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OF ILLINOIS
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ZEITSCHRIFT
SOZIALE MEDIZIN
MEDIZINALSTATISTIK, ARBEITERVERSICHERUNG, >
SOZIALE HYGIENE UND DIE GRENZFRAGEN DER
MEDIZIN UND VOLKSWIRTSCHAFT.
HERAUSGEGEBEN VON
A. GROTJAHN UND v F. KRIEGEL
Dr. med. Dr. phil.
ZWEITER BAND.
LEIPZIG.
VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
1907.
Inhaltsverzeichnis des zweiten Bandes.
Erstes Heft.
Seite
Umschau . 1
Gottstein, Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele ... 3
Prinzing, Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen
Berufen . 37
Kaff, Der Ausbau der Abeiterversicherung in Österreich . 51
Sozialmedizinische Kasuistik . 61
Konkurrenz zwischen Berufsgenossenschaft und Krankenkasse. — Ge¬
wöhnung an Verlust von Gliedmaßen. — Ärztliche Gutachtertätigkeit hei
den Berufsgenossenschaften. — Erhält ein arbeitswilliger Arbeiter , der
während eines Streikes von Ausständigen auf dem Wege zur Arbeit mi߬
handelt wird, Unfallrente? — Beurteilung der Erwerbsbeschränkung nach
Kopfverletzung. — Die Verschlimmerung bösartiger Geschwülste als Unfall¬
folge (Ref. Ernst Joseph).
Medizinalstatistische Daten . 64
1. Die Abnahme der Totgeburten. — 2. Die Sterblichkeit an Lungen¬
schwindsucht in Schweden 1751 — 1830. — 3. Hohe Morbidität einzelner Ge¬
werbe. — 4. Zunahme der Tuberkulose mit der Höhenlage der Wohnung. —
5. Der Flecktyphus in Galizien im Jahre 1902 (Ref. F. Prinzing).
Aus der Gesellschaft für] Soziale Medizin , Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin . 68
Zeitschriftenübersieht . 93
2420o‘
IV
Inhaltsverzeichnis.
Zweites Heft.
Seite
Umschau . 97
Gottstein, Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele (Schluß) 100
Eisenstadt, Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung . 136
Nesemann, Das preußische Gesetz, betreffend die Bekämpfung übertragbarer
Krankheiten vom 28. August 1905 (Nachtrag) . 155
Kaff, Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich (Fortsetzung) . . 168
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin . 180
Zeitschriftenübersicht . 189
Drittes Heft.
Umschau . 193
Grotjahn, Die Lungenheilstättenbewegun g im Lichte der Sozialen Hygiene 196
Kaff, Der Aushau der Arbeiterversicherung in Österreich (Schluß) .... 234
Stimmen aus den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft . . 261
L. Brentano über Wehrfähigkeitsstatistik. — v. Bethmann-Holl-
weg über Sexuelle Hygiene. — K. Bittmann über Mangel an sozial¬
politischem Verständnis hei Ärzten.
Medizinalstatistische Daten . 269
1. Die Häufigkeit der Phosphornekrose in den böhmischen Zündholz¬
fabriken. — 2. Befreiung der Schüler vom Turnen in Budapest. — 3. Tuber¬
kulose und Wohlhabenheit. — 4. Die Pellagra im österreichischen Küsten¬
lande. — 5. Häufigkeit einiger epidemischer Krankheiten in englischen
Großstädten (Ref. F. Prinzing). — 6. Zur Statistik der Wehrfähigkeit
(Ref. F. Kriegei).
Bücheranzeigen . 277
Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik (A. Grotjahn). —
Schwanck, Die Reform des Heilverfahrens (Th. Rumpf).
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin . 279
Inhaltsverzeichnis.
Y
Viertes Heft.
Seite
Umschau . 289
Schmidt, Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen . . . 293
Grotjahn, Der Einfluß der sozialen Versicherungsgesetzgebung auf die Ent¬
wicklung des Krankenhauswesens . 333
Medizinalstatistische Daten . 365
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin . 367 >
Druckschrifteneinlauf . 372
Namenverzeichnis . 376
v
Umschau.
Berlin, den 1. Dezember 1906.
Die Soziale Medizin und die Soziale Hygiene sind
lebhaft daran interessiert, daß das ärztliche Element nicht nur
durch die gewiß recht wichtige, aber doch nur sekundäre Gut¬
achtertätigkeit die staatlichen und städtischen Behörden beeinflußt,
sondern diese Behörden auch mit eigenen Standesgenossen durch¬
setzt und so unmittelbar an Legislative und Verwaltung sich be¬
teiligt, Die letzten Monate brachten beachtungswerte Fortschritte
nach dieser Richtung hin. In Köln ist P. Krautwig zum städti¬
schen Beigeordneten und in Charlottenburg A. Gottstein zum
Stadtrat erwählt worden. Auch die Ernennung von P. Pollitz,
den bisherigen Arzt der Irrenanstalt der Strafabteilung in Münster,
zum Direktor* der königlichen Strafanstalt zu Düsseldorf muß in
diesem Zusammenhänge freudig begrüßt werden. Hoffentlich werden
nun die Arzte auch mehr als bisher in die deutschen Volksver¬
tretungen gelangen. In dieser Beziehung ist uns Frankreich er¬
heblich voraus. Sitzen doch im französischen Parlamente mehr als
60 Ärzte und war doch der jetzige Ministerpräsident Clemenceau
Arzt, ehe er seine erfolgreiche Laufbahn als Journalist und Parla¬
mentarier begann. Diese medizinische Provenienz bekundete jetzt
Clemenceau dadurch, daß er bei der Bildung seines Kabinetts
ein Ministerium für Arbeit und Hygiene unter Leitung von Vi viani
ins Leben rief, dem er bezeichnenderweise die Vorbereitung für
die geplante Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung übertrug.
Den Betrachtungen in der Umschau des vorigen Heftes über
die Ausbeute, die die Soziale Medizin und die Soziale
Hygien e aus den zahlreichen Kongressen dieses Jahres davon¬
getragen haben, mögen noch einige Bemerkungen zugefügt werden.
Die internationale diplomatische Arbeiterschutzkonferenz, die vom
17. — 26. Sept. in Bern tagte, hat das wichtige Ergebnis gezeitigt,
Zeitschrift für Soziale Medizin. IT. I
2
Umschau.
daß sieben Staaten, nämlich Deutschland, Frankreich, Italien, Däne¬
mark, Luxemburg, Holland und die Schweiz die Konvention be¬
treffend das Verbot des weißen (gelben) Phosphors in der Zünd¬
holzindustrie unterzeichnet haben und daß außer diesen sieben
Staaten auch England, Österreich - Ungarn , Belgien, Portugal,
Spanien und Schweden auch der Konvention betreffend das Verbot
der industriellen Nachtarbeit der Frauen beigetreten sind. Die
internationale Vereinigung für internationalen Arbeiterschutz, die
vom 27.-29. September ihre 4. Generalversammlung in Genf
abhielt, beschäftigte sich unter anderem mit den gewerblichen
Giften; das ärztliche Element war auf dieser Tagung numerisch
leider sehr schwach, glücklicherweise aber sehr sachverständig
durch Sommerfeld (Berlin) und T e 1 e k y (Wien) vertreten. Vom
21. — 25. September fand die 5. Jahresversammlung des Vereins für
Volkshygiene in Metz statt. Diese Veranstaltung, die in früheren
Jahren eine bedenkliche Neigung zur Bagatellhygiene verriet, er¬
hob sich dieses Mal in dem Vortrage von Mathe s (Metz) über die
„Wohnungsnot“ zu einer beachtenswerten sozialpolitischen Höhe.
Dagegen zeigte die 31. Versammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege, die am 12. September in Augsburg
ihre Sitzungen begann, noch stärker die greisenhaften Züge, die
diese ehemals so bedeutsame Veranstaltung in den letzten Jahren
leider angenommen hat. Vom 1.— 4. Oktober tagte in Berlin ein
Kongreß für Kinderforschung, an dem Ärzte und Lehrer sich zu
gemeinsamer Arbeit zusammenfanden. Unter den zahlreichen Vor¬
trägen verdienen wohl die Mitteilungen des Berliner Schularztes
Bernhard über den unzureichenden Schlaf der Berliner Gemeinde¬
schüler die größte Beachtung.
Die Medizinalstatistik, die jahrzehntelang unter den
medizinischen Disziplinen eine Aschenbrödelstellung eingenommen
hat, dokumentiert ihre von Jahr zu Jahr steigende Bedeutung
augenblicklich durch das Erscheinen eines Handbuches der medi¬
zinischen Statistik 2) von F. P r i n z i n g , das noch an anderer Stelle
dieser Zeitschrift eine eingehende Besprechung finden wird. Die
Soziale Medizin und die Soziale Hygiene haben natürlich das größte
Interesse daran, daß der Sinn für Zahlen- und Massenbeobachtung
unter den Ärzten geweckt wird und begrüßen deshalb das Erscheinen
dieses Buches mit besonderer Freude. A. Grotjahn.
9 Jena. G. Fischer. 553 S.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben
nnd Ziele.
Von Dr. med. Adolf Gottstein, Charlottenburg.
Einleitung.
Die „Soziale Hygiene“ ist, wie die geschichtliche Be¬
trachtung lehrt,1) die geradlinige Fortsetzung jener ersten Periode
der Gesundheitswissenschaft, deren Anfänge bis zum Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts zurückreichen und die etwa bis zu dessen
Mitte gerechnet werden kann. Die Kontinuität der Entwicklung
wurde dann für mehrere Jahrzehnte dadurch unterbrochen, daß die
zwei noch heute maßgebenden Richtungen der Hygiene, die physio¬
logische und die mikroparasitäre Schule, entstanden. Ebenso die
Wichtigkeit der Probleme wie die Schöpferkraft der Persönlich¬
keiten, welche der Forschung die neuen Bahnen wiesen, be¬
wirkten die Abweichung von dem ursprünglich eingeschlagenen Wege.
Gegenwärtig verlangen wieder eine Reihe von Umständen eine ein¬
gehendere Beschäftigung mit den Grenzgebieten zwischen Gesund¬
heitslehre und Nationalökonomie, vor allem aber ein genaueres
Studium des Einflusses, welchen gesellschaftliche Vorgänge auf
die Gesundheit der gesamten Bevölkerung und ihrer einzelnen
Gruppen ausüben. Die Bewegung für die Erweiterung unserer
Aufgaben in dieser Richtung befindet sich erst in ihrem Beginn;
ihre Anhänger finden sich unter dem Schlagwort der „Sozialen
Hygiene“ und der „Sozialen Medizin“ zusammen. Die Energie
dieser Bewegung ist aber eine so große, daß sie schon frühzeitig
beachtenswerten Widerständen begegnet.
*) A. Gott st ein, Geschichte der Hygiene des XIX. Jahrhunderts. Berlin
1901, F. Schneider.
1*
4
Adolf Gottstein,
So benutzte der Berliner Hygieniker Max Hübner in seiner
„Bede, gehalten zur Eröffnung des neuen hygienischen Instituts zu
Berlin“,1) den sich ihm bietenden Anlaß, um in ausführlichen Worten
seine Stellung als Forscher, Lehrer und Anstaltsleiter zur „Sozialen
Hygiene“ zu begründen. Er lehnt die „moderne Propaganda“
für die Soziale Hygiene und deren Ziel, die Schaffung einer neuen
Disziplin, trotz voller Würdigung des sozialen Momentes in der
Gesundheitslehre ab; denn die heute geltende Zweiteilung der
offiziellen hygienischen Wissenschaft in öffentliche und private Ge¬
sundheitspflege sei erschöpfend genug, um berechtigte neue Forde¬
rungen mit zu umfassen; durch die verschiedenen Neugestaltungen
der menschlichen Gesellschaft werde allerdings die Aufstellung
neuer Probleme beeinflußt; aber deren Lösung fiele durchaus in
das Bereich der Methodik, welcher die experimentelle Hygiene sich
schon längst bediene; die Soziale Hygiene sei daher „nichts von
der hygienischen Wissenschaft Abtrennbares“.
Neben dieser positiven Aussage bringt dann Bub n er noch
drei kritische Einwände gegen die moderne Propaganda für eine
selbständige Soziale Hygiene. Erstens führt er Klage über den
Mißbrauch des Schlagwortes „sozial“; was heute als Inhalt einer
neuen sozialen Disziplin vorgebracht werde, sei weiter nichts
als ein Versuch, das längst vorhandene Material unter diesem Titel
anders zu gruppieren; er vermißt zweitens eine klare Definition
der neuen Aufgaben; alle Yerwaschenheit und Unklarheit aber
pflege mit einem Mißerfolg zu enden. Drittens bestreitet Bubner
das Becht, überhaupt von einer neuen noch nie dagewesenen
Disziplin zu reden, denn schon das erste Handbuch der Hygiene
von Pettenkofer und Ziemssen aus dem Jahre 1882 habe den
Stoff in individuelle, soziale Hygiene und Infektionskrankheiten
eingeteilt. Die an sich erwünschte Anlehnung der Hygiene an die
Nationalökonomie sei ebenfalls keine neue Forderung; denn schon
Pettenkofer habe, wie vor ihm z. B. Lorenz von Stein, die
Verwandtschaft stets betont; humanitäre Gesinnung sei überdies
von jeher eine Triebfeder der Hygiene gewesen; eine vorsichtige
Bespektierung der Wissensgrenzen von Hygiene und National¬
ökonomie sei schließlich ebenso wie die Vermeidung von Exkursionen
in das andere befreundete Gebiet notwendig.
Bubner’s Bichtspruch gegen die Vorkämpfer einer neuen
Disziplin lautet also: Keine neuen Probleme, keine selbständigen
l) Berliner klinische Wochenschrift 1905, Nr. 19 n. 20.
Pie Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 5
Methoden, kein Grund, wegen Überlastung oder mangelnden Interesses
der vorhandenen Lehrinstitute neue Arbeitsstätten zu suchen.
Gegen diese Ausführungen läßt sich eine Reihe von Gegen¬
gründen geltend machen. Zunächst ein persönlicher. Das Forschungs¬
gebiet eines Mannes wie Rubner ist ein ganz ungewöhnlich großes;
die Aufzählung seiner Leistungen und die Hervorhebung aller
seiner Verdienste, so aufrichtig sie auch gemeint ist, im Rahmen
einer rein sachlichen Diskussion, würde zu leicht mißdeutet werden
können, um nicht besser zu unterbleiben. Rubner hat es ver¬
mocht, seinen experimentellen Entdeckungen zahlreiche gleich¬
wertige Arbeiten aus dem Gebiete der Sozialen Hygiene anzureihen,
wie seine Mitteilungen über „Luftfeuchtigkeit in AVohnräumen“
seine „Betrachtungen über Krankenhaushygiene“, vor allem aber
seine Rede über „Prophylaxe der Wohn- und Arbeitsräume und
des Verkehrs“ auf dem Internationalen Tuberkulosekongreß 1899
beweisen. Er hat ferner in der Einleitung zu seinem „Lehrbuch
der Hygiene“ höchst wichtige und gedankenreiche methodologische
Fragen zum Begriff der Gesundheit angeregt und deren Behand¬
lung angedeutet, Fragen, deren Bearbeitung durchaus in das Gebiet
der Sozialen Hygiene fällt. Rubner ist schließlich im Begriff, für
seine Person die Zusage zu lösen, die er in der vorliegenden Rede
gab, nämlich eine Reihe hygienischer Fragen mit sozialer Sonder-'
färbung der experimentellen Behandlung zugänglich zu machen.
Aber Rubner’s Vielseitigkeit, die ihn befähigt, der biologischen
und Sozialen Hygiene gleichmäßig gerecht zu werden, ist nur
wenigen Forschern gegeben. AVer wie der ATerfasser dieses Auf¬
satzes ein Anhänger von Ferdinand Hueppe ist, der darf mit
besonderer Befriedigung hervorheben, daß dessen Auffassung in
zahlreichen Einzelarbeiten und in seinem Lehrbuch der Hygiene
stets seinem Satze entspricht: „Die Hygiene wird Soziale Hygiene
sein oder sie wird nicht sein.“ Außer Rubner und Hueppe
jedoch haben von deutschen lebenden Universitätslehrern der
Hygiene nur gelegentlich Max G r u b e r in München, Prausnitz
in Graz, Lehmann in Würzburg, M. Neißer in Frankfurt a. M.
und W. Kruse in Bonn sozialhygienische Probleme behandelt; in
den Arbeitsstätten der anderen lebenden deutschen Lehrer der
Gesundheitslehre aber hat die Soziale Hygiene weder ein Arbeits¬
feld noch nennenswertes Interesse gefunden. Mit dieser persön¬
lichen Erörterung erledigt sich zugleich der Einwand Rubner’s,
daß die Soziale Hygiene Spielraum zur Betätigung an den schon
1
heute bestehenden Forschungsstätten fände.
6
Adolf Gottsteiu.
Von den drei sachlichen Einwänden Rubner’s soll der erste,
daß die sozialhygienischen Bestrebungen nichts Neues seien, später
behandelt und dort soll zugleich untersucht werden, inwieweit
wirklich gerade der Humanitätstrieb und nicht vielmehr ganz andere
Gesichtspunkte den Urquell für die wissenschaftliche Behandlung
dieses Sonderzweiges bedeuten. Der zweite Grund von Eubner,
der in seinem Aufsätze dem Sinne nach enthalten ist, daß nämlich
die Soziale Hygiene wegen Mangels eigener Methoden und wegen
Zureichens der Methoden ihrer Mutterdisziplin keinen Anspruch
auf Selbständigkeit habe, erinnert doch zu sehr an die gleichen
Einwände, die vor mehr als 20 Jahren gemacht wurden, als diese
Mutter Wissenschaft selbst sich ihr erstes eigenes Heim in Preußen
gründen wollte. Rubner erwähnt ja auch im Anfang seiner Rede
jene denkwürdigen Verhandlungen im preußischen Abgeordneten¬
hause vom 1. Februar 1884, in denen Virchow sagte, daß die
Hygiene wie die gerichtliche Medizin angewandte Wissenschaften
seien, welche weder selbständige Methoden noch selbständige Objekte
der Untersuchung besäßen. Virchow bestritt damals bekanntlich
das Bedürfnis sowohl für besondere Vorlesungen über Hygiene wie
für die Errichtung eigener Institute als Forschungsstätten.
Was schließlich den letzten Vorwurf der Verwaschenheit und
Unklarheit bei der Umgrenzung der Aufgaben der neuen Disziplin
betrifft, so könnte hier ein bloßer Dialektiker sogar einen Vorzug
herausrechnen. Er könnte anführen, daß bei einer induktiven, in
steter Entwicklung befindlichen Wissenschaft die Festnagelung
auf eine Definition nur störend und darum überflüssig ist; daß
Schlagworte für den Schüler nützlich sein mögen, aber den Forscher
noch stets gehindert und den Gang der Entwicklung nur verzögert
haben. Man könnte aus den gangbaren Lehrbüchern der Hygiene
die einzelnen, nicht immer glücklichen Versuche einer Definition
dieser Disziplin aufzählen und dadurch beweisen, daß auch die
Hygiene trotz verwaschener und unklarer Definitionen zur Blüte
gelangt ist. Man könnte schließlich an die Worte von Petten-
k o f e r in der Einleitung zu seinem Handbuch erinnern, nach denen
„die Gegenstände der Hygiene sich stetig ändern müssen, so daß
manches, was eine Zeitlang für richtig gehalten wird, mit der
Zeit hinfällig wird“, und an die dem Sinne nach gleichen Worte
von Rubner selbst in der Einleitung zu seinem Lehrbuch, daß
die Hygiene keine Wissenschaft von stetem Arbeitsgebiete sei.
Mit der Anerkennung dieser Tatsache fiele aber auch die Pflicht
fort, ein neues Sondergebiet durch eine präzise Definition zu um-
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 7
grenzen. Die Tatsache, daß gegenwärtig neue Formen der Gesell¬
schaft neue Probleme erstehen lassen, hat ja Rubner selbst hervor¬
gehoben.
Indes der Kampf mit Gründen und Gegengründen, der am Ende
darauf hinauskommt, ob das Wort „Soziale Hygiene“ glücklich
gewählt ist oder nicht, ist eben ein Wortstreit und darum belanglos.
Ich selbst halte den Ausdruck nicht für erschöpfend, indes er ist
• •
einmal eingebürgert, übrigens ist das deutsche von A. Ploetz
gewählte Wort „Gesellschaftshygiene“ kaum glücklicher geprägt.
Die Hauptsache bleibt immer, ob das Wort einen Inhalt deckt.
Eine Reihe von Ärzten, zu denen sich der Verfasser rechnet, be¬
haupten, daß die Schaffung einer solchen Sonderdisziplin die not¬
wendige Folge dringend gewordener Probleme sei, daß deren Be¬
handlung keinen Raum im Bereich der Mutterwissenschaft mehr
findet und daß aus diesem Grunde der Anspruch auf Selbständig¬
keit als Spezialwissenschaft entsteht. Es ist an uns, den Beweis
für unsere Behauptung zu erbringen. Rubner hat deren Zutreffen
bestritten; es mußte daher vor Antritt dieses Beweises auf seine
Darstellung ausführlich Bezug genommen werden. Rubners Rede
war für mich zugleich auch der willkommene Anlaß, unsere Auf¬
gaben und Methoden einmal öffentlich ausführlicher darzustellen.
Es gewährt mir eine besondere Befriedigung, hierbei vielfach
Beweisgründe gerade ans den Arbeiten von Rubner schöpfen zu
können, der durch seine Rede scheinbar ein Gegner unserer Ziele,
durch seine Untersuchungen aber einer ihrer Förderer wurde.
I.
Die Grundlagen der Hygiene und der Sozialen Hygiene.
Die Entstehung einer Sonderwissenschaft und ihre Abspaltung
von ihrer Mutterdisziplin geschieht vornehmlich aus drei Gründen.
Entweder eröffnet ein genialer Forscher durch schöpferische Ideen
und deren Durchführung der Wissenschaft ganz neue Bahnen; er
allein erschließt ein Gebiet der Erkenntnis, das dann einer ganzen
Schar von Schülern Arbeit für Lebenszeit gibt; oder eine bestimmte
Entdeckung ermöglicht die Überschreitung bisher unzugänglicher
Grenzen; die neuen Methoden, die sich so ausgiebig erweisen, er¬
fordern zugleich die Einübung einer besonderen Fertigkeit, und so
entwickelt sich die Spezialität, welche die Erlernung einer eigenen
instrumentellen Technik zur Voraussetzung hat. Für diesen Ur-
8
Adolf Gottstein.
sprung“ eines Sonderzweiges bieten gerade einige praktische Teile
der Medizin gute Beispiele; es sei nur der Erfindung des Augen¬
spiegels, der Beleuchtungsapparate für Körperhöhlen und der Ent¬
deckung der Röntgenstrahlen gedacht. Schließlich kann eine Spezial¬
wissenschaft sich von ihrer Mutterwissenschaft auch ohne eigene
Probleme und Methoden lediglich deshalb abspalten, weil ihr Um¬
fang ein so großer geworden, die Zahl und die Leistungen der sich
mit besonderer Vorliebe ihr widmenden Forscher so angestiegen
sind, und schließlich ihre praktische Bedeutung als Gegenstand des
Forschens und Lehrens eine solche Höhe erreicht hat, daß sie allein
hierdurch schon das Anrecht auf Selbständigkeit erwirkt. So
wurden die Nervenheilkunde und die Kinderheilkunde Spezial¬
wissenschaften. Natürlich können für die Abspaltung eines Sonder¬
zweiges alle drei Ursachen gleichzeitig bestimmend werden und
dies trifft für die Hygiene zu. Wichtige Aufgaben der öffent¬
lichen Gesundheitspflege wurden schon von den ältesten Kultur¬
völkern aufgestellt und oft erfolgreich gelöst. Hygienische Lehren
wurden schon am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts in Systeme gebracht und gerade Rubner hat
vor kurzem die Verdienste einiger Vorgänger der heutigen Forschung
wieder gewürdigt. Aber diese Vorgeschichte genügte noch nicht,
um der hygienischen Forschung das Recht auf Selbständigkeit zu
sichern. Erst die Persönlichkeit Pett enkofer’s, der sich ein
eigenes Arbeitsgebiet der individuellen Gesundheitslehre auf dem
Boden naturwissenschaftlicher Technik schuf und es so groß er¬
schloß, daß er eine eigene bedeutende Schule gründen konnte, erst
die Erfindung der mikrobiologischen Technik, die sich vornehmlich
an die Namen von Pasteur und Koch knüpft, verliehen den
beiden, noch heute nebeneinandergehenden Richtungen der modernen
Hygiene die Macht, sich trotz der bekannten Einsprüche die Selb¬
ständigkeit in Forschung und Lehre zu sichern und allmählich in
weiterer Ausgestaltung eine herrschende Stellung im Gesamtgebiet
der Medizin zu gewinnen. Aber wahrscheinlich hätte die moderne
H}rgiene trotz der hervorragenden Bedeutung der Schöpfer ihrer
Hauptrichtungen, trotz der Fülle der Forschungsergebnisse, diese
Vorherrschaft auf die Dauer nicht behaupten können, wenn nicht
alle ihre Aufgaben und Ziele auf einer eigenen Grundidee sich
aufgebaut hätten, die wesentlich verschieden ist von der Grundidee
der Heilkunde in engerem Sinne. Wir sind uns allerdings heute
darüber einig, daß die Hygiene ein Zweig der gesamten Heilkunde
ist und bleiben muß. Diese Anschauung hat nicht durchweg be-
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
9
standen. Für Pettenkofer ist z. B. die Hygiene „die Kenntnis
der gegebenen äußeren Umstände, unter welchen Gesunde leben,
und jener Einrichtungen, welche das dauernde Wohlbefinden der
Menschen bedingen und bezwecken“. In Verfolgung dieser Idee
erklärte Pettenkofer die Hygiene nicht für ein ausschließliches
Besitztum des Arztes, sondern ebenso sehr des Ingenieurs und
Architekten und schließlich auch des Verwaltungsbeamten. Aber
„die Störungen in der gesundheitlichen Harmonie der Funktionen
des Organismus“, um die Pettenkofer’sche Definition der Krank¬
heit aufzunehmen, bilden eben das Maß für die Einwirkung der
Umwelt auf den menschlichen Organismus, deren Studium den Inhalt
der Hygiene ausmacht. Und selbst wenn man mit Kubner als
deren fundamentale Aufgabe nicht bloß die Erhaltung, sondern
auch die Mehrung der Gesundheit hinstellt, so kann kein ex¬
perimentierender Hygieniker bei seinen Versuchen auf die Funktions¬
störung als Maß für die Grenzen des Anpassungsvermögens an
äußere Bedingungen, also auf die Heranziehung von Physiologie
und Pathologie verzichten. In den Versuchen einer Definition der
Aufgaben der Hygiene greifen daher alle Forscher mehr oder
weniger ausgesprochen auf die krankhaften Zustände zurück, und
auch Kubner bringt das in der oben angeführten Rede noch
schärfer als in seinem Lehrbuch zum Ausdruck, wenn er über die
Grenzen der Gesundheit spricht. Die Hygiene bleibt also ein
Teil der Heilkunde, weil die krankhaften Vorgänge das Maß für
die Feststellung der Gesundheit bilden. Aber ihre Grundauffassung
in der Stellung zum Objekt ist trotz ihrer Zugehörigkeit ganz und
gar verschieden von der des Arztes. Wenn kubner vom Humani¬
tätstrieb als dem Urquell der Hygiene spricht, so gilt dies Wort
lediglich für den Arzt; wäre dieser Grundgedanke aber der allein
leitende geblieben, so wäre niemals eine hygienische Sonderwissen¬
schaft entstanden. Im Gegenteil, die Triebfeder vieler Maßnahmen
der öffentlichen Gesundheitspflege ist der berechtigte Egoismus
der durch die Krankheit Anderer Gefährdeten. Die Errichtung
der Leproserien im Mittelalter und die erste moderne hygienische
Großtat der Neuzeit, die Kuhpockenimpfung, hatten mit Mitleid
für die Erkrankten gar nichts zu tun; sie bezweckten den Schutz
der Gesunden, die durch jene bedroht waren. Die Aufgaben der
Städtereinigung, der Kanalisation und Wasserversorgung wurden
gestellt und gelöst, weil die Cholera drohte, nicht aus Mitleid für
die Leiden der Erkrankten, sondern um die außerordentlich schweren
wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gefahren, die den Bewohnern
10
Adolf Gott stein.
eines großen Gemeinwesens durch das Zusammengepferchtsein mit
gefährdeten Elementen erwuchsen, zu vermindern. Unsere ganze
seither fortgebildete Seuchenprophylaxe hat keine anderen Grund¬
ideen. Auch die weitere Entwicklung unserer Gewerbehygiene,
die an die Errichtung der sog. sozialen Versicherungsgesetze an-
kntipft, geht von der Grundidee aus, die Lasten, die der gesamten
Gesellschaft durch die Schädigung einzelnen Gruppen erstehen,
auf alle zu verteilen und so vermindern. Das gleiche gilt
für die Bestrebungen auf dem Gebiete der Wohnungshygiene und
der Bekämpfung der Tuberkulose- und Säuglingssterblichkeit. Ja,
die Hygiene verzichtet in der Verfolgung ihrer berechtigten Forde¬
rungen gelegentlich einmal nicht darauf, im Einzelfalle geradezu
inhuman und mitleidslos vorzugehen, wenn sie Zwangsmaßnahmen
fordert, die den einzelnen hart treffen, wofern sie nur im Interesse
der Gesamtheit unerläßlich erscheinen. Im übrigen findet sich sogar
diese gewiß soziale Idee von dem staatlichen Zwang als dem
kleineren Übel schon bei J. P. Frank. Die Aufgabe des Indi¬
vidualtherapeuten wiederum ist die Herabsetzung der Letalität
der Erkrankten oder die Milderung ihrer Leiden bei geschwundener
Aussicht auf Heilung; hier ist Mitleid am Platze selbst gegenüber
Menschen, die sonst auf solches kein Anrecht haben; hier ist Ver¬
längerung des Lebens die Aufgabe, selbst wenn dies Leben dem
Betroffenen, seiner Umgebung und der Gesellschaft unnütz, lästig
oder gar schädlich sein sollte. Umgekehrt hat der H}Tgieniker
die Pflicht, die Frage wenigstens zu erörtern, ob die Ausdehnung
der Schutzmaßregeln bis unter die Grenze der durchschnittlichen
Widerstandskraft durch Verweichlichung nicht der mittleren Ge¬
sundheit sogar schädlich werden, ob übel angebrachtes Mitleid
gegenüber einer großen Gruppe Minderwertiger nicht das Gegenteil
des Erstrebten bewirken könnte. Das Betätigungsobjekt des
Individualtherapeuten ist das abnorme Individuum, dasjenige des
Hygienikers der gesunde Durchschnittsmensch, dessen Gesundheits¬
wert sich aus der Massenbeobachtung ergibt. Der leitende Grund¬
gedanke des hygienischen Tuns ist in der Tat in vielen Fällen ein
sozialer, der Schutz der Gesellschaft gegen die wirtschaftlichen und
gesundheitlichen Gefahren, die durch das Zusammenleben mit stärker
gefährdeten Einzelgruppen für die Gesamtheit entstehen. LTnd
darum hat ßubner unbestreitbar recht, daß, wenn man willkürlich
diesen Grundgedanken in den Vordergrund stellt, man beliebig alle
Zweige der Gesundheitslehre für die Soziale Hygiene beanspruchen
kann, daß aber dieser Gedanke schon längst Eigentum aller führen-
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
11
den Hygieniker war. Man könnte die geschichtlichen Beispiele,
die Rubner anführt, leicht vervielfältigen, vor allem aus Petten-
kofer’s Schriften die Auffassung, daß die Gesundheit ein wirt¬
schaftliches Gut und daher die Gesundheitswissenschaft ein Teil
der Nationalökonomie ist, in zahlreichen Variationen entnehmen.
Wie Pettenkofer in seiner Rede im Jahre 1887, in der er den
eben zitierten Ausspruch tat, den Geldwert einer Verminderung
der Sterblichkeit zu berechnen versuchte, so hat vor ihm schon
1733 der Abbe de St. Pierre den ökonomischen Vorteil für den
Staat bei Verlängerung des Lebens um zehn Jahre auszurechnen
versucht, so haben noch vor Pettenkofer Laplace, Vi llerme
und Qu et eiet auf den wirtschaftlichen Nutzen der Pockenimpfung
hingewiesen. Die umgekehrte Fassung des wichtigen Zusammen¬
hangs zwischen wirtschaftlichen Zuständen und krankhaften Vor¬
gängen ist ebenfalls schon lange mit Verständnis gewürdigt worden,
ehe es eine selbständige Hygiene gab. Die Entstehung und Steige¬
rung von Volksseuchen durch wirtschaftliche Not hat namentlich
dem jungen Virchow Stoff zu ausführlichen Erörterungen ge¬
geben, die er in dem Satze zusammenfaßte: „Sehen wir nicht
überall die Volkskrankheiten auf Mangelhaftigkeiten der Gesell¬
schaft zurückdeuten?“ Nur der an glänzenden experimentellen
Entdeckungen so reichen, aber der Synthese so abholden bakterio¬
logischen Schule war es Vorbehalten, diese Lehre von Virchow
zu bestreiten. Am schärfsten hat dies Koch in seiner Rede über
die Bekämpfung der Infektionskrankheiten 1888 getan, indem er
gegenüber der Verschleppung der spezifischen Keime „die Summe
der Faktoren, die man gewöhnlich mit dem Ausdruck soziales
Elend zusammenfaßt,“ nur als höchstens begünstigend in den Hinter¬
grund stellt und darauf hinweist, daß trotz Schmutz und Elend
ein großer Teil der Menschen dauernd ron Seuchen verschont werde.
Der Widerspruch gegen diese „kontagionistische“ Lehre von Koch
und seiner Schule hat freilich dazu geführt, die sozialen Momente,
die bei der Entstehung und Verbreitung der Seuchen disponierend
mitwirken, wieder mehr in den Vordergrund zu rücken ; aber
natürlich kann diese berechtigte Opposition gegen eine einseitige
Überschätzung der Bakterienwirkung niemals ein ausreichender
Grund sein für die Abspaltung einer eigenen Spezialwissenschaft.
Denn ob man die Bedeutung des sozialen Faktors bei Entstehung
und Verbreitung der Seuchen gering oder groß bewertet, so ist er
doch für beide Richtungen Gegenstand der Erörterungen.
Die Triebfeder für die Entstehung der Hygiene, der sie ihre
12
Adolf Gottstein.
Lebenskraft überhaupt verdankt, ist also allerdings ein sozialer
Grundgedanke; ja sogar schon die Vorgänger der selbständigen
Wissenschaft wurden von sozialem Empfinden geleitet, und wenn
die Bestrebungen zur Errichtung einer eigenen sozialhygienischen
Richtung nur dahin gingen, der Mutterdisziplin diese Grundidee
bestreiten und für sich beanspruchen zu wollen, so wären deren
Vertreter zu entschiedenstem Widerspruch berechtigt. Die Ziele
der Sozialen Hygiene sind aber ganz andere. Wenn wir be¬
müht sind, unter diesem Namen bestimmte Forschungsrichtungen
abzutrennen und gesondert zu behandeln, so ist hierbei weder ein
Eingriff in das Arbeitsgebiet der Mutterwissenschaft noch ein
Überschreiten der Grenzen, welche die Hygiene von der verwandten
Nationalökonomie trennen, beabsichtigt.
Soll einmal unter dem Vorbehalt der Unzulänglichkeit jeder
Definition hier der Versuch einer vorläufigen Begriffsbestimmung
der Sozialen Hygiene gemacht werden, so würde diese Definition
ungefähr in folgender Form gefaßt werden können: Die Aufgabe
der Sozialen Hygiene ist die Untersuchung der Einwirkung der
Umwelt auf eine bestimmte Einheit genau so wie dies die Aufgabe
der Hygiene ist. Während aber die letztere ihren Forschungen als
Einheit das durchschnittliche Einzelindividuum zugrunde legt,
ist im Gegensatz hierzu die Einheit der Sozialen Hygiene eine gleich-
artige Gruppe von Einzelindividuen, deren Abgrenzung von
anderen Gruppen weniger durch biologische, als durch bestimmte
in ihrer gesellschaftlichen Lage begründete Einflüsse bedingt ist.1)
Diese Abspaltung von besonderen Gruppen hat die mannigfachsten
Ursachen; der Gegensatz von Wohnort, Beruf, Lebensweise, Her¬
kunft führt zu so vielfachen wechselnden, aber doch den Lebens¬
lauf der Angehörigen dieser Gruppe beeinflussenden Komplikationen,,
daß deren Erörterung überreiches Material zu Studien für eine
eigene Schule gewährt. Notwendigerweise muß aber auch der Ein¬
fluß, den die Gruppenbildung nicht bloß auf die von ihr U m -
schlossenen, sondern auch auf deren Nachwuchs ausübt.
untersucht werden und durch diesen Umstand wird der Anschluß
an diejenige Richtung der sog. Rassenhygiene erreicht, welche
A. Plötz in der Einleitung zu dem ersten Hefte seines Archivs
für Rassen- und Gesellschaftsbiologie umgrenzt. Nach Plötz ist
Rasse eine Erhaltungs- und Entwicklungseinheit des dauernden
Lebens, ihr Element die Summe der zu einem Fortpflanzungszyklus
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
13
gehörenden Einzelwesen. Die Gesellschaftshygiene, die er als die
Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung der gesell¬
schaftlichen Bildungen definiert, ist demnach identisch mit unserer
Sozialen Hygiene und die Bezeichnung von Plötz wäre vielleicht
zur Verhütung von Mißverständnissen vorzuziehen, wenn nicht der
andere Name schon Verbreitung gefunden hätte. Das Arbeits¬
gebiet der Sozialen Hygiene ist also das Studium der spezifischen
Veränderungen, welche die Gesundheit bestimmter Gesellschafts¬
gruppen durch die Einwirkung der ihre Sonderstellung bedingenden
Faktoren erfahrt, und weiter das Studium der Kückwirkungen
dieser spezifischen Veränderungen auf den Nachwuchs der betei¬
ligten Gruppen und auf die Gesamtheit der Gesellschaft. Nun wird
man wieder Rubner zustimmen müssen, daß eine Reihe der wich¬
tigsten Fragen der Gesundheitslehre trotz der Spaltung der Ge¬
sellschaft in Gruppen eben für alle Einzelindividuen gleich bedeu¬
tungsvoll sind, so die Fragen nach den Mindestanforderungen an
Ernährung, Wohnräume, Beheizung und Ähnliches. Aber diesen
Ein wand hat A. Grotjahn, schon ehe ihn Rubner aussprach,
berücksichtigt; er hat die zwei möglichen Formen, hygienische
Fragen zu behandeln, im Vorwort zum dritten Band des Jahres¬
berichts über Soziale Hygiene und Demographie1) auseinander¬
gesetzt. Grotjahn betrachtet als die Aufgaben der Sozialen
Hygiene die Ergänzung der physikalischen Hygiene;
während die letztere z. B. in der Sonderfrage der Wohnungs¬
hygiene die Soll -Wohnungsart experimentell normiert, stellt die
Soziale Hygiene im Gegensatz hierzu durch Beschreibung der
Wohnungen, wie sie in Wirklichkeit sind, in ihrer unendlichen
Verschiedenheit nach Stadt und Land, Größe und Belegungsziffer,
und in ihren Beziehungen zu den Gesundheits Verhältnissen der Be¬
wohner die Ist- Wohnungsart zusammen. Die daraus zu ziehende
Bilanz liefert dann einen Maßstab für die Notwendigkeit und
Dringlichkeit der Maßnahmen, die getroffen werden müßten, um
das Ist dem Soll tunlichst anzunähern.
Grotjahn schließt seine ausführlichen und bemerkenswerten
Erörterungen mit der folgenden Begriffsbestimmung, deren An¬
führung an dieser Stelle die Heranziehung seines Aufsatzes zur
Ergänzung meiner Ausführungen anregen soll:
1. Die Soziale Hygiene als deskriptive Wissenschaft ist die
Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeine-
v) Jena 190t, Fischer.
14
Adolf Gottstein.
rung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich,
zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen
und deren Nachkommen unterliegt.
2. Die Soziale Hygiene als normative Wissenschaft ist die
Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung
hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeit¬
lich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und
deren Nachkommen bezwecken.
Den praktischen Beweis für die Richtigkeit dieser Zweiteilung
hat Grotjahn selbst geführt durch seine sozialhygienische Arbeit
über „Wandelungen in der Volksernährung“,1) die ähnlichen Unter¬
suchungen als Vorbild dienen kann. Nur als Beispiel für die
Mannigfaltigkeit der Fragestellung und für die Sonderfärbung des
Arbeitsgebietes der Sozialen Hygiene seien die Titel einiger zu ihr
gehöriger Arbeiten lediglich aus dem Jahre 1905 angeführt:
0. Spann, Untersuchungen über die uneheliche Bevölkerung in
• •
Frankfurt a. M.; Dohrn, Uber den Einfluß großer Streiks auf die
gesundheitlichen Verhältnisse und die Bevölkerungsbewegung;
L. Lewin, Die Hilfe für Giftarbeiter; Vogl, Die wehrpflichtige
Jugend Bayerns; M. Kirchner, Die Tuberkulose und die Schule;
Laqueur, Der Haushalt des amerikanischen und des deutschen
Arbeiters.2) Das wesentliche Moment in allen diesen Arbeiten ist
die Feststellung der besonderen gesundheitlichen Erscheinungen,
welche bei irgend einer Gruppe im Gegensatz zur Gesamtbevölke¬
rung zur Beobachtung gelangen und die Erörterung des ursäch¬
lichen Zusammenhanges dieser Erscheinungen mit den gesellschaft¬
lichen Gründen für die Entstehung dieser Gruppenbildung. Die
Untersuchungsmethodik hält sich aber durchaus innerhalb der festen
Grundlagen der Heilkunde und deren größten Zweiges, der Hygiene
und, entsprechend dem bewährten, schon von Johannes Müller
für die wissenschaftliche Medizin aufgestellten Grundsätze, daß das
Wesentliche das Problem ist, für dessen Lösung dann jede natur¬
wissenschaftliche Methodik recht sei, behauptet die Soziale Hygiene
durchaus nicht den Besitz eigener Methoden, sondern hält sich für
berechtigt, gegebenenfalls alle vorhandenen Untersuchungsmittel
heranzuziehen; doch liegen ihr einige derselben, auf welche aus¬
führlicher eingegangen werden muß, besonders nahe.
9 Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen von Schm oller, XX.
2, 1902.
2) U. a. m. cf. F. Kriegei ’s Bibliographie in den Jahresberichten über
Soziale Hygiene und Demographie.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
15
Die Fürsprecher einer eigenen Sonderdisziplin innerhalb der
Gesamthygiene machen also von den drei Gründen, die zu einer
Abspaltung berechtigen, nur den letzten für sich geltend, das all¬
mählich durch die gesellschaftliche Entwicklung hervorgerufene
außerordentlich große Anwachsen des Arbeitsgebiets, das aus prak¬
tischen Gründen eine Arbeitsteilung notwendig macht. Sie ver¬
treten die Überzeugung, daß dieses von ihnen beanspruchte Arbeits¬
gebiet ein genügend umfangreiches ist und durch täglich erstehende
gesellschaftliche Neubildungen eine so große Vermehrung erfährt,
um Gegenstand der Lebensarbeit einer ganzen Schule werden zu
können. Sie werden in ihrem Vorhaben gestützt durch den Wieder¬
hall der breiten Schicht der deutschen Ärzte, welche in den letzten
Jahren ihre Fähigkeit bewiesen haben, aus sich selbst heraus Ein¬
richtungen nicht bloß zur Verbesserung ihrer eigenen Lage, son¬
dern auch gleichzeitig zur Verbesserung der Lage der gesundheit¬
lich bedrohten Bevölkerungsklassen, die sich ihrem Rate anver¬
trauen, zu schaffen. Es wäre verlockend, in kurzer geschichtlicher
Schilderung den ersten Anzeichen dieser ärztlichen Bewegung nach¬
zugehen. Es dürfte dann nicht verschwiegen werden, daß wir um
die Mitte des 19. Jahrhunderts viel weiter waren als heute, daß
damals unter dem Einfluß der politischen Bewegung die Betonung
der sozialen Seite der Medizin und der öffentlichen Gesundheits¬
pflege viel schärfer hervortrat, als dies gegenwärtig der Fall ist.
Was in der Theorie von Pe tt enkofer und jetzt von Eubner
klar hervorgehoben wird, die soziale Grundlage aller hygienischen
Maßnahmen, geriet in der Praxis, als die experimentelle Hygiene
und die experimentelle Mikrobiologie ihren Siegeszug antraten,
ganz erheblich in den Hintergrund. Das gediegene Gold, das heute
den Ärzten die Stätten der wissenschaftlichen Forschung bieten,
können diese ohne ihre Schuld nicht in kleine Münzen einwechseln.
Die Vertreter der mikrobiologischen Schule, die Nochfolger Vir-
chow’s in der Deutung der Seuchenätiologie, dieselbe Schule, für
die jüngst E. v. Behring den Ausdruck von der „überzeugungs¬
treuen Spucknapfpropaganda“ geprägt hat,3) erklärten wiederholt,
gegen soziales Elend seien wir ja doch machtlos; durch Vernich¬
tung der Kontagien sei aber wenigstens etwas Wirksames zu er¬
reichen und sie verlangten, daß die Ärzte sich, mit diesen Waffen
begnügen. Da griffen diese, von der Wissenschaft im Stich ge-
J) Brauer’s Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, III, 2, S. 113.
16
Adolf Gottstein .
lassen, zur Selbsthilfe. Aus ihren Kreisen wurden die zahlreichen
praktischen Maßnahmen zur Verbesserung- der Volksgesundheit
ausgedacht und in die Wirklichkeit umgesetzt, die Walderholungs¬
stätten für Kranke und Gesunde, für Erwachsene und Kinder, die
Waldschulen, die Milchküchen für Säuglinge, der Rettungsdienst
in Großstädten, der Arbeitsnachweis für Unfallinvalide und zahl¬
reiche andere Einrichtungen. Aus ärztlichen Kreisen wurde zuerst
die Forderung für Anstellung von Schulärzten gestellt und be¬
gründet, die Belehrung des Arbeiters über gesundheitliche Vor¬
gänge durch öffentliche Vorträge ins Leben gerufen. Von den
Ärzten gingen durch praktische Erfahrung belegte Vorschläge zur
Verbesserung und Erweiterung der Arbeiterversicherungsgesetze
aus, lediglich mit dem Ziele der Hebung der Volksgesundheit. Aus
Ärztekreisen wurde schließlich die Forderung nach Fortbildung
der Kollegen vornehmlich in der sog. Sozialen Medizin, dem Gebiete
der Arbeiterversicherung, gestellt und mit der Errichtung der er¬
forderlichen Bildungsstätten begonnen.
Dieser stürmische Drang der gesamten deutschen Ärztewelt,
sich neue Unterlagen für eine erfolgreiche Durchführung der ihr
erwachsenden neuen Aufgaben zu schaffen, Unterlagen, die sie bei
der offiziellen Wissenschaft vergeblich suchten, begründet schärfer
als exakte Begriffsbestimmungen die Notwendigkeit, diese Be¬
wegung wissenschaftlich zu organisieren. Ein guter Anfang ist
gemacht; der „Jahresbericht über Soziale Hygiene“ von Grotjahn
und Kriegei erscheint schon zum fünften Male; eine Wochen¬
schrift, die „Medizinische Reform“ von R. Denn hoff wird mit Sach¬
kenntnis, Geschick nnd Eifer geleitet und bringt eine Fülle von
Material; zwei Publikationsorgane für größere Arbeiten, die „Soziale
Medizin“ von Fürst und Jaffe und die „Zeitschrift für Soziale
Medizin“ von Grotjahn und Kriegei, stehen für wissenschaft¬
liche Veröffentlichungen zur Verfügung; verwandten Ideen dient
das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich
Rassen- und Gesellschaftshygiene“ von A. Plötz, das auch schon
erfolgreich im dritten Jahrgang erscheint. Und die im vorigen
Jahre gegründete Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und
Medizinalstatistik, welche ausschließlich wissenschaftlich wirken
will, ist ebenso wie die Sektion „Versicherungsmedizin“ des deut¬
schen Vereins für Versicherungswissenschaft eifrig an der Arbeit
und erfreut sich reger Teilnahme.
Die bisherige Behandlung des Themas hat die eine wohl nicht
mehr zu bestreitende Tatsache ergeben, daß die Anforderungen der
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
17
Zeit eine ausgedehnte und gründliche Erörterung von Fragen nahe
legten, die von der offiziellen Wissenschaft weniger berücksichtigt
werden; daß eine große Zahl eifriger und vorgebildeter Arbeits¬
kräfte sich gefunden hat, welche die Fassung und Ergründung
dieser Fragen zu ihren besonderen Aufgaben macht und daß eine
noch größere Zahl von Interessenten vorhanden ist, welche aus
diesen Arbeiten Nutzen zieht. Die Soziale Hygiene hat zwar
keine andere Grundlagen als die Hygiene selbst, sie bedient sich
auch wie die Hygiene jeder zureichenden naturwissenschaftlichen
Methode, welche geeignet scheint, das gewählte Problem der Lösung-
später zu führen, aber die Natur dieser Probleme bringt es mit
sich, daß einige Methoden besonders ausgiebig herangezogen werden,
und die Zeitlage bedingt es, daß der Sozialen Hygiene die Lösung-
einiger Aufgaben besonders angelegen ist. Der folgende Abschnitt
soll die Methoden, auf welche die wissenschaftlich behandelte Soziale
Hygiene vorzugsweise angewiesen ist, ausführlicher schildern. Da
auch für diese Methoden eine besondere Vertrautheit mit ihrem
Inhalt und den Grenzen ihrer Anwendung unerläßlich ist, so ver¬
vollständigen die folgenden Darstellungen den Beweis für die Be¬
rechtigung unserer Forderung von der Selbständigkeit der Sozialen
Hygiene,
II.
Die Statistik als Methode der Sozialen Hygiene.
Im Schlußsätze seiner Rede begrüßt es Rubner mit Freude,
wenn die Hygiene Hand in Hand mit ihrer langbewährten Freundin,
der Statistik, ihre Fühlung mit den Sozialwissenschaften recht
innig gestaltet. Die Einleitung zu seinem Lehrbuch ebenso wie
viele seiner Arbeiten beweisen, daß er selbst die zahlenmäßigen
Angaben der Statistik als Probe für den Erfolg hygienischer Ma߬
nahmen heranzuziehen pflegt. Der Nutzen der Statistik kann aber
ergiebiger gefaßt werden; als Methode kann sie wie das Experi¬
ment durch richtige Versuchsanordnung und scharfe Fragestellung-
direkt zur Beantwortung von Problemen herangezogen werden.
Freilich heißt es nicht Statistik treiben, wenn man, wie vielfach
geschieht, aus zweistelligen Zahlen Prozentberechnungen anstellt;
noch weniger lohnt es sich, ernsthaft auf das Schlag wort von dem
„mensonge en chiffre“ einzugehen, das gern' dann geltend gemacht
wird, wenn die Zahlen gegen den Autor sprechen und er zu ihrer
Zeitschrift fiir Soziale Medizin. II. ^
18
Adolf Gottstein,
Widerlegung das ganze Gewicht seiner subjektiven Erfahrung*
geltend macht.
Die wissenschaftliche Statistik zerfallt in drei voneinander im
Ziel und auch in der Technik durchaus zu trennende Abschnitte*
die amtliche Statistik, von der uns für unsere Zwecke die
Medizinalstatistik interessiert , die Bevölkerungs¬
statistik, für deren die Ärzte interessierenden Teil F. Prin-
zing die Bezeichnung der „medizinischen Statistik“ ange¬
geben hat, und die „angewandte Statistik“ oder „statisti¬
sche Arithmetik“.
Die amtliche Statistik.
Die amtliche Statistik hat die Aufgabe, das den Staat und
die Wissenschaft interessierende Zahlenmaterial in möglichst zu¬
verlässiger Weise zu beschaffen und zu sammeln, auf seine Richtig¬
keit zu prüfen und in übersichtlicher und für eine weitere Behand¬
lung vorbereiteter Form zu veröffentlichen. Eine eingehende Ge¬
schichte der amtlichen Statistik findet sich in dem Werke
„Geschichte, Theorie und Technik der Statistik“ von August
Meitzen. *) Über die Geschichte der preußischen Medizinal¬
statistik hat Guttstadt einen kurzen Vortrag in der Gesellschaft
für Soziale Medizin am 25. Mai 1905 gehalten. Unter Hinweis auf
diese Quellen seien hier nur die Hauptpunkte der Geschichte der
„Medizinalstatistik“ wiedergegeben.
Andeutungen einer amtlichen Aufzeichnung der Zahl der
Lebenden und der Todesfälle finden sich gelegentlich schon im
Altertum und im früheren Mittelalter. Der Beginn einer systema¬
tischen Aufzeichnung der Geburten, Sterblichkeitszahlen und Todes¬
ursachen fällt in das 16. Jahrhundert, und zwar war es das Be¬
streben, über die Ausdehnung der tödlichen Verheerungen der Pest
nähere Kenntnis zu erlangen, welches in Frankreich und England
die Regierungen, in Deutschland die städtischen Verwaltungen ver-
anlaßte, Aufzeichnungen anzubefehlen. Die Ausführung dieser Be¬
fehle wurde den Pfarrern übertragen und Konzile schärften ihren
Untergebenen die erforderliche Sorgfalt ein. Die genaueren An¬
gaben über diese Edikte finden sich bei Meitzen, und soweit
dort nicht erwähnt, in meinem Vortrag „Beiträge zur Geschichte
9 Berlin 1886, Hertz.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
19
der Kindersterblichkeit“. l) Die meisten dieser Kirchenbücher
gingen in den Kriegswirren der nächsten Jahrhunderte verloren;
von den übrig gebliebenen Aufzeichnungen sind am wertvollsten
die für Breslau, welche Grätzer in seiner Schrift „Edmund
Halley und Caspar Neumann“2) wiedergegeben hat und die¬
jenigen für Frankfurt a. M„ die sich in dem Werke von Bleicher
„Statistische Beschreibung der Stadt Frankfurt a. M.“ 3) finden.
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem 1749 der Göttinger
Staatsrechtslehrer Achen wall das Wort Statistik zum ersten Male
anwendete und Büsching 1767 die erste periodische statistische
Schrift herausgab, datiert das lebhaftere Interesse des Staates an
amtlichen Aufzeichnungen. Den ersten Auftrag zur staatlichen
Aufnahme erhielt 1790 Lavoisier von der französischen Republik;
die von ihm geschaffenen Einrichtungen überdauerten die Republik
nicht, wurden aber später vom Kaiserreich wieder aufgenommen.
Das Preußische statistische Bureau wurde von Stein auf An¬
regung von Krug 1805 geschaffen und nach dem Tilsiter Frieden
1808 in seinem Bestand gesichert. Es erläßt seit 1845 periodische
Veröffentlichungen. Andere deutsche, außerdeutsche und europäische
Staaten verfolgten von Anfang des 19. Jahrhunderts das gleiche
Ziel. Da die verschiedenen Arten der Erhebung in den einzelnen
Ländern die Benutzung der Zahlen für den internationalen Ver¬
kehr und die Wissenschaft erschwerten, so regte der belgische
Statistiker Qu et eiet die Abhaltung ständiger internationaler
Kongresse an, die sich nicht mit der Theorie, sondern nur mit den
Forderungen möglichst gleichmäßiger Erhebungen beschäftigen
sollten. Der erste Kongreß fand 1853 in Brüssel statt; die pe¬
riodische Wiederkehr ist gesichert und seit 1872 ist eine Permanenz¬
kommission eingesetzt. Die Grundlage der Erhebungen bilden die
nach feststehenden Grundsätzen in allen Ländern eingeführten
Volks- und Berufszählungen, deren Geschichte Meitzen ausführ¬
lich angibt. In Deutschland erhielt 1877 das Reichsgesundheitsamt
den Auftrag, periodische Zusammenstellungen über den Bevölkerungs¬
stand, die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik zu veröffentlichen.
Da die zugrunde gelegten Schemata im Reich und in den einzelnen
Ländern verschieden waren, so wurde nach längeren Beratungen
in Deutschland 1904 ein einheitliches Todesursachensystem zu-
0 Medizin. Reform 1906.
2) Breslau 1883, Schottländer.
3) Frankfurt 1895. I.D. Sauerländer.
20
Adolf Gott st ein.
gründe gelegt, das den Ärzten zur Berücksichtigung empfohlen, in
Preußen schon angenommen ist und in den Bundesstaaten eingeführt
werden soll. Dem Beispiele des Staates sind städtische Behörden
gefolgt, indem sie eigene statistische Ämter errichteten und deren
Leitung hervorragenden Fachmännern übertrugen. Die städtischen
statistischen Jahrbücher sind oft hervorragende Quellenwerke. In
Deutschland haben sich die meisten Städte außerdem noch vereinigt
und geben gemeinsam unter der Leitung von Neefe ein statisti¬
sches Jahrbuch deutscher Städte heraus, von dem jetzt schon der
13. Jahrgang vorliegt. Die Grundbedingung für die Zuverlässigkeit
der Todesursachenstatistik ist eine richtige Aufzeichnung des
Einzelfalles an der ersten Stelle, und diese Voraussetzung ist nur
erfüllt bei dem Bestehen einer sachverständigen Leichenschau.
An einer solchen mangelt es in Preußen mit Ausnahme einer An¬
zahl von Städten und vereinzelten Kreisen. In anderen deutschen
und außerdeutschen Ländern ist es damit besser bestellt. Eine
eingehende Darstellung der Zustände in den einzelnen Ländern
findet sich in der Arbeit von F. Prinzing: Die Zuverlässigkeit
der Todesursachenstatistik Württembergs im Vergleich mit der
anderer Staaten.1) Eine amtliche Morbiditätsstatistik ist erst eine
Hoffnung der Zukunft. Nur die Erkrankungen an bestimmten
Seuchen in allen Ländern finden in den Veröffentlichungen des
Reichsgesundheitsamts ihre Aufzeichnung, weil deren Anmeldung
im Inland durch gesetzliche Bestimmungen, die Meldung von Land
zu Land durch internationale Konferenzen geregelt ist. Außerdem
verzeichnet die amtliche Statistik die Zahl der LTifälle, Gebrechen
und Geistesstörungen, sowie die Zahl und Beschaffenheit der zu
ihrer Versorgung geschaffenen Anstalten.
Die amtlichen Erhebungen geschehen nach sorgfältiger Vor¬
bereitung durch staatliche Maßnahmen; die Verarbeitung ist Auf¬
gabe der staatlichen Ämter; wie genau hierbei die Prüfung der
Zuverlässigkeit der Angaben stattfindet, dafür liefert der Vortrag
von Guttstadt zahlreiche Beispiele, Die Veröffentlichung ge¬
schieht in amtlichen Quellenwerken, die periodisch in größeren und
geringeren Abständen erscheinen, das gesammelte Material in
tabellarischen und graphischen Darstellungen nach eigener, durch
Erfahrung bewährter Technik zur Anschauung bringen und oft
genug schon zu Schlußfolgerungen über die Entwicklung bestimmter
Vorgänge monographisch bearbeiten. Im allgemeinen aber be-
b Württ. Jahrbuch für ltOO. Not. 1901.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele,
21
schränken sich die amtlichen Quellenwerke darauf, das Material
wohl vorbereitet zur weiteren Ausgestaltung anderen Statistikern
zur Verfügung zu stellen.
Die medizinische Statistik.
Auf die Quellen der amtlichen Statistik als die Grundlage
ihrer Arbeiten ist die medizinische Statistik angewiesen.
Sie ist ein Teil der Bevölkerungsstatistik, aber sie hat die weitere
Aufgabe, nicht nur wie diese die normalen Vorgänge der Be¬
völkerungsbewegung, sondern nach der Definition von Prinzing,1)
ihrem bedeutendsten Vertreter in der Gegenwart, die zahlenmäßige
Untersuchung der pathologischen Erscheinungen der menschlichen
Gesellschaft als selbständige empirische Disziplin vorzunehmen.
Im allgemeinen reichen hierzu die einfachsten Rechenmethoden aus,
doch ist eine Kenntnis der theoretischen mathematischen Grund¬
lagen, des schon vorhandenen Tatsachenmaterials und der seit lange
eingeführten bewährten Methoden für den selbständigen Forscher
auf diesem Gebiete erforderlich. Vor allem bedarf es genauer
Kenntnis der zahlreichen Fehlerquellen, in deren Fallstricke sich
immer wieder Ungeübte verwickeln, wenn sie aus den absoluten
Zahlen der Quellenwerke Prozentberechnungen in beliebiger Ein¬
heitsreduktion anstellen und damit allen Anforderungen Genüge
getan zu haben glauben. Größere Darstellungen der Theorie und
Praxis der medizinischen Bevölkerungsstatistik finden sich in dem
älteren Werke von Österlen, Medizinalstatistik, Tübingen 1866 —
und den neueren Werken Weste rgaard, Die Lehre von der
Morbidität und Mortalität, Jena, II. Aufl., 1901 und Georg von
Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, II. Bd., Freiburg 1897.
Kürzere Darstellungen bietet der 4. Teil des „Grundriß zum Stu¬
dium der politischen Ökonomie“ von Conrad2) und das volkstüm¬
liche AVerk von G. v. Mayr „Die Gesetzmäßigkeit im Gesellschafts¬
leben“.3) Die mathematischen theoretischen Grundlagen der Be¬
völkerungsstatistik finden sich ausführlich behandelt in der ersten
Auflage des Werkes von Westergaard (Jena 1887) und in den
„Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik“
1) Die heutige Bedeutung der medizinischen Statistik. Württemb. Korre-
spondenzbl., Jahrg. 75.
2) Jena, Fischer, 1900.
:{) München, Oldenburg, 1877.
22
Adolf Gottstein.
von Lexis.1) Ein ausführliches neueres Handbuch der medizini¬
schen Statistik, einschließlich der pathologischen Vorgänge von
Pr in z in g verfaßt, hat soeben die Presse verlassen.2) Eine genaue
kritische Darstellung der Geschichte der Bevölkerungsstatistik
bringt W e s t e r g a a r d in der zweiten Auflage seines Werkes ; eine
ganz kurze Übersicht findet sich in meinem oben zitierten Vortrag
zur Geschichte der Kindersterblichkeit.
Danach kann man drei Perioden der Bevölkerungsstatistik
unterscheiden. Die erste ist die der rein naiv beschreibenden Dar¬
stellung. Sie beginnt mit dem Werke des Londoner Kapitän
Gr au 11t, der einer Anregung seines Freundes Petty folgend die
Totenzahl der Stadt London 1667 zu einem kleinen Werke „Na¬
türliche und politische Bemerkungen über die Totenzahlen der Stadt
London“ verarbeitete. Von seinen Zahlenangaben ist für uns selbst
zu Vergleichen nicht mehr viel brauchbar; höchstens sind sie für
nosologisch-historische Betrachtungen verwendbar. Bewundernswert
ist aber heute noch der Scharfsinn und die Unbefangenheit, mit
der G raunt sein Material für Schlußfolgerungen über Bevölke¬
rungsbewegungen heranzog. Fast in dieselbe Zeit fällt die Arbeit
des Astronomen Halley, der durch die Vermittlung von Leib-
nitz sich das Zahlenmaterial der Stadt Breslau verschaffte und
auf Grund dieser nach Geburts-, Todesjahr und Geschlecht ge¬
trennten Angaben 1693 die erste Sterbetafel konstruierte. Zu
Anfang des 18. Jahrhunderts sammelten der Breslauer Arzt
Kund mann und der Berliner Arzt Go hl das Zahlenmaterial
ihrer Vaterstädte und verwandten es für medizinalstatistische
Studien. Den Höhepunkt erreichte dieser Abschnitt in dem Werke
von Johann Peter Süßmilch „Betrachtungen über die Gött¬
liche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes
aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung erwiesen“ (1. Aufl.,
2 Bände, 1749. Seither zahlreiche neue Ausgaben und ein dritter
von Bau mann herausgegebener Ergänzungsband mit umfang¬
reichem Zahlenmaterial). Der wissenschaftliche Standpunkt dieses
bahnbrechenden, für lange Zeit vorbildlichen Werkes geht aus dem
0 Jena, Fischer, 1903.
2) Jena, Fischer, 1906. Anmerkung bei der Korrektur. Das Prinz in g’sche
Werk, dessen Erscheinen einen lange ausgesprochenen Wunsch der Bewunderer
seiner Arbeiten erfüllt, bringt nicht nur das vorhandene Material vom Standpunkt
des Arztes in übersichtlicher Form, sondern verarbeitet es zu klaren, vorsichtigen
und darum um so eindrucksvolleren Schlußfolgerungen. Besondere Berücksichtigung
findet die Soziale Hygiene.
Hie Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
23
Titel hervor; seine eingehenden Tabellen und Angaben sind noch
heute für historische, epidemiologische und statistische Arbeiten
von Interesse. Süßmilch regte in den folgenden Jahrzehnten
zahlreiche Ärzte zu ähnlichen Arbeiten an.
Die zweite Periode stützt sich auf die seither erfolgte Aus¬
bildung der mathematischen Unterlagen der Statistik, deren Aus¬
gangspunkt die durch Euler, Bernoulli, Laplace und
Four nier geschaffene Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde. Der
Fortschritt kam zunächst der Lebensversicherung zugute, für deren
geschäftliche Aufgaben eine theoretische Grundlage gegeben war;
dann aber auch der Durcharbeitung der Gesetze der natürlichen
Bevölkerungsbewegung. Das Hauptwerk dieses Abschnittes ist
das Buch des belgischen Mathematikers und Berufsstatistikers
Qu et eiet „Sur l’homme et le developpement de ses facult.es, un
essai de physique sociale“, Bruxelles 1835. Quetelet suchte aus
seinem oft nicht ganz zuverlässigen und genügend umfangreichen
Material mittels exakter mathematischer Methoden die gesetz¬
mäßigen Erscheinungen im Leben des „homme moyen“ festzustellen.
Er ging in der Ableitung von Gesetzen weiter, als uns heute zu¬
lässig erscheint; wenn er auch in seiner Bearbeitung der Zahlen
streng methodisch verfuhr, so konnte er sich doch in seinen
Schlußfolgerungen von den damals herrschenden naturphilosophi¬
schen Anschauungen und vor allem von dem Einfluß der Theorien
von Malthus nicht genügend frei machen, um immer als unbe¬
fangen zu gelten. Viel extremer aber waren seine Nachfolger, wenn
sie, wie der Königsberger Physiker Moser, an die Stelle der
naiven göttlichen Ordnung von Süßmilch ebenso aphoristisch die
mathematische Formel setzten, nach der sich die Zahlen der Todes¬
fälle jeden Alters richten sollten.
Die dritte noch jetzt wirkende Richtung der medizinischen
Statistik verzichtet auf die Auffindung von Formeln und Gesetzen,
die den Tatsachen Gewalt antun; entsprechend den Grundlagen
naturwissenschaftlicher Methodik beschränkt sie sich darauf, ein
möglichst zuverlässiges Material herbeizuschaffen, auf seine Brauch¬
barkeit streng zu prüfen und die sich aus ihm ergebenden Schlu߬
folgerungen nur beschreibend abzuleiten. Im Gegensatz zur x4r-
beitsrichtung ihrer Vorgänger, die hauptsächlich das Bleibende, das
Gesetzmäßige anlockte, richten sich ihre Studien auf die Ergründung
der Veränderungen, welche die Zahlen unter dem Einfluß
der sich entwickelnden biologischen und sozialen Gestaltung der
Gesellschaft erfahren. Im Laufe des großen Zeitraums rastloser
24
Adolf Gottstein,
Arbeiten ist eine Fülle von Tatsachen festgestellt, deren Kenntnis
durch Sonderstudien erworben werden muß.
Der Gegenstand der medizinischen Statistik ist die Bevölke¬
rungsbewegung, die durch natürliche Veränderungen und durch
Wanderungen beeinflußt wird. Auch die letzteren Veränderungen
beanspruchen die Beachtung des medizinischen Statistikers, weil
sie die Behandlung und Verarbeitung des Materials ganz wesent¬
lich verändern können und darum bei Vernachlässigung zu Fehl¬
schlüssen Anlaß geben. Ihr Einfluß muß daher erst durch be¬
stimmte Methoden ausgeschaltet werden, ehe das Material zu
Schlußfolgerungen für medizinische Zwecke verwendbar wird. Die
medizinische Statistik umfaßt vorzugsweise die Lehre von den
Geburten, Sterbefällen, Eheschließungen, Krankheiten und die
gegenseitige Beeinflussung dieser Vorgänge. In der Lehre von
den Geburten kommen z. B. folgende Fragen in Betracht: die
absolute Geburtenzahl in räumlicher Verteilung und in zeitlichem
Verlauf, der Einfluß der Jahreszeiten, die Geburtenhäufigkeit, das
Geschlechtsverhältnis bei ehelichen und unehelichen Kindern, die
Totgeburten, die einfachen und Mehrlingsgeburten, Ehelichkeit und
Unehelichkeit. Bei der Behandlung der Sterblichkeit sind
die Hauptfragen, die untereinander mehrfach kombiniert werden
können, die folgenden: Absolute Sterblichkeit insgesamt und im
Vergleich zu den früheren Zeitabschnitten, Einfluß der Jahres¬
zeiten, des Geschlechtes, Sterbe Verhältnis nach den Lebensaltern,
Sterblichkeit nach Beruf, Wohnort, Vermögenslage, Todesursachen.
Das Verhältnis der Geburtenzahl zur Sterblichkeit in der Zeit-
und Ortseinheit bildet das Maß für die natürliche Bevölkerungs¬
zunahme bzw. -abnahme. — Welche Fülle von Arbeiten die weitere
Spezialisierung dieser Hauptabschnitte gezeitigt hat und mit der
Änderung der jeweiligen Verhältnisse (Epidemien, Kriege, soziale
Einflüsse, neue Heilmethoden) ständig anregt, braucht nicht be¬
sonders betont zu werden. Einen der umfangreichsten und der
größten Zerlegung fähigen Abschnitte bildet die Kindersterblich¬
keit, bei der Ernährung, soziale Stellung, Familienstand (ehelich
oder unehelich), geographische Lage, Lebensalter und Gesundheits¬
zustand der Eltern, Stellung in der Geburtenfolge die Hauptpunkte
der Differenzierung sind.
Bei der Untersuchung dieser Fragen ist die Sachverständigkeit
des Arztes gar nicht zu entbehren, namentlich wenn es die Er¬
örterung von pathologischen Zuständen gilt. Et numerandae sunt
observationes — et perpendendae. Ein schlagendes Beispiel hierfür
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
25
gibt ein Vorgang aus jüngster Zeit. Seit fast 100 Jahren ist es
ein Rätsel der Bevölkerungsstatistik, daß das Geschlechtsverhältnis
der Geburten bei Ehelichen und Unehelichen ein verschiedenes ist.
An diesem Rätsel erprobten zahlreiche Statistiker in kühnen Hypo¬
thesen ihren Scharfsinn. Der Jenenser Gynäkologe B. S. Schultze *)
weist nun, gestützt auf klinische Erfahrungen und auf Zahlen¬
material darauf hin, daß es sich wahrscheinlich gar nicht um einen
Lebens vor gang handelt, sondern daß der ganze Unterschied in
abweichenden Bedingungen des Sterbens liegen muß. Unter den
Totgeborenen der unehelichen Mütter sind weniger Knaben, als
unter den ehelich Totgeborenen, wTeil bei den unehelichen Geburten
die Zahl der vor der Geburt Absterbenden, der Faultoten,, größer
ist und bei diesen die größere Gefährdung der Knaben durch den
Geburtsakt selbst fortfällt. Nach Abrechnung der Totgeburten aber
besteht kein Unterschied des Geschlechtsverhältnisses bei unehe¬
lichen und ehelichen Geburten mehr.
Die Erörterung der Sterblichkeitsverhältnisse hat zur Aus¬
bildung einer strengen Methodik in der Behandlung der Fragen
geführt, wobei als Vergleichspunkte die für jede Bevölkerungsmasse
empirisch zu berechnende mittlere und wahrscheinliche Lebensdauer
eine Rolle spielen. Die Grundlage für Vergleichsbetrachtungen
und für praktische Zwecke des Versicherungswesens bildet die
Sterbetafel, die mühselig durch umständliche Rechnungen und
Korrekturen für eine bestimmte Bevölkerungsmasse die Ab-
sterbeordnung nach Lebensaltern angibt; die zugrunde gelegte
Bevölkerungsmasse kann die Zahl der Lebenden eines ganzen
Landes, nach Geschlechtern getrennt, einer Stadt oder eines ein¬
zelnen Staates sein. Die erste Absterbeordnung berechnete 1693
Halley. Er ging von der Voraussetzung der Konstanz der Be¬
völkerung ohne Berücksichtigung von deren regelmäßiger Zunahme
durch den Geburtenüberschuß aus. Halley bezog daher einfach
die Zahl der in einem Jahre vorgekommenen Todesfälle nach ihrem
Alter auf die Geburtenzahl des gleichen Jahres und konstruierte
deren Absterbeordnung auf Grund der Verteilung der beobachteten
Todesfälle ihres Geburtsjahres nach Lebensjahren. Jetzt braucht
man zwei Methoden zur Herstellung von Sterbetafeln. Die direkte
oder Hermann’sche Methode verfolgt sämtliche Individuen eines
bestimmten Zeitraums von der Geburt bis zum Tode; sie ist natür¬
lich nur anwendbar, wenn diese Voraussetzung ausführbar ist, also
l) Winckels Handbuch der Geburtshilfe. Wiesbaden 1905.
26
Adolf Gottstein.
in abgeschlossenen Bevölkerungen ohne nennenswerte Wanderungen
und für einen bestimmten Lebensabschnitt, nämlich vorzugsweise
das Kindesalter. Wo diese Voraussetzung nicht zutrifft, also in
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, bedarf es der indirekten
Methode. Diese stellt für die Geburten eines Zeitabschnittes die
Zahl der Todesfälle im ersten Lebensjahre fest; auf den Rest der
Lebenden wird die Zahl der relativen Todesfälle des zweiten
Lebensjahres reduziert usw. ; hierbei sind verschiedene Kontrollen
nötig, vor allem die Herstellung des Gleichgewichts von Lebensjahr
und Kalenderjahr. Durch die Sterbetafel wird nicht nur den
Forderungen der Versicherung genügt; es ergibt sich auch aus ihr
der natürliche Altersaufbau einer Gesellschaft im Gegensatz zu
dem künstlichen, welchen unsere sozialen Bedingungen schaffen. Aus
der Absterbeordnung folgt auch die Erkennung einer typischen
Kurve des Absterbens, welche in dem ersten Lebensjahre den
höchsten Punkt erreicht, steil bis zum frühen Jünglingsalter ab¬
sinkt, dort den Tiefstand erreicht und dann langsam aber stetig
bis zu den höchsten Lebensaltern ansteigt. Die Sterblichkeitskurve
der beiden Geschlechter verläuft verschieden, die der einzelnen
Krankheiten deckt sich entweder für die einzelnen Lebensalter
annähernd mit ihr (Cholera asiatica, Pneumonie) oder sie zeigt
einen mehr oder weniger abweichenden Verlauf (z. B. Kinderseuchen,
Krebs). Der Vergleich der Sterbetafeln verschiedener Zeitabschnitte
und Länder berechtigt zu wichtigen Folgerungen über Änderungen
der Sterblichkeit.
Bei ärztlichen Untersuchungen über die Sterblichkeit zu ver¬
schiedenen Zeiten, in verschiedenen Ländern oder an verschiedenen
Krankheiten werden häufig genug von Ungeübten zwei fundamentale
Fehler gemacht, die man sich nur einmal klar gemacht zu haben
braucht, um sie für immer zu vermeiden. So beziehen Viele, um
das Vergleichsmaterial gleichnamig zu machen, die Zahl der Todes¬
fälle auf die Gesamtzahl der Bevölkerung. Diese Bevölkerungs¬
massen aber zeigen in verschiedenen Orten und zu verschiedenen
Zeiten infolge der Wanderungen und anderer Ursachen mehr oder
minder große LTngleichheit durch verschiedene Besetzung der Alters¬
klassen. In den Großstädten z. B. sind die arbeitskräftigsten,
jüngeren und gesünderen Elemente durch Zuwanderung viel stärker
vertreten, als dem natürlichen Aufbau der Bevölkerung durch Ge¬
burtennachwuchs entsprechen würde; dagegen ist die Zahl der dem
Tode gegenüber viel widerstandsloseren Kinder und Greise eine
verhältnismäßig geringere als in der Gesamtbevölkerung oder auf
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
27
dem Lande. Noch krasser wird der Fehler, wenn man die Todes¬
fälle an den Krankheiten einer Lebensstufe oder eines Geschlechts
(Kinderkrankheiten, Puerperalfieber) auf die Gesamtbevölkerung
bezieht und dann Vergleiche anstellt. Es ist daher unumgänglich
nötig, die Zahl der Gestorbenen nach Altersklassen zu teilen, auf
die Lebenden derselben Altersklassen und desselben Geschlechts
zu beziehen und dann erst zu vergleichen. Ein zweiter Fehler
besteht darin, Schlußfolgerungen daraus zu ziehen, daß man den
Anteil einer Todesursache an der Gesamtzahl aller Todesfälle ohne
Rücksicht auf die Zahl der Lebenden in den einzelnen Lebens¬
altern untersucht. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung dieser An¬
gaben kann die Untersuchung des Anteils einer Krankheit an der
Gesamtsterblichkeit immerhin wertvoll sein; ohne sie aber sind
große Irrtiimer möglich. Denn die einzelne Todesursache kann
scheinbar zugenommen haben, während sie konstant blieb oder
sogar abnahm, nur nicht in solchem Grade wie die Gesamttodes¬
ziffer; und umgekehrt, eine Todesursache hat scheinbar abgenommen,
weil durch das Herrschen einer Epidemie die Gesamtsterblichkeit
enorm angestiegen ist. So hat noch neulich ein Hygieniker auf
die enorme Höhe der Tuberkulosesterblichkeit im schulpflichtigen
Alter hingewiesen, während die Sterblichkeit an Tuberkulose hier
die geringste von allen Altersklassen ist; sie bat nur in diesem
Alter nicht annähernd so stark abgenommen wie die anderen Todes¬
ursachen und spielt daher eine relativ größere Rolle als die anderen
Todesursachen. Es ist dies vom prophylaktischen Standpunkt
immerhin wichtig genug, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,
daß wegen der Kleinheit der absoluten Sterblichkeitsziffern in
diesem Lebensalter der relative Unterschied perspektivisch ver¬
größert erscheint. Am besten erleichtert bei Zweifeln in die
Methodik die graphische Darstellung das Verständnis. Wenn man
sich auf einer Tafel, um bei dem eben erwähnten Beispiele zu
bleiben, drei Kurven einzeichnet, die absolute Zahl der Lebenden
nach Altersklassen, die absolute Zahl der Todesfälle an allen
Krankheiten und die absolute Zahl der Todesfälle an Tuberkulose,
so ergibt der Abstand der Kurven in den einzelnen Lebensjahren
einen Anhalt für das relative Verhältnis der drei Werte. Ja schon
die Einzeichnung zweier Kurven, der relativen Sterblichkeit an
allen Krankheiten und an Tuberkulose allein nach Altersklassen,
schützt vor falschen Folgerungen. Ebenso mag man bei Vergleichen
verschiedener Zeiträume verfahren, wobei die horizontalen Ab¬
schnitte die Kalenderjahre bedeuten und die einzelnen Kurven die
28
Adolf Gottstein,
Zahl der Lebenden, die Gesamtsterbliclikeit und die Sterblichkeit
an einer bestimmten Krankheit darstellen.
Welche feinen Aufschlüsse wir bei der Behandlung der medi¬
zinischen Statistik als einer eigenen naturwissenschaftlichen
Forschungsmethode erzielen können, das beweisen z. B. die Unter¬
suchungen von Ralits und Würzburg in den Arbeiten des
Reichsgesundheitsamts, von Geißler in den amtlichen sächsischen
Veröffentlichungen und vor allem die zahlreichen Arbeiten von
F. Prinz ing, der diesen Zweig der Statistik so erfolgreich zu
einem eigenen Arbeitsgebiet ausgestaltet hat.
Angewandte Statistik.
Die statistische Arithmetik hat scheinbar nur zufällig mit der
Statistik dadurch etwas zu tun, daß sie sich auf deren Material
beruft. Ihre Technik wird von vielen für außerordentlich einfach
gehalten, und doch beruhen ihre Voraussetzungen unmittelbar auf
den kompliziertesten Problemen der Mathematik, doch ist ihre
Anwendung mit so viel Fehlerquellen verknüpft, wie die schwierigste
experimentelle Methode. Den Grundideen nach ist sie ebenfalls
eine experimentelle Methode, bei der die Folgerichtigkeit der
Fragestellung und die Fehlerlosigkeit der Versuchsanordnung ebenso
wie bei den biologischen Experimenten den Erfolg entscheidet.
Die angewandte Statistik ist, ohne daß dies immer ohne weiteres
ersichtlich ist, die häufigste Grundlage aller Schlußfolgerungen,
welche die Klinik, die pathologische Anatomie, die Laboratoriums¬
technik aus ihren Versuchen ziehen. Es heißt angewandte Statistik
treiben, wenn der Kliniker aus einigen hundert Beobachtungen den
Schluß auf die Wirksamkeit eines Heilmittels zieht, wenn der
pathologische Anatom aus dem Leichenbefunde die Immunität oder
Disposition bestimmter Organe für eine typische Geschwulstform
erweist, wenn der Experimentator aus zahlreichen Tierversuchen
die Empfänglichkeit oder Unempfänglichkeit einer Tierart gegen
einen Mikroorganismus ableitet. Für andere Versuchsanordnungen
mit experimenteller oder auf Beobachtung gestützter Fragestellung
bildet ferner die statistische Arithmetik die Kontrolle; wenn z. B.
die Wirksamkeit von Desinfektionsmaßregeln, die gegen eine be¬
stimmte Seuche getroffen werden, durch experimentelle Grundlagen
sichergestellt erscheint, so liefert die Untersuchung des Verhaltens
jener Krankheit, der Vergleich der Krankheitsziffern vor und nach
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 29
der Einführung der Desinfektion, die Probe auf die Richtigkeit
der Voraussetzungen. Schließlich bleibt die statistische Arithmetik
die allein mögliche Methode der Feststellung von ursächlichen Be¬
ziehungen, wenn das Problem der direkten experimentellen Prüfung
nicht zugänglich ist, wenn z. B. Versuche ausgeschlossen sind, wie
fast stets in der Pathogenese des Menschen oder wenn das Problem
aus Mangel an Methoden oder wegen des Umfangs der Zeiträume
sich der direkten Beobachtung entzieht, wie z. B. die Frage der
Bedeutung von Krankheitsanlagen , des Zusammenhangs zweier
Krankheiten wie Syphilis und Aneurysma. Die Technik der sta¬
tistischen Arithmetik geht dahin, die zu untersuchende Größe B
mit der bekannten Größe A derart in einen einfachen Vergleich
zu bringen, daß B in jeder Beziehung dem Faktor A gleichartig
und gleichnamig ist. Der Ansatz muß so aufgestellt sein, daß
beide Seiten der Gleichung sich nur durch den zu eruierenden
Faktor unterscheiden. Dann ergibt sich die einfache Formel:
A : B = 100 : X. Grundbedingung aber ist, daß sowohl A wie B
Ergebnisse einer Massenbeobachtung sind, für deren Behand¬
lung die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung feststellende
Methoden angeben.
Diese erste Forderung beruht auf der mathematischen Theorie
der Statistik, die auf den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
aufgebaut ist und deren elementare Grundlage sich jeder zu eigen
gemacht haben muß, der sich bei Anwendung der statistischen
Arithmetik vor Trugschlüssen bewahren will. Die Wahrscheinlich¬
keit eines Ereignisses wird ausgedrückt durch einen Bruch, dessen
Zähler die durch Beobachtung festgestellte Zahl der wirklichen
Fälle, dessen Nenner die Zahl aller möglichen Fälle ist. Unsere
Mortalitäts- und Letalitätsbestimmungen sind alle Wahrscheinlich¬
keitswerte. Die Wahrscheinlichkeit für einen Mann im dritten
Lebensdezennium an Unterleibstyphus zu erkranken, ist die Zahl
der innerhalb einer gegebenen Bevölkerung beobachteten Erkran¬
kungen dieses Lebensalters und Geschlechts dividiert durch die
Zahl aller lebenden Männer des dritten Dezenniums. Die Wahr¬
scheinlichkeit, aus einer Urne, die je eine schwarze und eine
weiße Kugel enthält, eine weiße Kugel zu ziehen, ist gleich ’/V
In der Wirklichkeit verhält es sich aber durchaus nicht so, daß,
wenn ich viermal nacheinander in die Urne greife, ich je zweimal
eine weiße und zweimal eine schwarze Kugel finde. Hier spielt
der unberechenbare Zufall mit. Nun lehrt das von Bernoulli
aufgestellte und mit großem Scharfsinn mathematisch bewiesene
30
Adolf Gottstein,
Gesetz der großen Zahlen, daß, wenn dieser Versuch sehr
*
oft hintereinander angestellt wird, die nach der einen oder anderen
Seite ausschlagenden zufälligen Einwirkungen sich gegenseitig
kompensieren ; bei etwa 10 000 Ziehungen nähert sich das Ergebnis
der Beobachtung dem Wahrscheinlichkeitskalkul derart, daß an¬
nähernd in je 5000 Fällen eine weiße oder eine schwarze Kugel
gezogen wird. Und zwar sind die Abweichungen vom erwarteten
Ergebnis um so geringer, je größer die Zahl der Ziehungen ist.
Die zur Untersuchung herangezogene Masse setzt sich nun
aus einer großen Zahl von Einzelbeobachtungen zusammen, deren
jede ihre eigene von zufälligen Einflüssen bedingte Abweichung
vom Mittelwert bietet, den zufälligen Fehler, der nach oben oder
unten mehr oder weniger vom Durchschnitt abweicht und der die
Folge einer Fülle von Ursachen ist, die bei dem statistischen Ex¬
periment ausgeschaltet werden sollen. Die Ausschaltung dieser
Fehlerquellen ist die zweite Aufgabe des Beobachters, der sein
Material gleichartig zu machen hat. Die Größe des Fehlers
ist auf die Richtigkeit des Schlusses bei der Zusammenfassung
in der Massenbeobachtung von entscheidender Bedeutung; es ist
daher erforderlich, den Umfang der Masse des Materials so groß
zu wählen, daß die Exkursionen der zufälligen Fehler nach oben
oder unten vom Durchschnitt keinen Einfluß auf die Gleichartigkeit
des Materials gewinnen können. Für die Berechnung der Be¬
ziehungen zwischen der Höhe des „mittleren Fehlers“ und der zu
seiner Ansschaltung erforderlichen Größe des Beobachtungsmaterials
hat die höhere Mathematik eine Reihe von Methoden angegeben,
die bei so exakten Forschungen, wie sie die Astronomie oder die
Lebensversichernngsteclinik beansprucht, angewendet werden müssen.
Für unsere Zwecke genügt oft eine elementare Betrachtung der
einzelnen Bestandteile des Massenobjekts, aus denen man ersieht,
ob die zufälligen Schwankungen um den Gesamtdurchschnitt nicht
größer sind als die Abweichungen, die uns erst auf einen besonderen
ursächlichen Faktor schließen lassen. Wenn man z. B. die Wirkung
eines Heilmittels gegen eine bestimmte Krankheit untersucht, etwa
der kalten Bäder gegen Unterleibstyphus, und feststellt, daß der
Durchschnitt der Letalität vor jener Behandlung 15 Proz., nach
Einführung der Kaltwasserbehandlung 8 Proz. betrug, so ist der
Schluß auf eine Heilwirkung der Bäder noch nicht zulässig ohne
Diskussion des Vergleichsmaterials. Zeigt sich nämlich, daß dieses
sich aus einzelnen Epidemien zusammensetzt, bei denen die Letalität
zwischen 4 und 30 Proz. schwankte, so sind diese Schwankungen
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
31
zu groß, um die Ergebnisse eines kurzen Zeitraums der Bäder¬
behandlung für Schlüsse als ausreichend zu betrachten. Will man
dann die Brauchbarkeit seines Materials rechnungsmäßig prüfen,
so ist die ziemlich elementare Formel von Gavarret1) sehr
nützlich zur Bestimmung der Größe des zulässigen mittleren Fehlers
in ihrem Verhältnis zum Umfang des Beobachtungsmaterials. Wenn
bei dem Vergleich zweier Ergebnisse die W ahrscheinlichkeitswerte
M
des einen Ereignisses = , die des anderen
K
m
sind, so müssen
nach der Formel von Gavarret die zulässigen Fehler, d. h. die
zu vernachlässigenden Abweichungen vom Mittel innerhalb der
Werte
M
R ±
-1/ 8 M (R— M) , m
(/ - jp - - bzw- r
4"
8 m (r— nn
liegen, wenn bei der gegebenen Größe des Materials von einer
ausreichenden Zuverlässigkeit der Schlußfolgerung die Rede sein
soll. Liegen die durch Beobachtung festgestellten Abweichungen
der einzelnen Gruppen vom arithmetischen Mittel innerhalb der
aus der Formel berechneten Grenzen, so darf man sich beruhigen.
Ist dies nicht der Fall, so kann man durch Einsetzen der be¬
obachteten Werte der Fehlergrenzen in die Formel für R und r
die Größe des Materials berechnen, die erforderlich ist, um Schlüsse
zuzulassen. Beispiele für die Anwendung und Tabellen zur Er¬
leichterung der Rechnung finden sich in dem Werke von Fick.
Mit dem Hinweis auf diese exakte Methode ist zugleich der Ein¬
wand widerlegt, der so oft von statistischen Laien gegen den Wert
des Verfahrens gemacht wird, daß das persönliche Urteil des Unter¬
suchers maßgebender sei, als die alle feineren Unterschiede nivel¬
lierende Massenbeobachtung. Denn gewiß ist das Material der
Massenbeobachtung in seinen einzelnen Bestandteilen von sehr un¬
gleicher Zusammensetzung, aber wir haben Methoden, um festzu¬
stellen, ob diese Ungleichheiten wesentlich sind oder sich im Raum
der großen Zahlen genügend ausgleichen, um vernachlässigt wrerden
zu dürfen.
Ist die erste Aufgabe erfüllt, daß A und B groß genug sind,
um nach den Anforderungen des Gesetzes von den großen Zahlen
die kleineren Fehler zu kompensieren, daß also das Material
gleichartig ist, so entsteht die zweite Forderung, daß die ver-
b Vgl. A. Fick, Die medizinische Physik, Anhang über Wahrscheinlich¬
keitsrechnung. Braunschweig, Vieweg, III. Aufl., 1885.
32
Adolf Gottstein,
giichenen Größen absolut gleichnamig gemacht werden. Um
diese Bedingung zu erfüllen, bedarf es der Kenntnis des Tatsachen¬
materials der medizinischen Statistik. Will man z. B. die Sterblich¬
keit an einer bestimmten Krankheit nach Stadt und Land oder für
verschiedene Zeitabschnitte bestimmen, so muß eine Berechnung
auf gleiche Altersklassen bei deren verschiedenem Altersaufbau
erfolgen; die gröberen Differenzen liegen meist klar zutage; es
bedarf aber weiter durch genaues Studium der Sonderbedingungen
in jedem einzelnen Falle eines möglichst genauen Ausgleichs der
Ungleichheiten, bis schließlich nur ein einziger Unterschied übrig
bleibt, derjenige, der Anlaß zur Fragestellung gegeben hat. Hier¬
bei kann man nicht skeptisch und kritisch genug Vorgehen, um
innere Ungleichheiten durch Deduktionen auszuschalten. Bei der
Vielfältigkeit der erstehenden Aufgaben lassen sich bestimmte
Kegeln nicht aufstellen. Hier ist eingehende Kenntnis der Lehren
der Bevölkerungsstatistik, genaue Durchforschung des Einzelfalles
und Anwendung von Scharfsinn dringend geboten, um alle Un¬
gleichheiten zu durchdringen und auszuschalten, die der Einzelfall
bietet. Und wenn schließlich das Ergebnis dahin geht, daß der
Vergleich das Einwirken einer besonderen Ursache erschließen läßt,
so soll man neunmal prüfen, ob nicht eine übersehene innere Un¬
gleichheit das Resultat ganz oder teilweise herbeigeführt hat, bis
man endlich beim zehnten Male auf eine Bestätigung der gemachten
Annahme schließt. Die Fähigkeit, die statistische Arithmetik zu
beherrschen, läßt sich darum nur durch Studium und Übung er¬
werben, sie ist nicht angeboren. Hat man endlich einen ganz
einwandsfreien Vergleichsansatz gemacht, so ist sowohl die Gleich¬
heit wie die Ungleichheit der beiden Seiten beweisend. Im letzteren
Falle ist die Mitwirkung der besonderen Ursachen dargetan, im
ersteren Falle ihre Einflußlosigkeit auf den Ablauf der Erschei¬
nungen.
Oft ist eine gleichnamige Reduktion nicht möglich, weil die
erforderlichen Vergleichszahlen nicht vorhanden sind. Es gilt z. B.
den Einfluß der Wohlhabenheit auf die Kindersterblichkeit an be¬
stimmten Krankheiten zu erörtern ; man kennt die Zahl der Todes¬
fälle und die Vermögenslage der Eltern; aber es fehlt die Angabe
über die Zahl der lebenden Kinder in den einzelnen Schichten.
Oder man will beweisen, daß die Gewohnheit, von je ein schlechter
Esser zu sein, ein disponierendes Moment für die Entstehung einer
späteren Tuberkulose ist. Laienstatistiker halten die Beobachtung,
daß in ihrem Material an Tuberkulösen die Zahl der schlechten
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 33
9
Esser eine auffallend große ist, für ausreichend genug, um aus ihr
allein einen Schluß zu ziehen. Der Statistiker verlangt den Ver¬
gleich mit der Zahl der schlechten Esser in der Gesamtbevölkerung,
die nicht tuberkulös geworden sind, und das Abwägen beider
Werte. Da der Vergleichswert aber fehlt, so verzichtet er auf
Schlußfolgerungen, selbst auf die Gefahr hin, eine zufällig richtige
Beobachtung fallen lassen zu müssen. Für solche Fälle hat aber
Körösy darauf hingewiesen, daß man auf Umwegen zum Ziele
kommen kann; nicht wegen der methodischen Bedeutung des an
sich sehr naheliegenden Verfahrens, sondern wegen der Ermög¬
lichung der Lösung schwierigerer Probleme hat er seinen Kunst¬
griff als eine eigene Methode der „Intensitätsberechnung“ ein¬
geführt.1) Nach Körösy vergleicht man die Veränderungen der
zur Beobachtung stehenden Massengröße mit den Veränderungen,
welche eine andere Massengröße erfährt, die mit ihr den unbe¬
kannten Faktor gemein hat, sich aber von ihr durch das Fehlen
des zu prüfenden Faktors unterscheidet. Das Maß des Zurück¬
bleibens oder der Steigerung gegenüber dem Vergleichsobjekt be¬
zeichnet K. als relative Intensität; es dient ihm zur Erörterung
der Bedeutung des geprüften Faktors. Ein einfaches Beispiel soll
die Anwendung der* Methode erläutern. An einem begrenzten Be¬
obachtungsmaterial einer Säuglingsklinik soll der Einfluß der künst¬
lichen Ernährung auf die Sterblichkeit geprüft werden. Bekannt
ist die Zahl der Todesfälle der verschieden ernährten Kinder, be¬
kannt auch das Verhältnis der mit Mutterbrust und der künstlich
ernährten Säuglinge — 3:7. Spielte die Ernährung keine Rolle,
so müßte auch das Verhältnis der Sterblichkeit beider Gruppen
= 3:7 sein. Tatsächlich ist es aber 1 : 15. Folglich ist die
Intensität der Sterblichkeit der künstlich ernährten Kinder an
diesem Material 6—7 mal so groß als die der Brustkinder. Beispiele
komplizierterer Fälle finden sich bei Körösy.
Ist man nach Überwindung aller technischen Schwierigkeiten
zu dem Ergebnis gekommen, daß eine ganz bestimmte Ursache
bei der Abweichung des Ergebnisses von dem Vergleichsobjekt
eingewirkt hat, so ist hiermit die Wirkungssphäre der statistischen
Arithmetik erschöpft; über die innere Beziehung zwischen Ursache
und Wirkung vermag sie nicht Auskunft zu erteilen; wer derartige
Anforderungen stellt, verkennt die Grenzen der Anwendbarkeit des
b Armut und Todesursachen, Zugleich ein Beitrag zur Methodologie der
Statistik. Willi. Seidel, 1886 und Ztschr. f. Hygiene, Bd. 18.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 8
34
Adolf Gottstein,
Verfahrens. Mit besonderer Schärfe und Klarheit hat F. Martius
diese Grenzen der Methodik betont.1) Höchstens vermag die
Methode durch Teilung des Materials, wofern eine solche möglich
ist, die ursächlichen Beziehungen schärfer zu fassen. Ein Beispiel
mag auch hier diesen Satz erläutern. Im Juni des Jahres 1889
stieg die Gesamtsterblichkeit in Berlin in ungewöhnlichem Maße
an, so daß die Annahme einer besonderen Ursache unerläßlich war.
Eine Teilung des Materials nach Altersklassen und Todesursachen
ergab, daß diese Übersterblichkeit auf das Konto der Säuglinge
und ihrer Sterblichkeit an Brechdurchfall kam. Die weitere Teilung'
nach dem Gesichtspunkt der Ernährung lehrte weiter, daß von
2969 Todesfällen dieser Gruppe allein 2424 Todesfälle auf Kinder
fielen, die mit Tiermilch allein oder mit Tiermilch und Surrogaten
ernährt wurden. Ein Studium der Temperaturverhältnisse zeigte
schließlich, daß der Juni 1889 in vierzigjährigem Zeitraum die
höchste Temperatur bot, die überhaupt, nicht bloß in jenem Monat,
in Berlin zur Beobachtung gekommen war. Eine Teilung nach der
Wohnungsgröße und -läge durch Intensitätsberechnung ergab, daß
die ärmere Bevölkerung den Hauptanteil an der Sterblichkeit trug.
Eine weitere Teilung des Materials ist nicht möglich. Die sta¬
tistische Methode berechtigt also zu dem Schluß, daß die abnorme
Sommerhitze durch Beeinflussung der künstlichen Säuglingsnahrung
namentlich in den ungünstigen Wohnungen der ärmeren Bevölkerung
die gesteigerte Sterblichkeit verursacht hat. Über den inneren
Zusammenhang ein Urteil abzugeben, ist die Statistik nicht zu¬
ständig, das mußten weiter die klinische Beobachtung und die ex¬
perimentelle Methodik entscheiden, wie sie das im vorliegenden
Falle ja auch wirklich getan haben. Hat die Statistik das Vor¬
handensein ursächlicher Beziehungen erwiesen, so ist sie ferner
nicht in der Lage zu entscheiden, was Ursache, was Wirkung ist.
Wenn z. B. der Löffler’sche Bazillus sich selbst bei 25 Proz.
gesunder Individuen auf den Schleimhäuten findet, dagegen bei
mehr als 90 Proz. solcher Menschen, welche das klinische Bild der
Diphtherie darbieten, so hieße es die Gesetze der Logik verleugnen,
wenn man einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der spe¬
zifischen Krankheit und dem Vorkommen des Keims in ihren
Produkten bestreiten wollte. Ob aber das Vorkommen des Bazillus
die Ursache oder die Folge der pathologischen Veränderungen ist,
0 Virchow’s Archiv, Bd. 83, und Pathogenese innerer Krankheiten. Teplitz
u. Deudike, 1Ü00.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
35
das kann die Erörterung des Zahlenverhältnisses nicht entscheiden.
Dafür ist der Kliniker und der Bakteriologe zuständig, der aus seinen
Versuchen und Beobachtungen den Beweis zu erbringen hat, daß der
Keim spezifisch und der Erreger der Krankheit ist. Nur darf er seiner¬
seits wiederum nicht verlangen, daß man ihm blindlings folgt, wenn
er weiter nichts als das Zahlenverhältnis für den inneren Zusammen¬
hang der ursächlichen Bedeutung vorzuführen vermag.
Auch verrät schließlich die Aufdeckung der ursächlichen Be¬
ziehungen nichts darüber, ob der kausale Zusammenhang ein un¬
mittelbarer ist und nicht vielmehr über viele Zwischenglieder wirkt.
Im obigen Beispiel der Juniepidemie des Jahres 1889 war der Zu¬
sammenhang zwischen Sommerhitze und Verderbnis der Kuhmilch
ein unmittelbarer ohne weitere Zwischenglieder. Das hat aber
nicht der statistische Schluß ergeben, sondern die biologische Er¬
fahrung. Wenn jedoch z. B. der Nachweis geliefert wird, daß die
Zahl der Knöchelbrüche im Winter eine erheblich größere ist als
im Sommer, so würde sich niemand der Lächerlichkeit des Schlusses
aussetzen wollen, daß die Winterkälte unmittelbar die Knochen
brüchiger mache. Und doch darf lediglich auf Grund der Tatsache,
daß im Sommer die Zahl der Grippen und Katarrhe erheblich ge¬
ringer ist als im Winter, ungestraft behauptet werden, daß dies
auf die bakterientötende Wirkung der Sonnenstrahlen zurückzu¬
führen sei. Wieviel Zwischenglieder zwischen den beiden End¬
punkten der Kausalreihe Klima und Zahl der Grippeerkrankungen
deren Abhängigkeit der Zahlenansatz ergibt, eingeschaltet sein
mögen, darüber gibt dieser Ansatz gar keinen Aufschluß. Wenn
also bei dem statistischen Experiment durch vorsichtigste Anord¬
nung und scharfsinnige Fragestellung endlich alle Schwierigkeiten
überwunden sind, und das Ergebnis fertig und einwandsfrei zutage
tritt, so gilt bei der Ziehung der Schlüsse nirgends mehr als hier
das Wort: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Wenn
man aber die Grenzen dieser Methode kennt und beachtet, so ge¬
währt auf dem Gebiete der biologischen Wissenschaften kaum eine
andere Art der wissenschaftlichen Fragestellung eine solche Sicher¬
heit wie gerade die statistische Arithmetik. Das beweisen z. B.
folgende Beispiele aus der neueren Literatur, in denen es gelang,
lediglich mittels der statistischen Methode für bestimmte schwierige
Probleme aus der Pathogenese des Menschen ganz eindeutige
Lösungen zu finden. So stellt Westergaard1) das statistische
x) Lehrbuch, 2. Aufl., S. 512 — 522.
3*
36 Adolf G ottstein, Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben u. Ziele.
Material zusammen und vermehrte es durch eigene Beobachtungen,
aus denen hervorgeht, daß die Abkömmlinge aus Familien, in
denen Fälle von Schwindsucht vorgekommen sind, eine größere
Wahrscheinlichkeit haben, später an Schwindsucht zu erkranken,
als der Durchschnitt. In besonders fein ausgebildeter Methodik
zeigte ferner W. Weinberg,1) daß die überlebenden Ehegatten
Schwindsüchtiger eine doppelt so hohe Schwindsuchtssterblichkeit
haben wie die Gesamtbevölkerung; er schließt, daß hierbei der
Gefahr direkter Ansteckung eine erhebliche, wenn auch, wie er
weiter ausführt, nicht ausschließliche Bedeutung zukommt. Wein¬
berg2) zeigte ferner, daß umgekehrt bei der Verfolgung des
Schicksals der Ehegatten von Krebskranken das Zahlenverhältnis
keinen Anhaltspunkt für eine gesteigerte Erkrankungsgefahr er¬
gibt, daß vielmehr die Zahl der beobachteten Fälle von Krebs
beider Gatten (Cancer ä deux) innerhalb der Grenzen der Erwartung
liegt, ein nach Methodik wie Ergebnis gleich bemerkenswerter
Schluß. A. Gottstein3) und G. Flor schütz4) zeigten, daß die
Wahrscheinlichkeit, an Lungenschwindsucht zu erkranken, für
Menschen mit einem Mißverhältnis von Brust- bzw. Bauchumfang
und Körpergröße größer ist als für den Durchschnitt und daß dieses
Mißverhältnis nicht die Folge latenter Erkrankung ist, sondern
ihr der Zeit nach vorausgeht. Damit ist auf indirektem Wege die
Bedeutung konstitutioneller Minderwertigkeit für die Begünstigung
des Umsichgreifens einer tuberkulösen Infektion bewiesen.
Die statistische Arithmetik ergänzt also in Fällen, die, wie
die oben erwähnten, der direkten experimentellen und klinischen
Beantwortung nicht zugänglich sind, erfolgreich die Lücken der
Untersuchungsmethodik.
(Schluß folgt.)
1) Beiträge zur Ivliuik der Tuberkulose, V, 4.
2) Zeitschrift für Krebsforschung, Bd. II u. IV.
3) Med. Reform, 1905.
4) Berichte des II. Kongresses für Versicherungsmedizin. Mittler, 1906, Bd. I.
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen
Gehilfen in vielen Berufen.
Von Dr. med. Fr. Prinzing, Ulm.
In einer früheren Arbeit wurde von mir darauf hingewiesen,
daß die Erkrankungshäufigkeit der jungen Arbeiter höher ist als
die der späteren Lebensalter, als Ursache wurde die geringere
Energie der jungen Arbeiter; die auch bei leichten Erkrankungen
eher zu Hause bleiben, und die kleinere Widerstandskraft ange¬
führt.1) Es ist von Wert, dieser Erscheinung weiter nachzugehen,
insbesondere zu untersuchen, bei welchen Berufen sie besonders
getroffen wird, ob sie etwa davon abhängig ist, daß schwächliche
Personen in diese eintreten, durch was sie verursacht wird und
welche Erkrankungsformen sie hauptsächlich bedingen. Wir be¬
schränken uns dabei auf das männliche Geschlecht.
Da zu derartigen Untersuchungen eine Trennung der Gesamt¬
zahl der Kassenmitglieder und der Erkrankten nach Altersklassen
nötig ist und diese Trennung bei den deutschen Krankenkassen fast
nirgends vorgenommen wurde, so ist man hauptsächlich auf außer¬
deutsches, insbesondere österreichisches Material angewiesen. Für
Deutschland liegen nur die Arbeiten Heym’s für die Gegenseitig¬
keit, die Bleicher’s für die Frankfurter und Bockenheimer Orts¬
krankenkassen und einige kleinere Veröffentlichungen vor.
Man findet die höhere Morbidität der jungen Arbeiter mehr,
wenn nur die Krankheiten mit Erwerbsunfähigkeit in Betracht ge¬
zogen werden, viel weniger bei den Krankheiten, die ohne diese
x) Die Erkrankungshäufigkeit nach Beruf und Alter. Ztschr. f. die ges.
StaatsAV., 1902, S. 435.
38
Fr. Prinzing,
einli ergehen. Um einen allgemeinen Überblick zn gewinnen, seien
die folgenden Ziffern mitgeteilt.1) Auf 100 Mitglieder kamen Krank¬
heitsfälle im Jahre
beim Alter von
Frankfurt
(1896)
erwerbsf. erwerbsunf.
Bockenheim
(1896-97)
erwerbsf. erwerbsunf.
Österreich
(1891—95)
erwerbsunf.
unter 15 Jahren
56,5
43,5
49,6
68,6
43,0
16—20 „
66,6
35,1
67,0
63,0
42,3
21—30 „
66,6
35,1
70,9
54,6
43,6
31-40 „
59,6
43,9
69,7
61,6
47,4
41—50 „
59,7
52,6
72,7
66,4
52,6
51 — 60 „
66,8
63,5
79,8
68,2
58,8
über 60 „
65,0
56,0
67,7
76,0
68,2
In allen drei Keihen zeigen die erwerbsunfähig Erkrankten
beim Alter von unter 15 oder von 15 — 20 Jahren eine höhere
Morbidität als die späteren Altersklassen. Dieselbe Erscheinung
findet man bei den Wiener Krankenkassen, bei denen der Morbidi¬
tätsstatistik besondere Sorgfalt zuteil wird. S. Rosenfeld hat
deren Ergebnisse in einer großen und sorgfältigen Arbeit zusammen¬
gestellt.2) Wir entnehmen derselben die Ziffern für die allgemeinen
Arbeiterkrankenkassen und für die Genossenschaftskassen bis zum
40. Lebensjahre; sie beziehen sich auf die Jahre 1892 — 1902. Auf
100 Mitglieder kamen Erkrankungen
beim Alter von
Allgemeine Arbeiterkrankenkasse
o
erwerbsf. erwerbsunf.
Genossenschaftskassen
erwerbsf. erwerbsunf
unter 15 Jahren
16,4
45,9
66,5
46,2
16-20 „
29,7
57,4
27,2
38,8
21—25 „
31,7
53,4
26,5
33,1
26-30 „
28,0
53,3
24,7
29,5
31 — 35 „
27,0
54,4
23,2
30,1
36—40
27,0
55,5
23,8
32,9
Noch viel mehr als bei den oben angeführten Kassen tritt hier
die hohe Zahl der erwerbsunfähig Erkrankten im Alter von unter
20 Jahren hervor.
Es muß hier darauf hingewiesen werden, daß die Feststellung
ö H. Bleicher, Frankfurter Krankheitstafeln, Frankfurt a. M. 1900. —
Nachträgliche Mitteilungen über die Ergebnisse der Krankheitsstatistik der
Krankenkassen in den Jahren 1891—95. Wien 1900. — F. Prinzing, Handb.
der med. Statistik, 1906, S. 106 ff.
2) Die Gesundheitsverhältnisse der Wiener Arbeiterschaft. Stat. Mon., 1905,
N. F., Bd. 10, S. 853 ff.
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 39
der durchschnittlichen Mitgliederzahl bei den österreichischen Kassen
nur annähernd stattfindet; bei den Kassen des ganzen Landes wurde
sie für 1891 — 95 aus den Anfangs- und Endbeständen unter An¬
wendung eines aus der Bewegung des Mitgliederstandes gewonnenen
Korrektionsfaktors berechnet, bei der Allgemeinen Arbeiterkranken¬
kasse nur aus Aufnahmen des Bestandes am Anfang und Ende des
Jahres, bei den Genossenschaftskassen aus diesen und zwei weiteren
Aufnahmen (am 15. März und 15. September). Gerade bei den
Lehrlingen und jungen Gehilfen finden Schwankungen im Bestand
statt: tritt die größere Anzahl im Frühjahr ein, so wird die durch¬
schnittliche Mitgliederzahl zu groß, ist dies im Herbst der Fall,
so wird sie zu klein. Viel genauer ist die Ermittlung des Mit¬
gliederstandes bei den Frankfurter Krankheitstabellen, da hier die
Zahl der Mitgliedertage und aus dieser durch Division mit 365
bzw. 366 die genaue Mitgliederzahl berechnet wurde.
Trotz der höheren Morbidität ist die Dauer der Erkrankung
bei den jungen Arbeitern kleiner als bei den älteren; auf einen
Krankheitsfall mit Erwerbsunfähigkeit kamen Krankentage
beim Alter von
Frankfurt
Bockenheim
Österreich
unter 15 Jahren
14,7
10.3
12,6
16-20
16,4
12,5
13,7
21—30
19,3
12,3
14,3
31—40
22,7
13,9
15,9
41-50 „ .
27,1
17,9
18,6
51-60
32,9
19.4
21,4
über 60 „
38.9
26,0
29,8
Die kürzere Dauer der Erkrankungen beweist, daß das Mehr
derselben nicht durch konstitutionelle Leiden bedingt ist, die durch
die Berufsarbeit eine Verschlimmerung erfahren, sondern durch
leichte Erkältungen und Verletzungen, durch Übermüdung und
andere Dinge. Daß die Mortalität der Lehrlinge und jungen Ge¬
hilfen keine höhere ist, braucht wohl kaum besonders erwähnt zu
werden.
Wir gehen zur Morbidität der einzelnen Berufs arten
über. Die Ziffern der Frankfurter Kasse sind zwar sehr exakt
berechnet, beziehen sich aber leider nur auf ein Jahr, so daß sie
bei der Teilung nach Beruf und Alter sehr klein werden. Es seien
daher nur für die Berufe mit großer Mitgliederzahl die Ziffern an¬
geführt; sie beziehen sich auf die Zahl der Erkrankten, nicht der
Erkrankungen.
40
Fr. Prinzing,
Zahl
der Mitg'lieder
erwerbsf.
Erkrankte
erwerbsunf.
Erkrankte
Ton unter 20 Jahren
14—20 J.
21—30 J.
14—20 J.
21—30 J.
Kautleute
1079
59,1
55,1
21,1
21,0
Schneider
184
40,5
44,1
28,6
20,8
Schreiner
214
31,1
39,6
36,7
33,0
Schmiede, Schlosser
890
42,7
49,0
41,8
35,9
Maler, Lakierer
223
24,0
28,1
30,2
28,7
Buchdrucker
336
39,4
43,3
37,1
28,5
Bierbrauer
43
25,6
32,2
46’5
43 ,5
Fuhrleute, Kutscher
54
28,1
31,6
28.1
31,3
Alle Berufe
7423
424
40,7
30,0
28,7
Bei den erwerbsfähig Erkrankten haben die 14 — 20 Jahre
alten keine höheren Ziffern, dagegen fast stets bei den erwerbs¬
unfähig Erkrankten; am schlechtesten stellen sich die jungen
Schneider, Schmiede, Schlosser und Buchdrucker, doch haben auch
die jugendlichen Schreiner, Maler und Bierbrauer höhere Ziffern,
bei den Kaufleuten und Kutschern ist dies dagegen nicht der Fall.
Sehr großes Material bietet die österreichische Statistik der
Jahre 1891 — 95, in welcher für viele Berufsarten die Morbidität
nach Altersklassen ermittelt ist. Die Ziffern sind teils für Ge¬
nossenschaftskassen, in denen das Kleingewerbe vertreten ist, teils
für Betriebskassen, die dem Großgewerbe entsprechen, berechnet.
Die Mitgliederzahlen sind vom 16. Jahre an zur Berechnung von
Verhältnisziffern genügend groß, im Alter von unter 15 Jahren
dagegen manchmal recht klein, für diese Altersklasse sind daher
die Mitgliederzahlen beigefügt. Zunächst geben wir die Ziffern
für die Genossenschaftskassen.
Beobach¬
tete Per¬
sonen
unter 15 J.
Auf 100 Mitglieder Erkrankungen
unter 15 J.
16— 20 J.
21— 25 J.
26—30 J.
31— 40 J.
Handlungsbedienstete .
471
9,1
18,8
19,1
17,5
17,6
Metzger .
179
16,8
28,5
30,2
30,2
30,1
Schneider .
119
23,5
31,4
27,4
17,2
24,3
Schuhmacher ....
223
27,8
36,1
29,9
23,5
23.4
Drechsler .
49
24,5
29,6
26,6
25,9
24,9
Buchbinder .
68
50,0
35,5
29,5
25,7
25 5
Handschuhmacher . .
44
22,7
33,8
31.4
34,6
31,2
Gold- u. Silberarbeiter
8
12,5
35,0
32,7
25,2
28.3
Lederarbeiter ....
147
22,4
32,8
24,9
24,2
24,3
Bäcker, Zuckerbäcker .
227
20,7
35,0
34,0
28,8
30,7
Schreiner, Wagner . .
66
47,0
33,9
28,6
28,3
29,9
Schlosser, Schmiede . .
350
27,7
41.1
38,8
36,4
32,8
Buchdrucker ....
26
57,7
47,3
39,6
36,9
36.3
Fuhrleute, Kutscher .
9
33,3
21,6
32,6
38,4
41,0
Bauarbeiter ....
953
76,3
52,1
39,4
38,7
42.1
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 41
In Österreich haben die jugendlichen Gehilfen derselben Ge¬
werbe, für die dies in Frankfurt nachgewiesen wurde, hohe Ziffern,
außerdem bei mehreren Gewerben, die in Frankfurt wegen der
kleinen Grundzahlen nicht in Betracht kommen konnten, bei den
Schuhmachern, Buchbindern, Bäckern, Gold- und Silberarbeitern,
Sattlern und Bauarbeitern. Wie in Frankfurt haben auch in
Österreich die jungen Handlungsgehilfen und die Fuhrleute keine
höheren oder nur wenig höhere Ziffern als die späteren Altersklassen,
dasselbe findet sich in Österreich bei den Metzgern, Drechslern und
Handschuhmachern.
Nach Bosenfeld teilen wir einen Teil der Ziffern für
die Wiener Genossenschaftskassen mit und fügen zugleich die
Zahlen für die Wiener Lehrlingskassen der Tabelle bei. Auf
100 Mitglieder kamen Erkrankungen bei den Genossenschafts¬
krankenkassen
der
Lehrlinge
(1894—1902)
de
unter 20 J.
r Gehilfen (1892—1902)
21— 25J. 26— 30 J. 31— 40J.
Schneider .
9,4
44,3
32,6
19,5
19,3
Schuhmacher ....
20,8
33,4
29,3
24,7
26,2
Drechsler .
28,2
25,3
23,3
29,8
30,8
Buchbinder .
19,2
36,0
32,4
26,7
26,0
Handschuhmacher . .
14,5
—
25,7
22,6
22,8
Gold- u. Silberarbeiter .
21,5
39,2
35,5
30,6
31,0
Sattler .
13,5
29,0
28,1
22,1
22,7
Bäcker .
20,7
27,9
31,4
30,4
26,4
Friseure .
19,9
20,5
24,2
21,4
24,8
Posamentierer ....
23,4
29,6
21,1
18,9
25,5
Hutmacher .
18,4
34,7
34,6
33.1
38,8
Schreiner .
17,4
35.3
35,8
33,3
33,8
Zimmerleute ....
—
47^
44,8
36,8
40,4
Glaser .
10,4
31,5
27,5
32,1
32,6
Spengler .
11,1
31,6
31,1
31,9
34,9
Maler .
32,7
31,6
34,2
36,7
Mechaniker .
—
42,6
35,5
32,4
37,2
Schlosser .
39,3
47,5
46;o
39,8
38,8
Hufschmiede . . .
19,9
35,9
30.4
31,4
33,2
Feinzeugschmiede . .
23,2
52,9
44M
38,8
36,5
Buchdrucker . . .
—
46,3
50.3
45,4
42,3
Lithographen ....
29,5
79,0
38,9
21,2
20.4
Im allgemeinen entsprechen auch diese Ergebnisse den bisher
gewonnenen; die jungen Gehilfen haben hohe Ziffern bei den für
Frankfurt und Österreich angeführten Gewerben und außerdem bei
den Zimmerleuten, Posamentierern und Mechanikern, für welche
dort keine Ziffern vorhanden sind. Kleine Ziffern vor dem 20. Jahre
42
Fr. Prinzing,
haben wie dort die Drechsler,1) außerdem die Hutmacher, Friseure,
Glaser und Spengler; ein Unterschied zeigt sich nur bei den Malern,
die in Frankfurt vor dem 20. Lebensjahre eine höhere, in Wien
eine kleinere Morbidität haben als in den späteren Altersklassen.
Da sich somit aus allen drei statistischen Erhebungen dieselben
Schlußfolgerungen ergeben, so ist als sicher anzunehmen, daß es
nicht mangelhafte Aufnahmen sind, die diese Vortäuschen, sondern
daß sie auf tatsächlichen Verhältnissen beruhen.
In den bisher gegebenen Zahlen sind die Lehrlinge gewöhnlich
nicht inbegriffen. In Deutschland werden sie beim Kleingewerbe
meist in die Krankenpflegeversicherung aufgenommen, in Österreich
bestehen eigene Lehrlingskassen.2) Da diese andere Bestim¬
mungen haben als die Genossenschaftskassen für die Gehilfen, so
können natürlich Vergleiche zwischen beiden Kassen nicht ange¬
stellt werden; die Ziffern für die Genossenschaftskrankenkassen der
Lehrlinge in Wien sind in obiger Tabelle enthalten, ln den großen
Betrieben sind auch die Lehrlinge, die hier meist schon einen
kleinen Tagesverdienst haben, in den Betriebskassen versichert,
weshalb bei diesen auch die Mitglieder unter 15 Jahren sehr zahl¬
reich sind und sichere Verhältniszahlen für letztere berechnet
werden können.
Fabriken
Beobach¬
tete Per¬
sonen
unter 15 J.
Auf 100 Mitglieder Erkrankungen
unter 15 J.
16— 20 J.
21— 25 J. 26— 30 J.
1
31— 40J.
Textilarbeiter ....
21425
45,3
42.2
38,6
35,5
34,6
Fabriken f. Bekleidung
310
50,6
42;o
39;o
38,1
40,2
Ton- u. Porzellanwaren
2 433
60,6
48.4
43,7
40,7
39,6
Zündholzfabriken . .
236
43,6
49.0
43.5
49,4
48,6
Ziegeleien. Zementfabr.
552
56,5
45,0
45,6
47,1
47,2
Buchdruckereien . . .
440
35,0
47,9
51,2
47,7
46,9
Lederfabriken ....
264
47J
55,4
47,5
47,7
43,6
Holzwarenfabriken . .
875
44,6
50,5
45.1
47,6
51,7
Glasfabriken ....
3 729
69,1
56,0
58,4
61,6
56,5
Zuckerfabriken . . .
3 711
61,4
60.6
64,4
61,1
56,5
Papierfabriken . . .
1202
69,1
64,1
61,1
58,9
58,7
Heizung u. Beleuchtung
78
47,4
71,6
65,3
58,2
58,5
Eisen- u. Metallwaren .
5 526
67,6
70,3
66.9
64,4
58,7
Brauereien, Brennereien
150
111,3
80,2
68,7
70.9
58,4
Eisenbahndienst . . .
1403
90,8
75.8
64.4
63,3
63,9
Chemische Industrie .
484
87,4
100,2
86,8
79,0
70,6
Hüttenwerke ....
1305
86,1
93,1
94,1
90,8
78,5
b Bei der Lehrlingskasse haben die Drechsler hohe Morbiditätsziffern. Vgl.
Rosenfeld a. a. 0. S. 900.
2) Rosenfeld a. a. 0. S. 901.
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 43
In den Betriebskassen sind die Erkrankungsziffern beträchtlich
höher als beim Kleingewerbe; die Ursachen hiervon habe ich an
anderer Stelle auseinandergesetzt. Die Ziffern für die österreichi¬
schen Betriebskassen aus den Jahren 1891—95 finden sich in der
vorstehenden Tabelle.
Fast bei allen Fabrikationszweigen ist die jüngste Altersklasse
sehr hoch belastet, Ausnahmen machen nur die Zündholz-, Zucker¬
und Holzwarenfabriken und die großen Buchdruckereien. Sehr
bedeutend ist die Morbidität der jungen Gehilfen bei den großen
Bierbrauereien, in den Ton- und Porzellanwarenfabriken, beim
Eisenbahndienst und in der chemischen Industrie. Am größten ist
der Unterschied in den Brauereien; die bedeutende Höhe der
jugendlichen Arbeiter bei denselben beruht nicht auf Zufall, wir
finden sie z. B. auch bei den Krankenkassen der Bezirkshauptmann¬
schaft Pilsen; dort kamen 1898—99 auf 100 Kassenmitglieder Er¬
krankungen *)
beim Alter von
1898
1899
15 — 20 Jahren
145,0
165,5
20-40
44,4
68,2
40-60
55,4
72,7
Der Ein wand ist naheliegend, daß die hohen Morbiditätsziffern
in den ersten Jahren der Berufstätigkeit nicht sowohl auf den
Einfluß des Berufs als darauf zurückzuführen seien, daß gewisse
Berufe von schwächlichen Leuten besonders gerne ergriffen werden.
Einen zahlenmäßigen Ausdruck für die körperliche Entwicklung
der Berufsangehörigen gibt der Grad ihrer Militärtauglichkeit.
Wie meist, so fehlen solche Feststellungen auch in Österreich.
Daher sind in der folgenden Tabelle die Ergebnisse der Schweizer
Rekrutierungsstatistik aus den Jahren 1885 — 91 benützt;* 2) im all¬
gemeinen wird ja das gegenseitige Verhältnis der Berufsarten in
dieser Hinsicht in der Schweiz und in Österreich nicht sehr ver¬
schieden sein. Man erhält so die folgende Gegenüberstellung:
(Siehe Tabelle auf folgender Seite.)
Aus dieser Zusammenstellung geht mit Sicherheit hervor, daß
die hohe Morbidität der jungen Gehilfen in manchen Berufen nicht
b J. Pelc, Bericht über die sanitären Verhältnisse und Einrichtungen im
Ivgr. Böhmen 1899 — 1901. Prag 1903, S. 73.
2) 0. Heer, Beitrag zur Kenntnis der Rekrutierungsverhältnisse der land¬
wirtschaftlichen und industriellen Bevölkerung der Schweiz. Schaffhausen 1897.
— Prinzing, Handbuch der med. Statistik, 1906, S. 242 f.
44
Fr. Prinzing,
Auf 100 definitiv beurteilte
Stellungspliichtige sind
tauglich
Die Morbidität ist bei jungen Arbeitern
höher als bei den älteren nicht höher als b. d. älteren
weniger als 50
Schneider
Friseure
50 — 55
Textilarbeiter
—
55 — 60
Schuhmacher, Buchbinder
—
60 — 65
Buchdrucker
Maler, Spengler, Kaufleute
65—70
Maurer, Bäcker, Schreiner
Glaser
70—75
Zimmerleute. Schlosser,
Mechaniker, Schmiede,
Eisenbahndienst
Metzger, Fuhrleute
davon herrührt, daß diesen mit Vorliebe schwächliche Personen
sich zuwenden: sie findet sich auch in vielen Gewerben, deren An-
gehörige eine sehr hohe Militärtauglichkeit aufweisen, also eine
gute körperliche Beschaffenheit in den Beruf mitbringen.
Die Ursachen der hohen Morbidität der Lehrlinge und
jungen Gehilfen sind zweierlei Art:
1. Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit,
2. ungenügende körperliche Entwicklung und Mangel an Wider¬
standskraft.
Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit sind die Ursachen der
zahlreichen kleinen Verletzungen junger Arbeiter bei vielen Berufen
(Maurer, Zimmerleute, Schlosser, Mechaniker, Schmiede, Hütten-
Averke, Eisenbahndienst u. a.) und mancher Erkrankungen durch
Berufsschädlichkeiten, die schon bald zur Wirkung kommen und
gegen die sich erfahrene Arbeiter eher zu schützen wissen; solche
sind scharfe Gase und Wasserdampf (in chemischen Fabriken,
Fabriken für Heizung und Beleuchtung, Textilfabriken) oder ge¬
fährliche Staubarten (Glas-, Ton- und Porzellan-, Textilfabriken,
schlecht eingerichtete Buchdruckereien).
Viele Lehrlinge und junge Gehilfen sind noch nicht genügend
entwickelt, um den Anforderungen, die an sie gestellt werden,
vollauf genügen zu können, so daß sie in den ersten Jahren ihrer
Berufstätigkeit an Übermüdung leiden, besonders wird dies durch
lange Arbeitszeit, unvollkommene Nachtruhe (Bäcker, Kellner),
dauerndes Stehen (Plattfuß, Xbeine) befördert. Werden die Lehr¬
linge und jungen Gehilfen gleich zu schwerer Arbeit herangezogen,
so zeigen sich die gewöhnlichen Folgen der Überanstrengung
(Muskelschmerzen, Herzklopfen). Sehr gering ist die Widerstands-
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 45
kraft vieler jungen Arbeiter, so daß sie sehr zu Erkältungen
(Katarrhen, Angina) disponiert sind; Frostbeulen werden bei jungen
Leuten viel mehr beobachtet als bei älteren. Daß sehr junge
Arbeiter im Erkrankungsfalle eher zu Hause bleiben, wurde schon
eingangs erwähnt.
Endlich wären noch die allgemeinen Lebensverhältnisse zu
erwähnen. Die Schlafstellen der Lehrlinge und jungen Gehilfen
sind oft sehr ungesund, dies spricht sich z. B. in der Häufigkeit
der Krätze aus, die in Frankfurt und in Wien, wie gleich
nachher gezeigt werden soll, bei ihnen häufiger als bei älteren
Arbeitern beobachtet wird. Tausende von Lehrlingen in den Städten
haben keine Verwandte und sind allein auf das, was sie in der
Familie des Meisters erhalten, angewiesen, so daß nicht selten die
Ernährung ungenügend ist. Andererseits treiben sich die Lehrlinge
und jungen Gehilfen, wenn sie weder bei ihren Eltern noch Meistern
wohnen, sehr oft abends in den Kneipen herum, wodurch sie teils
wegen des ungenügenden Schlafes, teils durch übermäßiges Bier¬
trinken und Rauchen und selbst durch zu frühzeitigen Geschlechts¬
verkehr ihrer Gesundheit schweren Schaden zufügen.
Die letzteren Schädlichkeiten kommen in den großen Städten
viel mehr in Betracht als auf dem Lande und in Kleinstädten,
wobei noch hinzukommt, daß die Landbewohner mit 15 Jahren
körperlich mehr entwickelt sind als die Stadtbewohner, daß die
Arbeitszeit in den Städten meist länger ist und daß die Arbeits¬
räume auf dem Lande vor den städtischen verschiedene Vorzüge
haben. Lehrlinge und junge Gehilfen zeigen daher in den Gro߬
städten eine viel größere Erhöhung der Morbidität als in Klein¬
städten und auf dem Lande. Bei dem Mangel einer Morbiditäts¬
statistik der Krankenkassen auf dem Lande stehen mir hierfür
keine direkten Beobachtungen zu Gebote, doch geht es aus einem
Vergleich der Erkrankungszitfern der Genossenschaftskassen Wiens
(1892 — 1902) und der von ganz Österreich (1891 — 95) deutlich
hervor. Leider beziehen sich die Ziffern nicht auf die gleichen
Perioden. Auf 100 Mitglieder kamen Erkrankungen bei den Ge¬
nossenschaftskrankenkassen
beim Alter von
in Wien
in Österreich
unter 15 Jahren
46,2
37,7
16-20
38,8
29,7
21-25 „ .
33,1
26,3
26-30
29,5
25,8
31 — 35 „
30,0
28,2
36—40
32.9
31,1
46 Fr. Prinzing,
#
Während nach dem 30. Lebensjahre sich fast kein Unterschied
mehr zeigt, ist die Morbidität in Wien vorher, besonders vor dem
20. Jahre, ganz erheblich höher als bei den Genossenschaftskassen
ganz Österreichs.
Um ein genaues Bild von der Morbidität der Lehrlinge und
jungen Gehilfen zu erhalten, wäre eine Kenntnis der Art der
Erkrankung nötig. Leider wird diese fast stets, auch bei den
Wiener Kassen, ohne Unterscheidung nach dem Alter mitgeteilt;
eine Trennung nach Beruf, Alter und Art der Erkrankung ist
meines Wissens überhaupt noch nie vorgenommen worden. Die
Ursache liegt darin, daß selbst die Zahlen sehr großer Kassen bei
dieser reichen Gliederung zu klein werden. Bleicher hat für
die Gesamtzahl der Mitglieder der Frankfurter Ortskrankenkassen
für 1896 eine Trennung nach Alter und Art der Krankheit vor-
genommen; die in der folgenden Tabelle mitgeteilten Ziffern be¬
ziehen sich auf die Erkrankungen mit und ohne Erwerbsfähigkeit.
Auf 100 Mitglieder jeden Alters kommen Erkrankungen an1)
14—20 J.
21—30 J.
31— 40 J.
Infektionskrankheiten
4,6
4,2
5,8
Syphilis
3,1
5,8
2,6
Anämie, Chlorose
1J
0,6
0,5
Andere allgemeine Krankheiten
1,6
1,5
1,2
Erkrankungen des Nervensystems
2,5
3,3
3,8
„ „ Herz- und Gefäßsystems
1,8
2,0
2,3
Angina
5,3
4,4
Erkrankungen der Atmungsorgane
11,9
13,4
15,9
„ „ Zähne
9,4
6,4
4,9
„ „ Verdauungsorgane
7,8
10,2
15,0
„ „ Harn- u. Geschlechtsorgane 2,2
4,0
2,3
„ „ Bewegungsorgane
8,7
8,7
13,7
Ano’Pii
8,3
6,6
5,7
„ „ Ohren
2,3
1,9
1,7
Chronische Hautausschläge
3,9
3,2
2,3
Geschwüre und Abszesse
4,2
3,3
3,4
Krätze
1,2
1,0
0,3
Andere Hautkrankheiten
7,7
5,6
4,7
Unfall, Verletzung
13,1
14,6
12,3
Ohne Angabe
0,8
1,0
1,7
Überhaupt
101,5
101,7
103,5
Die Krankheiten, die danach bei den jungen Arbeitern häufiger
auftreten als im späteren Lebensalter, sind die Allgemeinkrank-
9 F. Prinzing, Die Erkrankungshäufigkeit nach Geschlecht und Alter.
Ztschr. f. Hyg. u. Inf., Bd. 42, 1903, S. 479 ff.
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 47
heiten (besonders Blutarmut und Syphilis), Angina, Zahnleiden,
Krankheiten der Augen und Ohren und die Krankheiten der Haut,
wobei zu bemerken ist, daß die zu dieser Rubrik gezogenen Ge¬
schwüre sehr häufig Frostbeulen oder Folgen von Verletzungen
(Panaritien) sind.
Auch für die Lehrlingskassen in Wien wird die Art der Er¬
krankung mitgeteilt; sie lassen sich aber mit den Genossenschafts¬
kassen der Gehilfen nicht ohne weiteres vergleichen, da die Be¬
stimmungen der beiden Kassen verschieden sind und zweifellos bei
den Lehrlingen leichte Fälle, die bei den Gehilfen zur Anzeige
kommen, nicht zur Anmeldung gebracht werden, auch gelten die
Ziffern für beide Geschlechter zusammen. Es seien nach Rosen-
feld von den häufig vorkommenden Erkrankungen die angeführt,
die bei den Lehrlingen mit höheren Zahlen als bei der Gesamtzahl
der Gehilfen vertreten sind. Auf 10000 Mitglieder kamen mit
Arbeitsunfähigkeit verbundene Erkrankungen1)
Lehrlinge
Gehilfen
Scharlach
8
3
Masern
7
3
Blutarmut
32
32
Lungenentzündung
39
33
Augenkrankheiten
68
66
Kontagiöse Bindehautentzündung
14
10
Krankheiten der Nase
u. des Kehlkopfs
49
30
Krätze
62
30
Wunden
150
147
Deformitäten
11
7
In Frankfurt und Wien sind demnach ungefähr dieselben
Krankheiten bei den jungen Arbeitern häufiger, zugleich bestä¬
tigen die statistischen Angaben das, was oben über die Ursachen
der hohen Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen gesagt
wurde.
Von diesen Ursachen lassen sich manche beseitigen; hierzu
kann teils der einzelne, teils die Regierung beitragen.
Nur bei strengen und gewissenhaften Lehrmeistern können die
Jungen ihren Beruf ordentlich erlernen; man sieht daher, daß
gerade diese Meister von den Eltern für ihre Kinder gesucht sind.
Selbst auf die Gefahr hin, daß der Meister, bei dem viel gelernt
wird, nicht so sehr gewissenhaft ist und die Kinder ausnützt, erhält
0 Rosenfeld a. a. 0., Bd. XI, 1906, S. 57.
48
Fr. Prinzing.
er doch reichen Nachschub an Lehrlingen. Von großer Wichtigkeit
ist es, daß die Eltern für ihre Söhne solche Berufe auswählen, zu
denen ihre Körperkräfte ausreichen; ein Vorzug ist es, wenn die
Söhne, die einen an die Körperkräfte große Anforderung stellenden
Beruf ergreifen wollen, bei etwas mangelhafter Entwicklung erst
ein Jahr später in die Lehre gebracht werden; ein vernünftiger
Meister versteht es übrigens auch da zu individualisieren und wird
nicht kräftige und weniger kräftige Lehrlinge mit demselben
Arbeitsmaß belasten.
Die Schwierigkeiten wachsen, wenn der Junge nicht am Wohn¬
ort der Eltern in die Lehre gebracht werden kann. Es wird
immer weniger Brauch, daß der Lehrling bei seinem Meister Kost
und Wohnung erhält. Wo letzteres der Fall ist, müssen die Be¬
hörden dafür sorgen, daß den Lehrlingen gesunde Schlafräume zu¬
gewiesen werden; meist hat hier schon die von den Eltern vor¬
genommene Auslese die beste Wirkung. Wohnt der Lehrling
nicht beim Meister und können ihn die Eltern nicht bei Ver¬
wandten oder Freunden unterbringen, so ist Kost und Wohnung
oft mangelhaft, ganz abgesehen von den sittlichen Gefahren, die
dann den Jungen in den Städten drohen. Durch Gründung von
Lehrlings- und Jünglingsheimen kann dem am besten abgeholfen
werden.
Der Staat hat die Pflicht, der Ausnützung der Lehrlinge und
jungen Arbeiter durch den Meister bzw. Fabrikanten vorzubeugen;
die Ausnutzung kann entweder in überlanger Arbeitszeit bestehen
oder darin, daß dem Lehrling ungesunde Arbeit zugemutet wird,
welche zu übernehmen ältere Arbeiter sich weigern. In Deutsch¬
land regelt die Gewerbeordnung das Verhältnis zwischen Lehrherrn
und Lehrling; die Grundlage bildet § 127: „Der Lehrherr hat dafür
Sorge zu tragen, daß den Lehrlingen nicht Arbeitsverrichtungen
zugewiesen werden, welche seinen körperlichen Kräften nicht an¬
gemessen sind.“ Außerdem gibt § 120a der Gewerbeordnung den
Behörden die Möglichkeit, junge Arbeiter von gesundheitsgefährlichen
Betrieben auszuschließen. Für manche gefährliche Gewerbe wurden
besondere Bestimmungen vom Bundesrat erlassen, die stets zugleich
das Lehrlingswesen bei diesen regeln, so z. B. für die Bäcker am
4. März 1896, für die Müller am 26. April 1899, für die Kellner
am 23. Januar 1902, für die Konfektionsindustrie am 17. Februar
1904, für die Maler und Anstreicher am 27. Juni 1905. Die Ver¬
wendung von Arbeitern von 14—16 Jahren in Fabriken ist durch
§ 135 der Gewerbeordnung geregelt; außerdem bestehen für eine
Die hohe Morbidität der Lehrlinge und jungen Gehilfen in vielen Berufen. 49
sehr große Anzahl von besonders gefährlichen Betrieben eigene
Bestimmungen, so für Bergbau, Hüttenwerke, Bleifarben-, Zigarren-,
Glas-, Zichorien-, Textilfabriken, Ziegeleien und manche andere.
