deutlichem Maße.
In der Entstehungsz^it der Volksschule wird die Dichtung höchstens gelegent¬
lich herangezogen zur Erholung, Erheiterung, Anregung, in stofflichem Interesse
und darum inhaltlich vor allem in Verbindung mit der Religion und der
Pflege des religiösen Lebens. In Zeiten, in denen die Kirchengemeinden den
Volksgesang als eine Macht hochhielten, lag es nahe, schon der Schuljugend
das religiöse Lied, besonders dasKirchenüed, nahezubringln, und jederunbefan-
gene Betrachter wird einräumen müssen, daß mit Wort und Melodie des Kirchen¬
liedes eine allerdings imponderable, aber nicht gering zu bewertende Summe
von Einflüssen auf Gemüt und Wdkthaltung den jugendlichen Menschen zufloß.
Als man in der Zeit des beginnenden psychologischen Kinderstudiums auf die
elementare Empfänglichkeit des jungen Menschen für Rhythmus und Reim
aufmerksam wurde, deren hohe mnemische Funktion neben ihrem Lustwert
erkannte, hat eine utilitaristisch gesinnte Didaktik diese psychologische Gesetz¬
mäßigkeit als Lernhilfe ausgebeutet. Wir lächeln über die mnemotech¬
nischen Kunstgriffe, mit denen mittelalterliche Klosterschulmethodik die Sprach-
regeln und scholastischer Universitätsbetrieb die Schlußformen der Logik
einprägen ließ, aber die zugrunde liegende didaktische Denkweise ist noch
lange nicht ausgestorben, sie hat vielmehr (etwa bei Fröbel und manchen
seiner Mitarbeiter und Nachfahren) Formen angenommen, die bedeutend
grotesker sind. In der Erziehung des Eieinkindes ist der Bilderbuchmerk¬
vers stehend geworden, und in manchen Arbeiten des deutschen Philanthro¬
pismus hat der Grundsatz, das' Lernen leicht und zum Spiel zu machen,
Reim und Rhythmus auch in den Dienst des Geschichts-, Sprach- und Sach-
unterrichts gezogen, in Zerrformen der Poesie, die oft nicht einmal durch
ihre naive Komik oder ihren unbeabsichtigten Humor entschädigen.
In der Auseinandersetzung zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus
wurden — die Lesebuchfrage ist dafür das bezeichnendste Denkmal — zwei
neue, seither rivalisierende Stellungnahmen der Schule zur Dichtung heraus¬
gearbeitet, verwandt in der fremddienlichen Zwecksetzung, entgegengesetzt
in der Spezialisierung der Zwecke: Die Dichtung im Dienst des Sach-
Unterrichts und die Dichtung im Dienst des Sprachunterrichts. Der
erste Höhepunkt eines sogenannten Kinder- und Jugendschrifttums zeigt uns
die Fabel, die lehrhafte und erbauliche Geschichte, die moralisierende Er¬
zählung, den Sachaufsatz des Schülers in der Gestalt, die ein schreibender
Lehrer und Erzieher ihm zu geben vermag. Es gehören natürlich die ganzen
Gedankengänge eines in das Raisonnement verliebten Zeitalters als Hinter¬
grund dazu, um diese Entwicklung verständlich erscheinen zu lassen, aber
auch die speziellen pädagogischen und didaktischen Grundanschauungen
einer vemunftgläubigen Zeit, um die didaktische Abart der Dichtung gerade
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 223
als jugendgemäßeste zu empfinden. Der höheren Schule hatte das alt¬
humanistische Ideal der Eloquenz den Weg in die Plattheit etwas erschwert.
Als nun der Neuhumanismus die antike Kultur als Bildungsmittel umdachte,
tat er es in einer Zeit und einer Tiefe, die uns die Benennung mit dem für
den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit üblich gewordenen Ausdruck fast
als irreführend erscheinen läßt. Eine Kulturgesinnung, für die das Ziel der
Bildungsarbeit die Persönlichkeit als Kunstwerk ist, mußte zur Kunst über¬
haupt eine andere Stellung gewinnen als der realistische Philanthropis-
mus. Es ist seltsam und bedürfte noch eingehender Untersuchung, warum
gleichwohl auch im Neuhumanismus der kunsterzieherische Gedanke wesent¬
lich auf die Literatur beschränkt blieb und auch hier bald eine Abbiegung
erfuhr. Sicher ist,' daß für die Volksschule, deren entscheidender Aufschwung
in die Zeit der nationalen Wiedergeburt fällt, unter dem mittelbaren Einfluß
des Neuhumanismus und im Zusammenhang mit der Romantik, die sich, auf
Herders organischem Volksgedanken fußend, in der Idealisierung des Mittel¬
alters eine Art germanischer Renaissance schuf, eine veränderte Stellung
zur Spracherziehung und damit zur Dichtung ergab. Die Notwendigkeit der
Erziehung zur deutschen Schriftsprache war ja für die Volksschule immer
vorhanden gewesen, jetzt weitet sich diese Aufgabe aus zur Idee der Erziehung
zu dem in der Sprache verkörperten deutschen Geist und zur Fähigkeit der
Teilnahme an seiner historischen Mannigfaltigkeit, dem deutschen Schrifttum.
Das Volksmärchen wird gesammelt, das Volkslied; beide wirken als literarische
Anreger, die Rheinpoesie entsteht; Arndt, Uhland und Rückert schreiben ihre
vaterländischen Lieder. Herders Begriff der dichtenden Volksseele wird von
Hegel erweitert zum denkenden Volksgeist. In dem Bewußtsein, daß „Deutsch¬
land da sei durch sein Volk“, dem der Historiker Dahlmann 1815 bei der
Feier des Sieges von Waterloo Ausdruck gegeben hatte, schuf für die Er¬
ziehung, vor aUem für die deutsche Schule eine erhöhte Verantwortlichkeit
für das nationale Bewußtsein. Wir sehen, wie stofflich der Kreis der schulisch
angezogenen Dichtung sich erweitert nach der Seite des Volkstümlichen
und Volksmäßigen, des Historischen und Vaterländischen, in Verbindung mit
Gesang und Turnspiel, müssen aber methodisch als Fesseln die bald zur
Herrschaft gelangende Theorie des GeBinnungsunterrichts und eine starke
Bindung an Aufgaben des reinen Sprachunterrichts mitkonstatieren.
Selbstverständlich erstreckt sich die Auswirkung der beiden Prinzipien weit
ins 19. Jahrhundert hinein, und noch Dörpfeld hat an der Lesebuchfrage
gezeigt, wie das Realienbuch (das auch aus der Dichtung Entlehnungen
benutzt) und das literarische Lesebuch miteinander im Streit liegen. Einen
grundsätzlich neuen Gesichtspunkt führten erst die Überlegungen herauf, deren
sichtbarer, freilich relativ spät heraustretender Markstein die Kunsterziehung
geworden ist Die Dichtung soUte ihr der von aüer Zwecksetzung aus Sach-
und Sprachunterricht losgelöste Mittelpunkt einer autonomen ästhetisch¬
literarischen Erziehung, einer Geschmacks- und Gemütskultur auch der
breiten Massen werden. Das Kind sollte Dichtung genießen, werten und
lieben lernen. Verwandt mit der Gesinnung der Romantik begann eine
neue Welle des Irrationalismus langsam zu steigen, die Abkehr von dem zur
Höchstspannung gereiften Geist einer rationalistischen Zweckzivilisation und
eines auf dem Gebiet der Wirtschaft und Technik beispieUos erfolgreichen,
aber den Menschen entseelenden und verarmenden Arbeitsfanatismus. Das
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Aloys Fischer
224 .
ausgehungerte Gemüt begann sein Recht zu fordern, und edle Naturen glaubten
in der Kirnst das Organ für eine neue Weltanschauung und auch für die Bil¬
dungsarbeit fruchtbar machen zu können und zu sollen. Es ist bekannt, in
welchen Programmen und Versuchen sich der neue Geist auf dem Gebiet der
schulischen Pflege der Dichtkunst geltend machte. Alle absichtliche Kinder-
und Jugendliteratur wurde skeptisch, ablehnend beurteilt, das Lesebuch ver¬
worfen, die Prinzipien der Auswahl für den jugendlichen Leserkreis revidiert,
jeder Erklärung der Dichtung Krieg angesagt, die eigene Produktivität des
Kindes auch auf literarischem Gebiet entdeckt, gepflegt, überschätzt Neue
Formen der Darbietung in Jugendbüchereien und Lesehallen bürgerten sich
ein als positive Ergänzung des Abwehrkampfes gegen den literarischen Schund.
Vergleicht man mit den geschilderten methodischen Strömungen die jeweils
als kanonisch betrachtete Jugendliteratur, so enthüllt sich der. gemeinsame
Hintergrund noch deutlicher. Im Philanthropismus wird die Kunstfabel,
das moralische Stück, der Realienaufsatz gepflegt; es entsteht ein auch in
periodischen Zeitschriften für Kinder- und Schülerhände gepflegtes Schrifttum,
dessen Verfasser wohlmeinende Lehrer und Erzieher, aber selten begnadete
Dichter gewesen sind; selbst in den besten dieser spezifischen Jugenddichter
und Jugenderzähler ist der moralische und lehrhafte Mensch beträchtlich
stärker als der künstlerische. In der Romantik wird der Anschluß an die
freie Literatur gefunden, aber noch stofflich beschränkt; das religiöse und
patriotische Lied, die Ballade erhalten Bürgerrecht im Kanon der Schul- und
Hauslektüre des Kindes. Im Zusammenhang mit der Kunsterziehung wird
die hiermit angebahnte Entwicklung wesentlich erweitert: Die Klassizität der
Volksdichtung und der sogenannten Volksschriftsteller wird entdeckt; Kinder¬
reime, Volksmärchen, Volkserzählung, Heimatdichtung finden in der Familien¬
erziehung wie in den Schülerbüchereien stärkere Berücksichtigung; auch
der Kreis der aus der klassischen Zeit der Nationalliteratur für die Jugend
gehobenen Schätze erweitert sich; die Schülervorstellung im Theater, die
Rezitation durch große Vortragskünstler bürgert sich ein; verdienstvolle Aus¬
lesesammlungen in billigen Bücherreihen werden begründet. Der Begriff der
„spezifischen Kinderliteratur“ wird überwunden, sie selbst als eine weder
durchweg literarisch wertvolle noch deshalb auch pädagogisch tiefstergiebige
Zwittergattung zwischen künstlerischer und didaktischer Einstellung erkannt
und der Anschluß der Jugend an „die große Literatur“ unseres Volkes an¬
gebahnt.
Den gleichen Wandel zeigt die Methode der Behandlung; immer erfolgreicher
setzt sich der Kampf gegen die Verschulung des freien Geistes durch. Die
Dichtung als Grundlage für formale Denk- und Sprachübung kommt in Mi߬
kredit; das Problem, wie man erklärungsfrei Dichtung so darbieten könne,
daß sie lebendige Wirkung zeitige, wird in vielerlei Varianten zu lösen ver¬
sucht, aber schließlich kam der Zug zur Systematisierung, diesmal der Kunst¬
erziehung selbst, doch wieder zur Geltung und rückte die Möglichkeit einer
neuen an Stelle der alten intellektualistischen Schablone nahe.
Die gegenwärtige Situation ist durch den noch unausgetragenen Kampf
der vorstehend angedeuteten grundsätzlichen Richtungen gekennzeichnet, im
allgemeinen durch die Neigung bestimmt, in der ästhetisch-literarischen Rich¬
tung den nicht nur bisher höchsten, sondern auch den für die weitere Ent¬
wicklung fruchtbarsten Gesichtspunkt zu erblicken. Und doch überzeugt
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 225
eine tiefere Besinnung, daß auch er eine nicht weniger seelenfeme Kon¬
struktion darstellt wie die sprach- oder die sachunterrichtliche Einstellung
der Poesie in den Bildungsgang der Schule. Die Gefahr, die auf dem Boden
der literarischen Geschmackskultur tariert, ist die Isolierung der ästhetischen
FQhlkräfte des heranwachsenden Menschen gegen die fruchtbare Wechsel¬
wirkung mit allen übrigen seelischen Kräften und Bedürfnissen, die allzu
große Gleichgültigkeit gegen Inhalt und Tendenz, die Überschätzung der
Formwerte, die unergriffene Kaltschnäuzigkeit des ästhetisierenden Virtuoso.
Um das, wie mir scheint, relative Recht der bisher einseitig gewechselten
Einstellungen klarlegen zu können und so zur Anbahnung einer gesunden
und fruchtbaren Eingliederung der Dichtung in den Bildungsgang der Schule
beizutragen, wird es unerläßlich sein, sich auf den natürlichen Gang der
emotionalen Entwicklung und das Ziel der emotionalen Bildung immer erneut
zu besinnen. Ihr Kern ist der Aufbau der individuellen menschlichen Per¬
sönlichkeit auf dem Boden ihrer psychischen Konstitution, ihr Mittel nicht nur
absichtliche Erziehung und Bildung, sondern ebenso das Reich der eigenen
Erlebnisse und Schicksale, ihr Hintergrund das geistig bewegte Leben einer
Kulturgemeinschaft. Fragt man nun, was hat der Künstler, speziell der
Dichter für Möglichkeiten, in das feine Wachstumsgetriebe und den orga¬
nischen Prozeß der Bildung der Persönlichkeit hineinzuwirken, so zeigt sich,
daß es seine ganze originale Stellung zu Welt und Leben ist, die für den
Heranwachsenden eine geradezu magisch anziehende Orientierungskraft besitzt
Die Tiefe, der Reichtum und die Geschlossenheit seines im Werk objektivierten
Erlebnisses und Lebens wird die entscheidende Seite. »Und frische Nahrung,
neues Blut“ saugt der Mensch, besonders der werdende, nicht nur aus der
frohen Welt, aus seiner eigenen originalen Berührung mit Natur und Schicksal,
sondern auch aus der Berührung mit dem Menschen höherer Seinslage.
Eine kurze Besinnung am Beispiel der lyrischen Dichtung — die Musik
könnte ruhig an ihre Stelle treten — wird uns davon überzeugen, auf
welchen Grundlagen der bildende Wert der Dichtung ruht und wie er dem¬
gemäß in der Erziehungsarbeit gehoben werden kann.
Jeder Mensch ist nach seiner seelischen Konstitution zu dieser oder jener
Art des Erlebens als der häufigsten sozusagen vordisponiert, gestimmt; einerlei
was er erlebt, das Wie der fühligen Auseinandersetzung mit der Sachlichkeit
der Erfahrungsinhalte ist als persönliche Konstante seltsam gleich. Wer etwa
eigene Kinder in ihrer ganzen Entwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte,
wird überrascht gewesen sein, wie verwandt ihre Art „zu reagieren“ war bei
den verschiedensten Gegenständen, in den verschiedensten Epochen ihres
Lebens, trotz aller Unterschiede der Einflüsse und Erziehungsbemühungen.
Ich beschränke mich auf die Auseinandersetzung des Gemüts mit der Sicht¬
barkeit der Dinge. Das gegenständlich scharfe Auge und der sozusagen
deskriptive Zug der seelischen Einstellung läßt' den einen im „Abend“ als
Erlebnis die Details der sichtbaren Natur, die Verfärbung der Dinge, die Ver¬
blassung des Lichts, das Absterben der Laut- und Arbeitswelt sehen und
regt in ihm die unendlich wohlige Empfindung der Entspannung, der Lösung
und Feierstille an. Der andere, leidend unter den Unsicherheiten der Sinnes¬
orientierung, unter der Ungewißheit der Erscheinungswelt wird-yon Schauem
angeweht, über denen die — objektiv ebenso möglichen — Grundlagen der
Friedensstimmung sich abschwächen bis zur Unwirksamkeit. Einem dritten
Zeitschrift f. pädsgog. Psychologie. 15
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drängen sich in die Beobachtungen seine Erinnerungen: der Abend als Natur¬
situation wird überdeckt durch den Abend als Tagesende in der Welt der
Geschäftigkeit, der Stadt. In allen ziehen die unmittelbaren Eindrücke ihre
Fäden nach rückwärts und vorwärts. Aus der persönlichen Gleichung der fühlen¬
den Erlebnisweise entspringt ein Vorstellungsspiel, das die singuläre Natur¬
gegebenheit weiter zum Symbol erhebt, zum anschaulich-repräsentativen Träger
einer, seiner Lebensgrundstimmung der gesättigten Loslösung, der feiernden
Kontemplation, der Innenkonzentration, der Angst, der Erhebung, der Freiheit
oder Hemmung. So dichtet jeder innerlich sein Abendlied, ohne Worte und
Melodie, in der Schwingung seiner Gefühlswelt. Trifft die personale Erlebnis¬
form in einem Werk der Dichtung, der Musik, der Malerei auf eine verwandte,
die sich aber von der eignen Flachheit und Flüchtigkeit durch die überdurch¬
schnittliche oder geniale Tiefe, Kraft, Lauterkeit der höheren Art und den
mitreißenden Ausdruck gestaltender Bewältigung unterscheidet, so ist die
auch ohne alle didaktische Kirnst erreichte Folge eine Läuterung, Vertie¬
fung und Höherbildung der eigenen Fühlweise, ihre Verstärkung durch
die Resonanz. Also als Vertiefung der eigenen Erlebnisfähigkeit
müssen wir die erste, ungesuchte Wirkung der Kunst, speziell der mit den
populärsten Mitteln gestaltenden Dichtkunst einwerten. Aber sie ist ebenso
Bereicherung der eigenen Erlebnis fähigkeit, also Weitung der eigenen
Persönlichkeit. So gewiß eine bestimmte Erlebnisform die ursprünglich ge¬
gebene, sozusagen konstitutionsgemäße ist, so wenig ist der einzelne Mensch
in seinen Erlebnismöglichkeiten doch auf sie eingeschränkt. Die historische
und plastische Natur der Seele verrät sich vielmehr darin, daß jeder von uns,
eingetaucht in ein geistiges Kollektivleben, andauernd annimmt und assimiliert,
und zwar nicht nur in der gleichen Richtung, auf die er selbst schon von
Haus aus angelegt ist. Unsere eigene personale Erlebnismöglichkeit wird
durch die Berührung mit anderen, davon abweichenden beständig bereichert,
erweitert. Diese Bereicherung der Persönlichkeit ist eine besondere Aufgabe
der bildungsfähigen Jahre, weil in ihnen eine Verfestigung in einer Richtung
noch nicht so weit erfolgt ist wie später. Vergleicht man „Jugend“ und
„Alter“ als psychologische Tatsachen, so ist einer der am meisten in die
Augen springenden Unterschiede nicht so sehr die Grad- und Leistungs¬
verschiedenheit der einzelnen psychischen Funktionen, als vielmehr der größere
Reichtum an seelischen Möglichkeiten in der Jugend (womit der vielfach un¬
bestimmte Charakter der jungen Menschen zusammenhängt) gegen die geringere
Weite der Möglichkeiten des Alters, das dafür durch größere Eindeutigkeit
und Tiefe ausgezeichnet ist. Daß gerade die Kunst das Organ ist, die Weiter¬
bildung der werdenden Persönlichkeit zu führen, und die Jugend gerade der
Entwicklungsabschnitt, in dem diese Weitung psychologisch die günstigsten
Bedingungen findet, sichert ein für allemal die Stellung der Kunst in der
Reihe der großen Erziehungsmittel. Wenn ich wieder an das obige Beispiel
anknüpfe, so vergegenwärtige man sich einmal die verschiedenen Welten, in
die der Wandsbecker Bote („Der Mond ist aufgegangen“), Hölderlin („An den
Abend“), Richard Dehmel (Sommerabend) blicken lassen, wenn sie ihre Abend-
lieder singen.
Haben wir die Dichtung bisher — wie alle Kunst — als ein Instrument
der Vertiefung und der Bereicherung der eigenen Persönlichkeit betrachtet, so
ist sie, ich möchte sagen, in überlegener Weise — die Schule der Einigung der
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 227
Persönlichkeit. Der „empirische Charakter“ ist jederzeit etwas von einem
„Bündel“, nicht freilich wie Hume gemeint hat, nur von Vorstellungen
oder, wie manche Dispositionspsychologen der Gegenwart glauben, von An¬
lagen und Triebrichtungen, wohl aber doch ein Bündel im Sinne einer innerlich
unausgeglichenen Mannigfaltigkeit geistiger Gegebenheiten der verschiedenen
Art; er ist als empirischer stets nur „auf dem Weg“ zur Selbstvollendung
seiner Form in einer scharf durchstilisierten Persönlichkeit Von der
Energie dieses Strebens nach Einigung mit sich selbst und in sich selbst,
nach Geschlossenheit der persönlichen Form Mngt das moralische Schicksal
und der Personwert mindestens ebenso ab wie von Tiefe und Fülle, Kraft
und Mannigfaltigkeit. Ich behaupte nicht, daß im Künstler als empirischer
Individualität, wohl aber daß im Kunstwerk die Geschlossenheit der Form
als Einheit der Seele lebt und richtunggebend auf jeden ausstrahlt, der sich als
Betrachter hinein versenkt. Nichts sonst von den menschlichen Erzeugungen
steht so unter den Gesetzen der Form und des Stiles wie das Kunstwerk.
Wenn man etwa die Architektur eiiles philosophischen Systems, die folge¬
richtige Systematik einer deduktiven Wissenschaft als Gegeninstanz anzieht,
so übersieht man, daß es in solchen Leistungen des theoretischen Menschen
gerade das künstlerische Element ist, das den Vergleich gestattet, ebenso
etwa, wenn man an manche, mit Recht als „Kunstwerke“ angesprochene
Staatsformen und Verwaltungen denkt.
Der Reichtum, die Fülle und Breite, die Tiefe und Kraft, die Vollendung
und Form einer Persönlichkeit sind die Hauptdimensionen, in denen sich der
Personwert entfaltet; sie sind die Hauptziele einer emotionalen Bildung. Ohne
zu verkennen, in welchem Ausmaß die irrationalen Werte der Religion, der
Sittlichkeit, des freien Verkehrs an der Entwicklung dieser Dimensionen des
Personwertes beteiligt sind, und ohne zu untersuchen, in welcher Integration das •
religiöse, sittliche und politische Element mit dem ästhetischen arbeitsteilig sich
verbinden müssen, um die Bildung der Person zu leisten — das wäre eine
vollständige Theorie des emotionalen Denkens und der emotionalen Bildung —,
haben uns die angestellten Überlegungen doch davon überzeugt, daß auftlie
Kunst als Element der emotionalen Bildung, jeder Bildung schlechterdings
nicht verzichte^werden kann. Es ist eine folgenschwere Verkennung dieses
Sachverhaltes, ein Mißverständnis gleichermaßen des geistigen Wesens des
Menschen wie der Kultur, wenn man in der Kunst ein „nicht einmal un¬
entbehrliches Lebensgut“ erblickt, nur eine das Leben verschönende Luxus-
eistung des schaffenden Geistes, und von einem solchen Standpunkt aus
die emotionale Bildung im Durchschnitt auch ohne die Kunst für möglich
hält. In der Praxis freilich hat dieser Standpunkt sich niemals recht be¬
haupten können, wohl aber hat seine grundsätzliche Gleichgültigkeit verhängnis¬
volle Fehler in. der Auswertung des doch niemals ganz außer Acht gelassenen
Erziehungsmittels Kunst nach sich gezogen.
Mit einem kurzen Wort können wir den Standpunkt begründen, warum
gerade die Dichtung sozusagen als das Hauptstück nicht nur der Kunst¬
erziehung, sondern der erzieherischen Auswertung der Kunst überhaupt zu
gelten hat. Ihre Sprache ist allgemein verständlich, sie ist am wenigsten .
an die individuell differierenden Begabungen für das Material gebunden, uni¬
versell zugänglich (etwa im Gegensatz zur Musik oder auch zur bildenden
Kunst); sie ist ihrem geistigen Inhalt nach die umfassendste. Gerade der
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Umstand, daß der Inhalt des dichterischen Kunstwerkes ein Zentralpunkt für
eine vielseitige innere Verarbeitung werden kann, bestimmt die Vorzugs¬
stellung der Dichtung unter den Künsten — für die Zwecke der Jugend¬
bildung.
Vermögen Überlegungen zur Theorie der emotionalen Bildung Notwendigkeit
und Ziele der Dichtung im Bildungsgang der Schule zu erklären, so darf eine
unpedantisch verstandene Psychologie des spontanen literarischen Interesses
Berücksichtigung finden bei der Auswahl und Gestaltung der Erziehung durch
und zur Dichtung im einzelnen. Ich verstehe dabei unter dem „literarischen
Interesse“ des Kindes nicht nur seine Wertung und Nutzung der ihm gedruckt
zugänglichen Erzeugnisse des Schrifttums; dem literarischen Interesse be¬
gegnen wir auch in den mündlichen Erzählungen und Unterhaltungen, die es
liebt, in den Liedern, die es singt, in den eigenen Produktionsversuchen.
Stützt man sich auf Beobachtungen nach allen diesen Richtungen gleichmäßig
und versucht man, Konvergenz in den Einzeltatsachen herauszufinden, so kann
man wohl — unbeschadet kleiner individueller Schwankungen — ein typisches
literarisches Interesse jeder markanten Altersstufe feststellen, allerdings nur
bis in die Pubertätsanfänge. In und nach den Reifejahren wird der Jugend¬
liche ganz „er selbst“, und jedes seiner Lebensgebiete erhält eine Nuancierung,
die der generalisierenden Beschreibung, häufig genug selbst der Typisierung
widerstreitet. Die Psychologie des Menschen muß psychologische Biographik
werden, um noch einigermaßen ihrem Objekt nahe zu kommen und gerecht
zu bleiben.
Es ist in letzter Zeit mehrmals der Versuch gemacht worden, den Stufen¬
gang der literarischen Interessenentwicklung zusammenfassend zu beschreiben
und durch repräsentative literarische Erscheinungen zu veranschaulichen. Im
« Anschluß daran und nach dem gleichen Verfahren sind auch die folgenden
„Stufen“ entworfen.
Das Kleinkind im Spielalter ist in seiner seelischen Struktur nicht differenziert
genug, um eine reinliche Scheidung der ästhetischen Sphäre von der Gesamt¬
heit der seelischen Betätigungsformen zu gestatten. Aber es zeigt un¬
zweifelhaft Anfänge und Keimformen später sich immer mehr verselbständigender
Richtungen seines Binnenlebens. So ist es auch für das literarische Interesse
Vorperiode. Fragt man, in welcher Richtung das Interesse in dieser Vor¬
periode kulminiert, so zeigt ein Vergleich der — in Deutschland und namentlich
in England — reich entwickelten Bilderbuch- und Kinderbuchliteratur den
Weg. Unter Benutzung des noch immer beliebtesten, ganz aus der persön¬
lichen Erziehungsarbeit eines Vaters an seinen Kindern herausgewachsenen
„Struwelpeters“ könnte man die Vorperiode als „Struwelpeterzeit“ be¬
zeichnen. Der Inhalt sind die kleinen Ereignisse des eigenen Kinderlebens,
die Umstände und Zeremonien beim Essen, Trinken, Ankleiden, Waschen,
bei Krankheit, die kleinen Kinderstreiche und der Antagonismus zwischen
Kinderwunsch und Erzieherabsicht. Die Praxis der Benutzung zeigt, daß der
Struwelpeter am wirksamsten ist, wenn der Erzieher ihn so benutzt und ge¬
gebenenfalls umformt, daß er gerade auf sein Kind zutrifft. Die Form ist eine
seltsam primitive, aber wie Wilhelm Busch zeigt, höchster künstlerischer Aus¬
gestaltung fähige Spezialität illustrierender Kirnst. Die sprachliche Seite arbeitet
mit kurzen Zeilen in stark akzentuiertem Rhythmus und leicht haftendem
Reim. Das einzige unter Umständen bedenkliche Moment ist die erzieherische
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schuleriiehung 229
Absicht, die aber das Kind über der Sachlichkeit der Begebenheit weniger
empfindet, als dem Erzieher lieb ist Es gibt natürlich Literatur, die wert¬
voller ist als der Struwelpeter, aber sie ist doch durch die gleichen Momente
ausgezeichnet: Auszähl- und Spielverse, Kinderreime und alte Wiegenlieder
(letztere stark gehoben durch das musikalisch-melodische Element) und —, viel¬
leicht an der Grenze dieses Alters — die Bubenstreiche und Bilderbogen von
Wilhelm Busch.
Ohne bestimmte Qrenze geht die Vorperiode dann in die Märchenzeit über,
gelangt das Kind zum erzählten, nach und nach auch zum gelesenen Märchen,
immer mit der Neigung, den persönlich lebendig machenden Vortrag, selbst
das Vorlesen mit seiner — freilich nur rudimentären — Dramatisierung durch
Stimmwechsel dem stillen Selbstlesen vorzuziehen. Von größtem Interesse
ist die Erweiterung des Inhalts: sie vollzieht sich von der reinen Kinderwelt
zu dem Weltbild des Kindes. Im übrigen zeigt die Struktur namentlich des
Volksmärchens (abgeschattet auch einzelner Kunstmärchen) sowohl Verwandt¬
schaft wie Fortschritt gegenüber dem Inhalt der Struwelpeterzeit sehr deutlich.
Auch das Märchen arbeitet mit wenig Personen, die auf eine Haupteigenschaft
reduziert sind, mit markanten Situationen, durch die die Entwicklung vorwärts
drängt, ohne Ausmalung, verweilende Schilderung, detaillierte psychologische
Begründung, und lebt von einer „Tendenz“. Auf das kleinste Maß reduziert
und zugleich in die realistische Ebene der eigenen Lebenswirklichkeit gestellt,
hat der Struwwelpeter diese Momente schon gezeigt; das Märchen erweitert
die Situationen nicht unbeträchtlich und schiebt dem ganzen Weltlauf Pläne
unter, wie sie das Kinderleben beherrschen. Beinahe noch interessanter als
im Inhalt dokumentiert sich in der Form des Märchens zugleich der Zu¬
sammenhang mit der Vorperiode wie der Fortschritt über sie hinaus. Das
Märchen erzählt in Prosa, verwendet aber an seinen Höhepunkten ungesucht und
unwillkürlich denselben stark akzentuierten, knappen Merkvers wie die Kinder¬
reime. Ich glaube, die Verse aus „Schneewittchen“, aus „Hänsel und Gretel“,
„Aschenbrödel“, die das Gerippe der ganzen Erzählung bilden, summen wohl
lebenslang in jedem deutschen Menschen nach. Wenn wir die erste Haupt¬
periode des literarischen Interesses dhrch das Märchen, seine Welt und seine
Form kennzeichnen, so ist damit nicht gesagt, daß ausschließlich das Volks¬
märchen. bevorzugt ist. Wenn auf der Unterstufe der Volksschule die biblischen
Geschichten von Weltschöpfung und Paradies, von wunderbaren Opfern und
Errettungen aus religionspädagogischen Gründen, manche Kunstmärchen aus
Gründen eines Sitten-Anschauungsunterrichtes behandelt werden, so haben
diese literarischen Erscheinungen durchaus ihren psychologisch richtigen Ort,
weil sie der ganzen, durch das Märchen umschriebenen geistigen Einstellung
durchaus entgegenkommen.
Im Alter von 9—10 Jahren macht sich wieder ein Umschwung bemerkbar,
ein Abklingen der reinen Kindereinstellung mit ihrem vom Märchen adäquat
gespiegelten Weltbild, eine Wendung zur echten Wirklichkeit zunächst der
äußeren Welt. Man kann — wie es schon Roiisseau getan hat — diese Periode
alsRobinsonzeit kennzeichnen. Deutlich klingt in der einschlägigen Literatur
der Märchengeist nach und klingt aus, aber ebenso deutlich kündigt sich eine
andere Interessenrichtung an: jene auf den hervorragenden Menschen, den wirk¬
lichen Helden in der wirklichen Welt, weg von einer Verkörperung der Kinder¬
wünsche in einer Spielwelt. Der Aufbau der Robinsonaden gewinnt gegen-
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über der Komposition des Märchens an innerer Wahrscheinlichkeit und Folge¬
richtigkeit; die Situationen und die darin steckenden Aufgaben bilden Ernst¬
probleme, die den grübelnden Oeist des Kindes beschäftigen; der Held nimm t
eine gewisse Wirklichkeitsschwere an. Gelangt die sich hier ankündigende
neuet Richtung zum endgültigen Sieg, so tritt (etwa um das 11. Lebensjahr)
das literarische Interesse des Kindes in seine zweite Hauptperiode ein, in
die Heldenperiode. Die nationale Sage, die einfache Epik in Ballade und
Romanze, die eigentliche Heldenpoesie in ihrer Ausgestaltung ebenso nach
der Seite der Ritterdichtung wie der Abenteurergeschichten; die Indianer- und
Lederstrumpferzählung, das Reiseabenteuer, die Schicksale der grofien Ent¬
decker, Erfinder, Feldherm treten in den Mittelpunkt bis etwa zu der (unter
diesem Gesichtspunkt ebenfalls psychologisch richtig eingestellten) Lektüre von
Nepos, Cäsar, Fönölon Scott, Manzoni auf der Mittelstufe der höheren Lehr¬
anstalten.
Mit der Pubertät hört — soweit wir bisher feststellen können — die Gleich¬
artigkeit der Interessen mehr oder minder auf; die sich festigende und ver¬
selbständigende Individualität des Jugendlichen prägt sich auch in seinem
mehr oder minder individuellen Leseinteresse aus. Je nach Fachveranlagung ver¬
drängen das technische Interesse, das naturwissenschaftliche Sammeln, der
Dilettantismus im Malen und Musizieren die stille Neigung zum Lesen ganz
oder teilweise; auch in der spontanen Wahl der Privatlektüre kündigen sich
die Unterschiede der Individuen an, und in der Pflichtlektüre der Schule äußern
sie sich als besondere Ergriffenheit oder gänzliche Teilnahmlosigkeit je nach der
Entsprechung oder Diskrepanz zwischen der erstarkenden individuellen Neigung
und der allgemeinen Richtung der Pflichtlektüre. Man kann erst von diesem
Alter an die Anzeichen eines persönlichen Geschmackes feststellen, Anfänge der
kritischen Einstellung, bewußte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher
und schöner Literatur und innerhalb derselben Vorliebe bald für die eine
und andere Gattung, bald für bestimmte literarische Persönlichkeiten und
Manieren. Als einigermaßen häufigere und allgemeinere Erscheinung tritt in
den Gefühlsstürmen der Entwicklungsjahre das Interesse für die lyrische
Dichtung (besonders in ihrer hymnischen Gehobenheit) und für das Drama
auf; doch keineswegs so ausgesprochen, daß man von einer eigentlichen
lyrischen und dramatischen Epoche des literarischen Interesses sprechen könnte.
Versucht man von den vorstehenden Grundlagen einer Theorie der emotio¬
nalen Bildung und der einer Entwicklungspsychologie des literarischen
Interesses aus nun zu den methodischen Fragen der Behandlung des dich¬
terischen Kunstwerks Stellung zu nehmen, so ergibt sich, daß sie auf jeder
Stufe möglich ist, aber auf allen Stufen in erster Linie von der Persönlich¬
keit des Lehrers und seinem originalen Verhältnis zur Dichtung selbst ab¬
hängt. Die Konsequenzen namentlich des letzten Umstandes für die Frage
der Auslese und Ausbildung für den Lehrberuf lasse ich hier auf sich be¬
ruhen; ich müßte in Kritik und Programmatik anknüpfen an ältere, noch
immer der Erfüllung harrende Gedankengänge z. B. der Hamburger Lehrer¬
schaft und könnte nur zeigen, warum die aktuelle Situation zu den gleichen
Forderungen drängt. Eine amusische Persönlichkeit ist für den Lehrerberuf
wenig geeignet, nicht bloß aus Gründen der Kunsterziehung im engeren
Sinn, sondern wegen ihrer geistigen Enge und Unbeschwingtheit auch aus
allgemeinen erzieherischen Rücksichten.
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 231
Den geeigneten Lehrer vorausgesetzt und ebenso zugegeben die Notwendig¬
keit, die Dichtung in jedem Stadium der Schulerziehung als Hilfsmittel zur
Vertiefung der werdenden Persönlichkeit heranzuziehen, erheben sich nun
die Fragen, wie dies am besten und wirksamsten geschehen kann: ob ge¬
legentlich oder systematisch, im Zusammenhang mit einem oder mit allen
Fächern, nur durch die verschiedenen Methoden der Darbietung oder nach
den Gesichtspunkten der „Erarbeitung“ oder denen des „Erlebens“, welche
sekundären Bildungswirkungen so wesentlich sind, dafi sie auf den Geist der
Behandlung Einfluß fiben dürfen. Darf und soll „erklärt“ werden, sei es als
Vorbereitung, sei es als Nachbehandlung? Darf und soll eingestimmt werden?
Darf und soll memoriert werden? Wie kann die häusliche Lektüre in den
Plan der Schularbeit einbezogen und wie kann schließlich ein die Schule
überdauerndes, ins Leben weiterwirkendes literarisches Interesse angebahnt
werden? Es ist klar, daß jede dieser Fragen, wie ihre teilweise recht alte
Geschichte beweist, einen weiten Umkreis pädagogischer Überlegungen erfordert
Es ist nicht meine Absicht, hier eine abschließende Didaktik der Dichtung
zu geben; ich will lediglich einige grundsätzliche Gesichtspunkte entwickeln,
und zwar ausschließlich solche, die den emotionalen Bildungswert des dich¬
terischen Kunstwerkes zum Ziele haben und von jeder Auswertung für andere
Erziehungszwecke bewußt absehen. Daß und wie man bei der Lektüre
von Dichtungen moralisieren kann, ist oft gezeigt und bekämpft worden;
ebenso wie man die Zergliederung von Gedichten als Turngerät für Ver¬
standesübungen verwendet oder mißbraucht. Gegenüber dem Moralismus
und Intellektualismus bedeuten die Gesichtspunkte der Kunsterziehungs¬
bewegung und der Erlebnispädagogik zweifellos manchen gesunden Fortschritt.
Aber auch sie sind in der Praxis von Gefahren umlauert, namentlich wenn
die Lehrerpersönlichkeit selbst ohne Tiefe ist: die erste von den Trivialitäten
eines kaltschnäuzischen oder genießerischen Ästhetentums, die letztere von
der Pedanterie des Erlebniszwanges und der Künstlichkeit des Erlebens. Jeder
der bisher zur Herrschaft gelangten „Theorien“ ist es eigentümlich, daß sie
um jeden Preis ein für alle Altersstufen, Dichtungsarten und Bildungsabsichten
passendes „System“ der Behandlung erstrebte, die „Methode“ überordnete,
ganz gleich ob die Methode lautet: Einstimmung, Vortrag, Erklärung, Selbst¬
lesung oder: Vorbereitung einschließlich der die Verständnishindernisse be¬
seitigenden Erklärung, stückweise Lektüre und Interpretation, zusammen¬
hängender Vortrag, nachbearb^itende Zusammenfassung, Würdigung und
Nutzanwendung oder Anknüpfung an eine gegebene Stimmungssituation,
Rezitation, ästhetische und literargeschichtliche Würdigung, selbsttätiger Aus¬
druck in Rede, Dlustration, schauspielerischer Darstellung. Ebenso fällt für
die Würdigung ins Gewicht, daß die bisherigen Standpunkte sich jeweils auf
eine Seite des Kunsterlebnisses stützten, diese aus der Einheit der emotionalen
Sphäre heraussonderten. Sie hatten dazu um so mehr Recht, je inniger die
betonte Seite mit dem Kern der KunBt in Berührung stand — also die
ästhetische Richtung mehr als die moralistische, diese, als immerhin noch
mit der Gefühls-Willenssphäre unmittelbar verknüpft, mehr als die rein in
der Gedankenhaftigkeit verstrickt bleibende logistische. Nicht das ist
also an den geschilderten Versuchen fehlerhaft, daß sie überhaupt die sitt¬
liche, die intellektuelle, die darstellerische Sphäre des Menschen in Aktion
versetzen, sondern daß sie die Kunstwirkung in der Einseitigkeit der einen
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oder anderen Richtung aufgehen lassen, ja sie absichtlich auf sie ein-
schränken.
Für den folgenden Standpunkt ist die psychologische Einheit der emotio¬
nalen Sphäre, ja die ungeteilte Einheit der menschlichen Persönlichkeit der
selbstverständliche Ausgangspunkt. Wenn die Kunsterziehung extremistisch
und unter dem Einfluß einer bestimmten Kunstphilosophie die Form¬
werte, die gestaltende Leistung und die daran geknüpften Funktionsgenüsse
als Anfang und Ende der Bildungsabsicht hinstellt, jede Inhaltlichkeit
als bedeutungslose Größe behandelt, so ist sie schon vom Standpunkt einer
reinen Kunsttheorie aus in modischem Irrtum befangen, als pädagogische
Bewegung aber doppelt falsch; denn für den ganzen erlebenden Menschen
ist nicht nur das Wie der Schau- und Darstellungsform, sondern auch das
Was des — allerdings nicht nur rein stofflich verstandenen — Inhaltes.
Große Kunst ist immer Kunst großer Gefühle und Vorwürfe gewesen. Nur
der artistische Snobismus, das genießerische Spielen und das bei allem
Raffinement des „Könnens“ doch nichtssagende Virtuosentum haben die in
fast jeder Hinsicht unberechtigte Entgegensetzung von „Form“ und „Stoff“
populär gemacht. Ebenso steht es fest, daß die seelische Ergriffenheit durch
ein Kunstwerk und die ganze, den Zwängen der Lebenszwecke entrückte
Geisteshaltung ästhetischer Kontemplation an sich das Ethos des Menschen
beeinflußt, auch ohne jede „moralische Tendenz“ und moralisierende An¬
wendung.
In der Einheit ihrer Weltanschauung spiegelt sich die Einheit einer Persön¬
lichkeit. Und die Kunst ist ein Organ der Weltanschauung, neben Religion
und Philosophie. Jedes Kunstwerk, das diesen Namen verdient, ist ein
„Spiegel des Universums“, der eigenartige Blick eines Menschen auf das
Ganze von Welt und Leben, vom ganzen Sein seines Schöpfers bestimmt
und auf das ganze Sein der werdenden Persönlichkeit wirkend. Eine letzte
Welterfahrung verdichtet sich im künstlerischen Symbol so gut wie im philo¬
sophischen Weltbegriff oder im religiösen Dogma; alle Ausdrucksformen der
menschlichen Welterfahrung haben das Eigentümliche an sich, den Zwiespalt
zwischen erkennender und wertsetzender Vernunft, zwischen Schau und Ge¬
staltung überwunden zu haben und aus einem, nach allen Seiten fruchtbar
wirkenden Quellpunkt für den erkennenden, fühlenden und handelnden
Menschen eine Generaldirektive zu entwickeln. Rembrandt und Schiller
haben die europäische Menschheit mindestens ebenso sehr sittlich erzogen
und intellektuell gebildet wie ästhetisch bereichert, umgekehrt etwa Denker wie
Schopenhauer und Kierkegaard dem ästhetischen Bewußtsein des Euro¬
päers nicht viel weniger gegeben wie dem religiösen und philosophischen.
Solche Überlegungen mögen andeuten, in welcher Region das Höhenziel
der emotionalen Bildung zu suchen ist, im Einheitspunkt der Persönlichkeit
Von da her sind, wie mir scheint, die Maßnahmen zu orientieren, die die
ersten Kinderschritte auf die Bahn zu diesem Endziel lenken. Auch für
Kindheit und Jugend ist das arbeitsteilig in seine einzelnen Kräfte und Lebens¬
gebiete fragmentierte Dasein, so zweckmäßig es für die didaktische Arbeit
ist, nicht Erschöpfung des Lebens; auch in Kindheit und Jugend sind die
Einzelheiten der Kräfte, Erfahrungen, Inhalte und Schicksale überwölbt von
der — natürlich kindlichen, jugendlichen, vorläufigen — Weltanschauung
der im Kern des sich entwickelnden Individuums steckenden Persönlichkeit.
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 233
Diesem Kern, diesem Gesamtsystem Wachstumsanreize zuzuführen, das
scheint mir die Hauptaufgabe der emotionalen Bildung zu sein. Die Kunst,
vor allem die Dichtung, läßt auch das Kind schon als Einheit sich fühlen,
lehrt es, sich als solche kennen zu lernen und zu behaupten — wie freilich
in anderer Weise, auf anderen Voraussetzungen und mit ihren spezifischen
Mitteln — sonst nur die Religion.
Ob sich die Bildung der Persönlichkeit zu sich selbst und ihrer Welt¬
anschauung freilich „methodisieren“ läßt, das muß fraglich erscheinen. Einst¬
weilen bleibt das Wachstum gerade in dieser geistigen Sphäre ein Geheimnis
des Organischen — und alle didaktische Kunst kann nichts besseres, als
nicht plump und zerstörerisch eingreifen, als Gelegenheiten schaffen und
diese so gestalten, daß die Bildungskräfte der Persönlichkeit selbst nach
ihren immanenten Gesetzlichkeiten Anregung erfahren. In diesem Ziel, das
gegenüber allen „bekehrenden“ und missionierenden Ansprüchen der Er¬
ziehung reichlich bescheiden ist, liegt die Leitlinie für die Auswahl der Ma߬
nahmen des Erziehers.
Um auch nur anzudeuten, wie die emotionale Bildung trotzdem dem Un¬
gefähr des Zufalls (dem sie heute in beträchtlichem Ausmaß überlassen ist)
einigermaßen entzogen werden kann, müßte ich den Stufengang der religiösen,
philosophischen und künstlerischen Bildungsarbeit, ihre Vereinheitlichung mit
der intellektuellen und physischen Erziehung schildern. Ich muß mich
beschränken auf den Anteil, den die Dichtung auf diesen Entfaltungsgang
zu gewinnen fähig ist.
Ich gehe dabei von einigen Versuchen aus, die ich oft genug an Jugend¬
lichen und Erwachsenen durchgeführt habe und die jeder Leser zunächst
einmal an sich selbst nachprüfen kann. Liest der erwachsene, mehr oder
minder vorgebildete Mensch eine ihm neue Dichtung zum erstenmal oder
hört er sie in unvorbereiteter Darbietung vorgetragen, so zeigt sich mit voller
Deutlichkeit, daß diese erste Bekanntschaft ihre Vorzüge und ihre Schwächen
bat Am besten nimmt man dazu Dichtungen, die für das Niveau der Er¬
wachsenen ähnliche Schwierigkeiten enthalten, wie jede Dichtung sie für
das Kind einschließt. Zunächst ist es von beträchtlichem Einfluß, ob man
das Gedicht selbst liest (teis e > mit halber Stimme, laut, mit Vortrags¬
einstellung) oder nur vorgelesen, vorgesprochen, vorgetragen hört. Im all¬
gemeinen bietet die Aktivität des Selbstlesens bessere Bedingungen für die
Gefühlsergriffenheit, das Anhören für das Sinn Verständnis; der Genußertrag
ist im ersten Fall, das Verständnis im zweiten Fall' günstiger. Ebenso zeigt
sich, daß Auffassung und Erlebnis stark beeinflußt sind durch die Umstände,
unter denen die Bekanntschaft mit einem neuen Gedicht gemacht wird; zu
diesen Umständen zählen namentlich die augenblickliche Disposition, die Nach¬
wirkung der'vorangegangenen Beschäftigungen, Dasein oder Mangel an Muße zur
verweilenden Apperzeption, Besetztheit oder Freiheit des Geistes. Endlich erweist
sich der Erfolg in hohem Maße abhängig von der persönlichen literarischen
Vorbildung und Interessenrichtung. Es hat mich immer überrascht,
wenn die größten Dichtungen Hölderlins z. B. von seminarisch vorgebildeten
Versuchspersonen fast durchweg abgelehnt wurden, weil sie, nicht mit der
Verskunst der Antike vertraut, in seinen Rhythmen, seiner Wortwahl und
Wortstellung nur die Aufgezwungenheit eines fremden Formprinzips auf das
deutsche Sprachgewand empfanden, eine, wie sie sagten, stolpernde Un-
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Aloys Fischer
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beholfenheit und Gezwungenheit des Ausdrucks, während altersgleiche
Studenten mit dem Nachklang lateinischer und griechischer Oden im Ohr von
der Feierlichkeit und Größe der für sie sich gegenseitig bedingenden Form
und des Gedankenschwungs des Inhaltes unmittelbar ergriffen waren.
Schon aus diesen Momenten scheinen mir Folgerungen für die Schule
gezogen werden zu können. Soweit es auf die Sinnerfassung und Sinn¬
wirkung einer Dichtung abgesehen ist, hat die erste Darbietung durch den
lebendigen Vortrag des Lehrers zu erfolgen, unter sorgfältiger Berücksichtigung
der Umstände, in einem Zeitpunkt und an einer Stelle des Unterrichtsganges,
der gewissermaßen die innerliche Nötigung zu künstlerisch konzentriertem
Ausdruck enthält und in der Erfülltheit des Kindes mit dahin zielenden Er¬
wartungen die psychologisch günstigsten Voraussetzungen der Aufnahme
bietet. Eine Darbietung ohne „alle und jede Vorbereitung", beim Erwachsenen
schon in ihrem Ergebnis in hohem Grade zufällig und einseitig, ist für die
schulische Behandlung nicht empfehlenswert Freilich ist damit über Art,
Richtung und Ausmaß der Vorbereitung nichts entschieden, sondern nur die
Notwendigkeit betont, den Strom des seelischen Lebens einigermaßen in die
Bahn zu lenken, in der ihn dann das Gedicht weiter führen soll.
Zergliedert man den Verlauf des Erlebnisses der ersten Bekanntschaft mit
einem einigermaßen „schwierigen" Gedicht, das auch von den geläufigen
Bahnen, in denen sich die sonst gepflegte Lektüre bewegt, abweicht, so zeigt
es sich, daß Sinn Verständnis, genießende und wertende Stellungnahme und
davon ausgehende Nachwirkung in ausschlaggebender Weise beeinflußt sind
von den anklingenden Erinnerungen an eigene Erlebnisse, selbstgeschaute
Situationen oder geläufige Darstellungsformen. Die erste Bekanntschaft ist
ein tastender Versuch, dem das Gedicht rein als zeitlicher Ablauf insofern ent¬
gegenkommt, als es durch die Möglichkeit rückwärtswirkender Korrektur der
Auffassung und vorausblickender Antizipation der Lösung mehr oder minder
wirksame objektive Hilfen der Erfassung bietet. Dds Sinnverständnis voll¬
zieht sich — je nach dem Fall — im Aufbau einer Bildvorstellung, deren Be¬
standteile bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem Text verwoben und mit den
Worten als Träger der Wirkungsakzente lebendig werden, oder einer Ge¬
danken- und Gefühlsentwicklung oder einer Lebensgrundstimmung (z. B. der
Ironie). So ist das Erträgnis einer unvorbereiteten ersten Darbietung in hohem
Grade einseitig und korrekturbedürftig, weil abhängig außer von den Um¬
ständen auch von der vorherrschenden Apperzeptionsweise der Rezipierenden
(die bildhaft, gedankenhaft, formbestimmt sein kann, während die Dichtung
vielleicht eine andere geistige Betrachtungsweise fordert), auch von seiner un¬
ausgesprochen und oft unerkannt wirksamen Vorbildung mit Einschluß ihrer
Geschmacksrichtung (namentlich im spezifischen Sinne des Wortes „neuer"
Kunst gegenüber von größter Bedeutung). Wir überzeugten uns im Versuch
an uns selbst, daß wir die Mangelhaftigkeit und Zufälligkeit der ersten
Apperzeption zu überwinden uns verpflichtet fühlen durch wiederholtes Lesen
und daß uns nur allmählich der' volle Sinn, der echte Wert und die dauernde
Wirkung eines Kunstwerkes aufgeht. Dieser Sachverhalt ließe sich auch
durch eine grundsätzliche Analyse der Struktur ästhetischer Gegenstände und
der Stufen ihrer Gegebenheit bestätigen. Wir können eine Melodie pfeifen,
auf einem Instrument spielen, selber mehr oder minder gut singen, von einem
großen Künstler in kongenialer Wiedergabe hören — immer ist es „dieselbe
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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 235
Melodie“, aber jeder spürt, daß der hier gemeinte ästhetische Gegenstand als
er selbst und «voll doch nicht in jedem dieser Erlebnisse gleich da und wirk¬
sam ist. So ist es auch mit dem Gedicht; wir können bei der ersten Lektüre
seinen Inhalt notdürftig erfassen, aber wir schöpfen ihn nicht aus, wir reali¬
sieren seine Werte weder alle noch jeden vollständig und tief genug.
Auch aus diesen Beobachtungen lassen sich wieder didaktische Schlüsse
ziehen. Das Kind und Schulkind befindet sich mehr oder minder jedem Gedicht
I gegenüber in der gleichen Lage wie die Erwachsenen gegenüber einem
i „schweren“ Gedicht. Die Mangelhaftigkeit seiner ersten Apperzeption wird
die Regel sein. Wir können diese Mangelhaftigkeit wohl nie ganz ausscheiden,
1 aber wir haben Mittel, sie einigermaßen herabzusetzen. Das scheint mir der
Sinn der „Vorbereitung“ zu sein. Allerdings erfordert diese Vorbereitung
nicht eine den Inhalt vorwegnehmende und damit die Spannung des Er¬
lebnisses vernichtende „Erklärung“, auch nicht in der kindesmundartlichen
Fonn, die neuerdings Berthold Otto befürwortet und, von anderen nachgeahmt,
i auch praktisch versucht hat, ebenso nicht eine prosaische Inhaltsangabe vor der
; Lektüre, auch nicht immer eine ausdrückliche „Einstimmung“, denn der Lehrer
verfügt über weit weniger und weniger wirksame Hilfsmittel der Stimmungs¬
erregung als die Dichtung selbst. Die Vorbereitung muß vielmehr in der
ganzen vorangegangenen Stofflichkeit des Unterrichts liegen, in derselben
Stofflichkeit, aus der im Erlebnis des Dichters seine Gestaltung herauswuchs
So ist z. B. die historische Ballade durch den vorangegangenen Geschichts¬
unterricht vorbereitet, kann es sein, ohne daß noch eine ausdrückliche Vor¬
erklärung nötig ist, das Naturlied, das religiöse Lied durch den allgemeinen
Verlauf des einschlägigen Unterrichts, der Jahres- und Festzeiten usw.
| Diese allgemeine Vorbereitung durch Schaffung der Erlebnisgrundlagen ist
I sowohl für das Sinnverständnis wie für die Einstimmung ausreichend und jeder
speziellen, absichtlichen Vorbereitung entschieden überlegen. v. Natürlich ist
sie nur dem Lehrer leicht, der selbst in den ganzen Unterricht und seinen
Geist emotionale Momente einzubetten vermocht hat. Außerdem muß als
methodisclies Grundprinzip ausgesprochen werden, daß jede Dichtung gelegent¬
lich (nicht in Häufung) wiederholt dargeboten werden soll. Nur so ist es dem
nacherlebenden und nachschaffenden Geist möglich, zu immer erweitertem
und vertieftem Verständnis des Sinnes, immer vollständigerer und zutreffen¬
derer Wertung und immer reinerem Genuß zu gelangen. Wenn manche Lehrer,
um möglichst viele Dichtungen vor ihre Kinder bringen zu können, es sich
genug sein lassen, jede eben — an der passenden Gelegenheit — einmal
vorzulesen oder vorzutragen, so übersehen sie die Flüchtigkeit einmaligen
Eindrucks, die Zufälligkeit desselben, die gerade — im Gegensatz etwa zu
intellektueller Seelenfunktion — auf emotionalem Gebiet die eigentlich bil¬
dende Wirkung in der Wurzel abschneidet, gar nicht zur Entfaltung kommen
läßt Ich komme auf eine weitere Konsequenz — das Memorieren — später
zurück.
Endlich lehrt der Versuch am Erwachsenen auch etwas über den Stufen¬
gang des Lesens. Der beträchtliche Zuwachs an Gefühlswertung, der aus der
Aktivität des Selbstlesens hervorgeht, ist ein Fingerzeig, wie der Lehrer
methodisch in der Lektüre der Dichtung vorzugehen habe. Den Ausgang
bildet — wegen der Erleichterung von Sinnverständnis und Werterfassung,
wegen der suggestiven Momente des vorgelebten Beispiels — der freie Vor-
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Aloys Fischer
trag einer Dichtung durch den Lehrer. Je wirkungsvoller seine Rezitation
ist, um so eingängiger wird dem Kinde das Gedicht. Und weil der Lehrer
seine Schüler persönlich besser kennt, ist er dem berufsmäßigen, ihm als
Sprechtechniker und Vortragskünstler unzweifelhaft überlegenen Berufsrezitator
vorzuziehen — mindestens bis zur Oberstufe des Schulalters. Das stille Lesen
des Gedichtes durch das Kind ist die nächste Phase der vertiefenden Nach¬
behandlung; das laute Selbstlesen (phonetisch rein, klar, sinngemäß) die Vor¬
stufe für das darstellende Lesen, in dem die Ausdruckswerte und die Mit¬
schwingung der beteiligten Seele zur Übung gelangen. Die Rezitation des
gedanklich und gedächtnismäßig beherrschten Gedichtes, der „freie Vortrag“,
bildet den für das Kind besten Fall der Realisierung, natürlich unter An¬
erkennung des grundsätzlichen Abstandes zum erwachsenen Menschen. Das
Lesen von Dichtungen darf also grundsätzlich nicht unter dem Gebot der
Übung der Lesefertigkeit als solcher stehen; vielmehr sollte die Lektüre von
Dichtungen bereits auf jeder Stufe der Lesefertigkeit im Anschluß an diese
gewählt werden als eine Kunst für sich, bei der nicht mehr „gelernt“ und
„geübt“, sondern „angewendet“ wird. Diese andersartige Stellung des Lesens
von Dichtungen, die in der ganzen Behandlung stark betont werden muß,
bewahrt das Gedicht vor dem Abgrund, als „Schulübungsstoff“ verhaßt zu
werden, weist dem Gedicht einen anderen psychologischen Ort an als dem
Übungslesestück und trägt so unmittelbar dazu bei, daß das gelesene Gedicht
seine spezifischen bildenden Wirkungen entfalten kann.
Der erste Versuch am Erwachsenen hat also als methodische Konsequenz
ergeben, daß der Verzicht auf jede Vorbereitung die Wirkung dem Zufall
aussetzt; der Lehrer, der grundsätzlich die unvorbereitete Darbietung und
Lesung pflegt, entgeht zwar den Gefahren der Intellektualisierung des Irra¬
tionalen, aber er ist auch niemals gewiß, ob er überhaupt zur jugendlichen
Seele den Zugang gefunden hat, und er hat gezeigt, daß die methodische
Frage selbst zurecht besteht, auch für den Standpunkt einer auf emotionale
Erfolge abzielenden Einstellung. Zugleich hat sich gezeigt, für die Frage des
„Lesebuches“ von Bedeutung, daß die, wie man gewöhnlich sagt, mecha¬
nische Lesefertigkeit entsprechend der Bildungsstufe relativ abgeschlossen
sein muß, wenn das Lesen von Dichtungen als emotionales Bildungsmittel
angezeigt sein soll. *
Ich gehe auf einen zweiten grundlegenden Versuch ein, den jeder Leser
zunächst wieder am besten an sich selbst ausführt. Wie wirkt das „ver¬
gleichende Lesen“ beim Erwachsenen? Wer ein Gedicht gelesen hat und
sich nun einem zweiten Gedicht (sagen wir ganz äußerlich: mit gleicher Über¬
schrift, weniger äußerlich — aus gleichem Stoffkreis) zuwendet, erfährt dabei
eine seltsame Unterstützung, unter Umständen auch Erschwerung des einen
durch das andere, ln der älteren Methodik und in der Praxis der höheren
Schuld ist der Vergleich von Dichtungen nach Inhalt, Aufbau und Gedanken¬
gang ein beliebtes Hilfsmittel. Aber bei genauerem Zusehen: ein Hilfsmittel
zur Schulung des kritischen Denkens, also 'ein solches, das den spezifischen
Bildungswert der Dichtung mindestens außer Ansatz läßt, wenn nicht gar
zerstört. Nicht darum handelt es sich, in der vergleichenden Gegenüber¬
stellung von Gedichten eine Schule der Witzigung zu geben, sondern die Frage
ist, ob die Parallelbehandlung auf das Erlebnis des einzelnen Gedichtes Ein¬
fluß hat. Auf meine Veranlassung hat Elise Schilffarth-Fürst an höheren
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Zur Theorieder emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 237
Mädchenlehranstalten Versuche großen Stiles über diese Frage unternommen.
Sie hat zu diesem Zweck je zwei lyrische Gedichte unmittelbar nacheinander
sei es selbst dargeboten, sei es lesen lassen und dann unter verschiedenen
Gesichtspunkten den Ertrag für das Erlebnis ausgewertet. Wenn ich von dem
Einblick in Geschmack, Fassungskraft und Urteil der Jugendlichen hier ganz
absehe, so scheint mir das fruchtbarste Ergebnis die gegenseitige Klärung
der Einzelerlebnisse gewesen zu sein, damit ein Zuwachs an Kraft und Tiefe,
die ihnen bei isolierter Lektüre nicht oder nur zufällig zugekommen wären.
Mit veränderter Stoffauswahl ist die Methode auch auf der Volksschule an¬
wendbar, ebenso in höheren Knabenschulen. Wegeweisend für die, natür¬
lich großen Takt und eigene weite literarische Orientierung des Lehrers
voraussetzende Anwendung ist das Lehrererlebnis selbst. Jahreszeitenlieder,
Gebete, Balladen sind schon infolge ihres Kürze mit Abgeschlossenheit ver¬
bindenden Umfangs und Baues für die Schule vorzuziehen; doch sind grund¬
sätzlich größere epische und dramatische Dichtungen der gleichen Methode
zugänglich.
Der wesentliche Nutzen ist die Erfassung nicht der Einzelheiten jedes
Gedichtes, sondern der im Gedicht sich aussprechenden Gesamtpersönlich¬
keit, die verschiedene Erlebnisweise, die wir als eine Bedingung seelischer
Bereicherung und Ausweitung eingangs betont haben. Man könnte mit einer
gewissen Zuspitzung sagen: bei der Einzelbehandlung bildet das „Gedicht“,
bei der vergleichenden Lektüre „der Dichter“ jedes Gedichtes. Dieser enthüllt
sich in der Eigenart seiner Prägung erst im Unterschiedserlebnis zur anderen.
Wo es möglich ist (wie in höheren Lehranstalten), in diese vergleichende Be¬
handlung verschiedene Zeiten des eigenen Volkes (mittelhochdeutsche Lieder,
solche der klassischen Epoche, der Romantik, des „jungen Deutschlands“, der
Gegenwart) oder verschiedene Völker (Griechen, Römer, Franzosen, Engländer,
Slaven neben Deutschen) einzubeziehen, wird der Volksgeist zum Jugend¬
bildner, und zwar in jener Schwebe zwischen instinktiver und bewußter
Auseinandersetzung, die zur Konsolidierung des eigenen personalen Wesens
am fruchtbarsten anregt und beiträgt.
Die bisher betrachteten Hilfsmittel hatten ihren Zweck darin, eine Art der
Darbietung ausfindig zu machen und sicherzustellen, die eine Auswirkung
nach der Seite der Gemütsanregung, der Vertiefung und Bereicherung des
Fohlens und der Vereinheitlichung der werdenden Persönlichkeit einiger¬
maßen ermöglicht. Wenn ich mich nun zu der Frage des Memorierens wende,
so lege ich auch hier den größten Wert darauf, die formale Schulung des
Gedächtnisses, an sich eine berechtigte Absicht der Schulbildung, und die Ein¬
prägung paradigmatischer Formulierungen nicht als den in erster Linie zu
erstrebenden Zweck zu bezeichnen. Das Merken als solches kann an anderen
Lehrstoffen unter Umständen noch besser geübt werden, und das Gedicht
wird, als Übungsmaterial für die mnemischen Funktionen betrachtet, in seinen
spezifischen Leistungen herabgesetzt. Ich gehe bei der Prüfung auch dieser
ganzen Frage wieder von den Erfahrungen am erwachsenen Gebildeten aus,
von den Selbsterfahrungen, die jeder Leser zunächst bei sich festzustellen
gebeten ist. Die Gewohnheit wörtlicher Einprägung mag aus der Schul- und
Studienzeit nachdauern oder mag erst unter den Anstößen der Lebens- und
Berufsarbeit sich entwickelt haben, sie ist für den erwachsenen Gebildeten
eine Selbstverständlichkeit, wenn es sich entweder um autoritative oder um
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238 A. Fischer, Zar Theorie d. emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung
besonders wirkungsvolle Formulierungen handelt. Ich glaube, daß jeder von
bestimmten Gruppen eigener Erlebnisse abnehmen kann, welche Rolle den
Dichtungen zukommen in seiner persönlichen Seelengeschichte: als Motive der
Lebensdeutung und Lebensgestaltung, als Mittelpunkte ruhigei Sammlung und
^Betrachtung, als Trost-, Freude- und Kraftquellen. Sie helfen uns zur Distan¬
zierung gegen uns selbst, zur Überwindung der individuellen Beschränktheit
und Enge und stellen eine sichere Brücke zur Objektivität des Geistes dar, wie
sie für den weniger Gebildeten im Tiefsinn der Yolksweisheit des Sprichworts
liegt. Wir können gar nicht genug dafür sorgen, daß sich im geistigen
Besitz jedes Menschen auch vollständig in ihn verwebte Kunst befindet. Nur
aber das memorierte Gedicht ist so beherrscht und verstanden, daß es in jeder
Lage verfügbar alle Anregungskräfte, die in ihm latent sind, entfaltet, daß
es vollständig genossen und mit dem Wandel der Jahre immer vertiefter
genossen werden kann, daß sich daran wie an einen Kristallisal ionspunkt
die eigene Fühl- und Erlebnisweise angliedert. Jedes in Fleisch und Blut eines
Menschen übergangene Kunstwerk ist ein Keim von unerschöpflicher Fruchtbar¬
keit, und die Bildungsarbeit der Schule hat allen Grund, so viele derartige
Keime als nur möglich in die Seele der Heranwachsenden einzusenken. Ich
stehe nicht an, in Hinweisen auf volle geistige Aneignung auch noch eine Auf¬
gabe der freien Volksbildungsarbeit zu erblicken, soweit diese auf die literarische
Volkserziehung abzielt. Taktvoll und individuell ausgeführt, würden sie gerade die
eifrigen Leser gegen die „reine Lesewut" etwasimmunisieren und zur fruchtbaren
Vertiefung, damit zur bildungsergiebigeren Auswertung ihrer Lektüre anleiten.
Erfahrungen bei den Eignungsprüfungen industrieller
Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde.
Von Theodor Valentiner.
(Schluß.)
Aus der großen Zahl der Beobachtungen, die ich bei dieser Prüfung machte,
ergab sich schließlich ein Urteil über Intelligenz und technische Befähigung
des Lehrlings, das sich als äußerst wertvoll erwies. Bei der Intelligenz waren
deutlich fünf Stufen zu unterscheiden. Zur ersten Klasse, den Intelligenten
schlechthin, rechnete ich solche, die schnell auffaßten, die einen aufgeweckten
Eindruck machten, meist treffende Antworten und Erklärungen gaben und
durchaus klar in ihrem Denken erschienen. Die Klarheit, Richtigkeit, Kom¬
binationsgabe und auch das Tempo bildeten die wichtigsten Merkmale zur
Bestimmung des Intelligenzgrades. Am anderen Ende standen die Unintelli¬
genten, und dazwischen mittelmäßig und besser, mittelmäßig, mittelmäßig
und schlechter. In der letzten Klasse fanden die Prüflinge Platz, die äußerst
schwerfällig und langsam im Denken waren, die schwer begriffen, nichts
Wesentliches selbst fanden und trotz Hilfe nicht zur Klarheit kamen, sondern
durchweg verworren und konfus erschienen. Das auf diesem Wege gewonnene
Ergebnis der Prüfungen der älteren Lehrlinge zeigte eine völlige Übereinstimmung
mit dem Werkstatturteil über Begriffsvermögen. Gelegentlich konnte ich Lehrer,
die der Psychotechnik skeptisch gegenüber standen, durch diesen einta Ver-
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Th. Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde 239
such am Zitterschreiber umstimmen. Es kam vor, daß ein Lehrer im Institut
anwesend war, wenn einer seiner Schüler (natürlich nicht in seinem Beisein)
am Zitterschreiber geprüft wurde. Dann war er jedesmal erstaunt darüber,
wenn ich ihm das Protokoll vorlas und er sah, wieviel Zutreffendes bei diesem
Versuch zutage kam. Natürlich ergibt der Versuch am Zitterschreiber kein
Urteil über Tüchtigkeit und Brauchbarkeit des Lehrlings schlechthin. Zwei
Gruppen von Eigenschaften (Augenmaß und Willenseigenschaften) werden hier
ja überhaupt nicht geprüft. So hatten wir unter den älteren Lehrlingen einen,
der am Zitterschreiber mittelmäßig und z. T. besser erschien und doch von
der Werkstatt als minderwertiger Arbeiter bezeichnet wurde. Er war
flüchtig und brachte in seiner Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit keine
Arbeit zu Ende, wie die Werkstatt mitteilte und wie wir im Laboratorium
feststellten und auf die Prüfkarten geschrieben hatten: „unstetig bei der Arbeit,
flüchtig, verliert leicht Interesse“. Also eine Übereinstimmupg mit der Rang¬
reihe darf nicht erwartet werden. Es ist weiter notwendig, daß andere ähnliche
Versuche zur Ergänzung und Sicherung des Urteils über Intelligenz und tech¬
nische Fähigkeiten angestellt werden. Denn der Versuch und vor allem die
Auswertung ist stark subjektiv gefärbt. Die Möglichkeit, daß der Prüfer da¬
bei fehlgeht, ist vorhanden. Wenn dagegen ein zweiter Prüfer in ähnlicher
Weise prüft, so verbessern und vervollständigen sich die Beobachtungen und
Urteile und führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu sicheren Ergebnissen.
Zu solchen ergänzenden Versuchen ist fast jeder der bekannten psychologischen
Apparate geeignet — nur muß er die Behandlung durch den Prüfling aus-
halten können. Diese Apparate eignen sich besonders aus dem Grunde, weil
sie dem Prüfling noch nie vor Augen gekommen sind. Wir benutzen dazu
das Kymographion; auch Gottschalck’s Winkeltrieb, Kugelroller und Brücken¬
wasserwage, Moede’s Gelenkprüfer u. a. leisten gute Dienste. Bei dem Kymo¬
graphion wurde der technische Zweck (nicht etwa der psychologische) des
Apparates mitgeteilt. „Der Apparat dient dazu, die Trommel in verschiedener
Geschwindigkeit zu drehen.“ Dann unterhalten wir uns über Antrieb, Be¬
deutung und Zusammenhang der einzelnen Teile. Ist der Junge intelligent
und auch technisch gut befähigt, so findet er selbst die Verlangsamungs¬
möglichkeiten und läßt zuletzt den Apparat in der gewünschten Geschwindig¬
keit laufen. Ich warne aber davor, sich Versuchsreihen auszudenken und
gleich damit zu prüfen, ohne vorher den Wert festgestellt zu haben. Die Ver¬
antwortung ist zu groß. Eine Eichung an bekannten Lehrlingen oder Schülern
muß auch hier wie bei jeder Testprüfung vorangehen. Was oben am Zitter¬
schreiber ausgeführt, ist auch das Ergebnis einer solchen Eichung. Der Ver¬
such sah erst anders aus. Ich ließ nämlich anfänglich auch die Papierstreifen
durch den Prüfling einkleben, um eventuell Handgeschick und Sorgfalt zu
prüfen. In der Tat zeigten sich die für die Urteilsdifferenzierung nötigen Unter¬
schiede sehr deutlich: Es wurde gerade und schief eingeklebt, der eine nahm
nicht mehr Klebstoff als irgend nötig, der andere nahm überreichlich und ver¬
schmierte Tisch, Heft und Finger beim Einkleben usw. Aber ein Vergleich der
hier festgestellten Eigenschaften mit dem Lehrerurteil ergab eine geringe Be¬
ziehung. Offenbar verdeckte hier die nicht feststellbare Verschiedenheit der
Obung und Gewöhnung bei den einzelnen Schülern die gesuchte Eigenschaft.
Wie für die Feststellung der Intelligenz* und der technischen Fähigkeiten
neben dem Zitterschreiberversuch ergänzende Versuche nötig sind, so auch
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Theodor Valentiner
für Prüfung des Handgebrauches. Die Feststellungen über Ruhe der Hand,
über das Zusammenarbeiten der Hände, ferner die Beobachtungen, ob die
Hand unbeholfen, schwer, klobig oder gewandt und willig ist, bedurften noch
der Ergänzung. Doch waren wir hier, wie der Vergleich mit den Zeugnissen
der älteren Lehrlinge zeigte, zu weit gegangen. Eine Reihe von Versuchen
nach Lipmann-Stolzenberg zur Prüfung des Tast- und Drucksinnes, sowie der
Zielhammerversuch u. a. konnten unbeschadet wegbleiben. Die Beziehung zum
Werkstatturteil wurde damit nicht ungünstiger. Zur Ergänzung werden wir
künftig nur den Bolzenpasser und Gelenkprüfer von Moede, den Gleichschlag¬
prüfer von Gottschalck und das bekannte Drahtbiegen verwenden. Für das Gros
der Lehrlinge kann nach den an den älteren Lehrlingen gewonnenen Ermittlungen
von einer Prüfung der Empfindung für Glätte, Rauhigkeit, Unebenheit und
Dicke abgesehen werden.
Wir kommen zur vierten Gruppe, dem Augenmaß. Hier fehlt es nicht
an vorzüglichen Prüfmitteln. Vorversuche, d(e ich in der Schule und im In¬
stitut für Jugendkunde an Schülern verschiedenen Alters und Erwachsenen
angestellt habe, hatten ergeben, daß zu einer gesicherten Augenmaßprüfung
sehr verschiedenartige und recht viele Versuche nötig sind. Es kann hier
nur das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt werden: Um ganz sicher zu
gehen, nahmen wir anfänglich 35 Proben. Doch hat sich aus der Bearbeitung
des gesamten von 300 Lehrlingen gewonnenen Beobachtungsmaterials durch
Frl. E. Schütte ergeben, daß eine Verminderung auf 28 Proben möglich ist
Wenn man die Augenmaßgüte durch fünf Grade ausdrückte, so blieben hier¬
nach vom 28. Versuch an die erzielten Endwerte (1., 2., 3., 4., 5. Grad) gleich.
Auch ergab sich dann noch eine völlige Übereinstimmung mit dem Werkstatt¬
urteil.
Eine ganz besondere Bedeutung beansprucht endlich die fünfte Gruppe — die
W illenseigenschaf ten. Bekanntlich werden sie in der Werkstatt nicht gering
gewertet Für die Bestimmung der Rangreihe fallen sie sehr ins Gewicht.
Außerdem ist es für den ausbildenden Meister wichtig, sie zu kennen. Ge¬
rade bei unseren Prüfungen, deren Ergebnisse nicht allein die Ermöglichung
einer geeigneten Auslese zum Ziele hatten (die A.-G. „Weser“ stellte sämtliche
bei uns geprüfte Lehrlinge ein), sondern auch den Meistern bei Unterweisung
der Lehrlinge dienlich sein sollten, mußte dahin gestrebt werden, ein
ausführliches Psychogramm besonders nach der Willensseite zu gewinnen.
Es war hier von besonderem Wert festzustellen, ob ein Junge träge, flüchtig,
oberflächlich, wenig sorgfältig ist oder gründlich, genau, gewissenhaft,
arbeitswillig, strebsam und fleißig. So waren denn besondere Versuchs¬
reihen eingerichtet, bei denen Gelegenheit war, diese Eigenschaften fest¬
zustellen. Das Verfahren entsprach dem bei der Intelligenzprüfung ge¬
wählten (s. o.), nur war außerdem alles darauf angelegt, daß der Junge
keine -Ahnung davon hatte, was man eigentlich feststellen wollte. Es
waren zwei Proben gewählt, beide erschienen sie dem Prüfling verhältnis¬
mäßig leicht lösbar. Die eine bot viel Abwechslung und vor allem Gelegen¬
heit, das aktive Willensverhalten zu zeigen, während die andere monotoner
war und mehr passive Willenseigenschaften in Erscheinung treten ließ. Die
erste Aufgabenreihe bezog sich im wesentlichen auf das Erkennen von
Werkstücken nach Zeichnungen: ein bekannter Versuch, der jedoch für diesen
Zweck etwas anders als üblich ausgeführt wurde. Die zweite Probe bestand
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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 241
in dem auch bekannten Ordnen fehlerhafter und richtiger Eisenplättchen mittels
Lehre (Lipmann-Stolzenberg). Während der Junge glauben mußte, daß es
lediglich auf richtige Lösung dieser Aufgaben ankam, war diese Prüfung nur
zum Schein. Wie er sie löste, spielte für Feststellung der Prüfergebnisse keine
Rolle. Er hatte keine Ahnung davon, daß dabei genaue Beobachtungen über
seine Gründlichkeit, Sorgfalt bei der Arbeit, über Arbeitswille, Ruhe, Sicher¬
heit, Selbständigkeit, Ordnungssinn usw. gemacht wurden. Ohne dieses Ver¬
stecken des eigentlichen Prüfungszieles geht es nicht. Der Mensch zeigt sich
eben in seinem natürlichen Wesen nur, wenn ihm freie Hand gelassen wird
und wenn er von dem Sichgehenlassen keinerlei Nachteil erwartet. Aus dem¬
selben Grunde dürfen bei dieser Prüfung niemals Dritte — oder gar der Meister
oder Lehrer der Jungen — anwesend sein; sofort würde die Beeinflussung
der natürlichen Willenseigenschaften eintreten und diese bis zur Unkenntlich¬
keit verdecken. Es scheint ferner von Bedeutung zu sein, daß der Prüfer
keine besonders großen Respekt einflößende Persönlichkeit ist. Frauen sind
wohl ihrer Natur nach im ganzen mehr geeignet als Männer. Einmal weil
sich der 14 jährige Bengel ihnen gegenüber in der Regel eher gehen läßt, d. h.
sein wahres Wesen zeigt, als dem Manne gegenüber, und dann vor allem
darum, weil die Frau bekanntlich mehr auf Beobachtung des Persönlichen
eingestellt ist und manches bemerkt oder intuitiv erfaßt, was dem Männerauge
oft entgeht. Nun ist aber die Verantwortung gerade in diesem Fall außer¬
ordentlich groß. Da es sich um Feststellung von Charaktereigenschaften
handelt, die für die allgemeine Bewertung des Menschen bekanntlich viel
mehr bedeuten als die geistigen, so wird man sich hier nur dann auf die
Beobachtungen im Laboratorium stützen dürfen, wenn ihnen mindestens ein
gleicher Grad von Sicherheit zukommt wie dem Lehrerurteil. Da wir unsere
Voruntersuchungen noch nicht so weit erledigt hatten, daß ich glaubte, es
verantworten zu dürfen, daß wir uns lediglich auf unsere Beobachtungen
stützten, so folgte ich dem Beispiel der Hamburger l ). Wir schrieben an die
Klassenlehrer der Schüler und baten tun eingehende Äußerungen über den
Schüler, und zwar besonders über die erwähnten Willenseigenschaften. Wir
machten dabei dieselbe Erfahrung, die man in Hamburg gemacht hatte: Die
meisten Lehrer füllten den beigelegten Fragebogen bereitwilligst aus und
sandten ihn an das Institut zurück. Einige (etwa 20%) gaben sogar sehr
eingehende Charakteristiken von den Schülern. So kamen von zwei Seiten
Urteile über dieselben Eigenschaften, und wir waren in der Lage, die inter¬
essante Frage zu untersuchen: Wie stimmt das Lebrerurteil zu dem Labora¬
toriumsurteil hinsichtlich der Willenseigenschaften? Können wir aus unserem
Beobachtungsmaterial vielleicht dasselbe herausholen, was uns die Lehrer auf
Grund ihrer Beobachtungen in der Schule mitteilen? Können wir unabhängig
davon werden? Man mag noch so sehr wünschen, daß die Schule an der Be¬
rufsberatung ihrer Schüler teilnimmt — und dieser Wunsch ist heute all¬
gemein vorhanden —, so muß doch auch von seiten der psychologischen
Institute dahin gestrebt werden, auch unabhängig von Mitteilungen durch
Dritte gleichsam aus eigner Kraft zweckentsprechende Psychogramme zu
geben. Wie der Arzt, so muß auch der Psychologe mehr und mehr dahin
kommen, auf Grund eigner Untersuchungen in den meisten Fällen eine voll
’) W. Stern, Richtlinien nsw. (Zeitachr. t. angew. Psych. 29, S. 5t.)
, Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 16
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Theodor Valentiner
und allseitig befriedigende Diagnose zu geben. Ein Bekenntnis großer Schwäche
bliebe es immer, wenn er vor den WillenseigOnschaften haltmachen wollte.
Nun hat der im Institut an dem gesamten großen Beobachtungsmaterial
durchgeführte Vergleich zu e(nem erfreulichen Ergebnis geführt. Es stellte
sich heraus, daß bei annähernd 90°/o die Lehrerurteile mit dem Instituts¬
urteil übereinstimmten, ja, daß fast durchweg dieselben Ausdrücke (nach
Grad und Qualität, „etwas“ ungenau, wenig sorgfältig, sehr arbeitswillig usw.)
zur Charakterisierung der betreffenden Eigenschaften gewählt waren. Dieses
Ergebnis berechtigt uns dazu, daß wir künftig auf die erweiterten Lehrer¬
urteile verzichten und die natürlich von mehreren Prüfern imabhängig von¬
einander festgestellten Urteile über Charakter- und Willenseigenschaften auf
unsere Prüfkarte eintragen. Dagegen werden wir nach wie vor auf Berück¬
sichtigung der Schulzeugnisse nicht verzichten können, und zwar schon wegen der
Urteile über das Betragen. Hier dürfte es in der Tat schwer sein, im Labora¬
torium zu gesicherten Ergebnissen zu kommen. Wir lassen die Zensuren der
letzten vier Jahre vollständig und übersichtlich abschreiben. Bei Abfassung
der Prüfkarten werden sowohl die Leistungs- wie die Verhaltungsprädikate
in bestimmter Weise berücksichtigt Es würde zu weit führen, dies hier im
einzelnen darzulegen, wie überhaupt die Frage der Bewertung ein Kapitel
für sich ist, das hier nur ganz flüchtig gestreift werden kann. Wir wollen
einmal annehmen, daß wir zu einem endgültigen Urteil über jede der oben
gekennzeichneten fünf Gruppen gelangt sind — jeder praktische Psychologe
freiß, welche großen Schwierigkeiten zu überwinden sind, um vor allem, die
qualitativen Urteile in vergleichbare Zahlenangaben umzusetzen u. a. m.
Wir wollen hier davon absehen und nur die Frage stellen: Welches Gewicht
muß die einzelne Gruppe für die Gesamtbewertung erhalten? Die Frage
wurde empirisch zu lösen versucht, soweit es unser Material erlaubte, d. h. es
wurden unter Hinblick auf die 17 Zeugnisse der älteren Lehrlinge die Ge¬
wichtszahlen innerhalb der überhaupt in Frage kommenden Grenzen so lange
variiert, bis sich die relativ günstigste Beziehung zum Werturteil ergab. Es
hat sich hierbei eine einfachere Lösung ergeben, als man erwarten sollte,
und zwar folgende: Wenn man Auge, Kopf (Intelligenz und technische
Fähigkeit), Hand und Wille, um es einmal grob auszudrücken, gleiche Ge¬
wichtsnummern gab, so wurde die relativ beste Übereinstimmung mit der
Werkstattsrangreihe erzielt. Ob sich diese Festsetzung weiter bewähren wird,
kann natürlich nur die Erfahrung lehren. Bei der unübersehbaren kom¬
plexen Natur aller einzelnen Berufsarbeiten einerseits und der Verschieden¬
artigkeit der Bewertung in der Arbeitspraxis, die wohl kaum bei zwei Werken
übereinstimmt und selbst bei demselben Werke öfters wechseln dürfte, wird
man zweifeln, daß damit schon eine einwandfreie Lösung der schwierigen
Frage gefunden ist. Es wäre zu wünschen, daß sich die Psychotechnik
gerade dieser wichtigen Frage noch intensiver als bisher zuwendete. —
So wie die Prüfung hier geschildert wurde, ist sie als Einzelprüfung, nicht
als Massenprüfung gedacht. Es hat sich bei uns bestätigt, was W. Stern
über den verschiedenen Wert dieser Prüfungen ausführt 1 ). Wenn es die
Verhältnisse gestatten, werden wir auf Grund unserer Erfahrungen in Zukunft
von einer Massenprüfung ganz absehen. Da die Zeit drängte,' ging ich, wenn
*) Vgl. W. Stern, Richtlinien u»w. (Zeitschr. f. angew. Psycb., 2», S. 5f.)
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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 243
auch mit großen Bedenken, daran, neben den Einzelprüfungen den Plan für
die Massenprüfung auszuarbeiten und diese in 6 Klassenräumen einer Schule
vornehmen zu lassen. War doch zu hoffen, daß man auf diese Weise in
kurzer Zeit ein umfassendes, leidlich wertvolles Material erhielt Es wurden
also 20—30 Schüler in einer Klasse vereinigt. Jeder Versuch dauerte
20 Minuten. Nach Ablauf dieser Zeit zog jeder Prüfer mit seinem Prüf¬
material in eine andere Klasse. In 2 Stunden war jeder Prüfer durch alle
Klassen durchgekommen. Danach kam die 2. Hälfte der Prüflinge dran, die
in derselben Weise von den Prüfern geprüft wurden. In 4 Stunden war die
Prüfung erledigt. Wertvoll schien daran zu sein, daß jeder Prüfer einen
kleinen Versuch an sämtlichen Lehrlingen durchprüfte und die Aus¬
wertung daher keine Schwierigkeiten machte. Doch hat der Vergleich des aus
der Massenprüfung an durchaus verschiedenen Proben gewonnenen Materials
mit dem der Einzelprüfung ergeben, daß wir ohne Massenprüfung auskommen,
daß unser Urteil durch die Massenprüfung nirgends einen wertvollen Zuwachs
erhielt. Am Resultat wurde nichts geändert, wenn wir es nach den fest¬
gelegten Normen bewerteten; es wurde verschlechtert, wenn man viel Gewicht
auf die Massenprüfung legte. Wenn wir daher künftig auf eine Massenprüfung
ganz verzichten möchten, so wollen wir doch die Gruppenprüfung beibehalten,
die sich als zweckmäßig erwies. Es wird an Personal gespart, wenn man
gleichzeitig in demselben Raum unter Aufsicht eines Prüfers drei oder vier
Jungen oder auch noch mehr Jungen Personalien und Schulzeugnisse auf¬
schreiben, einen Aufsatz verfassen, Draht biegen und je nach Bedarf zeichnen
läßt. Dies hat sich bewährt, da wir bei der naturgemäß verschiedenen Dauer
der Einzelprüfung stets einige Beschäftigungslose hatten, die uns durch ihre
Arbeit in der Gruppe brauchbares Material spendeten, ohne jedesmal für sich
eines besonderen Aufsehers zu bedürfen. Der Einwurf, daß für unser Prüfver-
verfahren eine Reihe psychologisch durchgebildeter Kräfte gebraucht wird,
die nur schwer und unter großen Kosten zu beschaffen sind, besteht nicht
zu recht. Für Abhaltung der Prüfung brauchen wir nicht ausgebildete Psycho¬
logen, sondern Persönlichkeiten, die mit gesundem Sinn und geschultem Ver¬
stände Verständnis für die Jugendlichen und Interesse für diese Arbeit mit¬
bringen, die scharf beobachten und exakt nach Anweisung arbeiten. Alles
andere läßt sich durch Lehre und Übung bald gewinnen. Natürlich muß auch
hier die richtige Persönlichkeit an den richtigen Posten! Nicht jeder, der
eine exakte Augenmaßprüfung ausführen kann, eignet sich auch zur Vor¬
nahme einer Intelligenzprüfung und umgekehrt. Aber hier den geeigneten
unter den sich Meldenden herauszufinden, ist nicht schwierig. Anders steht
es mit der Auswertung der gewonnenen Beobachtungen, der Verarbeitung
des gesamten von verschiedenen Seiten zusammenströmenden Materials, endlich
dem Abfassen der Prüfkarten. Diese Arbeit kann in der Tat nur von einer
psychologisch und psychotechnisch durchgebildeten Persönlichkeit geleistet
werden, die sich ganz dieser Aufgabe widmet.
