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Full text of "Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik 24.1923"

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ZEITSCHRIFT FÜR 

PÄDAGOGISCHE 

PSYCHOLOGIE 

UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK 

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HERAUSGEGEBEN VON 

O. SCHEIBNER UND W. STERN 

UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON 
A. FISCHER UND H. GAUDIG 


XXIV. JAHRGANG 



1923 

VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG 


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Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig 


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ZEITSCHRIFT FÜR 

PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE 

UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK 

XXIV. JAHRGANG 


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Erziehung und sittlicher Aufbau. 

Gedanken über den Beruf unserer Zeit zur Erziehungsreform 
und ihre Hemmungen. 

Von Aloys Fischer. 

Zeiten der Verelendung, der nationalen Not und der gesellschaftlichen 
Setzung öffnen den Völkern regelmäßig die Augen für die Notwendig¬ 
keit und unersetzlichen Werte einer guten Erziehung und der ihr dienen¬ 
öffentlichen Einrichtungen. Sie sind deshalb fast immer Zeiten, 
denen nicht nur ungewöhnlich viel über Erziehung geredet wird, 
idern auch in einer Art Hellsichtigkeit vieles Richtige erkannt wird. 
i wenigen noch vorhandenen Hoffnungen klammern sich an die neuen 
schlechter. In dem Wunsch, sie durch eine veränderte Erziehung 
einem Schicksal zu bewahren, wie man es selbst durchleidet, fassen 
die besten Regungen einer sonst trostlosen Gegenwart zusammen. 
Unter diesem Gesichtspunkt ist unsere Lage gewiß vergleichbar mit 
sner des deutschen Volkes nach dem dreißigjährigen Kfieg oder nach 
kdem Zusammenbruch Preußens unter den Napoleonischen Angriffen, 
kann sagen, daß die Erziehungsfrage den Mittelpunkt in den Aus- 
sungen der öffentlichen Meinung bildet, und man würde ungerecht, 
epn man in der Flut der Kritiken und Vorschläge nicht viele gute 
sogar ausgezeichnete Gedanken und Anregungen anerkennen wollte. 
.Aber Zeiten schöpferischer Tat und wirklicher Erneuerung der Er- 
ehungspraxis sind Epochen der Not doch nur unter der Voraussetzung, 
die von der Allgemeinheit ergriffenen Ideen triebkräftig und in ihren 
idzügen einheitlich sind, mindestens auf eine letzte Einheit kon¬ 
vergieren, und daß die für die nächste Arbeit maßgebende Generation 
moralische Intaktheit bewahrt hat. 

Wir spüren alle, daß von Geist, Haltung und Tatkraft der nach- 
shsenden Geschlechter die Wendung zum Besseren abhängt, deshalb 
ilihen wir uns, die gedanklichen und organisatorischen Grundlagen 
eine erneuerte deutsche Erziehung zu legen, kämpfen wir mitein- 
Jer um unsere Jugend. Solcher Reformwille lebt nicht nur in jenen, 
unsere bisherige pädagogische Tradition, den herrschenden Geist der 
iehung für verfehlt gehalten haben und noch halten, sondern auch 
denen, die im großen Ganzen den Zusammenhang mit unserer Ver- 
snheit nicht zerschneiden wollen. Auch sie sehen ein, daß in einer 
^Wesentlich veränderten Weltlage die deutsche Erziehung trotz ihres im 
gemeinen richtigen Gehaltes und Geistes nicht unverändert bleiben 
Schwärmerische Naturen vollends berauschen sich an dem Zu- 
i)ild einer neuen Menschheit und eines neuen Menschen und 

f. pädagog. Psychologie. 1 


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2 


Aloys Fischer 


strecken die Hand nach der Erziehung aus, weil sie damit den Hebel 
erfassen, der die Maschinerie der Entwicklung in die von ihnen er¬ 
träumte Richtung entscheidend dirigiert. In allen politischen Lagern 
die gleiche Einsicht und trotz aller Gegensätzlichkeit der Ziele der gleiche 
Wille, die deutsche Erziehung neu zu gestalten! Diese formale Ein¬ 
mütigkeit ist jedenfalls beachtlich als Symptom dafür, daß unsere Gegen¬ 
wart Anlässe hat, dem Erziehungsproblem nachzusinnen und nachzu¬ 
gehen; temporäre Anlässe jene, die nur in der erziehungszerstörenden 
Wirkung der Kriegs- und Nachkriegszeit den Feind erblicken, der über¬ 
wunden werden muß, tiefere jene, die in dem vielfach elementar sich 
regenden Gesinnungswandel einer in Bewegung geratenen Jugend den 
hoffnungsvollen Keim einer durch umgestaltete Erziehung zur Reife zu' 
.bringenden Erneuerung des deutschen Menschen begrüßen oder den 
schon organisch werdenden Anfang der Zuchtlosigkeit und des Verfalls 
durch eine, ebenfalls nicht mehr in den bisherigen Formen ausreichenden 
Erziehung bekämpfen, die tiefsten jene, die in unserer geistigen Lage 
nur eine Teilerscheinung der geistigen Krisis Europas erblicken und 
der Erziehung die Macht Zutrauen, den „Untergang des Abendlandes“ 
zu beschwören. 

Vergleicht man mit diesen hochgestimmten Ansprüchen an die Er¬ 
ziehung und mit der einmütig erkannten Notwendigkeit ihrer vertiefenden 
Reform die praktische Arbeit dazu, so kann man irre werden an dem 
Glauben, daß unsere Zeit den Beruf und die geistige Schöpferkraft zur 
Erziehungsreform besitze. Die Anläufe und Versuche bleiben vereinzelt, 
liegen vielfach auf sekundären, methodischen und organisatorischen 
Gebieten, und die für die Praxis ausschlaggebende Umstellung des ein¬ 
zelnen Erziehers, er sei dies als Vater oder Mutter, als Lehrer oder 
Seelsorger, als Verwaltungsbeamter oder nur als beispielgebender Er¬ 
wachsener ohne ausdrückliche Erziehungsaufgabe, ist in der ungeheuren 
Mannigfaltigkeit der unerfreulichen Erscheinungen des Lebens der Gegen¬ 
wart ohne die Diogeneslaterne kaum noch zu entdecken. 

Die Hemmungen, welche der praktischen Erziehungs- und Schulreform 
auf Schritt und Tritt begegnen und heute schon so viel Enttäuschungen 
gebracht haben, daß mancher, der vom Beruf unserer Zeit zur Schul¬ 
reform innerlich durchdrungen ist, anfängt an ihrer Fähigkeit dazu 
zu zweifeln, müssen ihre Ursachen wenigstens zum Teil auch im Geistes¬ 
zustand der heute verantwortlichen Generation haben. Ich will nicht 
über uns jetzt lebenden Menschen zu Gericht sitzen; selbst einer von 
ihnen fühle ich dazu weder Fähigkeit noch Recht. Ich glaube, daß auch 
heute noch viele 'Menschen in unserem Volke ehrlich das Gute wollen, 
weil es das Gute ist, nicht weil es ihnen Vorteil oder Macht bringt; 
ich glaube, daß auch noch viele Menschen unverblendet genug sind, 
echte Werte von solchen zu unterscheiden, die sich nur durch die „Be¬ 
leuchtung“ (z.B. der Parteigedanken oder der jeweiligen politischen Tages¬ 
situationen) als Scheinwerte präsentieren. Ich habe keinen entscheidenden 
Grund zu der Annahme, daß der menschliche Faktor in unserem Vater¬ 
lande geringwertiger sei als bei anderen Völkern und zu unserer Zeit 
geringer als je in einer Vorzeit. Denn auch in jeder Vorzeit waren die 
Fackelträger und großen Uneigennützigen nicht in Massen vorhanden. 


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Inhaltsverzeichnis, 


A. Abhandlungen. 

Seite 


faiWiWig und sittlicher Aufbau. Gedanken über den Beruf unserer Zeit zur Erziehungs¬ 
reform und ihre Hemmungen. Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer in 

München. 1 

Das Pordenmgsrecht der Schule gegenüber der Nation. Von Oberstudiendirektor Pro¬ 
fessor Dr. H. Gaudig in Leipzig.19 

Ks p sr im entalpsychologie und Pädagogik. Von Privatdozent Dr. M. Honecker in Bonn 22 
Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend. Von Universitätsprofessor 

Dr. W. Stern in Hamburg.34 

ftkm die Motive der Berufswahl und des Berufswechsels. Von Dr. A. Argeiander 

in Mannheim.46, 98 

Ein BUder-Ordnungstest Von Lehrer Dr. 0. Mann in München.51 

Sehfllerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen. Von Studienrat Dr. Fr. Malsch 

in Weidenau-Sieg. 56 

Me Erforschung des Erziehungszwecks. Von Studienrat Professor Dr. J. Kretzschmar 

in Leipzig.81 

Wesen und Arten der Fehler. Von Oberstudiendirektor H. Weimer in Biebricha.Rh. 84, 267, 353 
üatersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde. Von Studien¬ 
lehrer J. Filbig in Amberg.105, 156 

Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung. Ein Beitrag zur kultur¬ 
pädagogischen Reform. Von Dr. W. Saupe in Leipzig.129 

Bas Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen. Von Amtsgerichtsrat Dr. W. Hof f- 

mann, Jugendrichter in Leipzig.138 

Ober Zahlsynopsien. Von Prof. Dr. A. Fischer in Zürich.152 

Erfahrungen bei den Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für 

Jugendkunde. Von Institutsleiter Dr. Th. Valentiner in Bremen . . . 169, 238 

Bas Problem der psychischen Strukturen. Von Studienrat Dr. Julius Wagner, Dozent 

a. d. Universität Frankfurt a. Main. 193 

Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern. 

Von Rektor A. Franken in Brackwede.209 

Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr. Von H. Klüver in Hamburg .... 215 

Zar Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung. 

Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer in München.. 219 

Grundfragen der Denkpsychologie. Von Studienrat Dr. Karl Reumuth in Leipzig . . 257 
P by chol ogie der frühen Kindheit und Psychoanalyse. Von Universitätsprofessor Dr. W. S t e r n 

in Hamburg.282 

Bas Obergangserlebnis und der Vergleich. Von Kreisscbulrat E. Hy 11a, Hilfsarbeiter im 

Ministerium für Volksbildung in Berlin.296 

Bftwuif einer systematischen Typologie des Bilderbuches. Von Dr. Julius Schneider 

in München.324 

Ae Vorstellungsentfaltung und ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzung and Schul¬ 
leistung. Von Stndienrat Dr. Fritz Malsch in Weidenau-Sieg.345 

Är Tbaotio des Stotterns. Von Universitätsprofessor Dr. Aloys Fischer in München 372 


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VI 


Inhaltsverzeichnis 


Verzeichnis der Verfasser. 


Argeiander, Anneliese 

Seite 

. ... 46, 38 

Kretzschmar, Johannes 


Seite 

. . . . 81 

Filbig, Joseph .... 

. . . 105, 166 

Malsch, Fritz .... 


... 56, 345 

Fischer, Aloys .... 

. . 1, 219, 372 

Mann, O. 


... 51 

Fischer, Arthur .... 

.152 

Reumuth, Karl . . . 


... 257 

Franken, August . . . 

.209 

Saupe, Walter . . . 


... 129 

Gaudig, Hugo. . . , . 

.19 

Schneider, Julius . . 

• • 

... 324 

Hottmann, Walther . . 

.138 

Stern, William . . . 


. . 34, 282 

Honecker, Martin . . . 

.22 

Valen^iner, Theodor 


. .169,238 

Hylla, Emst. 

. .... 296 

Wagner, Julius . • . . 


... 193 

Klüver, Heinrich . . . 

.214 

Weimer, Hermann . . 

• • 

. 84, 267, 353 


B. Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Seite 

Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung.115 

Aufnahme- und Beobachtungsstation der Landesanatalt Chemnitz-Altendorf.118 

Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer in Bayern.181 

Erziehungswissenschaftlicher Interessenbegriff.113 

Fürsorge für sprachkranke Schüler in Wien.180 

Frankfurter Reform Volksschulen.116 

Geistige Jugendpflege durch die Jugendämter. 176 

Institut für Jugendkunde in Bremen.249 

Kritische Darstellung der Methoden zur Erforschung der Lehrerpersönlichkeit ... 62 

Nachrichten. 71. 118, 183, 251, 313, 378 

Nachruf auf Hugo Gaudig.321 

Pädagogisches Institut der Stadt Wien.182 

Professur für Heilpädagogik. 304 

Provinzialabteilung für praktische Psychologie Münster i. W... 305 

Psychologische Beobachtung der Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht . . . 179 

Psychologisch-pädagogisches Laboratorium in Amsterdam.312 

Psycho-pathologlsches Schema.304 

Richtlinien zur Aufnahme in die Hilfsschule.244 

Sexuelle Erziehung der Jugend. 68 

Stellipig der Gewerbeschüler zum Unterrichtsfach.178 

Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie in der Gesellschaft für angewandte 

Psychologie.69 

Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M.. . . . 81 

Wahrnehmung der menschlichen Lautsprache durch den Tastsinn T.303 

Wilhelm Wundt zu Ehren. 70 


Inhalt der Nachrichten. 


Seite 


v. der Aa, Prof.183 

Akademischer Ferienkursus in München 251 

Akademische Lehrerausbildung .... 184 

Bogen, Hellmuth.119 

Bühler, Karl.72 

Cornelius, Hans.378 

Deuchier, Gustav.183 

Eitz, Karl.313 

Frischeisen-Köhler, Max.378 

Giese, Fritz.313 

Institut für angewandte Psychologie in 

Berlin.184 

Institut für experimentelle Pädagogik 
und Psychologie in Leipzig . ... 71 


Seite 

Institut für praktische Psychologie in Halle 314 
Institut t Wissenschaft]. Pädag. Münster 71 

Jerusalem, Wilhelm.378 

Kafka, G.72 

Kongreß der internationalen Gesellschaft 
für vergleichende Individualpsychologie 119 

Kongreß für Ästhetik.251 

Kongreß für Individual Psychologie . . 251 

Kongreß für Logopädie.119 

Kroh, Oskar.72, 183 

Landesbeirat für Jugendpflege . ... 184 

Lehrerbildung in Thüringen.184 

Lehrgang für Jugendwohifahrtspflege . 184 

Montessori-Kinderhaus.184 


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Inhaltsverzeichnis 


VII 


Seite 

Mnsikpädagogisches Forschungsinstitut . 313 


Peters, Wilhelm.183 

Petersen, Peter.378 


Pädagogische Ausbildung der Philologen 251 
Pädagogische Ferienkurse in Jena . . 184 

Pädagogische Gesellschaft in Mannheim 71 
Pädagogisches Institut in Dresden. . . 251 

Pädagogisches Institut Wien. / . . . 119 
Pädagogische Preisaufgabe . . . . 72, 119 
Pädagog.-peychol. Institut Amsterdam . 251 


Seite 

Pädagog.-psychol. Institut München . 71, 251 


Psychologische Ausstellung.118 

Psychologischer Schulberater .... 184 

Scbeibner, Otto . , ..378 

Scheunert, Karl Arthur.251 

Schneider, Friedrich.183 

Schneider, Hermann ..378 

Sganzini, Prof.183 

Toischer, Wendelin.313 


Zentralinstitut für Erzieh, u. Unterricht . 118 


C. Literaturbericht. 

Seite 

Apfelbach, Das Denkgefühl.127 

Behrend, Felix, Bildung und Kulturgemeinschaft.124 

Bernhard, Ernst Adolf, Psychische Vorgänge betrachtet als Bewegungen.190 

Bernadt, Karl, Fest und Arbeit.192 

Blanm, Riebesell, Storck, Reichsjugeid-Woblfahrtsgesetz.320 

Böhme, Edwin, Das Kind und seine Pflege.319 

Bopp, Linus, Moderne Psychoanalyse, katholische Beichte und Pädagogik ...... 187 

Bühl er, Charlotte, Quellen und Studien zur Jugendkunde.125 

Bürckstümmer, Christian, Das „Erleben“ im Religionsunterricht.191 

Cohn, Jonas, Führende Denker.. 75 

Dahl, F., Vergleichende Psychologie.72 

Danzel, Th. W., Prinzipien und Methoden der Entwicklungspsycbologie.254 

Dix, Kurt Walther, Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes.882 

Descoudres, Alice, Le döveloppement de l’enfant de deux k sept ans.76 

Epstein, Max, Die Erziehung im schulpflichtigen Alter nach der Grundschule .... 122 

Faßbender, Martin, Wollen eine königliche Kunst...381 

Frank, Ludwig, Seelenleben und Rechtsprechung.126 

diese, Fritz, Psychologisches Praktikum.* 253 

Groos, Karl, Das Seelenleben der Tiere.186 

Grueber, Erwin, Einführung in die Rechtswissenschaft.879 

Haase, K., Die psychologischen Strömungen der Gegenwart..253 

Häberiin, Paul, Der Leib und die Seele..\.315 

Häberlin, Paul, Wege und Irrwege der Erziehung ..256 

Hart mann, Eduard v., Phäenomenologie des sittlichen Bewußtseins.252 

Heman-Moog, Geschichte der neueren Pädagogik.317 

Herwagen, Karl, Der Siebenjährige.76 

Heymans, G., Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens.190 

Hildebrand, Rudolf, Vom deutschen Sprachunterrichte in der Schule und von deutscher 

Erziehung und Bildung überhaupt.191 

Hag, Oskar, Zur Biologie der Leibesübungen...191 

Httth, Albert, Die Münchner Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer ... 79 

Kammel, Willibald, und Sigmeth, Melanie, Experimentelle Untersuchungen über die 

mimischen Ausdruckssymptome der Aufmerksamkeit.77 

Katz, David, Der Vibrationssinn. 383 

Kawerau, Siegfried, Das Weißbuch der Schulreform.320 

Kerrl, Die Lehre von der Aufmerksamkeit . ..255 

Kesseler, Dr. K., Die deutsche Nationalerziehung in ihren wichtigsten Vertretern . . 319 

Kiener, Wolfgang, Staatsbürgerliche Erziehung als Unterricht.191 

Kiesow, Wilhelm, Jugendgerichtsgesetz.320 

Kroh, Oswald, Subjektive Anscbauungsbilder bei Jugendlichen.254 

Lange-Ltiddeke, A., Zur Psychologie des Psychographierens.318 

Landesarbeitsamt Sachsen-An halt, Psychologisches Beobachten für die Berufsberatung 79 

Labmann, Rudolf, Die deutschen Klassiker.119 

Lagrün, Aloys, Die Schülerschrift in zeitgemäßer Betrachtung.128 

Lipmann, Otto, Bibliographie zur psychologischen Berufskunde.319 


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VIII 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Liepmann, W., Psychologie der Frau.. 187 

Lüdtke, Franz, Menschen um 18. . 76 

Lutz, Karl, Tierpsychologie.186 

Meier, Matthias, Der Seelenbegriff in der modernen Psychologie.127 

Meyrich, O., Pflichtstunden und Arbeitstag der Lehrer .... ..317 

Moede, Walter, Experimentelle Massenpsychologie.124 

Mönkemöller, Otto. Die geistigen Krankheitszustände des Kindesalters.127 

de Montet, Cb., Medizinische Psychologie... 186 

Münch, Elsa, Sexuelle Belehrung der Kinder.191 

Nitzsche, Max, Der bunte Vogel. 189 

Pallat u. Hilker, Künstlerische Körperschulung.316 

Pauli, R., Psychologisches Praktikum..318 

Peters, Ullrich, Die soziologische Bedingtheit der Schule.317 

Pfister, Oskar, Was bietet die Psychoanalyse dem Erzieher.318 

Prandtl, Antonin, Einführung in die Philosophie.186 

Prüfer, Johannes, Die Kinderlüge — ihr Wesen, ihre Behandlung und Verhütung . . 128 

Reformabteilung des Österreichischen Unterrichtsamtes, Anleitung zur Führung 

der Schülerbeschreibung. 78 

Rothe, Karl Cornelius, Die Sprachheilkunde, eine neue Hilfswissenschaft der Pädagogik 319 

Rühle, Otto, Kind und Umwelt.•.127 

Sauer, Wilhelm, Werkunterricht.320 

Scharrelmann, Heinrich, Bausteine für intime Pädagogik.190 

Scharrel mann, Heinrich, Die Technik des Schilderns und Erzählens.126 

Schmeing, Karl, Freie Rede.319 

Schneider, Ernst, Über das Stottern.372 

Schneider, Friedrich, Schulpraktische Psychologie.126 

Sch renk, Johannes, Aussagepsychologie. Eine Darstellung der wichtigsten experimentellen 

Untersuchungen, ihrer Methoden, Ergebnisse und Aufgaben.188 

Schweizer Bund, Soziale Erziehung.128 

Smiles, Samuel, Der Charakter. 881 

Siemsen, Anna, Erziehung und Gemeinschaftsgeist.192 

Spranger, Kultur und Erziehung.314 

Stark, Jodoc, Über den Bildungswert des Geschichtsunterrichts.266 

Stern, Erich, Einleitung in die Pädagogik.80 

Strohmayer, Wilhelm, Die Psychopathologie des Kindesalters.316 

Suter, Intelligenz und Begabungsprüfungen.189 

Tews, Joh., Elternabende und Elternräte.192 

Thorndike, Edward L., Psychologie der Erziehung. 73 

Thurau, Elfriede, Die rhythmische Gymnastik in der Schule.191 

Verweyen, J. M., Form als Wesensausdruck.123 

Verweyen, J. M., Neuere Hauptrichtungen der Philosophie. 76 

Vorländer, Karl, Französische Philosophie.318 

Weltjugendliga, Erziehung zum Menschentum. 320 

v. Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens . . ..384 

Zeißig, Emil, Vorbereitung auf den Unterricht.192 

Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, Theorie und Praxis der 

Arbeitsschule.74 

Ziehen, Theodor, Das Seelenleben der Jugendlichen.186 


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Erziehung und sittlicher Aufbau 


3 


Wenn aber das Werk der reinigenden und vertiefenden Umgestaltung der 
deutschen Erziehung trotz aller Konferenzen, Beschlüsse und Reden 
praktisch so wenig fortschreitet, so müssen wir dafür doch ein Moment 
in unserem geistigen Zustand verantwortlich machen, die Unlust: alle 
persönlichen Konsequenzen aus unserer Einsicht zu ziehen. Die Er¬ 
ziehung eines Volkes wird nicht erneuert, wenn nur schöne Ideen ver¬ 
kündet, lockende Ziele auf gestellt werden, sondern wenn die Generationen, 
die als relativ reife höhere Verantwortung tragen, so leben, daß die 
nachwachsenden sich an ihnen sicher zu orientieren ver¬ 
mögen. Der sittliche Aufbau durch die Erziehung kann nicht anfangen, 
wenn nicht die Lebenswelt der Erwachsenen den Boden bereitet und 
das Gehege bildet. Anders reißt das Vorbild ein, was Zucht und Lehre 
aufbauen wollen. Wir haben uns an ein eigentümlich verhängnisvolles 
arbeitsteilig-technisches Denken gewöhnt, das für das Gebiet der Er¬ 
ziehung sicher zur Verkennung statt zur Meisterung der Wirklichkeit 
führt Viele, die für eine Reform der Erziehung stimmen und agitieren, 
meinen, die Durchführung ginge nicht sie mehr an, sondern die pädago¬ 
gischen Fachleute, die Berufserzieher und Lehrer. Es ist hier nicht der 
Ort, den Ursachen der Entstehung eines eigenen reichgegliederten päd¬ 
agogischen Berufsstandes nachzugehen und allgemein den Wert oder Un¬ 
wert dieser soziologischen Tatsache zu diskutieren, eine Wirkung muß ich 
aber hervorheben, weil sie gerade für das Verständnis unserer Lage ent¬ 
scheidend ist: Die Erziehung als allgemeine Menschenpflicht und Men schen- 
leistung wird im Denken einer Gesellschaft mit hoch entwickeltem Lehr¬ 
stand leicht verdunkelt; das allgemeine Gefühl der Verantwortlich¬ 
keit für die Jugend wird eingeschläfert, wenn man glaubt, daß es nur 
den amtlichen und privaten Berufserziehem zukomme, nicht allen er¬ 
wachsenen Gliedern einer Gesellschaft. Es ist sicher unrichtig zu denken, 
eine Gesellschaft tue als Erziehungsgemeinschaft ihre Pflicht, wenn sie 
einen eigenen pädagogischen Berufsstand schafft, ausliest und vorbildet 
und ihm dann als ihrem Organ allein die Wahrnehmung ihrer Erziehungs¬ 
pflichten und Erziehungsaufgaben überträgt; eine Gesellschaft tut ihre 
Pflicht als Erziehungsgemeinschaft nur dann, wenn auch jeder einzelne 
Erwachsene an seinem Ort und in seiner Lebensführung mit dafür Sorge 
trägt, daß der Geist des Ganzen ein richtiger und gesunder bleibt 
oder wird. 

So muß auch die Reform der Erziehung damit anfangen, daß wir Er¬ 
wachsenen alle uns unserer Verantwortlichkeit vor der Jugend und für 
die Jugend bewußt werden, unserer Erzieherpflichten nicht nur als 
Eltern und Lehrer, sondern als Bürger und Vorbilder. Der Wille zur 
Reform verpflichtet; die Reform kann nicht behördlich angeordnet, nicht 
von den Berufserziehem sozusagen referatsmäßig durchgeführt werden, 
wenn wir anderen alle fortfahren, die letzten heute noch gemeinsamen 
sittlichen Ideen praktisch zu verraten und preiszugeben. Jeder Mensch, 
der im kleinsten Kreis, in seiner Berufsarbeit, in seiner Familie, in 
seiner Vereinstätigkeit, in seinem Verkehr, von Not und Unmut un¬ 
beirrt, den beschwingenden Glauben an beste objektive Werte festhält 
und zur Richtschnur seiner Lebensführung und Pflichterfüllung macht, 
bereitet die Reform der Erziehung vor, wirkt sie, auch wenn er von 

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Aloys Fischer 


den Ideenkämpfen nichts weiß, zu denen sie Anlaß gibt, in sie einzu¬ 
greifen weder Fähigkeit noch Willen hat Die sittliche Selbsterziehung 
der Erwachsenen ist die Voraussetzung für den sittlichen Aufbau 
durch die Jugenderziehung und ein Mittel, innere Hemmungen der 
Erziehungsreform zu überwachsen. Ohne die bewegenden Kräfte der 
sittlichen Selbstzucht bleibt der Ruf nach Reform leere Deklamation. 

Ist so ein Mangel an Tatfreude, an sittlichem Aktivismus bei uns selbst 
ein Hindernis des Aufbaus, so leiden unsere pädagogischen Reform¬ 
absichten unleugbar auch unter den Hemmungen unserer außen¬ 
politischen und materiellen Lage. Um nicht in Gefahr zu geraten, 
als Voreingenommener zu sprechen, führe ich ein Wort Francesco Nitti’s 
an, das den unlöslichen Zusammenhang der gegenwärtigen Erziehungs¬ 
zustände mit unserer Wirtschaftslage unzweideutig kennzeichnet. Er 
schreibt: „Die Ausländer, die nach Deutschland kommen, werden sich bei 
der äußerlich gefaßten Haltung der Bevölkerung der Lage kaum bewußt. 
Aber der Hunger greift immer mehr um sich, und die Schließung von 
Erziehungs- und'Hilfsanstalten geht immer weiter. Die Lage der Kriegs¬ 
verstümmelten und Arbeitsunfähigen wird täglich furchtbarer, da die 
Staatshilfe nicht ausreicht und die Familien verarmt sind. Die Schulärzte 
finden täglich mehr Kinder, die keine Wäsche mehr tragen oder monate¬ 
lang dieselbe Wäsche tragen müssen. So wird das Problem der Existenz 
stets unlösbarer, und der Haß gegen die Bedrücker steigt .täglich, sei 
es im Volk, das nach stets extremerer Demokratie drängt, sei es bei 
den reaktionären Parteien, die auf Rückkehr des alten Regimes hinarbeiten. 
Über dieser Wirtschaftstragödie schwebt drohend das Problem der 
Reparationen; Deutschland weiß nicht, was es geben soll; es weiß nur, 
daß es nicht geben kann, was man verlangt, und daß man es verlangt, 
nur um es zu erwürgen. Dieses Bewußtsein verbreitet sich immer mehr, 
zugleich mit dem Entschluß zum Widerstand, des passiven Widerstandes 
gegen die Gewalttat, der sich immer mehr zum wachsenden Haß verdichtet.“ 

Über den auf Zerstörung unserer Wirtschaft und unserer politischen 
Einheit gerichteten Tendenzen des Friedens von Versailles wird seine 
m. E. entscheidendste und tötlichste Tendenz gegen unsere Kulturarbeit 
und ihre Grundlagen, die deutsche Erziehung, zu wenig beachtet. Nach 
dem erklärten Willen Frankreichs kommt es ihm zunächst darauf an, 
die deutsche Wissenschaft, Kunst, Technik, kurz Kulturarbeit, je länger 
je endgültiger von der fruchtbaren Wechselwirkung mit der übrigen Welt 
abzuschnüren, durch die Kontrolle unserer Kulturausgaben ihr die 
materiellen Mittel zu weiterer gesunder Entfaltung, nach und nach auch 
zur bloßen Erhaltung zu entziehen, um nach zwei oder drei Jahrzehnten 
auf die tatsächliche Zurückgebliebenheit des deutschen Geisteslebens 
hinter dem der übrigen Kulturnationen hinweisen zu können und so alle 
die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die heute noch in gerechterer 
Würdigung des Anteils Deutschlands am Geistesleben Europas und im 
Vertrauen auf seine Kulturkraft gegen den Vernichtungswillen Frankreichs 
heimlich oder öffentlich protestieren. Frankreich verfolgt eine Politik, 
die ihm in absehbarer Zeit gestatten soll, diesen Glauben an den deutschen 
Geist als Irrtum zu erweisen; um dieses Ziel zu erreichen, muß es die 
deutsche Erziehung entscheidend treffen. 


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Erziehung und sittlicher Aufbau 


5 


Wir dürfen uns darüber nicht täuschen. Schon heute ringt die deutsche 
Wissenschaft und die deutsche Hochschule mit einer Not, die ihre Er¬ 
haltung in Frage stellt. Sinkt aber die Höhenlage der Forschung und 
wissenschaftlichen Lehre, so ist die Folge eine weniger leistungsfähige, 
eine sinkende Beamten- und Lehrerschaft. Mit ihr mindert sich die 
Höhenlage der deutschen Mittelschule, deren ständig wachsende Kosten 
überdies heute schon immer mehr Schüler, oft gerade die begabten und 
energischen, zum Abbruch ihrer Studien nötigeh und immer mehr Familien 
zwingen, ihre Söhne und Töchter einem rascheren Broterwerb zuzuführen. 
Lebenserfahrene Schulmänner fast aller größeren bayrischen Städte 
erzählen mir übereinstimmend von dep sich mehrenden Fällen, in denen 
die begabtesten Schüler der oberen Klassen, die zur Reife zu bringen 
ursprünglich in der Absicht der Eltern lag und von den Lehrern warm 
befürwortet wird, mitten im Schuljahr in eine praktische Tätigkeit, eine 
Banklehre, eine Kanzlei übersiedeln: Viele Eltern erklären unverhohlen, 
sie ließen ihre Kinder nur noch die Schule besuchen, weil sie im Augen¬ 
blick keine lohnende Arbeit für sie wissen und sie nicht bummeln sehen 
mögen, sie seien aber genötigt und entschlossen bei der ersten greif¬ 
baren Gelegenheit den Bildungsgang derselben abzubrechen. In anderen 
Fällen ist festgestellt worden, daß begabte Schüler, die ohne viel häus¬ 
liche Arbeit mitzukommen in der Lage sind, ihre schulfreie Zeit ganz 
dem Erwerb widmen. Sie wollen die Schule nicht ganz preisgeben, in 
der Hoffnung, einmal vielleicht doch studieren zu können, sie können 
sich ihr aber auch nicht rein und sorgenlos überlassen, weil die Familie 
ihre mitwirkende Arbeitskraft benötigt. Werden solche Erscheinungen 
noch mehr die Regel, so kann sich jeder ausrechnen, daß wir vor der Gefahr 
stehen, unsere gehobenen und selbst unsere studierten Berufe mit An¬ 
wärtern überflutet zu sehen, die halb vorgebildet sind, deren Reife in 
mancher Beziehung nur Schein sein kann. 

In unseren Fachschulen beobachten wir dieselbe unheilvolle Erscheinung 
einer erzwungenen und in ihren Folgen zerstörenden Sparwirtschaft der 
Kommunen und des Staats, einer immer weiter um sich greifenden Inter¬ 
esselosigkeit der erwerbenden und arbeitenden Stände an einer die Höhe 
unserer Produktion garantierenden langdauernden und vertieften fachlichen 
Ausbildung und einer notgedrungenen oder leichtsinnigen Überschätzung 
der oft ebenso hoch bezahlten Gelegenheitsarbeit. Bei einer weiteren 
Entwicklung dieser Verhältnisse ist der Zeitpunkt nicht mehr fern, in 
dem der deutschen Wirtschaft das Rückgrat, der solid gebildete Arbeiter, 
der qualifizierte Arbeiter fehlt. Die Jugend hat es heute vielfach nicht 
mehr nötig, in harter Lehre und langer Schule gründlich zu lernen; sie 
will es z. T. nicht mehr, und sie kann es auch nicht mehr, entweder aus 
Körperschwäche oder weil die Schulen nicht mehr in der Lage sind, die 
Mittel für eine bessere Ausbildung bereitzustellen. 

Ich führe für die Bedrohung unserer Arbeitsqualität durch den er¬ 
zwungenen Verfall unseres fachlichen Bildungswesens und das schwin¬ 
dende Interesse der Arbeiterschaft an einer gediegenen Ausbildung nur 
die Schwierigkeiten an, die es dem bisher an der Spitze marschierenden 
Fortbildungsschulen Münchens macht, für die Schneider, Schuster, Tape¬ 
zierer die nötigen Materalien zu beschaffen, an denen gelernt und geübt 


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werden kann; selbst die Fachschulen für Holz- und Metallbearbeitung 
leiden bereits unter dem Mangel an Material und Werkzeugmaschinen. 
Kontrollen der Fertigfabrikate in Großbetrieben ergeben vielfach, daß 
Werkstücke, die früher von den Arbeitern selbst, jedenfalls aber von 
den Prüfern und Käufern zurückgewiesen worden wären, heute passie¬ 
ren müssen, wenn sie nicht geradezu unverkäuflich mangelhaft sind. Ich 
habe selbst in diesem Sommer in den von einer berufsstolzen Fach¬ 
arbeiterschaft bevölkerten Kristallglashütten des bayrischen Waldes 
beobachtet, wie unter dem Warenhunger der Welt die Qualität der Produk¬ 
tion selbst gegen den Willen der Arbeiter sich mindert und die Lehrlinge 
vielfach nicht mehr Gelegenheit und Zeit genug haben zu lernen, was 
ihre Meister heute noch können, aber auszuführen immer seltener den 
Auftrag erhalten. 

Schließlich wird das Fundament der deutschen Erziehung, die Bildungs¬ 
arbeit der Volksschule und der Familie getroffen. Trotz aller Liebe zu 
ihren Kindern und allen heute noch lebendigen Interesses an ihrer guten 
Erziehung brir gt die deutsche Familie mit ihrer sinkenden Lebenshaltung 
immer weniger die Mittel auf, die für eine bescheidene Pflege und durch¬ 
greifende Erziehung nicht entbehrt werden können, wird sie nach und 
nach anfangen, auch schon die Kinder der Schule zu entziehen. 

In einzelnen ländlichen Bezirken Bayerns hat die Bevölkerung den 
Schulstreik durchgeführt, um zu erzwingen, daß die Zahl der täglichen 
Schulstunden herabgesetzt werde. Der Bauer will heute die beträchtlich 
hohen Löhne nicht arf fremde Dienstboten zahlen und entzieht lieber 
seine Kinder der Schule. Noch bekannter ist der Widerstand gegen die 
Verlegung des Fortbildungsunterrichts auf die Werktage, der denselben 
Motiven entspringt. Ein sehr einsichtiger Mann unserer Volksschul¬ 
verwaltung erklärte mir, daß die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht, 
wenn sie heute erst zu beschließen wäre, von der ländlichen Bevölke¬ 
rung zweifellos in großem Umfang bekämpft werden würde. Wie soll 
ein Volk seine Erziehung verbessern, das alle Mühe hat, sie über¬ 
haupt zu erhalten? 

Allenthalben erhebt die Not den Ruf nach schaffenden und leider 
auch bettelnden Kinderhänden, bröckelt sie langsam ein kleines Stück 
nach dem anderen von dem, wenn auch nicht immer und alle befriedigen¬ 
den, so doch recht stattlichen deutschen Schulhaus ab. Und interessanter¬ 
weise glauben manche Reformer, daß die Verarmung gerade unser 
Segen sei, weil sie uns zwinge, mit dem kleinsten Kraftmaß die größten 
Wirkungen, mit dem geringsten Aufwand die tiefste, innerlichste Bildung 
zu schaffen. Der wirtschaftliche Aufstieg und der Reichtum in seinem 
Gefolge habe uns veräußerlicht, entsittlicht, geistig verflacht; die Armut 
werde uns mit einem anderen, dem geistigen, sittlichen und kulturellen Auf¬ 
schwung segnen. Ich will nichts zur Ehrenrettung des Reichtums sagen, 
aber daß erzwungene Armut gerade sittigender wirke, müßte auch erst 
bewiesen werden. Und außerdem: nicht Armut überhaupt in einer die 
Freiheit des Geistes und die Muße der produktiven Kräfte noch ermög¬ 
lichenden Form steht uns bevor, ist uns zugedacht, sondern die erdrosselnde 
Armut der bis zum letzten ausgebeuteten Besiegten, denen man mit 
der Möglichkeit einer guten Erziehung jede Hoffnung auf Erholung 


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Erziehung und sittlicher Aufbau 


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nimmt, bis sie stumpf geworden wie Fellachenvölker schließlich darein¬ 
willigen, keinen andereh Zweck zu haben, als für ihre Fronvögte zu 
schuften und zu darben. 

Wenn heute noch angesichts dieser raffinierten Psychologie des Ver¬ 
nichtungsfriedens von vielen aus der Not eine Tugend gemacht wird 
and die Verbindung von wirtschaftlicher Kinderarbeit und Geistesbildung 
geradezu als der Kern der langersehnten „Produktionsschule“ gefeiert 
wird, so möchte ich doch daran erinnern, daß wir die Produktionsschule, 
zu der die Not zwingt, eigentlich hinter uns haben, nicht vor uns sehen 
sollten. Es ist noch nicht viele Jahrzehnte her, daß die Masse der Volks¬ 
kinder, wie Joh. Tews scharf, aber richtig gesagt hat: „der Produktions¬ 
schule auf der Viehweide, den Rübenfeldern, in der Holz- und Beeren¬ 
lese, in den Heimarbeitshöhlen, in den Fabriksälen entrissen wurde“ und 
wenigstens einige Kinderjahre in den hellen Zimmern eines Schulhauses, 
wie unsere Väter und Vorväter meinten, eine bessere Geistes- und 
Gemütspflege zu genießen als in jener rohen Verbindung von Arbeit 
und Erziehung. Wenn unsere Hochschüler heute als Werkstudenten ihr 
Leben fristen, um nicht betteln zu müssen wie der mittelalterliche Vagant, 
so mag das uns für künftige Zeiten durchaus zugute kommen, aber es 
zum System zu erheben und in den festen Plan einer aus Arbeit und 
Studium wunderbar gemischten Erziehung zu bringen, wird nur der 
begnadete Einzelne vermögen. 

Ich weiß nicht, ob sich die weitere Öffentlichkeit des Zusammenhangs 
unserer Erziehungslage mit unserer durch Versailles beherrschten poli¬ 
tischen Situation schon so bewußt geworden ist; deshalb wollte ich mit 
Nachdruck auf die Hemmung eines sittlichen Aufbaues durch eine gründ¬ 
liche Erziehung hinweisen, die weniger im Wortlaut, als hinter den 
Zeilen dieses Friedensvertrags als Tendenz zur Vernichtung des deutschen 
Elements in der Kultur lebt. Wir klagen darüber, daß die politische und 
wirtschaftliche Bedrückung, die Entrechtung und Herabwürdigung eine 
t atsächliche Bedrohung unserer Kultur darstelle; wir müssen erkennen, 
daß es sich hier nicht um eine vielleicht unbeabsichtigte, wenn auch 
notwendige Folge der anderen Friedensbedingungen, sondern um die 
letzte und tiefste Absicht handelt, die den Frieden diktiert hat. Ich 
bezweifle, ob allen Urhebern des Friedens dieses Ziel Frankreichs deut¬ 
lich gewesen ist; die mißbilligenden Stimmen auch aus den Ländern 
unserer Feinde zeigen, daß ihnen erst nachträglich und noch immer 
nicht entscheidend die schließlich unsere Jugend leiblich und geistig 
mordende Tendenz zu Bewustsein kommt. _ 

Die entscheidenden Taten in der Erziehungsreform, vor allem in der 
Ausgestaltung unseres öffentlichen Bildungswesens, bleiben bis heute 
aus, weil wir sie nicht tun dürfen, nicht tun können. Wir dürfen 
sie nicht tun, denn eine Konsolidierung und Verbesserung der deutschen 
Jugenderziehung wurde von den Feinden als möglicher Ausgangspunkt 
einer Erholung Deutschlands vorausgesehen und deshalb durch den Geist 
des von ihnen festgesetzten Friedens verboten. Wir können sie nicht 
tun, weil alle Erübrigungen unserer Wirtschaft, die uns sonst zu Kultur¬ 
leistungen befähigten und unsere Erziehung ermöglichten, uns unter dem 
Titel der Sühne und Reparation genommen werden. 


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Während unsere Erziehung Hand in Hand mit unserer Lebenshaltung 
unaufhörlich sinkt, von den die Grundlagen der Stetigkeit und Produktivität 
des geistigen Lebens gewährleistenden Hoch- und Spitzenschulen bis zu 
den das allgemeine Fundament legenden Erziehungsstätten des deutschen 
Hauses und der deutschen Volksschule herab, gewinnen andere Länder 
und Völker mit ihren prosperierenden Wirtschaften einen immer größeren 
Vorsprung vor uns, zum Teil mit den persönlichen Kräften aus unserem 
eigenen Volk, die wir nicht mehr zu ernähren und zu halten vermögen. 
Ich will auch hier nur einige Beispiele zur Illustration anführen, um zu 
zeigen, wie entschlossen andere Völker Europas die Erziehung in den 
Dienst ihrer Kulturstellung nehmen. 

Unmittelbar nach dem Krieg haben Belgien, Frankreich und Italien 
nationale Erziehungsgesetzwerke zum Abschluß gebracht, in deren 
Auswirkung eine gewaltige Hebung der Volksbildung, der Wirtschafts¬ 
und Wehrkraft dieser Länder liegt. Und vor allem hat die amerikanische 
Nation, schon vor dem Krieg von dem unersetzlichen Wert der Erziehung 
als Staatsfaktor durchdrungen, unermüdlich weitergearbeitet. Die Welt¬ 
geltung der deutschen chemischen Industrie beruhte auf etwa ejnem 
Dutzend Betrieben von der Größe der badischen Anilin- und Sodafabrik; 
während des Krieges hat Amerika 60 Werke von diesen Dimensionen 
erbaut. Gewiß ist nicht nur die Massenhaftigkeit der Erzeugung aus¬ 
schlaggebend, sondern die vom wissenschaftlichen Fortschritt abhängende 
Neuerung und die Tüchtigkeit der Arbeiterschaft. Mögen wir vorläufig 
noch in der chemischen Wissenschaft mit an der Spitze stehen, mögen 
wir noch die durchgebildetere Arbeiterschaft haben — warum sollte uns 
die helle und harte amerikanische Nation nicht auch den „Deutschen 
Arbeiter“ nachmachen können, wie sie, um ein Wort Bismarcks zu 
variieren, den „Deutschen Leutnant“ schon nachgemacht hat, den 
„Deutschen Doktor“ nachmacht? Kein Volk, auch wir nicht, kann auf 
den Lorbeeren seiner Vergangenheit schlafen; es kann seine Geltung im 
Geistesleben nur durch immer neue Taten aufrecht erhalten. Werden 
die neuen Leistungen immer spärlicher, bleiben sie schließlich aus, so 
wird sich die übrige Welt damit abfinden, daß es, in diesem Falle das 
deutsche Volk, eben seine Kräfte aufgezehrt, seine Rolle ausgespielt 
habe. Und andere Völker bleiben nicht immer in der Lage, in der sie 
sich befanden, als der Krieg begann. In der Erziehung besitzen sie die 
Mittel, sich umzustellen und zu entwickeln. Speziell für die amerikanische 
Einstellung hat mir ein Wort zu denken gegeben, dessen Kenntnis ich 
einem seit 27 Jahren in den Staaten wirkenden deutschen Arzte ver¬ 
danke. Als das erste amerikanische Geschwader gegen Deutschland 
auslief, verabschiedete sich Präsident Wilson von den Offizieren in einer 
Ansprache, die mir in der Aufzeichnung eines Ohrenzeugen Vorgelegen 
hat. Er führte an den entscheidenden Stellen aus: „Ihr zieht hinaus 
gegen eine Nation, die den Ruf genießt, die besten Fachleute und Tech¬ 
niker der Welt zu besitzen, und die diesen Ruf verdient. Aber ihr braucht 
euch deshalb nicht zu fürchten. Wenn ich vor einem Meeting zwischen 
einem Amateur und einem Professionisten im Zweifel bin, auf wen ich 
wetten soll, so wette ich auf den Amateur. Wenn dieser auch nicht 
alles weiß und nicht in jeder Kleinigkeit kunstgerecht geschult ist, so bin 


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ich doch sicher, daß er im entscheidenden Augenblick auch weniger 
durch methodische Zweifel gehemmt wird, während der Fachmann lieber 
eine Chance verpaßt, als gegen die Kunstregel und die Vorschrift der 
Methode verstoßen will.“ 

Eine Nation, die so offen nicht nur unsere Vorzüge erkennt und an¬ 
erkennt, sondern auch die damit verbundenen Schwächen erfaßt hat, 
braucht nur ernstlich zu wollen, um uns gerade auf den Gebieten, auf 
denen Deutschland früher das Leben und die geistigen Strömungen der 
anderen Länder als die „Gedankenschmiede der Welt“, wie F. Naumann 
einmal sagte, vielfach beeinflußt hat, nach und nach aus dem Felde zu 
schlagen. Noch ist die Gewohnheit, zum Studium nach Deutschland zu 
kommen, nicht ganz erloschen, noch werden viele unserer Einrichtungen 
für andere anregend, noch verfolgt man mit gespanntem Interesse unsere 
krampfhaften Bemühungen, die Lage zu meistern und auf der Höhe zu 
bleiben, aber schon heute spüren wir, wie der Weltstrom der Studenten 
um Deutschland herumzufluten, in den amerikanischen und englischen 
Universitäten sich zu stauen anfängt, und wenn noch ein bis zwei Jahr¬ 
zehnte an den materiellen Fundamenten unserer Geistesarbeit zerstörend 
gewirkt haben, während die Nationen um uns sich erheben, sind wir 
trotz unserer Kopfzahl ein „kleines Volk“ geworden. 

Deshalb müssen wir die ganze Furchtbarkeit unserer Lage einsehen, 
müssen auch erkennen, daß Politik und Erziehung, so wenig sie im 
Einzelnen miteinander zu tun zu haben scheinen und so wenig die Er¬ 
ziehung nur als politisches Instrument, als Waffe gedacht werden darf, 
weder für die Wechselwirkung der Völker noch innerpolitisch im Kampf 
der Parteien, doch durch zahlreiche Fäden miteinander verbunden sind, 
und müssen gerade im Dienst einer gesunden Erhaltung und Entfaltung 
der deutschen Erziehung mit allen erlaubten und möglichen politischen 
Mitteln gegen die tödliche Bedrohung unserer Erziehung durch einen 
Frieden kämpfen, der um so gefährlicher ist, als seine letzte Absicht, 
nirgends ausgesprochen und sozusagen juristisch faßbar, vielfach in 
unserem eigenen Volke nicht erkannt, von der übrigen Welt, wenn er¬ 
kannt, leichter genommen wird, als mit ihrer Verantwortlichkeit ver¬ 
einbar erscheint. 

Der Druck der Not, von dem ich eingangs als einer fruchtbaren Vor¬ 
aussetzung für das pädagogische Denken und Wollen gesprochen habe, 
ist doch zugleich eine Hemmung für die pädagogische Tat. Er er¬ 
scheint übermächtig; alle Anläufe, ihn zu überwinden, erscheinen uns 
als aussichtslos oder werden von den Feinden verboten und unter¬ 
drückt; alle Mittel, ihm zu steuern, werden uns genommen. Auf die 
Dauer kann sich daraus die Stimmung resignierter Ergebung in ein 
unabwendbares Schicksal, die Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit an 
Erziehungsfragen ergeben, mit oder ohne das billige Gefühl der Schaden¬ 
freude, daß ein weiter der Armut und Unbildung anheimfallendes 
Deutschland seine Ausbeuter noch weniger zu entschädigen vermag 
als ein wieder zur Arbeit aufgerafftes und zur Höchstleistung erzogenes. 
So verständlich derartige Anwandlungen sein mögen, sie übersehen, 
daß erst mit dieser resignierten Ergebung und abdumpfenden Gleich¬ 
gültigkeit der Wille der Feinde wirklich erreicht wird, daß wir uns in 


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eine seelische Lage hineinmanöverieren lassen, die unseren Untergang 
als Staats- und Kulturnation besiegelt. 

Ich wäre auf diesen Zusammenhang nicht so ausführlich eingegangen, 
wenn die großen staatlichen und politischen Wandlungen nicht auch im In¬ 
nern die deutsche Erziehung, vorab die deutsche Schule in verwandter 
Weise bedrohten. Der deutsche Staat, auf dessen Grund sie errichtet 
wurde, in dem, mit dem und durch den sie emporgestiegen ist, liegt 
in Trümmern; der neue Staat hat offenbar weder die Autorität noch 
die Kraft, den sinkenden Bau der deutschen Erziehung zu stützen. Er 
ist selbst noch Gegenstand des Kampfes und zwar zwischen den wirt¬ 
schaftlichen Mächten. Von der einen Seite wollen ihn die Arbeiter ganz 
für sich erobern, von der anderen Seite ihn ebenso ausschließlich und 
ganz die Besitzenden und Arbeitgeber in ihre Gewalt bringen. Wirt¬ 
schaftsgegensätze, Klassen- und Interessenkämpfe hat es auch im alten 
Staat gegeben, aber der Staat selbst hat sich als überwirtschaftliche 
Macht, als Träger des Gemeinwohls und Vormund aller seiner Bürger 
sowohl gefühlt als auch betätigt. Gerade die deutsche Schule ist eine 
Schöpfung dieses überwirtschaftlichen Staates, und wer die Geschichte 
des Kampfes um die allgemeine Schulpflicht, um Schuldotation und 
Lehrerbildung, um die fortschreitende Hebung aller Zweige des öffent¬ 
lichen Erziehungswesens auch nur im Umriß kennt, weiß, daß der Staat 
oft genug im Interesse der Kinder aller Klassen und Parteien, im Dienst 
rein humaner Ziele seine Bildungsideen den wirtschaftlichen Mächten 
abgerungen und aufgezwungen hat. Gewiß, er hätte mehr leisten können; 
er hätte die Bildungsfragen stärker, ja ausschließlich in den Mittelpunkt 
seiner Sorge rücken müssen — aber die Linie der bisherigen Entwick¬ 
lung war richtig; die sittliche und geistige Bildung als Eigenreich einer 
den Ansprüchen der Wirschaftsinteressen entzogenen Schule war ein 
Grund, auf dem sich weiterbauen ließ. Ich weiß nicht, ob wir diesen 
Grund noch festhalten können, noch festzuhalten Besonnenheit genug 
haben, wenn die Wirtschaftsmächte, einerlei ob getrennt oder geeinigt, 
dem Staat der nächsten Jahrzehnte das ausschließliche Gepräge eines 
Wirtschaftsstaates geben. Wer nicht blind ist, muß sehen, daß auch 
heute schon Gewerkschaften und Unternehmerverbände mehr als 
Regierung und Volksvertretung die Gesetzgebung und Verwaltung be¬ 
stimmen; sie werden die Hand auch nach der Erziehung ausstrecken. 
Gewiß ist im Augenblick der Sieg noch nicht entschieden. Die immer 
straffer zusammengefaßten Gegenseiten der Wirtschaftswelt, Arbeiter- 
tum und Besitz, halten mit dem entscheidenden, letzten Ringen noch 
zurück; es gibt auch noch andere Geistesrichtungen, die an einer in der 
bisherigen Linie der Entwicklung besser begründeten Tendenz vom Schutz- 
Rechts-Machtstaat zum Kultur- und Erziehungsstaat festhalten. Aber 
sie verlieren zusehends an Boden in den Massen, und wenn der Staat, 
den wir heute noch suchen, faktisch der reine Wirtschaftsstaat ist, einer¬ 
lei ob eines einigen oder eines klassenkämpferisch dauernd ent¬ 
zweiten Wirtschaftsvolkes, dann endigt die Phase des staatlichen Schul- 
und Bildungswesens, wie in den Gesellschafts-, Geistes- und Religions¬ 
bewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts die kirchliche Epoche der 
deutschen Bildungsgeschichte ihren Abschluß fand. Die Auslieferung 


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Erziehung und sittlicher Aulbau 


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der Bildung an einen Staat, den die Wirtschaftsmächte beherrschen, 
könnte niemand verantworten, weil er — genau wie unsere äußeren 
Feinde — die deutsche Erziehung lediglich unter dem Gesichtspunkt 
der Kosten und der wirtschaftlichen Produktivität betrachten würde. 
Auch die in unserem eigenen Volk selbst dann herrschend gewordenen 
Einstellungen würden speziell dem auch in Zukunft nicht verschwin¬ 
denden Arbeitertum nur ein Ausmaß und eine Art von Erziehung und 
Bildung zubilligen und schaffen, daß nur für die nutzbringende Anwend¬ 
barkeit im Wirtschaftszweck ausreichend wäre. Um dem darin ent- 
enthaltenen Rückfall in den Primitivismus zu entgehen, müßte eine sich 
noch kulturell verantwortlich fühlende deutsche Volksgemeinschaft ent¬ 
gegen ihrer Tradition in den letzten Jahrhunderten auf die Entstaat¬ 
lichung ihres Erziehungs- und Bildungswesens bedacht sein, denn weiter¬ 
hin verstaatlicht würde es in den Dienst der Wirtschaft, die ihrer ganzen 
Struktur nach Mittel, nicht Selbstzweck und Selbstwert ist, gezwungen 
werden, und seine Seele, die Geistespflege ist und bleibt, verlieren. 

Waren die bisher betrachteten Hemmungen der Erziehungsreform und 
des sittlichen Aufbaus noch in außerpädagogischen Verhältnissen be¬ 
gründet, in der sittlichen Verworrenheit der Erwachsenen, in materieller 
Not und politischer Unfreiheit, im Mangel eines festen Staatsgefüges, 
das imstande wäre, die Wirtschaftskörper und Wirtschaftsmächte zu 
meistern, statt ihr Spielball zu sein, so dürfen wir doch nicht über¬ 
sehen, daß auch die Lage des pädagogischen Denkens selbst Hemmungen 
in sich trägt. Ich habe eingangs gesagt, daß nach den Lehren der 
Geschichte Zeiten der Not zu schöpferischer Erneuerung der Erziehung 
und des Erziehungswesen nur dann führten, wenn die Reformideen 
einheitlich sind oder wenigstens einen einheitlichen Kern bergen. Bei 
einer ersten Musterung der Reformforderungen und -Vorschläge drängt 
sich der Eindruck auf, daß der Umschlag schon im pädagogischen 
Denken ein zu radikaler ist, die Aufsplitterung in Meinungen und 
Richtungen zu weitgehend, als daß die Möglichkeit zur gesunden Ver¬ 
ständigung leicht gefunden werden könnte. Wie immer, wenn ein Zeit¬ 
alter sich in zu viele Projekte verliebt und zu viele Richtungen erörtert, 
ist der Kampf um die Vorherrschaft auch schon auf dem Gebiet der 
Ideen die notwendige Folge; sie absorbiert vielfach auch die Kräfte, die 
der praktischen Auswertung dienen sollten, und die organische Synthese 
ist in Frage gestellt, mindestens hinausgeschoben. 

So führt der Reichtum an Gedanken, sonst gerade ein günstiger Boden 
für eine lebhafte Bewegung, zur Stagnation sich gegenseitig eifersüchtig 
überwachender und in Schach haltender pädagogischer Parteien, und 
was an wirklichem pädagogischen Leben nicht erstickt werden kann, 
entfaltet sich in der Unbeachtetheit dieser und jener Familie, Schul¬ 
stube, Anstalt, im kleinen. Der erwartete größere Zug und Zuzug von 
Erziehern ist augenblicklich noch keiner Richtung beschieden, und die 
Richtungen selbst scheinen so unversöhnlich auseinander zu gehen, daß 
sachliche Berührungen sich nicht zu einem Programme verdichten 
können, weil sie in jeder der Richtungen anders gewertet und be¬ 
gründet werden, die Übereinstimmung also mehr eine äußere Ähnlich¬ 
keit als eine Gemeinsamkeit der pädagogischen Gesinnung bedeutet. 


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In dem Versuch, diese immanenten Hemmungen des sittlichen Aufbaus 
zu beseitigen, besteht die Zeitaufgabe der wissenschaftlichen 
Pädagogik. 

Ich habe ausgeführt, daß der erste Eindruck des Erziehungsdenkens 
ein solcher der chaotischen Zersplitterung und Unversöhnlichkeit der 
Gegensätze ist, der Mangel einer oder einiger beherrschender, von allen 
Volksgenossen oder mindestens von ihrer urteilsfähigen Mehrheit willig 
erfaßter Ideen. Mir scheint, daß dieser Zustand weniger durch die 
Sachnatur der schwebenden Fragen bedingt ist, als durch den indi¬ 
vidualistischen Doktrinarismus, der wie das deutsche wissenschaftliche 
Denken überhaupt, so auch das pädagogische kennzeichnet. Deshalb 
scheint mir der Versuch unerläßlich, unter Verzicht auf Schattierungen 
und Nuancen, jene Zielgedanken herauszustellen, die nicht bloß im 
Augenblick entstanden und für die Interessen kleiner oder großer Grup¬ 
pen gedacht, sondern in der ganzen pädagogischen Entwicklung vor¬ 
bereitet und enthalten als die Konvergenzpunkte zu gelten berechtigt sind, 
auf die sich die gesammelte Reformenergie einheitlich einstellen sollte. 

Schon während des vorigen Jahrhunderts haben meines Erachtens 
drei große Entwicklungstendenzen ■) Wandlungen im deutschen Bildungs¬ 
ideal und Bildungswesen angebahnt; da sie bislang zu einer vollen 
Verwirklichung nicht gelangt sind, dürfen sie auch für unsere Gegen¬ 
wart und nächste Zukunft noch maßgebend sein, mithin die Linie be¬ 
zeichnen, in der sich die vielen Einzelheiten zusammenfassen lassen 
oder zusammenfassen sollten. Nach dem Prinzip der Stetigkeit im 
Kulturwandel ist es nicht wahrscheinlich, daß Tageseinfälle oder nur 
aus der fluktuierenden Situation geborene Ideen imstande sein werden, 
die sachliche Logik einer langfristigen Entwicklung aufzuheben. Sie 
können nur stören. 

Diese drei Haupttriebkräfte, die nicht nur von mir so gesehen und 
benannt werden, sind die nationale, die soziale und realistische 
Bildungstendenz. 

Die nationale Tendenz in der deutschen Erziehung ist seit dem Be¬ 
ginn des 19. Jahrhunderts ständig gewachsen. Mag man auch die Art, 
in der Fichte die deutsche Nationalerziehung meinte aufbauen zu können, 
als zeitlich bedingte Utopie heute nicht mehr für diskutabel halten, 
seine Idee der Bildung der Nation als solcher, oder anders ausgedrückt 
die Abschwächung der inneren Unterschiede von Klassen und Ständen 
durch ihre gleichmäßige Aufnahme in die Einheit der Bildung, hat ihren 
Glanz in all den Jahrzehnten ihres Lebens bewahrt. „Mit unserer Ge¬ 
nesung für Nation und Vaterland hat die geistige Natur unsere voll¬ 
kommene Heilung von allen Übeln, die uns drücken, unzertrennlich 
verknüpft.“ Es liegt mir fern, den einzelnen Menschen den Vorwurf 
unnationaler Gesinnung machen zu wollen, das System der höheren 
Schulen, wie es war, zerriß objektiv die deutsche Volksgesellschaft, in- 

*) Vgl. dazu auch Hans Richert, Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule 
(Tübingen 1920), sowie meine früheren Arbeiten: „Die Lage der höheren Schule in der Gegenwart 
und ihre Aufgaben in der Zukunft“ (Riga 1914) und „Gedanken über die Form der deutschen 
höheren Schule“ (in Norrenbergs Sammelwerke: „Die deutsche höhere Schule nach dem Welt¬ 
krieg“ (Leipzig 1916). 


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sofern es als die wesentliche Bedingung für die Zugehörigkeit zur Bildungs¬ 
schicht einen Lehrgang vorschrieb, von dessen Hauptgrundlagen alle 
anderen Deutschen faktisch ausgeschlossen waren. Ich verfolge nicht 
weiter, wie Fichtes Gedanke einer geistig-sittlichen Einigung der Deutschen 
in und durch die nationale Erziehung nach der Reichsgründung bei 
R. Hildebrand, Paul Lagarde, F. Nietzsche, Ernst Laas fortlebte, wie er 
von seinen Anhängern heute formuliert und begründet wird. Nur ein 
Wort des größten Historikers der deutschen Bildung, Friedrich Paulsens, 
sei noch angeführt; ihm scheint die ganze neuzeitliche Entwicklung „zu 
konvergieren auf eine allgemeine, das Ganze umfassende, alle Glieder 
des Volkes durchdringende, auch den vierten Stand in die Bildungs¬ 
einheit aufnehmende nationale Bildung“. 

Wir erinnern uns noch alle, mit welcher Energie diese nationale Ent¬ 
wicklungstendenz des Bildungsgedankens beim Ausbruch und im Ver¬ 
lauf des Krieges uns zum Bewußtsein kam und in immer weitere Kreise 
werbend eindrang. Viele Einzelforderungen, denen bis dahin nur geringe 
Gefolgschaft zuteil geworden, fanden allgemeinen Anklang, so der Ein- 
iieilsgedanke in der Bildungsorganisation, ferner der Vorschlag einer 
deutschen höheren Schule, die aus dem Eigenleben unseres Volkes, aus 
dem nationalen Kulturgut ihre humanistischen Bildungsmittel schöpft, 
einer Volksbildung im nachschulischen Alter, die die gemeinsamen 
menschlichen und staatsbürgerlichen Belange vor einer Hörerschaft be- 
, bandelt, die sich aus allen Vorbildungen und Berufsständen rekrutiert. 

Ich frage nun: sind nach dem Krieg entscheidende Tatsachen auf- 
> getreten, Gründe geltend gemacht worden, die imstande und berechtigt 
i wären, uns an dieser nationalen Zielung unserer Erziehung irre zu 
machen? Ich muß die Frage mit aller Entschiedenheit verneinen. 

I Wenn es heute den Anschein hat, als müßten wir die bisherige Ent¬ 
wicklung verleugnen und unter Mißachtung von Volk und Vaterland 
| an einer abstrakten Menschheitserziehung und Erziehung für die Mensch¬ 
heit arbeiten, so ist daran nur die Verwirrung der Köpfe durch die 
Leidenschaft des Tages schuld. Wenn heute die wesentlich bürgerliche 
Bildungsschicht, die sich vor dem Krieg zum Teil, während des Krieges 
fast ganz zu der nationalen Tendenz auch in der Erziehungsreform be- 
i kannt hat, davon zum Teil wieder zurückweicht, so tut sie das, weil 
sie in einer auch über die Volksschule hinausführenden, wesentlich mit 
deutschem, also jeder deutschen Seele grundsätzlich zugänglichem Kultur¬ 
gut arbeitenden Bildung ein Mittel mehr erblickt, durch das der Macht¬ 
wille der aufstrebenden unterbürgerlichen Volksschichten Vorschub 
geleistet und ihre eigene, teilweise in der schwerer zugänglichen Bildung 
^gründete Vorgeltung weiter erschüttert werden kann, also aus poli- 
| tischen, nicht bildungstheoretischen Motiven. Und wenn der Sozialismus, 
dessen innere Gespaltenheit und Kampf um den „wahren“ Sozialismus 
deuüich verrät, daß er — abgesehen von den Wirtschaftsfragen — kein 
einheitliches weltanschauliches Programm besitzt, die nationale Tendenz 
zuia Teil bekämpft, weil der „Nationalitätswahnsinn die europäische 
Kulturgemeinschaft zerschlagen“, das Wachsen der Nationalität ein 
Sinken der Humanität und aller humanen Werte sei, weil er eine 
neu ® Humanität, die alle Völker zur sittlichen Kulturgemeinschaft der 


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Menschheit Zusammenschlüße, ersehnt, so ist auch er machtpolitisch, 
nicht bildungstheoretisch eingestellt und übersieht, was Fichte schon, 
den er zu seinen Ahnherren rechnete, richtig gesehen hat: „Kosmo¬ 
politismus ist der herrschende Wille, daß der Zweck des Daseins des 
Menschengeschlechts im Menschengeschlechte wirklich erreicht, Patrio¬ 
tismus ist der Wille, daß dieser Zweck zu allererst erreicht werde in 
der Nation, deren Mitglieder wir sind, und daß von dieser aus der 
Erfolg sich verbreite über das ganze Geschlecht.“ 

Sieht man von den durch Leidenschaften des Augenblicks bedingten 
Über- und Unterschätzungen ab, so wird man anerkennen müssen, daß 
die nationale Tendenz auch heute noch ein Einheitsmoment in dem Chor 
der Reformstimmen sein kann; das um so mehr, wenn man bedenkt, daß in 
der deutschen Jugend selbst, und zwar in der Jugend aller Schichten und 
Klassen von aller Vätern, der nationale Lebenswille sich mit einer Ent¬ 
schiedenheit Bahn bricht, die jedes Urteil, unsere Nation wäre schon 
im Niedergang, Lügen straft und auch dadurch nicht entwertet wird, 
daß er wesentlich vom Gefühl, weniger von der klaren Einsicht gespeist 
wird. In einem Europa, das sich unter der Nationalitätsidee allüberall 
zu kräftigen anschickt, wäre ein Deutschland, das in seiner Erziehungs¬ 
reform darauf verzichtet, endgültig verloren. Wenn uns das sonst so 
feierlich proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auf vielen 
Gebieten verwehrt und versagt wird, geschieht es doch nur in der Absicht, 
daß wir auch auf anderen Gebieten darauf selbst verzichten. Hüten wir 
uns, durch einen Verzicht in der Erziehung zum Vollstrecker eines 
Willens zu werden, der nicht der unsere sein kann! Wenn eine Nation, 
wie man gesagt hat, durch die Erziehung sich geistig fortpflanzt, so ist 
der Verzicht auf nationalen Gehalt und nationale Zielung der Erziehung, 
auch wenn er im Namen der Humanität befürwortet wird, geistiger 
Selbstmord der Nation. 

Als zweite, die Entwicklung bis zu den Erschütterungen der Gegenwart 
beherrschende Tendenz habe ich oben die Sozialisierung der Erziehung 
und der Bildungseinrichtungen hervorgehoben. Seit das Volk und seine 
gebildete Oberschicht nicht mehr eine verschiedene Sprache sprechen, 
wie in der „lateinischen“ und „französischen“ Zeit der Wissenschaft, 
Rechtspflege, Staatsverwaltung und Gesellschaft, wäre die Möglichkeit 
gegeben gewesen, durch entsprechende Schulschöpfungen die sonst noch 
bestehenden Differenzen zwischen „Volk“ und „Gebildeten“ abzutragen 
und auszugleichen. Man darf auch nicht übersehen, daß im Laufe des 
19. Jahrhunderts die Angleichung der verschiedenen Stände und Gesell¬ 
schaftskreise in ihrer Bildung tatsächlich Fortschritte machte und daß 
ein Bildungsminimum jedem, auch dem ärmsten Deutschen, sichergestellt 
war. Mit Erfolg sind die in ihrer Entstehungszeit verständlichen und 
berechtigten ständischen Einschläge in unserem höheren, mittleren und 
elementaren Bildungswesen zurückgedrängt worden bis auf kleine Nach¬ 
klänge in der gesellschaftlichen Sitte und Schätzung. Die Bildung wurde 
je länger je mehr tatsächlich demokratisiert. 

Es bedarf nicht vieler Hinweise auf die Bestrebungen der jüngsten 
Vergangenheit, um zu zeigen, daß diese Tendenz auch heute noch tat¬ 
sächlich sich auswirkt. Aber leider ist es so gekommen, daß sie heute 


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Erziehung und sittlicher Aufbau 


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vielen, die nicht mehr geschichtlich denken wollen, nur als Frucht der 
Revolution erscheint und deshalb von ihnen, Gegnern der Revolution und 
Unzufriedenen mit der nachrevolutionären Politik, bekämpft wird. Daraus 
erklärt sich die Stagnation in jener Bewegung, die die Kraft und Mittel 
der Nation für den Aufstieg aller Begabten und Tüchtigen forderte, in 
der Bewegung für Angleichung der Lehrerbildung an die älteren soge¬ 
nannten akademischen Bild ungsgänge, für die Schaffung von V erbi ndungen 
und Übergängen zwischen Volksschule und höherer Lehranstalt und 
zwischen den verschiedenen Arten der letzteren selbst. Wer die nach¬ 
revolutionäre Entwicklung als durchaus verfehlt bekämpft und eine 
Restauration, erstrebt, glaubt, dieses auch auf schulischem und schul¬ 
politischem Gebiet tun zu müssen. Die Frage, ob der Bildungshunger 
der Massen, ihr geistiger Emanzipations wille, der sich doch gerade unter 
den früheren politischen Verhältnissen entwickelt und schon im 19. Jahr¬ 
hundert zur sozialen Erziehungsbewegung geführt hat, sich durch eine 
Kulturpolitik der Restauration entweder befriedigen oder ersticken ließe, 
wird gar nicht ernsthaft erwogen. Die Verachtung der Massen setzt 
deä über solche Einwände hinweg, wie mir scheint, weil sie die heutigen 
Massen in ihrer Struktur doch noch ebenso betrachtet wie die der Massen 
anderer Zeiten. Kein einsichtiger Beurteiler kann sich darüber täuschen, 
daß Deutschland bildungspolitisch heute zerrissener ist als früher. Wo 
eine linke Majorität bestimmend ist, treibt sie die Entwicklung ganz in 
ihrem Sinn und in raschem Tempo weiter; wo die Gegenstimmung den 
konservativen Elementen zur Macht geholfen, nehmen diese ein Stück 
nach dem anderen der angeblich übereilten und revolutionären Errungen¬ 
schaften planmäßig zurück. Die Erziehungs- und Bildungsfragen werden 
stärker und offenkundiger als je nicht nur vom politischen Standpunkt 
aus betrachtet — staatspolitische Fragen sind sie immer gewesen und 
müssen sie bleiben —, sondern vom Standpunkt der Partei. Einer wieder 
erstarkten antisozialistischen Bewegung muß natürlich die Demokratie 
des Geistes und der Bildung ebenso als der Feind gelten, wie sie der 
sozialistischen Bewegung das Ziel ist. 

Auch abgesehen von dieser Verflochtenheit mit den innerpolitischen 
Gegensätzen ist die Würdigung der sozialen Entwicklungstendenz in der 
Bildung nicht so einfach, weil die heutigen Auslegungen oft die rechte 
Kontinuität mit dem Gegebenen und den klaren Blick für das Mögliche 
vermissen lassen. 

Bestimmte Berufs- und Kulturaufgaben werden auch in aller Zukunft 
eine differenzierte Mannigfaltigkeit der Bildungsbahnen notwendig 
machen, genau so, wie die Verschiedenheit der Begabungen und geistigen 
Interessenrichtungen sie psychologisch bedingen. Wenn den höheren 
Schulen von radikalen Parteien das Daseinsrecht überhaupt abgestritten 
wird, so verkennen sie die psychologischen und kulturellen Wurzeln, 
verschließen sich, weil sie das alte System der höheren Schule be¬ 
kämpfen, der anderen Einsicht, daß Erziehung auch Auslese ist, und mit 
aller Auslese bleibt unentrinnbar Differenzierung der Lebens- und 
Bildungsbahnen und Distanzierung der Ausgelesenen verbunden. Und 
wenn auf der anderen Seite in der bisherigen volkstümlich-demokra¬ 
tischen Tendenz eine Nivellierungstendenz bekämpft wird, die auf eine 


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Aloys Fischer 


Einerleischule hinauslaufe, wenn der Gemeinschaftsschule die Sonder¬ 
schule um jeden Preis und für jeden Sonderzweck programmatisch ent¬ 
gegengehalten wird, so übersieht diese Denkweise, daß die Differenzierung 
nur allmählich eintritt, verschieden weit reicht, und daß es neben allem, 
was different ist und differenzierend wirkt, in jedem Volksgenossen 
Anlagen, für jeden Volksgenossen Aufgaben und Pflichten gibt, die 
schlechthin gemeinsam sind. 

Auch hier scheint mir ein Ausgleich möglich. Trotz aller Verschieden¬ 
heit der Begabung, Kulturaufgaben und Lebenszwecke, die eine Diffe¬ 
renzierung immer wieder herbeiführen oder einschließen, wird im Inter¬ 
esse der inneren Einheitlichkeit des Volkes und der seiner Leistungs¬ 
fähigkeit im Ganzen die soziale Tendenz, die auf Hebung des allge¬ 
meinen Bildungsdurchschnittes abzielt, auf Erfassung und Förderung 
aller bildsamen Kräfte eingestellt ist, die Grundlegung der Erziehungs¬ 
reform tragen können. Je höher schon die allgemeine Bildungslage 
ist, die in einer Ration als Ganzes vorhanden ist, um so höher werden 
sich darüber auch die Eliteminoritäten erheben können, die auf differente 
Bildung in Sonderschulen für Sonderzwecke nicht verzichten können 
und nicht verzichten brauchen. Die Lebenssteigerung, die aller Erziehung 
vorschwebt, hat eben zwei Ziele, nicht neben- sondern ineinander, die 
Hebung des Volkes im Ganzen und die ihr notwendig immer voraus¬ 
eilende Hebung seiner geistigen Spitzen. Beschränkten wir uns auf 
die aristokratisch-exklusive Pflege nur der kleinen Gruppen auserlesener 
Geister und schöpferischer Menschen, weil schließlich sie für die Gesamt¬ 
entwicklung richtunggebend seien, so könnte eines Tages die Kluft 
zwischen diesen Spitzen des Volkes und seiner Masse so weit geworden 
sein, daß kein Ruf der Verständigung mehr von der einen zur andern 
Seite dringt. Der Führer ohne Gefolgschaft, der einsame Prediger in 
der Wüste wäre die Folge — auch wenn diese echolose Wüste ein 
menschenwimmelndes Volk wäre, das zu seinen größten Repräsen¬ 
tanten keinen Zugang mehr hat Noch aus anderen Gründen ist die 
soziale Entwicklungstendenz auch heute tragfähig: alle Differenzierung 
wächst heraus, wird getragen von gemeinsamen Unterbauten und wird 
zusammengehalten, überwölbt von gemeinsamen Inhalten. Die staats¬ 
bürgerlichen und sittlichen Aufgaben sind dem Genius und dem Massen¬ 
menschen gemeinsam, so verschieden ihre beruflichen und kulturellen 
sind. Wenn wir nicht ganz und gar in einer Leistungskultur uns ver¬ 
äußerlichen wollen, sondern die Kultur des Seins über die Leistung 
zu stellen eben wieder anfangen, wird man als Folgerung und Mittel 
dazu die Durchbildung jeder Person in ihren charakterlichen staats¬ 
bürgerlichen, menschlich-sittlichen Seiten, die Wesenskultur als Funda¬ 
ment der Leistungskultur nicht missen wollen. Oder täusche ich mich 
in der Annahme, daß uns über dem Virtuosentum der spezialistischen 
Leistung die wahre Bildung, nicht nur des Herzens, sondern auch des 
Geistes doch mehr und mehr verloren gegangen war? 

Am strittigsten erscheint die realistische Bewegung, die unsere Bil¬ 
dungsentwicklung bisher je länger je mehr durchwaltete. Von vornherein 
berührt sie freilich weniger den Erziehungsgedanken als die Frage des 
Lehrgutes und der Lehrform der deutschen Schule jeder Gestalt. Legten 


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Erziehung und sittlicher Aufbau 


die Lehrpläne früherer Jahrhunderte ihren Nachdruck auf alles, was wir 
kurz gesagt, gesinnungsbildend nennen können, auf Sprache und Literatur, 
Religion und Geschichte, so wird unter den heutigen Verhältnissen einer 
ständig gewachsenen Selbstverwaltung, einer auf angewandter Wissen¬ 
schaft beruhenden Wirtschaft, Produktion und kaufmännischen Betriebs- 
führung sehr viel mehr an positivem Wissen gerade aus den Gebieten 
nötig, die wir als „Realien“ zunächst zur Rekreation des Geistes in die 
Schule einziehen sehen. Wir entdecken dann, daß diesen „realen“ Wissen¬ 
schaften auch imanente Bildungswerte spezifisch sind. So schaffen sie 
sich eigene Schulen und Hochschulen, dringen selbst ins Zentrum des 
Gymnasiums, in die Mädchenbildung ein, durchsetzen auch die Lehrpläne 
der Volksschule mit realistischen Zügen, erobern die Seele der Jugend, 
die in immer größeren Scharen dem von ihnen gewerteten neuen Lebens- 
gefühl zuströmt und immer mehr von dem halb ästhetischen Ideal der 
Kultur der Persönlichkeit als eines Kunstwerks weg und sich zu dem 
praktisch politischen Ideal des Wirkens für andere zuwendet. Sie ist 
unleugbar eine Nachwirkung des Bildungsutilitarismus der Aufklärungs¬ 
zeit, des Positivismus des 19. Jahrhunderts; sie ist aber auch gesättigt 
mit den unleugbaren großen Ergebnissen der modernen Forschung, nicht 
nur auf naturwissenschaftlichem, sondern ebenso auf den geistes- und 
kulturwissenschaftlichen Gebieten. Auf Gegenwart und Wirkung gestellt, 
hat der Realismus die Bildung in jedem Sinne als das Mittel betrachtet, 
das Leben nach den Forderungen der Vernunft, die ihm in der Wissen¬ 
schaft zusammengefaßt erscheinen, zu gestalten, ohne Rücksicht auf das 
geschichtlich Gewordene, und tendiert zu solcher Einstellung auch immer 
wieder, ob schon er durch die wissenschaftliche Kritik selbst wie durch 
den neuen Aufschwung gerade der Geisteswissenschaften und einer 
geisteswissenschaftlich orientierten Philosophie zu Beginn unseres Jahr¬ 
hunderts bereits wesentlich korrigiert wurde. 

Noch schwieriger wird die Lage durch den anderen Umstand, daß jene 
bedrohliche Vorherrschaft des rein ökonomischen Interesses, die wir oben 
erwähnten, in der realistischen Bildungstendenz einen Bundesgenossen 
hat, und leicht dazu verleitet, das Leben, für das Erziehung und Schule 
vorbereiten wollen, als das Interessenleben des wirtschaftlichen Menschen, 
richtiger des Menschen als Wirtschaftssubjekt, zusammenschrumpfen zu 
lassen. 

Wie weit, so fragen wir auch hier, ist die realistische Tendenz 
auch heute noch nicht nur mächtig, sondern auch gültig? Ich habe 
bereits ausgeführt, daß ihre Gefahren erkannt sind, demgemäß ver¬ 
mieden werden können; ihre Zugkraft ist in den breiten Schichten 
nicht geringer geworden, mit Recht, denn das Leben, auf das die Er¬ 
ziehung vorbereitet, muß jedenfalls das Gegeuwartsleben sein, das Leben 
eines modernen Wirtschafts- und Kulturvolkes. Auch der Einstellung 
der Jugend als solcher kommt sie entgegen, die sich in erster Linie als 
einen Anfang, nicht als Fortsetzung und Erben fühlt und zur Geltung 
bringt. Es bleibt nur ein allerdings gewichtiger Umstand, der berücksichtigt 
zu werden verdient. Das gerade auch in der Jugendbewegung, der bürger¬ 
lichen wie der proletarischen, neu erwachte metaphysische Bedürfnis. 
Ich glaube aber, daß dieser bald mehr soziologisch-philosophische, bald 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 2 


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Aloys Fischer, Erziehung und sittlicher Aufbau 


mehr religiöse Zug in der neuen Jugend nur die praktische Abkehr von 
der ungeschichtlichen Nebentendenz des Realismus, nicht eine Abkehr 
von ihm selbst ist. Zwischen unserem Leben und seiner Bildung soll 
keine Kluft mehr bestehen, wie vielfach in der Vergangenheit; das scheint 
mir der realistische Einschlag in der neuen Erziehungsgesinnung auch 
in Zukunft zu bleiben. — 

Der sittliche Aufbau durch die Erziehungsreform hat zur Voraus¬ 
setzung, daß wir uns über den individuellen Nuancen und Unterschieden 
in erster Linie als Glieder der bisherigen Entwicklung auf deren gemein¬ 
samen Leitideen: Volk und Vaterland, die Humanisierung aller Glieder 
unserer Gemeinschaft durch bewußte Auswertung des allen verständ¬ 
lichen nationalen Kulturgutes und die Bedürfnisse unseres Gegenwarts¬ 
lebens einstellen. So befriedigen wir die Sehnsucht der Jugend selbst 
und nehmen Kräfte, die sie heute, von ihren Erziehern vielfach ent¬ 
täuscht und im Stiche gelassen, im Protest oder in unmöglicher Schwär¬ 
merei verzehrt, für die möglichen großen Zwecke des Lebens in Dienst. 
Mit einem Wort möchte ich zum Schlüsse doch auch auf die Hem¬ 
mungen des sittlichen Aufbaus durch die Erziehung hinweisen, die 
nicht in unserer deutschen, sondern in der gesamten europäischen Lage 
begründet sind. Andere Zeiten der Not, die wir oder ein Großvolk 
Europas durchlitten haben, unterschieden sich von der heutigen Lage 
nicht nur den Dimensionen, sondern auch der Art nach in einem wesent¬ 
lichen Punkte: ein Autoritätsprinzip, ein Repräsentant der Ordnung 
ist, so viel auch sonst niederbrach, unangefochten, unerschüttert ge¬ 
blieben und die ihm anhangende mehr oder minder kleine Schicht 
tatkräftiger Persönlichkeiten konnte die Orientierung der steuerlos 
gewordenen Massen von ihm aus übernehmen. Fragen wir, ob das 
heute auch der Fall ist, so werden wir von den bangsten Zweifeln 
geängstigt. Es gehört zu den imheimlichsten Selbsttäuschungen der 
Zeit, den letzten Krieg und seinen Frieden als Episode zu betrachten, 
die in der geistig-sittlichen Entwicklung Europas ohne Folgen sei, zu tun, 
als hätten die Ereignisse der letzten Jahre nichts anderes bewirkt als 
den Übergang des politischen Prestiges und der ökonomischen Führung 
von einer Mächtegruppe auf eine andere und als handle es sich dem¬ 
gemäß nur um eine Stabilisierung der Verhältnisse zwischen Siegern auf 
der einen, Besiegten auf der anderen Seite. In dieser Selbsttäuschung 
sind unsere Sieger stärker befangen als wir: sie vor allem glauben, in 
ihrer militärischen Macht das Mittel zu besitzen, die durch den Krieg ent¬ 
schiedene Umgruppierung zu ihren Gunsten dauernd machen zu können. 
Die wichtigsten Auswirkungen der Ereignisse sind aber jene, die sich unab¬ 
hängig von den Absichten der aktiven Politiker vollzogen haben, die sich 
einbilden, die Geschichte gemeistert zu haben und meistern zu können, und 
die sich fortgesetzt noch vollziehen. Es ist die Frage, ob in der allgemeinen 
Auflösung Europas, das heute nur noch durch zusammengeballte Macht 
vor dem äußeren Zerfall bewahrt wird, uns wenigstens noch der Geist 
Europas als Autorität bleibt, ob der Europäer einen bestimmten Besitz 
von sittlichen Begriffen und Grundsätzen, von absoluten Werten und 
Kulturzielen als unverlierbares Besitztum für einen Wiederaufbau in 
die Zeit der völligen Anarchie hinüberrettet, die aus der Staatsverdrossen- 


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Hugo Gaudig, Das Fordernngerecht der Schule gegenüber der Nation 


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heit, den Wirtschaftskämpfen und der Kulturskepsis uns täglich näher- 
gerückt bedroht. Noch kann Europa sich auf seinen eigenen Geist besinnen, 
noch kann die Erziehung als Selbsterziehung der Erwachsenen und Jugend¬ 
bildung den sittlichen Wiederaufbau in Angriff nehmen — je länger wir 
warten oder die einzelnen Völker von anderen zu warten gezwungen 
werden, desto mehr greift die geistige Auswanderung aus Europa um 
sich—die ideelle Flucht in die Fremde, in den Buddhismus Ostasiens, in den 
Quietismus einer spielenden Mystik, in die Ideenlosigkeit der Business¬ 
idee einer reinen Wirtschaftskultur, wenn man Kultur und Wirtschaft 
zusammenzusetzen nicht als Widerspruch empfinden müßte. Noch glauben 
wir, es mit Einzelerscheinungen zu tun zu haben, mit Erscheinungen der 
Not und geistigen Ratlosigkeit — aber die Geschichte Europas sah schon 
einen Kulturuntergang, 1 ) den der Antike, freilich einen solchen, in dessen 
Trümmerfall der neue Geist des Christentums als rettende und führende 
Macht unser Europa schuf. Geht die alte Welt zum zweiten mal unter — 
wo ist die neue geistige Idee im heutigen Trümmerfall, die uns den Auf¬ 
stieg zur dritten Phase der europäischen Geschichte verspricht? Die 
geistige Auswanderung, auf die ich hindeutete, zeigt, daß sie nicht mehr 
ans Europas Geist geboren wäre. Es ist die Verantwortung der Er¬ 
ziehung, nicht bloß in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern 
dafür zu sorgen, daß der europäisch-christliche Geist, der sein letztes 
Wort nicht gesprochen hat, der noch immer unerschöpflich-schöpferisch 
in seinen Quellen und Kräften sprudelt, den sittlichen Aufbau nach den 
Zerrüttungen durch äußere und innere Katastrophen in Angriff nimmt. 
Wenn Deutschland in diesem Aufbau die Führung gewinnt, wird es mit 
sich die Welt retten. 


Das Forderungsrecht der Schule gegenüber der Nation. 

Von Hugo Gaudig. 

Von den Forderungsrechten der Nation gegenüber der Schule zu 
sprechen, ist der deutschen Pädagogik zwar nicht geläufig, immerhin 
haben wir’s hier mit einer Denkrichtung zu tun, auf die wir uns einzu¬ 
stellen vermögen. Nur daß die Feststellung des Verhältnisses von Nation 
und Schule, auf Grund dessen Forderungen erhoben werden können, 
Schwierigkeiten bereitet. Ganz ungeläufig ist der deutschen Pädagogik, 
in der umgekehrten Richtung von den Forderungsrechten der Schule 
an die Nation zu sprechen; und doch ist diese Denkrichtung äußerst 
wichtig. Allerdings nach einigen Seiten hin pflegt die Schule ihre 
Forderungen an die Nation geltend zu machen; so .besonders über¬ 
all dort, wo es sich um die „Daseinsbedingungen“ der Schule, die 
inneren und nicht zuletzt die äußeren, handelt. Hier fordert die Schule 
von der Nation, daß sie der Schule z. B. die Mittel des äußeren Daseins, 
aber auch die Rechte ihrer Stellung innerhalb des nationalen Lebens 


*) Es ist kein geringes Verdienst des Historikers der Stadt Rom, Guglielmo Ferrero in seinem 
neuestem Werk: „Der Untergang der Zivilisation des Altertums“ (deutsch von Ernst Kapff, Stutt¬ 
gart 1922, Julius Hoffinann) uns einen Spiegel unserer Lage vorgehalten zu haben. 

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Hugo Gaudig 


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gewährt. Die Nation müsse sich, so meint man etwa, stets dessen be¬ 
wußt sein, daß sie in der Schule das Organ ihrer Selbstverjüngung zu 
pflegen und zu ehren habe. 

Hingegen fehlt eine Denkweise, die mir von größter Wichtigkeit zu 
sein scheint und die meinem pädagogischen Denken gerade in der letzten 
Zeit nicht unerhebliche Schärfe gegeben hat. Es handelt sich, kurz 
gesagt, um Forderungen an die Daseinsweise der Nation, nicht um ein 
Verhalten gegenüber der Schule, etwa im Geben und Anerkennen. Die 
Schule erhebt als Schule Forderungen an die allgemeinen Daseins- und 
Wirkensformen der Nation, und zwar im Interesse ihres Daseins und 
Wirkens. 

Die Schule, die sich so der Nation gegenüber fordernd stellt, ist nicht 
eine „Institution“ oder eine Anstalt; der Gedanke, daß eine Anstalt sich 
wider ihre Schöpferin und Trägerin erhebe, hätte etwas Groteskes. Die 
Schule, die „Forderungsrechte“ geltend machen kann, ißt ein Teil des 
nationalen Lebens; sie führt innerhalb des Ganzen des nationalen Lebens 
ein „Schulleben“, und zwar ein eigenwesenhaftes und eigengesetzliches 
und besitzt eine Organisation, dank derer sie ihre Rechte wahrnehmen 
kann. Diese Organisation muß so gestaltet sein, daß sie von unten her, 
d. h. von der Gesamtheit der Schulen an, aufsteigend, alle Kräfte des 
gesamten Schullebens organisatorisch zusammenfaßt; zu diesen organi¬ 
satorisch zusammengefaßten Kräften zählen nicht nur die eigentlichen 
Kräfte der Schule, sondern auch die Kräfte aller Kulturgebiete, die auf 
das Schulleben gestaltend einwirken, etwa der Kunst und der Wissen¬ 
schaft. 

Die so organisierte Schule, die sich als ein Teil des nationalen Kultur¬ 
lebens weiß, erhebt nun im Rahmen des nationalen «Lebens an die 
Nation Forderungen, die für ihr Dasein wesentlich sind. Und zwar be¬ 
ziehen sich diese Forderungen auf Dasein und Wirken der Nation außer¬ 
halb der Schule. 

Die Aufgabe der Schule ist die Eingliederung der Jugend in den 
nationalen Kulturprozeß; unsere Jugend muß sich eindenken, einfühlen, 
einleben in den Kulturprozeß, durch den die Nation sich zu höheren 
Daseinsformen emporbildet Im Namen dieser ihrer Aufgabe, die als 
eine von der Nation selbst gesetzte zu gelten hat, muß die Schule von 
der Nation fordern, daß sie in eben dem Kulturprozeß steht, sich in 
eben den Richtungen der Kulturentwicklung bewegt, auf die hin die 
Schule ihre Jugend erzieht. Wenn die nationale Kulturentwicklung 
sich nicht in diesen Richtungen bewegt so kommt die Nation mit sich 
selbst in Widerspruch, und zwar in um so peinlicheren Widerspruch, 
als sie ihrer eigenen Jugend Aufgaben stellt, deren Erfüllung sie selbst 
nicht ermöglicht. Die Mängel des nationalen Lebens können dazu führen, 
daß die Schule ihre Forderungen entweder auf das Gegenwartsleben 
der Nation richtet oder auf die Entwicklung des nationalen Lebens in 
die Zukunft hinein; im letzteren Falle wird das eine Mal die Forderung 
auf leitende Gedanken (Ideen), das andere Mal auf tragende Kräfte 
hinausgehen. . 

Nehmen wir einen grundwesentlichen Fall: die Schule muß das Be¬ 
wußtsein haben, daß das gesamte nationale Leben von einem großen 


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Das Forderungsrecht der Schule gegenüber der Nation 


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Kulturwillen getragen wird; hat die Schule dies Bewußtsein nicht, 
muß sie vielmehr wie etwa in unseren Tagen der Überzeugung sein, 
daß im Grunde der Nation ein geschlossener, einheitlicher Kulturwille, 
der auf die Emporbildung der Nation zu höherer Gesamtform des Lebens 
gerichtet ist, fehlt, so muß die Schule mit dem stärksten Pathos bedrohten 
Daseins diesen Kulturwillen von der Nation fordern, denn wo bleibt sie 
sonst mit ihrer Absicht, der Jugend den Kulturwillen der Nation auf¬ 
zuweisen, sie in diesen Kulturwillen sich so eindenken und einfUhlen 
zu lassen, daß er ihr zum starken Erlebnis wird? Sie selbst kann ja 
gar nicht anders, als sich selbst zur Mitträgerin des nationalen Willens 
zu machen; fehlt aber der nationale Wille, so kann die Schule ihre 
Lebensaufgabe nicht erfüllen. Es ist ein gewaltig Ding für den Lehrer, 
sich als Mitträger der nationalen Kultur zu wissen; geht aber durch die 
Nation kein starker Kulturzug, so muß er darauf verzichten, seine Kultur¬ 
aufgaben unter den entscheidenden Gesichtspunkt zu rücken. Beruhigte 
ersieh dann dabei, seine Kulturaufgabe etwa mit der Lektüre der 
Aeneis des Virgil oder der Tragödien des Corneille erledigt zu sehen, 
so kennt er nichts von der Daseinsnot, die verfehlter Lebenslauf heißt. 
Wir rücken der Tragik unseres Standes um so näher, je mehr wir uns 
als Mitträger des nationalen Kulturwillens wissen. Gewiß werden wir 
unsere Jugend oft auf Glauben und Hoffnung hin in das nationale Kultur¬ 
leben eingliedern müssen, aber wenn wir uns des Kulturwillens der 
Nation nicht wenigstens in dem Glauben und der Hoffnung sicher fühlen, 
die „eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und ein Nichtzweifeln 
an dem sind, das man nicht sieht“, so können wir im Grunde nicht er¬ 
ziehen, denn wir können unserer Jugend den Kulturprozeß nicht auf¬ 
weisen, für den wir sie erziehen wollen. Zwingt uns dann unsere Lebens¬ 
lage, auch nach der Erkenntnis, daß das nationale Leben die Voraus¬ 
setzungen für erziehliche Arbeit nicht bietet, doch noch Schularbeit zu 
treiben, dann bleibt uns nichts als die Stumpfheit der Seele, die sich 
genügen läßt, Stunden zu geben, Unterricht zu erteilen — natürlich mit 
strengster Gewissenhaftigkeit besonders gegen den Lehrplan, diese Ein¬ 
richtung, die vom Leben in der Gewissenhaftigkeit großen Stils befreit, 
— oder aber wir werden von dem tragischen Gefühl des verfehlten Be¬ 
rufs ergriffen und vielleicht vernichtet. 

Das Ziel des Kulturprozesses darf nicht utopisch sein, es muß aber 
idealen Zug tragen; wohl wird man die idealen Endziele oft als ferne End¬ 
ziele ansehen, aber man wird sich einen Weg Vorhalten, der von Etappe 
zu Etappe zum idealen Endziel führt. Läßt aber die Kultur, in der wir 
leben, den idealen Zug vermissen, sowie etwa die Kultur unserer Gegen¬ 
wart, aber auch die unter der Einwirkung der wirtschaftlichen Hoch¬ 
konjunktur vor dem Ausbruch des Weltkrieges stehende Kultur, so gerät 
unsere Erziehungsarbeit in die peinliche Verlegenheit des Mangels idealer 
Orientierung, es sei denn, daß man sich mit einem Abstraktum von 
idealer Zielsetzung begnügt, so wie man’s jetzt vielfach tut. Die Schule 
steht im Dienste der werdenden Persönlichkeit; dieser Dienst bedeutet 
Bereitschaft für angespannte Arbeit, für die tiefgrabende Arbeit, die sich 
einbohrt in die tiefste Wesenheit der Zöglinge und die ihre Eigenart in der 
Totalität erfaßt, vor allem aber in ihnen die Kräfte der Selbstentwick- 


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Hugo Gaudig, Das Forderungsrecbt der Schule gegenüber der Nation 


lung mobil macht. Führt nun aber ein tieferes Eindringen in die kulturelle 
Wirklichkeit zu der Erkenntnis, daß unsere Zeit für die feinen Prozesse 
des Personwerdens keinen Raum hat, daß vielmehr das eigenwesentliche 
Leben in der unpersönlichen Massenhaftigkeit, oder wenn man lieber 
will, der massenhaften Unpersönlichkeit, erstickt, dann mag man entweder 
resignieren und mit Bewußtsein umsonst am Werden der Persönlichkeit 
arbeiten, oder aber man hilft schon in der Schule mit dazu, daß der 
einzelne Massenmensch wird, ein wohl angepaßtes „Glied“ der Menschen¬ 
masse. 

Und um nur noch zwei weitere Beispiele zu nennen: Wie schlimm ist 
die Schule beraten, wenn sie mit aller Kunst darauf hinwirkt, daß der 
einzelne Zögling in möglichst starkem Maße Träger der Nationalität 
wird, wenn aber die Jugend jenseits der Schule als Nation eine zersetzte 
Volksmasse wahmimmt! Oder: Die Schule tut alles um ihre reifere 
Jugend zur Teilnahme an einem tüchtigen nationalen Denkleben zu 
erziehen; die Nation aber ist z. B. nicht fähig, sich zu einer wertvollen 
„öffentlichen Meinung“ emporzuheben. 

Auf welchem Gebiete nun immer die Schule keine Aussicht hat, ihre 
Jugend in einen nationalen Kulturprozeß einzugliedern, dort resigniere 
sie nicht in Hoffnungslosigkeit, dort tröste sie sich auch nicht mit der 
Hoffnung, daß ihre Jugend, wenn sie herangewachsen sein wird, einen 
eigenen Weg zur Kultur finden wird, sondern sie erhebe mit stärkstem 
Pathos an die gegenwärtige Nation die Forderung, den Kulturprozeß 
zu wirken, in den die Schule ihre Jugend einzugliedem vermag. Eine 
Nation, die zur Einstellung auf einen Kulturprozeß nicht fähig ist, ist 
nicht „schulfähig“. 


Experimentalpsychologie und Pädagogik. 

Von Martin Honecker. 

Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß trotz aller Fortschritte einer 
experimentell gerichteten pädagogischen Psychologie, trotz aller Zeitschriften 
und aller Institute für experimentelle Pädagogik in manchen Kreisen der 
Pädagogen die Opposition gegen die experimentelle Psychologie nicht ver¬ 
schwinden will. Tritt sie auch heute in der Literatur weniger zutage, so 
wirkt sie doch nicht minder im stillen. Noch immer gibt es Pädagogen, die 
in ihrer Unterrichtstätigkeit (z. B. an Lehrerseminaren) die Experimentalpsycho¬ 
logie fast nur erwähnen, um sie radikal abzulehnen. 1 ) 

Den Ursachen solcher Stellungnahme soll hier nicht nachgegangen werden. 
Doch wird Inan kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß nicht wenige 
Gegner mangels persönlicher Kenntnis der Methoden und des Betriebes der 
Experimentalpsychologie eine gänzlich falsche Vorstellung von ihr und von 
der Bedeutung des psychologischen Experimentes haben. Darum sei in diesen 
Zeilen der Versuch gemacht, eine allseitig befriedigende Lösung des Problems 

') Die Gegnerschalt mancher Junglehrer gegen den Seminarunterricht mag zu einem Teil auch 
in dieser nicht selten vorkommenden stiefmütterlichen Behandlung der experimentellen Psycho¬ 
logie wurzeln. 


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Martin Honecker, Experimentalpsychologie und Pädagogik 


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der möglichen Beziehungen zwischen Experimentalpsychologie einerseits und 
Pädagogik anderseits durch eine grün d legende Untersuchung anzubahnen, 
die vor allem die Bedeutung des Experimentes in der Psychologie selbst betrifft 
und auf diesem Wege dann leicht nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch 
die Grenzen seiner Anwendung beleuchtet. 1 ) 

Es bandelt sich somit um folgende Fragen: 

1. Worin besteht die Eigentümlichkeit jener Psychologie, die sich die „ex¬ 
perimentelle“ nennt? Doch da diese Frage sich sogleich von selbst durch 
den Hinweis auf das Experiment beantwortet, so muß man weiter fragen: 
Welche Rolle spielt das Experiment gerade in der Psychologie? 

2. Welche Beziehungsmöglichkeiten ergeben sich alsdann für die 
Pädagogik im Hinblick auf die so gekennzeichnete Experimentalpsychologie 
und das in ihr verwendete Experiment? 


Was ein wissenschaftliches Experiment ist, bedarf hier keiner weiteren 
Untersuchung. Es läßt sich für unsre Zwecke vorab kurz bestimmen als die 
planmäßige und willkürliche Herbeiführung eines Vorganges zum Zweck seiner 
wissenschaftlichen Betrachtung. So handelt es .sich in der Psychologie um 
eine derartige Herbeiführung eines seelischen Vorganges. 

Das Experiment stellt sich somit als eine Methode dar, als ein planmäßiges 
Verfahren, demnach als Mittel zu einem Zweck. Alle Mittel aber sind, will 
man sie beurteilen — und darum dreht es sich in unserm Falle — vom 
Standpunkt ihres Zweckes aus zu beschauen. 

Es entsteht also die neue Frage: Welche Zwecke können bei wissenschaft¬ 
licher Betätigung überhaupt in Rede stehen? Und weiter: Inwiefern kann 
solchen Zwecken. das Experiment, speziell das psychologische Experiment 
dienen? Wir sehen uns somit veranlaßt, zur Lösung unseres Problems all¬ 
gemeine wissenschaftstheoretische Betrachtungen zu Hilfe zu nehmen, deren 
Ort die Methodenlehre der Logik ist. 2 ) Wem eine solche Grundlegung un¬ 
nötig weit auszuholen scheint, wird wohl in der Folge eines anderen belehrt 
werden. 

Die reine, d. h. lediglich der Wahrheitsermittlung dienende Wissenschaft 
erstrebt zunächst einmal die Beschreibung der in ihrem Tatsachengebiet 
liegenden Einzelgegenstände. So sucht der Chemiker die Eigenschaften 
der Elemente zu ermitteln, der Literaturgeschichtler die einzelnen literarischen 
Produkte zu beschreiben, der Psycholog die seelischen Elementarerschei- 
mrngen zu erfassen. 

Sodann geht der Wissenschaftler dazu über, die tatsächlichen Beziehungen 
der Einzelgegenstände untereinander festzustellen, d. h. zu zeigen, in welchen 
konkreten oder allgemeinen (gesetzmäßigen) Verknüpfungen sie stehen. Dazu 
gehört vor allem die Ermittlung von Abhängigkeitsrelationen. Auf solche 


') Die folgenden Ausführungen decken sich inhaltlich mit Teilen von Vorträgen, die der Verf. 
5i ® gleichen Thema im Jahre 1922 auf einigen „Pädagogischen Wochen 11 des Zentraliostituts 
tär Erziehung und Unterricht gehalten hat. Mehrfache Anfragen aus dem Zuhörerkreise haben 
'«tznlaßt, daß diese grundlegenden Erörterungen in der vorliegenden Form einer breiteren öffent- 
***hkeit zugänglich gemacht werden. 

*) Man vergleiche die grundsätzlichen Untersuchungen zur Methodenlehre in meinem Buche 
»Qegenstandslogik und Denklogik“ (Berlin 1921, S. 87 ff.). 


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Art untersucht der Chemiker die gegenseitige Wirkung der Elemente und 
ihrer Verbindungen, während der Literarhistoriker den Entstehungsbedingungen 
der literarischen Werke nachgeht. Der Psycholog seinerseits widmet sein 
Augenmerk der gesetzmäßigen Verflechtung der seelischen Erscheinungen, 
z. B. dem Zusammenhang zwischen Empfindung und Vorstellung, zwischen 
Gegenstandserlebnis und Gefühl, zwischen Werten und Wollen usf. Er 
geht bekanntlich sogar über diese innerpsychischen Relationen hinaus 
und sucht psychophysische Zusammenhänge aufzudecken, d. h. Be¬ 
ziehungen zwischen seelischen Sachverhalten einerseits und anatomischen, 
physiologischen und physikalischen Tatsachen anderseits. 

Diese beiden Betätigungsweisen des Wissenschaftlers machen den Kern 
desjenigen Teiles der Wissenschaft aus, der gemeinhin „Forschung“ ge¬ 
nannt wird. Gegenstandsbeschreibung und Gegenstandsverknüpfung bilden 
demnach auch das Herzstück der psychologischen Forschung. 1 ) 

Ein anderes Ziel .wissenschaftlicher Tätigkeit, das vom Forschungszweck 
vollkommen verschieden ist, besteht in der Darstellung, d. h. in der 
Fixierung der Forschungsergebnisse und ihrer mündlichen oder schriftlichen 
Mitteilung an andere. Wie in jeder andern Wissenschaft, so hat natürlich 
auch in der Psychologie dieser Gesichtspunkt sein Recht. 

Wiederum ändert sich das Bild, wenn es nicht mehr auf interesselose Er¬ 
mittlung oder Mitteilung der Wahrheit, sondern auf die praktisch-tech¬ 
nische Verwertung der Forschungsresultate ankommt. So wird die reine 
Wissenschaft zur Technik, die reine Psychologie zur angewandten Psycho¬ 
logie. 

Daß beides, Darstellung wie Anwendung, die Forschung voraussetzt, ergibt 
sich aus der Sachlage von selbst. 

Besteht somit im ganzen ein dreifacher Zweck wissenschaftlicher Arbeit, 
so liegt — kehren wir zu unsrer Frage nach den Mitteln zurück — von 
vornherein die Annahme nahe, daß diese dreifache Zweckverschiedenheit 
auch eine Verschiedenheit der Mittel, d. h. der wissenschaftlichen Methoden 
bedingen werde. Für unser Thema gestaltet sich das Problem genauer zu 
der Frage, welchen Sinn das psychologische Experiment in der forschen¬ 
den, in der darstellenden und in der anwendenden Psychologie besitze. 

Wir beginnen mit der psychologischen Forschung, die, wie wir sahen, 
als Beschreibung und als Verknüpfung auftritt. Doch will die forschende 
Psychologie die Lösung dieser ihrer Aufgabe in Angriff nehmen, so steht 
sie (wie jede wissenschaftliche Forschung) vor einer neuen Frage: Sind 
denn die Gegenstände ohne weiteres der wissenschaftlichen Erfassung zu¬ 
gänglich, oder bedarf es dazu weiterer Mittel? 2 ) Das Problem, das hier auf¬ 
taucht, bezeichnen wir als das der Gegenstandsgewinnung. Es macht 
sich in jeder Wissenschaft geltend. So gewinnt etwa der Historiker, der 
z. B. einen alten Vertrag beschreiben will, diesen Gegenstand, indem er ihn 


') Der also innerhalb der psychologischen Forschung liegende Unterschied von beschreiben¬ 
der und verknüpfender Psychologie deckt sich nicht ganz mit der sonst oft betonten Differenz 
zwischen deskriptiver und explikativer Psychologie. Auch die Unterscheidung von ana¬ 
lytischer und synthetischer Psychologie meint nicht genau dasselbe. 

*) Wir beschränken uns im folgenden der Einfachheit halber auf die Vorarbeit zur Gegen¬ 
standsbeschreibung unter Vernachlässigung der Gegenstandsverknüpfung, für die jedoch ähnliches 
gilt wie für jene. 


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Experimentalpsycbologie und Pädagogik 


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in einer Handschrift findet, diese entziffert und auslegt. Das Problem der 
Methoden der Gegenstandsgewinnung entpuppt sich also als das alte Problem\ 
der Forschungsquellen, das besonders für die historischen Wissenschaften 
bereits eingehend behandelt worden ist. 

Sehen wir näher zu, so spaltet sich das Problem in drei Unterfragen: 

a) Wo ist der Gegenstand zu suchen? — Quell-Ermittlung. 

b) Wie wird die Quelle zugänglich? — Quell-Ersjrtüießung. 

c) Wie ist sie auszuschöpfen? — Quell-Benutzung. 

Das erste Problem der Gegenstandsgewinnung, das der Quell-Ermitt¬ 
lung, löst sich für die Psychologie ganz von selbst durch die Erwägung 
ihrer Gegenstände. Wo anders sind seelische Erscheinungen zu suchen als 
beim erlebenden Individuum? Dabei wird es gewiß einen nicht zu über¬ 
sehenden, aber doch nicht grundwesentlichen Unterschied bedeuten, ob der 
Psychologe jene seelischen Phänomene im eigenen oder im fremden Er¬ 
leben aufsucht. Es entsteht dann nur die weitere Frage, wie mir das Fremd- 
erteben zugänglich wird. 

Doch dies leitet schon zum zweiten Problem, zu dem der Quell-Erschließung 
Ober. Mit dem Hinweis auf mein eigenes Bewußtsein oder das des Mit¬ 
menschen ist erst der Ort aufgezeigt, sozusagen die Bühne angegeben, wo 
ach etwas abspielen kann. Will ich aber Seelisches erforschen, so muß es 
selbstverständlich zunächst tatsächlich da sein. Ist diese Voraussetzung 
erfüllt, so kann ich das seelische Geschehen einmal direkt erfassen, sei 
es, daß ich in der Selbstbeobachtung auf mein eigenes Erleben hinschaue, 
sei es, daß der Fremde ein Gleiches tut und das also Geschaute mir, dem 
Forscher, mitteilt. Ein andermal kann es jedoch geschehen, daß mir dieser 
direkte Weg verschlossen ist und ich gezwungen bin, mich auf einem Um¬ 
wege, indirekt, dem Gegenstände zu nähern. Darüber wird weiter unten 
einiges zu sagen sein. 

Beide Wege der Erfassung, der direkte wie der indirekte, setzen, wie ge¬ 
sagt, voraus, daß das gesuchte Erlebnis da ist oder einmal da war. An 
dieser Stelle hebt die weitere Betrachtung an. 

Wir bleiben zunächst beim direkten Erfassen. Das Erlebnis selbst trete 
zuvörderst als ein zufälliges auf. Ich habe etwa plötzlich eine Empfindung, 
die mir auffällt, z. B. eine Tonempfindung, und widme ihr meine beobachtende 
Aufmerksamkeit. Oder ich versuche ein Gefühl, einen Willensakt, einen 
Traum in rückschauender Beobachtung zu erfassen. 1 ) 

Für die psychologische Forschung ist es nun vorteilhafter, weil fruchtbarer, 
wenn diese natürliche Beobachtung von Erlebnissen durch eine eingestellte 
ersetzt wird; wenn ich also etwa mit dem Vorsatz einhergehe, alle Ton¬ 
empfindungen, die mir kommen, zu beobachten. 

Doch auf den Zufall des Eintretens sind beide Verfahrensweisen ebenso 
angewiesen, wie der Astronom auf den freilich voraus bestimmbaren Eintritt 
eines Sterndurchganges oder einer Sonnenfinsternis, wie der Meteorolog auf 
das schon schwerer zu berechnende Auftreten einer atmosphärischen Er¬ 
scheinung, wie der Seismolog auf das unvorhersehbare Erscheinen eines 
Erdbebens. 

Es hatte sich nun bekanntlich in den Naturwissenschaften gezeigt, daß 


’) Nicht viel anders ist’s, wenn ein fremder Beobachter mir seine Erlebnisse übermittelt. 


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wir einen Vorgang um so besser erfassen können, je genauer wir seinen Ein¬ 
tritt vorauszuseben vermögen; je erschöpfender ferner unsere Kenntnis seiner 
Bedingungen ist; je besser es schließlich gelingt, den Vorgang isoliert, mit 
andern möglichst wenig verquickt zu beobachten. Die Naturwissenschaften 
waren daher schon lange dazu Obergegangen, die zu beobachtenden Er¬ 
scheinungen einzeln zu erzeugen, d. h. experimentell herzustellen. 

Da aber der Psycholog für seine Gegenstände dieselben Wünsche betreffs 
Voraussehbarkeit, Bedingungskenntnis und Isolierungsmöglichkeit hegen muß, 
so lag die experimentelle Erzeugung oder Herstellung psychischer Vor¬ 
gänge nahe. 

Wir stehen hier bei der ersten Aufgabe des psychologischen Ex¬ 
perimentes. Unter möglichst genauer Kenntnis seiner Bedingungen und 
des Zeitpunktes seines Eintretens wird ein einzelnes Erlebnis künstlich, 
d. h. willkürlich und mit besonderen Mitteln hervorgerufen, damit es vom 
Erlebenden beobachtet und beschrieben werde. Man kann diesen Sinn des 
Experimentes durch die Bezeichnung „Darstellungsexperiment“ 1 ) oder 
„Herstellungsexperiment“ 2 ) ausdrücken. 3 ) 

All das betraf das direkte Erfassen des selbstbeobachteten Eigen- oder 
des mitgeteilten Fremderlebens. Wie aber schon vorhin angedeutet wurde, 
steht' uns noch ein zweiter, indirekter Zugang zum Erleben offen, und auch 
hier begegnen wir dem Experiment. Dieses indirekte Erfassen hält sich an 
die Äußerungen des Seelenlebens und sucht von diesen Zeichen aus deutend 
und rückschließend zum Seelischen selbst vorzudringen. Dabei macht es 
allerdings einen Unterschied aus, ob das zu erfassende Phänomen sich in 
der Gegenwart abspielt oder in der Vergangenheit liegt. 

Das gegenwärtige Seelenleben erschließe ich aus seinen Leistungen 
oder aus seinen Symptomen. An die Leistung wende ich mich, wenn 
ich etwa Vorstellungsverläufe aus Gedächtnisleistungen, Aufmerksamkeits¬ 
schwankungen aus Rechenresultaten, psychische Ermüdung aus ähnlichen 
geistigen Leistungen oder am Effekt körperlicher Arbeit ablesen will. Die 
schon im täglichen Leben übliche Symiptomverwertung ist bekanntlich 
wissenschaftlich zu der sog. Ausdrucksmethode verfeinert worden. Nach- 


*) Einen engeren Sinn hat das Wort „Darstellungsexperiment“ bei W. Baade (Ober psycholo¬ 
gische Darstellungsexperimente, Archiv lür die ges. Psychol. 35, 1916, S. 1—23; man ver¬ 
gleiche vom selben Vert. den Aufsatz „Aufgaben und Begriffe einer darstellenden Psychologie“, 
Zeitschr. fUr Psychol. 71, 1916, S. 366—367). Für Baade besitzt das Darstellungsexperiment 
nicht nur den Zweck, das Erlebnis herzustellen, sondern auch besondere Maßnahmen filr die 
Beobachtung zu treffen. 

*) Das Wort meint etwas anderes als die z. B. in der Psychophyaik gebräuchliche sog. „Her- 
stellungsmethode“. 

3 ) Der Vorteil, durch Wiederholung der gleichen Bedingungen das gleiche Erlebnis beliebig 
oft erneuern, somit Beobachtungen desselben Erlebenden oder gar verschiedener Erlebender mit¬ 
einander vergleichen zu können, steigert bekanntlich die Brauchbarkeit des Experimentes. Ver¬ 
nachlässigt man nämlich die Tatsache, daß verschiedene Beobachter um einige Nuancen ver¬ 
schiedene Erlebnisse beschreiben, hält man 6ich also an das allen Gemeinsame, so gelangt man 
zu den üblichen Durchschnittsresultaten der al 1 gemeinen Psychologie. Berücksichtigt man 
aber bei gleichen Versuchsbedingungeu die Abweichungen der einzelnen Beobachter, so ge¬ 
winnt man die persönlichen Eigentümlichkeiten, die den Gegenstand der differentiellen 
Psychologie bilden. Weisen diese individuellen Differenzen wiederum untereinander gewisse 
gruppenmäßige Übereinstimmungen auf, so kommt man in der Typologie zur Aufstellung be¬ 
stimmter Erlebnistypen. 


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Eiperimentalpsychologie nnd Pädagogik 


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dem z. B. festgestellt war, daß Gefühlsverläufe ihren charakteristischen Aus¬ 
druck in Veränderungen des Pulses, des Atems, des Gefäßvolumens usw. 
j finden, war der umgekehrte Weg, vom Ausdruck auf das Erleben zurück- 
r zuschließen, von selbst gegeben. 1 ) 

Fragen wir uns nun, was in diesen Dingen das Experiment vermag, so 
ist festzuhalten, daß es auch hier in erster Linie die willkürliche Erzeugung 
eines isolierten Erlebnisses zu bestimmtem Zeitpunkt und unter bekannten 
: Bedingungen bezweckt. 

Allerdings tritt in diesem Falle noch einiges hinzu. Erhält schon bei dem 
i vorhin besprochenen einfachen Herstellungsexperiment der Beobachter (die 
Versuchsperson) eine Instruktion, die in der Anweisung zum Be¬ 
obachten besteht, so gewinnt diese Instruktion im Leistungsexperiment 
' eine erhöhte Bedeutung. Sie umfaßt neben der Beobachtungsaufgabe noch 
die Vorschrift zum Vollziehen der Leistung, etwa der Rechenoperation oder 
! des Auswendiglernens usw. 

Diese Leistung selbst ist entweder eine rein psychische, z. B. eine 
Rechenaufgabe. Alsdann wird sie von der Vp: mündlich oder schriftlich 
fixiert. In andern Fällen stellt sie jedoch einen physikalisch meßbaren 
Effekt dar, etwa eine Gewichtshebung. Damit erwächst aber dem Experiment 
i noch eine letzte Aufgabe, und das gleiche bat bei jedem Symptom¬ 
versuch statt: es ist die Aufgabe der Leistungs- und Symptom¬ 
registrierung. Äußerlich, d. h. an dem Aufwand von Apparaten gemessen, 
mag diese Funktion sogar als die wichtigste Seite solcher Experimente er- 
, scheinen. Doch für die innerliche und wesentliche Betrachtung bleibt die 
| künstliche Erlebniserzeugung nach wie vor die Hauptsache. 

Bislang sprachen wir noch vom gegenwärtigen Erleben. Das ver- 
j gangene ist für unsern Gesichtspunkt ohne Belang. Zugänglich ist es in 
i objektiven, bleibenden Niederschlägen, sei es in mitteilenden Briefen, 

I Tagebüchern, Memoiren usw., sei es in Produkten künstlerischer oder gewerb¬ 
licher Tätigkeit, die unter Umständen einen Rückschluß auf das Erleben des 
Schaffenden gestatten. Vom Experiment ist hier nicht die Rede. Denn 
I im Vergangenen läßt sich nicht experimentieren. Wohl lassen sich — aber 
das ist ein anderer Gesichtspunkt — gegenwärtige Erlebnisse gerade mit 
I Hilfe des Experimentes gewissermaßen aufbewahren, so daß auf solche Weise 
vergangenes Erleben der späteren Forschung zugänglich bleibt. Denn die 
moderne Psychologie betrachtet nicht allein die Registrierung von Leistungen 
und Symptomen, sondern mehr noch die genaue Protokollierung der aus¬ 
führlichen Aussagen der Beobachter über die Versuchserlebnisse als ein un¬ 
entbehrliches Zubehör eines jeden psychologischen Forschungsexperimentes. 
Doch das führt uns bereits zum dritten Problem der Gegenstandsgewinnung, 
nämlich zur Frage der psychologischen Quellbenutzung. 

Auch dieser Punkt braucht in unserm Zusammenhänge nur kurz behandelt 
zu werden; das für das Experiment Bedeutungsvolle soll dabei im Vorder¬ 
gründe stehen. 

Zwar bedarf es zur Beobachtung und Feststellung der Eigenschaften 
■ psychischer Erscheinungen im Grunde genommen nur eines gelegentlichen 

*) Nicht immer wird bei der Anwendung dieser Methode genügend beachtet, daß, wie in der 
Medizin, nicht einzelne Symptome, sondern nur bestimmte Symptom komplexe oder Aus- 
druckskombinationen eine halbwegs sichere Diagnose erlauben. 


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Martin Honecker 


oder künstlichen Erlebnisses 1 ). Dennoch wird man der größeren Sicherheit 
halber, sowie zur Ausschaltung zufälliger Bedingungen und auch' zur Aus¬ 
merzung persönlicher Differenzen auf eine Häufung von Erlebnissen nicht 
verzichten. Darum sammelt der Psycholog die Gelegenheitserlebnisse 
in Fragebogen (Umfragen), vervielfacht er die künstlichen Erlebnisse 
in langen Versuchsreihen mit vielen Versuchspersonen. 

Das Vorgehen der psychologischen Gegenstandsgewinnung mag damit 
für unsere Zwecke genugsam gekennzeichnet sein 2 ). Auf den beschriebenen 
Wegen wird das Material für die Gegenstandsbeschreibung und die Gegen¬ 
standsverknüpfung herangeschafft, damit also die eigentliche Forschung 
vorbereitet. Diese selbst hat für das Experiment keinen Patz. Sie be¬ 
dient sich nämlich auf Grund des mit oder ohne Experiment zusammen¬ 
getragenen Stoffes ganz eigener Methoden, als da sind: Analyse, Ver¬ 
gleich, Klassifikation, statistische Berechnung und Interpretation 2 ). 

Es beschränkt sich also das Experiment im Gebiete der psycho¬ 
logischen Forschung durchaus auf die vorbereitende Gegenstands¬ 
gewinnung und dient dort 1. der Herstellung von Erlebnissen, 2. der Aus¬ 
lösung von Leistungen, 3. der Aufzeichnung von Leistungen und Sym¬ 
ptomen. 

Diese gewiß nicht unwichtigen Funktionen des psychologischen Experimentes 
können die Tatsache nicht verschleiern, daß es sich, weil nur der Gegen¬ 
standsgewinnung dienend, lediglich im Vorhofe der Forschung abspielt. 
Der Kern der Forschung besteht ja in der wissenschaftlichen Beschreibung 
der Gegenstände und ihrer Verknüpfung. Hier ist somit ein Wesensunter¬ 
schied zwischen der auf Experimente gestützten und der auf gelegentlicher 
Beobachtung fußenden Psychologie in der Methode nicht möglich. Die 
experimentelle Psychologie ist also nur durch die eigentümliche Art 
ihrer vorbereitenden Gegenstandsgewinnung gekennzeichnet. 

Nachdem die Rolle des Experimentes in der Forschung festgestellt ist, 
wenden wir uns zu der andern Frage, welches seine Bedeutung für die 
übrigen wissenschaftlichen Tätigkeiten sei. Hat es etwa auch einen Platz 
in der Darstellung? Die Frage muß schon allgemein im Hinblick auf 
das Demonstrations-Experiment bejaht werden. Dieses besteht bekannt¬ 
lich, ohne selbst Forschungszweck zu haben, durchweg in einer meist ver¬ 
kürzten und dem Darstellungszweck angepaßten Nachahmung des Forschungs¬ 
experimentes, will mithin, da dieses der Gegenstandsgewinnung gilt, seiner¬ 
seits nur das jeweils in Rede stehende Phänomen vorfuhren, falls es nicht 
die Darlegung des Forschungsverfahrens selbst bezweckt. Auch das psycho¬ 
logische Experiment kann, ähnlich wie das physikalische, chemische oder 
physiologische, die Form einer für den Unterricht berechneten Demonstration 
annehmen. Da in diesem Falle der Darstellungszweck die Hauptsache ist, 

! ) Das gilt jedoch nicht für die Gegen Stands Verknüpfung, die vielmehr einer langwierigen, 
auf zahlreiche Einzelfälle gestützten Induktion nicht entarten kann. 

2 ) Die Gegenstandsverknüpfung bedarf naturgemäß einer ähnlichen Vorbereitung wie die oben 
allein beachtete Gegenstandsbeschreibung. Ihr dient das Experiment in Gestalt des induktiven 
„Kausalexperimentes“ (vgl. W. Baade, Über psycholog. Darstellungsexperimente, S. 7ff.). 

3 ) Es sind diejenigen Methoden, die William Stern (Die differentielle Psychologie in ihren 
methodischen Grundlagen, 3. Aufl. Leipzig 1921, S. 28) als „Verarbeitungsmethoden“ von den 
„Feststellungsmethoden“ scheidet, wobei er unter den letzteren die Methoden zur Beschaffung 
des Rohmaterials, also unsere „Methoden der Gegenstandsgewinnung“ versteht. 


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Experimentalpsychologie und Pädagogik 


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dieser aber allen Demonstrationsexperimenten gemeinsam ist, so werden hier 
etwaige Besonderheiten des psychologischen Experimentes, die uns in diesem 
Zusammenhänge interessieren könnten, nicht zu erwarten sein. 

Als letzter Gesichtspunkt trat oben jener der angewandten Wissen¬ 
schaft auf. Auf unser Problem übertragen, gestaltet er sich zu der Frage 
nach der Bedeutung des Experimentes für die angewandte Psychologie. 
Daß es für diese Disziplin unentbehrlich geworden ist, lehrt ein Blick in 
ihren gegenwärtigen Betrieb. Daß es aber auch theoretisch betrachtet ein 
überaus brauchbares Hilfsmittel der angewandten Psychologie darstellen muß, 
«gibt sich aus folgender kurzer Überlegung. 

Die angewandte Psychologie sieht ihre Aufgabe wesentlich darin, das 
Vorhandensein bestimmter psychischer Vorgänge oder Dispositionen zu prak¬ 
tischem Behufe* nachzuweisen. Da bieten sich von vornherein zwei Wege: 
Der Schluß aus den Leistungen und der Schluß aus den Symptomen. Auf 
beiden Wegen aber können wir nach früher Gesagtem das Experiment 
benutzen. Freilich, ein erheblicher Unterschied liegt jetzt vor; er macht 
ach auch im Charakter des Experimentes geltend. Diente das Leistungs¬ 
und das Symptomexperiment, so wie es oben beschrieben wurde, der 
Forschung, so tritt es hier als Probe, als „Test“, als Zeugnisversuch zu 
rein praktischem Zweck auf. Daher fehlt hier das Unsichere, Tastende, 
Suchende des Forschungsexperimentes, fehlt vor allem die hin und her 
gehende Bedingungsvariation nicht minder als auch der eingehende Erlebnis¬ 
bericht. Dafür bietet das Experiment der angewandten Psychologie das Bild 
eines festen, wohlerprobten Schemas, dessen Durchführung fast zur hand¬ 
werklichen Fertigkeit werden kann. 

Betrachteten wir im vorstehenden auch vornehmlich die positive Be¬ 
deutung des psychologischen Experimentes, so wurde doch gelegentlich 
auf die negative Seite, auf seine Grenzen hingewiesen. Darüber noch 
einige Worte! Wir beschränken uns dabei auf das Forschungsexperiment, 
über dessen Grenzen auch die andern Arten nicht hinausreichen können. 

Die Beschränkung des Forschungsexperiraentes auf die Gegenstands¬ 
gewinnung war oben schon dargetan. Aber auch in diesem Bereich ist es 
von der Alleinherrschaft weit entfernt. Die gelegentliche Beobachtung 
wird daneben stets ihr gutes Recht behaupten können. Denn das im Labo¬ 
ratorium Festgestellte trägt — wenn auch heute komplizierte Erlebnisse des 
Denkens und Wollens mit Erfolg in den Rahmen des Experimentes gebracht 
worden sind — immer einen gewissen Hauch künstlicher Zucht an sich; es 
fehlt ihm die Nähe des frischen Lebens, zumal da es das Einzelerleben viel¬ 
fach nicht nur isoliert, sondern auch vereinfacht und schematisiert. Die ge¬ 
legentliche Selbstbeobachtung wird daher überall dort ergänzend einspringen 
müssen, wo es etwa der Psychologie daran liegt, dem unermüdlich fließen¬ 
den, reichen Strom des Alltagserlebens nicht allzu ferne zu bleiben. 

Dazu tritt als zweites, daß es der Erlebnisse genug gibt, welche dem Ex¬ 
periment in ihrer spezifischen Eigenart nie ganz zugänglich sein werden*) 
°der gegen deren künstliche Erzeugung im Experiment Recht, Sitte und 
Sittlichkeit Einspruch erheben müßten 2 ). 

') Dabin gehören unseres Erachtens, trotz aller Mühen und aller scheinbaren Erfolge einer 
experimentierenden Religionspsychologie, ihrem Wesen nach die religiösen Erlebnisse zentraler Art. 

*) Man denke etwa an das Erlebnis der Todesangst oder an tiefgreifende Gewissenskämpfe. 


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I 

30 Marlin Honecker 


Kurz: das Experiment ist auf keinen Fall Alpha und Omega der ganzen 
Psychologie. Die Gelegenheitsbeobachtung wird als zweite Quelle der 
Materialbeschaffung niemals zu entbehren sein 1 )* Erst in ihrer Gesamtheit 
bilden beide für die Psychologie das „fruchtbare Pathos der Erfahrung“. 

n. 

Von fundamentalen Gedanken aus haben wir uns (im ersten Teil des Auf¬ 
satzes)' die Rolle des Experimentes innerhalb der Psychologie vor Augen 
geführt. Unser Thema leitet uns nunmehr zu der Frage: „Was bedeuten 
Experimentalpsychologie und psychologisches Experiment für die Päda¬ 
gogik?“ Diese Hauptfrage soll in mehreren Richtungen verfolgt werden. 

Daß die Psychologie überhaupt als Hilfsdisziplin und Grundwissenschaft 
der Pädagogik anzusprechen sei, ist eine Binsenwahrheit, deren Bestreitung 
niemand unternehmen wird. Nun dürfte es aber außer Zweifel stehen, daß 
eine auch experimentell verfahrende Psychologie einer andern, welche auf 
das Experiment verzichten zu müssen glaubt, einmal durch eine gewisse 
Exaktheit überlegen ist. Sie kommt ferner eher zum Ziel als ein Verfahren, das 
alle seine Gegenstände erst abwarten muß, und hat infolgedessen einen größeren 
Reichtum an Resultaten aufzuweisen. Darum wird die Pädagogik, sofern sie bei 
der Psychologie Anlehnung sucht, an der experimentellen Psychologie keines¬ 
wegs achflos vorübergehen dürfen, wenn gerade diese etwas für die Psycho¬ 
logie Belangreiches aufgedeckt hat. Freilich, dieses „Wenn“ ist von ausschlag¬ 
gebender Bedeutung. Man müßte also die Resultate eben der Experimental¬ 
psychologie daraufhin durchmustern, ob sie von pädagogischer Bedeutung sind. 

Wir können uns aber diese Arbeit erlassen. Es ist zu bekannt, daß die 
Pädagogik auf allen experimentell bearbeiteten Gebieten der Psychologie 
Anknüpfungspunkte gefunden hat oder finden kann, sei es in der Sinnes¬ 
oder in der Vorstellungs-, in der Aufmerksamkeits- oder in der Gedächtnis-, 
in der Gefühls-, der Denk- oder der Willenspsychologie. Wer demnach eine 
pädagogische Bildung erhält und dabei naturgemäß auch in Psychologie 
unterrichtet wird, dem sollte man gerade die Resultate der experimentellen 
psychologischen Forschung nicht — wie es hie und da immer noch ge¬ 
schieht — vorenthalten 2 ). 

Doch nicht allein die mit Hilfe des Experimentes gewonnenen Resultate 
der Psychologie dürfen uns als mögliche Beziehungspunkte für die Pädagogik 
erscheinen. Auch an der Methode selbst, also an das Experiment als solches 
müssen wir denken. 

Das psychologische Experiment tritt nach früher Gesagtem in drei Formen 
auf: als Forschungs-, als Demonstrations- und als Testversuch. Vom 

') Es verdieut Beachtung, wenn Job. Lindworsky sein Buch „Experimentalpsychologie“ 
(Philos. Handbibliotb., Bd. 6, Manchen 1921) zwar nach der experimentellen als der haupt¬ 
sächlichen Methode benennt, dabei aber durchaus die Bedeutung der gelegentlichen Beobachtung 
anerkennt. Man vgl. auch 0. Kttlpe, „Ober die Methoden der psycholog. Forschung“, Inter¬ 
nat. Monat8schr. 8 (1914). 

2 ) Wir besitzen bereits genug Leitfäden der Psychologie, weiche auch die pädagogisch be¬ 
langreichen Resultate der Experimentalpsychologie berücksichtigen, sei es mit pädagogischen 
Anwendungen, sei es ohne solche. Derartige Darstellungen mit dem Titel „Pädagogische 
Psychologie“ zu belegen, ist aber angesichts der vielgestaltigen Bedeutung dieses Ausdrucks 
nicht empfehlenswert. Besser ist die von O. Lipmann gewählte Bezeichnung: „Psychologie lür 
Pädagogen“ bzw. „für Lehrer“. 


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Experimentalpsychologie und Pädagogik 


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Forschungsexperiment wird weiter unten die Rede sein. Daß ferner der 
psychologische Unterricht im pädagogischen Bildungsgänge sich des Demon¬ 
strationsexperimentes bedienen kann, bedarf als Selbstverständlichkeit 
keiner weiteren Erörterung. So steht jetzt nur noch das Testexperiment 
der angewandten Psychologie zur Betrachtung. 

Oberall, wo dieser Versuch zur Feststellung psychischer Eigenschaften und 
Dispositionen auftritt, herrscht ein ganz bestimmter leitender Gesichtspunkt 
vor. Nun stellt aber die Pädagogik in gewissem Sinne eine Anwendung 
der Psychologie dar, und auch sie bringt spezielle, eben pädagogische 
Gesichtspunkte dazu mit. Es liegt somit von vornherein der Gedanke nahe, 
dafi sie gleichfalls von den experimentellen Methoden der angewandten 
Psychologie Gebrauch machen könne. 

Wir können, wie oben, auch hier auf eine genauere Darlegung der tat¬ 
sächlichen Ausgestaltung dieser Beziehungen verzichten. Die Pädagogik hat 
sch als „experimentelle Pädagogik“ der Testmethode in einer Weise 
bemächtigt, daß noch gar kein Ende der Ausnutzung solcher Versuche für 
Dtiterrichts- und Erziehungszwecke abzusehen ist. Es sei nur stichwortartig 
darauf hingewiesen, daß sich das psychologische Experiment für die Prüfung 
der Sinnes- und Beobachtungsfähigkeiten der Schüler, ihres Vor¬ 
stellungsbesitzes und ihrer Vorstellungseigenart sowie für die 
Feststellung der Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Arbeits-, ins¬ 
besondere der Lerntypen überaus fruchtbar gezeigt hat. Namentlich ist 
der Testversuch in Form des Begabungsexperimentes in letzter Zeit von 
den Pädagogen vielfach praktisch ausgewertet worden. Die Intelligenz¬ 
präfungen beim Schuleintritt zur Ausscheidung geistig schwacher Kinder, 
die Begabungsprüfungen während des normalen Schullehrganges zur Auslese 
hochbegabter Schüler und endlich die Prüfung der Sonderbegabung beim 
Verlassen der Schule zur Unterstützung der Berufsberatung erobern sich ein 
immer breiteres Feld der Anwendung und gewinnen eine stets wachsende 
Anhängerschaft. Über die viel umstrittene Frage, ob die Schule der rechte 
Ort für solche Versuche und ob der Lehrer der geeignete Versuchsleiter 
sei, wird gleich noch einiges zu sagen sein. 

Der eben angedeutete Gedanke, daß die Pädagogik mit ganz bestimmten 
Gesichtspunkten an die Psychologie herantrete, gibt Anlaß zu einer dritten 
Betrachtung. Unter neuen Gesichtspunkten entstehen der Forschung allemal 
neue Aufgaben. Daher ist der pädagogische Standpunkt geeignet, der 
psychologischen Forschung neue Aufgaben aufzuzeigen, neue Themata zu 
stellen, zu deren Bearbeitung unter Umständen psychologische Forschungs¬ 
experimente erforderlich sind. 

So wird von der Unterrichtslehre her die psychologische Untersuchung des 
Unterrichtsmaterials (etwa der Schriftarten) sowie der Unterrichtsform (z. B. 
der Bedingungen der anschaulichen Darbietung, der Anordnung der Stoffes 
im Stundenplan, der Mittel zur Beeinflussung der Aufmerksamkeit, der 
psychischen Wirkungen körperlicher und geistiger Ermüdung usf.) angeregt. 
All das bedeutet aber nicht bloße Resultatausnutzung und Anwendung, 
sondern vielfach ganz neue Themenstellung und neue Forschung, die nicht 
selten ohne Experiment gar nicht auszukommen vermag 1 ). 

') Vgl. E. Meuraann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I, 

Aufl. Leipzig 1916, S. 14, 44, 49 !!. 


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Martin Honecker 


Das ist aber ein Punkt, an dem sich ein Streit erhebt. Stehen wir hier 
vor einer neuen Wissenschaft, die, zwischen Pädagogik und Psychologie 
liegend, die mit jener nur das Thema, mit dieser nur das Experiment gemein¬ 
sam hat? Oder liegen die gekennzeichneten Aufgaben in einem Zweig der 
Psychologie? Oder fallen sie endlich der Pädagogik selbst anheim? 

Bevor wir jedoch hier eine Lösung versuchen, müssen wir uns eins klar 
machen: Kompetenzstreitigkeiten und Grenzkonflikte sind ein bevorzugter 
Tummelplatz moderner wissenschaftlicher Kontroverse. Nicht selten ist die 
Zuweisung einer Frage an diese oder jene Wissenschaft von tiefreichender 
Bedeutung, wenn nämlich beide Disziplinen im Grunde genommen ver¬ 
schiedene Gegenstände oder mindestens wesensverschiedene Gesichtspunkte 
und einander völlig fremde Methoden aufzuweisen haben 1 ). In andern Fällen 
liegt jedoch eine Sachlage vor, die von der oben beschriebenen gänzlich ver¬ 
schieden ist. Manche wissenschaftliche Grenzkontroverse übersieht, daß die 
Welt der Tatsachen nicht überall in scharf abgegrenzte, sozusagen durch 
unüberwindliche Stacheldrahtzäune getrennte Bezirke zerfällt, daß es viel¬ 
mehr an vielen Punkten genug und übergenug hin- und herwebende Be¬ 
ziehungen gibt, daß also die Tatsachengebiete nicht selten unmerklich in¬ 
einander übergehen und eine scharfe Grenzscheide darum nicht immer zu 
ziehen ist. Die Wissenschaftsgebiete sind oft mit Feldern zu vergleichen, 
die zwar von verschiedener, aber doch verwandter und dazu ineinander 
überfließender Bodenbeschaffenheit sind, so daß ich manchmal erst an den 
fremden Blumen, die da wachsen, merke, daß ich von dem einen Boden 
zum andern hinübergewechselt bin. 

So ähnlich ist’s bei Psychologie und Pädagogik in bezug auf bestimmte 
Forschungen und die Anwendung des Forschungsexperimentes. Ob psycho¬ 
logische Forschungsversuche mit pädagogischer Themenstellung in die Psycho¬ 
logie oder in die Pädagogik oder zwischen beide gehören, ist eine Frage, 
die sich wohl nicht glatt nach einer Seite beantworten läßt 2 ). Fordern 
aber die konkreten Umstände eine klare Antwort, fragt man etwa, welche 
Persönlichkeit zu solchen Experimenten berufen sei, so lautet wohl die 
beste Lösung: Es arbeite auf diesem Gebiete der, welcher beides, Psychologie 
und Pädagogik, in seinem Können vereinigt. Der bloße Experimentalpsycholog, 
dem die pädagogische Einstellung abgeht, tut’s ebensowenig wie der Pädagog 
mit psychologischer Durchschnittskenntnis. Namentlich verdient hervorgehoben 
zu werden, daß ein gedeihliches experimentelles Forschen nur dem möglich 
ist, der sich in langer und sorgfältiger praktischer Schulung an einem psycho¬ 
logischen Laboratorium eine innige Vertrautheit mit diesem fehler- und 
tückereichen Verfahren erworben hat und auch mit den physikalisch-tech¬ 
nischen Faktoren aufs genaueste bekannt ist. Vor der Vernachlässigung 
dieser Vorbedingungen und vor dem leichtsinnigen Drauflosexperimentieren 
kann nicht nachdrücklich genug gewarnt werden. Und noch ein zweites: 
Wer sich zu experimentell-pädagogischer Forschung befähigt glaubt, der 
arbeite an einem psychologischen oder pädagogisch-psychologischen Institut 

*) Man denke an den vom Verf. in der obengenannten Schrift nachgewiesenen Unterschied 
zwischen der Gegenstandslehre und der eigentlichen Logik als Denklehre sowie an die oft be¬ 
handelte Differenz zwischen der letzteren und der Denkpsychologie. 

a ) Meum&nn weist psychologische Experimente mit pädagogischer Einstellung der „experi¬ 
mentellen Pädagogik“, d. h. aber einem Zweige der Pädagogik zu (a. a. 0. S. 13, 27, 42). 


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Experimentalpsycbologie und Pädagogik 


33 


oder doch in steter Verbindung mit einem solchen. Denn unentbehrlich ist 
nicht allein die Benutzung der teilweise sehr kostspieligen Apparatur, sondern 
mehr noch die ständige persönliche Berührung mit einem Fachmann von 
Ruf, der bei der Auswahl des Themas, dem Entwurf des Versuchsplanes und 
der Versuchstechnik, der Durchführung der Experimente und der Auswertung 
ihrer Ergebnisse mit seinem Rat fortwährend zur Seite steht 

Der praktische Schulmann, der etwa dem psychologischen Versuch sym¬ 
pathisch gegenübersteht, wird hier vielleicht erstaunt fragen, ob denn 
das Experiment gänzlich aus der Schule verbannt sein solle. Darauf ist 
zunächst zu antworten, daß jetzt vom Forschungsexperiment die Rede 
ist Dieses aber, das muß zugegeben werden, macht unter Umständen den 
Klassen versuch erforderlich, und dieser ist somit unter diesen Umständen 
an sich berechtigt. Der Psycholog muß natürlich dabei auf Beachtung der 
oben dargelegten Bedingungen Wert legen, während man von pädagogischer 
Seite verlangen wird, daß die Schulaufsichtsbehörden vorher ihre Einwilligung 
gtben müssen und der Unterricht unter dem Versuch in keiner Weise leiden 
darf. 

Etwas anders liegt die Sache beim Testexperiment 1 )* Zwar verlangt 
auch seine Anwendung im Klassenzimmer das Einverständnis, u. U. sogar 
den Auftrag der Vorgesetzten. Ebenso sollte auch dieser Versuch niemals 
in spielerischem Dilettantismus, sondern nur in der ernsten Absicht, das 
Wohl der Schüler selbst zu fördern, unternommen werden. Allein die An¬ 
forderungen an den Versuchsleiter können etwas herabgestimmt werden. 
Denn wer Testversuche unternimmt, braucht sich seine Technik nicht erst 
selbst zu suchen und zu bilden, sondern kann von der angewandten Psycho¬ 
logie ein fertiges und wohlerprobtes Schema übernehmen. Immerhin ver¬ 
langen auch diese Experimente eine gute Schulung und vor allem viel Liebe 
und Sorgfalt bei der Durchführung. Nicht umsonst hat William Stern 
die Einrichtung des Amtes eines Schulpsychologen, der ein Analogon 
zum Schularzt bilden würde, gefordert. Allein für viele, vielleicht für die 
meisten Fälle wird dieses heutzutage ein frommer Wunsch bleiben 2 ). Da 
mag füglich der mit dem Testexperiment vertraute Lehrer einspringen. Die 
Notwendigkeit einer gründlichen, fachmännisch geleiteten Vorbereitung muß 
auch in diesem Falle ausdrücklich bptont werden; daß sie auch in „Arbeits¬ 
gemeinschaften“ oder „Kursen“ erworben werden könne, ist nur unter der 
einen Bedingung zu bejahen, daß die Leitung in der Hand einer besonders 
befähigten und im Experiment gründlich geschulten Persönlichkeit liegt. 
Eine Vorbildung zur Testverwendung von jedem Kandidaten des Schulamtes 
zu verlangen und darauf auch bei der Neugestaltung der Lehrerbildung 
Rücksicht zu nehmen, würde unseres Erachtens zu weit gehen. Selbst wenn 
die Veranstaltung von Testversuchen, etwa zur Vervollständigung der Personal¬ 
bogen, künftig einmal offiziell angeordnet werden sollte, wäre doch zu be¬ 
achten, daß zum Experimentieren nicht nur Wissen, sondern auch eine ge¬ 
wisse Veranlagung gehört — und die ist nicht jedem eigen, noch ist sie zu 
erwerben. Alsdann würde es sich wohl empfehlen, das Ideal des Schul- 


') Manchenorts ließe sich vielleicht in Verbindung mit der Berulsberatung einiges erreichen. 
*) Beachtenswerte Winke gibt neuerdings Friedr. Schneider, Schulpraktische Psychologie. 
(Handbücherei der Erziehungswissenschalt, Bd. 2 ) Paderborn 1022 , S. 161. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3 


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34 Martin Honecker, Experimentalpsychologie und Pädagogik 


Psychologen in kleinerem Maßstabe durchzuführen, indem man befähigten 
und geeigneten Kandidaten die Möglichkeit gäbe, sich in der Praxis der Test¬ 
versuche auszubilden, und sie dann in kleineren oder größeren Schulver¬ 
bänden mit der Vornahme solcher Experimente betraute. Der Klassenlehrer 
selbst müßte natürlich mit dieser Persönlichkeit Hand in Hand arbeiten; 
einige Sparten des Personalbogens würde er seinerseits selbst auszufüllen 
haben. 

Unsere Frage nach der Bedeutung der experimentellen Psychologie und 
des psychologischen Experimentes für die Pädagogik dürfte im vorstehenden 
wenigstens den allgemeinen Umrissen nach und hinsichtlich der positiven 
Seite beantwortet sein. Die grundsätzliche Orientierung, mit der wir an¬ 
hoben, gestattet uns die Hoffnung, eine allseitige Betrachtung def Haupt¬ 
frage erzielt zu haben. 

Auch hier soll zum Schluß die negative Bedeutung, d. h. die Begrenztheit 
des Experimentes nach der Sdite der Pädagogik hin, kurz behandelt werden. 
Kein besonnener Psycholog oder Pädagog — und mag er sonst dem Ex¬ 
periment noch so sehr das Wort reden — wird etwa die Meinung vertreten, 
daß die „experimentelle Pädagogik“ das gesamte Problemgebiet der Päd¬ 
agogik umfasse. Denn die Erziehungswissenschaft kann, wie wir schon sahen, 
auch eine nichtexperimentierende Psychologie zu Rate ziehen. Ferner ist zu 
bedenken, daß eine experimentell-psychologische Bearbeitung pädagogisch 
belangreicher Fragen für die pädagogische Theorie nicht mehr als eine 
Hilfe darstellen kann. Eine solche Forschung kann nur das Material, besser 
gesagt: nur einen Teil des Materials herbeischaffen, mit dem die eigentliche 
Theorie der Pädagogik arbeitet, um ihr Normsystem zu errichten *). 

Ebenso wäre es töricht, wollte der praktische Schulmann in der Ver 
wendung des Testexperimentes mehr als eine willkommene Unterstützung 
seines pädagogischen Wirkens erblicken. Die Testversuche können für den 
pädagogischen Praktiker immer nur eine wegebnende Hilfsarbeit darstellen, 
hinter der sein eigentliches Schaffen niemals zurücktreten darf. Nicht minder 
wäre es verwerflich, wenn ein Pädagoge sich in allen konkreten Fällen der 
Praxis auf die Unterstützung durch das Experiment verlassen wollte. Manch 
wirkliches Vorkommnis liegt so kompliziert,, daß es nicht nur aller Lehrbuch¬ 
weisheit, sondern auch jeglicher experimenteller Technik spottet. In solchen 
Fällen haben von jeher nur ein gutes Maß praktischer Menschenkenntnis 
und die Fähigkeit, sich in die Seele des Zöglings einzuleben, zum Ziele 
führen können. 



Über die Entwicklung 
der Idealbildung in der reifenden Jugend. 

Von William Stern. 

Vorbemerkung: Auch dieser Aufsatz ist ein Abschnitt aus dem Buche „Das Seelenbild 
der reifenden Jugend 14 , dessen Abschluß sich leider über den ursprünglich angesetzten Zeitpun 
verzögert Die vorliegende Betrachtung über die Stellung der Jugendlichen zu den objektiven 
Wertgebieten schließt sich an das bereits früher veröffentlichte Kapitel an, das die Entdeckung 

Ähnlich Meumann (a. a. 0. S. 56 f.). 


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William Stern, Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend 35 


des Ichwertes durch den Jugendlichen behandelt („Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen“. Diese 
Zeitschrift 23. Jahrg., Heft 1, 2, S. 8ff. 1922). Ebenso wie der erste Aufsatz bezieht sich auch 
dieser auf allgemeine Wesenszüge des mit der Pubertät einsetzenden Jugendalters; deshalb 

I wird auf die zahlreichen Spezialuntersuchungen über die Ideale Jugendlicher nicht Bezug ge¬ 
nommen. (Vgl. die Vorbemerkung zu dem früheren Aufsatz). 

, Die Entdeckung und Betonung des Ich-Wertes gibt die eine Seite des jugend- 
| liehen Seelenbildes; sie erhält ihre notwendige Ergänzung in dem Verhältnis 
za den Nicht-Ich-Werten, das in der Pubertätszeit eine ähnliche grundstürzende 
Wandlung erfährt. Selbst bei noch so intensiver Innenwendung vermag doch 
der junge Mensch nicht von der Existenz der Außenwelt abzusehen, von 
deren Vergangenheit er bedingt, von deren Gegenwärtigkeit er bedrängt, 
von deren Zukunft er beansprucht wird. Im Gegenteil: sein Ich selbst erhält 
| erst Sinn und Begrenzung durch das Aufeinanderprallen seiner eigenen un- 
; bestimmten Sehnsüchte mit objektiven Aufgaben und Forderungen, welche 
| aus der Welt zu ihm herüberdringen. Erotik und Berufswahl, Kunstgenuß 
' und Andacht, soziale Empfindung und politische Gesinnung — sie alle haben, 
* abgesehen davon, daß sie brennende Erlebnisse des Subjekts sind, ihr trans- 
j subjektives Ziel, ihren kosmischen Gehalt: Wie steht der Jugendliche zu 
diesen Gehalt, zu den objektiven Werten? 

Anch das Kind weiß von Vaterland, von Menschheit, von Gott; es kennt 
Gefühle der Liebe oder der Verehrung zu den Eltern und Erziehern, dem 
Herrscher, dem Freunde; es weiß um das Bestehen von Regeln, denen 
es sich zu fügen, von Aufgaben, die es zu erfüllen hat. Insofern sind also 
die objektiven Werte längst in seinen Gesichtskreis getreten. Und doch kann 
man beim Übergang zur Reifezeit auch hier von einer Entdeckung sprechen. 
\ Dem Kind sind die Werte gegeben als Tatsächlichkeiten, für den Jugend- 
üchen verlieren sie die harte Zufälligkeit des bloßen Daseins; hinter ihrer 
augenblicklichen Wirklichkeit wird ihr tieferer Sinn, ihre erst zu verwirk- 
i liebende wahre Bedeutung gesucht. Dem Kinde sind die Regeln des 
| Handelns auferlegt als Muß-Prinzipien, die mit gleicher Bündigkeit für Äußer- 
I lichkeiten und innerliche Verhaltungsweisen, etwa für die Innehaltung ge- 
wiser Betragensvorschriften in der Schule ebenso wie für das eigentliche 
moralische Tun gelten; das „Du sollst“ klingt ihm in keiner Weise anders 
ab das „Du mußt“. Für den Jugendlichen geht diese äußere Zwangsläufigkeit 
1 der Forderungen verloren; ja er bäumt sich mit Macht dagegen auf. Dafür 
' entwickelt sich das „Soll-Bewußtsein“ als eine besondere diesem Müssen 
j entgegengesetzte Erlebnissphäre; es ist das Bewußtsein von Forderungen, die 
zwar da draußen in dem — zu verwirklichenden — Wertträger ihren Ursprung 
1 and ihr Ziel haben, die aber für das Individuum nur deshalb Geltung ge¬ 
winnen, weil die Objekte und ihr Wert innerlich erkannt und bejaht, zu 
Idealen erhoben werden. 

Man hat im Hinblick darauf, daß der Jugendliche der Ideale und Grund- 
[ sitze fähig wird, behauptet, daß sich in dieser Zeit erst die „Abstraktions- 
1 fähigkeit“ entwickle; wir mußten dieser Behauptung schon einmal, bei Be- 
, l sprechung der Ichwert-Entdeckung, entgegentreten. Allgemeines erfassen 
• kann auch schon das ältere Kind; es versteht z. B. den Begriff der Lüge und 
den generellen Sinn des Gebotes „Du sollst nicht lügen“; durch richtige 
Nennung von Beispielen erweist es, daß ihm Begriff und Gebot als Ausdruck 
des Gemeinsamen für viele verschiedenartige Einzelfälle geläufig ist. Was 
sich erst in der Reifezeit entwickelt, ist demnach nicht die Abstraktionsfähigkeit 

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William Stern 


überhaupt, sondern eine höhere Art der Abstraktionsfähigkeit: das Allgemeine: 
was jetzt gedacht wird, ist überhaupt nicht mehr aus den einzelnen Erfahrungen 
extrahiert, sondern wird ihnen als sinngebender Maßstab gegenübergestellt; 
es wird zur regulativen Idee 1 ). Fast ist man bewogen, die alte Scheidung 
von Verstand und Vernunft wieder einzuführen: verständig denkt das Kind, 
wenn es das Einzelne zu Begriffen generalisiert, vernünftig denkt der Jugend¬ 
liche, wenn er das Einzelne an Idealen mißt. Der Begriff der Lüge ergibt 
sich dem Kinde durch Verallgemeinerung aus vielen Erfahrungen von (ver¬ 
botenen und bestraften) Lügenfällen, dem Jugendlichen durch die Abweichung 
des empirischen Geschehens von dem Ideal der Wahrhaftigkeit. 

So zeigt sich also beim Jugendlichen in einem ganz anderen Sinne eine 
Überwindung der bloßen Erfabrungsgegebenbeit: er fragt — was das Kind 
noch nicht tut — nach der Bedeutung der erfahrbaren Welt; „Bedeutung“ 
aber heißt stets: Hindeutung auf etwas anderes, und dies andere ist eine Welt 
der Ideale, die dem Kinde noch fremd ist. Wir haben an dieser Stelle nicht 
nach dem Recht und der objektiven Geltung dieser Ideale zu fragen; nur 
der psychologische Zug geht uns an, daß die Reifezeit nach einer solchen 
Idealwelt sucht, sie sich konstruiert und sie sogar in einen möglichst weiten 
Abstand von der Wirklichkeit bringt. In jedem Jugendlichen steckt stets ein 
Stück Platonismus; allgemeiner ausgedrückt: der metaphysische Trieb 
erwacht. 

Der metaphysische Zug muß hier in möglichster Allgemeinheit, nicht etwa 
nur in seinem spezifisch philosophischen Sinne verstanden werden. Es wird 
immer nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen sein, bei denen jene 
Tendenz eine Hinwendung zur eigentlichen Philosophie bewirkt; damit dies 
möglich sei, müssen als mitbestimmende Faktoren eine spezifisch wissen¬ 
schaftliche Einstellung und eine besondere Fähigkeit und Neigung zu be¬ 
grifflicher Spekulation hinzukommen. Aber auch die anderen großen Kultur¬ 
gebiete: Religion, Kunst und Sittlichkeit haben ihren metaphysischen Kern, 
zu dem die Jugendlichen durch die siebenfache Schale der empirischen Ge¬ 
gebenheiten hindurchzudringen suchen. Sehen wir in diesem metaphysischen 
Kern die eigentliche Bedeutung jener Geistesgebiete, dann dürfen wir sagen, 
daß es religiöses, ästhetisches und ethisches Erleben im tiefsten Sinne zur 
Zeit der Kindheit noch nicht gibt, daß es aber umso gewaltiger und gewalt¬ 
samer in der Reifezeit hervorbricht. Gewiß können und sollen wir schon 
im Kinde eine naive Hingebung an das Göttliche erwecken, es zur Freude 
an künstlerischen Werten in Schrifttum, Musik und Bildkunst heranbilden 
und durch Erziehung und Belehrung seine Gesinnung und seine Hand¬ 
lungsweise im Sinne sittlicher Forderungen beeinflussen; aber wir dürfen 
nicht vergessen, daß wir es hier nur mit Vorstufen und Vorbereitungen echter 
Religiosität, echt ästhetischen Verhaltens und echter Moralität zu tun haben — 
was leider sowohl im althergebrachten Religionsunterricht, wie in vielen Reform¬ 
bestrebungen für „Kunst im Leben des Kindes“ und für Moralunterricht ver¬ 
gessen worden ist. Diese Vorstufen sind erst dann überschritten, wenn der 
Sinn für die in Religion, Kunst und Sittlichkeit liegenden Ideale und Normen 
wach wird — und dies geschieht in der Pubertät. Sie ist also auch in diesem 
Sinne eine „Reifungs“-Zeit. 


*) S. auch den Aufsatz über das Ichbewußtsein S. 11. 


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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend 


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Hierbei ist es nicht durchaus nötig, daß die Idealbildung sofort in posi¬ 
tivem Sinne erfolgt. Das Wesentliche ist, daß die Problematik erwacht; 
der metaphysische Trieb braucht nicht sogleich aufbauend zu wirken; auch 
im Niederreißen kann er unter Umständen Genüge finden, wenn er nur die 
bisherige Selbstverständlichkeit dumpfen Hinnehmens aufhebt. In den inneren 
Kämpfen eines Jugendlichen, die ihn zum Atheismus führen, mag oft mehr 
echte Religiosität stecken, als in dem philisterhaften Herübernehmen der Kind¬ 
heitsreligion in die Zeit der Erwachsenheit. 

Eine solche geistige Revolution, wie sie in der Erarbeitung eigener Ideale 
und Grundsätze besteht, geht oft genug unter Sturmeszeichen vor sich. Die 
Unbedingtheit, die der Epoche eigen ist, macht sich geltend als Monomanie 
und als Radikalismus; das Ideal wird verabsolutiert, sei es, daß man kein 
anderes Ideal daneben anerkennt, sei es, daß man es über alle Grenzen 
hinaus von der Realität entfernt. Im ersten Falle entsteht eine völlige 
Hingabe an einen einzigen Wertträger; an die Gottheit oder die Kunst, an 
eine bestimmte philosophische oder künstlerische Richtung, an eine politische 
Utopie oder eine sittliche Forderung, an ein leidenschaftliches Interesse oder 
auch an eine Marotte, an einen vergötterten Führer oder an einen idealisiert 
gedachten jungen Menschen des anderen Geschlechts. Diesem Ideal gegenüber 
»erden dann andere Wertgebiete und Wertträger überhaupt nicht gesehen; 
ein fast götzendienerischer Fanatismus verbindet sich mit völliger Unduld¬ 
samkeit. — Im zweiten Falle ergibt sich eine entsprechende Intoleranz der 
Wirklichkeit gegenüber. An der erhabenen Gradlinigkeit des Ideals gemessen, 
erscheint die Alltagswelt mit ihren krausen Linien, ihren Verwicklungen, ihren 
Halbheiten und Widersinnigkeiten als das schlechthin Unzulängliche, mit 
dem man überhaupt gar nicht erst paktieren und kompromissein darf, aus 
der man sich vielmehr in die reine Sphäre des Gedankens flüchtet; so neigt 
der Jugendliche oft zum doktrinären Radikalismus. 

Eines der interessantesten, aber bisher noch dunkelsten Probleme dieser 
jugendlichen Idealbildung ist die Ursachenfrage. Hier sind nämlich äußere 
und innere Faktoren des Zustandekommens unübersehbar ineinander ver¬ 
schränkt. 

Was zunächst die äußeren Einflüsse anlahgt, so ist ja der Jugendliche 
allerdings aus jenem vorwiegend rezeptiven Stadium, als welches die Kindheit 
sich darstellt, heraus; aber auch die nun sich vordrängende Spontaneität ist 
doch weit mehr von Rezeptivität durchsetzt, als der Jugendliche selbst ahnt. 
Wir sahen es ja, 1 ) daß für sein Ichbewußsein vor allem der subjektive Glaube 
an die eigene Selbständigkeit notwendig ist; mit diesem subjektiven Unab- 
hängigkeitsglauben verträgt sich aber sehr wohl eine weitgehende objektive 
Abhängigkeit. Nur ist die Art, wie jetzt die äußeren Einflüsse sich geltend 
machen, in eine mehr mittelbare gewandelt. Die Stellungnahmen der Um¬ 
gebung werden jetzt nicht mehr in dem Maße wie zur Kinderzeit einfach 
cachgesprochen und dem eigenen Überzeugungsbestand kritiklos einverleibt. 
Sie wirken mehr unterirdisch, beeinflussen die inneren unterbewußten Vor¬ 
aussetzungen des Wertens und Denkens, aus denen dann, wie „aus 
Eigenem“, die Stellungnahmen des Jugendlichen entspringen. Die Umwelt 


') Vgl, den ersten Aufsatz. 


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William Stern 


bietet bestimmte Lebensgebiete dar, auf die sich der metaphysische Trieb des 
Jugendlichen stürzt; sie hält schon gewisse Fragestellungen und Lösungs- 
alternativen in Bereitschaft, durch die dem Verlangen nach eigenem Ent¬ 
scheiden nun ein engerer Spielraum abgesteckt wird. So kann das gleiche 
Bedürfnis nach Idealbildung bei einem in positiv kirchlichen Kreisen auf¬ 
wachsenden Jugendlichen zu religiöser „Erweckung“, bei einem Großstadt¬ 
proletarier zu fanatischer Hingabe an die Dogmatik des Marxismus führen. 
So werden die Debatten der Jugendlichen über künstlerische oder literarische 
Fragen in jeder Epoche ästhetischer Mode mit den gerade neu auftretenden 
Schlagwörtern arbeiten und die Probleme der eben im Vordergrund stehenden 
Richtung für die absolute Problemstellung überhaupt halten'). 

Sehr stark kann der Inhalt der Idealbildung durch überlegene Persönlich¬ 
keiten beeinflußt werden, mit denen der Jugendliche in Berührung kommt. 
Wie intensiv das Bedürfnis der Jugend ist, an solchen Menschen einen Halt 
zu finden, beweist die große Rolle, welche das „Führerproblem“ in der 
Jugendbewegung spielt. Natürlich gilt auch hier der Konvergenzstandpunkt: 
Der Jugendliche ist nicht einfach passiv dem Einfluß des Führers hingegeben, 
sondern es muß in ihm etwas diesem Einfluß entgegenkommen, damit aus 
dem Zusammenklingen beider Strukturen die wirkliche Umgestaltung des 
jugendlichen Seelenlebens hervorspringt. Schon in der Art der unbewußten 
Wahl desjenigen, an den sich ein Jugendlicher anschließt, spielen wieder die 
inneren Momente mit; ein Führer, der von Tausenden umjubelt wird, mag 
in der Psyche eines bestimmten Jugendlichen keinerlei Resonanz erwecken: 
dieser aber schließt sich einem Menschen an (und verdankt ihm Unendliches), 
der vielleicht nur gerade in dieser individuellen Wirkung seine Führergabe 
bekundet. 

Es ist hier nicht der Ort, die sehr schwierige Psychologie der Führer¬ 
persönlichkeit zu erörtern; nur eine Andeutung sei gestattet. Ein Mensch, 
der von Jugendlichen als Führer anerkannt wird, muß in inniger Ver¬ 
schmelzung Überlegenheit und Kameradschaftlichkeit besitzen. Überlegenheit 
vor allem dadurch, daß er schon Festigkeit und Abgeklärtheit erweist in allen 
jenen Gebieten, auf denen der Jugendliche noch der Sicherheit und des Anker¬ 
grundes entbehrt, ferner dadurch, daß er Ideale nicht nur durch das Wort, 
sondern auch durch die Tat vertritt, die dem Jugendlichen nachahmenswert 
erscheint. Kameradschaftlichkeit dadurch, daß er den Jugendlichen durchaus 
voll und ernst nimmt, ihm trotz der Überlegenheit doch nahe ist, ein feines 
Verständnis für seine Nöte und Sehnsüchte besitzt und — negativ — da¬ 
durch, daß er auf die gröberen Maßnahmen des Schulmeistems, Gängelns und 
Bevormundens verzichtet. Die echte Führernatur muß demnach eine sittlich 
sehr hochstehende Persönlichkeit sein, die das Wirken für die Jugend und 
das Leben mit ihr als innere Sendung empfindet. Aber eine merkwürdige 
äußere Ähnlichkeit mit diesen Naturen zeigen andere, denen an der Über- 


*) Hierbei ist es merkwürdig, wie wenig doch dieser ständig sich wandelnde, durch äußei' 1 
Einwirkung bedingte Inhalt der Idealbildung an der inuerlich bedingten jugendpsychologischen 
Form zu ändern vermag: vor genau einem Menschenalter habe ich als 18jähriger die leiden¬ 
schaftlichen Erörterungen und Kämpfe um den gerade aulkomraenden Naturalismus in unmittel¬ 
barer Nähe mitgemacht; w f as ich 30 Jahre später bezüglich der Stellungnahme der Jugend zu 
dem weltenweit davon verschiedenen Expressionismus erlebte, hatte in der seelischen Struktuc 
des Verhaltens die auffallendste Ähnlichkeit. 


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Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reitenden Jugend 


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iegenheit vor allem das Machtbewußtsein, an der Kameradschaft vor allem 
die Anhängerschaft entscheidend ist. Es sind Menschen, die ihren Einfluß 
auf die jungen Menschen genießen als eine Steigerung des eigenen Ich und 
sich darin sonnen; ihnen ist die Kameradschaft eine mehr oder minder be¬ 
wußte Pose, hinter der im Grunde Herablassung steckt, und sie finden an 
der Gefolgschaft der Jugend gerade deshalb ein feinschmeckerisches Gefallen, 
weil es nicht mehr die groben Mittel der Autorität, sondern die sublimeren 
äner unmerklichen Suggestion und geistigen Ver-Führung sind, durch die 
äe die sich frei wähnenden in Hörigkeit halten. Wenn man als Außen¬ 
stehender sieht, wie manche blendende Literaten, gewandte, der Jugend zum 
Munde redende Egoisten oder auch Fanatiker einer Idee, denen jedes Mittel 
recht ist, auf die Jugend zu wirken vermögen, dann erkennt man, daß 
zwischen Führertum und Verführertum leicht Verwechselungen möglich sind 
and daß jene Kritik, zu der die Jugend das Recht beansprucht, oft genug 
gerade den Führern gegenüber versagt. 

Gehen wir nun zu den im Jugendlichen selbst liegenden Bedingungen der 
khlbildung über. Hier scheinen sich zwei Typen jugendlichen Wesens zu 
scbdden, die bisher hauptsächlich auf einem Gebiet (nämlich dem der indivi¬ 
duellen religiösen Entwicklung) untersucht worden, die aber zweifellos von 
allgemeinerer Bedeutung sind: sie seien als der „evolutive“ und der 
..revolutive“ Typ bezeichnet. 

Beim evolutiven Typ knüpft die Idealbildung organisch an die in der Um¬ 
gebung und in der eigenen Vergangenheit des Jugendlichen 'vorhandenen 
Vorbedingungen an. Das spezifisch Jugendliche kommt dann mehr in der 
Bewußtmachung, der Auffrischung und Radikalisierung der geltenden Werte 
zum Ausdruck. Was blind befolgte Vorschrift war, wird selbstgesetzte Norm; 
die Ideale werden gereinigt von den Wirklichkeitskompromissen, werden gelöst 
aus der Mechanisierung und Erstarrung, in die sie durch Gewohnheit geraten 
waren, werden durch den jugendlichen Fanatismus ins Unbedingte empor- 
fpsteigert. Immerhin bleibt der ständige Zusammenhang zu Umwelt und 
Vorwelt durchaus gewahrt; der Prozeß der Idealbildung ist ein ruhigerer, 
Kritik und Opposition wenden sich mehr Einzelheiten zu, als daß sie die 
Grundlage in Frage stellen. 

Für den revolutiven Typ dagegen ist die Idealbildung vor allem ein Bruch 
mit dem, was dem jungen Menschen selbst bisher galt und was in der Um¬ 
gebung gilt. Die Wirklichkeit, die ihm bekannt ist, erscheint infolge der fest¬ 
gewordenen Gewohnheiten und der eingewurzelten Laster so brüchig und 
minderwertig, daß sie überhaupt keine Anziehungskraft für sein erwachendes 
metaphysisches Bedürfnis hat. Daß unter der Asche von Konvention und 
Erstarrung doch noch wahrhafte Werte glimmen, will der Jugendliche nicht 
sehen; ganz neue, andersartige, ja der gewohnten Wirklichkeit entgegen¬ 
gesetzte Ideale werden ihm heilig', haben sie doch die Reinheit und Un¬ 
berührtheit der Irrealität für sich. 

Die beiden Typen machen sich nun an zwei verschiedenen Ursprungsstellen 
der jugendlichen Idealbildung geltend, nämlich ontogenetisch und phylo¬ 
genetisch; dort handelt es sich um die Verhältnisse innerhalb der Ent¬ 
wicklung des Einzelindividuums, also insbesondere um das organische Hinein¬ 
gleiten oder sprunghafte Hinüberspringen aus der Kindheit in die Jugendideale; 


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William Stern 


hier handelt es sich um das positive oder negative Verhältnis des jugendlichen 
Individuums zu seiner Umgebung, insbesondere dem Elternhaus und den dort 
geprägten Idealen. 

Innerhalb der Entwicklung des Einzelindividuums hat naturgemäß 
das Verhalten des evolutiven Typs weniger die Aufmerksamkeit auf sich 
gezogen als das des revolutiven. Als das Normale und nicht weiter der Be¬ 
achtung Bedürftige muß eine solche Entwicklung erscheinen, die aus der 
Kindheit in die Erwachsenheit allmählich hinübergleitet; und wenn wir auch 
gesehen haben, daß diese Übergänge nie ganz ohne Knicke und Unstetig¬ 
keiten vor sich gehen können, daß vielmehr in jedem Jugendlichen gewisse 
Revolutionen ablaufen, so sind immerhin die zahlreichen Fälle, in denen diese 
Wandlungen weniger plötzlich und katastrophenhaft vor sich gehen, als solche 
anzusehen, die nicht nur der Behandlung, sondern auch dem Verständnis 
weniger Schwierigkeiten bieten. Im evolutiven Typ ist doch das, was werden 
soll, schon deutlich in den vorausgehenden Stadien vorgedeutet und vor¬ 
bereitet; es treten nicht von heute auf morgen absolute Überraschungen auf, 
und das Erklärungsbedürfnis findet für alles Neue, das sich in der Ent¬ 
wicklung zeigt, doch irgendwelche Kategorien, die hierfür ursächlich in An¬ 
spruch genommen werden können. 

Daneben aber gibt es nun Entwicklungen, die geeignet sind, uns an dem 
Satz „natura non facit saltum“ irre zu machen; sie scheinen gleichsam mit 
einem hörbaren Ruck und ohne ausreichende vorgängige Verursachung in 
ein neues Idealgebiet einzumünden. Der Schulfall hierfür ist die religiöse 
Erweckung oder Bekehrung; es ist das Verdienst der amerikanischen Reli¬ 
gionspsychologen, die psychologische Bedeutung dieser Erscheinung heraus¬ 
gearbeitet zu haben. James hat zuerst allgemein (d. h. unabhängig vom 
Lebensalter), die „Einmal-Geborenen“ und die „Wieder-Geborenen“ als zwei 
psychologische Typen gegenübergestellt. Starbuck hat dann die wichtige 
Feststellung gemacht, daß es sich bei der „Wiedergeburt“ ganz überwiegend 
um eine psychische Erscheinung des Jugendalters handelt. Wenigstens ergab 
die Erhebung, die er vermittels einer Fragebogenmethode veranstaltete, daß 
die weitaus meisten Fälle von religiöser Bekehrung und Erweckung beim 
weiblichen Geschlecht zwischen 11 und 18 Jahren, beim männlichen zwischen 
14 und 19 Jahren liegen; Höhepunkte der Bekehrungshäufigkeit stellen für 
die Mädchen die Altersstufen 13 und 16 Jahr, für die Knaben die Alters¬ 
stufe 16 Jahr dar. 

Die Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit, mit der zuweilen solche scheinbar 
völligen Wandlungen der Persönlichkeit eintreten, hat hier oft an eine un¬ 
mittelbare Wunderwirkung glauben lassen: insbesondere sehen ja alle religiösen 
Gemeinschaften, in denen die Bekehrung und Erweckung eine Rolle spielt, 
in dem Eintritt dieses Phänomens das mystische Eingreifen der göttlichen 
Macht in das individuelle Leben. Der Psychologe kann sich hierbei nicht 
beruhigen. Daß die Wandlung nicht grundlos vor sich gehe, ist ja Voraus¬ 
setzung jedes Versuches wissenschaftlichen Verstehens überhaupt; und wenn 
wir auch zurzeit weit von einer Lösung dieses vielleicht dunkelsten Problems 
der Jugendpsychologie entfernt sind, so müssen wir doch versuchen, es nach 
Möglichkeit mit anderen Tatbeständen unserer psychologischen Erkenntnis in 
Beziehung zu setzen und dadurch seinem Verständnis näher zu kommen. 

Da darf schon die fast ausschließliche Abgrenzung des Vorganges auf die 


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Ober die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend 


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Jahre der Reifung als ein Hinweis darauf gelten, daß ganz bestimmte innere 
Entwicklungsbedingungen vorhanden sein müssen, um einen solchen Knick 
der Lebenslinie zu ermöglichen. In gleiche Richtung weist uns der Tatbestand, 
daß derartige stürmische Wandlungen nicht etwa nur auf dem Gebiet reli¬ 
giöser Idealbildung Vorkommen, sondern auch auf allen anderen Gebieten 
des Werfens; es gibt plötzliche Jüngerschaft auch für ästhetische oder poli¬ 
tische Glaubenslehren; es gibt auf erotischem Gebiet das unvermittelte Auf- 
taochen von Leidenschaften usw.; und es gibt schließlich auf allen Gebieten 
auch die entsprechende Wendung mit negativem Vorzeichen — also ein 
scheinbar unvorbereitetes Verfallen in Glaubenslosigkeit, in moralische Gleich¬ 
gültigkeit, in erotische Unempfindlichkeit. Daraus ergibt sich, daß nicht sowohl 
ein von außen her kommender spezieller (nämlich religiöser usw.) Inhalt 
das Wesentliche der Erscheinung ist, sondern eine allgemeine und formale 
Funktionsweise des psychischen Verhaltens, die uns das Recht gibt, hier von 
einem psychologischen Typus zu sprechen. 

Der Vorgang der Erweckung im Jugendalter wird dann noch mehr seiner 
Bniigkeit entkleidet, wenn wir uns erinnern, daß verwandte, wenn auch 
nicht ganz so schroffe und explosive Entwicklungssprünge auch zu anderen 
Zeiten Vorkommen. Das genaue Studium der frühen und späteren Kindheit 
bat gezeigt, wie hier eigentlich nirgends die glatte Stetigkeit des Verlaufs 
existiert, die man a priori ännimmt; vielmehr gehört ein Wechsel von Stag¬ 
nation und plötzlichem Fortschritt geradezu zum Wesen seelischer Entwicklung 
überhaupt. Wenn ein sprechenlemendes Kind monatelang kaum ein Wort 
zulemt und dann über Nacht seinen Wortschatz gleich um eine ganze Reihe 
von Wörtern vermehrt — wenn ein Schulkind, das mit seiner Verständnis¬ 
losigkeit für irgendeinen Unterrichtsstoff den Lehrer zur Verzweiflung brachte 
und dann nach den Ferien (in denen notorisch keinerlei Beschäftigung mit 
dem Stoff stattgefunden hatte) die früher unüberwindlich scheinenden Schwierig¬ 
keiten spielend bewältigt, so liegen ja ebenfalls solche Brüche der Entwicklung 
vor, die wie Wunder anmuten , können. 

Wir sind nun auch besser in der Lage, die Triebkräfte des Vorgangs zu 
erfassen. In welchem Sinne haben wir überhaupt das Recht, von einem 
•Sprung“ in der Entwicklung zu reden? Sprunghaft erscheint der Vorgang 
zunächst dem äußeren Beobachter, der zwischen den früher bekundeten 
idealen und Verhaltungsweisen des jungen Menschen und seinen jetzigen 
keine Brücke zu finden vermag. Sprunghaft erscheint sie auch dem Erlebenden 
selbst, weil auch seine Bewußtseins zustände keinen stetigen Übergang vom 
Einst zum Jetzt zeigen. Aber das Bewußtsein ist eben nicht die letzte Instanz 
für die tatsächliche Kraftentfaltung des persönlichen Lebens. Der Seelen- 
denter gräbt tiefer. Ihm ist die Einheit der Person als eines sinnhaltigen 
Ganzen ein Grundsatz, der durch noch so große Mannigfaltigkeit im Neben¬ 
einander und noch so schroffe Metamorphosen im Nacheinander nicht er¬ 
schüttert werden kann. Auf die Konvergenz innerer Angelegtheiten und 
äußerer Entwicklung müssen auch jene katastrophenhaften Vorgänge zurück¬ 
zuführen sein; jede Beschaffenheit des Menschen, die irgendwann zur Wirk¬ 
lichkeit wird, muß in einer Anlage ihre Vorbedingung haben, und jede solche 
Anlage muß, ehe sie hervortritt, eine unterirdische Vorbereitungszeit durch¬ 
machen, die sich mehr oder weniger der Beobachtung des Außenstehenden 
und auch dem Bewußtsein des Individuums selbst entziehen kann. Aber für 


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den suchenden Blick zeigen sich doch verräterische Symptome, die zum 
mindesten nachträglich als Vorzeichen des nun neu Gewordenen gedeutet 
werden können. Es sind oft Zustände einer eigentümlichen seelischen Inhalts¬ 
losigkeit und Leere: das Alte hat seine Wirkungskraft verloren, aber das 
Neue hat noch nicht Gestalt und Durchbruchskraft gewonnen. Unbefriedigt- 
heit an allem, was bisher schön und gut erschien, Ekel vor allem Liebens¬ 
werten und vor sich selbst, Blasiertheit, Sündenbewußtsein usw. sind die 
Formen, in denen sich ankündigt, daß der Mensch bereit ist, alte Hüllen 
abzustreifen und eine bisher versteckte tiefere Schicht seines Ich hervortreten 
zu lassen. Eine zunächst noch substanzlose Sehnsucht drängt nach Gestaltung, 
und wenn dieser lange aufgespeicherte und vorbereitete Drang nun hervor¬ 
bricht, wenn die Spannkräfte sich entladen, dann kann der spezielle Inhalt 
dieser Umorientierung freilich als etwas ganz Neues auftreten; denn er ist 
in hohem Grade durch äußere Eindrücke bedingt. Das soll natürlich nicht 
heißen, daß jedes beliebige Ideal, das sich ihm zufällig von außen anbietet, 
als Verkündung der Seligkeit, als Leitstern eines neuen Lebens ergriffen wird; 
es muß vielmehr, um so zu wirken, auf irgendwelche verwandte Töne in 
seiner inneren Anlage stoßen. Aber die Möglichkeit einer solchen Resonanz 
ist doch einer Mehrheit von Idealen gegeben; und die Entscheidung, welches 
nun .zum Inhalt der „Erweckung“ wird, ist doch stark von den Umständen 
der Darbietung abhängig. Ein in Zurückgezogenheit gelesenes Buch, eine 
Wanderung in die freie Natur, die Unterredung mit einer suggestiven Persön¬ 
lichkeit kann auf eine so in Bereitschaft gesetzte Jugendseele auslösend und 
richtunggebend wirken; es werden vor allem die feineren stilleren Menschen 
sein, die solchen individuellen Einflüssen zugänglich sind. Für die große 
Masse der gröber zugeschnittenen jungen Menschen hingegen sind Massen¬ 
suggestionen wirksamer: darum sind es oft Erweckungsversammlungen von 
frommen Gemeinschaften mit ihrer nervenaufpeitschenden und affekterregenden 
Inbrunst, die zum Ausgangspunkt von seelischen Metamorphosen werden. 
Gehen solche Massensuggestionen gar durch das ganze Volk, dann ist die 
Zahl der Jugendlichen, die sich mit plötzlicher Hingabe dem neuen Ideal ver¬ 
schreiben, außerordentlich groß — und zwar ist hier der Vorgang durchaus 
nicht nur auf eine Neugeburt des religiösen Erlebens beschränkt, kn 
Sommer 1914 ergriff die Vaterlandsbegeisterung die Jugend bis weit in die 
sozialdemokratischen Kreise, die bis dahin dem patriotischen Gedanken fremd 
oder gegnerisch gegenübergestanden hatten. Und umgekehrt hat dann 1918 
der Revolutionsaffekt gerade in der Jugend zu starken seelischen Umwälzungen 
geführt und hat auch solche jäh ergriffen, die in bürgerlicher oder gar mili¬ 
taristischer Gesinnung herangewachsen waren. 

Aber gerade diese letzte Erscheinung gibt uns Anlaß, die Erweckung auf 
ihre Echtheit hin zu prüfen. Echt nennen wir eine Erweckung dann, wenn 
sie den Anfang einer wirklich neuen und dauernden Lebensform darstellt, so 
daß sich die Existenz eines solchen Menschen gleichsam in zwei Leben zer¬ 
legt. Der Ausdruck „Wiedergeburt“ setzt eine solche sukzessive Spaltung 
des Ich voraus. Sind nun diese beiden so disparaten Lebenszustände') von 
gleicher Ichwesentlichkeit für das Individuum? Ist der junge Mensch in dem 
zweiten Zustand ganz ebenso sehr er selbst wie in dem ersten, wird die neue 

•) Die Amerikaner sprechen von der „präkonversionellen“ und der postkonversioneilen“ (d. Ii. 
der vor bzw. nach der Bekehrung liegenden) Phase. 


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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reitenden Jugend 


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Form nun zur dauernden Determinante seines weiteren Lebens? Eine Erwägung 
dieser Frage läßt die Zahl der echten Erweckungserscheinungen beträchtlich 
zusammenschrumpfen. Vieles, was unter dem ersten Eindruck der neuen 
Gesinnung wegen der Intensität und Plötzlichkeit des Vorganges als Er¬ 
weckung erscheinen mag, erweist sich später als Episode. Die Lebenslinie 
hat nicht in scharfem Winkel eine endgültige Richlungsänderung erhalten, 
sondern nur gewisse plötzliche Ausbiegungen, die nach einiger Zeit wieder 
im Sinne der alten Richtung ganz oder doch teilweise rückgängig gemacht 
werden. Es sind dies Naturen von einer gewissen Labilität und von starker, 
doch nicht nachhaltiger Beeinflußbarkeit; sie können unter Umständen 
mehrere solche Pseudo-Erweckungen erleben, von denen aber doch keine 
ihr innerstes Wesen von Grund auf umwandelt. Starbuck berichtet, daß in 
einer amerikanischen Gemeinde auf Grund der Erweckungsversammlungen 
eines „Evangelisten“ 92 Bekehrungen stattgefunden hatten. Von diesen Be¬ 
kehrten waren nach 6 Wochen bereits 62 abgefallen; nach etwas längerer 
Zeit waren nur 12 übriggeblieben, bei denen von dauernden Nachwirkungen 
gnprochen werden konnte. Und sind die Erfahrungen der „Revolutions¬ 
erweckung“ bei unseren Jugendlichen nicht ganz ähnlich gewesen? Wieviele 
von all den jugendlichen Aposteln und Jüngern, die sich berauschten an den 
neuen sittlichen, sozialen, politischen, künstlerischen, religiösen Idealen, sind 
wieder zurückgesunken in den Alltag und haben ihre Prophetenrolle auf¬ 
gegeben! Wie klein ist der Bruchteil all der damals gegründeten Jugend¬ 
vereine, die noch nach 3 Jahren die dereinst aufgestelllen Ziele verfolgen! 
Wie sind die Schülergemeinden, die in die Schule den neuen Jugendgeist 
hineintragen wollten, versandet! Damit soll nicht gesagt seih, daß jene starke 
Welle neuer Idealbildung nun abgeebbt wäre, gleich als wäre sie überhaupt 
nie dagewesen. Die Jugendlichen, die hindurcbgegangen sind, waren in 
ihrem Persönlichkeitskern noch plastisch genug, um nachhaltig von jenen 
Erlebnissen weiterhin bestimmt zu werden. Nur jener katastrophenhafte Bruch 
zwischen altem und neuem Leben hat sich bei den meisten als’unecht er¬ 
wiesen; sie blieben, wie dieEolgezeit erwies, sich selbst doch ähnlicher, als 
sie es damals für möglich hielten. 

Aber selbst in den Fällen, irt welchen das „neue“ Leben von Dauer ist, 
muß die Deutung mit Vorsicht erfolgen. Dies neue Leben steht gewiß in 
schroffem Widerspruch zu der unmittelbar vorausgegangenen Lebensphase; 
nun aber kann diese wiederum eine — vielleicht ziemlich ausgedehnte — 
Episode gewesen sein, welche die Wesensbeschaffenheit des Individuums zeit¬ 
weise zu überschatten vermochte. Man wird vermutlich nicht selten in weiter 
zurückliegenden Kindheitsphasen des Individuums dann Züge finden, die 
deutlich als Frühsymptome jener „zweiten“ — in Wirklichkeit nur wieder 
zum Durchbruch gekommenen ersten oder besser eigentlichen — Lebens¬ 
richtung im jungen Menschen gelten können. Das unmittelbare Interesse des 
„Erweckten“ an seiner Umwandlung ist eben nur der ganz unmittelbaren 
Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit zugewendet; wird zwischen diesen 
beiden Zuständen ein scheinbar übergangsloser Gegensatz gefühlt, so ist ihnen 
der Tatbestand der Erweckung gegeben. Der Blick des Psychologen aber 
muß nach vorwärts wie nach rückwärts weiter reichen, um das Verhältnis 
des „neuen“ Lebens zur Totalität dieses individuellen Lebenszusammenhanges 
richtig beurteilen zu können. 


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All diese Gesichtspunkte — die zum Teil mehr Programmpunkte für künftige 
Studien als fertig vorliegende Ergebnisse darstellen — lassen jedenfalls schon 
so viel erkennen, daß zwischen dem ausgesprochen evolutiven und dem aus¬ 
gesprochen revolutiven Typ zahlreiche Zwischenformen vorhanden sind. 

Nur kurz sei auf die entsprechende Typenverschiedenheit im Verhältnis zur 
Phylogenese hingewiesen. Auch seinen Vorfahren gegenüber verhält sich 
der Jugendliche entweder mehr evolutiv oder mehr revolutiv. Im ersten Falle 
schließen sich seine Idealbildungen stetig an die seiner Eltern an, die organisch 
fortgeführt oder in jugendlicher Weise radikalisiert werden. Die Umwelt¬ 
atmosphäre des Elternhauses und die direkten von den Eltern überkommenen 
Erbvalenzen wirken dann gleichsinnig. Im zweiten Fall ist die kämpferische 
Stellung der Jugendlichkeit gegen die ältere Generation auch gerade gegen 
deren Idealbildung gerichtet. Das junge Geschlecht sieht in den Überzeugungen 
und Werthaltungen der Eltern nur die Erstarrung, die Halbheit und Hohlheit 
und richtet neue Göttergestalten auf. 

Aber auch dieser Bruch in der phylogenetischen Entwicklung ist kein 
absoluter, die gegensätzliche Idealbildung kein völlig unvorbereiteter Neu¬ 
anfang. Sowie wir für die Individualentwicklung darauf hinwiesen, daß in 
weiter zurückliegenden Kindheitsphasen Vorbereitungen und Vordeutungen 
für die scheinbar ursachlosen jugendlichen Idealwandlungen zu erblicken 
sind, so gibt es auch phylogenetisch ein Wiederaufleben länger zurückliegender 
Erbvalenzen. 

Daß eine latente Vererbung existiert, ist zweifellos. Oft bleiben gewisse 
physische und psychische Beschaffenheiten, Streberichtungen, Gesinnungs¬ 
weisen durch eine oder mehrere Generationen hindurch verborgen, um dann 
in einer späteren Generation wieder aktuell zu werden. Jener rhythmische 
Wechsel von innerer Stauung und äußerer Entladung der psychischen 
Spannungen und Tendenzen ist eben nicht nur ein Gesetz der Einzelentwicklung, 
sondern erstreckt sich auch auf größere Lebenseinheiten — einer Familie, eines 
Volkes — durch die Geschlechterfolgen hindurch. Vieles, was längst erledigt 
oder höchstens noch dem rückschauenden Blick historisch bemerkenswert zu 
sein schien, erweist dann plötzlich seine Gegenwartslebendigkeit; der genera¬ 
tionenlange Winterschlaf hatte dazu gedient, neue Kräfte abseits des bewußten 
Daseins aufzuspeichern und zu organisieren. 

Nun scheint die Pubertätszeit, vielleicht gerade wegen ihrer allgemeinen 
Labilität, ein besonders günstiger Boden für den Durchbruch einer solchen 
lange latent gebliebenen Erbvalenz zu sein; und so enthüllen sich die Neu¬ 
orientierungen in den Überzeugungen und Gesinnungen der jungen Generation 
zum Teil als merkwürdige Atavismen. Umwelt und Erbvalenz -wirken hier 
nicht mehr gleichsinnig, sondern gegeneinander. Alte Lebensformen, scheinbar 
längst verschollen, klingen wieder in der Seele auf und machen den ihnen 
widerstrebenden modernen Anschauungen und Auffassungen der unmittelbaren 
Umgebung den Boden streitig, den diese mit voller Sicherheit zu besitzen 
wähnten. Auch hier also wieder eine seltsame Antinomie in der Seele des 
Jugendlichen: einmal der bereits früher besprochene Zug des Antihistorismus, 
und dann wieder das instinktive Zurückgreifen auf Daseinsformen der Ver¬ 
gangenheit. Aber freilich dies Instinktmäßige zeigt, daß es sich auch hier 
nicht um eigentlich geschichtliches Bewußtsein handelt. Nicht das stetige 


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Über die Entwicklung der Idealbildung in der reifenden Jugend 


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Hervorgehen der Gegenwart aus der Abfolge der historischen Entwicklungs¬ 
phasen soll begriffen und jede Phase in ihrer historischen Bedingtheit, in 
ihrer Notwendigkeit, aber zeitlichen Begrenztheit gewürdigt werden; sondern 
altes „Gewesenes“ soll als Neues, noch jetzt „Wesendes“ sich erweisen; nicht 
beliebige Vergangenheit wird vergegenwärtigt, sondern die eigene Vorzeit 
wird als immer noch Lebendiges, als wieder lebendig Werdendes empfunden. 
So kann man auch hier von einem Typus des „Wiedergeborenen“ sprechen, 
mir eben im phylogenetischen, nicht ontogenetischen Sinne. 

Allerdings hat nun diese grundsätzliche Betrachtung der zur Rede stehenden 
Etscheinung eine Zuspitzung gegeben, die in der Wirklichkeit kaum je wieder¬ 
zufinden ist. Das atavistische Moment im Jugendleben kreuzt und verschmilzt 
sich mit all den anderen Momenten und prägt sich in sehr verschiedenen 
Gradabstufungen dem Gesamtbilde des Jugendlichen auf. Aber daß es vor¬ 
handen ist, läßt sich aus mannigfachen Symptomen erkennen. So ist die 
ganze Wandervogelbewegung mit ihrem Zurückgreifen auf ursprüngliche Formen 
deutschen Volkstums, auf Volkstanz, Volkslied, Wanderwesen, Volksbrauch 
kdnesfalls nur so äußerlich zu verstehen, daß die bloße Opposition gegen 
die überfeinerte und entartete Lebensweise der Gegenwart nach möglichst 
entgegengesetzten primitiven Formen suchen ließ; sondern es war eben in 
diesen jungen Menschen ein alt vererbter, aber lange eingeschläferter Instinkt 
wieder lebendig geworden 1 )* 

Freilich besagt nun das Aktuellwerden an sich noch nichts über den Tief¬ 
gang dieser alt-neuen Gesinnungsweisen. Wir müssen wieder an das Analoge 
innerhalb der Individualentwicklung erinnern, daß eine „Erweckung“ im 
Augenblick ihres Auftretens eine unüberbietbare Intensität und alle Gewähr 
für Dauer zu haben scheint — und nach einiger Zeit wieder abgeklungen 
ist. Ähnliches ist auch bei diesen Atavismen möglich. Auch sie können 
unter Umständen nur das Aufflackern alter gattungsmäßiger Restbestände sein, 
die sich aber gegenüber der Wucht der ganzen späteren und höheren Ent¬ 
wicklungsformen nicht dauernd zu halten vermögen. Vielleicht daß es diesen 
ererbten Momenten gegenüber auch eine Art „Abreagieren“ geben muß, daß 
der junge Mensch noch einmal durch sie hindurch muß, um sich endgültig 
von ihnen zu befreien. Zahllose Wandervögel haben es doch an sich erlebt, 
daß die Primitivität von Lautenspiel und Reigentanz nicht auf die Dauer ihre 
Kultur- und Kunstbedürfnisse zu befriedigen vermag, die nun einmal von einer 
großen über jene Elementarformen weit hinausführenden Entwicklung getränkt 
and bestimmt sind. 

So gibt es auch phylogenetisch zwischen lebenbestimmender „echter Er¬ 
weckung“ alter Instinkte und dem nur episodenhaften Aufleben atavistischer 
Regungen alle möglichen Zwischenstufen. 

’) Etwas Ähnliches findet sich zurzeit in weiten Kreisen der jüdischen Jugend: wenn viele 
junge Menschen aus ganz assimilierten Elternhäusern, denen selbst Brauch, Kult, Sprache der 
jüdischen Vorfahren ganz entschwunden waren, stark von dem zionistischen Ideal ergriffen 
werden, so ist auch hier vermutlich neben der Suggestionskraft einer neuen Idee auch das 
Wiederaktuellwerden alter Stammesinstinkte wirksam. 


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Annelies Argeiander 


(Aus dem Institut für Psychologie und Pädagogik der Handels¬ 
hochschule Mannheim.) 

Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels. 


Von Annelies Argeiander. 


Das Material zu vorliegender Arbeit wurde von Herrn Oberlehrer F. Münzer, 
Mannheim, auf dem Wege der Umfrage gesammelt. Da er infolge einer Er¬ 
krankung verhindert war, das Material vollständig auszuwerten, habe ich an 
seiner Stelle die endgültige Verarbeitung übernommen. 

Der Zweck der Umfrage war, Aufschluß zu erhalten über die Motive der 
Berufswahl. Es unterscheidet sich das vorliegende Material von ähnlichen 
Arbeiten über Berufswünsche und .Berufsideale (Baumgarten, Lobsien u. a.) 
dadurch, daß die Antworten von jugendlichen Arbeitslosen stammen, also von 
Personen, die bereits im Berufsleben gestanden haben und die damals im 
Begriff waren, sich eine neue Stelle zu suchen. Es ist zu erwarten, daß 
die Gründe für die Wiederwahl des alten oder die Wahl eines neuen Berufes 
wesentlich mehr mit den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen rechnen, 
aber auch eher in der Erkenntnis der persönlichen Eignung wurzeln, als es 
bei den Kindheitswünschen der Fall ist. 

Die Gelegenheit zu einer Befragung von Arbeitslosen ergab sich, als Herr 
Oberlehrer Münzer während des Wintersemesters 1919/20 an mehreren 
Zwangsfortbildungskursen für jugendliche erwerbslose Arbeiter unterrichtete. 
In drei getrennten Kursen von insgesamt 65 Personen, 42 männlichen und 
23 weiblichen, wurde folgender Fragebogen vorgelegt und ausgefüllt. 


1. Name 

2. Alter 

3. Lebt Ihr Vater noch? 

4. Beruf des Vaters 

5. Beruf der Mutter 

6. Zahl der Geschwister a) Brüder 

b) Schwestern 

7. Welche Schule haben Sie besucht? 

8. Was wollten Sie als Kind werden? 

9. Welchen -Beruf haben Sie gelernt? Wie 

lange? 

10. Wo haben Sie gelernt? (Handwerk oder 

Fabrik) 

11. Warum haben Sie diesen Beruf ergriffen? 

12. Wer hat Ihnen dazu geraten? 


13. Hat Ihnen dieser Beruf gefallen? 

14. Wie wurden Sie behandelt? 

15. In wievielen Stellen waren Sie? 

16. Warum haben Sie die Stelle gewechselt? 

17. Haben Sie auch den Beruf gewechselt? 

18. Welchen Einfluß hat der Krieg auf Ihr 

Schicksal gehabt ? 

19. Welchen Beruf wollen Sie jetzt ergreifen ? 

20. Warum gerade diesen? 

21. Welchen Beruf würden Sie bei freier Wahl 

ergreifen? 

22. Warum gerade diesen ? 

23. Wodurch wurden Sie arbeitslos? 

24. Warum mußte das Geschäft Sie entlassen? 

25. Besteht das Geschäft noch? 


Die 25 Fragen wurden im allgemeinen durchaus befriedigend beantwortet. 
Zu. bemerken ist allerdings, daß die Formulierung der Frage 21: Welchen 
Beruf würden sie bei freier Wahl ergreifen? nicht ganz glücklich war. Wir 
dürfen annehmen, daß bei einer großen Anzahl der befragten Personen das 
Gefühl einer gewissen Freiheit in der Wahl des neuen Berufs gegenüber der 
ersten Berufswahl, die unter dem Einfluß der Eltern oder auch unter dem Zwang 
der äußeren Verhältnisse stand, vorhanden war. Daher mag es rühren, daß 
unter dem „bei freier Wahl" in Aussicht genommenen Beruf anscheinend 
öfters nicht das Berufsideal angegeben wurde, sondern daß die Wahl stark 
bestimmt war durch praktisch erreichbare Möglichkeiten. Vielleicht liegt aber 
überhaupt das Berufsideal dieser Gesellschaftsschicht in der Sphäre des Er- 


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über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 


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reichbaren, denn die vereinzelten hochfliegenden Ideale, wie „Opernsänger, 
Theater“ usw. stehen ihrerseits wieder dem Phantastischen zu nahe. 

Den in der Kindheit gewünschten Beruf (Frage 8) werden wir im folgen¬ 
den kurz als Kindheitswunsch bezeichnen. Die Auffassung der gefragten 
Personen scheint mit wenigen Ausnahmen diese gewesen zu sein, daß es 
sich um den kurz vor dem Eintritt in den Beruf ernsthaft gefaßten Entschluß 
oder wenigstens um ein mit Überlegung erstrebtes Ziel handelte, nicht etwa 
am die vom kindlichen Standpunkte als wünschenswert betrachteten Berufe, 
wie etwa: Schornsteinfeger, Zuckerbäcker u. a. Die Beantwortung in diesem 
Sinne ist insofern ganz wertvoll, als sie ersehen läßt, in welchem Maße 
durch die wirtschaftlichen Verhältnisse oftmals die Verwirklichung des Berufs¬ 
wunsches unmöglich gemacht wurde. 

1. Allgemeine Angaben. Das Alter der jugendlichen Arbeitslosen betrug 
im Durchschnitt 17,7 Jahre bei den männlichen und 17,4 Jahre bei den weib¬ 
lichen Personen. Leider sind die Altersangaben nicht sehr genau, da sie 
nicht mit dem Geburtsdatum, sondern nur in Jahren gemacht wurden. 
Im einzelnen beträgt das Alter der männlichen Gruppe 4 mal 16, 10 mal 17, 
25mal 18 und 3 mal 19 Jahre, das der weiblichen Gruppe 1 mal 14, 1 mal 15, 
1 nud 16, 10 mal 17, 6 mal 18, 3 mal 19 und 1 mal 20 Jahre. Nimmt man an, 
daß die Jugendlichen im allgemeinen mit 14 Jahren nach der Entlassung 
aus der Schule beruflich zu arbeiten beginnen, so wären die befragten 
Personen durchschnittlich bereits 3—4 Jahre im Beruf gewesen; sie hatten 
also Zeit gehabt, ihren Beruf und seine Anforderungen gründlich kennen zu 
lernen. 

Das soziale Milieu, aus dem die 65 Personen stammen, ist im großen 
Ganzen einheitlich. Als Beruf des Vaters wurde angegeben, sowohl in der 
männlichen wie in der weiblichen Gruppe, in etwa 50 °/ 0 der Fälle gelernte 
Arbeit der verschiedensten Art; etwa 30—33°/o der Väter verrichteten un¬ 
gelernte Arbeit, und nur wenige Jugendliche sind Söhne oder Töchter von 
selbständigen Gewerbetreibenden oder Beamten und Angestellten. 

In der Mehrzahl der Fälle lebte der Vater noch, nämlich in 29 von 42 
bei den männlichen, in 16 von 23 bei den weiblichen Personen. 

Die Mutter hat nur ganz ausnahmsweise einen Beruf; sie ist in der männ¬ 
lichen Gruppe 4 mal Näherin und 1 mal Zeitungsträgerin, in der weiblichen 
Gruppe 1 mal Artistin und 1 mal näht sie nebenbei aus Erwerbsgründen. 

Die Zahl der Geschwister schwankt bei den männlichen Personen zwischen 
I und 11. Bei den weiblichen kommen sogar einmal 13 Geschwister vor. 
Im Durchschnitt beträgt die Geschwisterzahl bei der männlichen Gruppe 4,0, 
bei der weiblichen 5,4. 

Die Vorbildung der befragten Personen ist ziemlich gleichmäßig. Von den 
12 männlichen Personen haben 41 die Volksschule und 1 die Bürgerschule 
besucht. Leider ist aus den Angaben nicht ersichtlich, ob es sich um Haupt- 
blassen oder Förderklassen der Volksschule handelt; nur in einem Fall wurde 
Hilfsschule angegeben. Nach der Schulentlassung besuchten 28 männliche 
Jugendliche die Fortbildungsschule und 14 die Gewerbeschule. Ebenso haben 
die 23 Mädchen sämtlich die Volksschule besucht und danach zum Teil die 
Kochschule (16) oder die Fortbildungsschule (4). 

2. Der Kindheitswunsch. Wie bereits erwähnt, wurde die Frage nach 
dem in der Kindheit gewünschten Beruf wohl so aufgefaßt, daß der etwa 


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4g Annelies Argeiander 


im letzten Schuljahr, also unmittelbar vor Eintritt in das Berufsleben in Aus¬ 
sicht genommene Beruf angegeben wurde. Die Berufswünsche erheben sich 
nur in ganz wenigen Fällen (2 mal Lehrer, 1 mal Maler) über das soziale 
Niveau der Wünschenden, wenn auch damit nicht behauptet werden soll, 
daß sie mit den vorhandenen Mitteln im Einzelfall erreichbar waren. Be¬ 
sonders bevorzugt ist bei den männlichen Personen der Schlosserberuf, der 
von 42 Fällen 13 mal gewünscht wurde, eine Tatsache, die durch die Aus¬ 
dehnung der Mannheimer Metallindustrie verständlich wird. Von den übrigen 
Personen gaben als Kindheitswunsch an je 3 Schreiner und Kaufmann, 
je 2 Lehrer, Schornsteinfeger, Chauffeur, Techniker, „an die Bahn“, 
ferner je 1 Lokomotivführer, Maschinenschlosser, Bäcker, Friseur, Dreher, 
Fuhrmann, Schiffer, Maler, Arbeiter; 2 Personen waren noch unschlüssig 
und 2 mal blieb die Antwort aus. 

Auch bei den weiblichen Personen überstiegen die KindheitswünBche nur 
in 3 Fällen (Kinderfräulein, Zitherlehrerin, Krankenpflegerin) die soziale 
Schicht, aus der sie stammen. Sonst wird angegeben: 7 mal Schneiderin, 
6mal Verkäuferin, 3mal Büro, je 1 mal Handelsschule, Gesang, Stickerin; 
1 mal blieb die Antwort aus. Wie man sieht, ist die Zahl der vorkommenden 
Berufe bei den weiblichen Personen, entsprechend den weniger zahlreichen 
Möglichkeiten, viel geringer als bei den männlichen. 

Nach dem Grund für die Wahl eines bestimmten Berufes in der Kindheit 
war nicht gefragt worden. Sehr stark maßgebend war wohl die soziale Wert¬ 
schätzung bestimmter Berufe innerhalb der in Betracht kommenden Gesell¬ 
schaftsschicht, so z. B. der technischen Berufe, die als Schlosser, Chauffeur, 
Techniker, Lokomotivführer, Maschinenschlosser im ganzen 19 mal unter 
42 Fällen vertreten sind. Dasselbe trifft vielleicht zu bei Kaufmann und 
Lehrer. Bei den Mädchen gehören Schneiderin (7 mal), Verkäuferin (6 mal) 
und Büro (4 mal) zu den sozial angesehensten Berufen. Kindheitswünsche, 
die auf reiner Zuneigung zu der betreffenden Beschäftigung beruhen, sind 
wohl abgesehen davon, daß in der vorigen Gruppe solche Fälle natürlich 
ebensowohl vorhanden sein können, die Fälle: Schiffer, Maler, Gesang, 
Stickerin, Krankenpflege, Zitherlehrerin. 

Bei der Knabengruppe ist ferner zu fragen, inwieweit der Kindheitswunsch 
mehr oder weniger beeinflußt ist vom Beruf des Vaters, besonders wenn 
dieser ein Handwerk ausübt und der Knabe frühzeitig mit den Berufs¬ 
anforderungen bekannt wird. Das scheint in 10 Fällen zuzutreffen, wo 
nämlich der in der Kindheit gewünschte Beruf völlig identisch ist mit dem 
Beruf des Vaters. Unter diesen 10 Fällen kommt 4 mal der Schlosserberuf 
vor, die übrigen Fälle sind 2 mal Bahnarbeiter (oder -beamter?) und je 1 mal 
Schreiner, Schiffer, Taglöhner, Friseur. Zum Teil mag* der Berufswunsch 
auf häuslicher Gewöhnung begründet sein, nämlich in den Fällen: Schreiner, 
Friseur, Schlosser (sofern es sich um selbständige Handwerker handelt, was 
aus den Angaben nicht ersichtlich ist), zum anderen Teil kann es Interesse 
an der väterlichen Beschäftigung sein, mit der der Knabe zuweilen in Be¬ 
rührung kommt (Bahnarbeiter oder Schiffer). Jedenfalls ergibt sich daraus, 
daß fast 25°/o der Berufswünsche der Knaben durch das Arbeitsrailieu, in 
dem sie aufgewachsen sind, beeinflußt wurde. 

3. Der erste Beruf. Wenn es sich auch bei der Angabe der Kindheits¬ 
wünsche in der Hauptsache um Wünsche gehandelt hat, die in gewissem 


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Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 


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Maße mit der Möglichkeit einer Durchführung rechnen durften, so haben 
sieb anscheinend in Wirklichkeit doch noch zahlreiche Hindernisse der Ver¬ 
wirklichung in den Weg gestellt. Wie wir später noch sehen werden, sind 
es wohl zum großen Teil die Kriegsverhältnisse gewesen, die die wirtschaft¬ 
liche Leistungsfähigkeit zahlreicher Familien stark herabgemindert haben, 
so daß die Söhne und Töchter oftmals auf schnellen Geldverdienst sehen 
mnßten, statt ihrer Neigung zu einem bestimmten Beruf nachgeben zu 
können. 