Der Zwang zum Besuch der Fortbildungsschule ist durchaus be¬
rechtigt; daß die obligatorischen Schulstunden in die normale
Arbeitszeit eingefügt und nicht spät abends angesetzt werden
sollen, bedarf für den, der mit den Verhältnissen nur ein wenig
vertraut ist, keiner Begründung.
Auf den ersten Blick erregt es Befremden, wenn wir sehen,
daß in Deutschland, das doch in vielem, was soziale Fürsorge und
Arbeiterschutz betrifft, tonangebend ist, das Lehrlingswesen nicht
einheitlich geregelt ist; daß § 127 Gew.-O. nicht als solche Rege¬
lung angesehen werden kann, beweisen ja die Sonderbestimmungen,
die für manche Gewerbe getroffen wurden. Dies hängt mit der
ganzen Entwicklung unserer Arbeitergesetzgebung zusammen, die
sich mit den gefährlichsten Betrieben zuerst befaßte, dann Schritt
für Schritt auf andere Betriebe sich ausdehnte. Daß die Materie
endlich einmal durch ein einheitliches Gesetz geregelt werden muß,
das alle Berufe umfaßt, und nicht nur diejenigen, deren Gefährlich¬
keit durch politische Parteien, Fachvereine u. a. ans Tageslicht
gezogen wurde, darüber besieht wohl auch in Regierungskreisen
kein Zweifel, und daß auch eine einheitliche Regelung des Lehrlings¬
wesens möglich ist, beweisen die Lehrlingsgesetze der Kantone
Zürich und Bern. Einzelbestimmungen eines solchen. Gesetzes zu
besprechen, gehört nicht in den Rahmen dieser Arbeit; nur das
eine möchte ich jedem, der sich mit der Frage befaßt, ans Herz
legen: mit der Beschränkung der Arbeitszeit allein ist es nicht
getan, es muß zugleich, sei es vom Staat, sei es von den Ge¬
meinden, für Räume gesorgt werden, in denen die Lehrlinge und
jungen Gehilfen, die keinen Familienanschluß haben, außerhalb der
Arbeitsstunden sich aufhalten können.
Leider steht uns außer der Frankfurter Statistik in Deutsch¬
land kein Material über die Morbidität junger Arbeiter zu Gebote.
Die Untersuchungen, die von Reichs wegen zur Klarlegung un¬
günstiger Einwirkungen eines Gewerbes, einer Industrie angestellt
werden, geschehen daher immer auf dem Wege der Enquete. Un¬
bedingt sicherer wäre der Weg einer fortlaufenden Erkrankungs¬
statistik. Die Anwendung des § 127 Gew.-O. kann doch erst dann
in Frage kommen, wenn nachgewiesen ist, daß die Arbeit über die
Kräfte des Lehrlings geht. Dies geschieht in viel zweckmäßigerer
Weise dadurch, daß regelmäßig statistische Erhebungen über die
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 4
50 Fr. Prinzing, Die hohe Morbidität d. Lehrl. u. jung. Gehilfen in viel. Berufen.
Häufigkeit der Erkrankungen gemacht werden, als wenn gelegent¬
lich einer Enquete besonders krasse Beispiele gewissenloser Prinzipale
hervorgezogen werden, die geeignet sind, ein ganzes Gewerbe zu
diskreditieren. Wir können daher nur dringend die Einführung
einer Morbiditätsstatistik bei den Krankenkassen mit Unterscheidung
von Altersklassen befürworten, aus der man, wenn sie in richtiger
Weise benutzt wird, jederzeit erfahren kann, ob Abhilfe nötig ist
und ob etwa getroffene Maßnahmen die gewünschte Abhilfe gebracht
haben.
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
Von SiEGMUND Kafe, Wien.
Der frühere Ministerpräsident K ö r b e r hat am 9. Dezember
1904 im Abgeordnetenhause ein Programm für die Reform und
den Ansbau der Arbeiterversicherung in Österreich vorgelegt und
damit ein Versprechen der Regierung eingelöst, dessen Erfüllung
schon in der Thronrede vom Jahre 1900 zugesagt worden war.
Das Progamm hat die Form eines vollständig ausgearbeiteten Ge¬
setzentwurfes und unterliegt nunmehr der Kritik der Interessenten.
Bisher haben sich hauptsächlich die Arbeiter zum Wort gemeldet.
Doch rühren die Klagen, welche über die Mängel der geltenden
Gesetzgebung erhoben wurden nicht bloß von diesen, sondern auch
von den Unternehmern her. Letzteren hat insbesondere das Un¬
fallversicherungsgesetz seit seinem Bestände Anlaß zu lebhaft vor¬
gebrachten Beschwerden gegeben, die sich hauptsächlich auf das
Deckungssystem bezogen, dem eine zu starke Belastung der In¬
dustrie nachgesagt wurde. Später kam man allerdings zur Über¬
zeugung, daß ein Ersatz des geltenden Kapitaldeckungssystems
durch das sogenannte Umlageverfahren kaum den erwarteten Effekt
einer wesentlichen Entlastung der Industrie haben dürfte; um so
mehr wurden dann andere Mängel des Gesetzes in den Vorder¬
grund geschoben: die Begünstigung der Landwirtschaft, für deren
Unfälle die Industrie zum Teil aufkommen müsse; die ungleich¬
mäßige Verteilung der Versicherungslasten, hervorgerufen durch
die willkürliche Einreihung der Betriebe in hohe Gefahrenklassen;
das territoriale Organisationssystem, welches starke und schwache
Industrien zusammenkopple; die großen Regien der Versicherungs¬
anstalten; der bureaukratische Apparat derselben. Von seiten der
Arbeiter wurde insbesondere über die Unzulänglichkeit der
4*
52
Siegmund Kaff,
Leistungen Klage geführt, den geringen Umfang der Versicherungs¬
pflicht, das umständliche Rechtsverfahren, den Mangel einer Un¬
fallverhütung und das Fehlen eines organischen Zusammenhanges
mit den Krankenkassen.
Weniger leidenschaftlich war die Beschwerdeführung hinsicht¬
lich der Krankenversicherung. Doch machten sich auch hier früh¬
zeitig zahlreiche große Mängel bemerkbar, unter welchen freilich
vorwiegend die Versicherten allein zu leiden hatten. Die meisten
dieser Mängel lassen sich auf die starke Zersplitterung der Organi¬
sationsformen und den geringen Umkreis der Versicherungspflicht
reduzieren.
Da die Wünsche nach einer durchgreifenden Reform sowohl
des Unfall- als des Krankenversicherungsgesetzes allseitig erhoben
wurden, entschloß sich die Regierung zur Abhaltung mündlicher
Expertisen, welchen schriftliche Umfragen bei den Interessenten
vorausgingen. Ende 1895 beschäftigte sich der durch Experten
verstärkte Versicherungsbeirat mit der Beratung der wünschens¬
werten Abänderungen des Unfallversicherungsgesetzes. Im Früh¬
jahre 1897 folgte sodann die vom Ministerium des Innern veran¬
staltete Enquete über die Reform des Krankenversicherungsgesetzes.
Vor- und nachher beschäftigten sich zahlreiche Kongresse der
Unternehmer aller Kategorien sowie der Arbeiter mit der gleichen
Angelegenheit, so daß man die Reformfrage als eine wohldiskutierte
bezeichnen konnte und in der Lage war, eine Übersicht über die
Bestrebungen auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung zu ge¬
winnen. Insbesondere in Arbeiterkreisen wurde die Materie sehr
eingehend erörtert und auf den Krankenkassentagen (1896, 1904,
1905) das Thema bis in die kleinsten Details zergliedert.
Es ist nun vor allem nötig, den Standpunkt der Interessenten
kennen zu lernen, der sich in den Beschlüssen der Enquete und
der erwähnten Kassentage am deutlichsten ausprägt. Hinsichtlich
der Unfallversicherung sprach sich die Enquete vom Jahre
1895 im wesentlichen für folgende Reformen aus: Ausdehnung der
Versicherungspflicht auf breitester Basis unter Ausschluß von Aus¬
nahmen, ferner für die selbständige Organisation der land- und
forstwirtschaftlichen Betriebe, für die verbesserte Berechnung des
Jahresarbeitsverdienstes und der Naturalbezüge, die Erhöhung der
Renten bei totaler Invalidität, Einführung von Minimalrenten, die
Aufhebung der Karenzzeit, die Festsetzung eines Minimums und
Maximums für die Beerdigungskosten, die größere Berücksichtigung für
Aszendenten und Deszendenten, für die Beibehaltung des Kapital-
Der Ausbau der Arbeiterversichenuig in Österreich.
53
deckungsv erfahr en s, eine Beitragsleistung des Staates, die Förde¬
rung der Unfallverhütung durch Einreihung gefährlicher Betriebe
in höhere Gefahrenklassen, die Beseitigung des zehnprozentigen
Arbeiterbeitrags, die Aufhebung des gemeinsamen Reservefonds,
Einhebung von Verzugszinsen für rückständige Beiträge, Ein¬
führung des Lohnlistenzwanges, Berechtigung der Anstalten zum
Zwecke der Unfallverhütung Aufwendungen zu machen, Einflu߬
nahme auf das Heilverfahren, Erweiterung des Begriffes Betriebs¬
unfall, Verbesserung des Verfahrens bei der Unfallmeldung und
Unfallserhebung, sowfle bei der Rentenliquidierung, Einsetzung einer
schiedsgerichtlichen Berufungsinstanz, verbesserte Definition des
Schadensbegriffes, Aufhebung der Unternehmerhaftpflicht, Errich¬
tung eines Reichsversicherungsamtes, Konstituierung von berufs¬
genossenschaftlichen Fachabteilungen innerhalb der Territorial¬
abteilungen und für eine Verbandsorganisation.
Bezüglich der Krankenversicherung gelangten anläßlich
der Enquete 1897 hauptsächlich nachstehende Wünsche zum Aus¬
druck: Erweiterung der Versicherungspflicht (insbesondere Ein¬
beziehung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter), der Haus¬
industriellen und Heimarbeiter, der Dienstboten, der bei öffentlichen
Korporationen Angestellten, der Kleingewerbetreibenden und Klein¬
bauern, Zentralisation der Krankenkassen unter Beseitigung der
verschiedenen Kategorien, Verbesserung der Verbandsorganisation
des Meldewesens, Erweiterung der Kassenleistungen insbesondere
hinsichtlich der Dauer und Höhe; Beseitigung der Karenzfrist,
größere Berücksichtigung der Familien kranker Kassenmitglieder
und der Arbeitslosen ; Herabsetzung der Maximalhöhe des an¬
zusammelnden Reservefonds, Erleichterung der freiwilligen Versiche¬
rung, Zulassung der Doppelversicherung, Verbesserung des Wahl¬
verfahrens, Entlastung der Kassen von den Kosten der Betriebs¬
unfälle und (seitens der Arbeiterdelegierten auch der) Spitalspflege.
Selbstverständlich sind diese Wünsche, welche zumeist durch
Majoritätsbeschlüsse produziert wurden, nur zum Teil der Ausdruck
der Bestrebungen seitens der verschiedenen Interessentengruppen
Das kritische Moment überwog so sehr, daß dadurch zwar eine
Klärung, keineswegs aber eine Lösung des Problems in allen
Details vorbereitet wurde. Auch die von einzelnen Korporationen
wie z. B. der Wiener Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt, dem
niederösterreichischen Gewerbeverein, den Handelskammern und
den verschiedenen industriellen Organisationen ausgehenden Denk¬
schriften und Gutachten bewegen sich vorwiegend nach der nega-
54
Siegmund Kaff,
tiven Richtung. Es handelt sich mehr um die Abwehr und Be¬
seitigung von Übelständen, als um positive Beiträge und Vorschläge
zur Reform. Deutlicher ausgesprochen und begründet sind die von
den Arbeitern auf den .sogenannten Kassentagen beschlossenen
Forderungen.
Insbesondere der zuletzt (1905) abgehaltene Kassen tag for¬
mulierte die Wünsche der Arbeiterschaft hinsichtlich der Reform
der bestehenden Gesetzgebung in präziser Weise. Seine Forde¬
rungen bezüglich der Unfall- und Krankenversicherung lassen sich
wie folgt zusammenfassen: Neben einer ausreichenden Unfallver¬
hütung wurde die Erweiterung des Kreises der Versicherung mit
Einbeziehung der Landwirtschaft, der Seeschiffahrt, des Handwerks,
der Hausindustriellen usw., Individualversicherung, Lohnlistenzwang,
strafgerichtliche Verfolgung bei Hinterziehung von Beiträgen, Be¬
seitigung des Defizits im Wege der Amortisation durch die Unter¬
nehmer, die es verschuldet haben, Übernahme der Gewerbeinspek¬
tionskosten, des Aufwandes für Unfallverhütung, der Portoauslagen,
sowie der Kosten der Statistik durch den Staat, Erweiterung des
Begriffes Betriebsunfall, Erhöhung des Rentenausmaßes eventuell
Erweiterung der Haftpflicht der Unternehmer, Zugrundelegung des
wirklichen Jahresarbeitsverdienstes, Festsetzung von Minimalrenten
für Personen, die einen Lohn von weniger als 700 Kronen beziehen,
für Lehrlinge, Praktikanten und noch nicht ausgebildete Personen
überhaupt — in letzterem Falle mit entsprechender Steigerung
der Rente bei zunehmendem Alter, Wegfall der Abfertigung.
Ähnlich lauten die Wünsche hinsichtlich der Krankenversicherung.
Sie decken sich im wesentlichen mit den Beschlüssen des ersten
und zweiten Kassentages, wonach die obligatorische Versicherung
auf alle im Lohn- und Gehaltsbezug stehenden Personen, auch auf
Kleingewerbetreibende, welche nur mit Lehrlingen oder mit ein
oder zwei Gehilfen, sowie auch auf kleinbäuerliche Unternehmer,
welche nur mit ihren Angehörigen arbeiten, und endlich auf die
Hausindustrie ausgedehnt, das Krankengeld bis zur Höhe von 100
Proz. des unter Einfluß der Versicherten festzusetzenden Lohnes
erhöht und die Unterstützungsdauer bis zu einem Jahre verlängert,
den Arbeitslosen der Anspruch durch 10 Wochen gewahrt, den
Wöchnerinnen die Unterstützung durch 6 Wochen geleistet, die
Spitalspflege unentgeltlich, Rekonvaleszenten- und Angehörigen¬
versicherung zulässig, Arzte und Apothekerwesen verstaatlicht
werden sollen. Sehr weitgehend sind auch die Wünsche hinsicht¬
lich der Organisation der Versicherung. Außer der allseitig ge-
Der Ausbau der Arbeiterversicherun.o- in Österreich. 55
forderten Lostrennung der Bezirkskrankenkassenverbände von den
Unfallversicherungsanstalten wurde verlangt: die Beseitigung der
verschiedenen Kassenkategorien und ihr Ersatz durch eine Kassen-
type, welcher neben der Entschädigung in Fällen vorübergehender
Erwerbsunfähigkeit, Maßnahmen der Unfall- und Krankheitsver¬
hütung und zu diesem Zweck auch das Recht der Überwachung
der versicherten Betriebe zugewiesen werden sollen. Den terri¬
torial zu organisierenden Kassenverbänden wäre die Unfall-, In-
validitäts- und Altersversicherung, sowie die Witwen- und Waisen¬
versicherung zur Durchführung zu übergeben. Ein ßeichsverband
mit einem Reichsver sicherungsamte hätte für die Rückversicherung
und einheitliche Durchführung des ganzen Versicherungswesens
Sorge zu tragen. Den Verbänden würde überdies obliegen: Die
Vertretung der gemeinsamen Kasseninteressen, die Kontrolle der
Einrichtung und der Gebahrung der Kasse, die Mitwirkung bei
Abschluß von Verträgen mit Ärzten, Apotheken und Heilanstalten
usw., die Leistung von Rechtsschutz, die Retaxierung der Medi-
kamentenrechnungen und die Beschaffung von gemeinsamen Be¬
zugsquellen von Verbandszeug und therapeutischen Behelfen, der
Abschluß von Verträgen mit Kurorten und Badeanstalten, die
Regelung der Rekonvaleszenten- und Tuberkulosenheilpflege. Im
Zusammenhänge mit der Organisationsfrage verlangen die Kassen¬
tage die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl¬
rechtes für die Versicherten aller Kassen und die Verbesserung des
verwaltungsrecht- sowie des schiedsgerichtlichen Verfahrens und
der Behördenorganisation durch Errichtung eines Reichsversiche¬
rungsamtes, welches aus Arbeitern, Unternehmern und richterlichen
Funktionären zusammengesetzt, die Rechtssprechung und Ent¬
scheidung in allen administrativen Fragen übernehmen soll an
Stelle des Verwaltungsgerichtshofes und jener Ressorts bei den
Zentralstellen, die heute mit Agenden der Arbeiterversicherung
befaßt sind, während in den unteren Instanzen durch Beistellung
eigener Organe für die Aufgaben der Arbeiterversicherung Vor¬
sorge getroffen werden sollte.
Im allgemeinen ist die Haltung des Kassentages gegenüber
dem Programm eine schroff ablehnende und zwar aus vier Haupt¬
gründen: wegen der Überwälzung eines Teiles der Unfallslasten
auf die Krankenkassen, der unzulänglich befundenen Reorganisation
der letzteren und der Herabsetzung der Leistungen in der Unfall-
und Krankenversicherung, insbesondere aber wegen der Einschrän¬
kung des Selbstverwaltungsrechtes der Arbeiter. Als sonstige
56
Siegmund Kaff,
Mängel des Programms werden hingestellt: die unbefriedigende
Erweiterung des Kreises der Versicherungspflichtigen, der Mangel
einer Witwen- und Waisen Versicherung, die geringe Zahl der Lohn¬
klassen, die langen Wartefristen, sowie der Ausschluß der unter
16 und über 60 Jahre alten Personen von der Invaliditätsver¬
sicherung und die Bureaukratisierung des ganzen Verwaltungs¬
apparates.
Noch ziemlich unklar und widerspruchsvoll ist die Haltung
der Industrie. Weder liegen seitens ihrer Verbände noch seitens
der Handelskammern genügend motivierte umfangreiche Gutachten
vor, die erkennen ließen, wie sich die Industrie im einzelnen zu
den Reformfragen der Arbeiter Versicherung, welche das Regierungs¬
programm aufgerollt hat, stellt. Was an Äußerungen bekannt
geworden ist, deutet darauf hin, daß die Industrie vor allem einen
Aufschub der Reform wünscht, soweit es sich um die Einführung
der Invaliditäts- und Altersversicherung handelt. Als dringlich
wird bloß die Reform oder richtiger die Beseitigung der Unfall¬
versicherung erklärt, während man im übrigen der Reform der
Arbeiterversicherung prinzipiell zustimmt, ohne jedoch die Grund¬
bestimmungen des Regierungsprogramms zu akzeptieren. In diesem
Sinne äußerten sich zuletzt: der „Bund österreichischer Indu¬
strieller“ und der „Zentralverband der Industriellen Österreichs“
auf seinem letzten Verbandstage vom 3. Dezember d. J., wobei
nicht zu verkennen ist, daß zwischen den Vertretern der Gro߬
industrie und jenen der kleineren und mittleren Betriebe eine
Differenz in der Auffassung besteht, insofern als die letzteren
einer Ergänzung der Arbeiterversicherung weit schärfer opponieren
als die ersteren.
Was die Reform außerordentlich erschwert, ist nicht bloß der
Umstand, daß die Materien des Arbeiterversicherungsrechtes un¬
gleichmäßig ausgebildet sind und daß die Ansprüche an die Re¬
form je nach der wirtschaftlichen Klassenzugehörigkeit eine ver¬
schiedene ist, sondern auch daß die historische Rechtsbildung eine
verschiedene Bewertung der einzelnen Grundsätze her.beigeführt
hat. Es ist deshalb notwendig, auch einen kurzen Rückblick auf
die Entwicklung der Gesetzgebung zu werfen. Als erste gesetz¬
liche Grundlage für die Entstehung von Assoziationen zum Zwecke
der sozialen Fürsorge ist das Vereinspatent vom Jahre 1852
zu betrachten, welches jedoch in der Praxis sowohl wegen seiner
ungünstigen Bestimmungen als insbesondere infolge der assoziations¬
feindlichen Handhabung seitens der Behörden nur in ganz wenigen
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
57
Ausnahmefäll eil benutzt worden ist. Weitaus günstiger war das
Vereinsgesetz vom Jahre 1867, welches zahlreichen Hilfs¬
organisationen der Arbeiterschaft — sowohl den Gewerkvereinen
als auch den Unterstützungskassen derselben — als legale Grund¬
lage diente. Als im Jahre 1880 die Regierung daranging, die
Staatsaufsicht über die Assekurranzinstitute zu regeln (durch das
sog. Versicherungsregulativ vom 1 8. August 1880, RGBl.
Nr. 110), versuchte die Regierung, die Unterstützungsvereine der
Arbeiter, die sich auf Grund des 67er Gesetzes konstituiert hatten,
im Sinne des § 2 dieses Gesetzes — wonach Vereine, welche Ver¬
sicherungsgeschäfte betreiben, dem 52er Patent unterstellt werden
sollen — die bisher als Wohltätigkeits vereine behandelten Unter¬
stützungskassen der Arbeiter von dem die Staatsaufsicht entbehr¬
lich machenden 67er Gesetze abzudrängen. Es gelang ihr dies
auch hinsichtlich jener Vereinigungen, die ausschließlich zur Unter¬
stützung in Ivrankheits- und Invaliditätsfällen gegründet worden
waren, während die sog. gewerkschaftlichen Fachvereine mit ihren
Unterstützungseinrichtungen bis in die jüngste Zeit (November 1902)
von dieser Auffassung verschont blieben. Wenngleich nun zuge¬
geben werden muß, daß das 67er Gesetz für die Regelung des
Unterstützungswesens sich nicht eignet, so muß doch andererseits
darauf hingewiesen werden, daß auch das 52er Patent für diese
Zwecke nichts weniger als tauglich war, weil es bloß die auf ka¬
pitalistischer Grundlage gewerbsmäßig betriebenen Versicherungen
im Auge hatte. Dieser Zustand war um so bedauerlicher, als auch
die ältere Gewerbeordnung vom Jahre 1859 weder hinsichtlich des
Obligatoriums der Gewerbsinliaber, noch hinsichtlich der Art der
Unterstützungseinrichtungen eine klare Rechtslage schuf. Bloß das
Haftpflichtgesetz vom Jahre 1869 fixierte für die Eisenbahn¬
bediensteten einen wirklichen Rechtsanspruch bei Verunglückungen
und legte den Bahnen eine Ersatzflicht auf, soweit die Bahn nicht
zu beweisen in der Lage ist, daß die Ereignung durch einen un¬
mittelbaren Zufall (höhere Gewalt — vis major) oder durch eine
unabwendbare Handlung einer dritten Person, deren Verschulden
sie nicht zu vertreten hat, oder durch Verschulden des Be¬
schuldigten selbst verursacht wurde. Im übrigen aber wird die
Fürsorge für die erwerbsunfähigen Massen den Armenverwaltungen
überlassen, wiewohl schon damals die Einrichtungen der Armen¬
pflege keineswegs als ausreichend erkannt werden mußten und die
im Heimatsgesetze vom 3. Dezember 1863, RGBl. Nr. 105 ausge¬
sprochene Pflicht Verpflichtung der Gemeinden zur Armenver
58
Siegnmnd Kaff,
sorgung angesichts der Schwäche der Gemeinden, ihrer Aufgabe
in dieser Richtung nachzukommen, großenteils auf dem Papiere blieb.
Unter solchen Umständen entstand die Idee einer reichsgesetz¬
lichen Organisation des Versicherungswesens speziell für die ar¬
beitenden Klassen. Die zuerst in Deutschland auf diesem Gebiete
unternommenen Versuche trugen überdies dazu bei, daß auch in
Österreich der Gedanke aufgegriffen wurde. Es entstand zunächst
das Unfallversicherungsgesetz vom 18. Dezember 1887, RGBl. Nr. 1,
welches durch die Novelle vom 20. Juli 1894, RGBL Nr. 168 eine
Ei* Weiterung des Kreises der Versicherungspflichtigen erfuhr, wobei
insbesondere die bisher bloß auf das erwähnte Haftpflichtgesetz
angewiesenen Eisenbahnbediensteten in Betracht kamen. Diese
Verschmelzung des Haftpflichtprinzipes mit dem Gedanken der
sozialen Versicherung zeigt, daß die Unfallversicherung der Ersatz
für die individuelle Haftung der Betriebsinhaber ist und daß sie
die Bestimmung hat, die Lasten, welche die Anerkennung des
Schadenersatzprinzipes der Haftpflichtgesetzgebung dem einzelnen
Unternehmer auf bürdete, auf die Allgemeinheit zu übertragen.
Dabei konnten der Natur der Sache nach nur solche Betriebe in
Betracht kommen, in welchen eine besondere spezifische Unfalls¬
gefahr vorhanden ist, die ebenso wie im Verkehrswesen durch eine
plötzliche Einwirkung von außen eine Verunglückung herbeiführt.
Ohne Rücksicht auf die, wenn auch langsam und lange un¬
merkbar wirkenden Gesundheitsschädigungen, die sonst in den Be¬
trieben den Arbeiter bedrohen, bezweckt das Krankenver¬
sicherungsgesetz vom 30. März 1888, RGBl. Nr. 33 die Kranken¬
unterstützung in allen Fällen, in welchen vorübergehende Arbeits¬
unfähigkeit eintritt, wobei zu bemerken ist, daß der Kreis der
Unfallversicherungspflichtigen mit jenen der Krankenversicherungs¬
pflichtigen durchaus nicht kongruent ist. Das Gesetz mußte als¬
bald durch die Novelle vom 4. April 1889, RGBl. Nr. 39 amendiert
werden, da es sich in einem Punkte (Übertragung der Reserve¬
fondsanteile ausscheidender Kassenmitglieder) undurchführbar zeigte.
Neben diesen zwei Hauptgesetzen kommt ein spezielles für die
Bergarbeiter in Betracht. Die unzureichenden Vorschriften des
allgemeinen Berggesetzes vom Jahre 1854 über die Bruderladen
wurden durch das Gesetz vom 28. Juni 1889, RGBl. Nr. 127 ersetzt.
Mit wie geringem Erfolge, beweist die Tatsache, daß dasselbe
dreimal durch Novellen ergänzt werden mußte und zwar: Durch
das Gesetz vom 17. Januar 1890, RGBl. Nr. 14, das Gesetz vom
30 Dezember 1891, RGBl. Nr. 3 ex 1892 und durch das Gesetz
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
59
vom 17. September 1892, RGBL Nr. 178, wozu noch die Ausführungs¬
verordnung' vom 11. September 1889, RGB. Nr. 148 und der Erlaß
über das Musterstatut vom 15. September 1890, Z. 16 906 kommt,
Anfangs der Neunziger Jahre wurde merkwürdigerweise ein
Versuch zur Regelung des freien Hilfskassen wesens unternommen,
obwohl die bestehenden Vereinskassen das 52 er Vereinspatent,
sowie das Krankenversicherungsgesetz durchaus vorzogen und für
sie auch sonst keine Notwendigkeit bestand, die gesetzliche Grund¬
lage zu verändern. Mittlerweile war durch das verbesserte Asse¬
kurranzregulativ vom 5. Mai 1896, RGBl. Nr. 31 der Regierung
über die. Versicherungskörper der kleinen Leute wie über die ge¬
schäftlich betriebenen Institute ein erweitertes Aufsichtsrecht ein¬
geräumt worden. Allein man glaubte , daß für die nicht ver¬
sicherungspflichtigen Kreise der Bevölkerung — insbesondere die
Gewerbetreibenden — die geltende Gesetzgebung keine passende
Grundlage bilde und entschloß sich daher nachträglich noch zur
Herausgabe des Gesetzes vom 16. Juli 1892 RGBl. Nr. 202 über
die registrierten Hilfskassen, ohne daß jedoch die darauf
gegründeten Hoffnungen in Erfüllung gegangen wären. An diesem
Tatbestände wurde auch dann nicht viel geändert, als durch die
Gewerbe-Gesetznovelle vom Jahre 1897 der Versuch gemacht wurde,
die Krankenversicherung der Kleingewerbetreibenden dadurch zu
fördern, daß man den Genossenschaften die Befugnis erteilte, auf
Grund eines qualifizierten Beschlusses den V.ersicherungszwang für
alle Genossenschaftsmitglieder auszusprechen.
Neben den erwähnten Gesetzen kommen endlich noch jene Be¬
stimmungen des 5. Hauptstückes der Gewerbeordnung in
Betracht, welche von den seitens der Genossenschaften zu er¬
richtenden Gehilfen- Krankenkassen und von der Krankenfürsorge
für die Lehrlinge handeln.
Diese knappe Aufzählung der verschiedenen Gesetze läßt nicht
nur den äußeren Entwicklungsgang der die soziale Versicherung
betreffenden Gesetzgebung in Österreich erkennen, sondern verrät
auch , welche Gesichtspunkte und Interessen in den einzelnen
Stadien der Entwicklung maßgebend waren. Diese aber erklären
es, weshalb sich heute nicht bloß theoretisch als zweckmäßig er¬
kannten, sondern noch vielmehr praktisch empfundenen Notwendig¬
keit einer Vereinfachung und Vereinheitlichung der Versicherungs¬
organisation so große Hindernisse entgegen türmen, wiewohl es
sich bloß um eine organisatorische Verschmelzung der drei Ver¬
sicherungskörper und nicht etwa um eine finanzielle Vereinigung
60 Siegmund Kaff, Der Ausbau der Arbeiterversi'ch erring in Österreich.
der Versicherungszweige handelt. Freilich darf man neben den
historischen auch die politischen Momente, die übrigens mitunter
als soziale ausgegeben werden, nicht unterschätzen. Darauf ist es
beispielsweise zurückzuführen, daß die Regierung im Jahre 1901
für die verschiedenen Kategorien der privaten Angestellten
mit Beamtencharakter eine eigene Pensionsversicherung vorschlug.
Wie schwierig aber eine solche versicherungstechnische Isolierung
einzelner versicherungsbedürftiger Gruppen der lohnarbeitenden
Klassen ist, geht unter anderem daraus hervor, daß die Regierung
sich genötigt sah, den Privatbeamten auch die Handlungsgehilfen
anzuschließen. Nichtsdestoweniger erschienen dem sozialpolitischen
Ausschüsse des Abgeordnetenhauses die aus einer solchen Sonder¬
versicherung erwachsenden Lasten zu hoch und er vollzog deshalb
in seinem Elaborate eine solche Herabsetzung der Anwartschaften,
daß der Wert einer Spezialversicherung für die Privatbeamten
nahezu illusorisch gemacht wurde. Es ist damit der unwider¬
legliche Beweis erbracht, daß ohne ausgiebigen Staatszuschuß eine
Spezialversicherung nicht durchführbar ist und daß es sich sowohl
im Interesse der Versicherungsbedürftigen als ihrer Dienstgeber
empfiehlt, die Privatbeamten in die allgemeine Versicherung ein¬
zubeziehen.
Aber davon abgesehen, ist die versicherungstechnische Ab¬
sonderung irgend einer sozialen Klasse erfahrungsgemäß eine den
Interessen der Gesamtheit abträgliche Sache. Es bedarf deshalb
nicht erst des gefährlichen Präjudizes einer eigenen Beamten¬
versicherung, um das Bedenkliche eines solchen Experimentes zu
widerraten. Die Beispiele der Berg- und Eisenbahnarbeiter, der
Wiener Kommunal- und der fürstlich Schwarzenbergschen Arbeiter
sind lehrreich genug, um Ausnahmsverhältnisse auf dem Gebiete
der sozialen Versicherung als mit dem Wesen und Grundsätzen
der letzteren im Widerspruch stehend, erscheinen zu lassen.
(Fortsetzung folgt.)
Sozial medizinische Kasuistik
Konkurrenz zwischen Berufsgenossenschaft und Krankenkasse. (Die Ar-
beiterversorgung 1908. Nr. 12.)
Eine Krankenkasse hatte auf Beschwerde hei der Aufsichtsbehörde einem
LTnf all verletzten Unterstützung über die 13. Woche hinaus zuteil werden lassen.
Sie erhebt vor Gericht gegen ihn Anspruch auf Rückerstattung dieser Unter¬
stützung mit der Begründung, daß nicht sie, sondern die Berufsgenossenschaft
verpflichtet sei, für den Verletzten nach der 13. Woche zu sorgen. Die Klage
wird aus folgenden Gründen abgewiesen: Durch Artikel I, IV des Gesetzes be¬
treffend weitere Änderungen des KVG. vom 25. Mai 1903 ist die Dauer der
Krankenfürsorge der Krankenkassen von 13 auf 26 Wochen ausgedehnt worden.
Eine entsprechende Änderung hat auch der § 11 des Statuts der Klägerin vom
9. Juni 1903 erfahren. Trotzdem hat die Klägerin nach Ablauf der 13. Woche
die Fortgewährung der Krankenunterstützung verweigert, in der Meinung, daß
ihre Verpflichtung in dem Augenblicke ende, wo die Entschädigungspflicht der
Berufsgenossenschaft einsetze, also mit, Beginn der 14. Woche nach Eintritt des
Unfalls. Sie geht dabei von der Ansicht aus, daß eine Verpflichtung der Kranken¬
kasse zugleich neben der Verpflichtung der Berufsgenossenschaft ausgeschlossen
sei, da aus dem Gesetze klar hervorgehe, daß der von einem Unfall Betroffene
nur einmal Unterstützung erhalten solle. Wenn die Klägerin behauptet, daß aus
§ 25 GUVG. nicht zu folgern sei, daß den infolge von Unfällen erkrankten Ar¬
beitern neben dem Anspruch gegen die Berufsgenossenschaft ein Anspruch gegen
die Krankenkasse zustehe, so ist ihr darin Recht zu geben, wie andererseits ihre
Ansicht unrichtig ist, daß aus diesem Paragraph gerade das Gegenteil hervorgehe.
Denn der Paragraph handelt doch gerade von der Möglichkeit eines Zusammen¬
treffens zwischen den Verpflichtungen der Berufsgenossenschaft und der Kranken¬
kasse, und daraus, daß die Krankenkassen für, während der Dauer der Ver¬
pflichtungen der Berufsgenossenschaften geleistete Unterstützungen von diesen
Ersatz verlangen können, geht doch durchaus nicht hervor, daß sie aus diesem
Grunde zu solchen Leistungen nicht verpflichtet sind. Es besteht also hier ge¬
wissermaßen eine Konkurrenz zwischen den Verpflichtungen der Krankenkasse
und der Berufsgenossenschaft. Daß eine solche im Gesetz beabsichtigt worden
ist, geht aus der Begründung der Novelle von 1905 hervor, wro es auf Seite 8
unter anderem heißt: „Eine ähnliche Rechtslage, wie sie künftig eintreten wird,
nämlich das Nebeneinanderbestehen von Fürsorgepflichten der Krankenkassen
und der Berufsgenossenschaften war schon bisher da vorhanden, wo Kranken-
62
Sozialmedizinisclie Kasuistik.
kassen die Unterstützung'sdauer statutarisch über 13 Wochen hinaus verlängert
hatten. Für den Verletzten bietet die im Entwurf vorgesehene Verlängerung der
Unterstützungspflicht der Krankenkassen den Vorteil, daß Fälle, in welchen die
Fürsorgepflicht der Krankenkasse beendet und diejenige der Berufsgenossenschaft
noch nicht festgestellt ist, sich wesentlich vermindern, wenn nicht völlig auf¬
hören werden. Denn die Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung der
Unterstützung wird nicht durch die Annahme aufgehoben, daß die Erwerbs¬
unfähigkeit durch einen Unfall herbeigeführt worden sei. Hat künftig hiernach
eine Krankenkasse Unterstützung für die Zeit vom Beginn der 14. Woche ge¬
leistet, so steht ihr der im UVG. geordnete Ersatzanspruch gegen die Berufs¬
genossenschaft zu“ (§ 25 GUVG.). Hier ist also der Krankenkasse der Weg ge¬
wiesen, wie sie für ihr& Leistungen Ersatz erlangen kann.
Gewöhnung an Verlust von Gliedmaßen. (Spruchsitzung des Reichsversiche-
rungsamtes vom 5. Oktober 1905.)
Welchen Wert die jahrelange Gewöhnung bei Verlust von Gliedmaßen haben
kann, wird durch nachfolgende Entscheidung des Reichsversicherungsamtes
illustriert, bei der es sich um einen Arbeiter handelt, welcher das Nagelglied des
rechten Daumens glatt verloren hatte. Unter Aufhebung des Urteils des Schieds¬
gerichts für Arbeiterversicherung in M. vom 6. Mai 1905 Avird die Rente des
Klägers vom 1. Februar 1905 ab aufgehoben. Gründe: Als Folge des Unfalls
vom 3. September 1894 besteht lediglich der glatte Verlust des Nagelgliedes am
rechten Daumen. Unzweifelhaft ist in den mehr als zehn Jahren nach dem Un¬
fall eine vollständige Angewöhnung an den veränderten Zustand der rechten
Hand eingetreten. Hierin ist die Avesentliche Besserung zu finden. Der glatte
Verlust des rechten Daumennagelgliedes bedingt nur unter besonderen Verhält¬
nissen noch nach eingetretener Angewöhnung eine Minderung der Erwerbsfähig-
keit. Solche Verhältnisse liegen hier nicht vor. Der Kläger ist nicht gelernter
Arbeiter, mag er auch die eine oder die andere Tätigkeit, die er vor dem Unfall
ausüben konnte, nicht mehr verrichten können, so besteht doch kein Bedenken,
daß er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, noch dazu im Osten der preußischen
Monarchie, eine annähernd ebenso lohnende Tätigkeit finden kann, Avie ein voll¬
ständig gesunder Mann.
Ärztliche Gutachtertätigkeit hei den Berufsgenossenscliaften. (Die Berufs¬
genossenschaft, Nr. 8, 1906.)
Arzte, Avelche mit Berufsgenossenschaften und Krankenkassen beruflich viel
zu tun haben, erleiden häufig erhebliche materielle Schädigungen durch die
latente Gegnerschaft, Avelche die letzteren gegen alles hegen, Avas mit den Be¬
rufsgenossenschaften in Konnex steht. So hat in Berlin die größte Gruppe von
Kassen den Satz proklamiert, daß Arzte, Avelche mit Berufsgenossenschaften in
einem Vertragsverhältnis stehen, nicht als Kassenärzte angestellt Averden dürfen.
Eine Rekursentscheidung des Reichsversicherungsamtes vom 17. November 1905
spricht sich nun dahin aus, daß Ärzte, mit welchen eine Berufsgenossenschaft ein
Abkommen lediglich darüber getroffen hat, nach Avelchen Sätzen sie Honorare für
Gutachten von ihr beanspruchen dürfen, nicht in einem „Vertragsverhältnis“ (§ 69
Abs. 3 GUVG.) zu der Berufsgenossenschaft stehen.
Erhält ein arbeitswilliger Arbeiter, der während eines Streikes von
Ausständigen auf dem Wege zur Arbeit mißhandelt wird, Unfall¬
rente 1 (Die Berufsgenossenschaft, Nr. 4, 1906.)
Sozialmediziniscke Kasuistik.
63
Diese Frage von weittragender Bedeutung hat das Reichsversicherungsamt
in einer Entscheidung vom 16. Juni 1905 bejaht. Der Entscheidung lag folgender
Sachverhalt zugrunde: Der Maurerpolier K. begab sich am 27. April 1904 morgens
57a Uhr zur Arbeit. In der Nähe seiner Wohnung wurde er von zwei aus-
gesperrten Bauarbeitern körperlich mißhandelt. Der Verletzte erhob Unfall¬
entschädigungsansprüche, indem er geltend machte, daß die Veranlassung zur
Mißhandlung in seiner Betriebstätigkeit gelegen habe, die Verletzung sich also
noch als ein Ausfluß der Betriebsgefahren darstelle. Der Fall sei anders zu be¬
urteilen als diejenigen Unfälle, die sich infolge der Gefahren des täglichen Lebens
auf dem Wege zur Arbeit ereigneten. Die Berufsgenossenschaft und das Schieds¬
gericht verhielten sich ablehnend; die erstere wandte insbesondere ein, daß K.
sich im eigenen wirtschaftlichen Interesse, nicht etwa im Interesse des Betriebes,
dem Ausstande nicht angeschlossen habe und die Mißhandlung nicht in seiner
Eigenschaft als Polier seines Arbeitgebers, sondern als unliebsamer wirtschaft¬
licher Konkurrent der feiernden Arbeiter habe dulden müssen. Dieser Anschauung
ist das Reichsversicherungsamt in seiner die Berufsgenossenschaft verurteilenden
Entscheidung mit folgenden Ausführungen entgegengetreten : „K. ist keineswegs
einer Gefahr des täglichen Lebens erlegen: er ist vielmehr einer besonders ge¬
arteten Gefahr zum Opfer gefallen, der andere Straßenpassanten nicht ausgesetzt
waren, sondern die gerade ihn wegen seiner Betriebstätigkeit bedrohte. In
Zeiten des Streiks oder der Aussperrung tritt erfahrungsgemäß für die Arbeits¬
willigen zu den technischen Gefahren des Baubetriebes noch die weitere Gefahr,
von den feiernden Arbeitern bedroht und angegriffen zu werden. In solchen
Zeiten erstreckt sich daher der Gefahrenbereich des Betriebes über die Betriebs¬
stätte hinaus, weil seine Arbeiter alsdann auch außerhalb der letzteren infolge
ihrer Betriebstätigkeit besonderen, nur ihnen drohenden Gefahren ausgesetzt sind.
Der Umstand, daß K. die Betriebsstätte im Augenblicke des Überfalles noch nicht
erreicht und seine Arbeit noch nicht aufgenommen hatte, steht daher der An¬
nahme eines Betriebsunfalles nicht entgegen. Dazu kommt, daß, während im
allgemeinen der Weg zur Betriebsstätte überwiegend im eigenen wirtschaftlichen
Interesse des Arbeiters unternommen wird — bei den zur Zeit des Unfalls herr¬
schenden Arbeitsverhältnissen der Betriebsunternehmer in mindestens gleich hohem
Maße daran interessiert war, daß die Arbeitswilligen sich zur Arbeit einfanden.
Es entfällt daher vorliegendenfalls auch der Grund, der hauptsächlich dafür be¬
stimmend gewesen ist, die den Arbeiter auf dem Wege 'von und zur Arbeit zu¬
stoßenden Unfälle von der Versicherungspflicht auszunehmen.
Beurteilung der Erwerbsbeschränkung nach Kopfverletzung. (Liniger-
Bonn, Monatsschrift für Unfallheilkunde, 1906.)
Nach einer schweren Kopfverletzung mit anscheinend glatter Heilung
wurden einem Verletzten 30 Proz. Rente zuerkannt. Die lebhaften Beschwerden
wurden als Übertreibung bezeichnet. Nach ll|2 Jahren erfolgte der Tod an
Meningitis und Hirnerweichung. Der Sektionsbefund war folgender : Entzündung
der Hirnhaut in großer Ausdehnung, Erweichung des Gehirns im Bereiche des
linken Schläfen- und Stirnlappens, frische Entzündung und Blutung. Daß die
Gehirnveränderungen schon lange bestanden, beweist die vom Hausarzt nach¬
gewiesene Schwäche des rechten Armes. Die Gehirnerweichung saß genau an
der Stelle des Gehirnes, wo das Zentrum des Armes liegt. Der Verletzte war
also kein Übertreiber und es ist ihm hoch anzurechnen, daß er mit seinem Ge-
64
Sozialmedizinische Kasuistik. — Medizinalstatistische Daten.
himleiden noch gearbeitet hat. Er verdiente nicht 30 Proz., sondern Vollrente.
Der Fall zeigt, wie vorsichtig man bei der Beurteilung der Folgen von Schädel¬
verletzungen sein soll.
Die Verschlimmerung bösartiger Geschwülste als Unfallfolge. (Franz
Honigmann, Monatsschrift für Unfallheilkunde, 1906.)
Bei einem Manne, welcher durch Fall Verschlimmerung einer Geschwulst
erlitten haben soll, welche schließlich mit dem Tode endete, lehnte das Reichs¬
versicherungsamt, weil eine Verschlimmerung als Unfallfolge nicht erwiesen sei,
jeden Zusammenhang ab. H. macht hierbei auf folgende von Vries aufgestellten
Momente aufmerksam. 1. Der Verletzte muß vor dem Unfall noch eine geAvisse
nennenswerte Erwerbsfähigkeit besessen haben. 2. Die Erwerbsfähigkeit muß
nach dem Unfall geringer geworden sein und 3. soll zAvischen der Abnahme der
Erwerbsfähigkeit und dem Unfall ein Zusammenhang bestehen. Einen strikten
BeAveis kann man natürlich nicht verlangen. Es genügt hohe Wahrscheinlichkeit.
Das Reichsversicherungsamt betont ausdrücklich: Wollte man unter allen Um¬
ständen einen strikten Nachweis verlangen, so Aviirde man damit gegen den Geist
der Gesetzgebung verstoßen. Die Erfahrungen sprechen dafür, daß ein bis dahin
langsam Avachsender Tumor zuweilen durch ein Trauma zu rascherem Wachstum
angeregt wird. Ein Zusammenhang muß als enviesen angesehen Averden, wenn
die Symptome, die auf eine Verschlimmerung des Leidens hinweisen, sich un¬
mittelbar an die Verletzung anschließen, so daß die Kontinuität der Erschei¬
nungen nachzuAveisen ist. Ernst Joseph.
Medizinalstatistiselie Daten.
1. Die Abnahme der Totgeburten.
In vielen europäischen Staaten Avurde ein Rückgang der Totgeburten in den
letzten Jahrzehnten nachgeAviesen. Es mußte jedoch hierbei in Frage kommen,
ob nicht dieser Rückgang durch Änderungen in der Art der Aufzeichnung vor¬
getäuscht Avürde. Daß dies nicht der Fall ist, ergibt sich aus der dänischen Sta¬
tistik, in Avelcher bis zum Jahre 1860 zurück die am 1. Lebenstage gestorbenen
Kinder gesondert aufgeführt Averden. Die Totgeburtsziffer ist in Dänemark von
4,3 in der Periode 1841 — 50 auf 2,5 in den Jahren 1891 — 1900 zurückgegangen.
Die Kindersterblichkeit ist sich in dieser Zeit annähernd gleichgeblieben ; sie Avar :
1861-
-70 • 13,4
1881—90
13,5
1871-
-80 13,8
1891—1900
13,5
Von
1000 Geborenen überhaupt sind in
Dänemark :
männliches Geschlecht
Aveibliches Geschlecht
totgeboren am }■ p»
ö gestorben
zusammen
totgeboren
am 1. Tag
gestorben
zusammen
1860—69
43,2
10,6
53,8
34,5
8,1
42,6
1870-79
36,6
10,4
47,0
29,7
7,7
37,4
1880—89
31.1
10,3
41,4
25,5
7,8
33,3
1890—1900 26,7
12,0
38,7
22,4
9,1
31,5
Medizinalstatistische Daten.
65
Jm letzten Jahrzehnt wurden anscheinend manche Neugeborene als lebend¬
geboren eingetragen, bei denen früher Totgeburt angenommen worden wäre, doch
zeigt sich auch in ihm eine beträchtliche Abnahme der Totgeburten. Die Ur¬
sache liegt hauptsächlich in der allgemeinen Besserung der sozialen Lage. (Nach
Befolkningsforholdene i Danmark i det 19. aarhundrede. Kopenhagen 1905, S. 134 f.)
2. Die Sterblichkeit an Lungenschwindsucht in Schweden
1751—1830.
In Schweden wurde 1686 den Pfarrern die Führung von Familienregistern
auferlegt, die von der Mitte des 18. Jahrhunderts an statistisch verwertet wurden.
Von 1751 an mußte von den Pfarrern auch die Todesursache eingetragen werden ;
letztere wurde also in der Weise erhoben, wie dies heute noch im größten Teile
Preußens der Fall ist. Es waren hierzu besondere Todesursachenverzeichnisse
ausgearbeitet, die im Laufe der Zeit mehrfach wechselten; das erste von 1751 — 73
hatte 33 Nummern, das zweite (1774 — 1801) 41, das dritte (1802 — 10) 33, das
vierte (1811 — 20) 35, das fünfte (1821— 30) 34. Im Jahre 1831 wurde den Pfarrern
die Verpflichtung, bei allen Sterbefällen die Art der Erkrankung einzutragen, ab¬
genommen, da man einsah, daß ihre Einträge einer wissenschaftlichen Kritik oft
nicht standhalten konnten; es wurden daher von ihnen von diesem Jahre an
nur die epidemischen Krankheiten, die Unfälle und Selbstmorde in die Leichen¬
register eingetragen, wie dies heute in ScliAveden auf dem Lande noch der Brauch
ist (in den Städten muß für jeden Sterbefall eine ärztliche Bescheinigung
beigebracht werden).
G. Sundbärg (Mortalite par tuberculose pulmonaire en Suede pendant les
annees 1751 — 1830 in La lutte contre la Tuberculose en Suede Upsala 1905,
S. 164) hat es versucht, aus den alten Zusammenstellungen die Häufigkeit der
Tuberkulose zu berechnen. Leider ist die Bezeichnung ungleichmäßig. In den
Jahren 1751 — 73 sind die Lungenkrankheiten und Phthisis (lungsot) in einer
Kubrik, die Abzehrung (tvinsot) getrennt aufgeführt, 1774 — 1801 lungsot und
tvinsot getrennt, 1802—20 sind letztere beide Todesursachen vereinigt, 1821 — 30
wieder getrennt. Phthisis, Abzehrung und Hämoptoe, welch letztere stets für
sich aufgeführt wird, hat Sundbärg zusammen als Lungentuberkulose gerechnet,
in der Periode 1751—73 wurde Phthisis nach dem Verhältnis der späteren Jahre
rechnerisch ausgeschieden. So kam Sundbärg zu den folgenden Ziffern. Auf
1000 Einwohner starben in
Schweden :
überhaupt
an Lungenschwindsucht
1751-60
27,4
2,1
1761—70
27,7
2,1
1771—80
28,9
2,1
1781—90
27,7
2,3
1791—1800
25,4
2,4
1801—10
27,9
2,5
1811—20
25,8
2,7
1821-30
23,6
2,8
Ein Vergleich mit der Gegenwart läßt sich leider nicht geben, da die
Lungenschwindsucht nicht mehr zu den von den Pfarrern erhobenen Krankheiten
gehört; in sämtlichen schwedischen Städten kamen 1891—1900 auf 1000 Ein-
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. t)
66
Medizinalstatistische Daten.
wohner 2,4 Todesfälle infolge dieser Krankheit. Aus den obigen Ziffern geht
hervor, daß die Tuberkulose in Schweden von 1780 — 1830 regelmäßig zugenommen
hat; da auch für Laien die Diagnose im eigentlichen Mannesalter viel leichter zu
stellen ist, als bei Kindern und bei Greisen, so ist es von Wert, daß die Ziffern
für einzelne Altersklassen berechnet werden können. Es starben an Lungen¬
schwindsucht auf je 1000 Lebende beim Alter von:
10-25 J.
25—50 J.
über 50 J.
Schweden 1776—1800
0,8
2,3
6,0
„ 1801—1810
1,0
2,6
6,9
„ 1811—1820
1,2
3,0
6,7
„ 1821—1830
1,0
3.1
7,6
Stockholm 1891 — 1900
1,0
3,6
4,1
Nach diesen Ziffern kann wohl kein Zweifel darüber obwalten, daß die
Tuberkulose in Schweden in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts kleiner war als
im ersten Drittel des folgenden Säkulums.
3. Hohe Morbidität einzelner Gewerbe.
S. Kosenfei d hat in einer großen Arbeit „Die Gesundheitsverhältnisse der
Wiener Arbeiterschaft“ (Stat. Monatsschrift 1905 u. 1906). behandelt. Für die
Genossenschaftskassen in Wien sind die Erkrankungen nach 7 Altersklassen aus¬
gezählt; die Mitgliederzahlen der Kasse lassen sich annähernd sicher für diese
Altersklassen feststellen, da am 15. März, 15. September und 31. Dezember die
Mitgliederbestände erhoben werden. Da sich die Kosenfei d'scken Untersuchungen
bei dieser Kasse auf 11 Jahre (1892—1902) erstrecken, so sind die Ziffern auch
zu feineren Berechnungen groß genug. Die höchste Morbidität haben die Küfer
und Seidenfärber, dann folgen die Gießer, Buchdrucker, Zimmerleute, Schlosser,
Feinzeugschmiede, Mechaniker, Hutmacher, Lithographen. Um die Berufe ver¬
gleichen zu können, haben wir aus den Kosenf eld’schen Ziffern die Standard¬
morbidität berechnet, d. h. es wurde ermittelt, wie groß die Morbidität dieser
Berufe wäre, wenn alle die Altersbesetzung der ganzen Arbeiterschaft hätten, die
Morbidität der letzteren wurde dann = 100 angenommen und danach Verhältnis-
Zahlen für die genannten Berufe berechnet.
Berufe
Auf 100 Mitglieder Erkrankungen mit
Erwerbsunfähigkeit
Standard-
Morbidität
Allgemeine
Morbidität
= 100
unter
20 J.
21—25 26 -30
31—40
h- L
1
Cn.
O
51-60
über
60 J.
Küfer
50,9
39.3
45,0
54.8
65,5
78,7
51.63
153
Seidenfärber
57,7
48,3
44.0
43,5
44,7
47,1
57,1
50.88
151
Gießer
44,2
47,2
44*0
46,9
47,2
49.6
66,7
46^57
138
Buchdrucker
46,3
50,3
45,4
42.3
39,7
41,5
60,5
45,44
135
Zimmerleute
47,5
44,8
36,8
40*4
49,5
63,2
76,2
44,86
133
Schlosser
47,5
46.0
39,8
38,8
42,8
51,1
59,4
43.59
129
Feinzeugschmiede
52,9
44M
38,8
36,5
45,2
45,2
—
43,15
128
Mechaniker
•42.6
35,5
32,4
37,2
43,3
59,2
—
39.05
116
Hutmacher
31,7
34,6
33,1
38,8
49,1
56,5
68,0
38,80
115
Lithographen
79,0
38,9
21,2
20,4
40,2
48,1
—
38,43
114
Alle Berufe
31,4
26,2
23,1
24,4
27,9
32,2
42,1
33,77
100
Medizinalstatistische Daten.
67
4. Zunahme der Tuberkulose mit der Höhenlage der Wohnung.
In Leipzig- werden Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Wohnung
und Tuberkulose angestellt. Nach E. Hasse (Die Tuberkulose und Wohnungs-
verhältnisse, Bulletin de lTnstitut international de Statistique, Bd. XV, 2, London
1906, S. 363) ergab sich dabei eine Zunahme der Tuberkulose mit der Höhenlage
der Wohnungen. Die Untersuchungen beschränkten sich vorerst auf die „Innere
Stadt“; während der Jahre 1880—1904 kamen dort 1386 Sterbefälle an Tuber¬
kulose vor, die Haushaltungsbevölkerung war 1880 22 341 und 1900 16 609.
Hasse führt folgende
Ziffern an:
Todesfälle an
Mittlere
Tuberkulosefälle im Jahre
Tuberkulose
Bevölkerung
auf 1000 Einw.
Erdgeschoß
22
603
1,46
I. Stock
218
3 201
2,72
II. „
364
4 957
2,94
i— i
i— i
t— i
358
5 891
2,43
IV. „ und höhere 382
4 523
3,38
Mehrere Stockwerke
etc. 42
756
—
Zusammen
1386
19 934
2,78
Hasse sieht selbstverständlich die Ursachen der hohen Belastung der
obersten Stockwerke mit Tuberkulose nicht in der Höhenlage, sondern in den
verschiedenen „Formen der Minderwertigkeit der Wohnungen selbst und des me¬
chanischen und sozialen Zusammenwohnens der Bewohner“.
5. Der Flecktyphus in Galizien im Jahre 1902.
Der Flecktyphus war 1902 in Galizien immer noch ziemlich häufig, wenn
auch seine Verbreitung gegen früher abgenommen hat. In der Bukowina ist er
erheblich seltener als in Galizien, in den übrigen österreichischen Kronländern
kommt er nur bei gelegentlicher Einschleppung vor. Nach der „Österreichischen
Statistik“ (Bewegung der Bevölkerung, 1902, Bd. 73, H. 3) starben 1902 an
Flecktyphus in Galizien 320, in der Bukowina 2 Personen. Die Zahl der Todes¬
fälle war in den letztvergangenen Jahren (der Flecktyphus wird erst seit 1895
getrennt aufgeführt) :
in Galizien
in der Bukowina
1895
1132
13
1896
980
5
1897
423
2
1898
480
24
1899
603
2
1900
467
2
1901
285
6
1902
320
2
Im Durchschnitt der Jahre 1898 — 1902 starben auf 100 000 Einwohner in
Galizien 5,9, in der BukoAvina 1,0 Personen an Flecktyphus. Im Jahre 1902
waren wieder fast nur die Bezirke besonders heimgesucht, die auch sonst Fleck¬
typhusherde sind; sie liegen fast alle im südöstlichen Galizien, nur Jaworow
5*
68 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
westlich und Kamionka Strumilowa nördlich von Lemberg. Auf 100 000 Personen
starben an Flecktyphus:
Bezirkshauptmannschaften
1902
1898—1902
Jaworow
37,2
49,0
Tlumacz
35,0
16,1
Nadworna
27,8
18,5
Bohorodczany
25,9
27,6
Kalusz
25,3
9,9
Kamionka Strumilowa
20,2
16.7
Stanislau
17,9
5,2
Horodenka
15,3
22,8
Buczacz
12,1
6,0
Im westlichen Galizien kam der Flecktyphus
nirgends in größerer Ausdehnung vor.
in den letzten 5 Jahren
F. Prinzin g.
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 22. März 1906.
Vorsitzender: Herr Gottstein. Schriftführer Herr Grotjahn.
• •
Herr Schwieniug: Uber Körpergröße und Brustumfang bei Tuber¬
kulösen und Nichttuberkulösen. Tn der ersten Sitzung unserer Gesellschaft2)
hat Herr Gottstein über interessante Untersuchungen berichtet, die er über
das Verhältnis von Brustumfang zur Körpergröße bei Tuberkulösen und Nicht-
tuberkulösen an dem Material einer Lebensversicherungsanstalt angestellt hat.
Zufällig bot sich mir bald nachher die Möglichkeit, ein umfangreiches Zahlen¬
material über tuberkulöse und nichttuberkulöse Soldaten beschaffen zu können;
ich glaubte daher eine Nachprüfung der Gott st ein’ sehen Untersuchungen nicht
unterlassen zu sollen und benutzte die Gelegenheit, die Beziehungen zwischen
Körpergröße Brustumfang und Brustspielraum überhaupt nach verschiedenen
Biclitungen einer Untersuchung zu unterziehen, über deren Ergebnisse ich mir
Ihnen kurz zu berichten erlaube. Die Untersuchungen erstrecken sich auf 4707
nichttuberkulöse und 4540 tuberkulöse Soldaten, zusammen also auf 9247 Mann —
ein Material, wie es bisher in dieser Beziehung noch nicht untersucht sein dürfte.
Die Angaben über Körpergröße und Brustumfang beziehen sich auf den Befund
bei der Einstellung der Leute, wie er in den Mannschaf tsuntersuchungslisteii
festgelegt wird, und zwar sind die betreffenden Angaben für die nichttuberkulösen
Leute diesen Listen direkt entnommen, während diejenigen für die tuberkulösen
9 Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 10, 11, 14,
21 der „Medizinischen Beform“, herausg. von B. Lennhoff.
2) Vgl. diese Zeitschrift Bd. 1 H. 1 S. 75.
Aus cler Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 69
den Zählkarten entstammen, welche über jeden an Tuberkulose der ersten Luft¬
wege und Lungen erkrankten Mann aufgestellt werden. Für beide Kategorien
erstrecken sich die Erfahrungen auf die 6 Jahre vom 1. Oktober 1898 bis
30. September 1904. Was nun die Beteiligung der verschiedenen Körper¬
größen bei den Tuberkulösen und Nichttuberkulösen betrifft, so konnten auch
meine Untersuchungen die Gottsteinschen Ergebnisse bestätigen, daß bei den
ersteren, den Tuberkulösen, die größeren und großen Leute überwiegen, eine Er¬
fahrung, die auch schon früher von anderer Seite gemacht ist. Auf Tafel I sind
als Vergleich neben den Tuberkulösen die betreffenden Größen Verhältnisse der in
den Jahren 1899 bis 1903 beim Oberersatzgeschäft vorgestellten Militärpflichtigen
aufgezeichnet, welche wohl am besten ein Bild von der Körpergröße im militär¬
pflichtigen Alter überhaupt geben. Das Übergewicht der großen Leute bei den
Tuberkulösen tritt deutlich in die Erscheinung.
Des weiteren hatte Herr Gottstein berechnet, daß das prozentuale Ver¬
hältnis zwischen Brustumfang und Körpergröße d. h. Br. X 103 durch Gr. bei
den Nichttuberkulösen wesentlich höhere Werte ergaben, als bei den Tuberku¬
lösen. Ich erlaube mir, Ihnen die Gottstein’schen Zahlen ins Gedächtnis zu¬
rückzurufen.
Brustumfang: Körpergröße nach der Größe.
151—160
161-170
171-180
181—190
cm
cm
cm
cm
Nichttuberkulöse .
57,1
55,1
54,5
53,4
Tuberkulöse .
53,2
52,5
51,6
50,8
Von den Tuberkulösen /////// bezw. von den Militärpflichtigen überhaupt
besaßen eine Körpergröße von cm
70 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Mit zunehmender Körpergröße findet ferner — wie Gottstein sagt —
eine Abnahme des Prozentsatzes bei beiden Kategorien statt; die Kurve der
Körpergröße steigt steiler an als die des Brustumfanges, wodurch ein Mißver¬
hältnis zwischen Längenwachstum und Brustumfang zu ungunsten des letzteren
eintritt. Die Unterschiede sind allerdings frappant, insbesondere erreichte die
Prozentzahl für die allergrößten Nichttuberkulösen zwar Werte, die dem Durch¬
schnitt der Tuberkulösen nahe kommen, immerhin ist die Zahl bei den kleinsten
Tuberkulösen noch etwas niedriger als die Zahl bei den größten Nichttuber¬
kulösen.
Wenn sich ein derartiges Verhältnis einigermaßen konstant erweisen sollte,
so würde dadurch ein nicht unwesentliches Hilfsmittel bei der Beurteilung der
Körperbeschaffenheit gegeben sein. Allerdings hat Gottstein nur 103 Einzel¬
fälle (von Tuberkulösen) seiner Statistik zugrunde gelegt, eine Zahl, die zur Ge¬
winnung von einwandfreien Durchschnittswerten etwas gering erscheint. Sodann
hat er als Brustumfang das sog. mittlere Brustmaß — in der Buhe — genommen.
Dieses ist natürlich um einige Zentimeter größer als das nach tiefster Exspiration
gewonnene, wie es beim Militär gebräuchlich ist. Daher sind auch seine Ver¬
hältniszahlen, wie wir sehen werden, durchweg nicht unwesentlich höher als die
von mir berechneten und mit letzteren nicht unmittelbar zu vergleichen. Da
aber das Verhältnis zwischen den mittleren und dem Ausatmungsbrustmaß stets
ein ziemlich konstantes sein dürfte, so würden auch die auf Grund des Aus¬
atmungsbrustumfanges berechneten Prozentzahlen beim Vergleich unter sich die¬
selben Unterschiede zeigen müssen, wie die Gott stein sehen Zahlen, — wenn
wirklich die Tuberkulösen und Nichttuberkulösen ein so konstantes, verschiedenes
Verhalten in dieser Beziehung aufweisen. Die von mir berechneten Zahlen sind
nun folgende : Es betrug das Verhältnis von Brustumfang zur Körpergröße bei
einer Größe von
bei den
bis
155 cm
155,1-160
cm
160.1-165
cm
165,1-170
cm
170,1-175
cm
175,1-180
cm
180,1-185
cm
über
185 cm
Nichttuberkulösen . . .
Tuberkulösen .
53.1
52.1
51.9
51,3
50,9
50,4
50,1
49,4
49,2
48,7
48,5
48,1
47,7
47,3
47,7
47,1
Es zeigen sich auch hier zwischen den Nichttuberkulösen und Tuberkulösen
Unterschiede, die aber bei weitem nicht so bedeutend sind, wie bei Gottstein;
gerade bei den großen, der Tuberkulose an sich verdächtigen Leuten ist der
Unterschied so gering, daß eine praktische Verwertung im Einzelfalle ausge¬
schlossen erscheint. Noch eine andere Überlegung wird das zeigen. Derartige
Durchschnittszahlen haben wohl einen gewissen wissenschaftlichen Wert als Ma߬
stab für die Körperverhältnisse „des Gesunden oder des Tuberkulösen an sich“,
für die praktische Verwertung ist es aber noch erforderlich, die Schwankungs¬
breite zu kennen, innerhalb der die einzelnen die Durchschnittszahl ergebenden
Summanden sich bewegen. Erst wenn die niedrigste Prozentzahl des Brustum¬
fangs zu einer bestimmten Körpergröße bei den Nichttuberkulösen stets höher
wäre, als die höchste, bei den Tuberkulösen vorkommende, ließen sich hier im
Einzelfall verwertbare Schlüsse ziehen. Dies .ist aber — bei unseren Zahlen
wenigstens — durchaus nicht der Fall. Bei den Tuberkulösen übersteigt viel¬
mehr die Prozentzahl in vielen Fällen den Durchschnitts-, ja den höchsten Satz
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 71
der Nichttuberkulösen, und umgekehrt bleibt bei vielen Nichttuberkulösen das
Prozentverhältnis hinter dem niedrigsten Werte der Tuberkulösen zurück. Um
das zahlenmäßig nachweisen zu können, habe ich ausgezählt, in wieviel Fällen
dieses Verhalten Platz greift, und da ergibt sich, daß bei nicht weniger als
36 von 100 Tuberkulösen das Prozentverhältnis zwischen Brustumfang und Körper¬
länge größer war als im Durchschnitt hei den Nichttuberkulösen, und daß sogar
heidi von 100 Nicht tuberkulösen dasselbe Prozentverhältnis kleiner war
als im Durchschnitt bei den Tuberkulösen. Betrachtet man die verschiedenen
Größengruppen für sich, so erhält man z. T. noch höhere Prozentzahlen, deren
Aufzählung ich mir wohl ersparen darf. Hieraus geht klar hervor, daß die Unter¬
schiede zwischen Tuberkulösen und Nichttuberkulösen wohl bei den aus großen
Zahlenmassen gewonnenen Durchschnittswerten nachweisbar sind, im Einzelfalle
aber keine wesentliche Bedeutung für die Beurteilung des Körperzustandes hin¬
sichtlich etwaiger Anlage zu tuberkulösen Erkrankungen beanspruchen können.
Man kann meinen Deduktionen entgegenhalten, daß man ja nicht wissen könne,
ob nicht von den Nichttuberkulösen die mit so geringem, der Tuberkulose ver¬
dächtigen Brustumfang ausgestatteten Leute später tatsächlich an Tuberkulose
erkranken könnten, während man bei Gottstein dies für die Nichttuberkulösen
ausschließen könne, da es sich bei ihm um bereits Verstorbene mit bekannter
Todesursache handelt. Der Einwand ist bis zu einem gewissen Grade berechtigt.
Immerhin handelt es sich hei unseren Nichttuberkulösen zum großen Teil um
Leute, die wenigstens die anstrengenden Jahre ihrer aktiven Militärzeit durch¬
gemacht, ohne tuberkulös zu erkranken, und dann kann man wohl kaum an¬
nehmen, daß z. B. von 1069 bisher gesunden Soldaten der Größengruppe von
160 — 165 cm 442 = 41,3 Proz., deren Brustumfang den Durchschnitt der Tuber¬
kulösen nicht erreichte, später an Tuberkulose erkranken sollten, oder daß von
den 121 Mann der Gruppe 180 — 185 cm gar 60, d. i. gerade die Hälfte, den
Keim der späteren Lungenerkrankung in sich tragen. Auf Grund unseres um¬
fangreichen Materials glaube ich also, der Berechnung des Prozentverhältnisses
zwischen Brustumfang und Körpergröße eine praktische Bedeutung im wesent¬
lichen absprechen zu können. Aus den obigen Prozentzahlen ist ferner zu er¬
sehen, daß, ebenso wie bei Gott st ein, das Prozentverhältnis zwischen Brust¬
umfang und Körpergröße kleiner wird, je mehr letztere ansteigt; des weiteren
geht aus ihnen hervor, daß die vielfach aufgestellte Forderung, daß der Aus¬
atmungsbrustumfang mindestens gleich der halben Körpergröße sein solle, nicht
als zutreffend angesehen werden kann, wie es übrigens auch schon von anderer
berufenster Seite, namentlich von F e t z e r und S e g g e 1 , nachgeAviesen ist. Von
je 100 Leuten der betreffenden Größengruppe hatten einen Brustumfang, der
kleiner war als die halbe Körpergröße:
bei den
bis
155 cm
155,1-160
cm
160,1 165
cm
165,1-170
cm
170,1-175
cm
175,1-180
cm
vO
CO
V g
- o
O
CO
rH
i
über
185 cm
insgesamt
N i ch ttub erkul Ösen
Tuberkulösen
92,6
92,6
91,9
81,8
68,9
57,5
53,4
40,7 ■
32,1
24,6
24,9
18,8
17,4
9,3
19,1
12,5
51,3
40,0
Je größer die Körperlänge, desto mehr nimmt der Prozentsatz derjenigen
Leute ab, deren Brustumfang die halbe Körperlänge erreicht. Dabei zeigt sich,
72 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Von 100 Leuten der betreffenden Körpergröße hatten bei den Nichttuberkulösen
ü. bei den Tuberkulösen ////// einen Brustumfang größer als die halbe Körperlänge.
daß bei den Tuberkulösen — mit Ausnahme der ganz kleinen Leute — in allen
Größengruppen die Zahl derjenigen mit einem die halbe Körperlänge über¬
steigenden Brustumfang beträchtlich kleiner ist, als bei den Nichttuberkulösen.
Wie stellt sich nun für jede Körpergröße das durchschnittliche Brustmaß? Die fol¬
gende Tabelle (S. 74 oben) enthält die entsprechenden Zahlenangaben, und auf
Tafel III habe ich versucht, sie graphisch zu erläutern. Die Abscissenachse ent¬
spricht jedesmal der halben Körpergröße, die aufsteigenden Säulen stellen das Plus
(in cm) dar, um welche der Brustumfang die halbe Körperlänge übersteigt, die
absteigenden Säulen das Minus, um welches der Brustumfang hinter der halben
Körperlänge zurückbleibt. Sie sehen, daß bei den Nichttuberkulösen die Grenze,
an der das Brustmaß der halben Größe entspricht, bei 168 cm liegt; bei ab¬
nehmender Größe nimmt das Plus kontinuierlich zu, bei steigender Größe kon¬
tinuierlich ab. Sie sehen ferner, daß bei den Tuberkulösen die Grenze etwas
tiefer liegt, schon bei 165 cm, und daß weiter einerseits die positive Differenz
zur halben Größe nicht so groß ist, wie bei den Nichttuberkulösen, andererseits
das Minus fast durchweg größer ist als bei den gesunden Leuten. Auch hierin
drückt sich die geringere Ausbildung des Thorax bei den Tuberkulösen aus.
Aber auch hier hat der durchschnittliche Brustumfang für den Einzelfall wenig
praktische Bedeutung, da die Schwankungsbreite, innerhalb der sich die einzelnen,
die Durchschnittszahl ergebenden Summanden bewegen, eine recht erhebliche ist.
So bewegt sich z. B. bei den 363 Leuten mit einer Körpergröße von 168 cm der
Brustumfang zwischen 74 und 93 cm; nur 40 = 11 Proz. besaßen den durch¬
schnittlichen Brustumfang von 84 cm ; 158 hatten einen geringeren und 165 einen
größeren. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei allen anderen Größen — ich
brauche Avohl Aveiter keine Beispiele dafür anführen. Um den Gegenstand zu er¬
schöpfen, habe ich endlich auch das 3. Maß, welches bei der Brustmessung in
Betracht gezogen zu Averden pflegt, nämlich die Ausdehnungsfähigkeit
oder den Brustspielraum bei meinen Untersuchungen berücksichtigt. Der
durchschnittliche Brustspielraum betrug bei einer Körpergröße (siehe Tabelle auf
S. 74 unten)
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 73
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4
74 Alls cler Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene lind Medizinalstatistik.
Körpergröße
Halbe
Körpergröße
Nichttuberkulöse
Tuberkulöse
Differenz
zwischen
Tuberkulösen
und Nicht-
tuberkulösen
Brustumfang
+ Zur
halben
Körpergröße
Brustumfang
+ Zur
halben
Körpergröße
154
77
82,2
1-5.2
80,3
[-3,3
Ul, 9
155
77,5
83,0
-5,5
81,4
b3,9
-1,6
156
78
81,6
[-3,6
80.4
[-2,4
-1,2
157
78,5
82,6
Kl
80,3
bl, 8
[-2,3
158
79
82,1
|— 3,1
81,2
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159
79,5
82,3
U2,8
80,5
bi,o
hl, 8
160
80
82,4
[-2,4
82,2
[-2,2
b0.2
161
80.5
82,7
-2,2
81.5
KLO
+, 2
162
81
82.6
-1,6
82,1
-U
r-0,5
163
81,5
83,3
-1,8
82,2
[-0,7
-1,1
164
82
83.4
[-1,4
82,5
-0,5
b0,9
165
82,5
83,2
h0,7
82,5
+0,0
+,7
166
83
84,2
+1>2
82.5
-0,5
bl.7
167
83,5
84.1
+0.6
82,8
-0,7
-1,3
168
84
84,1
+o,i
83,1
-0,9
Ki,o
169
84,5
84,2
-0,3
83,1
-1.4
+1,1
170
85
84,5
-0,5
83,1
-1.6
+1,1
171
85,5
84,2
-1,3
83,4
-1.9
b0,6
172
86
84,3
-1,7
83.6
-2,3
+3.6
173
86,5
85,3
-0.8
83,7
-2,3
+1,1
174
87
85,3
-1,7
84,2
-2.7
bLO
175
87,5
85,7
-1.8
84,3
-2,8
bi,o
176
88
85,8
-2.2
84,2
-3,8
bl, 6
177
88,5
86,1
-2,4
85.2
-3.3
b0,9
178
89
86.1
-2,9
85,2
-3,8
-0,9
179
89,5
86;7
-2,8
85,6
-3,9
[-1,1
180
90
86,0
-4,0
87,0
-3.0
-1,0
181
90,5
87,3
-3,2
85,4
-5.1
+1,9
182
91
86,1
-4,9
86,7
-4,3
+0,6
183
91,5
87.2
-4,3
86,0
-5.5
+1,2
184
92
86,9
-5,1
86,7
-5,3
+0,2
185
92,5
85.4
-7,1
88.4
-4.1
+3,0
186
93
89,5
-3,5
86,7
-6.3
+2,8
187
93,5
91,3
-2.2
89,5
-4.0
+1,8
188
94
93,4
-0,6
84,0
' -
10.0
+9.4
bei den
bis
160 cm
160,1-165
cm
o
t-H
' ff
- o
co
tH
170,1-175
cm
175,1-180
cm
über
180 cm
N ichttuberkulösen
Tuberkulösen
7,2
6,8
7.4
7,1
7,6
7,2
7,8
7,5
7,9
7,8
8,2
8,1
bei einem Ausatmungsbrustumfang’
bei den
bis
über
über
über
ins-
80 cm
80-85 cm
85-90 cm
90 cm
gesamt
Nichttuberkulösen
7.9
7,7
7.4
7,1
7,6
Tuberkulösen
73
7,4
7,2
7,8
7,3
Aus der Gefellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
<0
Es zeigt sich also, daß die Ausdehnungsfähgkeit mit steigender Körper¬
größe zu nimmt, und zwar bei beiden Kategorien in ziemlich gleicher Weise,
wenn auch der Brustspielraum bei den Tuberkulösen durchweg etwas kleiner ist,
als bei den Nichttuberkulösen. Ferner ergibt sich, daß die Ausdehnungsfähigkeit,
worauf bisher verhältnismäßig selten hingewiesen ist, mit steigendem Aus¬
atmungsbrustumfang ab nimmt. Diese Abnahme der Ausdehnungsfähig¬
keit bei steigendem Brustumfang wird mit gleichzeitig steigender Körperlänge
größer, d. h. die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Brustspielraum bei
dem niedrigsten und dem höchsten Brustumfang steigt proportional der Körper¬
länge. Die Differenz beträgt bei den Nichttuberkulösen bei einer Größe von
bis
160 cm
160,1-165
cm
165,1-170
cm
170,1-175
cm
175,1-180
cm
über
180 cm
0,7
0,8
1,2
1,2
1,8
1,4
Eine Erklärung für diese Erscheinung ist nicht schwer; bei den höheren
Brustumfängen genügt eben schon ein etwras geringerer Spielraum, um die er¬
forderliche Ausdehnung der Lungen zu ermöglichen, während bei kleineren Brust¬
umfängen hierzu eine größere Ausdehnung des Thorax nötig ist. Aber auch diese
Untersuchungen über den Brustspielraum haben mehr ein theoretisches Interesse
als praktische Bedeutung. Die Differenzen zwischen Tuberkulösen und Nicht-
tuberkulösen sind so gering und bewegen sich zum Teil innerhalb so enger
Grenzen, daß sie bei der Brustmessung in praxi überhaupt nicht in Frage kommen.
Dazu kommt, daß auch hier wieder die Schwankungsbreite der einzelnen Brust¬
spielräume so erheblich ist, daß man mit den Durchschnittszahlen im Ernstfälle
nichts anfangen kann. Ich darf mir wohl nähere Angaben darüber ersparen. In
praktischer Beziehung sind also auch meine Untersuchungen ergebnislos gewesen
— ebenso wie die zahlreichen früheren derartigen Versuche. Natürlich will ich
die Brustmessung nicht als völlig wertlos aus den Untersuchungsmethoden des
Militärarztes oder des Versicherungsarztes ausscheiden — sie wird dem erfahrenen
Arzt im Verein mit anderen objektiv nachweisbaren Abweichungen im Körperbau
und an den inneren Organen immerhin in manchen Fällen ein wertvolles Mittel
zur Beurteilung der Körperbeschaffenheit sein. Ob es gelingen wird, auf anderem
Wege einen praktisch venvertbaren Maßstab durch Messungen festzustellen, möchte
ich dahingestellt sein lassen. Vielleicht würde man zu sicheren Besultaten
kommen, wenn man das Brustmaß nicht auf die gesamte Körpergröße, sondern
nur auf die Länge des Kumpfes bezöge, als den Körperteil, dessen Entwicklung
für den Zustand der Lungen in erster Linie maßgebend ist. Neuerdings wird das
Pi gn et sehe Verfahren gerühmt, welches darin besteht, daß man den Brustumfang
(in cm) und das Gewicht (in kg) addiert und diese Summe von der Körperlänge
(in cm) abzieht. Die Differenz soll um so geringer sein, je kräftiger der be¬
treffende Mann ist. Eine Differenz von 35 soll völlige Untauglichkeit bedingen.
Soweit ich die Literatur übersehe, liegen aus Deutschland noch keine Erfahrungen
hierüber vor. Es dürfte sich lohnen, hierüber an einem größeren Material Unter¬
suchungen anzustellen, zumal für die Pignetsche Berechnung nur die schon jetzt
— beim Militär und bei der Versicherung — festgestellten Maße — Körpergröße,
Brustumfang und Gewicht — gebraucht werden. Weitere Messungsmethoden, zu
deren Ausführung besondere Instrumente, z. B. Tasterzirkel usw., erforderlich
76 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatitik.
sind, wie sie u. a. Seggel und Fetz er ausgeführt und empfohlen haben, halte
ich hingegen — wenigstens für militärische Zwecke — bei Massenuntersuchungen
für praktisch undurchführbar.
Sitzung Yom 3. Mai 1906.
Vorsitzender : Herr M a y e t. Schriftführer : Herr Lennhoff.
Herr Brat: Berufskrankheit und Unfall. Daß die gewerblichen Ver¬
giftungen nur einen geringen Bruchteil der beruflichen Schädigungen ausmachen,
ist genügend auf der vorletzten Konferenz der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrt
betont worden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob manche
Sozialpolitiker zunächst nur deswegen eiaer besonderen Entschädigung für be¬
stimmte gewerbliche Vergiftungen das Wort reden, weil sie hoffen, mittels einer
wohlfeilen Waffe, wie sie das Schlagwort Vergiftung darstellt, eine Bresche zu
schaffen, durch welche später das ganze Heer von sogenannten Berufskrankheiten
zum Teil mit Recht, zum Teil mit Unrecht eindringen könnte. Wesentlich er¬
leichtert wird dieses Bemühen dadurch, daß in zwei Staaten, England und Frank¬
reich, gesetzliche Maßnahmen ergriffen, bezüglich in Aussicht genommen sind,
die gewerblichen Vergiftungen den Unfällen gleichzustellen. Aber wenn man
sich auf diese Tatsache beruft, vergißt man vollständig, daß in den beiden heran¬
gezogenen Staaten zwar eine obligatorische Unfall-, aber keine staatliche Kranken¬
versicherung existiert, und daß die Forderung der Gleichstellung von gewerb¬
lichen Vergiftungen und Unfällen aus diesem Mangel heraus entstanden ist.
In England und in Frankreich sind mehr praktische Tendenzen, bei uns in
Deutschland sozial ideale Momente , um diesen Ausdruck zu gebrauchen , die
Triebfeder für die Forderung der Gleichstellung von Berufskrankheit und Unfall.
Bei den beiden, in gleicher Begeisterung für eine große Aufgabe entstandenen
und in diesem Verein vorgetragenen Entwürfen zum Umbau der sozialen Gesetz¬
gebung finden sich trotzdem unvereinbare Gegensätze bezüglich der hier auf¬
geworfenen Spezialfrage.
In umfangreicher Weise werden aber die Schwierigkeiten bei Gleichstellung
der Betriebskrankheiten mit den Unfällen ersichtlich, wenn man die Grundlagen
des französischen Gesetzentwurfs betrachtet. Die Dauer der Verantwortungsfrist
der Arbeitgeber bei den einzelnen beruflichen Schädigungen — für die Er¬
krankungen der Atmungsorgane und der einzelnen Infektionskrankheiten ist vor¬
sichtigerweise eine Verantwortungsfrist nicht angegeben — ist ganz willkürlich
in dem genannten Entwurf festgesetzt worden. Als Krankheiten, welche infolge
einer gewerblichen Bleivergiftung entstehen können, sind bezeichnet: Bleikolik,
Myalgie, Arthralgie, Paralyse, Encephalopathie, Hysterie, progressive Anämie,
Nierenentzündung, Gicht, Arteriosklerose. Als Folgen der gewerblichen Queck¬
silbervergiftung sind angeführt : Stomatitis, Zittern, Ernährungsstörungen, Kachexie ;
die Symptome der gewerblichen Arsenvergiftung sind mit folgenden Affektionen
angeführt : Verdauungsstörungen , Laryngo -Bronchitis , Hautkrankheiten , Kopf¬
schmerzen, Paralyse, Nierenentzündung, Kachexie. Als Symptome der Schwefel¬
kohlenstoffvergiftung sollen gelten: Schwere spezifische Vergiftung, Augen¬
erkrankungen, Verdauungsstörungen, Zittern, Hysterie, Paralyse, Kachexie.
Nach diesem Entwürfe wird das Krankheitsbild der bis jetzt angeführten
Vergiftungen, abgesehen von wenigen spezifischen Symptonen, bestimmt durch
Allgemeinstörungen oder lokale Krankheitsprozesse, welche keineswegs in irgend
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 77
einer Weise für eine dieser Vergiftungen als bestimmt charakteristisch angesehen
werden können. 1 )as gilt insbesondere auch von Krankheitserscheinungen wie Zittern,
Paralyse, Hysterie. Die Symptome, welche, bei der gewerblichen Kohlenwasser¬
stoffvergiftung angeführt sind, möchte ich nach meinen Erfahrungen als direkt
falsch bezeichnen. Die große Anzahl Industrien aufzuzählen, bei welchen nach
nach diesem Entwurf Erkrankungen der Luftwege , Tuberkulose Vorkommen,
kann unterlassen werden, ebenso die Aufzählung aller ansteckenden Krankheiten,
welche in den verschiedensten Industrien Vorkommen können. Nach diesem
Entwurf kann das ganze Gebiet der menschlichen Pathologie, als zu (len Berufs¬
krankheiten gehörig, angesehen werden — angefangen mit den sogenannten
sichergestellten Berufskrankheiten — zum Schluß wird die ganze Pandorabüchse
geöffnet. Wenn man überhaupt die Frage entscheiden will, ob man in den Krank¬
heiten des täglichen Lebens Berufskrankheiten erblicken kann, muß man zunächst
berufsstatistische Unterlagen beschaffen, welche nicht allein den Beruf, sondern
auch die äußeren Lebensverhältnisse berücksichtigen. Bei derselben gewerblichen
Gefahr können die Arbeiter einer Stadt oder auf dem flachen Lande in ganz
verschiedenen Prozentsätzen an den verschiedensten Affektionen erkranken. Es
spielen dabei Wohnungsverhältnisse die Frage einer zweckmäßigen Beköstigung
und auch klimatische Faktoren eine Rolle. Aus den obigen Ausführungen geht
wohl zur Genüge hervor, wie die Begriffe Krankheit und Berufskrankheit in¬
einander übergehen, und daß eine Sonderstellung der Berufskrankheiten gegen¬
über den Krankheiten überhaupt nur auf einer unzureichenden wissenschaftlichen
Basis zurzeit geschaffen werden kann. Wie in dieser Gesellschaft von anderer
Seite und auch von mir die Meldepflicht bei gewerblichen Versicherungen auf
Grund unserer Kenntnisse zurzeit als unmöglich bezeichnet wurde, so hat auch
die Trennung von Krankheit und Berufskrankheit gegenwärtig noch kein Recht,
gesetzlich sanktioniert zu werden.
In zweiter Linie habe ich es mir zur Aufgabe gestellt, zu prüfen, mit
welchen Schwierigkeiten die Unfallbegutachtung zu tun hat. Das Gesetz selbst
gibt, wie bekannt, keine nähere Begriffsbestimmung des Wortes „Unfall“. —
Erkrankungen im allgemeinen, Gewerbekrankheiten, Schädigungen infolge ge¬
wisser Einflüsse : Zugluft, Feuchtigkeit usw. sollen nicht als Unfälle angesehen
werden. Trotzdem werden die Arzte vor die Entscheidung gestellt, ob eine
Lungenentzündung durch eine Kontusion, ob eine Handgelenkstuberkulose durch
bestimmte, bei einem Beruf notwendige Bewegungen, ob eine Sehnervenatrophie
bei Tabes als Folge von Zugluft, eine Apoplexie oder ein Blutsturz als Folge
einer Überanstrengung entstanden aufzufassen ist, ob eine Körperbewegung als
Überanstrengung betrachtet werden kann. Bei derartigen Urteilen ist nicht das
Maß unseres ärztlichen Wissens, sondern das subjektive Empfinden des Gut¬
achters, so scharfsinnig die Deduktionen desselben im Einzelfalle auch zu sein
scheinen, allein ausschlaggebend. Kann der Arzt sich überhaupt mit dem Sprach¬
gebrauch des Wortes Unfall, der eigentlich der Sprachgebrauch der Laien ist,
zufrieden geben? Für den Nachweis des Zusammenhangs einer Körperschädigung
durch einen Unfall verlangt die Beweispflicht entweder ein zweifellos als
Ursache der Verletzung in Betracht kommendes, akutes, äußeres, von dem Willen
des Betroffenen unabhängiges Ereignis oder eine Erkrankung, welche die Be¬
wertung eines Ereignisses als akute Ursache derselben zuläßt. Die Recht¬
sprechung hat an der zeitlichen Begrenzung, welche in dem Begriff „Unfall“
nach dem Sprachgebrauch liegt, nicht festhalten können und eine über Stunden,
78 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
resp. einen Tag sich ausdehnende Einwirkung als genügend abgegrenztes zeit¬
liches Ereignis angesehen Die Beurteilung, ob eine Erkrankung derartig auf¬
zufassen ist, daß irgend ein äußeres Ereignis als Unfallursache angesehen werden
kann, ist den Ärzten Vorbehalten. Diese Beurteilung kann sich nach meiner
Ansicht nicht nach dem Sprachgebrauch richten. Es gibt mikroskopische
Ge walt ein Wirkungen und es gibt mikroskopische Folgeerscheinungen der¬
selben. Es ist denkbar — nicht notwendig — , daß beim Eindringen eines be¬
stimmten Steinpartikelchens in die Lunge des Steinhauers der Ort für die
Ansiedlung des ersten Keims der Tuberkulose geschaffen wird. Es ist möglich,
daß durch den Wollstaub in einer Spulerei bei einem Individuum eine geringste
akute Verletzung gesetzt wird, die den Boden für ein chronisches Siechtum
bildet. Daß uns diese geringste Verletzung entgeht, weil vielleicht mit derselben
keine Blutung verbunden ist, daß uns die ersten Anfänge der Unfallfolgen nicht
bekannt werden, weil die Krankheitserscheinungen nicht gleich manifest sind,
berechtigt uns keineswegs, die Unfallmöglichkeit in solchen Fällen ab streiten zu
wollen. Wenn nach der Unfallstatistik der Berufsgenossenschaft für Landwirt¬
schaft und Forstwesen aus dem Jahre 1901 bei 68 Fällen von „Blutvergiftung' ‘
nur in einem Teil die Entstehung der Wunde und in einem anderen Teil die
Entstehung der Infektion bekannt geworden ist und trotzdem alle Fälle ent¬
schädigt worden sind, so sieht man, wie formal die Beweisführung an dem akuten
Ereignis festhält, während an die Würdigung, ob in der Verletzung an und für
sich oder der Infektion das wesentliche Moment für den Verlauf des Unfalls,
resp. der Unfallfolgen zu erblicken ist, nicht herangetreten wird.
Wie auf der einen Seite eine Trennung von Krankheit und Unfall nicht
möglich ist, und ein Teil der für gewöhnlich nicht als Unfälle aufgefaßten In¬
fektionen nach dem Stand der heutigen ätiologischen Forschungs¬
ergebnisse — das gilt nicht allein für die Tuberkulose — oft als Unfälle
auf gefaßt werden müssen resp. können, so hat auch die Anschauung kleinster
Gewalteinwirkung Anhänger gefunden, um die gewerblichen Vergiftungen in
die Beihe der Unfälle zu stellen. Man hat den Begriff „kumulativ“ so allgemein
gefaßt, daß jede chronische Einwirkung mit diesem Wort bezeichnet
werden kann. Unter kumulativ wirkenden Substanzen kann man aber nur solche
verstehen, welche zunächst bei ihrer Einverleibung sichtbare krankhafte Er¬
scheinungen nicht bewirken, welche aber nach der Kumulation des Giftes ver¬
hältnismäßig schnell zur Zuführung geringer, vorher ohne ersichtlichen Schaden
vertragener Mengen Krankheitserscheinungen manifest werden lassen. Derartige
Einwirkungen können nach meiner Ansicht auch heute schon mitunter als Unfälle
zur Entschädigung kommen. Zu solchen kumulierend wirkenden Substanzen
gehören eine Anzahl Blutgifte; für das Blei kann man vom pharmakologischen
Standpunkte eine derartige kumulative Wirkung annehmen. Die Nachschübe
von Bleikolik, welche z. B. nach Entfernung eines Bleiarbeiters aus dem Betrieb
entstehen und welche dadurch zu erklären sind, daß im Organismus deponiertes,
entgiftetes Blei wieder mobil gemacht wird, weisen auf die kumulative Wirkung
der Noxe hin. Man ist zu sehr von der Vorstellung befangen, daß jede Blei¬
erkrankung nur als Gewerbekrankheit aufzufassen ist und versäumt sicher oft
im Einzelfall nachzuforschen, ob nicht in der minutiösen Beachtung der Vor¬
gänge und der Eigenschaften des Bleies die Möglichkeit zur Konstruktion
eines Unfalles gegeben ist. Wir keimen die Natur zahlreicher Substanzen
zu wenig, um zu wissen, ob derartige Annahmen ebenfalls für dieselben gestattet
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 79
sind. Die Möglichkeit, daß Kohlenoxyd, Phosphor, Quecksilber in dem obigen
Sinne als kumulativ wirkende Substanzen zu bezeichnen sind, ist nicht aus¬
geschlossen. Unter dieser Voraussetzung würde in der letzten die Er¬
krankung in die Erscheinung bringenden, wenn auch minimalen Ein¬
wirkung das Unfallereignis liegen. Die Erforschung der Natur der gewerblichen
Noxen stellt sich hier wiederum als ein Erfordernis heraus, damit der Recht¬
sprechung exaktere Grundlagen gegeben werden könnten, als der Sprachgebrauch
bedingt, der in den Worten Gewerbekrankheit und Unfall liegt.
Wie bei der Infektion, so muß auch bei der Intoxikation der Begriff des
kleinsten wirksamen äußeren Unfallereignisses aufgestellt werden.
Im vorgehenden habe ich mich bemüht, auseinanderzusetzen, wie für das
ärztliche Auge oder besser für die Wissenschaft keine Grenzen zwischen Krank¬
heit, Gewerbekrankheit und Unfall bestehen; wesentlich Neues habe ich nicht
anführen können. Dennoch erschien es zweckmäßig, gerade im Anschluß an die
großen sozialpolitischen Vorträge in diesem Verein diesen Standpunkt zu be¬
tonen. Wir Ärzte fordern im Interesse der Volkshygiene, „daß jede Versicherung
gegen das Erlöschen der Arbeitsfähigkeit den mininalen Bedürfnissen der Existenz
Genüge leiste, und zwar ganz gleichgültig, welche Ursachen das Erlöschen der
Arbeitsfähigkeit bewirkt“. Mit der Erfüllung dieses Postulats fällt von selbst
die Forderung nach besonderer Entschädigung von Berufs- oder Betriebskrank¬
heiten fort.
Für den Fall, daß bei der Neugestaltung der sozialen Gesetzgebung die
Ansprüche an die Ärzte bezüglich der Begutachtung nicht eine Verringerung
erfahren können, wird auf die Ärzte eine Verantwortung geladen, die
nie in ihrem Sinne liegen kann, zumal wenn neue Begriffe, wie
derjenige der Berufskrankheiten, zu den alten, Krankheit, Unfall
und Invalidität, in die Gesetzgebung eingeführt werden sollten. Aus inneren
Gründen muß der x4.rzt für sich und als natürlicher Vorkämpfer der Versicherungs¬
nehmer die Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung fordern.
Auch ich hoffe, daß die von Lennhoff in seinem Vortrag geforderte Be¬
rücksichtigung des Existenzminimums und die hierdurch mögliche Vereinfachung
der Arbeiterversicherung sich ihr Recht erobern wird. Hier fehlt uns noch
der große Entwurf, der das Werk wirklich aus einem Gusse plant
und der die Möglichkeit der praktischen Durchführung auch ohne Diktator voraus¬
sehen läßt. Bei einer Vereinfachung der sozialen Gesetzgebung, wie sie dann
möglich wäre, würde sich das ärztliche Können frei entfalten in der prophy¬
laktischen und therapeutischen Bekämpfung der Krankheiten, und die Grenzen
des nötigen ärztlichen Wissens würden nicht so eng gesteckt sein, daß wir vielen
an uns gestellten Fragen ein Ignorabimus entgegenhalten müssen.
Sitzung vom 14. Juni 1906.
Vorsitzender: Herr May et. Schriftführer: Herr Lennhoff.
Herr Lassar legt die Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für
Volksbäder über ihre letzte Versammlung vor. Es verdient hervorgehoben zu
werden, daß die Vereinigung in wenigen Jahren die Aufmerksamkeit verschiedener
Faktoren auf sich gezogen hat, in erster Linie die der Städte. Die Frage der
Volksbäder ist direkt zu einer Kommunalangelegenheit geworden. Es ist eine
80 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
sozialpolitische Umwandlung gegen frühere Auffassung eingetreten, wo man wohl
Badeanstalten besaß, aber weit entfernt war, sie zur Aufgabe des Gemeinwesens
zu erheben. Das ist inzwischen geschehen. Das Interesse für die Bewegung
hat sich erweitert, und es ist bemerkenswert, daß man auch in einer verhältnis¬
mäßig so beschränkten Fragestellung das Gesamtbild des nationalen und des
ökonomischen Lebens sich wiederspiegeln sieht. Denn sowohl hervorragende
Hygieniker wie größere Kommunalverwaltungen und führende Staatsregierungen
haben sich praktisch beteiligt; daran schließt sich natürlich auch eine Anregung
für die Industrie. Eine ganze Reihe von Technikern beschäftigen sich jetzt mit
Bade- und Installationseinrichtungen. Die Aufgabe der Deutscheu Gesellschaft
für Volksbäder geht dahin, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß
ein hygienisches Bedürfnis vorliegt und Abhilfe dringend geboten erscheint. In
der Tat sind auch so viele Vorschläge gemacht worden, daß es sich lohnt, einen
Blick auf die über 10 Bogen starken Verhandlungen, welche an einem Tage er¬
ledigt sind, zu werfen. Es ist ein Haupterfordernis, daß die Anregungen ge¬
druckt bleiben und später noch Einfluß gewinnen können. Eine ganze Reihe
von Thematen sind angeregt worden, gar nicht mit der ausgesprochenen Absicht,
daß dieselben zur ausführlichen Besprechung gelangen, sondern daß jeder sieht,
hier liegt etwas Diskutables vor. Ich möchte noch bemerken, daß auch eine
direkt sozialmedizinische Frage zur Besprechung gelangt ist, die ich selbst zur
Erörterung gestellt habe. Es handelt sich um die Beziehungen der Kassen zu
den Volksbädern. Ich muß hervorheben, daß ein gewisses Manko vorliegt. Die
Kassen haben nur für die Kranken zu sorgen. Sobald ein Mitglied nicht krank
ist, hört die Fürsorge für dasselbe auf. Die prophylaktische Idee, welche den
Landesversicherungsanstalten zugrunde liegt, war damals noch nicht bekannt, als
das Krankengesetz eingeführt wurde; man dachte nicht an die Möglichkeit, eine
weitere Fürsorge eintreten zu lassen. Von Herrn L e n n h o f f ist mir reiches
Material zugegangen und ich darf ihm auch hier meinen Dank wiederholen.
Sodann trägt Herr Zondek über „Ursächliche Beziehungen zwischen
Unfall und Magencarcinom“ vor. Seit Einführung der Unfallversicherungs-
Gesetzgebung werden bei fast allen möglichen Erkrankungen Unfälle als Krank¬
heitsursachen angegeben. Das ist begreiflich; denn die Feststellung der Er¬
krankung als Folge eines Unfalls ist gewöhnlich von großer wirtschaftlicher Be¬
deutung für den Patienten sowohl für seine Angehörigen. Wenn hierbei, was
mehrfach vorkommt, von den Patienten unwahre Angaben gemacht werden, so
geschieht dies oft im besten Glauben. Das sehen wir in denjenigen Fällen, in
denen keinerlei materielle Interessen in Betracht kommen. Auch hier führen oft
die Patienten ihre Erkrankung, wenn sie keine andere bestimmte Ursache für
die Entstehung ihres Leidens ermitteln können, auf ein Trauma zurück, und ein
Trauma hat schließlich ein jeder einmal erlitten. Die Aufgabe des Arztes ist es
nun, in dem Einzelfalle den wirklich ursächlichen Zusammenhang zwischen dem
Unfall und der Erkrankung festzustellen. So kommt es aber, daß auch die
Arzte auf die angeblichen Unfälle der Patienten mehr als früher zu achten haben
und auch achten. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht eine Äußerung, die
Für bring er in einer Diskussion machte. Fürbringer sagte, er beobachte
jährlich etwa 50 Fälle von Magencarcinom, und im Laufe der Jahre habe er
mehr als ein halbes Tausend Fälle von Magencarcinom gesehen, aber niemals ist
ihm hierfür als Krankheitsursache ein Unfall betont worden. Allerdings, fügte er
hinzu, habe er nie danach gefragt. Diese Ausführung von Fürbringer zeigt
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 81
aber ferner, wie häufig das Magencarcinom vorkommt. Nach Wyss sind 2 Proz.
aller Todesfälle die an Magencarcinom ; das trifft allerdings nicht für alle Gegenden
zu; so soll in den Tropen ein Magencarcinom sehr selten beobachtet werden.
Auch Virchow hat auf die Häufigkeit des Magencarcinoms hingewiesen. Von
allen Carcinomen betreffen nach Virchow die des Magencarcinoms 35 Proz..
nach anderen Zusammenstellungen sogar 40 Proz. Das Magencarcinom ist also
ein relativ häufiges Vorkommnis. Die ätiologische Bedeutung des Traumas für
die Entwicklung des Magencarcinoms verdient darum ein hohes Interesse. Es
fragt sich nun zunächst: Läßt sich die traumatische Genese des Magencarcinoms
wissenschaftlich begründen? Bekanntlich gibt es für die Entwicklung der Carci-
nome vornehmlich zwei Theorien, die von Virchow und die von Cohn he im.
Virchow führt die Entwicklung der Carcinome auf irritative Momente zurück:
Häufig wiederkehrende, oder chronisch wirkende Traumen, mechanische, chemi¬
sche, thermische Reize führen zur Entwicklung und zum Wachstum der Ge¬
schwulst. Cohnheim hingegen nimmt eine innere Ursache für die Genese der
Carcinome an ; eine fehlerhafte embryonale Gewebsanlage ist es, aus der sich die
Geschwulst bildet. In der neueren Zeit neigt man mehr der Cohnheim’schen
Theorie zu, und den irritativen Momenten wird für bestimmte Fälle (Lippenkrebs
der Pfeifenraucher, Hodensackkrebs der Schornsteinfeger) eine direkte, für die
meisten Fälle aber nur eine indirekte Bedeutung zuerkannt; durch die Reizung
kommt es zur Wucherung der embryonal versprengten Keime, zur Geschwulst¬
bildung, oder es kommt zu entzündlichen Veränderungen, auf deren Boden sich
die Geschwulst entwickelt. Diese Theorie läßt sich besonders gut auf die Ent¬
stehung der Magencarcinome anwenden. Die Entwicklung von Magencareinomen
auf der Basis von Magengeschwüren ist pathologisch-anatomisch festgelegt. Nach
einer Zusammenstellung von Menne trifft dies für 8,25 Proz. aller Magen¬
carcinome zu. Ferner ist auch die traumatische Entstehung von Magenulcera
pathologisch-anatomisch anerkannt. Demnach ist die Möglichkeit der traumati¬
schen Genese eines Magencarcinoms für wissenschaftlich erwiesen anzusehen. Wie
werden wir uns nun bei der Beurteilung des Einzelfalles verhalten? Setzen wir
das Trauma als sicher festgestelit voraus, so werden wir zunächst danach fragen :
Wohin ist das Trauma erfolgt? Die einen Autoren verlangen, daß das Trauma
in die Magengegend eingesetzt hat, denn nur an dem Ort der Einwirkung des
Traumas kann sich das Carcinom entwickeln. Nach Boas und Menne genügt
indes eine allgemeine Gewalteinwirkung, eine Erschütterung des ganzen Körpers ;
es kommt hierbei zur Kontraktion der Bauchwand bei feststehenden Zwerchfell,
es entstehen Risse in der Magenschleimhaut, eine chronische Gastritis entwickelt
sich, und auf ihrer Basis entsteht ein Magencarcinom. Eine weitere Frage ist
es, in welcher Zeitdauer nach dem Unfall kann sich das Magencarcinom bilden.
Nun, das ist schwer zu sagen, denn das Magencarcinom kann lange bestehen,
ohne daß sein Nachweis möglich wäre; gibt es ja doch okkulte Magencarcinome,
die, ohne irgend welche Störungen verursacht zu haben, bei Sektionen als zu¬
fällige Nebenbefunde erhoben werden. Im allgemeinen nimmt Boas als kürzeste
Frist zwischen Trauma und Geschwulstbildung ein halbes Jahr und als längste
Dauer 4—5 Jahre an. Auch die Frage, wie lange Zeit zwischen Trauma und
dem Tod des Patienten liegen muß, um hier von einer Unfallerkrankung sprechen
zu können, ist schwer zu entscheiden. Es gibt Magencarcinome, die von weicher
Konsistenz sehr schnell und stark wuchern, sehr bald zu Metastasen und zum
Tode führen, es gibt aber auch harte Carcinome (Scirrhen), bei denen die Me-
Zeitschrift für Soziale Medizin. Tf. 6
82 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
tastasen erst später auftreten und bei denen erst nach mehreren Jahren der Tod
erfolgt. Ich habe Gelegenheit gehabt, einen Fall zu beobachten, bei dem wegen
eines vorgeschrittenen Magencarcinoms die Gastro-Enterostomie gemacht wurde:
der Patient ging jedoch erst nach 5 Jahren an dem Carcinom zugrunde. Auch
der Sitz des Carcinoms ist von wesentlicher Bedeutung für den Verlauf des
Carcinoms. Ein Carcinom am Pylorus dürfte früher und zu intensiveren Magen¬
störungen führen als ein Carcinom an der übrigen Magenwand. Dadurch dürfte
aber auch bei den Pyloruscarcinomen die Widerstandskraft des Individuums früh¬
zeitiger und in höherem Grade herabgesetzt werden als bei den mehr oder weniger
fern vom Pylorus lokalisierten Carcinom en. Wenn nun bei einem Individuum
mit gesundem Magen im Anschluß an ein geeignetes Trauma in der erfahrungs¬
mäßigen Zeit zwischen V2 und 5 Jahren (Für bring er setzt die unterste Grenze
auf V4 Jahr fest) ein Carcinom des Magens konstatiert wird, so kann das Car¬
cinom als Unfallfolge aufgefaßt werden. Es können hierbei zweierlei Möglichkeiten
vorliegen. Das Trauma kann zur chronischen Gastritis oder einem Ulcus geführt
haben, und daraus kann sich ein Carcinom entwickelt haben, oder aber es kann
ein bereits bestehendes okkultes Magencarcinom durch das Trauma zu lebhafterem
Wachstum angeregt und mit seinen Folgen, Blutungen, entzündlichen Störungen
der angrenzenden Magenwand, in die Erscheinung gebracht worden sein. Indes
auch für diesen Fall der Steigerung eines bestehenden Krankheitsprozesses durch
einen Unfall erkennt die Gesetzgebung die Rentenansprüche an. Menne hat
nun aus den Akten der Bonner Berufsgenossenschaft, aus den Mitteilungen des
Reichsversicherungsamtes und aus sonstiger Unfallliteratur diejenigen Fälle zu¬
sammengestellt, bei denen „ein direkter ursächlicher Zusammenhang zwischen
Trauma und Magencarcinom seitens der entscheidenden Instanzen auf Grund der
ärztlichen Gutachten oder seitens der Autoren mit hoher Wahrscheinlichkeit an¬
genommen worden ist, oder angenommen werden kann“. Es sind im ganzen
10 Fälle. Über einen gleichartigen Fall kann ich Ihnen heute berichten. Herr
Reichstagsabgeordneter Robert Schmidt war so freundlich, mir die Akten über
diesen Fall zur Veröffentlichung zu überlassen. Es handelte sich um einen
40 jährigen Bergmann, der einen Hufschlag von einem Pferde in die Magengegend
erlitten hatte. Ungeachtet dieses Traumas ging der Mann seiner täglichen Arbeit
weiter nach. Nach 3 Monaten traten Magenbeschwerden auf und nach weiteren
3 Monaten wurde an dein Patienten bei einer Operation einer Hernie in der
Linea alba ein Pyloruscarcinom konstatiert, das die Gastro-Enterostomie not¬
wendig machte. 1 Jahr nach dem Unfall starb der Patient an den Folgen des
Magencarcinoms. Ich will hier auf die einzelnen Gutachten nicht näher eingehen.
Der am meisten strittige Punkt in ihnen ist die Frage: Wie lange Zeit liegt
zwischen Beginn der Entwicklung eines Magencarcinoms bis zu seinem endlichen
Ablauf, oder mit anderen Worten, eine wie lange Zeit darf zwischen Trauma
und Tod des Individuums liegen, um hier einen ursächlichen Zusammenhang an¬
zunehmen. Die Gutachter der einen Partei nehmen die durchschnittliche Zeit
von 2 Jahren an, die anderen Gutachter hingegen setzen die erfahrungsmäßige
Dauer auf 1 — 2 Jahre, und die unterste Grenze auf 2 Monate und 74 Jahr fest.
Das Reichsversicherungsamt hat in diesem Falle die Rentenansprüche der An¬
gehörigen des Verstorbenen anerkannt. Zum Schluß sei es mir gestattet, aus
dem Obergutachten des Prof. F. folgenden Passus zu verlesen:
„Allein es darf nicht außer acht gelassen werden, daß wir bei der Beurteilung
des Zusammenhangs von inneren Krankheiten mit Unfalltraumen , meist auf
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 83
Wahrscheinlichkeitsschlüsse angewiesen, den höheren Wert dem geeigneten Unfall
und der Kontinuität der Erscheinungen zuzuerkennen haben; andernfalls würden
wir wohl im Löwenanteil der Fälle den Arbeiter resp. seine Angehörigen durch
unsere Ablehnung des Zusammenhangs auf Grund unserer mangelhaften Kennt¬
nisse ungerechterweise leiden lassen. Die Unsicherheit unseres derzeitigen Wissens
gestattet meines Erachtens nicht bei dem Begriff der bloßen Möglichkeit Halt zu
machen da, wo die Abhängigkeit einem strikten Nachweise unzugänglich ist.“
So richtig diese Anschauung ist, so wenig wir Ren Vers beipflichten können,
wenn er 1898 in einem Obergutachten sagt: „Ein genetischer Zusammenhang
zwischen Trauma und Magencarcinom ist in jedem Falle zu verneinen,“ so müssen
wir uns doch vor Augen halten, daß wir in den günstigsten Fällen nur mit
einem mehr oder weniger hohen Grade von Wahrscheinlichkeit das Careinom des
Magens wie das der inneren Organe als Folge eines Unfalls nachweisen können.
Reicht auch diese Feststellung im Sinne des jetzt bestehenden Gesetzes zur An¬
erkennung der Rentenansprüche hin, so können wir uns damit doch nicht zu¬
frieden geben. Sehen wir davon ab, daß wir die traumatische Genese dieser
Erkrankung nie mit Sicherheit erbringen können, so erscheint uns überhaupt die
dem Gesetz zugrunde liegende Auffassung nicht zu Recht zu bestehen. Denn
von so wissenschaftlichem Interesse auch bei den verschiedenen Erkrankungen
die Feststellung sein mag, ob und inwieweit ihre traumatische Entstehung in
Betracht kommt, so muß es doch in praktischer Hinsicht gleichgültig erscheinen,
ob eine Invalidität auf einen Unfall oder eine andere Ursache zurückzuführen
ist. Wir werden darum der Forderung R. Lennhoffs beipflichten: Nicht die
Ursache für die Entstehung der Invalidität, nicht ihre traumatische Genese, son¬
dern die Feststellung der Invalidität an sich und ihres Grades muß für die Be¬
stimmung der Rentenansprüche maßgebend sein.
Sodann berichtet Herr M u n t e r über folgenden Fall aus der Unfallkasuistik :
Es handelt sich um einen 66 jährigen Zimmermann aus der Nähe von Wandsbek.
Ich habe den Mann zusammen mit den Herren Kollegen Strauß und Zondek
untersucht, als Gutachter im Aufträge des Arbeitersekretariats. Der Mann hat
eine Verstümmelung eines Fingers von früherem Unfall, er war nie infiziert und
in keiner Weise erblich belastet; er trank, wie alle Bauhandwerker, täglich für
ungefähr 15 Pfg. Schnaps. Wie aus den Akten feststeht, hatte er trotz seiner
66 Jahre ununterbrochen bis zu dem Tage des Unfalls gearbeitet und täglich
5 Mk. verdient. Am 1. Juni 1904 fand der Unfall statt. Der alte Mann fiel von
der 1. Etage etwa 4 m tief, wobei er auf die Stirn aufschlug und auf die rechte
Seite; er trug eine Schädelverletzung sowie einen Bruch des Brustbeins und
einiger Rippen davon. Der Verletzte wurde vom Kassenarzt dem Altona er
Krankenhaus überwiesen; dort blieb er eine Reihe von Wochen und hat dann
allmählich wieder, trotz vieler Beschwerden, die sich im Anschluß an den Unfall
einstellen, gearbeitet; er hat die Arbeit als Zimmermann aufgeben müssen und
als gelegentlicher Arbeiter sich ernährt. Das Höchste, was er dabei verdiente,
waren 3,40 Mk. Der Mann versuchte bei der zuständigen Berufsgenossenschaft,
seine Ansprüche geltend zu machen, indem er behauptete, daß er durch den Un¬
fall an Kopfschmerz und Kurzatmigkeit litte, und daß eine ziemlich bedeutende
Rückgratsverkrümmung auf diesen Unfall zurückzuführen sei. Der Kassenarzt
erklärte die sämtlichen Zustände als senile Veränderungen, besonders die Ver¬
änderungen an der Wirbelsäule, sowie eine ziemlich beträchtliche Knickung am
Brustbein selbst. Er erklärte die Rückgratsverkrümmung als Greisenveränderung
6*
84 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatisti^.
und bezog sämtliche subjektiven Klagen auf Gefäßverkalkung, die teils auf
Senium, teils auf Alkoholgenuß zurückzuführen ist. Die Berufsgenossenschaft, die
sich auf das Urteil des Kassenarztes bezog, sowie auf das Gutachten des Altonaer
Krankenhauses, wies den Mann auch ab. Nachträglich hat der erstbehandelnde
Arzt dann doch die Möglichkeit zugegeben, daß die Schmerzen, über die der
Mann klagte, wohl vorher nicht bestanden haben mögen, und infolge des ziemlich
bedeutenden Unfalls eingetreten seien und eine Verminderung der Erwerbsfähig¬
keit veranlaßt haben könnten. Auch das Schiedsgericht wies den Verletzten
infolge der Erklärung des ersten Arztes vollständig ab, einmal, da die bloße
Möglichkeit eines Zusammenhangs mit dem Unfall nicht ausreichte, um eine
Beute zu erteilen, ferner aber, weil bei dem Alter des Mannes anzunehmen sei,
daß die Veränderungen in den Gefäßwänden schon vor dem Unfall bestanden
haben. Der Mann wandte sich an das Zentral-Arbeitersekretariat und erhob
Bekurs gegen die Entscheidung des Beichsversicherungsamts. Es trat ein Gut¬
achterkollegium zusammen. Unter den Vorschlägen, die von den deutschen
Ärzten zur Beform der sozialpolitischen Gesetze jetzt gemacht werden, befindet
sich auch der Vorschlag, daß da, wo die Ärzte in ihrem Gutachten nicht einig
sind, eine Gutachterkommission gebildet werden soll. Diese geplanten ständigen
Kommissionen haben ihre Bedenken, denn zur Abstimmung kann man wissen¬
schaftliche Besultate nicht stellen. Unsere Untersuchung ergab ein überein¬
stimmendes Resultat; auch von chirurgischer Seite hat Kollege Zondek fest-
gestellt: das Vorhandensein der Rückgratsverkrümmung, Seitwärtsneigung der
Wirbelsäule nach rechts, Veränderungen am Brustbein, die Schmerzen an jener
Stelle wahrscheinlich machen. Es fand sich ferner Zittern der ausgestreckten
Hände, vor allen Dingen aber erhebliche Störungen des Gleichgewichts bei Prü¬
fung mit geschlossenen Augen und beim Vor- und Rückwärtsbeugen des Rumpfes
mit offenen Augen. Dann stellte Kollege Strauß eine hochgradige Gefäßver¬
kalkung und eine entsprechende Veränderung des Herzens fest. Wir haben dann
in unserem Gutachten mit den Vorgutachtern die Veränderungen an der Wirbel¬
säule für ausschließlich senile erklärt. Dagegen haben wir doch die Wahrschein¬
lichkeit ausgesprochen, daß die Veränderungen am Brustbein ausschließlich
traumatischen Ursprungs sind. Die nervösen Erscheinungen haben wir in Zu¬
sammenhang mit der Arteriosklerose gebracht und zugegeben, daß der Mann sich
noch vor dem Tage des Unfalls an Arteriosklerosis gelitten hat; aber absolut
abweichen mußten wir in der Beurteilung, welche Folgen dieser Unfall für den
Mann gehabt hat. Ein Mann, der bis zu dem Tage des Unfalls trotz der alko¬
holischen und senilen Veränderungen an den Gefäßwänden schwer gearbeitet hat,
der außerdem seine Arbeitswilligkeit auch jetzt zeigt und jede Gelegenheit be¬
nutzt hat, zu arbeiten, und als Kranker 3, 40 Mk. verdient, bei diesem zeigen
sich jetzt deutlich nachweisbare Veränderungen auf nervösem Gebiet, er hat
Schmerzen, die durchaus glaubwürdig sein müssen. Der Mann hat, wie alle
Gutachter angeben, niemals den Eindruck eines Simulanten gemacht. Hier muß
man zu dem Besultat kommen, daß unter dem Einfluß des Traumas sich die
Anpassung des Organismus an die allmählich entstandene Degeneration verloren
hat und in akuter Weise der Verlauf der allmählichen Umwandlung der Gefä߬
wände ein beschleunigter geworden ist. Wir haben eigentlich noch hart geurteilt,
indem wir dem Verletzten nur eine Einbuße von 50 Proz. seiner früheren Er¬
werbsfähigkeit zusprachen. Das Reichsversicherungsamt hat noch einmal den
Mann der Königl. Klinik in Kiel überwiesen. Und hier hat allerdings Professor
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 85
Quincke, weil eine Möglichkeit eines traumatischen Zusammenhangs der
jetzigen Beschwerde mit dem Unfälle vorliegt eine Rente von nur 25 Proz. für
ausreichend erachtet. Das Reichsversicherungsamt hat sich dem Gutachten der
Berliner Kommission angeschlossen. Wer die erklärliche Neigung vieler Ent-
sch eidun gsinstanzen kennt, Urteilen der beamteten Ärzte eo ipso größere Bedeu¬
tung beizulegen als den Gutachten der Privatärzte, der wird bei dieser Ent¬
scheidung der höchsten Instanz mit Genugtuung erkennen, daß von diesem Brauch
abgewichen ist zugunsten der Sachlichkeit.
Uber Arteriosklerosis und Trauma sind ja verschiedene Besprechungen er¬
schienen. Man hat behauptet, daß Gefäßverkalkungen auch bei jüngeren Leuten
entstehen können als Folgen des Unfalls. Das glaube ich nicht in Fällen, wo
nicht Syphilis oder Alkoholismus vorliegt; ich glaube nicht, daß bei ganz ge¬
sunden Leuten eine solche Veränderung durch Trauma entstehen kann. Aber es
ist m. E. nicht selten und wird von den Gutachtern nicht hinlänglich betont, daß
bestehende, gewissermaßen physiologische Arteriosklerosis durch Unfall in ihrem
Verlaufe und ihrer Wirkung schädigender wird. Dadurch, daß die Arbeiter sich
freiwillig eine Organisation geschaffen haben, bei der es dem einzelnen möglich
ist, unter Umständen noch ein Obergutachten einzuholen, konnte dieser Mann
zu seinem Rechte kommen. Es ist bezeichnend, daß das Reichsversicherungsamt,
das sonst sehr sparsam mit Gewährung von Entschädigung für Privaturteile ist,
dem Rentenerwerber in diesem Fall zu diesem Zweck 50 Mk. zuerkannt hat und
sagte, er hätte vielleicht ohne das ebensoviel bekommen.
Sodann trägt Herr Albu über „Die sozialmedizinische Bedeutung der
Errichtung von Yolksheilstätten für Stoffwechselkrauke'** vor: Der über¬
raschend umfangreiche Ausbau der diagnostischen Methoden auf dem Gebiete der
inneren Medizin in den letzten Jahrzehnten hat es mit sich gebracht, daß inner¬
halb dieses Gebietes einzelne Wissenszweige zu einer solch kräftigen selbständigen
Entwicklung gelangt sind, daß sie geradezu schon als Spezialdisziplinen in die
Erscheinung treten. Das gilt insbesondere von der Physiologie und Pathologie
der Verdauungs-, Ernährungs- und Stoffwechselvorgänge. So notwendig es auch
ist, immer von neuem zu betonen, daß die souveräne Beurteilung jedweder Frage
auf einem Spezialgebiete die Beherrschung der Grundlagen der gesamten inneren
Medizin voraussetzt, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Ansammlung von
Erfahrungen auf einem enger umschriebenen Felde stets das Wissen vertieft und
mehrt. Mit der Gewinnung reicherer Kenntnisse über das Wesen einzelner
Krankheiten haben sich auch allenthalben neue Mittel und Wege zu ihrer Be¬
kämpfung ergeben. So wurde Br e hm er durch die ausschließliche Beschäftigung
mit der Behandlung von Phthisikern zu der Idee der Begründung von Lungen¬
heilstätten geführt, und die im Kampf ums Dasein und im Großstadtleben sich
immer mehr häufende Zahl von Neurasthenikern gab die Anregung zur Errichtung
von Nervenheilstätten. Die erfolgreiche Wirksamkeit, welche die Anstalten beider
Art nun schon seit mehreren Jahrzehnten entfalten, ist so allgemein anerkannt,
daß der gesteigerte soziale Sinn der Neuzeit die Wohltat einer derartigen Krank¬
heitsbehandlung auch den Armen und Ärmsten hat zugute kommen lassen. Für
die Lungentuberkulosen haben Stadtgemeinden, staatliche Versicherungsanstalten
und Krankenkassen im umfangreichsten Maße die Fürsorge der Behandlung in
solchen Anstalten übernommen. Es ist ein nicht unbeträchtlicher Teil des
Nationalvermögens, welches alljährlich in Deutschland für diese Zwecke auf¬
gewendet wird. Dieses Geld fließt zum großen Teil dem Volkswohlstände wieder
80 Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
zu, insofern durch die Erfolge der Heilstättenbehandlung Tausende von Kranken
für kürzere oder längere Zeit, zuweilen selbst dauernd wieder in den Zustand
voller oder teilweiser Erwerbsfähigkeit gesetzt werden. Die Zahl der tuber¬
kulösen Lungenkranken überwiegt weitaus alle anderen und deshalb erscheint
die Fürsorge für diese Gruppe von Kranken in erster Reihe notwendig. Aber es
darf damit nicht das soziale Interesse für alle anderen Kranken erlöschen oder
auch nur in den Hintergrund gedrängt werden. Das ist um so weniger berechtigt,
als die chronischen Lungenkrankheiten zu einem großen Teil in bezug auf Heil¬
barkeit und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit weit weniger günstige Chancen
bieten als viele andere Krankheiten, welche gleichfalls für kürzere oder längere
Zeit die Arbeitsfähigkeit beschränken oder bei ihrer Vernachlässigung auch all¬
mählich vollständig aufheben können. Für die Behandlung der Nervenkrank¬
heiten ist das Prinzip der Heilstättenfürsorge auch schon offiziell zur Anerkennung
gelangt. In steigendem Maße übernehmen insbesondere die Landesversicherungs¬
anstalten die Anstaltsbehandlung der Neurastheniker, welche sich als eine außer¬
ordentlich dankbare erwiesen hat, insofern als auf diese Weise schnellere und
dauerndere Heilerfolge erzielt werden, als es bei ambulanter und medikamentöser
Behandlung möglich ist. Indessen scheint mir die Behandlung der Neurasthenie
und verwandter Krankheiten in besonderen Nervenheilstätten noch nicht die Aus¬
dehnung erlangt zu haben, welche ihrer Verbreitung einerseits, ihrer Bedeutung
für das Erwerbsleben im modernen Kulturstaate andererseits entspricht. Während
es zahllose private Anstalten zur Behandlung wohlhabender Nervenkranker gibt,
existieren nur wenige für das minderbemittelte Bürgertum und keine einzige
m. W. für die Angehörigen der Krankenkassen, Unbemittelte u. dgl. Noch viel
ärger liegt es aber zurzeit auf dem Gebiete der Behandlung der Verdauungs-,
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten. Seit zwei Jahrzehnten hat sich gerade
in Deutschland die Zahl der privaten Sanatorien für die Behandlung dieser
Krankheitszustände außerordentlich vermehrt. Die Mehrzahl derselben ist ständig-
gefüllt oder überfüllt, und das Bedürfnis schafft hier fortwährend immer wieder
neue Gründungen dieser Art. Die Ursache dieser Erscheinung ist in der Er¬
kenntnis zu suchen, daß diese Krankheitszustände so wenig wie Lungen- und
Nervenkrankheiten auf medikamentösem Wege zur schnellen, sicheren und
dauernden Heilung gebracht werden können. Die moderne diätetisch-physikalische
Therapie hat sich erheblich leistungsfähiger, ja überhaupt als die einzige Behand¬
lungsmethode erwiesen, welche als eine physiologisch begründete, als eine rationelle
bezeichnet werden kann. Tausendfältige Erfahrungen der letzten Jahrzehnte
haben gezeigt, daß diese Therapie den früher üblichen Behandlungsarten an
praktischem Wert weitaus überlegen ist. In der Natur der Sache liegt es be¬
gründet, daß das neuzeitige Prinzip der physikalisch-diätetischen Behandlung in
erster Reihe in der Bekämpfung der Ernährungsstörungen, der Verdauungskrank¬
heiten und der Stoffvvechselanomalien am Platze ist. Diese Krankheitszustände
sind ihr ureigenste Domäne. Auf diesem Gebiete ist die physikalisch-diätetische
Therapie am ältesten und am meisten bewährt. Wenn nun dieser Fortschritt
der wissenschaftlichen Heilkunst unausgesetzt Tausenden von wohlhabenden
Leuten zugute kommt, so muß es als unsozial erscheinen, eine solche Wohltat
nicht auch den wirtschaftlich Schwächeren zugänglich zu machen. Solche Sana¬
torien für arme Kranke zu errichten, erscheint als eine Pflicht der ausgleichenden
Gerechtigkeit, welche die Gemeinschaft der sozial Stärkeren den Armen gegen¬
über zu üben hat. Doch kann vor der Erfüllung einer solchen Verpflichtung der
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 87
Nachweis gefordert werden, daß ein Bedürfnis für solche Heilanstalten vorliegt
oder in. a. W., ob staatliche und städtische Behörden, Versicherungsanstalten,
Krankenkassen u. dgl. die Interessen ihrer Schutzbefohlenen besser wahrzunehmen
imstande sind, wenn sie auch für solche Kranken Spezialheilanstalten errichten.
Hie Frage, ob denn die Zahl der Kranken dieser Art in der Neuzeit zugenommen
habe, muß entschieden bejaht werden. Die Gesundheitsschädigungen, welche das
moderne Kulturleben mit sich bringt, treffen auch Verdauung und Ernährung in
hohem Maße, und die körperlich arbeitenden Bevölkerungsklassen werden von
den Schäden des Berufs- und Erwerbslebens meist in stärkerem Grade getroffen
als die wirtschaftlich besser Situierten, weil sie sich weniger Schonung auferlegen
und nicht die gleiche zweckmäßige und gute Verpflegung angedeihen lassen
können. Die allgemeine Hast, die sich in unserem Wirtschaftsleben nach ameri¬
kanischem Muster einzubürgern begonnen hat, beeinträchtigt Ernährung und Ver¬
dauung vielfach in schwerster Weise. Die weite Entfernung von der Arbeitsstelle
verkürzt die Mittagspause für Arbeiter und Angestellte oft so stark, daß das
Essen in großer Schnelligkeit erledigt werden muß ; Speisen und Getränke werden
heiß genossen, große Bissen werden verschluckt, und mit dem letzten Bissen im
Munde wird schon wieder der Weg zur Arbeit angetreten. Die Zwischenmahl¬
zeiten werden im Stehen oder bei der Arbeit hastig eingenommen. Das Abend¬
essen wird vielfach erst in später Abendstunde genommen, so daß Bettruhe und
Schlaf oft noch bei vollem Magen eintreten. Besonders dürftig scheint mir viel¬
fach die Ernährung der großstädtischen jugendlichen Fabrikarbeiterinnen zu sein,
die, während ihrer Mittagspause auf der Straße sich herumtummelnd, nur ein
Butterbrot oder gar nur frisch vom Wagen gekauftes Obst für 5 oder 10 Pfg.
als Mittagsmahlzeit genießen, abends aber dann nur selten eine größere warme
Kost zu erhalten Gelegenheit haben. Verteilung von Arbeit und Kühe während
des Tages und die Einrichtung der Mahlzeiten erscheinen bei uns in Deutschland
viel weniger zweckmäßig als in anderen Ländern, insbesondere in England. Bei
der immer mehr um sich greifenden Sitte zu abendlichen Kneipereien und Ver¬
gnügungen aller Art kommt der Arbeiter oft nicht völlig ausgeruht am nächsten
Morgen wieder an seine Werkstätte. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerungs¬
klassen, insbesondere auch der in gewerblichen Betrieben tätigen männlichen und
weiblichen Angestellten leidet dauernd an körperlicher Übermüdung, welche nicht
nur das Nervensystem schwächt, sondern auch die Ernährungs- und Verdauungs¬
vorgänge direkt und indirekt beeinträchtigt. Die weiten Wege zur Arbeitsstelle,
das stundenlange ununterbrochene Stehen in manchen Berufen, andererseits das
stundenlange Sitzen schaffen eine Reihe von organischen Veränderungen und
nervösen Störungen der Verdauungsorgane, welche mit der Länge ihrer Dauer
oft auch die Ernährungsverhältnisse des Körpers schädigen. Ich erinnere hier an
die in der Neuzeit immer häutiger zur Beobachtung kommenden Senkungen der
Unterleibsorgane, speziell des Magens, des Darms und der Nieren (die sog.
Visceralptose oder Glenard’sche Krankheit), welche bei Stadt- und Landbevölkerung
eine der häufigsten Erkrankungen der Verdauungsorgane geworden ist. Diese
Organsenkungen sind die Folge einer allgemeinen Gewebserschlaffung des Körpers,
welche in den locker aufgehängten Unterleibsorganen am ehesten und stärksten
zum Ausdruck zu kommen pflegt. Dadurch wird eine mannigfaltige Fülle von
Beschwerden ausgelöst, welche solche Kranken oft für Monate und zuweilen sogar
dauernd erwerbsunfähig machen, weil mit der allgemeinen Gewebserschlaffung
meist ein chronischer Unterernährungszustand einhergeht, welcher zu Körper-
88 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Gewichtsabnahmen von 10 — 20 Pfund und mehr in wenigen Monaten oder Jahren
führt. Wer solche Kranken viel zu sehen Gelegenheit hat, gewinnt den Eindruck,
daß sie oft geradezu Arbeitsfähigkeit simulieren, weil sie im Kampfe ums
Dasein auf den Erwerb ihrer Händearbeit angewiesen sind. Vielfach werden
solche Kranken wegen der begleitenden nervösen Symptome als Nervenkranke
angesehen und behandelt, aber jeder erfahrene Arzt wird bestätigen, daß die
Heilung dieser Leiden fast stets nur durch diätetische Kuren in Verbindung mit
physikalischen Behandlungsmethoden u. dgl. zu erreichen ist. Neben den eben
erwähnten Krankheitszuständen führen auch noch andere Momente zu einer
Schwächung der LTnterleibsorgane, speziell des Magens und Darms, welche in un¬
genügender Tätigkeit dieser Organe zutage tritt. Es sei nur an die häufige
Unterdrückung der natürlichen Bedürfnisse des Körpers erinnert, welche nach der
Lage der Arbeit oft gar nicht zu verhüten ist. Dadurch wird die Entwicklung
einer chronischen Darmschwäche in hohem Grade begünstigt. Das stundenlange
Stehen bei schwerer körperlicher Arbeit, wie es in manchen Berufen erforderlich
ist, schafft u. a. auch einen Krankheitszustand, welcher oft Verdauungsbeschwerden
erheblichster Art jahrelang auslöst : das sind die sog. Brüche der vorderen Baucli-
wand, namentlich in der Mittellinie derselben (Hernia epigastrica), welche man
nur bei körperlich schwer arbeitenden Männern anzutreffen pflegt. Als weiteres
schädliches Moment kommt die oft unzureichende und fast immer sehr
einseitige Ernährung in den ärmeren Klassen der Bevölkerung
hinzu, welche aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage einerseits, der Teuerung
auf dem Nahrungsmittelmarkte andererseits sich ergibt. Vor allem herrscht
immer ein Mangel an frischer tierischer Nahrung (Fleisch, Fische, Eier, Milch,
Butter u. dgl.). Auch in Zeiten, wo keine Fleischnot herrscht, sind ja die Fleisch¬
preise für eine größere Arbeiterfamilie meist so hoch, daß die armen Leute
höchstens am Sonntag, nicht ein Huhn, aber wohl einmal ein Stückchen von
Kind oder Kalb in ihrem Topfe haben. Die Ärmsten der Armen befriedigen be¬
kanntlich ihr Hungergefühl mit Kartoffeln, allenfalls mit Brot, und mancher
Proletarier betäubt seinen Hunger durch Schnaps. Auch die bei armen Leuten
oft recht mangelhafte Art der Zubereitung der Speisen und der Anrichtung des
Essens beeinträchtigt die Verdaulichkeit derselben und ihre Ausnutzung im Körper
nicht unwesentlich. Es sei nur daran erinnert, wie wenig appetit- und verdauung¬
anregend die in Arbeiterkreisen vielfach übliche Mischung der ganzen Mittags¬
mahlzeit auf einem Teller ist. Bekömmlichkeit und Ausnutzung des Nährstoff¬
gehalts der Nahrung ist von der Art ihrer Zubereitung und Darreichung sehr
wesentlich abhängig.
Schädlicher aber als diese kleinen unhygienischen und undiätetischen Ge¬
wohnheiten, die ja oft auch nur eine Folge von Mangel und Not sind, wirkt
immer das Fehlen eines ordentlichen Gebisses, dessen Verlust für den Armen eben
deshalb schwieriger ins Gewicht fällt, weil er ihn nicht zu ersetzen vermag.
Unter den Ursachen chronischer Magenkrankheiten ist der Mangel an Zähnen seit
langer Zeit wissenschaftlich anerkannt. Eine ordentliche Magen Verdauung hat
eine gehörige Mund Verdauung zur unerläßlichen Vorbedingung, und deshalb hat
die Behandlung jeder Magenkrankheit eigentlich im Munde anzufangen. Die
Gewährung eines künstlichen Gebisses an einen Menschen, der an Verdauungs-
oder Ernährungsstörungen leidet, ist deshalb als eine soziale Verpflichtung anzu¬
sehen, der sich ja auch die Landes Versicherungsanstalten und neuerdings auch
die Armenverwaltungen nicht mehr entziehen. Aber in dem notwendigen Umfange
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. $9
wird diese materielle Unterstützung den Kranken «noch immer nicht gewährt.
Soviel über die gewerblichen und beruflichen, sowie aus sozialen Verhältnissen
und Mißständen hervorgehenden Ursachen der Verdauung«- und Ernährung-
Störungen, soweit sie überhaupt einer Ermittlung zugänglich sind. Einen Beweis
für ihre soziale Bedeutung liefert die Häufigkeit dieser Krank¬
heitszustände. Aus den letzten Jahresberichten des städtischen Kranken¬
hauses Moabit, sowie fast aller größeren Krankenkassen Berlins (Ortskranken¬
kassen der Kaufleute, gewerblichen Arbeiter, Buchdrucker, Gastwirte, Bierbrauer,
Schneider u. a.) habe ich festgestellt, daß die Zahl der Verdauungskranken allent¬
halben etAva 12 — 15 Proz. aller erwerbsunfähigen Kranken ausmacht, bei Frauen
meist noch um einige Prozent mehr. Nimmt man aber dazu noch, wie notwendig,
auch die Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, welche in den Statistiken
unter den verschiedensten Rubriken auf gezählt zu werden pflegen, so erhöht sich
die Zahl der in Betracht kommenden Kranken bis auf 20 Proz. und darüber. Es
ist dabei noch zu berücksichtigen, daß die Statistik dieser Krankheiten bisher
noch nicht mit der gleichen Genauigkeit aufgenommen wird Avie bei Lungen¬
erkrankungen. East in allen Statistiken rangieren nach den Lungenkrankheiten
die Verdauungs- und Ernährungsstörungen ihrer Häufigkeit nach an zweiter
Stelle. Nur zuweilen tiberAviegen die Infektionskrankheiten, Avobei freilich dann
oft auch Brechdurchfall, Typhus, Dyssenterie u. dgl. mitgezählt werden, oder
auch die Muskel- und Gelenkerkrankungen unter Einrechnung der Gicht u. dgl.