Es konnte hier nur von den Erfahrungen berichtet werden, die wir in
Bremen gemacht haben. Wie weit diese Erfahrungen auf andere Orte an¬
wendbar sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Ebensowenig die Frage,
ob die in Bremen gewählte Organisation für andere Orte in Frage kommt.
In Bremen ist es das natürlichste und zweckmäßigste, daß alle Eignungs¬
prüfungen in einem zentralen, wissenschaftlichen Institut, eben dem Institut
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16 *
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
244 Th- Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde
für Jugendkunde vorgenommen werden. So braucht nicht jedes Werk kost¬
spielige Apparate und andere Prüfmittel anzuschaffen und ein besonderes
Hilfspersonal zur Prüfung anzustellen. Es werden ferner alle wissenschaft¬
lichen Fortschritte, die irgendwo auf diesem Gebiet gemacht werden, sofort
der Praxis zugute kommen, während ein einzelnes Werk in der Regel nicht
in der Lage sein wird, sich mit dem gesamten wissenschaftlichen Rüstzeug
apszustatten und es voll auswerten zu lassen. Gewiß wird es auch vielerorts
nötig sein, daß das Werk selbst psychotechnische Eignungsprüfungen aus¬
führt; daß es geht und der Erfolg nicht ausbleibt, dafür haben wir ja viele
Zeugnisse. Andererseits werden künftig gewiß auch viele Institute rein
wissenschaftlich auf diesem Gebiete sehr fruchtbare Arbeit leisten, ohne
vielleicht irgendwelche Gelegenheit der praktischen Anwendung zu haben.
Das Wichtigste für eine Verbesserung und Weiterentwicklung der Prüf¬
verfahren erscheint mir heute ein lehhafter Austausch der Erfahrungen. Wenn
alle Beteiligten sich gegenseitig alle günstigen Erfahrungen mitteilen upd die
ungünstigen Erfahrungen, sowie die Fehler, die sie machen, soweit aus ihnen
zu lernen ist, offen bekennen, dann wird die Arbeit, die schon jetzt auf
bestem Wege ist, immer rationeller, ökonomischer und sicherer werden. Es
wird dann vielleicht gelingen, zu einem überall leicht verwendbaren einheit¬
lichen Prüfverfahren zu kommen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Richtlinien zur Aufnahme in die Hilfsschule hat im Aufträge der städtischen
Schulverwaltung der Hilfsschulverband Köln aufgestellt Sie sind
beachtenswert danach, wie sie die verschiedenen Ermittlungsverfahren ver¬
einigen und den Lehrer der Normalschule, den Hilfsschullehrer und den Arzt bei
der Entscheidung mitwirken lassen. Als ausschlaggebend gilt die planmäßige
Beobachtung, ohne daß aber die Bedeutung von Testprüfungen verkannt
würde. Ein Erhebungsbogen bringt das, was am einzelnen Kinde charak¬
teristisch und entscheidend ist, zum geordneten schriftlichen Niederschlag.
I. Welche Schiller gehören in die Hilfsschule?
In die Hilfsschule gehören ausschließlich bildungsfähige Schwachsinnige.
Nicht in die Hilfsschule gehören somit:
1. Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades leiden. Sie werden bei
Beginn der Schulpflicht durch die Hilfsschule der Normalschule abgenommen
und nach eingehender Prüfung und etwa notwendiger Beobachtung dem
Hilfsschulkindergarten (oder der Idiotenanstalt) zugewiesen.
2. Verwahrloste, durch Krankheit und andere äußere Umstände zurück¬
gebliebene, aber geistig normale Kinder.
3. Kinder psychopathischer Konstitution ohne erhebliche Defekte im Er¬
kenntnisleben.
4. Blinde, taube, taubstumme, schwerhörige Kinder höheren Grades mit
Normalbegabung und epileptische Kinder. — Hilfsschüler mit Schwerhörigkeit
höheren Grades ko mm en in besonders dazu eingerichtete Hilfsschulklassen.
II. Wann hat die Aufnahme in die Hilfsschule zu erfolgen?
In der Regel findet die Aufnahme nach erfolglosem zweijährigen Schul¬
besuch statt; im Einzelfalle kann sie auch nach einem Jahre erfolgen.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
245
Wegen rein geistiger Minderbefähigung soll kein Schüler vom Schularzt
ein oder gar mehrere Jahre zurückgesetzt werden. Nur körperliche Unzuläng¬
lichkeit kann eine Zurückstellung begründen. Ist die geistige Minderwertigkeit
so hochgradig, daß sie im ßinzelfalle von Arzt und Schule bereits bei der
Einschulung einwandfrei festgestellt werden kann, so ist der betreffende
Schüler sofort der Hilfsschule zu überweisen.
DI. Wie vollzieht sich die Aufnahme in die Hilfsschule?
a) Tätigkeit der Normalschule und des Schularztes.
Am 1. Juli'eines jeden Jahres legt die Normalschule einen Erhebungsbogen
für jeden Schüler an, den sie für hilfsschulbedürftig hält. (Formulare sind
vorgedruckt.) Diese Schüler werden besonders beobachtet und die Beobach¬
tungen sorgfältig im Erhebungsbogen eingetragen. Hat sich bis zum 1. Oktober
das Urteil über den Schüler nicht geändert, so wird derselbe auf die von der
Schulverwaltung überwachte Anmeldeliste gesetzt und so der Hilfsschule ge¬
meldet Die Hilfsschule setzt sich sofort mit dem bisherigen Lehrer des
Schülers in Verbindung, prüft mit diesem besonders die etwaigen äußeren
Umstände des Zurückbleibens (Krankheit, Schulversäumnisse, Verwahrlosung),
dann allgemein die näheren Angaben über die geistigen Mängel sowie die
genaue Ausfüllung des Erhebungsbogens. (Kopf des Erhebungsbogens ist
besonders zu beachten.) Dem Schularzt wird das Kind bei seinen monatlichen
Besuchen in der Schule besonders vorgeBtellt, worauf der Lehrende durch
den Hilfsschullehrer ausdrücklich hinzuweisen ist Sind Lehrer und Hilfs¬
schullehrer am 15. Dezember noch von der Hilfsschulbedürftigkeit überzeugt,
so werden Anmeldeliste und Erhebungsbogen dem Schulamt übersandt, das
die Zuführung des Kindes zu dem Schularzt durch die Schulfürsorgerin und
Weitergabe des Berichtes an die Hilfsschule veranlaßt Die Untersuchungs¬
ergebnisse des Schularztes dienen als Grundlage der eingehenden Beurteilung
durch den Hilfsschullehrer und erstrecken sich:
1. auf den körperlichen Zustand des Schülers unter besonderer Berück¬
sichtigung der Sinnesorgane,
2. auf die erblichen Verhältnisse, sowie
3. auf besonders auffallende geistige Defekte.
b) Untersuchungsarbeit durch den Hilfsschullebrer.
1. Der Hilfsschullehrer nimmt eingehend Kenntnis von allen Ein¬
tragungen im Erhebungsbogen seitens der Normalschule und des Schul¬
arztes. Ist die Untersuchung durch den Schularzt nicht erfolgt, so hat der
Hilfsschullehrer zuerst Auge und Ohr auf ihre Funktionen zu untersuchen.
Kennt das Kind hierbei weder Buchstaben noch Ziffern, so treten an deren
Stelle einfache Zeichen:
„Farbige Kreide unterstützt die Untersuchung (verschiedene Helligkeits¬
stärke) und gibt gleichzeitig Fingerzeige über Farbenkenntnis und Kenntnis
der einfachsten Zahlbegriffe.“
Flüstersprache im Rücken des Kindes muß verstanden werden.
2. Er nimmt eine Allgemeinuntersuchung des Kindes in bezug auf
Orientierung in dessen Umwelt vor. Sie wird in Form zwangloser zutrau¬
licher Unterhaltung geführt und ist an keine bestimmte Form gebunden.
Dadurch findet der Prüfende leicht ein Interessengebiet des Schülers und stellt
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246
Kleine Beiträge and Mitteilungen
ihn auf die spätere TestprQfung ein, indem er diejenigen Hindernisse aus
dem Wege räumt, die nicht unmittelbar zur kindlichen Intelligenzbeurteilung
gehören (Ängstlichkeit, Scheu, nervöse Unruhe, Erethiker, motorische und
" zentrische Sprachgebrechen, Mundart des LehreVs und des Schülers — gegen¬
seitiges Nichtverstehen). Gleichzeitig merkt der Prüfende, wie er allmählich
in der Schwierigkeit der Fragestellung fortschreiten kann, und erhält so in
großen Umrissen ein Allgemeinurteil über die geistige Verfassung des Kindes.
Es ist zu beachten, daß von den nachstehend angegebenen Stoffgebieten
nur diejenigen durchzuprüfen sind, die zur Erreichung des vorstehend ge¬
kennzeichneten Zieles unbedingt notwendig sind. Andernfalls ermüdet der
Schüler zu sehr, und damit tritt ein neues, schwerwiegendes Hemmnis der
Intelligenzbeurteilung ein.
Zar Auswahl sind folgende Stoffgebiete za empfehlen:
Einfache Begriffe. (Vorstellungskomplexe mit engen Grenzen.)
1. Körper des Kindes: Teile zeigen and nennen (Rand, Auge, Ohr). Kleidang des
Kindes: Rock, Schuhe, Strumpf, Knopf. *
2. Elternhaus. Namen angeben: Vater, Mutter, Geschwister, Hund, Katze. — Gegen¬
stände nennen: in Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Keller, Hof.
8. Christkind — Osterhase (auf Fragen antworten). Eis, Schnee, Regen, Wetter (wenn
zeitlich zusammenfallend).
4. Einkäufen: Gegenstände aufzählen! Angeben, wo sie gekauft sind (nur Handwerk¬
benennung fordern, Brot bei Bäcker, Schuh bei Schuster).
5. Schule: Mitschüler, Schulsachen, Gegenstände im Schulsaal, Schularbeiten aufzählen,
Liedchen singen, Lehrer.
Erweiterte Begriffe und Urteile zu „A“.
1. Zweck der Hände, Augen, Ohren, Nase, Füße. Zweck der Kleidungsstücke. Stoftart
der Kleidungsstücke bei Schuh, Strumpf, Haarband, Knöpfen. Farben der Kleidungs¬
stücke. Werkzeuge, mit denen die Kleidungsstücke hergestellt werden. (Näherin —
Mädchen.)
2. Was die einzelnen Familienmitglieder arbeiten. Wo die Arbeitsstelle ist. Essentragen.
Weg. Zweck der Arbeit (Geld verdienen — Nahrung, Kleider kaufen). Wie hilft der
Schüler der Mutter, dem Vater?
3. Stoff vom Christkind usw. erzählen lassen. Stoff von Wintererlebnissen erzählen
lassen (Schnee, Eis). Vom „Kino“ erzählen lassen.
4. Wo kauft man ein: Brot, Fleisch, Gemüse usw. (Neben Handwerk auch Namen nennen
lassen.) Weg angeben! Was kosten einzelne Sachen: Brötchen, Brot? Teuerung:
was alltäglich zu hören ist Ofen: Zweck, Brennmaterial.
5. Schulweg angeben, Weg zur Kirche, zum Dom, zu bekannten Kaufhäusern, Kino, Bahnhof,
Nummer der Elektrischen, Aufschrift, Schilder, Fahrtkosten. Orientierung über Zeit:
Morgen — Mittag — Abend — Nacht. Schulanfang, Schalschluß.
Höhere Anforderungen an ältere Schüler.
Die bekannten Handwerker: ihre Beschäftigung, ihre Einrichtung, ihre Werkzeuge, Umwand¬
lung einfachster Rohstoffe in Fertigware, Unterscheidung von Stoffen.
Gesamtkomplex etwa: Hausbau.
1. Schreiner: Baum, Holz, Hausbau, Möbel.
2. Maurer: Steine, Kalk, Zement, Mörtel (Speise).
8. Schlosser: Eisen, Stahl, Blech, Draht, Säge, Beil, Nägel, Feile, Hammer.
4. Zimmermann: Decken, Dach, Gerüstbau.
6. Anstreicher: Farben, Pinsel, Maler, Schriftmaler.
6. Schneider: (Schneiderin): Wolle, Seide, Sammet, Futter, Nähgarn, Nähseide.
7. Schuhmacher: Haut, (Fell), Pelz, Leder, Schuhe, Handtasche.
8. Bäcker: Mehl, Brot, Kuchen, Zutaten, Kostenpunkt (Mädchen).
3. Er prüft die SchulkenntnisBe (1. Schuljahr). Die Prüfung der Schul*
kenntnisse hat sich fürs erste Schuljahr nach Einführung des Grundschul-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
247
Lehrplanes eng an diesen anzulehnen. (Jeder Prüfende muß mit dem Plan
vertraut sein.) Als Prüfungsgebiete kommen dabei in Betracht:
1. Plauderstoffe, Erzählungen, Gedichte.
2. Formen, Stäbchenlegen, malendes Zeichnen.
3. Lesen, Schreiben, Rechtschreiben.
4. Rechnen. /
Schrei blesen: Der zu erarbeitende Stoff ist im Lesen und Rechnen nicht nach Zeit festgelegt
Die Ansicht der Keiner Lehrplankommission geht dahin, daß bis Weihnachten etwa die kleine
und große Druckschrift durebgearbeitet ist ohne Dehnung und Schärfung. (Siehe Domfibel.)
Et ist somit zuerst die sogenannte Balkenschrift zu prfifen. Die einzelnen Buchstaben werden
in Stäbchen gelegt, in Plastilina geformt, gemalt, zu Silben und Wörtern zusammengesetzt und
gelesen. Später setzt die kleine Antiqua ein (mit Seite 10 der Domfibel). Von diesem Zeit¬
punkte an schreibt der Schüler Sütterlinschrift, liest also die Antiqua der Domfibel und die
geschriebene Sütterlinschrift gleichzeitig.
Rechtschreiben.' Das Stoffgebiet für das Rechtschreiben ist in obigen Ausführungen gegeben.
Rechnen. Bis Weihnachten ist durchgearbeitet:
1. Zu- und Abzählen im Zahlenkreise 1—10.
' 2. Zu- und Abzählen der reinen Zehner von 10—100.
3. Zu- und Abzählen der Grundzahlen von 10—100 ohne Zehnerüberschreitung.
Das Stoffgebiet der weiteren Schuljahre gleicht sich den früheren Anforderungen (alter Lehr-
pUn) an und ist aus dem Grundscbul-Lehrplan zu ersehen.
4. Er nimmt die Testprüfung vor. Der prüfende Lehrer ist hierbei an
die Anweisungen über Methode und Zeit gebunden, jedoch ist eine sinn¬
gemäße lebendige Auffassung der einzelnen Tests zulässig. Dabei ist ins¬
besondere zu beachten, daß die gestellten Aufgaben wohl erfaßt werden sollen,
daß aber die hierbei angewandten Fragen und Hilfsfragen die Aufgabe nicht
wesentlich erleichtern oder erschweren dürfen. Hier ist weitgehende Schulung
des Prüfenden Hauptsache. Sondemotizen und Protokollführung sind not¬
wendig. Die Testergebnisse sind nach Formular beizufügen. Das Lebensalter
ist stets auf volle Jahre zu berechnen, die Berechnung für alle Schulen ein¬
heitlich zu gestalten. (Bobertag: „Kurze Anleitung".) Beispiel: L. A. (Lebens¬
alter), I. A. (Intelligenzalter), I. R. (Intelligenzrückstand), L Qu. (Intelligenz¬
quotient). — Die Testprüfung kann von einem zweiten Hilfssch.ullehrer vor¬
genommen werden.
IV. Die Eintragungen in den Erhebungabogen.
Um der Schulaufsichtsbehörde die vorgeschriebene Entscheidung zu ermög¬
lichen, ist es notwendig, daß die Prüfungen sich in einheitlicher Form voll¬
ziehen und die Einzelergebnisse aus dem Erhebungsbogen zu erkennen sind.
Nur die für das einzelne Kind charakteristischen Angaben werden nieder-
geschriebei}.
Muster des Erhebungsbogens.
1. Allgemeinauff&88ung (Umwelt).
A) 1. Angaben ungenau, unsicher; oder: weiß gut Bescheid.
A) 5. Weiß kaum etwas zu sagen; oder: kann ziemlich eingehend Auskunft geben.
B) 2. Stoff ist fremd, gibt keine Auskunft; oder: ist genügend orientiert
C) 6. Gibt kaum Auskunft, obwohl Vater Schneider ist; oder: kaum einige unklare Be¬
griffe vorhanden.
Statt hier auf die Einzelheiten einzugehen, kann bei durchweg gleichmäßiger Auffassung
mehrerer Begriffskomplexe das Urteil zusammengefaßt werden; z. B.:
Ist in seiner Umwelt außerordentlich schlecht orientiert; oder: hat aus seiner Umwelt
nur wenig Begriffe; oder: weiß in seiner Umwelt gd., gt. Bescheid.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
2. Schulkenntnisse. •
a) Plauderstoffe, Erzählungen, Qedichte. Was hat der Schüler von dem im Lehr¬
plan vorgeschriebenen Lehrstoff erfaßt? Kann er etwas daraus erzählen? Eventuell
was? Kann er ein Gedicht answendig?
b) Malen, Stäbchenlegen, Formen. Kann der Schüler leichte Aufgaben des Lehr¬
plans lösen? Eventuell welche?
c) Lesen: 1. Zahl der bekannten Buchstaben: (Balkenschrift? Antiqua? Sütterlin*)
2. Liest der Schüler Lautverbindungen? 3. Wieweit liest er in der Fibel (Domfibel)?
4. Wieweit geht seine Lernfertigkeit überhaupt?
d) Schreiben, Abschreiben, Diktat 1. Kann der Schüler Buchstaben — Wörter
abschreiben? 2. Faßt er Einzellaute auf? gibt er sie in Zeichen wieder? 3. Faßt sr
Wörter — Sätze auf; gibt er sie in der Schrift wieder? — Proben hieraus sind Jedes¬
mal im Erhebungsbogen in getreuer Abschrift festzulegen.
e) Rechnen: 1. Der Schüler zeigt an der Hand oder der Rechenmaschine bis: . . .
2. Der Schüler operiert mit Anschauung bis: . . . 3. Der Schüler operiert ohne An¬
schauung bis: . . .
Wo sie ein besonderes charakteristisches Merkmal der Beurteilung bilden, können einzelne
Proben im ersten Zehner festgelegt, die Lösungsdauer ersichtlich gemacht werden, indem die
Sekundendauer durch senkrechte Striche markiert wird; 3-f- 1 — | 11 | (4); 3—1 = ! | (2) (nir
wenn sie ein charakteristisches Merkmal der Beurteilung bilden.)
3. Testprüfungsergebnis; Formular ist stets beizufügen!
4. Urteil: Auf Grund der Wertung aller Ergebnisse ist das Urteil über Hilfsbedürftigkeit
aufzubauen. Es gehören hierher das Erfahrungsurteil der Normalschule, der Untersuchungs-
bericht des Schularztes, das Umwelturteil, die Schulkenntnisse und das Testergebnis, ln
vielen Fällen wird trotz aller aufgewandten Sorgfalt das Gesamturteil nicht leicht sein.
Dieses Urteil lautet:
1. h ilfssch ul bedürftig,
2. nicht hilfsschulbedürftig,
3. unbestimmt, 1 Jahr zur Beobachtung zurück.
5. Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde.
6. Rückversetzung. Zeigt es sich, daß ausnahmsweise trotz aller Sorgfalt ein Kind
zu Unrecht in die Hilfsschule übernommen wurde, so ist bei der Schulaufsichtsbehörde
der Antrag auf Rückversetzung in die Normalschule zu stellen.
7. Bei tiefgehender gegensätzlicher Beurteilung und Stellungnahme zwischen Normalschule,
Hilfsschule und Schularzt kann die Schulaufsichtsbehörde das betreffende Kind einer
besonders dazu gebildeten Kommission überweisen, bestehend aus einem psychiatrisch
gebildeten Schularzt und einem Hilfsschullehrer. In jedem Falle aber bleibt die end¬
gültige Entscheidung Sache der Schulaufsichtsbehörde.
V. Welche Kinder kommen in den Hilfsschulkindergarten?
Kinder, die im allgemeinen die nachstehend bezeichneten Aufgaben nicht
Ibsen, gehören nicht mehr zur Hilfsschule, sondern sind dem Hilfsschul¬
kindergarten zu überweisen, von wo aus weiter über *sie zu entscheiden
ist — Es ist zu prüfen:
1. Die Funktionen der Sinnesorgane (Auge, Ohr, Getast, Geschmack).
2. Ob das Kind die einfachsten Begriffe seiner Umwelt hat: Erkennen
der Gegenstände am Kinde und in seiner nächsten Umgebung; Benennen
dieser Gegenstände.
3. Ob das Kind den Zweck der einfachsten Gebrauchsgegenstände erfaßt
hat und aussprechen kann. Messer, Gabel, Griffel, Ofen (auch Auge — Ohr).
4. Ob es Eigenschaften an diesen Gegenständen erkennt und angibt
Gegensätze erleichtern die Antworten. Hierher gehören: warm — kalt (Ofen),
dick — dünn, spitz — stumpf (Griffel), kurz — lang (Griffel), hart — weich,
sauer — süß, rauh — glatt, schwarz — weiß.
5. Ob es, von den einfachsten Formen (ohne Namengebung) eine Auffassung
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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hat. Zwei gleiche Formen werden zusammengesucht oder eine Form in den
betreffenden Ausschnitt des Formenbrettes gelegt (nur □, 1_I, O, A).
6. Ob es Farbenauffassung hat (Namen nicht gefordert). Zwei gleiche
Farbtäfelchen werden zusammengesucht.
Zahlbegriffe bleiben außer Betracht.
Die genannten Aufgaben geben zugleich hinreichend Aufschluß über die
Sprachentwicklung des betreffenden Kindes.
Das Institut für Jugendkunde in Bremen legt für das Jahr 1922 durch
seinen wissenschaftlichen Leiter Dr. Th. Valentiner den Arbeitsbericht vor.
Wir entnehmen daraus über die praktischen und wissenschaftlichen Arbeiten
des Instituts für Jugendkunde, die wieder einen erfreulichen Fortgang nehmen
konnten, das folgende:
1. Arbeiten der Jugendschriftenkommission. Gemeinschaftlich mit
der Jugendschriftenkommission des Lehrervereins wurden vor Weihnachten
an 32 bremischen Schulen Ausstellungen veranstaltet. Der Zuspruch, den
die Ausstellungen fanden, war über Erwarten groß. In der Verbreitung des
guten Buches erblickt das Institut eins der wirksamsten Mittel, um dem Kauf
von Schund- und Schmutzerzeugnissen durch unsere Jugend Abbruch zu tun.
Ein guter Bundesgenosse in diesem Kampf wird auch das neue Verzeichnis
empfehlenswerter Jugendschriften sein, das von dem Bremer Lehrer¬
verein, dem Institut für Jugendkunde und dem DUrerhaus herausgegeben
und im Dezember 1922 in dem Verlag des Dürerhauses erschienen ist Das
Institut ist ferner bemüht, auch durch Ausleihen von Büchern die gute
Jugendschrift in weiteste Kreise unserer Jugend zu tragen. Wie im vorigen
Sommer konnten nach Ostern wieder die Kinder und Jugendlichen, die zur
psychologischen Untersuchung in das Institut kamen, kostenlos Bücher aus
der Institutsbibliothek geliehen erhalten. Endlich sucht da» Institut der Auf¬
gabe der Verbreitung der guten Jugendschrift durch Aufklärung zu dienen.
Es werden nach Ostern besonders für Seminaristen und alle, die sich besonders
aus den Kreisen der Lehrerschaft dafür interessieren, eine Reihe von Vpr-
trägen über die Jugendschrift gehalten werden.
2. Arbeiten der Kommission für das Begabungsproblem. Die
begonnenen Arbeiten wurden fortgeführt. Im Mittelpunkt standen korre-
lations-psychologische Untersuchungen. So wurden unter anderm
die gegenseitigen Beziehungen von verschiedenartigen Augenmaßleistungen
(Halbieren, Dritteln, Vierteln einer Strecke, Kreismittelpunktsuchen, Grund-'
richtungseinstellung, Kreisflächeneinteilung und anderes) bei 300 Jugendlichen
untersucht und dabei das besonders praktisch wertvolle Ergebnis gewonnen,
daß das Halbieren einer Strecke von bestimmter Länge und in bestimmter Ent¬
fernung anscheinend die günstigste Beziehung zu der Augenmaßfunktion hat, die
>n der Praxis am meisten in Anspruch genommen wird. Es hat daher diese
Leistung für psychotechnische Prüfungen besonders großen Wert, wenn auch die
Beziehungen nicht derartig sind, daß auf Feststellung von anderen Leistungen,
wie etwa Mittelpunktsuchen, verzichtet werden kann. Einige Teilergebnisse
dieser Arbeiten konnten an Hand von 6 Tafeln mit Korrelationakurven auf der
Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie in Berlin (10.—14. Oktober
1922) demonstriert werden. — Weitere Arbeiten bezogen sich auf die ex¬
perimentelle Untersuchung von Willenseigenschaften an Jugend-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
liehen (vgl. hierzu Prakt. Psychologie IV. 1 (1922) S. 10 f). Es wurde versucht
festzustellen, wieweit es möglich ist, mittels Arbeitsproben den Willen zur
Arbeit sowie die Arbeitsart nach der Willensseite hin (Entschlußfähigkeit,
Selbständigkeit, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Ruhe, Sicherheit,
Tempo) bei Kindern und Jugendlichen verschiedenen Alters im Laboratorium
zu erfassen. Auch hierüber konnten auf dem erwähnten Berliner Kongreß
einige Mitteilungen gemacht werden. Die positiven Ergebnisse dieser Arbeit
konnten schon bei den im Institut für Jugendkunde angestellten Berufs*
eignungsprüfungen verwertet werden.
In größerem Umfange als im Vorjahre wurden die psychotechnischen
Berufseignungsprüfungen vorgenommen. Die industriellen Werke, die
1921 ihre Lehrlinge im Institut für Jugendkunde prüfen ließen, A.-G. „Weser“,
Atlaswerke, Franckewerke, Hansa-Lloyd-Werke, Koch & Bergfeld, Norddeutsche
Waggonfabrik, meldeten sie auch wieder für 1922 an. Ferner sandten uns
folgende Werke Lehrlinge zur Eignungsprüfung: Bohm & Kruse, Cordes &
Sluiter in Hemelingen, Lloyd-Dynamowerke, Bremawerk (Haagen & Rinau),
A. Gese in Bremen. Außerdem wurden die vom Arbeitsamt (Abteilung Berufs¬
beratungsstelle) zu diesem Zweck gesandten Jugendlichen psychotechnisch ge¬
prüft. Die günstigen Ergebnisse, die ein Vergleich der Prüfergebnisse mit den
Urteilen der Meister ergeben hat, sowie das große Interesse, das die Gro߬
industrie dem Institut für Jugendkunde entgegenbringt, sind dieser Arbeit
außerordentlich förderlich. Die für die Ausführungen der Prüfungen not¬
wendigen Mittel wurden dem Institut für Jugendkunde von dem Industrierat
zur Verfügung gestellt. Dazu erhielt es im Laufe des Jahres von einzelnen
Werken wertvolle Geschenke. Wie auf dem Gebiet der Jugendpflege, so ergab
sich auch auf dem der Eignungsprüfungen ein erfreuliches Zusammenarbeiten
mit der Lehrerschaft. Die mit Zustimmung des Lehußrvereins an die Lehrer
gesandten Fragebogen wurden zum großen Teil ausgefüllt zurückgesandt
und konnten ihren Zweck erfüllen. Die Vergleiche der in den Fragebogen
enthaltenen Angaben mit den in dem Laboratorium festgestellten intellek¬
tuellen und vor allem charakterftogischen Eigenschaften haben ergeben, daß
künftighin diese mühevolle Arbeit von der Lehrerschaft nicht mehr geleistet
zu werden braucht, da die neuen psychologischen Feststellungsmethoden es
gestatten, den größten Teil der in Frage kommenden Angaben auch im Labo¬
ratorium zu erhalten, ja darüber hinaus noch manches (Arbeitsart bei Hand¬
arbeit, bei technischen Arbeiten usw.), das der Lehrer mangels geeigneter
Beobachtungsgelegenheit oft nicht geben kann. Es wird darum künftig nur
in einzelnen schwierigen Fällen (z. B. zur Erklärung einer ungünstigen
Betragenszensur usw.) die Mitteilung des Lehrers erbeten werden.
Dem Zwecke der wissenschaftlichen Einführung und Aufklärung dienten
eine Reihe von Vorträgen und Vorführungen, die vom Institut veran¬
staltet wurden. Es wurden dabei allgemeine und spezielle Aufgaben der
Begabungsforschung und Wirtschaftspsychologie behandelt, sowie Einblicke in
die praktische Arbeit, die das Institut auf dem Gebiet der Berufs- und Schul¬
eignungsprüfung leistet, zu geben versucht. Unter den Vorträgen, die von
auswärtigen Rednern gehalten wurden, seien besonders die von Dr. Jobs.
Weber (Münster) über Berufskunde und Berufsberatung und die von Prof.
Dr. E. Spranger (Berlin) über Psychologie des Jugendlichen erwähnt Beide
Redner waren auf Veranlassung des Instituts von dem Wissenschaftlichen
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Vorlesungswesen zu 3 Doppelvorträgen nach Bremen berufen worden und
fanden besonders in den dem Institut nahestehenden Kreisen lebhaften Wider¬
hall.
Das Institut durfte sich wiederum wertvoller staatlicher und privater Unter¬
stützung erfreuen. Der Amerikaner Henry Goldman (New York), ein Freund
und Förderer deutscher Wissenschaft, stiftete 100 Dollar, die es ermöglicht
haben, das wissenschaftliche Rüstzeug des Instituts so zu verbessern, wie es
in der Zeit schwerster Not sonst nicht zu erhoffen war.
Nachrichten. 1. Prot Dr. Karl Arthur Scheunert, o. Prot an der landwirtschaftlichen
Hochschule in Berlin, ist auf den Lehrstuhl für Psychologie an der tierärztlichen Hochschule
in Dresden berufen worden.
2. Die Leitung des im Mai d. J. eröffneten pädagogischen Institutes in Dresden,
das mit der Technischen Hochschule die akademische Lehrerbildung in Sachsen begonnen hat,
ist dem Minister a. D. Rieh. Seyfert unter Ernennung zum Professor übertragen worden.
3. Ein pädagogisch-psychologisches Institut ist an der Universität Amsterdam
gegründet worden. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen will es seine Tätigkeit auch darauf
einstellen, unmittelbar den schulpädagogischen Bedürfnissen zu dienen. So gedenkt man unter
anderem die aus der Wirklichkeit des Schullebens gestellten Fragen psychologischer Art zu
beantworten, unterrichtiiche Methoden und schulorganisatorische Pläne vom Standpunkte des
Psychologen aus zu prüfen, Klassen und Schüler nach ihrer geistigen Verfassung zu untersuchen,
föne schöne Arbeitsgemeinschaft zwischen forschenden Gelehrten und wirkenden Lehrern, zwischen
Universität und Schule anbahnend, hat das Institut alsbald die Verbindung mit Schulen der ver¬
schiedensten Art aus dem ganzen Lande hergestellt. An der Gründung selbst waren beteiligt
Pro! Kobnstamm (Universität Amsterdam), Prof. Casimir (Universität Leyden) und Prof. Guniuz
(Universität Utrecht). Die Leitung hat der auch in Deutschland bekannte Universitätsprofessor
Dr. Gäza Revesz.
4. Dem Dezember-Kongreß für Individualpsychologie (A. Adler) folgte eine Pfingst-
tagung in Salzburg, auf der ausführlicher neben anderem über die Erziehungsberatungs¬
stellen verhandelt wurde.
5. Ein Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft soll in absehbarer
Zeit in Halle a. S. stattfinden. Mit der Vorbereitung ist Professor Dr. Max Dessoir in Berlin
betraut worden.
6. Der Deutsche Philologenverband beschloß auf seiner Tagung in Würzburg (23. und
24. Mai d. J.), die pädagogische Ausbildung der Philologen im Anschluß an die Neu¬
ordnung der Lehrerbildung einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, und bestimmte diesen
Gegenstand zur Verbandsaufgabe für 1923/24.
7. Der Bezirkslehrerverein und das pädagogisch-psychologische Institut München veranstalten
vom 22. Juli bis 4. Aug. d. J. einen Ferienkursus mit folgendem Plane: Universitäts¬
professor Dr. E. Becher-München: Das Problem Leib und Seele (6ständig). — Universitäts¬
professor Dr. Aloys Fischer-München: Die Theorie der emotionalen Bildung (6stündig).
— Universitätsprofessor Dr. Alex, von Müller-München: 1. Die Entwicklung des
englischen Weltreichs (6 ständig). 2. Der Vertrag von Versailles (1 ständig). — Universitäts¬
professor Dr. von der Pfordten-München: 1. Richard Wagner. 2. Einführung in „Die Meister¬
singer“ (5 ständig). — Hochschulprofessor Dr. Po pp-München: 1. Einführende Vorträge über
Malerei. 2. Erörterung wichtiger allgemeiner Fragen zur Vorbereitung für die Führungen in die
Pinakotheken (mit Lichtbildern; 4ständig). — Studienrat Scheibner-Leipzig: Psychologie und
Pädagogik der Schulklasse (östtindig). — Geheimrat Dr. Sommerfeld, Universitätsprofessor,
München: Der gegenwärtige Stand der Atomphysik (4ständig). — Universitätsprofessor Dr. William
Stern-Hamburg: Personalismus und Pädagogik (6ständig). — Universitätsprofessor Dr. Strich-
München: Der Weg der Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart (4 ständig). — Dr. Rudolf
Bode-München: Vortrag und Vorführungen über Körperbildung und Ausdrucksgymnastik (2stündig).
Auf Wunsch wird ein 6ständiger Übungskurs angeschlossen. — Albert Huth, Assistent des
Pädag.-Psychologischen Instituts München: Die psychologischen Grundlagen des Unterrichts
(Vortrag mit Lichtbildern; 5ständig).
8. Im preußischen Philologenverein wird zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft aufge¬
rufen, in der die Erzieher und Lehrer der „Erziehungsanstalten“ (Alumnate, Internate,
Pädagogien usw.) sich zusammenschließen, um 1. die lebenswichtige Bedeutung der Erziehungs-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
anstalten für unser Volk in Fach- and Laienkreisen zur rechten Geltung zu bringen, 2. die
Stellung der Erzieher an den Anstalten auszubauen, 3. die wissenschaftliche und praktische
Pädagogik in den Erziehungsanstalten zu fördern, worüber mit Professor Eduard Sprenger an
der Universität in Berlin und Professor Hermann Schwarz an der Universität in Greifswald
Fühlung genommen worden ist. Nächste Ziele der Arbeitsgemeinschaft wären: 1. Schaffen
einer Zentralstelle in Berlin, um Mitteilungen von Erfahrungen und Einrichtungen aus Erziehungs¬
anstalten zu sammeln. 2. Die Vorgesetzten Behörden dafür zu gewinnen, daß den Direktoren,
Erziehern, Lehrern ermöglicht wird, Erziehungsanstalten des In- und Auslandes in ihrer Tätig¬
keit zu studieren. 3. Die maßgebenden Kreise der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels
durch Schrift und persönliche Rücksprache zu veranlassen, dem Staat finanziell im Ausbau der
Erziehungsanstalten zu helfen, zumal in diesen im besonderen Maße Führer und Beamte für sie
erzogen worden sind und erzogen werden.
Literaturbericht.
Eduard von Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. Eine Ent¬
wicklung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem inneren Zusammenhänge. Dritte Auf!.,
mit den Zusätzen letzter Hand, neu herausgegeben von Alma von Hartmann. Berlin 1922.
Wegweiser-Verlag. 696 S.
• E. v. Hartmanns große ethische Prinzipienlehre, dieses grundlegende und umfassende Werk
aus einem Guß von klarem Plane, in die Auswahlreihen des Volksverbandes der Bücherfreunde ein¬
zustellen, ist wohl ein glücklicher Griff. Der große Denker war, als er den stattlichen Band 1878
auf den Weg brachte, der Hoffnung, mit ihm über den engeren Kreis der Fachgelehrten hinaus
eine weite Gemeinde unter den Gebildeten zu finden. Ob sich nach bald einem halben Jahr¬
hundert noch spät erfüllt, was er an einer breiteren Wirkung erwartete, wie sie sein Jugendwerk
«Die Philosophie des Unbewußten** ausübte, ist fraglich. Die geistige Zeitlage mag aber einem
späteren Erfolge nicht ungünstig sein, und nach eigenhändigen Aufzeichnungen, die sich im
Nachlaß fanden, hielt E. v. Hartmann selbst seine Anschauungen bis zuletzt noch ebenso zeit¬
gemäß wie bei ihrem Erscheinen. „Das Schauspiel, das die Gegenwart bietet*' — so schreibt
er —, „ist leider noch immer der Kampf zwischen der eudämonistischen und heteronomen
Pseudomoral. Die erstere wird teils im sozialeudämonistischen Sinne vom philiströsen Mili¬
tarismus und der Sozialdemokratie, teils im egoistischen Sinne vom radikalen Individualismus,
Personalismus und Anarchismus, die letztere nach wie vor von den christlich-kirchlichen
Kreisen vertreten. Da beide streitenden Teile gleichmäßig unrecht haben und dem Begriff der
echten Sittlichkeit gleich fernstehen, so muß dieser Streit immer ergebnislos bleiben, wie er
seit der Renaissance fruchtlos tobt« Eine Vereinigung der Gegner ist nur möglich, wenn sie
gemeinsam auf einen dritten Standpunkt hinübertreten, den der Autonomie, auf dem allein
echte Moral möglich ist" Tr.
Dr. Wilhelm Bruhn, Privatdozent und Studienrat in Kiel, Einführung in das philo¬
sophische Denken für Anfänger und Alleiniemende. Leipzig 1923. Teubner. 155 S.
Grundpr. 3 M.
Man muß mit der Gestaltung eines Unterrichts, der älteren Schülern die erste Einführung
in die Philosophie geben soll, selbst gerungen haben, um seine großen Schwierigkeiten ermessen
zu können. Angezogen wie Nachtflieger vom Licht, stürzen die Jugendlichen Geister begierig
in die lockende Sphäre, taumeln dann bald in unbefriedigtem Suchen hin und her, erlahmen
in der blendenden Helle und wenden sich enttäuscht wieder ab — wenn sie sich beim ersten
Anflug nicht schon die Flügel verbrannt hatten. Man höre nur die ehrlichen Eingeständnisse
ernsterer Bespcher von Volkshochschulkursen, der reiferen Primaner, der Jungen Studenten
und derer, die in freiem Bildungserwerb von der sich zur Führung anbietenden Literatur die
Wegweisung und -leitung erhofften. Der philosophische Lehrstoff will viel mehr als ein anderer
und mehr, als es üblich ist, unter didaktisches Denken genommen sein, wobei selbstverständlich
die Wissenschaftlichkeit nicht beeinträchtigt werden darf und braucht
Bruhn entwickelt in seiner Vorrede einige sehr treffliche unterrichtsmethodische Grundsätze.
Erforderlich ist, so führt er aus, daß der Schüler selber sucht und findet „Er kommt Ja als
ein Suchender." Probleme müssen ihm geboten werden, und zwar so, daß sie vor seinen Augen
entstehen und ihn zum Mitgehen zwingen. „Viel wichtiger als enzyklopädische Kenntnisse dürfte
für den Menschen der Gegenwart sein, daß er eine Waffe bekommt, sich durch das Gestrüpp
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Literaturbericht
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alles dessen, was sich heute als Philosophie ausgibt, selber eine Schneise zu hauen; diese
Waffe aber kann nicht wohl etwas anderes sein, als die selbsterarbeitete Erkenntnis..
Vonnöten dazu ist größtmögliche Anschaulichkeit, strenges Bemühen um einfachen Ausdruck
und vorsichtigstes Schrittmachen,
Im stofflichen Aufbau verbindet Bruhn die Geschichte mit der Systematik. Er hält als
Leitfaden den Werdegang menschlichen Wahrheitssuchens inne, zeigt sich aber unbekümmert
gegen Lückenlosigkeit, und ist nur darauf aus, in den Zeitbildern der Geistesgeschichte heraus-
zusondern, was ihm geeignet erscheint, die vornehmsten Fragen des Erkennens heraustreten
zu lassen. Einleitend sucht er das Wesen des philosophischen Denkens zu klären und zieht dazu
Stabes von Milet und Descartes heran — ein geschickter didaktischer Griff. Mit der alt¬
griechischen Philosophie beginnend, wird darauf die Stufe des naiven Denkens ausführlich
behandelt. Die Sophisten und Sokrates müssen dann die „Wendung vom Objekt zum
Subjekt 44 demonstrieren. Schließlich wird die große Linie des „methodischen Denkens 14
straff und wohlgegliedert gezogen: vom Rationalismus aus (in der jugendlichen, der ent¬
arteten und der klassischen Form“) hinweg über den Empirismus bis zum Kritizismus«
Hier bricht bei Kant die „Einführung 44 ab und enttäuscht damit das brennende Interesse der An¬
fänger daran, daß sich ihnen ein erster Blick auf die philosophische Problematik ihrer Zeit auftue.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. K. Haaae, Die psychologischen Strömungen der Gegenwart Bd. 14. der Jäger¬
sehen Sammlung pädagogischer Schriftsteller. Leipzig 1922. Jägersche Buchhandlung. 167 g.
Grundpr. 2 M.
Der Band will dem besonderen Zweck der Sammlung entsprechend — sie ist für den
Unterricht am Oberlyceum und Seminar bestimmt — in die deutsche und ausländische psycho¬
logische Forschung einführen und so den Weg zu den Originalwerken otfenhalten, der heute
durch wirtschaftliche Not verschüttet zu werden droht Darum begrüßen wir das Schriftchen
nicht nur im Interesse der jungen Leser. Der Inhalt setzt sich aus ausgewählten zusammen¬
hängenden Abschnitten der Werke folgender Autoren zusammen: Wandt, Die psychische Ent¬
wicklung des Kindes; Bühler, Instinkt, Dressur, Intellekt; Thorndike. Diä Gesetze des Entstehens
von Gewohnheiten; Ebbinghaus, Das Gedächtnis; Stern, Begriff der Intelligenz; Binet,
Die Korrelation der geistigen Fähigkeiten; Titchener, Das Gefühl; Stoerring, Einfluß der Ge-
fühle auf Urteilsprozesse; L. Klage s, Verhältnis der Schulpsychologie zur Charakterkunde; St.Hall,
Das Lügen der Kinder; H. Münster berg, Angewandte Psychologie, Aufgaben der pädagogischen
Psychotechnik. Die Auswahl ist geschickt getroffen. Zu wünschen wäre für eine Neuauflage
ein einleitender Aufsatz über die prinzipiellen Unterschiede der Autoren, um so deren gegen¬
seitige Stellung besser erkennen und das Bild der psychologischen Gegenwart vervollständigen
zu können. Auch ein neuerer strukturpsychologischer Abschnitt dürfte empfohlen werden.
Frankfurt a. M. Julius Wagner.
Dr. Fritz Giese, Universität Halle, Handelshochschule Cöthen, Leiter des behördlichen Insti¬
tutes für praktische Psychologie Halle, Psychologisches Praktikum. Halle a. S. 1923.
Wendt & Klauwell. 153 S. Grundpr. 3 M.
Für die Psychotechnik ein Seitenstück zu Paulis vorbildlichem Praktikum, das in die all¬
gemeine Psychologie experimenteller Richtung einführen will — weniger als dieses mit Theorie
durchsetzt, dafür noch entschiedener didaktisch eingestellt. Nur wer selbst mit den Schwierigkeiten
gerangen hat, psychologische Stoffe arbeitsunterrichtlich zu gestalten, vermag die Leistung Gieses
recht zu würdigen. Die volle fachwissenschaftliche Beherrschung des Lehrgebietes reicht zu
ihr nicht aus, wenn nicht der Wille — und Mut! — und die in natürlicher Veranlagung be¬
gründete und durch Schulung ausgebildete Fähigkeit zu didaktischer Formgebung hinzutritt.
Hinter der Auswahl der Übungsthemen und ihrer Anordnung zu einem Gange, der vornehmlich
nicht systematisch beherrscht sein kann, sondern unter den Gesetzen des Lernens steht, hinter
der Auswahl und lehrpraktischen Zurichtung der Arbeitsmittel (Tabellen, Fragebogen, Zeichnungen,
Literaturangaben), den angegebenen lehrmethodischen Kunstgriffen, den aus der Übungsarbeit
berauswachsenden Fragen, liegt viel mehr didaktische Kunst und Erfahrung, als beim bloßen
Blick auf die Giese sehen Faustskizzen aus seinem Praktikum erkennbar ist. Von den Grund¬
sätzen, die verwirklicht sind, tritt besonders das Bestreben heraus, weniger den Praktikanten
auf die äußere Versuchstechnik möglichst schnell einzuschulen, als vielmehr ihm den Blick für
die innere psychologische Betrachtung einzustellen, ihn zum Nachdenken über die seelenkund-
lichen Probleme zu gewinnen ferner: die Eigentätigkeit soweit als nur mögllich zu erregen;
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Litera turbericht
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schließlich: unter Verzicht (freilich nicht durchweg) auf die umfängliche Apparatur eines modern
eingerichteten psychotechnischen Laboratoriums einfachste Behelfsmittel zu benutzen und za
deren eigener Herstellung anzuregen. Der psychologische Unterricht in der Lehrerbildung, will
er sich endlich von dem dozierenden Verfahren loßreißen und sich arbeitsunterrichtlich gestalten,
mag hier lernen. Es ist ja geradezu beschämend für die Lehrerseminare, daß aus ihrem so
lange Zeit und in so zahllosen Anstalten betriebenen Psychologieunterrichte nicht ein einziges
arbeitsunterrichtliches Werk hervorgegangen ist. Man begnügte sich, wenn es hoch kam, mit
Höflers dürftigen „ psychologischen Schul versuchen •.
Zur Kennzeichnung nach der sachlichen Seite der HK) Übungen seien nur ihre Haupt¬
gruppen angeführt. Am Eingänge steht ein viertelhundert Themen zur Einführung in die Kunst
psychologischer Beobachtungen — wohl der lehrmethodisch beste TeiL Von ganz einfachen Grund¬
aufgaben aus führt hier der Weg über die Zergliederung einer Fremdhandlung, einer Skizze,
einer Skulptur, einer Filmreihe von Gesichtsausdrücken — wir nennen immer aus vielem
nur weniges—zur Intelligenzschätzung, berufspsychologischen Umfrage, zum Berufsberatungsbogen
und zur Analyse eines psychologischen Profils und eines Psychogrammentwurfes. Es folgen
dann einige Berechnungsverfahren, ein kurzes mathematisches Praktikum (Trefferstatistik, Zentral¬
wertberechnung, Vollreihenmethode, Schwankungswert der Leistung, praktische Streuungskurven,
Integration einer Versuchskurve, Korrelationsrechnung, psychische Normenstellung). Ein weiterer
Teildes Buches ist der Subjektspsychotechnik gewidmet. Übungen über Grundsätzliches (z. B.
Versuchsanweisung, Wirklichkeitsversuch, Tests, apparative Prüfungen, Massenproben und Einzel-
versuche usf.) leiten hin zu den Allgemeindiagnosen (Untersuchungen des Auges, des Ohres,
der Hand, des Gedächtnisses; der Intelligenz; Gefühlsanalysen Aufmerksamkeits-, Willens- und
Arbeitsproben) und zu Sondereignungsprüfungen (Kaufmann, Schriftsetzer, Militär, Taubstumme,
Industrielle, Lehrling und Meister, Eisenbahner, Flieger, Telephonistin). Der Schlußabschnitt
beschäftigt sich mitder Objektspsychotechnik. Zuerst wird hier die psychotechnische Eignung
behandelt (Inserat, Warenzeichen, Schaufenster, Sortierkasten, Schreibmaschine usf.), und dann
folgen noch Arbeits- und Betriebsstudien (Arbeitskurve, Arbeitsgang, Arbeitszeit. Anlernearbeit,
Akkordarbeit, Maschinentempo, Toleranzenfeststellung, Normalisierung, zwangsläufige Organisation
des Arbeitsganges). Ein Literatur- und Sachverzeichnis sind endlich noch willkommene Beigaben.
Empfehlen dürfte sich, wenn Giese sein Buch, mag er in ihm gleichwohl psychologische
Vorkenntnisse voraussetzen, doch theoretisch nicht zu sparsam ausstatten wollte, um so mehr,
als wir über ein zusammenfassendes Lehrbuch der Psychotechnik noch nicht verfügen. Was
er vorlegt, hinterläßt allzusehr noch den Eindruck, als sei es nicht viel mehr als die fleißigen
skizzenhaften Entwürfe und Vorbereitungen seiner gewiß oft schon abgehaltenen psychotechnischen
Übungen. Gewiß gibt er damit den Dozenten treffliche Handreichungen. Sachlich reicher aas¬
gestattet — so wie es Pauli getan hat —, könnte das dankenswerte Buch aber auch für die
Praktikanten ein wertvolles literarisches Arbeitsmittel sein.
Leipzig. Otto Scheibner.
Th. W. Danzel, Prinzipien und Methoden der Entwicklungspsychologie. Liefg.46
zu Abderhaldens Lehrbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt VL Teil C. Heft 2, Wien 1921.
Urban und Schwarzenberg. 63 S.
Das anerkannte Lehrbuch Abderhaldens bringt in vorliegender Lieferung einen wertvollen
Beitrag zur psychologischen Entwicklungsgeschichte von Kultur und Gemeinschaft. Die metho¬
dischen Gesichtspunkte hat Danzel an völkerpsychologischen Studien gewonnen. Er formuliert
das Entwicklungsprinzip als Polarisation des 0 bjektiven und Subjektive n. Dem Zwecke
eines Handbuches entsprechend hat sich Verfasser äußerster Kürze und programmatischer Präzision
befleißigen müssen; nur dadurch war es möglich, das ganze Gebiet prinzipiell behandeln za
können. Die Fülle der Fragen verbietet hier eine Skizzierung uud Besprechung. Wir müssen
angelegentlichst auf die Originalarbeit hinweisen, die neue Schlaglichter sowohl auf die Probleme
der individuellen wie generellen Entwicklung wirft.
Frankfurt a. M. Julius Wagner.
Dr. Oswald Kroh, Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule in Braunschweig,
Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Eine psychologisch-pädagogische
Untersuchung. Göttingen 1922. Vandenhoeck und Ruprecht. 195 S.
Das Buch ist aus Untersuchungen hervorgegangen, die der Verfasser im Marburger Psycho¬
logischen Institut angestellt hat. Er betrachtet es als seine Aufgabe, mit der Erscheinung der
subjektiven Anschauungsbilder, einer bislang übersehenen, charakteristischen und bedeutungs¬
vollen Jugendeigentümlichkeit, bekannt zu machen.
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Literaturbericht
255
Subjektive Anschauungsbilder auf dem Gebiete des Gesichtssinnes sind 1907 zuerst von dem
Wiener Ohrenarzt Urbantscbitsch eingehend beschrieben worden. Sie bedeuten die Gabe,
gesehene Gegenstände und Bilder, die nicht mehr vor den Augen stehen, nach kürzerer oder
längerer Zeit so deutlich wieder vor sich zu „sehen“, als wären sie leibhaftig zur Stelle. Sub¬
jektive Anschauungsbilder gibt es auch im Bereiche des Gehörs- und des Tastsinnes. Sie sind
eine ausgesprochene Jugendeigentümlichkeit, die im allgemeinen mit dem Eintritt ins Mannes¬
alter verkümmert. Dr. Kroh hat unter 376 im Alter von 10—19 Jahren stehenden Schülern
der M&rburger höheren Schulen 230 (61 v. H.) gefunden, die subjektive Anschauungsbilder hervor¬
bringen konnten. Professor E. R. Jaensch an der Universität Marburg gebührt das Verdienst,
mit zielsicherer und vorausschauender Initiative bewußt und konsequent die Analyse der subjekti¬
ven Anschauungsbilder zu einem hervorragenden Mittel der Untersuchung wichtiger Wahrnehmungs¬
und Denkvorgänge ausgebaut zu haben. Dadurch wurden neue Methoden wissenschaftlicher
Forschung gewonnen, die wichtige Fragen des inneren Farbensinnes (innere Farbenblindheit, Ab-
schwächungs- und Induktionserscheinungen), sowie mannigfache Probleme der Raumwahrnehmung
(Horopterkemfläche, scheinbare Größe, Raumverlagerungen usw.) einer erneuten, eindringenden
Prüfung zugänglich machten. Aber auch weitergehende Fragen der Psychologie (die hierarchische
Struktur der verschiedenen physiologischen und psychischen Gedächtnisstufen, die Begriffsbildung,
die Flexibilität der Vorstellungen, der Vergleichsakt, die Struktur des individuellen Denkens) sind
auf neuen Wegen neuer Beantwortung zugeführt worden. Professor Jaensch nennt die Anlage
zu subjektiven Anschauungsbildem „eidetisch“.
Das vorliegende Buch faßt nun die Ergebnisse einer zweijährigen (1917—19), auf Unterricht
und psychologische Analyse gestützten Erfahrung des Verfassers, sowie die Feststellungen der
wissenschaftlichen Forschungen des Marburger psychologischen Instituts zusammen und gibt da¬
mit ein höchst interessantes Bild von den vielgestaltigen Formen und dem Wirkungsbereich der
ekletischen Veranlagung. Gleichzeitig wagt es den ersten Versuch, die Bedeutung der Er¬
scheinung für die psychologische Analyse gewisser psychopathischer Konstitutionen und für die
Erziehung zu erweisen.
Der fesselnde, ganz neuartige Gedankenreihen entwickelnde Inhalt des äußerst verdienst¬
vollen Buches gibt der Forderung nach einer „Jugendkultur 44 eine wissenschaftlich gesicherte
Grundlage und drückt den Bekämpfcrn des rationalistischen, abstrakten Unterrichtsbetriebes eine
neue, wirksame Waffe in die Hand. Von einer ungeahnt neuen Seite her zeigt das für jeden
Psychologen und Pädagogen bedeutsame Buch, daß Kinder und Jugendliche anders organisierte
Wesen sind als Erwachsene, die darum nach ihrem eigenen Maßstabe bewertet und in kinder-
tümlicher und jugendgemäßer Weise erziehlich beeinflußt sein wollen.
Chemnitz-Altendorf. Richard Gürtler.
Dr. Th. Kerrl, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Eine psychologisch-pädagogische
Untersuchung. 4. Aufl. Gütersloh o. J. Bertelsmann. 247 S.
Mit einer fast naiven Unbekümmertheit werden die grundlegenden pädagogisch-psycho¬
logischen Begriffe selbst in Schriften, die wissenschaftliche Geltung beanspruchen, in vielfach
schillernder Bedeutung hin- und hergeworfen. Jeder ernste Versuch, begriffliche Klarheit in
dieser Verwirrung zu schaffen, verdient darum nachdrücklich hervorgehoben und gefördert zu
werden. Wir haben in diesem Sinne Kerrls verdienstliche Monographie in einer ihrer früheren
Auflagen gewürdigt. Unser Wunsch, daß das Buch aus seiner Beschränkung heraustrete, vor¬
nehmlich nur die psychologische Wesenheit der Aufmerksamkeit klarzustellen, und daß es vor allem
auch die reiche Zahl experimenteller Untersuchungen des Gebietes berücksichtige — so unter
anderem die Lehre von den Aufmerksamkeitstypen —, erfüllt Kerrl bei dem neuen Erscheinen
Miner Schrift nicht, uns um so unverständlicher, weil seine Theorie — «Aufmerksamkeit ein
Bemerkenwollen 11 — durch die Ergebnisse der Experimentaluntersuchungen eine Stütze erfahren.
Auch im praktisch-pädagogischen Teile würde dem trefflichen Buche eine Ergänzung zum Vor¬
teil gereichen: z. B. eine ausführlichere Darstellung darüber, wie die Auffassung der Aufmerksamkeit
eia eines Willensaktes recht bedeutsam wird für die neueren Forderungen, im Sinne der Arbeits¬
schule den Unterricht möglichst auf eigentätiges Tun der Schüler zu stellen — eine Forderung,
deren Erfüllung voraussetzt, daß der durchgeistigte, von Aufmersamkeit getragene Arbeitsvorgang
dem Lehrer psychologisch durchsichtig werde.
Eine schöne Vollständigkeit dagegen weist das Buch Kerrls in seinem kritischen Teile auf.
Es werden hier die seit Herbart aufgetretenen Theorien — geschieden in psychologische und
Physiologische — kurz dargestellt und teilweise recht gründlich beurteilt Kerrls eigene Auf-
merksamkeitslehre erfährt in dieser vergleichenden Betrachtung noch weitere Klärung und Ver-
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Literaturbericht
L
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tiefung. Wie schon vorher, setzt sich das Buch dabei gründlicher auch mit Herbarts Psycho¬
logie auseinander. — Wenn Kerrl dabei meint, daß man es gegenwärtig kaum noch für nötig hält,
die Theorie, die das ganze Seelenleben auf den Vorstellungsmechanismus aufbaut, als unhaltbar
nachzuweisen, so ist dies richtig — bis auf ganz wenige unentwegte Ausnahmen: so z. B. einen ,
geschäftigen Herausgeber Herbartscher Schriften, bei dem ganz gewiß auch der Scharfsinn Kerrls
sich vergeblich bemühen dürfte. * Sch. <
Paul Häberlein, Wege und Irrwege der Erziehung. Grundzüge einer allgemeinen Er- 1
ziehungslehre. Basel 1920. F. Spittler. 2. AufL >
Das Buch Paul Häberleins, des Professors an der Universität Basel, rollt den ganzen
weiten Problemkreis der Erziehung auf: die Zielfrage, die Möglichkeiten erzieherischer Ein¬
wirkung, die Hemmungen. Als Ziel der Erziehung stellt es die innere Förderung des Zög¬
lings in der Richtung seiner Lebensaufgabe hin: es gilt die Gestaltung der Persönlichkeit.
Eindringend vertieft es sich dabei in vier Bedingungen für die Fähigkeit der rechten Pflicht¬
erfüllung: Guter Wille, ausgebildetes Gewissen, volle Urteilsfähigkeit und eine auf Gesundheit
und Geschicklichkeit beruhende Tüchtigkeit Solch letztes Ziel gilt als oberster Orientieruugs- <
punkt, dem sich Methode, die Gegebenheiten des Zöglings und dessen Umgebung unterzuordnen
haben. Im Fortschritte der Erörterungen bleibt dann keines der wichtigeren Probleme, die heute
das pädagogische Denken bewegen, unberührt von der kritischen Betrachtung des Verfassers:
Eros, Zucht, Strafe, Infantilismus, Pubertät Sport, Religion und Sittlichkeit, Psychoanalyse, staats¬
bürgerliche Erziehung. So bietet das Werk, außerordentlich klar in Beinern Gedankenzuge und
schön geformt in seiner sprachlichen Prägung, eine Gesamtschau auf das Feld der Erziehung
inmitten des Aufkommens einer neuen Pädagogik, das wir heute erleben. Leidet dabei die Gedanken¬
bildung vieler „Pädagogen“ vielfach unter zu starkem Einflüsse der allgemeinen pädagogischen
Gefühlserregung — der Stimmung, Ergriffenheit, Begeisterung —, so ist an Häberleins Dar¬
legung so gesund und förderlich, daß er die neuen Erziehungsfragen — so sehr sie ihm hin¬
wiederum nicht bloß Angelegenheiten nüchterner Überlegung und Errechnung sind — unter
strenges wissenschaftliches Denken nimmt.
Hainichen. Paul Stenzei.
Studienrat Jodoc Stark, Über den Bildungswert des Geschichtsunterrichts. Heidel- j
berg 1922. Ehrig. 63 S. Grundpr. 0,60 M. ]
Hat man in der jüngsten Zeit neue Formen der Unterrichtsgestaltung wohl mit offenbarer
Einseitigkeit in psychologisierenden Untersuchungen zu gewinnen versucht, so beginnt jetzt
stärker wieder die philosophische Pädagogik mit Wertbetrachtungen hervorzutreten, wobei
sich freilich zeigt, daß auch sie eines psychologischen Einschlages in ihr Denken bedarf. Daß
man dabei die* hergebrachte Scheidung von formalen und materialen Bildungswerten nicht auf¬
zugeben wagt, bringt vielfach ein Sichbewegen in alten ausgefahrenen Gleisen mit sich. —
Stark stützt seine Darlegungen u. a. auf Litte tiefgründige Untersuchungen in seinem führenden
Buche * Geschichte und Leben u , glaubt aber nicht wie er an die Kraft des Geschichtsunter¬
richts, zum historischen „Denken“ heranbilden zu können (S. 24 ff.). Davon unterschieden er¬
blickt er den besonderen formalbildenden Wert in der historischen Einstellung, in dem
historischen Sinn (S. 27). Darunter soll verstanden sein „die Fähigkeit des betrachtenden Geistes,
die Dinge im Flösse der zeitlichen Entwicklung und im Zusammenhang der sachlichen Ver¬
knüpfung zu sehen“. Hinzu gesellt sich neben allgemeiner Ertüchtigung des Geistes an be¬
sonderen geistigen Verhaltungsweisen, Einstellungen und Strebungen dann noch das Vermögen
des „arbeitenden Geistes, die verschiedenen Seelenkräfte in gegenseitiger Unterstützung und ge- ,
meines mer Arbeit, im Dienste eines bestimmten Zweckes Zusammenwirken zu lassen — beides i
Voraussetzungen eines richtigen Weltbildes“, und weiter „die Kraft des strebenden Willens, das
Handeln auf historische Wirkungsweite einzurichten“ — ein Bedingnis für bewußt aufbauende
Kulturarbeit (S. 38). Der inhaltlich bestimmte Bildungswert des Geschichtsunterrichtes aber, eine
Aufgabe also, in gewisser Geschichtsauffassung richtunggebende Werthaltungen und einen aus¬
gewählten Wissensstoff zum geistigen Besitze des Schülers zu bringen, liegt nach Stark zuhöchst
in dem Erzielen einer vertiefteren Erkenntnis der Gegenwart. Ob aber die in der Geschichte
Tuhenden formalen und materialen Bildungskräfte wirksam werden, ist bedingt durch Unterrichts¬
gestaltungen, die vom überkommenen methodischen Gebrauch sehr erheblich sich unterscheiden.
Stark gibt dafür treffliche Hinweise, ohne aber die neuen arbeitsunterrichtlichen Bestrebungen
voll zu würdigen. * Sch.
Druck von J. B. Hirschfeld (A Pries) in Leipzig.
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Grundfragen der Denkpsychologie.
Von Karl Reumuth.
In den folgenden Darlegungen sollen Grundfragen der Denkpsychologie
erörtert werden. Wenn von Grundfragen und nicht von Grundtatsachen
gesprochen wird, so soll damit daran erinnert sein, daß wir uns im Bereich
der Hypothese befinden. Wenn es jedoch gilt, die psychologische Wissen¬
schaft einen Schritt vorwärts zu tragen, so muß man sich mit dem Mut zur
Hypothese erfüllen. Bühler weist im Vorwort seines Buches: Die geistige
Entwicklung des Kindes (Jena 1918) jnit Recht darauf hin, daß Ideenmangel
auf dem Gebiet der Psychologie zur Stagnation führen muß.
Darüber kann kein Zweifel sein, daß die Denkpsychologie zu den reiz¬
vollsten Forschungsgebieten gehört, denn in ihr berühren sich drei philo¬
sophische Grundeinstellungen: die psychologische, die erkenntnistheoretische
und die logische. ' v
Versuchen wir an einem Beispiel *01 den .Problemzusammenhang, der die
Ausführungen beherrschen soll, einzudringen! Das einfache Erlebnis, das durch
die Worte: „Vor mir liegt ein Heft“ sprachlich gefaßt wird, soll den Ausgangs¬
punkt der psychologischen Analyse bilden. Was erleben wir? Auf unser
Auge wirken Lichtreize ein, möglicherweise kommen noch Tasteindrücke in
unseren Fingerspitzen dazu. Die Netzhaut unseres Auges wirkt wie eine farben¬
photographische Platte, auf der sich helle, dunkle und farbige Flecke ab¬
zeichnen. Wir erleben aber nicht Farbenflecken auf der Netzhaut, sondern
wir sehen weißes Papier, schwarzen Druck, Blätter eines Heftes, das Heft
selbst In diesem Bewußt$ierden der Reize liegt das seelische Geheimnis.
Fingieren wir, um den Anteil des Denkens an diesem Erlebnis herauszu¬
stellen, ein denkfreies Erlebnis! Es ist außerordentlich schwer, mit dieser
Einstellung sprachlich in den geheimnisvollen Wirkungszusammenhang ein¬
zudringen. Wir dürften dann nur sagen: Meine Netzhaut wird erregt, die
Tastkörperchen der Fingerspitzen werden erregt Handelte es sich um Ge¬
hörseindrücke, so dürften wir nur sagen: Mein Gehörsnerv wird erregt usw.
Wir bleiben uns bei diesen vorsichtigen Formulierungen bewußt, daß mit
ihnen das unmittelbare, denkfreie Erleben nöch nicht erfaßt ist, denn in
der physiologischen Terminologie liegen noch denkmäßige Formungen vor.
Was erleben wir aber in Wirklichkeit? Wir erleben nicht Erregungen der
Gesichts- und Gehörsnerven, sondern die Farben rot und blau, wir hören
die Töne c, e, g usw., wir empfinden warm und kalt, hart und weich. Den
Erregungen der Sinnesorgane ist ein Sinn verliehen worden, die Erregungen
bedeuten uns „etwas“, nämlich Licht, Farbe, Töne, Kälte, Wärme usw.
Dieser Sinn kann den physiologischen Erregungen nur durch einen Akt
unseres Bewußtseins verliehen worden sein, und dieser sinngebende Akt
stellt sich uns als das Zentralproblem des ganzen Geisteslebens dar. In
Zeitschrift t pOdagog. Psychologie. 17
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/
258 Kart Heumuth
einem Seelenleben ohne sinngebende Akte müßte sich ein Zustand diffuser
Gesamtsensibilität 1 ) an den anderen reihen; die Wirkungen der Sinnes¬
eindrücke würden ineinanderfließen, und es gäbe weder Farben noch Töne,
weder Bäume noch Häuser. So ist denn das Problem der Sinngebung der
Ausgangspunkt für jede Denkpsychologie. Die Fragen: „Wie entstehen aus
Erregungen der Sinnesorgane Sinngebilde?" „Wie überwindet das Denken
das rein subjektive Erleben?“ „Wie begründet das Denken das Objektive?"
„Wie vollzieht sich gegenständliches Denken?" 2 ) sind nur Versuche, den¬
selben Sachverhalt in immer anderen Wendungen sprachlich zu fassen.
Wie hat sich die bisherige psychologische Forschung zu diesem Problem
gestellt? Es stehen sich zwei Forschungsrichtungen gegenüber. Die eine
beachtet das Problem nicht, die andere dagegen will seelisches Geschehen
überhaupt nur so weit in das Gebiet der Psychologie einbeziehen, als sich
Sinngebung aufweisen läßt. Zwischen diesen beiden Polen steht eine Reihe
von Forschem, die in ihren Darstellungen eine vermittelnde Stellung ein-
nehmen. Der ersten Richtung gehören alle Vertreter der physiologischen
Psychologie an, es sei nur auf die Namen Ziehen, Ebbinghaus, Meumann,
Wundt hingewiesen. Wundt führt z. B. in seinem Grundriß der Psychologie
aus: „Die Elemente des objektiven Erfahrungsinhaltes bezeichnen wir als
Empfindungselemente oder schlechthin als Empfindungen, z. B. einen Ton,
eine bestimmte Wärme-, Kälte-, Lichtempfindung usw." (§ 5,2.) Die Frage,
wie aus den Erregungen der Sinnesorgane Töne, Licht- und Wärmeempfin¬
dungen werden, ist von Wundt gar nicht gestellt worden, dieser ganze Zu¬
sammenhang ist von ihm gar nicht als Problem gefaßt worden. Ganz andere
dagegen beispielsweise Pfänder 3 ), ein Schüler von Theodor Lipps. In aus¬
führlichen Darlegungen weist er darauf hin, daß die Empfindung eine be¬
stimmte Art des Gegenstandsbewußtseins ist, daß die Farbe, der Ton „wissend
erfaßt" wird. Er zeigt fernerhin, daß in der herrschenden Empfindungslehre
Teile des Gesamterlebnisses eingehend behandelt werden, die gar nicht in
das Gebiet der Psychologie gehören; nur der Akt, der dieses „Wissen um
etwas" schafft, gehört für ihn in den Bereich der Psychologie. Richard
Hönigswald 4 ) bringt diesen Gedanken in seinem Aufsatz über „Prinzipien¬
fragen der Denkpsychologie" noch schärfer zum Ausdruck. Psychologie sollte
sich nach seiner Meinung nur auf den Bereich sinnvoller Erlebnisse erstrecken.
Das Moment des „Sinnes“ beherrscht für ihn die Problemlage der Psycho¬
logie. Es sei auch hingewiesen auf die tiefschürfende Arbeit von P. F. Linke 3 ),
der aufweist, wie Empfindung und Wahrnehmung nicht mehr selbstverständ¬
liche Ausgangspunkte psychologischer Forschung sein können, wie sie viel¬
mehr der neuen Psychologie zum Grundproblem geworden sind. Linke
bezeichnet die Art seiner Untersuchung als Sinnforschung, Sinnwissen¬
schaft, Sinntheorie.
Die Darlegungen Linkes knüpfen an die Forschungen Husserls an. Wir
verdanken Husserl die umfassendste Behandlung des ganzen Problem¬
zusammenhanges. Es wird noch zu zeigen sein, wie er in seiner Lehre von
l ) Vgl. Stern, Psychologie der frühen Kindheit. 1914. S. 58.
*) Vgl. Renmuth, Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge. Leipzig 1919.
*) A. Pfänder, Einführung in die Psychologie. 1920. 2. Aull. S. 257, 262, 271.
4 ) Kantstudien, 18. Band. 1913. S. 206 ff.
®) P. F. Linke, Grundfragen der Wahrnehmungslehre. 1918. S. 1 ff.
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Grundfragen der Denkpsychologie
259
den intentionalen Beziehungen das Problem der Sinngebung in das Zentrum
seiner Untersuchungen schiebt; er zeigt, wie zu den Sinneseindrücken noch
ein denkmäßiges plus hinzukommen muß, wenn eine gegenständliche Be*
ziehung begründet werden soll. Eine große Reihe weiterer Forscher haben
diesen besonderen Charakter des Denkens unterstrichen: so Frischeisen-
Köhler 1 ), indem er sagt: „Das Denken ist nicht, wie gewisse Gefühle und
Stimmungen ein lediglich subjektiver Zustand oder eine Abfolge von solchen,
sondern besitzt, wie man sich auszudrücken pflegt, einen gegenständlichen
Charakter, insofern es durchweg auf etwas außer ihm gerichtet ist"; so auch
Johannes Volkelt in seiner Lehre vom transsubjektiven Minimum (Gewißheit
und Wahrheit 1918), so Hans Driesch 3 ), wenn er davon spricht, daß das
Unnittel des Denkens die Setzung ist
Zwischen diesen beiden entgegengesetzten psychologischen Grundeinstel¬
lungen finden sich in der Literatur mannigfache Übergänge. Besondere Be¬
achtung verdienen die Arbeiten F. Kruegers und seiner Schüler, die eine Ent¬
wicklung über W. Wundt hinaus darstellen. Diese Arbeiten überwinden immer
deutlicher die letzten Spuren atomistisch-mechanistischer Auffassung des
Psychischen; dafür stellen sie die psychische Tatsache, die durch die Worte
„Ganzheit“, „Komplexqualität“, „Gestaltsqualität“ charakterisiert wird, in den
Vordergrund ihrer Forschung. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit
von H. Volkelt, „Über die Vorstellungen der Tiere“ 8 ) hingewiesen; sie bietet
für alle weiteren genetischen Betrachtungen denkpsychologischer Zusammen¬
hänge wertvolle Vorarbeiten. Für ihn ist das Bewußtsein in seinem Ur¬
zustand eine einzige Totalkomplexqualität. Es ist damit der Punkt be¬
zeichnet, an dem der Gesamtbewußtseinsinhalt nicht mehr jenfe zwei Seiten,
die subjektive und objektive, besitzt 4 ). Das Bewußtsein weist in diesem Zu¬
stande keine Polarität auf. Durch schöpferische Differenzierung und schöp¬
ferische Synthesen entwickelt sich aus dieser allumfassenden Gesamtqualität
allmählich' die „hochgeformte Dinghaftigkeit unseres Weltbildes“. Wenn es
sich darum handelt, die Denkleistungen des frühen Kindesalters zu be¬
schreiben und zu analysieren, wird der Begriff der Komplexqualität wertvolle
Dienste leisten.
Koffkas Hypothese von der „Strukturiertheit der ersten sinnlichen
Phänomene“ wird auch dazu beitragen, in das Wesen, vor allem in die
Genesis dieser Vorgänge einzudringen. Koffka weist darauf hin, daß es
sich bei den ersten psychischen Phänomenen der Neugeborenen nicht um das
Vorhandensein von absoluten Empfindungen, sondern um Strukturphänomene
handelt, d. h. um ein Zusammensein von Phänomenen, in denen jedes Glied
das andere trägt Eine bestimmte Qualität hebt sich gegen den gleich¬
förmigen Grund ab. „Ein Teil der Welt hebt sich heraus, er erscheint als
Qualität, das übrige, und es mag in Wirklichkeit recht mannigfaltig sein,
erscheint gleichzeitig als einförmiger Grund“ 8 ). Im Erleben dieses Gegen¬
satzverhältnisses (Struktur im Sinne Koffkas) haben wir in der Tat einen der
ersten elementaren logischen Vorgänge vor uns. Es ist damit der Anfang
‘) Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit 1912. S. 18.
*) H. Driesch, Ordnnngslehre. 1912. S. 38.
*) Heft 2 der „Arbeiten zur Entwicklungspsychologie“. Herausgegeb. v. Krueger.
4 ) a. a. 0. S. 82«.
*) K. Koffka, Grundlagen der psych. Entwicklung. 1921. S. 97. VgL auch S. 93«.; 101.
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1
260 Karl Reamuth
für die Gliederung des Erlebnisstromes, die schließlich in die feinsten Dif¬
ferenzierungen ausmündet, gegeben. Das Wesen des logischen Denkens be¬
ruht gerade auf dieser Gliederung des Erlebnisstromes 1 ). (Driesch hat dies,
wie unten noch gezeigt werden wird, in seiner Ordnungslehre ausführlich
dargetan.) Es ist jedenfalls nicht zu verkennen, daß sich sowohl die Schüler
Kruegers als auch Koffka und die ihm nahestehenden Forscher dem Problem
der Sinngebung in unserer Auffassung beträchtlich genähert haben.
Besonders bemerkenswert ist die Stellungnahme William Sterns. &
gehört zu den Forschem,' die die Psychologie der Elemente methodisch be¬
herrschen und deren Grenzen klar erkannt haben; er weist darauf hin, dafi
das Moment des Sinnes aus den Phänomenen des Bewußtseins nicht ableitbar
ist 2 ); der Sinn wird durch psychische Akte begründet. Wenn Stern so eine
Mittelstellung einnimmt zwischen den psychologischen Denkrichtungen, die
durch den Gegensatz Ziehen — Hönigswald charakterisiert sein sollen, so stellt
er auch die Verbindung her zu einer psychologischen Forscherrichtung, die
durch das Wort „geisteswissenschaftliche Psychologie“ charakterisiert
wird. Im Mittelpunkt der Forschungen der so gerichteten Denker — es seien
die Namen Dilthey, Spranger, Litt genannt — steht auch das Problem
der Sinngebung, aber in einem viel umfassenderen Sinn, als es etwa beiflönigs-
wald der Fall ist. Der Zusammenhang der Sinngebung mit dem inneren Wesen
der ganzen Persönlichkeit, der bei Stern schon aufgewiesen wurde, wird hier
noch viel eingehender erörtert. Das Seelenleben wird aufgefaßt als ein Strom
reiner Subjekterlebnisse; der Ablauf des ganzen seelischen Erlebens würde
ein Traumwirrsal sein, wenn nicht die einzelnen seelischen Regungen durch
besondere Akte einen sinnvollen Charakter bekämen. Es wäre nun denkbar,
daß zwar in einem Subjekt sinnvolle Erlebnisse vorhanden wären, daß es
aber trotzalledem in vollkommener Inselhaftigkeit bleiben müßte, weil es
nicht in Verbindung mit dem Nachbaisubjekt treten könnte. Das Subjekt
vermag aber seine sinnvollen Erlebnisse durch Zeichen und Worte zum Aus¬
druck zu,bringen, in objektiven Gebilden verschiedenster Art und Form nieder¬
zulegen. Das Subjekt vermag also, Sinngebilde aus sich herauszustellen. Durch
diese Gebilde wird es möglich, daß die Subjekte untereinander in seelische Be¬
rührung kommen können, ohne sie ist seelische Gemeinschaft undenkbar, sie
stellen den einzigen Ansatzpunkt dar, von dem aus wir in das fremde Seelen¬
leben vorzudringen vermögen, durch sie wird all das erst möglich, was in den
Worten: Kulturleistung, Kulturzusammenhang, Kulturvermittlung beschlossen ist.
Wenn man die Annahme machte, daß jede Sinngebung, daß der sinn¬
gebende Akt eine Denkleistung ist, so müßte der ganze Problemkreis, der
jetzt vor uns liegt, als der der Denkpsychologie gelten. Das wäre aber eine
Auffassung des Begriffs Denkpsychologie, die nicht üblich ist Man versteht
doch wohl unter Denkpsychologie etwas viel Begrenzteres. Indem wir den
Vorgang der Sinngebung analysieren, versuchen wir den Aufgabenkreis der
Denkpsychologie in diesem engeren Sinne zu erkennen.
E. Spranger hat in seinen Lebensformen 9 ) die sinngebenden Erlebnisse
in meisterhafter Weise analysiert Wir gehen aus von dem Satz: „In jedem
*) Vgl. d. Schrift d. Verf. Ober Kindersprache. S. 33.
*) W. Stern, Die Psychologie and der Peraonalismas. 2. 1917. S. 1811.
*) E. Spranger, Lebensformen, dt nach d. 2. Auflage. Halle 1921.
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Grundfragen der Denkpsychologie
261
sinngebenden Gesamtakt sind alle Grundformen sinngebender Akte zugleich ent¬
halten; in jedem geistigen Akt waltet die Totalität des Geistes" 1 ). Wir suchen an
folgendem Erlebnis diese Grundformen sinngebender Akte aufzuweisen: Wir
stehen vor einer Frühlingswiese und fassen den Sinn unseres Erlebnisses
zusammen in die Worte: „Das ist eine Frühlingswiese“ 2 ). Welche Sinn¬
richtungen schwingen nun in diesem Erlebnis mit? 1. Das Erlebnis kann
den Charakter einer reinen, allgemeinen Feststellung haben: es ist eine
Frühlingswiese, nicht eine Herbstwiese und so fort Hierbei würde die theo¬
retische Sinnrichtung, die das allgemeine Wesen des gemeinten Gegen¬
standes erfassen möchte, zur Geltung kommen 3 ). 2. Das Wort „Frühlings¬
wiese“ kann die Freude an dem Farbenspiel zum Ausdruck bringen, kann
die Frühlingsfarbenpracht meinen. In diesem Falle würde der ästhetische
Sinn des Erlebnisses im Vordergründe stehen. 3. Es kann in dem Wort auch
das Wohlgefallen an dem üppigen Wachstum — im Gegensatz zu dem spär¬
lichen Graswuchs des Spätsommers — zum Ausdruck kommen, und es kann
darin die Freude auf einen guten Grasschnitt liegen, das Erlebnis zeigt dem¬
nach mehr eine ökonomische Einstellung. 4. Schließlich kann das Wort
einen religiösen Grundton tragen: die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des
Wachstums kann dem ganzen Erlebnis einen religiösen Sinn geben. Es
sei noch bemerkt, daß in dem Erlebnis auch die Stellungnahme zu den Mit¬
menschen zur Geltung kommen kann, insofern nämlich, als sich eine mehr
soziale (5.) oder eine mehr rechtlich-politische (6.) Einstellung zeigt.
Es können beispielsweise Gedanken in der Weise mitschwingen, daß man sich
gedrungen sieht, den Anblick dieser Wiese vielen Menschen zugänglich zu
machen (der Park könnte der Öffentlichkeit erschlossen werden); es kann aber
auch der Wunsch nach scharfer Rechtsabgrenzung gegenüber dem Nachbar
lebendig werden.
Alles, was mit dieser umfassenden Sinngebung in Zusammenhang steht,
ist als Aufgabenkreis der geisteswissenschaftlichen Psychologie zu
betrachten. Es wird sich für sie im besonderen darum handeln, die Wechsel¬
wirkung von Mensch zu Mensch herauszustellen. Typisch für eine so ge¬
richtete Forschung ist das Buch Diltheys: Das Erlebnis und die Dichtung.
Die Denkpsychologie im engeren Sinne greift aus diesen Zusammen¬
hängen das Problem der allgemein-theoretischen Sinngebung heraus;
sie ist in dieser Auffassung ein Teil der geisteswissenschaftlichen Psychologie.
Sie ist jedenfalls ihrem Ausgangspunkt nach wesensverschieden von der
Elementenpsychologie, und daraus erklärt sich die Spannung, die von jeher
zwischen Denkpsychologie und Elementenpsychologie bestand.
Es gilt mm, in eine Besinmmg über die Methoden einzutreten, die an¬
zuwenden sind, wenn wir an den Gegenstand der Denkpsychologie, eben
an jene allgemein-theoretische Sinngebung, herankommen wollen. Können
wir nach den Methoden der physiologischen Psychologie vorwärtsgehen?
Sie kann nicht in Frage kommen, denn sie ist ihrem Ausgangspunkt nach
naiv, d. h. für sie ist die Natur einfach da. Sie betrachtet die Empfindungen
,warm‘, ,blau‘, ,süß‘ und so fort als selbstverständliche Ausgangspunkte der
‘) Spranger, a. a. 0. S. 35.
*) Der Verfasser hat diese Analyse in ähnlicher Weise schon dargestellt in der Zeitschr. „Kinder¬
garten“, 64. Jahrg. (Jan./Febr.-Helt) 1923: Grundsätzliches zur Erforschung d. Kindersprache.
*} Spranger, a. a. 0. S. 37, 43ff.
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Karl Reomuth
Forschung; für die Denkpsychologie ist das Zustandekommen dieser Erlebnisse
und der in ihnen liegenden Objektivationen ein Problem; es interessiert sie,
wie in uns das Bewußtsein von diesen Objekten entsteht. Die Methode, die
wir brauchen, muß „thetische Existenzialsetzungen von Dinglichkeiten mit
Raum, Zeit und Kausalität“ vermeiden l )> Die physiologische Psychologie ist
naturwissenschaftlich orientiert; sie geht von einer ganz anderen Problem¬
stellung aus; sie versucht, die psychischen Vorgänge einem Leibe (physischen
Organismus) zuzuordnen. Es ist das natürlich eine bedeutsame Problem¬
stellung, aber sie wird niemals an das Problem der Sinngebung herankommen.
Es ist das Verdienst der sogenannten Würzburger Schule, daß Bie den
Versuch gemacht hat, den eigenartigen Problemen, die in den Denkprozessen
vorliegen, methodisch näher zu kommen; es sei erinnert an die Namen von
Külpe, Marbe, Ach, Bühler, Messer u. a. Sie wollten die Grundfrage
beantworten: Was erleben wir, wenn wir denken? Die Versuche, die von
den genannten Forschem angestellt wurden, vollzogen sich in folgender
Welse: Dem Beobachter wurde ein Versuchsleiter beigegeben, der die Erleb¬
nisse hervorrief und die Beobachtungen, über die die Versuchsperson be¬
richtet, zu Protokoll nahm. Als Versuchsperson verwendete man in erster
Linie psychologisch geschulte Personen. So hat z. B. Bühler mit Külpe und
Dürr experimentiert Der Versuchsleiter stellte den Versuchspersonen Denk¬
aufgaben — darunter haben sich allerdings solche befunden, die als reine
Doktorfragen bezeichnet werden müssen. Es wurde z. B. folgende Frage
gestellt: „Hat Eucken recht, wenn er meint: Selbst die Schranken der Er¬
kenntnis könnten nicht zum Bewußtsein kommen, wenn der Mensch nicht
irgendwie über sie hinausreicht?“ 2 ). Auf die Frage: „Jedem das Seine geben,
das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen“, wurde folgendes
zu Protokoll gegeben 3 ): „Ja. Zunächst eigentümliches Stadium der
Überlegung mit Fixation einer Fläche vor mir. Nachhall der Wörter mit
besonderer Betonung des Anfangs und des Endes des Satzes. Tendenz, dem
Behaupteten recht zu geben. Da fiel mir plötzlich Spencers Kritik des
Altruismus ein mit dem Gedanken, der dort die Hauptsache ist, nämlich, daß
der Zweck des Altruismus gar nicht erreicht werde. Darauf sagte ich ja.