So heben von den 42 Knaben 16 keinen Beruf erlernen können, sondern 
mußten imgelernte Arbeit tun. Die technischen Berufe, die 19 mal gewünscht 
wurden, wurden nur 11 mal erreicht, nämlich 5 mal Schlosser, 3 mal Mechaniker, 
2 mal Bauschlosser, 1 mal Maschinentechniker. Ferner ist keiner der beiden 
Knaben Lehrer geworden, die es sich gewünscht hatten; auch von den 3 Kauf¬ 
leuten erreichte nur einer sein Ziel. Sonst kommen noch vor: 3 mal Schreiner, 
2 mal Dreher, 1 mal Buchbinder, Spengler, Schweißer, Schiffsjunge, Maurer, 
Schriftsetzer, Friseur, Fuhrmann, Installateur. 

Hoch einschneidender haben anscheinend die Kriegsverhältnisse bei der 
Benfswahl der Mädchen gewirkt. Hier sind unter 23 Fällen 15 Personen 
auf ungelernte, hauptsächlich Fabrikarbeit, angewiesen. Anstatt 7 Mädchen 
konnten nur 4 den Schneiderinnenberuf erlernen, Verkäuferin und Büroarbeit 
kommt nur 3 mal vor, daneben noch 1 mal Sängerin. 

Betrachten wir nun den tatsächlich ergriffenen Beruf in seiner Beziehung 
zum Kindheitswunsch, so zeigt es sich, daß nur verhältnismäßig wenige ihr 
Ziel erreichten. Nur in 10 Fällen der männlichen und in 6 Fällen der weib¬ 
lichen Gruppe ist der gelernte Beruf identisch mit dem Kindheitswunsch. 
Daneben geben allerdings noch 7 weitere männliche Personen als Grund für 
die Wahl ihres Berufes, der nicht mit dem Kindheitswunsch übereinstimmt, 
Vorliebe an, so daß anzunehmen ist, daß in diesen Fällen der Kindheits¬ 
wunsch eine Änderung erfahren hat. Jedenfalls können wir insgesamt 23 
gleich 35°/o der Fälle feststellen, wo die erste Berufswahl durch das Motiv 
der Zuneigung zu einem bestimmten Beruf begründet war. 

Ebenso wie der Kindheitswunsch scheint andererseits auch die tatsächliche 
Berufswahl in einigen Fällen vom Milieu, vom Beruf des Vaters, beeinflußt 
zu sein. In der männlichen Gruppe ist dies 7 mal der Fall, worunter aller¬ 
dings 4 mal enthalten ist, daß der Sohn entgegen seinem Kindheitswunsch 
ungelernter Arbeit wie der Vater wird. Die übrigen 3 Fälle (Friseur, Schlosser, 
Schiffer) gehören zu der obenerwähnten Gruppe, wo schon der Kindheits¬ 
wunsch durch den Beruf des Vaters bestimmt war. Unter den weiblichen 
Personen tritt nur 1 mal der Fall auf, daß die Berufswahl der Tochter, aller¬ 
dings nicht gemäß ihrem eigenen Wunsch, sich nach dem Beruf des Vaters 
richtet, wo nämlich die Tochter, anstatt in ein Büro zu gehen, bei ihrem 
Vater, der Schneider ist, das Nähen lernt. 

Von den befragten Personen selbst werden verschiedene Gründe als ma߬ 
gebend für die Berufswahl angegeben. Es kommt vor „Vorliebe", „Geld 
verdienen", „keine andere Gelegenheit". Von den 42 männlichen Personen 
haben angeblich 12 aus Vorliebe ihren Beruf gewählt, 10 weil sie Geld ver¬ 
dienen mußten, 5 weil sie nichts anderes fanden und 3 weil sie keine Lehr¬ 
stelle in dem gewünschten Beruf bekamen. Schließlich gehören folgende 
Angaben: 2mal „Kriegsumstände", „Gelegenheit", „konnte keinen Beruf 

Zeitschrift f. pttdagog. Psychologie. 4 


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50 Annelies Argeiander, Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 


erlernen“, lmal „nichts anderes gewollt“, „weil der Vater dazu geraten hat“, 
„keine andere Wahl“, „um später Ingenieur zu werden“ auch in eine der 
obenerwähnten Gruppen hinein. Stärker noch war der Zwang zum Geld- 
verdienen bei der weiblichen Gruppe, wo 15 Personen dies als Grund zur 
Berufswahl angeben. Vorliebe kommt hier nur 2 mal vor, allerdings neben 
2 Fällen, in denen Talent oder Eignung als Grund zur Berufswahl angegeben 
wurde. Außerdem treten wie bei der männlichen Gruppe als Gründe auf 
je lmal „Gelegenheit“, „konnte keinen Beruf erlernen“, „um vorwärts zu 
kommen“, „weil man es später brauchen kann“. 

Es ist nicht anzunehmen, daß die Jugendlichen bei ihrer Berufswahl völlig 
unbeeinflußt waren und daß die von ihnen angegebenen Motive sämtlich 
ihrer eigenen Überlegung entsprungen sind. Auch wenn auf die Frage, wer 
zu der Berufswahl geraten habe, 18 männliche Persozen angeben, sie seien 
von niemand beraten worden, so werden auch bei ihnen, wie in den 17 Fällen, 
wo Vater oder Mutter als Berater genannt wurden, die Eltern nicht ohne 
Einfluß gewesen sein. In der Hauptsache sind es die Eltern, auf deren Rat 
die Berufswahl vorgenommen wurde; daneben finden sich noch folgende An¬ 
gaben: bei den männlichen Personen 2mal Bruder, lmal Onkel, 2mal Be¬ 
kannte. Bei den Mädchen wird von 6 Personen freie Wahl, von 10 Personen 
die Eltern, daneben 2mal Schwester, lmal Lehrer, lmal ein Freund und.l mal 
eine Freundin angegeben. 

Aus den eben beschriebenen Angaben ist ersichtlich, wie stark die Kriegs¬ 
verhältnisse auf das Berufsschicksal der heutigen Generation eingewirkt haben. 
Natürlich wären auch unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht 
alle Berufswünsche in Erfüllung gegangen, man kann aber doch wohl an¬ 
nehmen, daß der hohe Prozentsatz der ungelernten Arbeiter (38,0 °/o bei den 
männlichen und 65,2 °/ 0 bei den weiblichen Personen) eine Kriegserscheinung ist 

4. Der Berufswechsel. Eine weitere Kriegserscheinung mag es sein, daß 
einzelne der Jugendlichen schon eine ganze Anzahl von Stellen innegehabt 
haben. Nur 10 Personen von den 42 männlichen Arbeitslosen hatten vor der 
Arbeitslosigkeit ihre Stelle noch nicht gewechselt. Dann folgen 11 Personen, 
die bereits in 2 Stellen waren, 7 mit 3, 5 mit 4, 2 mit 5, 3 mit 6, 2 mit 9 
und 1 mit 10—11; lmal fehlt die Angabe. In der weiblichen Gruppe ist der 
Wechsel nicht so stark, neben 9 Personen mit nur einer und 8 Personen mit 
2 Stellen finden sich nur noch 4 mit 3 und 1 mit 4 Stellen. 1 Person war 
im Haushalt der Eltern beschäftigt gewesen. 

Man könnte vermuten, daß vielleicht die Unzufriedenheit mit einer auf¬ 
gezwungenen Arbeit in vielen Fällen den Anlaß zum Stellenwechsel gegeben 
hat. Dagegen hat aber die Frage: Hat Ihnen dieser Beruf gefallen? ergeben, 
daß unter den 42 männlichen Personen 25 ihr Beruf gefallen hat, teilweise 
sogar „sehr gut“; 5 waren „teilweise“, „nicht ganz“, „ziemlich“ damit zu¬ 
frieden und nur 12 antworteten mit „nein“. Unter den 23 weiblichen Per¬ 
sonen antworteten 13 mit „ja“, bzw. „sehr gut“ und 10 mit „nein“; der 
Prozentsatz der Unzufriedenen ist also hier etwas höher, was erklärlich ist, 
wenn man bedenkt, wie viele der Mädchen ungelernte Arbeit tun mußten. 

Angeblich schlechte Behandlung durch den Arbeitgeber scheint ebenfalls 
nicht mit dem häufigen Stellenwechsel in engerer Beziehung zu stehen, denn 
nur in wenigen Fällen wird darüber geklagt. Von den 42 männlichen Per¬ 
sonen wurden 34 „gut“, teilweise „sehr gut“ behandelt, 2 „geht so“ und 


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0. Mann, Ein Bilder-Ordnungstest 


51 


,vom Chef gut, vom Meister aber schlecht“ und nur 6 „schlecht“. Unter den 
Mädchen bezeichnen die Behandlung 17 als „gut“ und „sehr gut“, 4 als „ganz 
gut“, „nicht schlecht“, „wie es sich gehört“, „nicht so gut“ und 2 als „schlecht“ 
und „schnippisch“. 

Die Gründe, die von den befragten Personen selbst für ihren Stellenwechsel 
angegeben wurden, kann man trennen in freiwillige und unfreiwillige. Die 
letzteren sind in starkem Maße ebenfalls durch die Kriegsverhältnisse bedingt, 
denn unter 16 Fällen wird angegeben 11 mal Arbeitsmangel, 2 mal Geschäfts¬ 
aufgabe, 2mal „weil der Meister eingerückt war“ und lmal die Besetzung 
Straßburgs. Ein freiwilliger Grund, der häufig vorkommt, wenn auch vielleicht 
bedingt durch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern, ist das Streben 
nach höherem Verdienst, das 8 mal genannt ist. Daneben wird noch angegeben 
von 4 Personen „weitere Ausbildung - , von 2 „nicht mehr gefallen“, von 2 
weiteren, daß die Arbeit zu schwer war, schließlich 1 mal der Tod des Vaters 
und lmal Entlassung wegen Rauchens in der Fabrik; 9mal fehlte die Angabe. 
Eidsprechend dem höheren Prozentsatz ungelernter Arbeiter unter den weib¬ 
lichen Personen ist hier auch die Entlassung wegen Arbeitsmangel häufiger 
(?ml, darunter lmal wegen Einstellung von Männern), auch höherer Ver¬ 
dienst kommt vor und zwar 3mal, außerdem 2mal Krankheit, lmal war die 
Arbeit zu schwer und 2 mal hat sie nicht mehr gefallen. 

Daß der häufige Wechsel nicht wesentlich durch Unzufriedenheit mit dem 
ergriffenen Beruf bedingt ist, geht auch daraus hervor, daß in den meisten 
Fällen (32 und 17) nur die Stelle, nicht aber der Beruf gewechselt wurde. 
In den 9 Fällen von Berufswechsel in der männlichen Gruppe wurde als Grund 
dafür angegeben 2mal „nichts gelernt“, lmal „weitere Ausbildung“, lmal 
«Mangel an beruflicher Arbeit“, ferner lmal „Geld verdienen“, lmal „nicht 
gefallen“, 1 mal „Eltern gestorben“, 2 mal ohne Angabe. In den 5 Fällen der 
weiblichen Gruppe war der Grund 3mal „Geld verdienen“ und lmal „Mangel 
an beruflicher Arbeit“; 1 mal fehlte die Angabe des Grundes. 

• (Schluß folgt.) 


Ein Bilder-Ordnungstest. 

Von O. Mann. 

In aller Kürze und unter Verzicht auf eingehendere theoretische Betrach¬ 
tung soll im folgenden ein Testversuch beschrieben werden, der an 20 Schülern 
einer Münchener Abschlußkasse (13 und 14 Jahre) durchgeführt wurde. Das 
Schülermaterial war zu einem derartigen Versuch außerordentlich ge¬ 
eignet, weil die Begabungsunterschiede sehr groß waren. In solchen Ab¬ 
schlußklassen sind nämlich alle diejenigen Volksschüler vereinigt, die aus 
irgendeinem Grunde eine frühere Klasse repetieren müssen und deshalb nun 
die normale 8. Klasse nicht besuchen können. Die Ursachen des Sitzen¬ 
bleibens sind aber sehr verschiedene, einerseits Unbegabtheit oder Faulheit, 
anderseits oft rein äußere Umstände, wie längere Krankheit, Schulortswechsel, 
Zuzug vom Ausland u. a.; es ist klar, daß in einer solchen Klasse häufig 
deutlich erkennbare intellektuelle Extreme Zusammenkommen — für eine 
Testerprobung eine glückliche Konstellation. 

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Die Tendenz des ganzen Versuches wird am besten im Laufe der Be¬ 
schreibung an Hand von einzelnen Beispielen erläutert. 


Versuchsanordnung. 

Aus mehreren hundert Ansichtskarten wurden 40 derart ausgewählt, daß 
10 Sinngruppen zu je 4 Stück zustandekamen. Die Karten wurden von 
1—40 fortlaufend numeriert, aber so, daß in jeder Sinngruppe eine Nummer 
ausfiel (in einer zwei). 

Es handelte sich um folgende Bilder: 


1. Rosenstrauß (Gemäldekarte) 

2. Lilien „ „ 

3. Vase mit Rosen „ „ 

[4.] Großer Blumengarten (Farbenphot.) 

9. Wohnzimmer (Interieur) 

10. Musikzimmer „ 

11. Holländische Wohnstube (Interieur) 

[12.] Zimmer, an dessen in einen Garten füh¬ 
rende Türe ein Hund sitzt (Interieur) 

17. Zerstörte Ortschaft (Photographie) 

18. Innenansicht einer zerstörten Kirche (Phot.) 

[19.] Front „ „ „ 

20. Zerstörte Ortschaft (Photographie) 

25. Logissuche auf d. Leipziger Messe (Scherzk.) 

26. Entdeckung des Nordpols „ 

[27.] Steiler Berg mit Maßkrug auf dem Gipfel 

(Scherzkarte) 

28. Münchener Kindl mit Faß „ 

33. Steiler Berg (Photographie) 

[34.] Berglandschaft mit Dorf (Farbenpbot.) 

35. Matterhorn (Farbenphotographie) 

36. Berg mit Gipfelkreuz (Farbenphoi) 


5. Zwei junge Katzen (Photographie) 

6. Zwei Foxterrier (Farbenphotographie) 

7. Junge Dachshunde „ „ 

[8.] Rehkopf (Gemäldekarte). 

13. Kirche mit zwei Türmen (Photographie) 
[14.] Altfranzösische Kirche „ „ 

15. Kirche (Gemäldekarte) 

16. Zwei nebeneinanderstehende Kirchen (Phot.) 

21. Katze, die Diabolo spielt (Karikatur) 

[22.] Katze mit Blumenstrauß (Neujahrskarte) 
23. Zwei futteraeidige Hunde (Karikatur) 
[24.] Dachshundschliefen im Bett „ 

29. Osterhasen i mit aufge- 

30. Froschkonzert (Pfingstk.) ! drucktem 

31. Weihnachtskarte I Glückwunsch 

[32.] Symbolische Neujahrskarte (als solche 

nicht bezeichnet durch Aufschrift). 

37. Schnitter im Felde (Gemäldekarte) 

38. Garbenbinder „ „ 

39. Stehende Garben „ . „ 

[40.] Zwei betende Personen, ihnen zur Seite 
ein Korb voll Kartoffeln (Gemäldek.) 


Die nummerlosen Karten [ ] waren derart ausgewählt, daß sie leicht auf 
falsche Plätze gelegt werden konnten, wenn der eigentliche Sinn oder 
Charakter des Bildes nicht richtig aufgefaßt wurde; die Karte Nr. 8 z. B. 
konnte verlegt werden auf Platz Nr. 12 oder 22 oder 24. Nr. 27 auf 34, 
diese nach 40 usw. 

Das Paket Karten wurde der Vp., die vor einem großen Tisch stand, mit 
folgender Instruktion übergeben: 

„Hier sind 40 Ansichtskarten, 29 haben rechts oben eine Nummer, 11 haben 
keine; ordne sie in der Reihenfolge 1—40 und lege die nummerlosen so ein, 
daß sie dem Sinn nach zu einer vorhergehenden Nummer passen. Merke 
dir auch die Bilder, aber schau sie nicht zu lange an, damit du zum Ordnen 
nicht zu viel Zeit brauchst!“ — Die zu dieser Tätigkeit benötigte Zeit wurde 
nach Sekunden gemessen (mit Abrundung auf 5). 

Wenn die Vp. mit dieser Arbeit fertig war, wurden eventuell falsch gelegte 
Karten richtig eingeordnet und 10 (bei allen Vp. gleiche) Fragen gestellt, 
warum diese oder jene Karte gerade hier oder dort ihren Platz hat; die 
Zahl der Fehlantworten wurde vermerkt. 


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Ein Bilder-Ordnungstest 


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Hiernach wurde der Auftrag gegeben, die Karten nach einer auf einem 
Zettel vorgeschriebenen Zahlenreihe wieder zusammenzulegen und zwar 
möglichst rasch; auch hier Messung der Zeit. Schließlich wurde nochmals 
gefragt: „Ist dir bei dieser letzten (auf dem Zettel vermerkten) Ziffernreihe 
etwas aufgefallen?“ Erfolgt die Antwort „nein“, so wurde die Vp. darauf 
hingewiesen, daß auch in dieser anscheinend willkürlichen Reihenfolge eine 
bestimmte Ordnung zu erkennen sei und sie aufgefordert, diese herauszufinden 
(halbe Minute Bedenkzeit). 

In der betreffenden Ziffernfolge wurden nämlich jeder Vp. die Karten ur¬ 
sprünglich vorgelegt, um begünstigende oder erschwerende Zufälligkeiten 
auszuschließen. 

Zum Schlüsse mußte jeder Schüler (in Klausur mit 15 Min. Zeit) noch die 
Bilder aufschreiben, die er sich gemerkt hatte und diejenigen unterstreichen, 
die ihm besonders gefallen hatten. / 

Auswertung. 

Gewertet wurde: 

1. mit welcher Schnelligkeit die Karten richtig geordnet wurden; 

2. mit welcher Schnelligkeit das Einsammeln nach der vorgelegten Ziffem- 
reihe vor sich ging; 

3. wieviele und welche Bilder falsch eingefügt waren; 

4. die Zahl der Fehlantworten auf die zehn Sinnverständnisfragen; 

5. inwiefern das System in der vorgelegten Ziffemfolge erkannt wurde: 

6. die Zahl der gemerkten Bilder. 

Folgende Überlegungen, die aus einer Reihe von Vorversuchen *) (angestellt 
am Verfasser selbst, an anderen Erwachsenen und an einer andern Klasse) 
sich ergaben, waren für die Bewertung maßgebend: 
ad 1 u. 2: Das Ordnen nach der richtigen Reihenfolge erfordert: 

A) Eine gewisse Methode, die entweder für den augenblicklichen Zweck 
erst erdacht, oder auf Grund früherer ähnlicher Arbeiten ohne besonderes 
Besinnen gleich angewandt wird. 

Folgende Methoden wurden beobachtet: 

I. Auf suchen jeder einzelnen Nummer (zuerst Nr. 1, dann Nr. 2 usw.); 
die nummerlosen Karten wurden zugleich irgendwo vorläufig eingelegt 
(lmal, bei Schüler H.); 

II. Planloses Auflegen der Karten und dann Bilden von gewissen (sich 
meist zufällig ergebenden) Gruppen (5mal); die nummerlosen Karten wurden 
von den Schülern teilweise vorläufig beiseite gelegt und am Schluß ein¬ 
gereiht, teilweise wurde verfahren wie bei I; 

in. Planvolles Auslegen, und zwar so, daß nach dem Augenmaß bestimmte 
Lücken für die noch fehlenden Nummern freigelassen wurden (12 mal), 
die unnumerierten Karten wurden hier von allen vorläufig beiseite gelegt 
and am Schlüsse eingeordnet; 

IV. Wie bei DI., aber mit Anlage von Zehnerreihen (2 mal, von den 
Schülern Kr. und Ld.); 


’) Die Anregung, den ursprünglich nur eis „Beobachtungsaufgabe“ durchgeführten Versuch 
weiter aoBzugestalten, ebenso manch andere wertvolle Hinweise und Ratschläge verdankt der 
Vertaner Herrn Prof. Al. Fischer, München. 


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V. Mit irgendeiner Karte wurde angefangen und die folgenden dann je¬ 
weils hinter oder vor die schon geordneten eingesteckt; die nunmehr richtig 
geordneten Karten wurden dann auf den Tisch ausgebreitet und die nummem- 
losen eingereiht (lmal, bei Schüler Wet.). 

Mehrfache vom Verfasser selbst angestellte Versuche ergaben, daß die 
Verfahren III, IV, V fast gleichwertig in bezug auf beanspruchte Zeit sind; 
von einer besonderen Auswertung wurde deshalb Abstand genommen; die 
Minderwertigkeit der Verfahren I und II aber kommt sowieso in der Zeit¬ 
berechnung deutlich zum Ausdruck. 

B) Ferner hängt die Schnelligkeit ab von einer gewissen manuellen Ge¬ 
schicklichkeit, vom natürlichen Augenmaß und von der Geschwindigkeit des 
Schauens und 

C) vor allem von Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Schnelligkeit 
der Auffassung und Sinn- (oder Sachverhalts-)verständnis für die Bilder. 

Es ist klar, daß allen diesen Anforderungen nicht alle Vp. in gleicher 
Weise gerecht werden konnten. Die Gesamtschnelligkeit kann z. B. dadurch 
bedeutend herabgesetzt werden, daß ein an und für sich intelligenter und 
auch manuell geschickter Schüler schon beim Auslegen der Karten zuviel 
„denkt“. Solchen ist durch die zweite Ordnungsaufgabe, bei der es sich nur 
um Geschicklichkeit handelt, Gelegenheit gegeben sich zu verbessern, während 
jene Schüler, die beim ersten Ordnen schon mit voller Geschwindigkeit 
gearbeitet haben, ohne sich irgendwie mit „Denken“ zu belasten, bei der 
zweiten Ordnungsaufgabe sicher nicht viel besser abschneiden werden. Die 
Berechnung der Leistungsreihe erfolgte in Anlehnung an die von Deuchler 
und Huth l ) vorgeschlagenen Methoden, die auch allen folgenden Auswertungen 
zugrunde gelegt wurden. 

ad 3 u. 4; Hier handelt es sich vor allem um das Sinnverständnis. Unter 
den nummernlosen Karten waren solche, die sehr leicht zu verwechseln 
waren, und solche, deren falsche Einordnung schon auf ein ziemliches Maß 
von Unverständnis schließen ließ. Durch Berechnung von Häufigkeitswerten 
für die einzelnen Fehler wurde eine zahlenmäßige Darstellung ihrer Schwere 
versucht (s. folg. Tab.): 

Nr. 4 = 0,90; Nr. 8 = 0,30; Nr. 12 = 0,60; Nr. 14 = 0,85; 

Nr. 19 = 0,85; Nr. 22 = 0,70; Nr. 24 = 0,50; Nr. 27 = 0,70; 

Nr. 32 = 0,55; Nr. 34 = 0,65; Nr. 40 = 0,70. 

Wenn z. B. die Karte Nr. 8 von 14 Vp. falsch gelegt wurde, so ergab sich 
hieraus ein Wert von 0,30 ^aus — ^ — j • Hatte eine Vp. die Karten Nr. 8, 

24, 27 nicht richtig eingeordnet, so hatte sie den Gesamtfehler 1,50. 

Um aber eine gewisse Kontrolle darüber zu bekommen, daß das richtige 
Einlegen der Bilder nicht durch Zufall zustande gekommen war, wurden 
jeder Vp. die gleichen 10 Fragen vorgelegt, die prüfen sollten, ob die Sinn¬ 
gruppen als solche auch richtig aufgefaßt waren; z. B. warum gehört Nr. 22 
nicht an Stelle von Nr. 8. Die Fehlantworten wurden nach dem üblichen 
Verfahren ausgewertet 2 ). 


') Vgl. A. Huth „Die Münchner Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer*. 
Leipzig 1922. 

2 ) Der Abdruck der Tabellen mußte aus technischen Gründen unterbleiben. 


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Ein Bilder-Ordnungstest 


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ad 5: Diese Aufgabe gehört nicht notwendig zur Versuchsanordnung; sie 
hat sich aus der Technik des Verfahrens eigeben und ließ sich ungezwungen 
r mit Nr. 2 verbinden. Die Ziffemreihe war untereinander geschrieben und 
lautete: 2, 11, 20, 29, 38, 7, 16, 25, 34, 3, 12, 21 ubw. Folgende Antworten 
wurden (innerhalb Vj Min. Bedenkzeit) gegeben: 

1 I- 4 mal gar keine; II. „es sind immer mehr zweistellige beisammen und 
dann kommt 1 einstellige“ (6mal); III. „es sind zuerst immer 4 zweistellige, 
| dann 1 einstellige, dann 3 zweistellige“ 5mal); IV. „es kommt immer der 
| nächstfolgende Zehner“ (2mal); V. „die Zahlen sind um 9 auseinander“ (3mal), 
j Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die übrigen Leistungsreihen (mit 
t einer gewissen Willkür, die aber in diesem Falle nicht zu umgehen war) 
derart, daß Antwort V. mit 0, IV. mit 25, III. mit 75, II. mit 100, und I. 
mit 125 angesetzt wurde. 

[ ad 6: Das Merken der Bilder ist bedingt durch eine gewisse Gedächtnis* 
anlage (Sinngedächtnis!), durch die Art des Vorstellungstypus und vor allem 
I . durch ein gewisses Maß von Konzentrationsfähigkeit (Aufmerksamkeit). Die 

* Btteehnung erfolgte durch Fehlerauswertung; wenn also eine Vp. 26 Karten 
gaaerkt hatte, so wurden 14 Fehler angesetzt. 

* Oer endliche Gesamtwert ergab sich aus dem arithmetischen Mittel der 
sediB Leistungsreihen (L.-R.). Ob die gleichmäßige Bewertung aller Reihen 

' gerechtfertigt ist, oder ob eine oder die andere (etwa 1 und 3) höher an- 
gesetzt werden soll, ist zweifelhaft, und eine Entscheidung darüber kann wohl 
erst auf Grund von vielfachen zukünftigen Erfahrungen getroffen werden. 
Aus eben diesem Grunde wurde auf eine Berechnung von Korrelationen 
, zwischen den einzelnen L.-R. verzichtet. Die Korrelation zwischen der durch 
■ den Test gefundenen Rangordnung und der vom Lehrer (auf Grund anderer 
Int-Prüfungen und Kenntnisbewertung) ermittelten ergab (nach Bravais) 0,96. 
Zum Vergleich wurden noch ein Hilfsschüler und ein Erwachsener zu 
der Untersuchung herangezogen und ihre Leistungen zu den L.-R. der 

20 Schüler in rechnerische Beziehung gesetzt. 

* 

i Ergebnis. 

| A. Vorteile des Tests: 1. Weitgehende Variationsmöglichkeiten (Ver¬ 
änderung der Zahl der Karten und der Schwierigkeit der Bildsachverhalte); 
= 2. eine gewisse Unabhängigheit von Sprachfertigkeit und Schulkenntnissen; 

j dadurch isj die Möglichkeit gegeben, den Test in den verschiedensten Lebens- 
. altern und Schularten anzuwenden (bei Hilfsschülern und Taubstummen allen¬ 
falls durch Anwendung von Zahlbildem statt der Ziffern); 

3. gute Auswertungsmöglichkeiten; 

4. weitgehende Ausgestaltungsfähigkeit (Druck besonders geeigneter Karten, 
deren Bilder genauestens durchdachte Sachverhalte wiedergeben; auf solchen 
Bildern können alle möglichen logischen Beziehungen versinnbildlicht und 
ihre Antinomien verwechslungsmöglich gemacht werden); 

5. gegenüber den schon vorhandenen Bilder- und Ordnungstesten eine viel 
größere inhaltliche Mannigfaltigkeit 1 ). 

t l l VgL u. a. Münsterbergs „Kartenversuch“ in „Psychologie und Wirtschaftsleben“, Leip¬ 
zig 1912, -S. 55ff., ein Experiment zur Erprobung der Eignung für den Schiffsdienst; Franken; 
„BUderkombination“ in Zeitschr. f. angew. Psych. 12, 1917. 


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O. Mann, Gin Bilder-Ordnungstest 


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6. Prüfung der natürlichen (praktischen) und reflektierenden (theoretischen) 
Intelligenz im Rahmen eines Tests 1 )* 

B. Nachteile: Als Einzeltest beansprucht er bei einer größeren Schüler¬ 
zahl ziemlich viel Zeit zur Durchführung. Außerdem haften dem Verfahren 
in der jetzigen Form noch manche Mängel an, die aber nicht grundsätzlicher 
Natur sind, sondern durch genaue Analyse einer Vielzahl von Versuchsergeb¬ 
nissen im Laufe der Zeit wohl eliminiert werden könnten. 


Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen. 

Von Fritz Malsch. 

Weit verbreitet ist sowohl im Schul- wie im öffentlichen Leben die Auf¬ 
fassung, daß Begabung und Leistungen in den Fächergruppen Mathematik 
und Sprachen einander widersprechen. Ich habe schon anderenorts darauf 
hingewiesen, daß nach dem mir vorliegenden Material davon keine Rede sein 
kann. Ebensowenig scheint mir aus diesem Tatsachenmaterial hervorzugehen, 
daß die Leistungen in den sprachlichen Fächern im Durchschnitt besser sind 
als in den realistischen; das Gegenteil scheint mir der Fall. Gelegentlich 
meiner in den letzten zwei Jahren durchgeführten Untersuchungen über das 
Interesse für die Unterrichtsfächer an höheren Knabenschulen (8u. 9) 2 ) ging 
ich auch dieser Frage eingehender nach und möchte das Material hier der 
Öffentlichkeit unterbreiten. 

Diese Frage ist ja für unser schulpolitisches Leben von großer Bedeutung. 
Noch immer müssen die Vertreter der realistischen Fächer um die Berechtigung 
ihrer Fächer kämpfen, wie erst jüngst die Lehrpläne für die neuesten Schul¬ 
typen zeigen. Um so mehr scheint es geboten, in diesem oft aus Tradition 
oder sonstigen Gründen geführten Kampfe nur Tatsachen sprechen zu lassen, 
wie dies mit den Schülerinteressen schon in der oben angeführten Arbeit 
geschehen ist. 

1. Abschnitt. 

Über das Thema „Schülerleistungen“ liegen aus den letzten zehn Jahren nur 
ganz wenige Arbeiten vor und diese beruhen meist auf sehr beschränktem 
Material. Die erste mir bekannte ist eine Arbeit von Lobsien, (1) die sich 
mit 42 Schülern befaßt. Diese geringe Zahl erklärt wohl die manchmal er¬ 
staunlich hohen Korrelationen, die Lobsien aus seinen Zahlen bestimmt. So 
erhebt sich denn auch bald die Kritik und fordert die Nachprüfung an einem 
größeren Material. Der erste, der es tut, ist Schüßler (2), der aus den Zeug¬ 
nissen von 1000 Volksschülern die Beziehungen zwischen Rechnen und Singen 
untersucht. Da sich beide Arbeiten nur auf Volksschüler beziehen, so sei 
weiteres Eingehen hier unterlassen, wie auf eine Arbeit von Deuchler (5) aus 
dem gleichen Grunde, ferner deshalb, weil sie im wesentlichen methodische 
und formale Betrachtungen bringt, die uns hier neben dem sachlichen Inhalt 
weniger interessieren. Wichtiger sind für uns die Arbeiten von Bobertag (3) 

') Zu bemerken ist noch, daß die Übereinstimmung der das Sinnverständnis bewertenden 
L.-R, mit jenen, die die manuelle Geschicklichkeit charakterisierten, eine Überraschend weit¬ 
gehende war. 

*) Die Zahlen bedeuten die Nummern der Literaturliste. 


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Fritz Malzcb, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen 


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und Margis (4), die im inhaltlichen Zusammenhang stehen. Bobertags Arbeit 
behandelt 53 Abiturienten eines Charlottenburger Realgymnasiums aus den 
Jahren 1911 bis 1914, und zwar nur solche, die die Schule von VI bis 01 un¬ 
unterbrochen besuchten. Es werden Durchschnittsnoten von VI bis 01 be¬ 
rechnet und dann mit den Korrelationsformeln r berechnet zwischen r=0,18 
und r=0,79; starke Korrelation zeigen die sprachlichen Fächer untereinander, 
ebenso wie die realistischen untereinander, während die Korrelationen z. B. 
zwischen Englisch und Mathematik, Französisch und Mathematik, Französisch 
und Chemie, Französisch und Physik schwach sind. Bereits Margis hat gegen 
die Bobertagsche Arbeit Bedenken vorgebracht, denen wir uns nur anschließen 
können. Die Schüler, die Bobertag seiner Arbeit zugrunde legt, stellen schon 
eine Auswahl dar und zwar eine recht einseitige Auswahl, in den Leistungen 
im allgemeinen Sowohl wie besonders hinsichtlich der Sprachen. Die von 
ihm gegebene Kurve der Abweichung von der Durchschnittszensur — einer 
ÄrtGauss’scher Fehlerkurve — zeigt nach der Seite der negativen Abweichungen 
starkes Fallen, während sie auf der positiven langsam steigt. Aber auch im 
Bnzelfach überragen die 53 den Durchschnittsschüler — berechnet, aus sechs 
Jabgängen — beträchtlich. Nur ist der Unterschied hier sehr verschieden. 
Biese Differenz (Zensur der Abiturienten — Zensur des Durchschnittsschülers) 
beträgt z. B.: 

Deutsch: 0,30 Mathematik: 0,17 

Latein: 0,32 Physik: 0,09 

Französisch: 0,18 Chemie: 0,15 

Englisch: 0,18 

Diese Zahlen zeigen, daß offenbar eine Auslese der sprachlich tüchtigeren 
Schüler im Laufe des Schullebens stattfand, wie durch die Tabelle 3, die diese 
Differenz auf den Klassenstufen festhält, genau belegt wird. In den Sprachen 
bleibt der Unterschied Abiturienten—Durchschnitt stets positiv und hält sich 
mit zwei Ausnahmen auf beträchtlicher Höhe. In den realistischen Fächern 
dagegen sinkt z. B. in Mathematik dieser Unterschied von OIII ab auf — 0,05 
nnd bleibt negativ, in Physik bleibt er zwischen -j- 0,04 und — 0,01. Diese 
53 Abiturienten stehen also auf Mittel- und Oberstufe in den realistischen 
Fächern unter dem Durchschnitt. 

Ebenso wie Margis habe ich große Bedenken, nur die Osterzensur zu nehmen: 
.denn niemals entsprechen die Prädikate den tatsächlichen Schulleistungen 
weniger als zu Ostern.“ (4.) Die Gründe lese man bei Margis nach. Seine 
sonstigen Bedenken gegen die Arbeit halte ich nicht für so wichtig. Der 
größte Einwand gegen Bobertags Arbeit ist die einseitige Auslese der Schüler 
durch die Schule; ich komme darauf weiter unten noch zurück (Abschn. 3). 

2. Abschnitt. 

Das von mir bearbeitete Material sind die Zeugnisbücher einer Oberreal¬ 
schule aus drei Jahren: 1919—1921. Es waren 1919: 310, 1920: 346, 
1921: 364 Schüler. Für jeden Schüler wurden zunächst die Jahresdurch¬ 
schnittszensuren berechnet, und zwar sei bemerkt, daß dem Verfasser fast 
alle Schüler wie Lehrer persönlich bekannt waren, so daß irgendwelche 
Lücken und Unklarheiten durch persönliche Rücksprachen ausgeglichen 
werden konnten. Jahresdurchschnittszensuren deshalb, weil sehr oft die 


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58 


Fritz Maisch 


Herbstzensur noch unsicher ist, während bei der Osterzensur häufig un¬ 
kontrollierbare Rücksichten eine Rolle spielen, worauf schon Margis hin¬ 
gewiesen hat. 

Da es mir nun wesentlich darauf ankam, die Beziehungen zwischen 
fremden Sprachen und realistischen Fächern aufzustellen, so entschied ich 
mich, aus dem Gesamtzensurenmaterial zunächst einmal diese Fächer heraus¬ 
zugreifen und weiter die Durchschnittszensur zwischen Französisch—Englisch 
einerseits lind zwischen Mathematik—Physik andererseits zu berechnen. Die 
Wahl Französisch-Englisch'ergab sich von selbst. Zur Mathematik nahm ich 
nur ein zweites Fach: Physik, um nicht ungleichgewichtige Mittelwerte 
(Sprachen 2, Realien 4 Fächer) zu bilden; Chemie und Naturkunde ließ ich 
unbeachtet, weil mir die Physik am meisten das charakteristische Gepräge 
der Mathematik zu haben scheint im Gegensatz zu den beiden * die einen 
stark historischen Einschlag haben und viel mehr Ansprüche an das Ge¬ 
dächtniswissen stellen. So ergab sich für jeden Schüler und jedes Jahr 
eine Durchschnittszensur in beiden Fächergruppen: 

Beispiel Herbst Weihnachten Ostern Durchschnitt 

Französisch: 2 — 3 2 2,42 

Englisch: 3 3+ 2— 2,66 

. Gesamtdurchschnitt 2,54 

Die Zensuren 2 — usw. sind dabei mit 0,25 im positiven bzw. negativen Sinne 
gerechnet. Diese Durchschnittswerte wurden dann einer der fünf Gruppen: 
2, 2 /s, 3, 3 /i, 4 zugeteilt, wobei zu Gruppe 2 alles gerechnet ist zwischen 1 
und 2,25, zu Gruppe 2 /y alles zwischen 2,25 und 2,75, zu Gruppe 3 alles 
zwischen 2,75 und 3,25 usw. Zu bemerken ist noch, daß in den Klassen 
VI—V nur Rechnen und Französisch, in IV Rechnen mit Mathematik, in UIII 
Französisch-Englisch im Gegensatz zur Mathematik genommen ist. 

Trägt man die in dieser Weise ermittelten Zensurkombinationen, deren es 
ja 25 gibt, in das übliche Korrelationsschema ein, so erhält man für die 
3 Jahre die folgenden 3 Tabellen, die Schülerzahlen umgerechnet in Prozente 
von der Gesamtschülerzahl: 

Tab. 1. a—c. 


1919 Math.-Phys._ 1920_Math.-Phys. 




2 

7» 

3 

7 ^ 

* 


2 

73 

3 

74 

d 

2 

4,2 

2,5 

_ 


_ d 

2 

i 7,7 

2,7 

0,8 

0,3 

© 

V» 

6,1 

11,3 

6,1 

4,7 

— 

7» 

5,8 

10,1 

5,2 

3,8 

ö 

<Ö 

3 


4,5 

6,5 

4,2 

0,3 § 

3 

1.4 

6,1 

5,5 

2,0 

u 

a 

/« 

— 

10,3 

6,7 

20,0 

2,5 S, 

74 

0,9 

8,1 

9.8 

19,4 


4 

1 

0,6 

1 

1,6 

5,8 

1,6 ® 

4 

— 

1,7 

1,7 

4,9 


1921 Math.-Phys. 




2 * 

7» " 

3 

7« 

4 

d 

2 

6,3 

1,9 

2^2 

0,5 

— 

-c 

7» 

3,8 

5,8 

4,7 

1,4 

0,8 

ä 

3 

2.4 

5,0 

13,7 

7,1 

1,9 

a 

74 

1,1 

4,1 

8,5 

11,0 

4,4 

CG 

4 

0,3 

1,1 

3,0 

6,6 

3,6 


Berechnet man aus diesen Tafeln, unter Geltung der Gruppe 3 als Mittel¬ 
wert, nach der Bravaisschen Korrelationsformel die Korrelation zwischen 
den Leistungen in der Mathematik und den Sprachen, so erhält man: 


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Sciiülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen 


59 


1919, r = 0,56; 1920, r = 0,51; 1921, r = 0,51; im Durchschnitt also 0,53, 
wobei die wahrscheinlichen Fehler sind: 1919 :0,026; 1920:0,027; 1921: 0,026. 

Wichtig erschien es mir aber auch, diesen Zusammenhang auf den einzelnen 
Klassenstufen festzustellen, während im Vorstehenden alle Schüler von VI 
bis I zusammengefaßt sind. Um nicht die Übersichtlichkeit zu gefährden 
und zuviel Rechenarbeit zu haben, sind die*Schüler nunmehr nach den Jahres¬ 
durchschnittszensuren in Französisch-Englisch einerseits, Mathematik-Physik 
anderseits nur in 8 Gruppen eingeteilt: 2, 3 und 4. Hierbei ist zu 2 alles 
zwischen 1 und 2,5, zu 3 alles zwischen 2,5 und 3,5 usw. gerechnet; ferner 
werden hier die Anzahlen der Noten jeder Gruppe für jede Klasse über alle 
S Jahre zusammengefaßt und die Gruppen in Prozente der Schülerzahl der 
Klassen umgerechnet; ein Beispiel wird dies sofort klar machen. 

Sprachen in OII: Jahr Schülerzahl 2 3 4 

1919 19 2 11 5 

1920 17 3 12 3 

1921 14 7 6 1 

3 Jahre 60 12 29 9 

In Prozent: 24,0 68,0 18,0 

h Tabellen zusammengestellt erhalten wir bei 340 Schülern im Jahres¬ 
durchschnitt _ Sprachen_Math.-Phya. 



2 

3 

4 

2 

3 

! 4 ' 

Ol 

13,9 

50,0 

36,1 

27,8 

58.3 

13,9 

UI 

19,7 

50,0 

30,3 

27,3 

66,7 

6,0 

on 

24,0 

58,0 

18,0 

25,0 

69,0 

6,0 

un 

17,4 

63,7 

18,9 

22,7 

65,4 

11,9 

OIII 

21,5 

55,0 

23,4 

18,7 

61,2 

20,1 

um 

15,8 

53,7 

31,3 

26,6 

55,8 

17,6 

IV 

15,9 

55,8 

28,3 

21,2 

65,4 

13,4 

V 

23,1 

55,2 

22,7 

24,5 

60,5 

15,0 

VI 

17,6 

60,2 

22,2 

24,2 

66,0 

9,8 



Abb. 1 Abb. 2 


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60 


Fritz Malsch 


3. Abschnitt. 

Betrachten wir das im Vorstehenden Festgestellte näher, so können wir 
schon aus Tabelle 1 ersehen, daß von besonders ungünstigen Leistungen in 
den realistischen Fächern keine Rede sein kann. Im wesentlichen kann man 
wohl behaupten, daß die Leistungen in den beiden Fächergruppen fast gleich¬ 
wertig sind, mit einem geringen Mehr der guten und genügenden Leistungen 
in Mathematik-Physik. Das Gleiche geht aus Tabelle 2 bzw. Abb. 1 hervor. 
Die zahlenmäßigen Ergebnisse vergleiche man dort. Ferner entspricht die 
Verteilung der Leistungen auch dem allgemeinen Ergebnis der Intelligenz¬ 
prüfungen (7, S. 158) insofern, als die Mittelleistungen in der angegebenen 
Bewertung ungefähr 50°/o, die Extremleistungen beiderseits kaum über 25°/o 
betragen. Völlig konform geht aber dies Ergebnis dem meiner Arbeiten Uber 
die Schülerinteressen (8 und 9). Dort habe ich in eingehender Untersuchung 
auch die Gründe für die dem Pädagogen wie Psychologen zunächst etwas 
seltsamen Tatsachen klarzulegen gesucht und kann mir daher eine noch¬ 
malige ausführliche Darlegung sparen. 

Von mancher Seite wird nun gegen derartige Feststellungen der Einwand 
erhoben, das zugrunde liegende Material — die Schulzeugnisse — sei keine 
reine und sichere Darstellung der Schülerleistung; die erteilte Zensur sei eine 
auf äußerst vielen oft zufälligen Faktoren beruhende Feststellung. Nicht nur 
beim Einzelschüler, wo der Lehrer, die Methodik, die Begabung, der Fleiß 
und häusliche Hilfe manche 2 und 3 hervorzauberten, sondern auch an den 
einzelnen Anstalten im Lande sei die Beurteilung der Schülerleistungen j 
durchaus ungleichmäßig. Das ist alles bis zu einem gewissen Grade richtig; i 
doch glaube ich nicht, daß das jemals ganz gleichmäßig zu machen ist. i 
Absolute Normen für die Schülerbewertung wird es nie geben, praktisch ist 
für die Gleichmäßigkeit durch die Organisation der Schulen ausreichend ge¬ 
sorgt. Weiter, wir haben es hier nicht mit Dingen der theoretischen Päda¬ 
gogik, sondern der praktischen zu tun. Der Praktiker kann aber nicht immer j 
warten, bis Reinkulturen des Materials beschafft sind, sondern muß sich mit 1 
dem Bestehenden bzw. dem Möglichen befassen und hier mit dem kritisch 
betrachteten Material zur Lösung der praktischen Fragen zufrieden sein. 
Dieses Problem der Schülerleistungen und -interessen scheint mir aber im 
Hinblick auf Schulpolitik, den Streit um Fächer und Lehrpläne für alte und 
neue Schultypen sehr bedeutsam zu sein. 

Eine andere Frage möchte ich hier anschneiden. Von Vaerting (6) wird 
seit Jahren ein Kampf gegen die höheren Schulen geführt mit dem Einwand, 
diese seien viel zu sehr Schulen der Gedächtnis-, aber nicht der Veretandes- 
bildung; zum mindesten aber werde auf ihnen eine ganz einseitige Auslese 
zugunsten der Sprachbegabten, zu ungunsten der mathematisch-technisch 
Begabten getrieben. Die Zahlen von Bobertag scheinen mir dies für das 
Gymnasium sehr zu bestätigen, während es nach meinen Ergebnissen für die 
Oberrealschule kaum der Fall ist. Ich habe im Abschnitt 2 schon die ent¬ 
sprechenden Zahlen aus Bobertags Tabelle 2 und 3 mitgeteilt. Ist aber diese 
Auslese der Sprachbegabten eine Tatsache, dann ist auch Bobertags Material 
als zu einseitig zu beanstanden. Die große Menge det sprachlich weniger, 
aber dafür mathematisch-technisch begabten Schüler wird am Gymnasium 
und Realgymnasium, wo eine Hochleistung in drei Fremdsprachen verlangt 


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Schmerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen 


61 


wird, spätestens in der Mittelstufe schöitem. Noch einen zweiten Beleg für 
diese Auslese zugunsten der Sprachbegabten glaube ich anführen zu können. 
Melchert hat (10) für 2000 Schüler einer Lübecker Oberrealschule aus den 
Zeugnissen festgestellt (das Material erstreckt sich über 18 Jahre), woran diese 
in den Klassen VI—UII gescheitert sind. Ich verweise auf seine Arbeit und 
gebe nur die runden Zahlen. An Mathematik allein scheiterten 8,5 "/o, an 
Sprachen allein 34,5°/o, an Mathematik und Sprachen 53,5°/o. Auch hier 
also eine Auslese zugunsten der Sprachbegabten. Das scheint mir eine recht 
traurige Bestätigung des Vaertingschen Vorwurfs zu sein. Wenn man neben 
dies einen Satz von Vosslar hält, der kürzlich auf dem deutschen Neuphilo¬ 
logentage gesprochen wurde, wird man sich über solche Ergebnisse nicht 
wundern: „Einen sonderlichen Ertrag aber hat, soweit ich beurteilen kann, der 
französische Unterricht an den höheren Lehranstalten trotz des langjährigen 
und intensiven Betriebs nicht gegeben.“ (11) 

Das von mir in Tabelle 1, a—c niedergelegte Ergebnis scheint mir 
schließlich noch einen kleinen Beitrag zu der Frage der Gesamtverteilung 
der Intelligenz zu liefern. Galton hat bekanntlich bereits die Vermutung 
ausgesprochen, daß die Begabungsgrade einer größeren nicht besonders aus¬ 
gewählten Menge von Individuen sich nach der Gaußschen Kurve verteilen 
müßten, eine Vermutung, die Stern (7) nach den bisher vorliegenden Er¬ 
gebnissen als bestätigt sieht. Auch unser Beitrag soll nur ein kleiner Bau¬ 
stein sein am Gebäude der zahlenmäßigen Festlegung der massenpsycho¬ 
logischen Gesetze. Zu dem Zwecke betrachten wir — siehe Tabelle 1 — 
wieviel Schüler — in Prozenten — von gleichmäßiger Leistung in Sprachen und 
Mathematik abweichen; sie können abweichen durch eine bessere Leistung in 
den Sprachen z. B. Sprachen 2, Mathematik 2 /a, oder in der Mathematik z. B. 
Sprachen 3 /«, Mathematik 3, und zwar sind Abweichungen um vier halbe 
Stufen möglich, in einer ganzen Menge Kombinationen: z. B. 2— 2 /a, 2—3, 
2 —*/<, 3— 3 / 4 , 3 / 4 —2, 3—4 usw. Stellen wir diese Zahlen für alle 3 Jahre 
im Durchschnitt zusammen, so ergibt sich: 


Leistgs. Diff. 

mehr in Spr. 


mehr in Math. 

0 

V* 

15,0 

42,9 

25,2 

l 

5,1 


10,9 

IV, 

0.7 


1.8 

2 

0,0 


0.1 


Die Kurve Abb. 2 (S. 59) gibt die charakteristische Form der Gaußschen 
Fehlerkurve, wobei allerdings der Abfall auf der Seite: + in Sprache steiler 
ist, als auf der anderen. Ein Ergebnis, das erstens meinen Darlegungen wie 
denen von Melchert durchaus gemäß ist und gleichzeitig die Annahme be¬ 
stätigt, daß die ganze Intelligenzverteilung — denn die Leistung hängt mit 
ihr aufs Engste zusammen — dem Gaußschen Fehlergesetz folgt. 

Literatur: 

1. Lobsien, Korrelationen zw. d. Unterrichtsleistungen einer Schülergruppe. Z. exp. Päd. 
tÖU. 146. 

2. Schüßler, Korrelationen zwischen Rechnen und Singen. Arch. Päd. 1914. 153. 

3. Bobertag, Korrelat.-stat. Untersuchungen ü. die Unterrichtsleistungen der Schüler einer 
höheren Lehranstalt Z. ang. Ps. 1915. 169. 

4. Margis, Bemerkungen zu 3. Ebenda. 188. 


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62 Fritz Malsch, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen 


5. Deuchler, Über die Bestimmung von Hangkorrelationen aus Zeugnisnoten. Z. ang. Ps. 

1917. 395. 

6. Vaerting, Die fremden Sprachen und die deutsche Schule. Leipzig 1920. 

7. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung. 
Leipzig 1920. 

8. Malsch, Das Interesse für die Unterrichtsfächer an höheren Knabenschulen. Z. pd. Hs. 
1921. 234. 

9. Malsch, Gleicher Titel wie 8. Kölner Dissertation, 1922 im Druck. Manns, pädag. 
Magazin. Längensalza. 

10. Melchert, Fremdsprachen und Mathematik an den höheren Schuten. Dtsch. Philologen- 
blatt 1922. 147. 

11. Vossler, Vom Bildungswert der romanischen Sprachen. Neuere Sprachen. 1922. S. 233. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Eine kritische Darstellung der Methoden zur Erforschung der Lehrer¬ 
persönlichkeit gibt Dr. Friedrich Schneider in der Zeitschrift für christ¬ 
liche Erziehungswissenschaft (1922). Er zeigt zuerst die Unzulänglichkeit des 
historischen und deduktiven Verfahrens und führt dann über die induktive 
Arbeitsweise u. a. das Folgende aus: 

„Bei ihrer Anwendung geht der Forscher nicht aus von dem Begriff des 
Erziehers und Lehrers, dem Begriff des Erziehens und Lehrens, sondern von 
der Lehr- und Erziehungspraxis. Der Lehrende selbst macht — auch ohne 
absichtlich darauf gerichtete Selbstbeobachtungen — sowohl an sich als auch 
an Kollegen mancherlei Erfahrungen zu unserem Problem (ebenso der Schul¬ 
aufsichtsbeamte). Er erkennt vielleicht, daß er körperliche und geistige Eigen¬ 
schaften besitzt, die ihm bei seiner erzieherischen und unterrichtlichen Tätig¬ 
keit förderlich sind, oder ihr Mangel kommt ihm bei seiner Berufstätigkeit 
zum Bewußtsein. Vielleicht erfährt er auch, daß einzelne seiner körperlichen 
und geistigen Qualitäten eine gedeihliche Berufsarbeit erschweren oder gar 
unmöglich machen. Leider blieb diese Kenntnis bisher wenigstens auf den, 
der die Erfahrung machte, beschränkt, blieb der Forschung unzugänglich und 
konnte daher zur Lösung des Problems der Berufspsychologie des Lehrer¬ 
berufes nicht benutzt werden. Wenn es gelänge, derartige Erfahrungen in 
größerem Umfange zu sammeln, so wäre es möglich, allmählich eine der 
Tendenz nach vollständige Liste der erforderlichen Lehrereigenschaften auf¬ 
zustellen. Ein ähnliches Verfahren hat man auch bei den berufskundlichen 
Untersuchungen mancher handarbeitenden Berufe angewandt. Das .Verfahren 
ist beim Lehrerberuf natürlich viel leichter anzuwenden als bei jenen Be¬ 
rufen, da der Lehrer mehr als der Handwerker, der Fabrikarbeiter, der Kauf¬ 
mann die Fähigkeit und auch wohl Neigung zu psychologischer Selbst¬ 
beobachtung besitzt und weil seine Tätigkeit überdies von psychologisch ge¬ 
schulten Personen (Schulleiter, Schulrat) beobachtet wird. Das Mittel, um zu 
eigens angestellten Beobachtungen zu veranlassen und die zerstreuten Er¬ 
fahrungen zu sammeln, ist die Umfrage, in der psychologischen Methodenlehre 
auch als Erhebung, Enquete, bezeichnet. Diese Umfrage enthält eine oder 
mehrere Fragen, die auf Grund von Selbst- oder Fremdbeobachtungen beant¬ 
wortet und an den Aussender dann zurückgesandt werden sollen. Man kann 
eine solche Umfrage in unserem Falle so gestalten, daß ihre Beantwortung 
kein größeres psychologisches Wissen erfordert, als durchschnittlich jeder 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


63 


Lehrer besitzt, und sie dann an eine möglichst große Zahl von Lehrern 
schicken, um auf diese Weise ein Massenmaterial zu erhalten, das dann 
statistisch verarbeitet wird. Mao nennt eine solche Erhebung eine Quantitäts¬ 
eihebung. Man kann aber auch von vornherein auf Massenmaterial ver¬ 
zichten und sich auf einen engeren Kreis der Befragten beschränken, sich 
z. B. nur an solche Pädagogen wenden, von denen man weiß (etwa auf 
Grund persönlicher Bekanntschaft oder auf ihre literarischen Veröffentlichungen 
hin), daß sie gründlicher psychologischer Selbst-, bzw. Fremdbeobachtung 
fähig sind, ln diesem Falle spricht man von einer Qualitätserhebung. 

Die älteste mir bekannte Enquäte zum Problem der Psychologie des Lehrer¬ 
berufes wurde von dem damaligen Professor am Lehrerseminar in Brüssel 
M. Tobie Jonckheere vorgenommen und im Oktoberheft 1908 in der Zeit¬ 
schrift „Archives de Psychologie“ veröffentlicht. Diese Enquöte war ver¬ 
anstaltet unter 35 Schülern der ecole normale im Alter von 15 Jahren undf 
weniger und beschäftigte sich noch mit einer Vorfrage der Berufspsychologie 
das Lehrerberufes. Sie sollte Aufschluß geben über die Beweggründe, welche 
<fie jungen Leute bei der Wahl des Lehrerberufes geleitet hatten. Das Er¬ 
gebnis der Enquäte war wenig erfreulich. Keiner der Schüler hatte sich aus 
innerem Beruf für den Lehrerberuf entschieden. Die meisten hatten den 
Lehrerberuf gewählt auf den Rat ihrer Eltern oder anderer Autoritätspersonen 
(11 von 35), mit Rücksicht auf die Vorteile, die der Beruf (la vie d’instituteur) 
in ihren Augen besaß (15 von 35), oder aus Nützlichkeitsgründen oder 
egoistischen Erwägungen. Das wenig erfreuliche Ergebnis seiner Enquete 
formuliert Jonckheere folgendermaßen: 

Le choix n’est jamais motive par des raisons nobles, Alevees (par exemple 
le desir de se perfectionner, de se consacrer ulterieurement ä l’education des 
enfants). 

Diese Enquete veranlaßte mich, die Frage: „Aus welchen Gründen haben 
Sie sich ftir den Lehrerberuf entschieden?“ von einer größeren Zahl deutscher 
Seminaristen beantworten zu lassen. Interessenten verweise ich auf die Ver¬ 
öffentlichung der Umfrageergebnisse im Septemberheft 1920 der Zeitschrift 
für christliche Erziehungswissenschaft. Wenn sie auch nicht so traurig sind 
wie die Brüsseler, so zeigte doch auch meine Umfrage die große Oberfläch¬ 
lichkeit und Äußerlichkeit der Motive der Wahl des Lehrerberufes und die 
Notwendigkeit besonderer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Änderung 
dieser unerfreulichen Erscheinung. 

Nachträglich wurde mir eine andere EnquÖte bekannt, die auch durch das 
Beispiel, das Jonckheere gegeben hatte, veranlaßt wurde. C. Huguenin 1 ) 
sandte eine 12 Fragen enthaltende Umfrage an mehr als 100 Personen zur 
Beantwortung. Die wichtigsten der Fragen suchten festzustellen, ob der Stand 
der Eltern und Vorfahren auf die Wahl des Lehrerberufes eingewirkt habe, 
bei wem innere Neigung und Beruf die Veranlassung der Berufswahl waren. 
Auf die vielen Anfragen liefen nur 20 Antworten, 17 von Damen und 3 von 
Herren ein. Diese verhältnismäßig geringe Antwortenzahl führt Huguenin 
darauf zurück, daß manche befürchteten, sich durch wahrheitsgetreue Beant¬ 
wortung bloßzustellen. 

') Einen eingebenden Bericht in französischer Sprache gibt Huguenin in der vom Institut 
1. J. Rousseau herausgegebenen Zeitschrift L’Intermödiaire des Educateurs, IUme Armee Nr. 29—30, 
Juin, JuilJet 1915, Genßve. 


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64 


Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Während diese drei Enqueten noch nicht direkt auf das Problem der 
Eignung zum Lehrerberuf eingingen, liegen bis jetzt auch zwei Umfragen in 
deutscher Sprache vor, die unmittelbar auf den Kern des Problems losgehen. 
Die erste wurde von mir veranstaltet. Sie lautete: 

Eine Umfrage über das Wesen der Eignung zum Lehrerberuf. 

Gegenwärtig geht man in Deutschland — vor allem in den Großstädten — daran, die Be¬ 
rufswahl zu rationalisieren. Die erstrebte Neugestaltung der Berufswahl hat zur Voraussetzung 
die möglichst exakte Feststellung der körperlichen uud geistigen Eigenschaften, welche für den 
einzelnen Beruf unentbehrlich sind. Diese Feststellung ist besonders schwierig bei allen höheren 
Berufen, so auch beim Lehrerberuf. 

Trotz des vielen, das uns die historische Pädagogik an Ausführungen der verschiedensten 
Pädagogen über die Persönlichkeit des Lehrers und ihre Eigenschaften bietet, trotz auch einiger 
von der modernen Berufsberatungsbewegung angeregten Untersuchungen über die Eigenschaften, 
welche zum Lehrerberuf geeignet bzw. ungeeignet machen, ist das Problem der Berufseignung 
des Lehrers noch nicht gelöst. Selbst über den Kern des Problems sind wir wissenschaftlich 
noch nicht einmal im klaren: genügen Intelligenz, Fleiß und guter Wille, um ein wirklich 
tüchtiger Lehrer zu werden? Können wir von einem Jungen Menschen, der diese Dreiheit be¬ 
sitzt, sagen, er eigne sich zum Lehrer, er sei berufen zum Lehrerberuf? Nie werden wir 
jemandem nur auf diese drei Eigenschaften hin raten, sich der Erlernung und Ausübung einer 
der Künste zu widmen. Wir wissen alle, daß da noch ein notwendiges Attribut hinzukommen 
muß: künstlerische Begabung. Verlangt nun vielleicht der Lehrerberuf zu seiner möglichst voll¬ 
kommenen Ausfüllung auch noch ein Mehr: pädagogische Begabung? Wenn ja, worin besteht 
sie? Wie offenbart sie sich beim Jugendlichen? Wie zeigt sie sich beim Lehrer in seiner 
Berufsarbeit? Ist die pädagogische Begabung und Anlage häufig anzutreffen? Wenn wir bei 
der großen Zahl der erforderlichen Lehrer von ihr auch schon absehen müssen, welche Eigen¬ 
schaften muß der künftige Lehrer unbedingt besitzen, bzw. welche machen ihn ungeeignet? 

Meines Erachtens müßte reiches Material zur Beantwortung der Fragen zu gewinnen sein, 
wenn man die in der Lehrpraxis Stehenden dazu hörte. Ich bitte daher alle diejenigen Kollegen 
und Kolleginnen, die sich für die Frage der Berufseignung des Volksschullehrers interessieren, 
die obigen, besonders aber die nachfolgenden Fragen, soweit es ihnen möglich ist, zu beant¬ 
worten. Wer außer den Antworten auf die gestellten Fragen Zweckdienliches zum Thema der 
Umfrage zu sagen weiß, der fördert die Bearbeitung des Problems, wenn er es gleichzeitig mit- 
teilt Die Beantwortung bitte ich an meine Adresse zu richten. 

1. Haben Sie unter Ihren Schülern solche gehabt, die Sie für besonders geeignet zum Lehrer¬ 
beruf hielten? Worauf stützten Sie diese Meinung? Haben Sie Gelegenheit gehabt, solche 
Schüler im späteren Leben im Auge zu behalten? Gab deren spätere Entwicklung 
Ihnen recht? 

2. Nehmen Sie eine spezielle pädagogische Begabung an? Wenn ja, worauf stützen Sie diese 
Annahme? Worin besteht sie nach Ihrer Ansicht? 

3. Kennen Sie einen Kollegen, der ein intelligenter, fleißiger Mensch ist und trotz allen guten 
Willens in seinem Berufe nichts Tüchtiges leistet oder sich in seinem Beruf nicht wohl 
fühlt? Woran liegt das nach Ihrer Ansicht? 

4. Welche geistigen Fähigkeiten sind bei einem Ihnen etwa näher bekannten hervorragend 
tüchtigen Lehrer besonders ausgeprägt? 

5. Waren in Ihrer Seminarzeit diejenigen, die in den wissenschaftlichen Fächern am meisten 
leisteten, die besten Lehrer in der Übungsschule und auch — soweit Sie es verfolgen 

' konnten — nach der Seminärzeit im Amt? Oder wie war das Verhältnis? 

Diese Umfrage ist dann außer in der Zeitschrift für christliche Erziehungs¬ 
wissenschaft auch von den „Pädagogischen Blättern“ und von der „Zeitschr. 
für päd. Psychol. und experimentelle Pädagogik“ veröffentlicht worden. Bei 
der großen Verbreitung, die so die Umfrage gefunden hatte, erhoffte ich 
auch eine dementsprechend große Zahl von Antworten zu erhalten. Es liefen 
aber so wenig Antworten ein, daß von einer Quantitätserhebung gar keine 
Rede sein konnte. Die Erklärung für diese Tatsache liegt meines Erachtens 
vor allem darin begründet, daß die Lehrerschaft für diese Fragen nicht hin- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


65 


reichend interessiert ist. Wodurch sollte dieses Interesse auch geweckt worden 
sein? Während der Vorbildung zum Lehrerberuf spielte das Problem der 
Berufspsychologie des Lehrerberufes eine ganz geringe oder gar keine Rolle. 
In den Seminarlehrbüchem für den pädagogischen Unterricht wird das Problem 
nicht berührt. In der pädagogischen Presse wird das Thema nur höchst selten 
berührt, am häufigsten noch in den von Muthesius herausgegebenen „Päd¬ 
agogischen Blättern“, die aber in Volksschullehrerkreisen nur wenig verbreitet 
sind. Die Veranstaltungen zur Fortbildung des Lehrers gehen auch an diesem 
Problem vorbei. Ich habe alle Studienpläne von Lehrerarbeitsgemeinschaften, 
die mir in die Hände kamen, auf unsere Themata hin durchgesehen. Selbst 
da, wo eingehende psychologische Arbeitspläne aufgestellt waren, fehlte die 
Berufspsychologie des Lehrerberufes, obwohl gerade dieses Arbeitsgebiet zur 
Mitarbeit so reiche Gelegenheit bietet und die Erforschung dieses Problem^ 
auf die Mitarbeit des Lehrers angewiesen ist. Auch auf den Programmen der 
vielen vom Zentralinstitut veranstalteten „Pädagogischen Wochen“ fehlt bei 
allem Reichtum der Themata die Berufspsychologie, ebenso wie die nicht 
weniger wichtige Berufsethik, des Lehrerberufes, noch vollständig. Für die 
Lehrerwelt als Ganzes existiert das Problem, mit dem wir uns beschäftigen, 
noch gar nicht. Sie hat über die damit zusammenhängenden Fragen weniger 
fast nachgedacht und ihre Beobachtungen noch nicht darauf gerichtet. 

Mir kam es bei Vornahme der Umfrage vor allem darauf an, Massen¬ 
material zur Beantwortung der Frage zu gewinnen, ob es eine besondere 
pädagogische Anlage und ob es den „geborenen“ Lehrer gebe und wie das 
Verhältnis von Intelligenz, theoretischer Neigung und Wissen zum pädago¬ 
gischen Geschick sei. — Der Gedanke an eine besondere pädagogische An¬ 
lage taucht in der historischen Pädagogik erst spät — soweit ich feststellen 
konnte — erst bei den humanistischen Pädagogen auf, aber sie hat bis heute 
noch keine allgemeine Geltung errungen. So lehnt — um einige Beispiele 
zu nennen — Theodor Waitz in seiner „Allgemeinen Pädagogik“ ') ein all¬ 
gemeines Erziehertalent, dem bei seiner Betätigung allgemeine theoretische 
Gesichtspunkte entbehrlich wären, ab; Seidenberger vertritt in Roloffs 
Lexikon die Meinung, daß Begabung, Fleiß und guter Wille für den Präpa- 
randen genüge und daß sich dann während seiner Ausbildungszeit auf unseren 
tüchtigen Lehrerbildungsanstalten Geschick und Befähigung zum pädagogischen 
Beruf von selber entwickeln würden. Es scheint bei ihm die Ansicht sich 
auszusprechen, die schon von Aristoteles und nach ihm von Thomas von 
Aquin vertreten wurde. „Der Satz: Merkmal des Wissenden ist, lehren zu 
können, geht auf ein allgemeines Gesetz zurück; denn jedweder erreicht erst 
die Vollendung seines Tuns, wenn er sich ein anderes angleichen kann. Wie 
es Merkmal der Wärme ist, daß sie etwas erwärmen kann, so ist es Merkmal 
des Wissenden, daß er zu lehren versteht, was ja ist: Wissen in einem 
anderen erzeugen 2 ).“ 

Der Pädagoge Schiller behauptet in seinem Handbuch der praktischen 
Pädagogik für höhere Lehranstalten mit derselben Bestimmtheit eine beson¬ 
dere pädagogische Anlage, wie die eben genannten Pädagogen sieverneinten: 
„Wenn bei irgendeinem Berufe das Wort Geltung hat, daß der Künstler ge- 

') Herausgegeben von Otto Willmann, Braunschweig, Vieweg & Sohn. 4. Auflage. 1898. 

*) Otto Willmann, „Aristoteles als PSdagogiker und Didaktiker“. Reuther und Reichard. 
Berlin 1909. S. 151. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 5 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


boren, nicht geschaffen wird, so ist dieB bei dem Lehrerstande der Fall *).“ 
Die Existenz einer besonderen pädagogischen Anlage wird besonders von 
manchen modernen Schulreformern vertreten 2 ). Sicherlich würde es in diesen 
Meinungsverschiedenheiten nun von Wert sein, die begründete Ansicht recht 
vieler praktischer Pädagogen zu hören. Auf meine Umfrage sind aber so 
wenige Antworten eingelaufen, daß ich vorläufig die Bearbeitung derselben 
noch zurückstellen muß. Vielleicht wird durch diese Ausführungen noch 
der eine oder andere Leser veranlaßt, sich der Umfrage jetzt noch anzunehmen. 

Eine weitere Umfrage, deren Resultate auf Bearbeitung warten, ist von 
Hy Ha, dem jetzigen Kreisschulrat und Mitarbeiter im Ministerium für Wissen¬ 
schaft, Kunst und Volksbildung, vorgenommen worden. Der von ihm auf¬ 
gestellte, sehr ins einzelne gehende, den fachmännisch geschulten Psychologen 
verratende Fragebogen wird vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 
versandt. Er lautet: 

Psychologischer Fragebogen zur Feststellung der für den Lehrberuf erforder¬ 
lichen Anlagen und Eigenschaften. 

Sind nach Ihrem Urteil folgende Eigenschaften 

A) für die Ausübung des Lehrberufes, 

B) für die ihm vorangehende Berufsausbildung 

(3) unbedingt erforderlich — (2) sehr wichtig — (1) wünschenswert — (0) gleichgültig — 
(— 1) unerwünscht — (— 2) sehr hinderlich, — (— 3) ein unbedingter Gegengrund? 

1. Eine feste Gesundheit im allgemeinen. 2. Besondere körperliche Widerstandskraft auf 
bestimmten Gebieten. Auf welchen? 3. Eine besondere Widerstandskraft des Nervensystems 
finkl. Sexualität). 4. Große Kraft der Körperbewegungen (Muskelkraft) eventuell welcher Muskel- 
gruppe im besonderen? 5. Eine kräftige, klangreiche und ausdauernde Stimme. 6. Geschick¬ 
lichkeit der Bewegungen. Eventuell in welcher speziellen Form. 7. Die Fähigkeit deutlichen 
Sprechens. 8. Die Fähigkeit schnellen Sprechens. 9. Die Fähigkeit, seinen Gefühlen durch 
Gesten, Mimik, Modulation der Stimme adäquaten Ausdruck zu verleihen. 10. Die Fähigkeit, 
unwillkürliche Ausdrucksbewegungen (z. B. Zeichen der Unruhe, des Mißvergnügens) willkürlich 
zu unterdrücken. 11. Besondere Schärfe und Feinheit der Sinneswahrnehmungen (auf welchem 
Sinnesgebiet: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast). Eventuell in welcher besonderen 
Ausprägung (Empfindlichkeit für Farbenunterschiede, Unterscheidungsvermögen für Geräusche, 
speziell: Gute Auffassung gesprochener Worte, Feinheit der Tastempfindung, der Gewichts- 
scbätzung, Lage- und Bewegungsempfindung, d. h. Orientierung über Stellung und Bewegung 
einzelner Körperteile ohne Kontrolle des Auges, Unterscheidungsvermögen für Differenzen der 
Temperatur, Richtungsschätzung, Größenschätzung, Zeitschätzung usw. 12. Die Fähigkeit, auf 
Grund eines bestimmten Sinneseindrucks schnell eine bestimmte Bewegung auszuführen. 13. Die 
Fähigkeit, unter verschiedenen in einem bestimmten Falle möglichen Bewegungen (Handlungs¬ 
weisen) schnell und sicher die richtige, bzw. zweckmäßige Wahl zu treffen. 14. Die Fähigkeit 
zu schneller und richtiger Entscheidung in gefährlichen Lagen (Geistesgegenwart). 15. Die 
Fähigkeit zur Unterdrückung unwillkürlicher Reaktionen (z. B. Zusammenzucken, Abwehr¬ 
bewegungen, Mitbewegungen usw.). 16. Ein bestimmter Vorstellungstyp, d. h. Gedächtnis- und 
Vorstellungsweise gründen sich vorwiegend auf: 1) Gesichtseindrücke (optischer oder visueller 
Typ); 2) Gehörseindrücke (akustischer Typ); 3) Bewegungseindrücke (speziell Sprech- und Schreib¬ 
bewegungen, motorischer Typ); 4) Gehörs- und Bewegungseindrücke (akustiko-motorischer Typ). 
Welcher? 17. Eine gute Beobachtungsgabe für sinnlich-anschauliche Dinge, bzw. Vorgänge. 
Eventuell für welche bestimmten Sachgebiete? 18. Die Fähigkeit zu rascher Auffassung äußerer 
Eindrücke. 19. Eine gute Beobachtungsgabe für menschliches Seelenleben, psychologisches Ver¬ 
ständnis, sogenannte Einfühlung. 20. Eine gute Auffassungsgabe für abstrakte Gedanken. 21. Die 
Fähigkeit, Beobachtungen zu machen, ohne daß bewußt und willkürlich die Aufmerksamkeit auf 
sie gerichtet ist. 22. Eine wache, leicht erregbare Aufmerksamkeit. 23. Die Fähigkeit zu rascher 


*) Leipzig, Reisland 1904. S. 54. 

2 ) Von ausländischen Pädagogen vertritt vor allem Clapardde in seiner Psychologie de 
l’Enfant, 6. Auflage 1916, S. 13 ff., den angeborenen Charakter der pädagogischen Anlage. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Umfcfaaltong der Aufmerksamkeit 24. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit scharf auf einen 
Gegenstand za konzentrieren, ohne sich durch störende Nebenreize ablenken zu lassen. 25. Die 
Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gleichzeitig mehreren Gegenständen zuzuwenden (Umsicht). 
26. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit längere Zeit hindurch gleichmäßig demselben Gegenstand 
zozuwenden. 27. Vorwiegende Richtung der Aufmerksamkeit auf die äußeren Dinge („nach 
außen leben“). 28. Vorwiegende Richtung der Aufmerksamkeit auf die eigenen Vorstellungen 
i^nach innen leben“). 29. Die Fähigkeit zu schneller Einprägung neuer Vorstellungen („Leichtes 
Lernen“). 30. Die Fähigkeit, sich viel (und eventuell vielerlei Verschiedenes) auf einmal zu 
oerken. 31. Ein dauerhaftes Gedächtnis, d. h. die Fähigkeit, Erinnerungen lange Zeit auf- 
mbewabren. 32. Ein treues Gedächtnis, d. h. die Fähigkeit, Erinnerungen genau (in unverän¬ 
derter Gestalt) aufznbewabren. 33. Ein umfangreiches Gedächtnis, d. h. ein großer Schatz von 
^mnenrngsvorsteliungen (Kenntnisse, Gedächtniswissen). 34. Ein vielseitiges Gedächtnis, das 
rieteriei Verschiedenes aufbewahrt. 35. Ein gutes Spezialgedächtnis für bestimmte Gebiete, z. B. 
a) für bestimmte Sinnesgebiete (Ton-, Farben- usw. -gedächtnis); b) für realistisch-zeitliche Ein¬ 
drücke (Ortsgedächtnis usw.); c) für anschauliche Dinge und Vorgänge (Personengedächtnis); 
di für ananschauliche Zeichen und Symbole (Gedächtnis für Namen, Zahlen, Vokabeln usw.) 
Für welche? 36. Schnelle und sichere Verfügung über das Gedächtniswissen („schlagfertiges 
Gedächtnis“). 37. Kritische Begabung, d. h. Unterscheidungsvermögen für das Wesentliche, 
Wertvolle, Richtige a) gegenüber Personen und ihren Handlungen; b) gegenüber Gedanken 
ad fertigen Werken, ln welcher speziellen Richtung? 38. Die Fähigkeit zum Denken in ab- 
Bitten (allgemeinen) Begriffen. 39. Schnelligkeit der Kombination (Vorstellungs-, Gedanken¬ 
verbindung). *40. Sicherheit der Kombination, d. h. die Fähigkeit, unter verschiedenen Kombi- 
Mtionsmöglichkeiten die richtige (bzw. zweckmäßige) herauszufinden. 41. Vielseitigkeit der 
fonbination, d. h. ein umfassender Überblick über alle in einem bestimmten Falle möglichen 
^oftteUungsverknüpfungen, und zwar a) wertvolle Verknüpfungen (Erfindungsgabe), b) über¬ 
raschende Verknüpfungen (Witz). In welcher speziellen Form? 43. Eine lebhafte Phantasie, 
®d zwar a) sinnliche Phantasie, b) konstruktive Phantasie (*= Vorstellungskraft für räumliche 
Anordnung), c) begriffliche Phantasie (= freischaffendes, begriffliches Denken, Spekulation). 
Welcher spezielle Typus? 43. Eine vorwiegend synthetische Denkweise (induktiver Verstand). 
15. Eine vorwiegend analytische Denkweise (deduktiver Verstand). 46. Ein stark entwickeltes 
Gefühlsleben („warme Natur“). 47. Ein gering entwickeltes Gefühlsleben („kalte Natur“). 48. Eine 
leichte Erregbarkeit der Gefühle („sensitive Natur“). 49. Eine leichte Erregbarkeit der Affekte 
»lddenschaftliche Natur“). 50. Neigung zu Ungeduld, Ärger, Zorn (Reizbarkeit). 51. Neigung 
langer Nachwirkung imangenehmer Erlebnisse. 52. Empfindlichkeit gegenüber körperlichen 
Beschwerden (Schmerzen, Entbehrungen). 53. Empfindlichkeit gegen unangenehme Sinnes- 
äodrücke (Geräuschempfindlichkeit, Ekel, Empfindlichkeit gegen Gerüche usw.). 54. Neigung 
ra plötzlichem Stimmungswechsel. 55. Verlust des inneren Gleichgewichtes (der Gemütsruhe) 
® ungewohnten, wichtigen oder feierlichen Situationen (Befangenheit). 56. Verlust desselben bei 
Parker Häufung und zeitlichem Drängen der Anforderungen. 57. Verlust desselben in gefähr¬ 
lichen Situationen (Kopflosigkeit). 58. Vorherrschen lustbetonier Gefühle und Stimmungen 
‘fetteres, sanguinisches Temperament). 59. Vorwiegendes Interesse für das Besondere, Konkrete, 
Persönliche (subjektive Einstellung). 61. Vielseitigkeit der Interessen. 62. Ein besonderes Interesse 
fär bestimmte Gebiete (z. B. Religion, Kunst, Philosophie, Literatur, Wissenschaft, Politik, soziale 
Probleme, menschliches Seelenleben, Kinder, Natur, Technik, Verkehr, Besitz, Ehrungen 
asw. usw.). Für welche? 63. Ein vorwiegend rezeptives Verhalten (Ausführung empfangener 
Anregungen). 64. Die Fähigkeit zu selbständigem Schaffen (Produktivität, Gestaltungskraft). 
*>5. Neigung zu zähem Festhalten an Anschauungeh, Gewohnheiten, Neigungen usw. (Kon¬ 
servatismus). 66. Beweglichkeit des inneren und äußeren Verhaltens. 67. Die Fähigkeit zur 
Unterordnung (Subordination, Disziplin). 68. Die Fähigkeit zur Einordnung (Kollegialität). 69. Die 
Fähigkeit, sich innerlich und äußerlich der Umgebung anzupassen. 70. Rascher Ablauf der 
körperlichen und geistigen Leistungen. 71. Rasche Ermüdbarkeit bei körperlichen und geistigen 
Leistungen. 72. Weitgehende Übungsfähigkeit (Routine, Automatisierung der Leistungen). 73. Ab¬ 
neigung und Versagen gegenüber der Forderung einer häufigen Wiederholung derselben Leistung. 
74. Die Fähigkeit zu rascher Stellungnahme bei Urteilen und Entschlüssen. 75. Langsame und 
vorsichtige Stellungnahme (abwägendes Verhalten). 76. Die Fähigkeit, an Urteilen und Ent- 
ftehUUsen festzuhalten. 77. Die Fähigkeit zu nachdrücklicher Stellungnahme (Entschiedenheit). 
78. Die Gabe, seine Überzeugung und seinen Willen auch anderen mitzuteilen (suggestive Wir¬ 
kung, eindrucksvolle Persönlichkeit). 79. Unsicherheit der Stellungnahme, Beeinflußbarkeit durch 
innere Hemmungen (Zweifel, Befürchtungen, Mangel an Selbstvertrauen). 80. Abneigung gegen 
Übernahme von Verantwortungen. 81. Bestimmbarkeit durch Vorbilder und fremde Einwirkungen 

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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


(imitatives Verhalten, Suggestibilität). 82. Vorwiegend gefühlsmäßige Stellungnahme. 88. Vor¬ 
wiegend verständige Stellungnahme (auf Qrund vernünftiger Überlegungen). 84. Abwartendes, 
reaktives, kritisierendes Verhalten, Neigung zu ruhiger Beobachtung und theoretischer Reflexion 
(kontemplative Natur, Typus des theoretischen Menschen). 85. Aktives Verhalten, Neigung zu 
' spontaner Stellungnahme und persönlichem' Eingreifen (Willens- und Tatenmenscben, Typus des 
praktischen Verhaltens). 86. Zusammenstimmen der verschiedenen Eigenschaften (eine harmonische 
Gesamt Persönlichkeit). 87. Eine klare, leicht faßliche Darstellungsweise. 88. Eine interessante 
Darstellungsweise (Anregung mannigfacher eventuell neuer Vorstellungsverknüpfungen). 89. Eine 
eindrucksvolle Darstellungsweise (= Wirkung auf das Gefühl). 90. Eine überzeugende Art der 
Darstellung (Wirkung auf Urteil und Entschluß). 91. Die Fähigkeit zu scharfer und klarer 
Formulierung abstrakter Gedanken, nüchterne und sachliche Darstellungsweise (objektiver Typ). 
92. Die Fähigkeit zu lebendiger und anschaulicher Schilderung konkreter Dinge und Ereignisse, 
gefühlsmäßige und pbantasievolle Dastellungsweise (subjektiver Typ). 93. Begabung für münd- 
' liehe Darstellung (Rednertalent). 94. Begabung für schriftliche Darstellung (Schriftstellertalent). 
95. Organisationstalent. 96. Führertalent. 97. Pädagogisches Talent. 98. Gesellschaftliche Talente 
(Gewandtheit in den Umgangsformen, Unterhaltungsgabe usw.). 99. Wissenschaftliche Talente 
(mathematische, spekulative Begabung, Sprachtalent usw.). 100. Künstlerische Talente. Welche? 
101. Sind bestimmte moralische Eigenschaften (Tugenden oder Fehler) für den Lehrberuf be¬ 
sonders wichtig oder verhängnisvoll? Welche? 102. Welche sonstigen in dem Schema nicht 
aufgezählten Eigenschaften oder Fähigkeiten sind erforderlich oder hindernd? 

Dieser umfangreiche, psychologisch tief schürfende Bogen ist natürlich nur 
zu einer Qualitätserhebung geeignet. Massenmaterial wird da schon deshalb 
nicht eingehen, weil doch nur für diese Frage tiefer Interessierte sich die 
nicht unerhebliche Arbeit einer überlegten Beantwortung auferlegen werden. 
In der Instruktion wäre meines Erachtens ein Hinweis darauf nicht über¬ 
flüssig gewesen, daß man nicht alle Fragen zu beantworten brauche, sondern 
nur diejenigen, bei denen man wirklich zu einem sicheren Ergebnis gekommen 
sei, und ferner, daß man sich zur Beantwortung der Fragen Zeit lassen und 
die Ergebnisse nach einiger Zeit nachprüfen und dann erst einsenden solle. 
Außer seiner eigenen Beobachtung und der eben besprochenen Methode der 
Erhebung wird derjenige, der das Problem der Eignung zum Lehrerberuf 
nach der empirischen, induktiven Methode bearbeiten will, vielleicht auch 
noch das pädagogische bzw. psychologische Experiment heranziehen. 
Ein solches Experiment, das auch schon vorgeschlagen wurde, würde z. B. 
darin bestehen, daß man zwei oder mehreren Lehrern ein und dieselbe Lehr¬ 
aufgabe bei gleichaltrigen Schülern übertrüge und davon feststellte, welcher 
von beiden die Aufgabe am besten löste und auf welche geistigen eventuell 
auch körperlichen Eigenschaften diese Besserleistung zurückzuführen sei. Aber 
große Aussicht auf häufige Anwendung dieses Verfahrens besteht schon des¬ 
halb nicht, weil es an denen fehlen wird, die sich zu solchen Vergleichsleistungen 
hergeben werden. 

Ober die sexuelle Erziehung der Jugend faßte die sexualpädagogische 
Tagung in Dresden einstimmig folgende von Max Döring, dem wissenschaft¬ 
lichen Leiter des Instituts für experimentelle Pädagogik in Leipzig, eingebrachte 
Entschließung: „Die vom sächsischen Ministerium des Kultus und öffentlichen 
Unterrichts und vom Ministerium des Innern veranstaltete, von über 400 Ärzten, 
Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen aller Schul gattungen besuchte Tagung für 
Sexualpädagogik erblickt in der sexuellen Erziehung der Jugend eine ernste 
und bedeutsame Aufgabe. Diese Aufgabe muß gelöst werden im Geiste 
stärkster Verantwortlichkeit für die körperliche und geistige Gesundheit der 
gegenwärtigen und der kommenden Generation. Die sexuelle Erziehung muß 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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erfolgen durch verständnisvolle Fahrung und Hilfe, in Unbefangenheit und 
Wahrhaftigkeit. Elternhaus, Schule und Ärzteschaft müssen sich fUr diese Auf¬ 
gabe in erster Linie verpflichtet fühlen. Von der Regierung erwartet die Tagung, 
daß sie die Frage der sexuellen Erziehung dauernd im Auge behält und die 
Lösung dieser Frage nach. Kräften unterstützt.“ 

Die erste Tagung der „Gruppe für angewandte Psychologie“ in der „Ge¬ 
sellschaft für experimentelle Psychologie“ (vom 10.—14. Oktober 1922 in 
Berlin). Die bereits für das Frühjahr 1922 geplante erste Tagung der auf 
dem Marburger Kongreß der „Gesellschaft“ begründeten Sondergruppe für 
angewandte Psychologie hat nunmehr mit halbjähriger Verspätung unter sehr 
reger Beteiligung aus Psychologen- und Praktikerkreisen in Berlin statt¬ 
gefunden. Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand das sogenannte Be¬ 
währungsproblem, das sich im wesentlichen als die Frage nach der gegen¬ 
seitigen Beziehung von Psychologen- und Praktikerurteil darstellt. Während 
za Beginn der praktischen psychodiagnostischen Arbeit und zum Teil in praxi 
noeh heute die Eichung und Bewährungsfeststellung für psychologische Intelli¬ 
genz- und Eignungsprüfungen ohne weiteres durch Vergleich mit. dem Lehrer- 
bzw. Meisterurteil vorgenommen wurde und der Grad der Korrelation zwischen 
beiden das Kriterium für die Brauchbarkeit der psychologischen Methoden 
abgab, trat nunmehr doch deutlich zutage, daß die Erfahrungen bei den psycho- 
technischen sowohl, als auch bei den schulischen Eignungsprüfungen zu einer 
gründlichen Revision dieser Methode drängen. Es ist nicht ohne weiteres 
angängig, das in seinen psychologischen Grundlagen sehr sorgfältig und mit 
wissenschaftlicher Genauigkeit durchgearbeitete Urteil des Psychologen einfach 
za dem Praktikerurteil, von dessen Grundlagen wir nichts oder bestenfalls 
sehr wenig wissen, in Beziehung zu setzen; sondern es bedarf vorher einer 
gründlichen Untersuchung dieser Grundlagen. Das Problem des Praktiker- 
arteils bildete denn auch das Thema eines der Verhandlungstage und wurde 
von psychologischer wie von praktischer Seite her lebhaft erörtert. Es scheint, 
als läge in dieser Frage das zurzeit dringendste und wichtigste Problem der 
Eignungspsychologie. Noch vermochten die Aussprachen der Tagung keine 
endgültige Klärung zu bringen; die sorgfältige Beachtung des Problems in 
jeglicher praktisch-psychologischen Arbeit und das dauernde Zusammenwirken 
des Psychologen mit einsichtigen Praktikern muß zunächst weitere Erfahrungen 
zusammenbringen helfen, bevor es grundsätzlich gelöst werden kann. 

Eingehende Behandlung — soweit bei der Überfülle des in den fünf Tagen 
des Kongresses zu Bewältigenden von „eingehenden“ Erörterungen die Rede 
sein kann *) — fanden neben diesem zentralen Problem einige prinzipielle 
Fragen über die psychologischen Feststellungsmethoden. Reiches Anschauungs¬ 
material an Prüfmitteln boten die ausgezeichnete Ausstellung, für die man 
nur gern mehr Zeit gehabt hätte, und zahlreiche Besichtigungen psychotech- 
nischer Prüfstellen. und -laboratorien, z. B. in der Technischen Hochschule 
Charlotten bürg, bei der A. E. G., bei Siemens & Halske, in der Osram G. m. 
b. H., bei der Oberpostdirektion Berlin, im Telegraphentechnischen Reichsamt 
nnd bei der Reichseisenbahnverwaltung (Psytev), die zum Teil dadurch be- 

*) Man wird das aber wohl entschuldigen müssen, da es sich um ein erstes Treffen der 
Gruppe handelte, bei dem ein Oberblick über das gesamte Arbeitsfeld natürlich auch 'Seine Be¬ 
rechtigung hatte. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


sonders instruktiv wirkten, daß die Tagungsteilnehmer gleichzeitig Gelegen¬ 
heit hatten, in den Betrieben selbst die berufswichtigen und eventuell zu 
prüfenden Tätigkeiten kennen zu lernen. — Die für den Ausbau und die 
kritische Bearbeitung der psychologischen Feststellungsmethoden unbedingt 
notwendige unabhängige, d. h. durch Anforderungen der Praxis nicht ge¬ 
drängte und übereilte Forschungsarbeit auf psychotechnischem Gebiet wurde 
von verschiedenen Seiten betont und dringend die Einrichtung und Unter¬ 
stützung geeigneter Forschungsstätten gefordert. Die wichtigen Probleme 
der Rangreihenkonstanz, der Übungsfähigkeit, des Einflusses der Versuchs¬ 
umstände auf die Prüfungsergebnisse u. a. bedürfen hier noch eingehender 
Untersuchung. Beachtenswert für die Methodik der künftigen psychologischen 
Eignungsdiagnostik wird sicher die verschiedentlich, besonders von Poppel¬ 
reuter, betonte Scheidung der beiden Hauptaufgaben der Eignungsfeststellung 
auch in ihrer methodischen Behandlung sein. Konkurrenzauslese, d. h. Aus¬ 
lese der besten oder schlechtesten Arbeiter, Lehrlinge, Schüler aus einer 
größeren Zahl, und psychologische Begutachtung von Einzelfällen, z. B. zum 
Zwecke der Wahl eines geeigneten Berufes für einen Schulabgänger oder 
einen Kriegsverletzten, können nicht mit dem gleichen methodischen Hilfs¬ 
mittel bewerkstelligt werden. Die Serientestmethode hat ihren Platz vor¬ 
wiegend bei der ersteren, für die psychologische Begutachtung bedarf sie der 
Ergänzung durch andere Methoden. Poppelreuter stellte auf Grund seiner 
Erfahrungen als ergänzende oder besser als mit der Testmethode als gleich¬ 
wertige Faktoren zu kombinierende Methoden die folgenden auf: a) die prak¬ 
tische, b) die rein ärztlich-klinische, c) die menschenkundliche (pädagogische), 
d) die symptomatisch-typologische und e) die Methode der psychologisch¬ 
monographischen Arbeitsprüfung. In der Richtung auf die letzterwähnte, 
die Arbeitsprobe, scheint überhaupt eine Entwicklungsmöglichkeit der psycho- 
technischen Feststellungsmethoden zu liegen, besonders auch aus dem Grunde, 
weil sie eine außerordentlich zweckmäßige Grundlage für die nach dem Urteil 
der Mehrheit aller psychologischen Praktiker wichtigsten qualitativen Beob¬ 
achtungen über das Verhalten des Prüflings bei der Durchführung seiner 
Aufgaben abgibt. 

Angeregt durch die von Hildegard Sachs (Hamburg) vertretenen Leitsätze 
über die Beziehungen zwischen der psychologischen und der sozialpolitisch¬ 
volkswirtschaftlichen Seite der Eignungsprüfungen, wurde zum Schluß der 
Tagung eine Resolution gefaßt und der zuständigen Stelle übermittelt, in der 
dringend gefordert wurde, daß der Psychologie die ihrer Bedeutung und 
ihren praktischen Erfolgen entsprechende Berücksichtigung bei der neuen 
Organisation der Berufsberatungsstellen zuteil werde. 

Hamburg. Martha Muchow. 

Zu Ehren Wilhelm Wundts soll seine Büste, geschaffen von Professor 
Pfeifer, dem Psychologischen Institute der Universität Leipzig, der Forscbungs- 
stätte Wundts, geschenkt und dort aufgestellt werden. Die ursprüngliche 
Stiftungssumme, die seinerzeit vornehmlich durch amerikanische Schenkungen 
aufgebracht worden ist, vermag aber heute die Kosten für den Erwerb und 
die Aufstellung des Kunstwerkes nicht mehr zu decken. Es ergeht darum 
an die Schüler und Verehrer Wundts der Aufruf, die Sammlung fortzusetzen. 
Beiträge werden entgegengenommen auf das Postscheckkonto 59383 Leipzig 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


71 


des Privatdozenten Dr. F. Sander. Ein etwa verbleibender Überschuß würde 
dem psychologischen Institute zu Forschungszwecken zufallen. 

Nachrichten. 1. Das Institut für wissenschaftliche Pädagogik in 
Münster i. W. kündigt einen vierseinestrigen Kursus zur Ausbildung von 
Dozenten der Pädagogik an, um für die Zukunftsaufgaben der Pädagogik die 
katholischen Grundsätze fruchtbar zu machen und für das Schul- und Hochschul¬ 
wesen katholische Dozenten heranzubilden. Der Kursus soll für eine beschränkte 
Zahl von Mitgliedern- bestimmt sein, die sich auf die Teilnahme an dem ganzen 
Studiengang einschl. einer Abschlußprüfung verpflichten. Für die Zulassung 
wird in der Regel die Vollendung eines Studiums von sechs Semestern an 
der philosophischen oder theologischen Fakultät einer Hochschule und der 
Nachweis einer lehramtlichen Tätigkeit erfordert. Ausnahmsweise kann an 
Stelle des akademischen Studiums die Vorlage einer selbständigen wissen¬ 
schaftlichen Arbeit als ausreichend anerkannt werden. Die Aufnahme als 
ordentlicher Hörer ist in jedem Falle von der Genehmigung der wissenschaft¬ 
lichen Leitung des Instituts abhängig. 

2. Von Lehrern der Volksschule, der höheren Schulen und der Hochschule 
ist in Mannheim eine Pädagogische Gesellschaft gegründet worden, 
die in gemeinsamer Arbeit die Zeitfragen des pädagogischen Lebens auf 
wissenschaftlicher Grundlage und in ihren Beziehungen zu den sozialen und 
kulturellen Erscheinungen untersuchen will. 

3. Das pädagogisch-psychologische Institut München arbeitet im 
Winterhalbjahr 1922/23 nach folgendem Plane: A. Dr. Aloys Fischer, Uni¬ 
versitätsprofessor und wissenschaftlicher Leiter des Instituts: DieDichtung 
in der Schule. (Überlegungen und Vorschläge zur Methodik der emotio¬ 
nalen Bildung. — Begriff der emotionalen Bildung. Das „literarische“ Interesse 
des Schulkindes. Die Zwecke und Formen des Lesens. Methoden der Bildung 
des literarischen Geschmacks.) B. Albert Huth, Volksßchullehrer und Assistent 
am Institut: Einführungskurs in die Methoden und Apparate der 
pädagogischen Psychologie. Erster Teil: Die psychologischen 
Grundlagen der allgemeinen Didaktik. Mit Demonstrationen, prak¬ 
tischen Übungen und Berechnungsbeispielen. (Arbeit und Ermüdung: Die 
Methoden der Arbeitsforschung. Der Ablauf geistiger Arbeit. Arbeitstypen. 
Übungsgesetze. Das Wesen der Ermüdung. Pädagogische Folgerungen: Er¬ 
müdungswert der Unterrichtsfächer. Stundenplan. Pausenordnung. Schuljahrs- 
einteilung. — Technik und Ökonomie des Lernens: Äußere und innere Bedin¬ 
gungen des Lernens. Lernmethoden.) 

4. Der Winterarbeitsplan des Instituts für experimentelle Päd¬ 
agogik und Psychologie enthält folgende Vorträge: Über die Struktur der 
mathematischen Begabung; Soziologie des Kindes; Zur Psychologie der Klasse; 
Zur Psychologie der Jugendbewegung; Über geisteswissenschaftliche Psycho¬ 
logie; Phänomenologie und Pädagogik; Das taubstumme Kind; Zur Psycho¬ 
logie und Methodik des Nadelarbeitsunterrichts; Zur Psychologie der Ver¬ 
wahrlosung des Kindes; Zur Psychologie des Eidetikers. — An Vortrags¬ 
reihen sind vorgesehen: Fuß: Über Wahrnehmung, unter besonderer Be¬ 
rücksichtigung der phänomenologischen Betrachtungsweise; Schlotte: An¬ 
leitung zur Auslese für Sprachklassen (mit Demonstrationen); Kupky: Grund- 
züge der geistigen Entwicklung des jungen Menschen; Winkler: Testunter- 


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Literaturbericht 


Buchungen im Dienste des Unterrichts; Döring: Besprechung sexualpsycho¬ 
logischer Fragen. — Wie früher sind wieder eine Reihe Führungen und 
Unternchtsbesuche vorgesehen. 

5. Eine pädagogische Preisaufgabe schreibt das Institut für wissen¬ 
schaftliche Pädagogik in Münster aus. Sie lautet: Welche Fort¬ 
schritte hat die theoretische Pädagogik in ihrer systematischen 
Begründung seit Herbart zu verzeichnen? Die Untersuchung soll sich 
auf das deutsche Schrifttum erstrecken und die Wissenschaft des Auslandes nur 
heranziehen, insoweit sie von richtunggebendem Einfluß auf jenes gewesen ist. | 
Sie hat anzustreben: eine historische Darstellung der bedeutendsten Systeme der j 
allgemeinen Pädagogik im Zusammenhang mit der Entwicklung der Philosophie, 
eine Auseinandersetzung mit den kritischen Bedenken gegen die Begründung 
der wissenschaftlichen Pädagogik seit Herbart, eine Bewertung der bisherigen 
Ergebnisse vom Standpunkt katholischer Weltanschauung. — Bedingung: 

Die zur Bewertung zuzulassenden Arbeiten sind in lesbarer Handschrift oder 
Maschinenschrift in einem Exemplar bis zum 1. Januar 1924 an die Geschäfts¬ 
stelle des Instituts, Münster i. Westf., Melcherstraße 41, als eingeschriebene- 
Sendung einzureichen. Der Termin kann auf Beschluß der wissenschaftlichen j 
Leitung gegebenenfalls hinausgeschoben werden. Als Preis sind vorläufig aus- ! 
zuwerfen 10000 M; die Beurteilung der bis 1. Januar 1924 einzusendenden 
Arbeit liegt in den Händen von Geh. Reg.-Rat Univ.-Prof. Dr. Dyroff, 
Bonn, Hochschulprof. Dr. Eggersdorfer, Passau, Univ.-Prof. Dr. Ettlinger, 
Münster i. Westf., Univ.-Prof. Dr. Mausbach, Münster i. Westf., Geh. Rat Ober¬ 
studiendirektor Dr. Werra, Münster i. Westf. 

6. Dr. Karl Bühler, Prof, der Psychologie und Pädagogik an der Tech¬ 
nischen Hochschule in Dresden folgt dem Rufe an die Universität Wien; 
seinen Dresdner Lehrstuhl wird Prof. Dr. G. Kafka in München einnehmen. j 

7. Der neubegründete Lehrstuhl für Philosophie, insbesondere Psychologie 
und Pädagogik, an der Technischen Hochschule in Braunschweig ist mit 
Dr. 0. Kroh, vorher Privatdozent in Göttingen, besetzt worden. 

8. Dr. Hellpach, Prof, für Pädagogik und Psychologie in Karlsruhe, ist zum 
Kultusminister in Baden ernannt worden. 


Literaturbericht. 

Selbstanzeigen. 

Fr. Dahl, Vergleichende Psychologie oder die Lehre von dem Seelenleben des 
Menschen und der Tiere. Mit 25 Textabb. Jena 1922. G. Fischer. S. 110. 

Das vorliegende Bach ist keine Gehirnphysiologie, die neuerdings vielfach auch Psychologie 
genannt wird, sondern es beschäftigt sich lediglich mit den Bewußtseinsvorgängen, die wir 
zunächst nur bei uns selbst kennen. Mit naturwissenschaftlicher Methode sucht es festzustellen, 
wie weit wir durch Tatsachen gezwungen sind, auch bei Tieren Bewußtsein anzunehmen. Da 
wir sogar bei unsem Mitmenschen nur aus ihrem Handeln und aus ihrem homologen Körperbau 
schließen, daß sie ähnlich denken und fühlen wie wir, ist nur die indirekte Forscbungs- 
methode möglich, die auch in der Naturwissenschaft oft allein zur Anwendung kommen kann. 
So schließen wir aus dem Auf- und Untergehen der Gestirne auf die Achsendrehung der Erde. — 
Bei den niedersten Tieren kennen wir nur Bewegungen, die sehr wohl mechanisch, d. h. als Reflex 
und Automatismus zu verstehen sind, und da diese niedersten Tiere kein Zentralnervensystem, 
das bei uns der Bewußtseinsapparat ist, besitzen, da außerdem Automatismen, wie die Herz¬ 
tätigkeit es ist, und Reflexe, wie die Verengung der Pupille, auch bei uns ohne Bewußtsein 


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Literaturbericht 


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verlaufen, haben wir keinen Qrund, bei Jenen Bewußtsein anzunehmen. Auch der Krebsfang 
des Polypen und dessen Bewegung zum Licht sind mechanisch möglich. Nach dem Gesetz der 
Sparsamkeit in der organischen Natur, das als Ergebnis der Naturauslese von der weitaus 
größten Zahl der Fachzoologen allgemein anerkannt ist, wird die Natur nur da einen Bewußt¬ 
seinsapparat geschaffen haben, wo er unumgänglich nötig war. Bei allen Tieren mit wohl¬ 
entwickeltem Zentralnervensystem, sogar schon beim Regenwurm, beobachten wir nun in der Tat 
Tätigkeiten, die wir ohne Bewußtseinsvorgänge nicht verstehen können. Die einfachsten Bewußt- 
9emsvorgänge sind Gefühle, die teils mit Sinneswahrnehmängen, teils mit Muskeltätigkeiten, 
teils auch, wie der Hunger, mit Körperzuständen verbunden sind. Sie sind angeboren, d. h. 
mit ihren Grundlagen im Nervensystem von den Eltern ererbt. Was wir bei den Tieren Instinkt 
nennen, erkennen wir daran, daß Tätigkeiten, die zur Erhaltung der Art dienen, ausgeführt 
werden, ohne daß eine Erfahrung vorausging, und mit dem Erkennen derselben sind manche 
Forscher zufrieden. Verstehen können wir sie nur, wenn wir sie mit Vorgängen bei uns 
vergleichen. Würde ein Tier schlechte Luft meiden, so würden wir dieses Meiden instinktiv 
nennen, weil das Tier nicht wissen kamt, daß die Luft gesundheitsschädlich ist. Wir selbst 
meiden schlechte Luft, weü sie unangenehm auf unser Geruchsorgan einwirkt. Der Gefühls¬ 
wert der Sinneswahrnehmung (und der Muskeltätigkeit) ist also der Instinkt Mit dieser Auf¬ 
fassung können wir alle Instinkte^ auch die Kunsttriebe erklären, ohne auf Widersprüche zu 
stoßen. Bei höheren Insekten und Spinnentieren kommt zum Instinkt noch die Assoziation 
hinzu, die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln. Um frühere Vorgänge mit gegenwärtigen ver¬ 
gleichen zu können, ist das Gedächtnis nötig, eine Fähigkeit, in der manche Tiere (Biene, 
Vogel) dem Menschen weit überlegen sind. Das Gleiche gilt auch von der Beobachtung. Der 
Verstand, der darin besteht, daß mehrere Erfahrungen kombiniert werden und ein Ziel auf 
Umwegen erreicht wird, ist nur bei den höchsten Tieren, sicher erst bei den höheren Säuge¬ 
tieren (Hund, Affe) nachweisbar. Beim Menschen kommt zum Verstand noch das Abstrahieren 
und das logische Schließen hinzu. Mittels logischen Schließens von den Ursachen auf die 
Wirkungen kann der Mensch gewissermaßen in die Zukunft sehen und für die Zukunft sorgen, 
was allen Tieren abgeht. Das Sammeln von Vorräten bei Tieren ist nachweislich rein instinktiv. 
Mit dem Blick in die Zukunft trat beim Menschen auch das Hoffen auf, da eine vollkommene 
Kenntnis aller Ursachen und Bedingungen unmöglich ist Damit lag eine Personifizierung des 
Glücks und Unglücks (Gott, Teufel) nabe. Auch der Naturforscher vermag sich derartigen reli¬ 
giösen Gefühlen nicht ganz zu entziehen. — Die Arbeitsteilung, die wir schon unter den Or¬ 
ganen im Einzeltiere erkennen, geht mit den sozialen Gefühlen über das Einzeltier hinaus 
und führt zum Staatenleben. Im Insektenstaate liegt Kommunismus vor, indem das Geschlechts¬ 
leben, das Sonderinteressen unbedingt verlangt, durch Verkümmerung der Geschlechtsorgane 
bei den „Arbeitern“ ausgeschaltet wird. Der einheitliche Mittelpunkt der Gesellschaft (der dem 
Gehirn im Einzeltier entspricht), ist hier das eierlegende Weibchen, das durch Interessen¬ 
gemeinschaft fest mit den Arbeitern verbunden ist. Auch der menschliche Staat, der, im 
Gegensatz zum Insektenstaat, aus dem Familienleben entsprang, ist auf Arbeitsteilung begründet. 
Interessengemeinschaft sollte also auch* hier bei Wahl des Leiters maßgebend sein. Alle Be¬ 
wegungen und Vorgänge im Körper können durch Gewohnheit zu Automatismen werden, wie 
z. B. das Gehen. Mit derartigen Automatismen ist der Traum in Parallele zu bringen. Die 
Frage, was ein Bewußtseins Vorgang ist, ist zugunsten des „psychophysischen Parallelismus“ zu 
beantworten, da die „Identitätslehre“ sich in Widersprüche verwickelt. Die Kantscbe Erkenntnis¬ 
theorie, daß unsern. Sinneswahrnehmungen bis in alle Einzelheiten hinein ein Etwas in der 
Wirklichkeit („Ding an sich“) entspricht, wird durch die Selektionslehre gestützt; denn die Er¬ 
haltung des Tieres und des Menschen ist nur dann gesichert, wenn die Sinnesorgane von den 
Gegenständen der Außenwelt ein möglichst getreues BUd geben. Auch dem Raum-, Zeit- und 
Kausalitätsbegriff entspricht ein Etwas in der Wirklichkeit, wie denn überhaupt alles Denken in 
der Sinneswahrnehmung, der Erfahrung seine Grundlage hat. Nur die Fähigkeit zu fühlen und 
zu denken ist angeboren, also a priori vorhanden. — Das sind in Kürze die Gedanken, die in 
dem Buche zum Ausdruck gelangen. Auf die nähere Begründung hier einzugehen, gestattet der 
Raum nicht 

Edward L. Tborndike, Psychologie der Erziehung. Übersetzt und herausgegeben von 
Otto Bober tag. Jena 1922. Gustav Fischer. 351 S. 

Im Jahre 1913/1914 erschien (in New York im Verlag des Teachers College, Columbia 
Umveraity) E. L. Thorndikes „Educational Psychology“ in 3 Bänden: I. The Original Nature of 
Man, IL The Psychology of Learning, III. Work and Fatigue, Individual Differences. Der die 


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Literaturbericht 


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individuellen Differenzen behandelnde Teil war bereits früher (1903 und 1910) herausgekcmmaiL 
Eine beträchtlich verkürzte Ausgabe des Gesamtwerkes erschien noch im Jahre 1914 unter dem 
Titel „Educational Psychology, Briefer Courae“. Das vorliegende Buch stellt eine im wesentlichen 
unverkürzte Übersetzung des „Briefer Course“ ins Deutsche dar; es sind nur einige wenige Stellen 
(insbesondere Zitatei sowie einige Kurventafeln fortgelassen worden. 

Der Inhalt des Buches gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil behandelt „Die ur¬ 
sprüngliche Naturanlage des Menschen“, also seine sogenannten Instinkte und Fähigkeiten, die 
als „ursprüngliche Tendenzen“, d. h. als Tendenzen zu nichterlernten Verhaltungsweisen bezeichnet 
werden. Die für Erziehung und Unterricht wichtigste ursprüngliche Tendenz ist die „Fähigkeit 
zum Lernen“, zum Erwerben neuer, in der ursprünglichen Naturanlage * des Menschen nicht vor¬ 
gesehener Verhaltungsweisen. Außerdem werden in diesem ersten Teile behandelt: das „Prinzip 
der Bereitschaft (und Nicht-Bereitschaft)“ als Grundlage der Lust- und Unlusterlebnisse, ferner 
die Anatomie und Physiologie der ursprünglichen Tendenzen, die Reihenfolge und die Zeitpunkte 
ihres Erscheinens und Verschwindens, endlich ihr Wert und ihre Verwertung im Hinblick an! 
die Erziehung. — Der zweite Teil enthält die spezielle „Psychologie des Lernens“. Den Aus¬ 
gangspunkt büdet hier das tierische Lernen, an das sich zunächst das „assoziative Lernen“ beim 
Menschen anschließt Von diesem führt eine kontinuierliche Entwicklung — die die Annahme 
neuer „Denkfähigkeiten ausschließt — zum „analytischen und selektiven Lernen“. Ein Kapitel 
über „Geistige Funktionen“ leitet über zu den für die Pädagogik wichtigsten beiden Begriffen 
aus der Psychologie des Lernens: den Begriffen „Leistungsfähigkeit“ und „Leistungssteigerung“. 
Die folgenden Kapitel behandeln dann ausführlich alle Einzelfragen der Leistungssteigerung 
(Umfang, Tempo und Grenze; Faktoren und Bedingungen; Tempoänderungen; Dauerhaftigkeit), 
einschließlich der Fragen der „formalen Übung“ oder Mitübung und der geistigen Ermüdung. — 
Der dritte Teil hat die „individuellen Unterschiede (in der ursprünglichen Naturanlage des 
Menschen) und ihre Ursachen“ zum Gegenstände. Als solche Ursachen kommen in Betracht: 
Geschlecht, Rasse, Familienabstammung, Reife und Umgebung. Die beiden Schlußkapitel erörtern 
die Themata: Wesen und Stärke individueller Unterschiede in einzelnen Eigenschaften und 
Wesen und Stärke individueller Unterschiede* in Kombinationen von Eigenschaften: Intelligenz- 
und Charaktertypen. 

Im Vorwort sagt der Verfasser: „Die Methode des Buches ist die einer leichtfaßlichen, ge- i 
ordneten Darstellung des Grundsätzlichen. Der einsichtige Lehrer wird seine Schüler an der 
Hand von Fragestellungen, die ihnen auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen zum Bewußtsein 
gekommen und verständlich geworden sind, in diese Grundsätze einführen und wird seinen 
Schülern helfen, sie durch Beobachtung und Experiment als solche zu erweisen, sowie sie auf 
geeignete Gegenstände der Erziehungstheorie und -praxis anzuwenden.“ Und ferner: „Manches 
von dem hier Behandelten geht ein wenig über die Interessen und Fähigkeiten eines Teiles der 
Studierenden hinaus .... Die hierher gehörigen Tatsachen und Grundsätze werden jedoch, 
wenn sie erst bewältigt sind, das Nachdenken über wichtige Erziehungsfragen vereinfachen und 
erleichtern, und so bedarf ihre Mitberücksichtigung wohl keiner Entschuldigung. Wenn die 
Erziehung ein ernster Beruf sein soll, so darf die Vorbereitung auf ihn nicht Dinge umgeben, 
die ein wirkliches Studium erfordern und jenseits der Interessen minderbegabter Geister liegen.“ 


Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, Theorie und Praxis der 
Arbeitsschule. Berlin 1922. Selbstverlag. 104 S. 

Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht hat in den letzten Jahren in den ver¬ 
schiedensten Teilen Deutschlands und auch im Auslande „Pädagogische Wochen“ eingerichtet, 
deren Zahl mehr als einhundertfünfzig beträgt. Im Mittelpunkte dieser Lehrgänge hat zumeist 
der Gedanke der Arbeitsschule gestanden. Aus dem großen Kreise der Teilnehmer ist nun immer 
wieder ein Buch gewünscht worden, das den Hauptinhalt der gebotenen Vorträge bietet und 
so ermöglicht, sich weiter in die mannigfaltigen Gedankengänge und Anregungen der Päda¬ 
gogischen Wochen versenken zu können. Es erschien Pflicht, diesen Wunsch zu erfüllen. Das 
so entstandene Buch hat folgenden Inhalt: Otto Scheibner, Theoretisches aus dem Problemkreise 
der Arbeitsschule; C. L. A. Pretzel, Über die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die 
Grundschule; Lindhorst, Zum Lehrplan der einklassigen Schule; Paul Werth, Neuzeitlicher Anfangs¬ 
unterricht; Hermann Bachmann, Schreiben in der Arbeitsschule; Georg Wolff, Das Arbeitsprinzip 
im deutschen Unterricht; R. Karselt, Der Arbeitsgedanke im Rechenunterricht; Hellwig, Staats¬ 
bürgerliche Erziehung und Geschichtsunterricht im Lichte der Arbeitsschule; Paul Knospe, Der 
Arbeitsgedanke im ‘Erdkundeunterriebt; Walter Schoenichen, Der Arbeitsgedanke im natur- 
geschichtlichen Unterrichte; G. Stiehler, Arbeitsunterrichtliches Zeichnen und Formen; Joseph 


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Haffmann, Welche Aulgaben hat der Gesangsunterricht der Volksschule im Sinne der Arbeits¬ 
schule zu erfüllen?; F. Lampe, Lehrfilm und Arbeitschale. 

Einzelbesprechungen. 

ProtDr. J. 1L Verweyen, Universität Bonn, Neuere Hauptrichtungen der Philosophie 
(Die Bücherei der Volkshochschule, Band 15.) 2. AufL Bielefeld und Leipzig 1922. Vel- 

hagen & Klasing. 81 S. 1 

Einer Sammlung gemeinverständlicher Darstellungen sich eingliedemd, will das Schriftchen 
vornehmlich didaktisch bewertet sein. Denn bewußt versucht es volkspädagogisch mitzuwirken 
dafi Philosophie „aulhören soll, eine Angelegenheit enger nnd engster Fachkreise zu sein.“ In 
dieser Absicht verzichtet Verweyen auf den Gebrauch der fremdsprachlichen Fachausdrücke, die 
weiteren Kreisen den Zugang zu philosophischen Werken so oft erschweren oder unmöglich machen. 
Nor ist es mit dem Bemühen, sich außerhalb einer nur den Eingeweihten verständlichen Geheim¬ 
sprache nicht getan. Das Wesentliche ist eine pädagogisch wohlerwogene Auswahl des Stofflichen, 
die anreizt und anleitet zu eigenem Denken, ist ein Heraustreten des Fachgelehrten aus der dünnen 
Loft des Abstrakten, ist eine weniger akademisch gehaltene innere Formung der gedanklichen Ent¬ 
wicklungen, ohne daß freilich jene Zugeständnisse an sachlicher Gediegenheit zulässig wären, 
die zuallermeist recht peinlich an volkstümlichen Darstellungen spürbar werden. Nicht durchweg, 
so scheint es uns, meistert Verweyen diese Forderungen. Streckenweise stellt sein Buch doch 
Ansprüche an ein geschultes Denken und an Vorkenntnisse, denen die Gemeinde der Volks¬ 
hochschule — in der geistigen Höhenlage zumeist weit überschätzt — nicht zu genügen vermag. 

Wohl aber ist für den einigermaßen philosophisch Vorgebildeten die Schrift in ihrem schönen 
Sprachgewande wie dem Gebalte ein hoher Genuß. In klaren, durchsichtigen, ruhigen Dar- 
1 egtmgen — rein hinstellend gehalten, durch kritische Betrachtungen nicht unterbrochen — ent¬ 
faltet Verweyen das vielgestaltige Stromgebiet der neueren Philosophie, ln der naturphilo- 
lophischen Richtung wird den Anschauungen Mache, Verwoms, Ostwalds, Häckels und 
Wondts nacbgegangen. Die Marburger und Badener Schule, Husserl, Bolzano, Simmel sind als ' 
Vertretungen der Kulturphilosophie gekennzeichnet. Es tut sich ferner der Blick auf die 
religionsphilosophischen Bestrebungen der Gegenwart auf, wie sie auf protestantischer 
ond katholischer Seite in die Erscheinung treten. Zuletzt finden Nietzsche, Schopenhauer, 
v. Hartmann, Dühiing, Johannes Müller nnd Bergson ihre Würdigung als Lebensphilosophen. 
Daß die bedeutsame Richtung des Personalismus — in der Diltheyschen Schule, bei den Süd¬ 
westdeutschen, bei Eucken, Simmel, Troeitsch, Scheler angebahnt und von W. Stern syste¬ 
matisch ausgebaut — in der Überschau Verweyens ungewürdigt bleibt, bedeutet eine empfindliche 
Lücke, die eine kommende Auflage ausfüllen möchte. Wegfallen mögen dafür die den einzelnen 
Abschnitten angehängten schulmeisterlichen Fragen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Jonas Cohn, Professor an der Universität Freiburg, Führende Denker. Geschichtliche Ein¬ 
leitung in die Philosophie. Leipzig 1921. Teubner. 116 S. 

Wir zeigen dieses Bändchen aus „Natur und Geisteswelt“ bei seinem vierten Erscheinen 
darum an, weil es sich hier und da im Gebrauche an höheren Schulen, wo der philosophische 
Unterricht immer noch in seiner Verlegenheit um brauchbare Schriften geeignete Literatur 
ffir die Hand der Schüler empfohlen wünscht, gut bewährt hat Die Eignung zu solcher Ver¬ 
wendung leitet sich her aus dem Entstehen des Buches aus Hochschulvorträgen und aus der 
Einstellung des Dargebotenen. Unter „führenden“ Denkern versteht nämlich Jonas Cohn in un¬ 
gewöhnlichem eigenartigen Sprachgebrauch solche Philosophen, die geeignet sind, zur Philosophie 
hinzuführen. So wählt er Sokrates, Plato, Descartes, Spinoza, Kant und Fichte aus und geht 
vorüber an den großen Systematikern Aristoteles, Leibniz, Hegel. 

Leipzig. • Rieh. Tränkmann. 

Alice Descoeudres, Le däveloppement de l’enfant de deux ä sept ans. Neu- 
chatel-Paris, fiditions Delacbaux et Niestlä S. A. 1921. 327 S. 

Das Buch, das zu der vom Institut J. J. Rousseau in Genf herausgegebenen „Collection d’aetu- 
alites p6dagogiques“ gehört, enthält einen ausführlichen Bericht über umfangreiche Versuche an 
zwei- bis siebenjährigen Genfer Kindern, teils aus gebildeten, teils aus Proletarierkreisen. Unter 
Verwendung einiger bekannter, sowie einer größeren Reihe neuer Tests sucht die Verfasserin 
den Binetschen G edank en einer experimentellen Bestimmung der intellektuellen Reife bei Kindern 


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Literaturbericht 


der niederen Altersstufen genauer als bisher und mit Berücksichtigung der qualitativen Differen¬ 
zierung der Intelligenzleistungen nach einzelnen Leistungsgebieten durchzuführen. Die Eichung 
der Tests erfolgt nach Halbjahrsstufen und für die beiden obengenannten Kategorien von Kindern 
gesondert. Der größere Teil des Buches ist der Begründung eines Stufenmaßes (öchelle mätrique) 
der Sprachentwicklung gewidmet, und zwar wird hier eine „vollständige“ Testreihe — die aber 
für praktische Zwecke zu umfangreich ist — und eine „abgekürzte* 4 Testreihe geboten. Diese 
letzte enthält neun Gruppen von Aufgaben: 1. Nennen der Gegensätze von Eigenschaften vor¬ 
gezeigter Gegenstände oder Bilder („Dieser Pilz ist groß und der hier —?“); 2. Textlücken- ; 
ergäuzung nach Ebbinghaus (mündlich); 3. Wiederholen vorgesprochener Zahlen; 4. Benennen 
von Berufen („Wer verkauft Brot?“); 5. Benennen von Stoffen („Woraus sind Schlüssel gemacht?“); ! 

6. Nennen von Gegensätzen aus dem Gedächtnis („Wenn die Suppe nicht warm ist, so ist 
sie — ?“); 7. Zehn Farben benennen; 8. Benennen, teilweise auch Nachahmen von Tätigkeiten, 
die der Prüfende Vormacht; 9. Feststellung des Wortschatzes: 25 Wörter, über deren Bedeutung 1 

das Kind befragt wird. Die Idee, auf diese Weise das „Sprachalter“ eines jüngeren, normalen I 

Kindes — oder eines älteren, geistig zurückgebliebenen — festzustellen, ist sicherlich wertvoll, 
und die sorgfältigen Versuche der Verfasserin zeigen, daß auf dem Gebiete der „Intelligenz- 
messung" noch mancherlei geleistet werden kann. Allerdings ist die Anzahl der von der Ver¬ 
fasserin geprüften Kinder doch wohl zu gering, als daß man den von ihr aufgestellten Norm- 
werten Allgemeingültigkeit zuschreiben könnte. Namentlich bei einer Übertragung in andere 
Sprachen und Kulturkreise würden vollständig neue Versuche notwendig sein. Und ferner darf 
der Gedanke einer quantitativen Beurteilung gerade auch auf sprachlichem Gebiete das Interesse 
an der qualitativen Seite der sprachlichen Entwicklung des Kindes nicht zurückdrängen, wozu 
der Besitz einer Methode zur Bestimmung des Sprachalters leicht verführen kann. Die praktische 
Verwertbarkeit der Methode (im Kindergarten, bei Schulneulingen, in der Hilfsschule), die zweifellos 
vorhanden ist, ist von diesen Gesichtspunkten aus zu beurteilen. | 

Von „stummen Tests 44 beschreibt die Verfasserin folgende: 1. Perlen aufzählen zur Prüfung 
der Handgeschicklicbkeit; 2. Zuordnen von Formen, Bildern usw. nach dem Prinzip des Lotto- j 
spiels zur Prüfung der Beobachtungsfähigkeit; 3. einfache Zählaufgaben zur Prüfung der Zahl- j 
Vorstellungen; 4. vier Tests zur Prüfung der Urteilsfähigkeit, deren wertvollster darin besteht, 
daß unter einer größeren Anzahl von Bildchen, die zu ein und derselben Art (Blumen, Tiere, 
Handwerkszeug, Nahrungsmittel usw.) gehörigen herausgesucht werden müssen. Die stummen 
Tests bilden eine gute Ergänzung zu den Sprechtests, wenn zu ihrer Kritik auch das oben von 
diesen letzten Ausgeführte gesagt werden muß. Da es sich aber in den Versuchen der Ver¬ 
fasserin überwiegend noch um erste Anfänge handelt, so darf ihnen die Anerkennung nicht j 
versagt werden. Hoffentlich geben sie den Anstoß zu weiteren gründlichen Arbeiten auf diesem 
Gqbiete, von denen wir in theoretischer und in praktischer Hinsicht gleich viel Förderung 
erwarten dürfeq. 

Berlin. Otto Bobertag. 1 

Franz Lüdtke, Menschen um 18. 3. Auflage. Barmen-U. 1922. (Verl, des Westdeutschen , 
Jünglingsbundes A.-G.). 231 S. 

In Form eines Erziehungsromanes will das Buch der heranreifenden Jugend Aufklärung | 
über sexuelle Fragen bringen, — im Grunde genommen eine unlösbare Aufgabe; denn wo eine 
solche „Aufklärung 44 notwendig wird, liegt bereits ein schwerer Erziehungsfehler vor, weil man 
es versäumt hat, den Jugendlichen schrittweise, seinem Entwicklungsgänge angepaßt,, an diese 
Fragen heranzuführen. Unter diesem Vorbehalt, der für dieses ganze Literaturgebiet gilt, ist j 
doch dieser Erziehungsroman als eine Bereicherung der zur Auswahl stehenden Schriften zu be- j 
grüßen. Wo sonst innere Hemmungen oder äußere Rücksichten eine Aufklärung erschwerten, 
wird vielleicht diese Schrift manchem Erzieher die Aufgabe erleichtern. Eine der schwersten 
Gefahren, die heute der Großstadtjugend aller Kreise droht, die homosexuelle Verführung, ist 
allerdings nicht berücksichtigt. 

Leipzig. Walter Hoffmann. 

Karl Herwagen, Der Siebenjährige. Versuch einer Gefühls- und Vorstellungstypik und 
ihre Anwendung auf den Gesinnungsunterricht. Mit 3 Abbildungen. 92 S. (Beihefte zur „Zeit¬ 
schrift für angewandte Psychologie“ Nr. 22.) Leipzig 1922. J. A. Barth. 

Verfasser will Richtung, Färbung, Entwicklung und Gestaltung der Neigungen und Fähig¬ 
keiten seiner Klasse (2. Schuljahr eines Arbeiterviertels in Köln) feststelleh. Dabei läßt er 
das Experiment ganz in den Hintergrund treten. Vorbildlich und meist stark anregend 


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zeigt Herwagen auch, wie er hemmend, fördernd, richtunggebend eingreift und ansetzt. Das 
Buchlein ist für den Lehrer mit Einstellung auf „arbeitsbetonten Unterricht* wertvoller als sämt¬ 
liche bisher erschienenen Küchenzettel für das 2. Schuljahr. Besonders den werdenden Lehrer 
macht H. mit der „Arbeitsverfassung der Schüler und der Klasse* vertraut und zeigt ihm den * 
Weg ins innere Erleben der Siebenjährigen. Landschaft und Herkommen des Schülers bedingen 
wohl z. T. starke Abweichungen zwischen der Klasse des Verfasser« und der des Beurteilers — 
auch einem 2. Schuljahr — in Fragen der Schülerlüge. Schadenfreude, Selbstlosigkeit der Kindesliebe, 
Furcht vor Dunkelheit und Strafen, Einwirkung der Mitschüler. Der Abschnitt über „Erleben, 
Bedeutung und Darstellung der Örtlichkeit* bedürfte bei einer Neuauflage starke Berücksichtigung 
der Jaensch’schen Forschungen über den Bildsehertypus bei Kindern und Jugendlichen. Wann 
schenkt uns H. eine Ergänzung und Fortsetzung seiner wertvollen Beobachtungen? 

Essen. Anton Glückmann. 

Universitätsdozent Dr. Willibald Kammei und Oberlehrerin Melanie Sigmeth, Experi¬ 
mentelle Untersuchungen über die mimischen Ausdruckssymptome der Auf¬ 
merksamkeit in ihrer Bedeutung für die Schülercharakteristik. Wien und 
Leipzig 1921. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 90 S. 

Überschaut man, was in der so kurzen Zeit von kaum zwei Jahrzehnten, seit jugendkundliche 
and experimental-pädagogische Forschungsstätten am Werke sind, in ihnen gearbeitet worden 
ist, so ergibt sich, daß die in ansehnlicher Breite vorgelegten Untersuchungen auffällig 
häufig außerhalb des pädagogischen Fragengebietes liegen. Man wilderte vielfach im fremden 
Reviere. War Verlegenheit um echte erziehungswissenschaftliche Problemstellungen schuld? Wohl 
kaum! Denn das pädagogische Tun und Denken unserer Zeit weist für die empirische Forschung 
geradezu eine Überfülle praktisch wie theoretisch bedeutsamster Fragen auf, die einer exakten 
Lösung dringend bedürfen. Offenbar hat vielmehr u. a. die methodologische Unzulänglichkeit 
des jungen Gebietes verhindert, daß man selten in das innere Feld eindrang und sich mehr an 
den Rändern bewegte. Vor allem sind in der experimentellen Pädagogik, deren Bedeutung 
and Reichweite man im Übereifer des Anfangs wohl überschätzte, die unt er rieht s wissenschaf t- 
chen Ermittlungen zugunsten begabungspsychologischer Untersuchungen arg versäumt worden. Er¬ 
freulicherweise zeigen aber die Abhandlungen der jüngsten Zeit, wie z. B. die letzten Veröffent¬ 
lichungen des Institutes für experimentelle Psychologie und Pädagogik im Leipziger Lehrerverein, 
eine Hinwendung zu echten erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen. So auch die vor¬ 
liegende Arbeit, die hervorgegangen ist aus dem Institute für Jugendkunde an der Bundeslehrer¬ 
akademie in Wien. 

Die Abhandlung bietet einen sehr schätzenswerten Beitrag zur Lehre von den Ausdrucks¬ 
erscheinungen des im Unterrichtserlebnis stehenden Schülers und bezweckt letzthin,' die Frage 
der pädagogischen Einfühlung zu klären, eine Frage, die heute um so gründlicher untersucht 
werden möchte, weil von ihr aus die Möglichkeit, Berechtigung und Begrenztheit einer auf „Er¬ 
leben* gerichteten Unterrichtsgestaltung erkennbar wird. 

Das zur Unterlage verwendete Material ist durch photographische Aufnahmen gewonnen 
worden und zwar im Gruppen versuch und im unwissentlichen Verfahren. Die auf der Hand 
liegenden nicht unbedeutenden Schwierigkeiten sind dabei durch alle nur möglichen äußeren und 
inneren Maßnahmen so weit behoben worden, daß im ganzen die erzielten Bilder als eine nach 
Möglichkeit einwandfreie Grundlage für wissenscbafllicbe Auswertung gelten können. Die reich¬ 
lich in den Text eingestreuten Bildproben überzeugen davon. So spricht z. B. Nr. 6 — eine Szene 
aus dem Rechnen darstellend — ganz offenbar von dem natürlichen, unbefangenen Sich geben der 
Kinder, wie es dem Lehrer aus dem Schulalltage geläufig ist, und Nr. 7 — gewonnen bei der bewußt 
mißbräuchlich gestellten Frage: „Hat euch die Geschichte gefallen? Sie wahr schön, nicht wahr?* 
— zeigt übeiTascbende Lebenswabrheit darin, daß sich auf den Gesichtern in der Form eines 
erzwungenen, höflichen, verkrampften, verklemmten, versteiften Lächelns die innere UnWahrhaftig¬ 
keit des suggestiv entstandenen „Jal“ aufs deutlichste verrät. Dies Verfahren photographischer 
Aufnahmen für Gefühlsuntersuchungen ist bekannt. Rudolf Schulze hat es in zwei methodisch 
wie sachlich glänzenden Untersuchungen (Die Mimik der Kinder beim künstlerischen Genießen, 
Leipzig, und Unsere Kinder nnd der Krieg, Leipzig 1917) ausgebildet und angewendet. Erst¬ 
mals aber haben die Wiener die mimischen Ausdrucksformen an Schülern inmitten wechseln¬ 
der Unterrichtslagen photographisch festgehalten — freilich auch das ist nicht durchaus neu: 
u. a. habe ich selbst in mehreren meiner Arbeiten (vergl. die Zeitschrift „Die Arbeitsschule“, 
schon früher, wenn auch nicht ausgesprochen nur zu mimographischen Zwecken, 
„didaktische Naturaufnahmen* 4 dargeboten. Aber Kammei und Sigmeth sind planvoller, ver- 


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Literaturbericht 


suchsmäßiger xfnd ausgiebiger mit dem Photographieren vorgegangen. Sie haben in sechs eigens 
dazu entworfenen kurzen Lehrstunden aus Rechnen, Lesen, Singen und Naturgeschichte die 
Schülerinnen (10 jährige Mädchen der Volksschule) an didaktisch entscheidenden Stellen (z. B. 
vor und nach Beginn, bei der Darbietung des Stoffes, der Entwicklung, Wiederholung, Ver¬ 
arbeitung, Zusammenfassung) bildlich festgehalten und dabei einen selten schönen, leider für 
mimische Untersuchungen in zu kleinem Maßstabe gehaltenen Bilderschatz erzielt 

Die Auswertung des Materials geschieht wesentlich durch einfache Deutung: Man weiß 
sich durch eingehendes Studium der Literatur über den menschlichen Gesichtsausdruck (sie wird 
in dem Buch ausgiebig verwertet) für die Kunst des Ausdeutens mimischer Züge einigermaßen 
vorgebildet, hält sich die Unterrichtsreize, deren Reaktionen bildlich vorliegen, im Bewußtsein, 
und fühlt sich in die Bilder ein. Hiermit bleibt aber die Untersuchung gegen Schulze zurück, 
dem es durch einen klugen methodischen Gedanken gelungen ist, die Subjektivität des ein¬ 
fühlenden Deutens dadurch abzumindern, daß er einen Zuverlässigkeitskoeffizienten gewann. 
Er legte u. a. die Bilder seiner Schülerversuchspersonen verschiedenen für Bildverständnis be¬ 
gabten und ausgebildeten Erwachsenen — die nun gewissermaßen eine zweite Schicht von Ver¬ 
suchspersonen in der langen Untersuchung abgeben — mit der Aufgabe vor, die Photographien 
den Reizen, auf die jeweils von den Schülern reagiert worden war, zuzuordnen. In den Treffer¬ 
zahlen war ihm dann ein Maß für die Sicherheit des Deutens gegeben. Mir erscheint dieses 
Verfahren weiterer Anwendung und Ausbildung wert. Auch das Unternehmen von Kammei 
und Sigmeth würde bei besonderer Einrichtung dieser verfeinerten Methode zugänglich gewesen 
sein und hätte damit eine noch höhere wissenschaftliche Wertigkeit bekommen, als sie ihm 
ohnedies zuzusprechen ist. 

Die Ergebnisse der Untersuchungen sind nicjit, wie es Schulze formelhaft in seiner zweiten 
Arbeit unternimmt, zu bestimmten Sätzen verdichtet worden. Im Ganzen ergibt sich, daß im 
allgemeinen auf den Gesichtern des gleichen Bildes große Übereinstimmungen in bestimmten 
Zügen festzustellen und so gesetzmäßige Beziehungen zwischen Reiz und Ausdruck erwiesen 
sind. Daneben aber fallen in der vergleichenden Betrachtung an den einzelnen Schülerinnen 
persönliche Unterschiede auf, die auch hier und da durch die ganze Bilderreihe Als bleibend ver¬ 
folgbar werden. Sie bezeugen den symptomatischen Wert der Ausdrucksbewegung für die Schüler¬ 
charakteristik und regen an, die bedeutsamen Untersuchungen weiter auszubauen. Es wird sieb 
mit differentialpsychologischen Befunden lohnen, sie vor allem auf andersartige Versuchspersonen 
auszudehnen: für Schulze wie auch für Kammel-Sigmeth wurden diese nur von Mädchen der Volks¬ 
schule gestellt. Weiter wird es aber für den Ausbau einer „pädagogischen Mimographie“ er¬ 
forderlich sein, unter weitgehender sachlicher Besonderung in Einzeluntersuchungen ganz bestimm¬ 
ten, engbegrenzten Fragen nachzugehen, so z. B. — den Ausdruckssymptomen der Aufmerksamkeit; 
denn entgegen der Titelfassung des Buches wird das Bildmaterial in der Arbeit von Kammel-Sigmeth 
nicht in der angegebenen Richtung der Aufmerksamkeit, sondern mehr allgemein nach dem Ausdruck 
des gesamten Unterrichtserlebnisses der Schülerinnen ausgedeutet. Übrigens: diese Deutung ge¬ 
schieht hier mit einer gewiß nicht häufigen Kunst des einfühlenden Eindringens in die Kinder¬ 
seele, einer Kunst, wie sie nur bei einer besonderen Begabung und in langem persönlichen Unler- 
richtsverkehr mit Kindern sich entwickelt. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Reformabteilung des österreichischen Unterrichtsamtes, Anleitung zur Führung 
der Schülerbeschreibung. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. Wien und Leip¬ 
zig 1922. 53 S. 

Die Bezeichnung „Schülerbeschreibung 1 * hat sich bei uns im Reiche eingebürgert für eine 
in freierer Form gehaltene Charakteristik der einzelnen Schülerpersönlichkeiten. Nach amt¬ 
lichem Sprachgebrauch in Österreich aber will unter ihr das verstanden sein, was wir gewöhnlich 
„Schülerbogen“ nennen. Einen solchen nun hat auch die Reformabteilung des österreichischen 
Unterrichtsamtes für eine versuchsweise Einführung ausgegeben. Er benutzt, einiges Eigene 
einfügend, die zahlreichen deutschen Vorbilder, Zwischen allzu weitgehender Aufgliederung der 
Beobachtungsrichtungen und allzu allgemein gestalteten Abteilungen hält er mit praktischem 
Sinne eine gesunde Mitte. Ein Vorzug an ihm ist unter andern die klare und schlichte Fassung 
der Fragen. 

Für den Gebrauch dieses Schülerbogens nun gibt die vorliegende Schrift, der trefflichen 
Sammlung „Lehrerbticherei“ zugehörig, eine Einführung und Anleitung. Wie der Bogen selbst 
ist auch sie bewußt einfach gehalten. Unter Verzicht auf gelehrte Fachausdrücke gibt sie in 
den psychologischen Teilen sehr geschickt verfaßte Darstellungen über die Sachverhalte, die 


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Literaturbericht 


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festzustellen sind, entfaltet die verschiedenen Richtungen, in denen Ermittlungen erwünscht oder 
erforderlich sind, und zählt dazu Beobachtungsmöglichkeiten auf. Aus dem einscblagenden Schrift¬ 
tum ist dabei mit geschickter Hand und klugem Abwägen das Wesentliche aufgegriffen und mit Ein¬ 
gliederung auch neuer Gedanken verarbeitet worden. Nicht versäumt wird, auf leichter zugängliche 
Quellen zu weiterer Belehrung und Vertiefung hinzuweisen. Im ganzen ist in dieser tüchtigen 
Arbeit fast eine praktisch gehaltene, knappeste Schülerkunde gelungen. , Sch. 

Albert Huth, Assistent am Pädagogisch-psychologischen Institut München, Die Münchner 
Eignungsprüfung für Buchdrucker und Schriftsetzer. (Heft 21 der Schriften zur 
Psychologie der Berufseignung und des Wirtschaftslebens, herausgegeben von Otto Lipmann 
und William Stern.) Leipzig 1922. Barth. 28 S. 

Die Veranstaltung, über die Huth in erfreulicher Knappheit und durchsichtiger Gliederung 
berichtet, erfüllte in München erstmals die Forderung der Lehrlingsordnung für das deutsche 
Buchgewerbe, nach den Methoden der angewandten Psychologie die Eignungsprüfungen für 
den Setzer- und Druckerberuf einzuführen. Die Durchführung war dem pädagogisch-psycho¬ 
logischen Institute übertragen worden. Voran gingen eingehende Beratungen mit Vertretern des 
Buchgewerbes und dem Lehrkörper der Fachschule. Die Aufstellung der Tests konnte sich 
stützen auf die guten Vorarbeiten über die psychotechnische Analyse des Setzerberufes durch 
Piorkowski, Lipmann, Krais. Eingestellt wurde die Prüfung auf einen dreifachen Zweck: Aus¬ 
scheidung von zweifellos Ungeeigneten, Beratung für den Entscheid bei der Wahl zwischen 
Setzer- und Druckerberuf, Charakterisierung der Aufgenommenen zur Verwertung beim Lehrer- 
urteil in der Fachschule. In der Setz er prüfung ermittelte man an vier Aufgaben (Dreiwort- 
methode, Nachschreiben von Sätzen, Aufkleben von Schildchen, zeitlich bestimmtes Abschreiben 
von schlechtem Manuskript) die Fähigkeit im Rechtschreiben, den Auffassungsumfang für 
Sprachstoff, die sprachliche Gewandtheit, das Zeitmaß des Arbeitens, den Sinn für Raumeinteilung 
and Sauberkeit, das Augenmaß und die allgemeine Intelligenz. Dagegen zielte die Untersuchung 
der Drucker vor allem ab auf die Unterscheidung für Farben und Helligkeiten, auf Verteilung* 
Konstanz und Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit, auf den „Maschinensinn“, diesen geprüft in An¬ 
lehnung an bekannte Ermittlungsverfahren. Die Auswertung geschah zahlenmäßig. Ein Vergleich 
der Ergebnisse mit den Bewäbrungsbefunden nach acht Monaten (an allerdings äußerst geringer Zahl 
von Versuchspersonen) ergab eine überraschend gute Übereinstimmung zwischen Prüfungsleistung 
und Zeugnis der Fachschule. Sch. 

Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt, Psychologisch es Beobachten für die Berufs¬ 
beratung. Erste Anleitung für die Zusammenarbeit von Schule und BerufBamt. Magdeburg 
1922. Rathke. 12 S. und ein Schülerbogen mit der Anweisung. 

Das Schriftchen steht in Verbindung mit dem Schülerbogen, den das Landesarbeitsamt 
Sachsen-Anhalt herausgegeben hat. Es will in aller Kürze anleiten, wie psychologisch eingestellte 
Beobachtungen in der Schule zu betreiben sind, wenn sie brauchbare Unterlagen für die Berufs¬ 
beratung ergeben sollen. Einzig auf so lebenspraktische Ziele eingestellt, zeigt der Bogen und sein 
Erlauterungsheft eine wesentlich andere Gestaltung, als sie von den Anleitungen in den Schüler¬ 
bogen bekannt sind, die schulpädagogischen oder wissenschaftlich-psychologischen Zwecken 
dienen sollen. Grundsätzlich verzichtet wird auf sonder beruf lieh bedeutsame Feststellungen, die 
nicht anders als durch messende experimentelle Untersuchungen zu gewinnen sind (Augenmaß, 
Reaktionsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsumfang usf.). Es gilt vielmehr die Beschränkung 
auf berufswichtige Allgemeinanlagen, die ganz oder teilweise dem Experiment unzugänglich 
bleiben. Die Berufsberatung bedarf dabei im einzelnen sicherer Aufschlüsse über eine Charakte¬ 
risierung des Anwärters, die für jegliche Berufstätigkeit belangvoll ist, ferner über Besonderes, 
in dem er sich nach oben oder unten vom Durchschnitt entfernt und über die Eigenart der 
Arbeitsleistung. Als „Arbeitsanlagen“ werden z. B. angeführt: 

1. Geistige Regsamkeit: Die allgemeine Auffassungsgabe, das Begreifen, geistige Geweckt¬ 
heit, die intellektuelle Beweglichkeit, Geistesgegenwart, Aufmerksamkeit im volkstümlichen Sinne. 

2. Das Gedächtnis: Gedächtnis im allgemeinen, wie auch auf Sondergebieten, als Merkfähig¬ 
keit für Neues und Altes. 

3. Selbständigkeit der Arbeit: Denkt er beim Arbeiten? Tut er nur genau Vorgeschriebenes? 
Ist er hilflos bei neuartigen Sachlagen? Wie verhält er sich zu seinen Mitarbeitern? 

4. Zähigkeit: Ist er zäh bei der Arbeit? Zielstrebig? Irrt er flatterhaft ab? Verfolgt er sein 
Arbeitsziel ausdauernd oder gibt $r es schnell auf? 


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Literaturbericht 


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5. Sorgsamkeit: Präzision der Arbeit. Arbeitet er meist sorgfältig, pedantisch? Oder ist 
er flüchtig, hastig, bleibt er am einzelnen hängen, ungenau, pfuschend? Zeigen sich hier (und 
im folgenden!) Verschiedenheiten auf den einzelnen Arbeitsgebieten? 

6. Schnelligkeit: Arbeitstempo. Ist er durchschnittlich ein flotter oder langsamer Arbeiter? 
Wo ist er besonders geschwind, wo besonders langsam? Zeigen sich dabei Beziehungen zur 
allgemein geistigen t Anlage oder zum Fleiß? 

7. Gleichmäßigkeit: Variation der Leistungen. Arbeitet er bei den verschiedenen Gelegen¬ 
heiten, Lagen, Stunden gleichförmig? Oder schwanken seine Leistungen gern? Ist er regellos 
oder ausgeglichen? Gibt es besondere Gebiete, auf denen sich dieses oder jenes zeigt? 

8. Eingewöhnung: Übung. Ist er schnell anzulernen? Oder ist er bei neuen Stoffen schwer¬ 
fällig? Bessern sich seine Arbeitsergebnisse zumeist? Einheitlich? Oder nur auf Sondergebieten? 

9. Ermüdbarkeit: Ist er körperlich oder geistig schwächlich? Zeigte sich daher Leistungs¬ 
abfall bei längerer Arbeitsdauer? Muß er sich zum Schluß sehr anstrengen? usw. 

Wie nun in diesen Richtungen brauchbare Befunde zu erhalten nnd einzutragen sind, legt 
das Schriftchen in knappesten Anweisungen dar. Nach dem Vorbilde anderer bekannter Bogen, 
von denen eine Reihe in dem angefügten Schrifttum zur psychologischen Berufsberatung auf¬ 
geführt ist, werden dabei auch Beobachtungsgelegenheiten namhaft gemacht. Zu psychologischen 
Schulversuchen — ausgenommen die u. E. aber auch überflüssigen Grundversuche für Intelligenz¬ 
prüfungen nach Binet-Simon — wird mit gutem Grunde nicht geraten. 

Der Schülerbogen und das Anweisungsheft gewinnen sehr durch seine praktische 
innere und äußere Einrichtung. Offenbar ist ihm zum großen Gewinne geworden, daß hier ein 
Ergebnis vorliegt aus langen Verhandlungen, in denen sich Vertreter der Lehrerschaft, Ärzte, 
der Elternbeiräte, der Berufsstände, des Arbeitsnachweises und der Berufsberatung vereinigt und 
geeinigt hatten. Sch. 

Dr. Erich Stern, Privatdozent an der Universität Gießen, Einleitung in die Pädagogik. 

Halle 1922. Niemeyer. 395 S. 

Der Verfasser plant mit seiner „Einleitung* Vorarbeit für weitere systematische Unter¬ 
suchungen zum Aufbau der Pädagogik als Wissenschaft zu leisten. Der Absicht entspricht die 
streng wissenschaftliche Methode. Schon die Art und Weise, die Probleme zu sehen und za 
behandeln, erscheint mir, ganz abgesehen von der stofflichen Behandlung, als wertvolle Be¬ 
reicherung der Literatur. Die Untersuchung der wissenschaftlichen Struktur der Pädagogik ist 
ausführlich dargestellt; von der inneren Struktur einer Wissenschaft muß ja letzten Endes deren 
Aufbau und Ausbau abhängen. „Nur durch eine Verbindung von kulturphilosophischer und 
psychologischer Forschung in allen ihren Teilen erscheint der Aufbau der Pädagogik überhaupt 
möglich.“ Die Pädagogik erscheint in dieser Synthese aber nicht als ein Nebeneinander zweier 
gesonderter Reihen — wie etwa im System Herbarts, in der die philosophischen und psycho¬ 
logischen Probleme in (Ethik und Psychologie) eine durchaus selbständige Behandlung erfahren 
—, sondern beide gehen in der GeißtesWissenschaft auf. So gewinnt der Verfasser auch seine 
Stellung zur Psychologie, Nicht die atomistisch verfahrende experimentelle, sondern die geistes¬ 
wissenschaftliche Seelenforschung ist der Pädagogik nötig. 

Eine reine empirische Pädagogik lehnt Stern mit Recht ab. Aber auch da ist ihm recht 
zu geben, wenn er in reiner spekulativer Behandlung der Probleme nicht den möglichen Ausbau 
der Pädagogik erblickt. Empirie und Spekulation gehören zusammen. In der wissenschafts¬ 
theoretischen Untersuchung erfahren die Probleme eine gründliche, vielseitige Behandlung und 
mannigfache Bezugnahme besonders auf die grundlegenden Untersuchungen Diltheys. Wir be¬ 
gegnen überall dem Bemühen, die Problematik in ihrem ganzen Ausmaß zu umspannen und 
die Lösung anzudeuten. Wir sehen der Wetterführung der Untersuchungen mit Interesse 
entgegen. 

Der zweite Abschnitt umfaßt das Wesen der Erziehung und des Erziehers. Hier ist in 
Anlehnung an Sprangers Lebensformen eine Einführung in Sprangers Buch gegeben. Der dritte 
Abschnitt behandelt das Problem der Bildung und Bildsamkeit. Der individuelle und kollekti¬ 
vistische Gesichtspunkt erfährt eine gründliche Darstellung. Auch Gedanken zu einer pädago¬ 
gischen Wertlehre werden abgehandelt. Besonderes Interesse verdient noch der Schlußabschnitt 
Uber Erziehung und Zeitgeist. 

Frankfurt a. M. Julius Wagner. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Die Erforschung des Erziehungszwecks. 

Von Johannes Kretzschmar. 

In Heft 9/10 des Jahrgangs 1922 der Zeitschr. f. päd. Psych. (S. 321—324) 
hat Prof. A. Messer in dem Artikel „Ist das Erziehungsziel wissenschaftlich 
erkennbar?“ einige Gedanken grundsätzlicher Art,.die in meinem Aufsatze 
.Schulreform und Bildungszweck" in Heft 5/6 desselben Jahrgangs aus¬ 
gesprochen worden waren, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ich habe 
mich sehr gefreut, daß meine Ausführungen nicht ganz unbeachtet geblieben 
sind, wenn sie auch keine restlose Zustimmung fanden; jedoch kann ich von 
dem, was Messer sagt, nicht alles ohne Widerspruch hingehen lassen und 
hoffe, zur Klärung der strittigen Fragen etwas beizutragen, wenn ich im fol¬ 
genden auf zwei mir als besonders wichtig erscheinende Punkte kurz näher 
eingehe. 

1. Wir beide, Messer und ich, stimmen im Anschluß an ein bekanntes 
Wort von W. Dilthey darin überein, daß wir scharf scheiden zwischen der 
Erziehung, wie sie ist, und der Erziehung, wie sie sein soll — also auch 
zwischen der darstellenden (oder deskriptiven) Pädagogik und der syste¬ 
matischen (oder praktischen) Pädagogik. Wir scheiden infolgedessen auch 
scharf zwischen dem als Erfahrungstatsache gegebenen und dem für die Er¬ 
ziehung als verbindlich zu betrachtenden Gesamtzweck der Erziehung, 
und nur um den letzteren handelt es sich bei unserer Auseinandersetzung. 
Wir sind wohl auch beide der Ansicht, daß dieser Gesamtzweck nicht bloß 
ein Teilzweck sein darf, sondern die Erziehungsarbeit in ihrem vollen 
Umfange bestimmen muß; daß er ein als allgemeingültig anerkannter 
Zweck ist, d. h. ein solcher der für jedes Volk und jede Kulturperiode gilt, der 
schon für unsere Vorfahren bindend sein mußte — soweit er ihnen bewußt 
wurde — und auch für die Bedingungen gilt, unter denen der Erzieher der 
Gegenwart seine Tätigkeit ausübt Aber Messer wird der praktischen 
Bedeutung dieses Begriffs nicht ganz gerecht, obgleich er S. 321 erfreulicher¬ 
weise meinem Satze zustimmt, daß alle pädagogischen Maßnahmen an den 
Gesamtzweck der Erziehung gebunden sind und daß der Zweckgedanke es 
ist, der die Aufnahme irgendeines Kulturgutes in den Erziehungsplan über¬ 
haupt erst möglich macht. Messer faßt nämlich meiner Meinung nach den 
Begriff der systematisch-praktischen Pädagogik viel zu eng. Er weist diesem 
Forschungsgebiet die Aufgabe zu, die „Mittel und Wege* festzustellen, um 
gewisse Erziehungsziele zu erreichen (S. 323). Auch in seiner Schrift „Welt¬ 
anschauung und Erziehung* bekennt er sich zu der Auffassung, daß die 
Erziehungswissenschaft psychologisch gesicherte Technik, Methodik sei 
(S. 124 f.). Nun steht er freilich mit dieser Auffassung nicht allein da, 
sondern spricht nur das aus, was heute leider auch in den Universitäts- 
kreisen eine weit verbreitete Anschauung ist. 1915 hat F. Krueger in einer 
Besprechung meines Buches „Entwicklungspsychologie und Erziehungswissen- 

Mtsdutft f. p&tlagog. Psychologie. 6 


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Johannes Kretzschmar 


Schaft“ tadelnd bemerkt, die praktische Pädagogik sei Oberhaupt nicht Wissen* 
schaft, sondern Technik; ich erinnere ferner an die Kundgebung der Berliner 
Universität zur Lehrerbildungsfrage von 1920, in der man sich ebenfalls auf 
den Standpunkt stellte, die Pädagogik sei nur Methodik. Aber diese Auf¬ 
fassung ist nicht richtig, sie ist zu einseitig und zu eng. Das Wesen 
der Erziehung besteht erfahrungsmäßig nicht bloß in dem richtigen metho¬ 
dischen Verfahren, die Kulturgüter dem Zögling zu übermitteln, sondern auch 
in der richtigen Auswahl der zu übermittelnden Güter. Der Erzieher hat 
es ja bekanntlich nicht mit dem abstrakten Begriff des Individuums, sondern 
mit einer Reihe bestimmt geprägter und unter bestimmten Lebensbedingungen 
aufwachsender jugendlicher Personen zu tun, und der ungeheuren Fülle der 
Kulturgüter gegenüber muß er eine gewisse Auslese vornehmen. Das hat 
offenbar auch G. Kerschensteiner erkannt, wenn er in seiner Schrift 
„Das Grundaxiom des Bildungsprozesses“ verlangt, nur solche Kulturgüter 
in den Lehrplan aufzunehmen, die der seelischen Struktur des Individuums 
ganz oder teilweise adäquat sind. Kerschensteiner hat nur zu wenig betont, 
daß sich die Notwendigkeit dieser Anpassung an die Psyche des Zöglings, 
auch wenn sie nur die Berufsbildung betrifft, logisch aus einem über¬ 
geordneten Prinzip ergeben muß und daß dieses nur der Erziehungszweck 
sein kann. Ich halte hier den Standpunkt Herbarts für den durchaus rich¬ 
tigen, der in der „Allgemeinen Pädagogik“ deutlich die zweite Hälfte der 
Pädagogik von der ersten trennt: einen die Mittel, Wege und Hinder¬ 
nisse der Erziehung erforschenden Teil von einem den Gesamtzweck bis 
zu den Einzelmaßnahmen detaillierenden Teil. Es ist leider bisher viel 
zu wenig beachtet worden — auch im Lager der Herbartschüler —, daß 
Herbart, indem er. alle Unterrichtsgegenstände streng logisch auf den einen 
und ganzen Zweck zurückgeführt wissen wollte, eben das für die Praxis un¬ 
entbehrliche Ausleseprinzip und damit einen den Kulturwerten gegenüber- 
stehenden spezifisch pädägogischen Wertmaßstab schuf; daß er mit 
der Sittlichkeit der Charakterstärke diesen Wertmaßstab zu einseitig be¬ 
stimmte, kann sein eigentliches Verdienst nicht schmälern. Der Zweckbegriff 
entscheidet auch nicht bloß darüber, ob überhaupt ein bestimmtes Kultur¬ 
gut für einen bestimmten Einzelfall notwendig ist. sondern auch darüber, in 
welchem Grade diese Notwendigkeit besteht, ob das Kulturgut nur als wahl¬ 
freier Gegenstand oder aber als Pflichtfach aufzutreten hat. In meinem 
Aufsatz habe ich hierauf besonders hingewiesen. So ist also die systema¬ 
tische Pädagogik in erster Linie die Lehre von der Notwendigkeit und Zweck¬ 
mäßigkeit der einzelnen Kulturgüter und erst in zweiter Linie die Lehre von 
der richtigen methodischen Übermittelung derselben. Messer unterschätzt 
die Aufgabe des Pädagogen, wenn er in ihm lediglich einen mehr oder 
minder geschickten Methodiker sieht. 

2. Bei der so außerordentlich großen praktischen Bedeutung des pädago¬ 
gischen Gesamtzwecks und der ebenso großen Verantwortung, die der Erziehe 
gegenüber jedem einzelnen seiner Zöglinge in sich fühlt, muß unbeding 1 
eine Zweckformulierung gefordert werden, die sich für die pädagogiß coe 
Kleinarbeit als brauchbar erweist und die insbesondere in formaler Hin¬ 
sicht so umfassend ist, daß sie die Gefahr der Einseitigkeit völlig a u ®* 
schließt. Aus diesem Grunde erscheint es mir als uuerläßlich, den Gesam 
zweck so weit auf die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu stelle 0 ’ 


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Die Erforschung des Eniehungsswecks 


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als dies irgend möglich ist. Das Zeitalter Kants und Herbarts hat diesen Ver¬ 
such bereits gewagt und sich bemüht, den Zweck aus der Bestimmung des 
Menschen, also aus der Metaphysik heraus, streng logisch zu deduzieren. 
Gegen dieses Verfahren wäre an sich nichts einzuwenden, zumal sich diese 
Berufung auf ein metaphysisches Prinzip auch auf historisches und ethno¬ 
logisches Tatsachenmaterial stützen ließe. Aber die ethische Zielset?ung 
Herbarts hat sich in der Praxis nicht bewährt, weil sie sich als zu eng und 
einseitig erwiesen hat. M. leugnet nun die Möglichkeit, auf dem Wege 
wissenschaftlicher Erkenntnis zum Erziehungszweck zu gelangen; er will ihn 
gefühlsmäßig durch das unmittelbare Erleben der Kulturwerte erfassen. Aber 
auch er kann auf die Wissenschaft nicht völlig verzichten; er erlebt nicht 
den Erziehungszweck unmittelbar, sondern den Kulturwert und braucht 
die logische Schlußfolgerung: Weil ich bestimmte Gestaltungen des mensch¬ 
lichen Lebens als so wertvoll erlebe, daß sie das Ziel meines Strebens 
bilden, deshalb müssen sie auch nach meiner Überzeugung das Ziel der 
Erziehung bestimmen. M. verfährt eigentlich genau so wie die Zeit Kants 
UDd Herbarts: auch er deduziert den Erziehungszweck aus dem Daseinszweck 
und bestimmt nur den letzteren anders. Aber selbst wenn wir annehmen, 
er sei im Rechte, so muß doch auch in diesem Falle der Erziehungspraktiker 
die neue Zielsetzung daraufhin prüfen, ob sie umfassend ist und nicht, wie 
die Herbartsche, ebenfalls zur Einseitigkeit führt. Fordert die kultur¬ 
philosophische Grundlegung der Pädagogik als Gesamtziel die Hingabe des 
Individuums an die Gemeinschaft, so darf die Erziehungswissenschaft fragen, 
ob hier nicht wiederum ein Teilzweck zum Gesamtzweck erhoben wird und 
ob nicht das Leben des Zöglings auch einigen Anspruch auf eigene Gel¬ 
tung bat; schließlich ist ja doch wohl das Individuum nicht bloß um der 
Gemeinschaft willen, sondern auch die Kultur um des einzelnen Menschen 
willen da. Daß man von den Bedürfnissen dter pädagogischen Praxis aus 
die wertphilosophische Grundlegung einer kritischen Prüfung unterziehen 
darf, bezeugt J. Cohn, wenn er in seinem Buche „Geist der Erziehung“ 
gegen R. Hönigswald den berechtigten Vorwurf erbebt, er übersehe die 
„wesentliche personale“ Richtung aller Erziehung. Cohn bestätigt damit, 
daß man sehr wohl die Erziehung im allgemeinen als Kulturübertragung 
ansehen kann, daß aber mit dieser ganz allgemeinen Feststellung — ab¬ 
gesehen von ihrer Einseitigkeit — der mitten in der Berufstätigkeit stehende 
Erzieher nicht sehr viel anfangen kann. Mir erscheint es schließlich auch 
als recht zweifelhaft, ob man überhaupt von einer wertphilosophischen 
Grundlegung sprechen darf, und in diesem Zweifel bat mich die als Ergän- 
aungsheft der „Kantstudien“ veröffentlichte Schrift von K. Wiederhold 
„Wertbegriff und Wertphilosophie“ sehr bestärkt. Wiederhold bezeichnet den 
Wertbegriff als ein Zwittergebilde, als das Schlagwort einer Modephilosophie 
und kommt zu dem Ergebnis: „So meinen wir denn, es wäre an der Zeit, 
den Wertbegriff, in der wissenschaftlichen Terminologie, ausschließlich der 
Nationalökonomie und Psychologie zu überlassen. In diesen Wissenschaften 
hat seine Verwendung einen begründeten Sinn. Die Philosophie aber sollte 
ihn vor allem nicht als Systembegriff verwenden, mag er innerhalb erkennt¬ 
nistheoretischer oder methodologischer Betrachtungen seine sachliche Berech¬ 
tigung haben.“ Die wertphilosophische Grundlegung der systematisch-prak¬ 
tischen Pädagogik scheint mir hiernach auf sehr schwachen Füßen zu stehen. 

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Johannes Kretzschmar, Die Erforschung des Erziebnngszwecks 


Ich bin deshalb in meiner Schrift „Das Ende der philosophischen Pädagogik“ 
zu dem Schlüsse gekommen, daß die wertphilosophische „Besinnung“ in 
der Erziehungswissenschaft Gegenstand einer als besonderes Erkenntnisgebie' 
neben der systematischen Pädagogik bestehenden Erziehungsphilosophie 
sein muß, die in die induktive Metaphysik einmündet; für diese besondere 
Erziebungsphilosophie bin ich bereit? 1912 in dem Buche „Entwicklungs¬ 
psychologie und Erziehungswissenschaft“ (S. 174f.) eingetreten, was ich hier 
ausdrücklich hervorheben möchte. Wird nun aber der für die Praxis taug¬ 
liche pädagogische Gesamtzweck nicht durch das unmittelbare Erleben der 
Kulturwerte gegeben, so muß die pädagogische Forschung einen andern Ver¬ 
such wagen: sie muß an die darstellende— vor allem die historische — 
Pädagogik herangehen und untersuchen, ob sich nicht doch noch von der 
Tatsachenforschung aus eine brauchbare Zweckbestimmung finden läßt. Der 
empirische Erziehungszweck ergibt sich ja aus bestimmten Lebensnotwen¬ 
digkeiten; auf diese habe ich in meinen Arbeiten wiederholt hingewiesen, 
und auch Messer selbst hat 1921 im „Deutschen Philologenblatt“ (S. 43t) „bio¬ 
logisch dringliche“ Erziehungsziele anerkannt. Die systematische Pädagogik 
muß die Bedingungen, unter denen die gegebene Erziehung arbeitet, 
daraufhin prüfen, ob sie auch für das Leben der Gegenwart gelten. Soweit 
ich augenblicklich das historische und ethnologische Tatsachenmaterial zu 
überblicken vermag, müßte es sehr wohl möglich sein, auf diesem Wege zu 
einem als allgemeingültig anzuerkennenden Erziehungszweck zu gelangen. 
Sollte aber dieser Versuch wider Erwarten doch mißglücken, dann bliebe 
für die pädagogische Wissenschaft immer noch etwas zu tun übrig: sie könnte 
die mit reichem Taktgefühl und hellseherischem Blick begnadeten Erzieher 
beobachten und zur Selbstbeobachtung veranlassen und das auf diese Weise 
gewonnene Erkenntnismaterial den weniger Glücklichen zur Verfügung stellen, 
die das richtige pädagogische Gefühl nicht durch Veranlagung besitzen, sondern 
es erst mühsam durch Übung erwerben müssen. Jedenfalls liegt meines Er¬ 
achtens vorläufig weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit vor, dem 
Beispiele von Messer zu folgen und auf die wissenschaftliche Erkenntnis in 
einer so überaus wichtigen Frage, wie es die nach dem Gesamtzweck der 
Erziehung ist, zu verzichten. Muß ja doch auch der berufsmäßig tätige Er¬ 
zieher, der eine bessere Erziehung gewährleisten will als der Mann aus dem 
Volke, auch über eine klarere und vollkommnere pädagogische Einsicht ver¬ 
fügen als dieser, und um sie zu gewinnen, dürfte die wissenschaftliche 
Forschung unentbehrlich sein; vor jener Überschätzung der Wissenschaft, vor 
der Messer warnt, sind wir damit immer noch weit genug entfernt. 


Wesen und Arten der Fehler. 

(H. Teil.)') 

Von Hermann Weimer. 

Ist es klar, daß seelische Vorgänge das eigentliche Quellgebiet fehler¬ 
hafter Handlungen bilden, so erhebt sich eine weitere Frage als Folge dieser 
Erkenntnis: Sind die seelischen Vorgänge, die sich in Fehlleistungen äußern, 

*) Der I. Teil ist veröffentlicht im 23. Jahrg. d. Zeitschr. (1922) S. 17 ö. 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


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von den übrigen Formen psychischen Geschehens verschieden? 1 ) Die Ver¬ 
mutung liegt jedenfalls nahe, daß Entgleisungen, wie sie die Fehler darstellen, 
auf ein normwidriges oder krankhaftes Verhalten der Seele zurückzuführen 
seien. Aber Meringer hatte schon aus der Beobachtung, daß Erscheinungen 
des Versprechens auf psychische Gesetze hinweisen, die auch in der Ent¬ 
wicklungsgeschichte der Sprachen eine Rolle spielen, den Schluß gezogen, 
daß solche Fehler nichts Krankhaftes an sich haben 2 ). Und diesen Schluß 
fanden wir in vieltausendfacher Analyse von Fehlem der verschiedensten 
Art bestätigt. Wären wirklich die zahllosen Fehler^ die täglich und stündlich 
von allen Menschen gemacht werden, das Erzeugnis kranker Seelen, so müßte 
die Welt ein großes Irrenhaus sein. Wir können also jetzt schon mit ziem¬ 
licher Sicherheit die Behauptung aufstellen, daß die meisten menschlichen 
Fehlhandlungen sich durchaus in der Breite normalen seelischen Geschehens 
bewegen 3 L 

Vielleicht aber wäre noch ein Unterschied zu machen zwischen den Fehl¬ 
leistungen dessen, der das Gebiet, in dem sie entstehen, beherrscht, und 
dessen, der es noch nicht beherrscht, also eines Lernenden. Die meisten 
Fehler, mit denen sich bis jetzt die sprachwissenschaftliche und die psycho¬ 
logische Forschung beschäftigt hat, sind Fehler der ersten Art; es sind die 
bekannten mechanischen Entgleisungen des Versprechens, Verlesens, Ver¬ 
schreibet», Vergreifens usw. Sie können gelegentlich jedem unterlaufen, 
selbst bei sonst vollkommener Sicherheit des Handelns. Die im Schulleben 
vorkommenden Fehler aber sind meist Erzeugnisse unfertiger Menschen, der 
Ausfluß eines unzulänglichen Wissens und Könnens. Die scheinen doch 
Fehler anderer Art zu sein. Sie scheinen es, aber sie sind es in der Regel 
nicht; das muß schon jetzt gesagt werden. Wir werden im folgenden fast 
nur Fehler behandeln, die von Schülern, also von Lernenden im Zustand 
der Unfertigkeit gemacht worden sind; aber wir werden kaum Schülerfehler 
nennen können, deren psychische Grundlagen anderer Art sind als diejenigen 
der eben erwähnten mechanischen Entgleisungen. Eine kurze Erwägung 
mag schon jetzt dem später zu erbringenden Tatsacbenbeweis als Erklärung vor¬ 
greifen. Von keinem Schüler wird normalerweise eine Leistung verlangt, 
die er nicht „können müßte“, wie man gewöhnlich sagt. Man läßt ihn 
keine Multiplikationsaufgabe rechnen, bevor er nicht das Einmaleins gelernt 
und geübt bat; man läßt ihn kein Diktat schreiben, dessen Wortbestand ihm 
unbekannt wäre; man mutet ihm keine fremdsprachliche Übung zu ohne 
die erforderliche grammatische und lexikalische Vorbereitung; man verlangt 
keine geschichtlichen oder naturwissenschaftlichen Kenntnisse von ihm, die 
er sich nicht vorher in irgendeiner Weise angeeignet hätte. Wo es wirklich 
einmal anders ist, wo der Schüler etwas falsch macht, weil ihm die Voraus¬ 
setzungen der richtigen Leistung unbekannt waren, da macht er ja keinen 
Fehler, sondern begeht eine irrtümliche Handlung (vgl. das Beispiel von 


') Gemeint sind natürlich die positiven seelischen Vorgänge; denn der negative Vorgang des 
Versagens bestimmter psychischer Funktionen scheidet als bereits bewiesenes wesentliches 
Merkmal der Fehlhandlungen (23. Jahrg. S. 1911.) jetzt von der Betrachtung aus. 

*) Meringer u. Meyer, a. a. O., 8. Vif. 

*1 Diese Tatsache zeigt, nebenbei bemerkt, wie wichtig die Feststellung des erwähnten nega¬ 
tiven Merkmals der Fehlhandlung ist (S. 1911.). Dieses vor allem trennt den Fehler von der richtigen 


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Hermann Weimer 


Christoph Columbus usw. 23. Jahrg. S. 18f.). Sind aber die Voraussetzungen für 
die richtige Leistung beim Lernenden gegeben, dann unterscheidet er sich von 
dem Meister nur im Grade der Beherrschung. Darum braucht auch die 
psychische Grundlage seiner Fehlhandlungen keine andere zu sein als die¬ 
jenige, aus der die Fehler des Könnenden erwachsen. Nur die Zahl der 
Entgleisungen wird im ersten Falle viel größer sein als im letzten, und 
gewisse Arten von Fehlern werden sich beim Lernenden mit besonderer 
Vorliebe einstellen 1 )* 

Eine letzte Betrachtung führt uns unmittelbar in die Untersuchung der 
Fehlerarten selber ein. Die meisten Fehler haben eine inhaltliche oder 
formale Beziehung zu der geforderten richtigen Leistung; sie liegen mehr 
oder weniger im psychischen Bereich derselben. Der Urheber des Fehlers 
will ja das Richtige treffen; seine Psyche bewegt sich also in der Richtung 
der zu erwartenden Leistung. Darauf beruht es, daß eine überwältigende 
Zahl von Fehlern der zugehörigen richtigen Leistung inhalts- oder gestalts- 
oder funktionsähnlich isL Sie um dieser Ähnlichkeit willen als eine beson¬ 
dere Gruppe von anderen Fehlerarten abzusondern, ist nur da möglich, wo 
andere wesentliche Merkmale des Fehlers sich nicht nachweiBen lassen. Wo 
jedoch das Moment der Ähnlichkeit neben anderen Merkmalen auftritt, 
können nur diese das Kennzeichen einer besonderen Fehlergruppe bilden. 

a) Die Geläufigkeitsfehler. 

Wo etwas Falsches statt des Richtigen geleistet wird, da muß dieses Falsche 
im Augenblick der Leistung in größerer psychischer Bereitschaft gestanden 
haben als das Richtige. Bei der ungeheueren Mannigfaltigkeit und Ver- 
wickeltheit seelischen Geschehens scheint es fast unmöglich, zu sagen, was 
jeweils diese größere Bereitschaft bedingt hat. Gleichwohl ist wenigstens 
eine dieser Bedingungen als Ursache schnelleren Bereitseins allgemein an¬ 
erkannt: die Häufigkeit der Wiederholung*). Es ist bekannt, daß jeder 
seelische Vorgang eine Disposition hinterläßt, der seine Wiederholung er¬ 
leichtert. Wie sich ein Tuch, ein Stück Papier bei geeignetem Anlaß von 
selbst wieder in die Falten legt, in die es einmal gelegt wurde, so bewegt 
sich ein psychischer Vorgang — wenn nicht besondere Hemmungen da¬ 
zwischen treten — im Wiederholungsfälle in den gleichen Bahnen wie vor¬ 
her. Je öfter der Vorgang wiederholt wird, um so leichter tritt er ein, um 
so sicherer läuft er in der einmal angenommenen Weise ab 3 ). Auf dieser 
Tatsache beruht der rasche und leichte Vollzug gewohnheitsmäßiger Hand¬ 
lungen. Man bezeichnet ihn jetzt gerne mit dem Ausdruck „ Ge lä ufigkeit“ 4 )* 
Thumb und Marbe, Menzerath, Dauber u. a. haben durch zahlreiche 
Assoziationsversuche nachgewiesen, daß öfter gebrauchte Wörter und Wort¬ 
verbindungen geläufiger sind als seltener gebrauchte 3 ). Das Ergebnis ihrer 

') Noch in einem andern Punkte unterscheidet sich der Lernende von dem Könnenden. Jener 
wird häufiger als dieser in dem Glauben befangen sein, daß seine Leistung richtig sei; odot er 
wird da, wo das Gefühl sicheren Könnens fehlt, wohl Zweifel in die Richtigkeit der Leistung 
setzen, aber nicht bestimmt sagen können, wie oder oft auch wo der Fehler zu verbessern >s. 

*) Vgl. Max Offner, Das Gedächtnis. 3. AuO. S. 178ff. 

*) Karl Groos, Das Seelenleben des Kindes. S. 65ff. 

4 > Vgl. Paul Menzerath in der Zschr. f. Psych. 46. Bd. 1908. S. 33. Anm. 4. 

s ) Thumb u Marbe, Experimentelle Untersuchungen über die psychologischen Grundlage^ 
der sprachlichen Analogiebildungen. Leipzig 1901. — Paul Menzerath, Die Bedeutung e 


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Wesen und Arten der Fehler 


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Untersuchungen ist nicht nur für die Sprachgeschichte wichtig, sondern auch 
für die Fehlerforschung. Denq auch hier zeigt sich, daß das Falsche oft 
nur darum rascher und leichter ins Bewußtsein tritt, weil es den Vorzug der 
häufigeren Wiederholung, also des Gewohnheitsmäßigen besitzt Die erste 
und umfangreichste Fehlerart, die wir zu betrachten haben, bildet daher die 
Gruppe von Fehlern, deren Erscheinen auf der Häufigkeit der Wieder¬ 
holungen beruht Ich nenne sie gewohnheitsbedingte oder Geläufig¬ 
keitsfehler. 

Sie finden sich auf allen Gebieten menschlichen Handelns; aber besonders 
häufig erscheinen sie im Bereiche des Sprachlichen. Auf Fehler aus diesem 
Gebiete beschränken wir uns aus Raummangel in der folgenden Nachweisung. 

Unter den optischen Wahrnehmungs- oder Sehfehlern nehmen Lesefehler 
dieser Art einen großen Raum ein. Das geläufigere Wort ist hier in der 
Regel das „sprachhäufigere“, d. h. dasjenige, welches im Sprachgebrauch öfter 
vorkommt als das sprachseltenere von ähnlicher Form oder ähnlichem In¬ 
halt. Wir besitzen im F. W. Kaedings „ Häufigkeitswörterbuch der deutschen 
Sprache" (Steglitz bei Berlin 1898) einen verhältnismäßig zuverlässigen Grad¬ 
messer der Sprachhäufigkeit eines Wortes. Dieses ursprünglich für Zwecke 
der Kurzschrift bestimmte Wörterbuch ist aufgebaut auf der Zählung von 
nahezu 11 Millionen Wörtern oder 20 Millionen Silben aus Schriften und 
Reden verschiedenster Art 1 )* Wir geben daher im folgenden (in Ober¬ 
einstimmung mit Da über, Stoll u. a.) den „Häufigkeitswert“ (Hw.) der 
richtigen und falschen Wörter „nach Kaeding“ an. Bemerkt sei dabei, daß 
Kaeding Wörter, die er und seine Mitarbeiter in dem von ihnen bewältigten 
Lesestoff weniger als viermal vorfanden, aus Platzmangel in seinem Wörter¬ 
buch überhaupt nicht aufgenommen hat. Solche Wörter sind also sehr sprach- 
selten. Wir bezeichnen sie im folgenden mit Null. 

Nun zu den Lesefehlern selbst! Es lasen Schüler zwischen 6 und 14 Jahren: 
»ich abmuhen (6) statt sich abmüden (0) 2 ), allerlei (426) st allerhand (127), 
Anzahl (1215) st Unzahl (24), bißchen (180) st. bissei (14), denn (18488) st 
denen (6098), erstaunen (331) st. verstauen (0), gemacht (5337) st gewacht (17), 
Greise (175) st. Greife (Fabeltier 0), Halter (177) st. Halfter (24), Kavallerie- 
(berg) (1554) st. Kalvarien(berg) (0), lebendiges (81) st. lebendes (22), ließt (56) 
st ließet (9), Stellung (8348) st. Stallung (21), Vater (6561) st. Vetter (285), 
vergeben (251) st. vorgeben (19), weh (744) st. wehe (324), wonach (326) st 
womach (7). 

Die häufigsten Verlesungen, die in dieses Gebiet fallen, sind wohl die über¬ 
sehenen Druckfehler (Verbinduug st. Verbindung). Der Druckfehler entstellt 
das vom Verfasser gewollte Wort meist zu einem sinnlosen Buchstabengebilde; 
von allen aber, die ihn übersehen, wird das vom Satzsinn geforderte sprach- 


sprachlichen Geläufigkeit oder der formalen sprachlichen Beziehung für die Reproduktion« Zschr. 
I Pfcych. 48. Bd. 1908. S. 1 ff. — Johann Dauber, Ober bevorzugte Assoziationen und ver¬ 
wandte Phänomene. Zschr. f. Psych. 59. Bd. 1911. S. 176ff. — Edwin Huber, Assoziations- 
▼eraache an Soldaten. Zschr. f. Psych. 59. Bd. 1911. S. 241 ff. 

x ) Es muß zugegeben werden, daß Kaedings Wörterbuch in erster Linie den schriftlichen 
Sprachschatz gebildeter Erwachsener berücksichtigt Für Jugendliche aber besitzen wir bis Jetzt 
nar lexikalische Zusammenstellungen von recht beschränktem Umfang. 

*) Die eingeklammerten Ziffern geben den Häufigkeitswert nach Kaeding an; 6 bedeutet also, 
daß Kaeding und seine Mitarbeiter den Ausdruck „sich abmüben* unter den 11 Millionen Wörtern 
Gmal vorfanden, „sich abmüden 41 gar nicht oder doch weniger als 4mal. 


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richtige Wort gelesen, das naturgemäß auch das sprachhäufigere und darum 
geläufigere ist. 

St oll hat in seiner Untersuchung über die Schreibfehler festgestellt, daß 
das sprachhäufigere Fehlwort dem richtigen Textwort meist auch bedeutungs¬ 
ähnlich ist, daß es also den Sinn des Satzes nicht entstellt (a. a. O. S. 36 f.). 
Ich habe gefunden, daß jüngere und schwächere Schüler, die den Satzsinn 
nicht schnell genug erfassen, oft auch bloß klangähnliche, im Satzzusammen¬ 
hang sinnlose Wörter lesen, die ihnen geläufiger sind. Beispiele dieser Art 
finden sich darum öfter unter den eben genannten Lesefehlern. 

Bei fremdsprachlichem Lesestoff ist die Klang- bzw. Gestaltsähnlichkeit 
noch viel häufiger hinreichend für das Verlesen, da hier der Sinn des Satzes 
noch weniger rasch erfaßt wird. Einen Gradmesser der Sprachhäufigkeit, 
wie das Kaedingsche Wörterbuch, haben wir bei solchem Lesestoff nicht 
zur Verfügung. Es würde uns auch für die Betrachtung, der Lesefehler 
deutscher Schüler wenig nützen. Denn bei diesen kann es sich nicht um 
die Feststellung der allgemeinen Sprachhäufigkeit, sondern nur um die 
individuelle Geläufigkeit eines Wortes handeln. Geläufig sind den Schülern 
diejenigen Wörter, die sie am frühesten gelernt und am häufigsten wiederholt 
haben. Ich führe Beispiele dieser Art aus dem Französischen und Eng¬ 
lischen an. 

Französisch (9—16jährige Schüler) 1 ): aile st. ail, autre st. outre, cahier 
st. casier, derniere st derriere, m’embrasse st. m’embarasse, fruit st. fuit, 
Jambe st jambon, livre st. lievre, montez st montrez, passer st. pariser, 
soeur st. sueur, Volontaire st. Voltaire u. a. 

Englisch (12—14jährige Schüler) 2 ): about st. abound, bacon st beacon, 
cub st. cube, even st. event, father st feather, heart st. hearth, least st. lest, 
made st. mad, pleasant st. pheasant, saw st. sow, talk st. tall, war st. wäre u. a. 

Wo gestalts- und sinnähnliche Wörter einer früher gelernten Sprache in 
assoziativer Bereitschaft stehen, macht sich deren größere Geläufigkeit bei 
fremdsprachlichen Lesefehlern häufig geltend, wie folgende Beispiele beweisen: 

Französisch: la courage (die Kourage) 8t. le courage, exemplar st. 
exemplaire, la garbe (die Garbe) st. la gerbe, mänagerie st. mdnagöre, le 
salade st. la salade, le title st le titre. 

Im Englischen sind neben deutschen die früher gelernten ähnlichen 
französischen Elemente wegen ihrer größeren Geläufigkeit irreführend, be¬ 
sonders hinsichtlich der Betonung: constant st. cgnstant 3 ), effort st. effort, 
forest st forest, lantem st. lantem, music st. music, novel st. novel, origin 
st. origin, peril st. peril, Senate st sgnate. 

Die zahlreichsten fremdsprachlichen Lese- und Aussprachefehler erwachsen 
natürlich aus dem Einfluß der gewohnten muttersprachlicben Lauterzeugung. 
Bekannt ist allen Sprachlehrern die Neigung der Anfänger, ungewohnte 
Laute der Fremdsprache durch ähnlich klingende, altgewohnte Laute der 
Muttersprache zu ersetzen. So sprechen norddeutsche Schüler gerne statt 

*) Die Schüler waren nach den franz. Lehrbüchern von Kühn u. Diehl (Velhagen & Klaßing) 
unterrichtet. Diese Feststellung ist wichtig, weil der Lehrgang dieser Bücher den Gradmesser 
für die größere oder geringere Sprachgeläufigkeit abgibt Das Fehl wort war nach meiner 
Prüfung stets das früher gelernte und öfter gebrauchte. 

*) Den Gradmesser der Sprachgeläufigkeit bildet hier das Lehrbuch von Hausknecht, The 
English Student (Sarasin, Leipzig). 

*) Der Punkt unter den Buchstaben bezeichnet den Silbenton. 


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Wesen and Arten der Fehler 


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der französischen Nasenlaute ö, e, 5, cs 1 ) die ihnen geläufigeren Lautver¬ 
bindungen ai /, etj, 3>Jt «'/ in Amüsemang u. ä. Mittel- und süddeutsche 
Schüler ersetzen mit großer Hartnäckigkeit die ihnen unbekannten stimm¬ 
haften Laute (b, d, g, z, ?) durch die in ihrer Mundart allein vorkommen¬ 
den entsprechenden stimmlosen Konsonanten. Man denke nur an Beispiele 
wie die französischen: bord, dans, grand, rose, manger, die englischen: mb, 
rod, big, rose, change. Das englische th wird von deutschen Schülern 
massenhaft durch einen s-Laut wiedergegeben, mag es nun stimmhaft oder 
stimmlos zu sprechen sein. Wenn der Franzose muter st. des deutschen 
Mutter, der Engländer boza oder buza st. böse spricht, so zeigt sich auch 
hier als gleiche Fehlerursache die sieghafte Macht der geläufigen heimischen 
Sprechweise. 

Lese- und Aussprachefehler wie die eben erwähnten beruhen in letzter 
Linie auf ungenauer akustischer Wahrnehmung. Sie haben also die gleiche 
psychische Grundlage wie die folgenden Hörfehler, denen ich in deutschen 
Diktaten begegnet bin: alle (Hw. n. Kaeding 15511} st. alte (2936', befehlen 
(174) st. befehden (7), Ecke (314) st. Egge (0), herzlich (561) st. herzig 
(137), Kämpfen (673) st. Kämpen (7), leidlich (103) st. leidig (37), reiten 
(830) st. reuten (4), Teppich (84) st Eppich (0). 

Die irreführende Macht geläufiger Reproduktionen ist auch aus zahlreichen 
Gedächtnisversagern zu erkennen, die sich in fremdsprachlichen Schreib¬ 
fehlern feststellen lassen. Bei Anfängern im Französischen drängt sich 
häufig die deutsche Schreibweise vor; so in la bonn, la femm, la lamp, la 
pomm, la oach, petit (st. petite) mit Auslassung des stummen Schluß-e. 
Schreibungen wie letter st. lettre, fabel st. fable zeigen ebenfalls den Ein¬ 
fluß der gewohnten deutschen Endungen. In Fehlwörtern wie beurse st. 
bourse, dizembre st decembre, grazon (Gras) st. gazon, jur (mit deutschem 
Q-Zeichen) st. jour, otour st. autour, üne st. une, uein (Wein) st. vin verrät 
sich nicht minder deutlich die muttersprachliche Schreib- und Sprach- 
gewohnheit 2 ). 

Das früher gelernte Französisch macht sich in ähnlicher Weise beim 
Schreiben später gelernter englischer Wörter von gleicher Bedeutung 
geltend, so z. B. in Australie st. Australia, captaine st. captain, labeur st. 
labour, riche st. rieh, soupe st. soup, tourn (frz. tour) st. tum. 

Im muttersprachlichen Unterricht spielen besonders bei jüngeren 
Schülern die gewohnten mundartlichen Laute eine ähnliche Verführerrolle. 
Wo in der heimatlichen Rede g und j verwechselt werden, kommen Recht¬ 
schreibungsfehler vor, wie: geder, gemand, getzt, Jabel, Jarten, Jemse, jut. 
Rheinfränkische Schüler (Gegend von Mainz und Wiesbaden), die in der 
gewohnten Aussprache im In- und Auslaut g, ch und sch unterschiedslos als 
f (sch) aussprechen, schreiben: abspenstisch, Eische, Pflrsisch, Teisch st Teich 
und Teig. Die schlechte Aussprache der Umlaute in Mittel- und Süddeutsch¬ 
land veranlaßt Fehler wie: Becker st. Bäcker, hert st hört, kimmert st. 
kümmert. Die mangelhafte Aussprache der Verschlußlaute im mitteldeutschen 
Sprachgebiet spiegelt sich in Fehlern wie: Blage st. Plage, Dor st Tor, 

') Es sind die Lautschriftzeichen der Association phonötique gewählt, die heute in der phone¬ 
tischen Schreibuog allgemein üblich sind. 

*) Auch falsch geschriebene Fremdwörter wie ifaschiene (nach Schiene, Biene), Eumenieden, 
Uosich, Siezion gehören hierher. 


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hlüchlich st. glücklich, Wech st. Weg. — Ungebildete Erwachsene aus diesen 
Gegenden sprechen und schreiben: Direkter, Dokter (Dockier), Professer 
wie Bäcker, Schneider, Schuster. 

Aber auch die hochdeutsche Aussprache kann zu Schreibfehlern verführen, 
so die uns allen geläufige stimmlose Aussprache der auslautenden Verschlu߬ 
laute in Apt st. Abt, Kleit st. Kleid, Magt st. Magd, Rauhe Alp st. Rauhe Alb. 

Schreibgewohnte Einflüsse machen sich in zahlreichen Fehlleistungen 
bei Schülern und Erwachsenen geltend. Ich erinnere nur an die häufige 
Schreibung von du, sie, ihnen, ihr usw. in Briefen statt der vorgeschriebenen, 
aber sprachselteneren Formen: Du, Sie, Ihnen, Ihr usw. Auch das (Hw. n. 
Kaesl. 127137) wird selbst von Gebildeten in unbewachten Augenblicken 
öfter statt daß (Hw. 87971) gesetzt als umgekehrt. — Bei älteren Leuten, 
die sich sonst der heutigen Rechtschreibung bedienen, kommen gelegentliche 
Rückfälle in altgewohnte Formen vor. Sie schreiben: Blüthe, Thal, Theil, 
— thum, thun, Wirth; sie schreiben die Verbalendung — iren st. — ieren in 
halbiren, illustrirt, marschiren usw. — Sprach häufigere Lautgruppen bzw. Buch¬ 
stabenkomplexe führen nicht nur bei Schülern öfter zu Umstellungen sprach- 
seltenerer. So habe ich wiederholt Völkerspychologie st. Völkerpsychologie 
geschrieben. Der Häufigkeitswert von sp im Silbenanlaut ist nach Kaeding 
65567, der von ps in gleicher Stellung nur 474. Auf die gleiche Ursache 
ist wohl die Schreibung Alexander Yspilanti st. Ypsilanti zurückzuführen. 
Auch Verschreibungen wie Drat (—at 105558) st. Draht (—aht 292), Hein 
(—ein 497916; st. Hain (— ain 243), in (188078) st. ihn (20785), Prüfet 
(/ 979418) st. Prophet {ph 18704), Räzel (z 1024609) st. Rätsel ( ts 23715), 
Rendergabe (nd 774235) st. Rednergabe (dn 994), Röhn (—öhn 4097) st. Rhön 
( rh — 579), seelig (nach Seele 2927) st. selig (503), wieder ( wied — 14713) 
st. wider ( wid— 2329) dürften ihren Ursprung in der gleichen Tatsache der 
größeren Sprach- und Schreibgeläufigkeit der falschen Buchstabenkomplexe 
haben. — Die in deutschen Wörtern selten vorkommenden Buchstaben j 
und t) werden besonders von älteren Schülern höherer Lehranstalten sehr 
oft durch die lateinischen Schriftzeichen x und y ersetzt, da ihnen diese aus 
dem fremdsprachlichen und mathematischen Unterricht, in welchem sie häufiger 
Vorkommen, geläufiger sind. 

Eine eigentümliche, aber sehr oft anzutreffende Auslassung gleichen 
Ursprungs bildet das Fehlen der Umlautstriche bei ä, ö, ü, äu in Wörtern 
wie Kahne st. Kähne, öfter st öfter, Bürste st. Bürste, Hauser st. Häuser. 
Ein Blick in Kaedings Wörterbuch (S. 632), das den Gebrauch der Vokale 
ohne Oberzeichen (a, e, o, au) nach Millionen, den der Umlaute ä, ö, äu 
nur nach Hunderttausenden bzw. Zehntausenden verzeichnet, gibt uns die 
Erklärung für diese Vergeßlichkeit vieler Schreiber. Auch der u-Bogen und 
der i-Punkt werden oft weggelassen, weil der Körper dieser Buchstaben 
ohne Oberzeichen zur Bezeichnung anderer Buchstaben (n) oder Buchstaben- 
teile um ein vielfaches häufiger vorkommt als mit den Oberzeichen. 

Im Französischen teilen die Akzente, das Trema und die Cödille 
dasselbe Schicksal des häufigen Vergessenwerdens aus dem gleichen Grunde. 
Man vergleiche Beispiele wie ane st. äne, denoncer st. dinoncer, ou st. oü, 
hair st. hair, francais st. frangais. Auch das Auslassen des Bindestrichs 
(d. Feld und Qartenfrüchte, frz. trente six, engl, plum pudding) gehört in 
diesen Fehlerbereich. Im Gebiet der Zeichensetzung ist das Auslassen des 


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Wesen und Arten der Fehler 


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Frage- und Ausrufezeichens ebenfalls auf die sieghafte Macht der Ge¬ 
wohnheit zurOckzufilhren. Die Aussagesätze überwiegen bei weitem die Frage- 
nnd Ausrufe-, bzw. Wunsch- und Befehlssätze. Infolgedessen ist der ge¬ 
bräuchlichste Satzabschluß der Punkt. Nach Kaeding (S. 648) kommen auf 
100 Wörter 5,45 °/ 0 ' Punkte, 0,36 °/ 0 Ausrufezeichen, 0,27 u / 0 Fragezeichen, also 
etwa erst auf etwa 15 Punkte 1 Ausrufezeichen, auf 20 Punkte ein Frage¬ 
zeichen. Aus diesem Grunde wird so oft von den Schülern statt dieser Zeichen 
der geläufigere Punkt gesetzt Dieser selbst wird seltener zwischen zwei 
Sätzen vergessen als da, wo er nicht zu trennen hat, also am Ende eines 
größeren Ganzen, hinter Überschriften usw. , ). Auch das Vergessen der An¬ 
führungszeichen zu Anfang und öfter noch am Ende einer direkten Rede 
ist auf die verhältnismäßige Seltenheit dieser Zeichen zurückzuführen. 

Gewohnheitsbedingte Entgleisungen, die über bloße Lese-, Hör- und Schreib¬ 
fehler hinausgeben, kommen ebenfalls in großer Zahl vor. Wir betrachten 
zunächst das Gebiet der Wortbedeutung. Im fremdsprachlichen Unterricht 
begegnen Übersetzungsfehler, die darin bestehen, daß ein gestaltsähnliches 
geläufigeres Wort die Übersetzung bestinynt. Beispiele dieser Art aus dem 
Französischen sind: amande Geliebte (amante) st. Kern, coüter hören 
(ecouter) st. kosten, fil Sohn (filsj st. Faden, mür Mauer (mur) st. reif, se 
noyer sich langweilen (s’ennuyer) st. ertrinken, vide schnell (vite) st. leer. — 
Aus dem Englischen: alder älter (older) st. Erle, bag Rücken (back) st Sack, 
county Land (country) st. Grafschaft, flour Fußboden (floor) st Mehl, hole 
ganz (whole) st Loch, launch Frühstück (lunch) st. Stapellauf, see See (sea) 
bL Bischofssitz, witch welches (which) st. Hexe. 

Das geläufigere Feblwort kann auch ein gestalts- oder klangähnliches 
andersprachliches Wort sein. Beispiele aus dem Französischen: le berger 
der Bürger st. Schäfer, la glace Glas st. Eis, hier hier st. gestern, mödecin 
Arznei (Medizin) st Arzt, siöge Sieg st. Belagerung. — Englisch: cloak 
Kloake st. Mantel, fabric Fabrik st. Fabrikat, mason Haus (frz. maison) st. 
Maurer, pain Brot (frz. pain) st. Schmerz, rod rot st. Stab, vile Stadt (frz. 
ville) st. gemein. — Beim Hinübersetzen in die Fremdsprache kommen natürlich 
dieselben Fehler vor» So wurden aus dem Deutschen ins Französische über¬ 
setzt: die Mark la marque st. le marc, laut sprechen parier laut st. parier haut, 
die Ware la marchande (nach le marchand der Kaufmann) st. marchandise. 
Deutsch-englische Übersetzungen derart waren: also also st. so, drohen throw 
st. threaten, jetzt yet st. now, Schwester swister st. sister, Welle well st. wave. 

Auf rein grammatischem Gebiet sind Geläufigkeitsfehler überaus zahl¬ 
reich. Hier bedingt die tägliche Umgangssprache und damit vor allem der 
mundartliche Sprachgebrauch die Geläufigkeit. Um eine Übersicht über die 
Fülle der Erscheinungen zu gewinnen, wähle ich bei der Betrachtung dieser 
Fehler die übliche grammatische Einteilung. Im Bereiche der deutschen 
Wortbiegungslehre macht sich sowohl in der Deklination wie in der Kon¬ 
jugation der Zwang mundartlicher Gewohnheiten in vielen Fehlern geltend. 
Wo die Mundarten auslautendes n fallen lassen, kommen Pluralbildungen vor 
wie: Kartoffel, die Vorübergehende, Kartespielen, mit Schneebälle. Aus der¬ 
selben Quelle stammt die falsche Akkusativbildung ein st. einen in Sätzen 
wie: Sie bemerkten ein Priester. Die in Süddeutschland verbreitete Vorliebe 


*) Ober das Komma sind meine Untersuchungen noch nicht zum Abschluß gelangt. 


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fOr den Umlaut als Pluralzeichen der starken Deklination veranlaßt dort 
Schülerfehler wie Arme, Kästen, Läger, Täge, Wägen. Desselben Ursprungs sind 
Pluralbildungen wie Bretter, Hemder, Mädcher, Steiner, Stücker. 8 als Plural¬ 
zeichen in Kerls, Jungens, Mädchens ist aus dem Niederdeutschen in die hoch¬ 
deutsche Umgangssprache norddeutscher Gebiete eingedrungen und wird 
nicht mehr als Fehler empfunden. Über das Dativ-m in.den Endungen der 
Geschlechts-, Für- und Eigenschaftswörter klagt Theodor Matthias in seinen 
„Aufsatzsünden“ (7. Tausend, S. 14), daß es Tausende deutscher Schüler 
nicht einmal mehr schreiben, geschweige denn sprechen (vor den König 
erscheinen, bei meinen Großvater, mit frischen, heitern Mute). Die Ursache 
liegt darin, daß dieses Endungs-m in mitteldeutschen Mundarten vielfach, 
im Niederdeutschen überhaupt in n übergegangen ist. Auch falsche Ge¬ 
schlechtsbildungen (die Bach, der Butter, die Floh, das Schirm, der Sofa), 
ferner die Neigung zur Vorsetzung des Artikels vor Personennamen (der 
Wallenstein, der Tilly, die Sappho) haben ihre Wurzeln in mundartlichem 
Gebtauch. Dagegen sind Schreibungen wie Göttinen, Päärchen, Säälchen 
auf die häufiger vorkommenden Grundformen Göttin, Paar, Saal zurück¬ 
zuführen. 

Im Bereiche des Eigenschaftswortes macht sich die fehlerbildende 
Macht der Geläufigkeit besonders in falschen Steigerungsformen geltend. 
Die tausendfache Übung, den Komparativ und Superlativ durch Anhängung 
von -er und -st an das Ende der Grundform zu bilden, verführt zu der 
gleichen Formung bei adjektivischen Zusammensetzungen, deren zweiter Teil 
dem Sinne nach gar nicht gesteigert werden kann: weitgreifender st. weiter¬ 
greifend, die naheliegendsten (st. nächstliegenden) Gründe, die hochgestell¬ 
testen (st. höchstgestellten) Männer. Nach dem Muster von dortig, übrig 
wurde das Adjektiv zuig, nach offen wurde zuen in zuene Tür gebildet 
Der häufige Gebrauch des reflexiven Verbs sich befinden verführt öfter zu 
der falschen Adjektivbildung sich befindlich. 

Am stärksten tritt der Einfluß des Gewohnheitsmäßigen wohl in der Ab¬ 
wandlung der Zeitwörter zutage. Das sieghafte Vordringen der schwachen 
und das entsprechende Zurückweicben der starken Konjugationsfonnen ist 
allgemein bekannt. Der Vorgang zeigt sich in der Imperativbildung und 
öfter 1 noch in der Bildung des Präteritums. Formen wie komme st. komm, 
lasse st. laß, siehe st. sieh gelten heute als durchaus sprachrichtig. Die 
Form werde (Landgraf, werde hart!) hat das ältere wird ganz verdrängt. 
Kein Wunder, daß unter dem begünstigenden Einfluß der Mundart auch 
Befehlsformen wie breche, helfe, gebe, lese, nehme, trete sich in die Aufsätze 
unserer Schüler eindrängen. Längst schwach geworden sind die ehemals 
starken Präterita von greinen, neiden, reihen, seihen, schmiegen, bläuen, 
reuen, brauen, kauen, bellen, gellen, hinken, winken, kneten, jähten, mahlen, 
nagen, waten u. a. *). Das schwache Präteritum backte droht die ältere Form 
buk auch schon zu verdrängen; ähnlich saugte das ältere sog, schnaubte 
das ältere schnob, webte das ältere wob. In der Schule zeigt sich die Un¬ 
sicherheit der Lernenden in falschen Vergangenheitsformen wie biegte, 
bleichte , gärte, haute, acheinte, schwörte, speite, triefte u. ä. Bedenkt man, 
daß wir heute nur noch etwa 200 selbständige starke Verba in der deutschen 

') Vgl. Sütterlin u. Waag, Deutsche Sprachlehre für höhere Lehranstalten. 1905. § 1V1 181- 


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Wesen und Arten der Fehler 


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Sprache haben 1 ), denen Tausende von schwachen Verben gegenüberstehen, 
bedenkt man ferner, daß die Vergangenheit der letzteren stets in derselben 
Weise gebildet wird (-te und -t), während das Präteritum der starken Kon¬ 
jugation je nach der Ablautsreihe in verschiedenartiger Form, gelegentlich 
sogar mit Unterscheidung der Singular- und Pluralformen (ward, wurden) 
oder in Doppelformen (hob und hub, schwor und schwur) erscheint, so 
dürften solche falschen Präteritalformen als Folge der größeren Sprach- 
bäufigkeit des schwachen Präteritums hinreichend erklärt sein. 

Das Schicksal des Zurückgedrängtwerdens und der daraus folgenden Falsch¬ 
bildung erleidet auch häufig der Konjunktiv. Die sprachlich richtigen Bildungen 
beföhle, begönne, börste, gölte, rönne, schölte, spönne, stände können sich 
trotz Wustmann und anderen Sprachreinigern kaum noch durchsetzen, da 
die unterstützenden alten Pluralformen des Ind. Praet. (borsten, gulten, runnen, 
saummen usw.) längst verloren gegangen sind. Bei den allermeisten schwachen 
Verben ist der Konjunktiv von dem Indikativ überhaupt nicht zu unterscheiden. 
(Ind.: er lobte, Konj.: er lobte , dagegen im Präsens wenigstens noch er lobt, 
er lobe.) Dieser Mangel an deutlich unterscheidenden Merkmalen hat das 
Bedürfnis nach Ersatzformen geweckt. Die beliebteste ist der Konj. Praet. 
des Hilfszeitworts werden: würde. Ursprünglich im Bedingungshauptsatz der 
Nichtwirklichkeit gebraucht, greift er von Österreich und Süddeutschland her 
immer weiter um sich. Man trifft ihn in Schülerarbeiten auch in Neben¬ 
sätzen und als Kennzeichen der indirekten Rede. (Er sagte, sein Freund 
würde kommen. Wenn er es versprechen würde.) Seinen Rückhalt findet 
er in den genannten Gegenden in dem Gebrauch der Umgangssprache 2 ). — 
Aus österreichischem Sprachgebiet stammen auch die falsche Betonung und 
die falsche Konjugation zusammengesetzter Zeitwörter, wie anerkennen, über¬ 
siedeln, unterlegen, unterordnen, bei denen nach der Regel im Präsens und 
Präteritum die Präposition hinter das Verb tritt (ich erkenne an usw.). Der 
Österreicher anerkennt, übersiedelt, unterlegt. Durch das Zeitungswesen sind 
derartige Falschbildungen auch in nördliches Sprachgebiet eingedrungen 3 ). 
Aus der niederdeutschen Volkssprache stammt dagegen die Neigung, das 
Partizip worden im Perf. Pass, wegzulassen auch da, wo es sich nicht um 
die Beschreibung eines Zustandes (Perf. Präs.), sondern um die Erzählung 
eines Vorgangs handelt: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist in 
Deutschland die Gegenreformation eingeführt (st. eingeführt worden).*). 

Im Bereiche der Satzlehre verführen die Gewohnheiten der Mundarten 
und der Umgangssprache ebenfalls zu mannigfachen Verstößen. Die Ver¬ 
wechslung von mir und mich usw. im Berliner Dialekt und weit darüber 
hinaus ist allgemein bekannt. Der tägliche Gebrauch der mündlichen Rede 
erzeugt hier zahlreiche Fehler besonders im Volksschulunterricht. — Der 
starke Rückgang des Genitivs in der Sprache des niederen Volkes führt 
zur Anwendung volkstümlicher Umschreibungen, wie meinem Vater sein Haus, 
des Kaufmanns seine Waren (seltener), der Garten von seinem Großvater, der 
Fuß von dem Pferde; oder Akkusativkonstruktionen ersetzen die ältere 
Genitivkonstruktion: etwas (st. einer Sache) bedürfen. Das österreichische 
vergessen auf, vergessen an ist im Schulunterricht bis jetzt kaum über den 

*) VgL Sütterlin u. Waag, a. a. O., S. 98. 

*) Vgl. G. Wustmann, Allerband Sprachdummheiten. 3. Aufl. 1903, S. 157. 

*) VgL Wnstmann, a. a. 0., S. 57. 4 ) VgL Wustmann, a. a. 0., S. 106. 


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Bereich der schwarz-gelben Grenzpfähle hinausgedrungen. Dagegen wirkt der 
mundartliche Gebrauch auf dem Gebiete der Präpositionalkonstruktionen sonst 
auch in der Schule öfter fehlerbildend. Verstöße wie außerhalb Deutschland, 
er geht bei seinen Freund st. zu seinem Freund, ohne dem Korb, statt den 
Äpfeln, während dem Kampfe, wegen seinem Fleiß legen Zeugnis dafür ab. 
Der Umstand, daß die meisten Präpositionen vor ihrem Bestimmungswort 
stehen, verführt zu Stellungsfehlern wie entlang dem Rheine, gegenüber 
dem Hause, zufolge einer Nachricht, zuwider seiner Neigung 1 ). — Wie die 
gewohnte Satzstellung beim Aufsagen von Gedichten das Gedächtnis ver¬ 
wirrt, zeigen Vortragsproben wie: und alle die Männer und Frauen umher 
st. alle die Männer umher und die Frauen (Schillers „Taucher“); drauf greift 
der König nach dem Becher schnell st. drauf der König greift nach dem 
Becher schnell (ebenda); auf zum Schwarzwald schwingt sich mein Lied st. 

. . . schwingt mein Lied sich („Gruß an den Schwarzwald“ von Scheffel); 
habt ihr ein Geschäft? st. habt ein Geschäft ihr? (Homers „Odysee“). 

Eine häufige und berechtigte Klage der Lehrer des Deutschen gilt dem 
unbegründeten Tempuswechsel in deutschen Aufsätzen. Es kommt in¬ 
dessen viel seltener vor, daß eine Darstellung in der Gegenwart durch Ver¬ 
gangenheitsformen gestört, als daß umgekehrt eine das Präteritum fordernde 
Erzählung durch Gegenwartsformen unterbrochen wird. Das geschieht in 
Schüleraufsätzen nicht nur in lebhafter Erzählung, sondern auch sonst, und 
zwar weil die Gegenwartsformen dem Schüler geläufiger als die Präterital- 
formen sind. (Ich sage mit Absicht Präteritalformen; denn das zusammen¬ 
gesetzte Perfekt, das in der Umgangssprache — wenigstens in Österreich 
und Süddeutschland — häufiger als das Präteritum (Imperfekt) ist, hat in 
seinem flektierten Teil, dem Hilfszeitwort, ja auch präsentische Form (ich 
habe gegeben, ich bin gegangen). Der Grund dieser Geläufigkeit liegt in 
der größeren Sprachhäufigkeit des Präsens, das nach Lage der Dinge die 
gebräuchlichste aller Zeiten ist. Es bezeichnet nicht nur die Handlungen 
und Zustände der Gegenwart, die den Anlaß zu den meisten sprachlichen 
Äußerungen der Menschen geben, sondern dient auch zur Angabe zeitloser 
Beziehungen (die Bäume gehören zu den Pflanzen). Seine Geläufigkeit gibt 
sich auch darin zu erkennen, daß es oft statt des Futurums gebraucht wird 
(ich komme morgen zu dir, ich warte, bis du kommst), ohne daß dies als 
faUch empfunden würde 2 ). 

Ähnlich ist das zahlenmäßige Verhältnis von Indikativ und Konjunktiv: 
jener ist sprachhäufiger als dieser. Daraus erklärt es sich, daß Schüler mit¬ 
unter in einer Darstellung, die den Konjunktiv erfordert (indirekte Rede), 
diesen durch den Indikativ ersetzen: Dämon sagte, er habe Dionysius töten 
wollen, weil dieser ein Tyrann war. Das Umgekehrte, eine unberechtigte Ver¬ 
tauschung des Indikativs durch den Konjunktiv, ist mir in Schülerheften noch 
nicht begegnet 3 ). 

In ähnlichem Verhältnis der Sprachhäufigkeit stehen Haupt- und Neben- 


*) Man beachte, daß die betr. Präpositionen (von gegenüber abgesehen) im Sprachschätze 
der Schulkinder noch selten Vorkommen. 

*) Vgl. Sütterlin u. Waag, S 94. 

3 I Wust mann a. a. 0. S. 140 gibt wohl Beispiele dieser Art von Erwachsenen an, bemerkt 
aber dabei, daß Fälle dieser Art selten seien. Um so öfter, meint er, werde der entgegen¬ 
gesetzte Fehler begangen, und er führt zahlreiche Belege dafür an: S. 141 ff., 149ff., ]53f. 