Die Landesversicherungsanstalt Berlin hat in ihrer Heilstätte Beelitz im letzten
Berichtsjahre 1904 unter 1346 männlichen Kranken 52 Proz. Nervenkranke und
16 Proz. Magen- und Ernährungskranke verpflegt; bei den Frauen schwankt die
Beteiligung dieser Kranken zwischen 11 und 50 Proz. Unter den Hauptursachen
der Invalidität, die von der genannten Versicherungsanstalt im gleichen Berichts¬
jahre zuerkannt wurde, sind Verdauungs-, Ernährungs- und Stoffwechselstörungen
bei Männern zu nicht ganz 5 Proz , bei Frauen zu 7,5 Proz. angegeben. Diese
auffällig geringen Zahlen erklären sich Avohl dadurch, daß jene Krankheitszustände
bisher eben noch nicht im vollen Umfange als Invaliditätsursachen anerkannt
Averden. Wie schAver oft die Heilung solcher Zustände zu erreichen ist, das
beAveist am überzeugendsten der Erfolg, welchen die Landesversicherungsanstalt
Berlin in ihrem Sanatorium Beelitz bei solchen Kranken erreicht hat: er beträgt
nur 48 Proz. bei den Krankheiten des Verdauungsapparates und 68 Proz. bei den
Störungen der Entwicklung. Dieser Prozentsatz muß sich, da bösartige Erkran¬
kungen bei der Aufnahme von vornherein ja ausgeschlossen sind, unbedingt er¬
heblich erhöhen lassen bei einer umfassenderen Gestaltung der physikalisch¬
diätetischen Therapie, Avie sie die Behandlung dieser Krankheitszustände dringend
erheischt. Es sind also die mit der Entwicklung des modernen Kulturlebens un¬
vermeidlich verbundenen sozialen Schäden in Berufs- und Enverbstätigkeit, welche
die Zahl der krankhaften Störungen der Ernährung und Verdauung vermehrt
haben und sie in den wirtschaftlich schwächeren Schichten der Bevölkerung außer¬
ordentlich stark fühlbar machen. Mit der Erkenntnis der Ursachen ergibt sich
auch hier gleichzeitig der Weg zu ihrer Bekämpfung. Was dem Reichen recht
ist, muß für die Armen billig sein, d. h. diejenigen Behandlungsmethoden, welche
sich für derartige Leiden am wirksamsten erwiesen haben, müssen ungeachtet
ihrer Umständlichkeit und Kostspieligkeit auch den Unbemittelten zugänglich
gemacht werden. Wenn es nun schon den Wohlhabenden selten möglich ist, in
ihrer Häuslichkeit eine physikalisch-diätetische Behandlung durchzuführen, so er-
90 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
scheint dies für Kassenkranke und die Angehörigen der niederen Berufsstände
überhaupt von vornherein ausgeschlossen. Schon die Ausführung von Magen¬
ausspülungen, Darmeingießungen, Bädern und ähnlichen Heilprozeduren stößt in
der Kassenpraxis fast immer auf große Schwierigkeiten. Noch schlimmer ist’s
aber um die zweckmäßige Ernährung der Kranken bestellt. Dazu gehört vor
allem schon ein Milieu, welches sich in den Wohnungen der ärmeren Bevölkerung
niemals findet. Wo es an einem abgesonderten Speiseraume fehlt, oder gar an
einem außerordentlich gedeckten Tische, da kann Yerdauungskranken die Kost
niemals so munden, wie es für sie besonders wünschenswert ist. Es kommt hinzu,
daß Hausfrauen und Mädchen der niederen Stände schon im allgemeinen die Koch¬
kunst viel zu wenig beherrschen, und vollends den Anforderungen der Kranken¬
küche wohl nur in den seltensten Fällen Rechnung zu tragen imstande sein
werden. Schließlich erfordert eine diätetische Behandlung meist auch einen
größeren Aufwand von Geldmitteln, als sie solchen Kranken zur Verfügung stehen.
Wer Erfahrung auf diesem Gebiete hat, weiß, daß sich die diätetischen Kuren
bei Kassenkranken u. dgl. überhaupt nicht durchführen lassen, z. B. eine syste¬
matische Mastkur. Und unsere Krankenhäuser versagen in dieser Hinsicht auch
fast vollkommen! Schon die Größe der Krankenhäuser in den Städten wenigstens
erfordert eine so schematische Festsetzung einiger weniger Kost-formen, daß
einzelnen Kranken die für sie zweckmäßige Diät gar nicht gewährt werden kann.
Es erscheint durchaus begreiflich, daß der Betrieb in einer Krankenküche für
200, 500 oder mehr Kranke auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen müßte,
wenn darin mehr als die üblichen 3 oder 4 Kostformen zur Verabreichung ge¬
langen sollten. Die Mehrzahl der Verdauungs-, Ernährungs- und Stoffwechsel-
Störungen erfordert aber nach Quantität und Qualität eine viel weitgehendere
Individualisierung der Kost, als sie je in einem allgemeinen Hospitale möglich
ist. Die diätetische Behandlung von Zuckerkranken und Fettleibigen, von Kranken
mit Magenerschlaffung und Magenerweiterung, chronischer Stuhlverstopfung,
Darmkatarrhen u. dgl. wird gegenwärtig in den großen Krankenhäusern recht
stiefmütterlich durch geführt, weil es eben an Zeit und Raum für derartig spezielle
Aufgaben der Therapie mangelt. Auch die Anwendung von Ruhe- und Liege¬
kuren, wie sie bei Ernährungs- und Verdauungsstörungen sich so oft als zweck¬
mäßig bzw. notwendig erweisen, läßt sich in einem großen Krankensaale, in dem
die verschiedensten Kranken nebeneinanderliegen, nicht mit dem wünschenswerten
Erfolge durchführen. Schon die Intensität des Betriebes auf einer solchen Kranken¬
abteilung wirkt störend. Auch Massage, Elektrizität, Wasserbehandlung u. dgl.
können nicht in dem Umfange zur Verwendung gelangen, welcher oft zweck¬
mäßig erscheint. All dieser Vorteile der modernen wissenschaftlichen Therapie
werden aber auch die Ärmeren teilhaftig werden können, wenn man bei der
weiteren Verwirklichung des Gedankens eines Ausbaues von Spezialkranken¬
häusern, der leider bisher nur sehr langsam vorwärts kommt, auch an die Er¬
richtung von Sonderheilstätten für die Krankheiten der Verdauung, der Ernährung
und des Stoffwechsels denken wird. Die allgemeinen Krankenanstalten würden
dadurch erheblich entlastet und hauptsächlich für solche Kranken Vorbehalten
bleiben, bei denen es eben weniger oder gar nicht auf die Anwendung spezieller,
insbesondere diätetischer Heilmethoden ankommt. Das Material zur Füllung1
solcher „Magenheilstätten“ würde also sicherlich in großer Menge Zuströmen. All
die Kranken, welche jetzt des Vorteils und des Segens einer sorgfältigen Ver¬
pflegung in der Häuslichkeit entbehren müssen, würden dort einen geeigneten
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 91
Platz zu ihrer Behandlung- finden, an dein sie schneller genesen und eine dauerndere
Aufbesserung ihrer Erwerbsfähigkeit zu erwarten hätten. Die gründlichere Hebung
des Ernährungszustandes bei Leuten mit Visceralptose und ähnlichen Verdauungs¬
erkrankungen, bei chronischen Schwächezuständen infolge andauernd unzureichender
Ernährung u. dgl., wird ihnen vielfach einen Grad von Erwerbsfähigkeit ver¬
schaffen, welchen sie vorher nie besessen haben! Die bei Verdauungskrankheiten
in der Kassenpraxis so häufigen Rückfälle, welche durch das Fortbestehen des
Grundleidens bedingt sind, werden sicherer verhütet werden können, wenn eine
gründliche systematische Behandlungskur durchgeführt werden kann. So liefert
z. B. die Behandlung des Magengeschwürs gegenwärtig hauptsächlich deswegen
so ungünstige Dauerresultate, weil die Kranken weder lange noch energisch
genug das notwendige diätetische Regimen durchzuführen in der Lage sind.
Wenn wir in der in letzter Zeit so heiß angestrebten Prophylaxe des Carcinoms
überhaupt etwas leisten wollen, so kann es nur dadurch geschehen, daß wir die
als Vorkrankheiten des Carcinoms bekannten Affektionen einer möglichst gründ¬
lichen und dauernden Beseitigung entgegenzuführen suchen. Für das Magen-
carcinom z. B. gipfelt diese Aufgabe in der radikalen Ausheilung von Geschwüren
und schweren chronischen Katarrhen der Schleimhaut. Solche chronischen Krank¬
heitszustände wie Atonie und Ectasie des Magens, welche beim Mangel zweck¬
mäßiger Ernährung im Laufe der Jahre immer stärkere Beschwerden zu machen
pflegen und die Erwerbsfähigkeit in immer stärkerem Grade beeinträchtigen,
können eine dauernde Besserung und Heilung nur erfahren durch eine strenge
Regelung der gesamten Lebensweise, insbesondere der Ernährung. Sie wird von
allen Kranken, namentlich aber den Angehörigen der weniger gebildeten Be¬
völkerungsschichten in einer speziell darauf eingerichteten Heilanstalt weit besser
erlernt werden, als es je mündliche oder schriftliche Vorschriften eines Arztes
erreichen können. Wie die Lungenheilstätten für die armen Tuberkulösen vor¬
bildlich für die Wohnungshygiene wirken sollen, so darf man das Gleiche, viel¬
leicht sogar noch i* leichter erreichbarem Maße, für die Ernährung durch solche
Sonderheilanstalten erwarten. Naturgemäß wird aber auch hier allgemeine Hebung
der Bildung und des Wohlstandes notwendig sein, um die Nachahmung solcher
Vorbilder in den beschränkten häuslichen Verhältnissen der Proletarierbevölkerung
zu erreichen. Wenn in der ersten Erörterung des Planes zur Errichtung von
Magenheilstätten in der Presse (Vossische Zeitung vom 26. Mai 1906) auf die
wertvollen Dienste hingewiesen worden ist, welche die in den letzten Jahrzehnten
in mehreren deutschen Großstädten errichteten öffentlichen Kranken¬
küchen für die bessere Verpflegung der in Rede stehenden Kranken leisten
könnten, so ist dazu zunächst zu bemerken, daß die Organisation dieser Kranken¬
küchen fast durchgängig eine derartige ist, daß sie für die Krankenkassenmit¬
glieder und die Angehörigen der ärmeren Bevölkerungsklassen kaum verwertet
werden können. Selbst die billigste Mittagsmahlzeit für 75 Pf. überschreitet zu¬
meist noch den Etat, welchen ein Arbeiter oder ein Angestellter, selbst ein un¬
verheirateter, dafür herzugeben imstande ist. Aber auch das an sich höchst
lobenswerte Prinzip der Krankenküche, eine gute und schmackhafte Krankenkost
möglichst billig zu verabreichen, ist unzureichend für die Mehrzahl der Kranken,
um die es sich hier handelt. In der Großstadt ist der Weg zur Krankenküehe
viel zu weit und die Mittagsruhe, die den Kranken dort geboten wird, viel zu
kurz, um eine diätetische Kur in wünschenswertem Rahmen überhaupt zur Aus¬
führung bringen zu können, und selbst wenn die Leiter der Krankenküchen sich
92 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
in einzelnen Fällen bereit erklären, das bestellte Essen in die Häuslichkeit der
Kranken zu bringen, so bleibt das immer noch ein dürftiger Notbehelf im Ver¬
gleich zu den zahlreichen Vorteilen, welche eine geordnete Anstaltsbehandlung*
bietet. Sobald man also das Bedürfnis nach einer systematischen diätetischen
Behandlung auch für die unbemittelten Kranken überhaupt anerkennt, dann er¬
gibt sich auch die Forderung der Errichtung von Spezialheilanstalten für diesen
Zweck als eine unausbleibliche Folge. Denn die etwaige Errichtung von Kranken¬
küchen oder die Ausnützung derselben für Kassenkranke wäre doch nur halbe
Arbeit, die nicht entsprechenden und ausreichenden Gewinn bringen würde. Für
solche Magenheilstätten für Unbemittelte gibt es bisher nur einige wenige un¬
bedeutende Vorbilder in einigen deutschen Kurorten, wo sie von privaten Ver¬
einigungen im Interesse ihrer Mitglieder und Angehörigen ins Leben gerufen
worden sind. Zumeist erweist sich der Umfang dieser Anstalten als viel zu klein
und ihr Betriebskapital viel zu gering, um einer größeren Zahl von Kranken
diese Wohltat zuteil werden lassen zu können. Eine Verpflichtung zur Errichtung
solcher Heilstätten erwächst m. E. in erster Reihe den Kommunen und den
staatlichen Versicherungsanstalten. Wenn die letzteren die Gründung und den
Betrieb solcher Anstalten vom Standpunkte der Rentabilität betrachten und be¬
rechnen wollen, so wird m. E. der Erfolg wahrscheinlich schon in wenigen Jahren
lehren, daß in solchen Heilstätten das Anlagekapital sich weit besser rentiert als
in Lungenheilstätten, eben weil, wie oben schon angedeutet worden ist, bei den
Störungen der Verdauung, Ernährung und des Stoffwechsels die Besserung meist
nicht nur viel schneller eintritt, sondern weil sie auch die Aussicht auf Heilung*
bzw. dauernde Erwerbsfähigkeit in weit größerem Umfange bieten als die Lungen¬
tuberkulose. Die öffentlichen Krankenküchen soll man den Magenheilstätten in
dem Sinne etwa angliedern, wie die Fürsorgestellen den Lungenheilanstalten.
Den Krankenküchen könnte man die aus den Heilstätten Entlassenen und sonstigen
Rekonvaleszenten und die Leichtkranken überweisen. In welcher Weise sich eine
solche feste Beziehung zwischen Krankenkassen und Landesversicherungsanstalten
einerseits, den Krankenküchen andererseits sich organisieren ließe, bleibt späteren
Erwägungen überlassen. Ich möchte glauben, daß sich für die Vereinigung*
mehrerer großer Krankenkassen selbst die Errichtung eigener Krankenküchen
wohl rentieren würde. Die Gewährung zweckmäßiger Krankenkost dürfte als ein
Heilmittel im gesetzlichen Sinne wohl nicht bestritten werden können.
Zeitschriftenübersicht.
93
Zeitschriftenübersiclit.
Medizinische Reform. 1906. Nr. 26: Albu, Die sozialhygienische Be¬
deutung der Errichtung von Magenheilstätten. — Nr. 27: L. Feilchenfeld,
Über den Unterschied zwischen der staatlichen und privaten Unfallversicherung.
— Nr. 28: A. Lasson, Die Kapitalienanlage der Deutschen Invalidenversicherung.
— Nr. 29: V. Löwenthal, Die chronisch und rückfällig Kranken. — Nr. 30:
M. Bloch. Die prozentuale Abschätzung der Erwerbsfähigkeit bei Unfallverletzten.
— Nr. 31: R. Lennhoff, Die persönlichen und die Wohnungsverhältnisse der
städtischen Arbeiterschaft in Magdeburg; D. Munter, Die königliche Eisenbahn¬
direktion Berlin und die freie Arztwahl. — Nr. 32: S. Rosenfeld, Zur Gesund¬
heitsstatistik der Berufe ; M. N e i ß e r , Hygiene und Statistik. — Nr. 33 :
G. Körting, Noch einmal die prozentuale Abschätzung der Erwerbsfähigkeit
bei Unfallverletzten ; S. R o s e n f e 1 d , Fortsetzung aus Nr. 32. — Nr. 36 : M. C o h n ,
Hygienische Mißstände im Nahrungsmittelverkehr. — Nr. 37 : R. Lennhoff, Die
Bedeutung der Kollektivversicherung für nichtversicherungspflichtige Berufs¬
gruppen des Mittelstandes. — Nr. 38: W. Weinberg, Schularzt und Schul¬
hygiene in Stuttgart. — Nr. 43: A. Baginsky, Die Impressionabilität des
Kindes unter dem Einfluß des Milieus. — Nr. 44: Th. Sommerfeld. Verbot
der Verwendung des weißen Phosphors in der Zündholzindustrie.
Medizinische Klinik. 1906. Nr. 21: E. Bloch, Einiges über die Simu¬
lation bei der traumatischen Neurose; E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 20;
W. Esch, Dilettanten und Stümper in der Heilkunde. — Nr. 22: E. Kürz,
Fortsetzung aus Nr. 21; Th. Ben da, Hygienelehrtafeln für Schüler; H.Häb er¬
lin, Die neue Standesordnung der „Gesellschaft der Ärzte in Zürich“; E. Bloch,
Fortsetzung und Schluß aus Nr. 21. — Nr. 23: J. Samo sch, Zur Frage der
geistigen Uberbürdung der Kinder; Guglieminetti, Die vierjährigen Erfolge
der Straßenteerung gegen die Staubentwicklung; E. Kürz, Fortsetzung aus
Nr. 22. — Nr. 24: E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 23. — Nr. 25: H. Häberlin,
Staatsarzt oder Privatarzt-System? — Nr. 26: R. Behla, Die geographisch-
statistische Forschungsmethode vom ätiologischen und seuchenbekämpfenden
Standpunkt; H. Häberlin, Fortsetzung aus Nr. 25. — Nr. 27: Th. Witry,
Behördliche Anordnungen bei Epidemien in der alten Zeit; H. Häberlin, Fort¬
setzung aus Nr. 26. — Nr. 28: H. Häberlin, Fortsetzung aus Nr. 27. — Nr. 29:
K. H. Gerwin, Wie kommt Degeneration zustande?; R. Bing, Die heredo-
familiären Degenerationen des Nervensystems, in erblichkeitstheoretischer, allge¬
mein pathologischer und rassenbiologischer Beziehung; H. Häberlin, Fort¬
setzung aus Nr. 28. — Nr. 31: W. Kühn, Ethisch-soziale Betrachtungen über
die Rezepte in England und Deutschland. — Nr. 33: E. Aron, Ländliche Haus¬
pflege für Lungenkranke. — Nr. 34: W. G. Esch, Beiträge zu einer biologischen
Heillehre. — Nr. 35: W. Weinberg, Die Gefahr der tuberkulösen Infektion
durch Ehegatten; W. Knust, Über Wohlfahrtsstellen für Alkoholkranke. —
Nr. 37: F. Kirchberg, Über das ärztliche Berufsgeheimnis. — Nr. 38:
Th. Ben da, Zur Hygiene des Hotelwesens; E. Kürz, Soziale Hygiene. —
Nr. 41: Th. Witry, Die erstmalige Entfernung der Ketten der Irren in der
französischen Irrenanstalt Bicetre; E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 40.
94
Zeitschriftenüb ersieht.
Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie. 1906. Nr. 4: J. Drü¬
se k e , Gehirngewicht und Intelligenz ; H. Fehlinger, Die natürliche Bevölke-
rungszunahme in den Vereinigten Staaten; W. Claaßen, Die Frage der Ent¬
artung der Volksmassen auf Grund der verschiedenen, durch die Statistik dar¬
gebotenen Maßstäbe der Vitalität, I. Teil; R. Thurnwald, Historisch-soziale
Gesetze. — Nr. 5: S. Meyer, Gedächtnis und Vererbung; W. Claaßen,
Fortsetzung aus Nr. 4; J. Grober, Ein praktischer Versuch in der Rassenhygiene.
Politisch- Anthropologische Revue. 1906. Nr. 4: G. de Lapouge, Die
Entartung in den höheren und niederen Ständen; Chr. v. Ehrenfels, Das
Mütterheim. — Nr. 5: L. W oltmann, Anhänger und Gegner der Rassetheorie;
K. Schmidh, Die Mutterschaftsversicherung als Grundlage einer mutterrecht-
lich-polygamischen Sexualordnung. — Nr. 6: II. Pudor, Geschlechtsleben und
Nachkommenschaft; F. H. Krolle, Strafrechtsreform und Homosexualität. —
Nr. 7: L. W oltmann, Über die Beziehungen von Gehirn und Kultur. — Nr. 8:
J. Häny-Lux, Die Körpergröße der Menschen im Laufe der Zeiten; A. Reib-
mayr, Die biologischen Gefahren der Frauenemanzipation.
Deutsche Krankenkassen - Zeitung. 1906. Nr. 24: 13. Jahresversamm¬
lung des Zentralverbandes der Ortskrankenkassen im Deutschen Reiche. — Nr. 29:
Ärztliche Stellungnahme zur Düsseldorfer Resolution. — Nr. 30: Die Beschrän¬
kung der Krankenkassen auf reine Geldleistungen. — Nr. 31: Wilhelmi, Über
Aufgaben und Grenzen ärztlicher Wissenschaft und Kunst.
Zeitschrift für Samariter- und Rettungswesen. 1906. Nr. 12: Kor-
m an n, Welche Einrichtungen kann der Verein für Wohlfahrtspflege auf dem
Lande zur Fürsorge für Verunglückte und Kranke treffen? — Nr. 15: H. Bach,
Unfallmeldewesen auf dem Lande. — Nr. 20: L. Sofer, Das Rettungswesen in
Wien. — Nr. 21: F. Kotter, Über Transportwesen.
Die Arbeiterversorgung. 1906. Nr. 18: F. Lutz, Die Krankenversiche¬
rung der eingezogenen Reservisten und Landwehrleute; Fuld, Bereicherungs¬
anspruch im Verhältnis von Krankenkassen. — Nr. 19: O. Neve, Die amtliche
Denkschrift betreffend die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. — Nr. 21:
F. Kleeis, Erweiterung der Tätigkeit der Krankenkassen; H. Unfried, Haft¬
barkeit des Arbeitgebers bei Vernachlässigung der Unfallanzeigepflicht gemäß
§ 63 GUVG. — Nr. 22: F. Kleeis, Die Aufnahme von Lohn Statistiken durch
die Krankenkassen ; Gemeindeschwestern im Dienste der Krankenkassen. — Nr. 23 :
M. Wörmbke, Zum §18 des Invalidenversicherungsgesetzes; W. Münzinger,
Nochmals die Handhabung des § 34 IVG. und das Einzugsverfahren. — Nr. 24:
Empfiehlt sich die Wiedereinführung des Staatskommissars?; P. Koppen, Zur
Auslegung des § 25 GUVG. — Nr. 25: H. Unger, Alters- und Invalidenrente;
W. König, § 78a und die Dauer des Krankengeldbezuges. — Nr. 26: Schellong,
Ist die Ersatzberechtigung der Armenverbände aus der Unfallrente von dem ur¬
sächlichen Zusammenhang ihrer Unterstützung mit dem Unfall abhängig, der zur
Bewilligung der Unfallrente geführt hat?; E. Dr agenscheck, §53 und 61 des
Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes. — Nr. 29: Hahn, Berechnung der Dauer
der Krankenunterstützung. — Nr. 30: 0. Braun, Das Recht der Krankenkasse
aus § 64 GUVG.; R. Weck, Der Königsberger Ärztekonflikt.
Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 1906.
Nr. 14: Silber gleit, Krankenkassen und Arbeiterstatistik; E. Wendlandt,
Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten durch die Krankenkassen. — Nr. 15 :
E. Wendlandt, Der Bericht der geschäftsführenden Kasse für die 13. Jahres-
Zeitschriftenübersicht.
95
Versammlung des Zentralverbandes von OKK. zu Düsseldorf; F. Stockin ge r,
Die Ruhegehalts- und Hinterbliebenenfürsorge in Baden. — Nr. 16: G. Hoch,
Rechte und Pflichten der Selbstverwaltung gegenüber den Krankenkassenbeamten ;
B. Hilse, Inanspruchnahme der Berufsgenossenschaft durch die Krankenkasse
infolge verzögerter Erklärung wegen Übernahme des Heilverfahrens für Betriebs¬
verletzte. — Nr. 17 : E. Wen dl and t, Der Abschluß des Tarifvertrages zwischen
den Ortskrankenkassen- Vorständen und den organisierten Krankenkassen¬
angestellten. — Nr. 20: E. Funke, Das Verhältnis der Krankenversicherung und
der Invalidenversicherung zur Unfallversicherung. Vorschläge zur Vereinfachung;
Fuld, Das konkurrierende Verschulden der Versicherten in der Krankenversiche¬
rung. — Nr. 21: B. Hilse, Anspruch des Empfängers einer Unfallrente auf
Fortdauer der Mitgliedschaft trotz nicht geleisteter Krankenkassenbeiträge;
E. Funke, Fortsetzung aus Nr. 20.
Reformblatt für Arbeiterversicherung. 1906. Nr. 9: A. Roth, Der
Gesetzentwurf für die Hilfskassen; A. Saucke, Die Rentenberechnung nach § 10
Abs. 5 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes; Seelmann, Die Invalidenver¬
sicherung in Luxemburg. — Nr. 10: F. Kleeis, Die Krankenversicherung der
landwirtschaftlichen Arbeiter; H. Pott hoff. Die Sicherung des Rentenanspruchs
bei Versäumnis des Klebens durch den Arbeitgeber; Sayffaerth, Die Verein¬
heitlichung und Ausbau der deutschen Arbeiterversicherung. — Nr. 11: P. Koppen,
Gehört die „Beseitigung der Unfallversicherung“ zu den dringlichsten Aufgaben
der Weiterbildung der reichsgesetzlichen Arbeiterversicherung ? ; Bekämpfung des
Alkoholmißbrauchs durch Krankenkassen; Grüllich, Die freie Arztwahl auf
dem Lande; Sayffaerth, Fortsetzung aus Nr. 10. — Nr. 12: P. Koppen,
Fortsetzung aus Nr. 11; v. Frankenberg, Die Umgestaltung des Hilfskassen¬
wesens; Seelmann, Zum Begriff „Invalidität“; Sayffaerth, Fortsetzung aus
Nr. 11; Seel mann, Der Mayet’sche Reformplan. — Nr. 14: P. Brunn, Die
Hausgewerbetreibenden und die Versicherung gegen Invalidität und Alter;
Appel ins, Fortsetzung aus Nr. 13. — Nr. 15: Appelius, Fortsetzung aus
Nr. 14; J. Heiden, Das Wiederaufnahmeverfahren in Rentenprozessen; M. Ep¬
stein, Fortsetzung aus Nr. 14. — Nr. 16: Appelius, Schluß aus Nr. 15;
Seelmann, Die Lehre vom Erhalten und Erlöschen der Anwartschaft (II.);
F. Kleeis, Die Vereinigung von Ortskrankenkassen. — Nr. 17: Seel mann,
Fortsetzung aus Nr. 16; 0. Magen, Ärztetag und Arbeiterversicherungsreform.
— Nr. 18: Güldenberg, Zur Vereinigung der Ortskrankenkassen ; W. Pieper,
Ein Vorschlag zur Abänderung des Unfallversicherungsgesetzes für Land- und
Forstwirtschaft. — Nr. 19: H. Unger, Die Knappschaftsnovelle; L. Feile hen-
feld, Die öffentliche Unfallversicherung auf dem IV. internationalen Kongreß
für Versicherungsmedizin; M. Wagner, Zur Frage der Arbeitslosenversicherung.
Kommunale Praxis. 1906. Nr. 27 : F. Kleeis, Die Errichtung und Ver¬
waltung öffentlicher Heilanstalten durch die Gemeinden; E. Nitzsche, Die
Pensionsberechtigung der Gemeindebeamten in Sachsen. — Nr. 28: F. W ork¬
mann, Zur Hygiene des Badens. — Nr. 30: G. Michels, Kommunale Brot¬
bereitung. — Nr. 31: F. Kleeis, Die Festsetzung der „ortsüblichen Tagelöhne“
und die Gemeinden. — Nr. 33: Lokalverkehr und Wohnungsfrage; Milchver¬
sorgung und Milchkontrolle. — Nr. 37: F. Kleeis, Die Ausdehnung der Kranken¬
versicherungspflicht durch die Gemeinden. — Nr. 41: C. Eberle, Städtische
Arbeiterfürsorge. — Nr. 43: W. Kolb, Die Milchversorgung der Stadt Karlsruhe.
Soziale Kultur. 190.?. Nr. 7: Grunenberg, Arbeiterfrau und Arbeiter-
96
Zeitschriftenübersicht.
wohnung. — Nr. 8: G. Neu haus, Das Studium der Statistik in Deutschland. —
Nr. 9: G. Neuhaus, Die amtliche Statistik in Deutschland; A. Baur, Die Ent¬
wicklungsgeschichte der Sehulgesundheitspflege. — Nr. 10: 0. Schwartz, Der
biologische Unterricht und die Selbsthilfe bei Krankheiten; B. Schilling, Erste
Schritte zur Förderung des Wohnungswesens und der Wohnungspliege; J. Weyd-
niann, Zur deutschen Armenrechtsreform.
Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 1906.
Nr. 4: Botering, Das Landstreichertum der Gegenwart; Polligkeit, Die
Bedeutung der Berufsvormundschaft im Kampfe gegen Verwahrlosung und Ver¬
brechen. — Nr. 5/6: Kraepelin, Das Verbrechen als soziale Krankheit. —
Nr. 7: Simons, Die neuen niederländischen Gesetze betr. verwahrloste und
verbrecherische Kinder: Kurelia, Die soziologische Forschung und Cesare
Lombroso.
Deutsche Vierteljahrsschrift für Öffentliche Gesundheitspflege. 1906.
Nr. 2: A. Tenholt, Über die Anchylostomiasis ; P. Hesse, Über die Auskunfts¬
und Fürsorgestellen für Lungenkranke; A. Eckert, Das Wöchnerinnenasyl
„Luisenheim“ in Mannheim; J. Grassl, Die gegenwärtige Tuberkulosenmortalität
in Bayern; 0. Gerl and, Noch einmal der preußische Gesetzentwurf zur Ver¬
besserung der Wohnungsverhältnisse; E. Kempf, Die Reform des Apotheken¬
wesens; Th. Wey 1, Über Müllentladestellen in Wohn quartieren; 0. Schwartz,
Die freie Ärztewahl vom Standpunkte der öffentlichen Gesundheitspflege;
L. Ascher, Der Kohlenrauch, seine Schädlichkeit und seine Abwehr; Gemünd,
Hygienische Betrachtungen über offene und geschlossene Bauweise, über Klein¬
haus und Mietskaserne. — Nr. 3: Gemünd, Schluß aus Nr. 2; M. Pistor, Zur
Medizinalreform in Preußen; K. Kolb, Einfluß der Basse und Häufigkeit des
Krebses nach dessen Verbreitung im Kanton Bern; Solbrig, Das öffentliche
Badewesen im Beg.-Bez. Arnsberg; H. Ohr. Nußbaum, Die Wassergewinnung
durch Talsperren; An kl am, Die Wasserversorgung Berlins bisher und in Zukunft.
Außerdem sind folgende Druckschriften eingegangen :
Barthelmes, Grundsätze der Militärgesundheitspflege für den Truppen¬
offizier. Berlin 1907. E. S. Mittler u. Sohn. Mk. 2,50. — L. Berthenson,
Über russische Buddhisten und die sog. tibetanische Medizin. Sonderabdr. aus
Petersb. med. Wochenschr., Nr. 24, 1906. — A. Newsholme, A Manual of
Personal and Public Health. Bevised Edition. London 1906. Gill and Sons. —
B. Weil, Die Wohnungsverhältnisse der Stadt Metz. Straßburg i. E. u. Leipzig
1906. J. Singer. — Denkschrift zur ersten Wohnungsenquete der Ortskranken¬
kassen in Breslau, bearbeitet von A. Bergmann. Breslau 190h — Statisti¬
sche Mededeelingen uitgegeven door het Bureau van Statistiek der Gemeente
Amsterdam. No. 15. Armenzorg te Amsterdam 1904 en 1905. No. 16. Sta¬
tistiek der Bevolkning van Amsterdam en eenige voorname steden der wereld in
de jaren 1899—1905. Amsterdam 1906. J. Müller. — Soweit die eingesandten
Publikationen aus Platzmangel in der „Zeitschrift für Soziale Medizin“ nicht be¬
sprochen werden können, werden sie im „Jahresbericht über Soziale Hygiene,
hrsg. von A. Grotjahn und F. Kriegei“, der alljährlich im Juli erscheint, eine
Besprechung finden. Daselbst vgl. auch Chronik, Kongresse, Gesetzestafel und
vollständige Bibliographie der Sozialen Hygiene und der Sozialen Medizin.
Umschau.
Berlin, den 15. Februar 1907.
ln einer der ältesten Universitätsstädte Deutschlands, in Greifs¬
wald, hat ein Schwurgericht einen Epileptiker znm Tode verurteilt
wegen Morde, die der Patient nach dem Gutachten der Ivönigl.
Preuß. wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und
zahlreicher Irrenärzte von Ruf im epileptischen Dämmerzustände
vollbracht hat. In einer für den sozial empfindenden Arzt er¬
schreckenden Weise hat dieser Urteilsspruch deutlich gemacht, wie
wenig klare Errungenschaften der medizinischen Wissenschaft in
das Bewußtsein selbst der gebildeten Kreise unseres Volkes, denen
doch Staatsanwalt, juristische und geschworene Mitglieder eines
Schwurgerichts angehören, eingedrungen sind. Eine Abhilfe kann
nur dadurch geschaffen werden, daß intensiver und extensiver als
bisher breite Schichten unseres Volkes mit den Kenntnissen der
medizinischen Forschungen bekannt gemacht werden. Der einzige
Weg hierzu geht durch die Tagespresse, die im viel größeren Um¬
fang sich die Mitarbeit medizinischer Publizisten sichern müßte.
Es sind nur wenige ganz große Blätter, die eine regelmäßige lite¬
rarische Tätigkeit ärztlicher Mitarbeiter zu schätzen wissen, und
es gibt nur wenige Mediziner, die sich der ungemein schwierigen,
leider nicht genugsam anerkannten und doch für das allgemeine
Wohl so überaus wichtigen Aufgabe unterziehen, in den Tages¬
zeitungen alle medizinischen, die Allgemeinheit interessierenden
Fragen kurz, gemeinverständlich und doch interessant zu besprechen.
Der Typus des medizinischen Journalisten, den der jüngst ver¬
storbene Wolf Becher in besonders vorbildlicher Weise repräsen¬
tierte, hat sich noch nicht hinreichend durchgesetzt und nur wenigen
Ärzten (wie J. Käst an, P. Meißner, R. Denn hoff) geben
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. *
98
Umschau.
große Tageszeitungen Gelegenheit , ihre publizistische Begabung
und den größten Teil ihrer Arbeitskraft in den Dienst der Journa¬
listik zu stellen.
Eine höhere Wertung der medizinischen Publizistik scheint
sich selbst unter den ärztlichen Standesgenossen anzubahnen.
Wenigstens ist das aus der Berufung von namhaften Schriftstellern
in die am weitesten verbreiteten Standesblätter zu schließen. So
ist mit Beginn dieses Jahres 0. Magen in die Redaktion des
„Ärztlichen Vereinsblattes“, des Organs des Deutschen Ärztever¬
einsbundes, eingetreten und weiterhin W. He 11p ach zur Redak¬
tion der „Ärztlichen Mitteilungen“ des Leipziger Verbandes berufen
worden. Diese Namen bieten eine Gewähr, daß unsere gelesensten
Standesblätter in Zukunft nicht nur nach der formalen Seite auch
hochgespannten publizistischen Ansprüchen genügen, sondern trotz
kräftiger Wahrung der Standesinteressen auch die allgemeinen
Gesichtspunkte nicht außer acht lassen werden. Die Soziale
Medizin und die Soziale Hygiene sind deshalb wohl zu der
Hoffnung berechtigt, von jetzt ab auch bei den leitenden Standes¬
blättern mehr Berücksichtigung zu finden.
Vom 12. — 14. Januar fand in Berlin die Generalversammlung
des unter der Leitung von Helene Stöcker und Marie
Lischnewska stehenden Bundes für Mutterschutz statt. Außer
dem Schutze lediger Mütter und deren Kinder strebt der Bund
auch eine Reform der sexuellen Ethik au. Eine Kritik letzterer
Bestrebungen muß so lange vertagt werden, als nicht die Grundsätze,
die als Unterlage für eine Propaganda dienen sollen, in klarer
Formulierung vorliegen. Es muß abgewartet werden, ob sich aus
dem Chaos der Meinungen, das besonders die erste Mitglieder¬
versammlung offenbarte, feste Gebilde oder nur Höhennebel ab¬
scheiden werden. Jedenfalls ist es vom Standpunkte der Sozialen
Hygiene höchst beachtenswert, daß auf der Tagung über Mutter¬
schaftsversicherung (Ref.: P. May et) und über Heiratsverbote
minderwertiger Personen (Ref.: M. Markuse) verhandelt wurde.
Die Diskussion über dieses Problem endete mit einer Resolution,
in der die Forderung eines obligatorischen Gesundheitsattestes vor
der Eheschließung gefordert wurde. Der Gedanke , direkt die
Frauenwelt für eine allen hygienischen Anforderungen gerecht
werdende Gestaltung des Generationsprozesses und des Geschlechts¬
lebens zu gewinnen, ist fast zu schön, als daß man an seine Ver¬
wirklichung glauben könnte. Die traurigen Erfahrungen, die die
Soziale Hygiene bei dem Versuche machte, die Frauenwelt für eine
Umschau.
99
wichtige Frage wie die Wiederaufnahme der Sitte des Selbst¬
stillens oder die etwas weniger wichtige der Reform der Frauen-
kleidung zu interessieren, läßt hier ein gewisses Mißtrauen, obldie
große indifferente Masse der Frauenwelt den klugen, eifrigen und
willensstarken Führerinnen auch wirklich folgen wird, wohl gerecht¬
fertigt erscheinen.
Mit Beginn des Wintersemesters hat Th. Rumpf an der
Universität Bonn ein Seminar für Soziale Medizin eröffnet, das
sich regen Zuspruches sowohl der Studierenden als auch der prak¬
tischen Ärzte erfreut.
In Brüssel erscheint seit Beginn des Jahres 1907 die Halb¬
monatsschrift „La Revue Medico-Sociale“, lirsg. von 0. Laurent
und J. Crocq.
Am 20. November 1906 starb der Berliner Medizinalstatistiker
Georg Heimann im 54. Lebensjahre. In Leipzig starb am
8. Januar 1907 der bekannte Nervenarzt, Psychologe und um die
Errichtung von Volksheilstätten für Nervenkranke verdiente
P. J. Möbius im 54. Lebensjahre. Am 4. Februar 1907 starb in
Berlin der frühere langjährige Präsident des Reichsversicherungs¬
amtes, T. Bödiker, einer der bedeutendsten Organisatoren des
sozialen Versicherungswesens, im 64. Lebensjahre.
A. Grotjahn.
♦
7*
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben
und Ziele.
Von Dr. med. Adolf Gottstein, Charlottenburg.
III.
l)ie Anthropometrie.
(Schluß.)
In seinem Aufsatz „Hygienisches von Stadt und Land“ betont
Rubner,1) daß die Sterblichkeitsstatistik als Maß für die Gesund¬
heit des Volkes vielfach überschätzt werde. Eine geringe Mortalitäts-
ziffer sei immer nur der Ausdruck für die Herabsetzung der Lebens¬
gefahr, aber noch kein Beweis für den Grad des körperlichen
und geistigen Wohlbefindens. Trotz des Zurückgehens der Todesziffer
hebe sich die Qualität des Menschenmaterials in manchen Landes¬
teilen nicht oder sinke sogar. Die Tatsache selbst ist zutreffend,
nicht ganz aber die ihr von Rubner gegebene Deutung. Denn
bei der von Rubner betonten Unzulänglichkeit der Mortalitäts¬
statistik spielt eine rein statistische Frage wesentlich mit. Wester-
gaard, der einmal die Sterblichkeit „ein Thermometer der Freuden
und Leiden der Gesellschaft“ nennt, gibt für diese den Statistikern
wohl bekannte Erscheinung zahlreiche Beispiele an, aus denen
hervorgeht, „ daß in a 1 1 e n einzelnen Elementen einer Gesellschaft
ein Fortschritt stattfinden kann, während die Gesellschaft als ein
Ganzes betrachtet, doch zurückgeht, indem die Zusammensetzung
derselben minder gut wird, als sie vordem war.“2) Die Ursache
dieser Unzulänglichkeit in der Methode für einen ganz speziellen
:) München, Oldenbourg, 1898.
2) I. Anfl., S. 124. •
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
101
Fall ist eine so elementar arithmetische, daß sie Weste rgaard
gar nicht erst besonders begründet. Da dieses Problem aber für
den Hygieniker recht wichtig ist, so sei hier auf die Fehlerquelle
ausführlicher eingegangen. Wenn eine Bevölkerung M mit der
Gesamtsterblichkeit A sich aus einzelnen Gruppen nq, m0 etc.
zusammengesetzt, deren zugehörige Sterblichkeit a1? a2 etc. ist, so ist
4 a1 a1 a2
Vr selbstverständlich weder = — etc. noch = — T -\ - setc. Ver-
M m1 m1 m2
schieben sich die Werte nq, m.? untereinander durch Binnenwande¬
rungen oder andere soziale Einflüsse, so können rechnerisch in den
einzelnen Gruppen und insgesamt scheinbare Besserungen vorgetäuscht
werden, die sogar gelegentliche Verschlechterungen völlig verdecken.
Immerhin besteht hier eine Lücke in der Methodik. Bub n er
hält es darum für „dringend erwünscht und zeitgemäß“, eine wirk¬
liche, den anthropometrischen Grundsätzen entsprechende
Gesundheitsstatistik zu schaffen. Grotjahn1) macht mit Becht
darauf aufmerksam, daß diese Aeußerung eines Forschers, dessen
Bedeutung auf dem Gebiete der Laboratoriumstätigkeit liege, be¬
sonders eindringlich für die Wichtigkeit der Anthropometrie als
Hilfswissenschaft der Sozialen Hygiene spräche; er hebt weiter
hervor, daß andere Länder, wie namentlich England, uns in der
Heranziehung dieser Methode überlegen sind. Als Hilfsmethode
der Sozialen Hygiene steht sie aber auch im Auslande erst in den
Anfängen.
Die Anthropometrie war ursprünglich ein Teil des wissen¬
schaftlichen Büstzeuges der Künstler, später wurde sie eine eifrig
bearbeitete Methode der Anthropologie. Schon im Altertum bemühten
sich die Künstler für die Größenverhältnisse der einzelnen Körper¬
teile bestimmte gesetzmäßige Beziehungen aufzufinden, um eine
ideale Körperform festzustellen, welche dem schaffenden Künstler
zum Anhalt dienen sollte ; und auch in neuerer Zeit haben Künstler
wie namentlich Schadow und Bietschel die Proportionen der
Körpergestalt in bestimmte Gesetze zu bringen versucht, Carus
legte in seinem Werke über „die Symbolik der menschlichen Gestalt“2)
das Verhältnis der einzelnen Glieder zur Wirbelsäule zugrunde
und schuf in seinem „Modulus“, welcher den dritten Teil der
Wirbelsäule bildete, ein neues Einheitsmaß an Stelle der im Altertum
:) Die Anthropometrie
I, 12. 1905.
2) Leipzig- 1858.
im Dienste der Sozialen Hygiene.
Mediz. Klinik,
102
Adolf Gottstein,
gebrauchten Einheiten. Man nannte ein solches System, welches
die Größe der einzelnen Glieder in Bruchteilen oder Prozenten des
Modulus ausdrückte, einen „Kanon“. Der neueste Versuch der
Aufstellung eines Kanons wurde von dem Berliner Anthropologen
Fritsch1) gemacht. Der Amerikaner Gould stellte zahlreiche
Messungen an gesunden Individuen verschiedener Rassen an, deren
Vergleich mit dem Ideal-Kanon der Künstler deshalb von Interesse
ist, weil er eine, auffällige Uebereinstimmung der Normalfiguren
mit den künstlerischen Postulaten ergibt. Es sei hier aus dem
Werke von Ranke2) folgende Tabelle wiedergegeben:
Schadow
Gould
Carus
Körpergröße
100
100
100
Eumpflänge
37
39
39
Sclmlterbreite
26
24
24
Hängender Arm
44
43
43
Oberarm
20
20
20
Vorderarm
23
23
23
Hand
10
—
10
Fuß
15
15
15
Ganz andere Zwecke verfolgt die Heranziehung der Antliro-
pometrie für anthropologische und physiologische Probleme.
Es war zuerst wieder Quetelet, der systemathische Messungen an
ausgewachsenen und wachsenden Individuen beider Geschlechter
vornahm, um durch Feststellung eines Durchschnittstypus die
Verhältnisse des erwachsenen Menschen und die Wachstumsgesetze
aufzuklären. Er berichtete über seine Forschungen in seinem
ersten Werke „Sur Thomme“ und versuchte schon damals Normal -
formeln einzuführen; er setzte dann durch lange Zeit diese Unter¬
suchungen fort und legte sie in einem größeren Werke nieder.3)
Quetelet beschäftigte sich hauptsächlich mit Körpergröße, Brust¬
umfang und Körpergewicht. Seither wurden Massenbeobachtungen
über die Beziehungen dieser Zahlen in den verschiedenen Bevölke¬
rungsschichten und Rassen Gegenstand des Studiums vieler Forscher,
vor allem ist die Frage des Wachstums des menschlichen Körpers,
der Wachstumsstufen im Kindesalter, der gesetzmäßigen Zunahme
von Körpergröße und Körpergewicht vom Säugling bis zur Reife
Gegenstand zahlreicher Arbeiten geworden. Die Ergebnisse sind
1) Ztschr. f. Ethnologie, 1893.
2) Johannes Ranke, Der Mensch, Leipzig 1894, 2. Aufl., Bd. I, S. 15.
3) Anthropometrie. Bruxelles 1871/73.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
103
in mehreren größeren Werken niedergelegt, von denen hier nur die
folgenden genannt werden sollen:
Ranke, Der Mensch,
Daffner, Das Wachstum des Menschen, Anthropologische
Studie,1)
Anthony, Anthropologie pliysique.2)
Das letztere Werk sei deshalb hervorgehoben, weil es auch
die außerdeutsche Literatur ausführlich behandelt und die Methoden
und Instrumente der Anthropometrie genau schildert und abbildet.
Genannt werden müssen auch die Prachtwerke von Straatz,
wie z. ß. „der Körper des Kindes“.3) Die Methoden in der Ver¬
wertung der Ergebnisse sind, da es sich um Massenbeobachtungen
handelt, im wesentlichen dieselben, wie die der Statistik, nur dem
besonderen Zwecke einigermaßen angepaßt. Einen großen Wert
legen die Anthropologen auf die Methode der „Serienberechnung“.
Wenn z. B. eine bestimmte Anzahl Messungen der Körpergröße
eines bestimmten Lebensalters und einer bestimmten Bevölkerungs¬
schicht vorliegen, die innerhalb einer gewissen Breite schwanken,
so werden die Werte der Körpergröße in Serien von je 5 cm
zerlegt und die für jede Serie beobachteten Zahlen graphisch in
einer Kurve aufgezeichnet. Die Kurve zeigt dann meist das
Ueberwiegen eines bestimmten Durchschnittstypus, der als der
gesetzmäßige zu gelten hat (Quetelet’s Binomial-Kurve). Die
Abweichungen nach beiden Seiten von dem steilen Kurvengipfel
ergeben bei eindeutigem Resultate nur sehr niedrige Werte. Natürlich
ist diese Serienmethode nichts weiter als eine graphische Darstellung
des , quittieren Fehlers“ der Statistik. Außer den Hauptgegen¬
ständen der Beobachtung, Schädelmaße, Rumpfmaße, Körpergröße,
-Umfang und -Gewicht hat man sich auch bemüht noch andere
Werte heranzuziehen. Man hat Methoden der Oberflächenmessung
empirisch und durch Aufstellung von Formeln angegeben, und man
hat ferner versucht, das spezifische Gewicht zu bestimmen. Alle
diese Versuche, die zum Teil in die Konstruktion ungeheuerlicher
Formeln ausliefen, haben bisher keine praktische oder unanfechtbare
wissenschaftliche Bedeutung gewonnen. Viel wichtiger sind die
Arbeiten, welche mit Hilfe der Leichenbeobachtung über Organ¬
wägungen berichten. Namentlich die Wägungen des Gehirns haben
J) Leipzig-, Engelmann, 1902, 2. Auli.
2) Traite cfHygiene von Brouardel u. Mosny, Bel. III. Paris, Baillere 1906.
3) Stuttgart, Enke 1903.
104
Adolf Gottsteiu .
seit Biscli off große Bedeutung gewonnen, aber auch die Studien
der Bölling ersehen Schule über normale Größen- und Gewichts¬
verhältnisse der inneren Organe verdienen Beachtung. Eine große
Lücke der Forschung ist darin zu sehen, daß die Histologie zu
antliropometrischen Messungen bisher fast gar nicht herangezogen
ist. Zwar Messungen der Größe und Zahl der Blutkörperchen
gehen um viele Jahrzehnte zurück, aber wir wissen wenig oder
gar nichts über die Zahl der Zellen und Zellengruppen der einzelnen
Organe in normalen und abnormen Verhältnissen und über die
Aenderung dieser Zahlen mit dem Wachstum.
Die bis zu Quetelet zurückreichenden Versuche, für gesetz¬
mäßige Beziehungen Formeln aufzustellen, sind in der Neuzeit fast
ganz verlassen worden; wie in der Statistik ist man auch hier
mehr bemüht, zuverlässiges Material durch Massenbeobachtungen
zu sammeln. Namentlich in England haben Forscher, wie Gal ton,
eigene anthropometrische Institute eingerichtet, und es bestehen
Komitees zur antliropometrischen Aufnahme der Gesamtbevölkerung,
von denen einige Berichte schon vorliegen. Auch in Deutschland
hat unter Gustav Schwalbe ’s Leitung die Deutsche Anthropolo¬
gische Gesellschaft mit Unterstützung des Staates die anthropome¬
trische Aufnahme der Wehrpflichtigen beschlossen, und wir haben
von diesem großen Werke in der nächsten Zeit wichtige Aufschlüsse
zu erwarten. Kleinere und größere Aufnahmen einzelner Gruppen
wie der Wehrpflichtigen, der Schuljugend usw. liegen im Auslande
und zum Teil in Deutschland vor. Es sei nur der großen Werke
von L i v i *) gedacht.
An der Anthropometrie haben noch verschiedene andere Gruppen
Interesse. Von Anfang an haben sich besonders die Rassen-
f o r s c h e r mit deren Ergebnissen beschäftigt, weil sie Abweichungen
der Schädelform und der Körpergröße als Rassenmerkmale,
als bleibende wie als veränderliche, hinstellen konnten und die
Einflüsse von Klima, Bodenbeschaffenheit, Vererbung und Wande¬
rungen auf die Körpermaße festzulegen sich bemühten. Ferner
haben die Militärärzte Interesse an antliropometrischen Auf¬
nahmen, weil Abweichungen von dem normalen Typus Anhalte
für die Brauchbarkeit geben. Ihnen verdanken wir zwar viele
Bereicherungen unseres wissenschaftlichen Materials, aber dieses
erstreckt sich nur auf ein bestimmtes, wenige Jahre umfassendes
Lebensalter und ist deshalb für Schlußfolgerungen nur mit Vorsicht
b R. Livi, Antliropolog'ia militare. I Rom 1898. II 1905.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
105
zu gebrauchen. Daß die Psychologen auf Grund der Messungen
von Scliädelgröße und Hirngewicht seit Bi sch off der Anthropo-
metrie sich bedienten, ist bekannt.1) Aus der neuesten Zeit sind
die Studien D. v. Hansemanns 2 3) über die Gehirne hervorragender
Männer, wie H e 1 niliol tz , besonders bemerkenswert. — Von größter
Bedeutung ist die Anthropometrie für die Yer sicherungsärzte,
und gerade ihnen verdanken wir manche Aufschlüsse. Aus der
neuesten Zeit datieren die schon angeführten Arbeiten von Flor¬
schütz und Gottstein, und der Versicherungsmathematiker der
Gothaer Lebensversicherungsbank Kamp hat erst kürzlich ein
Schema des normalen Verhaltens der absoluten Werte von Körper¬
größe, Leibumfang und Körpergewicht nach Körpergröße und
Lebensalter auf Grund eines großen Materials aufgestellt,8) das
allerdings mehr praktische als wissenschaftliche Bedeutung hat,
weil die Messungen am bekleideten und beschuhten Körper statt-
fan den. Kinderärzte und Schulärzte bedienen sich ebenfalls
für ihre Schlußfolgerungen über das normale Wachstum der Daten
dieser Wissenschaft.4) Daß auch die Klinik aus der Anthropo¬
metrie zum Zweck des Ausbaues der Prognostik Nutzen zu ziehen
bemüht ist, beweisen z. B. die Arbeiten der Schüler von Strümpell
über das spezifische Gewicht,5 6) ferner eine größere Arbeit von
F. Kraus,0) sowie die Untersuchungen von W. Becher und
B. Lennhoff7) über den Zusammenhang von Körperformen und
Tiefstand der Nieren. Selbst die Kriminalistik hat sie heran¬
gezogen, und besonders hat A. Bertilion die Aufnahme des
Körpers zur Feststellung der Individualität zu einem großen Gebäude
ausgebildet und hierbei interessante Gesetze über die gegenseitige
Beeinflussung des Wachstums einzelner Organe infolge größerer
Inanspruchnahme aufgestellt. Das Bertillon’sche anthropometrische
System wird vielfach zur Feststellung der Identität angewendet.
Zum Hilfsmittel der Sozialen Hygiene wird indes die
Anthropometrie erst durch die Feststellung, daß unter der Ein-
1) Ranke, Bd. II, S. 551 ff.
2) Ztschr. f. Psycli., Bd. XX.
3) Verhandlungen des IV. internationalen Kongresses für Versicherungs-
medizin, 1906.
4) Stephani, D. m. Woch., 1906, Nr. 44 n. Rietz, Arch. f. Anthropol..
I, 1, 1903.
5) Münchener med. Woch., 1903, 34 n. 35 und Med. Klin.. 1906, Nr. 9.
6) Über konstitutionelle Schwäche des Herzens. Festschrift für Leuthold
Hirschwald, 1906, S. 327.
r) Verhandl. des 17. Kongresses f. innere Medizin u. Med. Reform, 1906.
106
Adolf Gottstein,
Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse die Maße des Körpers ganz
wesentlich verändert werden. Freilich stehen wir hier erst am
Anfang der Forschung, trotzdem die Feststellung der Tatsache
selbst bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Schon
Villerme hat 1819 betont, daß „die Körpergröße um so mehr an¬
steigt und das Wachstum sich um so schneller beendet, je reicher
das Land, je größer der Wohlstand; daß Wohnung, Kleidung und
vor allem Nahrung von Einfluß sind und daß Sorgen, Anstrengungen,
Not in der Kindheit und Jugend das Wachstum hemmen, mit
anderen Worten, daß das Elend und seine Begleitumstände die
Entwicklung des Körpers herabsetzen und geringere Körpergröße
herbeiführen.“ 4) Diese Beobachtungen blieben lange ziemlich un¬
beachtet. Größeres Aufsehen erregte es, als Pfitzner2) sozial¬
anthropologische Studien veröffentlichte, in denen er auf Grund
von Beobachtungen an Lebenden und Leichen die Überlegenheit
der Körpergröße und Kopfgröße bei höherer Intelligenz nachwies.
Nach ihm dokumentiert sich höhere Intelligenz schlechthin in durch¬
schnittlich höherer Statur. Derartige Studien hat neuerdings
Röse:J) fortgesetzt und ist bei Untersuchungen an Kindern und
Erwachsenen aller Stände zu ganz ähnlichen Ergebnissen ge¬
kommen. Von weiten Gesichtspunkten und mit sorgfältiger Me¬
thode hat ferner Rietz in seiner Studie über Körperentwicklung
und geistige Begabung4) die Ergebnisse von Messungen an 20000
Schülern zu der Schlußfolgerung verwertet, daß in jedem Alter die
normal vorgeschrittenen Schüler durchschnittlich die entwickelteren,
andererseits die minderbefähigten auch die körperlich zurückge¬
bliebenen sind. Besonders eingehend hat sich mit diesen Fragen
noch Marina5) beschäftigt, indem er den Einfluß der Lebens¬
weise, der Ernährung, des Wohlstandes, des Klimas und voraus¬
gegangener Krankheiten auf die Körpermaße des wachsenden Or¬
ganismus studierte mit dem Ergebnis, daß neben den in erster
Reihe in Betracht kommenden Rassenschwankungen sozialhygie¬
nische Einwirkungen con weitgehendem Einfluß auf die Entwick¬
lung des Körpers sind. Mit diesen Literaturangaben soll das Thema
nicht als erschöpft gelten. Die Arbeiten von Ammon, welcher
die Änderung der Körperformen und namentlich der Schädelformen
9 Quetelet, Sur l’homine etc., Bd. II, S. 14.
2) Ztschr. f. Morphol. u. Anthropologie, 1901.
:l) Arch. f. Bassen- u. Gesellschaftsbiologie, II, 5 u. 6, 1905.
4) Ztschr. f. Schulgesundheitspflege, XIX, 1906.
5) Politisch-an thropol. Bevue, 1903, 11 u. 12.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
107
durch die Abwanderung- vom Land nach der Stadt untersuchte und
dem das Verdienst zukommt, auf die Wichtigkeit der Methode als
einer der ersten nachdrücklich hingewiesen zu haben, sind hier
absichtlich nicht eingehender besprochen, weil sie viel Widerspruch
gefunden haben. Soviel geht aus der kurzen Schilderung der ge¬
schichtlichen Entwicklung der Anthropometrie hervor, daß ihre
Anwendung auf die Probleme der Sozialen Hygiene reiche Aus¬
beute verspricht, daß aber erst bescheidene Anfänge vor¬
liegen. Diese Anfänge schienen aber der von der englischen Re¬
gierung eingesetzten Kommission zur Untersuchung einer körper¬
lichen Entartung des britischen Volkes, deren Ergebnisse im Jahre
1904 in einem Bericht von 2 Bänden x) dein Parlament unterbreitet
und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, bedeutsam ge¬
nug, um periodische anthropometrische Aufnahmen der Bevölkerung
zu beantragen. Es verspricht in der Tat eine reiche Ausbeute,
zunächst umfangreiches Material über die Körperverhältnisse der
einzelnen Bevölkerungsschichten zu sammeln und deren Abhängig¬
keit von ganz bestimmten Faktoren systematisch zu bearbeiten.
Eine Teilung der Aufgaben in interessante Einzelprobleme ist nach
den verschiedensten Richtungen möglich. Man kann z. B., wie
dies Röse getan, bei der Untersuchung von Rekruten die Werte
der Körpergröße mit der Art der Ernährung im Säuglingsalter in
Zusammenhang bringen.
Das Bestreben der Heranziehung der Anthropometrie zur
Lösung von Aufgaben der Sozialen Hygiene zeigt noch überall
die Spuren der Jugendlichkeit, ein Grund mehr, sich mit ihr ernst¬
lich zu befassen. Sollte es dereinst in hoffentlich nicht zu ferner
Zukunft auch bei uns Laboratorien geben, welche der Sozialen
Hygiene zur Verfügung stehen, so wird es dann auch möglich sein,
die mikroskopische Anthropometrie auszubilden, von der heute
nicht einmal Anfänge vorliegen. Daß aber die Heranziehung des
Mikroskops zu Messungen der Zahl und der Größe der Elementar¬
bestandteile in den einzelnen Organen im wachsenden und er¬
wachsenen Zustande, bei normalen und krankhaften Vorgängen,
wichtige Aufschlüsse für Klinik, Anthropologie und Soziale Hygiene
verspricht, das ist eine Vorstellung, die sich bei mir durch jahre¬
lange Beobachtungen der individuellen Reaktion am Krankenbett
herausgebildet hat. Hier könnte vielleicht eine ganz neue Sonder-
r) London 1904. Eyre u. Spottiowoode. Referat: Politisch-anthropol. Revue,
V, 3, von Hans Fehlin ge r.
108
Adolf Gottstein.
methode entstehen von so überraschend reicher Ernte, wie sie vor
25 Jahren in ganz kurzem Zeitraum die neu erstandene Bakterio¬
logie einbrachte.
IV.
Das weitere methodische Rüstzeug der Sozialen Hygiene.
In seiner oft erwähnten Rede betont Eubner, daß National¬
ökonomie und Hygiene auf einander als Hilfswissenschaften an¬
gewiesen seien und daß jede r Arzt Kenntnisse auf dem Gebiete
der Nationalökonomie haben müsse. Mit den Berührungspunkten
beider Wissenschaften beschäftigt er sich aber nur kurz ; neue Er¬
findungen bedingten .neue Gesundheitsgefahren, Umwälzungen der
Produktion reiften andere Lebensverhältnisse für den Arbeiter,
neue Handelswege schüfen veränderte Existenzbedingungen. Gründ¬
licher noch als Rubner’s Arzt muß aber der Vertreter der So¬
zialen Hygiene mit der Geschichte der wirtschaftlichen Umge¬
staltungen in den letzten hundert Jahren und mit der Natur der
Kräfte, die zu ihnen geführt haben, vertraut sein. Bei dem steten
Fluß dieser Vorgänge darf er sogar sein Wissen nicht bloß aus
der Geschichte und aus den Handbüchern schöpfen, sondern er
muß es verstehen, nach den Worten von Hueppe selbst frisch
und mit gesunden Sinnen umherzuspähen. Und da die Rückwir¬
kungen aller dieser Umwälzungen auf die Gesundheit der zunächst
beteiligten Kreise noch lange nicht erschöpfend studiert sind, so
ist für das offene Auge noch recht viel Neues zu sehen.
Wohl wenigen Geschlechtern war es seit dem Bestehen einer
menschlichen Kultur auferlegt, in der Aufeinanderfolge von kaum
drei Generationen sich so tiefen Veränderungen der Existenzbe¬
dingungen anzupassen, wie den Lebenden der letzten sechs bis
sieben Jahrzehnte; niemals aber ist eine derartige Anpassung
mit so geringem Verlust an Menschenleben vollzogen worden. Die
Gründung der Städte und festen Siedelungen in Mitteleuropa vor
etwa tausend Jahren hatte für deren Bewohner jahrhundertelange
und recht erhebliche Todesgefahren zur Folge, die oft bis in die
neueste Zeit fortbestanden, falls nicht ein großer Brand oder eine
ähnliche elementare Katastrophe die Rolle der Sanitätspolizei über¬
nahm. Die positiven und negativen gesundheitlichen Folgen der
Entdeckung von Amerika und der Eröffnung anderer Erdteile ver¬
teilten sich ebenfalls auf einen außerordentlich langen Zeitraum.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
109
Wir und unsere unmittelbaren Vorfahren erlebten in ganz kurzem
Zeitraum zwei ganz ähnliche Vorgänge, die Massenabwanderung
vom Lande in die riesenhaft anwachsenden Städte und die wirt¬
schaftliche Erschließung der Länder der bevölkerten Erde ; ihre Be¬
wohner und ihre Produkte wurden einander so genähert, daß statt
Monaten und Wochen nunmehr nur noch Tage und Stunden uns
trennen und daß statt vereinzelter lockerer Fäden uns ein rasch
entstandenes dichtes Maschengewebe von Beziehungen verbindet.
Und die großen technischen Entdeckungen, denen wir diese An¬
näherungen verdanken , erforderten den intensivsten Frondienst
zahlreicher Menschen, deren veränderte Lebensbedingungen nach
Verpflanzung aus den angestammten verstreuten Siedlungsstätten
in die Zentren enger Anhäufungen bei jäher Änderung der Lebens¬
weise Gegenstand eifrigsten Studiums der Nationalökonomie ge¬
worden sind.
Die Hygiene, deren engere Aufgabe die Erforschung der Rück¬
wirkung dieser Wandlung auf die Gesundheit der Gesellschaft und
ihrer Teile ist, stellt nun die überraschende Tatsache fest, daß mit dieser
Umwälzung ein Sinken der Sterblichkeit aller Altersklassen ver¬
bunden ist, daß die Mortalität der Städte, früher viel erheblicher
als die der Landbevölkerung, sogar stärker herabgegangen ist als
die letztere. Aber bei der Teilung des Materials zur näheren Er¬
örterung dieser Tatsache ist die Hygiene Schritt für Schritt darauf
angewiesen, sich Rat in den Schriften der volkswirtschaftlichen
Forscher zu holen und deren Methoden so weit verstehen zu lernen,
um nicht jeder kritischen Würdigung der übermittelten Ergebnisse
entbehren zu müssen. Der Hygieniker muß wissen, was ihm der
Nationalökonom über die Lebens- und Ernährungsverhältnisse, die
Arbeitsbedingungen , die Lohnverhältnisse und deren ortsübliche
Verwertung in den einzelnen Schichten der Gesellschaft, was er
ihm über die Gewohnheiten während der Arbeit und der Erholungs¬
zeit mitzuteilen hat. Ja, er muß auch die Forderungen kennen,
welche die Arbeiterklassen zur Verbesserung ihrer Lage aufstellen;
er muß versuchen, eine Vorstellung von der seelischen Verfassung
und Denkweise dieser Bevölkerungsgruppe zu gewinnen. So vor¬
gebildet vermag er mit seinem ärztlichen Rüstzeug die Ergebnisse
der Nationalökonomie zu ergänzen, indem er die Rückwirkung
dieser Zustände auf die Gesundheit der beteiligten Gruppen er¬
forscht und die Mittel zur Beseitigung von Mißständen sucht.
Im Gegensatz nun zu dem günstigen Vorurteil, welches die
Herabsetzung der Gesamtsterblichkeit erweckt, ist die
110
Adolf Gottstein.
Rückwirkung der Änderungen der Gesellschaft durch den tech¬
nischen Aufschwung auf zahlreiche Einzelschichten doch oft
recht u ngünstig und verbesserungsbedürftig. Am deutlichsten ist
dies auf dem Gebiete der Gewerbehygiene zutage getreten; die
zahlreichen anderen Beziehungen zwischen volkswirtschaftlicher
Entwicklung und Gesundheitsgefahr, die nicht unmittelbar mit der
Gewerbehygiene Zusammenhängen, sind bisher viel weniger be¬
arbeitet worden, als sie bei ihrer Wichtigkeit beanspruchen müssen.
Darum seien einige dieser Probleme hier beispielsweise erwähnt,
schon weil sie den engen Zusammenhang zwischen Nationalökonomie
und Sozialer Hygiene dartun. Hierher gehört zunächst eine Frage,
welche die Gesamtbevölkerung angeht, und welche durch Ascher
und ßubner ganz neuerdings zum Gegenstand besonderen Studiums
und eindruckvollster Propaganda gemacht worden ist; die Frage der
Luftverschlechterung in den Städten durch die Kohlenfeue¬
rung der Industrie.1) Das Mahnwort von Rubner, daß uns heute
ein Kampf gegen die schlechte Luft obliegt, wie wir einstmals
einen solchen gegen das schlechte Wasser der Städte geführt, wird
hoffentlich Nachhall finden. Wohl ebenso wichtig ist die besondere
Frage der durch wirtschaftliche Vorgänge erheblich umgestalteten
Lage des jugendlichen Alters beider Geschlechter und der
außerordentlich komplizierten Rückwirkung auf deren Gesundheit.
In den Klassen der Arbeiter werden die Jünglinge jetzt in einem
Lebensalter wirtschaftlich unabhängig, in dem sie sonst als Hilfs¬
arbeiter der Eltern von diesen erhalten wurden und in deren
Heim unselbständig verweilten. Der Einfluß dieses Vorganges auf
körperliche und moralische Gesundheit bedarf der sorgfältigsten
Beachtung. Umgekehrt bleiben die Söhne der besitzenden Stände
durch den Zudrang zu Berufsarten mit längerer Vorbildungszeit viel
häufiger wirtschaftlich abhängig als früher. Ist aber hier das Ziel
erreicht, so haben Ehrgeiz, geselliger Zwang, das Bedürfnis, die in
stetem Kampf ums Weiterkommen stark mitgenommenen Nerven
durch Kontrastwirkung zu entspannen, vielfach zu einer Lebens¬
weise geführt, welche von der Einfachheit und Körperschonung
früherer Zeiten erheblich ab weicht. Und diese Kehrseite einer
höheren sozialen Stellung läßt sich in ihrer Rückwirkung auf die
Sterblichkeit schon jetzt deutlich erkennen. Im Gegensatz zur
allgemeinen Abnahme der Sterblichkeit steht die Zunahme der
b Daß auch diese Frage schon vor 200 Jahren die Ärzte Yiel beschäftigte,
beweist meine Notiz in Ztschr. f. Soz. Med.. I. 267.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben lind Ziele.
111
Todesziffern in den besser situierten Gesellschaftskreisen an Stoff¬
wechselkrankheiten und Krankheiten des Gefäßsystems, 1) deren
Ursachen Go lim er direkt in der Überernährung, dem gesteigerten
Konsum von Genußmitteln, der beruflichen geistigen Überanstrengung
und der Zunahme des Gesellschaftslebens findet.
Wenn einst die Hygiene des Geistes, deren Wichtigkeit
Ru b n er betont, mehr bearbeitet wird, so wird auch die gesund¬
heitsschädliche Wirkung der grellen, auf Auge und Ohr wirken¬
den täglichen Reize der Großstadt, wie des steten Gehetztseins
ohne genügend große Ruhepausen einer größeren Beachtung wert
gefunden werden. Sie verkürzen unser Leben statistisch nach¬
weisbar vielleicht nicht um eine Stunde; wie sehr aber sie unsere
Nerven abnutzen, fühlen wir Großstädter am deutlichsten bei
unserer jährlichen Sommerflucht. Ebenso wichtig sind die Ein¬
wirkungen der Monotonie maschineller Arbeit auf die Seele. Diese
häufige Quelle schwerer Neurasthenie, die, gewiß unter Mitwirkung
anderer Momente, zu schweren nervösen Herzaffektionen, gelegent¬
lich zu verfrühter Invalidität, aber auch einmal zu psychischen
Störungen führen kann, ist wenigstens in der gewerbehygienischen
Literatur bisher nicht genügend gewürdigt worden. Das Gegen¬
stück bilden die Neurasthenien und der völlig geistige, körperliche
oder moralische Zusammenbruch solcher Geistesarbeiter, welche der
Ehrgeiz des Tages trieb, Zielen nachzugehen, denen ihre körper¬
lichen, geistigen, moralischen oder materiellen Kräfte auf die Dauer
nicht gewachsen waren. Diese Erscheinung selbst ist nicht neu,
wohl aber ihre Häufung und deren ursächlicher Zusammenhang mit
wirtschaftlichen Vorgängen.
Die Anforderungen an nationalökonomisches Wissen und Ver¬
stehen sind daher nicht gering, und fast könnte es zu weitgehend
erscheinen, daß als Rüstzeug der Sozialen Hygiene außer ihnen
auch noch die Beschäftigung mit einem anderen Gebiete der Geistes¬
wissenschaften verlangt wird, nämlich mit der Gesetzeskunde.
Und doch hat in den letzten Jahrzehnten die legislatorische Tätig¬
keit auf dem Gebiete der Gesundheitspflege durch Gesetze und
Verordnungen einen Umfang angenommen, der schon dem Arzte,
mehr noch dem Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege, aber
auch speziell dem Sozialhygieniker die Pflicht auferlegt, wenigstens
sich mit der Tatsache des Vorhandenseins dieser gesetzlichen Be-
l) Gollmer, Die Todesursachen bei den Versicherten der Gothaer Lebens¬
versicherungsbank, Berlin, Mittler, 1906.
112
Adolf Gottstein,
Stimmungen und der Gebiete, auf die sie sich erstrecken, vertraut
zu machen. Diese Aufgabe wird dem Arzte durch das Bestehen
eigener Sammlungen und viel verbreiteter Kommentare erleichtert.
Auch besondere Fachblätter, wie z. B. die „Soziale Praxis“ dienen
diesem Zwecke; besonders sei auch auf die Abschnitte „Chronik
der Sozialen Hygiene“ und „Gesetzestafel“ im Jahresbericht der
Sozialen Hygiene von Grotj ahn und Kriegei hingewiesen. Vor
allem seien als Quelle die Veröffentlichungen des deutschen Reichs¬
gesundheitsamtes hervorgehoben.
Von diesen Gesetzen interessiert der eine Teil nur den ärzt¬
lichen Praktiker in der Ausübung seiner Berufspflichten und sei
deshalb hier nicht erwähnt. Einen anderen Teil von hohem sozial -
hygienischen Interesse bilden die Gesetze der Arbeiterversickerung
gegen Krankheiten, Unfälle, Invalidität und die Altersversicherung,
sowie die Pläne ihres weiteren Ausbaues zur Versicherung gegen
Arbeitslosigkeit und ihrer Ausdehnung auf die Versicherung der
Hinterbliebenen. Diese Arbeiterversicherungsgesetze beeinflussen
in so großem Umfang die Aufgaben des Arztes, daß die Be¬
schäftigung mit ihnen zur Bildung einer eigenen Sonderwissen¬
schaft, der Sozialen Medizin im engeren Sinne, Anlaß gegeben
hat. Immerhin greifen sie, auch wenn sie sich zunächst nur mit
den krankheitlichen Vorgängen befassen, durch zwei Umstände
auch in das Gebiet der Sozialen Hygiene über, erstens weil zu
deren Aufgaben das Studium ihrer Rückwirkung auf die Gesund¬
heit der beteiligten Bevölkerungskreise gehört und zweitens weil
seit etwas mehr als einem Jahrzehnt die durch das Gesetz ge¬
schaffenen Verwaltungskörper auch die Vorbeugung krankhafter
Vorgänge als zu ihren Aufgaben gehörig ansehen und die ihnen
zur Verfügung stehenden großen Geldmittel für diese Aufgaben
bereit stellen.
Eine weitere große Gruppe gesetzlicher Bestimmungen und
Verordnungen interessiert in erster Linie den beamteten Arzt als
staatlichen Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege. Hierher
gehören zunächst die gesetzlichen Bestimmungen über die amtliche
Beaufsichtigung der gewerblichen Anlagen, der Bauten, Kranken¬
anstalten, Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen, die
Überwachung des Verkehrs mit Nahrungsmitteln und die Kontrolle
ihrer Verfälschungen, Verordnungen, die durch die bevorstehende
staatliche Wohnungsgesetzgebung noch eine erhebliche Erweiterung
erfahren werden. Es gehören hierzu ferner die gesetzlichen Be¬
stimmungen über die Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten,
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
113
die Seuchen gesetze für das Inland und die gesetzlichen Bestimmungen
über die Bekämpfung eingeschleppter Seuchen in der Form inter¬
nationaler Konventionen, welche das Meldewesen sowie den Grenz¬
verkehr von Personen und leblosen Dingen regeln.
Neben allen diesen Gesetzen interessieren aber noch besonders
die Soziale Hygiene die deutschen und internationalen Bestim¬
mungen, Gesetze und Verordnungen, welche die Gesundheit der
Arbeiter im Betrieb schützen wollen. Hierher rechnen die Be¬
stimmungen der Gewerbeordnung über die Konzessionspflicht be¬
stimmter Betriebe, über die Schutzvorrichtungen und deren Beauf¬
sichtigung durch Gewerbeinspektoren, die Regelung der Arbeits¬
zeit und Sonntagsruhe, die Bestimmungen über gewerbliche Nacht¬
arbeit der Frauen und Beschäftigung und Arbeitszeit der jugend¬
lichen Arbeiter und Kinder. Gerade diese letzten Fragen inter¬
national zu regeln, ist die besondere Aufgabe des Internationalen
Arbeitsamtes in Basel, welches als Organ der „Internationalen
Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz“ unter Leitung von
Stephan Bauer und unter offizieller Beteiligung der zivilisierten
Staaten Konferenzen abhält, Erhebungen anstellt und veröffentlicht
und gesetzliche Maßnahmen vorbereitet. Einen großen Erfolg hat
dieses Arbeitsamt im letzten Jahre auf dem Gebiete der gesund¬
heitsgefährlichen Industrien durch das Übereinkommen einer Reihe
von Staaten über das gesetzliche Verbot des weißen Phosphors in
der Zündholzindustrie erzielt.
Die Beschäftigung mit diesem umfangreichen Material aus dem
Gebiete der Gesetzgebung führt den Arzt gelegentlich dahin, in
der Praxis Lücken, Mängel und Unstimmigkeiten zwischen der Ab¬
sicht des Gesetzgebers und der erzielten Wirkung festzustellen.
Die Versuchung liegt nahe, durch Besserungsvorschläge selbst als
Gesetzgeber auftreten zu wollen. Es muß aber vor dieser tatsäch¬
lichen Überschreitung der Grenzen unserer Aufgaben dringend ge¬
warnt werden. Der Arzt kann es z. B, als eine bedauerliche
Lücke feststellen, daß zwar der eine Arbeiter durch die Unfall¬
gesetzgebung entschädigt wird, welcher der plötzlichen Einwirkung
schädlicher Stoffe ausgesetzt war, nicht aber sein Nachbar, welcher
durch monatelange Einatmung kleiner Mengen desselben schädlichen
Giftes mindestens ebenso stark in seiner Gesundheit geschädigt
wurde. Der Arzt dient aber dem Interesse seines Kranken besser,
wenn er im Einzelfalle den Zusammenhang zwischen Berufsgefahr
und Gesundheitsschädigung jedesmal genau studiert, als wenn er
allgemein durch Verwischung der Unterschiede zwischen Berufs¬
zeitschrift für Soziale Medizin. IT. ^
114
Adolf Gottstein,
krankheiten und Unfällen dem Wortlaut der gesetzlichen Bestim¬
mungen dialektisch Gewalt antun will. Innerhalb der Grenzen
seines Wirkungskreises bleibt ihm noch genügender Kaum zu gut
begründeten Vorschlägen für den Gesetzgeber, wie gerade die
Arbeiten von Ärzten wie L e n n h o f f , 1 ) M u g d a n 2) und Grot-
jahn8) auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung beweisen.
Neben den staatlichen gesetzlichen Einrichtungen zum Schutze
des Arbeiters und seiner Familie gegen Berufsschädigung und
gesundheitliche Mißstände sind in den letzten 20 Jahren durch frei¬
willige Tätigkeit von Gemeinden, Beteiligten und Menschenfreunden
eine große Zahl ganz eigenartiger Wohlfahrtseinrichtungen ent¬
standen. Auf diesem Felde wetteifern die einzelnen Nationen,
unter denen Deutschland vielfach eine führende Stellung einnimmt.
Die Zahl dieser Einrichtungen ist schon heute eine außerordent¬
lich große; ihre Formen sind, da sie meist ohne Vorbild aus freier
Anregung entstanden, außerordentlich mannigfaltig. 4) Es sind auf
diese Einrichtungen große Summen, welche private und öffentliche
Wohltätigkeit, wie Gemeinden aufbringen, verwendet worden und
viele Kräfte dienen ihrer Verwaltung und Leitung. Es ist eine
unerläßliche Aufgabe der Sozialen Hygiene, alle diese Einrichtungen
zu registrieren und auf ihren Wert für die Volksgesundheit ständig
zu prüfen. Ich habe (1. c.) den Vorschlag gemacht, daß der neu¬
gegründeten Zentrale des deutschen Städtetags der Auftrag erteilt
werde, als Sammelstelle allen Materials über diese Einrichtungen
zu dienen und vermöge des so gewonnenen Überblicks zugleich als
Beratungsstätte, um etwa drohenden Zersplitterungen und Ver¬
geudungen an Geld und Kraft vorzubeugen. Es scheint aber, daß
der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrt“ nach ihrer Umwandlung
in eine „Zentralstelle für Volks Wohlfahrt“ diese Aufgabe zu¬
fallen wird.
V.
Epidemiologie.
Die bisherige Darstellung bezweckte den Nachweis, daß die
Soziale Hygiene einige Methoden besonders heranzuziehen hat,
b Med. Reform. 1906, Nr. 5.
-) Bert. klin. Woch., 1905, Nr. 89 und Ztschr. f. Sozialwiss., IX, 3/4.
s) Ztschr. f. Soz. Med., I, S. 15.
*) Ich habe versucht, sie in einem Aufsatze im Arch. f. Städtekunde, März
1906, einigermaßen vollständig aufzuzählen.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
115
welche den anderen Zweigen dieser Wissenschaft, der physio¬
logischen wie der mikroparasitären Hygiene, ferner liegen. Bei
dieser Gelegenheit ist schon in der Form von Beispielen einer An¬
zahl von Einzelproblemen gedacht worden, welche die Selbständig¬
keit dieses Sonderzweiges auch durch den Nachweis besonderer
Aufgaben erweisen. Im übrigen aber muß die Soziale
Hygiene einige längst erschlossene große Sonderzweige der Hygiene,
die in der Folge besprochen werden sollen, geradezu als aus¬
schließliche Aufgaben ihres eigenen Arbeitsgebiets
für sich beanspruchen. Zu diesen großen Sonderabschnitten aus
dem Gesamtgebiete der Hygiene gehört in erster Linie die „Epi¬
demiologie“. Denn das Auftreten von Seuchen ist in doppelter
Beziehung mit wirtschaftlichen Vorgängen eng verbunden.
Es heißt einer geschichtlichen Wahrheit Gewalt antun, wenn
man bestreiten will, daß große Umwälzungen im Völkerleben,
Kriege, Hungersnöte, wirtschaftliche und kulturelle Mißstände,
durch Schädigung der Volksgesundheit schneller oder langsamer
in der Form von Seuchen nachhallen; das Wort von Virchow
gilt noch heute, unangefochten von den Errungenschaften der
Bakteriologie: „Epidemien gleichen großen Warnungstafeln, an
denen der Staatsmann von großem Stil lesen kann, daß in dem
Entwicklungsgänge seines Volkes eine Störung eingetreten ist!“
Die Aufgabe des Epidemiologen kann es höchstens sein, festzu¬
stellen, über wie viele Zwischenglieder sich dieser ursächliche Zu¬
sammenhang erstreckt. Zweitens aber fordern die Seuchen¬
ausbrüche nicht nur Opfer an Menschenleben, sondern außerdem
noch Opfer an wirtschaftlichen Gütern, sie haben politische, kul¬
turelle und seelische Nachwirkungen, auf die hier nicht einge¬
gangen werden kann, die aber oft auf sehr verschlungenen Wegen
recht wichtig und nachhaltig waren. Gerade auch als Warnungs¬
tafeln haben die Seuchenausbrüche oft schon große Fortschritte
beschleunigt. Mit dem Nachweis der mikroparasitären Ursachen
und der Mittel zu deren Vernichtung ist also das Seuchenproblem
noch lange nicht erschöpft.
Noch mehr aber als wegen dieser Zusammenhänge ist die
Soziale Hygiene aus einem weiteren Grunde verpflichtet, die
Seuchenlehre ganz für sich in Anspruch zu nehmen. Dieser schöne,
über eine große, stolze Geschichte verfügende Zweig ärztlicher
Wissenschaft ist unter der ein Vierteljahrhundert währenden Vor¬
herrschaft der Bakteriologie auf das bedauerlichste vernachlässigt
worden und in Verfall geraten; ja es fehlte gelegentlich nicht an
116
Adolf Gottstein.
Stimmen, welche die bewährten Methoden der Epidemiologie als
überholt und wertlos geworden , seitdem uns die Bakteriologie
präzisere Untersuchungsmethoden an die Hand gegeben, zum alten
Gerümpel werfen wollten. Ein Einblick in die kleinen und großen
Handbücher der Gesamthygiene beweist, wie geringschätzig auch
als Gegenstand des Unterrichtes dieser Sonderzweig behandelt wird.
Das scheint allerdings neuerdings anders werden zu sollen, denn
selbst von bakteriologischer Seite werden zuweilen Bekenntnisse
vernehmlich, daß außer den Bakterien noch andere ursächliche
Momente des Studiums wert seien.1)
Mehr als zwei Jahrzehnte herrschte das Dogma, daß mit der
experimentellen Erforschung spezifischer Krankheitserreger sämtliche
Probleme der Seuchenentstehung zu lösen, daß mit der Vernich¬
tung der Kontagien durch Aufstöberung in ihren belebten und
unbelebten Schlupfwinkeln sämtliche Quellen der Seuchenentstehung
und Seuchenverbreitung zu verstopfen seien. Vergeblich verhallten
lange Zeit alle Versuche, an der Hand nüchterner Tatsachen das
Unzulässige dieser Verallgemeinerung von Schlußfolgerungen aus
den Tierversuchen zu beweisen. Es kann hier auf die Gründe und
Gegengründe des lange geführten Streites nicht eingegangen werden ;
es ist dies um so weniger erforderlich, als wir in der „Pathogenese
innerer Krankheiten“ des Rostocker Klinikers F. Martius2) eine
ganz vorzügliche historischkritische Darstellung des Gegenstandes
besitzen. Die kontagionistische Lehre von der ausschließlichen
Bedeutung der Bakterieninvasion als alleiniger Ursache der Seuchen¬
entstehung mußte schließlich doch an den Erfahrungstatsachen
scheitern, daß Seuchen ausblieben, trotzdem die bakteriellen Be¬
dingungen ihrer Entstehung sämtlich Vorlagen, daß herrschende
Seuchen verschwanden, ohne daß deren belebte Kontagien ver¬
nichtet waren, daß, wie Jürgens, ein aus der Ko elfischen Schule
her vorgegangener F orscher, sich ausdrückt, 3) „sie i h reu G a n g
gehen, unbeeinflußt durch unsere nach bakterio¬
logischen Gesi ch tsp unkten aus geführten Maßnahmen,
daß also eine Seuchenbekämpfung durch Versuche, die Bakterien
zu vernichten, nicht möglich ist.“
Bei der Entstehung einer Infektionskrankheit, sei es. daß sie
vereinzelt oder daß sie in Massen auftritt, spielt stets das Zu-
x) P,e lila, Med. Klin., 1906, Nr. 26.
2) Heft 1, Leipzig- und Wien, Deuticke. 1899.
3) Festschrift f. Lenthold I. Hirschwald. 1906.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
117
sammenwirken zweier Faktoren eine Rolle, die Invasion des
spezifischen Kontagiums und eine durch sehr verschiedenartige
innere und äußere Ursachen zu einer gewissen Höhe angestiegene
Hinfälligkeit des betreffenden Individuums gegenüber diesem Kon-
tagium.
Nun ist allerdings in vielen Fällen nicht bloß in dem Para¬
digma des experimentellen Tierversuchs sondern auch in der Patho¬
genese des Menschen, die Hinfälligkeit einer größeren Zahl von
Menschen gegenüber dem Kontagium eine so große oder so kon¬
stante, daß sie bei dem Studium der Seuchenentstehung ohne
weiteres übersehen werden darf. Das berechtigt aber nicht zu
einer ganz allgemeinen Vernachlässigung des Faktors der quanti¬
tativ in weiten Grenzen schwankenden individuellen Resistenz, wie
dies die bakteriologische Schule bei der Übertragung ihrer Tier¬
versuche auf die Seuchenlehre getan hat, genau nach dem Muster
des Schülers, der als Viereck nur das Quadrat gelten läßt. Es
gelüstet keinen Einsichtigen nach dem herostratischen Ruhm, die
große Bedeutung der Bakteriologie für die verschiedensten Zweige
der Naturwissenschaft, insbesondere auch für die Seuchenlehre, und
die Verdienste ihrer Schöpfer verkleinern zu wollen; aber für die
Seuchenlehre ist die Bakteriologie nur eine Methode, wenn auch
eine der wichtigsten und direktesten. Und selbst in denjenigen
seltenen Sonderfällen, in welchen die Entstehung und Verhütung
der Seuchen sich lediglich aus den Eigenschaften der spezifischen
Parasiten ganz oder fast ganz ableiten läßt, bleibt noch die Kon¬
trolle durch andere Methoden, die Probe auf die Richtigkeit des
Schlusses unerläßlich. Und darum ist die Verwahrlosung der Epi¬
demiologie während zweier Dezennien ein beklagenswerter Vor¬
gang, darum ist ihre Wiederbelebung eine wissenschaftliche und
praktische Notwendigkeit.
Der Begriff der Epidemie ist ein quantitativer, er be¬
deutet das Ansteigen der Zahl der Erkrankungen über das Durch¬
schnittsmaß in der Zeiteinheit. Erst die weitere Untersuchung
lehrt, daß meist, aber durchaus nicht immer, auch die Qualität
der beobachteten Erkrankungen eine klinisch einheitliche ist; an
diesem Punkte setzte dann die bakteriologische Analyse ein, indem
sie in glänzender Methodik die Mittel lieferte zur Bestätigung der
seit lange empirisch aufgestellten Theorie von der Spezifität der
Krankheitsursachen und der Identität der klinischen und der ätio¬
logischen Einheit. Trotzdem aber decken sich die Begriffe „mikro-
parasitäre Krankheit“ und „Epidemie“ nicht ohne weiteres, ebenso-
118
Adolf Gottstein.
wenig wie die Begriffe epidemisch, infektiös und kontagiös. Pis
gibt Seuchen, die nicht durch belebte Kontagien ausgelöst werden,
wie die Vergiftungen durch die Produkte mikroparasitärer und
höherer Pflanzen (z. B. Ergotismus), ja sogar durch anorganische
Stoffe (Epidemien von Quecksilbervergiftung). Und es gibt bak¬
terielle Krankheiten, die niemals zu Epidemien anschwellen, wie
z. B. der Tetanus. Selbst bei denjenigen Seuchen aber, bei denen
die genannte Trias unanfechtbar feststeht, bleibt außer der bak¬
teriellen Durchforschung zur Aufklärung der Entstehung, des Ver¬
laufs und des Verschwindens noch viel des Wissenswerten zu ver¬
zeichnen übrig.
Die Epidemiologie, die allgemeine wie die spezielle, hat alle
Tatsachen zusammenzustellen, welche sich aus Massenbeobachtung
und Einzelforschung ergeben. Ihre erste Aufgabe ist das Studium
der Geschichte der einzelnen Seuchen; doch soll auch hier das
Durchforschen der alten Dokumente wie bei der Bakteriologie
nicht Selbstzweck, sondern Methode bleiben. Aus einem sehr lehr¬
reichen Grunde sind dem geschichtlichen Studium enge Grenzen
gezogen. Die systemisierende Auffassung der Krankheiten änderte
sich nicht nur aus theoretischen Schulmeinungen, sondern oft genug
aus außerordentlich praktischen Anlässen, deren Ursachen nur die
gleichzeitige Vertiefung in die Gesamtgeschichte des einzelnen Zeit¬
abschnitts verstehen läßt, ganz erheblich. Politische Not und wirt¬
schaftliche wie wissenschaftliche Ohnmacht lehrten in Zeiten der
Seuchengefahr mehr die Todesgefahr als die Zeichen, unter denen
der Tod Eingang fand, zu bewerten. Es ist daher nicht ein Be¬
weis mangelhafter Beobachtungskunst, wenn die Trennung von
Scharlach und Masern erst ins 17. Jahrhundert, die von Fleck¬
typhus und Abdominaltj^phus in den Anfang des 19. Jahrhunderts
fällt; man legte eben mehr Wert auf die Prognose als auf die
Symptome. Es liegt also oft keine Veränderung des Krankheits¬
charakters, sondern nur eine Veränderung des nosologischen Stand¬
punktes vor. Es bleibt darum vergeblicher Aufwand von Scharf¬
sinn und müßig, wenn man jetzt bestimmen will, welcher heute
noch vorhandenen bekannten oder ausgestorbenen Krankheit die
Thycydideische Pest entspricht, ob der Aussatz der Bibel sich mit
der heutigen Lepra deckt. Die Werke auch des Altertums und
Mittelalters bieten uns genügende zahlreiche solidere Studien¬
objekte, selbst bei der Entnahme aus der zweiten Hand durch
Haeser und Hecker, wie die Schilderung der Lungentuber¬
kulose durch Hippokrates, die des schwarzen Todes und der
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
119
Lungenpest durch G u y de C h a u 1 i a c , der Syphilis durch F r a -
castor und Petronius, der schon 1535 eine Theorie der er¬
worbenen Immunität aufstellte. Und die Einsichten in die zahlreichen
Seuchenchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts geben reiche, oft
auch zahlenmäßige Ausbeute für Vergleiche mit den gegenwärtigen
Zuständen und für Schlußfolgerungen auf den Verlauf der Seuchen¬
züge durch die Jahrhunderte. Hätte man die Geschichte der
Seuchen in der Gegenwart eifriger gepflegt, so wäre die Unsicher¬
heit gegenüber den Einbrüchen der Influenza, der Cerebrospinal¬
meningitis, die Unkenntnis des periodischen Auftretens der Diph¬
therie, die sich in unseren Tagen jäh verriet, nicht möglich
gewesen.
Eine zweite Aufgabe der Epidemiologie ist das Studium der
geographischen Verteilung der einzelnen Seuchen auf Länder
und Kassen und die Verzeichnung der Wanderzüge der einzelnen
spezifischen Formen. Es ist für uns beschämend, daß die histo¬
risch geographische Pathologie von August Hirsch seit einem
Vierteljahrhundert keine neue Auflage erfahren hat, und es ist um
so dringender, diese Lücke auszufüllen, als durch die Kolonisations¬
bestrebungen der europäischen Reiche, durch die Erweiterung
unseres Wissens mittels bakteriologischer Methoden und durch das
Aufblühen der Tropenhygiene die Summe unserer Kenntnisse eine
ganz erhebliche Bereicherung erfahren hat. Zur Vervollständigung
muß übrigens auch der Gang der Epizootien herangezogen
werden.
Eine d ritt e Aufgabe ist die rein beschreibende Registrierung
der individuellen Eigenschaften einer jeden einzelnen Seuchenform
auf der Grundlage der Massenbeobachtung. Hierzu gehören die
Angaben über das Verhalten der Seuchen zur Jahreszeit, zu Lebens¬
altern und Geschlechtern, die Verteilung auf die einzelnen sozialen
Schichten der Bevölkerung, die Feststellung des Vorhandenseins
oder Fehlens von Beziehungen zur unbelebten Umgebung, die
Immunität oder gesteigerte Disposition der Örtlichkeit. Zu diesem
Abschnitt gehört ferner die Feststellung der Form der Seuchen¬
kurve, nämlich die graphische Darstellung des Zeitraumes, inner¬
halb dessen die verschiedenen Seuchen ausbrechen, an steigen und
wieder abklingen, der Gesetzlichkeit oder Gesetzlosigkeit ihrer
Wiederkehr. Es gehört schließlich hierzu die zahlenmäßige Fest¬
stellung des Verhältnisses der Erkrankungen zur Gesamtbevölkerung
und zu der Zahl der der Erkrankung ausgesetzten Bevölkerungs¬
schichten (Kontagionsindex).
120
Adolf Gottstein,
Ein anderes Gebiet der Seuchenkunde berührt sehr eng die
Aufgaben der Klinik, nämlich die Feststellung des Zeitraumes der
Inkubation, der Krankheitsdauer, der Lebensgefahr nach Alter und
Geschlecht, des schließliehen Ausganges, der Zusammengehörigkeit
der einzelnen Seuchenformen nach klinisch-ätiologischen Gesichts¬
punkten, zuletzt noch die Feststellung des Verhaltens der Genesenen
gegenüber der Gefahr einer erneuten Infektion.
Eine der wichtigsten Seiten des Seuchenproblems ist die der
Ätiologie der einzelnen Formen. Unter strengster Wahrung
des zuerst von Hu epp e und Ottomar Rosen back begründeten
und später von mir in meiner „Allgemeinen Epidemiologie“ J) und
von Marti us in seiner „Pathogenese“ vertretenen Standpunktes,
daß die spezifischen Erreger Krankheitserscheinungen nur auf dem
Boden einer vorher vorhandenen Anlage auszulösen vermögen, muß
doch die grundlegende Förderung dieser Seite des Seuchenproblems
durch die Entdeckungen der Bakteriologie nachdrücklichst betont
werden. Lediglich mit Hilfe der bakteriologischen Methoden ist
es jetzt möglich, die Beziehungen der uns größtenteils bekannt
gewordenen mikroparasitären Krankheitserreger zur Außenwelt,
die Art ihrer Übertragung vom Erkrankten zum Gesunden direkt
oder durch belebte und unbelebte Zwischenträger, die Ausscheidungs¬
wege aus dem Körper der Erkrankten, die Bedeutung der Bolle
der gesund gebliebenen „Bakterienträger“ näher zu erforschen.
In glücklichster Weise ergänzen und kontrollieren sich hier gegen¬
seitig die Methoden der indirekten Massenbeobachtung und der
direkten bakteriologischen Durchforschung des Einzelfalles.
Schließlich ist es noch die Aufgabe der Epidemiologie, für
jede individuelle Seuche die Maßnahmen der Bekämpfung zu ver¬
zeichnen, kritisch an der Hand der Wirklichkeit zu betrachten
und die Beobachtung mit den experimentell begründeten Vor¬
schlägen ins Gleichgewicht zu bringen. Daß sie hier ihre Aufgabe
mit den Ratschlägen zur Vernichtung des belebten Kontagiums
nicht für abgeschlossen ansieht, sondern über diese hinaus auch
die Berücksichtigung der mittelbaren inneren und äußeren Ur¬
sachen und die Behandlung der Folgen einer Epidemie zu ihren
Aufgaben rechnen muß, das bedarf in der heutigen Zeit der nach¬
drücklichsten Hervorhebung.
Mit dieser Aufzählung sind zur Not die Aufgaben erschöpft,
welche der Epidemiologie als Gegenstand des Unterrichts zu-
J) Leipzig, Wigand, 1897.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
121
fallen, ganz und gar aber nicht die Aufgaben der Forschung.
Hier können die Berührungspunkte zwischen Seuchenlehre und
anderen Forschungsgebieten nicht weit genug gezogen werden.
Von größtem Interesse ist die Verfolgung der Beziehungen zwischen
Seuchenausbrüchen und Rassenbildung, die Frage der Auslese
durch epidemische Krankheiten und der Anpassung der einzelnen
Rassen an endemische symbiotische Kontagien. Es scheint ein
durchgehendes, von Ausnahmen natürlich nicht freies Gesetz zu
sein, daß gegen dauernd vorhandene endemische Kontagien eine
relative Immunität der Autochthonen besteht, welche den Ein¬
wanderern abgeht. Für diese Erscheinung hat E. Ziegler1) auf
Grund der Weismann’ sehen Theorien die Hypothese aufgestellt,
daß, da erworbene Eigenschaften nicht vererbbar sind, wohl aber
erblich überkommene, diese Anpassung durch allmähliche Ausmerzung
der hinfälligen Individuen im Verlauf langer Zeiträume zustande
gekommen ist. Dieser Theorie hat R. Koch eine andere gegen¬
übergestellt. Nach Koch kommt die Rassenimmunität der Auto¬
chthonen gegenüber den endemischen Kontagien ihrer Heimat da¬
durch zustande, daß sie als Kinder die Krankheit erwerben und
nun als Erwachsene infolge erworbener individueller Immunität
nicht zum zweiten Male befallen werden. Die Unrichtigkeit dieser
Theorie haben für Malaria A. Plehn,2) für Abdominaltyphus
Jürgens3) dargetan. TrotzderiT hat sie Koch4) jüngst für die
afrikanische Rekurrens von*- neuem aufgenommen und durch diese
Behauptung die Möglichkeit, ihre Unrichtigkeit allgemein zu erweisen,
erleichtert. Denn die Koch’ sehe Theorie setzt eben die Tatsache
voraus, daß das Überstehen einer Krankheit in der Kindheit oder
später überhaupt gegen die spätere Wiedererkrankung schützt.
Diese Tatsache ist aber schon bei Malaria und Abdominaltyphus
recht zweifelhaft.5) Bei Rekurrens vollends macht Koch die
durchaus nicht zutreffende Angabe, diese erworbene Immunität sei
„etwas fest Gegebenes“ und es entspräche den Erfahrungen aus
den früheren Rekurrensepidemien, „daß die Kranken, die den Re¬
kurrens überstanden haben, gegen eine nochmalige Erkrankung
0 Können erworbene Eigenschaften vererbt werden? etc. (Jena, Eischer, 1886).
2) Die Malaria der afrikanischen Bevölkerung, besonders in bezug auf die
Immunitätsfrage. Jena, Fischer, 1902 und D. med. Woch.. 1901.
3) Festschrift f. Leuthold 1. c.
4) Berl. klin. Woch., 1906, Nr. 7.
5) A. Gottstein, Die erworbene Immunität bei den Infektionskrankheiten
des Menschen. Berliner Klinik 1897, H. 111.
122
Adolf Gottstein.
geschützt waren“. In Wirklichkeit ist das Gegenteil richtig;
hier haben alle Autoren, welche die Krankheit beobachteten, das
Fehlen einer erworbenen Immunität festgestellt. Das berichten
nicht nur Griesinger1) in seiner klassischen Arbeit über das
Rückfallsfieber und ältere englische Forscher; sondern auch Autoren,
welche nach der Entdeckung der Spirochaeten Gelegenheit zu Be¬
obachtungen hatten, betonen ausdrücklich dieses Fehlen der Im¬
munität, wieSeitz,2) Weichselbaum,3) B. Spitz4) und M.
Litten.5) Die ganze Frage ist deshalb so wichtig, weil die
Ziegler’ sehe Theorie das Verständnis des Mechanismus ermög¬
licht, durch welchen im Laufe langer Zeiträume die Gattung Mensch
die Gefahr der ihr symbiotischen belebten Parasiten überwindet und
sie allmählich aus Kontagien in Wohnparasiten verwandelt, wie
solche für uns schon jetzt die Eiterbakterien und Kolibazillen sind
und wie auch die Malariaplasmodien nach x4. Plelin bei den Negern
vielfach keine andere Bedeutung haben.
Das Studium der Beziehungen der Seuchenkunde zur Literatur,
Kunstgeschichte, Politik und Psychologie mag Liebhabern von
Sonderstudien Vorbehalten bleiben; von allgemeiner Wichtigkeit
sind aber noch die Berührungspunkte der Epidemiologie mit der
Kulturgeschichte. Bringt doch z. B. Haeser,6) um nur ein Beispiel
anzuführen, die erfolgreiche Abschaffung des geistlichen Cölibats
mit der Syphilispandemie zu Ende des 15. Jahrhunderts und der
durch ihre Verheerungen hervorgerufenen Erstarkung der sexuellen
Moral in Verbindung.
VI.
Gewerbehygiene.
Die Gewerbehygiene gehört zum Arbeitsgebiete der So¬
zialen Hygiene, denn sie behandelt die Gesundheit von Bevölke¬
rungsgruppen, insoweit sie durch deren berufliche Beschäftigung
beeinflußt wird. Bisher ist die Gewerbehygiene stets als ein
wichtiger Abschnitt der Gesamthygiene betrachtet und ihrer Be¬
deutung entsprechend auch sorgfältig behandelt worden. In großen
b Virchow's Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie, II. 2, 1864.
2) Handbuch von Niemeyer-Seitz, 1877, Bd. II, S. 685.
3) Epidemiologie. Jena, Fischer, 1899.
4) Die Rekurrensepidemie in Breslau. Schottländer, 1879.
5) D. Arch. f. klin. Med., Bd. 12.
6) Haeser, Bd. III. S. 315.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
123
Lehrbüchern. Avie dem von Rubner, finden alle ihre Probleme
eingehende Besprechung; die Hauptbetriebe werden dem Verständ¬
nis des Arztes durch ausführliche Darstellung und zahlreiche Ab¬
bildungen näher gerückt. In den kleinen Lehrbüchern ist für
diesen Abschnitt freilich nicht stets genügender Raum; immerhin
ist z. B. in dem Leitfaden von Gärtner die Darstellung noch
zureichend. Überdies wird die Gewerbehygiene in zahlreichen
Monographien, deren Titel sich bei Rubner und in dem „Ge-
Averbearz t“ von Sommerfeld1) angegeben finden, abgehandelt.
Unter diesen Werken sei besonders das kleine „Kompendium der
GeAverbekrankheiten“ von E. Roth2 3) hervorgehoben. Auch seitens
der Unterrichtsverwaltung wird der Gewerbehygiene eine große
Wichtigkeit beigemessen; denn es ist an einigen Universitäten
neuerdings jüngeren Dozenten der Hygiene ein besonderer Lehrauf¬
trag für dieses Gebiet erteilt worden und auch an den technischen
Hochschulen werden eigene Vorlesungen gehalten. Die Gewerbe¬
hygiene ist somit bisher das einzige Spezialgebiet, das offiziell von
der Gesamthygiene abgetrennt worden ist; damit ist aber im
, Prinzip die Teilbarkeit der Hygiene zugestanden. Die Gewerbe¬
hygiene verfügt über eine Geschichte Aron mehr als zweihundert
Jahren und schon in verhältnismäßig früher Zeit sah sich die Ge¬
setzgebung veranlaßt, Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit
der Arbeiter im Betriebe zu erlassen, nachdem die Beobachtung
die Gefährlichkeit einiger häufig vorkommender Gifte und Betriebs¬
weisen nachgewiesen hatte. Eine ausführliche Darstellung ihrer
Geschichte und der legislatorischen Tätigkeit gibt H. E ulen b erg
in der Einleitung zu seinem großen Handbuch der Gewerbe¬
hygiene. 8) In den drei Jahrzehnten seit dem Erscheinen dieses
Werkes aber ist jener industrielle Aufschwung eingetreten, welcher
zu dem Schlagwort von der Umwandlung des Agrarstaates in den
Industriestaat geführt hat; zahlreiche technische Entdeckungen
haben ganz neue Betriebsweisen erstehen lassen, welche die ge¬
sundheitlichen Gefahren vervielfältigt haben. Seitdem sind weiter
die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetze eingeführt worden,
Avelche die finanzielle Haftung des Arbeitgebers von Grund aus
verändert und sein materielles Interesse an der Vorbeugung ge¬
steigert haben. Schließlich ist auch die Aufgabe des Arztes eine
1) Jena, Fischer, 1905.
2) Berlin, Schütz, 1904.
3) Berlin, Hirschwald, 1S76.
124
Adolf Gottstein,
ganz andere geworden. Als Kassenarzt bedarf er viel eingehenderer
Kenntnisse der gesundheitlichen Gefahren, die in der Ätiologie der
von ihm beobachteten Krankheitsfälle von Bedeutung sind; noch
viel mehr ist diese Kenntnis Voraussetzung für die ihm jetzt zu¬
fällende Tätigkeit als Gutachter; überdies eröffnet sich dem Arzt
in nicht zu ferner Zukunft ein neues Feld praktischer Tätigkeit
als „Gewerbearzt“, als Gesundheitstechniker für den industriellen
Großbetrieb. — Die Aufgaben, welche die Gewerbehygiene zu be¬
handeln hat, sind also derart angewachsen, daß dieser Zweig mit
der ihm gebührenden Aufmerksamkeit innerhalb des Rahmens der
Gesamthygiene auf die Dauer kaum mehr wie bisher gepflegt
werden kann, selbst wenn man alles nicht unbedingt Zugehörige
ausscheidet. Man kann dem verdienten Vertreter der Gewerbe¬
hygiene in München, M. Hahn,1) darin beistimmen, daß die Un¬
fallverhütung nicht Sache des Hygienikers sondern des Tech¬
nikers ist, da nur er die Ursache der Unfälle festzustellen ver¬
möge und nur er in der Lage sei, auch die richtige Abhilfe zu
treffen. Man kann auch die Behandlung der Unfälle als
Aufgabe des Chirurgen und nicht als die des Hygienikers erklären
und damit von der eigentlichen Gewerbehygiene ab trennen. Und
auch die Gutachtertätigkeit hat mit der Hj^giene nichts zu tum
Aber selbst dann bleibt immer noch eine eigene große Spezial¬
wissenschaft übrig, die nicht ohne weiteres in den Rahmen der
Gesamthygiene hineinpaßt.
Wenn in der Einleitung die enge Zugehörigkeit der Hygiene
zur Medizin damit begründet wurde, daß der stete Maßstab für
die Schlußfolgerungen der Gesundheitslehre das Eintreten krank¬
hafter Vorgänge ist, so zeigt sich dieser Zusammenhang mit der
Medizin am schärfsten bei der Gewerbehygiene. Es ist daher kein
Zufall, daß an dem Ausbau dieses Zweiges in den letzten Jahren
nicht so sehr Hygieniker beteiligt sind wie die Vertreter der ver¬
schiedensten ärztlichen Spezialitäten. Um nur einige Namen
deutscher Forscher aus den letzten Jahren zu nennen, so verdanken
wir die Mehrung unserer Kenntnisse Hygienikern wie K. Lehmann
und M. Hahn; Pharmakologen wie L. Lew in; Pathologen wie
Chiari; Klinikern wie G. Merkel, Brauer, M. Ster nb erg;
beamteten Ärzten wie Grandhomme und vor allem E. Roth;
Statistikern wie Oldendorff, dessen ältere Arbeiten noch heute
x) Der gewerbehygienische Unterricht an Universitäten und technischen
Hochschulen. Med. Reform, 1906, Nr. 29.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. ] 25
belangreich sind, ferner Prinzing und S. Rosen feld; Volkswirten
wie Francke, H. Alb recht und E. J. Neißer; Pädagogen wie
Agahd; besonders umfangreich aber waren die Forschungen von
Praktikern, die als Fabrik- und Kassenärzte ihre Beiträge lieferten,
wie Th. Sommerfeld, M. Fürst, Brat, Teleky. Auch an
dieser Stelle muß wie auf so vielen Gebieten der Sozialen Hygiene
des zu früh verstorbenen Wolf Becher gedacht werden, dessen
starkes Talent zur Lösung praktischer Fragen auch in Vorschlägen
für die Organisation der Forschung auf dem Gebiete der Gewerbe-
• •
krankheiten sich betätigte. Den Arbeiten der genannten Arzte
gesellen sicli zahlreiche Beiträge aus der spezialärztlichen Kasuistik
hinzu, zu denen z. B. Dermatologen (Chlorakne, Salzflechte, Berufs¬
ekzeme usw.), Ophthalmologen (elektrische Blendungen), Otologen
(Schmiede, Lokomotivführer). Rhinologen (Chrom), Gynäkologen
(Nähmaschinen), Chirurgen (Phosphornekrose), Neurologen (Blei)
und innere Mediziner (Caissonkrankheit) , zahlreichste Beiträge
geliefert haben. Dieser enge Zusammenhang der Gewerbehygiene
mit der gesamten Pathologie kommt auch dadurch zum Ausdruck,
daß die meisten Speziallehrbücher der Gewerbehygiene, wie zum
Teil schon aus deren Titel hervorgeht, im wesentlichen Lehrbücher
der Gewerbekrankheiten sind. Es zeigt sich weiter auch
in dem Vorschlag von M. Hahn (1. c.), daß der Unterricht in der
Gewerbehygiene im Anschluß an klinische Demonstrationen von
Gewerbekrankheiten stattfinden solle.
Der Hauptabschnitt der Gewerbehygiene ist also die Lehre
von den Gewerbekrankheiten. Diese Krankheiten sind
ätiologisch unmittelbar oder mittelbar mit der Art der Beschäf¬
tigung verknüpft. Eine Reihe von Schädlichkeiten sind vielen Be¬
trieben gemeinsam, oder durch die Arbeit im Massenbetrieb
überhaupt hervorgerufen, wie Erkältungsgefahren, Hitzewirkung.
• •
Überanstrengungen des Herzmuskels, Staubinhalationen. Die
größere Zahl der Berufsgefahren haftet spezifisch dem betreffenden
Betriebe und den aus ihr erwachsenden, chemischen, physikalischen,
gelegentlich auch mikroparasitären Schädlichkeiten (Hadernkrankheit,
Milzbrand der Pinselarbeiter, Wurmkrankheit) an. Zur Ergründung
des ursächlichen Zusammenhanges ist wenigstens für den Forscher
und Lehrer eine Berücksichtigung der technischen und wirtschaft¬
lichen Seiten des Betriebes erforderlich.1) Es ist darum durchaus
b Lehrreiche Beispiele liefert z. B. der Aufsatz von Sternberg'. Med.
Eef., 1906, Nr. 49/50.
126
Adolf Gottstein,
richtig, daß die meisten Verfasser von Lehrbüchern von den drei
Einteilungsmöglichkeiten des Gebietes, nach Organen des Körpers,
nach Krankheitsformen und nach technischen Betrieben, das letztere
System bevorzugt haben.
An das Studium der Gewerbekrankheiten schließt sich unmittel¬
bar die Lehre von deren Verhütung und Bekämpfung an. Auch
hier ergibt das bisher vorliegende Tatsachenmaterial, daß eine
erfolgreiche Arbeit nur durch die Beobachtung der praktischen
Betriebsverhältnisse und nur ausnahmsweise auch noch durch
Heranziehung der Laboratoriumsergebnisse, die z. B. gelegentlich
ein wirksames Neutralisierungsmittel aufgenommener Giftstoffe an
die Hand geben, geleistet werden kann. Zu diesem Abschnitt ge¬
hört die Erörterung der Lebensgewohnheiten der beteiligten Ar¬
beiterschichten im täglichen Verkehr mit der ihnen drohenden
Gefahr, der Kontrolle der staatlich vorgeschriebenen Schutzma߬
nahmen, der gesundheitlichen Überwachung und der Versorgung
der Erkrankten.
Neben der Hauptaufgabe des Studiums der Gewerbekrank¬
heiten zählen aber noch eine Anzahl von anderen Fragen zu dem
Gebiete der Gewerbehygiene, die hier nur kurz aufgeführt werden
sollen. Ein Teil von ihnen gehört durchaus ins Arbeitsgebiet der
allgemeinen Hygiene, wie die Fragen der Beschaffenheit des Arbeits¬
raumes, seiner Beheizung, Beleuchtung, Ventilation, die Fragen der
Arbeitsdauer, der Frauen- und Kinderarbeit, der Erholungsfristen;
auch die Behandlung der Wohlfahrtseinrichtungen in weitestem
Sinne rechnet hierzu. Eine andere, in der Neuzeit viel besprochene
Frage ist die Feststellung der Grundsätze für die Prüfung der
Neueintretenden auf ihre Eignung zu dem von ihnen erwählten
Berufe, namentlich auch im Verhalten der Sinnesorgane und der
Lungen. Ferner gehört es noch zu den wichtigsten Aufgaben der
Gewerbehygiene, die Rückwirkung des industriellen Betriebes auf
die Umgebung zu würdigen, und die Grenzen des erforderlichen
Schutzes der Gesamtheit gegen gesundheitliche Bedrohung festzu¬
stellen. Hierher zählt die Belästigung der Umgebung durch Staub,
Rauch, Gerüche und die große, gesundheitlich und wirtschaftlich
gleich wichtige Frage der Fluß Verunreinigung durch industrielle
Abwässer.
Schließlich kommt noch ein Problem in Betracht, welches ein
Grenzgebiet der Volkswirtschaft berührt, aber doch noch seinen
hygienischen Charakter bewahrt, nämlich die Beeinflussung der
Gesundheit des ganzen Volkes durch die Zunahme der Industrie.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden. Aufgaben und Ziele.
127
Diese überwiegend politische und mit Zuhilfenahme der Statistik
zu behandelnde Frage erstreckt sich nicht nur auf das gesund¬
heitliche Verhalten der beteiligten Bevölkerung, sondern auch ihres
Nachwuchses. Schon jetzt liegen eine Reihe von Arbeiten vor,
welche namentlich den Gesichtspunkt der Wehrfähigkeit und ihrer
Beeinflussung durch die Zunahme der Industrie behandeln. Diese
Arbeiten sind ausführlich in Prinzings Handbuch der medizinischen
Statistik im Abschnitt über Militärtauglichkeit kritisch besprochen,
und nur die neuere wichtige Arbeit von Abelsdorff,1) auf die
hier ausdrücklich verwiesen werden soll, wird von Prinzing
noch nicht erwähnt.
Das Gebiet der Gewerbehygiene ist in der letzten Zeit so
angewachsen, daß man schon jetzt für nötig gefunden hat, es von
der Gesamthygiene als Gegenstand eines besonderen Lehrauftrages
abzutrennen. Es berührt sich in seinem Hauptabschnitt der Berufs¬
krankheiten mit soviel Spezialzweigen der praktischen Medizin,
daß es keinem dieser Zweige zufallen darf) sondern die gesonderte
Sammlung des beigebrachten Tatsachenmaterials durch eigene
Kräfte verlangt. Es beansprucht im übrigen so sehr die Heran¬
ziehung von Erfahrungen der Volkswirtschaft, daß seine Angliederung
an die Soziale Hygiene eine natürliche Forderung ist. Da aber
die Gewerbehygiene als Gegenstand des Unterrichts
„Etwas v o n der hygienischen Wissenschaft Abtrenn¬
bares“ geworden i s t , s o kann auch unserer w e i t er¬
geh e n d e n Forderung der Abtrennung jener Gesamt-
disziplin, von der die Gewerbe hygie ne nur einen
Teil bildet, kaum noch länger ein begründeter Wider¬
stand entgegengebracht werden.
VII.
Weitere Aufgaben der Sozialen Hygiene.
Da es zum angebotenen Beweise von der Selbständigkeit der
Sozialen Hygiene nach den bisherigen Auseinandersetzungen wohl
kaum noch weiterer Tatsachen bedarf, so sollen hier einige andere
größere Abschnitte dieser Sonderwissenschaft, deren Erwähnung
nicht unterlassen werden darf, nur ganz kurz angedeutet werden.
J) Die Wehrfähigkeit zweier Generationen mit Rücksicht auf Herkunft und
Beruf. Berlin, Reimer, 1905. •
128
Adolf Gottstein,
Von den Aufgaben, welche die medizinische Statistik zu leisten hat,
sind wenige in der Gegenwart wichtiger, als die Schaffung einer
Morbiditätsstatistik. Was hier an Ergebnissen vorliegt,
findet sich sorgfältig in den oft angeführten Werken von Wester-
gaard und Pr in z in g aufgezählt; aber die Sichtung des großen
deutschen und außerdeutschen Materials legt nur die großen Lücken,
die noch bestehen, bloß. In nicht zu ferner Zukunft haben wir
von der Untersuchung, die auf Kosten des Reiches an dem Material
der großen Leipziger Ortskrankenkasse angestellt wird, eine große
Förderung unseres Wissens zu erwarten. Doch wird hier nicht
eher ein grundsätzlicher Fortschritt erreicht werden, ehe man sich
nicht ganz scharf über das System geeinigt hat, welches den
Betrachtungen über die Morbidität zugrunde gelegt werden soll.
An sich hängt die Wahl eines Systems ganz von den Zielen ab,
denen man nachgeht und jedes System kann ein natürliches sein,
wenn es dem beabsichtigten Zwecke gut angepaßt ist. Der Gro߬
händler mit ausländischen Waren wird die Pflanzenwelt in ein
ganz anderes System bringen als der Botaniker, und doch sind
beide für ihren Wirkungskreis im Recht. Bei der Aufstellung eines
Systems der Morbiditätsstatistik kann man sich immer noch nicht
entschließen, von derjenigen Systematik abzugehen, die für die
Todesursachen sich bewährt hat. Solange man aber mit diesem
Prinzip nicht von Grund auf bricht, schwindet die Aussicht auf
praktische Ergebnisse. Das medizinische System der Todesursachen¬
statistik, deren folgerichtige Grundlage eine Mischung ätiologischer,
klinischer und anatomischer Gesichtspunkte ist, verträgt aus Gründen,
die ich in zwei Aufsätzen der Medizinischen Reform1) auseinander¬
gesetzt habe, nicht die Uebertragung auf die Krankheiten. Die
Krankheit ist ein durchaus subjektiver Begriff und kommt nur
dann zur Kenntnis, wenn der Betroffene sich beim Arzte meldet.
Dazu sieht sich der Neurastheniker bei jeder Kleinigkeit veranlaßt,
mancher Phthisiker und Nephritiker kaum kurz vor dem Tode,
und einige Krankheiten von größter Lebensbedrohung, wie z. B.
Arterien-Erkrankungen (Aneurysmen) und Psychosen (Selbstmord),
kommen oft überhaupt erst durch den Eintritt des Todes zur
Kenntnis. Die meisten Krankheiten sind nur für das Individuum
von Belang: von allgemeiner Bedeutung werden sie erst, wenn sie
b Medizin. Ref., 1904, Nr. 19 und 1905, Nr. 6. Im neueingeführten amt¬
lichen Schema fehlen z. B. Taubstummheit, Farbenblindheit und Verstümmelungen,
die kein individuell therapeutisches Interesse, dagegen hervorragende sozial¬
medizinische Bedeutung besitzen.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 129
durch ihre Ansteckungsfähigkeit eine allgemeine Gefahr bilden,
oder durch ihre Dauer oder ihren Ausgang in Tod oder
Arbeitsunfähigkeit einen Aufwand aus allgemeinen Mitteln bean¬
spruchen; oder endlich, wenn ein Zusammenhang zwischen ihrer
Entstehung und vermeidbaren Berufsgefahren besteht. Nur diese
drei Gesichtspunkte interessieren die Allgemeinheit und mit ihr
die Soziale Hy giene ; die meisten anatomischen und pathogenetischen
Gesichtspunkte haben nur Interesse für den behandelnden Arzt,
Eine Morbiditätsstatistik, welche sozialhygienische Interessen ver¬
folgt, muß also ein System zugrunde legen, welches die oben ge¬
nannten Gesichtspunkte berücksichtigt. Wie leicht das bisher
geltende nosologische System diesen Anforderungen angepaßt werden
kann, habe ich 1. c. angeführt.
Eine weitere Aufgabe der Sozialen Hygiene ist das Studium
der gesundheitlichen Wechselverhältnisse von Stadt und Land.
Dieses Gebiet ist in den letzten Jahren vielfach eingehend be¬
handelt worden, bedarf aber noch weiterer Vertiefung. Von
größeren Arbeiten auf diesem Gebiete seien abgesehen von dem
schon zitierten Aufsätze von Rubner die folgenden Werke her¬
vorgehoben, weil sie teils methodische Beiträge, teils ausführliche
Literaturangaben bringen: F. Weleminsky, über Aklimati-
sation in Großstädten *) ; R. T h u r n w a 1 d Stadt und Land im Lebens¬
prozeß der Rasse2); L. Bauer, Der Zug nach der Stadt und die
Stadterweiterung3); ferner die statistischen Untersuchungen von
B a 1 1 o d und Bleicher.4)
An diesen großen hier nur erwähnten Abschnitt schließt sich un¬
mittelbar die in stetem Fortschritt begriffene K o m m u n al li y g i e n e
an. Gerade die Städtehygiene ist geschichtlich wie inhaltlich auf
das engste mit der Gesamthygiene verknüpft. Die gesundheitliche
Not der Städter veranlaßte deren Behörden von der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts an, auf rein empirischer Grundlage jene Ma߬
nahmen der Bodenreinigung und Wasserversorgung zu schaffen,
deren Erfolge der etwas später erstehenden Gesundheitsforschung
starken Rückhalt gaben.
Umgekehrt kommen gerade die Ergebnisse der biologisch-
experimentellen Hygiene den zahlreichen sanitären Einrichtungen,
welche der Gemein sinn der Städte schuf, zugute und wenn man
x) Arch. f. Hygiene, Bel. 36.
2) Arch. f. Bassen- u. Gesellschaftsbiologie, Bel. I.
;!) Stuttgart, Kohlhammer, 1904.
4) Literatur hei Prinzing, S. 452.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 9
130
Adolf Gottstein.
die wissenschaftlichen Grundlagen aufführt, auf denen die private
Wohnungshygiene wie die öffentlichen Werke der Städte beruhen,
so muß man immer wieder auf jenen großen Abschnitt der Hygiene
zurückgreifen, deren Ausbau wir namentlich der P e 1 1 e n k o f e r sehen
und Rubn ersehen Schule verdanken. Hier haben jahrzehntelange
Wechselbeziehungen erfolgreicher Arbeit eine Interessengemeinschaft
geschaffen, die so eng ist, daß die Soziale Hygiene keinen An¬
spruch hat auf Mitwirkung an dem, was bis heute auf diesem
Gebiete geleistet worden ist. Hier stehen wir vor einem fertigen
Werke, bei dessen Erweiterung in Einzelpunkten die biologische
Hygiene keiner Hilfe bedarf. Das Arbeitsfeld der Sozialen Hy¬
giene beginnt erst da, wo die Leitungen der Städte ihre Aufgaben
zur Fürsorge der Gesundheit der Einwohner mit modernem Em¬
pfinden über das Mindestmaß der Pflicht hinaus erweiterten durch
die Durchführung der Idee, daß auch in der Armenpflege die Vor¬
beugung organisiert werden müsse. Diesem Ziele dienen die zahl¬
reichen gemeindlichen sozialhygienischen Einrichtungen , deren
früher gedacht worden ist.
Auf den Ergebnissen der Gesundheitswissenschaft hat
sich aber in den großen Gemeinden eine systematische Gesund¬
heitswirt Schaft aufgebaut, die so umfangreich und wichtig
geworden ist, daß deren Organisation insgesamt und in
den einzelnen Abschnitten eines gesonderten Studiums bedarf.
Die Ansprüche an die Versorgung der beteiligten Bevölkerungs¬
schichten ändern sich mit der Größe der Gemeinden, mit ihrer
sozialen Zusammensetzung, mit ihrer wirtschaftlichen Lage, sowie
mit der beruflichen Gliederung ihrer Einwohner. Auch hier wieder
häuft sich eine Fülle von Fragen, deren wissenschaftliche Behand¬
lung eine dringende Forderung an die Gesundheitsforschung ist,
deren Erörterung aber im Rahmen der Gesamtwissenschaft nicht über
den genügenden Spielraum verfügt.
Auch der neu erstehende Sonderzweig der V ersieh e run gs -
medizin, dessen Pflege die gleichnamige Sektion des deutschen
Vereins für Versicherungswissenschaft dient, berührt das Arbeits¬
gebiet der Sozialen Hygiene. Die Veröffentlichungen des jüngst
in Berlin abgehaltenen IV. internationalen Kongresses für Ver¬
sicherungsmedizin geben ein Bild von der Reichhaltigkeit der hier
vorliegenden Probleme. Ein großer Teil der zur Erörterung ge¬
kommenen Fragen scheidet aus, soweit es sich um Krankheits¬
vorgänge und ihre Beurteilung handelt, da diese zur Sozialen
Medizin gehören. Das Material der Lebensversicherungsgesell-
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
131
schäften aber ist eine wertvolle Fundgrube für die prinzipielle Er¬
örterung wichtiger hygienischer Probleme; darauf hat schon vor
Jahren P. Börner hingewiesen, das beweisen neuerdings zahl¬
reiche Arbeiten, wie diejenigen von W. Weinberg und Anderen.
• •
vor allem die Untersuchungen der Arzte der Gothaer Lebens¬
versicherungsbank Flor schütz und Gollmer. x) Wir erhalten
hier genauen Aufschluß über die Mortalitätsverhältnisse der Lehrer,
Arzte, Geistlichen usw. und die Gründe der Unterschiede, über
die Bedeutung der Syphilis und des Alkohols als Ursache der Lebens¬
verkürzung usw.
Auch die prinzipiell und praktisch wichtige Frage der De¬
generation und Regeneration soll hier nur erwähnt werden.
Sie ist neuerdings ausführlich von A. Grotj ahn* 2) monographisch
dargestellt worden und auch Prinz ing hat sie in seinem Hand¬
buch der medizinischen Statistik in einem eigenen Abschnitte
kritisch behandelt. Ganz überflüssigerweise ist diese bedeutungs¬
volle Frage mit leidenschaftlichen Erörterungen überden Nutzen oder
Nachteil hygienischer Maßnahmen verquickt worden ; wie nüchtern
dieses Problem behandelt werden kann, beweisen die schon ange¬
führten englischen Verhandlungen. 3)
Auch ein letztes Kapitel der „Sozialen Hygiene“, eines der
allerwichtigsten, kann hier nur ganz kurz angedeutet werden, die
Hygiene der Fortpflanzung. An sich wäre es der er¬
wünschtere Zustand, wenn gerade dieses Gebiet lediglich der all¬
gemeinen Hygiene Vorbehalten bleiben könnte. Es muß hier ge¬
radezu als eine bedauerliche Tatsache gelten, wenn tausende laute
Stimmen, berufen und nicht berufen, Abhilfe gegen die Störungen
der normalen Voraussetzungen durch soziale Einrichtungen fordern.
Es ist ein unhygienischer Zustand, wenn die gesellschaftliche Ent¬
wicklung es erschwert, daß der normale Geschlechtstrieb lediglich
in den Dienst der Erzeugung einer gesunden, legitimen Nach¬
kommenschaft gestellt wird; wenn unsere männliche Jugend, an
der rechtzeitigen Eheschließung durch ihre wirtschaftliche Lage
gehindert, Gefahr läuft, entweder durch den Verkehr mit der
Prostitution die eigene Gesundheit, die ihrer späteren Gattin und
des Nachwuchses zu gefährden, oder wenn sie einen Nachwuchs
*) Kamp, Gollmer u. Flor schütz, Aus der Praxis der Gothaer Lebens¬
versicherungsbank. Jena, Fischer, 1902. Vgl. auch mein Referat in Ztschr. f.
Soz. Med., I, S. 260.
2) Soziale Hygiene und Entartungsproblem. Jena, Fischer, 1904.
3) Fe hl ing er, Politischanthropol. Revue, V, 3.
9*
132
Adolf Gottsteii).
unehelicher Kinder unter ungünstigen Bedingungen des späteren
Fortkommens erzeugt. Die Gegenseite ist das sterile Hinwelken
zahlreicher zur Fortpflanzung gut geeigneter Mädchen aus wirt¬
schaftlicher Not und die Gatten wähl nach den Gesichtspunkten
eigenen materiellen Vorteiles ohne Rücksicht auf die Voraus¬
setzungen für das Gedeihen des Nachwuchses. Die Soziale Hygiene
darf an solchen Zuständen nicht achtlos vorübergehen, aber als
Wissenschaft hat sie nur nach Zahl und Maß zu schließen, unbe¬
rührt von der Agitation des Tages, welche mit Leidenschaft und
Feuer Resolutionen beschließt und dabei die quantitative Bewertung
durch den Vergleich unterläßt. Daß die Geschlechtskrankheiten
als Volksseuchen heute sorgfältiger beachtet werden, ist
freudig zu begrüßen; ob sie heute häufiger sind als früher, ist
mindestens zweifelhaft. Für die enorme Verbreitung dieser Leiden
unter der männlichen Jugend der großstädtischen Bevölkerung
werden gewöhnlich die Zahlen von Blase h ko angeführt, gegen
deren Zutreffen ich schon 1897 in meiner „Allgemeinen Epidemio¬
logie“ und, soweit die Gonorrhoe in Betracht kommt, jüngst Erb1)
Bedenken erhoben haben. Jedenfalls war es in den Städten vor
hundert Jahren nicht besser, denn die „schöne Seele“ in Goethes
Wilhelm Meister wußte schon, „daß mit den meisten dieser
leidigen Burschen nicht allein die Tugend, sondern auch die Ge¬
sundheit eines Mädchens in Gefahr sei,“ und in meinem Aufsatz
über „Berlins hygienische Zustände vor hundert Jahren“ 2) findet
sich ein Zitat, nach dem schon damals die Zahl der infizierten
jungen Leute auf 95°/0 geschätzt wurde. Was ferner die Gefahr
der erblichen Übertragung der Syphilis betrifft, so fehlen uns über¬
haupt noch sichere Zahlen als Unterlagen; Spezialkliniken, welche
nur von den positiven Fällen Kenntnis erhalten oder nur sozial
tiefstehende Bevölkerungsschichten aufnehmen , erhalten kein
richtiges Bild; nur Sammelforschungen von Hausärzten könnten
Aufschluß geben; nach meinen persönlichen Erfahrungen in 25 jäh¬
riger hausärztlicher Praxis bleibt der größere Teil des Nachwuchses
von Vätern, deren Syphilis gründlich geheilt war, von der erb¬
lichen Übertragung der Krankheit verschont. Aber selbst wenn
sich heraussteilen sollte, daß im guten Kampfe die Agitatoren die
Zahlen gegenüber der Wirklichkeit irrtümlich um das Doppelte
zu hoch geschätzt hätten, so ist darum das Übel noch immer groß
und ernst genug.
L) Münch, med. AVoch., 1906, Nr. 48.
2) J). med. AVoch., 1906, Nr. 22.
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele.
133
Auch gegen die übrigen sozialen Hindernisse eines erwünschten
Zustandes der sexuellen Hygiene setzt in der Gegenwart eine
eifrige Propaganda aus ganz verschiedenartigen Beweggründen ein,
von denen die Soziale Hygiene besonders die Vorschläge zur ge¬
sundheitlichen Überwachung der Eheschließung, eventuell durch
gesetzliche Zwangsmaßregeln interessieren. In wissenschaftlicher
Form werden diese Fragen z. B. von A. Plötz in seinem Werke
„Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“ J),
von G a 1 1 o n* 2) und von R. Koßma n n in seinem lesenswerten
Werke über „Züchtungspolitik 3) ausführlich behandelt. Unserer
Zeit erscheint gerade auf diesem Gebiete der Zwang wenig an¬
nehmbar; aber oft genug hat eine mächtige geistige Bewegung
die Auffassung der Bevölkerung derart umgewandelt, daß die
nächste Generation als selbstverständliche Pflicht, als unerläßliche
moralische Forderung diejenigen Einschränkungen sich freiwillig
auferlegte, welche ihre Vorfahren nur auf dem wenig sympa¬
thischen Weg des gesetzlichen oder polizeilichen Zwanges durch¬
setzen zu können glaubten.
Schluß.
In den abgehandelten Abschnitten ist ein großes Material bei-
gebracht worden zur „Propaganda für das Ziel der Schaffung einer
neuen Disziplin“. Da für eine solche Aufgabe die Subjektivität
der Darstellung durchaus zulässig war, sind die einzelnen Ab¬
schnitte inhaltlich ungleichmäßig behandelt worden, was nicht an¬
gängig gewesen wäre, wenn die Absicht bestanden hätte, einen
„Grundriß der Sozialen Üygiene“ zu verfassen. Dazu ist es aber
noch zu früh. Nur einige wenige Abschnitte, nämlich gerade die
liier ausführlicher dargestellten, zeigen schon heute Abrundung;
bei den übrigen handelt es sich vielfach um Probleme und Auf¬
gaben, um „Bebauungspläne“, über deren Form allerdings schon
Klarheit herrscht. Wir verlangen darum heute noch nicht die
Aufnahme in die bestehende Organisation des Unterrichtes, sondern
begnügen uns mit dem Nachweise, daß die Ziele, die wir uns ge¬
steckt, aus eigenem Streben heraus, ohne die Gunst und Förderung
J) S. Fischer, Berlin 1895.
2) Entwürfe zu einer Fortpflanzungshygiene (Eugenik). Arch. f. Kassen- u.
Gesellschaftsbiologie, II, 5 u. 6, 1905.
;!) Verlag Renaissance, Lehmann, 1905.
134
Adolf Gottstein,
der offiziellen Kreise, der Arbeit wert sind. Haben wir heute noch
um die Anerkennung zu ringen, so wird sie uns eine sehr nahe
Zukunft freiwillig entgegenbringen. Wenn die soziall^gienische
Forschung weiter streng an den Grundsätzen der naturwissen¬
schaftlichen Methodik festhält, wenn sie unbeeinflußt von politischen
Parteiprogrammen oder leidenschaftlich erörterten Tagesproblemen,
aber auch nicht abgelenkt durch den Glanz medizinischer Mode-
strömungen den Zusammenhang der Vorgänge nach Zahl und Maß
prüft, so ist ihr Ausbau nichts als eine Pflicht des ärztlichen
Standes gegen die Gesellschaft, die von ihm eine Beschäftigung mit
ihren Lebensfragen dringend verlangt. Die Auffassung der heutigen
Gesellschaft vom Werte des Lebens steht im stärksten Gegensätze
zu derjenigen früherer Zeitabschnitte. Wir bewerten das irdische
Dasein höher als unsere Vorgänger, lediglich weil es jetzt der
Mühe Wert ist. Wir sind weniger bedroht von unvermeidlichen Ge¬
fahren, die uns fatalistisch machen, denn die plötzlichen Todes¬
bedrohungen durch politische Wirren, Gewalttaten, Seuchen, Natur¬
ereignisse haben erheblich abgenommen und brauchen nicht besonders
gefürchtet zu werden. Es lohnt jetzt, das Leben wohnlich zu ge¬
stalten und auf seine Erhaltung und Verlängerung Wert zu legen.
In den Kreisen unserer modernen Zivilisation ist darum der Hy¬
gieniker im Begriff, diejenige Stellung im Volksempfinden einzu¬
nehmen, welche vor ihm der Priester besaß. Man erkennt diesen
Zusammenhang der Entwicklung leicht durch den Vergleich mit
dem seelischen Verhalten solcher Bevölkerungsgruppen, die noch
heute stündlich Gefahr laufen, den Naturgewalten zu erliegen.
So stellt der Alpenbewohner sein ganzes, nicht geringes Emp¬
finden für Schönheit und höhere Güter * in den Dienst des Todes¬
kultus; sein Leben ist stetig zu sehr bedroht, als daß es großen
Wert hätte, viel Kraft auf dessen erträgliche Ausgestaltung zu
verschwenden und sein treuester Berater und Freund ist nicht der
Arzt, sondern der Priester.
Ein zweiter Grund der höheren Einschätzung des Einzellebens
ist wichtiger, denn von einer möglichst großen Zahl wettbewerbs¬
fähiger Einzelindividuen hängt im Kampfe der Völker das Schick¬
sal der einzelnen Nationen ab. Nicht „Humanitätsdusel“ oder das
berühmte „soziale Empfinden“, sondern nüchterne Rechnung ver¬
anlaßt die sorgsamere Wartung des spärlicher werdenden Nach¬
wuchses und den Schutz der Lebenden vor verfrühter Abnutzung,
um über genügend zahlreiche und kräftige Hände im friedlichen,
wie im kriegerischen Wettbewerb in Gegenwart und Zukunft zu
Die Soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele. 135
gebieten. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 stand im un¬
mittelbaren Schatten eines riesigen Creuzot’schen Schilfsgeschützes
ein zierlicher Pavillon, der eine Couveuseneinrichtung zur Erhaltung
schwach geborener Säuglinge barg. Diese unbeabsichtigte Zu¬
sammenstellung gibt ein bezeichnendes Bild der einander wider¬
sprechenden und doch zusammengehörenden Bestrebungen unserer
Zeit zur Erhaltung der Gesellschaft.
Bei der heutigen Auffassung vom wirtschaftlichen Werte
des gesunden Einzellebens für die höhere Einheit der Gesellschaft
ist der Arzt nicht mehr nur ein Linderer der Leiden des Indivi¬
duums sondern einer der wichtigsten Berater der Gesellschaft in
ihrem Ringen nach Fortschritt und Kultur. Die Wissenschaft hat
für diese Aufgabe dem Arzte das Rüstzeug bereit zu stellen, sie
hat die Methoden auszubilden, deren Ergebnisse es ihm ermög¬
lichen, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Ihre Ziele erstrecken
sich hierbei nach zwei Richtungen. Sie hat nicht bloß wie die
öffentliche Gesundheitspflege die Pflichten und Lasten zu be¬
stimmen, die der Einzelne im Interesse des Fortschrittes der Ge¬
samtheit auf sich zu nehmen hat, sie hat weiter auch die Rechte
des Einzelnen, der als Teil der Gesellschaft Gefahr läuft, von ihr
unterdrückt zu werden, zu sichern und so viel als möglich zu er¬
höhen. Es ist ihre besondere und dankbarste Aufgabe, die Grenzen
festzustellen, die nirgends überschritten werden dürfen, wenn nicht
der Bewegungs- und Entwicklungsfreiheit des Einzelnen inner¬
halb der weiterschreitenden Reihen ein für ihn selbst unerträg¬
licher und für die Gesamtheit nicht förderlicher Zwang auf erlegt
werden soll.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
Von Dr. med. L. Eisensdadt, Berlin.