Vorstellungsmäßig war nur gegeben das Wort Spencer, das ich innerlich aus¬
sprach.“ Wundt hat diese Denkexperimente in seinen Psychologischen
Studien mit Worten schärfsten Tadels und überlegenster Ironie abgelehnt 4 ) 3 ).
Die Ausfrageexperimente sind nach seiner Meinung Scheinexperimente, sie
erhalten ein planmäßiges Aussehen nur dadurch, daß sie im Laboratorium
ausgefübrt werden, daß einem Versuchsleiter eine Versuchsperson gegenüber¬
steht Es seien einige Sätze Wundts wörtlich angeführt: „Diese Methode ist
so ungeheuer einfach. Man braucht nur zu fragen, und jemand zu haben,
der sich fragen läßt, so kann man über die tiefsten und höchsten Probleme
des unmittelbaren Bewußtseins Aufschluß gewinnen, ohne sich mit kompli-
*) E. Hnsserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. Logos. Bd. I, S. 290.
*) Bühler, Karl, Tatsachen und Probleme zn einer Psychologie der Denkvorg&nge. 1907.
Archiv f. d. ges. Psych. Bd. IX, S. 804. *) a. a. O. S. 811.
4 ) W. Wundt, Über Ausfrageexperimente und über die Methoden der PsycboL d. Denkens.
PsychoL Studien. Bd. m, 4. S. 334, 867ff. Vgl. auch Bd. XI vom Aich. L d. ges. PsycboL
b ) VgL E. Dürr, Über die experimentelle Unters, der Denkvorgtnge. Ztschr. f. PsycboL n.
Physiol. d. Sinnesorgane. 1908. S. 329.
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Grundfragen der Denkpsychologie
263
zierten Instrumenten zu behelligen und ohne sich um zeitabliegende Kontroll-
mittel zu bemühen .... Welche Triumphe aber wird erst diese Methode
feiern, wenn . sich die Pädagogik ihrer bemächtigt, wenn die Schulbank zu¬
gleich zur Experimentierbank wird und der Lehrer, falls er sich beim Schul¬
examen erkundigt, was sich der Schüler bei seiner Antwort etwa' noch
nebenbei gedacht habe, in dem stolzen Bewußtsein leben kann, er habe ein
psychologisches Experiment gemacht.“ Wir können Wundt zugeben, daß
viele dieser Experimente Scheinexperimente gewesen sind, daß viele Ergeb¬
nisse der Versuche anfechtbar sein mögen, aber ein Verdienst bleibt diesen
Forschern ungeschmälert; sie haben Probleme gesehen, die bis dahin der
experimentellen Psychologie entgangen waren. Sie war eingestellt auf die
Untersuchung von Reizen und Empfindungen, von Nachbildern und Kontrast-
erscheinungen. Die Polemik Wundts zeigt aber, wie fern er dem besonderen
Aufgabenkreis der Denkpsychologie stand.
Aus diesen denkpsychologischen Forschungen geht mit Deutlichkeit
hervor, daß die Untersuchung den Weg der Selbstbesinnung gehen muß.
Hans Driesch bezeichnet die oben erwähnten Arbeiten als experimentelle
Selbstbesinnungslehre 1 )* Er stellt die Selbstbesinnung an den Anfang alles
Wissens überhaupt;, sie verfolgt den Strom der Erlebtheit, sie richtet sich be¬
wußt auf das eigene Erleben, sie stellt gewisse Haltepunkte heraus, die den
Strom des Erlebens gliedern, ordnen. In diesen Haltepunkten haben wir die
eigentlichen Denkleistungen vor uns, denn für Driesch ist das Denken ein
Haben von Ordnung, ein Wissen um endgültige Ordnung in der Erlebtheit 2 ).
Die Selbstbesinnungslehre geht seiner Ordnungslehre voraus; diese wieder ist
für ihn eine Zusammenfassung der Logik, Ethik und Ästhetik im üblichen Sinne.
Die Disziplin, die bei Driesch als Selbstbesinnungslehre erscheint, trägt bei
Husserl die Bezeichnung Phänomenologie. Seine „Logischen Unter¬
suchungen“ geben nicht eine Logik im landläufigen Sinne, sondern zunächst
und vor allen Dingen eine Selbstbesinnungslehre, die eben aller Logik voraus¬
gehen muß. Ehe die Leistungen des Denkens in der Logik aufgeführt werden
können, muß das „Wesen“ des Denkens zu erfassen gesucht werden. Husserl
geht auch von der Tatsache aus, daß das Psychische, daß alle psychischen
Pliänomene sich in einem absoluten Fluß befinden, daß sie kein bleibendes
identisches Sein darstellen; daß wir uns ihnen nicht in naturwissenschaft¬
licher Einstellung nähern dürfen 3 ). Nur in einer immanenten Schau können
wir den Fluß der Phänomene fassen; das Wesen der Phänomene ist nur in
unmittelbarer Schau faßbar. Er sagt beispielsweise: „Alle Aussagen, die
Phänomene durch direkte Begriffe beschreiben, tuen es, soweit sie gültig
Bind, durch Wesensbegriffe, also durch begriffliche Wortbedeutungen, die sich
in Wesensschau einlösen lassen müssen“ 4 ). (Es sei bemerkt, daß der Begriff
„Wesensschauung“ für Husserl eine engere und eine weitere Bedeutung zu
haben scheint, zunächst scheint sie mehr im Sinne der Selbstbesinnungslehre
Drieschs ein unmittelbares Innewerden des psychischen Erlebnisstromes, ein
hiuewerden der Form des Erlebens und der Erlebnisformen zu meinen —
so in den „Logischen Untersuchungen“ —; später richtet sich die Wesens-
schauung auch auf die Erfassung und Klärung der Denk- und Erlebnisinhalte,
') H. Driesch, Ordnungalehre 1912, S. 34, Anmerk. *) Driesch, a. a. 0. S. 15.
3 ) Vgl. Husserl, Aufsatz im Logos, a. a. O. *) H. im Logos, a. a. O. S. 814.
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264
Karl Reumuth
so etwa, wenn die Fixierung des Bedeutungsunterschiedes von „Farbe“ und
„Ton* erfolgt.) Das Verdienst Husserls für alle weitere Erforschung der
Denkvorgänge besteht darin, daß er mit Nachdruck auf die besondere Eigen¬
art der psychischen Phänomene hingewiesen hat. Wir führen einige der
Momehte an, die er immer wieder unterstreicht: Die psychischen Phänomene
bilden keine substantiellen Einheiten; sie kennen keine realen Veränderungen
und Kausalität wie die Naturdinge, sie können nicht in mehreren gesonderten
Wahrnehmungen als individuell identisch gefaßt werden, nicht einmal in Wahr¬
nehmungen desselben Subjekts. Daher ist jede Annäherung nach naturwissen¬
schaftlicher Methode ausgeschlossen, daher ist eine ganz besondere Forschungs¬
einstellung, nämlich die phänomenologische, zu fordern.
Paul Natorp l ) teilt mit Husserl die Meinung, daß die psychologische
Forschung grundverschieden von der naturwissenschaftlichen Einstellung sein
muß; aber er bestreitet, daß sich das Seelenleben in seiner Ursprünglichkeit
fassen läßt; denn in dem Augenblick, wo wir das Seelenleben unmittelbar
zu fassen versuchen, zerstören wir die Unmittelbarkeit des Erlebnisablaufes.
Wir können nur auf indirektem Wege an den Erlebnisstrom herankommen,
indem wir ihn von den vollzogenen Objektivationen aus zu rekonstruieren
versuchen, indem wir die Leistungen des Geistes zurückbetten in den Strom,
aus dem sie herausgetreten sind. Uns will scheinen, daß min sich sowohl
in der Husserlschen als auch in der Natorpschen Einstellung den Denk¬
vorgängen nähern muß, man muß ihnen sowohl auf intuitivem als auch auf
rekonstruktivem Wege inne zu werden versuchen. Es scheint auch so, als
wenn Husserl gerade bei der Zerlegung des intentionalen Aktes in seine
einzelnen Phasen mehr den Weg der Rekonstruktion gegangen wäre, als er
zugeben möchte. Der Vorgang, in dem wir uns dem inneren Wesen der Denk¬
vorgänge nähern, dürfte so verlaufen: In intuitiver Weise erfassen wir blitz¬
artig den ganzen psychischen Zusammenhang. Das Seelenleben befindet sich
aber in unaufhörlichem Fluß; wir als diejenigen, die belauschen möchten,
wandeln uns ebenso wie die Zusammenhänge, die wir belauschen wollten.
Wenn wir eine eingehende Besinnung über das Wesen dieser Vorgänge herbei¬
führen wollen, so kann man nicht mehr von einem intuitiven Erfassen des
ganzen Vorganges reden. Wir vermögen nur die geistige Leistung des Augen¬
blicks festzuhalten, und zwar handelt es sich um eine Doppelleistung, wir
haben — „haben“ im Sinne Drieschs — die Wahrnehmung blau, grün und
so fort, zugleich halten wir aber auch das Ergebnis jener Intuition in bezug
auf den Wahrnehmungsprozeß selbst fest Dieser intuitiven Erfassung des
Erscheinungskomplexes liegt auch eine Objektivierung zugrunde; das Wesen
des Vorgangs ist zum intentionalen Gegenstand geworden. Die Denkpsychologic
will aber gerade alle vollzogenen Objektivierungen gleichsam wieder ungeschehen
machen, und so zu den ersten vorwissenschaftlichen, aller Objektivierung voraus¬
liegenden geistigen Regungen Vordringen. Das, was die Intuition uns gab,
kann nur den Ansatzpunkt bilden, an dem die rekonstruktive Besinnung
rückgestaltend anknüpft. So liegt in der denkpsychologischen Methode,
in der selbstbesinnlichen (Driesch) oder phänomenologischen (Husserl) Ein¬
stellung eine eigenartige Verflechtung von intuitiver und rekon-
struktiver Forscherhaltung vor.
l ) Natorp, Paul, Allgemeine Psychologie nach kritisch. Methoden. 1912.
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Grundfragen der Denkpsychologie
265
Es sollen nun die Probleme skizziert werden, an die man in dieser Ein¬
stellung herangehen muß. Neben der allgemein-psychologischen Betrachtungs¬
weise — die unten zur Anwendung kommen wird — ist auch eine genetische
Behandlung dieser Einzelfragen möglich, indem man auf sucht, wie sich die
einzelnen Denkleistungen im Individuum allmählich herausbilden.
Das Zentralproblem ffir jede Denkpsychologie ist, wie wir schon oben
sahen, jener geistige Akt, der den Sinn begründet, der, tun nochmals ein
schon erwähntes Beispiel heranzuziehen, Erregungen des Nervus opticus als
„Farbe“ auffaßt. Die eingehendste Analyse dieses grundlegenden Aktes ver¬
danken wir Husserl; sie ist noch nicht erschüttert und noch nicht über¬
troffen worden. Er bezeichnet den Akt, in dem wir die Sinnbeziehung
schaffen, uns auf ein Objektives beziehen, als intentionalen Akt und den
Gegenstand, auf den wir uns beziehen, als intentionalen Gegenstand *)• Er zeigt,
wie jeder Akt eine Grundlage haben muß, wie ein gewisses Empfindungs¬
material vorhanden sein muß, das den Akt trägt. Auf dieser Grundlage baut
sich der objektivierende Akt auf, der die Sinnbeziehung schafft, der die
Ausdeutung der hyletischen Grundlage vornimmt. Auf mein Auge wirken
beispielsweise eine Reihe von Eindrücken ein; ob ich sie nun als „Baum¬
stumpf“ oder als „Menschengestalt“ erfasse, wird durch den objektivierenden
Akt entschieden. Damit ist aber das Wesen des Gesamtakts nicht erschöpft;
der Gegenstand kann fragend, wünschend, urteilend gemeint sein. Die Qualität
des Aktes kann verschieden sein, z. B.: Ist das ein Mensch? Wenn es nur
ein Baumstumpf wäre! Es ist ein Baumstumpf! — Diese drei Momente:
Hyletische Grundlage, objektivierender Akt oder Aktmaterie und Akt¬
qualität bilden den reellen Gehalt des Erlebnisses; der intentionale Gegen¬
stand selbst ist ein nichtreelles Moment, er ist dem Akte transzendent „Für
die phänomenologische Betrachtung ist die Gegenständlichkeit selbst nichts,
sie ist ja, allgemein zu reden, dem Akte transzendent“ 2 ). Gerade dieses
Verhältnis der reellen Aktmomente zum intentionalen Gegenstand selbst
wird noch weiter zu erforschen sein. Die Frage: Wie faßt der Geist das
Transsubjektive? muß immer weiter ergründet werden, denn in ihr ist der
Nerv alles Denkens beschlossen.
Das psychische Material, auf das sich die Akte aufbauen, kann verschiedener
Art sein. Wenn ich dieses Heft vor mir liegen habe und den intentionalen
Akt „das ist ein Heft“ vollziehe, so liegt ein „analogisches“ Baumaterial dem
Akt zugrunde; wenn ich das Wort „Heft“ nur lese, so ist die Beziehung der
Aktgrundlage zum gemeinten (= intentionalen) Gegenstand sehr äußerlich.
(Wir nehmen dabei natürlich an, daß das Wort „Heft“ in der Weise im Be¬
wußtsein vorhanden ist, wie es etwa beim fließenden Lesen in uns auftritt,
ganz frei von jedem reproduktiv-anschaulichen Gehalt.) Eine innerliche Be¬
ziehung zwischen den Buchstaben des Wortes „Heft“ und dem Sinn „Heft“
gibt es nicht. Im ersten Fall haben wir eine intuitive, im zweiten Fall
eine signitive Intention vor uns. Hierbei erschließt sich uns das Problem
der Bedeutungsverleihung und Bedeutungserfüllung. Die Frage, was geht in
uns vor, d. h. welche Phänomene laufen in uns ab, wenn wir lesen, wenn
wir eine Rede anhören, ist zu erörtern. Die Art der Verflechtung der reellen
') Vgl. hierzu die Schrift des Verfassers: Die logische Beschaffenheit der ldndl. Spr. a. a. O.
*) Husserl, Log. Unters. *1. Aufl. Bd. H, S. 387.
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266
Karl Reumuth, Grundtragen der Denkpsychologie
phänomenologischen Momente mit den intentionalen Gegenständen (noematische
Momente in der neueren Terminologie Husserls) steht hier zur Erörterung.
Von hier aus müssen dann die Probleme der Schwachsinnigenerziehung einmal
angeschnitten werden. Der Mangel der geistigen Leistung ist nicht so sehr
begründet in einem ungenügenden Funktionieren des Sinnenapparates als
vielmehr in der ungenügenden Vollziehung des Sinnes. Wenn der Wurzel¬
punkt der verringerten geistigen Leistung erkannt ist, wird sich die päd¬
agogische Behandlung wirkungssicherer gestalten lassen.
Das Verhältnis des Denkens zum Sprechen muß erörtert werden. Benno
Erdmann und nach ihm Müller-Freienfels haben betont, daß es ein
vorsprachliches und übersprachliches Denken gibt Wer die geistige
Entwicklung von Kindern verfolgt hat, wird beobachtet haben, daß Kinder
schon vor der Entwicklung des Sprechens Denkakte vollziehen, andererseits
kann man sich selbst dabei belauschen, wie man beim Schachspiel, beim
Lösen mathematischer Aufgaben Denkbeziehungen ohne sprachliche Fundierung
herstellt. Die Behandlung der Taubstummen wird von hier aus noch manche
Anregung zu erwarten haben.
Besonderes Interesse verdient die Frage: Wie unterscheiden sich phäno¬
menologisch die Akte, in denen wir Individuelles und Spezifisches (All¬
gemeines) meinen? Wie unterscheiden sich phänomenologisch folgende
Denkerlebnisse: Ich stehe vor einem Baum und sage: Das ist der Baum!
oder ich sage: Das ist ein Baum! Damit steht die Frage nach dem kate- I
gorialen Denken überhaupt im Zusammenhang. Welches sind die Grund¬
formen kategorialen Denkens, wie stellen sie sich phänomenologisch dar?
In dem Satz: Die beiden Dreiecke sind gleich, sind kongruent 1 liegt eine
kategoriale Formung. Es müssen in schlichten Akten erst die Dreiecke a
und b gesetzt werden, auf dieser Fundierung sind nun erst die vergleichenden
Akte möglich. Das Ergebnis „gleich“ ist nicht in der Anschauung gegeben
wie die Dreiecke a und b, sondern es ist aus denkender Verarbeitung der
Eindrücke hervorgegangen. Dieser Akt ist ein fundierter im Gegensatz zu
den fundierenden, die wir in den schlichten Setzungen vorfanden. Mit
den Zahlbegriffen verhält es sich ähnlich. Das „beide“ ist niemals an¬
schauungsmäßig gegeben (gegeben ist nur a -t- a); es ist wie alle weiteren
zahlenmäßigen Zusammenfassungen eine Denkleistung. Auf den denkmäßigen
Gehalt, der sich in unseren Raum- und Zeitvorstellungen vorfindet, hat
Kant in Beiner Kritischen Philosophie schon hingewiesen. Unser Denken
gliedert unsere Erlebnisse im Raum in ein großes Koordinatensystem ein, das
wir über die Umwelt legen; und in bezug auf die zeitliche Abfolge unserer
Erlebnisse macht unser Denken die stillschweigende Annahme einer in regel¬
mäßigem Fluß dahinziehenden Zeit. — Schließlich wird das kausale und
teleologische Denken mit seinem „Warum“, „Darum“, „Weshalb“, „Danut
daß“ Gegenstand selbstbesinnlicher Untersuchungen werden müssen.
Alle diese Fragen können nun auch in genetischer Weise aüfgefaßt werden.
Man kann fragen: Wann vollzieht das Kind die ersten intentionalen Akte,
wann gewinnt es seelische Polarität und setzt dem Subjekt das Objekt gegen'
über, wie wächst es hinein in die Verflechtung des Subjektiven und Objek- j
tiven? Damit wird die genetische Denkpsychologie Teil einer genetischen jj
geisteswissenschaftlichen Psychologie, die die Entwicklung der Sinngebung j
überhaupt zu betrachten hätte und dabei darstellen müßte, wie das Individuum j
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
267
a llm ä hli ch in die verschiedenen Lebens* und Wertgebiete hineinwächst Damit
würde eine Psychologie der Kulturentfaltung und Kulturvermittlung ge¬
geben sein.
Wenn man die Aufgaben, die hier angedeutet wurden, überschaut, so wird
man nicht der Meinung bleiben können, dafl sich die psychologische Forschung
in einem Zustand der Stagnation befindet. Die denkpsychologische und geistes¬
wissenschaftlich-psychologische Einstellung führt zu einer riesenhaften Aus¬
weitung des psychologischen Arbeitsgebietes.
Wesen und Arten der Fehler.
(in. Teil.)
Von Hermann Weimer,
b) Perseverative Fehler 1 ).
Die Nerven- und Irrenärzte haben zuerst an manchen ihrer Kranken die
Erscheinung beobachtet, daß einmal angeregte Vorstellungen beliebigen In¬
halts sich immer wieder in den Gedankengang einschieben und zur Äußerung
drängen 2 ). Neisser hat für diese Störung des Vorstellungsverlaufs den Namen
Perseveration (Beharrung) eingeführt. 1895 veröffentlichten Meringer
und Mayer in ihrer Schrift über „Versprechen und Verlesen“ eine ganze
Reihe von Sprech-, Lese- und Schreibfehlern geistig gesunder Menschen,
die ebenfalls darin bestehen, daß eben hervorgebrachte oder wahrgenommene
Laute, Lautzeichen, Silben oder Wörter bald danach an falscher Stelle wieder¬
erscheinen und dadurch die Aussprache oder Schreibung der folgenden Wörter
stören 3 ). Eine psychologische Erklärung dieser Nachklänge (Postpositionen),
wie sie sie nannten, konnten sie nicht geben. . Erst Müller u. Pilzecker
sind bei ihren mustergültigen Untersuchungen über das Gedächtnis, deren Er¬
gebnisse 1900 in den „Experimentellen Beiträgen zur Lehre vom Gedächt¬
nis“ veröffentlicht wurden, 8uch dieser Frage nähergetreten 4 ). Sie glaubten
die Lehre aufstellen zu können, daß jede Vorstellung nach ihrem Auftreten
im Bewußtsein eine Perseverationstendenz besitzt, d. h. „eine im all¬
gemeinen schnell abklingende Tendenz, frei ins Bewußtsein zu steigen“.
Beide Forscher stellen diese Perseverationstendenzen als einen besonderen
Grundfaktor des Vorstellungsverlaufs den Assoziationen gegenüber (a. a. O.
S. 75) und weisen ihnen eine wichtige Aufgabe im Zusammenhang psychischen
Geschehens zu. Die Perseverationstendenzen sollen nicht nur zur Festigung
der Assoziationen beitragen (S. 68), sondern auch den mannigfachen Störungen
äußerer und innerer Art, die den rein assoziativen Ablauf der Vorstellungen
unterbrechen, entgegenwirken, indem das Bestreben der Vorstellungen, von
selbst wieder ins Bewußtsein zu treten, für die Fortsetzung eines einmal
unterbrochenen Gedankengangs sorge (S. 75). So führen Müller u. Pilz¬
ecker die Stetigkeit eines über das unmittelbar Gegebene hinausgehenden
Denkens und Handelns im wesentlichen auf die Perseveration zurück (S. 77).
') Vgl. Jahrg. 1922 S. 17 n. Jabrg. 1923 S. 84 dieser Zeitschrift
*) Emil Kraepelin, Psychiatrie. 7. Aufl. 1903. 1. Bd. S. 187.
*) Meringer n. Mayer, a. a. O. S. 44t, 121t, 154.
*) Q. E. Mfiller u. A. Pilzecker, a. a. Ck S. 58ft
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268
Hermann Weimer
Wenn nun auch bedeutende Psychologen wie Ebbinghaus, Wundt,
Ziehen die Perseveration als eine besondere Reproduktionsursache nicht
anerkennen wollen, so kann diese doch als tatsächliche Erscheinung nicht
bezweifelt werden. Reproduktionen dieser Art treten im Leben sehr häufig
auf, im Wachzustände, in Schlummerbildern, als rasch vorübergehendes Er¬
lebnis oder in hartnäckiger Wiederkehr (Iteration), wie z. B. bei Melodien,
die man nicht los wird. Je eindringlicher uns ein Erlebnis beschäftigt hat
und je jünger es ist, um so stärker ist seine perseverierende Kraft Sie
macht sich besonders dann geltend, wenn das Bewußtsein nicht allzusehr
mit andern Dingen beschäftigt ist. Kinder unterliegen dem Einfluß der Per¬
severation öfter als Erwachsene und unter ihnen wieder die jüngeren häu¬
figer als die älteren, die Schwachbegabten mehr als die geistig Stärkeren.
Das ist von Psychologen und Pädagogen mehrfach übereinstimmend fest¬
gestellt worden 1 )* Auch ich habe in zahlreichen Fällen diese Behauptung
bestätigt gefunden. Die Neigung zu perseverativer Reproduktion scheint mir
fast ein Gradmesser jugendlicher Intelligenz zu sein: je stärker sie zu¬
tage tritt, um so geringer ist die Geisteskraft der Zöglinge einzuschätzen,
wenigstens soweit es sich um Fehler perseverativen Ursprungs handelt. Um
dem Leser das Wesen dieser Fehler Idar zu machen, treten wir am besten
sogleich in die Betrachtung solcher Falschleistungen ein. Wir wenden uns
zunächst der reinen perseverativen Nachwirkung zu.
a. Nachwirkungsfehler.
Wir verstehen darunter die fehlerhafte Wiederkehr von Lauten, beziehungs¬
weise Lautzeichen, Silben, Wörtern, Ziffern usw. an Stellen, wo sie nicht hin¬
gehören. Die fehlerhafte Einschiebung kann entweder als Zusatz neben den
richtigen Bestandteilen erscheinen ( Zuhöhrer st. Zuhörer) oder einen ihm ana¬
logen richtigen Teil ganz verdrängen ( Buchwuche st. Buchwoche). Die Verdrän¬
gungen sind nach meiner Erfahrung häufiger als die Zusätze. Nicht nur
das Gesprochene sondern auch das Gehörte, nicht nur das Selbstgeschriebene,
sondern auch das Gesehene wirkt nach, wie folgende Fälle beweisen. —
Auf die Frage: Wieviel ist 6x9? erfolgte die Antwort: Neun und gleich
darauf die Verbesserung: Vierundfünfzig. Sechs- und siebenjährige Schüler
schrieben aus der Fibel ab: sei sein st. sei rein, hole es hes st) hole es her,
deudeute st. deute, pumpun st. pumpen, jeje st. jede.
J. Stoll hat in seiner Arbeit über die „Psychologie der Schreibfehler“
genau beobachtet, welche Bestandteile besonders nachwirken und an welcher
Stelle sich die Nachwirkungen finden (S. 101 ff.). Es sind vornehmlich
diejenigen Teile, die irgendwie durch ihre Gestalt, ihren Klang, ihre Betonung,
ihre Stellung im Wort oder Ausdruck die Aufmerksamkeit besonders auf sich
ziehen, entsprechend der schon von Müller u. Pilzecker festgestellten
Tatsache, daß die Perseverationstendenz einer Vorstellung um so stärker ist,
je intensiver die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war (a. a. 0. S. 58). So
wirkt ein f im deutschen Schriftbild durch seine überragende Länge (sei sein
st. rein); das vollklingende u in pumpen ist eindrucksvoller als das tonlose
«) Vgl. M. Offner, Das Gedächtnis. 3. Aufl. 1913. S. 29; Ernst Meumann, Vorlesungen
zur EinfOhrang in die experimentelle Pädagogik. 2. Aufl. 1911. 1. Bd. S. 497L; W, Stern,
Psychologie der frühen Kindheit. 1914. S. 1991.
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Wesen nnd Arten der Fehler
269
e der Endung, daher pumpum st. pumpen ; je in jeje st. jede hat wohl als
Tonsilbe die unbetonte Silbe de verdrängt. Wenn aber in dem lateinisch
geschriebenen Worte Mesnes st. Mesner das s der ersten Silbe das r der
zweiten Silbe verdrängt hat, so kann weder die Gestalt des Buchstaben s
noch der Klang des Lautes 8 die Perseveration veranlaßt haben; denn s und
r sind in beiden Beziehungen von gleichem Werte. Die Erklärung kann also
nicht von dieser Seite kommen. Achtet man dagegen auf die Stellung des
beeinflussenden und des beeinflußten Lautes, so findet man, daß beide im
Silbenauslaut stehen. Nun haben schon Meringer u. Mayer festgestellt,
daß die gesprochenen Laute je nach ihrer Stellung im Wort verschiedene
Wertigkeit besitzen (a. a. 0. S. 25 u. 164) und daß nur „gleichwertige Laute“
gegenseitig aufeinander wirken können, also Anlaut auf Anlaut, Inlaut auf Inlaut,
Auslaut auf Auslaut Dadurch kommt eine An- und Ausgleichung benachbarter
Silben, eine Art Analogiebildung, zustande, die auch sonst in der Sprach¬
entwicklung zu beobachten ist Denn es ist das Bestreben der Analogiebildung,
Wortformen, die irgendwie miteinander verbunden sind, auch äußerlich ein¬
ander anzugleichen ‘). Die Regel gilt zwar nur für die gesprochene Sprache,
aber was wir schreiben, sprechen wir zuvor innerlich. Fehler wie Mesnes st.
Mesner sind also geschriebene Sprechfehler. Daneben gibt es zweifellos auch
reine Schreibfehler perseverativer Art, d. h. solche, die durch ihr Schriftbild
derart die Aufmerksamkeit aüf sich ziehen, daß sie zu einer Wiederholung
führen auch an Stellen, die der Ausgangsstelle nicht analog sind (Zuhöhrer).
Wir wollen nun in einem kurzen Überblick zeigen, auf welchen Gebieten
sich im Sprachunterricht die Perseveration geltend machen kann. Von
typischen deutschen Lesefehlern führe ich folgende an: a) Nachwirkung des
Anlautes: Er lebe hoch! Er lebe (st hebe) es auf! Die Trauben sind süß.
Die milden Trauben (st Tauben) leben im Walde. — b) Inlautswirkung: ach,
wach, nach (st noch); aus Gold und Silber wird Gold (st. Geld) gemacht;
eine Vernehmung vernehmen st vornehmen. — c) Auslautsnachwirkung:
die müden GHeden (st. Glieder ); ergebene st ergeben; was ist bitter? Ich
bitter (st. bitte) dich. — d) Nachwirkung von ganzen Silben und Wörtern:
Die Waffen wurden nicht verschoben, sondern gestohlen; ihr Besitzer ist
mittlerweile gestohlen ... nein, gestorben; irren wirren st. irren wirr...
Bezüglich der Lesefehler ist noch zu beachten, daß der nachwirkende Be¬
standteil und seine fälschliche Wiederkehr sich nicht in ein und derselben
Zeile finden müssen. Der Gesichtskreis des Lesenden umfaßt ein größeres
Blickfeld, in welches auch die Buchstaben und Wörter über und unter dem
Blickpunkt fallen. Die nachwirkenden Teile können also oberhalb der Lese¬
zeile stehen. So wurde gelesen: Dreimarkstätte st. Dreimarkstücke, weil
unmittelbar darüber das Wort Münzstätte stand. Ein Anfänger las:
Der Wagen hat vier Räder. Der Soldat ist auf
dem Wagen st der Wache.
Das Zurückfallen in die vorausgehende Zeile tritt besonders leicht ein, wenn
die beiden aufeinanderfolgenden Zeilen mit demselben Buchstaben oder Buch¬
stabenkomplex beginnen. Z. B.:
die Herde. Der Jäger schießt den Hirsch, das Reh und
die Herde (st den Hasen).
') VgL Thnmb 0. Marbe, a. a. 0. S. 2.
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270 Hermann Weimer
Fehlerhafte Nachwirkungen im freien Sprechen kommen unter denselben
Bedingungen vor wie beim Lesen. Meringer u. Mayer haben Belege da¬
für in so großer Zahl gesammelt, daß sich eine Veröffentlichung weiterer
Beispiele an dieser Stelle erübrigt 1 )*
Während nun Fehler des perseverativen Verlesens und Versprechens auch
von dem psychologisch nicht Geschulten sofort als mechanische Entgleisungen
erkannt werden, die man ihrem Urheber nicht als besondere Mängel aus¬
legt, ist dies bei Schreibfehlern nicht immer der Fall. Schreibt ein An¬
fänger: Die Rose ist rot, woß oder gelb, Erbschulzu st. Erbschulze, Hühner
und Hühner st. Hähne, so tadelt der Lehrer vielleicht nur die Unaufmerk¬
samkeit des Schreibers, macht dieser aber Fehler, wie: Die Kirche hat einen
Turm. Die Kirchen (st. Kirschen) schmecken süß; sie setzten st setzen, von
einem berittenem (st. berittenen) Knappen, so vermutet man leicht tiefere
Mängel in der Kenntnis der Rechtschreibung beziehungsweise in der gram¬
matischen Sicherheit. Und doch konnte ich in all diesen Fällen perseverativ
bedingte Verschreibungen feststellen; denn als ich den Urhebern jener Fehler
die falsch geschriebenen Worte oder Flexionsformen unauffällig in anderer
Verbindung zur Niederschrift gab, wurden sie richtig geschrieben.
Die bereits angeführten Beispiele lassen vermuten, daß die Perseverations¬
tendenz beim Versagen der zur richtigen Leistung erforderlichen psychischen
Funktionen vielfach verwirrend in die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks
eingreift. Nicht nur Vokale und Konsonanten können an falscher Stelle
wiederkehren, auch die Quantität eines Vokals kann nachwirken, wie
folgende Lese- und Sprechfehler beweisen: im Wässer wätteten st. wateten;
mit zu strengem Mäße me .. . messen;
Väter und Mütter beide
Rühen im schwarzen Schrein. (Heideröslein v. K. Groth.)
Selbst der Wort ton. kann fälschlich perseverieren: die ältesten der wetter¬
festen (st. wetterfesten) Seeleute; mit heißen Gebeten beteten (st beteten).
In der Rechtschreibung vermutet mancher Unkenntnis der Schreibregeln,
wo fälschende Nachwirkung eines Buchstabens oder einer einmal vollzogenen
Funktion den Fehler veranlaßt hat Der Schreiber von Zuhöhrer dachte nicht
daran, die Länge des d-Lautes durch ein Dehnungszeichen auszudrücken;
denn er schrieb das Wort sonst richtig und erkannte auch den Fehler sofort
nach entsprechender Ermahnung. Ähnlich verhält es sich mit der Schreibung
der Wörter Delda (st. Delta), Kottbuss (st. Kottbus), Schutt und Moodei
(st. Moder) mit Nachwirkung der Funktion der Verdoppelung.
Auch rein grammatische Fehler auf der Grundlage der Perseveration kommen
vor. An falschen Wortbildungen begegneten mir u. a. folgende: Der eine
machte die Kleinigkeiten, der andere die Großigkeiten; die Aufbahrung
und Fortfahrung (st. das Fort fahren) der Leiche; einschläfein (st einschläfem);
sparsam und nicht vergeudsam (st verschwenderisch ); die vorzügliche Tabaks-
ernte wurde in allen Tabaksfabriken (st. Tabakfabriken) begrüßt; ihre Güte
und Schöne (st. Schönheit).
Auch falsche Biegungsformen und Geschlechtsbildungen tragen zu¬
weilen perseverativen Charakter. Substantiva: die langen Abenden, die Löffel,
Gabel (st. Gabeln) und Messer, Wolframs von Eschenbachs (st. Eschenbach). —
') Vgl. Meringer u. Mayer, a. a. 0. S. 44H.
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Wesen und Arten der Fehler
271
Adjektiva und Pronomina: aller guter (st. guten) Bürger; an dem warmem
Ofen; die späteste Zeiten; das oberere Land; unserere Lehrer; welcher braver
(st braven) Frau. — Verben: er willfahrtete (st. willfahrte); es hätte nicht
zu geschehen gebraucht (st. brauchen); ich trete, du tretest, er tretet (st.
trittst, tritt).
Auch in manche Gebiete der Satzlehre greift die Perseveration zuweilen
verwirrend ein. Ihre Wirksamkeit ist freilich nicht immer deutlich zu er¬
kennen; denn manchmal ist es nicht die äußere Form, die nachwirkt, sondern
die grammatische Funktion. Wenn z. B. Wustmann in seinen „Sprach-
dummheiten“ (3. Aufl. 1903, S. 252f.) gegen Ausdrücke wie „Ausgewählte
Texte des 4. bis 15. Jahrhunderts“ wettert, so bekämpft er hier das Nach¬
wirken des durch des eingeleiteten singularischen Genetivverhältnisses, das
in Jahrhunderts keine logische Berechtigung mehr hat, von seinem Bekämpfer
aber psychologisch nicht gedeutet werden konnte. Ähnlich wirkt die Dativ¬
funktion in dem von Wustmann (S. 44) angeführten Beispiele: er ist zu
Verschickungen und dergleichem (st. dergleichen) gebraucht worden. Auch
die Häufung von Steigerungsformen, wie besser passendere Schuhe, die härter
getroffeneren Grenzbewohner, mit dem bestgemeintesten Rat , mit größtmög¬
lichster Eile dürfte durch Nachwirkung der durch besser, best usw. eingeleiteten
Steigerungsfunktion zu erklären 6ein.
Wenn Schüler schreiben: das einzige, das (st. was) er zu sagen wußte,
das erste , das er tat; das Schlimmste, das man ihm antun konnte, so liegt
eine rein formale Nachwirkung ebenso deutlich zutage, wie in der fälsch¬
lichen Wiederholung der persönlichen Fürwörter in Sätzen wie: Das Interesse
ist eine Teilbedingung dafür, daß bestimmte Arten psychischer Vorgänge sich
die psychische Kraft in höherem Grade sich aneignen als andere; wenn uns
Frankreich mit seinen Kolonialheeren usw. . . . uns auch immer aufs neue
bedrohen.
Rein durch Nachwirkung der Form sind auch nachfolgende Fehler der
Übereinstimmung entstanden: das Theater, in der (st. dem); indem man sich die
langen Winterabende mit Spielen, Lesen, Musizieren und dergleichen vertreiben,
ferner Konstruktionsfehler wie: ein Mann von großen Geist (st. großem);
sie lagen in einen Hof (st. einem Hof )*); wir tanzten um ihm (st. ihn).
Meumann hat bei seinen Assoziationsversuchen mit Kindern unter anderem
festgestellt, daß ein einmal reproduziertes Wort immer wieder genannt wird
(Vorlesungen I, 491 ff. u. 497). Erleben wir diese Tatsache nicht auch täglich
in der Schule? Wie der Zögling der Unterklassen in seinen ersten Dar¬
stellungsversuchen schreibt: Dos Ff erd ist ein Haustier. Das Pferd hat
einen Kopf, einen Hals, einen Rumpf .... Das Pferd zieht den Wagen
usw., so Webt noch der Tertianer und Sekundaner an einem einmal repro¬
duzierten Wort durch ganze Sätze hindurch. Ein Beispiel für viele mag
genügen. In einem Aufsatz über den „Grafen von Habsburg“ schrieb ein
Untertertianer (13 J.): Sie bemerkten einen Priester, der das Allerheiligste trug.
Vor dem Priester schritt ein Mesner mit der Glocke, um die Leute auf das
Nahen des Priesters aufmerksam zu machen. Der Priester wollte zu einem
totkranken Mann. Der Weg führte aber den Priester an einen Bach.
') Schreibfehler von Schalem aas einem Sprachgebiet, wo Dativ und Akkusativ nicht ver-
w ®chgelt werden.
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272
Hermann Weimer
Wo nicht dieselben Worte wiederkehren, da haftet bisweilen derselbe Ge¬
danke und drängt sich, wenn auch in verschieden gewählten Ansdrtcken,
immer wieder vor. Wenn diese Erscheinung auch kaum zu eigentlichen
Fehlern führt, so mag sie doch ähnlich der eben geschilderten als stilistische
Schwerfälligkeit wegen ihres perseverativen Charakters an dieser Stelle
erwähnt werden. In dem Aufsatz eines Obertertianers (14 J.) über die „Be¬
deutung des Fahrrades“ heißt es z. B.: Wer gebraucht es nicht alles! Da
ist es besonders die Post, wo das Fahrrad Anwendung findet. Die Depeschen-
und Eilboten gebrauchen es, um ihre Nachrichten schnell an Ort und Stelle
zu bringen. Auch bei dem Arzte findet es Verwendung ... Ferner benutzt
es der Landjäger, um .. . In sehr großem Maße wird das Fahrrad von
den Geschäftsleuten benutzt.“ So kommt der Schüler durch den ganzen
Aufsatz hindurch nicht aus Wendungen des „Gebrauchens“ heraus, die er
zum großen Teile hätte vermeiden können, wenn er einfach die Arten des
Gebrauchs geschildert hätte: die Eilboten bringen mit dem Fahrrad ihre
Nachrichten . . .; der Arzt fährt damit zum Kranken; die Geschäftsleute
besorgen auf ihm ihre Waren zu den Kunden usw. Man könnte im vor¬
liegenden Falle auch sagen: der Schüler war auf die Vorstellung des „Ge¬
brauchens“ so eingestellt, daß sie die Wahl der folgenden Ausdrücke immer
wieder beeinflußte. Von diesem perseverativen Charakter der Einstellung
werden wir an anderer Stelle fioch ausführlicher zu reden haben (S. 278 ff.).
Perseverativer Art scheinen mir auch gewisse Tautologien zu sein. Das
Wesen der Tautologie besteht ja darin, daß man dasselbe noch einmal, wenn
auch mit anderen Worten, sagt, d. h. psychologisch ausgedrückt, daß eine
bereits sprachlich reproduzierte Vorstellung in einer gleichbedeutenden Wendung
wiederkehrt. Wustmann hat im Kapitel „Tautologie und Pleonasmus“ (a. a. 0.
S. 283) eine Fülle derartiger Ausdrücke gesammelt, die z. T. gar nicht mehr
als fehlerhaft, sondern höchstens als Mittel der Ausdruckssteigerung empfunden
werden. Die nachstehenden perseverativen Tautologien sind aber als Fehl¬
leistungen anzusehen, bei denen die Funktionen der Aufmerksamkeit und
des Denkens versagt haben: Allmählich erhob sich die Sonne nach und
nach über die Berge; das Fahrrad gehört zu den neueren Erfindungen unserer
Zeit; er schmetterte sein Lied über Berge und Hügel; in der ganzen Welt
bekannt und berühmt; sein Brot und sein Gebäck. Substantive und gleich¬
bedeutende Verben scheinen sich besonders leicht zu Tautologien zusammen-
zuschließen: die Schweizer hatten das Recht, sich selber-regieren zu dürfen;
dort werden mancherlei Produkte erzeugt; ob er die Kraft besäße, dem
Kaiser widerstehen zu können; die Tiere schienen nach seiner Meinung
Wölfe zu sein.
Bei Schwachsinnigen Ijat man eine Form der Perseveration festgestellt,
die darin besteht, daß ein soeben gehörtes Wort unwillkürlich und grundlos
nachgesprochen wird. Man nennt diese Erscheinung Echolalie. Ihr ver¬
wandt ist wohl die Neigung mancher Schüler, die letzten Worte von an sie
gestellten Fraget zu wiederholen. Sie erscheint zuweilen berechtigt, wenn
sich etwa der Schüler durch Wiederholung der Frage ihre Bedeutung recht
eindringlich machen möchte (z. B. Lehrer: Wieviel ist 6 x 18? — Schüler:
6 x 18? Worauf die Antwort erfolgt). Sie ist aber ganz überflüssig und
nur ein Zeichen von noch unzureichender Aufmerksamkeit und Denktfitigkeit,
wenn z. B. auf die Frage: Was taten'die Goten nach Alarichs Tode? geant-
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Wem tmd Arten der Fehler
273
wortet wird: Nach Alarichs Tode taten die Ooten sich nach Norden zurück¬
ziehen.
Daß nicht jede Wiederholung einer einmal reproduzierten Vorstellung per-
severativer Art zu sein braucht, hat mir folgendes Erlebnis bewiesen. Ein
neunjähriger Schüler, der die Lateinschrift, und zwar erst die kleinen, dann
die großen Buchstaben, erlernte, hatte bei einem Diktat einen Satz mit den
Worten* Ein Knabe zu beginnen. Die Verbindung ei war ihm bereits durch
reichliche Übung geläufig geworden, weniger dagegen die Verbindung Ei.
So entstand der Fehler Eein, indem das Bewußtsein, groß schreiben zu
müssen, die Schreibung des E veranlaßte, an das die geläufige Verbindung
ei angehängt wurde.
ß. Vorwirkungsfehler.
Meringer und Mayer haben ihre öfter erwähnte Arbeit mit einer Be¬
sprechung der «Vertauschungen* begonnen. Sie sagen (S. 13 f.): «Die häufigsten
Sprechfehler bestehen in Verschiebungen der Teile des Satzes, den man
sprechen will; man sagt ein Wort, einen Laut, an Unrechter Stelle, zu früh
oder zu spät. Die Lautversetzungen sind nun oft Vertauschungen, d. h. der
verdrängte Laut erscheint an Stelle dessen, der ihn verdrängt hat, und so
aach beim Worte. Oder das Wort, bzw. der Laut erscheinen früher oder
ipäter neben oder an Stelle eines Wortes bzw. Lautes, bleiben aber an dem
berechtigten Platze auch (Antizipationen, Vorklänge — Postpositionen, Nach¬
klänge)." Man sieht aus dieser Stelle deutlich, daß beide Forscher ein rich¬
tiges Gefühl für die innere Verwandtschaft der von ihnen geschilderten Vor¬
gänge hatten. Sie konnten aber die gemeinsame psychische Wurzel derselben
nicht klar erkennen. In Wirklichkeit sind die «Vertauschungen", die sie auf
S. 14—28 bringen, ebenso gut «Vorklänge" wie die von S. 29 ab verzeich-
neten ^Antizipationen“. Der Unterschied ist nur formaler Art. Wenn einer
ihrer Gewährsmänner:- zwecktischer Prak st. praktischer Zweck (S. 14) sagte,
so hat das Wort Zweck sich ebenso vorgedrängt wie die Silbe hall in un-
gehallt verhallen st ungehört verhallen (S. 29). Dieses Vordrängen aber ist
das Wesentliche in beiden Fällen; sie unterscheiden sich nur dadurch, daß
un ersten Falle sich die anfangs unterdrückte Silbe prak noch einmal, wenn
auch an Unrechter Stelle, durchsetzen konnte, während im zweiten Falle der
Silbe hör dieses Los nicht mehr beschieden war.
Wir gehen nun sogar so weit, die Vorwirkungen samt den dazu gehörigen
Vertauschungen mit den Nachwirkungen zusammenzustellen und sie unter den
Gesamtbegriff der Perseveration einzureihen. Eine Ahnung dieses Zusammen¬
hangs haben auch schon Meringer und Mayer gehabt, wenn sie S. 164
aagen: «Die Laute der inneren Sprache sind ungleichwertig. Bei einem
Laute, der eben gesprochen wird, klingen alle bereits zu sprechen
beabsichtigten, gleichwertigen, vor, die zuletzt gesprochenen,
gleichwertigen (allerdings etwas schwächer), nach, so daß diese Laute
fehlerhaft jederzeit für den beabsichtigten eintreten können." Was sie von
den Lauten sagen, gilt auch für Silben und ganze Wörter.
Auch Wundt (Völkerpsychologie I, 1) weist mit Nachdruck mehrfach auf
diese Tatsache hin. Er sieht den Hauptgrund der meisten Sprechfehler in
der ungleichen Geschwindigkeit des VorstellungB- und des Redeflusses. Die
Gedanken eilen dem gesprochenen und mehr noch dem geschriebenen Wort
Zrftecfcjrtft f. pSdagog. Psychologie. 18
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Hermann Weimer
voraus. *) Infolgedessen ist eine Artikulationsbewegung im Gehirn schon vor¬
bereitet, ehe sie „eigentlich an der Reihe ist“ (Völkerpsychologie 1,1, 3. Aufl.,
S. 426). Der im Fluß der Rede auftretende Sprachlaut (beim Schreiben sein
Zeichen) ist so einem doppelten psychischen Einfluß ausgesetzt: 1. der Vor¬
wirkung, welche die nachfolgenden Vorstellungen, die selbst schon in sprach¬
licher Form im Bewußtsein anklingen, ausfiben, 2. der Nachwirkung, die von dem
gesprochenen oder geschriebenen Worte im Bewußtsein zurückgeblieben ist.
Ist diese gemeinsame Wurzel von Vor- und Nachwirkung klar, so wird man
auch begreifen, inwiefern die Vorwirkung perseverativer Natur sein kann.
Wenn die Gedanken schon im Bewußtsein sind, noch ehe sie zu sprachlichem
Ausdruck kommen, so ist das folgende Sprechen oder Schreiben nichts anderes
als eine Perseverationswirkung des bereits Gedachten. Dabei ist es wohl
möglich, daß später zu Sprechendes oder Schreibendes früher wirksam wird,
als es eigentlich sollte, wenn nämlich aus irgendeinem Grunde die Intensität
der Aufmerksamkeit sich gerade ihm zuwendet Damit ist aber die fehler¬
hafte Vorwirkung auf perseverativer Grundlage zur Geltung gekommen. 2 )
Schon Wundt hat darauf hingewiesen, daß die Vorwirkungen „infolge
der natürlichen Richtung des Redeflusses“ viel zahlreicher sind als die Nach¬
wirkungen. Sie sollen sich besonders leicht bei energischem, lehhaftem
Sprechen einstellen (Mer. u. May. S. 41). In meinen Sammlungen beträgt
ihre Zahl ungefähr das Doppelte der Zahl der Nachwirkungen. Ähnlichkeit
der beeinflussenden und der beeinflußten Teile begünstigt falschen Vorklang
ebenso sehr wie falschen Nachklang. St oll hat die sich vordrängenden
Elemente bezüglich ihrer Eigenart, ihrer Gestaltsqualität, ihrer Stellung im
Wort usw. poch eingehender untersucht als die Nachwirkungen (a. a. 0.
S. 89—101) und auch hier gefunden, daß entweder irgendeine IntepsitätB-
auszeichnung dieser Elemente oder eine Analogiebildung den Anlaß zu der
fehlerhaften Veränderung der Leistung bildet
Die Vorwirkungen umfassen im Bereich des Sprachlichen: Laute bzw.
Buchstaben (Krotopoll st. Protokoll ), Silben (mit übertragenen (st. über¬
triebenen) Klagen ), Wörter und ganze Ausdrücke (za gefallen zu lassen st
gefallen z. /.). Sie führen zu mancherlei Veränderungen der verfälschten
Bestandteile. Es finden sich:
Auslassungen (emfinden st empfinden, Fäberei st. Färberei, Knppen st
Knappen, widersehen st. Wiedersehen),
Zusätze (die Lange st. die Lage Frankreichs, Frabrik st. Fabrik, Semptember
st. September, späterstem, Sturn- n. Sportabzeichen st. Tum ...),
Ersetzungen (Britzstrahl st Blitzstrahl, Hdphdstus st Hephästus, /erführen
st. verführen, mistestens st. mindestens),
Umstellungen oder Vertauschungen (Artz st. Arzt, Einteilung st. Einleitung,
Oebriff st. Begriff, Melkenburg st. Mecklenburg, Tassenmesther).
Da, wo es zu Auslassungen kommt, fällt meistens ein Silbenauslaut dem
folgenden Silbenanlaut zum Opfer, selten aber umgekehrt der Anlaut dem
*) Nach J. Fröbes, Lehrbach der experimentellen Psychologie, 2. B<L 1020, S. 44 liest man
leise in der Minute 500—800 Worte, laut nur 800; ein Redner spricht selten mehr als 200 Worte
in der Minute; man schreibt in derselben Zeit nur zwischen 20 und 35, in Maschinenschrift 40 Worte.
Beim Lesen folgt die innere Sprache (das Klangbild) dem Auge gewöhnlich in einer Entfernung
von 5 1 / a Worten nach (ebenda S. 42).
*) Vgl. die ähnliche Erklärung J. Stolls a. a. O. S. 106f.
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Wesen and Arten der Fehler
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Auslaut: enzwei, gleisdienklig, seidem, verückt, au das st. auf das, er führ
den Knähen st er führt den Kn. Das entspricht den Assimilationsvorgängen,
die aus der Sprachgeschichte bekannt sind: Amman aus Amtmann, Eiland
aus Einland, Grummet aus Grünmahd, Hoffahrt aus Hochfahrt, Marschall
aus Marchschalk, sechzig aus sechszig usw.
Im Schriftbild können auch Buchstabenteile durch Vorwirkung nachfolgender
(bes. ähnlicher) Buchstaben verloren gehen: .Lackofen st Backofen (man
denke dabei an das deutsche Schriftbild), leliebig st. beliebig, eindinmen
st eindämmen, ftidet st. findet.
Da, wo die einander beeinflussenden Bestandteile sich in einem Gebilde
von mehreren Wörtern (also auch Zusammensetzungen) geltend machen,
kommt es zuweilen zu starken Verschmelzungen: der Freietanz st Frei¬
staat Danzig, durch die Stromschlenken zu lenken st Stromschnellen z. l.,
ehfrumd in fremde Linder st. fuhr in fr. L., leicht aufzuritzen ist das
Reist der Geicher st. Reich der Geister, Schwald st Schwarzwald, Schehmen
st Schaden nehmen. Merihger und Mayer glaubten für solche Verschmel¬
zungen die Regel aufstellen zu können, dafi „antizipierte Wörter die Form
des verdrängten Wortes annehmen“ (a. a. O. S. 28). Wenn dies auch häufig
der Fall sein mag, so doch nicht immer. Zuweilen setzt sich auch der
Schlußteil des verdrängenden Wortes am verdrängten Teile durch, und das erste
Wort nimmt dadurch die Form des zweiten Wortes an: Pompejanum und
Herkulannm st. Pompeji u. H., wer von Danzig nach Neufährt st. Neufahr¬
wasser fährt, Wirtschaftlichung st. Wirtschaftliche Vereinigung.
Wie sehr der Satzsinn durch Wortveränderungen infolge Vorwirkung ent¬
stellt werden kann, mögen folgende Lese- und Schreibfehler erraten lassen:
Belag st. Belang, ducken sL drucken, erbsen st. erbosen, fest st. feist, du
Flasche st. du Falsche, Gemse st. Gemüse, Koks st. Kokos, Lied st Leid,
Meter st. Meteor, Pakt st. Paket, Portion st. Proportion, Rentier st. Remitier,
Rippe st Rispe, Slaven st. Salven, staubstumm st. taubstumm, versenden st.
versanden, zurückkehrt st. zurückgekehrt.
Beim Lesen drängen sich ebenso, wie wir das bei den Nachwirkungen
feststelleii konnten, Bestandteile anderer Zeilen, diesmal der folgenden im
Blickfelde vor und führen zu mancherlei Verlesungen:
. Adler und Ärtnsel (st. Amsel) sind Vögel .
. Der Ärmel ist an dem Rock .
. Der Fisch ist stein (st stumm). Der Storch hat sein Nest
auf dem Schornstein.
Durch solche Vorwirkungen geschieht es zuweilen, daß die Leser (bes. An¬
fänger) eine ganze Zeile überspringen:
Wie heißt das Ding dort an der Wand?
Es hängt und geht doch immer fort.
statt: Es schlägt und hat doch keine Hand.
Es hängt und geht doch immer fort.
Es geht und kommt doch nicht vom Ort.
Zu welch starken Verschmelzungen derartige Vorwirkungen aus den nach¬
folgenden Zeilen selbst beim geübten Leser führen können, mußte ich selbst
erfahren, als ich bei einem flüchtigen Blick auf eine Messerklinge Soennecken
st. Henckels
Solingen zu lesen glaubte.
18 *
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276
Hermann Weimer
\
Die Vorwirkung kann auch aus einem Sinnengebiet in das andere über¬
greifen. Dadurch kommt es z. B. zum falschen Niederschreiben gehörter oder
leise gesprochener Zahlen: 347 für dreihundertoierundsiebzig, 26 für zwei¬
undsechzig usw.
Wir haben früher (S. 268) festgestellt, dafi nicht nur das Selbstgesprochene I
oder Selbstgeschriebene beim Sprechen oder Schreiben nachwirken kann,
sondern auch Gehörtes oder Gesehenes, also seelische Erzeugnisse, die von
fremden Urhebern stammen. Entsprechende Vorwirkungen sind nur beim
Lesen und Abschreiben möglich. *) Dagegen gibt es beim Sprechen eine Art
von Vorwirkung, die z. T. das vorausnimmt, was man von andern zu hören
erwartet Sie stören bisweilen die Unterrichtsfragen des Lehrers. Ich habe
solche in den verschiedensten Unterrichtsfächern wahmehmen können, wie
folgende Fragen bezeugen: Deutsch. Welche transitiven Verben bilden ein
persönliches Passiv? (Antw.: Die transitiven Verben). — Franz. Welchen
Konjunktiv (st Modus) regieren die Verben des Wollene? (Antw.: Den Kon¬
junktiv). — Engl. Zu welchen unvollständigen Hilfsverben gehört I can?
(Antw.: Zu den unvollständigen). — Geschichte. Wer hatScipio (st Hannibat)
in der Schlacht bei Zama besiegt? (Antw.: Scipio). — In welcher Schlacht
bei Adrianopel wurde der Kaiser Valens geschlagen? (Antw.: Bei Adria-
nopet). — Erdkunde. Welches Schiefergebirge (st. Gebirge) durchbricht der
Rhein bei Bingen? (Antw.: Das rheinische Schiefergebirge). — Math. Wie¬
viel ist 5 x 85 (st 17)? (Antw.: 85). — Chemie. In welchem Gebiete der
Physik (st Naturwissenschaften) haben wir diesen Vorgang schon kennen- I
gelernt? (Antw.: In der Physik).
Im übrigen lassen sich Vorwirkungsfehler auf dem Gebiete des sprach¬
lichen Ausdrucks fast überall da nachweisen, wo mm auch schon Nach¬
wirkungsfehler begegnet sind. Es finden sich Vorwirkungen der Laut¬
quantität, besonders beim gefühlvollen Vortrag von Gedichten:
Meiner Heimat stille Frauen
Spinnen schön am Winter-Lein.
(Münchhausen, Der Romlahrer).
Läng mir noch im Ohre lag
Jener Klang vom Hügel.
(Lenau, Der Postillon).
Vorwirkungen der Lautqualität: Die Pinsen (st Binsen ) pickten mich;
er trang (st drang) gepanzert ; tahinten (st dahinten) läuft er; vertutzt (st.
verdutzt) tat sie es weg.
Vorwirkungen des Umlauts: Dömänen st. Domänen; die Kdrmeliterklöster ;
sie sähen (st. sehen) die Mädchen; zum Fräden (st Frieden) führen.
Vorwirkung der Dehnungszeichen bzw. Dehnungsfunktion: Gehmahlin
st. Gemahlin, Hielfsdlenst st. Hilfsdienst, Hoofstaat st Hofstaat, Schuhljahr
st Schuljahr.
Vorwirkung der Verdoppelungsfunktion: Barbarrossa st Barbarossa,
feilsche Stelle st fälsche St., Merrgott (mit Unterdrückung des zweiten e im
ersten Bestandteil), Proffessor und ProffeSor st Professor.
Vorwirkung der Flexionssilben: auf schwer errungenen (st errungenem)
') Lesefehler dieser Art sind im Verausgabenden in genügender Zahl zu finden, entsprechende
Abechreibtehler siehe bei J. Stoll a. a. 0. 8. 91 ff.
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__ J
Wesen and Arten der Fehler
277
Boden, die lange (st langen) Tische, einen hübschen (st. hübsch ) gebundenen
Strauß, das wirtschaftliche (st wirtschaftlich) Mögliche.
Vorwirkung desgrammatischen Geschlechts: die Fabrik, dessen Begründer;
eins der größten Betriebe ist dos Tonwerk; das Roß wollte der Graf nicht
mehr besteigen, der den Heiland getragen (Vorwirkung begünstigt durch die
schlechte Wortstellung).
Vorwirkung der Kasusfunktion: nach dessem eigenem Eingeständnis;
der Förster, in dessem (st. dessen) Hause; die Feinde, nach derer Hoffnung.
Weitere Beispiele dieser Art hat Wustmann S. 44 gesammelt.
Vorwirkung der Steigerungsfunktion: die bei weitest (st weitem) beste
Mannschaft; mit dem denkbarst größten Kraftaufwand.
Vorwirkung des Numerus: Als Caesar die Feinde angreifen wollten, zogen
sich diese in Eile zurück; bis sie zurückgekehrt ist (st. sind), wird es
Abend sein.
Vorwirkung des Konditionalis: Wenn du kommen würdest, würde ich
mich freuen. (Derselbe Schüler sagte vorher: er solle warten bis er käme;
also nicht Einfluß der Gewohnheit bei würdest).
Falsche Konstruktionen durch Vorwirkung: bis er sich darin (st. daran)
erinnerte; er braucht es sich nicht zu gefallen zu lassen.
Verwirkung von Satzzeichen: Der Königf:] 1 ) erwiderte: —. Glaubt
ihr wirklichf?], 1 ) noch lange widerstehen zu können? Wachet und betet!
(st betet,) daß euch der Feind nicht übermanne!
Die Grammatiker Wustmann und Th. Matthias klagen in l&ngeren
Ausführungen über die zunehmende Verwirrung in der deutschen Wort¬
stellung. Wustmann (292ff.) verwirft Ausdrücke wie: ein sächsischer
junger (st junger ’sächs.) Leutnant, die ausländische gesamte (st gesamte
ausl.) Medizin, der Direktor Hittenkofer des Technikums zu Strelitz, weil
logisch Zusammengehöriges durch die Vorausnahme der Attribute sächsisch,
ausländisch usw. auseinandergerissen werde. Solche Stellungsfehler bei
Attributshäufungen rechnen psychologisch zu den Vorwirkungen, die wir
hier besprechen, Die Aufmerksamkeit des Sprechenden oder Schreibenden
ist dem logischerweise später kommenden Attribut so sehr zugewandt, daß
sie zu einer Vorausnahme führt Fehler dieser Art aus Schülerleistungen:
das grüne üppige (st. ü. gr.) Laubwerk, die gläsernen stieren (st st. gl.)
Augen, die Große afrikanische Syrte (st afr. Große, im Gegensatz zur
Kleinen S.), ein alter braver (st br. a.) Soldat. Dahin gehören auch die
100 Kinderhemden von 2—14 Jahren st 100 Hemden für Kinder, Uber die
sich Wust mann a. a. O. S. 203 lustig macht. Dahin gehören ferner Stellungs¬
fehler, wie sie Matthias (S. 69ff.) rügt: so versank ein Pfeiler nach dem
andern des Gebäudes st. ein Pf. d. Geb. nach d. a.; die Erstürmung dei
Franzosen von Mainz st E. v. M. durch die Fr.; die Art zu arbeiten des
Schülers st des Schülers A. z. a.; nach längerem Leiden hat es dem lieben
Gott gefallen, meinen guten Mann zu sich zu nehmen st. Es hat dem L. G.
gefallen, m. g. M. nach längerem Leiden . . .
Wenn gleichartige Laute oder Lautgruppen bzw. Buchstabengebilde sich
vor und hinter einer falsch gesprochenen oder geschriebenen Stelle finden,
so ist es zweifelhaft, ob der vorausgegangene oder der folgende Bestandteil
t) Vom Schreiber verbessert.
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278
Hermann Weimer
zur falschen Leistung geführt hat In dem Satze: Der Hürte kürtet die Herde
kann das Zusatz-r in kürtet (st. hütet) sowohl auf Vorwirkung des r in
Herde wie auf Nachwirkung des gleichen Lautes in Hirte oder gar auf beide
Einflüsse in gleicher Weise zurückzuführen sein. Solche Zweifelsfälle kommen
öfter vor. So kam z. B. in dem deutsch geschriebenen Satze: damit er
schnellen zu dem Kranken komme ebensowohl eine Perseveration der Schreib¬
bewegung in en wie eine Vorwirkung der Endung en in Kranken vorliegen
Einfacher und klarer liegt die Möglichkeit der Doppelwirkung zutage in:
eine amtleiche Mitteilung; so kommt man an das Horreum, dem Getreide¬
speicher, in welchem.
y. Einstellungsfehler.
Wenn man ein verhältnismäßig schweres Gewicht eine Zeitlang mehrfach
hintereinander in die Höhe gehoben hat und dann zum Heben eines leichteren
übergeht, so erscheint dieses letztere noch leichter, als es in Wirklichkeit ist
Diese Tatsache hat schon G. Th. Fechner, der Begründer der experimentellen
Psychologie, festgestellt G. E. Müller und Friedr. Schumann haben seine
Beobachtung nachgeprüft und ebenfalls gefunden, daß die durch die voran¬
gegangene Hebübung bewirkte „Einstellung“ auf das schwerere Gewicht
jedesmal eine falsche Beurteilung des leichteren veranlaßt. 1 ) Damit haben
beide Forscher einen neuen Begriff in die psychologische Wissenschaft ein¬
geführt: den Begriff der motorischen und sensorischen Einstellung. Sie
bezeichnen sie als eine Übungserscheinung, „eine eingeübte Disposition oder
Tendenz zu einer automatischen Tätigkeit motorischer oder sensorischer Art“. 2 )
Einige Jahre später (1895) sprach J. v. Kries von „Einstellung" in einem
andern Sinne. 3 ) Er ging von der Beobachtung aus, daß gleiche Zeichen
(Notenzeichen, Wörter usw.) nicht immer dieselben Vorstellungen, sondern
je nach der Lage der Umstände ganz verschiedene hervorrufen, daß aber das
richtige Verständnis der Zeichen bedingt sei durch die jeweilige zerebrale
bzw. seelische Einstellung. *) Der Baßschlüssel und der Violinschlüssel ändern
die Bedeutung gleichliniger Notenzeichen; der geübte Musiker verbindet aber,
ohne sich dessen im Einzelfall bewußt zu sein, mit jedem Zeichen jeweils
die richtige Bedeutung. Er wird durch das Schlüsselzeichen auf eine be¬
stimmte Reihe von Vorstellungen eingestellt, während andere dadurch aus¬
geschaltet werden (Bild der Weichenstellung). Wenn ich das Wort See in
einem englischen Text lese, so spreche ich es nicht nur anders aus (si),
sondern deute es auch anders (Bischofssitz) als in einem deutschen Text,
weil ich auf englische und nicht auf deutsche Lektüre eingestellt bin. Unter
dem Worte Wurzel verstehe ich recht verschiedene Dinge, je nachdem ich
es in der Naturkunde, der Mathematik, der Sprachwissenschaft, der Zahn-
l ) Q. E. Müller und Fr. Schumann. Ober die psychologische Grundlage der Vergleichung
gehobener Gewichte. Pfluegers Archiv f. d. gesamte Physiologie, 45. Bd. 1889, S. 37S.
*) Vgl. a. a. O. S. 64.
*) J. v. Kries, Ober die Natur gewisser mit den psychischen Vorgingen verknüpfter Gehirn¬
zustände. Zeitschr. f. Psychologie, VHI. Bd. 1896, S. 1 ff. Vgl. dazu auch G. E. Müller, Zur
Analyse der Ged&chtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes. HI. 1913. S. 468 ff.
*) R. Magnus hat in Pfluegers Archiv, Bd. 130 (1909) und 134 (1910) durch Versuche an
Hunden und Katzen nachgewiesen, daß die von Kries angenommene Einrichtung wechselnder
Weichenstellung im Zentralnervensystem wirklich besteht und eine wichtige Rolle spielt Vgl.
G. E. Müller, Zur Analyse usw. III. S. 468.
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Wesen und Arten der Fehler
279
heilkunde gebrauche. Alle klanggleichen (homonymen) Wörter von ver¬
schiedener Bedeutung (z. B. Ton als Laut, Ton als Erdart) werden richtig
verstanden allein nach der jeweiligen seelischen Einstellung. Sie bewirkt,
daß unter mehreren möglichen Vorstellungen nur die ins Bewußtsein treten,
die ihr entsprechen. 1 )
Es ist eine psychologische Streitfrage, ob es eine Einstellung nur assozia¬
tiver oder auch eine solche determinativer Natur gibt. Auf assoziativer
Grundlage stellt sich die Seele da ein, wo dieselben oder ähnliche Assoziationen
mehrfach hintereinander wiederholt werden (wie in dem oben angegebenen
Pall der Gewichtshebung) oder wo verschiedene Vorstellungen in derselben
Richtung Zusammenwirken (Th. Ziehen u. a. reden in diesem Falle von
Konstellation“. 2 )) Determinierende Tendenzen nimmt man seit Narziß Ach
da an, wo besondere, von einer Zielvorstellung (Aufgabe, Kommando, Frage,
Thema) ausgehende Einflüsse die Auswahl und den Verlauf der Vorstellungen
bestimmen. 3 ) Es ist nicht unsere Aufgabe, zu diesem Streite Stellung zu
nehmen. Beispiele, die im folgenden begegnen, lassen sich teils als solche
assoziativer teils als solche determinativer Einstellung betrachten. Wichtiger
erscheint es mir, auf den perseverativen Charakter der Einstellung hin¬
zuweisen. 4 ) Das Leben zwingt uns zu häufigem Wechsel in der Richtung
unseres Vorstellungsverlaufs, aber dieser Wechsel gelingt nicht immer mit
der erforderlichen Schnelligkeit und Sicherheit. Die einmal eingeschlagene
Richtung hat eine zu große Behammgskraft; sie macht sich auch da noch
geltend, wo die Seele sich hätte umstellen müssen, und gerade darauf beruhen
viele Einstellungsfehler. Es sind Nachklänge aus einer einmal eingeschlagenen
Vuretellungsrichtung, die da, wo sie auftauchen, und so, wie sie auf tauchen,
Entgleisungen darstellen. Aus diesem Grunde habe ich die Einstellungsfehler
unter die perseverativen Fehler eingereiht. Sie sind bis jetzt meines Wissens
noch nicht zum Gegenstand besonderer Betrachtung gemacht worden, obwohl
schon die eingangs erwähnten Versuche von Müller und Schumann auf
Fehler dieser Art hätten aufmerksam machen müssen.
Eine deutsche Dame las z. B. in einem deutschen Text die Worte harrende
Beträge vor. Da sie sich der Sinnlosigkeit dieser Worte sofort bewußt wurde,
stutzte sie, las dann nach genauerem Zusehen horrende Beträge und fand
endlich die richtige Betonung hoirende Beträge. Wie ist der Fehler zustande
gekommen? Der ganze Zusammenhang stellte die Leserin auf deutsche Worte
und deutsche Betonung ein; daher allein das hartnäckige Festhalten an der
falschen Betonung, das sich in der Wiederholung des Betonungsfehlers kund-
*) W. Betz (Vorstellung und Einstellung. Archiv t. d. gesamte Psychologie, Bd. 17. 1910.
8. 2661t.) hat dem Ausdruck „Einstellung“ einen ganz anderen begrifflichen Inhalt gegeben, mit
dem vir uns an dieser Stelle nicht befassen können.
*) Vgl. Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie, 6. Aufl. S. 181 ff. — M. Offner,
Das Gedächtnis. 3. Aufl. S. 203 ff.
*) N. Ach, Ober die WillenstAtigkeit und das Denken 1905. Über den Willensakt und das
Temperament 1910. Zur Streitfrage vgl. K. Koffka, Zur Analyse der Vorstellungen und ihrer
Oesetze 1912. Q. E. Müller, Zur Analyse der Gedüchtnistütigkeit usw. III. S. 469, 470fL
*) Diesen perseverativen Charakter hatten schon Müller und Pilzecker a. a. 0. S. 59 erkannt.
0. E. Müller weist auch im III. Teil seiner Analyse S. 451 darauf bin. Was Meumann (Vor¬
lesungen I 1 , 497) Perseveration der Reproduktionsformen nennt, ist, genau betrachtet, nichts
anderes als Perseveration der Einstellung. Dasselbe gilt von Wreschners Perseveration der
assoziativen Beziehung und Reinholds Perseveration der einmal eingeschlagenen Richtung.
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Hermann Weimer
gab. Ähnliche Entgleisungen kommen im Schulleben öfter vor. Ein Tertianer«
der des Französischen hinreichend mächtig war, sprach nach einer Aufzählung
deutscher Flußnamen den französischen Fluß Seine deutsch aus. In der
Weihnachtszeit deklamierte ein anderer:
Uns ward ein Kindlein heut beschert (st. gebom)
Von einer Jungfrau auserkom.
Wer mitten in einem Unterrichtsfach von seinen Schülern eine Leistung ans
einem andern, wesentlich verschiedenen Lehrfach fordert, stößt auf Schwierig¬
keiten und mancherlei Fehler, weil die Schüler gerade auf das laufende Fach
eingestellt sind. Ein Obertertianer (14 J.) sollte in einer französischen Stunde
den kurzen Gedanken: Ich komme von Berlin auf englisch ausdrücken. Er
antwortete: I come de Berlin und sprach dabei Berlin französisch aus. Auch
Erwachsene haben bisweilen unter dem verwirrenden Einfluß der Einstellung
zu leiden. Ich habe, wenn ich während eines längeren Aufenthaltes in
Frankreich englisch sprechen sollte, große Mühe gehabt, die entsprechenden
englischen Ausdrücke zu finden, und meine Rede öfter durch französische
Eindringlinge müssen stören lassen; und ich verfiel später in ähnliche Fehler,
wenn ich auf englischem Boden mit Franzosen in ihrer Landessprache reden
mußte.
Wie schwer es ist, sich von einer einmal wirksamen Einstellung loszu¬
machen, zeigt auch das beliebte Kinderspiel: Alle Vögel fliegen hoch. Be¬
kanntlich werden bei diesem Gesellschaftsspiel eine Reihe von Vögeln genannt
mit der Bestimmung, daß alle Beteiligten beim Rufe (Alle Adler fl. h.; alle
Lerchen fl. h.) die Arme heben. Der Leiter des Spiels schiebt nun öfter die
Namen von Tieren oder Gegenständen ein, die nicht fliegen können, und
erreicht dadurch fast immer, daß einer oder mehrere der Teilnehmer auch
bei diesem Rufe mechanisch die Arme heben, wofür sie ein Pfand geben
müssen. Wir haben hier ein treffendes Beispiel der Wirkung motorischer
Einstellung im Sinne Müllers und Schumanns.
Eine Scherzfrage, die ihre Wirkung allein dem Mittel der seelischen Ein¬
stellung verdankt, ist folgende:
Womit frißt der Vogel? — Antw. Mit dem Schnabel. *
Wodurch entstand die Sprachenverwirrung? — Durch
den Turmbau zu Babel.
Wer erschlug den Kain? — Abel!
So lautet wenigstens sehr häufig die falsche Antwort, die nur dadurch erreicht
wird, daß die voraufgeganfeenen Antworten den Gefragten aufs Reimen ein¬
stellen. Die Einstellung wurde in diesem Falle durch gleichgerichtete Vor¬
stellungen, also durch Konstellation geschaffen:
Auch Mißverständnisse, die durch falsche Einstellung bedingt sind, kommen
vor. Ein Witzblatt brachte ,1920 folgendes zweifellos erfundene Gespräch,
das aber gut zur Veranschaulichung hierher paßt: „Wissen Sie, Herr Scbieberich,
Ihr Söhnchen hat direkt Talent zum Clown!“ — „„Erlauben Sie mal, stehlen
hat mein Sohn nicht nötig!““ Der Schieber ist gewohnheitsmäßig auf Ge¬
danken eingestellt, die das Mißverständnis (klauen st. Clown) natürlich er¬
scheinen lassen. Was dieses Beispiel besonders wertvoll macht, ist, daß es
die Bedeutung der gewohnheitsmäßigen Einstellung erkennen läßt. Der Beruf,
die tägliche Beschäftigung, die angenommenen Lebensgewohnheiten, die Um¬
welt, in der wir zu leben pflegen, endlich die ganze Eigenart eines Menschen
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Wesen und Arten der Fehler
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erzeugen in jedermann vorherrschende Oedankenrichtungen (Vorstellungs-
komplexe), die in stärkerer seelischer Bereitschaft stehen als andere und auf
die man daher gleichsam gewohnheitsmäßig eingestellt ist Man könnte in
diesen Fällen von individueller Einstellung reden. 1 )
Die Einstellung macht falsche Behauptungen begreiflich, die ihren Urheber
ungerechterweise als unwissend erscheinen lassen. Ein Untertertianer (13 J.)
z. B., der da behauptete: Der erste König, dei die Welt mit seinem Ruhm
erfüllte, mar Alarich, König der Westgoten , war zur Zeit dieser Leistung so
auf deutsche Geschichte eingestellt, daß jede Erinnerung an frühere berühmtere
Könige anderer Völker für den Augenblick ausgeschaltet war. In ähnlicher
seelischer Verfassung befand sich ein Unterprimaner (17 J.), der bei der
Schilderung der Mission unter den Germanen Bonifatius als den ersten Heiden¬
apostel bezeichnete. Wäre er nicht völlig auf die Schilderung der germani¬
schen Mission eingestellt gewesen, so hätte er wohl beschränkende Zusätze
gefunden, die seine Behauptung rechtfertigten.
Häufig lassen sich Einstellungsfehler und zwar solche auf konstellativer
Grundlage in Gedicht-Aufsätzen feststellen. Ich verstehe darunter Aufsätze,
deren Thema einem Gedicht entnommen ist Da die Dichtung vorher gelesen,
besprochen und öfter gar auswendig gelernt worden ist, drängen sich gar
zu leicht die Worte und Wendungen ihres Schöpfers in die Darstellung der
Schüler ein, besonders wenn diese noch mit dem Ausdruck ringen. Dadurch
entsteht oft eine unnatürliche, bisweilen auch falsche und widersinnige Aus¬
drucksweise. Ich habe in SchulaufSätzen über das Thema: »Wie wurden
die Mörder des Ibykus entdeckt?“ folgende Stilproben dieser Art gefunden:
Ibghus wanderte, voll von Apollo, aus Regium (Dichter: Aus Regium, des
Gottes voll); von weitem sieht er schon die Burg, die ihm fröhlich zuwinkt
(Schon winkt auf hohem Bergesrücken Akrokorinth des Wandrers Blicken);
er nahm sie zu einem guten Zeichen (Zum guten Zeichen nehm’ ich euch);
da versperrten ihm plötzlich zwei Mörder den Weg (11 von 18 Schülern
schrieben Mörder statt Räuber in Anlehnung an das Gedicht); die Kunde
vom Tode des Sängers verbreitete sich in ganz Griechenland st. ganz Korinth
(Ganz Griechenland ergreift der Schmerz); das Theater ist so stark besucht,
daß fast die Bühne (st. Tribüne) zusammenbricht (es brechen fast der Bühne
Stützen); die Erinngen sangen eine fürchterliche Melodie (des Chores grauser
Melodie); sie sangen eine schauerliche Weise (und schauerlich, gedreht im
Kreise, beginnen sie des Hymnus Weise). Mit solchen Stilproben sollte eigent¬
lich den Gedichtaufsätzen das Todesurteil gesprochen sein. Sie wirken geradezu
stilverderbend.
Den perseverativen Charakter der Einstellung verraten auch deutlich die
nachstehenden Erlebnisse im grammatischen Unterricht: Ein Lehrer fragte in
der Lateinstunde Verbalformen ab und wählte dabei laudare loben als Übungs¬
beispiel. Dann fragte er unvermittelt: Ich werde geliebt? und erhielt als
Antwort: laudor st. amor. — Im Französischen wurde das Hilfsverb ötre
durchgenommen (Sexta). Es fielen die Formen: du bist: tu es, er ist: il est,
sie sind: ils sont, dann plötzlich: wir waren nicht: nous ne sommes pas
st nous n'ätions pas. Ähnlich die Reihenfolge: il vient, ils viennent, il viendra,
il est vient (st. venu); je vais, tu vas, il va, nous vallons (st. allons); nous
') VgL dazu auch Mettmann, Vorlesungen ü\ S. 74ff.
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282
Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
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faisons, vous faisez, ils falsont (st. vom faites, ils font). 1 ) — Im Anschluß
an eine Erzählung: »Wie der Zorn des Achilles entstand", schrieb ein Schüler
als ersten griechischen Tragiker Achillm st. Äschylus an die Tafel. — One
Kochschülerin las ihren Freundinnen nach dem Kochunterricht aus einem
Roman vor: von wunderbarem Schmalz st. Schmelz. Sie fügte lachend hinzu:
»Das kommt davon, daß ich heute zum erstenmal Schmalz ausgelassen habe".
Die Beharrungskraft der Einstellung ist bei den Menschen verschieden;
manche gehen leicht von einer Einstellung zur andern über: das sind die
schmiegsamen, gewandten, geistesgegenwärtigen, während andere sich nur
langsam und mit Mühe auf Neues einstellen: sie haben unter dieser Schwer¬
fälligkeit in der Schule wie im Leben sehr zu leiden.
Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse.
Von William Stern.
Vorbemerkung. Die soeben erscheinende dritte Auflage der „Psychologie der frühen Kind¬
heit 4 * hat eine weitgehende Umarbeitung und Ergänzung erfahren. 1 ) Aua den neu geschriebenen
Teilen stellen wir im folgenden eine Reihe von Ausschnitten zusammen, in denen zur Psycho¬
analyse Stellung genommen wird. Die ersten Kinderjahre spielen in der Theorie der Psycho¬
analytiker eine besondere Rolle, deren positive und negative Bedeutung von seiten der fach¬
lichen Kinderpsychologie bisher nicht hinreichend beachtet worden ist
Im Rahmen meines Buches konnten nur einige Hauptgesichtspunkte in knapper Form heraus¬
gearbeitet werden; für die folgende Zusammenstellung mußte nochmals eine Auswahl ans den
durch das Buch verstreuten Bezugnahmen auf psychoanalytische Gedankengänge getroffen werden.
Jedem Abschnitt sind die Seitenzahlen des Buches beigefügt.
1. Einleitendes. (S. 9—11.)
Die Psychoanalyse ist bestrebt, in Tiefen der Trieb- und Wunschsphäre
hineinzuleuchten, die unterhalb der Bewußtheit liegen und sich gewisser
äußerer Verhaltungsweisen und Bewußtseinserscheinungen als ihrer sym¬
bolischen Kundgebung bedienen. Dieser Grundgedanke • erhält eine tiefe
Wahrheit 3 ); aber seine Durchführung wird dadurch stark beeinträchtigt, daß
jenes imbewußte Kernstück der Seele überall — auch schon beim Klein-
kinde — als Sexualität aufgefaßt wird; eine fessellose Deuterei weiß dann
schließlich aus jeglicher, noch so harmloser kindlicher Betätigung und
Äußerung diese „eigentliche“ — wenn auch unbewußte — sexuelle Note
herauszupräparieren.
Das Interesse des Psychoanalytikers an der Kindesseele ist kein primäres.
Bestimmend war ursprünglich der Wunsch, das Seelenleben des Erwachsenen
s ) ln diesen 3 Fällen könnte man auch von der Nachwirkung von Vorstellungsteilen reden,
wie sie S. 269 geschildert ist
2 ) Die Neubearbeitung und Erweiterung erstreckt sich vornehmlich auf folgende Gebiete:
1. Allgemeine Theorie des kindlichen Seelenlebens: hier konnten die Auffassungen der Denk¬
psychologie (Bühler) und der Gestaltspsychologie (Koffka) in engere Beziehung gesetzt werden
zum Personalismus, der noch entschiedener als früher zur Grundlage meiner eigenen Stellung¬
nahmen gemacht wurde; 2. experimentelle Untersuchungen an Kleinkindern zu Forschung*-
und Prüfungszwecken (Intelligenz, Zahlleistung, musikalische Erfindung, AbstraktionsflUiigkeit
U8W.); 3. Psychoanalyse, 4. Montessori-Methode.
3 ) Von einem ganz anderen Ausgangspunkt her ist auch der Personalismus zu einer ver¬
wandten Anschauung gekommen. Vgl.: Die menschliche Persönlichkeit, S. 251 ff.
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William Stern, Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse
283
za verstehen; für dieses aber sind nach psychoanalytischer Theorie die Nach¬
wirkungen infantiler Erlebnisse in hohem Maße entscheidend. Um diesen
Ursprüngen nachzuspüren, mußte sich die Psychoanalyse schließlich dem
kleinen Kinde selbst zuwenden, und hier war sie naturgemäß darauf ein¬
gestellt, in den primitiven Erscheinungen überall bereits Vordeutungen und
Vorbereitungsstadien von reiferen Seelenformationen (insbesondere von ero¬
tischen und sexuellen Triebrichtungen) zu erblicken. Hierbei sind zweifellos
wichtige, früher unbeachtet gebliebene Züge der Kindespsyche entdeckt, es
sind vor allem manche psychopathische und neurotische Erscheinungen bei
Kindern und Erwachsenen verständlicher geworden. Aber dem Kenner und
unbefangenen Beobachter der gesunden Kindesseele drängen sich doch immer
wieder die zahlreichen Fehldeutungen, Übertreibungen und imzulässigen
Verallgemeinerungen der Kindes-Psychoanalyse auf. Die alte Untugend der
Kindesforschung, im Kinde durchaus den Erwachsenen im Kleinen sehen zu
wollen, tritt uns hier in einer neuen Form entgegen; und diese Irrung ist
um so bedenklicher, je jüngere Stufen der Kindheit der psychoanalytischen
Deutung unterworfen werden. Gerade für die frühe Kindheit sind auch die
pädagogischen und therapeutischen Folgerungen besonders gefährlich, da sie
zu einer nicht wieder gutzumachenden vorzeitigen „Entharmlosung“ des
Kindes führen können. Dies muß besonders betont werden, weil jetzt im
Inland und vielleicht noch mehr im Ausland die Kindes-Psychoanalyse von
manchem begeisterten Freud-Jünger als allgemeine Grundlage erziehlicher
Reformmaßnahmen empfohlen wird.
Die grundsätzliche Darstellung seiner Auffassung von der infantilen Sexualität bat Freud
bereits 1904 gegeben; 1909 ließ er die individuelle Analyse eines 5]8brigen, an Angstneurose
erkrankten Kindes folgen. Jung handelte von den Konflikten der kindlichen Seele. Hog-Hell-
muth versuchte, eine Gesamtdarstellung der Frtthkindpsychologie in pansexualistischem Sinne
zu geben. Pfister, Stekel und andere haben in größeren Werken besondere Kapitel dem
Seelen- und Sexualleben der Frühkindheit gewidmet. — Am bedeutsamsten und fruchtbarsten
für die Kindespsychologie sind vielleicht die Bestrebungen der zu Freud in einem gewissen
Gegensatz stehenden Schule Alfred Adlers; diese „Individoalpsychologie“ will mit ihren Deutungs-
methoden nicht einseitig sexuelle, sondern allgemein-charakterologische Leitlinien in der Kindes¬
seele aufdecken'). ■
2. Organgefühle des Säuglings. (S.-94—96.)
Durch die Psychoanalyse Bind wir auf die große Rolle aufmerksam gewor¬
den, welche gewisse Reizungsgefühle der Organlust im Säuglingsleben
spielen. Es handelt sich zum Teil um allgemeine Lustzustände, die durch
passive Bewegungen des Gesamtkörpers (Gefahren-, Geschaukelt-, Gewiegt¬
werden) hervorgerufen werden; es ist bekannt, wie schnell Unruhe und
Geschrei des Kindes durch jene Einwirkungen in behagliche Ruhe verwandelt
werden kann. Zum andern Teil sind es Gefühle bestimmter Körperzonen,
deren Lustbetontheit den Säugling anregt, durch Eigenbewegungen die Reizung
immer wieder neu zu erzeugen und möglichst lange fortzusetzen. Als solche
Zonen kommen in erster Linie die Schleimhäute von Lippe und Zunge,
ferner auch die Genitalien und der Anus in Betracht
Die Reizung der Mundzone erfolgt durch das Lutschen (auch „Ludeln“,
»Nuppeln“ genannt). Die Saugtätigkeit, ursprünglich der Befriedigung der
*) Bezüglich der psychoanalytischen Literator über die Frühkindpsychologie muß auf die
meinem Boche angefringte Bibliographie verwiesen werden.