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Wesen und Arten der Fehler 


95 


satz zueinander. Der Hauptsatz ist nach Lage der Dinge die meist ge¬ 
brauchte Satzform *), ganz besonders bei der Jugend schulpflichtigen Alters. 
Daraus erklären sich falsche Satzgebilde wie dieses: Alle zwei Jahre feierten 
die Griechen auf der Landenge von Korinth ein Fest, bei dem Kampfspiele 
stattfanden, Theaterstücke aufgeführt wurden und die Sänger trugen ihre 
Lieder vor. Während hier der Rückfall in die geläufigere Hauptsatzstellung 
klar zutage liegt, ist in den folgenden Sätzen zwar die Satzstellung des 
Nebensatzes (Prädikat am Ende) bewahrt, das Relativpronomen dagegen 
durch Fürwörter anderer Art ersetzt worden: Das Bild, das der Maler ge¬ 
malt und damit großen Beifall gefunden hat (st. und mit dem er .. .); Perikies, 
den die Athener für den ersten Mann der Stadt hielten und ihm (st. und 
dem sie) die Regierung des Staates überließen . 2 ) Man sieht, diese Fehler 
kommen in mehrgliederigen Nebensätzen vor. Der erste Nebensatz gerät 
gewöhnlich richtig, erst beim zweiten oder folgenden Nebensatze fällt der 
Schüler aus der Konstruktion. Warum? Weil die eingliederigen Nebensätze 
wieder sprachhäufiger, also geläufiger sind als die mehrgliederigen. Jede 
neue Erweiterung des Satzgefüges erschwert die Satzbildung und verstärkt 
bei den Unfertigen die Neigung, mit den meist gewohnten Mitteln das weniger 
Gewohnte zu bewältigen. So erklären sich fehlerhafte Satzbildungen, wie:« 
Neben ihm steht das Roß, auf welches er seinen Begleiter festgebunden hat 
und ihn mit der einen Hand festhält oder: Das Schwert, das in der Brust 
des Jünglings steckt und aus der Blut rieselt, wo scheinbar Gleichartiges 
(Nebensätze verschiedenen Grades) mechanisch mit dem beiordnenden und 
aneinandergereiht werden 3 ). 

Im fremdsprachlichen Unterricht begegnen grammatische Fehler auf 
der Grundlage der Geläufigkeit in reicher Fülle. Drei uns schon bekannte 
Quellen bilden auch hier die Führer in falsche Bahnen: das früher Gelernte, 
das öfter Wiederholte und die an Wiederholungen besonders reiche mutter¬ 
sprachliche Ausdrucksweise. Wenn im Gebiet der französischen Dekli¬ 
nation Schüler mit Auslassung des Plural-s les champ, les femme, les rose 
schreiben, so rührt das vornehmlich daher, daß die Singularform bei den 
meisten Wörtern nicht nur gebräuchlicher, sondern auch als die Grundform 
im Wörterbuch verzeichnet und vom Schüler zuerst gelernt worden ist. 
Fehlerfördernd kommt allerdings noch hinzu, daß das Plural-s in der 
häufigeren mündlichen Rede, von der Bindung abgesehen, überhaupt nicht 
in Erscheinung tritt. Im Englischen wird nach meiner Erfahrung das Plural-s, 
da es gesprochen wird (books, boxes), in der Schreibung viel seltener 
vergessen. Dagegen ist im Französischen s als Pluralzeichen wieder häufiger 
denn jr, und das macht Fehler wie les corbeaus st. corbeaux, les jeus st. jeux, 
les genous st. genoux verständlich. — Schreibungen wie cets hommes st. 
ces hommes sind aus derselben psychischen Wurzel zu erklären, da der. Fall 
des Ausstoßens eines zum Wortstamm gehörigen Buchstabens im Französischen 
viel seltener ist als die .bloße Anhängung eines s. 

Im Englischen zeigt sich der beherrschende Einfluß einer einmal ge¬ 
lernten Grundform in falschen Pluralbildungen wie brushs st. brushes von 

*) Kein Nebensatz kommt obne Hauptsatz vor, wohl aber viele Hauptsätze ohne Nebensätze. 

*) Beispiele aus Vookeradt, Praktische Ratschläge für die Anfertigung des deutschen Auf- 
*»ties für obere Klassen. ’ 

*) Beispiele aus Th. Matthias, Aufsatzsiinden. 


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brush, calfs st. calves von calf, cattles st cattle, feets st feet von foot, mouses 
st. mice von mouse, seamans st. seamen von seaman , ferner in falscher Bil¬ 
dung von Ordnungszahlen wie nineth st. ninth von nine, twenty-twoth st 
twenty-second von fwenty-two. Falsche Ableitungen wie fivteen st. fifteen 
von five, fourty st. forty von four gehören ebenfalls hierher. 

Auch Konjugationsfehler auf der Grundlage der größeren Sprachhäufig- 
keit sind im fremdsprachlichen Unterricht nicht selten. Im Französischen 
machen sich die zuerst eingeprägten und häufig vorkommenden regelmäßigen 
Konjugationen in zahlreichen Falschbildungen unregelmäßiger Verben geltend: 
oous allerez st. irez, il envoiera st. enverra, ils conquerirent st conquirent, 
on courit st. courut, vorn disez st. vous dites, faisez-vous? st faites-vom?, 
nous mourirons st mourrons, venira-t-il? st. viendra-t-il? il oivit st vecut, 
voulez st veüillez. Die sprachhäufigsten Endungen der 1. Konjugation 
drängen sich im Gedächtnis der Schüler besonders vor: ils battirent st 
battin nt, il connaissa st connut, il ecrivera st. öcrira, il faisa st fit, il mente 
st. ment, tu vendes st vends. — Im Englischen zeigt sich der Einfluß der 
Sprachhäufigkeit und der Grundform in Falschbildungen der 3. Sing. Ind. 
Praes.: he shut st. shuts, she wish st. wishes und umgekehrt he cans st. 
cait, ferner im Vergessen orthographisch notwendiger Veränderungen cuting 
st. cutting von to cut, dieing st. dying von io die, they carryed st. carried 
von to carry, he gos st. goes von to go, prefered st. preferred von to prefer. 
Auf dem Gebiete der Präteritalbildung verleitet der Einfluß der sprach- 
häufigeren schwachen Endung -ed zu Fehlern wie: we catched st caught von 
to catch, they choosed st. chose von to choose, eated st. eaten von to eat, 
they feeled st. feit von to feel, he makea st made von to mähe, swimmed 
st. swum von to swim. Sehr oft macht sich auf dem Gebiete der Konju¬ 
gation der irreführende Einfluß der den Schülern geläufigen Muttersprache 
geltend. Man sieht es an Fehlem wie im Englischen: brake (brach) st. 
brohe, he commes (kommt) st. comes, fand (fand) st. found, ritten (geritten) 
st. ridden, sleepen (geschlafen) st slept, sught (suchte) st. sought , sunken 
(gesunken) st sunk; im Französischen: il est couru (er ist gelaufen) 
st. a couru, il s’a döfendu (er hat sich verteidigt) st. s'est difendu, il est noye 
(er ist ertrunken) st. s’est noye, le soleil leoe, le s. couche (die Sonne geht 
auf, geht unter) st. le sol. se leve, se couche, il se craint (er-fürchtet sich) 
st il a peur. 

Doch die Hauptmasse fremdsprachlicher Fehlerbildung nach Analogie der 
geläufigen muttersprachlichen Redeweise begegnet uns im Bereich der Satz¬ 
lehre. Konstruktionen wie: il lui est. reussi (es ist ihm gelungen) st il 
a reussi, ils se trouoent des gens (es finden sich Leute) st il se trouoe des 
gens, il a rencontri ä son ami (er ist seinem Freunde begegnet) st. il a r. 
son ami, il demanda Vofficier (er fragte den Offizier) st. ä Voffider, on le 
fit lire la lettre (man ließ ihn den Brief lesen) st. on lui fit ..., Ouillaume 
I er fut proclame comme empereur (. ... wurde zum Kaiser ausgerufen) st. 
.. . proclame empereur, il aime jouer le piano (er spielt gerne Klavier) st. 
. . .jouer du piano bilden einige Proben aus dem Gebiete der französischen 
Verbalrektion. Ihnen entsprechen etwa folgende Fehler aus dem eng¬ 
lischen Unterricht: I can my lesson (ich kann meine Aufgabe) st I know 
m. I., if they had could seen (wenn sie hätten sehen können) st. if they conld 
haue seen, Augustine should go to the King of Kent (Augustin sollte gehen ...) 


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Wegen und Arten der Fehler 


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st A was told to go ..do always aa it is told to you (. .. wie dir gesagt 
wird) st ... as you are told, they obeyed to this Order (sie gehorchten diesem 
Befehl) st ... ob. this order, people thougt him high (man schätzte ihn hoch) 
st ... th. high of him, such a hing was deemed for impossible (wurde für 
unmöglich gehalten) st. w. d. impossible, it succeeded him to defeat the 
Danes (es gelang ihm die D. zu besiegen) st ... he s. in defeating the D. — 
Die sklavische Nachahmung der geläufigen^ deutschen Ausdrucksweise zeigt 
sich auch in falschen Zeit- und Modusbildungen: Französisch: il me de- 
tnanda si je vinsse (... ob ich käme) st. ... si je viendrais, les Frangais 
eraignirent que les Aüemands conquirent leur capitale (daß die Deutschen 
ihre Stadt eroberten) st. que l. A. ne prissent l. c., je veux que tu viens (daß 
du kommst) st. que tu viennes, on presse le raisin avant que la fermentation 
est complete (bevor die Gärung zu Ende ist) st. avant que l. f. soit c., 
Louis IX fut le meilleur roi que la France a jamais eu (den Fr. je gehabt 
hat) st que l. Fr. ait j. eu, je ne sais pas que je dois faire (was ich tun soll) 
st je n. 8. p. que faire, le colonel envoya des soldats, ä chercher du bois 
(Holz zu holen) st. ... envoya d. s. chercher du b. — Englisch: yesterday 
my friend has told me (gestern hat mein Fr. mir gesagt) st. y. m. fr. told 
me, how long are you here? (wie lange bist du hier?) st. h. I. have you 
been here? the man asked him how old he were (wie alt er wäre) st. how 
old he was, the Pope bade him to improve their heathen custm os (... befahl 
ihm ihre heidnischen Sitten zu verbessern) st. .. . bade him improve th. h. c. 

kn Bereiche der Lehre von den Hauptwörtern erwachsen auf dieser 
Grandlage falsche Geschlechtsbildungen. Französisch: la chdne (die 
Eiche) st. le ch., la cigare st. le cigare, la Danube (die Donau) st le D., le 
conduite (das Betragen) st la c. Im Englischen läßt das Vordrängen der 
entsprechenden deutschen Formen die einfache Geschlechtsregel, daß Sachen 
sächlich sind, vergessen: where is my sponge (Schwamm)? there he is st 
there it is. — Im Gebrauch der Länder- und Ortsnamen und ihrer Ab¬ 
leitungen ist die deutsche Ausdrucksweise ausschlaggebend für Übersetzungen 
wie: Allemagne (Deutschland) st. VAllemagne, la ville New York (die Stadt 
New York) st la v. de N. Y. — the Turkey (die Türkei) st. Turkey ohne 
Artikel, he was German by birth (er war Deutscher von Geburt) st. h. w. a 
German b. b. — Ähnliche Fehler kommen sonst bei Substantiven vor. Fran¬ 
zösisch: vers sud-ouest st vers le sud-ouest, on mangepain (man ißt Brot) 
st o. m. du pain, beaucoups soldats st. beaucoup de s. — Englisch: to- 
mrds north (gegen Norden) st. towards the n., the King Alfred (der König 
Alfred) st. King Alfred, after the breakfast (nach dem Frühstück) st. a. break¬ 
fast, he became Student (er wurde Student) st h. b. a Student, Augustine 
was sent as missionary (... wurde als M. gesandt) st. A.. w. s. as am. — 
Das Adverb nimmt wie im Deutschen öfter die Gestalt des Adjektivs an. 
Französisch: un homme qui parle mauvais de ses bienfaiteurs (der Übel 
von seinen Wohltätern spricht) st qui p. mal ...., je vois clair qu'on 
nou8 a trompes (ich sehe klar . . .) st. je vois clairement . . . Englisch: 
most comfortable we sat in our chairs . . . (höchst bequem) st most com- 
fortablg . . ., they were warm received (warm empfangen) st. warmly r. — 
Das Adjektiv selbst wird im Französischen in prädikativer Stellung nach 
deutscher Gewohnheit imverändert gebraucht: to vie est dur st. dure, cette 
statue est beau st belle, les soldats furent brave st. braves. Im Englischen 

Zeitschrift 1 pldagog. Psychologie. 7 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


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wird das stellvertretende one beim attributiven Adjektiv vergessen, da der 
deutsche Sprachgebrauch keine analoge Bildung kennt: mag I have another 
pen? J have an old st. an old one. — Hinsichtlich der Stellung des Adjektivs 
folgen Schiller bisweilen auch der ihnen geläufigen deutschen Ausdrucks¬ 
weise: franz. les grecs guerriers st. les g. grecs; engl.: the both horses st. 
both the h., a half hour st. half an hour, the Lost Paradise st. Paradise Lost. 

Überhaupt bildet die Wortstellung ein weites Feld für Entgleisungen, die durch 
die muttersprachlicbe Gewohnheit veranlaßt sind. So im Französischen: apres 
le travail rentrent les eleves ä la maison (kehren die Schüler) st. . . . les 
Cleves rentrent . . ., Charles-Quint donna au duc Maurice la Saxe st. donna 
la Saxe a. d. M., Goethe naquit en 1749 ä Francfort st. ä Fr. en 1749, vous 
n’avez pas vous ddfendus (habt euch nicht v.) st. vous ne vous etes pas 
dif., le reste des pommes de terre il vendit (den Rest . . . verkaufte er) st. 
il vendit le reste . . ., quelle tribu germanique a vaincue Charlemagne 
(welchen g. Stamm hat K. d. Gr. besiegt) st. quelle tr. g. Ch. a-t-il vaincue, 
il me demande quel mon nom dtait (welches mein Name wäre) st. quel 
etait m. n. Im Englischen: after the discoverg of America became the 
Spaniards . .. (wurden die Spanier) st. ... the Spaniards became ..., when 
he of his arrival heard (als er von seiner Ankunft hörte) st. wh. he heard 
of h. a., there has he a house (dort hat er ein Haus) st. there he has a. h., 
he paid the Citg a visit (stattete der Altstadt einen Besuch ab) st. paid a 
visit to the C., what told theg to him? st. what did theg teil him?, theg 
got about twelve to Barnet (gelangten um 12 Uhr nach B.) st. ... got to *B. 
about t. — 


Über Motive der Berufswahl und des Berufswechsels. 

Von Annelies Argeiander. 

(Schluß.) 

5. Die neue Berufswahl. Sämtliche von uns befragte Jugendliche standen 
also vor der Notwendigkeit, sich eine neue Arbeitsgelegenheit zu suchen, 
wenn nicht gar einen neuen Beruf zu ergreifen, veranlaßt durch den Arbeits¬ 
mangel in verschiedenen Industriezweigen und die Umstellung des Wirtschafts¬ 
lebens in der Nachkriegszeit. Es ist zu erwarten, daß die neue Berufswahl 
durch diese Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt beeinflußt wurde. So gibt 
ein Teil der Jugendlichen (9 Fälle) spezielle Berufswünsche gar nicht an, 
sondern erklärt, jeden Beruf ergreifen zu wollen, der sich ihnen bietet. Mit¬ 
bedingt mag diese Antwort sein durch die Tatsache, daß die jugendlichen 
Arbeitslosen verpflichtet waren, jede Stelle anzunehmen, die sich ihnen bot. 
Ein anderer Ausdruck für dieselbe Gleichgültigkeit dem neuen Beruf gegenüber 
ist es wohl nur, wenn 4 weitere Personen als Berufswunsch „Tagelöhner“ 
und 2 andere. „nichts mehr lernen“ zu wollen (also imgelernte Arbeit) 
angeben. Unter den übrigen Berufswünscben stehen wieder die technischen 
Berufe an erster Stelle, 5 Personen wollen Schlosser werden, 8 Elektrotechniker, 
3 Mechaniker, 2 Maschinentechniker, 1 Fahrradmechaniker, die übrigen Fälle 
verteilen sich auf 1 Bäcker, 1 Metzger, 1 Fuhrmann, 1 Buchbinder, 1 Ver¬ 
käufer, 1 Installateur, 1 Dreher, 1 Maschinensetzer, 1 Maurer, 1 Bahnarbeiter, 


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Annettes Argeiander, Ober Uotive der Berufswahl und des Berufswechsels 


9 » 


1 Hafenarbeiter, 1 Heizer und 1 Schornsteinfeger. Oie ungelernte Arbeit 
nimmt also bei den neuen Berufswünschen einen beträchtlichen Raum ein, 
etwa 18—20 Fälle unter 42 männlichen Jugendlichen, d. i. 43—48°/o. Be¬ 
gründet wird wohl dieser Verzicht auf einen gelernten Beruf neben dem 
Zwang, Geld zu verdienen, und den unsicheren wirtschaftlichen Verhältnissen 
auch durch die Tatsache sein, daß ein großer Teil dieser Jugendlichen bereits 
weit über das Alter hinaus war, in welchem sonst die Lehrzeit begonnen 
wird, und daß ihnen der Gedanke, noch einmal ganz von vorn anfangen zu 
müssen, unangenehm war. 

Ein Grund für die Wahl des neuen Berufes wird von 10 Personen nicht 
angegeben, und zwar sind dies überwiegend solche der oben beschriebenen 
Fälle, wo ein bestimmter Berufswunsch nicht geäußert wurde. 8 Personen 
bezeichnen als Grund den Zwang, Geld zu verdienen, daneben wird je einmal 
angegeben: „keine andere Neigung“, „wegen der Vorteile“, „will nichts 
mehr lernen“, „weil kein Beruf erlernt“. Nur 13 Personen der männlichen 
Gruppe wählen den neuen Beruf aus „Vorliebe* (öfters ist es der bereits 
gelernte Beruf, der wieder gewünscht wird), 3 ihres weiteren Fortkommens 
wegen, 2 weil sie eingearbeitet sind und 2 weil ihnen der gewünschte Beruf 
«interessant“ ist 

Die weiblichen Jugendlichen scheinen mehr Mut zu haben, einen neuen 
Beruf zu lernen; wenn auch 6 von den 23 Personen Fabrikarbeit annehmen 
wollen und eine „nicht weiß“, was für einen Beruf sie wählen soll, so wird 
doch in 6 Fällen die Absicht gezeigt, Näherin zu werden; daneben wird 
gewünscht 2 mal Verkäuferin, 3 mal Haushalt lernen, 2 mal Büro und je 1 mal 
Stickerin, Friseuse, Magazinbeamtin und Sängerin. Trotzdem die weiblichen 
Personen weniger nach ungelernter Arbeit suchen, ist der Erwerbsgrund bei 
den Mädchen noch stärker maßgebend als bei den männlichen Jugendlichen. 
Geld verdienen wird unter den 23 Fällen als Motiv 7 mal angegeben, außerdem 
aber 9 mal Vorliebe, 2 mal weil man es später brauchen kann (nämlich die 
Haushaltsführung), 2 mal weil kein Beruf erlernt ist, 2 mal weil die erste 
Stelle besetzt ist oder keine Aussicht auf eine'neue Stelle besteht, lmal 
fehlt die Angabe des Grundes. 

War schon die erste Berufswahl stark beeinflußt durch die ungünstigen 
Verhältnisse der Kriegszeit, so ist die Wahl des neuen Berufes noch mehr 
abhängig vom Erwerbsinteresse. Trotzdem ist jedoch von einer nicht geringen 
Zahl von Personen ein gelernter Beruf gewünscht worden, teils der bereits 
erlernte, teils ein neuer, und es ist hier von besonderem Interesse festzustellen, 
welche Motive im einzelnen für die Berufswahl maßgebend waren, soweit 
eben nicht diese neue Wahl aus Resignation geschah. Besonders ist nachzu¬ 
forschen, inwieweit die neue Berufswahl abhängig ist von dem bereits ge¬ 
lernten Beruf oder andrerseits vom Kinderwunsch. 

Der bereits innegebabte Beruf wird unter den 42 männlichen Jugendlichen 
20 mal wieder als neuer Beruf gewünscht, und zwar handelt es sich hierbei 
teils um gelernte Berufe (3 Mechaniker, 3 Schlosser, 1 Heizer, Maurer, 
Installateur, Fuhrmann, Buchbinder, Dreher, Setzer, Maschinentechniker), teils 
um Tagelöhnerarbeit (6 Fälle). Als Grund für die Wiederwahl wird angegeben 
8mal Vorliebe oder Lust, 5mal Verdienst, 2mal weil eingearbeitet, lmal des 
weiteren Fortkommens wegen und 2mal weil kein Beruf erlernt ist; 2mal 
fehlt die Angabe eines Grundes. 

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Annelies Arge]ander 


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Auch von den weiblichen Personen wählt eine Anzahl, nämlich 10, den 
früheren Beruf wieder, darunter sind aber 6 Fälle ungelernter Arbeit Von 
diesen wird als Grund für die Wahl der Verdienst angegeben, während die 
übrigen 4 Personen teils Vorliebe für diesen Beruf angeben, teils die Tatsache, 
daß kein anderer Beruf erlernt sei. 

Neben diesem Entschluß, den bereits erlernten Beruf wieder zu ergreifen, 
besteht noch ein zweiter Weg, nämlich das Streben, den Kindheitswunsch, von 
dem wir sahen, daß er der ungünstigen Kriegsverhältnisse wegen oft nicht 
verwirklicht werden konnte, nunmehr durchzuführen. Bei der männlichen 
Gruppe kommt dieser Fall verhältnismäßig selten vor, nur 3 mal, und zwar 
handelt es sich um die Berufe Schlosser, Maschinenschlosser und Elektro¬ 
techniker. öfters (6 mal) wird bei der Gruppe der weiblichen Arbeitslosen 
der Kindheitswunsch (Verkäuferin, Stickerin, Näherin, Büro) wieder aktuell, 
was wohl damit zusammenhängt, daß ein größerer Teil der weiblichen Jugend¬ 
lichen ungelernte Arbeit tun mußte. Als Grund für die Wiederaufnahme 
des Kinderwunsches wird vor allem angegeben: Lieblingswunsch oder Vorliebe 
(7 mal), ferner „um etwas zu können“ und „um Geld zu verdienen“; also zum 
überwiegenden Teil Neigung zu einem bestimmten Beruf. 

Die übrigen Berufswünsche beziehen sich auf neue Berufe, die weder mit 
dem Kindheitswunsch noch mit dem erlernten Beruf identisch sind. Welche 
Motive für die Entscheidung maßgebend waren, wird zum Teil im nächsten 
Abschnitt ersichtlich, wenn wir den neuen Beruf mit dem Berufsideal 
vergleichen. 

6. Das Berufsideal. Wie schon in der Einleitung gesagt wurde, lautete 
die Frage nach dem Berufsideal: Welchen Beruf würden sie bei freier Wahl 
ergreifen?, und diese Fragestellung hat vielleicht in den jugendlichen Arbeits¬ 
losen nicht genügend die Voraussetzung wirtschaftlicher Unabhängigkeit bei 
der Wahl des Idealberufs hervorgerufen. So nur läßt es sich erklären, daß 
von Berufsidealen, die über das soziale Milieu hinausreichen, nur sehr selten 
die Rede ist 

Wenn man abBieht von ‘ dem etwas kindischen Wunsch, „Millionär“ zu 
werden, so lassen eine stärkere Phantasie in ihrem Berufsideal nur 5 Fälle 
der männlichen Gruppe durchblicken, die Jugendlichen nämlich, die Matrose, 
Volkswehrmann, Opernsänger, Photograph und Maler werden wollen. Ob unter 
Maler wirklich Kunstmaler, oder nicht etwa der leichter realisierbare Beruf 
des Dekorationsmalers gemeint ist, läßt sich aus dem Fragebogen nicht er¬ 
sehen. Unter den übrigen 37 Jugendlichen fungiert als Berufsideal 6 mal 
Schlosser, 4 mal Elektromonteur, 3 mal Mechaniker, 2 mal Tagelöhner und je 
1 mal „weitere Ausbildung“, Kaufmann, Bäcker, Metzger, Schuhmacher, Fuhr¬ 
mann, Installateur, Maschinenschlosser, Maschinensetzer, Techniker, Dreher, 
Isolierer, Maurer, Bahnarbeiter, Heizer, Straßenkehrer, Hafenarbeiter, außerdem 
fehlt 3 mal die Angabe des Ideals. Die technischen Berufe sind, wie man 
sieht, auch unter den Berufsidealen stark vertreten, andrerseits treten aber 
auch eine Reihe ungelernter Berufe auf, Fälle, von denen man nicht sagen 
kann, ob es sich vielleicht um Jugendliche handelt, denen die wechselnde 
Beschäftigung des Tagelöhners wirklich Ideal ist, oder ob die Frage nicht 
richtig aufgefaßt wurde. Daß letzterer Fall vorgekommen ist, geht aus den 
Gründen hervor, die von den Jugendlichen für die Wahl dieses Ideals an¬ 
gegeben wurden, denn es kommt darunter 2 mal die Antwort vor „weil kein 


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I 


Ober Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 


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anderer Beruf erlernt“ und 2 mal „weil eingearbeitet“. Unter den sonstigen 
Motiven nimmt „Vorliebe“ den breitesten Raum ein (25 FSlle), „hoher Ver¬ 
dienst“ Wird nur 2 mal angegeben, daneben finden sich noch Antworten, die 
zum Teil auch als Vorliebe zu betrachten sind, nämlich 2 mal „Talent“, lmal 
„um die Welt zu sehen“ (der Matrose), „große Zukunft“, „leichte Arbeit», 
„keine Sorge“ (Millionär) und 5 mal fehlt die Angabe. 

Unter den weiblichen Jugendlichen wird als Ideal 6 mal der Beruf der 
Näherin genannt, 3 mal Verkäuferin, 2 mal Büro, 3 mal Arbeiterin und je 
lmal Druckerei, Sängerin, Stickerin, Haushalt, Friseuse, Magazinbeamtin, 
Theater und Krankenpflege. Nur die beiden letzten Fälle lassen sich als 
Idealberufe im engeren Sinn ansprechen, der des jungen Mädchens, das zum 
Theater will, und ebenso des andern, das sich der Krankenpflege widmen will, 
da in diesem Fall die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse den Wunsch 
ziemlich undurchführbar erscheinen lassen. Der Fall der Sängerin gehört 
dagegen nicht dazu, da es sich um die Tochter einer Artistenfamilie handelt 
und das Mädchen bereits als Sängerin auf Jahrmärkten usw. aufgetreten ist. 
Unter den Motiven Bteht auch bei der weiblichen Gruppe Vorliebe mit 13 
Fällen an erster Stelle, etwa in gleichem Verhältnis wie bei der männlichen 
Gruppe. Auch hier wird in zwei Fällen als Grund angegeben, daß die be¬ 
treffende Person an den Beruf „gewöhnt“ sei, was auf falsche Auffassung 
der Frage schließen läßt Das Verdienstmotiv kommt 3 mal vor, davon 2 mal 
mit der Begründung, „um die Eltern zu unterstützen“. Außerdem wird noch 
als Grund angegeben: lmal „bestes Geschick“, lmal „um am besten durchs 
Leben zu kommen“, lmal „das braucht man“ (das Haushaltführen) und 
lmal weil eine Schwester im selben Beruf tätig ist. 

7. Zur Psychologie der Berufswahl. In welcher Beziehung der Ideal¬ 
beruf zu Kindheitswunsch, erstem Beruf und neuem Beruf steht und in 
welcher Weise im Verlauf der einzelnen Berufsschicksale sich typische Bilder 
erkennen lassen, wird am besten aus der folgenden Gruppierung der Fälle 
hervorgehen. 

Wir können nämlich in der Mannigfaltigkeit der 65 einzelnen Fälle nach 
den Beziehungen zwischen Kindheitswunsch, erstem Beruf, neuem Beruf und 
Berufsideal und nach den Motiven, die vor allem für die neue Wahl auftreten, 
3 größere Gruppen unterscheiden. Die eine dieser Gruppen scheint in ihrer Wahl 
vor allem durch die Neigung zu einem bestimmten Berufsideal bestimmt 
za werden und versucht mehr oder weniger hartnäckig, wenn es das erste 
Mal fehlgeschlagen ist, diesen Beruf nunmehr zu ergreifen. Die zweite Gruppe 
wird zu dieser neuen Wahl nicht aus ursprünglicher Neigung zu einer 
speziellen Tätigkeit bestimmt — diese hatte vielmehr einem anderen Beruf 
gegolten —, sondern sie hat sich an den ihr vielleicht aufgezwungenen Beruf 
gewöhnt, so sehr sogar, daß er nunmehr an die Stelle des früheren kind¬ 
lichen Berufsideals getreten ist Die dritte Gruppe wird in ihrer Wahl weder 
von einem bestimmten Ideal, noch von der Gewöhnung an den innegehabten 
Beruf geleitet, bei ihr sind ausschlaggebend wirtschaftliche Interessen, 
wobei der Beruf nur Mittel zum Zweck ist. 

In die erste Hauptgruppe, die durch eine bestimmte Neigung in ihrer Berufs¬ 
wahl geleitet wird, gehören 30 Fälle (18 männliche und 12 weibliche Personen). 
Die 30 Fälle lassen sich wieder nach gemeinsamen engeren Merkmalen in 
ihrer Berufsbahn zu kleineren Untergruppen zusammenfassen. Zuerst eine 


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Annelies Argeiander 


solche von 10 Personen (7 männliche und 3 weibliche), die darin überein- 
• stimmen, daß sie den Beruf, den sie sich als Kind gewünscht haben, auch 

tatsächlich ergreifen konnten. Als Grund für diese erste Berufswahl wurde 
in 7 Fällen Vorliebe angegeben, in 2 Fällen Eignung oder Talent und in 
f Fall der Wunsch, Geld zu verdienen. Die Berufe sind nicht so bescheiden 
gewählt, daß sie unter allen Umständen erreicht werden mußten: es sind 
2 Mechaniker, 1 Schlosser, 1 Installateur, 1 Maurer, 1 Schiffer und 1 Fuhr¬ 
mann. Die Erfüllung des Berufswunsches scheint auch nicht durch besonders 
günstige materielle Verhältnisse der Familie erleichtert gewesen zu sein, denn 
die soziale Stellung der Väter ist zwar bei der einen Hälfte etwas gehoben 
(Wagemeister an der Bahn, Metzger, Messerschmied, Meister(?), Straßenbahn¬ 
schaffner), bei der anderen Hälfte aber, wie anzunehmen ist, unter dem 
Durchschnittsniveau (Artist, Schiffsheizer, 2 Tagelöhner, 1 Invalide). Auch 
sind die Personen dieser Gruppe nicht etwa einzige Kinder; die Geschwister¬ 
zahl beträgt in 1 Fall 1, 1 mal 2, 2 mal 3, 2 mal 4, lmal 7, lmal 8, lmal 9, 
lmal fehlt die Angabe. Man darf deshalb vielleicht annehmen, daß ein 
starker Wunsch, gerade diesen Beruf zu erlernen, rege gewesen ist und dahin 
gewirkt hat, das Ziel zu erreichen. Alle diese Personen wollen nun auch 
nach der Arbeitslosigkeit den früheren Beruf wieder ergreifen: in 6 Fällen, 
weil sie Lust daran haben, 2mal wegen des Verdienstes und lmal wegen 
der Vorteile, die der Beruf ihnen bietet. Einmal fehlt die Angabe eines 
Grundes, doch war bei der ersten Wahl dieses Berufes Vorliebe angegeben 
worden, so daß man bei der Neuwahl wohl dasselbe Motiv annehmen darf. 
Schließlich ist bei allen 10 Personen der gelernte und wiedergewünschte Beruf 
auch das Berufsideal, — wobei das Ideal mit all den Vorbehalten zu ver¬ 
stehen ist, die wir in der Einleitung gemacht haben —, so daß bei diesen 
Fällen Kindheitswunsch, erster Beruf, neuer Beruf und Idealberuf identisch 
sind. Den Personen dieser Gruppe haben sich also anscheinend bei ihrer 
Berufswahl keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg gestellt, wobei 
vielleicht die starke Neigung zu dieser Berufsarbeit dazu beigetragen hat, 
etwaige Schwierigkeiten zu überwinden. Auch während der beruflichen Arbeit 
sind sie sich in der Wertschätzung ihres Berufes gleichgeblieben. 

Nicht so glücklich in ihrer Berufswahl waren die 9 Fälle, die die nächste 
Untergruppe bilden. Auch hier lagen ganz bestimmte Berufswünsche in 
der Kindheit bereits vor (Elektr. Fach, Maschinenschlosser, Schlosser, 2 mal 
Verkäuferin, 2 mal Näherin, Stickerin, Büro); die Jugendlichen waren aber 
nicht *in der Lage, ihren Wunsch erfüllt zu sehen, sondern mußten Ersatz¬ 
berufe (in 6 Fällen imgelernte Arbeit) ergreifen. Bemerkenswert ist, daß sich 
unter den 9 Fällen dieser Gruppe 6 weibliche Personen befinden. Die Schuld 
an dem Fehlschlagen ihres Wunsches scheinen in der Hauptsache die Kriegs¬ 
verhältnisse zu tragen, denn als Grund für die Ersatzwahl wird in 5 Fällen 
der Zwang zum Verdienen angegeben, 2 mal konnte keine entsprechende 
Lehrstelle gefunden werden und 2 mal mußten die Mädchen zu Hause teils 
Hausarbeit tun, weil die Mutter auf Arbeit ging, teils dem Vater (Schneider) 
helfen. Sämtliche 9 Personen haben sich indessen durch das Fehlschlagen 
ihrer Hoffnung nicht entmutigen lassen, sie wollen vielmehr versuchen, nach 
der Arbeitslosigkeit den schon in der Kindheit gewünschten Beruf zu er¬ 
greifen, wobei in 6 Fällen als Grund Vorliebe angegeben wird, 1 mal um 
etwas zu können, 1 mal um Geld zu verdienen und 1 mal weil die erste 


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Ober Motive der Berufswahl und des Berufswechsels 103 


Stelle besetzt ist, was wohl nur erklären soll, warum der ungelernte Beruf 
(Kleberin) nicht wieder ergriffen wird. In 6 von diesen 7 Fällen (1 Fall gibt 
kein Ideal an) ist wiederum der in der Kindheit gewünschte und jetzt wieder 
gesuchte Beruf Ideal geblieben, begründet in der Hauptsache mit Vorliebe. 
Der Drang nach Verwirklichung des bereits in der Kindheit erstrebten Be* 
rufes ist also bei allen Personen dieser Gruppe so stark, daß sie sich durch 
den Zwang zu ungelernter oder wenigstens nicht gewünschter Arbeit nicht 
haben entmutigen lassen. 

Schließlich gehören zu dieser unter dem Gesichtspunkt der Neigung zu 
einem bestimmten Beruf zusammengefaßten Gruppe noch weitere 11 Fälle, die 
sich aber von den beiden vorigen Untergruppen wesentlich dadurch unter¬ 
scheiden, daß der neue Beruf nicht mit dem ersten Beruf oder dem Kindheits¬ 
wunsch übereinstimmt. Bei ihnen hat sich eine bestimmte Neigung anscheinend 
erst während der beruflichen Arbeit entwickelt und zwar bei 4 Fällen trotz¬ 
dem die erste Berufswahl dem KindheitBwunsch entsprach. Bei den anderen 
7 Fällen war der Kindheitswunsch nicht in Erfüllung gegangen; diese Per¬ 
sonen mußten mit 2 Ausnahmen ungelernte Arbeit tun. Gemeinsam ist allen 
11 Fällen jedoch, daß der neuerstrebte Beruf (mit 2 Ausnahmen sind es ge¬ 
lernte Berufe) auch als Berufsideal angegeben wird. Die Gründe, die für 
diese Wahl angegeben werden, sind in 8 Fällen Lust, Vorliebe oder Interesse, 
in den 3 anderen Fällen des späteren Fortkommens wegen, weil man es 
später brauchen kann (Haushalt) und um Geld zu verdienen. 

Neben dieser ersten Hauptgruppe, die die Fälle umschließt, die mehr oder 
weniger hartnäckig bei ihrer Berufswahl sich von einem Berufsideal leiten 
lassen, finden wir eine zweite Hauptgruppe von 18 Fällen, deren Gemeinsam¬ 
keit darin hegt, daß die Gewöhnung an den ersten Beruf, auch wenn dieser 
dem eigenen Wunsch nicht entsprach, maßgebend war für die Wiederwahl 
and sogar teilweise den ergriffenen Beruf zum Berufsideal machte. Letzteres 
ist der Fall bei den 9 Jugendlichen, bei denen der erste Beruf, der ohne 
Ausnahme ergriffen wurde aus Not oder um Geld zu verdienen oder weil 
keine Stelle in dem gewünschten Beruf zu bekommen war, zum Berufsideal 
wird. Zuxn Teil sind diese Ersatzberufe gelernte Berufe (Buchbinder, Dreher, 
Maschinensetzer), zum größeren Teil ungelernte Arbeit (1 Fall in der männ¬ 
lichen Gruppe und sämtliche 5 weiblichen Personen). Ein Grund für die 
Wiederwahl des früheren Berufes wird in 3 Fällen nicht angegeben; von den 
übrigen 6 Personen geben 2 Fabrikarbeiterinnen an, daß sie eben keinen Be¬ 
ruf erlernt hätten, 1 Jugendlicher, daß er eingearbeitet sei, 1 wegen des Ver¬ 
dienstes, 1 wegen des weiteren Fortkommens und 1 Mädchen, weil ihr der 
Beruf (Magazinbeamtin) gefalle. Bei der Begründung des Berufsideals läßt 
sich vermuten, daß hier eben die Frage nach dem Ideal nicht ganz richtig 
aufgefaßt worden sei, da Lust oder Interesse an dem Beruf nur 3 mal an¬ 
gegeben wird und zwar von einem Dreher, einer Magazinbeamtin und einer 
Fabrikarbeiterin. Dagegen findet sich 2 mal als Antwort „daran gewöhnt", 
1 mal „zu spät, um einen Beruf zu erlernen" (von einem Taglöhner), 1 mal 
„zufrieden" und 1 mal „wegen des hohen Verdienstes". 

Hat sich bei den oben beschriebenen 9 Personen die Anpassung an den 
Beruf so weitgehend vollzogen, daß der aufgezwungene Beruf sogar als Ideal 
fungiert, so geschieht bei den folgenden 9 Jugendlichen die Wiederwahl des 
ersten Berufes, der nicht dem Kindheitswunsch entsprach, mehr unter Be- 


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104 


Annelies Argeiander, Über Motive der Berufswahl and des Berufswechsels 


rück8ichtigung der wirtschaftlichen Lage. Denn das Motiv, für die Wieder¬ 
wahl ist überwiegend der Verdienst. Als Ideal wird zum Teil (4 Fälle) der 
Kindheitswunsch angegeben (2 mal Schlosser, 1 mal Techniker, 1 mal Kranken¬ 
pflegerin), zum Teil (5 Fälle) ist es diese Gruppe, in der sich die einzigen 
hochfligenden Ideale finden, nämlich Matrose, Volkswehr, Opernsänger, 
Theater, Näherin. 

Charakteristisch für diese zweite anpassungsfähige Hauptgruppe ist es also, 
daß die zu ihr gehörigen Jugendlichen sämtlich an ihrem zuerst ergriffenen 
Beruf festhalten, trotzdem sie ihn ursprünglich nicht gewünscht hatten. Eine 
andere Wirkung hatten wohl die ungünstigen Wirtschafts- und Arbeitsver¬ 
hältnisse bei der dritten Hauptgruppe. Hier finden wir statt der vernünftigen 
Überlegung, die den Berufswunsch zurücktreten läßt hinter der Notwendigkeit 
des Verdienens, ohne ihn jedoch aufzugeben, eine mehr oder weniger starke 
Gleichgültigkeit gegenüber dem ferneren Berufsschicksal. Die ersten drei 
Jugendlichen dieser Gruppe vermochten zwar ihren Kindheitswunsch (Schlosser, 
Kaufmann, Büro) zu verwirklichen und haben ihn auch als Idealberuf bei¬ 
behalten, einen Plan für den neu anzutretenden Beruf haben sie aber an¬ 
scheinend nicht gefaßt, denn sie geben keinen Wunsch an, sondern wollen 
„keinen“ oder „jeden* Beruf ergreifen, teilweise ohne Angabe des Grundes, 
oder wegen des Verdienstes, oder weil keine Aussicht auf eine Stelle in dem 
früheren Beruf ist. Bei den übrigen 9 Personen geht die Gleichgültigkeit 
noch viel weiter, allerdings mußten diese zum überwiegenden Teil ungelernte 
Arbeit tun, anstatt daß sie den gewünschten Beruf eigreifen durften. Auf 
die Frage nach dem jetzt erstrebten Beruf lauten die Antworten „ich weiß’ 
nicht*, „egal*, „was ich bekomme* und ähnlich. In 5 Fällen wird sogar 
nicht einmal ein Berufsideal angegeben, während die 4 anderen Personen als 
Ideal Isolierer, Photograph, Schuhmacher und Maler nennen. 

Schließlich bleiben noch 5 Fälle übrig, die sich in keine dieser 3 Gruppen 
einordnen lassen, weil als Kindheitswunsch, erster Beruf, neuer Beruf und 
Berufsideal stets andere Berufe genannt werden. Ein Beispiel davon ist etwa 
Kindheitswunsch: Lehrer, erster Beruf: Modellschlosser, neuer Beruf: Tag¬ 
löhner, Berufsideal: Elektromonteur. Oder ein anderes aus der weiblichen 
Gruppe: Kindheitswunsch: Kinderfräulein, erster Beruf: Einlegerin (in einer 
Wäschefabrik), neuer Beruf: Nähen, Berufsideal: Verkäuferin. Es ist nicht 
zu durchblicken, welche Faktoren bei der Berufswahl und dem Berufsschicksal 
dieser 5 Jugendlichen tätig waren. 

So hätten wir also 3 Gruppen mit wesentlich verschiedener Einstellung bei 
der Wahl des neuen Berufes kennen gelernt: diejenigen Jugendlichen, die 
aus Neigung zu einer bestimmten Tätigkeit bei der Neuwahl an ihrem Berufs¬ 
ideal festhalten und es zu verwirklichen suchen (30 Fälle = 46,2 °/o), die¬ 
jenigen Personen, die sich an den ungern ergriffenen Beruf gewöhnt haben 
(18Fälle = 27,7°/o) und schließlich diejenigen Jugendlichen (12Fälle — 18,ö°/o), 
bei deren Wahl des neuen Berufes sich eine starke Anpassung an die wirt¬ 
schaftlichen Verhältnisse zeigt, die so weit gehen kann, daß vollständige 
Gleichgültigkeit gegenüber dem ferneren Berufsschicksal Platz gegriffen hat 
Die Feststellung der verschiedenen Typen und die Beschreibung ihrer Berufs¬ 
bahn, soweit sie vor uns liegt, möge ein kleiner Beitrag sein zu der Frage 
der Einwirkung des Krieges auf das Berufsschicksal der Jugend sowie zu 
der weiteren Frage nach dem Wert, den man dem von den jungen Menschen 


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Josef Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahl Vorstellungen im Kinde 105 


selbst geäußerten Wunsch bei der Berufswahl beilegen darf. Wenn auch 
eine ganze Anzahl von Jugendlichen ihre Berufswünsche und Ideale gewechselt 
hat, so ist doch in 46°/o der Fälle anscheinend wirkliche Neigung für die 
Wahl maßgebend gewesen und nur in 28°/o der Fälle hat sich so viel Freude 
an der beruflichen Arbeit entwickelt, daß dieser gegen den Willen angenommene 
Beruf zum Berufsideal wurde. 


Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen 

im Kinde. 

Von Josef Filbig. 

In seiner Arbeit „Psychologische Vorfragen des ersten Rechenunterrichjp“ l ) 
gibt Deuchler Mittel und Wege an, die einen Einblick gestatten sollen in 
den Grad der Entwicklung der Vorstellung über Zahlen und Zahlenoperationen. 
Der Zweck seiner Aufgabenreihe ist also, jenen entwicklungsgeschichtlichen 
Querschnitt zu schaffen, der uns gestattet, Normalleistungen des Kindes für die 
einzelnen Entwicklungsjahre festzustellen — eine Forderung, wie sie Meumann 
stellt Nach unseren Untersuchungen wird diese Aufgabe gelöst Bei der 
Behandlung der einzelnen Aufgabenserien werden wir darauf hinweisen. 

Der Betrachtung der speziellen Frage schickt Deuchler einen Versuch voraus, 
die Probleme einer Psychologie des mathematischen Denkens beim Kinde und 
beim Schüler zu skizzieren. „Von drei Gesichtspunkten her läßt sich dieser 
umfassenden Frage nahekommen: von dem rein phänomenologischen, vom 
fibungspsychologischen und lernökonomischen und vom begabungstheo- 
retischen. Wir müssen zunächst jede Entwicklungsstufe des mathematischen 
Denkens charakterisieren und zwar dadurch, daß wir alle die vorstellenden, 
sprachlichen und darstellenden Symptome von Zahl« und Raumbegriffen, von 
i Operationen und Konstruktionen, die beim Kind auf jeder Stufe spontan oder 
| reaktiv zu erreichen sind, in Erfahrung bringen, und daß wir in die Natur der 
i psychischen Prozesse beim Kind, wenn es diese Leistungen ausführt, ein- 
i dringen... Die zweite Aufgabe geht auf die Feststellung des erreichten und des 
aus allgemeinen Überlegungen der Ökonomie der psychischen Kräfte heraus zu 
normierenden Übungsgrades der einzelnen Leistung auf jeder Entwicklungs¬ 
stufe aus ... Die dritte Aufgabe betrachtet die so oder in ähnlicher Weise 
zu erhaltenden Resultate unter dem Gesichtspunkt der Begabung und der 
Begabungsverschiedenheiten; sie stellt also die Beziehungen der Leistung zum 
einzelnen Individuum her. Unsere Betrachtungen stellen sich im wesentlichen 
in den Dienst des ersten Problems und beschränken sich hinsichtlich der 
mathematischen Gegenstände auf das Gebiet der elementaren Zahlen- und 
Operationenlehre.* 

Es hat nun wenig Sinn, -nach den Elementen des Zahlbegriffs zu suchen 
mit der Aussicht, dadurch das didaktische Problem des ersten Rechenunter¬ 
richts gelöst zu haben. Wenn wir aber bestimmen wollen, bis zu welchem 
Grade sich das Vorstellen oder Denken eines mathematischen Gebildes oder 


‘) Zeitechr. t. PSdag. Psychologie. Bd. XIII (1912), S. 36». 


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Begriffes entwickelt hat, so müssen wir notwendigerweise den Begriff oder 
das Gebilde selbst in seiner idealen oder vorbildlichen Gestalt kennen; außer¬ 
dem müssen wir alle für das Erfassen oder das Erzeugen notwendigen all¬ 
gemeinen Bewußtseinsfaktoren zu bestimmen suchen. 

Deuchler geht also von einer logischen Analyse des Zahlbegriffs aus. 
Nicht des Zahlbegriffs in seiner allgemeinsten Form, sondern der Zahl¬ 
begriffe, wie sie in den natürlichen Zahlen — 1, 2, 3 usw. gegeben sind. 
Die Zahlenreihe unter diesem Gesichtspunkte betrachtet gibt ihm die Möglich¬ 
keit, die einzelnen Merkmale in eine Stufenfolge zu bringen, „so daß das 
Folgende das Vorangehende im allgemeinen voraussetzt.“ Solcher Merkmale 
unterscheidet Deuchler fünf: 

1. die Reihenform selbst; 

2. die Ordnungsbedeutung; 

3. die Zusammenfassung mehrerer Glieder; 

£ 4. die gegenseitige Beziehung des „größer oder kleiner“ zweier 
Zahlen; 

5. als abschließend charakterisierendes Merkmal den richtigen 
Begriff des Zählens. 

Die Untersuchungsreihe entspricht den Merkmalsbezeichnungen. 

Ich habe die Versuchsreihe durchprobiert mit der Einschränkung, daß 
meine Frage nur dem Grad der Entwicklung galt 

Der Kindergarten „Marienheim Amberg“ war im Wintersemester 1920/21 
von etwa 100 Kindern, Knaben und Mädchen, besucht, die teils einfachen 
Arbeiterfamilien, teils gut situierten, wohlhabenden Bürgersleuten entstammten. 
Der Kindergarten beschäftigte die Kleinen bescheiden in Fröbels Sinn. Ein 
eigentlicher Unterricht wurde nicht erteilt Die Kinder lernten nur die tfig- 
lichen Gebete, für Weihnachten einige Bühnenspiele, zum Familienfest wohl 
auch ein Gratulationsgedicht 

An Beschäftigungsspielen wurde bei den Mädchen hauptsächlich das 
Perlenaufziehen betrieben: Mehrfarbige Perlen werden nach ganz be¬ 
stimmter Anordnung auf einen Faden gezogen, eine goldene, eine silberne, 
dann wieder eine goldene Perle usw. in stetem Wechsel Andere Variationen 
wurden auch geübt, zwei goldene, eine silberne usw. Diese Arbeit be¬ 
schäftigte auch die Kleinsten, die dreijährigen. Die älteren Kinder lernten 
hierbei unzweifelhaft zu den bereits gewonnenen Zahlvorstellungen hinzu 
und umgekehrt kam ihnen ihr Wissen an Zahlengrößen dabei zu statten. 
Die Kleinen machten wohl noch manchen „Fehler“; doch kam das Spielen 
der Zahlentwicklung entgegen. 

Mit quadratisch geformten Papierblättchen machten die Mädchen außerdem 
Faltarbeiten. Je nach der Art und der Zahl der Faltung entstand aus 
demselben Blatt bald ein Kreuz, eine Hose, ein Stern, ein Wagen usw. 
Diese Aufgaben schienen mir äußerst kompliziert. Sie verlangten von den 
Mädchen außerordentlich viel Gedächtnisarbeit, ziemlich konzentrierte Auf¬ 
merksamkeit, motorische Übung und letzten Endes auch noch ein beschei¬ 
denes Maß von Verständnis für die kleinsten Zahlen. Die Blättchen sind 
vielseitig zu verwerten, so daß auch hier die Kleinsten Beschäftigung fanden. 

Die Knaben betrieben Papierflechten, allerdings in der einfachsten Art: 
einmal wurde stets ein, ein andermal wurden stets zwei Streifen aufgehoben. 
Die Streifchen wurden dann verklebt, die Flechtarbeiten zu Körbchen, Pan- 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Za hl vors teil ungen im Kinde 


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töffelchen usw. verwertet. Rechen- und Raumlehrunterricht verdanken u. a. 
diesen Kindergartenübungen sehr viel. 

Auf der Straße spielten Knaben und Mädchen das sogenannte Himmel- 
und Höllspiel: die Spieler hatten fünf Rechtecke, davon vier in der Längs¬ 
ausdehnung, das fünfte an der Breitseite angesetzt, mit geschlossenen, oft 
auch verbundenen Augen, auf einem Bein hüpfend, zu durchschreiten, ohne 
die Begrenzungslinien zu berühren. Ältere Kinder numerierten wohl die 
einzelnen Felder; ich sah es aber auch Kinder spielen, die die Schreibweise 
der Ziffern noch nicht beherrschten. Bei den Kleinsten haben wir es hier wie 
bei vielen anderen Spielen unzweifelhaft mit einem anschaulichen Zählen lange 
vor Erwerb von deutlichen Zahlvorstellungen, schließlich von Zahlnamen zu tun. 

Es sollen noch die Kinderverschen folgen, die den Kleinen die Zahl¬ 
namen in bestimmter Reihenfolge übermitteln konnten. Dabei soll eine Tat¬ 
sache vorweggenommen werden, die ein helles Licht auf den Mechanismus 
der ersten Assoziation wirft. Ich wußte von manchen Kindern gewiß, daß 
sie im Versehen die Zahlnamen bis 10 und noch weiter kannten. Bei der 
Aufforderung zum Zählen war es ihnen unmöglich, die Zahlnamen aus dem 
festgefügten Verband der Verschen-Wortreihe zu lösen und isoliert darzu¬ 
bieten. Ähnliches berichten C. und W. Stern in dem Werke „Die Kinder¬ 
sprache“, Leipzig, J. A. Barth, S. 248: „Das Nachplappem der niederen 
Zahlen lernt das Kind ebenso mechanisch wie so manche unverstandene 
Versehen . . . Erst spät verbindet sich mit ihnen wirklicher Zahlensinn.“ 
In obigen Fällen wurde den Kindern nicht einmal bewußt, Zahlnamen mit 
eingelernt zu haben; um so weniger konnten sie ein Verständnis für die 
Zahlbedeutung besitzen. 

An solchen Versehen singen oder lernen die Kinder: 1,2, Polizei — 3,4, 
Offizier — 5,6, alte Hex — 7,8, gute Nacht — 9,10, Wiedersehn — 11,12, 
komm’n die Wölf* usw. — Aufzählreime, auch von den 3jährigen benützt: 
„1, 2, 3, die Mutter kocht ’nen Brei, die Mutter schneidet Speck und du 
mußt weg.“ Oder: „1, 2, 3 und du wirst frei.“ Die Zahl ähnlicher Spiele 
ist sicherlich eine vielmal größere und schließlich wäre ihre systematische 
Durchforschung auf die Momente hin, die für die Ausbildung der Zahlbegriffe 
und der Operationen wertvoll sind und diesen Einfluß auch tatsächlich aus- 
fiben, von Bedeutung. Doch kam es hier vor allem darauf an, gleichsam die 
Umgebung zu kennzeichnen, in welcher die untersuchten Kinder einen großen 
Teil des vorschulpflichtigen Alters verbringen. Dabei sind wir uns klar, daß 
andere Einflüsse — immer in Hinblick auf unsere Frage nach Entwicklung 
der Zahlvorstellungen gesprochen — ebenfalls von einschneidender Bedeutung 
sind: Familienerziehung, Beispiel älterer Geschwister, wirkliche Beeinflussung 
bis zum direkten Unterricht, Betätigung im Sinne häuslicher Hilfe — Dinge, 
deren Kenntnis und restlose Erforschung sich zunächst jeder Möglichkeit 
entzieht. 

Der Reihenprozeß >). 

Zahl der untersuchten Kinder: 51 Knaben und 51 Mädchen. 

Zeit der Untersuchung: Nachmittagsstunden der Monate Januar/Mai 1921. 

') Hillen: Herr Seminarassistent Schön-Amberg, dem ich hier herzlichen Dank sagen 
■flöchte, und die Schwestern des Kindergartens, die mir äußerst liebenswürdig entgegenkamen, 
Haum und Zeit zur Verfügung stellten und mit Interesse den Verlauf der Untersuchungen ver¬ 
folgten; auch ihnen hin ich zu Dank verpflichtet. 


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Jose! Filbig 


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Der Versuch (Einzelversuch) zerfällt in zwei Teile: 

1. Durchführung des Reihenprozesses an sinnlichen Inhalten; 

2. Kontrolle des Reihenprozesses an reproduzierten Inhalten — Zahl¬ 
wörtern. 

Zu 1. Benutzt wurden Bauklötzchen und Bonbons. Letztere wurden den 
Kindern als Belohnung in Aussicht gestellt Auf diese Weise sollte geprüft 
werden, welchen Einfluß besonders gefühlsbetonte Inhalte auf die Leistungen 
der Kinder ausüben. Beide Arten von Dingen würden zunächst in Reihen- 
form geboten, d ann in Gruppenstellung und zwar 

a) in Form der Bomschen Zahlbilder; 

b) „ „ „ Layschen Quadratfiguren. 

Die Handlungen der Kinder wurden durch die Frage: „Welches Klötzchen 
kommt zuerst?" angeregt und dann durch die weitere Frage: „Welches dann?“ 
fortgeleitet 

Die Kontrolle wurde in der Weise durchgeführt, daß plötzlich außer der 
Reihe gefragt wurde: „Welches Klötzchen (welcher Zuckerstein) kommt nach 
diesem?" (Prüfung bei mehr passivem Verhalten der Kinder 1 ).) 

Zu 2. Im zweiten Teil des Versuchs wurden die Kinder durch die Auf¬ 
forderung: „Zähle einmal!" zur Reaktion veranlaßt Unter Umständen wurde 
die Leistung erleichtert durch die Frage: „Was kommt nach eins? ÜDd 
dann?" Zur Bewertung der Leistung wurde die Anzahl der gebrachten Zahl¬ 
wörter registriert ohne Rücksicht auf die Richtigkeit der Folge, jedoch unter 
Ausschluß der „rückläufigen Assoziationen". Als besonderes Kennzeichen 
wurde auch die Länge der folgerichtig gebrachten Zahlreihe gebucht (Prüfung 
bei mehr aktiver Betätigung seitens der Kinder.) 

Den Ergebnissen entnehmen wir folgendes: 

1. 1. Bei einem gewissen Alter erscheint der Reihenprozeß als erledigt 2 ). 
Als Zeitpunkt kann bei Knaben der 65. Monat, bei Mädchen bereits der 
60. Monat angesehen werden. 

2. Im jüngeren Alter (45. Monat) sind die Knaben den Mädchen Überlegen; 
bis zum 55. Monat etwa ist der Vorsprung ausgeglichen; die Mädchen eilen 
voran. 

3. Die Sicherheit der Leistung zeigt sich in der Bestimmtheit der Handlung, 
der Schnelligkeit des Ablaufs und in der Bewältigung auch der größten Reibe. 


') Alice Descoeudres unterscheidet in ihrem Werk „Le Ddveloppement de l’enfant de 
deuz ä sept ans, fiditions Delachsux et Niestld, Neuchätel et Paris“, das mir nur durch das 
Referat W. Sterns in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Band 20, Heft 8/4, S. 226, 1622 ) 
und erst nach Fertigstellung der Arbeit bekannt wurde, zwei Hauptgruppen von Untersuchungen- 
sprachliche Tests und stumme Tests. „Schon diese Trennung ist wichtig: denn die sprachlichen 
Tests sind nunmehr ausdrücklich auf die Untersuchungen der Sprachfähigkeit beschränkt, wäh¬ 
rend die stummen Tests an diejenigen geistigen Leistungen heranzukommen suchen, die ohne 
Beteiligung der Sprache überhaupt oder unter bloßer Zuhilfenahme des Sprachverständnisses 
Zustandekommen“ (Stem). Im allgemeinen ist auch in der Deucblerschen Untersuchungsreibe 
diese Zweiteilung vorgesehen. Wo dagegen bei der Unabhängigkeit der Gestalt- (Gruppen-) und 
der Zablauffassung Zweifel am Zahlenverständnis aulkommen konnten, mußte an der sprach¬ 
lichen Fixierung des Ergebnisses festgehalten werden (siehe Addition, Subtraktion usw.l. t 
*) Stern, Kindersprache, S. 248: „Die Reihungen sind primitiver als das wirkliche Zählen 
und „Die ersten wirklichen Vorbereitungen der Zahltitigkeit bewegen sich um 2:0 herum ui 
zwei Richtungen . . . Reibung . . . und . . . Mengenaulfassung u . 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvoratellongen im Kinde 


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Die Unsicherheit und vor allem das totale Unvermögen kennzeichnet sich 
dadurch, daß 

a) meist wahllos mitten in der Reihe begonnen wird, 

b) sehr viele Gegenstände direkt überhüpft werden, 

c) die Reihe mehrmals, sinnlos oft durchlaufen wird. Deuten mit dem Finger 
ist allen Kindern eine Erleichterung, bloßes Benennen (nach Farbe) ist 
mit Hemmungen verbunden, die sehr schwer überwunden werden. Bei 
den Kleinsten läuft der Prozeß oft in der Weise ab, daß zum Finger¬ 
tippen noch die stereotype Form hinzutritt: eins, noch eins, noch eins usw. 



4. Ein Unterschied in der Leistung beim Arbeiten mit Holzklötzchen und 
mit Bonbons war kaum bemerkbar. Haben die Kinder das Vertrauen zum 
Versuchsleiter gewonnen (was unter Umständen sehr schwer ist), so arbeiten 
sie gern und interessiert weiter. 

n. Der Versuch in der Gruppendarstellung brachte manche interessante 
Tatsache. 

1. Die meisten Kinder beachteten die Gruppen überhaupt nicht. Meist wurde 
die untere Reihe (die dem Kinde am nächsten liegende) ausgewertet, die 
zweite Reihe erst nach Zwischenfragen: „Sind keine Zuckersteine mehr da? 
Wo? Welcher kommt da zuerst?" erledigt. Bei den Bomschen Zahlbildern ist 
diese Tatsache leichter verständlich; bei den Layschen gibt sie zu denken Anlaß. 


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Josef Filbig 


2. Nach Gruppen (bei den Layschen Zahlbildern) wurde dann erst ge¬ 
arbeitet, als der Abstand der Quadrate mindestens Gruppenbreite betrug. 
Dann wurde eben jedes Quadrat als Einheit betrachtet, die aber wiederum 
den Konnex mit den anderen Gruppen vermissen ließ 1 ). 

3. Bei diesem Versuch prfifte ich die Suggestibilität der Kinder, indem ich 
beim Kontrollversuch „Reihende“ den „Gruppierenden“ zuschauen ließ und 
umgekehrt. In der Mehrzahl der Fälle war daraufhin die Reaktionsweise 
eine andere. 

m. Die Feststellung, ob der Reihenprozeß an reproduzierten Inhalten aus¬ 
gebildet ist, deckt sich in der Hauptsache mit einem Versuch über den Zähl¬ 
prozeß, weshalb von einer Diskussion des Resultats hier abgesehen wird. 

In unserer beigegebenen graphischen Darstellung über den Entwicklungs¬ 
gang des Reihenprozesses ist die Einteilung nach Lustren willkürlich ge¬ 
wählt, hauptsächlich deshalb, um für die Abszisse mehr Zwischenwerte zu 
bekommen als bei der Einteilung nach Lebensjahren. Um jedoch die Wir¬ 
kung eines interkurrierenden Faktors abzuschwächen, wurde die Spanne 
50.—55. Monat nicht eigens aufgeführt, nachdem sehr wenig Kinder dieses 
Alters den Kindergarten besuchten. 


Die Ordnungszahl. 

Für die Bearbeitung dieses psychogenetischen Problems stellt Deuchler 
zwei Gesichtspunkte auf: einmal die Tätigkeit des Ordnens nach einem 
qualitativen (oder steigerungsfähigen) Merkmal, sodann das Ordnen lediglich 
im Anschluß an die Reihung, also im Sinne des Numerierens. Den Gesichts¬ 
punkten sollte durch drei Versuchsreihen Rechnung getragen werden. 
Deuchler scheint die Schwierigkeiten der Versuchsdurchführung richtig ge¬ 
würdigt zu haben: „Bei der zweiten Aufgabe ist zu beachten, daß nicht bloß 
der Reihenprozeß sich betätigt, sondern auch wirklich das Numerieren, falls 
der Prozeß ohne die Ordnungszahlnamen durchgeführt wird; doch sollen 
besondere Kennzeichen dafür hier nicht weiter erörtert werden. Es geschieht 
dies am besten im Zusammenhang mit der konkreten Darstellung.“ 

Die praktische Durchführung gliedert sich also in drei Teile: 

1. Verschiedenschöne Gegenstände (Bleisoldaten) werden (von den Knaben 
allein) dem Grad des Gefallens nach aufgestellt; 

2. die Mädchen brachten gleichgroße und gleichschöne Gegenstände (far¬ 
bige Pappdeckelblättchen) in eine Reihe (sprachlich-passives Verhalten); 

3. Knaben und Mädchen wurden an Hand der gegebenen Reihen die Aus¬ 
drücke: „Der erste, der zweite usw.“ entlockt (sprachlich-aktive Tätig¬ 
keit). 

Zu 1. Ein mit allen Knaben begonnenes Soldatenspiel stellte den Knaben 
die Aufgabe, aus ihrer Mitte einen „Hauptmann“ auszusuchen, dann die 
stärksten Soldaten auszuwählen zum Kampf gegen eine zweite Abteilung, die 
sich ähnlich gruppiert hatte. Durch diese etwas umständliche Einleitung 

*) Bühl er, Die geistige Entwicklung des Kindes (Fischer-Jena) bringt auf S. 96 eine schöne 
Bestätigung hierfür: Das Kind Decrolys und Degauds hatte die simultane Auffassung der Vierer¬ 
gruppe bereits gelernt. Daraufhin bängte man je ein Kirschenpaar an beide Ohren des 
Mädchens (4; 9) und wollte von der beglückten Besitzerin nun die Gesamtzahl ihrer Kirschen 
erfahren, konnte aber keine andere Antwort erhalten, als daß sie hier ein Paar und dort noch 
ein Paar habe. 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 


in 


wurden die Kinder mitten in eine Situation hineingestellt, die den nachfol¬ 
genden eigentlichen Versuch unterstützen sollte. Das Vorspiel ging um so 
leichter, als die kleinen ja täglich Gelegenheit haben, die Amberger Garnison 
ein- und ausmarschieren zu sehen. 

Die Reaktionsweise beim Versuch war bei den verschiedenen Altersstufen 
verschieden. Die jüngeren Knaben wählten fast ausnahmslos aus den 
15 Bleisoldaten (darunter drei Reiter) den einen Reiter mit langem Fahnen¬ 
schaft als ihren Hauptmann aus; dann folgten die übrigen Reiter, schließlich 
das stehende Fußvolk und zuletzt die liegenden Schützen. Auf Farben — 
die Soldaten waren verschieden uniformiert — wurde wenig Rücksicht ge¬ 
nommen. Das Hauptaugenmerk richtete sich auf die Form, in diesem Falle 



auf die Größe. Die Aufstellung geschah durchwegs in Reihenform, obwohl 
die Kinder an der Wirklichkeit doch stets Gruppen konstatieren mußten. 
Eine Beschränkung der Anzahl der Bleifiguren brachte keine wesentliche 
Ergebnisänderung, d. h. keine besondere Erleichterung der Auswahl. 

Die älteren Kinder brachten der Aufgabe mehr lebenfligen Sinn entgegen. 
Die Auswahl der drei Formen geschah zunächst ebenfalls in Rücksicht auf 
die Größe, innerhalb der gleichen Sorte jedoch wurde auch auf die Unifor¬ 
mierung Wert gelegt. Eine kleinere Anzahl von Figuren gleicher Form (3—5) 
wurde leichter gesichtet, was ich auf eine zahlenmäßige Erfassung der Anzahl 
and einer dadurch möglichen Übersichtlichkeit zurückführe. Ebenso arbeiten 
die Kinder rascher, wenn die Soldaten „aufgestellt* waren. Die Anordnung 
geschah oft in der Weise, daß die Reiter in eine Linie, das Fußvolk in eine Linie, 
oft auch in eine Kolonne dahinter und die Schützen in eine dritte Abteilung ge¬ 
bracht wurden. In zwei Fällen führten emotionelle Einflüsse dazu, eine weitere 
Unterscheidung vorzunehmen — es wurden Deutsche und Franzosen erkannt. 


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112 Josef Filbig, Untersnchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 


Der Versuch war in der Hauptsache eine Prfifung des Fonnensinns der 
Knaben, in zweiter Linie auch Feststellung der Einflüsse, die in Richtung der 
Farbengebung und der konkreten Wirklichkeit lagen. Für unsere Zwecke 
ließ sich lediglich der Reihenprozeß an einem anderen Beispiel konstatieren; 
neue Momente, insonderheit solche, die den psychogenetischen Aufbau der 
Zahlenvorstellungen erkennen ließen, konnten nicht beobachtet werden. Damit 
fand ich bestätigt, was Meumann 1 ) bei der kritischen Würdigung der 
Deuchlersehen Versuchsreihe vermutete. 

Von einer weiteren Verwertung der Ergebnisse soll deshalb hier abgesehen 
werden. Die Anzahl der zahlenmäßig erfaßten Einheiten — siehe Auswahl 
durch die älteren Knaben — findet Berücksichtigung beim Zählprozeß, bzw. 
beim „Zusammenfassen“, dem dritten Merkmal der Reihe nach Deuchler. 

Zu 2. Die Mädchen taten sich leichter. Die verschiedenfarbigen, aber 
gleichgeformten Blättchen ordneten sie nach Farben in der Weise, daß ungefähr 
vom 50. Monat ab zunächst alle Blättchen von satter roter Farbe aneinander¬ 
gereiht wurden, denen blaue folgten. Hernach kamen die anderen Nuancen: 
blaßrot, gelb, grau usw. 

Die jüngeren Mädchen ordneten ohne ersichtlichen Einteilungsgrund. Die 
Anzahl der zu ordnenden Blättchen hatte keinen Einfluß auf die Schnellig¬ 
keit der Lösung. 

Auch hier läßt sich sagen, daß der Versuch an einer anderen Stelle (Analyse 
des kindlichen Farbensinnes) von größerem Nutzen wäre. 

Zu 3. In Abänderung des Deuchlerschen Vorschlags, der rein repro¬ 
duktiv die Ordnungszahlen gewinnen wollte, wurde die dritte Aufgabe an 
der aufgestellten Reihe von Fußsoldaten durchprobiert. Die Aufforderung 
lautete kindertümlich einfach: „Das ist der erste Soldat Und dieser?“ Auch 
hier zeigten sich bemerkenswerte Tatsachen. 

a) Die Kenntnis der Ordnungszahlen ist bei allen Kindern gering. Die 
Anzahl der bekannten Grundzahlen ist um ein Vielfaches größer. Die 
kleinsten Kinder kennen meist nur „den ersten“ und „den letzten“, 
manchmal folgt noch „der allerletzte“. 

b) Bei den meisten Kindern ist die folgerichtig durchlaufende Ordnungs¬ 
reihe sehr klein, namentlich in Hinsicht auf die bekannte Reihe der 
Grundzahlen. Selbst die größeren Kinder kennen in vielen Fällen „den 
zweiten“ nicht Analogiebildungen kommen häufig vor: „der erste, 
der zweite, der dreite“. Die Reihe bricht oft mitten in der Dekade 
ab, während die Grundzahlen meistens bis zum nächsten Zehner fort¬ 
geführt werden können. Als Ursache ist in erster Linie die sprachliche 
Schwierigkeit, dann aber auch die geringe Anschaulichkeit und letzten 
Endes auch die selten sich bietende praktische Notwendigkeit der Anwen¬ 
dung anzusprechen. Zur Kontrolle der abgegebenen Urteile wurde inner¬ 
halb des bekannten Umfangs nach dem 3., 5., 2., 4. usw. gefragt (siehe 
graphische Darstellung). 

c) Die viel umstrittene Frage: Geht die Erwerbung der Ordnungszahlen 
der Erwerbung der Grundzahlen parallel voran oder folgt sie hinter¬ 
drein? dürfte damit eindeutig beantwortet sein. 2 ) 

*) Meumann, Vorlesung zur Einf. in die exp. Pädagogik. 

*) Eine andere Frage ist die; Ist die Bedeutung der Ordnungszahl eher ausgeprägt als die 
der Kardinalzahl? Stern S. 261, beantwortet die Frage mit Ja und stützt sich dabei auf folgende 


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. Kleine Beiträge und Mitteilungen 


113 


d) Deuchlers Analyse der Zahlenreihe und damit zusammenhängend die 
Stufenfolge der Merkmale derart, „daß das Folgende das Vorangehende 
im allgemeinen voraussetzt“, erfährt durch diese Festsetzung eine wesent¬ 
liche Berichtigung. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Der erziehungswissenschaftliche Interessenbegriff bedarf noch immer, so 
grundlegend auch die pädagogische Theorie seit Her hart mit ihm zu arbeiten 
gewöhnt ist, der Klärung. Manche Arbeiten der experimentellen Pädagogik 
haben einiges dazu beigetragen, so besonders die Untersuchungen über jugend¬ 
liche Ideale, Werthaltung, Neigungen, Wünsche und über die Beliebtheit der 
Untersuchungsfächer, ohne das Ganze aber zu erschöpfen. Auf phänomenolo¬ 
gischem Wege versucht auch Kerschensteiner in einem seiner jüngsten Auf¬ 
sätze 1 ) den komplexen Sachverhalt durchsichtig zu machen. Aus Beispielen 
heraus entwickelt er die folgende Anschauung: 

„Echte Interessen sind (wie die angeborenen Triebe und Neigungen) 
seelische Wachstumsbedürfnisse mit mehr oder weniger umfangreichen in¬ 
tellektuellen Beachtungs-Dispositionen oder Reproduktionsgrundlagen. Alle 
Versuche, sie als bloß intellektuelle oder als bloß emotionale oder als reine 
Willenszustände hinzustellen, sind verfehlt. Wir erfassen den pädagogischen 
Begriff des Interesses mm, wenn wir den Nachdruck auf den Gesamtzustand 
legen. Wer nur die emotionale Seite betont oder das Ziel der Neigung oder 


Beobachtung: Wenn man H. die 5 Finger hinhält und fragt: wieviel Finger sind das? so 
sagt sie: ich will mal zählen und zählt richtig von 1-5. Sagt man nun gleich im Anschluß an 
die letzte Zaiml: also wieviel Finger sind es ? dann fängt sie wieder von vorn an zu zählen und 
so noch mehrmals. Der letzte Finger ist ihr zwar der fünfte, aber die Gesamtzahl der Finger 
bedeutet für sie noch nicht die Summe fünf. tt 

Bfihler S. 5)5 schreibt: Wenn man von einem Kinde nach dem Abzählen etwa drei von den 
Dingen verlangt, reicht das Kind das dritte. Das ist ein Beweis dafür, daß die gesprochenen 
Wörter Jetzt Kamen sind, die einsichtig den einzelnen Dingen nach ihrer Reibenstellung gegeben 
werden, und man sagt mit Recht, da habe sich also die Funktion der Ordinalzahlen ausgebildet. 
Unrichtig aber wäre die Behauptung, diese trete schlechthin früher auf als die 
der Kardinalzahlen, denn es leuchtet ein, daß die Mengeneindrücke und die 
Auffassung bestimmter Gruppen zum mindesten als Vorläufer der Kardinalzahlen 
betrachtet werden müssen.“ 

Ein Vergleich der Ergebnisse bei den verschiedensten Versuchsreihen führt uns zu folgender 
Betrachtung: bei einem Kontrollversuch in der Frage nach der Ordnungsbedeutung waren von 
je 51 Knaben und Mädchen nur 14 Knaben und 21 Mädchen fähig, den „zweiten Stein“ zu zeigen 
(sprachlich passives Verhalten der Kinderl). Von denselben 102 Kindern waren 41 Knaben und 
35 Mädchen imstande, die Anzahl 2 ohne Zählen zu benennen. Die simultane Erfaßbarkeit (als 
Schwierigkeitssteigerung gegenüber dem Nur-Abzäblen) war demnach bei diesen Kindern der 
Ordnungsbedeutung vorangeeilt. Diese Tatsache zeigte sich noch weit ausgeprägter bei reiferen 
Kindern, die additiv und subtraktiv bereits etwas leisten konnten, deren sonstiges rechnerisches 
Verhalten aber verriet, daß die Ordnungsbedeutung ihnen noch nicht ganz geläufig war. Wenn 
die Gewinnung der Zahlvorstellung sich in charakteristischen Perioden vollzieht, so könnte man 
nach dem Reihenprozeß und der Auffassung einer unbestimmten Vielheit die Zählperiode untere 
scheiden mit dem Anfangsstadium derart, daß die gesprochenen Zahlwörter als Namen den ein¬ 
zelnen Dingen in ihrer Reihendarstellung gegeben werden. M. E. gehören die von Stern und 
Bühler gebrachten Beispiele dieser Periode an, so daß ich sagen kann: Die Bedeutung der Kar- 
dinalzahl geht in der Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kind der Ordnungsbedeutung voran. 

') „Pädagogische Blätter*, 61. Jahrg., 12. Heft. 1922. 

Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 8 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


nur den Gegenstand, der als Mittel zum Ziel dient, hat einen unvollständigen 
Interessenbegriff. Jeder solche unvollständige Interessenbegriff ist fQr die 
Bildungstheorie verhängnisvoll. 

Fassen wir die Grundmerkmale des echten Interesses zusammen, so können 
wir die folgenden drei hervorheben: 

a) das innerlich Angetriebensein auf Grund einer gewissen, ange¬ 
borenen oder erworbenen Beschaffenheit der Seele (Merkmal der Spon¬ 
taneität), 

b) das Gerichtetsein auf einen Gegenstand, auf eine Vors e ung 
Idee, Angelegenheit, Tätigkeit auf Grund eines Werterlebnisses (Merkmal 
der Objektivität), 

c) das völlige Erfülltsei-n, die In-eins-Setzung von Person und 
Sache im Werterlebnis, also die Verschmolzenheit des Ichs mit der 
Angelegenheit (Merkmal der Emotionalität). 

Genetisch können wir diesen Zustand uns folgendermaßen vorstellen: Ein 
bestimmtes seelisches Bedürfnis (Trieb, Neigung, rätselhafte Wahrnehmung) 
will Befriedigung und stellt sich gemäß früher erworbener Beachtungsdispo¬ 
sitionen auf ein bewertetes Ziel ein, von dem es diese Befriedigung erhofft 
Der dadurch ausgelöste Bewußtseinsstrom beginnt sich aus sich selbst her¬ 
aus, aus seinen eigenen Antrieben heraus zu richten und eine Auswahl der 
Mittel zu diesem Ziele zu treffen. Er gebraucht die Mittel so lange, bis Erfolg 
eintritt‘Oder ein deutlicher Mißerfolg nicht zu vermeiden ist. Mit dem er¬ 
folgreichen Gebrauch des Mittels, auf das der Bewußtseinsstrom gerichtet ist, 
überträgt sich das am Ziele haftende Wertgefühl mit oder ohne ausgesprochenem 
Werturteil auch auf das Mittel. Hier sieht man deutlich: Man kann nicht 
sagen, Interesse ist ein Lustgefühl (Elsenhans, Ebbinghaus) oder ein Wert¬ 
schätzungsgefühl (Ostermann) oder ein Aufmerksamkeitsgefühl (Ziegler) oder 
ein Gefühl sui generis (Nagy). Man kann auch nicht sagen, es wurzelt im 
Gefühl. Im betätigten Interesse, mit seinem wertenden Handeln erlebt das 
Ich mehr und mehr sich selbst, seinSein, seinen Eigenwert. Denn 
das Wesen unseres Ichs sind unsre Triebe, Gefühle und Neigungen, nicht 
unsre Vorstellungen. Gleichzeitig erlebte es aber den Wert des Gegen¬ 
standes (Dinges, der Handlung, der Person), das dem Interesse zum Ziele 
verhilft. Daher nun die in jedem starken Interesse eintretende Identifi¬ 
kation von Objekt und Subjekt Beide sind im gleichen Wertgefühle 
eingeschmolzen. Das Ichbewußtsein geht im Gegenstandsbewußtsein auf. 
Große Dichter sind im Moment des Schaffens ihrer dramatischen Person fast 
regelmäßig diese Person selbst. Dickens lebte mit seinen Gestalten wie mit 
seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie sich der Katastrophe näherten und 
fürchtete sich vor. dem Augenblick ihres Unterganges (vgl. dazu W. Dilthey, 
„Das Erlebnis und die Dichtung“, Seite 187). 

Die pädagogische Tragweite dieser Theorie des Interesses ist bedeutend. 
Zunächst weist diese Theorie den Erzieher, der ein vielseitiges Inter¬ 
esse erzeugen will, vor allem auf die angeborenen Neigungen, Be¬ 
gabungen und Wachstumsbedürfnisse seines Zöglings. Damit stellt sich von 
vornherein die Pädagogik auf die Individualitätstypen ein und lehnt alle Lehr¬ 
pläne ab, die ohne Rücksicht auf Individualitätstypen aufgestellt sind. Weiter¬ 
hin aber führt diese Theorie unmittelbar zur Idee der Arbeitsschule. Die 
Verwirklichung des Arbeitsschulgedankens ist nur möglich, wenn das Interesse 


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115 


i den oben angegebenen Charakter der Spontaneität, Objektivität und Emotio- 
I nalität besitzt. Die Theorie widerstrebt dem Gedanken, die sogenannte All* 
gemeinbildung zeitlich vor die Berufsbildung zu setzen, das heißt vor die 
Bildung zu dem, wozu der Einzelne durch seine angeborenen Neigungen und 
Veranlagungen zunächst berufen ist. Sie warnt vor dem billigen Interessant- 
machen eines Lehrgegenstandes, für den keine Neigung vorhanden ist und 
der keine Beziehung zum Subjekt hat. Sie lehrt, daß es nur eine wirk¬ 
same Methode gibt, uninteressante Lehrgegenstände interessant zu machen, 
. nämlich: sie als Mittel zu selbstgewollten Zwecken einzuführen. 
Dies ist mein Fundamentalsatz. Wenn die Persönlichkeit nichts anderes ist, 
als die Vollendung der Individualität in den ihr zugänglichen Wertbereichen, 
' dann bietet diese Interessentheorie allein den Weg zur Erlangung der eigenen 
: Persönlichkeit.“ • 


Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung. Zu den Ausführungen 
von Dr. Piorkowski im September/Oktober-Heft dieser Zeitschrift möchte 
ich folgendes bemerken: 

In unserem Aufsatz heißt es Seite 204: „Die Entwicklung und Ausbildung 
der beiden Fähigkeiten, der Konzentration aus Interesse und aus dem Willen 
heraus, stehen sich also entgegen. Jede Ausbildung und Übung der einen 
Fähigkeit bedeutet einen Rückgang der andern.“ P. nennt diese von uns 
aufgedeckte psychologische Gesetzmäßigkeit eine völlig willkürliche Behauptung. 
Wir haben dieses Gesetz in jahrelangen Beobachtungen geprüft und bestätigt 
gefunden. Diese Behauptung von P. ist deshalb als Willkürlichkeit zu bezeichnen. 

P. bezeichnet ferner als Ziel seiner Begabtenprüfungen, die Schüler heraus¬ 
zufinden, die in kürzerer Zeit als sonst üblich sich den Lehrstoff der höheren 
Schule anzueignen vermögen. Was P. also anstrebt mit seinen Begabten¬ 
prüfungen, ist eine Auslese der besten Eignung für eine Art von Presse. Für 
ein solches Ziel mögen seine Methoden auch durchaus geeignet sein. Nur 
ist es ein Mißbrauch der Psychologie, wenn P. diese Art von Prüfungen 
„Begabtenprüfungen“ nennt. Denn bei solchen Prüfungen wird nicht die 
Begabung, sondern hauptsächlich die Lernfähigkeit untersucht, die mit Be¬ 
gabung nichts zu tun hat. Nach dieser Erklärung von P. würde die Schule 
zu einer Vorbereitungsanstalt für Berufe „ausführenjler“ Art, wie Rein sie 
nennt, herabsinken. 

Daß einem „Genie alles in den Schoß fällt“, ist mit keinem Worte von uns 
behauptet worden. Wir haben im Gegenteil nachgewiesen, daß bei der Hoch¬ 
begabung die Arbeitsintensität viel größer ist als bei der Durchschnittsbegabung, 
weil sie ihren Antrieb im Interesse und nicht im Willen hat. Wenn aber P. 
schreibt, daß es das Kennzeichen des „verbummelten Genies“ ist, daß es durch 
jede Schwierigkeit auf dem Wege zur Erreichung eines Zieles, wo sein spon¬ 
tanes Interesse erlöscht und nur willensmäßige Konzentration helfen kann, 
zum Erlahmen gebracht wird, so zeigt diese Erklärung wenig Verständnis für 
die Psychologie des Genies. Genies verbummeln nicht, weil ihr Wille nicht 
genügend geschult ist, sondern umgekehrt, weil durch die Willensschulung 
das angeborene Interesse entwurzelt und seiner über alle Schwierigkeiten 
hinwegtragenden Kraft beraubt worden ist. Diese Individuen kommen zu 
keiner Leistung, well einerseits das Interesse infolge der Willensschulung 
nicht mehr als Arbeitsantrieb ausreicht, während es der Erziehung andrerseits 

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nicht gelungen ist, an Stelle des zerstörten Interesses den Willen als Antrieb 
zu geistiger Arbeit zu setzen. 

Meistens aber hat die eiserne Willenserziehung Erfolg bei den Hochbega¬ 
bungen, und wir haben dann keine „verbummelten Genies“ vor uns, sondern 
eisern fleißige, aber unproduktive Willensmenschen, die sich trotz einer ur¬ 
sprünglich überragenden Begabung noch kaum von einer guten Durchschnitts¬ 
intelligenz unterscheiden. Diese Typen sind sehr viel zahlreicher als die 
verbummelten Genies, nur werden sie im Gegensatz zu letzteren zumeist nicht 
als leistungslose Genies erkannt, da sie sich durchaus in den Rahmen fleißiger 
Durchschnittsmenschen einpassen, so daß niemand ein zerstörtes Genie in ihnen 
vermutet Das Übel liegt genau in entgegengesetzter Richtung, wie P. annimmt 
Nicht der Mangel an Erziehung und Schulung des Willens zu geistiger Arbeit 
hat die Menschheit unt die Produktion zahlreicher, genialer Begabungen ge¬ 
bracht, sondern umgekehrt der Überfluß daran. 

Wenn P. am Schlüsse seiner Ausführungen versichert, daß er in Zukunft 
die Begabungsprüfungen in Richtung auf die Willenskonzentration ausbauen 
will, so können wir ihm unsererseits versichern, daß er durch seine Begabten¬ 
prüfungen nie ein Talent oder ein Genie entdecken wird. Alles in allem, 
wenn man die Angriffe von P. auf unsere Ausführungen liest, so ist man 
geneigt, die Befürchtungen von Johannes Wittmann zu teilen, der schreibt: 
„Ich kann mich kaum des Gedankens erwehren, daß in nicht mehr allzu 
ferner Zukunft über unser liebes Vaterland eine Piüfungsseuche, gefährlicher 
noch als die Grippe, hereinbrechen wird. Die unintelligenten Menschen werden 
ehrlich bemüht sein, die wahrhaft intelligenten Menschen auszulesen I“ 

Berlin. Dr. Matthias Vaörting. 

Die Frankfurter Reformvolksschulen. Um Pädagogen und Laien durch die 
Tat von der Fruchtbarkeit der als notwendig erkannten Reformbestrebungen 
zu überzeugen, um die Durchführbarkeit an einigen Beispielen zu zeigen 
und die bestehenden Schulen dadurch anzuspornen, sich innerlich um- 
zustellen, wurden Ostern 1921 in Frankfurt a. M. zwei Reformvolksschulen 
errichtet: die Reform Volksschule Röderberg und die Reformvolksschule 
Schwarzburg. 

Sie wurden ganz auf die Individualität bewährter moderner Pädagogen 
eingestellt. Jede Bindung durch Lehr- und Stundenplan fiel fort. An die 
Stelle der Lehrberichte traten ausführliche Unterrichtsprotokolle. Die Durch¬ 
führung der Arbeitsschulbestrebungen auf der Grundlage einer entwicklungs- 
treuen Pädagogik war ihre besondere Aufgabe. Dazu kam für die Reform¬ 
schule Röderberg die Erprobung der Koedukation. Der gemeinsame Auf¬ 
gabenkreis wurde zwischen beiden Schulen so geteilt, daß die Reformschule 
Schwarzburg, ohne die manuelle Seite der Arbeitsschulbewegung zu ver- , 
nachlässigen, in erster Linie auf die geistigen Arbeitsschulbestrebungen ihr 
Augenmerk richten und die Reformschule Röderberg größeres Gewicht auf 
den Gartenbau- und Werkstättenunterricht legen sollte. 

Ganze Schulsysteme auf Reformbetrieb umzustellen, hielt man in Frank¬ 
furt a. M. nicht für ratsam, da nach den gemachten Erfahrungen Kinder, 
die sechs oder sieben Jahre nach der fragend-entwickelnden Methode unter¬ 
richtet worden waren, sich nicht leicht umstellten. Andrerseits wollte man 
bewußt auf den Fundamenten nicht aufbauen> welche die alte Schule ge- 


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legt hatte, um die Beurteilung der neuen Schule nicht zu erschweren oder 
zu trOben. 

Die Reformschule Röderberg wurde mit je einer gemischten 8. und 7. Klasse 
(1. und 2. Schuljahr) eröffnet Die Reformschule Schwarzburg begann mit 
einer 8. Knaben- und einer 8. Mädchenklasse. Jahr für Jahr sollen sich 
neue Aufnahmeklassen anschließen, so daß im Laufe von 6 bzw. 7 Jahren 
zwei neue Schulorganismen entstehen werden. Die Kinder der beiden Reform¬ 
schulen entstammen teils der Arbeiterschaft, teils der geistigen Schicht des 
Mittelstandes. Es besteht die Gefahr, daß die letzteren nach vierjährigem 
Besuch der Grundschulklassen in die höheren Schulen abwandern werden, 
wenn den Eltern nicht die Gewißheit gegeben wird, daß ihre Kinder durch 
Aufbauklassen die mittlere oder höhere Reife erlangen können. An ihre 
Stelle müßten nach vier Jahren durch Umschulung andere Kinder treten, 
worunter die Reinheit der beiden Versuche leiden würde. Eigenartig ist an 
der Reformschule Schwarzburg die starke Anmeldung von Knaben und die 
verhältnismäßig geringe von Mädchen. Eine nicht kleine Anzahl der 1921 
aufgenommenen Mädchen war körperlich und geistig wenig entwickelt Ihre 
Eltern hatten sich offenbar von der Hoffnung leiten lassen, durch die neue 
Schule und ihre besondere Methode würden die Schwachen leichter und 
! besser gefördert. Sie sind nicht getäuscht worden. 

Das Wesen der Arbeitsschule für die ersten Schuljahre ist den Frankfurter 
Reformpfidagogen gekennzeichnet durch die bewußte Anknüpfung an die 
Naturform des kindlichen Selbstunterrichts vor der Schulzeit. Mehr als die 
alte Forderung der Selbsttätigkeit bedeutet ihnen die neue Ansicht des „Aus- 
sich-selbst-tätigseins“. In spontaner Selbstentfaltung wählen sich die Kinder 
ihre Aufgaben selbst. Der Lehrer gibt nur Anregungen und Richtlinien. Er 
vermeidet möglichst den äußeren Zwang. Sein Bestreben ist, Sinn und Geist 
der Kinder durch Berücksichtigung der spontanen Selbsttätigkeit zum Wachs¬ 
tum zu bringen. Die pädagogische Reform ist mehr als bloße methodische 
Angelegenheit, sie ist eine Erziehungsfrage, die als Voraussetzung eine gegen 
früher andersartige Grundgesinnung hat. Das Triebhafte im Kind soll durch 
die Schulerziehung nicht abgeknickt und durch den Unterricht nicht erstickt 
werden. Das Doppelleben in und außer der Schule mit seiner die Charakter¬ 
bildung stark gefährdenden Divergenz soll vermieden, die Gesamtentwicklung 
des Kindes dafür in einheitliche Bahnen gelenkt werden. Der Lehrer ist 
Kamerad und väterlicher Freund. Der Geist der kalten Autorität ist dem 
der hingebenden Liebe gewichen. 

Lesen, Rechnen und Schreiben traten in den Aufnahmeklassen in der 
ersten Hälfte des Schuljahres stark in den Hintergrund. Begonnen wurde 
in allen Aufnahmeklassen mit dem großen Antiquaalphabet. Nach seiner 
Bewältigung wurden die übrigen Alphabete spielend hinzugelernt, so daß 
am Ende des ersten Schuljahres die übliche Lese- und Schreibfertigkeit bei 
allen Kindern vorhanden war. Die aus spontaner Selbsttätigkeit entspringenden 
Vorstöße in die Zahlenräume machten bei der Zahl 20 nicht halt, sondern 
wagten sich weit darüber hinaus. Die Eroberung der Heimat ging damit 
Hand in Hand. Die Bodenständigkeit und Wurzelbaftigkeit gaben dem ge¬ 
samten Unterricht sein Gepräge. 

In diesem Geiste und auf dieser Grundlage wurde die Arbeit im Schul¬ 
jahr 1922 weiter fortgesetzt. Ostern 1923 umfaßt die Reformschule Röder- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


berg die 4 Grundschulklassen. Die Reformschule Schwarzburg zählt dann je 
zwei 8., 7. und 6. Klassen. 

Die Eltern, die ihre Kinder den beiden Schulen anvertrauten, sind mit den 
neuen Erziehungs- und Unterrichtsmethoden zufrieden. — Der Andrang inter¬ 
essierter Besucher aus den Reihen der Frankfurter Lehrer- und Elternschaft 
und darüber hinaus aus ganz Deutschland und dem Ausland war so groß, 
daß besondere Besuchstage eingerichtet werden mußten. Die anregende 
und belebende Wirkung der beiden Reformschulen ist in vielen Frankfurter 
Schulklassen deutlich 'spürbar. Mögen sie sich gedeihlich weiterentwickeln 
zum Segen unseres Schulwesens, zum Besten unserer Jugend und unseres 
Volkes! 

Die Aufnahme- und Beobachtungsstation der Landesanstalt Chemnitz-Alten¬ 
dorf ist hervorgegangen aus systematischen Intelligenzuntersuchungen bildungs¬ 
fähiger schwachsinniger Kinder der Landesanstalt. Nach dem Kriege wurde 
es möglich, auch alle Neuaufnahmen zu prüfen, um sie möglichst genau dem 
fein verzweigten Organismus der Anstalt einzuordnen. Zu diesen Arbeiten 
wurden besondere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt; in einem Tages¬ 
raum wurden die Kinder von einer eigens dazu vorgebildeten Schwester 
ebenfalls beobachtet. Dem besonderen Entgegenkommen der Vorgesetzten 
Dienststellen ist es zu danken, daß die Station ihr Instrumentarium bedeutend 
vergrößern konnte. Seit drei Jahren ist die Station im Krankenhause der 
Anstalt untergebracht, und es hat sich hier in geeigneten Räumen ihr Arbeits¬ 
gebiet wesentlich erweitert. Geprüft werden jetzt nicht nur Zuführungen, sondern 
vor allem auch Kinder, bei denen sich plötzlich psychische Veränderungen 
zeigen. Die Beobachtung hat dann neben der des Psychiaters zu ergeben, welche 
Erziehungsmaßnahmen in der Folge zu treffen sind und wohin das Kind neu 
einzuordnen ist. Weiter sind von Wert die statistischen Bearbeitungen der 
Aufnahmeergebnisse, die angeregten Überarbeitungen der Zensur- sowie der 
Aufnahmebogen. Allgemeinen Wert haben die systematischen Gedächtnis- 
Untersuchungen sowie die Feststellung der Bedeutung von Farbe und Licht 
bei anormalen Kindern 1 )* Gerade die Untersuchung der Lichtwirkung auf 
Schwachsinnige hat bereits Ergebnisse gezeitigt, an denen die Heilpädagogik 
nicht vorübergehen kann. — Mit den Arbeitseigebnissen und Methoden der 
Station werden sowohl die Erzieher wie auch die zahlreichen Besucher laufend 
bekannt gemacht. Ferner werden Verbindungen hergestellt mit Gleich¬ 
strebenden. So wird z. B. dem Problem der Färb- und Lichtbehandlung 
gleichzeitig nacbgegangen an der Landesstrafanstalt für Jugendliche in Bautzen 
und an der Landesstrafanstalt Hoheneck. — Es dürfte so die Station geeignet 
sein, sich zu einem Institut für die Erforschung des kindlichen Schwachsinns 
auszugestalten. 

Nachrichten. 1. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltet unter 
Mitwirkung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen von Januar bi* 
März 1923 seminariscbe Obungen zur Einführung in die Psychopathenfürsorge. 

2. Eine dauernde psychologische Ausstellung ist von der Auskunftsstelle für Jugend- 
kunde am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin eingerichtet worden. Sie u ®' 
faßt: 1. Lehr- und Anschauungsmittel für den Psychologieunterricbt mit besonderer Rücksicn 


') Siebe dazu Zeitschr. für Päd. Psycb., Heft 11/12, 1922. 


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Literaturbericht 


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auf die Lehrerbildung, 2. Untersuchungs- und Prüfungsmittel, die in der pädagogisch-psycho¬ 
logischen Forschung verwendet werden. 

3. ln München tagte vom 8. bis tO. Dezember 1922 der Kongreß der internationalen 
Gesellschaft für vergleichende Individualpsychologie. In Vorträgen und Berichten 
wurde die Lehre Alfred Adlers und ihre Stellung zu Fragen der Psychologie; Charakterologie, 
Psychiatrie, Psychotherapie, Pädagogik erörtert. 

4. Unter den neuen Preisaufgaben der Universität Leipzig findet sich die folgende: „Die 
Methoden und Ergebnisse der Komplexpsychologie sind hinsichtlich ihrer Bedeutung für die 
wissenschaftliche Pädagogik zu prüfen 44 . 

5. Für einen Kongreß für Logopädie 1923 in Wien hat ein Ausschuß die Vorarbeiten be¬ 
gonnen. Es ist in Aussicht genommen, über Aphasie, periphere Sprachstörungen und Phonetik * 
in Berichten und Einzelvorträgen eine Aussprache über Theorie und Behandlung herbeizuführen. 
Mitteilungen und Anmeldungen werden erbeten: für Österreich an Dozent Dr. Froeschels, 
Wien 9, Ferstelgasse 6, für Deutschland an Dr. Th. Hoepfner, Saalfeld, Ostpr. 

6 . Die Stadt Wien hat, nachdem die Lehrerakademie nunmehr für immer geschlossen worden 
ist, ein Pädagogisches Institut errichtet: seine Vorlesungen gliedern sich in philosophische, 
emehungswissenschaftliche, didaktische und in solche für Ergänzungsprüfungen an Mittelschulen. 

7. Das Landesberufsamt Berlin verpflichtete den Berliner Lehrer Hellmuth Bogen als 
wissenschaftlichen Assistenten der psychologisch-medizinischen Abteilung. 

8 . Zum Ehrendoktor der Philosophie bat die philosophische Fakultät der Universität 
Heidelberg den Mannheimer Volksschullehrer Ernst Krieck in Anerkennung seiner Arbeiten 
auf dem Gebiete der Geschichte und der Philosophie der Pädagogik ernannt. Er schrieb unter 
anderem „Persönlichkeit und Kultur, kritische Grundlegung der Kulturphilosophie 44 . „Lessing 
and die Erziehung des Menschengeschlechts 44 . „Die Revolution der Wissenschaft 44 . „Philosophie 
der Erziehung 44 . 


Literaturbericht 

Besprechungen. 

Rudolf Lehmann, Die deutschen Klassiker (Herder—Schiller—Goethe. Band 9 und 10 
der Sammlung: Die großen Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme). Leipzig 1921. 
F. Meiner. 341 Seiten. 

Es wäre ein naiver Irrtum, in der Geschichte der Pädagogik nur die Professionellsten der 
Erziehung zu suchen; bei den unlöslichen wechselseitigen Zusammenhängen zwischen Kultur und 
Büdtmg, Gesellschaftszustand und Erziehungseinrichtungen, Weltanschauung und Zielgedanken 
des Menschenlebens wird Jede große Persönlichkeit den einen oder anderen Zugang zum päd¬ 
agogischen Problem haben und suchen; die Menschenaufgabe der Erziehung und Bildung bewegt 
schöpferische Geister, auch wenn sie der praktischen Erziehertätigkeit fernbleiben und der Mittel¬ 
punkt ihres Lebenswerkes auf dem politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, religiösen, 
wirtschaftlichen oder technischen Gebiet liegt. In einem ursprünglichen Sinn ist jede säkulare 
Gestalt Erzieher ihres Volkes, Erzieher der Menschheit: durch die beispielgebende Vorbildlichkeit 
ihres Seins und Schicksals wie durch den Einfluß des den Generationen der Zeitgenossen und 
Nachgeborenen Richtung gebenden, in ihren Werken und Leistungen ausgeformten geistigen Gehalts 
ihrer Persönlichkeit. 

Die deutschen Klassiker gehören aber nicht nur in diesem allgemeinen Sinne in die Reihe 
der großen Erzieher des deutschen Volkes: sie haben unmittelbar in die Gestaltung der Bildunga¬ 
zastände und in die Entwicklung der Bildungsideen eingegriffen, haben Fürsten und Erzieher 
erzogen und die lebendige Wirkung auf Volk und Menschheit als den schönsten Teil der Ver¬ 
antwortlichkeit des Genies gefühlt. So ist es nicht ein Akt der Helden Verehrung, sondern 
Aasfluß sachlicher Erkenntnis, wenn Rudolf Lehmann io der von ihm begründeten und vor¬ 
trefflich geleiteten Schriftenreihe „Die großen Erzieher 44 den deutschen Klassikern Herder, 
Schiller, Goethe einen eigenen stattlichen Band widmet. 

Die Einleitung entwickelt wie eine Ouvertüre in musterhafter Kürze den geistigen Zusammen¬ 
hang des pädagogischen Denkens mit der Persönlicbkeitsphilosophie der Zeit und klärt die Haupt¬ 
motive der Zielsetzung (Herder: Humanität, Schiller: Die schöne Seele, Goethe: die harmonische 
Allseitigkeit), den Zwiespalt zwischen dem Ideal reiner Persönlichkeitskultur, die Bildung als Sein 


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Literaturbericht 


versteht, und den Forderungen des Gemeinschaftsgedankens mit ihrer Betonung von Tat, Wirkung 
und Leistung, die Unterschiede der Bildungswege (Herder: am meisten noch im Rationalismus 
befangen; Schiller: entdeckt die Kunst als erziehende Madit; Goethe: überwindet die Einseitig¬ 
keit sowohl der intellektuellen wie der künstlerischen Bildung), und die bei jedem der drei 
Repräsentanten des deutschen Bildungsgedankens etwas anders gelagerten inneren Schwierig¬ 
keiten und Grenzen ihrer begrifflichen Formulierungen und praktischen Versuche bezw. Vor* 
Schläge. Als Vertreter des Übergangs zweier pädagogischer Epochen — der Aufklärung und 
der Romantik, des rational konstruktiven Denkens und der organisch-entwickelnden Weisheit — 
sollen Herder, Schiller, Goethe historisch verstanden werden: als die das Berechtigte zusammen¬ 
fassende Überwindung der pädagogischen Linie von Locke bis Rousseau und als die grund¬ 
legende Vorbereitung der neuen Linie von Humboldt und Pestalozzi bis zur Gegenwart. 

Ich habe es für nötig erachtet, die wenigen Seiten der Einleitung so ausführlich zu würdigen, 
weil sie mir ein Muster gestaltender Geschichtsschreibung der Pädagogik zu sein scheinen, die 
Aufzeigung großer Zusammenhänge, die nur dem gelingt, der die Stoffmassen der Detail¬ 
forschung intellektuell bewältigt hat Daß Shaftesbury als der große Anreger des persona- 
listischen Bildungsgedankens und zugleich als Prototyp des Gebildeten im Sinne der Klassiker 
zu voller Anerkennung gelangt, ist ein Verdienst; ob diese Einsicht abgeschwächt oder ver¬ 
dunkelt worden wäre, wenn das Problem Rousseau auch in dieser großen Überschau schon 
seine Würdigung gefunden hätte (nicht erst an den einschlägigen Stellen der nachfolgenden 
Kapitel), glaube ich anders beurteilen zu sollen als der Verfasser; die reichlich belegte ver¬ 
schiedene Stellung namentlich Schillers und Goethes zu den Rhapsodien und Programmen Rousseaus 
hätte m. E. ebenso Licht auf die inneren Verwandtschaften und Fremdheiten fallen lassen wie 
diä von R. Lehmann in erster Linie angezogenen Momente. Soweit Geschichtsschreibung Aus¬ 
wahl ist, verstehe ich es, wenn man über die leitenden Werte verschiedener Meinung ist, soweit 
sie — wie bei Lehmann selbst im Zusammenhang der einzelnen Abhandlungen — nachfühlendes 
Verstehen des Werkes aus dem Erlebnis ist, dürfte aber auf Rousseau nicht verzichtet werden, 
denn für die pädagogische Richtung ihrer Denkbewegung ist Rousseau ein Erlebnis der großen 
Deutschen gewesen. 

An die Einleitung reihen sich die drei schön abgerundeten und fesselnd geschriebenen Ab¬ 
handlungen. „Herder und das Ideal der Humanität*, „Schiller und der Gedanke der ästhetischen 
Erziehung*, „Goethe und das Problem der individuellen Bildung*. Sie wirken in der sorgfältigen 
Abgewogenheit ihrer Maße, dem gepflegten sprachlichen Ausdruck und in der vollen Beherrschung 
des Stoffes wie Kunstwerke und lebendige Zeugnisse der Bildung, die sie darstellen. Durch die 
Analyse der Persönlichkeit und ihres Erlebnisses bereitet der Verfasser das Verständnis ihrer 
pädagogischen Konzeptionen vor; aus den Schriften, den Entwürfen und praktischen Leistungen, 
den Zeugnissen der Zeitgenossen und Kritiker schöpft er das quellenmäßige Bild der Ideen und 
Bestrebungen; durch die Zeichnung des allgemeinen geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen 
Hintergrundes, die Aufhellung der feindlichen und freundlichen Berührungen mit anderen führenden 
Geistern gewinnt er den Maßstab einer immanenten Würdigung; durch den Ausblick aut die 
nachfolgenden Wirkungen, die übersehenen oder ungelöst gebliebenen Probleme der deutschen 
Geistigkeit, Gesellschaft und Kultur, fließen die Anhaltspunkte für eine Abschätzung des absoluten 
Beitrags, den sie zur Entwicklung der pädagogischen Idee geleistet haben. Den Gang der Dar¬ 
stellung im einzelnen zu verfolgen und durch eine notwendig stichwortmäßige Inhaltsskizze 
wiederzugeben, versage ich mir: in der festen Überzeugung, daß das Buch selbst gelesen werden 
muß und gelesen werden wird. Gerade in der Farbe der Darstellung und in der Herausge¬ 
staltung der tieferen Zusammenhänge liegt der überlegene Wert des Werkes, das nicht eine 
äußerlich ordnende Blütenlese pädagogischer Aphorismen und Gedanken aus den Werken der 
drei behandelten Männer ist, sondern der gelungene Versuch, in den sich ergänzenden und durch- 
dringenden Konzeptionen die innere Einheitlichkeit einer die Totalität, d. h. die Durchbildung 
aller Kräfte und Anlagen eines individuellen Menschen zur schöpferischen Leistung bezweckenden 
Persönlichkeitsbildung als den praktisch erst in der Gegenwart zu ansatzweiser Auswirkung ge¬ 
langenden Kern einer neuen Pädagogik aufzuweisen. So liegt in den Ausführungen über Goethe 
der notwendige Abschluß der Gedankenbewegung des Lehmann’schen Werkes, und in der über¬ 
all spürbaren Aufforderung an das pädagogische Denken unserer Zeit, sich aus der Beschäftigung 
mit der Pädagogik der Klassiker die schmerzlich vermißte Einheitlichkeit der neuen Richtung zu 
erarbeiten, ihre praktische Tendenz. 

An sich ist es gewiß möglich, daß eine spätere Zeit ihre besonderen Aufgaben durch Ge¬ 
danken einer klassischen Epoche sozusagen vorgezeichnet und vorgelöst finden und durch ein 
entschieden bewußtesVeriassen der Bahnen der unmittelbaren Tradition, durch eine Renaissance älterer 
Kulturg es i nn u n gen, ihre Mission und Aufgabe besser erkennen und erfüllen kann. Aber die von 


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Literaturbericht 


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Lehmann selbst wiederholt festgestellte Einflufilosigkeit der Klassiker auf die tatsächliche Er- 
xiehnngsbewegung und die Beschränkung ihrer Gedanken auf eine verhältnismäßig dünne Schicht 
| selbst des geistigen Deutschlands wird zu prüfender Bestimmung Anlaß geben müssen. Es ist 

! sicher — geschichtlich betrachtet — ein Unglück gewesen, daß nicht Schiller und Goethe, sondern 

Humboldt und Herbart die erfolgreichen Wegweiser für die Organisation und den Geist der 
höheren Schule und der Volksschule geworden sind, zwei trotz aller Verschiedenheit der 
Individualität stärker im Rationalismus und Ästhetizismus der Aufklärung verwurzelte Persön¬ 
lichkeiten, als die in jeder Dimension ihnen überlegenen Geister von Weimar. Aber dieses ge¬ 
schichtliche Schicksal ist doch nicht eine zufällige Folge etwa der epigonischen Verständnislosig¬ 
keit und Kleinmaßigkeit der nach ihnen verantwortlich an der deutschen Erziehung schaffenden 
Generationen, sondern — mindestens teilweise — auch die notwendige Folge der gerade in der 
klassischen Zeit in Deutschland endgültig gewordenen Entfremdung zwischen der höheren geistigen 
Kultur und den allein regenerativ wirkenden Kräfte des breiten Volkstums, weiter auch eine Folge der 
völlig anderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die von der 
reinen Geistigkeit einer Persönlichkeit um so lieber außer acht gelassen, ja in ihrem Recht negiert 
werden, je weniger sie von ihr siegreich gestaltet werden können. Ich räume gern ein, daß 
Goethe, der ja am längsten und tätigsten gelebt hat, den Wandel der Zeiten noch erfuhr und 
als Persönlichkeit die meisten Organe für die Wirklichkeit besaß, die Problematik des beginnenden 
19. Jahrhunderts noch durchlebt und durchdacht hat; so hätte seine Zielbestimmung der Erziehung 
-die Fähigkeit zu gesammelter Selbstbeschränkung im Zögling auszubilden und dadurch den 
Grand zu aller Tüchtigkeit zu legen“ (bei Lehmann Seite 304) vielleicht eine Brücke werden 
, können zwischen der in voller Autarkie über aller Wirklichkeit schwebenden ästhetisch-forma¬ 
listischen Persönlichkeitskultur und einer aus den verschiedenen Kräften der Nation und den 
dringenden Bedürfnissen der Gemeinschaft, ihrer Wirtschaft und ihren Lebensordnungen planmäßig 
zu schaffenden Volkskultur. Aber man darf doch wohl fragen, ob die Verwirklichung dieses Ideals 
oicht zu einer — sicherlich fein ausgeformten — Neuauflage ständischer Kultur geführt hätte, 
die der Blüte des Gesittungslebens in der städtischen Zeit des späteren Mittelalters allenfalls in 
der Höhe der Leistung, nicht im inneren Geist überlegen gewesen wäre. Ich verstehe, daß auch 
heute wieder — aus verschiedenen Gründen — die deutschen Menschen rückwärtsblicken auf die 
Zeiten einer religiösen Volkskultur und vorwärts sich sehnen nach ähnlicher, beruhigter Geschlossen¬ 
heit der Lebensführung und Stabilität der Kulturarbeit, aber mir will es eine große Selbsttäuschung 
scheinen, wenn man ernsthaft glaubt, dieses Ziel anders als im Durchleben unserer Zeit er¬ 
reichen zu können. Gewiß ist die Erziehung — im Großen betrachtet — nicht nur wie Friedrich 
Paalsen gemeint hat, der nachhinkende Ansdruck der vorhandenen Kulturlage, sondern auch 
ein Faktor der Kulturbewegung, in diesem Sinn schöpferisch, aber sie kann allein nicht die neue 
Lebens- und Gesellschaftsordnung schaffen, darüber sollte nach den Mißerfolgen des pädagogischen 
18. Jahrhunderts und dem geschichtslosen Optimismus Rousseaus kein Zweifel mehr bestehen. 
Der wesentliche Grund für die — äußerliche — Einflufilosigkeit des pädagogischen Klassizis¬ 
mus liegt in seiner Distanz zu den'realen Kräften der sozialen Wirklichkeit, den staatlichen, wirt¬ 
schaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen der liberalen, industriealistischen, kapitalistischen, 
parlamentarischen Epoche der modernen Nationalstaaten. Wer glaubt, daß die entschlossene und 
konsequente Verwirklichung selbst der Goetheseben Erziehungsgedanken — ihre Möglichkeit ohne 
weiteres zugegeben, denn historisch möglich ist, was Ziel volksmäßigen Willens ist — uns als 
Ersatz für die Unterbindung der neuen Wirtschafts- und Geseilschaftsentwicklung eine wirkliche 
Volkskultur gebracht hätte? Ich glaube, der kleinbürgerliche Geist mit allen seinen Vorzügen, 
aber sicher auch mit all seinen Verengungen und Schattenseiten wäre die wahrscheinlichere 
Folge gewesen. Das bitte ich nicht etwa so mißzuverstehen, als ob Goethe der Repräsentant des 
Kleinbürgertums gewesen wäre; ein Genius wird niemals durch eine soziologische Kategorie begrenzt, 
ich stelle es fest, um auf den falschen Schluß aufmerksamzu machen, daß jeder Schuster und Schneider 
nach dem Rezept der pädagogischen Provinz in seiner Art ein Goethe werden könnte, wenn er 
dessen organische Maxime der Selbstbeschränkung auch für seinen Bildungsweg annimmt oder — 

! durch die gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen — vorgeschrieben bekommt. So liegt der 
. tiefere Grund für die unzweifelhaften Mängel der deutschen Erziehung im 19. Jahrhundert weit 
weniger in dem geringen Einfluß der Klassiker als in der — wie mir scheint — noch beträcht¬ 
lich klassizistischen Wirklichkeitsferne ihrer geistigen Gefolgschaft, auch der Humboldts und 
| Herbarts, und deshalb bleibt der Wegbereiter der neuen Erziehungsgedanken Pestalozzi, dessen 
mächtig aufragende Persönlichkeit doch wohl auch für die Gedanken Goethes mitbestimmend 
trewesen ist 

Es wäre ein Mißverständnis, wollte jemand aus meinen hier nur flüchtig angedeuteten Be¬ 
denken eine Art historischer Widerlegung der Pädagogik der Klassiker heraushören; Ideen 


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Literaturbericht 


werden'nicht durch Tatsachen widerlegt oder bestätigt, und es ist kein Einwand gegen Platonische 
Erziehungsstaatsgedanken, daß sie bis zum heutigen Tage nicht verwirklicht wurden. Aber wenn 
sie zu Zielgedanken einer suchenden Entwicklung erhoben werden sollen, obliegt uns zu prüfen, 
an welche Bedingungen die Realisierung bestimmter Ideen geknüpft ist Aus solcher Ober¬ 
legung heraus meine ich anerkennen zu müssen, daß unsere geistige Lage wesentliche Wert¬ 
momente enthält, auf die wir durch eine entschlossene Renaissance der personalistischen Pädagogik 
verzichten müßten, aber nicht verzichten dürfen; von unseren Voraussetzungen aus, vom Boden 
der Massen probleme und des Problems der Masse müssen wir die Erziebungsaufgabe durch¬ 
denken und zu lösen versuchen. Und diese Probleme sind in der Zeit der klassischen Kultur 
teilweise noch nicht vorhanden gewesen, teilweise vom Bildungsdenken beiseite geschoben werden. 
Gewiß hat Rudolf Lehmann auch diese Zusammenhänge beobachtet; aber nicht eigentlich 
auf die Fragen der Volksbildung als solcher eingestellt, nimmt er zu ihrer Bedeutung anders 
Stellung. Wenn ich mich seiner Bewertung für unsere Zeit nicht durchweg anschließen kann, 
so möchte ich aber doch betonen, daß ich gerade seiner lichtvollen Darstellung die volle Klar¬ 
heit über die persönliche Bedingtheit und damit über die Geltungsgrenzen der klassischen 
Pädagogik verdanke. 

Das Buch ist sorgfältig gedruckt und erleichtert durch ein Namenregister den Überblick 
über die Berührungen der in den drei großen Essays mit zur Behandlung gelangten, für die 
Erziehung bedeutsamen Zeitgenossen Herders, Schillers und Goethes. 

München. Aloys Fischer. 

Dr. Max Epstein, Die Erziehung im schulpflichtigen Alter nach der Grundschale. 

Karlsruhe i. B, 1922. G. Braun. 585 S. 

Es ist kulturgeschichtliche Gesetzmäßigkeit, daß völkische Notzeiten große Erziehungsrefor¬ 
men einleiten, ln der Bedrohung des Volkstums erwacht das pädagogische Gewissen. Das 
schicksalsbedrängte Volk besinnt sich im Niederbruch auf sein Bildungswesen, wird sich der Be¬ 
deutung der Erziehung bewußt und wirft nun Anklage und Hoffnung auf seine Erziehungsmächte. 
Ein leidenschaftlicher Reformwille springt auf; ein heftiges Suchen nach neuen Gestaltungen 
hebt an — heute bei uns um so ungestümer, weil lange schon vor dem Kriege eine starke 
Schulreformbewegung in Deutschland eingesetzt hatte, ohne zum Durchbruch kommen zu können. 
Der starke Affekt aber ist einem so hochverantwortlichen Tun wie der Erziehungserneuerung 
nicht zuträglich. Wir haben ja erfahren müssen, wie gefährlich das Gebaren eines pädago¬ 
gischen Radikalismus und einer schwärmerisch romantischen Pädagogik unserer deutschen Schul- 
und Hauserziehung zu werden drohte. Hinwiederum gilt es, an dem pädagogischen Ungestüm 
und der schwärmerischen Stimmung eine bedeutsame Erscheinung nicht zu verkenneu. In dem 
Heraustreten aus der Enge zünftigen Fachdenkens, in dem Abwerfen der Fesseln^ überlieferter 
Erziehungsmeinungen, in der Erschütterung einer seelischen Aufwüblung, in der Beschwingung 
durch einen leidenschaftlichen Lebenswillen geht — fast hellsichtig — mancher richtige Ge¬ 
danke auf, für den anders sonst Fähigkeit und Mut, ihn zu erkennen und zu bekennen, 
mangeln würde. Nur daß nun die mehr aus der Ergriffenheit als dem Begreifen, mehr im 
Schauen als Erkennen geborenen Meinungen nicht in der Stimmung, der sie zu danken 
sind, verharren dürfen, sondern daß sie herübergenommen werden auch in die Besonnen¬ 
heit und Erwägung eines zwar ebenfalls gefühlsgetragenen, aber doch von schädlichen Affekten 
freien Denkens — eines echten pädagogischen Denkens, das vor allem gereinigt ist von Bei¬ 
mischungen, die heute unsere Auseinandersetzungen über Erziehungsfragen so sehr trüben. 

Was in unseren Tagen sich in solcher Weise an erziehlichen Sehnsüchten, Gedanken, 
Vorschlägen, Forderungen, Entwürfen, Ansprüchen bervorgedrängt hat, rumort in dem Epstein- 
8 chen Buch durcheinander. Ein Jahrmarkt pädagogischer Neuheiten. Gegen vierzig Rufer — 
meist Fachleute, unter denen sich aber u. a. auch ein Primaner mit komischem Pathos tummelt 
— haben sich zusammengefunden, um ein Buch erstehen zu lassen, das über die Lehrerschaft 
hinaus die weitesten Kreise aufruft, mitzuwirken an dem Werden einer von Grund aus neuen 
Erziehung. Sie alle, die da durchaus nicht gleichsinnig das Wort nehmen, eint die Oberzeugung, 
der auch wir sind: „Das Volk soll Erzieher sein: Väter, Mütter, Arzt und Arbeiter, Alt und 
Jung!* Zum Begreifen dieser Aufgabe, zur Erregung des eigenen Denkens, zur Entschlossen¬ 
heit des Handelns — »Fangt an!* — wollen sie wecken und anspornen. Darum eben kein 
Lehrbuch „mit Schulmeistersicherheit!* Aus dem vielstimmig-unstimmigen Chorus soll jeder 
Leser — unterwegs immer wieder „sich selbst entschließend, selbst abwägend und entscheidend* 
seinen ihm liegenden Ton heraushören. „So kämen wir voran!“ 

Mit der Oberfülle der Wünsche und Forderungen, Anregungen und Gedanken, die das Buch 
in sich trägt, sich einzeln auseinanderzusetzen, wäre im Rahmen einer Besprechung oder auch Ab- 


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Literatorbericht 


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bandlung eine unmögliche Aufgabe. Hier and da steht in dem Werke selbst Meinung gegen 
Meinung; ganz bewußt ist auch Widersprüchen nicht ausgewichen. Einigermaßen aber hat 
man sich mehr oder minder auf den geistvollen und leidenschaftlichen Paul Österreich und 
damit auf die Gedankenwelt derer aus dem Bunde entschiedener Schulreformer eingestellt. So 
darf nicht zuerst Vollendetes, Ausgereiftes, Endgültiges in dem farbigen Buche gesucht werden. 
Man begegnet in den allgemeinen Erörterungen mehr Werdendem, Programmatischem, vielem 
Glauben. Manches ist Utopie. Zum Teil wieder geben sich — besonders dort, wo rein didak¬ 
tische Fragen erörtert werden — die Verfasser keineswegs so kühn und ketzerisch, als man es 
nach dem „Allgemeinen Vorwort“ Epsteins und der temperamentvollen Erklärung Österreichs 
„Was wollen wir“ vermuten müßte. Streckenweise werden doch auch recht geläufige Gedanken- 
ginge eingeschlagen, werden Meinungen vorgetragen, die nunmehr durchaus als gesichert gelten 
können, wird sogar auch manchmal Urväterhausrat pftdagogisober Weisheit hingestellt. Auf¬ 
fällig schwankt die Höhe der formalen geistigen Haltung; zwischen der streng wissenschaftlichen 
Untersuchung des Leipziger Universitätsprofessors Theodor Litt über die „Methodik des päd¬ 
agogischen Denkens“ und so mancher Plauderei wie vom Stile des Beitrages über den „Lebens¬ 
wert des Spieles“ und des Primaner-Ergusses „Der höhere Schüler und die höhere Tochter“ tut 
dch ein fataler Abstand auf. Eine Ausscheidung sachlich belangloser und in der Form niedrig 
gelegener Abschnitte wäre dem ohnedies zu dickleibigen Bande heilsam. Soll aus dem Be¬ 
deutenderen der und Jener Aufsatz genannt werden, so sei außer auf Litts Abhandlung — dem 
wohl besten Stück — verwiesen auf: Paul Österreich, „Der Aufbau der Zukunftsschule", Sieg¬ 
fried Kawerau, „Gemeinschaftskunde“, Max Epstein, „Die Kunst im System der Erziehung“, 
Anna Siemsen, „Fortbildung»- und Fachschulen“, Otto Liepmann, „Schule und Beruf 4 . 

Das Buch, das Jugendleben zwischen dem 11. und 18. Lebensjahre umfassend, gliedert sich in 
die drei Abschnitte: Der Aufbau der Schule als Kern- und Wablunterricht, die Erziehung im 
xholpflichtigen Alter, der Übergang ins praktische Leben. Es ist gedacht als Teil eines um- 
hßsenderen Erziehungswerkes. Zu erwarten sind noch ein Band über die Erziehung des Kindes 
vor und nach der Geburt, im Säuglings-, Kleinkind- und Grundschnlalter, und ein weiterer, der 
die Bildung nach der Schule in Praxis und Akademie behandeln soll. Das dreibändige Ganze 
kam dann, wenn der Plan sich so glücklich durchführen läßt, wie es alles in allem genommen 
bei dem vorliegenden Mittelteile gelungen ist, ein wertvolles Dokument werden für die starke 
pädagogische Gedankenerregung in einer Zeit schwersten deutschen Schicksals. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Joh. M. Verweyen, Form als Wesensausdruck. Prien 1921. Anthropos-Verlag. 174 S. 

Von den verschiedensten Seiten her hat man in den letzten Jahren das Formproblem auf- 
geroüt: zur Analyse des ästhetischen Schaffens, zur Aufhellung soziologischer Zusammenhänge, 
endlich zur Phänomenologie aller Lebensformen schlechthin. Der bekannte Bonner Philosoph 
Verweyen nimmt im ersten Kapitel seines vorliegenden Buches von derartigen Untersuchungen 
über die „Bedeutung der Form 44 seinen Ausgang: für die Wissenschaft, ohne freilich das Ver¬ 
hältnis der Form zu Methode und System hier restlos zu klären; für den moralischen Typus 
des Menschen (im engen Anschluß an Fichte); für Kunst (leider sehr kurz und ganz im Sinne 
von Schell ings berühmter Münchner Rede) und für Religion (freilich fast nur im Hinblick auf 
ihr meistenteils abweisendes Verhältnis zur Kunstform). 

Doch soll „die Einsicht in die Bedeutung der Form 44 nicht nur „den Aufbau aller Kultur¬ 
gebiete erhellen“, was entschieden eine Übertreibung darstellt (nicht nur wenn es in so „gro߬ 
zügigen“ Umrissen geschieht wie bei Verweyen auf den ersten 10 Seiten), sondern „über sie 
hinaus zu der Erkenntnis gewisser allgemeiner Beziehungen zwischen Form und Inhalt“ führen: 
also zur Frage nach dem „Was 44 die Frage nach dem „Wie 44 treten lassen. Dabei werden die 
Gefahren des Auseinanderklaffens von Inhalt und Form kurz gestreift und wird sehr schnell das 
Zentrum im Problem der charakterologischen „Strukturen“fragen erreicht Nach einer an dieser 
Sieüe wenig passenden Exkursion ins Parteileben (S. 13 f.) wird schließlich die Frage der Rang¬ 
ordnung der Werte erhoben: „ob das Was oder das Wie den Vorrang verdient", und zugunsten 
des letzteren entschieden. Ob man in dem folgenden Überblick über die Methoden auch der 
Phrenologie und Psychoanalyse so große Bedeutung beimessen darf, wie es V. tut, erscheint 
doch sehr fraglich, seitdem der moderne Ausbau der geisteswissenschaftlichen Psychologie so 
bedeutsame Fortschritte gezeitigt hat. ln der Literaturübersicht fehlt deren Literatur (Spranger, 
Scbeler, Litt, A. Reinach) freilich leider vollständig bis auf einen kurzen Hinweis auf E. Cassierers 
Bach: „Freiheit und Form“ (S. 29). — Das 2. Kapitel, „Form und Weltanschauung* 4 über- 
whrieben, geht mit Recht von dem Trieb des Menschen aus, aus Zerstreuung zur Sammlung, 
aus Mannigfa ltigkeit zur Einheit zu gelangen, und weist bei der Überschau über die vier Formen 


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Literaturbericht 


des Erkenntnisstrebens der Weltanschauungslebre (Metaphysik, Religionsphilosophie) neben Logik, 
Ethik und Ästhetik ihren Platz an. Sie wird sogleich in Seins- und Wertanschauung gespalten, 
erhält in Kunst und Religion ein doppeltes Ziel; und für beide Fälle gilt nun das Bemühen 
des Verfassers, religiöse und ästhetische Typen aufzustellen. Wie sinnvoll und fördernd 
man hierfür die Aufstellung von Gegensätzen beurteilen mag, so bewegt sie sich doch für 
Goethe und Schiller in allzu ausgetretenen Bahnen und betritt gar mit dem Gegensatz von 
Bach und Rieh. Strauß jenen Irrgarten eines uferlosen, nicht planmäßig vergleichenden Ver¬ 
fahrens, das früher besonders von dem ReligionBbistoriker Soederblom (Natürliche Theologie 
und Religionsgeschichte, Leipzig 1918, S. 56 ff.), jüngst von dem Wiener Kunsthistoriker Strry- 
gowski (Die Krisis der Geisteswissenschaften, Wien 1923, S. 61 ff.) entschieden abgeiehnt 
worden ist. ' 

Das Zentrum der Betrachtungen bildet dann das Kapitel „Form und Gemeinschaft“. Hier 
gilt es, mit soziologischen Methoden (in phänomenologisch-deskriptiver und wertethischer Hin¬ 
sicht) „sowohl die Fragen nach der Einstellung des Einzelmenschen aut die Gemeinschaft .. 
als auch nach der Daseins- und Lebensform der Gemeinschaft als des Ausdrucks ihres eigenen 
Wesens“ zu beantworten. Das geschieht nun nach den verschiedensten Richtungen (wobei oft 
weitere Abschweifungen nicht vermieden werden) in den Unterabteilungen: „Die Kunst des 
Brückenbauers“, „Der Typus des Sonderbaren“, „Blut und Eisen“, „Macht und Recht“, „Das 
Heereswesen und seine Formen“, „National und International“, „Aristokratie und Demokratie“, 
und „Die Form im neuen Deutschland“. Der Raum zur Besprechung und die aus den Prinzipien 
der phänomenologischen Darstellung hergeleitete Betrachtungsweise, die sich oft in kaum mehr 
noch innerlich zusammenhängende Einzelbetrachtungen verliert, verbieten auf Einzelheiten 
einzugehen. Dagegen bedarf es noch eines kurzen Blicks auf das Schiußkapitel: „Erziehung 
zur Form“. Neben sehr anfechtbaren Gedanken findet sich doch hier sehr gut und deutlich das 
Grnndproblem unserer Krisenzeit ausgesprochen (S. 168): „Bildung aber ist, wie der ursprüng¬ 
liche Wortsinn ankündigt, die Fähigkeit zur Gestaltung, daher nichts Passives, Ruhendes, sondern 
etwas Lebendiges, Eigenes, „Persönliches“, kein bloßes Verfügen über Kenntnisse, sondern vor 
allem über die Art ihrer Verwertung und Fruchtbarmachung. Erziehung zur Form in diesem 
Sinne also bedeutet die Kunst des Gestaltens, der Bezwingung einer stofflichen Mannigfaltigkeit.“ 
Wird das im Folgenden für die einzelnen Unterrichtsfächer und Erziehungsideale (die Pflicht 
zur Selbsterziehung mit eingeschlossen) durchgefübrt und am Schluß die Identifikation von 
Formerziehung und Kulturerziehung erreicht, so bleibt nach der Lektüre doch der Eindruck 
zurück, daß durch sehr zahlreiche sachliche Abirrungen, stilistische Entgleisungen, peinliche 
Druckfehler und die oft merkwürdigen Versuche der Popularisierung der Gedanken (Beifügung 
von wissenschaftlichen Fremdwörtern in Klammem) die Forderungen der ästhetischen Formung 
keine Erfüllung finden könnten. 

Pegau bei Leipzig. Walter Saupe. 

Felix Behrend, Bildung und Kulturgemeinschaft. Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 364 S. 

Fünfundzwanzig gesammelte Aufsätze und Vorträge, die um ihres sachlichen Inhalts und um ihres 
Verfassers willen — Behrend ist der führende Schulpolitiker der deutschen Philologenschaft — das 
volle Interesse der pädagogischen und schulpolitischen Öffentlichkeit verdienen. Wir wandern 
in dem Buche durch fünf große Gebiete: Methodik, Hochschulpädagogik, Geschichte der Er¬ 
ziehung, Organisation des höheren Schulwesens, Didaktisches. Die Aufsätze sind aus einer ein¬ 
heitlichen Grandanschauung entstanden (starke Einflüsse Goerlands und Natorps), zeigen gründ¬ 
lichste Kenntnis der Literatur, ein feines Einfühlungsvermögen in die verschiedenen Ansichten 
und einen sichern Ausgleich zwischen frischem Vorwärtsdrängen und bewußtem Festhalten am 
geschichtlich Gewordenen und Wertvollen. Am besten gelungen sind die Arbeiten über die 
Probleme der Hochschulpädagogik — Behrend kommt aus der freistudentischen Bewegung — 
und die Aufsätze über Reformen im höheren Schulwesen (Reifeprüfung, freiere Gestaltung des 
Unterrichts auf der Oberstufe, Planwirtschaft). In den Fragen, in denen sich Volksschule und 
höhere Schulen schneiden, vertritt B. vielfach einen dem unsera entgegengesetzten Standpunkt, 
aber auch hier wird die Auseinandersetzung sachlich, ruhig und vornehm geführt. Das Bach 
ist des Studiums sehr würdig. 

Berlin. Georg Wolff. 

Dr. Walter Moede, Experimentelle Massenpsychologie. Beiträge zur Experimental¬ 
psychologie der Gruppe. Leipzig 1920. Hirzel. 289 S. 

Die Notwendigkeit, das unüberschaubare Gebiet kollektivpsychologischer Erscheinungen 
wissenschaftlich zu erschließen, ist nicht erst heute erkannt worden, wo menschliche Massen, 


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Literaturbericht 


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Verbände, Gemeinschaften, Gruppen in gegen früher unvergleichlicher Vielgestaltigkeit und Fülle 
als Träger kulturellen Lebens auftreten. Von jeher hat vor allem die Erziehung sieh um die 
| Erkenntnis und die praktische Auswertung des gruppenpsychologischen Sachverhalts ihres Gebietes 
bemüht und so z. B. auch manches Wertvolle zur Psychologie der Schulklasse für die Theorie 
and Praxis sichergestellt. Moede, dem mancher kühne und wagemutige Zugriff in der letzten, 
erstaunlich schnellen Entwicklung der Psychologie als eines Wissenschaftsbereiches von ganz 
hervorragender Kulturbedeutung zu danken ist, stößt nun frisch mit den Mitteln experimenteller 
Forschung in die Massenpsychologie vor, und zwar vornehmlich in Richtungen, die für die Päd¬ 
agogik wertvolle Eroberungen erhoffen lassen. Seine Versuchspersonen Bind vielfach Schüler 
der Volksschule, und sie werden u. a. auch in Versuchstätigkeiten gebracht, die — wie das 
i Lernen sinnvoller Stoffe — von unmittelbarer Bedeutung für die Schulbildungsarbeit sind. Auch 
die Fragestellungen Beiner schon vor dem Kriege ausgeführten Untersuchungen, sind 
durchaus von näherer oder entfernterer Wichtigkeit für psychologische Grundlegung erziehungs- 
und Unterrichts wissenschaftlicher Lehren. Sie beziehen sich auf: Triebartige Reaktionen in der 
Gruppe; kollektivistische Schwellen (akustische Intensitätsschwellen; Schmerzempfindlichkeit); 
Willenserscheinungen (zeitliche Verhältnisse der Willenshandlung, Kraftleistung des Willensim¬ 
palses); Aufmerksamkeit; Gedächtnis und Assoziation. In dem einleitenden theoretischen Teile 
[ werden die massenpsychologischen Grundbegriffe geklärt, ist weiter kurz einiges Geschichtliche 
angegeben und finden sich Ausführungen zur Methodik der experimentellen Gruppenpsycho¬ 
logie. — Ein Buch, das in ein ebenso schwieriges wie bedeutsames Gebiet entschlossen und 
tapfer die Bahn bricht und sich nicht scheut vor den Unzulänglichkeiten, die jedem solchen 
ersten Zugriff anhaften müssen. Wichtig sind für die weiter vordringenden Forschungen die 
durch Moede gewonnenen Ansätze: es bleibt sein Verdienst, auch wenn die Ergebnisse ver¬ 
mutlich bei der Wiederholung und feineren Ausbildung der Versuche ganz gewiß manche Be- 
: richtigung erfahren werden, daß er auf bedeutsame Fragestellungen hinweist, die nicht länger 
[ mehr vernachlässigt werden dürfen, und daß er zu ihrer Lösung die gangbaren methodischen 
Wege zu finden sucht und sie ausprobt. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Charlotte Bühler, Privatdozentin an der Technischen Hochschule Dresden, Quellen und 
Stadien zur Jugendkunde. Heft 1: Tagebuch eines jungen Mädchens. Jena 1922. 
Gustav Fischer. 77 S. 

Bereits in dritter Auflage liegt heute das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens* vor, 
obwohl es erst 1919 im Internationalen psychanalytischen Verlage erschienen ist. Als Heraus¬ 
geberin hat sich nachträglich Hug-Hellmuth bekannt. Woher der Erfolg? Wie wir beobachten 
konnten, wurde es (auch als sensationelle Lektüre „ausgeboten“) vielfach geschmökert Die Wissen¬ 
schaft war vorsichtig, es als jugendkundliche Quelle für den weiblichen Entwicklungsgang in 
der Unruhe beginnender Reife zu werten. Mit Recht. Denn wer gleich uns seit zwei Jahrzehnten 
in den freieren Formen neuzeitlichen Lehrens und Lernens, das ganz anders als alte Schul¬ 
meisterei in jugendliches Seelenleben einschauen läßt, „höhere Töchter“ und Seminaristinnen 
unterrichtet bat und wem dabei im persönlichen, menschlich aufgeschlossenen Verkehre mancher¬ 
lei Bekenntnisse, Aussprachen, Elternberichte, Briefe, Aufsätze, Zeichnungen und auch Tage¬ 
bücher die Unterrichtsbeobachtungen ergänzen, der wußte, daß jenes Wiener Mädchen durch¬ 
aus nicht einen Typus, sondern einen höchst orginellen Einzelfall — nicht zuletzt bedingt durch 
das Milieu — darstellt. Es mag sich darum rechtfertigen lassen, daß in einer Zeit, in der un¬ 
vergleichlich Wertvolleres als Mädchentagebücher — und seien sie als Quelle gedacht — nicht 
mehr gedruckt werden kann, ein Seitenstück, ein Gegenstück zu jener Wiener Veröffent¬ 
lichung erscheint. Was sich hier an seelischem Werden niedergeschlagen hat, ist im ganzen 
Zuge und dem meisten des Einzelnen viel gesünder, natürlicher, unverbogener, bei aller Aufgewühlt¬ 
beit ruhiger und vor allem deutscher. In beigegebenen sparsamen Anmerkungen weist die Heraus¬ 
geberin, die in ihrem Buche „Das Seelenleben der Jugendlichen“ den „Versuch einer Analyse 
\ and Theorie der psychischen Pubertät“ gegeben hat, auf dies und jenes, was ihr typisch erscheint, 
mit kurzer Bemerkung hin. 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Br. Friedrich Schneider, Prorektor in Enskirchen, Schulpraktische Psychologie. 
Eine Einführung in die experimentellen und statistischen Arbeitsweisen der differentiellen 
Psychologie. Paderborn 1921. Schöningh. 228 S. 

Behandelt werden: Untersuchung der Schulneulinge; Auslese der Begabten und der Schwachen; 
Ermittlungen über die geistige Arbeit des Schulkindes; die Lehre von den Vorstellungstypen; 


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Literaturbericht 


die Beobachtung- und Aussagefähigkeit der Schüler; die Klasse als Individualität Beigegeben 
ist der Entwurf eines Individualitätsbogens. — Im Ganzen für den auf Fortbildung bedachten 
Lehrer eine brauchbare Einführung, die aus dem umfänglichen Gebiete auswählt, was unmittel¬ 
bare Beziehung zur Schultäligkeit hat und ohne Apparatur ausführbar ist. Gleichmäßig berück¬ 
sichtigt werden die Entwicklung der wichtigsten Fragestellungen, die Erörterung der Haupt¬ 
methoden und die Anführung bedeutsamer Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung. 
Auch Aufgaben finden sich angegeben. — Eine Verleitung des Lehrers zum Drauflosexperimen- 
tieren an seinen Schülern, die er zu unterrichten und zu erziehen und nicht zum Gegenstände 
dilettantischen Wissenschafteins zu machen hat, verschuldet hoffentlich diese schul praktische 
Psychologie nicht. So unerläßlich eine genaueste Kenntnis des Gebietes in der Lehrerbildung 
ist, so gefährlich die Meinung: es seien die ausgebildeten Untersuchungsverfahren durchweg so 
geklärt, geeicht, technisiert, daß sie ohne besondere fachwissenschaftliche Schulung gehandhabt 
werden könnten, und es vermöchten — wenn diese Bedingungen erfüllt wären — die experi¬ 
mentellen Befunde dem Lehrer gerade die psychologischen Aufschlüsse darzureichen, die für 
sein Amt am Schüler die allerwichtigsten sind. Zuletzt wird die unerläßliche Einschau in 
den Schüler und in die Wirkung der Unterrichtsverfahren doch immer gestellt bleiben auf die 
Kunst freien psychologischen Beobachter, das dann allerdings hier und da durch vor¬ 
sichtige, in die unterrichtliche Tätigkeit mit geschulter Hand zwanglos eingegliederte Versuche 
eine Stütze gewinnen kann und zu dem man sich freilich kaum besser heranzubilden vermag 
als im Experimentieren — nur daß dieses, wenn es in solcher Ausbildungsabsicht in die 
Schule hineingefordert wird, den Sinn der Lehrertätigkeit am Kinde verschiebt Überdies 
ergeben sich im laufenden Unterrichte, besonders wenn er arbeitsschulmäßig gestaltet wird, un¬ 
ausgesetzt Lagen, die ganz natürlich als Versuche aufgefaßt, eingerichtet und ausgewertet 
weiden können — wie letzthin schließlich alle unterrichtliche Tätigkeit in gewissem Sinne als 
ein stetes Experimentieren vornehmster Art zu begreifen ist. 

Heinrich Scharrelmann, Die Technik des Schilderns und Erzählens. Braun- 
schweig 1921. Westermann. 2. Aufl. 176 S. 

Das Buch ist geschrieben im Sinne eines Unterrichts, der im Kinde die produktiven 
Kräfte anregen will. „Je mehr das Kind durch den Lehrer seine alten Vorstellungen, Erfahrungen 
und Beobachtungen wieder ins Bewußtsein hebt, um so produktiver wird es innerlich. Die tiefe 
Wirkung ist nur dann zu erreichen, wenn der Lehrer seine Worte nach künstlerischen Gesetzen 
formt und der Psyche des Kindes anpaßt.“ Ein theoretischer Teil skizziert die Arbeitstechnik 
des Lehrers; der praktische zeigt die Bearbeitung von gedruckt vorliegenden Schilderungen. 
Sammeln von Material, Mittel zur Belebung des Stoffes und die Erzählung. Die Schrift bringt 
mancherlei Anregungen für den schaffenden Lehrer. Nur daß es bei einer Lehrertecbnik nicht 
bleibe! Es gilt, vor der Kunst des Lehrers die freie Wirkensweise des Schülers zu 
pflegen, ln der neuzeitlichen Pädagogik der Freitätigkeit des Schülers stehen verschiedene An¬ 
schauungen des Verfassers durchaus fremd da, etwa: „Ich sehe in dem Redenlassen der Kinder, 
wenn es dem Lehrer mehr als ein Mittel für seine unterrichtlicben Zwecke ist, nur eine Über- 
gipfelung des Arbeitsschulgedankens. Er (der Lehrer) läßt dann die Stunde gehen, wie sie gehen 
will. Einen derartigen Unterricht kann jeder halbwegs gescheite Mensch geben. Der Lehrer 
hat mehr zu tun und wichtigere Arbeit zu leisten, als eine debattierende Kinderschar zu über¬ 
nehmen.' 4 Eine grobe Verkennung des bildenden Werts eines freien Lehrgespräches! — Für 
Seminaristen und Arbeitsgemeinschaften, denen das Buch wohl in erster Linie zugedacht ist, mag 
dieses Werk, das durchaus einfach und verständlich geschrieben ist, ein brauchbarer Wegweiser 
in der Technik des Gestaltens sein. In Kauf nehmen muß man freilich die peinlich wirkende 
Art Scharre] manns, eine durchaus nicht immer 60 belangvollen Lehren in recht persönlicher Be¬ 
tonung vorzutragen. 

Hainichen bei Otterwisch in Sa. Paul Stenzei. 


Kurze Anzeigen. 

Dr. med. Ludwig Frank, Spezialarzt für Nerven- und Gemütskrankheiten in Zürich, Seelen¬ 
leben und Rechtsprechung. Zürich und Leipzig. Grethlein & Co. 410 S. 

Vorträge vor Richtern und Rechtsanwälten über forensisch bedeutsame Erscheinungen des 
Seelenlebens. Die Darstellung stützt sich durchweg auf „Fälle“ aus eigener Beobachtung in 
langer ärztlicher Praxis. Die Deutungen psychoanalytisch, ohne unbedingte Bindung an eine der 
herrschenden Schulen. Am ausführlichsten behandelt sind Hypnose und Suggestion und die 


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Literaturbericht 


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sexuellen Anomalien. Voran geht eine gemeinverständliche allgemeine Einführung in die Grund- 
tatsacben und das Gefüge seelischen Geschehens. 

Inhalt und Form des Buches ist nicht so eng auf die psychologische Grundlegung der richter¬ 
lichen Tätigkeit eingestellt, daß es nicht auch anderen Kreisen nützlich und verständlich werden 
könnte. Besonders den Pädagogen ist das Gebotene überwiegend unentbehrlich. Der Verfasser 
hat ohnedies schon früher in seinem trefflichen Buche „Seelenleben und Erziehung* bewiesen,, 
wie er von medizinischer Seite her pädagogisch zu denken versteht. Wenn er jetzt nun Er¬ 
scheinungen aus dem Seelenleben des Erwachsenen darstellt, so bleiben doch Kindheitserlebnisse, 
besonders in ihrer oft entscheidenden Bedeutung für das spätere Leben, nicht unerwähnt. Ober 
die Jugenderziehung hinaus ist dann noch sozialpädagogisch wertvoll, wie Frank in psychisch* 
Untergründe des Ehelebens hineinleuchtet. 

Matthias Meier, Der Seelenbegriff in der modernen Psychologie. München o. J. 

I Hoeber. 24 S. 

Kritische Erörterungen vom Standpunkte katholischer Weltanschauung mit dein Versuche, 
die „Psychologie ohne Seele u abzutun. „Mit starkem wissenschaftlichen Akzente und mit be¬ 
sonderer persönlicher Wärme dagegen lehrt und erlebt Augustinus die Verschiedenheit und 
Selbständigkeit des Ich gegenüber dem psychischen Geschehen. In dieser lebendigen Sub- 
stantialität und immaterialen Realität der Menschenseele haben wir die wahre Heimat der Be¬ 
wußtseinsvorgänge.* 4 

Hans Apfelbach, Das Denkgefühl. Eine Untersuchung über den emotionalen Charakter 
der Denkprozesse. Wien 1922. Braumüller. 65 S. 

Der Versuch, auf Grund von Erscheinungen, wie sie im Traume, bei genialer Geistestätigkeit 
t usw. gegeben sind, dem begriffsmäßigen Wortdenken ein Denkfiihlen gegenüberzustellen und 
schließlich alles menschliche Denken auf ein Fühlen zurückzuführen. Die so entwickelte neu* 
Theorie der Denkvorgänge wird zu erweisen versucht an ihrer Kraft, die und jene psycho- 
pathologiscben, tierpsychologischen, parapsychischen Phänomene aufzuhellen. Versäumt ist, zu¬ 
vor eine klare begriffliche Festlegung von Gefühl und Denken herbeizuführen. 

Dr. Karl Boehm, Prof. a. d. Technischen Hochschule Karlsruhe, Begriffsbildung. Karls¬ 
ruhe 1922. G. Braun« 46 S. 

Eine rein erkenntnistbeoretiscb eingestellte Darstellung, in deren Mittelpunkt das Wesen 
der Definition steht Dabei noch eingeengt auf die Begriffslogik der Mathematik, ohne damit 
aber dem, der nicht im Fache steht, unverständlich zu werden, wenn er nur einigermaßen im 
philosophischen Denken bewandert ist 


Otto Rühle, Kind und Umwelt. Eine sozialpädagogische Studie. Berlin-Fichtenau 1920. 

Verlag Gesellschaft und Erziehung. 32 S. 

Familie, Haus, Straße, Heimat als Lebensstätte des Kindes — heute und früher. Beschrieben - 
und bewertet aus der pädagogischen Sehnsucht und Leidenschaft des Kommunisten heraus. Und 
in Schwarzweißmalerei gehalten. Das Jugendleben alter Zeit in zu freundlich helles Licht ge¬ 
taucht; das Proletarierkind unserer Tage in dunkelste Schatten gerückt. Die Eingliederung 
statistischen Materiales darf nicht darüber wegtäuschen, daß unzulässige Verallgemeinerung, 
gefährliche Herauslösung aus dem Lebepsganzen und einseitige Deutung vom politischen Partei¬ 
dogma aus — einzig die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist verantwortlich! — die Sachlich¬ 
keit und Richtigkeit vielfach trübt. Bei alledem aber: richtig ist die Forderung, daß die öffent¬ 
liche Erziehung das Kind erfassen und nehmen soll nicht in einem künstlichen Ftir-sich-sein, 
sondern es zu sehen und zu begreifen hat in seiner soziologischen Bedingtheit; richtig auch ist es, 
in tiefer menschlicher Ergriffenheit rastlos aufzuspüren, wo Kinderelend nach Hilfe schreit. Nur 
glaube man heute von vornherein nicht, es nicht auch in Bürgerhäusern suchen zu müssen. 


Dr. med. Otto Mönkemöller, Direktor der Heil-und Pflegeanstalt Hildesheim, Die geistigen 
Krankheitszustände des Kindesalters. Leipzig 1922. Teubner. 127 S. 

Eine Schrift der vorliegenden Art ist oft geäußerter Wunsch gewesen. Lehrer, Fürsorge¬ 
beamte und auch wohl Eltern verlangen nach einer knappen, gemeinverständlichen, zuverlässigen 
Einführung in das bedeutsame Gebiet. Durch die berufene Hand des Arztes wird sie in dem 
vorliegenden Bändchen aus der Sammlung „Natur und Geisteswelt* dargereicht. Sie läßt den 
berechtigten Wunsch nach Einfügung von „Fällen* in die behandelten Erscheinungen offen* 


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Literaturbericht 


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Inhalt: Die Ursachen der geistigen Abweichungen des Kindesalters; der angeborene Schwach¬ 
sinn; die Epilepsie; die Hysterie; Nervosität und Nervenkrankheiten; die Psychopathen; die 
Psychopathologie der Pubertätszeit; die Geisteskrankheiten des Kindesalters; die kindlichen 
Verbrecher; Behandlung. 

Dr. Johannes Prüfer, Die Kinderlüge — ihr Wesen, ihre Behandlung und Ver¬ 
hütung. Leipzig 1920. Teubner. 48 S. 

Ein Heftchen aus der verdienstlichen Sammlung „Die Elternbücherei“. Darum mit bewußtem 
Verzicht auf wissenschaftliche Behandlung des reizvollen Gegenstandes, der in fachpsychologischen 
Untersuchungen heute bis in alle seine weiten Verzweigungen und in die Verflechtung mit be¬ 
nachbarten seelischen Erscheinungen ziemlich durchsichtig geworden ist. Sollten aber deutsche 
Eltern — auch die ohne gelehrte Bildung — nicht eine tieferführende Darstellung vertragen und 
verlangen? Wer von sich aus den Zugang zum pädagogischen Buche sucht, darf in seinen 
geistigen Bedürfnissen und seiner Kraft nicht unterschätzt werden. Eine einfachere Darstellung 
über Gestaltung und Ergebnisse der Aussageversuche wäre z. B. in einem Schriftchen über Kinder¬ 
lüge auch für weitere Kreise anziehend und lehrreich. Dafür könnte dann Ähnliches wie S. 13 
und 14 das seichte Gescbichtchen Salzmanns von 1780 — das heute selbst Kindertanten älteren 
Stiles unerträglich sein dürfte — ohne Schaden wegfallen. — Inhalt: 1. Arten der Kindeslüge 
und ihre pädagogische Behandlung (Erinnerungslügen, Phantasielügen, Abwehr-, Angst- und Not¬ 
lügen, heroische Lügen, Verstandes- und Gewobnheitslügen). 2. Verhütung der Kinderlügen durch 
allgemeine Erziehung zur Wahrhaftigkeit („Die Heilkraft der Pädagogik ist verschwindend“. S. 31;. 
3. Lüge und Gott 

Aloys Legrün, Die Schülerschrift in zeitgemäßer Betrachtung. Mit 65 Abbildungen 
Wien 1922. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 137 S. 

Zu den zahlreichen Arbeiten über „Schreiben im neuen Geiste* gesellt Aloys Legrün, der 
schon früher Grundlagen und Wege eines naturgemäßen Schreibunterricbtes in einem an¬ 
sprechenden Schriftchen behandelt hat, den vorliegenden Beitrag, in dem er, auf dem aus¬ 
gebreiteten einschlagenden Schrifttum fußend, mancherlei Neues zu bieten hat Ein vordring¬ 
licher Zug seiner Darlegungen ist der Versuch, zu zeigen, wie eine freiwüchsige, d. h. nicht auf 
Erlernung eines Normalduktus gestellte, sondern durchaus persönliche Handschrift zu beurteilen 
ist und in psychologischer Auswertung für die Schülerbeschreibung wertvoll wird. Darum 
werden u. a. auch die Pathologie der Schrift, die Schreibweisen der Hilfsschüler und die Frage 
der Graphologie ausführlicher, als es sonst in ähnlichen Darstellungen geschieht, behandelt 
Der Verfasser schöpft dabei aus wissenschaftlichen Quellen, verwertet aber durchweg auch 
eigene Untersuchungen. Bemerkenswert ist, wie vielenorts auf Sachverhalte hingewiesen wird, 
die für forschende psychologische Arbeit des Schreiblehrers ein ergiebiges, reizvolles und 
nicht zu schwieriges Betätigungsfeld bieten. Von allen Lehrern aber, die es in ihrem Unterrichte 
irgendwie mit „schreibendem Lernen* zu tun haben, fordert Legrün — was so oft mangelt —: 
„Schriftgewissen*. 

Erziehungskunst, 5.—7. Heft der „Sozialen Zukunft*, herausgegeben vom Schweizer Bund 
für Dreigliederung des sozialen Organismus. Dörnach 1922. Verlag „Der kommende Tag*. 
S. 167—262. 

Eine Sammlung kleiner pädagogischer Skizzen vornehmlich aus dem Kreise derer, die aus 
der Freien Waldorfschule in Stuttgart im Geiste Rudolf Steiners eine neue Erziehung zu verwirk¬ 
lichen streben. Einige Beispiele: Arbeitsfreude und Arbeitszwang; Der Rhythmus in der Er¬ 
ziehung; Vom Geschichtsunterricht; Das Prügeln als Erziehungsmittel; Der fremdsprachliche 
Unterricht in der Freien Waldorfschule. Sympathisch ist einer der Einleitungsartikel: „Die päd¬ 
agogische Zielsetzung* von Steiner selbst. Caroline v. Heydebrand dagegen berichtet sehr belanglos 
ihre Beobachtungen über Phantasie und künstlerische Betätigung bei den 10—11 jährigen Kindern 
der fünften Schulklasse. Im Ganzen: meist pädagogische Stimmungen, Anschauungen und Ge¬ 
danken, die auch sonst — ohne der anthroposophischen Lehren zu bedürfen — der großen 
pädagogischen Reformbewegung in Deutschland nicht fremd sind. Sch. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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■Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung. 

K Ein Beitrag zur kulturpädagogischen Reform. 

I Von Walther Saupe. 

B Wenden wir uns zunächst den subjektiv-psychologischen Grundlagen 
HDseres Erziebungsproblems zu, so haben in letzter Zeit besonders Konrad 
Siedler 1 ) und Heinr. Rickert 2 ) den Begriff der „Erlebniswirklichkeit“ 
bum Zentrum ihrer ästhetischen Untersuchungen gemacht und zugleich in 
Ehr die Wurzeln für das wissenschaftliche und für das künstlerische Verhalten 
Mlafgedeckt. Beide gelten ihnen als Umformungen jener Erlebniswirklichkeit, 
Ifod daraus gewannen sie als methodischen Kunstgriff die Möglichkeit der 
wnsicht in ihr Wesen durch die gegenseitige Abgrenzung von wissenschaft- 
jphem und künstlerischem Verhalten. Jenem fiel die begriffliche, diesem die 
jpschauliche Methode zu. Fiedler konstituierte auf dieser Grundlage das 
{Weltbild der Wissenschaft als Begriffszusammenhang und im Gegensatz hierzu 
[jflfaa Weltbild der Kunst als Anschauungszusammenhang. Schärfer und unter 
Beseitigung mancher dabei sich findender logischer Mängel hat dann Rickert 
0(4 a. 0. S. 6f.) die Stellung des ästhetischen Wertgebiets im transzendentalen 
Bßystem bestimmt: als heterogenes Kontinuum, das sich ihm darstellte als ein 
Wartwährend wechselndes Gewühl von in jedem Augenblick erlebbaren Ein¬ 
blicken. Und war dieses auch als Ganzes zunächst von ebenso extensiver 
Wie intensiver Unübersehbarkeit, so fand er gerade in deren Überwindung 
-feen Sinn eines jeden mehr als nur erlebenden Verhaltens. So galt ihm also 
:das ästhetische Verhalten zunächst schon als sinnvoll, und die Frage nach 
dar notwendigen Geltung der Kunst sah er beantwortet in der Ableitung der 
l/sinnvollen ästhetischen Erscheinung aus dem ästhetischen Werte. Wenden 
1 ‘ärir uns nun dem Leben in seiner Unmittelbarkeit selbst zu, indem wir den 
Widerhaarigen Komplex dieser psychologischen Fragen an seiner gefährlichsten 
Stelle packen: der zum Schlagwort gewordenen Erlebnisfrage. 

Was ist Erlebnis? Einer jungen, feingebildeten Dame wurde der drei¬ 
malige Besuch und vor allem die stets wechselnde „Besetzung“ der bekannten 
Operette „Das Dreimäderlhaus* zu stets größerem „Erlebnis“, während die 
'Schickseisschläge ihrer Liebe, die in ihr den Entschluß gezeitigt hatten, niemals 
Iteiraten zu wollen, nur den Grad der „Erfahrung“ erhielten. Und auf der 
, anderen Seite denke man an das ungeheure „Erlebnis“, das Pfitzners Palestrina 
ftr einen Th. Mann 3 ) wurde. Mit solcher Begriffsverwirrung kommen wir 

• *) Siehe „Schriften über Kunst“, herausgeg. von Herrn. Konnerth (2 Bde., München 1913ff.). 

Zur Geschichte dieses Problems vgl. Fr. Kreis: Die Autonomie des Ästhetischen in der neueren 
^Philosophie (Tübingen 1922) S. 79ff., 91 ff. 

I .*) Siehe „System der Philosophie“ Bd. I (Tübingen 1921). 

!f V. Siehe Betrachtungen eines Unpolitischen (Berlin 1919) S. 407—423; neuerdings auch als 
' Säparaidrnck. 

* Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 9 

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Walther Saupe 


nicht weiter, wenn eben der Mut fehlt, auch durch die Welten des reinen 
Gefühls und des triebhaften Willens rationale Linien zu ziehen 0* 

Nur bei einem vielversprechenden Denker und Schüler Ed. von Hartmanns 
scheint mir diese psychologische Durchdringung und logische Umgrenzung 
des „Erlebnisses“ gelungen zu sein: in Leopold Zieglers bedeutungsvollem 
Buche „Der ewige Buddho“ 2 ). Formen und Stufen ergaben sich seiner vor¬ 
sichtig-eindringlichen Analyse fast von selbst, die auch auf dem ästhetischen 
Gebiete unterschieden werden dürfen. An erster Stelle steht die Forderung, 
das der Intuition verdankte ästhetische Erlebnis vom Stoff der bloßen Er¬ 
fahrung loszulösen, wenn wir diese im intellektuell-begrifflichen Sinne ver¬ 
stehen. Sicherlich ist, wie oben erwähnt, auch diese letztere Auffassung 
eine Umformung der Erlebniswirklichkeit, aber doch im Sinne eines all¬ 
gemeingültigen, stets wiederholbaren Begriffszusammenhangs. Im ästhetischen 
Erlebnis hingegen liegt ein Anschauimgszusammenhang vor, und damit stehen 
wir schon vor der zweiten Forderung: das Erlebnis der ästhetischen Sphäre 
bedarf kraft seines subjektiven Charakters zu seiner Konstituierung der Ein¬ 
maligkeit und streng individuellen Bezogenheit — Und dazu tritt als drittes 
Kennzeichen die schicksalhaft-plötzliche Offenbarung, die beim ästhetischen 
Erlebnis im Eruptivcharakter des Schaffens und in dem Erregungszustand 
des künstlerischen Genießens oder reproduktiven Gestaltens sich ausprägt. 
Von hier ist dann nur noch ein Schritt zur letzten und höchsten Form und 
Stufe: der totalen Verschmelzung von realem Sein des schaffenden Künstlers 
und ästhetischem Gegenstand, wo dem Schaffenden oder Genießenden die 
künstlerische Form als Seinsform gilt (a. a. 0. S. 129). — 

Dies führt nun schon von selbst zum zweiten wichtigsten Problem des 
ästhetischen Bewußtseins: zur ästhetischen Einfühlung. Daß sie ebenso 
wie die Form des Erlebens zu den psychologischen Erregungszuständen gehört, 
wird bei ihr noch deutlicher als bei jener. Denn die Einfühlung ist plastischer 
und aktiver als das Erleben und das kontemplative Sichversenken; sie be¬ 
deutet eine Verschmelzung der Persönlichkeit mit dem Wesenszusammenhang 
des objektiven Kunstwerks, der sinnlichen Anschauung mit Affekten und 
Leidenschaften 3 ). Das eigene innere Leben wird in daB künstlerische Objekt 
projiziert, und dessen Schönheit ist dann nur der Widerschein der individuellen 
Persönlichkeit mit allen ihren seelischen Stimmungen und Strebungen, und 
allein diese unmittelbare Verbindung unseres Wesens mit dem Kunstwerk ver¬ 
dient den Namen des intuitiven Erlebens 4 ). 

Zunächst gehört die Einfühlung dem Gebiete der allgemeinpsychologischen 
Probleme an, stellt aber andererseits nur einen, allerdings beträchtlichen Teil 
des ästhetischen Verhaltens dar. Damit kehrt die Untersuchung zu der aus¬ 
führlichen Behandlung der „Umformung der Erlebniswirklichkeit“ zurück: 
Die sinnlich wahrnehmende Betrachtung nimmt den Gegenstand in seiner 
oft noch ganz chaotischen Realität hin; die intellektuelle Erfahrung spaltet 


■) E. Spranger, Lebensformen (Halle 1921 *) S. IX. 

*) Leop. Ziegler, Der ewige Buddho. Ein Tempelschriftwerk in 4 Unterweisungen (Darm¬ 
stadt 1922) S. 123ff. 

3 ) Vgl. „System der Ästhetik“ 3 Bde. (München 1905—1914). 

4 ) Sehr eindrucksvoll hat M. Weber in seinem vielumstrittenen Vortrag: „Wissenschalt als 
Beruf“ seine Gefahren bekämpft (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Tübingen 1922) 
S. 524ff.; bes. S. 531). 


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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung 


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das reale Sein in Wesen und Erscheinung und glaubt erst mit dem Denken 
der Wissenschaft und mit ihren Begriffen die wahre Realität als eine andere 
Realität aufzufinden, welche hinter der gegebenen irrationalen Wirklichkeit 
des unmittelbaren Lebens liegt (Rickert a. a.O. S. 200); die ästhetische Be¬ 
trachtung endlich erfaßt in ihm zugleich „das ideell darin gegebene Leben*, 
zu dem das sinnliche Objekt nur das Symbol darstellt Ob man nun mit 
Lipps 1 ) die Einfühlung in ihrem strengen Sinne für unser Bewußtsein als 
schöpferischen Einfühlungsakt auffaßt, das ästhetische Verhalten geradezu 
einer restlos ausschöpfenden, vollkommenen Einfühlung gleichsetzt und als 
ihre Hauptwerte die reflexionsfeindliche Unmittelbarkeit des Gefühls und die 
ungewöhnliche Vielgestaltigkeit ihres Vermögens, in die Kunstobjekte aller 
Arten einzudringen, statuiert oder mit Volkelt 2 ) vorsichtiger nur von ob¬ 
jektiv-gegenständlichem Einfühlungsergebnis spricht, steht hier nur insoweit in 
Frage, als für die pädagogische Einstellung, wie sie hier vorliegt, die 
dynamisch-teleologische Auffassung von höherem Werte ist 


n. 

Schon ist damit ein Grenzgebiet betreten. — Die ästhetische Wertlehre 
ist bisher vielleicht weniger ausgebaut als umgrenzt worden, und in diesem 
Sinne mag hier nochmals — im Anschluß an Rickerts Gedankengänge 
(a.a. O. S. 335f.) — betont werden: nicht die Kunst in ihrer geschichtlichen 
Entwicklung, noch der reale psychische Prozeß des künstlerischen Schaffens 
und Genießens, noch die Behandlung der gesellschaftlichen und wirtschaft¬ 
lichen Gesetze, denen das künstlerische Leben etwa unterworfen sein dürfte, 
ist Sache der Ästhetik als Wertwissenschaft, sondern ihre Bearbeitung ist den 
Wirklichkeitswissenschaften (Kunstgeschichte, Psychologie des künstlerischen 
Schaffens, Soziologie der Kunst u. a.) zuzuweisen, die ihrerseits natürlich 
ästhetische Wertbegriffe verwerten dürfen, um vielleicht ihr Gebiet abzugrenzen 
oder zu zergliedern 3 ). 

Das sieht alles wie Verengerung des ästhetischen Wertgebietes aus, und doch 
muß umgekehrt von Erweiterung hier die Rede sein; denn ebenso wie im 
Schönheitsbegriff neben dem Anmutigen auch das Charakteristische Aufnahme 
finden soll, so treten neben die Kunstwerke auch Natur dinge als Träger 
ästhetischer Werte, wodurch sich zugleich erweist, daß mit dem Kulturbegriff 
allein das Gebiet der ästhetischen Werte sich nicht umfassen läßt Rickert 
(a. a. 0. S. 337) hat sogar betont, daß das Naturschöne in der Tat das ästhetisch 
Ursprüngliche sei, wodurch die Kunst dann zu einer besonderen Ausbildung 
der Naturgegebenheiten ward. 

Das Interessanteste für die pädagogische Einstellung ist nun, daß die Sach¬ 
lage sich hier gerade ins Gegenteil verkehrt: ist für die Ästhetik als Wissen¬ 
schaft das Naturschöne zu bewerten als das Vorkünstlerische, so soll 
(Rickert a. a. O. S. 338) für die Pädagogik gelten, daß wir erst an Kunst- 


') Die Probleme sind unter verwandten Gesichtspunkten klar dargelegt von Job, Richter, 
Bildende Konst und Vergeistigung der Erziehungsarbeit (Leipzig—Prag—Wien 1916) und von 
Th.A. Meyers Vortrag „Die ästhetische Erziehung in der Schule“ (Tübingen 1919). 

*) Siehe Volkelt, Das ästhetische Bewußtsein (München 1922) S. 531. 

*) Zur systematischen Grundlegung dieser Gedanken vgl. die früheren, hier veröffentlichten 
Arbeiten; .Bildsamkeit und Persönlichkeit* (Bd. 20 [1919] S. 289ff.) und .Das Wertproblem in 
«einer Bedeutung für die innere Organisation des höheren Schulwesens* (Bd. 22 [1921] S. 87ff.). 

9* 


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Walther Saupe 


werken lernen sollen, die Natur sei schön, also wie ein Kunstwerk an¬ 
zusehen. 

M. E. verläuft gerade zwischen Anerkennung und Ablehnung dieser For¬ 
derung die Trennungslinie zwischen den sogenannten wissenschaftlichen und 
den sogenannten kunsttechnischen Fächern schlechthin: jene mögen ausgehen 
vom Kunstwerk und einer historisch-psychologischen Analyse seines Ent¬ 
stehungsprozesses (darüber später!), diesen aber soll man die unmittelbare 
Verbundenheit mit Lebenswirklichkeit und Naturschönheit belassen, auf daß 
sie, wie es Medicus 1 ) zum Ausdruck gebracht hat, unter Wiederbelebung der 
platonischen Metaphysik, den „Geist in der Wirklichkeit selbst suchen: in ihr 
und nur id ihr ist er wirklich. ... Denn eben dieses Leben des Wirklichen 
ist die Wirklichkeit des Geistes“ (a. a. O. S. 32). 

Haben wir bisher den Umkreis der ästhetischen Werte abzustecken ver¬ 
sucht, so taucht natürlich nunmehr auch die Frage nach ihrer Ableitung 
auf, und da hat zunächst als oberster Satz zu gelten: der ästhetische Wert 
darf an sich nur aus dem Werke selbst genommen werden. Und doch ergäb e 
das eine Betrachtungsweise, die nur den Standpunkt des Genießenden ins 
Auge faßt, der nur das Fertige und damit vom Prozeß des künstlerischen 
Schaffens Losgelöste vor sich hat, der somit vergißt: daß es die „Ausstrahlung 
eines Genies, die Tat eines Schaffenden und die Auswirkung lebendiger 
Kräfte darstellt. Deshalb soll aus der im Kunstwerk gegebenen Kristallisation 
der künstlerischen Persönlichkeit der ästhetische Wert abgeleitet werden“ 
(Moritz Geiger). 

Aber neben den Engherzigkeiten der rationalistischen und formalistischen 
Ästhetik drohen auch innerhalb der normativen Ästhetik selbst schwere Ge¬ 
fahren der Einschnürung und Fesselung der Reichtümer des ästhetischen 
Gebietes in den zu engen und festen Rahmen einer einzigen ästhetischen 
Norm. Es ist deshalb eines von Volkelts bedeutsamsten Verdiensten, durch 
eine sich zuletzt doch wieder zur „föderativen“ Einheit (System Bd. Hl, 
S. 534 ff.) zusammenschließende Vierzahl von ästhetischen Selbstwerten einer 
zugleich psychologischen und wertenden Durchdringung des ästhetischen Ge¬ 
biets den festen Boden bereitet zu haben (System Bd. I, S. 388ff.; 554ff.; 
Bd. III, S. 435ff.), eine Basis, die er in seinem Buche „Das ästhetische. Be¬ 
wußtsein“ wesentlich erweiterte, indem er zur gegenständlichen Fassung 
dieser Normen noch ihr Verhältnis zur ästhetischen Einfühlung hinzubrachte 
(a. a. 0. S. 45ff). — Und weiterhin verdanken wir Volkelt die weit über 
die experimentelle und psychologische Betrachtungsweise hinauBgreifende 
Erkenntnis, daß der Zusammenschluß der ästhetischen Elementarbedürfnisse 
unseres seelischen Lebens nicht nur einen gemeinsamen Urgrund, sondern 
auch ein gemeinsames Ziel verfolgen müßten: die Harmonisierung 
des Seelenlebens (System Bd. III, S. 437ff.), das erst jenen Bedürfnissen 
ihre Befriedigung bereiten könnte, und diese fand er auf der objektiven 
Seite: der Gegenständlichkeit des Kunstwerks. 

Aber die ästhetische Wertforschung hat damit noch nicht ihr letztes Ziel 
erreicht, und damit sind auch wir noch nicht mit unseren Fragen am Ende : 
vor uns-erhebt sich zunächst das Problem der Abgrenzung alles ästhe- 


') Vgl. den Aufsatz: „Bildende Kunst und Wirklichkeit“ in seinem wertvollen, anscheinend 
wenig beachteten Buche „Grundlagen der Ästhetik“ (Jena 1917) S. 16 ff. 


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Grundsätzliches zum Problem der kflnstlerischen Erziehung 


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tischen Erlebens und Schaffens vom außerästhetischen, dem das pädagogische 
Problem der allgemeinen künstlerischen Erziehung korrespondiert und 
sodann: das Problem der Wertscheidung von berechtigtem und un¬ 
berechtigtem ästhetischen Erleben und Schaffen, von guter und schlechter 
Kunst, der die spezifisch-ästhetische Bildung korrespondiert Wieder 
um erhebt sich dabei allenthalben der dringende Ruf nach philosophischer 
Begründung und nach dem metaphysischen Hintergrund. Nur so kann 
schließlich auch — in Abwehr gegen Tolstoi — die Kunst als Kulturgut 
und Lebensform gerechtfertigt werden; nur so auch das berühmte Problem 
• des Aristokratismus 1 ) entschieden werden. 

IU. 

Es wird nun Zeit, in die Schule gleichsam selbst einzutreten. 

Von vornherein ist auch hier zu betonen: in der Schule handelt es sich 
\ in erster Linie um künstlerische Erziehung, nicht um die Vorherrschaft 
von künstlerischem Genießen und Gestalten, und an die Spitze tritt somit 
das Verständnis für das Schöne und'die Kunst Und fernerhin steht im 
Zentrum dieser Untersuchungen der Lehrer und die Frage seiner ästheti¬ 
schen Bildung, weil ja doch von drei Seiten her die Wogen des künstlerischen 
Lebens ihm zufluten: vom Kunstwerk her, von der Persönlichkeit seines 
Schöpfers (oder Vermittlers) und endlich vom Schüler oder Zögling her. 
| Nach drei Seiten lenkt er also seine Aufmerksamkeit: auf die ästhetischen 
Lebensformen des Künstlers, fernerhin des seiner Führung sich anvertrauenden 
(nur diese Beziehung hat wahrhaft erzieherischen Wert!) Zöglings und auf 
das Kunstwerk als Tat eines Künstlers und Kristallisation seines Persönlich¬ 
keitswertes. — Führen wir nun zunächst das Ästhetische der Natur und der 
Künste auf eine Form geistiger Sinngebung zurück 2 ) und wollen wir sie in 
uns und im Zögling zur ästhetischen Lebensform sich entfalten lassen, so gilt 
es zunächst, den Blick auf eine individuell-konkrete, bildhafte Ge¬ 
gebenheit zu lenken, mag sie nun der Wirklichkeit oder der Phantasie 
angehören. Die zweite Forderung aber besteht darin, alle aus anderen 
Kulturgebieten stammenden geistigen Akte unter die Herrschaft des 
ästhetischen Aktes herabzudrücken. Man kann dies unter dem Aus¬ 
druck „Entstofflichung“ oder „Entlastung“ zusammenfassen und zur näheren 
Verdeutlichung hier auch von imaginativer Gegenständlichkeit 1 ) sprechen, 
in die das ästhetische Gebilde emporgehoben werden solL — Aber jene 
seelischen Funktionen sind nicht nur die Kraftquellen für das ästhetische 
Genießen, sondern schließen auch in sich den Trieb, den ästhetischen Ge¬ 
halt dieser Erlebnisse in einer produktiven Schöpfung (s. Spranger, 
a. a. 0. S. 149 ff.) zur Entfaltung und zum seelischen Ausdruck zu bringen. 
Hier wurzelt jenes Gesetz des höchsten Ausdrucks, und, wie schon 
erwähnt, kommt es hier keineswegs auf die volle Realität des Objekts an, 
da eine photographisch getreue Wiedergabe der ästhetischen Schöpfung zu- 
' wider sein könnte. Nur den Gesetzen der Sache und der Seele erweist sich 


1 RTroeltsch, Ges. Schrift. Bd. UI; I, S. 148. 

*) Ober die psychologischen Voraussetzungen vgl, besonders Sprengers „Lebensformen*“ 
8- 21 ft. n. 47fL 

*) Ober die ihr korrespondierende imaginativ» Befriedigung vgL die Ausführungen von 
Lsop. Ziegler in seinem Buche: „Volk, Staat und Persönlichkeit“ (Berlin 1917) S. 201fL 


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Walttaer Saupe 


diese Qestaltung als untertan. Und auch sie dürfen nicht bewußt werden 
als theoretische Einsichten von allgemeiner, zeitloser Geltung, sondern sollen 
nur geahnt werden am konkret-sinnlichen Gebilde. Nur so kommt es zur 
Bildung der Form als der Verschmelzung von seelischer Bewegung und objektiver 
Gegenständlichkeit des Kunstwerks im Phantasieerlebnis. 

In diesem Zusammenhang erhebt sich vor allem die Frage nach der All¬ 
gemeingültigkeit ästhetischer Urteile. Soweit man hier überhaupt 
von Urteilen sprechen darf, die doch stets einen metaästhetischen, also 
intellektuellen Grundzug in die ästhetische Reinheit hinein bringen, ist eine 
solche Allgemeingültigkeit im Sinne der Zeitüberlegenheit a priori nicht 
denkbar, da ästhetisches Erlebnis der Einzelseele und seelischer Gehalt des 
Kunstwerks historisch, geographisch, auch soziologisch bedingt sind ')• Nur in 
dem einen Falle, wo die ewigen rational erfaßbaren und erfaßten Gesetze 
der objektiven Welt mit dem im Kunstwerk zum Ausdruck kommenden 
allgemeinsten Seelengesetze verschmolzen werden, haben wir die Darstellung 
des Allgemeinen am besonderen konkret-sinnlichen Fall. Mit Recht hat man 
hierin den Typus der sogenannten klassischen Kunst aufgedeckt: 
nicht nur der griechischen, sondern auch einer jeden ihrer Nachfolgerinnen, 
die nach den gleichen Idealen strebt. 

Fassen wir-zunächst in aller Kürze den Anteil des ästhetischen Ver¬ 
haltens an den wissenschaftlichen oder Kulturfächern ins Auge. 
In den historisch-ethischen Fächern — der Religion, der Geschichte, auch 
der Geographie, die doch auf Grund ihrer Geltung als „Brücke vom natur¬ 
wissenschaftlichen zum historisch-geistigen Denken" 2 ) auch zu den genannten 
Fächern gehören muß — ergibt sich von allein die Forderung, die monumentalen 
und schriftlichen Kunstdenkmäler in den Umkreis der Betrachtung zu ziehen, 
um den Anteil des Ästhetischen am Geiste der Zeit, an den Sitten der 
Gegenden, an den religiösen oder sozialen Anschauungen der Bewohner klar 
werden zu lassen. — Und was ,die fremdsprachlichen Fächer anbetrifft, 
so wird es leicht sein für jeden denkenden Jugendbildner, der sich nicht 
mit dem starren Festhalten an der durch „Alter geheiligten Tradition" (die 
dann den Ehrennamen der „Erfahrung" erhält!) begnügt, auf die mathematisch¬ 
gesetzmäßige Schönheit, auf die innere Logik und Symmetrie, auf Analogie 
und Anomalie als auch ästhetisch fesselnde Erscheinungen der sprachlichen 
Gebilde und ihren Aufbau nach historischen und systematischen Gesichts¬ 
punkten hinzuweisen, von den klanglichen, rhythmischen und phonetischen 
Gesetzen und Entwicklungsprozessen ganz zu schweigen. Doch auch hier 
ist das Wichtigste, den Geist der Zeiten, der Völker, der schöpferischen 
Individuen und ihrer ästhetischen und ethischen Anschauungen aufleuchten 
zu lassen und so dem anscheinend Öden, abstrahierenden Netz der Begriffe 
den schimmernden Untergrund der konkreten Fülle individueller Er¬ 
scheinungen, Schöpfungen und gedanklicher Prägungen zu unterbreiten. 


») Die Erkenntnis der soziologischen Grundlagen für die einzelnen Kunstgattungen danken wir 
unter anderem besonders den Forschungen von P. Bokker (Das deutsche Musikleben« Berlin 19131 
Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler. Berlin 1918); Ad. Weiß mann (Die Musik in der Welt¬ 
krise. Stuttgart—Berlin 1922, S. 29ff.) und Max Weber’s posthumen Torso: „Die rationalen 
und soziologischen Grundlagen der Musik.“ München 1921). 

*) Vgl Hettners bekannten Vortrag »Die Einheit der Geographie in Wissenschaft und Unter¬ 
richt*^ Geograph. Abende im »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 44 1919.1. Berlin) S. 16 ff. 


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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung 


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Die Hauptprobleme der modernen, auf kulturphilosophischer Grundlage 
sich aufbauenden Pädagogik liegen m. E. freilich an anderer Stelle, und von 
dieser Neuorientierung am Wesen des modernen Geistes wird auch das Gebiet 
der künstlerischen Erziehung ergriffen. Es handelt sich um den Versuch, 
die Kategorien der formalen Geschichtslogik 4 ) auf den Anteil, den historische 
und systematische Betrachtungsweise und Methode an der künstlerischen 
Erziehung nehmen, in Anwendung zu bringen. Stellen wir nun wiederum 
in deren Mittelpunkt die Interpretation monumentaler und-literarischer Kunst¬ 
schöpfungen (im weitesten Sinne bis hin zu Inschriften, Tagebüchern und 
Briefen), so erscheint als erste Pflicht: an einem oder an einer kleinen An¬ 
zahl von Beispielen einen bestimmten Typus herauszuarbeiten und an ihm 
die weiteren Beispiele nach dem Maße ihrer Zugehörigkeit und individuellen 
Sondergestaltung zu prüfen, zu bewerten und in den Prozeß der universalen 
Kulturentwicklung einzuordnen. An diesem Punkte läßt sich vielleicht ein 
zweifacher nie zur Ruhe gelangender Streit auf pädagogischem Gebiete 
schlichten: der Antagonismus zwischen Dogma und Selbsttätigkeit 
und zwischen Deduktion und Induktion. Um mit diesem zu beginnen: der 
Typus muß letzten Endes doch durch Deduktion, d. h. in der möglichst fertigen 
Form des Ergebnisses, dem Zögling übermittelt werden, und erst mit der 
weiteren vergleichenden und bewertenden Orientierung der Einzel- und Sonder- 
fille an diesem Typus beginnt die induktiv-empirisch-experimentelle Betätigung 
des Zöglings. Damit ist aber auch schon gesagt, daß die in oft unendlich langer 
und mühsamer, wissenschaftlicher Arbeit errungenen und gesicherten 
Erkenntnisse den Anspruch auf dogmatische Geltung in gewissem, für jeden 
Fall näher zu bestimmenden Umfang beanspruchen dürfen und daß die 
selbsttätige geistigeBetätigung des Schülers erst von dieser festen 
Baste aus mit Aussicht auf wertvollen und nachhaltigen Erfolg begonnen 
werden kann 3 ). — Von allein verlangt jede Darstellung des kulturellen Ent¬ 
wicklungsprozesses sodann nach sachlicher und geschichtlicher Gliederung in 
Quer- und Längsschnitte. Das führt zu dem Problem der Akzentuierung: 
in unserem Falle der besonderen Heraushebung der ästhetisch orientierten 
und akzentuierten Epochen, und damit zugleich zum Problem der Periodi- 
sierung in der Kunstgeschichte (im weitesten, geistesgeschichtlichen Sinne). 
Diese Periodisierung ist gerade im Laufe der letzten Jahre durch die Neu¬ 
festsetzung der periodischen Gliederung in heftige Bewegung 3 ) geraten 
und hat besonders bei den Konstrukteuren des universalhistorischen Pro¬ 
zesses zur Konstituierung fester Gesetzmäßigkeiten geführt. Hierbei ist die ' 
Kategorie, der individuellen Totalität besonders wirksam geworden, 
und man möchte sie auch auf ästhetischem Gebiete angewandt sehen, wo es 


0 Das geschieht im engsten Anschluß an den bahnbrechenden Vortrag von Troeltsch: 
..Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung“, der jetzt den Grundstock zu dem 
Kapitel (I, 3): Die formale Geschichtslogik“ seines großen Buches über den „Historismus und seine 
Probleme“ (—• Ges. Schriften Bd. UI, I. Tübingen 1922, S. 27—67) bildet. Der jähe Tod des be¬ 
deutenden Forschers hat nun alle Hoffnungen auf den 2. Band seines Werkes zunichte gemacht. 

*) Schon in meinem anläßlich der Lauterberger Weltanschauungswoche verfaßten Aufsatz 
„Natur und Geschichte“ (Ilbergs Neue Jahrbücher 1917. H. S. 283 ff.) habe ich im Anschluß an 
ähnliche Betrachtungen anf Windelbands eindrucksvollen Warnungsruf in den „Präludien“ 
(ü*. Tübingen 1915. S. 27) hingewiesen. 

*) VgL jetzt die Referate bei Troeltsch a. a. O. S. 763, 414 und K. Heussi: „Altertum, Mittel- 
alter und Neuzeit in der Kirchengeschichte“ (Tübingen 1921). 


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Walther Saupe 


sich um die Notwendigkeit der Stoffauslese und -Verkürzung handelt Das 
gilt z. B. für die Behandlung von Vergil und Homer, für griechisches und 
römisches Drama, aber auch für die religiöse Kunst u. a. Kurz gesagt: es 
handelt sich hier um die Forderung der Bildung von größeren Sinn- und 
Werteinheiten, deren Einzelbestandteile sich gegenseitig tragen, wäh¬ 
rend sie ohne diesen oft gerade durch künstlerische Intuition des Lehrers 
gefundenen Totalzusammenhang in eine chaotische, das suchende Auge nur 
verwirrende Wirklichkeitsfülle auseinanderfallen würden. Hier wird die 
Methode schließlich vorwiegend biographisch oder monographisch, und 
bei ihrer Konstituierung bleibt vieles der individuellen kulturphilosophischen 
Einstellung des Betrachters überlassen, wobei sich schließlich oft genug auch 
die Wirksamkeit ästhetischer Aufbaugesetze geltend gemacht hat *)• — .Endlich 
aber, freilich nur an der Peripherie der höheren Schulen, erscheint über 
allem die Kategorie des Schöpferischen oder der Freiheit im Will¬ 
kürsinne im ästhetischen Gestalten. Brennender wird sie jedoch beim 
ästhetischen Genießen und Nachschaffen, kurz bei der Reproduktion. Hier 
muß vor allem der innere Erregungszustand aus der seelischen Struktur 
des Künstlers 2 ), aus seinem innerseelischen und sachlichen Verhältnis zu 
seinen stofflichen Vorlagen und seiner psychischen Lage, aus der sein Kunst¬ 
werk herauswuchs, gewonnen werden. Dazu bedarf es der Heranziehung 
biographischen Materials von Tagebüchern, Briefen, Selbstbeurteilungen; sodann 
einer Einführung in den Geist der Zeit auf dem zur Betrachtung stehenden 
Gebiete der Kultur oder Kunst. Das ist alles viel, viel wichtiger als das 
heute noch immer so übliche und oft so sentimentale, breite „Stimmung¬ 
machen“, das die Stimmung meistens von vornherein verwässert oder den 
Eindruck, den der Dichter durch seine Schöpfung erst hervorrufen will, im 
voraus verdirbt und zerstört. Denn man darf diese vorbereitenden Einleitufigen 
nur soweit führen, daß das Neue, das Schöpferische, auch über den 
Betrachter wie ein ästhetisches Erlebnis hereinbricht und ihn von 
der Größe seines Schöpfers selbst volle Überzeugung gewinnen läßt 3 ).— 

Und nur unter Erfüllung dieser Voraussetzungen kann das Erlebnis über 
die reine Empfängnis sich hinaussteigem zur Erlebnisvollendung im 
ästhetischen Gestalten oder Nachgestalten, die schließlich als ästhetische 
Selbsterziehung im weitesten Sinne das gesamte Wesen und Verhalten 
der Persönlichkeit selbst ergreift. Erst in dieser Entzündung zur Aktivität, 
zur Praxis (im urtümlichsten Sinne des Wortes) kann das Erlebnis seinen 
‘ Wert und seine Rechtfertigung gewinnen. Und ihr dienen nunmehr, 

*) K. Groos bat das an der Architektonik der großen Systeme des deutschen Idealismus nach¬ 
gewiesen (Zeitschr. f. Psychol. 1908 -1917 und Zeitschr. 1. Philos. 1918). 

a ) Der unfruchtbare Angriff, den Heumann gegen Diltheys bekannte Auffassung vom 
„Genie“ eröffnet batte, ist inzwischen durch die außerordentlich fördernden Untersuchungen voD 
K. Jaspers („Strindberg und van Gogh“ in den „Arbeiten zur angewandten Psychiatrie“Bd. V, 
Leipzig 1922) über den Einfluß der Schizophrenie auf das Künstlertum (einerseits auf Strind¬ 
berg und Swedenborg, andererseits auf Hölderlin und van Gogh) abgeschlagen worden. VgL 
besonders S. 96, 104, 124ff.; zusammenfassend S. 84: „Es könnte vielleicht die größte Tiefs 
des metaphysischen Erlebens, das Bewußtsein des Absoluten des Grauens und der Seligkeif 
im Bewußtsein der Empfindung des Obersinnlichen da gegeben sein, wo die Seele so weit 8 ®' 
gelockert wird, daß sie als zerstört zurückbleibt.“ 

*) Ein glänzendes Beispiel hierfür gibt z. B. soeben (für G. Hauptmann u. R. Tagore) Eufl' 
Kühnemann in „Gerh. Hauptmann. Aus dem Leben des deutschen Geistes in der Gegenwart 
(5 Reden, München 1922) S. 9fL, 420. 


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Grundsätzliches zum Problem der künstlerischen Erziehung 


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mit den historisch-ethischen Fächern zum Bildungsorganismus 
zusammengewachsen, die kunsttechnischen Fächer, denen man 
nun nicht mehr den Ehrentitel der „praktischen Fächer" (wobei der Akzent 
auf der Wertgestaltung liegen soll I) vorenthalten darf. — Berührt mag 
wenigstens zunächst der bedeutende Wert, der in den Bemühungen um die 
ästhetische Ausgestaltung der Klassenräume, der persönlichen Haltung und 
Kleidung, der sprachlichen Ausdrucksweise, der körperlichen Bewegung und 
Ertüchtigung im Spielen und Turnen gelegen ist. Dazu tritt die Beherr¬ 
schung der Form als der Herrschaft des Geistes über den Körper, die 
sich auswirkt in der freiwilligen Unterordnung um der gemeinsamen Ord¬ 
nung willen, und nicht ohne Grund hat Schiller deshalb immer wieder 
diese schöne Form der Selbstzucht als Vorstufe und Symbol des Sittlichen 
gepriesen. —Wo sich aber diese Form zur Kunstform wandelt, da beginnt 
das Reich der ästhetischen Erziehung im engeren Sinne. Hier 
waltet die Erziehung zur Form nicht als formalistischer Zwang, sondern als 
Anleitung zum Selbstsuchen und Selbstfinden der schönen, phantasievollen 
Kunstformen und Kunststile, sei es im Zeichen- oder im Musikunterricht. 
Überall gilt es, drei Grundforderungen im Auge zu behalten: das Natur¬ 
schöne als die Vorstufe des Kunstschönen erst einmal zu entdecken; aus 
seiner Gestaltung oder Selbstgestaltung das Verständnis fremdseelischen Lebens 
aus dem eigenen zu gewinnen 3 ); endlich aber: den Geist und die Kunst- 
gesinnung der Völker, vor allem aber ihr Hervorwachsen aus deren Welt¬ 
anschauung aufzudecken. Damit aber stehen wir wiederum an den Grenzen 
von Kunstphilosophie und Metaphysik. 


IV. 

Mit alledem ist doch eigentlich die Frage nach der. Autonomie der künst¬ 
lerischen Erziehung und Selbstbildung noch nicht endgültig gelöst aus den 
Bedürfnissen unserer Zeit heraus. Das alte „Ideal der Harmonisierung des 
Seelenlebens" und der statischen Befriedigung ist zerbrochen, und aller 
bewußt auf Stillstand oder ein Zurückschreiten bedachte Klassizismus verfällt 
dem Fluche des Epigonentums. Wir leben in einer Zeit der Krisen und der 
Vorherrschaft der dynamischen Lebensprinzipien und Tendenzen, wie die 
formflüchtigen Erscheinungen 1 ) des Impressionismus und Expressionismus 
beweisen, denen die innere, verbindende und formende Kraft immer wieder 
von der Wucht des Erlebnisstroipes zerstört oder zu subjektivistischer Ver¬ 
zerrung gesteigert wird. Es gilt auf den Gebieten der Kultur wieder — freilich 
in tieferem Sinne — das alte Wort des Heraklit vom Ttoltfidg naxi)Q ndvxtav. 
In diesem Sinne erscheint es als Pflicht der Lebenden, die Forderung der 
Autonomie des Ästhetischen in der Form eines ethischen Kampfrufes 
zur Gewinnung der inneren Form zum Ausdruck zu bringen und somit 
die formalistisch-harmonisierte in eine dynamisch-teleologisch-ago- 
mstische Ästhetik umzugestalten. Mit anderen Worten: wenn einmal die 
Eigenwerte der Kunst im ästhetischen Genießen oder Gestalten oder auch in 

*) Den besten Oberblick über die Geschichte (Sprenger, Scheler, Rickert) and Bedeutung dieses 
Problems gab Pfingsten 1922 E. Troeltsch in seiner Rede aut der Tagung der Kant-Gesellschaft 
(jetzt eingearbeitet in „Ges. Schrift.“ Bd. DI, I, S. 679 ff.). 

*) Vgl. besonders den ausgezeichneten Aufsatz von A. Tumarkin „Dichtung und Welt¬ 
anschauung“ im Logos VIU (1920—1921) 8.195ff. 


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Walttaer Saupe, GrandsStzlicbea zum Problem der kflnatlerischen Erziehung 


der künstlerischen Selbstgestaltung akzentuiert werden, dann darf es keine 
Beschränkung geben auf ihre Gewinnung und Beschreibung durch ihre eigene 
Wesensgesetzlichkeit und Terminologie, sondern in Auseinandersetzung 
mit den anderen Kulturgebieten soll das Ästhetische seine Eigen- und 
autonome Normbegründung sich erringen. Sprang er hat diese Kämpfe in 
seinen „Lebensformen" an den Vorbildern großer Denker, Dichter und Staats¬ 
männer dargestellt (S.114ff., 135f., 149ff., 175f., 195f., 230ff., 262), und die 
Auswertung dieser Darlegung für die ethisch-historischen Lehrfächer kann 
reichen Gewinn bringen. Aber wird nun in diesen Unterrichtsstunden der 
Lehrer zum Führer, so kann umgekehrt auf dem Gebiete der ästhetischen 
Gestaltung, d. h. in den „praktischen Fächern" der dytbv zugunsten des 
Schülers entbrennen, wenn ihm die geniale Veranlagungund das Talent die Führer¬ 
schaft zusprechen. Und während in jenen Fächern der Lehrer in der Ab¬ 
grenzung der wahren Erkenntnis sein Ziel sah, dem er zum Siege 
verhelfen mußte, so wird auf den Gebieten der ästhetischen Gestaltung im 
Schüler die Gefühlserweiterung, die Uferlosigkeit der Phantasie die 
treibende Kraft darstellen, bis aus diesem Wettkampf zwischen Lehrer und 
Schüler, zwischen Erkenntnis und Erlebnis, zwischen Intellekt und Gefühl 
die Erlebnisvollendung emporströmt: als Gestaltung durch den 
Willen und im Rahmen einer wahren, weil kämpfend erworbenen 
Bildungsgemeinschaft. 


Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen. 

(Nach einem im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht zu Berlin gehaltenen Vortrag.) 

Von Walter Hoffmann, Leipzig. 

Jeder Erzieher kommt in Lagen, wo sich ihm die Frage aufdrängt, ob ein 
Fall noch als „normal" zu betrachten sei. Was ist damit gemeint? — Im 
schlimmsten Falle denkt man an die Anzeichen einer geistigen Erkrankung, 
bei der alle Kunst des Erziehers versagt und nur noch der Arzt helfen kann. 
Von diesen Fällen, die außerhalb aller pädagogischen Tätigkeit liegen, soll 
hier nicht die Rede sein. Bekanntlich besteht aber ein fließender Übergang 
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit, und die Grenzbestimmung ist 
immer mehr oder weniger willkürlich, weswegen die Wissenschaft den Be¬ 
griff der Krankheit am liebsten ganz beiseite stellen würde, wenn nicht ge¬ 
wisse Fragen des praktischen Lebens diesen Gesichtspunkt immer wieder 
hervorkehrten. Gerade diese fließenden Übergänge vom Gebiete des Normalen 
ins Pathologische sind es, mit denen wir uns - gegenwärtig näher befassen 
wollen, jene Charaktereigentümlichkeiten, die man als psychopathisch zu 
bezeichnen pflegt. Sie gehören — erkannt oder unerkannt — zum täglichen 
Arbeitsgebiet des Erziehers, so daß also die der Pädagogik wissenschaftlich 
und praktisch gezogenen Grenzen in keiner Richtung überschritten werden 
sollen. 

In erster Linie müssen wir uns natürlich darüber Rechenschaft geben, wo 
die Grenzen des normalen Seelenlebens zu suchen sind. Seit Sterns klaren 
Ausführungen sollte darüber eigentlich kein Zweifel mehr sein; aber wenn 


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Hoümann, Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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Vera Strasser*) recht hätte, so dächte man sich den Typ des Normalen meist 
immer noch gleichbedeutend mit dem statistischen Durchschnitt. Folglich 
wQrde die normale Intelligenz etwa der Stufe des leichten Schwachsinns ent¬ 
sprechen? — Wir müssen also unbedingt daran festhalten, daß in der Be¬ 
zeichnung „normal“ ein Werturteil liegt. Wir werten Psychisches, und 
gerade deswegen kann der Maßstab, nach dem wir werten, nicht wieder 
Psychisches sein, sondern wir setzen es in Beziehung zu den Anforderungen 
der Umwelt. Normal ist also eine Seelenverfassung, die den Anforderungen 
des Lebens zu genügen pflegt. Damit ist ohne weiteres gesagt, daß es sich 
am keinen festen Maßstab handelt; er verschiebt sich ganz allgemein mit 
dem Wechsel der Kulturverhältnisse und ebenso im einzelnen nach den in¬ 
dividuellen Lebensbedingungen. Jeder Versuch, absolute Grenzen zu ziehen, 
wäre unfruchtbare Theorie. Darauf beruht eben die Relativität des Krank¬ 
heitsbegriffes wie des Verbrechensbegriffes. 

Viel bedeutungsvoller ist für unsere Untersuchung ein anderer Gesichts¬ 
punkt Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie psychisch den Anforderungen 
des Lebens genügt werden kann. Das beruht auf der Komplexität des Seelen¬ 
lebens und der praktischen Erfahrung, daß schwächere Leistungen in einer 
Richtung durch Mehrleistungen anderer Art kompensiert werden können. Am 
bekanntesten ist diese ungleichmäßige Nivellierung der Psyche auf dem Ge¬ 
biete der Intelligenz. Bei derselben Persönlichkeit ist das Gedächtnis für 
einzelne Stoffgebiete ganz verschieden (Zahlengedächtnis, Namengedächtnis, 
Farbengedächtnis), und davon ganz unabhängig bewegen sich wieder die 
Leistungen der Aufmerksamkeit, der Kombination, des logischen Urteils usf. 
Oft finden sich auffällig schwache Stellen, beinahe Null-Werte, und trotzdem 
bezeichnen wir die Intelligenz noch als normal, wenn die Schwächen prak¬ 
tisch durch die Gesamtleistung wieder ausgeglichen werden. Was sich auf 
diesem Sondergebiete zeigt, gilt in erhöhtem Maße für das Gesamtbild des 
Seelenlebens. Selbst geringe Intelligenz kann durch geistige Vorzüge anderer 
Art ausgeglichen werden. Umgekehrt werden bedenkliche Schwankungen 
des Gefühlslebens korrigiert durch verstandesmäßige Umbildungen. Die Möglich¬ 
keiten im einzelnen zu verfolgen, sind wir gamicht in der Lage. Für uns 
kommt es nur auf den einen Punkt an: Es gibt unzählige Varianten seelischer 
Veranlagung, die alle den Anforderungen eines normalen Seelenlebens 
genügen. 

Wenn man außerdem berücksichtigt, daß für die seelische Struktur nie 
die Anlage allein maßgebend ist, sondern sehr wesentlich die Einwirkung der 
Umwelt, insbesondere die zielbewußte Einwirkung durch die Erziehung, so 
ergibt sich weiter, daß auch die pädagogischen Möglichkeiten unerschöpflich 
sind und es letzten Endes von der Kunst des Erziehers abhängt, wie weit 
wir die Grenzen normaler Veranlagung rechnen dürfen. Man kann daher 
sagen: Der normale Mensch wird nicht geboren, sondern erzogen, — wenn 
Erziehung im weitesten Sinne des Wortes verstanden wird, der Einfluß der 
Umwelt, die Selbsterziehung eingeschlossen. Das wird bei manchen sehr 
leicht gelingen, bei anderen schwerer, und schließlich wird stets eine für den 
Erzieher unüberwindliche Grenze bleiben. Jenseits dieser Grenze sind die 
für unsere Kultur Verlorenen, sei es, daß sie den Kampf gegen diese Kultur 


') Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen (Berlin 1922) S. 144. 


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Walter Holtmann 


aufnehmen als Verbrecher, sei es, daß sie seelisch zusammenbrechen in Form 
geistiger Erkrankung. 

Fragen wir uns noch einmal, wo wir den psychopathischen Jugendlichen 
einzureihen haben, so sind es gerade jene Schwer-Erziehbaren, deren An¬ 
lagen so eigenartig gestaltet sind, daß sie nur unter Aufwendung besonderer 
Sorgfalt der Norm angepaßt werden können. Dabei ist immer an die seelische 
Veranlagung der Gesamtpersönlichkeit gedacht, nie bloß an Intelligenzdefekte, 
da sie ja in anderer Weise, ausgeglichen werden könnten; ja die herrschende 
Theorie will diese überhaupt vom Begriffe der Psychopathie ausschalten 1 ). 

Im übrigen wird nun klar erkenntlich sein, daß mit der Bezeichnung „Psycho¬ 
path“ für das psychologische Verständnis wenig gewonnen wird; es handelt 
sich einfach um eine Sammelbezeichnung für Charakteranlagen, die sich schwer 
oder nur unvollkommen der Norm anpassen und deswegen der Gefahr patho¬ 
logischer Entartung besonders ausgesetzt sind. Vor allem kann darin nie¬ 
mals eine Entschuldigung für die Fehler eines Kindes oder seiner Erzieher 
liegen, wie es leider nur allzuoft versucht wird. Mit vollem Hecht sagt Gruhle 1 ): 
Der Nachweis, daß ein Kind psychopathisch ist, darf für den Lehrer nie eine 
Entschuldigung sein, daß seine Kunst versagt hat Der Unerziehbare ist des¬ 
wegen nicht schon krankhaft, aber auch der Kranke ist oft noch erziehungs¬ 
fähig. 

Ja, man k ann noch einen Schritt weiter gehen: Zum Teil enthält die Gruppe 
der Psychopathen ein hochwertiges Bildungsmaterial; es sind jene besonders 
fein organisierten Seelenstrukturen, zu Höchstleistungen befähigt, aber gleich¬ 
zeitig auch infolge ihrer feineren Organisation viel leichter Störungen aus¬ 
gesetzt. Ich erinnere daran, daß in diesem Sinne auch Goethe und Bismarck 
zu den Psychopathen gerechnet werden. Es wäre ganz verfehlt, den Begriff 
des Psychopathen nur* auf sozial minderwertige Elemente anzuwenden; denn 
damit würde man die eben gewonnene wissenschaftliche Grundlage wieder 
aufgeben, nämlich die Erkenntnis, daß es Anlagen gibt, die sich nach ganz 
verschiedener Richtung entwickeln können. 

Es war mir bei dieser Vorerörterung um mehr zu tun als bloße Begriffs¬ 
bestimmung. Es sollte vor allem dargelegt werden, warum dieses Grenzgebiet 
der Psychologie für jeden Erzieher von größter Bedeutung ist. Hier liegt 
geradezu der Prüfstein seiner Kunst. Darum hilft ihm bekanntlich eine Psycho¬ 
logie, die nur mit dem Schema eines sogenannten nonnalen Menschen arbeitet, 
so wenig. Sie reicht aus für die Schulung elementarer Funktionen (Gedächt¬ 
nis, Aufmerksamkeit), die verhältnismäßig wenig individuelle Verschieden¬ 
heiten aufweisen; diese sind selbst bei geistigen Erkrankungen am wenig¬ 
sten verändert Alle individuellen Unterschiede (Gesundheit, Geschlecht, Alter) 
offenbaren sich erst in komplexeren Leistungen. Der Strukturzusammenhang 
der Gesamtpersönlichkeit gibt daher den Ausschlag. 

Damit gelangen wir zu der entscheidenden Frage, von welchem Gesichts¬ 
punkte aus der Charakter des Psychopathen verständlich wird. Zwei Wege 
sind denkbar: Man kann ausgehen vom Bilde der geistigen Erkrankung und 
im Psychopathen gewissermaßen die letzten Ausläufer krankhafter Züge in 
das Gebiet des Normalen sehen. Diese Auffassung liegt natürlich für den 
Arzt am nächsten. In diesem Sinne hat man z. B. die Stimmungsschwankungen 


') Vgl. Hanselmano, Zeitschr. f. Psych. 77,138. *) Vererbung und Erziehung, Arch. I.Päd. 2,369. 


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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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Goethes in Verbindung gebracht mit - dem Krankheitsbilde des manisch-de¬ 
pressiven Irreseins (Moebius). Man wird aus diesem Beispiele aber auch so¬ 
fort erkennen, daß damit für das psychologische Verständnis wenig gewonnen 
wird. Das manisch-depressive Irresein ist ein aus den Erfahrungen der Klinik 
gewonnenes Krankheitsbild, über dessen biologische Bedingungen wir voll¬ 
kommen im Unklaren sind. Wo es sich um seelisches Verständnis handelt, 
geht daher auch die Psychopathologie. den umgekehrten Weg. Sie sucht'das 
Krankhafte zu deuten als eine Verschiebung des normalen Seelenbildes und 
sich so in das Innenleben des Kranken einzufühlen. Allerdings hat das seine 
Grenzen, da bei schwereren Erkrankungen das Seelenbild vollkommen ver¬ 
zerrt erscheint. Der Psychoanalytiker sucht sich daher durch allerlei Um¬ 
deutungen, Symbole, Fiktionen über diese Schwierigkeit hinwegzuhelfen. 
Bleuler hat in dieser'Weise selbst für die dementia praecox noch den Ver¬ 
such einer seelischen Einfühlung unternommen. 