Unter allen Problemen, welche die Neugestaltung der Arbeiter-
Versicherung aufrollt, ist das obige sicher das schwierigste und
trotz seiner Bedeutung am wenigsten wissenschaftlich durchforscht,
ja auffallend wenig beachtet. Erschöpfend es zu behandeln liegt
nicht im Bereiche einer Studie, auch nicht eines Beurteilers;
handelt es sich doch um neu zu schaffende Einrichtungen, neue
Betriebs- und Organisationsformen. Aber vielleicht genügen die
folgenden Erwägungen, um die hierhergehörigen Interessengruppen
zu veranlassen, mehr als bisher Wünsche und Forderungen zu
äußern.
Der Begriff „Arbeitnehmer der sozialen Versicherung“ ist zu¬
nächst zu definieren. Während die privaten Lebens-, Unfall-
und Invalidenversicherungen ihre Geschäfte ausschließlich mit Be¬
amten führen, reichen solche für die soziale Versicherung nicht
aus. Die Städte als Schöpfer von Volksbädern* Wasserleitungen
und zahllosen anderen hygienischen Einrichtungen, die privaten
Vereine als Begründer einer Fürsorge für Verletzte und deren Fa¬
milien, als Begründer von Massenernährungseinrichtungen stehen
genau so wie Kassen- und Vertrauensarzt, Krankenhaus, Heilstätte,
Apotheker, Masseur im unentbehrlichen Dienste der sozialen Ver¬
sicherung, nachdem diese Begutachtung, Heilung und Verhütung
von Krankheiten in ihr Programm aufgenommen hat.
Von allen diesen verdient aber nur eine bestimmte Gruppe,
nämlich diejenigen Personen und Betriebe, welche am Heilprozesse
beteiligt sind, und zwar mit vollem Rechte die Bezeichnung „Arbeit¬
nehmer“.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
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(Hebamme, Krankenpfleger, Masseur)
138
L. Eisenstadt.
Es handelt sich um private gewerbliche Berufe, welche in den
Dienst der Krankenkassen aufgenommen wurden. Infolgedessen
trat eine völlige Änderung ihrer wirtschaftlichen Lage ein. (Vgl.
Die therapeutische Ökonomie: Nr. 17. 1905. Ärztl. Sachverständigen-
Zeitung.)
An vorstehendem Schema sind die hierhergehörigen Personen
und Betriebe aufgeführt, es sind 1. die vier Formen des ärztlichen
Betriebes, 2. ärztliches Hilfspersonal (Masseure, Krankenpfleger.
Hebammen), 3. Fabrikanten und Lieferanten von Heilmitteln. Wie
• •
ebendort bereits geschildert wurde, bestand die wichtigste Ände¬
rung darin, daß vielfach laut Gesetz nur bestimmte Vertreter dieser
Berufsgruppen zum Krankenkassendienst herangezogen wurden.
Die verschiedenen Orts-, Betriebs-, Innungs- und Hilfskassen nahmen
als Arbeitgeber eine vertikale Scheidung in diesen Berufen vor;
daraus ergaben sicli z. B. bei den Ärzten unwürdige Abhängigkeit
und Senkung des Honorars. Diese Zustände gäben ihrerseits einen
fruchtbaren Boden für Bildung von Schutz- und Trutzbündnissen,
von Gewerkschaften.
In der gegenwärtigen Krankenversicherung nehmen Heilpersonal
und Heilmittelfabrikanten noch nicht völlig die Stellung von Arbeit¬
nehmern ein, mehr oder weniger sind sie selbständige Betriebe und
Gewerbetreibende. Denn noch gibt es keine obligate Familien¬
versicherung, noch sind die Krankenkassen im Hinblick auf die
Heilung nicht ausreichend, so daß der Selbstversorgung mit Heil¬
personen und Heilmitteln noch ein bedeutender Spielraum bleibt.
Wie aber, wenn die Krankenkassen doch die so lange herbei¬
gesehnte Zentralisation erfahren und wenn gar die Versorgung der
Angehörigen eingeführt wird? Dann wird die Selbstversorgung
der Versicherten einerseits, die Privatpraxis der Heilpersonen und
-betriebe andererseits so eingeschränkt, daß beispielsweise bei
Ärzten der Industriegegend Privatpatienten eine recht seltene Er¬
scheinung werden dürften. Nun kommen noch einige Vorgänge
hinzu, die mit Notwendigkeit zu der gefürchteten weiteren Prole¬
tarisierung dieser „Arbeitnehmer“ führen.
Bekanntlich wirken neue Maschinen zunächst verderblich auf
die Lage der Handarbeit; genau so muß z. B. die Vermehrung der
Heilstätten den Apothekern und Kassenärzten einen großen Arbeits¬
kreis entziehen, während andererseits ein sicheres Heilmittel gegen
Tuberkulose die Heilstätten entbehrlich machen würde. Zu diesem
Wettbewerb der Heilmittel kommt der Wettbewerb der Arzt¬
formen untereinander und mit den nichtärztlichen Heilpersonen.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung'.
139
Daß Wohnungsnot oder zu geringe Zahl von Kassenärzten
oder der Mangel an kleinen speziellen Heilstätten die Vermehrung
der Krankenhausbetten für die Kranken versicherten erforderlich
macht, diese Erscheinung hat Wolf Becher als gesetzmäßig nach¬
gewiesen. Daß Ärzte bzw. Ärztinnen in der künftigen Kranken¬
versicherung den Beistand auch bei normalen Entbindungen leisten
und so die Hebammen teils entbehrlich machen, teils dazu ver¬
anlassen werden, sich zur Wochenbettpflege zu spezialisieren, daß
Ärzte die Massage als Sondergebiet den Heilgehilfen entreißen
werden, diese weitere Entwicklung läßt sich nicht verhüten, wenn
die Ärzte angemessen honoriert werden.
Schließlich ist noch der Wettbewerb der Ärzte untereinander
von großer Bedeutung für die Arbeitnehmer der Arbeiterversicherung.
Es ist kein Zufall, daß erst mit der freien Zulassung der Ärzte
zur Kassenpraxis Heilstätten für Tuberkulöse und einige andere
sozialmedizinische Einrichtungen, wie Landaufenthalt, Trinkerheil¬
stätten, Walderholungsstätten gegründet und von den Kassen be¬
schickt wurden. Je größer die Zahl der Ärzte ist, die an Einzel¬
leistungen gegenüber den Kassenpatienten beteiligt ist, desto mehr
entwickelt sich der medizinische Beruf zur Kunst, desto mehr tritt
soziale Fürsorge an die Seite der individuellen Therapie. Wenn für
das ganze Reich, wie May et will (Verhandlungen der Ges. f. Soziale
Medizin. Med. Reform, 1906, S. 117 — 140), volle Kassenfreizügigkeit
durchgeführt wird, wenn eine Bezirkskrankenkasse große Territorien
zu versorgen hat, dann wird der Wettbewerb der Ärzte unterein¬
ander mit seinen Folgen selbst in das entlegenste Dorf getragen.
Wie ist nun bei der Neugestaltung der Arbeiterversicherung
die Lage der Arbeitnehmer derselben am besten zu regeln? Be¬
trachten wir die Vorschläge, die auf diesem Gebiete gemacht worden
sind, nämlich
1. die freie korporative Vereinbarung auf Grund einer Pauschal¬
bezahlung,
2. die Einführung eines gesetzlichen Maximaltarifs,
3. die Einführung eines gesetzlichen Mindesttarifs,
4. Bildung einer Genossenschaft bzw. Großeinkaufsgesellschaft,
5. völlige Verstaatlichung.
Die freie korporative Vereinbarung
ist bereits bei größeren Kassen eingeführt, befindet sich aber noch
• •
hier im Anfangsstadium, da sie nur den Ärzten gegenüber eine
140
L. Eisenstadt,
Regelung des Kopfpauschales und der Zahl der Einzelleistungen vor¬
gesehen hat. Daß diese Regelung oft eine völlig subjektive ist,
weil tatsächlich hier das Arztsystem nichts anderes als eine Er¬
weiterung des sogenannten fixierten Systems ist, kann nicht be¬
zweifelt werden. Die therapeutische Ökonomie wird hier nicht von
Sachverständigen, sondern vom Kassenvorstand und -geschäftsführer
einerseits, den ärztlichen Vertrauensmännern andererseits gehandhabt,
welche nicht selten noch in der Vorstellung befangen sind, daß die
Krankenkassen nur Armenpflege zu leisten haben und welche mit dem
behandelnden Arzte hinsichtlich der therapeutischen Ökonomie oft
verschiedener Anschauung sind. Sehr schwierig ist auch für die
ärztlichen Vertrauensmänner die Aufgabe, bei den behandelnden
Ärzten die Zahl der Leistungen zu begrenzen. Da gestattet man
homöopathischen Ärzten die „homöopathische“ Rezeptur, Natur¬
ärzten bei allen Krankheiten die Behandlung ausschließlich mit
Bädern und überläßt diesen Sonderlingen ein Maximum an Leistungen
und Heilmitteln, während andererseits die ärztliche Vertrauens¬
kommission in einer großen Dienstbotenkrankenkasse die tägliche
Behandlung einer eiterigen Zellgewebsentzündung beanstandete. In
beiden Fällen begeht man den Fehler, den Versicherten nach Art
eines Privatpatienten zu behandeln. Gewiß besteht das Wesen
der Arbeiterversicherung „in nichts anderem als in dem stets sich
wiederholenden Aufsteigen eines /Teils der unteren Klasse zu der
Lebensführung der höheren, in einem Hineinwachsen in den Be¬
dürfniskreis, aber auch in die Denkweise, in das Massenseelenleben
der Mittelklassen“. Gewiß hat die Versicherung vornehmlich
die Aufgabe, „die durch das Aufsteigen der Klasse sich mit¬
hebenden Individuen vor dem Zurückfallen in die Charakterlosig¬
keit der materiellen Gnadenexistenz des „Armen“ zu bewahren“.1)
Aber der Arzt darf nicht individuellen Neigungen der Ver¬
sicherten Rechnung tragen, nicht die Moden der Privatpatienten
auf die Kassenpraxis übertragen , er muß vielmehr Zahl der
Leistungen und Art der Heilmittel nach dem jeweiligen Stande
der therapeutischen Ökonomie bemessen, damit nicht die Gesamt¬
heit der Versicherten durch Extrakosten des einzelnen Mit¬
gliedes geschädigt werde.
Der Arzt muß objektiv genug sein, zwischen der viel gelästerten
Begehrlichkeit der Versicherten und dem enghei^igen „Unter-
*) y. Z w i e d i n e c k - S ü d e n h o r s t , Arbeiterschutz und Arbeiterversicherimg.
B. G. Teubner’s Verlag, S. 147.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung. 141
nehmers tan dpunkt“ der Kasse, unbekümmert um Lob und Tadel
jeder Partei, die richtige Mitte zu finden.
Erst recht gilt diese Forderung für die Vertrauensmänner der
ärztlichen Organisationen. Die eine ärztliche Arzneimittel-Kontroll¬
kommission hat den Ersatz eines Sandow’schen Salzes durch natür¬
lichen Mineralbrunnen mit der Androhung der Entfernung aus dem
kassenärztlichen Verbände bestraft, die andere ließ die Verordnung
notorischer Geheimmittel, Pinkpillen und Pain Expeller, anstandslos
passieren !
Wenn man weiter die bisherigen Vereinbarungen bezüglich
des Honorars betrachtet, so ist es merkwürdig, daß die einzelnen
Vertragskommissionen ganz ungleich hohe Pauschalsummen fixieren
und ganz verschiedene Arten der Honorarverteilung handhaben.
Hier wird ein Honorar von 3,50 Mk. pro Kopf als eine Errungen¬
schaft der Organisation bezeichnet, während dort bereits 4,50 Mk.
errreicht sind. Ein stets wechselnder Monats- oder Quartalsbon
oder ein nicht minder schwankender Point belohnt die ärztlichen
Bemühungen im ganzen, während die „dringlichen“ Leistungen der
Nichtkassenärzte nach den Mindestsätzen der Gebührenordnung
belohnt und vielfach vom Honorar der Kassenärzte abgezogen
werden. Man sieht, diese Vereinbarungen sind eher unfrei als frei,
weil sie mehr von den Kassen als von den Ärzten diktiert werden,
aber sie bezeichnen einen kolossalen Fortschritt gegenüber der
Zeit, als es noch keine Koalitionsbewegung der Ärzte gab. Bessere
Verträge konnten die Ärzte hauptsächlich deshalb nicht erreichen,
weil ihnen die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Organisation
gegenüber ihren Arbeitgebern noch nicht klar geworden war und
weil sie die Existenz der kleinen leistungsunfähigen Kassen durch¬
aus schonen wollten.
Jedenfalls haben die fortwährenden Guerillakämpfe mit den
Kassen die Solidarität der Ärzte derart gefördert, daß sie zen¬
tralisierten Kassen gegenüber in größerer und festerer Organisation
stehen werden; dasselbe könnte man für das übrige Heilpersonal
hoffen. Die Honorierung würde besser werden, während die Schieds¬
gerichte der Arbeiterversicherung bei Differenzen über Heilmittel -
verordnung und Zahl der Leistungen als Berufungsinstanz gegen¬
über dem Urteil der Vertrauensmänner fungieren würden. Um
aber die territorialen Verschiedenheiten zu beseitigen und der
Möglichkeit der Honorarstreitigkeiten vorzubeugen, halten mehrere
Reformpläne eine reichsgesetzliche Ordnung für erwünscht bzw. für
notwendig und fordern einen Maximaltarif.
142 L. Eisenstadt,
Soweit die Krankenkassenkommission des Deutschen Ärzte¬
vereinsbundes sich geäußert hat, wünscht sie eine Pauschalsumme
derart, daß die Einzelleistung den Minimalsatz der Gebühren¬
ordnung erreicht. Für dieses sogenannte Maximalpauschale sind
mehrere Ärzte in den Standesorganen eingetreten. M a y e t (a. a. 0.)
wünscht für die Kassenärzte ebenfalls die gesetzliche Festlegung
eines Maximaltarifs in der Form: 4 Mk. pro Kopf und 4 Mk. pro
Mille des Lolin fonds. Hiernach würden sich die Ärzte besser
stehen, je höher der Lohnfonds ist und größere wirtschaftliche
Krisen und Streiks durch Honorarkürzung verspüren, während doch
eine allgemeine Erfahrung lehrt, daß zur Zeit der Hochkonjunktur
in der gewerblichen Arbeit die Inanspruchnahme der Kasse am
geringsten ist. Mit einem derartigen Pauschale werden sich die
Ärzte mit Recht nicht einverstanden erklären.
Frühere Ärztetage verlangten einen Maximaltarif, nämlich die
Bezahlung der kassenärztlichen Leistungen nach den Mindestsätzen
der Gebührenordnung. Lennhoff befürwortet auch für Kranken¬
häuser einen Maximaltarif, jedoch solle deren Unterbilanz durch
einen gesetzlich geregelten Zuschuß, der vom Reich oder den
Kommunen oder Wohlfahrtsstiftungen oder von der Versicherung*
selbst zu leisten sei, gedeckt werden. (Verhandlungen der Ges. f.
soz. Medizin, 1905, H. 12, S. 24.)
Eine Bindung nach oben, einen Maximaltarif gesetzlich ein¬
zuführen, ist m. E. aus dem Grunde verfehlt, weil die Inanspruch¬
nahme des Heilpersonals bei zentralisierten Kassen sich im voraus
gar nicht berechnen läßt. Wie ich bereits hervorhob, ist vielfach
z. B. in den peripheren Stadtteilen Berlins und in allen Gegenden
mit starker Bevölkerung der Industrie zu erwarten, daß die dortigen
Kassenärzte ausschließlich von den Einnahmen aus der Kassen¬
praxis sich und ihre Familien werden ernähren müssen. Wie ferner
sich voraussehen läßt, wird eine weit größere Zahl von Kassen¬
patienten früher und auf längere Zeit als jetzt der kassenärztlichen
Behandlung durch Überweisung an die Heilstätten entzogen werden.
Ein Maximaltarif hindert die höhere Bewertung der ärztlichen
Leistung und den Wettbewerb der Arztformen; die vermehrte
Arbeitstätigkeit der Ärzte endet jetzt bei ungenügender Bewertung
derselben mit einer vermehrten Inanspruchnahme der Krankenhäuser.
Auch bei den Kliniken, Heilstätten, Krankenhäusern ist ein
Maximaltarif nicht minder zwecklos. Die städtischen Kranken¬
häuser Berlins waren genötigt, immer mehr Ausgaben für diagnosti¬
sche Apparate, Heilmittel und Heilpersonal zu machen. Daher war
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
143
die Stadt Berlin genötigt, allmählich eine höhere Bezahlung des
Verpflegungstages zn beanspruchen und in allen Krankenhäusern
durchzuführen. Jetzt ist sie bereits, weil sie seit Bestehen des
Krankenversicherungsgesetzes dem Gesetz vom Wettbewerb der
Arztformen und der Ärzte untereinander interesse- und verständnis¬
los gegenüberstand, genötigt, für jedes im Krankenhause verpflegte
Kassenmitglied 2 Mk. der Krankenkasse zuzuschießen. Bekannt
ist der bisher abgelehnte Wunsch, zur Deckung dieser gewaltigen
Kosten für die Vorortsbewohner einen höheren Tarif durchzuführen.
Daß für die Krankenhäuser eine Zwangslage, keineswegs aber
die Absicht besteht, durch „Heraufsetzung der Pflegegebühren“ die
Bilanz der Versicherung zu erschüttern oder die Einwohner aus¬
zubeuten, beweist auch die Erhöhung der Sätze für kranke Kinder,
welche in den städtischen Krankenhäusern eintreten mußte, sobald
die Charite ihre diesbezüglichen Sätze erhöhte.
Wenn also der Maximaltarif der veränderten wirtschaftlichen
Existenz des Heilpersonals nicht gerecht werden und daher die
Bilanz der Versicherung vor Erschütterungen keineswegs bewahren
kann, so ist seine gesetzliche Festlegung völlig überflüssig und
schädlich, weil er den Wettbewerb der Arztformen hindert.
Der Minimaltarif
ist bereits von Ascher, dem ersten Befürworter der Idee der
Vereinheitlichung, gefordert worden. Er sagt es rund heraus :
„Während bei gelieferten Materialien (Apothekerwaren, Kranken¬
hausverpflegung etc.) der Kostenpreis ein Heruntergehen unter
einen bestimmten Satz von selbst verbot, hat man bei den Ärzten
in vielen Gegenden hierzu noch nicht gelangen können“ (Ascher,
Zur Vereinfachung des Reichsversicherungswesens, Olendorff’s
Ztschr. f. Soz. Medizin, 1895, S. 237). Genau genommen besteht
allerdings bisher nur für die Apothekerwaren, d. h. die in Apo¬
theken fertig gelieferten Tabletten, Originalpackungen, ein Mindest¬
satz. Denn die Leistungen verschiedener Krankenhäuser sind
bisher selbst bei einheitlicher Pflegegebühr außerordentlich ver¬
schieden, je nach dem Vermögen bzw. den Zuschüssen des einzelnen
Krankenhauses. Die Apotheken werden aber auch ebenso wie die
Ärzte territorial verschieden für ihre Arbeit entlohnt, je nachdem
sie mit den Krankenkassen einen höheren oder geringeren Rezeptur¬
rabatt vereinbart haben.
Hier muß das neue Gesetz das bisher Versäumte nachholen,
144
L. Eisenstadt.
einheitliche Mindestsätze für die Honorierung des Heilpersonals
schaffen und zwar:
• •
1. für die Arzte. Hebammen und Heilgehilfen nach Einzel¬
leistungen.
2. für Krankenhäuser, Heilstätten und Krankenpfleger (Kranken¬
pflegerinnen) nach Verpflegungstagen.
Wenn für die Leistungen der Ärzte 1 Mk., des ärztlichen
Hilfspersonals 75 Pfg., der Krankenhäuser und Krankenpfleger
4 Mk. als reichsgesetzliche Mindestgrenze festgelegt werden, so
würden daraus bemerkenswerte Folgen sich ergeben:
1. Die territorialen und lokalen Verschiedenheiten in der Be¬
wertung der Leistungen des Heilpersonals würden aufhören.
2. Die sogenannte Dringlichkeit der Hilfeleistungen würde
stark eingeschränkt werden. Es würde unmöglich gemacht, daß
eine Schifferkrankenkasse für die Gonorrhoebehandlung ihrer Mit¬
glieder den Kassenärzten der Heimat 10 Pfg., den Nichtkassenärzten
der fernen Großstadt 1 Mk. bezahlt, weil dort die Gonorrhoe¬
behandlung dringlich geworden ist. Die Existenz der privaten
und berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung, die Zunahme
der Unfälle im großstädtischen Verkehr, im Baugewerbe, Berg¬
werken und vielen anderen Industrien sind nicht die alleinigen
Ursachen der übertriebenen Wertschätzung und Ausdehnung der
ersten Hilfe, vielmehr ist auch das bisherige Krankenversicherungs¬
gesetz mit der Gewährung der dringlichen Hilfe einerseits,
• •
der bestimmten Arzte andererseits, und vor allem das Fehlen
einer gesetzlichen Mindestgebühr für die ärztliche Leistung
LTrsache für die sonderbare Erscheinung, daß die erste Hilfe
in Unfallstationen und Rettungswachen , ferner die Leistungen
der Nichtkassenärzte weit höher bezahlt werden, als wenn eben
dieselben von Kassenärzten ausgeführt werden. In Berlin hat sich
die städtische Verwaltung nicht entschließen können, eigene
Rettungswachen zu gründen, deshalb müssen die Krankenkassen
für die Existenz von Rettungswachen und Unfallstationen bedeutende
Summen, mag es sich nun um eine Pauschalhonorierung der dortigen
ärztlichen Leistungen oder um eine Bezahlung nach den Mindestsätzen
der preußischen Gebührenordnung handeln, zuschießen. Die Stadt
Berlin kann allerdings demgegenüber auf ihren Zuschuß für die Be¬
handlung von Kassenmitgliedern in ihren Krankenhäusern hinweisen.
Das Rettungswesen würde nun dort, wo unfallreiche Betriebe
vorhanden sind, bei gesetzlichem Minimaltarif einfach auf Grund
einer breiten ärztlichen Organisation geregelt werden können,
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
145
derart, daß der Wachtdienst während der Fabriktätigkeit für die
anwohnenden Ärzte geregelt wird. Dann wird bei dieser Gesetzes-
änderung ein geregelter ärztlicher Nacht- und Sonntagsdienst, der
jetzt auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, leicht durchführ¬
bar sein. Ein Rettungsdienst auf Kosten der ökonomischen Existenz
der Ärzte und Krankenkassen hat keine Berechtigung.
Eine Unterfrage des allgemeinen ärztlichen Dienstes, das Ver¬
treterwesen, könnte dann kraft der Organisation so geregelt werden,
daß dem zu vertretenden Arzt der Praxiskreis erhalten bleibt.
3. Aus der Mindestbezahlung der einzelnen Leistung, sollte
man ohne weiteres denken, folgt die freie Zulassung. Wenigstens
ist es sonst die selbstverständliche Folge der Tarifverträge zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, daß diejenigen Personen, welche
sich dem Tarif unterwerfen, eingestellt werden, sofern sie den An¬
forderungen des betreffenden Faches entsprechen, also gelernte
Arbeiter sind und soweit das Maß der Beschäftigung in jedem
einzelnen Betriebe eine Höchstzahl von Arbeitern gestattet.
Anders denken aber noch recht viele Sozialpolitiker und Ärzte
auf dem Gebiete der Krankenversicherung. Zwar gestehen sie den
Krankenhäusern, Spezialheilstätten und dem ärztlichen Hilfspersonal
das Recht auf freie Zulassung zu, in der Meinung, es handle sich
bei ersteren um eine begrenzte Zahl von Verpflegungstagen, bei
letzteren um eine begrenzte, vom behandelnden Arzt gewünschte
und leicht zu kontrollierende Zahl der Leistungen. Dagegen,
meinen sie, sind die Krankheitszustände elastische Dinge im
Hinblick sowohl auf die Z a h 1 der L e i s t u n g e n als auf Quali¬
tät und Quantität der Heilmittel, welche Haus- und
Spezialärzte in der Kassenpraxis „zum besten geben“.
Diese Elastizität der Krankheiten der Versicherten ist erstens
zurückzuführen auf die formelle Unzulänglichkeit der Kranken¬
journalführung. Vielfach wird Erneuerung des Krankenscheines,
der Milch- und Bädergewährung als einzelne Leistung gebucht,
während doch tatsächlich für die ganze Dauer der Erkran¬
kung Milch, Krankengeld, bei rationeller kassenärztlicher Buch¬
führung zu verordnen wäre. Zweitens sind namentlich Laien ge¬
neigt, die subjektiv verschiedene Begehrlichkeit der Kranken als
eine Ursache der Elastizität der Krankheitszustände hinzustellen.
Patienten mit Herzklappenfehler seien in verschiedenem Grade
anspruchsvolle, besonders seien derartige weibliche Kranke über¬
trieben anspruchsvoll. Die Vertreter dieses Standpunktes kümmern
.sich sehr wenig um die Frage, ob diese subjektiv verschiedene
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 10
146 L. Eisenstadt,
Begehrlichkeit gänzlich unberechtigt oder nur der Ausdruck einer
objektiv vorhandenen, individuell (nach Konstitution und Beruf)
verschiedenen Erkrankung sei.
Drittens7 viele Ärzte verfallen angeblich in der Krankenver¬
sicherung der Polypragmasie oder einer ungebührlichen Sparsam¬
keit. „Bei Einzelbezahlung haben die Kassen ein Interesse, wenige
Ärzte anzustellen, indem erfahrungsgemäß die Gesamtleistungen
steigen, je mehr Ärzte an einer Kasse tätig sind“ (Ärztl. Mit¬
teilungen, 1906. Nr. 25, S. 321).
„Natürlich hängt auch die Ausdehnung der ärztlichen Tätig¬
keit von dem Arzt ab; wer sich in seinen Besuchen und Be¬
ratungen zu beschränken weiß, den Angehörigen bzw. Kranken¬
schwestern auch etwas zu tun gibt, ist weniger belastet als der¬
jenige, der selbst jede Temperatur mißt, jedes Bad leitet, jeden
Verband, jeden Umschlag macht und viermal am Tage zu einem
Kranken läuft, um diesem sein Interesse zu bezeugen, wo ein
Besuch auch genügend wäre“ (Ärztl. Mitteilungen, 1906, Nr. 26,
8. 341). Diesen engen, philiströsen Horizont einer ärztlichen
Kontrollkommission darf der Gesetzgeber bei einer Zentralisierung
der Krankenversicherung nicht annehmen. Im informatorischen
Attest muß das Recht des behandelnden Arztes, seinen Heilplan
gegenüber dem kranken Individuum aufzustellen und durchzuführen,
anerkannt werden, vorausgesetzt, daß dieser Heilplan mit den Er¬
fahrungen und dem Stande der therapeutischen Ökonomie überein¬
stimmt. Demnach ist es erwiesen, daß der Mindesttarif für jede
ärztliche Leistung die Zulassung eines jeden Arztes, der sich
durch die wissenschaftlichen Anforderungen der therapeutischen
Ökonomie gebunden erklärt, zur Folge hat, vorausgesetzt, daß die
kassenärztliche Buchführung rationell umgestaltet wird. Nur die¬
jenigen Ärzte würden sich also eine Konventionalstrafe zuziehen,
welche Krankheiten nach längst überlebten Methoden (Homöopathie)
oder kunstwidrig behandeln und daher den therapeutisch ökonomi¬
schen Endzweck der Behandlung außer acht lassen.
In engem Zusammenhang hiermit steht es, daß der Mindest¬
tarif der Einzelleistungen eine wesentliche Verschiebung der
Grenzen zwischen Allgemein- und Spezialarzt und zwischen ärzt¬
lichen und nichtärztlichen Spezialisten zur Folge hat. Schon in
einem früheren Aufsatz zur Neugestaltung der Arbeiterversicherung
wies ich darauf hin, daß es eine absolute Grenze zwischen der
Tätigkeit des Allgemein- und derjenigen des Spezialarztes nicht
gibt. Ich wies dort auf die sozialen Ursachen für die Zunahme
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
147
der Spezialistenzalil hin. Eine solche soziale Ursache ist auch die
heutige Verfassung der Krankenversicherung, deren Organe viel¬
fach der Zulassung der Spezialisten — freilich notgedrungen —
weniger Schwierigkeiten in den Weg legen als den Allgemein¬
ärzten, und auch die spezialistischen Übungsstätten alias Poli¬
kliniken wegen deren „Billigkeit“ zu konservieren suchen. Nun
ist es ja bekannt, wie vielfach in den modernen ärztlichen Spezial¬
disziplinen zahlreiche diagnostische und chirurgisch - technische
Einzelleistungen das Wesen der spezialistischen Therapie aus¬
machen. Gegenwärtig findet sich der Kassenarzt mit diesen spe¬
zialistischen Einzelleistungen, z. B. bei Kontusion eines Oberschenkels,
derart ab, daß er solche Patienten einem Heilgehilfen oder einem
Spezialarzt für Massage oder einem Krankenhause überweist.
Bei einem gesetzlichen Mindesttarif der Einzelleistung kann
er nicht mehr der Polypragmasie beschuldigt werden, wenn er
solche Patienten selbst täglich oder jeden zweiten Tag massiert-
Der Allgemeinarzt würde zahlreiche Heilungsarten erlernen und
ausüben, welche jetzt ausschließlich dem Spezialarzt überlassen sind.
Er würde Magen-, Blasen-, Harnröhrenspülungen, Injektionen usw.
selbst ausführen, und den Spezialarzt nur zum Zwecke sicherer
Diagnosestellung hören. Andererseits würden die seltneren und
schwierigeren Spezialkrankheiten und -behandlungen dem Spezial¬
arzt verbleiben. Dieser würde — nicht zum Nachteile der Ver¬
sicherten — ob nun die Krankenkasse einem Kreise oder Ver¬
waltungsbezirke entsprechen würde, die spezialistische Kunst in die
kleineren Städte und auf das flache Land tragen. Eine sozial¬
medizinisch außerordentlich wichtige Verteilung der Spezialisten
würde erfolgen. Unbeschadet der Hochachtung vor dem Landarzt,
der mit kleinen Mitteln Großes leistet, würde im Bunde mit ihm
der erfahrene Spezialarzt viel zur Verringerung unheilbarer Krank¬
heiten der Dorfbewohner beitragen.
Wenn infolge des Mindesttarifs der Arzt mehr und mehr
die nichtärztlichen Spezialisten, Heilgehilfen und Krankenpfleger
• •
ersetzt, wenn die Ärztin mehr und mehr die Funktionen der Heb¬
amme und Wochenpflegerin übernimmt, wenn das höher gebildete
Heilpersonal überall das niedere verdrängt, so ist das in der Tat
ein großer Fortschritt!
Der Arzt ist und bleibt nun einmal der beste Samariter, und
besser ist es, in Heilstätten und Krankenhäusern ärztliches Hilfs¬
personal als verheiratete Beamte unter ständiger ärztlicher Direktion
fest anzustellen, als Personen kürzer oder länger in Krankenhäusern
10*
148
L. Eisenstadt,
auszubilden, um dieselben zu veranlassen, nach der Entlassung den
Heerbann der Kurpfuscher zu vermehren. Auch sonstige erwerbende
Nebenbeschäftigung des ärztlichen Hilfspersonals scheint mir nicht
der Würde derjenigen angemessen zu sein, die auch nur Diener
der Ärzte sind; einen Heilgehilfen von der Feldarbeit wegzuholen,
damit er blutige Schröpfköpfe setze, das entspricht kaum den
Anforderungen der Asepsis.
Zwar genügt schon die freie Zulassung der Ärzte, um den
Wettbewerb in der Heilkunst zu veranlassen; derselbe wird noch
durch den Mindesttarif der einzelnen Leistung erheblich verstärkt.
Ohne die freie Zulassung bedingt dagegen, wie bereits dargelegt,
der Mindesttarif ungebührliche Sparsamkeit in der Verordnung der
Heilmittel, in der Zahl der ärztlichen Leistungen und vermehrten
Zugang zu den Krankenhäusern.
Der Mindesttarif vermag auch den Wettbewerb unter den
Arztformen zu fördern. Wenn der hausärztliche Besuch nicht mehr
mit 20 Pfg., sondern z. B. mit 1 3/2 Mk. honoriert wird, so dürfte
so manche Erkrankung mit nicht geringerem Erfolge als im Kranken¬
hause häuslich behandelt werden. Man wird erwidern, in Anbetracht
der Wohnungsverhältnisse, die allein bei manchen Krankheiten eine
häusliche Pflege unmöglich machen, wäre das kein Fortschritt. In¬
des schon die häusliche Behandlung von Frakturen, Abszessen, des
inoperablen Carcinoms wäre den Patienten, der Ökonomie der
Krankenkassen und der Entlastung der großen Krankenhäuser
förderlich; diese läßt sich auch in dürftigen Wohnungen vornehmen.
Unter dem Schutze des Mindesttarifs für den Verpflegungstag
kann der Augen- und Nervenarzt, sowie jeder andere Spezialist
mit geringeren finanziellen Opfern sich ein kleineres Krankenhaus
errichten, ein hygienischer Fortschritt, der wiederum vor allem
dem platten Lande zugute kommen würde. Desgleichen kann
der Allgemeinarzt allein oder in Verbindung mit Berufsgenossen
kleinere Verpflegungsstationen, Genesungs-, Siechenheime usw.
mieten und so mit geringen Kosten viel z. B. zur Bekämpfung der
Tuberkulose und des Carcinoms beitragen.
Auf Grund des Mindesttarifs könnten auf dem Wege korpo¬
rativer Vereinbarung eine territorial verschiedene oder noch besser
auf dem Wege der Reichsgesetzgebung eine im ganzen Reich
geltende Mindestgebührenordnung für Kassenärzte geschaffen werden.
Andere Gebührenordnungen, etwa die Mindestsätze der für die
Privatpraxis der Ärzte geltenden preußischen Gebührenordnung sind
aus zwei Gründen zu verwerfen: 1. würden solche die Einführung
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung. 149
eines Maximaltarifs bedeuten, 2. sind auch hier Privat- und Kassen¬
praxis zwei miteinander nicht zu vergleichende Dinge. Es be¬
stehen zwar bereits mittels korporativer Verträge entworfene
Mindestgebührenordnungen auf Grundlage eines Mindesttarifs der
einzelnen Leistung, z. B. beim Verein der freigewählten Kassen¬
ärzte zu Berlin für einige Krankenkassen; dieselbe ist aber un¬
vollkommen, weil der Mindesttarif der einzelnen Leistung jedesmal
aus einem Pauschalhonorar entwickelt wird, und weil wichtige
Positionen fehlen: so ist es doch eine schon zeitlich höher zu be¬
wertende Leistung, wenn der Arzt in der Sprechstunde einen tech¬
nischen Eingriff vornimmt, als wenn er dem Patienten ein Bad oder
ein Medikament verordnet.
So kompliziert die kassenärztliche Tätigkeit ist, weit kompli¬
zierter als diejenige des übrigen Heilpersonals, so scheint mir doch
die Festlegung einer Mindestgebührenordnung nicht schwierig zu sein.
Aus welchen Ursachen werden die Ärzte und überhaupt das
Heilpersonal eine Erhöhung des Mindesttarifs verlangen müssen ?
I. Wenn der Aufwand für Instrumente, Einrichtung, Mieten,
Grundstücke notwendig steigt.
II. Wenn die Tätigkeit aller Formen des ärztlichen Betriebes
den Saisoncharakter annimmt, z. B. durch Fortschritte der öffent¬
lichen Gesundheitspflege und sozialen Prophylaxe.
III. Wenn sich Krankheitsfälle häufen, die durchaus der Iso¬
lierung in geschlossenen Anstalten bedürfen, vermindert sich die
Tätigkeit der Hauskassenärzte (Choleraepidemie).
IV. Bei Einführung obligatorischer Familienversicherung oder
bei Belassung freiwilliger Mitglieder in der Versicherung infolge
der Reduktion der Privatpraxis.
V. Wenn die genossenschaftliche Organisation (Unterstützungs¬
wesen) nicht ausreicht, um für invalide Heilpersonen resp. deren
Witwen und Waisen zu sorgen.
VI. Wenn die sonstige gewerkschaftliche (Stellennachweis,
Warnung vor dem Berufe) und genossenschaftliche Organisation nicht
ausreichen zur Unterbringung neu hinzukommender Heilpersonen.
Die hygienische Bedeutung der mit dem Mindesttarif ver¬
bundenen freien Zulassung besteht nicht nur in dem ununter¬
brochenen Dienst für erste Hilfe, sondern auch in dem so gut
funktionierenden Dienst für die Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten, der Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose. Die so¬
genannten Dispensaires, eine vorläufige Form des Ärztedienstes,
dürften sich dann erübrigen.
150
L. Eisenstadt.
Die Bildung einer Genossenschaft bzw. einer Gro߬
einkaufsgesellschaft
dient zur Regelung der Herstellung und Lieferung von Heilmitteln.
(Im obigen Schema sind die hierhergehörigen Gruppen links von
„Kassenarzt“ aufgeführt.) May et1) empfiehlt einen ständigen
Ausschuß der Bezirkskassen und als dessen reale Funktionen:
Besitz und Betrieb von Krankenlogierhäusern in allen anerkannten
Heilbädern, ferner den genossenschaftlichen Vertrieb von Bandagen.
Desinfektionsmitteln. Handverkaufsartikeln. Es gibt eine Reihe
von Heilmitteln, deren Verordnung nicht dringlich ist, die also
meist ohne Gefahr für den Kranken aus einer zentralen Bezugs¬
quelle in 1—2 Tagen bestellt werden können. Dazu gehören
Brillen, Inhalationsapparate, Irrigatoren, Lederfinger, gewöhnliche
Leibbinden. Der zentrale Ausschuß der Bezirkskassen könnte diese
Artikel im großen einkaufen oder in eigenen Produktionsstätten
herstellen. Von der zentralen Geschäfts- oder Produktionsstätte
könnte auf die genaue Verordnung des Arztes hin dieses Heilmittel
geliefert werden. Mit solcher Einrichtung könnte eine Kontrolle
der Qualität leicht verknüpft werden. Die Kassen würden nicht
mehr billige und schlechte Waren liefern und Kosten für Wieder¬
holung der Verordnung des Heilmittels sparen können. Gegenwärtig
übt der von den Kassen festgesetzte Einheitspreis oft einen ver¬
schlechternden Einfluß auf Beschaffenheit und Haltbarkeit des
Materials aus ; verschiedene Verkaufsstellen liefern ungleich brauch¬
bare Lederfinger, Gummischläuche usw. Mit den Zentralstellen
könnten Prüfungskommissionen für Verbesserungen und neue Appa¬
rate auf diesem Gebiete verbunden werden. Man bemerkt, daß
seltener verlangte Augengläser schwieriger Konstruktion von den
kleinen optischen Verkaufsstellen gar nicht oder nach langem
Warten zu erhalten sind.
Was nun die dringlichen Heilapparate, Verbandstoffe, Katheter.
Bougies, Eisblasen usw. betrifft, so bestehen bei deren Bezug eben
solche Mißstände. Die feineren Katheter und elastischen Bougies,
die von Drogengeschäften oder Apotheken in eiligen Fällen be¬
zogen werden, entsprechen oft genug keineswegs den Anforderungen
des Arztes, sind brüchig oder in der gewünschten Nummer nicht
vorhanden. Von ungleichartiger Beschaffenheit sind in den meisten
Lieferungsstätten die Mullbinden und im Einzelpreis recht teuer.
Die gewöhnlichen Kanülen der Subkutanspritzen sind billig aber
x) Verhandl. d. Ges. für Soz. Med. A. a. 0.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
151
äußerst schlecht und für wiederholte Anwendungen unbrauchbar.
Auch hier würde die zentrale Produktion resp. der Großeinkauf
einen wichtigen Fortschritt bedeuten. Nur fragt es sich, wo diese
Artikel am besten untergebracht werden können. Die Kassen
eignen sich hier nicht zu Filialdepots, weil es sich ja um dringlich
verlangte Instrumente handelt. Am zweckmäßigsten dürfen diese
Gegenstände dem Arzte einerseits, dem Apotheker andererseits in
Verwahrung gegeben werden. Manches ist nach dem Gebrauche
noch verwendbar (Inhalationsapparate Eisblasen, u. dgl.), könnte
von den Zentralstellen zur Sterilisation im großen abgeholt und
anderen Kranken gegeben werden. Von Wichtigkeit dürfte der
Großeinkauf künstlicher Nährmittel durch den ständigen Ausschuß
<ler Bezirkskassen sein ; auch die selbständige Produktion wird hier
gewünscht, nämlich die Errichtung von Krankenküchen für Er¬
wachsene und Milchstuben für Säuglinge. Das ist ein sozial
therapeutisches Gebiet, welches stark in die soziale Prophylaxe
hinübergreift.
Manche Gebiete der Heilmittellieferung vertragen aber eine
so weitgehende Zentralisation nicht. Der von Röder gemachte
Vorschlag eines Zentralbadeinstitutes für die Berliner Kranken¬
kassen wäre kein ökonomischer Fortschritt, denn sehr viele Ver¬
sicherte können erst spät nach Verlassen der Arbeit ihr Dampfbad
in der nächsten Badestelle nehmen. Hier ist die Dezentralisation
bequemer und billiger, diese hat aber wiederum den Nachteil, daß
in den privaten Badeanstalten die Kontrolle fehlt und daher zum
Schaden der Kassen die Kurpfuscherei sich üppig entwickeln darf.
Die privaten Badeanstalten geben dem Besucher gern den Rat, sich
doch recht viele Dampfbäder verschreiben zu lassen, erst deren
Masse könne wirken.
Dort wo eine Bandage besondere Konstruktion (Wanderniere,
Bruchband usw.) erfordert, sind tüchtige Fachleute nötig, die fertigen
Bruchbänder entsprechen nicht der Größe des Bruches, sind schlecht
hergestellt, müssen daher zu oft erneuert werden und verursachen
so unnötige Kosten.
Im Mittelpunkt dieser genossenschaftlichen Umbildung steht
die Frage nach dem Bestände der Apotheken. Mögen die Hand-
verkaufsartikel im großen ein gekauft oder hergestellt werden, ihre
Bezugsquellen sollten nur die Apotheken sein. Der Fehler, den
gegenwärtig einzelne Krankenkassen durch das Hereinziehen der
Drogengeschäfte, also durch das Heruntergehen von einem geprüften
zum ungeprüften Stande, begangen haben, muß durch zentralisierte
152
L. Eisenstadt,
Kassen wieder beseitigt werden. Denn die Drogengeschäfte, diese
Brutstätten der Kurpfuscherei, dürfen bei der sozialen Versicherung in
Zukunft nicht zugelassen werden. Andere Fragen sind, ob die wirt¬
schaftliche Existenz der ilpotheken und des Personals derselben ge¬
sichert wird, wenn der Handverkauf auch der heute freigegebeuen
Mittel in die Apotheken zurückkehrt und ob dann die „ärztliche Rat¬
erteilung“, die Verbindung mit Kurpfuschern, die Empfehlung von Ge¬
heimmitteln aus diesen Stätten des Heildienstes verschwinden werden.
Leider dürften diese Fragen nicht zu bejahen sein, wenn wir uns
überlegen, daß die Zentralisation der Kassen die Selbstversorgung
mit Heilmitteln vermindert, den Kreis des privaten Bedarfs einengt
und das Medikament im Wettbewerb mit anderen Heilfaktoren
noch mehr als jetzt in den Hintergrund treten läßt. Erinnern wir
uns ferner, wie die einzigen Apotheken kleiner Ortschaften auf
die Kassen bzw. die Kassenärzte einen Druck dahin auszuüben
suchen, daß der Arzneikonsum ja nicht verringert werde. Schlie߬
lich ist auch des Konzessionswesens und der schlimmen Lage der
Apothekergehilfen, die mit Notwendigkeit zur Bildung einer Gewerk¬
schaft führte, zu gedenken. Alles dieses macht uns begreiflich,
weshalb von verschiedenen Seiten besonders auch von den Apo¬
thekern selbst der Wunsch nach Kommunalapotheken laut wurde.
Die berufliche Tätigkeiten der Pharmazeuten ist auch mit
einer beamteten Stellung ohne Schaden für die Kranken leicht zu
vereinen. Sie besteht einerseits aus rein geschäftlichen Leistungen,
Abgabe vorrätiger Substanzen andererseits in pharmakologisch-
wissenschaftlischer Arbeit bei Mischungen, Wägungen, Harn¬
analysen u. a. Mag die letztere auch mit hoher Verantwortung
verbunden sein, so erfolgt sie doch im Aufträge des Arztes; der
Apotheker tritt nicht mit seiner ganzen Persönlichkeit so dem
Kranken entgegen wie der Arzt.
Die Körperschaften der Krankenversicherung haben an der
Reform der Apotheken ein wichtiges Interesse nicht allein aus
ökonomischen Gründen, sondern auch, weil eine Kontrolle der Be¬
schaffenheit der eingekauften Stoffe und fertigen Verordnungen
von größter Bedeutung für die Versicherten ist.
Die Vermehrung der ländlichen Krankenhäuser wird den
Krankenkassen auch die Pflicht auferlegen, das Krankentransport¬
wesen zu verbessern, eigene Krankenwagen, Desinfektionsvor¬
richtungen. Sauerstoffinhalationsapparate anzuschaffen und dauernd
bereit zu halten. Krankenpfleger würden hierzu von den Kassen
als Beamte angestellt werden.
Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
153
Die völlige Verstaatlichung.
Wenn wir aus obiger Darlegung sehen, wie zahlreiche Fach¬
leute der Heilkunst der zweifelhaften Existenz eines freien Gewerbes
entzogen werden und an den zentralen und lokalen Dienststellen
der sozialen Versicherung als Beamte fungieren können, so liegt
die Idee nahe, auch das Heilpersonal aus Arbeitnehmern in Beamte
umzuwandeln. Es fungieren ja heute bereits die leitenden Ärzte
der Heilstätten der Landesversicherungsanstalten und Berufs¬
genossenschaften als festangestellte Beamte, ebenso die dort be¬
schäftigten Pfleger, Pflegerinnen und Assistenzärzte, wenn auch
letztere vorläufig als Beamte in Übergangstellung. Dazu kommen
schon gegenwärtig die gutachtlich tätigen, beamteten Vertrauens-,
Spezialärzte und wohl auch ärztliche Gewerbeinspektoren. Es fragt
sich nun, ob es auch ratsam ist, den frei praktizierenden Kassen¬
ärzten einen beamteten Charakter zu geben. Bein vom Standpunkte
der wirtschaftlichen Versorgung haben einige Ärzte diese Frage bejaht.
Sehr eher, Verhandl. d. Ges. f. Soz. Medizin u. Reform, 1906, S. 281,
beantwortet ganz im Sinne Z e p 1 e r s und L a s s a r s den Wunsch nach
freier Zulassung dahin, daß jeder Arzt, der es wünsche, als beamteter
Kassenarzt anzustellen sei, aber dabei begeht er den Kardinalfehler,
ein festes Gehalt zu verlangen. Jedes feste Gehalt, mag es
sogar doppelt so hoch sein als Sehr eher zugesteht, wirkt
nämlich als Pauschalhonorar, die Patienten geraten
dadurch in Gefahr hinsichtlich der Einzelleistungen.
Das ist die Ursache, weshalb bisher in allen Fällen das System
beamteter Kassenärzte Fiasko gemacht hat. Das Pauschale in
Form des festen Gehaltes zerstört völlig den Wettbewerb sowohl
der Ärzte als der Arztformen untereinander. Diese aus dem Werde¬
gang der Kassenarztfrage hervorgegangene Erfahrung und unum¬
stößliche Tatsache hat Sehre ber übersehen, sonst hätte er außer
einem festen Gehalt als der Grundlage eine Bezahlung jeder ein¬
zelnen Leistung nach einen korporativ zu vereinbarenden Mindest¬
tarif fordern müssen.
Ein solches Grundgehalt würde nur zur Versorgung dienen,
also ein Existenzminimum der Kassenärzte bedeuten, in der Er¬
kenntnis, daß selbst bei freier Zulassung und Bezahlung der Einzel¬
leistungen, aus deren Einnahmen ausschließlich nur wenige Ärzte
ihren Unterhalt beschaffen können.
Doch entspricht jede Beamtung des frei praktizierenden Heil¬
personals kaum dem sozialen Geiste der Versicherung, noch
154
L. Eisenstadt, Die Arbeitnehmer der sozialen Versicherung.
weniger der Stellung des Arztes in derselben, am wenigsten den
Bedürfnissen des Versicherten. Dieser soll am behandelnden
Arzte seinen Rechtsanwalt, nicht einen Staatsanwalt oder Richter
haben. Das kranke Individuum, die individuelle Krankkeit erfordern
eine individuelle Behandlung. Gering ist die Gefahr der Poly-
• •
pragmasie, welche durch den Ausbau der therapeutischen Ökonomie
gemildert werden kann, gegenüber der Sparsamkeit genügsamer,
selbstzufriedener und verknöcherten Beamten. Außerdem bietet
sich ein anderer schon betretener Weg der wirtschaftlichen Hebung
des Standes, nämlich die Förderung und weiterer Ausbau der ärzt¬
lichen Gewerkschaft und Genossenschaft. Dieser muß aufgetragen
werden, jedem einzelnen Mitgliede einen ausreichenden Wirkungs¬
kreis zu verschaffen, ihre Fürsorgeeinrichtungen für die invaliden
Ärzte und die Hinterbliebenen, ihre Organisation des Rettungs-,
Nacht- und Sonntagsdienstes sind von den Körperschaften der
sozialen Versicherung zu fördern. Sehr wesentlich könnte die Lage
des frei praktizierenden Heilpersonals durch die Errichtung von
Tarifämtern für die Privatpraxis gebessert werden. (Vgl. Medizi¬
nische Klinik 1905, 49, S. 1255.)
Von den Nichtärzten, die sich zum Kapitel der Arbeitnehmer
der sozialen Versicherung geäußert haben, scheint mir besonders
Sayffaerth diese verwickelten Verhältnisse erkannt zu haben.
Er meint, die Krankenkassen würden durch vorzeitige Überlassung
geeigneter Fälle zwecks intensiven Heilverfahrens an Berufs¬
genossenschaften und Landesversicherungen Ersparnisse machen,
welche zur Aufbesserung der Leistungen an einigen Stellen und
zur besseren Bezahlung der Ärzte verwendet werden könnten
(Verhandl. d. Ges. f. Soz. Med., H. 12, 1905, S. 47).
Größere Beiträge würden hierzu bei der Organisation der
Arbeitsvermittlung frei werden (ebendort S. 47). Vielleicht wird
die Zunkunft lehren, daß die freie Arztwahl und die höhere Hono¬
rierung der Einzelleistung gar nicht die befürchtete Steigerung
der Ausgaben zur Folge hat (S. 54). Aus unseren Darlegungen
ergeben sich klar die Maßnahmen, welche zu treffen sind, um bei
der Neuordnung der Arbeiterversicherung auf diejenigen Berufe
Rücksicht zu nehmen, für deren Versorgung zwar die Versicherung
nicht geschaffen wurde, auf deren Schultern aber die Ausführung
der wichtigsten Funktion ruht, nämlich die der Wiederherstellung
der Arbeitsfähigkeit.
Das preußische Gesetz, betreffend die Bekämpfung
übertragbarer Krankheiten vom 28. August 11)05. \)
Von Dr. Franz Nesemann,
Regierungs- und Medizinalrat in Berlin.
Die vom preußischen Ministerium der Medizinalangelegenheiten
in Anssicht gestellten Änderungen der Ausführungsbestimmungen
zu dem Gesetze vom 28. August 1905, auf welche in Heft 3 Band I
dieser Zeitschrift auf Seite 246 (Anmerkung) hingewiesen worden
war, sind inzwischen durch Erlaß des Herrn Ministers vom 25. Sep¬
tember 1906 bekannt gegeben worden.
Eine Zusammenstellung der sämtlichen nunmehr gültigen
Ausführungsbestimmungen ist unter der Bezeichnung „Allgemeine
A u s f ü h r u n gs b e s t i m m u ng e n z u dem G e s e t z , b e t r e f f e n d
dieBekämpfungübertragbarerKrankheiten“ erschienen
und in Nr. 17 des Ministerialblattes 1906 für Medizinal- und
medizinische Unterrichts- Angelegenheiten abgedruckt.
Gleichzeitig mit diesen „Allgemeinen Ausführungsbestimmungen“
sind für neun übertragbare Krankheiten, nämlich Diphtherie, übertrag¬
bare Genickstarre, Kindbettfieber, Körnerkrankheit (Granulöse, Tra¬
chom), Milzbrand, Rotz, übertragbare Ruhr, Scharlach und Unterleibs¬
typhus Sonder an Weisungen zu ihrer Bekämpfung erschienen,
welche in einer besonderen Beilage zu Nr. 16 des genannten
Ministerialblattes abgedruckt sind. Diese Sonderanweisungen ent¬
halten nun zwar einzelne, für jede der übertragbaren Krankheiten
besonders gültige Bestimmungen, bringen jedoch im wesentlichen
eine Zusammenstellung der für die einzelnen übertragbaren Krank¬
heiten in Betracht kommenden Bestimmungen des Gesetzes vom
l) Nachtrag zu den Artikeln in Band I dieser Zeitschrift.
ißer Erkran-
Hi£ ist aucli
er Todesfall
«azuzeigen.
156 Franz Nesemaim,
28. August 1905 selbst sowie der dazu erlassenen allgemeinen
Ausführungsbestimmungen in ihrer jetzigen Fassung. Aus diesem
Grunde kann von einem Abdruck und eingehender Besprechung
der einzelnen Sonderanweisungen an dieser Stelle Abstand genommen
werden, doch werden sie, soweit möglich, Berücksichtigung finden.
Die Ausführungsbestimmungen in ihrer jetzigen Fassung ent¬
halten gegenüber ihrer ursprünglichen in den früheren Nummern
dieser Zeitschrift abgedruckten Fassung einige Änderungen und
Ergänzungen.
Viele derselben haben jedoch hauptsächlich Interesse für die
Behörden, weniger für das ärztliche und weitere Publikum. Sie
werden daher, zumal da auch der in dieser Zeitschrift zur Ver¬
fügung stehende Raum beschränkt ist, nur insoweit wörtlich abge¬
druckt werden, als es zum Verständnis notwendig ist, dabei aber
auch die übrigen Bestimmungen ihrem wesentlichen Inhalt nach
Erwähnung finden.
Die Änderungen und Zusätze der Ausführungsbestimmungen
in ihrer neuen Fassung betreffen hauptsächlich die Abschnitte 2
und 3 des Gesetzes über die Ermittlung der Krankheit und die
Schutzmaßregeln, ferner die Desinfektions-Anweisung, während die
Ausführungsbestimmungen zu den übrigen Abschnitten des Gesetzes
nur wenig geändert sind.
Im ersten Abschnitt, welcher sich auf die Anzeige¬
pflicht bezieht, haben die Ausführungsbestimmungen zu § 1
folgenden Zusatz erhalten:
Der Todesfall ist auch dann anzuzeigen, wenn die
Erkrankung des Verstorbenen bereits an gezeigt war.
Hiermit wird allerdings nur die Auffassung bestätigt, welche
bereits bei Besprechung des § 1 Abs. 1 des Gesetzes, in Heft 2,
Seite 164 Ausdruck gefunden hatte. In der Praxis dürfte indessen
diese Bestimmung auf manche Schwierigkeiten stoßen und auch
manche veranlassen.
Es sei nur an folgenden Fall gedacht. Auf dem Lande er¬
krankt jemand an einer übertragbaren Krankheit. Es wird ein Arzt
zugezogen , der auch den Krankheitsfall vorschriftsmäßig der Orts¬
polizeibehörde anzeigt. Der Arzt wird indessen nicht weiter zu dem
Kranken geholt, dieser bleibt ohne weitere Behandlung und stirbt. Eine
Leichenschau besteht nicht für den Bezirk, zu welchem der Ort
gehört. Nnn wäre der Haushaltungsvorstand zur Anzeige ver¬
pflichtet. ' Wird dieser aber überhaupt von dieser Verpflichtung
Kenntnis haben? Unterläßt er aber die Anzeige, so ist er nach
Preul*. Gesetz betr. d. Bekämpf, über tragt). Krankheiten y. 28. Aug. 1905. 157
§ 35 Abs. 1 des Gesetzes strafbar. Vielleicht hat nun auch der
zugezogene Arzt zufällig, etwa dadurch, daß die Angehörigen die
Arztkosten begleichen wollen, Kenntnis von den erfolgten Tode
des Kranken erhalten. Ist er damit gemäß § 1 Abs. 1 und § 2
Ziffer 1 verpflichtet, die Anzeige an die Ortspolizeibehörde zu er¬
statten, falls diese von den Angehörigen noch nicht erstattet ist?
Um derartige Schwierigkeiten zu vermeiden, die Anzeige des
erfolgten Todes aber unter allen Fällen zu sichern, dürfte es zweck¬
mäßig sein, den Standesbeamten die Verpflichtung aufzuerlegen,
daß sie die bei ihnen amtlich zur Anmeldung gelangenden Todes¬
fälle an übertragbaren Krankheiten der Ortspolizeibehörde an-
zeigen oder, sollte sich dieses als untunlich erweisen, daß sie
wenigstens die Angehörigen des Verstorbenen an ihre Verpflichtung
erinnern, den Todesfall auch der Ortspolizeibehörde anzuzeigen.
Das hier mit Bezug auf das preußische Gesetz Erörterte hat
in gleicher Weise auch für das Reichsgesetz vom 30. Juni 1900
Geltung.
In den Ausführungsbestimmungen zu § 4 hat Abs. 2 nur eine
unbedeutende formale Änderung erlitten, A b s a t z 6 dagegen folgenden
Zusatz erhalten:
Ratschläge an Ärzte für die Bekämpfung der übertragbaren
Genickstarre, der Körnerkrankheit, der übertragbaren Ruhr, des
Typhus und des Milzbrandes, sowie zur Verteilung an die Bevölke¬
rung geeignete gemeinverständliche Belehrungen über die Diphtherie,
die übertragbare Genickstarre, die Körnerkrankheit, die übertrag¬
bare Ruhr, den Scharlach, den Typhus, den Milzbrand und den
Rotz, werden in der erforderlichen Anzahl in dem Ministerium
der Medizinalangelegenheiten bereit gehalten und können behufs
Verteilung zur Zeit einer Epidemie erbeten werden.
Die zur Verteilung an die Hebammen und Standesbeamten
bestimmte gemeinverständliche Belehrung: „Wie schützt sich die
Wöchnerin vor dem Kindbettfieber ?“ kann durch Vermittlung des
Ministeriums der Medizinalangelegenheiten zum Selbstkostenpreis
bezogen werden.
Die Ratschläge für die Ärzte sind in genügender Anzahl den
Regierungen und dem Polizeipräsidium in Berlin zur alsbaldigen
Verteilung an die Ärzte überwiesen worden. Diese, wie die Be¬
lehrungen für die Bevölkerung und die Belehrungen für Wöchnerinnen,
finden sich in den Sonderanweisungen für die einzelnen übertrag¬
baren Krankheiten abgedruckt.
Nach § 29 der Sonderanweisung zur Bekämpfung des Kindbett-
Ratschläge ai
Ärzte.
Belehrung fü
Schwangere i
Wöchnerinnei
158
Franz Nesemann,
fiebers, wird den Gemeinden oder weiteren Kommunalverbänden
empfohlen, die Belehrungen für die Wöchnerinnen, die Hebammen
und Standesbeamten in angemessener Anzahl zur Verfügung zu
stellen. Die Standesbeamten sollen ferner veranlaßt werden, jeder
Person, welche eine Geburt anmeldet, ein Exemplar mitzugeben,
die Hebammen dagegen angewiesen werden, jeder Schwangeren,
welche sich an sie wendet, ein Exemplar davon auszuhändigen.
Es sollen also die Belehrungen den vor oder kurz nach ihrer
Entbindung befindlichen Frauen direkt in die Hand gegeben werden.
Nun werden aber in den an und für sich ja recht wertvollen Be¬
lehrungen einmal das Wesen und die Ursachen des Kindbettfiebers
ausführlich behandelt und die Mittel zu seiner Verhütung ange¬
geben.
Diese erstrecken sich auf Vorsichtsmaßregeln bei der inneren
Untersuchung der Schwangeren oder Gebärenden sowie auf die
Desinfektion der Hände und der bei der Entbindung gebrauchten
Instrumente. Das sind doch aber alles Vorschriften, die nur für den
Arzt und die Hebamme Geltung haben, nicht aber für betreffende
Frauen.
Außerdem werden zum Teil für die Verhütung des Wochenbett¬
fiebers Vorbedingungen gefordert, welche in der ärmeren Bevölke¬
rung oft nicht erfüllt werden können. Dazu gehört es, wenn ver¬
langt wird, daß das Geburts- und Wochenzimmer hell, groß und
luftig sein muß, eine Temperatur von 17 — 19° Celsius haben soll,
daß das Bett mit einer festen Matratze und einer wasserdichten
Unterlage versehen sein soll usw.
Es ist nun zu befürchten, daß die betreffenden Frauen bei
dem Hinweis auf die Gefahren, welchen sie im Wochenbett aus¬
gesetzt sind, und in der Erkenntnis, daß ihre Verhältnisse es ihnen
nicht gestatten, die geforderten Maßnahmen zur Verhütung dieser
Gefahren zu treffen, ernstlich beun r u h i g t werden, während ihnen
doch in ihrem Zustande Ruhe des Gemüts besonders vonöten ist.
Dieser Ubelstand könnte vermieden werden, wenn nur die
Hebammen die Belehrungen in die Hand bekämen mit der An¬
weisung, danach die sich ihnen anvertrauende Frauen in schonender
Weise zu belehren. Es dürfte sich dann aber empfehlen, die Be¬
lehrungen weiteren Kreisen, namentlich solchen Frauenvereinen,
welche sich der Schwangeren und Wöchnerinnen annehmen, zu¬
gänglich zu machen.
Als eine hohe Aufgabe privater Fürsorge dürfte es sich schlie߬
lich erweisen, jede ihrer Entbindung entgegensehende Frau unter
Preut». Gesetz betr. d. Bekämpf, übertragt). Krankheiten v. 28. Aug. 1905. 159
solche hygienischen Verhältnisse zu versetzen, wie sie in den Be¬
lehrungen zur Verhütung des Kindbettfiebers vorausgesetzt werden.
Im zweiten Abschnitt betreffend die Ermittlung der
Krankheit sind die Ausführungsbestimmungen der Übersichtlich¬
keit wegen in zwölf kleinere Abschnitte geteilt. Außerdem ent¬
hält der Abschnitt viele Änderungen und Zusätze.
Die von dem beamteten Arzt zu veranlassenden bakteriologischen
Untersuchungen sind nach den jetzigen Bestimmungen in jedem
Fall von Typhus, Milzbrand und Rotz zu veranlassen.
Neu ist die Bestimmung, daß der beamtete Arzt in Fällen
von Milzbrand und Rotz die Ermittlungen im Benehmen mit dem
beamteten Tierarzt vorzunehmen hat und daß darauf zu achten ist,
die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen im Einklang mit den vete¬
rinärpolizeilichen zu treffen.
Neu ist ferner folgende Bestimmung: In Ortschaften mit mehr
als 10 000 Einwohnern, in welchen die Seuche 0 bereits festgestellt
ist, haben die Ermittlungen und Feststellungen auch dann zu ge¬
schehen, wenn die Entfernungen, in welchen neue Krankheitsfälle
sich ereignen, von den alten Fällen so groß oder die örtlichen Be¬
dingungen ihrer Entstehung so verschieden sind, daß die Sachlage
nicht viel anders ist, als wenn die Krankheit in zwei verschiedenen,
einander naheliegenden Ortschaften ausbricht. Es empfiehlt sich,
daß in solchen Ortschaften die Polizeibehörde im Einvernehmen
mit dem beamtetem Arzt im voraus allgemein Bezirke räumlich ab¬
grenzt, in deren jeden der erste Seuchenfall von ihnen jedesmal
behandelt werden soll, wie der erste Fall der ganzen Ortschaft.
In den Sonderanweisungen für die einzelnen übertragbaren
Krankheiten sind besondere Bestimmungen enthalten, welche Punkte
von den Ärzten bzw. beamteten Ärzten bei der Ermittlung der
ersten Fälle zu berücksichtigen sind. Wegen Raummangels muß
leider auf nähere Angaben verzichtet werden.
Jeder Fall von
Typhus, Milz¬
brand u. Rotz
bakteriol. zu
untersuchen.
Verfahren bei
Milzbrand und
Rotz.
Ermittlungen
in Ortschaften
über 10000 Ein¬
wohner.
In betreff des ersten Falles von Diphtherie, Körnerkrankheit verfahren bei
oder Scharlach in einer Ortschaft wird bestimmt, daß, falls der Körnerkrank-
Fall nicht einem Arzte angezeigt worden ist, die Polizeibehörde, heit und
sobald sie irgendwie Kenntnis von dem Ausbruche der Krankheit
erhalten hat, behufs Kostenersparnis stets dem fiächsterreichbaren
Arzt unter Übersendung der Anzeige mit der Ermittlung und
9 Unter „Seuche“ ist hier jede übertragbare Krankheit zu verstehen.
160
Franz Nesemann,
Ermittlungen
hei jedem Fall
von Kindbett¬
fieber.
Wöchentliche
Nach¬
weisungen.
Bakteriolog.
Feststellung.
Feststellung’ des Falls beauftragt ; falls aber die Anzeige durch
einen Arzt erstattet ist, diesen um die erforderlichen Aufschlüsse
ersucht.
Die Regierungspräsidenten 3) können Ermittlungen über jeden
einzelnen Krankheits- und Todesfall anordnen. Neu ist, daß ihnen
empfohlen wird, von dieser Befugnis bei jedem einzelnen Krank¬
heits- oder Todesfall an Kindbettfieber oder Kindbettfieberverdacht
Gebrauch zu machen.
Die Bestimmungen über die dem Regierungspräsidenten nach
Anlage 3 einzureichenden Wochennachweisungen über die gemel¬
deten Erkrankungen und Todesfälle übertragbarer Krankheiten
sind in der Weise geändert, daß die Nach Weisungen nunmehr von
den Kreisärzten, und zwar am Dienstag zu erstatten sind.
Die Regierungspräsidenten haben andererseits ihre Wochennachwei¬
sungen nach Anlage 4 auch dem Kaiserlichen Gesundheitsamt
und dem Generalkommando, und zwar am Dienstag einzureichen.
Neu sind ferner folgende Bestimmungen: Für die bakterio¬
logische Feststellung übertragbarer Krankheiten sind eine Anzahl
staatlicher und städtischer Untersuchungsanstalten namhaft ge¬
macht. Aus der Zahl dieser Anstalten sollen die Regierungspräsi¬
denten im voraus bestimmte Stellen bezeichnen, an welche die
Untersuchungsobjekte aus ihrem Bezirk eingesandt werden können,
ebenso haben sie dafür Sorge zu tragen, daß zur Aufnahme der
Untersuchungsobjekte geeignete Gefäße an bestimmten Stellen,
welche den beamteten sowie den praktischen Ärzten bekannt zu
geben sind, bereitstehen.
Die bakteriologischen Untersuchungsanstalten sind somit nicht
nur zur amtlichen bakteriologischen Feststellung der Krankheit
bestimmt, sondern können auch von den Ärzten zur Sicherung der
Diagnose, so besonders bei Diphtherie, Genickstarre, Typhus, Ruhr,
Milzbrand und Rotz in Anspruch genommen werden, sobald die
für den einzelnen Bezirk in Betracht kommenden xAnstalten amt¬
lich bekannt gegeben sind. Zur Entnahme und Versendung der
Untersuchungsobjekte werden dann an gleichfalls bekannt zu
gebenden Stellen (Apotheken usw.) für jede der genannten Krank¬
heiten besondere Gefäße bereit gehalten und unentgeltlich abgegeben,
denen auch eine Anweisung zur Entnahme und Versendung der
Objekte beigefügt sind.
l) Alle Funktionen, welche in den Ausführungsbestimmungen den Itegie-
rungspräsidenten als Landespolizeibehörde zugewiesen werden, fallen im Landes¬
polizeibezirk Berlin dem Polizeipräsidenten von Berlin zu.
Prenß. Gesetz betr. d. Bekämpf, übertragb. Krankheiten v. 28. Ang. 1905. 101
Schließlich ist noch die neue Bestimmung zu erwähnen, daß Feststellung
der Minister der Medizinalangelegenheiten zur endgültigen Fest-
Stellung des Typhus in einer Ortschaft auch besondere Sachver¬
ständige an Ort und Stelle zu entsenden berechtigt ist.
Den Schluß der Ausführungsbestimmungen zu § 6 bilden Be¬
stimmungen über wöchentlichen Austausch der Mitteilungen über
Erkrankungen und Todesfälle an übertragbaren Krankheiten zwischen
Zivil- und Militärbehörden.
Die Ausführungsbestimmungen zu §8 des Gesetzes (Schutz¬
maßregeln) haben verschiedene wichtige Änderungen und Zu¬
sätze erhalten.
• •
Zunächst wird den Ärzten, welche von der Polizeibehörde mit Grundsätze tur
der Ermittlung der Krankheit betraut werden, — nicht beamtete Gehenden1
Ärzte kommen nur bei Diphtherie und Scharlach in Frage — zur Vorschläge.
Pflicht gemacht, bei den Vorschlägen, welche sie den Polizei¬
behörden machen, darauf Rücksicht zu nehmen, daß sich ihre Vor¬
schläge nur auf solche Maßnahmen beschränken, welche nach Lage
des Falls ausreichend erscheinen eine Weiterverbreitung der Krank¬
heit zu verhüten.
Soweit bei Milzbrand und Rotz veterinärpolizeiliche Interessen
berührt werden, hat sich der beamtete Arzt mit dem beamteten
Tierarzt ins Benehmen zu setzen.
Die zur Verhütung der Weiterverbreitung eines Falls einer Aufhebung der
übertragbaren Krankheit getroffenen Maßnahmen sind wieder Maßregeln-
a u f z n heben:
bezüglich der kranken Personen nach erfolgter Genesung,
nach Überführung in das Krankenhaus oder nach dem Ableben
des Kranken, in allen Fällen jedoch nur, nachdem die vor¬
schriftsmäßige Schlußdesinfektion stattgefunden hat;
bezüglich der krankheitsverdächtigen Personen bei
Kindbettfieber, Rückfallfieber, Typhus und Rotz, wenn sich der
Verdacht als begründet nicht herausgestellt hat ; bei Typhus
ist dieses erst dann anzunehmen, wenn eine mindestens zwei¬
malige bakteriologische Untersuchung negativ ausgefallen ist.
Absatz I enthält folgende neue Bestimmungen: Die Dauer Dauer der
der zulässigen Beobachtung ansteckungsverdächtiger Personen Beobachtun«-
beträgt bei Tollwut längstens ein Jahr.
Anscheinend gesunde Personen, welche in ihren Ausleerungen Bazillenträger,
die Erreger von Diphtherie , übertragbarer Genickstarre , Ruhr
oder Typhus ausscheiden („Bazillenträger“) sind auf die Gefahr,
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 11
162
Franz Xesemann.
Zureisende
Personen.
Absonderung
des Kranken.
Aufhebung der
Absonderung.
Transport
kranker und
krankheits¬
verdächtiger
Personen.
welche sie für ihre Umgebung bilden, aufmerksam zu machen und
zur Befolgung der erforderlichen Desinfektionsmaßregeln anzu¬
halten). x)
Die in A b s a t z II den Regierungspräsidenten erteilte Ermäch¬
tigung für zureisende Personen, welche aus Bezirken kommen, in
denen Körnerkrankheit, Rückfallfieber oder Typhus ausgebrochen
ist, die Meldepflicht anzuordnen, wird auf Fälle dringender Gefahr
beschränkt.
In Absatz III haben die Bestimmungen über die Abson¬
derung des Kranken eine gewisse Einschränkung erfahren.
So soll die Absonderung womöglich in der Behausung des
Kranken stattfinden; in Fällen, in denen dieses nicht möglich ist,,
soll der Kranke veranlaßt werden, sich freiwillig in ein Kranken¬
haus zu begeben.
Nur falls die nach dem Gutachten des beamteten Arztes zum
Zweck der Absonderung notwendigen Einrichtungen auf Erfordern
der Polizeibehörde nicht getroffen werden, kann die zwangsweise
Überführung des Kranken in ein geeignetes Krankenhaus oder in
einen anderen geeigneten Unterkunftsraum angeordnet werden, falls
es der beamtete Arzt für unerläßlich und der behandelnde Arzt
ohne Schädigung des Kranken für zulässig erklärt.
Neu sind ferner folgende Bestimmungen: Die Absonderung
eines an Ruhr oder Typhus ' Erkrankten ist auch nach seiner Ge¬
nesung erst dann aufzuheben, wenn sich die Stuhlentleerungen des
Kranken bei zwei, durch den Zeitraum einer Woche voneinander
getrennten bakteriologischen Untersuchungen als frei von Ruhr-
bzw. Typhusbazillen erwiesen haben.
Ist dieses nach Ablauf von 10 Wochen, vom Beginn der Er¬
krankung an gerechnet, noch nicht der Fall, so ist die Absonderung
aufzuheben, doch ist die betreffende Person als „Bazillenträger“
zu behandeln.
Es folgen dann besondere Bestimmungen über den Transport
von Personen, welche nach den Bestimmungen des Gesetzes ab¬
gesondert werden können. Es betrifft dieses kranke und k r ank-
heits verdächtige Personen (s. Heft 3. S. 238) bei Rotz, Rück¬
fallfieber und Typhus sowie kranke Personen bei übertragbarer
Genickstarre, Ruhr, Tollwut. Diphtherie und Scharlach. Droschken,
Straßen- oder Eisenbahnwagen und dgl. sollen in der Regel von
l) In den ursprünglichen Ausführungsbestimmungen waren die Bazillenträger
nur bei Typhus berücksichtigt worden.
Preuli. Gesetz betr. d. Bekämpf, iibertragb. Krankheiten v. 28. Aug. 1905. 103
diesen nicht benutzt werden. Ein ausnahmsweiser Transport von
Kranken oder Krankheitsverdächtigen im Sinne des Gesetzes auf
der Eisenbahn ist von der Polizeibehörde nur zu gestatten, falls
ein zuverlässiger Begleiter mitgegeben wird und weitere Vorsichts¬
maßregeln getroffen werden. Das betreffende Wagenabteil und
der Abort sind vorschriftsmäßig zu desinfizieren.
Es ist schon in seuchenfreien Zeiten darauf hinzuwirken, daß
wenigstens in größeren Städten zur Beförderung der Kranken ge¬
eignete, außen und innen desinfizierbare Fuhrwerke von Fuhrherrn,
Vereinen oder aus öffentlichen Mitteln bereit gehalten werden.
Nach jedem Krankentransport (es kommen nur die übertrag¬
baren Krankheiten in Betracht) ist dem Wagenführer von der Orts¬
polizeibehörde ein Schein über die Ausführung des Transports aus¬
zustellen. Diesen hat der Wagenführer innerhalb 24 Stunden der
Ortspolizeibehörde mit einem Ausweis über die Desinfektion des
Fuhrwerks der Ortspolizeibehörde wieder zurückzugeben.
Im Absatz VIII haben die Bestimmungen über das Fern¬
halten jugendlicher Personen vom Schul- und Unterrichtsbesuch
Ergänzungen erfahren.
Die Bestimmungen finden auch auf Erziehungsanstalten,
Kinderbewahranstalten, Spielschulen, Warteschulen, Kindergärten.
Krippen u. dgl. Anwendung.
Von jeder Fernhaltung einer Person von dem Schul- und Unter¬
richtsbesuche hat die Polizeibehörde dem Vorsteher der Schule
(Direktor, Rektor, Hauptlehrer, ersten Lehrer, Vorsteherin usw.)
unverzüglich Mitteilung zu machen.
Einrichtung
eines Kranken
transport-
wesens.
Schulen,
Erziehungs¬
anstalten usw
Wenn eine im Schulhause wohnhafte Person an einer der
vorbezeichneten Krankheiten erkrankt, so wird die Schulbehörde
die Schule unverzüglich zu schließen haben, falls der Kranke nicht
wirksam abgesondert werden kann. x)
Besonders sorgfältig sind bei dem Ausbruch einer übertrag¬
baren Krankheit die Kranken in Pensionaten, Alumnaten, Inter¬
naten, Waisenhäusern u. dgl. abzusondern und erforderlichenfalls
unverzüglich in ein geeignetes Krankenhaus oder in einen anderen
geeigneten Unterkunftsraum zu überführen.
Bei Diphtherie, übertragbarer Genickstarre und Scharlach ist
darauf hinzuwirken, daß diejenigen Zöglinge, welche mit Erkrankten
v) Die Entscheidung zu treffen, ob die Absonderung genügt, ist Sache des
beamteten Arztes.
11*
Desinfektion.
Hausdesinfek¬
tion.
164 Franz Nesemami.
»
in Berührung gewesen sind, täglich mehrmals Rachen und Nase
mit desinfizierendem Mundwasser ausspülen. Auch ist denjenigen
Zöglingen, welche mit Diphtheriekranken in Berührung gekommen
sind, dringend anzuraten, sich durch Einspritzung von Diphtherie¬
heilserum gegen die Krankheit immunisieren zu lassen.
Während der Dauer und unmittelbar nach dem Erlöschen der
Krankheit empfiehlt es sich, daß der Anstaltsvorstand nur solche
Zöglinge aus der Anstalt entläßt, welche nach ärztlichem Gut¬
achten gesund, und in deren Absonderungen die Erreger der Krank¬
heit nicht nachgewiesen sind.
In Absatz XI ist zunächst zu erwähnen, daß die Des¬
infektionsanweisung (Anlage 5) gegen die frühere wesent¬
lich vereinfacht ist. 5 proz. Karbolsäurelösung, 5 proz. Kresolwasser,
Kresolschwefelsäure, Schmierseife und Steinkohlen- oder Holzteer
sind als Desinfektionsmittel überhaupt fortgefallen.
Außer der Desinfektion mittels strömenden Wasserdampfes,
durch Verbrennen und Auskochen infizierter Gegenstände kommen
jetzt nur folgende Desinfektionsmittel in Betracht: verdünntes,
2,5 proz. Kresolwasser, 3 proz. Karbolsäurelösung, 1/1Q proz. Sublimat¬
lösung, Kalkmilch, Chlorkalkmilch und Formaldehyd in Dampfform,
oder in 1 prozentiger wässeriger Lösung. Für die Bereitung
dieser Desinfektionsmittel sind besondere Vorschriften gegeben.
Für die Ausführung der Desinfektion ist es als besonders
wichtig hervorgehoben, daß während der ganzen Dauer der
Krankheit die Desinfektion am Krankenbett stattzu finden
hat. Es soll in jedem Fall angeordnet und sorgfältig darüber
gewacht werden, daß womöglich vom Beginne der Erkrankung an
bis zu ihrer Beendigung alle Ausscheidungen des Kranken, und
die von ihm benutzten Gegenstände, soweit sie als mit dem Krankheits¬
erreger behaftet anzusehen sind, fortlaufend desinfiziert werden.
Es wird besonders als Aufgabe der Polizeibehörde und der beamteten
• •
Arzte (nach der zuerst erlassenen Anweisung auch der praktischen
Ärzte) bezeichnet, die Bevölkerung bei jeder sich darbietenden,
Gelegenheit auf die Desinfektion am Krankenbett hinzuweisen.
Diese Desinfektion hat sich zunächst auf alle Ausscheidungen
des Kranken zu erstrecken; je nach der Natur der Krankheit
kommen besonders Lungen- und Kehlkopfauswurf. Rachen- und
Nasenschleim, dann Gurgelwässer, blutige, eitrige und wässerige
Mund- und Geschwürsausscheidungen, bei Sterbenden auch aus
Mund und Nase hervorquellende Flüssigkeit, weiter Erbrochenes
Preuß. Gesetz betr. <1. Bekämpf, tibertragb. Krankheiten v. 28. Aug. 1905. 165
Stuhlgang und Harn, endlich Hautabgänge (Schorfe, Schuppen
n. dgl.) in Betracht.
Außerdem sind zu desinfizieren Verbandgegenstände, Vorlagen
von Wöchnerinnen, Schmutz- und Bade Wässer, Waschbecken, Spuck-
gexäße, Nachtgeschirre, Steckbecken, Badewannen (nachdem vorher
der Inhalt desinfiziert ist), Eß- und Trinkgeschirre, Tee- und E߬
löffel, Messer, Gabeln usw., Spielsachen, Bücher, Bett- und Leib¬
wäsche, zur Reinigung der Kranken benutzte Tücher, waschbare
Kleidungsstücke, Haar-, Nagel- und Kleiderbürsten; ferner kommen
für die Desinfektion noch in Betracht der Fußboden des Kranken¬
zimmers, der Nachttisch oder die Wand in der Nähe des Bettes,
je nachdem diese mit Ausscheidungen des Kranken beschmutzt
worden sind. Kehricht und Gegenstände von geringerem Wert
(Strohsäcke mit Inhalt, gebrauchte Lappen, einschließlich der bei
der Desinfektion gebrauchten, abgetragene Kleidungsstücke, Lumpen
u. dgl.) sind am besten, wo dieses angängig ist, zu verbrennen.
Auch die mit der Wartung und Pflege des Kranken betrauten
Personen sollen ihren Körper, ihre Wäsche und Kleidung nach
näherer Anweisung regelmäßig desinfizieren, besonders müssen die
Hände des Kranken und der ihn umgebenden Personen jedesmal,
wenn sie mit infizierten Gegenständen (Ausscheidungen des Kranken,
beschmutzter Wäsche usw.) in Berührung gekommen sind, gründlich
desinfiziert werden.
Fast für alle diese Desinfektionszwecke genügt das verdünnte
2,5 proz. Kresolwasser. Es empfiehlt sich daher, im Kranken¬
zimmer ein Gefäß mit dieser Flüssigkeit vorrätig zu halten.
Genesene sollen vor Wiedereintritt in den Verkehr ihren Körper
gründlich reinigen, und womöglich ein Vollbad nehmen. Auch die
sogenannte S c h 1 u ß d e s i n f e k t i o n , d. h. die Desinfektion, welche
erfolgt, nachdem der Kranke genesen, in ein Krankenhaus oder
in einen anderen Unterkunftsraum übergeführt, oder aber ver¬
storben ist, läßt sich nach den nunmehr gültigen Desinfektions¬
vorschriften wesentlich vereinfachen.
4
Es lassen sich die übertragbaren Krankheiten *) in 2 große
Gruppen teilen, nämlich in solche, bei denen zur Desinfektion
der zu desinfizierenden Räume das Formaldehydgas anzu¬
wenden ist, und in solche, bei denen es nicht anwendbar ist.
x) Jn betreff der Desinfektion bei gemeingefährlichen Krankheiten dürfte
bald eine besondere Anweisung ergehen. Eine solche,, steht dem Vernehmen
nach zurzeit beim Bundesrat zur Beratung.
Scliluß-
desinfektion.
106
Franz Nesemann.
Erlaß von Des¬
infektions¬
ordnungen.
Überwachung
der
Desinfektion.
Zur ersten Gruppe gehören: Diphtherie, übertragbare Genick¬
starre, Rotz, Rückfallfieber, Scharlach, Tuberkulose.
Zur zweiten : Granulöse, Kindbettfieber. Milzbrand, Ruhr, Unter¬
leibstyphus (einschließlich des Paratyphus).
Von den sonstigen oben angeführten Desinfektionsmitteln ge¬
nügen für die Wohnungsdesinfektion vollständig verdünntes Krosol-
vvasser, Kalkmilch und 1 % Formaldehydlösung; außerdem kommt
für einzelne Gegenstände Verbrennen, für andere Auskochen in
Betracht, während weitere (nicht waschbare Kleidungsstücke, Feder¬
betten, wollene Decken, Matratzen ohne Holzrahmen, Teppiche usw.)
am besten in einer Desinfektionsanstalt mittels strömenden Wasser¬
dampfes desinfiziert werden.
Außer für die Wohnungsdesinfektion sind in Anlage 5 noch be¬
sondere^ Vorschriften für die Desinfektion von Krankenwagen, Kranken¬
tragen usw. sowie Personenfahrzeugen aller Art, dann aber auch
von Schiffen und Flößen gegeben. Für Schifte ist bei übertrag¬
barer Ruhr und Unterleibstyphus auch eine Desinfektion des
Kiel-(Bilge-)Raumes vorgesehen.
Von weiterem Interesse dürften folgende neu aufgenommenen
Bestimmungen sein : Es empfiehlt sich, in Gemeinden und weiteren
Kommunalverbänden, welche das Desinfektionswesen regeln, in Be¬
nehmen mit dem beamteten Arzt Desinfektionsordnungen
zu erlassen; diese bedürfen der Genehmigung des Regierungsprä¬
sidenten.
Die angeordneten Desinfektionsmaßregeln sind, soweit tunlich,
durch staatlich geprüfte und amtlich bestellte Desinfektoren aus¬
zuführen, jedenfalls aber durch derartige sachverständige Personen
zu überwachen. Schließlich wird in Abschnitt XII bei Be¬
erdigungen von Leichen der an einer übertragbaren Krankheit
Verstorbenen noch besonders das Betreten des Sterbehauses durch
Schulkinder verboten, während weitere Verbote für diese schon in
den früheren Ausführungsbestimmungen enthalten waren.
Die Sonderanweisungen enthalten für einen Teil der übertrag¬
baren Krankheiten noch besondere Bestimmungen, betreffend Ma߬
regeln bei gehäuftem Auftreten der Krankheit sowie Vorbeugungs¬
und Vorbereitungsmaßregeln, die jedoch nur für die Staats- und
Kommunalbehörden von wesentlichem Interesse sind.
l) Diese Bestimmung kann sich nur auf die Schlußdesinfektion beziehen. Die
Überwachung der Hausdesinfektion wird, wie schon S. 298 hervorgehoben, am
besten dem behandelnden Arzte überlassen bleiben, auch Krankenschwestern usw.
imvertraut werden können.
PreiiiJ. Gesetz betr. d. Bekämpf, Übertrag!). Krankheiten y. 28. Aug. 1905. 167
Militär- und
Marine¬
behörden.
In den Ausfuhr ungsbestimmungen zu den anderen Abschnitten
sind noch folgende Änderungen erfolgt:
Die Ausführungsbestimmungen zu § 12 des Gesetzes weisen die verfahren der
Ermittelung der Krankheit und die Ausführung der nach Maßgabe
der Allgemeinen Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz vom
28. August 1905 zu ergreifenden Schutzmaßregeln den Militär- und
Marinebehörden zu. soweit es sich um zu diesen gehörige Militär¬
personen, Grundstücke und Einrichtungen handelt; den Eisenbahn¬
behörden die Ausführung der zu ergreifenden Schutzmaßregeln, so¬
weit es sich um Maßnahmen für den Eisenbahnverkehr und im
Anschluß an diesen geführte Schiffahrtsbetriebe handelt.
Zu § 25 haben die Ausführungsbestimmungen folgenden Zusatz Kostenprüfung
erhalten. Ist der Vorschrift zu § 6 zuwider r) von der Ortspolizei¬
behörde nicht der nächster reichbare Arzt zugezogen
worden und sind hierdurch Mehrkosten entstanden, so hat der
Regierungspräsident zu prüfen, ob diese Abweichung gerechtfertigt
erscheint. Ist dieses nicht der Fall, so ist der Ortspolizeibehörde
nur derjenige Betrag zu erstatten, welcher im Falle der Zuziehung
des nächsterreichbaren Arztes entstanden sein würde. Zu § 30
hat Absatz 1 folgende Erweiterungen und Zusätze erhalten:
Die Kommunalaufsichtsbehörden haben beizeiten dafür Sorge Beschaltung
zu tragen, daß der Bedarf an Unterkunftsräumen, Ärzten, Pflege- Unt™“nfts
personal, Arzenei, Desinfektions- und Beförderungsmitteln für Kranke räumen usw.
und Verstorbene durch freiwillige Beschaffung seitens der Kom¬
munalverbände, namentlich der Kreise, sicher gestellt wird.
In größeren Ortschaften ist auf die Errichtung von öffent¬
lichen Desinfektionsanstalten, in welchen die Anwendung von
Wasserdampf als Desinfektionsmittel erfolgen kann, hinzuwirken,
sofern solche Anstalten nicht bereits in genügender Anzahl vor¬
handen sind. Die Ausbildung eines geschulten Desinfektionsper¬
sonals ist ebenfalls rechtzeitig vorzubereiten.
Weitere Änderungen enthalten die nunmehr in Kraft ge¬
tretenen allgemeinen Ausführungsbestimmungen gegenüber den zu¬
erst erlassenen nicht.
0 Es handelt sich um die Entwicklung der ersten Fälle hei Diphtherie,
Körnerkrankheit und Scharlach.
l)ev Ausbau der Arbeiterversicherjing in Österreich.
Von Siegmünd Kaff, Wien.
(Fortsetzung.)
Das erste Kriterium für die Beurteilung des sozialpolitischen
Wertes eines Arbeitergesetzes, welches die obligatorische Ver¬
sicherung bezweckt, ist die Frage nach dem Umfange der Ver¬
sicherungspflicht. Nachdem einmal der Versicherungszwang in
Theorie und Praxis zum Axiom der Gesetzgebung geworden ist,
folgt daraus mit Notwendigkeit, daß das Obligatorium für eine
bestimmte Klasse zur möglichst ausnahmslosen Regel werden muß
und daß eine Durchbrechung derselben nur dann als zulässig an¬
gesehen werden kann, wenn die Schwierigkeiten, welche einer
obligatorischen Einbeziehung aller Versicherungsbedürftigen ent¬
gegenstehen, so ganz außerordentlich große sind, daß sie die Durch¬
führung des Versicherungszwanges unter gewöhnlichen Umständen
verhindern.
Wie verhält sich nun der Entwurf in diesem wichtigen Punkte?
Hier muß zunächst ein Moment besprochen werden, welches
in der Arbeiterversicherung Österreichs aktueller ist als in der
Gesetzgebung des Deutschen Reiches. Das Regierungsprogramm
führt nämlich die Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter
ein, verbunden mit einer Unterstützung der hinterbliebenen Witwen
und Waisen der Versicherten. Während nun im Deutschen Reiche
die Zahl der gegen Unfall Versicherten weitaus größer ist als die
Zahl der gegen Krankheit und Invalidität Versicherten, soll nach
dem Programm der österreichischen Regierung die Zahl der Unfall¬
versicherten weitaus geringer sein als jene der gegen Krankheit
und Invalidität versicherten Personen.
Eine Kongruenz der drei Versicherungskreise ist weder in
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
169
Deutschland vorhanden noch würde sie nach dem Regierungs¬
programm bei uns ein treten. Während aber im Deutschen Reiche
die Inkongruenz der drei Versicherungskreise untereinander eine
ganz erhebliche ist, würde sich nach dem vorliegenden Entwürfe
bloß hinsichtlich der Unfallversicherung eine Inkongruenz ergeben,
indes der Kreis der Kranken- und Invaliditätsversicherung sich
nahezu völlig deckt. In Anbetracht der auch vom Regierungs-
entwurfe unternommenen Versuche einer organisatorischen Ver¬
schmelzung der Versicherungskreise ist dieses Moment nicht ganz
ohne Belang. Das Regierungsprogramm läßt denn auch deutlich
die Absicht erkennen, vor allem zwischen der Kranken- und In¬
validitätsversicherung einen Zusammenhang herzustellen. Der
deutlichste Beweis für diese gewiß nicht unzweckmäßige Tendenz
liegt in der Bestimmung der Versicherungspflicht hinsichtlich der
Kranken- und Invaliditätsversicherung, der alle Per¬
sonen unterworfen sein sollen, „welche auf Grund eingegangener
Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisse nicht in eigener Betriebs¬
stätte arbeiten, oder Dienste gegen Entgelt verrichten Damit
ist der Kreis der Versicherungspfiicht allerdings weit gezogen, er
wird aber durch so zahlreiche Ausnahmen eingeengt, daß er nicht
einmal als Norm gelten kann. Immerhin sollen die Vorteile der
Definition anerkannt werden. Der Entwurf kennt mit Recht keine
Grenze nach unten, dafür aber eine solche nach oben, indem er
festsetzt, daß vom Versicherungszwange die im Monats- oder
Jahresgehalt stehenden Personen, deren Bezüge monatlich 200 Kr.,
oder jährlich 2400 Kr. übersteigen, ausgenommen sein sollen. So
sehr man nun die Bestimmung einer Maximalgrenze als berechtigt
anerkennen mag, ebenso sehr wird man wohl — wenn man es
nicht doch lieber vorzieht, von der Festsetzung einer Maximal¬
grenze gänzlich abzusehen — sich für eine höher gesteckte Grenze
aussprechen müssen. Diese Forderung erscheint schon deshalb als
begründet, weil auch die Kategorie der Beamten in die Versiche¬
rung einbezogen ist und für den Fall, daß für dieselben eine eigene
Versicherungsorganisation, wie sie der Entwurf betreffend die
Pensionsversicherung der Privatangestellten vorsieht, geschaffen
werden sollte, eine Maximalgrenze nicht normiert wurde. Ebenso¬
wenig ist dies in der geltenden Gesetzgebung geschehen. Das
Abweichen von dem bisherigen Prinzipe bezweckt — was die Re¬
gierung in den erläuternden Bemerkungen zum Entwürfe freilich
nicht hervorhebt — eine Konzession an die Ärzte, welche Personen
mit Jahresbezügen über 2400 Kr. nicht als versicherungsbedürftig
170
Siegmund Kaff.
anerkennen und für ihre freie Praxis reklamieren. Wie sehr die
wirtschaftlichen Verhältnisse auch der sogenannten höheren Dienst¬
kategorien unter den Privatbeamten und Angestellten die Zulässig¬
keit einer solchen Konzession widerlegen, soll hier nicht weiter
erörtert werden. Wir wollen uns bloß auf die Bemerkung be¬
schränken, daß durch die Fassung des Regierungsentwurfes leicht
die Möglichkeit eintreten kann, daß weitaus besser situierte Per¬
sonen, als es die hier von der Versicherungspflicht ausgenommenen
Kategorien sind, der obligatorischen Versicherung unterworfen sein
könnten, wenn sich nur ihre Bezüge nicht als monatlich oder
jährlich ausgezahlte „Gehalte“ darstellen, und daß entgegen der
Absicht der Regierung leicht ein Einschleichen in die Versiche¬
rungspflicht stattfinden könnte, wenn — wie dies bei nicht wenigen
Kategorien von Privatangestellten der Fall ist — die Auszahlung
der Bezüge wöchentlich oder halbmonatlich erfolgt. Diese Tatsache
zeigt zur Genüge, daß die Einschränkung der Versicherungspflicht,
wie sie wenigstens hinsichtlich der Krankenversicherung nach dem
Entwürfe gegenüber dem geltenden Gesetze erfolgt, leicht den
Effekt haben kann, die sinngemäße Anwendung des Gesetzes
illusorisch zu machen oder zu erschweren, und daß es daher schon
aus rein gesetzestechnischen und praktischen Gründen bedenklich
erscheint, die in Monatsgehalt stehenden Personen auszuschließen
und die Gehaltsgrenze mit 200 Kr. monatlich abzustecken.
Noch weniger begründet ist die Ausschließung jener Personen,
deren Beschäftigung bei einem und demselben Dienstgeber nicht
länger als drei aufeinanderfolgende Tage dauert. Auch diese
Kategorie von Versicherungsbedürftigen unterliegt nach dem
geltenden Krankenversicherungsgesetze dem Versicherungszwange.
Ihr Ausschluß läßt sich sozialpolitisch ebensowenig rechtfertigen,
wie jener der sogenannten besser situierten Privatangestellten.
Er bedeutet eine Konzession an die Dienstgeber, aber auch an die
Kassenbureaukratie . welche man von der administrativen Mehr-
7
arbeit, die die unständigen Personen verursachen, befreien will.
Aber heben denn „Saison“ und wechselnde Konjunktur die Ver¬
sicherungsbedürftigkeit auf? Oder muß etwa diese ihre Schranke
finden an der mehr oder minder größeren Leichtigkeit bei der
Durchführung des Gesetzes ? Es soll nicht weiter bestritten werden,
daß sich heute schon durch die fortwährende An- und Abmeldung,
sowie durch die wechselnde Beitragsabfuhr unstabiler Lohnarbeiter
mancherlei Schwierigkeiten ergeben haben. Allein es ist gerade
nach den bisherigen Erfahrungen zum mindesten zweifelhaft, ob
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich. 171
es einen praktisch wertvollen Ausweg bedeutet, von den unstabilen
Lohnarbeitern gerade diejenigen auszuschließen, deren Beschäftigung
bei demselben Dienstgeber nicht länger als drei aufeinander¬
folgende Tage dauert. Es soll hierbei die sozialpolitische Seite
gar nicht erörtert, sondern nur in Parenthese bemerkt werden, daß
die Ausnahmsstellung der unstabilen Arbeiter hinsichtlich der
Krankenversicherung vielfach dazu führen wird, daß die Dienst¬
geber von einer dreitägigen Beschäftigung Umgang nehmen werden,
um der Versicherung zu entgehen. Allein selbst wenn man sich
auf den rein administrativen Standpunkt stellt und die Frage nach
der Durchführbarkeit des Gesetzes beurteilt, wird der Praktiker
zugeben müssen, daß mit dem teilweisen Ausschluß der unstabilen
Lohnarbeiter auch administrativ-technisch nicht allzu viel gewonnen
werden könnte, weil es in der Praxis schwer halten dürfte, die
Versicherungspflichtigen von den übrigen herauszugreifen. Gerade
die Teilung dieser Kategorie von bisher versicherungspflichtigen
Personen ist sehr geeignet, die Handhabung des Gesetzes zu
komplizieren, und es stellt sich deshalb diese Bestimmung als eine
ganz überflüssige Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes
dar, bei dem die angeblich administrativen Vorteile in keinem
Verhältnis zum Endeffekt stehen. Allein selbst wenn man die Un-
zukömmlichkeit , die die ausnahmslose Versicherung verursacht,
noch so hoch veranschlagen würde, darf daraus keineswegs die
Zulässigkeit eines Ausschlusses gefolgert werden; vielmehr müßte
dieser Umstand nur dazu benützt werden, um die Unmöglichkeit
oder Unzweckmäßigkeit zu illustrieren, die in der Verquickung
des Arbeitsvertrages und der Versicherungspflicht liegt. Ist es
nicht angängig, den ersteren von der letzteren vollständig zu
emanzipieren, so müßte es im Hinblick auf die unständigen Arbeiter
als notwendig befunden und angesehen werden, den Versicherungs¬
zwang in gewissen Fällen unabhängig vom Dienstvertrag zu
machen. Die Regierung selbst empfindet die Härte des Ausschlusses
und räumt deshalb den hiervon Betroffenen das Recht des frei¬
willigen Versicherungsverhältnisses ein; damit gibt sie selbst die
Überschätzung der administrativen Schwierigkeit zu und schwächt
die Gründe ab, die sie zum Ausschlüsse veranlaßten.
Eine dritte schwerwiegende Ausnahme betrifft die land-
und forstwirtschaftlichen Arbeiter, soweit dieselben nicht
unter die Dienstboten- und Gesindeordnungen fallen. Diese
Kategorie von Versicherungsbedürftigen war zwar bisher nicht
krankenversicherungspflichtig; ihre nunmehrige Einbeziehung ist
172
Siegmund Kaff.
offenbar unter dem Gesichtspunkte erfolgt, daß es sich hier um
eine Masse handelt, für welche der Versieherungszwang durchaus
notwendig ist. Dadurch aber, daß die Versicherungspflicht auf die
den Dienstboten(Gesinde)-ordnungen unterstehenden Knechte und
Mägde der Land- und Forstwirtschaft beschränkt wird, welche
heute im Erkrankungsfalle auf eine vierwöchentliche Naturalver¬
pflegung seitens des Dienstgebers Anspruch haben, bleibt die über¬
wiegende Mehrzahl der land- und fortwirtschaftlichen Arbeiter
außerhalb der Versicherung; denn nicht nur der Großgrundbesitz^
auch die mittleren Landwirte sowie die Kleinbauern beschäftigen
heute vielfach nichtständige Arbeiter. Insbesondere zur Erntezeit
schwillt die Zahl dieser vorübergehend beschäftigten Tagelöhner
derart an, daß sie die Menge des ständigen Gesindes weitaus über¬
ragt. Es hat aber auch in anderer Beziehung sein Mißliches, die
vollständig veralteten Dienstboten- und Gesindeordnungen zum Aus¬
schluß einer nicht bloß zahlenmäßig, sondern auch sonst schwer
feststellbaren Masse von versicherungsbedürftigen Personen zu be¬
nützen. In der Praxis würde sich eine solche Scheidung als voll¬
ständig verfehlt heraussteilen, weil weder die Grundbesitzer noch
die versicherungsbedürftigen Landproletarier an der Einhaltung
dieser Bestimmungen interessiert erscheinen und eine strikte
Durchführung des Gesetzes auch hier an den Wirklichkeiten des
wirtschaftlichen Lebens ohnmächtig zerschellen würde. Die Agrar¬
verfassung muß sozialpolitisch genommen werden, wie sie ist und
darf kein Hindernis bilden für die Anerkennung des Prinzips der
Versicherungspflicht, wenn man sich überhaupt teilweise dafür
schon zu engagieren bereit ist. Aber nicht bloß sozialpolitisch,
auch agrarpolitisch erscheint der Ausschluß der landwirtschaftlichen
Tagelöhner unangebracht.
Ja, man muß sagen, daß die Bedenken, die hinsichtlich des
Ausschlusses der unständigen Arbeiter geäußert wurden, in ver¬
stärktem Maße gegen die unvollständige Einbeziehung der land¬
wirtschaftlichen Arbeiter in die Versicherungspflicht sich geltend
machen lassen. Die Landflucht wird durch die Beschränkung der
Versicherung auf die Arbeits- und Hausgenossen des Landwirts
nicht im geringsten oder nur unwesentlich eingeschränkt werden.
Sie wird vielmehr dazu führen, daß die der Hausgenossenschaft
des Landwirts nicht angeliörigen Arbeiter in erhöhtem Grade das
Bedürfnis empfinden werden, in der Industrie Beschäftigung zu
finden, und die Landflucht wird um so größere Dimensionen an¬
nehmen, je auffälliger der Unterschied zwischen der Lebenshaltung
Der Ausbau der Arbeiter Versicherung- iu Österreich.
173
des ständigen Dienstpersonals und dem vorübergehend beschäftigten
Tagelöhner in der Landwirtschaft sich gestaltet. Dazu kommt,
daß die Zahl der bäuerlichen und landwirtschaftlichen Betriebe,
von welchen ständiges Arbeitspersonal gehalten wird, überhaupt
im Abnehmen begriffen ist, und daß das agrarische Arbeitsver¬
hältnis mein* und mehr den ursprünglichen patriarchalischen Cha¬
rakter verliert. Die Naturallöhnung spielt nicht mehr jene Rolle
wie einstmals, und die Verhältnisse nähern sich hinsichtlich der
Inständigkeit jenen gewisser Industriezweige, nur daß diese Ände¬
rung für beide Gruppen der Landbevölkerung von weit un¬
günstigeren Konsequenzen begleitet ist, als dies beim Übergang
vom Handwerksbetriebe zur Großindustrie der Fall war.
Auch bei den übrigen Kategorien Versicherungsbedürftiger
kommen wesentlich administrativ-technische Momente in Betracht.
Die Eigenartigkeit der Arbeitsverhältnisse macht die glatte Ein¬
beziehung schwierig und läßt die Frage einer besonderen Organi¬
sation als zunächst nicht unberechtigt erscheinen. Allein bei
näherem Zusehen ergibt sich doch, daß die Schwierigkeiten auch
hier stark überschätzt und dadurch nicht geringer werden, daß
man die betreffenden Kategorien aus dem Rahmen der allgemeinen
• •
Versicherung ausschaltet. Uber die sozialpolitische Notwendigkeit
der Fürsorge selbst besteht kein Zweifel. Im Gegenteil, sie ist
gerade bei diesen Kategorien vielfach größer als bei der Mehrheit
der industriellen Arbeiter. Nur daß eben die erhöhte Versicherungs¬
bedürftigkeit die Durchführung erschwert. Darf das aber ein
Hindernis sein?
Die Versicherung der Seeleute und zwar sowohl gegen
Krankheit und Invalidität wie gegen Unfall wird von der Re¬
gierung selbst als dringlich anerkannt, und es kann sich daher
bloß um die Prüfung der Frage handeln, ob die Versicherung der¬
selben durch ein eigenes Gesetz von den speziellen Verhältnissen
dieser Kategorie unbedingt gefordert wird. Im Deutschen Reiche
ist der Unfall-Berufsgenossenschaft der Seeleute auch die Invaliden¬
versicherung übertragen und wenn man auch die Art der Organi¬
sation als strittig hinstellen kann — die Entscheidung der Ver¬
sicherungspflicht durch das allgemeine Gesetz ist sicherlich als
zweckmäßig zu bezeichnen.
Vollständig außerhalb der Kranken- und Invalidenversicherung
bleibt ferner die Heimarbeit, wiewohl die Aufdeckung der
Verhältnisse in dieser Sphäre der Produktion die soziale Not¬
wendigkeit des Versicherungszwanges längst dargetan hat. Hier
174
Siegnmnd Kaff.
gilt das vorhin Gesagte in verstärktem Maße. Wenn auch die
besonderen Verhältnisse der Heimarbeiter die Versicherung im
Rahmen eines allgemeinen Gesetzes nicht vollständig und in jedem
Detail leicht regeln lassen, so darf doch nicht übersehen werden, daß
sich auch bei der Ausarbeitung eines speziellen Gesetzes Schwierig¬
keiten ergeben müssen, die nicht geringer sein können, als sie an
sich schon sind. Worum es sich gegenwärtig handelt, ist,
wenigstens den Versicherungszwang und die Versicherungsleistungen
grundsätzlich durch das allgemeine Gesetz festlegen zu lassen.
Alles übrige kann der weiteren Durchführung auf dem Verord¬
nungswege überlassen werden. Die Sache selbst ist längst spruch¬
reif und wenn die Regierung trotzdem mit der endlichen Regelung
zögert, so ist der Verdacht nicht abzuwehren, daß politische Mo¬
mente mitspielen, und daß diese bislang gewichtig genug sind, um
die sozialen und wirtschaftlichen Rücksichten verstummen zu
machen. Wie wenig aber im Grunde genommen die technischen
Bedenken ins Gewicht zu fallen brauchen, ist durch Spezialforscher
auf dem Gebiete der Heimarbeit, wie Professor Sch wiedland,
überzeugend dargetan worden. Die Regierung fühlt denn auch
die Schwäche ihrer Vorschläge und sie läßt deshalb für die Heim¬
arbeiter wie auch für die hausindustriell tätigen Personen, welche
sich von den ersteren nur dadurch unterscheiden, daß sie ein
Kollektivum (die Familienmitglieder) darstellen und Frauen- und
Kinderarbeit mit umfassen, die Selbst Versicherung zu und
behält sich überdies die Einbeziehung — generell oder teilweise
nach bestimmten Berufsarten (Gewerbszweigen) — in einzelne oder
alle Versicherungen vor. Das gleiche gilt hinsichtlich der Klein¬
gewerbetreibenden, welche industrielle Erzeugnisse ausschließlich
oder hauptsächlich nur für Rechnung anderer Unternehmer her-
steilen oder bearbeiten. Die freiwillige Invalidenver¬
sicherung ist ferner zulässig bei den nicht der Gesindeordnung
unterliegenden Landarbeitern, den unständigen Arbeitern und bei
Personen, welche keinen Barlohn beziehen.
Den bisher aufgezählten Ausnahmen von der Kranken- und
Invaliditätsversicherung gesellen sich noch weitere hinzu, die sich
speziell auf die Invaliditäts Versicherung beziehen. Von derselben
sollen — allerdings bloß bedingungsweise — die Privat¬
beamten ausgenommen werden, wenn nämlich für sie eine be¬
sondere Pensions Versicherung geschaffen werden sollte.1) Ein dies-
1 Was inzwischen geschehen ist.
Der Ausbau <ler Arbeiterversicherung in Österreich.
175
bezüglicher Entwurf liegt denn auch, vom sozialpolitischen Aus¬
schüsse des Abgeordnetenhauses wesentlich geändert, vor, ohne daß
aber die Berechtigung einer Sonderorganisation eine Vertiefung
erfahren hätte. Im Gegenteil , der versicherungstechnische Iso¬
lierungsversuch , der da bei den Privatangestellten unternommen
wurde, ist ein Schulbeispiel dafür, daß die mangelhafte Fürsorge,
wenn sie sich nur auf die breiten Massen der Allgemeinheit stützt,
noch immer vorzuziehen ist einer bloßen Standesorganisation.
Zwar haben sich große Kreise um die Schaffung einer solchen leb¬
haft bemüht. Allein nicht minder groß ist die Zahl derjenigen
Privatangestellten, die von einer Ausschaltung aus dem Rahmen
der allgemeinen Invaliditäts- und Altersversicherung nichts wissen
wollen , und ebenso haben sich zahlreiche Körperschaften der
Industriellen (Handelskammern, Industrierat sowie Privatverbände)
gegen die Abtrennung der Privatbeamten ausgesprochen.
Mit großem Nachdruck tat dies auch die Arbeiterschaft. In
der Tat kann nicht geleugnet werden, daß es sich hier um eine
prinzipiell wichtige Frage handelt, die nicht bloß die Privat¬
beamten allein angeht. Es ist für die Gesamtheit keineswegs
gleichgültig, ob eine große Menge von versicherungsbedürftigen
Personen versicherungstechnisch und organisatorisch isoliert wird
oder nicht. Dafür mögen Gründe der Politik sprechen, in der Eigen¬
art des Kreises der Versicherungspflichtigen sind sie nicht zu
suchen. Die Sonderversicherung steht im Widerspruch mit dem
von der Regierung wiederholt ausdrücklich anerkannten Grundsatz
eines möglichst umfangreichen Risiken- Ausgleichs. Nicht minder
spricht gegen eine solche Maßregel die Notwendigkeit einer übrigens
durch das Regierungsprogramm selbst versuchten organischen Ver¬
einigung aller Versicherungszweige und innerhalb derselben aller
-körper. Es ist klar, daß die Momente, welche für einen solchen
Zusammenschluß sprechen, in erhöhtem Maße geltend gemacht
werden können, wenn es sich um einen einzigen Versicherungs¬
zweig handelt. Ist es unzweckmäßig — weil unökonomisch — die
Rentenversicherung in einem bloß losen Zusammenhänge mit der
Versicherung gegen vorübergehende Arbeitsunfähigkeit zu belassen,
so muß es noch widersinniger genannt werden, wenn für einen
und denselben Versicherungszweig mehrere Körper geschaffen
werden. Es liegt weder wirtschaftlich noch sozial ein zureichender
Grund vor, die Privatangestellten anders zu behandeln als die
übrige Masse der versicherungsbedürftigen Personen. Steht man
aber auf dem gegenteiligen Standpunkt, dann erfordert es die
176
SiegTimnd Kaff.
Konsequenz, auch hinsichtlich der Unfall- und Krankenversicherung'
die Privatbeamten aus der allgemeinen Organisation auszuscheiden.
Gegen eine solche Separation lassen sich aber zahlreiche versiche¬
rungstechnische, finanzielle sowie administrative und nicht zuletzt
auch politische Gründe anführen. Wir wollen hier nur auf einen
einzigen Punkt aufmerksam machen. Die von der Kranken- und In¬
validenversicherung ausgeschlossenen Beamten der höheren Kate¬
gorien (mit Jahresbezügen von mehr als 2400 Kr.) können nach
dem Programm eine freiwillige Krankenversicherung eingehen,
doch wird ihre Aufnahme von den statutarischen Satzungen ab¬
hängig gemacht. Wir haben schon auf die praktischen Schwierig¬
keiten hingewiesen, die sich der Durchführung dieses Grundsatzes
entgegenstellen würden. Die Sache würde um kein Haar erleich¬
tert werden, wenn man ein anderes Kriterium als die Bezüge —
beispielsweise die längere Kündigungsfrist — heranziehen würde.
Durch die eventuelle Ausschaltung sämtlicher Privatbeamten aus
der Invalidenversicherung würde nun eine ganz ungeheuerliche
Komplikation entstehen. Ein Teil der Privatangestellten wäre
nämlich krankenversicherungspflichtig, ein anderer Teil freiwillig
für den Krankheitsfall versichert, ein dritter Teil überhaupt ohne
jede Krankenfürsorge. Der krankenversicherte Teil würde überdies
verschiedenen Kassenkategorien angehören. Und ebenso würden
die der Invalidenversicherungspflicht unterliegenden Kategorien der
Privatbeamten den verschiedenartigsten Pensionsinstituten zugeteilt
sein. Daß eine solche Zersplitterung allen administrativen Grund¬
sätzen widerspricht, bedarf keiner weiteren Erörterung. Man fragt
vergebens, wozu diese ganz überflüssige Unterscheidung gemacht
wird. Gibt es Gründe für eine andere Behandlung der Privat¬
beamten (denen übrigens auch die Handlungsgehilfen beigesellt
werden) auf dem Gebiete der Invalidenfürsorge, warum nicht auch
auf dem der Krankenversicherung?
Eine weitere Ausnahme von der Invalidenversicherungspflicht
betrifft das Alter. Jene Personen, welche das 60. Lebensjahr
noch nicht erreicht haben, sowie diejenigen, die erst nach dem
60. Lebensjahre versicherungspflichtig werden oder beim Inkraft¬
treten des Gesetzes das bezeichnete Alter bereits überschritten
haben, sollen ausgeschlossen sein. Bei dieser Ausnahme handelt es
sich um eine versicherungstechnische oder genau ausgedrückt, um
eine finanz-politische Maßregel, die mit der Tendenz des Gesetzes
durchaus nicht in Einklang gebracht werden kann. Erwägt man.
daß es sich um eine verhältnismäßig geringfügige Zahl von Per-
Der Ausbau der Arbeiterversicherung- in Österreich.
177
sonen handelt, und daß man demgemäß die finanzielle Wirkung,
welche durch die Berücksichtigung der im vorgerückten Alter be¬
findlichen Personen hervorgerufen wird, bedeutend überschätzt, so
wird man dieser Ausnahme das Motiv der Notwendigkeit kaum
zuerkennen können. Für diese Kategorie versicherungstechnische
Übergangsmöglichkeiten zu schaffen, würde nicht auf unüberwind¬
liche Schwierigkeiten stoßen. Ebenso muß es als unbillig be¬
zeichnet werden, daß Personen, die ein.en Gehalt oder Lohn in
Barem nicht beziehen, von der Invalidenversicherung ausgeschlossen
werden sollen. Diese Ausnahme ist schon deshalb unverständlich
und unmotiviert, weil ja die versicherungspflichtigen land- und
forstwirtschaftlichen Arbeiter ebenfalls zum großen Teil auf die
Naturallöhnung angewiesen sind und dennoch als versicherungs¬
pflichtig erklärt werden.
Endlich sind von der Invalidenversicherung solche Personen
ausgenommen, die bereits invalid sind oder im Genüsse einer Rente
im Mindestausmaße des Grundbetrages der zweiten Lohnklasse
(150 Kr. jährlich) aus einem öffentlichen Pensionsinstitute stehen.
Befreit können diejenigen Personen werden, die eine Unfall¬
rente im Mindestausmaße von drei Fünfteln der Vollrente seit
mindestens drei Jahren beziehen, ohne daß sie als invalid anzusehen
sind ; doch soll bei Wegfall dieser Rente die Invalidenversicherungs-
pflicht wieder aufleben.
Eine ganz neue Stellung erhält nach dem Programm die U n -
fallversicherung angewiesen. Sie, die bisher im Hinblick auf
ihre Entwicklung aus der Haftpflicht und dem Schadenersatzrechte
einen vollgültigen Rang besessen hatte, soll nunmehr eine unter¬
geordnete Stellung einnehmen und bloß ein Akzessorium zur all¬
gemeinen Invaliden- und Krankenversicherung bilden, das nicht die
besonders schweren Berufsgefahren in gewissen Betrieben sondern
bloß die historische Entstehung erforderlich macht. Die Gründe
für diese Herabdrückung dieses bisher als vollwertig betrachteten
Versicherungszweiges treten nicht sofort klar zutage. Sie werden
jedoch erkenn- und feststellbar, wenn man die auf die Unfallver¬
sicherung bezüglichen Spezialvorschriften einer kritischen Prüfung
unterzieht. Vorläufig sei nur festgestellt, daß der Kreis der unfall¬
versicherten Personen keine Erweiterung erfährt, weil das Pro¬
gramm von der Voraussetzung ausgeht, daß sich die Unfallver¬
sicherung auf die Entschädigung solcher Unfälle zu beschränken
habe, die in den bisher als ganz spezifisch unfallgefährlich erkannten
Betrieben sich ereignen. Daß der Charakter und das Wesen des
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 12
178
Siegmuml Kaff.
Betriebsunfalls der gleiche bleibt, ob er in einem fabriksmäßig oder
in einem handwerksmäßig betriebenen Berufe, ob er im Verkehrs¬
oder im Handelsgewerbe sich ereignet, darauf nimmt das Programm
keine Rücksicht, weil für die Regierung nicht so sehr soziale und
wirtschaftliche als vielmehr politische Gründe maßgebend waren. Das
Programm begnügt sich deshalb damit, an dem Kreis der unfallver¬
sicherungspflichtigen Personen verschiedene kleine Korrekturen vor¬
zunehmen. Zunächst werden die Bergarbeiter, deren Provisionsver¬
sicherung für Unfälle nicht ausreicht , in die Unfallversicherung
einbezogen. Ein schlagendes Argument dafür, daß die Invalidenver¬
sicherung — auch wenn sie durch die Annahme mehrerer Invaliden¬
grade abgestuft würde — durchaus nicht als Ersatz für die wesent¬
lich höhere Entschädigungen leistende Unfallversicherung aufgefaßt
werden kann. Bei dieser Gelegenheit sei nebenbei bemerkt,
daß es sich doch wohl auch empfehlen würde, den Ausschluß der
Bergwerke auf nicht vorbehaltene Mineralien (Erdharze) aufzuheben.
Eine sehr einschneidende Korrektur wurde hinsichtlich der bei Bau¬
betrieben beschäftigten Arbeiter vorgenommen. In der bisherigen
Praxis wurden die sogenannten Werkstättenarbeiter nicht als unfall¬
versicherungspflichtig angesehen, wiewohl sie unter Umständen von
den Unfallsgefahren genau so bedroht sind, wie die unmittelbar
am Bau selbst beschäftigten Personen. Das Programm versucht
die Grenze der Unfallversicherungspflicht bei Betrieben, die sich
auf Bauausführungen erstrecken, durch Aufzählung der einzelnen
Kategorien genau zu präzisieren. Die Aufzählung ist jedoch eine
unvollständige ; es fehlen beispielsweise die Glaser, Hafner, Pflasterer,
Asphaltierer, Schlosser, Tapezierer, Zimmermaler. Aber auch sonst
bedürfen die Bestimmungen über die Unfallversicherungspflicht
mancherlei Ergänzungen. So wären neben den Gruben auch die
Gräbereien zu erwähnen, ferner die Betriebe der Schmiede, Fleisch¬
hauer und Selcher. Bei der Aufzählung der Bauunternehmungen
fehlen die Erdarbeiten.
Ungenügend motiviert ist der Ausschluß des Personals solcher
Gewerbetreibender, die nur einzelne Bauarbeiten auszuführen haben
und deren Gewerbebetrieb an sich der Versicherungspflicht nicht
unterliegt. Ferner die Beschränkung der Versicherungspflicht auf
Betriebe, in welchen zwar Dampfkessel oder motorisch bewegte
Maschinen verwendet, nicht aber Verkehrsgegenstände erzeugt oder
verarbeitet werden. Auch daß Lagerungsbetriebe, die nicht mit
einer Handelsunternehmung verbunden sind, außerhalb der Ver¬
sicherungspflicht bleiben, läßt sich nach den bisherigen Erfahrungen
Der Ausbau der Arbeiter Versicherung' in Österreich.
179
Aaiim rechtfertigen. Ein Mangel liegt ferner in der fehlenden
Definition des Fabriksbegriffes, der durch die bisher hierfür geltende
Ministerialverordnung nur ungenügend umgrenzt ist.
Zieht man alle Ausnahmen von der Versicherungspflicht hin¬
sichtlich der Fürsorge für vorübergehende und dauernde Erwerbs¬
unfähigkeit in Betracht, dann schrumpft der Kreis der Versicherten
ganz bedeutend zusammen und es wird nicht einmal jene Zahl er¬
reicht, die das Regierungsprogramm angibt. Dabei zeigt sich, daß
die Gründe für den Ausschluß lediglich administrativer und finan¬
zieller Natur sind und daß weder diesen noch jenen das Schwer¬
gewicht zukommt, welches ihnen die Regierung beimißt. Die Zu¬
lässigkeit der freiwilligen Selbstversicherung ist ganz wertlos, die
Befugnis der Regierung zur nachträglichen Einbeziehung in den
Versicherungszwang von problematischem Wert, die Ausschließung
der Landwirtschaft und anderer Produktionsgruppen aus der Unfall¬
versicherung eine direkte Gefahr und Schädigung der übrigen
Interessenten.
(Fortsetzung folgt.)
der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung“ vom 5. Juli 1906.
Vorsitzender: Herr May et. Schriftführer: Herr Gott st ein.
••
Herr L. Feile henfeld: Uber den Unterschied zwischen der staat¬
lichen und privaten Unfallversicherung'. Die Unterscheidung’ zwischen der
staatlichen und privaten Unfallversicherung hat einen theoretischen und einen
praktischen Wert. Sie ist theoretisch wichtig, weil sie zu der schärferen Be¬
griffsbestimmung des Unfalls beitragen kann, die noch immer der Versicherungs¬
technik große Schwierigkeit bereitet. Praktisch ist sie von Bedeutung sowohl
für die staatliche, weil diese aus der privaten Unfallversicherung hervorgegangen
ist oder wenigstens nach ihrem Vorbilde eingerichtet wurde, als auch besonders
für die Privatversicherung, weil wiederum die ärztliche Begutachtung der Ver¬
letzten und die gerichtliche Entscheidung in strittigen Fällen außerordentlich von
den Gepflogenheiten bei der staatlichen Versicherung beeinflußt wird. Die Frage
ist zweifellos eine vorwiegend juristische. Aber wir können als Ärzte durchaus
nicht auf die Kenntnis solcher wichtigen Begriffe verzichten, da unser Gutachten
schließlich die Grundlage für den Spruch des Richters bilden muß und wesentlich
die Klarstellung des Falles erleichtert. Übrigens ist bereits hier eine Verschieden¬
heit bei beiden Versicherungsanstalten vorhanden, die ich aber erst später aus¬
führlicher berühren will. Auch kann ich nicht auf die feineren juristischen
Unterschiede eingehen, sondern will mein Thema rein praktisch vom ärztlichen
Standpunkte behandeln. Der Unfall ist eine aus drei verschiedenen
V o r g ä n g e n zusammengesetzte Begebenheit, nämlich aus dem
Unfallereignis, der Unfall Verletzung und den Unfallfolgen.
Die Unfallverletzung hat am wenigsten charakteristische Merkmale für eine
Differenzierung bei den verschiedenartig Versicherten. Das Wesentliche, das ihr
die Besonderheit gibt, liegt in der Tatsache des Unfalls, in dem Unfallereignis.
Dieses ist es daher hauptsächlich, das unsere ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch nehmen wird. Das Unfallereignis muß durch mehrere Eigenschaften
ausgezeichnet sein, wenn wir es als solches anerkennen sollen, durch Plötz-
x) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 27 der
„Medizinischen Reform“, herausg. von R. Le null off.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 181
lichkeit. Zufälligkeit, Äußerlichkeit und Gewaltsamkeit. Ich folge hierin der
Ansicht von Gerkrath,1) der von diesen Kriterien des Unfalls behauptet,
dall sie im Grunde von den staatlichen Avie den privaten Versicherungsanstalten
beachtet AArerden. Aber freilich — hier zeigt sich der wichtigste Unterschied —
die Arbeiterversicherung beschränkt ihre Entschädigungspflicht auf die im Be¬
triebe vorkommenden Unfälle. Das ist eine rein willkürliclie* keinesfalls der
Natur des Unfalls anhaftende Einschränkung. Denn ob ein Maurer von der
Leiter fällt und sich ein Bein bricht, indem er auf seinem Hofe Kirschen vom
Baume pflückt, oder ob er auf einem Baugerüst arbeitet, das ist hinsichtlich der
Verletzung selbst ganz gleichgültig. Aus dieser Tatsache, aus der Voraussetzung
des Betriebsunfalls ist ersichtlich, daß die öffentliche Versicherung eine soziale
Einrichtung ist und die Bedeutung einer Fürsorge hat für den in einem Betriebe
besonderen Gefahren ausgesetzten Arbeiter. Alle Unterschiede sind auf dieses
Grundprinzip zurückzuführen. Denn die private Versicherung steht auf dem
rechtlichen Boden ihrer Vertragsbedingungen, nach deren Auslegung sie die An¬
sprüche des Versicherten erfüllt oder ablehnt. Und die Vertragsbedingungen sind
vor allem darauf gerichtet, das Unfallereignis als etAvas Unerwartetes, vom
Willen, aber auch von der besonderen körperlichen und geistigen Verfassung des
Versicherten Unabhängiges zu behandeln. Daher wird die private Versicherung
in einer Beziehung Aveiter gehen, als die staatliche, indem es für sie nichts aus¬
macht, ob der Unfall im Beruf oder außerhalb des Berufs erlitten Avurde: aber
sie Avird doch Aviederum weniger Aveitherzig sein mit Rücksicht auf die näheren
Umstände des Unfallereignisses, sondern strenger in ihren Forderungen sein
müssen in betreff der Tatsache eines solchen. Über die Anforderueg der Plötz¬
lichkeit des Unfallereignisses ist in diesem Vereine bereits ausführlich bei der
Besprechung der Berufskrankheiten verhandelt worden. Diese spielen bei Privat¬
versicherungen keine große Rolle, weil hier eben der Nachdruck auf den Unfall
gelegt wird . Avährend das Erleiden einer Krankheit durch den Betrieb und
während des Betriebes AArohl zur Erörterung der Frage führen kann, wieweit
die Störung in der Gesundheit des Versicherten durch Aviederholte schwächere
Unfallereignisse verursacht Avorden ist. Bei manchen inneren Krankheiten könnte
man so zu dem Resultat kommen, daß in der Tat eine häufige, sei es innerliche
oder äußerliche Verletzung stattgefunden hat. Bisher haben aber die Berufs-
genossenschaften eine solche Auslegung nicht für zulässig gehalten. Wohl aber
wird oft bei der staatlichen Versicherung eine wenn auch länger dauernde, jedoch
immerhin auf einen bestimmten Zeitraum sich erstreckende Anstrengung als
Unfallereignis anerkannt. Das typische Beispiel hierfür ist der von Becker in
seinem Lehrbuch angeführte Fall jenes Kapitäns, der nach mehrstündiger Leitung
seines Schiffes Avährend eines Typhons einen Herzschlag erlitt und starb. Hier
wurde der Unfall, AAreil das Unglück sich im Betriebe ereignete, angenommen,
obgleich man von einer Plötzlichkeit im Sinne eines Unfallereignisses gewiß nicht
sprechen konnte. Immerhin war hier ein anderes Avesentliches Kriterium vor¬
handen, nämlich die GeAvaltsamkeit des Naturereignisses, die mit der Plötzlich¬
keit innig zusammenhängt und sie aa oIiI auch zum Teil ersetzen kann. Trotzdem
Aväre jene Entscheidung bei einer privaten Unfallversicherung kaum denkbar.
Denn es fehlt jede Erkennbarkeit einer Verletzung, die bei der Privatversicherung
eine Rolle spielt. Am besten erkennen wir die Natur des Unfallbegriffs, Avenu
l) Zur Begriffsbestimmung des Unfalls, Zeitschr. f. Ver. Wissensch., 1906.
182 Aus (1er Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
wir die verschiedenen Einschlüsse und Ausschlüsse auf die zugrunde liegende
Berechtigung prüfen. Eine durch den Druck des zu engen Stiefels schief ge¬
wordene Zehe, ein ein gewachsener Nagel, eine Schleimbeutelentzündung am Knie
(Hausmaidknee) sind keine Unfälle, weil ihnen das Plötzliche, das Einmalige der
äußeren Gewalteinwirkung fehlt. Solche Fälle werden also von vornherein als
versicherungspflichtig ausscheiden. Sie sind übrigens bei beiden Versicherungs-
arten kaum strittig. Schwieriger liegt die Frage bei dem Erfrieren und dem
Hitzschlage. Bei der staatlichen Versicherung ist wiederum der Nachweis nötig,
daß das Unglück sich im Betriebe ereignete; bei der privaten steht nach
Gerkrath für die Erfrierungen nichts im Wege, die Entschädigungspüicht
anzuerkennen, obgleich hier doch das Plötzliche der Schädlichkeit fehlt. Für
den Hitzschlag aber, für den das Plötzliche geradezu charakteristisch ist, müsse
man eine körperliche Disposition annehmen, so daß hier nicht ein objektives
Risiko, welches allein die Grundlage aller Unfallversicherungen bildet, vorliegt,
sondern ein subjektives, das anderer Einrichtungen bedürfe, als die Unfallver¬
sicherung zur Deckung anwende. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück.
Eine gewisse Gewaltsamkeit ist also mit die Voraussetzung bei dem Unfall¬
ereignis. Nicht ein Streicheln ist ein Unfall, sondern ein Schlag oder Stoß, nicht
ein langsamer Druck, sondern eine Quetschung. Man sieht, daß diese Begriffe
der Plötzlichkeit oder Gewalt ineinander übergehen. Die Äußerlichkeit ist ein
ferneres wesentliches Merkmal des Unfalls. Aber damit ist nicht gesagt, daß
jedes Unfallereignis äußerlich sichtbar oder erkennbar gewesen sein muß. Bei
einer Muskelzerrung ist ja scheinbar die Ursache des Ereignisses eine innerliche.
Aber nur scheinbar. In Wirklichkeit ist der Grund in einem äußeren Vorfall
zu suchen. Die betreffende Person wollte einen schweren Ballen Ware von einem
Spinde herunterholen und machte dabei eine plötzliche, gewaltsame Anstrengung,
oder es gibt sich jemand, um das Ausgleiten zu verhüten, einen plötzlichen
Ruck. Das sind reine Unfälle, wenn auch hier die genaue ärztliche Begutachtung
des Unfallereignisses notwendig ist, weil oft ein Muskelrheumatismus mit der
Muskelzerrung verwechselt werden kann. Die öffentliche Versicherung ist im
Vorteil vor der privaten, weil sie bei allen Unfällen eine genaue Feststellung
sowohl der Tatsache des Unfallereignisses verlangt und erhält, als auch der
näheren Gründe und Umstände, die zu dem Ereignis geführt haben und führen
könnten, oder mußten. Dadurch wird von vornherein die Sicherheit geschaffen,
daß entweder eine Betriebsstörung die Ursache war oder eine so und so geartete
außergewöhnliche Anstrengung die Veranlassung gewesen ist. Nichts von alle¬
dem ist bei der Privatversicherung möglich. Selten sind Zeugen des Vorfalls
vorhanden, noch seltener wird ein Beweis nach dieser Richtung erhoben. Viel¬
mehr kommt alles auf das Urteil des untersuchenden Arztes an und dieser richtet
sich zumeist nach der Aussage des Verletzten, die er freilich nach der Wahr¬
scheinlichkeit beurteilt, ob die vorliegende Beschädigung durch einen Unfall be¬
wirkt sein kann. Ich komme zu dem wichtigsten Kriterium des Unfallereignisses,
der Zufälligkeit. Wichtig ist es namentlich für die private Versicherung. Eine
große Schuld wie das Herabspringen von einem in voller Fahrt befindlichen
Straßenbahnwagen verwirkt das Anrecht auf Unfallentschädiguug. Grobe Fahr¬
lässigkeit beeinträchtigt den Anspruch aber auch bei der Berufsgenossenschaft.
Wiederum geben uns am besten die Ausschlüsse Aufklärung, weil sie. wie
Gerkrath mit Recht behauptet, nur Erläuterungen des Unfallbegriffs sind. Bei
einer Schlägerei, die provoziert wurde, bei einem Wettrennen, bei einem Duell,
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin.
Hygiene und Medizinalstatistik.
183
handelt es sich doch nicht um zufällige Ereignisse, wenn eine Verletzung zu¬
stande kommt, sondern um etwas, das zu erwarten war, und das durch den
eigenen Willen des Versicherten herbeigeführt wurde. Anders wieder bei dem
Versuch, einen in Gefahr befindlichen Menschen zu retten. Hier handelte der
etwa Verunglückte bei seinem Rettungswerke unter einem Zwange, nämlich dem
äußeren, unvorhergesehenen, also von seinem Willen unabhängigen Ereignisse.
Tatsächlich werden solche Verunglückungen als Unfälle entschädigt. Anders,
wenn jemand selbst Hand an sich legt. Dann handelt er nur aus innerem
Zwange, weder zufällig, noch unabsichtlich, weshalb Selbstmord mit Recht nicht
ein Unfall genannt wird. Auch wird eine Operation nicht als Unfall gelten, weil
jedes Merkmal der zufälligen unvorhergesehenen Verletzung fehlt. Daher kann
auch der ungünstigste Ausgang einer Operation nie als Unfall angesehen werden
und gleichfalls nicht eine Verletzung beim Nägelschneiden, die nichts anderes ist
als eine Operation mit ungünstigem Ausgang. Wenigstens ist sie bei den meisten
Versicherungen besonders ausgeschlossen. Etwas anderes muß ich noch als be¬
sonders medizinisch wichtig erwähnen, das ist die Entstehung des Unfallereig¬
nisses infolge einer inneren Erkrankung. Hier fehlt sicherlich auch dem Unfall¬
ereignisse das Zufällige, wenn wir nacliweisen können, daß es eben wegen des
inneren Leidens wohl zu erwarten war. Wenn ein Epileptiker einen Krampf¬
anfall erleidet, so ist es nicht zu verwundern, wenn er in Abwesenheit einer be¬
aufsichtigenden Person hinfällt. Daher pflegt die Privatversicherung solche Fälle
nicht zu entschädigen; wohl aber die öffentliche, falls der Unfall sich im Be¬
triebe ereignete. Bemerkenswert ist ein Fall, von dem ich das gerichtliche Gut¬
achten anführen will, weil hier offenbar eine ganz falsche Auffassung des Unfall¬
begriffs zu dem für die Gesellschaft ungünstigen Urteile führte. Der Fall ist
übrigens auch von Gerkrath bereits erwähnt worden. Ein Hauptmann a. D.,
der wiederholt an Schwindelanfällen litt, reitet auf ebenem Boden und fällt
vom Pferde infolge eines Schwindelanfalls, wie allseitig angenommen wurde.
Es entwickelt sich eine geistige Störung bei ihm . die zum Teil schon
vorher bestanden haben soll. Das Gericht verurteilte die Gesellschaft zur
Zahlung der vollen Rente. (Aus dem Urteil des Oberlandesgerichts in
Sachen L. contra Urania.) Bildet somit der Sturz vom Pferde, oder richtiger
gesprochen das durch den Sturz bedingte heftige Aufschlagen des Kopfes auf den
harten Boden der Straße das Ereignis, welches die Körperverletzung des Klägers
zur Folge gehabt hat, so fragt sich nur noch, ob jenes Ereignis im Sinne der
Allgemeinen Versicherungs-Bedingungen der Beklagten als „Unfall“, d. h. als ein
solches Ereignis zu betrachten ist, welches gewaltsam, plötzlich und unabhängig
vom Willen des Versicherten von außen her mit mechanischer Gewalt auf ihn
gewirkt hat. Dem Berufungsgerichte ist es unbedenklich erschienen, die Frage
zu bejahen. Die Beklagte hat zwar dieser Auffassung widersprochen. Sie ver¬
mißt den von außen her kommenden Anstoß zu dem Sturze, ipdem sie nur solche
Ereignisse als Unfälle gelten lassen will, welche aktiv und mit aggressiver Ge¬
walt auf den Versicherten als leidenden Teil einwirken. Sie denkt dabei offen¬
bar an die Fälle, wo jemand durch einen herabstürzenden Balken getroffen oder
von einem Wagen überfahren wird oder an Verletzungen durch den Huf schlag
eines Pferdes, durch den Biß eines Hundes und dem ähnliche. Eine derartige
in den Sinn fallende äußere Gewalteinwirkung auf den Kläger läge nicht vor, da
er infolge eines innerlichen Vorgangs des Bewußtseins beraubt, lediglich nach
dem Gesetze der Schwerkraft vom Pferde herabgesunken sei, und durch das Auf-
184 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
schlagen auf den Fußboden sich selbst verletzt habe. Der Ansicht der Beklagten
läßt sich indes nicht beipflichten. Sie haftet zu sehr an der Wortfassung der
Bestimmung in § 1 Abs. 1 der Versicherungs-Bedingungen; sie führt zu einer
Einengung des Unfallbegriffs, die von den Kontrahenten des Versicherungsantrags
gewiß nicht gewollt ist und widerstreitet zudem der Anschauung des gewöhn¬
lichen Lebens. Wer auf glattem Parkett ausgleitet und sich im Fallen verletzt,
der Dachdecker, der infolge eines Fehltritts vom Dache herunterstürzt, der
Spaziergänger, der. weil er kurzsichtig ist, in eine am Wege liegende Grube
fällt, der Tourist, der beim Überschreiten eines über den Bach gelegten Baum¬
stammes das Gleichgewicht verliert oder der, weil er nicht schwindelfrei ist,
vom steilen Abhange herabfällt: — sie alle erleiden Unfälle im Sinne der Ver¬
sicherungs-Bedingungen und sie würden gewiß schwer enttäuscht sein, wenn die
Beklagte in solchen Fällen ihre Entschädigungspflicht ablehnen wollte unter Be¬
rufung darauf, daß ihr Sturz nicht durch die äußere Einwirkung einer fremden
Körperkraft, sondern ausschließlich durch das Naturgesetz der Schwere veranlaßt
worden sei. Das hier von außen her. plötzlich und unabhängig von dem Willen
des Versicherten mit mechanischer Gewalt auftretende Ereignis liegt in dem
Aufschlagen des Körpers auf den Erdboden, oder, wenn man lieber will: in dem
äußeren Widerstande, den der durch die Anziehungskraft der Erde abwärts ge¬
zogene menschliche Körper am festen Erdboden findet. An einer äußeren Gewalt-
e in Wirkung fehlt es also auch in diesem Falle keineswegs, und es liegt daher in
der Tat kein Grund vor, ihn von der Entschädigungspflicht der Versicherungs¬
gesellschaft auszuschließen. Den Gegensatz zum „Unfall“ als einem zeitlich be¬
grenzten. plötzlichen, körperlichen Ereignisse bildet die auf allmählicher Entwick¬
lung und meist auf inneren Ursachen beruhende organische Erkrankung.