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284
William Stern
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Nahrungsaufnahme dienend, wird darüber hinaus zum Selbstzwecke für das
Kind — mag nun ein eigener Körperteil (Finger, Zehe) oder ein fremder
Gegenstand (Lutschpropfen, „Schnuller“) den Reiz ausüben. Dies Lutschen
kann zuweilen mit wahrer Inbrunst ausgeführt werden; es gibt auch Kinder,
bei denen es zu einer schwer zu beseitigenden Leidenschaft entartet und
weit über die Säuglingszeit hinaus anhält
Was die Genital- und Anal-Zone angeht, so wird beobachtet, daß Säuglinge
öfters Berührung jener Körperteile mit der eigenen Hand suchen, daß ferner
das sanfte Streicheln jener Organe durch andere Menschen angenehme
Gefühle zu erwecken scheint Sollen doch manche Mütter und Wärterinnen
dieses zweischneidige Mittel zur bequemen Beruhigung ungebärdiger Kinder
benutzen.
Die Psychoanalytiker (Freud, Stekel, Hug-Hellmuth u. a.) sehen nun in
diesen Erscheinungen der Organlust und den damit verbundenen Betätigungen
des Kindes einen Beweis für die Existenz einer „Säuglings-Sexualität*.
Sie sprechen von „Wonne-Saugen*, von „Säuglings-Onanie* usw. Das Recht
zu diesen Deutungen glauben sie den folgenden zwei Momenten entnehmen
zu können. Einmal dem Bild, das der seiner Lutschtätigkeit hingegebene
Säugling bietet: der Ausdruck vollkommener Befriedigung läßt, so meinen
sie, auf Lustgefühle schließen, die nach Art und Stärke der sexuellen Wol¬
lust vergleichbar sind. Sodann aber finden sich im ausgebildeten erotischen
und Sexualleben Züge, welche eine unverkennbare Ähnlichkeit mit jenen
früh-infantilen Tätigkeiten aufweisen. Wenn es bei Erwachsenen ein — nun
zweifellos sexuell betontes — Wonnesaugen und andere kindhafte Akte gibt,
wenn ferner bei gewissen Formen sexueller Abirrungen die eine oder andere
infantile Tätigkeit geradezu ins Zentrum der Liebeserlebnisse rücken kann —
dann sind wir nach Freud berechtigt, ja genötigt, die entsprechenden Er¬
scheinungen im Säugling selbst auch bereits als erste Andeutungen von
Erotik und Sexualität anzusprechen. Wir dürfen eben den Begriff der
„Erotik* nicht lediglich auf die Beziehungen zu anderen Menschen, den der
„Sexualität* nicht lediglich auf bestimmte Funktionen der eigentlichen Sexual¬
organe beschränken. Die primitive Säuglingserotik ist „Auto-Erotismus*,
d. h. lediglich auf die eigene Person bezogen; und sie hat ihre besonderen
„erogenen* (lusterzeugenden) Zonen, unter denen die Genitalzone zunächst
noch weit hinter der Mundzone an Bedeutung zurücksteht.
Zur Beurteilung dieser Deutungen sei hier nur kurz auf einen rein
theoretischen Gesichtspunkt hingewiesen. Die psychoanalytische Theorie
steht ganz auf dem Standpunkt der Elementenpsychologie, indem sie argu¬
mentiert: Der Erscheinungskomplex, der schon stets „Sexualität* genannt
wurde, enthält Bestandteile, wie sie ähnlich auch im Säuglingsalter Vor¬
kommen; folglich gehören auch jene Säuglingsfunktionen in die gleiche
Kategorie. Wenden wir nun aber die Gesichtspunkte der Gestaltspsycho¬
logie an, dann stellt sich das Phänomen der „Sexualität* trotz aller ein¬
geschlossenen Fülle und Mannigfaltigkeit als eine gestaltete Einheit dar,
innerhalb deren die einzelnen Bestandteile erst vom Ganzen her ihre
Sexualbetonung erhalten. Wenn eine solche Gesamtgestalt psychischen Er¬
lebens neu entsteht, können sehr wohl Elemente, die aus der Kindheit
stammen, in sie eingehen, ja in ihr eine besonders betonte Rolle spielen;
und sie sind trotzdem nicht dieselben, wie sie in der Kindheit waren. Die
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an das Saugen geknüpfte Lust ist eben psychisch etwas anderes, wo sie
(beim Säugling) als selbständige sensomotorische Gestalt rein für sich da-
ateht — als dort, wo sie (etwa beim Liebeskuß des Erwachsenen) mit hinein¬
gehört in das Gesamterlebnis der erotischen Erregung oder auch durch Über¬
tragung geladen ist mit den Gefflhlsmomenten anderer erotischer Teilgebiete.
Übereinstimmungen in Elementen geben uns eben niemals das
Recht, eine Identität der Erlebnisganzheiten anzunehmen. Des¬
halb kann man die tatsächlichen Aufstellungen der Psychoanalyse Aber die
Organlust der Säuglinge großenteils anerkennen, ohne ihren sexualistischen
Deutungen Recht geben zu müssen.
8. Die Symbolik der kindlichen Phantasie. (S. 221—225.)
Die Beziehung von Sein und Schein in der Kindesphantasie rQckt in eine
neue Beleuchtung, wenn man der Phantasievorstellung einen symbolischen
Sinn zuschreibt. Dann ist der phantastische Schein weder von der Realität
völlig losgelöst, noch mit tyir identisch, sondern er ist das Sinnbild einer
andersartigen Wirklichkeit.
Eine solche Symboltheorie wird von der Psychoanalyse entwickelt. Nach
dieser Auffassung wird eine Phantasievorstellung nicht um ihrer selbst willen
erlebt und genossen; sie stellt vielmehr eine Deckform dar, in der sich ge¬
heime Wunschregungen bekunden und einen Ausweg suchen. Das Kind
lebt — so wird vorausgesetzt — in seinen Phantasien immer und überall
sich selbst und nichts anderes, selbst wenn seine Phantasiegestaltungen
ihrem unmittelbaren Inhalt nach ganz ichfremd zu sein scheinen. Und zwar
kommen gerade solche Seiten seines Ich in phantastischen Vermummungen
zur Darstellung, denen die geradlinige Äußerung versperrt ist — sei es, weil
sie dem Kind überhaupt noch gar nicht bewußt geworden sind, sei es, daß
sie sich in ihrer wahren Gestalt nicht zeigen dürfen und darum ins Unter¬
bewußte abgedrängt wurden.
Wir müssen an dieser Symboltheorie den Grundgedanken und seine An¬
wendung scharf scheiden. Der Grundgedanke ist sicherlich berechtigt;
und er wird gerade dann anerkannt werden müssen, wenn man das Seelen¬
leben personalistisch auffaßt. Für den Personalismus gibt es in der Ein¬
heitlichkeit der Person keine scharfe Trennung des Phantasielebens und des
Trieblebens; alle einzelnen psychischen Gebiete gewinnen ihren Sinn und
ihre Bedeutung erst dadurch, daß wir sie als Ausstrahlungen von personalen
Wesenszügen verstehen; und so haben wir auch ein Recht, nach der
personalen Bedeutung der Phantasievorstellungen zu fragen.
Hierbei zeigt es sich oft genug, daß der unmittelbare Bewußtseinsinhalt
nicht einfach in seiner Gegebenheit hingenommen werden darf, sondern
gedeutet werden muß; und diese Deutung kann auf sehr untergründige
Triebkräfte führen, die — dem Kinde selbst unbekannt — dennoch in ihm
starke Wirkungen entfalten. Um auf relativ einfache Beispiele zu verweisen,
so ist es sicher, daß in vielen Spielphantasien Macht- oder Kampf- oder
Grausamkeits- oder Pflege-Instinkte zu einer verhüllten, dem Kinde selbst
nicht bewußten Auswirkung kommen; wir werden späterhin bei der Theorie
des Spiels hierauf einzugehen haben.
Gilt es nun aber, diese Symboltheorie zur konkreten Anwendung zu
bringen, so droht sofort die Gefahr, in ein Gebiet zu geraten, in dem über
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„richtig“ oder „falsch“ überhaupt kein eindeutiges Urteil mehr gefällt werden
kann. Denn symbolisch erdeuten läßt sich alles aus allem; und
von dieser Möglichkeit wird in der Psychoanalyse ein ungemessener Gebrauch
gemacht Es erscheint noch einleuchtend, wenn Alfred Adler auf die Sym¬
bolik des „Oben — Unten* und verwandter Vorstellungen hinweist: die
Vorliebe der Kinder für die Vorstellung des Obenseins, des räumlich Großen
und Hohen, der großen Ziffern, der übernatürlichen Kräfte usw., ist ein
unbewußter Versuch, das eigene Schwäche- und Minderwertigkeitsgefühl
durch eine Art illusionärer Selbststeigerung zu übeikompensieren. Aber bei
solchen, einigermaßen durchsichtigen Zusammenhängen bleibt die Psycho¬
analyse nicht stehen. Die Freud-Schule geht weit darüber hinaus; sie glaubt
einerseits, daß die in der kindlichen Phantasie symbolisch sich äußernden
Affekte ganz überwiegend erotischer Natur seien; und sie entwickelt andrer¬
seits eine Deutekunst, die schließlich aus jedweder Phantasievorstellung
irgendein Symbol für jene verdrängten erotischen Triebe und Wünsche macht
Eine große Rolle spielt in den psychoanalytischen Deutungen der Eifer¬
süchte- und Tötungswunsch - Komplex. Das männliche Kind hat eine
unbewußte sexuelle Neigung zur Mutter 1 ), sieht in jedem anderen Familien¬
mitglied einen Nebenbuhler, der mit Eifersucht verfolgt wird, dessen Besei¬
tigung gewünscht wird — alles dies natürlich tief unter der Schwelle des
Bewußtseins. Diese Eifersucht wendet sich vor allem gegen den Vater 2 )
und gegen jüngere Geschwister. Wenn nun ahnungslose kleine Kinder in
irgendwelchen Phantasieäußerungen das Wort „Tod* oder verwandte gebrau¬
chen, so wird die Wirkung jenes Triebkomplexes angenommen, wofür zwei
Beispiele von Hug-Hellmuth angeführt seien:
„Wenn der kleine Scupin spontan sagt „ich wer aber mein* Papa in ein Topf stecken und
immer heißes Wasser mit der Kelle übers Gesicht gießen, bis er schön weich wird, und dann
Wer’ ich’n Papi aulessen“, — so sind solche Phantasien nicht allein auf das Märchen „Hänsel
und Gretel“ mit der Knusperhexe zurückzuführen, sondern in ihnen kommt die unbewußte Ab¬
sicht, sich gelegentlich des Papas, des gefährlichsten Rivalen bei der Mama, zu entledigen, zum
Ausdruck, und das Märchen liefert bloß das Mäntelchen, um den bösen Wunsch in harmlose
Form zu kleiden.“ *)
Aus einem langen Phantasiegespräch unserer Tochter (2;10) 4 ), bei dem sie der Puppe unter
anderem ein Bild mit verschiedenen Personen und einem Kind in der Wiege zeigt und erklärt,
wird folgender Satz herausgegriffen: „Tante und Onkel und ein Günther und ist tot“
Hug Hellmuth meint nun, daß bei dieser Erwähnung des halbjährigen Bruders „die Freudsche
Auffassung eines unbewußten Todeswunsches zu Recht gelten dürfte“. Wenn man aber nun
weiß, daß um Jene Zeit bei unserer Tochter die Bezeichnung Günther die Generalbenennung für alle
kleinen Kinder war und das Wort „totsein“ ganz allgemein für liegen gebraucht wurd£, und
wenn man im übrigen das Verhalten des Kindes zu seinem Brüderchen aus Jener Zeit kennt,
dann fällt Jeglicher Grund zu Jener Deutung fort
In diesen Proben werden die Angehörigen vom Kinde immerhin noch
direkt genannt. Aber die Psychoanalytiker sind überzeugt, daß die gleichen
Triebregungen auch in scheinbar ganz femliegenden Phantasievorstellungen
abreagiert werden.
So schildert Pfeifer 9 ) das von einem Knaben oft wiederholte Spiel „Schweinestechen“ (Alter
4—6 Jahre): Alte Holzstücke werden mit einer Sattlerahle (der Vater war Sattler) durchstochen;
*) Sogenannter „Inzest-Komplex“. *) „Ödipus-Komplex“. Der griechische Sagenheld
Ödipus hat bekanntlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet.
9 ) Hug Hellmuth, Aus dem Seelenleben des Kindes, S. 77 (nach Scupin U S. 61).
4 ) Hng Hellmuth, S. 95 (nach Stern, Kindersprache S. 62). B ) Pfeifer, Äußerungen
infantil-erotischer Triebe im Spiele. Imago, Ztschr. f. Anwendung der Psychoanal. 5 1917, S.243!.
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er kniete selbst darauf and quietschte wie ein Schwein, das eben abgestochen wird« Da die
Mutter diesen Knaben verzärtelte, der Vater aber streng war, so glaubt Pfeifer sich zu der
Annahme berechtigt, daß die Schweinetötung nur der unbewußte symbolische Ausdruck für
den RachewunBch gegen den Vater sei«
Und immer fesselloser werden die Deutungen der Psychoanalyse. Dem
Kinde wird ein ungemein starkes Interesse ffir den Sexualakt und alles,
was mit ihm zusammenhängt, insbesondere auch für die Sexualorgane,
zugeschrieben — ein Interesse, das seinen Ursprung in Beobachtungen am
eigenen Körper und an dem seiner Angehörigen und Spielgenossen, ferner
auch in dem Belauschen gewisser (ihm natürlich nicht ganz verständlich
werdenden) Szenen im elterlichen Schlafzimmer, endlich in den Erlebnissen
bei Geburt eines jüngeren Geschwisterchens haben soll. Dies Sexualinteresse,
vom Kind ganz ins Innere verschlossen, kommt nun, nach psychoanalytischer
Auffassung, in hunderterlei phantastischen Vermummungen zum Ausdruck.
Alle länglichen Gegenstände, die im Spiel benutzt, beim Fabulieren genannt,
im Traum geschaut werden, sollen Symbole für das männliche, alle Kreise,
Löcher, Öffnungen, in welche etwas hineingesteckt werden kann, solche für
das weibliche Geschlechtsorgan sein. In jeder schlagenden Tätigkeit (z. B.
im Peitschenknallen), im Plumpsackspiel, wird eine symbolische Auswirkung
sadistischer Regungen gesehen; in allem Werfen und Fallenlassen eine Sym-
boüsierung des Geburtsaktes usw. '
Im Anschluß an Freud entwickelt Pfeifer die folgende Deutung: Ein 5j9hriger Knabe flbt
an einer Oammipnppe ein unermüdlich wiederholtes Spiel: „Er steckt ein Taschenmesser der
Mutter durcl ein Quietschloch in den Bauch der Puppe, reißt dann ihre Füße auseinander und
Ußt so das Messer wieder fallen.“ Dies Spiel hat den unbewußten Inhalt, daß die Puppe die
Matter darstellt und „daß die ganze Handlung nichts anderes ist, als die ersehnte, phantasierte
und in diesem symbolischen Ersatz vollführte Vereinigung mit der Mutter, also der Inzest, mit
der darauf folgenden Geburt.“' Die Handlung ist freilich doch noch etwas anderes; denn das
„Fallenlassen“ symbolisiert zugleich auch gewisse Ausscheidungen, für welche das Kind ein
unbewußtes „anal-erotisches“ Interesse hat
Dies eine Beispiel vermag auch nicht annähernd ein Bild zu geben für
die zuweilen geradezu ideenflüchtig anmutenden Häufungen verschiedenster
Deutereien. Hier gibt es keine Grenze, keinen Halt mehr, und der eigent¬
liche Gegenstand dieser Betrachtungen ist dann gar nicht mehr das Kind,
sondern die ungezügelte Assoziationskette, die sich im Deuter auf Grund
seiner eigenen sexual-psychischen Konstitution einstellt. Wenn schließlich
Pfeifer das Spiel: „Fuchs im Loch“ (Plumpsackspiel) psychoanalysiert, so
treibt er überhaupt nicht mehr Psychologie irgendwelcher wirklichen Kinder,
sondern er leitet deduktiv aus den symbolischen Bedeutungen des Fuchses,
seines Hinkens, des Loches, des Plumpsacks usw., die beim spielenden Kind
vorauszusetzenden, verdrängten Sexualregungen ab. Hierbei stützt er
sich auf zahlreiche Analogien aus Mythos, Kulthandlung und Volksgebrauch
und übersieht den grundlegenden Unterschied solcher Betätigungen vom
Kinderspiel. Denn jene sind Erzeugnisse von erwachsenen Menschen, in
deren Persönlichkeitsleben die Sexualität eine anerkannt große Rolle spielt;
deshalb besteht hier ein objektives Recht zur Prüfung, wie weit die Phan¬
tasiegestaltungen als symbolische Äußerungen jener Regungen gedeutet
werden können oder müssen. Beim Kind dagegen sind lediglich gewisse
äußere Ähnlichkeiten jener Phantasiegebilde vorhanden; und von diesen
aus wird überhaupt erst die Existenz und Beschaffenheit der — im übrigen
sehr problematischen — Triebregungen erschlossen. Man könnte viel eher
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den umgekehrten Schlufi ziehen: selbst bei solchen Spielen, die aus ursprüng¬
lichen VolksbrSuchen der Erwachsenen allmählich in die Sphäre der Kinder
herabgesunken sind, werden die Kinder die äußeren Formen Ueibehalten, sie
aber mit einem ganz andern Sinn erfüllen (oder sie auch einfach in ihrer
unmittelbaren Gestalt genießen), weil eben ihr Triebleben ganz anders ist
als das der Erwachsenen.
Die überaus schwierige Aufgabe der richtigen Deutung kindlicher Phan¬
tasieerzeugnisse wird also nur dann gelöst werden können, wenn sie stets
vom Kinde selbst ausgeht und nur solche Triebe und Affektgrundlagen an¬
nimmt, die auch mit andern methodischen Hilfsmitteln als denen der sym¬
bolischen Deutung festgestellt werden können.
4. Die Verdrängung. (S. 381—387.)
Es wird stets eines der bedeutendsten Verdienste der Psychoanalyse, ins¬
besondere Freuds bleiben, den Tatbestand der „Verdrängung“ festgestellt und
ihre Bedeutung gewürdigt zu haben; aber die besondere Art, in welcher der
Verdrängungsbegriff nun gerade auf die frühe Kindheit angewandt
wird, ist wissenschaftlich unhaltbar.
Nach psychoanalytischer Theorie spielt sich schon im Kleinkind unterhalb
einer trügerischen Bewußtseinsoberfläche und abseits von den Äußerungen
unbefangenen Augenblickserlebens ein vielseitiger und dauerhafter Mecha¬
nismus verdrängter Strebungen ab — derart, daß alle Unmittelbarkeit
kindlichen Tuns und Bewußtseins an Bedeutung weit zurücktritt hinter diesem
verborgenen Seelenbinnenleben, in welchem erst der eigentliche Mensch stecken
soll. Wir sprachen hiervon schon mehrfach an jenen Stellen, wo wir es mit
den vermeintlichen symbolischen Äußerungen verdrängter Komplexe in Spiel,
Traum- und Wachphantasie zu tun hatten. Jetzt aber steht die Existenz
der verdrängten Strebungen selbst und ihre angebliche Bedeutung für
die personale Lebensstruktur zur Erörterung.
Es wird behauptet, daß in den unbewußten Tiefen der frühkindlichen
Psyche schon die ganze Erotik und Sexualität mit allen ihren Abarten stecke
(Freud) —, daß jedes Kind bei aller Ahnungslosigkeit eine ausgesprochene
Verbrechematur mit sich herum trage (Stekel) —, daß ein Machtstreben und
eine feindselige Angriffshaltung zur Welt unter andersartigen Verhüllungen
ihr unbewußtes Wesen treibe (Adler) — usf.
Des weiteren wendet sich die Psychoanalyse den Wirkungen zu, welche
von diesen Verdrängungen ausgehen sollen. Ich möchte die Wirkungen in
die drei Gruppen der Momentan-Wirkungen, der primären Nachwirkungen
und der sekundären oder Spät-Wirkungen gliedern.
Die erste liegt dort vor, wo eine — durch äußere oder innere Anlässe
geweckte — Strebung infolge von Bewußtseinswiderständen von vornherein
im Unbewußten stecken bleibt, sich deshalb nur indirekt in symbolischen
Erlebnisformen und Handlungsweisen äußert, zugleich aber durch diese
Äußerungen abreagiert wird. Sie bildet also einen akuten, schnell er¬
ledigten Tatbestand. Hierher gehören z. B. manche Erscheinungen des Eigen¬
sinns, der Pose, der Scham, von denen später zu sprechen sein wird.
Eine primäre Nachwirkung liegt dann vor, wenn ein verdrängter Affekt
sich im Unbewußten hartnäckig festsetzt, und von einer unangreifbaren
Position aus seine störenden Ausfälle in andere Gebiete des persönlichen
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Lebens macht — auch in das Gebiet des Bewußtseins, hier jedoch unter
immer wechselnden, schwer durchschaubaren Verhüllungen. Aber diese
Bekundungen führen nicht ohne weiteres zur Erledigung; das „Abreagieren“
kann unter Umständen erst nach ziemlich langer Zeit mit Hilfe natürlicher
oder künstlicher Befreiungsmittel, bisweilen auch gar nicht gelingen. So
können neurotische Erkrankungen verschiedener Art, vor allem krankhafte
Angstzustände (Phobien) durch solche im Unbewußten festgefahrenen und
eingeklemmten Affektzustände hervorgerufen werden; aber auch viele, noch
ganz im Gebiet des Normalen liegende Verhaltungsweisen, Unarten, schlechte
Gewohnheiten, Absonderlichkeiten des Spielens und Sich-Gebärdens, unver¬
ständliche Vorlieben und Idiosynkrasien sollen ihren eigentlichen Ursprung
in diesen untergründigen Verdrängungssystemen haben.
Endlich aber kann die Verdrängung eine so vollkommene sein, daß sie
auf lange Zeit überhaupt nicht zu irgendeiner Bewußtheit oder äußeren
Bekundung gelangt. Daß man dann trotzdem nicht von einem endgültigen
Erledigtsein (Vergessensein) sprechen darf, erweist sich erst in den nach
Jahren oder Jahrzehnten einsetzenden Spätwirkungen. Es treten dann näm¬
lich in der späteren Kindheit, in der Reifezeit oder auch erst in der Er¬
wachsenheit neurotische Erscheinungen, sexuelle Abirrungen ‘) usw. auf, deren
Erklärung die Psychoanalyse auf verdrängte und inzwischen nie wieder
realisierte Affekterlebnisse der frühesten Kindheit gründet; ihre Erledigung
erfolgt dann dadurch, daß man die verhängnisvollen Kindheitskomplexe durch
Bewußtmachung endgültig zur Abfuhr bringt. Freud spricht in diesem Zu¬
sammenhang von der „infantilen Amnesie“ als einem Tatbestand von großer
positiver Wichtigkeit. Jene allgemeine Unfähigkeit des Menschen, sich an
seine ersten Lebensjahre zu erinnern, beruhe nicht etwa auf bloßem Ab¬
blassen und schließlichem Verschwinden der frühesten Erlebniswirkungen,
sondern sie sei eine Schutzvorrichtung des Menschen gegen die Gleich¬
gewichtserschütterungen, die vom Bewußtbleiben der erotisch-sexuellen Früh¬
erlebnisse ausgehen könnten. Das Kind wolle und dürfe in den späteren
Jahren nichts davon wissen, daß es schon ein solches erstes Stadium starken
Trieblebens absolviert habe, und so werde die ganze Zeit ins Unbewußte
abgedrängt
Dies sind einige Hauptzüge der psychoanalytischen Verdrängungstheorie,
soweit sie auf die frühe Kindheit Bezug hat. Die Kritik muß sich auf den
grundsätzlichen Nachweis beschränken, daß die Psychoanalyse bei diesen
Lehren großenteils den entwicklungs-psychologischen Gesichts¬
punkt vernachlässigt hat.
Sowie das Bewußtsein selbst sich erst aus .Dumpfheit und Einförmigkeit
langsam zu größerer Klarheit, innerer Vielgestaltigkeit des Inhalts und Nach¬
haltigkeit des Wirkens heraufarbeitet, so geht es auch 'mit dem Inhalt und
der Funktion der unbewußten Persönlichkeitssphäre und mit dem Verhältnis
beider Sphären zueinander. Wohl mag im Unbewußten manches schon
vorweggenommen werden, wozu das Bewußtsein noch nicht reif ist (vgl. die
früher besprochene vorwegnehmende Bedeutung der unbewußten Spiel¬
tendenzen); dennoch aber besteht eine Korrelation zwischen den Entwick¬
lungslinien beider Sphären; und es ist absurd, dem höchst unvollkommenen
') Vgl. z. B. das umfangreiche Buch Stekels Uber „Psychosexuellen Infantilismus“.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 19
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Bewußtseinszustande des kleinen Kindes eine so perfekte, inhaltsreiche und
gegliederte Unbewußtheit gegenüberzustellen, die eigentlich gar keiner Ent¬
wicklung mehr fähig wäre; denn das unbewußte Menschlein von 2 bis
3 Jahren ist ja nach dieser Meinung schon mit all jenen Trieben, Affekten,
Wünschen, Wißbegierden, Lastern (und vielleicht auch Tugenden) besetzt,
die uns auf der Höhe der Entwicklung beim reifen Menschen entgegentreten.
Daß auch für das Verhältnis von Bewußtsein und Unbewußtsein das¬
selbe gilt, wurde schon oben erwähnt: die feindselige Spannung zwischen
beiden ist erst Ergebnis, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Beides —
Bewußtes wie Unbewußtes — ist beim kleinen Kind noch ganz überwiegend
dem sensomotonschen Grund verhalten eingeordnet; im Augenblicksleben ist
meist Erleben und Erledigen zusammengedrängt. Das Innenleben muß erst
in ständigem Kontakt mit den von außen kommenden Eindrücken und den
nach außep gerichteten motorischen Entladungen eine gewisse Fülle und
Stabilisation gewonnen haben, ehe es sich zu einem selbständigen „Binnen¬
leben“ zu verselbständigen vermag. Die Verdrängungstheorie dagegen hält
es für das Alltägliche, daß sich im unbewußten Teil dieses infantilen Seelen¬
lebens Dauerzustände ausbilden, die sich hartnäckig halten, abseits von
äußeren Einflüssen und abseits von motorischen Entladungen, ja nicht nur
abseits, sondern im gegensätzlichen Verhältnis zu diesen. Eine solche rein
innerlich bleibende Nachhaltigkeit seelischer Erlebnisse ist nun in Wirklich¬
keit das Haupt-Charakteristikum der Pubertätszeit, mag auch schon in den
vorangehenden Jahren der höheren Kindheit eine gewisse Ausdehnung
gewinnen; mit dem Persönlichkeitsbilde des Kleinkindes aber ist sie am
wenigsten zu vereinbaren 1 ).
Die Verdrängung und die mit ihr verbundene Spaltung von Unbewußtheit
und Bewußtheit ist somit selbst eine Entwicklungserscheinung; sie beginnt
nicht, wie Freud meint, beim kleinen Kind mit besonderer Stärke und mit
jener verschwiegenen Hartnäckigkeit („infantile Amnesie“), die oft erst beim
Erwachsenen ihre Spätwirkung bekundet, sondern sie setzt im allgemeinen
nur mit spurenhaften und wenig nachhaltigen Anfängen ein. Mit steigendem
Alter nimmt sie immer ausgesprochenere und auch zähere Formen an. Dies
gilt zum mindesten von dem normalen Kind; und da wir unsere Betrach- 1
tungen auf dies beschränken, werden auch die späteren Einzelbeispiele nur
von solchen keimhaften und schnell abklingenden Verdrängungen berichten
können 2 ).
Das Bild, das die Psychoanalyse von den Strebungen der Kindheit ent¬
wirft, stellt sich somit dar als eine unberechtigte Rückwärtsprojektion
der komplizierten erwachsenen Persönlichkeitsstruktur in die früheren und
frühesten Lebensphasen. Und auch die eigentliche Ursprungsstelle dieser
Rückwärtsprojektiori wird erkennbar: sie besteht in den Kindheitserinne-
') Es gibt hier allerdings auch nachhaltige Wirkungen, die wir oben als „Gewöhnungen' „
besprachen; aber sie sind nur durch häufige und ständig erneute .Wiederholung der äußeren»
Einwirkung und durch ständige Verankerung im psychophysischen Tun denkbar, haben nicht
jene selbständige Innerlichkeit wie die behaupteten „Verdrängungszustände“.
*) Bei Kindern von psychopathischer Anlage oder bei akuten psychopathischen Zuständen
sonst normaler Kinder (z. B. Phobien) mag die Verdrängung schon relativ früh eine größere
Rolle spielen. Aber auch hier scheint mir der Begriff von den Psychoanalytikern in exzessiver
Weise ausgenützt zu werden — was wiederum nur durch ihre früher besprochene Symbol¬
deutung möglich wird.
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rungen der Neurotiker. Denn es muß immer wieder betont werden,
daß nicht am Kinde selbst die Psychoanalyse ihre eigentliche und entschei¬
dende kindespsychologische Überzeugung gewonnen hat, daß sie vielmehr
erst nachträglich im Kinde das suchte, was sie auf Grund ihrer Erfahrungen
am Erwachsenen dort voraussetzte. Wir müssen deshalb an dieser Stelle
noch einmal den Echtheitswert jener späten Kindheitserinnerungen
betrachten.
Das Bedürfnis und die Fähigkeit, sich in die Kindheit zurückzuversetzen,
ist nicht nur für den alternden Menschön charakteristisch, sondern für jeden
menschlichen Zustand, der irgendeine Annäherung an kindliche Verhältnisse
zeigt. Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit machen deshalb jeden Kranken
in gewisser Hinsicht zum Kinde; gleiches gilt im besonderen Sinn von jener
psychischen Erkrankung, die wir Neurose nennen. 'Gefühle der Schwäche,
der Minderwertigkeit, des Nichtalleinfertigwerdens mit den Anforderungen
der Welt und den Verantwortungen des Lebens, Anlehnungsbedürfnis, der
Wunsch sich aus der Verwickeltheit und Raffiniertheit des Daseins in Sim¬
plizität zu flüchten — und dann wieder, als Überkompensation dieser
Strebungen: Eigensinn und Trotz, das Verlangen, seine Macht zu markieren,
andere zu tyrannisieren — all dies erfüllt den Neurotiker. Solche Tendenzen
müssen ihm die Kindheit wie ein verlorenes Paradies erscheinen lassen,
von dem er sich wenigstens einen Widerschein wahren möchte. Und so
schwelgt er bald bewußt in Kindheitserinnerungen, bald spielen infantile
Einstellungen und Erlebnisreste in seinem unbewußten Gehaben eine Rolle
und sind durch psychoanalytische Methoden ins Bewußtsein zu heben. Nun
sind aber diese Reminiszenzen so tief eingebettet in das Gegenwarts¬
erleben und -verhalten der Erwachsenen, daß eine reinliche Scheidung gar
nicht möglich ist Vor allem wird die Affektbetontheit von dieser Ver¬
schmelzung betroffen. Denn in jene wiederbelebten diffusen Kindheits¬
stimmungen gehen jetzt die konkreten Affekte und Strebungsformen ein, die
der Erwachsenheit als solcher eigen sind, und werden ahnungslos mit in die
Vergangenheit projiziert. Wenn ein Neurotiker z. B. bei bestimmten sexuellen
Perversionen erinnert wird an kindliche Verhaltungsweisen (z. B. an die Lust,
den anderen zu schlagen), so schreibt er jener Kindeslust auch die jetzt bei
ihm damit verbundene Sexualkomponente zu; und wenn man diese Er¬
innerungen für bare Münze nimmt, erscheint der frühkindliche „Sadismus“
und eine über Jahrzehnte reichende Verdrängung desselben als erwiesen.
Man sieht, daß es vor allem gewisse formale Affekteigentümlichkeiten
sind, durch welche ein Erwachsener Kindheitszustände in sich erneuern kann.
Es sind jene, die Adler besonders betont und als Minderwertigkeitsgefühl
und männlichen Protest bezeichnet hat; aber selbst hier ist es sehr fraglich,
inwieweit eine wirkliche Neubelebung gelingt und ob nicht vielmehr mir ein
vager Anklang vorliegt. Je mehr nun aber die Strebungen inhaltlich de¬
terminiert sind, um so weniger ist Erinnerungstreue möglich. Aus dem
Gegenwartsaffekt der Eifersucht oder der erotischen Grausamkeit läßt sich
nicht mehr der gleiche Kindheitsaffekt her aus destillieren; sondern hier wird
in die unbestimmten Kindheitsstimmungen etwas Unkindliches hinein-
destilliert. Und durch diese Übertragung wird nun das konkrete Kindheits¬
erlebnis selbst umgeformt und auch in seinem gegenständlichen Gehalt so
verändert, daß Wahrheit und Dichtung nicht mehr zu sondern sind.
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Wir finden diese Gedanken mit scharfer Pointierung ausgesprochen in
folgendem Zitat: „Jene Szene . . . wird nicht eine Erinnerung L.’s sein,
sondern eine Phantasie, die er sich später gebildet und in seine Kindheit
versetzt hat. Die Kindheitserinnerungen des Menschen haben oft keine
andere Herkunft; sie werden überhaupt nicht, wie die bewußten Erinnerungen
aus der Zeit der Reife, vom Erlebnis fixiert und wiederholt, sondern erst in
späterer Zeit, wenn die Kindheit schon vorüber ist, hervorgeholt, dabei
verändert, verfälscht, in den Dienst späterer Tendenzen ge¬
stellt, so daß sie sich ganz* allgemein von Phantasien nicht
streng scheiden lassen.“ l )
Diese Sätze sind deshalb so bemerkenswert, weil sie von keinem anderen
als von Freud 2 ) stammen. Sie stehen aber vereinsamt und wirkungslos wie
ein Fremdkörper in der* psychoanalytischen Literatur. Wären sie folgerichtig
berücksichtigt worden, dann wäre die psychoanalytische Kindesseelenkunde
ihres hauptsächlichsten Materials verlustig gegangen.
5. Ich-Schwäche und Proteststellung. (S. 389—392.)
Die Welt der fremden Sachen und Personen wirkt auf das Kind direkt
als eine Einengung der Selbstgeltung, die sich im Bewußtsein als Störung
des Selbstgenusses, als Gefühl der Ich-Schwäche und Minderwertigkeit be¬
kundet. Das Kind stößt ja an allen Ecken und Enden auf Grenzen und
Hemmungen seiner Begehrungen; Verbote, Befehle, Zwangsmaßnahmen be¬
drängen es von außen her; Hilflosigkeit, körperliche Unfähigkeit, Verständ¬
nislosigkeit bewirken von innen her, daß es nicht kann, was es möchte,
nicht begreift, was es zu wissen verlangt, mit der Welt nicht fertig wird.
Eine der unmittelbarsten Auswirkungen dieses Schwächeerlebnisses ist die
Furchtregung und die — spezifisch kindliche — Disposition der Ängstlich¬
keit, mit der wir uns in einem späteren Kapitel beschäftigen.
Besonders bemerkenswert ist nun die individuelle Färbung dieser Ich-
Schwäche und des Minderwertigkeitsgefühls beim einzelnen Kinde; hier ver¬
danken wir der „Individualpsychologie“ Alfred Adlers und seiner Mitarbeiter
wertvolle Anregungen. Adler hat ja die Theorie entwickelt, daß gerade
die Stellen besonderer Schwäche zu Knotenpunkten für die
Persönlichkeitsgestaltung werden können. Er neigt sogar dazu,
alles von diesem Punkte aus erklären zu wollen und für jedes Individuum
eine Grundschwäche auf weisen zu wollen, die zum Leitmotiv seiner Lebens¬
linie wird. Man braucht solchen Übersteigerungen des Prinzips nicht zuzu¬
stimmen, um doch seine Bedeutsamkeit anerkennen zu können.
Diese loci minoris resistentige sind von verschiedenster Art. Da sind
körperliche Mängel, etwa ein Sprachfehler, Hinken, Inkontinenz der Blase -,
psychische, wie Schüchternheit, leichte Neigung zum Weinen, Widerwille
*) Von mir gesperrt.
*) Eine Kindheitserinnening Leonardo da Vincis. 2. Aufl. S. 22 — Freud sucht den sich
aufdrängenden negativen Folgerungen dieser Feststellung dadurch zu entgehen, daß er nun die
vermeintliche Kindheitserinnerung, die doch nur eine Phantasie des Erwachsenen über seine
Kindheit ist, dennoch als eine unbewußte symbolische Umdeutung tatsächlicher Triebrichtungen
des Säuglings ansieht. — Der Bericht Leonardos lautet: „Als ich noch in der Wiege lag, ist
ein Geier zu mir herangekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele
Male mit diesem seinem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen*.
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Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse
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gegen bestimmte Tiere, Nahrungsmittel usw. — diese drängen sich dem
Kind auf als ständige Quellen von Beeinträchtigungen und Verlegenheiten,
aJs Zwänge zu bewußter Beachtung und damit als Ansatzstellen der Ent¬
wertung des eigenen Ich.
Bei anderen Kindern kann die Distanz vom Erwachsenen, das Noch-Klein-
Sein und Noch-Dumm-Sein zu einem solchen Gärungskeim werden. Hiermit
hängt dann die, von Adler besonders betonte, Unsicherheit über den eigenen
Geschlechtscharakter zusammen; die kindliche Neugier wendet sich bald den
Unterschieden von Knaben und Mädchen, von Vater und Mutter zu; und die
Unfähigkeit, sich hierüber völlig klar zu werden, führf zu Minderwertigkeits¬
befürchtungen für die eigene Person.
Typische Beschränkungen der Selbstgeltung ergeben sich endlich aus der
»Position“ des einzelnen Kindes innerhalb der Reihe der Geschwister. Die
Konkurrenz bedroht hier nämlich die volle Durchsetzung der Selbstbejahung
in sehr verschiedener Weise. Das bisher einzige Kind empfindet das Er¬
scheinen eines jüngeren Geschwistern leicht als eine Minderung seines bisher
unbestrittenen Anrechts auf die Elternliebe; in den folgenden Jahren wird
von dem Älteren verlangt, daß es dem Jüngeren abgibt, ihm seine Spiel¬
sachen überläßt, es beaufsichtigt, seine Herrscbgelüste ihm gegenüber ein¬
dämmt usw. DaB jüngere Geschwister wiederum empfindet fortwährend, daß
es weniger kann und darf als das ältere, daß dies seine körperliche und
geistige Überlegenheit zum Tyrannisieren benutzt
Wie verhält sich nun das Kind zu diesen — bald akuten, bald chro¬
nischen — Beeinträchtigungen seiner Selbstbejahung? Es reagiert darauf,
wie jedes lebende Wesen, durch Abwehrakte: es übt Selbstbehauptung.
Ein völlig passives Sich-Preisgeben an die feindselige Macht widerspräche
dem Begriff der Person, die sich aktiv in ihrer individuellen Ganzheit zu
wahren strebt. Und so kann das noch so hilflose Kind Kraftreserven in
Bewegung setzen, um in mehr oder minder zweckmäßiger Weise dem stören¬
den Eingriff zu begegnen, ja es kann zuweilen in der Abwehr eine Willens¬
stärke und eine Zähigkeit zeigen, die in Erstaunen setzen.
Nun aber verläuft die Selbstbehauptung nicht immer so einfach, daß der
Willensaufwand den Störungsfaktor wirklich aus der Welt schafft. Es gibt
ja jene oben angedeuteten chronischen Beeinträchtigungen des Ich, die
sich nicht beseitigen lassen; wie wird das Kind mit ihnen fertig? Hier
erweist sich wieder die innere Zweckstruktur der menschlichen Persönlich¬
keit: die Schwächen selbst erhalten die Funktion von Stärken.
Wir stoßen damit auf den zweiten Teil der Adlerschen Theorie, den er
mit dem — nicht sehr zweckmäßigen — Namen der Lehre vom „männ¬
lichen Protest“ belegt hat. Die Bekundung einer Stärke ist hiernach die
versuchte Überkompensation einer Schwäche. Gerade weil sich das Kind
beeinträchtigt fühlt — und auf dem Gebiet, auf welchem es sich beein¬
trächtigt fühlt — ist es bestrebt, Kraft zu markieren und im Genuß eines
Kraftbewußtseins das Minderwertigkeitsgefühl zu übertäuben. Weil es sich
für die Defensive zu schwach fühlt, kommt es ihr durch Aggression zuvor;
für das ständige Gehorchenmüssen rächt es sich durch das Streben, zu
tyrannisieren. Das sind ganz selbstverständlich funktionierende Selbstschutz-
und Sicherungstendenzen, nicht etwa bloß geheuchelte Strebungen.
Die Mittel, zu denen das Kind greift, um sich auf diesem Wege zu behaupten,
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William Stern
sind sehr verschieden nach Art und Wert: von dem bloßem Trotz, der noch
ganz inhaltlos ist, bis zum Sich-Hineinphantasieren in machtbetonte Rollen,
von einer gelegentlichen Kraftpose bis zu der Gewohnheit, sich gerade durch
seine Schwächen, Krankheiten und Ängste zum Despoten seiner Umgebung
zu machen.
Es ist schwer, das Wirkungsgebiet dieser paradoxen Kraftbetonung richtig
abzugrenzen; denn ihre Bekundungen sehen den Äußerungen ursprüng¬
licher Willenskraft zunächst recht ähnlich. Jedenfalls aber wäre es verfehlt,
nun in jedem kindlichen Starrsinnsverhalten oder Geltungsbedürfnis nichts
als versteckte Überkompensation von Minderwertigkeitserlebnissen sehen zu
wollen; es gibt doch eben auch die Abwehrreaktion aus unmittelbarer Stärke
heraus. Im ganzen werden jene paradoxen Strebungen ihren eigentlichen
Schwächecharakter dem schärferen Blick nicht verhüllen können; es fehlt
ihnen eben die Echtheit und der Tiefgang wahrer Kraftbekundungen. Des¬
halb erscheint es auch imwahrscheinlich, daß sie in dem von Adler behaup¬
teten Maße normalerweise die Leitlinien der sich gestaltenden Persönlichkeit
bestimmen. Groß ist zweifellos die Rolle solcher Sicherungen bei Neurotikern,
und zwar bei Erwachsenen wie bei Jugendlichen, — ferner bei Menschen
mit ausgesprochenen Gebrechen. Bei gesunden Kindern kommt jene para¬
doxe Strebung .höchstens als eine Teillinie innerhalb des persönlichen Gesamt¬
bildes in Betracht.
6. Liebe und Sexualität. (S. 421—425.)
Die Liebe und Zärtlichkeit des kleinen Kindes ist keine rein geistige
Regung, sondern stark mit körperlichen Momenten verknüpft. Der Mensch
liebt eben als ganzer Mensch, als psychophysisch-neutrale Person; und gerade
für das kleine Kind ist ja Geistiges und Körperliches noch so wenig geschie¬
den, daß ihm auch sprachlich noch liebhaben und liebkosen identisch ist.
Und so ist die Liebe des Kindes von körperlichen Hinwendungsinstinkten
durchsetzt; das Kind sucht möglichste Annäherung an das geliebte Wesen;
es will auf den Arm oder auf den Schoß genommen werden, schmiegt sich
an die Brust oder lehnt sein Gesicht an das der Mutter, streichelt ihre Hände
und Wangen oder läßt sich streicheln. Damit erhält die Liebkosung eine
sinnliche Reizwirkung, die sich unter Umständen stark in den Vordergrund
drängen mag: das Kind genießt dann den körperlichen Kontakt als Organ¬
lust, deren Fortsetzung um ihrer selbst willen angestrebt wird.
Auf die Bedeutung dieses sinnlichen Moments in der frühkindlichen Liebe
haben uns die Psychoanalytiker aufmerksam gemacht; aber soll man jede
Liebe, die mit körperlichem Annäherungsbedürfnis und Lust am Berühren
und Berührtwerden verbunden ist, als „Sexualität“ bezeichnen? Es wird
durch diese Begriffserweiterung der grundlegende Unterschied der frühkind¬
lichen Liebe gegenüber der von der Pubertät an mächtig werdenden neuen
Form des Liebesgefühls verwischt.
Das scheint mir besonders deutlich hervorzutreten bei der Inzesttheorie 1 )
der Psychoanalytiker. Die kindliche Sexualität, so lehren sie, tritt früh aus
der Phase reiner Autoerotik heraus und sucht ein Liebesobjekt in einem
anderen Menschen. Als solches bietet sich naturgemäß die Mutter dar. Sie
*) Inzest — Blutschande.
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Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse
295
ist die erste „Geliebte“ des Kindes; sie gewährt ihm nicht nur Hilfe, Nahrung,
Spiele, sondern auch körperliche Lustgefühle — nicht nur durch ihre Zärt¬
lichkeiten, sondern auch durch die Körperpflege, die ja zu fortwährenden
Berührungen der „erogenen“ Zonen, der Genitalien, des Anus usw. Anlaß
gibt. Sie gewährt dem Kinde die Möglichkeit, seine sexuelle Neugier durch
Betasten ihres Körpers zu befriedigen (z. B. wenn sie es zu sich ins Bett
nimmt) und seiner Schaulust zu genügen (z. B. wenn sie vor dem Kinde
sich entkleidet, wäscht usw.). An diesen Darstellungen mag viel richtig
sein — bis auf die Eingruppierung der kindlichen „Liebeserlebnisse“ unter
den Begriff Sexualität. Aber es handelt sich hierbei nicht nur um eine
unzutreffende Bezeichnung; sie führt vielmehr zu verhängnisvollen Folgerungen.
Denn es wird nun angenommen, daß das Kind für das eigentlich Unnatür¬
liche und Unerlaubte dieser Gefühlsweisen ein Bewußtsein bekomme und
sie daher verdränge. Es richtet die „Inzest“-Schranke auf, aber wird nun
um so mehr im Unbewußten von diesen Regungen heimgesucht, die dann nur
in der Form scheinbar harmloser Symbolvorstellungen an die Oberfläche
seiner Seele gelangen.
Nach den kritischen Erörterungen, die wir früher an die psychoanalytischen
Symboldeutungen und Verdrängungstheorien geknüpft haben, können wir uns
eine spezielle Besprechung dieser Inzest-Theorie ersparen. Sie zeigt uns aber
•wieder, wie nötig es ist, an den Lehren der Psychoanalyse die sehr wert¬
vollen — früher ungebührlich vernachlässigten.— Tatsachenfeststellungen von
den daran geknüpften Deutungen zu trennen. 1 )
Ober die Gefühlsbeziehungen, die das Kleinkind mit seinen Geschwistern
und seinen Spielgefährten verbindet, ist zum Teil Verwandtes zu sagen. Auch
hier gibt es Zuneigungen von sehr verschiedener Stärke, gibt es Zärtlichkeits¬
verlangen und Zärtlichkeitsbezeugung mit mannigfachen körperlichen Be¬
rührungen. Aber einige neue Momente kommen hinzu.
Zunächst das gemeinsame Spielen. Den Kindern kann ja alles zum
Spielzeug werden, so auch der eigene Körper oder der des Mitspielers. »Wenn
Geschwister gemeinsam im Bett liegen und sich aneinanderkuschen oder nur
mit dem Hemdchen bekleidet miteinander tollen — dann ist es gar nicht
anders möglich, als daß es zu zahlreichen körperlichen Berührungen kommt
und daß die Kinder die damit verbundenen Organempfindungen kennen lernen.
Davon können auch u. a. die Genitalien und das Gesäß betroffen werden;
gerade weil den Kindern naturalia noch nicht turpia sind, fühlen sie sich
nicht veranlaßt, bei den Spielen mit ihren Körpern gerade an diesen Stellen
halt zu machen. Vielleicht wirkt es sogar noch, anreizend euf sie, daß diese
Körperzonen im allgemeinen verdeckt gehalten werden und daß die Erwachsenen
sie als etwas betrachten, wovon man nicht spricht und nach dem man nicht
fragt. Sie haben keine Ahnung, warum und weshalb hier dies „Tabu“ be¬
steht; aber der Reiz des Geheimnisvollen und Verbotenen kann wohl geeig¬
net sein, auch ohne jede sexuelle Gefühlsbetonung das Interesse an solchen
’) Daß sich erotische Regungen in die Liebe des Kindes zur Mutter drängen können, soll nicht
bestritten werden. Die eigentliche Zeit hierfür ist aber nicht die frühe Kindheit, sondern die
frühe Pubertät, vielleicht auch schon die Vorpubertät. Eine fein empfindende Mutter bemerkt
hier deutlich, daß in die Liebe und Zärtlichkeitsbezeugung des Sohnes ein fremder Ton hinein¬
kommt, der früher — insbesondere in der ersten Kindheit — völlig fehlte.
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William Stern, Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse
Spielen zu verstärken. Und so kommt es zu Erscheinungen, von denen uns
namentlich Ärzte mehrfach berichten: zur Schaulust, die den Anblick der
Geschlechtsorgane und ihrer Verrichtungen beim anderen Kinde — nament¬
lich bei dem anderen Geschlecht — sucht, zu gegenseitigem Spielen an den
Geschlechtsorganen („mutueller Onanie“), ja zur Nachahmung des Koitus.
Freilich wissen wir über die Verbreitung dieser Verirrungen in der frühen
Kindheit nichts: denn die in der psychoanalytischen Literatur zu findenden
Mitteilungen beziehen sich immer nur auf ganz vereinzelte Beobachtungen
(die sofort verallgemeinert werden) oder auf die sehr fragwürdigen Erinne¬
rungen erwachsener Neurotiker. Was den Zeitpunkt anlangt, in dem solche
Gebarungen beginnen, so mag eine neurotische Disposition zu einer ge¬
wissen Verfrühung von Instinkten führen, deren spontanes Erwachen beim
normalen gesunden Menschen sicher erst jenseits des sechsten Jahres ein¬
zutreten pflegt.
Allerdings scheinen auch gewisse äußere Einflüsse mitbeteiligt zu sein, und
hier ist der Punkt, der die pädagogische Aufmerksamkeit der Eltern und Er¬
zieher fordert. Wie gern spielen Kinder „Vater und Mutter“; groß zu sein
und es den Eltern gleichtun zu können, ist ja eine stille Sehnsucht jedes
Kindes. So erstreckt sich ihr Nachahmungstrieb auf alles, was
sie bei den Eltern wahrgenommen haben; und leider geben manche
Eltern den Kindern Gelegenheit zu Wahrnehmungen, die ihnen verborgen
bleiben sollten. Gerade die kleinen Kinder schlafen ja meist bei den Eltern;
aber sie schlafen nicht immer wirklich, wenn die Eltern es glauben, und
was im Dunkeln vor sich geht, reizt durch die Dunkelheit und die Unbe¬
greiflichkeit die Phantasie des Kindes erst recht zur Nachahmung. — Sodann
kann die eigentliche Verführung eine Rolle spielen: ältere Kinder bedienen
sich der kleineren, um in sich selbst Lustempfindungen zu erwecken, die
schon dem sexuellen Fühlen nahestehen können, und die ahnungslosen
Kleinen, die sich zu diesem Spiel hergeben, werden vorzeitig mit einer Über¬
reizung der Genitalzone bekannt gemacht.
Das Übergangserlebnis und der Vergleich.
Bemerkungen zu der Schrift „Einige allgemeine Fragen der Psychologie und
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich“, von E. R. J a e n s c h *).
Von Erich Hylla.
In Heft 1 der von ihm selbst herausgegebenen „Arbeiten zur Psychologie
und Philosophie“ behandelt E. R. Jaenscb, Marburg, eine wichtige Frage zur
Seelenkunde der Denkvorgänge, diejenige nämlich, welche seelischen Vor¬
gänge die unmittelbare Erlebnisgrundlage des Vergleiches bilden. So wert¬
voll seine Ausführungen im ganzen scheinen, so sehr fordern sie doch auch
im einzelnen zum Widerspruch heraus. Es sei darum gestattet, an dieser
Stelle etwas näher auf sie einzugehen.
Jaensch geht bei seinen Betrachtungen aus von der sogenannten „Erinne¬
rungsbildtheorie“ des Vergleichs. Werden etwa zwei Strecken nacheinander
dargeboten, um auf ihre Länge verglichen zu werden, so erzeugen wir im
1 ) Leipzig, Job. Ambr. Barth, 1920.
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Erich Hylla, Das Übergangserlebnis und der Vergleich
297
Augenblick der Darbietung der zweiten Strecke ein Erinnerungbild der ersten,
bringen es mit dem zweiten Reiz zur Deckung und sehen zu, um wieviel
die zweite Strecke das Erinnerungsbild überragt, oder wieviel sie hinter ihm
zurückbleibt Er weist darauf hin, daß diese Auffassung nach den Unter¬
suchungen von G. E. Müller, Schumann, Külpe und Whipple als
widerlegt betrachtet werden muß, hauptsächlich deswegen, weil von ihnen nach¬
gewiesen worden ist, daß 1. in der Zeit zwischen beiden Darbietungen oft kein
einigermaßen deutliches Erinnerungsbild erzeugt werden kann, während doch
die Sicherheit des Vergleichs nicht beeinträchtigt ist; 2. daß das Erinne¬
rungsbild im Augenblick der Darbietung des zweiten Reizes zu verschwinden
pflegt auch dort, wo es in der Zwischenzeit bestand; 3. daß durch seine
Festhaltung die Genauigkeit des Vergleichs nicht erhöht wird, und 4. daß
Veränderungen des Erinnerungsbildes in der Zwischenpause das Ergebnis des
Vergleichs nicht verschlechtern. Im Anschluß an einen Gedanken Bergsons
betont er, daß die Erinnerungsbildlehre einen Fehler machte, in den zu ver¬
fallen wir immer geneigt seien. Er besteht darin, daß wir uns „die Lebens¬
vorgänge nach dem Muster dessen vorstellen, was wir selbst durch unsere
bewußte Arbeit hervorbringen können, also nach dem Vorbild der Technik
im weitesten Sinne“. Weil wir beim messenden Vergleich zweier Strecken
einen Maßstab an die erste legen, ihre Länge dort anmerken und den Ma߬
stab dann mit der zweiten zur Deckung bringen, nehmen wir an, daß auch
das unmittelbare seelische Erleben, das die Grundlage eines Folgevergleichs
bildet, ein ganz dementsprechender Vorgang sein müsse.
Scheint somit die Erinnerungsbildlehre unzutreffend, so entsteht die Frage,
was an ihre Stelle gesetzt werden soll. Ansätze einer neuen Vergleichslehre
findet Jaensch wiederum bei Schumann, der auf dem 6. Kongreß für
experimentelle Psychologie betont hat, daß „in dem Augenblick, wo die zweite
Strecke dargeboten wird, Nebeneindrücke auftreten“. „Innerhalb ihrer er¬
scheint ein Mittelstück von der Länge der ersten Strecke unverändert, da¬
gegen zeigen die Überragenden Enden ein abweichendes Aussehen. Sie er¬
scheinen verdickt oder schwärzer oder drängen sich auch nur der Aufmerk¬
samkeit stärker auf.“ Weiter zeigen sich eigentümliche Bewegungseindrücke,
es ist, „als wenn von dem Mittelstück aus nach den Enden etwas huschte,
also ein Bewegungsvorgang gesehen würde“.
Jaensch glaubt nun, in den „Wachstums-“ oder „Schrumpfungsbewegungen“
die wesentliche immittelbare' Erfahrungsgrundlage des Strecken Vergleichs
sehen zu dürfen und weist zur Unterstützung dieser Ansicht darauf hin, daß
1. auch Linke, Wertheimer und Koffka solche Bewegungserscheinungen
festgestellt haben; 2. daß ähnliche Bewegungserlebnisse auftreten, wenn nach¬
einander verschieden große Figuren, verschieden stark geneigte Grade dar¬
geboten werden und daß 3. auch bei Darbietung von Farben verschiedener
Helligkeit, z. B. von verschiedenen grauen Tönen Erscheinungen beobachtet
werden, die den „Bewegungserlebnissen nahe verwandt sind“.
Er bezeichnet alle diese Erfahrungen als „Übergangserlebnisse“. Die sonst
noch auftretenden Eindrücke erscheinen ihm für den Vergleichsvorgang nicht
wesentlich.
Mit dem Hinweis auf die „Übergangserlebnisse“ glaubt er auch die Ein¬
wände entkräften zu können, die insbesondere Brunswig („Über das Ver¬
gleichen und die Reaktionserkenntnis“, Leipzig 1910) gegen die Ansätze
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Erich Hylla
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einer neuen Vergleichslehre gemacht hat. Wir geben diese Einwände und
die auf jeden von ihnen bezüglichen Ausführungen von Jaen sch -im folgenden
kurz wieder. 1. Die (von Schumann beschriebenen) Nebeneindrücke, wie
Schwärzerwerden, Huschen usw. haben unmittelbar (sagen wir besser inhalt¬
lich) keine Beziehung zur Wahrnehmung der Größe, sondern könnten sie
erst mittelbar durch Erfahrung gewinnen. - Von „Übergangserlebnissen 0
gilt das nicht. 2. Das Vergleichsurteil meint eine Beziehung, die zwischen
beiden vergleichenden Gegenständen schwebt. Sinnlich gegeben sind aber
nur diese selbst, nicht ein zwischen ihnen Schwebendes. Die Beziehung
beider kann darum nur in einem unsinnlichen Akte erfaßt werden. — Der
Irrtum liegt hier in der Verwechselung der Begriffe „sinnlich gegeben" und
„anschaulicher Art 0 . Ein Erlebnis kann sehr wohl Bestandteile enthalten,
die weder sinnlich gegeben noch unsinnlicher, richtiger: unanschaulicher Art
sind. 3. Das Vergleichsurteil ist nicht ein selbsttätig in die Erscheinung
tretendes Ergebnis der einfachen aufeinanderfolgenden Wahrnehmung beider
Gegenstände, sondern setzt eine besonders innere Verhaltungsweise, ein „Hin-
und Hergehen“ zwischen den Gegenständen voraus, d. h. die Vergleichs¬
absicht. Die beschriebenen Nebeneindrücke dagegen treten auch ohne die
Vergleichsabsicht auf. — Die Übergangserlebnisse treten aber stark hervor,
wenn die Vergleichsabsicht vorhanden ist, verblassen dagegen, wenn das
nicht der Fall ist. 4. Die Übergangserlebnisse sind vielfach sehr flüchtig
und undeutlich. — Sie sind es einmal nicht bei allen Menschen. Sodann
steht fest, daß Erlebnisbestandteile, die an sich nicht zum Bewußtsein kommen,
doch irgendwie für die eigentümliche Gestaltung des seelischen Vorgangs
im ganzen von Bedeutung werden können. — Die Entgegnung ist sicherlich
berechtigt: es sei nur daran erinnert, daß die artmäßigen Besonderheiten der
Farbenempfindung verschiedener Stellen der Netzhaut in der Form der Räum¬
lichkeit zum Bewußtsein kommen. 5. Die Übergangserlebnisse können auch
ausbleiben, und das Urteil wird doch gefällt. Seine Grundlage muß aber
immer vorhanden sein. — Es ist festgestellt, daß zur Lösung ein und derselben
Aufgabe im Laufe der seelischen Entwickelung verschiedene Werkzeuge und
Verfahrungsweisen ausgebildet werden, die dann zum Teil nebeneinander
bestehen können. Wenn aiso das Übergangserlebnis auch nicht immer die
Erlebnisgrundlage des Vergleichsurteils ist, so kann es sie doch in vielen
Fällen sein. 6. Das Vergleichsurteil nimmt in verschiedenen Fällen eine
verschiedene Form an. Manchmal wird die erste Strecke als größer, manchmal
die zweite als kleiner bezeichnet. Diesen verschiedenen Urteilen müssen
verschiedene Erlebnisgrundlagen entsprechen. — Das ist in der Tat der Fall.
Das Übergangserlebnis erscheint bei entschiedener Urteilsrichtung auf den
ersten der beiden Gegenstände wie ein kurzes Nachspiel, bei Einstellung auf
den zweiten dagegen wie ein Vortakt. Die Form des Urteils bringt diesen
Tatbestand angemessen zum Ausdruck.
Damit glaubt Jaensch gezeigt zu haben, daß die Übergangserlebnisse die
Grundlage des Vergleichsurteils bilden können, daß sie nach Form, Inhalt
und Mannigfaltigkeit alles bieten, was für die Vollziehung des Vergleichs¬
urteils erforderlich scheint. Um zu entscheiden, ob es tatsächlich der Fall
ist, führte er einen Versuch an Hühnern durch, denen zwei Platten in ver¬
schiedenem Grau, a und b, vorgelegt wurden. Auf der helleren b befanden
sich frei liegende Körner, auf der dunkleren a Körner unter einer Glasscheibe.
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Das Übergangserlebnis und der Vergleich
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Die Hühner lernten sehr rasch, daß sie von der helleren Platte fressen durften,
von der dunkleren dagegen nicht. Nun wurden ihnen zwei andere Platten
in den Grau-Tönen b und einem noch helleren c vorgelegt, beide mit frei¬
liegenden Körnern. Sie fraßen nun nicht zuerst die Platte b leer, sondern
die noch hellere c. Auf die Nachprüfungsversuche, die mit veränderter Raum¬
lage oder durch Abrichtung nicht auf die hellere, sondern auf die dunklere
Platte vorgenommen wurden, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Sie
reichten aus, um einen etwaigen störenden Einfluß dieser Nebenbedingungen
auszuschalten. Über das Verhalten der Hühner bei diesem Versuch wird
berichtet, daß sie sich oft etwa in der Mitte vor den beiden Platten aufstellten
und dann ihre Blicke rasch und mit zuckenden Kopfbewegungen zwischen
beiden Platten hin- und hergehen ließen, ehe sie sich für diejenige entschieden,
die der jeweils vorangegangenen Abrichtung entsprach. Der Verfasser schließt
nun: Die Versuche sind nur unter der Annahme erklärbar, daß
sich das Tier nur auf Grund der oben aufgezeigten Übergangs¬
erlebnisse entscheidet.
Ganz entsprechende Ergebnisse stellten sich ein bei Abrichtung auf ver¬
schieden große regelmäßige Figuren und verschieden große Winkel, während
Versuche mit verschieden langen Strecken ergebnislos blieben. Ein sehr
merkwürdiges Ergebnis hatten Versuche mit bunten Farben, bei denen sich
die Hühner so entschieden, als ob an Stelle der bunten Töne jeweils graue,
Töne von der gleichen Helligkeit vorgelegt worden wären, ein Ergebnis,
das sich auch dahin aussprechen läßt: Die Hühner beachten den Farben¬
ton und die Sättigung nicht, sondern halten sich ausschließlich an die
Helligkeit.
Um die Gültigkeit der Ergebnisse auch für den Menschen zu prüfen,
wurden die Versuche an 38 zwei bis fünfjährigen Kindern eines Kindergartens
wiederholt. Bei 26 Kindern entsprachen die Ergebnisse mit den grauen
Tafeln verschiedener Helligkeit denen bei den Hühnern, bei Quadraten ver¬
schiedener Größe dagegen nur bei 8 von 20 Kindern. Von den. Kindern
stammen wohl auch die Äußerungen: Es ist, „wie wenn man die Lampe
ansteckt“, oder „wie wenn man ein Zimmer verfinstert“.
Wir konnten die Ausführungen des Verfassers natürlich nur in aller Kürze
wiedergeben. Das Angeführte aber dürfte genügen, um dem Leser darüber
ein eigenes Urteil, sowie insbesondere über die im folgenden darzulegenden
Einwände gegen die Ableitungen des Verfassers zu ermöglichen. Sehen wir
uns also seine Ausführungen nunmehr etwas genauer an!
Es ist offenbar seine Absicht, die „Erinnerungsbild-Lehre“ durch eine
richtigere zu ersetzen. Zwar sind seine Untersuchungen eigentlich nicht
gegen die Erinnerungsbildlehre gerichtet. Er glaubt ja, daß diese bereits
durch die Untersuchungen Schumanns, Koffkas und anderer als unhaltbar
nachgewiesen worden ist. Er braucht sie also nicht erst zu zerstören, son¬
dern hat nur an der freien Stelle, die durch ihre bereits erfolgte Zerstörung
entstanden ist, einen neuen Bau zu errichten. Dennoch aber muß wohl
hier darauf hingewiesen werden, daß seine Darlegungen mit der Erinnerungs¬
bildlehre noch weniger zu tun haben, als er anzunehmen scheint. Die Er¬
innerungsbildlehre kann sich ja doch ausschließlich auf diejenigen Fälle
beziehen, in denen zwei Gegenstände mit kürzerer oder längerer Pause
nacheinander dargeboten werden. Sie ist der Versuch einer seelenkund-
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Erich Hylla
liehen Erklärung des sogenannten „Folgevergleichs“. Im Gegensatz dazu
handelt der Verfasser ausschließlich von solchen Fällen, in denen die zu
vergleichenden Gegenstände nebeneinander dargeboten wurden, also ein
Hin- und Hergehen des Auges und der Aufmerksamkeit zwischen den beiden
Gegenständen möglich war. Man muß ihm also von vornherein entgegen¬
halten, daß seine Auffassung von der Bedeutung der Übergangserlebnisse
nur für den Gleichzeitigkeitsvergleich gilt, daß sie darum der Erinnerungs¬
bildlehre nicht nur nicht widerspricht — das ist vielleicht auch gar nicht
seine Ansicht—, sondern daß sie auch nicht an ihre Stelle treten kann.
Der Verfasser weist, wie wir oben bemerkten, an einer Stelle selbst nach¬
drücklich darauf hin, daß die gleiche Leistung durch ganz verschiedene
seelische Inhalte bedingt, mit sehr wechselnden seelischen Mitteln zustande
gebracht werden kann. Das ist ohne Zweifel ein sehr richtiger und sehr
wichtiger Gesichtspunkt. Noch größere Vorsicht als bei gleichen Leistungen
ist aber bei nahe verwandten geistigen Leistungen am Platze, wie wir sie in
dem Gleichzeitigkeitsvergleich einerseits, im Folgevergleich andererseits vor
uns haben. Hier kann man gar nicht scharf genug auseinanderhalten, will
man nicht in den Fehler verfallen, den Jaensch selbst so nachdrücklich rügt:
An die Stelle der Beobachtung des wirklich vorhandenen Erlebnisinhalts bei
einer der beiden Leistungen eine mehr oder weniger künstlich gemachte
• Auffassung zu setzen, ein Fehler, der sich natürlich um so schwerer rächen
muß, je weitertragende Folgerungen man aus den seelenkundlichen Auf¬
fassungen zieht.
Daß bei rasch aufeinanderfolgender Darbietung zweier Strecken von ver¬
schiedener Länge, zweier Quadrate von verschiedener Größe, zweier grauer
Flächen von verschiedener Helligkeit eine Veränderung gesehen wird, die dem
allmählichen Übergang von der ersten Länge oder Größe oder Helligkeit zur
zweiten entspricht, ist eine Tatsache, die eines versuchsmäßigen Beweises
kaum bedarf; bildet sie doch die seelische Grundlage für die gesamte Ver¬
wendung des Laufbildes. Infolge der Raschheit in der Aufeinanderfolge
der Darbietungen und des geringen Unterschiedes zwischen den dargebotenen
Gegenständen entwickeln sich hier die Übergangserlebnisse zu so großer Deut¬
lichkeit, daß sie gänzlich im Vordergründe der Aufmerksamkeit stehen, daß
die zu vergleichenden Gegenstände als einzelne gar nicht mehr zum Bewußt¬
sein kommen. Dieser Tatbestand gibt zu denken gegenüber einer Feststellung
des Verfassers: Daß nämlich die Deutlichkeit des Übergangserlebnisses mit
der Stärke der Vergleichsabsicht wächst. Bei der Betrachtung von Laufbildern
liegt offenbar gar keine Vergleichsabsicht vor, während das Übergangserlebnis
doch mit größter Klarheit und Bewußtheit auftritt. Es scheint mir demnach
festzustehen, daß die größere oder geringere Stärke der Vergleichsabsicht
jedenfalls nicht der einzige Umstand ist, von dem die Deutlichkeit der Über¬
gangserlebnisse abhängt, sondern daß die Beschaffenheit der zu vergleichenden
Gegenstände selbst, insbesondere die Größe ihres Unterschiedes, sowie vor
allem das Zeitmaß ihrer Darbietung von großem Einfluß ist.
Nun geht wohl die Auffassung des Verfassers dahin, daß die Übergangs¬
erlebnisse auch bei nicht gleichzeitiger Darbietung auftreten und das Ver¬
gleichsurteil entschieden bedingen. Gestehen wir dies zunächst einmal zu,
so müssen wir jedoch sogleich darauf hinweisen, daß dies Übergangserlebnis
unmöglich eintreten kann, ohne daß ein Erinnerungsbild des zuerst darge-
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Das Übergangserlebnis und der Vergleich
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botenen Gegenstandes im Augenblicke der Darbietung des zweiten wirksam
wird. Handelt es sich etwa um den von dem Verfasser beobachteten Wachs¬
tumsvorgang, bei Vergleich erst einer kürzeren, dann einer längeren Strecke,
so muß im Augenblick der Darbietung der zweiten Strecke der „Wachstums¬
vorgang“ doch bei irgendeiner Streckenlänge beginnen. Die Beobachtungen
Schumanns deuten das auch an, wenn sie außer auf die Bewegungser¬
scheinungen auf eine abweichende Färbung der Enden oder Mitte der
Strecke hinweisen. Die gleichen Überlegungen gelten natürlich auch für
den Vergleich zweier Farben oder zweier Figuren verschiedener Größe.
Ohne irgendein „Erinnerungsbild“ der zuerst dargebotenen Größe scheint
mir die Abgabe eines Vergleichsurteils ganz unmöglich, abgesehen vielleicht
von einigen Fällen, in denen ein mittelbarer Vergleich stattfindet. Nicht
notwendig erscheint freilich die Annahme, daß das „Erinnerungsbild“ als
solches zum Bewußtsein kommen muß. Auch kann es sicherlich bis zu
einem gewissen Grade ungenau sein. Ja es ist sogar zu vermuten, daß es
das ist, und zwar nach der Seite hin, die geeignet erscheint, die „Übergangs¬
erlebnisse“ zu verstärken; d. h. geht man von einer kleineren Strecke zu
größeren über, so wird unter Wirkung der größeren das Erinnerungsbild der
kleineren noch kleiner. Entsprechendes gilt natürlich auch für die Darbietung
verschiedener reiner Helligkeitsempfindungen. Hier liegt eine Auswirkung
des allgemeinen seelischen Gesetzes der Gegensätzlichkeit vor.
Wir sind uns dessen wohl bewußt, daß die hier dargestellte Auffassung
nicht die „Erinnerungsbildlehre“ in ihrer alten Form darstellt. Denn diese
denkt offenbar nur an ein als solches bewußtes Erinnerungsbild, das bewußt
gewissermaßen mit dem zweiten dargebotenen Gegenstand zur Deckung
gebracht wird. Es ist darum auch nicht unsere Absicht, mit diesen Er¬
örterungen die alte Form der Erinnerungsbildlehre zu stützen. Es sollte nur
darauf hingewiesen werden, daß auch in ihr sicherlich ein Teil Wahrheit
liegt, den es allerdings erst aus willkürlichen Zutaten herauszuschälen gilt.
Vielleicht hält Jaensch gegen diese Darlegung einen Einwand aufrecht,
den er gegen die Erinnerungsbildlehre in ihrer alten Form selbst macht:
daß auch hier wieder ein der Technik entnommenes Musterbild dem wirklcih
ablaufenden Vorgang unterlegt wird. Wir wollen nicht auf die Frage ein-
gehen, ob ohne die Verwendung eines solchen Musterbildes ein „Verständnis“
der seelischen Vorgänge überhaupt möglich ist. Bemerkt aber sei, daß sich
genau der gleiche Einwand auch gegen die Lehre vom Übergangserlebnis
in der Form, wie J. sie entwickelt, machen läßt, denn auch die „Übergangs¬
erlebnisse“ haben ihr technisches Gegenstück. Wir dehnen die Gummischnur
oder den Eisenstab, wenn wir ihn verlängern wollen, pressen den letztem
zusammen, um ihn zu verkürzen, vergrößern oder verkleinern die Leucht¬
flamme, wenn wir ein Zimmer erhellen oder verdunkeln wollen. Es kann
unmöglich von vornherein Grund zum Mißtrauen gegen eine Lehre sein,
wenn sie ein solches technisches Muster verwendet. Die Frage muß vielmehr
so gestellt werden, ob dieses technische Muster „richtig“ ist, d. h. ob und
inwieweit die Vorgänge, die bei der Beachtung eines derartigen Arbeits¬
vorgangs in uns ablaufen, denen gleichen, die man unter Hinweis auf ihn
zu erklären versucht.
Nun aber zu dem Kernstück der Darlegungen des Verfassers: Zu dem Bericht
über den Versuch sowohl mit den Hühnern als im Kindergarten 1 Der Behaup-
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302
Erich Hylla, Das Übargangserlebnis und der Vergleich
tung, daß die Ergebnisse dieses Versuchs nur zu erklären seien unter der An¬
nahme, daß sich das Tier nur auf Grund der oben aufgepeigten Übergangs¬
erlebnisse entscheidet, können wir nicht zustimmen. Aus dem Versuch geht
unseres Erachtens hervor, daß sich die Hühner nicht auf Grund der
tatsächlichen Helligkeiten, sondern auf Grund des Verhältnisses
der beiden Helligkeiten zueinander entschieden haben. Wir haben
also hier einen Sonderfall jenes ganz allgemeingültigen seelischen Gesetzes
vor uns, das Wundt als dasjenige der „Relativität in der Auffassung seelischer
Inhalte" bezeichnet, das sich, um einen andern Sonderfall zu nennen, in
dem durch das Gesetz ausgedrückten Tatbestand als wirksam erweist und
dem Stern die Form des Bedeutungsmaßgesetzes gibt, in der es nach seinen
überzeugenden Darlegungen („Die menschliche Persönlichkeit“, 1919, S. 213)
weit über den Rahmen des seelischen Geschehens hinaus Gültigkeit besitzt.
Was sie aber wollen, ist, über die Grundlage dieser Entscheidung nach dem
Verhältnis der Reize zueinander, nicht nach dem wahren Maßwerte eines
jeden Reizes, soweit diese Grundlage innerhalb der unmittelbaren Erfahrung
liegt, eine Aussage machen. Seine Annahme nun, daß diese unmittelbare
Grundlage der Entscheidung das „Übergangserlebnis“ sei, ist durch die Ver¬
suche in keiner Weise bewiesen. Das Verhalten der Hühner und ganz ebenso
das Verhalten der Kinder beweist nur, daß sich die Versuchstiere und Ver¬
suchspersonen auf Grund der Beziehungen der dargebotenen Reize entschieden
haben, nicht aber, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist, auf
welche Erlebnisinhalte sie zurückgeht. Auf das Wie dieser Entscheidung,
auf die Beschaffenheit der Vorgänge in der unmittelbaren Erfahrung aber
kommt es dem Verfasser an, und eben darum kann seine Beweisführung
aus dem von ihm angestellten Versuch nicht als schlüssig gelten.
Es geht aus den Ausführungen des Buches nicht ganz klar hervor, ob die
von Jaensch erwähnten Äußerungen (es ist, „wie wenn man ein Zimmer
verfinstert“ oder „wie man eine Lampe ansteckt“) bei den Versuchen an
Kindern gefallen sind oder bei andern Versuchen, die sich in ähnlicher
Richtung bewegten wie die von ihm angestellten. Aber wo diese Äußerungen
auch getan worden sind: auch sie beweisen seine Auffassung keineswegs
endgültig. Es ist sehr wohl möglich, daß bei der Wahl dieser Worte für
die Beschreibung des inneren Erlebnisses mehr die Mittel des sprachlichen
Ausdrucks, als die Beschaffenheiten des Erlebnisses selbst maßgebend ge-
• wesen sind. Drücken wir doch sehr oft Vorgänge, die wir als „ruckweise“
Veränderungen empfinden, mit Worten aus, die wir ebensowohl zur Bezeich¬
nung eines als stetig empfundenen Übergangs verwenden; die Unstetig¬
keit eines solchen Vorgangs kann sehr wohl zum Bewußtsein, aber nicht
zur Beachtung kommen und braucht noch weniger immer so stark beachtet
zu sein, daß sie sprachlichen Ausdruck erzwingt. Es sei hier zur Verdeut¬
lichung nur an Sterns Darlegung über die „Übereinanderlagerung der
Schwellen“ erinnert, die man ebenfalls in dem oben genannten Buche findet.
Seine Ausführungen scheinen uns für das Verständnis auch der hier zur
Erörterung stehenden Fragen sehr wichtig.
Nun soll nicht behauptet werden, daß es unbedingt unstetige Vorgänge
gewesen sein müssen, die in den Worten „wie wenn man die Lampe an¬
steckt“, „wie wenn man ein Zimmer verfinstert“, ihren Ausdruck gefunden
haben. Es kann sich dabei natürlich nur um Vorgänge handeln, die als
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Kleine* Beiträge und Mitteilungen
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stetig empfunden worden sind. Wenn es in der seelenkundlichen Forschung
und Beobachtung geschulte Versuchspersonen gewesen sind, die diese
Äußerungen getan haben, so könnte sehr wohl in diesem Falle die „Aus¬
drucksschwelle“ der „Wahrnehmungsschwelle“ sehr nahe gelegen haben.
Aber die sprachliche Form dieser Sätze läßt darauf schließen, daß es sich
nicht um solche Versuchspersonen gehandelt hat. Dann kann aber tat¬
sächlich der Vorgang, der mit den obigen Sätzen beschrieben worden ist,
einfach der einer „Wahrnehmung zweier verschiedener Helligkeiten“ sein,
ohne daß ein stetiger Übergang zwischen ihnen irgendwie erlebt worden ist.
Um seine Auffassung zu stützen, erwähnt Jaensch noch einen zweiten
Versuch: Bei einem sechsjährigen Knaben, dessen Sinnengedächtnis „von be¬
sonderer Beschaffenheit“ war, wurde eine „abnorme Unfähigkeit zum Größen¬
vergleich“ nachgewiesen. Sie konnte daraus erklärt werden, daß „das Urteil
nur beim Auftreten der Übergangserlebnisse möglich war, daß diese aber
eben wegen der erwähnten besonderen Beschaffenheit des Sinnengedächt¬
nisses ausblieben“. Über die Bündigkeit dieses Beweises läßt sich ohne
nähere Angaben natürlich kein Urteil fällen. Solange nicht eine genauere
Beschreibung des Versuchs vorliegt, bleibt die Annahme offen, daß auch
hier andere Vorgänge der unmittelbaren Erfahrung als die von dem Ver¬
fasser beschriebenen Übergangserlebnisse entscheidend gewesen sind.
Fassen wir unsere Stellungnahme zu den Ausführungen des Buches kurz
zusammen, so können wir sagen: Daß beim Streckenvergleich sowie auch
beim Vergleich zweier reiner Helligkeitsempfindungen „Übergangserlebnisse“
der von ihm geschilderten Art entstehen können; daß sie in sehr vielen
Fällen tatsächlich beobachtet worden sind, steht außer Zweifel. Daß diese
„Übergangserlebnisse“ die unmittelbare Erfahrungsgrundlage für die Abgabe
des Vergleichsurteils bilden, kann weder durch seine allgemeinen Darlegungen
noch auch durch die von ihm durchgeführten Versuche als endgültig be¬
wiesen betrachtet werden.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Über die Wahrnehmung der menschlichen Lautsprache durch den Tast¬
sinn — ein Problem, das für den Taubstummenunterricht von größter Be¬
deutung sein muß und dem bisher Gutzmann, Lindner und Feldt in
experimentellen Untersuchungen nachgegangen sind —, hat eine Hamburger
Arbeitsgemeinschaft weitere Versuche angestellt. (Vergl. Schär, Über den
Tastsinn und seine Beziehungen zur Lautsprache. Vox, Heft 1/2. 1922).
Es sind dabei folgende Ergebnisse gewonnen worden:
1. Durch das Getast können von der menschlichen Stimme in gewissen
Grenzen die Dauer, die Stärke, die Höhe, die Klangfarbe und die Stimm¬
einsätze wahrgenommen werden.
2. Die Wahrnehmung ist um so besser, je isolierter die Elemente gegeben
werden.
3. Im Flusse der Sprache kann durch den Tastsinn nur das zeitliche Moment
der Lautsprache, die Dauer, eindeutig erfaßt werden. Klangfarbe, Ton¬
höhe und Stärke sind infolge ihrer wechselseitigen Überlagerung nicht
zu unterscheiden.
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304
Kleine Beiträge and Mitteilungen
4. Beeinflußt werden kann mittelst des Getasts das Sprechen des Taub¬
stummen in bezug auf die Tonhöhe und den zeitlichen Akzent Die
Einwirkung auf die Tonhöhe ist möglich durch das Erzeugen von Vibrations¬
schwingungen (Gutzmann), die auf den zeitlichen Akzent durch taktil
begründete rhythmische Sprechübungen (L i n d n e r und F e 1 d t).
Ein psycho-pathologisches Schema, das bei aller Unzulänglichkeit des Ver¬
suchs, Lebenserscheinungen zu systematisieren, doch eine erste gröbere Orien¬
tierung gestattet, wird von Dr. Arthur Adler in der Psychiatrisch-neuro¬
logischen Wochenschrift (Jahrg. 21 S. 59) angegeben. Es unterscheidet als
primäre Psychismen die Empfindungen, Gefühle und Bewegungen, als
sekundäre die sinnlichen Vorstellungen, Stimmungen und Bewegungsbilder
und als tertiäre die Gedanken, Affekte und Handlungen.
Da nun die psychischen Störungen in einer Untererregbarkeit, Über¬
erregbarkeit oder abnormen Beschaffenheit dieser Gebilde bestehen
können, ergibt sich wieder eine Untergliederung.
I.
Empfindungen
Sinnliche Vorstellungen
Gedanken
Erschwerte Auffassung
Gedächtnisschwund
Gedankenlosigkeit
Halluzinationen
Phantasmen
Gedankenjagen
Illusionen
Erinnerungstäuschungen
Wahnideen
II.
Gefühle
Stimmungen
Affekte
Zu schwache —
| Apathie
Zu schwache —
Zu starke —
; Gemütliche Erregung
Zu starke —
Falsche Gefilhlsbetonung
Verstimmungen
Konträre Affekte
UI.
Bewegungen
Bewegungsbilder
Handlungen
Regungslosigkeit
Ausfall bestimmter Bewegungsarten
Untätigkeit
Bewegungsdrang
Stereotypien
Betätigungsdrang
Negativismus
Entgleisungen
Unsinnige Handlungen.
Zur Errichtung einer deutschen Professur für Heilpädagogik hat die Orts¬
gruppe München des Bayrischen Hilfsschulverbandes ihrem Unterrichts¬
ministerium und Landtage folgende Leitsätze vorgelegt:
1. Die Professur für Heilpädagogik steht innerhalb der philosophischen
Fakultät.
2. Soll München d i e Professur für Heilpädagogik (für ganz Deutschland!)
erhalten, so kann diese Vorrangstellung nur durch Fühlungnahme mit
dem Forschungsinstitut für Psychiatrie erzielt werden.
3. Die Professur müßte gleichzeitig, wenn auch zunächst nur in beschei¬
denstem Umfange, eine Forschungsstelle für Heilpädagogik sein.
Der Inhaber der Professur müßte ein mit den pädagogisch-psycho¬
logischen und psychiatrischen wissenschaftlichen Forschungsmethoden
vertrauter Gelehrter sein.
4. Die Meinung der befragten Lehrerschaft, der Schulbehörden usw., die
von vielen Ärzten geteilt wird, geht dahin, daß ein Pädagoge (Psycho¬
loge!) für die Aufgaben der Professur in Betracht kommt (Heilpäda¬
gogik!). Der Arzt kann die Um wertung der medizinischen Forschungs-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen-'
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ergebnisse in die Pädagogik nicht vollziehen. Ihm fehlen die pädago¬
gischen Kenntnisse in nötigem Umfange. Andrerseits wäre auch der
„Nur-Schulmann“ nicht für diese Umwertung durchaus geeignet. Ihm
fehlen zunächst die psychologisch-psychiatrischen Kenntnisse in nötigem
Umfange.
5. In der medizinischen Fakultät stehen den Heilpädagogen schon heute
in nahezu erschöpfender Weise alle wünschenswerten Vorlesungen offen.
Empfehlen würde sich außerdem eine zwei- bis vierstündige Vorlesung
über Psychopathologie durch einen Psychiater, der hierbei auf die be¬
sonderen Bedürfnisse Rücksicht nimmt (Viele Kindervorstellungen!)
Für diese Aufgabe käme wohl ein „Lehrauftrag“ in Betracht.
6. Die Schulmänner aus den einzelnen Gebieten der heilpädagogischen
Praxis werden in weitestgehendem Maße für ihre Teilgebiete zu
Vorlesungen und praktischen Übungen beansprucht. (Auch solche von
auswärts zu kürzeren Berichten usw.!)
7. Die Lehrer der verschiedensten heilpädagogischen Schulen (auch ein¬
zelner Volksschulen!) stellen ihre Arbeit freiwillig und im Rahmen
ihrer Amtspflicht in den Dienst der wissenschaftlichen Forschung. Dauernde
engste Fühlungnahme mit der praktischen Arbeit in den einzelnen Schulen
und gute persönliche Qualitäten für eine dauernde anregende Beein¬
flussung der Lehrerschaft wären wichtige Forderungen an den Inhaber
der Professur. Er muß seine ganze Arbeit in den Dienst der Pro¬
fessur stellen.
8. Das wichtigste für die Ausbildung der Heilpädagogen ist die prak¬
tische Schularbeit.
Die Provinzialabteilung für praktische Psychologie Münster i. W., Waren-
dorfer Str. 25, erstattet durch Dr. Joseph Weber im folgenden ihren 1. Jahres¬
bericht (1921—1922).
Die Arbeit der Berufsberatung geht nach zwei Richtungen: Sie sucht die
Frage nach dem wirtschaftlich günstigsten und die Frage nach dem für die
persönliche Neigung und Veranlagung geeignetsten Platz für jeden Beruf¬
suchenden zu beantworten. Die Lösung des Problems besteht also in einer
geschickten Verbindung der von zwei Seiten her in Betracht zu ziehenden
Möglichkeiten. In der Praxis ist die berufswirtschaftliche Seite zunächst
stärker bearbeitet worden, trotzdem der Feststellung der Berufseignung zum
mindesten die gleiche Bedeutung beigemessen werden muß.
Das Landesarbeitsamt Westfalen und Lippe hat zugleich mit der wirtschaft¬
lichen auch der berufspsychologischen Seite der Beratung schon früh erhöhte
Aufmerksamkeit zugewandt und durch die Unterstützung der psychologischen
Beobachtung, durch die Herausgabe der „Psychologischen Mitteilungen“, sowie
durch die Anregung regelmäßiger berufspsychologischer Vorlesungen im Seminar
und bei den Lehrgängen für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung am Staats¬
wissenschaftlichen Institut der Universität Münster diese Arbeiten stark ge¬
fordert. Es regte dann zur weiteren Vertiefung der berufspsychologischen
Praxis die Einrichtung einer besonderen Provinzialabteilung für praktische
Psychologie an, die durch Beschluß des Westfälischen Provinziallandtages
zum 1. Juli 1921 eingerichtet und deren Leitung dem Berichterstatter über¬
tragen wurde.