Auf dem Grenzgebiete, das für uns in Frage kommt, bestehen jedenfalls 
keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Freilich müssen wir unsere psycho¬ 
logischen Kenntnisse wesentlich vertiefen und uns vor allem von jedem wissen¬ 
schaftlichen Aberglauben freimachen. Zu solchem Aberglauben rechne ich 
insbesondere die Vorstellung, als sei. das Seelenleben aus dem anatomischen 
Bau des Großhirns zu erklären und es müsse daher jede Veränderung oder 
Störung des Seelenlebens auf einer anatomisch nachweisbaren Veränderung 
des Großhirns beruhen. Gewiß kennen wir eine große Anzahl Krankheiten, 
bei denen wir bestimmt wissen, daß sie auf organischen Veränderungen des 
Hirns beruhen, und bei manchen vermuten wir es. Aber im Gegensatz dazu 
steht eine andere Gruppe geistiger Störungen, die allem Anscheine nach nicht 
auf organische Veränderungen zurückgeführt werden können und die man 
daher als funktionelle Störungen bezeichnet. Ein epileptischer Anfall ist in 
der Regel organisch bedingt, ein hysterischer funktionell. Im ersten Falle 
können wir nur durch organische Beeinflussung (Medikamente, Operation) 
helfen, im anderen Falle durch seelische Beeinflussung. Wenn wir also nicht 
schon am Anfänge unserer Untersuchung stecken bleiben wollen, müssen wir ~ 
uns notgedrungen auch noch über das Verhältnis von Hirn und Seele Rechen¬ 
schaft geben. Aber vielleicht ist man dieser Frage nach all dem, was dar¬ 
über bereits geschrieben worden ist, so überdrüssig, daß ich sie gleich noch 
etwas weiterspinnen will. Neuere Forschungen haben uns immer mehr Auf¬ 
schluß darüber gegeben, wie stark das Seelenleben beeinflußt wird von der 
inneren Sekretion einzelner Blutdrüsen. Von der Schilddrüse, deren Entartung 
zum Kretinismus führt, ist dies längst bekannt Ähnliche Zusammenhänge 
vermuten wir bekanntlich auch für die Keimdrüsen, die Nebennieren, die 
Zirbeldrüse usf. Aber wiederum darf man sich diesen Zusammenhang nicht 
so einfach vorstellen, als ob z. B. der Geschlechtstrieb lediglich eine Funk¬ 
tion der Keimdrüsen sei, sondern es bestehen offenbar sehr innige Wechsel¬ 
beziehungen der verschiedensten Drüsen unter sich und mit dem Gesamt¬ 
nervensystem, und es kommt nur den Keimdrüsen eine sehr wesentliche Be¬ 
deutung für diesen Wirkungszusammenhang zu. Wie auch umgekehrt See¬ 
lisches von Einfluß auf die Drüsentätigkeit werden kann, also nicht etwa in 
einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht. Ich glaube sogar, daß man 
die Bildung des Vorstellungslebens, die Suggestion, den hysterischen Mecha¬ 
nismus nur verstehen kann, wenn man auch die Wechselbeziehungen zwischen 


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Walter Holtmann 


Großhirn und Bewegungsapparat mit in Rechnung zieht Sicher wird uns die 
Forschung in dieser Richtung noch manche Überraschung bringen. Aber das 
Eine steht bereits fest: Die einfache Formel „Seelentätigkeit — Gehimfunktion“ 
ist endgültig erledigt und damit alles, was sich auf dieser Hypothese auf- 
baute, einschließlich der Assoziationspsychologie. Das Hirn bedeutet eine 
wesentliche, aber nicht die einzige Bedingung für die Seelentätigkeit 
Auch die Theorie von der Lokalisierung der Geistesfunktionen hat mit dem Fort* 
schritt der himanatomischen Forschung eine wesentliche Umbildung erfahren: 
wir suchen nicht mehr im Bau des Organes die Erklärung für seine Funktion, 
sondern verstehen umgekehrt den Bau des Organes aus der ihm zugewiesenen 
Funktion 1 )* 

Somit stünden wir wieder vor dem verrufenen Dualismus von Körper 
und Seele, der als eine ganz unerhörte Zumutung an wissenschaftliches Denken 
gilt, weil zwei verschiedene Kausalordnungen nebeneinander bestehen sollen, 
eine Zumutung, die sonst nirgends in der Naturwissenschaft an uns heran* 
trete. Wirklich? — Kennen wir sonst nirgends die Erscheinung, daß es ver¬ 
schiedene organische Entwicklungsstufen gibt und wir eben deswegen von 
höheren Entwicklungsstufen sprechen, weil sie auch qualitativ etwas voll¬ 
kommen anderes» darstellen als der vorausgegangene Zustand, sodaß wir nie 
die höhere Entwicklungsform aus den kausalen Beziehungen der vorausgehen¬ 
den begreifen können, sondern gewissermaßen unsere Rechnung jedesmal nen 
beginnen müssen? — Liegt hierin nicht gerade der wissenschaftliche Grand 
für die Einführung des Entwicklungsgedankens? — Die Pflanze ist etwas voll¬ 
kommen Neues gegenüber dem Samenkorn, der Körper etwas anderes als 
die zum Aufbau verwendete Nahrung. Dasselbe wiederholt sich bei see¬ 
lischen Phänomenen. Die Vorstellung ist qualitativ ganz verschieden von 
den einzelnen Sinnesreizen, die ihr zugrunde liegen; ein Akkord ist mehr 
als die Summe von Einzeltönen, ein ethischer Wert ist mehr als die Resul¬ 
tante verschiedener Lebenserfahrungen. Überall wo wir von psychischer 
Komplexbildung sprechen, wollen wir damit zum Ausdruck bringen, daß 
etwas qualitativ Neues im Seelenleben auftritt, abhängig von den zugrunde 
liegenden Phänomenen und doch aus ihnen allein nicht mehr verständlich. 
Anders gesagt: Wir kommen bei organischen Wachstumsvorgängen ohne die 
Annahme von Kausalreihen niederer und höherer Ordnung nicht aus. 3 ) Wir 
haben es also bei dem Verhältnis Körper und Seele nur mit einem Sonder¬ 
fall des Entwicklungsgedankens zu tun; wir haben diesen Sprung von einer 
Kausalreihe in eine andere nicht einmal zu vollziehen, sondern unzähligemal, 
vom einfachsten Nervenreflex angefangen bis zum höchsten Aufbau der Ge¬ 
samtpersönlichkeit, dessen oberste Spitze in die komplexeste Form des Seelen¬ 
lebens übergeht, das Ich-Bewußtsein. Die Eigentümlichkeit des ganzen Phä¬ 
nomens liegt lediglich darin, daß wir die Ergebnisse eines Entwicklungs- 
Verlaufs hier gleichzeitig nebeneinander und in ihrer gegenseitigen Ab- 


’) Brodmann, Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde (Leipzig 1909) S. 285. 

*) Immer wieder wird die falsche Frage gestellt, wie es möglich sei, daß ans einer Zu¬ 
sammenfassung elementarer Einheiten etwas Neues „entstehe". Man leugnet dann aus logischen 
Gründen entweder die Existenz eines Neuen, betrachtet z. B. geistige Phänomene als Illusion, 
oder stellt an den Anfang, ein unsichtbares X, eine „Anlage“ (Erbanlage, Wertanlage). Beides 
ist mechanistisch gedacht; wir können nur feststellen, unter welchen „Bedingungen“ Entwick¬ 
lung oder Wachstum fortschreitet. 


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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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hingigkeit wirken sehen; jedoch ist eine Teilung in zwei große Entwicklungs¬ 
stufen „Körper, Seele“ viel zu grob und willkürlich, sondern es ist eine un¬ 
endlich fein gegliederte Stufenfolge mit fließenden Übergängen, deren letzte 
Ausläufer in das Bereich des Seelischen führen. Oder wenn man das Ein¬ 
heitliche stärker betonen will, so läßt sich sagen, daß auch im Seelischen 
dieselben Prinzipien wirken wie im organischen Unterbau, nur bis zur höch¬ 
sten Vollkommenheit und letzten Konsequenz durchgeführt, wobei die Frage 
ungelöst bleibt, ob es noch höhere, ins Übersinnliche führende Entwicklungs¬ 
formen gibt. 

Jetzt wird ohne weiteres verständlich sein, was mit funktionellen Störungen 
des Seelenlebens gemeint ist, auf die sich unsere Untersuchung ausschließlich 
richten soll. Ihre Ursache ist nicht in biologischen Veränderungen der be¬ 
teiligten Körperörgane, etwa des Großhirns, zu suchen, sondern sie vollziehen 
sich auf einer höheren Entwicklungsstufe, im Seelischen. Damit ist nicht 
ausgeschlossen, daß seelische Veränderungen rückwirken auf die organische 
Grundlage und so gewissermaßen ein Keil den anderen treibt. Es handelt 
rieh dabei nicht etwa um ein rein philosophisches Problem, sondfrn gerade 
aus der praktischen Erfahrung heraus hat sich in der Psychopathologie die 
Erkenntnis durchgesetzt, daß nur vom psychologischen Standpunkt aus f unk - 
tionelle Störungen zu begreifen und zu behandeln sind. Was sich im Be¬ 
reiche des Geisteslebens abspielt, vollzieht sich nach Gesetzmäßigkeiten, 
für die es keine andere Erfahrung gibt als das eigene Ich. Nur soweit uns 
eine solche Einfühlung gelingt, können wir fremdes Seelenleben verstehen. 
Wir sehen, wie Jaspers sagt, Seelisches aus Seelischem mit „Evidenz“ her¬ 
vorgehen; wir verstehen, daß man nach Lust strebt, Unlust abwehrt; das 
sind letzte Erfahrungstatsachen des unmittelbaren Erlebens, die sich erkennt¬ 
nismäßig nicht weiter analysieren lassen. Da wir selbst aber verschiedene 
Entwicklungsstufen durchlebt haben, so können wir aus der Erinnerung auch 
bis zu einem gewissen Grade verstehen, wie die geistige Verfassung .ver¬ 
schiedener Altersstufen mit einander in Beziehung steht. Psychologische 
Erkenntnisse sind daher nicht lehrbar, sondern nur die Methoden psycho¬ 
logischen Denkens. So will auch ich mit meiner Untersuchung nur eine 
Methode zeigen, sie an Beispielen illustrieren, aber kein geschlossenes System, 
worin alles Erfahrungsmaterial aufginge. Dazu ist das Gebiet viel zu groß 
and längst nicht genügend durchforscht. 

Der Entwicklungsgedanke in dem zuvor dargelegten Sinne liefert uns so¬ 
fort eine Reihe Einblicke in Abnormitäten des jugendlichen Seelenlebens. 
In der Kindheit ist die seelische Struktur noch verhältnismäßig einfach, erst 
in den Reifejahren tritt eine größere Differenzierung ein. Dem entspricht 
es, daß in der Kindheit die seelischen Varianten noch gering sind und see¬ 
lische Störungen ihrer Art und Zahl nach beschränkt sind. Beispielsweise 
wird man Zwangsvorstellungen bei Kindern selten finden. Wenn die viel¬ 
seitige Verzweigung des Seelenlebens in den Reifejahren einsetzt, nehmen 
auch die seelischen Varianten zu, doch scheint beim Knaben die Variations¬ 
breite nach oben wie nach unten größer zu sein als beim Mädchen. Die 
ungünstige Seite zeigt sich besonders deutlich in der stärkeren Kriminalität 
der Knaben; dafür gibt aber die größere Komplexität ihres Seelenlebens 
eher die Möglichkeit einer Kompensation abnormer Züge. Das Mädchen 
wird seltener unsozial, aber die Prognose ist ungünstiger. 


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Walter Hoffmann 


Entsprechend der stärkeren Differenzierung des Seelenlebens nehmen auch 
in den Reifejahren auffällig die seelischen Störungen zu. Sie bilden geradezu 
eine kritische Periode für den Ausbruch geistiger Erkrankungen. Aber hier 
muß man vorsichtig sein; die Reifezeit enthält eine Reihe seelischer Eigen¬ 
tümlichkeiten, die man in einem späteren Entwicklungsalter als pathologisch 
bezeichnen würde, die aber in dieser Periode unvermeidliche Übergangs¬ 
erscheinungen darstellen. Man beachtet sie nur in der Regel nicht und er¬ 
schrickt, wenn sie einmal mit besondere!: Dauer oder Stärke hervortreten. 

So erklären sich viele abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben 
einfach durch ein Zurückbleiben der geistigen Entwicklung, und erst dann, 
wenn ein deutlicher Stillstand der Entwicklung eintritt, werden wir sie als 
pathologisch bezeichnen dürfen. Dabei braucht es nicht zu einem Stillstände 
der Gesamtentwicklung zu kommen, sondern die merkwürdigsten Verschie¬ 
bungen und Verzerrungen des Seelenbildes ergeben sich gerade dann, wenn 
lediglich einzelne Züge in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind. Be¬ 
ginnen wir mit einfachen Beispielen: Daß ein Säugling unsauber ist, er¬ 
scheint Älbstverständlich; näßt auch das Schulkind noch ein, so ist das 
bereits ein infantiler Zug, der es wahrscheinlich macht, daß die Entwicklung 
auch in anderer Hinsicht Störungen aufweist. — Das Kind greift anfangs 
nach allem, was ihm gefällt, es will alles „haben“. Geschieht das auch 
noch in der Schulzeit, so entwickelt sich daraus das diebische Kind. Freilich 
handelt es nicht mehr so naiv; die geistige Entwicklung ist im allgemeinen 
fortgeschritten, und es treten verstandesmäßige Korrekturen ein. Die Situation 
muß also günstig sein. Anfangs liefert sie der Zufall; aber wenn es Erfolg 
hatte, d. h. nicht erwischt und nicht bestraft wurde, setzt das Verhängnis 
ein: Das Kind sucht die geeignete Situation. Darum wiederholen jugend¬ 
liche Diebe meist immer denselben Trick: Die einen führen immer wieder 
Taschendiebstähle aus, die anderen Ladendiebstähle. Das Spezialistentum 
geht aber noch viel weiter; der eine verübt alle Taschendiebstähle auf dem 
Bahnhofe, der andere sucht dazu regelmäßig die elektrische Straßenbahn 
auf. Der Rauchwarenhandel Leipzigs hat als besonderen Sport das Stehlen 
von Fellen gebracht, indem die Kinder auf einen fahrenden Wagen auf¬ 
springen und Felle herunterwerfen. Man kann das in einen ganz allgemeinen 
Erfahrungssatz zusammenfassen: Eine Szene der Kindheit, die einen beson¬ 
deren Erlebniswert brachte, wird immer von neuem gespielt. Dieser Satz 
gilt, wie gesagt, ganz allgemein, nicht etwa bloß für sexuelle Erlebnisse, 
wie die psychoanalytische Schule annimmt. 

Ich habe absichtlich Beispiele gebracht, wo der Infantilismus sehr deutlich 
hervortritt. Meist liegt jedoch der Zusammenhang verborgener, wie ich eben¬ 
falls an einigen Beispielen darlegen wilL 

Bekanntlich sind die geistigen Beziehungen des Kindes zur Umwelt noch 
sehr dürftig. Es betrachtet sich als Mittelpunkt aller Erlebnisse; sein Welt¬ 
bild ist eine eigentümliche Verschmelzung von Phantasie und Wirklichkeit; 
seine Spiele sind zum Teil Traumdichtungen. Bereits in der Schule treten 
aber die Anforderungen der Wirklichkeit härter an das Kind heran. Was 
.geschieht nun, wenn das Kind seiner geistigen Entwicklung nach dem Unter¬ 
richtsstoffe noch nicht gewachsen ist? — Es wird träumen und heimlich 
spielen. Ganz wird sich dieses Zurückweichen von der rauhen Wirklichkeit 
in das kindliche Traumleben bei keinem Kinde vermeiden lassen, Bodaß 


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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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gelegentliche Aufmunterungen zu den unvermeidlichen Beigaben jedes Unter¬ 
richtes gehören. Aber in jenen kritischen Fällen wird das nichts nützen; 
entweder gewöhnt sich das Kind ein dickes Fell an, es stumpft ab gegen 
Ermahnungen und Strafen, oder es schwänzt die Schule, um sieb träumend 
und spielend herumzutreiben. So harmlos der Anfang aussieht, so schwer¬ 
wiegend sind doch die Folgen. Es behält nämlich diese Einstellung leicht 
gegenüber allen Anforderungen des Lebens bei. Es entwickeln sich jene halt¬ 
losen, unsozialen Naturen, die jeder Unbequemlichkeit, also vor allem der 
Arbeit aus dem Wege gehen, abgestumpft gegen das Urteil der Umgebung 
und gegen die Wirkung von Strafen. Gruhle fand unter den von ihm unter¬ 
suchten Fürsorgezöglingen über 58°/o Schulschwänzer. Ich denke allerdings 
gegenwärtig weniger an die Fälle des angeborenen Schwachsinns, die ja einen 
ähnlichen Verlauf nehmen können und daher in jener Zählung inbegriffen 
sind, sondern in erster Lini e an das Versagen der seelischen Spannkraft, 
an die Psychasthenie. 

Etwas ähnliches beobachtet man in den Reifejahren. Die Wirklichkeit 
offenbart sich dem jungen Menschen jetzt unverhüllter und rücksichtsloser. 
Der egozentrische Standpunkt der Kindheit läßt sich in der Berührung mit 
dem Gemeinschaftsleben nicht mehr aufrecht erhalten. Eine totale innere 
Umstellung wird notwendig, die zeitweise das einheitliche Gefüge der Persön¬ 
lichkeit zu sprengen droht. Unsicherheit, ein Chaos neuer Erlebnisse, starke 
Stimmungsschwankungen, häufiger Wechsel, eine Art Experimentieren in den 
äußeren Zielsetzungen kennzeichnen diesen Übergang. Es ist wohl die stärkste 
seelische Kraftprobe, an der viele zusammenbrechen. Kein Wunder also, 
wenn auch hier wieder viele die Flucht in die Kindheit antreten. Die Neigung 
zum Träumen und Dichten, die spielerische Beschäftigung mit phantastischen 
Plänen gehört zur Regel. Aber bedenklich wird es schon, wenn der Jugend¬ 
liche sich einsam zurückzieht, um sich ganz in seine Träumereien einzuspinnen. 
Schundliteratur und Kino, Mystik und Anthroposophie sind nur verschiedene 
Zugangspforten in das gefährliche Traumland. Man pflegte früher jene 
menschenscheuen Naturen mit dem träumerischen, unsicheren Blick als Opfer 
der Onanie anzusehen, indem man Ursache und Folge verwechselte, infolge¬ 
dessen auch erzieherisch an der falschen Stelle einsetzte, sie mit Vorwürfen 
und Angstbildem quälte, statt ihnen über die seelische Not hinwegzuhelfen. 
Oft ist der Verdacht nicht einmal begründet, die Selbstvorwürfe erweisen sich 
häufig als hypochondrische Angstvorstellungen. 

Im Arbeiter- und Mittelstände ist es vor allem der frühzeitige und imver¬ 
mittelte Übergang in die Gebundenheit und Eintönigkeit des Erwerbslebens, 
der es dem Jugendlichen erschwert, die richtige Beziehung zur Wirklichkeit 
zu finden. Das Festhalten am kindlichen Standpunkt führt notwendig zu 
einer Abwehrstellung gegenüber dem Erwachsenen. Verschlossenheit und 
Zurückhaltung sind typische Charakterzüge und werden von den Eltern 
besonders schmerzlich empfunden. Oft entwickelt sich daraus eine dauernde 
Trotzeinstellung; man begeht Unarten und Torheiten aus Prinzip, man spielt 
eine jugendliche Heldenrolle, die leider gelegentlich im Gefängnis endet 
Manchmal bereiten sich solche Krisen lange vor, ohne von der Umgebung 
bemerkt zu werden. Der Jugendliche führt ein Doppelleben: äußerlich erfüllt 
er seine Pflichten, innerlich flüchtet er in das Traumland der Kindheit Bis 
eines Tages die Spannung unerträglich wird. Kopflos läuft er davon, treibt 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 10 


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sich ziellos herum; der eine hungert und bettelt, der andere nimmt die Kasse 
seines Geschäftsherm mit, fährt in der Welt herum und verjubelt das Geld. 
Was der Schulschwänzer im kleinen konnte, das führt der Ausreißer im 
großen aus. Es ist ja. oft dieselbe Persönlichkeit. Forscht man später nach 
den Motiven, so sind es Wünsche kindlichster Art: man wollte Filmschauspieler, 
Chauffeur, Schiffsjunge werden, nach Amerika fahren, Gold suchen usf. Aber 
wiederum darf man nicht an Intelligenzmängel denken, sondern die Burschen 
erkennen ihre Torheit ganz klar und sind darum schwer zur Preisgabe ihrer 
heimlichen Träume zu bewegen. Die schlimmsten Erfahrungen, reuevolle 
Versprechungen hindern nicht, daß sie den Streich bei nächster Gelegenheit 
wiederholen. Auch sie spielen immer wieder eine Szene aus der Kindheit. 
Daß die Szene nicht erlebt, sondern erträumt war, ändert nichts an ihrer 
psychologischen Bedeutung. Natürlich kommt es nicht immer zu solchen 
dramatischen Abschlüssen — es ist das eine Spezialität der Knaben —; bei 
vielen bleibt es ein träumerisches Gedankenspiel, das jedoch immer auf Kosten 
der geistigen Spannkraft geht — der Typ des „nervösen“ Kindes. 

Bisher waren wir davon ausgegangen, daß sich die geschilderten Vorgänge 
ganz bewußt im Seelenleben des Jugendlichen vollziehen. Aber wir treffen 
auf zahlreiche Fälle, wo mit dieser Erklärung nicht mehr auszukommen ist, 
auch wenn wir mit Lücken der Erinnerung und absichtlichem Verschweigen 
rechnen. Schon die alltägliche Erfahrung lehrt das. .Ständig führen wir eine 
Reihe Handlungen aus, deren Einzelheiten uns kaum noch zum Bewußtsein 
kommen, beim Gehen und Sprechen, beim Radfahren und Klavierspielen. Sie 
sind so sicher eingeübt, daß sie ganz automatisch ablaufen, sobald die erste 
Anregung gegeben worden ist Ohne diese Automatismen würden wir nie im 
Leben auskommen; wir würden wie ein Kind so mit den einfachsten Auf¬ 
gaben des Lebens beschäftigt sein, daß gar keine Zeit zu höheren geistigen 
Leistungen bliebe. So erwünscht uns dieser Übungsgewinn auch im allgemeinen 
ist, ebenso kann er uns doch gelegentlich tolle Streiche spielen, weil er eben 
zwangsläufig wie ein Automat wirkt Ich erinnere an alle die kleinen Ver¬ 
sehen bei Zerstreutheit und Ermüdung, an die sogenannte „Macht der Gewohn¬ 
heit“. James 1 ) führt folgendes Beispiel an: Jemand ist zu einer Abend¬ 
gesellschaft eingeladen und will sich in seinem Schlafzimmer umkleiden; er 
beginnt damit, zieht sich aber in Gedanken ganz aus, legt sich zu Bett und 
schläft. — Ebenso wirken die in der Kindheit angenommenen Gewohnheiten 
als Automatismen im späteren Leben nach, und es ergeben sich leicht allerlei 
Störungen, wenn die seelische Entwicklung an Schwächen leidet. Ein solcher 
jugendlicher Ausreißer hat vielleicht die typische Szene seiner infantilen 
Träumereien längst vergessen; aber irgendein zufälliger äußerer Anlaß genügt, 
um automatisch die Handlung ablaufen zu lassen, so daß der Jugendliche 
sich über das Motiv keine Rechenschaft mehr geben kann. Ein 16 jähriger 
Kaufmannslehrling brauchte nur in die Nähe des Bahnhofs zu kommen 
und Lokomotivdampf zu „riechen“, so erwachte schon ein unerklärlicher 
Reisetrieb in ihm, gegen den er sich vergeblich stemmte. Eines Tages kam 
er ganz verstört nach Hause und erzählte, daß er „beinahe“ wieder durcb- 
gebrannt wäre, als ihn eine Besorgung nach dem Hauptbahnhofe führte. Da 
er trotzdem immer wieder Geschäftsgelder anvertraut erhielt, geschah es 


*) Psychologie. Übersetzt von Dürr, Leipzig 1909, S. 137. 


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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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natürlich bald darauf. — Ähnlich liegt der Fall eines 16jährigen Schlosser¬ 
lehrlings, der in einem Bäckerladen zwei vor ihm stehenden Frauen mit einer 
Schere Löcher in die Kleider geschnitten hatte. Vergeblich forschte man 
nach seinen Motiven, hinter denen man sexuelle Regungen vermutete. Er 
konnte nur angeben, daß ihn das Warten gelangweilt habe, er zufällig eine 
kleine Schere in der Tasche getragen hätte, die er sonst zum Abschneiden 
seiner Zeichenblätter benutzte, und mit dieser hätte er die Löcher in den Kleider¬ 
stoff geschnitten, wobei er „sich gar nichts weiter gedacht hätte“; erst bei 
seiner Festnahme sei er erschrocken Aber den angerichteten Schaden. Auf¬ 
fällig war, daß er regelmäßige ovale Stücke aus den Kleidern herausgeschnitten 
hatte. Meine Nachforschungen ergaben, daß er seine Mußestunden aus¬ 
schließlich mit Laubsägearbeiten verbrachte, sonst aber ganz zurückgezogen 
und teilnahmlos dahinlebte. Auch hier war also eine gewohnte Handlung 
automatisch durch die Situation ausgelöst worden. 

Der soeben geschilderte Fall berührt bereits ein Problem, das mit dem 
vielumstrittenen Begriff des „Unterbewußtseins“ zusammenhängt. Es handelt 
sich, im Grunde genommen, nur um die für den Entwicklungspsychologen 
selbstverständliche Tatsache, daß für den Verlauf aller Seelenvorgänge nicht 
bloß die im Augenblick wirkenden Einflüsse maßgebend sind, sondern daß 
sich mehr .oder weniger auch die Einflüsse früherer Erlebnisse beteiligen. Der 
besondere Ton liegt nur darauf, daß die. Nachwirkung früherer Erlebnisse 
uns vielfach gar nicht zum Bewußtsein kommt, wofür die automatisch ge¬ 
wordenen Handlungen nur einen besonders eindrucksvollen Sonderfall bieten. 
Es handelt sich also nicht um eine geheimnisvolle Kraft, die aus mystischer 
Dunkelheit auf die Gestaltung unseres Seelenlebens wirkt, sondern es ist 
die eigene Vergangenheit, mit der wir seelisch dauernd verbunden bleiben, 
eine Folge der seelischen Kontinuität schlechthin. Ich ziehe daher die Be¬ 
zeichnung „seelischer Unterbau“ vor, um zugleich anzudeuten, daß es sich 
um seelische Prozesse handelt, die einer tieferen Entwicklungsstufe angehören 
und die sich daher auch qualitativ von Bewußtseinsvorgängen unterscheiden. 
Bei einer normalen Entwicklung macht sich dieser seelische Unterbau nicht 
weiter bemerkbar, als daß gewisse Gewohnheiten und Charaktereigentümlich¬ 
keiten bleibend den Denkverlauf bestimmen, wobei immer das bewußte 
Denken der höheren Entwicklungsstufe die Leitung behält. Das Bild ändert 
sich jedoch, wenn der Übergang zu höheren Entwicklungsstufen nur unvoll¬ 
kommen gelingt. Während beim Infantilismus einfach das Denken auf einer 
tieferen Stufe stehen bleibt, eigibt sich nun ein Widerstreit zwischen dem 
bewußten Denkverlauf und dem seelischen Unterbau. Dieser ist verhältnis¬ 
mäßig besser eingeübt und schaltet daher in kritischen Lagen den bewußten 
Denkverlauf aus, so daß die bewußte Leitung des Seelenlebens gestört er¬ 
scheint Am leichtesten ist das in den Fällen zu erkennen, wo eine längst in 
Vergessenheit geratene Kindheitsszene den bewußten Denkverlauf so beein¬ 
flußt, daß sie immer wieder in neuen Variationen gespielt wird, wie bei jenem 
jugendlichen Ausreißer» 

Meist ist aber der Zusammenhang verwickelter. Angenommen, ein Jugend¬ 
licher fühlt sich in der Schule oder im Berufe nicht wohl: er ist den An¬ 
forderungen nicht gewachsen, er fürchtet ein Examen, aber er sieht auch, 
daß es keine Möglichkeit gibt, sich diesen Anforderungen zu entziehen, ja 
er zwingt sich vielleicht aus übertriebenem Ehrgeiz, weil er seine Schwäche 

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Walter Hoflmann 


nicht eingestehen mag. In dieser kritischen Lage setzen nervöse Störungen 
ein: Ohnmächten, Erbrechen, Krampfanfälle, Lähmungen oder ähnliche Schreck¬ 
schüsse für' besorgte Eltern. Der innere Konflikt hat plötzlich seine Lösung 
gefunden; denn durch die Krankheit ist der Jugendliche allen Unbequemlich¬ 
keiten der Schule oder des Berufes entzogen, ohne sich irgendwelchen Vor¬ 
würfen auszusetzen. Ist die kritische Situation vorüber, so stellt sich meist 
die Gesundheit wieder ein, aber sobald neue Gefahr droht, wiederholen 
sich die Anfälle; allerdings kann sich daraus leicht ein Dauerzustand ent¬ 
wickeln. Man erkennt sofort das typische Bild eines jugendlichen Hysterikers. 
Wie erklärt sich nun der psychologische Zusammenhang? — Man könnte 
an eine schlechtgespielte Komödie denken, und tatsächlich kommt dies oft 
genug vor. Aber dann handelt es sich überhaupt nicht um eine krankhafte 
Erscheinung. Für uns kommen nur die Fälle in Betracht, wo der Jugend¬ 
liche 'zweifellos schwer unter den Anfällen leidet und ihnen wehrlos aus¬ 
geliefert ist. Eine fremde, geheimnisvolle Macht scheint störend in das 
Seelenleben einzugreifen, und dies ist nichts anderes als ein undiszipliniertes 
Mitwirken des seelischen Unterbaues. Dem Bewußtsein gelang es nicht, 
über einen inneren Konflikt hinwegzukommen; infolgedessen schaltet sich 
automatisch der besser eingeübte infantile Denkmechanismus ein und schafft 
überraschend die Lösung. Die Lösung erfolgt daher immer im Sinne kind¬ 
lichen Denkens, also rein egozentrisch, auf das Mitleid und die Hilfe der 
Umgebung berechnet, möglichst drastisch im Ausdruck. Man weint und klagt 
nicht bloß, sondern es stellen sich gleich Wein- und Schreikrämpfe ein — 
der Kopfschmerz wird zur Migräne — die Angst ist so groß, daß Zittern und 
Schwindelgefühle sie nicht genügend zum Ausdruck bringen würden, sondern 
das vermögen nur Schüttelkrämpfe, lange Ohnmächten, Lähmungen. Wo diese 
infantilen Automatismen einmal zum Durchbruch kommen, wirken sie eben 
hemmungslos und maßlos. Daher wird so leicht der Eindruck des Schau¬ 
spielerhaften erweckt. Im Grunde genommen wirken auch hier Szenen der 
Kindheit nach: Weinen und Schreien hatten stets die Hilfsbereitschaft der 
Umgebung alarmiert und Krankheiten von mancherlei lästigen Verpflichtungen 
befreit. Am schwersten bleibt zu verstehen, wie von diesen rein seelischen 
Vorgängen aus nun auch die mannigfachsten äußeren Symptome einer Krank¬ 
heit ausgelöst werden können. Das beruht auf der stärkeren Suggestibilität 
des Hysterischen, einer im Kindesalter ganz normalen Eigenschaft, die mit dem 
Zurückgleiten auf eine infantile Entwicklungsstufe wieder einsetzt und nun¬ 
mehr sich in krankhaft verzerrter Form äußert. Wie stark die Suggestibilität 
auch normaler Jugendlicher ist, davon kann sich niemand eine Vorstellung 
machen, wenn er nicht praktisch auf diesem Gebiete gearbeitet hat. Da eine 
Erörterung der Suggestion im Rahmen dieses Vortrages unmöglich ist, so muß 
ich notgedrungen hier die Grenze meiner Untersuchungen ziehen. 

Der streckenweise Einblick in pathologische Erscheinungen reicht hoffentlich 
doch schon aus, um das methodische Prinzip klarzulegen. Ergänzend möchte 
ich nur noch darauf hinweisen, daß die Hysterie kein einheitliches Krank¬ 
heitsbild darstellt, sondern daß es sich um ganz verschiedenartige Erscheinungen 
handelt, die außerordentlich häufig Vorkommen, und zwar ebenso bei Knaben 
wie bei Mädchen. Das Bild kompliziert sich noch dadurch, daß die Hysterie 
mit organischen Minderwertigkeiten, aber auch mit bewußter Verstellung und 
Lüge Zusammentreffen kann. Daraus ergeben sich dann die schwierigsten 


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Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


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Fälle fflr den Arzt wie für den Erzieher. Die psychologische Betrachtung 
wird also immer davon ausgehen müssen, dafi ein ungelöster innerer Kon¬ 
flikt zugrunde liegt, der infantile Automatismen zur Wirkung kommen läßt 
Systematische Vernachlässigung ist d^her bei Kindern eine bewährte Heil¬ 
methode. Besser ist es, man erkennt den Konflikt, k ann ihn dem Jugend¬ 
lichen zum Bewußtsein bringen und ihm durch erzieherische Beeinflussung 
darüber hinweghelfen. Selbstverständlich gibt es kein Schema für solche 
Analysen; insbesondere läßt sich nicht alles auf verdrängte Sexualität zurück¬ 
führen, wie Freud meint. Hier ist besondere Vorsicht am Platze, damit man 
nicht mehr schadet als nützt. 

Dagegen möchte ich nicht unterlassen, auf einige praktische Schlu߬ 
folgerungen hinzuweisen, die sich schon aus diesem skizzenhaften Überblick 
für den Erzieher ergeben. Man sieht zunächst, welche große Bedeutung der 
erzieherischen Behandlung des Psychopathen zukommt. Trotzdem darf man 
nicht in das Extrem verfallen, nunmehr den Pädagogen ausschließlich für 
zuständig zu erklären, unter Ausschaltung des Arztes, nachdem man gelegentlich 
im umgekehrten Sinne verfahren ist. Um festzustellen, ob eine krankhafte 
Erscheinung organisch oder seelisch bedingt ist, bedarf es Spezialkenntnisse, 
über die nicht einmal jeder Arzt, geschweige denn der Pädagoge verfügt. 
Hiervon hängt aber die ganze Behandlung ab, und ein Irrtum könnte sehr 
verhängnisvolle Folgen haben. Bei allen pathologischen Erscheinungen ist 
also ein verständnisvolles Zusammenarbeiten von Arzt und Erzieher notwendig. 
Sind demnach hier dem Erzieher gewisse Grenzen gezogen, so eröffnet sich 
doch in anderer Richtung ein unbegrenztes Arbeitsfeld, nämlich für die vor¬ 
beugende Tätigkeit. Es gilt, auf Grund der gewonnenen Erfahrungen die 
Erziehung so zu gestalten, daß sie nach Möglichkeit Schädigungen der jugend¬ 
lichen Entwicklung meidet. In dieser Richtung lassen sich wenigstens einige 
allgemeine Grundsätze aufstellen. Zunächst stehen wir vor der nieder¬ 
schmetternden Erkenntnis, daß die pathologischen Erscheinungen bis zu einem 
gewissen Grade Folgen der Erziehung sind. Unsere Kultur verlangt eine Ver- 
frühung der Entwicklung, wenn der jugendliche Nachwuchs auf dieselbe 
Kulturhöhe gebracht werden soll, und dieser künstlichen Beschleunigung der 
Entwicklung, die wir Erziehung nennen, sind leider die jugendlichen Seelen¬ 
kräfte nicht immer gewachsen. Seit Rousseau sieht sich daher jeder Erzieher 
immer wieder vor eine schwere Gewissensfrage gestellt. Die Erfahrung, daß 
Naturvölker durch die Berührung mit der europäischen Kultur entartet}, scheint 
eine besonders ernste Warnung zu sein. Aber zum Glück zeigt sich dieser 
Pessimismus bei genauerer Nachprüfung unbegründet. Nicht die Kultur ist 
verantwortlich für die Entartung, sondern der sprunghafte Übergang, die 
plötzliche Änderung aller Lebensverhältnisse, denen sich der Mensch nicht so 
schnell anzupassen vermag *)- Was für Völker gilt, wiederholt sich im Leben 
des Einzelnen. Deswegen sind Jugendliche, die vom Lande in die Großstadt 
übersiedeln, besonders gefährdet. Ebenso bringt der Übergang von der Schule 
in die Gebundenheit des Berufslebens eine kritische Periode. Kraepelin 2 ) 
hat diese Gefahrenquellen unter dem Begriffe der „Entwurzelung“ zusammen¬ 
gefaßt, wobei weiter auch an die Störung des Familienlebens, an die Lösung 


') Bnmke, Über nervöse Entartung. Berlin 1912. S. 86. 

*) Zeitschrift fflr die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 63, 1. 


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Walter Hottmann 


sozialer und religiöser Bindungen gedacht ist. Selbst ein frühzeitiges Betreibe n 
von Fremdsprachen hält er aus diesem Grunde für bedenklich. Aus alledem 
ergibt sich jedenfalls die erzieherische Notwendigkeit, sprunghafte Übergänge 
zu vermeiden oder zu mäßigen. Instinktiv hilft sich die Jugend selbst, indem 
sie während ihrer Erholungszeit zurückkehrt zu kindlichem Spiel und Phantasie¬ 
leben. Aber wir hatten auch gesehen, welche Gefahren damit verbunden 
sind, wenn der Jugendliche die Beziehungen zur Wirklichkeit vollkommen 
verliert und sich ganz in seine Träumereien einspinnt. Selbst Künstlern wie 
Strindberg, van Gogh, Hölderlin ist dies zum Verhängnis geworden, 
indem die innere Spaltung zur Schizophrenie führte. Die schöpferische 
Phantasie, die das Leben braucht und die der Erzieher wecken will, bleibt 
immer in Verbindung mit dem Wirklichen und Möglichen, sie ist nie ein 
bloßes Ausweichen vor der Gegenwart in das Traumland des Kindes. Hier 
setzt mein Gedanke einer Jugendkultur ein l ). Ihre Aufgabe erblicke ich vor 
allem darin, die Erholungszeit des Jugendlichen als Erziehungspause zu 
gestalten, wo er Gelegenheit hat, Lebensformen und Lebenskreise aufzusuchen, 
die seiner Entwicklungsstufe entsprechen. Diese Erziehungspause ist etwas 
anderes als die von Klatt behandelte „schöpferische Pause“ 2 ), denn sie ist 
mit Betätigung ausgefüllt und soll gerade das Zurückziehen des Jugendlichen 
von der Realität entbehrlich machen. Umgekehrt halte ich solche Bestrebunge n 
der Jugendpflege für verfehlt, die auch die Erholungszeit des Jugendlichen 
ausschließlich unter den Gesichtspunkt der Erziehung stellen wollen. 

Man wird sich vielleicht wundern, daß ich bei Darstellung der verschiedene n 
Entartungserscheinungen nicht weiter auf das Geschlechtsleben eingegangen 
bin, obwohl es naheliegt, gerade die Störungen der Reifezeit mit dem Er¬ 
wachen dieses Triebes in Verbindung zu bringen. Eine genauere Behandlung 
des jugendlichen Sexuallebens ist in diesem Zusammenhänge unmöglich, doch 
will ich wenigstens ganz kurz meine Stellungnahme andeuten, da meiner 
Überzeugung nach trotz aller Sexualforschung noch wenig Klarheit herrscht. 
Der Grund liegt darin, daß man die Verschiedenheit des Seelenbildes beim 
Jugendlichen und beim Erwachsenen nicht genügend berücksichtigt. Im 
vollen Gegensätze zum Charakter des Erwachsenen steht der erwachende 
Geschlechtstrieb beipi Kinde zunächst noch in keiner geistigen Beziehung 
zur Gesamtpersönlichkeit, sondern entwickelt sich nebenher als gesonderte 
Funktion, anfangs kaum beachtet, bis allmählich diese Spaltung der körper¬ 
lichen und geistigen Triebe eine innere Stellungnahme notwendig macht 
und nach einer Lösung des Konfliktes drängt 3 ). Dies kann in ganz ver¬ 
schiedener Weise geschehen. Minderwertige Naturen, vor allem aber Jugend - 
liehe, die bereits in andererWeise seelisch leiden, sind der Spannung nicht 
gewachsen. Bei ihnen kann die geistige Synthese nur in der Weise ge¬ 
lingen, daß sie Hemmungen ethischer und sozialer Art, die bereits die Er¬ 
ziehung geschaffen hatte, durchbrechen und sich triebhaft ausleben. Es ergibt 
sich dann nicht bloß ein Stillstand der sozialen und ethischen Entwicklung, 
sondern häufig ein Herabsinken auf ein tieferes Niveau. Guterzogene Kinder 
verfallen auf diese Weise plötzlich der Verwahrlosung und Kriminalität So 
bringt die Sexualität eine weitere Komplikation in die zuvor behandelten 

') Die Reifezeit Leipzig 1922. S. 248. 

*) Die schöpferische Pause. Jena 1922, S. 25. 3 ) Kretzschmar, Körperbau und Charakter. 

1921, 3. 76. 


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Das Pathologische in dar Entwicklung der Jugendlichen 


151 


pathologischen Erscheinungen; man kann bei jedem Psychopathen annehmen, 
daß er auch sexuell leidet, oh*e daß deswegen hier die Ursache zu suchen 
wäre. Heilung und Erziehung muß vielmehr immer bei den seelischen Kon¬ 
flikten einsetzen. ' 

Ganz anders verläuft die Entwicklung beim vollwertigen Jugendlichen. 
Bei ihm weckt das eigentümliche Spannungsverhältnis alle Kräfte, die der 
Charakterbildung dienen, leitet eine höhere geistige Synthese ein, der sich 
auch das neuerwachende Triebleben .einordnet, Deswegen beginnt in dieser 
Zeit das Ringen nach ethischen und religiösen Leitlinien, um die sich die 
Qesamtpereönlichkeit fest kristallisieren kann. Hier setzt zugleich der Pla¬ 
tonische Gedanke des Eros ein, der körperliche und seelische Kräfte in 
einem tieferen Sinnzusammenhang vereint sieht 1 )« 

Es ist klar, daß eine Sexualforechung, die sich nur auf klinische Erfah¬ 
rungen stützt, ein ganz verzerrtes Bild des jugendlichen Seelenlebens liefern 
muß. Beim geistig. Minderwertigen kann allerdings der Sexualbetrieb zu 
einer das ganze Seelenleben beherrschenden Macht werden. Höhere geistige 
Werte erscheinen dann lediglich als seelischer Oberbau, der sich hemmend 
der Auswirkung des Trieblebens gegenüberetellt und den Konfliktsstoff zu 
allerlei pathologischen Entartungen liefert. Ethische und religiöse Ideale 
müssen entwertet werden, damit ein solcher Charakter bestehen kann. Das 
Erlebnis des Eros ist ihm fremd. — Aber die gesunde Entwicklung nimmt 
eben einen vollkommen entgegengesetzten Verlauf. Die sexuelle Frage be¬ 
schäftigt natürlich auch den gesunden Jugendlichen mächtig, jedoch nicht 
um der Sexualität willen, sondern weil er die Brücke vom Körperlichen zum 
Geistigen sucht. Das muß der Erzieher natürlich erkennen, wenn er dem 
Jugendlichen helfen will. Eine Belehrung über die Folgen geschlechtlicher 
Erkrankung ist daher weit davon entfernt, dem Jugendlichen zur Lösung 
der Frage zu verhelfen, sondern läßt den Konflikt erst recht in seiner ganzen 
Schärfe bestehen. v 

Damit gelange ich zum Schluß meiner Ausführungen. Es war mir mit 
diesem Vortrag eine sehr schwere Aufgabe gestellt. Ich konnte sie nicht 
andere lösen, als daß ich einige Grundlinien zeichnete. Immerhin wird viel¬ 
leicht dadurch der methodische Gesichtspunkt klar hervorgetreten sein: Den 
Schlüssel zum Verständnis seelischer Varianten liefert uns die Entwicklungs- 
Psychologie. Wir haben insbesondere gesehen, wie ein großer Teil Entartungs- 
erscheinungen zu verstehen ist als ein Stehenbleiben der Entwicklung auf 
einer tieferen Stufe. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen nicht um 
einen totalen Stillstand der Entwicklung, sondern es werden nur gewisse 
Einzelleistungen davon betroffen, wodurch sich dann jene merkwürdigen Ver¬ 
schiebungen und Verzerrungen des Seelenbildes ergeben. Insbesondere greifen 
bei neurotischen Erkrankungen Funktionen störend in das bewußte Denken 
ein, die in einer früheren kindlichen Entwicklungsperiode eingeübt waren und 
als seelische Automatismen fortwirken. Die Frage, inwiefern hier unabänder¬ 
liche Anlagen oder Umweltseinflüsse wirken, hat für den Erzieher wenig 
Bedeutung, denn an Anlagen läßt sich nichts ändern,, sondern wir können 
nur die Umgebungseinflüsse bis zu einem gewissen Grade erzieherisch richtig 
abstimmen. Aber gerade die entwicklungspsychologische Betrachtung lehrt 


') Spranger, Eros (Kultur und Erziehung, Leipzig 1923, S. 217). 


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152 


Walter Holtmann, Das Pathologische in der Entwicklung der Jugendlichen 


uns, wie stark die Ausgestaltung der Anlagen von äußeren Bedingungen ab¬ 
hängt Was trotzdem als unabänderlicher Grund^zug bestehen bleibt, das 
können wir leider erst am Erfolg unserer Bemühungen erkennen. Alle 
statistischen Erhebungen über die Vererbung von Anlagen fördern uns nicht, 
weil bekanntlich die Statistik nie für den Einzelfall zutrifft, ganz abgesehen 
davon, daß wir über solche Gesetzmäßigkeiten viel weniger wissen, als man 
früher annahm. Zur Erziehung gehört nun einmal ein starker Optimismus, 
ein Glauben an die Jugend, wobei ich unter Erziehung selbstverständlich 
nie bloße Wortbelehrung oder Buchbildung meine. Diesen erzieherischen 
Optimismus müssen wir auch dem jugendlichen Psychopathen gegenüber auf¬ 
bringen. Zu zeigen, daß wir hierzu auch wissenschaftlich berechtigt sind, 
darauf kam es mir an. 


Über Zahlsynopsien. 

Von Arthur Fischer. 

Aus dem Grenzgebiete der Mathematik und Psychologie 1 ) sind die Zahl¬ 
synopsien von besonderem Interesse für die Psychologie und den mathe¬ 
matischen Unterricht. Ich gebe im folgenden drei Beiträge zu dem bereits 
bestehenden Material, die in mancher Hinsicht wertvolle Einblicke zu ge¬ 
währen vermögen. 

1. Flora, 15jährig, in Italien aufgewachsen, ist mathematisch gut, wenn 
auch nicht hervorragend veranlagt. Ihre stärksten Interessen liegen im Kunst¬ 
gewerbe. Die hier zu beschreibende chromatisch-diagrammatische Zahlen¬ 
vorstellung besitzt sie nachweislich seit'mindestens zwei Jahren. 

Es können damit alle ganzen Zahlen zwischen 1 und 10 Millionen dar¬ 
gestellt werden. Zu diesem Zwecke bedient sich Flora eines Systems von 
zehn regelmäßigen Achtecken mit gemeinschaftlichem Mittelpunkt, die in 
gleichen Abständen aufeinander folgen, gleich gelagert sind und eine hori¬ 
zontale Seite enthalten. Durch die Eckstrahlen wird die Figur in acht gleiche 
aber verschieden gerichtete Ausschnitte zerlegt. Diese entsprechen, von rechts 
angefangen im positiven Drehsinn den Einern, Zehnern, Hundertern usw. bis 
Zehnmillionern. Jeder Ausschnitt zerfällt in ein kleines Dreieck und neun 
gleichschenklige Trapeze. Diesen Feldern sind, von innen nach außen, die 
Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 0 zugeordnet und zwar in den Farben gelb, 
ocker, Zinnober, karmin, violett, indigo, kobaltblau, sepia, grün, schwarz, die 
in ihrer Gesamtheit ein Bild geben, das nach dem Urteil künstlerisch empfin¬ 
dender Personen meiner Umgebung das ganze Wesen Floras symbolisch 
wiederzugeben scheint. 

Zur Vorstellung einer bestimmten Zahl werden die betreffenden Zahlfelder 
herausgegriffen und unter Beibehaltung ihrer Größe, Richtung und Farbe 
nebeneinander gereiht Die Fig. 1 gibt, allerdings unter Verzicht auf die 
Farben, das Zahldiagramm wieder. 

2. Helene, 17*/2jährig, besitzt ein chromatisches Zahldiagramm, das in 
vielem mit bereits in der Literatur vorkommenden verwandt, doch wesent¬ 
lich neue Züge aufweist. Dazu gehört vor allem, daß das Unendliche nicht 

') David Katz: Psychologie und math. Unterricht Abh. der I.M.U.K., Bd. III, Heft 8 (1918). 


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Arthur Fischer, Ober Zahlsynopsie» 


als Punkt oder Linie, sondern als eine unbegrenzte Fläche Unkß oben 
erscheint (Fig. 2 a u. b). Auch für die negativen Zahlen besieht eine Kurve, 
die aber nur bis höchstens 1Ö0 zu verwenden ist und von da an bloiVnoch 
als Richtung sich zu erkennen gibt. Das negativ Unendliche ist eine in bezug 


Bildung entsprechend wird auch den imaginären Zahlen ein Oirt sugewieses 






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sonderbarerweise aber nur jenen rait positiven Vorzeichen. Sie verlaufen 
paraltei zu den negativen Zahlen auf deren rechter Seite. Ea ist fraglich, 
ob hier nicht eine bewußte Konstroküon vorhegt. (Pig, 2c V 
Jeder Zahl ist ferner eine beattomta Farbe ad|utigiert; 

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2~höllbfau 1$. -m*. kui>U:rr,n 

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7 «-» weiß 17 *4 w äi& 7$ X* etlunuUtg weiß 

8 H dunkel kaffeebraun I S braun 80 fcreun 

9 H isteu 00 ^ mahibku [dunkle? &U 9)« 

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154 


Artbur Fischer 


Von 100 an sind alle dekadischen Zahlen mit gleicher Farbe versehen, wie 
die dekadischen zwischen 10 und 90, nur immer blasser werdend, bis sie 
bei einer Million in ein unbestimmtes Hellgelb übergehen. Unendlich selber 
ist farblos. 

Einer zweistelligen Zahl über 20 entsprechen zwei Farben, die sich aus 
den Farben der Zehner und Einer zusammensetzen, z. 26 — graublau und 
gelb. Die Farben der drei- und mehrstelligen Zahlen werden auf die Farben 
der beiden ersten Ziffernwerte beschränkt, z. B. 3525 = 3500 — dunkelcröme 
und dunkelblau. 

Da Helene auch für Buchstaben Chromatismen besitzt, so ist nicht ver¬ 
wunderlich, daß für imaginäre Größen die Farbe des i, d. h. blendend weiß, 
eine vorwiegende Bedeutung gewinnt. 

Ebenso spielen in algebraischen Zahlen die Größen a, b, c, ... die Rolle 
von Attributen und nehmen die Farben der entsprechenden Buchstaben an. 
Die Buchstaben ihrerseits liegen wieder auf einer doppelt gekrümmten 
Kurve (Fig. 2d), für die ich zum bessern Verständnis den Grundriß und 
einige Koten eingezeichnet habe. 

Vom Zahlendiagramm wird nicht nur für das Fixieren von Zahlen, sondern 
auch für die einfacheren Operationen erster Stufe des Kopfrechnens selber 
Gebrauch gemacht, besonders bei geistiger Ermüdung. 

3. Georg, 15jährig, genoß in Rußland Privatunterricht, zunächst lange 
allein (Zahlraum 1—100), dann mit seinem älteren Bruder zusammen (Zahl- 
raum über 100). Der Junge ist an mathematischer Begabung seiner Klasse 
weit voraus. Das hier folgende Zahldiagramm besaß er seit jeher, d. h. sein 
Gedächtnis vermöchte sich nicht einer Zeit zu erinnern, in der die Vorstellung 
nicht bestanden hätte. Hingegen kann er sich ganz schwach erinnern, daß 
die Synopsie zuerst nur die ersten hundert Zahlen umfaßte. 

Dieser Teil seiner Kurve trägt denn auch ein besonderes Gepräge (Fig. 3). 
Die Zahlen 1—20, mit denen im Unterricht lange allein operiert wurde, 
liegen auf einer schwach nach rechts ansteigenden Strecke; von da an bilden 
je weitere zehn Zahlen eine bald stärker, bald schwächer ansteigende Strecke, 
die in ihrer Gesamtheit einen offenen Linienzug in Form einer halben Rechts¬ 
schraube ausmachen. Darauf sind besonders deutlich die Teile bis zur Zahl 50. 
Kleine Knickungen finden sich noch bei 27 und 36, da ihm „diese Zahlen 
immer besonders gut gefallen haben". Ich habe auch hier, um den Verlauf 
etwas deutlicher veranschaulichen zu können, die Kurve in Parallelprojektion 
wiedergegeben und darin Grundriß und Koten eingezeichnet, obschon diese 
in der Vorstellung selber nicht vorhanden sind, sowenig wie die beigefügte 
Grundrißebene. 

Von 100—200 schließt sich eine ähnliche Kurve an, jedoch mit dem wesent¬ 
lichen Unterschied, gegenüber der ersten um etwa 135 0 gedreht zu sein und 
einer vollen Schraubung zu entsprechen. Eine Besonderheit liegt auch 
darin, daß die sympathische Zahl 144, der mehr Bedeutung zugemessen wird 
als der Zahl 140, durch eine Knickung ausgezeichnet ist. Der Zahlort für 200 
liegt genau über dem Zahlort von 100. 

Hieran können sich weitere Schraubungen bis zur Zahl 1000 anschließen; 
doch wird von diesen wenig Gebrauch gemacht. An ihrer Stelle benützt 
Ge^rg folgende Vorstellung: In derselben Richtung, in der die Zahlen 100—120 
schwach ansteigend nach links hinten verlaufen, nur weitergehend, liegen 


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Über ZahJsynopeien 


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alle Hunderter zwischen 100 und 1000. Je nach Bedarf kann in einem dieser 
sehn Punkte spontan eine zur Kurve 100—200 kongruente Schraubung an- 


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156 


Arthur Fischer, Über Zahlsynopsien 


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gesetzt werden oder vielmehr: alle zehn Kurven sind immer vorhanden, ver¬ 
schwinden aber vollständig gegenüber der einen, die gerade benötigt wird. 
Die Zahl 453 z. B. läge demnach entweder auf der vierten Schraube über 100 
im Punkte 53 oder auf der durch den Punkt 4 der gradlinigen Strecke 
100—1000 gehenden Schraube im Punkt 53. 

Zahlen, die über 1000 liegen, werden von rechts nach links in Klassen zu 
drei Stellen eingeteilt, z. B. 8’678’453. Jeder Zahl in einer Klasse entspricht 
ein besonderer Zahlort, der eben genannten Zahl also drei. Die Zahlen der 
zweiten Klasse werden im wesentlichen gleich vorgestellt, wie die der ersten, 
nur weiter entfernt, weniger deutlich und auf größeren Schrauben. Der 
einzige bedeutende Unterschied ist der, daß die Kurve 1—100 durch eine 
ganze Schraube vom zweiten Typus vertreten wird. Der Zahl 678*453 sind 
demnach die zwei Orte 678*000 und 453 zugeordnet Der erste liegt im 
Punkte 78 der Kurve, die im sechsten Punkte der Strecke 100000—1*000000 
auf steigt; der zweite ist bereits beschrieben worden. (Vgl. Fig. 3.) Zur 
Vorstellung einer bestimmten Zahl wird nicht der ganze zum entsprechenden 
Zahlort hinführende Linienzug benötigt, sondern es wird der Punkt, gewisser¬ 
maßen durch ein absolutes Raumempfinden, sofort an seiner charakteristischen 
Stelle wahrgenommen, gerade so wie der Musiker ohne Hilfe von Intervallen 
die Höhe eines Tones festzuhalten vermag. 

Für jede folgende Klasse gilt genau dasselbe wie für die zweite; streng 
genommen besteht die Vorstellung nur noch biB zu 1 Milliarde, dann ent¬ 
windet sie sich ihrem Träger, sie „geht dann gleichsam über einen Rahmen 
hinaus, der früher, wie ich mich genau erinnere, bei einer Million war.* 

Das Diagramm dient nicht zur Ausführung rechnerischer Operationen, leistet 
aber besondere Dienste im Kopfrechnen zur Fixierung der gegebenen und 
gefundenen Zahlen und zum gedächtnismäßigen Auseinanderhalten zweier 
Zahlen, die sich nur durch ihre Stellenzahl unterscheiden. 


Untersuchungen Ober die Entwicklung der Zahlvorstellungen 

im Kinde. 

(Schluß.) 

Von Josef Filbig. 

Das Zusammenfassen. 

Diese Funktion wurde im Zusammenhang mit rechendidaktiscben Fragen 
schon oft erörtert und zwar meistens im Anschluß an die rechenexperimentellen 
Untersuchungen über Auffassungsumfang. Bei unseren Versuchen stützten 
wir uns auf die Ergebnisse von Lay, Pfeifer, Nanu u. a. Von einer suk¬ 
zessiven Darbietung wurde abgesehen; denn einesteils können jüngere Kinder 
das Abzählen der Eindrücke nicht vermeiden, andernteils zeigten sich bei 
einigen Voruntersuchungen so viele Schwierigkeiten, daß das Resultat wenig 
diskutabel geworden wäre. 

Die Versuchsanordnung war äußerst primitiv. Sie mußte es sein. Je weniger 
Nebeneindrücke auf das Kind einwirken und die Aufmerksamkeit ablenken, 
um so sicherer ist die Einstellung, um so exakter das Resultat 

Dargeboten wurden runde Holzscheibchen von 1 cm Durchmesser, einfarbig, 
hell auf dunklem Hintergrund. Die Anordnung war in der ersten Versuchs- 


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Jose! Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 157 


reihe linear, in der zweiten wurden die Formen der Layschen Zahlbilder ge¬ 
stellt Die Expositionszeit betrug im Mittel eine Sekunde, bei den jüngeren 
Kindern etwas mehr ( 4 /$ Sek.), bei den älteren weniger. Die Aufmerksamkeits¬ 
einstellung wurde durch ein etwa 2 Sekunden vorher zugerufenes „Jetzt* 
betätigt Die Ergebnisse sind in nachfolgender Kurve festgelegt 

Ihr entnehmen wir folgendes: 

1. Eine zusammenfassende Tätigkeit ist vor dem vierten Lebensjahr kaum 
festzustellen. 

2. Die Knaben sind anfangs in der Entwicklung voran. Der Vorsprung 
wird aber nach dem fünften Lebensjahr von den Mädchen rasch eingeholt 



und dann weit überschritten. Mit dem Ende des sechsten Lebensjahres er¬ 
fassen die Knaben in einem Aufmerksamkeitsakt 2—3, die Mädchen 3—4 (5) 
Elemente. 

8. Die Gruppen werden mit zunehmendem Alter und dem damit zunehmen¬ 
den Aufmerksamkeitsumfang etwas bevorzugt. Eine entschiedene Überlegen¬ 
heit ist auf dieser Stufe noch nicht feststellbar. Ein einziges Mädchen arbeitete 
sichtlich leichter und rascher mit. der Gruppe als mit der Reihendarstellung. 
Die Mehrzahl der anderen Kinder dagegen sah in den Gruppen etwas Un¬ 
gewohntes, Neues. 

In diesen Ergebnissen liegt ein Gegensatz zu Lays Ansichten 1 ), wenn er 
behauptet, daß Gruppenauffassung das primäre Moment in der Entwicklung 
der Zahlvorstellung sei. Gerade am Anfang der meßbaren Entwicklungsstufe, 

') Lay, Führer durch den Rechenunterricht der Unterstufe. 


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158 


Josef Filbig 


die r nach unseren Untersuchungen in das 4. Lebensjahr fällt, zeigen alle 
Kinder die Neigung, zählend die dargebotenen Einheiten zu erfassen. In 
diesem Lebensalter wird im allgemeinen — nach unseren Ergebnissen durch¬ 
aus — die Zahlvorstellung ZWEI gewonnen. Die DREI bietet erste Gelegen¬ 
heit zur Gruppendarstellung. In 23 Fällen von 32 Möglichkeiten hielten sich 
auch hier Reihe und Gruppe das Gleichgewicht, in den übrigen 9 Fällen nur 
wurde „3“ in der Reihe und „4“ in der Gruppe aufgefaßt Hier wie dort 
konnte aber beobachtet und durch Versuche festgestellt werden, daß deswegen 
viele Kinder versagten, weil man ihnen die Gelegenheit zum Zählen nahm. 
Exponierte man länger, so zählten die Kinder ab und gaben dann einwand¬ 
freie Urteile. Mit wachsender Reife erst erlangt die Gruppe dominierende 
Bedeutung. Dann aber hat sich auaji die Auffassungsp-enze in der Reihe 
beim Kinde der Auffassungsgrenze beim Erwachsenen ziemlich genähert — 
eine weitere Steigerung ist schlechterdings normalerweise unmöglich. 

Wir können sagen, daß die Gruppenauffas'sung die Auffassung 
von wenigen Elementen der Reihe zur Grundlage hat, daß diese 
Elemente zählend zu den ersten Zahl Vorstellungen zusammengefaßt werden 
und daß diese die Voraussetzung bilden zu der durch Übung und Erfahrung 
erworbenen Abschätzung simultan gesehener Elemente. Damit ist auch Küh¬ 
nei 1 ) widerlegt, wenn er sagt, daß erst von fünf ab die weiteren Zahl¬ 
vorstellungen zählend erworben werden. — Eine Weiterführung dieser Ver¬ 
suchsreihe ist in den Untersuchungen über das Zahlbild gegeben. 

Quantitätsbeziehungen. 

In weiteren vier Versuchsreihen soll nun die Ausbildung des Gebrauchs 
von „mehr“ oder „weniger“ untersucht werden. Im wesentlichen wurde die 
angegebene Versuchsanordnung von Deuchler beibehalten. Der Einheitlich¬ 
keit zuliebe wurden die Layschen Gruppenbilder gestellt. 

1. Versuchsreihe: Die Gegenstände (Holzblättchen) sind in Reihen angeord¬ 
net; die eine Reihe enthält eine Einheit mehr als die andere. Frage: Wo 
sind mehr? Variation: die eine Reihe hat größere Gegenstände; die eine 
Reihe bedeckt einen größeren Raum. 

2. Versuchsreihe: Gleiche Versuche mit Gruppen (Laysche Zahlbilder). 

3. Versuchsreihe: Untersuchung der Begriffsbedeutung von „mehr“ oder 
„weniger“ an den reproduzierten Zahlwörtern. Frage: „Was ist mehr, 2oder 3?“ 

4. Untersuchung der Begriffsbedeutung von „viel“ und „wenig“ an an¬ 
schaulichen Inhalten. Die Kinder bekommen Gegenstände in die Hand und 
geben dann an, ob es viel sind oder wenig. 

Ergebnisse. 

1. Die Leistungen der Kinder beim Vergleich zweier Reihen, deren Ele- 
mentenzahl um eine Einheit variiert, sind geradezu erstaunlich. Es winden 
oft Aufgaben gelöst, die auch bei den Erwachsenen Maximalleistungen sein 
könnten. „Hier (beim Versuch) kommt wohl nur der Gesamteindruck der Ob¬ 
jekte in Betracht, der eben wechselt mit der Zahl der Objekte; es handelt sich 
um einen Vergleich mehr oder weniger bestimmter Mengeneindrücke.“ (Katz.) 

2. Fehlleistungen kamen unter ganz bestimmten Voraussetzungen vor. Im 
allgemeinen mußte die in einem Aufmerksamkeitsakt erfaßbare Anzahl von 

’) Kühnei, Neubau des Rechenunterrichts 1. Teil. 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zehlvoretellungen im Kinde 


159 


Objekten weit überschritten sein. Tatsächlich zeigt sich eine Korrelation 
zwischen simultaner Auffassung und den Quantitätsbeziehungen. Innerhalb 
der fest erworbenen Zahlvorstellungen ist ein Versagen auch unter schwierigen 
Bedingungen (ungleicher Abstand, ungleiche Größe der Elemente) kaum mög¬ 
lich. Außerhalb derselben wird in fast allen Fällen die Größe des bedeckten 
Raumes gemessen: von zwei Reihen mit je gleicher Anzahl, aber verschieden 
großen Elementen, wird die Reihe mit größeren Objekten als größer bezeichnet, 
bei Elementen gleicher Größe diejenige Reihe, welche einen größeren Raum 
bedeckt In unserer Tabelle sind nur die sicheren Fälle verzeichnet 1 )*' 

3. Die Gruppe gewährt in der gewählten Form entschiedene Vorteile. Um 
einwandfreiere Resultate zu erzielen, müßte man auch weniger einheitlich 
aufgebaute Zahlenbilder als Vergleichsmaterial herbeiziehen. 

4. Die 3. Versuchsreihe gewährt einen vortrefflichen Einblick in den Ent¬ 
wicklungsgang des rechnerischen Denkens. Sie setzt eine gewisse Verfüg¬ 
barkeit der erworbenen Zahlvorstellungen voraus, prüft die Festigkeit der 
Assoziationen, auch das Gedächtnis und das funktionale Denken. Insofern 
man die besten Erfolge erzielt durch kurzen Hinweis auf konkrete Dinge, ist 
sie auch ein Beweis für den auf dieser Stufe noch vorwaltenden Konkretis- 
mus des Kindes. 

5. Bei der Prüfung der Verhältnisse von »viel“ und „wenig“ zeigten sich 
die Knaben viel anspruchsvoller. „Viel“ beginnt oft bei relativ hohen Zahlen; 
eine mehr oder minder große Zahlenfolge, eine indifferente Zone, trennt den 
unbestimmten Mengenbegriff vom Beginn des „nicht viel“, des „wenig“ ab. 
Bei den Mädchen ist diese Übergangsschwelle weniger deutlich ausgeprägt 
Eine Deutung des Resultats begegnet manchen Schwierigkeiten. Im allgemeinen 
ist anzunehmen, daß „wenig“ auf dieser Stufe, wo bereits bestimmte Zahl¬ 
begriffe gewonnen sind, mit der erfaßbaren Anzahl von Einheiten zusammen¬ 
fällt 

Zu der Versuchsdurchführung sei noch erwähnt, daß dem Problem von 
zwei Seiten nähergerückt wurde: einmal wurden den Kindern bestimmt 
viele Gegenstände in die Hand gegeben, von denen sie nach und nach ab¬ 
treten mußten bis zu „wenig“, ein andermal lief der Weg umgekehrt. 

6. Auch hier zeigt sich eine deutliche Überlegenheit der Mädchen, die den 
Knaben weit voraneilen. 

Der Zählprozeß 

ist nach Deuchler in fünf Versuchsreihen zu untersuchen: 

1. Rein reproduktives Aufsagen der Zahlnamen; 

2. Prüfung der Festigkeit durch Wiederholung eines Substantivs nach dem 
Zahlwort, also „ein Federhalter, zwei Federhalter usw.“; 

3. Einfluß der Verschiedenartigkeit der Gegenstände auf den Zählprozeß; 
damit zugleich der Grad der Selbständigkeit des Zählens, der Abstraktion 
des Zählens vom einzelnen Inhalt usw.; 

4. Wirkung der verschiedenen Anordnung auf den Akt des Zählens; 

5. Anzahlschätzen. 


*) Vgl. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, S. 89. 


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Josef Filbig 


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Die psychologische Analyse „wirklichen Zählens" ist wohl der Einheitlich¬ 
keit und Vollständigkeit halber vollkommen durchgeführt. Tatsächlich finden 
wir in den fünf Elementen manche bekannte Versuchsaufgabe. Wir selbst 





haben z. B. Reihe 1, 3 und 4 heim Reihenprozeß schon erledigt, Reihe 5 
deckt sich vollkommen mit dem 3. Merkmal der Zahlenreihe, der Zusammen¬ 
fassung, so daß als ureigenstes Problem Reihe 2 und der Teil der Reihe 3 
übrigbleibt, der als Vergleichsmoment zum reproduktiven Aufsagen der Zahl* 
namen dienen muß. 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorotellungen im Kinde 


181 


Um die Festigkeit der Reihen zu prüfen, mußten die Kinder nach jedem 
Zahlwort ein Substantiv wiederholen. Um aber auch gleichzeitig den be¬ 
sonderen Einfluß, den Wörter mit gefühlsbetontem Inhalt einerseits und gleich¬ 



gültigem andererseits auf die Zähltätigkeit haben, festzustellen, wurden folgende 
Wörter gewählt: 

Blei leicht auszusprechendes Wort von gleichgültigem, 

Klöss “ leicht auszusprechendes Wort von stark gefühlsbetontem, 
Schwester =■ schwieriges Wort mit gefühlsbetontem Inhalt. 

Die Ergebnisse sind in vorstehender Kurve festgelegt. 

Zeitschrift f. pSdagog. Psychologie. 11 


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Josef Filbig 


162 


Diskussion der Werte. 

1. Benannte Zahlen hemmen den ungestörten Ablauf der assoziierten Reihe. 
Die Reproduktion geht stockender vor sich, schließlich wird die Reihe unter¬ 
brochen, es folgt ein wahlloses Zuordnen von Zahlwörtern. Jedoch haben 
nicht alle Wörter den gleichen Einfluß auf den Ablauf der Reihe. Die Steigerung 
der Leistungsfähigkeit bei den gefühlsbetonten Inhalten ist unverkennbar, 
ebenso der Einfluß schwieriger Bildungen. 

2. Im Zusammenhang damit muß auch auf die Tatsache hingewiesen werden, 
daß die Leistung beim Abzählen eine gehobenere ist gegenüber dem rein 
reproduktiven Aufsagen der Zahlwörter. In den meisten Fällen nehmen die 
Kinder bei der Reproduktion ihre Finger zu Hilfe. Auf diesen psychologischen 
Grundlagen ruhen die Fragen der Veranschaulichung. Weiterhin geben sie 
der Didaktik wichtige Fingerzeige. Der Konkretismus des Kindes verlangt 
mit Entschiedenheit namentlich auf den ersten Wegstrecken einen anschaulich 
■begründeten Rechenunterricht. Die Auswahl der Sachaufgaben muß psycho¬ 
logisch fundiert sein; sie muß dem geistigen Standpunkt des Schülers entgegen- 
kommen, seine Interessen berücksichtigen samt seinen Beschäftigungen und 
Spielen. Andererseits darf die Veranschaulichung nicht falsch gedeutet werden. 
Es bedeutet einen überflüssigen Kräfteverbrauch, wenn man beim Operieren 
mit benannten Zahlen jedesmal die Benennung wiederholen läßt. Deuchler 
hat Recht: „man kann ja trotzdem konkret rechnen“. 

3. Der Zehnerübergang ist fast für alle Kinder eine Klippe, die ihnen das 
Weiterzählen unmöglich macht. Gibt man den folgenden Zehner, so läuft 
die Reihe meistens ungehindert bis zum nächsten Zehner ab. Die Analogie¬ 
bildung — um eine solche handelt es sich hier — ist oft so stark, daß selbst 
sinnlose Wörter mit den Grundzahlen verknüpft werden: wiederholt gab ich 
als nächstes Zehnerzahlwort „kutzig“, oder „lechzig“ und ganz selbstverständ¬ 
lich wurde weiter gezählt: ein-und-kutzig, zwei-und-kutzig usw. Eine relativ 
hohe Leistung im Abzählen bringt zwar die Zahlbegriffe auf keine höhere 
Stufe der Auffassung; das Kind jedoch hat eine solche Freude am Erfolg und 
zählt dann mit Interesse alle möglichen Dinge ab, daß man Kühnei u.a. recht 
geben muß, wenn sie die aus logisch-didaktischen Erwägungen heraus gemachte 
künstliche Cäsur nach 10 oder 20 aufgehoben wissen möchten. Aus später 
noch zu erörterndem Grunde pflichten wir ihnen bei, verlangen eine additive 
und subtraktive Behandlung bis zu Hundert, auch darüber hinaus, und halten 
eret dann die multitiven Operationen für berechtigt. 

4. Auch auf dieser Stufe sind die Mädchen den Knaben überlegen. 

Addition und Subtraktion. 

Neue Versuchsgruppen sollen die Prozesse des kindlichen Denkens, welche 
Elementaroperationen (vier Spezies) zugrunde liegen, näher erörtern. Zwei 
Fragen sind es, die zunächst interessieren: 

Welchen Einfluß hat die Aktivität des Kindes beim Addieren sowohl als 
auch beim Subtrahieren auf die Leistung? Als Vergleichsmoment könnten 
die Leistungen bei mehr passivem Verhalten herangezogen werden. 

Welchen Einfluß hat das Rechnen mit konkreten Sachen auf den Erfolg? 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 


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Deuchler schlägt zur Beantwortung dieser Fragen drei Versuchsgruppen vor: 

1. Addieren bezw. Subtrahieren an Gegenständen in einer für das Kind 
mehr passiven Form, wobei der Versuchsleiter das Hinzufügen bezw. 
Wegnehmen ausführt, das Kind bloß zuschaut und das Resultat angibt. 

2. Gleiche Versuchsreihe in aktiver Form; die Kinder betätigen sich auch 
beim Hinzufügen bezw. Wegnehmen. 

3. Gleiche Reihe ohne Veranschaulichungsmittel. Das Rechnen kann ent¬ 
weder rein verbal oder mehr illustrativ erfolgen. 

Wir haben im Kindergarten die Versuchsreihe vollständig durchgeführt, bringen 
jedoch in der Tabelle nur die aktive und verbale (reinverbale) Form. Als 
Gegenstände dienten farbige Blättchen, wie sie die Kinder beim Legen von 
Mustern benutzen. Sie wurden nach der Art der Layschen Zahlbilder zusammen¬ 
gestellt. Die Instruktion lautete für die erste Reihe: „Nimm (von dem Haufen 
weg) ein Blättchen und lege es hier her! Nimm noch eins! Wieviel liegen 
jetzt da?“ 

Dem sehr lehrreichen Versuch entnehmen wir folgendes: 

1. Das äußere Bild schon zeigt den begünstigenden Einfluß konkreter An¬ 
schauungsmittel auf den Erfolg. Das rein verbale Rechnen sieht viele Ver¬ 
sager, die beim illustrativen Rechnen, noch mehr aber beim Arbeiten mit 
konkreten Dingen noch hübsche Leistungen aufweisen. Auch jene Kinder, 
die bereits einigermaßen mit abstrakten Zahlen zu rechnen vermögen, leisten 
hierbei um ein Vielfaches mehr. Noch ein Umstand, der in der Tabelle nicht 
verzeichnet werden konnte, verdient Beachtung. Während beim rein verbalen 
Rechnen die Ermüdung viel rascher eintrat und gleichermaßen auf die 
Arbeitsdauer und Arbeitsqualität einwirkte, machten sich beim konkreten 
Rechnen Ermüdungserscheinungen noch lange nicht geltend. Bei den unter- ’ 
suchten Kindern zeigte sich diese subjektive Wirkung noch in anderer Weise. 
Die Kinder arbeiteten bei den Versuchen gern und freudig mit und drängten 
sich förmlich zu den Experimenten heran. Das Interesse erlahmte jedoch 
rasch und machte einem gewissen reservierten Benehmen Platz, das bis zum 
nächsten Tag oft anhielt, sobald die Kinder einmal einige Minuten unanschau¬ 
lich arbeiten mußten. Für die Didaktik ergeben sich hieraus wichtige Folge¬ 
rungen, die die Fragen der Veranschaulichungen, den Wert des Tatrechnens, 
das Aktiv-tätig-sein (Kaufmann spielen!) berühren. 

2. Die Aufgaben finden verschiedenfache Behandlung: Die Addition 
x +1, (x 4-1) 4-1 usw. gingen auf größerer Altersstufe reibungslos vor sich. 
Das Kind hat also das Bewußtsein, daß in der Reihe die Glieder in der Weise 
Zusammenhängen, daß je zwei aufeinanderfolgende immer um die Einheit 
verschieden sind. Nach Deuchler ist damit der richtige Begriff des Zählens 
zum Ausdruck gebracht. Denn das Zählen wird ja „als diejenige Tätigkeit 
definiert, durch welche das folgende Glied der Zahlenreihe mit der aus den 
vorhergehenden Gliedern gebildeten Einheit zn einer neuen Einheit verknüpft 
wird“. Daß das Zählen sein natürliches Ende am Schlüsse der dem Kinde 
bekannten Zahlwörter findet, ist für den Zählprozeß an sich belanglos. In 
der Tabelle sind selbstredend nur die Fälle bezeichnet, die zum festen Wissen 
des Kindes gehören. 

Die Aufgaben x -i- 2, (x + 2) + 2 usw. wurden oft ähnlich wie die vor¬ 
stehenden gelöst. Das kam hauptsächlich beim anschaulichen Rechnen zum 
Ausdruck (während wir bei den Aufgaben x + 1 usw. nur das verbale Rechnen 

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1 


164 Jose! Filbig 


im Auge hatten). Die Kinder bemerkten bald die Aufgabenstellung, behielten 
(bei fortschreitender Reihenvergrößerung) relativ hohe Zahlen im Gedächtnis 
und zählten dann leise um zwei Einheiten weiter. Damit hatten sie das 
Resultat. Auch in solchen Fällen können wir von einem „richtigen" Zählen 
reden. Es erscheint fraglich, ob in den Leistungen ein Verständnis für Zahl¬ 
beziehungen in mathematischem Sinn zu erblicken ist In den Lösungen er¬ 
kennt man wieder den vom Kinde auf dieser Stufe beherrschten Zahlenraum. 

1 -f-1 wird häufig (verbal) gelöst. Allein in den meisten Fällen ist damit 
noch nichts über das Zahlenverständnis, das Verständnis für Operationen, 
ausgesagt. 1 + 1 ist ein Sätzchen, das sich den Kindern einprägt weit vor 
dem schulpflichtigen Alter wie lange vor einem multiplikativen Verständnis 
der Satz: 6 mal 6 ist 36. 

Auf eine andere merkenswerte Tatsache sei noch hingewiesen: Die meisten 
Kinder stellen beim aktiven Rechnen nach gleichen Farben zusammen. Mit 
Rot wurde begonnen. 

3. Die Subtraktion macht auf dieser Stufe noch mehr Schwierigkeiten, 
als man gemeinhin annimmt. Die Resultate beim verbalen Rechnen sind 
gleich Null, beim aktiven wurden bessere erarbeitet. Das hängt wohl mit 
dem ganzen Beschäftigungsspiel der Kleinen zusammen, vielleicht auch mit 
dem Entwicklungscharakter dieser Stufe, der auf Synthese eingestellt ist. 
Die Aufgabe x—x löst Befremden aus. Es leuchtet dem Kind nicht ein, daß 
man erst 6 Steine herzählt uiqj dann 6 wegnimmt 

Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Stufe der Gewinnung einer Reihe 
von Zahlvorstellungen der Gewinnung operativer Beziehungen vorangeht In 
allen Fällen, wo bei 5—6jährigen Kindern von einem verständnisvollen Addieren 
bzw. Subtrahieren die Rede sein kann, hat man es mit mathematisch besonders 
Entwickelten zu tun. Diese zeigen ihren Vorsprung im rein verbalen Rechnen, 
das ja eine gewisse Abstraktionsfähigkeit voraussetzt. Den gleichen Gedanken 
spricht Kühnei aus, wenn er in bezug auf die monographische Methode von 
einer „Verkennung der Kindesnatur“ spricht (obwohl die Schule es bereits 
mit 6—7jährigen Kindern zu tun hat). Meumann präzisiert die Tatsache 
folgendermaßen: „Nachdem die Zahlvorstellungen sich entwickelt haben, fehlt 
dem Kinde jede Fähigkeit, die einfachsten Operationen auszuführen". Im 
ersten Unterricht kann deshalb von einem eigentlichen Rechnen kaum die 
Rede sein. Sein Augenmerk muß zunächst auf die Gewinnung von Zahl¬ 
vorstellungen gerichtet sein. Dann erst sind die Kinder reif für die einfachsten 
Fälle des beziehenden Denkens; jetzt erst können die additiven und sub- 
traktiven Beziehungen mit Erfolg einsetzen. 

Multiplizieren und Dividieren. 

Noch deutlicher zeigen sich diese Erscheinungen bei den Untersuchungen 
über das Multiplizieren und Dividieren, die nach den gleichen Grundsätzen 
wie die Additon und Subtraktion durchgeführt wurden. Um den Anreiz 
besonders stark zu machen, wurden Bonbons als Gegenstände benutzt. Wir 
besprechen für die Multiplikation nur die aktive und verbale Form, für die 
Division nur das Enthaltensein und das Teilen. Bei der aktiven Form der 
Multiplikation lautete die Aufforderung: „Nimm einmal zwei Zuckersteine! 
Wieviel sind dies?" Analog mit 3, 4, usw. als Multiplikator. Das Enthalten- 


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Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 

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165 


sein wurde durch folgende Fragen angeregt: „Wieviel Zuckersteine liegen 
hier? (4). Wie oft kannst du 2 wegnehmen?“ Das Teilen wurde als Verteilen 
praktisch durchgeführt: Das Kind mußte eine bestimmte Anzahl von Bonbons 
an 2, 3 usw. Kinder verteilen. 

1. Ein Verständnis für die multiplikative Form ist auf dieser Stufe nicht 
gegeben. Nur drei Mädchen im Alter von 5‘/2 Jahren waren imstande, 
einige Aufgaben sinngemäß durchzuführen. In allen anderen Fällen wurde 
zwar der Aufforderung: „Nimm 1 mal 3 Zuckersteine usw.“ stattgegeben, 
dabei blieb es aber. Unter Berücksichtigung der Gesamtlage scheint die An¬ 
nahme berechtigt, daß, abgesehen von den obenerwähnten drei Fällen, alle 
Kinder in der Aufforderung: „Nimm einmal x“ lediglich einen Umstand der 
Zeit erblicken, wie er ihnen in dem stereotypen Märchenanfang: „Es war ein¬ 
mal“ geläufig ist Denn bei der Aufforderung „Nimm 2 mal 3 x“ nahmen 
alle Kinder 2-f-3 x. Die verbale Form zeigte keine Resultate. 

2. Die Division findet ebenfalls wenig Verständnis. Das Enthaltensein ist 
allen Kindern fremd; beim Verteilen betätigten sich einige in der erwähnten 
anschaulichen Weise. Höhere Werte, wie 8, 9, usw. wurden dabei unter 
2,3, 4, Kinder so verteilt, daß zunächst jedes Kind zwei Zuckersteine bekam, 
and dann der Rest Stück um Stück abgegeben wurde. Fehler wurden von 
den älteren Kindern selbst korrigiert. Ergab die Aufgabe einen Rest (7:3) 
so wurde in allen Fällen der Rest vom Verteiler beansprucht, obwohl nach 
der Instruktion alle Kinder gleichviel erhalten sollten. Einen diesbezüglichen 
Hinweis beantwortete ein kleiner Knabe mit folgenden, sehr bezeichnenden 
Worten: „Die Gustie ist größer und kriegt daher um eins mehr.“ *) 

Das Teilen (nicht Verteilen) von mehreren Gegenständen wurde häufig in 
der Weise betätigt, daß beim 2-Teilen z. B. Häufchen von je 2 Dingen 
gebildet wurden, bei der Dreiteilung Häufchen zu je 3 Gegenständen usw. 

Uns interessiert nun die Frage, ob in diesem Verteilen ein Teilen im mathe¬ 
matischen Sinn zu verstehen ist Kühnei spricht sich so darüber aus: „Mancher 
Lehrer, ja eigentlich jede beobachtende Mutter hat schon die Erfahrung ge¬ 
macht, daß das Teilen eine Tätigkeit ist, die dem Kinde einer gewissen 
Altersstufe noch so gut wie fremd ist. Die Erziehung in dieser Richtung 
beginnt mit der Gewöhnung, einen Teil, d. h. ein kleineres Stück von dem 
eigenen Gut an andere abzutreten, an Geschwister oder an Tiere usw. Und 
selbst wenn dieses Teilen wirklich schon von der Kinderseele gewonnen 
worden ist, so hat es noch sehr wenig zu tun mit dem Teilen im mathe¬ 
matischen Sinne. Es ist dann noch auf lange Zeit hinaus ein Abtreten: Von 
einem Teller Nüsse bekommen die Geschwister jedes zwei und wenn sich 
noch genügend darauf befinden und sie nicht aufgehoben werden sollen, 
noch eine oder zwei. Ein Rechnen tritt hier nicht ein, am ehesten noch bei 
mathematisch besonders Entwickelten und dann erst, wenn eine gewisse, 
nicht zu niedrige Stufe dieser Entwicklung erreicht ist. Bei vorschulpflich¬ 
tigen Kindern konnten wir das noch niemals beobachten. Aber daß in jenem 
kindlichen Teilen eine frühe Vorstufe des mathematischen Teilens gegeben 
ist, erscheint unzweifelhaft“ 

Eine frühe Vorstufe — nicht mehr. Was wir bei der Addition und Subtrak¬ 
tion allgemein über die Zahlbeziehungen sagen konnten, gilt in erhöhtem 
Maße auch für die Operationen der zweiten Stufe. 

x ) Vgl. Büiiler, Die geistige Entwicklung des Kindes S. 97. 


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166 


Josef Filbig 


Den Schluß unserer Untersuchungen möge eine tabellarische 

Übersicht über die Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kind 

geben (vgl. die nebenstehende Tabelle); in ihr ist auch der Grad der Entwicklung 
auf den Stufen zum Ausdruck gebracht. Es sei betont, daß unser Ergebnis keines¬ 
wegs generelle Gültigkeit beansprucht. Eingangs schon haben wir erwähnt, 
daß gute und schlechte Begabung, häusliche Beeinflussung, ob absichtlich oder 
mehr ungewollt, wie auch Anregung durch Spiel, Umgang und Beschäftigung 
die Entwicklungskurve in hohem Maße bestimmen. Deshalb wird ein scharf 
umrissenes Bild geistigen Werdens und Könnens auf dieser Stufe, wo alles 
„fließt“, kaum entworfen werden können. Wir haben es getan, zahlenmäßig 
sogar, weil wir dabei immer den Entwicklungsgang von 102 Kindern im Auge 
haben, deren rechnerisches Können in vielen Einzeluntersuchungen festgestellt 
wurde. Deshalb wurde auch die Altersabstufung von 5 bezw. 10 Monaten 
beibehalten. Unsere Diagnose soll also lediglich für die angeführten Verhält¬ 
nisse Geltung haben. Im übrigen sind die mühevollen Untersuchungen während 
eines halben Jahres vielleicht ein kleiner Beitrag zur Kinderpsychologie. Denn 
die Aufeinanderfolge in der Entwicklung der rechnerischen Fähigkeiten und 
ihrer einleitenden Prozesse wird im allgemeinen gleich verlaufen, wenn auch 
der Grad sich ändert. 

Es war natürlich unmöglich, dem Überblick rein statistische Verhältnisse, 
wie sie den Tabellen ohne weiteres zu entnehmen wären, zugrunde zu 
legen. Die Fälle weit fortgeschrittener und weit rückständiger Entwicklung 
mußten ausgeschaltet werden, um ein Normalbild zu erhalten. Neue Unter¬ 
suchungsreihen waren nötig, um ein abschließendes Urteil über die Reich¬ 
weite der anschaulichen, klaren und deutlichen Zahlvorstellungen sowohl 
als auch deren Gewinnung zu bekommen. Als solche deute ich an: Prüfung 
der Aussagen über Anzahl der gegebenen anschaulichen Einheiten (weil das 
Kind wohl die Zahlvorstellung 4 haben kann, ohne das Zahlwort hierfür zu 
kennen) und Umsetzen des Klangbildes in bildliche Darstellung, anschließend 
ebenfalls Prüfung der Aussagen. 


Prüfung des Zahlenverständnisses an Schulneulingen. 

Darüber hat in interessanter Weise K. Eckhardt berichtet. Seine Fest¬ 
stellungen beziehen sich auf die rechnerischen Leistungen des Schulrekruten 
überhaupt, in gewissem Sinne bilden sie einen speziellen Teil der Unter¬ 
suchungen über das „geistige Inventar“ der Kinder. 

Während hier hauptsächlich die Kenntnisse der Kinder festgesteüt wurden, 
d. h. ihr Besitz an komplexen Vorstellungen über die Zahl und deren Be¬ 
ziehungen, wurde in nachstehendem mehr auf das „elementare Material“ 
eingegangen, auf dem sich das Zahlenverständnis aufbaut Die Untersuchungen 
.wurden von Professor Strauss der Lehrerbildungsanstalt alljährlich nach dem 
Muster des „Leipziger Blattes“ angestellt und gewinnen an Bedeutung, weil 
ihnen zum Vergleich die Resultate nach einhalbjähriger Schulzeit gegenüber 
gestellt sind. 

Zur Beurteilung diene folgendes: 

Die Kinder werden in eigener Methode sowohl mit den Gruppen als auch 
mit den Reihen bekannt gemacht und daran unterrichtet, was zu einer ge- 


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Entwicklung der Zahlvorstellungen beim Kinde. 
Nach den Untersuchungen im Kindergarten „Marienheim* Amberg. 


Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 


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168 Josef Filbig, Untersuchungen über die Entwicklung der Zahlvorstellungen im Kinde 


wissen Selbständigkeit in der Anwendung und Darstellung der Zahlvorstellungen 
der Form nach führt. Ein eigentliches „Rechnen“ im Sinn des Lehrplans 
beginnt ziemlich spät und wird durch Ausbildung aller Sinne im Werk- und 
Arbeitsunterricht planmäßig vorbereitet Alle Schüler sind im Besitze selbst¬ 
verfertigter Anschauungsmittel. Die Kinder gehören großenteils gut situierten 
Familien an. Uns interessiert vom psychologischen Standpunkt aus fol¬ 
gendes: 

1. Die Schüler 8, 6, 8 bevorzugen auffällig die Gruppendarstellung und 
behalten die Tendenz zu räumlicher Gruppierung bei. Nach halbjährigem 
Schulbesuch ist die Zahlauffassung bei gegliederter Reihenvorstellung eine 
gehobene und noch mehr gesteigerte bei Gruppendarstellung. Der Schüler 12 
bevorzugt anfangs die Reihe, seine Leistungen übersteigen das Durchschnitts¬ 
maß; der Unterricht beeinflußt ihn im Sinne der gruppierten Anordnung der 
Elemente. 

2. Die Auffassungsgrenze für simultan dargebotene Eindrücke liegt beim 
Schuleintritt bei drei Elementen, wird im Laufe des Jahres aber für Reihen¬ 
darstellung auf 4, für Gruppendarstellung auf 5 Einheiten erhöht. In diesem 
Wert kommt die durch Übung steigerungsfähige und frühzeitig mechanisierte 
Auffassungsmöglichkeit zum Ausdruck. Denn normalerweise werden diese 
Zahlen erst im zehnten bis zwölften Lebensjahre erreicht 

3. Die Deckungsmethode zeigt einige Fälle der von Freemann konstatierten 
Ungenauigkeit der assimilierenden Apperzeption. Obwohl hier die Kinder 
mit Muße das Zahlbild nachkleben konnten, kamen in der Nachbildung sub¬ 
jektiv gefärbte Auffassungen vor. Die Fälschungen betrafen die den Kindern 
ungewohnten Zahlbilder; einfache Formen, zu denen die horizontale Reihe 
und das Quadrat zählt wurden richtig wiedergegeben. Diese Feststellung stimmt 
mit anderen experimentell gefundenen Tatsachen überein, wonach das Vier¬ 
eck nicht die geometrisch, wohl aber die psychologisch einfachere Form dar¬ 
stellt Die vertikale Reihe ist gleichfalls etwas Ungewohntes; sie wird zur 
horizontalen Reihe umgeformt. In diesen Beobachtungen liegen wichtige 
Fingerzeige für die Ausgestaltung der Zahlbilder. 

4. Die Darstellung nach Aufruf (Versuch nach jährigem Schulbesuch) 
zeigt bei manchen Schülern inmitten ausgeprägter Reihendarstellung un¬ 
motiviert auftretende Gruppenzusammenstellungen. In der Hauptsache sind 
es die Zahldarstellungen „5 U und „10“, die gruppiert ausgestaltet werden. 
Diese Reaktionsweise findet in der bei Knaben vorherrschenden Formen- 
beliebtheit, die die Diagonalstellung der „5“ bezw. der „10“ noch unterstützt, 
ihre Erklärung. 

Es ist schade, daß die Untersuchungen einseitig der Zahlversinnlichung bezw. 
der Wirkung der Unterrichtsmethode galten. Denn wichtiger als diese Fragen 
erscheinen die Feststellungen der beginnenden und fortschreitenden Abstraktion 
in der fortschreitenden assoziativ-reproduktiven Mechanisierung des Rechen¬ 
prozesses. 


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r, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut I. Jugendkunde 169 


Erfahrungen bei den Eigmmgspr&fungen industrieller 
Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 1 ). 

Von Theodor Valentiner. 

Bremen besitzt bekanntlich eine hochentwickelte Metallindustrie. Wir haben 
hier die beiden großen Werften, die Aktiengesellschaft „Weser“ und die Atlas¬ 
werke und andere große Industriewerke, die zusammen mehr als 500 Lehr¬ 
linge jährlich einstellen. Da war es ganz natürlich, daß man sich in den 
letzten Jahren die Frage vorlegte, ob nicht auch hier die Lehrlinge psycho- 
technisch auf ihre Eignung geprüft werden sollten. In den Kreisen der Gro߬ 
industrie und besonders in den Ingenieurvereinen wurde die Frage wieder¬ 
holt behandelt Doch war man längere Zeit zurückhaltend aus verschiedenen 
Gründen: Einmal lagen die Einstellungen zum Teil in den Händen von Prak¬ 
tikern, die bei der Auslese im allgemeinen glücklich gewesen waren. Wozu 
also etwas Ungewisses, Neues an die Stelle setzen? Und dann lauteten die 
Gutachten und Urteile, die man von anderen auswärtigen Betrieben über den 
Wert dieser Prüfungen einholte, nicht durchweg günstig. Man war vielfach 
mißtrauisch und skeptisch, wie das ja bei solchen Neuerungen ganz selbst¬ 
verständlich ist Auch von seiten des Institutes für Jugendkunde, das der 
psychotechnischen Forschung von Anfang an seine vollste Aufmerksamkeit 
zugewandt hat und das in Bremen der gegebene Ort für Vornahme von Eignungs- 
Prüfungen ist, bestanden anfänglich Bedenken, vor allem wissenschaftlicher 
Art. Es mußten erst die nötigen Vorbereitungen getroffen, die vorhandenen 
Prüfverfahren durchgeprüft, eventuell ergänzt und den Bedürfnissen gemäß 
ungestaltet werden, ehe das Institut eine solch verantwortungsvolle Aufgabe 
übernehmen konnte. So kam es, daß in Bremen erst im vorigen Jahre mit 
Eignungsprüfungen begonnen wurde. Und zwar wurden im letzten Winter 
diejenigen Lehrlinge geprüft, die nach dem Wunsche der einzelnen Werke 
dem Institut zu diesem Zweck zugesandt wurden. 

Die bisherigen Erfahrungen haben uns Recht gegeben, daß wir mit Vor¬ 
nahme der Prüfungen gewartet haben, bis wir sicheren Boden unter den Füßen 
hatten. Ich bin überzeugt, daß uns infolge der gründlichen Vorbereitungen 
manche Enttäuschung erspart geblieben ist. Der äußere Erfolg ist vorhanden: 
Wir hatten im vorigen Jahr etwas mehr als 300 Lehrlinge von 5 Werken zu 
prüfen. Dieselben Werke haben auch für dieses Jahr ihre Lehrlinge zur 
Prüfung wieder angemeldet. Weitere Werke haben sich angeschlossen, so 
daß wir mit einer viel größeren Zahl von Prüflingen zu rechnen haben. 
Diesen äußeren Erfolg haben wir hauptsächlich den Prüfungsergebnissen zu 
verdanken, die bei Prüfung älterer Lehrlinge erzielt wurden. Von 2 Werken 
(den Hansa-Lloyd-Werken und der A.-G. „Weser“) wurden uns nämlich außer 
den neu einzustellenden Lehrlingen 17 ältere Lehrlinge zur Prüfung geschickt, 
die nach denselben Methoden und in derselben Weise wie die anderen ge¬ 
prüft wurden. Man schickte sie uns wohl in der Erwägung, hierdurch einen 
Maßstab für die Beurteilung der Prüfergebnisse durch das Institut zu gewinnen. 
Ganz natürlich! Nur an Urteilen über ihm bekannte Lehrlinge kann ein 
Meister sehen, wieweit er Urteilen über ihm fremde Jungen Vertrauen schen¬ 
ken kann. Uns war diese Sonderprüfung sehr erwünscht. War uns doch 

’) Vortrag, gehalten am 20. Mai 1922 im Institut für praktische Psychologie in Dortmund. 


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170 


Theodor Valentiner 


so Gelegenheit geboten, zu zeigen, daß wir mit unserem Verfahren auf dem 
richtigen Wege sind und was viel wichtiger, konnten wir doch aus dem Ver¬ 
gleich der Zeugnisse des Institutes mit denen der Werkstatt, um deren Aus¬ 
fertigung, unabhängig von dem Institutsurteil, und Zusendung nach Ein¬ 
treffen unserer Prüfkarten ersucht wurde, voraussichtlich vieles für Ver¬ 
besserung unseres Verfahrens lernen. Das Ergebnis war sehr günstig. Die 
Antwort, die wir von den Hansa-Lloyd-Werken auf Zusendung der Prüfkarten 
von 11 Lehrlingen erhielten, lautete: . . c . . Die Ergebnisse zeigen durch¬ 

weg eine auffallend gute Übereinstimmung mit der Beurteilung durch die 
Meister, welche die Lehrlinge seit Jahren kennen.“ Und die A.-G. „Weser“ 
schrieb uns: „Wir stellen mit Befriedigung fest, daß die von Ihnen ermittelten 
Wertzahlen sehr gut mit unseren Beobachtungen der genannten Lehrlinge 
übereinstimmen. Wir schöpfen hieraus die Hoffnung, daß Ihre Vorprüfungen 
uns bei der Auswahl, Unterweisung und Beobachtung neuer Lehrlinge von 
Nutzen sein werden.“ — Von den Hansa-Lloyd-Werken war nicht die Rang¬ 
reihe der 11 Lehrlinge angegeben; dagegen über jeden Lehrling mehr oder 
weniger eingehende Bemerkungen über Begriffsvermögen, Zusammenarbeiten 
der Hände, Tastgefühl, Meßgefühl, Betragen und Willenseigenschaften. Außer¬ 
dem war das allgemeine Werturteil so deutlich ausgesprochen oder erkenn¬ 
bar, daß die Rangreihe unschwer zu erschließen war. Wir waren so in der 
Lage, bis ins einzelne zu vergleichen und konnten die von uns gebrauchten 
Prüfmittel gleichsam im Lichte der Werkstatt sehen. Auch die A.-G. „Weser“ 
schickte uns ausführliche Zeugnisse über die von uns geprüften 6 älteren 
Lehrlinge, dazu eine Rangreihe. Die Rangreihe stimmte mit der von uns 
hergestellten bis auf eine geringfügige Abweichung: der 2. und 3. unserer 
Reihe hatten nämlich von der Werft denselben Platz (2.) erhalten. Erwähnen 
möchte ich, daß bei den neueingestellten Lehrlingen, soweit bis jetzt fest¬ 
gestellt, sich eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen Instituts- und Werk- 
stattsurteil ergeben hat Es konnten die Werkstattsurteile über das Gesamt- 
verhalten von 94 Lehrlingen der A.-G. „Weser“ zu den Institutsurteilen in 
Beziehung gesetzt werden. Die Werkstatt hatte sich der üblichen Schul¬ 
zensierung (1 = sehr gut, 2 gut, 3 ■= genügend, 4 => mangelhaft, 5 -■ 
ungenügend) bedient Verglich man damit das entsprechende Institutsurteil, 
so ergab sich, wie dem Werk am 24. Mai 1922 unter Beilage der Ausrechnung 
mitgeteilt wurde, „bei einer Wertabstufung von 1, 2, 3, 4, 5 für die Tüchtig¬ 
keit der Lehrlinge bis jetzt eine mittlere Abweichung von 0,36. Abweichungen, 
die über 1 hinausgehen, fanden sich nur bei 4 (d. h. 4,3°/«) Lehrlingen, dar¬ 
unter als größte Abweichung einmal 1,3.“ Natürlich werden die Urteile der 
Meister, die die Lehrlinge ja erst 2 Monate unter den Händen haben, unter 
allem Vorbehalt und oft mit dem Hinweis abgegeben, daß sich voraussicht¬ 
lich noch manches ändern wird. Immerhin darf man nicht ganz gering ein¬ 
schätzen, wenn Meister, die z. T. seit langen Jahren die Ausbildung der jugend¬ 
lichen Lehrlinge vornehmen, im allgemeinen nach 6—8 wöchentlicher Beob¬ 
achtungszeit zu ganz ähnlichen Werturteilen über die Lehrlinge kommen wie 
das Laboratorium. Es verdient dies um so mehr Beachtung, als die Meister 
im allgemeinen derartigen „theoretischen“ Feststellungen mit gewissem Miß* 
trauen begegnen. Selbstverständlich müssen weitere Erfahrungen gesammelt 
werden. Meine Mitarbeiter (Senator Feuss und Frl. E. Schütte) und ich sind 
fast wöchentlich auf einem Werke zu finden, wo wir die Schicksale unserer 


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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 171 


Prüflinge weiter verfolgen. Der fortlaufende persönliche Austausch der Er¬ 
fahrungen, der auf diese Weise gepflegt wird, hat, abgesehen davon, daß er 
für Fragen der Bewährung und Verbesserung der Methoden den sichersten 
Weg weist, noch den Vorteil, daß er dem vielbeklagten Aneinandervorbeireden 
und Vorbeiurteilen von Laboratorium und Werkstatt auf die natürlichste Weise 
ein Ende macht. 

Es ist selbstverständlich, daß bei Ausarbeitung des Prüfplans und Prüf¬ 
verfahrens an Bewährtes angeknüpft wurde. Die Berufsanalyse ist ja auf 
diesem Gebiete schon so fortgeschritten, viele Prüfmittel schon so vielfach 
erprobt, daß man sich einer schweren Unterlassungssünde zeihen müßte, wollte 
man hier nicht einfach weiterbauen. Ich erwähne nur Arbeiten von Moede, 
Lipmann, Stolzenberg, W. Stern, E. Stern, F. Giese, Bonhof, Dr. Heilandt, 

Roloff, ferner Prüfverfahren wie sie bei Löwe & Co., Berlin, MAN in Augs¬ 
burg-Nürnberg, Zeiss, Jena usw. angewendet werden, um festzustellen, daß 
hier bleibend Wertvolles geschaffen worden ist, das im folgenden als bekannt 
vorausgesetzt werden muß. Doch sind wir noch nicht so weit, daß wir heute 
irgendein Verfahren einfach kopieren können. Die Verfahren sind noch 
zu sehr durch die Eigenart der Persönlichkeiten, die sie verwenden, bedingt 
und lassen sich noch nicht ohne weiteres auf ganz andere Verhältnisse über¬ 
tragen. Eine Verpflanzung würde jedesmal eine Verschlechterung eines viel- <• 
leicht sonst sehr brauchbaren Verfahrens bedeuten. 

Wir haben es daher auch in Bremen so gemacht, wie es unter heutigen 
Verhältnissen die Regel sein wird: Manches wurde einfach übernommen, 
manches wurde abgelehnt, und vielfach wurden neue Wege eingeschlagen. 

Dabei waren weniger psychologische Erwägungen — wie das noch vielfach 
der Fall ist — als vielmehr Erfahrungen maßgebend, die ich bei Intelligenz- 
und Begabungsprüfungen gesammelt hatte, die ich an Jugendlichen voraahm, 
die mir aus mehrjähriger Unterrichtsbeobachtung genau bekannt 
waren. 

Bei Prüfung der industriellen Lehrlinge hielt ich es für zweckmäßig, fol¬ 
gende 5 Gruppen von Eigenschaften als Hauptgruppen anzusehen. 

1. Die Intelligenz. Ich nehme das Wort in dem Sinne, in dem es nach 
W. Sterns Vorgang jetzt wohl allgemein in der angewandten Psychologie ge¬ 
braucht wird, dem Sinne der „geistigen Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben 
des Lebens". Im Sprachgebrauch verwenden wir dafür häufig Ausdrücke wie 
Auffassung, Auffassungsgabe, Begriffsvermögen, Verstand u. a. Jeder weiß, was 
damit gemeint ist, und daß die Intelligenz eine äußerst wichtige Rolle im Be¬ 
rufsleben des industriellen Lehrlings spielt. Dieser darf nicht zu schwerfällig 
im Denken sein; er soll sich nicht gar zu dumm anstellen, muß verstehen, 
was ihm erklärt wird. Ein guter Lehrling wird eine neue Arbeit, einerlei 
um was es sich dabei handelt, verhältnismäßig schnell begreifen und bei der 
Ausführung eine gewisse Intelligenz beweisen. 

2. Das technische Verständnis; eine spezielle Begabung, die bei guter 
Allgemeinbegabung gelegentlich wenig entwickelt ist Von jedem Lehrling 
wird ein gewisses Verständnis für Bau und Funktionieren einer Maschine, 
technische Einfühlungsfähigkeit und- technische Kombinationsgabe verlangt 
Der Lehrer ist in den seltensten Fällen in der Lage, hierüber ein Urteil ab¬ 
zugeben. Ich machte selbst überraschende Erfahrungen bei Schülern eigener 
Klassen, die ich im Institut auf ihre technischen Fähigkeiten prüfte. Hier 


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172 


Theodor Valentiner 


stellte sich heraus, daß gelegentlich Jungen, die von allen unterrichtenden 
Lehrern für allgemeinbegabt gehalten wurden, technisch recht mäßig befähigt 
erschienen, während es vorkam, daß einer, der in keinem Fach Besonderes 
leistete und als dumm galt, gute technische Begabung zeigte. Da bekannt¬ 
lich die Technik noch keinen Platz in den Lehrplänen hat, begreift man, daß 
die Schule auch kein Urteil über die sich bei Beschäftigung mit technischen 
Dingen zeigende Sonderbegabung haben kann. Schon daraus ergibt sich 
die Notwendigkeit der psychotechnischen Prüfung dieser Eigenschaft. 

3. Der Handgebrauch. Voraussetzung ist hier, daß Tast-, Druck- und Ge¬ 
lenksinn ausreichend entwickelt sind, da sie bei der Handarbeit oft ent¬ 
scheidend mitwirken. Auch eine gewisse Handruhe wird bei vielen Arbeiten 
verlangt, insbesondere bei Ausführung von Präzisionsarbeiten. Besonderes 
Gewicht legt die Werkstatt bekanntlich auf gutes Zusammenarbeiten der Hände. 
Oft müssen feinabgestufte verschiedensinnige Bewegungen von beiden Hän¬ 
den gleichzeitig ausgeführt werden, und es scheint, daß die Übungsfähigkeit 
bei solchen Leistungen im allgemeinen gering ist 

4. Das Augenmaß. Hier besteht im Gegensatz zur Sehschärfe und anderen 
Leistungen des Auges eine nicht ungünstige Beziehung zur Intelligenz: Eine 
an 160 Versuchspersonen im Institut durchgeführte Untersuchung über die 
Korrelation ergab den Koeffizienten e —» 0,61 — psychologisch sehr wohl ver¬ 
ständlich, handelt es sich doch dabei in erster Linie um intellektuelle Lei¬ 
stungen. Wenn aber bei einer Reihe von Fällen (8 Vp.) gute Intelligenz mit 
mangelhaftem Augenmaß zusammentraf, so weist das darauf hin, daß das 
Augenmaß eben auch physiologisch bedingt ist Dies wird um so deutlicher 
dadurch, daß wohl gute Intelligenz mit sehr mangelhaftem Augenmaß, nie¬ 
mals aber das Umgekehrte: gutes Augenmaß mit sehr schwacher Intelligenz 
zusammentraf. Schon aus diesem Grunde muß das Augenmaß gesondert 
geprüft werden. Aber auch als geistige Leistung zeigt das Messen und Ver¬ 
gleichen von Größen mit den Augen eine gewisse Selbständigkeit innerhalb 
der geistigen Funktionen. Wenn wir 6, 7 jährige Kinder den Mittelpunkt eines 
Kreises bestimmen lassen und vergleichen damit die Prüfergebnisse an Er- 
wachsenep bei demselben Versuch, so finden wir keine auffallenden Unter¬ 
schiede. Das weist schon darauf hin, daß die Augenmaßfunktion von der 
geistigen Reife relativ unabhängig ist. — 

5. Die Willenseigenschaften. Zu ihnen rechne ich einen ganzen Kom¬ 
plex von Eigenschaften verschiedenster Art: Fleiß, Arbeitswillen, Ausdauer, 
Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, auch 
das Betragen. 

In diesen 5 Gruppen ist alles Wesentliche enthalten, was unter den berufs¬ 
wichtigen Eigenschaften von den Psychologen geprüft werden muß. Es wird 
auffallen, daß hier manches fehlt, das notwendig festgestellt werden muß, 
z. B. manches aus dem Gebiet der Sinnesfunktionen. Da sind wir nun in 
Bremen in der günstigen Lage, die Gutachten der Schulärzte mit verwerten 
zu können. Hier wird jedes Kind, das die Schule verläßt, vor seinem Ab¬ 
gang vom Schularzt untersucht und zwar mit besonderer Rücksicht auf den 
gewählten Beruf. Das ärztliche Gutachten wird der Medizinalbehörde über¬ 
mittelt, die wiederum dem Institut in dankenswertem Entgegenkommen Ein¬ 
blick und Abschrift gestattet Wir haben daher auf unserer Prüfkarte einen 
Raum freigelassen, wo der ärztliche Befund eingetragen wird. Bei Bewertung 


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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 173 


des Lehrlings wird das Urteil des Arztes selbstverständlich gebührend be¬ 
rücksichtigt. An Orten, wo eine ärztliche Untersuchung fehlt, muß natürlich 
Auge, Ohr, Körperkraft, Gesundheitszustand usw. irgendwie festgestellt werden. 

Von den 5 Gruppen von Eigenschaften, die ich kurz bezeichnet habe, 
enthält jede einen wesenhaften Kern der Berufsanforderungen, ln ihrer Gesamt- 
1 heit — richtig bezogen und bewertet — bilden sie die psychische Struktur 
des Berufs. Vor allem ist es wichtig zu beachten, daß jede Gruppe ihre 
selbständige Bedeutung hat. Jede muß auf das sorgfältigste geprüft werden, 
eine weitere Reduktion ist bei dem Beruf des industriellen Lehrlings nicht 
möglich. Auch der Nichtpsychologe weiß, daß guter Handgebrauch mit ge¬ 
ringer Intelligenz (bei unseren oben erwähnten 160 Versuchspersonen 9 mal) 
oder mit hoher Intelligenz (8 mal) verbunden sein kann. Versagt der Lehrling 
in einer Gruppe oder in einer „kritischen" Funktion einer Gruppe *) gänzlich, 
so ist er ungeeignet. Ist er in allen gut und besser, so haben wir den voll¬ 
kommenen Lehrling. 

Die Prüfung dieser Eigenschaften erfolgte'nach scharf getrennten Methoden, 
je nachdem es sich um eine psycho-physische oder um eine rein psychische 
Funktion handelte. Es bildet ein besonderes Kennzeichen des Bremer Ver¬ 
fahrens, daß diese Trennung im Laboratorium streng durchgeführt wurde. 
Der Unterschied ist kurz folgender: Bei Tast-, Druck- und Gelenksinn, auch 
Prüfung des Augenmaßes und des Handgebrauchs waren wir bemüht, in der 
üblichen Weise möglichst exakte quantitative Feststellungen zu machen. Dem 
Prüfling wurde genaue Anweisung gegeben, was er zu tun hatte, und er 
wurde gleichsam gezwungen, auf eine an ihn ergehende Forderung tunlichst 
mit der Funktion zu reagieren, die eben geprüft werden sollte. Für jeden 
gelten die gleichen Bedingungen; nur war bei Ausführung des Versuches 
jedesmal auf die besondere Körperbeschaffenheit (Körpergröße usw.) des 
Prüflings Rücksicht genommen. 

Bei Prüfung rein psychischer Funktionen verfuhren wir anders. Hier wurde 
dem Prüfling möglichst weiter Spielraum zur Betätigung gegeben. Jede äußere 
und innere Hemmung wurde möglichst beseitigt. Wir zeigten nicht den Weg, 
den der Prüfling gehen mußte, sondern ließen ihn selbst suchen und finden, 
und dabei stellten wir sein Verhalten und seine Leistungsfähigkeit fest. 
Gewisse Ausgangsfragen waren gemeinsam; auch das Ziel wurde im Auge 
behalten; doch war immer eine Entfernung von dieser Basis möglich, wenn 
es der Prüfer im Interesse sicherer Feststellungen für geboten hielt Kurz, 
es war keine Prüfung, sondern eine freie Besprechung. Einer sich irgendwie 
zeigenden auffallenden Erscheinung oder Äußerung des Jungen wurde so lange 
nacbgegangen, bis sich alles geklärt hatte. Ich halte es für unbedingt erforder¬ 
lich, daß wir diesen Trennungsstrich ziehen und auch im Laboratorium beide 
Verfahren, das Experiment und die Beobachtung 2 ), zu ihrem vollen Recht 
kommen lassen. 

Ich möchte an einem Beispiel zeigen, wie wir prüften. Ich wählte dazu 
Gottschalck’s Zitterschreiber. An diesem Apparat ließ sich die Prüfung 
von 3 der genannten Gruppen, nämlich Intelligenz, technisches Verständnis 


') Vergl. Rapp, Beiheft für angew. Psychologie, 29, S. 32 f. 

*) W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen 1920* S. 48 f., vgl. auch dasselbe 
in den Beiheften z. Zeitscbr. f. angew. Psych. 29. 6. 3. 


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Theodor Valcntiner 


und Handgebrauch vornehmen. Hier sind also beide Verfahren deutlich zu 
machen: bei Prüfung der Handruhe und derHandgeschicküehkei! das Experiment 
bei Prüfung der höheren geistigen Funktionen das freie Verfahren.'— Oer 
Apparat dient eigentlich nur dazu, die Ruhe der Hand bei Ausführung von 
Präzisionsleistungen zu prüfen, ln einem mit Öffnung nach oben versehenen 
Holzgehäuse (s, Abbildung, Abdruck aus demBeiü.29 d.Z&tschr. 1 augtnv. Psydi.V 
befindet sich eirre Messlugtronirael, die durch ein Laufwerk gedreht wird. Bei 
Druck auf eine seitlich angebrachte Taste setzt sich die Trommel in Bewegung 
und dreht sich einmal herum. In die Trommel ist ein 8 (eiliger Zickzack- 
schlitz eingeachmtteö, feder folgende Schlitz ist um ^ öim enger als der 
vorliergeirende. Es M nun die Aufgabe, mit einem Metallstab in dem Schlitz 
der bewegten Trommel zu bleiben,..ohne die Ränder zu berühren Jeder 
Anstoß wird mittels elekhomaghetischefi Farbschreibers registriert. Bei Prüfung 
der Bändrühe ist auf manches zu achten, wenn die Prüfung ihren volles 
■Wert haben soll Die Beleuchtung tüuß so sein, daß die Versuchspersoii 
durch den Metaifglaaz nicht geblendet wird. Der Apparat sieht an; bestes 

von eben die sieb nunc; 

’ ^.• seiner Iland MnbefAhigenile 

Trommel beobachten *kann. Ferner muß immer ein Tuch bereit seit', 
damit feuchte Hände vor Ausführung des Versuchs abgetrocknet werden 
können. Es genügt auch, wenn ein, Löschblatt auf die pokerte Holzplatte 
gelegt wird, Vor allem »st aber wichtig, daß der Prüfling die richtige Rand¬ 
lage hat Es gibt eine Steile, wo die Hand ruhig aufliegt und nicht hin 
und bemitschen muß, um den Versuch auazuführen.. Diese Stelle muß fut 
|ede Hand gesucht werden. Kurz, wir bereiten den Versuch so vor, daß 
alle unter relativ gleichen • und"R*Sgtfel#günstigen • Bedingungen arbeiten, 
damit wir zu vergleichbaren Ergebnisaen über die Ruhe der Hand kötnBtftC 
Beachten wir beispielsweise nicht, ob einer feuchte Hände hat, so kann das 
Ergebnis ungünstig werden, obwotd der Betreffende rteUeiebt eine sehr ruhig« 
Hand hat, aber infolge des Bandeehweißes auf der polierten Platte attsreUold 
Nach einem Varversucfr, der nur der ricbtigea Einstellung dient und l>ci 
einmaligem Tromrnelumlauf erledigt werden kann, folgen 3 Versuche (drei¬ 
maliger Umlauf der Trommelt mit aufgelegten Regishiersbeifen. Diese 3 Ver¬ 
suche reichen aus, uro zu einem Urteil über die Handrahe des Lehrlings 
kommen. Daß die Prüfung bei jedem Lehrling ausgeführt werden muß« 
bewies mir vor allem folgender Fall.: Unter den älteren Lehrlingen d« 
Hansa-Lloyd-Werke war einer, au« dem man, wie wir später erfuhren, w 
der Werkstatt nicht recht klug werden konnte, Er war anscheinend aufgeweckt 
und anstellig, aber als Schlosser und Dreher nicht zu gebrauchen. Er bestand 
auch unsere Prüfung — vor aUem die Intelligenz-, Augenmaß'und technische 






Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 175 


Prüfung — ganz gut, aber versagte völlig an diesem Apparat. Es stellte 
sich heraus, daß er eine vollkommen nervöse Hand hatte. Der Versuch 
konnte nicht bis zu Ende geführt werden. In der Werkstatt war dies nicht 
erkannt worden. Ich schrieb nun in das Zeugnis „nervöse Hand; ärztliche 
Untersuchung wünschenswert“. Es wurden darauf die erforderlichen Schritte 
getan. — Außer der Handruhe konnte auch das Zusammenarbeiten der Hände 
am Zitterschreiber geprüft werden und zwar bei Auflegung des Registrier¬ 
streifens auf die Holzrolle, die auf die Welle der Trommel aufgesetzt wird. 
Ich ließ das Auflegen des Papiers von dem Prüfling ausführen und stellte 
dabei seine Handgeschicklichkeit fest. Die Aufgabe sieht sich sehr leicht 
an und stellt doch hohe Anforderung an die Zusammenarbeit der Hände. 
Wenn ich das eine Ende des Streifens unter das Metallband legen will, muß 
ich dieses Band, das durch eine Feder auf die Rolle gedrückt wird, so lange 
mit der einen Hand hochdrücken, bis ich den Streifen mit der anderen Hand 
untergeschoben habe. Das Auflegen des 2. Endes ist noch schwieriger: Hier 
muß ich gleichzeitig das Metallband hochdrücken, mit derselben Hand das 
erste Ende des Streifens auf der Rolle festhalten und das 2. Ende richtig 
unterschieben. Auch hier geben wir dem Prüfling genaue Anweisung, wie 
es gemacht werden muß. Die Prüfergebnisse dieses dreimaligen Auflegens 
des Registrierstreifens zeigten eine günstige Beziehung zu dem Werkstatt- 
urteil über das Zusammenarbeiten der Hände. Die Bewertung war nicht 
schwierig, da sich deutliche Unterschiede zeigten: Der eine mußte nach vielen 
vergeblichen Bemühungen den Versuch aufgeben, das Papier fiel immer 
wieder herunter, zerknüllte, zerriß und war nicht mehr zu gebrauchen — 
ein anderer war fix und gewandt und brachte es fertig, daß der Streifen 
schön stramm auflag. Und dazwischen waren deutlich erkennbare Zwischen¬ 
stufen. 

In diese Prüfung des Handgebrauchs war eine Prüfung der Intelligenz und 
des technischen Verständnisses eingeschoben. Sie war ganz darauf angelegt, 
daß nicht nur die „reaktiven sondern vor allem die spontanen Kräfte“ ')> die 
im Prüfling schlummerten, zum Vorschein kommen mußten. Sie war außer¬ 
dem so, daß die besonders durch die W. Stern’sehen Untersuchung genugsam 
bekannten Schwächen der Testprüfung tunlichst vermieden wurden. Wenn 
nämlich uach der Voruntersuchung die Trommel einmal herumgelaufen war, 
so wurde eine leichte Unterhaltung über den Apparat angeknüpft. „Wir 
wollen uns jetzt mal ausruhen und den Apparat studieren. — Was bewegt 
sich da unter deiner Hand vorbei? Für wie groß hältst du den Durchmesser 
der Trommel; zeig es mir mit der Hand. — Wir wollen mal sehen, ob du 
recht hast. Sieh es dir einmal von hier aus an. Da sieht die Welle der 
Trommel etwas heraus. Für wie groß hältst du, von hier aus betrachtet, 
den Durchmesser? Also größer oder kleiner als du ihn vorhin angegeben 
hast?“ Aber dieses Gespräch spielt sich niemals genau so ab, wie man 
hiernach vermuten könnte. Schon nach den ersten Fragen und Antworten 
habe ich gewisse Eindrücke darüber bekommen, ob ich es mit einem lang¬ 
samen oder schnellen Denker, mit einem schwerfälligen oder klaren Kopf, 
mit einem guten oder schlechten Beobachter zu tun habe — Eindrücke, die 
sich im Lauf der weiteren Besprechung vollständig verändern können, die 


*) Vergl. W. Stern, Beiheft 29 d. Zeitsch. f. angew. Psych., S. 3 u. ö. 


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1 76 Tb. Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde 


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aber doch dazu dienen, der Besprechung eine leise Wendung nach dieser 
oder jener Richtung zu geben, in der ich noch sicheren Aufschluß über 
meine anfänglichen Vermutungen zu bekommen hoffe. Die Besprechung 
wird auch immer so geführt, daß der Prüfling nie das Gefühl bekommt: das 
kann ich nicht — dazu bin ich zu dumm, sondern es wird immer das 
Gefühl in ihm wachgehalten: das ist ja gar nicht so schwierig, darüber 
weiß ich doch allerlei zu sagen. Inzwischen geht die Besprechung weiter 
und tiefer. „Was hat denn dieser Knopf zu bedeuten? Wenn ich drauf 
drücke, setzt sich die Trommel in Bewegung. Wie geht das zu? Und wie 
kommt es, daß die Trommel stehen bleibt, wenn sie einmal herumgelaufen 
ist? Wie sieht das wohl da drinnen im Kasten aus? Wie würdest du den 
Apparat innen einrichten, daß die Trommel nach einmaliger Umdrehung 
stehen bleibt? ... .* Wir haben bei dieser Besprechung schon zahllose Be¬ 
obachtungen gemacht und viele Anhaltspunkte zur Beurteilung der Intelli¬ 
genz und der technischen Fähigkeiten gewonnen. Wir brechen nun diese 
Intelligenzprüfung ab und führen den Versuch zur Prüfung des Handge¬ 
brauchs fort. „Wir- wollen jetzt diesen Papierstreifen auf die Rolle legen. 
Ich zeige dir, wie es gemacht wird“ (geschieht). Während der Prüfling sich 
mit Auflegen des Papiers abmüht, protokolliere ich die Beobachtungen und 
Eindrücke bei der Intelligenzprüfung. Es wäre eine Störung der freien Be¬ 
sprechung gewesen, wenn ich gleichzeitig protokolliert hätte. Gleichzeitig 
beobachte ich und protokolliere, wie er sich beim Papierauflegen anstellt. 
Es folgt dann der erste Versuch zur Prüfung der Handruhe mit aufgelegtem 
Registrierstreifen. Wenn der erste Streifen von dem Prüfling abgenommen 
und in das Heft eingeklebt ist, so habe ich Gelegenheit, die unterbrochene 
Intelligenz- und Begabungsprüfung fortzusetzen. Wir sehen uns jetzt den 
Papierstreifen an. „Was bedeuten die Striche und Punkte, die vorhin nicht 
da waren; wie sind sie darauf gekommen?“ Der Prüfling ist mit Interesse 
dabei: Es sind ja seine Fehler auf dem Papier verzeichnet; die meisten 
kommen schnell dahinter. „Was bedeuten die 6 Felder, die auf dem Streifen 
zu sehen sind? Welche Beziehung haben sie zu den Schlitzen?“ usw. Die 
Ergebnisse dieser zweiten Besprechung schreibe ich nieder, während der 
Prüfling den zweiten Streifen auflegt, die Rolle aufschiebt, die Hand auf¬ 
legt, kurz den Versuch ein zweites und dann noch ein drittes Mal ausführt. 
Freilich muß ich meine Aufmerksamkeit dabei etwas teilen und ihn hierbei 
auch fortwährend im Auge behalten. (Fortsetzung folgt.) 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Geistige Jugendpflege durch die Jugendämter. Der geschäftsführende Aus¬ 
schuß des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins hat an das Reichsministerium 
des Innern eine Eingabe gerichtet, die sich mit dem Reichsjugendwohl¬ 
fahrtsgesetz befaßt. Es wird in ihr festgestellt, daß in dem Gesetze die 
zu seiner Durchführung unerläßliche Mitarbeit der Schule und der Lehrer¬ 
schaft nur gestreift ist, und es wird gebeten, den Einzelstaaten für ihre zu 
erlassenden landesgesetzlichen Vorschriften für die Mitwirkung der Schule be¬ 
stimmtere Fassungen zu empfehlen. Als von entscheidender Bedeutung er¬ 
achtet die Eingabe insbesondere auch den Anteil der Lehrerschaft bei der 


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Kleine Beiträge i^nd Mitteilungen 


177 


Durchführung von § 4 Ziffer 5 „Wohlfahrt der schulentlassenen Jugend*; 
sie unterbreitet darüber in einer Anlage unter der Überschrift „Geistige 
Jugendpflege durch die Jugendämter* besondere Vorschläge. Sie lauten: 

1. Ihr Gegenstand ist der ganze Jagendliche Mensch. — Den rficksichtslosen Forderangen der 
bestehenden Lebensformen, an die Jugend steht ihr eigenes Recht auf Menschentum gegenüber. 

2. a) Aufgabe der Jugendpflege ist es, der Jugend zu helfen, ihr eigenes Wesen zu empfinden 

und auszudrücken. Der heranwachsende Mensch muß durch Beobachtung und Tat sein 
Dasein als Frucht und Same der Gemeinschaft erleben. Ziel ist Weckung des Formwillens 
zur eigenen Persönlichkeit als Mitglied der Volksgemeinschaft 

b) Die Gesellschaft in großen und kleineren Formen verlangt lebendige Teilnahme, Verstehen 
des fremden Lebens, Erkenntnis der Bedeutung des eigenen Tuns: also Rücksicht und 
Förderung, im letzten Sinne Menschenliebe. 

Als wählender Staatsbürger hat der Zwanzigjährige Pflichten, die ohne geistiges Em¬ 
leben in Gemeinschaftsformen sinnlos erscheinen. Das Wirtschaftsleben fordert Pflicht¬ 
bewußtsein, Hingabe, Selbstzucht. Innerer Anteil am Kulturleben ist Grundlage eines 
gesunden Verhältnisses zu Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, das von stofflicher 
Bindung frei ist. 

3. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Jugendpflege ergibt sich daraus, daß sie aus leicht 
erkennbaren Gründen fast ausschließlich Körperkultur betrieb, die bei der Einseitigkeit vieler 
Arbeitsarten und der Lust der Jugend am freien Spiel eigener Kräfte durchaus notwendig ist. 
Aber Sport und Spiel allein können nicht den ganzen Jugendlichen Menschen wecken; ihre 
inseitige Pflege bedeutet eine neue Unterdrückung von Lebenskeimen. Die Jugendämter müssen 
deshalb vor allen Dingen ihr Augenmerk auf dip geistige Jugendpflege richten. 

4. Für die geistige Jugendpflege werden sich früher oder später besondere Einrichtungen 
als notwendig erweisen. — Führer auf diesem Wege müssen Lebensfülle und eigenen Form- 
wülen vereinen mit vollem Verständnis für die Jugend. 

5. Das Jugendamt muß bei dieser Arbeit bestrebt sein, die Jugend für sich selbst wirken 
za lassen; es soll nur belebend, werbend und erhaltend wirken, aber nicht ein eigenes Bildungs- 
Unternehmen entwickeln. Möglich ist: 

a) alle Kräfte der Jugendbildung zusammenzufassen zur Förderung der gemeinsamen Arbeit 
In äußeren Dingen ist gegenseitige Hilfe und Unterstützung denkbar, aber auch Erfahrungs¬ 
tausch wird nützlich sein. Einzelne Unternehmen werden für alle wirksam gemacht 
werden können; 

b) gemeinsame Werbung für alle Jugendverbände, vielleicht die wichtigste Aufgabe des 
Jugendamtes; 

c) Führerbesprechung aller freien Jugendverbände; 

d) Anregung für Heimatbetrachtung und Erleben; 

e) Bereitstellung des Buches. Ausstellung, Verzeichnisse nach verschiedenen Gesichtspunkten, 
Heranziehung etwaiger Volksbüchereien; 

f) Unterstützung der Bemühungen zur Stärkung der Eindrucksfähigkeit für alles Leben in 
Natur und Kunst: 

zur Gesundung des Unterhaltungswesens, Schaffen von Stimmungsganzen durch ein¬ 
fache Mittel für Volks- und Jugendfeste, 

zur Pflege des eigenen Ausdrucks in Wort und Lied, eigener Volkskunst, geboren 
aus der Freude am Auswirken, frei vom Beifall der Menge, 
zur Pflege des Jugend- und Liebhabertheaters, Volkskunst der Alten, 
zur Hebung des Vortragswesens, das zur Fragestellung und Lust am Weiterforschen 
reizen muß mit dem Ziel der Jugendhochschulgemeinden als Mutterboden der Volks¬ 
hochschulen; 

g) Kampf gegen die Verbildung, besonders gegen Schund und Kino. 

6. Alle Arbeiten in der geistigen Jugendpflege bedürfen der Zusammenfassung durch das 
Reichsministeri um des Innern. 

Die Jugendpflege in ihrer geistigen Form ist kein neues, aber ein wenig angebautes Gebiet. 
Für ihre Methodik und praktische Vervollkommnung müssen durch Zusammenstellung und 
Bekanntgabe alles wirklich Fruchtbaren und Beachtenswerten weitere Wege gezeigt werden. Von 
ihrer Entwicklung ist die Zukunft unseres Volkes wesentlich mitbestimmt. 

Zeitschrift l pädagog. Psychologie. 

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178 Kleine Beit räge und Mitteilungen 

Die Stellung der Gewerbeschttler zum Unterrichtsfache hat Dr. Julius 
Wagner in Frankfurt erstmals zum Gegenstand einer exakten Untersuchung 
gemacht. 1 ) Seine Arbeit bedeutet einen bemerkenswerten Beitrag zu den 
theoretisch wie praktisch gleichwichtigen Beliebtheitsuntersuchungen, die in 
jüngster Zeit gegen andere Fragengebiete der experimentellen Pädagogik etwas 
zurückgetreten sind, trotzdem zuletzt ihre methodische Behandlung eine be¬ 
achtliche Hohe an klarer und sicherer Durchbildung gewonnen hatte. Zu¬ 
gleich eröffnet die Wagnersche Untersuchung wertvolle Einblicke in weitere 
jugendpsychologische und auch berufspädagogische Sachverhalte, so vor allem 
in die Werthaltung und den Entwicklungsgang der Reifenden. Weiter klärt 
sie die Begriffe Interesse und Wert Die Ergebnisse in allen diesen Rich¬ 
tungen aber drängen zu pädagogischen Anwendungen. 

Versuchspersonen waren 14—17 jährige Schüler — meist der Volksschule 
entstammend — aus jeder Stufe der dreiklassigen Frankfurter Fachschule für 
Elektrotechnik und Mechanik: 14 Klassen mit 305 Schülern. Mit allen 
Sicherungen gegen Fehlerquellen wurde von ihnen gefordert, die folgende 
Fragen- und Aufgabenreihe schriftlich zu beantworten: 

1. a) Welches ist das leichteste Fach für Sie? b) Warum? c) Welches ist das schwerste 

Fach für Sie? d) Warum? 

2. a) Welches Fach halten Sie für am nützlichsten für Sie? b) Warum? 

3. Ordnen Sie die Fächer in der Reihenfolge, wie sie Ihnen am liebsten^sind; das liebste 

Fach zuerst! 

4. Womit beschäftigen Sie sich am liebsten in Ihrer freien Zeit? 

5. Ordnen Sie die Fächer in drei Gruppen: a) angenehm, b) nicht angenehm, c) gleichgültig. 

6. Möchten Sie noch andere Fächer als die gegenwärtig vorgeschriebenen in der Fachschule 

treiben und welche? 

7. Schaffen Sie sich in der freien Zeit noch weitere Belehrung in Ihrem Lieblingsfach 

und wie? 

Die allgemeineren Ergebnisse, zu denen sich die zahlreichen einzelnen 
Ermittlungen aus dem umfangreichen Materiale verdichten, beziehen sich vor 
allem auf die Begriffe: Beliebtheit,' Nützlichkeit, Leichtigkeit des Faches. Es 
hat sich ergeben, daß die darauf gerichteten Bekundungen zu sehr ver¬ 
schiedenen Rangreihen führten: bei einigen Fächern liegen die drei Urteile 
„leicht, nützlich, beliebt" näher zusammen —, bei anderen entfernen sie 
sich. Erblickt man in diesen drei Wertungen die Komponenten für das 
Interesse, so ist mit dem Wagnerschen Befunde erwiesen, daß Interesse¬ 
untersuchungen, wenn sie nur — wie es geschehen ist — die Beliebtheits¬ 
frage stellen, verfehlt, sind. 

Geordnet nach der Leichtigkeit, stellte sich mit sehr guter Übereinstimmung 
in allen Klassen das Zeichnen an die Spitze; es folgten Gescbäftsaufsatz, 
Werkkunde, Geschäftsrechnen, Gemeinschaftskunde, gewerbliches Rechnen. 
Dagegen stuften sich die Fächer nach ihrer Nützlichkeit so ab: Zeichnen, 
Werkkunde, gewerbliches Rechnen, Geschäftsrechnen, Geschäftsaufsatz, Ge¬ 
meinschaftskunde. Die Beliebtheitsreihe schließlich war: Zeichnen, Werkkunde, 
gewerbliches Rechnen, Geschäftsrechnen, Gescbäftsaufsatz, Gemeinschafts¬ 
kunde. — Beachtlich ist für das allmähliche Hineinwachsen des Schülers in 
seinen Beruf, wie das Interesse an beruflicher Weiterbildung sichtlich ansteigt, 
während das an der Fortführung der Allgemeinbildung fällt. „Am bildungs- 


*) Zeitschrift „Die Berufsschule 11 (Beltz, Langensalza) Jahrg. 1922. 


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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


179 


frohesten fQr weitergehende Allgemeinbildung ist der jüngste, für fachliche 
Weiterbildung der älteste Jahrgang* — ein Ergebnis, das wichtig ist für die 
Entscheidung über die beiden großen Bildungszüge, von denen der eine von 
der möglichst frühen Einstellung auf die engere Welt des Berufes den Weg 
ins Weitere nehmen will, der andere von der Allgemeinbildung her erst 
eine bestimmte Berufszuwendung gewinnen möchte. 


Zur psychologischen Beobachtung der Schüler im naturwissenschaftlichen 
Unterrichte legte Studienrat Chaim auf der 1. Tagung der Gruppe für 
angewandte Psychologie (Gesellschaft für experimentelle Psychologie) die 
folgenden Leitsätze'vor: Allgemeines. 

1. Die Schülerbeobachtungen sollen nicht nur, wie es jetzt meist gewünscht wird, berufs¬ 
psychologischen, sondern auch didaktischen und pädagogischen Zwecken dienen. 

2. Die gegenwärtigen höheren Schulen haben aus mehreren Gründen wenig Möglichkeiten 
für die durch jene Zwecke bestimmten Beobachtungen. 

3. In der Ausbildung der Lehrer für die höheren Schulen muß die Erwerbung psychologischer 
Kenntnisse und die Übung im psychologischen Beobachten einen sehr viel größeren Raum als 
bisher einnehmen. 

4. Die Ergebniftse von Arbeitsgemeinschaften, die das Beobachtungsmaterial sammeln und 
sichten, lassen sich für die Weiterbildung der Didaktik der Lehrfächer der höheren Schulen 
verwerten, besonders was die individualisierende Behandlung der Schüler betrifft. 

Besonderes: 

1. Die Liebhabereien der Schüler, besonders in den Mittelklassen, für gewisse naturwissen¬ 
schaftliche und technische Bestände sind nicht ohne weiteres Anzeichen und Maßstab etwaiger 
Begabung in dieser Richtung, da oft Anregungen einer starken Lehrerpersönlichkeit, Tages- 
strömungen und Nachahmung maßgebend sind. 

2. Ein richtig geführter Physikunterricht und die physikalischen Übungen, insofern jener sich 
nicht auf die Demonstration durch den Lehrer beschränkt, sondern den Schülern die Möglichkeit 
zu selbständigen Problemstellungen und Lösungen, einschließlich der technischen, gibt, und 
insofern diese sich nicht nur mit quantitativen Bestimmungen befassen (gelegentlich auch die 
biologischen Übungen), kann die Grundlage geben für die Beurteilung der Produktivität der 
Schäler, als der Fähigkeit, aus gegebenen Gegenständen neue Komplexe zu bilden oder neue 
Wege der Komplexbildung zu finden. 

8. Der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Lehrfächern sollte sich daher mehr auf die 
Förderung und Erkennung der produktiven als der auch in diesen Lehrfächern noch sehr ge¬ 
pflegten rezeptiven Tätigkeit einstellen. 

4. Die physikalischen Übungen in allen Gebieten, die biologischen besonders in Mikroskopier- 
öhungen, geben die Möglichkeit zu Urteilen über die Sinnesschärfe der Schüler. 

5. Der naturwissenschaftliche Unterricht, überwiegend Sachunterricht, verlangt von Schülern 
eine Umstellung aus dem an den Schülern stärker betriebenen Wortunterricht. Es ist zu be¬ 
obachten, daß manchen Schülern diese Umstellung etwa nach einer Sprechstunde schwer gelingt; 
es Ist ferner zu beobachten, daß gewisse Schüler den sachlichen Vorgängen ohne Anteilnahme 
gegenüberstehen und sich aus der Unfähigkeit, mit den Dingen und den Vorgängen an ihnen 
etwas Rechtes anzufangen, in das Wortlernen flüchten. 

6. Es läßt sich die Güte der im Erkennen des Wesentlichen bestehenden Denkfunktion be¬ 
urteilen aus der Art, wie miterlebte physikalische Vorgänge wiedergegeben werden. 

7. Dabei kann auch der Umfang der Aufmerksamkeit, die Vorstellungstypik, die Beobachtungs¬ 
schärfe und die Aussagetreue beurteilt werden. 

8. Die Denkfunktion der Begriffsbildung wird im physikalischen Unterricht leicht beobachtet. 

9. Die im physikalischen Unterricht leicht auftretende Notwendigkeit der Einfühlung in tech¬ 
nische Bewegungsvorgänge gestattet die Unterscheidung des motorischen Dynamikers und des 
visuellen Konstrukteurs. 

10. ln den physikalischen und biologischen Übungen und auf den Exkursionen läßt sich die 
Ausdauer, Sorgfalt, Peinlichkeit und Pünktlichkeit beurteilen. 

lt. Die sich im Erkennen und Bewerten ursächlicher Zusammenhänge äußernde Denkfunktion 
läßt sich sowohl bei der Wiedergabe dargestellter physikalischer Vorgänge wie auch besonders 
bei der Voraussage des Schlußablaufs gerade bestehender Vorgänge beurteilen. 

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12. Ein biologischer Unterricht, der das lebende Tier stark benutzt, läßt die Fähigkeit zur 
Einfühlung in das tierische Seelenleben wie auch das Mitgefühl mit den Tieren erkennen. 

18. Der erdkundliche Unterricht läßt, sofern in ihm nicht bloßes Auswendiglernen getrieben 
wird, die Raumphantasie und den Orientierungssinn erkennen; bei diesem ist besonders zu 
beachten, daß er nicht notwendig mit einem visuellen Typus verbunden sein muß. 

14. Vorsichtige und sorgfältige Vergleiche des Verhaltens und der Leistungen in den natur¬ 
wissenschaftlichen und den anderen Unterrichtsfächern können Aufschluß geben, ob den Schüler 
die mehr aufs Konkrete oder die mehr aufs Abstrakte gehende Geistestätigkeit stärker ermüdet, 
und ob hierfür mehr die starke innere Anteilnahme oder der äußere Schulzwang verantwortlich 
ist: was zu wertvollen Schlüssen über den Arbeitswillen des Schülers führen kann. 

Die Fürsorge für sprachkranke Schulkinder in Wien wurde durch den Krieg, 
nachdem sie 1914 durch Eröffnung einer offiziellen Sonder-Elementarklasse 
in ein neues Stadium getreten war, in ihrer weiteren Entwicklung gehemmt 
Nach dem Kriege hieß es auch hier neu aufbauen. Zunächst wurde durch 
den Spracharzt Dozent Dr. E. Fröschels und den Berichterstatter ein Aus¬ 
bildungskursus für Lehrer gehalten, im selben Jahre noch von Mai bis Juli 
eine Anzahl Heilkurse für Schüler vom III. Schuljahre an durchgeführt Im 
Schuljahre 1921/22 traten dann zu den Kursen auch Sonder-Elementarklassen. 
Im heurigen Schuljahre 1922/23 bestehen 7 Elementarklassen und 5 Heilkurse. 

Die Zahl der sprachkranken Schulkinder Wiens kann nur geschätzt werden, 
da eine Statistik noch nicht besteht. Wir errechnen etwa 2760 Kinder mit 
Sprachstörungen (Stottern, Stammeln, Agrammatismus, Aphasie, chronische 
Heiserkeit usw.). Von diesen aber konnten bisher im Schuljahre 1922/23 
nur 260 Kinder der Fürsorge zuteil werden. Das sind allerdings nur 9,4 °/o. 
Der Erfassung aller sprachkranken Kinder stehen leider besondere Schwierig¬ 
keiten entgegen. Jede neue Angelegenheit muß sieb gegen Mißverständnisse 
erst durchsetzen. So wird die dem Schulkinde durch sein Sprachgebrechen 
entstehende Schädigung namentlich in Elternkreisen oft nicht entsprechend 
gewürdigt. Die Eltern haben ja leider schwere wirtschaftliche Sorgen, durch 
die ihr Interesse ganz in Anspruch genommen wird. Es konnte heuer mehr¬ 
fach beobachtet werden, daß die erfolgreiche Arbeit des Klassen- oder Kursus¬ 
lehrers das Interesse in Eltern- und Kollegenkreisen weckt, und so erklärt es 
sich dann auch, daß aus einzelnen Bezirken der Stadt viel mehr sprachkranke 
Kinder gemeldet werden als aus anderen. — Das größte Hemmnis aber bildet 
die viel zu geringe Zahl der entsprechend ausgebildeten Lehrer, so daß nicht 
einmal für alle als sprachkrank gemeldeten Kinder Klassen oder Kurse eröffnet 
werden konnten. Die Zahl der diesmal erfaßten 260 Kinder ist aber noch 
nicht die Schlußzahl dieses Schuljahres, da ja aus den Kursen geheilte Kinder 
entlassen und andere vorgemerkte aufgenommen werden. — In den Elementar 
klassen befinden sich außer Kindern des ersten auch einige des zweiten Schul¬ 
jahres; dadurch ist ein „Abteilungsunterricht“ notwendig, der sich aber nicht 
als günstig erweist. — Allmonatlich findet eine Sitzung der Lehrer der Klassen 
und Kurse statt; in dieser „Arbeitsgemeinschaft“ wird die sachliche und beil¬ 
pädagogische Weiterbildung gefördert. — Besondere Förderung der Fürsorge 
. erhofft sich die Lehrerschaft durch den geplanten Logopädenkongreß, der fQr 
dieses Kalenderjahr in Wien in Aussicht genommen ist. — Die Wiener Fürsorge 
hat trotz der ungünstigen Verhältnisse einen erfreulichen Aufschwung genommen. 
Man muß die bisher erreichte Ausgestaltung dankbar anerkennen, wenn sie 
auch noch immer ein Anfang ist. Hoffentlich werden die Wiener Schul- und 
Sanitätsbehörden die weitere Ausgestaltung dieser Fürsorge trotz aller Schwierig- 


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keiten durchführen. — Bemerkenswert für die Wiener Fürsorge ist die Er¬ 
richtung der Sonder-Elementarklassen. Weiter ist die enge und dauernde 
Zusammenarbeit zwischen Arzt und Lehrer anzuerkennen. Herr Dozent 
Dr. E. Fröschels berät die Lehrer in ihrer Therapie und untersucht die Kinder 
mehrmals im Jahre. Durch seine aufopferungsvolle Tätigkeit wird die Wirksam¬ 
keit der Lehrer in Klassen und Kursen ganz bedeutend unterstützt und ge¬ 
fördert — Administrativ unterstehen die Klassen und Kurse den Schulleitungen 
und Bezirksschulinspektoren ihres Schulsprengels. Der pädagogische Leiter 
nimmt an den Untersuchungen der Kinder teil; er besucht die Klassen und 
Kurse und berät die Kollegenschaft in didaktischer, pädagogischer und thera¬ 
peutischer Richtung. 

Wien. Karl C. Rothe. 


Der erste bayerische Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer umfaßt 20 Teil¬ 
nehmer, die auf Staatskosten ein Jahr und mit vollem Gehalt beurlaubt sind. 
Der Kurs gliedert sich in drei Abteilungen: das Wintersemester 1922/23, ein 
Zwischensemester und das Sommersemester 1923. Die Kursisten sind an der 
Universität als ordentliche Studenten mit kleiner Matrikel immatrikuliert. Im 
Winterhalbjahr war ihnen zur Pflicht gemacht, folgende Vorlesungen zu be¬ 
legen: Begutachtung schwachsinniger Kinder (Prof. Gott); Psychopathologie 
des Kindesalters (Prof. Gott); allgemeine und umschriebene geistige Ausfalls¬ 
erscheinungen nach Himschädigung (Aphasie, Agnosie, Apraxie, traumatische 
Demenz) und ihre Behandlung (Prof. Isserlin); pädagogische Pathologie mit 
Vorführungen (Prof. Isserlin); allgemeine Psychiatrie (Prof. Rüdin); soziale 
Jugendfürsorge (Prof. Uffenheimer). Daneben wurden nach freier Wahl 
andere Vorlesungen besucht. Dazu traten als praktisch eingestellte Übungen: 
Pädagogisch-psychologische Untersuchungstechnik (Egenberger und Göpfert); 
Heilpädagogische Diagnostik mit Praktikum (Egenberger); Heilpädagogik, 
Phonetik, Artikulieren, Sprachheilkunde (Schubeck). Im Zwischensemester 
wirken ausschließlich Praktiker, neben den schon genannten, unter anderen 
Lehr (Werkunterricht, Einführungin diePraxis), Schwendner(Rechenstörungen), 
Fink (Schwaohsinnigenfürsorge). Außerdem wird an den Münchner Hilfs¬ 
schulen und den übrigen heilpädagogischen Anstalten der Stadt, vor allem 
auch an der Zentraltaubstummenanstalt und in den Hörklassen, hospitiert und 
praktiziert. Im Sommersemester soll in den Universitätsinstituten für Pädagogik 
(Prof. Dr. A. Fischer) und Psychologie (Prof. Dr. Becher) gearbeitet werden. 
An Universitätsvorlesungen kommen dann noch in Betracht unter anderen: 
Untersuchung schwachsinniger Kinder (Kinderklinik, Gott); Heilpädagogisches 
Kolloquium (Psychiatrische Klinik, Prof.Isserlin); Sprachentwicklung und deren 
Hemmungen (Poliklinik, Nadolecsny). — Der Kursus schließt mit einer Prüfung. 

Die Vereini g un g für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a.*M. hielt 
im letzten Jahre 9 Sitzungen ab, die eine durchschnittliche Besucherzahl von 
32 aufwiesen. Die vielgestaltige Arbeit zeigte auf: 

Aus der Pädagogik: 1. Die Arbeit in der Grundschule. 2. Der Heimat¬ 
gedanke in der Grundschule. 3. Der naturkundliche Unterricht in der 
Grundschule. 4. Der Rechenunterricht in der Grundschule. 5. Der Recht- 
schreibeunterricht in der Grundschule. Eine psychologische Grundlegung und 
methodische Ausgestaltung. 6. Die pädagogische Herbstwoche in Köln. 


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7. Frankfurt in der Geschichte der Pädagogik und Methodik. 8. Eine Buch¬ 
besprechung: H. Grupe, Natur und Unterricht; 

Aus der Psychologie: 1. Die optische Muskeltäuschung. 2. Das Verhältnis 
von intellektueller und musikalischer Begabung, nachgeprQft an einer Ober¬ 
gangsklasse n. 3. Unsere Eichung von Fabeltests; 

Eigene Arbeiten der Vereinigung: 1. H. Schüßler: Die optische Muskel¬ 
täuschung. Erschienen in der Zeitschr. f. Päd. Psychol. u. exp. Päd. Bd. 23, 
S. 25, Leipzig 1922. 2. H. Schüßler: Intelligenz und Musikalität. Ebenda 
Bd. 19, S. 401. Leipzig 1921. 3. H. Schüßler: Experiment und Lehrerurteil. 
Ebenda Bd. 23, S. 379. Leipzig 1922. 4. H. Schüßler: Die Koinstruktion in 
psychologischer Beleuchtung. Pharus, Bd. 13, S. 229. Leipzig 1922. 

Lehrgänge: Wie in früheren Jahren, so veranstaltete die Vereinigung 
auch diesmal wieder einen Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen. 
Außerdem beteiligten sich der erste Vorsitzende und der erste Schriftführer an 
verschiedenen pädagogischen Veranstaltungen der Nachbarstädte: in Koblenz, 
Offenbach, Marburg, Siegen, Gelnhausen, Darmstadt, Worms; in Homburg, 
Offenbach, Marburg, Gelnhausen. 

Lehrplanarbeit: Es wurde im letzten Vereinsjahre der Entwurf zu einem 
neuen Frankfurter Volksschullehrplan fertiggestellt, dessen Bearbeitung der 
V. f. K. vor zwei Jahren übertragen worden war. 

Den Vorstand bilden künftig: 1. Vorsitzender: Heinrich Grupe, 2. Vor¬ 
sitzender: Stadtschulrat H. Schüßler, 1. Schriftführer: Ludwig Klarmann, 
2. Schriftführer: Fritz Grebenstein, Kassenführer: Wilhelm Reinbold, Beisitzer: 
Hans Dasch. 

Das pädagogische Institut der Stadt Wien ist hervorgegangen aus dem 
„Pädagogium“, das durch mancherlei Wandlungen sich nunmehr zu der Form 
einer neuzeitlichen, erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und Lehrstitte 
entwickelt hat. Vornehmlich ist es darauf eingestellt, der beruflichen Fort¬ 
bildung der Lehrer zu dienen. Unter seinen Einrichtungen steht obenan das 
psychologisch-pädagogische Laboratorium. Es ist in sieben Räumen 
im Gebäude des Stadtschulrats untergebracht. Seine Leitung liegt in Händen 
von Prof. Dr. K. Bühler, dem Nachfolger Stöhrs an der Universität Er gedenkt 
sich mit seinen Schülern besonders vorerst der Erforschung des Schulkindes 
zuzuwenden. Im gleichen Gebäude befindet sich weiter die Versuchs- 
klassenzentrale, von der aus die sehr umfänglich angelegte Wiener Ver¬ 
suchsarbeit geregelt wird. Ferner sind dort bereits die Räume für eine 
pädagogische Zentralbücherei eingerichtet worden. Angegliedert wird ihr 
eine Beratungsstelle für die Einrichtung pädagogischer Büchereien 
und eine Jugendmusterbücherei. In den Lesezimmern sollen Ausstellungen 
von Schülerarbeiten und Lehrmitteln fortwährend wechseln. Weiter beher¬ 
bergt das Stadtschulratsgebäude auch die Lehrmittelzentrale mit ihren 
Werkstätten und Lagerräumen. Räumlich abgelegen ist aber noch die Zentral¬ 
stelle für die Lehrerfortbildung. Als weitere Abteilung des Instituts 
sind noch geplant eine Sammelstelle für kinderpsychologisches Material 
und eine Pädagogische Auskunftei für die Lehrerschaft und die Be¬ 
völkerung. — Das laufende erste Studienjahr dient vor allem zunächst den 
Einführungen in die verschiedenen Arbeitsgebiete. Es soll danach im engen 
arbeitsgemeinschaftlichen Wirken zwischen Dozenten und Hörem der Ausbau 


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Klein« Beitrüge und Mitteilungen 


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der Korse so erfolgen, daß in zwei- bis dreijährigen Vortragsreihen ein ge- 
i wisser Abschluß in den einzelnen Fächern erzielt wird. Das Vorlesungs¬ 
verzeichnis läßt erkennen, wie durchweg auf die in Österreich sehr kräftig 
betriebene Schulreform und die Umgestaltung im Wiener Schulwesen eine 
innere Beziehung genommen ist Es wirken darum neben den Wissenschaftlern 
auch praktische Schulmänner an dem Institute. Die Wiener Versuchs- und 
Hospitierklassen und die Versuchsschulen — annähernd 400 Klassen — stehen 
nicht bloß zu planmäßigen Besuchen und Übungen zur Verfügung, sondern 
auch zur Veranstaltung von didaktischen und psychologischen Versuchen. So 
ist der Rahmen des Institutes weit gespannt; ihn mit lebendigstem pädagogischen 
Leben zu erfüllen, wird es zäher, aufopferungsvoller Arbeit bei Dozenten und 
Lehrern bedürfen. 

Nachrichten: 1. Der Hamburger Lehrstuhl für Pädagogik ist nunmehr mit Prof. 
Dr. Gustav Deuchler besetzt worden. Aus dem Lehrerseminare und der Oberrealschule 
hsrvorgegangen, studierte Deuchler in Leipzig und arbeitete hier besonders im Wundtschen 
psychologischen Institute. Er war dann wissenschaftlicher Assistent im Institute für experi¬ 
mentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins. Als an der württembergischen 
Universität das erziehungswissenschaftliche Studium eingerichtet wurde, bekam er einen Ruf als 
Dozent für Pädagogik nach Tübingen. Unter seiner Leitung sind dort aus dem Pädagogischen 
Seminare, das er unter Schwierigkeiten einrichtete und ausgestaltete, bedeutsame Arbeiten von 
ihn und seinen Schülern hervorgegangen. Die Lehrerschaft Württembergs dankte ihm bei seinem 
' Weggange öffentlich, daß die Auswirkung seiner wissenschaftlichen und organisatorischen Tätig- 
j keit bis in die Lehrerbildungsanstalten, die Volksschule und die pädagogischen Ausschüsse ge¬ 
gangen sind. 

2. Der Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Braunschweig, Dr. Oswald 
Kroh, hat einen Ruf auf den Lehrstuhl der Pädagogik an der Universität Tübingen 
erhalten. Kroh, ursprünglich Volksschullehrer, studierte Mathematik und Naturwissenschaften, 
später vorwiegend Psychologie und Philosophie in München und Marburg, besonders bei Pro¬ 
fessor Jaensch. Von 1919 bis 1922 war er Assistent am Psychologischen Institut unter 
G. E. Müller. Ebenda habilitierte er sich im Sommer 1921 für Philosophie und Pädagogik und 

( leitete dann das Institut für angewandte Psychologie und psychologische Pädagogik. Michaelis 1922 
übernahm Kroh die an der Technischen Hochschule zu Braunschweig neuerrichtete planmäßige 
außerordentliche Professur für das Gesamtgebiet der Philosophie, einschließlich Psychologie und 
Pädagogik. 

3. Auf den an der Thüringischen Landesuniversität begründeten ordentlichen Lehrstuhl 
der Psychologie ist der ordentliche Professor der Psychologie an der Mannheimer Handels¬ 
hochschule Dr. W. Peters berufen worden. Peters studierte in Wien, Zürich und Leipzig 
Philosophie, Psychologie und Medizin. Er promovierte bei Wilhelm Wundt in Leipzig, um da¬ 
nach im physiologischen Institut der Wiener Universität unter Exner und im psychologischen 
Laboratorium der Münchner psychiatrischen Klinik unter Kraepelin zu arbeiten. 1909 ging 
Peters als Assistent an das psychologische Institut der Frankfurter Akademie, 1910 als Privat¬ 
dozent an die Universität Würzburg. Seit 1915 wirkte er ebendort als außerordentlicher Professor. 

4. An der Universität Köln hat sich Dr. Friedrich Schneider, Prorektor am Lehrer¬ 
seminar in Euskirchen, für Pädagogik habilitiert. Seine Habilitationsarbeit beschäftigt sich mit 
der Psychologie des Lehrerberufes; die Antrittsvorlesung behandelte das Problem der Berechtigung 
des pädagogischen und psychologischen Experimentes in der Praxis. An Vorlesungen werden 
von ihm für das Sommerhalbjahr angekündigt: Theorie und Praxis der Individualitätserfassung 
(mit Obungen); Psychologie und Ethik des Lehrerberufes. Dr. Schneider ist Schriftleiter der 
»Zeitschrift für christliche Erziehungswissenschaft und Schulpolitik 41 und Herausgeber der „Hand¬ 
bücherei der Erziehungswissenschaft 44 (Schöningh, Paderborn). Er hat bisher veröffentlicht: „Das 
Studium der Individualität” (Paderborn 1918); „Schulpraktische Psychologie* (Paderborn 1918); 
•Psychologie des Lehrerberufes“ (Frankfurt 1923). 

5. Auf den neubegründeten Lehrstuhl für Handelsschulpädagogik an der Leipziger . 
\ Handelshochschule ist Prof. v. der Aa, bisher Handelsschuldirektor in Bautzen, berufen worden 

6. tm n Nachfolger von ProL Dr. Häberlin auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik 
au der Universität Bern ist Prof. Dr. Sganzini gewählt worden. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


7. Vereinbarungen über die akademische Lehrerausbildung haben Sachsen, Thüringen, 
Anhalt, Mecklenburg, Lippe, Hamburg und Bremen am 14. Februar auf einer Tagung in Berlin 
getroffen. Sie lauten: 1. Bei der künftigen Volksschullehrerbildung findet eine Trennung von 
allgemeiner und Berufsbildung statt. Die bisherigen Sonderlehranstalten für Volksschullehrer¬ 
bildung sind abzubauen. 2. Die allgemeine Bildung erwirbt sich der Volksschullehrer durch 
den erfolgreichen Besuch einer zur Hochschulreife führenden Bildungsanstalt oder durch Ab¬ 
legung einer Prüfung mit den gleichen Zielforderungen. 3. Für die Berufsausbildung der Volks- 
schullehrer sind mindestens zwei Jahre anzusetzen. 4. Die Berufsausbildung der Volksschul¬ 
lehrer gliedert sich in einen wissenschaftlichen und in einen praktisch-pädagogischen Teil. Sie 
vollzieht sich in ihrem wissenschaftlichen Teil auf einer Hochschule (Universität, Technische 
Hochschule), in ihrem praktisch-pädagogischen Teil in einem Pädagogischen Institut, das mit 
der Hochschule verbunden wird. 5. Die wissenschaftliche Ausbildung auf der Hochschule um¬ 
faßt in erster Linie ein gründliches Studium der Erziehungswissenschaften. Im übrigen bleibt 
die Ausgestaltung des Studienplanes bis auf weiteres der Entscheidung der Länder Vorbehalten. 
6. Für die Länder, die dieser Vereinbarung über die Ausbildung der Volksschullehrer beitreten, 
gilt Freizügigkeit der Lehrerstudenten. 7. Die grundlegende praktisch-pädagogische Ausbüdung 
erfolgt in dem pädagogischen Institut. 8. Für die Durchbildung in künstlerischen und tech¬ 
nischen Fächern ist ausreichend Gelegenheit zu schaffen. Spätestens biq zur Erteilung der 
Fähigkeit zur festen Anstellung ist der Nachweis ausreichender Beherrschung dieser Fächer zu 
erbringen. Nähere Bestimmungen werden von den Ländern getroffen. 9. Die erforderlichen 
Prüfungsbestimmungen erlassen die Länder. 10. Das Zeugnis der Anstellungsfähigkeit wird von 
allen Ländern, die sich dieser Vereinbarung angeschlossen haben, anerkannt. 

8. ln Mannheim ist durch Stadtratsbeschluß die Verwendung einer Lehrkraft der Volks¬ 
schule für psychologische Aufgaben unter Anleitung des Leiters des Instituts für 
Psychologie und Pädagogik genehmigt. Der „psychologische Berater* soll a) die für die 
Mannheimer Volksschule nötigen und nützlichen Erhebungen, Schülerbeobachtungen durchführen, 
b) an der Bereitstellung der wissenschaftlichen Grundlagen zur Lösung praktisch bedeutungs¬ 
voller, psychologisch-pädagogischer Probleme mitarbeiten, c) die Lehrerschaft auf ihren Wunsch 
bei der Erkundung eigenartiger Schülerindividualitäten unterstützen und ihr in besonderen Sprech¬ 
stunden Rat und Auskunft erteilen. 

9. Das Thüringische Ministerium für Volksbildung hat bestimmt, daß die Lehrer¬ 
bildung in Zukunft an der Universität durch ein viersemestriges Studium zu erfolgen hat Deo 
Abiturienten, die auf Grund dieser Bestimmung ihr Studium an der Universität Jena aufzu¬ 
nehmen gedenken, sowie den bereits im Amte stehenden Lehrern, die noch ein Studium beab¬ 
sichtigen, erteilt der Akademisch-Pädagogische Verein zu Jena über alle äußeren und inneren 
Studienangelegenheiten Jederzeit Auskunft und wird ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. 
(Anschrift: Lehrer A. Hempel, Jena, Forstweg 39.) 

10. Ein Landesbeirat für Ju gendpflege und Jugendbewegung ist Ende November 1922 
im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt gegründet worden. Er hat die Aufgabe, das 
Ministerium in allen Fragen zu beraten, die von grundlegender Bedeutung für die Jugendpflege 
sind, sowie bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen und wichtigeren Maßnahmen der Ver¬ 
waltung sein Gutachten abzugeben. Er soll ferner die Jugendverbände bei dem Ministerium 
vertreten, Anregungen zur Förderung der Jugendpflege geben und auf ein reibungsloses Zu¬ 
sammenarbeiten der Jugendvereinigungen der verschiedenen Richtungen hinarbeiten. Auch soll 
durch den Beirat dem Ministerium die unmittelbare Fühlungnahme mit führenden Vertretern der 
Jugendpflege ermöglicht werden. 

11. Ein Montessori-Kinderhaus, zunächst als Halbtagskindergarten, ist in Wilmers¬ 
dorf eröffnet worden. Angegliedert werden noch später eine Montessori-Versuchsklasse für 
schulpflichtige Kinder. Die Einrichtung geht von den beiden deutschen Montessori-GeseU- 
schatten, unterstützt vom Jugendamt Wilmersdorf, aus. 

12. Die diesjährigen pädagogischen Ferienkurse in Jena finden vom 6 .— - 18 . August statt. 

13. DaB Institut für angewandte Psychologie in Berlin, unter der Leitung 
0. Lipmanns stehend, ist aus dem Eigentums der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬ 
logie übergegangen in den Besitz der neugegründeten Gesellschaft zur Förderung der an¬ 
gewandten Psychologie (e. V.). Es befindet sich von Ostern 1923 ab in den Räumen, die das 
Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt in der Schützenstraße 26 zur Verfügung gestellt hat- 

14. Wie alljährlich seit 1920 veranstaltet auch in diesem Jahre das Fürsorgeseminar 
der Universität Frankfurt a. M. zusammen mit der Zentrale für private Fürsorge und 
dem Berufsamt für Akademiker aller Fakultäten mit abgeschlossenem Studium einen Lehr¬ 
gang zur Einführung in die Aufgaben der Jugendwohlfahrtspflege. Die notwendige 


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Literaturbericht 


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gegenseitige Ergänzung von theoretischer Aasbildung and praktischer Erfahrung ist diesmal da¬ 
durch besonders sichergestellt, daß die eine Hälfte der Teilnehmer bereits in diesem Winter in Er¬ 
ziehungsanstalten oder Jugend-und Wohlfahrtsämtern das vorgesehene praktische Halbjahr verbracht 
hat Die neu hinzutretenden Teilnehmer werden dies Praktikum im kommenden Winter nachholen. 
Für das theoretische Halbjahr bleibt di$ in den Erfahrungen der bisherigen Kurse bewährte 
Form bestehen: beschränkte Teilnehmerzahl, um eine enge Fühlungnahme der Teilnehmenden 
untereinander und mit der Leitung zu wahren, Eingliederung der theoretischen 8tudien in das 
Univereitätssemester unter Berücksichtigung des bisherigen Bildungsganges des Einzelnen, be¬ 
sonders Ausbildung der seminaristischen Obungen usw. Den Kursus leiten: Professor 
Dr. Klumker und Dr. Polligkeit Der Lehrgang hat Mitte April begonnen. Nähere Auskunft 
erteilt die Geschäftsstelle: Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M., Stiftstraße 80. 


Literaturbericht. 

Einzelbesprechungen. 

Antonin Prandtl, Privatdozent a. d. Universität Würzburg, Einführung in die Philosophie. 
Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 127 S. 

So bunt der Begriff „Philosophie* im Sprachgebrauchs schillert, so artverschieden nach Inhalt 
und Form sind die zahlreichen gemeinverständlichen Darstellungen, die in das anlockende Gebiet 
etnführen wollen. Prandtls Schrift stellt sich nicht wie ähnliche Versuche darauf ein, das 
«philosophische* Bedürfnis nach einem geschlossenen Weltbilde und einer einheitlichen Lebens¬ 
gestaltung zu befriedigen, wie beides oft nur in einer mehr schöngeistigen Sehnsucht wurzelt, 
sondern sie stellt sich auf ausgesprochen wissenschaftliches Erkennen ein. Sie faßt damit Philo¬ 
sophie in einem engeren Sinne und leitet hin auf die Fragestellungen und deren Lösungen, die 
an der Schwelle den philosophischen Fachgelehrten bewegen. Weltanschauliche Erörterungen 
über Sinn und Wert menschlichen Daseins bleiben mit ihrem notwendigen Einschlag gläubiger 
Meinung und subjektiven Wertes ausgeschlossen. Den Weg einer solchen Einführung nimmt 
Prandtl nicht historisch, wie es andere vor ihm getan haben, die mit dem Einzuführenden 
den geschichtlichen Gang menschlichen Erkennens verfolgten. Er greift vielmehr unmittelbar 
in die Problemgruppen hinein, die einer ersten ernsten Beschäftigung mit philosophischen Ge¬ 
danken nach unserem Stande der Erkenntnis sich auftun. 

Die Frage nach dem „eigentlich Wirklichen* eröffnet den Zutritt. Wertprobleme, Geist- 
Körper, das Psychische und Physische, der Begriff des Gegenstandes, das Ich, das Wesen der 
Erkenntnis, Kausalität, Teleologie ist dann weiteres Gelände, das aufgeschlossen wird. Am 
Ende stehen wir dann vor mehr wissenschaftlich theoretischen Erörterungen über die Gewinnung 
allgemeingültiger Erkenntnis, die über Aufgabe der Wissenschaft und den Wert der menschlichen 
Erkenntnis. In der Behandlung ist erstrebt, unter Verzicht auf weitgeführte kritische Ausein¬ 
andersetzungen vorerst einmal möglichst „gedankliche Tatsachen* zu bieten. Auf Hinweise auf 
die großen Denker und ihre Werke verzichtet die Schrift in der Absicht, die Gedanklichkeit 
nicht durch solche Einschläge zu stören; vielleicht hierin allzu ängstlich. Soll noch eine Kenn¬ 
zeichnung der Richtung gegeben werden, in der die Auffassungen Prandtls im wesentlichen 
liegen, so mag der Positivismus genannt sein. — In der philosophischen Propädeutik, die neuer 
dings die höheren Schulen mit mehr Ernst betreiben als früher, mangelt es trotz reichlichen 
Angebotes an knapp gehaltenen Schriften mit wissenschaftlichem Gepräge, die verhüten, daß 
dieser Unterricht der Gefahr verwaschenen kulturpbilosophischen Redens verfällt. Wir empfehlen 
Prandtls „Einführung in die Philosophie* trotz seines gehobeneren Anspruchs an Denkschulung 
dort in die Hand der Schüler zu legen, wo man den Mut hat, den propädeutischen Unter¬ 
weisungen das feste Rückgrat wissenschaftlichen Denkens zu geben. 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Dr. Ch. de Montet, Dozent für medizinische Psychologie an der Universität Lausanne, Medi¬ 
zinische Psychologie. Leipzig 1922. Bircher. 95 S. 

„Wir möchten dazu beitragen, eine experimentelle (ärztliche) Behandlung zu begründen, die 
der experimentellen Pädagogik zur Seite stünde. Das beste wäre, wenn der Arzt seine Arbeit mit 
einem psychologisch geschulten Mitarbeiter teilen könnte, wobei letzterem die systematische Be¬ 
obachtung zufiele. Denn wir haben gesehen, daß systematische Beobachtung und Praxis nicht 
zugleich vor sich gehen können.* (S. 94) Ein Gedanke, der ähnlich im pädagogischen Gebiete 
zu der Forderung führte, neben den Lehrer den Schulpsychologen zu stellen. — Aus dem In- 


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Literaturbericht 


halte: L Verselbständigte Erlebnisse (Traum und Wirklichkeit, Wahrnehmung, Irrtum, Läge; 
Affekt und Gesamtzustand; Halluzinationen und primitives Leben; Schmerzempfindung und Ge¬ 
samtzustand) II. Das Erfassen von Zusammenhängen (Beziehung zwischen Leib und Seele). 
Leitende Grundauffassung: Leben und Bewußtseinsleben ist „durchgreifender Zusammenhang 
aller Geschehnisse, in dem allein jegliches Ereignis. seine Bedeutung findet „Eine Handlung 
ist weder durch Ursachen noch Motive bestimmt; ihre Erklärung ist immer nur aus dem Lebens¬ 
zusammenhang zu gewinnen. 1 * — Das Titelwort „Medizinische Psychologie* mag nicht bewirken, 
daß sich der Leserkreis des Buches auf Ärzte beschränkt; besonders auch die pädagogische 
Theorie und Praxis kann ihm für Förderung dankbar werden. Tr. 

Prof. Dr. Karl Lutz, Tierpsychologie. Eine Einführung in die vergleichende Psychologie. 

Leipzig 1923. Teubner. 120 S. Grundpreis 1,20 M. 

Im Rahmen eines Bändchens der Sammlung „Aus Natur- und Geisteswelt“ erfüllt Lutz im 
wesentlichen die Ansprüche, die man nach Stoffauswahl und -gestaltung an eine gemein¬ 
verständliche Darstellung erheben kann. Gegenüber ähnlichen Versuchen hält er sich vorsichtig 
von allen naiven und vorwissenschaftlichen Auffassungen fern (so z. B. in den Ausführungen 
über die rechnenden Pferde und den Hund Rolf). Nachdrücklich wird überall auf die Methoden 
tierpsychologischer Forschung hingewiesen. Der Auseinandersetzung mit umstrittenen Theorien 
ist — und dies bei dem Zwecke des Buches, das einer ersten Einführung dienen soll, 
mit allem Rechte — ausgewichen worden. Ansprechende Abbildungen sind mit gutem 
didaktischen Griff in den Text eingefügt Ein Literaturverzeichnis gibt Winke für tieferes Ein¬ 
dringen in das reizvolle Gebiet, das so leicht zum Tummelplätze von Aberglauben, IrrtÜmern und 
Täuschungen wird, wenn man es nicht mit streng wissenschaftlicher Haltung und Schulung in 
den ihm eigenen Methoden betritt Sch. 

Dr. Karl Groos, Prof, der Phil. a. d. Universität Tübingen, Das Seelenleben des Kindes. 

6. unveränderte Auflage. Berlin 1923. Reuther & Reichard. 312 S. Grundpreis 7 M. 

Das bekannte Werk, das sich in den ersten Zeiten einer neuen kinderpsychologischen For¬ 
schung bald einen festen Platz erobert hatte und ihn heute inmitten eines nunmehr vielseitigen und 
hochliegenden jugendkundlichen Schrifttums noch behauptet, ist in seinen früheren Auflagen 
von uns ausführlicher gewürdigt worden« Es mag zur Kennzeichnung der Hinweis wiederholt 
werden, daß Groos in seinem Buche nicht wie Stern, Bühler, Tumlirz, Hoffmann u. a. eine ge¬ 
schlossene Darstellung des so umfänglichen Gebietes, sondern ausgewählte Vorlesungen vorlegt 
und daß die wechselnden Abschnitte in der Betrachtungsweise ihrer Probleme verschiedene 
Richtungen einschlagen. 

Empfindlicher werden die Gegenstände der kindlichen Sprachentwicklung und der jugend¬ 
lichen Sexualität vermißt. Geschätzt aber ist an dem Buche von jeher gewesen, daß es ge¬ 
eignete Abschnitte, so den des Spielens von biologischen Fragestellungen beherrscht sein läßt, 
daß es andernorts die experimentelle Pädagogik in den Vordergrund rückt und ferner fast durch- 
gehends über die engere kinderpsychologische Betrachtung hinaus auch auf allgemeinpsychologische 
Probleme wünschenswerte Blickwendungen nimmt. Dagegen ist in die fortschreitend neuen 
Auflagen nicht hineingearbeitet worden, vras methodisch und sachlich nunmehr denn doch in 
der Lehre vom Seelenleben des Kindes der psychanalytischen Forschung als unbestritten Ge¬ 
sichertes zu danken ist, Sch. 

Theodor Ziehen, ord. Prof. a. d. Universität Halle, Das Seelenleben der Jugendlichen. 

Heft 6 der „Philosophischen und psychologischen Arbeiten“. Langensalza 1923. Beyer u. Sohn. 

90 S. 2,80 M. und Teuerungszaschlag. 

Die seelenkundliche Forschung wendet sich schon seit längerem — nachdem vorher die 
Psychologie der frühen Kindheit einseitig das Interesse auf sich gezogen hatte — mit besonderem 
Eifer der Untersuchung der Reifezeit zu. Eine ansehnliche Reihe von zusammenfassenden 
Schriften sind neben Darstellungen über einzelne Fragen des Gebietes die Früchte, ln dem engen 
äußeren Rahmen, auf den Theodor Ziehen sich in seinem Schriftchen beschränkt, kann von vorn¬ 
herein eine annähernde Vollständigkeit nicht erwartet werden, und da nach der Datierung des 
Vorworts die Niederschrift bereits inmitten 1922 abgeschlossen worden ist und das Heftchen die 
Vortragsstoffe aus früheren Jahren verarbeitet, bleiben vor allem die bedeutsamen Ergebnisse 
jüngster Untersuchungen — so die von Stern, Bühler, Tumlirz, W. Hoffmann, Jaensch — außer 
Betracht. Die Erfahrungen, auf die Ziehen sich stützt, hat er aus weit zerstreuter Literatur — 
auch weiter zurückliegender und ausländischer — in offenbar langer Sammeltätigkeit zusamfhen- 
getragen; er stützt sich auch auf wichtige eigene Befunde, darunter solche seiner nerven- 


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ärztlichen Praxis. Es leitet der frühere Mediziner selbstverständlich auch mit physiologischen 
Erörterungen, die dann weiterhin noch einfließen, die Betrachtungen ein. Desgleichen ist kenn¬ 
zeichnend, wie am gelegenen Orte kurze Streifen auf pathologische Erscheinungen vorgenommen 
werden. Und wo ein pädagogischer und soziologischer Einschlag erfolgt, wird wiederum in der 
Art der aufgegriffenen Fragen und ihrer Lösungen der ärztliche Beobachter und Gutachter 
spürbar: z. B. bei den Problemen der sexuellen Aufklärung und der Koedukation. Im Aufbau 
seines Gesamtbildes folgt Ziehen der systematischen Ordnung der seelischen Funktionen. So 
wird zuerst der Bereich der Empfindlings- und Denkvorgänge durchschritten, dann finden Ge¬ 
fühls- und Willenserscheinungen eine etwas längere Behandlung, worauf die jugendliche Ge¬ 
schlechtlichkeit, in ihrem Erwachen und ihrer Eigenart dargestellt, als besonderes Erlebnis der 
Jugendlichen — aber nicht so betont wie in der psychanalytischen Lehre — den Schluß bildet. 
Durchblickt die Schrift in diesem Aufbau die jugendliche Seele in bestimmten Begriffskategorien, 
so muß notwendig das Erstehen eines lebendigen Gesamtbildes von der werdenden Persönlich¬ 
keit darunter leiden. Worauf die neue Richtung der Gestaltpsychologie ausgeht: auf die Heraus¬ 
arbeitung der typischen Struktur des Totais, darf man nicht suchen, wenn man zu Ziehens Schrift 
greift, die ein großes Tatsachenmaterial aus verschiedensten Wissenschaftsgebieten beherrscht 
und heranzieht, aber bei dem Stande der jüngsten Literatur nicht mehr behaupten sollte: „Die 
meisten bisherigen Veröffentlichungen lassen eine umfassende Sachkenntnis vermissen.* 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 


W. Liepmann, Psychologie der Frau. Versuch einer synthetischen, sexualpsychologischen 
Entwicklungslehre in zehn Vorlesungen. Mit zwei Tafeln und 12 Textabbildungen. Zweite, 
umgearbeitete Auflage. Berlin 1922. Urban & Schwarzenberg. 322 S. Grundzahl 10,50 M. 

Die bedeutsame Schrift trägt einen irreführenden Namen; zutreffender ist ihr Untertitel. 
Im Ganzen stellt sie sich dar als eine Sexuallebre, die — weit im Pflanzen- und Tierleben aus- 
bolend — das Bereich des menschlichen Sexualismus physiologisch, psychologisch und völker¬ 
kundlich durchmißt und dabei die weibliche Geschlechtlichkeit in den Vordergrund rückt. — 
Auf die Psychologie der Frau ist dabei nur so weit Licht geworfen, als im sexuellen Ge¬ 
biete Seelisches mit Leiblichem eine unlösliche Einheit bildet Hervorgegangen aus Vorlesungen, 
Obungen und volkstümlichen Hochschulkursen des Frauenarztes, will das Buch vor allem auch 
emesexualp&dagogische Aufgabe erfüllen: es will mit werben, „daß die Heiligkeit alles Seins 
statt der Lüge in die Herzen der neuen Generation einzieht 41 „Höheres Menschentum und wahre 
Erkenntnis des Weibes hängen so eng miteinander zusammen, daß man sie nicht zu trennen 
vermag.“ — Angefügt sind dem Buch „Bekenntnisse“ aus dem Hörerkreise des Verfassers. Sie 
haben dem Pfidagogen Eindringliches zu sagen. Sch. 

Prof. Dr. Linas Bopp, Moderne Psychanalyse, katholische Beichte und Pädagogik. 
Kempten 1923. Köset 100 S. 

»Die psychanalytische Weltanschauung ist jedenfalls die Feindin des positiven Christentums 
und der christlichen Moral* (!) (S. 98). Aber Verdienste sind nicht zu verkennen: sie hat das 
pädagogische Gewissen auf eine feinere Verantwortlichkeit für die Frühkindheit geschärft, hat 
in neuer Betrachtungsweise die Bedeutung unbewußter Gegebenheiten aufgezeigt, hat weiter in 
der Lehre von der Verdrängung ein pädagogisch sehr wichtiges Gebiet erschlossen, hat schließlich 
die Heilkraft seelischer Betätigung, für die nach Aufhellung der Verwimmgsuntergründe eine 
klare Zielwirkung gegeben wird, kennengelehrt. In der vergleichenden Betrachtung zur Beichte 
ergeben sich manche übereinstimmende und unterscheidende Züge „Der religiöse Arzt findet 
in seiner Tradition alle die heilenden Vorstellungen, die erbraucht; der nichtreligiöse, moderne 
Psychotherapeut aber kommt mit seiner geistigen Heilbehandlung zunächst in eine sehr schwierige 
Situation .. .* (S 99). Es wird aber die Beiohtpädagogik die wertvollen psychologischen Ein¬ 
sichten und erzieherischen Anregungen, die von der Psychanalyse erarbeitet worden sind, für 
sich nutzbar machen müssen. — Trotzdem die Schrift in einer kirchlichen Weltanschauung, die 
grundsätzlich alle naturalistische und relativistische Betrachtungsweise ablehnt, befangen ist, darf 
ihr Bemühen nicht verkannt werden, in diesem beengenden Rahmen dem Wesen und Wirken 
psychanalytischer Theorie und Praxis gerecht zu werden. Der Verfasser hat in guter Kenner¬ 
schaft der jüngsten psychanalytischen und individualpsychologischen Literatur das Für und Wider 
scharf und ruhig herausgearbeitet und versucht, von seinem Standpunkte aus in sachlicher Aus¬ 
einandersetzung manches bisher noch nicht Entschiedene zu klären. Wir persönlich verdanken 
der Schrift trotz unserer abweichenden Grundstellung mancherlei. 

Zschopau: Paul Ficker. 


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Johannes Schrenk, Aussagepsychologie. Eine Darstellung der wichtigsten 
experimentellen Untersuchungen, ihrer Methoden, Ergebnisse und Aufgaben. 
Leipzig 1922. Quelle u. Meyer. 106 S. und 3 Bildwiedergaben« 

Die Stellung, die Schrenks trefflicher Arbeit in den zahlreichen, aber sehr weit verstreuten 
Veröffentlichungen zur Aussagepsychologie zuerkannt werden muß, kann nicht zutreffender und 
schöner in der Fassung gekennzeichnet werden, als es Gustav Deuchler in dem Geleitworte tut, 
das der Schrift vorangestellt ist. Er schreibt dort unter anderem: „In der Aussagepsychologie 
ist in den letzten Jahren ein Stillstand eingetreten, nachdem dieses Gebiet zuvor in einer großen 
Zahl von Arbeiten von den mannigfachsten Gesichtspunkten aus in Angriff genommen war. Die 
Ursachen des Stillstandes sind für den Kundigen leicht ersichtlich. Mit technisch und wissen¬ 
schaftlich einfachen Mitteln waren gewisse sinnfällige Ergebnisse von praktischer Bedeutung ge¬ 
wonnen worden, so auf dem Gebiete der Zeugenaussagen, der Suggestion, der Auffassungs- und 
Ausdrucksformen. Das sicherte den ersten Arbeiten sofort eine zahlreiche Nachfolge. Die Frage¬ 
stellungen erweiterten sich, neue traten hinzu, der Schwerpunkt des Forschungsgebietes ver¬ 
schob sich, indem an Stelle der ganzen psychologischen Fragen mehr und mehr solche der 
Anschauung*-, Denk- und Sprachpsychologie (insbesondere des Schülers) traten. Dabei zeigte 
es sich nun aber auch bald, daß die Fragen viel verwickelter waren, als man zuerst geglaubt 
hatte, und daß die Erforschung der tieferliegenden Bedingungen der Aussage nicht ohne wirk¬ 
same Arbeit und strenge methodische Schulung möglich ist. Das lähmte den Eifer in der 
Aussageforschung empfindlich. Dazu kam noch das Fehlen einer die bisherigen Ergebnisse für 
die pädagogische Psychologie sichtenden und zusammenfassenden Darstellung als zuverlässiger 
Rückblick auf das Erreichte und als klar und bestimmt schauender Ausblick auf die noch zu 
lösenden Aufgaben. Diese Lücke versucht Johannes Schrenk mit den vorliegenden Ausführungen, 
wie ich glaube, in vortrefflicher Weise zu schließen. Da er durch seine früheren Arbeiten, in 
denen er die Anregungen der Sternschen und Meumannschen Schule aufnahm und weiterbildete, 
neue Fragestellungen und neue Verfahren hinzufügte, die Aussageforschung sachlich und methodisch 
wesentlich gefördert hat, so brachte er die bestmöglichen Vorbedingungen dazu mit* 

Das umfassende, einheitliche Bild, das Schrenk von dem bedingungsreichen Gebiete aus den 
zahlreichen Einzelabhandlungen sorgfältig herausgearbeitet hat, erfreut durch eine durchsichtige 
Gliederung. Eine allgemeine Einführung macht mit Umfang, Ziel und Bedeutung der Anssage¬ 
forschung bekannt, stellt die Hauptarten des vielgestaltigen Gegenstandes heraus, gibt einen aller- 
knappesten Oberblick der geschichtlichen Entwicklung und zählt ein fast halbes Hundert 
Veröffentlichungen der einschlagenden Literatur auf. Es wird dann dargestellt, in welchen 
verschiedenen Formen die Aussageversuche ausgebildet worden sind und wie die Verarbeitung 
der Versuchsstoffe geschieht. Von den Ergebnissen legt Schrenk zuerst die bedeutsamsten 
allgemeinpsychologischen Befunde *der Aussagestatistik vor (Gesamtumfang, Zuverlässigkeit, 
Fehlerhaftigkeit, Kategorienbestand). Es schließen sich die gewonnenen differenzialpsycho¬ 
logischen Aufschlüsse an (Geschlechtsunterschiede, Entwicklungstatsachen und -gesetzmäßig* 
keiten, Begabungstypen, Aussagetypen). Eindringend wird darauf die psychologische Analyse 
des Aussagevorganges durchgeführt. (Wahmehmungs- und Auffassungsvorgang, Gedächtnis* 
beteiligung, sprachliche Wiedergabe). Damit verbunden ist eine Obersicht über die Bedingungen 
der normalen Aussage (Zwischenzeit, Aufmerksamkeit, Vorstellungstypus, Mitteilsamkeit, Interesse, 
Ehrgeiz und Wahrheitswirken). Der Suggestion ist dabei eine besondere Erörterung gewidmet 
(Begriff, Arten, experimentelle Untersuchung, Bedingungen). Den Abschluß bilden die Grund* 
züge der Aussageentwicklung und ihre Beeinflussung durch Erziehungsmaßnahmen. Einiges im 
Anhang gebotene Versuchsmaterial (Sternsche Verhörsliste, Abfrage, Beispiele von Kinder* 
aussagen über Versuchsbilder) sind willkommene Beigaben. 

Bei der Vollständigkeit, die Schrenk in seinem zusammenfassenden Überblick sonst anstrebt 
kann es verwundern, daß er der praktischen Bedeutung der Aussageforschung nur in der 
pädagogischen Richtung einigermaßen ausreichend nachgeht. Vor allem wird ungern die Er¬ 
örterung der Zeugenaussage vermißt werden, umsomehr, als die deutschen Arbeiten, so die von 
Stern, zu Anfang des Jahrhunderts von Juristischen Sachverhalten und Einstellungen aus¬ 
gegangen sind und in dieser Wendung die bedeutsamsten Auswertungen verfolgt sind. Was 
insbesondere zuletzt — u. a. durch das Verdienst des Leipzigers Max Döring — über die 
Vernehmung jugendlicher Zeugen in verschiedenen Ländern geregelt worden ist, hätte eine 
würdigende Darstellung finden müssen, unbeschadet des einheitlichen Zuges einer mehr 
methodisch theoretischen Haltung, die das Buch einnimmt. Bis auf diese Lücke aber dürfte 
Schrenk das reizvolle Gebiet der Aussageforschung annähernd vollständig durchschritten haben, 
und seine wissenschaftliche, dabei schlichte und faßliche Darstellungsweise entwickelt ein 
schönes Bild von der methodischen Durchbildung und den wichtigen gesicherten Ergebnissen, 


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die in etwa zwei Jahrzehnten eifriger Untersuchung gelungen sind. Schrenk selbst sind dabei 
durch seine aus dem Tübinger Institut unter Deuchler hervorgegangenen Arbeiten be¬ 
merkenswerte Förderungen zu danken, nicht bloß durch Nachprüfungen und Richtigstellungen, 
sondern auch dadurch, daß er die Verarbeitung der Berichte und Beschreibungen nach Kategorien 
verbesserte und durch Einführung der „Parallelversuche* 4 zu einer genaueren Analyse des Aus- 
sagevorganges und seiner Bedingungen gelangte. Es ist an der Zeit, daß aus dem Gebiete der 
pädagogischen Psychologie und experimentellen Pädagogik auch andere Fragenkreise die \n Einzel- 
ontersuchungen fleißig und ergebnisreich durchforscht sind, solche sichtende und sichernde 
Zusammenfassung erfahren möchten, wie sie Schrenk in seiner trefflichen Schrift gelungen ist. 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Suter, Intelligenz-und Begabungsprüfungen. Zürich 1922. Rascher & Cie. 180 S. 

Broschiert Fr. 6.—. 

Nach langjährigen Vorversuchen in Fabriken, Schulen, im psychologischen Institut der 
Universität und praktischen Anwendungen im Jugendamt des Kantons Zürich, bei denen es ihm 
zunächst weniger darauf ankam, ein einheitliches Material und abschließende Ergebnisse zur 
Intelligenz und Begabung mit einer einmal festgesetzten Methode zu gewinnen, als jeder ein¬ 
zelnen Aufgabe nach Möglichkeit gerecht zu werden und fortwährend die Methoden zu ver¬ 
bessern, gibt der Züricher Privatdozent Dr. Suter einen Einblick in seine Auffassungen, 
Methoden und Apparate. Mit Befriedigung erkennt man die in der experimentellen Psychologie 
verankerte klare Wissenschaftlichkeit und die im Gegensatz zu der noch vorherrschenden Ein¬ 
stellung auf Maßzahlen, Mittelwerte und Quotienten erfreuliche Einschätzung der Qualitätszensur. 
Es handelt sich nicht nur um die Bewertung sichtbarer Leistungen, sondern vor allem auch um 
Anblicke in die Bewußtseinsvorgänge, die dazu führen. Darum auch wird für alle Intelligenz- 
nod Begabungsprüfungen ausnahmslos an Stelle des Massenversuches die individuelle Prüfung 
gesetzt 

Die Intelligenz, d. h. das Erleben von Vorgestelltem und das Fortschreiten zu Zusammenhangs- 
edebnissen wird in der Erscheinung als Denken (Prämissenpaare), Phantasie (Tafeln von Rohr¬ 
schach) und Gedächtnis (zweistellige Zahlen zwischen 21 und 98) auf Spontaneität, Genauig¬ 
keit, Reichhaltigkeit und Beweglichkeit hin geprüft, wobei es auf Leistungen unter guten Be¬ 
dingungen im Zustand voller Aufmerksamkeit ankommt. Zur Erreichung dieses Zustandes 
werden wertvolle Winke für das Verhalten des Versuchsleiters angegeben. 

Die Begabung wird mehrfach an neu konstruierten Apparaten geprüft. An natürlichen 
Fähigkeiten, an denen Körper und Geist zugleich beteiligt sind und die das wesentliche Ele¬ 
ment der Begabung ausmachen, werden geprüft: die Sehschärfe nach der Tiefe (Zeißsches 
Stereoskop mit Stereomikrometeraufsatz) und nach der Seite (Metaliplatte mit zwei spaltförmigen 
Öffnungen), die Unterschiedsempfindlichkeit des Tastsinnes (Platte mit Vergleichsschlitzen), die 
Bewegungsfeinheit (Bleistiftstrich von vorgegebener Länge) und die Bewegungsgeschwindigkeit 
(Chronoskop nach Hipp). 

Der ausführlichen Publikation der psychologischen Ergebnisse der Untersuchung wird man 
mit Interesse entgegensehen. 

Zürich. Arthur Fischer. 

Max Nitzsche, Der bunte VogeL Von der Schönheit der Kinderzeichnung und ihrer Pflege. 

1. Heft: Bäume und Vögel, 2. Heft: Blumen und Schmetterlinge. Dresden-Hellerau 1921. 

0. u. R. Becker. 

Der bekannte Zeichenlehrer führt in zwei schmucken Heften seine Gedanken über das 
Wesen der Kinderzeichnung und die Pflege durch Eltern und Lehrer vor. Ausgehend von 
den freudebetonten Kritzeleien der frühen Kinderjahre stellt er die Entwicklung über Schema, 
Scheinform zur Wirklichkeitsform dar, wobei er das oft unbewußte Streben nach Rhythmus, 
Symmetrie, Raumfüllung, Perspektive und Farbgebung nachweist. Neben dem Zeichnen 
als Sprache liegt Nietzsche vor allem daran, Schönheitswerte zu wecken und fördern, Geschmack 
zu bilden und dadurch den Schüler für Kunstwerke empfänglich zu machen. Durch Selbst¬ 
tätigkeit — so heißt seine Formel — hinüber in die Welt der Schönheit! 

Das Werk gibt Anregungen fürs Elternhaus, das der Kinderzeichnung meist wenig Verständnis 
totgegenbringt, für den Grundschullehrer, dem es Möglichkeiten und Ansatzpunkte zu entwicklungs- 
gemäßem Zeichnen aufdeckt, und schließlich noch dem Zeichenlehrer der Oberstufe. Auch der 
Psychologe wird dem Buche dies und jenes danken, wenn es auch seiner Einstellung nach unter 
Jas unterrichtspraktische Schrifttum einzuordnen ist. 

Hainichen. Paul Stenzel. 


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Heinrich Scharrelmann, Bausteine für intime Pädagogik. Braunschweig 1922/23. 

Westermann. 1. Heft. 19 S. 2. Heft. 26 S. 3. Heft 16 S. Je 1000 M. 

In die Schriften führender Pädagogen ist von den Gedanken, mit denen Heinrich Scharrel¬ 
mann vor mehr als zwei Jahrzehnten mutig hervortrat, alles Wesentliche fest eingeschmolzen. 
Was heute über die Fragwürdigkeit der Lehrerfrage, über freie Unterrichtsgestaltung und anderes 
mehr aus einer „herzhaften Pädagogik“ verkündet wird, geht auf ihn zurück, mag gleichwohl 
seine Vaterschaft vielfach nicht genannt werden. Die spätere unterrichtswissenschaftliche Ge* 
Schichtsdarstellung aber wird seine Verdienste wie die anderer Schrittmacher ans Lehrerkreisen — 
wir denken z. B. an Ernst Linde — zu würdigen und herauszustellen wissen. In der Gemein¬ 
schaftsschule in Bremen ist Scharrelmann nun ein Wirkensfeld aufgetan, auf dem er unbeengt 
seine Gedanken einer Lebens- uud Kulturschule verwirklichen und weiter entwickeln kann. Die 
zwanglos erscheinenden Hefte „Bausteine für intime Pädagogik“ wollen den Ertrag literarisch 
darstellen, ln den bis jetzt erschienenen Heften steht aus seiner und seiner Mitarbeiter 
Feder manch Beachtliches und Klärendes. Wir behalten uns eine Stellungnahme vor, 
bis der Gedankenkreis noch weiter ausgebaut ist. Es liegen vorerst nur die folgenden Aus¬ 
führungen vor: „Von der Arbeitsschule zur Gemeinschaftsschule 1 * (Scharrelmann); „Unsere 
Bremer Gemeinschaftsschule“ (Riebau); „Erlebnis — Erzählkunst — Selbeterziehung“ (Specht); 
„Schulrevolution und Elternschaft“ (Riebau). Sie alle zeugen davon, wie Scbarrelmann nicht mit 
einigen matten Zugeständnissen an die neue Zeit nur ein wenig an der Schule herumreformiert, 
sondern eine „Revolution der deutschen Schule von Grund auf“ erstrebt. Gehen wir auch in 
sehr vielem keinesfalls mit ihm gleichen Schrittes, so schätzen wir ihn doch als einen ehrlichen 
und von seinem Werke begeisterten Sucher, der nicht nach großem Beispiel neuerer pädagogischer 
Propheten über alles und jedes aus der Volksschulerziehung nur gewaltig redet, sondern ans 
der eigenen Erprobung in der Wirklichkeit des pädagogischen Lebens heraus denkt und schreibt 
Freilich läßt ihn sein Glauben, daß Verstand und Vernunft nicht ausreiche, die Welt zu erfassen, 
und daß es darum gelte, in der bislang zu intellektualistischen Erziehung nun künftig den 
Kräften des Gemütes weitesten Raum zu geben, einer wissenschaftsfeindlichen Romantik ver¬ 
fallen. Zeitmode! Es klingt gewiß gewinnend, wenn er bekennt: ich will mit dem Herzen 
suchen. Aber wurzelten seine Gedanken bei aller Gefühlsergriffenheit, die echtem pädagogischen 
Tun und Denken unerläßlich ist, doch auch in wissenschaftlichem Bewußtsein, so wären die 
Darstellungen seines Wollens und Wirkens sicher oft weniger dunkel und — überheblich. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


Kurze Anzeigen. 

Dr. G. Heymans, Professor der Philosophie an der Universität Groningen, Die Gesetze und 
Elemente des wissenschaftlichen Denkens. 4. durchgesehene Auf!. Leipzig 1923. 
Barth. 440 S. Grundpreis 12 M. 

Wie bei seiner „Einführung in die Metaphysik“ darf sich der in Deutschland angesehene 
niederländische Philosoph auch bei seinem Lehrbuch der Erkenntnistheorie neuer Auflagen er¬ 
freuen. Grund des Erfolges: die didaktische Fähigkeit, unter Beschränkung auf Probleme und 
deren Lösungen, die sich auch ohne besondere philosophische Fachstudien dem wissenschaftlich 
Gebildeten nicht allzu schwierig erschließen, in das Gebiet einzuführen. Ihrem Wesen nach 
erfaßt Heymans die Erkenntnistheorie als empirische Wissenschaft, die im wesentlichen den 
Weg der Psychologie zu gehen habe. So eingestellt sieht er sich genötigt, obwohl er sonst die 
Erörterung und Widerlegung ihm entgegenstehender Anschauungen zumeist vermeidet, eine Aua- 
einandersetzung mit den Neokritizisten herbeizuführen (S. 21 ff.). Aus dem Inhalte: Die längere 
Einleitung erörtert in klarer Weise das unentbehrlich Prinzipielle; im allgemeinen Teile werden 
dann die Tatsachen des logischen Denkens hingestellt und erklärt, und ein spezieller Teil zeigt 
schließlich die erkenntnistheoretische Untersuchung am Beispiel der Mathematik und der Natur¬ 
wissenschaften. 

Ernst Adolf Bernhard, Psychische Vorgänge betrachtet als Bewegungen. Berlin 
1923. Simion. 88 S. Grundpreis 1,00 M. 

Der Verfasser glaubt in seinem Buch erstmals nachgewiesen zu haben, „daß Empfindungen, 
Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Träume, Gedächtnis, Erkennen dem Gesetz von der Erhaltung 
der Energie unterworfen sind“ und somit „mechanische Vorgänge“ darstellen. Das bedeutet, eo 
verkündet er, den Anbruch einer neuen Seelenlehre: der energetischen Psychologie, die ein« 
„technische Wissenschaft“ sein wird. Auf welcher Höhe die Beweisgänge der Schrift sich be¬ 
wegen, mag die Naivität belegen, in der sie sich mit dem Träumen schnellfertig abfindet* 


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„Wenn man beim Einschlafen eine Hand z. B. [an! die Brust oder unter den Kopf legt, dann 
müssen die durch einen solchen Druck während des Schlafes hervorgerufenen Druckkräfte als 
iußere Energien wie im wachen Zustande auf das Körperorgan einwirken und daher mechanische 
Arbeiten und Zunahme der lebendigen Kraft erzeugen; dann müssen also während des Schlafes 
Empfindungen, Empfindtutgsänderungen und Gedanken entstehen; in solchen Fällen sagt man: 
man träumt.“ 

Elsa Münch, Sexuelle Belehrung der Kinder. Langensalza'1923. Beyer u. Sö. 42 S 
Grundpreis 1,26 M. 

Nicht viel mehr als ein Bericht, wie die Verfasserin im naturgeschichtlichen Unterricht un¬ 
befangen in die Kenntnis des Befruchtungsvorganges einführt Gut, wenn es so natürlich ge¬ 
schieht wie hielt Aber in der so unheimlich breiten Literatur über die Frage der sexuellen 
Erziehung bedeutet das Heftchen nicht einen Beitrag, der durchaus gedruckt werden mußte in 
einer Zeit, in der Doktordissertationen nicht mehr erscheinen können. 

Dr. Oskar Hug, Zur Biologie der Leibesübungen. Bern 1923. Drechsel. 48 S. 
Grundpreis 1,50 M. 

Zwei gehaltvolle Vorträge. Im ersten: das Auseinandertreten der Leibesübungen in die 
Typen des Spiels, Turnens, Sports und Kampfes, zwischen denen dann die mannigfaltigsten Ver¬ 
flechtungen und Obergänge (z. B. spielerisches, turnerisches, sportliches, kämpferisches Turnen) 
und ihr hygienischer Wert aufgezeigt werden; im zweiten: die kulturgeschichtliche Entwicklung 
der Leibesübungen vom Altertum herauf bis zum englischen Sport, deutschen Turnen und 
schwedischer Gymnastik. Unberücksichtigt bleiben leider durchaus die jüngsten Richtungen einer 
ästhetisch gerichteten Körperkultur. Der psychische Einschlag, der zum Teil das unterscheidende 
Merkmal der auseinander gehaltenen Formen abgibt, wird gut herausgearbeitet, 

D. Dr. Christian Bürckstümmer, Professor an der Universität Erlangen, Das „Erlebnis* 
im Religionsunterricht Langensalza 1923. Beyer u. Sö. 66 S. Grundpreis 1,75 M. 
Nicht, wie der Titel vermuten läßt, eine psychologisch gehaltene Untersuchung, sondern 
sine kurze Oberschau über Gestaltungsfragen kirchlich gebundenen Religionsunterrichtes in der 
ausgesprochenen Konfessionsschule, mit Frömmigkeit als Ziel, Erlebnis als Weg. 

Wolfgang Kiener, Staatsbürgerliche Erziehung als Unterricht Kallmünz 1923. 
Laßleben. 68 S. Grundpreis 0,80 M. 

Die unlogische Verknüpfung der Begriffe Erziehung und Unterricht in der Titelfassung — der 
Verfasser ist offenbar aber klassischer Philologe — ist symptomatisch für die innere und äußere 
Gedankenprägung des gutgemeinten, mit pathetischer Retborik durchsetzten und auf katholisch¬ 
christlicher und pazifistischer Ethik fußenden Aufsatzes. Über Parteiegoismus, über Gemeinsinn, 
über die Frau als Staatsbürgerin, über den Geschichtsunterricht und anderes werden inmitten 
von verwaschenen weltbürgerlichen Auffassungen und Allgemeinheiten zwischendurch auch ein 
paar verständige Worte gesagt. Außer in einer Wendung des Vorworts ist von deutschem 
Wesen nirgends die Rede. Bezeichnend, daß die beigegebene, nur sachlich eingestellte Lehr* 
probe, die als Beispiel für gelegentliche staatsbürgerliche Belehrung im Geschichtsunterricht 
gelten soll, einen antiken Stoff — die Zeit von Solon bis Kleisthenes — aufgreift. Sch. 

Rudolf Hildebrand, Vom deutschen Sprachunterrichte in der Schule und von 
deutscher Erziehung und Bildung überhaupt. 16. Auflage. Leipzig 1922. Klink- 
hardt 238 S. Grundpreis 5 M. 

Dieses Buch, das unumstritten heute als ein literarisches Schatzstück von der deutschen 
Lehrerschaft lieb und wert gehalten wird — 1867 erschienen, erst 1879 in zweiter Auflage und 
1887 zum dritten Male — bedarf keiner würdigenden Empfehlung mehr. Es genügt bei ihm, 
der Pflicht der Anzeige zu genügen. Erfüllt von dem Geiste, der heute in dem Werden eines 
neuen Unterrichtslebens lebendig ist, erhebt es sich in bedeutsamer Höhe aus dem weiten Flach¬ 
land« pädagogischen Schrifttums. 

Ellriede Thurau, Die rhythmische Gymnastik in der Schule. Berlin 1922. Winckel- 
mann und Söhne. 36 S. 

Das Schriftchen führt in knappester Darstellung den Stoff an, der aus der Bildungsanstalt 
fßr rhythmische Gymnastik in Hellerau übergeführt werden könnte in das öffentliche Schulwesen. 


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Es werden genannt für die Unterstufe: Unbetontes Geben, Willensübnngen, Betontes Gehen, Tak¬ 
tieren, Schreiben von Zeitwerten, Pansen, Auftakt, Phrasierung, Unabhängigkeit»-, Atemübungen, 
Spiele; für die Mittelstufe: Realisationsketten, Raum- und Zeitmessen, Doppelte Schnelligkeit, 
Synkopen, Zwei-gegen-drei, Unabhängigkeitsübungen, Kontrapunkt, Praktischer Akzent, Doppel¬ 
thema, Atmungsübungen, Spiel-Plastik; für die Oberstufe: Rhythmische Übungen, Formenlehre, 
Improvisationen. Für Jeden dieser Stoffkreise ist kurz der methodische Aufbau gegeben. Dabei 
bleibt es unter Verzicht auf theoretische Begründung und Beschreibung der technischen Aus¬ 
führung bei einer rein lehrplanmäßigen Aufzählung, und es bietet, methodisch eingestellt, in dieser 
Beschränkung die anspruchslose Schrift auch dem Kenner des Gebietes eine kleine Handreichung 
für den Unterrichtsgebrauch. 

Karl Bernadt, Fest und Arbeit. Vom Schaffen des schlesischen Großquickbora. Habel- 
schwerdt 1922. Frankes Buchhandlung. 67 S. Grundpreis 0,70 M. 

Ein stimmungsvolles Schriftchen; uns über einige schöne Lesefreuden hinaus wertvoll, weil 
es einen willkommenen Einblick bietet in Wollen und Wirken eines Zweiges der katholischen 
Jugendbewegung — mögen wir gleichwohl ihren kirchlichen Anschauungen fernstehen. Es ist 
Liebe zur Natur, Wille zur Volksgemeinschaft und Ringen nach christlicher Lebensgestaltung, was 
die Großquickboraer in den hier vereinigten kurzen und formgepflegten Beiträgen — Betrach¬ 
tungen, Berichten, künstlerischen Gaben — behandeln. Mit dem romantischen Zuge und der 
idealisierenden Einstellung für den Jugendkundler psychologisch wichtig. Wer das Ganze der 
deutschen Jugendbewegung erfassen will, darf jene Vereinigungen, die anspruchslos, be¬ 
scheidener und oft öffentlichkeitsscheu im Stillen ihre vielleicht etwas altmodischen Wege 
gehen, nicht übersehen. 

Studienrat Emil Zeißig, Vorbereitung auf den Unterricht. Mit Erörterungen von 
Fragen des Lehrplans, der Lehrmethode und der Lehrerpersönlichkeit 2., erweiterte Auflage, 
Langensalza 1922. Beyer u. Sö. Grundpreis 4,40 M. 

Seminarmethodik bekannten Stiles. Mit viel didaktischen Handgriffen für die Stoffzurichtung 
Soll in neuem pädagogischen Geiste der unterrichtende Lehrer aber weniger Bearbeiter des 
Stoffes und des Schülers 6ein, als vielmehr Anreger und Pfleger des kindlichen eigentätigeo 
Schaffens, dann muß seine Vorbereitung sich viel stärker in psychologischen Erwägungen 
bewegen. Immerhin mag Zeißigs Anleitung für die didaktischen Radikalsten, die den Unter- 
* rieht lediglich auf Laune und Stimmung der Schüler, auf die Gunst der zufälligen Lage und auf 
die Eingebung des sich rein künstlerisch gebärdenden Lehrers stellen, zur Schärfung ihres Form¬ 
gewissens gut und nützlich zu lesen sein. 

J. Tews, Elternabende und Elternräte. Freie und gesetzlich geordnete Mitarbeit der 
Eltern an der Schulerziebung. 5. AufL Langensalza 1922. Beyer u. Sö. 50 S. Grundpreis 1,60 M. 

Seit das Schriftchen erstmals erschienen ist, hat sich der Gedanke, daß die Schule nicht 
nur eine Angelegenheit der Lehrer sei, sondern auch zur Eltern- und Volkssache werden müsse, 
durchgesetzt und verwirklicht Tews bietet das Grundsätzliche. Für die praktische Gestaltung 
sind von anderer Seite unterdessen auf Grund der Erfahrungen — sie waren in der ersten Zeit 
nicht immer ermutigend — eingehendere Gedanken, Vorschläge, Anregungen, Bilder geboten 
worden. Dabei hat man bald erkannt, daß Elternabende und Elternräte allein nicht die große 
innerliche Erziehungsgemeinschaft zwischen Haus und Schule herzustellen vermögen. Wirksamer 
ist unter anderem offensichtlich der persönlichere Verkehr in den Unterrichtsbesuchen der Eltern 
und Schulsprechstunden der Klassenlehrer. 

Dr. Anna Siemsen, Erziehung und Gemeinschaftsgeist Stuttgart 1922. Moritz. 

Im Gedankenkreise der entschiedenen Schulreformer sich bewegend. Aufdeckung von Man¬ 
geln des überlieferten Erziehungswesens. Wegweisung zu pädagogischer Erneuerung. Mit Wärme 
geschrieben. Aber durch politische Einstellung des pädagogischen Denkens einseitig. Inhalt: 
Erziehung und Gesellschaft; Erziehung und Wirtschaft; Erziehung und Kirche; Erziehung und 
Staat; Was heißt Gemeinschaft und was ist Erziehung zur Gemeinschaft?; Kinder unter sich; 
Kind und Umwelt; Kind und Erzieher; Erziehung zur Gemeinschaft 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Das Problem der psychischen Strukturen. 

Von Julius Wagner. 