Derselbe Gegensatz der Begriffe tritt auch auf dem Gebiete der öffentlichen
Unfallversicherungs-Gesetzgebung des Reiches in Erscheinung. Die Versicherungs¬
gesellschaft, welche gegen körperliche Unfälle Versicherung gewährt, will damit
grundsätzlich innere organische Erkrankungen ausgeschlossen wissen. Sie steht
lediglich ein für die wirtschaftlichen Folgen körperlicher Beschädigungen, sofern
und soweit sie sich auf mechanische Einwirkungen von außen her zurückführen
lassen. Im wesentlichen und auf dem gleichen Standpunkte steht aber auch das
Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, insofern es sich ebenfalls unter Aus¬
scheidung der Fürsorge für Krankheitsinvalidität, auf die Versicherung gegen
Unfälle bei dem Betriebe beschränkt. Obwohl das Gesetz sich nicht ausdrücklich
darüber ausspricht, was es unter Unfall versteht, so herrscht doch im großen
und ganzen Übereinstimmung darüber, daß dazu begrifflich die Einwirkung eines
äußeren Vorgangs auf den menschlichen Körper zu fordern sei, gleichviel, wo¬
durch die Einwirkung im einzelnen Falle hervorgebracht wird, und ob durch
Naturkräfte, durch dritte Personen, durch den Verletzten selbst oder ob durch
irgend welche andere zufällige Umstände. Dagegen sind Vorgänge im Innern
eines Menschen, welche ohne Einwirkung von außen sich vollziehen, im Sinne des
Gesetzes keine Unfälle.“ Hier wird also der Fehler begangen, daß man haupt¬
sächlich nur die Unfall Verletzung beachtet mit den Unfallfolgen, die aber auch
nicht allein durch die Verletzung bedingt sind, sondern noch durch die vorauf¬
gegangene Krankheit kompliziert wurden. Dem Falle fehlte nicht nur das
Äußerliche (wogegen das Urteil ankämpft), sondern auch das Zufällige, weil bei
der Neigung zu Schwindel entschieden das Besteigen des Pferdes vermieden
werden mußte und das Herunterfallen somit ein wohl zu erwartendes Ereignis
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 185
war. Ganz anders, wenn das Pferd über einen Stein gestrauchelt oder durch ein
Automobil scheu gemacht worden wäre. Dann hätten Avir ein wirklich zufälliges,
unvorhergesehenes und von außen einwirkendes Ereignis als Ursache der Unfall¬
verletzung zu verzeichnen. Ich verfüge über einen ähnlichen Fall, in dem das
Gericht zu der entgegengesetzten Entscheidung gelangte. Ein 45jähriger Land-
Avirt Aval* infolge von Schwindelanfällen die Treppe hinuntergefallen und hatte
sich die Schulter verstaucht. Der Arzt stellte xArteriosklerose und Neigung zu
SchAvindelanfällen fest, die auch schon heim Vater und Großvater bestanden haben
sollten. Das Gericht nahm an, daß der Unfall durch das innere Leiden hervor¬
gerufen worden war und lehnte die Klage auf Entschädigung ab. Eine Berufs¬
genossenschaft aber beAvilligte in diesem Falle 45 Proz. Beute wegen dauernder
Behinderung der Schulter. Ein Aveiterer Fall ist bemerkenswert. Ein 50 jähriger
Maurer empfindet beim Aufreißen von Holz einen heftigen Schmerz in der Brust,
Avird ohnmächtig, bricht zusammen und stirbt nach Avenigen Stunden. Sektion:
Zerreißung des Ansatzes der Aorta infolge von Fettherz. Ablehnung von der
Privatversicherung, während der Fall von der Berufsgenossenschaft als Betriebs¬
unfall anerkannt wird. Von der Unfallverletzung habe ich schon gesagt, daß sie
nichts Avesentlich Erkennbares an sich hat. Entweder liegt eine chirurgische
Krankheit vor. ein äußerliches Leiden, das freilich stets durch eine mechanische
Gewalt bewirkt sein muß, oder es handelt sich um eine innerliche Verletzung,
hei der es Avohl zuweilen schwierig sein kann, die Ursachen sicher zu erkennen.
Hier trifft nun Avieder das zu. was ich schon einmal gesagt habe. Bei der öffent¬
lichen Versicherung kann der Betriebsleiter, oder eiii Sachverständiger oder Mit¬
arbeiter Näheres über die Vorgänge bei dem Unfallereignis im Betriebe angeben.
Als je erheblicher sich dieses Ereignis darstellt, um so Avahrscheinlicher Avird der
Unfall als Grund der vorliegenden Krankheit erscheinen. Bei der privaten Ver¬
sicherung hat der Arzt hauptsächlich die Entscheidung in seiner Hand. Er soll
möglichst objektiv sein Urteil darüber abgeben, ob die Verletzung oder das
Leiden des Versicherten durch einen versicherungspflichtigen Unfall beAvirkt
Avurde. Weiter will ich auf diesen Punkt nicht eingehen, sondern noch etAvas
hei dem dritten Vorgänge venveilen, der zu dem Begriff eines Unfalls gehört,
bei den Unfallfolgen. Diese setzen sich Aviederum aus mehreren Momenten zu¬
sammen. Sie zeigen das Besultat aus Unfallereignis und Unfallverletzung, avozu
aber noch als erheblich mitwirkend zAvei Umstände kommen, einmal die Erwar-
tung und der Wunsch einer hohen Bente und zAveitens das allgemeine körperliche
Verhalten des Versicherten zur Zeit des Unfallereignisses. Daß die Begehrungs¬
vorstellungen eine große Bolle bei beiden Arten von Unfallverletzten spielen, ist
•eine zu bekannte Tatsache, als daß man sie noch begründen müßte. Ich will
nur erwähnen, daß ich vor zAvei Jahren einen jungen Arzt veranlaßte, den Ver¬
lauf bei etwa 100 Unfällen bei einer Privatversicherung zu untersuchen. Wir
haben dabei durch Vergleich mit bekannten Zahlen aus den großen chirurgischen
Kliniken festgestellt, daß bei allen Versicherten die Unfallfolgen weit schlimmer
waren, als bei Nichtversicherten, ja, daß ganz typische Verletzungen, wie Unter¬
schenkelbrüche und Schulterkontusionen oft das Doppelte der Zeit zur Heilung
gebrauchten, Avie dieselben Verletzungen, wenn keine Bente zu erwarten Avar.
Das Nähere ist in der Arbeit von Samson (Zeitschr. f. Vers. Wiss. 1905)
nachzulesen. Hier besteht also bei beiden Versicherungsarten kein Unterschied.
Noch wichtiger aber als die Begehrungs Vorstellungen ist die Frage nach der Be¬
teiligung der etAva bei dem Unfallereignis schon vorhandenen Krankheiten au
186 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
dem ganzen im Gefolge des Unfalls auftretenden Krankheitsbilde. Diese Frage
wird auf dem IV. internationalen Kongreß f. Vers.-Med. im September d. J. ein¬
gehend behandelt werden. Ich möchte aber doch kurz auf einiges, mein heutiges
Thema Betreffendes eingehen. Der Zusammenhang zwischen innerer Krankheit
und Trauma beschäftigt in hohem Maße auch die öffentliche Versicherung. Der
Unterschied liegt wohl hauptsächlich darin, daß die Staatsversicherung eine
mildere Auffassung für geboten hält, die private sich zur strengeren Auseinander¬
haltung von Verletzung und innerer Krankheit für verpflichtet hält. Becker •
zitiert folgenden hierauf bezüglichen Ausspruch des Reichsversicherungsamts:
„Wollte man unter allen Umständen einen stringenten Nachweis verlangen (näm¬
lich des Zusammenhangs einer Krankheit mit einem Unfall), so würde man damit
gegen den Geist der Gesetzgebung verstoßen, deren Segnungen in manchen Fällen
illusorisch machen. Es handelt sich nicht um eine privatrechtliche Versicherung,
sondern um eine öffentlich-rechtliche Fürsorge.“ — Und weiter: „für dessen An¬
wendung deshalb nicht Grundsätze maßgebend sein dürfen, welche gegenüber
der Privatversicherung vielleicht statthaft erscheinen möchten“. Ich führe diese
Sätze darum an, weil sie als Beweis dafür gelten müssen, daß die ersten recht¬
lichen Vertreter der staatlichen Versicherungsanstalten die Berechtigung an¬
erkennen, bei der Behandlung der erwähnten Fragen einen wesentlichen Unter¬
schied zu machen zwischen den beiden Versicherungsarten. Man wird hiernach
bei der Privatversicherung mit größerer Strenge den Nachweis eines erheblichen
Unfallereignisses verlangen dürfen, wenn man eine innere Krankheit als Unfall¬
folge annehmen soll, als bei der öffentlichen Versicherung der Fall sein wird.
War die innere Krankheit sicher schon vor dem Unfall vorhanden und wurde
sie nicht wesentlich durch diesen beeinflußt, so pflegt bei jeder Art von Ver¬
sicherung die Entschädigung abgelehnt zu werden. Anders bei der Verschlimme¬
rung von inneren Leiden durch Unfälle. Diese wird bei den Berufsgenossen¬
schaften als gleichwertig einer reinen Unfallfolge angesehen und die Entschädigung
gewährt, wenn das bereits latente oder deutliche innere Leiden durch den Be¬
triebsunfall in seinem ungünstigen Verlaufe beeinflußt wurde, oder früher als
sonst zu erwarten wäre, zu Tode geführt hat. Freilich zieht sie auch die
Arbeitsfähigkeit des Verletzten vor seinem Unfall in Betracht und beurteilt nach
der Häufigkeit seines Aussetzens der Arbeit die Beeinträchtigung, die durch das
innere Leiden schon früher gegeben war. Eine solche Kontrolle hat die Privat¬
versicherung nicht. Sie setzt dafür die Gesundheit des Versicherten bei seiner
Aufnahme voraus. Der Versicherte ist aber auch verpflichtet, von etwaigen
später sich entwickelnden inneren Krankheiten der Gesellschaft Mitteilung zu
machen. Natürlich kann er das nur, wenn er es selbst weiß. Man wird nun bei
manchen Leiden mit Sicherheit annehmen dürfen, daß sie zur Kenntnis des Ver¬
sicherten gekommen sein müssen. Wenn jemand an Syphilis leidet oder an
Lungentuberkulose, oder wegen Diabetes nach Karlsbad geht und eine bestimmte
Diät befolgt oder auch wegen Neurasthenie mehrfach Sanatorien aufgesucht hat.
so muß man annehmen, daß er genau weiß, was ihm fehlt. Falls ein solcher
Versicherter die Anzeige an die Unfallversicherungsgesellschaft verabsäumt, so
darf man in dem Verschweigen einen Grund für die Ablehnung etwaiger bei
Unfällen sich zeigender, durch das innere Leiden bedingter Komplikationen für
berechtigt halten. Das kann man den Gesellschaften nicht verargen, weil sonst
die Voraussetzung der Unfallversicherung, die das Zufällige, von außen Kommende
betrifft, vollkommen hinfällig wird und die Versicherung gegen unvorhergesehene
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 187
Unglücksfälle iu eine Versicherung gegen bestimmt zu erwartende Krankheits¬
zustände sich umwandelt, für die natürlich eine ganz andere Prämienberechnung
erforderlich wäre, wenn es überhaupt möglich ist, versicherungstechnisch einer
solchen Krankheitsversicherung beizukommen. Genau so wie innere Leiden
können auch äußerliche Krankheiten durch einen Unfall verschlimmert werden.
Hier scheint in manchen Fällen eine Übereinstimmung zwischen privaten und
öffentlichen Versicherungen zu bestehen. Plattfüße, Kniegelenkveränderungen
werden wohl in Betracht gezogen, wenn sie schon vor dem Unfall vorhanden
waren. Auch eine Spontanfraktur infolge von Syphilis oder Tabes wird selbst
bei Mitschuld eines Unfalls nicht als solcher von der staatlichen Versicherung
angesehen. Sehr bemerkenswert ist folgender Fall, der wohl schon öfter zitiert
wurde. Ein Mann, Mitte der Zwanziger, bemerkte an seiner Wange am 15. Sep¬
tember 1895 einen kleinen Furunkel. Am 17. September ließ er sich rasieren,
wobei der Furunkel etwas verletzt wurde. Am 19. September zeigten sich Er¬
scheinungen von Blutvergiftung, am 22. Ausbruch allgemeiner Pyämie, am
26. September Tod. In diesem Falle wurde vom Kammergericht und Reichs¬
gericht gegen die Gesellschaft entschieden, daß der Tod durch einen Unfall
herbeigeführt worden war. Die zahlreichen Gutachten der bedeutendsten Chi¬
rurgen lauteten durchaus widersprechend. Körte z. B. sagte: „Der Versicherte
ist an einem bösartigen Furunkel des Gesichts gestorben, der vielleicht durch
den Schnitt verschlimmert wurde. Es sei kein Beweis dafür vorhanden, daß der
Schnitt die bösartige Infektion gemacht habe.“ Mir scheint in der Tat, daß hier
eine vollständig falsche Auffassung des Unfallbegriffs wieder die Ursache der
richterlichen Entscheidung war. Die Gesichtsfurunkel sind wegen ihrer Bös¬
artigkeit und ihrer Neigung zu allgemeiner Infektion berüchtigt. Darum war in
solchem Falle durchaus jede Manipulation kontraindiziert. Es war ebensogut
möglich, oder sogar wahrscheinlicher, daß das Einseifen, das Berühren der Wange
und das Drücken, das Abwaschen etc. die Verschlimmerung des Furunkels be¬
wirkt hat und nicht die durch das Rasiermesser bewirkte Abtragung der obersten
Spitze des Furunkels. Man wird aber sicher nicht das Rasieren an sich und die
damit verbundenen Maßnahmen als ein Unfallereignis ansehen dürfen. Zum
mindesten hätten in einem solchen Falle die Bedenken der Sachverständigen
dahin führen müssen, daß man die Hauptschuld an dem traurigen und bedauerns¬
werten Ausgange der Bösartigkeit des Furunkels, also nicht dem unbedeutenden
Unfallereignisse beigemessen hätte. Hier hat zweifellos das Gericht die Ge¬
pflogenheiten der Behörden für die staatliche Unfallversicherung in Anwendung
gezogen. Ich bin am Ende meiner Ausführungen, weiß aber wohl, daß ich nur
eine Skizze geben konnte. Um dieses Thema erschöpfend zu behandeln, müßte
man ein ganzes Buch schreiben. Als wesentlichsten Unterschied zwischen der
staatlichen und privaten Unfallversicherung haben wir die Einschränkung der
ersteren durch den Nachweis des Betriebsunfalls kennen gelernt. Dadurch wird
eine bessere und objektivere Klarstellung des Unfallereignisses bei den Arbeitern
möglich, während man bei den Versicherten der Privatgesellschaften fast immer
lediglich auf die eigenen Angaben der Verletzten angewiesen ist. Eine weitere
Konsequenz aus diesen Verhältnissen ist die Tatsache, daß bei der öffentlichen
Versicherung das ärztliche Gutachten fast gar nicht für die Beurteilung des
Unfallereignisses, nur zum Teil für die Auffassung der Unfallfolgen und haupt¬
sächlich für die Feststellung der Unfall Verletzung in Betracht kommt. Anders
bei der Privatversicherung. Hier ruht alles auf dem Ausspruche des Arztes, der
188 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
die Frage zu entscheiden hat, ob überhaupt ein Unfall und dann ob ein ent¬
schädigungspflichtiger Unfall vorliegt. Darum hat die genaue und möglichst
präzis gefaßte Begriffsbestimmung des Unfalls für die Privatversicherung einen
noch viel höheren Wert, als für die staatliche. Freilich glaube ich, daß die
mancherlei Übelstände und Nachteile, die sich bei der öffentlichen Versicherung
im Laufe der Jahre herausgestellt haben, auf das Fehlen einer genauen Be¬
stimmung des Unfallbegriffs in dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 zurück¬
zuführen sind. Wenn zwar die wiederholt erwähnte Einschränkung auf den Be¬
triebsunfall einer kurzen Definition widerstrebt, so würde es doch von Vorteil
sein, wenn auch für die staatliche Versicherung eine solche gegeben würde.
Allerdings werden wir bei der Absicht des Gesetzgebers, ein Fürsorgegesetz für
die Arbeiter zu schaffen, die milde und humane Behandlung der Fälle begreifen,
die von den Behörden angewandt wird, sobald nur der Betriebsunfall festgestellt
wurde. Die Privatversicherungen aber müssen streng darauf achten, daß den
Anforderungen genügt wird, die nach den Vertragsbedingungen an das Unfall¬
ereignis gestellt werden müssen. Diese Vertragsbedingungen sind indessen stets
unzureichend, wenn man sie noch so sorgfältig und vorsichtig mit allen mög¬
lichen Einschlüssen und Ausschlüssen ausgearbeitet hat. Sie bilden weder für
die Versicherten eine Garantie, noch einen Schutz für die Gesellschaft. Nur
durch eine klare und bestimmte Definition des Unfallbegriffs selbst können die
Versicherungsgesellschaften für alle Teile eine sichere rechtliche Grundlage
schaffen. Ich will aber nicht schließen, ohne noch auf einen wesentlichen äußer¬
lichen Unterschied hinzuweisen, der zwischen der staatlichen und privaten Unfall¬
versicherung besteht. Das ist die Entscheidung in strittigen Fällen. Bei der
öffentlichen Versicherung haben wir ein gut geregeltes Verfahren. Wir haben
die drei Instanzen : Berufsgenossenschaft, Schiedsgericht, Reichsversicherungsamt.
Bei den Berufungsgerichten wiederum das Prävalieren der juristischen Faktoren.
Anders bei den privaten Unfallversicherungen. Die meisten Gesellschaften haben
die Einrichtung von ärztlichen Schiedsgerichten getroffen, in denen ein Berater
des Versicherten, ein Vertreter der Gesellschaft und ein von beiden Ärzten ge¬
wählter Obmann die Entscheidung zu treffen haben. Aber wenn auch die Gesell¬
schaften sich an dieses Urteil stets gebunden halten, so bleibt doch dem Ver¬
sicherten immer noch der Rechtsweg in der Anrufung der zuständigen Gerichte
bis zum Kammergericht und Reichsgericht. Zuweilen wird auch einfach Be¬
schwerde beim Kaiserlichen Aufsichtsamt für die Privatversicherungen geführt.
Ich halte dieses ganze Verfahren für unzureichend. Mir scheint hier eine Ände¬
rung dringend geboten. Häufig haben die entscheidenden Ärzte doch nicht die
genügende Kenntnis der rechtlichen Lage und andererseits die Gerichte nicht
das volle Verständnis für die ärztliche Seite des Falles. Ich halte es für durch¬
aus geboten, daß ein besonderes Gericht, vielleicht als Angliederung an das
Kaiserliche Aufsichtsamt für die Privatversicherung eingerichtet wird. Es müßte
aus Richtern bestehen und ärztlichen Sachverständigen, vielleicht auch unter Zu¬
ziehung von Laien, die nach dem jeweiligen Beruf des klägerischen Versicherten
zu wählen wären. In diesem Sondergerichtshofe müßte vor allem der Unterschied
zwischen der privaten und der staatlichen Unfallversicherung klar erkannt werden,
um die Verpflichtungen der privaten Versicherungsgesellschaften gegenüber den
Versicherten in gerechter Weise beurteilen zu können.
Zeitschriftenübersicht.
189
Zeitschriftenübersicht.
Medizinische Reform. 1906. Nr. 45: A. Sticker. Die Bedeutung des
Tierexperimentes für die soziale Hygiene und die soziale Medizin. — Nr. 46:
N. Nahm, Über Heilstättenfragen. — Nr. 47: L.Berthenson, Die Überwachung
der Prostitution in Rußland ; Ko ß m an n , Deutschland in den Augen eines franzö¬
sischen Arztes. — Nr. 48: F. Prinzing, Nimmt die Zuckerkrankheit an Häufig¬
keit zu?; R. Kayser, Die Bedeutung kassenärztlicher Versicherung der Gesamt¬
bevölkerung für das Einkommen der Arzte. — Nr. 49: M. Sternberg, Erfahrungen
über gewerbliche Bleivergiftung in Wien; G. Liebe, Der Alkohol als „Heilstätten-
Streitfrage“. — Nr. 50: M. Sternberg, Fortsetzung aus Nr. 49; M. Flesch,
Die Steigerung der Lebensmittelpreise und die Aufgaben der Hygiene. — Nr. 52:
Rabnow, Die städtische Auskunfts- und Fürsorgestelle für Tuberkulöse in
Schöneberg; E. Lennhoff, Armenpflege und Armenpolitik. — 1907. Nr. 1:
J. Katz, Die Ansiedelung leicht lungenkranker Arbeiter in Deutsch-Südwestafrika,
eine Aufgabe der Landesversicherungsanstalten. — Nr. 2: E. Israel, Die Vor¬
schriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen ; R. L e n n h o f f ,
Die Säuglingsfürsorge der Stadt Berlin.
Medizinische Klinik. 1906. Nr. 41: Th. Witry, Die erstmalige Ent¬
fernung der Ketten der Irren in der französischen Irrenanstalt Bicetre; E. Kürz,
Soziale Hygiene. — Nr. 42: E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 41. — Nr. 43: E. Kürz,
Fortsetzung aus Nr. 42. — Nr. 44: E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 43. — Nr. 45:
E. Abderhalden, Zur Frage der Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen;
E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 44. — Nr. 46: G. Gisler, Stillungsunfähigkeit
der Frauen und familiärer Alkoholismus; B. La quer, Der Alkohol im Arbeiter¬
haushalt ; E. Kürz, Fortsetzung aus Nr. 45. — Nr. 47 : C. Colombo, Notwendigkeit
eines besonderen Sanitätsbeistandes für die von Betriebsunfällen betroffenen Ar¬
beiter. — Nr. 48: E. Abderhalden, Ein Vorschlag zur Bekämpfung des Alkoho¬
lismus auf internationaler Grundlage ; E. Landsberg, Überdas ärztliche Berufs¬
geheimnis; W. Br an dis, Freie Arztwahl der Unfallverletzten; Witry, Le
malade et le medecin. — Nr. 49: Nolte, Über Gesundheitspflege.
Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie. 1906. Nr. 6: L. Plate,
Über Vererbung und die Notwendigkeit der Gründung einer Versuchsanstalt für
Vererbungs- und Züchtungskunde ; W. Claassen, Die Frage der Entartung der
Volksmassen auf Grund der verschiedenen, durch die Statistik dargebotenen Maßstäbe
der Vitalität. (Schluß) ; A. P 1 o e t z , Zur Abgrenzung und Einteilung des Begriffs
Rassenhygiene.
Politisch- Anthropologische Revue. 1907. Nr. 10 : Fr. von denVelden,
Die voraussichtlichen Folgen der Mutterschaftsversicherung.
Deutsche Krankenkassen- Zeitung. 1906. Nr. 32: Die Beschränkung
der Krankenkassen auf reine Geldleistungen. — Nr. 35: Fortsetzung aus Nr. 32.
— Nr. 36: Fortsetzung aus Nr. 35.
Zeitschrift für Samariter- und Rettungswesen. 1906. Nr. 23: L. Sof er,
Das Rettungswesen im Bergbaubetriebe. 1907. Nr. 2 : G. M e y e r , Einige Gesichts¬
punkte für die Organisation des Rettungswesens und der Krankenbeförderung.
Die Arbeiterversorgung. 1906. Nr. 31: R. Weck, Der Königsberger
Ärztekonflikt. — Nr. 32: F. Kl e eis Die Krankenhauspflege und die Kosten
derselben; Hahn, Zu den Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungs¬
pflicht nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 KVG. — Nr. 35: J. Rotholz, Die Krankenrenten;
190
Zeitsc h ritten übe rsich t .
Zu der Anwendung' des § 140 Absatz 2 des IVG. — Nr. 36: L. Fuld, Zur
Verwendung des Eventualdolus in der Arbeiterversicherungsgesetzgebung: F.
Kleeis. Die Quittungsbücher für die Kasssenmitglieder. — 1907. Nr. 1: Die
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Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung. 1906.
Nr. 22: H. Unger, Die Steigerung der Lebensmittelpreise und ihre Einwirkung
auf die Arbeiterversicherung: E. Funke. Das Verhältnis der Krankenversicherung
und der Invalidenversicherung zur Unfallversicherung. (Schluß.) — Nr. 23:
H. v. Frankenberg, Die Bedeutung des Zwecks der Arbeiterversicherung. —
Nr. 24: A. Kiß, Der ungarische Arbeiterversicherungsgesetzentwurf. — .1907.
Nr. 1: G. Hoch, Ein Rückblick und ein Ausblick.
Reformblatt für Arbeiterversicherung. 1906. Nr. 20: L. Fuld,
Wüchnerinnen-Unterstützung und Schwangerschaftsunterstützung. — Nr. 21.
CI. Heiß, Der fünfte internationale Kongreß für Versicherungswissenschaft : Die
reichsgesetzliche Regelung des Apothekemvesens : Das staatliche Versicherungswesen
in Deutschland. — Nr. 22: Seelmann, Die Witwen- und Waisen Versicherung
der Seeleute; Güldenberg, Die Beteiligung der Krankenkassen bei der Fest¬
setzung der ortsüblichen Tagelöhne. — Nr. 23: v. Frankenberg, Der Gehalts¬
abzug in Krankheitsfällen: F. Kleeis, Die Beseitigung der Gemeindekranken¬
versicherungen ; Seelmann, Die ärztliche , Begutachtung des Beginns der Invali¬
dität. — Nr. 24 : E. Giesberts, Fünfundzwanzig Jahre Sozialreform ; 0. Scheven,
Zur Frage der ökonomischen Verordnungsweise bei den Krankenkassen mit freier
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angestellten: Stier -Somlo. Der augenblickliche Stand des Problems der Witwen-
O i 1 CT*
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der Arbeiterversicherung; Stier -Somlo, Der augenblickliche Stand des Problems
der Witwen- und Waisenversicherung.
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Krankenversicherung. — Nr. 50 : P. H i r s c li , Beiträge zur Schulgesundheitspflege. —
1907. Nr. 1: H. Lin de mann. Verfassung und Verwaltungsorganisation der
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prophylaxe. 1907. Nr. 1 : H. R o s t , V om Alkohol ; K. J o w ano wr i t s c h , Die
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Nr. 8: Polligkeit, Das Mailänder Istituto Pedagogico Forense per la Redenzione
dei Minorenni Traviati.
Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. 1906.
Nr. 4: G. Meyer, Die Entwicklung und zukünftige Ausgestaltung des Rettuugs-
und Krankenbeförderungswesens ; G. Puppe, Über Gefängnishygiene; E. Arends,
Zur Frage der Milch hygiene : Dosquet-Manasse, Vorschläge zur Entlastung
der städtischen Krankenhäuser.
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contre la tubereulose. — Nr. 11: Fortsetzung aus Nr. 10.
Zeitschrift für ärztliche Fortbildung. 1906. Nr. 20: E. Cramer,
Augenverletzungen und Unfallheilkunde. — Nr. 22: F. Köhler. Die moderne
allgemeine Behandlung der Lungentuberkulose, mit besonderer Berücksichtigung
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191
der Heilstätten. — Nr. 24: R. Kutner, E. v. Bergmann und das ärztliche Fort¬
bildungswesen : G. Meyer, E. v. Bergmann und das Rettungswesen: Th. Rumpf,
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gefährlichkeit der Geisteskranken: F. Ahlfeld, Kreisarzt und Kindbettfieber, —
Nr. 20: 0. Rapmund. Das preußische Gesetz, betr: die Bekämpfung übertrag¬
barer Krankheiten. — Nr. 22: R. Thomalla, Über Kreuzotterbisse. — Nr. 23:
Über Trinkwasserleitungen des Kreises Simmern; Oehmke. Die milchhygienische
Anstalt Hof stede-Oud-Bussem . — Nr. 24 : F. Ah lf el d, Augenschutz der Neugeborenen,
1907. — Nr. 1: Klix. Die Säuglingssterblichkeit und ihre Bekämpfung in Posen.
Ärztliche Sachverständigen ■ Zeitung. 1906. Nr. 20: Ledderhose,
Zur Frage der ärztlichen Behandlung der Unfallverletzten. — Nr. 21: Wiener
UnfaR und Frauenkrankheiten. — Nr. 22: Sch wechten, Invalidenfürsorge der
Pensionskasse für die Arbeiter der preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft. —
Nr. 23: Mercklin, Sittlichkeitsvergehen. Zwangsvorstellungen; Eisenstadt,
Eine populär-medizinische Enzyklopädie. — Nr. 24 : S t r a u ß , Über einige Fragen
der Unfallbegutachtung bei Herzkrankheiten.
Prager medizinische Wochenschrift. 1906. Nr. 24: Zur Organisation
der Distrikts- und Gemeindeärzte in Böhmen. — Nr. 32: F. Per ko, Entwurf
eines Landessanitätsgesetzes für das Königreich Böhmen. — Nr. 33: F. Per ko.
Fortsetzung aus Nr. 32. — Nr. 35: Kantor, Arzte und gesundheitliche Volks¬
aufklärung in Deutschböhmen. — Nr. 36 : Kantor, Fortsetzung aus Nr. 35. —
Nr. 37: F. Stein, Das ärztliche Berufsgeheimnis nach österreichischem Rechte. —
Nr. 38: G. Weiß, Alhoholliteratur. — Nr. 39: J. Ekstein, Hygienische Be¬
trachtungen. — Nr. 42: A. Marian, Über Krankenkassenstatistik im Aussiger
Bezirke; A. Hartmann, Ärztliche Sonntagsruhe; G. Pick, Die freie Arztwahl
in München. — Nr. 43: F. Perko, Kritische Bemerkungen zur Gründung des
Reichsverbandes österreichischer Ärzteorganisationen in Wien. — Nr. 49: G. Pick.
Die ärztliche Buchführung in der Privat- und Kassenpraxis.
Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 1906. Nr. 9 :
J. Fabry, Zur Frage der Inskription unter sittenpolizeiliche Aufsicht mit be¬
sonderer Berücksichtigung Dortmunder Verhältnisse; J. Rutgers, Skizzen aus
Holland. — Nr. 10: Galewsky, Über die Übertragung von Geschlechtskrankheiten
beim Stillgeschäft; L. Bendix, Zur Verschwiegenheitspflicht der Ärzte. — Nr. 11:
W. Erl), Zur Statistik des Trippers beim Manne und seiner Folgen für die Ehe¬
frauen: E. Finger, Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten in Österreich.
Monatsschrift für Unfallkunde. 1908. Nr. 1: Liniger, Interessante
Fälle aus der Unfallpraxis; C. Schmidt, Störungen in der Gewohnheit an
körperliche Gebrechen und ihre Bedeutung für die Invalidenversicherung: —
Nr. 3: G. Haag, Mitteilungen aus der Rechtspflege. — Nr. 4: Liniger, Fort¬
setzung aus Nr. 1. — Nr. 6: F. Honig mann, Die Verschlimmerung bösartiger
Geschwülste als Unfallfolge. — Nr. 8: Ph. Ko op erb erg, Organisation des
.Medizinalwesens in bezug auf das Unfällgesetz in Holland ; L. Feilehen feld,
Über die Verschlimmerung von Krankheiten des Zirkulationsapparates durch Un¬
fälle. — Nr. 9: C. Thiem, Über den Einfluß der neueren deutschen Unfallgesetz¬
gebung auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit chirurgischer Krankheiten: Gaupp,
Der Einfluß der deutschen Unfallgesetzgebung auf den Verlauf der Nerven- und
Geisteskrankheiten; Bericht über den vom 10. — 15. Sept. in Berlin abgehalteuen
IV. internationalen Kongreß für Versicherungsmedizin. — Nr. 10: M. Nonne,
192
Zeitschriftenübersicht.
Über den Einfluß der Unfallgesetzgebung auf den Ablauf von Unfallneurosen. —
Nr. 11: E. Gramer, Ausländische Ansichten über die Möglichkeit, Unfallverletzte
zur Duldung von chirurgischen Eingriffen zu ihrem Besten zu zwingen.
- Außerdem sind folgende Druckschriften eingegangen :
Jahresbericht der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft 1905 — 1906. —
B. Kampf fmey er, Gartenstadt und Landeskultur. Flugschrift der deutschen
Gartenstadt-Gesellschaft Nr. 10. Berlin-Schlachtensee 1906 (0,30 M.). — M. H i r s c h -
feld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. VIII. Jahrgang. Leipzig 1906.
M. Spohr. — G. Cor net, Die Tuberkulose. 2. Aufl. 2 Hälften. Wien 1906.
A. Holder (32.00 M.). — E. Sief er t, Über die Geistesstörungen der Strafhaft.
Halle 1907. C. Marhold (6,00 M.). — G. v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit
der Frauen ihre Kinder zu stillen. 5. durch neues statistisches Material vermehrte
Auflage. München 1907. E. Reinhardt (0,80 M.). — J. Bresler, Greisenalter
und Kriminalität. Halle 1907. C. Marhold (1.80 M.). — A. Jap ha und H. Neu¬
mann, Die Säuglingsfürsorgestelle I der Stadt Berlin. Berlin 1906. S. Karger
(2,00 M.). — G. Gor net, Die Prophylaxis der Tuberkulose. Separatabdruck aus-
G. Cornet, Die Tuberkulose. II. Aufl. Wien 1906. A. Holder. — F. Hirschfeld
Chronische Krankheiten und Lebensversicherung. Sonderabdruck aus Die Deutsche
Klinik. Berlin und Wien 1906. Urban und Schwarzenberg. — F. Perutz, Medi¬
zinisches und Sozialhygienisches von der Jubiläumsausstellung in Nürnberg.
Separatabdruck aus Münch, med. Wochenschr. 1906 Nr. 26. — A. Celli. Achter
Jahresbericht der Italienischen Gesellschaft für Malariaforschung. Abdruck aus
dem Zentralblatt für Bakteriologie etc XXXVIII. Band. Jena 1906. G. Fischer. —
A. Holitscher, Gewerbliche Gesundheitslehre. Aus Bibliothek der gesamten
Technik XIV. Band. Hannover 1907. Dr. M. Jänecke (2,60 M.j. — J. Hampe,
Über den Schwachsinn nebst seinen Beziehungen zur Psychologie der Aussage.
Braunschweig 1907. F. Vieweg und Sohn (2,00 M.). — L. S. A. M. v. Römer,
Beiträge zur Erkenntnis des Uranismus. Heft I : Die uranische Familie.
Untersuchungen über die Ascendenz der Uranier. Leipzig und Amsterdam
1906. Maas und van Suchtelen (4,00 M.). — F. Dörbeck, Geschichte der
Pestepidemien in Rußland von der Gründung des Reiches bis auf die Gegenwart.
Abhandlungen zur Geschichte der Medizin. Heft. XVIII. Breslau 1906. J. U.
Kerns Verlag (6,00 M.). — J. L. Reimer, Grundzüge deutscher Wiedergeburt.
2. erweiterte Auflage. Leipzig 1906. Thüringische Verlagsanstalt (1,00 Mj. —
Gr tili ich, Ärztliche Hilfe, Kranke und Krankenkassen auf dem Lande. Frank¬
furt a. M. 1906. Verlag des Reformblatt für Arbeiterversicherung. Dr. E. Schnapper.
— M. Sternberg, Erfahrungen über gewerbliche Bleivergiftungen in Wien.
Separatabzug aus Das österreichische Sanitätswesen 1906 No. 32-39. — Ergeb¬
nisse des von der Landes- Versicherungsanstalt der Hansestädte eingeleiteten Heil¬
verfahrens hei lungenkranken Versicherten bis Ende 1905. — Berichte und Ver¬
handlungen des Vierten Internationalen Kongresses für Versicherungs-Medizin zu
Berlin vom 10. bis 15. September 1906. II. Band. Berlin 1906. E. S. Mittler
und Sohn. — K n ö p f e 1 , Zur Säuglingssterblichkeit in Hessen. Sonderabdruck
aus der „Darmstädter Zeitung“. — Soweit die ein gesandten Publikationen aus
Platzmangel in der „Zeitschrift für Soziale Medizin“ nicht besprochen werden
können, werden sie im „Jahresbericht über Soziale Hygiene, lirsg. von A. Grotjahn
und F. Kriegei“, der alljährlich im Juli erscheint, eine Besprechung finden. Daselbst
vgl. auch Chronik, Kongresse, Gesetzestafel und vollständige Bibliographie der
Sozialen Hygiene und Sozialen Medizin.
Umschau.
Berlin, den 25. April 1907.
Das Beichsamt des Innern hat den Entwurf eines Reichs-
Apothekengesetzes der Öffentlichkeit übergeben. Die An¬
nahme dieses Gesetzentwurfes würde die Errichtung von veräußer¬
lichen und übertragbaren Realkonzessionen, die in Preußen bereits
seit dem Jahre 1894 nicht mehr erteilt werden,- auch für das übrige
Reichsgebiet unmöglich machen. An den bereits erteilten Real¬
berechtigungen, deren Anzahl in Preußen gegenwärtig noch 2736
beträgt, soll vorläufig reichsgesetzlich nichts geändert werden;
doch soll den Inhabern von Apotheken eine Betriebsabgabe auf¬
erlegt werden, aus der ein Ankaufsfond zur Tilgung eines großen
Teils der Apothekenberechtigungen angesammelt werden soll. Ein
gesetzliches Vorkaufsrecht und eine Kontrolle der Abschätzung
durch die Verwaltungsbehörde werden diesen Prozeß erleichtern.
Alle bereits bestehenden landesrechtlichen Vorschriften, die schon
gegenwärtig das Recht eines Realkonzessionärs zur Veräußerung
seiner Konzession beschränken und die Umwandlung übertragbarer
in nichtübertragbare Konzessionen bezwecken, werden von dem
Gesetz nicht berührt. Der Grundzug des Gesetzes bezweckt also
einen allmählichen Ersatz der zum Apothekenschacher führenden
Realkonzession durch die Personalkonzession. Diese Tendenz
ist selbstverständlich zu begrüßen. Doch darf nicht verschwiegen
werden, daß auch diese Lösung der brennenden Apothekerfrage
nur als eine provisorische angesehen werden kann. Auch die Per¬
sonalkonzession ist und bleibt ein Privilegium, und Privilegien
sollten im modernen Wirtschaftsleben niemals Privatpersonen son¬
dern immer nur öffentlichen Institutionen zur Exploitation über¬
lassen werden. Gerade der Apothekenbetrieb dürfte sich vorztig-
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. .13
194
Umschau.
lieh entweder zur Verstaatlichung oder noch besser zur Kommu¬
nalisierung eignen, zumal die Apotheke in neuerer Zeit immer
mehr den Charakter einer Produktionsstätte verliert und sich zu
einer reinen Distributionsstätte von Heilmitteln entwickelt. Vor¬
bildlich dürfte nach dieser Eichtling sein, daß im Großherzogtum
Hessen die neuerteilten Konzessionen größtenteils an Gemeinden
vergeben sind, so daß hier bereits 13 Kommunalapotheken ent¬
standen sind, mit denen man die besten Erfahrungen gemacht hat.
Der Beratung dieser und ähnlicher Vorlagen wird es zugute
• •
kommen, daß in den neuen Keichstag eine Anzahl von Ärzten ge¬
wählt sind, die sich auf fast alle Parteien verteilen, nämlich
A r n i n g - Nienburg (Nationalliberal), Höffel-Zabern (Freikonser¬
vativ), Leonhart-Husum (Freisinnige Volkspartei), Mugdan-
Görlitz (Freisinnige Volkspartei), Ricklin- Altkirch (Centrum),
Struve- Oldenburg (Freisinnige Vereinigung) und Eügenberg-
Hagenau (Centrum). Diese erfreuliche Durchsetzung des Parlaments
mit ärztlichen Elementen ist besonders für den Fall wichtig, daß
dieser Eeichstag über weitgehende Eeformen des Krankenversiche¬
rungswesens oder gar die Vereinheitlichung des gesamten sozialen
Versicherungswesens zu beschließen haben würde.
In Dänemark wird eine anthropometrische und anthro¬
pologische Massen Untersuchung der gesamten Bevölkerung
vorbereitet. An der Spitze des leitenden Ausschusses stehen Ge¬
neralstabsarzt H. Laub, der Statistiker H. Westergaard und
der Anthropologe S. Hansen. Um eine Unterlage für die all¬
gemeine Untersuchung zu gewinnen, hat man zunächst damit be¬
gonnen, isolierte kleine Bezirke gründlich zu studieren, indem man
möglichst sämtliche Erwachsene beiderlei Geschlechtes einer antliro-
pometrischen Aufnahme und einer anthropologischen Beschreibung
unterzieht.
Auf Anregung des neuen Präsidenten des Reichsversicherungs¬
amtes Kaufmann ist unter dem Titel „Monatsblätter für Arbeiter¬
versicherung“ eine neue Zeitschrift ins Leben gerufen worden, die
sich die Verbreitung der Grundzüge der Arbeiterversicherung zum
Ziele setzt und von den Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes
bearbeitet wird. Die neue Veröffentlichung dieser Zeitschrift soll
die „Amtlichen Nachrichten“ des Deutschen Reichsversicherungs¬
amtes in volkstümlicher Weise ergänzen.
In der Genf erscheint seit Beginn dieses Jahres eine „Revue
Suisse des Accidents du Travail“ als deren Redakteure E. Patry,
H. Secretan, Ch. Julliard und L. Rehfous zeichnen.
Umschau.
195
Am 30. Januar 1907 ertrank in Sestri beim Baden im
Mittelländischen Meere der Soziologe , Arzt und Anthropologe
L. Wo lt mann im 36. Lebensjahre. Wenn auch die Bedeutung
des Verstorbenen vornehmlich auf anthropologischem Gebiete liegt,
so beklagt doch auch die Soziale Hygiene in ihm den Verlust eines
der ihren, da W oltmann sowohl in seinem Hauptwerke über
„Politische Anthropologie“ wie als Herausgeber der „Politisch¬
anthropologischen Revue“ der Sozialen Hygiene und zwar besonders
dem Teile derselben, der sich mit dem Problem der körperlichen
Entartung befaßt, manche anregende Erörterung gewidmet hat.
Am 14. Februar 1907 starb in Bonn J. von Rottenburg
im 62. Lebensjahre. Der Verstorbene stand im Jahre 1881—1891
an der Spitze der Reichskanzlei und bewährte sich in dieser Stellung
als einer der maßgebendsten Mitarbeiter des Fürsten Bismark auf
dem Gebiete der sozialen Versicherungsgesetzgebung.
A. Gro tj ahn.
/
13*
Die Limgeiiheilstättenbewegimg im Lichte
der Sozialen Hygiene.
Von Dr. med. A. Geotjahn, Berlin.
I.
Seitdem Brehmer und seine Schüler gezeigt haben, daß die
diätetische Behandlung der Lungenkranken in besonderen Anstalten
zahlreiche Patienten teils wirklich zu heilen, teils erheblich zu
bessern imstande ist, kann die Notwendigkeit der Errichtung von
Anstalten für Lungenkranke nicht mehr bestritten werden, auch
nicht von denen, die den optimistischen Erwartungen bezüglich der
Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit durch Anstalten,
die für Patienten im Frühstadium bestimmt sind, skeptisch gegen¬
überstehen. Derartige optimistische Erwartungen sind bekanntlich
von den agitatorisch so überaus rührigen Befürwortern der Lungen¬
heilstätten gehegt worden. Die lebhafte Propaganda, deren Seele
in Deutschland G. Pannwitz war und die ihre größte Kraft¬
entfaltung in den Jahren erreichte, die auf den im Jahre 1899 in
Berlin tagenden Kongreß zur Bekämpfung der Tuberkulose als
Volkskrankheit folgten, hat dazu geführt, daß in Deutschland eine
achtunggebietende Zahl Lungenheilstätten von Vereinen, Kommunal¬
behörden und besonders von Landesversicherungsanstalten gegründet
worden sind. Sie haben zahlreichen Patienten Segen gebracht;
aber daß sie die Tuberkulose als Volkskrankheit auch nur im be¬
scheidenen Maße eingedämmt hätten, kann nicht behauptet werden.
Diese zwar nicht eingestandene, aber doch gefühlte Erkenntnis hat
in den Kreisen, die für das Heilstättenwesen enthusiasmiert waren r
gegenwärtig eine etwas niedergeschlagene Stimmung hervorgerufen.
Doch dürfte eine pessimistische Auffassung jetzt wohl ebenso un-
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte tler Sozialen Hygiene. 197
*
berechtigt sein, wie es früher die übertriebenen Hoffnungen waren.
Der Fehler liegt darin, daß die deutsche Lungenheilstätten¬
bewegung sich auf das Heilen der Tuberkulose kapriziert hat
und deshalb vorwiegend Anstalten für Patienten schuf, die noch
im Frühstadium der Krankheit sich befanden, die vorgeschritte¬
nen Fälle dagegen, die für die Verbreitung der Tuberkulose als
Volkskrankheit ausschlaggebend sind, vernachlässigte. Lungen¬
heilstätten für im Anfangsstadium Erkrankte sind notwendig, weil
ein bescheidener Prozentsatz durch den Aufenthalt in denselben
geheilt oder dauernd gebessert werden kann. Die Lungenheilstätten
sind also nützlich, ja dringend erforderlich vom Standpunkte der
Medizin und der Therapie. Fraglich ist nur ihr Wert vom sozial¬
hygienischen Gesichtspunkte aus; denn das Sinken der Sterblich¬
keit an Tuberkulose ist auf ihre Wirksamkeit nicht zurückzuführen.
Die Zahl von 30000 Plätzen, die für die Heilbehandlung zur Ver¬
fügung stehen, ist zwar absolut genommen höchst achtungswert,
aber im Vergleich zu der Ausdehnung der Tuberkulose fast ver¬
schwindend.1 2)
Der lähmende Einfluß dieser Erkenntnis ist auch in den
Kreisen, die in dem im Jahre 1895 gegründeten Zentralkomitee
zur Errichtung von Lungenheilstätten a) die Spitze ihrer Organi¬
sation sehen, bemerkbar. Das äußert sich zurzeit in der Bevor¬
zugung der Errichtung von Fürsorgestellen, Tuberkulosemuseen
und anderen kleinen Mitteln vor der Förderung des Baues neuer
Anstalten. Die frühere Sicherheit und hochangesehene Stellung
wird das Zentralkomitee erst zurückgewinnen, wenn es den Ge¬
danken der Anstaltsbehandlung wieder in den Vordergrund der
Betätigung stellt. Nur mit dem Unterschiede, daß jetzt die Asyli-
sierung der Lungenkranken im vorgeschrittenen Stadium ebenso
energisch propagiert werden muß, wie früher die Hospitalisierung
der im Frühstadium Befindlichen. Einen Leitstern hierfür kann
die Rede abgeben, die Robert Koch bei der Empfangnahme des
Nobelpreises hielt,3) und die auffallenderweise weniger Beachtung
gefunden hat als die gleichzeitigen Mitteilungen des nämlichen
0 B. y. Fetz er schätzt (Lungentuberkulose und Heilstättenbehandlung.
•Stuttgart 1900) die Zahl der Tuberkulösen in Deutschland auf etwa 1 Million.
L. Brauer schätzt nach einer recht sorgfältigen Stichprobe die Zahl der in
Baden im Jahre 1904 lebenden Lungenkranken aller Stadien auf 13650.
2) Seit 1906 ist die Bezeichnung in „Zentralkomitee zur Bekämpfung der
Tuberkulose“ abgeändert worden.
3) Deutsche medizin. Wochenschr., 1906, S. 89.
198
A. Grotjahn,
Forschers über Tropenkrankheiten, die für uns doch nur ein sekun¬
däres Interesse haben. Robert Koch führte in schlichter aber
überzeugender Weise aus, von welch großem Werte für die Ein¬
dämmung der Lungentuberkulose die Absonderung der vor¬
geschrittenen Fälle aus ihrer Umgebung sein würde. Er sagt:
„Was soll nun mit den als gefährlich anzusehenden Kranken ge¬
schehen, sobald sie zur Kenntnis gekommen sind? Wenn es mög¬
lich wäre, sie sämtlich in Krankenhäusern unterzubringen und
dadurch relativ unschädlich zu machen, dann würde die Tuber¬
kulose sehr rasch abnehmen. Aber daran ist wenigstens zurzeit
gar nicht zu denken. Die Zahl der Tuberkulösen, für welche
Krankenhausbehandlung erforderlich sein würde, ist beispielsweise
für Deutschland auf mehr als 200000 berechnet. Es würde un¬
erschwinglicher Mittel bedürfen, um eine derartige Zahl von
Kranken in Anstalten unterzubringen. Nun ist es aber auch gar
nicht notwendig, daß sofort alle Tuberkulösen in Krankenhäuser
gebracht werden. Wir dürfen auf eine Abnahme der Tuberkulose,
wenn auch eine langsamere, rechnen, wenn ein erheblicher Bruch¬
teil dieser Kranken Aufnahme in geeigneten Anstalten findet. Ich
erinnere in dieser Beziehung an das so außerordentlich lehrreiche
Beispiel der Leprabekämpfung in Norwegen. In diesem Lande hat
man auch nicht alle Leprösen isoliert, sondern nur einen Bruchteil
derselben, darunter aber gerade die besonders gefährlichen, und
man hat damit erreicht, daß die Zahl der Leprösen, welche im
Jahre 1856 noch fast 3000 betrug, zurzeit auf etwa 500 herab¬
gegangen ist. Nach diesem Vorbilde sollte man auch in der Tuber¬
kulosebekämpfung verfahren, und wenn man nicht alle Schwind¬
süchtigen berücksichtigen kann, so sollte man doch so viel als
irgend möglich und darunter die gefährlichsten, das heißt die im
letzten Stadium der Schwindsucht befindlichen, in Krankenhäusern
unterbringen. In bezug hierauf geschieht an manchen Orten aber
auch schon mehr, als man gewöhnlich annimmt. In der Stadt
Berlin sind im letzten Jahrzehnt mehr als 40 Proz. der Schwind¬
süchtigen in den Krankenhäusern gestorben. Recht günstig müssen
diese Verhältnisse auch in Stockholm sein, da Carls so n in seiner
Schrift über die Tuberkulosebekämpfung in Schweden angibt, daß
410 Schwindsüchtige in den Krankenhäusern dieser Stadt verpflegt
werden, was für eine Stadt von 300000 Einwohnern keine geringe
Zahl ist. Die Anzahl der Schwindsüchtigen, welche auf solche
Weise in Verhältnisse gebracht werden, unter denen sie nicht
mehr anstecken können, ist doch eine recht erhebliche und kann
Die Limgenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 199
nicht ohne Einfluß auf den Gang der Seuche bleiben. Im Zu¬
sammenhänge hiermit möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine
Erscheinung lenken, welche die größte Beachtung verdient. Es
ist dies der gleichmäßige und bedeutende Rückgang der Schwind¬
suchtssterblichkeit in einigen Ländern. In England ist diese Ab¬
nahme schon seit etwa 40 Jahren im Gange. Merkwürdigerweise
ist dieselbe in Schottland geringer, und sie fehlt in Irland voll¬
ständig. Sehr ausgesprochen ist der Tuberkuloserückgang in
Preußen. Während des Jahrzehnts von 1876 — 1886 stand die
Schwindsuchtssterblichkeit noch gleichmäßig hoch. Von 1886 ab
fiel sie dann aber von Jahr zu Jahr und ist bis jetzt um mehr
als 30 Proz., also etwa um ein Drittel gesunken. Man hat aus¬
gerechnet, daß infolgedessen, obwohl die Bevölkerungsziffer in¬
zwischen gestiegen ist, jetzt in Preußen alljährlich etwa 20000
Menschen weniger an Schwindsucht sterben als vor 20 Jahren.
In anderen Ländern, z. B. Österreich und Ungarn, ist die Schwind¬
suchtssterblichkeit auf der früheren bedeutenden Höhe geblieben.
Es läßt sich schwer sagen, wodurch dies eigentümliche Verhalten
der Tuberkulose in den genannten Ländern bedingt ist. Vermut¬
lich haben mehrere Faktoren zusammengewirkt. Die Verbesserung
der Lage der unteren Volksschichten namentlich in bezug . auf
Wohnungsverhältnisse und die bessere Kenntnis der Ansteckungs¬
gefahr, welche den einzelnen veranlaßt, sich der Ansteckung nicht
mehr ahnungslos auszusetzen, haben sicher das Ihrige getan, um
die Tuberkulose abnehmen zu lassen. Aber ich bin fest davon über¬
zeugt, daß die bessere Fürsorge für die Schwindsüch¬
tigen im letzten Stadium, nämlich ihre Unterbrin¬
gung in Krankenanstalten, die in England und in Preußen
in verhältnismäßig großem Umfänge geschieht, am meisten zur
Besserung der Tuberkuloseverhältnisse beigetragen hat. Ich werde
in dieser Meinung noch besonders durch das Verhalten der Tuber¬
kulose in Stockholm bestärkt, wo, wie bereits erwähnt wurde, ver¬
hältnismäßig viel Schwindsüchtige in den Anstalten verpflegt werden,
und wo auch im Laufe der letzten Dezennien die Schwindsuchts¬
sterblichkeit um 38 Proz. herabgegangen ist. Hieraus sollen wir
aber die Lehre entnehmen, daß auf diese Maßregel, nämlich die
Unterbringung der Schwindsüchtigen in geeigneten Anstalten, im
Kampfe gegen die Tuberkulose der größte Nachdruck zu legen ist,
* und man sollte noch viel mehr als bisher dafür sorgen, daß die
Schwindsüchtigen nicht in ihren Wohnungen sterben, wo sie sich
überdies meistens in hilfloser Lage und ohne ausreichende Pflege
200
A. Grotjahn,
befinden. Wenn nicht mehr wie bisher die Schwindsüchtigen als
Unheilbare von den Krankenhäusern zurückgewiesen werden, son¬
dern wenn wir ihnen die denkbar beste und unentgeltliche Pflege
anbieten, in einzelnen Fällen sogar noch Heilung in Aussicht
stellen können, wenn ferner für ihre Familien während der Krank¬
heit gesorgt wird, dann wird nicht der geringste Zwang nötig sein,
um noch viel mehr dieser unglücklichen Kranken zu veranlassen,
die Krankenhäuser aufzusuchen, als es jetzt schon geschieht.“
Heilungen und Besserungen werden in den Anstalten erzielt,
aber sie sind nicht so zahlreich, daß sie gegenüber der Verbreitung
der Lungentuberkulose in Frage kommen. Wirkliche Heilungen *)
im medizinischen Sinne sind so selten bei den proletarischen
Lungenkranken, auch wenn sie die Heilstätte passiert haben, daß
sie auch von den begeistertsten Verfechtern nicht zum Beweis
der Vorzüge der Anstaltsbehandlung vorgebracht worden sind.
Weicker berechnet aus seinem Material, das mehr als 3000 Pa¬
tienten umfaßt, einen Dauererfolg „von voller, resp. teilweiser
Arbeitsfähigkeit im Durchschnitt von 6 Jahren“ auf 41,6 Proz.
(Beiträge zur Frage der Volksheilstätten, VIII, Leipzig 1903). Die
vom Reichsversicherungsamt herausgegebenen „Amtlichen .Nach¬
richten“ verzeichnen einen Dauererfolg bei 40 Proz., der 2 Jahre
nach dem Aufenthalt in der Heilstätte noch anhält, d. h. der. noch
nicht der Invalidisierung der Patienten gewichen ist. Dauererfolg
ist hier aber gleich Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 5 Abs. 4 des
IVG. und bedeutet das Vermögen des Patienten, „durch eine seinen
Kräften und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit, die ihnen unter
billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres bisherigen
Berufes zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben,
was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit
ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu ver¬
dienen pflegen“.
Aus den zahlreichen Ermittlungen über die in den Lungen¬
heilstätten erzielten Erfolge sind nur die von Wert, die sich auf
0 Unter Heilung versteht der gesunde Menschenverstand und mit ihm der
exakte ärztliche Sprachgebrauch die dauernde Beseitigung eines krankhaften Zu¬
standes. Es dient nur zur Verwirrung, wenn außer dieser Heilung im klinischen
Sinne von einer „sozialen Heilung“ gesprochen wird, worunter man dann die
Wiedererlangung einer dauernden Erwerbsfähigkeit beim Fortbestehen der Krank¬
heit selbst verstehen soll. Es ist deshalb zweckmäßig, das Wort „soziale Heilung“
wieder aus dem Sprachschatz verschwinden zu lassen und sich mit dem Ausdruck
„voraussichtlich dauernder Erwerbsfähigkeit“ zu begnügen.
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 201
wirkliche Heilungen oder auf dauernde Besserungen bis zu einem
Grade, daß noch im 5. Jahre nach der Heilstättenkur keine Inva¬
lidisierung eingetreten war, beziehen. Absolute Heilungen waren
nach den Ermittlungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes nur bei
3,4 Proz. der Heilstättenpfleglinge zu konstatieren. Daß diese ge¬
ringe Zahl auf den Gang der Tuberkulose als Volkskrankheit
irgend welchen Einfluß gehabt haben könne, wird niemand be¬
haupten wollen. Aber auch die Zahl derer, die so gebessert wurden,
daß sie noch 5 Jahre nach der Kur nicht invalidisiert zu werden
brauchten, beträgt durchschnittlich nur 31 Proz. Die Erzielung
dieses Prozentsatzes ist nicht so besonders rühmenswert, wenn man
bedenkt, daß die für die Heilstättenbehandlung ausgesuchten Fälle
doch nur solche im Anfangsstadium waren. Daß diese auch
ohne Lungenheilstättenbehandlung noch jahrelang arbeitsfähig sind,
pflegt unter den Ärzten, die mit den besser gestellten Arbeiter¬
kategorien beruflich zu tun haben, seit langem bekannt zu sein.
Es ist unbegreiflich, wie man sich dieser Zahlen jemals hat freuen
können. Sie sind doch eher niederschmetternd und haben für die
Ausbreitung der Tuberkulose als Volkskrankheit wenig zu be¬
deuten. Zählen doch nach Köhler1) die Tuberkulösen, deren
Leiden so vorgeschritten ist, daß sie Krankenhausbehandlung er¬
fordern, im Deutschen Reiche mindestens 225000. Die Sterblich¬
keit allein an Tuberkulose betrug 2,25 °/oo bei einer Gesamtsterb¬
lichkeit von 21,8 °/(io in den Jahren 1894 — 1897. Wie skeptisch
R. Koch über die hygienische Wirksamkeit der Lungenheilstätten
für im Frühstadium befindliche Patienten denkt, geht aus folgenden
Worten, die der nämlichen Stelle wie die oben zitierten entnommen
sind, hervor. „Die Heilstätten wurden gegründet in der Erwartung,
daß in ihnen ein großer, vielleicht der größte Teil der Schwind¬
süchtigen geheilt werden könne. Wenn diese Voraussetzung richtig
wäre, dann würden die Heilstätten entschieden eine der besten
Waffen im Kampfe gegen die Tuberkulose sein. Aber über die
Erfolge der Heilstätten ist viel hin- und hergestritten. Von der
einen Seite wurde behauptet, daß sie bis zu 70 Proz. Heilerfolge
hätten, von der anderen Seite wurde ihnen jeder Erfolg abgestritten.
Nun muß zugegeben werden, daß die 70 Proz. Erfolge sich nicht
auf eigentliche Heilungen, sondern nur auf die Wiedergewinnung
9 Die Verbreitung der Lungenschwindsucht und der entzündlichen Er¬
krankungen der Atmungsorgane in den europäischen Staaten. Hrsg, vom Kaiserl.
Gesundheitsamt. Berlin 1899.
202
A. Grotjahn,
der Erwerbsfähigkeit beziehen. Vom Standpunkte der Prophylaxis
ist das aber kein Gewinn, da ein Kranker, welcher nicht voll¬
kommen geheilt, sondern nur so weit gebessert ist, daß er für
einige Zeit wieder erwerbsfähig wird, später in den Zustand der
offenen Tuberkulose gerät und allen Folgen derselben, wie sie
früher geschildert wurden, anheimfällt.“
Die Anschauungen, die hier von kompetenter bakteriologischer
Seite geäußert werden, sind von klinischer Seite schon früher nach¬
drücklich vertreten, aber nicht genug beachtet worden. In einer
ruhigen, die Vorzüge und Lücken der vorbeugenden Heilstätten¬
behandlung vorsichtig gegeneinander abwägenden Schrift kam
B. v. Fetzer1) schon im Jahre 1900 zu dem Schlußurteil, daß
„die Heilstätten für Lungenkranke, auch wenn sie in großem Ma߬
stabe eingeführt werden, zur Verminderung der Infektionsgefahr
der Tuberkulose für die Gesamtheit des Volkes nichts oder doch
nur in sehr geringem Maße beizutragen vermögen, ferner, daß selbst
bei günstigen Erfolgen der Heilstättenbehandlung ein erheblicher
nationalökonomischer Gewinn nicht zu erwarten steht, während
durch die Schaffung von Volksheilstätten in einigermaßen zu¬
reichender Menge dem Volksvermögen sehr beträchtliche Opfer
zugemutet werden und endlich, daß der — a priori nicht zu leug¬
nende — erzieherische Wert der Heilstättenbehandlung voraus¬
sichtlich kein sehr großer sein wird, demnach die Heilstätten¬
behandlung, so hoch die humanitäre Bedeutung für die Erkrankten
selbst anzuschlagen ist, für das soziale Erwerbsleben und
das hygienische Wohl des Volkes doch nur von be¬
schränkter Bedeutung bleiben wird.“ Aus neuerer Zeit
möge hier noch die Stimme eines so erfahrenen Klinikers wie
L. Brauer2) Platz finden, der über den Wert der Heilstätten¬
behandlung urteilt: „Die Heilstätte ist und bleibt eine humane
Einrichtung; sie schafft einem Teile ihrer Pfleglinge Nutzen, sie
verzögert damit für die Versicherungen die Auszahlnng einiger
Renten und erhält dem Staate Arbeitskräfte. Die Heilstätte ist
auch, ebenso wie viele andere Anstalten, befähigt, im Nebenamte
sozialen Anforderungen allgemeiner Art, z. B. der Belehrung, zu
dienen. Den wichtigsten Aufgaben der Antituberkulosebewegung
aber dient die Heilanstalt nicht. Für die Bekämpfung der Tuber-
x) a. a. 0. S. 68.
2) Der Einfluß der Krankenversorgung aiü die Bekämpfung der Tuberkulose
als Volkskrankkeit. Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, 1905, S. 97.
Pie Lungenheilstättenbewegung im Lichte (1er Sozialen Hygiene. 203
kulose als Volkskrankheit für die Verhütung stets wieder¬
kehrender neuer Erkrankungen • — kommt dieselbe kaum in Be¬
tracht,“ Er empfiehlt dann auf das wärmste, möglichst viele
fortgeschrittene Fälle der Anstaltsbehandlung zuzuführen und in
kleinen einfachen Heimstätten zu asylisieren. „Es wäre
sehr förderlich, wenn man diejenigen Kranken, welche aus dem
Hause oder geschlossenen Fabrikräumen entfernt werden sollen,
mit ihrem Einverständnisse schon vor Eintritt der Erwerbsunfähig¬
keit invalidisieren dürfte und wenn alsdann die Versicherungs¬
anstalt als Äquivalent für diese vorzeitige Zuwendung von den
Kranken die Übersiedelung in eine Heimstätte, resp. den Übergang
in . einen Beruf verlangen würde, in welchem sie die Gesunden
nicht gefährden. Aus einem so gestalteten Vorgehen würde weiten
Schichten der handarbeitenden ärmeren Bevölkerung ein tatsäch¬
licher und beträchtlicher Tuberkuloseschutz erwachsen.“ Die ärzt¬
liche Leitung derartiger Heimstätten sollte nach Brauer dem
Arzte des Ortes übertragen werden; es fällt dieses mit der Ab¬
sicht zusammen, die einzelnen Heimstätten möglichst klein zu
erbauen und lieber eine große Zahl derselben auf die Gemeinden
zu verteilen. Es entsteht hierdurch für den Kranken der Vorteil,
daß er mit seinem Beruf in Konnex bleiben kann. Die finanzielle
Fundierung der Heimstätten ist, wie dieses in einzelnen Versuchen
schon zur praktischen Tat wurde, durch Gewährung billiger Kapi¬
talien seitens des Staates, der Versicherungsanstalten und Wohl¬
fahrtsgesellschaften zu erleichtern. Aus den Einzahlungen der
Pfleglinge würde für die Gemeinden eine geringe Verzinsung des
angelegten Kapitals resultieren, wenn die Versicherungsanstalten
in wachsender Zahl von dem ihnen zustehenden Beeilte Gebrauch
machten, ihren ßentenempfängern die Zuschüsse so lange zu er¬
höhen, als dieselben in den Heilstätten verbleiben.
Die wichtigste Infektionsquelle ist eben der Tuberkulöse im
vorgeschrittenen Stadium. Die Bekämpfung der Tuberkulose als
Volkskrankheit muß hier ihren Hebel einsetzen. Das ist um so
wichtiger geworden, seitdem die Untersuchungen R. Kochs und
seiner Schüler wahrscheinlich gemacht haben, daß der Binder¬
tuberkulose — was übrigens die Ergebnisse der Medizinalstatistik
von vornherein wahrscheinlich machten — keine bedeutendere Rolle
bei der Entstehung der menschlichen Tuberkulose zuzuweisen ist.1)
b Sehr lehrreich und in diesem Zusammenhänge mitteilenswert sind die
Beobachtungen und Maßnahmen, die der dänische Tierarzt B. Bang bei der von
204
A. Grotjahn,
• •
Unter den Forschern, die sich mit der Ätiologie der Tuber»
kulose beschäftigen, ist der Streit, ob die Infektion oder die Ver¬
anlagung der wichtigste Faktor in der Entstehung der Lungen¬
schwindsucht ist, noch nicht zum Austrag gekommen. Aber mit
einer möglichst ausgebreiteten Detention der Tuberkulösen in
Heimstätten können sowohl die Kontagionisten (E. Koch, Flügge,
Com et u. a.) wie die Dispositionisten (Hueppe, Gottstein,
Ei f fei u. a.) zufrieden sein. Denn durch das Herausziehen der
Tuberkulösen aus der übrigen Bevölkerung werden doch ohne
Zweifel die Infektionsquellen bedeutend vermindert und zugleich
wird, da die Insassen der Heimstätten zölibatär leben, auch die
Weitergabe der konstitutionellen Minderwertigkeit im Wege des
Erbganges vermieden. Treffen doch die meisten Todesfälle an
Lungentuberkulose auf das Alter von 20 — 30 Jahren, nämlich im
Deutschen Eeiche allein 87 000 im Durchschnitt der Jahre 1894
bis 1897, das sind 2,95 auf 1000 Lebende dieser Altersperiode und
von 1000 Arbeitern, die im Alter von 20 — 30 Jahren invalide im
Sinne des Invalidengesetzes geworden sind, sind mehr als die
Hälfte infolge Lungentuberkulose invalide. Das Jahrzehnt von
ihm organisierten Bekämpfung der Tuberkulose der Rinder mittels Aussonderung
gemacht hat (Tuberculosis, 1904, Nr. 5). Er hatte beobachtet, daß die Verbreitung
der Tuberkulose bestände weise vor sich ging, daß Bestände tuberkulosefreier
Tiere, die durch eigene Zucht ergänzt wurden, erst durchseucht wurden, wenn
fremde Tiere, die so unerheblich krank waren, daß ihre Tuberkulose klinisch
nicht zu erkennen war, den Beständen zugesellt wurden. Von 10344 Beständen,
die Bang bis zum Januar 1904 mit Hilfe der Tuberkulinprobe untersuchte, er¬
wiesen sich 2664, also mehr als der vierte Teil, als gesund. Er schloß aus seinen
Beobachtungen, daß „1. Viehbestände, welche bislang gesund gewesen waren, in
Zukunft tuberkulosefrei gehalten werden könnten, wenn man genau darüber
wache, daß keine Ansteckung eingeschleppt würde und 2. es möglich sein müßte,
allmählich einen tuberkulösen Bestand zu einem gesunden umzubilden, wenn man
gleich nach der Geburt die nüchternen Kälber von den infizierten Müttern aus
den infizierten Ställen wegnehmen würde und sie in einen seuchenfreien Raum
bringen ließe und ihnen tuberkelfreie Milch geben würde“. Er empfahl daher,
jeden Bestand durch die Tuberkulinprobe untersuchen zu lassen und die rea¬
gierenden Tiere von den nicht reagierenden abzusondern. Es genügte dazu häufig
eine Teilung des gemeinschaftlichen Stalles durch eine dichtschließende Bretter¬
wand. Das Personal darf nicht für beide Abteilungen das nämliche sein und im
Sommer müssen die Tiere auf getrennten Weiden grasen. In der gesunden Ab¬
teilung muß jedes Tier halbjährlich der Tuberkulinprobe unterworfen werden,
damit man sicher ist, daß die Tiere auch wirklich gesund sind und die Seuche
sich nicht einschleicht. Mit staatlicher Unterstützung ist das Bang sehe System
in großem Umfange in Dänemark angewandt worden.
Die Lungeiiheilstätteubewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 205
20—30 ist aber dasjenige, in dem die meisten Kinder der unteren
Volksschichten erzeugt werden.
Während zurzeit in Deutschland etwa 80 Volksheilstätten mit
ungefähr 7500 Betten, außerdem 31 Privatanstalten mit 2028 Betten
und 13 Anstalten für tuberkulöse Kinder mit 500 Betten zur Ver¬
fügung stehen, sind erst vereinzelte Asyle geschaffen worden, die
für Patienten bestimmt sind, bei denen eine Heilung ausgeschlossen
erscheint. Aber gerade diese Versuche sind höchst beachtenswert,
da sie den Anfang einer rationellen Bekämpfung der schrecklichen
Volkskrankheit durch das Anstaltswesen darstellen; sie werden im
folgenden, den Kosten der Anstalten für Lungenkranke gewidmeten
Abschnitte des näheren besprochen werden. Hängt ja doch gerade
von der Lösung der Kostenfrage die Möglichkeit ab, die Heimstätten
für Tuberkulöse in einem Maße zu verallgemeinern, daß daraus
ein wesentlicher sozialhygienischer Vorteil auch für den gesunden
Teil der Bevölkerung resultiert.
II.
Da die Lugentuberkulose so überaus häufig ist, wird die
wünschenswerte Verallgemeinerung der Anstalten für Lungenkranke
natürlich große Kosten verursachen. Um so wichtiger ist es, hier
zu verlangen, daß die Erreichung des Zweckes unter Aufwendung
der geringsten Mittel geschehe. Auf keinen Fall darf das Grund¬
gesetz jeder sozialhygienischen Maßnahme vernachlässigt werden:
man suche den billigsten, aber gerade noch den Vor¬
gesetzten Zweck erreichenden Typus und verall¬
gemeinere ihn, ohne seine Extensität durch Y er -
feinerung der einzelnen Einrichtungen zu beein¬
trächtigen. Leider ist dieses wichtige Gesetz von der Ausbildung
und dem Festhalten' des billigsten Typus und von der Bevorzugung
der Extensität vor der Intensität in der Lungenheilstättenbewegung
unserer Tage gröblich vernachlässigt worden. Es ist gewiß kein
Zufall, daß die Bewegung zur Errichtung von Lungenheilstätten
gerade zu einer Zeit abflaute, in der einige Landesversicherungs¬
anstalten so luxuriöse und in Bau und Betrieb so teure Anstalten
gründeten, daß mit bescheideneren Mitteln arbeitende Faktoren
kleinmütig gemacht und vom Bau einfacher Anstalten abgeschreckt
206
A. Grotjahn,
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1899
1895
1902
1900
1903
1898
1904
1897
1899
1901
1902
Eröffnuugsjahr
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Zahl der Betten
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13 500
42 900
10 000
38 000
29 000
104 000
i 40009
27 000
30 000
Grnnderwerb
insgesamt
. 161 525
155 200
189 000
159 500
544 000
560 009
822 000
840 000
754 090
1 294 000
1108 000
4190000
Bau¬
kosten
insgesamt
1878
2 217
2 700
2 798
5 440
5 600
6 323
6 461
6 614
7 612
10 073
14 000
Bau¬
kosten
pro
Bett
30 465
38 800
42 000
45 400
55 676
66 030
64 000
105 000
91 030
125000
162 000
Inven¬
tar
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Inventar pro Bett
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194 000
231000
204 900
599 676
626 000
886 000
945 000
845 000
1 429 030
1 270 000
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Bau¬
kosten
und
Inventar
insgesamt
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Baukosten und
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Kur- und Verpfle¬
gungskosten pro
V erptlegungstag
1.93
1.40
1.37
1.41
1,57
2,00
2.37
1,75
1,32
Naturalverpfle-
gungskosten pro
V erpflegungstag
Tabelle über die Kosten der von den Landesversiclieriingsanstalten in eigener Regie
errichteten und betriebenen Lungenheilstätten.
Die Lungenheilstättenbewegimg im Lichte der Sozialen Hygiene. 207
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3235
3915
4669
4189
4754
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208
A. Grotjahn,
worden sind. Höchste technische Vollkommenheit, die den Kranken
gewiß jeder gönnt, die aber doch nicht unbedingt zur Erreichung
des Zweckes erforderlich ist, kann infolge der damit verbundenen
Verteuerung geradezu zum Hindernisgrund der Verallgemeinerung
der Anstalten für Lungenkranke werden. In den 8 Jahren von
1898 — 1905 haben die Landesversicherungsanstalten nicht weniger
als 33 Millionen für den Bau von Heilstätten und 35 Millionen
für ihren Betrieb ausgegeben.
In den vorstehenden Tabellen sind nach den vom Zentralkomitee
zur Errichtung von Lungenheilstätten herausgegebenen Berichten
die Kosten einer Anzahl von Lungenheilstätten zusammengestellt
worden. In der ersten Tabelle sind die Anstalten verzeichnet,
die von den Landesversicherungsanstalten in eigener Regie ver¬
waltet werden; ihnen sind zwei Knappschaftsheilstätten zugefügt
worden. In der zweiten Tabelle sind die Angaben über einige
Anstalten zusammengestellt, die von Wohlfahrtsvereinen gegründet
worden sind, die aber deshalb der Beziehungen zu den Landes¬
versicherungsanstalten nicht entbehren, weil letztere eine große
Zahl von Patienten dahin abzugeben pflegen. Will man die ein¬
zelnen Anstalten bezüglich ihrer Kostspieligkeit miteinander ver¬
gleichen, so empfiehlt es sich, die Kosten für den Grunderwerb
außer Betracht zu lassen, weil einige Anstalten den Baugrund
unentgeltlich erhielten, andere eine geringe jährliche Pacht dafür
entrichten und noch andere ihn teuer bezahlen mußten. Zum Ver¬
gleich eignet sich wohl am besten die Summe, die zusammen für
Baukosten und Inventar gezahlt worden ist, dividiert durch die
Anzahl der Betten. In unseren Tabellen ist diese Zahl in der
neunten Kolumne aufgeführt. Ein Blick auf letztere zeigt uns,
daß der Aufwand pro Bett bei den einzelnen Anstalten in einer
Weise differenziert, wie er wohl kaum allein durch die sachlichen
Anforderungen zu rechtfertigen ist. Man sieht deutlich, wie sich
insbesondere die Landesversicherungsanstalten von Jahr zu Jahr
im Aufwande überboten haben.
Um eine Vorstellung von den speziellen Kosten der Anstalts¬
behandlung der Lungenkranken, die auf Kosten der Landesversiche¬
rungsanstalt eine vorbeugende Heilbehandlung genießen, zu bekommen,
seien diese hier von den hanseatischen Anstalten wiedergegeben.
Die Heilstätte Glückauf für weibliche Lungenkranke zählte
nach dem Jahresbericht der hanseatischen Versicherungsanstalt im
Jahre 1905 bei 100 Betten 25 784 Verpflegungstage. Die Kosten
verteilten sich folgendermaßen:
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 209
im ganzen
Mk. Pfg.
auf das
Bett
Mk.
a) Persönliche Kosten (Gehälter, Löhne und
sonstige Ausgaben) .
13 921
•60
139
b) Kosten der Beköstigung .
36 872
98
369
c) Bedürfnisse für Reinigung der Wäsche, der
Möbel, der Zimmer etc .
597
85
60
d) Instandhaltung und Ergänzung der Beklei¬
dungsstücke .
4 862
91
49
e) Kosten der Hin- und Rückreise .
10 657
—
107
f) Arzneien, Verbandstoffe, an Instrumenten . .
1922
24
20
g) Heizungs- und Beleuchtungsbedürfnisse ein¬
schließlich Kosten der Reinigung und Unter¬
haltung der dafür bestehenden Einrichtungen
und Anlagen .
13 234
17
132
h) Unterhaltung der Gebäude, Einfriedigungen,
Gartenanlagen, Wege, Wasserleitungsanlagen
und aller maschinellen Einrichtungen . . .
8 495
12
85
i) Kosten der Feuerversicherung für Gebäude
und Inventar .
324
15
k) Unterhaltung des Inventars und Ergänzung
desselben .
2 020
83
20
1) Für die zur geselligen und belehrenden Unter¬
haltung etc. der Pfleglinge angeschafften
Bücher, Noten, Gesellschaftsspiele, Lehrmittel
und Schreibutensilien, ferner für Ausflüge der
Kranken und die Kosten der Weihnachtsfeier
498
33
5
m) Bureaubedürfnisse, Postgebühren, Fernsprech¬
anschluß und sonstige verwandte Ausgaben .
438
96
4
n) 3 Proz. Verzinsung des Anlagekapitals und
1 Proz. des Bauwertes .
23 042
230
o) Nicht vorgesehene Ausgaben .
376
40
—
p) Aufwendungen für die Gartenwirtschaft . .
4
65
4
117 269
19
Hiernach würde auf den Verpflegungstag ein Durchsclmitts-
aufwand von ungefähr 4,54 Mk. entfallen.
Die Heilstätte 0 derb erg für männliche Lungenkranke der
nämlichen Versicherungsanstalt erforderte im Jahre 1905 bei 35954
Verpflegungstagen und 114 Betten:
■ . ' • v .
Mk.
Pfg.
a) Persönl. Kosten (Gehälter, Löhne und sonstige Ausgaben)
31 049
99
b) Kosten der Beköstigung .
78 695
86
c) Bedürfnisse für Reinigung der Wäsche, der Möbel, der
Zimmer etc .
1430
45
Übertrag :
111176
30
Zeitschrift für Soziale Medizin. If. H
210
A. Grotjahn,
Übertrag- :
(1) Instandhaltung und Ergänzung der Bekleidungsstücke,
des Schuhwerks und der Leibwäsche der Pfleglinge, ein¬
schließlich der Vervollständigung der Kleidung vor An¬
tritt der Reise .
e) Kosten der Hin- und Rückreise .
f) Arzneien, Verbandstoffe, Spuckfläschchen, sowie Bedürf¬
nisse an Instrumenten und wissenschaftlichen Werken
des Arztes .
g) Heizungs- und Beleuchtungsbedürfnisse einschließlich
der Kosten der Reinigung der dafür bestehenden Ein¬
richtungen und Anlagen .
h) Unterhaltung der Gebäude, Einfriedigungen, Garten¬
anlagen, Wege, Wasserleitungsanlagen und aller ma¬
schinellen Einrichtungen .
i) Kosten der Feuerversicherung für Gebäude und Inventar
k) Unterhaltung des Inventars und Ergänzung desselben
l) Für die zur geselligen und belehrenden Unterhaltung etc.
der Pfleglinge angeschafften Bücher, Noten etc. . . .
m) Bureaubedürfnisse, verwandte Ausgaben .
n) 3 Proz. Verzinsung des Anlagekapitals und 1 Proz. des
Bauwertes .
o) Nicht vorgesehene Ausgaben .
p) Kosten der Viehhaltung, Landwirtschaft und des Fuhr¬
werks . .
Mk.
Pfg.
111 176
30
5 309
49
15 374
95
1662
56
24 737
20
9 974
84
520
80
4 369
67
723
19
1124
88
32168
75
174
26
23 595
39
230 912
28
Hiernach würde auf den Verpflegungstag ein durchschnittlicher
Aufwand von ungefähr 6,42 Mk. kommen.
Daß man auch billiger wirtschaften kann, zeigt der Rechnungs¬
abschluß der Nürnberger Heilstätte Engelthal für 1903. Es wurden
hier verausgabt:
Mk.
Pfg.
Auf den Bestand der Vorjahre .
92
88
Auf Haus und Garten . .
3047
79
Auf die Verwaltung:
Besoldungen und Remunerationen .
11838
55
Für Versicherung. des Personals .
202
36
Sachliche Ausgaben .
1 048
63
Auf den Zweck der Anstalt:
Verköstigung .
37 000
95
Heilpflege .
1473
—
Auf Wäsche . . .
199
87
Auf Beheizung .
3 896
77
Auf Beleuchtung .
1087
38
Übertrag :
59 888
18
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 211
Mk.
Pfg.
Übertrag :
59 888
18
Auf Reinigung und Wäscherei .
825
69
Auf Gerätschaften .
1296
62
Sonstiges für die Hauswirtschaft .
84
75
Unterhalt eines Fuhrwerks (2 Pferde) .
1676
96
Mohiliar-F euer Versicherung .
133
80
Akkumulatorenversicherung .
265
—
Rückzuersetzende Barauslagen .
3 544
05
Sonstige Ausgaben (Christbescherung etc.) .
584
27
Abschreibungen für den Erneuerungsfonds .
4
1500
—
Summa der Ausgaben:
69 799
32
Da 22046 Pflegetage gezählt wurden, entfällt auf jeden ein
durchschnittlicher Aufwand von 3,17 Mk. Auf das zur Verpflegung
verwandte Rohmaterial kam 1,32 Mk. pro Kopf und Tag der
Kranken und des Personals.
In einigen außer deutschen Ländern hat man die Volksheil¬
stätten für Lungenkranke erheblich billiger hergestellt als in
Deutschland. So hat Schmid1) auf der oben erwähnten Konferenz
erklärt, daß guteingerichtete Volksheilstätten in der Größe von
80 — 120 Betten wohl zu 4500 — 5500 Fr. ohne Terrain hergestellt
werden könnten. Er gibt über die Schweizerischen Lungenheil¬
stätten folgende Tabelle:
Zahl der
Betten
Baukosten
pro Bett
Fr.
Kosten für
Inventar
pro Bett
Fr.
Ver¬
pflegungs¬
kosten
auf den Tag
i. Jahre 1905
Fr.
Levsin .
120
3727
449
3,12
Heiligenschwendi . . .
141
4191
497
2,20
Wald .
100
4880
700
2.96
Basler .
90
5433
1111
4,15
Clairmont .
60
5394
909
Braunwald .
33
5506
576
Auch die vier National Vereinssanatorien in Dänemark mit
zusammen 350 Betten haben ohne Terrain durchschnittlich nur
3500 Mk. pro Bett gekostet und erheischen an Verpflegungskosten
nur 2,45 Mk. täglich.
0 Tuberculosis, VI, Nr. 1, 1907.
14*
212
A. Grotjahn,
Außerordentlich billiger stellt sich die Errichtung von Heim¬
stätten für Lungenkranke, falls man, was durchaus zulässig ist,
ältere Baulichkeiten, die zuvor anderen Zwecken gedient haben,
benutzt, denn erfahrungsgemäß wird ein Neubau zu Anstalts¬
zwecken stets üppiger und damit auch teurer ausfallen, als es zur
Erreichung seines Zweckes dringend erforderlich ist. So kostete
die eigens erbaute Berliner städtische Heimstätte für Lungenkranke
in Buch pro Bett 10 000 Mk., während die auf den Bieselgütern
Malchow, Blankenburg und Blankenfelde belegenen Anstalten, die
alte Herrschaftshäuser benutzten, sich nicht nur bei der Gründung
sondern auch bei der Einrichtung und beim Betriebe wesentlich
billiger stellten.
Auf der Internationalen Tuberkulosekonferenz im Haag im
September 1906 sprach sichPannwitz in einem Referat über die
Pflegekosten der Deutschen Lungenheilstätten dahin aus, daß diese
im Durchschnitt 3 — 4 Mk. betrügen und die Rohmaterialien zur
Nahrung nicht billiger als für 1,50— M, 60 Mk. täglich zu beschaffen
seien. Wenn dieses in der Tat der Fall wäre, so würde damit
eine nennenswerte Verallgemeinerung der Anstalten für Lungen¬
kranke geradezu ausgeschlossen sein, denn es würde ja dann das
Rohmaterial für die Ernährung eines der arbeitenden Bevölkerung
angehörigen Heimstättenpfleglings erheblich teurer sein, als das, was
im Familienbetriebe für ein Mitglied einer Familie des wohl¬
habenden Mittelstandes in Betracht kommt. Der Verwaltungs¬
technik, die in unseren Lungenheilstätten Platz gegriffen hat,
stellen diese Angaben ein bedauerliches Zeugnis der Irrationalität
aus. Wenn die Anstalten für Lungenkranke erst ihren luxuriösen
Anstrich aufgegeben haben und die an sich dankenswerte Bewegung,
die zu ihrer Errichtung führte, erst aus dem Stadium der Über¬
schwenglichkeit in das der Bescheidenheit eingetreten sein wird,
dürften die in Betracht kommenden Faktoren von den Erfahrungen,
die im übrigen Anstaltswesen gemacht worden sind, wohl noch
manches profitieren können und lernen, daß man auch mit der
Hälfte der obigen Summe einen Kranken schmackhaft und aus¬
reichend zu ernähren vermag.
Für eine weitgehende Verallgemeinerung ist also der T}Tpus
der großen, mit allen technischen Errungenschaften der Neuzeit
versehenen Lungenheilstätte, wie ihn besonders unsere Landesver¬
sicherungsanstalten ausgebildet haben, zu teuer. Doch braucht man
sich gerade darüber deshalb nicht aufzuregen, weil, wie wir ge¬
sehen haben, die Verallgemeinerung dieses Typus zur Bekämpfung
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 213
der Tuberkulose als Volkskrankheit überhaupt nicht angezeigt er¬
scheint. Die Frage, ob diese Anstalten zu teuer wirtschaften, bleibt
deshalb eine interne, deren Beantwortung man den Behörden über¬
lassen kann, die die Kosten und die Verantwortung für diese An¬
stalten tragen. Übrigens erscheinen die Kosten nicht so hoch,
wenn man sie auf den einzelnen Kranken bezieht. Gebhard1)
berechnet den Durchschnittsaufwand für je einen von der Landes¬
versicherungsanstalt der vorbeugenden Heilbehandlung zugeführten
Kranken im Jahre 1903 auf 367,75 Mk. oder, wenn man die Wieder¬
holungskuren mitrechnet, auf 434 Mk. Diese Summe ist nicht so
hoch, als daß man sie nicht schon im Interesse des Individuums
anzu wenden verpflichtet wäre, da ja es nicht ganz ausgeschlossen ist,
daß der Patient vollkommen geheilt wird und die Wahrscheinlichkeit
besteht, daß der Patient zu dem Drittel von Lungenkranken gehört,
deren Krankheit durch eine Heilstättenkur in einem Grade auf¬
gehalten wird, daß ihre Invalidisierung einige Jahre später erfolgt.
Wer der Ansicht ist, daß durch eine wenige Monate währende
Kur in einer Lungenheilstätte ein erheblicher Teil der Tuberkulösen
dauernd geheilt werden kann, der wird sich über die großen
Kosten, die diese Heilstätten verursachen, nicht aufregen, denn
wirkliche und dauernde Heilungen wären eines erheblichen Kosten¬
aufwandes wohl wert. Nachdem sich aber herausgestellt hat, daß
diese Heilungen doch nicht zahlreich genug sind, um numerisch ins
Gewicht zu fallen oder gar die Behauptung zu rechtfertigen, daß
die Heilstätten in der Bekämpfung der Tuberkulose als Volks¬
krankheit von wesentlicher Bedeutung sind, gewinnt die Kosten¬
frage denn doch ein erhebliches Interesse. Hat sich die An¬
schauung erst mehr Bahn gebrochen, daß weniger eine allgemeine
Hospitalisierung der Leichterkrankten als vielmehr eine weit¬
gehende Asylisierung der Patienten im vorgeschrittenen Stadium
anzustreben ist, dann ist es von größter Wichtigkeit hinzuzufügen,
daß diese Asyle doch erheblich billiger zu errichten und zu be¬
treiben sind als unsere luxuriösen Heilstätten. Wir müssen uns
nur vollständig von dem Gedanken befreien, in diesen Vorbilder
für jene Asyle zu sehen, und uns vielmehr nach solchen an anderer
Stelle umsehen. Man kann gar nicht energisch genug Widerspruch
dagegen einlegen, daß man den kostspieligen Typus unserer Lungen¬
heilstätten auch auf die Invalidenheime für Lungenkranke anwendet,
l) Der Stand der Tuberkulosebekämpfung in Deutschland. Verlag des Zentral¬
komitees, 1905.
214
A. Grotjahn,
wie das in der Tat bereits von den beiden wohlhabendsten Landes¬
versicherungsanstalten Deutschlands geschehen ist.
Die Landesversicherungsanstalt Berlin *) hat im Jahre 1901
in Lichtenberg bei Berlin ein Invalidenhaus für 20 Pfleglinge mit
einem Kostenaufwande von 71 000 Mk. errichtet. Es war dies der
erste Versuch, welcher von einer deutschen Versicherungsanstalt
mit der neuen Einrichtung gemacht wurde. Das Haus wurde für
20 Betten eingerichtet. Das Grundstück ißt 1700 Quadratruten
groß, die eine Hälfte dient den Zwecken des Invalidenhauses, die
andere Hälfte findet Verwendung für eine Heilstätte für Geschlechts¬
kranke. Das eigentliche Invalidenhaus ist in einer ehemaligen
herrschaftlichen Villa untergebracht, die für diesen Zweck um¬
gebaut wurde. Nach dem Verwaltungsbericht über 1904 (S. 111)
betragen die Gesamtkosten (vermutlich einschließlich Verzinsung
und Amortisation des Anlagekapitals) 41 319 Mk., das ist pro Bett
rund 2066 Mk., also eine unverhältnismäßig hohe Summe. Auch
in diesem kleinen Invalidenheime kamen fünf Todesfälle vor, ein
Hinweis, daß diese Pflegeheime auf keinen Fall groß sein dürfen,
da sie sonst unter allen Umständen allein infolge ihrer Größe und
der unvermeidlich vorhandenen Zahl der Todesfälle den Charakter
von Sterbehäusern annehmen. Als vorbildlich kann dieser Versuch
der Berliner Landesversicherungsanstalt nicht hingestellt werden,
da die Kosten pro Bett viel zu hoch sind, als daß diese Art Pflege¬
heime eine Verallgemeinerung finden könnten.
Auch die hanseatische Versicherungsanstalt hat unter Direktor
Gebhard ein Invalidenheim, Groß-Hansdorf bei Hamburg, er¬
richtet. Es wurde ein Grundstück ausgewählt, das die Größe von
rund 22,5 ha hat. Davon werden nur etwa 1,5 ha noch als xAcker-
land benutzt; von dem übrigen Grundstück umfassen etwa 0,75 ha
den Obstgarten und 0,25 ha kleine Stücke, die solchen Kranken,
welche es wünschen, zur Blumenzucht und Gemüsebau überlassen
werden. Das Invalidenheim sollte nach seiner vollständigen Aus-
r) Die Befugnis der Landesversicherungsanstalten, den Rentenberechtigten
statt der Rentenzahlung Heimstättenpflege zu gewähren, stützt sich auf § 25 des
Invalidengesetzes, welches bestimmt, daß „auf Grund statutarischer Bestimmung
der V ersicherungsanstalt der V orstand einem Rentenempfänger auf seinen
Antrag an Stelle der Rente Aufnahme in einem Invalidenhaus oder in ähn¬
lichen von Dritten unterhaltenen Anstalten auf Kosten der Versicherungsanstalt
gewähren kann. Der Aufgenommene ist auf ein Vierteljahr und, wenn er die
Erklärung nicht einen Monat vbr Ablauf dieses Zeitraumes zurücknimmt, jedesmal
auf ein weiteres Vierteljahr an den Verzicht der Rente gebunden.“
Die Lungenheilstättenbewegung- im Lichte der Sozialen Hygiene. 215
Gestaltung etwa 200 Kranken Unterkunft gewähren. Es wurde
über lobenswerterweise Abstand davon genommen, ein alle Kranken
umfassendes großes Gebäude zu errichten, vielmehr sollten, verteilt
auf dem Grundstück und jedes gleichsam für sich gelegen — etwa
sechs — Wohnhäuser errichtet werden, je eines für 25 — 35 Kranke.
Die Kosten für den Erwerb des Grundstücks (in der Größe für
die beabsichtigte Gesamtanlage) stellten sich auf rund 72 700 Mk.,
die Aufwendungen für die Bauten und sonstigen Anlagen auf rund
188600 Mk. und die Kosten der Inventarbeschaffung auf rund
22 700 Mk. Die gesamten bisherigen Anlagen haben mithin einen
Aufwand von rund 284000 Mk. erfordert. Wenn die Anstalt den
beabsichtigten Umfang erhalten sollte, so würden noch aufzuwenden
sein für jedes der übrigen fünf Wohnhäuser je 75000 — 85000 Mk.
und für die innere Ausstattung je 15000 Mk.; für die Erweiterung
der Nebenanlagen (Kläranlagen, Wasserreservoir u. dgl.) 50000 bis
60000 Mk. Die Gesamtkosten der ganzen Anlage würden sich
dann auf etwa 800000 Mk. stellen. Auf jedes der 200 Kranken¬
betten würde demnach ein Kostenaufwand von etwa 4 000 Mk. ent¬
fallen. Die Kosten des Betriebes der Anstalt haben sich im Jahre
1904 so gestellt, daß die nach Rückrechnung der Betriebsein¬
nahmen sich ergebenden Gesamtkosten einschließlich der Verzinsung
des bis jetzt aufgewandten Anlagekapitals 35661,57 Mk. ausgemacht
haben. Der Pflegetag (insgesamt 8092 Pflegetage wurden 1904
verabreicht) stellte sich demnach auf 4,40 Mk. und unter Weg¬
lassung der auf den Pflegetag 1,19 Mk. ausmachenden Kosten der
Verzinsung des Anlagekapitals auf 3,21 Mk. Da in dem Invaliden¬
heime nur Personen verpflegt werden, welchen bereits Invaliden¬
rente bewilligt ist, und die Verpflegung in dem Invalidenheime an
die Stelle des Rentenbezuges tritt, so steht für die Landesver¬
sicherungsanstalt dem Aufwande für den Betrieb des Invaliden¬
heimes die Einnahme (oder eigentlich Minderausgabe) gegenüber,
welche durch den Wegfall des Bezuges der Invalidenrenten ent¬
steht. Der Gesamtbetrag dafür belief sich 1904 auf 3805,33 Mk.
Für die Landesversicherungsanstalt stellte sich die Sache also so,
daß im Jahre 1904 einer Minderausgabe an Renten von 3805,33 Mk.
eine Ausgabe für den Betrieb des Invalidenheimes in Höhe von
35661,57 Mk. gegenüberstand. Trotz dieses enormen Aufwandes
von Mitteln ist es dem Invaliden heim nicht gelungen, genügend
Rentenempfänger zum Eintritt zu veranlassen. Der neueste Ver¬
waltungsbericht muß erklären, daß „das ganze Jahr 1905 hindurch
durchschnittlich nur etwa -j, der vorhandenen 31 Plätze besetzt waren.
• fj
216
A. Grotjahn,
Die einsame Lage der Anstalt, die für die Pfleglinge im Interesse
der Disziplin und der Abschließung erlassenen Bewegungsbe-
schränkungen und nicht zum wenigsten die naturgemäß öfter in
der Anstalt eintretenden Todesfälle haben wohl manchen zur Auf¬
nahme geeigneten Rentenemplänger abgeschreckt, das ihm bei Be¬
willigung der Rente mitgesandte Aufnahmeantrags-Formular zu
unterschreiben und einzureichen. Auch von den im Berichtsjahre
zur Aufnahme gelangten Pfleglingen hat eine Anzahl nach mehr
oder minder kurzem Aufenthalt in der Anstalt das Verhältnis
wieder gelöst, so daß das Invalidenheim nur mit einem Bestände
von 18 Pfleglingen in das neue Geschäftsjahr eingetreten ist.“
Danach dürfte der Versicherungsanstalt wohl die Lust benommen
worden sein, das Invalidenheim für 200 Betten auszubauen. Ver¬
ständlich wird das Verhalten der Rentenempfänger, wenn man aus
dem nämlichen Bericht entnimmt, daß trotz der geringen Belegzahl
nicht weniger als 14 Patienten starben. Man sieht, auch der
größte Anstaltsluxus kann den Charakter des Sterbehauses nicht
wieder gutmachen, wenn man nur Fälle aufnimmt, die so weit
vorgeschritten sind, daß das Ende nahe ist. Das Experiment, das
die hanseatische Versicherungsanstalt mit dem Invalidenheim Groß-
Hansdorf gemacht hat, muß trotz der aufgewandten Mittel als
gescheitert angesehen werden.
Wie wir gesehen haben, sind gerade die Landesversicherungs¬
anstalten mit der Unterbringung von vorgeschrittenen Tuberkulösen
in eigens dazu gebauten Asylen bisher nicht besonders glücklich
gewesen. Die Asyle, die von ihnen gegründet worden sind, sind
zu üppig und zu teuer und außerdem so groß, daß in ihnen zu viel
Insassen sterben, zumal wenn sie ausschließlich mit weit vorge¬
schrittenen Patienten belegt werden. Es ist eine Frage der Zeit,
ob die Landes Versicherungsanstalten dieser Schwierigkeiten Herr
werden. Sollte dieses nicht der Fall sein, so würde es sich em¬
pfehlen, wenn sie dem Beispiel der Landesversicherungsanstalt für
das Königreich Sachsen folgen und sich darauf beschränken würden,
Darlehen zu einem billigen Zinsfuß zur Errichtung von Asylen für
Tuberkulöse zu gewähren. Einen anderen Weg hat die Landes¬
versicherungsanstalt Westfalen eingeschlagen , indem sie sich an
sämtliche Stadt- und Kreisbehörden mit der Anfrage wandte,,
welche Krankenhäuser fähig und bereit wären, Rentenberechtigte
aufzunehmen. Mit der Unterbringung von Rentenempfängern wurde
1901 in dieser Weise begonnen. Betragen die Kosten mehr als
1 Mk. täglich, so wird von den Angehörigen, den Armenverbänden
Die Limgenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 217
oder den Gemeinden ein Zuschuß erhoben. Von der Landesver¬
sicherungsanstalt Westfalen wurden im Jahre 1902 nicht weniger
als 100000 Mk. für Invalidenhauspflege im Sinne des § 25 IVG.
verausgabt.
In ähnlicher Weise ist auch die Versicherungsanstalt Olden¬
burg vorgegangen, deren Leitung es auch für zweckmäßiger
hält, die vorhandenen Krankenhäuser zu benützen, als besondere
Invalidenheime in eigener Regie herzustellen.
Diese Versuche einiger gutgeleiteten und wohlhabenden Landes¬
versicherungsanstalten, die im vorgeschrittenen Stadium befindlichen
Lungenkranken zu asylisieren, sind höchst anerkennenswert, da sie
beweisen, daß diese Anstalten sich der sozialhygienischen Trag¬
weite der Aufgabe, die Ansteckungsquellen durch Aussonderung
der vorgeschrittenen Fälle zu vermindern, wohlbewußt sind. Die
Kritik muß aber einsetzen bei der Art und Weise, in welcher
gerade die größten und reichsten Landesversicherungsanstalten sich
dieser Aufgabe zu unterziehen begannen. Das Beispiel der oben¬
erwähnten Invalidenheime zu Groß-Hansdorf und Lichtenberg zeigt
uns deutlich, das es falsch ist, bei der Asylisierung sich ähnlicher
kostspieliger Anstalten zu bedienen, wie unsere Lungen h eil -
anstalten sind.
Wesentlich bescheidener und merkwürdigerweise trotzdem er¬
folgreicher sind die Asylisierungsversuche ausgefallen, die an einigen
Stellen Deutschlands unabhängig von den Landesversicherungs¬
anstalten von privaten Wohlfahrtsvereinen meist unter geistlicher
Leitung unternommen worden sind. So ist von der evangelisch
kirchlichen Hilfsunion für die Ober-Lausitz bei Ostritz im Re¬
gierungsbezirk Liegnitz das Invalidenheini „Bergfrieden“ gegründet
worden. Es vermag 25 — 30 männliche Lungenkranke im vorge¬
schrittenen Stadium aufzunehmen und zwar zu dem billigen Ver¬
pflegungssätze von 1,80 Mk. täglich. Auch P. v. Bodelschwingh
hat in Eckhardsheim bei Bielefeld das Pflegeheim „Gute Hoffnung“
eingerichtet, in dem 30 Kranke in einer Art familiären Hausord¬
nung verpflegt werden. Mit diesen Heimen hat man bisher gute
Erfahrungen gemacht, obgleich sie doch wesentlich einfacher sind
wie die bautechnisch so vollkommene Anstalt zu Groß-Hansdorf.
Endlich ist ein Pflegeheim für unheilbare lungenkranke Frauen
kürzlich vom Brandenburgisclien Provinzialverein zur Bekämpfung
der Tuberkulose in Burg-Daber bei Wittstock a. d. Dosse begründet
worden. Der Magistrat der Stadt Charlottenburg hat die Stadt¬
ärzte angewiesen, fortan nach Burg-Daber solche Frauen zu über-
218
A. Grotjalm,
weisen, bei denen nachgewiesen wird, daß keine Aussicht auf
Heilung oder wesentliche Besserung mehr besteht, daß ferner die
Kranke eine Gefahr für die Umgebung bildet und daß eine aus¬
reichende Isolierung der Kranken in der Wohnung nicht möglich
ist. Die Anstalt ist die erste in ganz Deutschland, die unheilbar
lungenkranke Frauen aufnimmt. Der Pflegesatz ist auf nur 2,50 Mk.
pro Tag festgesetzt worden. Ist die familie nicht in der Lage,
auch diesen geringen Pensionssatz zu zahlen, so übernimmt die
Armenverwaltung die Kosten. *
Die beste Lösung für die Frage der Organisation von In¬
validenheimen scheint aber doch in Norwegen gefunden zu sein,
einem Lande, in dem die glückliche Bekämpfung der Lepra auf
dem Wege der Asylisierung dazu ermutigte, den nämlichen Weg
auch zur Bekämpfung der Tuberkulose einzuschlagen. Die Nor¬
wegischen Pflegeheime verdienen in der Tat auch für andere
Länder vorbildlich zu werden.
Auf der internationalen Tuberkulosekonferenz in Kopenhagen
im Mai 1904 berichtete Oberarzt Dr. Hansen aus Bergen über
die Pflegeheime, die in Norwegen für tuberkulöse Kranke einge¬
richtet sind. Diese fassen nicht mehr wie 20 Betten und werden
von den staatlichen oder kommunalen Behörden unterhalten. Das
Programm dieser Pflegestätten wird im Protokoll x) wie folgt
geschildert: „Diese Krankeime sind wesentlich darauf berechnet,
die Kranken in der Periode aufzunehmen, wo die Gefahr der
Ansteckung am größten und die Fähigkeit der Kranken, die¬
selbe zu begrenzen am geringsten ist. Doch darf der Zutritt
zu diesen Krankenheimen nicht allzu eng begrenzt werden. Auch
in früheren Stadien der Krankheit müssen namentlich heimat¬
lose arme Kranke da aufgenommen werden können, anstatt vom
Armenwesen in Familien untergebracht zu werden, wo die hygie¬
nischen Verhältnisse schon im voraus wenig günstig sind und wo
daher die Vermehrung der Mitglieder, und noch dazu um einen
Schwindsüchtigen, für die Kranken wie . für die Gesunden gleich
unheilvoll ist. Die Krankenheime, für die vorgeschrittenen Fälle
berechnet, müssen so viel als möglich dem Daheim der Patienten
naheliegen. Man darf voraussetzen, daß die Kranken weder im¬
stande sind noch wünschen werden, eine weitere Eeise zu machen;
anzunehmen ist auch, daß sie, je näher den Ihrigen, desto weniger
Unlust haben werden, in einem Krankenhause verpflegt zu werden,
*) Tuberculosis, 1904, Nr. 8.
Die Limgenlieilstättenbeweg’ung im Lichte der Sozialen Hygiene. 219
wenn dies für dienlich gehalten wird. Man muß es deshalb darauf
änlegen, diese Krankenheime so viel als möglich zu verteilen ; man
muß deren mehrere und kleinere errichten. Bei diesen Anstalten
läßt sich dies innerhalb gewisser Grenzen tun, ohne den ökono¬
mischen Rücksichten zu nahe zu treten. Auch bei der Wahl des
Ortes sind nicht so viel Rücksichten zu nehmen wie bei den Kur¬
anstalten, und sie werden sich auf eine völlig befriedigende Weise
ohne größere Kosten einrichten lassen. Den ärztlichen Beistand
kann ein am Orte wohnender Arzt leisten, dessen meiste Zeit von
anderer Arbeit in Anspruch genommen sein kann. Überhaupt
werden sich diese Pflegeanstalten mit wesentlich geringeren Kosten
als die Kuranstalten errichten und betreiben lassen.
Während die zwei Volksheilstätten Norwegens durch Staats¬
oder andere öffentliche Geldmittel errichtet sind und zum größten
Teil mit Zuschuß von der Staatskasse betrieben werden, könnten
diese Pflegestätten zu ihrem Bau keinen Beitrag von der Seite
des Staates erwarten. Das nötige Geld müßte durch private Gaben
und Zuschüsse von den engeren Kommunen (Städte-, Gemeinde-
und Amtskassen) herbeigeschafft werden. Dagegen werden die
Betriebskosten teilweise von der Staatskasse refundiert, insofern
diese, laut unserem Tuberkulosegesetze, 4/10 der Verpflegungskosten
solcher Kranken bezahlt, die durch Verfügung der Gesundheits¬
kommissionen in die Pflegestätten eingelegt wrerden. In den letzten
Jahren, namentlich nach Emanieren des Tuberkulosegesetzes i. J.
1900, ist eine energische Arbeit für die Errichtung solcher Pflege¬
stätten geleistet worden. Der norwegische Frauensanitätsverein
hat durch seine über das ganze Land verstreuten Unterabteilungen
für die Sache gearbeitet und Geldmittel gesammelt, sowie die
zivilen Behörden, in mehreren Bezirken die Ärzte und andere
Interessierten um die Sache vereinigt. Namentlich haben aber die
Ärzte selbst die Initiative ergriffen, die nötige Statistik gesammelt,
Entwürfe zum Bau der Pflegestätten ausgearbeitet und das Inter¬
esse der kommunalen Autoritäten sowie das der übrigen Bevölkerung
zu erwecken gesucht. Als ein schönes Beispiel darf ich die Arbeit
des Tuberkulosekommitees im Amte M. Drontheim erwähnen, das
unter dem Präsidium des Dr. Tillisch gearbeitet hat. Das
Komitee hat fünf Pflegestätten für das ganze Amt mit einer Be¬
völkerung von ca. 80 000 Einwohnern für nötig erachtet. Die
Baukosten sind auf ca. 50000 Kr. berechnet. Davon hat das
Komitee ca. 14000 Kr. gesammelt. Die Amtsversammlung hat ein¬
stimmig beschlossen, was noch nötig ist zur Errichtung der fünf
220
A. Grotjalm,
Pflegestätten zu bewilligen. Die erste Pflegestätte ist schon im
Betriebe, die nächste wird während des Sommers fertig, die übrigen
werden im Laufe der nächsten Jahre gebaut. Nach den Angaben,
die ich mit Beihilfe meiner Kollegen in diesen Tagen gesammelt
habe, sind jetzt in Norwegen im Betriebe: drei Pflegestätten, sämt¬
lich im letzten halben Jahre eröffnet; fünf werden im Laufe des
Jahres gebaut, für 16 ist das nötige Geld schon zum größten Teile
gesammelt worden. Die Pflegestätten, für eine oder mehrere Nach¬
bargemeinden bestimmt, werden für 6 — 20 Kranke gebaut; das
Medizin aldirektoriat hat Entwürfe zu Pflegestätten von verschie¬
dener Größe veröffentlicht. Die Baukosten sind auf ca. 1000 Mk.
für ein Bett berechnet, die Betriebskosten zu 1 Kr. bis 1,50 Kr.
p. d. Die wenigen Pflegestätten, die wir bis jetzt haben, sind noch
zu kurze Zeit in Betrieb gewesen, als daß wir uns mit Sicherheit
darüber aussprechen könnten, wie sie von den Kranken geliebt
und gesucht werden. Die erst errichtete Pflegestätte, nahe Bergen,
ist jedenfalls so stark gesucht, daß sie nicht Plätze genug hat, um
alle aufzunehmen, die es wünschen, und ich habe selbst Gelegen¬
heit gehabt, zu sehen, wie gut die Kranken dort gedeihen und wie
vergnügt sie sind. Ich möchte aber davor warnen, solche Pflege¬
stätten in zu intime Verbindung mit den gewöhnlichen Armen¬
heimen und Arbeiterkolonien zu stellen. Diese sind, jedenfalls bei
uns, nicht so sehr von den Armen geliebt, und wenn die Pflege¬
stätten mit ihnen verbunden sind, werden gewiß auch sie nicht
sehr beliebt. Tn dem Umstande, daß das meiste Geld für Errichtung
der Pflegestätten von der Bevölkerung selbst herbeigeschafft ist,
hat man ein Zeugnis dafür, wie stark sich die Bevölkerung nach
solchen Pfiegestätten sehnt. Die Erfahrungen von meinem eigenen
Heimatorte Bergen haben mich auch gelehrt, daß die Familien,
auch die Mütter, gern ihre Kranken in einer guten Pflegestätte
sehen. Das Bestreben, ihre übrigen Kinder gegen die verheerende
Krankheit zu bewahren, vermag den Wunsch, die Kranken selbst
zu pflegen, zu überwinden. Nach dem, was bisher in dieser Rich¬
tung im Kampfe gegen die Tuberkulose in unserem Lande geleistet
ist, ist es wohl zu hoffen, daß man nach Ablauf dieses Dezenniums
Pflegestätten in den meisten Bezirken Anden wird.“ Zwei Jahre
später vervollständigte Hansen diese Angaben auf der Konferenz
im Haag1) in folgender Weise: „Einige zwanzig dieser Pflegestätten
sind jetzt in Betrieb oder ihrer Vollendung nahe. Sie liegen alle
x) Tuberculosis, 1906, Nr. 8.
Die Limgenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 221
auf dem Lande und jede ist nur für den Gebrauch der nächsten
Umgebung bestimmt. Daher ist die Zahl der Betten niedrig, von
8 — 15, einige wenige haben doch bis 20 Betten. Diese geringe
Bettenanzahl macht eine einfache Administration und Ausstattung
möglich. Die Pflegerin ist Administrator, so daß die Anstalt wie
ein gewöhnlicher Haushalt betrieben werden kann. Infolgedessen
sind auch die Gebäude einfach und billig. Oft sind ältere Wohn¬
häuser zu diesem Gebrauch angekauft. Wo die Pflegestätten neu
aufgebaut sind, belaufen sich die Baukosten inklusive Inventar auf
800—1200 Kr. pro Bett.“ Die Verpflegungskosten betragen durch¬
schnittlich 1,50 Kr. pro Verpflegungstag. Die norwegischen Pflege¬
heime sind wegen ihrer Billigkeit, Zweckmäßigkeit und Beliebt¬
heit eher geeignet, als Vorbilder für eine weitgehende Asylisierung
der Tuberkulösen zu dienen als die wenigen, sehr teueren und
wegen ihres kasernenmäßigen Betriebes unbeliebten Anstalten, die
unsere Landesversicherungsanstalten bisher errichtet haben.
Die Hoffnung, daß auch in Deutschland trotz einiger Mißerfolge
der Landesversicherungsanstalten mit ihren Invalid enheimen für
Tuberkulöse in Zukunft die Asylisierung der vorgeschrittenen Fälle
in zielbewußter Weise zur Anwendung kommt, basiert vorläufig
weniger auf der Tätigkeit des Zentralkomitees zur Bekämpfung
der Tuberkulose, das sich der Asylisierung gegenüber immer noch
ablehnend verhält, als darauf, daß in einem Rundschreiben des
Deutschen Reichskanzlers vom 16. Juli 1904 eine Resolution des
Reichsgesundheitsrates vom 24. Juni 1904 den Landesregierungen
eindringlich empfohlen wurde, die folgende Vorschläge machte:
„Nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft ist die Tuber¬
kulose eine Infektionskrankheit, die namentlich in ihrer Form als
Lungen- und Kehlkopfschwindsucht sich von einem Menschen auf
den anderen verbreiten kann. Zur Beseitigung dieser Ansteckungs¬
möglichkeit ist erforderlich, Schwindsüchtige, namentlich solche im
vorgeschrittenen Stadium in Krankenhäusern entsprechend abzu¬
sondern. Zu diesem Zwecke wird empfohlen : 1. die Errichtung
von eigenen Krankenhäusern für solch eKranke; 2. wo
dies nicht angängig ist, die Errichtung von beson¬
deren Abteilungen in den allgemeinen Kranken¬
häusern, welche baulich getrennt und als „Sanatorien“1)
b Vorbildlich für derartige Sanatorien kann das Bremer Luftknrhaus be¬
zeichnet werden, über das Stoevesandt in der Tuberculosis (1906, Nr. 2) fol¬
gende interessante Angaben machte : „Die Kosten betrugen inkl. Inventar
222
A. Grotjahn,
einzurichten sind; 3. wo auch dies nicht auszuführen
ist, die Unterbringung der Kranken in besonderen
Räumen der Krankenanstalten. Es sollte die Reichsver¬
waltung gebeten werden, diese Grundsätze den Landesregierungen
zur Annahme warm zu empfehlen. Insbesondere sei ihnen anheim¬
zugeben, in allen Fällen, wo der Bau neuer Krankenhäuser in
Frage komme, darauf Bedacht zu nehmen, daß durch entsprechende
Auflage der sich bietenden Handhaben (Konzessionsbedingungen,
Aufsichts- und Kuratelverfügungen) die Schaffung besonderer und
getrennter Einrichtung für Schwindsüchtige sichergestellt werde.“
Wenn diese Vorschläge dauernd zur Richtschnur genommen
werden und außerdem die Errichtung von zahlreichen kleinen
Pflegeheimen für invalide Lungenkranke nach norwegischem Muster
in die Wege geleitet wird, darf man hoffen, daß das Anstaltswesen
wirksamer in den Dienst der Bekämpfung der Tuberkulose als
Volkskrankheit gestellt sein wird, als das bisher in Gestalt der
Lungenheilstätten geschehen ist.
III.
Wenn im Frühstadium befindliche Lungenkranke einige Zeit
in einer Lungenheilstätte geweilt haben, beginnen sie infolge des
reichlichen Milchgenusses und der absoluten Ruhe stark an Körper¬
gewicht zuzunehmen. Diese Gewichtszunahme, die häufig 5—8 oder
180000 Mk. Das Haus wurde im Februar 1904 zunächst von etwa 30 Phthisikern
bezogen; schnell kamen von der chirurgischen Abteilung einige alte Fälle von
Knochentuberkulose hinzu, und in wenigen Wochen wurden so viele Phthisiker
aus der Stadt dazu gesandt, daß das für 60 bestimmte Haus im April schon etwa
70 aufnehmen mußte. Im Sommer verminderte sich dann naturgemäß die Zahl
wieder. Dann fingen wir an, in die oberen Bäume auch alte Bronchiektatiker,
langsam heilende Empyeme nach Pneumonie, Fälle von Lungenabszeß und auch
Neurastheniker und Herzfehler, die der Liegebehandlung in freier Luft bedurften,
zu verlegen, während die Parterreräume immer ganz streng für Tuberkulöse re¬
serviert blieben. Diese Fälle heilten bei der neuen Behandlung, die es auch den
bettlägrigen Kranken gestattete, den ganzen Tag mit ihren Betten draußen zu
sein, zum Teil überraschend gut, besonders fiel uns dies auf bei den Lungen¬
abszessen und Empyemen. Zugleich verlor aber das Haus in den Augen des
Publikums schnell den Charakter des Tuberkulosehauses; die ganze Behandlungsart
in ihm wurde in jedem Falle so viel wie möglich der Freiluftbehandlung angepaßt,
und daher wurde dem Hause auch der Name „Luftkurhaus“ gegeben.“
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 223
noch mehr kg beträgt, schwindet in den meisten Fällen leider
wieder, wenn der Patient in die alten Verhältnisse und zur ge¬
wohnten Arbeit zurückkehrt. Überhaupt führt der plötzliche Über¬
gang von der vollständigen Untätigkeit in der Heilstätte zur neun-
und zehnstündigen Arbeit im gewerblichen Leben mancherlei
Schädigungen mit sich, die die definitive Ausheilung oder dauernde
Besserung in Frage stellen. Unter den Maßregeln, die getroffen
• •
werden, um den Übergang von der Anstalt zum freien bürgerlichen
Leben weniger schroff zu gestalten, verdienen am meisten die in
den letzten Jahren gemachten Versuche Beachtung, die Lungen¬
kranken entweder schon in der Heilstätte selbst leichte Arbeit
verrichten zu lassen oder sie von der Heilstätte in eine besondere
landwirtschaftliche Kolonie zu verbringen, in der sie unter ärzt¬
licher Aufsicht sich wieder an die Arbeit gewöhnen können. Diese
Versuche sind deshalb auch hier zu erwähnen, weil aus ihnen sich
die Möglichkeit erweisen läßt, die Lungenkranken in Anstalten mit
produktiver Arbeit zu beschäftigen und sie so zu den Kosten ihrer
Asylisierung selbst mit beitragen zu lassen.
Natürlich ist man mit der Heranziehung lungenkranker Individuen
zur Arbeit zunächst sehr zaghaft vorgegangen. So stellt E 1 k a n l)
in einem Bericht über die Beschäftigung der Patienten in Gütergotz,
der Heilstätte für lungenkranke Männer der Stadt Berlin, die Norm
auf, daß die Arbeit der Lungenkranken nicht in geschlossenen
Räumen stattfinden, nicht sehr anstrengend und nicht mit Staub¬
entwicklung verbunden sein dürfe. Er verwirft mit Recht Kerb¬
schnitzerei, Flechtarbeiten usw. als Spielerei und empfiehlt aus¬
schließlich Gartenarbeit. Nach seiner Ansicht ist jeder zur Heil¬
behandlung zugelassene Patient nach zweimonatiger Anstaltsbehand¬
lung fähig, etwas zu arbeiten. Er sagt darüber: „Ich habe die
Beobachtung gemacht, daß die Arbeit bisher noch keinem Patienten
irgendwie geschadet hat, im Gegenteil, die arbeitenden sind gerade
diejenigen, welche regelmäßig, dauernd von Woche zu Woche eine
Gewichtszunahme zu verzeichnen haben, bedingt durch den größeren
Appetit, welcher sich nach der körperlichen Arbeit einstellt. Gerade
dieser günstige Einfluß auf das Wohlbefinden ist es auch, welcher
oftmals solche, die nicht sehr für eine Beschäftigung schwärmen,
antreibt, sich auch zu melden und Arbeit zu leisten.“ Elkan
will allerdings die Freiwilligkeit der Arbeit bestehen lassen und
von einer Entlohnung der geleisteten Arbeit absehen. x41s Arbeits-
x) Zeitschrift für Tuberkulose, Bd. 4, H. 5.
224
A. Grotjalm,
zeit sind in Güt ergötz vormittags und nachmittags je zwei Stunden
bestimmt. Die Arbeit bestellt im Reinigen und Abstecken von
Wegen, An- und Umpflanzen von Sträuchern und Bäumen, Ansäen
von Rasen u. a. m. Einer der Patienten wird zum Vorarbeiter
bestimmt.
In Engelthal werden nach B^uer gegen Ende der Verpfle¬
gung, meist von der 9. oder 10. Woche ab, geeignete Kranke mit
Holzsägen oder Wegearbeiten beschäftigt. Gerade dadurch ist dem
Arzte die beste Gelegenheit geboten, die Erwerbsfähigkeit der
Kranken praktisch zu erproben und so das im Untersuchungszimmer
gewonnene Urteil zu ergänzen.
Über den Wert der Einführung der Arbeit in der Anstalt
Albertsberg berichtet Wolff (Heilstätten-Korrespondenz 1898 Nr. 5)
folgendes: „Überraschend gut hat sich die Beschäftigung der
Kranken mit Arbeit bewährt. Die Hausordnung, die inne zu halten
sich die neu eintretenden Kranken verpflichten, bestimmt, daß die
Patienten je nach ihrem Beruf und Krankheitszustand, zu leichten
Arbeiten für die Anstalt herangezogen werden können, soweit dies
vom Arzt vorgeschrieben und gestattet ist, und es ist diesem Satze
der Hausordnung nicht nur gern nachgekommen worden, sondern
häufig genug ein Übereifer zu hemmen. Das Reinhalten der Wege
vom Schnee während des vergangenen Winters, die Herstellung von
Waldwegen in der Nähe der Anstalt, die neue Schöpfung von
Gartenanlagen, alles dies ist nur von Patienten besorgt worden,
und gern haben sie sich dabei, welchem Stande sie auch angehörten,
selbst Kranke des Lehrer- und Kaufmannsstandes, den Anordnungen
des Inspektors, des Arztes oder eines fachmännischen Leidensge¬
nossen gefügt. Aber auch die Liegehallen im Walde, mancherlei
Nützliches und Unnützliches zum Zierrat ist von der Hand der
Patienten entstanden. Vor allem sind stets geeignete Kranke,
natürlich nur wenige Stunden, mit Holzschlagen beschäftigt ge¬
wesen, so daß schon allein hierdurch der Anstalt eine pekuniäre
Ersparnis von nicht ganz geringer Bedeutung möglich war. Die
Erfolge der Patienten sind nicht im mindesten durch die Be¬
schäftigung beeinträchtigt worden, im Gegenteil — wie sich nicht
anders erwarten ließ — bei manchen zur Hypochondrie neigenden
oder an mangelhaftem Appetit leidenden Kranken erwies sich die
Arbeit geradezu als Hilfsmittel bei der Heilung und die Warnungen
einzelner Ärzte haben sich nicht als gerechtfertigt erwiesen.“ In
der sächsischen Volksheilstätte für Lungenkranke Albertsberg sind
überhaupt mit der Arbeit der Patienten die besten Erfahrungen
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 225
gemacht worden. Es werden daselbst nicht nur landwirtschaftliche
und gärtnerische Arbeiten regelmäßig verrichtet, sondern es be-
lindet sich dort auch eine Tischlerei und eine Schlosserwerkstatt,
in denen alle laufenden Reparaturen ausgeführt werden. Die An¬
staltsleitung gesteht zu, daß ihr aus der Beschäftigung der Patienten
ein erheblicher ökonomischer Vorteil erwächst. Eine Arbeitsver¬
weigerung ist niemals vorgekommen, da die Patienten über den
Nutzen der Arbeit für ihr eigenes körperliches Befinden aufgeklärt
werden. Auch die Heilstätten der Berliner Landesversicherungs¬
anstalt zu Beelitz besitzen ein eigenes Werkstättengebäude, in dem
sich die Genesenden nach freier Wahl betätigen können.
Wichtiger noch als diese zaghaften Versuche, die Lungenkranken
in den Heilstätten zu leichter, oft an Spielerei erinnernde Arbeit
anzuhalten, sind die Experimente einiger Landesversicherungsan¬
stalten, Lungenkranke, die schon einen mehrmonatlichen Aufenthalt
in einer Heilstätte hinter sich haben, zu produktiver Arbeit in
eine landwirtschaftliche Kolonie zu verwenden und sie dort erst an
das Arbeiten unter günstigen gesundheitlichen Bedingungen zu ge¬
wöhnen, ehe sie zur freien gewerblichen Arbeit zurückkehren. So
errichtete die hannoversche Landesversicherungsanstalt die Er¬
holungsstätte Stübeckshorn als ländliche Ackerbaukolonie für
Lungenkranke im Jahre 1901. Das gegen einen jährlichen Pacht¬
zins von 2 150 Mk. gepachtete Gut umfaßt ein Wirtschaftsareal von
66 ha 22 ar 97 qm oder rund 253 hannoversche Morgen, wovon
55 ha 64 ar 49 qm auf Ackerland,
9 „ 46 „ 60 „ „ Wiesen und
1 „ 11 „ 88 „ „ Gartenland
entfallen.
Für einen Neubau und den Umbau der alten Gebäude wurden
ausgegeben .
Das Hausinventar kostete .
Das Wirtschaftsinventar kostete .
Der Viehbestand (4 Pferde, 8 Kühe, 16 Schweine und Federvieh)
kostete . . . • .
Summe des Anlagekapitals 105 530 Mk.
Die Erholungsstätte bezeichnete in § 6 ihrer Hausordnung
ihren Zweck folgendermaßen: „Die Erholungsstätte will von längerer
Krankheit genesenen, insbesondere den in der Landesversicherungs¬
anstalt Hannover gewesenen — und sei es auch nur beschränkt
erwerbsfähig wieder hergestellten Versicherten für den zwischen
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. lö
55 000 Mk.
37 345 „
7 357 „
5 828
226
A. Grotjalm,
beendigter Heilbehandlung und Wiedererlangung der vollen Er¬
werbsfälligkeit liegenden Zeitraum einen gesunden Übergangsauf-
enthalt bieten, um zu verhüten, daß durch einen schrolfen Über¬
gang aus dem Zustande der Genesung zur bisherigen Berufstätig¬
keit der Heilerfolg in Frage gestellt wird. Zur Erreichung dieses
Zweckes hat jeder Pflegling innerhalb der vom Hausarzte be¬
scheinigten Grenze der Arbeitsfähigkeit die Verpflichtung, die ihm
vom Vorsteher in der Land- und Hauswirtschaft der Erholungs¬
stätte angewiesenen Arbeiten willig, pünktlich und gut auszuführen.
Im Gegensätze zu dem Aufenthalt in dem Genesungshause war
hiernach Arbeitszwang Grundsatz und zwar wurde eine Mindest¬
grenze der Arbeitsfähigkeit in der Dauer von vier Stunden für
unerläßlich gehalten. Folgende drei Grade der Arbeitsfähigkeit
wurden unterschieden :
1. Grad — geringer — Mindestbeschäftigung von vier Stunden
täglich ;
2. Grad — mittlerer — Beschäftigung bis zu sechs Stunden
täglich,
3. Grad — hoher — Beschäftigung bis zu acht Stunden
täglich.
/
War der Pflegling voll arbeitsfähig wieder hergestellt und.
hatte er sich in diesem Zustande eine gewisse Zeit hindurch be¬
währt, so wurde er entlassen. Der Aufenthalt in der Erholungs¬
stätte sollte im allgemeinen die Dauer von zwei Monaten nicht
überschreiten. Es fanden in Stübeckshorn Aufnahme 1. tuberkulöse
Lungenkranke, die bis dahin in einer Heilstätte Avaren, keinen
Auswurf oder doch keine Bazillen im Auswurf mehr hatten, selbst¬
verständlich nicht mehr fieberten und nicht am Durchfall litten;
2. nicht tuberkulöse Lungenkranke, die nicht in einer Heilstätte
waren; alle mußten zur Verrichtung landwirtschaftlicher Arbeiten
fähig und bereit sein. Die Höchstbeschäftigungsdauer betrug acht
Stunden für den Tag, die Leistung wurde mit 10 Pfg. für die
Stunde vergütet, mithin belief sich der Höchstsatz des Tagesarbeits¬
verdienstes auf 80 Pfg., der dem Pflegling gutgeschrieben und
spätestens bei der Entlassung ausgezahlt wurde. Die Angehörigen
der Pfleglinge erhielten Unterstützung nach Maßgabe des § 18, 4
des IVG. Die Pfleglinge waren als landwirtschaftliche Arbeiter
in der für den Kreis Soltau zuständigen Lohnklasse versicherungs¬
pflichtig.
Wir hätten hier also den Typus einer landwirtschaftlichen
Die Lungeriheilstättenbewegiiiig’ im Lichte der Sozialen Hygiene.
227
Phthisikerkolonie, wenn nicht die kurze Dauer des Aufenthaltes
der Patienten uns verböte, diesen der Irrenheilkunde mit ihren
längst eingeführten und bewährten agrikolen Irrenkolonien ent¬
lehnten Terminus technicus hier zu gebrauchen. Im ganzen sind
im ersten Betriebsjahre in Stübeckshorn 36 Pfleglinge zur Ent¬
lassung gekommen. Das Durchschnittsalter betrug 30 Jahre. Nach
dem Grade der Arbeitsfähigkeit bemessen ergab sich folgende Ver¬
teilung in Prozenten:
I. Grad
0/
Io
II. Grad
0/
Io
III. Grad
0/
Io
bei der Aufnahme .......
25
36
39
bei der Entlassung- .
3
3
94
Von den Industriearbeitern sind 9 Proz. zu anderen Berufen
übergetreten, und zwar 3 Proz. zur Landwirtschaft und 6 Proz.
zum Handel und Verkehr. Ein Industriearbeiter trat durch Ver¬
mittlung der Erholungsstätte zur Landwirtschaft über. Obgleich
die Mehrzahl der Pfleglinge wohlgenährt aus den Genesungshäusern
überwiesen wurde, haben gleichwohl noch 28 durchschnittlich 3,1 kg
auf der Erholungsstätte an Körpergewicht zugenommen. In einem
Falle betrug die Gewichtszunahme sogar 16,4 kg. Die Durch¬
schnittsaufenthaltsdauer betrug 48 Tage. An Arbeitsverdienst
wurde den 36 Entlassenen im ganzen der Betrag von 977 Mk.
65 Pfg. oder im Durchschnitt für den Kopf 27 Mk. 15 Pfg. gewährt.
Auch die Landesversicherungsanstalt Oldenburg hat ein Bauern¬
gut in Samnum erworben, um daselbst eine ländliche Kolonie für
zunächst 20 Pfleglinge, die aus der Lungenheilstätte gebessert ent¬
lassen sind, einzurichten. Die ersten Pfleglinge wurden am 1. März
1903 aufgenommen. Der Erfolg des Aufenthaltes wird bisher als
befriedigend bezeichnet.
Trotz der reichen Aufwendung, die die Landesversicherungs¬
anstalt Hannover für die Kolonie Stübeckshorn gemacht hat, ist das
Unternehmen daran gescheitert, daß sich nicht genug Patienten bereit
finden ließen, sie aufzusuchen. Von 650 aus den Heilstätten der
Landesversicherungsanstalt im Jahre 1904 entlassenen Männern
waren nur 65 zum Eintritt in die Kolonie zu bewegen. Da man
fürchtete, daß in Zukunft sich der Zuzug noch mehr verringern würde,
beschloß man, die Kolonie als solche aufzugeben und sie in eine
gewöhnliche Lungenheilstätte für Männer umzuwandeln. Dennoch
ist dieses Experiment nicht ohne nützliche Lehren gewesen. Es
15*
228
A. Grotjalm,
hat bewiesen, daß Lungenkranke sehr wohl ein erhebliches Maß
körperlicher Arbeit im Freien verrichten können, ja, daß sie dabei
noch erheblich an Körpergewicht zuzunehmen vermögen. Der
Fehler des Versuches lag daran, daß man die Insassen nicht dauernd
zu halten suchte, so daß diese dann vorzogen, da sie doch einmal
wieder an ihre Arbeitsstätte zurückkehren mußten, diese Rückkehr
lieber gleich nach der Entlassung aus der Heilstätte als wie nach
der Absolvierung einer Zwischenstation zu bewerkstelligen. Das
Scheitern der Kolonie Stübeckshorn beweist nichts gegen die Mög¬
lichkeit, in Heimstätten, in denen Lungenkranke dauernd unter¬
gebracht sind, ernste landwirtschaftliche Arbeit treiben zu lassen.
Die dort gemachten Erfahrungen ermuntern vielmehr dazu, sogar
schon in den jetzt bestehenden Lungenheilstätten regelmäßig
arbeiten zu lassen.
Die Arbeit lungenkranker Personen im Anstaltswesen verdient
aber noch von einem anderen als vom rein medizinischen und
psychologischen Standpunkte betrachtet zu werden. Der Arzt hat
doch täglich Gelegenheit zu sehen, wie schwindsüchtige Personen
beiderlei Geschlechts eine erhebliche Arbeitsleistung regelmäßig
verbringen. Es ist sogar die Regel, daß der Tuberkulöse abge¬
sehen von vorübergehenden Verschlimmerungen, Blutungsperioden
und dem terminalen Stadium, so gut es geht, einen Beruf ausübt..
Keineswegs setzt also die Tuberkulose ohne weiteres eine absolute
Arbeitsunfähigkeit voraus. Der Tuberkulöse ist eben auch wie
jeder chronisch Erkrankte der Bruchteil eines normalen Menschen
und verfügt deshalb auch über einen Bruchteil von Arbeitskraft
und Arbeitsfähigkeit. Dieser Bruchteil schwankt nach der Indivi¬
dualität des Patienten, nach dem Stadium seiner Krankheit und
nach den jeweiligen klimatischen Einflüssen; aber trotz seines
Schwankens läßt sich dieser Bruchteil von Arbeitsfähigkeit vom.
kundigen Arzte unschwer bestimmen. Im freien gewerblichen Leben
besteht nun die Schwierigkeit, daß man von jedem in einem Beruf
stehenden Individuum ungefähr die gleiche Arbeitskraft voraus¬
setzt und ihn zu eliminieren trachtet, falls er die normale Arbeits¬
fähigkeit nicht erreicht. Bei der schematischen Nivellierung in¬
folge des Stunden- und Akkordlohns, der für alle gleichen Arbeits¬
zeiten und gar bei der Verknüpfung des Arbeitsprozesses mit der
Maschine ist es ganz unmöglich geworden, lungenkranke Indi¬
viduen, die nur über einen Bruchteil von Arbeitskraft verfügen,,
so zu beschäftigen, daß sie diesen Bruchteil ausnützen, ohne sich
zu schädigen. Dieser Übelstand des freien gewerblichen Lebens
Die Lungenheilstättenbewegung’ im Lichte der Sozialen Hygiene. 229
fällt nun in einer von einem Arzte geleiteten Anstalt vollkommen
fort. Es wäre denkbar, daß tuberkulöse Personen in richtiger
Ausnutzung des ihnen verbliebenen Anteils an Arbeitskraft be¬
schäftigt würden und soviel leisteten, daß sie für die Anstalt einen
erheblichen ökonomischen Gewinn erarbeiteten, der den Anstalts¬
betrieb verbilligt. Sie wären dann noch nützliche Mitglieder in
der nationalen Volkswirtschaft, ohne daß sie Gefahr liefen, sich zu
überanstrengen. Während der Tuberkulöse im freien gewerblichen
Leben ruckweise eine Zeitlang wie ein Gesunder zu arbeiten pflegt
und dann wieder zu vollem Nichtstun aufs Krankenlager geworfen
wird, würde ihm in einem Arbeitskrankenhause für Lungenkranke
unter sachkundiger Aufsicht und günstigen äußeren Bedingungen
täglich nur soviel Arbeitsleistung zugemutet werden, wie er nach
ärztlicher Voraussicht ohne Schaden zu leisten imstande ist. Dieses
wäre nur möglich in einer Kombination von Pflegeheim und Arbeits¬
haus oder landwirtschaftlichen Kolonie. Nicht der heute übliche
Typus der Anstalt für Lungenkranke, der Heilstätte, in der die
Patienten im Frühstadium einige Monate verbringen, nicht die
Kolonie zu vorübergehender Aufnahme und selbst nicht das reine
Invalidenhaus für vorgeschrittene Lungenkranke ist das erstrebens¬
werte Ideal, sondern die Heimstätte, in der der noch rüstige Lungen¬
kranke unter verhältnismäßig günstigen Bedingungen jahrzehnte¬
lang rationell lebt und seinen Bruchteil von Arbeitskraft unter
ärztlichen Kautelen verwertet. Die im vorhergehenden Abschnitt
geschilderten Heimstätten für Lungenkranke, wie sie in Norwegen
im Entstehen sind, ließen sich vielleicht in großem Maßstabe ver¬
billigen und deshalb auch verallgemeinern, wenn mit ihnen eine
vorsichtige, den Kräften der Insassen angepaßte Produktion von
landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder gewissen Fabrikaten der
Hausindustrie verknüpft werden könnte.
IV.