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 20
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—• Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Für die reibungslose Durchführung der berufspsychologiscben Aufgaben ist
Klarheit in der Hinsicht notwendig, daß wir für die Behandlung der Berufs¬
beratung drei Stufen vor uns haben: die Zeit bis zum Schulabgang der
Jugendlichen, die Zeit der tatsächlichen Berufsentscheidung und die Zeit der
beruflichen Ausbildung. Diese Zeitabschnitte bedeuten für die Berufsberatung
auch innerlich getrennte Arbeitsgebiete und erfordern aus diesem Grunde
methodisch getrennte Behandlung.
Die Zeit vor dem Schulabgang dient im wesentlichen der Berufsvorberatung.
In dieser Zeit' muß für den Berufsuchenden die Berufswahl so weit vor¬
bereitet werden, daß er mit einiger Sicherheit diejenige Berufsgruppe findet,
die seinen Verhältnissen, Neigungen und Fähigkeiten am ersten entsprechen
wird. Die mitwirkende Schule wird daher zunächst die Entwicklung der
Allgemeinhöhe der Veranlagung im Auge behalten und versuchen, durch eine
ausreichend fortgeführte psychologische Beobachtung eine bestimmte
Darstellung der individuellen Veranlagung des abgehenden Schülers zu geben.
Diese Beobachtungen der Schule liegen nach ihrer Eigenart naturgemäß zu¬
nächst im Interesse des Unterrichtes — das zu beachten ist wesentlich, weil
wir sonst die Mitarbeit der Lehrkräfte für die Ziele der Berufsberatung nicht
erreichen —, müssen aber in ihren Gesamtergebnissen schließlich beim Über¬
tritt der beobachteten Jugendlichen in das praktische Leben für die richtige
Berufswahl nutzbar gemacht werden. Da es sich bei der Berufsentscheidung
zunächst nur darum handeln kann, die geeignete Berufsgruppe ausfindig
zu machen und zum mindesten die Wahl völlig ungeeigneter Berufsgruppen
auszuschließen, so wird das Ziel der psychologischen Beobachtung nach
Möglichkeit zunächst derBestimmungderpsychischenGesamtveranlagung
des Berufsuchenden Rechnung tragen müssen.
Um die Zeit des Schulabganges muß dann die Entscheidung für eine be¬
stimmte Berufsgruppe fallen, in vielen Fällen auch schon für eine besondere
Richtung innerhalb derselben. Hier beginnt die Tätigkeit des Berufsberaters,
der bei der Beratung den Ausgleich schaffen will zwischen den gegebenen
wirtschaftlichen Verhältnissen und den persönlichen Eigenschaften je nach
Vorhandensein. Die Grundlagen zur individuellen Erkenntnis des Jugend¬
lichen muß der Berater jedoch von der Schule übernehmen und nach richtiger
Verwendung an die weiterbildenden Stellen überleiten können.
Wenn dann die Wahl einer bestimmten Berufsgruppe erfolgt ist, wird es
vielfach noch möglich sein, auf Grund der besonderen Eignung und der ge¬
machten praktischen Erfahrungen die Einstellung auf eine besondere Berufs¬
tätigkeit noch mehr in den Vordergrund treten zu lassen. Diese Hinführung
zur Verfeinerung der Berufstätigkeit und der praktischen Arbeit ist nicht mehr
Angelegenheit der Schule und Ziel ihrer psychologischen Beobachtung, son¬
dern Sache derjenigen Stellen, die nach dem Schulabgange die weitere Aus¬
bildung des lernenden Nachwuchses in die Hand nehmen. In dieser Zeit
der ersten praktischen Betätigung wird sich zeigen, ob und wie die vor¬
handenen Anlagen und besonderen Neigungen zur vollen Wirkung gelangen
können.
Methodisch liegt das Schwergewicht der Untersuchung der Allgemein¬
befähigung in der psychologischen Beobachtung, die vereinzelt auch durch
psychologische Experimente eine Bestätigung ihrer Feststellungen finden kann.
Die Einzelauslese dagegen mit ihren scharf umschriebenen beruflichen
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
307
Eignungsvorbedingungen stützt sich zunächst auf experimentelle Feststellungen,
ohne dabei die weiteren Beobachtungen der Leistungen und die Erfahrungen
in der Praxis außer acht zu lassen. Von der Berufsvorberatung gelangen
wir also zur Stufe def eigentlichen Berufsberatung und über diese zur Berufs¬
auslese, von der psychologischen Beobachtung der Allgemeinveranlagung und
.der Eignung für große Berufsgruppen zu psychologischen Einzelprüfungen
für bestimmte Berufszweige. Der Allgemeinbeobachtung sollen alle Schüler
so weit unterstehen, daß zunächst eine Trennung nach Hochbefähigten, Durch¬
schnittsveranlagten und Minderbegabten möglich wird, weil gerade für die
zuerst und zuletzt genannten Gruppen sich die Berufsberatung und Berufs- >
auslese besonders schwierig gestaltet Beherrscht wird also die psychologische
Beratung und Eignungsfeststellung von dem .Problem der Allgemein¬
beobachtung während der Schulzeit und von dem Problem der Sonder¬
feststellung undBerufsausles^währendderberuf liehen Ausbildungs¬
zeit. Wir berücksichtigen dementsprechend in der Praxis folgende Zeit¬
abschnitte: Eine Schulzeit mit eingehender Beobachtung zum Zwecke genauer
Beschreibung der Allgemeinveranlagung; den Zeitpunkt der Beratung im
Einzelfall auf Grund der Ergebnisse' der Schulbeobachtung und etwa noch
hinzutretender experimenteller Feststellung allgemeiner Fähigkeiten; schlie߬
lich eine Eignungsfeststellung für besondere Berufszweige entsprechend der
in der anschließenden Ausbildungszeit möglich werdenden Differenzierung
nach den individuellen Anlagen.
Für die Feststellung der besonderen Berufseignung ist als Vorbedingung
das Herausarbeiten einer psychologischen Analyse der verschiedenen
Berufsgruppen und Einzelberufe erforderlich. Es ist daher notwendig,
die schon vorhandenen und in der Vorbereitung befindlichen berufskundlichen
Materialien, welche bisher vorwiegend die wirtschaftliche Seite des betreffenden
Berufes beachteten, auch nach der Seite der psychischen Anforderungen jedes
Einzelberufes sorgfältig zu bearbeiten.
Aus vorstehenden grundsätzlichen Erwägungen heraus waren für die Praxis
zunächst folgende Aufgaben gegeben:
1. Anregung und Förderung der psychologischen Beobachtung
in der Schule.
2. Förderung des Verständnisses für die richtige Verwertung und
Benutzung psychologischer Hilfsmittel und Ergebnisse bei den
Berufsberatern.
3. Anregung und Förderung der psychologischen Eignungs¬
feststellung und Auslese für die praktische Berufsarbeit von
Jugendlichen und Erwachsenen.
4. Psychologische Überarbeitung und Neuaufstellung berufs¬
kundlichen Materials.
Die Vorarbeiten und Versuche zur Durchführung dieser Ziele innerhalb des
Arbeitsgebietes Westfalen und Lippe brachten im Laufe des Berichtsjahres
reiche Erfahrungen. Zunächst wurde, um den berufspsychologischen Be¬
strebungen der Schule, der Berufsämter und des Wirtschaftslebens einen
besonderen Mittelpunkt zu geben, in Dortmund die Einrichtung eines Institutes
für praktische Psychologie vorgesehen, für welches die Räume nebst Ein¬
richtung im dritten Stock der neuzeitlich eingerichteten Franziskusschule
(Söldersträße 95) von der Stadt Dortmund zur Verfügung gestellt wurden.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Das Institut gliedert sich in eine Abteilung „Schulpsychologie“ und
eine Abteilung „Wirtschaftspsychologie“. Träger der ersten Abteilung
sind die Verbände der westfälischen Lehrer und Lehrerinnen, Träger der
zweiten Abteilung ist die Provinzialabteilung für praktische Psychologie in
Münster i. W. Leiter des Instituts ist der Berichterstatter. Die Abteilung
„Schulpsychologie“ bearbeitet besonders die Praxis der psychologischen Be¬
obachtung und die Einstellung der Lehrkräfte an den Schulen auf berufs¬
psychologische Vorarbeiten; die Abteilung „Wirtschaftspsychologie“ fördert
die Eignungsfeststellung und berufliche Auslese sowie die psychologische
Berufsanalyse durch experimentelle Untersuchungen und bietet damit dem
weitverzweigten Wirtschaftsleben der Provinz die Möglichkeit, eine einwand¬
freie Feststellung der psychischen Eignung der Arbeitskräfte zu erreichen.
Zur Anregung und Förderung der psychologischen Beobachtung
in der Schule ist es notwendig, mit den Lehrkräften der verschiedenen
Schularten zusammenzuarbeiten, weil diese allein die Möglichkeit haben,
psychologische Beobachtungen über längere Zeit (zunächst im Interesse des
Unterrichtes, dann aber auch mit berufspsychologischer Einstellung) durch¬
zuführen. Daher gilt es vor allem, diese Lehrkräfte in die Beobachtung ein¬
zuführen und sie bei der praktischen Durchführung nach Möglichkeit zu
unterstützen. Es sind Persönlichkeiten erforderlich, die gewillt und imstande
sind, zunächst sich selbst in dieses psychologische Gebiet einzuarbeiten, die
eigene Unterrichtstätigkeit in psychologischer Einstellung zu vertiefen und
von Einzelfällen ausgehend unmittelbar aus dem Unterrichte heraus praktisch¬
psychologische Beobachtungen durchzuführen. Im Laufe der Zeit wird sich
der Umfang der Beobachtungen vergrößern, Mitarbeiter werden hinzukommen,
und schließlich wird durch die anregende Vorarbeit einzelner Lehrkräfte die
systematische psychologische Beobachtung auch in der Schule heimisch
werden. Diese Beobachtung soll, das sei grundsätzlich betont, aus kleinen
Anfängen entstehen. Die Versuche mit einem psychologischen Personalbogen
müssen an einzelnen Kindern beginnen und erst allmählich entsprechend der
wachsenden Sicherheit und Gewandtheit des Beobachters weiter ausgedehnt
werden. Eine allgemeine Einführung für alle Schulen und alle Klassen kann
vorläufig noch nicht in Frage kommen. An Hand des von uns entworfenen
psychologischen Personalbogens wurde zunächst in einer Reihe von Städten
und Kreisen der Provinz durch Einführungsvorträge die Aufgabenstellung vor
der gesamten Lehrerschaft und den örtlichen Berufsberatern besprochen. Aus
diesem großen Kreise heraus werden die besonderen Interessenten, möglichst
wenigstens einer aus jeder Schule, soweit sie sich aus eigenem Antriebe zur
Mitarbeit zur Verfügung stellen, zu kleineren Arbeitsgemeinschaften für prak¬
tische Psychologie zusammengeschlossen und durch diese Arbeitsgemein¬
schaften unmittelbar in die Praxis der Beobachtung eingeführt. Die Arbeits¬
gemeinschaften führen in äußerer Anlehnung an die örtlichen Berufsämter
ihre Arbeiten selbständig fort und werden von der Provinzialabteilung aus
durch Anregungen, Richtlinien, Aufgabenstellung, Auswertung der Beobach¬
tungsgelegenheiten und -ergebnisse usw. fortlaufend unterstützt. Selbständige
Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie bestehen bisher in Münster,
Minden, Detmold, Lage, Gelsenkirchen, Gladbeck, Buer, Siegen, Lüdenscheid,
Iserlohn, Recklinghausen, Herne, Witten, Hagen, Dortmund, Bochum, Rheine,
Varendorf, Bottrop, Unna, Gütersloh, Herford, Hamm, Schwelm, Gevelsberg,
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Wanne-Eickel; weitere Arbeitsgemeinschaften sind noch in Vorbereitung für
Arnsberg, Lippstadt, Bielefeld, Paderborn und Soest. Alle Arbeitsgemein¬
schaften erhalten leihweise besonders zusammengestellte Sammelmappen, in
denen die neueren psychologischen Beobachtungsbogen nebst den zugehörigen
Erläuterungsschriften vereinigt sind, zur gemeinsamen Besprechung und eine
Gesamtübersicht über die wichtigere Fachliteratur zur praktischen Verwen¬
dung. Innerhalb jeder Arbeitsgemeinschaft können sich kleinere Gruppen
bilden zur Durchführung einzelner Aufgaben, z. B. Beobachtung der Schul¬
anfänger, Zusammenstellen der Beobachtungsgelegenheiten für einzelne Unter¬
richtsfächer, Auslese für höhere Schulen, Beobachtung der Schulabgänger,
der Minderbefähigten usw. Bisher sind schon über 10000 psychologische
Personalbogen nebst der einführenden Anleitung für die berufspsychologische
Beobachtung zur Verbreitung gebracht. In der Zeitschrift „Psychologische
Mitteilungen“ wurden außerdem monatlich zahlreiche Fachaufsätze zur Arbeits¬
und BerufspsychologRr veröffentlicht, dazu noch in einigen besonderen Schrif¬
ten (bisher sind erschienen: 1. Dr. J. Weber: „Die Schule im Dienste der
Berufsberatung“ und „Psychographie, Schule, Beruf“, Verlag Willy Ehrig,
Heidelberg 1922) die Grundlagen für die psychologische Berufsberatung,
Beobachtung und Eignungsfeststellung unter den Gesichtspunkten der prak¬
tischen Durchführung eingehend behandelt. Im Institut für praktische Psycho¬
logie in Dortmund fand im V. S. ein sechswöchiger Kursus der Abteilung
„Schulpsychologie“ statt zur Behandlung der für die Schule und ihre Lehr¬
kräfte in Frage kommenden psychologischen Themata der Berufsberatung.
In anderen Städten wie Gelsenkirchen, Hörde, Gladbeck, Coesfeld, Münster usw.
beteiligte sich die Provinzialabteilung durch Vorträge an den dort abgehal¬
tenen Tagungen für Berufsberatung und praktische Psychologie.
Die Erfahrungen, welche in diesem Teile der praktischen Arbeit gemacht
worden sind, haben gezeigt, daß hinreichendes Allgemeininteresse für die ge¬
nannten Aufgaben, besonders innerhalb der Arbeitsgemeinschaften, durchaus
vorhanden ist, darüber hinaus vielfach auch gutes theoretisches Verständnis
für psychologische Fragen. Die praktische Durchführung psychologischer Be¬
obachtungen während des Unterrichtes bedarf aber wegen ihrer Eigenart noch
eingehender Schulung und Erfahrung, die erst langsam in sorgfältiger Klein¬
arbeit gewonnen werden müssen. Bei einzelnen Arbeitsgemeinschaften in
der Provinz zeigt sich besonders erfolgreiches Arbeiten, vor allem in der Schulung
der Mitarbeiter, im systematischen Zusammentragen günstiger Beobachtungs¬
gelegenheiten und in der kritischen Stellungnahme zu den Einzelheiten des
psychologischen Personalbogens auf Grund der praktischen Unterrichts¬
erfahrungen; bei anderen Arbeitsgemeinschaften befindet sich die praktische
Entwicklung auf guten Wegen; bei einigen wenigen bedarf es, meistens aus
Mangel an hinreichend vorgebildeten und erfahrenen Führern, fortlaufender
Anregung und Weiterführung. Die beteiligten Schulaufsichtskreise widmen
der Frage der psychologischen Beobachtung vielfach besondere Aufmerksam¬
keit und planen im Oktober des Jahres im Verein mit der Provinzialabteilung
und dem Institut in Dortmund für die westfälische Lehrerschaft eine große
Tagung zur Behandlung der praktischen Aufgaben der Berufsberatung. Ähn¬
liche Veranstaltungen sollen durch die Arbeitsgemeinschaften anderer Städte
gleichfalls im kommenden Winter durchgeführt werden.
Im ganzen gesehen ist heute in Westfalen und Lippe die innere Teilnahme
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
der Lehrerschaft an den berufspsychologischen Aufgaben geweckt und eine
allgemeine grundlegende Orientierung dieser Kreise über die zur Bearbeitung
stehenden Probleme erreicht; an zahlreichen Orten wird darüber hinaus
schon wertvolle Mitarbeit geleistet, die allmählich weiter vertieft und ausgebaut
werden muß. Auch den experimentellen Versuchen innerhalb der Schule
als Mittel zum Vergleich und zur Bestätigung psychologischer Beobachtungs-
ergebnisse wird an einzelnen Schulen (z. B. Wetter, Wattenscheid, Dortmund
usw.) größere Aufmerksamkeit geschenkt?
( Ebenso wichtig wie die Vorarbeit der Schule ist die Förderung des Ver¬
ständnisses für richtige Verwendung und Benutzung psycho¬
logischer Hilfsmittel und Ergebnisse bei den Berufsberatern.
Diese Frage stößt auf besondere Schwierigkeiten, weil die Zahl der haupt¬
amtlichen Berater, die mit voller Kraft sich ihrer Aufgabe widmen könnten,
aus finanziellen Gründen noch verhältnismäßig gering ist. Trotzdem war
einer größeren Zahl die Teilnahme an den psychologischen Vorlesungen der
Lehrgänge* und des Seminars für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung mög¬
lich und damit eine Fühlungnahme auch für die berufspsychologische Praxis
gegeben. Durch den Inhalt der „Psychologischen Mitteilungen“ wurde weiteres
Material an die Berufsberater herangebracht. Ebenso beteiligten sich die¬
selben bei den örtlichen Vorträgen und Besprechungen für die Arbeits¬
gemeinschaften für praktische Psychologie, werden so auch mit der psycho¬
logischen Vorarbeit der Schule vertraut gemacht und allmählich vielleicht
mehr dazu geführt werden können, aus den Beobachtungen der Schule und
den Angaben des Beobachtungsbogens die erforderlichen Schlüsse.für die
praktische Berufsberatung zu ziehen und stärker als bisher auch die Eignung
des Berufsuchenden zu berücksichtigen. Bei den Berufsberater-Konferenzen
in Detmold, Gelsenkirchen und Altena im Dezember 1921 stand ebenfalls
die Mitwirkung der Berufsämter bei den berufspsychologischen Aufgaben be¬
sonders zur Beratung. Die durch das Seminar für Arbeitsvermittlung und
Berufsberatung am Staatswissenschaftlichen Institut der Universität Münster
angekündigten und vom Berichterstatter gehaltenen berufspsychologischen
Vorlesungen und Übungen behandelten: In W. S. 1920/21: „Die Praxis der
experimentell-psychologischen Untersuchung von Berufseignung und Berufs¬
begabung“ ; S. S. 1921: „Arbeiterauslese und Berufsberatung auf Grund der
psychologischen Beobachtung und Prüfung mit. praktischen Übungen zur
kritischen Beurteilung der Methoden“; W. S. 1921/22: „Die Praxis der psycho¬
logischen Berufsberatung (Beobachtungsbogen und Eignungsprüfung)“ und
„Psychologische Berufskunde“; S. S. 1922: „Psychotechnik in der Industrie
und im Bergbau“ und „Übungen zur psychologischen Berufskunde“; W. S.
1922/23: „Die psychotechnische Auslese der Begabten in Schule und Beruf“
und „Psychotechnische Übungen zur Berufs- und Begabtenauslese“. Der
dringenden Frage der Weiterbildung der Berufsberater wird vielleicht mit
dejn Inkrafttreten des Arbeitsnachweisgesetzes und mit der dadurch gegebenen
Erleichterung der finanziellen Voraussetzungen unter günstigeren Bedingungen
nähergetreten werden können. Daß hier noch vieles zu tun bleibt, darüber
besteht allseitige Übereinstimmung.
Die Anregung und Förderung der psychologischen Eignungs¬
feststellung und Auslese für die praktische Berufsarbeit von
Jugendlichen und Erwachsenen fand bei den Vertretern unseres Wirt-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
311
schaftslebens, besonders in den Lehrwerkstätten der Großindustrie, weit-
/ gehendes Verständnis. Auch die Arbeitnehmerkreise standen überall, wo
eine Aussprache über die allseitigen Vorteile einer vernünftigen Auslese und
Gignungsfeststellung herbeigeführt werden konnte, dem Problem zustimmend
gegenüber. Daher sind Industrie-, Gewerbe- und auch Schulkreise mehrfach
an die Provinzialabteilung herangetreten, ihnen bei der beruflichen Auslese
von Fachkräften, Lehrlingen, Schülern für bestimmte Klassen usw. behilflich
zu sein und im Interesse des Betriebes wie der Berufsuchenden bei einer
Berufsberatung, auf Grund psychotechnischer Prüfungen mitzuwirken. Für
die Durchführung derselben sind zum Teil psychotechnische Apparate not¬
wendig, zum Teil besondere Prüfverfahren und Aufgaben (psychologische
l^sts) auszuarbeiten, vorzuprüfen und auf ihre Bewährung zu untersuchen.
Die notwendigen Vorarbeiten in der Zusammenstellung der Prüfverfahren sind
durchgeführt und werden weiter ausgebaut, die erforderlichen Apparate sind
als Eigentum der Provinzialabteilung für praktische Psychologie beschafft
worden und werden zunächst im Institut in Dortmund benutzt, stehen aber
auch überall anderswo in der Provinz bei psychotechnischen Prüfungen und
Kursen zur Verfügung. Der vom Institut für praktische Psychologie in Dort¬
mund, Abteilung „Wirtschaftspsychologie“, am 29., 30. und 31. Mai 1922 ver¬
anstaltete Psychotechnische Kursus zur praktischen Einführung in die Auf¬
gaben und Arbeitsmethoden der wirtschaftlichen Psychotechnik fand unter
reger Beteiligung von Industrie, Handel und Gewerbe, Straßenbahngesell¬
schaften, Zechenverwaltungen, Eisenbahndirektionen, Berufsämtem und psy¬
chologischen Fachvertretern ungeteilte Zustimmung. Die Vorträge und Übungen
behandelten: „Aufgaben, Möglichkeiten und Leistungen der Psychotechnik“,
„Aus der Praxis psychotechnischer Eignungsfeststellungen im rheinisch-west¬
fälischen Industriebezirk“, „Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und
Bewährung psychotechnischer Eignungsfeststellungen“ (Dr. J. Weber); „Er¬
fahrungen bei der psychotechnischen Auslese industrieller Lehrlinge in Bremen“
(Dr. Th. Valentiner); Die Lehrlingsauslese nach dem Hamburger Verfahren“
(Rektor Beyer); „Aufbau, Eichung und Kontrolle psychotechnischer Apparate“
(Ingenieur E. Gottschalck). Weitere Kurse ähnlicher Art wurden dringend
gewünscht.
In Dortmund wurde bei der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks-A.*G.,
Abteilung Union, im Dezember eine Eignungsprüfung an 300 Lehrlingen
durchgeführt (Bericht in Werkzeitschrift „Das Werk“, 1. Jahrg., Heft 12 und
in den „Psychologischen Mitteilungen“, 2. Jahrg., Heft 11—12). Weitere
Lehrlingsauslesen fanden in Detmold bei den Lippischen Werkstätten (21 Lehr¬
linge) und in Hörde bei der „Phönix-A.-G.“ für 180 Lehrlingsbewerber statt
(Untersuchung auf Einstellung als Dreher, Schlosser, Elektriker, Modellschreiner
und kaufmännische Lehrlinge). In Siegen hat die Siegerländer Eisen- und
Hüttenindustrie die Leitung der Eisen- und Hütten-Fachschule mit den Vor¬
arbeiten zur Errichtung einer psychotechnischen Prüfstelle in Verbindung mit
der Provinzialabteilung beauftragt Die erste Aufnahmeprüfung für die Fach¬
schule wurde für 48 Bewerber im April vorgenommen. Im Laufe des Winters
ist die vollständige Einrichtung der Prüfstelle ins Auge gefaßt. Mit der
Psychotechnischen Prüfstelle der Reichs-Eisenbahnverwaltung und mit den
beteiligten Stellen verschiedener Eisenbahndirektionen sind Besprechungen
über die Durchführung psychotechnischer Prüfungen herbeigeführt worden.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Die Gelsenkirchener Bergwerks-A.-G., die Akkumulatorenfabrik in Hagen, die
Deutsche Maschinenfabrik in Wetter und die Union in Dortmund bringen der
psychotechnischen Auslese innerhalb der Lehrwerkstätten großes Interesse
entgegen und unterziehen alle angemeldeten Jugendlichen einer psychotech¬
nischen Eignungsfeststellung. Im September 1922 wird das Institut in Dort¬
mund, dessen Hilfsmittel an Apparaten und Prüfaufgaben ständig vermehrt
werden, im Aufträge der Union wiederum die Prüfung von über 300 Jugend¬
lichen durchführen.
Die Erfolge der bisherigen Eignungsprüfungen sind durch .Vergleichs- und
Kontrollmaßnahmen, die von der Prüfleitung nicht zu beeinflussen waren,
seitens der Betriebe mehrfach nachgeprüft worden (vgl. z. B. „Psychologische
Mitteilungen“, 2. Jahrg., Nr. 11—12). Die Ergebnisse führten zu fast voll¬
ständiger Übereinstimmung zwischen der Beurteilung durch die Praxis und
durch die Prüfung. Das Prüfungsmaterial nebst den festgelegten Eignungs¬
kurven und den Aufzeichnungen über das individuelle Verhalten jedes
Prüflings bei Lösung der Einzelaufgaben befindet sich bei der Provinzial¬
abteilung, um als Grundlage für die Beobachtung der späteren Bewährung
zu dienen und andererseits eine Überprüfung der verschiedenen Auslese¬
verfahren auf Grund der Betriebserfahrungen zu ermöglichen. Für das
etwas anders geartete Ausleseproblem im Kohlenbergbau — hier handelt es
sich in erster Linie um den Grubenaufsichtsdienst mit seinen weitgehenden
Anforderungen an persönliche Zuverlässigkeit und ausreichende Geschicklich¬
keit in der Behandlung der Arbeiter — sind nach Besprechung mit der
Leitung der Bergschule in Bochum psychotechnische Vorarbeiten im Gange.
Auch der Berufsberatung der Minderbefähigten und der Fürsorgezöglinge
wird noch Aufmerksamkeit zuzuwenden sein, weil auf diesen Gebieten
wegen der Schwierigkeit praktischer Erfolge allseitige Zusammenarbeit er¬
forderlich ist.
Die psychologische Überarbeitung und Neuaufstellung berufs-
kundlichen Materials ist zunächst darauf eingestellt, die vom Landes¬
berufsamt Westfalen und Lippe bearbeiteten Merkblätter über Bergbau,
Textilindustrie und Baugewerbe, sowie über verschiedene Zweige der Metall¬
großindustrie nach der psychologischen Seite zu verarbeiten und zu er¬
gänzen. Diese Arbeiten erfolgen in enger Verbindung mit den praktischen
Betrieben der einzelnen Berufe, die ihrerseits bereitwilligst ihre Mitarbeit
und Unterstützung zur Verfügung gestellt haben. Fertiggestellt ist die Über¬
arbeitung der Merkblätter aus der Textilindustrie für die Baumwollspinnerei
(Mischungsarbeiter und Arbeiter an den Öffnern und Schlagmaschinen,
Krempier und Kratzenarbeitern, Strecker und Streckerinnen, Doubliererin,
Vorspinnerin, Ringspinner, Selfaktorspinner, Spulerin und Hasplerin). Andere
Berufe werden fortlaufend weiter bearbeitet. Nebenher sind in den „Psycho¬
logischen Mitteilungen“ (Jahrg. 3, Heft 1—3) zusammenfassende Ausführungen
zur psychologischen Berufskunde auf unsere Anregung hin veröffentlicht
worden. Für eine Reihe akademischer Berufe ist außerdem sehr reich¬
haltiges berufspsychologisches Material gesammelt worden, um auch für diese
Berufsgruppen Vorarbeiten zu einer psychologischen Berufsanalyse zu schaffen.
Das psychologisch-pädagogische Laboratorium in Amsterdam, unter der
Leitung von Prof. Dr. Geza Rövösz stehend, beschäftigt sich sowohl mit
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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psychologischen, wie mit pädagogischen Fragen. Entstanden ist es aus
dem Bedürfnis der psychologischen Beratung heraus, das die Schulen in
ihren praktisch-psychologischen, didaktischen und organisatorischen Arbeiten
sehr oft fühlen. Sie erwarten sowohl von den bisherigen Leistungen der
allgemeinen Psychologie und der pädagogischen Psychologie wie von der
aktuellen experimentellen Forschung Antwort auf ihre wichtigsten pädagogi¬
schen Fragen. Vor allem haben höhere Schulen, die sogenannten Lycea (ein
dem deutschen Gymnasium und Realgymnasium ähnlicher, jedoch in manchen
Hinsichten entwickelterer Schultyp), daran Interesse gezeigt; jedoch auch die
Elementarschulen sprachen diese Hilfe oft und gern an. — Das Laboratorium
stellt in den Schulen experimentelle Untersuchungen an und leitet solche
Untersuchungen, die von der Schulleitung selbst angeregt und eingeleitet
werden. Sowohl didaktische Methoden wie Reformfragen werden dem Labo¬
ratorium zur Begutachtung zugeschickt. Es ist auch vorgekommen, daß
ein Vorschlag der Regierung durch das Laboratorium behandelt und begut¬
achtet wurde. Auch werden Schüler dem Laboratorium zugewiesen, um
sie psychologisch zu untersuchen und über sie Psychogramme aufzustellen.
Die Leitung des Laboratoriums verfolgt dabei das Ziel, die Lehrerschaft zu
der psychologischen'und pädagogischen Arbeit heranzubilden und, sie trachtet
danach, zu gegebener Zeit in jeder der angeschlossenen Schulen einen psycho¬
logisch ausgebildeten Mitarbeiter zu haben. Durch den engen Zusammenhang
mit dem pädagogischen Lehrstuhl und dem pädagogischen Seminar der Uni¬
versität ist es ermöglicht, daß auch Studenten an den Arbeiten teilnehmen
und selbständige wissenschaftliche Arbeiten durchführen.
Aus bisherigen Arbeiten des Laboratoriums sind folgende zu erwähnen:
R6v§sz, Über spontane Selbstbeobachtung bei Kindern. Zeitschr. f. an-
gew. Psychol. 21; — Revesz und Hazewinkel, Über die didaktische Be¬
deutung der Film- und Diapositivvorführung (holländisch); — Revesz, Über
audition coloröe. Zeitschr. f. angew. Psychol. 21; — Über die Ferienfrage; —
Vorschlag zur Neuregelung des Stundenplanes; —de Graaf und Hazewinkel,
Über Koinstruktion (statistische Untersuchung); Tierpsychologische Unter¬
suchungen von Revesz.
Nachrichten. l.Dr. med.et phil. Fritz Qi ese, bisher beauftragter Dozent an der Universität Halle
und der Handelshochschule Cötben, wurde für Psychotechnik an die Technische Hochschule Stutt¬
gart berufen. Es wird dort ein Institut für betriebswissenschaftliche Versuche neu errichtet, dessen
psychologische Abteilung Giese leiten soll. Man beabsichtigt hier, neben der Forschung und
dem Hochschulunterricht auch der Allgemeinheit (insbesondere der Lehrerschaft und den Berufs¬
beratungskreisen) nützlich zu sein. So soll auch eine öffentliche, praktische Prüfstelle dem
Institut angegliedert werden. Man gedenkt hier Fragen der Eignungsprüfung im gemeinnützigen
Sinne zu erledigen und will durch Dr. Giese Kurse und Prüfungen abbalten lassen.
2. Die Universität Jena bat Prof. Carl Eitz, dem verdienstvollen Begründer der Ton wortmethode,
_jjie Würde des Dr. phil. h. c. verliehen.
3. Universitätsprof. Dr. Wendelin Toischer in Prag, der O. Willmanns pädagogischer
Gedankenwelt nahestand, ist im Alter von 67 Jahren gestorben.
4. Ein Musikpädagogiscbes Forschungsinstitut ist dieses Jahr in Berlin begründet
worden. Es leistet eigene Forschungsarbeit, sammelt gewonnene Ergebnisse und wertet das
wissenschaftlich Gesicherte für die Unterricbtsprazis aus. Zur Verbreitung musikpäda¬
gogischer Kenntnisse werden Vortragsreihen nebst Übungen veranstaltet und Arbeitsgemein¬
schaften eingerichtet. Die Leitung liegt in den Händen von Univ.-Prof. Dr. K. L. Schaefer und
Walter Kühn. Das Institut ist zugleich „Musikpädagogische Auskunftsstelle“ für alle
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314
Literaturbericht
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Fragen methodischer, unterrichtstechnischer und wissenschaftlicher Art. Die Geschäftsstelle be¬
findet sich Berlin W, Pallasstr. 12.
5. Das 1919 von Giese begründete Institut für praktische Psychologie in Halle wurde
in zweckentsprechende Räume verlegt, die ein weiteres gedeihliches Arbeiten ermöglichen. Als
neue Einrichtung ist dabei die Verteilung von Arbeitsplätzen im Institut an die Lehrerschaft ge¬
troffen worden. Der erste Kursus fand im laufenden Sommer statt und behandelte die Ein¬
führung in die praktischen Methoden znr psychologischen Grundschuldifferen¬
zierung. Die Teilnehmer waren in ihren Dienststunden zu diesen Obungen von der Schul¬
behörde verpflichtet worden. Der Kursus wird wiederholt, so daß auf diesem Wege ein Stamm
geschulter Pädagogen der Behörde für einschlägige Fragen der Schülerdifferenzierung zur Ver¬
fügung steht. Die Leitung des Instituts ist — nach der Abberufung Dr. Gieses an die Tech¬
nische Hochschule in Stuttgart — der langjährigen Assistentin Dr. Anna Martin übertragen worden.
Literatürbericht.
Besprechungen.
Eduard Spranger, Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. Zweite,
wesentlich erweiterte Auflage. Leipzig 1923. Quelle & Meyer. 251 S.
Das Wesen des Erziehers liegt in einem doppelten Eros: in der Liebe zu den geistigen
Werten und in der Liebe zu den sich entwickelnden Seelen, in denen es produktive Wertmög¬
lichkeiten ahnt (S. 154). Durch diese Formel läßt sich auch Eduard Sprangers pädago¬
gisches Wirken charakterisieren. Das vorliegende Buch, das einen ausgezeichneten Einblick in
die gesamte Forschungsarbeit E. Sprangers gewährt, zeigt, wie er die Liebe zu den geistigen
Werten zu wecken vermag, wie er zugleich auch die Erzieher mit Verständnis und Liebe zu
der heranwachsenden Jugend erfüllt.
Durch kulturphilsophische und kulturpsychologische Beobachtungen erweckt er die Liebe
zu den geistigen Werten. Der erste Aufsatz des Buches über „die Hauptströmungen der Päda¬
gogik vom Altertum bis zur Gegenwart“ zeigt, wie Spranger durch die Darstellung der Ge¬
schichte der Pädagogik eine kulturphilosophische Besinnung herbeizuführen vermag. Er spürt
der Verflechtung des Einzellebens in dem Kulturzusammenhange nach, und Persönlichkeiten wie
Luther (S. 31), Comenius (S. 57), Rousseau (S. 64), die er in den nächsten Aufsätzen dar¬
stellt, werden uns zum Erlebnis. Man kann diesea Männern gegenüber nicht mehr gleichgültig
bleiben, man fühlt sich in Verehrung zu ihnen hingezogen. Man sieht beispielsweise, wie
Comenius an der Tragik seines Jahrhunderts litt, wie die Menschheit seiner Tage durch religiöse
Gegensätze gespalten war, wie sein Leben ein „Ringen nach Einheit, Mittelpunkt und Festigkeit“
war. In dieser Einstellung erst kann man seine Arbeit am Schulbau verstehen; er war nicht
nur der „Apostel von Anschauung und Erfahrung, den die Lehrbuchpädagogik aus ihm gemacht
hat“ (S. 57). Bei der Lektüre dieser Aufsätze regt sich für alle künftige Lehrerbildung der
Wunsch, daß für eine liebevolle und eingehende Erforschung der Geschichte der Pädagogik
Raum gegeben werde. Das pädagogische Gegenwartsleben wird dadurch weitgehend bereichert
und geläutert werden.
Sprangers pädagogisches Denken ist aber nicht einseitig historisch gerichtet, es sucht sich die
geistigen Werte im Leben der Gegenwart auf (vgl. seine umfassende Schrift: Lebensformen,
Halle 1922, er ergründet die seelischen Bedingungen des Werterlebens. Der Aufsatz „Eros“
stellt in sprachlich meisterhafter und zugleich tapferer Weise die Zusammenhänge
zwischen Eros und dem Werterleben heraus. Der Aufsatz über „die Bedeutung der wissen-
chaftlichen Pädagogik für das Volksleben 44 enthält eine „Pädagogik der Realitäten 44 (S. 138);
er legt darin die Forderungen dar, die die großen Lebensgebiete: Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft:
soziales und politisches Leben in unseren Tagen an die Jugend stellen müssen.
Er erörtert ferner brennende Gegenwartsfragen: Das Verhältnis der Allgemeinbildung
zur Berufsbildung (S. 159), das Problem des Aufstiegs (S. 178). Der Aufsatz: „Die
Erziehung der Frau zur Erzieherin 44 verdient in der Gegenwart große Beachtung. Nach den
neueren Reformplänen scheint es so, als wenn das Mädchenbildungswesen analog dem Knaben¬
bildungswesen geordnet werden sollte. Spranger zeigt in seinem Aufsatz, wie besondere Wesens-
züge der Frau im Aufbau des Frauenbildungswesens besondere Berücksichtigung fordern.
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Literaturbericht
315
Der letzte Aufsatz „Von der ewigen Renaissance' 1 gibt eine feine Psychologie der Jugend¬
lichen; er führt den Erzieher an das Herz des Jugendlichen heran, erfüllt ihn mit der „Liebe
zur sich entwickelnden Seele 11 .
Das Buch Sprangers gehört in die Hand aller derer, die am deutschen Erziehungswerke
mitarbeiten; von hoher wertphilosophischer Warte aus will es die pädagogische Wirklichkeit
unserer Tage gestalten helfen.
Die Schüler Sprangers werden das Buch auch in seiner zweiten, erweiterten Auflage lebhaft
begrüßen; es wird in ihnen die unzähligen Arbeitsimpulse erneuern, die sie in Vorlesungen und
Übungen von ihrem Meister erhielten. Alle die, die Spranger in seinen Schriften und in seinem
Wirken noch nicht kennen, seien auf das Buch verwiesen. Sie werden hier eine päda¬
gogische Persönlichkeit kennen lernen, die in nachhaltiger Weise ein vielseitiges pädagogisches
Problerabewußtsein zu wecken versteht.
Leipzig. Karl Reumuth.
Dr. Wilhelm Strohmayer, Prof. a. d. Universität Jena, Die Psychopathologie des
Kinderalters. Vorlesungen für Mediziner und Pädagogen. Zweite, neubearbeitete Aufl
München 1923. Bergmann. 359 S. Grundpreis 6.JS0 M.
Das Werk, das auch von keinem geringeren als Rossolimo ins Russische übersetzt worden ist,
führt von den leichtesten seelischen Anomalien im Kindesalter in geschlossenem Zuge hin zu
den vollentwickelten Geisteskrankheiten des Kindes und gibt — ohne Sucht nach Vollständigkeit —
von dem weiten Gebiete ein schön abgerundetes, wohlgegliedertes Bild. Es setzt ein mit
der allgemeinen Ätiologie und Prophylaxe kindlicher Nervosität, bespricht darauf die psycho¬
pathischen Konstitutionen und verweilt weiter bei Neurasthenie und Chorea. Es finden dann
Hysterie und Epilepsie besonders eingehende Darstellung. Ausgebreiteter wird schließlich auch
der jugendliche Schwachsinn behandelt. Ein Überblick über die wichtigsten akuten Geistes¬
krankheiten schließt ab. Als eine verdienstliche Beigabe ist das umfassende Literaturverzeichnis
zu bewerten.
Strohmayer will sich an Mediziner und Pädagogen wenden. Eine in ihrer Schwierigkeit
nicht zu unterschätzende didaktische Aufgabe, die er u. E. von dem Standpunkte aus, den
er nach der Forderung eines gleichsinnigen gemeinsamen Wirkens von Arzt und Lehrer
in der Einleitung entwickelt, trefflich meistert. Die Psychiatrie darf der Pädagogik »das
wissenschaftliche Hausrecht im geistigen Leben der Jugend u nicht streitig machen; der Psychiater
hinwiederum muß sich dagegen verwahren, daß ihm von unzuständiger pädagogischer Seite in
seine Kunst hineingepfuscht werde. »Die Schule ist die ureigene Domäne des Pädagogen, in
der der Psychiater Gast ist. Seine Aufgabe ist erfüllt, wenn er dem Lehrer die krankhaften
geistigen Schwächlinge auf Grund seiner psychiatrischen Diagnostik in gemeinsamer Besprechung
und Verwendung der schulischen Beobachtungen aufzeigt, auf besondere dem krankhaften Zu¬
stande der Schwachbegabten entspringende Kinderfehler aufmerksam macht und die Wege weist,
auf denen sie gesundheitlich gefördert .. . werden können. Außerdem muß der Psychiater bei
der sauberen Auslese der Hilfsschüler mitwirken.“ "Dazu bedarf es, daß beide — Lehrer und
Arzt — wechselseitig tiefes Verständnis für die Eigenart ihres besonderen Wirkungsfeldes zu
gewinnen streben. Der Pädagoge, der Grenzen seines Könnens bewußt, wird dann nicht ver¬
leitet werden, mit einem psychiatrischen Halbwissen auf eigene Faust zu kurieren, und vom
Psychiater ist zu erhoffen, daß er sich nur als Berater im Erziehungsplane weiß, sich nicht in
schulische Interna einmischt und auch den Schein der ärztlichen »Kontrolle 11 des pädagogischen
Tuns meidet. Aber »wer im Grenzlande mitreden will, muß die Sprache des Nachbarn ver¬
stehen 11 . Und so macht Strohmayer in seinen Vorlesungen keine peinlichen Zugeständnisse an
eine Popularisierung seines Gegenstandes — weder zugunsten des pädagogischen noch des
medizinischen Hörers. Er bedient sich durchweg der für den Laien nicht eben leicht zugäng¬
lichen psychiatrischen Fachausdrücke — wenn auch eine leichte Anpassung nicht zu verkennen
ist —, und er zieht überall Sachverhalte des schulischen Gebietes heran, in denen sich wieder nur
der Lehrer in voller Kennerschaft weiß. Daß durchweg viel und vielseitiges Kasuistisches ein¬
gewebt ist in die entwickelnde Darstellung, gibt dem Buche einen besonderen Reiz. Sch.
Paul Häberlin, Prof., an der Universität Basel, Der Leib und die Seele. Basel 1923.
Kober. 210 S.
Häberlin sucht in den wirren Begriffsgebrauch, in dem die Ausdrücke Seele, Leib und
Körper vieldeutig auftreten, sichere Klarheit zu bringen und mit dieser Aufklärung dann theo¬
retische Probleme, die immer aufs neue wieder das menschliche Denken bewegen auf seine Art
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Literaturbericht
zu lösen, ln der vollen Wirklichkeit ist ihm der Mensch »ganz Seele und nichts als-Seele* —
in einem anderen als dem geläufigen Sinne freilich, in dem sonst „Seele“ als Inbegriff der
Bewußtseinserscheinungen gedacht ist. ,Die Gesamtseele erscheint in Fremdform als sinnliche
Gestalt* — als „Körper“. Mit ihm als Erscheinungsform nicht gleichbedeutend, drückt die
Realität „Leib“ (wenn der Ausdruck nicht im weiteren Sinne als identisch mit der Gesamtseele
verwendet wird), die unverständliche und bewußtseinsunfähige Partie der Gesamtseele* aus und
„Leib** steht dann der „Seele im engeren Sinne“ als Partner gegenüber, mit ihr im Zusammen¬
hang des ganzen Menschen, also der Seele im weiteren Sinne, struktuell und kausal-genetisch
verbunden. Bei dieser Auffassung von dem Erscheinungscharakter aller Körperlichkeit und der
seelischen Art alles Wirklichen fällt dann Jeder Gedanke an eine Gebundenheit der Seele an
den Körper dahin. — Den praktischen Auswirkungen dieser einheitlichen Anschauung, die
in schönen Gedankenentwicklungen dargestellt wird, geht Häberlin nicht nach. Er gibt nur
gelegentliche Ausblicke. So z. B. auf den Sachverhalt, der hinter den pädagogischen^Gegriffen
„körperliche Erziehung** und „Leibeskultur** steht (S. 207). „Erzogen wird niemals der Körper;
denn er ist keine Realität •.. Was man unter körperlicher Erziehung versteht, ist Erziehung
des Menschen auf dem Wege Über die Übung seiner peripher-physiologischen Funktionen. Man
kann dabei mehr Gewicht auf die Ausbildung dieser peripher-leiblichen Funktionalität als solche
legen oder dann auf die Erziehung zur „Energie“, „Disziplin“ usw., also zentrale und teilweise
auch körperliche Funktionalität. Im ersten Fall bildet man den „Leib** aus, im zweiten Fall
gilt die Ausbildung mehr der „Seele** (im engem Sinne), und die Leibesübung ist dann Mittel
zum Zweck. In beiden Fällen aber ist der Körper nur die Erscheinungsform dessen, was
gebildet wird, und dieses selber ist immer die gesamtseelische Realität des Menschen, welche
ja sowohl den „Leib** wie die Seele umfaßt.
Ohne zu den Anschauungen Häberlins an diesem Orte hier Stellung zu nehmen und damit
ewige Streitfragen menschlichen Denkbemühens aufzugreifen, sei sein .neues Werk ebenso
empfohlen, wie seine anderen philosophischen und rein pädagogischen Schriften: Wissenschaft
und Philosophie, ihr Wesen und ihr Verhältnis — Die Grundfrage der Philosophie — Das
Gewissen — Das Ziel der Erziehung — Wege und Irrwege der Erziehung — Kinderfehler als
Hemmungen des Lebens — Eltern und Kinder (Psychologische Bemerkungen zum Konflikt der
Generationen). Nicht freilich, daß in diesem reichen literarischen Werke des verstorbenen
Schweizer Gelehrten, der aus der pädagogischen Praxis aufgestiegen ist, geniale Offenbarungen
gegeben seien. Aber was sich als Befunde seines einbohrenden Denkens und als Beute seines
wachen Umblickes im kulturellen Leben schriftstellerisch niedergeschlagen hat, ist so einsichtig
und umsichtig, so klar und vernünftig und in so gefälliger Prägung gegeben, daß es sich über
das Mittelmaß Jener pädagogischen und philosophischen Literatur, die sich vornehmlich an die
Lehrerschaft wendet, doch recht merklich erhebt.
Leipzig. Rieh. Tränk mann.
Pallat und Hilker, Künstlerische Körperschulung. Breslau 1923/ Hirt. 168 S.
22 Abb. Grundpreis 7 M.
Das vortrefflich ausgestattete Werk berichtet in Einzelbeiträgen verschiedener Verfasser über
das, was Oktober 1822 auf der Berliner Tagung für künstlerische Körperschulung in der Hoch¬
schule für Musik geboten wurde. Jeder, der damals den Veranstaltungen beiwohnte, wird sich
freuen, hier noch einmal, gleichsam in Ruhe und Ausgeglichenheit, wiederzufinden, was wie
ein Vergleiche herausfordendes Bild vorüberzog. Und man wird den Herausgebern nur bestätigen
können, daß im Buch unbewußt Gemeinsames vielleicht viel stärker wirkt als der Gegensatz, daß
umgekehrt auch manche Phrasenvorliebe sich offenbart, die nicht zu übersehen ist Es sind kurze
Zusammenstellungen einschlägiger Systeme — so Mensendieck, Loheland, Laban, Bode, Duncan,
Andersen-Schlaffhorst, Dalcroze in Urform — geboten; hinzukommen fesselnde Ausführungen
Luserkes über Bewegungsspiel und Schulbühne und Äußerungen des Harburger Kreises um
Tepp. Glanzpunkt des Buchs ist die tiefgründige und der Körperkultur so nötige Klarlegung des
Wesens der Rhythmik von Klages. Es wäre zu wünschen, daß wir bald in diesem Sinne
eine geordnetere Begriffsbestimmung in der Körperkultur erhielten! Gerade dieses Buch zeigt
recht peinlich vielfaches Aneinandervorbeireden. Es ist kein Zweifel, daß das Werk in der
Vielseitigkeit des Gebotenen und der friedlichen Zusammenstellung aller sich oft scharf be¬
fehdenden Richtungen eine Neuigkeit darstellt. Man wird es jedem empfehlen, der irgendwie
— ausübend oder lehrend — mit dem Gebiete der körperlichen Gestaltung zu tun hat, zumal
einige Bilder den Text angemessen veranschaulichen helfen.
Stuttgart. Fritz Giese.
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Literaturbericht
317
Dr. (Jllrich Peters, Die soziologische Bedingtheit der Schule. Heft 5 der Ziele und
Wege der Deutschkunde. Frankfurt a. M. 1922. M. Diesterweg.
Ich gestehe, daß ich an die Darstellung soziologisch-pädagogischer Probleme mit starker
Skepsis herantrete. Wie oft verbirgt sich hinter der soziologischen Untersuchung nur ein ver¬
stecktes Parteiprogramm. Wird dabei gar die Soziologie unserer materiellen Kultur in geschichts¬
materialistischer Aufmachung den pädagogischen Problemen als Grundlage untergeschoben, so
muß unser Schul- und Erziehungswesen in maßloser Verzerrung erscheinen. Peters Schrift be¬
wegt sich durchgehende in anderer Richtung. Es sind die geistesgeschichtlichen Zusammen¬
hänge durchaus in den Vordergrund gestellt; geistesgeschichtlich ist auch die Struktur seines
Denkens. Ideen werden zum geistigen Ferment der Gesellschaft und bestimmen Form und Inhalt
der Erziehung. Die Schrift ist ein geistreicher Versuch, Schul- und Erziehungsfragen in geistes¬
geschichtlicher Beleuchtung abzuhandeln — eine philosophische Grundlegung der Pädagogik der
Gegenwart Man mag hier und da zum Widerspruch herausgefordert werden und Dingen eine
andere Deutung geben, das Werk als Ganzes ist von einheitlicher Struktur, deren Grundgerüst
schon dadurch bezeichnet ist, daß es in der deutschkundlichen Serie erscheint. Es ist eine solche
Fülle anregender Gedanken in dem Buch, daß ein Eingehen im Rahmen einer Besprechung sich
von selbst verbietet. Die Formen der Erziehung bespricht Verfasser in Anlehnung an die Typen
der Lemschule, der Erlebnisschule und der Arbeitsschule. Diese drei Formen werden in Be¬
ziehung gesetzt zu den folgenden Begriffspaaren: Intellektualismus-Impressionismus, Vitalismus-
Expressionismus, Intuition-Synthese, die Peters als die Grundeinstellungen jener drei Schulformen
betrachtet.
Frankfurt a. M. Julius Wagner.
0. Meyrich, Pflichtstunden und Arbeitstag der Lehrer. Leipzig 1922. Verlag der
Leipziger Lehrerzeitung. 24 S.
Mit Nachdruck verlangt das Schriftchen, daß man die Pflichtstundenzahl des Lehrers an
der Volksschule vermindere; denn dessen Berufswirken, so wird überzeugend dargelegt, stellt
wenn nicht höhere, so ganz gewiß nicht geringere Ansprüche an geistige Krafterregung als
die Tätigkeit des Lehrers an höheren Schulen (S. 5). Gestützt wird die Forderung, gegen die
sich von finanzwirtschaftlichen Erwägungen die Schulverwaltungen stemmen, u. a. sehr wirksam
durch ärztliche Befunde über gesundheitliche Schädigungen des Lehrerberufes. Wenn die
pädagogische Psychologie viel tiefer als bisher die geistige Gesamthaltung des unterrichtenden
Lehrers in wissenschaftlicher Zergliederung aufgeschlossen hätte, so würde die Schrift es noch *
verständlicher machen können, wie die Überbelastung des Lehrers letzthin höchst unwirtschaftlich
auch in dem Sinne ist, daß sie nicht nur den Lehrer frühzeitig abnutzt, sondern auch den
Unterricht schwer beeinträchtigt. Denn wahrhaft bildender Unterricht fordert eine Erfüllung der
Lehrstunden mit innerem Leben, eine geistige Hochspannung, eine Erregung der seelischen
Kräfte, die unmöglich Stunde um Stunde festgehalten werden kann. §o geschieht die hohe
Stnndenbelastung außer zum gesundheitlichen Schaden des Lehrers auch auf Kosten der
Güte des Unterrichts: der Lehrer wird notwendig zum Unterrichtshandwerker, zum Stunden¬
halter herabgewürdigt. Seltsam aber, wie schwer dies solchen, die außerhalb des Lehrberufs
stehen, begreiflich zu machen ist.
Leipzig. Otto Scheibner.
F. Heman-Moog, Geschichte der neueren Pädagogik. In 6. Auflage neu heransgegeben
von Willy Moog (Der Bücherschatz des Lehrers Band X). Osterwiek am Harz 1921 • A. W.
Zickfeldt 588 S.
Das Hemansche Lehrbuch der Geschichte der neueren Pädagogik hat in dem Greifswalder
Privatdozenten für Philosophie und Pädagogik Willy Moog einen neaen Bearbeiter gefunden, der,
die wertvollen Telle des ursprünglichen Textes pietätvoll schonend, Einseitigkeiten und Unaus¬
geglichenheiten bessernd zu überwinden strebt und durch zwei bedeutsame Erweiterungen (einen
abrißmäßigen Überblick über die Pädagogik des Altertums und Mittelalters und die Fortführung
der Entwicklung durch die pädagogischen Strömungen der neuesten Zeit) die allmähliche Um¬
wandlung in ein Lehrbuch der gesamten historischen Pädagogik anbahnt. Wie nach der ur¬
sprünglichen Anlage nicht gut anders möglich, nimmt die berichtende Wiedergabe der päda¬
gogischen Ideen aus den Originalschriften und die Schilderung der Erziehungszustände einen
breiteren Raum ein als die selbständig gestaltende Arbeit des Geschichtsschreibers, doch bleiben
die allgemeinen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge spürbar. Ob auf die Herausstellung der
leitenden Ideen und ihres Zusammenhanges mit den geistigen Strömungen nicht auch ein Lehr-
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Literaturbericht
buch mehr Nachdruck legen sollte, wird wohl immer verschieden beurteilt werden« Auf der
anderen Seite ist eine solche plastische Durcharbeitung notwendig von einem persönlichen Stand¬
punkt, von einem eigenen System abhängig und verführt dadurch leicht zu mehr oder minder
einseitiger Auslese und Betonung, die für ein zur strengsten Objektivität mindestens im Stoff¬
lichen verpflichtetes Lehrbuch gefährlich werden kann. Nach den wesentlichen Verbesserungen,
die der neue Bearbeiter in einer offenbar sehr gedrängten Zeit schon durchzusetzen vermochte,
besteht begründete Hoffnung, daß das Buch in den folgenden Auflagen zu einem vollendeten
Lehrbuch der Geschichte der Pädagogik ausreift. Wir haben — trotz überreicher Produktion
— einen fühlbaren Mangel an klassischen Lehrbüchern, die — in der Mitte zwischen der Stich-
wortmanier übersystematisierter Leitfäden (Kompendien, Abrissen) und den unbeherrschten Stoff¬
massen detailseliger Vielbänder — die pädagogische Entwicklung in ideen- und problemgeschicht¬
licher Pragmatik übersichtlich meistern.
München. Aloys Fischer.
Kurze Anzeigen.
Karl Vorländer, Französische Philosophie. Breslau 1923. Hirt. 132 S.
Ein Band aus der „Jedermanns Bücherei*. Zum ersten Male aus berufenster Hand der
Versuch, ein Gesamtbild von dem französischen Anteil an der Entwicklung menschlichen Denkens
in der Neuzeit darzustellen, einsetzend bei Montaigne und heraufgeführt bis Bergson. Ausklang
„Hoffen wir, daß zunächst die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Nationen, die sich in der
Philosophie vor dem Weltkriege bis zu Internationalen Kongressen und anderen gemeinsamen
Unternehmungen verdichtet hatte, früher oder später wiederkehren wird: denn Philosophie und
Wissenschaft sind nicht Eigentum einer besonderen Nation; sie bedürfen, um zu ihrer höchsten
Blüte und Vollendung zu gelangen, der einträchtigen Zusammenarbeit aller.“
Dr. R. Pauli, a. o. Prof. a. d. Universität Müncheif, Psychologisches Praktikum. Leit¬
faden für das experimentell-psychologische Praktikum. Mit 100 Abb. im Text und 4 Tafeln.
3., verb. Aufl. Jena 1923. Fischer. 247 S. Grundpreis 5 M.
Das bei seinem ersten Erscheinen (1919) von uns gekennzeichnete Werk ist durchgreifend
umgestaltet und ausgestaltet worden. Didaktisch wertvoll erscheint in der Neubearbeitung
besonders, daß bei den bedeutsameren Versuchen zumeist auch auf verwandte Erscheinungen
und auf die umfassenderen theoretischen Zusammenhänge verwiesen wird, womit aus dem Prak¬
tikum, das am Einzelfall arbeitet, der Weg zur Einscbau in das Ganze der psychologischen
Lehre herausführt. Zu selbständiger Arbeit will auch der jetzt stark vermehrte Quellennach¬
weis willkommene Handreichungen bieten. — Paulis Psychologisches Praktikum bedeutet mehr
als nur den ausgezeichneten Leitfaden für Übungen im Institute, mehr auch als ein treffliches
Hilfsmittel für wirklfffi didaktisch eingestellte Vorlesungen und Lehrstunden: wenn es das
Studium systematischer Handbücher der Psychologie begleitet, so sind in ihm die Arbeitsweisen
und Arbeitsmittel dem Studierenden angegeben, mit denen er die experimentell begründeten
Lehren der Psychologie im reizvollen eigenen Suchen und Versuchen nachzuprüfen vermag.
A. Lange-Lüddeke, Zur Psychologie des Psychographierens. Zeitschr. f. angew.
Psychologie. 1922. Bd. 20, Heft 5—6.
Eine Untersuchung über den Einfluß des Psychographen auf seine psychographische Tätigkeit.
Es wurden 22 Psychogramme über 6 Personen miteinander verglichen. Ergebnis: Die Psycho¬
gramme über einfache Persönlichkeiten stimmten besser Überein als über kompliziertere. Einfluß
haben u. a. Antipathie des Psychographen, seine Neigung zum Idealisieren usw. Damit ist zwar
nicht der wissenschaftliche Wert des. Psychographierens fraglich geworden, aber eine kritische
Handhabung gefordert. Bis zu einem gewissen Grade lassen sich die „persönliche^ Fehler“ aus-
gleichen durch mehrfaches Psychographieren.
Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich, Was bietet die Psychanalyse dem Erzieher?
Zweite, verbesserte Auflage. Leipzig 1923. Klinkhardt. 158 S. Grundpreis 3,60 M.
Bei seiner Wiederkehr in der zweiten Auflage sind dem Buche alle die Fortschritte förderlich
geworden, die seit dem ersten Erscheinen die Psychanalyse, besonders auch in ihren Beziehungen
zur Pädagogik, zu verzeichnen hat. Verändert erscheint darum die Auffassung von Sublimierung;
aufgegeben worden ist der Begriff der „Einstellungsanalyse“; stärkere Betonung hat die Analyse
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Literaturbericht
319
am gesunden Kinde erfahren. Wie in Deutschland hat die Schrift auch im Auslande gute Auf¬
nahme gefunden; sie liegt bereits in verschiedenen Sprachen übersetzt vor. Nicht wenig dürfte
zu solchem gewiß verdienten Erfolg neben dem Reiz des Stoffes auch die sprachliche Gestaltung
beigetragen haben. Aus Vorträgen erwachsen, gewinnt es durch die Lebendigkeit und Bild¬
haftigkeit des Ausdruckes und hat dabei wohl bei manchem Leser leicht die Wirkung, in mancher
Gedankengruppe zu überreden, wo gewandte Wendungen über eine kaum zureichende Über¬
zeugungskraft hinwegtäuschen.
Eine Bibliographie zur psychologischen Berufsberatung, Berufsforschung und
Berufskunde hat Otto Lipmann, unterstützt durcb Eranziska Baumgarten, herausgegeben.
(Schriften zur psychologischen Berufseignung und des Wirtschaftslebens. Heft 20. Leipzig
1922. Barth. 60 S. 40 M.)
Die überaus sorgfältige und fleißige Zusammenstellung, die ein Bild der erstaunlich schnellen
Entwicklung des* noch jungen Gebietes gibt, ist umso wertvoller als wissenschaftliches Hilfs¬
mittel, als sie nicht nur gelehrte Arbeiten, sondern auch Aufsätze der Tagespresse an¬
führt. Etwa 150* Titel gehören dem einschlagenden ausländischen Schrifttum an. Geordnet
ist das Verzeichnis alphabetisch; es ist aber außerdem noch ein weit aufgegliedertes systematisches
Sachverzeichnis beigegeben, das z. B. unter dem Schlagwort „Erzieher und Lehrer“ nicht
weniger als 23 Nummern aufweist.
Edwin Böhme, Das Kind und seine Pflege. 4. und 5. Aufl. Leipzig 1922. Theosophischer
Kultur-Verlag. 44 S.
Die Schrift verkündet, es werde das pädagogische Heil erscheinen, .wenn der Natur des
Kindes auf Grund der okkulten Psychologie ein höheres Verständnis und mehr Achtung entgegen¬
gebracht wird und die Eltern und Erzieher selbst den Pfad des theosophiscben Lebens einschlagen“
(S. 44), und zwischendurch wird dann von „okkulten Kräften“ geredet, die nicht selten an
Kindern — „sie schauen astral“ (S. 25) — zu beobachten sind. Trotzdem: 4. und 5. Auflage
Karl Cornelius Rothe, Leiter der Sonderklassen und Heilkurse für sprachkranke Kinder in
Wien, Die Sprachheilkunde eine neue Hilfswissenschaft der Pädonomie.
Wien 1923. österreichischer Schulbücherverlag. 175 S. 15000 Kr.
Rothe will dazu verhelfen, daß in der Lehrerbildung ein feineres Gewissen und ein wissen¬
schaftlich begründetes Verständnis für Sprachstörungen gepflegt werde. Er fordert die Ein¬
führung der Sprachheilkunde in den Bildungsgang des werdenden Lehrers, belehrt unter anderem
über mancherlei aus der Physiologie und Psychologie der Sprache und bespricht im Stammeln,
Stottern, dem Agrammatismus und der chronischen Heiserkeit die wichtigsten Sprachstörungen
und deren Therapie. Abschließend werden Sonderschulen für sprachkranke Kinder befürwortet,
wie deren eine schon seit dem Kriege in Wien besteht.
Dr. Karl SchmeYng, Oberstudiendirektor, Freie Rede. Eine praktische Anleitung zur Pflege
des mündlichen Ausdruckes und rhetorischer Bildung in der Schule. Leipzig 1922. Quelle
& Meyer. 74, S. Grundpreis 1,50 M.
Im ganzen ein methodischer Aufbau schulmäßiger Hinfübrung zur Bemeisterung des Worts
in frischer, natürlicher Rede auf Unter-, Mittel- und Oberstufe der höheren Lehranstalten. Weg¬
weisend auch für die Volksschule und die Selbstbildung. Die einschlagenden psychologischen
und fachwissenschaftlichen Erörterungen sind auf das Entbehrliche beschränkt; das Hauptgewicht
liegt auf den schulpraktischen Anwendungen und Anregungen. SiQ bekunden den erfahrenen
Schulmann.
%
•
Dr. K. Kesseler, Die deutsche Nationalerziehung in ihren wichtigsten Vertretern.
Leipzig 1922. Jägersche Buchhandlung. 167 S.
Der Verfasser gibt eine geschickte Auswahl von Abschnitten aus Originalwerken zu einem
Problem, das beute immer mehr zum Kernproblem der Pädagogik wird. Als Anthologie begrüßen
wir das Schriftchen und wünschen, daß es die Leser zu einigen der größeren Vertreter der
Nationalerziehung führen möchte. Zöllner, Stephanie, Fichte, Schleiermacher, Jahn, de Lagarde,
Paulsen, Eucken, Kerschensteiner und Budde kommen zu Wort. Man kann sich mit der Aus¬
wahl einverstanden erklären. Eine kleine Literaturangabe weiterer Schriften wäre für eine
Neuauflage erwünscht, um so gerade der neueren Pädagogik mehr dienen zu können.
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Dr. Blaum, Prof. Dr. Riebesell, Dr. Storck, Reichsjugend-Wohlfahrtsgesetz^lm
9. Juli 1922. Handausgabe mit Einleitung, Erläuterungen und Anhang von Mustersatzungen
und -Formularen. Mannheim 1923. Bensheimer. 237 S. Grundpreis 4 M.
Das Reichsjugend-Wohlfahrtsgeselz, das am 1. April 1924 in Kraft- zu treten hat, wird an
die 1000 Jugendämter und 20 Landesjugendfimter erstehen lassen und in Wirksamkeit bringen —
einen jungen Zweig der sozialen Fürsorge. Nicht nur die Jugendämter aber werden an der
Durchführung dieser großen Aufgabe zu wirken haben; auch die staatlichen und kommanalen
Behörden, die Gerichte, die Polizei- und Medizinalbehörden, ganz besonders auch die Schulen
sind daran beteiligt. Ein Kommentar des Gesetzes wird darum von einem großen Kreise will¬
kommen geheißen werden. Die Verfasser haben selbst Jugendämter großer Städte eingerichtet
und bei den Beratungen des Gesetzes im Reichsrat mitgewirkt. Ihre Auslegearbeit und ihre Vor¬
schläge und Winke für die Abfassung der Landesausführungsgesetze und -Verordnungen und für
die Einrichtungen und Ausgestaltung der einzelnen Jugendämter kommen damit iron durchaus
zuständiger Seite.
Geheimrat Dr. Wilhelm Kiesow, Ministerialrat im Reichsjustizministerium. Jugend¬
gericht sgesetz, ausführlich erläutert und eingeleitet. Berlin 1923. J. Bensheimer. 305 S.
Grundpreis 6 M.
Mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes vom 16. Febr. 1923 wird dieser erste Kom¬
mentar den Jugendrichtern und Jugendämtern ein unentbehrliches Handbuch werden. Darüber
hinaus dürften es für soziologische und psychologische Arbeiten auch Jugendkundler mit Gewinn
heranziehen. Einleitend wird die Entstehungsgeschichte des Gesetzes verfolgt und eine auf weiten
Horizont eingestellte Überschau gegeben. Nach dem Abdruck des Gesetzes arbeitet dann der Ver¬
fasser in umfassenden Erläuterungen die leitenden Gedanken heraus. Beigegeben sind die sehr
ausführlichen Begründungen, die Ausführungsverordnungen und der Text des Jugendwohlfahrts¬
gesetzes. Der Verfasser hatte eine starke Mitwirkung beim Ausarbeiten des Gesetzes und nahm
an den Beratungen im Reichsrat und Reichstag teil. Die sich hieraus ergebende Zuständigkeit,
das bedeutsame Gesetz, das sich als neuer Teil in den Bau des Strafrechts und Strafprozeßrechts
nicht völlig spannungslos einfügen dürfte, zu kommentieren, bürgt für die Gediegenheit der hier
vorgelegten Leistung.
Dr. Siegfried Kawerau, Das Weißbuch der Schulreform. Im Aufträge des „Reicbs-
bundes entschiedener Schulreformer a herausgegeben. Berlin 1920. Curtius. 63 S.
Eine Sammlung von Schriftstücken zu den „taktischen Operationen* des Bundes entschiedener
Schulreformer aus dem Jahre 1919. Sie betreffen sachlich den Schulumbau, den Lehrerstand,
die Schülerschaft, Eltern und Schule. Über eine geringe geschichtliche Bedeutung hinaus wohl
kaum so belangvoll, daß sich die Drucklegung rechtfertigen ließe.
Weltjugendliga, Verband Österreich, Erziehung zum Menschentum. Ausgearbeitet von
M. J., Lehrer, und der Pädagogischen Arbeitsgemeinschaft der Weltbundsliga. 1922. Selbst¬
verlag. 24 S.
Ein in allgemeinsten Wendungen und hochgestimmter Rede gehaltener Aufruf mit pazifistischer
Tendenz, gerichtet an die Lehrer aller Welt. „Wer die Lehrer hat, der hat die Zukunft!* „Der
menschlichen Gesellschaft fehlt das Bewußtsein der menschlichen Gesellschaft!* „Der Gemein¬
schaftssinn artet in einen Gemeinschaftsegoismus aus. u „Schulklassengemeinschaft aus eigenem
Willen und eigener Kraft!* Dazu ist „ständiges Üben und unaufhörliches Vertiefen dringend
notwendig“. — Ein Beleg für die Pädagogik dör großen Worte.
Wilhelm Sauer, Studiendirektor, Werkunterricht Leipzig o. J. Jaeger. 56 S. 1815 M.
Allenfalls nicht ungeeignet, dem Fernerstehenden eine erste Überschau über den Werk¬
unterricht zu geben — freilich beschränkt auf das Technische. Wird nunmehr Handbetätigung
als Fach auch an höheren Schulen heimatberechtigt, so werden sich alle an ihnen unterrichten¬
den Lehrkräfte um der Gesamtarbeit willen ja wohl der Pflicht bewußt sein, sich über das Was
und Wie des Werkunterrichts zu orientieren. Das Vorwort freilich bestimmt das Schriltchen,
das gegenüber anderen artgleichen Heften sprachlich recht gefällig wirkt, für die Hand des
Schülers als Hilfsbuch — dazu ist es mit seinen meist allgemeineren technischen Anweisungen
wohl weniger geeignet
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
Literaturbericht
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VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZI
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Nachruf.
Am 2. August dieses harten und dunklen Jahres der
Deutschen verschied in Leipzig
Oberstudiendirektor Prof. Dr. Hugo Gaudig,
tief ergriffen von dem Schicksal seines Volkes. Ein schmerz¬
lichster Führerverlust für das pädagogische Leben in führerloser
Zeit. Es sank mit Hugo Gaudig viel Hoffnung ins Grab, viel
Hoffnung, die in der Morgenröte einer neuen Erziehung auf
seine starke schöpferische Kraft gestellt war. Riß doch der Tod
den rastlos Schaffenden jäh aus dem noch unvollendeten gro߬
angelegten Werke seiner Tage, das im Heraufführen einer
deutschen Kulturschule die Krönung erwartete.
Vor kaum drei Jahren erst hatte Hugo Gaudig, schaffens¬
erregt und rüstig, die Schwelle der Sechzig überschritten. Um
diese Zeit seiner Ernte beglückte ihn ein spätes Geschenk: es
erstand und wuchs eine weitverbreitete Gemeinde seines päd¬
agogischen Glaubens. Allenthalben im deutschen Lande und
weit über seine Grenzen hinaus ward der Name Gaudig — wenn
auch nicht unbestritten — zum Bekenntnis. Im Willen zu einer
neuen Schule begann die pädagogische Welt, die Erziehungs¬
gedanken des Rufers und Förderers von Leipzig her in Kopf
und Herz zu bewegen und in den Werkstätten der Bildung zu
verwirklichen. Von den Lehrerschaften wohl aller deutschen
Gaue gerufen, zog Gaudig nun, oft seiner selbst nicht schonend,
unermüdlich auf pädagogische Mission. Besorgtem Blicke aber
konnte nicht verborgen bleiben, wie eine heranziehende Er¬
krankung den Wirkenden und sein Werk heimtückisch bedrohte.
Er jedoch, allem Schwachen und Müden feind, warf dem schlei¬
chenden Übel ein trotziges Nein entgegen. Beängstigende leib-,
liehe Hemmungen konnten ihn nicht bestimmen, von seinem
täglichen Schulwerke, das ihm mehr als verpflichtendes Amt,
das ihm persönliches Erlebnis war, die Hände zu nehmen. Bald
auf das Lager gebannt, rang er seinem starken Geiste in ruhe¬
losem Denken noch letzte Frucht ab. Wahrlich, ein Leben bis
zum Rande erfüllt mit entsagungsvoller und doch köstlicher
Arbeit. Es kam der Tag, da Hugo Gaudig dem Unabwendbaren
ins Weiße des Auges schauen mußte. Und nun wagte der immer
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Wagemutige zu allerletzt das Wagnis einer gefahrvollen Operation.
Dem ärztlichen Eingriff sah der Tod zu.
Um die Gestalt Hugo Gaudigs wob der Zauber des Ur¬
eigenen und Ungewöhnlichen. Auch was er im Alltäglichen
trieb und dachte, sprach und schrieb, trug immer persönliches
Gepräge. Alles Zufällige und Gelegentliche, wie es der Tag
brachte, ergriff er mit leidenschaftlicher Betrachtungsfreude und
Denklust, gab ihm Schimmer und Glanz, Gehalt und Gestalt,
Sinn und Tiefe. Wo immer er sich im engeren oder weiteren
Kreise bewegte, stets hob ihn seine überragende Geistigkeit als¬
bald heraus und nötigte auch denen, die seinem Wesen und
seinen Anschauungen nicht freundlich gestimmt waren, die An¬
erkennung des Bedeutenden und Besonderen ab.
Die jüngste Gegenwart hat Hugo Gaudig überschwänglich
gefeiert und hat ihn vereinzelt auch heftig befehdet Nicht aus
der zeitlichen Nähe aber, im geschichtlichen Abstande erst wird
seine Bedeutung für die Pädagogik gerecht und richtig geschätzt
werden können.
Denen, die mit ihm zur Mittagszeit seines Schaffens in
schöner Arbeits- und Personengemeinschaft an der Leipziger
Schule wirkten, bleibt es Gewißheit, daß aus Gaudigs reichem
Wirken das Schönste und Größte beschlossen lag im Künstler-
tume seines Unterrichts. Er war ein Berufener und Ausgewählter
zum Lehramte wie selten einer, begnadet mit dem „donum didac-
ticum“, erfüllt mit freudiger Leidenschaft am unterrichtlichen
Schaffen. Wie heilig Land betrat er seinen Unterricht, ergriffen
von der Hoheit und Schönheit des Amtes am Kinde, getragen
von tiefer Ehrfurcht vor der Jugend. Sein Lehren war bildendes
Leben. Schultäglich neu wandelten sich ihm, dem alle un¬
lebendige, starre Formel unerträglich war, die Gestaltungen der
unterrichtlichen Bilder und zeugten von seiner erstaunlichen
künstlerischen Begabung und Lust zu didaktischer Erfindung.
So pilgerten denn auch fast tagaus, tagein pädagogische Wall¬
fahrer, oft aus weitester Ferne, zur „Gaudigschule“, dort den
Meister inmitten seiner Schülerinnen zu erleben. Daß er sich
selbst aber nicht eingestehen mochte, wie der Reiz und die be¬
schwingende Wirkung seines Unterrichtens weniger aus kunst¬
voller Methode als vor allem aus der belebenden Kraft seiner
einzigartigen Persönlichkeit erstanden, gesellt sich zu so manchem
anderen Tragischen, das Leben und Wirken des seltenen Mannes
umwitterte.
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In erstaunlicher Breite und Verbreitung dehnt sich das viel¬
gestaltige literarische Werk Gaudigs, überquellend von eigen¬
wüchsiger Gedankenfülle, eigendenkerisch, eigengeprägt. Es er¬
wuchs ihm aus dem Erlebnis der pädagogischen Wirklichkeit,
der er immer sorgfältig und besorgt den Puls fühlte, auf deren
Weben und Leben unablässig sein betrachtender und ein¬
dringender Blick ruhte, die Geheimnisse ihres Waltens zu er¬
gründen. Selten nehmen Gaudigs Schriften eine rein erkennende
Haltung ein. Sie bekennen und fordern, regen an und reizen
auch auf, spiegeln in dem Barock ihrer Formgebung die betonte
Eigenart ihres Schöpfers wider. Voller Leben werden sie leben
unter denen, die darnach trachten, jegliches erzieherische Tun zu
beseelen und zu durchgeistigen.
Der pädagogischen Wissenschaft hat Hugo Gaudig, ohne
daß er sich in Tat und Denken, in Schrift und Wort ausge¬
sprochen als erziehungswissenschaftlicher Gelehrter fühlte, Wert¬
vollstes gegeben. Mit der Forderung psychologischer Grund¬
legung der Bildungsverfahren und kulturphilosophischer Her¬
leitung der Bildungsziele drang er darauf, daß die Pädagogik —
die Theorie einer Praxis — wissenschaftliche Strenge bekäme.
In seinen Schriften findet sich als Ertrag seines einbohrenden
Denkens überaus reiches Erkenntnisgut niedergelegt, das nur der
mühelosen Heraushebung und systematischen Fügung harrt.
Vor allem hat Gäudig — und darin lag eine wissenschaftliche
Stärke seines Denkens — für die weiterführende Forschung die
Problematik einer neuen Pädagogik entfaltet. Was er an Fragen
über das Bildungsideal der Persönlichkeit, über das Bildungs¬
verfahren zur Erweckung freier geistiger Tätigkeit, über die
innere Bildungspolitik einer Eingliederung des Schulwesens in
den nationalen Kulturprozeß aufgezeigt hat, öffnet ein ungeheuer
weites Feld von Aufgaben für erziehungswissenschaftliche Unter¬
suchungen.
Mit Hugo Gaudigs reichem Schaffen war auch unsere Zeit¬
schrift verbunden. Das Gewicht seines gefeierten Namens deckte
die Arbeit der Schriftleitung, und wertvolle Beiträge seiner fleißigen
Feder ließ er in eine lange Reihe von Jahrgängen einfließen.
Dieser Mitwirkung gedenken wir dankbar in unserem letzten
Gruß, mit dem wir von Hugo Gaudig Abschied nehmen.
Die Schriftleitung und der Verlag.
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UNIVERSETY OF
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Julius Schneider
Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches.
Von Julius Schneider.
Das Bilderbuch bietet als Erzeugnis der Dlustrationskunst wie als Hilfs¬
mittel der Erziehung im frühen Kindesalter eine Reihe reizvoller Probleme
geschichtlichen und pädagogisch-psychologischen Inhalts dar, deren Lösung
zugleich Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung der noch immer aus¬
gedehnten Bilderbuchproduktion zu bieten vermag.
Die folgenden Darlegungen sind ein Versuch, die heute herrschenden
Typen auf dem Bilderbuchmarkt im Anschluß an repräsentative Erscheinungen
zu kennzeichnen und dabei wenigstens einen Teil der Fragen, die den
Psychologen und Erzieher beschäftigen, klarzulegen. Die geschichtliche Ent¬
wicklung zu schildern, liegt außerhalb des Rahmens dieser Zeitschrift, ebenso
die ästhetische Analyse der Einzelheiten und die eigentlich reproduktions-
und buchtechnischen Seiten des Bilderbuches. Zu beiden Punkten sei nur
in Kürze folgendes bemerkt.
Die neueren Forschungen über die Entwicklung der Wahrnehmung und des
Bildverständnisses bei Kindern lassen keinen Zweifel darüber, welche Bild¬
elemente (Außenkontur, Schattenriß, Binnenzeichnung, Farbe, Flächen- und
Raumdarstellung) auf den einzelnen Altersstufen noch unterschwellig sind;
das Bilderbuch ist von diesem Standpunkt aus ein Instrument unabsichtlicher
Schulung der optischen Auffassung und ganz abgesehen von der Bereicherung
des Vorstellungsschatzes rein als Gelegenheit der in der Sehfunktion ent¬
haltenen geistigen Vorgänge — neben der Anschauung wirklicher Gegen¬
stände — von einer noch nicht gewürdigten Bedeutung. Als Anschauungs¬
mittel muß das Bilderbuch der Auffassungsfähigkeit des Kindes sowohl an¬
gepaßt sein wie gleichzeitig Anreize für weitere, höhere Stufen der optischen
Auffassung planmäßig darbieten.
Soweit das Bilderbuch Anregung und Vorbild für das eigene graphische
(und „malerische“) Schaffen des Kindes geben soll, ist eine billige Rücksicht
auf die Entwicklung der zeichnerischen Begabung, allgemeiner der graphischen
Ausdrucksfähigkeit, geboten, wenn schon hier das Bilderbuch immer in erster
Linie „Vorbild ist“, d. h. über der Kritzel- und Schemastufe stehen muß,
also mindestens etwa auf der von G. Kerschensteiner so benannten Region
erscheinungsmäßiger Darstellung. Allein jeder Beurteiler weiß, daß die er¬
scheinungsmäßige Darstellung alle Schattierungen vom einfachen Umriß bis
zur künstlerisch höchststehenden „Zeichnung* umfaßt, von denen einige für
das Kind irreführend, andere „zu schade“ wären, und es ist ein praktisch
bedeutsames Problem, die Formen erscheinungs- und formgemäßer Dar¬
stellung auszusondern, die für das Kind verständlich und als Erziehungs¬
mittel zugleich förderlich sind. i
Über die Entwicklung der ästhetischen Empfänglichkeit im frühen Kindes¬
alter besitzen wir heute weder abschließend allgemeingültige noch voll¬
ständige Feststellungen; nur für die Farben, für einzelne Formgefühle und
für das Gebiet der humoristischen Darstellungen stehen uns Untersuchungen
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
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von einigermaßen ausreichender wissenschaftlicher Sicherheit zu Gebote. Der
folgende Überblick lehrt, daß die instinktive Kinderpsychologie der Künstler
hier der Forschung sozusagen zuvorgekommen ist.
Was endlich die pädagogische Bedeutung des Bilderbuches anlangt,
so variiert sie nach den vorzugsweise erstrebten Zwecken der lustbetont¬
unterhaltenden Beschäftigung, der anschaulichen Erweiterung des Vorstellungs¬
kreises, der Vertiefung sittlicher Gefühle und Gewöhnungen, der unbewußten
Geschmackskultur, wobei die jeweils psychologisch wirksamen Momente zu¬
gleich abhängig sind vom Stoff des Bilderbuches einerseits, vom Geschlecht
der Kinder andererseits.
Geschichtlich betrachtet wächst das Bilderbuch heraus einerseits aus den
ältesten Bestrebungen der Veranschaulichung für homines illiterati, für die
des Lesens und Schreibens unkundigen Volksmassen, andererseits aus den
seit Comenius nicht wieder zur Ruhe gekommenen Bestrebungen auf Illu¬
stration der Schul- und Lernbücher. Damit hängt es zusammen, daß wir —
bis auf die jüngste Zeit herab — nur zwei Haupttypen haben: das er¬
zieherisch eingestellte Bilderbuch mit seinem moralisierenden, humoristischen
und ästhetischen Typ, und das lehrhaft eingestellte mit dem demonstrativen,
intellektualistischen Typ und dem Beschäftigungsbilderbuch. Die illustrierte
Schulfibel — selbst ein Lehrmittel mit langer interessanter Geschichte —
ist der Grenzfall zwischen Bilderbuch und Schulbuch. Erst in neuester Zeit
sind vereinzelt außerpädagogische Gesichtspunkte für das Bilderbuch ma߬
gebend geworden in den Tendenzbilderbüchern. Ihre Berechtigung an sich
steht und fällt mit dem Recht der Tendenz, der sie entspringen und dienen
wollen; ihr pädagogisches Recht beruht einmal auf Werten, die neben der
Tendenz vorhanden sind, zum anderen auf der Unterordnung der Tendenz
unter allgemeingültige Erziehungsaufgaben.
I.
Demonstrativer Typ: Das Kleinkinderbilderbuch,
a) Einfache Gegenstände der Umgebung.
(Beispiel: »Nimm mich mit“ von Meggendorfer, Verlag Braun & Schneider, München.)
Die Sparte Kleinkinderbilderbuch ist bereits viel zu differenziert, als. daß
mit diesem einen Schlagwort ein umfassender Begriff, eine begrenzte Vor¬
stellung des damit ausschließlich Gemeinten zu erreichen wäre. Das Wesent¬
liche des Kleinkinderbilderbuches ist, daß es ohne Text allein durch die Bilder
einen belehrenden Anschauungsinhalt übermitteln will.
Die Umwertung der Gegenstände und Dinge für das kindliche Begriffs¬
vermögen versucht das Betonen des Charakteristischen unter Beibehaltung
der Klarheit in Farbe und Form; das Dargestellte muß so klar sein, daß auf
den ersten Blick ohne jede weitere Überlegung und Gedankenarbeit das Kind
unzweifelhaft weiß, das ist dieses oder jenes Ding. Dafür ist die Betonung
der Kontur von eminenter Wichtigkeit, da sie für das Kind, das noch nicht
ausgeprägt perspektivisch-räumlich sehen und denken kann, ein wesentliches
Merkmal der Erinnerung bildet. Auch die Farbengebung soll sich kräftig
halten, aber in ruhigen Flächen, ohne unschöne Disharmonien zu bringen;
hier ist allerdings für die moderne Reproduktion das Maßhalten eines der
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schwierigsten Probleme; denn zu leicht ist die Farbauflage zu stark, Künstler
und Drucker überbieten sich gegenseitig, um das Buch ja recht farbig zu
machen. Ein Musterbeispiel für das reine Anschauungsbilderbuch ist das
in reizendem kleinen Formal jetzt leider vergriffene Büchlein „Nimm mich
mit“, Verlag Braun & Schneider, München, von Lothar Meggendorfer. So
wenig erfreulich Meggendorfer sonst zum Teil ist, hier hat er Hervor¬
ragendes geleistet, geradezu mustergültig die Riesenmenge von Stoff zusammen-
' getragen und ausgewählt, in richtiger Folge zusammengestellt und, wo sich
langweilige Stellen einschleichen wollen, sofort wieder etwas Interessantes
gebracht, was das Weiterblättern immer wieder zur Notwendigkeit macht, bis
man am Ende ist.
Der Entwicklungsgang dieser Methode, das Kind durch Vorführung von
Bildern systematisch zu belehren, verlangt eigentlich eine genaue Abstufung
der Mittel nach dem Auffassungsvermögen des Kindes.
Handelt es sich darum, dem Kinde Dinge zu sagen, die es bereits kennt
und ihm deren besondere Eigenschaften zu erläutern, so darf das Bild nur
Elemente enthalten, die bereits bekannt sind, so daß also nicht der geringste
Zweifel entstehen kann, was dargestellt sein soll. Das Kind freut sich darüber,
wenn es sofort mit dem Finger auf das betreffende Blatt zeigen und sagen
kann: „Das ist ein Hund oder eine Katze oder ein Fisch usw.; es interessiert
sich für die Eigenschaften der betreffenden Dinge in diesem Anfangsstadium
meist noch gar nicht.