I. 

i 

v, Beim Verfolg einer Reihe namhafter psychologischer Veröffentlichungen 
der letzten Jahre will es so scheinen, als ob wir an einem Wendepunkt der 
Einstellung zu den Problemen des Psychischen stehen. Die psychologische 
Forschung der letzten fünfzig Jahre hat ein gewaltiges Tatsachenmaterial 
tusammengetragen und ist erfolgreich bemüht, in den gesetzmäßigen Zu¬ 
sammenhang der seelischen Teilfunktionen einzudringen. Hierbei ent¬ 
spricht dem naturwissenschaftlichen, experimentellen Rüstzeug der modernen 
-Psychologie die wissenschaftstheoretische Voraussetzung: Aufbau des 
Seelischen aus Elementen. Analyse und Synthese sind die beiden 
Forschungsrichtungen. Atomismus ist das Grundgepräge der seitherigen 
Forschung. Nicht daß damit behauptet sein soll, daß das Bewußtsein der 
Unzulänglichkeit des Aufbaues des Psychischen aus Elementen vollkommen 
.Abhanden gekommen sei. Im Gegenteil ist oft auch von der atomistisch 
verfahrenden Psychologie darauf hingewiesen worden, daß, um z. B. in der 
Terminologie Wundts zu reden, sich das psychische Gebilde nicht restlos 
aus der Summe seiner Elemente aufbauen lasse, daß ein Prinzip der 
^schöpferischen Synthese" bestehe, daß die Isolierung der Elemente 
mir unter Abstraktionen möglich ist. Es soll die Bedeutung dieser Art 
Psychologie durchaus nicht verkannt werden. Die nach naturwissenschaft¬ 
lichen Methoden arbeitende Seelenforschung ist groß geworden, hat befruch¬ 
tend auf andere Wissenschaften gewirkt und in mehreren Kulturgebieten 
erfolgreiche Anwendung gefunden. Auch für die Pädagogik hat sie ihre 
Bedeutung erwiesen. Und doch wird gerade eine pädagogische 
Psychologie, die uns bis heute nur erst in ihrer Problematik vorschwebt — 
denn pädagogische Psychologie ist durchaus nicht bloß angewandte ex¬ 
perimentelle Psychologie —, weit über jene naturwissenschaftliche, atomi- 
stische Psychologie hinausgreifen müssen. 

Dem Aufbau der pädagogischen Seelenlehre kommt ein Umschwung in 
der Einstellung zu den psychologischen Problemen zu statten. Schaut 
die alte Forschung von unten, von den Elementen, in das Wechselspiel 
'4er Funktionen, so bemüht sich eine neue Richtung von oben herab, 
yjam Ganzen ausgehend, in die psychischen Prozesse zu schauen. Es ist 
der Begriff der Gestaltsqualität, der immer stärker betont wird und eine 
Psychologie der Gestalten aufzubauen versucht. Sie begegnet sich mit einer 
faderen, die mit ähnlicher Einstellung, wenn auch auf Grund ganz anderer 
Foraussetzung, an die psychischen Probleme heran tritt; es ist die geistes¬ 
wissenschaftliche Psychologie. Auch ihr ist der Aufbau des Seelischen 
Son unten aus Elementen durch das Ausgehn von der psychischen Gesamt- 
||$ruktur ersetzt. Strukturpsychologie hat sie Spranger bezeichnet, dem 

- Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 13 

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wir in seinen „Lebensformen“ einen geistreichen, wertvollen Versuch einer 
Strukturpsychologie verdanken. Nicht daß sich der Begriff der Struktur mit dem 
der Gestaltsqualität deckt, doch ist ihre innere Verwandtschaft unverkennbar: 
Das Abrücken von der atomisierenden Seelenanalyse. WilldiePsy- 
chologie der Gestaltsqualität durchaus exakt im Sinne naturwissenschaftlicher 
Forschung bleiben, so ist die Strukturpsychologie geisteswissenschaftlich ge¬ 
richtet. Das bestimmt ihren Forschungsinhalt. Es sind die im Persönlichkeits¬ 
komplex zutage tretenden geistigen Bindungen des Individuums. Für die Päda¬ 
gogik muß eine auf die Totalität des Individuums eingestellte Strukturanalyse 
— nicht Elementaranalyse — viel fruchtbarer und zum Aufbau einer besonderen 
pädagogischen Psychologie unbedingt nötig erscheinen. Besonders das In¬ 
dividualproblem, das in der pädagogischen Psychologie im Mittelpunkte 
steht in Rücksicht sowohl' auf den Schüler, der erzogen werden soll, als auch 
auf den Lehrer, der durch seine Persönlichkeit und vermittels der Bildungs¬ 
güter auf den Schüler einwirkt, kann erfolgreich nur durch eine strukturelle 
Betrachtung der Persönlichkeit gelöst werden. 

Was nützt der pädagogischen Psychologie die Kenntnis einer noch so großen 
Zahl elementarer Anlagedispositionen, selbst wenn wir korrelativ die Ab¬ 
hängigkeit derselben untereinander nach den Methoden der Korrelations¬ 
forschung feststellen, wenn wir auf dem Wege des Aufbaues des Seelischen 
aus Elementen den tieferen Kern der Persönlichkeit nicht treffen, da wir 
ihn nicht treffen können, weil das Individuum kein Aggregat von Elementen, 
sondern eine Struktur darstellt mit mannigfaltiger und doch einheitlicher 
Totalität. Wir versuchen in der Psychographie ein möglichst vollständiges 
Bild des Individuums zu entwerfen, verfügen auch über einige Kenntnisse 
des Wechselverhältnisses verschiedener Teilfunktionen, aber die eigentliche 
personale Lebensart ist nicht aus analytisch gewonnenen Elementen 
synthetisch aufzubauen. Es soll damit keineswegs der psychologische Nutzen 
und die praktische Verwendbarkeit solcher psychographischen Untersuchungen 
überhaupt bestritten werden, sondern nur auf die Grenzen der Leistungs¬ 
fähigkeit dieser Forschungen soll aufmerksam gemacht sein. Stelle ich 
das Problem nach der Eigenschaft der Elemente und ihrer korrelativen 
Beziehung, dann ist die Psychographie wohl berechtigt. Frage ich aber 
nach der Wesensstruktur, dann muß die Psychologie der Elemente versagen, 
da Strukturelles nicht aus isolierten psychischen Elementen aufgebaut werden 
kann. Nur beim psychologischen Mechanismus wäre das möglich. 
Solche auf das Problem des Elementes eingeengten Fragen liegen cum grano 
salis in den psychotechnischen Untersuchungen niederer, manueller Berufe 
vor. Die Beanlagung auf sensomotorischem Gebiet bedeutet für die Psycho- 
technik einen relativ einfachen Komplex, relativ einfach gemessen an den 
höheren Funktionen des Geisteslebens. Und selbst diese mehr peripher 
gelagerten psychophysischen Akte des Sensomotorischen sind in Wirklichkeit 
keine Elementaggregate, sondern gleichfalls Strukturen. 

II. 

Das folgende Bild soll uns den Unterschied der beiden Richtungen der 
Psychologie verdeutlichen. In der Psychologie der Elemente bedeutet 
das Element den kleinsten Baustein, den die Analyse ergibt. Es unter- ■ 
scheidet sich qualitativ von allen anderen. So sind die Empfindungen von 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


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den Gefühlen durch qualitative Andersartigkeit getrennt, und in der Klasse 
der Empfindungseieinente unterscheiden wir weiter nach den verschiedenen 
Sinnesgebieten, und innerhalb dieser dringt die Analyse weiter vor. So 
lösen wir die Gesichtsempfindungen in Farben auf und unterscheiden an 
diesen wieder Ton, Helligkeit und Sättigung. In der Psychologie der Elemente 
herrscht das Interesse an begrifflicher Absonderung der Teile vor. Das 
Element erhält Verselbständigung im hohen Maße, so daß auf die Analyse 
eine Synthese des Komplexes folgen kann in ähnlicher Weise, wie der Bau¬ 
handwerker aus den einzelnen Bausteinen das Gebäude errichtet. Das 
Element ist der Baustein des psychischen Gebildes. Der Baustein bleibt 
als solcher, eiperlei ob er vor dem Bau regellos aufgeschichtet auf der Bau¬ 
stelle liegt, beim Bauen in einen Schichtverband gefügt, oder beim Abbruch 
des Gebäudes achtlos zur Seite geworfen wird. Kommt nun dem psychischen 
Element eine solche Selbständigkeit zu? Mit anderen Worten: haben wir es 
im Bewußtseinsvorgang mit einem Aggregat zu tun, in dem das Prinzip der 
Addition herrscht im Sinne einer Anhäufung oder auch Aneinanderreihung 
von Einzelnem, Besonderem, oder tritt hier zum Element noch etwas wesent¬ 
lich Neues? Es ist oben schon darauf hingewiesen, daß selbst in der 
Psychologie der Elemente das Bewußtsein lebt, daß der Verlauf des Seelischen 
nicht restlos aus den Elementen erklärt werden kann, daß vielmehr aus dem 
Beisammensein der Teile etwas Eigenartiges hinzukommt. Das gilt ja bereits 
schon für die chemischen Verbindungen, die gleichfalls in ihrem Merkmals- 
bestand keine Addition ihrer konstifahrenden Stoffe darstellen. Jenes 
Eigenartige, Neue, das im Verband der Elemente zu den Eigenschaften der 
Konstituenten tritt, ist das strukturelle Moment. Wie ein Bau mehr als 
bloßes Aggregat von Bausteinen ist, diese vielmehr, nach teleologischen 
Prinzipien verwandt, sich der Idee der Architektur fügen, so hat neben die 
Betrachtungsweise nach Art der Psychologie der Elemente eine besondere 
Psychologie der Struktur zu treten. Die erstere kann, wie wir weiter 
unten ausführen, infolge ihrer wissenschaftstheoretischen Einstellung diese 
Strukturbetrachtung nicht leisten. Die Aufgabe fällt aus ihrem Rahmen als 
heterogen heraus und muß einer besonderen Strukturpsychologie Vorbehalten 
bleiben. 

Uns erscheint sie nach zwei Richtungen möglich. Einmal in der Weise 
des Ausgehens von der Gestaltsqualität und zum anderen als geisteswissen¬ 
schaftliche Psychologie. Das Verhältnis beider läßt sich so bestimmen, daß 
jene das Strukturproblem in Anlehnung an die experimentellen Verfahrungs- 
weisen, diese aber im Anschluß an die Methoden der Geisteswissenschaften 
die psychologischen Probleme zu lösen versucht. Beide Richtungen sind 
bereits in der Literatur vertreten. Für die erste wäre hinzuweisen auf die 
Untersuchungen der Gestaltsqualitäten besonders auf dem Gebiete der Gesichts¬ 
und Gehörswahmehmungen (räumliche Gestalt, Bewegung und Rhythmus). 
Für diese wäre aufmerksam zu machen auf die Darstellungen im Gebiete 
der Charakterologie. Von den den Pädagogen besonders interessierenden 
Werken nennen wir E. Sprangers 1 ) Lebensformen an erster Stelle. Die 
wiederholten Auflagen, die das Buch in kurzer Zeit erfahren hat, lassen 
seine Bedeutung ohne weiteres erkennen. Sprangers Lebensformen gehören 


') E. Spranger, Lebensformen. Halle, 3. Aufl. 1922. 


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zu dem Wertvollsten auf diesem Gebiete. Der Verfasser tritt stark für eine 
besondere Strukturpsychologie ein und liefert in den Lebensformen einen 
geistreichen Lösungsversuch des psychologischen Strukturproblems. Auch 
Kerschensteiners 1 ) beide Versuche in den Schriften: „Grundaxiom des 
Bildungsprozesses“ und die „Seele des Erziehers“ gehören hierher. In ersterem 
stellt er in Anlehnung an zwei polare seelische Verhaltungsweisen, die kon¬ 
templative und die aktive, zwölf Strukturen auf und bringt sie in einen 
theoretisch interessanten und praktisch wertvollen Zusammenhang mit der 
Theorie des Bildungsprozesses. In der „Seele des Erziehers“ gibt er eine 
Strukturanalyse der Lehrerpersönlichkeit Als wertvoll erscheinen mir ferner 
die Ausführungen Grunewalds in seiner Pädagogischen Psychologie. End¬ 
lich möchte Schreiber dieser Zeilen auf einen eigenen Versuch auf wert¬ 
theoretischer Grundlage in seinem demnächst erscheinenden Werk: Kultur¬ 
pädagogische Wertlehre, Untersuchungen und Betrachtungen zur Theorie 
pädagogischer Werte als Grundlage der Kulturpädagogik hinweisen. Ferner 
sei hingewiesen auf W. Sterns Personalismus, der das Strukturproblem durch 
seine philosophischen und psychologischen Arbeiten in fruchtbarer Weise 
vertiefte. Der Personalismus verspricht gerade für die pädagogischen Konse¬ 
quenzen des Strukturproblems wertvoll zu werden. 2 ) 

Gerade für die pädagogische Psychologie gewinnt das Strukturproblem 
hervorragende Bedeutung. Wir verweisen hier auf die wertvollen Aus¬ 
führungen Kerschensteiners in seiner Schrift „Grundaxiom der Bildung“. Wir 
wenden uns nun der Frage nach ger Bedeutung der psychischen Strukturen 
zu. Die Struktur wollen wir definieren als einen psychischen Funk¬ 
tionszusammenhang. Damit stellt sich die Strukturpsychologie ganz auf 
seelische Leistungen ein. Nur aus diesen allein können wir bekanntlich auf 
das geistige Innere einer Persönlichkeit Schlüsse ziehen. Es erscheint dann 
das Seelische nicht aufgebaut aus isolierten Elementen, sondern eben jener 
Zusammenhang von Funktionen, das Verschränktsein derLeistungs- 
dispositionen ist das Wesentliche für die Betrachtung der Struk¬ 
turpsychologie. Dadurch erhalten wir auch den Grundcharakter alles 
Geistigen als einer Aktivität, vollkommen frei von substanziellen Akziden- 
tien. Das Seelische erscheint uns als reine Aktivität. In der Struktur der 
einzelnen Seele liegt deren Architektur. Wir würden sogar diesen Begriff 
als passender finden und deshalb von der Architektur der Seele reden, 
wenn ihm nicht der Beigeschmack des Beharrenden, des Starren.anhaften würde. 

Es ergibt sich nun die Frage, kann bei dieser Auffassung denn überhaupt 
noch von einer bestimmt charakterisierten, vom Einzelgeschehen, das doch 
sehr wechselnd ist, unabhängigen Eigenart der Einzelseele gesprochen werden, 
da doch der Leistungszusammenhang ein stets anderer ist? Die Frage ist 
berechtigt und veranlaßt uns zu weiteren Ausführungen. Es bedarf die 
Definition der Struktur als Funktionszusammenhang einer näheren Bestimmung. 
In den tausenden von seelischen Akten, die wir täglich vollziehen, treten 
uns mannigfache Funktionszusammenhänge entgegen. Sinnliche Struktur- 


x ) G. Kerschensteine r, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen 
für die Schulorganisation. Berlin 1917. Derselbe, Die Seele des Erziehers und das Problem der 
Lehrerbildung. Leipzig 1921. 

2 ) In Sterns Personalismus erblicken wir einen wertvollen Versuch, die Zersplitterung der 
pädagogischen Richtungen in einer Synthese zusammenzufassen. 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


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gruppen mischen sich mit intellektuellen, emotionalen, volitionalen. Wenn 
wir denken, fohlen und handeln, so denkt, fühlt und handelt unsere ganze 
seelische Vergangenheit mit. Das psychische Erlebnis entsteht auf der Tota¬ 
lität des Seelischen; es iBt getragen vom Gesamtbewußtsein. Der einzelne 
psychische Akt ist darum etwas Einzigartiges, etwas Einmaliges, der genau 
in gleicher Weise nicht wiederholt werden kann. Das gilt besonders für 
die höheren geistigen Akte. Wie weit wir bei der Wiederholung derselben 
Akte unter den vereinfachten Bedingungen des psychologischen Experimentes 
von einer Gleichartigkeit des Vollzugs der Akte reden können, steht hier 
nicht zur Diskussion. Für die strukturelle Betrachtungsweise kommt die 
isolierende Bedingung der gekünstelten Versuchssituation nicht in Frage, da 
die Versuchsbedingung schon durch jene Isolierung wesentlicher Teile die 
Struktur zerstört. Wie wollen wir nun aus der Einzigartigkeit der psychischen 
Akte den durchgehend konstanten Grundcharakter der Einzelpsyche her¬ 
leiten? Denn wenn wir von seelischen Strukturen reden, denken wir nicht 
nur an die Struktur des einzelnen Aktes, sondern vor allen Dingen auch an 
die seelische Gesamtstruktur als charakteristische Wesensart des Menschen. 
Das führt zunächst zur Unterscheidung von Elementarstrukturen und 
Qesamtstrukturen niederer Ordnung. Jene umfassen das strukturelle 
Moment des einzelnen Aktes, diese aber greifen über mehrere Elementar¬ 
strukturen hinüber. Bei aller Einzigartigkeit der Akte gehen Strukturelemente 
eines Aktes in die anderer als Konstituenten über. Hierauf beruht das indi¬ 
viduelle Grundgepräge der Persönlichkeiten. Was in den verschiedenen 
Temperamenten sich als relativ konstante Struktureigentümlichkeit der Einzel¬ 
wesen verrät, beruht auf der Wiederkehr gewisser Strukturelemente in den 
mannigfachen Bewußtseinsvorgängen. So ist der Grad der Reagibilität, der 
Impressionabilität, der-Spontaneität, der Passivität, der Objektivität oder Sub¬ 
jektivität u. dgl., den wir als charakteristisch für die Gesamtstruktur der 
Einzelseele finden, aus der Wiederkehr gewisser Strukturelemente in der 
Fülle der Einzelakte zurückzuführen. Das Problem der Charakterologie erfährt 
durch die strukturelle Betrachtungsweise eine viel fruchtbarere Vertiefung, 
al6 das nach elementarischer der Fall ist. Die Charakterisierung einer Person 
nach ihren Struktureigentümlichkeiten trifft den Kern der Wesenheit tiefer 
als die bloße Angabe von isolierten Elementen. 

Wir unterschieden oben Elementar- und Gesamtstrukturen niederer Ordnung. 
Unter Totalstruktur oder Gesamtstruktur höherer Ordnung wollen wir 
die Gesamtheit aller Strukturen — der Elementar- und Gesamtstrukturen 
niederer Ordnung — eines Individuums verstehen. Die Totalstruktur um¬ 
grenzt das Problem der Persönlichkeit Der Begriff der Elementar- 
Btruktur deckt sich mit dem Begriff des psychologischen Typus der differen¬ 
tiellen Psychologie; Vorstellungs-, Gedächtnis-Willenstypen, Anschauungs- 
Denktypen usw. gehören zu den Elementarstrukturen. In ihnen handelt es 
sich um -relativ einfache Akte. Die Gesamtstrukturen niederer Ordnung 
greifen weiter. Zu ihnen möchte ich die Temperamente rechnen. Was in 
ihnen sich z. B. an Reagibilität verrät, vollzieht sich in verschiedenen psy¬ 
chischen Sphären gleichzeitig: Ablauf von Willenshandlungen, Impressiona- 
hilität, Motivationskraft der Gefühle, Kontemplation u. dgl. 

Hat die Gesamtstruktur, niederer Ordnung Beziehung zum Temperament, 
so weist die Gesamtstruktur höherer Ordnung oder die Totalstruktur auf die 


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Gesamtpersönlichkeit hin. An ihr hängt besonders das praktische Interesse 
der Menschenbeurteilung und -behandlung. In dem Maße, wie das Hinein* 
versetzen in eine Persönlichkeit gelingt, verschaffen wir uns Einblicke in 
deren Totalstruktur. In seinen „Lebensformen“ sind von Spranger sechs solcher 
Totalstrukturen entwickelt worden: der theoretische, der ökonomische, der 
ästhetische, der soziale, der politische und der religiöse Mensch, ln 
diesen Strukturen liegen durchweg Wertstrukturen vor. In jeder Lebensform 
erhält die Lagerung der Anlagen ihren charakteristischen Akzent durch das 
Prävalieren bestimmter Wertgebiete. Die Persönlichkeit läßt sich zwar gleich¬ 
zeitig von mehreren Werten beeinflussen, aber ein besonderer Spitzenwert 
krönt die Architektur der psychischen Totalstruktur. Für den religiösen 
Menschen ist das Heilige, für den theoretischen der logische Wahrheitswert, 
für den Ästheten der Wert des Schönen usw. in erster Linie verpflichtend. 
Die Zugrundelegung der Werte als Einteilungsprinzip der Strukturen gilt mir 
als das wichtigste Klassifizierungsmerkmal der Strukturen. Man kann zwar 
noch von anderen Gesichtspunkten aus — z. B. von psychologischen Begriffen 
her — eine Einteilung und Beschreibung der Strukturen vornehmen. Wenn 
uns die Welt der Werte aber als Ausgangspunkt für Einteilung und Be¬ 
schreibung wichtiger als die psychologischen Kategorien ist, liegt der Grund 
im Folgenden. In der Stellung zu den verschiedenen Wertklassen 
offenbart sich am tiefsten des Menschen Sein und Wesen. Die 
Erkenntnis, welche Werte er anerkennt oder ablehnt, ist für die Charak¬ 
terisierung der Menschen viel wichtiger als Einblick in ihre Struktur, die 
nach rein psychologischen Gesichtspunkten aufgezeigt und beschrieben ist 
Werte sind die Motive des Handelns; handelnd aber hat sich das Individuum 
mit den Forderungen der Natur und der Gesellschaft auseinander zu setzen. 
Aus seinem Handeln — den Begriff hier im weitesten Sinne genommen — 
kann ich am besten auf den strukturellen Gehalt seines Ichs schließen. Die 
Handlung ist der tiefste Reflex der Seele; das Werk spricht am besten für 
die Qualitäten seines Meisters. 

Wegen der Bedeutung des Wertbegriffs für das Strukturproblem erscheint 
es mir als wichtige Aufgabe der Strukturpsychologie, uns zunächst einmal 
Einblick in die reinen Wertstrukturen zu verschaffen. Sprangers Lebens¬ 
formen mögen die tatsächlich im Lehen vorkommenden wichtigsten Struktur¬ 
möglichkeiten erschöpfen. Daß es zwischen jenen sechs Formen noch Über¬ 
gangsstufen als Mischformen gibt, wird ohne weiteres zugestanden. Welche 
Klassifikation könnte überhaupt auf diesem Gebiete erschöpfend sein wollen! 
Mischformen der verschiedenen Wertklassen bieten zudem auch Sprangers 
Lebensformen. Es mag überhaupt keine psychische Struktur gefunden werden, 
die nicht mehrere der geltenden Wertgebiete in sich vereint: Das Heilige, 
Wahre, Gute, Schöne, Nützliche, Angenehme. Aus theoretischen Gründen 
erscheint es mir darum zweckmäßig, einmal solche reine Werttypen als 
Strukturen darzustellen. Es kämen da alle sechs Wertklassen ajs Grund¬ 
motive für die Strukturen in Frage. - Wir hätten dann folgende reine Wert¬ 
strukturen zu analysieren: den religiösen, den ethischen, den logischen, 
den ästhetischen, den praktischen und den sinnlichen Menschen. Eine 
Aufgabe, die an dieser Stelle im Rahmen des Aufsatzes nicht gelöst werden 
kann und einer späteren Veröffentlichung Vorbehalten bleibt. Den Vorzug 
dieser reinen Werttypen jenen Sprangerschen sechs Formen gegenüber 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


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erblicke ich in dem reinen Einteilungsprinzip nach Wertgesichtspunkten der 
einzelnen Wertklassen. Solange wir auf dem Gebiete der Strukturpsychologie 
im Anfang stehen, dürfte sich schon aus methodischen Gründen das Zurück* 
greifen auf jede, einzeln^ Wertklasse als Strukturprinzip empfehlen. Es wird 
auch eine wichtige Aufgabe 0er pädagogischen Psychologie sein, an diesem 
Ausbau mitzuhelfen. Die Pädagogik wird den größten Nutzen davon haben. 

Neben den reinen Wertstrukturen unterscheiden wir nach psychologischen 
Prinzipien aufgebaute Strukturen. Solche Versuche liegen in der weiten 
Literatur überdieTemperamente vor. K a n t in seiner Anthropologie, H e r b a r t 
in dem Briefe über die Anwendung' der Psychologie auf die Pädagogik, 
Bahnsen in den Beiträgen zur Charakterologie (1867), Meumann in In¬ 
telligenz und Wille, ferner Lipmann, Wundt, Ebbinghaus, Elsenhans 
u. a. haben Beiträge geliefert. Zu den Strukturversuchen gehören weiter die 
Darstellungen der Charakterologie und des Individualitätsproblems 
überhaupt. Eine große Anzahl Schriften liegt vor. Die meisten kranken 
leider an dem Fehler, daß der Autor automatisch das Individuum aus Elementen 
aufzubauen versucht. Es sind dann keine eigentlichen strukturellen, sondern 
elementarische Analysen. Für den interessierten Leser seien unten weitere 
Werke, die unser Problem berühren, angegeben. Ihr Wert ist recht ver¬ 
schieden i). 

Die charakterologischen Untersuchungen sind indessen meist keine reinen 
psychologischen Darstellungen der Strukturen. In die psychologische Be¬ 
trachtung mischt sich ein ethisches Moment. So entsteht neben den reinen 
Strukturen auf der Grundlage der Werte oder der Psychologie eine dritte 
Form, die es mit einer Mischung der Strukturprinzipien zu tun hat. Als 
Beispiel greife ich Kerschensteiners Versuch 2 ) heraus. Er unterscheidet 
auf Grund psychologischer Begriffe einen kontemplativen und einen 
aktiven Typus, mischt aber weiter diese beiden Richtungen mit Wertgesichts¬ 
punkten, indem er den kontemplativen, theoretischen, ästhetischen und 
religiösen Menschen unterscheidet und unter den aktiven, neben den erwähnten 
Richtungen der vorigen Grundtypen, noch folgende Unterteilung vomimmt: 
egozentrisch, sozial und sachlich. 


m. 

Wir treten nun in einen Vergleich der atomisierenden und strukturellen 
Psychologie ein, suchen ihre Unterschiede und ihr beiderseitiges Verhältnis 
darzustellen. Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie sucht 
das Seelenleben aus Elementen aufzubauen. Sie geht zwar aus vom 
Erlebnisganzen, aber dieses verliert in dem Maße das Interesse, je weiter die 


! ) Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität. Berichte d. Akad. d. Wissen sch. Berlin. 
1896. — Bahnsen, Beiträge zum Studium der Charakterologie. Leipzig 1867. — Ostwald, 
Große Männer. Leipzig 1909. — Lucke, Das Problem der Charakterologie, Archiv !. d. ges. 
Psychol. 1908. — Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Leipzig 1910. — Hey- 
roann. Ober einige psychol. Korrelationen. Zeitschr. !. angew. PsychoL 1908. — Klages, Prin¬ 
zipien der Charakterologie. Leipzig 1911. — Huther, Grundztige der allgem. Charakterologie. 
Leipzig 1910. — Sigwart, Die Unterschiede der Individualitäten. Tübingen 1881. — Foulläe, 
Sur les diverses formes du caract&re, Rev. phil., Bd. 34. — Elsenhans, Charakterbildung. 
Leipzig 1894. — Kerschensteiner, Charakterbegriff und Charakterbildung. Leipzig 1912. 

*) Kerschensteiner, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen für 
die Schulorganisation. Berlin 1917. 


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Analyse vordringt. Wie der Spürsinn des analytischen Chemikers sich au! 
Auffindung der chemischen Elemente der zusammengesetzten Verbindung 
richtet, so stellt sich diese psychologische Forschung auf das Aufsuchen der 
letzten seelischen Elemente ein. So ergibt die »Analyse einer Gesichts- 
Wahrnehmung eine Summe von Teilinhalten: räumliche und zeitliche Grund¬ 
formen und Beziehungen, die Mannigfaltigkeit der Farben nach Ton, Sättigung 
und Helligkeit, die an all diesen Elementen haftenden elementaren Gefühle. 
Dabei versucht die Forschung, die Analyse immer weiter zu treiben. Was 
heute noch als Element gilt, wird durch den Fortgang der Untersuchung als 
etwas Zusammengesetztes in neue, kleinere, elementare Bestandteile zerlegt, 
genau wie unsere naturwissenschaftliche Forschung über das Atom zum Ion 
und Elektron vordrang, frühere „Elemente“ durch die radioaktive Forschung 
weiter zerlegte. Die Zahl jener letzten seelischen Elemente ist in den einzelnen 
Systemen der Psychologie verschieden; die pluralistischen meist mit der Drei¬ 
zahl entsprechend den drei Grundrichtungen des Seelischen — Denken, Fühlen 
und Begehren — herrschen vor. Ist so das Element gefunden, so blickt der 
Psychologe gleichsam von unten in den seelischen Prozeß hinein und baut 
aus den Elementen die Verbindungen, den Prozeß auf. Das Auge 
ist den Dingen nahe, sieht sie in ihrer vermeintlichen Klarheit. Ganz anders 
verfährt die Strukturpsychologie. Blickte die atomisierende von unten auf 
den Strom des dahinfließenden geistigen Leben, so sie von oben herab, 
gleichsam auf höherem Posten stehend. Den Nachteil der Ferne dem Ein¬ 
zelnen gegenüber nimmt sie gerne in Kauf, da er ausgeglichen erscheint 
durch den Vorteil, von oben das Gesamterlebnis, die Totalität der 
Seele, zu überschauen. Ein Vergleich sei gestattet. Der Beschauer eines 
gotischen Domes, dicht am Bauwerk stehend, erfreut sich an der minutiösen 
Ausbildung der Kleinformen, genießt das Kleinrelief des Bauwerkes. Der 
erhabene Gesamteindruck geht ihm verloren. Er erschließt sich nur dem, der 
die nötige Distanz der Beobachtung wahrt, indem er bewußt den Blick aufs 
Ganze richtet. Mag manche Einzelheit in der Fülle des Erschauten zurück¬ 
treten, das Ganze, die Gesamtstruktur, interessieren und lohnen seine Be¬ 
trachtung. Beobachtungspunkt und Einstellung sind verschieden. So unter¬ 
schiedlich letztere ist — dort Blick auf die Teile, hier auf das Ganze —, so 
sehr müssen auch die Ergebnisse und Wirkungen in dem Maße ausein¬ 
andergehen, wie Teil und Gesamtheit, Element und Struktur verschieden sind. 

Die naturwissenschaftliche Psychologie denkt und arbeitet ele¬ 
mentarisch, die Strukturpsychologie strukturell. In jener herrscht 
das Prinzip der Additionen, in dieser das der Synthese, der aufbauenden 
schöpferischen Gestaltung vor. Nun hat zwar z. B. Wundt auch für die 
experimentelle Psychologie ein Prinzip der schöpferischen Synthese aufgestellt, 
nach der wir das seelische Gebilde nicht restlos als die Summe seiner Teile 
auffassen und erklären können. Kann aber in einem solchen Zusammenhang 
von diesem Prinzip als von einem psychischen Gesetz geredet werden? Mit 
dem Gesetz verbinden wir die Vorstellung des kurzen prägnanten Ausdrucks 
der rationalen Erfassung von Gegebenheiten. Nun liegt aber in jenem 
Schöpferischen ein Moment, das sich der Rationalisierung entzieht, das 
Schöpferische ist stets Irrationalität, und das Gesetz der schöpferischen Synthese 
muß einen Widerspruch in sich schließen. Über Irrationales kann es nie ein 
„Gesetz“ im Sinne einer gesetzmäßigen Erklärung geben. Es läßt sich eine 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


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geistige Welt nicht aus Elementen auf bauen, viel weniger erklären. Das 
Prinzip der Addition gilt überhaupt nur für den starren Mechanismus, 
nicht für den lebenden Organismus, ein Organismus aber ist die schaffende 
Einzelpsyche; organische Gestaltung ist auch die gesamte Welt des Geistes. 
Sehr treffend hat E. Spranger 1 ) die Verhältnisse bezeichnet, indem er den 
Gesichtspunkt umkehrt „und das Prinzip der schöpferischen Synthese durch 
ein Prinzip der zerstörenden Analyse“ ersetzt. Es erhebt sich nämlich die 
Frage nach der Berechtigung einer elementarisierenden und strukturellen 
Betrachtungsweise des Psychischen. Deuten wir den Strom des geistigen 
Erlebens als einen Mechanismus, dann ist eine elementarisierende Be¬ 
trachtungsweise wohl am Platze; denn der Mechanismus ist dadurch charak¬ 
terisiert, daß jeder seiner Teile eindeutig durch die Elemente bestimmt ist. 
Der Mechanismus einer Maschine läuft zwangsläufig nach bestimmten Ge¬ 
setzen. Der Mechanismus ist durch und durch ein rationales Phänomen. Ich 
vermag die einzelnen Komponenten zu ändern und damit die Reihe der Be¬ 
wegungsabfolgen qualitativ und quantitativ zu beeinflussen; aus dem Bereich 
eindeutiger Bestimmtheit und Bestimmbarkeit tritt das mechanische Geschehen 
jedoch nie heraus. Handelt es sich nun beim Geistigen um eine solche 
rationale Determiniertheit? Die für uns zweifelsfreie Tatsache psychischer 
Kausalität ist kein Beweis für den mechanistischen Charakter des Psychischen. 
Wir sind geneigt, dem Begriff der Kausalität im Bereich des Physischen und 
Psychischen verschiedenen Inhalt zu geben. Diesem Satze soll durchaus 
nicht die Verflüchtigung des Seelischen ins Metaphysische folgen. Aber was 
bestimmt statuiert werden soll, ist die Forderung der seelischen Eigengesetz¬ 
lichkeit dem physischen, genauer gesagt, dem physikalischen Geschehen gegen¬ 
über. Wir stellen die physische Kausalität aus der physikalischen heraus 
und fassen damit das Phänomen des Bewußtseins nicht als Mechanismus, 
sondern als Organismus. War jener definierbar als rationale, erfaßbare Be¬ 
stimmtheit — die Tatsache, daß auch im Mechanismus unserer unvollkommenen 
Einsicht manches realiter als nicht bestimmt erscheinen kann, verstößt nicht 
hiergegen, da jedes X im Mechanismus eruiert werden kann —, so ist der 
Organismus mit einem starken Einschlag des Irrationalen bedacht. Vor allem 
ist es der sinnvolle Zusammenhang, der uns verbietet, den geistigen 
Prozeß als Mechanismus aufzufassen. Treten wir an die Zer¬ 
gliederung heran, so zerstören wir diesen Sinn. Schon für die Unter¬ 
suchung des physiologischen Organismus gilt, daß das Leben entflieht, sobald 
wir den Organismus zerlegen. Die Isolierung der Teile etwa eines Tieres bringt 
die Lebensfunktion zum Stillstand. Wieviel mehr muß für den psychischen 
Prozeß gelten, daß eine zergliedernde Betrachtung sein Leben tötet, d. h. aber 
hier, den Sinn zerstört. Was für den physiologischen Körper das Leben, das 
alle Teile durchströmende und zu zielstrebigem Zweckverband einende Lebens¬ 
prinzip ist, das ist für das geistige Gebilde der Sinn, d. h. der teleologische 
Zusammenhang des Ganzen. Im sinnvollen Zusammenhang besteht 
die Immanenz des geistigen Lebens. Sobald die psychologische Zer¬ 
gliederung in der Weise einer atomisierenden Seelenforschung sich ans Werk 
macht, verschwindet dieser sinnvolle Zusammenhang. Es ist das Wesentliche 
einer Struktur, daß ich keinen Teil isolieren kann, ohne die gesamte Struktur 


') E. Spranger, Lebensformen. 3. Aufl. 1922. S. 13. 


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in ihrenr inneren Wesen zu ändern, das aber heißt für eine Struktur, sie 
zerstören. Die Struktur ist durchaus etwas Individuelles, etwas Einmaliges. 
Greifen wir wieder das Beispiel einer Gesichtswahmehmung heraus und isolieren 
wir aus dem Komplex etwa nur das Erlebnis des Farbigen und in ihm etwa 
den Farbton, muß damit nicht das Erlebnis als Ganzes seinen Sinn, in diesem 
Falle die normgemäße Beziehung auf das Ding außer mir verlieren? Wieviel 
mehr muß die analysierende und isolierende Betrachtungsweise den Sinn zer¬ 
stören, wenn es sich um höhere komplizierte Erlebnisse handelt? Wie will 
man z. B. Teils Psyche in der Apfelschußszene durch analysierende und 
atomisierende Zerpflückung seiner gewaltigen Erregungen gerecht werden 
und sein Handeln aus einzelnen Elementen ableiten? Das Schaffen des 
Dichters, des Künstlers verläuft nicht in diesem Bauen von unten auf. Der 
Wurf ist etwas Ganzes, die Konzeption des Kunstwerkes ist strukturell und 
darum sinnvoll von Anbeginn. Daran ändert nichts die Tatsache, daß das 
Kunstwerk im Laufe seiner Entwicklung sich ändern kann, aber jede Phase 
ist Einheit, ist Geschlossenheit, ist Totalität. 

Nun finden wir in der Psychologie tatsächlich beide Forschungsrichtungen, 
die atomisierende und die strukturelle vor. Wo liegt die Grenze der Be¬ 
rechtigung ihrer Anwendung im einzelnen Falle? Da, wo ich das Psychische 
betrachte, in seiner Gebundenheit an äußere Reize, wie es die Psychophysik 
tut, oder in seiner Wechselwirkung mit dem körperlichen Substrat wie in 
der physiologischen Psychologie oder endlich unter der besonderen wissen¬ 
schaftstheoretisch zulässigen bewußten Einstellung, einen Bewußtseinsverlauf 
unter isolierenden Bedingungen zu verfolgen, bei der jene künstlichen Iso¬ 
lationen und deren Einfluß auf den Verlauf den Kern des Problems bilden, 
da ist jene Richtung der Forschung auf Elemente zulässig, ja notwendig. 
Diese drei Situationen liegen der experimentellen Seelenforschung zugrunde. 
Wenn ich z. B. den Einfluß der Wiederholung auf die Zahl der behaltenen 
Glieder im Memorierversuch feststelle, so folgt die Einstellung auf den Be¬ 
griff des seelischen Elementes aus der Problemlage von selbst. Man kann 
darum auch mit Recht Ebbinghaus’ klassische Untersuchungen über das 
Gedächtnis zum Wertvollsten zählen, was die psychologische Literatur auf¬ 
weist. Aber wir kommen gerade bei diesem Beispiel sofort an die Grenze 
der Berechtigung einer Psychologie der Elemente, wenn wir vor die Aufgabe 
gestellt werden, aus jenen klassischen Untersuchungen Regeln für unsere 
Gedächtnisarbeit im gewöhnlichen Leben abzuleiten. Warum stimmen dann 
jene Ergebnisse der Gedächtnispsychologie nicht mehr? Sie sind gewonnen 
unter künstlichen Bedingungen, unter möglichst weitgehendem Ausschluß der 
Wirkung der seelischen Totalität. Die Totalität der Seele aber stellt sich stets 
dar als etwas Strukturelles. Bei allen Fragen über ein Gesamtverhalten 
der Seele muß die atomisierende Betrachtungihre Grenze erblicken, 
eben weil die Psyche als Totalität in dem Gesamtverlauf immanent 
ist. Hierzu gehören alle Probleme des höheren geistigen Lebens: Die Prozesse 
der Sprachschöpfung, des religiösen, künstlerischen Erlebens, das Denken im 
eigentlichen Sinne jenseits der elementaren, mechanistisch-assoziativen Prozesse, 
unsere Einfügung in das geschichtliche Leben, den gesellschaftlichen Verband 
usw. Diesen Problemen wird nur eine Psychologie der Struktur, die vom 
Ganzen ausgehend, keinen Sinn für die isolierten Elemente haben kann, 
gerecht, eben weil das Ganze nicht aus isolierten Elementen aufgebaut ist, 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


203 


weil im Ganzen sich ein Sinn, ein Wesenszusammenhang manifestiert. Es 
sind darum die Probleme, in denen das Ich in einer geistesgeschichtlichen 
Bindung lebt, niemals vor das Forum der Psychologie der Elemente, sondern 
vor das der Strukturpsychologie zu stellen. Mit Recht bezeichnen wir darum 
diese als geisteswissenschaftliche Seelenforschung im Gegensatz zur 
naturwissenschaftlichen. Somit beschränken wir beide auf ganz 
bestimmte Problemkreise. 

Aus diesen inneren Wesensverschiedenheiten folgen weitere Unterschiede. 
Aus dem oben ausgeführten ergibt sich zunächst ein verschiedener Um¬ 
fang beider Richtungen. Es leuchtet die Enge des Forschungsfeldes 
der Psychologie der Elemente gegenüber der Strukturpsychologie sofort ein. 
Bei aller Achtung vor den Leistungen der ersteren sind es doch nur relativ 
kleine Ausschnitte des Seelischen, die von ihr bearbeitet werden können. Es 
sind mehr periphere Gebiete Gegenstand ihrer Forschung. In der Tat ent¬ 
wickelte sich diese Richtung, von den Problemen der Psychophysik aus¬ 
gehend, zur physiologischen Psychologie und nahm zunächst die sinnes¬ 
psychologische Forschung in Angriff. Im Laufe der Entwicklung hat sie 
weiter nach innen vorgetastet, die Psychologie des Gedächtnisses, der elemen¬ 
taren Gefühls- und Willensabläufe und der einfachen Schlußprozesse in An¬ 
griff genommen. Sie hat sich damit an schon recht komplexe Funktionen 
gewagt und eine Reihe fruchtbarer Ergebnisse gewonnen, doch was will, 
wenn wir einmal rein bildlich-räumlich ihr Feld überschauen, das besagen 
gegen das weite Gebiet, das Gegenstand der Strukturpsychologie ist: das 
Geistesleben der Kunst, der Religion, der Sprache, der Sitte, der Rechtsnormen, 
der Gesellschaft in allen kulturellen Verschränkungen, das Problem der Indi¬ 
vidualität und der Soziabilität! Es liegt der Einwand nahe, daß sich die 
Grenzen bei weiter fortschreitender Entwicklung nach innen verschieben mögen. 
Es ist zweifellos, daß es der Psychologie der Elemente gelingen wird, auf 
jenen aufgezählten Gebieten Teilforschung zu treiben, diese aber werden nur 
möglich sein bei sinnzerstörender, den Wesenszusammenhang aufhebender 
Abstraktion: Isolierung von Einzelfunktionen aus der seelischen Totalität. 
Damit bestimmt sich dann auch der Gültigkeitsbereich ihrer Ergebnisse, 
der sich auf die vereinfachten Bedingungen jener abstraktiven Isolierung be¬ 
schränkt. Jene geistesgeschichtlichen psychologischen Probleme sind mit 
dem Begriff der Struktur, nicht mit dem des Aufbaues aus Elementen ver¬ 
bunden; ihnen kann darum auch nur eine Strukturpsychologie gerecht werden. 
So umspannt diese ein weit größeres Forschungsgebiet In ihr erscheint die 
Psychologie tatsächlich als Grundlage aller Geisteswissenschaften. Alles, was 
uns z. B. im Problem des historischen Verstehens in den Geschichtswissen¬ 
schaften interessiert, wird das Rüstzeug der Strukturpsychologie entlehnen 
müssen. Weiter die Fragen der Ethik, der Religion und Kunst sind in ihren 
Lösungsversuchen auf sie angewiesen. In der Strukturpsychologie liegt über¬ 
haupt das Kernproblem aller Philosophie über Mensch und Menschheit im 
zeitlichen und überzeitlichen Sinne eingeschlossen. Sie wird gar nicht bis 
zu den Elementen Vordringen wollen, nein, nicht Vordringen können. Sie 
bleibt auf einem viel höher gelegenen Querschnitte stehen und sucht 
nur Orientierung in Zusammenhängen und nicht in Elementen. 

Aus dem so verschiedenartigen Wesen der beiden Richtungen ergeben sich 
weiter eine Anzahl differenter formaler Unterschiede, teils methodischer, 


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204 


Julius Wagner 


teils prinzipieller Natur. Was die Methode anbelangt, ist die Psychologie 
der Elemente in enger Anlehnung an die naturwissenschaftliche Forschung 
groß geworden. 'Ihre methodologischen Prinzipien sind der Natur¬ 
wissenschaft entlehnt. Sie macht Gebrauch vom experimentellen Ver- 
fahren in den mannigfachen Ausbildungen. Auch Zahl und Maß als rationale 
Ausdrücke des Quantifizierbaren sind in Anwendung gebracht Man erinnere 
sich der Formeln der Psychophysik, der Maßzahlen der Korrelationsforschung, 
der mathematischen Formulierungen der Vorstellungsmechanik auch über die 
mechanistische Auffassung Herbarts hinaus. Wenn auch die Möglichkeit 
einer quantifizierbaren Feststellung nicht zum notwendigen Kriterium der 
naturwissenschaftlichen Exaktheit wird — denn auch in den Naturwissen¬ 
schaften begnügen wir uns sehr oft mit einer Untersuchung ohne mathema¬ 
tische Fixierung, z. B. in der Biologie —, so ist doch ein Zug zur Quanti¬ 
fizierung in numerischen Werten auch in der Psychologie der Elemente un¬ 
verkennbar. Den besten Beleg bildet die Korrelationsforschung der diffe¬ 
rentiellen Psychologie. Mit Maß und Zahl verbindet sich, wie schon oben aus¬ 
geführt, ein Streben nach genereller Gültigkeit. Es ist im Wesen der 
mathematischen Behandlung begründet, daß sie unserer Forschung in hohem 
Grade ein Gefühl der Sicherheit verleiht. Was ich in exakter Formel nieder¬ 
legen kann, ist mit starkem Akzent der Gültigkeit behaftet. Das Vertrauen 
in diese Gültigkeit wird noch gesteigert durch das Streben nach allgemein 
gültigen Ergebnissen der generellen Psychologie, die auf Grund eines großen 
Versuchsmaterials die individuellen Momente nach induktiven Methoden 
zurücktreten läßt und das Allgemeine in den Vordergrund rücken kann. So 
gewinnt in der Psychologie der Elemente das Generelle eine besondere Be¬ 
deutung. Was von der Psychophysik und Sinnespsychologie z. B. zusammen 
getragen ist, erhebt Anspruch auf einen weiten Gültigkeitsbereich. Erst ver¬ 
hältnismäßig spät gewann das Individuelle in der differentiellen Psychologie 
Interesse, in der das Einmalige, das Besondere Gegenstand der Forschung 
geworden ist. In der experimentellen Methode, in der Anwendung von Maß 
und Zahl, im gesamten Rüstzeug naturwissenschaftlicher Begriffsbildung, in 
der isolierenden Vereinfachung und dem Aufbau aus Elementen verrät sich 
eine starke Tendenz der Rationalisierung. 

Ganz im Gegensatz hierzu steht methodisch und auch prinzipiell die Struktur¬ 
psychologie. Nehmen wir den hier nicht zu diskutierenden Gegensatz zwischen 
Natur- und Geisteswissenschaft als Einteilungsprinzip, so müssen wir die 
Strukturpsychologie in viel tieferem Sinne zu den Geisteswissenschaften 
rechnen, als das bei der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie der 
Elemente der Fall ist. Wir bezeichneten darum oben jene auch als geistes¬ 
wissenschaftliche Psychologie. Hiermit hängt die Besonderheit ihrer Methoden 
zusammen. Für sie kommt nicht das Experiment in Frage. Das ver¬ 
bietet einmal die Höhenlage der Probleme, die einer rein rationalen Lösung 
nach naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden nicht zugänglich sind, und 
zum anderen die prinzipielle Richtung des Blickes auf das Ganze, eben auf 
die Struktur. Diese aber verbietet ein Herauslösen einzelner Elemente. Nicht 
nur die Unzulässigkeit der Isolierung und der Auflösung, sondern auch sämt¬ 
liche übrigen, logischen, methodologischen Voraussetzungen zur Anwendung 
des Experimentes verbieten sich für die Strukturpsychologie. In ihr gibt es 
z. B. keine Variation der Bedingungen. Die Gesamtstruktur und die 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


205 


etwa in ihr unterscheidbaren Teilstrukturen besitzen ihre Architektur, ihr 
inneres Gefüge auf Grund ganz bestimmter Bedingungen, die nicht beliebig 
variierbar sind, ohne die Strukturen von Grund aus zu ändern. Sodann 
rechnen wir in dem wiederholbaren Ablauf des Prozesses bei experimenteller 
Forschung mit dessen Konstanz. Für die Probleme der Strukturpsychologie 
ist das psychische Geschehen in viel tieferem Sinne mit dem Charakter 
des Einmaligen, nur So- und nicht Anderssein behaftet. Das Erlebnis beim 
Genuß eines Kunstwerkes ist ein anderes jetzt als nachher, die Beurteilung 
und Stellungnahme zu Fragen des öffentlichen Lebens heute anders als morgen. 
Der stete Fluß des Bewußtseins schafft besonders für die höheren geistigen 
Leistungen immer neue Strukturen. Es besagt diese Festsetzung nichts gegen 
die Tatsache, daß bei allem Wechsel des Geschehens in der ausgereiften 
Persönlichkeit ein gewisses Grundgepräge konstant bleibt, gleichsam 
eine fixierte Struktur jeder Mensch in sich trägt. Die Tatsache, die wir eben 
berührten, bezieht sich nicht auf den Begriff einer fixierten Struktur als 
Charaktertypus des Menschen, sondern richtet sich nur auf die Struktur eines 
Einzelerlebnisses. Solche Erlebnisstrukturen aber wechseln fortgesetzt, sind 
also nicht wiederholbar. Für die geistesgeschichtliche Psychologie trägt das 
Erleben viel mehr aktuellen denn substantiellen Charakter. Die 
Psychologie der Elemente geht zwar auch bei fast allen modernen Systemen 
vom aktuellen Seelenbegriff aus, indem ihr das Seelische als Verlauf, als 
Funktion erscheint, und doch verführt die öftere Wiederholung desselben 
Versuches leicht zur Verquickung der Aktualität mit substantiellen psychischen 
Akzidenzien. Was oft wiederholbar ist, wird «leicht als fixierte Substanzialität 
vorgestellt. So wird dann auch leicht der funktionale Gehalt einer psychi¬ 
schen Disposition zu etwas Starrem und mehr zu einer substanziellen denn 
funktionellen Spur des Psychischen. Wenn wir ferner oben die naturwissen¬ 
schaftliche Psychologie als stark rational gerichtet bezeichneten, so gilt für 
die Strukturpsychologie ein wesentlicher irrationaler Zug als notwendig 
zur Charakterisierung. Die Kompliziertheit der Struktur löst sich nicht 
restlos auf wie die Elementenfolge eines bloßen Mechanismus; stets bleibt 
ein irrationaler Rest. Dieser besteht schon für die einzelnen speziellen Geistes¬ 
wissenschaften und in viel größerem Maße für die geistesgeschichtliche 
Psychologie. Es sind besonders die geistesgeschichtlichen Bindungen, die 
zwischen den Individuen bestehen, die soziale „Verschränkung“, um uns eines 
Ausdruckes von Th. Litt 1 ) zu bedienen, welche für die strukturelle Betrach¬ 
tung einen starken irrationalen Rest .in der Lösung des Problems des Ver¬ 
stehens ausmachte. Zum Irrationalen drängt auch die ganze Auffassung des 
Geistigen. Dem naturwissenschaftlichen Denken drängt sich leicht eine natu-' 
ralistische Betrachtungsweise des Seelischen auf. Sie braucht nicht zum 
Materialismus zu führen, aber schon die in der Wissenschaft der Natur üblichen 
Kategorien der Substanz, der Kausalität, der Konstanz u. dgl. legen das 
Rationale besonders nahe Tmd lassen das Irrationale leicht zurücktreten. 
Dem Irrationalen kann aber nur die Intuition nahe kommen. So ist 
dann auch für die Strukturpsychologie die Intuition, die künstlerische Schau, 
neben der logischen Methode berechtigt. Das tiefe Erfassen eines Kunst¬ 
werkes, das Ergriffensein von großen Ideen ist in erster Linie Sache der 


') Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft. Leipzig 1919. 


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206 


Julius Wagner 


Intuition. Und beruht nicht auch die praktische Meisterung des Individualitäts¬ 
problems im Verkehr von Mensch zu Mensch auf ihr? Sind nicht Mitleid, 
Mitfreude, der zündende Geistesfunke, der in das Herz der Massen fällt und 
sie begeistert, die großen Erschütterungen, die seelisch der Einzelne und die 
Gesellschaft durchmachen, Wirkungen in erster Linie einer gefühlsmäßig 
intuitiven Assimilation? Der „wissenschaftliche“ Mensch wird geneigt sein, 
hierin einen Abweg von der Wahrheit zu erblicken. Dem ist indes entgegen¬ 
zuhalten, daß das emotionale Denken, der tiefere Sinn des „Verstehens“, um 
den es sich bei jenen Wechselwirkungen zwischen Einzelwesen und Gemein¬ 
schaft handelt, über den Weg der Intuition geht. Das erklärt die irrationalen 
Reste der strukturellen Betrachtung. Die irrationalen Momente verbieten in 
ihr nicht nur die experimentelle Methode, sondern auch die Quantifizierung 
nach Maß und Zahl. Die Verhältnisse liegen sehr viel komplizierter, als daß 
das exakteste der Darstellungsmittel, die mathematische Formel, eine sinn¬ 
gemäße Anwendung finden könnte. 

Von wesentlicher Bedeutung für das Verhältnis der beiden Richtungen ist 
weiter die Beziehung zum Kollektiven. Für die experimentelle Psychologie 
ist die Seele stets Einzelseele. Nur an sie kann die naturwissenschaftliche 
Forschung heran. Das kollektive Denken, das Fühlen und Wollen der Massen 
bleibt ihr verschlossen. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich das Gebiet der 
Strukturpsychologie umfangreicher als das der experimentellen. Dieser 
repräsentiert sich das Kollektive überhaupt nur über den Weg des 
Einzelnen, des Individuellen, Für sie besitzt das Kollektive keine un¬ 
mittelbare Realität. Wenn Massen begeistert sind, dann ist es immer der 
Einzelmensch, welcher Emotionen erlebt Im Gegensatz hierzu ist der geistes¬ 
wissenschaftlichen Psychologie die Gesamtseele unmittelbar real. 
Neben dem individuellen Geistesleben besteht e in überindividuelles 
als etwas Objektives. Die Gedanken, die als treibende Ideen eine Epoche 
bewegen, sind etwas Objektives für die Geisteswissenschaften. Wir sind um¬ 
geben von zahlreichen Objektivationen dieser überindividuellen, geistigen 
Sphäre. Alle diese Objektivationen der einzelnen Kulturgebiete bleiben der 
naturwissenschaftlichen Psychologie ein Buch mit sieben Siegeln. Was soll 
sie mit ihren begrifflichen Kategorien, mit ihren Methoden den folgenden 
Objektivationen gegenüber beginnen: Institutionen des Rechts, der Wirtschaft, 
der politischen Organisationen, der Organisation des Erziehungswesens? Wie 
soll sie die Hebel ansetzen, um dem Gesamtgeist einer Kulturepoche etwas 
an psychologischer Einsicht abzugewinnen? Alles Transsubjektive scheidet 
für sie vollkommen aus. Ganz anders für die geisteswissenschaftliche Psycho¬ 
logie, die ein hervorragendes Interesse für das Transsubjektive hat und diesen 
Problemen auch näher zu treten vermag. Das objektive Reich des Geistes 
jenseits eines zufälligen IchsbesitztRealitätin den Objektivationen 
jenes Geistes. Auch in ihnen erkennen wir eine sinnvolle Struktur. Wir 
besitzen von den verschiedensten Epochen Strußuranalysen ihres Geistes, in 
denen das Kulturwerk der einzelnen Gebiete wieder mit Geist beseelt sich 
uns darstellt. 

Durch diese Strukturanalyse finden wir auch den Anschluß an das Reich 
des Normgemäßen. Alles, was im kollektiven Geist gesetzlich ver¬ 
läuft, steht jenseits der bloßen individuellen Willkür und wird für 
uns zur Norm. Die naturwissenschaftliche Psychologie ist normfrei und 


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Das Problem der psychischen Strukturen 


207 


wertfrei. Nur der Ablauf der Funktion an sich ist Gegenstand der Forschung. 
Sie verfolgt nur den theoretischen Zweck der wertfreien Naturwissenschaft. 
Ob eine psychische Produktion wahr oder falsch, eine Handlung gut oder 
böse, eine Situation schön oder häßlich ist, das sind Unterscheidungsmöglich¬ 
keiten, für die sie nicht zuständig ist. Sie interessiert der Bewußtseins¬ 
vorgang als solcher ohne Rücksicht auf die Normwissenschaften, für die nur 
die Strukturpsychölogie ein starkes Interesse hat. Das Normgemäße der ein¬ 
zelnen Werte ist, wie wir'oben ausführten, ein wichtiges Strukturelement. 
Wenn wir geisteswissenschaftlich etwa die Aufklärungsperiode analysieren, 
bat das Herausschälen gerade der Normen der einzelnen Wertgebiete für die 
Untersuchung eine besondere Bedeutung. Dabei stellen wir diese nicht nur 
objektiv im Gesamtbild fest, sondern nehmen zugleich irgendwie innerlich 
Stellung zu ihnen. Auch hierin ist ein wesentlicher Unterschied der beiden 
Richtungen begründet Nach Rickert und Windelband liegt gerade in der 
wertfällenden Stellungnahme das Unterscheidungsmerkmal zwischen wertfreier 
Natur- und wertfällender Kulturwissenschaft. Diese wertende Stellungnahme 
ist überaus wichtig, wenn wir aus den psychologischen Erkenntnissen An¬ 
wendungen für die Praxis zu ziehen gedenken. Was uns an einer Erkenntnis 
wertvoll oder wertlos erscheint, ist implizite von uns während des Weges zur 
Eikenntnis hineingelegt worden. Die Frage des objektiven Wertes bleibt hier 
unerörtert. 

Aber noch in einem anderen Sinne ist die geisteswissenschaftliche Psycho¬ 
logie der Richtung auf transsubjektive Forschung fähig. Der naturwisserl- 
schaftlichen Seelenwissenschaft erscheint das Psychische nicht nur in indi¬ 
vidueller, sondern auch in zeitlicher Beschränkung. Die Bewußtseins- 
tatsacbe ist zeitlich an ein bestimmtes Individuum gebunden, das zudem dem 
Untersuchenden leiblich gegenwärtig sein muß. Die geisteswissenschaftliche 
Analyse überspannt auch zeitlich 'ferne Perioden. Der Einwand, daß in der 
Psychographie längst Verstorbener auch der Psychologie der Elemente eine 
zeitliche Zusammenschau oder gar eine Souveränität über die Zeit zum Aus¬ 
druck komme, ist nicht berechtigt, und keine Entkräftigung des oben statuierten 
-Unterschiedes; denn solche Psychographien sind nur der Methode nach natur¬ 
wissenschaftlich. Der Problemanlage nach gehören sie zur Strukturpsychologie. 

Die Beschränkung der Psychologie der Elemente auf das individuelle Ich 
eigibt sich ferner aus folgender Überlegung. Die Struktur wird beherrscht 
von den Gesetzen der Struktur, die ihr die Architektur vorschreibt. Das 
Gesetz der Struktur ist Träger des Sinnes. Nim kann die individuelle 
Struktur eingehen als Teil einer kollektiven, doch wohlgemerkt nicht im 
Sinne eines bloßen additiven Elements, während das Element eines Einzel- 
ichs an dieses gebunden bleibt und nicht in den Zusammenhang einer Element¬ 
verbindung eines anderen Ichs treten kann. Elemente sind stets etwas Un¬ 
selbständiges; sie sind auf das Subjektive beschränkt. Zum Aufbau einer 
objektiven geistigen Welt fehlt ihnen alle Voraussetzung dazu, außerhalb 
eines Ichzustandes als real existierend zu gelten. Das Element ist eine Fiktion, 
ein Abstraktionsprodukt, das gibt selbst die experimentelle Seelenkunde zu. 
Aus Fiktionen aber läßt sich nichts Objektives aufbauen. 

Vermöge der Gesetzlichkeit, die der Struktur des Geistigen zugrunde liegt, 
kann das Einzelich am Geistesleben außer ihm teilnehmen. In einer atomi- 
stischen Betrachtung, die schon bei der Analyse des Einzelichs dessen sinn- 


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Julius Wagaer 


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vollen Zusammenhang durch Setzung von Elementen als Bausteinen aufhebt, 
besteht keine Möglichkeit für uns, den für das Geistesleben so wichtigen 
Vorgang des Verstehens als soziale und historische Funktion zu erklären. 
Zerstört die Analyse in Elemente schon beim Einzelich den Sinn, 
indem sie den Wesenszusammenhang aufhebt, so muß ein Zerstören der 
sinnvollen Struktur beim Äußernden und beim Verstehenwollenden 
das Verstehen ganz unmöglich machen. 


IV. 

Zum Schluß wollen wir noch auf den Wert der Strukturpsychologie für 
den Ausbau der pädagogischen Psychologie kurz hinweisen. So wertvoll im 
einzelnen die Ergebnisse der Psychologie der Elemente auch für die Pädagogik 
sein mögen, wird der Aufbau einer besonderen pädagogischen Psychologie 
doch mehr von der Strukturpsychologie abhängen; denn einmal haben wir 
es bei den pädagogisch-psychologischen Problemen niemals mit isolierten 
Elementwirkungen, sondern stets mit Gesamtpersönlichkeiten zu tun und 
zwar in Rücksicht auf den Erzieher und den Zögling. Eine pädagogische 
Psychologie wird es stets mit beiden, nicht mit der Psychologie des Schülers 
allein zu tun haben, und zum andern widerspricht der Naturalismus einer 
nur experimentellen Seelenforschung dem ideellen Grundcharakter, ohne den 
eine Pädagogik nun einmal nicht denkbar ist. Eine einseitige Vernatur- 
wissenschaftlichung der pädagogisch-psychologischen Probleme wird nicht 
über die Grenze der bloßen Anwendung der psychologischen Einzelergebnisse 
auf die Pädagogik hinauskommen. Auf dieser Stufe der Wissenschafts¬ 
entwicklung befindet sich, von einzelnen strukturpsychologischen Ansätzen 
abgesehen, die pädagogische Psychologie bis heute immer noch. Der päd¬ 
agogischen Behandlung ist der Schüler mehr als ein psychologischer Mecha¬ 
nismus, mehr als Aggregat seelischer Elementarfunktionen: er ist eine Struktur. 
Struktur ist auch die Lehrerpersönlichkeit, Struktur auch das Bildungsgut. 
Auf letzteres hat besonders Kerschensteiner im Grundaxiom des Bildungs¬ 
prozesses ßingewiesen. So erscheint uns der Strukturbegriff für die 
Pädagogik wichtig in bezug auf den Schüler, den Lehrer und das 
Bildungsgut. Von der Struktur aus allein ist das Problem der Persön¬ 
lichkeit und ihrer Bildsamkeit zu bewältigen 1 ). Was uns ferner als Ideal 
in der Erziehung vorschwebt, findet stets seinen Niederschlag in einer struk¬ 
turierten Idealperson. „Ein jeder muß sich seinen Helden wählen, dem 
er die Wege zum Olymp sich nacharbeitet.“ Welche Struktur diese Helden¬ 
seele besitzt, hängt ab von den Werten, die wir verehren, hängt also ab 
von unserer eigenen Wertstruktur. Das Strukturproblem ist endlich 
didaktisch wertvoll. Das Verstehen einer Person, das Erfassen einer 
Situation, wie sie im Unterricht dem Schüler nahegebracht werden, fällt 
gleichfalls unter das Strukturproblem. Auch da hat die didaktische Form¬ 
gebung zu beachten, daß sich das Verstehen nicht über den Weg einer Zer¬ 
legung in isolierte Elemente, sondern über das Erfassen der Gesamtstruktur 
der Persönlichkeit und der Situation erschließt. 


') Man vgl. auch, was E. Stern S. 203ff. in seiner „Einleitung in die Pädagogik“ ausführt 


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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 209 


Psychologische Nebenergebnisse 
einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern. 

Von August Franken. 

• 

Psychologische Nebenprodukte als Ergebnis von psychologischen Unter¬ 
suchungen stellen eher Regeln als Ausnahmen dar, nur pflegen sie mit dem 
eigentlichen Gegenstand zusammen verarbeitet zu werden. Zuweilen ist aber 
der Zusammenhang zwischen dem Hauptprodukt und den Nebenprodukten 
rein äußerlich. So standen bei den tachistoskopischen Zahlbilderversuchen 
des Verfassers unterrichtsmethodische Fragen im Vordergrund. Ihre Lösung 
mit Ergebnissen aus der allgemeinen und differentiellen Psychologie zusammen 
verarbeiten, würde eine überflüssige Belastung des pädagogisch eingestellten 
Interesses bedeuten. Andrerseits verlangt das Gewicht der angestellten 
Versuche eine möglichst vielseitige Auswertung. Bisher wurden in 10 Ver¬ 
suchsreihen 104 Volksschüler der oberen Klassen in 544 halbstündigen Einzel¬ 
sitzungen geprüft.. 24480 Fragen wurden in 40545 Lesungen beantwortet. 

Trotz ihres relativen Gewichts haben die Ergebnisse keine allgemeine Be¬ 
deutung, sondern gelten vorläufig nur für die besonderen Bedingungen, denen 
sie ihr Dasein verdanken. Wie schon angedeutet, handelt es sich um tachisto- 
skopische Einzel versuche, wobei das Zimmermann sehe Kymographion mit 
Rotationstrommel und Schleudervorrichtung benutzt wurde. Der vergrößerte 
Trommelau8schnitt 7:22 cm exponierte das Objekt bei jeder Umdrehung 
1 ji Sek. lang. Dargeboten wurden sämtliche 45 Additionsaufgaben im Zahlen- 
kreis des ersten Zehners an einem Zahlkörperapparat, der bei Exposition 
hinter dem Trommelausschnitt sichtbar wurde. Die Darstellung an wirklichen 
Dingen — auch der Laysche Rechenkasten wurde in die Untersuchung mit 
einbezogen — glich vollkommen den Bedingungen des praktischen Rechen¬ 
unterrichts. — Die erste Sitzung begann mit einer Instruktion am Zahlkörper¬ 
apparat über die Darstellung von Additionsaufgaben, ging über zu einigen 
Probelesungen am Apparat, wobei auf die Möglichkeit der Selbstbeobachtung 
hingewiesen wurde, und schloß die Aufgaben in scheinbar bunter, für die 
einzelnen Methoden und Versuchsreihen aber stets gleicher Ordnung an. 
Mit Instruktion währte eine Sitzung zu 45 Aufgaben nach Befähigung und 
Obung im tachistoskopischen Lesen 20 Minuten bis 1 Stunde. 

Jede Aufgabe wurde zur Vermeidung von Zufallstreffern so oft dargeboten, 
bis zweimal hintereinander die richtigen Lesungen kamen, auch dann, 
wenn die subjektive Sicherheit noch nicht ihren höchsten Stand erreicht 
hatte. Als Maßstab der subjektiven Sicherheit dienten die Indizes „sicher" 
bzw. „unsicher“, womit jede Beobachtung seitens der Versuchsperson ver¬ 
sehen wurde. Beispiel einer Aufgabe: 7 + 2. Lesungen 1 ): 6 + 3?, 6 + 3!, 
7+2?, 7 + 3?, 7 + 2?, 7+2! Zahl der nötigen Lesungen —■ 5. Fehler¬ 
zahl — 4 2 ). Zweifel *> 4, imberechtigte Zweifel = 2; Behauptungen = 2; 
falsche Behauptungen = 1. Beispiel einer Sitzung: Lesungen = 102, nötige 
Lesungen 102—45 — 57, Fehler 57—45 =» 12, Zweifel =• 38, unberechtigte 
Zweifel =■ 23, falsche Behauptungen =■ 2. In der Rubrik „unberechtigte 
Zweifel" werden die unsicheren Lesungen gezählt, die objektiv richtig sind, 


') ? — unsicher, ! = sicher. 2 ) Die dritte Antwort wird als Zufallstreffer zu den Fehlern 
gezihlt die letzte Antwort wird als Lesung nicht mitgerechnet. 


Zeitschrift f. pttdagog. Psychologie. 

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Original fro-rn 

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210 


August Franken 


in der Rubrik „falsche Behauptungen“ die sicheren Lesungen, welche 
objektiv falsch sind. 

Obige Daten bieten das Material zur Berechnung folgender Werte: 

1. FeHlerprozente. Darunter ist verstanden die Zahl der fehlerhafter 

Lesungen, die durchschnittlich* bei 100 Aufgaben gemacht werden. 

Fehler 12 

Formel: ^ u fg a ^ en * 100. In der angeführten Sitzung also ^ • 100 — 27 

Die Fehlerprozente geben den objektiven Befund der Untersuchung wieder. 

2. Der Zweifel in Prozenten dient als Maß der subjektiven Unsicher¬ 
heit und mißt die Zahl der unsicheren Beobachtungen an der Gesamtzahl der 

t r, •* i • d i Zweifel • 100 . . 38 • 100 

Lesungen. Zweifel m Prozenten =» -= ., , — =- Beispiel: — r--—= 37. 

Zahl der Lesungen 102 

3. Die Urteilsvorsicht stellt das Verhältnis der unberechtigten Zweifel 
und falschen Behauptungen fest. Sie ist den unberechtigten Zweifeln direkt 
und den falschen Behauptungen umgekehrt proportional. Um, wie bei 1 und 2 
Werte zu erhalten, die zwischen 0 und 100 schwanken, werden mit den falschen 
Behauptungen auch die unberechtigten Zweifel in den Nenner gesetzt Somit 

ist die Urteilsvorsicht =-- 


23 • 100 


Unberechtigte Zweifel + falsche Behauptunge r 


920/, 


23 + 2 

Nach ihrer Definition drückt die Urteilsvorsicht mehr als der Zweifel die 
subjektive Stellungnahme zum eigenen Urteil aus und gehört deshalb zu den 
Charakterwerten im engeren Sinne. 

4. Die Variationskoeffizienten bieten die notwendigen Ergänzungen 
der Hauptwerte. £ur Charakterisierung der Gleichmäßigkeit der Ein el- 
leistungen einer Versuchsperson dient nach Sterns Vorschlag der Intra¬ 
variationskoeffizient. Bezeichnen wir das arithmetische Mittel der Lesefehler 
einer Versuchsperson mit aM, die aufeinander folgenden Lesefehler mit f 1 , 
f 2 , f 3 ..., bo sind die Abweichungen (a) der Einzelfehler vom arithmetischen 
Mittel ai =■> aM — f', a 2 =■ aM — f", a 3 = aM — f. ’. . . Das Mittel von 

v a . ioo 

sämtlichen (n) Abweichungen ist die Intravariation = -—- ode’ ■ 

_ 1 (Einzelfehler — Fehlermittel einer Vp.) __ 

= Zahl der Aufgaben 1UU ‘ 

Der Intervariationskoeffizient stellt die Übereinstimmung in de’ 
Leistungen der Vp. untereinander fest. An Stelle der Einzelleistungen treten 
die Durchschnittsleistungen der Personen oder Reihen, an Stelle der Fehler¬ 
mittel einer Vp. treten die mittleren Gesamtleistungen, und die Zahl der Auf¬ 
gaben wird durch die Zahl der Vp. bzw. die Zahl der aufeinanderfolgender 
Reihen ersetzt. Bezeichnen wir die Abweichungen der Durchschnittsleistungen von 

va 

ihrem a M mit A, ihre Anzahl mit N, so ist die Intervariation = • 100. 

Um die Ergebnisse der einzelnen Versuchsreihen auch für die differentielle 
Psychologie nutzbar zu machen, bedienen wir uns außerdem, soweit Alter , 
und Milieu der Vp. es gestatten •)> des Bravaisschen Korrelationskoeffizienten. 

*) Es kommen hier die Versuchsreihen III—X in Frage, wobei ausgesucht Jedesmal gleich 
alte und möglichst gleichfähige Schüler und Schülerinnen der Hamfeldschule in Schildesch f 
geprüft wurden. 


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Original from 

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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 211 


Ergebnisse. 

Tachistoskopische Experimente verfolgen im allgemeinen den Zweck, die 
hemmenden und fördernden Momente der optischen Sinneswahrnehmung zu 
untersuchen. Nach den bisherigen Erfahrungen ist das Zahlenbildermaterial 
hierfür besonders geeignet Unsere eignen Versuche bestätigen, modifizieren 
und erweitern die bisher bekannten Tatsachen. Tab. l^gibt ein Bild der 
Hemmungen, soweit sie durch den Umfang des Zahlbildes (= Summe der 
Zahlkörper) veranlaßt und durch die Fehlerprozente gekennzeichnet werden. 


Tab. 1. 


Summe 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

; 

9 

10 

Lesefehler 

0 

8 o/o 

17 °/o 

19 o/ 0 

43 °/o 

65 % 

8l°/o 

138 o/o 

o“ 

O 

o 


Sie ist der Auszug einer einzigen, für unseren Zweck besonders passenden 
Versuchsreihe. Charakteristisch sind der schwache Anstieg der Fehlerkurve 
im Gebiet des simultanen Aufmerksamkeitsumfanges, ihr beschleunigtes An¬ 
wachsen von der 6 bis 9 und die Remission bei 10. Letztere ist erklärt 
durch das „Wissen“ der Vp. von der absoluten Zahl der Zahlkörper. Auf¬ 
gaben, deren Summen über 10 lagen, kamen nicht in Frage. Der Spielraum 
für Fehler war somit bei den Aufgaben der letzten Rubrik einseitig, bei den 
übrigen doppelseitig. Subjektiv hatten die Schüler das Gefühl, als ob die 
Zahlenreihe nicht weiter anwachsen könne. Die Darbietung einer Zahl als 
Additionsaufgabe gestattet ferner den Nachweis der inneren Hemmung 
der einzelnen Summanden. Wenn das einemal die Aufgabe 2 + 3, das 
andremal die Aufgabe 4 + 3 gezeigt wird, so leidet nicht nur das Gesamt¬ 
resultat infolge Vergrößerung der Summe — die Lesbarkeit beider Summanden 
verschlechtert sich —, sondern es wird daneben die Trefferzahl für den ersten 
Summanden wegen verstärkter innerer Hemmung prozentual mehr herab¬ 
gesetzt als die Trefferzahl für den zweiten Summanden. Tab. 2 (S. 212) er¬ 
läutert die Tatsachen in Zahlen. 

Wir sehen in der ersten Rubrik die Lesbarkeit der einzelnen Summanden 
der Aufgaben 1 + 1, 1 + 2, 1 + 3 ... 1 + 8, — von den 2. Summanden den 
Durchschnitt —, verglichen mit der Lesbarkeit der Aufgaben 2 + 1, 2 + 2, 
2 + 3 ... 2 + 8. Da die zweite Aufgabenreihe eine durchschnittlich größere 
Summe ergibt, ist sie im ganzen schwerer lesbar als die' erste Aufgabenreihe. 
Die Summanden 1,2 ... 8 sind durchschnittlich größer als die Summanden 
1 und 2 und darum mit höheren Fehlerprozenten behaftet. Endlich ist 2 
von größerer innerer Hemmung als 1, wodurch das Fehlerverhältnis der 
beiden Summanden verschoben wird. Es beträgt für die erste Aufgaben¬ 
reihe 5: 39 = 0,13, für die folgende 0,45. Dieselben Erscheinungen können 
mit einer Ausnahme an den übrigen Spalten festgestellt werden. Die Werte 
der letzten Spalte kommen aus dem bereits angeführten Grund für den Ver¬ 
gleich nicht in Frage. Ob neben der inneren Hemmung der Summe und 
einzelnen Summanden noch gegenseitige Hemmungen der Summanden bei 
tachistoskopischer Beobachtung eine Rolle spielen, läßt sich an dem vor¬ 
handenen Material nicht nachweisen. 


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14 * 

Original fro-m 

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212 


August Franken 


Tab. 2. Hemmungserscheinunge n 


Summand: 

i+ 







1,2..7 

3+ 



1,2..6 

4+ 




1 

Zahl der Auf¬ 
gaben 

800 

800 

700 

700 

600 

700 

500 

500 


Prozentualer 

Lesefehler 

5 v 

39^ 

24 

53 

21 

51 

40 

54 

37 

45 

44 

43 

45 

37 

1 

25 

70 



Dagegen bietet es Gelegenheit, die allgemeinen Gesetze der Obungskurve 
in einem besonderen Fall zu bestätigen. Die Zahlenkurven der Tab. 3 ver¬ 
einigen die Ergebnisse eines nach Bedarf mehr oder weniger umfangreichen 
Materials. 


Tab. 3. Übungskurven. 


Sitzung 

1 

2 

3 

D 


Versuchsreihe 

Prozentualer Lesefehler . . . 

107 

66 

50 

46 

42 

m-vni 

aM der Intervariation .... 

12 

7 

6,3 

5,7 

5,6 

H 

aM der Intravariation .... 

1.47 

0,81 

0,64 

0,61 

0,59 

VI 

Zweifel in Prozenten .... 

44 

46 

40 

36 

35 

m-vni 

Mittlere Variation des Zweifels 

21 

17 

13 

20 

23 

r» 

UrteilBvorsicht in Prozenten 

61 

68 

66 

62 

62 

tt 

Urteilsvorsicht in Prozenten 
Mittlere Variation der Urteils¬ 

54 

76 

79 

71 

66 

VI 

vorsicht . 

31 

21 

19 

29 

28 

99 


Die Fehlerkurve verrat das erwartete anfangs starke, später schwächere 
Sinken. Die Übung gleicht nicht nur die Leistungen der verscniedenen 
Individuen einander an, sondern macht auch die Leistungen des Einzelnen 
stetiger (Spalte 2 und 3). Unsicherheit und Vorsicht (Spalte 4, 6 und 7) 
scheinen nach der ersten Sitzung durch die fortwährende Selbstkontrolle zu 
gewinnen, um sich später auf dem Wege der Gewöhnung wieder ihrem 
natürlichen Wert zu nähern. Hiernach dürfte insbesondere die Urteilsvorsicht 
ein sehr empfindliches Reagens auf Instruktionsmotive sein. Die mittleren 
Variationen der Verhältniswerte folgen keiner klar erkennbaren RegeL 
Dagegen springt die Übereinstimmung zwischen der Zweifel- und Vorsicht¬ 
kurve in die Augen und legt den Gedanken einer Korrelation beider Werte 
nahe. Wir wollen dieser Frage aber in einem größeren Zusammenhang nach¬ 
gehen. 8 von den 10 Untersuchungsreihen waren so eingerichtet, daß jedesmal 
je 10 gleich alte Schüler, Knaben und Mädchen aus gemischten Klassen in 
gleicher Zahl, geprüft wurden. So konnten für sämtliche Werte je 8 Rang¬ 
reihen zu 10 Personen aufgestellt werden. Hiervon wurden zuerst die ein¬ 
zelnen Korrelationskoeffizienten, alsdann von den 8 gleichsinnigen Werten 
das arithmetische Mittel und die mittlere Abweichung berechnet. Bei der 
Berechnung des wahrscheinlichen Fehlers wurde für n die Gesamtzahl der 
Versuchspersonen eingesetzt Tab. 4 deckt die Beziehungen der Werte auf. 
Unsere oben ausgesprochene Vermutung über die Beziehung zwischen Zweifel 
und Urteilsvorsicht wird zahlenmäßig erhärtet. Zweifel und Urteilsvorsicht 
entspringen allem Anschein nach denselben inneren Motiven. Auch zwischen 
den Lesefehlern und der Intravariation besteht eine ausgesprochene Korre¬ 
lation. Ungleichmäßigkeit und Fehlerhaftigkeit der Leistungen weisen somit 


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Psychologische Nebenergebnisse einer tachistoskopischen Untersuchung von Zahlbildern 213 


an den Summanden. 



H 

M 


1,2. .4 

o» 

+ 










9+ 

1 

1. Raum¬ 
lage 

2. Raum- 
läge 

I 

400 

400 

300 

300 

200 [ 

200 

100 

100 

7200 

7200 

1 


27 

75 

38 

75 

37 

133 

44 

156 

33 

100 

24 

129 

5 

85 

32 

37 

55 


ebenfalls eine ausgeprägte psychologische Verwandtschaft auf, wie auch im 
praktischen Leben mangelhafte und unzuverlässige Arbeit begrifflich selten 
gesondert werden. Weniger deutlich, doch immer noch sicher als Durch¬ 
schnitt von 8 Koeffizienten ist die positive Beziehung zwischen den objektiven 
und subjektiven Werten. Sie beweist, daß unter normalen Bedingungen, soweit 
keine Motive die Aussagen fälschend beeinflussen, der Zweifel besonders bei 
Personen auftritt, für die er objektiv infolge geringerer Beobachtungsfähigkeit 
auch am meisten berechtigt ist. Parallel mit dieser Tatsache geht eine andere: 
Relativ fehlerlose Reihen enthalten verhältnismäßig wenig Zweifel. Den 
zahlenmäßigen Beweis hierfür wird die methodische Arbeit über Zahlbild¬ 
versuche bringen. Vom pädagogischen Standpunkt aus wäre es wünschens¬ 
wert, wenn die korrelative Beziehung zwischen Fehlerhaftigkeit der Beobach¬ 
tung und Vorsicht der Aussage größer wäre, als sie tatsächlich vorhanden ist. 

Tab. 4. Korrelationen X 100. 


J. 



Intra¬ 

variation 

wahrsch. 

Fehler 

mittlerer 

Fehler 

Zweifel 

wahrsch. 

Fehler 

mittlerer 

Fehler 

Urteils¬ 

vorsicht 

wahrsch. 

Fehler 

mittlerer 

Fehler 

Lesefehler .... 

72 

5 

32 

40 

7 

26 

23 

8 

29 

Intravariation . . . 

: 



31 

8 

33 

25 

8 

23 

Zweifel. 







90 

3 

8 


Die Korrelationstabelle macht uns auch die Art der ziemlich geringfügigen 
Unterschiede zwischen den Geschlechtern verständlich. (Vgl. Tab. 5.) 


Tab. 5. Knaben und Mädchen. 


arithmetische Mittel 
•und mittlere Abweichungen für 

Lesefehler 

Intra¬ 

variation 

Zweifel 

Urteils¬ 

vorsicht 

41 Knaben. 

66,6 ± 11 

79,6 ± 8 

33 ± 13 

69 ± 21 

41 Mädchen. 

65 ± 12 

86 ± 14 

30 ± 23 

66 ± 24 


Daß die Mädchen eine geringere Unsicherheit und Vorsicht in den Be¬ 
hauptungen aufweisen, verdanken sie höchst wahrscheinlich nicht ihrem 
Geschlecht, sondern ihrer etwas besseren tachistoskopischen Lesefertigkeit. 
Die Unterschiede werden aber auch hier mit fortschreitender Übung aus¬ 
geglichen. (Vgl. Tab. 6.) 


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214 A. Franken, Psychol. Nebenergebnisse einer tachißtoskopiscben Untersuch, v. Zahlbildern 


Tab. 6. Prozentuale Lesefehler. 


in Sitzung 

1 

2 

3 

4 

5 

für die Knaben . . 

109 

68 

50 

47 

42 

für die Mädchen . 

106 

62 

49 

45 

41 


Ein Beispiel dafür, daß man mit der Konstatierung typischer Unterschiede 
recht vorsichtig sein muß. 

Gleiche Zurückhaltung ist bei der Deutung der wiedergegebenen Beziehungen 
am Platze. In diesem Sinne verdienen unsere Zahlenskizzen einen etwas 
breiteren Rahmen. Wir fanden Analogien im Verhalten des Einzelnen und 
der Gesamtheit nicht nur, was selbstverständlich ist, im allgemeinen Übungs¬ 
verlauf, sondern auch in den Veränderungen der Inter- und Intravariation, 
zwischen den korrelativen Beziehungen der verschiedenen Leistungen und 
der Beeinflussung dieser Leistungen durch objektive Bedingungen. Bestehen 
hier geheimnisvolle Beziehungen zwischen Massen- und Einzelbewußtsein, oder 
haben wir es nur mit mathematischen Folgerungen zu tun? 

Augenscheinlich mit den letzteren. So ist die Parallelität zwischen Inter- 
und Intravariation eine mathematische Notwendigkeit. Mathematisch betrachtet 
ist das Individuum ein Bündel von Reaktionsmöglichkeiten, dessen Umfang 
mit steigender Übung abnimmt. Im Anfangsstadium der Übung gleicht der 
Einzelne einem Zwölfflächner, der «zum Würfeln benutzt wird. Nach den 
Regeln der Wahrscheinlichkeit ist für jede Fläche die Möglichkeit, Bild zu 
werden, gleich groß. Eine „Sitzung“ mit dem Würfel ergäbe somit 6,5 als 
wahrscheinliches arithmetisches Mittel und 3 als Intravariation. Nehmen wir 
ebensoviele Zwölfflächner, als wir in der Sitzung geworfen haben, so erhalten 
wir mit einem Wurf die gleiche Intervariation. Im Endstadium der Übung 
gleicht der Einzelne einem Sechsflächner mit einer lntravariation von 1,5. 
Dieselbe Einschränkung erfährt unter Benutzung vieler Würfel der Inter¬ 
variationskoeffizient. Somit ist die größere Homogenität der Masse bei fort¬ 
geschrittener Übung eine mathematische Folgerung der gleichmäßiger werden¬ 
den Reaktion. In derselben Weise lösen sich die korrelativen Beziehungen 
in Tatsachen des Einzelbewußtseins auf. Komplizierte bzw. labile Leistungs¬ 
verhältnisse beim Individuum führen notwendig zu geringen Korrelations¬ 
koeffizienten. 

Über diese mehr theoretischen Beziehungen hinaus sind die aufgedeckteh 
Verhältnisse außerdem von praktischem Wert für die methodische Unter¬ 
suchung. Während man sich bisher bei Zahlbilderversuchen mit den ge¬ 
machten Fehlern als einzigem Kriterium der Güte einer Versuchsreihe be¬ 
gnügte, bieten unsere Ergebnisse mehrere wertvolle Hilfskriterien: die subjektive 
Sicherheit, die Abweichung (absolute und relative) der Reihen und Aufgaben. 
Man sollte in psychologischen Untersuchungen von diesen Werten zur Ver¬ 
stärkung des Gewichts der Ergebnisse und zwecks Entscheidung zweifelhafter 
Fälle mehr als bisher Gebrauch machen. 


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Heinrich Klüver, Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr 


215 


Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr. 

Von Heinrich Klüver. 

Es ist hicht zu bestreiten, daß bis vor kurzem bei schulorganisatorischen 
Reformen psychologische Gesichtspunkte erst in zweiter oder letzter Linie 
berücksichtigt wurden. Daß sie nicht berücksichtigt werden „konnten“, ist 
selbst eine Tatsache, die in sozialpsychologischer und soziologischer Hinsicht 
interessant ist. Der Ruf nach einer „entwicklungstreuen“ Pädagogik wurde 
überall gehört; aber die damit erhobene Forderung blieb zumeist Forderung. 
In der letzten Zeit jedoch wird öfter als früher der Schulbau psychologisch 
fundiert. Über den organisatorischen Versuch Ederts, in seinem „Parallel¬ 
klassensystem“ die individuellen Begabungsdifferenzen zu berücksichtigen, 
habe ich bereits kurz berichtet (Zeitschr. f. Päd. Psychol., Bd. XXHI, S. 190 f.). 
In der Mädchen-Volksschule Moortwiete und der Knaben-Volksschule Bahren¬ 
felder Str., Altona, bestehen die von ihm vorgeschlagenen Parallelklassen. 
Die Kinder jedes Schuljahres sind hierauf drei Züge verteilt: A-Zug begabte, 
B-Zug mittel- und C-Zug Schwachbegabte Schüler. Die Ostern 1921 diesen 
Schulen zugewiesenen Kinder wurden am 11. März 1922 vom Psychologischen 
Laboratorium Hamburg einer Prüfung unterzogen, um die von -den Lehrern 
vorgenommene Differenzierung nachzuprüfen. (Einzelprüfungen: jedes Kind 
etwa 40—45 Minuten). In Nr. 6 der „Hamburger Arbeiten zur Begabungsfor¬ 
schung“ wird ein eingehender Bericht über diese Untersuchung erscheinen: 
eine Übersicht über das Gesamtverfahren, eine genauere Darstellung der 
einzelnen Prüfmittel und der Bewertungsmethoden, ein Beobachtungsbogen 
für das erste Schuljahr usw. Hier sollen nur einige wesentliche Ergeb¬ 
nisse der Prüfung festgehalten werden. 

Von den Schulen waren 252 Kindern angemeldet: Mädchen-V. 119, 
Knaben-V. 133. Die Zahl der Schüler, über welche nach Auswertung der 
Protokolle ein psychologisches Urteil vorlag, stimmte natürlich nicht mit der 
Zahl der Angemeldeten überein: Ausbleiben am Prüfungstag, Fehlen einiger 
Protokollblätter, Abmeldungen, zu hohes Alter usw. So zählte die endgültige 
Testrangordnung der Mädchen-V. 112 Namen, die der Knaben-V. 107. 

* Folgende Tests, von denen 1—V stumme sind, wurden angewandt: 

I. Ordnungsaufgaben: 

1. Ordnen von 3 Kästchen nach der Schwere. I Dem Kind wird der Ordnungs- 

2. Ordnen von 5 Kästchen nach der Schwere, j geeichtspunkt gegeben. 

3. Ordnen von Kreisen nach der Größe. I Vo m Kind wird der Ordnungs- 

4. Ordnen von Kreisen nach der Helligkeit. | geeichtspunkt verlangt. 

II. Bilderbogentest. (Ordnen einer Bilderserie.) 

IR. Schraubensortiertest: Schrauben verschiedener Größe sortieren und 
in Kästchen einordnen. 

IV. Mittel zur Prüfung des räumlichen Vorstellens. 

1. Zusammensetzen einer Kirche: Die Teile der Abbildung einer Kirche, 
die ungeordnet durcheinanderliegen, sind zusammenzusetzen. 

2. Zusammensetzen eines Rechtecks aus drei Teilstücken. 


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Heinrich Klüver 


216 


V. Haltungslotto. 1 ) (S. Alice Descoeudres: Le Döveloppement de l’enfant 
de deux ä sept ans.) 

VI. Betrachten von drei Bildern. (S. Bobertags Staffelsystem.) 1. Schnee¬ 

ball. 2. Blindekuh. 3. Unachtsamkeit. 

VII. Ergänzungstest. 

Vin. Vergleich konkreter Begriffe. 

IX. Mittel- zur Prüfung der Merkfähigkeit. 1. Wörtliche Wiedergabe von 
Sätzen. — 2. Inhaltliche Wiedergabe von Sätzen. — 3. Ausführen 
von drei Aufträgen. 

Belangvoll für die Schulen war die Beantwortung der Frage: Wie verhält 
sich die auf Grund der psychologischen Prüfung gewonnene Rang¬ 
reihe zu unserer auf einjähriger Beobachtung fußenden Ran¬ 
gierung? Es ergab sich für die 



Mädchen. 

1. a) Die ersten 5°/n der „psychologischen“ Rangordnung sind die besten 
Schüler des A-Zuges, die letzten 5°/o Schüler des C-Zuges. 

. b) Zu den ersten 25°/o gehören nur Schüler des A-Zuges und — bis auf 
eine Ausnahme — Schüler der ersten Hälfte des B-Zuges; die letzten 25o/# 
bestehen aus Kindern des C-Zuges und — bis auf vier Fälle — der letzten 
Hälfte des B-Zuges. 

2. Hätten wir auf Grund nur der Testprüfung eine Einteilung der Kinder 
in drei Gruppen, die zahlenmäßig den Klassen des Parallelklassensystems 
entsprechen, vornehmen sollen, wäre das Ergebnis folgende Verteilung ge¬ 
wesen: A-Zug auf Grund der psychologischen Untersuchung: Kinder aus dem 
jetzigen A-Zug, aus der ersten Hälfte des B-Zuges; kein Kind des C-Zuges. — 
C-Zug: Kinder aus dem jetzigen C-Zug, aus der letzten Hälfte von B, 
kein Kind aus der ersten Gruppe des B-Zuges, kein Kind des A-Zuges. — 
B-Zug: in seiner letzten Hälfte acht Kinder, die jetzt im C-Zug sind. 

3. Abweichungen sind vorhanden, aber Urteilsdifferenzen extremer Art 
fehlen ganz. 


Knaben. 


Die Abweichungen sind hier größer. A-Zug auf Grund der Testprüfung: # 
zwei Kinder des C-Zuges, im übrigen Kinder aus dem A- und B-Zug. 
C-Zug: kein Kind des A-Zuges, Kinder des C- und B-Zuges. (Hier auch 
aus der ersten Hälfte von B.) In unseren B-Zug würden dementsprechend 
auch Kinder des jetzigen A- und C-Zuges gehören. 

In bezug auf die Abweichungen ist im allgemeinen zu bemerken: 1. Be¬ 
gabungsfeststellungen für das hier in Betracht kommende Alter sind schwie¬ 
riger als auf höheren Altersstufen. 2. Unser Urteil gründet sich auf eine 
Experimentaluntersuchung von 40—45 Minuten für jedes Kind. 3. Angaben 
über häusliche Verhältnisse des Kindes — über körperliche Beschaffenheit, 
Fleiß usw. — waren nicht gemacht worden. (Fehlen des Beobachtungsbogens 1) 

4. Das Lehrerurteil berücksichtigt Komponenten nicht-psychologischer Natur. 


l ) Die Lottokarte enthält 8 Silhouetten von Knaben mit verschiedener Arm- und Beinhaltung. 
Das Kind muß 8 Einzelbilder richtig auflegen. 


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Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr 


217 


Es ist klar, dafi sich — unter Beachtung dieser Faktoren — itv Besprechungen 
mit den Lehrern des Parallelklassensystems viele Abweichungen aufklären. 
In der Tat zeigte sich, daß die Übereinstimmung zwischen Test- I 
und Lehrerurteil bei weitem größer war als der Vergleich der 
beiden Rangreihen ergeben hatte. In Fällen, wo wir die Kinder niedriger 
einrangiert hatten als die Schule, hieß es etwa: viele häusliche Hilfe, kann 
deshalb folgen; erzählt außerordentlich gut; antwortet schlagfertig; außer¬ 
gewöhnlich fleißig, stets eifrig usw. In Fällen, wo die Schule niedriger ein¬ 
geschätzt hatte: Schulläufer, auf der Straße recht munter; schlechte häusliche 
Verhältnisse; beim Spiel aufgeweckt, kommt aber sonst nicht aus sich heraus; 
sehr schüchtern usw. Wenn in den Besprechungen mit den Lehrern die bei 
dem psychologischen und Schulurteil mitsprechenden Faktoren herausgehoben 
wurden, sah man auf beiden Seiten die relative Berechtigung der jeweiligen 
Einrangierung. Der Leiter der Mädchen-V. fand 
keinen Fall, in dem er nicht unserer Fähigkeits¬ 
feststellung zustiramen konnte. In der Knaben-V. 
lagen die Verhältnisse ähnlich: dort blieben im 
gesamten Schülermaterial etwa drei bis vier Fälle, 
wo Urteil gegen Urteil stand. Bemerkt werden 
mag noch, daß zwei B-Zügler, die bei uns für den 
A-Zug angesetzt waren, früher bereits im A-Zug 
gewesen waren, daß hingegen vier A-Zügler be¬ 
reits in den B-Zug geschoben waren, die nach 
unserem Urteil in den B- bzw. C-Zug gehörten. 

Das Ziel unserer Untersuchung war nicht, Ent¬ 
scheidungen über die Schulbahn Siebenjähriger zu 
treffen. Nur in einigen Fällen wurde auf unsere 
Einreihung hin versuchsweise eine Verschiebung 
vorgenommen (z. B. ehemaliger A-Zügler wieder 
in den A-Zug). Unser Ziel war vielmehr eine „Nach¬ 
prüfung“ der bereits gewonnenen Differenzierung mit psychologischen Mitteln, 
und hier darf wohl als allgemeines Ergebnis festgehalten werden: eine mit 
psychologischen Methoden vorgenommene Begabungsdifferen¬ 
zierung siebenjähriger Volksschüler weicht nicht erheblich von 
einer von Lehrern auf Grund sorgfältiger und gewissenhafter Be¬ 
obachtung vorgenommenen Differenzierung ab. Ferner: intensive Be¬ 
obachtung in den ersten Schulwochen -f- Experiment dürften eine halbwegs 
stabile Gliederung schaffen. In unserem Fall führten Abweichungen im Test- 
Schul-Vergleich zur schärferen Beobachtung des jeweiligen Kindes, um über 
die Grundlagen des eigenen und des in so präziser Form vorliegenden psycho¬ 
logischen Urteils größere Klarheit zu gewinnen. 

Neben diesen das pädagogische Gebiet berührenden Feststellungen seien 
einige Ergebnisse psychologischer Natur mitgeteilt. 

- A. Verteilung der Leistungen. 

Die Leistung eines jeden Kindes in jedem Test fand ihren Ausdruck in einer 
Prozentzahl. Die Prozentzahlen aller Tests wurden addiert. Die Leistungen 
der Knaben schwanken zwischen 992 °/o und 359 °/o, die Leistungen der 



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218 


Heinrich Klüver, Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr 


Mädchen zwischen 1179 °/o und 49°/o. (2 Leistungen unter 350 °/o, eine 
Prozentzahl Ober 1150.) 

K.: mittlere Leistung 720, mittlere relative Abweichung 16°/o 

» » 722, „ „ n 22°/o. 

Bildet man in jeder Rangreihe 8 Stufen, so ergibt sich für Knaben und 
Mädchen Tabelle I (s. auch die Kurve): 


Tabelle I. Tabelle II. 


Leistung in Prozent¬ 
zahlen 

Anzahl der 
Knaben in 
Prozenten 

Anzahl der 
Mfldchen in 
Prozenten 

Leistungen in 
Prozentzahlen 

Anzahl der 
Schiller in 
Prozenten 

über 1050 

0 

2,8 

über 1050 

1,5 

1050 — 950 

4,4 

1 112 

1050 — 950 

8,1 

950 — 850 

15,6 

j 14.0 

950 — 850 

14,7 

850 — 750 

20,0 | 

13,1 

850 — 750 

162 

750 — 650 

31,1 

22,4 

750 — 650 

26,4 

650—550 

14,4 

17,8 

650 — 550 

16,2 

550 — 450 

11,1 

13,1 

550 — 450 

122 

450 und weniger 

3,3 

5,6 

450 — 350 

4,6 


Die Knaben haben also auf den mittleren Stufen gegenüber den Mädchen 
ein Plus, während die Mädchen auf den höheren und niedrigeren Stufen die 
Knaben überragen: 

Leistungen von 1050—850: K. 20°/o, M. 28°/o, 

650—350: K. 28,8%, M. 36,5%. 

Dagegen Leistungen von 850—650: K. 51,1%, M. 35,5 °/o. 

In der Gesamtheit der geprüften Schüler (Knaben-V. + Mädchen-V.) ver¬ 
teilen sich die Leistungen nach Tabelle II (s. auch die Kurve). 


B. Korrelation der Testrangordnung zur Schulrangordnung. (Tab.IQ.) 

Testrangordnung und Rangreihe der Knaben-V. 0,56, Testrangordnung und 
Rangreihe der Mädchen-V. 0,71. Schon oben war erwähnt worden, daß die 

Abweichungen bei der 
Knaben-V. größer sind. 
Man darf jedoch nicht 
vergessen, daß auch bei 
einerpsychologisch fun¬ 
dierten Schulgliederung 
Momente nicht-psycho¬ 
logischer Natur berück¬ 
sichtigt werden: Milieu 
des Kindes, hygienische 
Verhältnisse usw. Bei 
der Zuweisung des ein¬ 
zelnen Kindes in einen 
bestimmten Zug ist 
solchen Tatsachen Rechnung zu tragen. Vielleicht mußten bei dem Schüler¬ 
material der Knaben-V. solche Faktoren stärker berücksichtigt werden. Die 
Gesamtrangordnung der Schule muß in diesem Fall, auch wenn die innerhalb 


Tabelle HI. 


Einzeltest 

Schulrangordnung 

Gesamttestreihe 

| Knaben 

Mfldchen 

Knaben 

Mfldchen 

Ordnungsaufgaben . . 

0,38 

0,50 

0.75 

0,75 

Räuml. Vorstellungsf. . 

1 




a) Kirche .... 

0,56 

0,44 

0,62 

0,57 

b) Rechteck . . . 

0,50 

0,49 

0,53 

0,43 

Haltungslotto .... 

0,56 

0,44 

0,62 

0,57 

Betrachten der Bilder 





a) Sprachl. Form . 

0,13 

0,52 

0,55 

0,70 

b) Erklärung'. . . 

0,18 

0,28 

0,58 

0,70 

Bilderbogentest . . . 

| 0,56 

— 

0,25 

— 


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A. Fischer, ZurTheorie d. emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 219 


einer Klasse vorgenommene Rangierung zutreffend ist, gewisse Unstimmig¬ 
keiten enthalten. Zu beachten ist ferner, daß der Lehrer die Kinder der 
anderen P.-S.-Klassen nicht oder nicht genau kennt. 

i i 

C. Korrelation von Einzeltests zur Schulrangordnung und zur 

Gesamttestreihe. 

Im allgemeinen sind die Korrelationen zur Gesamttest-R. höher als zur 
Schul-R. Eine Ausnahme macht der Bilderbogentest. Er korreliert nur wenig 
mit der Gesamttest-R., hat jedoch zur Schul-R. dieselbe Korrelation wie die 
Gesamttest-R. selbst: 0,56. 

D. Unterschiede der Knaben- und Mädchenleistungen in den 

stummen Tests. 

Weil durch eine zu starke Berücksichtigung der sprachlichen Komponente 
wirkliche Begabungsunterschiede bei den Siebenjährigen oft verdeckt werden, 
hatten wir eine große Anzahl stummer Tests in die Serie aufgenommen. Die 
Auswertung dieser Aufgaben ergab bemerkenswerte Differenzen in den 
Knaben- und Mädchenleistungen: 

1. Ordnungsaufgaben: 

niedrige Punktzahlen (0—6 P.): K. 14,1%, M. 22,6°/ 0 , 
mittlere „ (7—15 P.): K. 61,60/ 0 , M. 53,1«/«, 

höhere „ (16—21 P.): K. 23,4°/o, M. 23,4<>/o. 

2. Bilderbogentest. Legen einer Serie von 5 Bildern (Apfeldiebe): 

K. 43,5<>/o, M. 39,6 0 / 0 . 

2. Schraubensortiertest (80—100°/oigeLeistungen), a) nach Zeit: K. 39,75°/o, 
M. 36,75°/o, b) hinsichtlich der Richtigkeit der Einsortierung: K. 65°/o, M. 54°/o. 

4. Mittel zur Prüfung der räumlichen Vorstellungsfähigkeit: 

a) Kirche. Volle Pluslösungen: K. 65o/ 0 , M. 540 / 0 . 

b) Rechteck. Volle Pluslösungen: K. 40o/ 0 , M. 24°/o. 

5. Haltungslotto: Lösung mit 0 Fehlern: K. 34°/o, M. 18°/o. 

Ergebnis: Es scheint, daß, wo es sich bei siebenjährigen Volksschul¬ 
kindern um die Lösung von Aufgaben, bei welchen sprachliche Befähigung 
keine oder eine nur geringe Rolle spielt, handelt, die Knaben in ihren 
Leistungen den Mädchen voranstehen. 


Zur Theorie der emotionalen Bildung — 
am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung. 

Von Aloys Fischer. 

Die Arbeit der intellektuellen Bildung ruht seit Jahrhunderten auf 
einer mehr oder minder festen Theorie. Die psychologische Grundlegung 
hat die Entwicklung der sensorischen, mnemischen und intellektuellen Funk¬ 
tionen so weit aufgehellt, daß ein Stufengang der planmäßigen Pflege dieser 
Kräfte und Hand in Hand damit eine geordnete Erweiterung des geistigen 
Besitzstandes und Blickkreises möglich ist In den Bemühungen zur Lehr¬ 
plantheorie und in den immer wieder umgeschaffenen Lehrplänen sind 
einigermaßen feste Zielsetzungen der intellektuellen Bildung sowohl für die er- 


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Aloys Fischer 


ziehenden wie für die fachlichen Schulen vorhanden. Die Unterrichtsverfahren 
und Unterrichtshilfsmittel haben den. Zusammenhang mit den Fortschritten 
der Wissenschaft niemals dauernd verloren, und in der Lehrerbildung — sowohl 
für die höheren Schulen wie für die Volksschule — stand die Sachlichkeit des 
theoretischen Bildungsgutes immer im Mittelpunkt. So besitzen wir heute 
eine Theorie der intellektuellen Bildung, die nach Reichtum und Feinheit 
ihrer Gedankengänge zweifellos das Glanzstück der pädagogischen Wissen¬ 
schaft bildet und jedem Lehrer eine Summe wohlerprobter Verfahren an die 
Hand stellt, mit denen er auch ohne besondere eigene didaktische Erfindungs¬ 
gabe und starkes Eigenleben Erträgliches zu leisten vermag. 

Der Vorsprung der Didaktik beruht nicht nur auf dem hohen Alter der 
einschlägigen Überlegungen und der daraus entsprungenen Traditionen, er 
erklärt sich wohl auch aus der größeren Leichtigkeit,und Systemfähigkeit der 
intellektuellen Bildungsarbeit. Intellektuelle Prozesse lassen sich in der Tat 
bis zu einem gewissen Grad kommandieren. Darauf kommt es aber bei 
einer nach festem Plan auf bestimmte Ziele hinarbeitenden Massenlehranstalt 
wie der Schule an. Wir brauchen nur Anschauungsgegenstände zu bieten, 
um sicher zu sein, daß sich bei dem größten Teil der Schüler daran geistige 
Akte knüpfen, deren Bearbeitung den Lehrinhalt gewinnen hilft, brauchen 
nur Fragen zu stellen, um eine Ablaufsrichtung des Vorstellungs- und Denk¬ 
lebens anzubahnen, die die Kunst des Lehrers dann weiter zu verwerten 
vermag. Die Betätigung der intellektuellen Funktionen ist in hohem Maße 
willkürlich möglich, darum auch didaktisch regulierbar nach festem zeitlichen 
Plan und unter Einsatz bestimmter Lehrverfahren. 

Vergleichen wir mit der hohen Blüte der reinen Didaktik den imsicheren 
Stand unserer Theorie der emotionalen Bildung, so treten hier nur wenige 
Kapitel uns in ähnlicher Geschlossenheit entgegen, so etwa die Lehre von 
der Schulzucht und ihren Hilfsmitteln (Beaufsichtigung, Schulordnung, Strafe) 
oder die Lehre von der Erziehung zu sozialer Eingliederung und Brauch¬ 
barkeit. Aber bei genauerer Prüfung stellt sich heraus, daß dabei die äußer¬ 
liche Angleichung und sozusagen rechtliche Dressur stärker im Vordergrund 
steht und sicherer erreicht wird als die Tiefendimension der inneren Bildung: 
des Gemüts-, Willens- und Wertlebens der werdenden Persönlichkeit. Ja, es 
fehlt nicht an pessimistischen Stimmen, die es überhaupt für unmöglich er¬ 
klären, die emotionale Bildung in ähnlicher Weise zu systematisieren, in 
einen lückenlosen und planmäßigen Aufbau zu bringen wie die intellektuelle 
Bildung, die alle Erziehung im engeren Sinne für prinzipiell „gelegenheit- 
lich“ erklären und jedenfalls der Schule, wenn sie ihr überhaupt noch 
Erziehungsaufgaben zuerkennen, eine durchaus subsidiäre Bedeutung für das 
eigentliche Erziehungswerk zuschreiben: mittelbare Beiträge durch die Schulung 
der Denkkräfte, gelegentliche durch Heranziehung irrationaler Kulturgüter wie 
der Kunst, der Religion, der Sitte und Sittlichkeit Man hält Irrationales nicht 
für „lehrbar“ und glaubt sogar, Erhebliches geleistet zu haben, wenn man 
die Intellektualisierung bekämpft, während man doch faktisch übersieht, daß 
das irrationale Leben, ob lehrbar oder nicht, ein notwendiger und sogar der 
entscheidende Gegenstand der Bildungsarbeit auch der Schule ist. Etwas 
„lehren“ heißt eben nicht nur, richtige Kenntnisse und Einsichten vermitteln. 
Mit einem so eng gefaßten Begriff könnten wir Kinder nicht einmal sprechen 
und gehen lehren, geschweige denn fromm sein. Gäbe es nicht einen ur- 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 221 


sprünglicben Sinn von Lehre, aus dem die verständige Lehre unter bestimmten 
Bedingungen erst als Spezialfall abgeleitet ist, so müßten wir in der Tat 
sagen, daß weder die grundlegenden noch die höchsten Lebensgebiete lehr¬ 
bar sind, sondern der spontanen Selbstentwicklung oder der blinden Gewöhnung 
überlassen werden müssen. So ist die Bestreitung der Lehrbarkeit von Tugend 
und Sitte, Glauben und Frömmigkeit, sozialer Treue und Verantwortlichkeit 
weit davon entfernt, eine unerschütterliche Wahrheit zu sein, vielmehr nur 
der Ausfluß eines willkürlichen Schulbegriffs vom Lehren, den für richtig zu 
halten niemand und nichts verlangen darf. Die erzieherische Praxis hat zu 
keiner Zeit darauf verzichtet, auch auf den irrationalen Lebensgebieten die 
Jugend zu lehren, und sie hat das mit instinktiver Sicherheit in einer Weise 
versucht, die die Verengung der Lehre in Verstandesaufklärung beiseite schob. 
Das Wort „lehren“ hat in der Theorie der intellektuellen und in jener der 
emotionalen Bildung denselben Sinn; nur wenn man auch auf intellektuellem 
Bildungsgebiet das Lehren sich schon erschöpfen läßt in Vermittlung und 
verstehend-gedächtniStnäßiger Aneignung fertiger Einsichten, entsteht zwischen 
den beiden Hauptgebieten der Bildungsarbeit eine Kluft derart, daß auf der 
einen Seite die Lehrbarkeit der Wissenschaft, auf der anderen die Unlehrbar¬ 
keit der Tugend, Kunst, Religion — also letzten Endes des Lebens — liegt. 
Hält man im Gegensatz zu durchaus unberechtigten Verengungen und Ver¬ 
schiebungen als Urintention aller Lehre der Jugend fest, daß sie den heran- 
wachsenden Menschen „leben“ lehren soll, so bleibt das Gebiet der emotio¬ 
nalen Bildung das zentrale auch der Lehre. Und die wissenschaftliche Päda¬ 
gogik hat kein Recht, unter Bestreitung der Lehrbarkeit aus einem vor¬ 
gefaßten Begriff heraus die höchsten Bildungsaufgaben beiseitezuschieben, 
sondern sie muß in vorurteilsloser Versenkung in die gegebenen Zusammen¬ 
hänge sachlich bestimmen, was hier lehren heißt, so wie die Theorie'des 
Unterrichts — wenigstens teilweise — bereits herausgearbeitet hat, was auf 
wissenschaftlichem Gebiet lehren heißt und einschließt. 

Es ist hier nicht der Ort, grundsätzlich die Aufgaben der Schule zu er¬ 
örtern; daß sie heute noch tatsächlich Erziehungsaufgaben hat und haben 
muß, steht fest, und von dieser — meinetwegen nur zeitbedingten, aber für 
uns verbindlichen — Anschauung aus erhebt sich die schwere Frage, wie 
die Schule das unendlich feine und verwickelte Aufgabenbereich der emo¬ 
tionalen Bildung sich eingliedem kann, wie sie ihre ganze pädagogische 
Arbeit von ihr beseelen lassen muß. Daß die Herbart’sche Theorie des 
„erziehenden Unterrichts“, daß namentlich Zillers moralisierende Auslegung 
dieses Gedankens nicht der einzige, ja nicht der fruchtbarste Weg dazu ist, 
dürfte die tatsächlich abnehmende Befolgung dieser Einstellung ebenso unzwei¬ 
deutig gezeigt haben wie die theoretische Kritik derselben. Ob die neuen 
Gedanken der „Arbeitspädagogik“, einer Schule als verkleinerten Spiel- und 
Übungsform des Gemeinschaftslebens und der „Erlebnispädagogik“ von ihren 
berechtigten Ausgangspunkten her je länger je mehr fähig werden, eine neue, 
umfassende Theorie auch der emotionalen Bildung zu schaffen, steht noch 
offen. Jedenfalls haben sie, namentlich die „Erlebnispädagogik“, das Verdienst, 
direkter im Zentrum der Persönlichkeit anzugreifen als die Theorie der in¬ 
tellektuellen Bildung, die schließlich, so imponierend ausgestaltet sie ist, doch 
Funktionen erfaßt, die vom Standpunkt des Lebens aus Mittel, Instrumente, 
nicht aber Kerntriebe der Persönlichkeit sind. 


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Im Sinne eines Beitrags zur Theorie der emotionalen Bildung soll in den 
folgenden Leitsätzen auf eine Frage eingegangen werden, welche, in der Zeit 
der Kunsterziehung lebhaft erörtert, heute in Gefahr ist, über den staats¬ 
bürgerlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Belangen der Persönlichkeit 
übersehen und so um ihre Auswirkung gebracht zu werden, nämlich die 
Bedeutung der Dichtung als Hilfsmittel der emotionalen Bildungs¬ 
arbeit gerade der Schule. 

Geschichtlich betrachtet enthält unser Problem im Einzelfall den Einfluß 
der nur „auf Lehre“ bedachten Einwertung der Schule in deutlichem Maße. 
In der Entstehungsz^it der Volksschule wird die Dichtung höchstens gelegent¬ 
lich herangezogen zur Erholung, Erheiterung, Anregung, in stofflichem Interesse 
und darum inhaltlich vor allem in Verbindung mit der Religion und der 
Pflege des religiösen Lebens. In Zeiten, in denen die Kirchengemeinden den 
Volksgesang als eine Macht hochhielten, lag es nahe, schon der Schuljugend 
das religiöse Lied, besonders dasKirchenüed, nahezubringln, und jederunbefan- 
gene Betrachter wird einräumen müssen, daß mit Wort und Melodie des Kirchen¬ 
liedes eine allerdings imponderable, aber nicht gering zu bewertende Summe 
von Einflüssen auf Gemüt und Wdkthaltung den jugendlichen Menschen zufloß. 
Als man in der Zeit des beginnenden psychologischen Kinderstudiums auf die 
elementare Empfänglichkeit des jungen Menschen für Rhythmus und Reim 
aufmerksam wurde, deren hohe mnemische Funktion neben ihrem Lustwert 
erkannte, hat eine utilitaristisch gesinnte Didaktik diese psychologische Gesetz¬ 
mäßigkeit als Lernhilfe ausgebeutet. Wir lächeln über die mnemotech¬ 
nischen Kunstgriffe, mit denen mittelalterliche Klosterschulmethodik die Sprach- 
regeln und scholastischer Universitätsbetrieb die Schlußformen der Logik 
einprägen ließ, aber die zugrunde liegende didaktische Denkweise ist noch 
lange nicht ausgestorben, sie hat vielmehr (etwa bei Fröbel und manchen 
seiner Mitarbeiter und Nachfahren) Formen angenommen, die bedeutend 
grotesker sind. In der Erziehung des Eieinkindes ist der Bilderbuchmerk¬ 
vers stehend geworden, und in manchen Arbeiten des deutschen Philanthro¬ 
pismus hat der Grundsatz, das' Lernen leicht und zum Spiel zu machen, 
Reim und Rhythmus auch in den Dienst des Geschichts-, Sprach- und Sach- 
unterrichts gezogen, in Zerrformen der Poesie, die oft nicht einmal durch 
ihre naive Komik oder ihren unbeabsichtigten Humor entschädigen. 

In der Auseinandersetzung zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus 
wurden — die Lesebuchfrage ist dafür das bezeichnendste Denkmal — zwei 
neue, seither rivalisierende Stellungnahmen der Schule zur Dichtung heraus¬ 
gearbeitet, verwandt in der fremddienlichen Zwecksetzung, entgegengesetzt 
in der Spezialisierung der Zwecke: Die Dichtung im Dienst des Sach- 
Unterrichts und die Dichtung im Dienst des Sprachunterrichts. Der 
erste Höhepunkt eines sogenannten Kinder- und Jugendschrifttums zeigt uns 
die Fabel, die lehrhafte und erbauliche Geschichte, die moralisierende Er¬ 
zählung, den Sachaufsatz des Schülers in der Gestalt, die ein schreibender 
Lehrer und Erzieher ihm zu geben vermag. Es gehören natürlich die ganzen 
Gedankengänge eines in das Raisonnement verliebten Zeitalters als Hinter¬ 
grund dazu, um diese Entwicklung verständlich erscheinen zu lassen, aber 
auch die speziellen pädagogischen und didaktischen Grundanschauungen 
einer vemunftgläubigen Zeit, um die didaktische Abart der Dichtung gerade 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 223 


als jugendgemäßeste zu empfinden. Der höheren Schule hatte das alt¬ 
humanistische Ideal der Eloquenz den Weg in die Plattheit etwas erschwert. 
Als nun der Neuhumanismus die antike Kultur als Bildungsmittel umdachte, 
tat er es in einer Zeit und einer Tiefe, die uns die Benennung mit dem für 
den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit üblich gewordenen Ausdruck fast 
als irreführend erscheinen läßt. Eine Kulturgesinnung, für die das Ziel der 
Bildungsarbeit die Persönlichkeit als Kunstwerk ist, mußte zur Kunst über¬ 
haupt eine andere Stellung gewinnen als der realistische Philanthropis- 
mus. Es ist seltsam und bedürfte noch eingehender Untersuchung, warum 
gleichwohl auch im Neuhumanismus der kunsterzieherische Gedanke wesent¬ 
lich auf die Literatur beschränkt blieb und auch hier bald eine Abbiegung 
erfuhr. Sicher ist,' daß für die Volksschule, deren entscheidender Aufschwung 
in die Zeit der nationalen Wiedergeburt fällt, unter dem mittelbaren Einfluß 
des Neuhumanismus und im Zusammenhang mit der Romantik, die sich, auf 
Herders organischem Volksgedanken fußend, in der Idealisierung des Mittel¬ 
alters eine Art germanischer Renaissance schuf, eine veränderte Stellung 
zur Spracherziehung und damit zur Dichtung ergab. Die Notwendigkeit der 
Erziehung zur deutschen Schriftsprache war ja für die Volksschule immer 
vorhanden gewesen, jetzt weitet sich diese Aufgabe aus zur Idee der Erziehung 
zu dem in der Sprache verkörperten deutschen Geist und zur Fähigkeit der 
Teilnahme an seiner historischen Mannigfaltigkeit, dem deutschen Schrifttum. 
Das Volksmärchen wird gesammelt, das Volkslied; beide wirken als literarische 
Anreger, die Rheinpoesie entsteht; Arndt, Uhland und Rückert schreiben ihre 
vaterländischen Lieder. Herders Begriff der dichtenden Volksseele wird von 
Hegel erweitert zum denkenden Volksgeist. In dem Bewußtsein, daß „Deutsch¬ 
land da sei durch sein Volk“, dem der Historiker Dahlmann 1815 bei der 
Feier des Sieges von Waterloo Ausdruck gegeben hatte, schuf für die Er¬ 
ziehung, vor aUem für die deutsche Schule eine erhöhte Verantwortlichkeit 
für das nationale Bewußtsein. Wir sehen, wie stofflich der Kreis der schulisch 
angezogenen Dichtung sich erweitert nach der Seite des Volkstümlichen 
und Volksmäßigen, des Historischen und Vaterländischen, in Verbindung mit 
Gesang und Turnspiel, müssen aber methodisch als Fesseln die bald zur 
Herrschaft gelangende Theorie des GeBinnungsunterrichts und eine starke 
Bindung an Aufgaben des reinen Sprachunterrichts mitkonstatieren. 

Selbstverständlich erstreckt sich die Auswirkung der beiden Prinzipien weit 
ins 19. Jahrhundert hinein, und noch Dörpfeld hat an der Lesebuchfrage 
gezeigt, wie das Realienbuch (das auch aus der Dichtung Entlehnungen 
benutzt) und das literarische Lesebuch miteinander im Streit liegen. Einen 
grundsätzlich neuen Gesichtspunkt führten erst die Überlegungen herauf, deren 
sichtbarer, freilich relativ spät heraustretender Markstein die Kunsterziehung 
geworden ist Die Dichtung soUte ihr der von aüer Zwecksetzung aus Sach- 
und Sprachunterricht losgelöste Mittelpunkt einer autonomen ästhetisch¬ 
literarischen Erziehung, einer Geschmacks- und Gemütskultur auch der 
breiten Massen werden. Das Kind sollte Dichtung genießen, werten und 
lieben lernen. Verwandt mit der Gesinnung der Romantik begann eine 
neue Welle des Irrationalismus langsam zu steigen, die Abkehr von dem zur 
Höchstspannung gereiften Geist einer rationalistischen Zweckzivilisation und 
eines auf dem Gebiet der Wirtschaft und Technik beispieUos erfolgreichen, 
aber den Menschen entseelenden und verarmenden Arbeitsfanatismus. Das 


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224 . 


ausgehungerte Gemüt begann sein Recht zu fordern, und edle Naturen glaubten 
in der Kirnst das Organ für eine neue Weltanschauung und auch für die Bil¬ 
dungsarbeit fruchtbar machen zu können und zu sollen. Es ist bekannt, in 
welchen Programmen und Versuchen sich der neue Geist auf dem Gebiet der 
schulischen Pflege der Dichtkunst geltend machte. Alle absichtliche Kinder- 
und Jugendliteratur wurde skeptisch, ablehnend beurteilt, das Lesebuch ver¬ 
worfen, die Prinzipien der Auswahl für den jugendlichen Leserkreis revidiert, 
jeder Erklärung der Dichtung Krieg angesagt, die eigene Produktivität des 
Kindes auch auf literarischem Gebiet entdeckt, gepflegt, überschätzt Neue 
Formen der Darbietung in Jugendbüchereien und Lesehallen bürgerten sich 
ein als positive Ergänzung des Abwehrkampfes gegen den literarischen Schund. 

Vergleicht man mit den geschilderten methodischen Strömungen die jeweils 
als kanonisch betrachtete Jugendliteratur, so enthüllt sich der. gemeinsame 
Hintergrund noch deutlicher. Im Philanthropismus wird die Kunstfabel, 
das moralische Stück, der Realienaufsatz gepflegt; es entsteht ein auch in 
periodischen Zeitschriften für Kinder- und Schülerhände gepflegtes Schrifttum, 
dessen Verfasser wohlmeinende Lehrer und Erzieher, aber selten begnadete 
Dichter gewesen sind; selbst in den besten dieser spezifischen Jugenddichter 
und Jugenderzähler ist der moralische und lehrhafte Mensch beträchtlich 
stärker als der künstlerische. In der Romantik wird der Anschluß an die 
freie Literatur gefunden, aber noch stofflich beschränkt; das religiöse und 
patriotische Lied, die Ballade erhalten Bürgerrecht im Kanon der Schul- und 
Hauslektüre des Kindes. Im Zusammenhang mit der Kunsterziehung wird 
die hiermit angebahnte Entwicklung wesentlich erweitert: Die Klassizität der 
Volksdichtung und der sogenannten Volksschriftsteller wird entdeckt; Kinder¬ 
reime, Volksmärchen, Volkserzählung, Heimatdichtung finden in der Familien¬ 
erziehung wie in den Schülerbüchereien stärkere Berücksichtigung; auch 
der Kreis der aus der klassischen Zeit der Nationalliteratur für die Jugend 
gehobenen Schätze erweitert sich; die Schülervorstellung im Theater, die 
Rezitation durch große Vortragskünstler bürgert sich ein; verdienstvolle Aus¬ 
lesesammlungen in billigen Bücherreihen werden begründet. Der Begriff der 
„spezifischen Kinderliteratur“ wird überwunden, sie selbst als eine weder 
durchweg literarisch wertvolle noch deshalb auch pädagogisch tiefstergiebige 
Zwittergattung zwischen künstlerischer und didaktischer Einstellung erkannt 
und der Anschluß der Jugend an „die große Literatur“ unseres Volkes an¬ 
gebahnt. 

Den gleichen Wandel zeigt die Methode der Behandlung; immer erfolgreicher 
setzt sich der Kampf gegen die Verschulung des freien Geistes durch. Die 
Dichtung als Grundlage für formale Denk- und Sprachübung kommt in Mi߬ 
kredit; das Problem, wie man erklärungsfrei Dichtung so darbieten könne, 
daß sie lebendige Wirkung zeitige, wird in vielerlei Varianten zu lösen ver¬ 
sucht, aber schließlich kam der Zug zur Systematisierung, diesmal der Kunst¬ 
erziehung selbst, doch wieder zur Geltung und rückte die Möglichkeit einer 
neuen an Stelle der alten intellektualistischen Schablone nahe. 

Die gegenwärtige Situation ist durch den noch unausgetragenen Kampf 
der vorstehend angedeuteten grundsätzlichen Richtungen gekennzeichnet, im 
allgemeinen durch die Neigung bestimmt, in der ästhetisch-literarischen Rich¬ 
tung den nicht nur bisher höchsten, sondern auch den für die weitere Ent¬ 
wicklung fruchtbarsten Gesichtspunkt zu erblicken. Und doch überzeugt 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 225 


eine tiefere Besinnung, daß auch er eine nicht weniger seelenfeme Kon¬ 
struktion darstellt wie die sprach- oder die sachunterrichtliche Einstellung 
der Poesie in den Bildungsgang der Schule. Die Gefahr, die auf dem Boden 
der literarischen Geschmackskultur tariert, ist die Isolierung der ästhetischen 
FQhlkräfte des heranwachsenden Menschen gegen die fruchtbare Wechsel¬ 
wirkung mit allen übrigen seelischen Kräften und Bedürfnissen, die allzu 
große Gleichgültigkeit gegen Inhalt und Tendenz, die Überschätzung der 
Formwerte, die unergriffene Kaltschnäuzigkeit des ästhetisierenden Virtuoso. 
Um das, wie mir scheint, relative Recht der bisher einseitig gewechselten 
Einstellungen klarlegen zu können und so zur Anbahnung einer gesunden 
und fruchtbaren Eingliederung der Dichtung in den Bildungsgang der Schule 
beizutragen, wird es unerläßlich sein, sich auf den natürlichen Gang der 
emotionalen Entwicklung und das Ziel der emotionalen Bildung immer erneut 
zu besinnen. Ihr Kern ist der Aufbau der individuellen menschlichen Per¬ 
sönlichkeit auf dem Boden ihrer psychischen Konstitution, ihr Mittel nicht nur 
absichtliche Erziehung und Bildung, sondern ebenso das Reich der eigenen 
Erlebnisse und Schicksale, ihr Hintergrund das geistig bewegte Leben einer 
Kulturgemeinschaft. Fragt man nun, was hat der Künstler, speziell der 
Dichter für Möglichkeiten, in das feine Wachstumsgetriebe und den orga¬ 
nischen Prozeß der Bildung der Persönlichkeit hineinzuwirken, so zeigt sich, 
daß es seine ganze originale Stellung zu Welt und Leben ist, die für den 
Heranwachsenden eine geradezu magisch anziehende Orientierungskraft besitzt 
Die Tiefe, der Reichtum und die Geschlossenheit seines im Werk objektivierten 
Erlebnisses und Lebens wird die entscheidende Seite. »Und frische Nahrung, 
neues Blut“ saugt der Mensch, besonders der werdende, nicht nur aus der 
frohen Welt, aus seiner eigenen originalen Berührung mit Natur und Schicksal, 
sondern auch aus der Berührung mit dem Menschen höherer Seinslage. 

Eine kurze Besinnung am Beispiel der lyrischen Dichtung — die Musik 
könnte ruhig an ihre Stelle treten — wird uns davon überzeugen, auf 
welchen Grundlagen der bildende Wert der Dichtung ruht und wie er dem¬ 
gemäß in der Erziehungsarbeit gehoben werden kann. 

Jeder Mensch ist nach seiner seelischen Konstitution zu dieser oder jener 
Art des Erlebens als der häufigsten sozusagen vordisponiert, gestimmt; einerlei 
was er erlebt, das Wie der fühligen Auseinandersetzung mit der Sachlichkeit 
der Erfahrungsinhalte ist als persönliche Konstante seltsam gleich. Wer etwa 
eigene Kinder in ihrer ganzen Entwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte, 
wird überrascht gewesen sein, wie verwandt ihre Art „zu reagieren“ war bei 
den verschiedensten Gegenständen, in den verschiedensten Epochen ihres 
Lebens, trotz aller Unterschiede der Einflüsse und Erziehungsbemühungen. 
Ich beschränke mich auf die Auseinandersetzung des Gemüts mit der Sicht¬ 
barkeit der Dinge. Das gegenständlich scharfe Auge und der sozusagen 
deskriptive Zug der seelischen Einstellung läßt' den einen im „Abend“ als 
Erlebnis die Details der sichtbaren Natur, die Verfärbung der Dinge, die Ver¬ 
blassung des Lichts, das Absterben der Laut- und Arbeitswelt sehen und 
regt in ihm die unendlich wohlige Empfindung der Entspannung, der Lösung 
und Feierstille an. Der andere, leidend unter den Unsicherheiten der Sinnes¬ 
orientierung, unter der Ungewißheit der Erscheinungswelt wird-yon Schauem 
angeweht, über denen die — objektiv ebenso möglichen — Grundlagen der 
Friedensstimmung sich abschwächen bis zur Unwirksamkeit. Einem dritten 

Zeitschrift f. pädsgog. Psychologie. 15 


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Aloys Fischer 


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drängen sich in die Beobachtungen seine Erinnerungen: der Abend als Natur¬ 
situation wird überdeckt durch den Abend als Tagesende in der Welt der 
Geschäftigkeit, der Stadt. In allen ziehen die unmittelbaren Eindrücke ihre 
Fäden nach rückwärts und vorwärts. Aus der persönlichen Gleichung der fühlen¬ 
den Erlebnisweise entspringt ein Vorstellungsspiel, das die singuläre Natur¬ 
gegebenheit weiter zum Symbol erhebt, zum anschaulich-repräsentativen Träger 
einer, seiner Lebensgrundstimmung der gesättigten Loslösung, der feiernden 
Kontemplation, der Innenkonzentration, der Angst, der Erhebung, der Freiheit 
oder Hemmung. So dichtet jeder innerlich sein Abendlied, ohne Worte und 
Melodie, in der Schwingung seiner Gefühlswelt. Trifft die personale Erlebnis¬ 
form in einem Werk der Dichtung, der Musik, der Malerei auf eine verwandte, 
die sich aber von der eignen Flachheit und Flüchtigkeit durch die überdurch¬ 
schnittliche oder geniale Tiefe, Kraft, Lauterkeit der höheren Art und den 
mitreißenden Ausdruck gestaltender Bewältigung unterscheidet, so ist die 
auch ohne alle didaktische Kirnst erreichte Folge eine Läuterung, Vertie¬ 
fung und Höherbildung der eigenen Fühlweise, ihre Verstärkung durch 
die Resonanz. Also als Vertiefung der eigenen Erlebnisfähigkeit 
müssen wir die erste, ungesuchte Wirkung der Kunst, speziell der mit den 
populärsten Mitteln gestaltenden Dichtkunst einwerten. Aber sie ist ebenso 
Bereicherung der eigenen Erlebnis fähigkeit, also Weitung der eigenen 
Persönlichkeit. So gewiß eine bestimmte Erlebnisform die ursprünglich ge¬ 
gebene, sozusagen konstitutionsgemäße ist, so wenig ist der einzelne Mensch 
in seinen Erlebnismöglichkeiten doch auf sie eingeschränkt. Die historische 
und plastische Natur der Seele verrät sich vielmehr darin, daß jeder von uns, 
eingetaucht in ein geistiges Kollektivleben, andauernd annimmt und assimiliert, 
und zwar nicht nur in der gleichen Richtung, auf die er selbst schon von 
Haus aus angelegt ist. Unsere eigene personale Erlebnismöglichkeit wird 
durch die Berührung mit anderen, davon abweichenden beständig bereichert, 
erweitert. Diese Bereicherung der Persönlichkeit ist eine besondere Aufgabe 
der bildungsfähigen Jahre, weil in ihnen eine Verfestigung in einer Richtung 
noch nicht so weit erfolgt ist wie später. Vergleicht man „Jugend“ und 
„Alter“ als psychologische Tatsachen, so ist einer der am meisten in die 
Augen springenden Unterschiede nicht so sehr die Grad- und Leistungs¬ 
verschiedenheit der einzelnen psychischen Funktionen, als vielmehr der größere 
Reichtum an seelischen Möglichkeiten in der Jugend (womit der vielfach un¬ 
bestimmte Charakter der jungen Menschen zusammenhängt) gegen die geringere 
Weite der Möglichkeiten des Alters, das dafür durch größere Eindeutigkeit 
und Tiefe ausgezeichnet ist. Daß gerade die Kunst das Organ ist, die Weiter¬ 
bildung der werdenden Persönlichkeit zu führen, und die Jugend gerade der 
Entwicklungsabschnitt, in dem diese Weitung psychologisch die günstigsten 
Bedingungen findet, sichert ein für allemal die Stellung der Kunst in der 
Reihe der großen Erziehungsmittel. Wenn ich wieder an das obige Beispiel 
anknüpfe, so vergegenwärtige man sich einmal die verschiedenen Welten, in 
die der Wandsbecker Bote („Der Mond ist aufgegangen“), Hölderlin („An den 
Abend“), Richard Dehmel (Sommerabend) blicken lassen, wenn sie ihre Abend- 
lieder singen. 

Haben wir die Dichtung bisher — wie alle Kunst — als ein Instrument 
der Vertiefung und der Bereicherung der eigenen Persönlichkeit betrachtet, so 
ist sie, ich möchte sagen, in überlegener Weise — die Schule der Einigung der 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 227 


Persönlichkeit. Der „empirische Charakter“ ist jederzeit etwas von einem 
„Bündel“, nicht freilich wie Hume gemeint hat, nur von Vorstellungen 
oder, wie manche Dispositionspsychologen der Gegenwart glauben, von An¬ 
lagen und Triebrichtungen, wohl aber doch ein Bündel im Sinne einer innerlich 
unausgeglichenen Mannigfaltigkeit geistiger Gegebenheiten der verschiedenen 
Art; er ist als empirischer stets nur „auf dem Weg“ zur Selbstvollendung 
seiner Form in einer scharf durchstilisierten Persönlichkeit Von der 
Energie dieses Strebens nach Einigung mit sich selbst und in sich selbst, 
nach Geschlossenheit der persönlichen Form Mngt das moralische Schicksal 
und der Personwert mindestens ebenso ab wie von Tiefe und Fülle, Kraft 
und Mannigfaltigkeit. Ich behaupte nicht, daß im Künstler als empirischer 
Individualität, wohl aber daß im Kunstwerk die Geschlossenheit der Form 
als Einheit der Seele lebt und richtunggebend auf jeden ausstrahlt, der sich als 
Betrachter hinein versenkt. Nichts sonst von den menschlichen Erzeugungen 
steht so unter den Gesetzen der Form und des Stiles wie das Kunstwerk. 
Wenn man etwa die Architektur eiiles philosophischen Systems, die folge¬ 
richtige Systematik einer deduktiven Wissenschaft als Gegeninstanz anzieht, 
so übersieht man, daß es in solchen Leistungen des theoretischen Menschen 
gerade das künstlerische Element ist, das den Vergleich gestattet, ebenso 
etwa, wenn man an manche, mit Recht als „Kunstwerke“ angesprochene 
Staatsformen und Verwaltungen denkt. 

Der Reichtum, die Fülle und Breite, die Tiefe und Kraft, die Vollendung 
und Form einer Persönlichkeit sind die Hauptdimensionen, in denen sich der 
Personwert entfaltet; sie sind die Hauptziele einer emotionalen Bildung. Ohne 
zu verkennen, in welchem Ausmaß die irrationalen Werte der Religion, der 
Sittlichkeit, des freien Verkehrs an der Entwicklung dieser Dimensionen des 
Personwertes beteiligt sind, und ohne zu untersuchen, in welcher Integration das • 
religiöse, sittliche und politische Element mit dem ästhetischen arbeitsteilig sich 
verbinden müssen, um die Bildung der Person zu leisten — das wäre eine 
vollständige Theorie des emotionalen Denkens und der emotionalen Bildung —, 
haben uns die angestellten Überlegungen doch davon überzeugt, daß auftlie 
Kunst als Element der emotionalen Bildung, jeder Bildung schlechterdings 
nicht verzichte^werden kann. Es ist eine folgenschwere Verkennung dieses 
Sachverhaltes, ein Mißverständnis gleichermaßen des geistigen Wesens des 
Menschen wie der Kultur, wenn man in der Kunst ein „nicht einmal un¬ 
entbehrliches Lebensgut“ erblickt, nur eine das Leben verschönende Luxus- 
eistung des schaffenden Geistes, und von einem solchen Standpunkt aus 
die emotionale Bildung im Durchschnitt auch ohne die Kunst für möglich 
hält. In der Praxis freilich hat dieser Standpunkt sich niemals recht be¬ 
haupten können, wohl aber hat seine grundsätzliche Gleichgültigkeit verhängnis¬ 
volle Fehler in. der Auswertung des doch niemals ganz außer Acht gelassenen 
Erziehungsmittels Kunst nach sich gezogen. 

Mit einem kurzen Wort können wir den Standpunkt begründen, warum 
gerade die Dichtung sozusagen als das Hauptstück nicht nur der Kunst¬ 
erziehung, sondern der erzieherischen Auswertung der Kunst überhaupt zu 
gelten hat. Ihre Sprache ist allgemein verständlich, sie ist am wenigsten . 
an die individuell differierenden Begabungen für das Material gebunden, uni¬ 
versell zugänglich (etwa im Gegensatz zur Musik oder auch zur bildenden 
Kunst); sie ist ihrem geistigen Inhalt nach die umfassendste. Gerade der 

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Umstand, daß der Inhalt des dichterischen Kunstwerkes ein Zentralpunkt für 
eine vielseitige innere Verarbeitung werden kann, bestimmt die Vorzugs¬ 
stellung der Dichtung unter den Künsten — für die Zwecke der Jugend¬ 
bildung. 

Vermögen Überlegungen zur Theorie der emotionalen Bildung Notwendigkeit 
und Ziele der Dichtung im Bildungsgang der Schule zu erklären, so darf eine 
unpedantisch verstandene Psychologie des spontanen literarischen Interesses 
Berücksichtigung finden bei der Auswahl und Gestaltung der Erziehung durch 
und zur Dichtung im einzelnen. Ich verstehe dabei unter dem „literarischen 
Interesse“ des Kindes nicht nur seine Wertung und Nutzung der ihm gedruckt 
zugänglichen Erzeugnisse des Schrifttums; dem literarischen Interesse be¬ 
gegnen wir auch in den mündlichen Erzählungen und Unterhaltungen, die es 
liebt, in den Liedern, die es singt, in den eigenen Produktionsversuchen. 
Stützt man sich auf Beobachtungen nach allen diesen Richtungen gleichmäßig 
und versucht man, Konvergenz in den Einzeltatsachen herauszufinden, so kann 
man wohl — unbeschadet kleiner individueller Schwankungen — ein typisches 
literarisches Interesse jeder markanten Altersstufe feststellen, allerdings nur 
bis in die Pubertätsanfänge. In und nach den Reifejahren wird der Jugend¬ 
liche ganz „er selbst“, und jedes seiner Lebensgebiete erhält eine Nuancierung, 
die der generalisierenden Beschreibung, häufig genug selbst der Typisierung 
widerstreitet. Die Psychologie des Menschen muß psychologische Biographik 
werden, um noch einigermaßen ihrem Objekt nahe zu kommen und gerecht 
zu bleiben. 

Es ist in letzter Zeit mehrmals der Versuch gemacht worden, den Stufen¬ 
gang der literarischen Interessenentwicklung zusammenfassend zu beschreiben 
und durch repräsentative literarische Erscheinungen zu veranschaulichen. Im 
« Anschluß daran und nach dem gleichen Verfahren sind auch die folgenden 
„Stufen“ entworfen. 

Das Kleinkind im Spielalter ist in seiner seelischen Struktur nicht differenziert 
genug, um eine reinliche Scheidung der ästhetischen Sphäre von der Gesamt¬ 
heit der seelischen Betätigungsformen zu gestatten. Aber es zeigt un¬ 
zweifelhaft Anfänge und Keimformen später sich immer mehr verselbständigender 
Richtungen seines Binnenlebens. So ist es auch für das literarische Interesse 
Vorperiode. Fragt man, in welcher Richtung das Interesse in dieser Vor¬ 
periode kulminiert, so zeigt ein Vergleich der — in Deutschland und namentlich 
in England — reich entwickelten Bilderbuch- und Kinderbuchliteratur den 
Weg. Unter Benutzung des noch immer beliebtesten, ganz aus der persön¬ 
lichen Erziehungsarbeit eines Vaters an seinen Kindern herausgewachsenen 
„Struwelpeters“ könnte man die Vorperiode als „Struwelpeterzeit“ be¬ 
zeichnen. Der Inhalt sind die kleinen Ereignisse des eigenen Kinderlebens, 
die Umstände und Zeremonien beim Essen, Trinken, Ankleiden, Waschen, 
bei Krankheit, die kleinen Kinderstreiche und der Antagonismus zwischen 
Kinderwunsch und Erzieherabsicht. Die Praxis der Benutzung zeigt, daß der 
Struwelpeter am wirksamsten ist, wenn der Erzieher ihn so benutzt und ge¬ 
gebenenfalls umformt, daß er gerade auf sein Kind zutrifft. Die Form ist eine 
seltsam primitive, aber wie Wilhelm Busch zeigt, höchster künstlerischer Aus¬ 
gestaltung fähige Spezialität illustrierender Kirnst. Die sprachliche Seite arbeitet 
mit kurzen Zeilen in stark akzentuiertem Rhythmus und leicht haftendem 
Reim. Das einzige unter Umständen bedenkliche Moment ist die erzieherische 


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Absicht, die aber das Kind über der Sachlichkeit der Begebenheit weniger 
empfindet, als dem Erzieher lieb ist Es gibt natürlich Literatur, die wert¬ 
voller ist als der Struwelpeter, aber sie ist doch durch die gleichen Momente 
ausgezeichnet: Auszähl- und Spielverse, Kinderreime und alte Wiegenlieder 
(letztere stark gehoben durch das musikalisch-melodische Element) und —, viel¬ 
leicht an der Grenze dieses Alters — die Bubenstreiche und Bilderbogen von 
Wilhelm Busch. 

Ohne bestimmte Qrenze geht die Vorperiode dann in die Märchenzeit über, 
gelangt das Kind zum erzählten, nach und nach auch zum gelesenen Märchen, 
immer mit der Neigung, den persönlich lebendig machenden Vortrag, selbst 
das Vorlesen mit seiner — freilich nur rudimentären — Dramatisierung durch 
Stimmwechsel dem stillen Selbstlesen vorzuziehen. Von größtem Interesse 
ist die Erweiterung des Inhalts: sie vollzieht sich von der reinen Kinderwelt 
zu dem Weltbild des Kindes. Im übrigen zeigt die Struktur namentlich des 
Volksmärchens (abgeschattet auch einzelner Kunstmärchen) sowohl Verwandt¬ 
schaft wie Fortschritt gegenüber dem Inhalt der Struwelpeterzeit sehr deutlich. 
Auch das Märchen arbeitet mit wenig Personen, die auf eine Haupteigenschaft 
reduziert sind, mit markanten Situationen, durch die die Entwicklung vorwärts 
drängt, ohne Ausmalung, verweilende Schilderung, detaillierte psychologische 
Begründung, und lebt von einer „Tendenz“. Auf das kleinste Maß reduziert 
und zugleich in die realistische Ebene der eigenen Lebenswirklichkeit gestellt, 
hat der Struwwelpeter diese Momente schon gezeigt; das Märchen erweitert 
die Situationen nicht unbeträchtlich und schiebt dem ganzen Weltlauf Pläne 
unter, wie sie das Kinderleben beherrschen. Beinahe noch interessanter als 
im Inhalt dokumentiert sich in der Form des Märchens zugleich der Zu¬ 
sammenhang mit der Vorperiode wie der Fortschritt über sie hinaus. Das 
Märchen erzählt in Prosa, verwendet aber an seinen Höhepunkten ungesucht und 
unwillkürlich denselben stark akzentuierten, knappen Merkvers wie die Kinder¬ 
reime. Ich glaube, die Verse aus „Schneewittchen“, aus „Hänsel und Gretel“, 
„Aschenbrödel“, die das Gerippe der ganzen Erzählung bilden, summen wohl 
lebenslang in jedem deutschen Menschen nach. Wenn wir die erste Haupt¬ 
periode des literarischen Interesses dhrch das Märchen, seine Welt und seine 
Form kennzeichnen, so ist damit nicht gesagt, daß ausschließlich das Volks¬ 
märchen. bevorzugt ist. Wenn auf der Unterstufe der Volksschule die biblischen 
Geschichten von Weltschöpfung und Paradies, von wunderbaren Opfern und 
Errettungen aus religionspädagogischen Gründen, manche Kunstmärchen aus 
Gründen eines Sitten-Anschauungsunterrichtes behandelt werden, so haben 
diese literarischen Erscheinungen durchaus ihren psychologisch richtigen Ort, 
weil sie der ganzen, durch das Märchen umschriebenen geistigen Einstellung 
durchaus entgegenkommen. 

Im Alter von 9—10 Jahren macht sich wieder ein Umschwung bemerkbar, 
ein Abklingen der reinen Kindereinstellung mit ihrem vom Märchen adäquat 
gespiegelten Weltbild, eine Wendung zur echten Wirklichkeit zunächst der 
äußeren Welt. Man kann — wie es schon Roiisseau getan hat — diese Periode 
alsRobinsonzeit kennzeichnen. Deutlich klingt in der einschlägigen Literatur 
der Märchengeist nach und klingt aus, aber ebenso deutlich kündigt sich eine 
andere Interessenrichtung an: jene auf den hervorragenden Menschen, den wirk¬ 
lichen Helden in der wirklichen Welt, weg von einer Verkörperung der Kinder¬ 
wünsche in einer Spielwelt. Der Aufbau der Robinsonaden gewinnt gegen- 


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über der Komposition des Märchens an innerer Wahrscheinlichkeit und Folge¬ 
richtigkeit; die Situationen und die darin steckenden Aufgaben bilden Ernst¬ 
probleme, die den grübelnden Oeist des Kindes beschäftigen; der Held nimm t 
eine gewisse Wirklichkeitsschwere an. Gelangt die sich hier ankündigende 
neuet Richtung zum endgültigen Sieg, so tritt (etwa um das 11. Lebensjahr) 
das literarische Interesse des Kindes in seine zweite Hauptperiode ein, in 
die Heldenperiode. Die nationale Sage, die einfache Epik in Ballade und 
Romanze, die eigentliche Heldenpoesie in ihrer Ausgestaltung ebenso nach 
der Seite der Ritterdichtung wie der Abenteurergeschichten; die Indianer- und 
Lederstrumpferzählung, das Reiseabenteuer, die Schicksale der grofien Ent¬ 
decker, Erfinder, Feldherm treten in den Mittelpunkt bis etwa zu der (unter 
diesem Gesichtspunkt ebenfalls psychologisch richtig eingestellten) Lektüre von 
Nepos, Cäsar, Fönölon Scott, Manzoni auf der Mittelstufe der höheren Lehr¬ 
anstalten. 

Mit der Pubertät hört — soweit wir bisher feststellen können — die Gleich¬ 
artigkeit der Interessen mehr oder minder auf; die sich festigende und ver¬ 
selbständigende Individualität des Jugendlichen prägt sich auch in seinem 
mehr oder minder individuellen Leseinteresse aus. Je nach Fachveranlagung ver¬ 
drängen das technische Interesse, das naturwissenschaftliche Sammeln, der 
Dilettantismus im Malen und Musizieren die stille Neigung zum Lesen ganz 
oder teilweise; auch in der spontanen Wahl der Privatlektüre kündigen sich 
die Unterschiede der Individuen an, und in der Pflichtlektüre der Schule äußern 
sie sich als besondere Ergriffenheit oder gänzliche Teilnahmlosigkeit je nach der 
Entsprechung oder Diskrepanz zwischen der erstarkenden individuellen Neigung 
und der allgemeinen Richtung der Pflichtlektüre. Man kann erst von diesem 
Alter an die Anzeichen eines persönlichen Geschmackes feststellen, Anfänge der 
kritischen Einstellung, bewußte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher 
und schöner Literatur und innerhalb derselben Vorliebe bald für die eine 
und andere Gattung, bald für bestimmte literarische Persönlichkeiten und 
Manieren. Als einigermaßen häufigere und allgemeinere Erscheinung tritt in 
den Gefühlsstürmen der Entwicklungsjahre das Interesse für die lyrische 
Dichtung (besonders in ihrer hymnischen Gehobenheit) und für das Drama 
auf; doch keineswegs so ausgesprochen, daß man von einer eigentlichen 
lyrischen und dramatischen Epoche des literarischen Interesses sprechen könnte. 

Versucht man von den vorstehenden Grundlagen einer Theorie der emotio¬ 
nalen Bildung und der einer Entwicklungspsychologie des literarischen 
Interesses aus nun zu den methodischen Fragen der Behandlung des dich¬ 
terischen Kunstwerks Stellung zu nehmen, so ergibt sich, daß sie auf jeder 
Stufe möglich ist, aber auf allen Stufen in erster Linie von der Persönlich¬ 
keit des Lehrers und seinem originalen Verhältnis zur Dichtung selbst ab¬ 
hängt. Die Konsequenzen namentlich des letzten Umstandes für die Frage 
der Auslese und Ausbildung für den Lehrberuf lasse ich hier auf sich be¬ 
ruhen; ich müßte in Kritik und Programmatik anknüpfen an ältere, noch 
immer der Erfüllung harrende Gedankengänge z. B. der Hamburger Lehrer¬ 
schaft und könnte nur zeigen, warum die aktuelle Situation zu den gleichen 
Forderungen drängt. Eine amusische Persönlichkeit ist für den Lehrerberuf 
wenig geeignet, nicht bloß aus Gründen der Kunsterziehung im engeren 
Sinn, sondern wegen ihrer geistigen Enge und Unbeschwingtheit auch aus 
allgemeinen erzieherischen Rücksichten. 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 231 


Den geeigneten Lehrer vorausgesetzt und ebenso zugegeben die Notwendig¬ 
keit, die Dichtung in jedem Stadium der Schulerziehung als Hilfsmittel zur 
Vertiefung der werdenden Persönlichkeit heranzuziehen, erheben sich nun 
die Fragen, wie dies am besten und wirksamsten geschehen kann: ob ge¬ 
legentlich oder systematisch, im Zusammenhang mit einem oder mit allen 
Fächern, nur durch die verschiedenen Methoden der Darbietung oder nach 
den Gesichtspunkten der „Erarbeitung“ oder denen des „Erlebens“, welche 
sekundären Bildungswirkungen so wesentlich sind, dafi sie auf den Geist der 
Behandlung Einfluß fiben dürfen. Darf und soll „erklärt“ werden, sei es als 
Vorbereitung, sei es als Nachbehandlung? Darf und soll eingestimmt werden? 
Darf und soll memoriert werden? Wie kann die häusliche Lektüre in den 
Plan der Schularbeit einbezogen und wie kann schließlich ein die Schule 
überdauerndes, ins Leben weiterwirkendes literarisches Interesse angebahnt 
werden? Es ist klar, daß jede dieser Fragen, wie ihre teilweise recht alte 
Geschichte beweist, einen weiten Umkreis pädagogischer Überlegungen erfordert 
Es ist nicht meine Absicht, hier eine abschließende Didaktik der Dichtung 
zu geben; ich will lediglich einige grundsätzliche Gesichtspunkte entwickeln, 
und zwar ausschließlich solche, die den emotionalen Bildungswert des dich¬ 
terischen Kunstwerkes zum Ziele haben und von jeder Auswertung für andere 
Erziehungszwecke bewußt absehen. Daß und wie man bei der Lektüre 
von Dichtungen moralisieren kann, ist oft gezeigt und bekämpft worden; 
ebenso wie man die Zergliederung von Gedichten als Turngerät für Ver¬ 
standesübungen verwendet oder mißbraucht. Gegenüber dem Moralismus 
und Intellektualismus bedeuten die Gesichtspunkte der Kunsterziehungs¬ 
bewegung und der Erlebnispädagogik zweifellos manchen gesunden Fortschritt. 
Aber auch sie sind in der Praxis von Gefahren umlauert, namentlich wenn 
die Lehrerpersönlichkeit selbst ohne Tiefe ist: die erste von den Trivialitäten 
eines kaltschnäuzischen oder genießerischen Ästhetentums, die letztere von 
der Pedanterie des Erlebniszwanges und der Künstlichkeit des Erlebens. Jeder 
der bisher zur Herrschaft gelangten „Theorien“ ist es eigentümlich, daß sie 
um jeden Preis ein für alle Altersstufen, Dichtungsarten und Bildungsabsichten 
passendes „System“ der Behandlung erstrebte, die „Methode“ überordnete, 
ganz gleich ob die Methode lautet: Einstimmung, Vortrag, Erklärung, Selbst¬ 
lesung oder: Vorbereitung einschließlich der die Verständnishindernisse be¬ 
seitigenden Erklärung, stückweise Lektüre und Interpretation, zusammen¬ 
hängender Vortrag, nachbearb^itende Zusammenfassung, Würdigung und 
Nutzanwendung oder Anknüpfung an eine gegebene Stimmungssituation, 
Rezitation, ästhetische und literargeschichtliche Würdigung, selbsttätiger Aus¬ 
druck in Rede, Dlustration, schauspielerischer Darstellung. Ebenso fällt für 
die Würdigung ins Gewicht, daß die bisherigen Standpunkte sich jeweils auf 
eine Seite des Kunsterlebnisses stützten, diese aus der Einheit der emotionalen 
Sphäre heraussonderten. Sie hatten dazu um so mehr Recht, je inniger die 
betonte Seite mit dem Kern der KunBt in Berührung stand — also die 
ästhetische Richtung mehr als die moralistische, diese, als immerhin noch 
mit der Gefühls-Willenssphäre unmittelbar verknüpft, mehr als die rein in 
der Gedankenhaftigkeit verstrickt bleibende logistische. Nicht das ist 
also an den geschilderten Versuchen fehlerhaft, daß sie überhaupt die sitt¬ 
liche, die intellektuelle, die darstellerische Sphäre des Menschen in Aktion 
versetzen, sondern daß sie die Kunstwirkung in der Einseitigkeit der einen 


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oder anderen Richtung aufgehen lassen, ja sie absichtlich auf sie ein- 
schränken. 

Für den folgenden Standpunkt ist die psychologische Einheit der emotio¬ 
nalen Sphäre, ja die ungeteilte Einheit der menschlichen Persönlichkeit der 
selbstverständliche Ausgangspunkt. Wenn die Kunsterziehung extremistisch 
und unter dem Einfluß einer bestimmten Kunstphilosophie die Form¬ 
werte, die gestaltende Leistung und die daran geknüpften Funktionsgenüsse 
als Anfang und Ende der Bildungsabsicht hinstellt, jede Inhaltlichkeit 
als bedeutungslose Größe behandelt, so ist sie schon vom Standpunkt einer 
reinen Kunsttheorie aus in modischem Irrtum befangen, als pädagogische 
Bewegung aber doppelt falsch; denn für den ganzen erlebenden Menschen 
ist nicht nur das Wie der Schau- und Darstellungsform, sondern auch das 
Was des — allerdings nicht nur rein stofflich verstandenen — Inhaltes. 
Große Kunst ist immer Kunst großer Gefühle und Vorwürfe gewesen. Nur 
der artistische Snobismus, das genießerische Spielen und das bei allem 
Raffinement des „Könnens“ doch nichtssagende Virtuosentum haben die in 
fast jeder Hinsicht unberechtigte Entgegensetzung von „Form“ und „Stoff“ 
populär gemacht. Ebenso steht es fest, daß die seelische Ergriffenheit durch 
ein Kunstwerk und die ganze, den Zwängen der Lebenszwecke entrückte 
Geisteshaltung ästhetischer Kontemplation an sich das Ethos des Menschen 
beeinflußt, auch ohne jede „moralische Tendenz“ und moralisierende An¬ 
wendung. 

In der Einheit ihrer Weltanschauung spiegelt sich die Einheit einer Persön¬ 
lichkeit. Und die Kunst ist ein Organ der Weltanschauung, neben Religion 
und Philosophie. Jedes Kunstwerk, das diesen Namen verdient, ist ein 
„Spiegel des Universums“, der eigenartige Blick eines Menschen auf das 
Ganze von Welt und Leben, vom ganzen Sein seines Schöpfers bestimmt 
und auf das ganze Sein der werdenden Persönlichkeit wirkend. Eine letzte 
Welterfahrung verdichtet sich im künstlerischen Symbol so gut wie im philo¬ 
sophischen Weltbegriff oder im religiösen Dogma; alle Ausdrucksformen der 
menschlichen Welterfahrung haben das Eigentümliche an sich, den Zwiespalt 
zwischen erkennender und wertsetzender Vernunft, zwischen Schau und Ge¬ 
staltung überwunden zu haben und aus einem, nach allen Seiten fruchtbar 
wirkenden Quellpunkt für den erkennenden, fühlenden und handelnden 
Menschen eine Generaldirektive zu entwickeln. Rembrandt und Schiller 
haben die europäische Menschheit mindestens ebenso sehr sittlich erzogen 
und intellektuell gebildet wie ästhetisch bereichert, umgekehrt etwa Denker wie 
Schopenhauer und Kierkegaard dem ästhetischen Bewußtsein des Euro¬ 
päers nicht viel weniger gegeben wie dem religiösen und philosophischen. 

Solche Überlegungen mögen andeuten, in welcher Region das Höhenziel 
der emotionalen Bildung zu suchen ist, im Einheitspunkt der Persönlichkeit 
Von da her sind, wie mir scheint, die Maßnahmen zu orientieren, die die 
ersten Kinderschritte auf die Bahn zu diesem Endziel lenken. Auch für 
Kindheit und Jugend ist das arbeitsteilig in seine einzelnen Kräfte und Lebens¬ 
gebiete fragmentierte Dasein, so zweckmäßig es für die didaktische Arbeit 
ist, nicht Erschöpfung des Lebens; auch in Kindheit und Jugend sind die 
Einzelheiten der Kräfte, Erfahrungen, Inhalte und Schicksale überwölbt von 
der — natürlich kindlichen, jugendlichen, vorläufigen — Weltanschauung 
der im Kern des sich entwickelnden Individuums steckenden Persönlichkeit. 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 233 


Diesem Kern, diesem Gesamtsystem Wachstumsanreize zuzuführen, das 
scheint mir die Hauptaufgabe der emotionalen Bildung zu sein. Die Kunst, 
vor allem die Dichtung, läßt auch das Kind schon als Einheit sich fühlen, 
lehrt es, sich als solche kennen zu lernen und zu behaupten — wie freilich 
in anderer Weise, auf anderen Voraussetzungen und mit ihren spezifischen 
Mitteln — sonst nur die Religion. 

Ob sich die Bildung der Persönlichkeit zu sich selbst und ihrer Welt¬ 
anschauung freilich „methodisieren“ läßt, das muß fraglich erscheinen. Einst¬ 
weilen bleibt das Wachstum gerade in dieser geistigen Sphäre ein Geheimnis 
des Organischen — und alle didaktische Kunst kann nichts besseres, als 
nicht plump und zerstörerisch eingreifen, als Gelegenheiten schaffen und 
diese so gestalten, daß die Bildungskräfte der Persönlichkeit selbst nach 
ihren immanenten Gesetzlichkeiten Anregung erfahren. In diesem Ziel, das 
gegenüber allen „bekehrenden“ und missionierenden Ansprüchen der Er¬ 
ziehung reichlich bescheiden ist, liegt die Leitlinie für die Auswahl der Ma߬ 
nahmen des Erziehers. 

Um auch nur anzudeuten, wie die emotionale Bildung trotzdem dem Un¬ 
gefähr des Zufalls (dem sie heute in beträchtlichem Ausmaß überlassen ist) 
einigermaßen entzogen werden kann, müßte ich den Stufengang der religiösen, 
philosophischen und künstlerischen Bildungsarbeit, ihre Vereinheitlichung mit 
der intellektuellen und physischen Erziehung schildern. Ich muß mich 
beschränken auf den Anteil, den die Dichtung auf diesen Entfaltungsgang 
zu gewinnen fähig ist. 

Ich gehe dabei von einigen Versuchen aus, die ich oft genug an Jugend¬ 
lichen und Erwachsenen durchgeführt habe und die jeder Leser zunächst 
einmal an sich selbst nachprüfen kann. Liest der erwachsene, mehr oder 
minder vorgebildete Mensch eine ihm neue Dichtung zum erstenmal oder 
hört er sie in unvorbereiteter Darbietung vorgetragen, so zeigt sich mit voller 
Deutlichkeit, daß diese erste Bekanntschaft ihre Vorzüge und ihre Schwächen 
bat Am besten nimmt man dazu Dichtungen, die für das Niveau der Er¬ 
wachsenen ähnliche Schwierigkeiten enthalten, wie jede Dichtung sie für 
das Kind einschließt. Zunächst ist es von beträchtlichem Einfluß, ob man 
das Gedicht selbst liest (teis e > mit halber Stimme, laut, mit Vortrags¬ 
einstellung) oder nur vorgelesen, vorgesprochen, vorgetragen hört. Im all¬ 
gemeinen bietet die Aktivität des Selbstlesens bessere Bedingungen für die 
Gefühlsergriffenheit, das Anhören für das Sinn Verständnis; der Genußertrag 
ist im ersten Fall, das Verständnis im zweiten Fall' günstiger. Ebenso zeigt 
sich, daß Auffassung und Erlebnis stark beeinflußt sind durch die Umstände, 
unter denen die Bekanntschaft mit einem neuen Gedicht gemacht wird; zu 
diesen Umständen zählen namentlich die augenblickliche Disposition, die Nach¬ 
wirkung der'vorangegangenen Beschäftigungen, Dasein oder Mangel an Muße zur 
verweilenden Apperzeption, Besetztheit oder Freiheit des Geistes. Endlich erweist 
sich der Erfolg in hohem Maße abhängig von der persönlichen literarischen 
Vorbildung und Interessenrichtung. Es hat mich immer überrascht, 
wenn die größten Dichtungen Hölderlins z. B. von seminarisch vorgebildeten 
Versuchspersonen fast durchweg abgelehnt wurden, weil sie, nicht mit der 
Verskunst der Antike vertraut, in seinen Rhythmen, seiner Wortwahl und 
Wortstellung nur die Aufgezwungenheit eines fremden Formprinzips auf das 
deutsche Sprachgewand empfanden, eine, wie sie sagten, stolpernde Un- 


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beholfenheit und Gezwungenheit des Ausdrucks, während altersgleiche 
Studenten mit dem Nachklang lateinischer und griechischer Oden im Ohr von 
der Feierlichkeit und Größe der für sie sich gegenseitig bedingenden Form 
und des Gedankenschwungs des Inhaltes unmittelbar ergriffen waren. 

Schon aus diesen Momenten scheinen mir Folgerungen für die Schule 
gezogen werden zu können. Soweit es auf die Sinnerfassung und Sinn¬ 
wirkung einer Dichtung abgesehen ist, hat die erste Darbietung durch den 
lebendigen Vortrag des Lehrers zu erfolgen, unter sorgfältiger Berücksichtigung 
der Umstände, in einem Zeitpunkt und an einer Stelle des Unterrichtsganges, 
der gewissermaßen die innerliche Nötigung zu künstlerisch konzentriertem 
Ausdruck enthält und in der Erfülltheit des Kindes mit dahin zielenden Er¬ 
wartungen die psychologisch günstigsten Voraussetzungen der Aufnahme 
bietet. Eine Darbietung ohne „alle und jede Vorbereitung", beim Erwachsenen 
schon in ihrem Ergebnis in hohem Grade zufällig und einseitig, ist für die 
schulische Behandlung nicht empfehlenswert Freilich ist damit über Art, 
Richtung und Ausmaß der Vorbereitung nichts entschieden, sondern nur die 
Notwendigkeit betont, den Strom des seelischen Lebens einigermaßen in die 
Bahn zu lenken, in der ihn dann das Gedicht weiter führen soll. 

Zergliedert man den Verlauf des Erlebnisses der ersten Bekanntschaft mit 
einem einigermaßen „schwierigen" Gedicht, das auch von den geläufigen 
Bahnen, in denen sich die sonst gepflegte Lektüre bewegt, abweicht, so zeigt 
es sich, daß Sinn Verständnis, genießende und wertende Stellungnahme und 
davon ausgehende Nachwirkung in ausschlaggebender Weise beeinflußt sind 
von den anklingenden Erinnerungen an eigene Erlebnisse, selbstgeschaute 
Situationen oder geläufige Darstellungsformen. Die erste Bekanntschaft ist 
ein tastender Versuch, dem das Gedicht rein als zeitlicher Ablauf insofern ent¬ 
gegenkommt, als es durch die Möglichkeit rückwärtswirkender Korrektur der 
Auffassung und vorausblickender Antizipation der Lösung mehr oder minder 
wirksame objektive Hilfen der Erfassung bietet. Dds Sinnverständnis voll¬ 
zieht sich — je nach dem Fall — im Aufbau einer Bildvorstellung, deren Be¬ 
standteile bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem Text verwoben und mit den 
Worten als Träger der Wirkungsakzente lebendig werden, oder einer Ge¬ 
danken- und Gefühlsentwicklung oder einer Lebensgrundstimmung (z. B. der 
Ironie). So ist das Erträgnis einer unvorbereiteten ersten Darbietung in hohem 
Grade einseitig und korrekturbedürftig, weil abhängig außer von den Um¬ 
ständen auch von der vorherrschenden Apperzeptionsweise der Rezipierenden 
(die bildhaft, gedankenhaft, formbestimmt sein kann, während die Dichtung 
vielleicht eine andere geistige Betrachtungsweise fordert), auch von seiner un¬ 
ausgesprochen und oft unerkannt wirksamen Vorbildung mit Einschluß ihrer 
Geschmacksrichtung (namentlich im spezifischen Sinne des Wortes „neuer" 
Kunst gegenüber von größter Bedeutung). Wir überzeugten uns im Versuch 
an uns selbst, daß wir die Mangelhaftigkeit und Zufälligkeit der ersten 
Apperzeption zu überwinden uns verpflichtet fühlen durch wiederholtes Lesen 
und daß uns nur allmählich der' volle Sinn, der echte Wert und die dauernde 
Wirkung eines Kunstwerkes aufgeht. Dieser Sachverhalt ließe sich auch 
durch eine grundsätzliche Analyse der Struktur ästhetischer Gegenstände und 
der Stufen ihrer Gegebenheit bestätigen. Wir können eine Melodie pfeifen, 
auf einem Instrument spielen, selber mehr oder minder gut singen, von einem 
großen Künstler in kongenialer Wiedergabe hören — immer ist es „dieselbe 


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Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 235 


Melodie“, aber jeder spürt, daß der hier gemeinte ästhetische Gegenstand als 
er selbst und «voll doch nicht in jedem dieser Erlebnisse gleich da und wirk¬ 
sam ist. So ist es auch mit dem Gedicht; wir können bei der ersten Lektüre 
seinen Inhalt notdürftig erfassen, aber wir schöpfen ihn nicht aus, wir reali¬ 
sieren seine Werte weder alle noch jeden vollständig und tief genug. 

Auch aus diesen Beobachtungen lassen sich wieder didaktische Schlüsse 
ziehen. Das Kind und Schulkind befindet sich mehr oder minder jedem Gedicht 
I gegenüber in der gleichen Lage wie die Erwachsenen gegenüber einem 
i „schweren“ Gedicht. Die Mangelhaftigkeit seiner ersten Apperzeption wird 
die Regel sein. Wir können diese Mangelhaftigkeit wohl nie ganz ausscheiden, 
1 aber wir haben Mittel, sie einigermaßen herabzusetzen. Das scheint mir der 
Sinn der „Vorbereitung“ zu sein. Allerdings erfordert diese Vorbereitung 
nicht eine den Inhalt vorwegnehmende und damit die Spannung des Er¬ 
lebnisses vernichtende „Erklärung“, auch nicht in der kindesmundartlichen 
Fonn, die neuerdings Berthold Otto befürwortet und, von anderen nachgeahmt, 
i auch praktisch versucht hat, ebenso nicht eine prosaische Inhaltsangabe vor der 
; Lektüre, auch nicht immer eine ausdrückliche „Einstimmung“, denn der Lehrer 
verfügt über weit weniger und weniger wirksame Hilfsmittel der Stimmungs¬ 
erregung als die Dichtung selbst. Die Vorbereitung muß vielmehr in der 
ganzen vorangegangenen Stofflichkeit des Unterrichts liegen, in derselben 
Stofflichkeit, aus der im Erlebnis des Dichters seine Gestaltung herauswuchs 
So ist z. B. die historische Ballade durch den vorangegangenen Geschichts¬ 
unterricht vorbereitet, kann es sein, ohne daß noch eine ausdrückliche Vor¬ 
erklärung nötig ist, das Naturlied, das religiöse Lied durch den allgemeinen 
Verlauf des einschlägigen Unterrichts, der Jahres- und Festzeiten usw. 

| Diese allgemeine Vorbereitung durch Schaffung der Erlebnisgrundlagen ist 
I sowohl für das Sinnverständnis wie für die Einstimmung ausreichend und jeder 
speziellen, absichtlichen Vorbereitung entschieden überlegen. v. Natürlich ist 
sie nur dem Lehrer leicht, der selbst in den ganzen Unterricht und seinen 
Geist emotionale Momente einzubetten vermocht hat. Außerdem muß als 
methodisclies Grundprinzip ausgesprochen werden, daß jede Dichtung gelegent¬ 
lich (nicht in Häufung) wiederholt dargeboten werden soll. Nur so ist es dem 
nacherlebenden und nachschaffenden Geist möglich, zu immer erweitertem 
und vertieftem Verständnis des Sinnes, immer vollständigerer und zutreffen¬ 
derer Wertung und immer reinerem Genuß zu gelangen. Wenn manche Lehrer, 
um möglichst viele Dichtungen vor ihre Kinder bringen zu können, es sich 
genug sein lassen, jede eben — an der passenden Gelegenheit — einmal 
vorzulesen oder vorzutragen, so übersehen sie die Flüchtigkeit einmaligen 
Eindrucks, die Zufälligkeit desselben, die gerade — im Gegensatz etwa zu 
intellektueller Seelenfunktion — auf emotionalem Gebiet die eigentlich bil¬ 
dende Wirkung in der Wurzel abschneidet, gar nicht zur Entfaltung kommen 
läßt Ich komme auf eine weitere Konsequenz — das Memorieren — später 
zurück. 

Endlich lehrt der Versuch am Erwachsenen auch etwas über den Stufen¬ 
gang des Lesens. Der beträchtliche Zuwachs an Gefühlswertung, der aus der 
Aktivität des Selbstlesens hervorgeht, ist ein Fingerzeig, wie der Lehrer 
methodisch in der Lektüre der Dichtung vorzugehen habe. Den Ausgang 
bildet — wegen der Erleichterung von Sinnverständnis und Werterfassung, 
wegen der suggestiven Momente des vorgelebten Beispiels — der freie Vor- 


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trag einer Dichtung durch den Lehrer. Je wirkungsvoller seine Rezitation 
ist, um so eingängiger wird dem Kinde das Gedicht. Und weil der Lehrer 
seine Schüler persönlich besser kennt, ist er dem berufsmäßigen, ihm als 
Sprechtechniker und Vortragskünstler unzweifelhaft überlegenen Berufsrezitator 
vorzuziehen — mindestens bis zur Oberstufe des Schulalters. Das stille Lesen 
des Gedichtes durch das Kind ist die nächste Phase der vertiefenden Nach¬ 
behandlung; das laute Selbstlesen (phonetisch rein, klar, sinngemäß) die Vor¬ 
stufe für das darstellende Lesen, in dem die Ausdruckswerte und die Mit¬ 
schwingung der beteiligten Seele zur Übung gelangen. Die Rezitation des 
gedanklich und gedächtnismäßig beherrschten Gedichtes, der „freie Vortrag“, 
bildet den für das Kind besten Fall der Realisierung, natürlich unter An¬ 
erkennung des grundsätzlichen Abstandes zum erwachsenen Menschen. Das 
Lesen von Dichtungen darf also grundsätzlich nicht unter dem Gebot der 
Übung der Lesefertigkeit als solcher stehen; vielmehr sollte die Lektüre von 
Dichtungen bereits auf jeder Stufe der Lesefertigkeit im Anschluß an diese 
gewählt werden als eine Kunst für sich, bei der nicht mehr „gelernt“ und 
„geübt“, sondern „angewendet“ wird. Diese andersartige Stellung des Lesens 
von Dichtungen, die in der ganzen Behandlung stark betont werden muß, 
bewahrt das Gedicht vor dem Abgrund, als „Schulübungsstoff“ verhaßt zu 
werden, weist dem Gedicht einen anderen psychologischen Ort an als dem 
Übungslesestück und trägt so unmittelbar dazu bei, daß das gelesene Gedicht 
seine spezifischen bildenden Wirkungen entfalten kann. 

Der erste Versuch am Erwachsenen hat also als methodische Konsequenz 
ergeben, daß der Verzicht auf jede Vorbereitung die Wirkung dem Zufall 
aussetzt; der Lehrer, der grundsätzlich die unvorbereitete Darbietung und 
Lesung pflegt, entgeht zwar den Gefahren der Intellektualisierung des Irra¬ 
tionalen, aber er ist auch niemals gewiß, ob er überhaupt zur jugendlichen 
Seele den Zugang gefunden hat, und er hat gezeigt, daß die methodische 
Frage selbst zurecht besteht, auch für den Standpunkt einer auf emotionale 
Erfolge abzielenden Einstellung. Zugleich hat sich gezeigt, für die Frage des 
„Lesebuches“ von Bedeutung, daß die, wie man gewöhnlich sagt, mecha¬ 
nische Lesefertigkeit entsprechend der Bildungsstufe relativ abgeschlossen 
sein muß, wenn das Lesen von Dichtungen als emotionales Bildungsmittel 
angezeigt sein soll. * 

Ich gehe auf einen zweiten grundlegenden Versuch ein, den jeder Leser 
zunächst wieder am besten an sich selbst ausführt. Wie wirkt das „ver¬ 
gleichende Lesen“ beim Erwachsenen? Wer ein Gedicht gelesen hat und 
sich nun einem zweiten Gedicht (sagen wir ganz äußerlich: mit gleicher Über¬ 
schrift, weniger äußerlich — aus gleichem Stoffkreis) zuwendet, erfährt dabei 
eine seltsame Unterstützung, unter Umständen auch Erschwerung des einen 
durch das andere, ln der älteren Methodik und in der Praxis der höheren 
Schuld ist der Vergleich von Dichtungen nach Inhalt, Aufbau und Gedanken¬ 
gang ein beliebtes Hilfsmittel. Aber bei genauerem Zusehen: ein Hilfsmittel 
zur Schulung des kritischen Denkens, also 'ein solches, das den spezifischen 
Bildungswert der Dichtung mindestens außer Ansatz läßt, wenn nicht gar 
zerstört. Nicht darum handelt es sich, in der vergleichenden Gegenüber¬ 
stellung von Gedichten eine Schule der Witzigung zu geben, sondern die Frage 
ist, ob die Parallelbehandlung auf das Erlebnis des einzelnen Gedichtes Ein¬ 
fluß hat. Auf meine Veranlassung hat Elise Schilffarth-Fürst an höheren 


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Zur Theorieder emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 237 


Mädchenlehranstalten Versuche großen Stiles über diese Frage unternommen. 
Sie hat zu diesem Zweck je zwei lyrische Gedichte unmittelbar nacheinander 
sei es selbst dargeboten, sei es lesen lassen und dann unter verschiedenen 
Gesichtspunkten den Ertrag für das Erlebnis ausgewertet. Wenn ich von dem 
Einblick in Geschmack, Fassungskraft und Urteil der Jugendlichen hier ganz 
absehe, so scheint mir das fruchtbarste Ergebnis die gegenseitige Klärung 
der Einzelerlebnisse gewesen zu sein, damit ein Zuwachs an Kraft und Tiefe, 
die ihnen bei isolierter Lektüre nicht oder nur zufällig zugekommen wären. 
Mit veränderter Stoffauswahl ist die Methode auch auf der Volksschule an¬ 
wendbar, ebenso in höheren Knabenschulen. Wegeweisend für die, natür¬ 
lich großen Takt und eigene weite literarische Orientierung des Lehrers 
voraussetzende Anwendung ist das Lehrererlebnis selbst. Jahreszeitenlieder, 
Gebete, Balladen sind schon infolge ihres Kürze mit Abgeschlossenheit ver¬ 
bindenden Umfangs und Baues für die Schule vorzuziehen; doch sind grund¬ 
sätzlich größere epische und dramatische Dichtungen der gleichen Methode 
zugänglich. 

Der wesentliche Nutzen ist die Erfassung nicht der Einzelheiten jedes 
Gedichtes, sondern der im Gedicht sich aussprechenden Gesamtpersönlich¬ 
keit, die verschiedene Erlebnisweise, die wir als eine Bedingung seelischer 
Bereicherung und Ausweitung eingangs betont haben. Man könnte mit einer 
gewissen Zuspitzung sagen: bei der Einzelbehandlung bildet das „Gedicht“, 
bei der vergleichenden Lektüre „der Dichter“ jedes Gedichtes. Dieser enthüllt 
sich in der Eigenart seiner Prägung erst im Unterschiedserlebnis zur anderen. 
Wo es möglich ist (wie in höheren Lehranstalten), in diese vergleichende Be¬ 
handlung verschiedene Zeiten des eigenen Volkes (mittelhochdeutsche Lieder, 
solche der klassischen Epoche, der Romantik, des „jungen Deutschlands“, der 
Gegenwart) oder verschiedene Völker (Griechen, Römer, Franzosen, Engländer, 
Slaven neben Deutschen) einzubeziehen, wird der Volksgeist zum Jugend¬ 
bildner, und zwar in jener Schwebe zwischen instinktiver und bewußter 
Auseinandersetzung, die zur Konsolidierung des eigenen personalen Wesens 
am fruchtbarsten anregt und beiträgt. 

Die bisher betrachteten Hilfsmittel hatten ihren Zweck darin, eine Art der 
Darbietung ausfindig zu machen und sicherzustellen, die eine Auswirkung 
nach der Seite der Gemütsanregung, der Vertiefung und Bereicherung des 
Fohlens und der Vereinheitlichung der werdenden Persönlichkeit einiger¬ 
maßen ermöglicht. Wenn ich mich nun zu der Frage des Memorierens wende, 
so lege ich auch hier den größten Wert darauf, die formale Schulung des 
Gedächtnisses, an sich eine berechtigte Absicht der Schulbildung, und die Ein¬ 
prägung paradigmatischer Formulierungen nicht als den in erster Linie zu 
erstrebenden Zweck zu bezeichnen. Das Merken als solches kann an anderen 
Lehrstoffen unter Umständen noch besser geübt werden, und das Gedicht 
wird, als Übungsmaterial für die mnemischen Funktionen betrachtet, in seinen 
spezifischen Leistungen herabgesetzt. Ich gehe bei der Prüfung auch dieser 
ganzen Frage wieder von den Erfahrungen am erwachsenen Gebildeten aus, 
von den Selbsterfahrungen, die jeder Leser zunächst bei sich festzustellen 
gebeten ist. Die Gewohnheit wörtlicher Einprägung mag aus der Schul- und 
Studienzeit nachdauern oder mag erst unter den Anstößen der Lebens- und 
Berufsarbeit sich entwickelt haben, sie ist für den erwachsenen Gebildeten 
eine Selbstverständlichkeit, wenn es sich entweder um autoritative oder um 


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238 A. Fischer, Zar Theorie d. emotionalen Bildung — am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung 


besonders wirkungsvolle Formulierungen handelt. Ich glaube, daß jeder von 
bestimmten Gruppen eigener Erlebnisse abnehmen kann, welche Rolle den 
Dichtungen zukommen in seiner persönlichen Seelengeschichte: als Motive der 
Lebensdeutung und Lebensgestaltung, als Mittelpunkte ruhigei Sammlung und 
^Betrachtung, als Trost-, Freude- und Kraftquellen. Sie helfen uns zur Distan¬ 
zierung gegen uns selbst, zur Überwindung der individuellen Beschränktheit 
und Enge und stellen eine sichere Brücke zur Objektivität des Geistes dar, wie 
sie für den weniger Gebildeten im Tiefsinn der Yolksweisheit des Sprichworts 
liegt. Wir können gar nicht genug dafür sorgen, daß sich im geistigen 
Besitz jedes Menschen auch vollständig in ihn verwebte Kunst befindet. Nur 
aber das memorierte Gedicht ist so beherrscht und verstanden, daß es in jeder 
Lage verfügbar alle Anregungskräfte, die in ihm latent sind, entfaltet, daß 
es vollständig genossen und mit dem Wandel der Jahre immer vertiefter 
genossen werden kann, daß sich daran wie an einen Kristallisal ionspunkt 
die eigene Fühl- und Erlebnisweise angliedert. Jedes in Fleisch und Blut eines 
Menschen übergangene Kunstwerk ist ein Keim von unerschöpflicher Fruchtbar¬ 
keit, und die Bildungsarbeit der Schule hat allen Grund, so viele derartige 
Keime als nur möglich in die Seele der Heranwachsenden einzusenken. Ich 
stehe nicht an, in Hinweisen auf volle geistige Aneignung auch noch eine Auf¬ 
gabe der freien Volksbildungsarbeit zu erblicken, soweit diese auf die literarische 
Volkserziehung abzielt. Taktvoll und individuell ausgeführt, würden sie gerade die 
eifrigen Leser gegen die „reine Lesewut" etwasimmunisieren und zur fruchtbaren 
Vertiefung, damit zur bildungsergiebigeren Auswertung ihrer Lektüre anleiten. 


Erfahrungen bei den Eignungsprüfungen industrieller 
Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde. 

Von Theodor Valentiner. 

(Schluß.) 

Aus der großen Zahl der Beobachtungen, die ich bei dieser Prüfung machte, 
ergab sich schließlich ein Urteil über Intelligenz und technische Befähigung 
des Lehrlings, das sich als äußerst wertvoll erwies. Bei der Intelligenz waren 
deutlich fünf Stufen zu unterscheiden. Zur ersten Klasse, den Intelligenten 
schlechthin, rechnete ich solche, die schnell auffaßten, die einen aufgeweckten 
Eindruck machten, meist treffende Antworten und Erklärungen gaben und 
durchaus klar in ihrem Denken erschienen. Die Klarheit, Richtigkeit, Kom¬ 
binationsgabe und auch das Tempo bildeten die wichtigsten Merkmale zur 
Bestimmung des Intelligenzgrades. Am anderen Ende standen die Unintelli¬ 
genten, und dazwischen mittelmäßig und besser, mittelmäßig, mittelmäßig 
und schlechter. In der letzten Klasse fanden die Prüflinge Platz, die äußerst 
schwerfällig und langsam im Denken waren, die schwer begriffen, nichts 
Wesentliches selbst fanden und trotz Hilfe nicht zur Klarheit kamen, sondern 
durchweg verworren und konfus erschienen. Das auf diesem Wege gewonnene 
Ergebnis der Prüfungen der älteren Lehrlinge zeigte eine völlige Übereinstimmung 
mit dem Werkstatturteil über Begriffsvermögen. Gelegentlich konnte ich Lehrer, 
die der Psychotechnik skeptisch gegenüber standen, durch diesen einta Ver- 


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Th. Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde 239 


such am Zitterschreiber umstimmen. Es kam vor, daß ein Lehrer im Institut 
anwesend war, wenn einer seiner Schüler (natürlich nicht in seinem Beisein) 
am Zitterschreiber geprüft wurde. Dann war er jedesmal erstaunt darüber, 
wenn ich ihm das Protokoll vorlas und er sah, wieviel Zutreffendes bei diesem 
Versuch zutage kam. Natürlich ergibt der Versuch am Zitterschreiber kein 
Urteil über Tüchtigkeit und Brauchbarkeit des Lehrlings schlechthin. Zwei 
Gruppen von Eigenschaften (Augenmaß und Willenseigenschaften) werden hier 
ja überhaupt nicht geprüft. So hatten wir unter den älteren Lehrlingen einen, 
der am Zitterschreiber mittelmäßig und z. T. besser erschien und doch von 
der Werkstatt als minderwertiger Arbeiter bezeichnet wurde. Er war 
flüchtig und brachte in seiner Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit keine 
Arbeit zu Ende, wie die Werkstatt mitteilte und wie wir im Laboratorium 
feststellten und auf die Prüfkarten geschrieben hatten: „unstetig bei der Arbeit, 
flüchtig, verliert leicht Interesse“. Also eine Übereinstimmupg mit der Rang¬ 
reihe darf nicht erwartet werden. Es ist weiter notwendig, daß andere ähnliche 
Versuche zur Ergänzung und Sicherung des Urteils über Intelligenz und tech¬ 
nische Fähigkeiten angestellt werden. Denn der Versuch und vor allem die 
Auswertung ist stark subjektiv gefärbt. Die Möglichkeit, daß der Prüfer da¬ 
bei fehlgeht, ist vorhanden. Wenn dagegen ein zweiter Prüfer in ähnlicher 
Weise prüft, so verbessern und vervollständigen sich die Beobachtungen und 
Urteile und führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu sicheren Ergebnissen. 
Zu solchen ergänzenden Versuchen ist fast jeder der bekannten psychologischen 
Apparate geeignet — nur muß er die Behandlung durch den Prüfling aus- 
halten können. Diese Apparate eignen sich besonders aus dem Grunde, weil 
sie dem Prüfling noch nie vor Augen gekommen sind. Wir benutzen dazu 
das Kymographion; auch Gottschalck’s Winkeltrieb, Kugelroller und Brücken¬ 
wasserwage, Moede’s Gelenkprüfer u. a. leisten gute Dienste. Bei dem Kymo¬ 
graphion wurde der technische Zweck (nicht etwa der psychologische) des 
Apparates mitgeteilt. „Der Apparat dient dazu, die Trommel in verschiedener 
Geschwindigkeit zu drehen.“ Dann unterhalten wir uns über Antrieb, Be¬ 
deutung und Zusammenhang der einzelnen Teile. Ist der Junge intelligent 
und auch technisch gut befähigt, so findet er selbst die Verlangsamungs¬ 
möglichkeiten und läßt zuletzt den Apparat in der gewünschten Geschwindig¬ 
keit laufen. Ich warne aber davor, sich Versuchsreihen auszudenken und 
gleich damit zu prüfen, ohne vorher den Wert festgestellt zu haben. Die Ver¬ 
antwortung ist zu groß. Eine Eichung an bekannten Lehrlingen oder Schülern 
muß auch hier wie bei jeder Testprüfung vorangehen. Was oben am Zitter¬ 
schreiber ausgeführt, ist auch das Ergebnis einer solchen Eichung. Der Ver¬ 
such sah erst anders aus. Ich ließ nämlich anfänglich auch die Papierstreifen 
durch den Prüfling einkleben, um eventuell Handgeschick und Sorgfalt zu 
prüfen. In der Tat zeigten sich die für die Urteilsdifferenzierung nötigen Unter¬ 
schiede sehr deutlich: Es wurde gerade und schief eingeklebt, der eine nahm 
nicht mehr Klebstoff als irgend nötig, der andere nahm überreichlich und ver¬ 
schmierte Tisch, Heft und Finger beim Einkleben usw. Aber ein Vergleich der 
hier festgestellten Eigenschaften mit dem Lehrerurteil ergab eine geringe Be¬ 
ziehung. Offenbar verdeckte hier die nicht feststellbare Verschiedenheit der 
Obung und Gewöhnung bei den einzelnen Schülern die gesuchte Eigenschaft. 

Wie für die Feststellung der Intelligenz* und der technischen Fähigkeiten 
neben dem Zitterschreiberversuch ergänzende Versuche nötig sind, so auch 


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Theodor Valentiner 


für Prüfung des Handgebrauches. Die Feststellungen über Ruhe der Hand, 
über das Zusammenarbeiten der Hände, ferner die Beobachtungen, ob die 
Hand unbeholfen, schwer, klobig oder gewandt und willig ist, bedurften noch 
der Ergänzung. Doch waren wir hier, wie der Vergleich mit den Zeugnissen 
der älteren Lehrlinge zeigte, zu weit gegangen. Eine Reihe von Versuchen 
nach Lipmann-Stolzenberg zur Prüfung des Tast- und Drucksinnes, sowie der 
Zielhammerversuch u. a. konnten unbeschadet wegbleiben. Die Beziehung zum 
Werkstatturteil wurde damit nicht ungünstiger. Zur Ergänzung werden wir 
künftig nur den Bolzenpasser und Gelenkprüfer von Moede, den Gleichschlag¬ 
prüfer von Gottschalck und das bekannte Drahtbiegen verwenden. Für das Gros 
der Lehrlinge kann nach den an den älteren Lehrlingen gewonnenen Ermittlungen 
von einer Prüfung der Empfindung für Glätte, Rauhigkeit, Unebenheit und 
Dicke abgesehen werden. 

Wir kommen zur vierten Gruppe, dem Augenmaß. Hier fehlt es nicht 
an vorzüglichen Prüfmitteln. Vorversuche, d(e ich in der Schule und im In¬ 
stitut für Jugendkunde an Schülern verschiedenen Alters und Erwachsenen 
angestellt habe, hatten ergeben, daß zu einer gesicherten Augenmaßprüfung 
sehr verschiedenartige und recht viele Versuche nötig sind. Es kann hier 
nur das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt werden: Um ganz sicher zu 
gehen, nahmen wir anfänglich 35 Proben. Doch hat sich aus der Bearbeitung 
des gesamten von 300 Lehrlingen gewonnenen Beobachtungsmaterials durch 
Frl. E. Schütte ergeben, daß eine Verminderung auf 28 Proben möglich ist 
Wenn man die Augenmaßgüte durch fünf Grade ausdrückte, so blieben hier¬ 
nach vom 28. Versuch an die erzielten Endwerte (1., 2., 3., 4., 5. Grad) gleich. 
Auch ergab sich dann noch eine völlige Übereinstimmung mit dem Werkstatt¬ 
urteil. 

Eine ganz besondere Bedeutung beansprucht endlich die fünfte Gruppe — die 
W illenseigenschaf ten. Bekanntlich werden sie in der Werkstatt nicht gering 
gewertet Für die Bestimmung der Rangreihe fallen sie sehr ins Gewicht. 
Außerdem ist es für den ausbildenden Meister wichtig, sie zu kennen. Ge¬ 
rade bei unseren Prüfungen, deren Ergebnisse nicht allein die Ermöglichung 
einer geeigneten Auslese zum Ziele hatten (die A.-G. „Weser“ stellte sämtliche 
bei uns geprüfte Lehrlinge ein), sondern auch den Meistern bei Unterweisung 
der Lehrlinge dienlich sein sollten, mußte dahin gestrebt werden, ein 
ausführliches Psychogramm besonders nach der Willensseite zu gewinnen. 
Es war hier von besonderem Wert festzustellen, ob ein Junge träge, flüchtig, 
oberflächlich, wenig sorgfältig ist oder gründlich, genau, gewissenhaft, 
arbeitswillig, strebsam und fleißig. So waren denn besondere Versuchs¬ 
reihen eingerichtet, bei denen Gelegenheit war, diese Eigenschaften fest¬ 
zustellen. Das Verfahren entsprach dem bei der Intelligenzprüfung ge¬ 
wählten (s. o.), nur war außerdem alles darauf angelegt, daß der Junge 
keine -Ahnung davon hatte, was man eigentlich feststellen wollte. Es 
waren zwei Proben gewählt, beide erschienen sie dem Prüfling verhältnis¬ 
mäßig leicht lösbar. Die eine bot viel Abwechslung und vor allem Gelegen¬ 
heit, das aktive Willensverhalten zu zeigen, während die andere monotoner 
war und mehr passive Willenseigenschaften in Erscheinung treten ließ. Die 
erste Aufgabenreihe bezog sich im wesentlichen auf das Erkennen von 
Werkstücken nach Zeichnungen: ein bekannter Versuch, der jedoch für diesen 
Zweck etwas anders als üblich ausgeführt wurde. Die zweite Probe bestand 


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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 241 


in dem auch bekannten Ordnen fehlerhafter und richtiger Eisenplättchen mittels 
Lehre (Lipmann-Stolzenberg). Während der Junge glauben mußte, daß es 
lediglich auf richtige Lösung dieser Aufgaben ankam, war diese Prüfung nur 
zum Schein. Wie er sie löste, spielte für Feststellung der Prüfergebnisse keine 
Rolle. Er hatte keine Ahnung davon, daß dabei genaue Beobachtungen über 
seine Gründlichkeit, Sorgfalt bei der Arbeit, über Arbeitswille, Ruhe, Sicher¬ 
heit, Selbständigkeit, Ordnungssinn usw. gemacht wurden. Ohne dieses Ver¬ 
stecken des eigentlichen Prüfungszieles geht es nicht. Der Mensch zeigt sich 
eben in seinem natürlichen Wesen nur, wenn ihm freie Hand gelassen wird 
und wenn er von dem Sichgehenlassen keinerlei Nachteil erwartet. Aus dem¬ 
selben Grunde dürfen bei dieser Prüfung niemals Dritte — oder gar der Meister 
oder Lehrer der Jungen — anwesend sein; sofort würde die Beeinflussung 
der natürlichen Willenseigenschaften eintreten und diese bis zur Unkenntlich¬ 
keit verdecken. Es scheint ferner von Bedeutung zu sein, daß der Prüfer 
keine besonders großen Respekt einflößende Persönlichkeit ist. Frauen sind 
wohl ihrer Natur nach im ganzen mehr geeignet als Männer. Einmal weil 
sich der 14 jährige Bengel ihnen gegenüber in der Regel eher gehen läßt, d. h. 
sein wahres Wesen zeigt, als dem Manne gegenüber, und dann vor allem 
darum, weil die Frau bekanntlich mehr auf Beobachtung des Persönlichen 
eingestellt ist und manches bemerkt oder intuitiv erfaßt, was dem Männerauge 
oft entgeht. Nun ist aber die Verantwortung gerade in diesem Fall außer¬ 
ordentlich groß. Da es sich um Feststellung von Charaktereigenschaften 
handelt, die für die allgemeine Bewertung des Menschen bekanntlich viel 
mehr bedeuten als die geistigen, so wird man sich hier nur dann auf die 
Beobachtungen im Laboratorium stützen dürfen, wenn ihnen mindestens ein 
gleicher Grad von Sicherheit zukommt wie dem Lehrerurteil. Da wir unsere 
Voruntersuchungen noch nicht so weit erledigt hatten, daß ich glaubte, es 
verantworten zu dürfen, daß wir uns lediglich auf unsere Beobachtungen 
stützten, so folgte ich dem Beispiel der Hamburger l ). Wir schrieben an die 
Klassenlehrer der Schüler und baten tun eingehende Äußerungen über den 
Schüler, und zwar besonders über die erwähnten Willenseigenschaften. Wir 
machten dabei dieselbe Erfahrung, die man in Hamburg gemacht hatte: Die 
meisten Lehrer füllten den beigelegten Fragebogen bereitwilligst aus und 
sandten ihn an das Institut zurück. Einige (etwa 20%) gaben sogar sehr 
eingehende Charakteristiken von den Schülern. So kamen von zwei Seiten 
Urteile über dieselben Eigenschaften, und wir waren in der Lage, die inter¬ 
essante Frage zu untersuchen: Wie stimmt das Lebrerurteil zu dem Labora¬ 
toriumsurteil hinsichtlich der Willenseigenschaften? Können wir aus unserem 
Beobachtungsmaterial vielleicht dasselbe herausholen, was uns die Lehrer auf 
Grund ihrer Beobachtungen in der Schule mitteilen? Können wir unabhängig 
davon werden? Man mag noch so sehr wünschen, daß die Schule an der Be¬ 
rufsberatung ihrer Schüler teilnimmt — und dieser Wunsch ist heute all¬ 
gemein vorhanden —, so muß doch auch von seiten der psychologischen 
Institute dahin gestrebt werden, auch unabhängig von Mitteilungen durch 
Dritte gleichsam aus eigner Kraft zweckentsprechende Psychogramme zu 
geben. Wie der Arzt, so muß auch der Psychologe mehr und mehr dahin 
kommen, auf Grund eigner Untersuchungen in den meisten Fällen eine voll 

’) W. Stern, Richtlinien nsw. (Zeitachr. t. angew. Psych. 29, S. 5t.) 

, Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 16 


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Theodor Valentiner 


und allseitig befriedigende Diagnose zu geben. Ein Bekenntnis großer Schwäche 
bliebe es immer, wenn er vor den WillenseigOnschaften haltmachen wollte. 
Nun hat der im Institut an dem gesamten großen Beobachtungsmaterial 
durchgeführte Vergleich zu e(nem erfreulichen Ergebnis geführt. Es stellte 
sich heraus, daß bei annähernd 90°/o die Lehrerurteile mit dem Instituts¬ 
urteil übereinstimmten, ja, daß fast durchweg dieselben Ausdrücke (nach 
Grad und Qualität, „etwas“ ungenau, wenig sorgfältig, sehr arbeitswillig usw.) 
zur Charakterisierung der betreffenden Eigenschaften gewählt waren. Dieses 
Ergebnis berechtigt uns dazu, daß wir künftig auf die erweiterten Lehrer¬ 
urteile verzichten und die natürlich von mehreren Prüfern imabhängig von¬ 
einander festgestellten Urteile über Charakter- und Willenseigenschaften auf 
unsere Prüfkarte eintragen. Dagegen werden wir nach wie vor auf Berück¬ 
sichtigung der Schulzeugnisse nicht verzichten können, und zwar schon wegen der 
Urteile über das Betragen. Hier dürfte es in der Tat schwer sein, im Labora¬ 
torium zu gesicherten Ergebnissen zu kommen. Wir lassen die Zensuren der 
letzten vier Jahre vollständig und übersichtlich abschreiben. Bei Abfassung 
der Prüfkarten werden sowohl die Leistungs- wie die Verhaltungsprädikate 
in bestimmter Weise berücksichtigt Es würde zu weit führen, dies hier im 
einzelnen darzulegen, wie überhaupt die Frage der Bewertung ein Kapitel 
für sich ist, das hier nur ganz flüchtig gestreift werden kann. Wir wollen 
einmal annehmen, daß wir zu einem endgültigen Urteil über jede der oben 
gekennzeichneten fünf Gruppen gelangt sind — jeder praktische Psychologe 
freiß, welche großen Schwierigkeiten zu überwinden sind, um vor allem, die 
qualitativen Urteile in vergleichbare Zahlenangaben umzusetzen u. a. m. 
Wir wollen hier davon absehen und nur die Frage stellen: Welches Gewicht 
muß die einzelne Gruppe für die Gesamtbewertung erhalten? Die Frage 
wurde empirisch zu lösen versucht, soweit es unser Material erlaubte, d. h. es 
wurden unter Hinblick auf die 17 Zeugnisse der älteren Lehrlinge die Ge¬ 
wichtszahlen innerhalb der überhaupt in Frage kommenden Grenzen so lange 
variiert, bis sich die relativ günstigste Beziehung zum Werturteil ergab. Es 
hat sich hierbei eine einfachere Lösung ergeben, als man erwarten sollte, 
und zwar folgende: Wenn man Auge, Kopf (Intelligenz und technische 
Fähigkeit), Hand und Wille, um es einmal grob auszudrücken, gleiche Ge¬ 
wichtsnummern gab, so wurde die relativ beste Übereinstimmung mit der 
Werkstattsrangreihe erzielt. Ob sich diese Festsetzung weiter bewähren wird, 
kann natürlich nur die Erfahrung lehren. Bei der unübersehbaren kom¬ 
plexen Natur aller einzelnen Berufsarbeiten einerseits und der Verschieden¬ 
artigkeit der Bewertung in der Arbeitspraxis, die wohl kaum bei zwei Werken 
übereinstimmt und selbst bei demselben Werke öfters wechseln dürfte, wird 
man zweifeln, daß damit schon eine einwandfreie Lösung der schwierigen 
Frage gefunden ist. Es wäre zu wünschen, daß sich die Psychotechnik 
gerade dieser wichtigen Frage noch intensiver als bisher zuwendete. — 

So wie die Prüfung hier geschildert wurde, ist sie als Einzelprüfung, nicht 
als Massenprüfung gedacht. Es hat sich bei uns bestätigt, was W. Stern 
über den verschiedenen Wert dieser Prüfungen ausführt 1 ). Wenn es die 
Verhältnisse gestatten, werden wir auf Grund unserer Erfahrungen in Zukunft 
von einer Massenprüfung ganz absehen. Da die Zeit drängte,' ging ich, wenn 


*) Vgl. W. Stern, Richtlinien u»w. (Zeitschr. f. angew. Psycb., 2», S. 5f.) 


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Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut für Jugendkunde 243 


auch mit großen Bedenken, daran, neben den Einzelprüfungen den Plan für 
die Massenprüfung auszuarbeiten und diese in 6 Klassenräumen einer Schule 
vornehmen zu lassen. War doch zu hoffen, daß man auf diese Weise in 
kurzer Zeit ein umfassendes, leidlich wertvolles Material erhielt Es wurden 
also 20—30 Schüler in einer Klasse vereinigt. Jeder Versuch dauerte 
20 Minuten. Nach Ablauf dieser Zeit zog jeder Prüfer mit seinem Prüf¬ 
material in eine andere Klasse. In 2 Stunden war jeder Prüfer durch alle 
Klassen durchgekommen. Danach kam die 2. Hälfte der Prüflinge dran, die 
in derselben Weise von den Prüfern geprüft wurden. In 4 Stunden war die 
Prüfung erledigt. Wertvoll schien daran zu sein, daß jeder Prüfer einen 
kleinen Versuch an sämtlichen Lehrlingen durchprüfte und die Aus¬ 
wertung daher keine Schwierigkeiten machte. Doch hat der Vergleich des aus 
der Massenprüfung an durchaus verschiedenen Proben gewonnenen Materials 
mit dem der Einzelprüfung ergeben, daß wir ohne Massenprüfung auskommen, 
daß unser Urteil durch die Massenprüfung nirgends einen wertvollen Zuwachs 
erhielt. Am Resultat wurde nichts geändert, wenn wir es nach den fest¬ 
gelegten Normen bewerteten; es wurde verschlechtert, wenn man viel Gewicht 
auf die Massenprüfung legte. Wenn wir daher künftig auf eine Massenprüfung 
ganz verzichten möchten, so wollen wir doch die Gruppenprüfung beibehalten, 
die sich als zweckmäßig erwies. Es wird an Personal gespart, wenn man 
gleichzeitig in demselben Raum unter Aufsicht eines Prüfers drei oder vier 
Jungen oder auch noch mehr Jungen Personalien und Schulzeugnisse auf¬ 
schreiben, einen Aufsatz verfassen, Draht biegen und je nach Bedarf zeichnen 
läßt. Dies hat sich bewährt, da wir bei der naturgemäß verschiedenen Dauer 
der Einzelprüfung stets einige Beschäftigungslose hatten, die uns durch ihre 
Arbeit in der Gruppe brauchbares Material spendeten, ohne jedesmal für sich 
eines besonderen Aufsehers zu bedürfen. Der Einwurf, daß für unser Prüfver- 
verfahren eine Reihe psychologisch durchgebildeter Kräfte gebraucht wird, 
die nur schwer und unter großen Kosten zu beschaffen sind, besteht nicht 
zu recht. Für Abhaltung der Prüfung brauchen wir nicht ausgebildete Psycho¬ 
logen, sondern Persönlichkeiten, die mit gesundem Sinn und geschultem Ver¬ 
stände Verständnis für die Jugendlichen und Interesse für diese Arbeit mit¬ 
bringen, die scharf beobachten und exakt nach Anweisung arbeiten. Alles 
andere läßt sich durch Lehre und Übung bald gewinnen. Natürlich muß auch 
hier die richtige Persönlichkeit an den richtigen Posten! Nicht jeder, der 
eine exakte Augenmaßprüfung ausführen kann, eignet sich auch zur Vor¬ 
nahme einer Intelligenzprüfung und umgekehrt. Aber hier den geeigneten 
unter den sich Meldenden herauszufinden, ist nicht schwierig. Anders steht 
es mit der Auswertung der gewonnenen Beobachtungen, der Verarbeitung 
des gesamten von verschiedenen Seiten zusammenströmenden Materials, endlich 
dem Abfassen der Prüfkarten. Diese Arbeit kann in der Tat nur von einer 
psychologisch und psychotechnisch durchgebildeten Persönlichkeit geleistet 
werden, die sich ganz dieser Aufgabe widmet. 

Es konnte hier nur von den Erfahrungen berichtet werden, die wir in 
Bremen gemacht haben. Wie weit diese Erfahrungen auf andere Orte an¬ 
wendbar sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Ebensowenig die Frage, 
ob die in Bremen gewählte Organisation für andere Orte in Frage kommt. 
In Bremen ist es das natürlichste und zweckmäßigste, daß alle Eignungs¬ 
prüfungen in einem zentralen, wissenschaftlichen Institut, eben dem Institut 


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244 Th- Valentiner, Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge im Bremer Institut f. Jugendkunde 




für Jugendkunde vorgenommen werden. So braucht nicht jedes Werk kost¬ 
spielige Apparate und andere Prüfmittel anzuschaffen und ein besonderes 
Hilfspersonal zur Prüfung anzustellen. Es werden ferner alle wissenschaft¬ 
lichen Fortschritte, die irgendwo auf diesem Gebiet gemacht werden, sofort 
der Praxis zugute kommen, während ein einzelnes Werk in der Regel nicht 
in der Lage sein wird, sich mit dem gesamten wissenschaftlichen Rüstzeug 
apszustatten und es voll auswerten zu lassen. Gewiß wird es auch vielerorts 
nötig sein, daß das Werk selbst psychotechnische Eignungsprüfungen aus¬ 
führt; daß es geht und der Erfolg nicht ausbleibt, dafür haben wir ja viele 
Zeugnisse. Andererseits werden künftig gewiß auch viele Institute rein 
wissenschaftlich auf diesem Gebiete sehr fruchtbare Arbeit leisten, ohne 
vielleicht irgendwelche Gelegenheit der praktischen Anwendung zu haben. 

Das Wichtigste für eine Verbesserung und Weiterentwicklung der Prüf¬ 
verfahren erscheint mir heute ein lehhafter Austausch der Erfahrungen. Wenn 
alle Beteiligten sich gegenseitig alle günstigen Erfahrungen mitteilen upd die 
ungünstigen Erfahrungen, sowie die Fehler, die sie machen, soweit aus ihnen 
zu lernen ist, offen bekennen, dann wird die Arbeit, die schon jetzt auf 
bestem Wege ist, immer rationeller, ökonomischer und sicherer werden. Es 
wird dann vielleicht gelingen, zu einem überall leicht verwendbaren einheit¬ 
lichen Prüfverfahren zu kommen. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Richtlinien zur Aufnahme in die Hilfsschule hat im Aufträge der städtischen 
Schulverwaltung der Hilfsschulverband Köln aufgestellt Sie sind 
beachtenswert danach, wie sie die verschiedenen Ermittlungsverfahren ver¬ 
einigen und den Lehrer der Normalschule, den Hilfsschullehrer und den Arzt bei 
der Entscheidung mitwirken lassen. Als ausschlaggebend gilt die planmäßige 
Beobachtung, ohne daß aber die Bedeutung von Testprüfungen verkannt 
würde. Ein Erhebungsbogen bringt das, was am einzelnen Kinde charak¬ 
teristisch und entscheidend ist, zum geordneten schriftlichen Niederschlag. 

I. Welche Schiller gehören in die Hilfsschule? 

In die Hilfsschule gehören ausschließlich bildungsfähige Schwachsinnige. 
Nicht in die Hilfsschule gehören somit: 

1. Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades leiden. Sie werden bei 
Beginn der Schulpflicht durch die Hilfsschule der Normalschule abgenommen 
und nach eingehender Prüfung und etwa notwendiger Beobachtung dem 
Hilfsschulkindergarten (oder der Idiotenanstalt) zugewiesen. 