Die Erkenntnis, daß Lungenkranke im Stadium der offenen
Tuberkulose eine Gefahr für ihre Umgebung bedeuten, ist uns erst
durch die bakteriologische und klinische Forschung seit wenigen
Jahrzehnten zur Gewißheit geworden. Da es immer eine lange
Zeit braucht, bis ein solches Forschungsergebnis in die Massen-
230
A. Grotjahn,
psyche eindringt, so ist es nicht verwunderlich, wenn der größte-
Teil der Bevölkerung der Gefahr, die seitens tuberkulöser Per¬
sonen dem Mitmenschen drohen, noch ziemlich teilnahmlos gegen¬
übersteht. Deshalb kann an die Idealisierung der sachlich wohl
zu rechtfertigenden Forderung einer obligatorischen Anstaltsbehand¬
lung für gewisse Formen der Lungentuberkulose zurzeit noch nicht
gedacht werden. Die große Zahl der Tuberkulösen und die Un¬
möglichkeit, eine genügende Anzahl von Anstalten aus dem Boden
zu stampfen, verbietet schon an und für sich eine obligatorische
Einführung der Anstaltsbehandlung. Es dürfte auch vorläufig, bis
die Anzahl der Anstalten für Lungenkranke vermehrt worden ist
und das große Publikum sich mit dem ihm heute noch fremden
Gedanken einer monate- oder jahrelangen Anstaltsbehandlung ver¬
traut gemacht hat, genügen, wenn man einen stets wachsenden
Bruchteil der Lungenkranken den Anstalten zuführt.
Am zweckmäßigsten erfolgt diese Zuführung in der Weise,
daß man die Anstalten so einrichtet und den Aufenthalt in ihnen
so angenehm macht, daß die Patienten sie gern aufsuchen und
freiwillig in ihnen verbleiben. Außerdem kann man dadurch einen
mittelbaren Druck ausüben, daß man die zahlreichen hilfsbedürftigen
Lungenkranken, die heute mit Hilfe unzureichender Renten der
staatlichen Invalidenversicherung oder von den Almosen der Armen¬
verwaltung ein kärgliches Dasein fristen, auf den Weg der Asyli-
sierung in geeigneten Anstalten hindrängt. Auf keinen Fall darf
man aber vergessen, daß der Lungenkranke, der häufig über einen
hohen Grad von geistiger Frische verfügt, den Aufenthalt in einer
Anstalt ebenso schwer als eine Beeinträchtigung seiner persön¬
lichen Freiheit empfindet wie irgend ein anderes gesundes und
rüstiges Individuum. Mutet man ihm das freiwillige Opfer einer
langen oder gar ständigen Aufgabe seiner Bewegungsfreiheit zu,
so ist es unbedingt erforderlich, daß man ihm innerhalb der An¬
stalt jeden Zwang erläßt, der nicht unter allen Umständen durch
die Rücksicht auf die Anstaltsordnung geboten ist. In dieser Rich¬
tung haben wir noch außerordentlich viel an den üblichen Anstalts¬
ordnungen zn verbessern. Ausgehzeit, Empfangszeit für Besuche,
Möglichkeit des einzelnen Patienten, für sich allein zu sein usw,
— das sind Dinge, die in viel liberalerer Weise geordnet sein
müssen, als das bisher der Fall war. Da die Anhäufung zahlreicher
Menschen auf einen Punkt erfahrungsgemäß Ordnungsmaßregeln
erfordert, die den einzelnen auf die Dauer sehr lästig zu sein
pflegen, so muß auch schon aus diesem Grunde von großen An-.
Die Liingenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 231
stalten abgesehen werden. Die Zahl der Anstaltsinsassen sollte
nicht größer sein, als daß gerade noch dem Ganzen ein familiärer
Charakter bewahrt bleibt. Die Patienten empfinden sich dann
nicht als Objekte einer ihnen fremden Bureaukratenherrschaft,
sondern können sich in ihrer Anstalt zu einer mehr korporativen,
sich selbst verwaltenden Genossenschaft zusammenschließen, deren
Oberleitung natürlich einem nichttuberkulösen, im Pflegedienst aus-
gebildeten Hausvater zufiele. Sehr schwer wird in den gegen¬
wärtigen Anstalten das Zusammenwohnen in großen Räumen
empfunden. Es würde technisch durchaus möglich sein, jedem
Patienten, wenn nicht ein eigenes Zimmer, so doch ein besonderes,
nach drei Seiten geschlossenes Abteil in einem größeren Raume zu
gewähren.
Von der Regelung dieser Dinge hängt die Durchführbarkeit
einer Verallgemeinerung der Heimstätten für Tuberkulöse, die nach
dem Vorgänge von L. Brauer an dieser Stelle vom sozialhygie¬
nischen Standpunkte als wichtigstes Mittel, die Tuberkulose als
Volkskrankheit zu bekämpfen, gefordert werden muß, mehr ab
als von ihrer technischen Ausstattung. Es mag ungemein schwer
sein, eine Anzahl Personen ohne blutsverwandtschaftlichen Zu¬
sammenhang zu einem familiären Zusammenleben zu veranlassen.
Dennoch muß es versucht werden, dieses Problem auch ohne die
Mittel zu lösen, die den kirchlichen Gemeinschaften für diese
Zwecke zur Verfügung stehen, und einen genossenschaftlichen Geist
unter einer beschränkten Anzahl von Individuen, die ein gemein¬
sames Unglück zu tragen haben, zu erzeugen und festzuhalten.
Man muß sich nur mehr als bisher klar machen, daß es nicht ge¬
nügt, Fassaden, Parkanlagen, erstklassiges hygienisches Inventar
und andere Errungenschaften der glänzend entwickelten Technik
unserer Zeit in einer Anstalt zu konzentrieren, sondern es wichtiger
ist, durch eine sorgfältige Abmessung von Zwang und Freiheit die
Insassen, ihre Leitung und ihre Bedienung zu einem harmonischen
Organismus zu verbinden.
Es mag unendlich schwer sein, den richtigen Typus zu finden
für eine Heimstätte, in der lungenkranke Individuen der unteren
Volksschichten dauernd verweilen, den ihnen gebliebenen Rest von
Arbeitskraft nützlich an wenden und ein bescheidenes Maß von
Lebensgenuß eingeräumt erhalten können ; aber dieser Typus muß
gefunden werden, wenn anders nicht vollkommen darauf verzichtet
werden soll, auf dem Anstaltswege die Tuberkulose als Volks¬
krankheit zu bekämpfen. Der rege Eifer, den die letzten Jahr-
232
A. Grotjahn,
zehnte auf dem Gebiete der Gründung- von Anstalten für Lungen¬
kranke bewiesen haben, läßt hoffen, daß auch dieses Problem in
nicht zu ferner Zeit einer befriedigenden Lösung entgegengeführt
werden wird.
Leitsätze.
1. Die Errichtung von Anstalten für Lungenkranke, die sich
im Anfangsstadium der Erkrankung befinden, ist in den letzten
Jahrzehnten, besonders im Anschluß an das soziale Versicherungs¬
wesen, sehr gefördert worden. Wir verdanken dieser Lungenheil¬
stättenbewegung zunächst überhaupt die Idee, die Lungentuber¬
kulose mit Hilfe des Anstaltswesens zu bekämpfen, und sodann
eine großzügige Mobilmachung privater und öffentlicher Kräfte zu¬
gunsten der Anstaltsverbringung lungenkranker Individuen der
unteren Volksschichten, — aber eine erhebliche Verminderung der
Tuberkulose infolge dieser Heilstätten ist nicht eingetreten und
ist auch in Zukunft nicht zu erwarten.
2. Dieses zurzeit mehr dunkel gefühlte als klar bewußte Fehl¬
schlagen hat dazu geführt, auch Anstalten für fortgeschrittene
und unheilbare Tuberkulöse zu bauen. In diesen Heimstätten liegt
der entwicklungsfähige Keim für die Zukunft des Anstaltswesens
für Lungenkranke.
3. Außer dieser Errichtung von Invalidenheimen zeigt sich
als eine zweite Tendenz zu einer erfreulichen Weiterbildung des
Anstaltswesens für Lungenkranke das Bestreben, die Lungen¬
kranken unter ärztlichen Kautelen den ihnen gebliebenen Rest
von Arbeitskraft ausnutzen und sie innerhalb der Anstalt arbeiten
zu lassen.
4. Die Idee des Invalidenheims muß mit der der Arbeitskolonie
zusammentreten zur Forderung von Heimstätten für Lungenkranke,
in der diese dauernd sich aufhalten und ihren Kräften angemessene,
ökonomisch wertvolle und den Anstaltsbetrieb verbilligende Arbeit
leisten. Die tunlichst weitgehende Verallgemeinerung solcher An¬
stalten, die von ökonomischen Gesichtspunkten aus durchaus nicht
undurchführbar ist, würde einen außerordentlich hohen sozial¬
hygienischen Wert haben und die rationellste und humanste Art
der Tuberkulosebekämpfung überhaupt bedeuten; denn allein die
Umwandlung des Heilstättenwesens in ein Heimstättenwesen er-
Die Lungenheilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene. 233
möglicht zugleich die Disposition (Empfänglichkeit) wie die In¬
fektion (Ansteckung) mit gleicher Energie zu bekämpfen.
5. Als Vorbilder für die Heimstätten dürfen nicht die großen
und teuren Anstalten der deutschen Landesversicherungsanstalten
sondern die billigen norwegischen Pflegeheime dienen, da von der
Wohlfeilheit des Baues und Betriebes dieser Anstalten die größt¬
mögliche Verallgemeinerung abhängig ist und außerdem nur in
kleinen Heimstätten der Charakter des Sterbehauses vermieden sowie
den Insassen ein familiäres Zusammenleben ohne überflüssigen
Zwang geboten werden kann.
Der Ausbau der A rbeiterversi clieru ng in Österreich.
Von Siegmund Kafe, Wien.
(Schluß.)
Nach dem Regierungsprogramm würde die Zahl der ver¬
sicherungspflichtigen Personen rund 5,2 Millionen, davon 1,65 Milli¬
onen unfallversicherungspflichtig, betragen. Von den 5,2 Millionen
gegen Krankheit Versicherten werden nach der Berechnung der
Regierung 2,5 Millionen voll- und 2,7 Millionen Personen teilversichert
sein und zwar:
voll-
teil¬
versichert
Landwirtschaftliche Betriebe
—
2,0
Gewerbliche „
2,1
0,2
Eisenbahnen
0,2
—
Bergbau
0,15
—
Häusliche Dienstboten
— -
0,5
Sonstige
0,05
—
Gegenüber dem heutigen Stande bedeutet dies eine Verdoppe¬
lung der Zahl der Versicherungspflichtigen, wobei allerdings der
Zuwachs fast ausschließlich auf die sog. Teilversicherten entfällt.
Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß, wenn die Versicherungs¬
pflicht im Sinne des Reformprogramms nur auf die den Ge¬
sindeordnungen unterstehenden Landarbeiter ausgedehnt wird, die
Zahl derselben mit 2 Millionen zu hoch angenommen ist. Hier
wird also die stärkste Korrektur eintreten, wodurch das Ziffernbild
eine nicht unwesentliche Veränderung erfahren muß. Unter dieser
Voraussetzung ist die nachstehende Aufstellung über das Beitrags¬
erfordernis zu betrachten. Nach den Berechnungen der Regie¬
rung würden die jährlichen Beitragsleistungen voraussichtlich be¬
tragen :
Der Ausbau der A rbeiterversicherung in Österreich.
235
Voraussichtliche jährliche Beitragsleistung in
Millionen Kronen
in der Kranken¬
versicherung'
zu Lasten der
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CD
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versicherung
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in der Unfall¬
versicherung
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pH
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Versicherungs¬
zweigen
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02
pH
CD
03
P
ci
03
p
Kl
Landwirtschaftliche
■
Betriebe . . .
5,0
5,0
10,0
7,0
7,0
14,0
—
—
—
12,0
12,0
24,0
Gewerbliche Be-
triebe ....
22,0
22,0
44.0
17.5
17,5
35,0
18,0
—
18.0
57.5
39,5
97,0
Bergbau ....
2,1
2,1
4,2
(1,3)
(1,3)
(2,6)9
4,0
—
4,0
7,4
3,4
10,8
Häusliche Dienst-
boten ....
1,3
1,3
2,6
2,3
2,3
4,6
—
—
—
3.6
3.6
7,2
Sonstige ....
0,4
0,4
0.8
0,3
0,3
0,6
—
—
—
0(7
o;7
1,4
Zusammen
30,8
30,8
61,6
28,4 28,4
7 1 7
56,8
22,0
—
22,0
81,2
59,2
140,4
Zusammen würden also die jährlichen Beiträge ausschließlich
der Eisenbahnen ungefähr 140,4 Millionen Kronen betragen, wovon
ca. 81,2 auf die Dienstgeber und 59,2 auf die Versicherten ent¬
fallen dürften.
Zieht man die Eisenbahnen mit in Betracht, welche gegen¬
wärtig ca. 4 Millionen für Krankenversicherung und 10 Millionen
für Unfallversicherung auf bringen, so gelangt man zu einem Ge¬
samterfordernis von rund 155 — 156 Millionen Kronen, wovon etwa
62 Millionen die Versicherten und 93 Millionen die Unternehmer
zu tragen hätten. Es ist bei dem Umstande, daß die Zahlen über
die Versicherungspflichtigen teilweise überaus unzuverlässig sind,
mißlich, die oben angegebene Summe zu Schlußfolgerungen zu be¬
nutzen. Sie gibt höchstens von dem Verhältnis der Belastungen
der Unternehmer und Versicherten eine Vorstellung und besagt,
daß sich beide Belastungen wie 1,5 : 1 verhalten. Das ist nun
ganz verschieden nach den einzelnen Versicherungszweigen und
verschieden nach dem geltenden Gesetze und dem Kegierungs-
programm. Nach dem geltenden Gesetze stellt sich das Verhältnis
in der Krankenversicherung wie 2:1, in der Unfallversicherung
wie 9 : 1, ein Verhältnis, das allerdings durch Ausnahmen bezüglich
0 Von den Provisionskassen der Bergbruderladen abzuführender Invaliden¬
versicherungsbeitrag.
236
Siegmund Kaff,
der Bergarbeiter und Eisenbahnen einigermaßen alteriert wird.
Nach dem Regierungsprogramm würden sich die Beiträge für die
Kranken- und Invalidenversicherung wie 1 : 1 stellen, während in
der Unfallversicherung die Prämie vom Unternehmer allein- zu
tragen wäre. Demgemäß drängen sich hier zwei Fragen auf:
1. Ob die von der Regierung benutzte Rechnungsgrundlage auf eine
genügende Verläßlichkeit Anspruch machen kann und 2. inwiefern
eine Verschiebung der Beitragslasten für Unternehmer und Ver¬
sicherte eintritt? Was nun die erste Frage anbelangt, so haben
wir bereits erwähnt, daß hinsichtlich der wichtigsten Grundlage
— der Zahl der Versicherungspflichtigen — die Voraussetzung der
Verläßlichkeit nicht zutrifft. Es gilt dies nicht bloß hinsichtlich
der landwirtschaftlichen Betriebe, bei welchen durch die teilweise
Einbeziehung des Gesindes eine Abschätzung erschwert wird; auch
sonst dürften sich Korrekturen als notwendig heraussteilen. Aber
die Hauptfehler der Rechnungsgrundlage liegen doch mehr in der
Unterschätzung der Krankheits- und Invaliditätsgefahr sowie der
Kosten für ihre Bekämpfung. Vor allem würde die Verlängerung
der Unterstützungsdauer in der Krankenversicherung bewirken,
daß die mit 10 Proz. angenommene Morbilitätszilfer in der Praxis
sich von dieser theoretischen Grundlage entfernen wird. Zu diesem
Effekte wird auch beitragen die Einbeziehung von einer größeren
Krankheitsgefahr unterworfenen Berufsgruppen, z. B. der Berg¬
arbeiter. Und ebenso werden das landwirtschaftliche Gesinde und
die Teilversicherten überhaupt eine Erhöhung der Morbilitätszilfer
herbeiführen, wenngleich diese Tendenz durch die Vorenthaltung
eines Krankengeldes beschränkt werden soll. In derselben
Richtung wird die Belastung der Krankenkassen mit den Heil¬
verfahrenskosten der Unfälle und die Ausdehnung der Ersatzpflicht
an die Spitäler wirken. Vor allem aber muß bemerkt werden, daß
die Annahme der Regierung von vornherein auf einer falschen
Voraussetzung beruht, wenn sie meint, es genüge, die durchschnitt¬
liche Morbilitätszilfer in dem Zeitraum 1890 — 1902 zu berechnen.
Schon in dieser 13jährigen Beobachtungszeit ergibt sich eine
*
starke Steigerung, wobei übrigens die ersten Jahre nicht in Be-,
tracht gezogen werden können, weil damals das Gesetz noch all¬
zuweit von einer vollkommenen Durchführung entfernt war. Wird
nun diese steigende Tendenz zusammen mit den übrigen erwähnten
Momenten ins Kalkül gezogen, so ergibt sich, daß eine Morbilität
von 10 Proz. als viel zu gering anzusehen ist.
Ähnliches gilt hinsichtlich der Sterblichkeitsziffer. Vor allem
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
237
aber erscheint es notwendig, die Naturalleistungen (ärztliche Hilfe,
Medikamente, therapeutische Behelfe, physikalische und andere Kur-
mittel) mit einem höheren Betrage, als ihn die Regierung kalku¬
liert, zu veranschlagen. Wenn sich heute schon der jährliche
Aufwand pro Mitglied auf durchschnittlich 4,56 Kronen beläuft, so
wird er sich in Zukunft auf mindestens 6— 6V2 Kronen stellen.
Die Regierung, welche bloß 5 Kronen ansetzt, übersieht, daß zu¬
nächst die steigenden Anforderungen der Ärzte zu dieser Erhöhung
beitragen müssen; dann aber auch, daß, wenn schon nicht die
eigentlichen Medizinalauslagen, dafür andere Erfordernisse der
Heilpflege, wie sie durch die Rekonvaleszentenpflege und durch
die gesteigerte Anwendung der physikalischen Heilmethoden sowie
durch die Einbeziehung der Unfallkosten sich als notwendig heraus¬
steilen werden, eine Erhöhung des durchschnittlichen Kassenauf¬
wandes bewirken müssen.
Die Kosten der Spitalspflege erfahren zwar eine Einschränkung
insofern, als die Kassen zum Ersatz der Verpflegsgebühren ledig¬
lich in der Höhe des Krankengeldes verpflichtet werden. Allein
durch die Ausdehnung des Dispositionsrechtes der Kassen und vor
allem durch die Verlängerung der Haftdauer wird eine Mehr¬
belastung ein treten, die gleichfalls nicht ignoriert werden darf.
Bezüglich der Verwaltungsauslagen wird erst die Praxis zeigen
müssen, ob eine Mehrbelastung vermeidbar ist oder nicht. Die
Erweiterung der Befugnisse der Kassenagenden und die dadurch
bedingte Ausgestaltung des Verwaltungsapparates wird die Sach-
und Personalregie der Kassen erhöhen, auch wenn für die aus dem
übertragenen Wirkungskreis erwachsenden Auslagen den Kassen
Ersatz geleistet und überdies der leitende Beamte von der staat¬
lichen Versicherungsanstalt besoldet werden sollte. Letzteres ist
jedoch nicht in allen Fällen sicher — die Gründe sind weder aus
den Bestimmungen des Gesetzentwurfes noch aus den Erläuterungen
hierzu ersichtlich. Wie immer dem aber auch sein mag: eine Ver¬
billigung der Regie, die heute schon bei den Bezirkskrankenkassen
81/., Proz. der laufenden Beiträge erfordert, ist kaum zu gewärtigen,
weil das Hauptmittel der Verbilligung — die Konzentration der
Mitglieder in einheitlich organisierte Kassen — unterbleibt. Ebenso
erscheint es etwas gar zu optimistisch, das Beitragserfordernis für
den Verband zu vernachlässigen, da den Verbänden weitaus größere
Aufgaben zugedacht sind als heute. Hingegen werden für die
Dotierung des Reservefonds, der nur in der Höhe der einfachen
durchschnittlichen Jahresausgabe der letzten drei Rechnungsjahre
238
Siegmund Kaff.
erfolgen soll, künftig kleinere Rücklagen genügen. Das Regierungs¬
programm berechnet hierfür einen 5proz. Zuschlag zu dem für die
Deckung der Kassenerfordernisse ermittelten Beitrag.
Nach der Berechnung des Regierungsprogramms wird sich das
Nettoerfordernis in der Krankenversicherung pro Jahr
stellen auf Kronen:
an Krankengeld
an Beerdignngs-
kostenbeitrag
in der
1.
Lohnklasse
4
0,12
ii V>
2.
11
8
0,24
11 11
3.
11
12
0,36
ii ri
4.
11
20
0,60
11 11
5.
11
30
0,90
11 11
6.
11
40
1,20
Demgemäß werden Vollversicherte Wochenbeiträge zu zahlen
haben für Krankengeld und Beerdigungskostenbeitrag von 10. 20,
30, 50, 76 und 100 Hellern, für Arzt und Medikamente 12 Heller,
macht zusammen 22, 32, 42, 62, 88, 112 Heller Beiträge per Woche
gleich ein Viertel (25 Proz.) des täglichen Krankengeldes. Die
zulässige Maximalhöhe des Wochenbeitrages wird mit 50 Proz. des
täglichen Krankengeldes begrenzt. Diese Normalsätze werden sich
je nach der Zusammensetzung des Mitgliederstandes rücksichtlich
Alter, Beruf, Geschlecht etc. ändern. Das F atale an der Sache ist
nur, daß die ganze Voraussetzung, von der die Berechnung ausgeht,
weder den bisherigen Gepflogenheiten noch den Bedürfnissen der
Versicherten entspricht. Ganz Österreich mit seinen kolossalen
Lohnunterschieden als einen einzigen undifferenzierbaren Kassen¬
sprengel zu betrachten, mag vielleicht vom bureaukratischen oder
genauer: vom rechnerisch - buchhalterischen Standpunkte aus er¬
wünscht sein; sozialpolitisch ist dies weder wünschenswert noch
möglich. Die wirtschaftlichen Abstufungen der arbeitenden Be¬
völkerung lassen sich keineswegs auf sechs Lohnklassen reduzieren.
Eine solche Nivellierung würde nicht nur zu einer Umwälzung
der in der Krankenversicherung bestehenden Verhältnisse sondern
auch zu einer enormen Schädigung der Versicherten führen.
Sicherlich ist das heutige System der Lohnkategorien nicht als
ideal anzusehen. Die Lohnsätze entsprechen durchaus nicht den
faktischen Lohnverhältnissen. Sie werden höchst einseitig von den
Gewerbebehörden festgesetzt, ohne daß die Versicherten nennens¬
werten Einfluß zu üben vermöchten. Auch wenn dies der Fall
wäre und eine größere Spezialisierung der Lohnkategorien ein-
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich. 239
treten würde, ergäben sich noch immer mannigfache Nachteile ad¬
ministrativ-technischer Natur, die beim Lohnklassensystem in Weg¬
fall gebracht werden können. Soll dies aber geschehen, dann
müssen die Lohnklassen den wirklichen Verhältnissen eines jeden
Kassensprengels durchaus angepaßt und nicht auf sechs beschränkt
werden.
Die vorhin berechneten Gesamtbeiträge stellen aber auch eine
ganz ungleiche Belastung der Versicherten in den einzelnen Lohn¬
klassen dar. Sie machen 6,1, 4,4, 3,5, 3,2, 2,9, 2,7 Proz. vom mitt¬
leren Lohnsatz aus, d. h. sie begünstigen die höheren Kategorien
auf Kosten der unteren. Wenn nun auch die Morbilität der schlecht
entlohnten Kassenmitglieder eine höhere als die der besser ent¬
lohnten ist, so ist doch damit die große Differenz in der Belastung
nicht begründet.
Auch die Beitragsberechnung für die Teilversicherten, welche
nur auf die Naturalleistungen (ärztliche Hilfe, Medikamente und
therapeutische Behelfe bis zur Dauer eines Jahres, eventuell auf
vierwöchentliche Spitalspflege) sowie auf einen Beerdigungskosten¬
beitrag Anspruch haben, erscheint sehr optimistisch angestellt.
Erwägt man, daß für die landwirtschaftlichen Dienstboten die Bei¬
stellung der ärztlichen Hilfe und Medikamente aus verschiedenen
Gründen sich teurer stellen wird als für städtische Versicherte,
daß ferner die Kosten der Kontrolle sich etwas höher stellen dürften,
so gelangt man auch hier zu dem Ergebnis, daß eine Unter¬
schätzung des Erfordernisses stattgefunden hat. Immerhin kann
eines Vorteils erwähnt werden, der bisher fehlte: Eine Abstufung
der Beiträge nach Geschlecht, Berufsarten und Betriebszweigen ist
zulässig, weil die Morbilitätsziffern für männliche und weibliche
Kassenmitglieder einerseits sowie für gewisse Berufe und Betriebs¬
gruppen andererseits starke Differenzen aufweisen.
Aus all den bisher angeführten Gründen müssen die Grund¬
lagen für die Berechnung des Erfordernisses, bzwr. der Beiträge in
Zweifel gezogen werden. Diese Zweifel werden noch verstärkt,
wenn man die Gesamtbelastung, die nach dem Regierungsprogramm
eintreten soll, mit der gegenwärtigen vergleicht. Für 2 x/2 Millionen
gegen Krankheit Versicherter beträgt der Aufwand für Ver¬
sicherungsleistungen und Verwaltungszwecke gegenwärtig 48,361
Millionen Kronen. Für die mit 5,2 Millionen geschätzte Zahl der
Voll- und Teil versicherten ist ein Aufwand von 61,6 Millionen be¬
rechnet. Es würden sonach die 2,7 Millionen Teilversicherter rund
13,2 Millionen erfordern, wenn man mit dem Regierungsprogramm
240
Siegmund Kaff,
annimmt, daß für die Vollversicherten auch künftig* kein höherer
Aufwand notwendig sein wird. Hält man dieser Ziffer jenen Auf¬
wand entgegen, welchen die heute vollversicherten Kassenmitglieder
an Arzt, Medikamenten und Verpflegs- und Beerdigungskosten
erfordern, so gelangt man zu einer Belastung von 17,408 Millionen
Kronen; dabei sind Regie und Reservefonds nicht berücksichtigt.
Nun ist allerdings in Betracht zu ziehen, daß diese sowie die
Ärztekosten, da sie sich auf eine größere Anzahl von Mitgliedern
verteilen, sich im allgemeinen nicht höher stellen werden. Trotz¬
dem ergibt sich eine Differenz von rund 4 Millionen Kronen, die
wohl dafür spricht, daß die Wirklichkeit über die Schätzung des
Reformprogramms hinausschreiten wird. Dies dürfte auch sonst
der Fall sein. Wenn im Jahre 1902 die Versorgung von 2 1/2 Mil¬
lionen Versicherten mit Arzt, Medikamenten, Spitalspflege und Be¬
erdigungskosten 17 Millionen erfordert, so ist wohl nicht an¬
zunehmen, daß das künftige Erfordernis für diese Leistungen hinter
diesem Betrage Zurückbleiben wird. Im Gegenteil!
Bisher handelte es sich um das gesetzliche Mindestausmaß der
Unterstützungen, deren Deckung je zur Hälfte (statt wie bisher zu
ein Drittel und zu zwei Drittel) von den Unternehmern und Ar¬
beitern getragen werden soll. Es hat sich gezeigt, daß die Aus¬
dehnung der Unterstützungsdauer sowie die Erweiterung der Er-
satzpflicht gegenüber den Heilanstalten, wozu noch die Überwälzung
der Heilkosten für Betriebsunfälle kommt, zwar eine Erhöhung des
absoluten Aufwandes herbeiführen muß , daß jedoch diese Er¬
höhung keineswegs den Versicherten zugute kommt, weil gleich¬
zeitig durch die Fixierung der Höhe des Krankengeldes mit 40, 80,
120, 200, 300 und 400 Hellern der relative Anteil an der wich¬
tigsten Versicherungsleistung, dem Krankengelde, für die Kassen¬
mitglieder sinkt. Die letzteren profitieren demnach von der Er¬
höhung der Unternehmerbeiträge auf die Hälfte der Gesamtprämie
nur wenig oder nichts, denn jede Erweiterung der Kassenleistungen,
insbesondere die Ausgestaltung der Heil- und Rekonvaleszenten¬
pflege, die Einführung der Angehörigenversicherung sowie der
außerordentlichen Unterstützungen fällt gänzlich den Kassenmit¬
gliedern zur Last.
Weitaus schwieriger noch als in der Krankenversicherung ist
die Berechnung des Beitragserfordernisses für die Invaliditäts¬
versicherung, da hier die Erfahrungen und somit auch die
statistischen Grundlagen für Österreich vollständig fehlen. Das
Regierungsprogramm berechnet die jährlichen Beitragsleistungen
Der Ausbau der Arbeiterversicherung’ in Österreich.
241
mit 56,8 Millionen Kronen, die je zur Hälfte von den Dienstgebern
und von den Versicherten aufzubringen sein werden. Es schätzt
im fünften Jahre der Versicherung den Aufwand an Invaliditäts¬
und Altersrenten auf 3,4 Millionen Kronen und läßt ihn bis zum
70. Jahre der Versicherung, wo der Sättigungspunkt als erreicht
angenommen wird, auf 120,6 Millionen steigen. Die Kapitals¬
abfertigungen an Hinterbliebene, Witwen und Waisen, welche
schon im ersten Jahre zahlbar sein werden, schätzt es auf eine
halbe Million, im 70. Jahre der Versicherung auf 11,6 Millionen.
Die Beitragsrückerstattungen werden im fünften Jahre der Ver¬
sicherung mit 1,1 Millionen Kronen, im 70. Jahre mit 2,6 Millionen
angenommen, die Verwaltungskosten jährlich mit 7 Millionen. Von
diesem Gesamtaufwande hätten die Versicherten im ersten Jahre
5.5 Millionen, im 70. Jahre 99,1 Millionen, der Staat 2, bzw. 42,8
Millionen Kronen zu tragen. Wiederum muß hier daran erinnert
werden, daß die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter von der
Kegierung augenscheinlich zu hoch angenommen worden ist. Dem¬
gemäß wird die mit 24 Millionen Kronen berechnete Belastung der
Landwirtschaft, wovon 12 zu Lasten der Dienstgeber fallen sollen,
wesentlich zu reduzieren sein. Aber noch ein anderes ergibt sich:
die Landwirtschaft, welche bisher für die Gesamtkosten der
Krankenfürsorge für das Hausgesinde aufzukommen hatte, wird
künftig hinsichtlich dieser Kosten entlastet werden, weil die Ver¬
sicherten einen Teil derselben zu übernehmen haben. Die so ersparte
Hälfte wird für die Zwecke der Invaliditätsversicherung zur Ver¬
wendung gelangen, welche die Dienstgeber in der Landwirtschaft
mit 7 Millionen belasten soll, woraus sich ergibt, daß die von den
Grundbesitzern bisher verausgabten Beträge trotz der Einführung
der Invaliditätsversicherung keine wesentliche Erhöhung erfahren
dürften. Ähnliches gilt von der Belastung der übrigen Arbeitgeber
durch die Versicherung der häuslichen Dienstboten. Da für die Eisen¬
bahnen und den Bergbau heute schon Pension s- und Provisions¬
institute bestehen, so kann auch hier kaum von einer nennens¬
werten Mehrbelastung durch die Invaliditätsversicherung gesprochen
werden. Es verbleiben also lediglich die gewerblichen Betriebe,
für welche die mit 35 Millionen berechneten Kosten der Invalidi¬
tätsversicherung eine Neubelastung darstellen, da die Hälfte dieser
Kosten auf das Konto der Unternehmer kommt.
Die Verwaltungskosten veranschlagt das Programm mit 1 Krone
für jede versicherte Person, was durchschnittlich 10 Proz. der
Prämien ausmachen würde. Vorsichtshalber werden aber 10 Proz.
16
Zeitschrift für Soziale Medizin. IT.
242
Siegmund Kaff,
angenommen, weil die Einhebnng durch die Krankenkassen kost¬
spieliger ist als das in Deutschland übliche, viel beklagte Marken¬
system. Überdies werden noch Sicherheitszuschläge als erforder¬
lich erachtet, weil die für die Rechnung benutzten Grundlagen —
wie die Regierung selbst betont — jeder Verläßlichkeit entbehren
und die Erfahrungen in Deutschland zur größten Vorsicht mahnen.
Im Widerspruch mit dieser Anschauung steht es nun, wenn die
Regierung die Prämien gleich für zwölf Jahre festsetzt. Eine an¬
gemessene Abkürzung dieses Zeitraumes wäre aus den von der
Regierung selbst angeführten Gründen wohl am Platze. Bei dieser
Gelegenheit sei übrigens bemerkt, daß auch die 20jährige Fixierung
der Krankenversicherungsbeiträge, wiewohl hier die Grundlagen
verläßlichere sind, besser zu beseitigen wäre. Es liegt gar kein
zureichender Grund vor, den Kassen in diesem Punkte Beschrän¬
kungen aufzuerlegen, von denen sie bisher frei waren. Sowohl
hinsichtlich der Kranken- wie der Invaliditätsversicherung muß
ferner die Frage aufgeworfen werden, ob die neue Festsetzung
der Beiträge nach erfolgter Überprüfung zweckmäßig nur im Gesetz¬
gebungswege erfolgen soll.
Ganz offenkundig kommt die Tendenz zur Entlastung der
Dienstgeber in der Unfallversicherung zum Ausdruck. Es handelt
sich bei der Regierung darum, ein weiteres Anwachsen des Ge¬
barungsabganges hintanzuhalten, wohingegen sie hinsichtlich der
Beseitigung des vorhandenen Defizits erforderliche Maßnahmen
anzugeben unterläßt. Diese Unterlassung ist eine so auffällige
Tatsache, daß sie nur aus einer Annahme erklärt werden kann,
der Annahme nämlich, daß die Regierung selbst hinsichtlich der
Deckung des vorhandenen Defizits vollständig ratlos ist. Und doch
gibt es, wenn man nicht zu einer ganz unmöglichen Kürzung der
Ansprüche greifen will, nur zwei Wege, um den Gebarnngsabgang
zu beseitigen. Entweder müssen die Unternehmer durch Hinauf¬
setzung des Beitragstarifs für den Gebarungsabgang aufkommen,
oder aber es hätte der Staat die Amortisierung vorzunehmen, bzw.
es wären Unternehmer und Staat heranznziehen. Mit einer dieser
Möglichkeiten, die unvermeidliche Notwendigkeiten sind, wird sich
die Industrie und die Regierung vertrant machen müssen. Hier
näher auf dieses Kapitel einzugehen, erscheint aus Raummangel
nicht angebracht. Um so notwendiger ist die Prüfung der Frage,
ob die zur Hintanhaltung eines künftigen Defizits vorgeschlagenen
Maßnahmen ansreichen. Durch die Verlängerung der Karenzzeit
auf die Dauer des Heilverfahrens sowie durch den Ersatz der
Der Ausbau der Arbeiterversicherung’ in Österreich.
243
kleinen Renten durch Abfertigungen, endlich durch den Wegfall
der Versicherung landwirtschaftlicher Maschinenbetriebe glaubt die
Regierung 2 794 000 Kronen ersparen zu können, wodurch sich das
Erfordernis in der Unfallversicherung auf 18 461000 Kronen, d. i.
2,07 Proz. der Lohnsumme im Durchschnitt der Jahre 1897 — 1901
reduzieren würde. Da im Jahre 1901 die tatsächlichen Beitrags¬
einnahmen 1,89 Proz. der Lohnsumme betrugen, so würde sich auch
nach der Rechnung der Regierung eine Differenz ergeben, deren
Ausgleichung sie von der Einführung individueller Beitragsvor-
schreibungen erwartet; überdies werden Zusatzbeiträge vorgesehen.
Im Vertrauen auf die Wirkung dieser Maßnahmen glaubt die Re¬
gierung die Kontingentierung der gegenwärtigen Beitragseinnahmen
empfehlen zu können, d. h. der Gesamtbeitrag würde auch nach
Durchführung des Reformprogramms für die Betriebe der gleiche
sein wie jetzt, doch würde sich der Beitrag in den einzelnen Ge¬
fahrenklassen infolge der Revision derselben, die durch die Kon¬
tingentierung erforderlich wäre, anders stellen.
Der Effekt der von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen
wäre also, daß die Gesamtesten sowohl in der Unfall- wie in der
Krankenversicherung keine Erhöhung erfahren würden. Auch in
der Krankenversicherung nicht trotz der Verlängerung der Unter¬
stützungsdauer und der erweiterten Ersatzpflicht an die Spitäler,
sowie trotz der Übernahme der Heilkosten für die Unfälle, weil
diese Erweiterung der Verpflichtungen durch die allgemeine Herab¬
drückung des Krankengeldes infolge der Fixierung und der Uni¬
fizierung desselben paralysiert wird. Nur die Verteilung der
Lasten zwischen Unternehmern und Arbeitern würde eine andere
werden. Die Beiträge zur Unfallversicherung, welche bisher zu
10 Proz. von der Arbeiterschaft getragen wurden, würden gänzlich
auf das Konto der Unternehmer kommen (18 Millionen pro 1902).
Die Beiträge für die Krankenversicherung würden künftig zur
Hälfte von den Unternehmern getragen werden (22 Millionen pro
1902). Dazu kämen noch die halben Beiträge für die Invaliden¬
versicherung per 17 V3 Millionen, so daß also für die Unternehmer,
welche bisher 29,3 Millionen aufzubringen hatten, eine Mehrbelastung
von 28,2 Millionen erwachsen würde.
Die bei der Unfallversicherung gemachten Erfahrungen sowie
das Beispiel Deutschlands haben die Regierung veranlaßt, auch
einen staatlichen Zuschuß in Aussicht zu nehmen. Derselbe gilt
bloß für die Invalidenversicherung, wenn man davon absieht, daß
der Staat in Zukunft die Kosten der Schiedsgerichte sowie des
16*
244
Siegmund Kaff.
Obergerichtes tragen will, welche Einrichtungen für alle Ver¬
sicherungszweige gelten. Der Zuschuß des Staates würde zunächst
mit einem fixen Verwaltungsbeitrag an die ßeichsanstält im Be¬
ilage von jährlich 2 Millionen Kronen, sodann aber auch in der
Aufbesserung jeder liquiden Rente um 90 Kronen jährlich bestehen.
Diese Art der Beitragsleistung ist für den Staat die bequemste;
sie enthebt ihn der Notwendigkeit, das Risiko in allen seinen
Steigerungsmöglichkeiten mittragen zu müssen, was zumal bei der
Unfallversicherung von außerordentlicher Bedeutung wäre, ist also
vom fiskalischen und technischen Standpunkte kaum anfechtbar; um
so mehr freilich vom sozialpolitischen. Eine weitere Heranziehung
des Staatsschatzes zu den Zwecken der Invaliditätsversicherung ist
dadurch beabsichtigt, daß der Staat für den Ent gang an Prämien
während der aktiven Militärdienstzeit eines Versicherten auf-
kommen soll, indem er für jeden ausfallenden Wochenbeitrag einen
Teil der zu leistenden Rente auf sich nimmt.
Würde dies teilweise wenigstens auch für die Arbeitslosen ge¬
schehen, dann könnte man nicht bloß von einem sozialpolitisch
überaus wertvollen Fortschritte sprechen, es wäre dann auch mög¬
lich, die Einbuße der Rentenanwärter bei Beschäftigungslosigkeit
zu verringern und auf ein Minimum zu reduzieren, wenn nicht
ganz zu beseitigen. Allein es ist überaus bedenklich, an den Staat
erhöhte Ansprüche zu stellen, wenn nicht zuvor die Gewähr ge¬
geben ist, daß die Quellen, welche zur Deckung des neuen Er¬
fordernisses geöffnet werden müssen, auch dem sozialpolitischen
Zwecke entsprechen. Durchaus perhorresziert muß es werden, wenn
die indirekte Besteuerung für Zwecke der Arbeiterversicherung
erweitert werden sollte. Hingegen müßte es auf das freudigste
begrüßt werden, wenn etwa im Wege von Zuschlägen zur Personal¬
einkommensteuer, oder durch andere direkte Abgaben die Mittel
zur Deckung des staatlichen Zuschusses aufgebracht werden würden.
In diesem Falle könnte es sogar zugegeben werden, daß ein großer
Teil des Gesamterfordernisses für die Zwecke der Arbeiterver¬
sicherung im Wege der Besteuerung hereingebracht würde. Abge¬
sehen von der Aussichtslosigkeit jedoch, welche für das Verlangen des
Steuerweges prognostiziert werden muß, wäre es nicht zu empfehlen,
dem Wunsche der Industrie nach vollständiger Überwälzung des
Gesamterfordernisses auf die Allgemeinheit Rechnung zu tragen,
vielmehr erscheint es ratsam, bei dem bisherigen System der
direkten Haftung der unmittelbaren Interessenten zu verbleiben.
Dies braucht aber durchaus nicht auszuschließen, daß der Staat
Der Ausbau der Arbeiterversicherung’ in Österreich. 245
einen größeren Teil des Erfordernisses, als dies nach dem Programm
in Aussicht genommen ist, selbst deckt. Ja, man könnte, wiewohl die
drei Versicherungskreise nicht kongruent sind und das Erfordernis für
dieselben ein ungleiches ist, dennoch eine Drittelung der Gesamt¬
beitragsleistungen derart herbeiführen, daß Arbeiter, Unternehmer
und Staat je ein Drittel des Gesamterfordernisses übernehmen.
Schon die bisherigen Berechnungen lassen erkennen, daß man von
diesem Verhältnis nicht allzuweit entfernt ist. Nach der Berechnung
des Programms ergibt sich, wie bereits erwähnt, daß von der vor¬
aussichtlich jährlichen Beitragsleistung 81 Millionen auf die Dienst¬
geber und 59 Millionen auf die Versicherten entfallen. Da im
70. Jahre des Bestandes der Versicherung der staatliche Zuschuß
mit 42,8 Millionen angenommen wird, so ist es weniger die absolute
Differenz zwischen dem in Aussicht genommenen Zuschuß und dem
vollen Drittel, welches nach Aufteilung der gesamten Beitrags¬
leistung auf den Staat entfiele, als vielmehr der Umstand, daß der
Staat seinen Beitrag nicht als sofort fällige Prämie sondern bloß
als nachträglich zahlbaren Zuschuß aufgefaßt wissen will.
Das Problem der Arbeiterversicherung ist vor allem ein finan¬
zielles Problem. Eine aufmerksame Überprüfung des Finanzplanes
wird daher von allen Interessenten, zumal im Hinblick auf die
traurigen Erfahrungen in der Unfallversicherung, begehrt werden
müssen. Die Erwartungsmöglichkeiten dürfen nicht wieder unter¬
schätzt werden, vielmehr erheischt die Schwierigkeit der Gesetz-
werdung eine Beruhigung vor allem im Hinblick auf die Verlä߬
lichkeit der Rechnungsgrundlagen. Insbesondere in dem neuen
Zweige der Invalidenversicherung erscheint eine solche Überprüfung
der angenommenen Invaliditätswahrscheinlichkeit geboten. Aber
auch die Frage des Zinsfußes, welcher mit 4 Proz. angenommen
Avird, wird in strenge Erwägung zu ziehen sein, wenngleich die
Annahme, daß die Folgen eines etwaigen Rückganges des Zinsfußes
durch die Wahl eines aus den deutschen Beobachtungen abgeleiteten
bedeutend höheren Vermehrungsfaktors für Versicherungspflichtige
ausgeglichen werden könne, wohl berechtigt ist.
Es ist eines der charakteristischen Merkmale der Arbeiter¬
versicherung, daß sie zum Unterschiede von der bürgerlichen Pii-
vatversicherung neben den Geldleistungen auch Naturalleis¬
tungen kennt. Schon die geltende Gesetzgebung hat solche für
die Krankenversicherung eingeführt, indem sie vom Krankheits¬
beginne an die Beistellung freier ärztlicher Hilfe mit Inbegriff des
geburtshilflichen Beistandes sowie der notwendigen Heilmittel und
246
Siegmund Kaff,
sonstigen therapeutischen Behelfe, ferner in gewissen Fällen
Krankenhauspflege vorschrieb. Den Krankenkassen verursachte die
«
Beistellung dieser Leistungen ganz außerordentliche Schwierig¬
keiten. Insbesondere gilt dies im Hinblick auf die notwendige
Organisation des ärztlichen Dienstes, der die Kassen
• •
zwang, zu den Interessen der Arzte in einen gewissen Gegensatz
zu treten. Denn nach der Vorschrift des Gesetzes sind die Kassen
nicht bloß verpflichtet, einen ärztlichen Kontrollapparat einzu¬
richten, dem die Feststellung und Prüfung der Arbeitsfähigkeit
der Kassenmitglieder obliegt, sie sind vielmehr im Sinne des Ge¬
setzes genötigt, den ärztlichen Dienst zum Zwecke der Heilbehand¬
lung der Kassenmitglieder zu organisieren. Die Durchführung
dieser erweiterten Aufgabe der Krankenkassen liegt sowohl im
Interesse der Mitglieder wie auch der Kassen selbst. Der Mit¬
glieder deshalb, weil diese dadurch der ärztlichen Behandlung teil¬
haftig werden, die sie trotz des Krankengeldes sonst wohl nur in
Ausnahmefällen in Anspruch nehmen würden; im Interesse der
Kassen, weil sie dadurch die Gewähr erhalten, daß die Arbeits¬
unfähigkeit nicht über die normalmäßige Dauer ausgedehnt werde.
Immerhin ergeben sich hinsichtlich des Ausmaßes der Behandlung
in der Praxis für die Kassen sowohl, als auch für die Ärzte ge¬
wisse Beschränkungen nicht bloß zeitlicher und quantitativer son¬
dern auch solche qualitativer Natur. Es ist ohne weiteres klar,
daß trotz aller Bemühungen der Kassen und der Ärzte eine Art
Massenordination eingeführt werden mußte, bei der individuellen
Ansprüchen nicht immer in der wünschenswerten Weise "Rechnung
getragen werden konnte. Daß dies nicht möglich war, lag und
liegt weder an den Ärzten noch an den Kassen sondern lediglich
an der Unzulänglichkeit der den letzteren zur Verfügung stehenden
Mittel sowie an der fehlerhaften Organisation des Kassenwesens,
die notwendigerweise eine imökonomische Verwendung der vor¬
handenen Mittel mit sich bringt. Da, wo es den Kassen durch
die Organisation von Verbänden gelang, eine einheitliche Organi¬
sation des ärztlichen Dienstes zu schaffen, haben sich auch die
Leistungen auf dem Gebiete der Heilbehandlung nicht unwesent¬
lich gebessert.
Im allgemeinen jedoch müssen sich die Kassen und die Ärzte
auf ein vom Gesetz und von der Praxis erzwungenes Minimum so¬
wohl hinsichtlich der Leistungen der Kassen an die Ärzte als
auch hinsichtlich der Leistungen der Kassen und Ärzte an die
Kassenmitglieder beschränken. Der Komplex der Übelstände, wel-
Der Ausbau der Arbeiterversicherung’ in Österreich.
247
eher sich daraus ergibt, konzentriert sich in der sog. Ärztefrage,
deren W esen nicht bloß in dem Mißverhältnis zwischen den Honorar-
• •
anforderungen der Arzte und den Kassenmitteln sondern auch in
der Unzufriedenheit der Kassenmitglieder mit der Behandlung durch
die letzteren besteht. Nebenher gehen auch die Differenzen, die
sich aus den maßgebenden Kompetenzen der Kassenleitungen gegen¬
über den Ärzten ergeben. Alle diese Schwierigkeiten glauben die
• • • •
Arzte durch die Einführung der freien Arzte wähl beseitigen zu können,
von der sie sich sowohl eine materielle Aufbesserung ihres Einkommens
aus dem Titel der Krankenversicherung als auch eine gewisse Un¬
abhängigkeit von den Kassenvorständen versprechen, während die
Kassen grundsätzlich an dem System der beamteten Ärzte festhalten
und es vermeiden, konkrete Vorschläge zur Reform zu machen.
Was nun die Regierung in ihrem Programm zur Beseitigung
dieses Gegensatzes vorschlägt, bedeutet keineswegs die Regelung
der Ärztefrage, wiewohl sie es unternimmt, zwischen den beiden
Interessentengruppen — Ärzten und Kassen — zu vermitteln. An
die materielle Seite der Frage rührt sie nur insofern, als sie sich
vorbehält, im ,, Notfälle“, d. h. offenbar wenn eine Einigung zvischen
Ärzten und Kassenvorständen nicht anders zu erzielen sein sollte,
im Verordnungswege ärztliche Minimal- und Maximaltarife fest¬
zusetzen. Es ist nach den bisherigen Erfahrungen mehr als frag¬
lich, ob es gegebenenfalls der Regierung gelingen würde, trotz der
vorgeschriebenen Bedachtnahme auf die Wünsche beider Inter¬
essengruppen beide zu befriedigen und die Einseitigkeit zu ver¬
meiden. Auch zeigt sich hier eine gewisse Überschätzung des
bureaukratischen Systems, die erfahrungsgemäß auf Selbsttäuschung
beruht. Wenn auch gegen eine Intervention der Regierung in
Streitfällen kaum von irgend einer Seite Einwendungen erhoben
werden dürften, so ist es doch mehr als zweifelhaft, ob sich die
streitenden Parteien der diskretionären Gewalt der Aufsichtsbehörde
vorbehaltlos anvertrauen würden. Im Interesse der Ärzte sowohl
wie der Kassen und nicht zuletzt auch in Berücksichtigung der
durch die behördliche Autorität zu schützenden Interessen der
Kassenmitglieder scheint es deshalb gelegen zu sein, wenn bei der
Festsetzung von ärztlichen Minimal- und Maximaltarifen sowie
überhaupt bei der Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und
Kassen diesen selbst der ihnen gebührende Einfluß voll eingeräumt
werden würde. Es wäre sowohl überflüssig als schädlich, wenn
die Regierung hier eine Verantwortung auf sich laden würde, die
besser von den Interessenten allein getragen wird.
248
Siegmund Kaff.
Xocli mein* dürften sicli die Kassen gegen jene Einschränkung^
ihrer bisherigen Befugnisse aussprechen, die- darin besteht, daß die
Regierung der Aufsichtsbehörde das Recht einräumt, die Bestellung
• •
weiterer Arzte anzuordnen, wenn die Zahl der Kassenärzte nicht
als ausreichend erachtet wird. Woher will die Aufsichtsbehörde
die Kenntnis schöpfen, daß in einem bestimmten Falle der ärzt¬
liche Dienst unzureichend eingerichtet ist? Ein eventueller Kon¬
flikt zwischen Ärzten und Kassen besagt noch nichts. Und es den
Ärzten überlassen, ob sie unter gegebenen Umständen ihren Ver¬
pflichtungen nach wissenschaftlicher Überzeugung nachzukommen
vermögen oder nicht, ist deshalb eine prekäre Sache, weil schlie߬
lich das Urteil darüber, ob die Qualität der ärztlichen Behandlung
genügt, vor allein auch den Kassenmitgliedern zukommt. Deren
Urteil aber gelangt in der Willensäußerung der Kassen Vorstände
zum Ausdruck und kann nicht leicht durch die letzteren gefälscht
werden. Bestimmte Normen lassen sich sonach hinsichtlich der
Regelung des ärztlichen Dienstes und der Festsetzung der ärztlichen
Honorare nicht aufstellen, weil die Bedürfnisse der Kassenmit¬
glieder von Ort zu Ort wechseln und in den einzelnen Fällen da¬
her individualisierend vorgegangen werden muß. Die Möglichkeit
hierzu ist aber der mehr oder minder fernstehenden Aufsichts¬
behörde in den meisten Fällen fast völlig benommen und nur den
Organen der Kassen gegeben, welche vermöge ihrer Tätigkeit und
Funktion in den intimsten Beziehungen zur Kassenmitgliedschaft
stehen und deren Bedürfnisse daher am genauesten kennen müssen.
Aus diesem Grunde scheint es keineswegs zweckmäßig zu sein,
die Kompetenz der Kassenvorstände in diesem Punkte ohne
zwingende Not einzuschränken.
Immer wieder muß es daher wiederholt werden, daß die Ärzte¬
frage zum weitaus größten Teil eine materielle Frage ist und daß
diese nur durch die Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit
der Kassen gelöst werden kann. Zwar wird ein gewisser Gegen¬
satz zwischen den beiden Interessentengruppen immer fortbestehen.
Allein ebenso ausgeschlossen ist es, den Gegensatz aufzuheben, in
welchem das Wesen des Versicherungszwanges zur freien Ärzte¬
wahl steht. Zwang und Freiheit sind eben nicht bloß begrifflich
sondern auch praktisch unvereinbar. Das Interesse der Ärzte
liegt deshalb nicht in einer Einschränkung der Kassenbefugnisse
und des Versicherungszwanges sondern in der planmäßigen Fort¬
entwicklung der sozialen Versicherung, in der zweckbewußten
Organisation des Zusammenwirkens aller Faktoren. Die Aus-
Der Ausbau der Arbeiter Versicherung' in Österreich.
249
Schaltung überflüssiger Regiespesen durch die Beseitigung der
Kassenzersplitterung, die Einbeziehung neuer Kreise von Ver¬
sicherungspflichtigen , die Entlastung der Kassen von Agenden,
Aufgaben und Leistungen, die ihnen heute durch ein mangelhaftes
(besetz und durch die Schwierigkeiten der Verhältnisse aufgebürdet
sind, werden große Mittel freimachen für die zweckmäßige Aus¬
gestaltung des ärztlichen Dienstes, aber auch für die bessere Do¬
tierung desselben.
Weitaus einfacher liegen die Dinge in bezug auf die Bei¬
stellung der Medikamente und therapeutischen Behelfe.
Hier besteht das Problem wesentlich darin, durch Herstellung
einer eigenen Arzneitaxe für die Krankenkassen diese vor einer
übermäßigen Inanspruchnahme zu schützen.
Leider unterläßt es die Regierung vollständig, in dem vor¬
gelegten Programm ihre Absichten in der Arzneifrage anzudeuten.
Die Reserve, die sie sich in diesem Punkte auferlegt, wird nur
daraus erklärlich, daß die Organisation der Kassen und Verbände
künftig gefördert werden soll und daß den Kassenverbänden die
Befugnis eingeräumt wird, mit Ärzten, Apothekern und Kranken¬
häusern gemeinsam Verträge abzuschließen, sowie Apotheken und
Heilanstalten selbst zu errichten. Der Wert dieser Maßregel wird
freilich dadurch beeinträchtigt, daß die Errichtung von Kassen¬
verbänden als eine fakultative erklärt wird und daß man von dem
Drucke der Verhältnisse eine raschere Entwicklung der Verbands¬
organisation erwartet, die teilweise auch die Gegensätze zwischen
den verschiedenen Kassenkategorien selbst überwinden soll.
Die Leistungen der Krankenkassen können nicht bloß teil¬
weise, sondern auch ganz in natura beigestellt werden durch
die Verpflegung in einem öffentlichen Kranken hause. Die
Anordnung hierzu ist nur in bestimmten Fällen (bei Vorhandensein
häuslicher Pflege) an die Zustimmung des Kassenmitgliedes ge¬
bunden. Eine Erweiterung des freien Dispositionsrechtes der
Kassen findet insofern statt, als auch die in häuslicher Pflege be¬
findlichen Kranken selbst gegen ihren Willen in ein Spital ge¬
wiesen werden können, wenn sie sich den Anordnungen des Kassen¬
arztes nicht fügen und so den Genesungsprozeß verzögern. Um
den Kranken zur Folgeleistung zu zwingen, wird der Kasse die
Befugnis eingeräumt, das Krankengeld ganz zu entziehen oder auf
die Hälfte zu reduzieren, wenn das Mitglied aus seinem Arbeits¬
verdienste den Unterhalt für seine Angehörigen bestritten hat.
Darnach wird also den Kassen eine Art Disziplinarrecht gegenüber
250
Siegmund Kaff.
den Kranken eingeräumt, welches unter Umständen auch deren
Angehörige treffen kann. Die Notwendigkeit eines solchen Rechtes
im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit eines möglichst raschen Heil¬
erfolges, der selbstverständlich vor allem auch im Interesse des
Erkrankten gelegen ist, kann wohl nicht geleugnet werden. Allein
es ist doch zu erwägen, daß die Art der Behandlung durch die
fix besoldeten Kassenärzte eher als das System der freien Ärzte-
walil zur Spitalspflege zu drängen geeignet ist und daß insbe¬
sondere dort, wo infolge der — wenn auch nur vorübergehenden
— Überbürdung der Kassenärzte oder durch die Ausdehnung des
Kassensprengels die Kontrolle erschwert ist, leicht die Gefahr ein-
treten kann, daß der Kassenarzt zum Zwecke seiner Entlastung
oder auch die Kasse selbst die Spitalspflege anordnet, ohne daß es
das Verhalten des Kranken oder die Art seiner Erkrankung un¬
bedingt erfordern würde, ja es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß
dort, wo der Einfluß der Kassenmitglieder auf die Verwaltung aus
irgend welchen Gründen ein schwacher ist und bureaukratische
Rücksichten seitens der Aufsichtsbehörde oder finanzpolitische der
an der Erhaltung der Spitalspflege interessierten Gemeindever¬
waltungen vorwalten, gleichfalls eine ungebührliche Begünstigung
der Spitalspflege auf Kosten der häuslichen stattfindet. Es kommt
dazu das weitere Moment, daß nach dem Regierungsprogramm die
Spitalspflege auch ohne Zustimmung der Kasse in Anspruch ge¬
nommen werden kann, so daß also die Kassen auch deshalb mehr
als bisher für die Erhaltung der Krankenanstalten tributpflichtig
gemacht werden können. Endlich ist noch in diesem Zusammen¬
hänge festzuhalten, daß die sog. Teilversicherten — das sind die
in die Versicherung einbezogenen landwirtschaftlichen Arbeiter so¬
wie die häuslichen Dienstboten und Lehrlinge — überhaupt nur
auf die Naturalleistungen Anspruch haben und daß diese, ins¬
besondere die Spitalskosten, demnach in Zukunft absolut und relativ
einen weitaus größeren Teil des Kassenaufwandes erfordern werden.
Da ferner das Krankengeld und zwar im Gegensatz zur bisherigen
Vorschrift nicht bloß bis zur Dauer von 4 Wochen sondern wäh¬
rend der gesamten Zeit der Spitalsbehandlung gezahlt werden soll,
so ergibt sich auch daraus eine gesteigerte Belastung der Kasse
aus dem Titel der Spitalskosten. Dafür sollen freilich die Kassen
von der Leistung des Krankengeldes an den Versicherten und
zwar auch in den wenigen Fällen, in welchen die Spitalspflege
nicht für Rechnung der Kasse erfolgte, vollständig befreit werden.
Diese Einschränkung der jetzt geltenden Ansprüche von im Spitale
Der Ausbau der Arbeiterversicherimg in Österreich.
251
verpflegten Kassenmitgliedern, die vielleicht versicherungstechnisch
•und juristisch, keineswegs aber sozialpolitisch begründet werden
kann, stellt eine einschneidende Änderung dar, welcher große prin¬
zipielle Bedeutung zukommt, Denn sie besagt nicht weniger, als
daß das versicherte Krankengeld kein unbedingter Rechtsanspruch
ist, der bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit fällig wird, sondern
daß auch die Bedürftigkeit vorhanden sein muß, ein Erfordernis,
das bisher in der sozialen Versicherung überflüssig war. Daß sich
künftig der Anspruch nicht ausnahmslos auf die Prämienleistung
gründen soll, daß in das System der Arbeiterversicherung ein
Moment der Armenpflege einbezogen werden soll, bedeutet nun
keineswegs eine Ausgestaltung des sozialen Gedankens der Arbeiter¬
versicherung sondern eine Rückbildung desselben. Aber ist es
denn wahr, daß die Bedürftigkeit des Spitalkranken eine geringere
ist? Die Frage muß bedingungslos verneint werden. In den aller¬
meisten Fällen handelt es sich um ledige Personen, die ohne ver¬
wandtschaftliche Hilfe in der Stadt ihr Brot verdienen müssen
und in der Regel ganz auf sich allein angewiesen sind. Und
diesen soll das restliche Krankengeld nicht ausgefolgt werden ? Die
Abweichung von der bisherigen Gepflogenheit erscheint mit dem
Zwecke der Spitalsbehandlung und mit der ganzen Tendenz der
Krankenversicherung nicht verein barlich. Denn es ist bekannt,
daß viele Spitäler aus naheliegenden Gründen zeitweilig wenigstens
auf die möglichst rasche Evakuierung der Kranken bedacht sein
müssen und daß der Spitalskranke nach seiner Entlassung in
höherem Grade noch als der häuslich verpflegte Kranke einer Art
Nachkur bedarf, wenn die Krankheit längere Zeit hindurch an¬
gedauert hat und dadurch eine größere Schwächung des Organismus
eingetreten ist. Da die vom Programmentwurf vorgesehene Rekon¬
valeszentenpflege bloß als fakultative, von den Versicherten selbst
zu deckende Leistung gedacht ist, kann von einer wirklichen Be¬
einträchtigung der Interessen der Versicherten gesprochen werden,
wenn der Überschuß des Krankengeldes den aus dem Spital Ent¬
lassenen, bzw. der ganze Betrag denjenigen, für welche nicht die
Kasse aufzukommen hatte, vorenthalten werden sollte. Es ist ein
Widerspruch eigener Art, wenn die Regierung die Entziehung des
Krankengeldes in diesen Fällen damit motiviert, daß ja die aus
der häuslichen Krankenpflege Entlassenen gleichfalls keine weitere
Unterstützung ausgefolgt erhalten, obwohl sie sich nicht in einer
günstigeren materiellen Lage befinden als jene. Letzteres voraus¬
gesetzt aber nicht zugegeben, würde logischerweise aus dieser An-
252
Siegmund Kaff,
sicht bloß folgen, daß auch dieser Kategorie von genesenen Kassen¬
mitgliedern als Ersatz der Rekonvaleszentenpflege noch
Krankengeld für 8 oder 14 Tage ausbezahlt werden sollte.
Es kann hier nicht auf die finanzielle Wirkung der erhöhten
Ersatzpflicht der Kasse gegenüber den Spitälern eingegangen
werden. Selbst wenn tatsächlich dadurch, daß die Kasse für die
gesamte Dauer der Spitalspflege, sofern sie nicht die längste Unter¬
stützungsdauer (1 Jahr) überschreitet, aufzukommen hat, die für
den Kranken nachteilige vorzeitige Entlassung aus dem Heilver¬
fahren künftig hintangehalten würde, was freilich im Interesse des
Kranken gelegen erscheint, so tritt doch auf der anderen Seite
durch die Verlängerung der Ersatzpflicht über die bisherigen vier
Wochen eine ganz erhebliche Mehrbelastung der Kasse ein, die
dadurch nicht viel geringer wird, daß in Zukunft die Verpflegungs*
gebühr nur in der Höhe des täglichen Krankengeldes geleistet
werden soll. Es ist ja sicherlich erfreulich, daß die unfruchtbaren
und zwecklosen, oft sogar auch kostspieligen Verwaltungsstreitig¬
keiten hinsichtlich des Spitalkostenersatzes künftig entfallen, weil
das Moment der Zustimmung der Kassen zur Spitalspflege be¬
deutungslos wird. Aber die Hauptsache ist das nicht; das Problem
liegt vielmehr in der Entlastung der Kassen von den Spitals¬
kosten. Gerade sie sollen aber eine Erhöhung erfahren vor allem
durch Verlängerung der Haftung durch Übernahme der Unfälle.
Daß sich der Aufwand für Spitalspflege durch Verbesserung des
kassenärztlichen Dienstes verringern ließe, ist bei dem System der
fix besoldeten Kassenärzte wegen der Kosten nicht gut möglich.
Im Gegenteil tritt, wie erwähnt, unter Umständen die Gefahr einer
Mehrbelastung für die Kasse auf, wenn die Ärzte in Fällen, wo
es der Heilzweck nicht erfordert, Spitalspflege anordnen würden.
Die Mehrbelastung der Kasse aus dem Titel der über die
vier Wochen verlängerten Ersatzpflicht gegenüber den Spitälern
und durch Übernahme der Unfallverletzungen ist demnach kaum
ernstlich zu bestreiten und bedeutet eine prinzipielle Veränderung
in der Natur der Krankenversicherung, die nunmehr in höherem
Ausmaße für Zwecke der Armenpflege herangezogen werden soll.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß künftig die Höhe der
Verpflegungsgebühr für die Kasse bedeutungslos wird.
Die Tendenz einer Entlastung derjenigen Körperschaften, denen
bisher die Erhaltung der Spitäler auferlegt war, tritt noch deut¬
licher in der Bestimmung hervor, daß die den Landwirten und
sonstigen Dienstgebern auferlegte Verpflichtung, für ihr Haus-
Der Ausbau (1er Arbeiterversicheruno’ in Österreich.
253
gesinde im Falle der Erkrankung- die Verpflegung- durch vier
Wochen entweder selbst oder durch ein kSpital besorgen zu lassen,
nach dem Programm vollständig- auf die Kassen übergehen soll.
Nur gegenüber den Gebäranstalten, welche künftig nicht mehr als
Krankenhäuser angesehen werden, entfällt die Ersatzpflicht der
Kassen, es werden daher die in den Gebäranstalten untergebrachten
Wöchnerinnen ihre vierwöchentliche Unterstützung ungeschmälert
erhalten.
Neben den obligatorischen Leistungen der Kassen können
künftighin auch Rekonvaleszenten pflege und A n ge¬
hör igenv er Sicherung sowie andere Leistungen vorgesehen
werden. Handelt es sich um die Verabreichung von außer¬
ordentlichen Unterstützungen, die über das gesetzliche
Maß hinausgehen, oder um die Gewährung von Rekonvaleszenten¬
kuren, so ist ein besonderer Fonds zu errichten. Bei der Ange¬
hörigenversicherung’ können freie ärztliche Behandlung mit Inbe¬
griff des geburtshilflichen Beistandes und Beistellung der not¬
wendigen therapeutischen Behelfe bis zur Dauer eines Jahres an
die mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalte lebenden
Personen verabreicht werden. Auch die Sterbegeldversiche¬
rung für die Ehefrau oder Kinder des Versicherten ist zulässig.
Die für die Kostendeckung der Angehörigenversicherung erforder¬
lichen Zuschläge zu den Beiträgen der Kassenmitglieder fließen in
den Krankenkassenfonds. Infolge der Übernahme der Betriebs¬
unfälle sowie der steigenden Bedeutung der pl^sikalischen Heil¬
methoden wird künftig die Rekonvaleszentenpflege einen wichtigen
Teil der Kassenleistungen ausmachen. Daneben dürfte die Ange¬
hörigenversicherung wegen der wachsenden Kostspieligkeit der
ärztlichen Behandlung zurückstehen. Heute ist die Bestellung
ärztlicher Hilfe und Medikamente an Familienangehörige vorzugs¬
weise bei Betriebskassen eingeführt, wo auf Naturalleistungen mehr
Gewicht gelegt wird. Daß aber die Geldleistungen die wichtigeren
sind, beweist der erhebliche Prozentsatz von nichtversicherten Per¬
sonen bei den freien Vereins- und den Bezirkskassen, die auch
nach dem Programm allein berechtigt sind, nicht versicherte Per¬
sonen zur freiwilligen Krankenversicherung zuzulassen.
Das gemischte Unterstützungssystem der Verabreichung von
Geld- und Naturalleistungen ist aber nicht bloß in der Kranken¬
versicherung bei Fällen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit son¬
dern auch in der Invaliditäts- und Unfallversicherung bei dauernder
Erwerbsunfähigkeit vorgesehen. Die Reichsinvalidenkasse
254
Siegmund Kaff,
kann Aufwendungen machen und zwar bezüglich der Versicherten,
um drohender Invalidität vorzubeugen, bezüglich der Kenten¬
empfänger, um deren Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen. Zu
diesem Zwecke kann der Versicherte in einer Heilanstalt unter¬
gebracht werden und zwar soweit es sich um Zeiträume handelt,
in welchen die Krankenkasse unterstützungspflichtig ist, unter den¬
selben Voraussetzungen, unter welchen die Kasse berechtigt er¬
scheint, Spitalspflege anzuordnen, im übrigen nur mit Zustimmung
des Versicherten. Während der Dauer der Heilstättenpflege ist
den Angehörigen des Versicherten eine Unterstützung mindestens
in der Höhe des halben Krankengeldes zu gewähren, welches der
Lohnklasse entspricht, in die der Versicherte eingereiht ist. Er¬
folgt die Unterbringung des Versicherten in einer Heilanstalt auf
Anordnung der Invalidenkasse, so ist die Krankenkasse von jeder
Unterstützungspflicht befreit. Die Verpflegung von Rentenempfängern
im Krankenhause, beziehungsweise in der Heilanstalt erfolgt, für
Rechnung ihrer Rente, jedoch haben Angehörige, zu deren Lebens¬
unterhalt der Rentenempfänger wesentlich beiträgt, Anspruch auf
eine Unterstützung in der Höhe der Invalidenrente, die keines¬
wegs den Grundbetrag der dritten Lolmklasse übersteigen darf.
An Stelle der Rentenleistung kann mit Zustimmung des Bezugs¬
berechtigten freie Verpflegung in einem Versorgungshause oder in
einer ähnlichen Anstalt treten. Ebenso ist es mit Zustimmung
des Bezugsberechtigten zulässig, demselben anderweitig den Lebens¬
unterhalt ganz oder teilweise auf Kosten der Rente sicherzustellen.
Trunksüchtigen können auf Grund gesetzlicher Bestimmungen oder
behördlicher Maßnahmen Beschränkungen auferlegt werden, ohne
daß ihre Zustimmung erforderlich wäre.
Analoge Normen berechtigen auch die U n fall v er Siche¬
rungsanstalten zur Einflußnahme auf das Heilverfahren.
Grundsätzlich sind die Versicherungsanstalten in jedem Stadium
des Heilprozesses befugt, der Krankenkasse, welcher der Verletzte
angehört, beziehungsweise dem Betriebsunternehmer, der eine nicht
vollversicherte oder eine von der Krankenversicherung überhaupt
befreite Person beschäftigt, die Krankenfürsorge abzunehmen. Die
Unfallversicherungsanstalt übernimmt in solchen Fällen alle Pflichten
und Rechte, die das Gesetz den Krankenkassen hinsichtlich der
Unterstützung und der Spitalspflege auferlegt. Ist das Heilver¬
fahren abgeschlossen, so kann die weitere Verpflegung in einer
Heilanstalt für Rechnung der Unfallrente nur mit Zustimmung des
Verletzten erfolgen. Hingegen ist diese Zustimmung nicht er-
Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
255
forderlich, wenn der Verletzte die Heilung vorsätzlich verhindert
oder verzögert. Wenn zur Beurteilung des Rechtsanspruches auf
Unfallrente spitalsärztliche Beobachtung notwendig ist, so kann
der Verletzte für die Dauer des Erfordernisses in ein Krankenhaus
überwiesen werden. Diese Kosten bilden dann einen Teil der Un-
fallserhebungskosten der Versicherungsanstalt. So wie die In¬
validenkasse können demnach auch die Unfallversicherungsan¬
stalten mit Zustimmung des Versicherten Heilstättenpflege zu dem
Zwecke anordnen, um drohender Invalidität vorzubeugen. Im
übrigen aber bezweckt die Heilbehandlung von Unfallverletzten
ebenso wie die Krankenhauspflege von Krankenkassenmitgliedern
die Wiederherstellung der Erwerbs-, beziehungsweise der Arbeits¬
fähigkeit.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Natural¬
leistungen und damit die Dienste und Aufgaben der Ärzte in
Zukunft eine erhöhteBedeutu n g erlangen sollen. Die finanzielle
Wirkung dieser Tendenz läßt sich natürlich vorläufig noch nicht
absehen. Nach den bisherigen Schwierigkeiten zu schließen, die
insbesondere die Beistellung der freien ärztlichen Hilfe verursacht
und die künftig sich noch steigern dürfte, wäre es übrigens be¬
greiflich, wenn sich innerhalb der Krankenkassen das Bestreben
geltend machen würde, an Stelle der freien ärztlichen Hilfe unter
gewissen Voraussetzungen ein Geldäquivalent setzen zu können.
• •
Es ist bezeichnend, daß sich die Stellung der Arzte keineswegs
gegen die Naturalleistungen richtet ; vielmehr sehen die Ärzte sehr
wohl ein, daß die obligatorische Beistellung der ärztlichen Hilfe
durch die Krankenkassen auch im Interesse der Ärzte selbst ge¬
legen ist, wenigstens soweit Versicherte mit Einkünften bis zu
2400 Kr. jährlich in Betracht kommen. Wogegen sich ihre Ein¬
wendungen kehren, ist die Höhe des ärztlichen Honorars und die
Art der Berechnung desselben. Die Ärzte übersehen nur, daß ihre
Stellung in der Krankenversicherung — so prekär sie auch sein
mag — noch immer derjenigen vorzuziehen ist, die sie zum großen
Teile vordem, ohne den Versicherungszwang, eingenommen haben,
ganz abgesehen davon, daß es sich jetzt um die Anpassung an eine
unaufhaltsame Entwicklung handelt. Wenn dies damals nicht so
sehr zum Ausdruck kam, so deshalb, weil der Bedarf an Ärzten
vor Einführung der staatlichen Versicherung ein weitaus schwächerer
war und erst seit dem Inkrafttreten der Versicherungsgesetze an
Umfang und Intensität zunahm. Das würde sich auch zeigen,
wenn — wie gesagt — die ärztliche Hilfe der Krankenkassen
256
Siegmund Kaff,
durch Geldleistungen ersetzt werden würde und die Kassen sich
auf die Bestellung einiger weniger Kontrollärzte beschränken
könnten, obzwar es gerade die obligatorische Versicherung ist,
welche den Bedarf an ärztlicher Hilfe gesteigert hat.
So wichtig nun die Naturalleistungen an sich sind, ebenso ver¬
fehlt erscheint es, dieselben zum ausschließlichen Zweck der Ver¬
sicherung zu machen. Wenn die Einbeziehung der landwirt¬
schaftlichen Dienstboten und des Hausgesindes nur
unter dem Gesichtswinkel erfolgen soll, diesen versicherungsbedürf¬
tigen Personen die Krankenfürsorge, auf welche sie bereits nach
den Gesindeordnungen Anspruch haben, für sie — statt wie bisher
bei den Dienstgebern — bei der Krankenkasse sicherzustellen, dann
mag dies immerhin einen Vorteil für die Versicherten, jedenfalls
für die Dienstgeber, keineswegs aber für die Krankenkassen be¬
deuten. Ja es muß die Befürchtung ausgesprochen werden, daß
die Beschränkung auf die Naturalleistungen dazu mißbraacht
werden könnte, um die agrarischen Interessenten auf Kosten der
städtischen Dienstgeber zu entlasten. Diese Entlastung könnte
um so unauffälliger vor sich gehen, als naturgemäß die Kranken¬
fürsorge für die teilversicherten ländlichen und städtischen Dienst¬
boten fast ausschließlich in der Spitalsverpflegung bestehen und
die Erhaltung der Spitäler in Zukunft mehr als bisher den
Krankenkassen zufallen wird. Hierbei wird leicht eine Überwälzung
der bisher den Landwirten obliegenden Krankenfürsorge für die
Allgemeinheit eintreten können, insofern als die Kommunal- und
Landeszuschläge, aus welchen teilweise die Erhaltungskosten der
Spitäler bestritten werden, mehr die städtische als die ländliche
Bevölkerung treffen. Aber von allen diesen Befürchtungen abge¬
sehen, gilt vor allem die Frage, ob durch die Teilversicherung der
angestrebte Zweck, die soziale Lage — insbesondere des landwirt¬
schaftlichen Proletariats — zu heben, erreicht wird. Es ist heute ein
offenes Geheimnis, daß der große Abstand zwischen dem Standard of
life der industriellen Arbeiter und jenem der in der agrarischen
Produktion beschäftigten Personen die wesentlichste Ursache ins¬
besondere der Arbeiterflucht vom Lande und des unaufhaltsamen
Zuges nach der Stadt ist. Der Mangel an landwirtschaftlichen
Arbeitern kann nur durch die vollständige Gleichstellung des
agrarischen mit dem industriellen Proletariat behoben werden.
Wenn schon hinsichtlich der Arbeiterschutzgesetzgebung und des
Arbeiterrechtes eine Ausnahme zu ungunsten der landwirtschaft¬
lichen Arbeiter vorhanden ist, so erklärt sich dies aus der über-
Der Ausbau der Arbeiterversicheruirg in Österreich.
257
vagenden Machtstellung- der Agrarier, die sich weder in bezug’ auf
Koalitionsrechte noch in bezug auf den Arbeitsvertrag Einschrän¬
kungen gefallen lassen will. Anders aber liegen die Dinge in der
Arbeiterversicherung, wo es sich nicht um das Herrenrecht der
Landwirte sondern nur darum handelt, der Wanderbewegung des
ländlichen Proletariats, wodurch die vielbeklagte Leutenot entsteht
und indirekt die Produktionskosten in der Landwirtschaft ver¬
teuert werden, einen wirksamen Hemmschuh anzulegen. Es ist
nun für jeden Kenner der Verhältnisse klar, daß durch die Teil¬
versicherung das vorhin gekennzeichnete Ziel nicht erreicht werden
wird und daß die überschüssige d. h. die nicht im ständigen Dienst
des Landwirts stehende Arbeiterschaft nach wie vor industrielle
Arbeitsplätze suchen wird, die nicht nur höhere Löhne sondern
auch bessere Arbeitsbedingungen, Koalitionsfreiheit und Versiche¬
rung für den Fall der Arbeitsunfähigkeit gewährleisten.
Die Krankengeld Versicherung soll aber nicht bloß bei den
Arbeitern der Landwirtschaft und dem städtischen Hausgesinde
sondern bei sämtlichen versicherungsbedürftigen Personen, als Lehr¬
lingen, Volontären und anderen Unmündigen, die wegen noch nicht
beendigter Ausbildung einen niedrigen Arbeitsverdienst oder über¬
haupt keinen Barlohn beziehen, unterbleiben. Und doch ist sie
gerade das Wichtigste, sind die Geldleistungen das eigentliche
Charakteristische, der Hauptzweck der sozialen Versicherung. Wie
verhält sich aber in diesem entscheidenden Punkte das Regierungs¬
programm ? Es drückt die Geldleistungen herab. Weder die
Wöchnerinnen- noch die eigentliche Krankengeldunterstützung er¬
fährt eine Erhöhung. Und doch wäre eine solche dringend ge¬
boten, soll der Heilprozeß rasch und vollständig zu Ende geführt
und der Zweck der ärztlichen Hilfe wirklich erreicht werden.
Der Wöchnerinnenschutz kann nur wirksam werden, wenn eine
sechs wöchentliche Fernhaltung von jeder gewerblichen Arbeit ge¬
sichert wird; dies aber ist nur möglich, wenn die Wöchnerinnen¬
unterstützung, wenn schon nicht erhöht, so doch von vier auf sechs
Wochen verlängert wird. Desgleichen wäre hinsichtlich der Sterbe¬
geldversicherung dem heute schon vielfach empfundenen Bedürfnisse
Rechnung zu tragen, daß der Begräbniskostenbeitrag auch nach Er¬
schöpfung des Anspruches auf Krankenunterstützung zu gewähren wäre.
Dafür bringt das Programm eine wichtige Neuerung in der
FixierungderKrankengelder, welche für sämtliche Sprengel
der Krankenkasse einheitlich festgesetzt werden. Und zwar sollen
dieselben betragen in der
Zeitschrift für Soziale Medizin. II.
17
258
Siegmund Kaff,
Lohnklasse 1
40 h
6
4
Die gewaltige Differenz, die sich zwischen der 1. und 6. Lohn¬
klasse bemerkbar macht und darin zum Ausdruck kommt, daß das
Krankengeld in der 6. Klasse zehnmal so groß ist als in der
1. Klasse, deutet die großen Unterschiede an, die bei der Ver¬
sicherung zu berücksichtigen sind. Das heute übliche Verfahren,
die Krankengelder nach dem für jede Arbeiterkategorie behördlich
festgesetzten, in jedem Gerichtsbezirk üblichen Taglohn zu be¬
messen, hat einen wenn auch nur unvollständigen Einblick in die
große Mannigfaltigkeit der in Österreich bestehenden Lohnstufen
gewährt. Die so gewonnenen Taglohnsätze, welche bloß rohe
Durchschnitte der wirklichen Löhne bedeuten, lassen erkennen,
daß nicht allein zwischen Stadt und Land, zwischen Osten und
Westen Österreichs und zwischen den einzelnen Gewerben und
Berufen sondern auch innerhalb derselben Industriegruppen, ja so¬
gar für die Arbeiter derselben Branchen innerhalb eines be¬
stimmten Bezirkes oft ganz erhebliche Unterschiede sich ergeben.
Nun hat das System der Lohnklassen sicherlich zahlreiche Vorteile
für sich, Vorteile, die sich wesentlich in der administrativen Ge-
bahrung und leichten Handhabung bemerkbar machen. Es soll
auch nicht der extreme Standpunkt vertreten werden, daß in der
Krankenversicherung der tatsächliche Arbeitsverdienst die Grund¬
lage für die Bemessung des Krankengeldes abgeben soll. Tatsache
aber ist, daß der gegenwärtige Zustand in der Krankenversicherung
diesem Ideale weitaus näherkommt und sich immer mehr nähert
und daß daher die Beschränkung auf sechs Lohnklassen ein ganz
ungerechtfertigter Sprung ist, der abgesehen davon, daß dadurch
die Arbeiterschaft zu Schaden kommt, auch keineswegs durch die
Notwendigkeit der Vereinfachung administrativer Geschäfte be¬
gründet werden kann.
Soll daher das System der Lohnklassen den Kassen wie den
Versicherten annehmbar erscheinen, so müssen zwischen der nied¬
rigsten und höchsten Lohnklasse, die das Programm fixiert, zahl-
reiche Übergänge geschaffen werden und — was nicht minder
wichtig ist — es wäre, da die unterste Einkommensgrenze für
die Versicherungspflichtigen mit 2400 Kr. ohnedies zu niedrig
angesetzt ist, die Zahl der Lohnklassen um einige ent-
Der Ausbau der Arbeiter Versicherung' in Österreich. 259
sprechend höher fixierte Lohnsätze zu vermehren. In der Kranken¬
versicherung müssen die zahlreichen Übergänge, die das Lohn¬
niveau der österreichischen Arbeiter aufweist, weitaus mehr be¬
rücksichtigt werden , als dies durch das Programm geschieht.
Selbst mit einer Verdreifachung der Lohnklassen wäre dem tat¬
sächlichen Bedürfnisse nicht genügend Rechnung getragen, und es
könnte daher eine Abhilfe nur dadurch platzgreifen, daß Lohn¬
sprengel geschaffen werden, die sich mit den Kassensprengeln
selbst möglichst zu decken hätten. Auch wäre die Versicherung
in einer höheren Lohnklasse als der erforderlichen ausdrücklich als
zulässig zu erklären.
Wie in der Krankenversicherung, so erfährt auch in der Un¬
fallversicherung die Grundlage für die Berechnung der
Entschädigungen eine vollständige Veränderung. Der Be¬
seitigung des bis jetzt üblichen Taglohnes in der Krankenver¬
sicherung folgt die Beseitigung des Jahresarbeitsverdienstes in der
Unfallversicherung. Die Grundlage für die Rentenbemessung bildet
das tägliche Krankengeld, welches mit 300 multipliziert die jähr¬
liche Vollrente ergibt. Da von jeder Lohnklasse nur der mittlere
Lohnsatz in Betracht kommt, so bleiben alle Löhne, die sich über
diesen mittleren Lohnsatz erheben, außerhalb der Berechnung. Da
andererseits die unterhalb des mittleren Lohnsatzes befindlichen
Renten eine Steigerung erfahren, könnte man sich mit der einheit¬
lichen Rechnungsgrundlage für Krankengelder und Unfallrenten
befreunden, wenn damit wirklich eine Vereinfachung und Er¬
leichterung in der Durchführung des Gesetzes geschaffen werden
würde. Allein die Festlegung des Krankengeldes als Grundlage
für die Rentenbemessung wird durchaus nicht aus bloß administrativ-
technischen Gründen vorgenommen, vielmehr handelt es sich dabei
um einen fiskalischen Zweck: die Herabdrückung des Rentenetats
der Anstalten. Zu dieser Vermutung führt auch die Tatsache, daß
künftig die Renten für teilweise Erwerbsunfähigkeit bloß in fünf
Kategorien nach dem Grade der Erwerbsunfähigkeit abgestuft
werden sollen. Die Regierung entspricht damit einem Wunsche
der Anstalten, die so eine Einschränkung der Sach verständige n-
Tätigkeit und in weiterer Folge auch eine Entlastung der An¬
stalten herbeizuführen beabsichtigt. Die Versicherten jedoch per-
horreszieren jede Art von Rentenschematisierung nicht bloß für
die qualifizierten sondern auch für die unqualifizierten Arbeiter;
sie erblicken darin nur ein Mittel zu dem Zwecke, um Ersparnisse
zu erzielen und die Unternehmer zu entlasten.
17*
260 Siegmund Kaff, Der Ausbau der Arbeiterversicherung in Österreich.
Die Leistungen der In validitätsv er Sicherung sind
Renten für die Versicherten und Kapitalsabfertigungen für ihre
Hinterbliebenen. An Stelle der Renten kann, wie erwähnt, die Ver¬
pflegung in einer Versorgungsanstalt treten. Die Renten setzen
sich aus Grundbeträgen und Steigerungsraten zusammen. Die
Karenz für die Invaliditätsrente beträgt 200, die für die Alters¬
rente 1200 Beitragswochen. Bloß für die Kapitalsabfertigung der
Witwen und Waisen genügt schon eine Beitragsleistung von 40
Wochen. Vom medizinischen Standpunkte wichtig ist, daß die
Altersrente vom 65. Lebensjahre an gewährt werden kann und
daß die Invalidität dann als eingetreten gilt, wenn der Versicherte
durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Lohn¬
arbeit, die ihm unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines
bisherigen Berufes billigerweise zugemutet werden kann, nie mehr
3/;> des Verdienstes erzielt, den körperlich und geistig gesunde Per¬
sonen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in der gleichen
Gegend zu verdienen pflegen. Die Zuerkennung der Renten er¬
folgt durch Kommissionen, denen auch Ärzte angehören.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Frage zu untersuchen,
ob die Dauer der Karenzfristen und die Höhe der Leistungen den
sozialhygienischen Anforderungen entsprechen; es ist dies auch
überflüssig, denn man weiß ja, daß lediglich fiskalische und finanz¬
politische Gesichtspunkte maßgebend sind. Um so heikler, um so
komplizierter und großartiger werden sich künftig die Aufgaben
der Ärzte in der Arbeiterversicherung gestalten, um so höher wird
ihr Einfluß sein auf das Wohl und Wehe nicht nur der Millionen
Versicherter, sondern auch ihrer Familien und der öffentlichen Ver-
• •
Sicherungskorporationen, innerhalb deren Organisation die Arzte
eine bedeutungsvollere Rolle als bisher einzunehmen berufen sind.
Stimmen aus den Grenzgebieten der Medizin
und Volkswirtschaft.
Es ist eine dringliche Forderung der Sozialen Hygiene, dal.)
die Welirfähigkeitsstatistik so ausgestaltet wird, daß sie
als ein Gradmesser der Volksgesundheit und als eine Darstellung
des Status praesens der biologischen Qualitäten der gesamten Nation
angesehen werden kann. Wieweit sie gegenwärtig noch davon
entfernt ist, dafür liefern folgende Äußerungen des Münchener
Nationalökonomen L. Brentano,1) die auch dem Hygieniker zu
denken geben, den Beweis: „Während des Streites um den Zoll¬
tarif wurde immer und immer wieder betont, daß die Wehrkraft
Deutschlands bedroht sei, wenn nicht durch hohe Agrarzölle der
fortschreitenden Industrialisierung Deutschlands Einhalt geschehe.
Am 9. März 1892 behauptete Professor Sering im deutschen Land¬
wirtschaftsrat, daß die „Industriestädte im Verhältnisse zu ihrer Be¬
völkerung weniger als ein Drittel so viel waffenfähige Männer stellen
als die rein ländlichen Distrikte“. Das Gerede von einer um 200Proz.
höheren Tauglichkeit der landwirtschaftlichen Wehrpflichtigen wurde
fortan ein beliebtes Argument im Kampfe um höhere Getreidezölle, und
selbst Graf Posadowsky hat sich auf die Ergebnisse der Heeres¬
ergänzungsstatistik berufen, um an der Hand der Tauglichkeits¬
zittern die Unentbehrlichkeit höherer Getreidezölle zu beweisen.
Als ich das Unhaltbare dieser Behauptungen nach wies, wurde ich
von dem gesamten Agrariertum bald wie ein Verbrecher, bald wie
ein Monomane behandelt. In Naumanns „Patria“ für 1906 habe
ich über den ganzen „Streit über die Grundlage der deutschen
Wehrkraft“ kritisch berichtet. Ich habe keinen Anlaß, darauf zu-
l) Berliner Tageblatt vom 23. Februar 1907.
262 Stimmen ans den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft.
rückzukommen, und möchte nur dem norddeutschen Leser mitteilen,
daß die soeben veröffentlichte bayerische Heeresergänzungsstatistik,
die einzige, die bisher den Beruf der Eltern der Rekruten berück¬
sichtigt, die überraschenden Aufschlüsse, welche schon die Er¬
hebungen für die Jahre 1902 und 1903 gegeben hatten, auch für
das Jahr 1904 bestätigt.1) Man hat von agrarischer Seite nämlich
stets behauptet, wenn die nicht überwiegend agrarischen Gegenden
heute die größere Rekrutenzahl lieferten, so dankten sie dies nur
der Zuwanderung von der Landwirtschaft zu den anderen Berufs¬
arten. Nun gehörten im Jahre 1882 noch 50,89 Proz. der baye¬
rischen Bevölkerung der Landwirtschaft an. Danach hätte also in
den Jahren 1902, 1903 und 1904 mehr als die Hälfte der bayerischen
Rekruten von landwirtschaftlich tätigen Eltern abstammen müssen.
Statt dessen stammten
im Jahre
1902
1903
1904
von landwirtschaftlich
tätigen Eltern
14 949
14 782
14 539
von anderweitig
tätigen Eltern
17 582
15 293
15 758
Summa 44 270
48 633
In den drei Jahren 1902/04 wurden in Bayern also 92 903 Rekruten
eingestellt. Nach der Berufsverteilung ihrer Eltern zur Zeit ihrer
Geburt hätten davon 47 278 von landwirtschaftlich tätigen und nur
45625 von anderweitig tätigen Eltern abstammen müssen. Weit
entfernt, daß jene agrarische Behauptung ihre Bestätigung fände,
ist die Landwirtschaft um 3008 hinter dem, was von ihr an Re¬
kruten zu erwarten war, zurückgeblieben. Die nicht landwirt¬
schaftliche Bevölkerung Bayerns war in dem, was sie an Re¬
kruten zur Wehrkraft des Reiches geleistet hat, der landwirtschaft¬
lichen überlegen. In der „Nation“ vom 10. März 1906 habe
ich schon gezeigt, daß der Fehlbetrag der Landwirtschaft nicht
auf solche bayerische Landesteile beschränkt ist, die sich durch
besondere Rasseeigentümlichkeiten und örtliche Verhältnisse von
anderen unterscheiden. Die folgende Tabelle zeigt, daß auch die
neueste Heeresergänzungsstatistik dies bestätigt.
Hätte Fürst Bülow nicht die Erhebung über den Beruf der
Eltern der Rekruten als staatsgefährlich verweigert, so wüßten wir
nicht nur für Bayern sondern auch für das ganze Reich Bescheid.
3) Vgl. Zeitschrift des kgl. bayerischen statistischen Bureaus, Jg. 38, S. 249.
Stimmen aus den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft. 263
Es betrug 1882 die
landwirtschaftl. Be-
Von den eingestellten Rekruten stammten von
landwirtschaftlich tätigen Eltern
plus od.
minus
, - - - - Ö - -
zenten der Gesamt-
1902
1903
1904
1902-
-1904
bis
bevülkeran«
; in
absol.
Ol
Io
absol.
0/
Io
absol.
Ol
Io
absol.
Ol
Io
1904
Oberbayern
44.63
2719
42,26
2657
49,62
2311
46,24
7687
45,79
+1,16
Niederbayern
62,38
1824
62,72
2380
64,22
2385
64,52
6589
63,87
+1,49
Pfalz
46.63
2054
39,09
1586
38,83
1483
33,81
5123
37,32
— 9,31
Oberpfalz
57,73
1231
51,55
1491
52,85
1680
53,86
4402
52,85
— 4,88
Oberfranken
47,45
1518
41,95
1481
38,34
1514
42,79
4513
41,05
— 6,40
Mittelfranken
43,02
1591
37,46
1437
41,96
1398
40,06
4426
39,66
-3,36
'Unterfranken
56.17
1884
50,83
1881
51,09
1975
50,01
5740
50,63
—5,54
Schwaben
53,47
2128
53,54
1869
59,14
1793
57,37
5790
56,53
+3,06
Königreich
50.89
14949
45,95
14782
49,15
14539
47,98
44270
47,65
—3,24
Daß dieser nicht im Sinne der Agrarier ansfallen dürfte, zeigt,
daß selbst einer meiner heftigsten Gegner. Professor Ballod so¬
eben in Schmollers Jahrbuch 1907, Seite 385 eingeräumt hat. daß
„die Verhältnisse sich mit jedem Jahre mehr zugunsten der in¬
dustriefreundlichen Auffassung verschieben“ und für 1902/05 nicht
mehr behauptet werden könne, daß die Mehrzahl, mindestens aber
die Hälfte aller Rekruten aus der Landwirtschaft stammen. Würde
eine Erhebung für das ganze Reich korrekt durchgeführt, so bin ich
überzeugt, daß meine Behauptung, nur mehr ungefähr ein Drittel der
als tauglich befundenen Abgefertigten kämen aus der Landwirtschaft,
etwa zwei Drittel aus anderweitigen Beschäftigungen, volle Bestäti¬
gung finden würde. Nun hat der Reichskanzler schließlich doch
den Einwand der Staatsgefährlichkeit fallen lassen, und es sind
im Jahre 1906 auf Veranlassung des Reichsamts des Inneren Er¬
hebungen veranlaßt worden, um auch für das preußische Kon¬
tingent die Abstammung der Rekruten zu ermitteln. Auch für das
sächsische und württembergische Kontingent sollen solche Er¬
hebungen stattfinden. Etwas auffallend ist dabei, daß die gesamte
Verarbeitung — auch für Bayern, Sachsen, Württemberg — weder
dem kaiserlichen statistischen Reichsamt noch den betreffenden
Landesämtern sondern dem preußischen statistischen Landesamt
übertragen worden ist. Da sitzen allerdings Herren, die sich bisher
am zähesten dagegen gesträubt haben, die Veränderungen in der
Zusammensetzung der deutschen Wehrkraft, wie sie sich als natur¬
gemäße Folge der veränderten Berufsgliederung ergeben, anzuer¬
kennen. Allein davon abgesehen, dürfte die ganze Art der Er¬
hebung, wie sie angeordnet ist, nicht geeignet sein, die Entschei¬
dung der Frage nach dem Einfluß des Berufes auf die Tauglichkeit
rgend zu fördern. Es ist nämlich angeordnet, daß die Erhebungen
264 Stimmen aus den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft.
über die Abstammung’ der Rekruten nicht etwa wie in Bayern bei
der Aushebung’ sondern bei den bereits eingestellten Mannschaften
vorgenommen werden soll. Auf diese Weise läßt sich zwar die
tatsächliche Zusammensetzung von Heer und Marine feststellen,
aber alle die Tauglichen, die wegen bürgerlicher Verhältnisse oder
als Überzählige nicht eingestellt worden sind, bleiben dabei außer
Betracht. Die Zahl der so nicht Eingestellten betrug für Heer
und Marine im Jahre 1904 nicht weniger als 14185 auf 286 748.
das heißt nahezu 5 Proz., der an sich Tauglichen. Für die Frage
der an sich Tauglichen muß eine derartige Erhebung völlig irre¬
führende Ergebnisse bieten. Einen drastischen Beleg dafür bieten
die Erfahrungen, die ich bei Ausarbeitung meines in der „Patria“
veröffentlichten Aufsatzes bezüglich der Tauglichkeitsziffern von
München und Nürnberg gemacht habe. Ich fand für das Jahr
1902 für München A eine Tauglichkeitsziffer von 57,30 Proz., für
München B eine von nur 49,44 Proz., für Nürnberg A eine von
59,51 Proz., für Nürnberg B nur von 41,52 Prozent. Mein erster
Gedanke war, daß es sich in beiden Städten bei B um verwahr¬
loste Viertel handle. Allein auf Erkundigung wurde mir mitgeteilt,
bei beiden Städten umfaßten die Aushebungsbezirke A die Wehr¬
pflichtigen mit den Anfangsbuchstaben A bis K, die Bezirke B der
von L bis Z. Da man am Beginn des Aushebungsgeschäfts das
Verhältnis des Vorrats zum Bedarf nicht zu überblicken vermag,
wird der Arzt, um dem Bedarf unter allen Umständen zu genügen,
gar oft in die Zwangslage versetzt, im Verlauf der Aushebung den
Maßstab seiner Beurteilung zu verschieben. So kam es, daß mehr
Träger von Namen, die mit A bis K angehen, eingestellt wurden
als Träger von Namen, die mit L bis Z beginnen. Unter den
letzteren fanden sich aber wahrscheinlich ebensoviel Taugliche
wie unter den ersteren. Diese Einwirkung des Verhältnisses von
Bedarf und Vorrat, macht sich, wie ich in der „Nation“ vom
10. März 1906 ziffernmäßig dargetan habe, besonders geltend je
nach der Dichtigkeit der Bevölkerung der verschiedenen Landes¬
teile. Je größer die Zahl der Tauglichen ist im Verhältnis zur
Zahl der Rekruten, die notwendig eingestellt werden müssen, um
die Cadres zu füllen, desto größer ist auch die Zahl der wegen
• •
bürgerlicher Verhältnisse oder als Überzählige dem Landsturm und
den Ersatzreserven überwiesenen. Bei der Erhebung der Herkunft
der Soldaten bei der Truppe, wie sie angeordnet worden ist.
werden die dünner bevölkerten agrarischen Gegenden einen größeren,
die dichter bevölkerten industriellen Gegenden einen geringeren
Stimmen ans den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft. 265
Prozentsatz von Truppen • aufweisen, als ihnen wirklich zukommt.
Das Ergebnis wird ein falsches Bild sein.
Die wirkliche Taugdichkeitsziffer ist aber von der größten Be¬
deutung nicht nur in militärischer Beziehung sondern mit Rück¬
sicht auf die gesamte Volkswohlfahrt. Unser gesamtes
Leben ist in der lebhaftesten Umgestaltung begriffen. Neue Be¬
rufsverhältnisse, neue Arbeitsbedingungen, neue Wohnverhältnisse,
neue Erziehungsweisen, neue Erholungen sind an die Stelle der
• •
alten getreten, und Tag für Tag treten neue Änderungen ein und
werden die Änderungen größer. Im Anschluß daran ist die Volks-
hygiene in den Vordergrund getreten. Aber wie können wir zu
richtigen Vorbeugungsmitteln ein tretender Verschlechterungen ge¬
langen, so lange unsere Methoden zur Feststellung des Übels,
seiner Ausbreitung und seiner Ursachen so entsetzlich mangelhafte
sind. Schon vor Jahren hat der Münchener Hygieniker, Ober¬
medizinalrat Professor Dr. Grub er in seiner Schrift „Schulärzte“,
München 1905, die Notwendigkeit betont, den Gesundheitszustand
aller Schüler beim ersten Eintritt in die Schule festzustellen und
bis zum endgültigen Austritt fortzuführen. Der Lehrer hätte dann
hinzuzufügen den Beruf der Eltern, ihre Wohn weise, ihre wirt¬
schaftlichen Verhältnisse, soweit sie ihm zur Kenntnis kommen.
Bei der Gestellung zur Leistung der Wehrpflicht brächte der Wehr¬
pflichtige dieses Zeugnis mit. Es würde dem Arzt das Urteil über
den physischen Wert des Rekruten erleichtern, während der flüch¬
tigen Besichtigung, wie sie heute bei der Gestellung der Wehr¬
pflichtigen stattfindet, eine höhere Bedeutung nicht zukommt.
Außerdem wäre bei dieser Gelegenheit festzustellen, was der Wehr¬
pflichtige in der Zeit zwischen der Entlassung aus der Schule und
seiner Stellung zum Heeresdienst getrieben und wo er sich auf¬
gehalten hat, und seine Körperbeschaffenheit wäre aufs neue fest¬
zustellen. Das letztere dann wieder nach Ableistung der Wehr¬
pflicht durch den Militärarzt. Endlich ließe sich der Soldat bei
seinem Übergang zur Landwehr unter Feststellung von Beruf und
Wohnort einer Prüfung unterwerfen. Erhalte dann ein zentrales
Amt diese Materialien, so wären wir imstande, nicht nur zuverläs¬
sige Aufschlüsse über die Einwirkung der verschiedenen Berufe,
des Wohnorts, der Rasse zu geben, sondern dann erst könnten
auch wirksame Mittel zur Behebung von Mißständen in Angriff
genommen werden. Dann würde auch klar werden, warum rein-
agrarisclie Gegenden wie Niederbayern, die Oberpfalz und andere
so schlechte Tauglichkeitsziffern aufweisen, und eine energische
266 Stimmen ans den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft.
Wohlfahrtspflege auch auf dem Lande könnte mit Aussicht auf
Erfolg stattfinden.
In England hat eine aus Vertretern der verschiedenen
Ministerien zusammengesetzte Kommission schon im Jahre 1904
die Einsetzung eines solchen anthropometrischen Amtes gefordert,
Deutsche Ärzte, wie A. Grotjahn, haben das gleiche für
Deutschland angeregt. In der Tat wäre bei uns, wo der Staat
den Menschen von cfer Wiege bis zum Grabe wiederholt in die
Hand bekommt, — zuerst vermöge des Impfzwanges, dann in der
Schule, dann bei Leistung der Dienstpflicht, viel später wieder als
Landwehrmann — die Beschaffung des Materials für ein derartiges
Amt weit leichter sein als in England. Wird sich nicht endlich
im Reichstag ein Abgeordneter finden, welcher, sei es bei der Be¬
ratung des Etats des Reichsamts des Inneren, sei es bei der des
Militäretats, auf das völlig Unzuverlässige unserer bisherigen
Heeresergänzungsstatistik hinweist und zur Abhilfe die Errichtung
eines derartigen Amtes verlangt?“ '
Der zurzeit amtierende preußische Minister des Inneren,
v. B eth mann- Holl weg, der schon als Oberpräsident anläßlich
der Verhandlungen der Berlin-Brandenburger Ärztekammer sozial¬
medizinisches Verständnis an den Tag legte, äußerte sich über die
Bekämpfung der Prostitution in der Sitzung des preußischen
Abgeordnetenhauses vom 21. Februar 1907 folgendermaßen: „Zum
Schluß will ich noch auf die Prostitutionsfrage eingehen. Aller¬
dings nur kurz. Nicht um deswillen, weil dieses Gebiet an sich
ein heikles ist. Eigentlich ist es ja heikel nicht sowohl wegen
des Gegenstandes, um den es sich handelt, als wegen der persön¬
lichen Heuchelei, mit der wir vielfach an diese Dinge hera’ntreten.
Es handelt sich hier um einen Gegenstand, welcher so tief in die
allerverschiedensten Zweige des Lebens eingreift und so sehr be¬
einflußt wird durch die verschiedensten, nach allen Richtungen hin
differenzierten Lebensverhältnisse der einzelnen, daß man immer
nur ein unvollständiges Bild von der Sache geben kann. Ich will
deshalb denjenigen Punkt herausgreifen, der, wie mir scheint, der
wichtigste und der praktischste ist. Der Herr Abgeordnete
Münster berg hat das Reglementierungswesen, die polizeiliche
Kontrolle bemängelt. Aber er hat gleichzeitig auf diejenige Quelle
hingewiesen, aus der alle die von ihm gerügten Mißstande hervor¬
gehen. Das ist unsere Gesetzgebung. Ich kann in dieser Be-
Stimmen aus den Grenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft. 267
zieliung nur meine persönliche Überzeugung aussprechen, und auch
die Kritik, die ich an dieser Gesetzgebung ausübe, bitte ich als
eine persönliche aufzufassen. Der Herr Abgeordnete Münster berg
hat meines Dafürhaltens sehr treffend und klar hingestellt, daß
das System unseres Reichsstrafgesetzbuches ein unlogisches und
verworrenes ist. Ich neige persönlich der Ansicht zu, daß wir
uns einem System werden nähern müssen, wie es beispielsweise
gegenwärtig in Dänemark eingeführt ist, und welches absieht von
der Reglementierung, aber die gefährlichsten Auswüchse der Prosti¬
tution in moralischer und hygienischer Beziehung durch verschärfte
Strafbestimmungen zu beseitigen trachtet. Es kommt eben dabei
in Betracht, daß gerade über den vorliegenden Gegenstand die An¬
sichten nicht nur in moralischer, sondern auch in hygienischer Be¬
ziehung so außerordentlich auseinandergehen, daß es sehr schwierig
ist, eine Übereinstimmung herbeizuführen. Trotzdem bleibt es un¬
zweifelhaft, daß bei einer neuen Formulierung der betreffenden
Paragraphen des Strafgesetzbuches unter allen Umständen rekur¬
riert werden muß auf die Ansichten derjenigen Leute, die sich bei
uns seit Jahrzehnten in freier Weise speziell dem Studium dieser
Angelegenheiten mit Kopf und Herz hingegeben haben. Aber auch
wenn wir zu einer neuen Gesetzgebung auf diesem Gebiete ge¬
kommen sein werden, so werden wir immer noch nicht oder noch
nicht wieder im Paradiese leben. Auch hier kann die Gesetz¬
gebung nur Schranken wegräumen, sie kann nur einen allgemeinen
Rahmen aufstellen, der nachher in der freien Tätigkeit der Gesell¬
schaft und durch die richtig geleiteten Anschauungen des Volkes
mit Leben erfüllt werden kann. Mittelbar können wir unzweifel¬
haft unendlich viel tun. Im ganzen werden alle Bestrebungen,
welche den Kampf gegen die Prostitution unterstützen sollen,
meines Dafürhaltens von dem einen Gedanken getragen sein müssen,
daß es sich darum handelt, die körperliche und sittliche Selbst¬
achtung bei beiden Geschlechtern zu heben. Wie dies im einzelnen
geschehen soll, darüber kann ich mich hier nicht verbreiten. Aber
es sind sehr praktische Dinge, durch die es geschehen kann, prak¬
tische Dinge, die auf dem Gebiete des Unterrichtswesens, die auf
dem Gebiete des Fortbildungsschulwesens, auch auf dem Gebiete
der Beförderung des Sportlebens liegen. Ich glaube, daß in dieser
Beziehung gar nicht genug geschehen kann , um unsere Jugend
abzuhalten von Vergnügungen, die nichts taugen, und um die über¬
schüssige Kraft, die in der Jugend lebt, auf ein Gebiet zu lenken,
wo sie in der Stählung von Körper und Geist zum Ausdruck kommt.
268 Stimmen aus den Ctrenzgebieten der Medizin und Volkswirtschaft.
Eine bedeutungsvolle Aufgabe unserer Kommunen ist es, nach
dieser Richtung hin die bereits vorhandenen Bestrebungen im
Volke auf das nachdrücklichste zu unterstützen durch die Schaffung
von Spielplätzen, von Turnplätzen, eventuell auch durch die Be¬
günstigung von Sportvereinen, durch die Anregung zu Wettkämpfen,
wie wir sie aus England und aus Amerika kennen. Wenn in
allen diesen Richtungen mit wirklicher Energie gearbeitet wird,
dann wird auch mittelbar auf demjenigen Gebiet, von dem ich
ausgegangen bin, geholfen werden können. Wenn es gelingt, die
freie Tätigkeit der Gesellschaft in den Dienst dieser Sache zu
stellen, die Anschauung des Volkes in dem von mir bezeichneten
Sinne mehr und mehr zu läutern, und wenn dann durch eine
anderweite Gesetzgebung diejenigen üblen Einrichtungen beseitigt
werden können, unter denen wir gegenwärtig kranken, dann wird
es, wie ich hoffe — und mein Streben wird jedenfalls innerhalb
meines Ressorts dahin gerichtet sein — mit der Zeit, vielleicht
mit immer wiederkehrenden Rückschlägen, gelingen, die bösesten,
Körper und Geist des Volkes vergiftenden Auswüchse einer Natur¬
macht zu beschränken, der wir am letzten Ende doch alle Leben
und Kraft, Lust und Leid, Arbeits- und Schaffensfreudigkeit ver¬
danken.“
Der Vorstand der badischen Fabrikinspektion, K. Bi tt mann,
klagt in seinem Buche „Hausindustrie und Heimarbeit im Gro߬
herzogtum Baden zu Anfang des XX. Jahrhunderts“ über das
mangelnde sozialpolitische Verständnis der Ärzte
folgendermaßen: „Rundfragen bei einer größeren Anzahl von
Ärzten, bei denen nach Mitteilung der Bezirksärzte Kenntnis der
hausindustriellen Verhältnisse vorausgesetzt werden konnte, brachten
mäßige Ausbeute. Die meisten schwiegen, andere antworteten knapp,
eine Minderzahl erteilte eingehendere Auskünfte, die zum Teil
Verwendung fanden. Einen besseren Erfolg hatte die Rundfrage
bei Geistlichen der Hausindustriebezirke.“
Medizinalstatistische Daten.
1. Die Häufigkeit der Phosphornekrose in den böhmischen
Zündholzfahr iken.
Nach L. Teleky (Ein Beitrag zur Kenntnis der Verbreitung der Phosphor¬
nekrose Wien. klin. Woch. 1906 S. 1063) sind die amtlichen Angaben über das
Vorkommen der Phosphornekrose ganz unvollständig. Er hat daher in einem
kleinen Gebiet, dem Zentrum der böhmischen Zündholzindustrie mit Hilfe der
Arbeiterschaft alle Fälle zu ermitteln gesucht; die in Frage kommenden acht
Fabriken liegen alle am Nordabhang des Böhmerwalds, in den Bezirkshaupt¬
mannschaften Prachatitz und Schüttenhofen und gehören in den Gewerbeaufsichts¬
bezirk Budweis; von den Fabriken waren zur Zeit der Untersuchung nur 4 in
Betrieb, 2 kommen nicht in Betracht, weil in ihnen seit 1897 bzw. 1899 nicht
mehr gearbeitet wurde, in 2 anderen datierte der Betriebsstillstand aus den Jahren
1904 bzw. 1906. In den Jahren 1896 bis Mitte 1906 wurden Erkrankungen an
Phosphornekrose von Teleky konstatiert
Fabrik
Winterberg
Kaltenbach
Ferchenhaid
Bergreichenstein
Schüttenhofen (obere Fabrik) ca
Schüttenhofen (untere Fabrik)
Arbeiterzahl
ca. 100
ca. 40
40—50
70—80
400
700-800
zusammen ca. 1400
männlich
2
4
2
5
4
8
25
weiblich
4
10
4
3
21
Neun von den Erkrankten waren zur Zeit der Aufnahme schon gestorben,
31 hat Teleky selbst untersucht. Im ganzen Gewerbeaufsichtsbezirk Budweis, in
welchem noch 6 andere Betriebe liegen, konnten vom Gewerbeinspektor 1896 — 1905
nur 19 Fälle festgestellt werden.
2. Befreiung der Schüler vom Turnen in Budapest.
In Budapest werden seit 1892 statistische Notizen über die Schüler der
kommunalen Elementarschulen (Volksschulen) gemacht, die vom Turnen befreit
werden. Bis zum Jahre 1906 sind alle Schüler der elementaren Knabenschulen
von der dritten Klasse aufwärts turnpflichtig, von jetzt an alle Klassen der
270
Medizinalstatistische Daten.
Elementarschulen, auch die Mädchenklassen (nach privater Mitteilung- von Prof.
G. T h i r r i n g, dem Direktor des Kommunalstatistischen Bureaus in Budapest). Nach
den statistischen Jahrbüchern der Haupt- und ^Residenzstadt Budapest (letzte
Mitteilung Jahrgang 1904, Budapest 1906 S. 279) war
1892/93—1895/96 1896/97—1899/1900 1900/01—1903/04
die mittlere Zahl der turn-
pflichtigen Kinder
11 246
15 245
• 18 692
auf 1000 Knaben w$ren befreit
vom Geräteturnen
16,7
9,2
6,6
vom Turnen überhaupt
33,3
30,9
23,0
zusammen 50,0
40,1
29,6
Wie man sieht, wird der Prozentsatz der vom Turnen
befreiten Knaben von
Jahr zu Jahr kleiner, was sicher nicht bloß
auf einer Besserung der körperlichen
Beschaffenheit des Schülermaterials beruht,
sondern auch
auf der in Schule und
Haus mehr und mehr eindringenden Erkenntnis von dem
Wert des Turnens für
die physische Kräftigung
der Kinder.
Auch über die Art
der Gebrechen und Krankheiten,
die Dispensation vom
Turnen bedingen, werden
Angaben gemacht. Unter 1000 turnpflichtigen Knaben
wurden vom Turnen befreit wegen folgender Leiden
1892/93-1895/96
1896/97—1899/1900 1900/01—1903/04
Knochenkrankheiten
6,7
5,3
4,3
Bachitis, Skrofulöse
3,3
3,3
2,4
Verkrümmung der Wirbelsäule 2,6
2,9
2,0
Gelenksleiden
4,4
4,4
2.9
Blutarmut
5,7
3,4
2,6
Organische Herzleiden
3,2
3,1
2,4
Allgemeine körperliche Schwäche 5,7
2,8
1.2
Atmungsstörungen
1,0
1,2
0,7
Brüche
5,4
7,0
6,2
Ohrenleiden
1,4
0,9
0,6
Augenleiden
4,0
0.9
0.9
Nervenleiden
2.0
1,9
1,4
Andere Krankheiten
4,6
3,0
2,0
zusammen 50,0
40,1
29,6
Abgesehen von den Brüchen zeigt sich bei allen Leiden eine Abnahme der
vom Turnen Befreiten, besonders auffallend ist sie bei der allgemeinen körperlichen
Schwäche und bei den Augenleiden (sicherlich zum größten Teil Kurzsichtigkeit).
3. Tuberkulose und Wohlhabenheit.
Seit einer großen Keihe von Jahren werden in Hamburg Erhebungen über
den Zusammenhang zwischen Tuberkulose und Wohlhabenheit angestellt. Diese
bewegen sich in doppelter Bichtung; einerseits wird für die einzelnen Stadtteile
das Durchschnittseinkommen und die Tuberkulosesterblichkeit ermittelt, anderer¬
seits werden die an Tuberkulose Gestorbenen nach ihrem Einkommensteuerver¬
hältnis zu den Steuerzahlern überhaupt in Beziehung gesetzt. In der folgenden
Medizinalstatistische Daten.
271
Tabelle ist für die einzelnen städtischen Bezirke das jährliche Einkommen pro
Kopf der Bevölkerung im Jahre 1903 und die Zahl
der Sterbefälle an Lungen-
tuberkulöse auf
10000 Einwohner
1901 — 1905 nach
dem Bericht des
Med.-Rats
über die medizinische Statistik des hamburgischen
Staates für das
Jahr 1905
(Hamburg 1906
S. 3 und
S. 48) mit
geteilt.
Phthisis-
Phthisis-
Einkommen .
. Sterbe¬
Einkommen
Sterbe-
fälle
fälle
Harvestehude
3179
6,3
Eimsbüttel
573
15,6
Rotherbaum
2345
8,7
Altstadt-Nord
562
23,2
Hohenfelde
1368
10,7
Eppendorf
518
12,9
Winterhude
1003
10,1
St. Pauli-Nord
506
16,5
Uhlenhorst
945
15,9
Horn
429
14,8
St. Georg-Nord
808
15,9
St. Pauli-Süd
428
21,2
Eilbeck
752
12,2
St. Georg-Siid
425
16,4
Altstadt-Süd
726
17,3
Barmbeck
378
18,2
Hamm
713
12,2
Neustadt-Süd
375
19,8
Borgfelde
624
16,2
Veddel
374
12,9
Neustadt-Nord
616
21,4
Bilwärder Ausschlag 323
14,7
Die günstige Stellung der reichsten Bezirke bezüglich der Tuberkulosesterb¬
lichkeit geht aus dieser Tabelle deutlich hervor, schon vom Bezirk Uhlenhorst an
ist aber ein Zunehmen der Tuberkulosesterblichkeit mit der Abnahme des Durch¬
schnittseinkommens nicht mehr deutlich zu erkennen ; die Ursache liegt jedenfalls
darin, daß in diesem Bezirken Reiche und Arme gemischt wohnen. In der ganzen
Stadt Hamburg betrug die Sterblichkeit an Lungenschwindsucht auf 10000 Ein¬
wohner 16,8.
Sehr deutlich zeigt sich die große Höhe der Tuberkulosesterblichkeit bei den
weniger Bemittelten in der folgenden Tabelle (nach S. 50 des genannten Berichts);
bei den Sterbefällen sind die der Angehörigen eingeschlossen.
Einkommen
Steuerzahler 1903
900— 1 200 M.
71526
1200— 2 000
48 855
2 000— 3 500
5?
21 397
3 500— 5 000
55
8 342
5 000—10000
5?
7 764
10 000—25 000
??
4 210
25 000—50 OOO
5?
1411
über 50 000
n
938
Auf 10000 Lebende Sterbefälle an
Lungenschwindsucht 1901 — 1905
48.2
44,7
27,4
25.2
11.2
13,9
9,4
4,2
Die Unregelmäßigkeit bei den reichen Gruppen hängt damit zusammen, daß
es sich um eine verhältnismäßig kleine Zahl von Sterbefällen handelt.
4. Die Pellagra im österreichischen Küstenlande.
Nach dem „Sanitätsberichte des österreichischen Küstenlandes für die Jahre
1901 — 1903“ von A. Bohata und J. Tamaro (Triest 1905) zeigt die Pellagra im
Bezirk Gradiska, in welchem sie endemisch ist, seit mehreren Jahren eine be-
272
Medizinalstatistische Daten.
trächtliche Zunahme; 1901 betrug die Zahl der in diesem Bezirke nachgewiesenen
Pellagrösen 860 (= 15.8 auf 1000 Einwohner der befallenen Gemeinden), 1903 da¬
gegen 1098 (=18,8). Das weibliche Geschlecht und die Kinder sind am meisten
befallen: es waren erkrankt
Männer
Weiber
Kinder
1901
239
397
224
1902
234
420
324
1903
236
447
415
Die kleine Zahl der männlichen Erkrankungen beruht nach dem Bericht
auf dem Umstande, daß die männliche Bevölkerung den deletären Einflüssen ab¬
soluter Maisnahrung weniger ausgesetzt ist, bei den Frauen dagegen untergraben
außer der ungenügenden Ernährung mit verdorbenem Mais der dauernde Aufent¬
halt in elenden Hütten und die Schwangerschaften die Widerstandskraft. Der
eigentliche Herd der Pellagra ist der Gerichtsbezirk Cervignano, wo 1903 28,8
unter 1000 Einwohnern befallen waren, hier tritt zu den genannten Schädlichkeiten
die Malaria, die in diesem Gebiet endemisch ist. Von den 1900 bekannten Pella¬
grösen sind 1901 — 1903 119 genesen und 147 gestorben, in Irrenanstalten wurden
in den drei Jahren 16 Erkrankte abgegeben. Die getroffenen bzw. vorgeschlagenen
Maßnahmen bestehen in Verabreichung von reichlicher und geeigneter Nahrung in
sanitären Küchen (Locande sanitarie) und in der Beseitigung von ungesundem
Mais aus der Volksernährung.
5. Häufigkeit einiger epidemischer Krankheiten in englischen
Großstädten.
Dem 13. Medizinalbericht von London (Report of the Public Health committee
of the London county council fo the year 1904, London 1906) sind die folgenden
Ziffern der Todesfälle an einigen epidemischen Krankheiten in den englischen
Städten mit mehr als 200000 Einwohnern während des Jahres 1904 entnommen:
Städte mit über
200000 Einw.
Sterblichkeit
Kinder¬
sterblichkeit
Auf 10 000 Einwohner Sterbefälle an
Pocken
Masern
Scharlach
Diphtherie
Keuchhusten
Diarrhoe
Typhus, un¬
best. Fieber
London
16,6
14,6
0,1
4.9
0.8
1,6
3,3
10,4
0,7
Liverpool
22,6
19,6
0,0
9,4
2.0
2,7
5.8
25,2
1,5
Manchester
21,3
18,7
0,2
7,6
1,5
1,7
5,0
13,7
1,2
Birmingham
19.9
19,7
3.8
1,2
2.4
8,5
17,6
0.7
Leeds
18,0
17,5
0,0
7,6
1,3
1,0
4,7
9.9
i;i
Sheffield
16,8
15,8
0.0
0.8
2,0
1,1
3,4
13.5
1$
Bristol
15,6
13.4
0.0
3,0
1,1
3;o
3,4
5.1
0.8
West Ham
16,5
16,2
0,0
6,0
1,4
1,5
3,5
20.8
1,1
Bradford
17,6
16.6
0,1
5,2
1,5
5,7
1,7
8,3
1,7
Hüll
18,6
17,8
0.2
7,1
0,5
2,5
2.6
20.8
1,5
Nottingham
17,7
17,6
0.5
1.8
1.1
2,8
3,6
13,7
23
Salford
21,2
19,2
0.1
11.1
2,5
4,9
6.2
16,6
2,3
Newcastle
19.4
15,6
0,8
2,5
1,1
2,2
ö;s
5,1
0,4
Leicester
14,5
16,7
0,2
1.4
0,2
0,3
3,9
13,1
0.6
F. P r i n z i n g.
Medizinalstatistische Daten.
273
6. Zur Statistik der Wehrfähigkeit.
Die dem Reichstage vom Reichskanzler am 9. November 1906 vorgelegten
Übersicht über die Ergebnisse des Heeresergänzungsgeschäfts sowie der Nach¬
weisung über die Herkunft und Beschäftigung der Militärpflichtigen oietet als
Gesamtergebnis folgende Zahlen:
Endgültig
Abge¬
fertigte
Taugliche
Von 100
Taug¬
lichen
kamen auf
jede
Gruppe
Von 100
endgültig
Ab ge¬
fertigten
waren
tauglich
Auf
dem
Lande
In der Land- u. Forstwirtschaft
usw. (Gruppe I u. II der Klassi¬
fikation der Berufsarten) be¬
schäftigt .
130 346
78 476
27,68
60,21
ge¬
boren
Anderweitig beschäftigt . . .
171897
100603
35,50
58,53
Zusammen :
302 243
179 079
63,18
59.25
In
der
Stadt
In der Land- u. Forstwirtschaft
usw. (Gruppe I u. II der Klassi¬
fikation der Berufsarten) be¬
schäftigt .......
16 305
9 420
3,38
57,77
ge¬
boren
Anderweitig beschäftigt . . .
184 869
94 920
33,49
51,34
Zusammen :
201 174
104 340
36,87
51,86
S.S.:
503 417
283 419
100,00
56.30
Von den Militärpflichtigen, die im Jahre 1905 eine endgültige Entscheidung
erhalten haben, sind 56,30 Proz. tauglich befunden worden. Nahe zwei Drittel
der tauglich Befundenen sind auf dem Lande, etwas über ein Drittel ist in der
Stadt geboren worden. Die relative Tauglichkeit der auf dem Lande Geborenen
59,25 übersteigt nicht so erheblich diejenige der in der Stadt Geborenen 51.86.
Im Bezirk des ersten Armeekorps Königsberg i. Pr. sind von 14141 auf dem
Lande geborenen endgültig Abgefertigten 9889, d. s. 69,63 Proz., tauglich, von
3669 in der Stadt geborenen 2217, d. s. 60,42 Proz. Anders verhält es sich im
Bezirk des dritten Armeekorps, der die Provinz Brandenburg und Berlin umfaßt.
Hier sind von 13 749 auf dem Lande geborenen endgültig Abgefertigten 7751,
d. s. 56,37 Proz., von 21 671 in der Stadt geborenen aber nur 8928, d. s.
41,19 Proz., tauglich erklärt worden. Die beiden Bezirke vertreten am reinsten
ländliche und städtische Verhältnisse, sie zeigen die für die Rekrutierung vor¬
läufig wenigstens präponderante Bedeutung des Landes.
Über die Veränderungen der Körperlänge im Laufe der menschlichen Ent¬
wicklung besitzen wir wenig verläßliches Material; je weiter wir zurückgehen,
desto spärlicher ist es. Es ist deshalb schwierig, die für das Entartungsproblem
wichtige Frage zu entscheiden, ob unsere Körperhöhe etwa unter dem Einfluß
veränderter sozialer Bedingungen geringer geworden ist als die unserer Vorfahren.
Leider fehlt es bis heute an anthropometrischen Aufnahmen, die sich auf die Ge¬
samtheit eines Volkes erstrecken; dank der Einführung der allgemeinen Dienst-
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 16
274
Medizinalstatistische Daten.
pflicht in den meisten Ländern hat sich unsere Kenntnis der somatischen Ver¬
hältnisse, wenigstens der männlichen Bevölkerung, erweitert. Die Rekrutierungs¬
statistik, auf die allein wir unser Urteil über das Verhalten der Körperlänge
stützen können, datiert erst vom Anfang des 19. Jahrhunderts, Hießt aber der
Öffentlichkeit nicht so reichlich zu, daß man nicht jede neue Publikation dankbar
begrüßen müßte. In der Zeitschrift für Schweizerische Statistik, XLII. Jahrg.
(1906)^ p. 290 findet sich eine hier abgedruckte Tabelle, die die zu geringe
Körperlänge als Dienstbefreiungsgrund in einem 20jährigen Zeitraum dar¬
stellt. Danach hat „Untermaß“ als Dienstbefreiungsgrund sich 1 ortschreitend
vermindert, die Körperlänge somit zugenommen. Das Resultat deckt sich mit
dem, zu dem Kruse1) bei seinen Betrachtungen der Rekrutierungsergebnisse
mehrerer europäischer Staaten gelangt. Auch Retz ins und Fürst2) konsta¬
tieren eine Zunahme der Körpergröße der Skandinavier in jüngster Zeit, ebenso-
der norwegische Anthropologe C. Arbo3) für die Jahre 1841 — 1870.
Die zu geringe K ö r p e r 1 ä n g e als Dienstbefreiungsgrund in den
J a h r e n 1 886 — 1905.
(Aus den Ergebnissen der sanitarischen Rekrutenprüfungen.)
Rekruten des jüngsten Jahrganges, d. h. solche, die im nächstfolgenden Jahre
das 20. Altersjahr zurücklegten.
Jahr
Gesamtzahl
der
untersuchten
Rekruten
davon wegen zu geringer Körperlänge (unter 156 cm)
zurückgestellt
bleibend un-
taugl. erklärt
Gesamtzahl
Ol
1 0
auf 1 Jahr
auf 2 Jahre
1905
26 654
396
326
227
949
1904
26 310
375
348
238
961
1903
26 564
436
320
154
910
3,7
1902
27 232
475
417
162
1054
1901
26 754
449
418
146
1013
J
1900
26 282
439
356
178
973
1899
25 809
486
426
197
1109
1898
26 457
451
421
141
1013
4.1
1897
26 362
474
517
159
1150
1896
27 256
567
514
151
1232
J
1895
26 698
563
639
254
1456
1894
26 326
548
613
164
1325
1893
25 241
606
612
186
1404
1892
24 521
559
674
271
1504
1891
24 511
678
553
266
1497
J
1890
23 265
594
622
332
1548
1889
23 009
703
657
253
1613
1888
22 224
553
594
327
1474
6.5
1887
21 966
536
608
231
1375
1886
22 963
493
518
314
1325
J
1) Physische Degeneration und Wehrfähigkeit bei europäischen Völkern..
Zentralbl. f. allg. Gesundheitspflege, XVII. Jahrg. Bonn 1898.
2) Anthropologia Suecica. Stockholm 1902.
3) Sessions-Undersögelsernes og Recruterings-Statistikens Betydning for
Videnskaben og Staten. Christiania 1875.
Medizinalstatistische Daten.
275
Im selben Jahrgang- der Zeitschrift für Schweizerische Statistik (p. 108)
werden fiir den gleichen Zeitraum wie oben die Zahlen derjenigen Eekrnten ver¬
öffentlicht, die wegen körperlicher Schwächlichkeit nicht zum Dienst gelangten.
Auch hier zeigt sich ein Rückgang.
Die. allgem eine körperliche Schwächlichkeit als Dienst-
bef r eiungsgrund in den Jahren 1886—1905.
(Aus den Ergebnissen der sanitarischen Rekrutenprüfungen.)
Rekruten des jüngsten Jahrganges, d. h. solche, die im nächstfolgenden Jahre
das 20. Altersjahr zurücklegten.
Jahr
Cles amtzahl
der
untersuchten
Rekruten
davon wegen Schwächlichkeit. Anämie, Konvaleszenz
oder zu geringem Brustumfang
zurück
gestellt
bleibend un-
taugl. erklärt
Gesamtzahl
0/
Io
auf 1 Jahr
auf 2 Jahre
1905
26 654
1431
673
662
2766
)
1904
26 310
1521
586
487
2594
1903
26 564
1841
724
528
3093
11,1
1902
27 232
1817
738
454
3009
1901
26 754
1925
919
551
3395
)
1900
26 282
2121
760
519
3400
1899
25 809
1866
787
471
3124
1898
26 457
2042
867
426
3335
\ 12,8
1897
26 362
1989
940
497
3426
1896
27 256
2100
1091
495
3686
J
1895
26 698
2406
1152
357
3915
)
1894
26 326
2063
1068
502
3633
1893
25 241
2312
882
391
3585
13,8
1892
24 521
2155
722
349
3226
1891
24 511
2011
806
450
3267
)
1890
23 265
1784
709
402
2895
1889
23 009
1873
695
439
3007
1888
22 224
1603
646
423
2672
13,0
1887
21 966
1649
704
402
2755
1886
22 963
2044
883
489
3416
)
Mehrfachen Anregungen der Turnvereine und Offiziergesellschaften folgend
beschloß das schweizerische Militärdepartement, im Jahre 1905 im engen Anschluß
an das Rekrutierungsgeschäft neben der pädagogischen Prüfung der Rekruten
auch eine solche der physischen Leistungsfähigkeit vornehmen zu lassen. Das
Material wurde dem eidgenössischen statistischen Bureau zur Bearbeitung über¬
wiesen; die Ergebnisse findet man in der Zeitschrift für Schweizerische Statistik,
XL II. Bd. (1906), p. 285. Der Prüfung unterzogen wurden alle Rekruten nach
geschehener ärztlicher Untersuchung, soweit sie nicht ärztlicherseits davon dis¬
pensiert waren. Die Prüfung erstreckte sich auf einen Weitsprung, das Heben
eines Hantels und einen Schneilauf. Als Erhebungsformular diente eine Zähl¬
karte, die neben den üblichen Personalien Fragen nach dem Schulbesuch, dem in
Schule, Verein oder militärischem Vorunterricht genossenen Turnunterricht oder
18*
276
Medizinalstatistische Daten.
den dort getriebenen anderen körperlichen Übungen enthielt; anfgenommen
wurden ferner die Ergebnisse der zur Prüfung stehenden turnerischen Leistung
und der sanitarischen Untersuchung. Die Leistungen wurden folgendermaßen
klassifiziert :
Note
W e i t s p r u n g
Heben
17 kg Gewicht rechts
und links zusammen
Schneilauf
80 m Distanz
Gut (1)
3,5 m und mehr
8 mal
In höchst. 11.9 Sek.
Mittelmäßig (2)
2,5 — 3,4 m
5—7 mal
In 12,0—13,9 Sek.
■ Schwach (3)
Bis 2,4 m
Bis 4 mal
In 14 Sek. u. mehr
Nach ihren Leistungen verteilte sich die Gesamtzahl der Geprüften:
Zahl der Geprüften mit
Weitsprung
Heben
Schnellauf
Note 1 (gut) .
3 545
14 879
2 295
„ 2 (mittelmäßig) .
15 792
3 904
12 262
„ 3 (schwach) .
6 940
7 494
11720
Zusammen :
26 277
26 277
26 277
Die Resultate der Prüfung sind nicht hervorragend. Ordnet man die Ge¬
prüften nach ihrer Vorbildung,
Vorbildung
Zahl der Geprüften
Von je 100 Geprüften der betr.
Kategorie hatten die Note
Durchschnittswerte
1
2
3
2
3
1
2
3
Weitsprung
Heben
Schnellauf
Total
im
Weit
sprun
er
ö
im
Heben
im
Schnellauf
Vereinsturnen . .
2 913
39
56
5
83
9
8
22
61
17
1,66
1,26
1,94
4,86
Sport .
796
31
62
7
68
16
16
29
54
17
1,77
1.32
1.88
4,97
Militärischer Vor-
unterricht . . .
4 211
23
65
12
65
14
21
13
55
32
1,90
1,55
2,19
5,64
Bloßes Schulturnen .
12 029
11
63
26
55
15
30
7
46
47
2,16
1,75
240
6,31
Keine .
7 406
4
54
42
47
16
37
4
39
57
2,37
1,90
2,54
6,81
so zeigt sich, daß die Vereinsturner die bei weitem besten Prüfungsergebnisse
aufweisen, nur im Schneilauf werden ihre Leistungen von den Sporttreibenden
übertroffen.
E. Kriege!.
Bücheranzeigen.
277
Bücheranzeigen.
Prinzing, F., Handbuch der medizinischen Statistik. Gustav Fischer, Jena
1908, 559 S. (15 Mk.).
In dem vorliegenden Werke beschenkt uns der Verfasser mit einem Hand¬
huche der medizinischen Statistik, das das längst veraltete Österlensche abzu¬
lösen, das ausschließlich vom mathematisch-statistischen Standpunkte ausgehende
W e s t e r g a a r d sehe zu ergänzen berufen ist. Prinzing definiert die medizini¬
sche Statistik als „die exakte, zahlenmäßige Untersuchung der pathologischen
Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft“, wofür wohl besser „der Menschen“
zu setzen ist. Jedenfalls muß man ihm darin beistimmen, daß er die medizini¬
sche Statistik nicht nur auf die zahlenmäßige Beschreibung der pathologischen
Erscheinungen sondern auch auf die Ursachen der verschiedenen Häufigkeit ihres
Eintritts erstreckt wissen will. Der Verfasser verwirft die Österlensche Ein¬
teilung der medizinischen Statistik in eine allgemeine und eine spezielle und
wählt dafür die Einteilung in 1. die Statistik der Geburten, 2. die der Krank¬
heiten, Unfälle und Gebrechen und 3. die der Sterbefälle. Daß der erste und
letzte Teil uns ein zuverlässiges Bild alles dessen liefert, was die Medizinal¬
statistik zurzeit über Eintritt und Austritt der Menschen aus dem unendlichen
Strome der Gesellschaft bietet, war bei der meisterhaften Beherrschung des Stoffes,
die Prinzing eigen ist, wohl selbstverständlich. Aber daß auch der zweite
Teil, der sich auf die zurzeit noch so unvollständigen Erhebungen über Mor-
bilität aufbaut, ein so klares Bild über die Erkrankungsmöglichkeit nach Alter,
Geschlecht, Beruf usw. liefert, war doch eine Überraschung, die wir nicht nur
dem Wissen sondern besonders auch dem wissenschaftlichen Takte des Verfassers
verdanken. Das Studium gerade dieses Teiles des vorliegenden Buches ist für
jeden Arzt unerläßlich, der sich für die Soziale Medizin und die Soziale Hygiene
zu interessieren beginnt. A. Grotjahn.
ISclnvanck, A., Die Reform des Heilverfahrens. Köln 1906.
Wenn ein Altmeister des Versicherungswesens nach mehr als 20jähriger
Tätigkeit auf diesen Gebieten zur Reform unserer sozialen Gesetzgebung das Wort
nimmt, so haben die Ärzte gewiß allen Grund, dieser Arbeit eine eingehende
Prüfung zu teil werden zu lassen. Der Verfasser geht ebenso wie es vor kurzem
der Referent (Soziale Medizin und Hygiene 1907) getan hat, von dem verbesserungs¬
bedürftigsten Punkte, dem Heilverfahren, aus. „Das durch die meisten Orts¬
krankenkassen, viele Betriebskrankenkassen und die Gemeindeversicherung ge¬
leitete Heilverfahren bei Verletzungen ist in den erzielten Heilerfolgen im Bereich
der Rheinprovinz und Westfalen als derartig mangelhaft und folglich für das
Wohl der der Versicherungspflicht unterliegenden Personen schädlich erkannt, daß
dieser Zustand dringend Abhilfe erfordert.“ Diesen Satz erläutert der Verfasser
an belehrenden Beispielen eigener Erfahrung und Zitaten erfahrener Versicherungs¬
ärzte und zeigt, welche überflüssigen Kosten den Berufsgenossen¬
schaften und welcher Schaden der Arbeitskraft des Volkes aus den an¬
geführten Fehlern erwächst. Es sind teilweise schwere Vorwürfe, welche gegen
Ärzte erhoben werden — Vorwürfe, die leider nicht einer gewissen Berechtigung
entbehren. Ein Teil der Mißstände beruht allerdings auf den fehlenden Be¬
ziehungen zwischen Krankenkassen, Unfallversicherung und Invalidenversicherung.
278
Bücheranzeigen.
Schwanck kommt daher zu folgenden hauptsächlichen Schlüssen,
daß 1. durch die Errichtung1 von Lehrstühlen für Unfallheilkunde und Soziale
Medizin an den Universitäten und Akademien für praktische Medizin für eine
besondere Vorbildung der Ärzte Sorge zu tragen ist und diese Disziplinen zu
wr Prüfungsgegenständen zu machen sind; und 2. eine Verwaltungsgemeinschaft
zwischen Krankenkassen, Unfall- und Invalidenversicherung eingerichtet wird.