Die nächste Stufe des demonstrativen Bilderbuches, welches Dinge bringt,
die dem Kinde zum Teil neu sind, von denen es aber doch schon einige
Erfahrung hat, stellt bereits schwierigere Aufgaben an das Auffassungs¬
vermögen. Das Kind entdeckt in den Bildern erstmalig Elemente, die ihm
bisher unbekannt waren oder entgangen sind, verlangt hierzu eine Erklärung
oder, wenn es keine erhält, versucht sich selbst etwas herauszudenken, uhd
es kann passieren, daß die lustigsten Torheiten herauskommen, wenn das
Kind diese seine Überlegungen dann den Erwachsenen mitteilt. Die außer¬
ordentliche Phantasie des Kindes ermöglicht diese Verdrehungen um so mehr,
als seine Vorstellung von diesen halb bekannten Dingen manchmal an irgend¬
eine Eigenschaft des betreffenden Gegenstandes geknüpft ist, die sich das
Kind nur eingebildet hat. Diese Irrtümer beweisen jedoch nur, wie intensiv
die Kinder Neues aus den Bildern zu entdecken suchen, und bei richtiger
Erklärung des Buches, am besten durch die Mutter, kann auf diese Art und
Weise die Vorstellungswelt des Kindes ganz bedeutend erweitert und gefestigt
werden.
Bleibt noch als dritte und schwierigste Art das Vorführen von ganz neuen
und dem Kinde vollständig unbekannten Dingen im Bilderbuch. Die allgemeine
Ausdrucksform muß dabei dem Kinde bereits bekannt sein, sonst ist diese
Art des Buches für das Kind überhaupt nicht brauchbar; die fremden Gegen¬
stände' müssen ihm, richtig dargestellt, ein klares Bild von der Wirklichkeit
geben, das besonders die wesentliche Eigenschaft des betreffenden Dinges
unzweifelhaft betont. Der Walfisch z. B. muß immer als sehr groß hingestellt
sein; dazu genügt natürlich nicht, ihn bloß groß zu zeichnen, er soll viel¬
mehr auch groß gedacht sein, was aus seinem Verhältnis zur Umgebung
hervorgehen muß. Sehr viele Dinge, die einen wesentlichen Gehalt der kind¬
lichen Vorstellungswelt ausmachen, kennt das Kind bloß aus dem Bilderbuch,
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
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trotzdem sind ihm diese Gegenstände, z. B. Mond und Sterne, der Löwe, das
Krokodil u. a. durchaus vertraut und besonders interessant, weil an ihnen
der Reiz des Unbekannten, Besonderen und Unerreichbaren haftet Das
Christkind und den Nikolaus im Bilderbuch zu sehen, ist für daB Kind wunder-
schön; kurzum, es erhellt aus alledem deutlich, wie wichtig die richtige Dar¬
stellung dieser fremden Dinge im Kleinkinderbilderbuch ist und mit welcher
Leichtigkeit große pädagogische Fortschritte errungen werden können, wenn
der Psyche des Kindes entsprechend dieses Problem gut gelöst wird.
b) Leben und Treiben der Umgebung.
(Beispiel: Das GroBstadtbilderbuch von Sophus Hansen).
.Als Beispiel gerade für diesen Gesichtspunkt — wohlgemerkt nicht als
Muster — führe ich das Buch: „Großstadtbilderbuch" von Sophus Hansen,
veranlaßt durch eine Lehrervereinigung von Hamburg, an. Der Zweck dieses
Buches ist, das Kind mit seiner Umgebung und ihrer Eigenart bekanntzu¬
machen. Möglichst viel auf einer Seite unterzubringen, ist hier das Leitwort,
um dem Kind seine Entdeckungsreisen im Buch und durch das Buch in der
Wirklichkeit recht ergiebig zu gestalten. Daß bei dieser Absicht die künst¬
lerische Ausführung hinter dem reinen Zweckwillen Zurückbleiben muß, ist
erklärlich; denn die Klarheit, die vor allem dem Kind ein leichtes Ausdeuten
und Vergleichen der dargestellten Dinge ermöglichen soll, muß stets unter
der allzu großen Fülle leiden. Gänzlich beiseite geschoben ist hier der
Humor, die Komik, die für das Kind so anziehend ist, der rein belehrende
Ton tritt durch diesen Ausfall stark in den Vordergrund. Die Auswahl der
dargestellten Stoffe ist gut, wenn auch noch vieles für das Großstadtkind,
das von vornherein zu einer gewissen Vorliebe für alles Technische neigt,
noch interessanter zu gestalten wäre. Zum Beispiel der Bahnhof. Das ganze
Wunderwerk der Lichtsignale und Weichen ist gar nicht dargestellt, und
gerade das ist doch so wichtig. Die Trambahn, dieses Hauptfahrzeug des
städtischen Verkehrs, ist ganz nebensächlich behandelt, das Geleise und die
Weichen, sowie das Aus- und Einsteigen von Leuten ist doch so außer¬
ordentlich interessant und wichtig und entbehrt gerade in diesem Großstadt¬
bilderbuch jeglicher Betonung.
Das Kleinkinderbilderbuch muß also zunächst darauf bedacht sein, die
Dinge so darzustellen, wie sie dem kindlichen Auffassungsvermögen am
nächsten liegen und ihm das besonders Charakteristische der einzelnen Dinge
so betonen, daß das Zweckmäßige klar zum Ausdruck kommt. Sollen nicht
bloß einfache Gegenstände des Gebrauchs gezeigt werden, sondern bereits
kompliziertere Dinge der Umgebung, wie z. B. der Großstadt, so muß auch
das Warum und Weshalb zum Ausdruck kommen, soweit es eben ein kind¬
liches Begriffsvermögen auffassen kann. Bloß das Anhäufen und Vorzeigen
der Dinge allein tut es nicht, ein gewisser logischer Zusammenhang muß
irgendwie zugrundeliegen, sei es, daß z. B. die zusammengehörigen Werk¬
zeuge mit dem Material beisammen sind oder sonst auf irgendeine Art und
Weise Ordnung in die weite Fülle des für das Kind Unbekannten gebracht wird.
Der pädagogische Wert dieser Kleinkinderbilderbücher, die sich mit einer
leeren Aufzählung aller möglichen Dinge ohne inneren Zusammenhang be¬
schäftigen, ist nur bei vorzüglicher Ausführung, die leider allzu selten ist,
hoch einzuschätzen, und diese Bücher erfreuen sich — wegen der meist
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minderen Qualität — auch keiner besonderen Beliebtheit. Vorsichtige
Schätzungen ergeben höchstens einen Prozentsatz von 10—20 der allgemeinen
BilderbQcherproduktion, welchen die Abteilung Kleinkinderbilderbuch fQr sich
in Anspruch nehmen kann. Es ist auch ganz erklärlich, denn bereits der
„Struwwelpeter“ mit seinem umfangreichen Text ist für Kinder von 3—6 Jahren
geeignet, wie der Verfasser selbst schreibt. Mit irgendeiner Handlung im
Zusammenhang gewinnt die Demonstration der einzelnen Dinge für das Kind
ganz wesentlich an pädagogischem Wert und ist allgemein beliebter.
Benutzte Literatur:
Hildebrandt, Klein Rainere Weltreise. Dietrich. — Oßwald, Ball der Tiere. Scholz.—
Osswald, Zirkus. Scholz. — Schmidhammer, Eio-popeio. Scholz. — Drucker, Wir zwei
Beide. Stelling.—Freybold, Bilderbuch. Schatfstein. — Kinderheimat. Autor unbekannt.—
Klempt, Die Vogelbochzeit. Datterer, Freising. — Sauer und Spoor, Kleine Leut Verlags¬
anstalt Pestalozzi.
II.
Das Beschäftigungsbilderbuch.
a) Das Zeichen- und Malbuch.
b) Das Ausschneidebuch (Ausschneidebogen).
c) Das Buch als Anleitung zur Handfertigkeit
Von dem natürlichen Bedürfnis des Kindes ausgehend, die Gebilde seiner
Phantasie irgendwie auf dem Papier mit Bleistift oder bunter Farbe auszu¬
drücken, sind die sogenannten Mal- und Zeichenbücher entstanden. Wenn
wir die chronologische Folge gemäß der Entwicklung des Kindes einhalten
wollen, so kommt zuerst das Malbuch. Allerdings scheint dies im Gegensatz
zu dem früher festgestellten Ergebnis des späteren Farbenempfindens beim
Kinde zu stehen, die Fähigkeit jedoch, nach einer Vorlage, mag sie noch
so primitiv sein, zu zeichnen, tritt beim Kind doch ganz erheblich später ein
und dürfte kaum vor dem fünften Lebensjahr Brauchbares liefern. Aus¬
gehend von einfachen geometrischen Formen, die dem Kinde leicht verständ¬
lich sind, hat Hans Probst, selbst ein vorzüglicher Schulmann, zwei Büchlein
geschaffen, die unter dem Titel:
„Der Schnellmaler“ und „Wen soll ich malen“
bei Braun und Schneider, München, erschienen sind. Mit Hilfe von Geld¬
stücken, die das Zeichnen von Kreisen erleichtern, zeigt Probst eine ganze
Menge von Dingen zum Zeichnen, die durch lustige Verse erläutert in ihrer
Erfindung und Einfachheit ganz vorzüglich sind. Die Zerlegung der abzu¬
zeichnenden Dinge durch ein symmetrisches Netz ist ein viel gebrauchtes
Hilfsmittel, um das richtige Nachzeichnen der Proportionen dem Kinde leichter
zu machen.
Die Aufgaben werden für vorgerückteres Alter natürlich schwerer gestellt,
erst das genaue Nachzeichnen der Kontur, dann die Verwendung von ein¬
fachen Schattierungen usf., wobei natürlich nicht zu übersehen ist, daß nur
ausgesprochen für das Zeichnen talentierte Kinder die schwierigeren Zeichen¬
bücher nachahmen können. Vielfach kann bemerkt werden, daß die Auf¬
gaben zu schwer gestellt sind und besonders auf die einfachen technischen
Hindernisse, wie es für das Kind eine zu schwierige Linienführung
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
329
oder rein künstlerische Formgestaltung bedeutet, zu wenig Rücksicht ge¬
nommen wird.
Was die ausgesprochenen Malbücher anlangt, so ist hier eine unglaubliche
Menge schlechter Werke zu finden, die oft mit gänzlicher Verkennung der
kindlichen Fähigkeiten hergestellt sind. Das Problem ist meist das gleiche;
auf der einen Seite ist das vielfarbige Bild zu sehen, auf der anderen nur die
Kontur, die nun mit den richtigen Farben vom Kinde ausgefüllt werden soll.
Auch hier ist der Hauptfehler das Übermafi der Farbe; man mutet dem Kinde
zu, große Flächen zu bemalen, und vergißt, daß dabei mit Aquarellfarben
immer Flecken entstehen, dem zu leichten Ineinanderlaufen der Farben ist
meist auch keine Berücksichtigung geschenkt. Malbücher werden vom Kinde
nie fertig gemalt, eine Beobachtung, die in wiederholten Fällen angestellt
werden konnte.
Den weitaus größten Teil dieser Art Bücher nimmt heute das sogenannte
Ausschneide- oder Klebebuch für sich in Anspruch. Die große Vorliebe für
kunstgewerbliche Arbeiten hat sich ganz besonders auch auf die Kinder über¬
tragen, nicht weil diese auf einmal eine besondere Vorliebe dafür bekommen
hätten, sondern weil es die vielen Kunstgewerbetreibenden als vornehmste
Aufgabe betrachten, ein Buch in dieser Art für die Kinder herzustellen. Es
ist nicht zu verkennen, daß sehr viele gute Werke auf diesem Gebiete da
sind, obwohl auch hier um der rein künstlerischen Note willen diese Bücher
zum Nachteil des Kindes oft erheblich ihren Zweck verkennen. Die Arbeit
des Ausschneidens und Aufklebens ist mehr für Mädchen geeignet, die eine
bedeutend größere Geduld in diesen Dingen entwickeln; Buben sind meist
zu wenig seßhaft für diese — ich möchte sagen — häuslichen Handarbeiten. Auf
jeden Fall tragen diese Bücher viel dazu bei, die Handfertigkeit und Kombi¬
nationsgabe des Kindes zu fördern und ihm bei guten Vorlagen ein gewisses
künstlerisches Stilempfinden anzulernen.
Die eigentlichen Vorläufer dieser Klebebilder sind die früher bei den Kindern
so sehr beliebten Ausschneidebogen gewesen. Einfache Figuren, die auf
umgebogenem Papierrand stehen konnten, besonders Soldaten, die für arme
Kinder, denen Zinnsoldaten zu kostspielig waren, einen guten Ersatz boten,
waren die einfachen Vorlagen zum Ausschneiden; der Bau ganzer Häuser
und Burgen aus Papier verlangte bereits eine größere Handfertigkeit und
räumliche Kombinationsgabe. Heute 'hat auch hier die Anleitung zu kunst¬
gewerblicher Tätigkeit die Oberhand erhalten; Modellieren, Glasmalerei, Perlen¬
stickerei, Korbflechten, Batiken und viele andere Handfertigkeiten sind es,
die den Kindern heute gelehrt werden und zu denen mannigfache Bücher die
Anleitung geben.
Auswahl benutzter Literatur:
Mai- und Buntpapierarbeiten. (Verschiedene Hefte.) Von C. Lauzil. Otto Maier, Ravens¬
burg. — Papierkünste für Kinder. Von W. Schneebeli. Otto Maier, Ravensburg. — Tech¬
nische Jugendbücherei. (12 Hefte.) Von L. M. K. Capeller. Verlag Natur und Kultur. —
Schreibers Ausschneidearbeiten für Glanzpapier. (12 verschiedene Hefte.) J E. Schreiber, E߬
lingen. — FrÖbelsche Kinderarbeiten. (Verschiedene Hefte.) Von Hans Denzer. Otto Meier,
Ravensburg. — Kinderbeschäftigungen nach FrÖbel. (Verschiedene Hefte.) Von Coppius. Otto
Maier, Ravensburg. — (Für Modellieren, Freihandflechten, Spanflechten.) — „Wen soll ich
malen.* Von Oberstudiendirektor Hans Probst. — „Der Schnellmaler.* Braun & Schneider,
München. — Mauder, Münchner Kindl, Malbuch. Schreiber, Eßlingen. — Meggendorfer
Lustige Ziehbüder. Schreiber, Eßlingen.
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m.
Intellektualistischer Typ.
(Münchner Fibel von Adolf Hengeler.)
Was heute die Fibel im allgemeinen anstrebt, dem Kinde den trockenen
Unterricht im Lesen und Schreiben mit Bildern unterhaltender und leichter
zu gestalten, hat in früheren Zeiten mit viel Wärme und Gemüt in dem
mancherlei Naschwerk gelegen, das den Kindern zur Belohnung und An¬
spornung geschenkt wurde. Obwohl uns heute wenig von diesen pädago¬
gischen Hilfsmitteln bekannt ist, wissen wir doch, daß besonders durch den
Grundsatz der Jesuitenschulen, die bereits von den Humanisten die Weckung
des Ehrgeizes als wichtiges Erziehungselement übernommen hatten, die Be¬
lohnung eine erhöhte Rolle spielte. Dieser Brauch der Beschenkung fleißiger
Kinder mit Dingen, die auf den Unterricht unmittelbaren Bezug hatten, war
allerdings eine rein individuelle Angelegenheit eines jeden Lehrers. Von
diesen Dingen ist uns wegen ihres vergänglichen Charakters und weil sie
eben meist eßbar waren, kaum etwas erhalten, Buchstaben aus Teig, die dann
gebacken wurden, waren ebenfalls keine Seltenheiten; leise Anklänge, aller¬
dings mehr für einen anderen Zweck, finden wir heute noch in den zahl¬
reichen Lebkuchen und Lebkuchenherzen, auf denen allerhand meist belehrende
und lustige Dinge ahgebildet sind. Das Fleißbillet bzw. das Heiligenbild sind
mit der fortgeschrittenen Reproduktionstechnik an Stelle dieser anreizenden
Belohnungsweise getreten, vereinzelt gibt es zu Weihnachten zwar heute noch
Bäckereien in Buchstaben form, aber der besondere Zweck mit diesen Dingen
ist heute fast in Vergessenheit geraten. Der pädagogische Wert dieser Be¬
lohnungsmethode ist bestimmt ein erheblicher gewesen, denn welcher Knabe
würde sich nicht genau irgendeinen Buchstaben merken, den er aus Bretzel¬
teig groß und braun gebacken zum Verzehren erhält. Wenn diese Gaben
nicht zu verschwenderisch verteilt wurden, so wird der Eindruck bestimmt
ein ganz nachhaltiger gewesen sein. Die Osterhasen sowie die Maikäfer aus
Schokolade sind heute noch Dinge, die auf ein Kind viel nachhaltiger und
eindringlicher wirken selbst wie ein Bilderbuch.
Da diese Unterrichtsmethode mit solchen Mitteln jedoch etwas kostspielig
und schwierig wäre, muß sich das Kind im allgemeinen mit der illustrierten
Fibel begnügen, die gegenüber alten Unterrichtsbüchem,. aus denen jeglicher
Bilderschmuck als störend und ablenkend verbannt war, ganz bedeutend
lustiger und unterhaltender ist.
a) Die Illustration als mnemotechnisches Hilfsmittel.
Was das Kleinkinderbuch zuhause vorbereitet hat, das will die illustrierte
Fibel mit dem beginnenden Ernst des Lebens dem Kinde in praktischer Aus¬
wertung als feste Grundlage für alles spätere Wissen bedeuten. An der Hand
des Lehrers soll das Kind hier die Buchstaben und Worte kennen lernen;
das unentbehrliche Hilfsmittel zu diesem schweren ersten Schritt, um einiger¬
maßen Ordnung in den noch wirren Gedankenkreis des Kindes zu bringen,
ist die Illustration geworden. Anschauungsunterricht und Mnemotechnik gehen
hier zusammen, um wirklich Hervorragendes zu leisten. Als Musterbeispiel
führe ich hier Hengelers illustrierte Münchener Lesefibel an, eine Lösung,
die wirklich mit zu den erfreulichsten auf dem Gebiete der illustrierten Fibeln
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
331
gehört Das Charakteristikum der einzelnen dargestellten Dinge ist mit solcher
Prägnanz und Kürze getroffen, daß der Eindruck lange Zeit unverwischbar
bleibt, ja gewissermaßen ein Vorstellungsinhalt durch diese Bilder geschaffen
wird, der immer wiederkehrt, nicht nur solange er als Hilfsmittel für das
Memorieren des betreffenden Lautes benötigt wird, sondern auch später, wenn
von einem der hier illustrierten Dinge oder Tiere die Rede ist, z. B. dem
Papagei, so kehrt dieses Bild gewissermaßen als Urtyp, als AusgaDgsform
aller anderen Vorstellungen eines Papageis vor das Auge des Kindes zurück,
ein Beweis, daß diese Reduktion eben nur mehr das Wesentlichste bringt,
ganz und gar nicht zu viel daran ist und gerade das lustige spöttische Wesen
des Vogels so gut getroffen ist, daß man es schlechterdings für das Kind
nicht besser lösen könnte.
b) Humoristische Auffassung.
Keiner hat es so wie Hengeler verstanden, einen Humor in seine Dlustrationen
zu legen, der ganz besonders für das Kind das Bild erst zum Erlebnis macht;
z. B. eine Schnecke ist langweilig und schwer lustig darzustellen ohne allzu
viel Aufwand, die kleine Mücke aber, die darauf reitet, bringt einen Humor
hinein, durch den dieses Bild eine ganz besondere Eigenart erhält und eben
dadurch sich besonders einprägt. Es ist als ein außerordentlich erfreulicher
Fortschritt zu bezeichnen, daß man dem Kinde nicht nur die bloße Dar¬
stellung eines Dinges als mnemotechnisches Hilfsmittel vorführt unter mög¬
lichster Betonung des rein Lehrhaften in der Darstellung. Die vielfach ge¬
äußerte Furcht, es könnte durch die humoristische Auffassung der Dar¬
stellungen eine Ablenkung und Zerstreuung der Kinder stattfinden, ist nicht
angebracht; gerade durch diese lustige Auffassung prägt sich das Bild dem
Kinde weit mehr ein, als wenn es ihm wie eine Photographie kalt und ohne
künstlerische Umwertung vor Augen geführt wird.
c) Umwertung und Reduktion des Bildes.
Hengeler ist der Erste, der die Wirkung von Farbe und Linie so beherrscht,
daß er in der äußersten Reduktion mit farbigen Konturen arbeitet und eben
dadurch Wirkungen erzielt, die in ihrer Prägnanz und Einfachheit ausschlie߬
lich das bringen, was für das Kind wissenswert ist und alles andere bei¬
seite lassen.
Ist somit das Künstlerisch-Pädagogische des Bildes selbst als gelöst an¬
zuerkennen, so fragt es sich wieder, ob auch das pädagogisch-intellek-
tualistische Problem durch diese Art der Illustration gefördert ist. Dies ist
meiner Anschauung nach unbedingt zu bejahen.
So vorzüglich aber die Bilder in dieser Fibel sind, so läßt die Zusammen¬
stellung leider Lücken und bringt Dinge, die das Kind untereinander nicht
mehr in Zusammenhang bringen kann, ja die ihm zum Teil schwer verständ¬
lich sind. Die Grundidee ist, die Buchstaben das Alphabetes mit einem Bild
nebeneinander zu stellen, dessen Bezeichnung den zu erlernenden Buchstaben
in sich trägt, bzw. als Hauptmerkmal hat. Diese Aufgabe ist als vorzüglich
gelöst zu betrachten. Leider ist aber die Reihe nicht vollständig; das Kind
erinnert sich wohl an die Bilder, die vorhanden sind, bei den fehlenden
kommt es jedoch um so mehr in Verwirrung, als ihm dieses Fehlen nicht
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Julius Schneider
einleuchtet, es vergebens sucht und dadurch nur noch unsicherer wird. Diese
Fragen haben die Pädagogen in dem vorliegenden Falle nicht genügend ge¬
würdigt oder absichtlich aus Gründen unterlassen, die ich nicht heraus¬
zudeuten vermag. Wenn auch vielleicht die Absicht zugrunde liegt, das
Kind allmählich vom Bilde loszulösen, um es rein intellektuell weiter zu
unterrichten, so darf dies nur mit einer gewissen logischen Gesetzmäßigkeit
erfolgen.
Gegenüber anderen Fibeln, die in ihrem Umfang zu weit gegriffen sind
von vorneherein, als daß hier im kindlichen Gehirn sich das Wichtige vom
Unwesentlichen noch scheiden könnte, bietet diese Fibel den Vorteil der ab¬
soluten Kürze und äußersten Prägnanz; um so verwirrender wirken die
Illustrationen gegen das Ende zu, die den anderen Bildern zu rasch folgen,
als daß das Unzusammenhängende nicht auffallen müßte. Kinder denken
unglaublich konsequent und sind verdutzt, wenn aus Gründen, die ihnen
nicht einleuchten, ein eben gelerntes Prinzip unterbrochen wird. Am Anfang
des Buches ist auf jeder Seite ein Bild, um später immer weniger zu werden;
wenn das Kind beim Buchstaben E einen Elefanten sieht und beim Eu eine
Eule usf., beim R aber gar kein Bild, ist ihm das ärgerlich, und von vorne¬
herein steht es dem toten Buchstaben ohne Illustration feindlicher gegenüber
als dem illustrierten.
d) Der eigentliche Sinn der Fibel.
Das Bilderlotto und alle ähnlichen Spiele bauen auf dem gleichen päd¬
agogischen Prinzip auf, das Kind durch wiederholtes Vorzeigen eines Bildes
mit dem Gegenstand einerseits und dem Wortbild andererseits vertraut zu
machen und ihm zu zeigen, daß alles seinen Namen hat und dieser Namen
stets wieder dieses eine Ding meint, kurzum, ihm das Verständnis für den
Zusammenhang der wirklichen Welt mit der gesprochenen und gedruckten
Bezeichnung zu verdeutlichen. Dies ist der Zweck des Bilderbuches und der
illustrierten Lemfibel, diese Spanne mit Hilfe des Bildes zu überbrücken, und
die ungezählten Lösungen dieser Aufgabe geben davon Kenntnis, welche
Wichtigkeit dem durch die Illustration unterstützten Anschauungsunterricht
für pädagogische Zwecke in steigendem Maße zuerkannt wird.
e) Das Bilderbuch mit illustrierten Kinderliedern, Versen
und primitiven Geschichten.
Den weiteren Ausbau des in der Schule Gelernten soll das im Plauderton
gehaltene Bilderbuch zuhause besorgen. Am Ende der Fibel stehen meist
kleine Geschichten, die irgendeine leicht verständliche Begebenheit erzählen.
Die Pädagogik hat mit Recht erkannt, daß es nicht genügt, die Kenntnisse
des Materials den Kindern beizubringen, sondern daß in richtiger Entwick¬
lungsreihe das Erlernte immer wieder angewendet werden muß und so un¬
bemerkt die Aufgaben nach verschiedenen Richtungen hin immer schwerer
gestellt werden. Scheint auch die große Fülle der Bilderbücher, welche
diesem Entwicklungsgang folgen, wenig Interessantes zu bieten, die leichte
Verständlichkeit der kleinen Geschichten und ihre primitive Harmlosigkeit
machen sie doch für diesen Zweck besonders geeignet.
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
Benutzte Literatur:
Mauder, Sonne, Sonne scheine. Schnell, München. — Meggendorfer, Trulala. Schreiber,
Eßlingen. — Metz u. Spoor, Von Kindern, Tieren und Puppen. Pestalozzi-Verlagsanstalt
Wiesbaden. — Meyerheim u. Trojan, A. B. C. Stilke, Berlin. — Morgenstern u. Gampp,
Klein Irmchen. Cassirer, Berlin. — Müller-Heintze, Mein schwarzes Bilderbuch. W. Meck. —
Müller-Wunderlich u. Baumgarten, Lustige Märlein. Anton & Co., Leipzig. — Olfers
u. Riezler, Kindermusik. Bassermann, München. — Osswald, Der Frühling kommt. Scholz,
Mainz. — Peter u. Mauder, Der Wuwu. Schnell, München. — Schoen, Rumdidibum. x Hahn,
Leipzig. — Tille u. Brockmüller, Söckchen und Döckchen. Lit. Anstalt, Frankfurt a. M. —
Tratzmüller u. Lutzenberger, Schau! Hör! Sprich! Datterer, Freising. — Weber u.
Kracher, Das Buch vom Osterhasen. Datterer, Freising. — Schulz, Der Prutzeltopf. Langen,
München. — Abeking, Das Mapampebuch. Abel & Müller, Leipzig. — Bilderbuch, das schönste.
Union, Stuttgart — Caspari, Walter, Der Sommer. Hahn, Leipzig. — Clauß, Kinderwelt der *•
Großstadt Dietrich, München. — Dieck, Schweinchen schlachten. Stalling, Oldenburg. —
Dieck, Woraus wird alles gemacht? Stalling, Oldenburg. — Freud u. Max, Das neue Bilder¬
buch. Dietrich, München. — Großmann, Handwerksleut der Kinder Freud*. Stalling,
Oldenburg. — Hansen, Großstadt-Bilderbuch. Voigtländer, Leipzig. — Haß, Mond und Sterne.
Dietrich. München. — v. Hoerschelmann, Das schwarze Bilderbuch. Mörike, München. —
Kaulbach-Güll, Bilderbuch. Schnell, München. — Kracher u. Tratzmüller, Ein Märchen
vom Osterhasen. Datterer, Freising. — Kränzchen-Bilderbuch. Union, Stuttgart. — Mörike,
Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Verlag Hendel. — Tratzmüller u. Lutzenberger, Arbeiter
in der Natur. Datterer, Freising. — Sergel u. Kutzer, Ringelreihen. Frz. Schneider, Berlin. —
Richter, Eduard, der gründliche. Anton & Co., Leipzig. — Richter, Lustige Tierwelt.
Anton & Co., Leipzig. — Richter, Lustige Bilder und Verse. Anton & Co., Leipzig. — Lucas, Gg.
Tierbüchlein für Kinder. K. Lucas, Paderborn. — Hansa-Fibel von Otto Zimmermann,
Illustriert von Eugen Osswald und deren Bearbeitungen: Licht und Leben. — Machet auf das
Tor. — Der Schlüssel. — Bären-Fibel. — Der Bärenführer. — Leseschule. Illustriert von
E. Reinicke. Klinkhardt. Leipzig. — Münchner Fibel.
IV.
Moralistischer Typ.
(Der Struwwelpeter von Dr. Heinrich Hoffmann.)
Der Struwwelpeter als umfassendes Vorbild.
Wendet sich das Kleinkinderbilderbuch nur an die Unterhaltung und Be¬
lehrung, die Fibel nur an das Lernen, so steht der Struwwelpeter von
H. Hoffmann als Vertreter der größten Menge von Bilderbüchern auf weitaus
höherer Stufe; er wendet sich rein moralisierend an den Verstand und das
Gefühl, sucht sich eine primitive Anstandsmoral zu schaffen und will bereits
vorhandene Grundlagen ausbauen und verbessern. Die Methoden des Bei¬
spiels, der Abschreckung und Belohnung können nur für Kinder in Frage
kommen, die über den primitivsten Zustand des bloßen Erkennens hinaus
sind und höhere Beweggründe der Handlungen lernen sollen, tun sich inner¬
halb der menschlichen Gesellschaft vernünftig zu betragen. Die Poesie wird
zum Hilfsmittel der Texteinprägung; die Illustration veranschaulicht, wie man
es machen soll oder nicht, beide zusammen wollen dem Kinde Lebensregeln
und Praktiken mitteilen, ihm also die eigene schlechte Erfahrung ersparen
und ihm Erprobtes und Bekanntes in möglichst eindringlicher Form mitteilen.
H. Hoffmann hat diese Aufgabe restlos gelöst, wie es auf gleichem Gebiete
keiner mehr besser verstanden hat. Ist auch sein Stuwwelpeter heute ein
altmodisches Buch seiner Ausstattung und Form nach, so war er doch der
erste, der grundlegend das Bilderbuch in dieser Art geschaffen hat. Der
einzigartige Erfolg beweist am besten die Jahre überdauernde Kraft des
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Julius Schneider
Buches, und bis heute steht kein Ersatz da, der so viele Vorzüge sowohl
textlich wie illustrativ für das Kind in sich vereinigt, wohlgemerkt für den
Typ des moralistischen Kinderbilderbucbes. Hoffmann'war Kinderpsychologe
allerersten Ranges, und da er selbst zugleich Dichter und Illustrator der
eigenen Erfindung war, war schon dadurch die Möglichkeit gegeben, bedeu¬
tend besseres zu leisten als andere.
Der Struwwelpeter gibt heute für über 50 °/o aller Kinderbilderbücher die
Richtlinien an, innerhalb deren sie sich bewegen, so daß sich heute fast in
jedem Kinderbuche Anklänge oder Parallelen dazu finden lassen. Die Ge¬
stalten, die im Struwwelpeter auftreten, sind durchaus originell. Nicht in
ihrer Ausstattung allerdings, aber in der Erfindung ihrer Handlungen wird
ihnen eine Charakteristik aufgeprägt, die sie zu ganz besonderen Wesen
stempelt; der „Suppenkaspar“ z. B. ist ein ganz alltägliches Geschöpf, aber
sein Abmagern ist so wichtig, daß ein Kind sofort weiß, wenn es eine ähn¬
liche Figur sieht: „Dies ist der Suppenkaspar“. Durch diese Neuartigkeit,
ich möchte fast sagen Aufdringlichkeit der Erfindung ist der Eindruck auf
das Kind ein außerordentlicher, um so mehr, als z. B. die Umgebung, in der
die einzelnen Figuren stehen, auf das alleräußerste reduziert ist und nicht
im mindesten der eigentlichen Hauptsache Abbruch tut
Mehr als alles gute Zureden vermag ein Buch wie der Struwwelpeter;
Hoffmann schreibt selbst, daß er als Arzt die Kinder oft beschwichtigt hat,
indem er ihnen auf ein Blatt Papier mit ein paar Strichen etwas aufzeichnete
und irgendeine tolle Geschichte dazu erzählte; es ist falsch, zu glauben, daß
auf ein Kind nur die allereinfachsten Dinge Eindruck machen; schon den
ganz Kleinen wird der Struwwelpeter lieber sein, wenn er ihnen vorgelesen
wird als irgendein Buch, in dem beliebige Gegenstände kalt und nüchtern
der Reihe nach abgebildet sind. Das Bewegliche der Handlung, das Ge¬
schehen wiederholt betont, ist es, das dem Kinde Eindruck macht; wie die
Aufmerksamkeit des Tieres eine heftige Bewegung ganz besonders bemerkt,
so ist dem Kind schon in den ersten Anfängen seines Denkens überhaupt
ein lebendiges Geschehen interessanter als bloße Schilderung ruhender Objekte
und starrer Typen.
Der Zweck des Struwwelpeter ist ein rein pädagogisch-moralistischer, weniger
zur Unterhaltung als zur Erziehung und Belehrung gedacht. Fast alle Un¬
tugenden, die Kinder mit sich bringen, kommen hier vor und werden an ab¬
schreckenden Beispielen vorgeführt. Sind die Bilder auch künstlerisch nicht
von hoher Qualität, so überwiegt die rein kindliche Auffassung doch so stark,
daß die Anpassung der Darstellung an die Psyche des Kindes als Kunst be¬
wertet werden muß.
Hoffmann hat mit seinem Struwwelpeter gezeigt — und der enorme Ab¬
satz hat es bewiesen —, was ein gutes Buch zu leisten imstande ist, wenn
es gleich nicht der Unterhaltung und dem Spiele gewidmet, einen rein päd¬
agogischen Einfluß ausüben soll.
Unübersehbar ist die Kette derer, die versucht haben, in den Fußtapfen
des Struwwelpeter weiter zu gehen; eine ähnliche Bedeutung hat auf diesem
Gebiet kein Buch mehr erzielen können, aus dem einfachsten Grunde, weil
bereits fast alles vorweg genommen war, was zu diesem Thema überhaupt
gesagt und dargestellt werden kann. Besonders bezeichnend ist es, daß der
Struwwelpeter aus dem reinen Selbstwillen heraus entstanden ist, den eigenen
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
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Kindern etwas Brauchbares in die Hand zu geben, alle Schranken, die —
wie bereits erwähnt — den Entwicklungsgang eines Bilderbuches sonst
hemmen können, waren hier nicht gegeben, sondern der reine Zweckwille
hat sich unabhängig von allen technischen und wirtschaftlichen Rücksichten
durchgesetzt und dabei das Vorzüglichste geleistet.
Benutzte Literatur:
Moe u. Ostini, Bamse. Pestalozzi-Verlagsanstalt, Wiesbaden. — Lang u. Schlitt. Die
goldene Nadel. Dietrich, München. — Oswalt u. Klinisch, Der Pegasus. Literarische Anstalt,
Frankfurt — Sch eff ler, Menzel. Cassierer, Berlin. — Schulz, Der Prutzeltopf. Langen,
München. — Traub, Klaus Luftibus. Schnell, München. — Wildermuth, Aus der Kinder¬
welt. Union, Stuttgart. — Hoffmann, Bastian, der Faulpelz. Literarische Anstalt, Frank¬
furt. — Hoffmann, Im Himmel und auf der Erde. Literarische Anstalt, Frankfurt, — Hoff-
mann, König Nußknacker. Literarische Anstalt, Frankfurt. — Hoffmann, Prinz Grünewald.
Literarische Anstalt, Frankfurt. — Kreidolf, Schwätzchen. Schaffstein & Co. — Kreidolf,
Die schlafenden Bäume. Schaffstein & Co. — Kutzer u. Holst, Der Puppenzweig. Hahn,
Leipzig. — Kutzer u. Holst, Hans Wundersam. Hahn, Leipzig. — Kutzer & Holst, Der
Weihnachtsstem. Hahn, Leipzig. — Schaffstein’s Volksbücher Nr. 48, „Fortunatus und seine
Söhne* von Simrock u. Rüttgers. — Schaffstein’s Volksbücher Nr. 45, „Die vier Haymons-
kinder*, von Schwab u. Rüttgers. — Müller & Winkler, Rübezahl. Abel u. Müller,
Leipzig.
v.
Humoristischer Typ.
(Max trnd Moritz von Wilhelm Bosch.)
Wilhelm Busch mit seinem „Max und Moritz“ ist heute bereits ein Klas¬
siker des Humors; von allem, was er geschaffen hat, gehört dieses Büchlein
zu seinem Besten und hat seinen Ruf begründet.
Was nicht in dem Rahmen des Struwwelpeter geschrieben ist, hat „Max
und Moritz“ als Vorbild bewußt oder unbewußt im Kopf. Busch wollte als
Humorist in allererster Linie eine lustige Unterhaltung mit dem Büchlein für
das Kind schaffen; die Bestrafung des Bösen ist ein nicht recht ernst zu
nehmender Versuch, dem Ganzen einen moralisierenden Abschluß zu geben.
Am besten kennzeichnet der Werdegang von „Max und Moritz“ die Beur¬
teilung des Buches bei seinem Entstehen. Busch war damit bei zwei ver¬
schiedenen Verlegern, die alle den Druck des Buches ablehnten, da sie seinen
Einfluß für zu schädlich für die Jugend hielten; den damaligen Inhabern
der Firma Braun & Schneider war es Vorbehalten, das Buch trotz allem unter
richtiger Beurteilung seiner erstklassigen Qualität zu erwerben. Die Anfein¬
dungen blieben selbstredend nicht aus, haben allerdings nur zur Verbreitung
des Buches beigetragen, wie ja jede Stellungnahme zu irgendeiner Neuerung
stets wertvoller für die Sache ist als ein gleichgültiges Totschweigen.
a) Die Versform Büschs.
Was den „Max und Moritz“ in allererster Linie berühmt gemacht hat, ist
die unerhörte Form seiner Verse, dieses Extraktes in dem unglaublich klang¬
vollen gekürzten Versmaß so rhythmisch schwingend, daß das Ohr allein diese
Klänge merkt, ohne daß der Verstand sich besonders bemühen braucht. Hier
ist dem Kinde ein ästhetischer Genuß gegeben, den es verstehen und benützen
kann, die Freude, diese Verse herzusagen, ist unverkennbar, und damit weist
Busch den Weg, der es ermöglicht, bereits dem Kind hochkünstlerische Werte
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zu übermitteln, die es verstehen kann, ja die in ihrer Form so einzig sind,
daß sie zugleich für alle ein Erlebnis, einen Genuß bedeuten. Und das ist
eigentlich das Universelle an Busch, daß seine Kunst so wertvoll ist, so ein¬
fach und primitiv und dabei trotzdem so umfassend, daß alle daran eine
Freude haben; der Standpunkt des Betrachters Busch steht so hoch, daß der
Philosoph so gut wie das Kind das Wahre, Zwingende seiner Darstellung
anerkennen muß.
b) Einheit der Darstellung in Text und Bild.
Hat Hoffmann in seinem Struwwelpeter die Erfindung selbst meisterhaft
gelöst, im Text Vorzügliches geleistet und mit der Darstellung im kindlich
Primitiven, wenn auch nicht im Künstlerischen den Nagel auf den Kopf ge¬
troffen, so ist Busch auf allen drei Gebieten Meister, und es wird schwer
fallen, seine einzelnen Ausdrucksformen in ihrer Qualität gegeneinander ab¬
zuwiegen, da er überall das Beste gegeben hat. Das Kennzeichen Büschs
ist sein Humor, der Hauptfaktor, der in all seinen Werken das Neue, Eigen¬
artige ist; die Ironie der Moral kommt nicht zuletzt und setzt dem allzu
braven Ende einen Dämpfer auf, der allerdings sich nicht jedem Beschauer
offenbart. Der tiefe Sinn, der in den lustigen Geschichten Büschs liegt, ist
die längste Zeit nicht erkannt und gewürdigt worden, und dem Künstler, der
in dieser neuen Form so viel gekonnt und gesagt hat, ist für die Zeit seiner
Hauptschaffenskraft die Anerkennung versagt worden, die er für seine Sachen
haben wollte.
Die Kategorie der lustigen Bubenstreiche in Bilderbuch und Bilderbogen
hat Busch erfunden; zahlreich sind die Nachahmungen, welche seine Werke
zum Vorbild haben. Die neue Form des Versmaßes hat gezeigt, daß für
den Ausdruck des Humors sich gerade diese Art ganz besonders eignet; aber
wie ungeheuer schwer diese Kürze ist, beweist am besten, daß noch keine
ähnlichen Verse da sind, die so viel mit so wenig Worten lustig sagen können.
c) Der Humor Büschs.
Die Frage ist: „Warum gefällt Busch der Jugend so besonders?“ Einmal
sind seine Verse zum größeren Teil für die Jugend gemacht, das große Ge¬
heimnis liegt jedoch nicht allein in der originellen Erfindung der einzelnen
lustigen Geschichten, sondern in der Verwertung des Humors, der Betonung
der lächerlichen Kleinigkeiten in dem kurzen Ausmaß der Darstellung trotz
der Fülle des Gesagten. Busch ist der Meister des Intervalls; es wird nichtB
Unbedeutendes erzählt oder gezeichnet, alles gehört organisch in den Reigen
dieser Klänge. Man versuche nur einmal, einige Verse umzudichten, es ist
unmöglich; man lasse einige Bilder weg und der Zusammenhang erleidet
eine nicht zu übersehende Einbuße; es ist alles notwendig, nicht bloß was
da ist, sondern auch was fehlt und das bei Busch ganz besonders. Eine
längere Erklärung oder Vorbereitung schwächt sofort das nächste Moment
ab, die Spannung ist mit äußerstem Geschick bemessen und jedes Zuviel
würde genau so schaden wie ein Zuwenig.
Wie viele Kinderbücher gibt es, aus denen man getrost mehrere Seiten in
Text und Bild weglassen könnte, ohne daß es besonderen Schaden anrichten
würde, wie viele Bilder, bei denen ein Weniger viel mehr bedeuten würde!
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Gerade die außerordentliche Prägnanz bei dem Reichtum der Erfindung
und des Gesagten bedeutet das Hauptanziehungsmoment bei Busch, selbst¬
verständlich durch- den urkräftigen Humor ganz besonders gehoben.
Diese Art Humor, wie sie Busch bringt, ist echt deutsch und liegt so gut
im Bild wie im Text. Man vergißt gänzlich aufzumerken, wo der eigent¬
liche Hauptwert der Geschichte liegt; es ist einfach alles so gut, daß man
Bild und Text zusammen nimiht und beides so eindringlich zu uns spricht,
daß die verschiedene Übermittlungsform von Text und Bild gar nicht zum
Bewußtsein kommt
Wie einheitlich der Guß des Ganzen ist, beweist, daß Übersetzungen in
eine fremde Sprache keinen besonderen Erfolg erzielen konnten, so oft es
attch versucht worden ist. Busch’sche Verse lassen sich ein für allemal nicht
übersetzen; ein urdeutsches Element kann nicht in eine andere Form gegossen
werden, ohne daß es dabei den Schmelz seiner Eigenart verliert.
Ich halte es für verkehrt, wenn man hier versucht, Text und Bild getrennt
einer eingehenden kritischen Würdigung zu unterziehen, um genau heraus¬
zuanalysieren, wo der Humor hier und dort liegt usf.; der Künstler denkt,
wenn er wirklich schafft, viel weniger, als meistens in seine Werke hinein-
und herausgedeutet wird; er formt die Materie und den Stoff, weil er eben
bo muß, dem inneren Drange gehorchend, und jedem Werke, das konstruiert
ist, fehlt der eigentliche Reiz des übersinnlichen Dranges, der allein die letzte
und alleinige Vollendung schaffen kann.
Vom rein pädagogischen Standpunkt aus betrachtet wird Busch nicht so
besonders abschneiden Und hat es nicht getan, wie im vorher Erwähnten
bereits betont worden ist. Warum erfreut sich aber Busch dann solcher ♦
Beliebtheit bei der Jugend? Einmal denkt die Jugend selbst nicht päd¬
agogisch, sondern ist vielmehr darauf bedacht, pädagogischer Einwirkung
nach Möglichkeit sich zu entziehen. Das böse Beispiel wirkt erfahrungs¬
gemäß beim Kinde mehr wie das gute, und die Streiche von „Max und Moritz“
lassen hierin gewiß nichts zu wünschen übrig. Das Vergnügen, das einem
Kind z. B. in „Max und Moritz“ der Sturz des Meister Bock in den Bach
bereitet, ist ein ganz außerordentliches, selbst bereits dem primitiven Gemüt
wird der Zusammenhang dieser List klar und verständlich, und das Eintreten
des erwarteten Erfolges, das Gelingen dieser kleinen Boshaftigkeit freut und
interessiert viel mehr als die schönste Sohilderung eines braven Buben. Da¬
durch erklärt sich, daß der pädagogische Wert trotz des moralischen Pessi¬
mismus ein erheblicher sein kann, weil das Interesse geweckt, das logische
Überdenken von Ursache, Absicht und Wirkung notwendig gefordert und
diese Gedankenarbeit gern geleistet wird. Von hundert Kindern werden neun¬
undneunzig mit Meister Böck kein Mitleid haben, wenn er ins Wasser fällt;
es ist bekannt, wie unglaublich grausam ein Kind denkt, ohne sich im ge¬
ringsten bewußt zu sein, welcher Roheit es unserer Anschauung nach sich
dadurch schuldig macht. Busch ist in seinen Geschichten ja nicht minder
grausam; die entsetzlichsten Dinge passieren da andauernd, aber es geniert
durchaus niemand, weil der Humor so die Oberhand hat, daß man das Rohe
der Handlung gar nicht verspürt. Man denke sich einmal diese Geschichten
von Busch ohne Humor aus in Bild und Text, es blieben eine stattliche Reihe
von Grobheiten übrig, die hinter den besten Indianer- oder Detektivheftchen
kaum zurückstehen würden!
Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 22
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338
Julius Schneider
Schadenfreude ist eine Art Humor, die in gewissen Grenzen zu den reinsten
Freuden zählt; das hat Busch durchaus erkannt und führt uns deshalb immer
wieder Dinge vor, in denen die Schadenfreude den Hauptbestandteil seines
Humors bildet
Nun liegt die Vermutung nahe, daß eine gewisse Verrohung durch die
Lektüre von Busch um sich greifen könnte. Ich glaube aber, daß doch ein
bedeutender Unterschied besteht zwischen dem höchst künstlerisch dargestellten
Humor der Schadenfreude und einer platten hämischen Boshaftigkeit.
Fassen wir zusammen: Busch ist der Erfinder einer neuen Art Humor in
Wort und Bild, dargestellt in fortlaufenden Bilderfolgen. Das Anziehende
seiner Kunst liegt in der unbedingt homogenen Struktur vop Illustrationen
und Text sowie in dem Aufbau und der Folge der gesamten Handlung, zu¬
sammengepreßt in eine Kürze, die nur bei höchster Vollendung der Aus¬
drucksformen alles zu sagen vermag, was gesagt werden muß. Für das Kind
liegt der besondere Wert in den kurzen klangvollen Reimen mit dem absolut
reinen Versmaß und in der klaren Zeichnung, die nichts Unverständliches
oder Überflüssiges bringt im Verein mit der Eigenartigkeit und Neuheit des
Humors und der Erfindung.
Benutzte Literatur:
Die Erstdrucke und Erstausgaben der Werke von Wilhelm Busch. — Bibliographisches
Verzeichnis von Albert Vanselow. Leipzig bei Adolf Weigel 1913. — Wilhelm
Basch, Von Hermann, Adolf und Otto Nöldeke. L. Joachim, München 1909. — A. Schankal.
Wühelm Basch. Berlin 1904.
Masson u. Schröter, Zum Kasperl. Datterer, Freising. — Orr u. Falke, Zwei lustige
Seeleute. Schaffstein. — Schmidhammer, Mucki. Scholz, Mainz. — Schmidhammer,
Der verlorene Pfennig. Scholz, Mainz. — Schmidhammer, Pips und Pipi. Scholz, Mainz.—
Busch, Hans Hackebein. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart. — Caspari, Kinder-Humor für
Auge und Ohr. Hahn, Leipzig. — Franz u. Haase, Rumpelstilzchens Erdengang. Meidinger. —
Franz u. Haase, Billys Erdengang. Meidinger. — Weber u. Jäger, O diese Jnngens. Rein¬
hard Klinger, Berlin. — Weber u. Jäger, Theobald und Kunigunde, Reinhard Klinger, Berlin. —
Weber u. Jäger, O diese Mädels. Reinhard Klinger, Berlin. — Weber u. Jäger, Sextaner
Meyer. Reinhard Klinger, Berlin. — Hinke, Fix, Nix und Trix. I. Teil. Der Hosendiebstahl.
Jugend-Verlag, Charlottenburg. — Hinke, Meta, Minne und Marie. Jugend-Verlag, Charlottenborg.
VI.
Ästhetischer Typ.
(Die sieben Raben von Moritz v. Schwind.)
Als kulturell am höchsten stehend ist wohl das Märchenbuch anzusehen.
Die Entstehung von guten Märchen setzt stets eine hohe geistige Entwicklungs¬
stufe voraus, und der Deutsche kann sich neben dem Araber rühmen, die
besten Märchen zu besitzen. Märchen verlangen ein geläutertes inneres Er¬
leben und können nur bei hoher geistiger Entwicklung existieren.
a) Das Märchen als Mittel,
dem Kinde sittliche Werte zu verkörpern.
Für das Kind bedeutet das Märchen die Welt des unerreichbar Schönen,
den Kosmos, auf dem sich alles Geschehen nach ganz anderen Grundsätzen
gestaltet, als es die Wirklichkeit ihm zeigt, ein Traumleben, in dem aUes
Widerliche und Gemeine stets vom Guten übertrumpft und besiegt wird.
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
339
Die behandelten Stoffe sind aus jedem erdenklichen Gebiet entnommen, das
Gute und das Böse wird in Form von Geistern verkörpert und somit das
ganze Geschehen in einen Kampf aufgelöst, in dem die Menschen die sicht¬
bar ausführenden Organe sind, getrieben von den Vertretern der beiden Mächte.
Diese Übertragung der rein ethischen Probleme aufs natürlich Greifbare ist
der eigentliche Sinn des Märchens; das ästhetische Moment wird zur aus¬
schlaggebenden Ausdrucksform, weil alle Hindernisse fallen können, der deus
ex machina so ideal wie möglich gestaltet wird und meist durch seinen Ein¬
griff die Handlung in der Wendung zum Guten endgültig bestimmt. Die Ver¬
schmelzung von Moral und reiner Ästhetik ist notwendig, um den Schleier
des höheren Entrückten zu gewährleisten und durch das Fehlen aller Un¬
ebenheiten das Erstrebens- und Nachahmenswerte besonders zu betonen.
b) Märchen und kindliche Phantasie.
Die Möglichkeit der ungehemmten Entwicklung der Phantasie, das schnelle
Wechseln der Szenerie, das Vollbringen des Unmöglichen sind die besonderen
Reize, die dem Kind am allernächsten liegen. Die Einbildungskraft des Kindes
ist gewiß nicht größer, aber ungehemmter als die des entwickelten Menschen,
ihm kann ein einfaches Ding von größter Wichtigkeit sein, weil es unein¬
geschränkt irgendein Riesenobjekt daraus formt; die späte Entwicklung des Ab¬
messens der reinen Größenverhältnisse ist nicht zuletzt schuld an der überragen¬
den Freiheit der kindlichen Phantasie. Dessen soll sich auch der Märchenillustra¬
tor bewußt sein; es ist nicht notwendig, alles vorweg zu nehmen und erschöpfend
festzulegen, das Kind hat gemäß seiner Veranlagung ganz besondere An¬
schauungen und bildet sich vieles nach seiner Vorstellung, es fühlt sich verärgert
über die allzu deutliche Vorschrift „So und so sieht dies aus“; das muß der
feinfühlende Künstler erkennen und darf deshalb seine Illustrationen nicht
zu festlegend und bindend gestalten. Dem Kinde imponiert jede Äußerung
einer unbändigen und unheimlichen Kraft, weil alles eben durchaus möglich
erscheint. Dagegen hat es einen scharfen Blick für allzu grobe logische
Schnitzer, sofern sie den Aufbau der Handlung oder ihr Fortschreiten ur¬
plötzlich ohne besonderen Grund ändern.
Ich nenne als Meister Moritz von Schwind, den deutscBen Märchenzeichner.
Seine ganze Märchenwelt ist von stiller Abgeklärtheit und Reinheit, dabei
von so echt deutscher Kraft durchdrungen, daß seine Bilder unbestritten als
Vorbild deutscher Märchenillustration gelten. Gerade der Hauptfehler deut¬
scher Illustration überhaupt, das zu Weiche um des rein idealen Zweckes
willen, tritt bei Schwind nicht besonders hervor; das Grundelement ist die
Kraft seiner Gestalten und deren Handlungen. Weit über lebensgroß müssen
Märchenfiguren sein, sonst glaubt das Kind ihnen ihre sonderbaren Hand¬
lungen nicht; dies bat Schwind erkannt und restlos zu verwirklichen ver¬
mocht.
Die Gebrüder Grimm haben das Beste gesammelt, was unser Volk an
Märchen hatte; sie und die alten Heldensagen sind auch das Schönste, was dem
deutschen Kind geboten werden kann. Dem Franzosen Galland und dem Ver¬
dienste Dr. Gustav Weil’s verdanken wir die Kenntnis der Wunderwelt von
„Tausend und einer Nacht“; ich glaube, daß nächst dem Orientalen dem
Deutschen diese Märchen am meisten geben können. Diese Welt der Geister
ist uns nichLwesensfremd, wie wir ja ein ganz eigenartiges Mittelding zwischen
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Julius Schneider
reinen Idealisten und konkreten Denkern sind, der Hauptzwiespalt, der uns
die Einheit gegenüber anderen Völkern stets vorenthält.
c) Die heutige Zeit im Verhältnis zum Märchenbuch.
Pie deutsche Märchenliteratur ist heute imübersehbar geworden. Neues
ist nicht mehr aufgetaucht, und die Abenteurergeschichten beginnen einen
großen Teil der guten Märchen allgemach zu verdrängen, ohne zu bedenken,
daß ihnen der innere sittliche Wert fehlt, der dem Kinde den Grund seiner
späteren Entwicklung mit aufbauen soll. Das Schlagwort: „Die langweiligen
alten Märchen“ hört man heute oft, eine Folge unserer Entwicklung, die
keine Zeit mehr hat, die möglichst intensive Reize in möglichst kurzer Zeit
haben muß und dabei das Beste übersieht, das hohe Glücksgefühl, das in
dem ruhigen Finden seiner selbst in stillen Märchenfiguren liegt Karl May’s
Indianergeschichten, so unverkennbar ihnen ein gewisser einseitiger Wert
nicht abzusprechen ist, haben dem Märchen bösen Abbruch getan; die Ame-
rikanisierung unserer Kultur schreitet fort, aber Besseres wird damit nicht
erreicht, der sittliche Wert durch die unaufhörliche Überstürzung der Dinge
nicht gehoben, sondern im Gegenteil jede beschauliche und besinnliche Ruhe
verhindert und zerstört. „Man hat heute keine Zeit mehr“, das kommt zun
Ausdruck bei jedem modernen Bild, jedem Neubau, jeder Plastik; „man hat
heute keine Zeit mehr“, sagt auch das Bilderbuch, es will aber dafür recht
groß und deutlich sein, damit man es sofort versteht, es ruft mit grellen Farben,
damit man es nicht überhört, und das Kind ist doch heute noch das Einzige, das
Zeit hat; warum es mit kurzen Reklametexten und Bildern abfüttern, als ob es mit
der Mappe unter dem Arm bereits auf die nächste Schnellbahn warten müßte.
Unsere guten Märchen haben Mühe, sich zu halten; ein modernes Bilder¬
buch ist nämlich auch billiger herzustellen, weil viel weniger darin ist, und
wenn nicht in den Eltern selbst die Erkenntnis noch wach ist, was ihnen
die Märchen bedeutet haben, ist kaum mehr jemand zu finden, der heute
noch, ohne als großväterisch hingestellt zu werden, für das alte Märchen¬
buch spricht.
Benutzte Literatur:
Liebermano, Der Froschkönig. Scholz, Mainz. — von Minckwitz, Sonntagskind.
Frd. Carl, Stuttgart. — Offterdinger, Märchenstrauß. Löwe. Stuttgart. — Ostini o. Pellar,
Der kleine König. Dietrich, München. — Planck, Alte und neue Märchen. Weise, Stuttgart —
Schmidhammer, Rotkäppchen. Scholz, Mainz. — Stroedel, Frau HoUe, Aschenputtel
Scholz, Mainz. — Winkler, Der Riese Mugel. Franz Schneider, Berlin. — Adams, Der
Pfeiferbans. Dietrich, München. — Andersen’s Märchen. Neff, Stuttgart — Andersens
Däumelinchen. G. Stalling, Oldenburg. — Bruch, Märchenritt Franz Schneider, Berlin. —
Bürger, Freiherr von Münchhausen. Abel & Müller, Leipzig. — Dorö, Münchhausen. Inad-
Verlag, Leipzig. — Geigenberger, Märchenbuch. Kösel, Kempten. — Haß, Deutsche Heimat-
bilder. Dietrich, München. — Krämer u. Preußner, Fritzchen im Traumland. Jugend-Verlag,
Charlottenburg. — Weisge rber, A., Till Eulenspiegel. Gerlach & Wiedling, Wien. — Storni,
Geschichte aus der Tonne. Gebr. Paetel, Berlin. — Schaffsteins Volksbücher Nr. 44, Der
Zauberer Virgilius und das Schloß in der Höhle, Xa—Xa von Simrock. — Schaff stein«
Blaue Bändchen Nr. 50, Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag. — Schaffsteins Blaue
Bändchen Nr. 46, Tolstaj, Russische Erzählungen. — Mörike, Das Stuttgarter Hutzelmännlein.
Verlag Hendel. — Novalis, Märchen. Beck, München. — Ganghofer, Märchen vom Kar-
funkelstein. Union, Stuttgart. — Bierbaum, Zäpfel Kerns Abenteuer. Verlag Schaffstein. —
Andersens Märchen. Reclam, Leipzig. — Moritz von Schwind, Sein Leben und seine
Werke. Von Dr. H. Holland, Stuttgart 1873. — Pecht, Deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts.
Nördlingen 1877.
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
341
VII.
Bilderbuchtyp mit Tendenzen der Erwachsenen.
(Was Peterchens Freunde erzählen, von Zur Mühlen, illustriert von George Groß.)
a) Das soziale Bilderbuch.
Welches Unheil gerade bei uns Deutschen der ständige Parteienhader schon
heraufbeschworen hat und wie schwer namentlich heute die innere Zerrissen¬
heit unserer gesamten Volkskraft Abbruch tut, kann keinem klar Denkenden
verborgen bleiben. Anstatt nun dahin zu wirken, die Gegensätze der Par¬
teien zu fiberbrücken und beschwichtigend auf die Gemüter einzuwirken,
werden selbst Kinderbilderbücher verfaßt und als solche verkauft, deren ein¬
ziger Zweck es ist, bereits die jungen Gemüter in Verwirrung zu bringen
und ihren urteilsunfähigen Verstand mit Dingen zu bedrängen, über die heute
der Erwachsene Mühe hat, klar zu werden.
Wenn auch gar nicht zu verkennen ist, daß George Groß vom rein künst¬
lerischen Standpunkt aus gesehen ein vorzüglicher Illustrator ist, so haben
doch seine Bilder mit dem Wesen eines Kindes so wenig zu tun, daß man
sich wundern möchte, wie ein Künstler von dem Können Groß’ sich so ver¬
lieren kann, diese Illustration für ein Kinderbilderbuch geeignet zu halten.
Man lasse doch den Kleinen lieber ihre schönen Märchenideale; die Wirk¬
lichkeit mit all den Brutalitäten der heutigen Zeit tritt noch früh genug an
jeden Menschen heran und braucht ihm nicht noch im Bilderbuch besonders
früh übermittelt zu werden. Überlegt man, was kann dem Kinde mit diesem
Buch gedient sein, so muß man sagen, daß gar nichts erreicht ist, was irgend¬
einen positiven Wert hat, es kann höchstens ein Klassenhaß erzeugt werden,
der um so sinnloser ist, da dem Kinde doch jede Beurteilungsmöglichkeit des
Wie und "Warum der Klassen unmöglich ist. Es mutet eigenartig an, wenn
in der reizenden Form des Andersenmärchens diese Verhetzungen erzählt
werden; für das Kind sind solche Stoffe einfach nicht geeignet, genau so
wenig wie erotische Dinge, die nur die herrliche Ausgeglichenheit des kind¬
lichen Gemütes allzu früh mit Zweifeln und Ahnungen zerreißen können.
Das Buch ist bezeichnend für unsere heutige sinnlose Art, nur um einer
Partei vermeintlich dienlich zu sein, wird die Ruhe manchen Kindes geopfert,
das bis heute vielleicht von diesen Schwierigkeiten nichts ahnt, dessen Un¬
voreingenommenheit zerstört wird, ehe es selbständig urteilen kann.
b) Das nationale Bilderbuch.
Es ist eine Haupteigenschaft des Deutschen, möglichst wenig zu betonen,
daß er ein Deutscher ist und alles, was aus der Fremde kommt, von vorn¬
herein als bewunderungswürdig zu betrachten. Bilderbücher, in denen ein
gewisses nationales Empfinden bereits der Jugend 'klar gemacht wird, sind
recht selten, die wenigen Beispiele stammen aus der Kriegszeit, und viel
Neues wird schwerlich dazu kommen. Das U-Buch von Bauer u. Tips, Ver¬
lag W. A. Gustav Müller, Leipzig, ist so recht für den deutschen Jungen, es
zeigt ihm, was Technik und Schneid seines Volkes geleistet haben und bringt
ihm zum Bewußtsein, daß jeder stolz sein kann, ein Deutscher zu sein.
Die Franzosen haben seit dem siebziger Krieg planmäßig die Betonung
des nationalen Empfindens in vielen Schulbüchern gepflegt, und der Revanche-
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Julius Schneider
gedanke war ein immer wiederkehrendes Motiv selbst in den einfachsten
Unterrichtsfibeln. Heute geht das wiederum so weit, daß in einer Fibel im
Elsaß beim Buchstaben B der Deutsche mit boche bezeichnet dargestellt ist
Dieses direkte Schüren des nationalen Hasses ist ja wiederum gerade im
Bilderbuch ein Unrecht, uns Deutschen würde aber eine planmäßige Betonung
eines gewissen nationalen Empfindens sehr gut tun und wäre auch für das
Kind nicht schädlich; hier kann des Outen nicht leicht zu viel getan werden,
weil sehr viel besser zu machen wäre, was in langen Zeiten versäumt
worden ist.
Benutzte Literatur:
flfentzel, Kinderalbuin. Lehrerverein Berlin. —, Pronold u. Henselmann, Das Welt¬
kriegsbilderbuch. Attenkoffer, Straubing. — Zur Mühlen u. Grosz, Was Petercbens Freunde
erzüblen. Malik-Verlag, Berlin. — Bauer u. Tips, Das U-Buch. W. A. Gast. Müller, Leipzig
VIII.
Dialektischer Typ.
Recht vereinzelt stehen die Vertreter dieser Gattung von Bilderbüchern da;
das Büchlein ',0 mi hei ne schöne Ring!“ von Prof. Dr. Ernst Schneider,
Verlag von Benteli A.-G., Bem-Bümplitz, ist ein ausgesprochenes Muster¬
beispiel eines Dialektbilderbuches. Die besondere Eigenart dieser Bücher bringt
es mit sich, daß ihr pädagogischer Wert für die angehenden ABC-Schützen
kein großer ist, denn gerade die Erlernung der Schriftsprache ist das eigent¬
liche Ziel des Schulunterrichts, und dem läuft das dialektische Bilderbuch ja
entgegen. Für ältere Kinder, sagen wir von 10 Jahren ab, bei denen die
Grundlage des Schriftdeutschen bereits fest sitzt, ist diese Darstellungsart
eher geeignet. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein Werk
in Schweizer-Deutsch, das bei den unteren Bevölkerungsschichten des deut¬
schen Teils der Schweiz allgemein gesprochen wird. Hier ist der Zweck de6
Büchleins eher verständlich, zumal durch vielfach eingeflochtene schrift¬
deutsche Texte das nur Dialekt verstehende Kind auch diese Redeweise lernt.
In der Hansa-Fibel, dem so vorbildlich gewordenen Werke, finden sich eben¬
falls Dialektgedichte, wie z. B. „Hamborger Snack for uns Hamborger Kinner“
und verschiedene andere. Es hat ja sicher viel für sich, wenn das Kind, das
so ganz im Dialekt aufgewachsen ist, auch aus seiner Schulfibel heimatlich
angesprochen wird, und dieser Versuch trägt viel dazu bei, dem Kinde dieses
Büchlein beliebt xu machen.
Literatur:
Hartmann u. Schäfer. Kinnereprich von Ludewig. Weinhold, Ludwigshafen.
Zusammenfassung der Typen.
«
Die Aufstellung der Typologie ergibt selbstverständlich nur einen mehr
oder minder groben Rahmen, durch die in die Fülle der Bilderbücher einiger¬
maßen Ordnung gebracht werden kann. Selbstverständlich wird sich manches
Buch ebenso gut unter den einen als auch den anderen Typ registrieren
lassen, besonders Bilderbücher, die eine ganze Sammlung von Kinder¬
geschichten bedeuten, sind wegen ihres umfassenden Inhaltes überhaupt nicht
genau in irgendeine Rubrik einzureihen.
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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
343
Wenn wir die Wirkungen des Bilderbuches, also ihren eigentlichen Zweck
ins Auge fassen, so ergibt sich ungefähr folgende Einreihung in die Typologie:
a) Anschauungs- und VorBtellungsbilderbttcher fallen unter den demon¬
strativen und intellektualistischen Typ.
b) Solche Bücher, die es auf das Gefühl wie die Unterhaltung, Erheiterung
und den Humor abgesehen haben, unter den humoristischen Typ.
c) Bücher mit sittlicher Tendenz sind unter den moralisierenden und
ästhetischen Typ zu zählen.
d) Bleibt noch die Reihe der Bücher, die zum Zeichnen, Schreiben und
zur Handfertigkeit anleiten, diese fallen naturgemäß unter den Typ des
Beschäftigungsbilderbuches. '
e) Als kleiner Rest erheischen eine besondere Rubrik das Dialektbilderbuch,
sowie das „Bilderbuch mit Tendenzen der Erwachsenen*, die in der
Typologie je einen besonderen Abschnitt erhalten haben.
Damit dürfte im allgemeinen jedes Kinderbilderbuch in dieser Einteilung
sein Unterkommen finden.
Als Endergebnis bliebe festzulegen: Wie soll das Bilderbuch aussehen, das
für das Kind wertvoll ist?
Schwer lassen sich hier allgemeine Grundsätze aufstellen, die nicht irgend¬
einem Widerspruch begegnen können.
Zunächst, was den Text anlangt, es soll nicht bloß geschildert werden,
sondern ein lebendiger Stoff muß sich vor dem Kinde aufrollen, der inner¬
lich die Kraft hat, ein abwechselndes Geschehen aus sich heraus logisch zu
gestalten; das Ziel soll mehr sein, als bloß Unterhaltung zu gewähren,
sondern einen höheren Zweck anstreben, der dem Kinde den Sinn eines
ethischen Lebenswertes verkörpert. ' Um das Mittel des Beispiels oder der
Abschreckung anwenden zu können, müssen oft einfache Dinge, die dem
kindlichen Fassungsvermögen am nächsten liegen, gebracht werden, die Ein¬
zige’Möglichkeit, rein pädagogische Probleme mit Erfolg angreifen zu können.
Neben der Menschenwelt spielt die Tierwelt in der Fabel im Bilderbuch eine
große Rolle. Man könnte einwenden, Fabeln seien auch für Erwachsene
wertvoll, dies ist aber nur ein Beweis ihrer absoluten Eindringlichkeit; denn
Äicht nur dem Kinde leuchtet die primitive Auslegung schwieriger Probleme
ein, sondern auch der Erwachsene ist für diese Art der Darstellung ein¬
genommen. Gleichnisse und Beispiele sind ebenfalls nichts anderes, sie
dienen nur dazu, die gleichen Beweggründe in eine Sphäre zu übersetzen,
die dem Beschauer näherliegt, ihm das Übertragen auf seine Verhältnisse
erspart und ihm dadurch einen Teil seiner Gedankenarbeit abnimmt
Die Versform ist für das Kind entschieden vorzuziehen, vorausgesetzt, daß
sie wirklich gut ist; das Ohr ist ein Hilfsmittel des Gedächtnisses, das sich
die Harmonie der Klänge ohne Zuhilfenahme des Bewußtseins einprägt
Wird die Prosaform gewählt, dann dürfen keine langen Sätze Vorkommen,
nur einfache Konstruktionen, die leicht zu überblicken sind, und das, was
sie sagen wollen, kurz und klar auszudrücken vermögen. Nicht zu viel ver¬
schiedene Personen einführen, die sich das Kind doch nicht alle merken
kann, die Statisten der einzelnen Geschichten auch wirklich im Hintergründe
lassen und nicht bei einer nebensächlichen Gelegenheit hervorziehen, bloß
um damit Verwirrung anzurichten! Wechselt der Schauplatz, dann muß
immer etwas wiederkehren, was schon einmal da war, zwei verschiedene
*
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Julias Schneider, Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches
Geschehen [nebeneinander her kann das Kind nicht verstehen; es verliert
darüber unbedingt den Zusammenhang und damit das Interesse und die Lust
Ferner dürfen die Geschichten nicht zu lang sein, entweder sie sind für
das, was sie enthalten, zu sehr gedehnt und wirken dann ermüdend und
inhaltlos, oder es ist zu viel Stoff vorhanden, dann kann ihn das Kind nicht
mehr behalten und hat den Anfang längst vergessen, wenn es kaum in der
Mitte ist.
Hinsichtlich der Druckausstattung mag als Regel gelten: klare, übersichtliche
und nicht zu kleine Schrift ist notwendig, keine verschnörkelten Buchstaben,
sondern die Lettern, welche das Kind in der Schule lernt; es ist nicht der Zweck
eines Bilderbuches, das Kind mit allen möglichen Schriftarten vertraut zu
machen.
Was das Bild anlangt, so muß es zunächst im richtigen Verhältnis zum
Text stehen, nicht zu früh oder zu spät kommen, sondern das ergänzen,
was nicht zu lesen ist oder umgekehrt.
Auf die Farbe kann die Illustration des Kinderbilderbuches kaum mehr
verzichten; von den vielen Reproduktionstechniken ist keine besonders ab¬
zulehnen, sofern sie gut ist. Allerdings leiden einige Arten, wie der litho¬
graphische Druck, mit Vorliebe unter allzu starker Farbenpracht; der graue
Schleier der Autotypie ist ebenfalls ein Hindernis, das nie ganz zu beseitigen
ist, aber bei sorgfältiger Überwachung von Ätzung und Druck auf ein Mindest¬
maß beschränkt werden kann. Mit Farben richtig umzugehen ist eine Kunst,
und einem Kinde gegenüber sollte man damit doppelt vorsichtig sein; kennt
es auch eventuell den Schaden selbst nicht, so kann er doch verheerend auf
seine Geschmacksbildung wirken und das feine Empfinden durch Übersätti¬
gung und falsche Verteilung ein für allemal verderben. Ganz Verkehrt sind
die modernen Bilderbücher, insofern sie alle Farben umdrehen, nur mehr
expressionistisch sein wollen und für die Wirklichkeit gar nichts mehr übrig
haben. Was soll sich das Kind dabei denken? Es kann sich über die
grellen Farben freuen, aber ein besonders wertvolles Moment für die künst¬
lerische Entwicklung wird damit sicher nicht erzielt. Der pädagogische Zweck
des Buches geht vollständig verloren, und was bleibt dann noch praktisch
Brauchbares davon übrig?
Ein Bilderbuch, das bloß eine Unterhaltung abgibt und sonst gar nichts,
ist um jeden Preis zu teuer, eine Stunde Schlaf wird dem Kinde viel wert¬
voller sein.
Illustrationen müssen dem Kinde' Überraschungen bringen, ihm Neues
zeigen, was es selbst nicht hätte zusammendenken können und in ihrer Folge
bei der Sache bleiben und sich nicht plötzlich in stilistischen Problemen ver¬
lieren, um irgendeiner künstlerischen Schrulle willen, sondern stets daran
denken, daß sie in erster Linie für das Kind da sind und sich folgerichtig
in dessen Auffassungsvermögen bewegen müssen; sonst werden sie achtlos
beiseite gelegt, weil das Problem dem Kinde nicht lösbar' ist und es sich
deshalb auch sofort nicht mehr dafür interessiert.
Wird nur mit Schwarz-Weiß gearbeitet, so ist die Aufgabe, klare Bilder
zu schaffen, fast noch schwieriger, weil mit einem Stoff ganz verschiedene
Wirkungen hervorgeholt werden müssen; die Linie spielt die Hauptrolle und
ist das wichtigste Ausdrucksmittel. Silhouetten sind meist dem Kinde lang¬
weilig, es kann nichts Rechtes damit anfangen; die geometrischen Ausdrucks-
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F. Malsch, Die Vorstellungaentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzung usw. 345
formen in plastische umzusetzen, ist eine Leistung, die ihm nicht leicht
gelingt, das Tote der reinen Fläche erzeugt sofort eine Langweiligkeit, die
das Kind ganz besonders empfindet. Auch hier lautet die Forderung: „Ab¬
solute Klarheit der' Form, ohne dabei Deutlichkeit mit Aufgeblasensein zu
verwechseln, Betonen des Charakteristischen und Weglassen alles Unnützen
und nur störenden Details.“ Kräftige Schatten sollen die Dinge möglichst
plastisch gestalten ohne sinnverwirrend zu wirken. Auf einem Bilde braucht
nicht alles dargestellt sein.
Ebenso wie der Text nicht zu lang sein soll, sollen auch die Bilder nicht
zu zahlreich sein: gerade die illustrierten Bücher leiden oft unter zu großer
Fälle, die Bilder machen sich gegenseitig Konkurrenz, können nicht immer
Neues bringen und müssen notgedrungen das Interesse herabmindern, weil
eben die Auswahl zu groß ist. Ein paar gute Bilder bedeuten dem Kind
mehr wie ein ganzer Band, der auf jeder Seite eine große oder kleine Illu¬
stration bringt und trotz seiner Eülle plötzlich in einer Monotonie dasteht,
deren sich der Künstler meist gar nicht mehr bewußt ist.
Bleibt noch zu reden über das Format. Hier ist aber nicht mehr zu sagen
als daß es praktisch sein soll, handlich für das Kind, eingehend auf seine
ungeschickten Händchen, denen das Umblättern die Lösung einer Schwierig¬
keit ist wie den Erwachsenen das Einfädeln einer Nadel; zweckentsprechend
heißt hier das Wort, das allein sich auf die Fülle der verschiedenen Probleme
anwenden läßt.
Die Vorstellungsentfaltung und ihr Zusammenhang
mit Begabungsschätzung und Schulleistung.
Von Fritz Malsch.
I.
Für die freie geistige Tätigkeit des Schülers, wie für jedes kombinatorische
oder schlußfolgernde Denken, ist eine gewisse Gewandtheit in der Vorstellungs¬
bewegung erforderlich. Was verstehen wir darunter? Wird dem Individuum
von außen oder innen irgendeine Aufgabe gestellt, so beobachten wir ein
reges Arbeiten des Assoziations- und Reproduktionsmechanismus, der dann
unter Einsatz des schlußfolgernden Denkens, der Beziehungserfassung, wo¬
möglich auch der Phantasie, zur Lösung der Aufgabe führt. Die Basis, das
Material für die letztgenannten höheren realischen Leistungen holt also das
Individuum aus sich selbst, indem es seine Vorstellungswelt in Bewegung
setzt. Unsere hergebrachte pädagogische Arbeitsweise ist aber ein fort¬
währendes Stellen von Aufgaben solcher Art — Aufgabe nicht im trivialen
Sinne genommen —, daher muß der geistig mitarbeitende Schüler eine ziem¬
liche Beweglichkeit seiner Vorstellungswelt haben. Andererseits ist es aber
nicht ausgeschlossen, daß ein Schüler, der nur geringere Gewandtheit in der
Verfügbarmachung seiner Vorstellungswelt besitzt, oder dessen Vorstellungs¬
leben weniger ausgefüllt ist, doch auf die Dauer die bessere und wertvollere
geistige Leistung hervorbringt. So wird auch für die Beurteilung der Schüler
die Kenntnis ihrer Vorstellungsgewandtheit wertvolle Aufschlüsse geben
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346
Fritz Malsch
namentlich wenn deren Beziehungen zur Arbeit in den einzelnen Unterrichts¬
fächern näher bekannt wären.
Es kommen ja bei der Untersuchung dieser Frage eine Menge längst be¬
kannter psychischer Faktoren in Frage. Der erste dürfte* die Assoziation von
der Erfahrung bereitgestellter Vorstellungen sein, die Sicherheit, mit der diese
erfolgt, die Geschwindigkeit, mit der sie sich dem Bewußtsein darbietet. Hinzu¬
treten Beziehungserfassungen an den bereitstehenden Vorstellungen, phantasie¬
volle Verknüpfungen möglicher Kombinationen. Da die Vorstellungsbewegung
durch die Aufgabe gebunden ist, so wird ihr Gang hierdurch kompliziert.
In der Übernahme einer solchen Aufgabe liegt ja ein Willensakt vor, die
Aufmerksamkeit muß dem Gegenstände folgen, kurz aus allem erhellt, daß
bei dem komplexeji Charakter der durch Aufgaben geleiteten gebundenen
Vorstellungsbewegung große interindividuelle Unterschiede auftreten werden,
die für die Beurteilung von Intelligenz und geistiger Leistungsfähigkeit, aber
vor allem für die pädagogische Psychologie bedeutsam sind. Die Nicht¬
achtung dieser interindividuellen Unterschiede bringt für den praktischen
Pädagogen insofern große Gefahren, als aus ihr eine grobe Verständnis¬
losigkeit gegenüber dem Schüler entspringen kann, während andererseits
die Beachtung dieser Zusammenhänge in Verbindung mit zweckmäßig ge¬
gebenen Hilfen große Erfolge haben wird, namentlich wenn dabei noch
der Vorstellungstyp des Schülers in Betracht gezogen wird.
Es ist daher nicht weiter zu verwundern, daß Untersuchungen über dieses
Gebiet der Vorstellungsbewegung bereits früher angestellt sind, aber anderer¬
seits nicht so häufig, wie wohl denkbar wäre. Der Grund dürfte wohl darin
zu suchen sein, daß eine exakte Bewertung des ungemein vielgestaltigen
Materials überaus schwierig ist. Auch die folgende kleine Arbeit soll nur
ein kleiner Baustein zum Hause der Jugendforschung sein. Während man
sonst gewöhnlich im Interesse der Intelligenzprüfungen das Vorstellungsleben
untersucht hat, hat Lindworsky in einer neueren Arbeit die Beziehungen
der Vorstellungsentfaltung zur Denkleistung besonders betrachtet; früher
haben Ries und Winteler besonders „gebundene“ Assoziationen geprüft,
bei denen das assoziierte Wort einen vorgeschriebenen gedanklichen Zu¬
sammenhang mit dem Reizwort haben mußte. Winteler (5) ließ bestimmte
begriffliche Beziehungen des Assoziierten zum Reizwort als Leitgedanken
geben. Dabei ließ sich feststellen, daß die aus den Intelligenzprüfungen
festgestellten Intelligenzunterschiede sich auch in dieser gebundenen Assozia¬
tion scharf ausprägten. Die größere Intelligenz zeigte sich in der Schnellig¬
keit und Richtigkeit, besonders aber in der Schärfe der Beziehungserfassung.
Auch wir werden das letzte öfter feststelleü. Ries (4) dagegen gab den
kausalen Zusammenhang als Aufgabe für sämtliche Assoziationen. Sowie
Lindworsky früher nach wies, daß das schlußfolgernde Denken sich vielmehr
auf den Bahnen funktionaler Relationserfassung als logischer Schlüsse be¬
wegt, ergab sich auch hier bei der Erfassung dieses funktionalen Zusammen¬
hangs eine große Korrelation zu den Intelligenzschätzungen des Lehrers.
Moede-Piorkowski (6) andererseits prüften nicht gebundene Assoziationen,
sondern ganze Ketten, die sie Themen-Assoziation nennen. Sie ließen auf
ein einzelnes Reizwort alle irgend einfallenden Reizworte angeben, ohne
daß eine verlangte Beziehung bestehen mußte. Über die Ergebnisse sind
bisher nur ganz allgemeine Angaben bekannt. In der Arbeit von Lind-
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Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzang u. Schulleistung 347
worsky (7) wird der Versuch gemacht, die gebundene Vorstellungsbewegung
in Beziehung zu setzen zur Denkleistung und Intelligenzschätzung. Ausgehend
von der Forderung, dafi man zur Erfassung der Denkleistung die in allen Denk¬
experimenten gemeinsamen Faktoren oder Faktorenkomplexe aufdecken müsse,
die sich fördernd oder hemmend auswirken, gelangt er zudem Ergebnis, daß ein
solcher Faktor die Vorstellungsentfaltung sei. Ausgeführte Versuche ergaben
noch verhältnismäßig unklare Ergebnisse, namentlich für die Verwendung
gebundener Vorstellungsassoziationen als Tests für Intelligenzprüfungen.
Meine Arbeiten (9 u. 10) über die Schülerinteressen und Schülerleistungen
legten es mir nahe, auch diesen Faktor, die Vorstellungsbewegung einmal
im Zusammenhang mit dem schulischen Verhalten einer Schülergruppe zu
untersuchen. Insbesondere den Zusammenhang mit den Leistungen und
Intelligenzschätzungen der Lehrer zu betrachten.
II.
Die Schülergruppe, die dem Versuch unterworfen wurde, war eine U II
von 43 Schülern, die dem Versuchsleiter zum größtenteil seit drei Jahren be¬
kannt waren. Die Mehrzahl der Schüler stammt aus dem kleinbürgerlichen
Mittelstände, brachte also wohl kaum allzu umfangreiche Lebensassoziationen
mit. Während die Klasse — von Ausnahmen, von denen gleich noch die Rede
ist, abgesehen — eine gute Schulklasse war, kann doch ihr geistiger Habitus
nur als durchschnittlich bezeichnet werden, Störend war, daß man sehr
scharf drei Altersgruppen unterscheiden kann, 15-, 16- und 17-jährige; die
erste Gruppe enthält die Schüler, die sehr früh in die Schule eintraten, die
zweite die normal mit 10 Jahren in die höhere Schule eintraten, die dritte
und kleinste Gruppe enthält die Repetenten verschiedenster Grade.
Dieser Schülergruppe wurde in einer Unterrichtsstunde, die dazu zur Ver¬
fügung stand, ein Blatt Schreibpapier gegeben, auf dem sie zunächst Name
und Alter angaben. Dann gab ich zunächst ein Beispiel. Ich nannte das
Wort: „Zigarette“ und gab vorher die Anweisung, mir alle Gedanken, die
ihnen einfielen, stichwortartig zu nennen; da kamen also etwa „teuer, nicht
gesund, Türkei, verboten usw.“ Nun, sagte ich, seien nicht in wildem
Durcheinander alle Einfälle zu nennen, sondern nur solche, die einen be¬
stimmten Zusammenhang mit dem genannten Wort hätten. Diesen Zusammen¬
hang würde ich angeben, und zwar entweder Ursache, Wirkung oder Gegensatz.
Auch hierfür wurde noch ein Beispiel mündlich behandelt. Dann erhielten sie
den Auftrag, die ihnen einfallenden Vorstellungen, ohne Satzbildung, stich¬
wortartig niederzuscbreiben, bis ich „Halt“ gebiete. Ich gab dann folgende
Reizworte, mit den Leitgedanken und Zeiten, nach denen abgebrochen wurde.
Reizwort
Leitgedanke
Zeit( m )
1. Hut
Ursache
1
2. hoher Lohn
Wirkung
2
3. schlechtes Wetter
Gegensatz
1
4. Zirkel
Wirkung
1,5
5. blauer Montag
Gegensatz
1
6. Eisenbahnfahrpreis
Ursache
1
7. Schlange
Wirkung
1
8. Wissenschaft
Ursache
2,5
9. hochentwickelte Technik
Gegensatz
2
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348
Fritz Malsch
Die Beziehung sollte durch den Genitivus, also Ursache des Hutes usw.
ausdrückbar sein, um Verwechslungen des kausalen Zusammenhanges zu. ver¬
meiden. Die Zeiten wählte ich so, daß, soweit sich das im Massenversuch
beurteilen ließ, alle Schüler ausreichend Zeit hatten, ein paar Worte hinzu¬
schreiben, um auf jeden Fall nicht die Schreibgeschwindigkeit zur Ursache
von Fehlern oder Unterschieden werden zu lassen.
Ein paar Worte zur Wahl der Reizworte. Sie sind nach längerer Über¬
legung und einigen Vorversuchen so gewählt, daß sie in der Mehrzahl für
den Durchschnittsschüler das Merkmal unmittelbarer Anschaulichkeit besaßen;
nur Nr. 8 u. 9 machen eine Ausnahme. Ries (4.) hat im Gegensatz dazu
fast nur abstrakte Wörter gewählt. Ich halte das für das von mir unter¬
suchte Alter von 15—17 noch für falsch, um so viel mehr für jüngere Jahr¬
gänge. Man sehe sich z. B. seine erste Wortreihe an. So gewandt ist nach
meiner Erfahrung der 16 jährige noch nicht im Arbeiten mit Abstraktis, daß
man auf eine solche Probe der naturgemäßen Betätigung seines Geistes ein
sicheres Urteil aufbauen kann.
Während des Verlaufs unseres Versuchs war es möglich, aus dem Ausdrucks¬
verhalten der Klasse bereits ungefähr zu schließen, wie sie sich mit den
einzelnen Wörtern abfand. Schwierigkeiten machten offenbar die Reizwörter
1, 4, 5, 8 und 9, leicht dagegen fielen 2, 3, 6 und 7. Mit Nr. 1 wußte man
wenig anzufangen, die durchschnittliche Zahl der entwickelten Vorstellungen
ist 2,6, und zwar in allen drei Altersgruppen nahezu dieselbe. Leicht da¬
gegen fiel Nr. 2, nur die dritte Schülergruppe (s. o.) blieb dabei hinter dem
Durchschnitt beträchtlich zurück (3,4); das Reizwort hatte für die Gruppe
der 15- und 16-jährigen offenbar großen Aktualitätswert; die Zahl der durch¬
schnittlich entwickelten Vorstellungen ist 4,1 und 4,6. Ähnlich verhält es
sich mit Nr. 3, bei dem die große Geschwindigkeit der Vorstellungsentfaltung
auf fiel. Eine Menge zweifelnder gesichter war bei Nr. 4 zu beobachten, mit
der alle drei Altersgruppen eben fertig wurden. Sehr unklar dagegen war
Nr. 5. Ich stellte hinterher sicherheitshalber fest, daß der Begriff allen be¬
kannt war. Trotzdem blieb bei 5 Vp. die Entfaltung einer gegensätzlich be¬
dingten Vorstellung völlig aus, die durchschnittliche Zahl ist in der ersten
und letzten Altersgruppe — das werden wir noch später öfter beobachten —
nahezu gleich, bei <jer mittleren Gruppe, der normalaltrigen 50°/o höher. Sehr
leicht fallen weiter Nr. 6 und 7; es werden hier durchschnittlich die meisten
Vorstellungen entwickelt, nämlich 4,6 und 4,1. Schwierig dagegen sind vielen
Nr. 8 und 9. Die Minderleistungen einzelner sind dabei allerdings zum Teil
durch die Mehrleistung einzelner ausgeglichen.