2. Verwahrloste, durch Krankheit und andere äußere Umstände zurück¬ 
gebliebene, aber geistig normale Kinder. 

3. Kinder psychopathischer Konstitution ohne erhebliche Defekte im Er¬ 
kenntnisleben. 

4. Blinde, taube, taubstumme, schwerhörige Kinder höheren Grades mit 
Normalbegabung und epileptische Kinder. — Hilfsschüler mit Schwerhörigkeit 
höheren Grades ko mm en in besonders dazu eingerichtete Hilfsschulklassen. 

II. Wann hat die Aufnahme in die Hilfsschule zu erfolgen? 

In der Regel findet die Aufnahme nach erfolglosem zweijährigen Schul¬ 
besuch statt; im Einzelfalle kann sie auch nach einem Jahre erfolgen. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


245 


Wegen rein geistiger Minderbefähigung soll kein Schüler vom Schularzt 
ein oder gar mehrere Jahre zurückgesetzt werden. Nur körperliche Unzuläng¬ 
lichkeit kann eine Zurückstellung begründen. Ist die geistige Minderwertigkeit 
so hochgradig, daß sie im ßinzelfalle von Arzt und Schule bereits bei der 
Einschulung einwandfrei festgestellt werden kann, so ist der betreffende 
Schüler sofort der Hilfsschule zu überweisen. 


DI. Wie vollzieht sich die Aufnahme in die Hilfsschule? 
a) Tätigkeit der Normalschule und des Schularztes. 

Am 1. Juli'eines jeden Jahres legt die Normalschule einen Erhebungsbogen 
für jeden Schüler an, den sie für hilfsschulbedürftig hält. (Formulare sind 
vorgedruckt.) Diese Schüler werden besonders beobachtet und die Beobach¬ 
tungen sorgfältig im Erhebungsbogen eingetragen. Hat sich bis zum 1. Oktober 
das Urteil über den Schüler nicht geändert, so wird derselbe auf die von der 
Schulverwaltung überwachte Anmeldeliste gesetzt und so der Hilfsschule ge¬ 
meldet Die Hilfsschule setzt sich sofort mit dem bisherigen Lehrer des 
Schülers in Verbindung, prüft mit diesem besonders die etwaigen äußeren 
Umstände des Zurückbleibens (Krankheit, Schulversäumnisse, Verwahrlosung), 
dann allgemein die näheren Angaben über die geistigen Mängel sowie die 
genaue Ausfüllung des Erhebungsbogens. (Kopf des Erhebungsbogens ist 
besonders zu beachten.) Dem Schularzt wird das Kind bei seinen monatlichen 
Besuchen in der Schule besonders vorgeBtellt, worauf der Lehrende durch 
den Hilfsschullehrer ausdrücklich hinzuweisen ist Sind Lehrer und Hilfs¬ 
schullehrer am 15. Dezember noch von der Hilfsschulbedürftigkeit überzeugt, 
so werden Anmeldeliste und Erhebungsbogen dem Schulamt übersandt, das 
die Zuführung des Kindes zu dem Schularzt durch die Schulfürsorgerin und 
Weitergabe des Berichtes an die Hilfsschule veranlaßt Die Untersuchungs¬ 
ergebnisse des Schularztes dienen als Grundlage der eingehenden Beurteilung 
durch den Hilfsschullehrer und erstrecken sich: 

1. auf den körperlichen Zustand des Schülers unter besonderer Berück¬ 
sichtigung der Sinnesorgane, 

2. auf die erblichen Verhältnisse, sowie 

3. auf besonders auffallende geistige Defekte. 


b) Untersuchungsarbeit durch den Hilfsschullebrer. 


1. Der Hilfsschullehrer nimmt eingehend Kenntnis von allen Ein¬ 
tragungen im Erhebungsbogen seitens der Normalschule und des Schul¬ 
arztes. Ist die Untersuchung durch den Schularzt nicht erfolgt, so hat der 
Hilfsschullehrer zuerst Auge und Ohr auf ihre Funktionen zu untersuchen. 
Kennt das Kind hierbei weder Buchstaben noch Ziffern, so treten an deren 


Stelle einfache Zeichen: 



„Farbige Kreide unterstützt die Untersuchung (verschiedene Helligkeits¬ 
stärke) und gibt gleichzeitig Fingerzeige über Farbenkenntnis und Kenntnis 
der einfachsten Zahlbegriffe.“ 

Flüstersprache im Rücken des Kindes muß verstanden werden. 

2. Er nimmt eine Allgemeinuntersuchung des Kindes in bezug auf 
Orientierung in dessen Umwelt vor. Sie wird in Form zwangloser zutrau¬ 
licher Unterhaltung geführt und ist an keine bestimmte Form gebunden. 
Dadurch findet der Prüfende leicht ein Interessengebiet des Schülers und stellt 


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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


ihn auf die spätere TestprQfung ein, indem er diejenigen Hindernisse aus 
dem Wege räumt, die nicht unmittelbar zur kindlichen Intelligenzbeurteilung 
gehören (Ängstlichkeit, Scheu, nervöse Unruhe, Erethiker, motorische und 
" zentrische Sprachgebrechen, Mundart des LehreVs und des Schülers — gegen¬ 
seitiges Nichtverstehen). Gleichzeitig merkt der Prüfende, wie er allmählich 
in der Schwierigkeit der Fragestellung fortschreiten kann, und erhält so in 
großen Umrissen ein Allgemeinurteil über die geistige Verfassung des Kindes. 

Es ist zu beachten, daß von den nachstehend angegebenen Stoffgebieten 
nur diejenigen durchzuprüfen sind, die zur Erreichung des vorstehend ge¬ 
kennzeichneten Zieles unbedingt notwendig sind. Andernfalls ermüdet der 
Schüler zu sehr, und damit tritt ein neues, schwerwiegendes Hemmnis der 
Intelligenzbeurteilung ein. 

Zar Auswahl sind folgende Stoffgebiete za empfehlen: 

Einfache Begriffe. (Vorstellungskomplexe mit engen Grenzen.) 

1. Körper des Kindes: Teile zeigen and nennen (Rand, Auge, Ohr). Kleidang des 

Kindes: Rock, Schuhe, Strumpf, Knopf. * 

2. Elternhaus. Namen angeben: Vater, Mutter, Geschwister, Hund, Katze. — Gegen¬ 
stände nennen: in Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Keller, Hof. 

8. Christkind — Osterhase (auf Fragen antworten). Eis, Schnee, Regen, Wetter (wenn 
zeitlich zusammenfallend). 

4. Einkäufen: Gegenstände aufzählen! Angeben, wo sie gekauft sind (nur Handwerk¬ 
benennung fordern, Brot bei Bäcker, Schuh bei Schuster). 

5. Schule: Mitschüler, Schulsachen, Gegenstände im Schulsaal, Schularbeiten aufzählen, 
Liedchen singen, Lehrer. 

Erweiterte Begriffe und Urteile zu „A“. 

1. Zweck der Hände, Augen, Ohren, Nase, Füße. Zweck der Kleidungsstücke. Stoftart 
der Kleidungsstücke bei Schuh, Strumpf, Haarband, Knöpfen. Farben der Kleidungs¬ 
stücke. Werkzeuge, mit denen die Kleidungsstücke hergestellt werden. (Näherin — 
Mädchen.) 

2. Was die einzelnen Familienmitglieder arbeiten. Wo die Arbeitsstelle ist. Essentragen. 
Weg. Zweck der Arbeit (Geld verdienen — Nahrung, Kleider kaufen). Wie hilft der 
Schüler der Mutter, dem Vater? 

3. Stoff vom Christkind usw. erzählen lassen. Stoff von Wintererlebnissen erzählen 
lassen (Schnee, Eis). Vom „Kino“ erzählen lassen. 

4. Wo kauft man ein: Brot, Fleisch, Gemüse usw. (Neben Handwerk auch Namen nennen 
lassen.) Weg angeben! Was kosten einzelne Sachen: Brötchen, Brot? Teuerung: 
was alltäglich zu hören ist Ofen: Zweck, Brennmaterial. 

5. Schulweg angeben, Weg zur Kirche, zum Dom, zu bekannten Kaufhäusern, Kino, Bahnhof, 
Nummer der Elektrischen, Aufschrift, Schilder, Fahrtkosten. Orientierung über Zeit: 
Morgen — Mittag — Abend — Nacht. Schulanfang, Schalschluß. 

Höhere Anforderungen an ältere Schüler. 

Die bekannten Handwerker: ihre Beschäftigung, ihre Einrichtung, ihre Werkzeuge, Umwand¬ 
lung einfachster Rohstoffe in Fertigware, Unterscheidung von Stoffen. 

Gesamtkomplex etwa: Hausbau. 

1. Schreiner: Baum, Holz, Hausbau, Möbel. 

2. Maurer: Steine, Kalk, Zement, Mörtel (Speise). 

8. Schlosser: Eisen, Stahl, Blech, Draht, Säge, Beil, Nägel, Feile, Hammer. 

4. Zimmermann: Decken, Dach, Gerüstbau. 

6. Anstreicher: Farben, Pinsel, Maler, Schriftmaler. 

6. Schneider: (Schneiderin): Wolle, Seide, Sammet, Futter, Nähgarn, Nähseide. 

7. Schuhmacher: Haut, (Fell), Pelz, Leder, Schuhe, Handtasche. 

8. Bäcker: Mehl, Brot, Kuchen, Zutaten, Kostenpunkt (Mädchen). 

3. Er prüft die SchulkenntnisBe (1. Schuljahr). Die Prüfung der Schul* 
kenntnisse hat sich fürs erste Schuljahr nach Einführung des Grundschul- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Lehrplanes eng an diesen anzulehnen. (Jeder Prüfende muß mit dem Plan 
vertraut sein.) Als Prüfungsgebiete kommen dabei in Betracht: 

1. Plauderstoffe, Erzählungen, Gedichte. 

2. Formen, Stäbchenlegen, malendes Zeichnen. 

3. Lesen, Schreiben, Rechtschreiben. 

4. Rechnen. / 

Schrei blesen: Der zu erarbeitende Stoff ist im Lesen und Rechnen nicht nach Zeit festgelegt 
Die Ansicht der Keiner Lehrplankommission geht dahin, daß bis Weihnachten etwa die kleine 
und große Druckschrift durebgearbeitet ist ohne Dehnung und Schärfung. (Siehe Domfibel.) 
Et ist somit zuerst die sogenannte Balkenschrift zu prfifen. Die einzelnen Buchstaben werden 
in Stäbchen gelegt, in Plastilina geformt, gemalt, zu Silben und Wörtern zusammengesetzt und 
gelesen. Später setzt die kleine Antiqua ein (mit Seite 10 der Domfibel). Von diesem Zeit¬ 
punkte an schreibt der Schüler Sütterlinschrift, liest also die Antiqua der Domfibel und die 
geschriebene Sütterlinschrift gleichzeitig. 

Rechtschreiben.' Das Stoffgebiet für das Rechtschreiben ist in obigen Ausführungen gegeben. 
Rechnen. Bis Weihnachten ist durchgearbeitet: 

1. Zu- und Abzählen im Zahlenkreise 1—10. 

' 2. Zu- und Abzählen der reinen Zehner von 10—100. 

3. Zu- und Abzählen der Grundzahlen von 10—100 ohne Zehnerüberschreitung. 
Das Stoffgebiet der weiteren Schuljahre gleicht sich den früheren Anforderungen (alter Lehr- 
pUn) an und ist aus dem Grundscbul-Lehrplan zu ersehen. 

4. Er nimmt die Testprüfung vor. Der prüfende Lehrer ist hierbei an 
die Anweisungen über Methode und Zeit gebunden, jedoch ist eine sinn¬ 
gemäße lebendige Auffassung der einzelnen Tests zulässig. Dabei ist ins¬ 
besondere zu beachten, daß die gestellten Aufgaben wohl erfaßt werden sollen, 
daß aber die hierbei angewandten Fragen und Hilfsfragen die Aufgabe nicht 
wesentlich erleichtern oder erschweren dürfen. Hier ist weitgehende Schulung 
des Prüfenden Hauptsache. Sondemotizen und Protokollführung sind not¬ 
wendig. Die Testergebnisse sind nach Formular beizufügen. Das Lebensalter 
ist stets auf volle Jahre zu berechnen, die Berechnung für alle Schulen ein¬ 
heitlich zu gestalten. (Bobertag: „Kurze Anleitung".) Beispiel: L. A. (Lebens¬ 
alter), I. A. (Intelligenzalter), I. R. (Intelligenzrückstand), L Qu. (Intelligenz¬ 
quotient). — Die Testprüfung kann von einem zweiten Hilfssch.ullehrer vor¬ 
genommen werden. 

IV. Die Eintragungen in den Erhebungabogen. 

Um der Schulaufsichtsbehörde die vorgeschriebene Entscheidung zu ermög¬ 
lichen, ist es notwendig, daß die Prüfungen sich in einheitlicher Form voll¬ 
ziehen und die Einzelergebnisse aus dem Erhebungsbogen zu erkennen sind. 
Nur die für das einzelne Kind charakteristischen Angaben werden nieder- 
geschriebei}. 

Muster des Erhebungsbogens. 

1. Allgemeinauff&88ung (Umwelt). 

A) 1. Angaben ungenau, unsicher; oder: weiß gut Bescheid. 

A) 5. Weiß kaum etwas zu sagen; oder: kann ziemlich eingehend Auskunft geben. 

B) 2. Stoff ist fremd, gibt keine Auskunft; oder: ist genügend orientiert 

C) 6. Gibt kaum Auskunft, obwohl Vater Schneider ist; oder: kaum einige unklare Be¬ 

griffe vorhanden. 

Statt hier auf die Einzelheiten einzugehen, kann bei durchweg gleichmäßiger Auffassung 
mehrerer Begriffskomplexe das Urteil zusammengefaßt werden; z. B.: 

Ist in seiner Umwelt außerordentlich schlecht orientiert; oder: hat aus seiner Umwelt 
nur wenig Begriffe; oder: weiß in seiner Umwelt gd., gt. Bescheid. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


2. Schulkenntnisse. • 

a) Plauderstoffe, Erzählungen, Qedichte. Was hat der Schüler von dem im Lehr¬ 
plan vorgeschriebenen Lehrstoff erfaßt? Kann er etwas daraus erzählen? Eventuell 
was? Kann er ein Gedicht answendig? 

b) Malen, Stäbchenlegen, Formen. Kann der Schüler leichte Aufgaben des Lehr¬ 
plans lösen? Eventuell welche? 

c) Lesen: 1. Zahl der bekannten Buchstaben: (Balkenschrift? Antiqua? Sütterlin*) 
2. Liest der Schüler Lautverbindungen? 3. Wieweit liest er in der Fibel (Domfibel)? 
4. Wieweit geht seine Lernfertigkeit überhaupt? 

d) Schreiben, Abschreiben, Diktat 1. Kann der Schüler Buchstaben — Wörter 
abschreiben? 2. Faßt er Einzellaute auf? gibt er sie in Zeichen wieder? 3. Faßt sr 
Wörter — Sätze auf; gibt er sie in der Schrift wieder? — Proben hieraus sind Jedes¬ 
mal im Erhebungsbogen in getreuer Abschrift festzulegen. 

e) Rechnen: 1. Der Schüler zeigt an der Hand oder der Rechenmaschine bis: . . . 
2. Der Schüler operiert mit Anschauung bis: . . . 3. Der Schüler operiert ohne An¬ 
schauung bis: . . . 

Wo sie ein besonderes charakteristisches Merkmal der Beurteilung bilden, können einzelne 
Proben im ersten Zehner festgelegt, die Lösungsdauer ersichtlich gemacht werden, indem die 
Sekundendauer durch senkrechte Striche markiert wird; 3-f- 1 — | 11 | (4); 3—1 = ! | (2) (nir 
wenn sie ein charakteristisches Merkmal der Beurteilung bilden.) 

3. Testprüfungsergebnis; Formular ist stets beizufügen! 

4. Urteil: Auf Grund der Wertung aller Ergebnisse ist das Urteil über Hilfsbedürftigkeit 
aufzubauen. Es gehören hierher das Erfahrungsurteil der Normalschule, der Untersuchungs- 
bericht des Schularztes, das Umwelturteil, die Schulkenntnisse und das Testergebnis, ln 
vielen Fällen wird trotz aller aufgewandten Sorgfalt das Gesamturteil nicht leicht sein. 

Dieses Urteil lautet: 

1. h ilfssch ul bedürftig, 

2. nicht hilfsschulbedürftig, 

3. unbestimmt, 1 Jahr zur Beobachtung zurück. 

5. Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde. 

6. Rückversetzung. Zeigt es sich, daß ausnahmsweise trotz aller Sorgfalt ein Kind 
zu Unrecht in die Hilfsschule übernommen wurde, so ist bei der Schulaufsichtsbehörde 
der Antrag auf Rückversetzung in die Normalschule zu stellen. 

7. Bei tiefgehender gegensätzlicher Beurteilung und Stellungnahme zwischen Normalschule, 
Hilfsschule und Schularzt kann die Schulaufsichtsbehörde das betreffende Kind einer 
besonders dazu gebildeten Kommission überweisen, bestehend aus einem psychiatrisch 
gebildeten Schularzt und einem Hilfsschullehrer. In jedem Falle aber bleibt die end¬ 
gültige Entscheidung Sache der Schulaufsichtsbehörde. 

V. Welche Kinder kommen in den Hilfsschulkindergarten? 

Kinder, die im allgemeinen die nachstehend bezeichneten Aufgaben nicht 
Ibsen, gehören nicht mehr zur Hilfsschule, sondern sind dem Hilfsschul¬ 
kindergarten zu überweisen, von wo aus weiter über *sie zu entscheiden 
ist — Es ist zu prüfen: 

1. Die Funktionen der Sinnesorgane (Auge, Ohr, Getast, Geschmack). 

2. Ob das Kind die einfachsten Begriffe seiner Umwelt hat: Erkennen 
der Gegenstände am Kinde und in seiner nächsten Umgebung; Benennen 
dieser Gegenstände. 

3. Ob das Kind den Zweck der einfachsten Gebrauchsgegenstände erfaßt 
hat und aussprechen kann. Messer, Gabel, Griffel, Ofen (auch Auge — Ohr). 

4. Ob es Eigenschaften an diesen Gegenständen erkennt und angibt 
Gegensätze erleichtern die Antworten. Hierher gehören: warm — kalt (Ofen), 
dick — dünn, spitz — stumpf (Griffel), kurz — lang (Griffel), hart — weich, 
sauer — süß, rauh — glatt, schwarz — weiß. 

5. Ob es, von den einfachsten Formen (ohne Namengebung) eine Auffassung 


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hat. Zwei gleiche Formen werden zusammengesucht oder eine Form in den 

betreffenden Ausschnitt des Formenbrettes gelegt (nur □, 1_I, O, A). 

6. Ob es Farbenauffassung hat (Namen nicht gefordert). Zwei gleiche 
Farbtäfelchen werden zusammengesucht. 

Zahlbegriffe bleiben außer Betracht. 

Die genannten Aufgaben geben zugleich hinreichend Aufschluß über die 
Sprachentwicklung des betreffenden Kindes. 


Das Institut für Jugendkunde in Bremen legt für das Jahr 1922 durch 
seinen wissenschaftlichen Leiter Dr. Th. Valentiner den Arbeitsbericht vor. 
Wir entnehmen daraus über die praktischen und wissenschaftlichen Arbeiten 
des Instituts für Jugendkunde, die wieder einen erfreulichen Fortgang nehmen 
konnten, das folgende: 

1. Arbeiten der Jugendschriftenkommission. Gemeinschaftlich mit 
der Jugendschriftenkommission des Lehrervereins wurden vor Weihnachten 
an 32 bremischen Schulen Ausstellungen veranstaltet. Der Zuspruch, den 
die Ausstellungen fanden, war über Erwarten groß. In der Verbreitung des 
guten Buches erblickt das Institut eins der wirksamsten Mittel, um dem Kauf 
von Schund- und Schmutzerzeugnissen durch unsere Jugend Abbruch zu tun. 
Ein guter Bundesgenosse in diesem Kampf wird auch das neue Verzeichnis 
empfehlenswerter Jugendschriften sein, das von dem Bremer Lehrer¬ 
verein, dem Institut für Jugendkunde und dem DUrerhaus herausgegeben 
und im Dezember 1922 in dem Verlag des Dürerhauses erschienen ist Das 
Institut ist ferner bemüht, auch durch Ausleihen von Büchern die gute 
Jugendschrift in weiteste Kreise unserer Jugend zu tragen. Wie im vorigen 
Sommer konnten nach Ostern wieder die Kinder und Jugendlichen, die zur 
psychologischen Untersuchung in das Institut kamen, kostenlos Bücher aus 
der Institutsbibliothek geliehen erhalten. Endlich sucht da» Institut der Auf¬ 
gabe der Verbreitung der guten Jugendschrift durch Aufklärung zu dienen. 
Es werden nach Ostern besonders für Seminaristen und alle, die sich besonders 
aus den Kreisen der Lehrerschaft dafür interessieren, eine Reihe von Vpr- 
trägen über die Jugendschrift gehalten werden. 

2. Arbeiten der Kommission für das Begabungsproblem. Die 
begonnenen Arbeiten wurden fortgeführt. Im Mittelpunkt standen korre- 
lations-psychologische Untersuchungen. So wurden unter anderm 
die gegenseitigen Beziehungen von verschiedenartigen Augenmaßleistungen 
(Halbieren, Dritteln, Vierteln einer Strecke, Kreismittelpunktsuchen, Grund-' 
richtungseinstellung, Kreisflächeneinteilung und anderes) bei 300 Jugendlichen 
untersucht und dabei das besonders praktisch wertvolle Ergebnis gewonnen, 
daß das Halbieren einer Strecke von bestimmter Länge und in bestimmter Ent¬ 
fernung anscheinend die günstigste Beziehung zu der Augenmaßfunktion hat, die 
>n der Praxis am meisten in Anspruch genommen wird. Es hat daher diese 
Leistung für psychotechnische Prüfungen besonders großen Wert, wenn auch die 
Beziehungen nicht derartig sind, daß auf Feststellung von anderen Leistungen, 
wie etwa Mittelpunktsuchen, verzichtet werden kann. Einige Teilergebnisse 
dieser Arbeiten konnten an Hand von 6 Tafeln mit Korrelationakurven auf der 
Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie in Berlin (10.—14. Oktober 
1922) demonstriert werden. — Weitere Arbeiten bezogen sich auf die ex¬ 
perimentelle Untersuchung von Willenseigenschaften an Jugend- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


liehen (vgl. hierzu Prakt. Psychologie IV. 1 (1922) S. 10 f). Es wurde versucht 
festzustellen, wieweit es möglich ist, mittels Arbeitsproben den Willen zur 
Arbeit sowie die Arbeitsart nach der Willensseite hin (Entschlußfähigkeit, 
Selbständigkeit, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Ruhe, Sicherheit, 
Tempo) bei Kindern und Jugendlichen verschiedenen Alters im Laboratorium 
zu erfassen. Auch hierüber konnten auf dem erwähnten Berliner Kongreß 
einige Mitteilungen gemacht werden. Die positiven Ergebnisse dieser Arbeit 
konnten schon bei den im Institut für Jugendkunde angestellten Berufs* 
eignungsprüfungen verwertet werden. 

In größerem Umfange als im Vorjahre wurden die psychotechnischen 
Berufseignungsprüfungen vorgenommen. Die industriellen Werke, die 
1921 ihre Lehrlinge im Institut für Jugendkunde prüfen ließen, A.-G. „Weser“, 
Atlaswerke, Franckewerke, Hansa-Lloyd-Werke, Koch & Bergfeld, Norddeutsche 
Waggonfabrik, meldeten sie auch wieder für 1922 an. Ferner sandten uns 
folgende Werke Lehrlinge zur Eignungsprüfung: Bohm & Kruse, Cordes & 
Sluiter in Hemelingen, Lloyd-Dynamowerke, Bremawerk (Haagen & Rinau), 
A. Gese in Bremen. Außerdem wurden die vom Arbeitsamt (Abteilung Berufs¬ 
beratungsstelle) zu diesem Zweck gesandten Jugendlichen psychotechnisch ge¬ 
prüft. Die günstigen Ergebnisse, die ein Vergleich der Prüfergebnisse mit den 
Urteilen der Meister ergeben hat, sowie das große Interesse, das die Gro߬ 
industrie dem Institut für Jugendkunde entgegenbringt, sind dieser Arbeit 
außerordentlich förderlich. Die für die Ausführungen der Prüfungen not¬ 
wendigen Mittel wurden dem Institut für Jugendkunde von dem Industrierat 
zur Verfügung gestellt. Dazu erhielt es im Laufe des Jahres von einzelnen 
Werken wertvolle Geschenke. Wie auf dem Gebiet der Jugendpflege, so ergab 
sich auch auf dem der Eignungsprüfungen ein erfreuliches Zusammenarbeiten 
mit der Lehrerschaft. Die mit Zustimmung des Lehußrvereins an die Lehrer 
gesandten Fragebogen wurden zum großen Teil ausgefüllt zurückgesandt 
und konnten ihren Zweck erfüllen. Die Vergleiche der in den Fragebogen 
enthaltenen Angaben mit den in dem Laboratorium festgestellten intellek¬ 
tuellen und vor allem charakterftogischen Eigenschaften haben ergeben, daß 
künftighin diese mühevolle Arbeit von der Lehrerschaft nicht mehr geleistet 
zu werden braucht, da die neuen psychologischen Feststellungsmethoden es 
gestatten, den größten Teil der in Frage kommenden Angaben auch im Labo¬ 
ratorium zu erhalten, ja darüber hinaus noch manches (Arbeitsart bei Hand¬ 
arbeit, bei technischen Arbeiten usw.), das der Lehrer mangels geeigneter 
Beobachtungsgelegenheit oft nicht geben kann. Es wird darum künftig nur 
in einzelnen schwierigen Fällen (z. B. zur Erklärung einer ungünstigen 
Betragenszensur usw.) die Mitteilung des Lehrers erbeten werden. 

Dem Zwecke der wissenschaftlichen Einführung und Aufklärung dienten 
eine Reihe von Vorträgen und Vorführungen, die vom Institut veran¬ 
staltet wurden. Es wurden dabei allgemeine und spezielle Aufgaben der 
Begabungsforschung und Wirtschaftspsychologie behandelt, sowie Einblicke in 
die praktische Arbeit, die das Institut auf dem Gebiet der Berufs- und Schul¬ 
eignungsprüfung leistet, zu geben versucht. Unter den Vorträgen, die von 
auswärtigen Rednern gehalten wurden, seien besonders die von Dr. Jobs. 
Weber (Münster) über Berufskunde und Berufsberatung und die von Prof. 
Dr. E. Spranger (Berlin) über Psychologie des Jugendlichen erwähnt Beide 
Redner waren auf Veranlassung des Instituts von dem Wissenschaftlichen 


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Vorlesungswesen zu 3 Doppelvorträgen nach Bremen berufen worden und 
fanden besonders in den dem Institut nahestehenden Kreisen lebhaften Wider¬ 
hall. 

Das Institut durfte sich wiederum wertvoller staatlicher und privater Unter¬ 
stützung erfreuen. Der Amerikaner Henry Goldman (New York), ein Freund 
und Förderer deutscher Wissenschaft, stiftete 100 Dollar, die es ermöglicht 
haben, das wissenschaftliche Rüstzeug des Instituts so zu verbessern, wie es 
in der Zeit schwerster Not sonst nicht zu erhoffen war. 

Nachrichten. 1. Prot Dr. Karl Arthur Scheunert, o. Prot an der landwirtschaftlichen 
Hochschule in Berlin, ist auf den Lehrstuhl für Psychologie an der tierärztlichen Hochschule 
in Dresden berufen worden. 

2. Die Leitung des im Mai d. J. eröffneten pädagogischen Institutes in Dresden, 
das mit der Technischen Hochschule die akademische Lehrerbildung in Sachsen begonnen hat, 
ist dem Minister a. D. Rieh. Seyfert unter Ernennung zum Professor übertragen worden. 

3. Ein pädagogisch-psychologisches Institut ist an der Universität Amsterdam 
gegründet worden. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen will es seine Tätigkeit auch darauf 
einstellen, unmittelbar den schulpädagogischen Bedürfnissen zu dienen. So gedenkt man unter 
anderem die aus der Wirklichkeit des Schullebens gestellten Fragen psychologischer Art zu 
beantworten, unterrichtiiche Methoden und schulorganisatorische Pläne vom Standpunkte des 
Psychologen aus zu prüfen, Klassen und Schüler nach ihrer geistigen Verfassung zu untersuchen, 
föne schöne Arbeitsgemeinschaft zwischen forschenden Gelehrten und wirkenden Lehrern, zwischen 
Universität und Schule anbahnend, hat das Institut alsbald die Verbindung mit Schulen der ver¬ 
schiedensten Art aus dem ganzen Lande hergestellt. An der Gründung selbst waren beteiligt 
Pro! Kobnstamm (Universität Amsterdam), Prof. Casimir (Universität Leyden) und Prof. Guniuz 
(Universität Utrecht). Die Leitung hat der auch in Deutschland bekannte Universitätsprofessor 
Dr. Gäza Revesz. 

4. Dem Dezember-Kongreß für Individualpsychologie (A. Adler) folgte eine Pfingst- 
tagung in Salzburg, auf der ausführlicher neben anderem über die Erziehungsberatungs¬ 
stellen verhandelt wurde. 

5. Ein Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft soll in absehbarer 
Zeit in Halle a. S. stattfinden. Mit der Vorbereitung ist Professor Dr. Max Dessoir in Berlin 
betraut worden. 

6. Der Deutsche Philologenverband beschloß auf seiner Tagung in Würzburg (23. und 
24. Mai d. J.), die pädagogische Ausbildung der Philologen im Anschluß an die Neu¬ 
ordnung der Lehrerbildung einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, und bestimmte diesen 
Gegenstand zur Verbandsaufgabe für 1923/24. 

7. Der Bezirkslehrerverein und das pädagogisch-psychologische Institut München veranstalten 
vom 22. Juli bis 4. Aug. d. J. einen Ferienkursus mit folgendem Plane: Universitäts¬ 
professor Dr. E. Becher-München: Das Problem Leib und Seele (6ständig). — Universitäts¬ 
professor Dr. Aloys Fischer-München: Die Theorie der emotionalen Bildung (6stündig). 
— Universitätsprofessor Dr. Alex, von Müller-München: 1. Die Entwicklung des 
englischen Weltreichs (6 ständig). 2. Der Vertrag von Versailles (1 ständig). — Universitäts¬ 
professor Dr. von der Pfordten-München: 1. Richard Wagner. 2. Einführung in „Die Meister¬ 
singer“ (5 ständig). — Hochschulprofessor Dr. Po pp-München: 1. Einführende Vorträge über 
Malerei. 2. Erörterung wichtiger allgemeiner Fragen zur Vorbereitung für die Führungen in die 
Pinakotheken (mit Lichtbildern; 4ständig). — Studienrat Scheibner-Leipzig: Psychologie und 
Pädagogik der Schulklasse (östtindig). — Geheimrat Dr. Sommerfeld, Universitätsprofessor, 
München: Der gegenwärtige Stand der Atomphysik (4ständig). — Universitätsprofessor Dr. William 
Stern-Hamburg: Personalismus und Pädagogik (6ständig). — Universitätsprofessor Dr. Strich- 
München: Der Weg der Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart (4 ständig). — Dr. Rudolf 
Bode-München: Vortrag und Vorführungen über Körperbildung und Ausdrucksgymnastik (2stündig). 
Auf Wunsch wird ein 6ständiger Übungskurs angeschlossen. — Albert Huth, Assistent des 
Pädag.-Psychologischen Instituts München: Die psychologischen Grundlagen des Unterrichts 
(Vortrag mit Lichtbildern; 5ständig). 

8. Im preußischen Philologenverein wird zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft aufge¬ 
rufen, in der die Erzieher und Lehrer der „Erziehungsanstalten“ (Alumnate, Internate, 
Pädagogien usw.) sich zusammenschließen, um 1. die lebenswichtige Bedeutung der Erziehungs- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


anstalten für unser Volk in Fach- and Laienkreisen zur rechten Geltung zu bringen, 2. die 
Stellung der Erzieher an den Anstalten auszubauen, 3. die wissenschaftliche und praktische 
Pädagogik in den Erziehungsanstalten zu fördern, worüber mit Professor Eduard Sprenger an 
der Universität in Berlin und Professor Hermann Schwarz an der Universität in Greifswald 
Fühlung genommen worden ist. Nächste Ziele der Arbeitsgemeinschaft wären: 1. Schaffen 
einer Zentralstelle in Berlin, um Mitteilungen von Erfahrungen und Einrichtungen aus Erziehungs¬ 
anstalten zu sammeln. 2. Die Vorgesetzten Behörden dafür zu gewinnen, daß den Direktoren, 
Erziehern, Lehrern ermöglicht wird, Erziehungsanstalten des In- und Auslandes in ihrer Tätig¬ 
keit zu studieren. 3. Die maßgebenden Kreise der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels 
durch Schrift und persönliche Rücksprache zu veranlassen, dem Staat finanziell im Ausbau der 
Erziehungsanstalten zu helfen, zumal in diesen im besonderen Maße Führer und Beamte für sie 
erzogen worden sind und erzogen werden. 


Literaturbericht. 

Eduard von Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. Eine Ent¬ 
wicklung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem inneren Zusammenhänge. Dritte Auf!., 
mit den Zusätzen letzter Hand, neu herausgegeben von Alma von Hartmann. Berlin 1922. 
Wegweiser-Verlag. 696 S. 

• E. v. Hartmanns große ethische Prinzipienlehre, dieses grundlegende und umfassende Werk 
aus einem Guß von klarem Plane, in die Auswahlreihen des Volksverbandes der Bücherfreunde ein¬ 
zustellen, ist wohl ein glücklicher Griff. Der große Denker war, als er den stattlichen Band 1878 
auf den Weg brachte, der Hoffnung, mit ihm über den engeren Kreis der Fachgelehrten hinaus 
eine weite Gemeinde unter den Gebildeten zu finden. Ob sich nach bald einem halben Jahr¬ 
hundert noch spät erfüllt, was er an einer breiteren Wirkung erwartete, wie sie sein Jugendwerk 
«Die Philosophie des Unbewußten** ausübte, ist fraglich. Die geistige Zeitlage mag aber einem 
späteren Erfolge nicht ungünstig sein, und nach eigenhändigen Aufzeichnungen, die sich im 
Nachlaß fanden, hielt E. v. Hartmann selbst seine Anschauungen bis zuletzt noch ebenso zeit¬ 
gemäß wie bei ihrem Erscheinen. „Das Schauspiel, das die Gegenwart bietet*' — so schreibt 
er —, „ist leider noch immer der Kampf zwischen der eudämonistischen und heteronomen 
Pseudomoral. Die erstere wird teils im sozialeudämonistischen Sinne vom philiströsen Mili¬ 
tarismus und der Sozialdemokratie, teils im egoistischen Sinne vom radikalen Individualismus, 
Personalismus und Anarchismus, die letztere nach wie vor von den christlich-kirchlichen 
Kreisen vertreten. Da beide streitenden Teile gleichmäßig unrecht haben und dem Begriff der 
echten Sittlichkeit gleich fernstehen, so muß dieser Streit immer ergebnislos bleiben, wie er 
seit der Renaissance fruchtlos tobt« Eine Vereinigung der Gegner ist nur möglich, wenn sie 
gemeinsam auf einen dritten Standpunkt hinübertreten, den der Autonomie, auf dem allein 
echte Moral möglich ist" Tr. 

Dr. Wilhelm Bruhn, Privatdozent und Studienrat in Kiel, Einführung in das philo¬ 
sophische Denken für Anfänger und Alleiniemende. Leipzig 1923. Teubner. 155 S. 
Grundpr. 3 M. 

Man muß mit der Gestaltung eines Unterrichts, der älteren Schülern die erste Einführung 
in die Philosophie geben soll, selbst gerungen haben, um seine großen Schwierigkeiten ermessen 
zu können. Angezogen wie Nachtflieger vom Licht, stürzen die Jugendlichen Geister begierig 
in die lockende Sphäre, taumeln dann bald in unbefriedigtem Suchen hin und her, erlahmen 
in der blendenden Helle und wenden sich enttäuscht wieder ab — wenn sie sich beim ersten 
Anflug nicht schon die Flügel verbrannt hatten. Man höre nur die ehrlichen Eingeständnisse 
ernsterer Bespcher von Volkshochschulkursen, der reiferen Primaner, der Jungen Studenten 
und derer, die in freiem Bildungserwerb von der sich zur Führung anbietenden Literatur die 
Wegweisung und -leitung erhofften. Der philosophische Lehrstoff will viel mehr als ein anderer 
und mehr, als es üblich ist, unter didaktisches Denken genommen sein, wobei selbstverständlich 
die Wissenschaftlichkeit nicht beeinträchtigt werden darf und braucht 

Bruhn entwickelt in seiner Vorrede einige sehr treffliche unterrichtsmethodische Grundsätze. 
Erforderlich ist, so führt er aus, daß der Schüler selber sucht und findet „Er kommt Ja als 
ein Suchender." Probleme müssen ihm geboten werden, und zwar so, daß sie vor seinen Augen 
entstehen und ihn zum Mitgehen zwingen. „Viel wichtiger als enzyklopädische Kenntnisse dürfte 
für den Menschen der Gegenwart sein, daß er eine Waffe bekommt, sich durch das Gestrüpp 


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alles dessen, was sich heute als Philosophie ausgibt, selber eine Schneise zu hauen; diese 
Waffe aber kann nicht wohl etwas anderes sein, als die selbsterarbeitete Erkenntnis.. 
Vonnöten dazu ist größtmögliche Anschaulichkeit, strenges Bemühen um einfachen Ausdruck 
und vorsichtigstes Schrittmachen, 

Im stofflichen Aufbau verbindet Bruhn die Geschichte mit der Systematik. Er hält als 
Leitfaden den Werdegang menschlichen Wahrheitssuchens inne, zeigt sich aber unbekümmert 
gegen Lückenlosigkeit, und ist nur darauf aus, in den Zeitbildern der Geistesgeschichte heraus- 
zusondern, was ihm geeignet erscheint, die vornehmsten Fragen des Erkennens heraustreten 
zu lassen. Einleitend sucht er das Wesen des philosophischen Denkens zu klären und zieht dazu 
Stabes von Milet und Descartes heran — ein geschickter didaktischer Griff. Mit der alt¬ 
griechischen Philosophie beginnend, wird darauf die Stufe des naiven Denkens ausführlich 
behandelt. Die Sophisten und Sokrates müssen dann die „Wendung vom Objekt zum 
Subjekt 44 demonstrieren. Schließlich wird die große Linie des „methodischen Denkens 14 
straff und wohlgegliedert gezogen: vom Rationalismus aus (in der jugendlichen, der ent¬ 
arteten und der klassischen Form“) hinweg über den Empirismus bis zum Kritizismus« 
Hier bricht bei Kant die „Einführung 44 ab und enttäuscht damit das brennende Interesse der An¬ 
fänger daran, daß sich ihnen ein erster Blick auf die philosophische Problematik ihrer Zeit auftue. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. K. Haaae, Die psychologischen Strömungen der Gegenwart Bd. 14. der Jäger¬ 
sehen Sammlung pädagogischer Schriftsteller. Leipzig 1922. Jägersche Buchhandlung. 167 g. 
Grundpr. 2 M. 

Der Band will dem besonderen Zweck der Sammlung entsprechend — sie ist für den 
Unterricht am Oberlyceum und Seminar bestimmt — in die deutsche und ausländische psycho¬ 
logische Forschung einführen und so den Weg zu den Originalwerken otfenhalten, der heute 
durch wirtschaftliche Not verschüttet zu werden droht Darum begrüßen wir das Schriftchen 
nicht nur im Interesse der jungen Leser. Der Inhalt setzt sich aus ausgewählten zusammen¬ 
hängenden Abschnitten der Werke folgender Autoren zusammen: Wandt, Die psychische Ent¬ 
wicklung des Kindes; Bühler, Instinkt, Dressur, Intellekt; Thorndike. Diä Gesetze des Entstehens 
von Gewohnheiten; Ebbinghaus, Das Gedächtnis; Stern, Begriff der Intelligenz; Binet, 
Die Korrelation der geistigen Fähigkeiten; Titchener, Das Gefühl; Stoerring, Einfluß der Ge- 
fühle auf Urteilsprozesse; L. Klage s, Verhältnis der Schulpsychologie zur Charakterkunde; St.Hall, 
Das Lügen der Kinder; H. Münster berg, Angewandte Psychologie, Aufgaben der pädagogischen 
Psychotechnik. Die Auswahl ist geschickt getroffen. Zu wünschen wäre für eine Neuauflage 
ein einleitender Aufsatz über die prinzipiellen Unterschiede der Autoren, um so deren gegen¬ 
seitige Stellung besser erkennen und das Bild der psychologischen Gegenwart vervollständigen 
zu können. Auch ein neuerer strukturpsychologischer Abschnitt dürfte empfohlen werden. 

Frankfurt a. M. Julius Wagner. 

Dr. Fritz Giese, Universität Halle, Handelshochschule Cöthen, Leiter des behördlichen Insti¬ 
tutes für praktische Psychologie Halle, Psychologisches Praktikum. Halle a. S. 1923. 
Wendt & Klauwell. 153 S. Grundpr. 3 M. 

Für die Psychotechnik ein Seitenstück zu Paulis vorbildlichem Praktikum, das in die all¬ 
gemeine Psychologie experimenteller Richtung einführen will — weniger als dieses mit Theorie 
durchsetzt, dafür noch entschiedener didaktisch eingestellt. Nur wer selbst mit den Schwierigkeiten 
gerangen hat, psychologische Stoffe arbeitsunterrichtlich zu gestalten, vermag die Leistung Gieses 
recht zu würdigen. Die volle fachwissenschaftliche Beherrschung des Lehrgebietes reicht zu 
ihr nicht aus, wenn nicht der Wille — und Mut! — und die in natürlicher Veranlagung be¬ 
gründete und durch Schulung ausgebildete Fähigkeit zu didaktischer Formgebung hinzutritt. 
Hinter der Auswahl der Übungsthemen und ihrer Anordnung zu einem Gange, der vornehmlich 
nicht systematisch beherrscht sein kann, sondern unter den Gesetzen des Lernens steht, hinter 
der Auswahl und lehrpraktischen Zurichtung der Arbeitsmittel (Tabellen, Fragebogen, Zeichnungen, 
Literaturangaben), den angegebenen lehrmethodischen Kunstgriffen, den aus der Übungsarbeit 
berauswachsenden Fragen, liegt viel mehr didaktische Kunst und Erfahrung, als beim bloßen 
Blick auf die Giese sehen Faustskizzen aus seinem Praktikum erkennbar ist. Von den Grund¬ 
sätzen, die verwirklicht sind, tritt besonders das Bestreben heraus, weniger den Praktikanten 
auf die äußere Versuchstechnik möglichst schnell einzuschulen, als vielmehr ihm den Blick für 
die innere psychologische Betrachtung einzustellen, ihn zum Nachdenken über die seelenkund- 
lichen Probleme zu gewinnen ferner: die Eigentätigkeit soweit als nur mögllich zu erregen; 


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Litera turbericht 


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schließlich: unter Verzicht (freilich nicht durchweg) auf die umfängliche Apparatur eines modern 
eingerichteten psychotechnischen Laboratoriums einfachste Behelfsmittel zu benutzen und za 
deren eigener Herstellung anzuregen. Der psychologische Unterricht in der Lehrerbildung, will 
er sich endlich von dem dozierenden Verfahren loßreißen und sich arbeitsunterrichtlich gestalten, 
mag hier lernen. Es ist ja geradezu beschämend für die Lehrerseminare, daß aus ihrem so 
lange Zeit und in so zahllosen Anstalten betriebenen Psychologieunterrichte nicht ein einziges 
arbeitsunterrichtliches Werk hervorgegangen ist. Man begnügte sich, wenn es hoch kam, mit 
Höflers dürftigen „ psychologischen Schul versuchen •. 

Zur Kennzeichnung nach der sachlichen Seite der HK) Übungen seien nur ihre Haupt¬ 
gruppen angeführt. Am Eingänge steht ein viertelhundert Themen zur Einführung in die Kunst 
psychologischer Beobachtungen — wohl der lehrmethodisch beste TeiL Von ganz einfachen Grund¬ 
aufgaben aus führt hier der Weg über die Zergliederung einer Fremdhandlung, einer Skizze, 
einer Skulptur, einer Filmreihe von Gesichtsausdrücken — wir nennen immer aus vielem 
nur weniges—zur Intelligenzschätzung, berufspsychologischen Umfrage, zum Berufsberatungsbogen 
und zur Analyse eines psychologischen Profils und eines Psychogrammentwurfes. Es folgen 
dann einige Berechnungsverfahren, ein kurzes mathematisches Praktikum (Trefferstatistik, Zentral¬ 
wertberechnung, Vollreihenmethode, Schwankungswert der Leistung, praktische Streuungskurven, 
Integration einer Versuchskurve, Korrelationsrechnung, psychische Normenstellung). Ein weiterer 
Teildes Buches ist der Subjektspsychotechnik gewidmet. Übungen über Grundsätzliches (z. B. 
Versuchsanweisung, Wirklichkeitsversuch, Tests, apparative Prüfungen, Massenproben und Einzel- 
versuche usf.) leiten hin zu den Allgemeindiagnosen (Untersuchungen des Auges, des Ohres, 
der Hand, des Gedächtnisses; der Intelligenz; Gefühlsanalysen Aufmerksamkeits-, Willens- und 
Arbeitsproben) und zu Sondereignungsprüfungen (Kaufmann, Schriftsetzer, Militär, Taubstumme, 
Industrielle, Lehrling und Meister, Eisenbahner, Flieger, Telephonistin). Der Schlußabschnitt 
beschäftigt sich mitder Objektspsychotechnik. Zuerst wird hier die psychotechnische Eignung 
behandelt (Inserat, Warenzeichen, Schaufenster, Sortierkasten, Schreibmaschine usf.), und dann 
folgen noch Arbeits- und Betriebsstudien (Arbeitskurve, Arbeitsgang, Arbeitszeit. Anlernearbeit, 
Akkordarbeit, Maschinentempo, Toleranzenfeststellung, Normalisierung, zwangsläufige Organisation 
des Arbeitsganges). Ein Literatur- und Sachverzeichnis sind endlich noch willkommene Beigaben. 

Empfehlen dürfte sich, wenn Giese sein Buch, mag er in ihm gleichwohl psychologische 
Vorkenntnisse voraussetzen, doch theoretisch nicht zu sparsam ausstatten wollte, um so mehr, 
als wir über ein zusammenfassendes Lehrbuch der Psychotechnik noch nicht verfügen. Was 
er vorlegt, hinterläßt allzusehr noch den Eindruck, als sei es nicht viel mehr als die fleißigen 
skizzenhaften Entwürfe und Vorbereitungen seiner gewiß oft schon abgehaltenen psychotechnischen 
Übungen. Gewiß gibt er damit den Dozenten treffliche Handreichungen. Sachlich reicher aas¬ 
gestattet — so wie es Pauli getan hat —, könnte das dankenswerte Buch aber auch für die 
Praktikanten ein wertvolles literarisches Arbeitsmittel sein. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Th. W. Danzel, Prinzipien und Methoden der Entwicklungspsychologie. Liefg.46 
zu Abderhaldens Lehrbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt VL Teil C. Heft 2, Wien 1921. 
Urban und Schwarzenberg. 63 S. 

Das anerkannte Lehrbuch Abderhaldens bringt in vorliegender Lieferung einen wertvollen 
Beitrag zur psychologischen Entwicklungsgeschichte von Kultur und Gemeinschaft. Die metho¬ 
dischen Gesichtspunkte hat Danzel an völkerpsychologischen Studien gewonnen. Er formuliert 
das Entwicklungsprinzip als Polarisation des 0 bjektiven und Subjektive n. Dem Zwecke 
eines Handbuches entsprechend hat sich Verfasser äußerster Kürze und programmatischer Präzision 
befleißigen müssen; nur dadurch war es möglich, das ganze Gebiet prinzipiell behandeln za 
können. Die Fülle der Fragen verbietet hier eine Skizzierung uud Besprechung. Wir müssen 
angelegentlichst auf die Originalarbeit hinweisen, die neue Schlaglichter sowohl auf die Probleme 
der individuellen wie generellen Entwicklung wirft. 

Frankfurt a. M. Julius Wagner. 

Dr. Oswald Kroh, Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule in Braunschweig, 
Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Eine psychologisch-pädagogische 
Untersuchung. Göttingen 1922. Vandenhoeck und Ruprecht. 195 S. 

Das Buch ist aus Untersuchungen hervorgegangen, die der Verfasser im Marburger Psycho¬ 
logischen Institut angestellt hat. Er betrachtet es als seine Aufgabe, mit der Erscheinung der 
subjektiven Anschauungsbilder, einer bislang übersehenen, charakteristischen und bedeutungs¬ 
vollen Jugendeigentümlichkeit, bekannt zu machen. 


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Subjektive Anschauungsbilder auf dem Gebiete des Gesichtssinnes sind 1907 zuerst von dem 
Wiener Ohrenarzt Urbantscbitsch eingehend beschrieben worden. Sie bedeuten die Gabe, 
gesehene Gegenstände und Bilder, die nicht mehr vor den Augen stehen, nach kürzerer oder 
längerer Zeit so deutlich wieder vor sich zu „sehen“, als wären sie leibhaftig zur Stelle. Sub¬ 
jektive Anschauungsbilder gibt es auch im Bereiche des Gehörs- und des Tastsinnes. Sie sind 
eine ausgesprochene Jugendeigentümlichkeit, die im allgemeinen mit dem Eintritt ins Mannes¬ 
alter verkümmert. Dr. Kroh hat unter 376 im Alter von 10—19 Jahren stehenden Schülern 
der M&rburger höheren Schulen 230 (61 v. H.) gefunden, die subjektive Anschauungsbilder hervor¬ 
bringen konnten. Professor E. R. Jaensch an der Universität Marburg gebührt das Verdienst, 
mit zielsicherer und vorausschauender Initiative bewußt und konsequent die Analyse der subjekti¬ 
ven Anschauungsbilder zu einem hervorragenden Mittel der Untersuchung wichtiger Wahrnehmungs¬ 
und Denkvorgänge ausgebaut zu haben. Dadurch wurden neue Methoden wissenschaftlicher 
Forschung gewonnen, die wichtige Fragen des inneren Farbensinnes (innere Farbenblindheit, Ab- 
schwächungs- und Induktionserscheinungen), sowie mannigfache Probleme der Raumwahrnehmung 
(Horopterkemfläche, scheinbare Größe, Raumverlagerungen usw.) einer erneuten, eindringenden 
Prüfung zugänglich machten. Aber auch weitergehende Fragen der Psychologie (die hierarchische 
Struktur der verschiedenen physiologischen und psychischen Gedächtnisstufen, die Begriffsbildung, 
die Flexibilität der Vorstellungen, der Vergleichsakt, die Struktur des individuellen Denkens) sind 
auf neuen Wegen neuer Beantwortung zugeführt worden. Professor Jaensch nennt die Anlage 
zu subjektiven Anschauungsbildem „eidetisch“. 

Das vorliegende Buch faßt nun die Ergebnisse einer zweijährigen (1917—19), auf Unterricht 
und psychologische Analyse gestützten Erfahrung des Verfassers, sowie die Feststellungen der 
wissenschaftlichen Forschungen des Marburger psychologischen Instituts zusammen und gibt da¬ 
mit ein höchst interessantes Bild von den vielgestaltigen Formen und dem Wirkungsbereich der 
ekletischen Veranlagung. Gleichzeitig wagt es den ersten Versuch, die Bedeutung der Er¬ 
scheinung für die psychologische Analyse gewisser psychopathischer Konstitutionen und für die 
Erziehung zu erweisen. 

Der fesselnde, ganz neuartige Gedankenreihen entwickelnde Inhalt des äußerst verdienst¬ 
vollen Buches gibt der Forderung nach einer „Jugendkultur 44 eine wissenschaftlich gesicherte 
Grundlage und drückt den Bekämpfcrn des rationalistischen, abstrakten Unterrichtsbetriebes eine 
neue, wirksame Waffe in die Hand. Von einer ungeahnt neuen Seite her zeigt das für jeden 
Psychologen und Pädagogen bedeutsame Buch, daß Kinder und Jugendliche anders organisierte 
Wesen sind als Erwachsene, die darum nach ihrem eigenen Maßstabe bewertet und in kinder- 
tümlicher und jugendgemäßer Weise erziehlich beeinflußt sein wollen. 

Chemnitz-Altendorf. Richard Gürtler. 

Dr. Th. Kerrl, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Eine psychologisch-pädagogische 
Untersuchung. 4. Aufl. Gütersloh o. J. Bertelsmann. 247 S. 

Mit einer fast naiven Unbekümmertheit werden die grundlegenden pädagogisch-psycho¬ 
logischen Begriffe selbst in Schriften, die wissenschaftliche Geltung beanspruchen, in vielfach 
schillernder Bedeutung hin- und hergeworfen. Jeder ernste Versuch, begriffliche Klarheit in 
dieser Verwirrung zu schaffen, verdient darum nachdrücklich hervorgehoben und gefördert zu 
werden. Wir haben in diesem Sinne Kerrls verdienstliche Monographie in einer ihrer früheren 
Auflagen gewürdigt. Unser Wunsch, daß das Buch aus seiner Beschränkung heraustrete, vor¬ 
nehmlich nur die psychologische Wesenheit der Aufmerksamkeit klarzustellen, und daß es vor allem 
auch die reiche Zahl experimenteller Untersuchungen des Gebietes berücksichtige — so unter 
anderem die Lehre von den Aufmerksamkeitstypen —, erfüllt Kerrl bei dem neuen Erscheinen 
Miner Schrift nicht, uns um so unverständlicher, weil seine Theorie — «Aufmerksamkeit ein 
Bemerkenwollen 11 — durch die Ergebnisse der Experimentaluntersuchungen eine Stütze erfahren. 
Auch im praktisch-pädagogischen Teile würde dem trefflichen Buche eine Ergänzung zum Vor¬ 
teil gereichen: z. B. eine ausführlichere Darstellung darüber, wie die Auffassung der Aufmerksamkeit 
eia eines Willensaktes recht bedeutsam wird für die neueren Forderungen, im Sinne der Arbeits¬ 
schule den Unterricht möglichst auf eigentätiges Tun der Schüler zu stellen — eine Forderung, 
deren Erfüllung voraussetzt, daß der durchgeistigte, von Aufmersamkeit getragene Arbeitsvorgang 
dem Lehrer psychologisch durchsichtig werde. 

Eine schöne Vollständigkeit dagegen weist das Buch Kerrls in seinem kritischen Teile auf. 
Es werden hier die seit Herbart aufgetretenen Theorien — geschieden in psychologische und 
Physiologische — kurz dargestellt und teilweise recht gründlich beurteilt Kerrls eigene Auf- 
merksamkeitslehre erfährt in dieser vergleichenden Betrachtung noch weitere Klärung und Ver- 


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tiefung. Wie schon vorher, setzt sich das Buch dabei gründlicher auch mit Herbarts Psycho¬ 
logie auseinander. — Wenn Kerrl dabei meint, daß man es gegenwärtig kaum noch für nötig hält, 
die Theorie, die das ganze Seelenleben auf den Vorstellungsmechanismus aufbaut, als unhaltbar 
nachzuweisen, so ist dies richtig — bis auf ganz wenige unentwegte Ausnahmen: so z. B. einen , 
geschäftigen Herausgeber Herbartscher Schriften, bei dem ganz gewiß auch der Scharfsinn Kerrls 
sich vergeblich bemühen dürfte. * Sch. < 

Paul Häberlein, Wege und Irrwege der Erziehung. Grundzüge einer allgemeinen Er- 1 
ziehungslehre. Basel 1920. F. Spittler. 2. AufL > 

Das Buch Paul Häberleins, des Professors an der Universität Basel, rollt den ganzen 
weiten Problemkreis der Erziehung auf: die Zielfrage, die Möglichkeiten erzieherischer Ein¬ 
wirkung, die Hemmungen. Als Ziel der Erziehung stellt es die innere Förderung des Zög¬ 
lings in der Richtung seiner Lebensaufgabe hin: es gilt die Gestaltung der Persönlichkeit. 
Eindringend vertieft es sich dabei in vier Bedingungen für die Fähigkeit der rechten Pflicht¬ 
erfüllung: Guter Wille, ausgebildetes Gewissen, volle Urteilsfähigkeit und eine auf Gesundheit 
und Geschicklichkeit beruhende Tüchtigkeit Solch letztes Ziel gilt als oberster Orientieruugs- < 
punkt, dem sich Methode, die Gegebenheiten des Zöglings und dessen Umgebung unterzuordnen 
haben. Im Fortschritte der Erörterungen bleibt dann keines der wichtigeren Probleme, die heute 
das pädagogische Denken bewegen, unberührt von der kritischen Betrachtung des Verfassers: 
Eros, Zucht, Strafe, Infantilismus, Pubertät Sport, Religion und Sittlichkeit, Psychoanalyse, staats¬ 
bürgerliche Erziehung. So bietet das Werk, außerordentlich klar in Beinern Gedankenzuge und 
schön geformt in seiner sprachlichen Prägung, eine Gesamtschau auf das Feld der Erziehung 
inmitten des Aufkommens einer neuen Pädagogik, das wir heute erleben. Leidet dabei die Gedanken¬ 
bildung vieler „Pädagogen“ vielfach unter zu starkem Einflüsse der allgemeinen pädagogischen 
Gefühlserregung — der Stimmung, Ergriffenheit, Begeisterung —, so ist an Häberleins Dar¬ 
legung so gesund und förderlich, daß er die neuen Erziehungsfragen — so sehr sie ihm hin¬ 
wiederum nicht bloß Angelegenheiten nüchterner Überlegung und Errechnung sind — unter 
strenges wissenschaftliches Denken nimmt. 

Hainichen. Paul Stenzei. 

Studienrat Jodoc Stark, Über den Bildungswert des Geschichtsunterrichts. Heidel- j 
berg 1922. Ehrig. 63 S. Grundpr. 0,60 M. ] 

Hat man in der jüngsten Zeit neue Formen der Unterrichtsgestaltung wohl mit offenbarer 
Einseitigkeit in psychologisierenden Untersuchungen zu gewinnen versucht, so beginnt jetzt 
stärker wieder die philosophische Pädagogik mit Wertbetrachtungen hervorzutreten, wobei 
sich freilich zeigt, daß auch sie eines psychologischen Einschlages in ihr Denken bedarf. Daß 
man dabei die* hergebrachte Scheidung von formalen und materialen Bildungswerten nicht auf¬ 
zugeben wagt, bringt vielfach ein Sichbewegen in alten ausgefahrenen Gleisen mit sich. — 
Stark stützt seine Darlegungen u. a. auf Litte tiefgründige Untersuchungen in seinem führenden 
Buche * Geschichte und Leben u , glaubt aber nicht wie er an die Kraft des Geschichtsunter¬ 
richts, zum historischen „Denken“ heranbilden zu können (S. 24 ff.). Davon unterschieden er¬ 

blickt er den besonderen formalbildenden Wert in der historischen Einstellung, in dem 
historischen Sinn (S. 27). Darunter soll verstanden sein „die Fähigkeit des betrachtenden Geistes, 
die Dinge im Flösse der zeitlichen Entwicklung und im Zusammenhang der sachlichen Ver¬ 
knüpfung zu sehen“. Hinzu gesellt sich neben allgemeiner Ertüchtigung des Geistes an be¬ 
sonderen geistigen Verhaltungsweisen, Einstellungen und Strebungen dann noch das Vermögen 
des „arbeitenden Geistes, die verschiedenen Seelenkräfte in gegenseitiger Unterstützung und ge- , 
meines mer Arbeit, im Dienste eines bestimmten Zweckes Zusammenwirken zu lassen — beides i 
Voraussetzungen eines richtigen Weltbildes“, und weiter „die Kraft des strebenden Willens, das 
Handeln auf historische Wirkungsweite einzurichten“ — ein Bedingnis für bewußt aufbauende 
Kulturarbeit (S. 38). Der inhaltlich bestimmte Bildungswert des Geschichtsunterrichtes aber, eine 
Aufgabe also, in gewisser Geschichtsauffassung richtunggebende Werthaltungen und einen aus¬ 
gewählten Wissensstoff zum geistigen Besitze des Schülers zu bringen, liegt nach Stark zuhöchst 
in dem Erzielen einer vertiefteren Erkenntnis der Gegenwart. Ob aber die in der Geschichte 
Tuhenden formalen und materialen Bildungskräfte wirksam werden, ist bedingt durch Unterrichts¬ 
gestaltungen, die vom überkommenen methodischen Gebrauch sehr erheblich sich unterscheiden. 
Stark gibt dafür treffliche Hinweise, ohne aber die neuen arbeitsunterrichtlichen Bestrebungen 
voll zu würdigen. * Sch. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A Pries) in Leipzig. 


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Grundfragen der Denkpsychologie. 

Von Karl Reumuth. 


In den folgenden Darlegungen sollen Grundfragen der Denkpsychologie 
erörtert werden. Wenn von Grundfragen und nicht von Grundtatsachen 
gesprochen wird, so soll damit daran erinnert sein, daß wir uns im Bereich 
der Hypothese befinden. Wenn es jedoch gilt, die psychologische Wissen¬ 
schaft einen Schritt vorwärts zu tragen, so muß man sich mit dem Mut zur 
Hypothese erfüllen. Bühler weist im Vorwort seines Buches: Die geistige 
Entwicklung des Kindes (Jena 1918) jnit Recht darauf hin, daß Ideenmangel 
auf dem Gebiet der Psychologie zur Stagnation führen muß. 

Darüber kann kein Zweifel sein, daß die Denkpsychologie zu den reiz¬ 
vollsten Forschungsgebieten gehört, denn in ihr berühren sich drei philo¬ 
sophische Grundeinstellungen: die psychologische, die erkenntnistheoretische 
und die logische. ' v 

Versuchen wir an einem Beispiel *01 den .Problemzusammenhang, der die 
Ausführungen beherrschen soll, einzudringen! Das einfache Erlebnis, das durch 
die Worte: „Vor mir liegt ein Heft“ sprachlich gefaßt wird, soll den Ausgangs¬ 
punkt der psychologischen Analyse bilden. Was erleben wir? Auf unser 
Auge wirken Lichtreize ein, möglicherweise kommen noch Tasteindrücke in 
unseren Fingerspitzen dazu. Die Netzhaut unseres Auges wirkt wie eine farben¬ 
photographische Platte, auf der sich helle, dunkle und farbige Flecke ab¬ 
zeichnen. Wir erleben aber nicht Farbenflecken auf der Netzhaut, sondern 
wir sehen weißes Papier, schwarzen Druck, Blätter eines Heftes, das Heft 
selbst In diesem Bewußt$ierden der Reize liegt das seelische Geheimnis. 
Fingieren wir, um den Anteil des Denkens an diesem Erlebnis herauszu¬ 
stellen, ein denkfreies Erlebnis! Es ist außerordentlich schwer, mit dieser 
Einstellung sprachlich in den geheimnisvollen Wirkungszusammenhang ein¬ 
zudringen. Wir dürften dann nur sagen: Meine Netzhaut wird erregt, die 
Tastkörperchen der Fingerspitzen werden erregt Handelte es sich um Ge¬ 
hörseindrücke, so dürften wir nur sagen: Mein Gehörsnerv wird erregt usw. 
Wir bleiben uns bei diesen vorsichtigen Formulierungen bewußt, daß mit 
ihnen das unmittelbare, denkfreie Erleben nöch nicht erfaßt ist, denn in 
der physiologischen Terminologie liegen noch denkmäßige Formungen vor. 
Was erleben wir aber in Wirklichkeit? Wir erleben nicht Erregungen der 
Gesichts- und Gehörsnerven, sondern die Farben rot und blau, wir hören 
die Töne c, e, g usw., wir empfinden warm und kalt, hart und weich. Den 
Erregungen der Sinnesorgane ist ein Sinn verliehen worden, die Erregungen 
bedeuten uns „etwas“, nämlich Licht, Farbe, Töne, Kälte, Wärme usw. 
Dieser Sinn kann den physiologischen Erregungen nur durch einen Akt 
unseres Bewußtseins verliehen worden sein, und dieser sinngebende Akt 
stellt sich uns als das Zentralproblem des ganzen Geisteslebens dar. In 

Zeitschrift t pOdagog. Psychologie. 17 


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258 Kart Heumuth 


einem Seelenleben ohne sinngebende Akte müßte sich ein Zustand diffuser 
Gesamtsensibilität 1 ) an den anderen reihen; die Wirkungen der Sinnes¬ 
eindrücke würden ineinanderfließen, und es gäbe weder Farben noch Töne, 
weder Bäume noch Häuser. So ist denn das Problem der Sinngebung der 
Ausgangspunkt für jede Denkpsychologie. Die Fragen: „Wie entstehen aus 
Erregungen der Sinnesorgane Sinngebilde?" „Wie überwindet das Denken 
das rein subjektive Erleben?“ „Wie begründet das Denken das Objektive?" 
„Wie vollzieht sich gegenständliches Denken?" 2 ) sind nur Versuche, den¬ 
selben Sachverhalt in immer anderen Wendungen sprachlich zu fassen. 

Wie hat sich die bisherige psychologische Forschung zu diesem Problem 
gestellt? Es stehen sich zwei Forschungsrichtungen gegenüber. Die eine 
beachtet das Problem nicht, die andere dagegen will seelisches Geschehen 
überhaupt nur so weit in das Gebiet der Psychologie einbeziehen, als sich 
Sinngebung aufweisen läßt. Zwischen diesen beiden Polen steht eine Reihe 
von Forschem, die in ihren Darstellungen eine vermittelnde Stellung ein- 
nehmen. Der ersten Richtung gehören alle Vertreter der physiologischen 
Psychologie an, es sei nur auf die Namen Ziehen, Ebbinghaus, Meumann, 
Wundt hingewiesen. Wundt führt z. B. in seinem Grundriß der Psychologie 
aus: „Die Elemente des objektiven Erfahrungsinhaltes bezeichnen wir als 
Empfindungselemente oder schlechthin als Empfindungen, z. B. einen Ton, 
eine bestimmte Wärme-, Kälte-, Lichtempfindung usw." (§ 5,2.) Die Frage, 
wie aus den Erregungen der Sinnesorgane Töne, Licht- und Wärmeempfin¬ 
dungen werden, ist von Wundt gar nicht gestellt worden, dieser ganze Zu¬ 
sammenhang ist von ihm gar nicht als Problem gefaßt worden. Ganz andere 
dagegen beispielsweise Pfänder 3 ), ein Schüler von Theodor Lipps. In aus¬ 
führlichen Darlegungen weist er darauf hin, daß die Empfindung eine be¬ 
stimmte Art des Gegenstandsbewußtseins ist, daß die Farbe, der Ton „wissend 
erfaßt" wird. Er zeigt fernerhin, daß in der herrschenden Empfindungslehre 
Teile des Gesamterlebnisses eingehend behandelt werden, die gar nicht in 
das Gebiet der Psychologie gehören; nur der Akt, der dieses „Wissen um 
etwas" schafft, gehört für ihn in den Bereich der Psychologie. Richard 
Hönigswald 4 ) bringt diesen Gedanken in seinem Aufsatz über „Prinzipien¬ 
fragen der Denkpsychologie" noch schärfer zum Ausdruck. Psychologie sollte 
sich nach seiner Meinung nur auf den Bereich sinnvoller Erlebnisse erstrecken. 
Das Moment des „Sinnes“ beherrscht für ihn die Problemlage der Psycho¬ 
logie. Es sei auch hingewiesen auf die tiefschürfende Arbeit von P. F. Linke 3 ), 
der aufweist, wie Empfindung und Wahrnehmung nicht mehr selbstverständ¬ 
liche Ausgangspunkte psychologischer Forschung sein können, wie sie viel¬ 
mehr der neuen Psychologie zum Grundproblem geworden sind. Linke 
bezeichnet die Art seiner Untersuchung als Sinnforschung, Sinnwissen¬ 
schaft, Sinntheorie. 

Die Darlegungen Linkes knüpfen an die Forschungen Husserls an. Wir 
verdanken Husserl die umfassendste Behandlung des ganzen Problem¬ 
zusammenhanges. Es wird noch zu zeigen sein, wie er in seiner Lehre von 

l ) Vgl. Stern, Psychologie der frühen Kindheit. 1914. S. 58. 

*) Vgl. Renmuth, Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge. Leipzig 1919. 

*) A. Pfänder, Einführung in die Psychologie. 1920. 2. Aull. S. 257, 262, 271. 

4 ) Kantstudien, 18. Band. 1913. S. 206 ff. 

®) P. F. Linke, Grundfragen der Wahrnehmungslehre. 1918. S. 1 ff. 


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Grundfragen der Denkpsychologie 


259 


den intentionalen Beziehungen das Problem der Sinngebung in das Zentrum 
seiner Untersuchungen schiebt; er zeigt, wie zu den Sinneseindrücken noch 
ein denkmäßiges plus hinzukommen muß, wenn eine gegenständliche Be* 
ziehung begründet werden soll. Eine große Reihe weiterer Forscher haben 
diesen besonderen Charakter des Denkens unterstrichen: so Frischeisen- 
Köhler 1 ), indem er sagt: „Das Denken ist nicht, wie gewisse Gefühle und 
Stimmungen ein lediglich subjektiver Zustand oder eine Abfolge von solchen, 
sondern besitzt, wie man sich auszudrücken pflegt, einen gegenständlichen 
Charakter, insofern es durchweg auf etwas außer ihm gerichtet ist"; so auch 
Johannes Volkelt in seiner Lehre vom transsubjektiven Minimum (Gewißheit 
und Wahrheit 1918), so Hans Driesch 3 ), wenn er davon spricht, daß das 
Unnittel des Denkens die Setzung ist 

Zwischen diesen beiden entgegengesetzten psychologischen Grundeinstel¬ 
lungen finden sich in der Literatur mannigfache Übergänge. Besondere Be¬ 
achtung verdienen die Arbeiten F. Kruegers und seiner Schüler, die eine Ent¬ 
wicklung über W. Wundt hinaus darstellen. Diese Arbeiten überwinden immer 
deutlicher die letzten Spuren atomistisch-mechanistischer Auffassung des 
Psychischen; dafür stellen sie die psychische Tatsache, die durch die Worte 
„Ganzheit“, „Komplexqualität“, „Gestaltsqualität“ charakterisiert wird, in den 
Vordergrund ihrer Forschung. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit 
von H. Volkelt, „Über die Vorstellungen der Tiere“ 8 ) hingewiesen; sie bietet 
für alle weiteren genetischen Betrachtungen denkpsychologischer Zusammen¬ 
hänge wertvolle Vorarbeiten. Für ihn ist das Bewußtsein in seinem Ur¬ 
zustand eine einzige Totalkomplexqualität. Es ist damit der Punkt be¬ 
zeichnet, an dem der Gesamtbewußtseinsinhalt nicht mehr jenfe zwei Seiten, 
die subjektive und objektive, besitzt 4 ). Das Bewußtsein weist in diesem Zu¬ 
stande keine Polarität auf. Durch schöpferische Differenzierung und schöp¬ 
ferische Synthesen entwickelt sich aus dieser allumfassenden Gesamtqualität 
allmählich' die „hochgeformte Dinghaftigkeit unseres Weltbildes“. Wenn es 
sich darum handelt, die Denkleistungen des frühen Kindesalters zu be¬ 
schreiben und zu analysieren, wird der Begriff der Komplexqualität wertvolle 
Dienste leisten. 

Koffkas Hypothese von der „Strukturiertheit der ersten sinnlichen 
Phänomene“ wird auch dazu beitragen, in das Wesen, vor allem in die 
Genesis dieser Vorgänge einzudringen. Koffka weist darauf hin, daß es 
sich bei den ersten psychischen Phänomenen der Neugeborenen nicht um das 
Vorhandensein von absoluten Empfindungen, sondern um Strukturphänomene 
handelt, d. h. um ein Zusammensein von Phänomenen, in denen jedes Glied 
das andere trägt Eine bestimmte Qualität hebt sich gegen den gleich¬ 
förmigen Grund ab. „Ein Teil der Welt hebt sich heraus, er erscheint als 
Qualität, das übrige, und es mag in Wirklichkeit recht mannigfaltig sein, 
erscheint gleichzeitig als einförmiger Grund“ 8 ). Im Erleben dieses Gegen¬ 
satzverhältnisses (Struktur im Sinne Koffkas) haben wir in der Tat einen der 
ersten elementaren logischen Vorgänge vor uns. Es ist damit der Anfang 

‘) Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit 1912. S. 18. 

*) H. Driesch, Ordnnngslehre. 1912. S. 38. 

*) Heft 2 der „Arbeiten zur Entwicklungspsychologie“. Herausgegeb. v. Krueger. 

4 ) a. a. 0. S. 82«. 

*) K. Koffka, Grundlagen der psych. Entwicklung. 1921. S. 97. VgL auch S. 93«.; 101. 

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260 Karl Reamuth 


für die Gliederung des Erlebnisstromes, die schließlich in die feinsten Dif¬ 
ferenzierungen ausmündet, gegeben. Das Wesen des logischen Denkens be¬ 
ruht gerade auf dieser Gliederung des Erlebnisstromes 1 ). (Driesch hat dies, 
wie unten noch gezeigt werden wird, in seiner Ordnungslehre ausführlich 
dargetan.) Es ist jedenfalls nicht zu verkennen, daß sich sowohl die Schüler 
Kruegers als auch Koffka und die ihm nahestehenden Forscher dem Problem 
der Sinngebung in unserer Auffassung beträchtlich genähert haben. 

Besonders bemerkenswert ist die Stellungnahme William Sterns. & 
gehört zu den Forschem,' die die Psychologie der Elemente methodisch be¬ 
herrschen und deren Grenzen klar erkannt haben; er weist darauf hin, dafi 
das Moment des Sinnes aus den Phänomenen des Bewußtseins nicht ableitbar 
ist 2 ); der Sinn wird durch psychische Akte begründet. Wenn Stern so eine 
Mittelstellung einnimmt zwischen den psychologischen Denkrichtungen, die 
durch den Gegensatz Ziehen — Hönigswald charakterisiert sein sollen, so stellt 
er auch die Verbindung her zu einer psychologischen Forscherrichtung, die 
durch das Wort „geisteswissenschaftliche Psychologie“ charakterisiert 
wird. Im Mittelpunkt der Forschungen der so gerichteten Denker — es seien 
die Namen Dilthey, Spranger, Litt genannt — steht auch das Problem 
der Sinngebung, aber in einem viel umfassenderen Sinn, als es etwa beiflönigs- 
wald der Fall ist. Der Zusammenhang der Sinngebung mit dem inneren Wesen 
der ganzen Persönlichkeit, der bei Stern schon aufgewiesen wurde, wird hier 
noch viel eingehender erörtert. Das Seelenleben wird aufgefaßt als ein Strom 
reiner Subjekterlebnisse; der Ablauf des ganzen seelischen Erlebens würde 
ein Traumwirrsal sein, wenn nicht die einzelnen seelischen Regungen durch 
besondere Akte einen sinnvollen Charakter bekämen. Es wäre nun denkbar, 
daß zwar in einem Subjekt sinnvolle Erlebnisse vorhanden wären, daß es 
aber trotzalledem in vollkommener Inselhaftigkeit bleiben müßte, weil es 
nicht in Verbindung mit dem Nachbaisubjekt treten könnte. Das Subjekt 
vermag aber seine sinnvollen Erlebnisse durch Zeichen und Worte zum Aus¬ 
druck zu,bringen, in objektiven Gebilden verschiedenster Art und Form nieder¬ 
zulegen. Das Subjekt vermag also, Sinngebilde aus sich herauszustellen. Durch 
diese Gebilde wird es möglich, daß die Subjekte untereinander in seelische Be¬ 
rührung kommen können, ohne sie ist seelische Gemeinschaft undenkbar, sie 
stellen den einzigen Ansatzpunkt dar, von dem aus wir in das fremde Seelen¬ 
leben vorzudringen vermögen, durch sie wird all das erst möglich, was in den 
Worten: Kulturleistung, Kulturzusammenhang, Kulturvermittlung beschlossen ist. 

Wenn man die Annahme machte, daß jede Sinngebung, daß der sinn¬ 
gebende Akt eine Denkleistung ist, so müßte der ganze Problemkreis, der 
jetzt vor uns liegt, als der der Denkpsychologie gelten. Das wäre aber eine 
Auffassung des Begriffs Denkpsychologie, die nicht üblich ist Man versteht 
doch wohl unter Denkpsychologie etwas viel Begrenzteres. Indem wir den 
Vorgang der Sinngebung analysieren, versuchen wir den Aufgabenkreis der 
Denkpsychologie in diesem engeren Sinne zu erkennen. 

E. Spranger hat in seinen Lebensformen 9 ) die sinngebenden Erlebnisse 
in meisterhafter Weise analysiert Wir gehen aus von dem Satz: „In jedem 


*) Vgl. d. Schrift d. Verf. Ober Kindersprache. S. 33. 

*) W. Stern, Die Psychologie and der Peraonalismas. 2. 1917. S. 1811. 
*) E. Spranger, Lebensformen, dt nach d. 2. Auflage. Halle 1921. 


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Grundfragen der Denkpsychologie 


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sinngebenden Gesamtakt sind alle Grundformen sinngebender Akte zugleich ent¬ 
halten; in jedem geistigen Akt waltet die Totalität des Geistes" 1 ). Wir suchen an 
folgendem Erlebnis diese Grundformen sinngebender Akte aufzuweisen: Wir 
stehen vor einer Frühlingswiese und fassen den Sinn unseres Erlebnisses 
zusammen in die Worte: „Das ist eine Frühlingswiese“ 2 ). Welche Sinn¬ 
richtungen schwingen nun in diesem Erlebnis mit? 1. Das Erlebnis kann 
den Charakter einer reinen, allgemeinen Feststellung haben: es ist eine 
Frühlingswiese, nicht eine Herbstwiese und so fort Hierbei würde die theo¬ 
retische Sinnrichtung, die das allgemeine Wesen des gemeinten Gegen¬ 
standes erfassen möchte, zur Geltung kommen 3 ). 2. Das Wort „Frühlings¬ 
wiese“ kann die Freude an dem Farbenspiel zum Ausdruck bringen, kann 
die Frühlingsfarbenpracht meinen. In diesem Falle würde der ästhetische 
Sinn des Erlebnisses im Vordergründe stehen. 3. Es kann in dem Wort auch 
das Wohlgefallen an dem üppigen Wachstum — im Gegensatz zu dem spär¬ 
lichen Graswuchs des Spätsommers — zum Ausdruck kommen, und es kann 
darin die Freude auf einen guten Grasschnitt liegen, das Erlebnis zeigt dem¬ 
nach mehr eine ökonomische Einstellung. 4. Schließlich kann das Wort 
einen religiösen Grundton tragen: die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des 
Wachstums kann dem ganzen Erlebnis einen religiösen Sinn geben. Es 
sei noch bemerkt, daß in dem Erlebnis auch die Stellungnahme zu den Mit¬ 
menschen zur Geltung kommen kann, insofern nämlich, als sich eine mehr 
soziale (5.) oder eine mehr rechtlich-politische (6.) Einstellung zeigt. 
Es können beispielsweise Gedanken in der Weise mitschwingen, daß man sich 
gedrungen sieht, den Anblick dieser Wiese vielen Menschen zugänglich zu 
machen (der Park könnte der Öffentlichkeit erschlossen werden); es kann aber 
auch der Wunsch nach scharfer Rechtsabgrenzung gegenüber dem Nachbar 
lebendig werden. 

Alles, was mit dieser umfassenden Sinngebung in Zusammenhang steht, 
ist als Aufgabenkreis der geisteswissenschaftlichen Psychologie zu 
betrachten. Es wird sich für sie im besonderen darum handeln, die Wechsel¬ 
wirkung von Mensch zu Mensch herauszustellen. Typisch für eine so ge¬ 
richtete Forschung ist das Buch Diltheys: Das Erlebnis und die Dichtung. 

Die Denkpsychologie im engeren Sinne greift aus diesen Zusammen¬ 
hängen das Problem der allgemein-theoretischen Sinngebung heraus; 
sie ist in dieser Auffassung ein Teil der geisteswissenschaftlichen Psychologie. 
Sie ist jedenfalls ihrem Ausgangspunkt nach wesensverschieden von der 
Elementenpsychologie, und daraus erklärt sich die Spannung, die von jeher 
zwischen Denkpsychologie und Elementenpsychologie bestand. 

Es gilt mm, in eine Besinmmg über die Methoden einzutreten, die an¬ 
zuwenden sind, wenn wir an den Gegenstand der Denkpsychologie, eben 
an jene allgemein-theoretische Sinngebung, herankommen wollen. Können 
wir nach den Methoden der physiologischen Psychologie vorwärtsgehen? 
Sie kann nicht in Frage kommen, denn sie ist ihrem Ausgangspunkt nach 
naiv, d. h. für sie ist die Natur einfach da. Sie betrachtet die Empfindungen 
,warm‘, ,blau‘, ,süß‘ und so fort als selbstverständliche Ausgangspunkte der 

‘) Spranger, a. a. 0. S. 35. 

*) Der Verfasser hat diese Analyse in ähnlicher Weise schon dargestellt in der Zeitschr. „Kinder¬ 
garten“, 64. Jahrg. (Jan./Febr.-Helt) 1923: Grundsätzliches zur Erforschung d. Kindersprache. 

*} Spranger, a. a. 0. S. 37, 43ff. 


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Karl Reomuth 


Forschung; für die Denkpsychologie ist das Zustandekommen dieser Erlebnisse 
und der in ihnen liegenden Objektivationen ein Problem; es interessiert sie, 
wie in uns das Bewußtsein von diesen Objekten entsteht. Die Methode, die 
wir brauchen, muß „thetische Existenzialsetzungen von Dinglichkeiten mit 
Raum, Zeit und Kausalität“ vermeiden l )> Die physiologische Psychologie ist 
naturwissenschaftlich orientiert; sie geht von einer ganz anderen Problem¬ 
stellung aus; sie versucht, die psychischen Vorgänge einem Leibe (physischen 
Organismus) zuzuordnen. Es ist das natürlich eine bedeutsame Problem¬ 
stellung, aber sie wird niemals an das Problem der Sinngebung herankommen. 

Es ist das Verdienst der sogenannten Würzburger Schule, daß Bie den 
Versuch gemacht hat, den eigenartigen Problemen, die in den Denkprozessen 
vorliegen, methodisch näher zu kommen; es sei erinnert an die Namen von 
Külpe, Marbe, Ach, Bühler, Messer u. a. Sie wollten die Grundfrage 
beantworten: Was erleben wir, wenn wir denken? Die Versuche, die von 
den genannten Forschem angestellt wurden, vollzogen sich in folgender 
Welse: Dem Beobachter wurde ein Versuchsleiter beigegeben, der die Erleb¬ 
nisse hervorrief und die Beobachtungen, über die die Versuchsperson be¬ 
richtet, zu Protokoll nahm. Als Versuchsperson verwendete man in erster 
Linie psychologisch geschulte Personen. So hat z. B. Bühler mit Külpe und 
Dürr experimentiert Der Versuchsleiter stellte den Versuchspersonen Denk¬ 
aufgaben — darunter haben sich allerdings solche befunden, die als reine 
Doktorfragen bezeichnet werden müssen. Es wurde z. B. folgende Frage 
gestellt: „Hat Eucken recht, wenn er meint: Selbst die Schranken der Er¬ 
kenntnis könnten nicht zum Bewußtsein kommen, wenn der Mensch nicht 
irgendwie über sie hinausreicht?“ 2 ). Auf die Frage: „Jedem das Seine geben, 
das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen“, wurde folgendes 
zu Protokoll gegeben 3 ): „Ja. Zunächst eigentümliches Stadium der 
Überlegung mit Fixation einer Fläche vor mir. Nachhall der Wörter mit 
besonderer Betonung des Anfangs und des Endes des Satzes. Tendenz, dem 
Behaupteten recht zu geben. Da fiel mir plötzlich Spencers Kritik des 
Altruismus ein mit dem Gedanken, der dort die Hauptsache ist, nämlich, daß 
der Zweck des Altruismus gar nicht erreicht werde. Darauf sagte ich ja. 
Vorstellungsmäßig war nur gegeben das Wort Spencer, das ich innerlich aus¬ 
sprach.“ Wundt hat diese Denkexperimente in seinen Psychologischen 
Studien mit Worten schärfsten Tadels und überlegenster Ironie abgelehnt 4 ) 3 ). 
Die Ausfrageexperimente sind nach seiner Meinung Scheinexperimente, sie 
erhalten ein planmäßiges Aussehen nur dadurch, daß sie im Laboratorium 
ausgefübrt werden, daß einem Versuchsleiter eine Versuchsperson gegenüber¬ 
steht Es seien einige Sätze Wundts wörtlich angeführt: „Diese Methode ist 
so ungeheuer einfach. Man braucht nur zu fragen, und jemand zu haben, 
der sich fragen läßt, so kann man über die tiefsten und höchsten Probleme 
des unmittelbaren Bewußtseins Aufschluß gewinnen, ohne sich mit kompli- 


*) E. Hnsserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. Logos. Bd. I, S. 290. 

*) Bühler, Karl, Tatsachen und Probleme zn einer Psychologie der Denkvorg&nge. 1907. 
Archiv f. d. ges. Psych. Bd. IX, S. 804. *) a. a. O. S. 811. 

4 ) W. Wundt, Über Ausfrageexperimente und über die Methoden der PsycboL d. Denkens. 
PsychoL Studien. Bd. m, 4. S. 334, 867ff. Vgl. auch Bd. XI vom Aich. L d. ges. PsycboL 
b ) VgL E. Dürr, Über die experimentelle Unters, der Denkvorgtnge. Ztschr. f. PsycboL n. 
Physiol. d. Sinnesorgane. 1908. S. 329. 


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Grundfragen der Denkpsychologie 


263 


zierten Instrumenten zu behelligen und ohne sich um zeitabliegende Kontroll- 
mittel zu bemühen .... Welche Triumphe aber wird erst diese Methode 
feiern, wenn . sich die Pädagogik ihrer bemächtigt, wenn die Schulbank zu¬ 
gleich zur Experimentierbank wird und der Lehrer, falls er sich beim Schul¬ 
examen erkundigt, was sich der Schüler bei seiner Antwort etwa' noch 
nebenbei gedacht habe, in dem stolzen Bewußtsein leben kann, er habe ein 
psychologisches Experiment gemacht.“ Wir können Wundt zugeben, daß 
viele dieser Experimente Scheinexperimente gewesen sind, daß viele Ergeb¬ 
nisse der Versuche anfechtbar sein mögen, aber ein Verdienst bleibt diesen 
Forschern ungeschmälert; sie haben Probleme gesehen, die bis dahin der 
experimentellen Psychologie entgangen waren. Sie war eingestellt auf die 
Untersuchung von Reizen und Empfindungen, von Nachbildern und Kontrast- 
erscheinungen. Die Polemik Wundts zeigt aber, wie fern er dem besonderen 
Aufgabenkreis der Denkpsychologie stand. 

Aus diesen denkpsychologischen Forschungen geht mit Deutlichkeit 
hervor, daß die Untersuchung den Weg der Selbstbesinnung gehen muß. 
Hans Driesch bezeichnet die oben erwähnten Arbeiten als experimentelle 
Selbstbesinnungslehre 1 )* Er stellt die Selbstbesinnung an den Anfang alles 
Wissens überhaupt;, sie verfolgt den Strom der Erlebtheit, sie richtet sich be¬ 
wußt auf das eigene Erleben, sie stellt gewisse Haltepunkte heraus, die den 
Strom des Erlebens gliedern, ordnen. In diesen Haltepunkten haben wir die 
eigentlichen Denkleistungen vor uns, denn für Driesch ist das Denken ein 
Haben von Ordnung, ein Wissen um endgültige Ordnung in der Erlebtheit 2 ). 
Die Selbstbesinnungslehre geht seiner Ordnungslehre voraus; diese wieder ist 
für ihn eine Zusammenfassung der Logik, Ethik und Ästhetik im üblichen Sinne. 

Die Disziplin, die bei Driesch als Selbstbesinnungslehre erscheint, trägt bei 
Husserl die Bezeichnung Phänomenologie. Seine „Logischen Unter¬ 
suchungen“ geben nicht eine Logik im landläufigen Sinne, sondern zunächst 
und vor allen Dingen eine Selbstbesinnungslehre, die eben aller Logik voraus¬ 
gehen muß. Ehe die Leistungen des Denkens in der Logik aufgeführt werden 
können, muß das „Wesen“ des Denkens zu erfassen gesucht werden. Husserl 
geht auch von der Tatsache aus, daß das Psychische, daß alle psychischen 
Pliänomene sich in einem absoluten Fluß befinden, daß sie kein bleibendes 
identisches Sein darstellen; daß wir uns ihnen nicht in naturwissenschaft¬ 
licher Einstellung nähern dürfen 3 ). Nur in einer immanenten Schau können 
wir den Fluß der Phänomene fassen; das Wesen der Phänomene ist nur in 
unmittelbarer Schau faßbar. Er sagt beispielsweise: „Alle Aussagen, die 
Phänomene durch direkte Begriffe beschreiben, tuen es, soweit sie gültig 
Bind, durch Wesensbegriffe, also durch begriffliche Wortbedeutungen, die sich 
in Wesensschau einlösen lassen müssen“ 4 ). (Es sei bemerkt, daß der Begriff 
„Wesensschauung“ für Husserl eine engere und eine weitere Bedeutung zu 
haben scheint, zunächst scheint sie mehr im Sinne der Selbstbesinnungslehre 
Drieschs ein unmittelbares Innewerden des psychischen Erlebnisstromes, ein 
hiuewerden der Form des Erlebens und der Erlebnisformen zu meinen — 
so in den „Logischen Untersuchungen“ —; später richtet sich die Wesens- 
schauung auch auf die Erfassung und Klärung der Denk- und Erlebnisinhalte, 


') H. Driesch, Ordnungalehre 1912, S. 34, Anmerk. *) Driesch, a. a. 0. S. 15. 
3 ) Vgl. Husserl, Aufsatz im Logos, a. a. O. *) H. im Logos, a. a. O. S. 814. 


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Karl Reumuth 


so etwa, wenn die Fixierung des Bedeutungsunterschiedes von „Farbe“ und 
„Ton* erfolgt.) Das Verdienst Husserls für alle weitere Erforschung der 
Denkvorgänge besteht darin, daß er mit Nachdruck auf die besondere Eigen¬ 
art der psychischen Phänomene hingewiesen hat. Wir führen einige der 
Momehte an, die er immer wieder unterstreicht: Die psychischen Phänomene 
bilden keine substantiellen Einheiten; sie kennen keine realen Veränderungen 
und Kausalität wie die Naturdinge, sie können nicht in mehreren gesonderten 
Wahrnehmungen als individuell identisch gefaßt werden, nicht einmal in Wahr¬ 
nehmungen desselben Subjekts. Daher ist jede Annäherung nach naturwissen¬ 
schaftlicher Methode ausgeschlossen, daher ist eine ganz besondere Forschungs¬ 
einstellung, nämlich die phänomenologische, zu fordern. 

Paul Natorp l ) teilt mit Husserl die Meinung, daß die psychologische 
Forschung grundverschieden von der naturwissenschaftlichen Einstellung sein 
muß; aber er bestreitet, daß sich das Seelenleben in seiner Ursprünglichkeit 
fassen läßt; denn in dem Augenblick, wo wir das Seelenleben unmittelbar 
zu fassen versuchen, zerstören wir die Unmittelbarkeit des Erlebnisablaufes. 
Wir können nur auf indirektem Wege an den Erlebnisstrom herankommen, 
indem wir ihn von den vollzogenen Objektivationen aus zu rekonstruieren 
versuchen, indem wir die Leistungen des Geistes zurückbetten in den Strom, 
aus dem sie herausgetreten sind. Uns will scheinen, daß min sich sowohl 
in der Husserlschen als auch in der Natorpschen Einstellung den Denk¬ 
vorgängen nähern muß, man muß ihnen sowohl auf intuitivem als auch auf 
rekonstruktivem Wege inne zu werden versuchen. Es scheint auch so, als 
wenn Husserl gerade bei der Zerlegung des intentionalen Aktes in seine 
einzelnen Phasen mehr den Weg der Rekonstruktion gegangen wäre, als er 
zugeben möchte. Der Vorgang, in dem wir uns dem inneren Wesen der Denk¬ 
vorgänge nähern, dürfte so verlaufen: In intuitiver Weise erfassen wir blitz¬ 
artig den ganzen psychischen Zusammenhang. Das Seelenleben befindet sich 
aber in unaufhörlichem Fluß; wir als diejenigen, die belauschen möchten, 
wandeln uns ebenso wie die Zusammenhänge, die wir belauschen wollten. 
Wenn wir eine eingehende Besinnung über das Wesen dieser Vorgänge herbei¬ 
führen wollen, so kann man nicht mehr von einem intuitiven Erfassen des 
ganzen Vorganges reden. Wir vermögen nur die geistige Leistung des Augen¬ 
blicks festzuhalten, und zwar handelt es sich um eine Doppelleistung, wir 
haben — „haben“ im Sinne Drieschs — die Wahrnehmung blau, grün und 
so fort, zugleich halten wir aber auch das Ergebnis jener Intuition in bezug 
auf den Wahrnehmungsprozeß selbst fest Dieser intuitiven Erfassung des 
Erscheinungskomplexes liegt auch eine Objektivierung zugrunde; das Wesen 
des Vorgangs ist zum intentionalen Gegenstand geworden. Die Denkpsychologic 
will aber gerade alle vollzogenen Objektivierungen gleichsam wieder ungeschehen 
machen, und so zu den ersten vorwissenschaftlichen, aller Objektivierung voraus¬ 
liegenden geistigen Regungen Vordringen. Das, was die Intuition uns gab, 
kann nur den Ansatzpunkt bilden, an dem die rekonstruktive Besinnung 
rückgestaltend anknüpft. So liegt in der denkpsychologischen Methode, 
in der selbstbesinnlichen (Driesch) oder phänomenologischen (Husserl) Ein¬ 
stellung eine eigenartige Verflechtung von intuitiver und rekon- 
struktiver Forscherhaltung vor. 


l ) Natorp, Paul, Allgemeine Psychologie nach kritisch. Methoden. 1912. 


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Grundfragen der Denkpsychologie 


265 


Es sollen nun die Probleme skizziert werden, an die man in dieser Ein¬ 
stellung herangehen muß. Neben der allgemein-psychologischen Betrachtungs¬ 
weise — die unten zur Anwendung kommen wird — ist auch eine genetische 
Behandlung dieser Einzelfragen möglich, indem man auf sucht, wie sich die 
einzelnen Denkleistungen im Individuum allmählich herausbilden. 

Das Zentralproblem ffir jede Denkpsychologie ist, wie wir schon oben 
sahen, jener geistige Akt, der den Sinn begründet, der, tun nochmals ein 
schon erwähntes Beispiel heranzuziehen, Erregungen des Nervus opticus als 
„Farbe“ auffaßt. Die eingehendste Analyse dieses grundlegenden Aktes ver¬ 
danken wir Husserl; sie ist noch nicht erschüttert und noch nicht über¬ 
troffen worden. Er bezeichnet den Akt, in dem wir die Sinnbeziehung 
schaffen, uns auf ein Objektives beziehen, als intentionalen Akt und den 
Gegenstand, auf den wir uns beziehen, als intentionalen Gegenstand *)• Er zeigt, 
wie jeder Akt eine Grundlage haben muß, wie ein gewisses Empfindungs¬ 
material vorhanden sein muß, das den Akt trägt. Auf dieser Grundlage baut 
sich der objektivierende Akt auf, der die Sinnbeziehung schafft, der die 
Ausdeutung der hyletischen Grundlage vornimmt. Auf mein Auge wirken 
beispielsweise eine Reihe von Eindrücken ein; ob ich sie nun als „Baum¬ 
stumpf“ oder als „Menschengestalt“ erfasse, wird durch den objektivierenden 
Akt entschieden. Damit ist aber das Wesen des Gesamtakts nicht erschöpft; 
der Gegenstand kann fragend, wünschend, urteilend gemeint sein. Die Qualität 
des Aktes kann verschieden sein, z. B.: Ist das ein Mensch? Wenn es nur 
ein Baumstumpf wäre! Es ist ein Baumstumpf! — Diese drei Momente: 
Hyletische Grundlage, objektivierender Akt oder Aktmaterie und Akt¬ 
qualität bilden den reellen Gehalt des Erlebnisses; der intentionale Gegen¬ 
stand selbst ist ein nichtreelles Moment, er ist dem Akte transzendent „Für 
die phänomenologische Betrachtung ist die Gegenständlichkeit selbst nichts, 
sie ist ja, allgemein zu reden, dem Akte transzendent“ 2 ). Gerade dieses 
Verhältnis der reellen Aktmomente zum intentionalen Gegenstand selbst 
wird noch weiter zu erforschen sein. Die Frage: Wie faßt der Geist das 
Transsubjektive? muß immer weiter ergründet werden, denn in ihr ist der 
Nerv alles Denkens beschlossen. 

Das psychische Material, auf das sich die Akte aufbauen, kann verschiedener 
Art sein. Wenn ich dieses Heft vor mir liegen habe und den intentionalen 
Akt „das ist ein Heft“ vollziehe, so liegt ein „analogisches“ Baumaterial dem 
Akt zugrunde; wenn ich das Wort „Heft“ nur lese, so ist die Beziehung der 
Aktgrundlage zum gemeinten (= intentionalen) Gegenstand sehr äußerlich. 
(Wir nehmen dabei natürlich an, daß das Wort „Heft“ in der Weise im Be¬ 
wußtsein vorhanden ist, wie es etwa beim fließenden Lesen in uns auftritt, 
ganz frei von jedem reproduktiv-anschaulichen Gehalt.) Eine innerliche Be¬ 
ziehung zwischen den Buchstaben des Wortes „Heft“ und dem Sinn „Heft“ 
gibt es nicht. Im ersten Fall haben wir eine intuitive, im zweiten Fall 
eine signitive Intention vor uns. Hierbei erschließt sich uns das Problem 
der Bedeutungsverleihung und Bedeutungserfüllung. Die Frage, was geht in 
uns vor, d. h. welche Phänomene laufen in uns ab, wenn wir lesen, wenn 
wir eine Rede anhören, ist zu erörtern. Die Art der Verflechtung der reellen 

') Vgl. hierzu die Schrift des Verfassers: Die logische Beschaffenheit der ldndl. Spr. a. a. O. 

*) Husserl, Log. Unters. *1. Aufl. Bd. H, S. 387. 


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Karl Reumuth, Grundtragen der Denkpsychologie 


phänomenologischen Momente mit den intentionalen Gegenständen (noematische 
Momente in der neueren Terminologie Husserls) steht hier zur Erörterung. 
Von hier aus müssen dann die Probleme der Schwachsinnigenerziehung einmal 
angeschnitten werden. Der Mangel der geistigen Leistung ist nicht so sehr 
begründet in einem ungenügenden Funktionieren des Sinnenapparates als 
vielmehr in der ungenügenden Vollziehung des Sinnes. Wenn der Wurzel¬ 
punkt der verringerten geistigen Leistung erkannt ist, wird sich die päd¬ 
agogische Behandlung wirkungssicherer gestalten lassen. 

Das Verhältnis des Denkens zum Sprechen muß erörtert werden. Benno 
Erdmann und nach ihm Müller-Freienfels haben betont, daß es ein 
vorsprachliches und übersprachliches Denken gibt Wer die geistige 
Entwicklung von Kindern verfolgt hat, wird beobachtet haben, daß Kinder 
schon vor der Entwicklung des Sprechens Denkakte vollziehen, andererseits 
kann man sich selbst dabei belauschen, wie man beim Schachspiel, beim 
Lösen mathematischer Aufgaben Denkbeziehungen ohne sprachliche Fundierung 
herstellt. Die Behandlung der Taubstummen wird von hier aus noch manche 
Anregung zu erwarten haben. 

Besonderes Interesse verdient die Frage: Wie unterscheiden sich phäno¬ 
menologisch die Akte, in denen wir Individuelles und Spezifisches (All¬ 
gemeines) meinen? Wie unterscheiden sich phänomenologisch folgende 
Denkerlebnisse: Ich stehe vor einem Baum und sage: Das ist der Baum! 
oder ich sage: Das ist ein Baum! Damit steht die Frage nach dem kate- I 
gorialen Denken überhaupt im Zusammenhang. Welches sind die Grund¬ 
formen kategorialen Denkens, wie stellen sie sich phänomenologisch dar? 

In dem Satz: Die beiden Dreiecke sind gleich, sind kongruent 1 liegt eine 
kategoriale Formung. Es müssen in schlichten Akten erst die Dreiecke a 
und b gesetzt werden, auf dieser Fundierung sind nun erst die vergleichenden 
Akte möglich. Das Ergebnis „gleich“ ist nicht in der Anschauung gegeben 
wie die Dreiecke a und b, sondern es ist aus denkender Verarbeitung der 
Eindrücke hervorgegangen. Dieser Akt ist ein fundierter im Gegensatz zu 
den fundierenden, die wir in den schlichten Setzungen vorfanden. Mit 
den Zahlbegriffen verhält es sich ähnlich. Das „beide“ ist niemals an¬ 
schauungsmäßig gegeben (gegeben ist nur a -t- a); es ist wie alle weiteren 
zahlenmäßigen Zusammenfassungen eine Denkleistung. Auf den denkmäßigen 
Gehalt, der sich in unseren Raum- und Zeitvorstellungen vorfindet, hat 
Kant in Beiner Kritischen Philosophie schon hingewiesen. Unser Denken 
gliedert unsere Erlebnisse im Raum in ein großes Koordinatensystem ein, das 
wir über die Umwelt legen; und in bezug auf die zeitliche Abfolge unserer 
Erlebnisse macht unser Denken die stillschweigende Annahme einer in regel¬ 
mäßigem Fluß dahinziehenden Zeit. — Schließlich wird das kausale und 
teleologische Denken mit seinem „Warum“, „Darum“, „Weshalb“, „Danut 
daß“ Gegenstand selbstbesinnlicher Untersuchungen werden müssen. 

Alle diese Fragen können nun auch in genetischer Weise aüfgefaßt werden. 
Man kann fragen: Wann vollzieht das Kind die ersten intentionalen Akte, 
wann gewinnt es seelische Polarität und setzt dem Subjekt das Objekt gegen' 
über, wie wächst es hinein in die Verflechtung des Subjektiven und Objek- j 
tiven? Damit wird die genetische Denkpsychologie Teil einer genetischen jj 
geisteswissenschaftlichen Psychologie, die die Entwicklung der Sinngebung j 
überhaupt zu betrachten hätte und dabei darstellen müßte, wie das Individuum j 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


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a llm ä hli ch in die verschiedenen Lebens* und Wertgebiete hineinwächst Damit 
würde eine Psychologie der Kulturentfaltung und Kulturvermittlung ge¬ 
geben sein. 

Wenn man die Aufgaben, die hier angedeutet wurden, überschaut, so wird 
man nicht der Meinung bleiben können, dafl sich die psychologische Forschung 
in einem Zustand der Stagnation befindet. Die denkpsychologische und geistes¬ 
wissenschaftlich-psychologische Einstellung führt zu einer riesenhaften Aus¬ 
weitung des psychologischen Arbeitsgebietes. 


Wesen und Arten der Fehler. 

(in. Teil.) 

Von Hermann Weimer, 
b) Perseverative Fehler 1 ). 

Die Nerven- und Irrenärzte haben zuerst an manchen ihrer Kranken die 
Erscheinung beobachtet, daß einmal angeregte Vorstellungen beliebigen In¬ 
halts sich immer wieder in den Gedankengang einschieben und zur Äußerung 
drängen 2 ). Neisser hat für diese Störung des Vorstellungsverlaufs den Namen 
Perseveration (Beharrung) eingeführt. 1895 veröffentlichten Meringer 
und Mayer in ihrer Schrift über „Versprechen und Verlesen“ eine ganze 
Reihe von Sprech-, Lese- und Schreibfehlern geistig gesunder Menschen, 
die ebenfalls darin bestehen, daß eben hervorgebrachte oder wahrgenommene 
Laute, Lautzeichen, Silben oder Wörter bald danach an falscher Stelle wieder¬ 
erscheinen und dadurch die Aussprache oder Schreibung der folgenden Wörter 
stören 3 ). Eine psychologische Erklärung dieser Nachklänge (Postpositionen), 
wie sie sie nannten, konnten sie nicht geben. . Erst Müller u. Pilzecker 
sind bei ihren mustergültigen Untersuchungen über das Gedächtnis, deren Er¬ 
gebnisse 1900 in den „Experimentellen Beiträgen zur Lehre vom Gedächt¬ 
nis“ veröffentlicht wurden, 8uch dieser Frage nähergetreten 4 ). Sie glaubten 
die Lehre aufstellen zu können, daß jede Vorstellung nach ihrem Auftreten 
im Bewußtsein eine Perseverationstendenz besitzt, d. h. „eine im all¬ 
gemeinen schnell abklingende Tendenz, frei ins Bewußtsein zu steigen“. 
Beide Forscher stellen diese Perseverationstendenzen als einen besonderen 
Grundfaktor des Vorstellungsverlaufs den Assoziationen gegenüber (a. a. O. 
S. 75) und weisen ihnen eine wichtige Aufgabe im Zusammenhang psychischen 
Geschehens zu. Die Perseverationstendenzen sollen nicht nur zur Festigung 
der Assoziationen beitragen (S. 68), sondern auch den mannigfachen Störungen 
äußerer und innerer Art, die den rein assoziativen Ablauf der Vorstellungen 
unterbrechen, entgegenwirken, indem das Bestreben der Vorstellungen, von 
selbst wieder ins Bewußtsein zu treten, für die Fortsetzung eines einmal 
unterbrochenen Gedankengangs sorge (S. 75). So führen Müller u. Pilz¬ 
ecker die Stetigkeit eines über das unmittelbar Gegebene hinausgehenden 
Denkens und Handelns im wesentlichen auf die Perseveration zurück (S. 77). 


') Vgl. Jahrg. 1922 S. 17 n. Jabrg. 1923 S. 84 dieser Zeitschrift 
*) Emil Kraepelin, Psychiatrie. 7. Aufl. 1903. 1. Bd. S. 187. 

*) Meringer n. Mayer, a. a. O. S. 44t, 121t, 154. 

*) Q. E. Mfiller u. A. Pilzecker, a. a. Ck S. 58ft 


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Hermann Weimer 


Wenn nun auch bedeutende Psychologen wie Ebbinghaus, Wundt, 
Ziehen die Perseveration als eine besondere Reproduktionsursache nicht 
anerkennen wollen, so kann diese doch als tatsächliche Erscheinung nicht 
bezweifelt werden. Reproduktionen dieser Art treten im Leben sehr häufig 
auf, im Wachzustände, in Schlummerbildern, als rasch vorübergehendes Er¬ 
lebnis oder in hartnäckiger Wiederkehr (Iteration), wie z. B. bei Melodien, 
die man nicht los wird. Je eindringlicher uns ein Erlebnis beschäftigt hat 
und je jünger es ist, um so stärker ist seine perseverierende Kraft Sie 
macht sich besonders dann geltend, wenn das Bewußtsein nicht allzusehr 
mit andern Dingen beschäftigt ist. Kinder unterliegen dem Einfluß der Per¬ 
severation öfter als Erwachsene und unter ihnen wieder die jüngeren häu¬ 
figer als die älteren, die Schwachbegabten mehr als die geistig Stärkeren. 
Das ist von Psychologen und Pädagogen mehrfach übereinstimmend fest¬ 
gestellt worden 1 )* Auch ich habe in zahlreichen Fällen diese Behauptung 
bestätigt gefunden. Die Neigung zu perseverativer Reproduktion scheint mir 
fast ein Gradmesser jugendlicher Intelligenz zu sein: je stärker sie zu¬ 
tage tritt, um so geringer ist die Geisteskraft der Zöglinge einzuschätzen, 
wenigstens soweit es sich um Fehler perseverativen Ursprungs handelt. Um 
dem Leser das Wesen dieser Fehler Idar zu machen, treten wir am besten 
sogleich in die Betrachtung solcher Falschleistungen ein. Wir wenden uns 
zunächst der reinen perseverativen Nachwirkung zu. 

a. Nachwirkungsfehler. 

Wir verstehen darunter die fehlerhafte Wiederkehr von Lauten, beziehungs¬ 
weise Lautzeichen, Silben, Wörtern, Ziffern usw. an Stellen, wo sie nicht hin¬ 
gehören. Die fehlerhafte Einschiebung kann entweder als Zusatz neben den 
richtigen Bestandteilen erscheinen ( Zuhöhrer st. Zuhörer) oder einen ihm ana¬ 
logen richtigen Teil ganz verdrängen ( Buchwuche st. Buchwoche). Die Verdrän¬ 
gungen sind nach meiner Erfahrung häufiger als die Zusätze. Nicht nur 
das Gesprochene sondern auch das Gehörte, nicht nur das Selbstgeschriebene, 
sondern auch das Gesehene wirkt nach, wie folgende Fälle beweisen. — 
Auf die Frage: Wieviel ist 6x9? erfolgte die Antwort: Neun und gleich 
darauf die Verbesserung: Vierundfünfzig. Sechs- und siebenjährige Schüler 
schrieben aus der Fibel ab: sei sein st. sei rein, hole es hes st) hole es her, 
deudeute st. deute, pumpun st. pumpen, jeje st. jede. 

J. Stoll hat in seiner Arbeit über die „Psychologie der Schreibfehler“ 
genau beobachtet, welche Bestandteile besonders nachwirken und an welcher 
Stelle sich die Nachwirkungen finden (S. 101 ff.). Es sind vornehmlich 
diejenigen Teile, die irgendwie durch ihre Gestalt, ihren Klang, ihre Betonung, 
ihre Stellung im Wort oder Ausdruck die Aufmerksamkeit besonders auf sich 
ziehen, entsprechend der schon von Müller u. Pilzecker festgestellten 
Tatsache, daß die Perseverationstendenz einer Vorstellung um so stärker ist, 
je intensiver die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war (a. a. 0. S. 58). So 
wirkt ein f im deutschen Schriftbild durch seine überragende Länge (sei sein 
st. rein); das vollklingende u in pumpen ist eindrucksvoller als das tonlose 


«) Vgl. M. Offner, Das Gedächtnis. 3. Aufl. 1913. S. 29; Ernst Meumann, Vorlesungen 
zur EinfOhrang in die experimentelle Pädagogik. 2. Aufl. 1911. 1. Bd. S. 497L; W, Stern, 

Psychologie der frühen Kindheit. 1914. S. 1991. 


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Wesen nnd Arten der Fehler 


269 


e der Endung, daher pumpum st. pumpen ; je in jeje st. jede hat wohl als 
Tonsilbe die unbetonte Silbe de verdrängt. Wenn aber in dem lateinisch 
geschriebenen Worte Mesnes st. Mesner das s der ersten Silbe das r der 
zweiten Silbe verdrängt hat, so kann weder die Gestalt des Buchstaben s 
noch der Klang des Lautes 8 die Perseveration veranlaßt haben; denn s und 
r sind in beiden Beziehungen von gleichem Werte. Die Erklärung kann also 
nicht von dieser Seite kommen. Achtet man dagegen auf die Stellung des 
beeinflussenden und des beeinflußten Lautes, so findet man, daß beide im 
Silbenauslaut stehen. Nun haben schon Meringer u. Mayer festgestellt, 
daß die gesprochenen Laute je nach ihrer Stellung im Wort verschiedene 
Wertigkeit besitzen (a. a. 0. S. 25 u. 164) und daß nur „gleichwertige Laute“ 
gegenseitig aufeinander wirken können, also Anlaut auf Anlaut, Inlaut auf Inlaut, 
Auslaut auf Auslaut Dadurch kommt eine An- und Ausgleichung benachbarter 
Silben, eine Art Analogiebildung, zustande, die auch sonst in der Sprach¬ 
entwicklung zu beobachten ist Denn es ist das Bestreben der Analogiebildung, 
Wortformen, die irgendwie miteinander verbunden sind, auch äußerlich ein¬ 
ander anzugleichen ‘). Die Regel gilt zwar nur für die gesprochene Sprache, 
aber was wir schreiben, sprechen wir zuvor innerlich. Fehler wie Mesnes st. 
Mesner sind also geschriebene Sprechfehler. Daneben gibt es zweifellos auch 
reine Schreibfehler perseverativer Art, d. h. solche, die durch ihr Schriftbild 
derart die Aufmerksamkeit aüf sich ziehen, daß sie zu einer Wiederholung 
führen auch an Stellen, die der Ausgangsstelle nicht analog sind (Zuhöhrer). 

Wir wollen nun in einem kurzen Überblick zeigen, auf welchen Gebieten 
sich im Sprachunterricht die Perseveration geltend machen kann. Von 
typischen deutschen Lesefehlern führe ich folgende an: a) Nachwirkung des 
Anlautes: Er lebe hoch! Er lebe (st hebe) es auf! Die Trauben sind süß. 
Die milden Trauben (st Tauben) leben im Walde. — b) Inlautswirkung: ach, 
wach, nach (st noch); aus Gold und Silber wird Gold (st. Geld) gemacht; 
eine Vernehmung vernehmen st vornehmen. — c) Auslautsnachwirkung: 
die müden GHeden (st. Glieder ); ergebene st ergeben; was ist bitter? Ich 
bitter (st. bitte) dich. — d) Nachwirkung von ganzen Silben und Wörtern: 
Die Waffen wurden nicht verschoben, sondern gestohlen; ihr Besitzer ist 
mittlerweile gestohlen ... nein, gestorben; irren wirren st. irren wirr... 

Bezüglich der Lesefehler ist noch zu beachten, daß der nachwirkende Be¬ 
standteil und seine fälschliche Wiederkehr sich nicht in ein und derselben 
Zeile finden müssen. Der Gesichtskreis des Lesenden umfaßt ein größeres 
Blickfeld, in welches auch die Buchstaben und Wörter über und unter dem 
Blickpunkt fallen. Die nachwirkenden Teile können also oberhalb der Lese¬ 
zeile stehen. So wurde gelesen: Dreimarkstätte st. Dreimarkstücke, weil 
unmittelbar darüber das Wort Münzstätte stand. Ein Anfänger las: 

Der Wagen hat vier Räder. Der Soldat ist auf 
dem Wagen st der Wache. 

Das Zurückfallen in die vorausgehende Zeile tritt besonders leicht ein, wenn 
die beiden aufeinanderfolgenden Zeilen mit demselben Buchstaben oder Buch¬ 
stabenkomplex beginnen. Z. B.: 

die Herde. Der Jäger schießt den Hirsch, das Reh und 
die Herde (st den Hasen). 

') VgL Thnmb 0. Marbe, a. a. 0. S. 2. 


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270 Hermann Weimer 


Fehlerhafte Nachwirkungen im freien Sprechen kommen unter denselben 
Bedingungen vor wie beim Lesen. Meringer u. Mayer haben Belege da¬ 
für in so großer Zahl gesammelt, daß sich eine Veröffentlichung weiterer 
Beispiele an dieser Stelle erübrigt 1 )* 

Während nun Fehler des perseverativen Verlesens und Versprechens auch 
von dem psychologisch nicht Geschulten sofort als mechanische Entgleisungen 
erkannt werden, die man ihrem Urheber nicht als besondere Mängel aus¬ 
legt, ist dies bei Schreibfehlern nicht immer der Fall. Schreibt ein An¬ 
fänger: Die Rose ist rot, woß oder gelb, Erbschulzu st. Erbschulze, Hühner 
und Hühner st. Hähne, so tadelt der Lehrer vielleicht nur die Unaufmerk¬ 
samkeit des Schreibers, macht dieser aber Fehler, wie: Die Kirche hat einen 
Turm. Die Kirchen (st. Kirschen) schmecken süß; sie setzten st setzen, von 
einem berittenem (st. berittenen) Knappen, so vermutet man leicht tiefere 
Mängel in der Kenntnis der Rechtschreibung beziehungsweise in der gram¬ 
matischen Sicherheit. Und doch konnte ich in all diesen Fällen perseverativ 
bedingte Verschreibungen feststellen; denn als ich den Urhebern jener Fehler 
die falsch geschriebenen Worte oder Flexionsformen unauffällig in anderer 
Verbindung zur Niederschrift gab, wurden sie richtig geschrieben. 

Die bereits angeführten Beispiele lassen vermuten, daß die Perseverations¬ 
tendenz beim Versagen der zur richtigen Leistung erforderlichen psychischen 
Funktionen vielfach verwirrend in die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks 
eingreift. Nicht nur Vokale und Konsonanten können an falscher Stelle 
wiederkehren, auch die Quantität eines Vokals kann nachwirken, wie 
folgende Lese- und Sprechfehler beweisen: im Wässer wätteten st. wateten; 
mit zu strengem Mäße me .. . messen; 

Väter und Mütter beide 

Rühen im schwarzen Schrein. (Heideröslein v. K. Groth.) 

Selbst der Wort ton. kann fälschlich perseverieren: die ältesten der wetter¬ 
festen (st. wetterfesten) Seeleute; mit heißen Gebeten beteten (st beteten). 

In der Rechtschreibung vermutet mancher Unkenntnis der Schreibregeln, 
wo fälschende Nachwirkung eines Buchstabens oder einer einmal vollzogenen 
Funktion den Fehler veranlaßt hat Der Schreiber von Zuhöhrer dachte nicht 
daran, die Länge des d-Lautes durch ein Dehnungszeichen auszudrücken; 
denn er schrieb das Wort sonst richtig und erkannte auch den Fehler sofort 
nach entsprechender Ermahnung. Ähnlich verhält es sich mit der Schreibung 
der Wörter Delda (st. Delta), Kottbuss (st. Kottbus), Schutt und Moodei 
(st. Moder) mit Nachwirkung der Funktion der Verdoppelung. 

Auch rein grammatische Fehler auf der Grundlage der Perseveration kommen 
vor. An falschen Wortbildungen begegneten mir u. a. folgende: Der eine 
machte die Kleinigkeiten, der andere die Großigkeiten; die Aufbahrung 
und Fortfahrung (st. das Fort fahren) der Leiche; einschläfein (st einschläfem); 
sparsam und nicht vergeudsam (st verschwenderisch ); die vorzügliche Tabaks- 
ernte wurde in allen Tabaksfabriken (st. Tabakfabriken) begrüßt; ihre Güte 
und Schöne (st. Schönheit). 

Auch falsche Biegungsformen und Geschlechtsbildungen tragen zu¬ 
weilen perseverativen Charakter. Substantiva: die langen Abenden, die Löffel, 
Gabel (st. Gabeln) und Messer, Wolframs von Eschenbachs (st. Eschenbach). — 

') Vgl. Meringer u. Mayer, a. a. 0. S. 44H. 


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Wesen und Arten der Fehler 


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Adjektiva und Pronomina: aller guter (st. guten) Bürger; an dem warmem 
Ofen; die späteste Zeiten; das oberere Land; unserere Lehrer; welcher braver 
(st braven) Frau. — Verben: er willfahrtete (st. willfahrte); es hätte nicht 
zu geschehen gebraucht (st. brauchen); ich trete, du tretest, er tretet (st. 
trittst, tritt). 

Auch in manche Gebiete der Satzlehre greift die Perseveration zuweilen 
verwirrend ein. Ihre Wirksamkeit ist freilich nicht immer deutlich zu er¬ 
kennen; denn manchmal ist es nicht die äußere Form, die nachwirkt, sondern 
die grammatische Funktion. Wenn z. B. Wustmann in seinen „Sprach- 
dummheiten“ (3. Aufl. 1903, S. 252f.) gegen Ausdrücke wie „Ausgewählte 
Texte des 4. bis 15. Jahrhunderts“ wettert, so bekämpft er hier das Nach¬ 
wirken des durch des eingeleiteten singularischen Genetivverhältnisses, das 
in Jahrhunderts keine logische Berechtigung mehr hat, von seinem Bekämpfer 
aber psychologisch nicht gedeutet werden konnte. Ähnlich wirkt die Dativ¬ 
funktion in dem von Wustmann (S. 44) angeführten Beispiele: er ist zu 
Verschickungen und dergleichem (st. dergleichen) gebraucht worden. Auch 
die Häufung von Steigerungsformen, wie besser passendere Schuhe, die härter 
getroffeneren Grenzbewohner, mit dem bestgemeintesten Rat , mit größtmög¬ 
lichster Eile dürfte durch Nachwirkung der durch besser, best usw. eingeleiteten 
Steigerungsfunktion zu erklären 6ein. 

Wenn Schüler schreiben: das einzige, das (st. was) er zu sagen wußte, 
das erste , das er tat; das Schlimmste, das man ihm antun konnte, so liegt 
eine rein formale Nachwirkung ebenso deutlich zutage, wie in der fälsch¬ 
lichen Wiederholung der persönlichen Fürwörter in Sätzen wie: Das Interesse 
ist eine Teilbedingung dafür, daß bestimmte Arten psychischer Vorgänge sich 
die psychische Kraft in höherem Grade sich aneignen als andere; wenn uns 
Frankreich mit seinen Kolonialheeren usw. . . . uns auch immer aufs neue 
bedrohen. 

Rein durch Nachwirkung der Form sind auch nachfolgende Fehler der 
Übereinstimmung entstanden: das Theater, in der (st. dem); indem man sich die 
langen Winterabende mit Spielen, Lesen, Musizieren und dergleichen vertreiben, 
ferner Konstruktionsfehler wie: ein Mann von großen Geist (st. großem); 
sie lagen in einen Hof (st. einem Hof )*); wir tanzten um ihm (st. ihn). 

Meumann hat bei seinen Assoziationsversuchen mit Kindern unter anderem 
festgestellt, daß ein einmal reproduziertes Wort immer wieder genannt wird 
(Vorlesungen I, 491 ff. u. 497). Erleben wir diese Tatsache nicht auch täglich 
in der Schule? Wie der Zögling der Unterklassen in seinen ersten Dar¬ 
stellungsversuchen schreibt: Dos Ff erd ist ein Haustier. Das Pferd hat 
einen Kopf, einen Hals, einen Rumpf .... Das Pferd zieht den Wagen 
usw., so Webt noch der Tertianer und Sekundaner an einem einmal repro¬ 
duzierten Wort durch ganze Sätze hindurch. Ein Beispiel für viele mag 
genügen. In einem Aufsatz über den „Grafen von Habsburg“ schrieb ein 
Untertertianer (13 J.): Sie bemerkten einen Priester, der das Allerheiligste trug. 
Vor dem Priester schritt ein Mesner mit der Glocke, um die Leute auf das 
Nahen des Priesters aufmerksam zu machen. Der Priester wollte zu einem 
totkranken Mann. Der Weg führte aber den Priester an einen Bach. 


') Schreibfehler von Schalem aas einem Sprachgebiet, wo Dativ und Akkusativ nicht ver- 
w ®chgelt werden. 


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Hermann Weimer 


Wo nicht dieselben Worte wiederkehren, da haftet bisweilen derselbe Ge¬ 
danke und drängt sich, wenn auch in verschieden gewählten Ansdrtcken, 
immer wieder vor. Wenn diese Erscheinung auch kaum zu eigentlichen 
Fehlern führt, so mag sie doch ähnlich der eben geschilderten als stilistische 
Schwerfälligkeit wegen ihres perseverativen Charakters an dieser Stelle 
erwähnt werden. In dem Aufsatz eines Obertertianers (14 J.) über die „Be¬ 
deutung des Fahrrades“ heißt es z. B.: Wer gebraucht es nicht alles! Da 
ist es besonders die Post, wo das Fahrrad Anwendung findet. Die Depeschen- 
und Eilboten gebrauchen es, um ihre Nachrichten schnell an Ort und Stelle 
zu bringen. Auch bei dem Arzte findet es Verwendung ... Ferner benutzt 
es der Landjäger, um .. . In sehr großem Maße wird das Fahrrad von 
den Geschäftsleuten benutzt.“ So kommt der Schüler durch den ganzen 
Aufsatz hindurch nicht aus Wendungen des „Gebrauchens“ heraus, die er 
zum großen Teile hätte vermeiden können, wenn er einfach die Arten des 
Gebrauchs geschildert hätte: die Eilboten bringen mit dem Fahrrad ihre 
Nachrichten . . .; der Arzt fährt damit zum Kranken; die Geschäftsleute 
besorgen auf ihm ihre Waren zu den Kunden usw. Man könnte im vor¬ 
liegenden Falle auch sagen: der Schüler war auf die Vorstellung des „Ge¬ 
brauchens“ so eingestellt, daß sie die Wahl der folgenden Ausdrücke immer 
wieder beeinflußte. Von diesem perseverativen Charakter der Einstellung 
werden wir an anderer Stelle fioch ausführlicher zu reden haben (S. 278 ff.). 

Perseverativer Art scheinen mir auch gewisse Tautologien zu sein. Das 
Wesen der Tautologie besteht ja darin, daß man dasselbe noch einmal, wenn 
auch mit anderen Worten, sagt, d. h. psychologisch ausgedrückt, daß eine 
bereits sprachlich reproduzierte Vorstellung in einer gleichbedeutenden Wendung 
wiederkehrt. Wustmann hat im Kapitel „Tautologie und Pleonasmus“ (a. a. 0. 
S. 283) eine Fülle derartiger Ausdrücke gesammelt, die z. T. gar nicht mehr 
als fehlerhaft, sondern höchstens als Mittel der Ausdruckssteigerung empfunden 
werden. Die nachstehenden perseverativen Tautologien sind aber als Fehl¬ 
leistungen anzusehen, bei denen die Funktionen der Aufmerksamkeit und 
des Denkens versagt haben: Allmählich erhob sich die Sonne nach und 
nach über die Berge; das Fahrrad gehört zu den neueren Erfindungen unserer 
Zeit; er schmetterte sein Lied über Berge und Hügel; in der ganzen Welt 
bekannt und berühmt; sein Brot und sein Gebäck. Substantive und gleich¬ 
bedeutende Verben scheinen sich besonders leicht zu Tautologien zusammen- 
zuschließen: die Schweizer hatten das Recht, sich selber-regieren zu dürfen; 
dort werden mancherlei Produkte erzeugt; ob er die Kraft besäße, dem 
Kaiser widerstehen zu können; die Tiere schienen nach seiner Meinung 
Wölfe zu sein. 

Bei Schwachsinnigen Ijat man eine Form der Perseveration festgestellt, 
die darin besteht, daß ein soeben gehörtes Wort unwillkürlich und grundlos 
nachgesprochen wird. Man nennt diese Erscheinung Echolalie. Ihr ver¬ 
wandt ist wohl die Neigung mancher Schüler, die letzten Worte von an sie 
gestellten Fraget zu wiederholen. Sie erscheint zuweilen berechtigt, wenn 
sich etwa der Schüler durch Wiederholung der Frage ihre Bedeutung recht 
eindringlich machen möchte (z. B. Lehrer: Wieviel ist 6 x 18? — Schüler: 
6 x 18? Worauf die Antwort erfolgt). Sie ist aber ganz überflüssig und 
nur ein Zeichen von noch unzureichender Aufmerksamkeit und Denktfitigkeit, 
wenn z. B. auf die Frage: Was taten'die Goten nach Alarichs Tode? geant- 


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Wem tmd Arten der Fehler 


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wortet wird: Nach Alarichs Tode taten die Ooten sich nach Norden zurück¬ 
ziehen. 

Daß nicht jede Wiederholung einer einmal reproduzierten Vorstellung per- 
severativer Art zu sein braucht, hat mir folgendes Erlebnis bewiesen. Ein 
neunjähriger Schüler, der die Lateinschrift, und zwar erst die kleinen, dann 
die großen Buchstaben, erlernte, hatte bei einem Diktat einen Satz mit den 
Worten* Ein Knabe zu beginnen. Die Verbindung ei war ihm bereits durch 
reichliche Übung geläufig geworden, weniger dagegen die Verbindung Ei. 
So entstand der Fehler Eein, indem das Bewußtsein, groß schreiben zu 
müssen, die Schreibung des E veranlaßte, an das die geläufige Verbindung 
ei angehängt wurde. 

ß. Vorwirkungsfehler. 

Meringer und Mayer haben ihre öfter erwähnte Arbeit mit einer Be¬ 
sprechung der «Vertauschungen* begonnen. Sie sagen (S. 13 f.): «Die häufigsten 
Sprechfehler bestehen in Verschiebungen der Teile des Satzes, den man 
sprechen will; man sagt ein Wort, einen Laut, an Unrechter Stelle, zu früh 
oder zu spät. Die Lautversetzungen sind nun oft Vertauschungen, d. h. der 
verdrängte Laut erscheint an Stelle dessen, der ihn verdrängt hat, und so 
aach beim Worte. Oder das Wort, bzw. der Laut erscheinen früher oder 
ipäter neben oder an Stelle eines Wortes bzw. Lautes, bleiben aber an dem 
berechtigten Platze auch (Antizipationen, Vorklänge — Postpositionen, Nach¬ 
klänge)." Man sieht aus dieser Stelle deutlich, daß beide Forscher ein rich¬ 
tiges Gefühl für die innere Verwandtschaft der von ihnen geschilderten Vor¬ 
gänge hatten. Sie konnten aber die gemeinsame psychische Wurzel derselben 
nicht klar erkennen. In Wirklichkeit sind die «Vertauschungen", die sie auf 
S. 14—28 bringen, ebenso gut «Vorklänge" wie die von S. 29 ab verzeich- 
neten ^Antizipationen“. Der Unterschied ist nur formaler Art. Wenn einer 
ihrer Gewährsmänner:- zwecktischer Prak st. praktischer Zweck (S. 14) sagte, 
so hat das Wort Zweck sich ebenso vorgedrängt wie die Silbe hall in un- 
gehallt verhallen st ungehört verhallen (S. 29). Dieses Vordrängen aber ist 
das Wesentliche in beiden Fällen; sie unterscheiden sich nur dadurch, daß 
un ersten Falle sich die anfangs unterdrückte Silbe prak noch einmal, wenn 
auch an Unrechter Stelle, durchsetzen konnte, während im zweiten Falle der 
Silbe hör dieses Los nicht mehr beschieden war. 

Wir gehen nun sogar so weit, die Vorwirkungen samt den dazu gehörigen 
Vertauschungen mit den Nachwirkungen zusammenzustellen und sie unter den 
Gesamtbegriff der Perseveration einzureihen. Eine Ahnung dieses Zusammen¬ 
hangs haben auch schon Meringer und Mayer gehabt, wenn sie S. 164 
aagen: «Die Laute der inneren Sprache sind ungleichwertig. Bei einem 
Laute, der eben gesprochen wird, klingen alle bereits zu sprechen 
beabsichtigten, gleichwertigen, vor, die zuletzt gesprochenen, 
gleichwertigen (allerdings etwas schwächer), nach, so daß diese Laute 
fehlerhaft jederzeit für den beabsichtigten eintreten können." Was sie von 
den Lauten sagen, gilt auch für Silben und ganze Wörter. 

Auch Wundt (Völkerpsychologie I, 1) weist mit Nachdruck mehrfach auf 
diese Tatsache hin. Er sieht den Hauptgrund der meisten Sprechfehler in 
der ungleichen Geschwindigkeit des VorstellungB- und des Redeflusses. Die 
Gedanken eilen dem gesprochenen und mehr noch dem geschriebenen Wort 

Zrftecfcjrtft f. pSdagog. Psychologie. 18 


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274 


Hermann Weimer 


voraus. *) Infolgedessen ist eine Artikulationsbewegung im Gehirn schon vor¬ 
bereitet, ehe sie „eigentlich an der Reihe ist“ (Völkerpsychologie 1,1, 3. Aufl., 
S. 426). Der im Fluß der Rede auftretende Sprachlaut (beim Schreiben sein 
Zeichen) ist so einem doppelten psychischen Einfluß ausgesetzt: 1. der Vor¬ 
wirkung, welche die nachfolgenden Vorstellungen, die selbst schon in sprach¬ 
licher Form im Bewußtsein anklingen, ausfiben, 2. der Nachwirkung, die von dem 
gesprochenen oder geschriebenen Worte im Bewußtsein zurückgeblieben ist. 

Ist diese gemeinsame Wurzel von Vor- und Nachwirkung klar, so wird man 
auch begreifen, inwiefern die Vorwirkung perseverativer Natur sein kann. 
Wenn die Gedanken schon im Bewußtsein sind, noch ehe sie zu sprachlichem 
Ausdruck kommen, so ist das folgende Sprechen oder Schreiben nichts anderes 
als eine Perseverationswirkung des bereits Gedachten. Dabei ist es wohl 
möglich, daß später zu Sprechendes oder Schreibendes früher wirksam wird, 
als es eigentlich sollte, wenn nämlich aus irgendeinem Grunde die Intensität 
der Aufmerksamkeit sich gerade ihm zuwendet Damit ist aber die fehler¬ 
hafte Vorwirkung auf perseverativer Grundlage zur Geltung gekommen. 2 ) 

Schon Wundt hat darauf hingewiesen, daß die Vorwirkungen „infolge 
der natürlichen Richtung des Redeflusses“ viel zahlreicher sind als die Nach¬ 
wirkungen. Sie sollen sich besonders leicht bei energischem, lehhaftem 
Sprechen einstellen (Mer. u. May. S. 41). In meinen Sammlungen beträgt 
ihre Zahl ungefähr das Doppelte der Zahl der Nachwirkungen. Ähnlichkeit 
der beeinflussenden und der beeinflußten Teile begünstigt falschen Vorklang 
ebenso sehr wie falschen Nachklang. St oll hat die sich vordrängenden 
Elemente bezüglich ihrer Eigenart, ihrer Gestaltsqualität, ihrer Stellung im 
Wort usw. poch eingehender untersucht als die Nachwirkungen (a. a. 0. 
S. 89—101) und auch hier gefunden, daß entweder irgendeine IntepsitätB- 
auszeichnung dieser Elemente oder eine Analogiebildung den Anlaß zu der 
fehlerhaften Veränderung der Leistung bildet 

Die Vorwirkungen umfassen im Bereich des Sprachlichen: Laute bzw. 
Buchstaben (Krotopoll st. Protokoll ), Silben (mit übertragenen (st. über¬ 
triebenen) Klagen ), Wörter und ganze Ausdrücke (za gefallen zu lassen st 
gefallen z. /.). Sie führen zu mancherlei Veränderungen der verfälschten 
Bestandteile. Es finden sich: 

Auslassungen (emfinden st empfinden, Fäberei st. Färberei, Knppen st 
Knappen, widersehen st. Wiedersehen), 

Zusätze (die Lange st. die Lage Frankreichs, Frabrik st. Fabrik, Semptember 
st. September, späterstem, Sturn- n. Sportabzeichen st. Tum ...), 
Ersetzungen (Britzstrahl st Blitzstrahl, Hdphdstus st Hephästus, /erführen 
st. verführen, mistestens st. mindestens), 

Umstellungen oder Vertauschungen (Artz st. Arzt, Einteilung st. Einleitung, 
Oebriff st. Begriff, Melkenburg st. Mecklenburg, Tassenmesther). 

Da, wo es zu Auslassungen kommt, fällt meistens ein Silbenauslaut dem 
folgenden Silbenanlaut zum Opfer, selten aber umgekehrt der Anlaut dem 

*) Nach J. Fröbes, Lehrbach der experimentellen Psychologie, 2. B<L 1020, S. 44 liest man 
leise in der Minute 500—800 Worte, laut nur 800; ein Redner spricht selten mehr als 200 Worte 
in der Minute; man schreibt in derselben Zeit nur zwischen 20 und 35, in Maschinenschrift 40 Worte. 
Beim Lesen folgt die innere Sprache (das Klangbild) dem Auge gewöhnlich in einer Entfernung 
von 5 1 / a Worten nach (ebenda S. 42). 

*) Vgl. die ähnliche Erklärung J. Stolls a. a. O. S. 106f. 


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Wesen and Arten der Fehler 


275 


Auslaut: enzwei, gleisdienklig, seidem, verückt, au das st. auf das, er führ 
den Knähen st er führt den Kn. Das entspricht den Assimilationsvorgängen, 
die aus der Sprachgeschichte bekannt sind: Amman aus Amtmann, Eiland 
aus Einland, Grummet aus Grünmahd, Hoffahrt aus Hochfahrt, Marschall 
aus Marchschalk, sechzig aus sechszig usw. 

Im Schriftbild können auch Buchstabenteile durch Vorwirkung nachfolgender 
(bes. ähnlicher) Buchstaben verloren gehen: .Lackofen st Backofen (man 
denke dabei an das deutsche Schriftbild), leliebig st. beliebig, eindinmen 
st eindämmen, ftidet st. findet. 

Da, wo die einander beeinflussenden Bestandteile sich in einem Gebilde 
von mehreren Wörtern (also auch Zusammensetzungen) geltend machen, 
kommt es zuweilen zu starken Verschmelzungen: der Freietanz st Frei¬ 
staat Danzig, durch die Stromschlenken zu lenken st Stromschnellen z. l., 
ehfrumd in fremde Linder st. fuhr in fr. L., leicht aufzuritzen ist das 
Reist der Geicher st. Reich der Geister, Schwald st Schwarzwald, Schehmen 
st Schaden nehmen. Merihger und Mayer glaubten für solche Verschmel¬ 
zungen die Regel aufstellen zu können, dafi „antizipierte Wörter die Form 
des verdrängten Wortes annehmen“ (a. a. O. S. 28). Wenn dies auch häufig 
der Fall sein mag, so doch nicht immer. Zuweilen setzt sich auch der 
Schlußteil des verdrängenden Wortes am verdrängten Teile durch, und das erste 
Wort nimmt dadurch die Form des zweiten Wortes an: Pompejanum und 
Herkulannm st. Pompeji u. H., wer von Danzig nach Neufährt st. Neufahr¬ 
wasser fährt, Wirtschaftlichung st. Wirtschaftliche Vereinigung. 

Wie sehr der Satzsinn durch Wortveränderungen infolge Vorwirkung ent¬ 
stellt werden kann, mögen folgende Lese- und Schreibfehler erraten lassen: 
Belag st. Belang, ducken sL drucken, erbsen st. erbosen, fest st. feist, du 
Flasche st. du Falsche, Gemse st. Gemüse, Koks st. Kokos, Lied st Leid, 
Meter st. Meteor, Pakt st. Paket, Portion st. Proportion, Rentier st. Remitier, 
Rippe st Rispe, Slaven st. Salven, staubstumm st. taubstumm, versenden st. 
versanden, zurückkehrt st. zurückgekehrt. 

Beim Lesen drängen sich ebenso, wie wir das bei den Nachwirkungen 
feststelleii konnten, Bestandteile anderer Zeilen, diesmal der folgenden im 
Blickfelde vor und führen zu mancherlei Verlesungen: 

. Adler und Ärtnsel (st. Amsel) sind Vögel . 

. Der Ärmel ist an dem Rock . 

. Der Fisch ist stein (st stumm). Der Storch hat sein Nest 
auf dem Schornstein. 

Durch solche Vorwirkungen geschieht es zuweilen, daß die Leser (bes. An¬ 
fänger) eine ganze Zeile überspringen: 

Wie heißt das Ding dort an der Wand? 

Es hängt und geht doch immer fort. 
statt: Es schlägt und hat doch keine Hand. 

Es hängt und geht doch immer fort. 

Es geht und kommt doch nicht vom Ort. 

Zu welch starken Verschmelzungen derartige Vorwirkungen aus den nach¬ 
folgenden Zeilen selbst beim geübten Leser führen können, mußte ich selbst 
erfahren, als ich bei einem flüchtigen Blick auf eine Messerklinge Soennecken 

st. Henckels 

Solingen zu lesen glaubte. 

18 * 


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Die Vorwirkung kann auch aus einem Sinnengebiet in das andere über¬ 
greifen. Dadurch kommt es z. B. zum falschen Niederschreiben gehörter oder 
leise gesprochener Zahlen: 347 für dreihundertoierundsiebzig, 26 für zwei¬ 
undsechzig usw. 

Wir haben früher (S. 268) festgestellt, dafi nicht nur das Selbstgesprochene I 
oder Selbstgeschriebene beim Sprechen oder Schreiben nachwirken kann, 
sondern auch Gehörtes oder Gesehenes, also seelische Erzeugnisse, die von 
fremden Urhebern stammen. Entsprechende Vorwirkungen sind nur beim 
Lesen und Abschreiben möglich. *) Dagegen gibt es beim Sprechen eine Art 
von Vorwirkung, die z. T. das vorausnimmt, was man von andern zu hören 
erwartet Sie stören bisweilen die Unterrichtsfragen des Lehrers. Ich habe 
solche in den verschiedensten Unterrichtsfächern wahmehmen können, wie 
folgende Fragen bezeugen: Deutsch. Welche transitiven Verben bilden ein 
persönliches Passiv? (Antw.: Die transitiven Verben). — Franz. Welchen 
Konjunktiv (st Modus) regieren die Verben des Wollene? (Antw.: Den Kon¬ 
junktiv). — Engl. Zu welchen unvollständigen Hilfsverben gehört I can? 
(Antw.: Zu den unvollständigen). — Geschichte. Wer hatScipio (st Hannibat) 
in der Schlacht bei Zama besiegt? (Antw.: Scipio). — In welcher Schlacht 
bei Adrianopel wurde der Kaiser Valens geschlagen? (Antw.: Bei Adria- 
nopet). — Erdkunde. Welches Schiefergebirge (st. Gebirge) durchbricht der 
Rhein bei Bingen? (Antw.: Das rheinische Schiefergebirge). — Math. Wie¬ 
viel ist 5 x 85 (st 17)? (Antw.: 85). — Chemie. In welchem Gebiete der 
Physik (st Naturwissenschaften) haben wir diesen Vorgang schon kennen- I 
gelernt? (Antw.: In der Physik). 

Im übrigen lassen sich Vorwirkungsfehler auf dem Gebiete des sprach¬ 
lichen Ausdrucks fast überall da nachweisen, wo mm auch schon Nach¬ 
wirkungsfehler begegnet sind. Es finden sich Vorwirkungen der Laut¬ 
quantität, besonders beim gefühlvollen Vortrag von Gedichten: 

Meiner Heimat stille Frauen 
Spinnen schön am Winter-Lein. 

(Münchhausen, Der Romlahrer). 

Läng mir noch im Ohre lag 
Jener Klang vom Hügel. 

(Lenau, Der Postillon). 

Vorwirkungen der Lautqualität: Die Pinsen (st Binsen ) pickten mich; 
er trang (st drang) gepanzert ; tahinten (st dahinten) läuft er; vertutzt (st. 
verdutzt) tat sie es weg. 

Vorwirkungen des Umlauts: Dömänen st. Domänen; die Kdrmeliterklöster ; 
sie sähen (st. sehen) die Mädchen; zum Fräden (st Frieden) führen. 

Vorwirkung der Dehnungszeichen bzw. Dehnungsfunktion: Gehmahlin 
st. Gemahlin, Hielfsdlenst st. Hilfsdienst, Hoofstaat st Hofstaat, Schuhljahr 
st Schuljahr. 

Vorwirkung der Verdoppelungsfunktion: Barbarrossa st Barbarossa, 
feilsche Stelle st fälsche St., Merrgott (mit Unterdrückung des zweiten e im 
ersten Bestandteil), Proffessor und ProffeSor st Professor. 

Vorwirkung der Flexionssilben: auf schwer errungenen (st errungenem) 


') Lesefehler dieser Art sind im Verausgabenden in genügender Zahl zu finden, entsprechende 
Abechreibtehler siehe bei J. Stoll a. a. 0. 8. 91 ff. 


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Wesen and Arten der Fehler 


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Boden, die lange (st langen) Tische, einen hübschen (st. hübsch ) gebundenen 
Strauß, das wirtschaftliche (st wirtschaftlich) Mögliche. 

Vorwirkung desgrammatischen Geschlechts: die Fabrik, dessen Begründer; 
eins der größten Betriebe ist dos Tonwerk; das Roß wollte der Graf nicht 
mehr besteigen, der den Heiland getragen (Vorwirkung begünstigt durch die 
schlechte Wortstellung). 

Vorwirkung der Kasusfunktion: nach dessem eigenem Eingeständnis; 
der Förster, in dessem (st. dessen) Hause; die Feinde, nach derer Hoffnung. 
Weitere Beispiele dieser Art hat Wustmann S. 44 gesammelt. 

Vorwirkung der Steigerungsfunktion: die bei weitest (st weitem) beste 
Mannschaft; mit dem denkbarst größten Kraftaufwand. 

Vorwirkung des Numerus: Als Caesar die Feinde angreifen wollten, zogen 
sich diese in Eile zurück; bis sie zurückgekehrt ist (st. sind), wird es 
Abend sein. 

Vorwirkung des Konditionalis: Wenn du kommen würdest, würde ich 
mich freuen. (Derselbe Schüler sagte vorher: er solle warten bis er käme; 
also nicht Einfluß der Gewohnheit bei würdest). 

Falsche Konstruktionen durch Vorwirkung: bis er sich darin (st. daran) 
erinnerte; er braucht es sich nicht zu gefallen zu lassen. 

Verwirkung von Satzzeichen: Der Königf:] 1 ) erwiderte: —. Glaubt 
ihr wirklichf?], 1 ) noch lange widerstehen zu können? Wachet und betet! 
(st betet,) daß euch der Feind nicht übermanne! 

Die Grammatiker Wustmann und Th. Matthias klagen in l&ngeren 
Ausführungen über die zunehmende Verwirrung in der deutschen Wort¬ 
stellung. Wustmann (292ff.) verwirft Ausdrücke wie: ein sächsischer 
junger (st junger ’sächs.) Leutnant, die ausländische gesamte (st gesamte 
ausl.) Medizin, der Direktor Hittenkofer des Technikums zu Strelitz, weil 
logisch Zusammengehöriges durch die Vorausnahme der Attribute sächsisch, 
ausländisch usw. auseinandergerissen werde. Solche Stellungsfehler bei 
Attributshäufungen rechnen psychologisch zu den Vorwirkungen, die wir 
hier besprechen, Die Aufmerksamkeit des Sprechenden oder Schreibenden 
ist dem logischerweise später kommenden Attribut so sehr zugewandt, daß 
sie zu einer Vorausnahme führt Fehler dieser Art aus Schülerleistungen: 
das grüne üppige (st. ü. gr.) Laubwerk, die gläsernen stieren (st st. gl.) 
Augen, die Große afrikanische Syrte (st afr. Große, im Gegensatz zur 
Kleinen S.), ein alter braver (st br. a.) Soldat. Dahin gehören auch die 
100 Kinderhemden von 2—14 Jahren st 100 Hemden für Kinder, Uber die 
sich Wust mann a. a. O. S. 203 lustig macht. Dahin gehören ferner Stellungs¬ 
fehler, wie sie Matthias (S. 69ff.) rügt: so versank ein Pfeiler nach dem 
andern des Gebäudes st. ein Pf. d. Geb. nach d. a.; die Erstürmung dei 
Franzosen von Mainz st E. v. M. durch die Fr.; die Art zu arbeiten des 
Schülers st des Schülers A. z. a.; nach längerem Leiden hat es dem lieben 
Gott gefallen, meinen guten Mann zu sich zu nehmen st. Es hat dem L. G. 
gefallen, m. g. M. nach längerem Leiden . . . 

Wenn gleichartige Laute oder Lautgruppen bzw. Buchstabengebilde sich 
vor und hinter einer falsch gesprochenen oder geschriebenen Stelle finden, 
so ist es zweifelhaft, ob der vorausgegangene oder der folgende Bestandteil 


t) Vom Schreiber verbessert. 


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Hermann Weimer 


zur falschen Leistung geführt hat In dem Satze: Der Hürte kürtet die Herde 
kann das Zusatz-r in kürtet (st. hütet) sowohl auf Vorwirkung des r in 
Herde wie auf Nachwirkung des gleichen Lautes in Hirte oder gar auf beide 
Einflüsse in gleicher Weise zurückzuführen sein. Solche Zweifelsfälle kommen 
öfter vor. So kam z. B. in dem deutsch geschriebenen Satze: damit er 
schnellen zu dem Kranken komme ebensowohl eine Perseveration der Schreib¬ 
bewegung in en wie eine Vorwirkung der Endung en in Kranken vorliegen 
Einfacher und klarer liegt die Möglichkeit der Doppelwirkung zutage in: 
eine amtleiche Mitteilung; so kommt man an das Horreum, dem Getreide¬ 
speicher, in welchem. 


y. Einstellungsfehler. 

Wenn man ein verhältnismäßig schweres Gewicht eine Zeitlang mehrfach 
hintereinander in die Höhe gehoben hat und dann zum Heben eines leichteren 
übergeht, so erscheint dieses letztere noch leichter, als es in Wirklichkeit ist 
Diese Tatsache hat schon G. Th. Fechner, der Begründer der experimentellen 
Psychologie, festgestellt G. E. Müller und Friedr. Schumann haben seine 
Beobachtung nachgeprüft und ebenfalls gefunden, daß die durch die voran¬ 
gegangene Hebübung bewirkte „Einstellung“ auf das schwerere Gewicht 
jedesmal eine falsche Beurteilung des leichteren veranlaßt. 1 ) Damit haben 
beide Forscher einen neuen Begriff in die psychologische Wissenschaft ein¬ 
geführt: den Begriff der motorischen und sensorischen Einstellung. Sie 
bezeichnen sie als eine Übungserscheinung, „eine eingeübte Disposition oder 
Tendenz zu einer automatischen Tätigkeit motorischer oder sensorischer Art“. 2 ) 
Einige Jahre später (1895) sprach J. v. Kries von „Einstellung" in einem 
andern Sinne. 3 ) Er ging von der Beobachtung aus, daß gleiche Zeichen 
(Notenzeichen, Wörter usw.) nicht immer dieselben Vorstellungen, sondern 
je nach der Lage der Umstände ganz verschiedene hervorrufen, daß aber das 
richtige Verständnis der Zeichen bedingt sei durch die jeweilige zerebrale 
bzw. seelische Einstellung. *) Der Baßschlüssel und der Violinschlüssel ändern 
die Bedeutung gleichliniger Notenzeichen; der geübte Musiker verbindet aber, 
ohne sich dessen im Einzelfall bewußt zu sein, mit jedem Zeichen jeweils 
die richtige Bedeutung. Er wird durch das Schlüsselzeichen auf eine be¬ 
stimmte Reihe von Vorstellungen eingestellt, während andere dadurch aus¬ 
geschaltet werden (Bild der Weichenstellung). Wenn ich das Wort See in 
einem englischen Text lese, so spreche ich es nicht nur anders aus (si), 
sondern deute es auch anders (Bischofssitz) als in einem deutschen Text, 
weil ich auf englische und nicht auf deutsche Lektüre eingestellt bin. Unter 
dem Worte Wurzel verstehe ich recht verschiedene Dinge, je nachdem ich 
es in der Naturkunde, der Mathematik, der Sprachwissenschaft, der Zahn- 

l ) Q. E. Müller und Fr. Schumann. Ober die psychologische Grundlage der Vergleichung 
gehobener Gewichte. Pfluegers Archiv f. d. gesamte Physiologie, 45. Bd. 1889, S. 37S. 

*) Vgl. a. a. O. S. 64. 

*) J. v. Kries, Ober die Natur gewisser mit den psychischen Vorgingen verknüpfter Gehirn¬ 
zustände. Zeitschr. f. Psychologie, VHI. Bd. 1896, S. 1 ff. Vgl. dazu auch G. E. Müller, Zur 
Analyse der Ged&chtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes. HI. 1913. S. 468 ff. 

*) R. Magnus hat in Pfluegers Archiv, Bd. 130 (1909) und 134 (1910) durch Versuche an 
Hunden und Katzen nachgewiesen, daß die von Kries angenommene Einrichtung wechselnder 
Weichenstellung im Zentralnervensystem wirklich besteht und eine wichtige Rolle spielt Vgl. 
G. E. Müller, Zur Analyse usw. III. S. 468. 


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Wesen und Arten der Fehler 


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heilkunde gebrauche. Alle klanggleichen (homonymen) Wörter von ver¬ 
schiedener Bedeutung (z. B. Ton als Laut, Ton als Erdart) werden richtig 
verstanden allein nach der jeweiligen seelischen Einstellung. Sie bewirkt, 
daß unter mehreren möglichen Vorstellungen nur die ins Bewußtsein treten, 
die ihr entsprechen. 1 ) 

Es ist eine psychologische Streitfrage, ob es eine Einstellung nur assozia¬ 
tiver oder auch eine solche determinativer Natur gibt. Auf assoziativer 
Grundlage stellt sich die Seele da ein, wo dieselben oder ähnliche Assoziationen 
mehrfach hintereinander wiederholt werden (wie in dem oben angegebenen 
Pall der Gewichtshebung) oder wo verschiedene Vorstellungen in derselben 
Richtung Zusammenwirken (Th. Ziehen u. a. reden in diesem Falle von 
Konstellation“. 2 )) Determinierende Tendenzen nimmt man seit Narziß Ach 
da an, wo besondere, von einer Zielvorstellung (Aufgabe, Kommando, Frage, 
Thema) ausgehende Einflüsse die Auswahl und den Verlauf der Vorstellungen 
bestimmen. 3 ) Es ist nicht unsere Aufgabe, zu diesem Streite Stellung zu 
nehmen. Beispiele, die im folgenden begegnen, lassen sich teils als solche 
assoziativer teils als solche determinativer Einstellung betrachten. Wichtiger 
erscheint es mir, auf den perseverativen Charakter der Einstellung hin¬ 
zuweisen. 4 ) Das Leben zwingt uns zu häufigem Wechsel in der Richtung 
unseres Vorstellungsverlaufs, aber dieser Wechsel gelingt nicht immer mit 
der erforderlichen Schnelligkeit und Sicherheit. Die einmal eingeschlagene 
Richtung hat eine zu große Behammgskraft; sie macht sich auch da noch 
geltend, wo die Seele sich hätte umstellen müssen, und gerade darauf beruhen 
viele Einstellungsfehler. Es sind Nachklänge aus einer einmal eingeschlagenen 
Vuretellungsrichtung, die da, wo sie auftauchen, und so, wie sie auf tauchen, 
Entgleisungen darstellen. Aus diesem Grunde habe ich die Einstellungsfehler 
unter die perseverativen Fehler eingereiht. Sie sind bis jetzt meines Wissens 
noch nicht zum Gegenstand besonderer Betrachtung gemacht worden, obwohl 
schon die eingangs erwähnten Versuche von Müller und Schumann auf 
Fehler dieser Art hätten aufmerksam machen müssen. 

Eine deutsche Dame las z. B. in einem deutschen Text die Worte harrende 
Beträge vor. Da sie sich der Sinnlosigkeit dieser Worte sofort bewußt wurde, 
stutzte sie, las dann nach genauerem Zusehen horrende Beträge und fand 
endlich die richtige Betonung hoirende Beträge. Wie ist der Fehler zustande 
gekommen? Der ganze Zusammenhang stellte die Leserin auf deutsche Worte 
und deutsche Betonung ein; daher allein das hartnäckige Festhalten an der 
falschen Betonung, das sich in der Wiederholung des Betonungsfehlers kund- 


*) W. Betz (Vorstellung und Einstellung. Archiv t. d. gesamte Psychologie, Bd. 17. 1910. 
8. 2661t.) hat dem Ausdruck „Einstellung“ einen ganz anderen begrifflichen Inhalt gegeben, mit 
dem vir uns an dieser Stelle nicht befassen können. 

*) Vgl. Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie, 6. Aufl. S. 181 ff. — M. Offner, 
Das Gedächtnis. 3. Aufl. S. 203 ff. 

*) N. Ach, Ober die WillenstAtigkeit und das Denken 1905. Über den Willensakt und das 
Temperament 1910. Zur Streitfrage vgl. K. Koffka, Zur Analyse der Vorstellungen und ihrer 
Oesetze 1912. Q. E. Müller, Zur Analyse der Gedüchtnistütigkeit usw. III. S. 469, 470fL 

*) Diesen perseverativen Charakter hatten schon Müller und Pilzecker a. a. 0. S. 59 erkannt. 
0. E. Müller weist auch im III. Teil seiner Analyse S. 451 darauf bin. Was Meumann (Vor¬ 
lesungen I 1 , 497) Perseveration der Reproduktionsformen nennt, ist, genau betrachtet, nichts 
anderes als Perseveration der Einstellung. Dasselbe gilt von Wreschners Perseveration der 
assoziativen Beziehung und Reinholds Perseveration der einmal eingeschlagenen Richtung. 


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Hermann Weimer 


gab. Ähnliche Entgleisungen kommen im Schulleben öfter vor. Ein Tertianer« 
der des Französischen hinreichend mächtig war, sprach nach einer Aufzählung 
deutscher Flußnamen den französischen Fluß Seine deutsch aus. In der 
Weihnachtszeit deklamierte ein anderer: 

Uns ward ein Kindlein heut beschert (st. gebom) 

Von einer Jungfrau auserkom. 

Wer mitten in einem Unterrichtsfach von seinen Schülern eine Leistung ans 
einem andern, wesentlich verschiedenen Lehrfach fordert, stößt auf Schwierig¬ 
keiten und mancherlei Fehler, weil die Schüler gerade auf das laufende Fach 
eingestellt sind. Ein Obertertianer (14 J.) sollte in einer französischen Stunde 
den kurzen Gedanken: Ich komme von Berlin auf englisch ausdrücken. Er 
antwortete: I come de Berlin und sprach dabei Berlin französisch aus. Auch 
Erwachsene haben bisweilen unter dem verwirrenden Einfluß der Einstellung 
zu leiden. Ich habe, wenn ich während eines längeren Aufenthaltes in 
Frankreich englisch sprechen sollte, große Mühe gehabt, die entsprechenden 
englischen Ausdrücke zu finden, und meine Rede öfter durch französische 
Eindringlinge müssen stören lassen; und ich verfiel später in ähnliche Fehler, 
wenn ich auf englischem Boden mit Franzosen in ihrer Landessprache reden 
mußte. 

Wie schwer es ist, sich von einer einmal wirksamen Einstellung loszu¬ 
machen, zeigt auch das beliebte Kinderspiel: Alle Vögel fliegen hoch. Be¬ 
kanntlich werden bei diesem Gesellschaftsspiel eine Reihe von Vögeln genannt 
mit der Bestimmung, daß alle Beteiligten beim Rufe (Alle Adler fl. h.; alle 
Lerchen fl. h.) die Arme heben. Der Leiter des Spiels schiebt nun öfter die 
Namen von Tieren oder Gegenständen ein, die nicht fliegen können, und 
erreicht dadurch fast immer, daß einer oder mehrere der Teilnehmer auch 
bei diesem Rufe mechanisch die Arme heben, wofür sie ein Pfand geben 
müssen. Wir haben hier ein treffendes Beispiel der Wirkung motorischer 
Einstellung im Sinne Müllers und Schumanns. 

Eine Scherzfrage, die ihre Wirkung allein dem Mittel der seelischen Ein¬ 
stellung verdankt, ist folgende: 

Womit frißt der Vogel? — Antw. Mit dem Schnabel. * 

Wodurch entstand die Sprachenverwirrung? — Durch 

den Turmbau zu Babel. 

Wer erschlug den Kain? — Abel! 

So lautet wenigstens sehr häufig die falsche Antwort, die nur dadurch erreicht 
wird, daß die voraufgeganfeenen Antworten den Gefragten aufs Reimen ein¬ 
stellen. Die Einstellung wurde in diesem Falle durch gleichgerichtete Vor¬ 
stellungen, also durch Konstellation geschaffen: 

Auch Mißverständnisse, die durch falsche Einstellung bedingt sind, kommen 
vor. Ein Witzblatt brachte ,1920 folgendes zweifellos erfundene Gespräch, 
das aber gut zur Veranschaulichung hierher paßt: „Wissen Sie, Herr Scbieberich, 
Ihr Söhnchen hat direkt Talent zum Clown!“ — „„Erlauben Sie mal, stehlen 
hat mein Sohn nicht nötig!““ Der Schieber ist gewohnheitsmäßig auf Ge¬ 
danken eingestellt, die das Mißverständnis (klauen st. Clown) natürlich er¬ 
scheinen lassen. Was dieses Beispiel besonders wertvoll macht, ist, daß es 
die Bedeutung der gewohnheitsmäßigen Einstellung erkennen läßt. Der Beruf, 
die tägliche Beschäftigung, die angenommenen Lebensgewohnheiten, die Um¬ 
welt, in der wir zu leben pflegen, endlich die ganze Eigenart eines Menschen 


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Wesen und Arten der Fehler 


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erzeugen in jedermann vorherrschende Oedankenrichtungen (Vorstellungs- 
komplexe), die in stärkerer seelischer Bereitschaft stehen als andere und auf 
die man daher gleichsam gewohnheitsmäßig eingestellt ist Man könnte in 
diesen Fällen von individueller Einstellung reden. 1 ) 

Die Einstellung macht falsche Behauptungen begreiflich, die ihren Urheber 
ungerechterweise als unwissend erscheinen lassen. Ein Untertertianer (13 J.) 
z. B., der da behauptete: Der erste König, dei die Welt mit seinem Ruhm 
erfüllte, mar Alarich, König der Westgoten , war zur Zeit dieser Leistung so 
auf deutsche Geschichte eingestellt, daß jede Erinnerung an frühere berühmtere 
Könige anderer Völker für den Augenblick ausgeschaltet war. In ähnlicher 
seelischer Verfassung befand sich ein Unterprimaner (17 J.), der bei der 
Schilderung der Mission unter den Germanen Bonifatius als den ersten Heiden¬ 
apostel bezeichnete. Wäre er nicht völlig auf die Schilderung der germani¬ 
schen Mission eingestellt gewesen, so hätte er wohl beschränkende Zusätze 
gefunden, die seine Behauptung rechtfertigten. 

Häufig lassen sich Einstellungsfehler und zwar solche auf konstellativer 
Grundlage in Gedicht-Aufsätzen feststellen. Ich verstehe darunter Aufsätze, 
deren Thema einem Gedicht entnommen ist Da die Dichtung vorher gelesen, 
besprochen und öfter gar auswendig gelernt worden ist, drängen sich gar 
zu leicht die Worte und Wendungen ihres Schöpfers in die Darstellung der 
Schüler ein, besonders wenn diese noch mit dem Ausdruck ringen. Dadurch 
entsteht oft eine unnatürliche, bisweilen auch falsche und widersinnige Aus¬ 
drucksweise. Ich habe in SchulaufSätzen über das Thema: »Wie wurden 
die Mörder des Ibykus entdeckt?“ folgende Stilproben dieser Art gefunden: 
Ibghus wanderte, voll von Apollo, aus Regium (Dichter: Aus Regium, des 
Gottes voll); von weitem sieht er schon die Burg, die ihm fröhlich zuwinkt 
(Schon winkt auf hohem Bergesrücken Akrokorinth des Wandrers Blicken); 
er nahm sie zu einem guten Zeichen (Zum guten Zeichen nehm’ ich euch); 
da versperrten ihm plötzlich zwei Mörder den Weg (11 von 18 Schülern 
schrieben Mörder statt Räuber in Anlehnung an das Gedicht); die Kunde 
vom Tode des Sängers verbreitete sich in ganz Griechenland st. ganz Korinth 
(Ganz Griechenland ergreift der Schmerz); das Theater ist so stark besucht, 
daß fast die Bühne (st. Tribüne) zusammenbricht (es brechen fast der Bühne 
Stützen); die Erinngen sangen eine fürchterliche Melodie (des Chores grauser 
Melodie); sie sangen eine schauerliche Weise (und schauerlich, gedreht im 
Kreise, beginnen sie des Hymnus Weise). Mit solchen Stilproben sollte eigent¬ 
lich den Gedichtaufsätzen das Todesurteil gesprochen sein. Sie wirken geradezu 
stilverderbend. 

Den perseverativen Charakter der Einstellung verraten auch deutlich die 
nachstehenden Erlebnisse im grammatischen Unterricht: Ein Lehrer fragte in 
der Lateinstunde Verbalformen ab und wählte dabei laudare loben als Übungs¬ 
beispiel. Dann fragte er unvermittelt: Ich werde geliebt? und erhielt als 
Antwort: laudor st. amor. — Im Französischen wurde das Hilfsverb ötre 
durchgenommen (Sexta). Es fielen die Formen: du bist: tu es, er ist: il est, 
sie sind: ils sont, dann plötzlich: wir waren nicht: nous ne sommes pas 
st nous n'ätions pas. Ähnlich die Reihenfolge: il vient, ils viennent, il viendra, 
il est vient (st. venu); je vais, tu vas, il va, nous vallons (st. allons); nous 

') VgL dazu auch Mettmann, Vorlesungen ü\ S. 74ff. 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


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faisons, vous faisez, ils falsont (st. vom faites, ils font). 1 ) — Im Anschluß 
an eine Erzählung: »Wie der Zorn des Achilles entstand", schrieb ein Schüler 
als ersten griechischen Tragiker Achillm st. Äschylus an die Tafel. — One 
Kochschülerin las ihren Freundinnen nach dem Kochunterricht aus einem 
Roman vor: von wunderbarem Schmalz st. Schmelz. Sie fügte lachend hinzu: 
»Das kommt davon, daß ich heute zum erstenmal Schmalz ausgelassen habe". 

Die Beharrungskraft der Einstellung ist bei den Menschen verschieden; 
manche gehen leicht von einer Einstellung zur andern über: das sind die 
schmiegsamen, gewandten, geistesgegenwärtigen, während andere sich nur 
langsam und mit Mühe auf Neues einstellen: sie haben unter dieser Schwer¬ 
fälligkeit in der Schule wie im Leben sehr zu leiden. 


Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse. 

Von William Stern. 

Vorbemerkung. Die soeben erscheinende dritte Auflage der „Psychologie der frühen Kind¬ 
heit 4 * hat eine weitgehende Umarbeitung und Ergänzung erfahren. 1 ) Aua den neu geschriebenen 
Teilen stellen wir im folgenden eine Reihe von Ausschnitten zusammen, in denen zur Psycho¬ 
analyse Stellung genommen wird. Die ersten Kinderjahre spielen in der Theorie der Psycho¬ 
analytiker eine besondere Rolle, deren positive und negative Bedeutung von seiten der fach¬ 
lichen Kinderpsychologie bisher nicht hinreichend beachtet worden ist 

Im Rahmen meines Buches konnten nur einige Hauptgesichtspunkte in knapper Form heraus¬ 
gearbeitet werden; für die folgende Zusammenstellung mußte nochmals eine Auswahl ans den 
durch das Buch verstreuten Bezugnahmen auf psychoanalytische Gedankengänge getroffen werden. 
Jedem Abschnitt sind die Seitenzahlen des Buches beigefügt. 

1. Einleitendes. (S. 9—11.) 

Die Psychoanalyse ist bestrebt, in Tiefen der Trieb- und Wunschsphäre 
hineinzuleuchten, die unterhalb der Bewußtheit liegen und sich gewisser 
äußerer Verhaltungsweisen und Bewußtseinserscheinungen als ihrer sym¬ 
bolischen Kundgebung bedienen. Dieser Grundgedanke • erhält eine tiefe 
Wahrheit 3 ); aber seine Durchführung wird dadurch stark beeinträchtigt, daß 
jenes imbewußte Kernstück der Seele überall — auch schon beim Klein- 
kinde — als Sexualität aufgefaßt wird; eine fessellose Deuterei weiß dann 
schließlich aus jeglicher, noch so harmloser kindlicher Betätigung und 
Äußerung diese „eigentliche“ — wenn auch unbewußte — sexuelle Note 
herauszupräparieren. 

Das Interesse des Psychoanalytikers an der Kindesseele ist kein primäres. 
Bestimmend war ursprünglich der Wunsch, das Seelenleben des Erwachsenen 


s ) ln diesen 3 Fällen könnte man auch von der Nachwirkung von Vorstellungsteilen reden, 
wie sie S. 269 geschildert ist 

2 ) Die Neubearbeitung und Erweiterung erstreckt sich vornehmlich auf folgende Gebiete: 
1. Allgemeine Theorie des kindlichen Seelenlebens: hier konnten die Auffassungen der Denk¬ 
psychologie (Bühler) und der Gestaltspsychologie (Koffka) in engere Beziehung gesetzt werden 
zum Personalismus, der noch entschiedener als früher zur Grundlage meiner eigenen Stellung¬ 
nahmen gemacht wurde; 2. experimentelle Untersuchungen an Kleinkindern zu Forschung*- 
und Prüfungszwecken (Intelligenz, Zahlleistung, musikalische Erfindung, AbstraktionsflUiigkeit 
U8W.); 3. Psychoanalyse, 4. Montessori-Methode. 

3 ) Von einem ganz anderen Ausgangspunkt her ist auch der Personalismus zu einer ver¬ 
wandten Anschauung gekommen. Vgl.: Die menschliche Persönlichkeit, S. 251 ff. 


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William Stern, Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse 


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za verstehen; für dieses aber sind nach psychoanalytischer Theorie die Nach¬ 
wirkungen infantiler Erlebnisse in hohem Maße entscheidend. Um diesen 
Ursprüngen nachzuspüren, mußte sich die Psychoanalyse schließlich dem 
kleinen Kinde selbst zuwenden, und hier war sie naturgemäß darauf ein¬ 
gestellt, in den primitiven Erscheinungen überall bereits Vordeutungen und 
Vorbereitungsstadien von reiferen Seelenformationen (insbesondere von ero¬ 
tischen und sexuellen Triebrichtungen) zu erblicken. Hierbei sind zweifellos 
wichtige, früher unbeachtet gebliebene Züge der Kindespsyche entdeckt, es 
sind vor allem manche psychopathische und neurotische Erscheinungen bei 
Kindern und Erwachsenen verständlicher geworden. Aber dem Kenner und 
unbefangenen Beobachter der gesunden Kindesseele drängen sich doch immer 
wieder die zahlreichen Fehldeutungen, Übertreibungen und imzulässigen 
Verallgemeinerungen der Kindes-Psychoanalyse auf. Die alte Untugend der 
Kindesforschung, im Kinde durchaus den Erwachsenen im Kleinen sehen zu 
wollen, tritt uns hier in einer neuen Form entgegen; und diese Irrung ist 
um so bedenklicher, je jüngere Stufen der Kindheit der psychoanalytischen 
Deutung unterworfen werden. Gerade für die frühe Kindheit sind auch die 
pädagogischen und therapeutischen Folgerungen besonders gefährlich, da sie 
zu einer nicht wieder gutzumachenden vorzeitigen „Entharmlosung“ des 
Kindes führen können. Dies muß besonders betont werden, weil jetzt im 
Inland und vielleicht noch mehr im Ausland die Kindes-Psychoanalyse von 
manchem begeisterten Freud-Jünger als allgemeine Grundlage erziehlicher 
Reformmaßnahmen empfohlen wird. 

Die grundsätzliche Darstellung seiner Auffassung von der infantilen Sexualität bat Freud 
bereits 1904 gegeben; 1909 ließ er die individuelle Analyse eines 5]8brigen, an Angstneurose 
erkrankten Kindes folgen. Jung handelte von den Konflikten der kindlichen Seele. Hog-Hell- 
muth versuchte, eine Gesamtdarstellung der Frtthkindpsychologie in pansexualistischem Sinne 
zu geben. Pfister, Stekel und andere haben in größeren Werken besondere Kapitel dem 
Seelen- und Sexualleben der Frühkindheit gewidmet. — Am bedeutsamsten und fruchtbarsten 
für die Kindespsychologie sind vielleicht die Bestrebungen der zu Freud in einem gewissen 
Gegensatz stehenden Schule Alfred Adlers; diese „Individoalpsychologie“ will mit ihren Deutungs- 
methoden nicht einseitig sexuelle, sondern allgemein-charakterologische Leitlinien in der Kindes¬ 
seele aufdecken'). ■ 


2. Organgefühle des Säuglings. (S.-94—96.) 

Durch die Psychoanalyse Bind wir auf die große Rolle aufmerksam gewor¬ 
den, welche gewisse Reizungsgefühle der Organlust im Säuglingsleben 
spielen. Es handelt sich zum Teil um allgemeine Lustzustände, die durch 
passive Bewegungen des Gesamtkörpers (Gefahren-, Geschaukelt-, Gewiegt¬ 
werden) hervorgerufen werden; es ist bekannt, wie schnell Unruhe und 
Geschrei des Kindes durch jene Einwirkungen in behagliche Ruhe verwandelt 
werden kann. Zum andern Teil sind es Gefühle bestimmter Körperzonen, 
deren Lustbetontheit den Säugling anregt, durch Eigenbewegungen die Reizung 
immer wieder neu zu erzeugen und möglichst lange fortzusetzen. Als solche 
Zonen kommen in erster Linie die Schleimhäute von Lippe und Zunge, 
ferner auch die Genitalien und der Anus in Betracht 

Die Reizung der Mundzone erfolgt durch das Lutschen (auch „Ludeln“, 
»Nuppeln“ genannt). Die Saugtätigkeit, ursprünglich der Befriedigung der 

*) Bezüglich der psychoanalytischen Literator über die Frühkindpsychologie muß auf die 
meinem Boche angefringte Bibliographie verwiesen werden. 


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William Stern 


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Nahrungsaufnahme dienend, wird darüber hinaus zum Selbstzwecke für das 
Kind — mag nun ein eigener Körperteil (Finger, Zehe) oder ein fremder 
Gegenstand (Lutschpropfen, „Schnuller“) den Reiz ausüben. Dies Lutschen 
kann zuweilen mit wahrer Inbrunst ausgeführt werden; es gibt auch Kinder, 
bei denen es zu einer schwer zu beseitigenden Leidenschaft entartet und 
weit über die Säuglingszeit hinaus anhält 

Was die Genital- und Anal-Zone angeht, so wird beobachtet, daß Säuglinge 
öfters Berührung jener Körperteile mit der eigenen Hand suchen, daß ferner 
das sanfte Streicheln jener Organe durch andere Menschen angenehme 
Gefühle zu erwecken scheint Sollen doch manche Mütter und Wärterinnen 
dieses zweischneidige Mittel zur bequemen Beruhigung ungebärdiger Kinder 
benutzen. 

Die Psychoanalytiker (Freud, Stekel, Hug-Hellmuth u. a.) sehen nun in 
diesen Erscheinungen der Organlust und den damit verbundenen Betätigungen 
des Kindes einen Beweis für die Existenz einer „Säuglings-Sexualität*. 
Sie sprechen von „Wonne-Saugen*, von „Säuglings-Onanie* usw. Das Recht 
zu diesen Deutungen glauben sie den folgenden zwei Momenten entnehmen 
zu können. Einmal dem Bild, das der seiner Lutschtätigkeit hingegebene 
Säugling bietet: der Ausdruck vollkommener Befriedigung läßt, so meinen 
sie, auf Lustgefühle schließen, die nach Art und Stärke der sexuellen Wol¬ 
lust vergleichbar sind. Sodann aber finden sich im ausgebildeten erotischen 
und Sexualleben Züge, welche eine unverkennbare Ähnlichkeit mit jenen 
früh-infantilen Tätigkeiten aufweisen. Wenn es bei Erwachsenen ein — nun 
zweifellos sexuell betontes — Wonnesaugen und andere kindhafte Akte gibt, 
wenn ferner bei gewissen Formen sexueller Abirrungen die eine oder andere 
infantile Tätigkeit geradezu ins Zentrum der Liebeserlebnisse rücken kann — 
dann sind wir nach Freud berechtigt, ja genötigt, die entsprechenden Er¬ 
scheinungen im Säugling selbst auch bereits als erste Andeutungen von 
Erotik und Sexualität anzusprechen. Wir dürfen eben den Begriff der 
„Erotik* nicht lediglich auf die Beziehungen zu anderen Menschen, den der 
„Sexualität* nicht lediglich auf bestimmte Funktionen der eigentlichen Sexual¬ 
organe beschränken. Die primitive Säuglingserotik ist „Auto-Erotismus*, 
d. h. lediglich auf die eigene Person bezogen; und sie hat ihre besonderen 
„erogenen* (lusterzeugenden) Zonen, unter denen die Genitalzone zunächst 
noch weit hinter der Mundzone an Bedeutung zurücksteht. 

Zur Beurteilung dieser Deutungen sei hier nur kurz auf einen rein 
theoretischen Gesichtspunkt hingewiesen. Die psychoanalytische Theorie 
steht ganz auf dem Standpunkt der Elementenpsychologie, indem sie argu¬ 
mentiert: Der Erscheinungskomplex, der schon stets „Sexualität* genannt 
wurde, enthält Bestandteile, wie sie ähnlich auch im Säuglingsalter Vor¬ 
kommen; folglich gehören auch jene Säuglingsfunktionen in die gleiche 
Kategorie. Wenden wir nun aber die Gesichtspunkte der Gestaltspsycho¬ 
logie an, dann stellt sich das Phänomen der „Sexualität* trotz aller ein¬ 
geschlossenen Fülle und Mannigfaltigkeit als eine gestaltete Einheit dar, 
innerhalb deren die einzelnen Bestandteile erst vom Ganzen her ihre 
Sexualbetonung erhalten. Wenn eine solche Gesamtgestalt psychischen Er¬ 
lebens neu entsteht, können sehr wohl Elemente, die aus der Kindheit 
stammen, in sie eingehen, ja in ihr eine besonders betonte Rolle spielen; 
und sie sind trotzdem nicht dieselben, wie sie in der Kindheit waren. Die 


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Psychologie der frühen Kindheit and Psychoanalyse 


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an das Saugen geknüpfte Lust ist eben psychisch etwas anderes, wo sie 
(beim Säugling) als selbständige sensomotorische Gestalt rein für sich da- 
ateht — als dort, wo sie (etwa beim Liebeskuß des Erwachsenen) mit hinein¬ 
gehört in das Gesamterlebnis der erotischen Erregung oder auch durch Über¬ 
tragung geladen ist mit den Gefflhlsmomenten anderer erotischer Teilgebiete. 
Übereinstimmungen in Elementen geben uns eben niemals das 
Recht, eine Identität der Erlebnisganzheiten anzunehmen. Des¬ 
halb kann man die tatsächlichen Aufstellungen der Psychoanalyse Aber die 
Organlust der Säuglinge großenteils anerkennen, ohne ihren sexualistischen 
Deutungen Recht geben zu müssen. 

8. Die Symbolik der kindlichen Phantasie. (S. 221—225.) 

Die Beziehung von Sein und Schein in der Kindesphantasie rQckt in eine 
neue Beleuchtung, wenn man der Phantasievorstellung einen symbolischen 
Sinn zuschreibt. Dann ist der phantastische Schein weder von der Realität 
völlig losgelöst, noch mit tyir identisch, sondern er ist das Sinnbild einer 
andersartigen Wirklichkeit. 

Eine solche Symboltheorie wird von der Psychoanalyse entwickelt. Nach 
dieser Auffassung wird eine Phantasievorstellung nicht um ihrer selbst willen 
erlebt und genossen; sie stellt vielmehr eine Deckform dar, in der sich ge¬ 
heime Wunschregungen bekunden und einen Ausweg suchen. Das Kind 
lebt — so wird vorausgesetzt — in seinen Phantasien immer und überall 
sich selbst und nichts anderes, selbst wenn seine Phantasiegestaltungen 
ihrem unmittelbaren Inhalt nach ganz ichfremd zu sein scheinen. Und zwar 
kommen gerade solche Seiten seines Ich in phantastischen Vermummungen 
zur Darstellung, denen die geradlinige Äußerung versperrt ist — sei es, weil 
sie dem Kind überhaupt noch gar nicht bewußt geworden sind, sei es, daß 
sie sich in ihrer wahren Gestalt nicht zeigen dürfen und darum ins Unter¬ 
bewußte abgedrängt wurden. 

Wir müssen an dieser Symboltheorie den Grundgedanken und seine An¬ 
wendung scharf scheiden. Der Grundgedanke ist sicherlich berechtigt; 
und er wird gerade dann anerkannt werden müssen, wenn man das Seelen¬ 
leben personalistisch auffaßt. Für den Personalismus gibt es in der Ein¬ 
heitlichkeit der Person keine scharfe Trennung des Phantasielebens und des 
Trieblebens; alle einzelnen psychischen Gebiete gewinnen ihren Sinn und 
ihre Bedeutung erst dadurch, daß wir sie als Ausstrahlungen von personalen 
Wesenszügen verstehen; und so haben wir auch ein Recht, nach der 
personalen Bedeutung der Phantasievorstellungen zu fragen. 
Hierbei zeigt es sich oft genug, daß der unmittelbare Bewußtseinsinhalt 
nicht einfach in seiner Gegebenheit hingenommen werden darf, sondern 
gedeutet werden muß; und diese Deutung kann auf sehr untergründige 
Triebkräfte führen, die — dem Kinde selbst unbekannt — dennoch in ihm 
starke Wirkungen entfalten. Um auf relativ einfache Beispiele zu verweisen, 
so ist es sicher, daß in vielen Spielphantasien Macht- oder Kampf- oder 
Grausamkeits- oder Pflege-Instinkte zu einer verhüllten, dem Kinde selbst 
nicht bewußten Auswirkung kommen; wir werden späterhin bei der Theorie 
des Spiels hierauf einzugehen haben. 

Gilt es nun aber, diese Symboltheorie zur konkreten Anwendung zu 
bringen, so droht sofort die Gefahr, in ein Gebiet zu geraten, in dem über 


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„richtig“ oder „falsch“ überhaupt kein eindeutiges Urteil mehr gefällt werden 
kann. Denn symbolisch erdeuten läßt sich alles aus allem; und 
von dieser Möglichkeit wird in der Psychoanalyse ein ungemessener Gebrauch 
gemacht Es erscheint noch einleuchtend, wenn Alfred Adler auf die Sym¬ 
bolik des „Oben — Unten* und verwandter Vorstellungen hinweist: die 
Vorliebe der Kinder für die Vorstellung des Obenseins, des räumlich Großen 
und Hohen, der großen Ziffern, der übernatürlichen Kräfte usw., ist ein 
unbewußter Versuch, das eigene Schwäche- und Minderwertigkeitsgefühl 
durch eine Art illusionärer Selbststeigerung zu übeikompensieren. Aber bei 
solchen, einigermaßen durchsichtigen Zusammenhängen bleibt die Psycho¬ 
analyse nicht stehen. Die Freud-Schule geht weit darüber hinaus; sie glaubt 
einerseits, daß die in der kindlichen Phantasie symbolisch sich äußernden 
Affekte ganz überwiegend erotischer Natur seien; und sie entwickelt andrer¬ 
seits eine Deutekunst, die schließlich aus jedweder Phantasievorstellung 
irgendein Symbol für jene verdrängten erotischen Triebe und Wünsche macht 

Eine große Rolle spielt in den psychoanalytischen Deutungen der Eifer¬ 
süchte- und Tötungswunsch - Komplex. Das männliche Kind hat eine 
unbewußte sexuelle Neigung zur Mutter 1 ), sieht in jedem anderen Familien¬ 
mitglied einen Nebenbuhler, der mit Eifersucht verfolgt wird, dessen Besei¬ 
tigung gewünscht wird — alles dies natürlich tief unter der Schwelle des 
Bewußtseins. Diese Eifersucht wendet sich vor allem gegen den Vater 2 ) 
und gegen jüngere Geschwister. Wenn nun ahnungslose kleine Kinder in 
irgendwelchen Phantasieäußerungen das Wort „Tod* oder verwandte gebrau¬ 
chen, so wird die Wirkung jenes Triebkomplexes angenommen, wofür zwei 
Beispiele von Hug-Hellmuth angeführt seien: 

„Wenn der kleine Scupin spontan sagt „ich wer aber mein* Papa in ein Topf stecken und 
immer heißes Wasser mit der Kelle übers Gesicht gießen, bis er schön weich wird, und dann 
Wer’ ich’n Papi aulessen“, — so sind solche Phantasien nicht allein auf das Märchen „Hänsel 
und Gretel“ mit der Knusperhexe zurückzuführen, sondern in ihnen kommt die unbewußte Ab¬ 
sicht, sich gelegentlich des Papas, des gefährlichsten Rivalen bei der Mama, zu entledigen, zum 
Ausdruck, und das Märchen liefert bloß das Mäntelchen, um den bösen Wunsch in harmlose 
Form zu kleiden.“ *) 

Aus einem langen Phantasiegespräch unserer Tochter (2;10) 4 ), bei dem sie der Puppe unter 
anderem ein Bild mit verschiedenen Personen und einem Kind in der Wiege zeigt und erklärt, 
wird folgender Satz herausgegriffen: „Tante und Onkel und ein Günther und ist tot“ 
Hug Hellmuth meint nun, daß bei dieser Erwähnung des halbjährigen Bruders „die Freudsche 
Auffassung eines unbewußten Todeswunsches zu Recht gelten dürfte“. Wenn man aber nun 
weiß, daß um Jene Zeit bei unserer Tochter die Bezeichnung Günther die Generalbenennung für alle 
kleinen Kinder war und das Wort „totsein“ ganz allgemein für liegen gebraucht wurd£, und 
wenn man im übrigen das Verhalten des Kindes zu seinem Brüderchen aus Jener Zeit kennt, 
dann fällt Jeglicher Grund zu Jener Deutung fort 

In diesen Proben werden die Angehörigen vom Kinde immerhin noch 
direkt genannt. Aber die Psychoanalytiker sind überzeugt, daß die gleichen 
Triebregungen auch in scheinbar ganz femliegenden Phantasievorstellungen 
abreagiert werden. 

So schildert Pfeifer 9 ) das von einem Knaben oft wiederholte Spiel „Schweinestechen“ (Alter 
4—6 Jahre): Alte Holzstücke werden mit einer Sattlerahle (der Vater war Sattler) durchstochen; 


*) Sogenannter „Inzest-Komplex“. *) „Ödipus-Komplex“. Der griechische Sagenheld 

Ödipus hat bekanntlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet. 

9 ) Hug Hellmuth, Aus dem Seelenleben des Kindes, S. 77 (nach Scupin U S. 61). 

4 ) Hng Hellmuth, S. 95 (nach Stern, Kindersprache S. 62). B ) Pfeifer, Äußerungen 

infantil-erotischer Triebe im Spiele. Imago, Ztschr. f. Anwendung der Psychoanal. 5 1917, S.243!. 


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er kniete selbst darauf and quietschte wie ein Schwein, das eben abgestochen wird« Da die 
Mutter diesen Knaben verzärtelte, der Vater aber streng war, so glaubt Pfeifer sich zu der 
Annahme berechtigt, daß die Schweinetötung nur der unbewußte symbolische Ausdruck für 
den RachewunBch gegen den Vater sei« 

Und immer fesselloser werden die Deutungen der Psychoanalyse. Dem 
Kinde wird ein ungemein starkes Interesse ffir den Sexualakt und alles, 
was mit ihm zusammenhängt, insbesondere auch für die Sexualorgane, 
zugeschrieben — ein Interesse, das seinen Ursprung in Beobachtungen am 
eigenen Körper und an dem seiner Angehörigen und Spielgenossen, ferner 
auch in dem Belauschen gewisser (ihm natürlich nicht ganz verständlich 
werdenden) Szenen im elterlichen Schlafzimmer, endlich in den Erlebnissen 
bei Geburt eines jüngeren Geschwisterchens haben soll. Dies Sexualinteresse, 
vom Kind ganz ins Innere verschlossen, kommt nun, nach psychoanalytischer 
Auffassung, in hunderterlei phantastischen Vermummungen zum Ausdruck. 
Alle länglichen Gegenstände, die im Spiel benutzt, beim Fabulieren genannt, 
im Traum geschaut werden, sollen Symbole für das männliche, alle Kreise, 
Löcher, Öffnungen, in welche etwas hineingesteckt werden kann, solche für 
das weibliche Geschlechtsorgan sein. In jeder schlagenden Tätigkeit (z. B. 
im Peitschenknallen), im Plumpsackspiel, wird eine symbolische Auswirkung 
sadistischer Regungen gesehen; in allem Werfen und Fallenlassen eine Sym- 
boüsierung des Geburtsaktes usw. ' 

Im Anschluß an Freud entwickelt Pfeifer die folgende Deutung: Ein 5j9hriger Knabe flbt 
an einer Oammipnppe ein unermüdlich wiederholtes Spiel: „Er steckt ein Taschenmesser der 
Mutter durcl ein Quietschloch in den Bauch der Puppe, reißt dann ihre Füße auseinander und 
Ußt so das Messer wieder fallen.“ Dies Spiel hat den unbewußten Inhalt, daß die Puppe die 
Matter darstellt und „daß die ganze Handlung nichts anderes ist, als die ersehnte, phantasierte 
und in diesem symbolischen Ersatz vollführte Vereinigung mit der Mutter, also der Inzest, mit 
der darauf folgenden Geburt.“' Die Handlung ist freilich doch noch etwas anderes; denn das 
„Fallenlassen“ symbolisiert zugleich auch gewisse Ausscheidungen, für welche das Kind ein 
unbewußtes „anal-erotisches“ Interesse hat 

Dies eine Beispiel vermag auch nicht annähernd ein Bild zu geben für 
die zuweilen geradezu ideenflüchtig anmutenden Häufungen verschiedenster 
Deutereien. Hier gibt es keine Grenze, keinen Halt mehr, und der eigent¬ 
liche Gegenstand dieser Betrachtungen ist dann gar nicht mehr das Kind, 
sondern die ungezügelte Assoziationskette, die sich im Deuter auf Grund 
seiner eigenen sexual-psychischen Konstitution einstellt. Wenn schließlich 
Pfeifer das Spiel: „Fuchs im Loch“ (Plumpsackspiel) psychoanalysiert, so 
treibt er überhaupt nicht mehr Psychologie irgendwelcher wirklichen Kinder, 
sondern er leitet deduktiv aus den symbolischen Bedeutungen des Fuchses, 
seines Hinkens, des Loches, des Plumpsacks usw., die beim spielenden Kind 
vorauszusetzenden, verdrängten Sexualregungen ab. Hierbei stützt er 
sich auf zahlreiche Analogien aus Mythos, Kulthandlung und Volksgebrauch 
und übersieht den grundlegenden Unterschied solcher Betätigungen vom 
Kinderspiel. Denn jene sind Erzeugnisse von erwachsenen Menschen, in 
deren Persönlichkeitsleben die Sexualität eine anerkannt große Rolle spielt; 
deshalb besteht hier ein objektives Recht zur Prüfung, wie weit die Phan¬ 
tasiegestaltungen als symbolische Äußerungen jener Regungen gedeutet 
werden können oder müssen. Beim Kind dagegen sind lediglich gewisse 
äußere Ähnlichkeiten jener Phantasiegebilde vorhanden; und von diesen 
aus wird überhaupt erst die Existenz und Beschaffenheit der — im übrigen 
sehr problematischen — Triebregungen erschlossen. Man könnte viel eher 


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den umgekehrten Schlufi ziehen: selbst bei solchen Spielen, die aus ursprüng¬ 
lichen VolksbrSuchen der Erwachsenen allmählich in die Sphäre der Kinder 
herabgesunken sind, werden die Kinder die äußeren Formen Ueibehalten, sie 
aber mit einem ganz andern Sinn erfüllen (oder sie auch einfach in ihrer 
unmittelbaren Gestalt genießen), weil eben ihr Triebleben ganz anders ist 
als das der Erwachsenen. 

Die überaus schwierige Aufgabe der richtigen Deutung kindlicher Phan¬ 
tasieerzeugnisse wird also nur dann gelöst werden können, wenn sie stets 
vom Kinde selbst ausgeht und nur solche Triebe und Affektgrundlagen an¬ 
nimmt, die auch mit andern methodischen Hilfsmitteln als denen der sym¬ 
bolischen Deutung festgestellt werden können. 

4. Die Verdrängung. (S. 381—387.) 

Es wird stets eines der bedeutendsten Verdienste der Psychoanalyse, ins¬ 
besondere Freuds bleiben, den Tatbestand der „Verdrängung“ festgestellt und 
ihre Bedeutung gewürdigt zu haben; aber die besondere Art, in welcher der 
Verdrängungsbegriff nun gerade auf die frühe Kindheit angewandt 
wird, ist wissenschaftlich unhaltbar. 

Nach psychoanalytischer Theorie spielt sich schon im Kleinkind unterhalb 
einer trügerischen Bewußtseinsoberfläche und abseits von den Äußerungen 
unbefangenen Augenblickserlebens ein vielseitiger und dauerhafter Mecha¬ 
nismus verdrängter Strebungen ab — derart, daß alle Unmittelbarkeit 
kindlichen Tuns und Bewußtseins an Bedeutung weit zurücktritt hinter diesem 
verborgenen Seelenbinnenleben, in welchem erst der eigentliche Mensch stecken 
soll. Wir sprachen hiervon schon mehrfach an jenen Stellen, wo wir es mit 
den vermeintlichen symbolischen Äußerungen verdrängter Komplexe in Spiel, 
Traum- und Wachphantasie zu tun hatten. Jetzt aber steht die Existenz 
der verdrängten Strebungen selbst und ihre angebliche Bedeutung für 
die personale Lebensstruktur zur Erörterung. 

Es wird behauptet, daß in den unbewußten Tiefen der frühkindlichen 
Psyche schon die ganze Erotik und Sexualität mit allen ihren Abarten stecke 
(Freud) —, daß jedes Kind bei aller Ahnungslosigkeit eine ausgesprochene 
Verbrechematur mit sich herum trage (Stekel) —, daß ein Machtstreben und 
eine feindselige Angriffshaltung zur Welt unter andersartigen Verhüllungen 
ihr unbewußtes Wesen treibe (Adler) — usf. 

Des weiteren wendet sich die Psychoanalyse den Wirkungen zu, welche 
von diesen Verdrängungen ausgehen sollen. Ich möchte die Wirkungen in 
die drei Gruppen der Momentan-Wirkungen, der primären Nachwirkungen 
und der sekundären oder Spät-Wirkungen gliedern. 

Die erste liegt dort vor, wo eine — durch äußere oder innere Anlässe 
geweckte — Strebung infolge von Bewußtseinswiderständen von vornherein 
im Unbewußten stecken bleibt, sich deshalb nur indirekt in symbolischen 
Erlebnisformen und Handlungsweisen äußert, zugleich aber durch diese 
Äußerungen abreagiert wird. Sie bildet also einen akuten, schnell er¬ 
ledigten Tatbestand. Hierher gehören z. B. manche Erscheinungen des Eigen¬ 
sinns, der Pose, der Scham, von denen später zu sprechen sein wird. 

Eine primäre Nachwirkung liegt dann vor, wenn ein verdrängter Affekt 
sich im Unbewußten hartnäckig festsetzt, und von einer unangreifbaren 
Position aus seine störenden Ausfälle in andere Gebiete des persönlichen 


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Lebens macht — auch in das Gebiet des Bewußtseins, hier jedoch unter 
immer wechselnden, schwer durchschaubaren Verhüllungen. Aber diese 
Bekundungen führen nicht ohne weiteres zur Erledigung; das „Abreagieren“ 
kann unter Umständen erst nach ziemlich langer Zeit mit Hilfe natürlicher 
oder künstlicher Befreiungsmittel, bisweilen auch gar nicht gelingen. So 
können neurotische Erkrankungen verschiedener Art, vor allem krankhafte 
Angstzustände (Phobien) durch solche im Unbewußten festgefahrenen und 
eingeklemmten Affektzustände hervorgerufen werden; aber auch viele, noch 
ganz im Gebiet des Normalen liegende Verhaltungsweisen, Unarten, schlechte 
Gewohnheiten, Absonderlichkeiten des Spielens und Sich-Gebärdens, unver¬ 
ständliche Vorlieben und Idiosynkrasien sollen ihren eigentlichen Ursprung 
in diesen untergründigen Verdrängungssystemen haben. 

Endlich aber kann die Verdrängung eine so vollkommene sein, daß sie 
auf lange Zeit überhaupt nicht zu irgendeiner Bewußtheit oder äußeren 
Bekundung gelangt. Daß man dann trotzdem nicht von einem endgültigen 
Erledigtsein (Vergessensein) sprechen darf, erweist sich erst in den nach 
Jahren oder Jahrzehnten einsetzenden Spätwirkungen. Es treten dann näm¬ 
lich in der späteren Kindheit, in der Reifezeit oder auch erst in der Er¬ 
wachsenheit neurotische Erscheinungen, sexuelle Abirrungen ‘) usw. auf, deren 
Erklärung die Psychoanalyse auf verdrängte und inzwischen nie wieder 
realisierte Affekterlebnisse der frühesten Kindheit gründet; ihre Erledigung 
erfolgt dann dadurch, daß man die verhängnisvollen Kindheitskomplexe durch 
Bewußtmachung endgültig zur Abfuhr bringt. Freud spricht in diesem Zu¬ 
sammenhang von der „infantilen Amnesie“ als einem Tatbestand von großer 
positiver Wichtigkeit. Jene allgemeine Unfähigkeit des Menschen, sich an 
seine ersten Lebensjahre zu erinnern, beruhe nicht etwa auf bloßem Ab¬ 
blassen und schließlichem Verschwinden der frühesten Erlebniswirkungen, 
sondern sie sei eine Schutzvorrichtung des Menschen gegen die Gleich¬ 
gewichtserschütterungen, die vom Bewußtbleiben der erotisch-sexuellen Früh¬ 
erlebnisse ausgehen könnten. Das Kind wolle und dürfe in den späteren 
Jahren nichts davon wissen, daß es schon ein solches erstes Stadium starken 
Trieblebens absolviert habe, und so werde die ganze Zeit ins Unbewußte 
abgedrängt 

Dies sind einige Hauptzüge der psychoanalytischen Verdrängungstheorie, 
soweit sie auf die frühe Kindheit Bezug hat. Die Kritik muß sich auf den 
grundsätzlichen Nachweis beschränken, daß die Psychoanalyse bei diesen 
Lehren großenteils den entwicklungs-psychologischen Gesichts¬ 
punkt vernachlässigt hat. 

Sowie das Bewußtsein selbst sich erst aus .Dumpfheit und Einförmigkeit 
langsam zu größerer Klarheit, innerer Vielgestaltigkeit des Inhalts und Nach¬ 
haltigkeit des Wirkens heraufarbeitet, so geht es auch 'mit dem Inhalt und 
der Funktion der unbewußten Persönlichkeitssphäre und mit dem Verhältnis 
beider Sphären zueinander. Wohl mag im Unbewußten manches schon 
vorweggenommen werden, wozu das Bewußtsein noch nicht reif ist (vgl. die 
früher besprochene vorwegnehmende Bedeutung der unbewußten Spiel¬ 
tendenzen); dennoch aber besteht eine Korrelation zwischen den Entwick¬ 
lungslinien beider Sphären; und es ist absurd, dem höchst unvollkommenen 


') Vgl. z. B. das umfangreiche Buch Stekels Uber „Psychosexuellen Infantilismus“. 
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 19 


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Bewußtseinszustande des kleinen Kindes eine so perfekte, inhaltsreiche und 
gegliederte Unbewußtheit gegenüberzustellen, die eigentlich gar keiner Ent¬ 
wicklung mehr fähig wäre; denn das unbewußte Menschlein von 2 bis 
3 Jahren ist ja nach dieser Meinung schon mit all jenen Trieben, Affekten, 
Wünschen, Wißbegierden, Lastern (und vielleicht auch Tugenden) besetzt, 
die uns auf der Höhe der Entwicklung beim reifen Menschen entgegentreten. 

Daß auch für das Verhältnis von Bewußtsein und Unbewußtsein das¬ 
selbe gilt, wurde schon oben erwähnt: die feindselige Spannung zwischen 
beiden ist erst Ergebnis, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Beides — 
Bewußtes wie Unbewußtes — ist beim kleinen Kind noch ganz überwiegend 
dem sensomotonschen Grund verhalten eingeordnet; im Augenblicksleben ist 
meist Erleben und Erledigen zusammengedrängt. Das Innenleben muß erst 
in ständigem Kontakt mit den von außen kommenden Eindrücken und den 
nach außep gerichteten motorischen Entladungen eine gewisse Fülle und 
Stabilisation gewonnen haben, ehe es sich zu einem selbständigen „Binnen¬ 
leben“ zu verselbständigen vermag. Die Verdrängungstheorie dagegen hält 
es für das Alltägliche, daß sich im unbewußten Teil dieses infantilen Seelen¬ 
lebens Dauerzustände ausbilden, die sich hartnäckig halten, abseits von 
äußeren Einflüssen und abseits von motorischen Entladungen, ja nicht nur 
abseits, sondern im gegensätzlichen Verhältnis zu diesen. Eine solche rein 
innerlich bleibende Nachhaltigkeit seelischer Erlebnisse ist nun in Wirklich¬ 
keit das Haupt-Charakteristikum der Pubertätszeit, mag auch schon in den 
vorangehenden Jahren der höheren Kindheit eine gewisse Ausdehnung 
gewinnen; mit dem Persönlichkeitsbilde des Kleinkindes aber ist sie am 
wenigsten zu vereinbaren 1 ). 

Die Verdrängung und die mit ihr verbundene Spaltung von Unbewußtheit 
und Bewußtheit ist somit selbst eine Entwicklungserscheinung; sie beginnt 
nicht, wie Freud meint, beim kleinen Kind mit besonderer Stärke und mit 
jener verschwiegenen Hartnäckigkeit („infantile Amnesie“), die oft erst beim 
Erwachsenen ihre Spätwirkung bekundet, sondern sie setzt im allgemeinen 
nur mit spurenhaften und wenig nachhaltigen Anfängen ein. Mit steigendem 
Alter nimmt sie immer ausgesprochenere und auch zähere Formen an. Dies 
gilt zum mindesten von dem normalen Kind; und da wir unsere Betrach- 1 
tungen auf dies beschränken, werden auch die späteren Einzelbeispiele nur 
von solchen keimhaften und schnell abklingenden Verdrängungen berichten 
können 2 ). 

Das Bild, das die Psychoanalyse von den Strebungen der Kindheit ent¬ 
wirft, stellt sich somit dar als eine unberechtigte Rückwärtsprojektion 
der komplizierten erwachsenen Persönlichkeitsstruktur in die früheren und 
frühesten Lebensphasen. Und auch die eigentliche Ursprungsstelle dieser 
Rückwärtsprojektiori wird erkennbar: sie besteht in den Kindheitserinne- 

') Es gibt hier allerdings auch nachhaltige Wirkungen, die wir oben als „Gewöhnungen' „ 
besprachen; aber sie sind nur durch häufige und ständig erneute .Wiederholung der äußeren» 
Einwirkung und durch ständige Verankerung im psychophysischen Tun denkbar, haben nicht 
jene selbständige Innerlichkeit wie die behaupteten „Verdrängungszustände“. 

*) Bei Kindern von psychopathischer Anlage oder bei akuten psychopathischen Zuständen 
sonst normaler Kinder (z. B. Phobien) mag die Verdrängung schon relativ früh eine größere 
Rolle spielen. Aber auch hier scheint mir der Begriff von den Psychoanalytikern in exzessiver 
Weise ausgenützt zu werden — was wiederum nur durch ihre früher besprochene Symbol¬ 
deutung möglich wird. 


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-—- 7 - 

rungen der Neurotiker. Denn es muß immer wieder betont werden, 
daß nicht am Kinde selbst die Psychoanalyse ihre eigentliche und entschei¬ 
dende kindespsychologische Überzeugung gewonnen hat, daß sie vielmehr 
erst nachträglich im Kinde das suchte, was sie auf Grund ihrer Erfahrungen 
am Erwachsenen dort voraussetzte. Wir müssen deshalb an dieser Stelle 
noch einmal den Echtheitswert jener späten Kindheitserinnerungen 
betrachten. 

Das Bedürfnis und die Fähigkeit, sich in die Kindheit zurückzuversetzen, 
ist nicht nur für den alternden Menschön charakteristisch, sondern für jeden 
menschlichen Zustand, der irgendeine Annäherung an kindliche Verhältnisse 
zeigt. Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit machen deshalb jeden Kranken 
in gewisser Hinsicht zum Kinde; gleiches gilt im besonderen Sinn von jener 
psychischen Erkrankung, die wir Neurose nennen. 'Gefühle der Schwäche, 
der Minderwertigkeit, des Nichtalleinfertigwerdens mit den Anforderungen 
der Welt und den Verantwortungen des Lebens, Anlehnungsbedürfnis, der 
Wunsch sich aus der Verwickeltheit und Raffiniertheit des Daseins in Sim¬ 
plizität zu flüchten — und dann wieder, als Überkompensation dieser 
Strebungen: Eigensinn und Trotz, das Verlangen, seine Macht zu markieren, 
andere zu tyrannisieren — all dies erfüllt den Neurotiker. Solche Tendenzen 
müssen ihm die Kindheit wie ein verlorenes Paradies erscheinen lassen, 
von dem er sich wenigstens einen Widerschein wahren möchte. Und so 
schwelgt er bald bewußt in Kindheitserinnerungen, bald spielen infantile 
Einstellungen und Erlebnisreste in seinem unbewußten Gehaben eine Rolle 
und sind durch psychoanalytische Methoden ins Bewußtsein zu heben. Nun 
sind aber diese Reminiszenzen so tief eingebettet in das Gegenwarts¬ 
erleben und -verhalten der Erwachsenen, daß eine reinliche Scheidung gar 
nicht möglich ist Vor allem wird die Affektbetontheit von dieser Ver¬ 
schmelzung betroffen. Denn in jene wiederbelebten diffusen Kindheits¬ 
stimmungen gehen jetzt die konkreten Affekte und Strebungsformen ein, die 
der Erwachsenheit als solcher eigen sind, und werden ahnungslos mit in die 
Vergangenheit projiziert. Wenn ein Neurotiker z. B. bei bestimmten sexuellen 
Perversionen erinnert wird an kindliche Verhaltungsweisen (z. B. an die Lust, 
den anderen zu schlagen), so schreibt er jener Kindeslust auch die jetzt bei 
ihm damit verbundene Sexualkomponente zu; und wenn man diese Er¬ 
innerungen für bare Münze nimmt, erscheint der frühkindliche „Sadismus“ 
und eine über Jahrzehnte reichende Verdrängung desselben als erwiesen. 

Man sieht, daß es vor allem gewisse formale Affekteigentümlichkeiten 
sind, durch welche ein Erwachsener Kindheitszustände in sich erneuern kann. 
Es sind jene, die Adler besonders betont und als Minderwertigkeitsgefühl 
und männlichen Protest bezeichnet hat; aber selbst hier ist es sehr fraglich, 
inwieweit eine wirkliche Neubelebung gelingt und ob nicht vielmehr mir ein 
vager Anklang vorliegt. Je mehr nun aber die Strebungen inhaltlich de¬ 
terminiert sind, um so weniger ist Erinnerungstreue möglich. Aus dem 
Gegenwartsaffekt der Eifersucht oder der erotischen Grausamkeit läßt sich 
nicht mehr der gleiche Kindheitsaffekt her aus destillieren; sondern hier wird 
in die unbestimmten Kindheitsstimmungen etwas Unkindliches hinein- 
destilliert. Und durch diese Übertragung wird nun das konkrete Kindheits¬ 
erlebnis selbst umgeformt und auch in seinem gegenständlichen Gehalt so 
verändert, daß Wahrheit und Dichtung nicht mehr zu sondern sind. 

19* 


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Wir finden diese Gedanken mit scharfer Pointierung ausgesprochen in 
folgendem Zitat: „Jene Szene . . . wird nicht eine Erinnerung L.’s sein, 
sondern eine Phantasie, die er sich später gebildet und in seine Kindheit 
versetzt hat. Die Kindheitserinnerungen des Menschen haben oft keine 
andere Herkunft; sie werden überhaupt nicht, wie die bewußten Erinnerungen 
aus der Zeit der Reife, vom Erlebnis fixiert und wiederholt, sondern erst in 
späterer Zeit, wenn die Kindheit schon vorüber ist, hervorgeholt, dabei 
verändert, verfälscht, in den Dienst späterer Tendenzen ge¬ 
stellt, so daß sie sich ganz* allgemein von Phantasien nicht 
streng scheiden lassen.“ l ) 

Diese Sätze sind deshalb so bemerkenswert, weil sie von keinem anderen 
als von Freud 2 ) stammen. Sie stehen aber vereinsamt und wirkungslos wie 
ein Fremdkörper in der* psychoanalytischen Literatur. Wären sie folgerichtig 
berücksichtigt worden, dann wäre die psychoanalytische Kindesseelenkunde 
ihres hauptsächlichsten Materials verlustig gegangen. 