Von letzterer erwartet der Verfasser a) eine schärfere Überwachung des Ver¬
letzten und des Heilverfahrens; b) Vermeidung von Verzögerungen in den not¬
wendigen Maßnahmen (raschere Einleitung des Heilverfahrens) und Fortfall der
sonst unvermeidlichen Störungen und Keibungen; c) Vereinfachung und Klärung
der ärztlichen Gutachten; d) Herabminderung der Verwaltungskosten und der
Kenten; e) Minderung der Berufungen.
Die Verwaltungsgemeinschaft denkt sich der Verfasser in folgender Weise:
Die Krankenkassen werden zu größeren Verbänden zusammengefaßt. Der
Kassenvorstand besteht aus:
zwei oder mehr Vertreter der Arbeitnehmer,
zwei oder mehr Vertretern der Arbeitgeber,
einem Vertreter der betreffenden Berufsgenossenschaften,
einem Vertreter der betreffenden Invalidenversicherung und
einem Staatskommissär als Vertreter der Keichsregierung.
Diese Einrichtung bedingt eine wesentlich größere Umgestaltung der
Krankenkassen, als sie Sayffaerth mit seinem sozialpolitischen Kreisamt, der
Beferent mit seinem Versicherungsamt als Bindeglied der drei Versicherungen ge¬
dacht hat. Die Vertretung der Invalidenversicherung ist einem Arzte zugedacht,
ebenso das Amt als Keichskommissär. Damit würde die erweiterte Kranken¬
kasse der Unterbau, in dem alle Fälle von Anfang bis zu Ende Hilfe finden.
Der Verband der Krankenkassen im Bezirk einer Landesversicherungsanstalt, der
Verband der Unfallversicherungsträger und die betreffende Landesversicherungs¬
anstalt werden dann zu einem Gesamtverband resp. einer Betriebsgemeinschaft
zur einheitlichen und planmäßigen Durchführung des Heilverfahrens in allen
Versicherungen zusammengeschlossen. •
Der Verfasser zitiert die beachtenswerten Ausführungen von Kampfmeyer
aus der deutschen Krankenkassenzeitung über die Aufgaben der erweiterten
Krankenfürsorge in der Erhaltung der Arbeitskraft, Erhaltung gesunder Familien
und eines gesunden Nachwuchses — Aufgaben, die sich nach des Verfassers Sinne
auch zum Teil durch die Verwaltungsgemeinschaft der drei Versicherungen lösen
lassen. Als Vorbild einer Verwaltungsgemeinschaft führt S. den Allgemeinen
Knappschaftsverein zu Bochum an, in welchem die drei Versicherungsträger auf
das zweckmäßigste Zusammenwirken. Den Schluß des interessanten, von wärmstem
Interesse für die Soziale Hygiene und die Mitarbeitung des Volkes erfüllten
Buches bilden Berichte über Kongresse und solche aus Heilanstalten. Aber
der Inhalt des Buches ist damit hei weitem nicht erschöpft. Eine Fülle von
einzelnen Gedanken, die der Verbesserung unserer Gesetzgebung gewidmet sind,
findet sich in dem Buche zerstreut. Gewiß werden nicht alle Leser völlig mit
dem Verfasser einer Meinung sein, aber indem ich das Buch zu eingehender
Lektüre empfehle, glaube ich betonen zu müssen, daß die geplante Verbesserung
unserer sozialen Gesetzgebung an vielen wichtigen Punkten die Ausführungen
des erfahrenen Verfassers berücksichtigen muß. Th. Rumpf.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 279
llschaft für Soziale Medizin, Hygiene
Medizinalstatistik in Berlin.1
Sitzung vom 13. September 1906
zu Ehren des V. Internationalen Kongresses für Versicherungswissenschaft und
des IV. Internationalen Kongresses für Versicherungsmedizin.
V orsitzender : Herr M a y e t. Schriftführer : Herr G r o t j a h n.
Herr May et: In Anerkennung einer weitgehenden Interessengemein¬
schaft zwischen den Aufgaben unserer Gesellschaft mit denen der beiden
versicherungswissenschaftlichen Kongresse hat die sozial - medizinische Gesell¬
schaft Sie zu sich ein geladen. Sie hat mir den ehrenvollen Auftrag erteilt,
Sie herzlichst zu begrüßen und Ihnen warm für Ihr Erscheinen zu danken, das
Ihnen wegen der großen Inanspruchnahme durch Arbeit an den Vor- und Nach¬
mittagen und Geselligkeit an den Abenden besonders hoch anzurechnen ist. Die
Medizin hat es vornehmlich mit der Ätiologie, die Hygiene mit der Defensive, die
Medizin und die Individualhygiene mit biologischen Veränderungen des einzelnen
Individuums und ihrer unmittelbaren Veranlassung zu tun und mit den Ver-
haltungs-, Verhütungs- und Abwehrmaßregeln des einzelnen, die Soziale Medizin
mit der Auffindung der gesellschaftlichen, beruflichen, gewerblichen Verhältnisse,
welche die Krankheit entstehen ließen. Das sprach bereits vor 60 Jahren unser
Ehrenmitglied, Herr Sanitätsrat Saloinon Neumann, aus. Er sagte in seiner
Schrift „Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigentum“ , „daß der größte
Teil der Krankheiten, welche entweder den vollen Lebensgenuß stören oder gar
einen Teil der Menschheit vor dem natürlichen Ziel dahinraffen, nicht auf natür¬
lichen, sondern auf gesellschaftlichen Verhältnissen beruhe, bedürfe keines Beweises.
Die medizinische Wissenschaft sei in ihrem innersten Kern und Wesen eine soziale
Wissenschaft, und so lange ihr diese Bedeutung in der Wirklichkeit nicht vindi-
ziert wäre, werde man ihre Früchte nicht genießen, sondern sich mit der Schale
und dem Gehäuse begnügen müssen.“ Hier ist immer noch allein von den Ärzten
die Kede; auf dem Gebiete der Sozialen Medizin haben aber, wie obige Beispiele
uns zeigten, auch gerade Nichtmediziner, Männer der verschiedensten Berufe,
Volkswirtschaftler und Techniker, Sozialpolitiker, Verwaltungsbeamte und Sta¬
tistiker mitzuarbeiten; die Soziale Hygiene ferner, welche es nicht mit der Ätio¬
logie der Krankheiten, sondern mit der Erstrebung der Sanierung der gesundheit¬
lichen Verhältnisse in Berufen, Gewerben, Altersklassen, Volksschichten zu tun
hat, braucht erst recht außer dem Arzt die Mitarbeit der Technik, der Industrie
und der Verwaltungskunst. Demgemäß lud unsere Gesellschaft von Hause aus
neben den Medizinern alle übrigen Berufe zur Mitarbeit ein ; sie wollte, die Tätig¬
keit der Gesellschaft sollte sich auf dem Grenzgebiete von Medizin und Volks¬
wirtschaft bewegen. Ungefähr der vierte Teil unserer Mitglieder sind Nicht¬
mediziner, und in demselben Verhältnis ungefähr sind die Nichtmediziner unter
den Vortragenden und Diskussionsrednern vertreten. Eines der Haupthilfsmittel
zur Feststellung der sozialen Ätiologie von Krankheiten und zur Erkenntnis der
Wirkung der sozialhygienischen Maßregeln ist die Statistik, insbesondere die Be-
9 Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, Nr. 38 u. 44 d. Jg. 1906 u.
Nr. 9 u. 10 d. Jg. 1907 der „Medizinischen Reform“, herausg. von R. Lennhoff.
280 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik,
völkerungs- und Medizinalstatistik ; sie erfreut sich besonderer Pflege in unserem
Verein. Von statistischen Vorträgen waren zwei historischer Art. A. Gutt-
stadt behandelte die Entwicklung der Medizinalstatistik in Preußen. A. Gott-
stein die Geschichte der Kindersterblichkeit ; G. Heimann machte Mitteilung
über die Organisation der Volkszählung in Berlin, Schwiening behandelte
statistisch die Frage des Verhältnisses von Brustumfang und Körpergröße bei
Tuberkulösen und Nichttuberkulösen — ein Thema von bekanntem Interesse für
die Versicherungsmediziner Die Frage der Ernährung behandelte B. La quer
in einem Vortrag über „Nahrungsmittel und Alkoholkonsum im Haushalte des
amerikanischen Arbeiters4“ und H. Neumann, der über die Milchversorgung der
Säuglinge sprach. A. Albu behandelte die sozialmedizinische Bedeutung der Er¬
richtung von Magenheilstätten. Praktische Maßnahmen auf einzelnen Gebieten
der Hygiene besprachen E. Joseph mit einem Bericht über das Krankentrans¬
portwesen und die Neuorganisation desselben in Berlin, und Professor 0. Lassar
in seiner Mitteilung über die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder. Schließlich
behandelte geschichtlich „Die Soziale Hygiene im Mittelalter44 Herr Th. Weyl.
Die Idee, daß ein neuer Beruf für Blinde sich in der Massage darbiete, veran-
laßte Eggebrecht über seine in Leipzig bereits durchgeführte Ausbildung von
Blinden in der Massage zu berichten. In gleicher Linie mit diesem Gedanken
liegt die mehrfach im Laufe der Diskussionen von A. Grotjahn und W. Eisner
vertretene Idee , daß gewisse Beschäftigungen und Tätigkeiten monopolartig
minderwertigen Arbeitskräften, z. B. Verkrüppelten und Unfallverletzten, Vor¬
behalten bleiben sollten, um auch diese schwachen Kräfte zum Heil für sie selbst
noch in der Volkswirtschaft nützlich zu verwenden. M. Radziejewski spracji
über die Bedingungen und die Bedeutung der Sehschärfe für die einzelnen Be¬
rufsarten.
Da die umfassendste hygienische Maßnahme des Deutschen Reiches die Ein¬
richtung seines sozialen Versicherungswesens ist, nahm selbstverständlich letzteres
in den Erörterungen der Gesellschaft den breitesten Raum ein. Einzelpunkte
der Arbeiterversicherung behandelten A. Bielefeldt und H. Schönheim er.
Themata von Wichtigkeit für die Unfallversicherung behandelten Feilchen-
feldt, Th. Sommer fei dt und Brat. Die in Aussicht genommene Reform der
Arbeiterversicherung veranlaßte mehrere Vorträge in der Gesellschaft. R. Le nu¬
ll off trug die ärztlichen Wünsche zur Reform der Arbeiterversicherung vor,
Herr Sayffaerth, Vorsitzender des Schiedsgerichts in Köln, behandelte die
deutsche Arbeiterversicherung der Zukunft und ich meinerseits : Umbau und Weiter¬
bildung der sozialen Versicherung. Hier möchte ich noch den viel beachteten
Vortrag des Geheimen Ober-Medizinalrates Dr. Dietrich erwähnen über den
zahlenmäßigen Rückgang des medizinischen Studiums, der eine sich einleitende
Abschwächung der Überfüllung des ärztlichen Standes darlegte und von Bedeu¬
tung für die Beurteilung der augenblicklichen Aussichten des ärztlichen Standes
ist. Im Unterschiede von den großen, der öffentlichen Gesundheitspflege auf ein¬
zelnen Gebieten sich widmenden Vereinen, wie dem Deutschen Verein für öffent¬
liche Gesundheitspflege, dem Deutschen Zentralkomitee zur Errichtung von Heil¬
stätten für Lungenkranke, dem Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke, der Vereinigung für Schulgesundheitspflege, der Deutschen Gesellschaft
für Volksbäder, der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten, dem Allgemeinen Deutschen Zentralverband zur Bekämpfung des
Alkoholismus, der Gesellschaft zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit u. a.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 281
versagt es sich unsere Gesellschaft, Resolutionen zu fassen, Petitionen heraus¬
zugeben, Agitation zu treiben. Wir wollen nur eine Stätte der freien Rede und
der voraussetzungslosen, wissenschaftlichen Forschung sein, wir wollen durch den
Streit der Meinungen die Erkenntnis der Wahrheit fördern, wir huldigen dem
heraklitischen Lehrsatz, daß Kampf der Erzeuger alles Bestehenden ist. ttöXsuo^
Ttarijo Ttdf Tiov. Deshalb treffen wir aber auch besondere Fürsorge, daß unsere Dis¬
kussionen wohlvorbereitete, nicht nur dem Augenblick verdankte, sind. Wir erreichen
dieses dadurch, daß wir die Diskussionen nicht unmittelbar auf den Vortrag folgen
lassen, sondern erst ansetzen, nachdem der Vortrag den Mitgliedern gedruckt zu¬
gegangen ist. Wir erreichen dadurch zugleich den weiteren Vorteil, daß wir unseren
auswärtigen Mitgliedern es ermöglichen, an der Diskussion durch Einsendung ge¬
schriebener Beiträge teilzunehmen, welche von dem Schriftführer verlesen werden.
Ich sprach eingangs von der Interessengemeinschaft unserer Gesellschaft mit den
beiden Kongressen. Scheint nicht eigentlich mehr ein gewisser Gegensatz zwischen
den beiden Körperschaften zu walten? Hat es nicht die Versicherungsmedizin
und die Versicherungswissenschaft hauptsächlich mit der privaten Versicherung,
wir dagegen vornehmlich mit der öffentlichen Versicherung zu tun? Die private
Versicherung will für jeden Versicherten eine bereits erreichte Höhe festhalten,
indem sie ihn vor Schaden bewahrt. Die öffentliche soziale Versicherung will
einerseits dasselbe, andererseits aber strebt sie doch an, die betreffenden Volks¬
kreise über ihren gegenwärtigen sanitären und wirtschaftlichen Zustand herauf¬
zuheben. Die Interessengemeinschaft unserer beiden Körperschaften macht sich
wohl am meisten geltend in den statistischen Erfahrungen der Lebensversicherungs¬
gesellschaften einerseits, der Krankenkassen und Invalidenversicherungsanstalten
andererseits und in der weiteren Ausgestaltung der Morbiditäts- und Mortalitäts¬
statistik nach Berufen, welche von der öffentlichen Krankenversicherung mit der
Zeit zu erwarten ist. Äußerlich bekundete sich die Interessengemeinschaft da¬
durch , wie ich wohl erwähnen darf , daß den beiden Kongreß-Organisationsaus¬
schüssen nicht weniger als 14 unserer Mitglieder angehörten und ein sehr großer
Teil der deutschen Teilnehmer des versicherungsmedizinischen Kongresses aus
Mitgliedern unserer Gesellschaft besteht. Auch der Gegenstand des heutigen
Vortrages darf für eine Interessengemeinschaft angeführt werden. Wir haben
dasselbe Thema gewählt, welches in dem den Kongreßmitgliedern von dem Kaiser¬
lichen Statistischen Amt übergebenen großen, mehr als 14C0 Seiten umfassenden
Werke behandelt wird: „Die Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit“.
Wir glaubten, es würde den Kongreßmitgliedern lieb sein, von dem Bearbeiter
des Werkes, der zugleich Mitglied unserer Gesellschaft ist, einen kurzen Vortrag
über die Grundprobleme der Arbeitslosenversicherung zu hören.
Ich gebe Herrn Leo das Wort zu seinem Vortrage.
Herr Leo trägt vor über „Die Versicherung gegen die Folgen der
Arbeitslosigkeit.44 Der Kreis, vor dem ich heute zu sprechen die Ehre habe,
setzt sich in erster Linie zusammen aus Personen, die entweder am Versicherungs¬
wesen und an der Versicherungswissenschaft oder an der ärztlichen Wissenschaft
in erster Linie interessiert sind. Das sind zwei Kreise, die schon seit langem dem
Problem der Arbeitslosenversicherung das lebhafteste Interesse entgegengebracht
haben. Die Ärzte ihrerseits haben dieses Interesse durch verschiedene Resolu¬
tionen betätigt, in denen sie die Arbeitslosenversicherung sogar noch als dringen¬
der als die Witwen- und Waisenversicherung bezeichnet haben. Als Versicherungs¬
problem ist das ganze Problem nicht älter als rund 15 Jahre. Die Forderung
282 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
einer öffentlichen Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit taucht zum
ersten Male, soweit sich übersehen läßt, im Jahre 1892 auf und führt bald darauf
zu dem Vorgehen in Bern und in Basel. Seither ist diese Forderung von der
Tagesordnung nicht wieder verschwunden. Einen besonderen Impuls hat die
ganze Frage erhalten, seitdem im Jahre 1901 die Gemeinde Gent in einer sinn¬
reich ausgedachten Weise unter Anknüpfung an die Selbsthilfeeinrichtungen der
Arbeiter ein System ins Leben gerufen hat, daß die Nachteile und Schwierig¬
keiten der sonstigen Systeme zu vermeiden schien. Näheres davon später. Wenn
auch das Problem als Versicherungsproblem danach ganz jungen Datums ist, so
ist das keineswegs der Fall mit dem erweiterten Problem der Arbeitslosenfürsorge
überhaupt. Die Arbeitslosenfürsorge greift als Armenpflege sehr weit zurück.
Dieser Teil der Arbeitslosenfürsorge nimmt noch heute einen und zwar den be¬
deutendsten Teil ein, und seine Bedeutung wird auch nicht gering bleiben müssen,
wenn es wirklich gelingen sollte, eine öffentliche Versicherung gegen die Folgen
der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Armenpflege und private Wohltätigkeit waren
es, mit denen früher bei Eintritt größerer Arbeitslosigkeit dieser zu begegnen
versucht wurde; wo sie versagte, traten Staat und Provinzen als Träger der
öffentlichen Armenlasten ein, oder die Gemeinden gingen mit der Beschaffung von
Arbeit vor , indem sie entweder Arbeiten , welche ohnehin ausgeführt werden
mußten, in die Zeiten größerer Arbeitslosigkeit legten , oder besondere Arbeiten
für diesen Zweck einrichteten. Betont sei dabei, daß der Bezug von Armenunter¬
stützung in einer Reihe von Staaten den Verlust politischer Rechte nach sich
zieht. Mit dem Beginn der neunziger Jahre, mit der Entwicklung der Organi¬
sation der Arbeiter, änderte sich die Auffassung der Arbeiter in dieser Frage.
Man empfand es schwerer als zuvor, daß ein Arbeiter bei unverschuldeter Arbeits¬
losigkeit auf Wohltätigkeit angewiesen sei oder gar der Armenpflege anheimfallen
und damit einen Teil seiner politischen Rechte einbüßen sollte. Die Auffassung
der Arbeiter, zumal in Deutschland, machte sich dahin geltend, daß es Sache des
Staates sei , für Arbeit zu sorgen oder bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit den
Arbeiter zu unterhalten. In der Schweiz wurde sogar der förmliche Antrag auf
Aufnahme der Bestimmung des Rechts auf Arbeit an die Bundesregierung ge¬
stellt, allerdings schließlich abgelehnt. Im Zusammenhang mit diesem Wechsel
der Auffassung steht auch um diese Zeit das Vorgehen der Staaten und Gemein¬
den auf dem Gebiete des Arbeitsnachweises. Wurde so auf der einen Seite von
den öffentlichen Organen durch Arbeitsverschaffung und Arbeitsvermittlung der
Arbeitslosigkeit direkt entgegengetreten, so setzte auf der anderen Seite um diese
Zeit in Deutschland die Selbsthilfe des Arbeiterstandes durch Einführung der
Arbeitslosenunterstützung in den Verbänden ein. Anfänglich ging man dabei
von karitativen Gesichtspunkten aus, wurde sich indessen wohl bald darüber klar,
daß diese Unterstützung der Arbeitslosen nicht nur diesen, sondern auch den in
Arbeit stehenden Mitgliedern zugute kam, da die Arbeitslosen sie nicht mehr auf
dem Arbeitsmarkt unterboten. Was eingeführt war als Linderungsgrund für die
Not der arbeitslosen Mitglieder, das wurde zum wertvollsten Instrument der ge¬
werkschaftlichen Politik der Hochhaltung der Lebenshaltung. Dieser Einsicht
verdankt die Arbeitslosenunterstützung die Entwicklung, die sie in den letzten
20 Jahren genommen hat, von der Sie einen Begriff erhalten werden, wenn ich
erwähne, daß im Jahre 1904 die englischen Gewerkvereine 13 Millionen, die deutschen
Arbeiterverbände über 2 Millionen Mark für Arbeitslosenunterstützung verausgabt
haben. So wurde das Problem praktisch von zwei Seiten in Angriff genommen,
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 283
Ton den Gemeinden einerseits, von den Arbeitern selbst andererseits, und zwar
von beiden in der Richtung der Trennung der Arbeitslosenfürsorge vom Armen¬
wesen. Man lehnte von Arbeiterseite Armenunterstützung als Hilfe hei unver¬
schuldeter Arbeitslosigkeit ab und verlangte strenge Scheidung von Arbeitslosen¬
unterstützung und Armenpflege, man lehnte ebenso Almosen ab, und so ent¬
wickelte sich historisch die Idee einer öffentlichen Arbeitslosenversicherung, die
begrifflich und tatsächlich vom Armenwesen und Wohltätigkeit streng geschieden
sein sollte.
Welches ist nun positiv die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung? Die
Antwort stößt sofort auf Schwierigkeiten bei Feststellung des Begriffs „arbeits¬
los“. Wer ist arbeitslos? Arbeitslos ist z. B. auch der Arbeitsscheue. Für ihn
ist augenscheinlich die Arbeitslosenversicherung nicht bestimmt. Arbeitslos ist
auch der Arbeitsunfähige. Auch an ihn ist augenscheinlich in diesem Zusammen¬
hänge nicht gedacht. Er ist Gegenstand der Invalidenversicherung oder der Wohl¬
fahrtspflege oder der Armenpflege. Es handelt sich bei dem Problem der Arbeits¬
losenversicherung vielmehr lediglich um die Frage der zeitweiligen wirtschaft¬
lichen Sicherstellung der arbeitswilligen und arbeitsfähigen Personen während
vorübergehender Arbeitslosigkeit. Aber die Grenze muß noch enger gezogen
werden. ' Arbeitslos kann nur jemand sein, der gewöhnlich erwerbstätig ist und
zwar erwerbstätig als Arbeitnehmer. Es werden also aus dem Begriff auszu¬
scheiden sein die ganze nicht erwerbstätige Bevölkerung und außerdem ..alle selb¬
ständigen Erwerbstätigen, wie die Unternehmer, Handwerker, Gewerbetreiben¬
den usw. Wann ist denn nun aber Arbeitslosigkeit als eingetreten anzusehen?
Vom Standpunkt des Individuums ist Arbeitslosigkeit vorhanden, wenn der Arbeit¬
nehmer seine Beschäftigung verloren und eine noch nicht gefunden hat und zur¬
zeit nicht finden kann. Anders kann die Frage der Arbeitslosigkeit als Massen¬
erscheinung vom Stande der Volkswirtschaft aus beurteilt werden. Arbeitslosig¬
keit in der Industrie steht hier neben Arbeitermangel in der Landwirtschaft.
Ausländische Arbeiter werden z. B. zu billigeren Löhnen herangezogen, während
inländische Arbeiter beschäftigungslos sind. Kann volkswirtschaftlich von Arbeits¬
losigkeit gesprochen werden, wenn auf der anderen Seite in der gleichen Volks¬
wirtschaft ein großer Bedarf an Arbeitskraft besteht? Die Frage wird mit „ja“
zu beantworten sein. Arbeitskraft ist nicht ohne weiteres eine fungibile Ware;
Industriearbeiter sind nicht ohne weiteres fähig, in der Landwirtschaft tätig zu
sein. Was sowohl in der Industrie wie in der Landwirtschaft gebraucht wird,
ist nicht die abstrakte Arbeitskraft, sondern Arbeiter mit bestimmten Qualitäten
und Arbeit zu bestimmten Bedingungen. Es ist wohl möglich, daß in einer
Volkswirtschaft Mangel an einer Art von Arbeitern und Überfluß in einer anderen
Art vorhanden ist. In der Frage der Arbeitslosenfürsorge wird danach für die
Feststellung des Begriffes „Arbeitslosigkeit“ vom Standpunkt des Individuums
auszugehen sein. Arbeitslosigkeit ist vorhanden, wenn der Arbeiter seine Be¬
schäftigung verloren und eine angemessene neue noch nicht gefunden hat und
zurzeit nicht finden kann. Wenn wir uns über die Stellung der Frage einer
Arbeitslosenversicherung unter Zuhilfenahme öffentlicher Mittel im einzelnen klar
werden wollen, so müssen wir uns nunmehr noch über einige allgemeine Gesichts¬
punkte verständigen. Welches ist denn die Aufgabe, die dem Staate auf diesem
Gebiete zukommt? Ist danach die Forderung einer Arbeitslosenversicherung be¬
rechtigt, und, falls sie berechtigt ist, ist sie möglich und ist sie notwendig? Das
sind die Fragen, auf die die Antworten zu finden sind. In jeder Volkswirtschaft
284 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
befindet sich ständig und ganz normalerweise ein gewisser Prozentsatz von Per¬
sonen vorübergehend außer Arbeit und stets im Begriff, neue Arbeit zu suchen.
Für Deutschland wird man diese Ziffer im Jahresmittel auf etwa 400000 Per¬
sonen veranschlagen können. Wenn man nach systematischen Gesichtspunkten
eine Einteilung der bisher versuchten Lösungen der Arbeitslosenversicherung vor¬
nehmen will , so ergeben sich vier große Gruppen , in die man die vorhandenen
Einrichtungen einzugliedern vermag. In einzelnen Fällen finden sich ivohl auch
Mischformen, die in mehrere Gruppen gehören; sie bereiten indessen der Syste¬
matik wenig Schwierigkeiten. Die vier Gruppen, die hier in nachstehendem be¬
handelt werden sollen und die meinen Ausführungen als Einteilungsprinzip zu¬
grunde liegen, sind folgende: Alle bisherigen Versuche lassen sich charakterisieren
als 1. Selbsthilfe, 2. obligatorische Versicherung, 3. fakultative Versicherung und
4. Subvention der Selbsthilfe unter Verzicht auf selbständige Versicherungsein¬
richtungen. Es ist das die gleiche Einteilung, die auch der amtlichen Darstellung
im Beichsarbeitsblatt zugrunde gelegt ist. Von diesen vier Gruppen hat bisher
praktisch weitaus die größte Bedeutung die erste Gruppe, nämlich die Selbsthilfe.
Ich nannte oben schon die Zahl von 13 Millionen Arbeitslosenunterstützung, die
die englischen Gewerkvereine, und von 2 Millionen Mark, die die deutschen
Arbeiterverbände im Jahre 1904 an Arbeitslosenunterstützung zahlten. Es sind
das Beträge, die alles, was sonst auf diesem Gebiete geleistet worden ist, weitaus
hinter sich lassen. Die Selbsthilfe auf diesem Gebiete ist im allgemeinen in allen
Ländern gewerkschaftlicher Natur gewesen. Wie schon oben gestreift wurde, ist
die Arbeitslosenunterstützung gleichzeitig ein wertvolles Instrument der gewerk¬
schaftlichen Lohnpolitik. Durch die Arbeitslosenunterstützung verhindert die
Gewerkschaft, ihre in Arbeit stehenden Kollegen zu unterbieten und dadurch auf
den Lohn im Gewerbe zu drücken ; sie soll verhindern, daß der Standard, den die
Organisation bei guter Konjunktur an Arbeitskämpfen erreicht hat, bei schlechter
Konjunktur wieder herabgesetzt wird, sie ist, vom gewerkschaftlichen Standpunkt
betrachtet, die logische und notwendige Ergänzung der Streikunterstützung. Ich
will auf die Bedeutung der Selbsthilfeorganisationen in den einzelnen Ländern
nicht näher eingehen, da ich Ihnen sonst ein großes Zahlenmaterial vorführen
müßte, das Sie nur verwirren würde; ich möchte nur betonen, daß England,
Deutschland und Dänemark in dieser Hinsicht die führenden Länder sind. In
Deutschland ist übrigens, wie ich hervorheben möchte, die Selbsthilfe nicht auf
die gewerkschaftliche Unterstützung beschränkt geblieben, sondern sie hat sich
hier auch die Form des Konsumvereins nutzbar gemacht, um durch Regelung des
Warenkredits und der Spartätigkeit in eigenartiger Weise die Sicherstellung der
Arbeiter gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Es handelt sich um
das sehr bemerkenswerte Beispiel des von Arbeiterseite begründeten „Konsum-,
'Bau- und Sparvereins Produktion in Hamburg“. Dieser Konsumverein zahlt seine
Einkaufsdividende nicht aus, sondern bildet aus ihr, soweit sie nicht zur Ergän¬
zung des Geschäftsanteils der Mitglieder erforderlich ist, einen Notfonds. Die auf
ein Mitglied pro rata seiner Bezüge entfallenden Dividenden werden bis zur Höhe
von 100 Mark zu einem personellen Notfonds angesammelt. Um Mitgliedern, für
welche noch kein oder kein Notfonds mehr besteht, in Notfällen beizustehen, wird
aus dem jährlichen Reingewinn ein- Warenvorschußfonds angelegt. Der Arbeiter
bildet hier also dadurch, daß er die Einkaufsdividende nicht ausgezahlt erhält,
ein Guthaben bis 100 Mark. Hat er im Falle der Arbeitslosigkeit dieses ver¬
braucht, so tritt der Konsumverein für ihn ein und gewährt ihm Warenvorschuß,
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 285
bis er wieder in der Lage ist, zu verdienen. Die Einrichtung hat sich bei ge¬
nanntem Verein sehr bewährt. Der Verein zählt im Jahre 1905 18766 Mitglieder,
der Reingewinn betrug 1904 rund 108000 M. , der Umsatz 3 Mill. M. Berück¬
sichtigt man, daß wir in Deutschland zurzeit etwa 2000 Arbeiterkonsumvereine
haben, so wäre au sich die Möglichkeit gegeben, den genossenschaftlichen Ge¬
danken dazu zu benutzen, um auch diesem Zweige der Selbsthilfe zur Abwehr
der Folgen der Arbeitslosigkeit eine weitere Ausdehnung zu geben nach dem
Vorbilde, wie es in der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung bereits heute
vorliegt. Eine solche Entwicklung ist indessen bisher nicht eingetreten ; es liegen
bislang auch keine Anzeichen vor, daß sie in nächster Zeit eintreten wird. Was
die Beurteilung der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung betrifft, so stellt
sie sich, versi.cherungstechnisch betrachtet, als eine Sammlung der besseren
Risiken dar. Durch die gewerkschaftlichen Anforderungen, die Beitragszahlung,
das Eintrittsgeld, ist die Mitgliedschaft soweit erschwert, um die schlechteren
Risiken herauszulassen. Alle die schwierigen Fragen, wie die freiwillige Arbeits¬
losigkeit durch Kündigung oder sonstige Herbeiführung des Unterstützungsfalles,
außer durch grobes Verschulden, wie die Annahme von Arbeit zur Beendigung
des Unterstützungsfalles zu behandeln ist, alle diese Fragen löst dieses System
einfach , und zwar nicht vom versicherungstechnischen sondern vom spezifisch
gewerkschaftlichen Standpunkt. Maßgebend für die Entscheidung dieser Frage
ist das gewerkschaftliche Interesse. Was bisher in den meisten Ländern dieser
Selbsthilfeorganisation der Arbeiter noch fehlt, ist die Verbreiterung der Grund¬
lage, die durchgehends auf einen verhältnißmäßig engen Kreis der Arbeiter be¬
schränkt ist. Die Höhe der Leistungen ist in den vorgeschrittenen Ländern und
Verbänden zum Teil eine recht bedeutende — ein Beweis, daß sich auf diesem
Wege au sich nicht unbedeutende Leistungen erzielen lassen. Die obligatorische
Arbeitslosenversicherung, die vorher in der systematischen Einteilung an zweiter
Stelle genannt wurde, ist nur einmal praktisch geworden, und zwar in St. Gallen
in der Schweiz. Zwei weitere Versuche in Zürich und Basel entfallen ebenfalls
auf die Schweiz; sie sind jedoch über das Stadium des Projektes nicht hinaus¬
gekommen. An dritter Stelle war oben die fakultative Versicherung genannt.
Die freiwillige Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit setzt offensicht¬
lich ein großes Maß wirtschaftlicher Voraussicht und Selbstdisziplin voraus; un¬
organisierte Arbeiter mit knappen Einkommensverhältnissen entschließen sich nur
schwer zu der Verpflichtung der Zahlung regelmäßiger Beiträge auf die unge¬
wisse Möglichkeit hin, arbeitslos zu werden. Das Ergebnis ist daher bei dieser
Form der Versicherung durchweg, daß nur die besser gelohnten Arbeiter sich
zur freiwilligen Versicherung entschließen, und auch diese nur, soweit sie mit
ziemlicher Sicherheit damit rechnen müssen, einen Teil des Jahres keine Be¬
schäftigung zu haben, vor allem die Bauarbeiter. Dies sind, wie auch das Reichs¬
arbeitsblatt hervorhebt, die Gründe und psychologische Erwägungen, aus denen
sich ergibt, daß der Umfang fakultativer Arbeitslosenversicherung stets ein sehr
beschränkter sein wird, und die Erfahrung bestätigt es. An letzter Stelle in
unserer obigen Einteilung war genannt die Subvention der Selbsthilfe unter Ver¬
zicht auf selbständige Versicherungseinrichtungen. Der diesem System zugrunde
liegende Gedanke von Louis Varlez geht zurück auf seine Anschauung, daß
die zweckmäßigste Betätigung der öffentlichen Körperschaften in der Arbeitslosen¬
frage die sei, an die Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter anzuknüpfen und durch
die Aussicht auf Gewährung von Zuschüssen an die Verbände nach dem Maß der
286 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
eigenen Leistungen der Verbände einen Anreiz zur Selbsthilfe zu schaffen. Die
Erziehung zur Selbsthilfe unter Beihilfe von Gemeinden und Staat ist, kurz ge¬
faßt, die Idee, die dem System zugrunde liegt. Das System hat seine großen
Vorzüge, aber auch seine Schwächen und Grenzen. Die Vorzüge liegen darin,
daß hier die Organisation nach Berufen der Arbeiter und die Gruppierung der
Berufsrisiken schon gegeben ist, daß die ganze Kontrolle und Verwaltung, die
Einziehung der Beiträge und die Auszahlung zu Lasten der Arbeiter verbände
verbleibt. Die Grenzen des Systems liegen in anderer Richtung. Dies System
hilft nur dem, der sich schon selbst hilft. Wo die eigene Initiative versagt, versagt
auch das System; wer sich nicht selbst hilft, bleibt nach wie vor auf Armenpflege
und Wohltätigkeit verwiesen. Die Arbeiterelemente, welche es am dringendsten
bedürfen, Averden danach auch von diesem System nicht erfaßt. Was die Erfahrungen
mit dem sogenannten Genter System anlangt, so ist das System verhältnismäßig
glücklich in seiner Lösung der Kontrolle. Die Gemeinde zahlt nur Zuschuß, so¬
weit der Verband selbst Unterstützung zahlt. Hinter diesem Wall des finanziellen
Selbstinteresses der Verbände, wie Varlez es nennt, war der Fonds im wesent¬
lichen vor mißbräuchlicher Ausbeutung sicher, zumal die Vereine in Gent ihre
geringe Mitgliederzahl gut zu kontrollieren in der Lage waren. Die Frage des
Selbstverschuldens wird beim Genter System nicht gestellt; wem die Verbände
Arbeitslosenunterstützung zahlen, bleibt ihnen überlassen. Nur einen gemeind¬
lichen Zuschuß erhalten sie lediglich bei solchen Unterstützungen, die sich auf
unfreiwillige Arbeitslosigkeit infolge von Arbeitsmangel oder Betriebsstörungen
beziehen. Dem Vorbild von Gent sind in Belgien selbst eine Reihe von Gemeinden
und Provinzen gefolgt, wogegen die belgische Regierung sich bisher ab-
wartend verhalten hat. In Frankreich hat man den Gedanken des Genter Systems
ebenfalls aufgegriffen und hat im letzten Jahre allerdings in sehr geringem Um¬
fange staatliche Zuschüsse zu den Unterstützungsleistungen der Verbände zu ge¬
währen begonnen. In Italien ist aus privater Initiative in Mailand eine Arbeits¬
losenkasse nach dem Genter System im vorigen Jahre eingerichtet worden. Nor¬
wegen hat in diesem Sommer ein Gesetz zur Annahme gebracht, wonach eben¬
falls den Verbänden der Arbeiter staatlicherseits gewisse Zuschüsse zu ihren
Unterstützungsleistungen gewährt werden. In Dänemark sind ähnliche Ma߬
regeln von einer königlichen Kommission in Vorschlag gebracht und dem Parla¬
ment unterbreitet worden. Überblicken Sie die Reihe der Versuche einer Arbeits¬
losenversicherung, wie ich sie Ihnen hier vorgeführt habe, so ergibt sich zweierlei,
einmal, daß auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitslosen¬
versicherung bisher nur die Selbsthilfe wirklich bedeutende Leistungen aufzu¬
weisen hat; zweitens, daß, wo bisher ein staatliches Vorgehen staatgefunden hat,
es sich vollzogen hat in der Richtung des Verzichts auf selbständige Ver¬
sicherungseinrichtungen und sich beschränkt hat auf Subvention der vorhandenen
Selbsthilfeeinrichtungen. Inwieweit das berechtigt und wirkungsvoll, werden Sie
aus meinen Ausführungen selbst zu schließen in der Lage sein. Dies Ergebnis,
wonach es den Anschein hat, als ob hier auf dem Gebiet der Arbeitslosenfürsorge
nur etwas durch Selbsthilfe zuwege gebracht sei, könnte indessen zu einer voll¬
kommen falschen Auffassung führen. Es könnte scheinen, als ob die öffentlichen
Organe bisher auf dem Gebiet der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihrer
Folgen ganz untätig gewesen wären. Dem ist nicht so. Die bisherige Tätigkeit
der öffentlichen Organe hat sich allerdings bisher weniger darauf gerichtet, durch
Gewährung eines Rechtsanspruches auf Unterstützung die wirtschaftlichen Folgen
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 287
der Arbeitslosigkeit zu mildern und zu beseitigen, als vielmehr darauf, die Ur¬
sachen der Arbeitslosigkeit selbst zu bekämpfen. Ich erwähnte oben schon die
Tätigkeit der Gemeinden auf dem Gebiete des Arbeitsnachweises, und möchte
noch erinnern an die Einrichtung von Notstandsarbeiten , an die zeitliche Ver¬
schiebung der öffentlichen Arbeiten auf Zeiten geringer Beschäftigung, an die
Durchführung des Fortbildungszwanges, die die Qualitäten des Arbeiters hebt und
weiterbildet. Auf diesem Wege hat man bisher versucht, die Quellen der Arbeits¬
losigkeit einzudämmen, und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit selbst und ihrer
Quellen wird bei der Bekämpfung der Folgen der Arbeitslosigkeit wohl auch
weiterhin eine hervorragende Stelle einzuräumen sein. Gelingt es, die Arbeits¬
losigkeit selbst durch zweckmäßige Organisation der Volkswirtschaft wesentlich
herabzumindern, so ist damit auch der größte Teil des zweiten Problems, der
Sicherstellung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit in seiner Lösung vorbereitet.
Die Durchführung aller der Maßnahmen, welche geeignet sind, die Erreichung
dieses Zweckes zu erleichtern, die Hebung der Fachschulbildung, der Ausbau des
Arbeitsnachweises, die Erleichterung der fachlichen und freien Organisation der
Arbeiter, die Regulierung der Einwanderung, sie bilden die Vorbereitung zu einer
zweckmäßigen Behandlung auch des weiteren Problems : der Sicherstellung gegen
die Folgen der Arbeitslosigkeit. Was die Projekte anbetrifft, welche eine staat¬
liche Organisation der Arbeitslosenversicherung an die Einrichtungen der deutschen
Arbeiterfachverbände anknüpfen wollen , so handelt es sich dabei um ein den
deutschen Verhältnissen entsprechend modifiziertes Genter System. Nach den
Vorschlägen von Elm’s und des Korrespondenzblattes der Gewerkschaften wird
allerdings den staatlichen Organen weniger Einfluß auf die Verwaltung einge¬
räumt, als wie dies beim Genter System der Fall ist. Bemerkenswert bei diesen
Projekten ist vor allem die Begründung. Begründet werden sie in der Weise,
daß die Arbeiterorganisationen mit ihren bisherigen Leistungen Aufgaben er¬
füllten, die zu leisten eigentlich Sache des Staates wäre, und daß der Staat sie
in Zukunft dafür entschädigen muß. Wir haben uns mit dieser Auffassung bereits
oben auseinandergesetzt und ich will hier nicht erneut darauf eingehen, sondern
möchte mich nur auf meine Bemerkungen über das Genter System überhaupt be¬
ziehen. Die Vorschläge, welche an die Unternehmerverbände anknüpfen wollen,
nehmen zum Ausgangspunkt durchgehends die deutsche Unfallversicherung. Es
handelt sich um die Vorschläge von Herkner, Zacher und Buschmann.
Gemeinsam ist diesen Vorschlägen die Auffassung, daß die Industrie verantwort¬
lich wäre für die Schwankungen der Konjunktur und daher auch die Lasten
der Arbeitslosenversicherung ihrerseits zu tragen habe. Auch diese Auffassung
kann gewissen Bedenken unterliegen. Ich möchte bloß darauf hinweisen, daß
der größte Prozentsatz der Arbeitslosigkeit in Deutschland im Winter auf die
Wettersaisongewerbe entfällt, also mit Umständen zusammenhängt, die von dem
Willen oder von dem Verschulden der Unternehmer gänzlich unabhängig sind,
sondern nach dem Klima, in dem wir leben, mit dem betreffenden Gewerbe un¬
veränderlich verknüpft sind. Ob es angängig ist, bei dieser Sachlage den Ge¬
dankengang, der diesen Vorschlägen zugrunde liegt, festzuhalten, lasse ich dahin¬
gestellt. Die Idee, die Kosten der Arbeitslosenversicherung ausschließlich durch
die Arbeitgeber auf bringen zu lassen, die von den ScliAvankungen der Konjunktur
selbst betroffen werden und gerade in Zeiten der Krisen selbst am wenigsten
leistungsfähig sind, bedürfte in jedem Fall sehr genauer Prüfung, bevor man sie
in diesem Umfange als berechtigt anerkennen könnte. Die Vorschläge, die an
288 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
«
die Krankenversicherung und an die Invalidenversicherung anknüpfen, werden
dadurch beeinträchtigt, daß diese beiden Organisationen für ganz andere Zweige
geschaffen sind als für den Zweck einer Arbeitslosenversicherung und daher für
diesen neuen Zweig nicht so recht geeignet erscheinen ; die Krankenversicherung,
weil sie in ca. 23000 Kassen zersplittert, für diese Zweige nicht einheitlich genug
organisiert ist, die Invalidenversicherung, weil ihr jede Gliederung der Berufe
und ein lokaler Unterbau fehlt, — zwei Vorbedingungen, die für die Organisation
einer Arbeitslosenversicherung unerläßlich erscheinen. Auf die Projekte, welche
an den Arbeitsnachweis und an die Gemeinden anknüpfen wollen, brauche ich
nicht weiter einzugphen, weil von ihnen nur eine allmähliche Entwicklung er¬
wartet wird, nicht die Organisation einer Arbeitslosenversicherung für das ganze
Reich mit einem Schlage. Wenn ich mich kurz zusammenfassen darf, so möchte
ich meine Ausführungen damit schließen, daß ich sage, man ist bisher bestrebt
gewesen, die Arbeitslosigkeit selbst zu bekämpfen und wird weiter bestrebt sein
müssen , diese Bekämpfung mit allen Mitteln zweckmäßiger Organisation der
Volkswirtschaft auch weiter durchzuführen und weiter auszubauen, und diese
Bekämpfung wird dem zweiten Problem, der Sicherstellung gegen die Folgen der
Arbeitslosigkeit, seine größte Schärfe nehmen. Die verschiedenen Systeme der
Sicherstellung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit, welche bereits heute ge¬
braucht sind oder vorgeschlagen werden, vermögen alle nicht, entweder das Pro¬
blem einwandfrei oder es in seinem vollen Umfange zu lösen. Es handelt sich
bei allen diesen Vorschlägen entweder nur um mangelhafte oder nur um partielle
Lösungen. Ein System, welches allen Anforderungen in vollem Umfange genügte,
ist bisher nicht bekannt geworden. Man kann nur hoffen , daß die weitere Ent¬
wicklung die vielen Zweifelsfragen , die auf diesem Gebiete noch bestehen,
klären wird, und daß es dann möglich sein wird, zu einer Lösung zu gelangen,
die in gleicher Weise dem Interesse des Staates^ Avie demjenigen der Arbeiter
Rechnung trägt. Als Vorbedingung für die zAveckmäßige Inangriffnahme der
Frage muß in jegem Fall für die ausländischen ebenso Avie für unsere deutschen
Verhältnisse der weitere Ausbau des Arbeitsnachweises bezeichnet werden. Es
ist eine gesunde volkswirtschaftliche Auffassung, daß der Staat öffentliche Mittel
nur soAveit zur Verfügung stellen soll, als den Arbeitslosen angemessene Arbeit
nicht zur Verfügung gestellt Averden kann. Eine Übersicht darüber, ob das der
Fall ist , ist aber nur möglich bei vollständiger Organisation der Arbeitsver¬
mittelung.
Umschau.
Berlin, den 10. Juli 1907.
Eine tiefgehende Reform des sozialen Versicherungswesens im
Sinne einer Zusammenlegung der drei großen Versicherungskörper
ist nach den Ausführungen, die der Staatssekretär v. Posadowsky-
Wehner hei der diesjährigen Etatberatung im Reichstage machte,
in weitere Ferne gerückt, als nach früheren Äußerungen anzu¬
nehmen war. Doch steht eine Reform des Krankenversicherungs¬
gesetzes, die in der Tat dringend notwendig ist, in absehbarer
Zeit bevor. Ferner soll die hinausgeschobene Vereinheitlichung
des Versicherungswesens durch eine Zusammenlegung der drei Ge¬
setze in Form einer neuen Kodifikation der Gesetzgebung vor¬
bereitet werden. In dieses neue Gesetz soll dann auch die Witwen-
und Waisenversicherung hineingearbeitet werden, die nach dem
Zolltarifgesetz bis zum Jahre 1910 in Kraft treten muß.
Anläßlich des Scheidens des Grafen v. Posadowsky-Wehner
aus seinem Amte als „Minister für Sozialpolitik“ sei vom Standpunkt
der Sozialen Medizin und Sozialen Hygiene daran erinnert, daß seiner
Amtsführung eine umfassende Reform der Invaliden- und Unfall¬
versicherung, eine neue Seemannsordnung, eine Reform der Kranken¬
versicherung, das Kinderschutzgesetz, der Acht- und Neunuhrladen¬
schluß, das Reichsgesetz über die Bekämpfung gemeingefährlicher
Krankheiten, das Verbot zur Herstellung von Phosphorzündhölzern
und die Errichtung der dauernden Ausstellung für Arbeiterwohl¬
fahrt in Charlottenburg gutzuschreiben ist. Da das Ausscheiden
des Grafen von Posadowsky und seine Ersetzung durch von
Bethmann-Hollweg aus allgemeinpolitischen Gründen erfolgte,
dürften daraus für die Sozialpolitik keine pessimistischen Schlüsse
zu ziehen sein.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II.
19
290
Umschau.
Der Plan einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung
ist, wenn er überhaupt jemals ernstlich ins Auge gefaßt worden
ist, wohl definitiv aufgegeben. Das ist im Interesse einer klaren
und zielbewußten Weiterentwicklung durchaus zu begrüßen.
Damit soll keineswegs gesagt werden , daß das Problem der
Arbeitslosigkeit, das die Nationalökonomen so viel beschäftigt,
etwa für die sozial empfindenden Ärzte gleichgültig sei. Sie
haben dazu manches zu sagen und müssen die Volkswirte warnen,
sich bei ihren Deduktionen zu sehr an den abstrakten Begriff der
Arbeitslosigkeit zu halten, anstatt sich die Personen anzusehen, die
hinter diesem Begriffe stehen. Man kann diese Individuen zwanglos
in vier Gruppen einteilen und so am besten die Vielseitigkeit des
Problems erkennen. Die erste Gruppe bilden die Saisonarbeiter,,
die an stets wiederkehrenden Perioden von Arbeitslosigkeit zu
leiden haben. Für diese Art der Arbeitslosigkeit eine staatliche
Versicherung einzuführen, dürfte zwar technisch möglich sein, ist
aber nicht dringend erforderlich, weil gerade diese Arbeiter in
der Regel gelernt haben, sich mit der Saisonarbeitslosigkeit ab¬
zufinden. Die zweite Gruppe bilden jene Arbeiter, die eine frei¬
willige Arbeitslosigkeit auf sich nehmen, weil ihnen Arbeit
nur zu Bedingungen angeboten wird, die ihnen ungenügend er¬
scheinen, um dafür ihre Ware Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte
abzugeben. Diese freiwillige Arbeitslosigkeit, die prinzipiell natür¬
lich durchaus zu billigen ist und ja auch von uns Ärzten bei Standes¬
kämpfen zur Anwendung gelangt, kann natürlich niemals Gegen¬
stand einer staatlichen Versicherung sein, sondern muß den
Berufsorganisationen überlassen bleiben.
Diese beiden Kategorien von Arbeitslosen haben das gemeinsam,,
daß sie nur den Volkswirt, Politiker oder Gewerkschaftler inter¬
essieren, während die folgenden ein spezielles sozialmedizinisches
Interesse darbieten. Die dritte Kategorie bilden nämlich jene
Arbeitslosen, die keine Arbeit zu finden vermögen, weil sie infolge
chronischer Erkrankungen, Schwächezuständen, Alter oder ererbter
körperlicher oder geistiger Minderwertigkeit nur über einen Bruch¬
teil von Arbeitskraft verfügen. Die Zahl dieser Arbeitslosen ist
außerordentlich groß und ihre Situation ist durchaus eines gesetz¬
lichen und behördlichen Eingriffes bedürftig. Die drei großen
Versicherungskörperschaften gewähren ja zurzeit den meisten dieser
Individuen eine dürftige Rente. Aber sie gewähren ihnen nicht
die Möglichkeit, diese Rente durch einen Verdienst zu ergänzen,
f der ihrer verminderten Arbeitsfähigkeit entspricht. Eine neue
Umschau.
291
Versicherung’ für Arbeitslosigkeit würde ihnen nichts helfen. Viel¬
mehr dürften hier Maßregeln allgemeiner Natur, Arbeitsnachweis
und vor allen Dingen Assanierung der Heimarbeit, zu der sich
diese bruchteiligen Arbeitskräfte unter den unwürdigsten Arbeits¬
bedingungen hinflüchten, am Platze sein. Die vierte Kategorie von
Arbeitslosen umfaßt jene, die überhaupt nicht mehr in der Lage
sind, im freien gewerblichen Leben einen Platz auszufüllen, die
Vagabunden, Arbeitsscheuen, kriminellen Individuen usw., deren
Zahl in Deutschland noch nach Hunderttausenden geschätzt werden
muß. Der größte Teil dieser Individuen besteht aus Epileptikern,
Schwachsinnigen, Trunksüchtigen usw. Für diese Art Arbeitslosen
kommt natürlich nur ihre Unterbringung in Asyle in Frage. Aber
es muß von ärztlicher Seite immer wieder betont werden, daß
diese Asylisierung in viel größerem Maße verallgemeinert werden
muß, als das bisher geschehen ist.
Am 31. Mai 1907 starb M. Litten, der außerordentliche Pro¬
fessor für innere Unfallkrankheiten an der Universität Berlin, im
62. Lebensj ahre. A. G r o t j a h n.
Ein Beispiel dafür, daß kostspielige hygienische Anlagen nicht
ausschließlich nach bakteriologischen Gesichtspunkten, sondern
unter Würdigung aller in Betracht kommenden Faktoren, unter
denen besonders die wirtschaftlichen ins Gewicht fallen, vorbereitet
und durchgeführt werden müssen, ist die Wasserversorgung der
Stadt Breslau, über die bereits früher *) in dieser Zeitschrift be¬
richtet worden ist. Nach einem kurzen Zeitraum vorzüglicher
Leistungsfähigkeit nahm Ende März 1906 die Wassermenge ab,
gleichzeitig trat eine Beimengung von Eisen und vor allem von
gelösten Mangansalzen in solcher Stärke auf, daß das Wasser durch
Aussehen und Geschmack ungenießbar und auch für wirtschaftliche
Zwecke unbrauchbar wurde. Man mußte zu filtriertem Oder wasser
zurückkehren und die Wasserwerke lieferten der Bevölkerung eine
je nach dem Vorrat von einwandfreiem Grundwasser wechselnde
Mischung, in der das Oderwasser mehr als die Hälfte ausmachte.
Zeitweise, besonders bei Hochwasser, versagten die Oderwasserfilter
und die Bevölkerung mußte amtlich aufgefordert werden , das
Leitungswasser nur in gekochtem Zustande zu trinken.
Über die Ursachen der Katastrophe wurden umfangreiche
Untersuchungen angestellt, an denen namentlich A. Lührig, der
0 Vgl. diese Zeitschrift, Bd. 1, H. 2, S. 100.
19*
292
Umschau.
Leiter des städtischen chemischen Untersuchungsamts, der Direktor
der Geologischen Landesanstalt Beyschlag und der Landes¬
geologe Michael, sowie der Breslauer Geologe Frech beteiligt
waren. Aus den Verhandlungen, welche der Breslauer Magistrat
Anfang 1907 in einer umfangreichen Denkschrift veröffentlichte,
ergab sich als die hauptsächlichste Ursache der Störung, daß die
Menge des zur Verfügung stehenden Grundwassers für den Bedarf
durchaus ungenügend war und daß in den wenigen Monaten der
Benutzung viel größere Mengen entnommen wurden als nachströmten ;
schließlich entstammte das den Brunnen entnommene Wasser haupt¬
sächlich den tiefsten, an Sedimenten reichen Schichten.
Das praktische Ergebnis der Untersuchungen war jeden¬
falls, daß die Breslauer Gemeindeverwaltung die verunreinigten
Brunnen einzog, die Wasserentnahme aus den gut gebliebenen
Brunnen herabsetzte und mit der Neuerrichtung großer Oderwasser¬
filter vorging; trotz der Bedenken, die gegen die Verwendung des
Wassers eines Stroms vorliegen, der durch industriereiche Gegenden
fließt und einen regen Schiffsverkehr vermittelt, konnte nur durch
dieses gemischte System die erforderliche Wassermenge bereit
gestellt werden.
Die eingehende Erörterung der Breslauer Katastrophe hat
eine Reihe von Vorschlägen hervorgerufen, in denen ein praktischer
Kern enthalten ist und die möglicherweise nicht nur für Breslau,
sondern auch für andere Städte in gleicher Lage die Lösung
großer Schwierigkeiten bringen. Auch Magdeburg z. B. hat damit
zu kämpfen, daß es, wenn irgend möglich, vom Flußwasser sich
frei machen muß, aber nicht über genügende Mengen von Grund¬
wasser verfügt. Man hat nun in Breslau den Vorschlag gemacht,
die Grundwassermenge dadurch künstlich und regulierbar anzu-
reicliern, daß man Oberflächenwasser auf das Gebiet der Grund¬
wasserversorgung leitet, sei es in Gestalt von Teichen oder in
anderer Form und durch natürliche, mittels technischer Einrich¬
tungen geförderte Filtration in den Boden einsickern läßt, um
so den Grundwasserspiegel stets auf der für den Bedarf erforder¬
lichen Höhe zu erhalten. Die Versuche, deren Ergebnis noch aus¬
steht, können für die Frage der Wasserversorgung großer Städte
bedeutungsvoll werden. A. Gottstein.
Das Heilverfahren
nach (len Unfallversicherungsgesetzen.
Von Dr. med. Heinrich Schmidt,
Assistent für Soziale Medizin und Abteilnngsarzt im Krankenhaus der Barmherzigen
Brüder (Direktor Prof. Dr. Th. Rumpf), Bonn.
I. Heilverfahren im formellen Sinne.
1. Beginn des Heilverfahrens.
Das Heilverfahren beginnt regelmäßig nach dem Gew.-G. § 9
u. Iw. G. § 8 vom Beginn der 14. Woche nach Eintritt des Un¬
falles ab. Mit dem Abläufe der ersten 13 Wochen, der sog. Karenz¬
zeit, beginnt also die Verpflichtung der Bg. Dieselbe hat zu ge¬
währen :
„Freie ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heilmittel,
sowie die zur Sicherung des Erfolges des Heilverfahrens und zur
Erleichterung der Folgen der Verletzung erforderlichen Hilfsmittel
(Krücken, Stützapparate u. dgl.).“
Mit der übernommenen Verpflichtung zur Gewährung der
Leistungen gemäß Gew.-G. § 9, lw. G. § 8, Bau-G. § 9 und See-G.
§ 9 steht der Bg. auch das Recht der Leitung und Überwachung
zu. Denn die Bg. hat das größte Interesse daran, daß der Ver¬
letzte sich einer sachgemäßen Behandlung unterzieht, die eine
möglichst schnelle Wiederherstellung bzw. eine möglichst gute
Besserung im Auge hat. Es geht daher nicht an, daß der Ver¬
letzte nach freiem Belieben eine Behandlung bzw. ein Heilverfahren
aufnimmt, das mit den Interessen der Bg. nicht in Einklang steht,
es sei denn, daß ein Fall der Not vorliegt, was im Einzelfalle zu
beurteilen ist.
Hier sei noch erwähnt, daß bestimmte Vorschriften über die
294
Heinrich Schmidt,
„sonstigen Heilmittel nicht bestehen“. Nach der Entscheidung des
RVA. vom 17. IV. Ol, A.-N. 1901, S. 398, Besch. 1861, ist von Fall
zu Fall unter Berücksichtigung der gesamten in Betracht kommen¬
den Verhältnisse zu prüfen, ob etwaige Hilfsmittel, wie z. B. künst-
"T\
liehe Gliedmaßen etc., zu gewähren sind oder nicht.
Die Pflicht zur Gewährung der erforderlichen Hilfsmittel
schließt auch die Pflicht zur Instandhaltung und Erneuerung in
sich, vorausgesetzt, daß nicht eine schuldhafte Zerstörung oder Be¬
schädigung vorliegt (A.-N. 1903, S. 476, Besch. 2005).
2. Übernahme in der Wartezeit.
Die Bg. ist berechtigt, schon während der Wartezeit das Heil¬
verfahren in Erkrankungsfällen, die durch Unfall herbeigeführt
werden, auf ihre Kosten zu übernehmen. Die betr. Bestimmungen
des § 76 b, c, d KVG. finden hierbei entsprechende Anwendung;
siehe auch RG. über die Abänderung des KVG. vom 10. IV. 92,
RGBl. S. 379 ff. (Gew.-G. § 12, Abs. II, lw. G. § 27, Abs. III, Bau-G.
§ 9 u. 10, See-G. § 14). Die Verwaltungen der Gemeinde-Kranken¬
versicherung, die Vorstände der Krankenkassen und die im § 75
KVG. bezeichneten Hilfskassen sind verpflichtet, jeden durch Unfall
herbeigeführten Erkrankungsfall, der durch einen nach den Unfall¬
gesetzen zu entschädigenden Unfall herbeigeführt hat, dem Vor¬
stande der Bg., bei welcher der Erkrankte versichert ist, anzu¬
zeigen. Die Bg. wird sich dann darüber schlüssig werden, ob sie
gemäß § 76 c KVG. das Heilverfahren selbst übernehmen will oder
nicht. Es liegt im Interesse der Bg., von dieser Befugnis in vielen
Fällen und hauptsächlich mehr als seither Gebrauch zu machen,
vor allem um eine möglichst rasche Arbeitsfähigkeit bzw. eine
möglichst geringe Beschränkung der Erwerbsfähigkeit des Ver¬
letzten durch ein ihr günstig erscheinendes Heilverfahren zu er¬
zielen. Wie wichtig diese Bestimmung des § 76 bl KVG. erscheint,
geht daraus hervor, daß die Unterlassung der Anzeige mit einer
Geldstrafe bis zu 20 Mk. geahndet werden kann.
• •
Die Übernahme des Heilverfahrens gemäß § 76 c KVG. seitens
der Bg. gehört unzweifelhaft zu denjenigen Faktoren, die bisher
noch viel zu wenig gewürdigt sind. Eine volle Würdigung kann
nur erzielt werden, wenn sowohl seitens der Bg. jeder einzelne
Erkrankungsfall einer sorgfältigen Prüfung im Sinne des § 76 b c
unterzogen wird, als auch der erstbehandelnde Arzt nach sorg-
295
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
faltiger Untersuchung’, sich alsbald darüber schlüssig wird, ob nicht
im gegebenen Fall die Übernahme des Heilverfahrens durch die
Bg. erfolgen soll oder nicht. Wir werden auf diesen Punkt unten
ausführlicher zurückzukommen haben, bemerken aber schon hier,
daß ein wirklich sachgemäßes und zweckentsp rechen¬
des Handeln der Bg. im Vereine mit dem erstbehan¬
delnden Arzte unzweifelhaft ein weit besseres Besultat zur
Folge haben wird, als solches in der Gesamtübersicht für das Jahr¬
zehnt 1893/1902 A.-N. 1904 S. 270 verzeichnet ist. Die Zukunft
dürfte lehren, daß einmal ein zielbewußtes Vorgehen der Bg. und
weiterhin eine schärfere Beurteilung des einzelnen Falles seitens
des erstbehandelnden Arztes allein oder unter Hinzuziehung eines
weiteren Arztes nicht nur zur Ermäßigung der Unfallkosten
überhaupt beiträgt, sondern auch in vielen Fällen für d i e Wohl¬
fahrt des Verletzten selbst und seiner Familie von
ganz außerordentlicher Bedeutung ist.
3. Übertragung des Heilverfahrens an die Kranken¬
kasse nach der Wartezeit.
(Gew.-G. § 11, lw. G. § 14, Bau-G. § 9, See-G. § 16.)
„Die Bg. ist befugt, der Krankenkasse, welcher der Verletzte
angehört oder zuletzt angehört hat, gegen Ersatz der ihr dadurch
erwachsenen Kosten die Fürsorge für den Verletzten über den Be¬
ginn der 14. Woche hinaus bis zur Beendigung des Heilverfahrens
in demjenigen Umfange zu übertragen, welchen die Bg. für geboten
erachtet.“
Eine ausdrückliche Übertragung des Heilverfahrens ist nicht
erforderlich, wenn bereits gemäß § 21, Abs. 1, Ziff. 1 KVG. die
Dauer der Krankenunterstützung auf einen längeren Zeitraum als
13 bzw. 26 Wochen festgesetzt ist oder wenn sich gemäß § 6,
Abs. II KVG. die Leistungen der Krankenkassen auf einen längeren
Zeitraum als 13 Wochen erstrecken.
Daß die Bg. befugt ist, auch schon innerhalb der ersten
13 Wochen nach dem Unfall das Heilverfahren zu übertragen,
z. B. wenn die Krankenkasse die ihr obliegenden Leistungen zu
Unrecht eingestellt hat, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Im übrigen kann den Krankenkassen von den Bg. die Für¬
sorge für Verletzte nur bis zur Beendigung des Heilverfahrens
übertragen werden (A.-N. 1889, S. 196, Rek.-E. 705). Die beauf¬
tragten Kassen (siehe Gew.-G. § 11, Abs. IV und lw. G. § 14, Abs. V,
296
Heinrich Schmidt,
Bau-G. § 9, See-G. § 16) sind zur Übernahme des Heilverfahrens
verpflichtet.
Eine Sonderbestimmung trifft Gew.-G. § 11, Abs. II, lw. G.
§ 14, Abs. III, indem’ nämlich die Landes-Zentralbehörde anordnen
kann, daß die Mitglieder derjenigen Krankenkassen, welche Heil¬
anstalten errichtet haben, in denen ausreichende Einrichtungen für
die Heilung der durch den Unfall herbeigeführten Verletzungen
getroffen sind, bis zum Beginn der 14. Woche nur mit Ge¬
nehmigung der Vorstände dieser Kassen in andere Heil¬
anstalten untergebracht werden dürfen. Diese Bestimmung hat
wohl in erster Linie einen materiellen Charakter, indem, wie be¬
greiflich, die betr. Kassen in der Lage sein sollen, ihre eigenen
Heilanstalten mit Kranken belegen zu können, ferner um jede un¬
nötige, mit Auslagen verbundene Überweisung in eine andere An¬
stalt tunlichst vermeiden zu können.
Der Verletzte darf während des Heilverfahrens nur mit seiner
Zustimmung in eine andere Heilanstalt überführt werden. Dies
hat seine Berechtigung, indem einerseits nicht nach Willkür eine
Überweisung in eine andere Anstalt erfolgen kann und weil anderer-
• •
seits Beschwerden des Verletzten wegen unnötiger Überweisung
vorgebeugt werden soll. Es kann allerdings diese Zustimmung
durch die untere Verwaltungsbehörde des Aufenthaltes ergänzt
werden. Die untere Verwaltungsbehörde (als welche nach der
Ausführungsanweisung zum Unfallversicherungsgesetz für G. und F.
vom 19. VIII. 1900 in Städten mit mehr als 10000 Einwohnern
die Gemeindebehörden, im übrigen die Landräte anzusehen sind)
wird z. B. von diesem Beeilte Gebrauch machen, wenn die Über¬
führung offenbar oder nach Ansicht des Arztes im Interesse des
Heilverfahrens für unbedingt erforderlich erachtet wird oder wenn
• •
gar der Verletzte aus Schikane einer Überführung widersprechen
sollte.
Die Ersatzpflicht ergibt sich aus Satz 1 u. 2 des Abs. I zu
§11 Gew.-G. und § 14 lw. G., Bau-G. § 9 und See-G. § 16.
Über das Verhältnis der Krankenkasse zu der Bg., wTelche ihr
die Fürsorge für einen Verletzten über die 13. Woche hinaus über¬
tragen hat, siehe Entscheidung des preuß. Oberverwaltungsgerichts
vom 14. II. 1889, A.-N. 1890, S. 510. Die Übertragung der Ent¬
schädigungsleistung seitens der Bg. ist nicht Voraussetzung des
Ersatzanspruches der Krankenkassen an die Bg. für statutarische
Leistungen der Krankenkassen nach dem Beginn der 14. Woche
nach dem Unfall (A.-N. 1896, S. 305 jr
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
297
4. Beendigung des Heilverfahrens bei fortdauernder
Erwerbsunfähigkeit.
Für den Fall, daß das Heilverfahren beendet, die volle Er¬
werbsfähigkeit aber noch nicht hergestellt ist und die Kranken¬
kasse kein Krankengeld mehr gewährt, trifft Gew.-G. § 13, lw. G.
§ 15, Bau-G. §§ 9 u. 10, See-G. § 15 die Bestimmung, daß die Bg.
dem Verletzten die Unfallrente schon von dem Tage ab zu ge¬
währen hat, an welchem der Anspruch auf Krankengeld in Weg¬
fall kommt.
Der allgemeine Grundsatz, daß die Leistungen aus der Unfall¬
versicherung erst mit dem Ablauf der ersten 13. Woche eintreten,
wird also durch obige Bestimmung durchbrochen und ist als Vor¬
aussetzung hierfür erforderlich, daß entweder Krankengeld seitens
der versicherungspflichtigen Personen bezogen worden ist oder ein
Anspruch auf Krankengeld in jener Zeit bestanden hat.
Auf landwirtschaftliche Arbeiten findet obige Bestimmung in¬
sofern keine Anwendung, als dieselben Krankengeld nicht bezogen
haben. (Siehe im übrigen A.-N. 1901, S. 363, Besch. 1854, A.-N.
1901, S. 599, RE. 1881.)
5. Ein neues Heilverfahren jederzeit.
(Gew.-G. § 23, lw. G. § 24, Bau-G. § 9, See-G. § 18.)
Die Bg. kann, wenn begründete Annahme vorhanden ist, daß
der Empfänger einer Unfallrente bei Durchführung eines Heilver¬
fahrens eine Erhöhung der Erwerbsfähigkeit erlangen werde, jeder¬
zeit ein neues Heilverfahren eintreten lassen. Eine begründete
Annahme im obigen Sinne ist stets als vorhanden anzunehmen, so¬
lange eine Aussicht auf Besserung der Unfallfolgen besteht. Es
finden die früheren Bestimmungen gemäß Gew.-G. § 11, Abs. I u. II
und lw. G. § 14 mit Ausnahme des Abs. III bzw. Abs. IV dieser
Paragraphen entsprechende Anwendung.
Weigert sich der Verletzte ohne gesetzlichen und triftigen
Grund, bei Wiedereröffnung eines neuen Heilverfahrens den Ma߬
nahmen der Bg. nachzukommen, so kann ihm der Schadenersatz
auf Zeit ganz oder teilweise versagt werden unter den weiteren
Voraussetzungen des Gew.-G. § 23, Abs. II, lw. G. § 24, Abs. II,
Bau-G. § 9, See-G. § 18.
Als gesetzlicher Grund zur Weigerung ist z. B. die Bestimmung
298
Heinrich Schmidt,
des § 22 Gew.-G., Abs. I. Ziff. 1 anzusehen und die analogen Be¬
stimmungen der übrigen Gesetze.
Welche Gründe? als triftig oder als nicht triftig anzusehen
sind, wird im Einzelfalle zu entscheiden sein. Unter den zahl¬
reichen hierüber eingegangenen Entscheidungen, die sich auf Moral,
Zweckmäßigkeit, allgemeine Vorschriften, analoge Bestimmungen
anderer Gesetze etc. beziehen können, sei nur auf folgende hin¬
gewiesen :
A.-N.
1900
Seite
669
EE.
752
1889
358
EE.
1219
1893
??
167
EE.
1535
1896
382
EE.
1685
1897
580
EE.
2107
1905
V)
430
EE.
501
1888
197
EE.
610
1888
333
EE.
871
1890
499
EE.
500
1888,
??
196
B.
1353
1894
V)
283
1903
??
593
EE.
1216
1893
166
EE.
1718
189§
362
1899
??
442
EE.
1219
1893
167
«
Im Falle der Weigerung können (gemäß einer Rek.-Entsch.
2026 A.-N. 1903, S. 593/94) die für den Verletzten ungünstigen
Schlüsse gezogen werden. Es wird darin ausdrücklich betont, daß
die Bg. bei endgültiger Weigerung zu dem Renten anspruche Stellung
zu nehmen hat gemäß Abs. II obiger Paragraphen.
Wegen der weiteren Auslegung dieser Paragraphen siehe
Rek.-Entsch. A.-N. 1903, S. 468 ff., RE. 2000.
Nach einer mit Bewilligung des Verletzten vorgenommenen
Operation darf letzterer den Heilprozeß nicht vereiteln, muß viel¬
mehr die Durchführung desselben im Krankenhause ab warten (A.-N.
1890, S. 499, RE. 871).
6. Das Wahlrecht der Bg. a u s G e w. - G. § 22, 1 w. G. § 23,
Bau-G. § 9, See-G. § 17.
Die Bg. hat die Befugnis, an Stelle der Leistungen aus Gew.-G.
§§11 u. 12, lw. G. § 8 dem Verletzten freie Kur und Verpflegung
in einer Heilanstalt zu gewähren. Zustimmung des Verletzten ist
erforderlich, wenn derselbe verheiratet ist, eine eigene Haushaltung
Das Heilverfahren nach den Unfaüversicherimgsgesetzen. 299
hat oder Mitglied der Haushaltung seiner Familie ist. Die Zu¬
stimmung ist nicht erforderlich, wenn die Behandlung und Pflege
in der Familie nicht sachgemäß ausgeführt werden kann, oder
wenn nach Ansicht des Arztes des Aufenthaltsortes des Verletzten
eine fortgesetzte Beobachtung des Verletzten erforderlich ist.
Die Ausübung des Wahlrechts hat unter Hinweis auf die
Folgen der Weigerung durch formellen Bescheid zu erfolgen, welcher
der Berufung auf schiedsgerichtliche Entscheidung unterliegt.
Wann das Wahlrecht von der Bg. ausgeübt wird, ergibt sich
im Einzelfalle, jedenfalls muß ähnlich, wie oben bei der Wieder¬
eröffnung des Heilverfahrens — abgesehen von den Fällen, in
denen die Anordnung der Heilanstaltsbehandlung unausführbar ist,
wenn der Verletzte z. B. im Zuchthaus, im Ausland, oder nicht
transportfähig ist — hinsichtlich der „begründeten Annahme“ dar¬
gelegt ist, Aussicht auf Erfolg der Heilbehandlung
• vor liegen. Handelt es sich bei der Einweisung in eine Heil¬
anstalt um ärztliche Beobachtung behufs Feststellung der Unfall¬
folgen, so ist zu diesen Maßnahmen außer der Bg. unter Umständen
auch das Schiedsgericht und das Reichsversicherungsamt bei Er¬
stattung der dem Verletzten entstehenden Kosten befugt (Hdb. der
Unfallversicherung von Breitkopf und Härtel — S. 180, Anm. 2).
Der Verletzte ist verpflichtet, sich den ärztlichen und häus¬
lichen Anordnungen der Heilanstalt zu unterwerfen (A.-N. 1888,
S. 196). Er hat persönlich dazu beizutragen, daß ein möglichst
guter Heilerfolg erzielt wird. Dagegen kann der Verletzte ohne
Nachteil für seinen Entschädigungsanspruch Operationen, sowie
Eingriffe, die mit einer gewissen Lebensgefahr verbunden sind, wie
z. B. Narkose, stets ablehnen.
Im Falle der Widersetzung seitens des Verletzten kommt
Gew.-G. § 23, Abs. II und die analogen Paragraphen der übrigen
Gesetze in Betracht.
Gegen den Willen des Verletzten kann von der Bg. das Wahl¬
recht nur ausgeübt werden, solange das Heilverfahren nicht be¬
endigt ist (A.-N. 1891, S. 358, B. 1073). Wann letzteres als be¬
endigt anzusehen ist, siehe A.-N. 1891, S. 211, Rek.-Entsch. 969.
Übt die Bg. nachträglich das Wahlrecht aus, wenn also von
anderer Seite eine Heilanstaltsbehandlung eingeleitet war, so ist
sie auch im Falle der Übernahme der Anstaltsbehandlung ver¬
pflichtet, die Angehörigenrente zu zahlen. Weigert sie sich in¬
dessen, so kann die Angehörigenrente nicht beansprucht werden
OV-N. 1900, S. 716, RE. 1819 — siehe auch 1888, S. 282, RE. 551).
300
Heinrich Schmidt,
Die Bg. können regelmäßig behufs mediko-mechanischer Be¬
handlung den Eintritt des Verletzten fordern, auch wenn der Ver¬
letzte eine an sich gute, ambulante mediko-mechanische Behandlung
genießt (A.-N. 1893, S. 167, RE. 1218). Siehe im übrigen hinsicht¬
lich des Wahlrechts:
1886 Seite 292 B. 241
1888 „ 282 RE. 552
1889 „ 358 RE. 752
7. Kosten des Heilverfahrens.
Als Kosten des Heilverfahrens kommen in Betracht nach
Gew.-G. § 9, Abs. I, Ziff. I u. Iw. G. § 8, Abs. I, Ziff. I: Freie
ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heilmittel, nach Gew.-G.
§ 22, lw. G. § 23, Bau-G. § 9, See-G. § 9: freie Kur und Ver¬
pflegung in einer Heilanstalt; auch Irrenpflege, ev. mit der Kranken¬
pflege in Zusammenhang stehende Reise- und Transportkosten,,
künstliche Gliedmaßen, deren Instandsetzung und Erneuerung und
Ähnliches.
Die Leistungen beginnen mit dem Tode sofort, sonst regel¬
mäßig mit dem Beginn der 14. Woche. Die Leistung bei Über¬
tragung ist bereits oben berührt. Ausnahme siehe Gew.-G. § 12
u. 13, Bau-G. §§ 9, 10, See-G. § 14.
Es wird grundsätzlich nur dafür Ersatz geleistet, was objektiv
zu einem sachgemäßen Heilverfahren erforderlich war. Eine sub¬
jektive Entschädigungsfeststellung seitens des Verletzten oder des
Versicherers kommt nicht in Betracht. Als Kosten des Heilverfahrens
• •
gelten auch Honorare der Arzte vor der Auftragserteilung seitens
der Bg., wenn die Behandlung angezeigt war (A.-N. 1896, S. 493).
Die Ersatzpflicht ist unter Umständen beschränkt bei einem ohne
Befragung der Bg. vom Verletzten veranlaßten, notwendigen Heil¬
verfahrens A.-N. 1898, S. 261, RE. 1706, B. 1563), desgleichen bei
einem von der Krankenkasse eingeleiteten Heilverfahrens (A.-N. 1898,.
S. 555, RE. 1733).
Kosten der Reise eines Verletzten behufs Gestellung in einer
Heilanstalt hat die Bg. vorzuschießen (A.-N. 1887, S. 27, B. 276).
Einweisung in eine Heilanstalt verpflichtet die Bg. unter Umständen
auch zur Lieferung von Kleidungsstücken an den Verletzten
(A.-N. 1891, S. 210, RE. 966), aber nicht zur Gewährung von Bier
und Zigarren zum bloßen Genuß (Ä.-N. 1891, S. 210, RE. 967).
Das Heilverfahren nach ilen Unfallversicherungsgesetzen.
301
Die Höhe der von der Bg. zu erstattenden Kosten des Heil¬
verfahrens kann auch gegenüber der an Stelle des Verletzten ge¬
tretene Krankenkasse (UVG. § 8) nur von den Instanzen des UVG.
festgestellt werden. Entscheidung des Reichsgerichts vom 25. II.
1896, A.-N. 1896, S. 311, Nr. 2. — Kosten des Heilverfahrens inner¬
halb der ersten 13. Woche können die Krankenkassen von der vor¬
her nicht befragten Bg. nicht erstattet verlangen (A.-N. 1905, S. 411,
B. 2103). Wegen Lieferung, Instandhaltung und Erneuerung von
Hilfsmitteln (Stützen, Krücken etc.) siehe A.-N. 1903, S. 476, B. 2005.
Hinsichtlich der Kosten vermehrter Pflege und Aufwartung,
der Kosten des Heilverfahrens siehe Entscheidung des Reichsgerichts
(A.-N. 1892, S. 259, Nr. 6).
Die Feststellung erfolgt gemäß Gew.-G. § 69, lw. G. § 75, Bau-G.
§ 37, See-G. § 74 durch Beschlußfassung, und zwar sofern die Ge¬
nossenschaft in Sektionen eingeteilt ist, durch den Vorstand der
Sektion, wenn es sich handelt um die im Gew.-G. § 69, Abs. I,
Zifl*. I und lw. G. § 75, Abs. I, Ziff. I unter a. bis e. bezeichneten
Leistungen, in allen übrigen Fällen durch den Vorstand der Ge¬
nossenschaft.
Gemäß Absatz 2 obiger Paragraphen kann die Feststellung
auch durch besondere Kommissionen, Vertrauensmänner, Ausschuß
des Genossenschafts- oder Sektionsvorstandes erfolgen.
Soll nach Gew.-G. § 69 u. lw. G. § 75, Abs. II, (Bau- u. See-G.)
auf Grund eines ärztlichen Gutachtens die Bewilligung einer Ent¬
schädigung abgelehnt werden, so ist vorher der behandelnde Arzt
zu hören. Ev. Zurückweisung an die Vorinstanz. (A.-N. 1903,
S. 472, RE. 2001. 2002.) Wer als behandelnder Arzt anzusehen ist,
siehe A.-N. 1901, S. 180, Bescheid 1843.
Die Festsetzung der Entschädigung erfolgt von Amts wegen in
beschleunigtem Verfahren (Gew.-G. § 71, Abs. 1, lw. G. § 77, Bau-G.
§ 37, See-G. § 76). Siehe hierzu Motive (1900) zu § 58. Die Be¬
schleunigung gilt auch für den Fall des Abs. II dieser Paragraphen.
Im Falle des Abs. III hat vorläufige Zubilligung der Entschädigung
zu erfolgen.
Daß diese Beschleunigung wohl die größte Verzögerung erleidet
durch das Heilverfahren, die Feststellung des Grades der Erwerbs¬
fähigkeit, die erforderlichen ärztlichen Beobachtungen und die im
Anschluß daran zu erstattenden Gutachten liegt auf der Hand.
Immerhin aber muß prophylaktisch für eine möglichst schnelle Er¬
ledigung dieser Maßnahmen mehr als bisher Sorge getragen werden.
Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen.
302 Heinrich Schmidt,
Die Feststellung* bat zu erfolgen in demjenigen Zeitpunkt, in
welchem alle für die Entschädigung erheblichen Tatsachen fest¬
stehen. Zu diesem Behufe ist unter Umständen nicht erforderlich,
daß die Bg. die Durchführung der Unfalluntersuchung etc. ab¬
wartet. Siehe im übrigen Anleitung des RVA. vom 11, I. 1888
(Hdb. S. 901 ff.)
Eine Feststellung der Entschädigung wird auch dann als ge¬
schehen angesehen, wenn die Fürsorge für den Verletzten einer
Krankenkasse übertragen ist oder nur die Kosten des Heilverfahrens
übernommen sind (A.-N. 1891, S. 290, RE. 1066).
Bei wesentlichen Veränderungen der Verhältnisse (z. B. erheb¬
liche Besserung, Verschlechterung, Tod, Notwendigkeit der Heil¬
behandlung) für die Feststellung kann anderweite Feststellung er¬
folgen (Gew.-G. § 88, lw. G. § 94, Bau.-G. § 37, See-G. § 92). Die¬
selbe erfolgt auf Antrag oder ex officio durch Bescheid der Bg.,
ev. auf Antrag durch Entscheidung des Schiedsgerichtes. Zu dem
Anträge auf Wiederaufnahme eines Heilverfahrens ist neben dem
Verletzten auch die Krankenkasse, der er angehört, berechtigt
(Abs. IV). Dieselbe hat nicht nur ein berechtigtes Interesse an
dem Heilerfolge ihrer Mitglieder sondern auch hinsichtlich des zu
leistenden Ersatzanspruches im Sinne des Gew.-G. § 25, Iw. G. § 30,
Bau-G. § 9, See-G. § 29. Siehe hierzu Gew.-G. § 91, lw. G. § 97,
Bau-G. § 37, See-G. § 95 bezüglich des neuen Heilverfahrens. Nach
Abschluß desselben erfolgt die Entschädigungsfestsetzung etc. stets
durch Bescheid der Bg.
Wesentliche Veränderung ist in der Hauptsache nur dann vor¬
handen, wenn Konnexität zwischen Unfall und Veränderung vor¬
liegt (RE. 1955, A.-N. 1902, S. 560).
Zur Prüfung, ob überhaupt wesentliche Veränderungen vor¬
liegen, können ärztliche Untersuchungen vorgenommen werden
(Rechtshilfe § 154 lw. G.), bei grundloser Weigerung die dem Ver¬
letzten ungünstige Schlußfolgerung (RE. 2026, A.-N. 1903, S. 593).
8. Rekurs unzulässig überKosten desHeilverfahrens
(Gew.-G. § 80, lw. G. § 86, Bau-G. § 37, See-G. § 84).
Aus den erwähnten Paragraphen der verschiedenen Unfall¬
gesetze geht hervor, daß nur in den Fällen § 69, Abs. I, Ziff. 2
und den entsprechenden Paragraphen der übrigen Unfallgesetze
dem Verletzten oder dessen Hinterbliebenen, sowie dem Genossen-
schaftsvorstande das Rechtsmittel des Rekurses zusteht.
Das Heilverfahren nach den Uiifallversichernngsgesetzen.
303
Es ist also die Entscheidung des Schiedsgerichts endgültig,
wenn es sich handelt:
1. um freie ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heil¬
mittel, sowie die zur Sicherung des Erfolges des Heilverfahrens
und zur Erleichterung der Folgen der Verletzung erforderlichen
Hilfsmittel (Krücken, Stützapparate u. dgl.)
2. um die Aufnahme des Verletzten in eine Heilanstalt.
Die wichtigsten ergangenen Entscheidungen, das Heilverfahren
betreffend, sind folgende;
Streit darüber, wieweit das Heilverfahren reicht und was zu
den Kosten desselben gehört, ist nicht rekursfähig (A.-N. 1890,
S. 194, RE. 819). Dagegen ist Rekurs zuzulassen über Kosten des
Heilverfahrens nach Verbindung mit einem Rekurse zu gemein¬
samer Verhandlung und Entscheidung (A.-N. 1890, S. 487, RE. 847).
Siehe hierzu A.-N. 1903, S. 257, RE. 1979, wonach die Zulässigkeit
des an sich unzulässigen Rekurses (Heilanstaltsbehandlung) durch
Verbindung zur Verhandlung mit einem zulässigen Rekurse der
Gegenpartei nicht begründet wird. Rekurs ist ferner zulässig in
einem Streite über die Kosten des Heilverfahrens wegen der Frage
der Zuständigkeit des Schiedsgerichtes, das sich ohne sachliche
Entscheidung für unzuständig erklärt hat (A.-N. 1898, S. 555.
RE. 1733).
Rekurs ist unzulässig, wenn es sich um Erstattung der Kosten
des Heilverfahrens handelt (A.-N. 1900, S. 670, RE. 1808). Rekurs
ist unzulässig gegen Schiedsgerichtsurteil, das nur für die Dauer
eines beendigten Heilverfahrens Anspruch auf freie Krankenhaus¬
behandlung zuerkennt (A.-N. 1895, S. 260, RE. 1468). Rekurs ist
ferner zulässig wegen der Wirkung des eigenmächtigen Ver-
lassens einer Heilanstalt auf den Rentenanspruch (A.-N. 1901, S. 625,
RE. 1891).
II. Das eigentliche Heilverfahren.
Das eigentliche Heilverfahren nach den Unfallgesetzen ge¬
staltet sich im allgemeinen nicht anders als dasjenige im Privat¬
betrieb überhaupt. Es findet daher bei der Behandlung seitens
des Arztes kein Unterschied statt, ob der Verletzte einer
Krankenkasse, Berufsgenossenschaft angehört oder ob sich jemand
in private Behandlung begibt. Alle Verpflichtungen, welche dem
gewissenhaften Arzt durch seine Berufspflicht gegenüber einem
Privatkranken zufallen, gelten in gleicher Weise für das Mitglied
304 Heinrich Schmidt,
einer Krankenkasse, einer Genossenschaft oder der Invalidenver¬
sicherung etc. — Infolge der mangelhaften Honorierung
der kassenärztlichen Leistungen und des geringen Interesses vieler
Krankenkassenvorstände, weiterhin infolge der mangelnden Zeit
für die einzelnen Fälle, hat sich leider vielfach der Gebrauch aus¬
gebildet, den Mitgliedern von Krankenkassen oder Genossenschaften
bei der Behandlung nicht das Interesse zu zeigen, nicht jene Auf¬
merksamkeit zuzuwenden, wie sie bei der Behandlung eines be¬
mittelten Privatkranken die Begel ist. Es ist dies eine traurige
Tatsache , die durchaus zu verurteilen ist. Hat der Arzt einmal
seinen Beistand zugesagt, so darf eben kein Unterschied mehr ge¬
macht werden zwischen Arm und Reich, Freund oder Feind. Ja,
man kann nicht selten wahrnehmen, daß bei der Behandlung sogar
ein Unterschied gemacht wird zwischen Krankenkassenmitgliedern
und solchen Kranken, deren Behandlung die Berufsgenossenschaften
übernommen haben. Wenn auch die Berufsgenossenschaften meist
in den wichtigeren Fällen das Heilverfahren selbst übernehmen, so
liegt darin doch noch kein Grund, die weniger wichtig erscheinenden
Fälle, die in der Behandlung der Krankenkassen bleiben, stief¬
mütterlicher zu behandeln. Durch letzteren Umstand wird das
Heilverfahren unnütz in die Länge gezogen und die Kranken
werden nicht selten systematisch zu sogenannter „traumatischer
Neurose“ (Hypochondrie, Neurasthenie, Hysterie, Querulantentum)
erzogen. Den von einigen Ärzten gemachten Einwand, daß man
von den Kassenmitgliedern, von den Armenverwaltungen gesandten
Kranken etc. keinen oder zu wenig Dank ernte, können wir nicht
unterstützen. Undankbare Menschen gibt es überall, dieselben
findet man bei Privatkranken ebenso wie bei Mitgliedern der
A r b eit er versieh erun g.
Die Tätigkeit des erstbehandelnden Arztes ist
hinsichtlich der Folgen desUnfallesvon allergrößter
Bedeutung, sei es, daß eine äußere Verletzung stattgefunden
hat, sei es, daß ein Unfall durch Einwirkung stumpfer Gewalt vor¬
liegt. Wird nach dem Unfall der erste Moment energischen Ein¬
greifens, vor allem die sichere Beurteilung, ob der Verletzte sofort
in eine geeignete Heilanstalt zu überweisen ist oder nicht, ver¬
paßt, dann pflegt oft viel verloren zu sein, da es in nur wenig
Fällen gelingt, das Versäumte wieder nachzuholen. Der Verletzte
ist gleich nach dem Unfälle einer Erfolg versprechenden Behand¬
lung und einem operativen Eingriff zugänglich. Nach Ablauf einer
gewissen Zeit pflegt das nicht mehr der Fall zu sein.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
305
Hat man vollends so lange gewartet, bis sich teils eigene Vor¬
stellungsideen bei den Verletzten gebildet haben, teils von dritter
Seite ungünstige Einwirkungen stattgefunden haben, dann ist sehr
oft das Heilverfahren sowohl hinsichtlich der Dauer und, was das
Wichtigste ist, hinsichtlich der späteren Erwerbsfähigkeit in vielen
Fällen ein wenig aussichtsvolles.
Wir können hier den Ausführungen von Pieper1) (Seite 19)
nur beipflichten, daß jede Berufsgenossenschaft unmittelbar bei Be¬
ginn ihrer Entschädigungspflicht in jenem einzelnen Falle sich dar¬
über klar werden soll, ob der betr. Verletzte noch eine weitere Be¬
handlung nötig hat oder nicht.
In der Tat läßt die Behandlung innerhalb der ersten Wochen
häufig zu wünschen übrig, entweder dadurch, daß die Fälle nicht
mit genügender Rücksicht auf das zu erstrebende funktionelle
Resultat behandelt oder nicht rechtzeitig zu einer sachgemäßen
Nachbehandlung abgegeben werden. Man sollte, wie Lossen2)
(S. 452) sagt, meinen, daß es nicht schwer sei, aus den Unfall¬
anzeigen zu entnehmen, ob ein Fall zur Nachbehandlung geeignet
sei oder nicht. Daß der erstbehandelnde Arzt oft kein Interesse
zeigt, einen Patienten abzugeben, wie Lossen (S. 452) hervorhebt,
spielt doch wirklich hier keine Rolle. Es kommt doch nicht die
etwaige Benachteiligung des erstbehandelnden Arztes in Betracht,
sondern nur das Ziel, die schnellste Wiederherstellung
des Verletzten. Als Folgen einer mangelhaften Diagnose, be¬
sonders für die inneren Fälle, hört man nicht selten Aussprüche
seitens des Verletzten: „Das wird doch nicht wieder gut“, „kein
Arzt kann mehr helfen“ und ähnliche. Es ist ungemein schwer
und erfordert außerordentlich viel Mühe, den Verletzten dann zu
einer anderen xAnsicht zu bekehren und ihm zu beweisen, daß die
teils von den Angehörig en teils vom Arzt suggerierte
schwere Erkrankung tatsächlich nicht besteht.
Auch können wir nicht sagen, daß die anderweitige Anordnung
von Maßnahmen seitens der Berufsgenossenschaft oder eine in
diesem Sinne ausgeführte Kontrolle seitens eines Vertrauensarztes
ein Mißtrauen in die Behandlungsmethode des erstbehandelnden
Arztes bedeutet. Es ist wahrlich die höchste Zeit, daß endlich
mal von berufener und interessierter Seite, nämlich von Vertretern
5 Pieper, Betrachtungen über das Heilverfahren bei den Berufsgenossen¬
schaften. Darmstadt 1904, Verlag von G. L. Schlapp.
2) Lossen, Die Ernst Ludwig -Heilanstalt. Darmstadt 1905, Verlag von,
G. L. Schlapp.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II.
20
306
Heinrich Schmidt,
der Bg., energisch gegen die vielfachen Verfehlungen seitens der
• •
erstbehandelnden Arzte Front gemacht wird. Neuerdings hat
Lohmar in einem Vortrage (Sitzung für Soziale Medizin in Bonn
am 10. I. 07) eingehend die Mangelhaftigkeit des Heilverfahrens
an zahlreichen Beispielen illustriert. In gleichem Sinne wie
Pieper und Lohmar hat Schwanck1) (S. 1 — 20) die Mängel
des Heilverfahrens in der Unfallversicherung zur Genüge dargelegt*
Ärzte, welche sich viel mit Angelegenheiten der Unfallversicherungs¬
gesetze beschäftigen, können in der Tat jedes Wort der oben¬
genannten Vertreter von Bg. unterschreiben. Es sind immer die¬
selben traurigen Ergebnisse des Heilverfahrens, welche sich in den
Unfailakten der Bg. bzw. deren Sektionen vorfinden, auf welche in
gleichem Maße von ärztlicher Seite, so z. B. von Einiger 2 3> 8» 4)
Ledderhose5) und Hoffa6 *) und anderen immer und immer
wieder aufmerksam gemacht wird.
Solange der erstbehandelnde Arzt nicht die ein¬
schlägigen modernen Behandlungsmethoden und den
Betrieb bei der Bg. kennt, kann von einem idealen
Heilverfahren nicht die Rede sein.
In der Unfallchirurgie ist ,im allgemeinen das konservative
Verfahren im Prinzip zu verwerfen; es ist einzig und allein das
Augenmerk darauf zu richten, eine völlige Wiederherstellung oder
den bestmöglichsten Erfolg hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit zu
erzielen (operativer Eingriff bzw. entsprechende Nachbehandlung).
Damit hat man nicht nur dem Verletzten und seiner Familie, den
Bg. etc. am meisten gedient, sondern der Arzt wird auch durch
solches Verfahren den größten Dank ernten. WTas nützt dem
Arbeiter der erhaltene Finger, wenn derselbe im Grundgelenk nicht
bewegt werden kann? Die betreffende Hand ist dann oft nicht
nur gebrauchsunfähig, sondern aus dem früher fleißigen wird jetzt
x) A. Schwanck, Die Reform des Heilverfahrens etc. Köln 1906, Verlag
von Paul Neubner.
2) Die Behandlung und Begutachtung von Verletzungen der Arbeiterhand.
Bonn 1906.
3) Oberschenkelbruch und Unfallversicherung. Archiv für Orthopädie,.
Mechanoth. u. Unf.-Chir., Bd. V, H. 2/3.
4) Arzt und Attest. Monatsschrift für Unfallheilkunde und Invalidenwesen,
14. Jahrg., Nr. 2, 1907.
5) Vortrag, gehalten auf dem 21. Verbandstage der deutschen Baugewerks-
Bg. am 8. September 1906 in Stuttgart.
6) Vortrag, gehalten auf dem internationalen medizinischen Kongreß in
Lüttich (Juni 1905): „Über Unfallfolgen und deren Behandlung“.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
307
ein arbeitsscheuer Arbeiter, ein Hysteriker, ein Querulant, der den
Trägern der Versicherung nur zur Last fällt, sich niemals operieren
läßt und nur den Gedanken hat, möglichst Kapital aus seinem er¬
littenen Unfälle zu schlagen. Nachdem durch die Arbeiter- Ver¬
sicherungsgesetze nun einmal die Zahl der sog. Unfallneurosen in
bedenklichem Maße gestiegen ist, muß es eine der höchsten Auf¬
gaben des Arztes sein, danach zu trachten, daß solche im Keime
erstickt werden.
Dies kann in der Unfallchirurgie, wie oben dargetan, vielleicht
in den weitaus meisten Fällen nur durch die zeitige operative Be¬
handlung bzw. entsprechende Nachbehandlung geschehen. Die
Nachbehandlung ist, wie im Laufe der Zeit die Erfahrungen ge¬
lehrt haben, unbedingt angezeigt nach allen Knochenbrüchen, Ver¬
renkungen, schweren Quetschungen, Distorsionen, länger andauern¬
den Zellgewebsentzündungen u. dgl. Siehe hierzu Schwanck
a. a. 0., Anhang S. 2. Daneben darf selbst hier nicht
vergessen werden, daß der Verletzte ofteiner psychi¬
schen Behandlung bedarf.
Es hat sich ferner im Laufe der Zeit nach dem Inkrafttreten
der Unfallversicherungsgesetze eine Erscheinung bemerkbar ge¬
macht, die sich nach und nach sehr ausgebreitet hat und die be¬
züglich einer prophylaktischen Maßnahme mehr Beachtung ver¬
dient. Viele Verletzte glauben nämlich, selbst wenn nach einem
Unfall irgendwelche Unfallfolgen , welche später zu einer Be¬
schränkung der Erwerbsfähigkeit führen , nicht mehr bestehen,
dennoch ein Recht auf eine Entschädigung zu haben. Zur Er¬
langung dieses vermeintlichen Anspruches — der nicht lediglich als
eine Folge der Unkenntnis der Gesetze anzusehen ist, sondern wohl
mehr aus den Gedanken entspringt, als sei der in Frage stehende
Anspruch gewissermaßen ein Schmerzensgeld — wird dann zu den
erdenklichsten Mitteln gegriffen, zumal wenn nach dem Un¬
fall weder eine psychische noch irgend eine andere,
besondere Behandlung ein geleitet wurde. Hier müssen
die Ärzte durch Belehrung eingreifen und zwar in Fällen ohne
organische Erkrankung durch offene Aufklärung, bei der Behand¬
lung kleiner Leiden durch Anspornung der Energie. Der Umstand
aber, daß nichts geschieht, ist eben für Verletzte die Ursache,
aus dem Unfall Tatsachen zu konstruieren, die möglicherweise doch
zu einer Entschädigung führen. Es kann daher bei vielen der¬
artiger, meist in Behandlung der Krankenkassen bleibender Fälle,
die scheinbar ohne alle Folgen — ohne Einleitung eines be-
20*
308 Heinrich Schmidt,
j*
sonderen Heilverfahrens — heilen, nur von Nutzen sein, wenn
auch nur irgend eine besondere Maßnahme vorgenommen wird,
damit der Verletzte sieht, daß man sich seiner voll und ganz an¬
nimmt, um seine Wiederherstellung herbeizuführen. Die Ausführung
einer solchen Behandlung will vielleicht kleinlich erscheinen. Wenn
man aber bedenkt, daß durch solche Maßnahmen recht viele kleinere
Renten vermieden werden, so dürfte diese scheinbar überflüssige,
prophylaktische Behandlung doch wohl etwas mehr als bisher in
geeigneten Fällen am Platze sein. Sie kann häufig doch auch in¬
sofern von Nutzen sein, als sie vorbeugend die Anzahl von etwa
später eintretenden Hysterien herabmindert.
Wir betonen noch, daß die hier fraglichen Fälle am besten in
der Behandlung des erstbehandelnden Arztes verbleiben, da durch
eine Überweisung in eine Heilanstalt der Ideenkreis zur
Erlangung einer Rente vielleicht nur noch vergrößert wird. Gerade
bei solchen kleineren Leiden empfiehlt es sich sehr, die Verletzten
über das Wesen der Unfallversicherungsgesetze aufzuklären; man
erreicht dadurch manchmal mehr, als man vorher geglaubt hat.
Nicht nur die Bg. sondern auch die Versicherungsanstalten
erwägen im gegebenen Falle, obi ein Arzt für eine etwaige Unter¬
suchung und Behandlung geeignet ist oder nicht. Eine solche Er¬
wägung kann nur im Interesse der Versicherungsträger liegen,
weshalb es auch von diesen auf Grund der gesammelten Erfahrungen
in der Regel so gehalten wird, daß den tüchtigen und gewissen¬
haften Ärzten die Patienten belassen werden, daß letztere hingegen
aus der Behandlung von zweifelhaften Ärzten entfernt werden.
Der oben ausgesprochene Grundsatz, die Unfallneurosen im
Keime zu ersticken, kommt noch mehr als in der Unfallchirurgie
in denjenigen Fällen zur Geltung, in denen eine äußere Verletzung
nicht stattgefunden hat oder bei denen eine operative Behandlung
nicht erforderlich ist oder die anatomischen Unfallfolgen ge¬
schwunden sind. Es ist daher in solchen Fällen, z. B. Gehirn-
und Rückenmarkserschütterungen, Brustkontusionen etc., von vorn¬
herein neben sachgemäßer symptomatischer Behandlung das Haupt¬
augenmerk des erstbehandelnden Arztes darauf zu richten, der
Entstehung der Unfallneurosen durch psychische Behandlung mög¬
lichst vorzubeugen. Versäumt der erstbehandelnde Arzt, zu welchem
der Kranke in der Regel das größte Vertrauen hat oder wenigstens
haben soll, den Kranken in entsprechender Weise psychisch zu be¬
einflussen, so ist, wie oben bereits berührt, damit häufig bereits
soviel verloren, daß es in sehr vielen Fällen überhaupt nicht mehr
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
309
gelingen wird, ein befriedigendes Resultat zu erzielen. Auf diese
Weise muß man hin und wieder sehen, daß Kranke, bei denen
nachweislich vom Unfall an jeder objektive Befund gefehlt hat,
für das Heilverfahren ganz oder teilweise als verloren anzusehen
sind, nur aus dem Grunde, weil von Anfang an nicht die Ma߬
nahmen eines sachgemäßen Heilverfahrens, einer geeigneten, psychi¬
schen Behandlung vorgenommen wurden. Solche Kranke wollen
dann häufig später gar nicht mehr gesund werden.
In gewissen Fällen wäre die Aussicht auf eine Besserung viel¬
leicht noch vorhanden, aber die Kosten des Heilverfahrens dürften
dann oft wohl kaum noch im Verhältnis zu dem Erfolge stehen.
Denn was nützt ein vielleicht monatelanges Heilverfahren, um den
Verletzten ev. wieder auf die Beine zu bringen, zum Arbeiten
bringt man einen solchen Kranken doch nicht mehr: also in bezug
auf die Erwerbsfähigkeit wäre nichts erreicht; dann steht sich
eine Bg. noch am besten, wenn sie einem solchen Verletzten auf
sein immerwährendes Verlangen hin z. B. einen Fahrstuhl schenkt,
damit sie für eine gewisse Zeit von einem solchen unheilbaren
Hysteriker und Querulanten nicht mehr belästigt wird. Wenn
auch die meisten Fälle nicht so kraß sind, wie der eben erwähnte,
vor einiger Zeit bei uns vorgekommene, so ähneln ihm hinsichtlich
des Erfolges doch recht viele. Dieser und ähnliche Fälle sind ein
Beweis für die Ausstellung von unbegründeten ärztlichen Zeug¬
nissen, namentlich hinsichtlich einer mangelhaften Untersuchung,
einer falschen Diagnose und einer ungerechtfertigten Prognose.
Daß die sachgemäße, psychische Behandlung keine leichte Auf¬
gabe ist, weiß jeder. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb
dieselbe zu wenig ausgeführt wird. Es kann hier nicht auf das
einzelne eingegangen werden, doch es sei bemerkt, daß es für
die Folgezeit unbedingt erforderlich werden wird,
sich mit prophylaktischen Maßnahmen, der psychi¬
schen Behandlung mehr als bisher zu befassen, worauf
ja auch das RVA. wiederholt, so z. B. in seiner Bemerkung zu der
Gesamtübersicht für das Jahrzehnt 1893/19Q2 hingewiesen hat
(A.-N. 1904, S. 270) und auch ferner neuerdings in einem Rund¬
schreiben vom 17. VII. 06 an die Versicherungsträger der Unfall-
und Invalidenversicherung (betr. die Bekämpfung des Alkoholmi߬
brauchs) zum Ausdruck gelangt, daß durch vorbeugende und heilende
Maßnahmen analog den Unfallverhütungsvorschriften schädigenden
Einflüssen entgegenzuwirken sei (A.-N. 1906, S. 507/8).
Daß die bisherige ärztliche Behandlung einen so wenig pro-
310
Heinrich Schmidt,
phylaktischen Charakter hat, hat aber einen nicht geringen Grund
darin, daß, abgesehen von den oben erwähnten Momenten, zum
Teil die Ärzte mit Arbeit überlastet sind und daß vor allem von
vornherein zu wenig materielle Mittel für das Heilverfahren ver¬
wandt werden. Dazu kommt noch, daß auf dem Lande oft die
Kranken wegen großer Entfernung schwer zu erreichen sind.
Bei der Krankenhausbehandlung sind den einzelnen Ärzten
nicht selten 50 Betten und noch mehr zugewiesen. Daß in solchen
Fällen eine wirklich sachgemäße Behandlung stattfinden kann, ist
wohl nicht gut zu erwarten. Es ist für diese Fälle sowie für die
Verhältnisse auf dem Lande, wo die Verbindung mit der Kranken¬
kasse und den Bg. eine zu lockere ist, dringend zu wünschen, daß
mehr Ärzte angestellt bzw. dieselben besser honoriert werden und
daß bei einer demnächstigen Reform der Arbeiterversicherungs¬
gesetze dafür Sorge getragen wird, daß die Verbindung zwischen
den behandelnden Ärzten und den Bg., sowie zwischen den Kranken¬
kassen und den Bg. eine innigere ist. Nur auf diese Weise können
die häufigen Verzögerungen des Heilverfahrens, die wieder die un¬
befriedigenden Heilerfolge zur Folge haben, vermieden werden.
Ein verm ehr ter Kost enaiifwand für dasHeilver fahren
ist keine Mehrausgabe. Es ist nur eine einmalige er¬
höhte Ausgabe, die ein zweifelsohne erhöhtes besseres
Resultat hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit zur Folge
hat. Wir behaupten, daß ein länger andauerndes,
aber billigeres Heilverfahren hinsichtlich der
späteren Erwerbsfähigkeit nicht denselben guten
Erfolg verspricht, wie ein sofort ein geleitetes,
scheinbar kostspieligeres Heilverfahren, das in
kürzerer Zeit beendigt wird.
Diese Ansicht wird auch von Pieper a. a. 0. vertreten, der
daselbst zur Genüge dargetan hat, daß bei Durchführung
eines geeigneten Heilverfahrens trotz der Mehr¬
leistungen das Anwachsen der Ges am tr eilten außer¬
ordentlich gering war. Es wird im übrigen auf die betr.
Schrift verwiesen.
Siehe hierzu auch Lossen, Darmstadt 1905, ,,Die Ernst-
Ludwig-Heilanstalt“ , S. 455, der genau denselben Standpunkt
vertritt.
Wir können die Behauptung von L e d d e r h o s e , *) daß viel-
x) Ledder h ose, Vortrag, gehalten in Stuttgart auf dem 21. Verbandtstage
der deutschen Baugewerks-Bg. am 8. IX. 06.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
311
leicht ein Drittel der Summe von Arbeitsbeschränktlieit, welche
zurzeit infolge von Betriebsunfällen Versicherter in Deutschland
existiert, durch andere Gestaltung des Heilverfahrens hätte ver¬
mieden werden können, in jedem Punkte unterschreiben. Wir
glauben, daß diese Schätzung eher zu niedrig als zu hoch gegriffen
ist, womit auch die Ansichten einiger Privat Versicherungsgesell¬
schaften übereinstimmen, welche die unverhältnismäßig hohen
Rentenauszahlungen fast einzig und allein auf die mangelhafte und
unzweckmäßige Durchführung des Heilverfahrens zurückführen.
ln der Arbeiterversicherung, besonders in Angelegenheiten, in
denen die Krankenkassen das Heilverfahren übernommen haben,
wird die Unzweckmäßigkeit des Heilverfahrens, wie man sich
bei Durchsicht der Fundberichte überzeugen kann,
• •
oft genug von den Ärzten selbst unterstützt, indem
dieselben eine Reihe von Fällen ambulant behandeln,
nur damit der Verletzte der Krankenrente nicht ver¬
lustig geht.
Die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit ist also hier
Nebensache. Bei Ausführung solcher Maßnahmen geht man wirk¬
lich nicht zu weit, wenn man vielen Ärzten das richtige Ver¬
ständnis für die Sache direkt abspricht.
Wir können daher einstweilen den Bg. nur dringend
empfehlen, mehr noch als bisher von der Übernahme
des Heilverfahrens Gebrauch zu machen und keine
Kosten für dasselbe zu scheuen. Vielleicht tun die Bg.
gut, das Heilverfahren in allen Fällen zu über¬
nehmen, mit Ausnahme derjenigen, in denen es offen¬
bar nicht nötig erscheint. Auch Schwanck a. a. 0.
S. 40—43 vertritt dieselbe Ansicht.
Die eigentliche psychische Behandlung ist, wie oben bemerkt,
keine leichte; allgemeine Regeln lassen sich dafür nicht gut auf¬
stellen. Es ist Voraussetzung, daß sich der Arzt dem Kranken
gegenüber die volle Autorität bewahrt und denselben nach und
nach in seine volle Einflußsphäre hineinzieht. Wir müssen hier be¬
merken, daß es verkehrt ist, von vornherein einem Verletzten mit
Mißtrauen gegenüberzutreten, wie es in der Arbeiterversicherung
so häufig der Fall ist, indem man ihn für einen Übertreiber oder
sogar für einen Simulanten hält.
Damit erreicht man ganz selten etwas, vielmehr zumeist
nichts. Mehr oder weniger wird ja von den meisten Verletzten,
mögen dieselben der Arbeiter- oder Privatversicherung angehören.
312
Heinrich Schmidt,
übertrieben. Die Fälle der eigentlichen völligen Simulation sind
aber (gegenüber der Fälle anderer Fälle) u. E. gar nicht so häufig,
wie dies von anderer Seite öfters mitgeteilt wird. Auch können
wir entgegen anderer Mitteilungen nicht behaupten, daß die
Simulation bei den Mitgliedern der Arbeitersicherung häufiger vor¬
kommt als bei der Privatversicherung. Sicherlich aber steht nach
unserer Ansicht fest, daß die Simulation im allgemeinen von den
Privatversicherten mit viel größerer Raffiniertheit ausgeführt wird
als von den Mitgliedern der Arbeiterversicherung. Der Beruf spielt
allerdings eine große Rolle bei der Simulation. Daß z. B. Pastoren,
Offiziere und Gymnasiallehrer nicht so häufig und raffiniert simulieren
werden wie Personen aus der Geschäftswelt, z. B. Handelsleute,
Agenten, Prokuristen dürfte einleuchtend erscheinen.
Es ist daher auch eine bekannte Tatsache, daß z. B. bei Eisen¬
bahnunfällen meistens nur solche Personen Entschädigungsansprüche
gegen den Eisenbahnfiskus gemäß den Bestimmungen des Reichs-
Haftpflichtgesetzes vom 7. VI. 1871 bzw. Art. 42 des Einführungs¬
gesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche geltend machen, welche der
Geschäftswelt angehören, wie Kaufleute, Agenten, Prokuristen, Fabri¬
kanten etc., während unter denselben gegebenen Verhältnissen solche
Ansprüche von Beamten, Lehrern, Offizieren, Pastoren etc. nicht
oder nur höchst selten gemacht werden.
Die psychische Behandlung ist ganz individuell. Außer dem
Berufe wird der Arzt die genaue Anamnese, das Vorleben des Ver¬
letzten sowie die Art und Weise des eigentlichen Unfalles zu be¬
rücksichtigen haben. Auf nicht geringe Schwierigkeiten wird man
öfters stoßen hinsichtlich der Unterbringung des Verletzten, wenn
die Behandlung des letzteren im Kreise seiner Angehörigen nicht
angängig ist. Die Heilanstaltsbehandlung hat auch ihre Schatten¬
seiten, indem die Verletzten häufig von dritter Seite Beeinflussungen
ausgesetzt sind, die eine sachgemäße psychische Behandlung des
Arztes sehr erschweren können. Man kann aber einen Kranken
nicht isolieren oder ihm das Sprechen mit anderen Kranken ver¬
bieten. In solchen Fällen ist es bei unseren heutigen Verhältnissen
oft im Interesse eines guten Heilerfolges dringend angebracht, wenn
man in geeigneten Fällen den Verletzten in einer Privatpension
unterbringt, wo die gewohnten häuslichen Verhältnisse desselben
möglichst ersetzt werden, wo derselbe ein ruhiges, behagliches Da¬
sein führen kann, oder indem man den Verletzten mit anderen,
nicht Unfallkranken, zusammenlegt. Gegenüber Übertreibungen ist
alsdann eine gute und scharfe Beobachtung erforderlich. Wir
Das Heilverfahren nach den Unfallversichernngsgesetzen.
313
müssen gestehen, daß solche Maßnahmen für eine erfolgreiche,
psychische Behandlung von größter Bedeutung sind, indem sie
neben den erwähnten Annehmlichkeiten gegenüber der Kranken¬
hausbehandlung eine Beeinflussung von dritter Seite auf das ge¬
ringste Maß herabsetzen. Leider ist dieses Verfahren nicht immer
durchführbar, weil es zu kostspielig erscheint, obwohl, wie oben
dargetan, diese erhöhten Pflegekosten gar keine Mehrausgaben be¬
deuten und meistens ein besserer Heilerfolg erzielt wird. Nicht
nur die Bg., sondern selbst gut fundierte Privatversicherungen, die
an einem schnellen und guten Heilerfolge sicherlich das größte
Interesse haben, sträuben sich oft unbegreiflicherweise gegen solche
Maßnahmen.
Es möge hier noch kurz erwähnt sein, daß dieAn-
wendung der Röntgenstrahlen bisher von vielen Be¬
rufsgenossenschaften nicht die Würdigung erfahren
hat, die sie haben sollte.
In welcher Weise die psychische Behandlung ausgeführt wird,
richtet sich, wie oben berührt, nach dem Individuum im Einzelfall.
Bei den Fällen der reinen traumatischen Hysterie und der schweren
Neurasthenie, die wohl an und für sich die größten Schwierigkeiten
darbieten, haben wir uns, abgesehen von symptomatischer Therapie,
mit großem Erfolge der Suggestion durch Hypnose bedient. Die
Erfolge waren häufig geradezu wider Erwarten überraschende. Bei
Ausführung derselben mag jeder die ihm geeignet erscheinende
Methode anwenden. Daneben wird man gelegentlich sowohl durch
innerliche Darreichung von Medikamenten als auch durch ört¬
liche Behandlung von schmerzhaften Stellen, wie Injektionen von
S c h 1 e i c h’schen und anderen Lösungen, ferner durch kohlensaure
Bäder, elektrische Scheinwerfer, Massage etc. eine langsame, aber
stete Besserung erzielen. Es ist außerordentlich wichtig, daß bei
subjektiven Beschwerden irgend eine besondere Behandlung statt¬
findet. Die bloße Suggestion reicht hier oft nicht aus und kann
die Heilung verzögern. Man wolle ferner nicht versäumen, auch
in der Zwischenzeit sich öfter mit dem Kranken beeinflussend zu
beschäftigen, da hierdurch die Autorität des Arztes nach und nach
erhöht wird. Die Behandlung der Suggestion durch Hypnose ist
in geeigneten Fällen eine außerordentlich dankbare und es wäre
zu wünschen , wenn dieselbe mehr gepflegt würde. Immerhin
• •
wird es wohl nur einen gewissen Prozentsatz von Ärzten geben,
welche gute Erfolge mit dieser Behandlung aufzuweisen haben
werden, da es nicht jedermanns Sache ist, durch persönlichen Ein-
314 Heinrich Schmidt,
fluß die oben erwähnten Erfolge zu erreichen. In solcher Lage
ist es dringend Sache des einzelnen Arztes, die möglichst rasche
Aufnahme des Verletzten in eine Heilanstalt zu veranlassen.
Man w oll e n ich t vergessen, daß der Unfall verletzte
Arbeiter ein ganz besonderer Mensch ist und daher
auch einer ganz besonderen Behandlung bedarf. Das
Allererste und Wichtigste ist, daß man solchen Per¬
sonen mit Menschlichkeit und Wärme gegenübertritt
und sich derselben auf richtigan nimmt. Letzteres ist
für ein erfolgversprechendes Heilverfahren von so
großer Bedeutung, daß es nicht dringend genug em¬
pfohlen werden kann.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es
viele sogenannte ältere Fälle gibt, bei denen selbst
unter den eben erwähnten Voraussetzungen nichts
mehr zu erreichen ist. Doch diese bilden nicht die
Regel. Auch der Unfallverletzte Arbeiter ist sofort
nach dem Unfall fast jedweder ärztlichen Maßnahme
zugänglich, wenn man ihm mit aufrichtiger mensch¬
licher Liebe gegenüber tritt. Der einen Unfallver¬
letzten behandelnde Arzt sei daher vor allem recht
wohlwollend und menschlich gesinnt und scheue keine
Mühe. Ist der Arzt hierauf bedacht, so ist ihm ein
schöner Erfolg sicher.
Man muß dem Verletzten auch oft die Sorgen ab-
nehmen, die er für die Familie hat. Dazu gehören in
erster Linie schleunige Berichte an die Versicherungsträger
behufs sofortiger Auszahlung der Krankenrenten oder von Vor¬
schüssen an die Familienmitglieder, für welche der Verletzte zu
sorgen hat. Es ist keine leichte Sache für einen Arbeiter, sich
auf Grund einer Aufforderung der Bg. unter Androhung der Rechts¬
nachteile in einer außerhalb seines Heimatortes befindlichen Heil¬
anstalt zur Untersuchung und Beobachtung bzw. Behandlung ein¬
zufinden, nachdem er Weib und Kinder in Notdurft zurückgelassen.
Viele Bg. wissen solche, die Familienangelegenheiten betr. Ma߬
nahmen im Hinblick auf ein Erfolg versprechendes Heilverfahren
voll und ganz zu würdigen; recht viele andere Bg. jedoch lassen,
wie man täglich erfahren kann, mit der Auszahlung der Ent¬
schädigungen an die Familie lange auf sich warten und schädigen
sich selbst sowie den Verletzten und seine Familie besonders in
den Fällen der traumatischen Neurose.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherimg-sg’esetzen. 315
Nicht unterschätzen soll man ferner eine entsprechende er¬
munternde Aufklärung und Belehrung den Familienangehörigen
gegenüber, z. B. bei Gelegenheit von Besuchen in der Heilanstalt.
Eine solche kann nur im Hinblick auf eine etwaige ungünstige
Beeinflussung des Verletzten von Nutzen sein.
In einer nicht geringen Zahl von Fällen wird man bei
mangelndem objektiven Befunde oft die Erfahrung machen, daß
selbst bei bester Behandlung und Pflege nach Angabe des Ver¬
letzten ein wesentlicher Erfolg nicht erzielt wird. Hierhin ge¬
hören in erster Linie Gehirnerschütterungen und ähnliche körper¬
liche Einwirkungen stumpfer Gewalten , wie Brustkontusionen,
(Schädelbasisfrakturen ohne objektiven Befund) u. dgl. In sehr
vielen dieser Fälle sind bei mangelndem objektiven Befunde ana¬
tomische Folgen sicherlich nicht vorhanden. Doch ist bei Beur¬
teilung dieser Fälle große Vorsicht geboten, da die subjektiven Be¬
schwerden des Verletzten auch oft begründet sind, wie z. B. eine
bei uns vor nicht langer Zeit ausgeführte Obduktion eines Ver¬
letzten dargetan hat, der für einen Simulanten gehalten worden
war, aber erhebliche anatomische Veränderungen an der Dura mater
aufwies.
Andererseits wird man oft freilich nicht fehl gehen, wenn man
anatomische Folgen ausschließt. Jedoch ist eine genaue Ana-
mense mit genauester Pr äzisi er ung der subjektiven
Beschwerden allerdings zur Beurteilung unbedingt
erforderlich, da man hierdurch häufig die Über-
• •
zeugung von starken Übertreibungen des Leidens
oder gar von Simulation gewinnen wird. Wird bei der¬
artigen Fällen (abgesehen von einer Reihe von Basisfrakturen,
welche günstig verlaufen) durch das Heilverfahren ein nennens¬
werter Erfolg nicht erzielt, und behaupten die Verletzten konstant,
ganz und gar erwerbsunfähig zu sein oder nur leichte Arbeit ver¬
richten zu können (sei es, daß z. B. Arbeiten in gebückter Haltung
nicht verrichtet werden können, oder daß nur auf ebener Erde ge¬
arbeitet werden könne anstatt wie früher auf Gerüsten etc.), so
wird man mit aller Entschiedenheit dafür Sorge zu tragen haben,
solche Verletzte, wenn tunlich, irgendwie an die Arbeit zu be¬
kommen, und zwar sofort, wenn sie aus der Behandlung entlassen
werden, denn ein längeres Nichtstun nach ihrer Entlassung aus der
Behandlung kann nur den Müßiggang begünstigen und die psy¬
chogenen Vorstellungen bestärken. Dieses Prinzip wird in ge¬
eigneten Fällen bei uns am Krankenhause seit Jahren mit recht
316 r Heinrich Schmidt,
befriedigendem Resultate geübt. Die Verletzten werden dann unter
• •
Zubilligung einer Ubergangsrente zu leichteren Arbeiten ent¬
lassen. Man erreicht dadurch doch in den weitaus meisten Fällen,
daß die Arbeitslust der Leute wieder gehoben, daß sich dieselben
langsam wieder an die Arbeit gewöhnen und ihr Sinnen und Denken
auf etwas anderes als Nichtstun und dessen Folgen gerichtet wird.
Andererseits wird man durch die Aufnahme, wenn auch leichterer
Arbeit später in die Lage versetzt, durch Unterstützung von
technischen Beamten und Vertrauensmännern besser die Erwerbs¬
fähigkeit des Verletzten beurteilen zu können. Die nächste Kontroll-
untersuchung ergibt dann bereits meistens eine wesentliche Besse¬
rung. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß man bei diesen Ver¬
fahren nicht selten auf recht große Schwierigkeiten stößt, indem
die Verletzten angeben, daß sie eine entsprechende leichte Arbeit
nicht finden können. Sicherlich sind diese Angaben oft übertrieben,
doch auch in vielen Fällen bestehen sie gewiß zu Recht. Es
wäre dringend zu wünschen , daß diesem Übel in Zukunft mehr
Abhilfe geschafft würde durch diesbezügliche, neue gesetzliche Be¬
stimmungen. So weit uns bekannt, sorgen die Eisenbahndirektionen,
sowie zahlreiche Bg. seit längerer Zeit insofern für ihre Verletzten,
indem sie denselben, soweit angängig, in anderen leichten Betrieben
Arbeitsgelegenheit verschaffen. Doch durch diese Versicherungs¬
träger wird nur für ein Bruchteil von Arbeitern der Arbeitsnach¬
weis erbracht. Nachdem die in Elsaß-Lothringen und den Nach¬
barstaaten durchgeführte Zentralisation der Arbeiternachweise sich
bewährt hat, nachdem ferner durch die freiwillige Tätigkeit der
Städte (Köln) auf diesem Gebiete recht erfreuliche Resultate erzielt
worden sind, dürfte es doch wohl an der Zeit sein, durch Gesetz
seitens des Reiches bzw. der Staaten den öffentlichen Arbeitsnach¬
weis zu fördern. Damit würde auch eine allmähliche Beseitigung
der gewerbsmäßigen Vermittelung von Arbeitsgelegenheit erzielt
werden , was dringend im Interesse des arbeitenden Volkes zu
wünschen wäre, das durch die gewerbsmäßigen Vermittelungen
nicht selten geradezu ausgebeutet wird.
Neuerdings hat das Sächsische Ministerium des Innern in
einer Verordnung vom 30. November 1906 darauf hingewiesen, daß
die Einrichtung allgemeiner öffentlicher und unparteiischer Arbeits¬
nachweise gemeinnütziger Art auch im Königreich Sachsen an Ver¬
breitung gewinnen und wenigstens in allen Gemeinden mit mehr als
10000 Einwohnern entweder als obrigkeitliche Maßnahme oder durch
gemeinnützige Vereine zur Durchführung gebracht werden müssen.
317
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
Es ist kein Zweifel, daß der Arbeitsnachweis wesentlich ge¬
fördert werden könnte durch Arbeiterausschüsse, wie sie in ähn¬
licher Weise, z. B. bei den Knappschaften und anderen großen Be¬
trieben bereits bestehen.
Es ist, wie auch Lossen (Seite 455) mit Recht hervor¬
hebt, zu bedauern, daß so viele praktische Vorschläge meistens
nur in fachwissenschaftlichen Blättern niedergelegt und nicht von
dem eigentlichen Interessen kreis gelesen werden. Es wäre zu
wünschen, wenn die ärztliche Behandlung von Mitgliedern der
Arbeiterversicherung mehr als bisher Gemeingut der Ärzte würde.
Es muß doch wahrlich unangenehm berühren wenn Nichtärzte,
wie Lohmar, Pieper und Schwank, die Beamte von Bg. sind,
auf die vielfache, zurzeit noch bestehende Mangelhaftigkeit des
eigentlichen Heilverfahrens hinweisen. Aber diese Beamten haben
durchaus recht. Wir wollen es unterlassen, in dieser Hinsicht
auf weiteres Material einzugehen. Es könnte nur dazu geeignet
sein, ein betrübendes Bild auf viele, früher ausgeführte ärztliche
Maßnahmen zu werfen und zeigen, daß nicht selten durch die
Mangelhaftigkeit des Heilverfahrens nicht allein den Verletzten
selbst und seinen Angehörigen sondern auch den Trägern der
Versicherung erheblicher materieller Schaden zugefügt worden ist.
Es kann wohl kaum ausbleiben, daß die Schadenersatzpflicht
des Arztes bei der demnächstigen Reform eine besondere Regelung
erfahren wird.
Wenngleich die Haftung Dritter, also auch der Ärzte, gemäß
§ 140 Gew.-G., § 151 lw. G., § 45 Bau-G., § 138 See-G. sich nach
den sonstigen gesetzlichen Vorschriften bestimmt, also z. B. die
Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechende An¬
wendungen finden, so wird es doch dringend wünschenswert sein,
daß hinsichtlich eines geordneten Geschäftsganges und um den
folgenschweren Verschleppungen des Heilverfahrens vorzubeugen,
Rechtsnormen aufzustellen sind, die für den Fall eines Verschuldens
seitens des Arztes nicht nur Bestimmungen bezüglich einer etwa
zu verhängenden Ordnungsstrafe sondern auch solche bezüglich
eines entstandenen Schadenersatzanspruches enthalten. Der Er¬
laß besonderer diesbezüglicher Rechtsnormen ist auch
aus dem Grund gerechtfertigt, daß er in vorbeugendem Sinne
den Arzt an seine Pflicht erinnert. Andererseits muß es
als eine Pflicht angesehen werden, bei der sozialen Haltung der
Arbeiterversicherungsgesetze den wirtschaftlich Schwachen durch
positive, gesetzliche Bestimmungen auch wirklich voll und ganz zu
Heinrich Schmidt,
318
schützen, worauf der Verletzte bzw. kraft cessio legis der Bg. einen
Anspruch hat. Wenn bislang eine ganze Reihe von Prozessen be¬
treffend Schadenersatzansprüche gegen Ärzte nicht angestrengt
worden sind, so beweist das gar nichts. Es ist lediglich Sache
des öffentlichen Rechts, daß der wirtschaftlich Schwache zu seinem
Recht kommt. Andererseits hätten die Bg. mehr wie genug Gelegen¬
heit gehabt, erfolgreiche diesbezügliche Prozesse anhängig zu
machen. Aber bei der bestehenden Organisation haben es Bg., wie
uns öfter von Geschäftsführern mitgeteilt worden ist, vermieden,
mit der Ärzteschaft in Konflikt zu geraten.
Ein Verschulden des Arztes würde z. B. vorliegen, wenn der¬
selbe offenbar einen Kunstfehler begeht. Bei dem heutigen Stande
der Wissenschaft würde auch z. B. darin ein Verschulden zu er¬
blicken sein, wenn der Arzt bei einer Fingerverletzung nicht da¬
für Sorge trägt, daß durch sachgemäße Behandlung die Funktions¬
fähigkeit der übrigen, durch den Unfall nicht betroffenen Finger
erhalten bleibt. Im übrigen würde von Fall zu Fall zu beurteilen
sein, ob ein Verschulden vorliegt oder nicht.
Daß natürlich sehr häufig das Verhalten des Verletzten
die Ursache für ein wenig befriedigendes Resultat
der Heilbehandlung ist, bedarf keiner näheren Ausführung.
Es muß daher verlangt werden können, daß der Ver¬
letzte auch seinerseits das Erforderliche tut, um den
bestmöglichsten Erfolg hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit zu erzielen.
Man kann aber bei den bestehenden Gesetzen nicht behaupten,
daß dies der Fall ist.
Die bisherige Rechtsprechung des RVA. , daß der
Verletzte grundsätzlich in Operationen und Narkose nicht einzu¬
willigen braucht, dürfte auf die Dauer in ihrem ganzen
Umfange wohl nicht haltbar sein. Es ist geradezu ein
Jammer, wenn man sieht, daß junge, muskelkräftige Leute eine
hohe Rente beziehen, nur aus dem einzigen Grunde, weil sie sich
einen einfachen, kleinen operativen Eingriff nicht gefallen zu lassen
brauchen. Weshalb sollen in geeigneten Fällen nicht die Narkose
oder andere gleichwertige Mittel behufs Anästhesierung anzuwenden
sein? Man sollte doch meinen, daß man von einem Mitgliede der
Arbeiterversicherung verlangen kann, darin einzuwilligen, worin
unter den gegebenen Verhältnissen nach der objektiven Meinung
ein Privatkranker einzu willigen pflegt. Der Zweck der Arbeiter¬
versicherung ist aber durch das Recht des Verletzten, operative
Eingriffe und Narkose grundsätzlich verweigern zu können,
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
319
teilweise verfehlt. Weshalb willigt jetzt der Verletzte direkt
nach dem Unfälle fast ausnahmslos sowohl in die Narkose wie
■%
in die Operation ein? Ganz einfach, weil er zuerst noch an
eine Wiederherstellung denkt und sich innerhalb der
kurzen Zeit nach dem Unfälle noch nicht klar darüber
geworden ist, daß er im Falle der Weigerung einer Operation
beim Bezug einer hohen Rente durch Nichtstun das Leben hin¬
bringen kann. Sobald der Verletzte sich aber über diesen Punkt
klar geworden ist, wird er in den seltensten Fällen zu einer
Operation zu bewegen sein.
Welcher Kontrast zwischen der Einwilligung im ersten und
der Verweigerung im letzten Fall? Ist etwa ein operativer Ein¬
griff sofort nach einer schweren Verletzung nicht so gefahrvoll
als einige Zeit später? Nein, das kann man doch wohl im all¬
gemeinen nicht behaupten; es wird vielmehr im Gegenteil der
Verletzte später, wenigstens in sehr vielen Fällen, körperlich besser
imstande sein, ohne Lebensgefahr sich einer Operation unterziehen
zu können. Trotzdem darf der Verletzte nun jedweden
operativen Eingriff, der ärztlicherseits behufs Wiederher¬
stellung der Funktion für unbedingt erforderlich erachtet wird,
verweigern. Der Standpunkt, daß der Verletzte allein darüber
zu entscheiden hat, ob er sich operieren lassen will oder nicht, ist
ganz verfehlt. Es entspricht dieser Standpunkt nicht ganz dem
Charakter des öffentlichen Rechts. Es kommt doch wohl in erster
Linie alles auf die Wiederherstellung oder wenigstens
eine wesentliche Besserung der Arbeitskraft an. Ist
eine solche im Einzelfalle nach den gegebenen Ver¬
hältnissen, den besonderen Umständen und nach dem
gewöhnlichen Laufe der Dinge mit Wahrscheinlich¬
keit zu erhoffen und würde sich zur Vornahme der¬
selben unter Abwägung aller Umstände ein ver¬
nünftiger Mensch entschließen, so sollte der Ver¬
letzte nicht allein über eine etwaige Weigerung der
Operation zu entscheiden haben. Wenn der Verletzte
direkt nach dem Unfälle so vernünftig ist und fast ausnahmslos
jeden operativen Eingriff, welcher auf eine Wiederherstellung ge¬
richtet ist, ermöglicht, so sollte im Falle einer späteren
Weigerung, die eben dann im vollen Sinne des
Wortes als grundlos bezeichnet werden muß, das Ge¬
setz eing reifen, indem es z. B. die für den Verletzten un¬
günstigen Schlüsse eintreten läßt. Das Motiv, das dieser Weigerung
320
Heinrich Schmidt,
zugrunde liegt, ist doch weder ein moralisches, ethisches, noch
irgendwie im wirklichen Sinne rechtlich begründetes. Es
geht nur darauf hinaus, die Wiederherstellung oder
eine wesentliche Besserung zu verhindern, um sich
auf diese Weise- eine hohe Rente zu verschaffen. Nur
insofern ist die Weigerung als begründet anzusehen, als dem Ver¬
letzten nach den bestehenden Gesetzen formell das Recht zu¬
steht, grundsätzlich in einen operativen Eingriff nicht einzuwilligen.
Die Verletzten werden so durch unsere bestehende
Rechtsprechung zu Hypochondern, Hysterikern,
Querulanten und Tagedieben ausgebildet.
Eine Veränderung dieser bestehenden Verhältnisse herbeizu¬
führen, Avird zweifelsohne großen Schwierigkeiten begegnen, aber
im Laufe der Zeit wird dieselbe sicherlich eintreten. Die weitere
Vervollkommnung der Heilmethoden und der Narkose bzw. der
lokalen Anästhesie werden uns diesem Ziele etwas näher bringen.
Andererseits wird die Zukunft lehren, ob und inwieweit bei der
voraussichtlichen Erweiterung der Begriffe in der Medizin auch
eine Erweiterung solcher Begriffe in der Jurisprudenz geeignet ist,
neue oder analoge Gesichtspunkte bzw. neue juristische Rechts¬
verhältnisse entstehen zu lassen, welche es ermöglichen, daß der
Verletzte nicht mehr allein über die Frage der Operationsver¬
weigerung entscheiden kann. Könnte nicht etwa auch bei der
Arbeiterversicherung die Erklärung des Verletzten bezüglich einer
grundlosenWeiger u n g durch eine anderweitige rechtskräftige
Entscheidung ersetzt werden?
Man müßte eigentlich zu dieser Annahme auf Grund einer
Entscheidung des Reichsgerichts in Privat- Versicherungsange¬
legenheiten gelangen. In dem Urteil, wodurch die Entscheidung
des Oberlandesgerichts zu Köln bestätigt wird, heißt es unter
anderem: „Der Versicherte ist nicht verpflichtet, sich einer von der
Gesellschaft angeordneten Operation auch dann zu unterziehen, wenn
deren Erfolg in einem gewissen Maße unsicher und deren Vor¬
nahme nach den besonderen individuellen Umständen mit größeren
Gefahren verknüpft ist. Eine Verbindlichkeit des Versicherten,
sich operieren zu lassen, ist nur dann begründet, wenn ein ver¬
nünftiger Mensch unter Abwägung aller Umstände auch ohne
rechtliche Bindung sich zur Vornahme der Operation ent¬
schließen würde.“
Es möge hier nur ein Beispiel erwähnt sein, das einen Ver¬
letzten betrifft, der mit einer ausgedehnten eitrigen
Das Heilverfahren nach den UnfaÜversicherungsgesetzeii.
321
Se h n e n s c li e i d e n e n t z ii n d u n g d e r Hand im hiesigen Kranken-
liause der Barmherzigen Brüder aufgenommen wurde und jeden
operativen Eingriff verweigerte. Ein solcher Fall allein beweist,
daß die häufige Verweigerung von operativen Eingriffen seitens
der Verletzten geradezu skandalös ist und unserer jetzigen Recht-
sprechung und dem Gefühle eines nur einigermaßen vernünftig
denkenden Menschen Hohn spricht: Der ideale Gedanke, der den
Arbeiterversicherungsgesetzen zugrunde liegt, nämlich die Arbeits¬
kraft des Volkes möglichst zu erhalten, wird durch
unsere bisherige Rechtsprechung bezüglich der Verweigerung von
operativen Eingriffen seitens der Verletzten wahrlich nicht unter¬
stützt !
Wir können nicht einsehen, weshalb der § 254 des Bürger¬
lichen Gesetzbuches, der das eigene Verschulden des
Verletzten behandelt, nicht auch in der Arbeiterversicherung
Anwendung finden soll. Der § 254 lautet:
„Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden
des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung
zum Ersätze sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes
von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der
Schaden vorwiegend von dem einen oder von dem
anderen Teile verursacht worden ist.“
Bei Crome1) heißt es :
„Zu einer Verursachung von seiten des Verletzten wird auch
gerechnet, wenn er es unterlassen hat, den Nachteil abzuwenden
oder zu mindern. Demgemäß wird der Dritte ganz oder gar
nicht resp. teilweise je nach den vom Richter zu berücksichti¬
genden Umständen des Falles für den Erfolg verantwortlich gemacht.“
Daß unter diesem Gesichtspunkt besonders streitig ist, ob der
Verletzte sich behufs Wiederherstellung bzw. Herbeiführung einer
wesentlichen Besserung einer Operation zu unterziehen habe, ist
bekannt. Immerhin dürfte die Rechtsprechung des Reichsgerichts
in Fällen der Verweigerung einer Operation in Privatversicherungs¬
angelegenheiten den für die Folge unhaltbaren Anschauungen in
der Arbeiterversicherung die Wege ebnen.
Es ist daher ernstlich zu erwägen, ob nicht de lege
ferenda dem willkürlichen und grundlosen Handeln
des Verletzten in der öffentlichen Versicherung als¬
bald ein Ende gemacht werden soll.
*) Crome, System des Bürgerl. Rechts, I. Teil, S. 495.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II.
21
322
Heinrich Schmidt,
Es ist in der öffentlich-rechtlichen Versicherung, meinen wir,
keine Konsequenz, wenn einerseits dem Verletzten und seinen
Hinterbliebenen ein Anspruch bei vorsätzlicher Herbei¬
führung des Unfalles nicht zusteht (Gew.-G. § 8, Abs. II, lw. G.
§ 7, Abs. II), andererseits bei vorsätzlicher Unterlassung
der Abwendung oder Minderung des Nachteils (Weigerung
der Operation) der Anspruch des V erletzten bestehen bleibt.