Wir haben mit Nennung der Zahlen schon etwas vorgegriffen. Das Zettel¬
material wurde nun einer sorgfältigen Durchsicht unterzogen und alle ge¬
nannten Vorstellungen, bei denen mit einiger Sicherheit festgestellt werden
könnte, daß der Leitgedanke oder die ganze Aufgabe falsch aufgefaßt war,
ausgemerzt. Das war nicht leicht, ich möchte da Ries (4.) beipflichten: „Man
kann nur sehr schwer feststellen, ob das niedergeschriebene Wort auch wirklich
den geforderten Zusammenhang nicht darstellen kann.“ Ob es allerdings
zuträglich ist, in einem solchen Falle den Schüler nachträglich um seine
Auffassung zu fragen, möchte ich bezweifeln. Man kennt die Wortgewandt¬
heit unserer Jungens, wenn es gilt: „sich herauszureden“. So wurde dann
solches Material kurzerhand gestrichen. Bei einem Schüler, der 62 Einzel-
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^ Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätz ung u. Schulleistung 349
Vorstellungen genannt, waren 19 falsch. Es sei bereits erwähnt, daß derselbe
im Unterricht unbrauchbar, nur eine übermäßig entwickelte Phantasie auf¬
zuweisen hat Auffallend ist, daß bei der ersten Gruppe keine falschen Leit¬
gedankenbeziehungen auftreten, die Mehrzahl der Fehler vielmehr in der
zweiten Altersgruppe steckt.
Man kann Zweifel daran aufwerfen, ob es angängig ist, in dieser Weise
rein zahlenmäßig vorzugehn, ob man nicht auch die Qualität der entwickelten
Vorstellungen irgendwie bewerten müßte. Ich möchte das letzte nicht ganz
ablehnen, aber doch auf die äußerst große Subjektivität der Bewertung, die
dadurch eintritt, aufmerksam machen. Die Vorstellungsgewandtheit, die wir
erfassen wollen, erfassen wir meiner Meinung nach durch die 3phl der Vor¬
stellungen am besten. Auch dabei müssen wir uns noch der Relativität des
Begriffes bewußt bleiben; denn diese Vorstellungsgewandtheit kann aus vielerlei
Quellen fließen bezw. durch sie beeinflußt werden. Eine solche Quelle ist
das rein mechanische Gedächtnis, dann die Assoziationen, die in ihrem sinn¬
vollen Zusammenhang erhalten bleiben. Bei einer Menge von Vp. wird außer¬
dem aber ganz sicher die Beziehungserkenntnis als elementare Denkfunktion
und das Schließen in Tätigkeit treten; wir wissen ja heute, daß das letzte
viel mehr funktional als logisch arbeitet, und so werden auch hier denkge¬
wandten Vp. intuitive Schlußketten unterlaufen. Wir geben zunächst eine
Tabelle, aus der ersichtlich ist, wie viel Vorstellungen im Durchschnitt auf die
einzelnen Altersgruppen sowie im Ganzen bei jedem Reizwort entfallen.
Reizworte:
Altersgruppe
i
2
3
4
5
6
7
8
9
i
2,6
4,1
4,3
3,2
2,1
4,6
4,0
3,4
3,2
2
2,5
4,6
3,8
3,2
3,1
3,9
4,2
4,3
4,5
3
2,7
3,4
3,3
3,3
2,0
5,4
4,0
3,1
3,1
Gesamt ....
V 2,6
4,0
3,8
3,2
2.4
4,6
4,1
3,6
3,6
Um eine Übersicht über die Einzelleistungen zu geben, waren zwei Wege
möglich, der der Reihenbildung und der der Gruppierung; ich habe mich für
den letzten Weg entschieden, einmal weil es ungemein schwierig ist, eine
sichere Rangierung vorzunehmen, dann aber auch mit Rücksicht auf die
weiter unten folgenden Korrelationsbetrachtungen. Mit Rücksicht darauf blieb
auch die Zahl der Gruppen auf 9 beschränkt, obwohl damit eine Unregel¬
mäßigkeit hineinkam. Wir bilden die Gruppen nach der Zahl der geweckten
Vorstellungen zu: 10—19, 20—24, 25—29, usw. 50—54, 55—65. Die
Numerierung der Gruppen in umgekehrter Reihenfolge, damit die Bestleistung
an der Spitze steht.
Gruppe
1
2
3
4
Ö
6
7
8 ■
9
Zahl der
'Schüler. . .
3
1
3
3
6
5
6
n
4
In %.
7,0
2,3
7,0
7,0
14,0
11,6
14,0
25,6
9,2
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350
Fritz Malsch
Die Kurve, deren bildliche Darstellung sich erübrigt, zeigt zwei
Maxima, eines in Gruppe 5 und eines in Gruppe 8. Bilden wir nun die
Abweichung, d. b. die Differenz zwischen der tatsächlich geleisteten Vor¬
stellungszahl uÄd der Durchschnittsvorstellungszahl und rechnen sie in Prozente
der Durchschnitts vorstellungszahl um, so erhalten wir die relativen Abweichungen.
Die mittlere Abweichung und die mittlere relative Abweichung sind 9,7
bzw. 30,4. Näheres über diese Mittelbildung bei Stern. Diff. Ps. S. 237.
Auch hier zeigen sich wieder zwei ausgeprägte Maxima, bei etwa — 20°/o und
bei + 20°/o der relativen Häufigkeit.
III.
Wir betrachten die Gewandtheit in der Vorstellungsentfaltung als ein psy¬
chisches Merkmal, das, wie wir feststellten, in einer Gruppe von Vp. inter¬
individuelle Variationen aufweist. Andrerseits haben wir oben bereits darauf
hingewiesen, daß man solche psychischen Merkmale nicht isoliert betrachten
kann, daß jedes Einzelmerkmal, jede Einzelfunktion für das Ganze des seelischen
Lebens von Bedeutung ist und nur in diesem Zusammenhang richtig gewertet
werden kann. Wir haben es, um mit Stern zu reden: „mit dem engeren
oder loseren Zusammenhang“ zu tun, „den die im Individium vorhandenen
psychischen Merkmale untereinander haben.“ Wenn Stern (D. Ps. S. 86) dann
weiter fordert: „Man wird die Auswahl der zu untersuchenden Funktionen
von vornherein bestimmt sein lassen durch Hypothesen über möglicherweise
bestehende Korrelationen“, so glauben wir hier durchaus im Sinne dieser
Forderung gearbeitet zu haben, insofern es von vornherein feststand, den Zu¬
sammenhang zwischen Vorstellungsentfallung, Schulleistungen und Lehrer¬
urteil zu untersuchen. Es gibt ja auf diesem Gebiete eine Menge Behaup¬
tungen, die zum Teil nur auf Grund gewisser gefühlsmäßiger Überzeugungen
aufgestellt sind, z. B. die guten Sprachler = schlechte Mathematiker und
umgekehrt. Wir haben anderwärts (9 und 10) die Unhaltbarkeit dieser These
auf Grund umfangreichen Materials nachgewiesen. Die endgültige Erledigung
dieser Zusammenhangsfragen ist, wie Stern bereits vor 12 Jahren feststellt
(D. Ps. S. 286), pur auf dem Wege der Korrelationsforschung möglich. Dabei
gilt es aber darüber im klaren zu sein, daß der Begriff Korrelation zu einer
Gesetzmäßigkeit sui generis führt, daß die Korrelation nur Wahrscheinlichkeits¬
werte liefert. Betz hat bereits 1903 auf diesen fundamentalen Unterschied
der Zusammenhänge im Bereich der Physik und der Psychologie hingewiesen (8).
Dort haben wir den funktionalen Zusammenhang, d. h. das Auftreten des
einen Faktors ist notwendige Folge des anderen, hier dagegen bleibt mir
eine gewisse Regelhaftigkeit der Erscheinung übrig, vgl. auch meine Aus¬
führungen in Nr. 9 der Lib-Liste. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn
im Folgenden eine Menge Korrelationen untersucht werden, nämlich der Vor¬
stellungsgewandtheit zu Schulleistungen und Lehrerurteil. Es wurde zunächst
für jeden Schüler die Jahresdurchschnittszensur für jedes Fach berechnet
auf Grund der vorliegenden Zeugnisbücher (es werden 3 Zeugnisse pro Jahr,
gegeben). Diese wurden dann für alle Schulfächer gemittelt und so einp
allgemeine Leistungsnote bestimmt, diese Leistungsnoten in folgende 9 Gruppen
verteilt, Gruppe 1, wenn die Zensur fiel zwischen 1 und 1,5 ubw. nach fol¬
gendem Schema:
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Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungaschätzung u. Sehulleistung 351
Es sind dies die früher üblichen Schulnoten, 1, 2, 2—,
3 +, 3 usw. wobei 1 die Note Sehr gut ist. Diese
Noten sind dann in Kombination mit den Vorstellungen
in eine Verteilungstafel (Stern, D. Ps. S. 302) eingetragen,
die bei den meisten Korrelationsberechnungen die ver¬
langte lineare Regression zeigt. Nach derselben Klassi¬
fizierung durch die Noten 1, 2, 2— usw. wurde nun
eine Gruppierung der Schüler nach dem Lehrerurteil
vorgenommen. Zwei Herren, die in der Klasse längere
Zeit z. T. mehrere Jahre unterrichtet, wurden gebeten,
nach ihrem allgemeinen Eindruck eine Einstufung
der Schüler in die 9 Gruppen vorzunehmen. Aus
beiden wurde ein Mittelwert berechnet und danach jeder Schüler in eine
der 9 Gruppen einrangiert. Ähnlich wurden nach den Zeugnisbüchern Jahres¬
durchschnittszensuren für die Sprachen r Französisch-Englisch, sowie für
Mathematik-Physik berechnet. Die Tafeln seien hier im Einzelnen nicht auf¬
geführt, die Ergebnisse zusammengestellt:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Schema.
1—1,50
2.50- 2,25
2.25— 2,50
2.50- 2,75
2.75— 3,25
3.25— 3,50
3.50- 3,75
3.75— 4,25
4.25— 5
Korrelation zwischen:
r -
w F -
r
w F
I.
Vorstellungsentfaltung — Lehrerurteil
0,537
0,0745
7,2
2.
„ — allgem. Schulleistung
0,328
0,089
3.7
3.
„ — Leistung in Sprachen
0,073
0,101
0.7
4.
„ — Leistg. i. Mathematik
0,370
0,088
4.3
5.
Allgem. Leistung — Mathematik
0,895
0,020
44,6
6 .
„ — Sprachen
0,950
0,011
86,4
Wir erkennen aus dieser Tabelle, daß zwischen der Vorstellungsentfaltung
oder -gewandtheit und der Schulleistung nur geringe Korrelation besteht,
etwas besser ist noch die zwischen Vorstellungsentfaltung und Mathematik,
fast Null zwischen V. und Sprachen, ganz bedeutend größer aber ist schon
die Korrelation zwischen V. und Lehrerurteil, namentlich wenn man das Ver¬
hältnis des Korr.-koeff. zum wahrscheinlichen Fehler betrachtet. Wir erhalten
also rein zahlenmäßig ein ähnliches Ergebnis bezüglich der Korrelationen wie
Lindworsky, wenn dieser auch die Einzelfaktoren der Vorstellungsentfaltung
wie Reaktionszeit usw. mit dem Lehrerurteil verglich bei älteren Vp. (Studenten).
Auch dort in erster Berechnung r zwischen 0,31 und 0,55. Von dem ganz
verschwindenden Korr.-koeff. Nr. 3 müssen wir dabei absehen.
IV.
Trotz des zahlenmäßig wenig umfangreichen Materials, das uns zur Ver¬
fügung stand, lassen sich Einflüsse der sozialen Lage des Schülers feststellen.
Es ist natürlich auch hier zu beachten, daß wir nicht die reine Veranlagung
zur Vorstellungsentfaltung feststellen können, sondern nur eine solche, die
bereits durch Schule und Elternhaus gewaltig verändert worden ist Wenn
uns schon von den Intelligenzprüfungen her bekannt ist, daß die Kinder
sozial gehobener Schichten bei sonst gleichen Bedingungen besser abschneiden,
so war hier Ähnliches zu erwarten. In der Altersgruppe I, den 15-jährigen'
tritt dies am klarsten hervor. Die drei Vp. mit der niedrigsten Gesamt¬
vorstellungszahl sind die Kinder aus den einfachsten Verhältnissen, die fünf
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352 F* Malsch, Die Vorstellangsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begahungsach&tzung usw.
mit der besten Gesamtleistung haben auch das sozial bestgestellte Elternhaus
hinter sich. Wobei allerdings unter „sozial gutgestellt* weniger nur die Geld¬
kräftigkeit als das geistige Niveau des Elternhauses gemeint ist Weniger
ausgeprägt tritt dies in der zweiten Altersgruppe hervor. Doch ist auch dort,
namentlich bei der geringeren Gesamtleistung, der Einfluß der Herkunft un¬
verkennbar. Die Ausgeprägtheit in der Gruppe I zeugt von der schon häufig
festgestellten geistigen Frühreife der Kinder aus den gehobenen Schichten.
Es bestätigt sich auch hier, was Stern über die Intelligenzprüfungen sagt
(2. S. 244): „Die geistige Atmosphäre der sozialen Umgebung, insbesondere
des Elternhauses ist daher in stärkerem Maße für den geistigen Höhen¬
unterschied verantwortlich zu machen, als der verschiedenartige Schulunter¬
richt.“ Vor allem spricht bei den Schülern aus einfachen Kreisen die viel
geringere Sprachgewandtheit stark mit. Die Übung im Entfalten der Vor¬
stellungen wird ja durch nichts so stark gefördert als durch das Sprechen,
das bei den genannten Schülern meist nur gering entwickelt ist, weil Wort¬
schatz und Ausdrucksfähigkeit, die auf einer lebhaften Beweglichkeit der
Vorstellungen beruhen, nur gering sind. So beeinflussen sich beide Er¬
scheinungen wechselseitig.
Auffallend ist, wie unsere drei Altersgruppen sich unterscheiden, nament¬
lich bei den besonders schwierigen Reizworten 8. und 9. Die Durchschnitts¬
zahl der Vorstellungen beträgt in Gruppe I: 30,1, in Gruppe II: 35,0, während
die dritte Gruppe ihrer Charakterisierung (s. Abschrift: I) gemäß wieder eine
beträchtlich geringere Durchschnittsleistung hervorbringt: 30,5. Einen Grund
für die Steigerung von I nach H sehe ich darin, daß in diesen Reifejahren
die allgemein geistige Entwicklung stark fortschreitet, was sich natürlich bei
jeder' einzelnen Seite zeigen wird. Ferner ist unsere Feststellung an den
Reizworten 8 und 9 ein Beleg dafür, daß mit fortschreitendem Reifealter die
Fähigkeit in abstractis zu denken schnell zunimmt. Das Alter kommt aber
auch als Erfahrungsalter in Frage, insofern als bei dem jüngeren Schüler
weniger vom Leben gestiftete Assoziationen vorhanden sein werden, die die
Entfaltung der Vorstellungen begünstigen. Der Stoff, den das Bewußtsein
verarbeitet hat, ist geringer, weil alle Faktoren, die für die Stiftung solcher
Assoziationen in Frage kommen, persönliche Erlebnisse, Lektüre, Spiel, weniger
stark zur Wirkung kamen.
V.
Von Win tele r ist bereits (5.) festgestellt, daß die weniger intelligenten Vp.
dazu neigen, auf Reizworte mit allgemeinen Begriffen zu reagieren, während
die Intelligenten ihre Begriffe spezialisieren. Ähnliches läßt sich bei unserer
Vorstellungsentfaltung feststellen. Diejenigen Vp., die mit ihrer Leistung unter
dem Durchschnitt bleiben, neigen dazu, mit allgemein substantivischen Be¬
griffen zu reagieren, während die andern ihre Begriffe durch Adjektive spe¬
zialisieren bezw. in die klarere Tätigkeitsform fassen. Die schwächeren lieben
es z. B. sich bei dem Leitgedanken Gegensatz einfach durch negierte Adjektive
zu helfen. Es bestätigt sich hierin die allgemeine Erfahrung, daß der geistig
einfache Mensch in seinem Denken sich gerne in allgemeinen Begriffen be¬
wegt, mit Schlagworten abfindet, ohne daß der Begriff zum rechten geistigen
Besitz wird. Bezüglich der Verwendung anschaulicher Begriffe oder der Vor¬
liebe für abstracta und concreta habe ich keine bestimmten Feststellungen
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
353
machen können; doch eine Beobachtung von Lindworsky (7.) bestätigt sich,
daß nämlich die Vp. aus den besten Leistungen durchaus nicht die anschau¬
lichsten Vorstellungen produzieren, sondern erstens mit den abstrakten Reiz¬
wörtern besser fertig werden und es auch besser^ verstehen, mit abstrakten
Vorstellungen zu operieren.
Literatur.
1. Stern, Differentielle Psychologie. Leipzig 1921. (Zit. als D. Ps.) 3
2. Lindworsky, Experimentelle Psychologie. München 1921.
3. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung.
Leipzig 1920.
4. Ries, Beiträge zur Methodik der J. P. Z. Ps. 56. 1910. 321.
5. Winteler, Experim. Beiträge zur Begahungslebre. EPd. 2. 1906. 1.
6. Moede-Piorkowsky-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen. Langensalza 1921.
7. Lindworsky, Psychische Vorzüge und Mängel beim Denken. Z. Ang. Ps. 18. 1921* 50.
8. Betz, Ober Korrelation. Beiheft zur Z. Ang. Ps. 1. Leipzig 1911.
9. Malsch, Das Interesse für die Unterrichtsfächer an höh. Knabenschulen. Z. Ang. P. 28. 1923.
10. Malsch, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen. Z. Pd. Ps. 24. 1923. 56.
Wesen und Arten der Fehler.
(IV. Teil)
Von Hermann Weimer,
c) Ähnlichkeitsfehler 1 ).
An früherer Stelle (S. 86) habe ich darauf hiDgewiesen, daß jeder Fehler
der richtigen Leistung bis zu einem gewissen Grade inhalts- oder gestalts-
oder funktionsähnlich ist und daß daher die Ähnlichkeit als Kennzeichen
einer besonderen Fehlerart nur da betrachtet werden kann, wo andere Ur¬
sachen der Fehlerbildung nicht nachzuweisen sind. Es gibt indessen Fehler,
bei deren Eintreten die Ähnlichkeit eine ausschlaggebende Rolle spielt oder
bei denen sich zum wenigsten eine andere Entstehungsursache nicht auf¬
zeigen läßt. So habe ich vor Jahren folgende Beobachtung im mathema¬
tischen Unterricht gemacht. Schüler der Quarta (12 J.) wurden zum ersten¬
mal mit den mathematischen Zeichen der Ungleichheit (> = größer als,
< <*= kleiner als) bekannt gemacht. Nach einiger Zeit stellte der Lehrer fest,
daß beide Zeichen häufiger miteinander verwechselt wurden. Ein Vorzug
der zeitlichen Erwerbung oder ein solcher der Häufigkeit des Gebrauchs war
in diesem Fall für keins der beiden Zeichen festzustellen; ihre fehlerhafte
Verwechselung scheint sich also nur auf die Ähnlichkeit ihrer Gestalt zurück-
führen zu lassen. — Wenn der Setzer beim „Absetzen“ der Lettern den
Satz durch Ungeschicklichkeit auseinanderfallen läßt und nun ohne weitere
Hilfe die zerstreuten Typen aus dem bloßen Gestaltsbild erkennen soll,
kommen Verwechselungen von 58 und 33, f und f, I und t usw. vor, die
lediglich durch die Ähnlichkeit dieser Buchstaben und die Nichtbeachtung
der unterscheidenden Merkmale bedingt sind.
Ich glaube also wohl von Ähnlichkeitsfehlern als einer besonderen Fehler¬
gruppe reden zu dürfen. Dadurch bleibt der bekannte Streit um die Frage
der • Ähnlichkeitsassoziation als eines selbständigen Assoziationsprinzips un-
') Vgl. Jahrg. 1922, S. 17; Jahrg. 1923, S. 84 und S. 267 dieser Zeitschrift.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 23
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354
Hermann Weimer
berührt. Wer mit Höffding, Lippe u. a. in der Ähnlichkeit die Grundlage
und Voraussetzung jeder Reproduktion sieht, der wird die gewählte Be¬
zeichnung an und für sich billigen. Wer dagegen ein Assoziationsgesetz
der Ähnlichkeit nicht anerkennt, findet in dem Müll ersehen Begriff der
aktiven und passiven Substitution eine Erklärung der hier behandelten Fehler¬
art, die zahlreichen Anhängern der Kontiguitätslehre ausreichend erscheint.
Wenn eine Vorstellung a eine andere b reproduziert hat, so kann statt ihrer
auch eine dem a ähnliche Vorstellung a die Vorstellung b reproduzieren,
lautet die Lehre von der aktiven Substitution 1 ). Wo dagegen durch die
Vorstellung a statt einer mit ihr assoziierten Vorstellung b eine dem b ähn¬
liche Vorstellung ß reproduziert wird, redet Müller von passiver Sub¬
stitution 2 ). Wenn also das englische Wort voeak (a) bei einem Schüler die
deutsche Übersetzung Woche (b) auslöst, die in Wirklichkeit zu dem eng¬
lischen Worte week ( a ) gehört und mit ihm zusammen gelernt war, so haben'
wir däs Beispiel einer aktiven Substitution vor uns. Wenn dagegen ein
Schüler den deutschen Namen Heinrich ( a) mit der bereits gelernten fran¬
zösischen Form Henri (b) wiedergeben soll, statt deren aber die ähnliche
Form Henry (ß) schreibt, so haben wir es mit einer passiven Substitution
zu tun. Müller und Pilzecker behaupten, daß die Stellvertretung einer
Vorstellung durch eine zweite, ihr ähnliche „ohne weiteres“ vor sich gehe
(a. a. 0. S. 212). Wenn damit gesagt sein soll, daß dies stets ohne jegliche
Hemmung geschieht, so muß es nach meiner Erfahrung bestritten werden.
Der Urheber einer unberechtigten Substitution schwankt oft zwischen den
beiden ähnlichen Vorstellungen, ehe er einer von ihnen den Vorzug gibt,
und die Leistung selbst wird nicht selten mit einem ausgesprochenen Gefühl
der Unsicherheit vollzogen. G. E. Müller hat übrigens selbst — freilich in
anderem Zusammenhang — dieser Tatsache Rechnung getragen. Schon 1894
hat er zusammen mit Fr. Schumann durch Lern versuche mit sinnlosen
Silben festgestellt, daß eine Silbe a, die bereits mit einer andern b zusammen-
gelernt war, sich schwerer mit einer neuen Silbe c verbindet als eine bis
dahin noch nicht gebrauchte 3 4 ). Er hat dieses Ergebnis durch weitere, sehr
umfassende Versuche mit A. Pilzecker bestätigt gefunden und die Er¬
scheinung, weil sie die Erzeugung neuer Vorstellungsverbindungen er¬
schwert, generative Hemmung genannt 1 ). Müller und Pilzecker
haben in zahlreichen Versuchen auch die Wirkung verfolgt, welche sich ein¬
stellt, wenn die mit b und c assoziierte Vorstellung a nach einiger Zeit wieder
ins Bewußtsein tritt, so daß nun je eine auf b und c gerichtete Reproduktions¬
tendenz miteinander in Wettbewerb treten. Die Forscher fanden, daß sich
dann die beiden konkurrierenden Reproduktionstendenzen ebenfalls gegenseitig
hemmen. Sie nannten diese Schwächung der Wirkungsfähigkeit einer Repro¬
duktionstendenz durch eine andere: effektuelle Hemmung 3 ). Andere
Forscher (Ebbinghaus, Ranschburg) haben dafür den Namen reproduktive
Hemmung gewählt. Paul Ranschburg hat 1905 nachgewiesen, daß beide
Arten von Hemmung nicht nur bei VorstellungsVerbindungen mit identischem
l ) Vgl,Müller u. Pilzecker a. a. 0. S. 212ff. — s ) Müller u. Pilzecker a. a. O. S. 214«.
*) Vgl. G. E. Müller und F. Schumann, Experimentelle Beiträge zur Untersuchung des Ge¬
dächtnisses, Zeitschr. f. Psychol. 6. Bd., 1894, S. 177f., 318.
4 ) Müller und Pilzecker, a. a. O. S. 83«., 138«.
ö ) Müller und Pilzecker, a. a. 0. S. 84«., 144«.
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Wesen und Arten der Fehler
355
(a), sondern auch bei solchen mit bloß ähnlichem Ausgangsglied (a) eintreten
können 1 )* Das Schwanken und die Unsicherheit der Leistung, die sich so
häufig bei Ähnlichkeitsfehlem zeigt, ist also dasselbe, was Müller u. a. als
Hemmung bezeichnen: es ist der Ausdruck des Kampfes, den die beiden
ähnlichen Vorstellungen miteinander um den Vorrang im Bewußtsein führen.
Nach diesen grundlegenden Bemerkungen können wir in die nähere Be¬
trachtung der Ähnlichkeitsfehler eintreten. v
a) Allgemeine Ähnlichkeitsfehler.
Man unterscheidet gemeinhin drei Arten von Ähnlichkeit: 1. Ähnlichkeit
auf Grand partieller Gleichheit. Sie ist da vorhanden, wo die ähnlichen Be¬
wußtseinsinhalte gemeinsame Bestandteile haben (Mal — Tat). — 2. Ähnlich¬
keit auf Grund relativer Gleichheit. Sie findet sich da, wo die verschiedenen
Objekte in der gleichen räumlichen oder zeitlichen Anordnung der Teile über¬
einstimmen (eine Person und ihr Bild, eine Melodie in verschiedenen Ton¬
lagen). — 3. Ähnlichkeit auf Grund qualitativer Nachbarschaft, z. B. Ähnlich¬
keit zwischen zwei im Spektrum befindlichen Farben, Konsonanten von ähn¬
lichem Klangcbarakter: p, t, k. Die Bestandteile, welche in diesem Fall die
Ähnlichkeit bedingen, sind bis jetzt noch nicht einwandfrei nachgewiesen 2 ).
In den beiden ersten Fällen aber ist es klar, daß die einander ähnlichen
Bewußtseinsinhalte etwas Gemeinsames haben. Dieses Gemeinsame führt
beim Wahraehmen und Erinnern zu Verwechselungen, wenn die nicht ge¬
meinsamen, also unterscheidenden Merkmale nicht genügend beachtet
oder nicht treu genug im Gedächtnis bewahrt werden. Wie die Verwechselung
im einzelnen physiologisch bzw. psychologisch zustande kommt, darüber sind
die Meinungen noch geteilt. Wir wollen daher auf die Erklärungsversuche
von Ranschburg, W. Peters, Offner u. a. an dieser Stelle nicht näher
eingehen und unser Augenmerk lieber auf die praktische Frage der Zusam¬
menstellung derjenigen im Schulunterricht vorkommenden Elemente richten,
die wegen ihrer Gestaltsähnlichkeit und der verhältnismäßigen Häufigkeit ihres
Vorkommens besonders reiche Veranlassung zur Verwechselung geben. Es
sind dies vor allem gewisse Ziffern und Buchstaben.
Wenn man die Reihenfolge der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 0 genauer
betrachtet, so findet man, daß diese sich nach ihrer Gestalt in zwei Gruppen
einteilen lassen: eine Gruppe, in der die Striche vorherrschen (1, 4, 7), und
eine solche, in der die Bogen vorherrschen (2, 3, 5, 6, 8, 9, 0). Die Ziffern
innerhab dieser Gruppen sind beim Lesen und Abschreiben manchen Ver¬
wechselungen untereinander ausgesetzt, so 1 und 7; 4 und 7; 2 und 3;
2 und 9; 3, 5 und 8; 6 und 9; 6 und 0; 9 und 0. Wenn Striche und Bogen
in der Schrift nicht klar und deutlich zur Geltung kommen, treten auch Ver¬
wechselungen von Ziffern aus verschiedenen Gruppen, wie 4 und 9, 7 und
9, auf.
Unter den Buchstaben bieten die verschiedenen Druckformen und Schrift¬
arten mannigfache Gelegenheit zu Verlesungen. Vornehmlich ähneln einander
von den großen Buchstaben der deutschen Druckschrift (Fraktur): 9), $, iß
*) Paal Ranschburg, Über die Bedeutung der Ähnlichkeit beim Erlernen, Behalten und
bei der Reproduktion. Journal f. Psychol. und Neurologie, Bd. V, 1905, S. 93ff, — Derselbe,
Das kranke Gedächtnis, 1911, S. 23.
*) Vgl. W. Peters, Über Ähnlichkeitsassoziation. Zeitschr. f. Psychol., Bd. 56, 1910, 8.164ff.
23*
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Hermann Weimer
und SS; & und ©; und 91 und 9*t; D und Cl; in manchen Druckschrift¬
arten auch 31 und U;
von den kleinen Buchstaben: b und b; b und Ij; c und e; f und f; f) und
q; f, 1 und t; nt und n; n und u; o und o; r imd 5 ; bei schlechtem Druck
auch i und I; t und t.
Von den großen Buchstaben der lateinischen Druckschrift (Antiqua): B und D;
B und R; C und G; E und F; F und T; H und K; 0 und Q; V und W; V und Y;
von den kleinen Buchstaben: b und d; b .und h; b und k; c und e; c und
o; e und o; f und f; f und t; h und k; i und 1 ; 1 und t; m und n; n und
u; p und q; v und w; v und y.
In der deutschen Schreibschrift ähneln sich besonders von den großen
Buchstaben: A und U; B und L; O und Q; I und T; M und N; O und Q;
V und W‘);
von den kleinen Buchstaben: a und o; b und l; c und i; e und n; /und h;
f und /; g und q; g und g; k und t ; m und n; p und x; v und w; y und z.
In der lateinischen Schreibschrift ähneln sich vorzugsweise von den großen
Buchstaben: B und R; C und E; F und T\ H und K; H und X; J und Y\
L und S ; 0 und Q ; V und W;
von den kleinen Buchstaben: a und o (im Wortkörper); b und /; c und e\
e und o; g und q\ g und y ; h und k; l und t; m und n; n und u; p und q:
r und v ; y und z 2 ).
Verwechselt werden auch öfter die Buchstaben mit Überzeichen ä, ö, ü
mit den Grundzeichen a, o, u.
Da nun die Buchstaben meistens im Wortkörper Vorkommen, so ist durch
ihre jeweilige Verbindung mit andern Buchstaben der Grund zu weiteren
Ähnlichkeiten und damit zu weiteren Verwechselungen gelegt. Die Zahl der
möglichen Fälle ist so groß, daß sie hier gar nicht alle aufgezählt werden
können. Es ist durch zahlreiche Versuche erwiesen, daß wir, vom Anfänger
abgesehen, beim Lesen überhaupt nicht die einzelnen Zeichen der Reihe
nach getrennt wahrnehmen, sondern mit einer einzigen Blickbewegung stets
ein größeres Buchstabengebilde, also ganze Worte, oft sogar mehrere Worte
auf einmal umfassen 3 ). Daher ist für das richtige oder fehlerhafte Lesen
nicht nur die Gestalt des einzelnen Buchstaben, sondern auch das Gesamt¬
bild eines Wortes von Bedeutung. Man spricht in diesem Sinne von der
Gestaltsqualität des Wortes. Es gibt Worte mit guter und solche mit schlechter
Gestaltsqualität, je nach der Anordnung und Form der einzelnen Buchstaben.
Lautzeichen, die über den Mittelkörper einer Zeile hinausragen, besonders
solche mit Oberlängen (k, b, d, h, j, t, 1, f) gelten nach Meßmer als optisch
dominierende Buchstaben, denen in der Hauptsache die Mittelzeiler (a, c, e,
i, m, n, o, r, s, u, v, w, x und z), aber auch die mit Unterlängen versehenen
g, p, q und y als nicht dominierende Buchstaben gegenüberstehen 4 ). Die
Aufeinanderfolge von nicht zu vielen kleinen Buchstaben und besonders die
Durchbrechung mehrerer kleiner Buchstaben durch einzelne dominierende
') Ich bitte den Leser, sich hier und im folgenden die geschriebenen Buchstaben vor-
zustellen, da die erforderlichen Schrifttypen nicht zu beschaffen waren.
*) Bei alledem sind klarer Druck und klare Schrift vorausgesetzt. Schlechte Schrift und un¬
deutlicher Druck führen noch mannigfache andere Verwechselungen herbei.
*) Vgl. E. Meumann, a. a. O. 2. Aufl., III, S. 486ff.
4 ) Vgl. Meumann, a. a. O. S. 492f.
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Wesen und Arten der Fehler
357
soll eine gute Gestaltsqualität und damit leichte Lesbarkeit des Wortes be¬
dingen, während das Nebeneinander von zwei und mehr überzeiligen Buch¬
staben Uas Lesen erschweren soll l ).
Dies mag genügen, um folgende Lesefehler aus der bloßen optischen
Ähnlichkeit zwischen Fehlwort und Textwort verständlich zu machen: Anmut
(Hfw. 166) st. Armut (Hfw. 197), bestätigen (718) st. beschäftigen (1490),
dreistig st. dreißig (771), Euter (4) st. Eiter (6), fördern (1939) st fordern (7481),
hassen (483) st. hasten (2531), Komplement (0) st. Kompliment (117), lasen
(450) st. lesen (1919), Masse (2996) st. Messe (3031), prassen (13) st. pressen
(920), Ranzen (0) st. Rangen (75), Verarbeitung (64) st. Verbreitung (310),
würgen (68) st. würzen (341). Die beigefügten Häufigkeitszahlen des Kae-
dingschen Wörterbuchs beweisen, daß von dem bezwingenden Einfluß der
größeren sprachlichen Geläufigkeit bei diesen Entgleisungen nicht die Rede
sein konnte. Da sich aber bei den einzelnen Verlesungen auch andere Ur¬
sachen nicht nachweisen ließen, müssen wir diese Beispiele als Ähnlichkeits¬
fehler buchen 2 ).
Neben der Ähnlichkeit der Gestalt (optische Ä.) macht sich auch die Klang¬
ähnlichkeit (akustische Ä.) als Fehlerquelle geltend. Hermann Gutz-
mann hat auf Grund zahlreicher Telephon versuche nachgewiesen, daß die
Laute folgender Gruppen häufig miteinander verwechselt werden: p, t,
k — b, d, g — sch, f, z, ss, x, ch — m, n, ng — w, s, j — endlich h
mit den? festen Vokaleinsatz oder mit den stimmlosen Verschlußlauten p, t,
k 3 ). Damit stimmen folgende Diktat fehler aus meinen Sammlungen über¬
ein, bei denen es sich meist um diktierte Einzelworte handelte:
1. p, t, k : Stiele (Stammsilbe stiel 106) st. Spiele (St. spiel 7767), stoppen
(St stopp 28) st. stocken (St stock 814); Mistel (0) st. Mispel (0), tränken
(St. tränk 199) st. kränken (St. kränk 317); die Wolken (St. wolk 691) st die
wollten (St. wollt 7260), Kohlen st. Polen ;
2. b, d, g: Bach (156) st. Dach (386), laben (47) st. laden (1039), Schwaden
st. Schwaben, Gaumen (40) st. Daumen (192); regen (1277) st. reden (3302),
hegt (139) st. hebt (912);
3. sch, f, z, ss (d. h. stimmloses s), x, ch: Zaum (35) st. Schaum (78),
zechten (4) st. fechten (260), Lust st. Luft und umgekehrt; Flug (310) st.
schlug (818);
4. m, n, ng: mein st. nein und umgekehrt; Nomaden (15) st. Monaden (5);
Tonnen (322) st. kommen (5300); singen (342) st. sinnen (471);
5. w, s (stimmhaft), j: Segen (557) st. Wegen (2907); Waren (1515) st
Jahren (4369); wie (51336) st. sie 102212);
6. h, Vokaleinsatz undTenues: heben (1933) st. eben (5683); kennt (903)
st. Hemd (77); Hammer (114) st. Kammer (1347).
Daß es natürlich auch ein Verhören über die von Gutzmann angegebenen
Grenzen hinaus gibt, mögen folgende Proben zeigen: der Fink (9) st. er fing
l ) Vgl. Anathon Aall, Zur Frage der Hemmung bei der Auffassung gleicher Reize. Zeit-
sehr. f. pgychol., 47. Bd., 1908, S. 84. — J. Stoll, a. a. O. S. 76.
*) Zugegeben ist freilich die Möglichkeit einer individuellen Geläufigkeit des betreffenden
Wortes beim einzelnen Schüler oder die Möglichkeit der Nachwirkung einer besonderen Ein¬
stellung, das unkontrollierbare Auftreten von Neben Vorstellungen u. ä. Auf die nur bedingte
Brauchbarkeit des Kaedingschen Wörterbuchs habe ich schon hingewiesen.
3 ) H. Gutzmann, Ober Hören und Verstehen, Zeitschr. f. angew. Psychol. I, 1908. S. 490.
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Hermann Weimer
(1179), höben (18) st. bögen (35), gewunden (96) st. gebunden (510), Masten
(100) st. Lasten (2805), Laus (19) st. Maus (17), Nichten (256) st. Wichten
(652), nascht (Stamm nasch 48) st. wascht (Stamm wasch 502), verwoben (5)
st. verbogen (6), weidlich (20) st. leidlich (103), Ziegen (416) st. Siegen (2634).
Außerdem sind in der Zusammenstellung Gutzmanns die durch Klang¬
ähnlichkeit der Vokale bedingten Verwechselungen, weil sehr gering, un¬
berücksichtigt gelassen. Sie spielen aber im Schulunterricht ebenfalls eine
Rolle, besonders da, wo mundartliche Gewohnheiten die Aussprache des dik¬
tierenden Lehrers beeinflussen oder die Unterscheidungsschärfe des Schülers
beeinträchtigen. Dahin gehören folgende Beispiele ä, e, ö: die Altern (84) st.
die Eltern (1135), Kelter (8) st. kälter (104), rötlicher (85) st. redlicher (378),
röchen (0) st. rächen ; — äu, eu, ei: Gesträuche (22) st. bestreiche (31), er
freit (333) st. er freut (793), zeugte (203) st. zeigte (1057); — i, ü: brieten st
brüten, lügen (527) st. liegen (4556), Ziegel st. Zügel und umgekehrt
Die Zahl solcher Hörfehler würde noch viel größer sein, wenn nicht der
Sinn des Mitgeteilten den Hörer vor zahlreichen möglichen Mißverständnissen
bewahrte. Ist es doch eine allbekannte Tatsache, daß wir vieles, was wir
nur teilweise und undeutlich wahmehmen, aus dem Zusammenhang so er¬
gänzen, als ob wir es fehlerfrei wabrgenommen hätten.
Auch unter den Zahlennamen herrscht Klangähnlichkeit, die zu Hör¬
fehlern Veranlassung gibt. So werden besonders 1 und 9, 2 und 3, 5 und 7,
11 und 12, 13 und 30, 14 und 40 usw. verwechselt, eine Tatsache* die die
Postverwaltung veranlaßt hat, stärkere unterscheidende Zahlennamen ein¬
zuführen, wie einss für ein in Zusammensetzungen, zwo für zwei, ssiebänn
für sieben , tzähn für zehn usw. (Schreibung der amtlichen Fernsprechbücher).
Falsche Gedächtnisleistungen, die nachweislich bloß durch Klang¬
oder Gestaltsähnlichkeit bedingt sind, habe ich in größerer Zahl nur beim
Herübersetzen aus den Fremdsprachen und beim Hinübersetzen in die Fremd¬
sprachen gefunden. Wenn z. B. ein deutscher Schüler das französische Wort
officiel mit öffentlich wiedergibt, so kann nicht die Gewohnheit den Aus¬
schlag zur Wahl des deutschen Ausdrucks gegeben haben. Denn der Schüler
hat nie die Verbindung officiel — öffentlich, wohl aber die Verbindung offi¬
ciel—amtlich gelernt. Auch die größere oder geringere Geläufigkeit des
falsch gewählten Wortes entscheidet in solchen Fällen nicht. Denn dem
fremdsprachlichen Worte gegenüber ist jeder muttersprachliche Ausdruck in
der Regel der geläufigere; aber unter allen geläufigen Ausdrücken wird ge¬
rade der gewählt, der dem fremdsprachlichen ähnlich ist. Wir haben es
bei derartigen falschen Übersetzungen mit reinen Klangassoziationen zu
tun, wie sie schon W. S. Scripture, Thumb und Marbe, Aschaffen¬
burg und besonders W. Peters experimentell nachgewiesen haben. Scrip¬
ture hat nach Thumb und Marbe (S. 10) gezeigt, daß beliebige Wörter
beliebiger Sprachen nach ihrer Lautähnlichkeit sich sofort zusammenschließen.
Thumb und Marbe fanden entsprechende Neigung zu Reimbildungen (a. a. O.
S. 63). Aschaffenburg erhielt reine Klangassoziationen bei Assoziations¬
versuchen mit Ideenflüchtigen (Kraepelins Psychol. Arbeiten, IV, 1904, S. 303).
Peters hat seinen Versuchspersonen die Aufgabe gestellt, auf dargebotene
sinnlose Silben mit dem ersten ihnen einfallenden sinnvollen Worte zu ant¬
worten. Der Versuch ergab, daß die meisten so entstandenen Assoziationen
durch Klangähnlichkeit bestimmt waren (a. a. O. S. 169f.). Die Reaktion
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Wesen und Ajten der Fehler
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öffentlich auf den Reiz officiel bildet also einen dem Leben entnommenen
Parallelvorgang zu den Peter s sehen Versuchen; denn jenes Fremdwort, dessen
. Bedeutung der Schüler vergessen hatte, wirkte in diesem Fall wie die sinn¬
lose Silbe im wissenschaftlichen Versuch. In gleicher Weise hat die Ähn¬
lichkeit des Schriftbildes (optische Ähnlichkeit) den Ausschlag gegeben,
als ein Schüler das französische Wort hier mit hier st. mit gestern übersetzte.
Solche Klang- bzw. Schriftbildassoziationen stellen auch folgende Übersetzungs¬
fehler dar: a) aus dem Französischen: alors also st. damals, dann; le
berger der Bürger st. Schäfer; la glace das Glas st. Eis; Vinterieur das Inter¬
esse st. Innere ; litteralement literarisch st. buchstäblich; orage Orgel st Sturm;
Gewitter; le sort die Sorte st. Schicksal ; b) aus dem Englischen: also also
st. auch; bid bitten st. heißen, gebieten; clip Klippe st. Klammer; fowl faul
st. Geflügel; rod rot st. Stab;- thief tief st Dieb; undergo untergehen st sich
unterziehen.
Dahin gehören auch folgende sonst unverständliche Fehler des Hinüber¬
setzens in die Fremdsprache: a) französisch: das Bein lebain st. la Jambe,
Dom = döme st. cathedrale; schön jeune st. beau; Tapete tapis st. papier;
b) englisch: als as st. when; denn then st. for; mit = mid st. with; Sitz
sit und size st. seat, Same same st. seed; — c) lateinisch: alle Hilfsmittel
alia st. omnia praesidia; Crassus gelang es Crassus (st. Crasso ) contigit; die
Dinge , die sie nicht verstehen res, qui/{ st. quas) non intelligunt.
ß) Die Wahlfehler.
Eine besondere Art von falschen Gedächtnisleistungen auf Grund der Ähn¬
lichkeit fasse ich als Wahlfehler zusammen. Ich bezeichne mit diesem Aus¬
druck solche Fehler, die sich aus der Möglichkeit der Wahl zwischen zwei
oder mehreren einander ähnlichen und irgendwie zueinander in Beziehung
stehenden Vorstellungen ergeben. Die Beziehung kann ganz äußerlicher Art
sein und braucht sich nur auf ein einziges Element zu beschränken. Der
Wahlmöglichkeit braucht sich der Verfehler nicht jedesmal bewußt zu sein;
er kann auch ohne weiteres Besinnen das Falsche statt das Richtige treffen,
wenn ihn das Gedächtnis nicht mehr sicher leitet.
Vor eine solche Wahl sieht sich der Schüler oft gestellt bei der schrift¬
lichen Wiedergabe gleichklingender (homonymer) Wörter. Wir haben
schon gesehen, daß deren richtige oder falsche Deutung sich aus der je¬
weiligen seelischen Einstellung ergibt (S. 279). Die Rechtschreibung hat, um
Mißverständnissen zu begegnen, solche lautgleichen Wörter vielfach durch /
unterscheidende Schreibungen ausgezeichnet, wie in:] Aar und Ar, bläuen und
bleuen, Fiber — Fieber, Geld — Entgelt, Gewand — gewandt, Jacht — Jagd,
Laib — Leib, Mähre — Märe, Mohr — Moor, Stiel — Stil, Teich — Teig,
weislich —weißlich usw. So gut diese Schriftunterscheidung gemeint ist und
so begründet sie unter Umständen sein mag, so bildet sie doch eine Quelle
zahlreicher Verwechselungen in Schülerarbeiten. Die beiden Schreibungen
haften wohl fest im Gedächtnis, aber der Schüler ist nicht ebenso sicher in
der richtigen Zuordnung der einen oder der andern Schreibung zu der ent¬
sprechenden Bedeutung, trotzdem bisweilen andere Gedächtnisstützen, wie
unterscheidende Geschlechtswörter usw., dem Schreiber zu Hilfe kommen.
So erklären sich Fehler, wie: das ehrenbekränzte Haupt, die Achillesfürse,
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360
Hermani^ Weimer
das greuliche Gewandt, die klangvolle Waise, der Todschläger, der Totfeind,
das Fahrrad, dafz usw.
Zu Wahlfehlem geben auch ähnliche Zahlenbilder häufigen Anlaß, be¬
sonders die eine Umstellung leicht ermöglichenden zweistelligen Zahlen
(36 — 63, 27 — 72, 89 — 98), aber auch die mehrstelligen (324 — 432,
235 — 532, 969 — 696 usw.).
Auch technische Bezeichnungen innerhalb ein und desselben Gebietes,
die mehrere Bestandteile gemeinsam haben, werden bisweilen vertauscht.
Im Unterricht der Chemie, die an ähnlich klingenden Bezeichnungen sehr
reich ist, kann man diese Erscheinung recht oft beobachten. Man begegnet
Verwechselungen von Kalium u. Calcium, Magnesia u. Magnesium, Zinn u.
Zink, Chloriden, Chloriten u. Chloraten, Hydroxyden u. Hydroxylen, Cupri-
und Cuproverbindungen usw. usw. Im Bereiche der grammatischen Aus¬
drücke verwechseln Schüler: Ablaut u. Umlaut, Biegung u. Beugung, Dekli¬
nation u. Konjugation, Imperativ u. Imperfekt, Indikativ u. Infinitiv, Kom¬
parativ u. Kompositum, Konjugation u. Konjunktion, Konjunktion u. Kon¬
junktiv, Positiv u. Possessiv, rückbezüglich u. zurückweisend, Subjekt u.
Substantiv usw.
Die Grammatik selbst stellt das Gedächtnis vor mancherlei Wahlmöglich-*
keiten. Im Bereich der Wortbildungslehre hat die Frage der Adjektiv¬
bildung auf -ig und -lieh selbst die Sprachgelehrten manchmal in Schwierig¬
keiten gebracht, die sich in der schwankenden Schreibung der Wörter adlig
(früher adlich), allmählich (früher allmählig), billig (früher billich) u. ä. wider¬
spiegeln. Um so weniger kann man es einem Lernenden verübeln, wenn
er abschlägig u. abschläglich, fremdsprachig u. fremdsprachlich, jährig u.
jährlich, monatig u. monatlich, wöchig u. wöchentlich, tägig u. täglich, stän¬
dig u. stündlich nicht immer reinlich unterscheiden kann. Wie häufig auch
sonst* selbst rede- und schriftgeübte Erwachsene ähnlich klingende unrf in
der Bedeutung verwandte Wörter und Ausdrücke miteinander verwechseln,
zeigt Wustmann an zahlreichen Beispielen in seinen „Sprachdummheiten“
(S. 330ff. und 334ff.).
Ähnliche Unsicherheit herrscht zuweilen hinsichtlich des Gebrauchs der
stark oder schwach deklinierten Adjektive, denen unbestimmte Fürwörter vor¬
ausgehen: manche bedeutende (u. bedeutenden) Männer, mehrere braune (oder
braunen) Zigeuner, vieler braver (oder braven) Männer. Langsam und
schwankend dringt hier die schwache Deklinationsform vor. Infolgedessen
begegnen uns Wahlfehler auf diesem Gebiete bei Lernenden auch da, wo
ein bestimmter Gebrauch bereits Regel ist, z. B. aller guter (st. guten) Dinge,
keiner deutscher (st. deutschen) Frau, sämtliche französische (st. französischen)
Soldaten.
Die Tatsache, daß die Deklination der deutschen Substantive auf -el
und -er je nach ihrem Geschlecht bald stark, bald schwach ist (der, die
Löffel; das, die Messer; aber die Gabel, die Gabeln) macht Wahlfehler, wie
die Kübeln, die Möbeln, die Stiefeln, die Ufern auf der einen, die Kartoffel,
die Zwiebel auf der andern Seite verständlich, zumal Ausnahmen, wie die
Mütter, die Töchter, die Vettern und Homonyme, wie das Steuer (Mehrz. die
Steuer) und die Steuer (Mehrz. die Steuern) die richtige Wahl noch er¬
schweren. — Wo doppelte Pluralbildungen mit verschiedenartiger Bedeutung
vorhanden sind, werden auch diese zuweilen miteinander verwechselt, so
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Wesen und Arten der Fehler
361
Bande u. Bänder, Gesichte u. Gesichter, Lichte u. Lichter, Schilde u. Schilder,
Worte u. Wörter. — Ähnlich ist es bei gewissen Zeitwörtern. So wechselt
die Konjugationsart mit der Bedeutung bei bewegen, dingen, erbleichen, er¬
schrecken, löschen (bzw. erlöschen), quellen, schaffen, schwellen, stecken, ver¬
derben u. a. Doch ist bei einigen von ihnen der Sprachgebrauch so schwankend
geworden, daß Bildungen, wie: du hast die Sache verdorben (st. verderbt),
er schreckt (st schrickt) zusammen, der Schlüssel steckte (st. stak), er hat
Wandel geschaffen st. geschafft nicht mehr als fehlerhaft empfunden werden.
Die Ausdrucksform wechselt auch im Bereiche der Satzlehre öfter mit
der Bedeutung. So machen die Grammatiker einen feinen Unterschied zwischen
nachahmen, versichern mit dem Dativ und nachahmen, versichern mit dem
Akkusativ 4 ), zwischen er hat mir u. er hat mich auf den Fuß getreten •),
zwischen einem an den Hut stoßen u. einen vor den Kopf stoßen 3 ). Dem
Schüler, der diese Unterschiede teils nicht begreifen, teils nicht behalten
kann, wird ebenso wie manchem Erwachsenen die richtige Wahl der Kon¬
struktion bisweilen recht schwer.
Einfacher, aber immer noch 'verzwickt genug ist die Frage nach dem
richtigen Gebrauch der zurückweisenden Fürwörter das u. was. Mag der
Schüler auch lernen, daß relatives was niemals auf ein Hauptwort bezogen
werden darf, so müssen ihn doch die substantivierten Adjektive, die teils das
teils was nach sich haben ( das Beste, was; aber das Gute, das ich zu tun
vermeine) wieder verwirren, und Fehler, wie das Bild, was — das Kind,
was bilden daher leicht verständliche Mißgriffe. Daß umgekehrt auch das
fälschlich für was gebraucht wird, haben wir schon früher gesehen (S. 271).
Da, wo Nachwirkung nicht nachzuweisen ist, wie in alles, das — manches,
das — vieles, das haben wir es mit der verwirrenden Wirkung der Wahl¬
möglichkeit zu tun.
Welch häufiger Verwechselung das Futurum des Aktivs und das Präsens
des Passivs ausgesetzt sind, da sie im Deutschen beide zu ihrer Bildung des
Präsens von werden bedürfen ( ich werde rufen, ich werde gerufen ), können
die Lehrer der Fremdsprachen bei Konjugations- und Übersetzungsübungen
alltäglich feststellen.
Zu den Wahlfehlern gehören auch die Kontrastfehler, d. h. solche
Fehler, die in der falschen Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Vorstellungen
zum Ausdruck kommen. Daß der Kontrast nur eine Form der Ähnlichkeit
ist, wird heute allgemein anerkannt Es kann keinen Gegensatz zwischen
Dingen und Vorgängen geben, die gar nichts Gemeinsames hätten und darum
unvergleichbar wären. Daß aber Kontrastassoziationen sich besonders gerne
gegenseitig hervorrufen, beruht darauf, daß alles Gegensätzliche den Charakter
des Extremen hat und darum die Aufmerksamkeit in höherem Grade auf
sich lenkt als andere Dinge 4 ). Aus dieser Tatsache der gegenseitigen Be¬
vorzugung von Kontrastassoziationen mag sich wohl auch das leichte Ein¬
treten von Kontrastfehlern erklären. Es sind nach meiner Beobachtung in
der Regel falsche Gedächtnisleistungen, bei denen wie bei allen Gedächtnis-
versagem auf der Grundlage der Ähnlichkeit die unterscheidenden Merk-
•) Vgl. Wustmann, a. a. O. S. 234ff. — *) Wustmann, a. a. 0. S. 237.
*) Vgl. Tb. Matthias, a. a. O. S. 441.
*) Vgl. Offner, a. a. 0. S. 88 und 231, Fröbes, a. a. O. 1, S. 590f., Thumb und Marbe,
a. a. O. S. 49 und 51.
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male vergessen oder im Gedächtnis verschmolzen worden sind. Dies ge¬
schieht z. B. gerne bei sehr leicht auszuführenden Handlungen oder alltäg¬
lichen Vorgängen, deren Vollzug oder Beobachtung keine besondere Auf¬
merksamkeit erfordert und deren Abweichung von den entsprechenden
gegensätzlichen Handlungen oder Vorgängen darum meist nicht beachtet
wird. So können viele Leute nicht aus dem Gedächtnis sagen, ob man
eine Kaffeemühle oder eine Schraube beim Zuschrauben links herum oder
rechts herum dreht, andere wissen nicht, nach welcher Seite die Herren,
nach welcher die Damen ihre Jacken und Mäntel zuknöpfen, wieder andere
kommen ins Gedränge, wenn sie angeben sollen, wo die Sonne auf- und
wo sie untergeht 1 ). Schüler haben bisweilen Mühe, linksum und rechtsum
zu unterscheiden; sie verwechseln, wie schon erwähnt, die Bedeutungen der
mathematischen Zeichen der Ungleichkeit (< und >), die Begriffe konvex
und konkav; sie behalten nicht, was die runde und was die eckige Klammer
in den Übersetzungsbüchem bedeutet, sie lassen den Euphrat im Osten, den
Tigris im Westen des Zweistromlandes fließen statt umgekehrt; sie irren sieh in
den Zeichen für Hebung und Senkung, Länge* und Kürze, Jambus undTrochaeus;
sie sind im Zweifel, ob man Leib u. Seele oder Seele u. Leib, Tag u. Nacht
oder Nacht u. Tag, zu Lande u. zu Wasser oder zu Wasser u. zu Lande zu
sagen pflegt. Schulneulinge schreiben mitunter A st. 1, in späteren Jahren
verwechseln die Schüler IV u. VI, IX u. XI, XL u. LX, <S> u. &, £ u. £.
Ich habe als Sextaner lange Zeit uva u. avus verwechselt. Auf Firmenschildern
habe ich die Zeichen N st. N, s st- S, q st. p u. p st. q gefunden.
Auch im Versprechen und Verschreiben können sich Kontrastfehler
geltend machen, insofern das Gegenteil von dem gesagt wird, was gesagt
werden sollte. Warum willst du schon auf stehen? Es ist doch noch hell
(st. dunkel)! wurde ich eines Morgens gefragt; und ich selber erzählte ge¬
legentlich, daß ich im Winter um 6, im Sommer um 7 Uhr aufzustehen
pflege, meinte aber das Umgekehrte. Gestern in 8 Tagen st. morgen in
8 Tagen, morgen vor 8 Tagen st. gestern vQr 8 Tagen ist mir ebenfalls mehr¬
fach unterlaufen. Ein Schüler schrieb in einem Aufsatz: was um so verständ¬
licher ist st. unverständlicher, ein anderer erzählte von Adalbert von Falken¬
stein, daß er nach der unfreiwilligen Tötung des Herzogs Ijjrnst I. von Schwaben
von Gewissensruhe (st. unruhe) geplagt worden sei.
y) Die Ranschbur gische Hemmung.
Das neuhochdeutsche Wort Knäuel ist aus mhdv kliuwel -=■ Kläuel, das
Lehnwort Kartoffel aus Tartuffel entstanden. Dieser Vorgang, den die Sprach¬
forscher Dissimilation (Entähnelung) nennen, bildet eine in vielen Sprachen
vorkommende Entwicklungserscheinung. Schon Hermann Paul hat in
seinen „Prinzipien der Sprachgeschichte“ zur Erklärung des Vorgangs bemerkt,
daß es besondere Schwierigkeiten macht, einander benachbarte gleiche oder
ähnliche Laute rasch hintereinander richtig auszusprechen (3. Aufl. § 45, S. 60).
*) Ein Amtsgenosse bat mir versichert: Es ist mir seit meiner frühesten Schulzeit un¬
möglich, ohne mnemotechnische Hilfe festzustellen: 1. wo Osten und wo Westen auf der Landkarte
ist, 2. wo die Sonne auf- und wo sie untergeht. Etwa seit Quarta habe ich mir an sich kom¬
plizierte Hilfen gebildet; so für 1: rechts ist nicht Westen, für 2: im Osten auf, im Westen
weg. Ich arbeite noch jetzt, zwar durch lange Übung blitzschnell, aber durchaus bewußt, mit
diesen Gedächtnishilfen.
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Wesen und Arten der Fehler
333
Die Erscheinung ist auch in Volkskreisen bekannt, wie gewisse Sprechkunst¬
stückchen beweisen, die weit verbreitet sind, z. B. der (Kottbuser) Postkutscher
putzt den (Kottbuser) Postkutschkasten; drei Teertonnen, drei Trantonnen;
Fischers Fritz ißt frische Fische, frische Fische ißt Fischers Fritz.
Unter den Psychologen hat Paul Ranschburg zuerst und am nachdrück¬
lichsten dieser Erscheinung seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er untersuchte
experimentell zunächst die optische Auffassung längerer Zahlenreihen und
fand, daß gleiche oder ähnliche Ziffern, die nebeneinander oder in geringer
Entfernung voneinander stehen, schwerer aufgefaßt werden und zu mehr
Fehlern führen als formverschiedene 1 ). Er untersuchte ferner auf experimen¬
tellem Wege die Wirkung, welche ähnliche Silben und Wörter einerseits und
unähnliche andererseits auf das Erlernen, Behalten und die gedächtnismäßige
Wiedergabe ausüben 2 ). Er fand auch hier die Tatsache bestätigt, daß „homogene
Reihen“ (d. h. solche mit gleichartigen Bestandteilen) z. T. schwerer erlernt
und besonders schlechter behalten werden als heterogene (ungleichartige).
Die Fehlerzahl bei den ersteren ist größer als bei den letzteren, und gleiche
Elemente wirken in noch stärkerem Maße fehlerbildend als bloß ähnliche.
Die von Ranschburg gegebene Erklärung der von ihm beobachteten Vorgänge
ist zwar nicht allseitig anerkannt, aber die Erscheinung selbst ist durch
weitere Untersuchungen von Anathon Aall, A. J. Schulz, H. Klein¬
knecht, H. Klugmann 3 ) u. a. als eine gesetzmäßige bestätigt und seitdem
unter der Bezeichnung „Ranschburgscbe Hemmung“ Gemeingut der modernen
Psychologie geworden.
Bei der R. H. handelt es sich um die Auffassung und Wiedergabe gleich¬
zeitig oder rasch hintereinander dargebotener Reize. Vor diese Aufgabe
sind die Schüler täglich beim Lesen gestellt. Wo also gestaltsähnliche oder
gleiche Ziffern, Buchstaben, Silben oder Wörter nahe beieinander stehen,
wird die Gefahr des Verlesens auf Grund der eben besprochenen Hemmung
eintreten. In den meisten Fällen kommt es dabei zu Auslassungen, insofern
eines der ähnlichen oder gleichen Elemente unterdrückt wird. Doch kann
auch an Stelle des unterdrückten Bestandteils ein anderer treten (Ersetzung) 4 ).
Die beim Lesen in betracht kommenden formverwandten Ziffern und Buch¬
staben haben wir bereits kennen gelernt (S. 355). Man vergesse aber nicht,
daß die Ähnlichkeit oder Gleichheit sich auch auf eng benachbarte Teile
der lesenden Zeichen beschränken kann. Beachten möge man auch das,
was wir früher über gute und schlechte Gestaltsqualität der Wörter gehört
haben (S. 357). Die schwere Lesbarkeit mehrerer nebeneinanderstehender
überzeiliger Buchstaben beruht eben auf der Ähnlichkeit dieser benachbarten
Zeichen. Unter diesen Voraussetzungen betrachte man die folgenden Lese¬
fehler: a) auf Grund gleicher Elemente: Armen st. Armeen, Beugung st.
Beengung, daunen st. dannen, entgegenwerfen st. entgegengeworfen, Honarar
st. Honorar, schlampen st. schlampampen , Steuerklärung st. Steuererklärung,
*) Paul Ranachburg, Ober Hemmung gleichzeitiger Reizwirkungen. Zeitschr. f. Psychol.,
30. Bd., 1902, S. 39 If. — *) Vgl. S. 5, Anm. 2.
3 ) Anatbon Aall, Zur Frage der Hemmung bei der Auffassung gleicher Reize, Zeitschr. L
Psychol., 47. Bd., 1908, S. 1 ff. — A. J. Schulz, Zeitschr. f. Psychol, 62. Bd., 1909, S. llOff.,
238ff. — H. Kleinknecht, Harvard Psychological Studies, 2. Bd., 1906, S. 299ff. (nach J. Stoll,
S. 20). — H. Klugmann, Über Fehler bei der Reproduktion von Zahlen. — K. Marbes,
Fortschritte der Psychologie, 4. Bd., 1917, S. 327ff.
4 ) Vgl J. Stoll a. a. O. S. 66, 72 u. 79.
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364
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Umspannung st. Umspangung; b) auf Grund ähnlicher Elemente: bellen st.
bellten, Oesellung st. Gestellung, Klaoke st. Kloake, Parallelen st Parabeln,
rabedrechte st. radebrechte, Sechzehnter st. Sechzehnender, Superintent st.
Superintendent, verfechten st. verflechten, Vorkauf st. Vorverkauf, wunderlich
st. wunderbarlich.
Die Ursache der Dissimilation ist schwerer zu erkennen, wenn die gleichen
oder ähnlichen Elemente nicht im selben Wort, sondern in verschiedenen
Teilen eines Satzes Vorkommen: aber es sollte sein Kommen zum Heile nicht
nicht dienen der Freunde st. den Freunden; dessen [er] sich noch gern er¬
innerte; es waren [die] Geister der Heimat, die den Wanderer umfingen;
Gott grüß’ dich [du] leuchtender Bergsee; keine Bäume, kleine (st. keine)
Blumen.
Das ähnliche Element kann auch über oder unter der Lesezeile stehen
und doch dank der kreisförmigen Ausdehnung des Lesefeldes zur Hemmung
führen. So las ein Schüler: eine Lawine war wiederum (st. wieder) aus
den Bergen heruntergekommen; die Erklärung für das Verlesen gab der
Umstand, daß unmittelbar unter wieder die Worte niederem Baumwuchs
standen. Die R. H. erklärt uns darum auch in manchen Fällen das Aus¬
gleiten des Blicks in eine folgende oder vorausgehende Zeile, die nun statt
der angefangenen weitergelesen wird, und das Überspringen ganzer Zeilen,
wie wir es schon bei der Besprechung der Vor- und Nachwirkungsfehler
(S. 275) kennen gelernt haben. In 36 von 51 mir bekannten Fällen waren
derartige Entgleisungen auf die über- oder unterzeilige Nachbarschaft gleicher
oder ähnlicher Worte odfer Wortteile zurückzuführen.
Überhaupt tritt die Erscheinung der R. H. sehr häufig mit derjenigen der
Vor- oder der Nachwirkung zusammen auf. Viele bei der Betrachtung der
Perseveration angeführten Beispiele (S. 269, 275) könnten daher auch im gegen¬
wärtigen Abschnitt als Belege dienen, wie umgekehrt die vorhin angeführten
Lesefehler: Honarar, schlampen, Steuerklärung, Klaoke; rabedrechte, Sech¬
zehnter, Superintent, Vorkauf, wunderlich nicht nur als Ergebnisse der R. H.,
sondern ebensogut als Vorwirkungen betrachtet werden-'können.
Den Lesefehlern parallel gehen folgende Fehler des Versprechens: bleit-
brättrige Linde und die darauf folgende Verschlimmbesserung: breitblättrige
Rinde, den Waffenstillstand] zustande bringen, er hatte es vorher [herjvor-
holen wollen, Mistboden st. Mistbeetboden, Theaterführungen st. Theater¬
vorführungen.
Häufiger als diese sind mir im Schulbetrieb naturgemäß Schreibfehler
auf Grund der R. H. begegnet: Bag[a]ge, betet [et], der Freun[d] dem Freunde,
erleben st. erbeben, endlich umschließen (st. entschließen ) sie sich, folgenft]-
lich, Fest[set]zung, Fe[st]Stellung, Hälf[t]e, lang[g]estreckt, Lung[en]entzün-
dung, Metz[g]erbursche, p[f]iffen, stystematisch, seift] Tagen, Trommefl]-
fell, Verdau[u]ng. — Während in diesen Fällen das Verschreiben leicht als
solches erkannt wird, sind von unkundigen Lehrern nachstehende Hemmungs¬
erscheinungen als auf Unwissenheit beruhende Verstöße gegen die Recht¬
schreibung gebrandmarkt worden: begrif[f]t, Dofhjle, enft]täuschen, Er[bJ-
prinz, Fah[r]rad, gedei[h]liehe, Kor[b]blütler, Österreich, Rog[g]en, So[h]len,
Überschwemfmjung, weifsfsagen.
Wie sehr aber das Zusammenfallen von zwei und mehreren gleichen
Elementen unserem Empfinden widerstrebt, zeigt die Tatsache, daß z. B. die
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Wesen und Arten der Fehler
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deutsche Rechtschreibung das Zusammentreffen von drei gleichen Mitlauten
vermieden wissen will und Brennessel, Schiffahrt, Schnelläufer st. Brennnessel
usw. vorschreibt. Ebenso verlangt sie als Pluralendung der Substantive auf -ee
u. -ie die Zeichenfolge -een, -ien und nicht -eeen, -ieen (Armeen, Ideen, Seen¬
platte, Akademien, Melodien) und zu Knie, knien bemerkt Duden, daß das
e der Abwandlung besser wegfällt, „auch wenn man die Formen zweisilbig
spricht“ 1 ). Aus ganz dem gleichen Empfinden heraus rät Heinrich Vocke-
radt dem Schüler in seinen „Praktischen Ratschlägen für die Anfertigung
des deutschen Aufsatzes“ (9. Aufl. § 94): „Vermeide es, gleiche oder ähn¬
lich klingende Wörter unmittelbar nebeneinander oder kurz nach¬
einander zu gebrauchen, schreibe z. B. nicht Sätze wie „als sie sie er¬
blickte; die Frau, die die Äpfel gekauft hat; wer nicht Soldat war, war
übel dran“ usw. und gleich darauf (§ 95): „Schreibe nicht Sätze und Aus¬
drücke, die wegen der Häufung einzelner Laute (Vokale oder Konsonanten)
schwer auszusprechen sind und den Sprechkunststückchen gleichen,
die man kleinen Kindern zum Scherz aufgibt“. Wir kennen jene Sprech¬
kunststückchen bereits und wissen, daß auch in ihnen das hemmende Element
die gehäuften Ähnlichkeiten bilden. Wenn Vockeradt außerdem (§ 103)
die Anhäufung von gleichbetonten einsilbigen Worten oder von zwei- und
mehrsilbigen von gleichem Tonfall verwirft und vielmehr einen „gefälligen
Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben“ als sprachschöner be¬
zeichnet, so scheint er hier eine Wirkungserscheinung der R. IJ. heraus¬
gefühlt zu haben, die bis jetzt von seiten der Psychologen m. W. noch
nicht untersucht worden ist. Man möchte entgegnen, daß die Dichter doch
gerade den- gleichartigen Wechsel von Hebung und Senkung bevorzugen;
aber Vockeradt kämpft auch nicht gegen die Gleichartigkeit des Rhythmus
als solche an, sondern gegen das Zusammenfallen längerer Reihen von
gleichem Rhythmus und gleichem Wortumfang, das auch in der dichterischen
Sprache verhältnismäßig selten ist. Man vergleiche etwa: Komm, \ Freund, |
trink | Wein \ vom \ Faß! oder Unter \ Nero \ mußten \ Christen | gegen |
Tiere | kämpfen mit Schillers: Festge \ mauert \ in der | Erden usw.
Die R. H. ist auch die Ursache der weitverbreiteten fehlerhaften Redens¬
art aus aller Herrn Länder st. Ländern. Schon Wustmann hat — ohne
Kenntnis vom Bestehen einer solchen Gesetzmäßigkeit — herausgefunden,
daß der Fehler dem Wortlaut zuliebe entstanden ist. „Das doppelte em u ,
meint er, „schien unerträglich“ (a. a. 0. S. 242, Anm.). Er verwirft freilich
die falsche Form Länder, aber wohl ebenso erfolglos, wie er die dissimilierten
Genetive jeden Zwanges st. jedes Zwanges u. ä. verwirft (S. 24 ff.). Denn
die R. H. ist stärker als das Regelbewußtsein; sie stellt eine im seelischen
Leben begründete Gesetzmäßigkeit dar, die kein angelerntes Wissen wirkungs¬
los- machen kann. Darum hat sich die starke Adjektivdeklination im Genitiv
nur vor weiblichen Hauptwörtern erhalten (der Wohlgeschmack frischer Milch),
weil hier gleichlautende Endungen nicht »Zusammentreffen. Der Schüler
aber, der Ernst des Zweiten st Ernsts, mit geheimen (st. geheimem ) Kummer,
auf bequemen (st. bequemem) Stuhle schreibt, ist demselben Gesetz verfallen
wie jeder, der heute Formen, wie frischste, eiliges Laufes, Voßs Luise, Lab¬
saltal u. ä. unerträglich findet.
J ) Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache (Drucker-Duden), 9. Aull., 1915, S. 245.
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Hermann Weimer
Aus Lehrerkreisen wurden mir gelegentlich nachstehende Satzbildungen
* als Zeugnisse besonderer sprachlicher Unfähigkeit bei Aufnahmeprüfungen
vorgelegt: aber es sei nötig hier zuschreiten (st. hierzu zu schreiten ); er hob
(st. er erhob) Anspruch auf Burgund; sie zwangen ihn, die Tat zugestehen
(st. zuzugestehen ). Hätten die Prüfenden die Wirkung der R. H. gekannt,
so wären sie zu einem milderen Urteil gekommen. Wie sehr allerdings
unter Umständen der Sinn eines Satzes durch diese Hemmung verändert
werden kann, zeigt folgende Stelle aus einem Obertertianeraufsatz (14 J.):
Es ging ihm besser, als er noch zu Hause war. Gemeint war: als (damals),
als er noch zu Hause war.
d) Die Mischfehler.
Als Kontamination bezeichnen die Sprachforscher die Verschmelzung
mehrerer Ausdrucksformen zu einer neuen, wie z. B. die Entstehung des
norddeutschen flispern aus flistem (flüstern) und fispern. Solche Ver¬
schmelzungen kommen auch als Falschleistungen vor. Schon die Gramma¬
tiker haben beobachtet, daß sich nicht beliebige Wörter und Ausdrücke ver¬
schmelzen, sondern nur solche, die irgendwie zusammengehören. Nach
H. Paul müssen sie „synonym oder irgendwie verwandt“ sein (a. a. O.
S.145), nach Meringer und Mayer ähnlich in der Form oder der Be¬
deutung (S. 53f.). Freilich muß Meringer später zugeben, daß auch solche
Wörter sich vermischen, die häufig miteinander gesagt oder gedacht werden
(S. 64). Die letztere Tatsache bestätigen auch die Assoziationsversuche
Müllers und Pilzeckers, welche „assoziative Mischwirkungen“ dieser Art
in großer Zahl zutage gefördert haben (a. a. 0. S. 159ff. und 225ff.). Diese
Feststellung verwehrt es uns, die Mischfehler — als solche bezeichne ich
die fehlerhaften Kontaminationen — unter die Ähnlichkeitsfehler zu rechnen;
sie müssen vielmehr gesondert betrachtet werden.
Indessen erheben sich neue Schwierigkeiten, wenn man diese Fehlergruppe
begrifflich scharf umgrenzen will. Die Grammatiker betrachten die Konta¬
mination in der Regel nur als Erscheinungsform: die Verschmelzung
ist ihnen das Wesentliche. Psychologisch aber ist eine derartige Bestimmung
unhaltbar. Wir haben schon früher gesehen, daß manche der Form nach
gleiche Fehler ganz verschiedene seelische Ursache haben können (Jahrg. 1922,
S. 24). So sind uns auch in mehreren der bis jetzt besprochenen Fehler¬
gruppen Falschleistungen begegnet, die der Form nach als Mischfehler an¬
zusprechen wären, wie seelig aus Seele und selig unter den Geläufigkeits¬
fehlern, hole es hes st. her unter den Nachwirkungsfehlem, Stum- und
Sportabzeichen unter den Vorwirkungsfehlem. Als Mischfehler vom psycho¬
logischen Standpunkt aus können darum nur diejenigen angesehen werden,
für die sich eine besondere psychische Wurzel der Vermischung nachweisen
läßt. Eine solche haben schon H. Paul (S. 145) und Meryiger (S. 54)
darin gesehen, daß die in Betracht kommenden Ausdrucksformen sich
gleichzeitig ins Bewußtsein drängen, so daß keine von ihnen rein zur
Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der
einen mit Elementen der andern mischen. Genauer erklären Müller und
Pilzecker die Entstehung der Mischwirkung aus zwei möglichen Wurzeln:
entweder kommt sie durch teilweise gegenseitige Verdrängung von Vor¬
stellungen zustande, die gleichzeitig über die Schwelle des Bewußtseins
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Wesen und Arten der Fehler
367
treten, oder durch gegenseitige Ergänzung von Vorstellungen, von denen
jede einzelne nicht stark genug ist, sich allein durchzusetzen (a. a. 0. S. 159ff.).
Diese Erklärung stößt die von Paul und Me ringer gegebene Begriffs¬
bestimmung nicht um, sondern vertieft sie in glücklicher Weise. Wir werden
ihre Berechtigung an praktischen Fällfen dartun können. Meringer zieht
aus seiner Umgrenzung des Kontaminationsbegriffs die entsprechenden Fol¬
gerungen und trennt die durch Vor- oder Nachwirkung entstandenen Misch-
formen als „Verstellungen“ von den reinen Kontaminationen, während Paul
diese Scheidung noch nicht kennt. Da es aber, wie wir gesehen haben,
auch andere psychische Ursachen der Verschmelzung gibt, so müssen wir
noch über Meringer hinausgehen und als reine Mischfehler nur die be¬
zeichnen, bei denen sich keine andere Ursache der Vermischung nachweisen
läßt als das Zusammentreffen von Vorstellungen im Bewußtsein, die. durch
Ähnlichkeit, Bedeutungsverwandtschaft oder ein häufigeres Nebeneinander
in gegenseitiger Beziehung stehen 1 )'
Dabei ist eine Tatsache zu beachten, die bis jetzt weder von den Sprach¬
forschern noch von den Psychologen bemerkt worden ist: die neue Form
braucht die Spuren der Vermischung nicht an sich zu tragen. So gebrauchte
ein Schüler im chemischen Anfangsunterricht für das Wasser die Formel
H 2 S st. HiO. Da diese Formel (HiS — Schwefelwasserstoff) überhaupt noch
nicht vorgekommen war, suchte ich den Grund zu erforschen und erhielt
folgende Aufklärung: Der Schüler konnte in seinem Vortrag — um einen
solchen handelte es sich — ebensowohl den Ausdruck Wasser wie die Formel
HiO gebrauchen. Im Augenblick des Sprechens drängten sich ihm beide
Ausdrücke „auf die Lippen“. Von HiO kam Hi, von Wasser der 5-Laut
in Gestalt des Formelzeichen S zur Reproduktion. Wir werden im folgenden
noch anderen Beispielen ähnlicher Art begegnen.
Mischfehler stellen sich übrigens nicht nur im Bereich des Sprachlichen
ein. Ich habe im Turnunterricht Mischbewegungen sowohl beim Geräte¬
turnen als auch bei Freiübungen wahrgenommen. Auch Münsterberg hat
nach Müller und Pilzecker (S. 164) das Auftreten von Mischbewegungen bei
seinen Versuchen festgestellt. Mischzeichnungen liefern Kinder auf einer
schon fortgeschritteheren Stufe ihrer zeichnerischen Entwicklung. Den be¬
liebtesten Vorwurf zu Kinderzeichnungen bildet bekanntlich der Mensch. Es
wird auf der frühesten Stufe von vorn abgebildet (Mondgesicht). Erst später
setzt sich mehr und mehr die Seitenansicht durch, und zwar, wie Bühl er
bemerkt, in sehr charakteristischer Art. „Nach und nach nämlich wenden
Bich die einzelnen Körperteile zur Seite, zuerst . . . die Nase, dann folgen
die andern langsam nach. Derart entstehen merkwürdige Zwischenprodukte,
vor allem vom Gesicht: die Kopflinie ist im ganzen noch rund wie der Voll¬
mond, zwei Augen blicken aus der Fläche heraus, während die Nase seit¬
wärts angesetzt ist; oder die Nase hat schon ein Auge in die Seitwärts¬
bewegung mitgenommen, aber das zweite oder noch einmal das ganze Paar
erscheinen außerdem auf der Backe des Profilbildes usw.“ Nach Levin¬
st ein zeichnet um das 8. Lebensjahr ungefähr die Hälfte aller Volksschul¬
kinder solche gemischten Gesichter. „Entsprechende Ansichtenmischungen
') Über den Unterschied zwischen Kontamination and Analogie vgl. Paul Menzerath,
Psychologische Untersuchungen über die sprachliche Kontamination. Zeitschr. f. angewandte
PaycboL, 2. Bd., 1909, S. 280ff.
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kommen auch zwischen den Teilen des Rumpfes, zwischen Kopf und Rumpf
usw. vor“ 1 ).
Gleichwohl, glaube ich, dürfen derartige Zeichnungen ihres seelischen Ur¬
sprungs wegen nicht jenen Mischleistungen zugeordnet werden, die wir hier
besprechen. Es handelt sich bei ihfer Entstehung nicht um ein Nebenein¬
ander, sondern ein Nacheinander von Vorstellungen, die in scharf getrennter
zeitlicher Folge ins Bewußtsein treten. Was in dem räumlichen Gebilde der
Zeichnung als Mischform erscheint, ist nicht dureh Kreuzung, sondern durch
Addition von Vorstellungen entstanden. Zu der gewohnten Darstellungsform,
z. B. der Vorderansicht des Kopfes mit zwei Augen werden die auffälligsten
Merkmale der Seitenansicht, wie die vorspringende Nase, einfach hinzugesetzt.
Das Ganze ist ein zusammengesetztes Gebilde aus mehreren richtigen und
falschen Einzelleistungen.
Dagegen bildet die menschliche Rede als gebräuchlichster und unmittel¬
barster Ausdruck des Gedankenflusses ein besonders fruchtbares Feld für
Mischbildungen der oben geschilderten Art. Sie steigern sich von einfachen
Laut- oder Zeichenvermengungen zu recht verwickelten Ausdrucks- und
Satzmischungen.
Von Lautvermengungen in der mündlichen Rede führe ich aus einer
großen Fülle von Belegen nur solche an, bei denen die verwirrende Neben¬
vorstellung leicht zu erraten war oder vom Sprechenden selbst genannt
wurde: betlogen ( betrogen, belogen), bostelt ( bosselt, bastelt), erkosen (er¬
kiesen, erkoren), fangein (fangen, angeln), Geitsche (Geißel, Peitsche), Hinsch-
kuh (Hindin, Hirschkuh), märenhaft (Märe, märchenhaft), Otem (Odem,
Atem), plügelte (plättete, bügelte), Saffrian, (Saffian, Safran), untertaufen
(untertauchen, taufen), Überfalle (Überfall, -fälle), Zwobel (Zwiebel, Knob¬
lauch).
Häufiger sind die beim Schreiben entstehenden Zeichenvermen¬
gungen, die durch Einwirkung reproduktiver Nebenvorstellungen entstehen.
Schüler, die französisch und englisch gelernt haben, versetzen mit fremdsprach¬
lichen Bestandteilen deutsche Wörter wie: Elephant (fr. elephant, engl, elephant ),
Girafe (fr. girafe), Kabinet (fr. cabinet), Kafe u. Kafee (fr. cafä), Kontrolle
(fr. contröle), Krystall u. Krystal (engl, crystal), Phasan (engl, pheasant),
’ Saxen (fr. la Saxe, engl. Saxony), Zigare (fr. cigare). Auch in Neve st. Neffe
scheint mir das französische neoeu mitgewirkt zu haben. Die Schreibung
Hypothenuse dürfte durch das häufig mitgenannte Kathete, bezeignen durch
zeigen, Rais durch Mais, vür, vordem durch vor beeinflußt sein.
Überhaupt ist die große Mehrzahl der Rechtscbreibungsfehler auf den ver¬
wirrenden Einfluß von Nebenvorstellungen zurückzuführen. Die Worte, die
wir schreiben, sind aus Buchstaben als Einzel Vorstellungen zusammengesetzt
Die Buchstaben sind wieder mit jenen Lauten assoziiert, zu deren schrift¬
licher Wiedergabe sie dienen. Nun ist aber unsere Rechtschreibung wie die
der meisten Kultursprachen von reiner und eindeutiger Lautbezeichnung
weit entfernt. Zahlreiche Laute und Lauteigenschaften werden in der Schrift
mehrartig wiedergegeben, d. h. psychologisch gesprochen, sie sind mit ver¬
schiedenen Schriftzeichen assoziiert. So können die langen Vokale wieder¬
gegeben werden: 1. durch den einfachen Buchstaben (Blume, Schlaf), 2. durch
') Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. 3. Aufl., 1922, S. 253.
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Wesen und Arten der Fehler
369
dessen Verdoppelung (Boot, Seele), 3. durch besondere Dehnungszeichen, wie
e nach i (Biene, fiel) und h vor l, m, n, r, (Buhle, Rahmen, Kahn, Bahre).
Die kurzen Vokale bezeichnet man entweder gar nicht (an, hat, midi) oder
durch Verdoppelung des folgenden Konsonanten (Fall, Tenne) oder durch
mehrere verschiedenartige Konsonanten (Band, haften). Ffir die Vokal-
Verbindungen ai und oi haben wir im Deutschen je zwei Bezeichnungsarten:
ai un die (Hain, Leid) sowie äu und eu (räumen, neun), ferner drei Schrei¬
bungsmöglichkeiten für den /-Laut: f, v, ph (Fahne, Vater, Strophe), und für
die Lautverbindung ts: ts, z, tz (vorwärts, zwanzig, Stutze), vier sogar für die
Lautverbindung ks: gs, ks, chs u. x (flugs, Klecks, Achse, Axt) und für den
stimmlosen s-Laut: 8, f, ff, § (bo8, ift, miiffen, mufj). Der (ajich-'LaxA (phon.
x) und der (i)cft-Laut (phon. $) werden teils mit ch (Macht, Teppich), teils mit
g (Jagd, Essig) wiedergegeben. — Das sind nur die hervorstechendsten
Parallelbezeichnungen gleicher Laute. Zu ihnen gesellen sich noch mannig¬
fache Ausnahmen; so die andersartige Bezeichnung langer Vokale vor l, m,
n, r in Wörtern wie: Aal, Krone, Name, Speer, Spur, ferner Eigentümlich¬
keiten der Schreibung, die durch die Abwandlung der Wörter und die Wort¬
bildung bedingt sind (Gleichnis, - nisse; Königin, innen; hofft gegen oft; zu¬
sammen, sämtlich ; Branntwein, der Brand), Verschiedenheiten der Schreibung
im getrennten und nichtgetrennten Wort (Zuk-ker, Zucker; Brenn-nessel u.
Brennessel, aber wieder den-noch, dennoch), Sonderschreibungen der Fremd-
und Lehnwörter (Akt neben nackt, Chor neben erhör, intim neben geziemen,
Maschine neben schien, Predigt neben Kehricht) usw.
Solche Mannigfaltigkeit von Bezeichnungsmöglichkeiten führt leicht zu Ver¬
mengungen, wo das Schriftbild eines Wortes nicht klar und fest im Gedächt¬
nis ist. Menschen mit schlechtem visuellem Gedächtnis sind der Gefahr
solcher Fehlschreibungen besonders ausgesetzt, da die Gestalt des geschrie¬
benen oder gedruckten Wortes in erster Linie visuell wahrgenommen und
festgehalten wird. Eine kleine Auslese charakterischer Mischfehler mag ge¬
nügen, um die Fülle der Fehlleistungen auf diesem Gebiete anzudeuten:
a) mit falscher Bezeichnung langer Vokale: Ahdern, baar, Dehmut, sie
fiehlen, Geheege, im (st. ihm), Krahn, kamen, Oom, pralten, Ter, zämen;
b) mit Fehlbezeichnung kurzer Vokale: Afe, binn, falltete, Faren, gegeßen,
Hammster, Höle, lttalien, Klubb, Mottiv, öffte, retete, Tackt, Widdersacher;
c) mit Verwechslung von Diphthongen: Bei (st. Bai), Laid, Mein (st. Main),
Meid, Waide — bäugte, erseufen, gleubig, Käule; d) mit Fehlhezeichnung von
/-, s- und 2 -Lauten: Fater, Gustaf, .Flug (st. Pflug), Pfarao, Sofie — Aß
(st. As), durchnäst, Fäßer, Häufchen, misbrauchen, weßhalb — (du) besitst,
Direhzion, Direktsion, Direktzion, krazte, Kreutzchen, stetz, stez; e) mit Fehl¬
bezeichnung der (a)ch- und (i)ch-LsxAe: Dag (st. Dach), Nagt — Behacken
(st. Behagen ), frachte — Buch (st. Bug), Honich, karch, wollich — Deig (st.