5. Ich-Schwäche und Proteststellung. (S. 389—392.) 

Die Welt der fremden Sachen und Personen wirkt auf das Kind direkt 
als eine Einengung der Selbstgeltung, die sich im Bewußtsein als Störung 
des Selbstgenusses, als Gefühl der Ich-Schwäche und Minderwertigkeit be¬ 
kundet. Das Kind stößt ja an allen Ecken und Enden auf Grenzen und 
Hemmungen seiner Begehrungen; Verbote, Befehle, Zwangsmaßnahmen be¬ 
drängen es von außen her; Hilflosigkeit, körperliche Unfähigkeit, Verständ¬ 
nislosigkeit bewirken von innen her, daß es nicht kann, was es möchte, 
nicht begreift, was es zu wissen verlangt, mit der Welt nicht fertig wird. 
Eine der unmittelbarsten Auswirkungen dieses Schwächeerlebnisses ist die 
Furchtregung und die — spezifisch kindliche — Disposition der Ängstlich¬ 
keit, mit der wir uns in einem späteren Kapitel beschäftigen. 

Besonders bemerkenswert ist nun die individuelle Färbung dieser Ich- 
Schwäche und des Minderwertigkeitsgefühls beim einzelnen Kinde; hier ver¬ 
danken wir der „Individualpsychologie“ Alfred Adlers und seiner Mitarbeiter 
wertvolle Anregungen. Adler hat ja die Theorie entwickelt, daß gerade 
die Stellen besonderer Schwäche zu Knotenpunkten für die 
Persönlichkeitsgestaltung werden können. Er neigt sogar dazu, 
alles von diesem Punkte aus erklären zu wollen und für jedes Individuum 
eine Grundschwäche auf weisen zu wollen, die zum Leitmotiv seiner Lebens¬ 
linie wird. Man braucht solchen Übersteigerungen des Prinzips nicht zuzu¬ 
stimmen, um doch seine Bedeutsamkeit anerkennen zu können. 

Diese loci minoris resistentige sind von verschiedenster Art. Da sind 
körperliche Mängel, etwa ein Sprachfehler, Hinken, Inkontinenz der Blase -, 
psychische, wie Schüchternheit, leichte Neigung zum Weinen, Widerwille 


*) Von mir gesperrt. 

*) Eine Kindheitserinnening Leonardo da Vincis. 2. Aufl. S. 22 — Freud sucht den sich 
aufdrängenden negativen Folgerungen dieser Feststellung dadurch zu entgehen, daß er nun die 
vermeintliche Kindheitserinnerung, die doch nur eine Phantasie des Erwachsenen über seine 
Kindheit ist, dennoch als eine unbewußte symbolische Umdeutung tatsächlicher Triebrichtungen 
des Säuglings ansieht. — Der Bericht Leonardos lautet: „Als ich noch in der Wiege lag, ist 
ein Geier zu mir herangekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele 
Male mit diesem seinem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen*. 


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gegen bestimmte Tiere, Nahrungsmittel usw. — diese drängen sich dem 
Kind auf als ständige Quellen von Beeinträchtigungen und Verlegenheiten, 
aJs Zwänge zu bewußter Beachtung und damit als Ansatzstellen der Ent¬ 
wertung des eigenen Ich. 

Bei anderen Kindern kann die Distanz vom Erwachsenen, das Noch-Klein- 
Sein und Noch-Dumm-Sein zu einem solchen Gärungskeim werden. Hiermit 
hängt dann die, von Adler besonders betonte, Unsicherheit über den eigenen 
Geschlechtscharakter zusammen; die kindliche Neugier wendet sich bald den 
Unterschieden von Knaben und Mädchen, von Vater und Mutter zu; und die 
Unfähigkeit, sich hierüber völlig klar zu werden, führf zu Minderwertigkeits¬ 
befürchtungen für die eigene Person. 

Typische Beschränkungen der Selbstgeltung ergeben sich endlich aus der 
»Position“ des einzelnen Kindes innerhalb der Reihe der Geschwister. Die 
Konkurrenz bedroht hier nämlich die volle Durchsetzung der Selbstbejahung 
in sehr verschiedener Weise. Das bisher einzige Kind empfindet das Er¬ 
scheinen eines jüngeren Geschwistern leicht als eine Minderung seines bisher 
unbestrittenen Anrechts auf die Elternliebe; in den folgenden Jahren wird 
von dem Älteren verlangt, daß es dem Jüngeren abgibt, ihm seine Spiel¬ 
sachen überläßt, es beaufsichtigt, seine Herrscbgelüste ihm gegenüber ein¬ 
dämmt usw. DaB jüngere Geschwister wiederum empfindet fortwährend, daß 
es weniger kann und darf als das ältere, daß dies seine körperliche und 
geistige Überlegenheit zum Tyrannisieren benutzt 

Wie verhält sich nun das Kind zu diesen — bald akuten, bald chro¬ 
nischen — Beeinträchtigungen seiner Selbstbejahung? Es reagiert darauf, 
wie jedes lebende Wesen, durch Abwehrakte: es übt Selbstbehauptung. 
Ein völlig passives Sich-Preisgeben an die feindselige Macht widerspräche 
dem Begriff der Person, die sich aktiv in ihrer individuellen Ganzheit zu 
wahren strebt. Und so kann das noch so hilflose Kind Kraftreserven in 
Bewegung setzen, um in mehr oder minder zweckmäßiger Weise dem stören¬ 
den Eingriff zu begegnen, ja es kann zuweilen in der Abwehr eine Willens¬ 
stärke und eine Zähigkeit zeigen, die in Erstaunen setzen. 

Nun aber verläuft die Selbstbehauptung nicht immer so einfach, daß der 
Willensaufwand den Störungsfaktor wirklich aus der Welt schafft. Es gibt 
ja jene oben angedeuteten chronischen Beeinträchtigungen des Ich, die 
sich nicht beseitigen lassen; wie wird das Kind mit ihnen fertig? Hier 
erweist sich wieder die innere Zweckstruktur der menschlichen Persönlich¬ 
keit: die Schwächen selbst erhalten die Funktion von Stärken. 

Wir stoßen damit auf den zweiten Teil der Adlerschen Theorie, den er 
mit dem — nicht sehr zweckmäßigen — Namen der Lehre vom „männ¬ 
lichen Protest“ belegt hat. Die Bekundung einer Stärke ist hiernach die 
versuchte Überkompensation einer Schwäche. Gerade weil sich das Kind 
beeinträchtigt fühlt — und auf dem Gebiet, auf welchem es sich beein¬ 
trächtigt fühlt — ist es bestrebt, Kraft zu markieren und im Genuß eines 
Kraftbewußtseins das Minderwertigkeitsgefühl zu übertäuben. Weil es sich 
für die Defensive zu schwach fühlt, kommt es ihr durch Aggression zuvor; 
für das ständige Gehorchenmüssen rächt es sich durch das Streben, zu 
tyrannisieren. Das sind ganz selbstverständlich funktionierende Selbstschutz- 
und Sicherungstendenzen, nicht etwa bloß geheuchelte Strebungen. 

Die Mittel, zu denen das Kind greift, um sich auf diesem Wege zu behaupten, 


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William Stern 




sind sehr verschieden nach Art und Wert: von dem bloßem Trotz, der noch 
ganz inhaltlos ist, bis zum Sich-Hineinphantasieren in machtbetonte Rollen, 
von einer gelegentlichen Kraftpose bis zu der Gewohnheit, sich gerade durch 
seine Schwächen, Krankheiten und Ängste zum Despoten seiner Umgebung 
zu machen. 

Es ist schwer, das Wirkungsgebiet dieser paradoxen Kraftbetonung richtig 
abzugrenzen; denn ihre Bekundungen sehen den Äußerungen ursprüng¬ 
licher Willenskraft zunächst recht ähnlich. Jedenfalls aber wäre es verfehlt, 
nun in jedem kindlichen Starrsinnsverhalten oder Geltungsbedürfnis nichts 
als versteckte Überkompensation von Minderwertigkeitserlebnissen sehen zu 
wollen; es gibt doch eben auch die Abwehrreaktion aus unmittelbarer Stärke 
heraus. Im ganzen werden jene paradoxen Strebungen ihren eigentlichen 
Schwächecharakter dem schärferen Blick nicht verhüllen können; es fehlt 
ihnen eben die Echtheit und der Tiefgang wahrer Kraftbekundungen. Des¬ 
halb erscheint es auch imwahrscheinlich, daß sie in dem von Adler behaup¬ 
teten Maße normalerweise die Leitlinien der sich gestaltenden Persönlichkeit 
bestimmen. Groß ist zweifellos die Rolle solcher Sicherungen bei Neurotikern, 
und zwar bei Erwachsenen wie bei Jugendlichen, — ferner bei Menschen 
mit ausgesprochenen Gebrechen. Bei gesunden Kindern kommt jene para¬ 
doxe Strebung .höchstens als eine Teillinie innerhalb des persönlichen Gesamt¬ 
bildes in Betracht. 


6. Liebe und Sexualität. (S. 421—425.) 

Die Liebe und Zärtlichkeit des kleinen Kindes ist keine rein geistige 
Regung, sondern stark mit körperlichen Momenten verknüpft. Der Mensch 
liebt eben als ganzer Mensch, als psychophysisch-neutrale Person; und gerade 
für das kleine Kind ist ja Geistiges und Körperliches noch so wenig geschie¬ 
den, daß ihm auch sprachlich noch liebhaben und liebkosen identisch ist. 
Und so ist die Liebe des Kindes von körperlichen Hinwendungsinstinkten 
durchsetzt; das Kind sucht möglichste Annäherung an das geliebte Wesen; 
es will auf den Arm oder auf den Schoß genommen werden, schmiegt sich 
an die Brust oder lehnt sein Gesicht an das der Mutter, streichelt ihre Hände 
und Wangen oder läßt sich streicheln. Damit erhält die Liebkosung eine 
sinnliche Reizwirkung, die sich unter Umständen stark in den Vordergrund 
drängen mag: das Kind genießt dann den körperlichen Kontakt als Organ¬ 
lust, deren Fortsetzung um ihrer selbst willen angestrebt wird. 

Auf die Bedeutung dieses sinnlichen Moments in der frühkindlichen Liebe 
haben uns die Psychoanalytiker aufmerksam gemacht; aber soll man jede 
Liebe, die mit körperlichem Annäherungsbedürfnis und Lust am Berühren 
und Berührtwerden verbunden ist, als „Sexualität“ bezeichnen? Es wird 
durch diese Begriffserweiterung der grundlegende Unterschied der frühkind¬ 
lichen Liebe gegenüber der von der Pubertät an mächtig werdenden neuen 
Form des Liebesgefühls verwischt. 

Das scheint mir besonders deutlich hervorzutreten bei der Inzesttheorie 1 ) 
der Psychoanalytiker. Die kindliche Sexualität, so lehren sie, tritt früh aus 
der Phase reiner Autoerotik heraus und sucht ein Liebesobjekt in einem 
anderen Menschen. Als solches bietet sich naturgemäß die Mutter dar. Sie 


*) Inzest — Blutschande. 


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Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse 


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ist die erste „Geliebte“ des Kindes; sie gewährt ihm nicht nur Hilfe, Nahrung, 
Spiele, sondern auch körperliche Lustgefühle — nicht nur durch ihre Zärt¬ 
lichkeiten, sondern auch durch die Körperpflege, die ja zu fortwährenden 
Berührungen der „erogenen“ Zonen, der Genitalien, des Anus usw. Anlaß 
gibt. Sie gewährt dem Kinde die Möglichkeit, seine sexuelle Neugier durch 
Betasten ihres Körpers zu befriedigen (z. B. wenn sie es zu sich ins Bett 
nimmt) und seiner Schaulust zu genügen (z. B. wenn sie vor dem Kinde 
sich entkleidet, wäscht usw.). An diesen Darstellungen mag viel richtig 
sein — bis auf die Eingruppierung der kindlichen „Liebeserlebnisse“ unter 
den Begriff Sexualität. Aber es handelt sich hierbei nicht nur um eine 
unzutreffende Bezeichnung; sie führt vielmehr zu verhängnisvollen Folgerungen. 
Denn es wird nun angenommen, daß das Kind für das eigentlich Unnatür¬ 
liche und Unerlaubte dieser Gefühlsweisen ein Bewußtsein bekomme und 
sie daher verdränge. Es richtet die „Inzest“-Schranke auf, aber wird nun 
um so mehr im Unbewußten von diesen Regungen heimgesucht, die dann nur 
in der Form scheinbar harmloser Symbolvorstellungen an die Oberfläche 
seiner Seele gelangen. 

Nach den kritischen Erörterungen, die wir früher an die psychoanalytischen 
Symboldeutungen und Verdrängungstheorien geknüpft haben, können wir uns 
eine spezielle Besprechung dieser Inzest-Theorie ersparen. Sie zeigt uns aber 
•wieder, wie nötig es ist, an den Lehren der Psychoanalyse die sehr wert¬ 
vollen — früher ungebührlich vernachlässigten.— Tatsachenfeststellungen von 
den daran geknüpften Deutungen zu trennen. 1 ) 

Ober die Gefühlsbeziehungen, die das Kleinkind mit seinen Geschwistern 
und seinen Spielgefährten verbindet, ist zum Teil Verwandtes zu sagen. Auch 
hier gibt es Zuneigungen von sehr verschiedener Stärke, gibt es Zärtlichkeits¬ 
verlangen und Zärtlichkeitsbezeugung mit mannigfachen körperlichen Be¬ 
rührungen. Aber einige neue Momente kommen hinzu. 

Zunächst das gemeinsame Spielen. Den Kindern kann ja alles zum 
Spielzeug werden, so auch der eigene Körper oder der des Mitspielers. »Wenn 
Geschwister gemeinsam im Bett liegen und sich aneinanderkuschen oder nur 
mit dem Hemdchen bekleidet miteinander tollen — dann ist es gar nicht 
anders möglich, als daß es zu zahlreichen körperlichen Berührungen kommt 
und daß die Kinder die damit verbundenen Organempfindungen kennen lernen. 
Davon können auch u. a. die Genitalien und das Gesäß betroffen werden; 
gerade weil den Kindern naturalia noch nicht turpia sind, fühlen sie sich 
nicht veranlaßt, bei den Spielen mit ihren Körpern gerade an diesen Stellen 
halt zu machen. Vielleicht wirkt es sogar noch, anreizend euf sie, daß diese 
Körperzonen im allgemeinen verdeckt gehalten werden und daß die Erwachsenen 
sie als etwas betrachten, wovon man nicht spricht und nach dem man nicht 
fragt. Sie haben keine Ahnung, warum und weshalb hier dies „Tabu“ be¬ 
steht; aber der Reiz des Geheimnisvollen und Verbotenen kann wohl geeig¬ 
net sein, auch ohne jede sexuelle Gefühlsbetonung das Interesse an solchen 

’) Daß sich erotische Regungen in die Liebe des Kindes zur Mutter drängen können, soll nicht 
bestritten werden. Die eigentliche Zeit hierfür ist aber nicht die frühe Kindheit, sondern die 
frühe Pubertät, vielleicht auch schon die Vorpubertät. Eine fein empfindende Mutter bemerkt 
hier deutlich, daß in die Liebe und Zärtlichkeitsbezeugung des Sohnes ein fremder Ton hinein¬ 
kommt, der früher — insbesondere in der ersten Kindheit — völlig fehlte. 


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William Stern, Psychologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse 


Spielen zu verstärken. Und so kommt es zu Erscheinungen, von denen uns 
namentlich Ärzte mehrfach berichten: zur Schaulust, die den Anblick der 
Geschlechtsorgane und ihrer Verrichtungen beim anderen Kinde — nament¬ 
lich bei dem anderen Geschlecht — sucht, zu gegenseitigem Spielen an den 
Geschlechtsorganen („mutueller Onanie“), ja zur Nachahmung des Koitus. 
Freilich wissen wir über die Verbreitung dieser Verirrungen in der frühen 
Kindheit nichts: denn die in der psychoanalytischen Literatur zu findenden 
Mitteilungen beziehen sich immer nur auf ganz vereinzelte Beobachtungen 
(die sofort verallgemeinert werden) oder auf die sehr fragwürdigen Erinne¬ 
rungen erwachsener Neurotiker. Was den Zeitpunkt anlangt, in dem solche 
Gebarungen beginnen, so mag eine neurotische Disposition zu einer ge¬ 
wissen Verfrühung von Instinkten führen, deren spontanes Erwachen beim 
normalen gesunden Menschen sicher erst jenseits des sechsten Jahres ein¬ 
zutreten pflegt. 

Allerdings scheinen auch gewisse äußere Einflüsse mitbeteiligt zu sein, und 
hier ist der Punkt, der die pädagogische Aufmerksamkeit der Eltern und Er¬ 
zieher fordert. Wie gern spielen Kinder „Vater und Mutter“; groß zu sein 
und es den Eltern gleichtun zu können, ist ja eine stille Sehnsucht jedes 
Kindes. So erstreckt sich ihr Nachahmungstrieb auf alles, was 
sie bei den Eltern wahrgenommen haben; und leider geben manche 
Eltern den Kindern Gelegenheit zu Wahrnehmungen, die ihnen verborgen 
bleiben sollten. Gerade die kleinen Kinder schlafen ja meist bei den Eltern; 
aber sie schlafen nicht immer wirklich, wenn die Eltern es glauben, und 
was im Dunkeln vor sich geht, reizt durch die Dunkelheit und die Unbe¬ 
greiflichkeit die Phantasie des Kindes erst recht zur Nachahmung. — Sodann 
kann die eigentliche Verführung eine Rolle spielen: ältere Kinder bedienen 
sich der kleineren, um in sich selbst Lustempfindungen zu erwecken, die 
schon dem sexuellen Fühlen nahestehen können, und die ahnungslosen 
Kleinen, die sich zu diesem Spiel hergeben, werden vorzeitig mit einer Über¬ 
reizung der Genitalzone bekannt gemacht. 

Das Übergangserlebnis und der Vergleich. 

Bemerkungen zu der Schrift „Einige allgemeine Fragen der Psychologie und 
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich“, von E. R. J a e n s c h *). 

Von Erich Hylla. 

In Heft 1 der von ihm selbst herausgegebenen „Arbeiten zur Psychologie 
und Philosophie“ behandelt E. R. Jaenscb, Marburg, eine wichtige Frage zur 
Seelenkunde der Denkvorgänge, diejenige nämlich, welche seelischen Vor¬ 
gänge die unmittelbare Erlebnisgrundlage des Vergleiches bilden. So wert¬ 
voll seine Ausführungen im ganzen scheinen, so sehr fordern sie doch auch 
im einzelnen zum Widerspruch heraus. Es sei darum gestattet, an dieser 
Stelle etwas näher auf sie einzugehen. 

Jaensch geht bei seinen Betrachtungen aus von der sogenannten „Erinne¬ 
rungsbildtheorie“ des Vergleichs. Werden etwa zwei Strecken nacheinander 
dargeboten, um auf ihre Länge verglichen zu werden, so erzeugen wir im 

1 ) Leipzig, Job. Ambr. Barth, 1920. 


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Erich Hylla, Das Übergangserlebnis und der Vergleich 


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Augenblick der Darbietung der zweiten Strecke ein Erinnerungbild der ersten, 
bringen es mit dem zweiten Reiz zur Deckung und sehen zu, um wieviel 
die zweite Strecke das Erinnerungsbild überragt, oder wieviel sie hinter ihm 
zurückbleibt Er weist darauf hin, daß diese Auffassung nach den Unter¬ 
suchungen von G. E. Müller, Schumann, Külpe und Whipple als 
widerlegt betrachtet werden muß, hauptsächlich deswegen, weil von ihnen nach¬ 
gewiesen worden ist, daß 1. in der Zeit zwischen beiden Darbietungen oft kein 
einigermaßen deutliches Erinnerungsbild erzeugt werden kann, während doch 
die Sicherheit des Vergleichs nicht beeinträchtigt ist; 2. daß das Erinne¬ 
rungsbild im Augenblick der Darbietung des zweiten Reizes zu verschwinden 
pflegt auch dort, wo es in der Zwischenzeit bestand; 3. daß durch seine 
Festhaltung die Genauigkeit des Vergleichs nicht erhöht wird, und 4. daß 
Veränderungen des Erinnerungsbildes in der Zwischenpause das Ergebnis des 
Vergleichs nicht verschlechtern. Im Anschluß an einen Gedanken Bergsons 
betont er, daß die Erinnerungsbildlehre einen Fehler machte, in den zu ver¬ 
fallen wir immer geneigt seien. Er besteht darin, daß wir uns „die Lebens¬ 
vorgänge nach dem Muster dessen vorstellen, was wir selbst durch unsere 
bewußte Arbeit hervorbringen können, also nach dem Vorbild der Technik 
im weitesten Sinne“. Weil wir beim messenden Vergleich zweier Strecken 
einen Maßstab an die erste legen, ihre Länge dort anmerken und den Ma߬ 
stab dann mit der zweiten zur Deckung bringen, nehmen wir an, daß auch 
das unmittelbare seelische Erleben, das die Grundlage eines Folgevergleichs 
bildet, ein ganz dementsprechender Vorgang sein müsse. 

Scheint somit die Erinnerungsbildlehre unzutreffend, so entsteht die Frage, 
was an ihre Stelle gesetzt werden soll. Ansätze einer neuen Vergleichslehre 
findet Jaensch wiederum bei Schumann, der auf dem 6. Kongreß für 
experimentelle Psychologie betont hat, daß „in dem Augenblick, wo die zweite 
Strecke dargeboten wird, Nebeneindrücke auftreten“. „Innerhalb ihrer er¬ 
scheint ein Mittelstück von der Länge der ersten Strecke unverändert, da¬ 
gegen zeigen die Überragenden Enden ein abweichendes Aussehen. Sie er¬ 
scheinen verdickt oder schwärzer oder drängen sich auch nur der Aufmerk¬ 
samkeit stärker auf.“ Weiter zeigen sich eigentümliche Bewegungseindrücke, 
es ist, „als wenn von dem Mittelstück aus nach den Enden etwas huschte, 
also ein Bewegungsvorgang gesehen würde“. 

Jaensch glaubt nun, in den „Wachstums-“ oder „Schrumpfungsbewegungen“ 
die wesentliche immittelbare' Erfahrungsgrundlage des Strecken Vergleichs 
sehen zu dürfen und weist zur Unterstützung dieser Ansicht darauf hin, daß 
1. auch Linke, Wertheimer und Koffka solche Bewegungserscheinungen 
festgestellt haben; 2. daß ähnliche Bewegungserlebnisse auftreten, wenn nach¬ 
einander verschieden große Figuren, verschieden stark geneigte Grade dar¬ 
geboten werden und daß 3. auch bei Darbietung von Farben verschiedener 
Helligkeit, z. B. von verschiedenen grauen Tönen Erscheinungen beobachtet 
werden, die den „Bewegungserlebnissen nahe verwandt sind“. 

Er bezeichnet alle diese Erfahrungen als „Übergangserlebnisse“. Die sonst 
noch auftretenden Eindrücke erscheinen ihm für den Vergleichsvorgang nicht 
wesentlich. 

Mit dem Hinweis auf die „Übergangserlebnisse“ glaubt er auch die Ein¬ 
wände entkräften zu können, die insbesondere Brunswig („Über das Ver¬ 
gleichen und die Reaktionserkenntnis“, Leipzig 1910) gegen die Ansätze 


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Erich Hylla 


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einer neuen Vergleichslehre gemacht hat. Wir geben diese Einwände und 
die auf jeden von ihnen bezüglichen Ausführungen von Jaen sch -im folgenden 
kurz wieder. 1. Die (von Schumann beschriebenen) Nebeneindrücke, wie 
Schwärzerwerden, Huschen usw. haben unmittelbar (sagen wir besser inhalt¬ 
lich) keine Beziehung zur Wahrnehmung der Größe, sondern könnten sie 
erst mittelbar durch Erfahrung gewinnen. - Von „Übergangserlebnissen 0 
gilt das nicht. 2. Das Vergleichsurteil meint eine Beziehung, die zwischen 
beiden vergleichenden Gegenständen schwebt. Sinnlich gegeben sind aber 
nur diese selbst, nicht ein zwischen ihnen Schwebendes. Die Beziehung 
beider kann darum nur in einem unsinnlichen Akte erfaßt werden. — Der 
Irrtum liegt hier in der Verwechselung der Begriffe „sinnlich gegeben" und 
„anschaulicher Art 0 . Ein Erlebnis kann sehr wohl Bestandteile enthalten, 
die weder sinnlich gegeben noch unsinnlicher, richtiger: unanschaulicher Art 
sind. 3. Das Vergleichsurteil ist nicht ein selbsttätig in die Erscheinung 
tretendes Ergebnis der einfachen aufeinanderfolgenden Wahrnehmung beider 
Gegenstände, sondern setzt eine besonders innere Verhaltungsweise, ein „Hin- 
und Hergehen“ zwischen den Gegenständen voraus, d. h. die Vergleichs¬ 
absicht. Die beschriebenen Nebeneindrücke dagegen treten auch ohne die 
Vergleichsabsicht auf. — Die Übergangserlebnisse treten aber stark hervor, 
wenn die Vergleichsabsicht vorhanden ist, verblassen dagegen, wenn das 
nicht der Fall ist. 4. Die Übergangserlebnisse sind vielfach sehr flüchtig 
und undeutlich. — Sie sind es einmal nicht bei allen Menschen. Sodann 
steht fest, daß Erlebnisbestandteile, die an sich nicht zum Bewußtsein kommen, 
doch irgendwie für die eigentümliche Gestaltung des seelischen Vorgangs 
im ganzen von Bedeutung werden können. — Die Entgegnung ist sicherlich 
berechtigt: es sei nur daran erinnert, daß die artmäßigen Besonderheiten der 
Farbenempfindung verschiedener Stellen der Netzhaut in der Form der Räum¬ 
lichkeit zum Bewußtsein kommen. 5. Die Übergangserlebnisse können auch 
ausbleiben, und das Urteil wird doch gefällt. Seine Grundlage muß aber 
immer vorhanden sein. — Es ist festgestellt, daß zur Lösung ein und derselben 
Aufgabe im Laufe der seelischen Entwickelung verschiedene Werkzeuge und 
Verfahrungsweisen ausgebildet werden, die dann zum Teil nebeneinander 
bestehen können. Wenn aiso das Übergangserlebnis auch nicht immer die 
Erlebnisgrundlage des Vergleichsurteils ist, so kann es sie doch in vielen 
Fällen sein. 6. Das Vergleichsurteil nimmt in verschiedenen Fällen eine 
verschiedene Form an. Manchmal wird die erste Strecke als größer, manchmal 
die zweite als kleiner bezeichnet. Diesen verschiedenen Urteilen müssen 
verschiedene Erlebnisgrundlagen entsprechen. — Das ist in der Tat der Fall. 
Das Übergangserlebnis erscheint bei entschiedener Urteilsrichtung auf den 
ersten der beiden Gegenstände wie ein kurzes Nachspiel, bei Einstellung auf 
den zweiten dagegen wie ein Vortakt. Die Form des Urteils bringt diesen 
Tatbestand angemessen zum Ausdruck. 

Damit glaubt Jaensch gezeigt zu haben, daß die Übergangserlebnisse die 
Grundlage des Vergleichsurteils bilden können, daß sie nach Form, Inhalt 
und Mannigfaltigkeit alles bieten, was für die Vollziehung des Vergleichs¬ 
urteils erforderlich scheint. Um zu entscheiden, ob es tatsächlich der Fall 
ist, führte er einen Versuch an Hühnern durch, denen zwei Platten in ver¬ 
schiedenem Grau, a und b, vorgelegt wurden. Auf der helleren b befanden 
sich frei liegende Körner, auf der dunkleren a Körner unter einer Glasscheibe. 


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Das Übergangserlebnis und der Vergleich 


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Die Hühner lernten sehr rasch, daß sie von der helleren Platte fressen durften, 
von der dunkleren dagegen nicht. Nun wurden ihnen zwei andere Platten 
in den Grau-Tönen b und einem noch helleren c vorgelegt, beide mit frei¬ 
liegenden Körnern. Sie fraßen nun nicht zuerst die Platte b leer, sondern 
die noch hellere c. Auf die Nachprüfungsversuche, die mit veränderter Raum¬ 
lage oder durch Abrichtung nicht auf die hellere, sondern auf die dunklere 
Platte vorgenommen wurden, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Sie 
reichten aus, um einen etwaigen störenden Einfluß dieser Nebenbedingungen 
auszuschalten. Über das Verhalten der Hühner bei diesem Versuch wird 
berichtet, daß sie sich oft etwa in der Mitte vor den beiden Platten aufstellten 
und dann ihre Blicke rasch und mit zuckenden Kopfbewegungen zwischen 
beiden Platten hin- und hergehen ließen, ehe sie sich für diejenige entschieden, 
die der jeweils vorangegangenen Abrichtung entsprach. Der Verfasser schließt 
nun: Die Versuche sind nur unter der Annahme erklärbar, daß 
sich das Tier nur auf Grund der oben aufgezeigten Übergangs¬ 
erlebnisse entscheidet. 

Ganz entsprechende Ergebnisse stellten sich ein bei Abrichtung auf ver¬ 
schieden große regelmäßige Figuren und verschieden große Winkel, während 
Versuche mit verschieden langen Strecken ergebnislos blieben. Ein sehr 
merkwürdiges Ergebnis hatten Versuche mit bunten Farben, bei denen sich 
die Hühner so entschieden, als ob an Stelle der bunten Töne jeweils graue, 
Töne von der gleichen Helligkeit vorgelegt worden wären, ein Ergebnis, 
das sich auch dahin aussprechen läßt: Die Hühner beachten den Farben¬ 
ton und die Sättigung nicht, sondern halten sich ausschließlich an die 
Helligkeit. 

Um die Gültigkeit der Ergebnisse auch für den Menschen zu prüfen, 
wurden die Versuche an 38 zwei bis fünfjährigen Kindern eines Kindergartens 
wiederholt. Bei 26 Kindern entsprachen die Ergebnisse mit den grauen 
Tafeln verschiedener Helligkeit denen bei den Hühnern, bei Quadraten ver¬ 
schiedener Größe dagegen nur bei 8 von 20 Kindern. Von den. Kindern 
stammen wohl auch die Äußerungen: Es ist, „wie wenn man die Lampe 
ansteckt“, oder „wie wenn man ein Zimmer verfinstert“. 

Wir konnten die Ausführungen des Verfassers natürlich nur in aller Kürze 
wiedergeben. Das Angeführte aber dürfte genügen, um dem Leser darüber 
ein eigenes Urteil, sowie insbesondere über die im folgenden darzulegenden 
Einwände gegen die Ableitungen des Verfassers zu ermöglichen. Sehen wir 
uns also seine Ausführungen nunmehr etwas genauer an! 

Es ist offenbar seine Absicht, die „Erinnerungsbild-Lehre“ durch eine 
richtigere zu ersetzen. Zwar sind seine Untersuchungen eigentlich nicht 
gegen die Erinnerungsbildlehre gerichtet. Er glaubt ja, daß diese bereits 
durch die Untersuchungen Schumanns, Koffkas und anderer als unhaltbar 
nachgewiesen worden ist. Er braucht sie also nicht erst zu zerstören, son¬ 
dern hat nur an der freien Stelle, die durch ihre bereits erfolgte Zerstörung 
entstanden ist, einen neuen Bau zu errichten. Dennoch aber muß wohl 
hier darauf hingewiesen werden, daß seine Darlegungen mit der Erinnerungs¬ 
bildlehre noch weniger zu tun haben, als er anzunehmen scheint. Die Er¬ 
innerungsbildlehre kann sich ja doch ausschließlich auf diejenigen Fälle 
beziehen, in denen zwei Gegenstände mit kürzerer oder längerer Pause 
nacheinander dargeboten werden. Sie ist der Versuch einer seelenkund- 


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Erich Hylla 


liehen Erklärung des sogenannten „Folgevergleichs“. Im Gegensatz dazu 
handelt der Verfasser ausschließlich von solchen Fällen, in denen die zu 
vergleichenden Gegenstände nebeneinander dargeboten wurden, also ein 
Hin- und Hergehen des Auges und der Aufmerksamkeit zwischen den beiden 
Gegenständen möglich war. Man muß ihm also von vornherein entgegen¬ 
halten, daß seine Auffassung von der Bedeutung der Übergangserlebnisse 
nur für den Gleichzeitigkeitsvergleich gilt, daß sie darum der Erinnerungs¬ 
bildlehre nicht nur nicht widerspricht — das ist vielleicht auch gar nicht 
seine Ansicht—, sondern daß sie auch nicht an ihre Stelle treten kann. 
Der Verfasser weist, wie wir oben bemerkten, an einer Stelle selbst nach¬ 
drücklich darauf hin, daß die gleiche Leistung durch ganz verschiedene 
seelische Inhalte bedingt, mit sehr wechselnden seelischen Mitteln zustande 
gebracht werden kann. Das ist ohne Zweifel ein sehr richtiger und sehr 
wichtiger Gesichtspunkt. Noch größere Vorsicht als bei gleichen Leistungen 
ist aber bei nahe verwandten geistigen Leistungen am Platze, wie wir sie in 
dem Gleichzeitigkeitsvergleich einerseits, im Folgevergleich andererseits vor 
uns haben. Hier kann man gar nicht scharf genug auseinanderhalten, will 
man nicht in den Fehler verfallen, den Jaensch selbst so nachdrücklich rügt: 
An die Stelle der Beobachtung des wirklich vorhandenen Erlebnisinhalts bei 
einer der beiden Leistungen eine mehr oder weniger künstlich gemachte 
• Auffassung zu setzen, ein Fehler, der sich natürlich um so schwerer rächen 
muß, je weitertragende Folgerungen man aus den seelenkundlichen Auf¬ 
fassungen zieht. 

Daß bei rasch aufeinanderfolgender Darbietung zweier Strecken von ver¬ 
schiedener Länge, zweier Quadrate von verschiedener Größe, zweier grauer 
Flächen von verschiedener Helligkeit eine Veränderung gesehen wird, die dem 
allmählichen Übergang von der ersten Länge oder Größe oder Helligkeit zur 
zweiten entspricht, ist eine Tatsache, die eines versuchsmäßigen Beweises 
kaum bedarf; bildet sie doch die seelische Grundlage für die gesamte Ver¬ 
wendung des Laufbildes. Infolge der Raschheit in der Aufeinanderfolge 
der Darbietungen und des geringen Unterschiedes zwischen den dargebotenen 
Gegenständen entwickeln sich hier die Übergangserlebnisse zu so großer Deut¬ 
lichkeit, daß sie gänzlich im Vordergründe der Aufmerksamkeit stehen, daß 
die zu vergleichenden Gegenstände als einzelne gar nicht mehr zum Bewußt¬ 
sein kommen. Dieser Tatbestand gibt zu denken gegenüber einer Feststellung 
des Verfassers: Daß nämlich die Deutlichkeit des Übergangserlebnisses mit 
der Stärke der Vergleichsabsicht wächst. Bei der Betrachtung von Laufbildern 
liegt offenbar gar keine Vergleichsabsicht vor, während das Übergangserlebnis 
doch mit größter Klarheit und Bewußtheit auftritt. Es scheint mir demnach 
festzustehen, daß die größere oder geringere Stärke der Vergleichsabsicht 
jedenfalls nicht der einzige Umstand ist, von dem die Deutlichkeit der Über¬ 
gangserlebnisse abhängt, sondern daß die Beschaffenheit der zu vergleichenden 
Gegenstände selbst, insbesondere die Größe ihres Unterschiedes, sowie vor 
allem das Zeitmaß ihrer Darbietung von großem Einfluß ist. 

Nun geht wohl die Auffassung des Verfassers dahin, daß die Übergangs¬ 
erlebnisse auch bei nicht gleichzeitiger Darbietung auftreten und das Ver¬ 
gleichsurteil entschieden bedingen. Gestehen wir dies zunächst einmal zu, 
so müssen wir jedoch sogleich darauf hinweisen, daß dies Übergangserlebnis 
unmöglich eintreten kann, ohne daß ein Erinnerungsbild des zuerst darge- 


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Das Übergangserlebnis und der Vergleich 


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botenen Gegenstandes im Augenblicke der Darbietung des zweiten wirksam 
wird. Handelt es sich etwa um den von dem Verfasser beobachteten Wachs¬ 
tumsvorgang, bei Vergleich erst einer kürzeren, dann einer längeren Strecke, 
so muß im Augenblick der Darbietung der zweiten Strecke der „Wachstums¬ 
vorgang“ doch bei irgendeiner Streckenlänge beginnen. Die Beobachtungen 
Schumanns deuten das auch an, wenn sie außer auf die Bewegungser¬ 
scheinungen auf eine abweichende Färbung der Enden oder Mitte der 
Strecke hinweisen. Die gleichen Überlegungen gelten natürlich auch für 
den Vergleich zweier Farben oder zweier Figuren verschiedener Größe. 
Ohne irgendein „Erinnerungsbild“ der zuerst dargebotenen Größe scheint 
mir die Abgabe eines Vergleichsurteils ganz unmöglich, abgesehen vielleicht 
von einigen Fällen, in denen ein mittelbarer Vergleich stattfindet. Nicht 
notwendig erscheint freilich die Annahme, daß das „Erinnerungsbild“ als 
solches zum Bewußtsein kommen muß. Auch kann es sicherlich bis zu 
einem gewissen Grade ungenau sein. Ja es ist sogar zu vermuten, daß es 
das ist, und zwar nach der Seite hin, die geeignet erscheint, die „Übergangs¬ 
erlebnisse“ zu verstärken; d. h. geht man von einer kleineren Strecke zu 
größeren über, so wird unter Wirkung der größeren das Erinnerungsbild der 
kleineren noch kleiner. Entsprechendes gilt natürlich auch für die Darbietung 
verschiedener reiner Helligkeitsempfindungen. Hier liegt eine Auswirkung 
des allgemeinen seelischen Gesetzes der Gegensätzlichkeit vor. 

Wir sind uns dessen wohl bewußt, daß die hier dargestellte Auffassung 
nicht die „Erinnerungsbildlehre“ in ihrer alten Form darstellt. Denn diese 
denkt offenbar nur an ein als solches bewußtes Erinnerungsbild, das bewußt 
gewissermaßen mit dem zweiten dargebotenen Gegenstand zur Deckung 
gebracht wird. Es ist darum auch nicht unsere Absicht, mit diesen Er¬ 
örterungen die alte Form der Erinnerungsbildlehre zu stützen. Es sollte nur 
darauf hingewiesen werden, daß auch in ihr sicherlich ein Teil Wahrheit 
liegt, den es allerdings erst aus willkürlichen Zutaten herauszuschälen gilt. 

Vielleicht hält Jaensch gegen diese Darlegung einen Einwand aufrecht, 
den er gegen die Erinnerungsbildlehre in ihrer alten Form selbst macht: 
daß auch hier wieder ein der Technik entnommenes Musterbild dem wirklcih 
ablaufenden Vorgang unterlegt wird. Wir wollen nicht auf die Frage ein- 
gehen, ob ohne die Verwendung eines solchen Musterbildes ein „Verständnis“ 
der seelischen Vorgänge überhaupt möglich ist. Bemerkt aber sei, daß sich 
genau der gleiche Einwand auch gegen die Lehre vom Übergangserlebnis 
in der Form, wie J. sie entwickelt, machen läßt, denn auch die „Übergangs¬ 
erlebnisse“ haben ihr technisches Gegenstück. Wir dehnen die Gummischnur 
oder den Eisenstab, wenn wir ihn verlängern wollen, pressen den letztem 
zusammen, um ihn zu verkürzen, vergrößern oder verkleinern die Leucht¬ 
flamme, wenn wir ein Zimmer erhellen oder verdunkeln wollen. Es kann 
unmöglich von vornherein Grund zum Mißtrauen gegen eine Lehre sein, 
wenn sie ein solches technisches Muster verwendet. Die Frage muß vielmehr 
so gestellt werden, ob dieses technische Muster „richtig“ ist, d. h. ob und 
inwieweit die Vorgänge, die bei der Beachtung eines derartigen Arbeits¬ 
vorgangs in uns ablaufen, denen gleichen, die man unter Hinweis auf ihn 
zu erklären versucht. 

Nun aber zu dem Kernstück der Darlegungen des Verfassers: Zu dem Bericht 
über den Versuch sowohl mit den Hühnern als im Kindergarten 1 Der Behaup- 


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Erich Hylla, Das Übargangserlebnis und der Vergleich 


tung, daß die Ergebnisse dieses Versuchs nur zu erklären seien unter der An¬ 
nahme, daß sich das Tier nur auf Grund der oben aufgepeigten Übergangs¬ 
erlebnisse entscheidet, können wir nicht zustimmen. Aus dem Versuch geht 
unseres Erachtens hervor, daß sich die Hühner nicht auf Grund der 
tatsächlichen Helligkeiten, sondern auf Grund des Verhältnisses 
der beiden Helligkeiten zueinander entschieden haben. Wir haben 
also hier einen Sonderfall jenes ganz allgemeingültigen seelischen Gesetzes 
vor uns, das Wundt als dasjenige der „Relativität in der Auffassung seelischer 
Inhalte" bezeichnet, das sich, um einen andern Sonderfall zu nennen, in 
dem durch das Gesetz ausgedrückten Tatbestand als wirksam erweist und 
dem Stern die Form des Bedeutungsmaßgesetzes gibt, in der es nach seinen 
überzeugenden Darlegungen („Die menschliche Persönlichkeit“, 1919, S. 213) 
weit über den Rahmen des seelischen Geschehens hinaus Gültigkeit besitzt. 
Was sie aber wollen, ist, über die Grundlage dieser Entscheidung nach dem 
Verhältnis der Reize zueinander, nicht nach dem wahren Maßwerte eines 
jeden Reizes, soweit diese Grundlage innerhalb der unmittelbaren Erfahrung 
liegt, eine Aussage machen. Seine Annahme nun, daß diese unmittelbare 
Grundlage der Entscheidung das „Übergangserlebnis“ sei, ist durch die Ver¬ 
suche in keiner Weise bewiesen. Das Verhalten der Hühner und ganz ebenso 
das Verhalten der Kinder beweist nur, daß sich die Versuchstiere und Ver¬ 
suchspersonen auf Grund der Beziehungen der dargebotenen Reize entschieden 
haben, nicht aber, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist, auf 
welche Erlebnisinhalte sie zurückgeht. Auf das Wie dieser Entscheidung, 
auf die Beschaffenheit der Vorgänge in der unmittelbaren Erfahrung aber 
kommt es dem Verfasser an, und eben darum kann seine Beweisführung 
aus dem von ihm angestellten Versuch nicht als schlüssig gelten. 

Es geht aus den Ausführungen des Buches nicht ganz klar hervor, ob die 
von Jaensch erwähnten Äußerungen (es ist, „wie wenn man ein Zimmer 
verfinstert“ oder „wie man eine Lampe ansteckt“) bei den Versuchen an 
Kindern gefallen sind oder bei andern Versuchen, die sich in ähnlicher 
Richtung bewegten wie die von ihm angestellten. Aber wo diese Äußerungen 
auch getan worden sind: auch sie beweisen seine Auffassung keineswegs 
endgültig. Es ist sehr wohl möglich, daß bei der Wahl dieser Worte für 
die Beschreibung des inneren Erlebnisses mehr die Mittel des sprachlichen 
Ausdrucks, als die Beschaffenheiten des Erlebnisses selbst maßgebend ge- 
• wesen sind. Drücken wir doch sehr oft Vorgänge, die wir als „ruckweise“ 
Veränderungen empfinden, mit Worten aus, die wir ebensowohl zur Bezeich¬ 
nung eines als stetig empfundenen Übergangs verwenden; die Unstetig¬ 
keit eines solchen Vorgangs kann sehr wohl zum Bewußtsein, aber nicht 
zur Beachtung kommen und braucht noch weniger immer so stark beachtet 
zu sein, daß sie sprachlichen Ausdruck erzwingt. Es sei hier zur Verdeut¬ 
lichung nur an Sterns Darlegung über die „Übereinanderlagerung der 
Schwellen“ erinnert, die man ebenfalls in dem oben genannten Buche findet. 
Seine Ausführungen scheinen uns für das Verständnis auch der hier zur 
Erörterung stehenden Fragen sehr wichtig. 

Nun soll nicht behauptet werden, daß es unbedingt unstetige Vorgänge 
gewesen sein müssen, die in den Worten „wie wenn man die Lampe an¬ 
steckt“, „wie wenn man ein Zimmer verfinstert“, ihren Ausdruck gefunden 
haben. Es kann sich dabei natürlich nur um Vorgänge handeln, die als 


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Kleine* Beiträge und Mitteilungen 


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stetig empfunden worden sind. Wenn es in der seelenkundlichen Forschung 
und Beobachtung geschulte Versuchspersonen gewesen sind, die diese 
Äußerungen getan haben, so könnte sehr wohl in diesem Falle die „Aus¬ 
drucksschwelle“ der „Wahrnehmungsschwelle“ sehr nahe gelegen haben. 
Aber die sprachliche Form dieser Sätze läßt darauf schließen, daß es sich 
nicht um solche Versuchspersonen gehandelt hat. Dann kann aber tat¬ 
sächlich der Vorgang, der mit den obigen Sätzen beschrieben worden ist, 
einfach der einer „Wahrnehmung zweier verschiedener Helligkeiten“ sein, 
ohne daß ein stetiger Übergang zwischen ihnen irgendwie erlebt worden ist. 

Um seine Auffassung zu stützen, erwähnt Jaensch noch einen zweiten 
Versuch: Bei einem sechsjährigen Knaben, dessen Sinnengedächtnis „von be¬ 
sonderer Beschaffenheit“ war, wurde eine „abnorme Unfähigkeit zum Größen¬ 
vergleich“ nachgewiesen. Sie konnte daraus erklärt werden, daß „das Urteil 
nur beim Auftreten der Übergangserlebnisse möglich war, daß diese aber 
eben wegen der erwähnten besonderen Beschaffenheit des Sinnengedächt¬ 
nisses ausblieben“. Über die Bündigkeit dieses Beweises läßt sich ohne 
nähere Angaben natürlich kein Urteil fällen. Solange nicht eine genauere 
Beschreibung des Versuchs vorliegt, bleibt die Annahme offen, daß auch 
hier andere Vorgänge der unmittelbaren Erfahrung als die von dem Ver¬ 
fasser beschriebenen Übergangserlebnisse entscheidend gewesen sind. 

Fassen wir unsere Stellungnahme zu den Ausführungen des Buches kurz 
zusammen, so können wir sagen: Daß beim Streckenvergleich sowie auch 
beim Vergleich zweier reiner Helligkeitsempfindungen „Übergangserlebnisse“ 
der von ihm geschilderten Art entstehen können; daß sie in sehr vielen 
Fällen tatsächlich beobachtet worden sind, steht außer Zweifel. Daß diese 
„Übergangserlebnisse“ die unmittelbare Erfahrungsgrundlage für die Abgabe 
des Vergleichsurteils bilden, kann weder durch seine allgemeinen Darlegungen 
noch auch durch die von ihm durchgeführten Versuche als endgültig be¬ 
wiesen betrachtet werden. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Über die Wahrnehmung der menschlichen Lautsprache durch den Tast¬ 
sinn — ein Problem, das für den Taubstummenunterricht von größter Be¬ 
deutung sein muß und dem bisher Gutzmann, Lindner und Feldt in 
experimentellen Untersuchungen nachgegangen sind —, hat eine Hamburger 
Arbeitsgemeinschaft weitere Versuche angestellt. (Vergl. Schär, Über den 
Tastsinn und seine Beziehungen zur Lautsprache. Vox, Heft 1/2. 1922). 

Es sind dabei folgende Ergebnisse gewonnen worden: 

1. Durch das Getast können von der menschlichen Stimme in gewissen 
Grenzen die Dauer, die Stärke, die Höhe, die Klangfarbe und die Stimm¬ 
einsätze wahrgenommen werden. 

2. Die Wahrnehmung ist um so besser, je isolierter die Elemente gegeben 
werden. 

3. Im Flusse der Sprache kann durch den Tastsinn nur das zeitliche Moment 
der Lautsprache, die Dauer, eindeutig erfaßt werden. Klangfarbe, Ton¬ 
höhe und Stärke sind infolge ihrer wechselseitigen Überlagerung nicht 
zu unterscheiden. 


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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


4. Beeinflußt werden kann mittelst des Getasts das Sprechen des Taub¬ 
stummen in bezug auf die Tonhöhe und den zeitlichen Akzent Die 
Einwirkung auf die Tonhöhe ist möglich durch das Erzeugen von Vibrations¬ 
schwingungen (Gutzmann), die auf den zeitlichen Akzent durch taktil 
begründete rhythmische Sprechübungen (L i n d n e r und F e 1 d t). 

Ein psycho-pathologisches Schema, das bei aller Unzulänglichkeit des Ver¬ 
suchs, Lebenserscheinungen zu systematisieren, doch eine erste gröbere Orien¬ 
tierung gestattet, wird von Dr. Arthur Adler in der Psychiatrisch-neuro¬ 
logischen Wochenschrift (Jahrg. 21 S. 59) angegeben. Es unterscheidet als 
primäre Psychismen die Empfindungen, Gefühle und Bewegungen, als 
sekundäre die sinnlichen Vorstellungen, Stimmungen und Bewegungsbilder 
und als tertiäre die Gedanken, Affekte und Handlungen. 

Da nun die psychischen Störungen in einer Untererregbarkeit, Über¬ 
erregbarkeit oder abnormen Beschaffenheit dieser Gebilde bestehen 
können, ergibt sich wieder eine Untergliederung. 


I. 

Empfindungen 

Sinnliche Vorstellungen 

Gedanken 


Erschwerte Auffassung 

Gedächtnisschwund 

Gedankenlosigkeit 


Halluzinationen 

Phantasmen 

Gedankenjagen 


Illusionen 

Erinnerungstäuschungen 

Wahnideen 

II. 

Gefühle 

Stimmungen 

Affekte 


Zu schwache — 

| Apathie 

Zu schwache — 


Zu starke — 

; Gemütliche Erregung 

Zu starke — 


Falsche Gefilhlsbetonung 

Verstimmungen 

Konträre Affekte 

UI. 

Bewegungen 

Bewegungsbilder 

Handlungen 


Regungslosigkeit 

Ausfall bestimmter Bewegungsarten 

Untätigkeit 


Bewegungsdrang 

Stereotypien 

Betätigungsdrang 


Negativismus 

Entgleisungen 

Unsinnige Handlungen. 


Zur Errichtung einer deutschen Professur für Heilpädagogik hat die Orts¬ 
gruppe München des Bayrischen Hilfsschulverbandes ihrem Unterrichts¬ 
ministerium und Landtage folgende Leitsätze vorgelegt: 

1. Die Professur für Heilpädagogik steht innerhalb der philosophischen 
Fakultät. 

2. Soll München d i e Professur für Heilpädagogik (für ganz Deutschland!) 
erhalten, so kann diese Vorrangstellung nur durch Fühlungnahme mit 
dem Forschungsinstitut für Psychiatrie erzielt werden. 

3. Die Professur müßte gleichzeitig, wenn auch zunächst nur in beschei¬ 
denstem Umfange, eine Forschungsstelle für Heilpädagogik sein. 
Der Inhaber der Professur müßte ein mit den pädagogisch-psycho¬ 
logischen und psychiatrischen wissenschaftlichen Forschungsmethoden 
vertrauter Gelehrter sein. 

4. Die Meinung der befragten Lehrerschaft, der Schulbehörden usw., die 
von vielen Ärzten geteilt wird, geht dahin, daß ein Pädagoge (Psycho¬ 
loge!) für die Aufgaben der Professur in Betracht kommt (Heilpäda¬ 
gogik!). Der Arzt kann die Um wertung der medizinischen Forschungs- 


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ergebnisse in die Pädagogik nicht vollziehen. Ihm fehlen die pädago¬ 
gischen Kenntnisse in nötigem Umfange. Andrerseits wäre auch der 
„Nur-Schulmann“ nicht für diese Umwertung durchaus geeignet. Ihm 
fehlen zunächst die psychologisch-psychiatrischen Kenntnisse in nötigem 
Umfange. 

5. In der medizinischen Fakultät stehen den Heilpädagogen schon heute 
in nahezu erschöpfender Weise alle wünschenswerten Vorlesungen offen. 
Empfehlen würde sich außerdem eine zwei- bis vierstündige Vorlesung 
über Psychopathologie durch einen Psychiater, der hierbei auf die be¬ 
sonderen Bedürfnisse Rücksicht nimmt (Viele Kindervorstellungen!) 
Für diese Aufgabe käme wohl ein „Lehrauftrag“ in Betracht. 

6. Die Schulmänner aus den einzelnen Gebieten der heilpädagogischen 
Praxis werden in weitestgehendem Maße für ihre Teilgebiete zu 
Vorlesungen und praktischen Übungen beansprucht. (Auch solche von 
auswärts zu kürzeren Berichten usw.!) 

7. Die Lehrer der verschiedensten heilpädagogischen Schulen (auch ein¬ 
zelner Volksschulen!) stellen ihre Arbeit freiwillig und im Rahmen 
ihrer Amtspflicht in den Dienst der wissenschaftlichen Forschung. Dauernde 
engste Fühlungnahme mit der praktischen Arbeit in den einzelnen Schulen 
und gute persönliche Qualitäten für eine dauernde anregende Beein¬ 
flussung der Lehrerschaft wären wichtige Forderungen an den Inhaber 
der Professur. Er muß seine ganze Arbeit in den Dienst der Pro¬ 
fessur stellen. 

8. Das wichtigste für die Ausbildung der Heilpädagogen ist die prak¬ 
tische Schularbeit. 


Die Provinzialabteilung für praktische Psychologie Münster i. W., Waren- 
dorfer Str. 25, erstattet durch Dr. Joseph Weber im folgenden ihren 1. Jahres¬ 
bericht (1921—1922). 

Die Arbeit der Berufsberatung geht nach zwei Richtungen: Sie sucht die 
Frage nach dem wirtschaftlich günstigsten und die Frage nach dem für die 
persönliche Neigung und Veranlagung geeignetsten Platz für jeden Beruf¬ 
suchenden zu beantworten. Die Lösung des Problems besteht also in einer 
geschickten Verbindung der von zwei Seiten her in Betracht zu ziehenden 
Möglichkeiten. In der Praxis ist die berufswirtschaftliche Seite zunächst 
stärker bearbeitet worden, trotzdem der Feststellung der Berufseignung zum 
mindesten die gleiche Bedeutung beigemessen werden muß. 

Das Landesarbeitsamt Westfalen und Lippe hat zugleich mit der wirtschaft¬ 
lichen auch der berufspsychologischen Seite der Beratung schon früh erhöhte 
Aufmerksamkeit zugewandt und durch die Unterstützung der psychologischen 
Beobachtung, durch die Herausgabe der „Psychologischen Mitteilungen“, sowie 
durch die Anregung regelmäßiger berufspsychologischer Vorlesungen im Seminar 
und bei den Lehrgängen für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung am Staats¬ 
wissenschaftlichen Institut der Universität Münster diese Arbeiten stark ge¬ 
fordert. Es regte dann zur weiteren Vertiefung der berufspsychologischen 
Praxis die Einrichtung einer besonderen Provinzialabteilung für praktische 
Psychologie an, die durch Beschluß des Westfälischen Provinziallandtages 
zum 1. Juli 1921 eingerichtet und deren Leitung dem Berichterstatter über¬ 
tragen wurde. 

Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 20 


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—• Kleine Beiträge und Mitteilungen 


% 

Für die reibungslose Durchführung der berufspsychologiscben Aufgaben ist 
Klarheit in der Hinsicht notwendig, daß wir für die Behandlung der Berufs¬ 
beratung drei Stufen vor uns haben: die Zeit bis zum Schulabgang der 
Jugendlichen, die Zeit der tatsächlichen Berufsentscheidung und die Zeit der 
beruflichen Ausbildung. Diese Zeitabschnitte bedeuten für die Berufsberatung 
auch innerlich getrennte Arbeitsgebiete und erfordern aus diesem Grunde 
methodisch getrennte Behandlung. 

Die Zeit vor dem Schulabgang dient im wesentlichen der Berufsvorberatung. 
In dieser Zeit' muß für den Berufsuchenden die Berufswahl so weit vor¬ 
bereitet werden, daß er mit einiger Sicherheit diejenige Berufsgruppe findet, 
die seinen Verhältnissen, Neigungen und Fähigkeiten am ersten entsprechen 
wird. Die mitwirkende Schule wird daher zunächst die Entwicklung der 
Allgemeinhöhe der Veranlagung im Auge behalten und versuchen, durch eine 
ausreichend fortgeführte psychologische Beobachtung eine bestimmte 
Darstellung der individuellen Veranlagung des abgehenden Schülers zu geben. 
Diese Beobachtungen der Schule liegen nach ihrer Eigenart naturgemäß zu¬ 
nächst im Interesse des Unterrichtes — das zu beachten ist wesentlich, weil 
wir sonst die Mitarbeit der Lehrkräfte für die Ziele der Berufsberatung nicht 
erreichen —, müssen aber in ihren Gesamtergebnissen schließlich beim Über¬ 
tritt der beobachteten Jugendlichen in das praktische Leben für die richtige 
Berufswahl nutzbar gemacht werden. Da es sich bei der Berufsentscheidung 
zunächst nur darum handeln kann, die geeignete Berufsgruppe ausfindig 
zu machen und zum mindesten die Wahl völlig ungeeigneter Berufsgruppen 
auszuschließen, so wird das Ziel der psychologischen Beobachtung nach 
Möglichkeit zunächst derBestimmungderpsychischenGesamtveranlagung 
des Berufsuchenden Rechnung tragen müssen. 

Um die Zeit des Schulabganges muß dann die Entscheidung für eine be¬ 
stimmte Berufsgruppe fallen, in vielen Fällen auch schon für eine besondere 
Richtung innerhalb derselben. Hier beginnt die Tätigkeit des Berufsberaters, 
der bei der Beratung den Ausgleich schaffen will zwischen den gegebenen 
wirtschaftlichen Verhältnissen und den persönlichen Eigenschaften je nach 
Vorhandensein. Die Grundlagen zur individuellen Erkenntnis des Jugend¬ 
lichen muß der Berater jedoch von der Schule übernehmen und nach richtiger 
Verwendung an die weiterbildenden Stellen überleiten können. 

Wenn dann die Wahl einer bestimmten Berufsgruppe erfolgt ist, wird es 
vielfach noch möglich sein, auf Grund der besonderen Eignung und der ge¬ 
machten praktischen Erfahrungen die Einstellung auf eine besondere Berufs¬ 
tätigkeit noch mehr in den Vordergrund treten zu lassen. Diese Hinführung 
zur Verfeinerung der Berufstätigkeit und der praktischen Arbeit ist nicht mehr 
Angelegenheit der Schule und Ziel ihrer psychologischen Beobachtung, son¬ 
dern Sache derjenigen Stellen, die nach dem Schulabgange die weitere Aus¬ 
bildung des lernenden Nachwuchses in die Hand nehmen. In dieser Zeit 
der ersten praktischen Betätigung wird sich zeigen, ob und wie die vor¬ 
handenen Anlagen und besonderen Neigungen zur vollen Wirkung gelangen 
können. 

Methodisch liegt das Schwergewicht der Untersuchung der Allgemein¬ 
befähigung in der psychologischen Beobachtung, die vereinzelt auch durch 
psychologische Experimente eine Bestätigung ihrer Feststellungen finden kann. 
Die Einzelauslese dagegen mit ihren scharf umschriebenen beruflichen 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Eignungsvorbedingungen stützt sich zunächst auf experimentelle Feststellungen, 
ohne dabei die weiteren Beobachtungen der Leistungen und die Erfahrungen 
in der Praxis außer acht zu lassen. Von der Berufsvorberatung gelangen 
wir also zur Stufe def eigentlichen Berufsberatung und über diese zur Berufs¬ 
auslese, von der psychologischen Beobachtung der Allgemeinveranlagung und 
.der Eignung für große Berufsgruppen zu psychologischen Einzelprüfungen 
für bestimmte Berufszweige. Der Allgemeinbeobachtung sollen alle Schüler 
so weit unterstehen, daß zunächst eine Trennung nach Hochbefähigten, Durch¬ 
schnittsveranlagten und Minderbegabten möglich wird, weil gerade für die 
zuerst und zuletzt genannten Gruppen sich die Berufsberatung und Berufs- > 
auslese besonders schwierig gestaltet Beherrscht wird also die psychologische 
Beratung und Eignungsfeststellung von dem .Problem der Allgemein¬ 
beobachtung während der Schulzeit und von dem Problem der Sonder¬ 
feststellung undBerufsausles^währendderberuf liehen Ausbildungs¬ 
zeit. Wir berücksichtigen dementsprechend in der Praxis folgende Zeit¬ 
abschnitte: Eine Schulzeit mit eingehender Beobachtung zum Zwecke genauer 
Beschreibung der Allgemeinveranlagung; den Zeitpunkt der Beratung im 
Einzelfall auf Grund der Ergebnisse' der Schulbeobachtung und etwa noch 
hinzutretender experimenteller Feststellung allgemeiner Fähigkeiten; schlie߬ 
lich eine Eignungsfeststellung für besondere Berufszweige entsprechend der 
in der anschließenden Ausbildungszeit möglich werdenden Differenzierung 
nach den individuellen Anlagen. 

Für die Feststellung der besonderen Berufseignung ist als Vorbedingung 
das Herausarbeiten einer psychologischen Analyse der verschiedenen 
Berufsgruppen und Einzelberufe erforderlich. Es ist daher notwendig, 
die schon vorhandenen und in der Vorbereitung befindlichen berufskundlichen 
Materialien, welche bisher vorwiegend die wirtschaftliche Seite des betreffenden 
Berufes beachteten, auch nach der Seite der psychischen Anforderungen jedes 
Einzelberufes sorgfältig zu bearbeiten. 

Aus vorstehenden grundsätzlichen Erwägungen heraus waren für die Praxis 
zunächst folgende Aufgaben gegeben: 

1. Anregung und Förderung der psychologischen Beobachtung 
in der Schule. 

2. Förderung des Verständnisses für die richtige Verwertung und 
Benutzung psychologischer Hilfsmittel und Ergebnisse bei den 
Berufsberatern. 

3. Anregung und Förderung der psychologischen Eignungs¬ 
feststellung und Auslese für die praktische Berufsarbeit von 
Jugendlichen und Erwachsenen. 

4. Psychologische Überarbeitung und Neuaufstellung berufs¬ 
kundlichen Materials. 

Die Vorarbeiten und Versuche zur Durchführung dieser Ziele innerhalb des 
Arbeitsgebietes Westfalen und Lippe brachten im Laufe des Berichtsjahres 
reiche Erfahrungen. Zunächst wurde, um den berufspsychologischen Be¬ 
strebungen der Schule, der Berufsämter und des Wirtschaftslebens einen 
besonderen Mittelpunkt zu geben, in Dortmund die Einrichtung eines Institutes 
für praktische Psychologie vorgesehen, für welches die Räume nebst Ein¬ 
richtung im dritten Stock der neuzeitlich eingerichteten Franziskusschule 
(Söldersträße 95) von der Stadt Dortmund zur Verfügung gestellt wurden. 

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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Das Institut gliedert sich in eine Abteilung „Schulpsychologie“ und 
eine Abteilung „Wirtschaftspsychologie“. Träger der ersten Abteilung 
sind die Verbände der westfälischen Lehrer und Lehrerinnen, Träger der 
zweiten Abteilung ist die Provinzialabteilung für praktische Psychologie in 
Münster i. W. Leiter des Instituts ist der Berichterstatter. Die Abteilung 
„Schulpsychologie“ bearbeitet besonders die Praxis der psychologischen Be¬ 
obachtung und die Einstellung der Lehrkräfte an den Schulen auf berufs¬ 
psychologische Vorarbeiten; die Abteilung „Wirtschaftspsychologie“ fördert 
die Eignungsfeststellung und berufliche Auslese sowie die psychologische 
Berufsanalyse durch experimentelle Untersuchungen und bietet damit dem 
weitverzweigten Wirtschaftsleben der Provinz die Möglichkeit, eine einwand¬ 
freie Feststellung der psychischen Eignung der Arbeitskräfte zu erreichen. 

Zur Anregung und Förderung der psychologischen Beobachtung 
in der Schule ist es notwendig, mit den Lehrkräften der verschiedenen 
Schularten zusammenzuarbeiten, weil diese allein die Möglichkeit haben, 
psychologische Beobachtungen über längere Zeit (zunächst im Interesse des 
Unterrichtes, dann aber auch mit berufspsychologischer Einstellung) durch¬ 
zuführen. Daher gilt es vor allem, diese Lehrkräfte in die Beobachtung ein¬ 
zuführen und sie bei der praktischen Durchführung nach Möglichkeit zu 
unterstützen. Es sind Persönlichkeiten erforderlich, die gewillt und imstande 
sind, zunächst sich selbst in dieses psychologische Gebiet einzuarbeiten, die 
eigene Unterrichtstätigkeit in psychologischer Einstellung zu vertiefen und 
von Einzelfällen ausgehend unmittelbar aus dem Unterrichte heraus praktisch¬ 
psychologische Beobachtungen durchzuführen. Im Laufe der Zeit wird sich 
der Umfang der Beobachtungen vergrößern, Mitarbeiter werden hinzukommen, 
und schließlich wird durch die anregende Vorarbeit einzelner Lehrkräfte die 
systematische psychologische Beobachtung auch in der Schule heimisch 
werden. Diese Beobachtung soll, das sei grundsätzlich betont, aus kleinen 
Anfängen entstehen. Die Versuche mit einem psychologischen Personalbogen 
müssen an einzelnen Kindern beginnen und erst allmählich entsprechend der 
wachsenden Sicherheit und Gewandtheit des Beobachters weiter ausgedehnt 
werden. Eine allgemeine Einführung für alle Schulen und alle Klassen kann 
vorläufig noch nicht in Frage kommen. An Hand des von uns entworfenen 
psychologischen Personalbogens wurde zunächst in einer Reihe von Städten 
und Kreisen der Provinz durch Einführungsvorträge die Aufgabenstellung vor 
der gesamten Lehrerschaft und den örtlichen Berufsberatern besprochen. Aus 
diesem großen Kreise heraus werden die besonderen Interessenten, möglichst 
wenigstens einer aus jeder Schule, soweit sie sich aus eigenem Antriebe zur 
Mitarbeit zur Verfügung stellen, zu kleineren Arbeitsgemeinschaften für prak¬ 
tische Psychologie zusammengeschlossen und durch diese Arbeitsgemein¬ 
schaften unmittelbar in die Praxis der Beobachtung eingeführt. Die Arbeits¬ 
gemeinschaften führen in äußerer Anlehnung an die örtlichen Berufsämter 
ihre Arbeiten selbständig fort und werden von der Provinzialabteilung aus 
durch Anregungen, Richtlinien, Aufgabenstellung, Auswertung der Beobach¬ 
tungsgelegenheiten und -ergebnisse usw. fortlaufend unterstützt. Selbständige 
Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie bestehen bisher in Münster, 
Minden, Detmold, Lage, Gelsenkirchen, Gladbeck, Buer, Siegen, Lüdenscheid, 
Iserlohn, Recklinghausen, Herne, Witten, Hagen, Dortmund, Bochum, Rheine, 
Varendorf, Bottrop, Unna, Gütersloh, Herford, Hamm, Schwelm, Gevelsberg, 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Wanne-Eickel; weitere Arbeitsgemeinschaften sind noch in Vorbereitung für 
Arnsberg, Lippstadt, Bielefeld, Paderborn und Soest. Alle Arbeitsgemein¬ 
schaften erhalten leihweise besonders zusammengestellte Sammelmappen, in 
denen die neueren psychologischen Beobachtungsbogen nebst den zugehörigen 
Erläuterungsschriften vereinigt sind, zur gemeinsamen Besprechung und eine 
Gesamtübersicht über die wichtigere Fachliteratur zur praktischen Verwen¬ 
dung. Innerhalb jeder Arbeitsgemeinschaft können sich kleinere Gruppen 
bilden zur Durchführung einzelner Aufgaben, z. B. Beobachtung der Schul¬ 
anfänger, Zusammenstellen der Beobachtungsgelegenheiten für einzelne Unter¬ 
richtsfächer, Auslese für höhere Schulen, Beobachtung der Schulabgänger, 
der Minderbefähigten usw. Bisher sind schon über 10000 psychologische 
Personalbogen nebst der einführenden Anleitung für die berufspsychologische 
Beobachtung zur Verbreitung gebracht. In der Zeitschrift „Psychologische 
Mitteilungen“ wurden außerdem monatlich zahlreiche Fachaufsätze zur Arbeits¬ 
und BerufspsychologRr veröffentlicht, dazu noch in einigen besonderen Schrif¬ 
ten (bisher sind erschienen: 1. Dr. J. Weber: „Die Schule im Dienste der 
Berufsberatung“ und „Psychographie, Schule, Beruf“, Verlag Willy Ehrig, 
Heidelberg 1922) die Grundlagen für die psychologische Berufsberatung, 
Beobachtung und Eignungsfeststellung unter den Gesichtspunkten der prak¬ 
tischen Durchführung eingehend behandelt. Im Institut für praktische Psycho¬ 
logie in Dortmund fand im V. S. ein sechswöchiger Kursus der Abteilung 
„Schulpsychologie“ statt zur Behandlung der für die Schule und ihre Lehr¬ 
kräfte in Frage kommenden psychologischen Themata der Berufsberatung. 
In anderen Städten wie Gelsenkirchen, Hörde, Gladbeck, Coesfeld, Münster usw. 
beteiligte sich die Provinzialabteilung durch Vorträge an den dort abgehal¬ 
tenen Tagungen für Berufsberatung und praktische Psychologie. 

Die Erfahrungen, welche in diesem Teile der praktischen Arbeit gemacht 
worden sind, haben gezeigt, daß hinreichendes Allgemeininteresse für die ge¬ 
nannten Aufgaben, besonders innerhalb der Arbeitsgemeinschaften, durchaus 
vorhanden ist, darüber hinaus vielfach auch gutes theoretisches Verständnis 
für psychologische Fragen. Die praktische Durchführung psychologischer Be¬ 
obachtungen während des Unterrichtes bedarf aber wegen ihrer Eigenart noch 
eingehender Schulung und Erfahrung, die erst langsam in sorgfältiger Klein¬ 
arbeit gewonnen werden müssen. Bei einzelnen Arbeitsgemeinschaften in 
der Provinz zeigt sich besonders erfolgreiches Arbeiten, vor allem in der Schulung 
der Mitarbeiter, im systematischen Zusammentragen günstiger Beobachtungs¬ 
gelegenheiten und in der kritischen Stellungnahme zu den Einzelheiten des 
psychologischen Personalbogens auf Grund der praktischen Unterrichts¬ 
erfahrungen; bei anderen Arbeitsgemeinschaften befindet sich die praktische 
Entwicklung auf guten Wegen; bei einigen wenigen bedarf es, meistens aus 
Mangel an hinreichend vorgebildeten und erfahrenen Führern, fortlaufender 
Anregung und Weiterführung. Die beteiligten Schulaufsichtskreise widmen 
der Frage der psychologischen Beobachtung vielfach besondere Aufmerksam¬ 
keit und planen im Oktober des Jahres im Verein mit der Provinzialabteilung 
und dem Institut in Dortmund für die westfälische Lehrerschaft eine große 
Tagung zur Behandlung der praktischen Aufgaben der Berufsberatung. Ähn¬ 
liche Veranstaltungen sollen durch die Arbeitsgemeinschaften anderer Städte 
gleichfalls im kommenden Winter durchgeführt werden. 

Im ganzen gesehen ist heute in Westfalen und Lippe die innere Teilnahme 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 




der Lehrerschaft an den berufspsychologischen Aufgaben geweckt und eine 
allgemeine grundlegende Orientierung dieser Kreise über die zur Bearbeitung 
stehenden Probleme erreicht; an zahlreichen Orten wird darüber hinaus 
schon wertvolle Mitarbeit geleistet, die allmählich weiter vertieft und ausgebaut 
werden muß. Auch den experimentellen Versuchen innerhalb der Schule 
als Mittel zum Vergleich und zur Bestätigung psychologischer Beobachtungs- 
ergebnisse wird an einzelnen Schulen (z. B. Wetter, Wattenscheid, Dortmund 
usw.) größere Aufmerksamkeit geschenkt? 

( Ebenso wichtig wie die Vorarbeit der Schule ist die Förderung des Ver¬ 
ständnisses für richtige Verwendung und Benutzung psycho¬ 
logischer Hilfsmittel und Ergebnisse bei den Berufsberatern. 
Diese Frage stößt auf besondere Schwierigkeiten, weil die Zahl der haupt¬ 
amtlichen Berater, die mit voller Kraft sich ihrer Aufgabe widmen könnten, 
aus finanziellen Gründen noch verhältnismäßig gering ist. Trotzdem war 
einer größeren Zahl die Teilnahme an den psychologischen Vorlesungen der 
Lehrgänge* und des Seminars für Arbeitsvermittlung und Berufsberatung mög¬ 
lich und damit eine Fühlungnahme auch für die berufspsychologische Praxis 
gegeben. Durch den Inhalt der „Psychologischen Mitteilungen“ wurde weiteres 
Material an die Berufsberater herangebracht. Ebenso beteiligten sich die¬ 
selben bei den örtlichen Vorträgen und Besprechungen für die Arbeits¬ 
gemeinschaften für praktische Psychologie, werden so auch mit der psycho¬ 
logischen Vorarbeit der Schule vertraut gemacht und allmählich vielleicht 
mehr dazu geführt werden können, aus den Beobachtungen der Schule und 
den Angaben des Beobachtungsbogens die erforderlichen Schlüsse.für die 
praktische Berufsberatung zu ziehen und stärker als bisher auch die Eignung 
des Berufsuchenden zu berücksichtigen. Bei den Berufsberater-Konferenzen 
in Detmold, Gelsenkirchen und Altena im Dezember 1921 stand ebenfalls 
die Mitwirkung der Berufsämter bei den berufspsychologischen Aufgaben be¬ 
sonders zur Beratung. Die durch das Seminar für Arbeitsvermittlung und 
Berufsberatung am Staatswissenschaftlichen Institut der Universität Münster 
angekündigten und vom Berichterstatter gehaltenen berufspsychologischen 
Vorlesungen und Übungen behandelten: In W. S. 1920/21: „Die Praxis der 
experimentell-psychologischen Untersuchung von Berufseignung und Berufs¬ 
begabung“ ; S. S. 1921: „Arbeiterauslese und Berufsberatung auf Grund der 
psychologischen Beobachtung und Prüfung mit. praktischen Übungen zur 
kritischen Beurteilung der Methoden“; W. S. 1921/22: „Die Praxis der psycho¬ 
logischen Berufsberatung (Beobachtungsbogen und Eignungsprüfung)“ und 
„Psychologische Berufskunde“; S. S. 1922: „Psychotechnik in der Industrie 
und im Bergbau“ und „Übungen zur psychologischen Berufskunde“; W. S. 
1922/23: „Die psychotechnische Auslese der Begabten in Schule und Beruf“ 
und „Psychotechnische Übungen zur Berufs- und Begabtenauslese“. Der 
dringenden Frage der Weiterbildung der Berufsberater wird vielleicht mit 
dejn Inkrafttreten des Arbeitsnachweisgesetzes und mit der dadurch gegebenen 
Erleichterung der finanziellen Voraussetzungen unter günstigeren Bedingungen 
nähergetreten werden können. Daß hier noch vieles zu tun bleibt, darüber 
besteht allseitige Übereinstimmung. 

Die Anregung und Förderung der psychologischen Eignungs¬ 
feststellung und Auslese für die praktische Berufsarbeit von 
Jugendlichen und Erwachsenen fand bei den Vertretern unseres Wirt- 


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schaftslebens, besonders in den Lehrwerkstätten der Großindustrie, weit- 
/ gehendes Verständnis. Auch die Arbeitnehmerkreise standen überall, wo 
eine Aussprache über die allseitigen Vorteile einer vernünftigen Auslese und 
Gignungsfeststellung herbeigeführt werden konnte, dem Problem zustimmend 
gegenüber. Daher sind Industrie-, Gewerbe- und auch Schulkreise mehrfach 
an die Provinzialabteilung herangetreten, ihnen bei der beruflichen Auslese 
von Fachkräften, Lehrlingen, Schülern für bestimmte Klassen usw. behilflich 
zu sein und im Interesse des Betriebes wie der Berufsuchenden bei einer 
Berufsberatung, auf Grund psychotechnischer Prüfungen mitzuwirken. Für 
die Durchführung derselben sind zum Teil psychotechnische Apparate not¬ 
wendig, zum Teil besondere Prüfverfahren und Aufgaben (psychologische 
l^sts) auszuarbeiten, vorzuprüfen und auf ihre Bewährung zu untersuchen. 
Die notwendigen Vorarbeiten in der Zusammenstellung der Prüfverfahren sind 
durchgeführt und werden weiter ausgebaut, die erforderlichen Apparate sind 
als Eigentum der Provinzialabteilung für praktische Psychologie beschafft 
worden und werden zunächst im Institut in Dortmund benutzt, stehen aber 
auch überall anderswo in der Provinz bei psychotechnischen Prüfungen und 
Kursen zur Verfügung. Der vom Institut für praktische Psychologie in Dort¬ 
mund, Abteilung „Wirtschaftspsychologie“, am 29., 30. und 31. Mai 1922 ver¬ 
anstaltete Psychotechnische Kursus zur praktischen Einführung in die Auf¬ 
gaben und Arbeitsmethoden der wirtschaftlichen Psychotechnik fand unter 
reger Beteiligung von Industrie, Handel und Gewerbe, Straßenbahngesell¬ 
schaften, Zechenverwaltungen, Eisenbahndirektionen, Berufsämtem und psy¬ 
chologischen Fachvertretern ungeteilte Zustimmung. Die Vorträge und Übungen 
behandelten: „Aufgaben, Möglichkeiten und Leistungen der Psychotechnik“, 
„Aus der Praxis psychotechnischer Eignungsfeststellungen im rheinisch-west¬ 
fälischen Industriebezirk“, „Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und 
Bewährung psychotechnischer Eignungsfeststellungen“ (Dr. J. Weber); „Er¬ 
fahrungen bei der psychotechnischen Auslese industrieller Lehrlinge in Bremen“ 
(Dr. Th. Valentiner); Die Lehrlingsauslese nach dem Hamburger Verfahren“ 
(Rektor Beyer); „Aufbau, Eichung und Kontrolle psychotechnischer Apparate“ 
(Ingenieur E. Gottschalck). Weitere Kurse ähnlicher Art wurden dringend 
gewünscht. 

In Dortmund wurde bei der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks-A.*G., 
Abteilung Union, im Dezember eine Eignungsprüfung an 300 Lehrlingen 
durchgeführt (Bericht in Werkzeitschrift „Das Werk“, 1. Jahrg., Heft 12 und 
in den „Psychologischen Mitteilungen“, 2. Jahrg., Heft 11—12). Weitere 
Lehrlingsauslesen fanden in Detmold bei den Lippischen Werkstätten (21 Lehr¬ 
linge) und in Hörde bei der „Phönix-A.-G.“ für 180 Lehrlingsbewerber statt 
(Untersuchung auf Einstellung als Dreher, Schlosser, Elektriker, Modellschreiner 
und kaufmännische Lehrlinge). In Siegen hat die Siegerländer Eisen- und 
Hüttenindustrie die Leitung der Eisen- und Hütten-Fachschule mit den Vor¬ 
arbeiten zur Errichtung einer psychotechnischen Prüfstelle in Verbindung mit 
der Provinzialabteilung beauftragt Die erste Aufnahmeprüfung für die Fach¬ 
schule wurde für 48 Bewerber im April vorgenommen. Im Laufe des Winters 
ist die vollständige Einrichtung der Prüfstelle ins Auge gefaßt. Mit der 
Psychotechnischen Prüfstelle der Reichs-Eisenbahnverwaltung und mit den 
beteiligten Stellen verschiedener Eisenbahndirektionen sind Besprechungen 
über die Durchführung psychotechnischer Prüfungen herbeigeführt worden. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Die Gelsenkirchener Bergwerks-A.-G., die Akkumulatorenfabrik in Hagen, die 
Deutsche Maschinenfabrik in Wetter und die Union in Dortmund bringen der 
psychotechnischen Auslese innerhalb der Lehrwerkstätten großes Interesse 
entgegen und unterziehen alle angemeldeten Jugendlichen einer psychotech¬ 
nischen Eignungsfeststellung. Im September 1922 wird das Institut in Dort¬ 
mund, dessen Hilfsmittel an Apparaten und Prüfaufgaben ständig vermehrt 
werden, im Aufträge der Union wiederum die Prüfung von über 300 Jugend¬ 
lichen durchführen. 

Die Erfolge der bisherigen Eignungsprüfungen sind durch .Vergleichs- und 
Kontrollmaßnahmen, die von der Prüfleitung nicht zu beeinflussen waren, 
seitens der Betriebe mehrfach nachgeprüft worden (vgl. z. B. „Psychologische 
Mitteilungen“, 2. Jahrg., Nr. 11—12). Die Ergebnisse führten zu fast voll¬ 
ständiger Übereinstimmung zwischen der Beurteilung durch die Praxis und 
durch die Prüfung. Das Prüfungsmaterial nebst den festgelegten Eignungs¬ 
kurven und den Aufzeichnungen über das individuelle Verhalten jedes 
Prüflings bei Lösung der Einzelaufgaben befindet sich bei der Provinzial¬ 
abteilung, um als Grundlage für die Beobachtung der späteren Bewährung 
zu dienen und andererseits eine Überprüfung der verschiedenen Auslese¬ 
verfahren auf Grund der Betriebserfahrungen zu ermöglichen. Für das 
etwas anders geartete Ausleseproblem im Kohlenbergbau — hier handelt es 
sich in erster Linie um den Grubenaufsichtsdienst mit seinen weitgehenden 
Anforderungen an persönliche Zuverlässigkeit und ausreichende Geschicklich¬ 
keit in der Behandlung der Arbeiter — sind nach Besprechung mit der 
Leitung der Bergschule in Bochum psychotechnische Vorarbeiten im Gange. 
Auch der Berufsberatung der Minderbefähigten und der Fürsorgezöglinge 
wird noch Aufmerksamkeit zuzuwenden sein, weil auf diesen Gebieten 
wegen der Schwierigkeit praktischer Erfolge allseitige Zusammenarbeit er¬ 
forderlich ist. 

Die psychologische Überarbeitung und Neuaufstellung berufs- 
kundlichen Materials ist zunächst darauf eingestellt, die vom Landes¬ 
berufsamt Westfalen und Lippe bearbeiteten Merkblätter über Bergbau, 
Textilindustrie und Baugewerbe, sowie über verschiedene Zweige der Metall¬ 
großindustrie nach der psychologischen Seite zu verarbeiten und zu er¬ 
gänzen. Diese Arbeiten erfolgen in enger Verbindung mit den praktischen 
Betrieben der einzelnen Berufe, die ihrerseits bereitwilligst ihre Mitarbeit 
und Unterstützung zur Verfügung gestellt haben. Fertiggestellt ist die Über¬ 
arbeitung der Merkblätter aus der Textilindustrie für die Baumwollspinnerei 
(Mischungsarbeiter und Arbeiter an den Öffnern und Schlagmaschinen, 
Krempier und Kratzenarbeitern, Strecker und Streckerinnen, Doubliererin, 
Vorspinnerin, Ringspinner, Selfaktorspinner, Spulerin und Hasplerin). Andere 
Berufe werden fortlaufend weiter bearbeitet. Nebenher sind in den „Psycho¬ 
logischen Mitteilungen“ (Jahrg. 3, Heft 1—3) zusammenfassende Ausführungen 
zur psychologischen Berufskunde auf unsere Anregung hin veröffentlicht 
worden. Für eine Reihe akademischer Berufe ist außerdem sehr reich¬ 
haltiges berufspsychologisches Material gesammelt worden, um auch für diese 
Berufsgruppen Vorarbeiten zu einer psychologischen Berufsanalyse zu schaffen. 

Das psychologisch-pädagogische Laboratorium in Amsterdam, unter der 
Leitung von Prof. Dr. Geza Rövösz stehend, beschäftigt sich sowohl mit 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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psychologischen, wie mit pädagogischen Fragen. Entstanden ist es aus 
dem Bedürfnis der psychologischen Beratung heraus, das die Schulen in 
ihren praktisch-psychologischen, didaktischen und organisatorischen Arbeiten 
sehr oft fühlen. Sie erwarten sowohl von den bisherigen Leistungen der 
allgemeinen Psychologie und der pädagogischen Psychologie wie von der 
aktuellen experimentellen Forschung Antwort auf ihre wichtigsten pädagogi¬ 
schen Fragen. Vor allem haben höhere Schulen, die sogenannten Lycea (ein 
dem deutschen Gymnasium und Realgymnasium ähnlicher, jedoch in manchen 
Hinsichten entwickelterer Schultyp), daran Interesse gezeigt; jedoch auch die 
Elementarschulen sprachen diese Hilfe oft und gern an. — Das Laboratorium 
stellt in den Schulen experimentelle Untersuchungen an und leitet solche 
Untersuchungen, die von der Schulleitung selbst angeregt und eingeleitet 
werden. Sowohl didaktische Methoden wie Reformfragen werden dem Labo¬ 
ratorium zur Begutachtung zugeschickt. Es ist auch vorgekommen, daß 
ein Vorschlag der Regierung durch das Laboratorium behandelt und begut¬ 
achtet wurde. Auch werden Schüler dem Laboratorium zugewiesen, um 
sie psychologisch zu untersuchen und über sie Psychogramme aufzustellen. 
Die Leitung des Laboratoriums verfolgt dabei das Ziel, die Lehrerschaft zu 
der psychologischen'und pädagogischen Arbeit heranzubilden und, sie trachtet 
danach, zu gegebener Zeit in jeder der angeschlossenen Schulen einen psycho¬ 
logisch ausgebildeten Mitarbeiter zu haben. Durch den engen Zusammenhang 
mit dem pädagogischen Lehrstuhl und dem pädagogischen Seminar der Uni¬ 
versität ist es ermöglicht, daß auch Studenten an den Arbeiten teilnehmen 
und selbständige wissenschaftliche Arbeiten durchführen. 

Aus bisherigen Arbeiten des Laboratoriums sind folgende zu erwähnen: 
R6v§sz, Über spontane Selbstbeobachtung bei Kindern. Zeitschr. f. an- 
gew. Psychol. 21; — Revesz und Hazewinkel, Über die didaktische Be¬ 
deutung der Film- und Diapositivvorführung (holländisch); — Revesz, Über 
audition coloröe. Zeitschr. f. angew. Psychol. 21; — Über die Ferienfrage; — 
Vorschlag zur Neuregelung des Stundenplanes; —de Graaf und Hazewinkel, 
Über Koinstruktion (statistische Untersuchung); Tierpsychologische Unter¬ 
suchungen von Revesz. 


Nachrichten. l.Dr. med.et phil. Fritz Qi ese, bisher beauftragter Dozent an der Universität Halle 
und der Handelshochschule Cötben, wurde für Psychotechnik an die Technische Hochschule Stutt¬ 
gart berufen. Es wird dort ein Institut für betriebswissenschaftliche Versuche neu errichtet, dessen 
psychologische Abteilung Giese leiten soll. Man beabsichtigt hier, neben der Forschung und 
dem Hochschulunterricht auch der Allgemeinheit (insbesondere der Lehrerschaft und den Berufs¬ 
beratungskreisen) nützlich zu sein. So soll auch eine öffentliche, praktische Prüfstelle dem 
Institut angegliedert werden. Man gedenkt hier Fragen der Eignungsprüfung im gemeinnützigen 
Sinne zu erledigen und will durch Dr. Giese Kurse und Prüfungen abbalten lassen. 

2. Die Universität Jena bat Prof. Carl Eitz, dem verdienstvollen Begründer der Ton wortmethode, 
_jjie Würde des Dr. phil. h. c. verliehen. 

3. Universitätsprof. Dr. Wendelin Toischer in Prag, der O. Willmanns pädagogischer 
Gedankenwelt nahestand, ist im Alter von 67 Jahren gestorben. 

4. Ein Musikpädagogiscbes Forschungsinstitut ist dieses Jahr in Berlin begründet 
worden. Es leistet eigene Forschungsarbeit, sammelt gewonnene Ergebnisse und wertet das 
wissenschaftlich Gesicherte für die Unterricbtsprazis aus. Zur Verbreitung musikpäda¬ 
gogischer Kenntnisse werden Vortragsreihen nebst Übungen veranstaltet und Arbeitsgemein¬ 
schaften eingerichtet. Die Leitung liegt in den Händen von Univ.-Prof. Dr. K. L. Schaefer und 
Walter Kühn. Das Institut ist zugleich „Musikpädagogische Auskunftsstelle“ für alle 


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Literaturbericht 


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Fragen methodischer, unterrichtstechnischer und wissenschaftlicher Art. Die Geschäftsstelle be¬ 
findet sich Berlin W, Pallasstr. 12. 

5. Das 1919 von Giese begründete Institut für praktische Psychologie in Halle wurde 
in zweckentsprechende Räume verlegt, die ein weiteres gedeihliches Arbeiten ermöglichen. Als 
neue Einrichtung ist dabei die Verteilung von Arbeitsplätzen im Institut an die Lehrerschaft ge¬ 
troffen worden. Der erste Kursus fand im laufenden Sommer statt und behandelte die Ein¬ 
führung in die praktischen Methoden znr psychologischen Grundschuldifferen¬ 
zierung. Die Teilnehmer waren in ihren Dienststunden zu diesen Obungen von der Schul¬ 
behörde verpflichtet worden. Der Kursus wird wiederholt, so daß auf diesem Wege ein Stamm 
geschulter Pädagogen der Behörde für einschlägige Fragen der Schülerdifferenzierung zur Ver¬ 
fügung steht. Die Leitung des Instituts ist — nach der Abberufung Dr. Gieses an die Tech¬ 
nische Hochschule in Stuttgart — der langjährigen Assistentin Dr. Anna Martin übertragen worden. 


Literatürbericht. 

Besprechungen. 

Eduard Spranger, Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. Zweite, 
wesentlich erweiterte Auflage. Leipzig 1923. Quelle & Meyer. 251 S. 

Das Wesen des Erziehers liegt in einem doppelten Eros: in der Liebe zu den geistigen 
Werten und in der Liebe zu den sich entwickelnden Seelen, in denen es produktive Wertmög¬ 
lichkeiten ahnt (S. 154). Durch diese Formel läßt sich auch Eduard Sprangers pädago¬ 
gisches Wirken charakterisieren. Das vorliegende Buch, das einen ausgezeichneten Einblick in 
die gesamte Forschungsarbeit E. Sprangers gewährt, zeigt, wie er die Liebe zu den geistigen 
Werten zu wecken vermag, wie er zugleich auch die Erzieher mit Verständnis und Liebe zu 
der heranwachsenden Jugend erfüllt. 

Durch kulturphilsophische und kulturpsychologische Beobachtungen erweckt er die Liebe 
zu den geistigen Werten. Der erste Aufsatz des Buches über „die Hauptströmungen der Päda¬ 
gogik vom Altertum bis zur Gegenwart“ zeigt, wie Spranger durch die Darstellung der Ge¬ 
schichte der Pädagogik eine kulturphilosophische Besinnung herbeizuführen vermag. Er spürt 
der Verflechtung des Einzellebens in dem Kulturzusammenhange nach, und Persönlichkeiten wie 
Luther (S. 31), Comenius (S. 57), Rousseau (S. 64), die er in den nächsten Aufsätzen dar¬ 
stellt, werden uns zum Erlebnis. Man kann diesea Männern gegenüber nicht mehr gleichgültig 
bleiben, man fühlt sich in Verehrung zu ihnen hingezogen. Man sieht beispielsweise, wie 
Comenius an der Tragik seines Jahrhunderts litt, wie die Menschheit seiner Tage durch religiöse 
Gegensätze gespalten war, wie sein Leben ein „Ringen nach Einheit, Mittelpunkt und Festigkeit“ 
war. In dieser Einstellung erst kann man seine Arbeit am Schulbau verstehen; er war nicht 
nur der „Apostel von Anschauung und Erfahrung, den die Lehrbuchpädagogik aus ihm gemacht 
hat“ (S. 57). Bei der Lektüre dieser Aufsätze regt sich für alle künftige Lehrerbildung der 
Wunsch, daß für eine liebevolle und eingehende Erforschung der Geschichte der Pädagogik 
Raum gegeben werde. Das pädagogische Gegenwartsleben wird dadurch weitgehend bereichert 
und geläutert werden. 

Sprangers pädagogisches Denken ist aber nicht einseitig historisch gerichtet, es sucht sich die 
geistigen Werte im Leben der Gegenwart auf (vgl. seine umfassende Schrift: Lebensformen, 
Halle 1922, er ergründet die seelischen Bedingungen des Werterlebens. Der Aufsatz „Eros“ 
stellt in sprachlich meisterhafter und zugleich tapferer Weise die Zusammenhänge 
zwischen Eros und dem Werterleben heraus. Der Aufsatz über „die Bedeutung der wissen- 
chaftlichen Pädagogik für das Volksleben 44 enthält eine „Pädagogik der Realitäten 44 (S. 138); 
er legt darin die Forderungen dar, die die großen Lebensgebiete: Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft: 
soziales und politisches Leben in unseren Tagen an die Jugend stellen müssen. 

Er erörtert ferner brennende Gegenwartsfragen: Das Verhältnis der Allgemeinbildung 
zur Berufsbildung (S. 159), das Problem des Aufstiegs (S. 178). Der Aufsatz: „Die 
Erziehung der Frau zur Erzieherin 44 verdient in der Gegenwart große Beachtung. Nach den 
neueren Reformplänen scheint es so, als wenn das Mädchenbildungswesen analog dem Knaben¬ 
bildungswesen geordnet werden sollte. Spranger zeigt in seinem Aufsatz, wie besondere Wesens- 
züge der Frau im Aufbau des Frauenbildungswesens besondere Berücksichtigung fordern. 


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Literaturbericht 


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Der letzte Aufsatz „Von der ewigen Renaissance' 1 gibt eine feine Psychologie der Jugend¬ 
lichen; er führt den Erzieher an das Herz des Jugendlichen heran, erfüllt ihn mit der „Liebe 
zur sich entwickelnden Seele 11 . 

Das Buch Sprangers gehört in die Hand aller derer, die am deutschen Erziehungswerke 
mitarbeiten; von hoher wertphilosophischer Warte aus will es die pädagogische Wirklichkeit 
unserer Tage gestalten helfen. 

Die Schüler Sprangers werden das Buch auch in seiner zweiten, erweiterten Auflage lebhaft 
begrüßen; es wird in ihnen die unzähligen Arbeitsimpulse erneuern, die sie in Vorlesungen und 
Übungen von ihrem Meister erhielten. Alle die, die Spranger in seinen Schriften und in seinem 
Wirken noch nicht kennen, seien auf das Buch verwiesen. Sie werden hier eine päda¬ 
gogische Persönlichkeit kennen lernen, die in nachhaltiger Weise ein vielseitiges pädagogisches 
Problerabewußtsein zu wecken versteht. 

Leipzig. Karl Reumuth. 

Dr. Wilhelm Strohmayer, Prof. a. d. Universität Jena, Die Psychopathologie des 
Kinderalters. Vorlesungen für Mediziner und Pädagogen. Zweite, neubearbeitete Aufl 
München 1923. Bergmann. 359 S. Grundpreis 6.JS0 M. 

Das Werk, das auch von keinem geringeren als Rossolimo ins Russische übersetzt worden ist, 
führt von den leichtesten seelischen Anomalien im Kindesalter in geschlossenem Zuge hin zu 
den vollentwickelten Geisteskrankheiten des Kindes und gibt — ohne Sucht nach Vollständigkeit — 
von dem weiten Gebiete ein schön abgerundetes, wohlgegliedertes Bild. Es setzt ein mit 
der allgemeinen Ätiologie und Prophylaxe kindlicher Nervosität, bespricht darauf die psycho¬ 
pathischen Konstitutionen und verweilt weiter bei Neurasthenie und Chorea. Es finden dann 
Hysterie und Epilepsie besonders eingehende Darstellung. Ausgebreiteter wird schließlich auch 
der jugendliche Schwachsinn behandelt. Ein Überblick über die wichtigsten akuten Geistes¬ 
krankheiten schließt ab. Als eine verdienstliche Beigabe ist das umfassende Literaturverzeichnis 
zu bewerten. 

Strohmayer will sich an Mediziner und Pädagogen wenden. Eine in ihrer Schwierigkeit 
nicht zu unterschätzende didaktische Aufgabe, die er u. E. von dem Standpunkte aus, den 
er nach der Forderung eines gleichsinnigen gemeinsamen Wirkens von Arzt und Lehrer 
in der Einleitung entwickelt, trefflich meistert. Die Psychiatrie darf der Pädagogik »das 
wissenschaftliche Hausrecht im geistigen Leben der Jugend u nicht streitig machen; der Psychiater 
hinwiederum muß sich dagegen verwahren, daß ihm von unzuständiger pädagogischer Seite in 
seine Kunst hineingepfuscht werde. »Die Schule ist die ureigene Domäne des Pädagogen, in 
der der Psychiater Gast ist. Seine Aufgabe ist erfüllt, wenn er dem Lehrer die krankhaften 
geistigen Schwächlinge auf Grund seiner psychiatrischen Diagnostik in gemeinsamer Besprechung 
und Verwendung der schulischen Beobachtungen aufzeigt, auf besondere dem krankhaften Zu¬ 
stande der Schwachbegabten entspringende Kinderfehler aufmerksam macht und die Wege weist, 
auf denen sie gesundheitlich gefördert .. . werden können. Außerdem muß der Psychiater bei 
der sauberen Auslese der Hilfsschüler mitwirken.“ "Dazu bedarf es, daß beide — Lehrer und 
Arzt — wechselseitig tiefes Verständnis für die Eigenart ihres besonderen Wirkungsfeldes zu 
gewinnen streben. Der Pädagoge, der Grenzen seines Könnens bewußt, wird dann nicht ver¬ 
leitet werden, mit einem psychiatrischen Halbwissen auf eigene Faust zu kurieren, und vom 
Psychiater ist zu erhoffen, daß er sich nur als Berater im Erziehungsplane weiß, sich nicht in 
schulische Interna einmischt und auch den Schein der ärztlichen »Kontrolle 11 des pädagogischen 
Tuns meidet. Aber »wer im Grenzlande mitreden will, muß die Sprache des Nachbarn ver¬ 
stehen 11 . Und so macht Strohmayer in seinen Vorlesungen keine peinlichen Zugeständnisse an 
eine Popularisierung seines Gegenstandes — weder zugunsten des pädagogischen noch des 
medizinischen Hörers. Er bedient sich durchweg der für den Laien nicht eben leicht zugäng¬ 
lichen psychiatrischen Fachausdrücke — wenn auch eine leichte Anpassung nicht zu verkennen 
ist —, und er zieht überall Sachverhalte des schulischen Gebietes heran, in denen sich wieder nur 
der Lehrer in voller Kennerschaft weiß. Daß durchweg viel und vielseitiges Kasuistisches ein¬ 
gewebt ist in die entwickelnde Darstellung, gibt dem Buche einen besonderen Reiz. Sch. 

Paul Häberlin, Prof., an der Universität Basel, Der Leib und die Seele. Basel 1923. 
Kober. 210 S. 

Häberlin sucht in den wirren Begriffsgebrauch, in dem die Ausdrücke Seele, Leib und 
Körper vieldeutig auftreten, sichere Klarheit zu bringen und mit dieser Aufklärung dann theo¬ 
retische Probleme, die immer aufs neue wieder das menschliche Denken bewegen auf seine Art 


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Literaturbericht 


zu lösen, ln der vollen Wirklichkeit ist ihm der Mensch »ganz Seele und nichts als-Seele* — 
in einem anderen als dem geläufigen Sinne freilich, in dem sonst „Seele“ als Inbegriff der 
Bewußtseinserscheinungen gedacht ist. ,Die Gesamtseele erscheint in Fremdform als sinnliche 
Gestalt* — als „Körper“. Mit ihm als Erscheinungsform nicht gleichbedeutend, drückt die 
Realität „Leib“ (wenn der Ausdruck nicht im weiteren Sinne als identisch mit der Gesamtseele 
verwendet wird), die unverständliche und bewußtseinsunfähige Partie der Gesamtseele* aus und 
„Leib** steht dann der „Seele im engeren Sinne“ als Partner gegenüber, mit ihr im Zusammen¬ 
hang des ganzen Menschen, also der Seele im weiteren Sinne, struktuell und kausal-genetisch 
verbunden. Bei dieser Auffassung von dem Erscheinungscharakter aller Körperlichkeit und der 
seelischen Art alles Wirklichen fällt dann Jeder Gedanke an eine Gebundenheit der Seele an 
den Körper dahin. — Den praktischen Auswirkungen dieser einheitlichen Anschauung, die 
in schönen Gedankenentwicklungen dargestellt wird, geht Häberlin nicht nach. Er gibt nur 
gelegentliche Ausblicke. So z. B. auf den Sachverhalt, der hinter den pädagogischen^Gegriffen 
„körperliche Erziehung** und „Leibeskultur** steht (S. 207). „Erzogen wird niemals der Körper; 
denn er ist keine Realität •.. Was man unter körperlicher Erziehung versteht, ist Erziehung 
des Menschen auf dem Wege Über die Übung seiner peripher-physiologischen Funktionen. Man 
kann dabei mehr Gewicht auf die Ausbildung dieser peripher-leiblichen Funktionalität als solche 
legen oder dann auf die Erziehung zur „Energie“, „Disziplin“ usw., also zentrale und teilweise 
auch körperliche Funktionalität. Im ersten Fall bildet man den „Leib** aus, im zweiten Fall 
gilt die Ausbildung mehr der „Seele** (im engem Sinne), und die Leibesübung ist dann Mittel 
zum Zweck. In beiden Fällen aber ist der Körper nur die Erscheinungsform dessen, was 
gebildet wird, und dieses selber ist immer die gesamtseelische Realität des Menschen, welche 
ja sowohl den „Leib** wie die Seele umfaßt. 

Ohne zu den Anschauungen Häberlins an diesem Orte hier Stellung zu nehmen und damit 
ewige Streitfragen menschlichen Denkbemühens aufzugreifen, sei sein .neues Werk ebenso 
empfohlen, wie seine anderen philosophischen und rein pädagogischen Schriften: Wissenschaft 
und Philosophie, ihr Wesen und ihr Verhältnis — Die Grundfrage der Philosophie — Das 
Gewissen — Das Ziel der Erziehung — Wege und Irrwege der Erziehung — Kinderfehler als 
Hemmungen des Lebens — Eltern und Kinder (Psychologische Bemerkungen zum Konflikt der 
Generationen). Nicht freilich, daß in diesem reichen literarischen Werke des verstorbenen 
Schweizer Gelehrten, der aus der pädagogischen Praxis aufgestiegen ist, geniale Offenbarungen 
gegeben seien. Aber was sich als Befunde seines einbohrenden Denkens und als Beute seines 
wachen Umblickes im kulturellen Leben schriftstellerisch niedergeschlagen hat, ist so einsichtig 
und umsichtig, so klar und vernünftig und in so gefälliger Prägung gegeben, daß es sich über 
das Mittelmaß Jener pädagogischen und philosophischen Literatur, die sich vornehmlich an die 
Lehrerschaft wendet, doch recht merklich erhebt. 

Leipzig. Rieh. Tränk mann. 

Pallat und Hilker, Künstlerische Körperschulung. Breslau 1923/ Hirt. 168 S. 

22 Abb. Grundpreis 7 M. 

Das vortrefflich ausgestattete Werk berichtet in Einzelbeiträgen verschiedener Verfasser über 
das, was Oktober 1822 auf der Berliner Tagung für künstlerische Körperschulung in der Hoch¬ 
schule für Musik geboten wurde. Jeder, der damals den Veranstaltungen beiwohnte, wird sich 
freuen, hier noch einmal, gleichsam in Ruhe und Ausgeglichenheit, wiederzufinden, was wie 
ein Vergleiche herausfordendes Bild vorüberzog. Und man wird den Herausgebern nur bestätigen 
können, daß im Buch unbewußt Gemeinsames vielleicht viel stärker wirkt als der Gegensatz, daß 
umgekehrt auch manche Phrasenvorliebe sich offenbart, die nicht zu übersehen ist Es sind kurze 
Zusammenstellungen einschlägiger Systeme — so Mensendieck, Loheland, Laban, Bode, Duncan, 
Andersen-Schlaffhorst, Dalcroze in Urform — geboten; hinzukommen fesselnde Ausführungen 
Luserkes über Bewegungsspiel und Schulbühne und Äußerungen des Harburger Kreises um 
Tepp. Glanzpunkt des Buchs ist die tiefgründige und der Körperkultur so nötige Klarlegung des 
Wesens der Rhythmik von Klages. Es wäre zu wünschen, daß wir bald in diesem Sinne 
eine geordnetere Begriffsbestimmung in der Körperkultur erhielten! Gerade dieses Buch zeigt 
recht peinlich vielfaches Aneinandervorbeireden. Es ist kein Zweifel, daß das Werk in der 
Vielseitigkeit des Gebotenen und der friedlichen Zusammenstellung aller sich oft scharf be¬ 
fehdenden Richtungen eine Neuigkeit darstellt. Man wird es jedem empfehlen, der irgendwie 
— ausübend oder lehrend — mit dem Gebiete der körperlichen Gestaltung zu tun hat, zumal 
einige Bilder den Text angemessen veranschaulichen helfen. 

Stuttgart. Fritz Giese. 


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Literaturbericht 


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Dr. (Jllrich Peters, Die soziologische Bedingtheit der Schule. Heft 5 der Ziele und 
Wege der Deutschkunde. Frankfurt a. M. 1922. M. Diesterweg. 

Ich gestehe, daß ich an die Darstellung soziologisch-pädagogischer Probleme mit starker 
Skepsis herantrete. Wie oft verbirgt sich hinter der soziologischen Untersuchung nur ein ver¬ 
stecktes Parteiprogramm. Wird dabei gar die Soziologie unserer materiellen Kultur in geschichts¬ 
materialistischer Aufmachung den pädagogischen Problemen als Grundlage untergeschoben, so 
muß unser Schul- und Erziehungswesen in maßloser Verzerrung erscheinen. Peters Schrift be¬ 
wegt sich durchgehende in anderer Richtung. Es sind die geistesgeschichtlichen Zusammen¬ 
hänge durchaus in den Vordergrund gestellt; geistesgeschichtlich ist auch die Struktur seines 
Denkens. Ideen werden zum geistigen Ferment der Gesellschaft und bestimmen Form und Inhalt 
der Erziehung. Die Schrift ist ein geistreicher Versuch, Schul- und Erziehungsfragen in geistes¬ 
geschichtlicher Beleuchtung abzuhandeln — eine philosophische Grundlegung der Pädagogik der 
Gegenwart Man mag hier und da zum Widerspruch herausgefordert werden und Dingen eine 
andere Deutung geben, das Werk als Ganzes ist von einheitlicher Struktur, deren Grundgerüst 
schon dadurch bezeichnet ist, daß es in der deutschkundlichen Serie erscheint. Es ist eine solche 
Fülle anregender Gedanken in dem Buch, daß ein Eingehen im Rahmen einer Besprechung sich 
von selbst verbietet. Die Formen der Erziehung bespricht Verfasser in Anlehnung an die Typen 
der Lemschule, der Erlebnisschule und der Arbeitsschule. Diese drei Formen werden in Be¬ 
ziehung gesetzt zu den folgenden Begriffspaaren: Intellektualismus-Impressionismus, Vitalismus- 
Expressionismus, Intuition-Synthese, die Peters als die Grundeinstellungen jener drei Schulformen 
betrachtet. 

Frankfurt a. M. Julius Wagner. 

0. Meyrich, Pflichtstunden und Arbeitstag der Lehrer. Leipzig 1922. Verlag der 
Leipziger Lehrerzeitung. 24 S. 

Mit Nachdruck verlangt das Schriftchen, daß man die Pflichtstundenzahl des Lehrers an 
der Volksschule vermindere; denn dessen Berufswirken, so wird überzeugend dargelegt, stellt 
wenn nicht höhere, so ganz gewiß nicht geringere Ansprüche an geistige Krafterregung als 
die Tätigkeit des Lehrers an höheren Schulen (S. 5). Gestützt wird die Forderung, gegen die 
sich von finanzwirtschaftlichen Erwägungen die Schulverwaltungen stemmen, u. a. sehr wirksam 
durch ärztliche Befunde über gesundheitliche Schädigungen des Lehrerberufes. Wenn die 
pädagogische Psychologie viel tiefer als bisher die geistige Gesamthaltung des unterrichtenden 
Lehrers in wissenschaftlicher Zergliederung aufgeschlossen hätte, so würde die Schrift es noch * 
verständlicher machen können, wie die Überbelastung des Lehrers letzthin höchst unwirtschaftlich 
auch in dem Sinne ist, daß sie nicht nur den Lehrer frühzeitig abnutzt, sondern auch den 
Unterricht schwer beeinträchtigt. Denn wahrhaft bildender Unterricht fordert eine Erfüllung der 
Lehrstunden mit innerem Leben, eine geistige Hochspannung, eine Erregung der seelischen 
Kräfte, die unmöglich Stunde um Stunde festgehalten werden kann. §o geschieht die hohe 
Stnndenbelastung außer zum gesundheitlichen Schaden des Lehrers auch auf Kosten der 
Güte des Unterrichts: der Lehrer wird notwendig zum Unterrichtshandwerker, zum Stunden¬ 
halter herabgewürdigt. Seltsam aber, wie schwer dies solchen, die außerhalb des Lehrberufs 
stehen, begreiflich zu machen ist. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

F. Heman-Moog, Geschichte der neueren Pädagogik. In 6. Auflage neu heransgegeben 
von Willy Moog (Der Bücherschatz des Lehrers Band X). Osterwiek am Harz 1921 • A. W. 
Zickfeldt 588 S. 

Das Hemansche Lehrbuch der Geschichte der neueren Pädagogik hat in dem Greifswalder 
Privatdozenten für Philosophie und Pädagogik Willy Moog einen neaen Bearbeiter gefunden, der, 
die wertvollen Telle des ursprünglichen Textes pietätvoll schonend, Einseitigkeiten und Unaus¬ 
geglichenheiten bessernd zu überwinden strebt und durch zwei bedeutsame Erweiterungen (einen 
abrißmäßigen Überblick über die Pädagogik des Altertums und Mittelalters und die Fortführung 
der Entwicklung durch die pädagogischen Strömungen der neuesten Zeit) die allmähliche Um¬ 
wandlung in ein Lehrbuch der gesamten historischen Pädagogik anbahnt. Wie nach der ur¬ 
sprünglichen Anlage nicht gut anders möglich, nimmt die berichtende Wiedergabe der päda¬ 
gogischen Ideen aus den Originalschriften und die Schilderung der Erziehungszustände einen 
breiteren Raum ein als die selbständig gestaltende Arbeit des Geschichtsschreibers, doch bleiben 
die allgemeinen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge spürbar. Ob auf die Herausstellung der 
leitenden Ideen und ihres Zusammenhanges mit den geistigen Strömungen nicht auch ein Lehr- 


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Literaturbericht 


buch mehr Nachdruck legen sollte, wird wohl immer verschieden beurteilt werden« Auf der 
anderen Seite ist eine solche plastische Durcharbeitung notwendig von einem persönlichen Stand¬ 
punkt, von einem eigenen System abhängig und verführt dadurch leicht zu mehr oder minder 
einseitiger Auslese und Betonung, die für ein zur strengsten Objektivität mindestens im Stoff¬ 
lichen verpflichtetes Lehrbuch gefährlich werden kann. Nach den wesentlichen Verbesserungen, 
die der neue Bearbeiter in einer offenbar sehr gedrängten Zeit schon durchzusetzen vermochte, 
besteht begründete Hoffnung, daß das Buch in den folgenden Auflagen zu einem vollendeten 
Lehrbuch der Geschichte der Pädagogik ausreift. Wir haben — trotz überreicher Produktion 
— einen fühlbaren Mangel an klassischen Lehrbüchern, die — in der Mitte zwischen der Stich- 
wortmanier übersystematisierter Leitfäden (Kompendien, Abrissen) und den unbeherrschten Stoff¬ 
massen detailseliger Vielbänder — die pädagogische Entwicklung in ideen- und problemgeschicht¬ 
licher Pragmatik übersichtlich meistern. 

München. Aloys Fischer. 


Kurze Anzeigen. 

Karl Vorländer, Französische Philosophie. Breslau 1923. Hirt. 132 S. 

Ein Band aus der „Jedermanns Bücherei*. Zum ersten Male aus berufenster Hand der 
Versuch, ein Gesamtbild von dem französischen Anteil an der Entwicklung menschlichen Denkens 
in der Neuzeit darzustellen, einsetzend bei Montaigne und heraufgeführt bis Bergson. Ausklang 
„Hoffen wir, daß zunächst die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Nationen, die sich in der 
Philosophie vor dem Weltkriege bis zu Internationalen Kongressen und anderen gemeinsamen 
Unternehmungen verdichtet hatte, früher oder später wiederkehren wird: denn Philosophie und 
Wissenschaft sind nicht Eigentum einer besonderen Nation; sie bedürfen, um zu ihrer höchsten 
Blüte und Vollendung zu gelangen, der einträchtigen Zusammenarbeit aller.“ 

Dr. R. Pauli, a. o. Prof. a. d. Universität Müncheif, Psychologisches Praktikum. Leit¬ 
faden für das experimentell-psychologische Praktikum. Mit 100 Abb. im Text und 4 Tafeln. 
3., verb. Aufl. Jena 1923. Fischer. 247 S. Grundpreis 5 M. 

Das bei seinem ersten Erscheinen (1919) von uns gekennzeichnete Werk ist durchgreifend 
umgestaltet und ausgestaltet worden. Didaktisch wertvoll erscheint in der Neubearbeitung 
besonders, daß bei den bedeutsameren Versuchen zumeist auch auf verwandte Erscheinungen 
und auf die umfassenderen theoretischen Zusammenhänge verwiesen wird, womit aus dem Prak¬ 
tikum, das am Einzelfall arbeitet, der Weg zur Einscbau in das Ganze der psychologischen 
Lehre herausführt. Zu selbständiger Arbeit will auch der jetzt stark vermehrte Quellennach¬ 
weis willkommene Handreichungen bieten. — Paulis Psychologisches Praktikum bedeutet mehr 
als nur den ausgezeichneten Leitfaden für Übungen im Institute, mehr auch als ein treffliches 
Hilfsmittel für wirklfffi didaktisch eingestellte Vorlesungen und Lehrstunden: wenn es das 
Studium systematischer Handbücher der Psychologie begleitet, so sind in ihm die Arbeitsweisen 
und Arbeitsmittel dem Studierenden angegeben, mit denen er die experimentell begründeten 
Lehren der Psychologie im reizvollen eigenen Suchen und Versuchen nachzuprüfen vermag. 

A. Lange-Lüddeke, Zur Psychologie des Psychographierens. Zeitschr. f. angew. 
Psychologie. 1922. Bd. 20, Heft 5—6. 

Eine Untersuchung über den Einfluß des Psychographen auf seine psychographische Tätigkeit. 
Es wurden 22 Psychogramme über 6 Personen miteinander verglichen. Ergebnis: Die Psycho¬ 
gramme über einfache Persönlichkeiten stimmten besser Überein als über kompliziertere. Einfluß 
haben u. a. Antipathie des Psychographen, seine Neigung zum Idealisieren usw. Damit ist zwar 
nicht der wissenschaftliche Wert des. Psychographierens fraglich geworden, aber eine kritische 
Handhabung gefordert. Bis zu einem gewissen Grade lassen sich die „persönliche^ Fehler“ aus- 
gleichen durch mehrfaches Psychographieren. 

Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich, Was bietet die Psychanalyse dem Erzieher? 
Zweite, verbesserte Auflage. Leipzig 1923. Klinkhardt. 158 S. Grundpreis 3,60 M. 

Bei seiner Wiederkehr in der zweiten Auflage sind dem Buche alle die Fortschritte förderlich 
geworden, die seit dem ersten Erscheinen die Psychanalyse, besonders auch in ihren Beziehungen 
zur Pädagogik, zu verzeichnen hat. Verändert erscheint darum die Auffassung von Sublimierung; 
aufgegeben worden ist der Begriff der „Einstellungsanalyse“; stärkere Betonung hat die Analyse 


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Literaturbericht 


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am gesunden Kinde erfahren. Wie in Deutschland hat die Schrift auch im Auslande gute Auf¬ 
nahme gefunden; sie liegt bereits in verschiedenen Sprachen übersetzt vor. Nicht wenig dürfte 
zu solchem gewiß verdienten Erfolg neben dem Reiz des Stoffes auch die sprachliche Gestaltung 
beigetragen haben. Aus Vorträgen erwachsen, gewinnt es durch die Lebendigkeit und Bild¬ 
haftigkeit des Ausdruckes und hat dabei wohl bei manchem Leser leicht die Wirkung, in mancher 
Gedankengruppe zu überreden, wo gewandte Wendungen über eine kaum zureichende Über¬ 
zeugungskraft hinwegtäuschen. 

Eine Bibliographie zur psychologischen Berufsberatung, Berufsforschung und 
Berufskunde hat Otto Lipmann, unterstützt durcb Eranziska Baumgarten, herausgegeben. 
(Schriften zur psychologischen Berufseignung und des Wirtschaftslebens. Heft 20. Leipzig 
1922. Barth. 60 S. 40 M.) 

Die überaus sorgfältige und fleißige Zusammenstellung, die ein Bild der erstaunlich schnellen 
Entwicklung des* noch jungen Gebietes gibt, ist umso wertvoller als wissenschaftliches Hilfs¬ 
mittel, als sie nicht nur gelehrte Arbeiten, sondern auch Aufsätze der Tagespresse an¬ 
führt. Etwa 150* Titel gehören dem einschlagenden ausländischen Schrifttum an. Geordnet 
ist das Verzeichnis alphabetisch; es ist aber außerdem noch ein weit aufgegliedertes systematisches 
Sachverzeichnis beigegeben, das z. B. unter dem Schlagwort „Erzieher und Lehrer“ nicht 
weniger als 23 Nummern aufweist. 

Edwin Böhme, Das Kind und seine Pflege. 4. und 5. Aufl. Leipzig 1922. Theosophischer 
Kultur-Verlag. 44 S. 

Die Schrift verkündet, es werde das pädagogische Heil erscheinen, .wenn der Natur des 
Kindes auf Grund der okkulten Psychologie ein höheres Verständnis und mehr Achtung entgegen¬ 
gebracht wird und die Eltern und Erzieher selbst den Pfad des theosophiscben Lebens einschlagen“ 
(S. 44), und zwischendurch wird dann von „okkulten Kräften“ geredet, die nicht selten an 
Kindern — „sie schauen astral“ (S. 25) — zu beobachten sind. Trotzdem: 4. und 5. Auflage 

Karl Cornelius Rothe, Leiter der Sonderklassen und Heilkurse für sprachkranke Kinder in 
Wien, Die Sprachheilkunde eine neue Hilfswissenschaft der Pädonomie. 
Wien 1923. österreichischer Schulbücherverlag. 175 S. 15000 Kr. 

Rothe will dazu verhelfen, daß in der Lehrerbildung ein feineres Gewissen und ein wissen¬ 
schaftlich begründetes Verständnis für Sprachstörungen gepflegt werde. Er fordert die Ein¬ 
führung der Sprachheilkunde in den Bildungsgang des werdenden Lehrers, belehrt unter anderem 
über mancherlei aus der Physiologie und Psychologie der Sprache und bespricht im Stammeln, 
Stottern, dem Agrammatismus und der chronischen Heiserkeit die wichtigsten Sprachstörungen 
und deren Therapie. Abschließend werden Sonderschulen für sprachkranke Kinder befürwortet, 
wie deren eine schon seit dem Kriege in Wien besteht. 

Dr. Karl SchmeYng, Oberstudiendirektor, Freie Rede. Eine praktische Anleitung zur Pflege 
des mündlichen Ausdruckes und rhetorischer Bildung in der Schule. Leipzig 1922. Quelle 
& Meyer. 74, S. Grundpreis 1,50 M. 

Im ganzen ein methodischer Aufbau schulmäßiger Hinfübrung zur Bemeisterung des Worts 
in frischer, natürlicher Rede auf Unter-, Mittel- und Oberstufe der höheren Lehranstalten. Weg¬ 
weisend auch für die Volksschule und die Selbstbildung. Die einschlagenden psychologischen 
und fachwissenschaftlichen Erörterungen sind auf das Entbehrliche beschränkt; das Hauptgewicht 
liegt auf den schulpraktischen Anwendungen und Anregungen. SiQ bekunden den erfahrenen 
Schulmann. 

% 

• 

Dr. K. Kesseler, Die deutsche Nationalerziehung in ihren wichtigsten Vertretern. 
Leipzig 1922. Jägersche Buchhandlung. 167 S. 

Der Verfasser gibt eine geschickte Auswahl von Abschnitten aus Originalwerken zu einem 
Problem, das beute immer mehr zum Kernproblem der Pädagogik wird. Als Anthologie begrüßen 
wir das Schriftchen und wünschen, daß es die Leser zu einigen der größeren Vertreter der 
Nationalerziehung führen möchte. Zöllner, Stephanie, Fichte, Schleiermacher, Jahn, de Lagarde, 
Paulsen, Eucken, Kerschensteiner und Budde kommen zu Wort. Man kann sich mit der Aus¬ 
wahl einverstanden erklären. Eine kleine Literaturangabe weiterer Schriften wäre für eine 
Neuauflage erwünscht, um so gerade der neueren Pädagogik mehr dienen zu können. 


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I 


Dr. Blaum, Prof. Dr. Riebesell, Dr. Storck, Reichsjugend-Wohlfahrtsgesetz^lm 
9. Juli 1922. Handausgabe mit Einleitung, Erläuterungen und Anhang von Mustersatzungen 
und -Formularen. Mannheim 1923. Bensheimer. 237 S. Grundpreis 4 M. 

Das Reichsjugend-Wohlfahrtsgeselz, das am 1. April 1924 in Kraft- zu treten hat, wird an 
die 1000 Jugendämter und 20 Landesjugendfimter erstehen lassen und in Wirksamkeit bringen — 
einen jungen Zweig der sozialen Fürsorge. Nicht nur die Jugendämter aber werden an der 
Durchführung dieser großen Aufgabe zu wirken haben; auch die staatlichen und kommanalen 
Behörden, die Gerichte, die Polizei- und Medizinalbehörden, ganz besonders auch die Schulen 
sind daran beteiligt. Ein Kommentar des Gesetzes wird darum von einem großen Kreise will¬ 
kommen geheißen werden. Die Verfasser haben selbst Jugendämter großer Städte eingerichtet 
und bei den Beratungen des Gesetzes im Reichsrat mitgewirkt. Ihre Auslegearbeit und ihre Vor¬ 
schläge und Winke für die Abfassung der Landesausführungsgesetze und -Verordnungen und für 
die Einrichtungen und Ausgestaltung der einzelnen Jugendämter kommen damit iron durchaus 
zuständiger Seite. 

Geheimrat Dr. Wilhelm Kiesow, Ministerialrat im Reichsjustizministerium. Jugend¬ 
gericht sgesetz, ausführlich erläutert und eingeleitet. Berlin 1923. J. Bensheimer. 305 S. 
Grundpreis 6 M. 

Mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes vom 16. Febr. 1923 wird dieser erste Kom¬ 
mentar den Jugendrichtern und Jugendämtern ein unentbehrliches Handbuch werden. Darüber 
hinaus dürften es für soziologische und psychologische Arbeiten auch Jugendkundler mit Gewinn 
heranziehen. Einleitend wird die Entstehungsgeschichte des Gesetzes verfolgt und eine auf weiten 
Horizont eingestellte Überschau gegeben. Nach dem Abdruck des Gesetzes arbeitet dann der Ver¬ 
fasser in umfassenden Erläuterungen die leitenden Gedanken heraus. Beigegeben sind die sehr 
ausführlichen Begründungen, die Ausführungsverordnungen und der Text des Jugendwohlfahrts¬ 
gesetzes. Der Verfasser hatte eine starke Mitwirkung beim Ausarbeiten des Gesetzes und nahm 
an den Beratungen im Reichsrat und Reichstag teil. Die sich hieraus ergebende Zuständigkeit, 
das bedeutsame Gesetz, das sich als neuer Teil in den Bau des Strafrechts und Strafprozeßrechts 
nicht völlig spannungslos einfügen dürfte, zu kommentieren, bürgt für die Gediegenheit der hier 
vorgelegten Leistung. 

Dr. Siegfried Kawerau, Das Weißbuch der Schulreform. Im Aufträge des „Reicbs- 
bundes entschiedener Schulreformer a herausgegeben. Berlin 1920. Curtius. 63 S. 

Eine Sammlung von Schriftstücken zu den „taktischen Operationen* des Bundes entschiedener 
Schulreformer aus dem Jahre 1919. Sie betreffen sachlich den Schulumbau, den Lehrerstand, 
die Schülerschaft, Eltern und Schule. Über eine geringe geschichtliche Bedeutung hinaus wohl 
kaum so belangvoll, daß sich die Drucklegung rechtfertigen ließe. 

Weltjugendliga, Verband Österreich, Erziehung zum Menschentum. Ausgearbeitet von 
M. J., Lehrer, und der Pädagogischen Arbeitsgemeinschaft der Weltbundsliga. 1922. Selbst¬ 
verlag. 24 S. 

Ein in allgemeinsten Wendungen und hochgestimmter Rede gehaltener Aufruf mit pazifistischer 
Tendenz, gerichtet an die Lehrer aller Welt. „Wer die Lehrer hat, der hat die Zukunft!* „Der 
menschlichen Gesellschaft fehlt das Bewußtsein der menschlichen Gesellschaft!* „Der Gemein¬ 
schaftssinn artet in einen Gemeinschaftsegoismus aus. u „Schulklassengemeinschaft aus eigenem 
Willen und eigener Kraft!* Dazu ist „ständiges Üben und unaufhörliches Vertiefen dringend 
notwendig“. — Ein Beleg für die Pädagogik dör großen Worte. 

Wilhelm Sauer, Studiendirektor, Werkunterricht Leipzig o. J. Jaeger. 56 S. 1815 M. 

Allenfalls nicht ungeeignet, dem Fernerstehenden eine erste Überschau über den Werk¬ 
unterricht zu geben — freilich beschränkt auf das Technische. Wird nunmehr Handbetätigung 
als Fach auch an höheren Schulen heimatberechtigt, so werden sich alle an ihnen unterrichten¬ 
den Lehrkräfte um der Gesamtarbeit willen ja wohl der Pflicht bewußt sein, sich über das Was 
und Wie des Werkunterrichts zu orientieren. Das Vorwort freilich bestimmt das Schriltchen, 
das gegenüber anderen artgleichen Heften sprachlich recht gefällig wirkt, für die Hand des 
Schülers als Hilfsbuch — dazu ist es mit seinen meist allgemeineren technischen Anweisungen 
wohl weniger geeignet 

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


Literaturbericht 


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skripte sind an den ^chÄtsf^re»»4«n--$cIirt(tl«it€r''ifföiBf|<»rtÄp 
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sprediungs-Bücheysenriungen und derglan dtiVetiagshu^HfiRdl'un^^^l 
QUEUE.& MEYER» Leipzig. Krtuzsfraö* 14 

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Dringende Mitteilung an die Abonnenten 


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einzuseiidfert ©erous .gelieferte und Roch nidiL bezahlte früheo; Hefte sind intoigt: .;. 
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Prats fflr das fttw./Oei.-HaH 6pfdm«rk 1,60. Für das Ausland Sthw/f|<J 

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VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZI 




j-Älle.h/j|pSifiD an derr^Haj Ist das Rückporto be 

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Nachruf. 


Am 2. August dieses harten und dunklen Jahres der 
Deutschen verschied in Leipzig 

Oberstudiendirektor Prof. Dr. Hugo Gaudig, 

tief ergriffen von dem Schicksal seines Volkes. Ein schmerz¬ 
lichster Führerverlust für das pädagogische Leben in führerloser 
Zeit. Es sank mit Hugo Gaudig viel Hoffnung ins Grab, viel 
Hoffnung, die in der Morgenröte einer neuen Erziehung auf 
seine starke schöpferische Kraft gestellt war. Riß doch der Tod 
den rastlos Schaffenden jäh aus dem noch unvollendeten gro߬ 
angelegten Werke seiner Tage, das im Heraufführen einer 
deutschen Kulturschule die Krönung erwartete. 

Vor kaum drei Jahren erst hatte Hugo Gaudig, schaffens¬ 
erregt und rüstig, die Schwelle der Sechzig überschritten. Um 
diese Zeit seiner Ernte beglückte ihn ein spätes Geschenk: es 
erstand und wuchs eine weitverbreitete Gemeinde seines päd¬ 
agogischen Glaubens. Allenthalben im deutschen Lande und 
weit über seine Grenzen hinaus ward der Name Gaudig — wenn 
auch nicht unbestritten — zum Bekenntnis. Im Willen zu einer 
neuen Schule begann die pädagogische Welt, die Erziehungs¬ 
gedanken des Rufers und Förderers von Leipzig her in Kopf 
und Herz zu bewegen und in den Werkstätten der Bildung zu 
verwirklichen. Von den Lehrerschaften wohl aller deutschen 
Gaue gerufen, zog Gaudig nun, oft seiner selbst nicht schonend, 
unermüdlich auf pädagogische Mission. Besorgtem Blicke aber 
konnte nicht verborgen bleiben, wie eine heranziehende Er¬ 
krankung den Wirkenden und sein Werk heimtückisch bedrohte. 
Er jedoch, allem Schwachen und Müden feind, warf dem schlei¬ 
chenden Übel ein trotziges Nein entgegen. Beängstigende leib-, 
liehe Hemmungen konnten ihn nicht bestimmen, von seinem 
täglichen Schulwerke, das ihm mehr als verpflichtendes Amt, 
das ihm persönliches Erlebnis war, die Hände zu nehmen. Bald 
auf das Lager gebannt, rang er seinem starken Geiste in ruhe¬ 
losem Denken noch letzte Frucht ab. Wahrlich, ein Leben bis 
zum Rande erfüllt mit entsagungsvoller und doch köstlicher 
Arbeit. Es kam der Tag, da Hugo Gaudig dem Unabwendbaren 
ins Weiße des Auges schauen mußte. Und nun wagte der immer 

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Wagemutige zu allerletzt das Wagnis einer gefahrvollen Operation. 
Dem ärztlichen Eingriff sah der Tod zu. 

Um die Gestalt Hugo Gaudigs wob der Zauber des Ur¬ 
eigenen und Ungewöhnlichen. Auch was er im Alltäglichen 
trieb und dachte, sprach und schrieb, trug immer persönliches 
Gepräge. Alles Zufällige und Gelegentliche, wie es der Tag 
brachte, ergriff er mit leidenschaftlicher Betrachtungsfreude und 
Denklust, gab ihm Schimmer und Glanz, Gehalt und Gestalt, 
Sinn und Tiefe. Wo immer er sich im engeren oder weiteren 
Kreise bewegte, stets hob ihn seine überragende Geistigkeit als¬ 
bald heraus und nötigte auch denen, die seinem Wesen und 
seinen Anschauungen nicht freundlich gestimmt waren, die An¬ 
erkennung des Bedeutenden und Besonderen ab. 

Die jüngste Gegenwart hat Hugo Gaudig überschwänglich 
gefeiert und hat ihn vereinzelt auch heftig befehdet Nicht aus 
der zeitlichen Nähe aber, im geschichtlichen Abstande erst wird 
seine Bedeutung für die Pädagogik gerecht und richtig geschätzt 
werden können. 

Denen, die mit ihm zur Mittagszeit seines Schaffens in 
schöner Arbeits- und Personengemeinschaft an der Leipziger 
Schule wirkten, bleibt es Gewißheit, daß aus Gaudigs reichem 
Wirken das Schönste und Größte beschlossen lag im Künstler- 
tume seines Unterrichts. Er war ein Berufener und Ausgewählter 
zum Lehramte wie selten einer, begnadet mit dem „donum didac- 
ticum“, erfüllt mit freudiger Leidenschaft am unterrichtlichen 
Schaffen. Wie heilig Land betrat er seinen Unterricht, ergriffen 
von der Hoheit und Schönheit des Amtes am Kinde, getragen 
von tiefer Ehrfurcht vor der Jugend. Sein Lehren war bildendes 
Leben. Schultäglich neu wandelten sich ihm, dem alle un¬ 
lebendige, starre Formel unerträglich war, die Gestaltungen der 
unterrichtlichen Bilder und zeugten von seiner erstaunlichen 
künstlerischen Begabung und Lust zu didaktischer Erfindung. 
So pilgerten denn auch fast tagaus, tagein pädagogische Wall¬ 
fahrer, oft aus weitester Ferne, zur „Gaudigschule“, dort den 
Meister inmitten seiner Schülerinnen zu erleben. Daß er sich 
selbst aber nicht eingestehen mochte, wie der Reiz und die be¬ 
schwingende Wirkung seines Unterrichtens weniger aus kunst¬ 
voller Methode als vor allem aus der belebenden Kraft seiner 
einzigartigen Persönlichkeit erstanden, gesellt sich zu so manchem 
anderen Tragischen, das Leben und Wirken des seltenen Mannes 
umwitterte. 


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In erstaunlicher Breite und Verbreitung dehnt sich das viel¬ 
gestaltige literarische Werk Gaudigs, überquellend von eigen¬ 
wüchsiger Gedankenfülle, eigendenkerisch, eigengeprägt. Es er¬ 
wuchs ihm aus dem Erlebnis der pädagogischen Wirklichkeit, 
der er immer sorgfältig und besorgt den Puls fühlte, auf deren 
Weben und Leben unablässig sein betrachtender und ein¬ 
dringender Blick ruhte, die Geheimnisse ihres Waltens zu er¬ 
gründen. Selten nehmen Gaudigs Schriften eine rein erkennende 
Haltung ein. Sie bekennen und fordern, regen an und reizen 
auch auf, spiegeln in dem Barock ihrer Formgebung die betonte 
Eigenart ihres Schöpfers wider. Voller Leben werden sie leben 
unter denen, die darnach trachten, jegliches erzieherische Tun zu 
beseelen und zu durchgeistigen. 

Der pädagogischen Wissenschaft hat Hugo Gaudig, ohne 
daß er sich in Tat und Denken, in Schrift und Wort ausge¬ 
sprochen als erziehungswissenschaftlicher Gelehrter fühlte, Wert¬ 
vollstes gegeben. Mit der Forderung psychologischer Grund¬ 
legung der Bildungsverfahren und kulturphilosophischer Her¬ 
leitung der Bildungsziele drang er darauf, daß die Pädagogik — 
die Theorie einer Praxis — wissenschaftliche Strenge bekäme. 
In seinen Schriften findet sich als Ertrag seines einbohrenden 
Denkens überaus reiches Erkenntnisgut niedergelegt, das nur der 
mühelosen Heraushebung und systematischen Fügung harrt. 
Vor allem hat Gäudig — und darin lag eine wissenschaftliche 
Stärke seines Denkens — für die weiterführende Forschung die 
Problematik einer neuen Pädagogik entfaltet. Was er an Fragen 
über das Bildungsideal der Persönlichkeit, über das Bildungs¬ 
verfahren zur Erweckung freier geistiger Tätigkeit, über die 
innere Bildungspolitik einer Eingliederung des Schulwesens in 
den nationalen Kulturprozeß aufgezeigt hat, öffnet ein ungeheuer 
weites Feld von Aufgaben für erziehungswissenschaftliche Unter¬ 
suchungen. 

Mit Hugo Gaudigs reichem Schaffen war auch unsere Zeit¬ 
schrift verbunden. Das Gewicht seines gefeierten Namens deckte 
die Arbeit der Schriftleitung, und wertvolle Beiträge seiner fleißigen 
Feder ließ er in eine lange Reihe von Jahrgängen einfließen. 
Dieser Mitwirkung gedenken wir dankbar in unserem letzten 
Gruß, mit dem wir von Hugo Gaudig Abschied nehmen. 

Die Schriftleitung und der Verlag. 


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Julius Schneider 


Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches. 

Von Julius Schneider. 

Das Bilderbuch bietet als Erzeugnis der Dlustrationskunst wie als Hilfs¬ 
mittel der Erziehung im frühen Kindesalter eine Reihe reizvoller Probleme 
geschichtlichen und pädagogisch-psychologischen Inhalts dar, deren Lösung 
zugleich Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung der noch immer aus¬ 
gedehnten Bilderbuchproduktion zu bieten vermag. 

Die folgenden Darlegungen sind ein Versuch, die heute herrschenden 
Typen auf dem Bilderbuchmarkt im Anschluß an repräsentative Erscheinungen 
zu kennzeichnen und dabei wenigstens einen Teil der Fragen, die den 
Psychologen und Erzieher beschäftigen, klarzulegen. Die geschichtliche Ent¬ 
wicklung zu schildern, liegt außerhalb des Rahmens dieser Zeitschrift, ebenso 
die ästhetische Analyse der Einzelheiten und die eigentlich reproduktions- 
und buchtechnischen Seiten des Bilderbuches. Zu beiden Punkten sei nur 
in Kürze folgendes bemerkt. 

Die neueren Forschungen über die Entwicklung der Wahrnehmung und des 
Bildverständnisses bei Kindern lassen keinen Zweifel darüber, welche Bild¬ 
elemente (Außenkontur, Schattenriß, Binnenzeichnung, Farbe, Flächen- und 
Raumdarstellung) auf den einzelnen Altersstufen noch unterschwellig sind; 
das Bilderbuch ist von diesem Standpunkt aus ein Instrument unabsichtlicher 
Schulung der optischen Auffassung und ganz abgesehen von der Bereicherung 
des Vorstellungsschatzes rein als Gelegenheit der in der Sehfunktion ent¬ 
haltenen geistigen Vorgänge — neben der Anschauung wirklicher Gegen¬ 
stände — von einer noch nicht gewürdigten Bedeutung. Als Anschauungs¬ 
mittel muß das Bilderbuch der Auffassungsfähigkeit des Kindes sowohl an¬ 
gepaßt sein wie gleichzeitig Anreize für weitere, höhere Stufen der optischen 
Auffassung planmäßig darbieten. 

Soweit das Bilderbuch Anregung und Vorbild für das eigene graphische 
(und „malerische“) Schaffen des Kindes geben soll, ist eine billige Rücksicht 
auf die Entwicklung der zeichnerischen Begabung, allgemeiner der graphischen 
Ausdrucksfähigkeit, geboten, wenn schon hier das Bilderbuch immer in erster 
Linie „Vorbild ist“, d. h. über der Kritzel- und Schemastufe stehen muß, 
also mindestens etwa auf der von G. Kerschensteiner so benannten Region 
erscheinungsmäßiger Darstellung. Allein jeder Beurteiler weiß, daß die er¬ 
scheinungsmäßige Darstellung alle Schattierungen vom einfachen Umriß bis 
zur künstlerisch höchststehenden „Zeichnung* umfaßt, von denen einige für 
das Kind irreführend, andere „zu schade“ wären, und es ist ein praktisch 
bedeutsames Problem, die Formen erscheinungs- und formgemäßer Dar¬ 
stellung auszusondern, die für das Kind verständlich und als Erziehungs¬ 
mittel zugleich förderlich sind. i 

Über die Entwicklung der ästhetischen Empfänglichkeit im frühen Kindes¬ 
alter besitzen wir heute weder abschließend allgemeingültige noch voll¬ 
ständige Feststellungen; nur für die Farben, für einzelne Formgefühle und 
für das Gebiet der humoristischen Darstellungen stehen uns Untersuchungen 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


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von einigermaßen ausreichender wissenschaftlicher Sicherheit zu Gebote. Der 
folgende Überblick lehrt, daß die instinktive Kinderpsychologie der Künstler 
hier der Forschung sozusagen zuvorgekommen ist. 

Was endlich die pädagogische Bedeutung des Bilderbuches anlangt, 
so variiert sie nach den vorzugsweise erstrebten Zwecken der lustbetont¬ 
unterhaltenden Beschäftigung, der anschaulichen Erweiterung des Vorstellungs¬ 
kreises, der Vertiefung sittlicher Gefühle und Gewöhnungen, der unbewußten 
Geschmackskultur, wobei die jeweils psychologisch wirksamen Momente zu¬ 
gleich abhängig sind vom Stoff des Bilderbuches einerseits, vom Geschlecht 
der Kinder andererseits. 

Geschichtlich betrachtet wächst das Bilderbuch heraus einerseits aus den 
ältesten Bestrebungen der Veranschaulichung für homines illiterati, für die 
des Lesens und Schreibens unkundigen Volksmassen, andererseits aus den 
seit Comenius nicht wieder zur Ruhe gekommenen Bestrebungen auf Illu¬ 
stration der Schul- und Lernbücher. Damit hängt es zusammen, daß wir — 
bis auf die jüngste Zeit herab — nur zwei Haupttypen haben: das er¬ 
zieherisch eingestellte Bilderbuch mit seinem moralisierenden, humoristischen 
und ästhetischen Typ, und das lehrhaft eingestellte mit dem demonstrativen, 
intellektualistischen Typ und dem Beschäftigungsbilderbuch. Die illustrierte 
Schulfibel — selbst ein Lehrmittel mit langer interessanter Geschichte — 
ist der Grenzfall zwischen Bilderbuch und Schulbuch. Erst in neuester Zeit 
sind vereinzelt außerpädagogische Gesichtspunkte für das Bilderbuch ma߬ 
gebend geworden in den Tendenzbilderbüchern. Ihre Berechtigung an sich 
steht und fällt mit dem Recht der Tendenz, der sie entspringen und dienen 
wollen; ihr pädagogisches Recht beruht einmal auf Werten, die neben der 
Tendenz vorhanden sind, zum anderen auf der Unterordnung der Tendenz 
unter allgemeingültige Erziehungsaufgaben. 

I. 

Demonstrativer Typ: Das Kleinkinderbilderbuch, 
a) Einfache Gegenstände der Umgebung. 

(Beispiel: »Nimm mich mit“ von Meggendorfer, Verlag Braun & Schneider, München.) 

Die Sparte Kleinkinderbilderbuch ist bereits viel zu differenziert, als. daß 
mit diesem einen Schlagwort ein umfassender Begriff, eine begrenzte Vor¬ 
stellung des damit ausschließlich Gemeinten zu erreichen wäre. Das Wesent¬ 
liche des Kleinkinderbilderbuches ist, daß es ohne Text allein durch die Bilder 
einen belehrenden Anschauungsinhalt übermitteln will. 

Die Umwertung der Gegenstände und Dinge für das kindliche Begriffs¬ 
vermögen versucht das Betonen des Charakteristischen unter Beibehaltung 
der Klarheit in Farbe und Form; das Dargestellte muß so klar sein, daß auf 
den ersten Blick ohne jede weitere Überlegung und Gedankenarbeit das Kind 
unzweifelhaft weiß, das ist dieses oder jenes Ding. Dafür ist die Betonung 
der Kontur von eminenter Wichtigkeit, da sie für das Kind, das noch nicht 
ausgeprägt perspektivisch-räumlich sehen und denken kann, ein wesentliches 
Merkmal der Erinnerung bildet. Auch die Farbengebung soll sich kräftig 
halten, aber in ruhigen Flächen, ohne unschöne Disharmonien zu bringen; 
hier ist allerdings für die moderne Reproduktion das Maßhalten eines der 


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schwierigsten Probleme; denn zu leicht ist die Farbauflage zu stark, Künstler 
und Drucker überbieten sich gegenseitig, um das Buch ja recht farbig zu 
machen. Ein Musterbeispiel für das reine Anschauungsbilderbuch ist das 
in reizendem kleinen Formal jetzt leider vergriffene Büchlein „Nimm mich 
mit“, Verlag Braun & Schneider, München, von Lothar Meggendorfer. So 
wenig erfreulich Meggendorfer sonst zum Teil ist, hier hat er Hervor¬ 
ragendes geleistet, geradezu mustergültig die Riesenmenge von Stoff zusammen- 
' getragen und ausgewählt, in richtiger Folge zusammengestellt und, wo sich 
langweilige Stellen einschleichen wollen, sofort wieder etwas Interessantes 
gebracht, was das Weiterblättern immer wieder zur Notwendigkeit macht, bis 
man am Ende ist. 

Der Entwicklungsgang dieser Methode, das Kind durch Vorführung von 
Bildern systematisch zu belehren, verlangt eigentlich eine genaue Abstufung 
der Mittel nach dem Auffassungsvermögen des Kindes. 

Handelt es sich darum, dem Kinde Dinge zu sagen, die es bereits kennt 
und ihm deren besondere Eigenschaften zu erläutern, so darf das Bild nur 
Elemente enthalten, die bereits bekannt sind, so daß also nicht der geringste 
Zweifel entstehen kann, was dargestellt sein soll. Das Kind freut sich darüber, 
wenn es sofort mit dem Finger auf das betreffende Blatt zeigen und sagen 
kann: „Das ist ein Hund oder eine Katze oder ein Fisch usw.; es interessiert 
sich für die Eigenschaften der betreffenden Dinge in diesem Anfangsstadium 
meist noch gar nicht. 

Die nächste Stufe des demonstrativen Bilderbuches, welches Dinge bringt, 
die dem Kinde zum Teil neu sind, von denen es aber doch schon einige 
Erfahrung hat, stellt bereits schwierigere Aufgaben an das Auffassungs¬ 
vermögen. Das Kind entdeckt in den Bildern erstmalig Elemente, die ihm 
bisher unbekannt waren oder entgangen sind, verlangt hierzu eine Erklärung 
oder, wenn es keine erhält, versucht sich selbst etwas herauszudenken, uhd 
es kann passieren, daß die lustigsten Torheiten herauskommen, wenn das 
Kind diese seine Überlegungen dann den Erwachsenen mitteilt. Die außer¬ 
ordentliche Phantasie des Kindes ermöglicht diese Verdrehungen um so mehr, 
als seine Vorstellung von diesen halb bekannten Dingen manchmal an irgend¬ 
eine Eigenschaft des betreffenden Gegenstandes geknüpft ist, die sich das 
Kind nur eingebildet hat. Diese Irrtümer beweisen jedoch nur, wie intensiv 
die Kinder Neues aus den Bildern zu entdecken suchen, und bei richtiger 
Erklärung des Buches, am besten durch die Mutter, kann auf diese Art und 
Weise die Vorstellungswelt des Kindes ganz bedeutend erweitert und gefestigt 
werden. 

Bleibt noch als dritte und schwierigste Art das Vorführen von ganz neuen 
und dem Kinde vollständig unbekannten Dingen im Bilderbuch. Die allgemeine 
Ausdrucksform muß dabei dem Kinde bereits bekannt sein, sonst ist diese 
Art des Buches für das Kind überhaupt nicht brauchbar; die fremden Gegen¬ 
stände' müssen ihm, richtig dargestellt, ein klares Bild von der Wirklichkeit 
geben, das besonders die wesentliche Eigenschaft des betreffenden Dinges 
unzweifelhaft betont. Der Walfisch z. B. muß immer als sehr groß hingestellt 
sein; dazu genügt natürlich nicht, ihn bloß groß zu zeichnen, er soll viel¬ 
mehr auch groß gedacht sein, was aus seinem Verhältnis zur Umgebung 
hervorgehen muß. Sehr viele Dinge, die einen wesentlichen Gehalt der kind¬ 
lichen Vorstellungswelt ausmachen, kennt das Kind bloß aus dem Bilderbuch, 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


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trotzdem sind ihm diese Gegenstände, z. B. Mond und Sterne, der Löwe, das 
Krokodil u. a. durchaus vertraut und besonders interessant, weil an ihnen 
der Reiz des Unbekannten, Besonderen und Unerreichbaren haftet Das 
Christkind und den Nikolaus im Bilderbuch zu sehen, ist für daB Kind wunder- 
schön; kurzum, es erhellt aus alledem deutlich, wie wichtig die richtige Dar¬ 
stellung dieser fremden Dinge im Kleinkinderbilderbuch ist und mit welcher 
Leichtigkeit große pädagogische Fortschritte errungen werden können, wenn 
der Psyche des Kindes entsprechend dieses Problem gut gelöst wird. 

b) Leben und Treiben der Umgebung. 

(Beispiel: Das GroBstadtbilderbuch von Sophus Hansen). 

.Als Beispiel gerade für diesen Gesichtspunkt — wohlgemerkt nicht als 
Muster — führe ich das Buch: „Großstadtbilderbuch" von Sophus Hansen, 
veranlaßt durch eine Lehrervereinigung von Hamburg, an. Der Zweck dieses 
Buches ist, das Kind mit seiner Umgebung und ihrer Eigenart bekanntzu¬ 
machen. Möglichst viel auf einer Seite unterzubringen, ist hier das Leitwort, 
um dem Kind seine Entdeckungsreisen im Buch und durch das Buch in der 
Wirklichkeit recht ergiebig zu gestalten. Daß bei dieser Absicht die künst¬ 
lerische Ausführung hinter dem reinen Zweckwillen Zurückbleiben muß, ist 
erklärlich; denn die Klarheit, die vor allem dem Kind ein leichtes Ausdeuten 
und Vergleichen der dargestellten Dinge ermöglichen soll, muß stets unter 
der allzu großen Fülle leiden. Gänzlich beiseite geschoben ist hier der 
Humor, die Komik, die für das Kind so anziehend ist, der rein belehrende 
Ton tritt durch diesen Ausfall stark in den Vordergrund. Die Auswahl der 
dargestellten Stoffe ist gut, wenn auch noch vieles für das Großstadtkind, 
das von vornherein zu einer gewissen Vorliebe für alles Technische neigt, 
noch interessanter zu gestalten wäre. Zum Beispiel der Bahnhof. Das ganze 
Wunderwerk der Lichtsignale und Weichen ist gar nicht dargestellt, und 
gerade das ist doch so wichtig. Die Trambahn, dieses Hauptfahrzeug des 
städtischen Verkehrs, ist ganz nebensächlich behandelt, das Geleise und die 
Weichen, sowie das Aus- und Einsteigen von Leuten ist doch so außer¬ 
ordentlich interessant und wichtig und entbehrt gerade in diesem Großstadt¬ 
bilderbuch jeglicher Betonung. 

Das Kleinkinderbilderbuch muß also zunächst darauf bedacht sein, die 
Dinge so darzustellen, wie sie dem kindlichen Auffassungsvermögen am 
nächsten liegen und ihm das besonders Charakteristische der einzelnen Dinge 
so betonen, daß das Zweckmäßige klar zum Ausdruck kommt. Sollen nicht 
bloß einfache Gegenstände des Gebrauchs gezeigt werden, sondern bereits 
kompliziertere Dinge der Umgebung, wie z. B. der Großstadt, so muß auch 
das Warum und Weshalb zum Ausdruck kommen, soweit es eben ein kind¬ 
liches Begriffsvermögen auffassen kann. Bloß das Anhäufen und Vorzeigen 
der Dinge allein tut es nicht, ein gewisser logischer Zusammenhang muß 
irgendwie zugrundeliegen, sei es, daß z. B. die zusammengehörigen Werk¬ 
zeuge mit dem Material beisammen sind oder sonst auf irgendeine Art und 
Weise Ordnung in die weite Fülle des für das Kind Unbekannten gebracht wird. 

Der pädagogische Wert dieser Kleinkinderbilderbücher, die sich mit einer 
leeren Aufzählung aller möglichen Dinge ohne inneren Zusammenhang be¬ 
schäftigen, ist nur bei vorzüglicher Ausführung, die leider allzu selten ist, 
hoch einzuschätzen, und diese Bücher erfreuen sich — wegen der meist 


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minderen Qualität — auch keiner besonderen Beliebtheit. Vorsichtige 
Schätzungen ergeben höchstens einen Prozentsatz von 10—20 der allgemeinen 
BilderbQcherproduktion, welchen die Abteilung Kleinkinderbilderbuch fQr sich 
in Anspruch nehmen kann. Es ist auch ganz erklärlich, denn bereits der 
„Struwwelpeter“ mit seinem umfangreichen Text ist für Kinder von 3—6 Jahren 
geeignet, wie der Verfasser selbst schreibt. Mit irgendeiner Handlung im 
Zusammenhang gewinnt die Demonstration der einzelnen Dinge für das Kind 
ganz wesentlich an pädagogischem Wert und ist allgemein beliebter. 


Benutzte Literatur: 

Hildebrandt, Klein Rainere Weltreise. Dietrich. — Oßwald, Ball der Tiere. Scholz.— 
Osswald, Zirkus. Scholz. — Schmidhammer, Eio-popeio. Scholz. — Drucker, Wir zwei 
Beide. Stelling.—Freybold, Bilderbuch. Schatfstein. — Kinderheimat. Autor unbekannt.— 
Klempt, Die Vogelbochzeit. Datterer, Freising. — Sauer und Spoor, Kleine Leut Verlags¬ 
anstalt Pestalozzi. 


II. 

Das Beschäftigungsbilderbuch. 

a) Das Zeichen- und Malbuch. 

b) Das Ausschneidebuch (Ausschneidebogen). 

c) Das Buch als Anleitung zur Handfertigkeit 

Von dem natürlichen Bedürfnis des Kindes ausgehend, die Gebilde seiner 
Phantasie irgendwie auf dem Papier mit Bleistift oder bunter Farbe auszu¬ 
drücken, sind die sogenannten Mal- und Zeichenbücher entstanden. Wenn 
wir die chronologische Folge gemäß der Entwicklung des Kindes einhalten 
wollen, so kommt zuerst das Malbuch. Allerdings scheint dies im Gegensatz 
zu dem früher festgestellten Ergebnis des späteren Farbenempfindens beim 
Kinde zu stehen, die Fähigkeit jedoch, nach einer Vorlage, mag sie noch 
so primitiv sein, zu zeichnen, tritt beim Kind doch ganz erheblich später ein 
und dürfte kaum vor dem fünften Lebensjahr Brauchbares liefern. Aus¬ 
gehend von einfachen geometrischen Formen, die dem Kinde leicht verständ¬ 
lich sind, hat Hans Probst, selbst ein vorzüglicher Schulmann, zwei Büchlein 
geschaffen, die unter dem Titel: 

„Der Schnellmaler“ und „Wen soll ich malen“ 

bei Braun und Schneider, München, erschienen sind. Mit Hilfe von Geld¬ 
stücken, die das Zeichnen von Kreisen erleichtern, zeigt Probst eine ganze 
Menge von Dingen zum Zeichnen, die durch lustige Verse erläutert in ihrer 
Erfindung und Einfachheit ganz vorzüglich sind. Die Zerlegung der abzu¬ 
zeichnenden Dinge durch ein symmetrisches Netz ist ein viel gebrauchtes 
Hilfsmittel, um das richtige Nachzeichnen der Proportionen dem Kinde leichter 
zu machen. 

Die Aufgaben werden für vorgerückteres Alter natürlich schwerer gestellt, 
erst das genaue Nachzeichnen der Kontur, dann die Verwendung von ein¬ 
fachen Schattierungen usf., wobei natürlich nicht zu übersehen ist, daß nur 
ausgesprochen für das Zeichnen talentierte Kinder die schwierigeren Zeichen¬ 
bücher nachahmen können. Vielfach kann bemerkt werden, daß die Auf¬ 
gaben zu schwer gestellt sind und besonders auf die einfachen technischen 
Hindernisse, wie es für das Kind eine zu schwierige Linienführung 


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oder rein künstlerische Formgestaltung bedeutet, zu wenig Rücksicht ge¬ 
nommen wird. 

Was die ausgesprochenen Malbücher anlangt, so ist hier eine unglaubliche 
Menge schlechter Werke zu finden, die oft mit gänzlicher Verkennung der 
kindlichen Fähigkeiten hergestellt sind. Das Problem ist meist das gleiche; 
auf der einen Seite ist das vielfarbige Bild zu sehen, auf der anderen nur die 
Kontur, die nun mit den richtigen Farben vom Kinde ausgefüllt werden soll. 
Auch hier ist der Hauptfehler das Übermafi der Farbe; man mutet dem Kinde 
zu, große Flächen zu bemalen, und vergißt, daß dabei mit Aquarellfarben 
immer Flecken entstehen, dem zu leichten Ineinanderlaufen der Farben ist 
meist auch keine Berücksichtigung geschenkt. Malbücher werden vom Kinde 
nie fertig gemalt, eine Beobachtung, die in wiederholten Fällen angestellt 
werden konnte. 

Den weitaus größten Teil dieser Art Bücher nimmt heute das sogenannte 
Ausschneide- oder Klebebuch für sich in Anspruch. Die große Vorliebe für 
kunstgewerbliche Arbeiten hat sich ganz besonders auch auf die Kinder über¬ 
tragen, nicht weil diese auf einmal eine besondere Vorliebe dafür bekommen 
hätten, sondern weil es die vielen Kunstgewerbetreibenden als vornehmste 
Aufgabe betrachten, ein Buch in dieser Art für die Kinder herzustellen. Es 
ist nicht zu verkennen, daß sehr viele gute Werke auf diesem Gebiete da 
sind, obwohl auch hier um der rein künstlerischen Note willen diese Bücher 
zum Nachteil des Kindes oft erheblich ihren Zweck verkennen. Die Arbeit 
des Ausschneidens und Aufklebens ist mehr für Mädchen geeignet, die eine 
bedeutend größere Geduld in diesen Dingen entwickeln; Buben sind meist 
zu wenig seßhaft für diese — ich möchte sagen — häuslichen Handarbeiten. Auf 
jeden Fall tragen diese Bücher viel dazu bei, die Handfertigkeit und Kombi¬ 
nationsgabe des Kindes zu fördern und ihm bei guten Vorlagen ein gewisses 
künstlerisches Stilempfinden anzulernen. 

Die eigentlichen Vorläufer dieser Klebebilder sind die früher bei den Kindern 
so sehr beliebten Ausschneidebogen gewesen. Einfache Figuren, die auf 
umgebogenem Papierrand stehen konnten, besonders Soldaten, die für arme 
Kinder, denen Zinnsoldaten zu kostspielig waren, einen guten Ersatz boten, 
waren die einfachen Vorlagen zum Ausschneiden; der Bau ganzer Häuser 
und Burgen aus Papier verlangte bereits eine größere Handfertigkeit und 
räumliche Kombinationsgabe. Heute 'hat auch hier die Anleitung zu kunst¬ 
gewerblicher Tätigkeit die Oberhand erhalten; Modellieren, Glasmalerei, Perlen¬ 
stickerei, Korbflechten, Batiken und viele andere Handfertigkeiten sind es, 
die den Kindern heute gelehrt werden und zu denen mannigfache Bücher die 
Anleitung geben. 

Auswahl benutzter Literatur: 

Mai- und Buntpapierarbeiten. (Verschiedene Hefte.) Von C. Lauzil. Otto Maier, Ravens¬ 
burg. — Papierkünste für Kinder. Von W. Schneebeli. Otto Maier, Ravensburg. — Tech¬ 
nische Jugendbücherei. (12 Hefte.) Von L. M. K. Capeller. Verlag Natur und Kultur. — 
Schreibers Ausschneidearbeiten für Glanzpapier. (12 verschiedene Hefte.) J E. Schreiber, E߬ 
lingen. — FrÖbelsche Kinderarbeiten. (Verschiedene Hefte.) Von Hans Denzer. Otto Meier, 
Ravensburg. — Kinderbeschäftigungen nach FrÖbel. (Verschiedene Hefte.) Von Coppius. Otto 
Maier, Ravensburg. — (Für Modellieren, Freihandflechten, Spanflechten.) — „Wen soll ich 
malen.* Von Oberstudiendirektor Hans Probst. — „Der Schnellmaler.* Braun & Schneider, 
München. — Mauder, Münchner Kindl, Malbuch. Schreiber, Eßlingen. — Meggendorfer 
Lustige Ziehbüder. Schreiber, Eßlingen. 


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m. 

Intellektualistischer Typ. 

(Münchner Fibel von Adolf Hengeler.) 

Was heute die Fibel im allgemeinen anstrebt, dem Kinde den trockenen 
Unterricht im Lesen und Schreiben mit Bildern unterhaltender und leichter 
zu gestalten, hat in früheren Zeiten mit viel Wärme und Gemüt in dem 
mancherlei Naschwerk gelegen, das den Kindern zur Belohnung und An¬ 
spornung geschenkt wurde. Obwohl uns heute wenig von diesen pädago¬ 
gischen Hilfsmitteln bekannt ist, wissen wir doch, daß besonders durch den 
Grundsatz der Jesuitenschulen, die bereits von den Humanisten die Weckung 
des Ehrgeizes als wichtiges Erziehungselement übernommen hatten, die Be¬ 
lohnung eine erhöhte Rolle spielte. Dieser Brauch der Beschenkung fleißiger 
Kinder mit Dingen, die auf den Unterricht unmittelbaren Bezug hatten, war 
allerdings eine rein individuelle Angelegenheit eines jeden Lehrers. Von 
diesen Dingen ist uns wegen ihres vergänglichen Charakters und weil sie 
eben meist eßbar waren, kaum etwas erhalten, Buchstaben aus Teig, die dann 
gebacken wurden, waren ebenfalls keine Seltenheiten; leise Anklänge, aller¬ 
dings mehr für einen anderen Zweck, finden wir heute noch in den zahl¬ 
reichen Lebkuchen und Lebkuchenherzen, auf denen allerhand meist belehrende 
und lustige Dinge ahgebildet sind. Das Fleißbillet bzw. das Heiligenbild sind 
mit der fortgeschrittenen Reproduktionstechnik an Stelle dieser anreizenden 
Belohnungsweise getreten, vereinzelt gibt es zu Weihnachten zwar heute noch 
Bäckereien in Buchstaben form, aber der besondere Zweck mit diesen Dingen 
ist heute fast in Vergessenheit geraten. Der pädagogische Wert dieser Be¬ 
lohnungsmethode ist bestimmt ein erheblicher gewesen, denn welcher Knabe 
würde sich nicht genau irgendeinen Buchstaben merken, den er aus Bretzel¬ 
teig groß und braun gebacken zum Verzehren erhält. Wenn diese Gaben 
nicht zu verschwenderisch verteilt wurden, so wird der Eindruck bestimmt 
ein ganz nachhaltiger gewesen sein. Die Osterhasen sowie die Maikäfer aus 
Schokolade sind heute noch Dinge, die auf ein Kind viel nachhaltiger und 
eindringlicher wirken selbst wie ein Bilderbuch. 

Da diese Unterrichtsmethode mit solchen Mitteln jedoch etwas kostspielig 
und schwierig wäre, muß sich das Kind im allgemeinen mit der illustrierten 
Fibel begnügen, die gegenüber alten Unterrichtsbüchem,. aus denen jeglicher 
Bilderschmuck als störend und ablenkend verbannt war, ganz bedeutend 
lustiger und unterhaltender ist. 

a) Die Illustration als mnemotechnisches Hilfsmittel. 

Was das Kleinkinderbuch zuhause vorbereitet hat, das will die illustrierte 
Fibel mit dem beginnenden Ernst des Lebens dem Kinde in praktischer Aus¬ 
wertung als feste Grundlage für alles spätere Wissen bedeuten. An der Hand 
des Lehrers soll das Kind hier die Buchstaben und Worte kennen lernen; 
das unentbehrliche Hilfsmittel zu diesem schweren ersten Schritt, um einiger¬ 
maßen Ordnung in den noch wirren Gedankenkreis des Kindes zu bringen, 
ist die Illustration geworden. Anschauungsunterricht und Mnemotechnik gehen 
hier zusammen, um wirklich Hervorragendes zu leisten. Als Musterbeispiel 
führe ich hier Hengelers illustrierte Münchener Lesefibel an, eine Lösung, 
die wirklich mit zu den erfreulichsten auf dem Gebiete der illustrierten Fibeln 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


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gehört Das Charakteristikum der einzelnen dargestellten Dinge ist mit solcher 
Prägnanz und Kürze getroffen, daß der Eindruck lange Zeit unverwischbar 
bleibt, ja gewissermaßen ein Vorstellungsinhalt durch diese Bilder geschaffen 
wird, der immer wiederkehrt, nicht nur solange er als Hilfsmittel für das 
Memorieren des betreffenden Lautes benötigt wird, sondern auch später, wenn 
von einem der hier illustrierten Dinge oder Tiere die Rede ist, z. B. dem 
Papagei, so kehrt dieses Bild gewissermaßen als Urtyp, als AusgaDgsform 
aller anderen Vorstellungen eines Papageis vor das Auge des Kindes zurück, 
ein Beweis, daß diese Reduktion eben nur mehr das Wesentlichste bringt, 
ganz und gar nicht zu viel daran ist und gerade das lustige spöttische Wesen 
des Vogels so gut getroffen ist, daß man es schlechterdings für das Kind 
nicht besser lösen könnte. 

b) Humoristische Auffassung. 

Keiner hat es so wie Hengeler verstanden, einen Humor in seine Dlustrationen 
zu legen, der ganz besonders für das Kind das Bild erst zum Erlebnis macht; 
z. B. eine Schnecke ist langweilig und schwer lustig darzustellen ohne allzu 
viel Aufwand, die kleine Mücke aber, die darauf reitet, bringt einen Humor 
hinein, durch den dieses Bild eine ganz besondere Eigenart erhält und eben 
dadurch sich besonders einprägt. Es ist als ein außerordentlich erfreulicher 
Fortschritt zu bezeichnen, daß man dem Kinde nicht nur die bloße Dar¬ 
stellung eines Dinges als mnemotechnisches Hilfsmittel vorführt unter mög¬ 
lichster Betonung des rein Lehrhaften in der Darstellung. Die vielfach ge¬ 
äußerte Furcht, es könnte durch die humoristische Auffassung der Dar¬ 
stellungen eine Ablenkung und Zerstreuung der Kinder stattfinden, ist nicht 
angebracht; gerade durch diese lustige Auffassung prägt sich das Bild dem 
Kinde weit mehr ein, als wenn es ihm wie eine Photographie kalt und ohne 
künstlerische Umwertung vor Augen geführt wird. 

c) Umwertung und Reduktion des Bildes. 

Hengeler ist der Erste, der die Wirkung von Farbe und Linie so beherrscht, 
daß er in der äußersten Reduktion mit farbigen Konturen arbeitet und eben 
dadurch Wirkungen erzielt, die in ihrer Prägnanz und Einfachheit ausschlie߬ 
lich das bringen, was für das Kind wissenswert ist und alles andere bei¬ 
seite lassen. 

Ist somit das Künstlerisch-Pädagogische des Bildes selbst als gelöst an¬ 
zuerkennen, so fragt es sich wieder, ob auch das pädagogisch-intellek- 
tualistische Problem durch diese Art der Illustration gefördert ist. Dies ist 
meiner Anschauung nach unbedingt zu bejahen. 

So vorzüglich aber die Bilder in dieser Fibel sind, so läßt die Zusammen¬ 
stellung leider Lücken und bringt Dinge, die das Kind untereinander nicht 
mehr in Zusammenhang bringen kann, ja die ihm zum Teil schwer verständ¬ 
lich sind. Die Grundidee ist, die Buchstaben das Alphabetes mit einem Bild 
nebeneinander zu stellen, dessen Bezeichnung den zu erlernenden Buchstaben 
in sich trägt, bzw. als Hauptmerkmal hat. Diese Aufgabe ist als vorzüglich 
gelöst zu betrachten. Leider ist aber die Reihe nicht vollständig; das Kind 
erinnert sich wohl an die Bilder, die vorhanden sind, bei den fehlenden 
kommt es jedoch um so mehr in Verwirrung, als ihm dieses Fehlen nicht 


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einleuchtet, es vergebens sucht und dadurch nur noch unsicherer wird. Diese 
Fragen haben die Pädagogen in dem vorliegenden Falle nicht genügend ge¬ 
würdigt oder absichtlich aus Gründen unterlassen, die ich nicht heraus¬ 
zudeuten vermag. Wenn auch vielleicht die Absicht zugrunde liegt, das 
Kind allmählich vom Bilde loszulösen, um es rein intellektuell weiter zu 
unterrichten, so darf dies nur mit einer gewissen logischen Gesetzmäßigkeit 
erfolgen. 

Gegenüber anderen Fibeln, die in ihrem Umfang zu weit gegriffen sind 
von vorneherein, als daß hier im kindlichen Gehirn sich das Wichtige vom 
Unwesentlichen noch scheiden könnte, bietet diese Fibel den Vorteil der ab¬ 
soluten Kürze und äußersten Prägnanz; um so verwirrender wirken die 
Illustrationen gegen das Ende zu, die den anderen Bildern zu rasch folgen, 
als daß das Unzusammenhängende nicht auffallen müßte. Kinder denken 
unglaublich konsequent und sind verdutzt, wenn aus Gründen, die ihnen 
nicht einleuchten, ein eben gelerntes Prinzip unterbrochen wird. Am Anfang 
des Buches ist auf jeder Seite ein Bild, um später immer weniger zu werden; 
wenn das Kind beim Buchstaben E einen Elefanten sieht und beim Eu eine 
Eule usf., beim R aber gar kein Bild, ist ihm das ärgerlich, und von vorne¬ 
herein steht es dem toten Buchstaben ohne Illustration feindlicher gegenüber 
als dem illustrierten. 

d) Der eigentliche Sinn der Fibel. 

Das Bilderlotto und alle ähnlichen Spiele bauen auf dem gleichen päd¬ 
agogischen Prinzip auf, das Kind durch wiederholtes Vorzeigen eines Bildes 
mit dem Gegenstand einerseits und dem Wortbild andererseits vertraut zu 
machen und ihm zu zeigen, daß alles seinen Namen hat und dieser Namen 
stets wieder dieses eine Ding meint, kurzum, ihm das Verständnis für den 
Zusammenhang der wirklichen Welt mit der gesprochenen und gedruckten 
Bezeichnung zu verdeutlichen. Dies ist der Zweck des Bilderbuches und der 
illustrierten Lemfibel, diese Spanne mit Hilfe des Bildes zu überbrücken, und 
die ungezählten Lösungen dieser Aufgabe geben davon Kenntnis, welche 
Wichtigkeit dem durch die Illustration unterstützten Anschauungsunterricht 
für pädagogische Zwecke in steigendem Maße zuerkannt wird. 


e) Das Bilderbuch mit illustrierten Kinderliedern, Versen 
und primitiven Geschichten. 

Den weiteren Ausbau des in der Schule Gelernten soll das im Plauderton 
gehaltene Bilderbuch zuhause besorgen. Am Ende der Fibel stehen meist 
kleine Geschichten, die irgendeine leicht verständliche Begebenheit erzählen. 
Die Pädagogik hat mit Recht erkannt, daß es nicht genügt, die Kenntnisse 
des Materials den Kindern beizubringen, sondern daß in richtiger Entwick¬ 
lungsreihe das Erlernte immer wieder angewendet werden muß und so un¬ 
bemerkt die Aufgaben nach verschiedenen Richtungen hin immer schwerer 
gestellt werden. Scheint auch die große Fülle der Bilderbücher, welche 
diesem Entwicklungsgang folgen, wenig Interessantes zu bieten, die leichte 
Verständlichkeit der kleinen Geschichten und ihre primitive Harmlosigkeit 
machen sie doch für diesen Zweck besonders geeignet. 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


Benutzte Literatur: 

Mauder, Sonne, Sonne scheine. Schnell, München. — Meggendorfer, Trulala. Schreiber, 

Eßlingen. — Metz u. Spoor, Von Kindern, Tieren und Puppen. Pestalozzi-Verlagsanstalt 
Wiesbaden. — Meyerheim u. Trojan, A. B. C. Stilke, Berlin. — Morgenstern u. Gampp, 

Klein Irmchen. Cassirer, Berlin. — Müller-Heintze, Mein schwarzes Bilderbuch. W. Meck. — 

Müller-Wunderlich u. Baumgarten, Lustige Märlein. Anton & Co., Leipzig. — Olfers 
u. Riezler, Kindermusik. Bassermann, München. — Osswald, Der Frühling kommt. Scholz, 

Mainz. — Peter u. Mauder, Der Wuwu. Schnell, München. — Schoen, Rumdidibum. x Hahn, 

Leipzig. — Tille u. Brockmüller, Söckchen und Döckchen. Lit. Anstalt, Frankfurt a. M. — 
Tratzmüller u. Lutzenberger, Schau! Hör! Sprich! Datterer, Freising. — Weber u. 

Kracher, Das Buch vom Osterhasen. Datterer, Freising. — Schulz, Der Prutzeltopf. Langen, 

München. — Abeking, Das Mapampebuch. Abel & Müller, Leipzig. — Bilderbuch, das schönste. 

Union, Stuttgart — Caspari, Walter, Der Sommer. Hahn, Leipzig. — Clauß, Kinderwelt der *• 

Großstadt Dietrich, München. — Dieck, Schweinchen schlachten. Stalling, Oldenburg. — 

Dieck, Woraus wird alles gemacht? Stalling, Oldenburg. — Freud u. Max, Das neue Bilder¬ 
buch. Dietrich, München. — Großmann, Handwerksleut der Kinder Freud*. Stalling, 

Oldenburg. — Hansen, Großstadt-Bilderbuch. Voigtländer, Leipzig. — Haß, Mond und Sterne. 

Dietrich. München. — v. Hoerschelmann, Das schwarze Bilderbuch. Mörike, München. — 
Kaulbach-Güll, Bilderbuch. Schnell, München. — Kracher u. Tratzmüller, Ein Märchen 
vom Osterhasen. Datterer, Freising. — Kränzchen-Bilderbuch. Union, Stuttgart. — Mörike, 

Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Verlag Hendel. — Tratzmüller u. Lutzenberger, Arbeiter 
in der Natur. Datterer, Freising. — Sergel u. Kutzer, Ringelreihen. Frz. Schneider, Berlin. — 

Richter, Eduard, der gründliche. Anton & Co., Leipzig. — Richter, Lustige Tierwelt. 

Anton & Co., Leipzig. — Richter, Lustige Bilder und Verse. Anton & Co., Leipzig. — Lucas, Gg. 

Tierbüchlein für Kinder. K. Lucas, Paderborn. — Hansa-Fibel von Otto Zimmermann, 

Illustriert von Eugen Osswald und deren Bearbeitungen: Licht und Leben. — Machet auf das 
Tor. — Der Schlüssel. — Bären-Fibel. — Der Bärenführer. — Leseschule. Illustriert von 
E. Reinicke. Klinkhardt. Leipzig. — Münchner Fibel. 


IV. 

Moralistischer Typ. 

(Der Struwwelpeter von Dr. Heinrich Hoffmann.) 

Der Struwwelpeter als umfassendes Vorbild. 

Wendet sich das Kleinkinderbilderbuch nur an die Unterhaltung und Be¬ 
lehrung, die Fibel nur an das Lernen, so steht der Struwwelpeter von 
H. Hoffmann als Vertreter der größten Menge von Bilderbüchern auf weitaus 
höherer Stufe; er wendet sich rein moralisierend an den Verstand und das 
Gefühl, sucht sich eine primitive Anstandsmoral zu schaffen und will bereits 
vorhandene Grundlagen ausbauen und verbessern. Die Methoden des Bei¬ 
spiels, der Abschreckung und Belohnung können nur für Kinder in Frage 
kommen, die über den primitivsten Zustand des bloßen Erkennens hinaus 
sind und höhere Beweggründe der Handlungen lernen sollen, tun sich inner¬ 
halb der menschlichen Gesellschaft vernünftig zu betragen. Die Poesie wird 
zum Hilfsmittel der Texteinprägung; die Illustration veranschaulicht, wie man 
es machen soll oder nicht, beide zusammen wollen dem Kinde Lebensregeln 
und Praktiken mitteilen, ihm also die eigene schlechte Erfahrung ersparen 
und ihm Erprobtes und Bekanntes in möglichst eindringlicher Form mitteilen. 

H. Hoffmann hat diese Aufgabe restlos gelöst, wie es auf gleichem Gebiete 
keiner mehr besser verstanden hat. Ist auch sein Stuwwelpeter heute ein 
altmodisches Buch seiner Ausstattung und Form nach, so war er doch der 
erste, der grundlegend das Bilderbuch in dieser Art geschaffen hat. Der 
einzigartige Erfolg beweist am besten die Jahre überdauernde Kraft des 


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Buches, und bis heute steht kein Ersatz da, der so viele Vorzüge sowohl 
textlich wie illustrativ für das Kind in sich vereinigt, wohlgemerkt für den 
Typ des moralistischen Kinderbilderbucbes. Hoffmann'war Kinderpsychologe 
allerersten Ranges, und da er selbst zugleich Dichter und Illustrator der 
eigenen Erfindung war, war schon dadurch die Möglichkeit gegeben, bedeu¬ 
tend besseres zu leisten als andere. 

Der Struwwelpeter gibt heute für über 50 °/o aller Kinderbilderbücher die 
Richtlinien an, innerhalb deren sie sich bewegen, so daß sich heute fast in 
jedem Kinderbuche Anklänge oder Parallelen dazu finden lassen. Die Ge¬ 
stalten, die im Struwwelpeter auftreten, sind durchaus originell. Nicht in 
ihrer Ausstattung allerdings, aber in der Erfindung ihrer Handlungen wird 
ihnen eine Charakteristik aufgeprägt, die sie zu ganz besonderen Wesen 
stempelt; der „Suppenkaspar“ z. B. ist ein ganz alltägliches Geschöpf, aber 
sein Abmagern ist so wichtig, daß ein Kind sofort weiß, wenn es eine ähn¬ 
liche Figur sieht: „Dies ist der Suppenkaspar“. Durch diese Neuartigkeit, 
ich möchte fast sagen Aufdringlichkeit der Erfindung ist der Eindruck auf 
das Kind ein außerordentlicher, um so mehr, als z. B. die Umgebung, in der 
die einzelnen Figuren stehen, auf das alleräußerste reduziert ist und nicht 
im mindesten der eigentlichen Hauptsache Abbruch tut 

Mehr als alles gute Zureden vermag ein Buch wie der Struwwelpeter; 
Hoffmann schreibt selbst, daß er als Arzt die Kinder oft beschwichtigt hat, 
indem er ihnen auf ein Blatt Papier mit ein paar Strichen etwas aufzeichnete 
und irgendeine tolle Geschichte dazu erzählte; es ist falsch, zu glauben, daß 
auf ein Kind nur die allereinfachsten Dinge Eindruck machen; schon den 
ganz Kleinen wird der Struwwelpeter lieber sein, wenn er ihnen vorgelesen 
wird als irgendein Buch, in dem beliebige Gegenstände kalt und nüchtern 
der Reihe nach abgebildet sind. Das Bewegliche der Handlung, das Ge¬ 
schehen wiederholt betont, ist es, das dem Kinde Eindruck macht; wie die 
Aufmerksamkeit des Tieres eine heftige Bewegung ganz besonders bemerkt, 
so ist dem Kind schon in den ersten Anfängen seines Denkens überhaupt 
ein lebendiges Geschehen interessanter als bloße Schilderung ruhender Objekte 
und starrer Typen. 

Der Zweck des Struwwelpeter ist ein rein pädagogisch-moralistischer, weniger 
zur Unterhaltung als zur Erziehung und Belehrung gedacht. Fast alle Un¬ 
tugenden, die Kinder mit sich bringen, kommen hier vor und werden an ab¬ 
schreckenden Beispielen vorgeführt. Sind die Bilder auch künstlerisch nicht 
von hoher Qualität, so überwiegt die rein kindliche Auffassung doch so stark, 
daß die Anpassung der Darstellung an die Psyche des Kindes als Kunst be¬ 
wertet werden muß. 

Hoffmann hat mit seinem Struwwelpeter gezeigt — und der enorme Ab¬ 
satz hat es bewiesen —, was ein gutes Buch zu leisten imstande ist, wenn 
es gleich nicht der Unterhaltung und dem Spiele gewidmet, einen rein päd¬ 
agogischen Einfluß ausüben soll. 

Unübersehbar ist die Kette derer, die versucht haben, in den Fußtapfen 
des Struwwelpeter weiter zu gehen; eine ähnliche Bedeutung hat auf diesem 
Gebiet kein Buch mehr erzielen können, aus dem einfachsten Grunde, weil 
bereits fast alles vorweg genommen war, was zu diesem Thema überhaupt 
gesagt und dargestellt werden kann. Besonders bezeichnend ist es, daß der 
Struwwelpeter aus dem reinen Selbstwillen heraus entstanden ist, den eigenen 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


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Kindern etwas Brauchbares in die Hand zu geben, alle Schranken, die — 
wie bereits erwähnt — den Entwicklungsgang eines Bilderbuches sonst 
hemmen können, waren hier nicht gegeben, sondern der reine Zweckwille 
hat sich unabhängig von allen technischen und wirtschaftlichen Rücksichten 
durchgesetzt und dabei das Vorzüglichste geleistet. 

Benutzte Literatur: 

Moe u. Ostini, Bamse. Pestalozzi-Verlagsanstalt, Wiesbaden. — Lang u. Schlitt. Die 
goldene Nadel. Dietrich, München. — Oswalt u. Klinisch, Der Pegasus. Literarische Anstalt, 
Frankfurt — Sch eff ler, Menzel. Cassierer, Berlin. — Schulz, Der Prutzeltopf. Langen, 
München. — Traub, Klaus Luftibus. Schnell, München. — Wildermuth, Aus der Kinder¬ 
welt. Union, Stuttgart. — Hoffmann, Bastian, der Faulpelz. Literarische Anstalt, Frank¬ 
furt. — Hoffmann, Im Himmel und auf der Erde. Literarische Anstalt, Frankfurt, — Hoff- 
mann, König Nußknacker. Literarische Anstalt, Frankfurt. — Hoffmann, Prinz Grünewald. 
Literarische Anstalt, Frankfurt. — Kreidolf, Schwätzchen. Schaffstein & Co. — Kreidolf, 
Die schlafenden Bäume. Schaffstein & Co. — Kutzer u. Holst, Der Puppenzweig. Hahn, 
Leipzig. — Kutzer u. Holst, Hans Wundersam. Hahn, Leipzig. — Kutzer & Holst, Der 
Weihnachtsstem. Hahn, Leipzig. — Schaffstein’s Volksbücher Nr. 48, „Fortunatus und seine 
Söhne* von Simrock u. Rüttgers. — Schaffstein’s Volksbücher Nr. 45, „Die vier Haymons- 
kinder*, von Schwab u. Rüttgers. — Müller & Winkler, Rübezahl. Abel u. Müller, 
Leipzig. 

v. 

Humoristischer Typ. 

(Max trnd Moritz von Wilhelm Bosch.) 

Wilhelm Busch mit seinem „Max und Moritz“ ist heute bereits ein Klas¬ 
siker des Humors; von allem, was er geschaffen hat, gehört dieses Büchlein 
zu seinem Besten und hat seinen Ruf begründet. 

Was nicht in dem Rahmen des Struwwelpeter geschrieben ist, hat „Max 
und Moritz“ als Vorbild bewußt oder unbewußt im Kopf. Busch wollte als 
Humorist in allererster Linie eine lustige Unterhaltung mit dem Büchlein für 
das Kind schaffen; die Bestrafung des Bösen ist ein nicht recht ernst zu 
nehmender Versuch, dem Ganzen einen moralisierenden Abschluß zu geben. 

Am besten kennzeichnet der Werdegang von „Max und Moritz“ die Beur¬ 
teilung des Buches bei seinem Entstehen. Busch war damit bei zwei ver¬ 
schiedenen Verlegern, die alle den Druck des Buches ablehnten, da sie seinen 
Einfluß für zu schädlich für die Jugend hielten; den damaligen Inhabern 
der Firma Braun & Schneider war es Vorbehalten, das Buch trotz allem unter 
richtiger Beurteilung seiner erstklassigen Qualität zu erwerben. Die Anfein¬ 
dungen blieben selbstredend nicht aus, haben allerdings nur zur Verbreitung 
des Buches beigetragen, wie ja jede Stellungnahme zu irgendeiner Neuerung 
stets wertvoller für die Sache ist als ein gleichgültiges Totschweigen. 

a) Die Versform Büschs. 

Was den „Max und Moritz“ in allererster Linie berühmt gemacht hat, ist 
die unerhörte Form seiner Verse, dieses Extraktes in dem unglaublich klang¬ 
vollen gekürzten Versmaß so rhythmisch schwingend, daß das Ohr allein diese 
Klänge merkt, ohne daß der Verstand sich besonders bemühen braucht. Hier 
ist dem Kinde ein ästhetischer Genuß gegeben, den es verstehen und benützen 
kann, die Freude, diese Verse herzusagen, ist unverkennbar, und damit weist 
Busch den Weg, der es ermöglicht, bereits dem Kind hochkünstlerische Werte 


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zu übermitteln, die es verstehen kann, ja die in ihrer Form so einzig sind, 
daß sie zugleich für alle ein Erlebnis, einen Genuß bedeuten. Und das ist 
eigentlich das Universelle an Busch, daß seine Kunst so wertvoll ist, so ein¬ 
fach und primitiv und dabei trotzdem so umfassend, daß alle daran eine 
Freude haben; der Standpunkt des Betrachters Busch steht so hoch, daß der 
Philosoph so gut wie das Kind das Wahre, Zwingende seiner Darstellung 
anerkennen muß. 

b) Einheit der Darstellung in Text und Bild. 

Hat Hoffmann in seinem Struwwelpeter die Erfindung selbst meisterhaft 
gelöst, im Text Vorzügliches geleistet und mit der Darstellung im kindlich 
Primitiven, wenn auch nicht im Künstlerischen den Nagel auf den Kopf ge¬ 
troffen, so ist Busch auf allen drei Gebieten Meister, und es wird schwer 
fallen, seine einzelnen Ausdrucksformen in ihrer Qualität gegeneinander ab¬ 
zuwiegen, da er überall das Beste gegeben hat. Das Kennzeichen Büschs 
ist sein Humor, der Hauptfaktor, der in all seinen Werken das Neue, Eigen¬ 
artige ist; die Ironie der Moral kommt nicht zuletzt und setzt dem allzu 
braven Ende einen Dämpfer auf, der allerdings sich nicht jedem Beschauer 
offenbart. Der tiefe Sinn, der in den lustigen Geschichten Büschs liegt, ist 
die längste Zeit nicht erkannt und gewürdigt worden, und dem Künstler, der 
in dieser neuen Form so viel gekonnt und gesagt hat, ist für die Zeit seiner 
Hauptschaffenskraft die Anerkennung versagt worden, die er für seine Sachen 
haben wollte. 

Die Kategorie der lustigen Bubenstreiche in Bilderbuch und Bilderbogen 
hat Busch erfunden; zahlreich sind die Nachahmungen, welche seine Werke 
zum Vorbild haben. Die neue Form des Versmaßes hat gezeigt, daß für 
den Ausdruck des Humors sich gerade diese Art ganz besonders eignet; aber 
wie ungeheuer schwer diese Kürze ist, beweist am besten, daß noch keine 
ähnlichen Verse da sind, die so viel mit so wenig Worten lustig sagen können. 

c) Der Humor Büschs. 

Die Frage ist: „Warum gefällt Busch der Jugend so besonders?“ Einmal 
sind seine Verse zum größeren Teil für die Jugend gemacht, das große Ge¬ 
heimnis liegt jedoch nicht allein in der originellen Erfindung der einzelnen 
lustigen Geschichten, sondern in der Verwertung des Humors, der Betonung 
der lächerlichen Kleinigkeiten in dem kurzen Ausmaß der Darstellung trotz 
der Fülle des Gesagten. Busch ist der Meister des Intervalls; es wird nichtB 
Unbedeutendes erzählt oder gezeichnet, alles gehört organisch in den Reigen 
dieser Klänge. Man versuche nur einmal, einige Verse umzudichten, es ist 
unmöglich; man lasse einige Bilder weg und der Zusammenhang erleidet 
eine nicht zu übersehende Einbuße; es ist alles notwendig, nicht bloß was 
da ist, sondern auch was fehlt und das bei Busch ganz besonders. Eine 
längere Erklärung oder Vorbereitung schwächt sofort das nächste Moment 
ab, die Spannung ist mit äußerstem Geschick bemessen und jedes Zuviel 
würde genau so schaden wie ein Zuwenig. 

Wie viele Kinderbücher gibt es, aus denen man getrost mehrere Seiten in 
Text und Bild weglassen könnte, ohne daß es besonderen Schaden anrichten 
würde, wie viele Bilder, bei denen ein Weniger viel mehr bedeuten würde! 


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Gerade die außerordentliche Prägnanz bei dem Reichtum der Erfindung 
und des Gesagten bedeutet das Hauptanziehungsmoment bei Busch, selbst¬ 
verständlich durch- den urkräftigen Humor ganz besonders gehoben. 

Diese Art Humor, wie sie Busch bringt, ist echt deutsch und liegt so gut 
im Bild wie im Text. Man vergißt gänzlich aufzumerken, wo der eigent¬ 
liche Hauptwert der Geschichte liegt; es ist einfach alles so gut, daß man 
Bild und Text zusammen nimiht und beides so eindringlich zu uns spricht, 
daß die verschiedene Übermittlungsform von Text und Bild gar nicht zum 
Bewußtsein kommt 

Wie einheitlich der Guß des Ganzen ist, beweist, daß Übersetzungen in 
eine fremde Sprache keinen besonderen Erfolg erzielen konnten, so oft es 
attch versucht worden ist. Busch’sche Verse lassen sich ein für allemal nicht 
übersetzen; ein urdeutsches Element kann nicht in eine andere Form gegossen 
werden, ohne daß es dabei den Schmelz seiner Eigenart verliert. 

Ich halte es für verkehrt, wenn man hier versucht, Text und Bild getrennt 
einer eingehenden kritischen Würdigung zu unterziehen, um genau heraus¬ 
zuanalysieren, wo der Humor hier und dort liegt usf.; der Künstler denkt, 
wenn er wirklich schafft, viel weniger, als meistens in seine Werke hinein- 
und herausgedeutet wird; er formt die Materie und den Stoff, weil er eben 
bo muß, dem inneren Drange gehorchend, und jedem Werke, das konstruiert 
ist, fehlt der eigentliche Reiz des übersinnlichen Dranges, der allein die letzte 
und alleinige Vollendung schaffen kann. 

Vom rein pädagogischen Standpunkt aus betrachtet wird Busch nicht so 
besonders abschneiden Und hat es nicht getan, wie im vorher Erwähnten 
bereits betont worden ist. Warum erfreut sich aber Busch dann solcher ♦ 
Beliebtheit bei der Jugend? Einmal denkt die Jugend selbst nicht päd¬ 
agogisch, sondern ist vielmehr darauf bedacht, pädagogischer Einwirkung 
nach Möglichkeit sich zu entziehen. Das böse Beispiel wirkt erfahrungs¬ 
gemäß beim Kinde mehr wie das gute, und die Streiche von „Max und Moritz“ 
lassen hierin gewiß nichts zu wünschen übrig. Das Vergnügen, das einem 
Kind z. B. in „Max und Moritz“ der Sturz des Meister Bock in den Bach 
bereitet, ist ein ganz außerordentliches, selbst bereits dem primitiven Gemüt 
wird der Zusammenhang dieser List klar und verständlich, und das Eintreten 
des erwarteten Erfolges, das Gelingen dieser kleinen Boshaftigkeit freut und 
interessiert viel mehr als die schönste Sohilderung eines braven Buben. Da¬ 
durch erklärt sich, daß der pädagogische Wert trotz des moralischen Pessi¬ 
mismus ein erheblicher sein kann, weil das Interesse geweckt, das logische 
Überdenken von Ursache, Absicht und Wirkung notwendig gefordert und 
diese Gedankenarbeit gern geleistet wird. Von hundert Kindern werden neun¬ 
undneunzig mit Meister Böck kein Mitleid haben, wenn er ins Wasser fällt; 
es ist bekannt, wie unglaublich grausam ein Kind denkt, ohne sich im ge¬ 
ringsten bewußt zu sein, welcher Roheit es unserer Anschauung nach sich 
dadurch schuldig macht. Busch ist in seinen Geschichten ja nicht minder 
grausam; die entsetzlichsten Dinge passieren da andauernd, aber es geniert 
durchaus niemand, weil der Humor so die Oberhand hat, daß man das Rohe 
der Handlung gar nicht verspürt. Man denke sich einmal diese Geschichten 
von Busch ohne Humor aus in Bild und Text, es blieben eine stattliche Reihe 
von Grobheiten übrig, die hinter den besten Indianer- oder Detektivheftchen 
kaum zurückstehen würden! 

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Julius Schneider 


Schadenfreude ist eine Art Humor, die in gewissen Grenzen zu den reinsten 
Freuden zählt; das hat Busch durchaus erkannt und führt uns deshalb immer 
wieder Dinge vor, in denen die Schadenfreude den Hauptbestandteil seines 
Humors bildet 

Nun liegt die Vermutung nahe, daß eine gewisse Verrohung durch die 
Lektüre von Busch um sich greifen könnte. Ich glaube aber, daß doch ein 
bedeutender Unterschied besteht zwischen dem höchst künstlerisch dargestellten 
Humor der Schadenfreude und einer platten hämischen Boshaftigkeit. 

Fassen wir zusammen: Busch ist der Erfinder einer neuen Art Humor in 
Wort und Bild, dargestellt in fortlaufenden Bilderfolgen. Das Anziehende 
seiner Kunst liegt in der unbedingt homogenen Struktur vop Illustrationen 
und Text sowie in dem Aufbau und der Folge der gesamten Handlung, zu¬ 
sammengepreßt in eine Kürze, die nur bei höchster Vollendung der Aus¬ 
drucksformen alles zu sagen vermag, was gesagt werden muß. Für das Kind 
liegt der besondere Wert in den kurzen klangvollen Reimen mit dem absolut 
reinen Versmaß und in der klaren Zeichnung, die nichts Unverständliches 
oder Überflüssiges bringt im Verein mit der Eigenartigkeit und Neuheit des 
Humors und der Erfindung. 


Benutzte Literatur: 

Die Erstdrucke und Erstausgaben der Werke von Wilhelm Busch. — Bibliographisches 
Verzeichnis von Albert Vanselow. Leipzig bei Adolf Weigel 1913. — Wilhelm 

Basch, Von Hermann, Adolf und Otto Nöldeke. L. Joachim, München 1909. — A. Schankal. 
Wühelm Basch. Berlin 1904. 

Masson u. Schröter, Zum Kasperl. Datterer, Freising. — Orr u. Falke, Zwei lustige 
Seeleute. Schaffstein. — Schmidhammer, Mucki. Scholz, Mainz. — Schmidhammer, 
Der verlorene Pfennig. Scholz, Mainz. — Schmidhammer, Pips und Pipi. Scholz, Mainz.— 
Busch, Hans Hackebein. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart. — Caspari, Kinder-Humor für 
Auge und Ohr. Hahn, Leipzig. — Franz u. Haase, Rumpelstilzchens Erdengang. Meidinger. — 
Franz u. Haase, Billys Erdengang. Meidinger. — Weber u. Jäger, O diese Jnngens. Rein¬ 
hard Klinger, Berlin. — Weber u. Jäger, Theobald und Kunigunde, Reinhard Klinger, Berlin. — 
Weber u. Jäger, O diese Mädels. Reinhard Klinger, Berlin. — Weber u. Jäger, Sextaner 
Meyer. Reinhard Klinger, Berlin. — Hinke, Fix, Nix und Trix. I. Teil. Der Hosendiebstahl. 
Jugend-Verlag, Charlottenburg. — Hinke, Meta, Minne und Marie. Jugend-Verlag, Charlottenborg. 

VI. 

Ästhetischer Typ. 

(Die sieben Raben von Moritz v. Schwind.) 

Als kulturell am höchsten stehend ist wohl das Märchenbuch anzusehen. 
Die Entstehung von guten Märchen setzt stets eine hohe geistige Entwicklungs¬ 
stufe voraus, und der Deutsche kann sich neben dem Araber rühmen, die 
besten Märchen zu besitzen. Märchen verlangen ein geläutertes inneres Er¬ 
leben und können nur bei hoher geistiger Entwicklung existieren. 

a) Das Märchen als Mittel, 
dem Kinde sittliche Werte zu verkörpern. 

Für das Kind bedeutet das Märchen die Welt des unerreichbar Schönen, 
den Kosmos, auf dem sich alles Geschehen nach ganz anderen Grundsätzen 
gestaltet, als es die Wirklichkeit ihm zeigt, ein Traumleben, in dem aUes 
Widerliche und Gemeine stets vom Guten übertrumpft und besiegt wird. 


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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


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Die behandelten Stoffe sind aus jedem erdenklichen Gebiet entnommen, das 
Gute und das Böse wird in Form von Geistern verkörpert und somit das 
ganze Geschehen in einen Kampf aufgelöst, in dem die Menschen die sicht¬ 
bar ausführenden Organe sind, getrieben von den Vertretern der beiden Mächte. 
Diese Übertragung der rein ethischen Probleme aufs natürlich Greifbare ist 
der eigentliche Sinn des Märchens; das ästhetische Moment wird zur aus¬ 
schlaggebenden Ausdrucksform, weil alle Hindernisse fallen können, der deus 
ex machina so ideal wie möglich gestaltet wird und meist durch seinen Ein¬ 
griff die Handlung in der Wendung zum Guten endgültig bestimmt. Die Ver¬ 
schmelzung von Moral und reiner Ästhetik ist notwendig, um den Schleier 
des höheren Entrückten zu gewährleisten und durch das Fehlen aller Un¬ 
ebenheiten das Erstrebens- und Nachahmenswerte besonders zu betonen. 

b) Märchen und kindliche Phantasie. 

Die Möglichkeit der ungehemmten Entwicklung der Phantasie, das schnelle 
Wechseln der Szenerie, das Vollbringen des Unmöglichen sind die besonderen 
Reize, die dem Kind am allernächsten liegen. Die Einbildungskraft des Kindes 
ist gewiß nicht größer, aber ungehemmter als die des entwickelten Menschen, 
ihm kann ein einfaches Ding von größter Wichtigkeit sein, weil es unein¬ 
geschränkt irgendein Riesenobjekt daraus formt; die späte Entwicklung des Ab¬ 
messens der reinen Größenverhältnisse ist nicht zuletzt schuld an der überragen¬ 
den Freiheit der kindlichen Phantasie. Dessen soll sich auch der Märchenillustra¬ 
tor bewußt sein; es ist nicht notwendig, alles vorweg zu nehmen und erschöpfend 
festzulegen, das Kind hat gemäß seiner Veranlagung ganz besondere An¬ 
schauungen und bildet sich vieles nach seiner Vorstellung, es fühlt sich verärgert 
über die allzu deutliche Vorschrift „So und so sieht dies aus“; das muß der 
feinfühlende Künstler erkennen und darf deshalb seine Illustrationen nicht 
zu festlegend und bindend gestalten. Dem Kinde imponiert jede Äußerung 
einer unbändigen und unheimlichen Kraft, weil alles eben durchaus möglich 
erscheint. Dagegen hat es einen scharfen Blick für allzu grobe logische 
Schnitzer, sofern sie den Aufbau der Handlung oder ihr Fortschreiten ur¬ 
plötzlich ohne besonderen Grund ändern. 

Ich nenne als Meister Moritz von Schwind, den deutscBen Märchenzeichner. 
Seine ganze Märchenwelt ist von stiller Abgeklärtheit und Reinheit, dabei 
von so echt deutscher Kraft durchdrungen, daß seine Bilder unbestritten als 
Vorbild deutscher Märchenillustration gelten. Gerade der Hauptfehler deut¬ 
scher Illustration überhaupt, das zu Weiche um des rein idealen Zweckes 
willen, tritt bei Schwind nicht besonders hervor; das Grundelement ist die 
Kraft seiner Gestalten und deren Handlungen. Weit über lebensgroß müssen 
Märchenfiguren sein, sonst glaubt das Kind ihnen ihre sonderbaren Hand¬ 
lungen nicht; dies bat Schwind erkannt und restlos zu verwirklichen ver¬ 
mocht. 

Die Gebrüder Grimm haben das Beste gesammelt, was unser Volk an 
Märchen hatte; sie und die alten Heldensagen sind auch das Schönste, was dem 
deutschen Kind geboten werden kann. Dem Franzosen Galland und dem Ver¬ 
dienste Dr. Gustav Weil’s verdanken wir die Kenntnis der Wunderwelt von 
„Tausend und einer Nacht“; ich glaube, daß nächst dem Orientalen dem 
Deutschen diese Märchen am meisten geben können. Diese Welt der Geister 
ist uns nichLwesensfremd, wie wir ja ein ganz eigenartiges Mittelding zwischen 

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reinen Idealisten und konkreten Denkern sind, der Hauptzwiespalt, der uns 
die Einheit gegenüber anderen Völkern stets vorenthält. 

c) Die heutige Zeit im Verhältnis zum Märchenbuch. 

Pie deutsche Märchenliteratur ist heute imübersehbar geworden. Neues 
ist nicht mehr aufgetaucht, und die Abenteurergeschichten beginnen einen 
großen Teil der guten Märchen allgemach zu verdrängen, ohne zu bedenken, 
daß ihnen der innere sittliche Wert fehlt, der dem Kinde den Grund seiner 
späteren Entwicklung mit aufbauen soll. Das Schlagwort: „Die langweiligen 
alten Märchen“ hört man heute oft, eine Folge unserer Entwicklung, die 
keine Zeit mehr hat, die möglichst intensive Reize in möglichst kurzer Zeit 
haben muß und dabei das Beste übersieht, das hohe Glücksgefühl, das in 
dem ruhigen Finden seiner selbst in stillen Märchenfiguren liegt Karl May’s 
Indianergeschichten, so unverkennbar ihnen ein gewisser einseitiger Wert 
nicht abzusprechen ist, haben dem Märchen bösen Abbruch getan; die Ame- 
rikanisierung unserer Kultur schreitet fort, aber Besseres wird damit nicht 
erreicht, der sittliche Wert durch die unaufhörliche Überstürzung der Dinge 
nicht gehoben, sondern im Gegenteil jede beschauliche und besinnliche Ruhe 
verhindert und zerstört. „Man hat heute keine Zeit mehr“, das kommt zun 
Ausdruck bei jedem modernen Bild, jedem Neubau, jeder Plastik; „man hat 
heute keine Zeit mehr“, sagt auch das Bilderbuch, es will aber dafür recht 
groß und deutlich sein, damit man es sofort versteht, es ruft mit grellen Farben, 
damit man es nicht überhört, und das Kind ist doch heute noch das Einzige, das 
Zeit hat; warum es mit kurzen Reklametexten und Bildern abfüttern, als ob es mit 
der Mappe unter dem Arm bereits auf die nächste Schnellbahn warten müßte. 

Unsere guten Märchen haben Mühe, sich zu halten; ein modernes Bilder¬ 
buch ist nämlich auch billiger herzustellen, weil viel weniger darin ist, und 
wenn nicht in den Eltern selbst die Erkenntnis noch wach ist, was ihnen 
die Märchen bedeutet haben, ist kaum mehr jemand zu finden, der heute 
noch, ohne als großväterisch hingestellt zu werden, für das alte Märchen¬ 
buch spricht. 

Benutzte Literatur: 

Liebermano, Der Froschkönig. Scholz, Mainz. — von Minckwitz, Sonntagskind. 
Frd. Carl, Stuttgart. — Offterdinger, Märchenstrauß. Löwe. Stuttgart. — Ostini o. Pellar, 
Der kleine König. Dietrich, München. — Planck, Alte und neue Märchen. Weise, Stuttgart — 
Schmidhammer, Rotkäppchen. Scholz, Mainz. — Stroedel, Frau HoUe, Aschenputtel 
Scholz, Mainz. — Winkler, Der Riese Mugel. Franz Schneider, Berlin. — Adams, Der 
Pfeiferbans. Dietrich, München. — Andersen’s Märchen. Neff, Stuttgart — Andersens 
Däumelinchen. G. Stalling, Oldenburg. — Bruch, Märchenritt Franz Schneider, Berlin. — 
Bürger, Freiherr von Münchhausen. Abel & Müller, Leipzig. — Dorö, Münchhausen. Inad- 
Verlag, Leipzig. — Geigenberger, Märchenbuch. Kösel, Kempten. — Haß, Deutsche Heimat- 
bilder. Dietrich, München. — Krämer u. Preußner, Fritzchen im Traumland. Jugend-Verlag, 
Charlottenburg. — Weisge rber, A., Till Eulenspiegel. Gerlach & Wiedling, Wien. — Storni, 
Geschichte aus der Tonne. Gebr. Paetel, Berlin. — Schaffsteins Volksbücher Nr. 44, Der 
Zauberer Virgilius und das Schloß in der Höhle, Xa—Xa von Simrock. — Schaff stein« 
Blaue Bändchen Nr. 50, Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag. — Schaffsteins Blaue 
Bändchen Nr. 46, Tolstaj, Russische Erzählungen. — Mörike, Das Stuttgarter Hutzelmännlein. 
Verlag Hendel. — Novalis, Märchen. Beck, München. — Ganghofer, Märchen vom Kar- 
funkelstein. Union, Stuttgart. — Bierbaum, Zäpfel Kerns Abenteuer. Verlag Schaffstein. — 
Andersens Märchen. Reclam, Leipzig. — Moritz von Schwind, Sein Leben und seine 
Werke. Von Dr. H. Holland, Stuttgart 1873. — Pecht, Deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts. 
Nördlingen 1877. 


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VII. 

Bilderbuchtyp mit Tendenzen der Erwachsenen. 

(Was Peterchens Freunde erzählen, von Zur Mühlen, illustriert von George Groß.) 

a) Das soziale Bilderbuch. 

Welches Unheil gerade bei uns Deutschen der ständige Parteienhader schon 
heraufbeschworen hat und wie schwer namentlich heute die innere Zerrissen¬ 
heit unserer gesamten Volkskraft Abbruch tut, kann keinem klar Denkenden 
verborgen bleiben. Anstatt nun dahin zu wirken, die Gegensätze der Par¬ 
teien zu fiberbrücken und beschwichtigend auf die Gemüter einzuwirken, 
werden selbst Kinderbilderbücher verfaßt und als solche verkauft, deren ein¬ 
ziger Zweck es ist, bereits die jungen Gemüter in Verwirrung zu bringen 
und ihren urteilsunfähigen Verstand mit Dingen zu bedrängen, über die heute 
der Erwachsene Mühe hat, klar zu werden. 

Wenn auch gar nicht zu verkennen ist, daß George Groß vom rein künst¬ 
lerischen Standpunkt aus gesehen ein vorzüglicher Illustrator ist, so haben 
doch seine Bilder mit dem Wesen eines Kindes so wenig zu tun, daß man 
sich wundern möchte, wie ein Künstler von dem Können Groß’ sich so ver¬ 
lieren kann, diese Illustration für ein Kinderbilderbuch geeignet zu halten. 
Man lasse doch den Kleinen lieber ihre schönen Märchenideale; die Wirk¬ 
lichkeit mit all den Brutalitäten der heutigen Zeit tritt noch früh genug an 
jeden Menschen heran und braucht ihm nicht noch im Bilderbuch besonders 
früh übermittelt zu werden. Überlegt man, was kann dem Kinde mit diesem 
Buch gedient sein, so muß man sagen, daß gar nichts erreicht ist, was irgend¬ 
einen positiven Wert hat, es kann höchstens ein Klassenhaß erzeugt werden, 
der um so sinnloser ist, da dem Kinde doch jede Beurteilungsmöglichkeit des 
Wie und "Warum der Klassen unmöglich ist. Es mutet eigenartig an, wenn 
in der reizenden Form des Andersenmärchens diese Verhetzungen erzählt 
werden; für das Kind sind solche Stoffe einfach nicht geeignet, genau so 
wenig wie erotische Dinge, die nur die herrliche Ausgeglichenheit des kind¬ 
lichen Gemütes allzu früh mit Zweifeln und Ahnungen zerreißen können. 
Das Buch ist bezeichnend für unsere heutige sinnlose Art, nur um einer 
Partei vermeintlich dienlich zu sein, wird die Ruhe manchen Kindes geopfert, 
das bis heute vielleicht von diesen Schwierigkeiten nichts ahnt, dessen Un¬ 
voreingenommenheit zerstört wird, ehe es selbständig urteilen kann. 

b) Das nationale Bilderbuch. 

Es ist eine Haupteigenschaft des Deutschen, möglichst wenig zu betonen, 
daß er ein Deutscher ist und alles, was aus der Fremde kommt, von vorn¬ 
herein als bewunderungswürdig zu betrachten. Bilderbücher, in denen ein 
gewisses nationales Empfinden bereits der Jugend 'klar gemacht wird, sind 
recht selten, die wenigen Beispiele stammen aus der Kriegszeit, und viel 
Neues wird schwerlich dazu kommen. Das U-Buch von Bauer u. Tips, Ver¬ 
lag W. A. Gustav Müller, Leipzig, ist so recht für den deutschen Jungen, es 
zeigt ihm, was Technik und Schneid seines Volkes geleistet haben und bringt 
ihm zum Bewußtsein, daß jeder stolz sein kann, ein Deutscher zu sein. 

Die Franzosen haben seit dem siebziger Krieg planmäßig die Betonung 
des nationalen Empfindens in vielen Schulbüchern gepflegt, und der Revanche- 


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Julius Schneider 


gedanke war ein immer wiederkehrendes Motiv selbst in den einfachsten 
Unterrichtsfibeln. Heute geht das wiederum so weit, daß in einer Fibel im 
Elsaß beim Buchstaben B der Deutsche mit boche bezeichnet dargestellt ist 
Dieses direkte Schüren des nationalen Hasses ist ja wiederum gerade im 
Bilderbuch ein Unrecht, uns Deutschen würde aber eine planmäßige Betonung 
eines gewissen nationalen Empfindens sehr gut tun und wäre auch für das 
Kind nicht schädlich; hier kann des Outen nicht leicht zu viel getan werden, 
weil sehr viel besser zu machen wäre, was in langen Zeiten versäumt 
worden ist. 

Benutzte Literatur: 

flfentzel, Kinderalbuin. Lehrerverein Berlin. —, Pronold u. Henselmann, Das Welt¬ 
kriegsbilderbuch. Attenkoffer, Straubing. — Zur Mühlen u. Grosz, Was Petercbens Freunde 
erzüblen. Malik-Verlag, Berlin. — Bauer u. Tips, Das U-Buch. W. A. Gast. Müller, Leipzig 


VIII. 

Dialektischer Typ. 

Recht vereinzelt stehen die Vertreter dieser Gattung von Bilderbüchern da; 
das Büchlein ',0 mi hei ne schöne Ring!“ von Prof. Dr. Ernst Schneider, 
Verlag von Benteli A.-G., Bem-Bümplitz, ist ein ausgesprochenes Muster¬ 
beispiel eines Dialektbilderbuches. Die besondere Eigenart dieser Bücher bringt 
es mit sich, daß ihr pädagogischer Wert für die angehenden ABC-Schützen 
kein großer ist, denn gerade die Erlernung der Schriftsprache ist das eigent¬ 
liche Ziel des Schulunterrichts, und dem läuft das dialektische Bilderbuch ja 
entgegen. Für ältere Kinder, sagen wir von 10 Jahren ab, bei denen die 
Grundlage des Schriftdeutschen bereits fest sitzt, ist diese Darstellungsart 
eher geeignet. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein Werk 
in Schweizer-Deutsch, das bei den unteren Bevölkerungsschichten des deut¬ 
schen Teils der Schweiz allgemein gesprochen wird. Hier ist der Zweck de6 
Büchleins eher verständlich, zumal durch vielfach eingeflochtene schrift¬ 
deutsche Texte das nur Dialekt verstehende Kind auch diese Redeweise lernt. 
In der Hansa-Fibel, dem so vorbildlich gewordenen Werke, finden sich eben¬ 
falls Dialektgedichte, wie z. B. „Hamborger Snack for uns Hamborger Kinner“ 
und verschiedene andere. Es hat ja sicher viel für sich, wenn das Kind, das 
so ganz im Dialekt aufgewachsen ist, auch aus seiner Schulfibel heimatlich 
angesprochen wird, und dieser Versuch trägt viel dazu bei, dem Kinde dieses 
Büchlein beliebt xu machen. 


Literatur: 

Hartmann u. Schäfer. Kinnereprich von Ludewig. Weinhold, Ludwigshafen. 


Zusammenfassung der Typen. 

« 

Die Aufstellung der Typologie ergibt selbstverständlich nur einen mehr 
oder minder groben Rahmen, durch die in die Fülle der Bilderbücher einiger¬ 
maßen Ordnung gebracht werden kann. Selbstverständlich wird sich manches 
Buch ebenso gut unter den einen als auch den anderen Typ registrieren 
lassen, besonders Bilderbücher, die eine ganze Sammlung von Kinder¬ 
geschichten bedeuten, sind wegen ihres umfassenden Inhaltes überhaupt nicht 
genau in irgendeine Rubrik einzureihen. 


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Original from 

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Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


343 


Wenn wir die Wirkungen des Bilderbuches, also ihren eigentlichen Zweck 
ins Auge fassen, so ergibt sich ungefähr folgende Einreihung in die Typologie: 

a) Anschauungs- und VorBtellungsbilderbttcher fallen unter den demon¬ 
strativen und intellektualistischen Typ. 

b) Solche Bücher, die es auf das Gefühl wie die Unterhaltung, Erheiterung 
und den Humor abgesehen haben, unter den humoristischen Typ. 

c) Bücher mit sittlicher Tendenz sind unter den moralisierenden und 
ästhetischen Typ zu zählen. 

d) Bleibt noch die Reihe der Bücher, die zum Zeichnen, Schreiben und 
zur Handfertigkeit anleiten, diese fallen naturgemäß unter den Typ des 
Beschäftigungsbilderbuches. ' 

e) Als kleiner Rest erheischen eine besondere Rubrik das Dialektbilderbuch, 
sowie das „Bilderbuch mit Tendenzen der Erwachsenen*, die in der 
Typologie je einen besonderen Abschnitt erhalten haben. 

Damit dürfte im allgemeinen jedes Kinderbilderbuch in dieser Einteilung 
sein Unterkommen finden. 

Als Endergebnis bliebe festzulegen: Wie soll das Bilderbuch aussehen, das 
für das Kind wertvoll ist? 

Schwer lassen sich hier allgemeine Grundsätze aufstellen, die nicht irgend¬ 
einem Widerspruch begegnen können. 

Zunächst, was den Text anlangt, es soll nicht bloß geschildert werden, 
sondern ein lebendiger Stoff muß sich vor dem Kinde aufrollen, der inner¬ 
lich die Kraft hat, ein abwechselndes Geschehen aus sich heraus logisch zu 
gestalten; das Ziel soll mehr sein, als bloß Unterhaltung zu gewähren, 
sondern einen höheren Zweck anstreben, der dem Kinde den Sinn eines 
ethischen Lebenswertes verkörpert. ' Um das Mittel des Beispiels oder der 
Abschreckung anwenden zu können, müssen oft einfache Dinge, die dem 
kindlichen Fassungsvermögen am nächsten liegen, gebracht werden, die Ein¬ 
zige’Möglichkeit, rein pädagogische Probleme mit Erfolg angreifen zu können. 
Neben der Menschenwelt spielt die Tierwelt in der Fabel im Bilderbuch eine 
große Rolle. Man könnte einwenden, Fabeln seien auch für Erwachsene 
wertvoll, dies ist aber nur ein Beweis ihrer absoluten Eindringlichkeit; denn 
Äicht nur dem Kinde leuchtet die primitive Auslegung schwieriger Probleme 
ein, sondern auch der Erwachsene ist für diese Art der Darstellung ein¬ 
genommen. Gleichnisse und Beispiele sind ebenfalls nichts anderes, sie 
dienen nur dazu, die gleichen Beweggründe in eine Sphäre zu übersetzen, 
die dem Beschauer näherliegt, ihm das Übertragen auf seine Verhältnisse 
erspart und ihm dadurch einen Teil seiner Gedankenarbeit abnimmt 

Die Versform ist für das Kind entschieden vorzuziehen, vorausgesetzt, daß 
sie wirklich gut ist; das Ohr ist ein Hilfsmittel des Gedächtnisses, das sich 
die Harmonie der Klänge ohne Zuhilfenahme des Bewußtseins einprägt 

Wird die Prosaform gewählt, dann dürfen keine langen Sätze Vorkommen, 
nur einfache Konstruktionen, die leicht zu überblicken sind, und das, was 
sie sagen wollen, kurz und klar auszudrücken vermögen. Nicht zu viel ver¬ 
schiedene Personen einführen, die sich das Kind doch nicht alle merken 
kann, die Statisten der einzelnen Geschichten auch wirklich im Hintergründe 
lassen und nicht bei einer nebensächlichen Gelegenheit hervorziehen, bloß 
um damit Verwirrung anzurichten! Wechselt der Schauplatz, dann muß 

immer etwas wiederkehren, was schon einmal da war, zwei verschiedene 

* 


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344 


Julias Schneider, Entwurf einer systematischen Typologie des Bilderbuches 


Geschehen [nebeneinander her kann das Kind nicht verstehen; es verliert 
darüber unbedingt den Zusammenhang und damit das Interesse und die Lust 

Ferner dürfen die Geschichten nicht zu lang sein, entweder sie sind für 
das, was sie enthalten, zu sehr gedehnt und wirken dann ermüdend und 
inhaltlos, oder es ist zu viel Stoff vorhanden, dann kann ihn das Kind nicht 
mehr behalten und hat den Anfang längst vergessen, wenn es kaum in der 
Mitte ist. 

Hinsichtlich der Druckausstattung mag als Regel gelten: klare, übersichtliche 
und nicht zu kleine Schrift ist notwendig, keine verschnörkelten Buchstaben, 
sondern die Lettern, welche das Kind in der Schule lernt; es ist nicht der Zweck 
eines Bilderbuches, das Kind mit allen möglichen Schriftarten vertraut zu 
machen. 

Was das Bild anlangt, so muß es zunächst im richtigen Verhältnis zum 
Text stehen, nicht zu früh oder zu spät kommen, sondern das ergänzen, 
was nicht zu lesen ist oder umgekehrt. 

Auf die Farbe kann die Illustration des Kinderbilderbuches kaum mehr 
verzichten; von den vielen Reproduktionstechniken ist keine besonders ab¬ 
zulehnen, sofern sie gut ist. Allerdings leiden einige Arten, wie der litho¬ 
graphische Druck, mit Vorliebe unter allzu starker Farbenpracht; der graue 
Schleier der Autotypie ist ebenfalls ein Hindernis, das nie ganz zu beseitigen 
ist, aber bei sorgfältiger Überwachung von Ätzung und Druck auf ein Mindest¬ 
maß beschränkt werden kann. Mit Farben richtig umzugehen ist eine Kunst, 
und einem Kinde gegenüber sollte man damit doppelt vorsichtig sein; kennt 
es auch eventuell den Schaden selbst nicht, so kann er doch verheerend auf 
seine Geschmacksbildung wirken und das feine Empfinden durch Übersätti¬ 
gung und falsche Verteilung ein für allemal verderben. Ganz Verkehrt sind 
die modernen Bilderbücher, insofern sie alle Farben umdrehen, nur mehr 
expressionistisch sein wollen und für die Wirklichkeit gar nichts mehr übrig 
haben. Was soll sich das Kind dabei denken? Es kann sich über die 
grellen Farben freuen, aber ein besonders wertvolles Moment für die künst¬ 
lerische Entwicklung wird damit sicher nicht erzielt. Der pädagogische Zweck 
des Buches geht vollständig verloren, und was bleibt dann noch praktisch 
Brauchbares davon übrig? 

Ein Bilderbuch, das bloß eine Unterhaltung abgibt und sonst gar nichts, 
ist um jeden Preis zu teuer, eine Stunde Schlaf wird dem Kinde viel wert¬ 
voller sein. 

Illustrationen müssen dem Kinde' Überraschungen bringen, ihm Neues 
zeigen, was es selbst nicht hätte zusammendenken können und in ihrer Folge 
bei der Sache bleiben und sich nicht plötzlich in stilistischen Problemen ver¬ 
lieren, um irgendeiner künstlerischen Schrulle willen, sondern stets daran 
denken, daß sie in erster Linie für das Kind da sind und sich folgerichtig 
in dessen Auffassungsvermögen bewegen müssen; sonst werden sie achtlos 
beiseite gelegt, weil das Problem dem Kinde nicht lösbar' ist und es sich 
deshalb auch sofort nicht mehr dafür interessiert. 

Wird nur mit Schwarz-Weiß gearbeitet, so ist die Aufgabe, klare Bilder 
zu schaffen, fast noch schwieriger, weil mit einem Stoff ganz verschiedene 
Wirkungen hervorgeholt werden müssen; die Linie spielt die Hauptrolle und 
ist das wichtigste Ausdrucksmittel. Silhouetten sind meist dem Kinde lang¬ 
weilig, es kann nichts Rechtes damit anfangen; die geometrischen Ausdrucks- 


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F. Malsch, Die Vorstellungaentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzung usw. 345 


formen in plastische umzusetzen, ist eine Leistung, die ihm nicht leicht 
gelingt, das Tote der reinen Fläche erzeugt sofort eine Langweiligkeit, die 
das Kind ganz besonders empfindet. Auch hier lautet die Forderung: „Ab¬ 
solute Klarheit der' Form, ohne dabei Deutlichkeit mit Aufgeblasensein zu 
verwechseln, Betonen des Charakteristischen und Weglassen alles Unnützen 
und nur störenden Details.“ Kräftige Schatten sollen die Dinge möglichst 
plastisch gestalten ohne sinnverwirrend zu wirken. Auf einem Bilde braucht 
nicht alles dargestellt sein. 

Ebenso wie der Text nicht zu lang sein soll, sollen auch die Bilder nicht 
zu zahlreich sein: gerade die illustrierten Bücher leiden oft unter zu großer 
Fälle, die Bilder machen sich gegenseitig Konkurrenz, können nicht immer 
Neues bringen und müssen notgedrungen das Interesse herabmindern, weil 
eben die Auswahl zu groß ist. Ein paar gute Bilder bedeuten dem Kind 
mehr wie ein ganzer Band, der auf jeder Seite eine große oder kleine Illu¬ 
stration bringt und trotz seiner Eülle plötzlich in einer Monotonie dasteht, 
deren sich der Künstler meist gar nicht mehr bewußt ist. 

Bleibt noch zu reden über das Format. Hier ist aber nicht mehr zu sagen 
als daß es praktisch sein soll, handlich für das Kind, eingehend auf seine 
ungeschickten Händchen, denen das Umblättern die Lösung einer Schwierig¬ 
keit ist wie den Erwachsenen das Einfädeln einer Nadel; zweckentsprechend 
heißt hier das Wort, das allein sich auf die Fülle der verschiedenen Probleme 
anwenden läßt. 


Die Vorstellungsentfaltung und ihr Zusammenhang 
mit Begabungsschätzung und Schulleistung. 

Von Fritz Malsch. 


I. 

Für die freie geistige Tätigkeit des Schülers, wie für jedes kombinatorische 
oder schlußfolgernde Denken, ist eine gewisse Gewandtheit in der Vorstellungs¬ 
bewegung erforderlich. Was verstehen wir darunter? Wird dem Individuum 
von außen oder innen irgendeine Aufgabe gestellt, so beobachten wir ein 
reges Arbeiten des Assoziations- und Reproduktionsmechanismus, der dann 
unter Einsatz des schlußfolgernden Denkens, der Beziehungserfassung, wo¬ 
möglich auch der Phantasie, zur Lösung der Aufgabe führt. Die Basis, das 
Material für die letztgenannten höheren realischen Leistungen holt also das 
Individuum aus sich selbst, indem es seine Vorstellungswelt in Bewegung 
setzt. Unsere hergebrachte pädagogische Arbeitsweise ist aber ein fort¬ 
währendes Stellen von Aufgaben solcher Art — Aufgabe nicht im trivialen 
Sinne genommen —, daher muß der geistig mitarbeitende Schüler eine ziem¬ 
liche Beweglichkeit seiner Vorstellungswelt haben. Andererseits ist es aber 
nicht ausgeschlossen, daß ein Schüler, der nur geringere Gewandtheit in der 
Verfügbarmachung seiner Vorstellungswelt besitzt, oder dessen Vorstellungs¬ 
leben weniger ausgefüllt ist, doch auf die Dauer die bessere und wertvollere 
geistige Leistung hervorbringt. So wird auch für die Beurteilung der Schüler 
die Kenntnis ihrer Vorstellungsgewandtheit wertvolle Aufschlüsse geben 


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346 


Fritz Malsch 


namentlich wenn deren Beziehungen zur Arbeit in den einzelnen Unterrichts¬ 
fächern näher bekannt wären. 

Es kommen ja bei der Untersuchung dieser Frage eine Menge längst be¬ 
kannter psychischer Faktoren in Frage. Der erste dürfte* die Assoziation von 
der Erfahrung bereitgestellter Vorstellungen sein, die Sicherheit, mit der diese 
erfolgt, die Geschwindigkeit, mit der sie sich dem Bewußtsein darbietet. Hinzu¬ 
treten Beziehungserfassungen an den bereitstehenden Vorstellungen, phantasie¬ 
volle Verknüpfungen möglicher Kombinationen. Da die Vorstellungsbewegung 
durch die Aufgabe gebunden ist, so wird ihr Gang hierdurch kompliziert. 
In der Übernahme einer solchen Aufgabe liegt ja ein Willensakt vor, die 
Aufmerksamkeit muß dem Gegenstände folgen, kurz aus allem erhellt, daß 
bei dem komplexeji Charakter der durch Aufgaben geleiteten gebundenen 
Vorstellungsbewegung große interindividuelle Unterschiede auftreten werden, 
die für die Beurteilung von Intelligenz und geistiger Leistungsfähigkeit, aber 
vor allem für die pädagogische Psychologie bedeutsam sind. Die Nicht¬ 
achtung dieser interindividuellen Unterschiede bringt für den praktischen 
Pädagogen insofern große Gefahren, als aus ihr eine grobe Verständnis¬ 
losigkeit gegenüber dem Schüler entspringen kann, während andererseits 
die Beachtung dieser Zusammenhänge in Verbindung mit zweckmäßig ge¬ 
gebenen Hilfen große Erfolge haben wird, namentlich wenn dabei noch 
der Vorstellungstyp des Schülers in Betracht gezogen wird. 

Es ist daher nicht weiter zu verwundern, daß Untersuchungen über dieses 
Gebiet der Vorstellungsbewegung bereits früher angestellt sind, aber anderer¬ 
seits nicht so häufig, wie wohl denkbar wäre. Der Grund dürfte wohl darin 
zu suchen sein, daß eine exakte Bewertung des ungemein vielgestaltigen 
Materials überaus schwierig ist. Auch die folgende kleine Arbeit soll nur 
ein kleiner Baustein zum Hause der Jugendforschung sein. Während man 
sonst gewöhnlich im Interesse der Intelligenzprüfungen das Vorstellungsleben 
untersucht hat, hat Lindworsky in einer neueren Arbeit die Beziehungen 
der Vorstellungsentfaltung zur Denkleistung besonders betrachtet; früher 
haben Ries und Winteler besonders „gebundene“ Assoziationen geprüft, 
bei denen das assoziierte Wort einen vorgeschriebenen gedanklichen Zu¬ 
sammenhang mit dem Reizwort haben mußte. Winteler (5) ließ bestimmte 
begriffliche Beziehungen des Assoziierten zum Reizwort als Leitgedanken 
geben. Dabei ließ sich feststellen, daß die aus den Intelligenzprüfungen 
festgestellten Intelligenzunterschiede sich auch in dieser gebundenen Assozia¬ 
tion scharf ausprägten. Die größere Intelligenz zeigte sich in der Schnellig¬ 
keit und Richtigkeit, besonders aber in der Schärfe der Beziehungserfassung. 
Auch wir werden das letzte öfter feststelleü. Ries (4) dagegen gab den 
kausalen Zusammenhang als Aufgabe für sämtliche Assoziationen. Sowie 
Lindworsky früher nach wies, daß das schlußfolgernde Denken sich vielmehr 
auf den Bahnen funktionaler Relationserfassung als logischer Schlüsse be¬ 
wegt, ergab sich auch hier bei der Erfassung dieses funktionalen Zusammen¬ 
hangs eine große Korrelation zu den Intelligenzschätzungen des Lehrers. 

Moede-Piorkowski (6) andererseits prüften nicht gebundene Assoziationen, 
sondern ganze Ketten, die sie Themen-Assoziation nennen. Sie ließen auf 
ein einzelnes Reizwort alle irgend einfallenden Reizworte angeben, ohne 
daß eine verlangte Beziehung bestehen mußte. Über die Ergebnisse sind 
bisher nur ganz allgemeine Angaben bekannt. In der Arbeit von Lind- 


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Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätzang u. Schulleistung 347 


worsky (7) wird der Versuch gemacht, die gebundene Vorstellungsbewegung 
in Beziehung zu setzen zur Denkleistung und Intelligenzschätzung. Ausgehend 
von der Forderung, dafi man zur Erfassung der Denkleistung die in allen Denk¬ 
experimenten gemeinsamen Faktoren oder Faktorenkomplexe aufdecken müsse, 
die sich fördernd oder hemmend auswirken, gelangt er zudem Ergebnis, daß ein 
solcher Faktor die Vorstellungsentfaltung sei. Ausgeführte Versuche ergaben 
noch verhältnismäßig unklare Ergebnisse, namentlich für die Verwendung 
gebundener Vorstellungsassoziationen als Tests für Intelligenzprüfungen. 

Meine Arbeiten (9 u. 10) über die Schülerinteressen und Schülerleistungen 
legten es mir nahe, auch diesen Faktor, die Vorstellungsbewegung einmal 
im Zusammenhang mit dem schulischen Verhalten einer Schülergruppe zu 
untersuchen. Insbesondere den Zusammenhang mit den Leistungen und 
Intelligenzschätzungen der Lehrer zu betrachten. 

II. 

Die Schülergruppe, die dem Versuch unterworfen wurde, war eine U II 
von 43 Schülern, die dem Versuchsleiter zum größtenteil seit drei Jahren be¬ 
kannt waren. Die Mehrzahl der Schüler stammt aus dem kleinbürgerlichen 
Mittelstände, brachte also wohl kaum allzu umfangreiche Lebensassoziationen 
mit. Während die Klasse — von Ausnahmen, von denen gleich noch die Rede 
ist, abgesehen — eine gute Schulklasse war, kann doch ihr geistiger Habitus 
nur als durchschnittlich bezeichnet werden, Störend war, daß man sehr 
scharf drei Altersgruppen unterscheiden kann, 15-, 16- und 17-jährige; die 
erste Gruppe enthält die Schüler, die sehr früh in die Schule eintraten, die 
zweite die normal mit 10 Jahren in die höhere Schule eintraten, die dritte 
und kleinste Gruppe enthält die Repetenten verschiedenster Grade. 

Dieser Schülergruppe wurde in einer Unterrichtsstunde, die dazu zur Ver¬ 
fügung stand, ein Blatt Schreibpapier gegeben, auf dem sie zunächst Name 
und Alter angaben. Dann gab ich zunächst ein Beispiel. Ich nannte das 
Wort: „Zigarette“ und gab vorher die Anweisung, mir alle Gedanken, die 
ihnen einfielen, stichwortartig zu nennen; da kamen also etwa „teuer, nicht 
gesund, Türkei, verboten usw.“ Nun, sagte ich, seien nicht in wildem 
Durcheinander alle Einfälle zu nennen, sondern nur solche, die einen be¬ 
stimmten Zusammenhang mit dem genannten Wort hätten. Diesen Zusammen¬ 
hang würde ich angeben, und zwar entweder Ursache, Wirkung oder Gegensatz. 
Auch hierfür wurde noch ein Beispiel mündlich behandelt. Dann erhielten sie 
den Auftrag, die ihnen einfallenden Vorstellungen, ohne Satzbildung, stich¬ 
wortartig niederzuscbreiben, bis ich „Halt“ gebiete. Ich gab dann folgende 
Reizworte, mit den Leitgedanken und Zeiten, nach denen abgebrochen wurde. 


Reizwort 

Leitgedanke 

Zeit( m ) 

1. Hut 

Ursache 

1 

2. hoher Lohn 

Wirkung 

2 

3. schlechtes Wetter 

Gegensatz 

1 

4. Zirkel 

Wirkung 

1,5 

5. blauer Montag 

Gegensatz 

1 

6. Eisenbahnfahrpreis 

Ursache 

1 

7. Schlange 

Wirkung 

1 

8. Wissenschaft 

Ursache 

2,5 

9. hochentwickelte Technik 

Gegensatz 

2 


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348 


Fritz Malsch 


Die Beziehung sollte durch den Genitivus, also Ursache des Hutes usw. 
ausdrückbar sein, um Verwechslungen des kausalen Zusammenhanges zu. ver¬ 
meiden. Die Zeiten wählte ich so, daß, soweit sich das im Massenversuch 
beurteilen ließ, alle Schüler ausreichend Zeit hatten, ein paar Worte hinzu¬ 
schreiben, um auf jeden Fall nicht die Schreibgeschwindigkeit zur Ursache 
von Fehlern oder Unterschieden werden zu lassen. 

Ein paar Worte zur Wahl der Reizworte. Sie sind nach längerer Über¬ 
legung und einigen Vorversuchen so gewählt, daß sie in der Mehrzahl für 
den Durchschnittsschüler das Merkmal unmittelbarer Anschaulichkeit besaßen; 
nur Nr. 8 u. 9 machen eine Ausnahme. Ries (4.) hat im Gegensatz dazu 
fast nur abstrakte Wörter gewählt. Ich halte das für das von mir unter¬ 
suchte Alter von 15—17 noch für falsch, um so viel mehr für jüngere Jahr¬ 
gänge. Man sehe sich z. B. seine erste Wortreihe an. So gewandt ist nach 
meiner Erfahrung der 16 jährige noch nicht im Arbeiten mit Abstraktis, daß 
man auf eine solche Probe der naturgemäßen Betätigung seines Geistes ein 
sicheres Urteil aufbauen kann. 

Während des Verlaufs unseres Versuchs war es möglich, aus dem Ausdrucks¬ 
verhalten der Klasse bereits ungefähr zu schließen, wie sie sich mit den 
einzelnen Wörtern abfand. Schwierigkeiten machten offenbar die Reizwörter 
1, 4, 5, 8 und 9, leicht dagegen fielen 2, 3, 6 und 7. Mit Nr. 1 wußte man 
wenig anzufangen, die durchschnittliche Zahl der entwickelten Vorstellungen 
ist 2,6, und zwar in allen drei Altersgruppen nahezu dieselbe. Leicht da¬ 
gegen fiel Nr. 2, nur die dritte Schülergruppe (s. o.) blieb dabei hinter dem 
Durchschnitt beträchtlich zurück (3,4); das Reizwort hatte für die Gruppe 
der 15- und 16-jährigen offenbar großen Aktualitätswert; die Zahl der durch¬ 
schnittlich entwickelten Vorstellungen ist 4,1 und 4,6. Ähnlich verhält es 
sich mit Nr. 3, bei dem die große Geschwindigkeit der Vorstellungsentfaltung 
auf fiel. Eine Menge zweifelnder gesichter war bei Nr. 4 zu beobachten, mit 
der alle drei Altersgruppen eben fertig wurden. Sehr unklar dagegen war 
Nr. 5. Ich stellte hinterher sicherheitshalber fest, daß der Begriff allen be¬ 
kannt war. Trotzdem blieb bei 5 Vp. die Entfaltung einer gegensätzlich be¬ 
dingten Vorstellung völlig aus, die durchschnittliche Zahl ist in der ersten 
und letzten Altersgruppe — das werden wir noch später öfter beobachten — 
nahezu gleich, bei <jer mittleren Gruppe, der normalaltrigen 50°/o höher. Sehr 
leicht fallen weiter Nr. 6 und 7; es werden hier durchschnittlich die meisten 
Vorstellungen entwickelt, nämlich 4,6 und 4,1. Schwierig dagegen sind vielen 
Nr. 8 und 9. Die Minderleistungen einzelner sind dabei allerdings zum Teil 
durch die Mehrleistung einzelner ausgeglichen. 

Wir haben mit Nennung der Zahlen schon etwas vorgegriffen. Das Zettel¬ 
material wurde nun einer sorgfältigen Durchsicht unterzogen und alle ge¬ 
nannten Vorstellungen, bei denen mit einiger Sicherheit festgestellt werden 
könnte, daß der Leitgedanke oder die ganze Aufgabe falsch aufgefaßt war, 
ausgemerzt. Das war nicht leicht, ich möchte da Ries (4.) beipflichten: „Man 
kann nur sehr schwer feststellen, ob das niedergeschriebene Wort auch wirklich 
den geforderten Zusammenhang nicht darstellen kann.“ Ob es allerdings 
zuträglich ist, in einem solchen Falle den Schüler nachträglich um seine 
Auffassung zu fragen, möchte ich bezweifeln. Man kennt die Wortgewandt¬ 
heit unserer Jungens, wenn es gilt: „sich herauszureden“. So wurde dann 
solches Material kurzerhand gestrichen. Bei einem Schüler, der 62 Einzel- 


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^ Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungsschätz ung u. Schulleistung 349 


Vorstellungen genannt, waren 19 falsch. Es sei bereits erwähnt, daß derselbe 
im Unterricht unbrauchbar, nur eine übermäßig entwickelte Phantasie auf¬ 
zuweisen hat Auffallend ist, daß bei der ersten Gruppe keine falschen Leit¬ 
gedankenbeziehungen auftreten, die Mehrzahl der Fehler vielmehr in der 
zweiten Altersgruppe steckt. 

Man kann Zweifel daran aufwerfen, ob es angängig ist, in dieser Weise 
rein zahlenmäßig vorzugehn, ob man nicht auch die Qualität der entwickelten 
Vorstellungen irgendwie bewerten müßte. Ich möchte das letzte nicht ganz 
ablehnen, aber doch auf die äußerst große Subjektivität der Bewertung, die 
dadurch eintritt, aufmerksam machen. Die Vorstellungsgewandtheit, die wir 
erfassen wollen, erfassen wir meiner Meinung nach durch die 3phl der Vor¬ 
stellungen am besten. Auch dabei müssen wir uns noch der Relativität des 
Begriffes bewußt bleiben; denn diese Vorstellungsgewandtheit kann aus vielerlei 
Quellen fließen bezw. durch sie beeinflußt werden. Eine solche Quelle ist 
das rein mechanische Gedächtnis, dann die Assoziationen, die in ihrem sinn¬ 
vollen Zusammenhang erhalten bleiben. Bei einer Menge von Vp. wird außer¬ 
dem aber ganz sicher die Beziehungserkenntnis als elementare Denkfunktion 
und das Schließen in Tätigkeit treten; wir wissen ja heute, daß das letzte 
viel mehr funktional als logisch arbeitet, und so werden auch hier denkge¬ 
wandten Vp. intuitive Schlußketten unterlaufen. Wir geben zunächst eine 
Tabelle, aus der ersichtlich ist, wie viel Vorstellungen im Durchschnitt auf die 
einzelnen Altersgruppen sowie im Ganzen bei jedem Reizwort entfallen. 


Reizworte: 


Altersgruppe 

i 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

i 

2,6 

4,1 

4,3 

3,2 

2,1 

4,6 

4,0 

3,4 

3,2 

2 

2,5 

4,6 

3,8 

3,2 

3,1 

3,9 

4,2 

4,3 

4,5 

3 

2,7 

3,4 

3,3 

3,3 

2,0 

5,4 

4,0 

3,1 

3,1 

Gesamt .... 

V 2,6 

4,0 

3,8 

3,2 

2.4 

4,6 

4,1 

3,6 

3,6 


Um eine Übersicht über die Einzelleistungen zu geben, waren zwei Wege 
möglich, der der Reihenbildung und der der Gruppierung; ich habe mich für 
den letzten Weg entschieden, einmal weil es ungemein schwierig ist, eine 
sichere Rangierung vorzunehmen, dann aber auch mit Rücksicht auf die 
weiter unten folgenden Korrelationsbetrachtungen. Mit Rücksicht darauf blieb 
auch die Zahl der Gruppen auf 9 beschränkt, obwohl damit eine Unregel¬ 
mäßigkeit hineinkam. Wir bilden die Gruppen nach der Zahl der geweckten 
Vorstellungen zu: 10—19, 20—24, 25—29, usw. 50—54, 55—65. Die 
Numerierung der Gruppen in umgekehrter Reihenfolge, damit die Bestleistung 
an der Spitze steht. 


Gruppe 

1 

2 

3 

4 

Ö 

6 

7 

8 ■ 

9 

Zahl der 
'Schüler. . . 

3 

1 

3 

3 

6 

5 

6 

n 

4 

In %. 

7,0 

2,3 

7,0 

7,0 

14,0 

11,6 

14,0 

25,6 

9,2 


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350 


Fritz Malsch 


Die Kurve, deren bildliche Darstellung sich erübrigt, zeigt zwei 
Maxima, eines in Gruppe 5 und eines in Gruppe 8. Bilden wir nun die 
Abweichung, d. b. die Differenz zwischen der tatsächlich geleisteten Vor¬ 
stellungszahl uÄd der Durchschnittsvorstellungszahl und rechnen sie in Prozente 
der Durchschnitts vorstellungszahl um, so erhalten wir die relativen Abweichungen. 
Die mittlere Abweichung und die mittlere relative Abweichung sind 9,7 
bzw. 30,4. Näheres über diese Mittelbildung bei Stern. Diff. Ps. S. 237. 
Auch hier zeigen sich wieder zwei ausgeprägte Maxima, bei etwa — 20°/o und 
bei + 20°/o der relativen Häufigkeit. 


III. 

Wir betrachten die Gewandtheit in der Vorstellungsentfaltung als ein psy¬ 
chisches Merkmal, das, wie wir feststellten, in einer Gruppe von Vp. inter¬ 
individuelle Variationen aufweist. Andrerseits haben wir oben bereits darauf 
hingewiesen, daß man solche psychischen Merkmale nicht isoliert betrachten 
kann, daß jedes Einzelmerkmal, jede Einzelfunktion für das Ganze des seelischen 
Lebens von Bedeutung ist und nur in diesem Zusammenhang richtig gewertet 
werden kann. Wir haben es, um mit Stern zu reden: „mit dem engeren 
oder loseren Zusammenhang“ zu tun, „den die im Individium vorhandenen 
psychischen Merkmale untereinander haben.“ Wenn Stern (D. Ps. S. 86) dann 
weiter fordert: „Man wird die Auswahl der zu untersuchenden Funktionen 
von vornherein bestimmt sein lassen durch Hypothesen über möglicherweise 
bestehende Korrelationen“, so glauben wir hier durchaus im Sinne dieser 
Forderung gearbeitet zu haben, insofern es von vornherein feststand, den Zu¬ 
sammenhang zwischen Vorstellungsentfallung, Schulleistungen und Lehrer¬ 
urteil zu untersuchen. Es gibt ja auf diesem Gebiete eine Menge Behaup¬ 
tungen, die zum Teil nur auf Grund gewisser gefühlsmäßiger Überzeugungen 
aufgestellt sind, z. B. die guten Sprachler = schlechte Mathematiker und 
umgekehrt. Wir haben anderwärts (9 und 10) die Unhaltbarkeit dieser These 
auf Grund umfangreichen Materials nachgewiesen. Die endgültige Erledigung 
dieser Zusammenhangsfragen ist, wie Stern bereits vor 12 Jahren feststellt 
(D. Ps. S. 286), pur auf dem Wege der Korrelationsforschung möglich. Dabei 
gilt es aber darüber im klaren zu sein, daß der Begriff Korrelation zu einer 
Gesetzmäßigkeit sui generis führt, daß die Korrelation nur Wahrscheinlichkeits¬ 
werte liefert. Betz hat bereits 1903 auf diesen fundamentalen Unterschied 
der Zusammenhänge im Bereich der Physik und der Psychologie hingewiesen (8). 
Dort haben wir den funktionalen Zusammenhang, d. h. das Auftreten des 
einen Faktors ist notwendige Folge des anderen, hier dagegen bleibt mir 
eine gewisse Regelhaftigkeit der Erscheinung übrig, vgl. auch meine Aus¬ 
führungen in Nr. 9 der Lib-Liste. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn 
im Folgenden eine Menge Korrelationen untersucht werden, nämlich der Vor¬ 
stellungsgewandtheit zu Schulleistungen und Lehrerurteil. Es wurde zunächst 
für jeden Schüler die Jahresdurchschnittszensur für jedes Fach berechnet 
auf Grund der vorliegenden Zeugnisbücher (es werden 3 Zeugnisse pro Jahr, 
gegeben). Diese wurden dann für alle Schulfächer gemittelt und so einp 
allgemeine Leistungsnote bestimmt, diese Leistungsnoten in folgende 9 Gruppen 
verteilt, Gruppe 1, wenn die Zensur fiel zwischen 1 und 1,5 ubw. nach fol¬ 
gendem Schema: 


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Die Vorstellungsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begabungaschätzung u. Sehulleistung 351 


Es sind dies die früher üblichen Schulnoten, 1, 2, 2—, 
3 +, 3 usw. wobei 1 die Note Sehr gut ist. Diese 
Noten sind dann in Kombination mit den Vorstellungen 
in eine Verteilungstafel (Stern, D. Ps. S. 302) eingetragen, 
die bei den meisten Korrelationsberechnungen die ver¬ 
langte lineare Regression zeigt. Nach derselben Klassi¬ 
fizierung durch die Noten 1, 2, 2— usw. wurde nun 
eine Gruppierung der Schüler nach dem Lehrerurteil 
vorgenommen. Zwei Herren, die in der Klasse längere 
Zeit z. T. mehrere Jahre unterrichtet, wurden gebeten, 
nach ihrem allgemeinen Eindruck eine Einstufung 
der Schüler in die 9 Gruppen vorzunehmen. Aus 
beiden wurde ein Mittelwert berechnet und danach jeder Schüler in eine 
der 9 Gruppen einrangiert. Ähnlich wurden nach den Zeugnisbüchern Jahres¬ 
durchschnittszensuren für die Sprachen r Französisch-Englisch, sowie für 
Mathematik-Physik berechnet. Die Tafeln seien hier im Einzelnen nicht auf¬ 
geführt, die Ergebnisse zusammengestellt: 


1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 
9 


Schema. 

1—1,50 

2.50- 2,25 

2.25— 2,50 

2.50- 2,75 

2.75— 3,25 

3.25— 3,50 

3.50- 3,75 

3.75— 4,25 

4.25— 5 



Korrelation zwischen: 

r - 

w F - 

r 

w F 

I. 

Vorstellungsentfaltung — Lehrerurteil 

0,537 

0,0745 

7,2 

2. 

„ — allgem. Schulleistung 

0,328 

0,089 

3.7 

3. 

„ — Leistung in Sprachen 

0,073 

0,101 

0.7 

4. 

„ — Leistg. i. Mathematik 

0,370 

0,088 

4.3 

5. 

Allgem. Leistung — Mathematik 

0,895 

0,020 

44,6 

6 . 

„ — Sprachen 

0,950 

0,011 

86,4 


Wir erkennen aus dieser Tabelle, daß zwischen der Vorstellungsentfaltung 
oder -gewandtheit und der Schulleistung nur geringe Korrelation besteht, 
etwas besser ist noch die zwischen Vorstellungsentfaltung und Mathematik, 
fast Null zwischen V. und Sprachen, ganz bedeutend größer aber ist schon 
die Korrelation zwischen V. und Lehrerurteil, namentlich wenn man das Ver¬ 
hältnis des Korr.-koeff. zum wahrscheinlichen Fehler betrachtet. Wir erhalten 
also rein zahlenmäßig ein ähnliches Ergebnis bezüglich der Korrelationen wie 
Lindworsky, wenn dieser auch die Einzelfaktoren der Vorstellungsentfaltung 
wie Reaktionszeit usw. mit dem Lehrerurteil verglich bei älteren Vp. (Studenten). 
Auch dort in erster Berechnung r zwischen 0,31 und 0,55. Von dem ganz 
verschwindenden Korr.-koeff. Nr. 3 müssen wir dabei absehen. 


IV. 

Trotz des zahlenmäßig wenig umfangreichen Materials, das uns zur Ver¬ 
fügung stand, lassen sich Einflüsse der sozialen Lage des Schülers feststellen. 
Es ist natürlich auch hier zu beachten, daß wir nicht die reine Veranlagung 
zur Vorstellungsentfaltung feststellen können, sondern nur eine solche, die 
bereits durch Schule und Elternhaus gewaltig verändert worden ist Wenn 
uns schon von den Intelligenzprüfungen her bekannt ist, daß die Kinder 
sozial gehobener Schichten bei sonst gleichen Bedingungen besser abschneiden, 
so war hier Ähnliches zu erwarten. In der Altersgruppe I, den 15-jährigen' 
tritt dies am klarsten hervor. Die drei Vp. mit der niedrigsten Gesamt¬ 
vorstellungszahl sind die Kinder aus den einfachsten Verhältnissen, die fünf 


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352 F* Malsch, Die Vorstellangsentfaltung u. ihr Zusammenhang mit Begahungsach&tzung usw. 


mit der besten Gesamtleistung haben auch das sozial bestgestellte Elternhaus 
hinter sich. Wobei allerdings unter „sozial gutgestellt* weniger nur die Geld¬ 
kräftigkeit als das geistige Niveau des Elternhauses gemeint ist Weniger 
ausgeprägt tritt dies in der zweiten Altersgruppe hervor. Doch ist auch dort, 
namentlich bei der geringeren Gesamtleistung, der Einfluß der Herkunft un¬ 
verkennbar. Die Ausgeprägtheit in der Gruppe I zeugt von der schon häufig 
festgestellten geistigen Frühreife der Kinder aus den gehobenen Schichten. 
Es bestätigt sich auch hier, was Stern über die Intelligenzprüfungen sagt 
(2. S. 244): „Die geistige Atmosphäre der sozialen Umgebung, insbesondere 
des Elternhauses ist daher in stärkerem Maße für den geistigen Höhen¬ 
unterschied verantwortlich zu machen, als der verschiedenartige Schulunter¬ 
richt.“ Vor allem spricht bei den Schülern aus einfachen Kreisen die viel 
geringere Sprachgewandtheit stark mit. Die Übung im Entfalten der Vor¬ 
stellungen wird ja durch nichts so stark gefördert als durch das Sprechen, 
das bei den genannten Schülern meist nur gering entwickelt ist, weil Wort¬ 
schatz und Ausdrucksfähigkeit, die auf einer lebhaften Beweglichkeit der 
Vorstellungen beruhen, nur gering sind. So beeinflussen sich beide Er¬ 
scheinungen wechselseitig. 

Auffallend ist, wie unsere drei Altersgruppen sich unterscheiden, nament¬ 
lich bei den besonders schwierigen Reizworten 8. und 9. Die Durchschnitts¬ 
zahl der Vorstellungen beträgt in Gruppe I: 30,1, in Gruppe II: 35,0, während 
die dritte Gruppe ihrer Charakterisierung (s. Abschrift: I) gemäß wieder eine 
beträchtlich geringere Durchschnittsleistung hervorbringt: 30,5. Einen Grund 
für die Steigerung von I nach H sehe ich darin, daß in diesen Reifejahren 
die allgemein geistige Entwicklung stark fortschreitet, was sich natürlich bei 
jeder' einzelnen Seite zeigen wird. Ferner ist unsere Feststellung an den 
Reizworten 8 und 9 ein Beleg dafür, daß mit fortschreitendem Reifealter die 
Fähigkeit in abstractis zu denken schnell zunimmt. Das Alter kommt aber 
auch als Erfahrungsalter in Frage, insofern als bei dem jüngeren Schüler 
weniger vom Leben gestiftete Assoziationen vorhanden sein werden, die die 
Entfaltung der Vorstellungen begünstigen. Der Stoff, den das Bewußtsein 
verarbeitet hat, ist geringer, weil alle Faktoren, die für die Stiftung solcher 
Assoziationen in Frage kommen, persönliche Erlebnisse, Lektüre, Spiel, weniger 
stark zur Wirkung kamen. 


V. 

Von Win tele r ist bereits (5.) festgestellt, daß die weniger intelligenten Vp. 
dazu neigen, auf Reizworte mit allgemeinen Begriffen zu reagieren, während 
die Intelligenten ihre Begriffe spezialisieren. Ähnliches läßt sich bei unserer 
Vorstellungsentfaltung feststellen. Diejenigen Vp., die mit ihrer Leistung unter 
dem Durchschnitt bleiben, neigen dazu, mit allgemein substantivischen Be¬ 
griffen zu reagieren, während die andern ihre Begriffe durch Adjektive spe¬ 
zialisieren bezw. in die klarere Tätigkeitsform fassen. Die schwächeren lieben 
es z. B. sich bei dem Leitgedanken Gegensatz einfach durch negierte Adjektive 
zu helfen. Es bestätigt sich hierin die allgemeine Erfahrung, daß der geistig 
einfache Mensch in seinem Denken sich gerne in allgemeinen Begriffen be¬ 
wegt, mit Schlagworten abfindet, ohne daß der Begriff zum rechten geistigen 
Besitz wird. Bezüglich der Verwendung anschaulicher Begriffe oder der Vor¬ 
liebe für abstracta und concreta habe ich keine bestimmten Feststellungen 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


353 


machen können; doch eine Beobachtung von Lindworsky (7.) bestätigt sich, 
daß nämlich die Vp. aus den besten Leistungen durchaus nicht die anschau¬ 
lichsten Vorstellungen produzieren, sondern erstens mit den abstrakten Reiz¬ 
wörtern besser fertig werden und es auch besser^ verstehen, mit abstrakten 
Vorstellungen zu operieren. 


Literatur. 

1. Stern, Differentielle Psychologie. Leipzig 1921. (Zit. als D. Ps.) 3 

2. Lindworsky, Experimentelle Psychologie. München 1921. 

3. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung. 

Leipzig 1920. 

4. Ries, Beiträge zur Methodik der J. P. Z. Ps. 56. 1910. 321. 

5. Winteler, Experim. Beiträge zur Begahungslebre. EPd. 2. 1906. 1. 

6. Moede-Piorkowsky-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen. Langensalza 1921. 

7. Lindworsky, Psychische Vorzüge und Mängel beim Denken. Z. Ang. Ps. 18. 1921* 50. 

8. Betz, Ober Korrelation. Beiheft zur Z. Ang. Ps. 1. Leipzig 1911. 

9. Malsch, Das Interesse für die Unterrichtsfächer an höh. Knabenschulen. Z. Ang. P. 28. 1923. 

10. Malsch, Schülerleistungen in Mathematik und Fremdsprachen. Z. Pd. Ps. 24. 1923. 56. 


Wesen und Arten der Fehler. 

(IV. Teil) 

Von Hermann Weimer, 
c) Ähnlichkeitsfehler 1 ). 

An früherer Stelle (S. 86) habe ich darauf hiDgewiesen, daß jeder Fehler 
der richtigen Leistung bis zu einem gewissen Grade inhalts- oder gestalts- 
oder funktionsähnlich ist und daß daher die Ähnlichkeit als Kennzeichen 
einer besonderen Fehlerart nur da betrachtet werden kann, wo andere Ur¬ 
sachen der Fehlerbildung nicht nachzuweisen sind. Es gibt indessen Fehler, 
bei deren Eintreten die Ähnlichkeit eine ausschlaggebende Rolle spielt oder 
bei denen sich zum wenigsten eine andere Entstehungsursache nicht auf¬ 
zeigen läßt. So habe ich vor Jahren folgende Beobachtung im mathema¬ 
tischen Unterricht gemacht. Schüler der Quarta (12 J.) wurden zum ersten¬ 
mal mit den mathematischen Zeichen der Ungleichheit (> = größer als, 
< <*= kleiner als) bekannt gemacht. Nach einiger Zeit stellte der Lehrer fest, 
daß beide Zeichen häufiger miteinander verwechselt wurden. Ein Vorzug 
der zeitlichen Erwerbung oder ein solcher der Häufigkeit des Gebrauchs war 
in diesem Fall für keins der beiden Zeichen festzustellen; ihre fehlerhafte 
Verwechselung scheint sich also nur auf die Ähnlichkeit ihrer Gestalt zurück- 
führen zu lassen. — Wenn der Setzer beim „Absetzen“ der Lettern den 
Satz durch Ungeschicklichkeit auseinanderfallen läßt und nun ohne weitere 
Hilfe die zerstreuten Typen aus dem bloßen Gestaltsbild erkennen soll, 
kommen Verwechselungen von 58 und 33, f und f, I und t usw. vor, die 
lediglich durch die Ähnlichkeit dieser Buchstaben und die Nichtbeachtung 
der unterscheidenden Merkmale bedingt sind. 

Ich glaube also wohl von Ähnlichkeitsfehlern als einer besonderen Fehler¬ 
gruppe reden zu dürfen. Dadurch bleibt der bekannte Streit um die Frage 
der • Ähnlichkeitsassoziation als eines selbständigen Assoziationsprinzips un- 

') Vgl. Jahrg. 1922, S. 17; Jahrg. 1923, S. 84 und S. 267 dieser Zeitschrift. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 23 


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354 


Hermann Weimer 


berührt. Wer mit Höffding, Lippe u. a. in der Ähnlichkeit die Grundlage 
und Voraussetzung jeder Reproduktion sieht, der wird die gewählte Be¬ 
zeichnung an und für sich billigen. Wer dagegen ein Assoziationsgesetz 
der Ähnlichkeit nicht anerkennt, findet in dem Müll ersehen Begriff der 
aktiven und passiven Substitution eine Erklärung der hier behandelten Fehler¬ 
art, die zahlreichen Anhängern der Kontiguitätslehre ausreichend erscheint. 
Wenn eine Vorstellung a eine andere b reproduziert hat, so kann statt ihrer 
auch eine dem a ähnliche Vorstellung a die Vorstellung b reproduzieren, 
lautet die Lehre von der aktiven Substitution 1 ). Wo dagegen durch die 
Vorstellung a statt einer mit ihr assoziierten Vorstellung b eine dem b ähn¬ 
liche Vorstellung ß reproduziert wird, redet Müller von passiver Sub¬ 
stitution 2 ). Wenn also das englische Wort voeak (a) bei einem Schüler die 
deutsche Übersetzung Woche (b) auslöst, die in Wirklichkeit zu dem eng¬ 
lischen Worte week ( a ) gehört und mit ihm zusammen gelernt war, so haben' 
wir däs Beispiel einer aktiven Substitution vor uns. Wenn dagegen ein 
Schüler den deutschen Namen Heinrich ( a) mit der bereits gelernten fran¬ 
zösischen Form Henri (b) wiedergeben soll, statt deren aber die ähnliche 
Form Henry (ß) schreibt, so haben wir es mit einer passiven Substitution 
zu tun. Müller und Pilzecker behaupten, daß die Stellvertretung einer 
Vorstellung durch eine zweite, ihr ähnliche „ohne weiteres“ vor sich gehe 
(a. a. 0. S. 212). Wenn damit gesagt sein soll, daß dies stets ohne jegliche 
Hemmung geschieht, so muß es nach meiner Erfahrung bestritten werden. 
Der Urheber einer unberechtigten Substitution schwankt oft zwischen den 
beiden ähnlichen Vorstellungen, ehe er einer von ihnen den Vorzug gibt, 
und die Leistung selbst wird nicht selten mit einem ausgesprochenen Gefühl 
der Unsicherheit vollzogen. G. E. Müller hat übrigens selbst — freilich in 
anderem Zusammenhang — dieser Tatsache Rechnung getragen. Schon 1894 
hat er zusammen mit Fr. Schumann durch Lern versuche mit sinnlosen 
Silben festgestellt, daß eine Silbe a, die bereits mit einer andern b zusammen- 
gelernt war, sich schwerer mit einer neuen Silbe c verbindet als eine bis 
dahin noch nicht gebrauchte 3 4 ). Er hat dieses Ergebnis durch weitere, sehr 
umfassende Versuche mit A. Pilzecker bestätigt gefunden und die Er¬ 
scheinung, weil sie die Erzeugung neuer Vorstellungsverbindungen er¬ 
schwert, generative Hemmung genannt 1 ). Müller und Pilzecker 
haben in zahlreichen Versuchen auch die Wirkung verfolgt, welche sich ein¬ 
stellt, wenn die mit b und c assoziierte Vorstellung a nach einiger Zeit wieder 
ins Bewußtsein tritt, so daß nun je eine auf b und c gerichtete Reproduktions¬ 
tendenz miteinander in Wettbewerb treten. Die Forscher fanden, daß sich 
dann die beiden konkurrierenden Reproduktionstendenzen ebenfalls gegenseitig 
hemmen. Sie nannten diese Schwächung der Wirkungsfähigkeit einer Repro¬ 
duktionstendenz durch eine andere: effektuelle Hemmung 3 ). Andere 
Forscher (Ebbinghaus, Ranschburg) haben dafür den Namen reproduktive 
Hemmung gewählt. Paul Ranschburg hat 1905 nachgewiesen, daß beide 
Arten von Hemmung nicht nur bei VorstellungsVerbindungen mit identischem 

l ) Vgl,Müller u. Pilzecker a. a. 0. S. 212ff. — s ) Müller u. Pilzecker a. a. O. S. 214«. 

*) Vgl. G. E. Müller und F. Schumann, Experimentelle Beiträge zur Untersuchung des Ge¬ 

dächtnisses, Zeitschr. f. Psychol. 6. Bd., 1894, S. 177f., 318. 

4 ) Müller und Pilzecker, a. a. O. S. 83«., 138«. 

ö ) Müller und Pilzecker, a. a. 0. S. 84«., 144«. 


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Wesen und Arten der Fehler 


355 


(a), sondern auch bei solchen mit bloß ähnlichem Ausgangsglied (a) eintreten 
können 1 )* Das Schwanken und die Unsicherheit der Leistung, die sich so 
häufig bei Ähnlichkeitsfehlem zeigt, ist also dasselbe, was Müller u. a. als 
Hemmung bezeichnen: es ist der Ausdruck des Kampfes, den die beiden 
ähnlichen Vorstellungen miteinander um den Vorrang im Bewußtsein führen. 

Nach diesen grundlegenden Bemerkungen können wir in die nähere Be¬ 
trachtung der Ähnlichkeitsfehler eintreten. v 

a) Allgemeine Ähnlichkeitsfehler. 

Man unterscheidet gemeinhin drei Arten von Ähnlichkeit: 1. Ähnlichkeit 
auf Grand partieller Gleichheit. Sie ist da vorhanden, wo die ähnlichen Be¬ 
wußtseinsinhalte gemeinsame Bestandteile haben (Mal — Tat). — 2. Ähnlich¬ 
keit auf Grund relativer Gleichheit. Sie findet sich da, wo die verschiedenen 
Objekte in der gleichen räumlichen oder zeitlichen Anordnung der Teile über¬ 
einstimmen (eine Person und ihr Bild, eine Melodie in verschiedenen Ton¬ 
lagen). — 3. Ähnlichkeit auf Grund qualitativer Nachbarschaft, z. B. Ähnlich¬ 
keit zwischen zwei im Spektrum befindlichen Farben, Konsonanten von ähn¬ 
lichem Klangcbarakter: p, t, k. Die Bestandteile, welche in diesem Fall die 
Ähnlichkeit bedingen, sind bis jetzt noch nicht einwandfrei nachgewiesen 2 ). 
In den beiden ersten Fällen aber ist es klar, daß die einander ähnlichen 
Bewußtseinsinhalte etwas Gemeinsames haben. Dieses Gemeinsame führt 
beim Wahraehmen und Erinnern zu Verwechselungen, wenn die nicht ge¬ 
meinsamen, also unterscheidenden Merkmale nicht genügend beachtet 
oder nicht treu genug im Gedächtnis bewahrt werden. Wie die Verwechselung 
im einzelnen physiologisch bzw. psychologisch zustande kommt, darüber sind 
die Meinungen noch geteilt. Wir wollen daher auf die Erklärungsversuche 
von Ranschburg, W. Peters, Offner u. a. an dieser Stelle nicht näher 
eingehen und unser Augenmerk lieber auf die praktische Frage der Zusam¬ 
menstellung derjenigen im Schulunterricht vorkommenden Elemente richten, 
die wegen ihrer Gestaltsähnlichkeit und der verhältnismäßigen Häufigkeit ihres 
Vorkommens besonders reiche Veranlassung zur Verwechselung geben. Es 
sind dies vor allem gewisse Ziffern und Buchstaben. 

Wenn man die Reihenfolge der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 0 genauer 
betrachtet, so findet man, daß diese sich nach ihrer Gestalt in zwei Gruppen 
einteilen lassen: eine Gruppe, in der die Striche vorherrschen (1, 4, 7), und 
eine solche, in der die Bogen vorherrschen (2, 3, 5, 6, 8, 9, 0). Die Ziffern 
innerhab dieser Gruppen sind beim Lesen und Abschreiben manchen Ver¬ 
wechselungen untereinander ausgesetzt, so 1 und 7; 4 und 7; 2 und 3; 
2 und 9; 3, 5 und 8; 6 und 9; 6 und 0; 9 und 0. Wenn Striche und Bogen 
in der Schrift nicht klar und deutlich zur Geltung kommen, treten auch Ver¬ 
wechselungen von Ziffern aus verschiedenen Gruppen, wie 4 und 9, 7 und 
9, auf. 

Unter den Buchstaben bieten die verschiedenen Druckformen und Schrift¬ 
arten mannigfache Gelegenheit zu Verlesungen. Vornehmlich ähneln einander 
von den großen Buchstaben der deutschen Druckschrift (Fraktur): 9), $, iß 


*) Paal Ranschburg, Über die Bedeutung der Ähnlichkeit beim Erlernen, Behalten und 
bei der Reproduktion. Journal f. Psychol. und Neurologie, Bd. V, 1905, S. 93ff, — Derselbe, 
Das kranke Gedächtnis, 1911, S. 23. 

*) Vgl. W. Peters, Über Ähnlichkeitsassoziation. Zeitschr. f. Psychol., Bd. 56, 1910, 8.164ff. 

23* 


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356 


Hermann Weimer 


und SS; & und ©; und 91 und 9*t; D und Cl; in manchen Druckschrift¬ 
arten auch 31 und U; 

von den kleinen Buchstaben: b und b; b und Ij; c und e; f und f; f) und 
q; f, 1 und t; nt und n; n und u; o und o; r imd 5 ; bei schlechtem Druck 
auch i und I; t und t. 

Von den großen Buchstaben der lateinischen Druckschrift (Antiqua): B und D; 
B und R; C und G; E und F; F und T; H und K; 0 und Q; V und W; V und Y; 

von den kleinen Buchstaben: b und d; b .und h; b und k; c und e; c und 
o; e und o; f und f; f und t; h und k; i und 1 ; 1 und t; m und n; n und 
u; p und q; v und w; v und y. 

In der deutschen Schreibschrift ähneln sich besonders von den großen 
Buchstaben: A und U; B und L; O und Q; I und T; M und N; O und Q; 
V und W‘); 

von den kleinen Buchstaben: a und o; b und l; c und i; e und n; /und h; 
f und /; g und q; g und g; k und t ; m und n; p und x; v und w; y und z. 

In der lateinischen Schreibschrift ähneln sich vorzugsweise von den großen 
Buchstaben: B und R; C und E; F und T\ H und K; H und X; J und Y\ 
L und S ; 0 und Q ; V und W; 

von den kleinen Buchstaben: a und o (im Wortkörper); b und /; c und e\ 
e und o; g und q\ g und y ; h und k; l und t; m und n; n und u; p und q: 
r und v ; y und z 2 ). 

Verwechselt werden auch öfter die Buchstaben mit Überzeichen ä, ö, ü 
mit den Grundzeichen a, o, u. 

Da nun die Buchstaben meistens im Wortkörper Vorkommen, so ist durch 
ihre jeweilige Verbindung mit andern Buchstaben der Grund zu weiteren 
Ähnlichkeiten und damit zu weiteren Verwechselungen gelegt. Die Zahl der 
möglichen Fälle ist so groß, daß sie hier gar nicht alle aufgezählt werden 
können. Es ist durch zahlreiche Versuche erwiesen, daß wir, vom Anfänger 
abgesehen, beim Lesen überhaupt nicht die einzelnen Zeichen der Reihe 
nach getrennt wahrnehmen, sondern mit einer einzigen Blickbewegung stets 
ein größeres Buchstabengebilde, also ganze Worte, oft sogar mehrere Worte 
auf einmal umfassen 3 ). Daher ist für das richtige oder fehlerhafte Lesen 
nicht nur die Gestalt des einzelnen Buchstaben, sondern auch das Gesamt¬ 
bild eines Wortes von Bedeutung. Man spricht in diesem Sinne von der 
Gestaltsqualität des Wortes. Es gibt Worte mit guter und solche mit schlechter 
Gestaltsqualität, je nach der Anordnung und Form der einzelnen Buchstaben. 
Lautzeichen, die über den Mittelkörper einer Zeile hinausragen, besonders 
solche mit Oberlängen (k, b, d, h, j, t, 1, f) gelten nach Meßmer als optisch 
dominierende Buchstaben, denen in der Hauptsache die Mittelzeiler (a, c, e, 
i, m, n, o, r, s, u, v, w, x und z), aber auch die mit Unterlängen versehenen 
g, p, q und y als nicht dominierende Buchstaben gegenüberstehen 4 ). Die 
Aufeinanderfolge von nicht zu vielen kleinen Buchstaben und besonders die 
Durchbrechung mehrerer kleiner Buchstaben durch einzelne dominierende 


') Ich bitte den Leser, sich hier und im folgenden die geschriebenen Buchstaben vor- 
zustellen, da die erforderlichen Schrifttypen nicht zu beschaffen waren. 

*) Bei alledem sind klarer Druck und klare Schrift vorausgesetzt. Schlechte Schrift und un¬ 
deutlicher Druck führen noch mannigfache andere Verwechselungen herbei. 

*) Vgl. E. Meumann, a. a. O. 2. Aufl., III, S. 486ff. 

4 ) Vgl. Meumann, a. a. O. S. 492f. 


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Wesen und Arten der Fehler 


357 


soll eine gute Gestaltsqualität und damit leichte Lesbarkeit des Wortes be¬ 
dingen, während das Nebeneinander von zwei und mehr überzeiligen Buch¬ 
staben Uas Lesen erschweren soll l ). 

Dies mag genügen, um folgende Lesefehler aus der bloßen optischen 
Ähnlichkeit zwischen Fehlwort und Textwort verständlich zu machen: Anmut 
(Hfw. 166) st. Armut (Hfw. 197), bestätigen (718) st. beschäftigen (1490), 
dreistig st. dreißig (771), Euter (4) st. Eiter (6), fördern (1939) st fordern (7481), 
hassen (483) st. hasten (2531), Komplement (0) st. Kompliment (117), lasen 
(450) st. lesen (1919), Masse (2996) st. Messe (3031), prassen (13) st. pressen 
(920), Ranzen (0) st. Rangen (75), Verarbeitung (64) st. Verbreitung (310), 
würgen (68) st. würzen (341). Die beigefügten Häufigkeitszahlen des Kae- 
dingschen Wörterbuchs beweisen, daß von dem bezwingenden Einfluß der 
größeren sprachlichen Geläufigkeit bei diesen Entgleisungen nicht die Rede 
sein konnte. Da sich aber bei den einzelnen Verlesungen auch andere Ur¬ 
sachen nicht nachweisen ließen, müssen wir diese Beispiele als Ähnlichkeits¬ 
fehler buchen 2 ). 

Neben der Ähnlichkeit der Gestalt (optische Ä.) macht sich auch die Klang¬ 
ähnlichkeit (akustische Ä.) als Fehlerquelle geltend. Hermann Gutz- 
mann hat auf Grund zahlreicher Telephon versuche nachgewiesen, daß die 
Laute folgender Gruppen häufig miteinander verwechselt werden: p, t, 
k — b, d, g — sch, f, z, ss, x, ch — m, n, ng — w, s, j — endlich h 
mit den? festen Vokaleinsatz oder mit den stimmlosen Verschlußlauten p, t, 
k 3 ). Damit stimmen folgende Diktat fehler aus meinen Sammlungen über¬ 
ein, bei denen es sich meist um diktierte Einzelworte handelte: 

1. p, t, k : Stiele (Stammsilbe stiel 106) st. Spiele (St. spiel 7767), stoppen 
(St stopp 28) st. stocken (St stock 814); Mistel (0) st. Mispel (0), tränken 
(St. tränk 199) st. kränken (St. kränk 317); die Wolken (St. wolk 691) st die 
wollten (St. wollt 7260), Kohlen st. Polen ; 

2. b, d, g: Bach (156) st. Dach (386), laben (47) st. laden (1039), Schwaden 
st. Schwaben, Gaumen (40) st. Daumen (192); regen (1277) st. reden (3302), 
hegt (139) st. hebt (912); 

3. sch, f, z, ss (d. h. stimmloses s), x, ch: Zaum (35) st. Schaum (78), 
zechten (4) st. fechten (260), Lust st. Luft und umgekehrt; Flug (310) st. 
schlug (818); 

4. m, n, ng: mein st. nein und umgekehrt; Nomaden (15) st. Monaden (5); 
Tonnen (322) st. kommen (5300); singen (342) st. sinnen (471); 

5. w, s (stimmhaft), j: Segen (557) st. Wegen (2907); Waren (1515) st 
Jahren (4369); wie (51336) st. sie 102212); 

6. h, Vokaleinsatz undTenues: heben (1933) st. eben (5683); kennt (903) 
st. Hemd (77); Hammer (114) st. Kammer (1347). 

Daß es natürlich auch ein Verhören über die von Gutzmann angegebenen 
Grenzen hinaus gibt, mögen folgende Proben zeigen: der Fink (9) st. er fing 


l ) Vgl. Anathon Aall, Zur Frage der Hemmung bei der Auffassung gleicher Reize. Zeit- 
sehr. f. pgychol., 47. Bd., 1908, S. 84. — J. Stoll, a. a. O. S. 76. 

*) Zugegeben ist freilich die Möglichkeit einer individuellen Geläufigkeit des betreffenden 
Wortes beim einzelnen Schüler oder die Möglichkeit der Nachwirkung einer besonderen Ein¬ 
stellung, das unkontrollierbare Auftreten von Neben Vorstellungen u. ä. Auf die nur bedingte 
Brauchbarkeit des Kaedingschen Wörterbuchs habe ich schon hingewiesen. 

3 ) H. Gutzmann, Ober Hören und Verstehen, Zeitschr. f. angew. Psychol. I, 1908. S. 490. 


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358 


Hermann Weimer 


(1179), höben (18) st. bögen (35), gewunden (96) st. gebunden (510), Masten 
(100) st. Lasten (2805), Laus (19) st. Maus (17), Nichten (256) st. Wichten 
(652), nascht (Stamm nasch 48) st. wascht (Stamm wasch 502), verwoben (5) 
st. verbogen (6), weidlich (20) st. leidlich (103), Ziegen (416) st. Siegen (2634). 

Außerdem sind in der Zusammenstellung Gutzmanns die durch Klang¬ 
ähnlichkeit der Vokale bedingten Verwechselungen, weil sehr gering, un¬ 
berücksichtigt gelassen. Sie spielen aber im Schulunterricht ebenfalls eine 
Rolle, besonders da, wo mundartliche Gewohnheiten die Aussprache des dik¬ 
tierenden Lehrers beeinflussen oder die Unterscheidungsschärfe des Schülers 
beeinträchtigen. Dahin gehören folgende Beispiele ä, e, ö: die Altern (84) st. 
die Eltern (1135), Kelter (8) st. kälter (104), rötlicher (85) st. redlicher (378), 
röchen (0) st. rächen ; — äu, eu, ei: Gesträuche (22) st. bestreiche (31), er 
freit (333) st. er freut (793), zeugte (203) st. zeigte (1057); — i, ü: brieten st 
brüten, lügen (527) st. liegen (4556), Ziegel st. Zügel und umgekehrt 

Die Zahl solcher Hörfehler würde noch viel größer sein, wenn nicht der 
Sinn des Mitgeteilten den Hörer vor zahlreichen möglichen Mißverständnissen 
bewahrte. Ist es doch eine allbekannte Tatsache, daß wir vieles, was wir 
nur teilweise und undeutlich wahmehmen, aus dem Zusammenhang so er¬ 
gänzen, als ob wir es fehlerfrei wabrgenommen hätten. 

Auch unter den Zahlennamen herrscht Klangähnlichkeit, die zu Hör¬ 
fehlern Veranlassung gibt. So werden besonders 1 und 9, 2 und 3, 5 und 7, 
11 und 12, 13 und 30, 14 und 40 usw. verwechselt, eine Tatsache* die die 
Postverwaltung veranlaßt hat, stärkere unterscheidende Zahlennamen ein¬ 
zuführen, wie einss für ein in Zusammensetzungen, zwo für zwei, ssiebänn 
für sieben , tzähn für zehn usw. (Schreibung der amtlichen Fernsprechbücher). 

Falsche Gedächtnisleistungen, die nachweislich bloß durch Klang¬ 
oder Gestaltsähnlichkeit bedingt sind, habe ich in größerer Zahl nur beim 
Herübersetzen aus den Fremdsprachen und beim Hinübersetzen in die Fremd¬ 
sprachen gefunden. Wenn z. B. ein deutscher Schüler das französische Wort 
officiel mit öffentlich wiedergibt, so kann nicht die Gewohnheit den Aus¬ 
schlag zur Wahl des deutschen Ausdrucks gegeben haben. Denn der Schüler 
hat nie die Verbindung officiel — öffentlich, wohl aber die Verbindung offi¬ 
ciel—amtlich gelernt. Auch die größere oder geringere Geläufigkeit des 
falsch gewählten Wortes entscheidet in solchen Fällen nicht. Denn dem 
fremdsprachlichen Worte gegenüber ist jeder muttersprachliche Ausdruck in 
der Regel der geläufigere; aber unter allen geläufigen Ausdrücken wird ge¬ 
rade der gewählt, der dem fremdsprachlichen ähnlich ist. Wir haben es 
bei derartigen falschen Übersetzungen mit reinen Klangassoziationen zu 
tun, wie sie schon W. S. Scripture, Thumb und Marbe, Aschaffen¬ 
burg und besonders W. Peters experimentell nachgewiesen haben. Scrip¬ 
ture hat nach Thumb und Marbe (S. 10) gezeigt, daß beliebige Wörter 
beliebiger Sprachen nach ihrer Lautähnlichkeit sich sofort zusammenschließen. 
Thumb und Marbe fanden entsprechende Neigung zu Reimbildungen (a. a. O. 
S. 63). Aschaffenburg erhielt reine Klangassoziationen bei Assoziations¬ 
versuchen mit Ideenflüchtigen (Kraepelins Psychol. Arbeiten, IV, 1904, S. 303). 
Peters hat seinen Versuchspersonen die Aufgabe gestellt, auf dargebotene 
sinnlose Silben mit dem ersten ihnen einfallenden sinnvollen Worte zu ant¬ 
worten. Der Versuch ergab, daß die meisten so entstandenen Assoziationen 
durch Klangähnlichkeit bestimmt waren (a. a. O. S. 169f.). Die Reaktion 


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Wesen und Ajten der Fehler 


359 


öffentlich auf den Reiz officiel bildet also einen dem Leben entnommenen 
Parallelvorgang zu den Peter s sehen Versuchen; denn jenes Fremdwort, dessen 
. Bedeutung der Schüler vergessen hatte, wirkte in diesem Fall wie die sinn¬ 
lose Silbe im wissenschaftlichen Versuch. In gleicher Weise hat die Ähn¬ 
lichkeit des Schriftbildes (optische Ähnlichkeit) den Ausschlag gegeben, 
als ein Schüler das französische Wort hier mit hier st. mit gestern übersetzte. 
Solche Klang- bzw. Schriftbildassoziationen stellen auch folgende Übersetzungs¬ 
fehler dar: a) aus dem Französischen: alors also st. damals, dann; le 
berger der Bürger st. Schäfer; la glace das Glas st. Eis; Vinterieur das Inter¬ 
esse st. Innere ; litteralement literarisch st. buchstäblich; orage Orgel st Sturm; 
Gewitter; le sort die Sorte st. Schicksal ; b) aus dem Englischen: also also 
st. auch; bid bitten st. heißen, gebieten; clip Klippe st. Klammer; fowl faul 
st. Geflügel; rod rot st. Stab;- thief tief st Dieb; undergo untergehen st sich 
unterziehen. 

Dahin gehören auch folgende sonst unverständliche Fehler des Hinüber¬ 
setzens in die Fremdsprache: a) französisch: das Bein lebain st. la Jambe, 
Dom = döme st. cathedrale; schön jeune st. beau; Tapete tapis st. papier; 
b) englisch: als as st. when; denn then st. for; mit = mid st. with; Sitz 
sit und size st. seat, Same same st. seed; — c) lateinisch: alle Hilfsmittel 
alia st. omnia praesidia; Crassus gelang es Crassus (st. Crasso ) contigit; die 
Dinge , die sie nicht verstehen res, qui/{ st. quas) non intelligunt. 


ß) Die Wahlfehler. 

Eine besondere Art von falschen Gedächtnisleistungen auf Grund der Ähn¬ 
lichkeit fasse ich als Wahlfehler zusammen. Ich bezeichne mit diesem Aus¬ 
druck solche Fehler, die sich aus der Möglichkeit der Wahl zwischen zwei 
oder mehreren einander ähnlichen und irgendwie zueinander in Beziehung 
stehenden Vorstellungen ergeben. Die Beziehung kann ganz äußerlicher Art 
sein und braucht sich nur auf ein einziges Element zu beschränken. Der 
Wahlmöglichkeit braucht sich der Verfehler nicht jedesmal bewußt zu sein; 
er kann auch ohne weiteres Besinnen das Falsche statt das Richtige treffen, 
wenn ihn das Gedächtnis nicht mehr sicher leitet. 

Vor eine solche Wahl sieht sich der Schüler oft gestellt bei der schrift¬ 
lichen Wiedergabe gleichklingender (homonymer) Wörter. Wir haben 
schon gesehen, daß deren richtige oder falsche Deutung sich aus der je¬ 
weiligen seelischen Einstellung ergibt (S. 279). Die Rechtschreibung hat, um 
Mißverständnissen zu begegnen, solche lautgleichen Wörter vielfach durch / 
unterscheidende Schreibungen ausgezeichnet, wie in:] Aar und Ar, bläuen und 
bleuen, Fiber — Fieber, Geld — Entgelt, Gewand — gewandt, Jacht — Jagd, 
Laib — Leib, Mähre — Märe, Mohr — Moor, Stiel — Stil, Teich — Teig, 
weislich —weißlich usw. So gut diese Schriftunterscheidung gemeint ist und 
so begründet sie unter Umständen sein mag, so bildet sie doch eine Quelle 
zahlreicher Verwechselungen in Schülerarbeiten. Die beiden Schreibungen 
haften wohl fest im Gedächtnis, aber der Schüler ist nicht ebenso sicher in 
der richtigen Zuordnung der einen oder der andern Schreibung zu der ent¬ 
sprechenden Bedeutung, trotzdem bisweilen andere Gedächtnisstützen, wie 
unterscheidende Geschlechtswörter usw., dem Schreiber zu Hilfe kommen. 
So erklären sich Fehler, wie: das ehrenbekränzte Haupt, die Achillesfürse, 


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360 


Hermani^ Weimer 


das greuliche Gewandt, die klangvolle Waise, der Todschläger, der Totfeind, 
das Fahrrad, dafz usw. 

Zu Wahlfehlem geben auch ähnliche Zahlenbilder häufigen Anlaß, be¬ 
sonders die eine Umstellung leicht ermöglichenden zweistelligen Zahlen 
(36 — 63, 27 — 72, 89 — 98), aber auch die mehrstelligen (324 — 432, 
235 — 532, 969 — 696 usw.). 

Auch technische Bezeichnungen innerhalb ein und desselben Gebietes, 
die mehrere Bestandteile gemeinsam haben, werden bisweilen vertauscht. 
Im Unterricht der Chemie, die an ähnlich klingenden Bezeichnungen sehr 
reich ist, kann man diese Erscheinung recht oft beobachten. Man begegnet 
Verwechselungen von Kalium u. Calcium, Magnesia u. Magnesium, Zinn u. 
Zink, Chloriden, Chloriten u. Chloraten, Hydroxyden u. Hydroxylen, Cupri- 
und Cuproverbindungen usw. usw. Im Bereiche der grammatischen Aus¬ 
drücke verwechseln Schüler: Ablaut u. Umlaut, Biegung u. Beugung, Dekli¬ 
nation u. Konjugation, Imperativ u. Imperfekt, Indikativ u. Infinitiv, Kom¬ 
parativ u. Kompositum, Konjugation u. Konjunktion, Konjunktion u. Kon¬ 
junktiv, Positiv u. Possessiv, rückbezüglich u. zurückweisend, Subjekt u. 
Substantiv usw. 

Die Grammatik selbst stellt das Gedächtnis vor mancherlei Wahlmöglich-* 
keiten. Im Bereich der Wortbildungslehre hat die Frage der Adjektiv¬ 
bildung auf -ig und -lieh selbst die Sprachgelehrten manchmal in Schwierig¬ 
keiten gebracht, die sich in der schwankenden Schreibung der Wörter adlig 
(früher adlich), allmählich (früher allmählig), billig (früher billich) u. ä. wider¬ 
spiegeln. Um so weniger kann man es einem Lernenden verübeln, wenn 
er abschlägig u. abschläglich, fremdsprachig u. fremdsprachlich, jährig u. 
jährlich, monatig u. monatlich, wöchig u. wöchentlich, tägig u. täglich, stän¬ 
dig u. stündlich nicht immer reinlich unterscheiden kann. Wie häufig auch 
sonst* selbst rede- und schriftgeübte Erwachsene ähnlich klingende unrf in 
der Bedeutung verwandte Wörter und Ausdrücke miteinander verwechseln, 
zeigt Wustmann an zahlreichen Beispielen in seinen „Sprachdummheiten“ 
(S. 330ff. und 334ff.). 

Ähnliche Unsicherheit herrscht zuweilen hinsichtlich des Gebrauchs der 
stark oder schwach deklinierten Adjektive, denen unbestimmte Fürwörter vor¬ 
ausgehen: manche bedeutende (u. bedeutenden) Männer, mehrere braune (oder 
braunen) Zigeuner, vieler braver (oder braven) Männer. Langsam und 
schwankend dringt hier die schwache Deklinationsform vor. Infolgedessen 
begegnen uns Wahlfehler auf diesem Gebiete bei Lernenden auch da, wo 
ein bestimmter Gebrauch bereits Regel ist, z. B. aller guter (st. guten) Dinge, 
keiner deutscher (st. deutschen) Frau, sämtliche französische (st. französischen) 
Soldaten. 

Die Tatsache, daß die Deklination der deutschen Substantive auf -el 
und -er je nach ihrem Geschlecht bald stark, bald schwach ist (der, die 
Löffel; das, die Messer; aber die Gabel, die Gabeln) macht Wahlfehler, wie 
die Kübeln, die Möbeln, die Stiefeln, die Ufern auf der einen, die Kartoffel, 
die Zwiebel auf der andern Seite verständlich, zumal Ausnahmen, wie die 
Mütter, die Töchter, die Vettern und Homonyme, wie das Steuer (Mehrz. die 
Steuer) und die Steuer (Mehrz. die Steuern) die richtige Wahl noch er¬ 
schweren. — Wo doppelte Pluralbildungen mit verschiedenartiger Bedeutung 
vorhanden sind, werden auch diese zuweilen miteinander verwechselt, so 


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Wesen und Arten der Fehler 


361 


Bande u. Bänder, Gesichte u. Gesichter, Lichte u. Lichter, Schilde u. Schilder, 
Worte u. Wörter. — Ähnlich ist es bei gewissen Zeitwörtern. So wechselt 
die Konjugationsart mit der Bedeutung bei bewegen, dingen, erbleichen, er¬ 
schrecken, löschen (bzw. erlöschen), quellen, schaffen, schwellen, stecken, ver¬ 
derben u. a. Doch ist bei einigen von ihnen der Sprachgebrauch so schwankend 
geworden, daß Bildungen, wie: du hast die Sache verdorben (st. verderbt), 
er schreckt (st schrickt) zusammen, der Schlüssel steckte (st. stak), er hat 
Wandel geschaffen st. geschafft nicht mehr als fehlerhaft empfunden werden. 

Die Ausdrucksform wechselt auch im Bereiche der Satzlehre öfter mit 
der Bedeutung. So machen die Grammatiker einen feinen Unterschied zwischen 
nachahmen, versichern mit dem Dativ und nachahmen, versichern mit dem 
Akkusativ 4 ), zwischen er hat mir u. er hat mich auf den Fuß getreten •), 
zwischen einem an den Hut stoßen u. einen vor den Kopf stoßen 3 ). Dem 
Schüler, der diese Unterschiede teils nicht begreifen, teils nicht behalten 
kann, wird ebenso wie manchem Erwachsenen die richtige Wahl der Kon¬ 
struktion bisweilen recht schwer. 

Einfacher, aber immer noch 'verzwickt genug ist die Frage nach dem 
richtigen Gebrauch der zurückweisenden Fürwörter das u. was. Mag der 
Schüler auch lernen, daß relatives was niemals auf ein Hauptwort bezogen 
werden darf, so müssen ihn doch die substantivierten Adjektive, die teils das 
teils was nach sich haben ( das Beste, was; aber das Gute, das ich zu tun 
vermeine) wieder verwirren, und Fehler, wie das Bild, was — das Kind, 
was bilden daher leicht verständliche Mißgriffe. Daß umgekehrt auch das 
fälschlich für was gebraucht wird, haben wir schon früher gesehen (S. 271). 
Da, wo Nachwirkung nicht nachzuweisen ist, wie in alles, das — manches, 
das — vieles, das haben wir es mit der verwirrenden Wirkung der Wahl¬ 
möglichkeit zu tun. 

Welch häufiger Verwechselung das Futurum des Aktivs und das Präsens 
des Passivs ausgesetzt sind, da sie im Deutschen beide zu ihrer Bildung des 
Präsens von werden bedürfen ( ich werde rufen, ich werde gerufen ), können 
die Lehrer der Fremdsprachen bei Konjugations- und Übersetzungsübungen 
alltäglich feststellen. 

Zu den Wahlfehlern gehören auch die Kontrastfehler, d. h. solche 
Fehler, die in der falschen Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Vorstellungen 
zum Ausdruck kommen. Daß der Kontrast nur eine Form der Ähnlichkeit 
ist, wird heute allgemein anerkannt Es kann keinen Gegensatz zwischen 
Dingen und Vorgängen geben, die gar nichts Gemeinsames hätten und darum 
unvergleichbar wären. Daß aber Kontrastassoziationen sich besonders gerne 
gegenseitig hervorrufen, beruht darauf, daß alles Gegensätzliche den Charakter 
des Extremen hat und darum die Aufmerksamkeit in höherem Grade auf 
sich lenkt als andere Dinge 4 ). Aus dieser Tatsache der gegenseitigen Be¬ 
vorzugung von Kontrastassoziationen mag sich wohl auch das leichte Ein¬ 
treten von Kontrastfehlern erklären. Es sind nach meiner Beobachtung in 
der Regel falsche Gedächtnisleistungen, bei denen wie bei allen Gedächtnis- 
versagem auf der Grundlage der Ähnlichkeit die unterscheidenden Merk- 

•) Vgl. Wustmann, a. a. O. S. 234ff. — *) Wustmann, a. a. 0. S. 237. 

*) Vgl. Tb. Matthias, a. a. O. S. 441. 

*) Vgl. Offner, a. a. 0. S. 88 und 231, Fröbes, a. a. O. 1, S. 590f., Thumb und Marbe, 
a. a. O. S. 49 und 51. 


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Hermann Weimer 


male vergessen oder im Gedächtnis verschmolzen worden sind. Dies ge¬ 
schieht z. B. gerne bei sehr leicht auszuführenden Handlungen oder alltäg¬ 
lichen Vorgängen, deren Vollzug oder Beobachtung keine besondere Auf¬ 
merksamkeit erfordert und deren Abweichung von den entsprechenden 
gegensätzlichen Handlungen oder Vorgängen darum meist nicht beachtet 
wird. So können viele Leute nicht aus dem Gedächtnis sagen, ob man 
eine Kaffeemühle oder eine Schraube beim Zuschrauben links herum oder 
rechts herum dreht, andere wissen nicht, nach welcher Seite die Herren, 
nach welcher die Damen ihre Jacken und Mäntel zuknöpfen, wieder andere 
kommen ins Gedränge, wenn sie angeben sollen, wo die Sonne auf- und 
wo sie untergeht 1 ). Schüler haben bisweilen Mühe, linksum und rechtsum 
zu unterscheiden; sie verwechseln, wie schon erwähnt, die Bedeutungen der 
mathematischen Zeichen der Ungleichkeit (< und >), die Begriffe konvex 
und konkav; sie behalten nicht, was die runde und was die eckige Klammer 
in den Übersetzungsbüchem bedeutet, sie lassen den Euphrat im Osten, den 
Tigris im Westen des Zweistromlandes fließen statt umgekehrt; sie irren sieh in 
den Zeichen für Hebung und Senkung, Länge* und Kürze, Jambus undTrochaeus; 
sie sind im Zweifel, ob man Leib u. Seele oder Seele u. Leib, Tag u. Nacht 
oder Nacht u. Tag, zu Lande u. zu Wasser oder zu Wasser u. zu Lande zu 
sagen pflegt. Schulneulinge schreiben mitunter A st. 1, in späteren Jahren 
verwechseln die Schüler IV u. VI, IX u. XI, XL u. LX, <S> u. &, £ u. £. 
Ich habe als Sextaner lange Zeit uva u. avus verwechselt. Auf Firmenschildern 
habe ich die Zeichen N st. N, s st- S, q st. p u. p st. q gefunden. 

Auch im Versprechen und Verschreiben können sich Kontrastfehler 
geltend machen, insofern das Gegenteil von dem gesagt wird, was gesagt 
werden sollte. Warum willst du schon auf stehen? Es ist doch noch hell 
(st. dunkel)! wurde ich eines Morgens gefragt; und ich selber erzählte ge¬ 
legentlich, daß ich im Winter um 6, im Sommer um 7 Uhr aufzustehen 
pflege, meinte aber das Umgekehrte. Gestern in 8 Tagen st. morgen in 
8 Tagen, morgen vor 8 Tagen st. gestern vQr 8 Tagen ist mir ebenfalls mehr¬ 
fach unterlaufen. Ein Schüler schrieb in einem Aufsatz: was um so verständ¬ 
licher ist st. unverständlicher, ein anderer erzählte von Adalbert von Falken¬ 
stein, daß er nach der unfreiwilligen Tötung des Herzogs Ijjrnst I. von Schwaben 
von Gewissensruhe (st. unruhe) geplagt worden sei. 

y) Die Ranschbur gische Hemmung. 

Das neuhochdeutsche Wort Knäuel ist aus mhdv kliuwel -=■ Kläuel, das 
Lehnwort Kartoffel aus Tartuffel entstanden. Dieser Vorgang, den die Sprach¬ 
forscher Dissimilation (Entähnelung) nennen, bildet eine in vielen Sprachen 
vorkommende Entwicklungserscheinung. Schon Hermann Paul hat in 
seinen „Prinzipien der Sprachgeschichte“ zur Erklärung des Vorgangs bemerkt, 
daß es besondere Schwierigkeiten macht, einander benachbarte gleiche oder 
ähnliche Laute rasch hintereinander richtig auszusprechen (3. Aufl. § 45, S. 60). 


*) Ein Amtsgenosse bat mir versichert: Es ist mir seit meiner frühesten Schulzeit un¬ 
möglich, ohne mnemotechnische Hilfe festzustellen: 1. wo Osten und wo Westen auf der Landkarte 
ist, 2. wo die Sonne auf- und wo sie untergeht. Etwa seit Quarta habe ich mir an sich kom¬ 
plizierte Hilfen gebildet; so für 1: rechts ist nicht Westen, für 2: im Osten auf, im Westen 
weg. Ich arbeite noch jetzt, zwar durch lange Übung blitzschnell, aber durchaus bewußt, mit 
diesen Gedächtnishilfen. 


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Wesen und Arten der Fehler 


333 


Die Erscheinung ist auch in Volkskreisen bekannt, wie gewisse Sprechkunst¬ 
stückchen beweisen, die weit verbreitet sind, z. B. der (Kottbuser) Postkutscher 
putzt den (Kottbuser) Postkutschkasten; drei Teertonnen, drei Trantonnen; 
Fischers Fritz ißt frische Fische, frische Fische ißt Fischers Fritz. 

Unter den Psychologen hat Paul Ranschburg zuerst und am nachdrück¬ 
lichsten dieser Erscheinung seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er untersuchte 
experimentell zunächst die optische Auffassung längerer Zahlenreihen und 
fand, daß gleiche oder ähnliche Ziffern, die nebeneinander oder in geringer 
Entfernung voneinander stehen, schwerer aufgefaßt werden und zu mehr 
Fehlern führen als formverschiedene 1 ). Er untersuchte ferner auf experimen¬ 
tellem Wege die Wirkung, welche ähnliche Silben und Wörter einerseits und 
unähnliche andererseits auf das Erlernen, Behalten und die gedächtnismäßige 
Wiedergabe ausüben 2 ). Er fand auch hier die Tatsache bestätigt, daß „homogene 
Reihen“ (d. h. solche mit gleichartigen Bestandteilen) z. T. schwerer erlernt 
und besonders schlechter behalten werden als heterogene (ungleichartige). 
Die Fehlerzahl bei den ersteren ist größer als bei den letzteren, und gleiche 
Elemente wirken in noch stärkerem Maße fehlerbildend als bloß ähnliche. 
Die von Ranschburg gegebene Erklärung der von ihm beobachteten Vorgänge 
ist zwar nicht allseitig anerkannt, aber die Erscheinung selbst ist durch 
weitere Untersuchungen von Anathon Aall, A. J. Schulz, H. Klein¬ 
knecht, H. Klugmann 3 ) u. a. als eine gesetzmäßige bestätigt und seitdem 
unter der Bezeichnung „Ranschburgscbe Hemmung“ Gemeingut der modernen 
Psychologie geworden. 

Bei der R. H. handelt es sich um die Auffassung und Wiedergabe gleich¬ 
zeitig oder rasch hintereinander dargebotener Reize. Vor diese Aufgabe 
sind die Schüler täglich beim Lesen gestellt. Wo also gestaltsähnliche oder 
gleiche Ziffern, Buchstaben, Silben oder Wörter nahe beieinander stehen, 
wird die Gefahr des Verlesens auf Grund der eben besprochenen Hemmung 
eintreten. In den meisten Fällen kommt es dabei zu Auslassungen, insofern 
eines der ähnlichen oder gleichen Elemente unterdrückt wird. Doch kann 
auch an Stelle des unterdrückten Bestandteils ein anderer treten (Ersetzung) 4 ). 
Die beim Lesen in betracht kommenden formverwandten Ziffern und Buch¬ 
staben haben wir bereits kennen gelernt (S. 355). Man vergesse aber nicht, 
daß die Ähnlichkeit oder Gleichheit sich auch auf eng benachbarte Teile 
der lesenden Zeichen beschränken kann. Beachten möge man auch das, 
was wir früher über gute und schlechte Gestaltsqualität der Wörter gehört 
haben (S. 357). Die schwere Lesbarkeit mehrerer nebeneinanderstehender 
überzeiliger Buchstaben beruht eben auf der Ähnlichkeit dieser benachbarten 
Zeichen. Unter diesen Voraussetzungen betrachte man die folgenden Lese¬ 
fehler: a) auf Grund gleicher Elemente: Armen st. Armeen, Beugung st. 
Beengung, daunen st. dannen, entgegenwerfen st. entgegengeworfen, Honarar 
st. Honorar, schlampen st. schlampampen , Steuerklärung st. Steuererklärung, 

*) Paul Ranachburg, Ober Hemmung gleichzeitiger Reizwirkungen. Zeitschr. f. Psychol., 
30. Bd., 1902, S. 39 If. — *) Vgl. S. 5, Anm. 2. 

3 ) Anatbon Aall, Zur Frage der Hemmung bei der Auffassung gleicher Reize, Zeitschr. L 
Psychol., 47. Bd., 1908, S. 1 ff. — A. J. Schulz, Zeitschr. f. Psychol, 62. Bd., 1909, S. llOff., 
238ff. — H. Kleinknecht, Harvard Psychological Studies, 2. Bd., 1906, S. 299ff. (nach J. Stoll, 
S. 20). — H. Klugmann, Über Fehler bei der Reproduktion von Zahlen. — K. Marbes, 
Fortschritte der Psychologie, 4. Bd., 1917, S. 327ff. 

4 ) Vgl J. Stoll a. a. O. S. 66, 72 u. 79. 


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364 


Hermann Weimer 


Umspannung st. Umspangung; b) auf Grund ähnlicher Elemente: bellen st. 
bellten, Oesellung st. Gestellung, Klaoke st. Kloake, Parallelen st Parabeln, 
rabedrechte st. radebrechte, Sechzehnter st. Sechzehnender, Superintent st. 
Superintendent, verfechten st. verflechten, Vorkauf st. Vorverkauf, wunderlich 
st. wunderbarlich. 

Die Ursache der Dissimilation ist schwerer zu erkennen, wenn die gleichen 
oder ähnlichen Elemente nicht im selben Wort, sondern in verschiedenen 
Teilen eines Satzes Vorkommen: aber es sollte sein Kommen zum Heile nicht 
nicht dienen der Freunde st. den Freunden; dessen [er] sich noch gern er¬ 
innerte; es waren [die] Geister der Heimat, die den Wanderer umfingen; 
Gott grüß’ dich [du] leuchtender Bergsee; keine Bäume, kleine (st. keine) 
Blumen. 

Das ähnliche Element kann auch über oder unter der Lesezeile stehen 
und doch dank der kreisförmigen Ausdehnung des Lesefeldes zur Hemmung 
führen. So las ein Schüler: eine Lawine war wiederum (st. wieder) aus 
den Bergen heruntergekommen; die Erklärung für das Verlesen gab der 
Umstand, daß unmittelbar unter wieder die Worte niederem Baumwuchs 
standen. Die R. H. erklärt uns darum auch in manchen Fällen das Aus¬ 
gleiten des Blicks in eine folgende oder vorausgehende Zeile, die nun statt 
der angefangenen weitergelesen wird, und das Überspringen ganzer Zeilen, 
wie wir es schon bei der Besprechung der Vor- und Nachwirkungsfehler 
(S. 275) kennen gelernt haben. In 36 von 51 mir bekannten Fällen waren 
derartige Entgleisungen auf die über- oder unterzeilige Nachbarschaft gleicher 
oder ähnlicher Worte odfer Wortteile zurückzuführen. 

Überhaupt tritt die Erscheinung der R. H. sehr häufig mit derjenigen der 
Vor- oder der Nachwirkung zusammen auf. Viele bei der Betrachtung der 
Perseveration angeführten Beispiele (S. 269, 275) könnten daher auch im gegen¬ 
wärtigen Abschnitt als Belege dienen, wie umgekehrt die vorhin angeführten 
Lesefehler: Honarar, schlampen, Steuerklärung, Klaoke; rabedrechte, Sech¬ 
zehnter, Superintent, Vorkauf, wunderlich nicht nur als Ergebnisse der R. H., 
sondern ebensogut als Vorwirkungen betrachtet werden-'können. 

Den Lesefehlern parallel gehen folgende Fehler des Versprechens: bleit- 
brättrige Linde und die darauf folgende Verschlimmbesserung: breitblättrige 
Rinde, den Waffenstillstand] zustande bringen, er hatte es vorher [herjvor- 
holen wollen, Mistboden st. Mistbeetboden, Theaterführungen st. Theater¬ 
vorführungen. 

Häufiger als diese sind mir im Schulbetrieb naturgemäß Schreibfehler 
auf Grund der R. H. begegnet: Bag[a]ge, betet [et], der Freun[d] dem Freunde, 
erleben st. erbeben, endlich umschließen (st. entschließen ) sie sich, folgenft]- 
lich, Fest[set]zung, Fe[st]Stellung, Hälf[t]e, lang[g]estreckt, Lung[en]entzün- 
dung, Metz[g]erbursche, p[f]iffen, stystematisch, seift] Tagen, Trommefl]- 
fell, Verdau[u]ng. — Während in diesen Fällen das Verschreiben leicht als 
solches erkannt wird, sind von unkundigen Lehrern nachstehende Hemmungs¬ 
erscheinungen als auf Unwissenheit beruhende Verstöße gegen die Recht¬ 
schreibung gebrandmarkt worden: begrif[f]t, Dofhjle, enft]täuschen, Er[bJ- 
prinz, Fah[r]rad, gedei[h]liehe, Kor[b]blütler, Österreich, Rog[g]en, So[h]len, 
Überschwemfmjung, weifsfsagen. 

Wie sehr aber das Zusammenfallen von zwei und mehreren gleichen 
Elementen unserem Empfinden widerstrebt, zeigt die Tatsache, daß z. B. die 


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Wesen und Arten der Fehler 


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deutsche Rechtschreibung das Zusammentreffen von drei gleichen Mitlauten 
vermieden wissen will und Brennessel, Schiffahrt, Schnelläufer st. Brennnessel 
usw. vorschreibt. Ebenso verlangt sie als Pluralendung der Substantive auf -ee 
u. -ie die Zeichenfolge -een, -ien und nicht -eeen, -ieen (Armeen, Ideen, Seen¬ 
platte, Akademien, Melodien) und zu Knie, knien bemerkt Duden, daß das 
e der Abwandlung besser wegfällt, „auch wenn man die Formen zweisilbig 
spricht“ 1 ). Aus ganz dem gleichen Empfinden heraus rät Heinrich Vocke- 
radt dem Schüler in seinen „Praktischen Ratschlägen für die Anfertigung 
des deutschen Aufsatzes“ (9. Aufl. § 94): „Vermeide es, gleiche oder ähn¬ 
lich klingende Wörter unmittelbar nebeneinander oder kurz nach¬ 
einander zu gebrauchen, schreibe z. B. nicht Sätze wie „als sie sie er¬ 
blickte; die Frau, die die Äpfel gekauft hat; wer nicht Soldat war, war 
übel dran“ usw. und gleich darauf (§ 95): „Schreibe nicht Sätze und Aus¬ 
drücke, die wegen der Häufung einzelner Laute (Vokale oder Konsonanten) 
schwer auszusprechen sind und den Sprechkunststückchen gleichen, 
die man kleinen Kindern zum Scherz aufgibt“. Wir kennen jene Sprech¬ 
kunststückchen bereits und wissen, daß auch in ihnen das hemmende Element 
die gehäuften Ähnlichkeiten bilden. Wenn Vockeradt außerdem (§ 103) 
die Anhäufung von gleichbetonten einsilbigen Worten oder von zwei- und 
mehrsilbigen von gleichem Tonfall verwirft und vielmehr einen „gefälligen 
Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben“ als sprachschöner be¬ 
zeichnet, so scheint er hier eine Wirkungserscheinung der R. IJ. heraus¬ 
gefühlt zu haben, die bis jetzt von seiten der Psychologen m. W. noch 
nicht untersucht worden ist. Man möchte entgegnen, daß die Dichter doch 
gerade den- gleichartigen Wechsel von Hebung und Senkung bevorzugen; 
aber Vockeradt kämpft auch nicht gegen die Gleichartigkeit des Rhythmus 
als solche an, sondern gegen das Zusammenfallen längerer Reihen von 
gleichem Rhythmus und gleichem Wortumfang, das auch in der dichterischen 
Sprache verhältnismäßig selten ist. Man vergleiche etwa: Komm, \ Freund, | 
trink | Wein \ vom \ Faß! oder Unter \ Nero \ mußten \ Christen | gegen | 
Tiere | kämpfen mit Schillers: Festge \ mauert \ in der | Erden usw. 

Die R. H. ist auch die Ursache der weitverbreiteten fehlerhaften Redens¬ 
art aus aller Herrn Länder st. Ländern. Schon Wustmann hat — ohne 
Kenntnis vom Bestehen einer solchen Gesetzmäßigkeit — herausgefunden, 
daß der Fehler dem Wortlaut zuliebe entstanden ist. „Das doppelte em u , 
meint er, „schien unerträglich“ (a. a. 0. S. 242, Anm.). Er verwirft freilich 
die falsche Form Länder, aber wohl ebenso erfolglos, wie er die dissimilierten 
Genetive jeden Zwanges st. jedes Zwanges u. ä. verwirft (S. 24 ff.). Denn 
die R. H. ist stärker als das Regelbewußtsein; sie stellt eine im seelischen 
Leben begründete Gesetzmäßigkeit dar, die kein angelerntes Wissen wirkungs¬ 
los- machen kann. Darum hat sich die starke Adjektivdeklination im Genitiv 
nur vor weiblichen Hauptwörtern erhalten (der Wohlgeschmack frischer Milch), 
weil hier gleichlautende Endungen nicht »Zusammentreffen. Der Schüler 
aber, der Ernst des Zweiten st Ernsts, mit geheimen (st. geheimem ) Kummer, 
auf bequemen (st. bequemem) Stuhle schreibt, ist demselben Gesetz verfallen 
wie jeder, der heute Formen, wie frischste, eiliges Laufes, Voßs Luise, Lab¬ 
saltal u. ä. unerträglich findet. 


J ) Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache (Drucker-Duden), 9. Aull., 1915, S. 245. 


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Hermann Weimer 


Aus Lehrerkreisen wurden mir gelegentlich nachstehende Satzbildungen 
* als Zeugnisse besonderer sprachlicher Unfähigkeit bei Aufnahmeprüfungen 
vorgelegt: aber es sei nötig hier zuschreiten (st. hierzu zu schreiten ); er hob 
(st. er erhob) Anspruch auf Burgund; sie zwangen ihn, die Tat zugestehen 
(st. zuzugestehen ). Hätten die Prüfenden die Wirkung der R. H. gekannt, 
so wären sie zu einem milderen Urteil gekommen. Wie sehr allerdings 
unter Umständen der Sinn eines Satzes durch diese Hemmung verändert 
werden kann, zeigt folgende Stelle aus einem Obertertianeraufsatz (14 J.): 
Es ging ihm besser, als er noch zu Hause war. Gemeint war: als (damals), 
als er noch zu Hause war. 

d) Die Mischfehler. 

Als Kontamination bezeichnen die Sprachforscher die Verschmelzung 
mehrerer Ausdrucksformen zu einer neuen, wie z. B. die Entstehung des 
norddeutschen flispern aus flistem (flüstern) und fispern. Solche Ver¬ 
schmelzungen kommen auch als Falschleistungen vor. Schon die Gramma¬ 
tiker haben beobachtet, daß sich nicht beliebige Wörter und Ausdrücke ver¬ 
schmelzen, sondern nur solche, die irgendwie zusammengehören. Nach 
H. Paul müssen sie „synonym oder irgendwie verwandt“ sein (a. a. O. 
S.145), nach Meringer und Mayer ähnlich in der Form oder der Be¬ 
deutung (S. 53f.). Freilich muß Meringer später zugeben, daß auch solche 
Wörter sich vermischen, die häufig miteinander gesagt oder gedacht werden 
(S. 64). Die letztere Tatsache bestätigen auch die Assoziationsversuche 
Müllers und Pilzeckers, welche „assoziative Mischwirkungen“ dieser Art 
in großer Zahl zutage gefördert haben (a. a. 0. S. 159ff. und 225ff.). Diese 
Feststellung verwehrt es uns, die Mischfehler — als solche bezeichne ich 
die fehlerhaften Kontaminationen — unter die Ähnlichkeitsfehler zu rechnen; 
sie müssen vielmehr gesondert betrachtet werden. 

Indessen erheben sich neue Schwierigkeiten, wenn man diese Fehlergruppe 
begrifflich scharf umgrenzen will. Die Grammatiker betrachten die Konta¬ 
mination in der Regel nur als Erscheinungsform: die Verschmelzung 
ist ihnen das Wesentliche. Psychologisch aber ist eine derartige Bestimmung 
unhaltbar. Wir haben schon früher gesehen, daß manche der Form nach 
gleiche Fehler ganz verschiedene seelische Ursache haben können (Jahrg. 1922, 
S. 24). So sind uns auch in mehreren der bis jetzt besprochenen Fehler¬ 
gruppen Falschleistungen begegnet, die der Form nach als Mischfehler an¬ 
zusprechen wären, wie seelig aus Seele und selig unter den Geläufigkeits¬ 
fehlern, hole es hes st. her unter den Nachwirkungsfehlem, Stum- und 
Sportabzeichen unter den Vorwirkungsfehlem. Als Mischfehler vom psycho¬ 
logischen Standpunkt aus können darum nur diejenigen angesehen werden, 
für die sich eine besondere psychische Wurzel der Vermischung nachweisen 
läßt. Eine solche haben schon H. Paul (S. 145) und Meryiger (S. 54) 
darin gesehen, daß die in Betracht kommenden Ausdrucksformen sich 
gleichzeitig ins Bewußtsein drängen, so daß keine von ihnen rein zur 
Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der 
einen mit Elementen der andern mischen. Genauer erklären Müller und 
Pilzecker die Entstehung der Mischwirkung aus zwei möglichen Wurzeln: 
entweder kommt sie durch teilweise gegenseitige Verdrängung von Vor¬ 
stellungen zustande, die gleichzeitig über die Schwelle des Bewußtseins 


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Wesen und Arten der Fehler 


367 


treten, oder durch gegenseitige Ergänzung von Vorstellungen, von denen 
jede einzelne nicht stark genug ist, sich allein durchzusetzen (a. a. 0. S. 159ff.). 
Diese Erklärung stößt die von Paul und Me ringer gegebene Begriffs¬ 
bestimmung nicht um, sondern vertieft sie in glücklicher Weise. Wir werden 
ihre Berechtigung an praktischen Fällfen dartun können. Meringer zieht 
aus seiner Umgrenzung des Kontaminationsbegriffs die entsprechenden Fol¬ 
gerungen und trennt die durch Vor- oder Nachwirkung entstandenen Misch- 
formen als „Verstellungen“ von den reinen Kontaminationen, während Paul 
diese Scheidung noch nicht kennt. Da es aber, wie wir gesehen haben, 
auch andere psychische Ursachen der Verschmelzung gibt, so müssen wir 
noch über Meringer hinausgehen und als reine Mischfehler nur die be¬ 
zeichnen, bei denen sich keine andere Ursache der Vermischung nachweisen 
läßt als das Zusammentreffen von Vorstellungen im Bewußtsein, die. durch 
Ähnlichkeit, Bedeutungsverwandtschaft oder ein häufigeres Nebeneinander 
in gegenseitiger Beziehung stehen 1 )' 

Dabei ist eine Tatsache zu beachten, die bis jetzt weder von den Sprach¬ 
forschern noch von den Psychologen bemerkt worden ist: die neue Form 
braucht die Spuren der Vermischung nicht an sich zu tragen. So gebrauchte 
ein Schüler im chemischen Anfangsunterricht für das Wasser die Formel 
H 2 S st. HiO. Da diese Formel (HiS — Schwefelwasserstoff) überhaupt noch 
nicht vorgekommen war, suchte ich den Grund zu erforschen und erhielt 
folgende Aufklärung: Der Schüler konnte in seinem Vortrag — um einen 
solchen handelte es sich — ebensowohl den Ausdruck Wasser wie die Formel 
HiO gebrauchen. Im Augenblick des Sprechens drängten sich ihm beide 
Ausdrücke „auf die Lippen“. Von HiO kam Hi, von Wasser der 5-Laut 
in Gestalt des Formelzeichen S zur Reproduktion. Wir werden im folgenden 
noch anderen Beispielen ähnlicher Art begegnen. 

Mischfehler stellen sich übrigens nicht nur im Bereich des Sprachlichen 
ein. Ich habe im Turnunterricht Mischbewegungen sowohl beim Geräte¬ 
turnen als auch bei Freiübungen wahrgenommen. Auch Münsterberg hat 
nach Müller und Pilzecker (S. 164) das Auftreten von Mischbewegungen bei 
seinen Versuchen festgestellt. Mischzeichnungen liefern Kinder auf einer 
schon fortgeschritteheren Stufe ihrer zeichnerischen Entwicklung. Den be¬ 
liebtesten Vorwurf zu Kinderzeichnungen bildet bekanntlich der Mensch. Es 
wird auf der frühesten Stufe von vorn abgebildet (Mondgesicht). Erst später 
setzt sich mehr und mehr die Seitenansicht durch, und zwar, wie Bühl er 
bemerkt, in sehr charakteristischer Art. „Nach und nach nämlich wenden 
Bich die einzelnen Körperteile zur Seite, zuerst . . . die Nase, dann folgen 
die andern langsam nach. Derart entstehen merkwürdige Zwischenprodukte, 
vor allem vom Gesicht: die Kopflinie ist im ganzen noch rund wie der Voll¬ 
mond, zwei Augen blicken aus der Fläche heraus, während die Nase seit¬ 
wärts angesetzt ist; oder die Nase hat schon ein Auge in die Seitwärts¬ 
bewegung mitgenommen, aber das zweite oder noch einmal das ganze Paar 
erscheinen außerdem auf der Backe des Profilbildes usw.“ Nach Levin¬ 
st ein zeichnet um das 8. Lebensjahr ungefähr die Hälfte aller Volksschul¬ 
kinder solche gemischten Gesichter. „Entsprechende Ansichtenmischungen 

') Über den Unterschied zwischen Kontamination and Analogie vgl. Paul Menzerath, 
Psychologische Untersuchungen über die sprachliche Kontamination. Zeitschr. f. angewandte 
PaycboL, 2. Bd., 1909, S. 280ff. 


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Hermann Weimer 


kommen auch zwischen den Teilen des Rumpfes, zwischen Kopf und Rumpf 
usw. vor“ 1 ). 

Gleichwohl, glaube ich, dürfen derartige Zeichnungen ihres seelischen Ur¬ 
sprungs wegen nicht jenen Mischleistungen zugeordnet werden, die wir hier 
besprechen. Es handelt sich bei ihfer Entstehung nicht um ein Nebenein¬ 
ander, sondern ein Nacheinander von Vorstellungen, die in scharf getrennter 
zeitlicher Folge ins Bewußtsein treten. Was in dem räumlichen Gebilde der 
Zeichnung als Mischform erscheint, ist nicht dureh Kreuzung, sondern durch 
Addition von Vorstellungen entstanden. Zu der gewohnten Darstellungsform, 
z. B. der Vorderansicht des Kopfes mit zwei Augen werden die auffälligsten 
Merkmale der Seitenansicht, wie die vorspringende Nase, einfach hinzugesetzt. 
Das Ganze ist ein zusammengesetztes Gebilde aus mehreren richtigen und 
falschen Einzelleistungen. 

Dagegen bildet die menschliche Rede als gebräuchlichster und unmittel¬ 
barster Ausdruck des Gedankenflusses ein besonders fruchtbares Feld für 
Mischbildungen der oben geschilderten Art. Sie steigern sich von einfachen 
Laut- oder Zeichenvermengungen zu recht verwickelten Ausdrucks- und 
Satzmischungen. 

Von Lautvermengungen in der mündlichen Rede führe ich aus einer 
großen Fülle von Belegen nur solche an, bei denen die verwirrende Neben¬ 
vorstellung leicht zu erraten war oder vom Sprechenden selbst genannt 
wurde: betlogen ( betrogen, belogen), bostelt ( bosselt, bastelt), erkosen (er¬ 
kiesen, erkoren), fangein (fangen, angeln), Geitsche (Geißel, Peitsche), Hinsch- 
kuh (Hindin, Hirschkuh), märenhaft (Märe, märchenhaft), Otem (Odem, 
Atem), plügelte (plättete, bügelte), Saffrian, (Saffian, Safran), untertaufen 
(untertauchen, taufen), Überfalle (Überfall, -fälle), Zwobel (Zwiebel, Knob¬ 
lauch). 

Häufiger sind die beim Schreiben entstehenden Zeichenvermen¬ 
gungen, die durch Einwirkung reproduktiver Nebenvorstellungen entstehen. 
Schüler, die französisch und englisch gelernt haben, versetzen mit fremdsprach¬ 
lichen Bestandteilen deutsche Wörter wie: Elephant (fr. elephant, engl, elephant ), 
Girafe (fr. girafe), Kabinet (fr. cabinet), Kafe u. Kafee (fr. cafä), Kontrolle 
(fr. contröle), Krystall u. Krystal (engl, crystal), Phasan (engl, pheasant), 
’ Saxen (fr. la Saxe, engl. Saxony), Zigare (fr. cigare). Auch in Neve st. Neffe 
scheint mir das französische neoeu mitgewirkt zu haben. Die Schreibung 
Hypothenuse dürfte durch das häufig mitgenannte Kathete, bezeignen durch 
zeigen, Rais durch Mais, vür, vordem durch vor beeinflußt sein. 

Überhaupt ist die große Mehrzahl der Rechtscbreibungsfehler auf den ver¬ 
wirrenden Einfluß von Nebenvorstellungen zurückzuführen. Die Worte, die 
wir schreiben, sind aus Buchstaben als Einzel Vorstellungen zusammengesetzt 
Die Buchstaben sind wieder mit jenen Lauten assoziiert, zu deren schrift¬ 
licher Wiedergabe sie dienen. Nun ist aber unsere Rechtschreibung wie die 
der meisten Kultursprachen von reiner und eindeutiger Lautbezeichnung 
weit entfernt. Zahlreiche Laute und Lauteigenschaften werden in der Schrift 
mehrartig wiedergegeben, d. h. psychologisch gesprochen, sie sind mit ver¬ 
schiedenen Schriftzeichen assoziiert. So können die langen Vokale wieder¬ 
gegeben werden: 1. durch den einfachen Buchstaben (Blume, Schlaf), 2. durch 


') Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. 3. Aufl., 1922, S. 253. 


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Wesen und Arten der Fehler 


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dessen Verdoppelung (Boot, Seele), 3. durch besondere Dehnungszeichen, wie 
e nach i (Biene, fiel) und h vor l, m, n, r, (Buhle, Rahmen, Kahn, Bahre). 
Die kurzen Vokale bezeichnet man entweder gar nicht (an, hat, midi) oder 
durch Verdoppelung des folgenden Konsonanten (Fall, Tenne) oder durch 
mehrere verschiedenartige Konsonanten (Band, haften). Ffir die Vokal- 
Verbindungen ai und oi haben wir im Deutschen je zwei Bezeichnungsarten: 
ai un die (Hain, Leid) sowie äu und eu (räumen, neun), ferner drei Schrei¬ 
bungsmöglichkeiten für den /-Laut: f, v, ph (Fahne, Vater, Strophe), und für 
die Lautverbindung ts: ts, z, tz (vorwärts, zwanzig, Stutze), vier sogar für die 
Lautverbindung ks: gs, ks, chs u. x (flugs, Klecks, Achse, Axt) und für den 
stimmlosen s-Laut: 8, f, ff, § (bo8, ift, miiffen, mufj). Der (ajich-'LaxA (phon. 
x) und der (i)cft-Laut (phon. $) werden teils mit ch (Macht, Teppich), teils mit 
g (Jagd, Essig) wiedergegeben. — Das sind nur die hervorstechendsten 
Parallelbezeichnungen gleicher Laute. Zu ihnen gesellen sich noch mannig¬ 
fache Ausnahmen; so die andersartige Bezeichnung langer Vokale vor l, m, 
n, r in Wörtern wie: Aal, Krone, Name, Speer, Spur, ferner Eigentümlich¬ 
keiten der Schreibung, die durch die Abwandlung der Wörter und die Wort¬ 
bildung bedingt sind (Gleichnis, - nisse; Königin, innen; hofft gegen oft; zu¬ 
sammen, sämtlich ; Branntwein, der Brand), Verschiedenheiten der Schreibung 
im getrennten und nichtgetrennten Wort (Zuk-ker, Zucker; Brenn-nessel u. 
Brennessel, aber wieder den-noch, dennoch), Sonderschreibungen der Fremd- 
und Lehnwörter (Akt neben nackt, Chor neben erhör, intim neben geziemen, 
Maschine neben schien, Predigt neben Kehricht) usw. 

Solche Mannigfaltigkeit von Bezeichnungsmöglichkeiten führt leicht zu Ver¬ 
mengungen, wo das Schriftbild eines Wortes nicht klar und fest im Gedächt¬ 
nis ist. Menschen mit schlechtem visuellem Gedächtnis sind der Gefahr 
solcher Fehlschreibungen besonders ausgesetzt, da die Gestalt des geschrie¬ 
benen oder gedruckten Wortes in erster Linie visuell wahrgenommen und 
festgehalten wird. Eine kleine Auslese charakterischer Mischfehler mag ge¬ 
nügen, um die Fülle der Fehlleistungen auf diesem Gebiete anzudeuten: 

a) mit falscher Bezeichnung langer Vokale: Ahdern, baar, Dehmut, sie 
fiehlen, Geheege, im (st. ihm), Krahn, kamen, Oom, pralten, Ter, zämen; 

b) mit Fehlbezeichnung kurzer Vokale: Afe, binn, falltete, Faren, gegeßen, 
Hammster, Höle, lttalien, Klubb, Mottiv, öffte, retete, Tackt, Widdersacher; 

c) mit Verwechslung von Diphthongen: Bei (st. Bai), Laid, Mein (st. Main), 
Meid, Waide — bäugte, erseufen, gleubig, Käule; d) mit Fehlhezeichnung von 
/-, s- und 2 -Lauten: Fater, Gustaf, .Flug (st. Pflug), Pfarao, Sofie — Aß 
(st. As), durchnäst, Fäßer, Häufchen, misbrauchen, weßhalb — (du) besitst, 
Direhzion, Direktsion, Direktzion, krazte, Kreutzchen, stetz, stez; e) mit Fehl¬ 
bezeichnung der (a)ch- und (i)ch-LsxAe: Dag (st. Dach), Nagt — Behacken 
(st. Behagen ), frachte — Buch (st. Bug), Honich, karch, wollich — Deig (st. 
Deich), Fähnrig, Hegt. 

Zu solchen orthographischen Mischfehlern geben Eigentümlichkeiten der 
Fremdwörter besonders häufig Anlaß. Da sich bei der Schreibung der 
f-Laute in Fremdwörtern griechischen Ursprungs solche mit t und solche 
mit th hinsichtlich der Häufigkeit etwa die Wage halten, so findet man bald 
falsche Schreibungen mit th st. t (Athom, Ethgmologie, Kathechismus, Me- 
thapher), bald solche mit t st. th (Äter, Hgazinte, Hgpotek, Katolisch, Orto- 
graphie, Tese usw.). — Besonders unsicher wird der Schüler, wenn t und 

Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 24 


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Herrn»nn Weimer 


th im selben Wort Vorkommen (Ranschb. Hemmung?). Dann wird das h 
häufig an die falsche Stelle oder gar zweimal gesetzt: Ateisth, Katethe und 
Kathethe, Teather und Theather. Ähnliche Zweifel entstehen, wenn in mehr¬ 
silbigen Fremdwörtern neben einem inlautenden Konsonanten noch eine Doppel¬ 
konsonanz vorkommt. Dann haftet wohl das Bewußtsein der Doppelschreibung, 
aber deren Stelle wird vergessen. So entstehen Fehler, wie: Appeles u. 
Appelles, Debbate, Disonanz u. Dissonanz, Kappele u. Kappelle, paralell usw. 

Grammatische und stilistische Mischbildungen stellen sich mit Vor¬ 
liebe bei solchen Leuten ein, die sich einer ihnen ungewohnten Ausdrucks¬ 
weise bedienen. Die amtlichen Eingaben wenig schreibgeübter Erwachsener 
sind ebenso reich an solchen Erzeugnissen wie die Aufsatzhefte der Schüler, 
sobald diese beginnen, die unbefangene Ausdrucksweise der Kinderjahre ab¬ 
zustreifen und die Sprache des Buches nachzuahmen. Die dabei gewählten 
Ausdrucksformen sind meistens noch nicht gefestigt und geläufig genug, um 
sich rein und klar durchzusetzen. Verwandte Vorstellungen werden mit¬ 
erregt und dringen teilweise ins Bewußtsein ein, so daß Mischfügungen aus 
gegenseitiger Ergänzung entstehen, wie sie Müller und Piliecker experi¬ 
mentell nachgewiesen haben. 

Zu falschen Wortbildungen hat das Zusammentreffen zweier ähnlicher 
oder verwandter Ausdrücke geführt in: Auswände (Ausreden, Einwände), 
Ein- und Ausgaben (Einnahmen u. Ausgaben), Geräumigkeiten (Räumlich¬ 
keiten, geräumig), Hofschaar (Höflingsschar, Hofstaat), ihm wurde flimme- 
rant vor den Augen (flimmerte, blümerant), Reichschätze (Reichtümer, Schätze), 
sie sehen sich übeitroffen an (überrascht, betroffen), Vervollkommenheit (Ver¬ 
vollkommnung, Vollkommenheit), 

Redensarten und stehende Ausdrücke haben sich verschmolzen in: 
Achilles versicherte ihm den vierfachen Anteil (versprach, sicherte zu); det 
ärmeren Bevölkerung ist der Winter sorgenvoll (die Bevölkerung sieht dem 
hinter sorgenvoll entgegen; der Bevölkerung bereitet der Winter Sorgen); 
diese Stadt hat sich zu einer blühenden Industrie entwickelt (zu einer blühen¬ 
den Industriestadt, eine blühende Industrie hat sich in dieser Stadt entwickelt); 
die Umgebung des Königs lief wie vom Schlage getroffenjauseinander (wie 
vom Blitz getroffen, wie vom Schlage gerührt, betroffen); ein Wagen, der 
aus Holz bestand (aus Teilen bestehen, aus Holz verfertigt sein); er weigerte 
dies ab (verweigerte, wies ab); ich kenne Bescheid darin (kenne mich aus, 
weiß Bescheid); welchen Vorteilen dient das Fahrrad? (welche Vorteile bietet, 
welchen Zwecken dient). 

Bisweilen führt die Vermischung zu pleonastischen Ausdrücken: ein 
kleines Dörfchen (kleines Dorf, ein Dörfchen); ein schwarzer Rappen, ein weißer 
Schimmel, etwas nötig brauchen (etwas brauchen, nötig haben); weit und 
breit berühmt (berühmt oder weit und breit bekannt). — Zu sinnloser Ver¬ 
knüpfung führt die Vermischung, wenn ein Attribut mit einem Hauptwort 
verbunden wird, das seiner Bedeutung nach zu einem andern Hauptwort 
gehört: eine feinsinnige Maschine (fein ersonnene, feinsinnig gebaute); mit 
mißgestimmten Blicken; sein listiger Name; unerlaubte Gäste (ungebetene 
Gäste, unerlaubter Besuch). Dahin gehört auch die Verbindung des Attributs 
mit einem zusammengesetzten Substantiv, von dem nur ein Teil zu dem 
Attribut paßt, wie: der vierstöckige Hausbesitzer, die reitende Artillerie-Kaserne, 
frischgemolkene Milchsuppe usw. 


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Wesen und Arten der Fehler 


371 


Oft werden verschiedene Konstruktionen vermischt: a) präpositionale: 
auswärts der Schule (Nebenvorstellung: außerhalb); dem Rhein entlang (am 
Rhein, den Rhein entlang); irgend eine Art von Wissens (des Wissens, von 
Wissen); nördlich des Praetoriums (nördlich von, im Norden des); um des 
Sohnes wegen, um der Sache halber (wegen des Sohnes, der Sache halber, 
um — willen); 

b) verbale: daß ihnen der Gott zornig wäre (ihnen zürne, auf sie zornig 
wäre); man hatte seiner nicht nötig (ihn nicht nötig, bedurfte seiner nicht); 
plötzlich ereilte ihrem Feldherrn den Tod (Nebenvorstellung etwa: plötzlich 
bereitete ein schlimmes Geschick ihrem Feldherrn den Tod); um an der Vor¬ 
stellung beizuwohnen (an der Vorstellung teilnehmen, der Vorstellung bei¬ 
wohnen); was er sich an Emst verschuldet hatte (verschulden an, sich zu 
Schulden kommen lassen). Hierhin gehört auch die Vermischung aktivischer 
und passivischer Ausdrucksweise, wie in: der uns betroffene Verlust, die sich 
gebildeten Schwellungen, es wird sich geschlagen (man schlägt sich, es wird 
geschlagen), oder die Vermischung verbaler und adjektivischer Attribute: die 
sich im Schranke befindlichen Kleider u. ä. 

c) konjunktionale: das kommt daher, weil oder dadurch, wenn oder 
davon, wenn (geschieht weil, kommt daher, daß), größer als wie (größer als, 
so groß wie), im Falle, wenn er wiederkäme (wenn er; im Falle, daß er), 
man war soweit vorgerückt, um den Feind anzugreifen (weit genug, um; 
so weit, daß); 

d) Vermischung von Satzbildungen: außer der Hinrichtung der An¬ 
führer wurde ein großer Teil der Empörer ins Gefängnis geworfen st. außer 
daß die Empörer hingerichtet wurden . . .; den er für seinen Freund hielt 
und es doch nicht war st. und der es ...; falls sie schon mit andern Fahr¬ 
zeugen versehen sind oder deren Geschäfte noch klein sind st. oder falls ihre 
Geschäfte . . . (Vermischung verschiedenartiger Nebensätze); er entbot die 
Krieger aus dem ganzen Lande und daß sie sich zum Kampfe rüsteten 
(Vermischung von substantivischem und Satzobjekt); tieferrötend folgte die 
Antwort (tief errötend antwortete sie, während sie tief errötete, erfolgte . . .); 

e) Vermischung der Beziehungen: Alarich belagerte Rom und nahm sie 
ein (Nebenvorst.: die Stadt); am Montag, den 8. Juni (am Montag, dem und 
Montag, den); die Verlobung unserer Tochter beehren sich anzuzeigen; der 
größte Teil der Märchen beginnen (Nebenvorst.: die meisten); solch dickes 
Draht (mitgedacht war Gitter). 

Häufig erscheint die Vermischung in der Form fehlerhafter Zusammen¬ 
ziehungen: Alarich erschien dreimal vor Rom, nahm und plünderte es drei 
Tage lang; die Saaten können eingehen und große Teurung nach sich ziehen; 
im guten Glauben an sein Recht und auf seine Gefährten (st.: und im Ver¬ 
trauen auf); man reichte dem Gast eine Erfrischung, die aus Waschwasser, 
Speise und Trank bestand. Dahin gehört auch die unlogische Vereinigung 
verschiedener Geschlechter hinter dem Artikel oder Fülrwort: der russische 
und bulgarische Gesandte; die Gottheit und Menschen; die Höhe und Form 
des Hauses; die Stille und lautlosen Gäste; ein Bund der Liebe und Ver¬ 
trauens; seine Macht und Reichtum usw. Zahlreiche Beispiele dieser Art 
bringt Wustmann, a. a. 0. S. 279ff. 

Vergleichungen, Verneinungen und gegensätzliche Wendungen 
scheinen zu Ausdrucks- und Satzvermischungen besonders Veranlassung zu 

24* 


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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


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geben: dieses Gebäude ist das schönste von allen andern (das schönste von 
allen, schöner als alle andern); der Knabe leugnete, daß er das nicht getan 
habe (leugnete, daß er es getan habe, behauptete, daß nicht); es war uns 
unmöglich, dies dem Vater nicht zu verheimlichen (unmöglich zu verheim¬ 
lichen, man konnte es nicht verheimlichen); öl ins Feuer gießen (st. ins 
Wasser ); ich werde mich so viel wie möglich darum kümmern (nicht viel, 
so wenig wie möglich); ihm ist die Zeit nicht lang genug (zu lang, nicht 
kurz genug). Hermann Paul (a. a. 0. S. 148 u. 153f.) und Wustmann 
(S. 267) bringen Entgleisungen dieser Art aus den Werken der bekanntesten 
Schriftsteller. 

Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß die Spuren der Ver¬ 
schmelzung in der Form nicht immer erkennbar sind. Dies ist auch bei 
den drei letzten Beispielen des vorangegangenen Abschnitts der Fall. Oft 
begegnet uns diese Erscheinung, wo es sich um inhaltliche Vermengungen, 
Eirinnerungs- und Gedankenmischungen handelt. Einer meiner Schüler glaubte 
bestimmt von den 7 Weisen des Morgenlandes reden zu können. Grammatisch 
war seine Antwort richtig, inhaltlich aber erwies sie sich als eine Misch¬ 
erinnerung (die 7 Weisen Griechenlands, die 3 Weisen aus dem Morgenlande). 
Auf unklare Gedankenverbindung weisen auch die von Matthias (a. a. 0. 
S. 49f.) angeführten Beispiele hin: von den Feldfrüchten erwähnt Caesar 
nur den Eibenbaum; die Ilias und die Nibelungensage sind Heldenlieder. 
Deutlicher noch trat die Vermischung zweier Gedanken zutage, als einer 
meiner Schüler die transitiven Verba als solche bezeichnete, die im persön¬ 
lichen Passiv den Akkusativ bei sich haben st. die im Aktiv den Akkusativ 
bei sich haben und ein persönliches Passiv bilden können, oder als ein anderer 
behauptete: KonradII. wurde 1024 zum König von Franken gewählt st Konrad 
von Franken wurde 1024 zum deutschen König gewählt. 


Zur Theorie des Stotterns. 

Eine Buchbesprechung 1 )* 

Von Aloys Fischer. 

Nach zahlreichen Erhebungen (in Berlin, Braunschweig, Dresden, Elberfeld, Hamborg, Pots¬ 
dam, Stettin, Amsterdam, Zürich und anderen Städten) wissen wir, daß rund 1 Prozent der 
Schulkinder stottert; nach Beobachtungen in einem Teil der Schulorte, die auf Sprachdefekte der 
Kinder überhaupt achten, wächst die Zahl der Stotterer im Verlauf der Schulbahn (so etwa in 
Berlin auf das Dreifache der Fälle in den Aufnahmeklassen). Nach den Erfahrungen angesehener 
Sprachärzte ist die Wirkung der Reifejahre auf Sprachgebrechen, besonders wieder auf das 
Stottern, nicht eindeutig und der in Erzieherkreisen, bei Eltern und Lehrern noch vielfach vor¬ 
handene Glaube, das Stottern verliere sich entweder von selbst oder durch die gewöhnlichen Ma߬ 
nahmen schulischer und erzieherischer Behandlung, ein ungerechtfertigter Optimismus. 

Ich habe auf diese Tatsachen hingewiesen, um es zu rechtfertigen, daß die Erkenntnis der 
Ursachen des Stotterns lind die Maßnahmen zur Vorbeugung und Heilung eine Frage bilden, 
die für den Erzieher erhebliches Interesse hat und es verständlich erscheinen läßt, daß der 
Stotterer immer wieder untersucht wird. Die vorliegende Schrift des Vertreters der pädagogischen 
Psychologie und Pathopsychologie an der Hochschule zu Riga nimmt zu der Frage von den 
Erfahrungen und Grundsätzen der Psychanalyse aus Stellung und zwar genauer gesagt, von 


*) Ernst Schneider, Über das Stottern. Entstehung, Verlauf und Heilung. Bern 1922. 
A. Francke. 106 Seiten. 


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Aloys Fischer, Zur Theorie des Stotterns 


373 


der schweizerischen Richtung innerhalb der psychanalytischen Bewegung, in der der Verfasser 
mit Jang, Pfister u. a. ein bekannter Name ist. Im ersten Teil gibt die Schrift einen guten 
Oberblick über die anatomischen, physiologischen und voranalytisch-psychologischen Theorien 
des Stotterns, nicht in historisch-entwickelnder, sondern in systematisierender Darstellung, 
aber überall in Auseinandersetzung mit den führenden Autoren. Eingehender gewürdigt werden 
dabei die Theorien H. Gutzmanns („Stottern ist eine spastische Koordinationsneurose“), Dehnhardt’s 
(„Stottern ist Sprechangst 11 ) und O. Aronsohn’s („Stottern ist eine Sprachstörung, die ursprünglich 
hauptsächlich, in manchen Fällen ausschließlich in Gegenwart Fremder, Respektspersonen 
oder Vorgesetzten auftritt. Die Stottererscheinungen sind ursprünglich nur an. den Anfang des 
Sprechens geknüpft; diese Stottererscheinungen sind deshalb als primär, alle übrigen als sekundär 
zu bezeichnen. Die primären Stottererscheinungen haben ihre unmittelbare Ursache in zwei 
Charaktereigenschaften der Stotterer, im Bestreben, ihr Innenleben unter keinen Umständen dem 
kritischen Blick Fremder preiszugeben, und dem meist ursprünglichen Drang zu überhastendem 
Gedankenausdruck“). Ich glaube, daß selbst aus dieser gedrängten Wiedergabe der medizinischen 
Geschichte des Stotterproblems im Gegensatz zu der Meinung des Herrn Verfassers der Eindruck 
entsteht, daß schon frühzeitig und von allen Beobachtern, auch von denen, die den anatomischen 
Mechanismus der Atmungs-, Artikulations- und Phonationsbewegungen als den sozusagen unmittel¬ 
baren Angriffspunkt für die Therapie herausstellten, die psychische Verwurzelung des Stotterns 
gesehen und studiert worden ist Wer die Originalanalysen der angezogenen Theoretiker nachliest 
und noch besser, wer Einsicht in die Praxis eines guten Spracharztes hat, weiß, daß auch der 
„ausgepichteste“ Nur-Mediziner eine Unsumme instinktiv gewonnener und verwerteter psycho¬ 
logischer Erfahrungen gerade bei der Exploration wie bei der Behandlung von Stotterfällen ins 
Spiel treten läßt. Man kann nicht sagen, daß die voranalytische Arbeit keinen Blick für die 
sozusagen innerpsychischen Faktoren, sei es als Anlaß und Ursache, sei es als Ausstrahlung, Be¬ 
gleitung und Hilfsmittel der Fixierung des Stotterns, besessen habe. Was ihnen allenfalls vorgehalten 
werden könnte, ist dies, daß sie ihre psychologischen Befunde nicht für so wesentlich gehalten 
haben, um darauf ihre Theorie und Therapie zu gründen. Die Tatsachen (auch die psycho¬ 
logischen) dürften somit den wirklich zuständigen Bearbeitern einigermaßen gemeinsam sein; 
die Differenzen der Theorien gehen dann entweder auf abweichende Bewertung oder auf hin¬ 
zugefügte Deutung der — wie alle Erfahrung — nur Bruchstücke des Gesamtverlaufs bietenden 
Beobachtungen zurück. 

Im Anschluß an die Theorien wird ein Überblick über die Heilmethoden (die chirurgische, medi¬ 
kamentöse, didaktische und hypnotische) gegeben. Es ist schade, daß der Verfasser die Zer¬ 
gliederung der seelischen Vorgänge mit allen Nebenwirkungen nicht weit genug verfolgt, die 
durch die Einzelmaßnahmen etwa von Gutzmanns oder Dehnhardts Heilverfahren im Patienten 
ausgelöst werden. 

Im zweiten Teil bringt er (nach einer freilich sehr gedrängten Übersicht über den Sinn und 
das assoziative Urverfahren der Psychanalyse) die bisherigen psychanalytischen Deutungs¬ 
und Heilungsversuche zur Darstellung. Dabei spielen — das ist für den in der einschlägigen 
Literatur nicht bewanderten Leser eine Schwierigkeit — die grundsätzlichen Kontroversen und 
Differenzen der im weitesten Sinn des Wortes dem psychanalytischen Gedankenkreis nahestehenden 
Persönlichkeiten eine beträchtliche Rolle. Umgekehrt allerdings ist es nicht ohne Reiz, die 
Gegensätze im analytischen Lager an der Deutung und Behandlung eines so konkreten Einzel¬ 
beispiels sozusagen auf ihre kürzeste Formel gebracht zu sehen. Ich gestehe, von mancher in 
diesem Bericht berührten Frage (z. B. von Adlers Individualpsychologie) eine etwas andere Auf¬ 
fassung gewonnen zu haben, als sie hier zu Wort kommt. 

Ich gebe in einem Punkt dem Verfasser vollkommen recht: gegenüber der Tendenz der 
physiologischen Theorien, die einen zentralen Ursprung des Stotterns für „zweifellos“ halten, 
aber ihn — jedenfalls bis heute — nicht nachweisen können, sind Psychologie und Psychanalyse 
drauf aus, für die körperlichen Symptome des Stotterns und Stotterers im (bewußten, vorbewußten 
und unbewußten) Seelenleben und in der Struktur der Persönlichkeit Grundlagen nachzuweisen, 
die grundsätzlich nachlebbar einen Weg zum Verständnis versprechen. „Wenn es möglich wäre. 
Seelenvorgänge fest zustellen, die uns den Stotteranfall auch nach der körperlichen Seite dem 
Verständnis nahe bringen?“ (S. 21.) Durch den Hinweis auf die Bedeutung der Psychanalyse 
für Erkenntnis und Behandlung der Hysterie glaubt der Verfasser ein günstiges Vorurteil auch 
für die psychanalytische Behandlung des Stotterproblems zu erwecken. 

Innerhalb der Psychanalyse haben sich bisher zwei Theorien herausgebildet: das Stottern als 
Angstneurose, vertreten von L. Frank, im Anschluß an die erste Freudsche Fassung der psych¬ 
analytischen Methode und heilbar durch dessen kathartisches Verfahren, und das Stottern als ein 
neurotisches Sicherungssystem von Alfred Adler und seinen Mitarbeitern, besonders Appelt, dar- 


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gestellt, heilbar durch ein Verfahren der Aufdeckung und Zerstörung des unbewußten Unterbaues 
der dem Sicherungssystem zugrunde liegenden Fiktionen. 

Nach Franks Ansicht ist zum Stottern prädisponiert „der Mensch mit Neigung zu stark affekt- 
betonten Vorgängen“. Die Auslösung erfolgt meist in früher Kindheit (3.—4. Lebensjahr) durch 
ein Schreckerlebnis. Die Angst jenes Schreckerlebnisses wird auf den Ort, die Zeit, die Gegen¬ 
stände desselben übertragen, ebenso auf die Begriffe, Worte, Zeichen und Ausdrucksmittel, die 
dafür dienen oder damit Zusammenhängen. So wird — unterbewußt „beim Entstehen des Stotterns 
in der Schreckhemmung die Angst mit dem Aussprechen von bestimmten Sprachlauten verbunden“. 
Die dann bei der Wiederkehr dieser Sprachhemmung plötzlich einsetzende Verlegenheit steigert die 
Hemmung und die Angst. Ein anfänglich vielleicht nur leises Häsitieren vertieft sich zum Stottern. 
Die Wiederkehr gleicher bezw. ähnlicher Situationen vertieft und fixiert die Angsthemmung. Das 
Stottern in seiner bekanntesten Form — als Versagen der Sprachbewegung bei bestimmten (den 
ersten nach dem Schreckerlebnis auftretenden, später bei ihnen ähnlichen) Worten bezw. Buch¬ 
staben ist fertig. Franke hat diese Theorie entwickelt aus Heilerfahrungen nach dem kathartischea 
Verfahren, bei dem im Halbschlaf die verdrängten, affektbetonten Vorstellungen, die das erste 
Stottern ausgelöst haben, wieder bewußt gemacht und abreagiert wurden, Schneider hat m. E. 
mit Recht geltend gemacht, daß die Theorie: „das Stottern ist eine Angstneurose, die bei psycho¬ 
pathischen Kindern in den ersten Kinderjahren durch Schrecken entsteht“, ohne eine tieferschürfende 
Zergliederung der „Angst“ nicht hätte aufgestellt werden dürfen; ob diese Zergliederung freilich 
in die Richtung führt, die er (S. 28) andeutet, muß ich offen lassen. Ich möchte auf diesen Punkt 
bei der Auseinandersetzung mit Schneiders eigenen Erfahrungen und Gedanken zurückkommen. 

In der individualpsychologischen Auffassung Alfred Adlers ist der Ausgangspunkt für das Ver¬ 
ständnis des nervösen Charakters und seiner Symptome das biopsychologische Streben jedes Organis¬ 
mus nach Selbstbehauptung und Geltung. Individuen mit minderwertigen Organen trainieren 
auf Kompensation bis Überkompensation durch Leistungen auf anderen Gebieten. Mißlingt die 
Korrektur der Minderwertigkeit, so tritt an Stelle des Willens zur Macht jener zum Schein; d. h. 
das Individuum nimmt Formen des Ausdruckes an, „als ob“ es gleichwertig wäre, sich gleich¬ 
wertig fühlte (Trotz, Eigensinn, Frechheit, Größenideen usw.), oder es flüchtet sich in das Gefühl 
der Minderwertigkeit, um dadurch die Umwelt von sich abhängig zu machen, also wenigstens 
scheinstark zu bleiben (Schüchternheit, Feigheit, Anlehnungsbedürfnis, Unterwürfigkeit, kurz 
Züge, die seine Schwäche ostentativ übertreiben und so gewissermaßen den Imperativ aussprechen; 
„sorgt für mich arme Kreatur!“) Das Kind, resp. der Nervöse, sichert sich durch derartige 
Fiktionen gegen jede Beeinträchtigung und Erschütterung seines Selbstgefühls und Geltungs¬ 
bedürfnisses. Auch die Angst ist ein Sicherungsmechanismus, mit der Aufgabe, jede das Per¬ 
sönlichkeitsgefühl bedrohende Gefahr rechtzeitig zu signalisieren, damit — nicht wie beim Ge¬ 
sunden: vorgesorgt und dagegen gekämpft, sondern — ausgewichen werden kann. So meldet 
die Sprechangst die „schweren Buchstaben“ gewissermaßen vorher an, namentlich ln der Schulzeit, 
wenn auch nicht in der vorschulischen Kindheit, in der das Stottern mit der normalen Schwäche 
des Spracbapparats und der Sprach Vorstellungen zusammenhängt. Das Stottern wird so ein Kniff, 
ein Kunstgriff, um in bemitleidenswerter und fürsorgebedürftiger Schwäche die an sich mögliche 
Leistung des richtigen Sprechens als einer persönlichen Unmöglichkeit sich versagen zu können. 
Die Theorie deutet dann zahlreiche bei Stotterern und ihrer Heilbehandlung beobachtete Einzel¬ 
heiten in ihrem Sinn, z. B. die recht seltsame Tatsache, daß das Stottern unterbleibt oder rascher 
überwunden wird bei physischer Anlehnung (an ein Pult, namentlich eine bestimmte Person) im 
Sinne der Symbolhandlung. So ergibt sich in Appelts Formulierung als Gesamtanscbauung die 
Meinung, „die Nervosität bediene sich des Stotterns als eine Art Hindernis, das dem Kinde erlaubt, 
Entscheidungen und Zusammenstöße, die sein Persönlichkeitsgefühl einer Verletzung aussetzen 
könnten, entweder völlig zu vermeiden oder zum mindesten hinauszuschieben.“ Stottern ist 
nur ein Symptom eines neurotischen Gesamtsicherungssystems, verursacht vor allem durch eine 
konstitutionelle Minderwertigkeit des Sprechapparats und in seiner speziellen Form durch den 
Willen zum Schein als der Fiktion der Gleichwertigkeit bestimmt. 

Ohne zu dieser Theorie hier meinerseits ausführlich Stellung zu nehmen, möchte ich doch 
die Frage nicht unterdrücken, nach welchem Maßstab die reale Minderwertigkeit beurteilt wird, 
resp. von welchem auf Menschen (Patienten) wirksamen Maßstab der Selbsteinschätzung sie das 
erlebte Minderwertigkeitsgefühl nacherlebend verständlich macht. Die Frage berührt freilich nicht 
das Stotterproblem allein, sondern die ganze Theorie der „Sicherung gegen Minderwertigkeiten*. 

Der historisch-kritische Teil ist mit der individualpsychologischen Theorie des Stotterns zu 
Ende; trotz seiner Kürze ist er klar und lehrreich. In dem größeren Hauptteil des Buches 
entwickelt der Verfasser dann eigene Anschauungen. Ihre Grundlagen sind nicht nur die Er¬ 
gebnisse seiner Kritik, sondern auch einerseits allgemeine Überzeugungen von der Struktur der 


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Zur Theorie des Stotterns 


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Persönlichkeit, andererseits Heilerfahrungen nach der von ihm akzeptierten, in der Hauptsache 
durch Oskar Pfister ausgebildeten psychanalytischen Methode. Es ist schade, daß der Verfasser 
gerade über die allgemeinen Fragen nur andeutend sich äußert; sein Begriff der seelischen 
Gesundheit als des Gleichgewichts zwischen Aufbau und Abbau und der Dissoziation als der 
Grundform psychischer Erkrankung können meines Erachtens nur in ausführlicher Darstellung 
verständlich werden; in der vorliegenden Fassung erinnern sie an Freuds Mechanik des Un¬ 
bewußten in der frühesten Gestalt. 

Auf das Material und die Verarbeitung desselben Schritt für Schritt einzugehen, muß ich mir 
aus Raummangel versagen. Der Verfasser stellt zunächst das Stottern, diese Sprachhemmung 
in einen größeren Zusammenhang hinein, in die Fälle derj Bewegungshemmung überhaupt; 
d as Sprachstottern steht neben dem Schreib-, Geh-, Klavierstottem, die Wortangst (als häufiges 
Teilkennzeichen des Sprachstotterns) neben der Buchstaben-, Platz-, Brückenangst. Durch diese 
Einreihung erscheint das Stottern als Spezialfall der Hemmung im Ablauf solcher Bewegungen, 
die sonst bis zur automatischen Geläufigkeit eingeübt sind und auch automatisch abzulaufen 
pflegen. 

Zur Erklärung geht der Verfasser (meines Erachtens richtig) von solchen Einzelbeispielen der 
Hemmung, speziell der Sprachhemmung aus, die wir noch vollkommen durchschauen, hierin im 
Gefolge von Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“; das Gewohnheitsstottern, die fixierte 
Sprachhemmung, wird nun, unter Abweisung der nächsten Erklärung des Stotterers: er wisse 
nicht, wie er zu seinem Übel komme — analytisch exploriert und auf einen analogen, aber 
unbewußt-organischen Konflikt zurückgeführt, wie er den leicht durchschau baren Fällen vereinzelten 
Stotterns zugrunde liegt. Der Kern der neuen Theorie, die der Verfasser mit aller wissenschaft¬ 
lichen Vorsicht zunächst nur für sein eigenes Beobachtungsmaterial formuliert, ist folgender: 
Ursache des Stotterns ist ist ein Kampf des Willens zum Sprechen und des Willens zum Schweigen; 
der Stotterer hat Anlaß zu sprechen, will auch sprechen; er hat aber ebenso Anlaß zu schweigen, 
letzteres im Verborgenen. Der Kampf wird manifest im Spasmus von Muskelantrieb und Muskel¬ 
hemmung, dieser wird so zum leiblichen Symbol der seelischen Lage. Der Konflikt der beiden 
Willen (er ist in einem Beispiel sehr schön veranschaulicht) wird verständlich aus dem Bestand 
des Unbewußten. Verdrängt sind Lebensansprücbe des Individuums, die einmal aktiv waren 
(nach Schneider in erster Linie das Luststreben der Körperfunktionen: Essen, Ausscheiden, Sprechen, 
in zweiter Linie Wunschspiele mit Gegenständen und Gedanken, die aus den Beziehungen zu 
den Eltern bezw. deren Ersatzpersonen hervorgegangen, sind), deren Auswirkung aber gehemmt 
wurde (nach Schneider in erster Linie durch Erziehungsmaßnahmen: Verbot, Drohung, Strafe 
oder durch Entwicklungsfehler, vor allem das Verharren auf der jeweils „infantileren“ Stufe). 
Das Stottern ist ein Krankheitssymptom, wenn es als Ersatzleistung die Rolle der in¬ 
fantilen Körperfunktionen und ihrer Konflikte zwischen Ausdruck und Zurück¬ 
halt en übernimmt. Es entsteht mit den verursachenden Verdrängungen vor dem 6. Lebensjahr; 
tritt es später auf, so liegt doch die Vorbedingung in Verdrängungserlebnissen jener frühen Kindheit. 

Es ist sehr schwer, ohne andere Kenntnis der Fälle des Verfassers, als sie seine Darstellung 
ergibt, die entwickelten Gedankengänge zu kritisieren. Ich kann nur (ebenfalls auf anschau¬ 
liches Material gestützt) grundsätzliche Fragen aufwerfen; der Verfasser möge in diesen Er¬ 
örterungen einen Ausdruck des Dankes erblicken für die Anregungen, die ich seiner Schrift 
schulde. Die erste methodische Frage ist für mich immer: ist es berechtigt, alle Fälle von 
Stottern, in weiterem Zusammenhang von Bewegungshemmung zusammenzufassen und nach 
einer wesentlichen Erklärungshypothese, einem gleichen Mechanismus zu suchen? Die zweite 
Frage ist eben deshalb: die phänomenologische Analyse der Einzelfälle selbst; die psycho¬ 
logische Deskritition der Hemmungen. 

Der Konflikt der beiden Willen zum Sprechen und Schweigen ist sicherlich ein wesentliches Merk¬ 
mal einer Gruppe von Stotteranfällen, die ich mir angewöhnt habe als „diplomatisches Stottern“ 
zu bezeichnen. Ob der Diplomat im Menschen, der ihn zum Stottern veranlaßt, bewußt oder 
unbewußt arbeitet, bedingt m. E. keine grundsätzliche Verschiedenheit; daß das „diplomatische 
Stottern“ gegenüber Respektspersonen leicht Platz greift, versteht sich ebenfalls von selbst. 
Denken wir an rein gelegentliches Stottern von Menschen, die keine .Stotterer“ sind, so finden 
wir in zahlreichen Fällen etwa folgendes Bild: der Sprechende weiß sich beobachtet, er ist sich 
der entscheidenden Verantwortlichkeit für alles das, was er sagt, bewußt, er hat infolgedessen 
die Tendenz, das Wort zu wägen, „im Munde umzudrehen“, ehe er es ausspricht. Sonst fließend 
und gewandt, besinnungslos und automatisch, wird seine Sprechweise in solchen Augenblicken 
hesitierend; schon im Begriff, einen Ausdruck zu gebrauchen, beobachtet er eine unerwünschte 
Reaktion seines Partners, die ihn veranlaßt, nach einem anderen, konzilianteren Ausdruck zu 
suchen; stellt sich dieser nicht gleich ein, so entsteht eine Besinnungspause, stellt er sich erst 


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ein, wenn die zunächst gewählte Phrase schon halb ausgesprochen ist, wird ein einschränkender 
oder zurücknehmender Zusatz gesucht, es entstehen Anakoluthe und Kontaminationen, der sonst 
automatische Ablauf des Gesprächs gewinnt den Charakter der größten Bewußtheit und zögernder 
Vorsicht, damit der Mitunterredner durch die Pausen und Hemmungen ungeduldig gemacht, 
unwillkürlich verrate, wie und was er gesprochen haben möchte. Das Stottern als „gackernde 
Rede“ wird ein Kunstgriff, sich Besinnung und Selbstkontrolle zu sichern, den Rückzug offen 
zu halten, die Unsicherheit, „wie der andere es aufnehmen wird 4 , zu vermeiden. Man kann 
beobachten, daß selbst abgebrühte Gewohnheitsredner (etwa im politischen Leben) absichtlich 
stottern, wenn sie im Hinblick auf eine erwartete Diskussion nach einer Formulierung suchen, 
die so wenig Angriffspunkte als möglich bietet. Von einer Angst, namentlich einer lokali¬ 
sierten Wortangst, kann keine Rede sein; der ganze Ablauf ist überhaupt weniger affektiv 
bestimmt als intellektuell, es ist die Einstellung des vorsichtigen Menschen, der sich seine Ver¬ 
handlung nicht durch eine sprachliche Übereilung zu gefährden wünscht. Ich hoffe, daß ich 
mit diesen Andeutungen unmißverständlich jedermann bekannte Fälle von einmaligem Stottern 
eines sonst normal und gewandt sprechenden Menschen kenntlich gemacht habe. Es ist eine 
Frage für sich, welche Umstände und Charaktereigenschaften eine Tendenz zum diplomatischen 
Stottern bedingen und schließlich den (diplomatischen) „Stotterer“ als Typ züchten. Ich möchte 
meinen, daß das „diplomatische Stottern“ als Ausdruck eines Konflikts doch nur eine Gruppe 
von Fällen kennzeichnet Ebenso bekannt ist das (einmalige oder gelegentliche) Stottern in 
jähem Schreck, der uns „die Rede verschlägt“, in übermannender Freude, die uns nur stammeln 
und lallen läßt, kurz, im heftigen Affekt. Auch hier ist wieder zu fragen, ob und wann es 
unter Umständen zur dauernden Fixierung kommt. Die Psychologie des „Stotterns 41 d. h. die 
Aufhellung der einzelnen Stotterleistungen und die Psychologie des „Stotterers“, d. h. einer 
Charakterstruktur, bei der u. a. das häufige und regelmäßige Stottern kennzeichnend ist, scheinen 
mir — jedenfalls methodisch — zunächst zu trennende Überlegungen zu erfordern. Die Kinder¬ 
forschung kennt endlich das „Stottern der Unbeholfenheit“ als eine temporäre Erscheinung in 
der Zeit des Sprechenlernens auch bei den Kindern, die weder Stotterer sind noch Stotterer 
werden. Mit diesem Stottern vor dem Sprechenkönnen ist etwa zu vergleichen das Stottern 
des erschöpften, übermüdeten Menschen, der für kurze Zeit „nicht mehr“ die Herrschaft über 
seine Muskulatur besitzt. 

Ein methodiscü sicheres Arbeiten für eine Stottertheorie hätte m. E. in erster Linie die 
Aufgabe jl. die beim Menschen mit normaler Sprachfähigkeit vereinzelt vorkommenden, als 
Stottern anzusprechenden Insuffizienzen seines Sprachlebens genau zu zergliedern und von¬ 
einander abzuheben, das diplomatische Stottern, das Stottern im Schreck, in der Freude, in der 
Erschöpfung, in der Phase der Einübung einer Sprache, beim Kind der Muttersprache, beim 
älteren Menschen einer Fremdsprache, die er gerade erlernt Gegenstand des Studiums wäre 
hier wirklich das Stottern, seine Phänomenologie und Ätiologie, nicht der „Stotterer“. Ich 
vermisse eine Erfassung dieses Problems als solchen; nicht als ob es an jeder Beobachtung 
dieser Art fehlte; aber der Spracharzt und der Psychoanalytiker haben diese Fehlleistungen 
des normalen und gesunden Menschen zunächst weniger beachtet, ihr Material ist von anderer 
Struktur, rührt von anderen Persönlichkeiten her. Und doch glaube ich, daß die Zergliederung 
der vereinzelten Stotterphänomene im Zusammenhang eines sonst normalen Sprachlebens die 
erste Aufgabe ist, die wissenschaftlich geschafft werden muß. Ich glaube, daß es von ihrer 
Lösung abhängt, ob man das Stottern überhaupt als eine Einheit betrachten und eine einheit¬ 
liche Theorie dafür suchen darf. Es ist mir umgekehrt eher wahrscheinlich (aus der durchaus 
historischen Natur des einzelnen Seelenlebens), daß eine in ihrer unmittelbar beobachtbaren 
Außenseite so gleiche Tatsachengruppe wie die des Stotterns in jedem Fall und Phänomen 
noch eine ganz verschiedene Vorgeschichte und Vorursache haben kann; es ist mir demgemäß 
auch zweifelhaft, ob es für das Stottern als chronischer Fehlleistung (davon sogleich) eine Er¬ 
klärung und demgemäß eine Universaltherapie gibt. Stottern und Stottern scheint mir nicht 
bloß zweierlei, sondern vielerlei zu sein, von allen Formen einer naturbedingten, unwillkürlichen 
Fehlleistung aus Affekt, Berechnung, Schwäche, Erschöpfung, bis zu denen eines künstlichen 
absichtlichen Stotterns, bei denen der Mensch gar kein Stotterer ist, aber im Schein dieses 
Defektes und dem Bewußtsein, ihn nicht zu haben, sich erfolgreicher für seine Zwecke tätig weiß als 
ohne ihn. 2. Erst in zweiter Linie stände dann die Frage, welcher Art das Stottern ist, das wir an 
einzelnen Menschen während einer längeren Zeit ihres Lebens beobachten, wie es entsteht, 
welchen Sinn es im biopsychologischen Zusammenhang hat, das Stottern, von dem einer geheilt 
sein will (im Gegensatz zu dem, das keine Heilung braucht, weil es nur singuläre Fehlleistung 
ist und zu dem, von dem sich einer gar nicht heilen zu lassen getrieben fühlt, weil er — ob- 
schon er gewohnheitsmäßig stottert — gar kein Stotterer ist). Auch hier bin ich der Meinung 


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Zur Theorie des Stotterns 


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daß eine Typologie der Stotterer, eine Obersicht über die doch nicht wohl von vornherein als 
gleich oder verwandt vorauszusetzende Verschiedenheit der Fälle gewonnen werden müßte, ehe ihre 
einheitliche Erklärung und auf diese Theorie aufgebaute einheitliche Heilbehandlung gerechtfertigt 
werden kann. Man mißverstehe nicht: in der Praxis können wir nicht warten mit Heil versuchen, 
bis wir eine solche stichhaltige Erkenntnis haben (sonst wären wir in Medizin und Pädagogik bald 
auf dem Sand), die Praktik arbeitet notwendig mit Hilfsannahmen und trägt so (durch ihre 
Erfolge und Mißerfolge) zur Erweiterung und Vertiefung unserer Erkenntnis bei Aber man 
kann auch mit einer falschen oder wenigstens unzulänglichen Theorie gute Erfolge erzielen, 
wie die Geschichte der Medizin beweist, und man muß die Arbeit auch dort versuchen, wo 
uns alle verfügbaren theoretischen Erkenntnisse im Stich lassen. Deshalb sind die Erfahrungen 
der Praxis, in unserem Falle der psychoanalytischen, höchst beachtenswert, und ich halte es 
für ein Unrecht, wenn wissenschaftliche Richtungen, in unserem Falle der Psychologie, meinen, 
die Tatsachen ignorieren zu dürfen, [die eine Forschung aufdeckt, deren Methode und theore¬ 
tische Grundbegriffe nicht genehm sind. Ob es schließlich eine einheitliche Theorie des Stotterns, 
d. h. aller seiner Phänomene im Zusammenhang einer sonst normalen Sprachentwicklung und 
aller Typen von Stotterern gibt, das würde sich erst prüfen lassen, wenn 3. der „Stotterer“ 
und seine Typen sich als Fixierung an sieb, nicht als krank zu bewertender Stottererscheinungen 
nachweisen lassen. An diesem Punkt, in der Aufhellung von Strukturzügen der Gewohnheits¬ 
stotterer, in der Analyse der Persönlichkeit, soweit sie das Stottern als Ausdrucksform akzeptiert, 
hat m. E. die Psychoanalyse ihre Hauptverdien6te, auch wenn sie mit den Schematen des Per¬ 
sönlichkeitsaufbaues, die sie bisher erarbeitet hat, eines Tages selbst nicht mehr ausreichen 
sollte und sich mit Gedankengängen der älteren historischen Psychologie und ihren Richtungen, 
die sie heute im Drang nach Selbstbehauptung ablehnt, wieder stärker berühren sollte. 

Da ich dem Verfasser recht gebe in seiner Einreihung des Stotterns in das Gebiet der 
Hemmungstatsachen, möge er mir erlauben,- zum Schlüsse dieser Auseinandersetzung gerade 
auf diesen für seine Grundlegung der Psychologie offenbar wichtigen Begriff der Lebenshemmung 
noch mit einigen Gedanken einzugehen. Ich kann an diesem Beispiel die Lage der zeitgenössischen 
Seelenforschung aufhellen und vielleicht dazu beitragen, daß die Kluft zwischen den verschiedenen 
Forschungsrichtungen nach und nach einer freundlichen Berührung und Arbeitsgemeinschaft 
Platz mache. Denn die Erkenntnis der Wahrheit ist doch ihr gemeinsames Ziel, nicht doktri¬ 
näre Rechthaberei. Wenn ich auch hier zunächst von meinem Gesichtspunkte ausgehe, so 
möchte ich zeigen, daß die verschiedenen Hemmungsbegriffe, mit denen in der heutigen Psy¬ 
chologie und Pathologie gearbeitet wird, darauf zurtickgehen, daß 1. bestimmte Fälle im 
seelischen Leben, für die sich ungezwungen der Name Hemmung schon im vorwissenschaftlichen 
Denken empfiehlt, als die Prototypen der Urphänomene verallgemeinert worden sind, ehe man eine 
vollständige Deskription aller besaß und daß 2. bestimmte Bewertungen mit unterliefen, die bei 
theoretischen Überlegungen Jederzeit, wie Husserl sagen würde, eingeklammert bleiben müssen. 
Wir müssen unterscheiden zwischen Zuständen, die „als Hemmungen erlebt sind“ (einerlei ob 
mit positiven oder negativen Wertzeichen wie etwa bei Hemmungszuständen der Depression, des 
Kleinheitsgefühls oder bei Hemmungen eines Willensentscheides durch ein moralisches Gegen¬ 
motiv) und Zuständen, die objektiv, vom wissenschaftlichen Betrachter als Hemmungen an¬ 
gesprochen werden, als ein Gehemmtsein des Seelenablaufs, ganz einerlei ob der Erlebende 
sich gehemmt „fühlt“, gehemmt „weiß“ oder nicht. Es leuchtet ein, daß schon die Be¬ 
hauptung, eine Hemmung liege vor, im zweiten Fall Theorie voraussetzt, so wenn z. B. aus der 
Reaktionszeit, weil sie „ungewöhnlich lang“ ist, auf eine Hemmung geschlossen wird, die Vor¬ 
stellung von einer normalen Reaktionszeit zugrunde liegt. Die Berechtigung zu einer solchen 
Annahme will ich nicht bestreiten, aber sie ist Jedenfalls eine theoretische Annahme, auch wenn 
sie als normal nur die Durchschnittszeit vieler Reaktionen verschiedener oder auch des gleichen 
Individuums festsetzt. Die erlebten Hemmungen variieren wieder, je nachdem im phänomeno¬ 
logischen Bestand eine aktive Komponente („ich“ hemme) oder eine passive (etwas hemmt, ich 
bin oder werde gehemmt) deutlich überwiegt oder ausschlaggebend bestimmt, während in anderen 
Fällen (z. B. bei Gleichzeitigkeit mehrerer Reize oder Handlungsantriebe), das Ich sozusagen aus¬ 
geschaltet ist) Endlich wird die ganze Verwendung der Hemmungsbegriffe in der heutigen 
Psychologie mit Einschluß der Psychoanalyse belastet durch eine Schwankung zwischen kausaler 
und finaler Fassung derselben: Hemmungen als Ursachen bestimmter Erscheinungen, Hemmungen 
als Mittel zu bestimmten Zwecken des Lebens. 

Man kann am Stotterproblem zeigen, daß diese Unsicherheiten der Psychologie der Hemmung 
auch hier verwirrend und verwickelnd wirken; so ist etwa die Spasmentheorie einem kausalen, 
die Adlersche und Schneidersdie Theorie einem finalen Hemmungsbegriff adäquat, wobei die 
beiden letzteren natürlich auch noch im Zweck selbst, der durch das Stottern angestrebt wird, 


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Aloys Fischer, Zur Theorie des Stotterns 


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differieren. Lebendige Wissenschaft ist immer Ansicht der Dinge und Deutung von bestimmten 
Standorten und Gesichtspunkten aus; so muß es grundsätzlich möglich sein, jede Richtung zur 
Selbsterkenntnis, d. h. eben zur Erkenntnis ihres Standpunktes und damit ihrer Fragen zu 
bringen und „die Wissenschaft 44 , d. h. die allseitige Betrachtung durch eine Diskussion des 
relativ Berechtigten der Standpunkte einen Schritt vorwärts zu bringen. Als einen kleinen Bei¬ 
trag zu diesem Ziel der Verständigung zwischen den Richtungen sind meine Andeutungen ge¬ 
meint; sie stellen Aufgaben der Forschung dar, die jede Richtung (zunächt ohne Preisgabe 
ihrer Grundgedanken) lösen kann und muß, und deren Lösung dann erst ausweist, wie viel 
von diesen Grundgedanken haltbar ist. 


Kleine Beitrage und Mitteilungen. 


Neurologisch-psychiatrische Befunde an Fürsorgezöglingen teilt Oberarzt 
Dr. Schwartz in der Psych. neurol. Wochenschrift (1923, S. 96ff.) mit Er 
hat in den Jahren 1920—1922 Erhebungen an sämtlichen Fürsorgezöglingen 
der Provinz Sachsen, soweit sie in Erziehungsanstalten untergebracht waren, 
angestellt und dabei u. a. die folgende Statistik erhalten: 


Normal ..22,0% 

Normal mit psychopathischen Zügen. 15,9% 

Normal beschränkt.21,9% 

Pathologisch beschränkt.9,3 % 

Debilität . ..4,9% 

Imbezillität.4,2 % 


Psychopathie.21,3 % 

Epilepsie.0,2 °/o 

Syphilitische Erkrankung des Zentral¬ 
nervensystems .0,1 % 

Hysterie. 0,1 % 

Jugendirresein. 0,1 °/o 


Nachrichten. 1. An der Universität Leipzig ist der außerordentliche Prof. Dr. phil. et medL 
Hermann Schneider in der Nachfolge Paul Barths zum planmäßigen Professor für Philosophie 
und Pädagogik ernannt worden. Prof. Schneider studierte Medizin, im besonderen Psychiatrie, 
ferner Geschichte und Philosophie und schrieb: „Ehtwicklungsgeschichte der Menschheit 41 , „Re¬ 
ligion und Philosophie* 4 , „Metaphysik als exakte Wissenschaft 14 und „Philosophie der Geschichte 4 *. 

2. An der Universität Jena wurden Studienrat Dr. Peter Petersen in Hamburg, Studien- 
rat Dr. Mathilde Vaerting in Berlin zu ordentlichen Professoren für Erziehungswissenschaft 
ernannt; Landesoberschulrat Dr. Strecker in Eisenach, Landesoberschulrat Anna Siemsen in Jena, 
vorher in Berlin, und Oberstudienrat Otto Scheibner, bisher in Leipzig, erhielten unter Ernennung 
zu Honorarprofessoren die Vorlesungsberechtigung für Erziehungswissenschaft. 

3. An der Universität Leipzig ist Dr. phil. Otto Klemm zum planmäßigen außerordentlichen 
Professor der angewandten Psychologie ernannt worden. 

4. Prof. Dr. Hans Cornelius, Ordinarius für Psychologie und Philosophie an der Uni¬ 
versität Frankfurt, ist 60 Jahre alt geworden. 

5. Prof, der Philosophie Dr. Max Frischeisen-Köhler in Halle ist im Alter von 45 Jahren 
einer schweren Krankheit erlegen. 

6. Der Wiener Philosoph und Theoretiker der Pädagogik, Prof. Dr. Wilhelm Jerusalem, 
ist in Wien im Alter von 69 Jahren gestorben. 

7. Als neue Mitglieder in die Erziehungswissenschaftliche Hauptstelle des 
Deutschen Lehrervereins sind gewählt worden: Bezirksoberlehrer Fikenscher (München), Re¬ 
gierungs- und Schulrat Günther (Berlin), Prof. Scheibner (Jena), Schulinspektor Lang (Wien) 
und Landesoberschulrat Prof. Dr. Strecker (Eisenach). 

8. Am 15. Oktober begann der 6. vom Fürsorgeseminar an der Universität Frankfurt a. M. 
veranstaltete Lehrgang über Jugendfürsorge. Er ist, wie die früheren, zur Einführung in die 
Jugend Wohlfahrtspflege für Akademiker mit abgeschlossenem Studium bestimmt und setzt ein 
mit V-Jühnger praktischer Arbeit in Erziehungsanstalten und Jugend- bzw. Wohlfahrtsämtern. 
Im Sommersemester wird dann das theoretische Halbjahr an der Universität, das die Gelegenheit 
zu tieferem Eindringen in die Probleme der Jugendfürsorge gibt, folgen. Den Kursus leiten: 
Prof. Dr. Klumker und Dr. Polligkeit. Auskunft erteilt die Geschäftsstelle: Fürsorgeseminar. 
Universität Frankfurt a. M., Stiftstr. 30. 

9. Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge des Zentralinstituts für Erziehung 
und Unterricht ist am 9. Juli d. J. als Abteilung „Kleinkinflfer- und Schulkinderpflege* ic 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen — Literaturbericht 


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das neugegründete „Deutsche Archiv für Jugendwohlfahrt“, Berlin NW 40, Moltkestr. 7, 
übergegangen. — Auskunftserteilung und Leihmappen-Versandt werden in der bisherigen Weise 
fortgeführt. Das Verzeichnis der Leihmappen ist vorläufig auf den Betrag einer Ferhbriefmarke 
nebst Porto für die Zusendung, die Leihgebühr einer Mappe auf den Betrag von 2 Fernbrief¬ 
marken für eine Woche festgesetzt. 

10. Die Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien hat im Rahmen 
ihres Wirkungskreises eine eigene Stelle geschaffen, die einen Mittelpunkt für alle auf die Berufs¬ 
beratung gerichteten Bestrebungen in Österreich bilden soll. Als Aufgaben sind vor allem ge¬ 
dacht: Sichtung, Bearbeitung und Verwertung des literarischen Materials, Werbung und Auf¬ 
klärung durch Vorträge und Kurse, Ausführung berufskundlicher Untersuchungen und Pflege 
einer für die Berufsberatung verwendbaren Berufsstatistik. 

11. Dem Institut für Erziehungsunterricht und Jugendkunde an der Universität Leipzig wurde 
als RI. Abteilung ein Volkspädagogisches Seminar unter der Leitung des Prof. Dr. Litt an¬ 
gegliedert und dem Leiter des städtischen Volksbildungsamtes Privatdozenten Dr. Heller die 
Abteilungsleitung übertragen. 


Literaturbericht. 

Besprechungen. 

B. Erwin Grueber, Einführung in die Rechtswissenschaft. Mit Einschluß der Grund¬ 
züge des Bürgerlichen Rechts. 6. Auflage Berlin 1922. Julius Springer. 226 S. 

Wenn ich als Nichtjurist in einer dem Bildungsgedanken dienenden Zeitschrift auf die 
jüngste Auflage der Grueberschen Einführung in die Rechtswissenschaft aufmerksam mache, so 
geschieht es nicht, um den sachlichen Inhalt einer Besprechung zu unterziehen. Dazu bin ich 
nicht kompetent Doch da$f ich als Beweis für seine Gediegenheit die weite Verbreitung des 
Buches anführen, seine Einbürgerung als Lehrmittel im akademischen Unterricht und die An¬ 
erkennung, die es durch Juristen von Fach gefunden hat. Es sind die methodischen 
Gedanken, aus denen diese Einführung Gesicht und Gestalt gewonnen hat, die mich zu einer 
Empfehlung veranlassen, und im Zusammenhang damit die Bedürfnisse weiter, nicht-zünftiger 
Kreise — besonders auch der Lehrerschaft —, die Rechtsbelehrung suchen und in der Masse 
des einschlägigen Schrifttums nicht leicht das für ihre Absichten dienlichste Werk zu finden 
vermögen. 

Aus der Praxis des Unterrichts erwachsen, bewährt namentlich in der schwierigen Aufgabe 
der Wiedereinführung von Kriegsteilnehmern in das unterbrochene juristische Studium, beruht 
Grueber8 Behandlung auf dem Prinzip der Selbsttätigkeit, der aktiven Mitarbeit seiner Leser 
an der Gewinnung grundbegrifflicher Klarheit und der steten Kontrolle des erlangten Verständ¬ 
nisses durch die Anwendung auf zahlreiche ein geflochtene Beispiele und Rechtsfälle, besonders 
aus dem Gebiete des Wirtschaftslebens. 

Die Einleitung bietet einen knappen Überblick über die geschichtliche Gestaltung des in 
Deutschland geltenden Rechtes. Der Leser lernt die einzelnen Quellen kennen, aus denen in 
ursprünglich getrennten Rinnsalen (das aus der Grundherrlichkeit erwachsene Lehenrecht, für 
die Unfreien das Hof- und Dienstrecht, für das Bürgertum der beginnenden Städtekultur das 
Weichbildrecht, die darüber schwebenden, selbst untereinander mannigfaltig gegensätzlichen 
Stammes- und Territorialrechte) die nationale Rechtsschöpfung floß, bis im Gefolge der Rezeption 
der fremden Rechte, die als Studiengegenstand der mittelalterlichen Universitäten im engeren 
Kreise immer Pflege gefunden hatten, in der Zeit von der Mitte des 15. zur Mitte des 16. Jahr¬ 
hunderts eine Theorie des gemeinen deutschen Rechtes sich entwickelte. Die für unser Rechts¬ 
bewußtsein und unsere Rechtspflege gleich bedeutsame Tatsache der Verdrängung der Schöffen 
durch einen gelehrten juristischen Beamtenstand wird dabei nach Grundlagen und Konsequenzen 
herausgearbeitet und für die Rechtsentwicklung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als 
der leitende Faden verfolgt. In der Darstellung der Kodifikationsbestrebungen seit Thribauts 
Forderung eines „allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für Deutschland“ erreicht die historische 
Einleitung ihren wirkungsvollen Abschluß. Das wesentliche Ergebnis bleibt die Einsicht, in 
welchem Maß im geltenden bürgerlichen Recht trotz des römisch rechtlichen Ursprungs vieler 
seiner begrifflichen Fassungen und der von gelehrter Reflexion bestimmten Gestalt seines Auf¬ 
baues germanische Rechtsanschauungen und neuzeitliche Lebensverhältnisse sich auswirken. Es 
ist klar, daß in einer historischen Einleitung das dogmatische Element in der Darstellung über¬ 
wiegen muß; dem, der zum erstenmal an die Geschäfte des Rechts herantritt, fehlen die Hilfs- 


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Literaturbericht 


mittel zur eigenen Mitarbeit; er muß zunächst die Tatsachen kennenlernen und zur Nachprüfung 
derselben bieten die Verweise auf Qaellenwerke und umfassende kritische Darstellungen die 
nötigen Fingerzeige. 

Die Sachlage ändert sich, sobald die Grundbegriffe des Rechts zur Erörterung stehen. 
Das eigene, mehr oder minder entwickelte Rechtsbewußtsein des Lesers wird hier der gegebene 
Anknüpfungspunkt; die Analyse des eigenen Rechtsbewußtseins wird der Weg, auf dem er 
zum Verständnis des Rechtes im ganzen und der einzelnen Rechtsbestimmung gelangt. In 
diesem Teil tritt die didaktische Eigenart der Grueberschen Einführung rein zutage. Was er 
als gelehrter Kenner der Materie dogmatisch zu lehren hat, ist immer nur das Schlußergebnis 
einer selbsttätigen Gedankenbewegung seines Lesers; er führt ihn, von den einfachsten Beispielen 
und Erwägungen aus in eine Richtung der Überlegung, die mit innerer Folgerichtigkeit zu dem 
Begriff führt, den der dogmatische Rechtsunterricht an den Anfang zu stellen pflegt. So belehrt 
die von Grueber gewählte Form der Darstellung den Leser, indem sie ihn selbst finden, wie 
wir heute sagen: „erarbeiten* läßt, was sonst ein Lehrvortrag als Abschluß einer Geistesarbeit 
des Gelehrten fertig bietet. Diese Darstellungsweise bewährt sich nicht nur für die allgemeinen 
Grundbegriffe (Recht überhaupt, positives Recht, Billigkeit über das Verhältnis von Recht, Sitte, 
Moral, Rechtsverhältnisse usw.), sondern auch für die aus der Gliederung des Rechts folgenden 
Rechtsgebiete: Privatrecht, Staatsrecht, Zivilprozeßrecht, Straf- und Strafprozeßrecht, Völkerrecht, 
Kirchenrecht. Das Maß der Mitarbeit ist hier nicht kleiner, aber freilich weniger ungeregelt. 
Zudem der Verfasser durch Verweis auf die entscheidenden Formulierungen der einschlägigen 
Gesetzessammlungen den Leser anleitet, diese selbst in kritischer Zusammenschau auf den darin 
enthaltenen Rechtsgedanken zurückzuführen, nimmt er seiner eigenen Ausführung den Charakter 
einer persönlichen Dogmatik, regt zu ergänzenden Fragen und kontrollierenden Anwendungen auf 
neue Fälle an und erreicht so, was alle Bildung, welchen Stoff sie auch benütze, erreichen 
soll: Regsamkeit und Schulung, der Denkkräfte und durch sie hindurch ein inneres Verhältnis 
zur behandelten Materie. Das Ergebnis einer so gestalteten Einführung in die Rechtswissen¬ 
schaft ist nicht eine mehr oder minder große und geordnete Summe von rechtlichen Kennt¬ 
nissen und Normen, sondern ein Verständnis des Rechts selbst und einer Anleitung zu juristischer 
Durchdringung der Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens. 

Das Schlußkapitel ist speziell für die Bedürfnisse des Studierenden der Rechtswissenschaft 
gedacht; es bietet Winke für Auswahl und Anordnung der Vorlesungen und Übungen und 
Ratschläge für den Geist des Studiums und der darin enthaltenen Vorbereitung auf den künftigen 
Lebenslauf. Sie zeugen von warmer Sorge für die studierende Jugend. 

Ich komme nach dieser kurzen Andeutung des Inhalts und der Methode der Behandlung 
zu dem Gesichtspunkt, von dem aus ich die Kreise derErzieher für das Werk interessieren 
möchte. Jm Kampf gegen den Intellektualismus und Individualismus, der den Geist der öffent¬ 
lichen Schulerziehung im Lauf des 19. Jahrhunderts beherrscht hat, ist seit einigen Jahrzehnten 
der Pestalozzische sozialpädagogische Gedanke erneut und freilich auch umgebildet worden. 
Die seit mehr als 100 Jahren immer beherrschender hervorgetretene Form des Gemeinschafts¬ 
lebens, der Staat, ist für die Schularbeit mindestens an Jugendlichen auch eine pädagogische 
Idee geworden, manchmal verflacht in die Vorschläge und Versuche staatsbürgerlichen Unter¬ 
richts, manchmal ethisch vertieft in die einer als Vorbereitung auf das staatsbürgerliche Leben 
gedachten Umgestaltung der ganzen Schulverfassung und Schuldisziplin im Sinne einer sich 
selbst regierenden Jugend- und Schulgemeinde. Auch wenn man eine staatsbürgerliche Erziehung 
nicht in neuen Lehrinhalten auf gehen läßt, wird man zugeben müssen, daß unter den Lebens¬ 
verhältnissen der neuen Zeit (und zwar nicht erst des Volksstaates) ein klarer Blick für die 
Grundlagen und Aufgaben eines geordneten Gemeinschaftslebens eine dringende Forderung ist. 
Die Verwirrung der Meinungen über Staat und Gesellschaft und die Verwilderung der Sitten 
im Verkehr und Zusammenleben beruhen zu einem Teil doch auch auf dem Mangel kritischen 
Nachdenkens und selbsterarbeiteter Begriffe. Die Unwissenheit und Halbbildung ist ein hinderndes 
Moment für die geistig sittliche Gesundung. Nun fehlt es nicht an Vorschlägen, Versuchen 
und Hilfsmitteln für die staatsbürgerliche Belehrung der Jugend in Fortbildungsschule und 
höherer Lehranstalt und für die Selbstbildung der Schulentlassenen. Man versucht, bald mehr 
auf dem Weg eines veränderten, auf das Gegenwartsleben zugespitzten Geschichtsunterrichts, bald 
mehr in einer als Bürgerkunde bezeichneten Sammeldisziplin in das Verständnis des heutigen 
Lebens von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einzuführen und zur richtigen Stellungnahme zu 
den schwebenden Fragen anzuleiten, aber merkwürdigerweise wird kaum je der Versuch gemacht, 
die Hebung des bedenklich gesunkenen Sinnes für Recht durch Klärung und Vertiefung des 
doch wohl auch heute noch nicht verlorenen Rechtsbewußtseins des Menschen zum Leitfaden 
für den Aufbau der staatsbürgerlichen Belehrung zu machen. Nicht daß nicht rechtliche Fragen 


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auch schon behandelt worden wären und behandelt wurden im staatsbürgerlichen Jugendunter¬ 
richt wie in den zahlreichen Veranstaltungen der freien Volksbildungsarbeit; aber es geschieht 
fast durchweg, im Sinne einer utilitaristischen Verbreitung der für die Praxis im Einzelfall 
nötigen positiven Kenntnisse, nicht im Geist einer grundsätzlichen Besinnung auf das hohe 
Gut des Rechts und der Erziehung zur Mitverantwortlichkeit jedes Einzelnen für den Rechts¬ 
zustand einer Gesellschaft. Diese Gesinnung und Einstellung, meine ich, kann der Leser 
aus Gruebers Ausführungen gewinnen, kann der Lehrer und Volksbildner für die Zielsetzung 
und den Aufbau seiner staatsbürgerlichen Unterweisungen daraus abziehen. Welche Einzelheit 
des öffentlichen Lebens er auch zu behandeln hat, sie tragt Rechtsform und Rechtsgehalt in 
sich, und ob er sie zustimmend oder kritisch zu beleuchten hat, er wird nur durch den Rück¬ 
gang auf das unbefangene Urteil des eigenen Rechtsbewußtseins seiner Schüler und Zuhörer das 
aktive Interesse für seinen Stoff zu wecken verstehen, ohne daß seine Aufklärungen tote Kennt¬ 
nisse bleiben. Aus der Praxis der Volksbildungsarbeit heraus weiß ich, wi4 selten die Persön¬ 
lichkeiten sind, die so an der Wiederbefestigung des Rechtsbewußtseins arbeiten; weiß aber 
auch, daß ihre Wirkung eine tiefe und nachhaltige ist. Nach meiner Überzeugung ist die Rechts¬ 
belehrung die Seele der staatsbürgerlichen Kenntnisse. Je schwerer es ist, die Masse des recht 
heterogenen Stoff, der sonst in ihr zusammengefaßt zu werden pflegt, der Seele einzuhauchen, 
um so mehr verdienen Schriften, die dazu Fingerzeige bieten, die Beachtung von Jugend- und 
Volksbildnern auf diesem Gebiet Als ein Muster einführender Belehrung über das Recht und 
auf die Selbsttätigkeit begründeter Übung im Rechtsdenken sei deshalb Gruebers Einführung 
in die Rechtswissenschaft auch Kreisen empfohlen, an die der Verfasser vielleicht nicht aus¬ 
drücklich gedacht hat, denen er aber durch seine Leistung ausgezeichnete, so viel ich sehe, 
von keinem verwandten Werke ähnlichen Umfangs auch nur versuchte Dienste leistet 

München. Aloys Fischer. 

Samuel Smiles, Der Charakter. Deutsch von Dr. Heinrich Schmidt in Jena. Leipzig o. J. 
Kröner. 211 S. 

Martin Faßbender, Wollen eine königliche Kunst Gedanken über Ziel und Methode 
der Willensbildung und Selbsterziehung. 16.—20. verb. Aufl. Freiburg i. Br. o. J. Herder, 

252 S. Grundpr. geb. 4,10 M. 

Zwei Schriften, die zur Selbsterziehung die Wege weisen wollen, eine ältere und eine 
jüngere, eine englische und eine deutsche. Jede ein Spiegel ihrer Zeit und ihres Volkes und 
der Persönlichkeit ihres Verfassers. 

Der Arzt Smiles, als bald Neunzigjähriger 1904 gestorben, gab die „Leeds Times* 1 her¬ 
aus und war Sekretär verschiedener Eisenbahngesellschaften. Seine rege Schriftstellerei be¬ 
mächtigte sich durchweg praktisch-ethischer Stoffe. „Selbsthilfe“, „Pflicht“, „Sparsamkeit“ sind 
Namen von Büchern in der Art des hier anzuzeigenden, von Büchern, die in aller Welt eine 
erstaunliche Verbreitung gefunden haben. Sie packen durch eine herzhafte Art, frisch ins volle 
Menschenleben zu greifen. Was sie an praktischer Lebensweisheit und Klugheit lehren, zeigen 
sie ohne langes Theoretisieren und aufdringliches Moralisieren an lebensvollen Beispielen, greifen 
tausend und eine Anekdote auf und belegen die vertretenen Anschauungen mit ungezählten 
Aussprüchen berühmter und unberühmter Männer aus allen Zeiten und Ländern. Es sind die 
Eigenschaften des Ehrenwerten und Zuverlässigen, des Pflichtgefühls und der Wahrhaftigkeit 
der Selbstbeherrschung und des Mutes, der Arbeitssamkeit und der Lebensart, die besonders in 
dem Buch „Charakter“ anschaulich dargestellt und gefordert werden. Alles im engen Horizonte 
gut bürgerlicher, auf festen Boden stehender Lebensgestaltung. Ohne Tiefe, ohne Beschwinguifg, 
ohne höhere Geistigkeit. Die utilitarisch gerichtete Lebenstüchtigkeit des erfolgssicheren Eng- 
ländertums findet darin ihren getreuesten Ausdruck. Wie die innere Stimmung, von der Smiles 
Charakterlehre begründet und getragen wird, deutschem Wesen fremd ist, beleuchtet unter 
anderem grell das Kapitel über „Kameradschaft in der Ehe“, in dem zum Schlüsse am Beispiel 
Fichtes und Herders und des Prosadichters Cobbetts der englisch-deutsche Gegensatz aufgezeigt 
und dabei ausdrücklich hervorgehoben wird, wie die deutsche Art, den Weg zur Ehe zu nehmen 
und ein „ästhetisches und sentimentales“ Leben in ihr zu gestalten, dem Engländer „seltsam 
berühre“. So undeutsch nun aber in den letzten Wertbegründungen und dem philosophischen 
Sinngehalt eine Charakterstruktur von Smiles Ideal auch sein mag, ohne Schaden für deutsche 
Innerlichkeit sollte unsere Pädagogik manches von englischer Willens- und Lebenserziehung 
lernen. Man sieht darum Smiles Buch „Charakter“ gern auch in „Kröners Taschenausgaben“. 
Es ist hier im Unterschiede zu anderen Übersetzungen, die wir schon in unserer Jugend lasen, 
um viele der endlosen Beispielaufreihungen gekürzt und dem Leser annehmbarer gemacht 


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Von dem deutschen Professor und Geh. Regierungsrat Dr, Faßbender wird ein schönes 
Sammelwerk bevölkerungspolitischer und volkspädagogischer Abhandlungen Ober die Erhaltung 
und Förderung deutscher Volkskraft hoch eingeschätzt. Angekündigt ist von ihm „Auf Fran¬ 
ziskusspuren“, mit der Unterbezeichnung „Organisation des Laienapostolates für den Hilfsdienst 
in der Seelsorge“. Schon diese Titel lassen ahnen, daß sein Erziehungsbuch „Wollen eine 
königliche Kunst“ in anderen geistigen Landschaften beheimatet ist als die nüchternen Lebens¬ 
praktiken Samuel Smiles. Vor allem erwächst es aus wissenschaftlicher Psychologie und stützt 
sich dabei unter anderem auf die Forschungen Lindworskis. Was über die Erscheinungsweisen des 
Wollens, über Formen der Willensschwäche, über Wille und Gedächtnis, Denken, Gemüt heran¬ 
gezogen wird, erhebt sich bei allem bewußten Verzicht auf fachgelehrte Darstellung weit über 
die vulgärpsychologischen Begründungen, die vielfach pädagogische Schriften ähnlicher Art erfahren. 
Nur weniges ist zu beanstanden: so z. B. die Behauptung, es habe die experimentelle Psychologie 
der Gegenwart nachgewiesen, daß Wechsel in den Gegenständen der Arbeit dasselbe leiste wie 
völliges (!) Ausruhen (S. 25). Weiter dann wurzelt die Lehre Faßbenders nicht in der Enge einer 
praktisch gerichteten Lebensführung, sondern quillt aus den geistigen Bezirken höchster Wert¬ 
haltungen. Dabei wird die Willensbildung im christlichen Geiste freilich so beherrschend, 
daß sich die pädagogische Schrift schließlich zu einem ausgesprochenen Religionsbuch 
wandelt, das „die Seele von der einfachen Erfassung des Gottesgedankens bis zum mystischen Erleben 
des Unendlichen begleitet“. Sind es nun aber auch streng katholische Glaubenslehren, in denen 
Faßbender sich bewegt, so bleibt alles, was er Jenseits religiöser Einstellung über die Pädagogik 
des sittlichen Wollens entwickelt — oft auf Friedrich Förster bezogen — auch Andersgläubigen 
wertvoll. Zudem noch: Faßbender schließt den Sinn und Wert von manchem, was aus katho¬ 
lischer Lehre und Lebensgestaltung oft von außen her in falschem Lichte gesehen wird, in vor¬ 
nehmer Sachlichkeit und schöner Klarheit auf (Heiligenverehrung, christliche Aszese, Beichte, 
Ignatianische Exerzitien u. &.), und so mag mancher gleich mir dem Buche den Erkenntnisge- 
winn einer Berichtigung danken. Überdies lohnt die Schrift dann noch mit dem literarischen 
Genuß einer erlesenen Darstellung, die Rademacher mit allem Rechte als klassisch bezeichnen 
durfte. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Kurt Walther Dix, Lehrer in Meißen, Körperliche und geistige Entwicklung eines 
Kindes. An der Hand eines biographischen Tagebuches. Leipzig, Wunderlich. 

Heft 1: Die Instinktbewegungen. 1911. 79 S. Grundpr. geb. 3,60 M. 

Heft 2: Die Sinne. 1912. 176 S. Grundpr. geb. 4,60 M. 

Heft 3: Vorstellen und Handeln. 1914. 148 S. Grundpr. 4,60 M. 

Heft 4: Das Gemütsleben. 1923. 181 S. Grundpr. 4,60 M. 

An kinderpsychologischen Tagebuchaufzeichnungen und deren Verarbeitungen ist der 
Forschung nach wie vor außerordentlich gelegen. Ohne ein zuverlässiges breites Material, das 
sich vor allem auch auf Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten erstrecken muß, steht die 
Aufstellung von den Gesetzmäßigkeiten, die die kindliche Entwicklung beherrschen, auf un¬ 
sicherem Boden. Als ein wissenschaftlich nicht belangloser Beitrag dürfen dazu auch die 
fleißigen und ausdauernden Bemühungen von Dix bewertet werden. 

Die ersten drei Hefte sind hier früher 6chon angezeigt worden. Der Abschlußband nun be¬ 
handelt das Gebiet, das am schwierigsten der Beobachtung und Deutung zugänglich ist Uns 
scheint aber, gerade in ihm hat der Sammler und Verarbeiter eine glückliche Hand gehabt 

Offenbar ist er über seinem Werke gewachsen. Es mag hier, wenn wir uns nicht täuschen, 

der Einfluß Bühlers, dem auch der Band gewidmet ist, spürbar geworden sein. Im ganzen 

bekommt dann noch das Buch eine starke Stütze durch Sterns Werk „Psychologie der frühen 

Kindheit* 1 , auf das unausgesetzt verwiesen wird. 

Dix setzt mit einigen allgemeinen Erörterungen zur Psychologie des kindlichen Gefühls- 
und Willenslebens ein. Angelehnt an Stern, wird hier besonders auch die bedeutsame Rolle 
der Suggestion hervorgehoben. Es folgt dann die Betrachtung der Lust- und Unlustgefühle. 
Weiterhin wird die verschieden gerichtete wertende Stellungnahme des kindlichen Ichs zur 
Einteilung genommen: das Sichstellen zu den Dingen (ästhetisches Verhalten — Furchtzustände), 
zur eigenen Person (Eigenwille, Trotz, Ärger — Ehrgefühl, Scham, Ehrgeiz, Pose), zur persön¬ 
lichen Umwelt (Liebe, Abneigung, Mitfühlen, altruistisches Handeln). Den Schluß bildet ein 
paralleles Seitenstück zu Sterns Kapitel „Entwicklung der Spontaneität* 1 . 

Bei der Durchführung dieses Aufbaus gibt Dix den selbständigen Abschnitten zumeist ein 
gleichförmiges Gerüst. Auf psychologische Vorerörterungen folgen Tagebuchaulzeichnungen and 
hierauf pädagogische Nutzanwendungen, diese teilweise nicht unbeachtlich. 


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Der Wert der Schrift ist weniger in neuen Ergebnissen zu finden als in der Hinstellung 
weiteren willkommenen Materiales und der Bestätigung schon bekannter Einsichten. Dix selbst 
weist bei seinen Deutungen, die er mit erforderlicher Vorsicht vornimmt, auf die Übereinstimmung 
hin, deren er sich bei seinen Auffassungen mit den kinderpsychologischen Forschern erfreut. 
Es sind dies außer Stern, der unaufhörlich zitiert wird, unter anderen Bühler, Groos, Scupin, 
Compayrö, Sully, Lindner, Sigismund, Strümpell, Preyer. Wir erinnern uns nach der Durchsicht 
des Buches kaum an eine wesentliche Gegenstellung zu den herrschenden Auffassungen, außer dort, 
wo er sich — unserer Meinung nach nicht ganz mit Recht — gegen Hugh-Hellmuths "Behauptung 
verwahrt (S. 118), daß nur aus falscher Scham die kinderpsychologischen Beobachter keine 
Befunde über frühsexuelle Erscheinungen vorlegten. Im übrigen aber durfte Dix nicht, wie er 
es tut, an den Psychanalytikern vorübergehen. Die Kinderpsychologie hat durch deren fiinstellungen, 
soviel Übertreibungen und Mißdeutungen durch sie auch verschuldet worden sind, sehr Bedeutungs¬ 
volles gewonnen. In der eben erschienenen neuen Auflage seiner „Psychologie der frühen 
Kindheit“ bemüht sich Stern, auch dieser Richtung vollauf gerecht zu werden. Willkommen 
aber wird denen, die als Lehrer der Erziehungskunde an Mädchenbildungsanstalten zu Dix* 
Buch greifen, eine wertvolle Förderung sein, was als Pädagogisches in die psychogischen Abschnitte 
hineingearbeitet worden ist. Freilich geht es hier ohne die Selbstverständlichkeiten, die in 
pädagogischen Schriften im Schwange sind, nicht ab. Mit Gemeinplätzen wie dem, daß der 
Lehrer auch vorbildlicher Erzieher sein müsse (wozu auch besonders „eine erfreuliche Über¬ 
einstimmung mit den Ausführungen von M. Schilling“ festgestellt wird [S. 18]), dürfte Dix, der 
wissenschaftlich ernst genommen sein will und es verdient, nicht aufwarten. 

Wir haben die früher erschienenen Hefte gern und mit Nutzen in unserem psychologischen 
Unterricht des Lehrerinnenseminares und der Hochschule für Frauen benutzt und begrüßen auch 
den neuen Band als ein erwünschtes literarisches Arbeitsmittel für die Hand unserer Schülerinnen. 
Auch Eltern werden wir nach wie vor die Arbeiten des Meißner Lehrers empfehlen. 

Menschlich berührt habe ich in persönlicher Anteilnahme das vierte Heft zu seinen Vor¬ 
gängern in das Bücherfach gestellt. Denn es ist von Tragik umwittert. Dem Leben des jungen 
Menschenkindes, dessen innere Entwicklung wir im Geiste mitgelebt haben, bat der Tod ein 
frühes Ende gesetzt. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

David Katz, Der Vibrationssinn. Scripta universitatis atque bibliothecae Hierosolymitanarum. 

Hierosolyms 1923. Kommissionsverlag Kramer, Hamburg. 14 S. 

In seinem Werke „Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die 
individuelle Erfahrung“ (Leipzig 1911) hat David Katz bedeutsame Aufschlüsse vorgelegt, zu 
denen er durch die Anwendung der phänomenologischen Methode gelangt ist. In methodischer 
Anlehnung an diese Forschungen ist er nun seit Jahren um eine Phänomenologie der tastbaren 
Welt bemüht. Aus diesen neuen Untersuchungen, die vor dem Abschluß stehen, hat er unter 
dem Titel „Die Erscheinungsweisen der Tasteindrücke“ (Rostock 1920) *) einige erste Ergebnisse 
veröffentlicht. In der vorliegenden Abhandlung teilt er eine weitere wichtige Entdeckung mit 
Die Experimente zur Aufschließung der Tastphänomene haben ergeben, daß beim Tasten mit 
bewegten Organen neben den Druckempfindungen fast immer Vibrationsempfindungen einhergehen 
und die Tastleistungen mitbestimmen. Damit ist die Notwendigkeit gegeben, ein neues Sinnes¬ 
gebiet anzunehmen — den Vibrationssinn, in dessen Bereich zu fallen hätte, was die Physio¬ 
logen schon früher als Vibrationsgefühle bezeichnet und in wenigen Richtungen unzulänglich 
untersucht haben. In gedrängter Übersicht gibt Katz die Reihe der wichtigsten Experimente 
an, die zu der Annahme einer solchen Duplizität des Tastsinns zwingen und sie rechtfertigen. 
Im Ausgang der Untersuchung stand die an Personen mit gewisser Sinnesempfindlichkeit 
gestellte Versuchsaufgabe, Papierflächen verschiedener Rauhigkeit im bewegten Tasten mit 
Ausschaltung des Gesichts und Gehörs zu unterscheiden — Leistungen, deren Vollzug in der 
mannigfachen Abwandlung der Versuchsanordnung und -einrichtung (zum Tasten durch Zwischen¬ 
medien, mittels des Fingernagels, mit Holzstäbchen) keinesfalls auf den Drucksinn zurückgeführt 
werden können. Andere Versuche haben ermöglicht, die Vibrationsempfindungen völlig von den 
Druckempfindungen zu isolieren (Stimmgabelversuche) und Unterschiede in ihren Funktionen 
herauszustellen (Ermüdung, Nachbilder, Latenzzeit usw.). Es ergeben sich dabei überraschende 
Beziehungen zu dem Gehörssinn, die zu weit ausgreifenden Betrachtungen: (unter anderen zu 
tierpsychologischen Deutungen, zu entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen und erkenntnis - 
theoretischen Erörterungen) anregen. Allgemeiner wichtig erscheint, wie mit der Annahme 


*) Vgl. die Anzeige in dieser Zeitschrift XXI. Jahrg. (1920) S. 238. 


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Literaturbericht 


eines Vibrationssinnes sehr vieles ans der täglichen Sinneserfahrang neu beleuchtet und ver¬ 
ständlicher wird. „Hat man einmal angefangen, auf Phänomene dieser Art zu achten, dann 
entdeckt man, daß unsere Welt nicht nur eine tönende, sondern in weitem Umfange auch eine 
vibrierende Welt ist.“ Die heftige Fehde um den sechsten Sinn der Blinden (vgl. die scharfe 
Auseinandersetzung zwischen Meumann und Kontz), ferner manches Dunkele aus der Psychologie 
der Taubstummen, viele Unerklärlichkeiten tierischer Leistungen können durch die Untersuchungen 
von Katz wohl behoben werden. Auch die Arbeitspädagogik, die dringend einer Psychologie 
der Hand bedarf, wird ihnen Förderung zu danken haben, nicht minder die Psychotechnik. Frei¬ 
lich ist das Gelände eben erst betreten und noch nicht in voller Ausgiebigkeit erschlossen 
worden. Die physiologische, die tierpsychologische, die entwicklungsgeschichtlicbe Forschung 
wird sich neben der phänomenologischen Untersuchung daran beteiligen müssen. Vor allem 
ist auch aus klinischen Beobachtungen Entscheidendes zu erwarten. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


Kurze Anzeigen. 

Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 9.—10. Auflage. Wien und Leipzig. Brau¬ 
müller. 370 S. 

Die neue Auflage wurde um Abschnitte über Phänomenologie und Philosophie des Als ob 
erweitert. Auch zur soziologischen Erkenntnislehre kam etliches hinzu. Die Brauchbarkeit des 
Buches beweisen die neuen Auflagen. Fritz Qiese. 

v. Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens. München und Leipzig 1921. Duncker 
& Humblot. 578 S. 

Als Arbeitsergebnis des Kölner Instituts für Sozialwissenschaften behandelt dieser Sammel¬ 
band in einem theoretischen Teile Begriff und Probleme der Volksbildung sowie Grcmdzüge 
einer Geschichtsphilosophie der Volksbildung. Ein zweiter deskriptiver Teil bietet zunächst eine 
Übersicht über die bestehenden Volksbildungseinrichtungen und die Träger der deutschen Volks¬ 
hochschulen. Ein spezieller Teil bringt einzelne Fragen, so beispielsweise: Organisation, Päda¬ 
gogik und Didaktik des Volksbildungswesens, Beziehung zwischen Geselligkeit und Volksbildung, 
Kirche und Volksbildung, Politik, Arbeiterschaft, Jugendfrage, Ländliches Bildungsweaen, Fräs 
— und dergleichen Materie. Es werden die Arbeitsmittel der Volkshochschule und auch die aus¬ 
ländische Organisation behandelt Der Herausgeber beschließt mit einem synthetischen Abschnitt 
das Buch. Wie immer bei solchen Werken, an denen viele Federn tätig waren, findet man 
auch hier Ungleichheiten. Das Ganze aber ist von imponierendem Umfang und stellt in seinem 
Thema eine berechtigte Neuigkeit deutscher Forschung dar. Fritz Giese. 


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Dr. Hermine Hugo Hellmut, Die Bedeutung der Familie für das Schicksal des 
Einzelnen. Zeitschr. f. Sexualw. IX. 1923. 321 S. 

Verfasser erörtert den engen Zusammenhang von Charakter und Schicksal des Einzelnen 
mit dem Familienkreis, in dem er groß wird. Die Vater- und Mutterbindung des Mädchens 
oder des Knaben bestimmt als „Tempo“ des andersgeschlechtlicben Elter sein späteres Sexual¬ 
leben, oft auch, besonders bei einzigen Kindern, verhängnisvoll. Dem Charakter ungeliebter 
Kinder — Findlinge, Frühverwaiste, uneheliche oder Stiefkinder — fehlt häufig der Ruhepunkt 


infolge einer frühen „katastrophalen Lebensenttäuschung“. Das Verhältnis zu den Geschwistern 
kann sich später in infantilen Charakterzügen, die aus dem Gefühl des Zurückgesetztwerdens 
entstanden sind, auswirken. Auch die Beziehungen können zu Großeltern und Tanten tief in * 
die seelische Entwicklung eingreifen. Heinz BurkhardL 

I 

Gerhard Bohne, Das religiöse Erleben in der Pubertät. Zeitschr.f.Sexualw.X. 1923. 9SJ 
Im Kinde besteht eine religiöse Anlage, die es zu echtem Leben befähigt, wenn auch seineJ 
Ausdrucksformen noch rein kindlich sind. Gleichzeitig mit dem sexuellen Erwachen entfaltet 
sich später diese Anlage zu ihrem vollen geistigen Leben, doch besteht zwischen beiden Gebieten 
kein urpersönlicher Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit wurzelt vielleicht in einem ähnlichen 
Entwicklungsrhythmus von Körper und Geist. Gegenseitige Berührung und Durchdringung istj 
natürlich da. Heinz BurkhardL j 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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X)emut unb ®hrfunht, bie mehr berufen flnb, in bie ©eit» unb 3Renf<hengchetmntffe j 
mit ®rf#lg elnaubctngen, all unrttfe Selbftüberf<hü|ung, d er Men bete (BinfettigFetl unb | 
bornierter (BelehrtenbttnFel. gamel, ber hoch §u ben umfaffenbften unb ttefften 
(Belehrten unb kentern gehört, hält mit ber ©ähnelt über bie oielgerühmten 
»Scgebntffe*, wie auch über bie ^rauifelungllofe 1 Ärbelt ber soiffenfchaftlichen gor» 
f$ung nicht iurütf.“ ftfgchtfch* Stühlen* 

Cebrbud) ber ?>fpchoIogie bom Stanbpunfte beb (Rea fiSmu b 
unb nach genctif<ber SWetf)obe. ©on ^ßrofeffor Dr. W. VOLKMANN RITTER 
VON VOLKMAR. 4. oermeljrte äuflage, fyerautgegeben non ^rofeffor 
Dr. <5, ©, gornetiui. 2 ©finbe, 1091 ©eiten «*«•«■••>»<»• 

„©ai bem V.fchen Bebrbucb unbebingt bauernben ©ert oerleibt, tfl btef, ba| 0. bte 
gange Giteiatur ber Vfpchologie beberrfebt unb in feinem SehrbuC| eine toOftflnbige 
•efebtebie ber pfgtbologifcben gragen unb 8ehren gibt, für toelcbe nicht Mob bie Schriften 
ber alttlafftfcben unb ber beutfehen tPbllofopbtn, fonbem auch bie ber Snglünber, gran» 
lefen unb Italiener oermertet flnb/ flibagogifchei ftn|to 

©te ©runblehren ber 9>ft)chologie unb ifjre Änwenbtmg 

auf bie Se^re ber grfenntnil. fetyr üerme^rte ^Bearbeitung ber *gte« 

mente ber ®<>n Dr* L. BALLAUF. 366 ©eiten •••••• 

B t>« in »eiten Greifen beFannte Serfaffer oerbreitet fleh tn Flarer, fcharfflnniger ©elf« 
übet ,bie Seelenoermögen, befonberf bai SBorfteHungloermögen, bie Verarbeitung ber 
SorfteRungen burch bal Venfen, bai Setbftbeioubtfetn, bai ©efen ber Seele unb bai 
©erhiltnti berfeiben |um ßeibe 4 . Selbft ber in btefer ©iffenfd&aft Bcmanbcrtc mitb 
in ben ,<Brunblehren* oielt tntmffante Vnftchten beg. Suffchlüffe über bie ttefften 
Bebenifragen flnben/ Engetger für bie neuefte pftbagogtfehc fikter«tut. 

©te #auptpunfte ber 9>ft)d)öfogie mit ©erfi<ffi$rigiuig 

ber ^ffbagogit einiger SerljÄttniffc beb gefeBf$aftfi$en Sebent ©on 
Dr. FELSCH. 486 ©eiten.. 

.SHei in allem: Dai oorliegenbe ©crl beietcbnet einen SRarfftctn in 
ber pibagogifchen fiiteratur ber Segenmart. Ü ift wie lein anberei ba|u 
gefchaffen, ben fleh ernftllch um feine pfgcboCogifcht unb päbagogifche gortbitbung be¬ 
mühenden Bchrer ali fixerer unb guoerlAfftger gührer §u bienen." 

Schulblatt ber $*O0‘ Sachfen. 

5DfC ^DCC(Cnftß$C mit (R<l<ffi$t auf bie neueren SBanbtungen ge« 
nriffer natunDifienf$aftli$er ©«griffe, ©on O.FLOOEL. 3. oerme^rte Auflage. 
165 ©eiten 

*gn ftreng fgftematifcber Orbnung bietet bie Erbrit, im Enfötub an 8eibnt|fChe unb 
9o|efch< gbeen, eine gÜQe treffenber Bemerlungen unb ein leuchtenbet Seflchtijmnftt. 
Sie ift fehr geetgnet, bem ali gOhrer §u btenen, ber fleh «tf bem fihmierigen Sreng» 
gebiete gmtföcn ftfgchologte unb SReta?h9fU orientieren will.“ 

Zheologlfche fiiter«tur|eitnng. 


VERLAG VON QUELLE&MEYER IN LEIPZIG 



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