Deich), Fähnrig, Hegt.
Zu solchen orthographischen Mischfehlern geben Eigentümlichkeiten der
Fremdwörter besonders häufig Anlaß. Da sich bei der Schreibung der
f-Laute in Fremdwörtern griechischen Ursprungs solche mit t und solche
mit th hinsichtlich der Häufigkeit etwa die Wage halten, so findet man bald
falsche Schreibungen mit th st. t (Athom, Ethgmologie, Kathechismus, Me-
thapher), bald solche mit t st. th (Äter, Hgazinte, Hgpotek, Katolisch, Orto-
graphie, Tese usw.). — Besonders unsicher wird der Schüler, wenn t und
Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 24
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Herrn»nn Weimer
th im selben Wort Vorkommen (Ranschb. Hemmung?). Dann wird das h
häufig an die falsche Stelle oder gar zweimal gesetzt: Ateisth, Katethe und
Kathethe, Teather und Theather. Ähnliche Zweifel entstehen, wenn in mehr¬
silbigen Fremdwörtern neben einem inlautenden Konsonanten noch eine Doppel¬
konsonanz vorkommt. Dann haftet wohl das Bewußtsein der Doppelschreibung,
aber deren Stelle wird vergessen. So entstehen Fehler, wie: Appeles u.
Appelles, Debbate, Disonanz u. Dissonanz, Kappele u. Kappelle, paralell usw.
Grammatische und stilistische Mischbildungen stellen sich mit Vor¬
liebe bei solchen Leuten ein, die sich einer ihnen ungewohnten Ausdrucks¬
weise bedienen. Die amtlichen Eingaben wenig schreibgeübter Erwachsener
sind ebenso reich an solchen Erzeugnissen wie die Aufsatzhefte der Schüler,
sobald diese beginnen, die unbefangene Ausdrucksweise der Kinderjahre ab¬
zustreifen und die Sprache des Buches nachzuahmen. Die dabei gewählten
Ausdrucksformen sind meistens noch nicht gefestigt und geläufig genug, um
sich rein und klar durchzusetzen. Verwandte Vorstellungen werden mit¬
erregt und dringen teilweise ins Bewußtsein ein, so daß Mischfügungen aus
gegenseitiger Ergänzung entstehen, wie sie Müller und Piliecker experi¬
mentell nachgewiesen haben.
Zu falschen Wortbildungen hat das Zusammentreffen zweier ähnlicher
oder verwandter Ausdrücke geführt in: Auswände (Ausreden, Einwände),
Ein- und Ausgaben (Einnahmen u. Ausgaben), Geräumigkeiten (Räumlich¬
keiten, geräumig), Hofschaar (Höflingsschar, Hofstaat), ihm wurde flimme-
rant vor den Augen (flimmerte, blümerant), Reichschätze (Reichtümer, Schätze),
sie sehen sich übeitroffen an (überrascht, betroffen), Vervollkommenheit (Ver¬
vollkommnung, Vollkommenheit),
Redensarten und stehende Ausdrücke haben sich verschmolzen in:
Achilles versicherte ihm den vierfachen Anteil (versprach, sicherte zu); det
ärmeren Bevölkerung ist der Winter sorgenvoll (die Bevölkerung sieht dem
hinter sorgenvoll entgegen; der Bevölkerung bereitet der Winter Sorgen);
diese Stadt hat sich zu einer blühenden Industrie entwickelt (zu einer blühen¬
den Industriestadt, eine blühende Industrie hat sich in dieser Stadt entwickelt);
die Umgebung des Königs lief wie vom Schlage getroffenjauseinander (wie
vom Blitz getroffen, wie vom Schlage gerührt, betroffen); ein Wagen, der
aus Holz bestand (aus Teilen bestehen, aus Holz verfertigt sein); er weigerte
dies ab (verweigerte, wies ab); ich kenne Bescheid darin (kenne mich aus,
weiß Bescheid); welchen Vorteilen dient das Fahrrad? (welche Vorteile bietet,
welchen Zwecken dient).
Bisweilen führt die Vermischung zu pleonastischen Ausdrücken: ein
kleines Dörfchen (kleines Dorf, ein Dörfchen); ein schwarzer Rappen, ein weißer
Schimmel, etwas nötig brauchen (etwas brauchen, nötig haben); weit und
breit berühmt (berühmt oder weit und breit bekannt). — Zu sinnloser Ver¬
knüpfung führt die Vermischung, wenn ein Attribut mit einem Hauptwort
verbunden wird, das seiner Bedeutung nach zu einem andern Hauptwort
gehört: eine feinsinnige Maschine (fein ersonnene, feinsinnig gebaute); mit
mißgestimmten Blicken; sein listiger Name; unerlaubte Gäste (ungebetene
Gäste, unerlaubter Besuch). Dahin gehört auch die Verbindung des Attributs
mit einem zusammengesetzten Substantiv, von dem nur ein Teil zu dem
Attribut paßt, wie: der vierstöckige Hausbesitzer, die reitende Artillerie-Kaserne,
frischgemolkene Milchsuppe usw.
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Wesen und Arten der Fehler
371
Oft werden verschiedene Konstruktionen vermischt: a) präpositionale:
auswärts der Schule (Nebenvorstellung: außerhalb); dem Rhein entlang (am
Rhein, den Rhein entlang); irgend eine Art von Wissens (des Wissens, von
Wissen); nördlich des Praetoriums (nördlich von, im Norden des); um des
Sohnes wegen, um der Sache halber (wegen des Sohnes, der Sache halber,
um — willen);
b) verbale: daß ihnen der Gott zornig wäre (ihnen zürne, auf sie zornig
wäre); man hatte seiner nicht nötig (ihn nicht nötig, bedurfte seiner nicht);
plötzlich ereilte ihrem Feldherrn den Tod (Nebenvorstellung etwa: plötzlich
bereitete ein schlimmes Geschick ihrem Feldherrn den Tod); um an der Vor¬
stellung beizuwohnen (an der Vorstellung teilnehmen, der Vorstellung bei¬
wohnen); was er sich an Emst verschuldet hatte (verschulden an, sich zu
Schulden kommen lassen). Hierhin gehört auch die Vermischung aktivischer
und passivischer Ausdrucksweise, wie in: der uns betroffene Verlust, die sich
gebildeten Schwellungen, es wird sich geschlagen (man schlägt sich, es wird
geschlagen), oder die Vermischung verbaler und adjektivischer Attribute: die
sich im Schranke befindlichen Kleider u. ä.
c) konjunktionale: das kommt daher, weil oder dadurch, wenn oder
davon, wenn (geschieht weil, kommt daher, daß), größer als wie (größer als,
so groß wie), im Falle, wenn er wiederkäme (wenn er; im Falle, daß er),
man war soweit vorgerückt, um den Feind anzugreifen (weit genug, um;
so weit, daß);
d) Vermischung von Satzbildungen: außer der Hinrichtung der An¬
führer wurde ein großer Teil der Empörer ins Gefängnis geworfen st. außer
daß die Empörer hingerichtet wurden . . .; den er für seinen Freund hielt
und es doch nicht war st. und der es ...; falls sie schon mit andern Fahr¬
zeugen versehen sind oder deren Geschäfte noch klein sind st. oder falls ihre
Geschäfte . . . (Vermischung verschiedenartiger Nebensätze); er entbot die
Krieger aus dem ganzen Lande und daß sie sich zum Kampfe rüsteten
(Vermischung von substantivischem und Satzobjekt); tieferrötend folgte die
Antwort (tief errötend antwortete sie, während sie tief errötete, erfolgte . . .);
e) Vermischung der Beziehungen: Alarich belagerte Rom und nahm sie
ein (Nebenvorst.: die Stadt); am Montag, den 8. Juni (am Montag, dem und
Montag, den); die Verlobung unserer Tochter beehren sich anzuzeigen; der
größte Teil der Märchen beginnen (Nebenvorst.: die meisten); solch dickes
Draht (mitgedacht war Gitter).
Häufig erscheint die Vermischung in der Form fehlerhafter Zusammen¬
ziehungen: Alarich erschien dreimal vor Rom, nahm und plünderte es drei
Tage lang; die Saaten können eingehen und große Teurung nach sich ziehen;
im guten Glauben an sein Recht und auf seine Gefährten (st.: und im Ver¬
trauen auf); man reichte dem Gast eine Erfrischung, die aus Waschwasser,
Speise und Trank bestand. Dahin gehört auch die unlogische Vereinigung
verschiedener Geschlechter hinter dem Artikel oder Fülrwort: der russische
und bulgarische Gesandte; die Gottheit und Menschen; die Höhe und Form
des Hauses; die Stille und lautlosen Gäste; ein Bund der Liebe und Ver¬
trauens; seine Macht und Reichtum usw. Zahlreiche Beispiele dieser Art
bringt Wustmann, a. a. 0. S. 279ff.
Vergleichungen, Verneinungen und gegensätzliche Wendungen
scheinen zu Ausdrucks- und Satzvermischungen besonders Veranlassung zu
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
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geben: dieses Gebäude ist das schönste von allen andern (das schönste von
allen, schöner als alle andern); der Knabe leugnete, daß er das nicht getan
habe (leugnete, daß er es getan habe, behauptete, daß nicht); es war uns
unmöglich, dies dem Vater nicht zu verheimlichen (unmöglich zu verheim¬
lichen, man konnte es nicht verheimlichen); öl ins Feuer gießen (st. ins
Wasser ); ich werde mich so viel wie möglich darum kümmern (nicht viel,
so wenig wie möglich); ihm ist die Zeit nicht lang genug (zu lang, nicht
kurz genug). Hermann Paul (a. a. 0. S. 148 u. 153f.) und Wustmann
(S. 267) bringen Entgleisungen dieser Art aus den Werken der bekanntesten
Schriftsteller.
Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß die Spuren der Ver¬
schmelzung in der Form nicht immer erkennbar sind. Dies ist auch bei
den drei letzten Beispielen des vorangegangenen Abschnitts der Fall. Oft
begegnet uns diese Erscheinung, wo es sich um inhaltliche Vermengungen,
Eirinnerungs- und Gedankenmischungen handelt. Einer meiner Schüler glaubte
bestimmt von den 7 Weisen des Morgenlandes reden zu können. Grammatisch
war seine Antwort richtig, inhaltlich aber erwies sie sich als eine Misch¬
erinnerung (die 7 Weisen Griechenlands, die 3 Weisen aus dem Morgenlande).
Auf unklare Gedankenverbindung weisen auch die von Matthias (a. a. 0.
S. 49f.) angeführten Beispiele hin: von den Feldfrüchten erwähnt Caesar
nur den Eibenbaum; die Ilias und die Nibelungensage sind Heldenlieder.
Deutlicher noch trat die Vermischung zweier Gedanken zutage, als einer
meiner Schüler die transitiven Verba als solche bezeichnete, die im persön¬
lichen Passiv den Akkusativ bei sich haben st. die im Aktiv den Akkusativ
bei sich haben und ein persönliches Passiv bilden können, oder als ein anderer
behauptete: KonradII. wurde 1024 zum König von Franken gewählt st Konrad
von Franken wurde 1024 zum deutschen König gewählt.
Zur Theorie des Stotterns.
Eine Buchbesprechung 1 )*
Von Aloys Fischer.
Nach zahlreichen Erhebungen (in Berlin, Braunschweig, Dresden, Elberfeld, Hamborg, Pots¬
dam, Stettin, Amsterdam, Zürich und anderen Städten) wissen wir, daß rund 1 Prozent der
Schulkinder stottert; nach Beobachtungen in einem Teil der Schulorte, die auf Sprachdefekte der
Kinder überhaupt achten, wächst die Zahl der Stotterer im Verlauf der Schulbahn (so etwa in
Berlin auf das Dreifache der Fälle in den Aufnahmeklassen). Nach den Erfahrungen angesehener
Sprachärzte ist die Wirkung der Reifejahre auf Sprachgebrechen, besonders wieder auf das
Stottern, nicht eindeutig und der in Erzieherkreisen, bei Eltern und Lehrern noch vielfach vor¬
handene Glaube, das Stottern verliere sich entweder von selbst oder durch die gewöhnlichen Ma߬
nahmen schulischer und erzieherischer Behandlung, ein ungerechtfertigter Optimismus.
Ich habe auf diese Tatsachen hingewiesen, um es zu rechtfertigen, daß die Erkenntnis der
Ursachen des Stotterns lind die Maßnahmen zur Vorbeugung und Heilung eine Frage bilden,
die für den Erzieher erhebliches Interesse hat und es verständlich erscheinen läßt, daß der
Stotterer immer wieder untersucht wird. Die vorliegende Schrift des Vertreters der pädagogischen
Psychologie und Pathopsychologie an der Hochschule zu Riga nimmt zu der Frage von den
Erfahrungen und Grundsätzen der Psychanalyse aus Stellung und zwar genauer gesagt, von
*) Ernst Schneider, Über das Stottern. Entstehung, Verlauf und Heilung. Bern 1922.
A. Francke. 106 Seiten.
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Aloys Fischer, Zur Theorie des Stotterns
373
der schweizerischen Richtung innerhalb der psychanalytischen Bewegung, in der der Verfasser
mit Jang, Pfister u. a. ein bekannter Name ist. Im ersten Teil gibt die Schrift einen guten
Oberblick über die anatomischen, physiologischen und voranalytisch-psychologischen Theorien
des Stotterns, nicht in historisch-entwickelnder, sondern in systematisierender Darstellung,
aber überall in Auseinandersetzung mit den führenden Autoren. Eingehender gewürdigt werden
dabei die Theorien H. Gutzmanns („Stottern ist eine spastische Koordinationsneurose“), Dehnhardt’s
(„Stottern ist Sprechangst 11 ) und O. Aronsohn’s („Stottern ist eine Sprachstörung, die ursprünglich
hauptsächlich, in manchen Fällen ausschließlich in Gegenwart Fremder, Respektspersonen
oder Vorgesetzten auftritt. Die Stottererscheinungen sind ursprünglich nur an. den Anfang des
Sprechens geknüpft; diese Stottererscheinungen sind deshalb als primär, alle übrigen als sekundär
zu bezeichnen. Die primären Stottererscheinungen haben ihre unmittelbare Ursache in zwei
Charaktereigenschaften der Stotterer, im Bestreben, ihr Innenleben unter keinen Umständen dem
kritischen Blick Fremder preiszugeben, und dem meist ursprünglichen Drang zu überhastendem
Gedankenausdruck“). Ich glaube, daß selbst aus dieser gedrängten Wiedergabe der medizinischen
Geschichte des Stotterproblems im Gegensatz zu der Meinung des Herrn Verfassers der Eindruck
entsteht, daß schon frühzeitig und von allen Beobachtern, auch von denen, die den anatomischen
Mechanismus der Atmungs-, Artikulations- und Phonationsbewegungen als den sozusagen unmittel¬
baren Angriffspunkt für die Therapie herausstellten, die psychische Verwurzelung des Stotterns
gesehen und studiert worden ist Wer die Originalanalysen der angezogenen Theoretiker nachliest
und noch besser, wer Einsicht in die Praxis eines guten Spracharztes hat, weiß, daß auch der
„ausgepichteste“ Nur-Mediziner eine Unsumme instinktiv gewonnener und verwerteter psycho¬
logischer Erfahrungen gerade bei der Exploration wie bei der Behandlung von Stotterfällen ins
Spiel treten läßt. Man kann nicht sagen, daß die voranalytische Arbeit keinen Blick für die
sozusagen innerpsychischen Faktoren, sei es als Anlaß und Ursache, sei es als Ausstrahlung, Be¬
gleitung und Hilfsmittel der Fixierung des Stotterns, besessen habe. Was ihnen allenfalls vorgehalten
werden könnte, ist dies, daß sie ihre psychologischen Befunde nicht für so wesentlich gehalten
haben, um darauf ihre Theorie und Therapie zu gründen. Die Tatsachen (auch die psycho¬
logischen) dürften somit den wirklich zuständigen Bearbeitern einigermaßen gemeinsam sein;
die Differenzen der Theorien gehen dann entweder auf abweichende Bewertung oder auf hin¬
zugefügte Deutung der — wie alle Erfahrung — nur Bruchstücke des Gesamtverlaufs bietenden
Beobachtungen zurück.
Im Anschluß an die Theorien wird ein Überblick über die Heilmethoden (die chirurgische, medi¬
kamentöse, didaktische und hypnotische) gegeben. Es ist schade, daß der Verfasser die Zer¬
gliederung der seelischen Vorgänge mit allen Nebenwirkungen nicht weit genug verfolgt, die
durch die Einzelmaßnahmen etwa von Gutzmanns oder Dehnhardts Heilverfahren im Patienten
ausgelöst werden.
Im zweiten Teil bringt er (nach einer freilich sehr gedrängten Übersicht über den Sinn und
das assoziative Urverfahren der Psychanalyse) die bisherigen psychanalytischen Deutungs¬
und Heilungsversuche zur Darstellung. Dabei spielen — das ist für den in der einschlägigen
Literatur nicht bewanderten Leser eine Schwierigkeit — die grundsätzlichen Kontroversen und
Differenzen der im weitesten Sinn des Wortes dem psychanalytischen Gedankenkreis nahestehenden
Persönlichkeiten eine beträchtliche Rolle. Umgekehrt allerdings ist es nicht ohne Reiz, die
Gegensätze im analytischen Lager an der Deutung und Behandlung eines so konkreten Einzel¬
beispiels sozusagen auf ihre kürzeste Formel gebracht zu sehen. Ich gestehe, von mancher in
diesem Bericht berührten Frage (z. B. von Adlers Individualpsychologie) eine etwas andere Auf¬
fassung gewonnen zu haben, als sie hier zu Wort kommt.
Ich gebe in einem Punkt dem Verfasser vollkommen recht: gegenüber der Tendenz der
physiologischen Theorien, die einen zentralen Ursprung des Stotterns für „zweifellos“ halten,
aber ihn — jedenfalls bis heute — nicht nachweisen können, sind Psychologie und Psychanalyse
drauf aus, für die körperlichen Symptome des Stotterns und Stotterers im (bewußten, vorbewußten
und unbewußten) Seelenleben und in der Struktur der Persönlichkeit Grundlagen nachzuweisen,
die grundsätzlich nachlebbar einen Weg zum Verständnis versprechen. „Wenn es möglich wäre.
Seelenvorgänge fest zustellen, die uns den Stotteranfall auch nach der körperlichen Seite dem
Verständnis nahe bringen?“ (S. 21.) Durch den Hinweis auf die Bedeutung der Psychanalyse
für Erkenntnis und Behandlung der Hysterie glaubt der Verfasser ein günstiges Vorurteil auch
für die psychanalytische Behandlung des Stotterproblems zu erwecken.
Innerhalb der Psychanalyse haben sich bisher zwei Theorien herausgebildet: das Stottern als
Angstneurose, vertreten von L. Frank, im Anschluß an die erste Freudsche Fassung der psych¬
analytischen Methode und heilbar durch dessen kathartisches Verfahren, und das Stottern als ein
neurotisches Sicherungssystem von Alfred Adler und seinen Mitarbeitern, besonders Appelt, dar-
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Aloys Fischer
gestellt, heilbar durch ein Verfahren der Aufdeckung und Zerstörung des unbewußten Unterbaues
der dem Sicherungssystem zugrunde liegenden Fiktionen.
Nach Franks Ansicht ist zum Stottern prädisponiert „der Mensch mit Neigung zu stark affekt-
betonten Vorgängen“. Die Auslösung erfolgt meist in früher Kindheit (3.—4. Lebensjahr) durch
ein Schreckerlebnis. Die Angst jenes Schreckerlebnisses wird auf den Ort, die Zeit, die Gegen¬
stände desselben übertragen, ebenso auf die Begriffe, Worte, Zeichen und Ausdrucksmittel, die
dafür dienen oder damit Zusammenhängen. So wird — unterbewußt „beim Entstehen des Stotterns
in der Schreckhemmung die Angst mit dem Aussprechen von bestimmten Sprachlauten verbunden“.
Die dann bei der Wiederkehr dieser Sprachhemmung plötzlich einsetzende Verlegenheit steigert die
Hemmung und die Angst. Ein anfänglich vielleicht nur leises Häsitieren vertieft sich zum Stottern.
Die Wiederkehr gleicher bezw. ähnlicher Situationen vertieft und fixiert die Angsthemmung. Das
Stottern in seiner bekanntesten Form — als Versagen der Sprachbewegung bei bestimmten (den
ersten nach dem Schreckerlebnis auftretenden, später bei ihnen ähnlichen) Worten bezw. Buch¬
staben ist fertig. Franke hat diese Theorie entwickelt aus Heilerfahrungen nach dem kathartischea
Verfahren, bei dem im Halbschlaf die verdrängten, affektbetonten Vorstellungen, die das erste
Stottern ausgelöst haben, wieder bewußt gemacht und abreagiert wurden, Schneider hat m. E.
mit Recht geltend gemacht, daß die Theorie: „das Stottern ist eine Angstneurose, die bei psycho¬
pathischen Kindern in den ersten Kinderjahren durch Schrecken entsteht“, ohne eine tieferschürfende
Zergliederung der „Angst“ nicht hätte aufgestellt werden dürfen; ob diese Zergliederung freilich
in die Richtung führt, die er (S. 28) andeutet, muß ich offen lassen. Ich möchte auf diesen Punkt
bei der Auseinandersetzung mit Schneiders eigenen Erfahrungen und Gedanken zurückkommen.
In der individualpsychologischen Auffassung Alfred Adlers ist der Ausgangspunkt für das Ver¬
ständnis des nervösen Charakters und seiner Symptome das biopsychologische Streben jedes Organis¬
mus nach Selbstbehauptung und Geltung. Individuen mit minderwertigen Organen trainieren
auf Kompensation bis Überkompensation durch Leistungen auf anderen Gebieten. Mißlingt die
Korrektur der Minderwertigkeit, so tritt an Stelle des Willens zur Macht jener zum Schein; d. h.
das Individuum nimmt Formen des Ausdruckes an, „als ob“ es gleichwertig wäre, sich gleich¬
wertig fühlte (Trotz, Eigensinn, Frechheit, Größenideen usw.), oder es flüchtet sich in das Gefühl
der Minderwertigkeit, um dadurch die Umwelt von sich abhängig zu machen, also wenigstens
scheinstark zu bleiben (Schüchternheit, Feigheit, Anlehnungsbedürfnis, Unterwürfigkeit, kurz
Züge, die seine Schwäche ostentativ übertreiben und so gewissermaßen den Imperativ aussprechen;
„sorgt für mich arme Kreatur!“) Das Kind, resp. der Nervöse, sichert sich durch derartige
Fiktionen gegen jede Beeinträchtigung und Erschütterung seines Selbstgefühls und Geltungs¬
bedürfnisses. Auch die Angst ist ein Sicherungsmechanismus, mit der Aufgabe, jede das Per¬
sönlichkeitsgefühl bedrohende Gefahr rechtzeitig zu signalisieren, damit — nicht wie beim Ge¬
sunden: vorgesorgt und dagegen gekämpft, sondern — ausgewichen werden kann. So meldet
die Sprechangst die „schweren Buchstaben“ gewissermaßen vorher an, namentlich ln der Schulzeit,
wenn auch nicht in der vorschulischen Kindheit, in der das Stottern mit der normalen Schwäche
des Spracbapparats und der Sprach Vorstellungen zusammenhängt. Das Stottern wird so ein Kniff,
ein Kunstgriff, um in bemitleidenswerter und fürsorgebedürftiger Schwäche die an sich mögliche
Leistung des richtigen Sprechens als einer persönlichen Unmöglichkeit sich versagen zu können.
Die Theorie deutet dann zahlreiche bei Stotterern und ihrer Heilbehandlung beobachtete Einzel¬
heiten in ihrem Sinn, z. B. die recht seltsame Tatsache, daß das Stottern unterbleibt oder rascher
überwunden wird bei physischer Anlehnung (an ein Pult, namentlich eine bestimmte Person) im
Sinne der Symbolhandlung. So ergibt sich in Appelts Formulierung als Gesamtanscbauung die
Meinung, „die Nervosität bediene sich des Stotterns als eine Art Hindernis, das dem Kinde erlaubt,
Entscheidungen und Zusammenstöße, die sein Persönlichkeitsgefühl einer Verletzung aussetzen
könnten, entweder völlig zu vermeiden oder zum mindesten hinauszuschieben.“ Stottern ist
nur ein Symptom eines neurotischen Gesamtsicherungssystems, verursacht vor allem durch eine
konstitutionelle Minderwertigkeit des Sprechapparats und in seiner speziellen Form durch den
Willen zum Schein als der Fiktion der Gleichwertigkeit bestimmt.
Ohne zu dieser Theorie hier meinerseits ausführlich Stellung zu nehmen, möchte ich doch
die Frage nicht unterdrücken, nach welchem Maßstab die reale Minderwertigkeit beurteilt wird,
resp. von welchem auf Menschen (Patienten) wirksamen Maßstab der Selbsteinschätzung sie das
erlebte Minderwertigkeitsgefühl nacherlebend verständlich macht. Die Frage berührt freilich nicht
das Stotterproblem allein, sondern die ganze Theorie der „Sicherung gegen Minderwertigkeiten*.
Der historisch-kritische Teil ist mit der individualpsychologischen Theorie des Stotterns zu
Ende; trotz seiner Kürze ist er klar und lehrreich. In dem größeren Hauptteil des Buches
entwickelt der Verfasser dann eigene Anschauungen. Ihre Grundlagen sind nicht nur die Er¬
gebnisse seiner Kritik, sondern auch einerseits allgemeine Überzeugungen von der Struktur der
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Zur Theorie des Stotterns
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Persönlichkeit, andererseits Heilerfahrungen nach der von ihm akzeptierten, in der Hauptsache
durch Oskar Pfister ausgebildeten psychanalytischen Methode. Es ist schade, daß der Verfasser
gerade über die allgemeinen Fragen nur andeutend sich äußert; sein Begriff der seelischen
Gesundheit als des Gleichgewichts zwischen Aufbau und Abbau und der Dissoziation als der
Grundform psychischer Erkrankung können meines Erachtens nur in ausführlicher Darstellung
verständlich werden; in der vorliegenden Fassung erinnern sie an Freuds Mechanik des Un¬
bewußten in der frühesten Gestalt.
Auf das Material und die Verarbeitung desselben Schritt für Schritt einzugehen, muß ich mir
aus Raummangel versagen. Der Verfasser stellt zunächst das Stottern, diese Sprachhemmung
in einen größeren Zusammenhang hinein, in die Fälle derj Bewegungshemmung überhaupt;
d as Sprachstottern steht neben dem Schreib-, Geh-, Klavierstottem, die Wortangst (als häufiges
Teilkennzeichen des Sprachstotterns) neben der Buchstaben-, Platz-, Brückenangst. Durch diese
Einreihung erscheint das Stottern als Spezialfall der Hemmung im Ablauf solcher Bewegungen,
die sonst bis zur automatischen Geläufigkeit eingeübt sind und auch automatisch abzulaufen
pflegen.
Zur Erklärung geht der Verfasser (meines Erachtens richtig) von solchen Einzelbeispielen der
Hemmung, speziell der Sprachhemmung aus, die wir noch vollkommen durchschauen, hierin im
Gefolge von Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“; das Gewohnheitsstottern, die fixierte
Sprachhemmung, wird nun, unter Abweisung der nächsten Erklärung des Stotterers: er wisse
nicht, wie er zu seinem Übel komme — analytisch exploriert und auf einen analogen, aber
unbewußt-organischen Konflikt zurückgeführt, wie er den leicht durchschau baren Fällen vereinzelten
Stotterns zugrunde liegt. Der Kern der neuen Theorie, die der Verfasser mit aller wissenschaft¬
lichen Vorsicht zunächst nur für sein eigenes Beobachtungsmaterial formuliert, ist folgender:
Ursache des Stotterns ist ist ein Kampf des Willens zum Sprechen und des Willens zum Schweigen;
der Stotterer hat Anlaß zu sprechen, will auch sprechen; er hat aber ebenso Anlaß zu schweigen,
letzteres im Verborgenen. Der Kampf wird manifest im Spasmus von Muskelantrieb und Muskel¬
hemmung, dieser wird so zum leiblichen Symbol der seelischen Lage. Der Konflikt der beiden
Willen (er ist in einem Beispiel sehr schön veranschaulicht) wird verständlich aus dem Bestand
des Unbewußten. Verdrängt sind Lebensansprücbe des Individuums, die einmal aktiv waren
(nach Schneider in erster Linie das Luststreben der Körperfunktionen: Essen, Ausscheiden, Sprechen,
in zweiter Linie Wunschspiele mit Gegenständen und Gedanken, die aus den Beziehungen zu
den Eltern bezw. deren Ersatzpersonen hervorgegangen, sind), deren Auswirkung aber gehemmt
wurde (nach Schneider in erster Linie durch Erziehungsmaßnahmen: Verbot, Drohung, Strafe
oder durch Entwicklungsfehler, vor allem das Verharren auf der jeweils „infantileren“ Stufe).
Das Stottern ist ein Krankheitssymptom, wenn es als Ersatzleistung die Rolle der in¬
fantilen Körperfunktionen und ihrer Konflikte zwischen Ausdruck und Zurück¬
halt en übernimmt. Es entsteht mit den verursachenden Verdrängungen vor dem 6. Lebensjahr;
tritt es später auf, so liegt doch die Vorbedingung in Verdrängungserlebnissen jener frühen Kindheit.
Es ist sehr schwer, ohne andere Kenntnis der Fälle des Verfassers, als sie seine Darstellung
ergibt, die entwickelten Gedankengänge zu kritisieren. Ich kann nur (ebenfalls auf anschau¬
liches Material gestützt) grundsätzliche Fragen aufwerfen; der Verfasser möge in diesen Er¬
örterungen einen Ausdruck des Dankes erblicken für die Anregungen, die ich seiner Schrift
schulde. Die erste methodische Frage ist für mich immer: ist es berechtigt, alle Fälle von
Stottern, in weiterem Zusammenhang von Bewegungshemmung zusammenzufassen und nach
einer wesentlichen Erklärungshypothese, einem gleichen Mechanismus zu suchen? Die zweite
Frage ist eben deshalb: die phänomenologische Analyse der Einzelfälle selbst; die psycho¬
logische Deskritition der Hemmungen.
Der Konflikt der beiden Willen zum Sprechen und Schweigen ist sicherlich ein wesentliches Merk¬
mal einer Gruppe von Stotteranfällen, die ich mir angewöhnt habe als „diplomatisches Stottern“
zu bezeichnen. Ob der Diplomat im Menschen, der ihn zum Stottern veranlaßt, bewußt oder
unbewußt arbeitet, bedingt m. E. keine grundsätzliche Verschiedenheit; daß das „diplomatische
Stottern“ gegenüber Respektspersonen leicht Platz greift, versteht sich ebenfalls von selbst.
Denken wir an rein gelegentliches Stottern von Menschen, die keine .Stotterer“ sind, so finden
wir in zahlreichen Fällen etwa folgendes Bild: der Sprechende weiß sich beobachtet, er ist sich
der entscheidenden Verantwortlichkeit für alles das, was er sagt, bewußt, er hat infolgedessen
die Tendenz, das Wort zu wägen, „im Munde umzudrehen“, ehe er es ausspricht. Sonst fließend
und gewandt, besinnungslos und automatisch, wird seine Sprechweise in solchen Augenblicken
hesitierend; schon im Begriff, einen Ausdruck zu gebrauchen, beobachtet er eine unerwünschte
Reaktion seines Partners, die ihn veranlaßt, nach einem anderen, konzilianteren Ausdruck zu
suchen; stellt sich dieser nicht gleich ein, so entsteht eine Besinnungspause, stellt er sich erst
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Aloys Fischer
ein, wenn die zunächst gewählte Phrase schon halb ausgesprochen ist, wird ein einschränkender
oder zurücknehmender Zusatz gesucht, es entstehen Anakoluthe und Kontaminationen, der sonst
automatische Ablauf des Gesprächs gewinnt den Charakter der größten Bewußtheit und zögernder
Vorsicht, damit der Mitunterredner durch die Pausen und Hemmungen ungeduldig gemacht,
unwillkürlich verrate, wie und was er gesprochen haben möchte. Das Stottern als „gackernde
Rede“ wird ein Kunstgriff, sich Besinnung und Selbstkontrolle zu sichern, den Rückzug offen
zu halten, die Unsicherheit, „wie der andere es aufnehmen wird 4 , zu vermeiden. Man kann
beobachten, daß selbst abgebrühte Gewohnheitsredner (etwa im politischen Leben) absichtlich
stottern, wenn sie im Hinblick auf eine erwartete Diskussion nach einer Formulierung suchen,
die so wenig Angriffspunkte als möglich bietet. Von einer Angst, namentlich einer lokali¬
sierten Wortangst, kann keine Rede sein; der ganze Ablauf ist überhaupt weniger affektiv
bestimmt als intellektuell, es ist die Einstellung des vorsichtigen Menschen, der sich seine Ver¬
handlung nicht durch eine sprachliche Übereilung zu gefährden wünscht. Ich hoffe, daß ich
mit diesen Andeutungen unmißverständlich jedermann bekannte Fälle von einmaligem Stottern
eines sonst normal und gewandt sprechenden Menschen kenntlich gemacht habe. Es ist eine
Frage für sich, welche Umstände und Charaktereigenschaften eine Tendenz zum diplomatischen
Stottern bedingen und schließlich den (diplomatischen) „Stotterer“ als Typ züchten. Ich möchte
meinen, daß das „diplomatische Stottern“ als Ausdruck eines Konflikts doch nur eine Gruppe
von Fällen kennzeichnet Ebenso bekannt ist das (einmalige oder gelegentliche) Stottern in
jähem Schreck, der uns „die Rede verschlägt“, in übermannender Freude, die uns nur stammeln
und lallen läßt, kurz, im heftigen Affekt. Auch hier ist wieder zu fragen, ob und wann es
unter Umständen zur dauernden Fixierung kommt. Die Psychologie des „Stotterns 41 d. h. die
Aufhellung der einzelnen Stotterleistungen und die Psychologie des „Stotterers“, d. h. einer
Charakterstruktur, bei der u. a. das häufige und regelmäßige Stottern kennzeichnend ist, scheinen
mir — jedenfalls methodisch — zunächst zu trennende Überlegungen zu erfordern. Die Kinder¬
forschung kennt endlich das „Stottern der Unbeholfenheit“ als eine temporäre Erscheinung in
der Zeit des Sprechenlernens auch bei den Kindern, die weder Stotterer sind noch Stotterer
werden. Mit diesem Stottern vor dem Sprechenkönnen ist etwa zu vergleichen das Stottern
des erschöpften, übermüdeten Menschen, der für kurze Zeit „nicht mehr“ die Herrschaft über
seine Muskulatur besitzt.
Ein methodiscü sicheres Arbeiten für eine Stottertheorie hätte m. E. in erster Linie die
Aufgabe jl. die beim Menschen mit normaler Sprachfähigkeit vereinzelt vorkommenden, als
Stottern anzusprechenden Insuffizienzen seines Sprachlebens genau zu zergliedern und von¬
einander abzuheben, das diplomatische Stottern, das Stottern im Schreck, in der Freude, in der
Erschöpfung, in der Phase der Einübung einer Sprache, beim Kind der Muttersprache, beim
älteren Menschen einer Fremdsprache, die er gerade erlernt Gegenstand des Studiums wäre
hier wirklich das Stottern, seine Phänomenologie und Ätiologie, nicht der „Stotterer“. Ich
vermisse eine Erfassung dieses Problems als solchen; nicht als ob es an jeder Beobachtung
dieser Art fehlte; aber der Spracharzt und der Psychoanalytiker haben diese Fehlleistungen
des normalen und gesunden Menschen zunächst weniger beachtet, ihr Material ist von anderer
Struktur, rührt von anderen Persönlichkeiten her. Und doch glaube ich, daß die Zergliederung
der vereinzelten Stotterphänomene im Zusammenhang eines sonst normalen Sprachlebens die
erste Aufgabe ist, die wissenschaftlich geschafft werden muß. Ich glaube, daß es von ihrer
Lösung abhängt, ob man das Stottern überhaupt als eine Einheit betrachten und eine einheit¬
liche Theorie dafür suchen darf. Es ist mir umgekehrt eher wahrscheinlich (aus der durchaus
historischen Natur des einzelnen Seelenlebens), daß eine in ihrer unmittelbar beobachtbaren
Außenseite so gleiche Tatsachengruppe wie die des Stotterns in jedem Fall und Phänomen
noch eine ganz verschiedene Vorgeschichte und Vorursache haben kann; es ist mir demgemäß
auch zweifelhaft, ob es für das Stottern als chronischer Fehlleistung (davon sogleich) eine Er¬
klärung und demgemäß eine Universaltherapie gibt. Stottern und Stottern scheint mir nicht
bloß zweierlei, sondern vielerlei zu sein, von allen Formen einer naturbedingten, unwillkürlichen
Fehlleistung aus Affekt, Berechnung, Schwäche, Erschöpfung, bis zu denen eines künstlichen
absichtlichen Stotterns, bei denen der Mensch gar kein Stotterer ist, aber im Schein dieses
Defektes und dem Bewußtsein, ihn nicht zu haben, sich erfolgreicher für seine Zwecke tätig weiß als
ohne ihn. 2. Erst in zweiter Linie stände dann die Frage, welcher Art das Stottern ist, das wir an
einzelnen Menschen während einer längeren Zeit ihres Lebens beobachten, wie es entsteht,
welchen Sinn es im biopsychologischen Zusammenhang hat, das Stottern, von dem einer geheilt
sein will (im Gegensatz zu dem, das keine Heilung braucht, weil es nur singuläre Fehlleistung
ist und zu dem, von dem sich einer gar nicht heilen zu lassen getrieben fühlt, weil er — ob-
schon er gewohnheitsmäßig stottert — gar kein Stotterer ist). Auch hier bin ich der Meinung
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Zur Theorie des Stotterns
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daß eine Typologie der Stotterer, eine Obersicht über die doch nicht wohl von vornherein als
gleich oder verwandt vorauszusetzende Verschiedenheit der Fälle gewonnen werden müßte, ehe ihre
einheitliche Erklärung und auf diese Theorie aufgebaute einheitliche Heilbehandlung gerechtfertigt
werden kann. Man mißverstehe nicht: in der Praxis können wir nicht warten mit Heil versuchen,
bis wir eine solche stichhaltige Erkenntnis haben (sonst wären wir in Medizin und Pädagogik bald
auf dem Sand), die Praktik arbeitet notwendig mit Hilfsannahmen und trägt so (durch ihre
Erfolge und Mißerfolge) zur Erweiterung und Vertiefung unserer Erkenntnis bei Aber man
kann auch mit einer falschen oder wenigstens unzulänglichen Theorie gute Erfolge erzielen,
wie die Geschichte der Medizin beweist, und man muß die Arbeit auch dort versuchen, wo
uns alle verfügbaren theoretischen Erkenntnisse im Stich lassen. Deshalb sind die Erfahrungen
der Praxis, in unserem Falle der psychoanalytischen, höchst beachtenswert, und ich halte es
für ein Unrecht, wenn wissenschaftliche Richtungen, in unserem Falle der Psychologie, meinen,
die Tatsachen ignorieren zu dürfen, [die eine Forschung aufdeckt, deren Methode und theore¬
tische Grundbegriffe nicht genehm sind. Ob es schließlich eine einheitliche Theorie des Stotterns,
d. h. aller seiner Phänomene im Zusammenhang einer sonst normalen Sprachentwicklung und
aller Typen von Stotterern gibt, das würde sich erst prüfen lassen, wenn 3. der „Stotterer“
und seine Typen sich als Fixierung an sieb, nicht als krank zu bewertender Stottererscheinungen
nachweisen lassen. An diesem Punkt, in der Aufhellung von Strukturzügen der Gewohnheits¬
stotterer, in der Analyse der Persönlichkeit, soweit sie das Stottern als Ausdrucksform akzeptiert,
hat m. E. die Psychoanalyse ihre Hauptverdien6te, auch wenn sie mit den Schematen des Per¬
sönlichkeitsaufbaues, die sie bisher erarbeitet hat, eines Tages selbst nicht mehr ausreichen
sollte und sich mit Gedankengängen der älteren historischen Psychologie und ihren Richtungen,
die sie heute im Drang nach Selbstbehauptung ablehnt, wieder stärker berühren sollte.
Da ich dem Verfasser recht gebe in seiner Einreihung des Stotterns in das Gebiet der
Hemmungstatsachen, möge er mir erlauben,- zum Schlüsse dieser Auseinandersetzung gerade
auf diesen für seine Grundlegung der Psychologie offenbar wichtigen Begriff der Lebenshemmung
noch mit einigen Gedanken einzugehen. Ich kann an diesem Beispiel die Lage der zeitgenössischen
Seelenforschung aufhellen und vielleicht dazu beitragen, daß die Kluft zwischen den verschiedenen
Forschungsrichtungen nach und nach einer freundlichen Berührung und Arbeitsgemeinschaft
Platz mache. Denn die Erkenntnis der Wahrheit ist doch ihr gemeinsames Ziel, nicht doktri¬
näre Rechthaberei. Wenn ich auch hier zunächst von meinem Gesichtspunkte ausgehe, so
möchte ich zeigen, daß die verschiedenen Hemmungsbegriffe, mit denen in der heutigen Psy¬
chologie und Pathologie gearbeitet wird, darauf zurtickgehen, daß 1. bestimmte Fälle im
seelischen Leben, für die sich ungezwungen der Name Hemmung schon im vorwissenschaftlichen
Denken empfiehlt, als die Prototypen der Urphänomene verallgemeinert worden sind, ehe man eine
vollständige Deskription aller besaß und daß 2. bestimmte Bewertungen mit unterliefen, die bei
theoretischen Überlegungen Jederzeit, wie Husserl sagen würde, eingeklammert bleiben müssen.
Wir müssen unterscheiden zwischen Zuständen, die „als Hemmungen erlebt sind“ (einerlei ob
mit positiven oder negativen Wertzeichen wie etwa bei Hemmungszuständen der Depression, des
Kleinheitsgefühls oder bei Hemmungen eines Willensentscheides durch ein moralisches Gegen¬
motiv) und Zuständen, die objektiv, vom wissenschaftlichen Betrachter als Hemmungen an¬
gesprochen werden, als ein Gehemmtsein des Seelenablaufs, ganz einerlei ob der Erlebende
sich gehemmt „fühlt“, gehemmt „weiß“ oder nicht. Es leuchtet ein, daß schon die Be¬
hauptung, eine Hemmung liege vor, im zweiten Fall Theorie voraussetzt, so wenn z. B. aus der
Reaktionszeit, weil sie „ungewöhnlich lang“ ist, auf eine Hemmung geschlossen wird, die Vor¬
stellung von einer normalen Reaktionszeit zugrunde liegt. Die Berechtigung zu einer solchen
Annahme will ich nicht bestreiten, aber sie ist Jedenfalls eine theoretische Annahme, auch wenn
sie als normal nur die Durchschnittszeit vieler Reaktionen verschiedener oder auch des gleichen
Individuums festsetzt. Die erlebten Hemmungen variieren wieder, je nachdem im phänomeno¬
logischen Bestand eine aktive Komponente („ich“ hemme) oder eine passive (etwas hemmt, ich
bin oder werde gehemmt) deutlich überwiegt oder ausschlaggebend bestimmt, während in anderen
Fällen (z. B. bei Gleichzeitigkeit mehrerer Reize oder Handlungsantriebe), das Ich sozusagen aus¬
geschaltet ist) Endlich wird die ganze Verwendung der Hemmungsbegriffe in der heutigen
Psychologie mit Einschluß der Psychoanalyse belastet durch eine Schwankung zwischen kausaler
und finaler Fassung derselben: Hemmungen als Ursachen bestimmter Erscheinungen, Hemmungen
als Mittel zu bestimmten Zwecken des Lebens.
Man kann am Stotterproblem zeigen, daß diese Unsicherheiten der Psychologie der Hemmung
auch hier verwirrend und verwickelnd wirken; so ist etwa die Spasmentheorie einem kausalen,
die Adlersche und Schneidersdie Theorie einem finalen Hemmungsbegriff adäquat, wobei die
beiden letzteren natürlich auch noch im Zweck selbst, der durch das Stottern angestrebt wird,
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Aloys Fischer, Zur Theorie des Stotterns
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differieren. Lebendige Wissenschaft ist immer Ansicht der Dinge und Deutung von bestimmten
Standorten und Gesichtspunkten aus; so muß es grundsätzlich möglich sein, jede Richtung zur
Selbsterkenntnis, d. h. eben zur Erkenntnis ihres Standpunktes und damit ihrer Fragen zu
bringen und „die Wissenschaft 44 , d. h. die allseitige Betrachtung durch eine Diskussion des
relativ Berechtigten der Standpunkte einen Schritt vorwärts zu bringen. Als einen kleinen Bei¬
trag zu diesem Ziel der Verständigung zwischen den Richtungen sind meine Andeutungen ge¬
meint; sie stellen Aufgaben der Forschung dar, die jede Richtung (zunächt ohne Preisgabe
ihrer Grundgedanken) lösen kann und muß, und deren Lösung dann erst ausweist, wie viel
von diesen Grundgedanken haltbar ist.
Kleine Beitrage und Mitteilungen.
Neurologisch-psychiatrische Befunde an Fürsorgezöglingen teilt Oberarzt
Dr. Schwartz in der Psych. neurol. Wochenschrift (1923, S. 96ff.) mit Er
hat in den Jahren 1920—1922 Erhebungen an sämtlichen Fürsorgezöglingen
der Provinz Sachsen, soweit sie in Erziehungsanstalten untergebracht waren,
angestellt und dabei u. a. die folgende Statistik erhalten:
Normal ..22,0%
Normal mit psychopathischen Zügen. 15,9%
Normal beschränkt.21,9%
Pathologisch beschränkt.9,3 %
Debilität . ..4,9%
Imbezillität.4,2 %
Psychopathie.21,3 %
Epilepsie.0,2 °/o
Syphilitische Erkrankung des Zentral¬
nervensystems .0,1 %
Hysterie. 0,1 %
Jugendirresein. 0,1 °/o
Nachrichten. 1. An der Universität Leipzig ist der außerordentliche Prof. Dr. phil. et medL
Hermann Schneider in der Nachfolge Paul Barths zum planmäßigen Professor für Philosophie
und Pädagogik ernannt worden. Prof. Schneider studierte Medizin, im besonderen Psychiatrie,
ferner Geschichte und Philosophie und schrieb: „Ehtwicklungsgeschichte der Menschheit 41 , „Re¬
ligion und Philosophie* 4 , „Metaphysik als exakte Wissenschaft 14 und „Philosophie der Geschichte 4 *.
2. An der Universität Jena wurden Studienrat Dr. Peter Petersen in Hamburg, Studien-
rat Dr. Mathilde Vaerting in Berlin zu ordentlichen Professoren für Erziehungswissenschaft
ernannt; Landesoberschulrat Dr. Strecker in Eisenach, Landesoberschulrat Anna Siemsen in Jena,
vorher in Berlin, und Oberstudienrat Otto Scheibner, bisher in Leipzig, erhielten unter Ernennung
zu Honorarprofessoren die Vorlesungsberechtigung für Erziehungswissenschaft.
3. An der Universität Leipzig ist Dr. phil. Otto Klemm zum planmäßigen außerordentlichen
Professor der angewandten Psychologie ernannt worden.
4. Prof. Dr. Hans Cornelius, Ordinarius für Psychologie und Philosophie an der Uni¬
versität Frankfurt, ist 60 Jahre alt geworden.
5. Prof, der Philosophie Dr. Max Frischeisen-Köhler in Halle ist im Alter von 45 Jahren
einer schweren Krankheit erlegen.
6. Der Wiener Philosoph und Theoretiker der Pädagogik, Prof. Dr. Wilhelm Jerusalem,
ist in Wien im Alter von 69 Jahren gestorben.
7. Als neue Mitglieder in die Erziehungswissenschaftliche Hauptstelle des
Deutschen Lehrervereins sind gewählt worden: Bezirksoberlehrer Fikenscher (München), Re¬
gierungs- und Schulrat Günther (Berlin), Prof. Scheibner (Jena), Schulinspektor Lang (Wien)
und Landesoberschulrat Prof. Dr. Strecker (Eisenach).
8. Am 15. Oktober begann der 6. vom Fürsorgeseminar an der Universität Frankfurt a. M.
veranstaltete Lehrgang über Jugendfürsorge. Er ist, wie die früheren, zur Einführung in die
Jugend Wohlfahrtspflege für Akademiker mit abgeschlossenem Studium bestimmt und setzt ein
mit V-Jühnger praktischer Arbeit in Erziehungsanstalten und Jugend- bzw. Wohlfahrtsämtern.
Im Sommersemester wird dann das theoretische Halbjahr an der Universität, das die Gelegenheit
zu tieferem Eindringen in die Probleme der Jugendfürsorge gibt, folgen. Den Kursus leiten:
Prof. Dr. Klumker und Dr. Polligkeit. Auskunft erteilt die Geschäftsstelle: Fürsorgeseminar.
Universität Frankfurt a. M., Stiftstr. 30.
9. Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge des Zentralinstituts für Erziehung
und Unterricht ist am 9. Juli d. J. als Abteilung „Kleinkinflfer- und Schulkinderpflege* ic
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Kleine Beiträge und Mitteilungen — Literaturbericht
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das neugegründete „Deutsche Archiv für Jugendwohlfahrt“, Berlin NW 40, Moltkestr. 7,
übergegangen. — Auskunftserteilung und Leihmappen-Versandt werden in der bisherigen Weise
fortgeführt. Das Verzeichnis der Leihmappen ist vorläufig auf den Betrag einer Ferhbriefmarke
nebst Porto für die Zusendung, die Leihgebühr einer Mappe auf den Betrag von 2 Fernbrief¬
marken für eine Woche festgesetzt.
10. Die Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien hat im Rahmen
ihres Wirkungskreises eine eigene Stelle geschaffen, die einen Mittelpunkt für alle auf die Berufs¬
beratung gerichteten Bestrebungen in Österreich bilden soll. Als Aufgaben sind vor allem ge¬
dacht: Sichtung, Bearbeitung und Verwertung des literarischen Materials, Werbung und Auf¬
klärung durch Vorträge und Kurse, Ausführung berufskundlicher Untersuchungen und Pflege
einer für die Berufsberatung verwendbaren Berufsstatistik.
11. Dem Institut für Erziehungsunterricht und Jugendkunde an der Universität Leipzig wurde
als RI. Abteilung ein Volkspädagogisches Seminar unter der Leitung des Prof. Dr. Litt an¬
gegliedert und dem Leiter des städtischen Volksbildungsamtes Privatdozenten Dr. Heller die
Abteilungsleitung übertragen.
Literaturbericht.
Besprechungen.
B. Erwin Grueber, Einführung in die Rechtswissenschaft. Mit Einschluß der Grund¬
züge des Bürgerlichen Rechts. 6. Auflage Berlin 1922. Julius Springer. 226 S.
Wenn ich als Nichtjurist in einer dem Bildungsgedanken dienenden Zeitschrift auf die
jüngste Auflage der Grueberschen Einführung in die Rechtswissenschaft aufmerksam mache, so
geschieht es nicht, um den sachlichen Inhalt einer Besprechung zu unterziehen. Dazu bin ich
nicht kompetent Doch da$f ich als Beweis für seine Gediegenheit die weite Verbreitung des
Buches anführen, seine Einbürgerung als Lehrmittel im akademischen Unterricht und die An¬
erkennung, die es durch Juristen von Fach gefunden hat. Es sind die methodischen
Gedanken, aus denen diese Einführung Gesicht und Gestalt gewonnen hat, die mich zu einer
Empfehlung veranlassen, und im Zusammenhang damit die Bedürfnisse weiter, nicht-zünftiger
Kreise — besonders auch der Lehrerschaft —, die Rechtsbelehrung suchen und in der Masse
des einschlägigen Schrifttums nicht leicht das für ihre Absichten dienlichste Werk zu finden
vermögen.
Aus der Praxis des Unterrichts erwachsen, bewährt namentlich in der schwierigen Aufgabe
der Wiedereinführung von Kriegsteilnehmern in das unterbrochene juristische Studium, beruht
Grueber8 Behandlung auf dem Prinzip der Selbsttätigkeit, der aktiven Mitarbeit seiner Leser
an der Gewinnung grundbegrifflicher Klarheit und der steten Kontrolle des erlangten Verständ¬
nisses durch die Anwendung auf zahlreiche ein geflochtene Beispiele und Rechtsfälle, besonders
aus dem Gebiete des Wirtschaftslebens.
Die Einleitung bietet einen knappen Überblick über die geschichtliche Gestaltung des in
Deutschland geltenden Rechtes. Der Leser lernt die einzelnen Quellen kennen, aus denen in
ursprünglich getrennten Rinnsalen (das aus der Grundherrlichkeit erwachsene Lehenrecht, für
die Unfreien das Hof- und Dienstrecht, für das Bürgertum der beginnenden Städtekultur das
Weichbildrecht, die darüber schwebenden, selbst untereinander mannigfaltig gegensätzlichen
Stammes- und Territorialrechte) die nationale Rechtsschöpfung floß, bis im Gefolge der Rezeption
der fremden Rechte, die als Studiengegenstand der mittelalterlichen Universitäten im engeren
Kreise immer Pflege gefunden hatten, in der Zeit von der Mitte des 15. zur Mitte des 16. Jahr¬
hunderts eine Theorie des gemeinen deutschen Rechtes sich entwickelte. Die für unser Rechts¬
bewußtsein und unsere Rechtspflege gleich bedeutsame Tatsache der Verdrängung der Schöffen
durch einen gelehrten juristischen Beamtenstand wird dabei nach Grundlagen und Konsequenzen
herausgearbeitet und für die Rechtsentwicklung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als
der leitende Faden verfolgt. In der Darstellung der Kodifikationsbestrebungen seit Thribauts
Forderung eines „allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für Deutschland“ erreicht die historische
Einleitung ihren wirkungsvollen Abschluß. Das wesentliche Ergebnis bleibt die Einsicht, in
welchem Maß im geltenden bürgerlichen Recht trotz des römisch rechtlichen Ursprungs vieler
seiner begrifflichen Fassungen und der von gelehrter Reflexion bestimmten Gestalt seines Auf¬
baues germanische Rechtsanschauungen und neuzeitliche Lebensverhältnisse sich auswirken. Es
ist klar, daß in einer historischen Einleitung das dogmatische Element in der Darstellung über¬
wiegen muß; dem, der zum erstenmal an die Geschäfte des Rechts herantritt, fehlen die Hilfs-
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Literaturbericht
mittel zur eigenen Mitarbeit; er muß zunächst die Tatsachen kennenlernen und zur Nachprüfung
derselben bieten die Verweise auf Qaellenwerke und umfassende kritische Darstellungen die
nötigen Fingerzeige.
Die Sachlage ändert sich, sobald die Grundbegriffe des Rechts zur Erörterung stehen.
Das eigene, mehr oder minder entwickelte Rechtsbewußtsein des Lesers wird hier der gegebene
Anknüpfungspunkt; die Analyse des eigenen Rechtsbewußtseins wird der Weg, auf dem er
zum Verständnis des Rechtes im ganzen und der einzelnen Rechtsbestimmung gelangt. In
diesem Teil tritt die didaktische Eigenart der Grueberschen Einführung rein zutage. Was er
als gelehrter Kenner der Materie dogmatisch zu lehren hat, ist immer nur das Schlußergebnis
einer selbsttätigen Gedankenbewegung seines Lesers; er führt ihn, von den einfachsten Beispielen
und Erwägungen aus in eine Richtung der Überlegung, die mit innerer Folgerichtigkeit zu dem
Begriff führt, den der dogmatische Rechtsunterricht an den Anfang zu stellen pflegt. So belehrt
die von Grueber gewählte Form der Darstellung den Leser, indem sie ihn selbst finden, wie
wir heute sagen: „erarbeiten* läßt, was sonst ein Lehrvortrag als Abschluß einer Geistesarbeit
des Gelehrten fertig bietet. Diese Darstellungsweise bewährt sich nicht nur für die allgemeinen
Grundbegriffe (Recht überhaupt, positives Recht, Billigkeit über das Verhältnis von Recht, Sitte,
Moral, Rechtsverhältnisse usw.), sondern auch für die aus der Gliederung des Rechts folgenden
Rechtsgebiete: Privatrecht, Staatsrecht, Zivilprozeßrecht, Straf- und Strafprozeßrecht, Völkerrecht,
Kirchenrecht. Das Maß der Mitarbeit ist hier nicht kleiner, aber freilich weniger ungeregelt.
Zudem der Verfasser durch Verweis auf die entscheidenden Formulierungen der einschlägigen
Gesetzessammlungen den Leser anleitet, diese selbst in kritischer Zusammenschau auf den darin
enthaltenen Rechtsgedanken zurückzuführen, nimmt er seiner eigenen Ausführung den Charakter
einer persönlichen Dogmatik, regt zu ergänzenden Fragen und kontrollierenden Anwendungen auf
neue Fälle an und erreicht so, was alle Bildung, welchen Stoff sie auch benütze, erreichen
soll: Regsamkeit und Schulung, der Denkkräfte und durch sie hindurch ein inneres Verhältnis
zur behandelten Materie. Das Ergebnis einer so gestalteten Einführung in die Rechtswissen¬
schaft ist nicht eine mehr oder minder große und geordnete Summe von rechtlichen Kennt¬
nissen und Normen, sondern ein Verständnis des Rechts selbst und einer Anleitung zu juristischer
Durchdringung der Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens.
Das Schlußkapitel ist speziell für die Bedürfnisse des Studierenden der Rechtswissenschaft
gedacht; es bietet Winke für Auswahl und Anordnung der Vorlesungen und Übungen und
Ratschläge für den Geist des Studiums und der darin enthaltenen Vorbereitung auf den künftigen
Lebenslauf. Sie zeugen von warmer Sorge für die studierende Jugend.
Ich komme nach dieser kurzen Andeutung des Inhalts und der Methode der Behandlung
zu dem Gesichtspunkt, von dem aus ich die Kreise derErzieher für das Werk interessieren
möchte. Jm Kampf gegen den Intellektualismus und Individualismus, der den Geist der öffent¬
lichen Schulerziehung im Lauf des 19. Jahrhunderts beherrscht hat, ist seit einigen Jahrzehnten
der Pestalozzische sozialpädagogische Gedanke erneut und freilich auch umgebildet worden.
Die seit mehr als 100 Jahren immer beherrschender hervorgetretene Form des Gemeinschafts¬
lebens, der Staat, ist für die Schularbeit mindestens an Jugendlichen auch eine pädagogische
Idee geworden, manchmal verflacht in die Vorschläge und Versuche staatsbürgerlichen Unter¬
richts, manchmal ethisch vertieft in die einer als Vorbereitung auf das staatsbürgerliche Leben
gedachten Umgestaltung der ganzen Schulverfassung und Schuldisziplin im Sinne einer sich
selbst regierenden Jugend- und Schulgemeinde. Auch wenn man eine staatsbürgerliche Erziehung
nicht in neuen Lehrinhalten auf gehen läßt, wird man zugeben müssen, daß unter den Lebens¬
verhältnissen der neuen Zeit (und zwar nicht erst des Volksstaates) ein klarer Blick für die
Grundlagen und Aufgaben eines geordneten Gemeinschaftslebens eine dringende Forderung ist.
Die Verwirrung der Meinungen über Staat und Gesellschaft und die Verwilderung der Sitten
im Verkehr und Zusammenleben beruhen zu einem Teil doch auch auf dem Mangel kritischen
Nachdenkens und selbsterarbeiteter Begriffe. Die Unwissenheit und Halbbildung ist ein hinderndes
Moment für die geistig sittliche Gesundung. Nun fehlt es nicht an Vorschlägen, Versuchen
und Hilfsmitteln für die staatsbürgerliche Belehrung der Jugend in Fortbildungsschule und
höherer Lehranstalt und für die Selbstbildung der Schulentlassenen. Man versucht, bald mehr
auf dem Weg eines veränderten, auf das Gegenwartsleben zugespitzten Geschichtsunterrichts, bald
mehr in einer als Bürgerkunde bezeichneten Sammeldisziplin in das Verständnis des heutigen
Lebens von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einzuführen und zur richtigen Stellungnahme zu
den schwebenden Fragen anzuleiten, aber merkwürdigerweise wird kaum je der Versuch gemacht,
die Hebung des bedenklich gesunkenen Sinnes für Recht durch Klärung und Vertiefung des
doch wohl auch heute noch nicht verlorenen Rechtsbewußtseins des Menschen zum Leitfaden
für den Aufbau der staatsbürgerlichen Belehrung zu machen. Nicht daß nicht rechtliche Fragen
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Literaturbericht
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auch schon behandelt worden wären und behandelt wurden im staatsbürgerlichen Jugendunter¬
richt wie in den zahlreichen Veranstaltungen der freien Volksbildungsarbeit; aber es geschieht
fast durchweg, im Sinne einer utilitaristischen Verbreitung der für die Praxis im Einzelfall
nötigen positiven Kenntnisse, nicht im Geist einer grundsätzlichen Besinnung auf das hohe
Gut des Rechts und der Erziehung zur Mitverantwortlichkeit jedes Einzelnen für den Rechts¬
zustand einer Gesellschaft. Diese Gesinnung und Einstellung, meine ich, kann der Leser
aus Gruebers Ausführungen gewinnen, kann der Lehrer und Volksbildner für die Zielsetzung
und den Aufbau seiner staatsbürgerlichen Unterweisungen daraus abziehen. Welche Einzelheit
des öffentlichen Lebens er auch zu behandeln hat, sie tragt Rechtsform und Rechtsgehalt in
sich, und ob er sie zustimmend oder kritisch zu beleuchten hat, er wird nur durch den Rück¬
gang auf das unbefangene Urteil des eigenen Rechtsbewußtseins seiner Schüler und Zuhörer das
aktive Interesse für seinen Stoff zu wecken verstehen, ohne daß seine Aufklärungen tote Kennt¬
nisse bleiben. Aus der Praxis der Volksbildungsarbeit heraus weiß ich, wi4 selten die Persön¬
lichkeiten sind, die so an der Wiederbefestigung des Rechtsbewußtseins arbeiten; weiß aber
auch, daß ihre Wirkung eine tiefe und nachhaltige ist. Nach meiner Überzeugung ist die Rechts¬
belehrung die Seele der staatsbürgerlichen Kenntnisse. Je schwerer es ist, die Masse des recht
heterogenen Stoff, der sonst in ihr zusammengefaßt zu werden pflegt, der Seele einzuhauchen,
um so mehr verdienen Schriften, die dazu Fingerzeige bieten, die Beachtung von Jugend- und
Volksbildnern auf diesem Gebiet Als ein Muster einführender Belehrung über das Recht und
auf die Selbsttätigkeit begründeter Übung im Rechtsdenken sei deshalb Gruebers Einführung
in die Rechtswissenschaft auch Kreisen empfohlen, an die der Verfasser vielleicht nicht aus¬
drücklich gedacht hat, denen er aber durch seine Leistung ausgezeichnete, so viel ich sehe,
von keinem verwandten Werke ähnlichen Umfangs auch nur versuchte Dienste leistet
München. Aloys Fischer.
Samuel Smiles, Der Charakter. Deutsch von Dr. Heinrich Schmidt in Jena. Leipzig o. J.
Kröner. 211 S.
Martin Faßbender, Wollen eine königliche Kunst Gedanken über Ziel und Methode
der Willensbildung und Selbsterziehung. 16.—20. verb. Aufl. Freiburg i. Br. o. J. Herder,
252 S. Grundpr. geb. 4,10 M.
Zwei Schriften, die zur Selbsterziehung die Wege weisen wollen, eine ältere und eine
jüngere, eine englische und eine deutsche. Jede ein Spiegel ihrer Zeit und ihres Volkes und
der Persönlichkeit ihres Verfassers.
Der Arzt Smiles, als bald Neunzigjähriger 1904 gestorben, gab die „Leeds Times* 1 her¬
aus und war Sekretär verschiedener Eisenbahngesellschaften. Seine rege Schriftstellerei be¬
mächtigte sich durchweg praktisch-ethischer Stoffe. „Selbsthilfe“, „Pflicht“, „Sparsamkeit“ sind
Namen von Büchern in der Art des hier anzuzeigenden, von Büchern, die in aller Welt eine
erstaunliche Verbreitung gefunden haben. Sie packen durch eine herzhafte Art, frisch ins volle
Menschenleben zu greifen. Was sie an praktischer Lebensweisheit und Klugheit lehren, zeigen
sie ohne langes Theoretisieren und aufdringliches Moralisieren an lebensvollen Beispielen, greifen
tausend und eine Anekdote auf und belegen die vertretenen Anschauungen mit ungezählten
Aussprüchen berühmter und unberühmter Männer aus allen Zeiten und Ländern. Es sind die
Eigenschaften des Ehrenwerten und Zuverlässigen, des Pflichtgefühls und der Wahrhaftigkeit
der Selbstbeherrschung und des Mutes, der Arbeitssamkeit und der Lebensart, die besonders in
dem Buch „Charakter“ anschaulich dargestellt und gefordert werden. Alles im engen Horizonte
gut bürgerlicher, auf festen Boden stehender Lebensgestaltung. Ohne Tiefe, ohne Beschwinguifg,
ohne höhere Geistigkeit. Die utilitarisch gerichtete Lebenstüchtigkeit des erfolgssicheren Eng-
ländertums findet darin ihren getreuesten Ausdruck. Wie die innere Stimmung, von der Smiles
Charakterlehre begründet und getragen wird, deutschem Wesen fremd ist, beleuchtet unter
anderem grell das Kapitel über „Kameradschaft in der Ehe“, in dem zum Schlüsse am Beispiel
Fichtes und Herders und des Prosadichters Cobbetts der englisch-deutsche Gegensatz aufgezeigt
und dabei ausdrücklich hervorgehoben wird, wie die deutsche Art, den Weg zur Ehe zu nehmen
und ein „ästhetisches und sentimentales“ Leben in ihr zu gestalten, dem Engländer „seltsam
berühre“. So undeutsch nun aber in den letzten Wertbegründungen und dem philosophischen
Sinngehalt eine Charakterstruktur von Smiles Ideal auch sein mag, ohne Schaden für deutsche
Innerlichkeit sollte unsere Pädagogik manches von englischer Willens- und Lebenserziehung
lernen. Man sieht darum Smiles Buch „Charakter“ gern auch in „Kröners Taschenausgaben“.
Es ist hier im Unterschiede zu anderen Übersetzungen, die wir schon in unserer Jugend lasen,
um viele der endlosen Beispielaufreihungen gekürzt und dem Leser annehmbarer gemacht
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Literatur bericht
Von dem deutschen Professor und Geh. Regierungsrat Dr, Faßbender wird ein schönes
Sammelwerk bevölkerungspolitischer und volkspädagogischer Abhandlungen Ober die Erhaltung
und Förderung deutscher Volkskraft hoch eingeschätzt. Angekündigt ist von ihm „Auf Fran¬
ziskusspuren“, mit der Unterbezeichnung „Organisation des Laienapostolates für den Hilfsdienst
in der Seelsorge“. Schon diese Titel lassen ahnen, daß sein Erziehungsbuch „Wollen eine
königliche Kunst“ in anderen geistigen Landschaften beheimatet ist als die nüchternen Lebens¬
praktiken Samuel Smiles. Vor allem erwächst es aus wissenschaftlicher Psychologie und stützt
sich dabei unter anderem auf die Forschungen Lindworskis. Was über die Erscheinungsweisen des
Wollens, über Formen der Willensschwäche, über Wille und Gedächtnis, Denken, Gemüt heran¬
gezogen wird, erhebt sich bei allem bewußten Verzicht auf fachgelehrte Darstellung weit über
die vulgärpsychologischen Begründungen, die vielfach pädagogische Schriften ähnlicher Art erfahren.
Nur weniges ist zu beanstanden: so z. B. die Behauptung, es habe die experimentelle Psychologie
der Gegenwart nachgewiesen, daß Wechsel in den Gegenständen der Arbeit dasselbe leiste wie
völliges (!) Ausruhen (S. 25). Weiter dann wurzelt die Lehre Faßbenders nicht in der Enge einer
praktisch gerichteten Lebensführung, sondern quillt aus den geistigen Bezirken höchster Wert¬
haltungen. Dabei wird die Willensbildung im christlichen Geiste freilich so beherrschend,
daß sich die pädagogische Schrift schließlich zu einem ausgesprochenen Religionsbuch
wandelt, das „die Seele von der einfachen Erfassung des Gottesgedankens bis zum mystischen Erleben
des Unendlichen begleitet“. Sind es nun aber auch streng katholische Glaubenslehren, in denen
Faßbender sich bewegt, so bleibt alles, was er Jenseits religiöser Einstellung über die Pädagogik
des sittlichen Wollens entwickelt — oft auf Friedrich Förster bezogen — auch Andersgläubigen
wertvoll. Zudem noch: Faßbender schließt den Sinn und Wert von manchem, was aus katho¬
lischer Lehre und Lebensgestaltung oft von außen her in falschem Lichte gesehen wird, in vor¬
nehmer Sachlichkeit und schöner Klarheit auf (Heiligenverehrung, christliche Aszese, Beichte,
Ignatianische Exerzitien u. &.), und so mag mancher gleich mir dem Buche den Erkenntnisge-
winn einer Berichtigung danken. Überdies lohnt die Schrift dann noch mit dem literarischen
Genuß einer erlesenen Darstellung, die Rademacher mit allem Rechte als klassisch bezeichnen
durfte.
Leipzig. Otto Scheibner.
Kurt Walther Dix, Lehrer in Meißen, Körperliche und geistige Entwicklung eines
Kindes. An der Hand eines biographischen Tagebuches. Leipzig, Wunderlich.
Heft 1: Die Instinktbewegungen. 1911. 79 S. Grundpr. geb. 3,60 M.
Heft 2: Die Sinne. 1912. 176 S. Grundpr. geb. 4,60 M.
Heft 3: Vorstellen und Handeln. 1914. 148 S. Grundpr. 4,60 M.
Heft 4: Das Gemütsleben. 1923. 181 S. Grundpr. 4,60 M.
An kinderpsychologischen Tagebuchaufzeichnungen und deren Verarbeitungen ist der
Forschung nach wie vor außerordentlich gelegen. Ohne ein zuverlässiges breites Material, das
sich vor allem auch auf Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten erstrecken muß, steht die
Aufstellung von den Gesetzmäßigkeiten, die die kindliche Entwicklung beherrschen, auf un¬
sicherem Boden. Als ein wissenschaftlich nicht belangloser Beitrag dürfen dazu auch die
fleißigen und ausdauernden Bemühungen von Dix bewertet werden.
Die ersten drei Hefte sind hier früher 6chon angezeigt worden. Der Abschlußband nun be¬
handelt das Gebiet, das am schwierigsten der Beobachtung und Deutung zugänglich ist Uns
scheint aber, gerade in ihm hat der Sammler und Verarbeiter eine glückliche Hand gehabt
Offenbar ist er über seinem Werke gewachsen. Es mag hier, wenn wir uns nicht täuschen,
der Einfluß Bühlers, dem auch der Band gewidmet ist, spürbar geworden sein. Im ganzen
bekommt dann noch das Buch eine starke Stütze durch Sterns Werk „Psychologie der frühen
Kindheit* 1 , auf das unausgesetzt verwiesen wird.
Dix setzt mit einigen allgemeinen Erörterungen zur Psychologie des kindlichen Gefühls-
und Willenslebens ein. Angelehnt an Stern, wird hier besonders auch die bedeutsame Rolle
der Suggestion hervorgehoben. Es folgt dann die Betrachtung der Lust- und Unlustgefühle.
Weiterhin wird die verschieden gerichtete wertende Stellungnahme des kindlichen Ichs zur
Einteilung genommen: das Sichstellen zu den Dingen (ästhetisches Verhalten — Furchtzustände),
zur eigenen Person (Eigenwille, Trotz, Ärger — Ehrgefühl, Scham, Ehrgeiz, Pose), zur persön¬
lichen Umwelt (Liebe, Abneigung, Mitfühlen, altruistisches Handeln). Den Schluß bildet ein
paralleles Seitenstück zu Sterns Kapitel „Entwicklung der Spontaneität* 1 .
Bei der Durchführung dieses Aufbaus gibt Dix den selbständigen Abschnitten zumeist ein
gleichförmiges Gerüst. Auf psychologische Vorerörterungen folgen Tagebuchaulzeichnungen and
hierauf pädagogische Nutzanwendungen, diese teilweise nicht unbeachtlich.
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Literaturbericht
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Der Wert der Schrift ist weniger in neuen Ergebnissen zu finden als in der Hinstellung
weiteren willkommenen Materiales und der Bestätigung schon bekannter Einsichten. Dix selbst
weist bei seinen Deutungen, die er mit erforderlicher Vorsicht vornimmt, auf die Übereinstimmung
hin, deren er sich bei seinen Auffassungen mit den kinderpsychologischen Forschern erfreut.
Es sind dies außer Stern, der unaufhörlich zitiert wird, unter anderen Bühler, Groos, Scupin,
Compayrö, Sully, Lindner, Sigismund, Strümpell, Preyer. Wir erinnern uns nach der Durchsicht
des Buches kaum an eine wesentliche Gegenstellung zu den herrschenden Auffassungen, außer dort,
wo er sich — unserer Meinung nach nicht ganz mit Recht — gegen Hugh-Hellmuths "Behauptung
verwahrt (S. 118), daß nur aus falscher Scham die kinderpsychologischen Beobachter keine
Befunde über frühsexuelle Erscheinungen vorlegten. Im übrigen aber durfte Dix nicht, wie er
es tut, an den Psychanalytikern vorübergehen. Die Kinderpsychologie hat durch deren fiinstellungen,
soviel Übertreibungen und Mißdeutungen durch sie auch verschuldet worden sind, sehr Bedeutungs¬
volles gewonnen. In der eben erschienenen neuen Auflage seiner „Psychologie der frühen
Kindheit“ bemüht sich Stern, auch dieser Richtung vollauf gerecht zu werden. Willkommen
aber wird denen, die als Lehrer der Erziehungskunde an Mädchenbildungsanstalten zu Dix*
Buch greifen, eine wertvolle Förderung sein, was als Pädagogisches in die psychogischen Abschnitte
hineingearbeitet worden ist. Freilich geht es hier ohne die Selbstverständlichkeiten, die in
pädagogischen Schriften im Schwange sind, nicht ab. Mit Gemeinplätzen wie dem, daß der
Lehrer auch vorbildlicher Erzieher sein müsse (wozu auch besonders „eine erfreuliche Über¬
einstimmung mit den Ausführungen von M. Schilling“ festgestellt wird [S. 18]), dürfte Dix, der
wissenschaftlich ernst genommen sein will und es verdient, nicht aufwarten.
Wir haben die früher erschienenen Hefte gern und mit Nutzen in unserem psychologischen
Unterricht des Lehrerinnenseminares und der Hochschule für Frauen benutzt und begrüßen auch
den neuen Band als ein erwünschtes literarisches Arbeitsmittel für die Hand unserer Schülerinnen.
Auch Eltern werden wir nach wie vor die Arbeiten des Meißner Lehrers empfehlen.
Menschlich berührt habe ich in persönlicher Anteilnahme das vierte Heft zu seinen Vor¬
gängern in das Bücherfach gestellt. Denn es ist von Tragik umwittert. Dem Leben des jungen
Menschenkindes, dessen innere Entwicklung wir im Geiste mitgelebt haben, bat der Tod ein
frühes Ende gesetzt.
Leipzig. Otto Scheibner.
David Katz, Der Vibrationssinn. Scripta universitatis atque bibliothecae Hierosolymitanarum.
Hierosolyms 1923. Kommissionsverlag Kramer, Hamburg. 14 S.
In seinem Werke „Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die
individuelle Erfahrung“ (Leipzig 1911) hat David Katz bedeutsame Aufschlüsse vorgelegt, zu
denen er durch die Anwendung der phänomenologischen Methode gelangt ist. In methodischer
Anlehnung an diese Forschungen ist er nun seit Jahren um eine Phänomenologie der tastbaren
Welt bemüht. Aus diesen neuen Untersuchungen, die vor dem Abschluß stehen, hat er unter
dem Titel „Die Erscheinungsweisen der Tasteindrücke“ (Rostock 1920) *) einige erste Ergebnisse
veröffentlicht. In der vorliegenden Abhandlung teilt er eine weitere wichtige Entdeckung mit
Die Experimente zur Aufschließung der Tastphänomene haben ergeben, daß beim Tasten mit
bewegten Organen neben den Druckempfindungen fast immer Vibrationsempfindungen einhergehen
und die Tastleistungen mitbestimmen. Damit ist die Notwendigkeit gegeben, ein neues Sinnes¬
gebiet anzunehmen — den Vibrationssinn, in dessen Bereich zu fallen hätte, was die Physio¬
logen schon früher als Vibrationsgefühle bezeichnet und in wenigen Richtungen unzulänglich
untersucht haben. In gedrängter Übersicht gibt Katz die Reihe der wichtigsten Experimente
an, die zu der Annahme einer solchen Duplizität des Tastsinns zwingen und sie rechtfertigen.
Im Ausgang der Untersuchung stand die an Personen mit gewisser Sinnesempfindlichkeit
gestellte Versuchsaufgabe, Papierflächen verschiedener Rauhigkeit im bewegten Tasten mit
Ausschaltung des Gesichts und Gehörs zu unterscheiden — Leistungen, deren Vollzug in der
mannigfachen Abwandlung der Versuchsanordnung und -einrichtung (zum Tasten durch Zwischen¬
medien, mittels des Fingernagels, mit Holzstäbchen) keinesfalls auf den Drucksinn zurückgeführt
werden können. Andere Versuche haben ermöglicht, die Vibrationsempfindungen völlig von den
Druckempfindungen zu isolieren (Stimmgabelversuche) und Unterschiede in ihren Funktionen
herauszustellen (Ermüdung, Nachbilder, Latenzzeit usw.). Es ergeben sich dabei überraschende
Beziehungen zu dem Gehörssinn, die zu weit ausgreifenden Betrachtungen: (unter anderen zu
tierpsychologischen Deutungen, zu entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen und erkenntnis -
theoretischen Erörterungen) anregen. Allgemeiner wichtig erscheint, wie mit der Annahme
*) Vgl. die Anzeige in dieser Zeitschrift XXI. Jahrg. (1920) S. 238.
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384
Literaturbericht
eines Vibrationssinnes sehr vieles ans der täglichen Sinneserfahrang neu beleuchtet und ver¬
ständlicher wird. „Hat man einmal angefangen, auf Phänomene dieser Art zu achten, dann
entdeckt man, daß unsere Welt nicht nur eine tönende, sondern in weitem Umfange auch eine
vibrierende Welt ist.“ Die heftige Fehde um den sechsten Sinn der Blinden (vgl. die scharfe
Auseinandersetzung zwischen Meumann und Kontz), ferner manches Dunkele aus der Psychologie
der Taubstummen, viele Unerklärlichkeiten tierischer Leistungen können durch die Untersuchungen
von Katz wohl behoben werden. Auch die Arbeitspädagogik, die dringend einer Psychologie
der Hand bedarf, wird ihnen Förderung zu danken haben, nicht minder die Psychotechnik. Frei¬
lich ist das Gelände eben erst betreten und noch nicht in voller Ausgiebigkeit erschlossen
worden. Die physiologische, die tierpsychologische, die entwicklungsgeschichtlicbe Forschung
wird sich neben der phänomenologischen Untersuchung daran beteiligen müssen. Vor allem
ist auch aus klinischen Beobachtungen Entscheidendes zu erwarten.
Leipzig. Otto Scheibner.
Kurze Anzeigen.
Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9.—10. Auflage. Wien und Leipzig. Brau¬
müller. 370 S.
Die neue Auflage wurde um Abschnitte über Phänomenologie und Philosophie des Als ob
erweitert. Auch zur soziologischen Erkenntnislehre kam etliches hinzu. Die Brauchbarkeit des
Buches beweisen die neuen Auflagen. Fritz Qiese.
v. Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens. München und Leipzig 1921. Duncker
& Humblot. 578 S.
Als Arbeitsergebnis des Kölner Instituts für Sozialwissenschaften behandelt dieser Sammel¬
band in einem theoretischen Teile Begriff und Probleme der Volksbildung sowie Grcmdzüge
einer Geschichtsphilosophie der Volksbildung. Ein zweiter deskriptiver Teil bietet zunächst eine
Übersicht über die bestehenden Volksbildungseinrichtungen und die Träger der deutschen Volks¬
hochschulen. Ein spezieller Teil bringt einzelne Fragen, so beispielsweise: Organisation, Päda¬
gogik und Didaktik des Volksbildungswesens, Beziehung zwischen Geselligkeit und Volksbildung,
Kirche und Volksbildung, Politik, Arbeiterschaft, Jugendfrage, Ländliches Bildungsweaen, Fräs
— und dergleichen Materie. Es werden die Arbeitsmittel der Volkshochschule und auch die aus¬
ländische Organisation behandelt Der Herausgeber beschließt mit einem synthetischen Abschnitt
das Buch. Wie immer bei solchen Werken, an denen viele Federn tätig waren, findet man
auch hier Ungleichheiten. Das Ganze aber ist von imponierendem Umfang und stellt in seinem
Thema eine berechtigte Neuigkeit deutscher Forschung dar. Fritz Giese.
Difitized
Dr. Hermine Hugo Hellmut, Die Bedeutung der Familie für das Schicksal des
Einzelnen. Zeitschr. f. Sexualw. IX. 1923. 321 S.
Verfasser erörtert den engen Zusammenhang von Charakter und Schicksal des Einzelnen
mit dem Familienkreis, in dem er groß wird. Die Vater- und Mutterbindung des Mädchens
oder des Knaben bestimmt als „Tempo“ des andersgeschlechtlicben Elter sein späteres Sexual¬
leben, oft auch, besonders bei einzigen Kindern, verhängnisvoll. Dem Charakter ungeliebter
Kinder — Findlinge, Frühverwaiste, uneheliche oder Stiefkinder — fehlt häufig der Ruhepunkt
infolge einer frühen „katastrophalen Lebensenttäuschung“. Das Verhältnis zu den Geschwistern
kann sich später in infantilen Charakterzügen, die aus dem Gefühl des Zurückgesetztwerdens
entstanden sind, auswirken. Auch die Beziehungen können zu Großeltern und Tanten tief in *
die seelische Entwicklung eingreifen. Heinz BurkhardL
I
Gerhard Bohne, Das religiöse Erleben in der Pubertät. Zeitschr.f.Sexualw.X. 1923. 9SJ
Im Kinde besteht eine religiöse Anlage, die es zu echtem Leben befähigt, wenn auch seineJ
Ausdrucksformen noch rein kindlich sind. Gleichzeitig mit dem sexuellen Erwachen entfaltet
sich später diese Anlage zu ihrem vollen geistigen Leben, doch besteht zwischen beiden Gebieten
kein urpersönlicher Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit wurzelt vielleicht in einem ähnlichen
Entwicklungsrhythmus von Körper und Geist. Gegenseitige Berührung und Durchdringung istj
natürlich da. Heinz BurkhardL j
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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öcrfcf)«n t>on tyrof. Dr. g. IDürr imb Dr. 2Jt. Dfttr. 2. gttflage« 478 Setten
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(Belehrten unb kentern gehört, hält mit ber ©ähnelt über bie oielgerühmten
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f$ung nicht iurütf.“ ftfgchtfch* Stühlen*
Cebrbud) ber ?>fpchoIogie bom Stanbpunfte beb (Rea fiSmu b
unb nach genctif<ber SWetf)obe. ©on ^ßrofeffor Dr. W. VOLKMANN RITTER
VON VOLKMAR. 4. oermeljrte äuflage, fyerautgegeben non ^rofeffor
Dr. <5, ©, gornetiui. 2 ©finbe, 1091 ©eiten «*«•«■••>»<»•
„©ai bem V.fchen Bebrbucb unbebingt bauernben ©ert oerleibt, tfl btef, ba| 0. bte
gange Giteiatur ber Vfpchologie beberrfebt unb in feinem SehrbuC| eine toOftflnbige
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ber alttlafftfcben unb ber beutfehen tPbllofopbtn, fonbem auch bie ber Snglünber, gran»
lefen unb Italiener oermertet flnb/ flibagogifchei ftn|to
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auf bie Se^re ber grfenntnil. fetyr üerme^rte ^Bearbeitung ber *gte«
mente ber ®<>n Dr* L. BALLAUF. 366 ©eiten ••••••
B t>« in »eiten Greifen beFannte Serfaffer oerbreitet fleh tn Flarer, fcharfflnniger ©elf«
übet ,bie Seelenoermögen, befonberf bai SBorfteHungloermögen, bie Verarbeitung ber
SorfteRungen burch bal Venfen, bai Setbftbeioubtfetn, bai ©efen ber Seele unb bai
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Bebenifragen flnben/ Engetger für bie neuefte pftbagogtfehc fikter«tut.
©te #auptpunfte ber 9>ft)d)öfogie mit ©erfi<ffi$rigiuig
ber ^ffbagogit einiger SerljÄttniffc beb gefeBf$aftfi$en Sebent ©on
Dr. FELSCH. 486 ©eiten..
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ber pibagogifchen fiiteratur ber Segenmart. Ü ift wie lein anberei ba|u
gefchaffen, ben fleh ernftllch um feine pfgcboCogifcht unb päbagogifche gortbitbung be¬
mühenden Bchrer ali fixerer unb guoerlAfftger gührer §u bienen."
Schulblatt ber $*O0‘ Sachfen.
5DfC ^DCC(Cnftß$C mit (R<l<ffi$t auf bie neueren SBanbtungen ge«
nriffer natunDifienf$aftli$er ©«griffe, ©on O.FLOOEL. 3. oerme^rte Auflage.
165 ©eiten
*gn ftreng fgftematifcber Orbnung bietet bie Erbrit, im Enfötub an 8eibnt|fChe unb
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Sie ift fehr geetgnet, bem ali gOhrer §u btenen, ber fleh «tf bem fihmierigen Sreng»
gebiete gmtföcn ftfgchologte unb SReta?h9fU orientieren will.“
Zheologlfche fiiter«tur|eitnng.
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