(Hinsichtlich der Bedeutung von „Verschulden“, „Vorsatz“,
„Fahrlässigkeit“, „Absicht“, „vorauszusehen in der Lage war“
siehe Crome a. a. 0., S. 496/97.)
III. Einiges zur Reform.
Über die Reform der drei großen Versicherungsgesetze herrscht
im allgemeinen insofern Übereinstimmung, als die Vereinfachung
der bestehenden Gesetze notwendig geworden und auch von den
gesetzgebenden Faktoren, der Regierung wie der Volksvertretung
anerkannt worden ist.
Die Ansichten über die eigentliche Reform gehen weit aus¬
einander. Die einen z. B. fordern eine Verschmelzung aller drei
Versicherungszweige zu einem geschlossenen Ganzen: Freund,1)
v. Frankenberg,2) Rob. Schmidt,3) Lohmar;4) die anderen
sind Gegner einer solchen Verschmelzung und wollen nur eine
Vereinigung unter Aufrechterhaltung der Versicherungsanstalt und
der Berufsgenossenschaften: Boediker,5) Dilttmann,6) v.Jag-
wTitz,7) Sayffaerth,8) May et.9)
9 Richard Freund, Die Verschmelzung der Krankenversicherung mit
der Invalidenversicherung. Soz. Pr., Jahrg. XII, Nr. 22.
2) v. Frank enb erg, Ganze oder halbe Reform, Soz. Pr., Jahrg. XIII, Nr. 48.
3) Rob. Schmidt, Eine einheitliche Arbeiterversicherung. Sozialistische
Monatshefte, Bd. I, H. 6. 1906, S. 469 ff.
4) Paul Lohmar, Über Reform und Vereinheitlichung unserer Arbeiter¬
versicherung. Köln 1905.
5) Boediker, Vereinfachung der Arbeiterversicherung. Schmollers Jahr¬
bücher, Jahrg. XXX, H. 1, S. 1 ff.
6) Diittmann, Umbau der Arbeiterversicherung, Arbeiterversorgung. Jahr^
gang XXL, H. 17—19.
7) v. Jagwitz, Die Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung. Berlin 1906,
Verlag von A. W. Hayns Erben.
8) Sayffaerth, Die deutsche Arbeiterversicherung in Zukunft. Medizin.
Reform, Jahrg. XIV, Nr. 8.
9) P. May et, Umbau und Weiterbildung der sozialen Versicherung. Medizin.
Reform, Jahrg. XIV, Nr. 10.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
323
Es kann hier nicht auf das einzelne eingegangen werden und
wird auf die reichhaltige Literatur bzw. auf die untenstehenden
Schriften der genannten Autoren verwiesen.
Wir möchten kurz betonen, daß es schwer ist, sich im Prinzip
der einen oder der anderen dieser beiden Richtungen anzuschließen.
Jedenfalls aber kann man sagen, daß die bisherige sozialpolitische
Gesetzgebung lediglich ein Erzeugnis der historischen Entwicklung
ist, daß es aber nunmehr im Interesse einer Reform der bestehenden
Gesetze heißt, mit manchen überkommenen Traditionen brechen,
wie sehr man zum Teil auch an ihnen hängen mag. Man könnte
allerdings zweifelhaft sein, ob die Vereinheitlichung schrittweise
vorzunehmen sei oder nicht. Wir möchten uns hier der Ansicht
von Mugdan1) anschließen (der ein schrittweises Vorgehen emp¬
fiehlt), und zwar nicht nur aus den von diesem Autor vertretenen
Gründen — es sei auf die betreffende Schrift verwiesen — ,
sondern weil im Interesse der tadellosen Funktion
eines so gewaltigen Apparates noch zu viele Vorbe¬
reitungen geschehen müssen, welche auch durch ein
noch so vollkommenes Gesetz nicht ohne weiteres er¬
ledigt werden können.
Die Berufsgenossenschaften haben im allgemeinen, wie all¬
seitig anerkannt wird, von den Versicherungsträgern am besten
funktioniert.
Diese Tatsache wird demnächst bei der Reform zu einer ein¬
gehenden Beurteilung insofern Anlaß zu geben haben, ob oder in¬
wieweit die Berufsgenossenschaften im Prinzip zu erhalten sind
oder nicht.
Unsere Ansicht geht dahin, daß man das, was man besitzt,
sich so lange erhalten soll, als man objektiv nichts Besseres an
seine Stelle setzen kann. Letzteres kann man nicht von der .
Kranken- bzw. Invalidenversicherung, wohl aber von der Unfall¬
versicherung sagen. Anders verhält sich die Frage, inwieweit die
Berufsgenossenschaften zu erhalten sind. Soweit das Heilverfahren,
das einzig und allein die Basis für das ganze weitere Ver¬
fahren ist, in Betracht kommt, ist es unerläßlich, die bis¬
herigen Wirkungskreise zu ändern und unter die Leitung von Be¬
rufsbeamten mit möglichst weitgehenden und selbständigen Be¬
fugnissen (Reichs- oder Staatsbeamte, daneben Kontrollbeamte) zu
1 ) Otto Mugdan, Zur Reform der Arbeiterversicherung. Zeitschr. f.
Sozialwissenschaft, 1906, H. 3 u. 4.
21*
324 Heinrich Schmidt,
stellen, denen nicht nur die Vorbereitung und Feststellung der
Entschädigung sondern auch die Maßnahmen für das Heilverfahren
obliegen und die in ständiger Fühlung mit den behandelnden
• •
Ärzten stehen. Zu letzterem Behüte wäre es erforderlich, daß die
künftigen Wirkungskreise höchstens den Umfang eines preußischen
Stadt- oder Landkreises erreichen dürfen.
Rumpf1) empfiehlt behufs Herstellung eines engeren Konnexes
zwischen den Krankenkassen einerseits, den Berufsgenossenschaften
und der Invalidenversicherung andererseits die Schaffung einer
amtlichen Stelle (Versicherungsamt, Agenturen), in welcher
alle Meldungen von Krankheit zusammenlaufen und auf ihre Be¬
ziehungen zur Unfall- und Invalidenversicherung geprüft werden.
An der amtlichen Stelle soll ein Arzt tätig sein und ihm die
Prüfung der ärztlichen Angelegenheiten etc. übertragen werden.
Die bestehenden Betriebs- und Krankenkassen sollen von Unfällen
möglichst sofort und telephonisch dem Versicherungsamt oder der
Agentur Mitteilung machen. Auf Grund dieser Mitteilungen über
Unfälle sollen dann die Ermittelungen (auch über Gewerbe¬
schutz etc.) stattfinden, die Ergebnisse derselben den interessierten
Behörden schleunigst mitgeteilt werden.
Die Einrichtung einer solchen amtlichen Stelle wäre in
der Tat eine einfache Form des von Sayffaerth geforderten Unter¬
baues der Gesamtversicherung. Die Verminderung der Zahl der
Krankenkassen sowie der Berufsgenossenschaften (letztere durch
Verschmelzung gleichartiger Betriebe) dürfte, wie Rumpf hervor¬
hebt, wünschenswert sein. Es ist weiter nicht zu verkennen, daß
nach den Vorschlägen von Rumpf die bisherige mangelhafte Mit¬
teilung von Anzeigen, Untersuchungen und vor allem eine not¬
wendige Kontrolle wesentlich gefördert werden könnte. Rumpf
ist der Ansicht, daß die Schaffung der in seinem Sinne gedachten
Versicherungsämter, als Institute der drei Versicherungen, eine
Basis darstelle, auf welcher in der Verknüpfung weiter gegangen
werden könnte, während die bewährte Selbstverwaltung in seit¬
heriger Weise erhalten würde.
S cli w an ck (S. 20) betont, daß das Heilverfahren aller Kranken¬
kassen für dieselben nur ein vorübergehendes Interesse habe und
infolgedessen das sich anschließende Heilverfahren der Berufs¬
genossenschaft nachteilig beeinflußt, sehr häufig schwer geschädigt
b Th. Rumpf, Zur Reform der sozialen Gesetzgebung. Soziale Medizin
und Hygiene, Bd. II, 1907, S. 61 ff.
Das Heilverfahren nach den Unfallversichernngsgesetzen.
325
und oft gänzlich gelähmt werde. Er fordert daher behufs Be¬
seitigung dieser Übelstände, daß den Berufsgenossenschaften und
Krankenkassen gesetzlich die Pflicht auferlegt werde, das Heilver¬
fahren von Anfang an gemeinschaftlich, d. h. durch eine
zwischen den Trägern der Kranken- und Unfall -Versicherung be¬
stehende organische Verbindung nämlich eine Verwaltungs¬
gemeinschaft durchzuführen.
Es ist keine Frage, daß man mit Hilfe der Verwaltungsgemein¬
schaft nach Schwank einer sachgemäßen Abwickelung des Heil¬
verfahrens wesentlich näher kommt. Dieser Autor läßt die jetzigen
Versicherungsträger nebst ihren Organisationen an sich bestehen.
Um aber ein einheitliches Organ für das Heilverfahren der großen
Versicherungszweige zu schaffen, schlägt er die Bildung je
eines Verbandes der im Bezirk einer Landes -Versicherungs¬
anstalt ansässigen Krankenkassen, sowie der in einem solchen Be¬
zirk ansässigen Berufsgenossenschaften (Sektionen) und sonstigen
Versicherungsträger vor. Die einzelnen Verbände sollen dann den
Ge samt verband bilden, dessen Organe (eine Mitgliederversamm¬
lung, Ausschuß und ein Vorstand) die Verhältnisse der Verbände
statutarisch regeln (S. 100/101). Wir müssen sagen, daß in der
Bildung solcher Verbände bzw. des Gesamtverbandes ein System
liegt, das Ordnung und Wandel in dem bestehenden, durchaus
mangelhaften Heilverfahren herbeizuführen, vermag. Da die ein¬
zelnen Verbände nach Schwanck den Bezirk einer jetzigen Landes-
Versicherungsanstalt umfassen sollen, die neu gebildeten Versiche¬
rungsämter nach Rumpf dagegen etwa den Umfang eines jetzigen
Kreises ausmachen, so dürfte eine zweckentsprechende Vereinigung
dieser beiden neuen Ideen nicht allein für den wichtigsten Punkt
und die alleinige Basis der Unfallversicherung, das Heilverfahren,
von außerordentlicher Bedeutung sein, sondern auch für den Ge¬
samtbetrieb der Arbeiterversicherung in Betracht kommen. Die
neu zu schaffenden Organe müssen durchaus selbständig sein. Eine
Angliederung derselben an andere Behörden, z. B. an Landratsämter,
ist schon allein wegen des ungeheuren Arbeitsfeldes, das sich auch
auf Arbeitsnachweis, sowie sämtliche die Fürsorgebestrebungen be¬
treffenden Maßnahmen u. dgl. zu erstrecken hat, zu verwerfen.
Wenngleich die Ansicht dieser Autoren — es wird im ein¬
zelnen auf die betr. Schrift verwiesen — voll und ganz anerkannt
werden muß, so will es uns doch scheinen, als ob die bei R u m p f ,
wie auch bei Schwanck berücksichtigte Ausbildung der Ärzte zu
wenig in den Vordergrund getreten sei.
326 Heinrich Schmidt,
Wir s t e h e n a u f d e m S t a n d p u n k t e , d a ß a 1 1 e Reform¬
ideen und Bestrebungen, die auf eine Umwälzung' der
Organisation der Ar beiter Versicherung hin zielen,
nicht den praktischen Wert besitzen, wie eine zu¬
nächst von Grund aus vorzunehmende Änderung hin¬
sichtlich der Vorbildung der praktischen Ärzte.
• •
Ohne eine solche Änderung hat die vollkommenste
Reform nur einen halben Wert; denn was nützt es,
wenn der einzelne, der zur Mitarbeit an dem großen,
erhabenen Werke berufen ist, seine Stelle nicht voll
und ganz aus führen kann?
Der praktische Arzt aber ist nach wie vor zur Übernahme
der ersten Maßnahmen berufen und ein gewisses Können, nicht
allein hinsichtlich der selbständigen Behandlung, sondern auch in
der sofortigen Beurteilung über die weiteren Maßnahmen (Über¬
weisung etc.) muß unbedingt verlangt werden können.
Die nicht genügende Ausbildung der Ärzte wird seit Jahren
nicht nur von Ärzten, sondern auch von den Versicherungsträgern
betont. Doch es bleibt immer beim Alten. Die bisherige Art und
Weise des Heilverfahrens in der Arbeiter Versicherung erfordert
daher sobald als möglich eine Änderung der Prüfungs¬
bestimmungen im erwähnten Sinne.
Behufs einheitlicher Regelung des Heilverfahrens in Arbeiter¬
versicherungssachen bzw. einer diesbezüglichen Änderung der
Prüfungsvorschriften für praktische Ärzte ist es nach unserer An¬
sicht wünschenswert, daß außer dem schon vorhandenen Material
bei den Berufsgenossenschaften noch gutachtliche Äußerungen von
bekannten Autoren auf dem Gebiete der Unfallheilkunde, nament¬
lich der Chirurgen und inneren Mediziner an Unfallkrankenhäusern,
welche unter Aufsicht des Reiches stehen, eingeholt werden. Wir
sind überzeugt, daß dann eine von Grund aus vorzunehmende
Reform der bestehenden Prüfungsbestimmungen für praktische
Ärzte wohl kaum noch eine Aufschiebung wird erfahren können.
Im einzelnen sei kurz erwähnt, daß die behandelnden Arzte mit
den einschlägigen, modernen Heilfaktoren besser vertraut sein
müssen; ebenso ist es bei der demnächstigen Vergrößerung des
Kreises der Versicherten unbedingt erforderlich, daß bei den Ärzten
ein größeres Interesse bezüglich der Arbeiterversicherungs-Gesetz-
gebung erweckt wird, was aber nur durch Errichtung von Lehr¬
stühlen für Soziale Medizin sowie durch geeignete Maßnahmen von
_ • •
berufener Seite geschehen kann, z. B. Ärztliche Vereine, medizinische
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen. 327
Gesellschaften, Komitees für das ärztliche Fortbildungs wesen, fach¬
wissenschaftliche Zeitschriften u. dgl.
Für die Beurteilung dieser letzteren Gesichtspunkte sei kurz
hervorgehoben, daß an hiesiger Universität von seiten der Medizin¬
studierenden dem Fache der Sozialen Medizin ein sehr großes In¬
teresse entgegengebracht wrird und daß die von Th. Rumpf ins
Leben gerufenen Vortragsabende aus dem Gebiete der Sozialen
Medizin, an denen Juristen, Verwaltungsbeamte, Beamte von
Berufsgenossenschaften neben Medizinern Vorträge mit nach¬
folgender Diskussion halten , sich einer außerordentlich regen
Beteiligung und sehr großen Interesses erfreuen.
Die bisherige Teilnahme seitens der Ärzte in Angelegenheiten
der Reform bezog sich hauptsächlich nur auf die Organisation der
Gesetze (freie Arztwahl, Honorarfrage, Schaffung von Schieds¬
gerichten bei Streitigkeiten mit den Kassen usw.), weniger auf
engere Frage der Verschmelzung u. dgl.
In * beredten Worten hat auf dem deutschen Ärztetag in
Halle der Vorsitzende, Löbker- Bochum, darauf hingewiesen,
daß die gesamten Ärzte sich noch viel zu wenig mit den Vor¬
gängen auf sozialem Gebiete beschäftigten. Er sieht es als eine
Pflicht des einzelnen Arztes an, seine Erfahrungen in den Dienst
des allgemeinen Volkswohls zu stellen, und fordert weiter, daß der
Mediziner möglichst frühzeitig in das Studium der Sozialen Medizin
eingeführt werde. '
In ähnlicher Weise heißt es am Schluß des Referates
von Pfeiffer- Weimar : „Die in den Thesen gegebenen
Grundsätze für die Mitarbeit der Ärzte an der Abänderung
der drei großen Versiclierungsgesetze verlangen eine stärkere
• •
Beteiligung der Arzte an der sozialen Gesetzgebung, besonders
nach der Richtung hin, daß in Zukunft eine auf Erfahrung ge¬
stützte ärztliche Kritik rechtzeitig an den vielen neuen Fürsorge¬
bestrebungen zur Geltung kommen kann.“
Auch Lennhoff1) hat in einem Vortrage über „Ärztliche
Wünsche zur Reform der Arbeiterversicherung“ mit Recht bemerkt,
daß eine Stellungnahme der Ärzte zu der Frage des Umbaues der
Arbeiterversicherung in größerem Umfange als bisher dringend
wünschenswert sei, zumal der Arzt nicht nur als medizinischer Be¬
rater der Versicherten, sondern auch als Sachverständiger derVer-
b Lennhoff, Vortrag’, gehalten in der Gesellschaft für Soziale Medizin.
Medizin. Reform, Jahrg. XIV, Nr. 6.
328
Heinrich Schmidt,
Sicherungskörperschaften umfassend und ständig an der praktischen
Durchführung der Gesetze mitarbeite und dabei eine Fülle von Er¬
fahrungen sammle.
• •
Die bisherigen Wünsche und Forderungen der Arzte sind zum
Teil auf dem 34. deutschen Ärztetag in' Halle a./S. am 22. und
23. VI. 06 erörtert und wird auf die betr. Verhandlungen ver¬
wiesen (Extr.-Nr. Juli III Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland
35. Jahrg.).
Die Einführung der Sozialen Medizin und zwar
als obligatorisches Prüfungsfach scheint uns daher
unerläßlich. Denn nur so steht zu erwarten, daß sich die dem-
nächstigen jüngeren Ärzte eine Kenntnis der Arbeiterversicherungs¬
gesetze in der erforderlichen Weise aneignen. Wenngleich in
Preußen sozusagen sämtliche Universitäten sich gegen die Errich¬
tung von Lehrstühlen für Soziale Medizin ausgesprochen haben, so
unterliegt es doch keinem Zweifel, daß man — wie Löbker auf
dem Ärztetag in Halle a./S. treffend bemerkt hat — sich der Er¬
richtung dieser Lehrstühle für die Folge ebensowenig verschließen
kann, wie es seinerzeit für die Hygiene der Fall war. Es wird
daher aufs dringendste verlangt , daß an sämtlichen Universitäten
seitens des Kultusministeriums Lehrstühle für Soziale Medizin errichtet
werden für den Fall, daß sich die medizinischen Fakultäten auch
für die Folge in dieser Hinsicht ablehnend verhalten sollten. Man
sollte doch meinen, daß die bei Errichtung von 'neuen Lehrstühlen
so oft im Wege stehenden persönlichen Interessen im
vorliegenden Falle, wo es sich um das Wohl so vieler Millionen
Menschen handelt, an zuständiger Stelle keinerlei Beachtung ver¬
dienen. Es kommt doch kein persönliches Interesse einzelner Personen
in Betracht, sondern nur das öffentliche Interesse, das öffentliche
Recht, das öffentliche Wohl unserer Mitmenschen.
Daß die Soziale Medizin ihre volle Berechtigung als besonderes
Lehrfach hat, dürfte Rumpf1) zur Genüge dargetan haben.
Es mögen nur noch verschiedene Einzelheiten erwähnt sein:
Die Bg. sind lediglich darauf angewiesen, ihre Unfallverletzten nach
Möglichkeit in Behandlung derjenigen Ärzte zu geben, von denen
sie eine im oben erwähnten Sinne rasche Erledigung des Heilver¬
fahrens erwarten können. Diese Erwartung ist aber lediglich eine
Vertrauenssache. Die Bg. stehen nicht selten machtlos da, sobald
das Verfahren dadurch eine Verzögerung erleidet, daß der erst-
5 Zeitschrift für ärztliche Fortbildung', 1906 Nr. 24, 1907 Nr. 1.
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen. 329
behandelnde Arzt den Fundbericht nicht oder nicht rechtzeitig
bzw. nicht unverzüglich einsendet. Gesetzliche Bestimmungen betr.
die Folgen einer nicht rechtzeitigen Mitteilung des Fundberichtes
oder Bestimmungen im Falle der Weigerung seitens des Arztes
nach erfolgloser Aufforderung durch die Bg. zur Abgabe von Er¬
klärungen, bestehen eben nicht, und solange letzteres der Fall ist,
sind in der Tat die Versicherungsträger auf die Güte der Ärzte
angewiesen, es sei denn, daß im einzelnen ein genau festgesetztes
vertragliches Verhältnis besteht oder daß weitere Bestimmungen
des bürgerlichen Rechtes, z. B. Dienstvertrag usw. , in Betracht
kommen. Wenngleich ein solches Verhalten (beharrliches Nicht-
beant Worten von Ersuchen seitens einer Bg.) eines Arztes als
standeswidrig zu betrachten und dementsprechend zu ahnden ist
(Beschluß des Ehrengerichtshofs vom 15. V. 03 M. Bl. III 357), so
bleibt einstweilen in solchen Fällen nichts anderes übrig, als den
betr. Arzt gerichtlich als Sachverständigen (ev. auch als Zeugen)
vernehmen zu lassen. Siehe hierüber Rek.-Entscheidung des RVA.
vom 2. VIII. 05.
Es muß unter allen Umständen die unverzügliche (d. h. ohne
schuldhaftes Zögern) Einsendung des Fundberichtes verlangt werden.
Dieselbe ist von so immenser Bedeutung für das Heilverfahren und
für die demnächstige Festsetzung der Entschädigung, daß hierüber
bei der Reform der Gesetze ausführliche Rechtsnormen zu erlassen
sind. Es kann unseres Erachtens nur dadurch Ordnung geschaffen
werden, daß einerseits im prophylaktischen Sinne Strafbestimmungen
zu erlassen sind, andererseits der Arzt zum Ersätze des Schadens
verpflichtet ist, welcher durch die nicht unverzügliche Mitteilung
des Fundberichtes verursacht wird. Diese Vorschrift wäre in Unfall¬
versicherungsangelegenheiten strikt zur Durchführung zu bringen,
Den beamteten Ärzten, also den Kreisärzten, würde aufzugeben
sein, dafür Sorge zu tragen, daß die fraglichen Bestimmungen den
sämtlichen, auch den neu sich niederlassenden Ärzten ihres Bezirks,
auf vorschriftsmäßigem Wege zugestellt würden. Damit wäre im
Einzelfalle dem Einwande einer Exkulpation seitens eines Arztes
vorgebeugt. Vielleicht würde es sich außerdem empfehlen, bei Er¬
suchen an Ärzte behufs Untersuchung und Erstattung eines Fund¬
berichtes einheitliche Formulare zu benutzen, in denen die Ärzte,
unter Androhung einer Ordnungsstrafe und der ev. weiteren privat¬
rechtlichen Folgen im Nichtbefolgungsfalle auf die unverzügliche
Einsendung des Fundberichtes anzuhalten sind, ähnlich wie solche
Vorschriften bei Zeugen- oder Sachverständigen-Ladungen vor die
330 Heinrich Schmidt,
ordentlichen Gerichte bestehen. Mit dieser Änderung würde
zum Teil der heute so schwer empfundene Übelstand beseitigt, der
darin besteht, daß die Verbindung zwischen den Bg., Krankenkassen
• •
und Ärzten eine zu lockere ist.
Mit einigen Worten wollen wir noch die ärztliche Begutach¬
tung streifen. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß gewiß
sehr viele ärztliche Gutachten den sämtlichen an sie gestellten
Anforderungen gerecht werden und sehr sorgfältig angefertigt sind.
Bei zahlreichen Gutachten ist dieses aber nicht der Fall. Es
würde zu weit führen, wollte man genauer darauf eingehen. Meistens
• »
sind es die Atteste der erstbehandelnden, der praktischen Arzte,
die den gewünschten Anforderungen der Versicherungsträger oft in
keiner oder nur in mangelhafter Weise genügen. Es ist daher
auch nicht zu verwundern, wenn von den Bg. immer und immer
wieder auf diese Schäden aufmerksam gemacht wird. (Pieper
a. a. 0. S. 34 — 35. Lohmar a. a. 0., Schwanck S. 15.)
Man kann, glauben wir, getrost sagen, daß die meisten prak-
• •
tischen Arzte nach bestandener Prüfung sich zur Ausübung ihres
Berufes niederlassen, ohne vorher Gelegenheit zur Anfertigung ärzt¬
licher Atteste im Unfallangelegenheiten gehabt zu haben. Es ist
dies ein Übelstand, der dringend der Abhilfe bedarf.
Es muß daher in Zukunft gefordert werden, daß die ärztlichen
Prüfungsbestimmungen eine Abänderung dahin erfahren, daß der
Kandidat der Medizin gehalten ist, bei dem Gesuche
um Zulassung zurärztlichenStaatsprüfung den Nach¬
weis darüber zu liefern, daß er außer einem Zeugnisse
über die Erlangung der erforderlichen Kenntnisse bezüglich der bei
öffentlichen Versicherungen vorkommenden einschlägigen modernen
Heilfaktoren, wenigstens zwei bis drei mit einem aus¬
reichenden Prädikate versehene ärztlicheGutachten
— sei es über innere, sei es über chirurgische Krank¬
heitsfälle — vor legt.
In den Vorschriften für die erste juristische Staatsprüfung
bestehen solche ähnliche Bestimmungen schon längst, obwohl dort
die Bedeutung dieser Bestimmung im Vergleich zur Medizin eine
untergeordnete Rolle spielt, indem nach absolvierter erster juristi¬
scher Staatsprüfung eine weitere vierjährige praktische Ausbildung
als Referendar in Preußen folgt. Man könnte vielleicht einwenden,
daß die Medizinalpraktikantenzeit für die Übung zur Anfertigung
von ärztlichen Attesten auszuersehen sei. Dieses halten wir nicht
für richtig. Es geht nicht an, einem Medizinalpraktikanten alles
Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
331
Mögliche noch aufbürden zu wollen. Wir halten es für das Richtige,
wenn die oben zitierte Bestimmung während der Studienzeit zu
einer obligatorischen und ev. der Sozialen Medizin ange¬
gliedert wird. Wir möchten noch betonen, daß durch diese
erwähnte Bestimmung in keiner Weise eine Mehrbelastung der
Arbeitstätigkeit der Studierenden hervorgerufen wird, was daraus
geschlossen werden muß, daß fast sämtliche vor der Staatsprüfung
stehende Hörer der Sozialen Medizin an hiesiger Universität frei¬
willig ärztliche Atteste angefertigt haben, welche von Th. Rumpf
mit den Kandidaten eingehend durchgesprochen und zensiert wurden.
Und selbst bei einer erheblichen Belastung für die
Studierenden dürfte in Zukunft bei der außerordent¬
lichen Wichtigkeit dieses Gegenstandes und dem zu¬
grunde liegenden öffentlichen Interesse von einem
Verzicht auf erwähnte Bestimmung keine Rede sein.
Zum Schluß wollen wir nicht verfehlen, noch kurz auf die
Vertrauensärzte bei den Schiedsgerichten sowie auf das unter Zu¬
ziehung derselben stattfindende schiedsgerichtliche Verfahren zu¬
rückzukommen.
Nach § 8 des Gesetzes betr. Abänderung des Unfallversiche¬
rungsgesetzes vom 30. VI. 1900 sind die Vertrauensärzte bei den
Schiedsgerichten nur „in der Regel“ und „nach Bedarf“ zuzuziehen.
Es ist leicht erklärlich, daß die Schiedsgerichte in sehr vielen
Fällen ohne Zuziehung von Sachverständigen wohl kaum eine Ent¬
scheidung werden treffen können. Es sollen aber die Vertrauens¬
ärzte keineswegs als Gegengutachter gegenüber den von den Bg.
beauftragten Ärzten angesehen werden, sondern dieselben sollen
eine unparteiische Stellung haben.
In der Praxis wird es häufig so gehalten, daß die Schieds¬
gerichte nach einem einzigen Termine auf Grund des Gutachtens
des zugezogenen Sachverständigen zu einer endgültigen Ent¬
scheidung gelangen, und zwar in Fällen, in denen der behandelnde
Arzt ein Gutachten in entgegengesetztem Sinne erstattet hat und
zwar auf Grund wochen- ja monatelanger Behandlung, Beobachtung
und häufiger eingehender Untersuchungen.
Ein solches Verfahren, nämlich über den Kopf des erst¬
behandelnden Arztes hinaus eine Entscheidung in grundverschie¬
denem Sinne zu treffen, dürfte nicht als sachlich und einwandsfrei
zu betrachten sein.
Es ist ein Unding, daß durch eine einmalige, auch noch so
genaue Untersuchung seitens des Vertrauensarztes ein in gleichem
332 H. Schmidt, Das Heilverfahren nach den Unfallversicherungsgesetzen.
Maße ausführliches, genaues und sachliches Gutachten erstattet werden
kann wie auf Grund wochen- oder monatelanger Behandlung, Be¬
obachtung und eingehender Untersuchungen seitens des behandeln¬
den Arztes, zumal wenn letzterer noch als eine Autorität in seinem
Fache gilt.
Beim Vorliegen erwähnter oder ähnlicher Fälle dürfte es
daher ratsam sein, daß die Schiedsgerichte nicht eher eine end¬
gültige Entscheidung herbeiführen, als bis der behandelnde Arzt
gehört ist.
Diese Ansicht entspricht nicht allein dem Gefühle der
Billigkeit, sondern sie ist auch in mehreren Rek.-Entsch. des
RVA. 2001, 2002 vom 20. VI. 03, A.-N. 1903, S. 472/473 zum Aus¬
druck gebracht.
Danach gilt die Vorschrift des § 75, Abs. 1, Satz 1 des lw. G.
bzw. § 69, Abs. 1, Satz 1 des Gew.-G., daß, wenn man auf Grund
eines ärztlichen Gutachtens die Bewilligung einer Entschädigung
abgelehnt oder nur eine Teilrente festgestellt werden soll, der be¬
handelnde Arzt zu hören ist, nicht nur für das Bescheidsverfahren
sondern auch für die Rechtsmittelinstanzen. Das RVA. geht noch
weiter, indem es genannte Vorschrift als eine allgemeine, das
gesamte Feststellungsverfahren beherrschende und deshalb auch
von den Rechtsmittelinstanzen zu beachtende kennzeichnet.
Es hat also das Schiedsgericht auf Grund sorgfältiger Prüfung
des Einzelfalles (RE. 2002) zu erwägen, ob es die Sache an die
Bg. zurückverweisen oder seinerseits den behandelnden Arzt
hören will.
Die Frage bedarf wegen ihrer außerordentlich
großen sachlichen Bedeutung, sowie auch um Un¬
zweckmäßigkeiten, Zwistigkeiten der Arzte u. dgh
zu verhüten, einer einheitlichen Regelung. (Siehe
solche sachliche Erwägungen, die für die Einführung der fraglichen
Vorschrift — § 75 — bestimmend waren: Verhandlungen des Reichs¬
tages — Drucksachen des Reichstages, 10. Legislaturperiode, I. Session
1898/1900, Stenographische Berichte, S. 5334 ff.)
Der Einfluß der sozialen Versicherungsgesetzgebung
auf die Entwicklung des Krankenhauswesens.
Von Dr. med. A. Gbotjahn, Berlin.
Die Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung auf obligato¬
rischer Grundlage ist erst wenige Jahrzehnte alt. Trotzdem hat
sie auf die Versorgung der Kranken, Verunglückten und Invaliden
des größten Teiles der Bevölkerung einen bedeutenden Einfluß ge¬
habt, der auch auf das Krankenhauswesen sehr fördernd eingewirkt
hat. Es empfiehlt sich, diesem Einfluß, der voraussichtlich in Zu¬
kunft noch steigen wird, bei den drei großen Versicherungskörper¬
schaften getrennt nachzugehen.
I.
Infolge ihrer dezentralisierten Organisation hat die Kranken¬
versicherung es zwar weniger wie die Unfallversicherung mit
ihren Unfallkrankenhäusern oder gar die Invalidenversicherung
mit ihren Anstalten zur vorbeugenden Heilbehandlung zu eigenen
Schöpfungen im Krankenhauswesen gebracht, dafür aber um so
nachhaltiger das allgemeine Krankenanstaltswesen gefördert
und mehr als andere beteiligte Faktoren zu dessen Aufblühen bei¬
getragen. Die Krankenhauspflege ist der doch im allgemeinen nicht
der Armenpflege unterstehenden Arbeiterbevölkerung überhaupt
erst durch die Krankenkassen zugänglich gemacht worden. Die
Verbringung in ein Krankenhaus ist zurzeit anerkanntermaßen für
ein Krankenkassenmitglied jedesmal am Platze, wenn die Genesung
oder Besserung weniger von der Anwendung einfacher Arzneimittel
334
A. Grotjahn,
als von der Loslösung aus einem dem Heilungsprozesse ungünstigen
sozialen Milieu abhängt oder operative Eingriffe und komplizierte
Kurmethoden angewandt werden müssen, die nur einer mit allen
technischen Hilfsmitteln ausgerüsteten Anstalt zur Verfügung
stehen. Die Entwicklung der medizinischen Anschauungen geht
dahin, die Vorbedingungen für eine Verbringung in ein Kranken¬
haus schon früher und weit häufiger als gegeben anzusehen, als
das in früherer Zeit mit der damals beliebten Bevorzugung der
Arzneimittel in der Behandlung der inneren und dem arglosen
Operieren von äußeren Krankheiten in der Wohnung des Patienten
der Fall war.
Die mit der Verfeinerung der mechanischen Methoden einher¬
gehende Spezialisierung der Medizin und die gegen früher voll¬
ständig verschiedene Wertung der physikalischen Heilmethoden
macht diesen Gesichtspunkt ohne weiteres verständlich. Wenn
dieses schon ganz im allgemeinen gilt, um wie viel mehr ist es
dann im besonderen erforderlich, die der arbeitenden Klasse
angehörigen Patienten einem Krankenhause zu überantworten. Zu
den Krankheiten, die auch beim Wohlhabenden nach dem Stande
unserer gegenwärtigen medizinischen Ansichten unbedingt Kranken¬
hausaufenthalt erfordern, gesellen sich beim versicherten Arbeiter
noch jene krankhaften Zustände, die durch Mangel an Pflege,
Beengung in den Wohnungs Verhältnissen und Infektionsgefahr
für die Familienmitglieder erst verhängnisvoll werden. Es ist das
Verdienst einer bereits in den Anfängen der Krankenkassengesetz¬
gebung erschienenen Schrift von R. Thomalla,1) für die Ver¬
bringung der Krankenkassenmitglieder in eine Anstalt ganz be¬
stimmte Indikationen aufgestellt und alle jene Krankheiten aufge¬
führt zu haben, die in der Wohnung der Erkrankten mit gutem
Frfolge nur bei Wohlhabenden oder wenigstens dem Mittelstände
angehörigen Kranken behandelt werden können, beim Kranken¬
kassenmitglied aber unbedingt die Verbringung in das Krankenhaus
nötig machen.
Der Einfluß des Krankenversicherungsgesetzes auf die Ent¬
wicklung des Krankenhauswesens beruht auf dem § 7 dieses Ge¬
setzes, Abs. I, der in der Fassung der Novelle vom 10. xÄpril 1892
lautet :
l) Thomalla, R., Über die Behandlung erkrankter Kassenmitglieder. Für
Ärzte, Krankenkassenvorstände, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1894.
Der Einfl. d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 335
An Stelle der im § 6 vorgeschriebenen Leistungen kann freie Kur und Ver¬
pflegung in einem Krankenhause gewährt werden, und zwar
I. 1. für diejenigen, welche verheiratet sind, oder eine eigene Haushaltung
haben, oder Mitglieder der Haushaltung ihrer Familie sind, mit ihrer
Zustimmung, oder unabhängig von derselben, wenn die Art der Krankheit
Anforderungen an die Behandlung oder Verpflegung stellt, welchen in
der Familie des Erkrankten nicht genügt werden kann, oder wenn die
Krankheit eine ansteckende ist. oder wenn der Erkrankte wiederholt
den auf Grund des § 6a Abs. 2 erlassenen Vorschriften zuwider gehandelt
hat, oder wenn dessen Zustand oder Verhalten eine fortgesetzte Beob¬
achtung erfordert ;
2. für sonstige Erkrankte unbedingt.
II. Hat der in einem Krankenhause Untergebrachte Angehörige, deren
Unterhalt er bisher aus seinem Arbeitsverdienst bestritten hat, so ist neben der
freien Kur und Verpflegung die Hälfte des im § 6 als Krankengeld festgesetzten
Betrages für die Angehörigen zu zahlen. Die Zahlung kann unmittelbar an die
Angehörigen erfolgen.
Die wichtigsten Bestimmungen dieses Paragraphen bedürfen
wegen ihrer Eindeutigkeit keines Kommentars. Einige vom Gesetz¬
geber nebensächlich behandelte, aber in der Tat nicht ganz gleich¬
gültige Punkte verdienen jedoch eine nähere Erläuterung. Dazu
gehört zunächst die Frage: wer verfügt über die Gewährung des
Krankenhausaufenthaltes? Dem Gesetze nach ohne Zweifel der
Krankenkassenvorstand und nicht der Arzt, wie in der Pegel an¬
genommen wird. Verständlich wird diese Bestimmung nur dadurch,
daß man sich vergegenwärtigt, daß zur Zeit der Ausarbeitung des
Gesetzes und auch wohl bis in die unmittelbare Gegenwart hinein
die Verbringung in ein Krankenhaus nicht nur als eine medizinisch
zu rechtfertigende Maßregel sondern mehr noch als ein Disziplinar¬
mittel des Kassenvorstandes gegenüber der Simulation oder der
Übertreibung verdächtigen Kassenmitgliedern betrachtet wurde.
Dieser Anschauung ist auch zuzuschreiben, daß nach dem Gesetze
die Wahl der Anstaltspflege nur dem Kassenvorstande, nicht aber
dem Versicherten zusteht und daß letzterer jeden Anspruch auf
Unterstützung verliert, wenn er sich ohne zureichenden Grund
weigert, auf die Verfügung des Kassen Vorstandes in ein Kranken¬
haus zu gehen. Eine derartige Spekulation auf die Furcht der
Mitglieder vor dem Krankenhause erinnert an Zustände, wie sie
glücklicherweise der Vergangenheit des Hospitaiwesens angehören.
Sie ist bei aufgeklärten Arbeitern durch die Umgestaltung der
Krankenhauspflege in den letzten Jahrzehnten obsolet geworden
und wird also bei fortschreitender Vervollkommnung der Anstalten
ein von Jahr zu Jahr untauglicheres Disziplinarmittel werden.
336
A. Grotjahn,
Andererseits wird aber auch das Verhältnis der Bevölkerung zum
Krankenhaus dadurch beeinträchtigt, daß die hie und da infolge
traditioneller Vorurteile noch bestehende Scheu vor dem Kranken¬
hause zu Verwaltungszwecken ausgenutzt wird. Die Fassung des
§ 7 Abschnitt II ermuntert hierzu, indem er die Krankenkassen¬
verwaltung ermächtigt, den Patienten einem Krankenhause zu über¬
weisen, wenn der Erkrankte wiederholt den auf Grund des § 6
Abschnitt II erlassenen Vorschriften zuwider gehandelt hat. Da
der Krankenhausaufenthalt in keinem Falle den Charakter einer
Strafe haben sollte, dürfte eine Änderung dieser Bestimmung
wünschenswert sein, zumal es ja an anderweitigen Strafmitteln
nicht fehlt.
Zu beklagen ist ferner, daß in unserem Krankenversicherungs¬
gesetz dem Versicherten kein Recht auf Krankenhausbehandlung
gesetzlich eingeräumt worden ist. Diese Unterlassung war in der
Zeit, in der das Gesetz erlassen wurde, verständlich, weil damals
Krankenhäuser wohl schwerlich in ausreichendem Maße vorhanden
waren. Nachdem gegenwärtig auch die kleineren Städte mit solchen
ausgerüstet worden sind und auch die Transportverhältnisse sich
ganz außerordentlich gebessert haben, liegt kein Grund mehr vor,
den versicherten Krankenkassenmitgliedern einen rechtlichen An¬
spruch auf Krankenhausaufenthalt zu versagen. Einem Mißbrauch
dieser Berechtigung seitens der Versicherten kann ja leicht durch
das Beibringen eines ärztlichen Attestes vorgebeugt werden, wie
ja denn überhaupt der Arzt auch de jure, nicht nur wie heute fast
überall de facto die Instanz für die Entscheidung der Krankenhaus¬
bedürftigkeit des Versicherten sein sollte. Von Wichtigkeit für
die Einbürgerung der Krankenhausbehandlung unter den Ver¬
sicherten ist ferner der § 21 des Krankenversicherungsgesetzes, der
bestimmt :
Eine Erhöhung und Erweiterung der Leistungen der Ortskrankenkassen ist
in folgendem Umfange zulässig:
1. Die Dauer der Krankenunterstützung kann auf einen längeren Zeitraum
als 26 Wochen bis zu einem Jahre festgesetzt werden.
2. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Krankenhause kann, falls der
Untergebrachte Angehörige hat, deren Unterhalt bisher aus seinem Arbeits¬
verdienste bestritten wurde, ein Krankengeld bis zur Hälfte des durch¬
schnittlichen Tagelohnes bewilligt werden.
3. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Krankenhause kann Kranken¬
geld bis zu einem Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes auch solchen
bewilligt werden, welche nicht den Unterhalt von Angehörigen aus ihrem
Lohne bestritten haben.
Der Einfl. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 337
3 a. Für die Dauer eines Jahres von Beendigung der Krankenunterstützuiig ab
kann Fürsorge für Rekonvaleszenten, namentlich auch Unterbringung in
einer Rekonvaleszentenanstalt gewährt werden.
Diese Bestimmungen haben wesentlich dazu beigetragen, den
Krankenhausaufenthalt bei der Arbeiterbevölkerung populär zu
machen. Denn die Trennung von der Familie wird durch die Ge¬
währung des Krankengeldes an diese erheblich erleichtert. In den
Großstädten, wo die früher bestehende Furcht vor dem Kranken¬
hause am ehesten geschwunden ist, tritt gegenwärtig sogar schon
das Bestreben zutage, bei geringfügigen Leiden den Arzt um Über¬
weisung in ein Krankenhaus zu ersuchen.
Da die Krankenkassen in der Regel zu klein sind, um eigene
Rekonvaleszenten- oder Krankenanstalten bauen und betreiben
zu können, hat das Gesetz im § 46 den Zusammenschluß mehrerer
Krankenkassen zu diesem Zwecke vorgesehen:
Sämtliche oder mehrere Krankenversicherungen und Ortskrankenkassen
innerhalb des Bezirks einer Aufsichtsbehörde können durch übereinstimmende Be¬
schlüsse der beteiligten Kassen sich zu einem Verbände vereinigen zum Zweck:
der Anlage und des Betriebes gemeinsamer Anstalten zur Heilung und Ver¬
pflegung erkrankter Mitglieder, sowie zur Fürsorge für Rekonvaleszenten.
In der Tat haben es im Verlaufe der weiteren Entwicklung nur
zu einem Verbände zusammengetretene Krankenkassen oder ver¬
schmolzene Zentralkassen zu eigenen Neugründungen von Kranken-
und Rekonvaleszentenhäusern gebracht.
In welchem Umfang die Krankenkassen , die allgemeinen und
Gem.-
Krv.
Orts-Krk.
Betr.-
Krk.
Bau-
Krk.
Inn.-
Krk.
Eing.
H.-K.
Ldsr.
H.-K.
Alle
Kassen¬
arten
Absolute Zahlen in 1000 M.
1892
1834,0
5 219.6
2221,1
151,9
197,8
733,6
67,0
10 425,0
1893
2066,3
5 947,6
2385,1
177,0
233,2
708,4
51,4
11 569,0
1894
2050,8
6 145,5
2444,4
190,1
270,1
713,9
54,0
11 868,8
1895
2315,1
6 427,1
2594,5
167,4
312,2
736,2
51,6
12 604,1
1896
2479,0
6 861,9
2938,6
118,9
338,4
780,3
57,9
13 575,0
1897
2591,0
7 514,0
3346,2
93,8
393,2
810,3
56,3
14 804,8
1898
2604,4
8 024,9
3745,7
89,3
440,7
888,3
59,0
15 852,3
1899
2850,8
9 019,5
4389,0
77,9
498,8
989,5
28,3
17 883,8
1900
2836,2
10 042,7
4899,9
93,1
598,8
1106,8
30,3
19 607,8
1901
3033,3
10 695,0
4977,3
68,3
694,8
1139,5
33,0
20 641,2
1902
3106,7
11 087,0
5107,4
87.5
759,3
1160,1
35,0
21 343,0
1903
3284,7
12 504,6
5579,4
114,6
882,4
1257,9
35,2
23 658,8
1904
3751,5
14 938,8
6497,1
133,4
1041,6
1295,0
36,9
27 694,3
Zeitschrift für Soziale Medizin. II.
338
A. Grotjahn,
privaten Anstalten in Anspruch nehmen, erhellen am besten die
von Jahr zu Jahr steigenden Aufwendungen, die sie für Kranken¬
hauspflege machen.
Die Krankenkassen verausgabten nach den Zusammenstellungen
des Kaiserlichen Statistischen Amtes *) an Kur- und Verpflegungs¬
kosten in Krankenhäusern: (s. Tabelle auf S. 337.)
Die Aufwendungen für Krankenhauspflege haben sich also
innerhalb dieser 13 Jahre absolut genommen fast verdreifacht. Da
es sich in den meisten Fällen aber um Patienten handelt, die ohne
den Rückhalt an der Kasse das Krankenhaus schwerlich aufge¬
sucht haben würden, so ist diese Zunahme für die Entwicklung des
Krankenhauswesens ein reiner Gewinn, der dadurch nicht beein¬
trächtigt wird, daß 'die relative Zunahme, berechnet unter Berück¬
sichtigung der Verallgemeinerung des Kassenzwanges, nicht ganz
so hoch ist.
Gem.-
Krv.
Orts-
Krk.
Betr.-
Krk.
Bau-
Krk.
Inn.-
Krk.
Eing.
H.-K.
Ldsr.
H.-K.
Alle
Kassenarten
1
Bei sämtl.
Kassen gegen
1892 in %
Krankheits¬
kosten
überhaupt
auf 1 Mitglied
Auf 1 Mitglied entfielen Mark
1892
1,55
1,74
1,27
5,11
2,59
0,92
0,51
1,50
13,55
1893
1,67
1,84
1,34
5,68
2,58
1,07
0,82
1,63
b 8,7
14,35
1894
1,64
1,85
1,32
5,96
2,68
1,08
0,90
1,63
b 8,7
13,67
1895
1,80
1,86
1,36
6,30
2,72
1,10
0;85
1,67
b 11,3
13,93
1896
1,85
1,88
1,44
4,83
2,56
1,12
0,97
1,71
b 14,0
13,81
1897
1,89
1,95
1,55
4,70
2.70
1,11
0,96
1,78
b 18,7
14,45
1898
1,85
1,97
1,64
4,94
2,77
1,16
1,03
1,81
-20,7
14.60
1899
1,99
2,11
1,83
3,95
2,94
1,23
0,63
1,95
-30,0
15,87
1900
1,97
2,25
1,96
4,56
3,17
1,31
o;66
2,06
b 37,3
16,58
1901
2,07
2,35
1,99
4,33
3,41
1,32
0,73
2,14
b 42,7
16,94
1902
2,09
2,36
2,05
5,57
3,49
1,29
0,79
2,16
b 44,0
17,02
1903
2,19
2,51
2,17
6p6
3,82
1,42
0,85
2,31
b 54,0
17,69
1904
2,48
2,80
2,41
5,87
4,18
1,52
0,99
2,59
b 72,7
19.97
Betrachten wir die einzelnen Kassenarten, so zeigt sich bei
einer Vergleichung, die hier natürlich nur nach Maßgabe der
relativen Zahlen vorgenommen werden kann, daß bei den umfassen¬
den Gemeindekrankenkassen, Ortskrankenkassen, Betriebskranken¬
kassen und eingeschriebenen Hilfskrankenkassen die Steigerung der
Leistungen für die Krankenhausbehandlung sich ziemlich gleich¬
mäßig vollzieht.
*) Statistik des Deutschen Keiches. Neue Folge, Bd. 170. Statistik
der Krankenversicherung im Jahre 1904. Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1907.
Der Einfi. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhausweseus. 339
Welche Bolle die Verpflegungskosten im Verhältnis zu den
übrigen Arten der Krankheitskosten spielen, geht aus folgender
Tabelle hervor:
Jahr
%
Von je 100 M. der Krankheitskosten kommen auf
Arzt
Arznei
und
sonstige
Heilmittel
*
Kranken¬
geld
Fürsorge
für
Rekon¬
vales¬
zenten
Unter¬
stützung
an Wöch¬
nerinnen
Sterbe¬
geld
•
Verpfle-
gungs-
kosten an
Anstalten
1888
20,34
16.16
47,11
1,32
4,27
10,80
1889
20,59
16,59
46,30
—
1.29
4.07
11,16
1890
19,97
16,88
47,46
—
1,21
3,90
10,58
1891
20,03
16,70
46.94
—
1,32
3,71
11,30
1892
20.23
17,02
46,63
—
1.29
3,77
11,06
1893
21,01
17,35
44,89
0,04
1,61
3,75
11,35
1894
22,30
17,50
42,78
0,07
1,78
3,65
11,92
1895
22,08
17,30
43,27
0,05
1,74
3,54
12,02
1896
22^1
17.23
42,35
0,07
1,84
3,53
12,37
1897
22,34
17,18
42.93
0,06
1,80
3,40
12,29
1898
22,73
17,19
42,47
0,07
1,83
3.33
12,38
1899
21,96
16,90
43,74
0.07
1,68
3;34
12,31
1900
21,75
16,47
44,31
0,07
1,62
3,36
12,42
1901
21,82
16,03
44,68
0,08
1,60
3,15
12,64
1902
22,35
15,84
44,33
0,08
1,62
3,06
12,72
1903
22,54
15,98
43,75
0,09
1,58
2,98
13,08
1904
22,40
15,02
44.77
0,07
2,00
2,79
12,95
Innerhalb der gesamten Krankheitskosten, die z. B. im Jahre
1900 157 865 000 M. betrugen, nehmen die Aufwendungen für
Krankenhauspflege fast den achten Teil in Anspruch, und zieht
man die einzelnen Kategorien von Krankenkassen in Betracht, so
ergibt sich, daß z. B. für das Jahr 1900 von je 100 M. Krankheits¬
kosten kamen auf:
hei den
Arzt
Arznei
und
sonstige
Heil¬
mittel
Kran¬
ken¬
geld
Fürsorge
für
Rekon¬
vales¬
zenten
Unter¬
stützung
an Wöch¬
nerinnen
Sterbe¬
geld
V erpfle-
gungs-
kosten
an An¬
stalten
Gemeinde-Krankenv.
28,72
18,57
30,22
0.00
0,00
0,01
22,48
Ortskrankenkassen
20,70
16,82
42,99
0,09
1,98
3.18
14,24
Betriebskrankenkassen
22,80
17,19
44,89
0,09
2,04
4,16
8,83
Baukrankenkassen
24,95
10,44
40,89
0,06
0.10
2,31
21,45
Innungskrankenkassen
21,40
13,94
40,03
0,01
0,30
2,99
21,33
Eingeschr. Hilfskassen
17,09
11,08
60,59
0,01
0,11
3,87
7,25
Landesr. Hilfskassen
19,24
17,23
49,80
0,02
0,11
9,40
4,20
Danach würden Gemeinde-, Innungs- und Baukrankenkassen
340
A. Grotjahn,
häufiger als die übrigen Krankenkassen die Krankenhausbehand¬
lung in Anspruch nehmen. Diese Tatsache dürfte sich wohl ans
der besonders großen Anzahl lediger Personen erklären, die in jenen
Kassen versichert sind.
Staaten und Landesteile
an Kur- und Verpflegungskosten
in Krankenanstalten
im Jahre 1893
im Jahre 1904
Provinz Ostpreußen .
131671
294 604
„ Westpreußen .
103 355
234 210
Stadt Berlin .
1211035
2 631 344
Provinz Brandenburg ohne Berlin . .
430 618
1 255 847
„ Pommern .
156 247
393 237
„ Posen .
88 051
286 523
„ Schlesien .
589 911
1 451 844
„ Sachsen .
439 639
1 071 847
„ Schleswig-Holstein ....
358 062
698 728
,, Hannover .
350 897
977 598
„ Westfalen .
657 419
1 661 606
„ Hessen-Nassau .
343 810
963 562
„ Bheinland .
1 315 822
3 473 756
Hohenzollern .
9 480
12 305
Königreich Preußen insgesamt . . .
6 186 017
15 407 011
Bayern rechts des Bheins .
1 450 346
3 185 962
Bayrische Pfalz .
146 375
268 962
Königreich Bayern insgesamt . . .
1 596 721
3 454 924
9
Unterschied
162 933
130 855
1 420 309
825 229
236 990
198 472
861 933
632 208
340 666
626 701
1 004 187
619 752
2 157 934
2 825
9 220 994
+ 1 735 616
+ 122 587
-f 1858 203
Königreich Sachsen . . .
„ Württemberg .
Baden .
Hessen .
Mecklenburg-Schwerin . .
Sachsen- Weimar . . . .
829 158 2 299 618
443 467 984 714
786 936 1 662 698
201669 | 455 052
47 187 92 244
53 098 169 598
1470 460
541 247
875 762
253 383
45057
116 500
Mecklenburg-Strelitz .
Oldenburg .
Braunschweig .
Sachsen-Meiningen .
Sachsen-Altenburg .
Sachsen-Koburg-Gotha . . . .
Anhalt .
Schwarzburg-Sondershausen . .
Schwarzburg-Budolstadt . . .
Waldeck .
Beuß älterer Linie .
Beuß jüngerer Linie .
7 872
57 902
135 494
20 633
31 188
37 399
53 917
12 242
10 454
5 826
12141
22 845
15 657
122 571
341 649
73132
81 245
76 329
101 627
21 687
27 116
9 214
18 283
62 037
+
7 785
+
64 669
+
206 155
+
52 499
+
50057
+
38 930
_ —
47 710
—
9 445
—
16 662
—
3 388
—
6142
—
39 192
Schaumburg-Lippe
Lippe ....
Lübeck . . .
Bremen . . .
Hamburg . . .
Elsaß-Lothringen
1362
41 189
19 812
93 596
623 784
237 057
2 802
93 817
55 352
247 937
1 033 729
784 342
1440
52 628
35 540
154 341
409 945
547 285
Deutsches Beich
11568 966
27 694 385 +16 125 419
Der Einfi. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 341
Ein anschauliches Bild von dem Steigen der Aufwendungen
der Krankenkassen für Kur- und Verpflegungskosten in Kranken¬
häusern, läßt sich dadurch gewinnen, daß man an der Hand der
amtlichen Statistik1) diese Aufwendungen nach den einzelnen
Landesteilen bestimmt und untereinander vergleicht. Wenn
auch infolge der geänderten statistischen Berichterstattung dieser
Vergleich nur für einen Zeitraum von 11 Jahren angestellt werden
kann, so ist doch selbst in dieser kurzen Zeit ein außerordentliches
Anwachsen der für die Krankenhausbehandlung aufgewendeten
Summen deutlich erkennbar. Im folgenden sollen die Jahre 1893
und 1901 herausgegriffen und miteinander verglichen werden.
Es ergeben sich in: (s. Tabelle auf S. S40.)
Das enorme Wachsen der Aufwendungen im Laufe weniger
Jahre ist natürlich in erster Linie dem Umstande zu danken, daß
die kassenärztliche Versorgung überhaupt bedeutend an Ausdehnung
gewonnen hat. Doch sind die Aufwendungen auch relativ erheb¬
lich gestiegen, wie aus folgender Tabelle, die auf Grund des näm¬
lichen amtlichen statistischen Materials zusammengestellt worden
ist, hervorgeht. (S. Tabelle auf S. 342.)
Also auch die relative Vermehrung der Kosten für Kranken¬
hausaufenthalt ist bedeutend, und zwar haben die Staaten und
Provinzen, die die größte absolute Steigerung dieser Aufwendungen
zeigen, auch mit wenigen Ausnahmen die größte Vermehrung der
Kopfquote aufzuweisen.
Nicht nur ist aber die Entwicklung des Krankenhauswesens
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die arbeitende
Bevölkerung von großem Nutzen gewesen, sondern umgekehrt hat
die Zunahme der Versicherten auch das Krankenhaus wesen im
Sinne einer aufsteigenden Entwicklung beeinflußt.
Vor allem haben die Krankenhäuser immer mehr den Charakter
von Armenanstalten verloren, seitdem ein großer Teil der Insassen
mit den Bechten von versicherten Personen ausgestattet worden
ist. Dann aber auch werden gegenwärtig bedeutend mehr aus¬
sichtsvolle und heilbare Fälle in den Krankenhäusern behandelt,
so daß nicht mehr wie früher die Anstalten in der Bevölkerung
als Sterbehäuser angesehen werden. Dadurch wird die auch gegen¬
wärtig noch bestehende Furcht vor dem Hospital innerhalb der
arbeitenden Bevölkerung immer mehr zum Schwinden gebracht.
9 Statistik des Deutschen Reichs. Hrg. vom Kais. stat. Amt.
Neue Folge, Bd. 78, Berlin 1895 und Bd. 147, Berlin 1904.
342
A. Grotjahn,
Es dürfte die Zeit nicht mehr fern sein, wo die Patienten der
Überredung oder gar der Androhung des Verlustes der ihnen zu¬
stehenden Bezüge nicht mehr bedürfen, um sich in ein Hospital ver¬
bringen zu lassen, sondern freiwillig und gern ein solches aufsuchen.
Staaten und Landesteile
T
Provinz Ostpreußen . .
„ Westpreußen . .
Stadt Berlin .
Provinz Brandenburg (ohne
„ Pommern . . .
„ Posen ....
„ Schlesien . . .
„ Sachsen . . .
„ Schleswig-Holstein
„ Hannover . . .
„ Westfalen . . .
„ Hessen-Nassau .
„ Rheinland . . .
Hohenzollern .
Königreich Preußen
B.)
Bayern rechts des Bheins
Bayrische Pfalz ....
Königreich Bayern . . .
Auf ein durchschnittlich vorhanden gewesenes
Mitglied an Kur- und Verpflegungskosten
im Jahre
1893
im Jahre
1901
im Jahre
1904
•
Unterschied
1,24
1,55
1,96
+ 0,31
+ 0,72
1,25
1,58
1,79
+ 0,33
0,54
3,16
3,68
3,79
+ 0,52
0.63
1,18
1,84
2,29
+ 0,66
1,09
1,29
1,74
2,12
+ 0,55
0,83
1,07
1,49
2,13
+ 0,42
1,06
1,18
1,73
2.11
+ 0,55
0,93
0.98
1,43
1,65
+ 0,45
0,67
1,89
1,94
2,23
+ 0,05
0,34
1,40
1,90
2,36
+ 0,50
0,96
2.21
2,90
3,44
+ 0,69
1,23
1,55
2,19
2,58
+ 0,64
1,03
1,86
2,58
3,07
+ 0,72
1.21
1,35
0,97
1,23
— 0,38
— 0.12
1,64
2,21
2,61
+ 0,57
+ 0,97
2,77
3,27
3,95
+ 0,50
1,18
1,46
1,45
1,92
-0,01
+ 0,46
2,56
2,99
3,65
+ 0,43
1,09
Königreich Sachsen
„ Württemberg
Baden .
Hessen .
Mecklenburg-Schwerin
Sachsen- Weimar . .
0.91 1,41
2;01 2,17
2,41 2,95
1,10 1,43
1,00 1,12
0,88 1,50
1,79
2,77
3,51
1,76
1,32
2,03
0,50
o;ie
0,54
0,33
0,12
0,62
0,88
0,76
1,10
0,66
0,32
1,15
Mecklenburg-Strelitz .
Oldenburg . . . * . .
Braunschweig . . .
Sachsen-Meiningen . .
Sachsen- Altenburg . .
Sachsen-Koburg-Gotha
Anhalt .
Schwarzburg-Sondershausen
Schwarzburg-Budolstadt
Waldeck .
Beuß älterer Linie . .
Reuß jüngerer Linie .
Schaumburg-Lippe .
Lippe .
Lübeck .
Bremen . . . . .
Hamburg . . . .
Elsaß-Lothringen .
1,16
1,93
1,18
0,65
0,72
0,89
1,73
0.92
1,07
0,85
0,98
0,82
0,62
1,70
0,65
0,78
0,50
1,42
1,61
2,50
2,38
1,07
1,19
0,97
0,71
1,17
0,63
1,22
0,63
1,64
2,03
2.84
2,63
1.84
1.63
2.63
2,26
1,31
1,44
0,98
1,47
1,15
L28
1,63
0,83
1,49
0,76
2,10
2,21
3,97
3,51
2,43
0,41
0,21
0,55
0,27
0,35
— 0,04
+ 0,21
+ 0,15
+ 0,09
— 0,53
— 0,02
+ 0,44
+ 0,13
+ 0,22
+ 0,42
+ 0,34
+ 0,25
+ 0,77
0,47
+ 0,70
1,08
0,66
0,72
+ 0,09
+ 0,49
0,33
0,66
— 0,07
+ 0,18
0,71
0,26
0,68
0,60
1,47
1,13
1,36
Deutsches Reich
1,63
2,14
2,59
+ 0,51
0.96
Der EinH d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 343
Daß die Aufnahme zahlreicher Krankenkassenmitglieder in die
allgemeinen Krankenhäuser deren Niveau unverkennbar gehoben
hat, lehrt die eigentlich befremdliche Tatsache, daß die Kranken¬
kassen so wenig eigene Krankenhäuser gegründet haben, geradezu
als einen Glücksumstand betrachten. Die Krankenkassen haben
von der ihnen gesetzlich gewährten Befugnis zur Gründung und
Verwaltung eigener Anstalten bisher in einem Grade Gebrauch
gemacht, der in keinem Verhältnis zu den ungeheuren Zahlungen
an allgemeine Krankenhäuser steht. Das liegt wohl in erster
Linie an der weitgehenden Dezentralisation und der damit
verbundenen Zersplitterung der finanziellen Kräfte. Namentlich
gilt dieses von dem Kern der deutschen Krankenkassen, den
Ortskrankenkassen, sowie von den Innungskrankenkassen, am
wenigsten von den an Einkünften, Verwaltung und Mitgliederzahl
relativ stabilen Knappschafts- und Betriebskrankenkassen. Bei
den Orts- und Innungskrankenkassen hat die stete Änderung ihrer
inneren Organisation, die Fluktuation ihrer Mitglieder und die
damit einhergehende Unsicherheit ihrer finanziellen Basis, endlich
aber auch die für den inneren Betrieb wertvolle, für weitergehende
Ziele jedoch leicht versagende Selbständigkeit der Kassenvorstände
es mit sich gebracht, daß in die Zukunft reichende Maßnahmen,
wie es der Bau und Betrieb eigener Krankenhäuser ist, selten ins
Auge gefaßt und noch seltener verwirklicht worden sind.
Obwohl die Krankenversicherung der älteste Zweig der sozialen
Arbeiterversicherungsgesetzgebung ist, ist sie doch erst wenige Jahr¬
zehnte alt und weder hinsichtlich ihrer Organisation noch ihrer
Leistungsfähigkeit so gefestigt, daß sich ihre zukünftige Entwick¬
lung auf Grund der bis jetzt gemachten Erfahrungen mit Zuver¬
lässigkeit Voraussagen läßt. Soviel aber kann man mit Bestimmtheit
prophezeien: die Beziehungen zum Krankenhauswesen werden in
Zukunft noch inniger und mannigfaltiger werden. Wenn die von
Jahr zu Jahr dringender werdende Beform der Krankenversiche¬
rungsgesetzgebung erst den Kassen eine größere Stabilität gegeben
und das Verhältnis zwischen Kassen und Ärzten einer befriedigenden
Lösung zugetührt haben wird, dann werden die Krankenkassen¬
verwaltungen auch dem Anstaltswesen eine noch größere Aufmerk¬
samkeit als bisher zuwenden können, zumal ihre Mitglieder immer
mehr den Aufenthalt in einer Anstalt beanspruchen dürften. Aber
gerade weil diese Entwicklung vorauszusehen ist, muß davor ge¬
warnt werden, daß bei der aus anderen Gründen wünschenswerten
größeren Zentralisation, die voraussichtlich die Zukunft den Kranken-
344
A. Grotjahn,
kassen bringen wird, die Kassen in größerem Umfange als bisher
eigene Krankenhäuser bauen und in eigener Kegie betreiben, da
der jetzige Zustand sowohl für das Emporblühen der allgemeinen
Krankenhäuser als auch für die Krankenkassen selbst am vorteil¬
haftesten ist. Gegenwärtig zahlen die Kassen für ihre Mitglieder
einen Pflegesatz, der wenigstens in den Großstädten unter dem
Selbstkostenpreise der Kommunalverwaltungen bleibt. Es würde
ein Fehler sein, wenn die Pflegesätze so weit erhöht würden, daß
sie unter allen Umständen die Selbstkosten erreichen würden, weil
damit den Kassen ein mächtiger Anreiz gegeben würde, selbst
Anstalten zu bauen und so zu einer überflüssigen Zersplitterung
im Krankenkassenwesen beizutragen. Damit das Krankenhaus¬
wesen seine medizinischen und hygienischen Aufgaben in möglichst
vollkommener Weise erfüllen kann, ist es zwar notwendig, daß es
sich selbst wieder differenziert und spezialisiert; aber diese
Spezialisierung muß eben nach medizinischen Gesichtspunkten und
der Art der zu behandelnden Kranken sich vollziehen, nicht aber
nach der Art der Organisation, die ein Krankenhaus benötigt.
Eine derartige falsche Spezialisierung würde vielmehr die wünschens¬
werte Differenzierung nach Maßgabe der Erfordernisse bestimmter
Krankheiten unmittelbar lähmen.
Die Ausgaben der Krankenkassen für die Krankenhausbehand¬
lung sind zwar groß und wachsen von Tag zu Tag, stehen aber
doch in keinem richtigen Verhältnis zu den enormen Ausgaben, die
die Kassen noch immer für Arzneimittel und für Behandlung in
der ärztlichen Sprechstunde machen. Es drückt sich darin die
Überschätzung der medikamentösen Behandlung aus, die häufig
dazu führt, daß die Mittel der Krankenkassen für Bagatellsachen
übermäßig in Anspruch genommen werden. Demgegenüber muß
den Krankenkassenmitgliedern immer mehr zum Bewußtsein kommen,
daß Krankenhausbehandlung mit gleichzeitiger Zahlung von Unter¬
stützungsgeldern an die Familie das beste ist, was die Kasse zu
leisten vermag. Wenn diese Erkenntnis erst Gemeingut aller Ver¬
sicherten ist, dann werden die Kassenmitglieder noch mehr als
bisher unter den Patienten der Krankenhäuser vorherrschen. Eine
künftige Reform der Krankenversicherung sollte die Tendenz zu
einer gesteigerten Inanspruchnahme der Anstalten zu unterstützen
suchen, während sie die jetzt zur Verschwendung von Mitteln
führende, uferlose Gewährung von ärztlicher Behandlung und Arznei
bei allen möglichen vorübergehenden Unpäßlichkeiten einzudämmen
suchen sollte.
Der Einfl. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 345
Wenn das Kontingent der Patienten, das das Krankenkassen¬
wesen den Heilanstalten stellt, noch mehr wachsen wird, so wird
sich auch der Zustand nicht mehr aufrecht erhalten lassen, daß
man die Verwaltungen der Krankenkassen von der Mitverwaltung
und Kontrolle der Krankenhäuser ausschließt. Es wäre vielmehr
nur gerecht, daß man ihnen an der Verwaltung der Krankenhäuser
einen Anteil einräumte, vielleicht in der Form, daß eine Anzahl
Vorstandsmitglieder jener Kassen, die dem betreffenden Kranken¬
hause die meisten Patienten zuweisen, in das Kuratorium der An¬
stalt eintreten. Die Beliebtheit des Hauses bei den Kassenmit¬
gliedern würde dadurch nur zunehmen und zahlreiche Reibungen
und Mißhelligkeiten, die gegenwärtig die Popularität der Kranken¬
häuser mindern, zum Verschwinden gebracht werden.
II.
Die durch Unfälle in gewerblichen Betrieben entstandenen
leichten Verletzungen und auch die größeren, bei denen aber nach
erfolgter Heilung keine bleibenden Folgen zu gewärtigen sind,
fallen noch den Krankenkassen zur Last. Dagegen gewährt das
Gewerbeunfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 mit der Novelle
vom 30. Juni 1900 dem Betroffenen 1. die Kosten des Heilverfahrens,
soweit nicht die Krankenkassen in Betracht kommen, und 2. die
Rente. Für den Einfluß der Unfallversicherung auf das Kranken-
hauswesen wurde von großer Bedeutung die Bestimmung, nach der
statt der Kosten des Heilverfahrens und der Rente, Kur und
Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden kann (aber
nicht muß).
Der § 22 bestimmt darüber:
„An Stelle der in den §§ 9 und 12 vorgeschriebenen Leistungen kann von
der Berufsgenossenscbaft freie Kur und Verpflegung in einer Heilanstalt gewährt
werden, und zwar :
1. Für Verletzte, welche verheiratet sind oder eine eigene Haushaltung haben
oder Mitglieder der Haushaltung ihrer Familie sind, mit ihrer Zustimmung. Der
Zustimmung bedarf es nicht, wenn die Art der Verletzung Anforderungen an die
Behandlung oder Verpflegung stellt, denen in der Familie nicht genügt werden
kann, oder wenn der für den Aufenthaltsort des Verletzten amtlich bestellte Arzt
bezeugt, daß Zustand oder Verhalten des Verletzten eine fortgesetzte Beobachtung
erfordert.
2. Für sonstige Verletzte in allen Fällen.
3. Für die Zeit der Verpflegung des Verletzten in der Heilanstalt steht
346
A. Grotjahn,
seinen Angehörigen ein Anspruch auf Rente insoweit zu, als sie dieselbe im Falle
seines Todes würden beanspruchen können.
4. Die Berufsgenossenschaften sind befugt, auf Grund statutarischer Be¬
stimmungen allgemein, ohne eine solche im Falle der Bedürftigkeit dem in einer
Heilanstalt untergebrachten Verletzten sowie seinen Angehörigen eine besondere
Unterstützung zu gewähren.“
Eine gleichlautende Bestimmung trifft § 8 des Unfallyersicherungsgesetzes
für Land- und Forstwirtschaft vom 5. Mai 1886 in der Fassung der Novelle vom
30. Juni 1900.
Diese Bestimmungen kommentiert C. Thiem3) mit folgenden
Worten: „Die Anordnungen bezüglich des Heilverfahrens, nament¬
lich das Recht zu wählen, ob an Stelle freier ärztlicher Behandlung
und Rente freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhause statt¬
zufinden hat, steht nur der Berufsgenossenschaft zu und ein ent¬
sprechender Bescheid verpflichtet den Verletzten hierzu. Weigerung
in ein Krankenhaus oder in ein mediko-mechanisches Institut zu
gehen und unerlaubtes Verlassen desselben erlauben der Berufs¬
genossenschaft, entweder die Rentenzahlung, solange die Weigerung
besteht, ganz einzustellen, oder den für den Verletzten ungünstigsten
Schluß zu ziehen, also die Rente so weit herabzusetzen, als dies
nach vernünftigen Erwägungen bei geeignetem Heilverfahren vor¬
aussichtlich zulässig gewesen wäre. Zeitweilige Entlassung eines
Verletzten aus dem Krankenhause ist gerechtfertigt, kann also
vom Verletzten verlangt werden zur Zeit der Entbidung der Ehe¬
frau usw.“
Besonders günstig hat der § 76 c der Novelle zum Kranken¬
versicherungsgesetz gewirkt, durch den die Berufsgenossenschaften
ermächtigt werden, das Heilverfahren schon vor Ablauf der ersten
13 Wochen zu übernehmen.
Die Organe des Unfallversicherungswesens, die Berufsgenossen¬
schaften, haben in der Folge denn auch große Aufwendungen für
Krankenhauspflege der Unfallkranken machen müssen. Das erhellen
folgende Tabellen, in denen an der Hand der amtlichen Nachweise
über die Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften* 2) die
Aufwendungen aus dem Jahre 1902 mit denen aus dem Jahre 1888,
dem am weitesten zurückliegenden Jahre, aus dem die Daten
einen Vergleich gestatten, zusammengestellt worden sind. Es be¬
zahlten :
9 Thiem, C., Spezielle Krankenversorgung für Arbeiter in Betriebsunfällen.
Handb. d. Krankenversorg. u. Krankenpflege, Bd. 2, Abt. 2, 1899, S. 28.
2) Herausg. vom Reichsversiclierimgsamte in Berlin.
Der Einfl. d. soz. Versieh.' -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Kraukeukauswesens. 347
die Berufsgenossenschaften
an Kur- und Verpflegungskosten
in Krankenhäusern
im Jahre 1888 im Jahre 1905 Unterschied
A. Gewerbliche Berufsgenossenschaften.
Knappsc.hafts-B.-G .
Steinbruchs-B.-G .
B.-G. der Feinmechanik .
Süddeutsche Eisen- und Stahl-B.-G. .
Südwestdeutsche Eisen-B.-G .
Rheinisch -Westfälische Hütten- und
Walzwerks-B.-G .
Maschinenbau- und Kleineisenindustrie-
B.-G .
Sächs.-Thüring. Eisen- und Stahl-B.-G.
Nordöstliche Eisen- und Stahl-B.-G. .
Nordwestliche Eisen- und Stahl-B.-G.
Süddeutsche Edel- u. Unedelmetall-B.-G.
Schlesische Eisen- und Stahl-B.-G. . .
Norddeutsche Metall-B.-G .
B.-G. der Musikinstrumentenindustrie
Glas-B.-G . ’ . . .
Töpferei-B.-G .
Ziegelei-B.-G .
B.-G. der chemischen Industrie . . .
B.-G. der Gas- und Wasserwerke . .
Leinen-B.-G. . . .......
Norddeutsche Textil-B.-G. . . . . .
Süddeutsche Textil-B.-G .
Schlesische Textil-B.-G .
Textil-B.-G. von Elsaß-Lothringen . .
Rheinisch- Westfälische Textil-B.-G. .
Sächsische Textil-B.-G .
Seiden-B.-G .
Papiermacher-B.-G .
Papierverarbeitungs-B.-G .
Lederindustrie-B.-G .
Sächsische Holz-B.-G .
Norddeutsche Holz-B.-G .
Bayrische Holz-B.-G .
Südwestdeutsche Holz-B.-G .
Müllerei-B.-G .
Nahrungsmittelindustrie-B.-G. . . .
Zucker-B.-G .
B.-G. der Molkerei- und Brennerei- und
Stärkeindustrie .
Brauerei- und Mälzerei-B.-G .
Tabak-B.-G. . .
Bekleidungsindustrie-B.-G .
B.-G. der Schornsteinfegermeister des
Deutschen Reiches .
Hamburger Baugewerks-B.-G. . . .
Nordöstliche BaugeAverks-B.-G. . . .
Scklesisch-Posensche Baugewerks-B.-G.
Hannoversche BaugeAverks-B.-G. . .
Magdeburger BaugeAverks-B.-G. . . .
95 774
17 667
1694
5194
5 469
22 878
10 603
4 725
5 745
5 965
328
7 809
1921
200
2 085
169
11266
12 423
1589
768
2 262
2 381
225
86
3 622
3181
585
8 649
1736
1618
420
8030
416
1104
10 771
2 740
1356
2 931
17 177
39
1034
1465
6 722
9118
3 950
3198
2 755
776 432
167 464
28 820
72 139
53 058
110 294
78 193
45 518
38 694
60 220
10 550
54 125
18 491
2 245
17146
9 872
121 481
88 076
12 333
7 638
17 239
15 795
8 866
4 729
11264
12 804
4 778
48 610
8 338
16 037
8 675
160 287
6 312
15 455
54 529
20 354
25 760
! 4-680 658
-f 149 797
I 4- 27126
I 4- 66 945
4- 47 589
4- 87 416
+ 67 590
— 40 793
— 32 949
— 54 255
— 10 222
— 46 316
4- 16 570
— 2 045
— 15 061
— 9 703
4- 110 215
-4 75 653
-f 10 744
! 4- 6 870
4- 14 977
— 13 414
— 8 641
— 4 643
— 7 642
— 9 623
|4- 4 193
— 39 961
— 6 602
— 14 419
— 8 255
— 152 257
— 5 896
— 14 351
— 43 758
I -f 17 614
— 24 404
14 250 4- 11 319
87 334 4- 70 I57
2 601 ! + 2 562
10 549 + 9 515
3 602
18 804
84 466
37 155
32 385
13 400
2137
12 082
75 348
33 205
29 187
10 645
348
A. Grotjahn,
die Berufsgenossenschaften
an Kur- i
in
im Jahre 1888
md Verpflegungskosten
Krankenhäusern
im Jahre 1905 Unterschied
Sächsische Baugewerks-B.-G .
7 415
47 006
+ 39 591
Thüringische Baugewerks-B.-G. . . .
1 414
12 308
+ 10894
Hessen - Nassauische Baugewerks-B.-G.
4 215
38 352
4- 34137
Rheinisch - Westfälische Baugewerks-
B.-G .
10 788
93 352
- 82 564
Württembergische Baugewerks-B.-G. .
2 308
18 047
- 15 739
Bayrische Baugewerks-B.-G .
7 522
48 895
r 41373
Südwestliche Baugewerks-B.-G. . . .
5 884
44 850
- 38 966
Deutsche Buchdrucker-B.-G .
—
7 221
- 7 221
Privatbahn-B.-G .
3 534
10 264
f- 6 730
Straßen- und Kleinbahn-B.-G. . . .
2 757
27 030
L 24 273
Lagerei-B.-G .
8 962
119 936
\- 110974
Fuhrwerks-B.-G. .
13 494
100 788
- 87 294
Westdeutsche Binnenschiff ahrts-B.-G. .
2 463
9 837
L 7 374
See-B.-G .
991
24 020
L 23 029
Tiefbau-B.-G .
9 699
160 245
L 150 546
Fleischerei-B.-G .
—
24 713
h 24 713
Schmiede-B.-G .
—
19 465
b 19 465
Elbschiffahrts-B.-G .
1 764
18 828
- 17 064
Ostdeutsche Binnenschiffahrts-B.-G.
910
5 814
- 4 904
B. Landwirtschaftliche
Berufsgenossenschaften.
Ostpreußische landwirtschaftl. B.-G. .
9
52 568
Westpreußische landw. B.-G .
33
41 913
Brandenburgische landw. B.-G. . . .
365
52 767
Pommersche landw. u. forstw. B.-G. .
—
43 242
Posensche landw. B.-G .
—
57 187
Schlesische landw. B.-G .
191
60 454
Landw. B.-G. f. die Provinz Sachsen .
11
45 397
Schleswig-Holsteinsche landw. B.-G. .
54
29126
Hannoversche landw. B.-G .
382
32 290
Westfälische landw. B.-G .
—
32 840
Hessen-Nassauische landw. B.-G. . .
—
24 766
Rheinische landw. B.-G .
—
94 749
Oberbayrische landw. u. forstw. B.-G.
—
28 051
Niederbayrische landw. u. forstw. B.-G.
—
13 837
Pfälzische landw. u. forstw. B.-G. . .
—
9 880
Oberpfälzische landw. u. forstw. B.-G.
—
17 027
Oberfränkische landw. u. forstw. B.-G.
—
8 250
Mittelfränkische landw. u. forstw. B.-G.
—
13 797
Unterfränkische landw. u. forstw. B.-G.
—
12143
Schwäbische landw. u. forstw. B.-G. .
—
13 900
Landw. u. forstw. B.-G. für das König-
reich Sachsen .
—
61 657
Landw. B.-G. für den Neckarkreis . .
—
17 812
Landw. B.-G. für den Schwarzwaldkreis
—
5186
Landw. B.-G für den Jagstkreis . .
—
6 728
Landw. B.-G. für den Donaukreis . .
—
13 679
Badische landw. B.-G .
—
25 317
Land- u. forstw. B.-G. f. d. Grh. Hessen
—
44 919
Landw. B.-G. f. Mecklenburg-Schwerin
77
13 868
Weimarische landw. B.-G .
269
3 234
Der Einfl. d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 349
die Berufsgenossenschaften
an Kur- und Verpflegungskosten
in Krankenhäusern
im Jahre 1888
im Jahre 1905
Unterschied
Mecklenburg - Strelitzsche landw. und
forstw. B.-G .
3 879
B.-G. Oldenburger Landwirte . . .
—
9 874
Braunschweigische landw. B.-G. . .
—
9 295
Meininger land- u. forstw. B.-G. . .
—
4 292
Altenburgische landw. B.-G .
—
2 698
Coburgische land- u. forstw. B.-G. .
—
662
Gothaische land- u. forstw. B.-G. . .
—
2 554
Anhaltische land- u. forstw. B.-G. . .
—
3 686
Rudolstädtische land- u. forstw. B.-G.
— -
1296
Schwarzb.-Sondershausensche ldw. B.-G.
—
1646
Land- u. forstw. B.-G. f. d. Fürstent.
Reuß ä. L .
915
Land- u. forstw. B.-G. f. d. Fürstent.
Reuß j. L .
1682
Schaumburg-Lippesche landAv. B.-G. .
—
102
Lippesche land- u. forstw. B.-G. . .
—
1 107
B.-G. der Bremischen Landwirte . .
—
—
Hamburgische landw. B.-G .
—
1 408
Landw. B.-G. Unter-Elsaß .
—
25 819
Landw. B.-G. Ober-Elsaß .
—
7 551
Landw. B.-G. Lothringen .
—
16 129
Gewerbliche Berufsgenossenschaften .
395 963
3 348 138
+ 2 952 175
Landwirtschaftliche Berufsgenossen¬
schaften .
1 391
971 179
+ 969 788
Sämtliche Berufsgenossenschaften des
Deutschen Reiches .
397 354
4 319 317
+ 3 921 963
1
Diese enormen x4ufwendungen der Berufsgenossenschaften, die
von Jahr zu Jahr steigen, sind zum bei weitem größeren Teile
den allgemeinen Krankenhäusern und hier wieder vornehmlich den
chirurgischen Abteilungen zugute gekommen. Der Aufschwung,
den die praktische Chirurgie in den letzten Jahrzehnten in Deutsch¬
land in einer vom Auslande beneideten Weise genommen hat, wird
sicher außer den wissenschaftlichen und technischen Leistungen
der modernen Chirurgie auch der geregelten Versorgung der ver¬
unglückten Arbeiter verdankt, die das soziale Unfallversicherungs-
wesen, das an die Stelle der älteren, durchaus unzulänglichen Haft¬
pflicht getreten ist, inauguriert hat. Die regelmäßigen Einkünfte,
die die allgemeinen Krankenhäuser in steigendem Maße durch die
Überweisung von Unfallkranken genießen, haben zahlreiche An¬
stalten in Provinzial- und Kreisstädten veranlaßt, eigene chirurgische
350
A. Grotjahn,
Stationen einznrichten und spezialistisch geschulte Chirurgen mit
deren Leitung zu betrauen.
Aber nicht nur durch förderliche Einwirkung auf die allge¬
meinen Krankenhäuser sondern auch durch Errichtung eigener An¬
stalten hat die Unfallversicherung der Entwicklung des Kranken¬
hauswesens genützt. Das Interesse, das die Berufsgenossenschaften
sowohl an der baldigen Heilung der Unfallverletzten im anatomischen
Sinne als auch an der funktionellen Heilung, d. h. der Wieder¬
herstellung der Gebrauchsfähigkeit der verletzten Glieder haben,
hat zur Gründung eigener Unfallkrankenhäuser geführt, in denen
nach den Grundsätzen der Orthopädie und Neurologie diese
funktionelle Heilung angestrebt wird. Da in diese Anstalten
aber auch die nicht seltenen Patienten zur Beobachtung einge¬
wiesen werden, die nach Ansicht der Berufsgenossenschaften zu
hohe Entschädigungsansprüche stellen, genießen die Unfallkranken¬
häuser unter der versicherten Arbeiterschaft, die sie mit dem
Namen „Rentenquetschen“ zu bezeichnen pflegt, keine besondere
Popularität.
Daß die Berufsgenossenschaften das Interesse für die funktio¬
neile Heilung energisch zur Geltung bringen, ist sehr erfreulich.
Diese Bestrebungen haben auf die chirurgische Tätigkeit in den
allgemeinen Krankenhäusern, die sich früher vielfach gar zu schnell
lediglich auf die Heilung im chirurgischen Sinne beschränkte, an¬
feuernd gewirkt. Ob es aber zweckmäßig ist, die Unfallverletzten
in eigenen, den Berufsgenossenschaften gehörenden Anstalten einer
Nachbehandlung zu unterziehen, ist eine Frage, die keineswegs
ohne weiteres bejaht werden kann. Vielmehr läßt sich mit guten
Gründen die Berechtigung eigener Unfallkrankenhäuser bestreiten.
Die dort auf Grund der Beobachtung angefertigten ärztlichen
Atteste, die für den Rentenbezug der Unfallverletzten natürlich
maßgebend sind, führen in den Augen der Versicherten und —
das muß offen ausgesprochen werden — auch in den Augen mancher
Privatärzte das Odium mit sich, daß sie nicht von unparteiischen
und unabhängigen Ärzten, sondern von solchen, die das Interesse
• •
der Berufsgenossenschaften pflichtgemäß bis zum Äußersten zu
wahren gezwungen sind, ausgehen. Es kommt nicht selten vor,
daß die Gutachten der berufsgenossenschaftlichen Ärzte im Gegen¬
satz zu denen stehen, die von den Vertrauensärzten der Versicherten
selbst beigebracht werden. Kein Wunder, wenn daher bei allen
Beteiligten (außer den Berufsgenossenschaften) das Verlangen nach
einer ganz unabhängigen und unbeteiligten Stellung der testierenden
Der Einfi. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 351
• •
Arzte laut wird, einem Verlangen, das der Gesetzgeber wohl am
besten dadurch erfüllen könnte, wenn er die Begutachtung der
Unfallverletzten den Kreis- oder Gerichtsärzten übertrüge. Die
eigenen Unfallkrankenhäuser würden dann aber ihren Wert für die
Berufsgenossenschaften verlieren.
Dagegen dürfte die Zukunft die Organe der Unfallversicherung
wohl vor die Aufgabe stellen, geeignete oder besonders bedürftige
Unfallverletzte in Anstaltspflege dauernd unterzubringen. Zwar
ist der Versuch, anstatt der Bente dem Unfallgeschädigten den
Aufenthalt in einem Versorgungsheim zu bieten, wie er uns später
bei der Invalidenversicherung begegnen wird, leider bis jetzt von
den Berufsgenossenschaften noch nicht gemacht worden. Doch
deutet manches darauf hin, daß dieses in nicht allzu ferner Zeit
geschehen wird. Wenigstens ist in dem höchst beachtenswerten
Versuch, den der Berliner Verein für Unfallverletzte mit
einer Werkstätte für Unfallverletzte unter Leitung von W. Eisner
unternommen hat, eine Vorstufe zu erblicken zu Versorgungsheimen
für Unfallverletzte, die sich aus eigenen Mitteln nicht erhalten
können und die nur noch in begrenzter Weise zu gewinnbringender
Arbeit fähig sind.
III.
Im Laufe der Jahre hat sich herausgestellt, daß das ursprüng¬
lich am wenigsten beliebte, in der Bevölkerung verächtlich „Klebe¬
gesetz“ genannte Alters- und Invalidenversicherungsgesetz sich be¬
züglich Organisation, Wirksamkeit und Beliebtheit bei der arbeiten¬
den Bevölkerung am besten von den drei sozialen Versicherungs¬
gesetzen bewährt hat. Auch auf das Krankenhauswesen ist es,
obgleich dieses den Zwecken der Invalidenversicherung auf den
ersten Blick recht fern zu liegen scheint, von großem Einfluß ge¬
wesen. Während das Krankenversicherungs- und Unfallversiche¬
rungsgesetz auf Vermehrung und Ausbau vornehmlich der allge¬
meinen Krankenhäuser gewirkt haben, ist das Invalidenversiche¬
rungsgesetz besonders in seiner Fassung vom 13. Juli 1899 zum
Träger einer ganz neuen Art von Krankenfürsorge, der sog. vor¬
beugenden Anstaltsbehandlung, geworden.
Diese vorbeugende Krankenhausbehandlung ist eng verquickt
mit den medizinischen Anschauungen des letzten Jahrzehntes und
sie würde wohl kaum eine so große praktische Bedeutung gewonnen
352
A. Grotjahn,
haben, wenn nicht gleichzeitig eine geschickt inszenierte und mit
großer Wucht um sich greifende Bewegung besonders die Lungen¬
tuberkulose durch rechtzeitiges Verschicken im Anfangsstadium
befindlicher Lungenkranker in wirkungsvoller Weise bekämpfen
zu können geglaubt hätte.
Das ältere Gesetz über Alters- und Invaliditätsversicherung
vom 22. Juli 1889 enthielt in seinem § 12 nur unzureichende Be¬
stimmungen über vorbeugende Krankenhausbehandlung. Das Ver¬
dienst auf Grund dieser Bestimmungen zum ersten Male die Be¬
handlung eines Patienten auf Kosten der Landesversicherungsanstalt
durchgesetzt zu haben, gebührt J. Pauly in Posen, der Mitte der
90er Jahre die Landesversicherungsanstalt Posen bewog, eine von
ihm an beginnender Lungentuberkulose behandelte Patientin in die
W e i c k e r’sche Lungenheilstätte in Görbersdorf auf die Dauer von
mehreren Monaten zu verschicken, damit ihr Lungenspitzenkatarrh
dort ausheile und die für diese vorbeugende Behandlung veraus¬
gabte Summe eine frühzeitige Invalidisierung, die beim Unterlassen
der Kur unausbleiblich gewesen wäre, erspare. Dem Beispiele
Pauly’s ist man an zahlreichen anderen Orten gefolgt und unter
dem Drucke von übertrieben optimistischen Anschauungen über die
Heilbarkeit der Frühtuberkulose haben sich die Landesversicherungs¬
anstalten unter der Führung der von Gebhardt geleiteten
hanseatischen Anstalt an die Gewährung dieser vorbeugenden
Krankenhausbehandlung gewöhnt, bis endlich die Novelle vom 13. Juli
1899 eine unzeifelhafte rechtliche Grundlage für dieses Verfahren
schuf.
Die wichtigsten Bestimmungen des Invalidenversicherungs¬
gesetzes vom 13. Juli 1899, die die vorbeugende Krankenfürsorge
betreffen, lauten (Reichsgesetzblatt S. 463):
§ 18.
Ist ein Versicherter dergestalt erkrankt, daß als Folge der Krankheit Er¬
werbsunfähigkeit zu besorgen ist, welche einen Anspruch auf reichsgesetzliche
Invalidenrente begründet, so ist die Versicherungsanstalt befugt, zur Abwendung
dieses Nachteils ein Heilverfahren in dem ihr geeignet erscheinenden Umfang
eintreten zu lassen.
Die Versicherungsanstalt kann das Heilverfahren durch Unterbringung des
Erkrankten in einem Krankenhaus oder in einer Anstalt für Genesende gewähren.
Ist der Erkrankte verheiratet, oder hat er eine eigene Haushaltung, oder ist er
Mitglied der Haushaltung seiner Familie , so bedarf es hierzu seiner Zu¬
stimmung.
Der Einfl. d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 353
Läßt die Versicherungsanstalt ein Heilverfahren eintreten, so gehen bei Ver¬
sicherten, welche der reichsgesetzlichen oder landesgesetzlichen Krankenfürsorge
unterliegen, vom Beginne dieses Heilverfahrens an bis zu dessen Beendigung die
Verpflichtungen der Krankenkasse gegen den Versicherten auf die Versicherungs¬
anstalt über. Dieser hat die Krankenkasse Ersatz zu leisten in Höhe desjenigen
Krankengeldes, welches der Versicherte von der Krankenkasse für sich bean¬
spruchen konnte.
Während des Heilverfahrens ist für solche Angehörigen des Versicherten,
deren Unterhaltung dieser bisher aus seinem Arbeitsverdienste bestritten hat, eine
Unterstützung auch dann zu zahlen, wenn der Versicherte der reichs- oder landes¬
gesetzlichen Krankenversorgung nicht unterliegt. Diese Angehörigenunterstützung
beträgt, sofern der Versicherte der reichs- oder landesgesetzlichen Krankenfürsorge
bis zum Eingreifen der Versicherungsanstalt unterlag, die Hälfte des für ihn
während der gesetzlichen Dauer der Krankenunterstützung maßgebend gewesenen
Krankengeldes, im übrigen ein Viertel des für den Ort seiner letzten Beschäfti¬
gung oder seines letzten Aufenthalts maßgebenden ortsüblichen Tagelohns ge¬
wöhnlicher Tagearbeiter. Wenn der Versicherte Invalidenrente erhält, kann die¬
selbe auf die Angehörigenunterstützung angerechnet werden.
§ 19.
Die Versicherungsanstalt, welche ein Heilverfahren eintreten läßt, ist befugt,
die Fürsorge für den Erkrankten der Krankenkasse, welcher er angehört oder
zuletzt angehört hat, in demjenigen Umfange zu übertragen, welchen die Ver¬
sicherungsanstalt für geboten erachtet. Werden dadurch der Kasse Leistungen
auferlegt, welche über den Umfang der von ihr gesetzlich oder statutarisch zu
leistenden Fürsorge hinausgehen, so hat die Versicherungsanstalt die entstehenden
Mehrkosten zu ersetzen. Bestand eine Fürsorgepflicht der Krankenkasse nicht
mehr, so ist ihr von der Versicherungsanstalt bei Gewährung der im § 6 Abs. 1
Ziffer 1 des Krankenversicherungsgesetzes bezeichneten Leistungen das halbe, bei
Unterbringung des Versicherten in ein Krankenhaus oder in eine Anstalt für
Genesende das einundeinhalbfache Krankengeld zu ersetzen, sofern nicht höhere
Aufwendungen nachgewiesen werden.
§ 22.
Wird der Versicherte infolge der Krankheit erwerbsunfähig, so kann ihm,
falls er sich den gemäß §§ 18, 19 von der Versicherungsanstalt getroffenen Ma߬
nahmen ohne gesetzlichen oder sonst triftigen Grund entzogen hat, die Invaliden¬
rente auf Zeit ganz oder teilweise versagt werden, sofern er auf diese Folgen
hingewiesen worden ist und nachgewiesen wird, daß die Erwerbsunfähigkeit durch
sein Verhalten veranlaßt ist.
§ 45.
Durch übereinstimmenden Beschluß des Vorstandes und des Ausschusses
kann bestimmt werden, daß die Überschüsse des Sondervermögens einer Ver¬
sicherungsanstalt über den zur Deckung ihrer Verpflichtung dauernd erforder¬
lichen Bedarf zu anderen als den im Gesetze vorgesehenen Leistungen im wirt¬
schaftlichen Interesse der der Versicherungsanstalt angehörenden Bentenempfänger,
Versicherten sowie ihrer Angehörigen verwendet werden.
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. 23
354
A. Grotjahn,
Solche Beschlüsse bedürfen der Genehmigung des Bundesrats. Die Genehmi¬
gung kann widerrufen werden, wenn das Sondervermögen der Versicherungsanstalt
zur dauernden Deckung ihrer Verpflichtung nicht mehr ausreicht.
§ 47.
Tritt in den Verhältnissen des Empfängers einer Invalidenrente eine Ver¬
änderung ein, welche ihn nicht mehr als erwerbsunfähig (§§ 15, 16) erscheinen
läßt, so kann demselben die Beute entzogen werden.
Ist begründete Annahme vorhanden, daß der Empfänger einer Invalidenrente
bei Durchführung eines Heilverfahrens die Erwerbsfähigkeit wieder erlangen
werde, so kann die Versicherungsanstalt zu diesem Zwecke ein Heilverfahren ein-
treten lassen. Dabei finden die Bestimmungen des § 18 Abs. 2 bis 4, §§ 19 bis
21, 23 mit der Maßgabe Anwendung, daß an Stelle der Angehörigenunterstützung
die Invalidenrente treten kann. Hat sich der Bentenempfänger solchen Ma߬
nahmen der Versicherungsanstalt ohne gesetzlichen oder sonst triftigen Grund
entzogen, so kann ihm die Beute auf Zeit ganz oder teilweise entzogen werden,
sofern auf diese Folgen hingewiesen worden ist und nachgewiesen wird, daß er
durch sein Verhalten die Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit vereitelt hat.
Nach diesen Bestimmungen kann sich also die vorbeugende
Krankenhausbehandlung auf alle Krankheiten erstrecken, wenn
man sich von ihr eine Verhinderung frühzeitiger Invalidisierung
verspricht, wenn auch in der Tat die Lungentuberkulose den
größten Teil an dieser prophylaktischen Heilbehandlung gegen¬
wärtig noch genießt.
Der Umfang, in dem die Landesversicherungsanstalten wegen
beginnender, voraussichtlich noch heilbarer oder erheblich besserungs¬
fähiger Krankheiten die vorbeugende Heilstättenbehandlung ein-
treten lassen,
ist von
Jahr
zu Jahr bedeutender
geworden.
wurden den Heilstätten übergeben : x)
mit einem Kostenaufwande
und in % der
Einnahme
im Jahre
Personen
von M.
1888
13 758
2 769 330
2J
1899
20 039
4 056 975
2,8
1900
27 427
6 210 720
4,0
1901
32 710
7 912 219
4,9
1902
35 949
9 056 240
5,4
*) Statistik der Heilbehandlung bei den Versicherungsanstalten und
zugelassenen Kasseneinrichtungen der Invalidenversicherung für die Jahre 1897,
1899, 1900, 1901 und 1902 und Statistik der Heilbehandlung 1901 — 1905. Amt¬
liche Nachrichten des Beichsversicherungsamtes, 1903, 1. Beiheft und 1906, 2. Bei¬
heft. Ascher & Co.
Der Einfi. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 355
im Jahre
1903
1904
1905
Personen
mit einem Kostenaufwande
von M.
43 593
49 491
56 420
11 501 205
12 735 081
14 448 005
und in °/o der
Einnahme
6.5
6.6
7,1
Die meisten Patienten, nämlich 54 Proz. litten an Lungen¬
tuberkulose, an deren Heilung oder doch umfassenden Besserung
den Versicherungsanstalten deshalb viel gelegen sein muß, weil die
Tuberkulose zu den wichtigsten Ursachen der Invalidität gehört.
Die Beteiligung der einzelnen Versicherungsanstalten, soweit es
sich um Lungentuberkulose handelt, ergibt sich aus den folgenden
Tabellen.
Ueber die Dauererfolge der vorbeugenden Lungenheilbehand¬
lung veröffentlichte das Reichsversicherungsamt im Jahre 1906
folgende Angaben:
Krankheitsgruppen
und
Geschlecht
der
behandelten
Personen
Bei den wegen
Lungentuberkulose
behandelten
Personen und zwar :
Auf 100 ständ.
behandelte
Personen
wurde bei Ab¬
schluß d. Heil¬
verfahrens
Heilerfolg er¬
zielt, so daß
Erwerbsun¬
fähigkeit in
absehbarer
Zeit nicht zu
besorgen war
im Jahre
Auf 100 ständig behandelte und
kontrollierte Personen
aus dem
Jahre 1901
aus dem
Jahre
1902
aus
dem
Jahre
1903
aus
dem
Jahre
1904
aus
dem
Jahre
1905
wurde Erwerbsunfähigkeit verhindert
bis zum Schlüsse des Jahres
■»“H
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05
OS
05
05
05
05 jOS
05
05
05
05
05
05
'05
05
05
05
05
05
05
rH
rH
rH
rH
-1
-r
tH
rH
H
rH
rH
rH
rH
t-H
t—H
r— 1
rH
rH
a) bei Männern und
Frauen zus.
c) bei Männern allein
b) bei Frauen allein
77
77
77
78 80
77 79
8082
79
79
81
82
81
83
70
70
72
55
53
60
46
45
40
38
5145
34
32
39
73
72
76
58
57
62
50
48
54
42
41
46
74
73
77
60
59
64
51
49
55
74
73
76
61
60
64
77
77
79
Aus den nämlichen amtlichen Publikationen lassen sich fol¬
gende Angaben über Umfang und Erfolg der im Jahre 1905 ab¬
geschlossenen vorbeugenden Behandlung wegen beginnender Lungen¬
tuberkulose zusammenstellen :
23*
356
A. Grotjahn,
Y ersickerungsanstalten
Zahl der
Ver¬
sicherten
Be¬
handelte
Personen
überhaupt
Heilerfolg, so daß Erwerbs¬
unfähigkeit im Sinne des
§ 5 Abs. 4 IVG. nicht zu be¬
fürchten war, trat ein bei
Heilerfolg im Sinne des § 5
Abs. 4 IVG. wurde nicht
erzielt bei
Ostpreußen .
410 721
229
169
60
Westpreußen .
300 129
161
108
53
Berlin .
452 644
2 204
1955
249
Brandenburg .
641 715
1332
1034
298
Pommern .
335 024
217
132
85
Posen .
361 824
484
461
23
Schlesien .
1 041 258
1038
959
79
Sachsen-Anhalt .
633 066
526
409
117
Schleswig-Holstein .
291 828
346
298
48
Hannover .
504 857
1082
870
212
Westfalen .
469 062
1 785
1 617
168
Hessen-Nassau .
355 110
1041
894
147
Rheinprovinz . • .
994 252
3 580
3 076 •
504
Oberbayern .
330 219
1098
994
104
Niederbayern .
162 389
63
44
19
Pfalz .
155 312
287
191
96
Oberpfalz und Regensburg ....
116 864
92
80
12
Oberfranken .
135 053
90
76
14
Mittelfranken .
177 693
382
336
46
TJnterfranken und Aschaffenburg . .
120 555
120
28
92
Schwaben und Neuburg .
161 597
119
91
28
Königreich Sachsen .
942 642
1 525
1 329
196
Württemberg .
386 531
1 114
691
423
Baden .
362 553
1 605
751
854
Großherzogtum Hessen .
210 947
714
590
124
Mecklenburg .
179 463
126
88
38
Thüringen .
295 935
850
728
122
Oldenburg .
58 808
81
72
9
Braunschweig .
107 203
344
294
50
Hansestädte .
244 023
1439
1 323
116
Elsaß-Lothringen .
326 361
618
502
116
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Preuß.-Hess.
Eisenbahngem .
192 159
810
707
103
Norddeutsche Knappsch.- Pens.- Kasse
69 803
476
391
85
Saarbrücker Knappschaftsverein . .
30 740
—
—
—
Arb. -Pens.-Kasse d. Iv. Bayr. Staats-
eisenbahnverw .
23 770
63
48
15
Arb. -Pens.-Kasse der K. Sächsischen
Staatseisenbahnen .
24111
34
31
3
Allg. Knappschafts-Pens.-Kasse f. d.
Königr. Sachsen .
27 230
12
10
2
Arb.-Pens.-Kasse d. Bad. Staatseisenb.
u. Salinen .
12 577
61
51
10
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Reichseisen-
bahnverw .
12 544
64
51
13
Allgemeiner Knappschaftsverein zu
Bochum .
154 687
409
309
100
Insgesamt 1905
1 11 813 259
26 621
21 788
4833
Der Einfl. d. soz. Versieh .-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 357
Die Kosten der ständigen im Jahre 1905 abgeschlossenen vor¬
beugenden Behandlung wegen beginnender Lungentuberkulose be¬
liefen sich bei den
V ersicherungsanstalten
Kosten
insgesamt
M.
pro Kopf
der mit
Erfolg
Behandelten
M.
pro Kopf
der ohne
Erfolg
Behandelten
M.
Ostpreußen .
84 941
420
232
Westpreußen .
66 023
467
294
Berlin .
1 055 144
510
231
Brandenburg .
545 585
465
217
Pommern .
77 698
483
164
Posen .
146114
307
201
Schlesien .
442 273
437
297
Sachsen-Anhalt .
186 382
397
205
Schleswig-Holstein .
93 320
278
217
Hannover .
360 322
360
221
Westfalen .
512 176
299
175
Hessen-Nassau .
305 624
306
218
Kheinprovinz .
1 180 190
357
165
Oberbayern .
114 799
102
128
Niederbayern .
17 414
333
145
Pfalz .
97 787
398
226
Oberpfalz und Kegensburg ....
25 610
286
227
Oberfranken .
29143
337
251
Mittelfranken .
114 284
309
230
Unterfranken und Aschaffenburg . .
30 644
277
249
Schwaben und Neuburg .
39 818
363
241
Königreich Sachsen .
689 310
484
237
Württemberg .
367 056
363
275
Baden .
522 839
452
215
Großherzogtum Hessen .
272 459
432
142
Mecklenburg .
48 851
444
256
Thüringen .
289 662
360
224
Oldenburg .
44 201
561
423
Braunschweig .
95 330
297
162
Hansestädte .
623 986
434
429
Elsaß-Lothringen .
213 395
377
210
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Preuß.-Hess.
Eisenbahngem .
491 688
653
291
Norddeutsche Knappsch. -Pens.-Kasse .
174 711
386
280
Saarbrücker Knappschaftsverein . .
—
• —
—
Arb. -Pens.-Kasse d. K. Bayr. Staats-
eisenbahnverw .
21 589
397
169
Arb. -Pens.-Kasse der K. Sächsischen
Staatseisenbahnen .
15 243
461
314
Allg. Knappschafts-Pens.-Kasse f. d.
Königr. Sachsen .
3 569
290
333
Arb.-Pens.-Kasse f. d. Bad. Staatseisenb.
u. Salinen .
34 217
625
233
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Keichseisen-
bahnverw .
24 433
405
290
Allgemeiner Knappschaftsverein zu
Bochum . .
221 705
616
314
Insgesamt 1905
9 679 535
394
225
358
A. Grotjahn,
Umfang und Erfolg der im Jahre 1905 abgeschlossenen Heil¬
behandlung wegen anderer Krankheiten als Lungentuberkulose
betrug bei den
V ersicherungsanstalten
Behandelte
Personen
überhaupt
Heilerfolg,
daß Erwerbs¬
unfähigkeit
im Sinne d. § 5
Abs. 4 IVG.
nicht zu be¬
fürchten war,
trat ein bei
Heilerfolg im
Sinne des § 5
Abs. 4 IVG.
wurde nicht
erzielt bei
Ostpreußen . .
2 049
1554
495
Westpreußen .
730
536
194
Berlin .
2 392
2191
201
Brandenburg .
599
433
166
Pommern .
441
310
131
Posen .
714
669
45
Schlesien .
844
779
65
Sachsen- Anhalt .
261
209
52
Schleswig-Holstein .
789
638
151
Hannover .
1299
1 150
149
Westfalen .
1089
1 002
87
Hessen-Nassau .
685
545
140
Rheinprovinz .
1623
1371
252
Oberbayern .
807
697
110
Niederbayern .
114
69
45
Pfalz . .
166
90
76
Oberpfalz und Regensburg ....
177
118
59
Oberfranken .
88
64
24
Mittelfranken .
111
83
28
Unterfranken und Aschaffenburg . .
85
42
43
Schwaben und Neuburg .
93
62
31
Königreich Sachsen .
1046
901
145
Württemberg .
1362
976
386
Baden .
451
195
256
Großherzogtum Hessen .
539
476
63
Mecklenburg .
172
136
36
Thüringen . . .
1353
1101
252
Oldenburg .
115
86
29
Braunschweig .
56
45
11
Hansestädte .
618
552
66
Elsaß-Lothringen .
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Preuß.-Hess.
250
160
90
Eisenbahngem .
558
517
41
Norddeutsche Knappsch. -Pens. -Kasse .
137
105
32
Saarbrücker Knappschaftsverein . .
—
—
—
Pens.-Kasse d. K. Bayr. Staatsb. . .
Arb. -Pens.-Kasse der K. Sächsischen
63
56
7
Staatseisenbahnen .
Allg. Knappschafts-Pens.-Kasse f. d.
19
15
4
Königr. Sachsen .
6
3
3
Arb.-Pens.-Kasse f. d. Bad. Staatsb. .
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Reichseisen-
158
132
26
bahnverw .
32
25
7
Allg. Knappschaftsverein zu Bochum .
231
172
59
Insgesamt 1905
22 322
18 265
4057
Der Einfi. d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhaus wesens. 359
Die Kosten der ständigen im Jahre 1905 abgeschlossenen vor¬
beugenden Behandlung wegen anderer Krankheiten als Lungen¬
tuberkulose beliefen sich bei den
pro Kopf
pro Kopf
Kosten
der mit
der ohne
V ersicherungsanstalten
insgesamt
Erfolg
Erfolg
Behandelten
Behandelten
M.
M.
M.
Ostpreußen .
177 346
86
89
Westpreußen .
105 933
146
143
Berlin .
878 239
375
280
Brandenburg .
161 090
297
196
Pommern .
66 872
159
134
Posen .
120 425
164
233
Schlesien .
218 611
265
192
Sachsen- Anhalt .
57 836
238
155
Schleswig-Holstein .
130 136
172
134
Hannover .
261 953
200
213
Westfalen .
169 933
157
146
Hessen-Nassau .
121 882
179
173
Bheinprovinz .
337 906
212
186
Oberbayern .
78 949
90
145
Niederbayern .
16 023
177
85
Pfalz .
36 065
247
182
Oberpfalz und Regensburg ....
20 867
115
124
Oberfranken .
16 665
184
204
Mittelfranken .
15 950
151
121
Unterfranken und Aschaffenburg . .
8 886
102
107
Schwaben und Neuburg .
16 339
160
206
Königreich Sachsen .
236 507
228
213
Württemberg .
231 648
172
165
Baden .
67 797
168
137
Großherzogtum Hessen . .
145 841
280
198
Mecklenburg .
47 599
289
232
Thüringen .
209 759
159
136
Oldenburg . • . . .
29 251
247
277
Braunschweig .
8 536
154
145
Hansestädte .
172 353
282
250
Elsaß-Lothringen .
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Preuß.-Hess.
36163
165
109
200
Eisenbahngem .
123 467
223
Norddeutsche Knappsch. -Pens.-Kasse .
22 148
149
202
Saarbrücker Knappschaftsverein . .
Arb. -Pens. -Kasse d. K. Bayr. Staats-
—
246
132
eisenbahnverw .
Arb. -Pens.-Kasse der K. Sächsischen
14 708
300
316
Staatseisenbahnen .
5 766
Allg. Knappschafts-Pens.-Kasse f. d.
Königr. Sachsen .
Arb. -Pens.-Kasse f. d. Bad. Staatseisenb.
647
108
108
161
u. Salinen .
Pens.-Kasse f. d. Arb. d. Reichseisen-
28 738
186
245
212
bahnverw .
7 623
Allgemeiner Knappschaftsverein zu
Bochum .
76 735
380
193
Insgesamt 1805
4 483 192
209
163
360
A. Grotjahn,
Am Anfang des Jahres 1903 besaß: die Landesversicherungs¬
anstalt Berlin 1 Lungenheilstätte, 1 Heilstätte für geschlechts-
kranke Männer und 2 Sanatorien für andere Kranke mit insgesamt
678 Betten; die Landesversicherungsanstalt Brandenburg
1 Lungenheilstätte mit 110 Betten; die Landesversicherungsanstalt
Hannover 3 Lungenheilstätten und 2 Sanatorien für andere
Kranke mit insgesamt 316 Betten; die Landesversicherungsanstalt
Schlesien 3 Sanatorien mit zusammen 340 Betten; die Landes¬
versicherungsanstalt Baden 1 Lungenheilstätte mit 122 Betten;
die Thüringische Landesversicherungsanstalt 1 Lungenheilstätte
und 2 Sanatorien mit insgesamt 143 Betten; die Landesversiche¬
rungsanstalt Braunschweig 2 Lungenheilstätten mit 116 Betten-
die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte 2 Lungenheil¬
stätten und 2 Sanatorien mit insgesamt 360 Betten; die Landes¬
versicherungsanstalt Württemb er g 1 Sanatorium mit 45 Betten.
Ein näheres Eingehen auf die Erfolge der vorbeugenden Heil¬
behandlung, wie sie in einem von Jahr zu Jahr wachsenden Maße
von den Versicherungsanstalten angewandt wird, kann hier füglich
unterbleiben, da ja die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit dieser
Behandlung weder von medizinischer noch von verwaltungstech¬
nischer Seite bestritten wird, es vielmehr nur noch Gegenstand
der Kontroverse ist, welche chronischen krankhaften Zustände
bei dieser Behandlung vorzugsweise berücksichtigt werden sollen.
Für die Entwicklung des Heilstättenwesens an sich ist diese Frage
jedoch bedeutungslos, da ja innerhalb des Betriebes dieser Anstalten.
Verschiebungen bezüglich der Verpflegung und Behandlung je nach
dem augenblicklichen wissenschaftlichen Standpunkte jeder Zeit vor¬
genommen werden können.
Von Jahr zu Jahr ist die vorbeugende Krankenhausbehandlung
in größerem Umfange von den Behörden der Invalidenversicherung
angeordnet worden. Nach den amtlichen Nachrichten des Keichs-
versicherungsamtes ist in dem Jahrfünft von 1897 bis 1902 die
Zahl der wegen Lungenschwindsucht in vorbeugende Heilstätten¬
behandlung genommenen Männer auf fast das Fünffache, die Zahl
der tuberkulösen Frauen auf nahezu das Sechsfache, die Anzahl
der wegen anderer Krankheiten als Lungentuberkulose in vor¬
beugende Anstaltsbehandlung genommenen Männer um mehr als
das Doppelte, die die Frauen um mehr als das Dreifache ge¬
stiegen.
Auch auf das pri vate Krankenhauswesen hat die vorbeugende
Heilstättenbewegung förderlichen Einfluß ausgeübt. Davon legen
Der Einfl. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 3ßp
folgende Angaben Zeugnis ab: In dem Jahrfünft 1898 bis 1902
überwiesen die Landesversicherungsanstalten 999 Patienten dem
Weicker’schen Krankenheim für Lungenkranke in Görbersdorf, 473
Patienten der Hettinger’schen Lungenheilanstalt in Nordroch (Baden),
198 Patienten der Lungenheilanstalt von Dr. Lipp in Reichelsheim
im Odenwald, 167 Patienten der Heilstätte Waldhof-Elgershausen
im Kreise Wetzlar von Dr. Liebe, 204 Patienten der von Hahn’schen
Anstalt in Sülzhain im Südharz, 80 Patienten dem Rassenberg’schen
Sanatorium für Lungenkranke ebendaselbst, 78 Patienten der
Lungenheilanstalt von Pintschovius in Altan brak am Harz, 67
Patienten der Brehmer’schen Heilanstalt in Görbersdorf, 228 Pa¬
tienten der Schmitt’schen Heilanstalt in Lindenfels im Odenwald,
28 dem Niemöller’schen Kurhaus in Zwischenahn u. a. m.
Auch zahlreiche Krankenanstalten, die von Wohlfahrtsvereinen
unterhalten werden, werden von den Landesversicherungsanstalten
durch Zuweisung von Patienten unterstützt und so mit festen Ein¬
nahmen versehen. In den Jahren von 1898 bis 1902 überwiesen
die Landesversicherungsanstalten u. a. 686 Patienten der Volks¬
heilstätte vom Roten Kreuz am Grabowsee bei Oranienburg, 432
Patienten der Volksheilstätte Vogelsang (bei Gommern) des Vater¬
ländischen Frauenvereins Oberkaufungen (bei Kassel), 149 Patienten
dem Johanniterhospital Plön, 39 Patienten dem Johanniterhospital
Altena i. W., 403 Patienten dem Augusta- Viktoriastift in Lipp-
springe, 123 Patienten dem Augusta- Viktoriaheim zu Eberswalde,
110 Patienten der Lungenheilstätte des Bergischen Vereins für
Gemeinwohl in Honnef, 80 Patienten der Heilstätte Luitpoldheim
bei Lohr a. M., 46 der Lungenheilstätte des Berlin-Brandenburger
Heilstätten Vereins zu Belzig, 17 der Heilstätte des Kölner Heil¬
stättenvereins in Rosbach (Rheinprovinz), 24 Patienten der Heil¬
stätte des Magdeburger Vereins zur Bekämpfung der Lungen¬
schwindsucht in Loslau.
Die vorbeugende Krankenhauspflege wird voraussichtlich auch
in der Zukunft von den Landesversicherungsanstalten ausgebaut
werden. Erst die Erfahrungen von Jahrzehnten, die gegenwärtig
noch ausstehen, können uns genauer Aufschluß geben, welche
Krankheiten die beste Aussicht bei der die Invalidität vorbeugen¬
den Behandlung gewährleisten. Erst wenn diese Erfahrungen, von
Fachleuten verarbeitet, vorliegen , wird man Regeln aufstellen
können, die sowohl den medizinischen wie den fiskalischen Gesichts¬
punkten entsprechen. Wie auch die vorbeugende Krankenhaus¬
pflege sich dereinst qualitativ entwickeln wird, jedenfalls kann
362
A. Grotjahn,
man schon heute Voraussagen, daß sie sich quantitativ von Jahr
zu Jahr ausdehnen wird.
Endlich deuten Anzeichen darauf hin, daß neben der vorbeugen¬
den Krankenhauspflege in Zukunft die Landesversicherungsanstalten
mehr der Einrichtung von Invalidenheimen, in denen auf Grund des
§ 25 IVG. der zum Rentenbezug Berechtigten eine dauernde Unterkunft
geboten wird, ihr Interesse zu wenden werden. Die Kostspieligkeit, die
wir leider an unseren modernen Krankenhaus- und Heilstättenbauten
als unvermeidlich anzusehen uns gewöhnt haben, ist bei den Invaliden¬
häusern durchaus zu vermeiden, da einfache Wohnhäuser für eine
beschränkte Anzahl von Insassen (20 — 25) durchaus genügen. Es
brauchen gar keine Neubauten zu sein; sondern ältere Wohnhäuser
können ganz gut den neuen Zwecken angepaßt werden. Mit 1,50
pro Tag höchstens müssen die Kosten für den Pflegling sich be¬
streiten lassen. Die Einrichtung besonderer Invalidenheime durch
die Versicherungsanstalten wird natürlich dadurch gehemmt, daß
der Aufwand für einen Pflegling in einem Heim auch bei denkbar
sparsamster Einrichtung immer sich noch erheblich teurer stellt,
als der Betrag der Rente ist. Das Reichsversicherungsamt steht
aber gegenwärtig der Einrichtung besonderer Invalidenheime wie
• •
der Überweisung von Rentenempfängern an andere Anstalten durch¬
aus wohlwollend gegenüber. Wenigstens sind die erforderlichen
Satzungsänderungen und die von den einzelnen Versicherungsanstalten
erlassenen Ausführungsbestimmungen stets genehmigt worden.
Der § 45 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899
erlaubt den Landesversicherungsanstalten, die Überschüsse des
Sondervermögens auch zu anderen als den im Gesetze vorgesehenen
Leistungen im wirtschaftlichen Interesse der Rentenempfänger,
Versicherten, sowie ihrer Angehörigen zu verwenden. Diese Er¬
laubnis ist dem Anstaltswesen sehr zugute gekommen, indem viele
Versicherungsanstalten, die keine eigenen Krankenhäuser oder Heil¬
stätten gebaut haben, doch Wohlfahrtsver einen durch Herleiliung
von Kapital zu niedrigem Zinsfuß den Bau von Heilstätten ermög¬
licht oder erleichtert haben. Die Gesamtsumme, die von den In¬
validenversicherungsanstalten bis Ende 1902 zugunsten gemein¬
nütziger Zwecke angelegt worden ist, betrug 323 Mill. Mk. Nach
dem Geschäftsbericht des deutschen Zentralkomitees zur Errichtung
von Heilstätten für Lungenkranke von 1904 entfielen davon auf
die Landwirtschaft (Hypotheken, Kleinbahnen, Land- und Wege¬
verbesserungen, Hebung der Viehzucht, Linderung der Futternot usw.)
mehr als 67 Mill. Mk., auf Kranken- und Genesungshäuser, Volks-
Der Einfl. d. soz. Versich.-Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Krankenhauswesens. 363
heilstätten, Gemeindepflegestationen, Volksbäder, Kleinkinderschulen,
Schlachthäuser, Kanalisationsanlagen und ähnliche Wohlfahrtsein¬
richtungen nahezu 128 Mill. Mk., auf den Bau gesunder Arbeiter¬
wohnungen 103 Mill. Mk. und endlich auf eigene Krankenhäuser,
Heilstätten und Invalidenhäuser der Versicherungsträger rund 24
Mill. Mk. Diese Aufstellung legt zwar ein Zeugnis ab für das
erfreuliche Interesse der Landes Versicherungsanstalten für das
Krankenhaus- und Heilstättenwesen und die Höhe der zu deren
Gunsten hergeliehenen Kapitalien, zeigt uns aber auch anderer¬
seits, daß die Versicherungsanstalten in großem Maßstabe Unter¬
nehmen finanziell stützen, die, wie Hebung der Viehzucht, Wege¬
verbesserungen, Bau von Kleinbahnen mit den Zwecken der sozialen
Versicherungsgesetzgebung keinen oder doch nur einen sehr lockeren
Zusammenhang haben. Aus diesem Grunde dürfte in § 45 das
Wort „wirtschaftlich“ zu beanstanden sein. Hoffentlich wird es
• •
bei einer Änderung des Gesetzes in „hygienisch“ umgewandelt und
im Gesetz selbst festgestellt, daß ein bestimmter hoher Prozentsatz,
50 oder 75 Proz. der Überschüsse für die Förderung des Anstalts¬
wesens Verwendung finden müsse. Der § 45 ließe sich sogar auf
die Fürsorge für die bedrohten Kinder der erkrankten Versicherten
anwenden. Es erhellt daraus, in wie umfassender Weise sich in
Zukunft die Invalidität vorbeugende Anstaltspflege durch Verfolgung
der in der Invalidenversicherungsgesetzgebung ruhenden Tendenzen
ausbauen ließe und wie enge Beziehungen sich zwischen Kranken¬
hauswesen und Versicherungsgesetzgebung auch bei diesem Zweige
der Arbeiterversicherung ergeben. Doch ist immer noch fraglich,
ob die Landesversicherungen gut daran tun, eigene Anstalten zu
bauen und zu betreiben oder ob sie nicht auch besser fahren, wenn
sie kommunale oder Landesanstalten beschicken. Die bisherigen
Erfahrungen sprechen mehr für das letztere Verfahren, da die
eigenen Anstalten außerordentlich teuer im Bau und im Betrieb
zu stehen kommen.
Leitsätze.
1. Die soziale Versicherungsgesetzgebung hat auf die Entwick¬
lung des Krankenkassenwesens einen sehr großen Einfluß ausgeübt
und die Krankenhauspflege erst in Deutschland volkstümlich ge¬
macht.
2. Die Krankenversicherung hat insbesondere zur Vermehrung
und Verbesserung der allgemeinen Krankenhäuser beigetragen und
diesen den Charakter der Armenanstalten abstreifen helfen.
304 Der Einfl. d. soz. Versieh. -Gesetzgeb. auf d. Entwickl. d. Kraukenhanswesens.
3. Die Unfallversicherung hat die Vermehrung und Verbesse¬
rungen der chirurgischen Abteilungen der allgemeinen Kranken¬
häuser angeregt und diese genötigt, neben der chirurgischen auch
die funktionelle Heilung der Unfallverletzten mit Nachdruck zu
betreiben.
4. Die Invalidenversicherung hat eine ganz neue Art von Kranken¬
hausfürsorge, die vorbeugende Anstaltsbehandlung, inauguriert.
5. Um die fördernde und anregende Wirkung der Versiche¬
rungsgesetzgebung auf die Ausbreitung und Differenzierung des
Krankenkassenwesens auch in Zukunft tätig zu erhalten, muß bei
einer kommenden Zentralisierung des Versicherungswesens ver¬
mieden werden, daß die Versicherungskörperschaften eigene An¬
stalten bauen, da eine Spezialisierung des Anstaltswesens zweck¬
mäßig nach der Art der zu behandelnden Kranken aber nicht nach
der der errichtenden Instanzen anzustreben ist.
Medizinalstatistische Daten.
1. Beziehungen zwischen sozialer Lage und Sterblichkeit an
Krebs und Schwindsucht.
In dem S. 272 zitierten Londoner Medizinalbericht findet sich eine Erhebung
über die Höhe der Sterblichkeit an Krebs und Schwindsucht während der Jahre
1901 — 1904 in den einzelnen Londoner Bezirken, die nach der Zahl der in über¬
füllten Wohnungen lebenden Einwohner geordnet sind. Es wird dabei darauf hin¬
gewiesen, daß allerdings die Keichen Gelegenheit haben, die besten und erfahrensten
Arzte zu befragen, dies aber dadurch bei den Armen ausgeglichen werde, daß
für diese öffentliche Anstalten in großer Fülle vorhanden sind. Bei der Berechnung
ist die verschiedene Altersbesetzung der Bevölkerung der einzelnen Bezirke be¬
rücksichtigt, es wurden Standardziffern berechnet unter Zugrundelegung der Alters¬
verhältnisse der Bevölkerung von ganz London.
Bezirke, in denen
von 100 Bewohnern
in überfüllten Woh¬
nungen leben
Sterblichkeit an Lungen¬
schwindsucht
1 - - -
Sterbefälle
auf 10000 co
Einw. %
H-1 •
«
&
Standard-
Sterblichkeit ^
p
p
W
Verhältnis- %
zahl (London gf
= 100)
Sterbe¬
fälle auf
10000
Einw.
Standard-
Sterb¬
lichkeit
V erhält-
niszahl
(London
= 100)
unter 7.5 Prozent
11,2
11,3
70
9,4
9,3
101
7,5 — 12,5 „
14,2
14,4
89
9,1
9.2
100
12,5-20,0 „
15,4
15,1
94
9,6
9,1
99
20,0-27,5 „
21,6
20,8
129
9,9
9,6
104
über 27,5 „
21,2
22,2
138
8,0
9,0
98
Ganz London
16,1
16,1
100
9,2
9,2
100
Wie man sieht, ist die soziale Lage ohne Einfluß auf die Krebshäufigkeit,
während sie für das Vorkommen der Tuberkulose von weittragender Bedeu¬
tung ist.
2. Die Zahl der Gebrechlichen.
Bei den englischen Volkszählungen werden auch die Gebrechen erhoben. In
Großbritannien und Irland werden nur die Irrsinnigen, Blinden und Taubstummen
mit annähernder Sicherheit ermittelt, während die infolge von Krankheit, Unfall,
Alter usw. Gebrechlichen daselbst nur ganz unvollständig erhoben werden. Viel
366
Medizinalstatistische Daten.
besser sind die Zählungen der letzteren im Kapland und in Australien; nach dem
Census of the British Empire für 1901 (London 1906) kamen auf 1000 Einwohner
Gebrechliche dieser Art
männlich
weiblich
Kapland
10,7
6,5
Neusüdwales
14,9
8,1
Victoria
20,8
13,1
Queensland
11,0
7,2
Südaustralien
12,7
8,6
Westaustralien
12,6
7,1
Tasmanien
18,1
13,5
Neuseeland
15,0
8,0
Für einige dieser Staaten ist die Art des Gebrechens nach Alter und Ge¬
schlecht ausgezählt, am eingehendsten wurden die Erhebungen in Neuseeland
verwertet (ohne Einbeziehung der Maoris). Nach den Zahlen des Zensus von 1901
wurden von mir die folgenden Verhältnisziffern für Neuseeland berechnet:
Auf je 10000 Lebende kommen Gebrechen
infolge von
0—15
Jahre
15—30
Jahre
30-40
Jahre
40—50
Jahre
50—60
Jahre
60—70
Jahre
üb. 70
Jahre
Zus.
Männliches Geschlecht
Krankheiten, genannte
5,4
20,9
20,5
32,7
58,7
158,3
344,4
34,7
„ ungenannte
10,7
28,2
39,1
50,1
91,1
240,9
380,8
50,7
Unfall
7,2
30,9
26,3
38,8
53,0
88,3
121,4
30,3
Taubstummheit
3,9
3.5
3,3
2,7
2,7
1,3
1,1
3,3
Blindheit
1,5
2’5
5,4
5,2
16,5
32,6
81,6
7,3
Geisteskrankheit
1,1
16,2
53,0
95,6
126,4
107,8
101,5
39,4
Idiotie
0,9
2,5
1,3
1,0
0,3
1,3
1,1
1,4
Epilepsie
0,9
2,1
3,0
0,5
1,7
2,6
3,3
1,7
Lähmung
0,9
2,3
2,8
5,6
8,6
40,0
58,5
6,1
Verkrüppelung
1,9
4,8
4,2
4,7
10,7
17,4
18,8
5,2
Schwäche
0,4
0,8
1.3
2,2
9,0
70,8
429,4
15,0
Taubheit allein
0,7
3,7
4,8
4,9
12,9
23,9
56,3
6,0
überhaupt
35,5
118,4
165,0
244,0
390,7
785,2
1598,2
201,1
Weibliches Geschlecht
Krankheiten, genannte
5,5
25,3
31,6
38,3
54,6
116,7
276,9
29,8
„ ungenannte
9,0
26,2
38,0
41,9
69,6
123,9
139,2
31,4
Unfall
2,7
5,1
6,2
8,3
10,1
20,6
45,8
6,3
Taubstummheit
2,4
2,6
3,3
1,9
2,8
1,4
3,2
2,5
Blindheit
1,3
1,6
1,9
6,1
9,1
25,6
60,6
4,3
Geisteskrankheit
0,9
12,7
44,5
81,8
102,8
112,5
86,8
29,3
Idiotie
0,7
1,5
2,1
1.9
0,9
1,4
1,5
1,3
Epilepsie
0,8
1,5
1,2
1,0
2,3
1,4
1,2
Lähmung
0,9
0,9
1,4
2,2
13,7
34,2
49,1
4,0
Verkrüppelung
0,9
1,5
2,0
1,6
3,7
4,3
3,2
1,6
Schwäche
0,1
1,9
2,7
4,4
15,5
49,1
272,0
8,7
Taubheit allein
0,5
3,1
4,1
6,7
13,3
19,2
50,7
4,6
überhaupt
| 25,7
83,9
139,0
196,1
298,4
510,3
989,0
125,0
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 367
Die Zahlen der Gebrechlichen in den ersten Jugendjahren sind stets unvoll¬
ständig, da manche Gebrechen in ihrem vollen Umfang erst beim Eintritt in die
Schule oder bei der Berufswahl erkannt werden. Wie rasch viele Gebrechen mit
dem Alter zahlreicher werden, ist deutlich ersichtlich; bei allen Gebrechen sind
die Verhältniszahlen beim weiblichen Geschlecht höher, und zwar meist erheblich
höher als beim männlichen.
F. Prinzing.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 25. Oktober 1906.
V orsitzender : Herr M a y e t. Schriftführer : Herr R. Lennhoff.
Herr Th. Sommerfeld trägt vor über „das Verbot der Verwendung
des weißen Phosphors in der Ziindholzindustrie44.
Wenn durch einen Bergsturz oder durch Explosion von Schlagwettern
Hunderte von Bergleuten, von der Außenwelt abgeschlossen, durch giftige Gase,
Feuer oder die Gewalt der umhergeschleuderten Massen jäh dahingerafft werden,
so durcheilt diese Trauerbotschaft mit Blitzesschnelle die gesamte Kulturwelt,
und jedes fühlende Herz beklagt nicht nur die Opfer ihres Berufes, sondern ist
auch bereit, die Not der ihrer Ernährer beraubten Witwen und Waisen zu lin¬
dern. Das Plötzliche , das mit elementarer Gewalt Hereinbrechende ist es , was
des Menschen Gemüt hier so mächtig packt; man forscht eifrig nach den Ur¬
sachen des Unglücks, fordert stürmisch die Bestrafung der Schuldigen und ruft
von allen Seiten mit kräftiger Stimme nach behördlichen Maßnahmen, um gleichen
Ereignissen für die Zukunft vorzubeugen. Doch was bedeuten die Hunderte oder
Tausende, welche auf diese oder andere Weise tödlich verunglücken, was selbst
die Zehntausende, welche infolge von Betriebsunfällen körperliche Schädigungen
mit teilweiser oder auch gänzlicher Erwerbsunfähigkeit davontragen, gegenüber
der unabsehbaren Zahl derjenigen, die durch die allmähliche Einwirkung des mit
der Ausübung zahlreicher Berufe verbundenen Schädlichen ihre Gesundheit und
oft auch ihr Leben einbüßen?! In meinem Handbuch der Gewerbekrankheiten
glaube ich durch umfangreiche tabellarische Übersichten, deren Ergebnisse sich
mit den Forschungen anderer Gewerbehygieniker decken, den Beweis erbracht
zu haben, daß zahllose Arbeiter durch die Beschäftigung in geschlossenen Räumen,
namentlich in sitzender, vornübergebeugter Haltung, chronische Erkrankungen
der Atmungsorgane erwerben, daß insbesondere jene Arbeiter, welche berufsmäßig
reichliche Mengen eines scharfen, zackigen, spitzen Staubes einzuatmen verurteilt
sind, zu einem sehr erheblichen Prozentsätze allmählich der Lungentuberkulose
anheimfallen. Sterben doch von 100 Steinmetzen und Steinbildhauern an dieser
Geisel des Menschengeschlechtes nach meiner Berechnung nicht weniger als 89,
von 100 Stahlschleifern 75, von 100 Kürschnern, Hutmachern, Schiefergriffel-
x) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 44 u. 49,
1906 der „Medizinischen Reform“, herausg. von R. Lennhoff.
368 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
arbeitern, Drechslern 60 — 70, von 100 Porzellanarbeitern, Tischlern, Vergoldern
und Glasschleifern 50—60! Wenn indessen diese den Stolz des Menschen als
Krone der Schöpfung demütigenden Erfahrungen, ebenso wie die betrübende Tat¬
sache, daß zahllose Tausende von Arbeitern durch das Hantieren mit gewerb¬
lichen Giften schwere Einbuße an ihrer Gesundheit erleiden und oft im kräftigen
Mannesalter elend dahinsiechen, von der Allgemeinheit schweigend hingenommen
werden, so findet diese auffallende, ungerechtfertigte Geringschätzung der inneren
Berufsschädigungen gegenüber den Unfallverletzungen lediglich in dem Umstande
eine Erklärung, daß erstere nicht wie die Unfälle sich mit elementarer Gewalt
kundgeben und eben noch blühende Menschen verstümmeln oder dahinraffen,
sondern ihre Wirkung nur langsam schleichend entfalten, um ihre Opfer dann
desto sicherer zu verderben. Zudem reicht die Kenntnis der inneren Berufs¬
schädigungen nicht weit über die Kreise der Arzte, Sozialhygieniker und Kranken¬
versicherungsanstalten hinaus, was um so mehr zu bedauern ist, als die allge¬
meine Kenntnis dieser Verhältnisse die Volksseele aufrütteln, das soziale Emp¬
finden der maßgebenden Kreise verschärfen und hierdurch ein tatkräftigeres Ein¬
greifen der Regierungen zeitigen würde. Augenblicklich steht im Vordergründe
des Interesses die Bekämpfung der Giftgefahr in gewerblichen Betrieben, und
ich werde mir mit Erlaubnis unseres verehrlichen Vorstandes heute gestatten,
über den Stand der Phosphorfrage zu berichten. Wenn gegenüber dem Blei und
manchen anderen gewerblichen Giften der weiße, nach Lichteinwirkung gelblich
durchscheinende Phosphor bezüglich des Umfanges seiner Verwendung auch weit
in den Hintergrund tritt, so hat er vor jenen doch den bedauerlichen Vorzug
voraus, daß er schon in kleinsten Mengen die schwersten Vergiftungen auszu¬
lösen vermag.
Die hauptsächlichste Verwendung findet der Phosphor zur Fabrikation von
Zündmitteln, besonders in der Phosphorzündholzindustrie.
Seinen Eingang in den Körper findet hier das Gift teils durch die Phosphor¬
dämpfe, welche sich trotz weitgehendster Vorbeugungsmaßregeln in selbst vor¬
züglich geleiteten Fabriken erfahrungsgemäß nicht gänzlich verhüten lassen, zum
Teil auch dadurch, daß die mit phosphorhaltiger Masse verunreinigten Finger
an den Mund gebracht werden und das Gift von hier aus in die Verdauungs¬
wege und in den Blutkreislauf gelangt. Mit und auch völlig ohne Vermittelung
einer Zahnfäulnis (caries dentium) erkranken die Arbeiter vereinzelt bald nach
Aufnahme ihrer Beschäftigung, in der Regel jedoch erst nach mehrjähriger Tätig¬
keit; zudem sind in der Literatur Fälle beschrieben, in denen Arbeiter noch 3
bis 5 Jahre und selbst noch längere Zeit nach dem Aussetzen ihrer Beschäftigung
in der Zündholzindustrie zum erten Male an Phosphorvergiftung erkrankt sind.
Da ich es für wahrscheinlich halte, daß die Mehrzahl unter Ihnen die Phos¬
phornekrose in natura noch nicht gesehen hat, gestatte ich mir, Ihre Aufmerk¬
samkeit auf die ausgestellten Präparate zu lenken. Sie erkennen an den Präpa¬
raten die von mir in Kürze angedeuteten tiefen Zerstörungen der knöchernen
und fleischigen Teile am Unterkiefer und in dessen Umgebung; auch sehen Sie
neugebildete Knochenmassen, sowie die sogenannte Todenlade mit dem Se¬
quester. Was nunmehr die Verbreitung der Phosphornekrose anbelangt, so müssen
wir daran festhalten, daß unsere Kenntnis hierüber recht mangelhaft ist, denn
einerseits finden über diese Frage in einzelnen Ländern überhaupt keine Er¬
hebungen statt, andererseits entsprechen die Fälle, die zur amtlichen Kenntnis
gelangen, nach dem übereinstimmenden Urteil fast aller Forscher nicht der Wirk-
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 309
\
lichkeit, sondern bleiben hinter dieser vermutlich weit zurück. In Deutschland
berichten die Gewerbeinspektoren, denen man ein Verständnis für die Schädioumo-en
der Arbeiter wahrlich nicht absprechen darf, alljährlich nur über vereinzelte Fälle
von Phosphorvergiftung; in England sollen nach den Berichten der Certifying
surgeons (Amtsärzte) in der Zeit von 1900 bis 1903 nur 9 Fälle, davon 4 mit
tödlichem Ausgange, sich ereignet haben, und auch in den jüngsten Jahren soll
die chronische gewerbliche Phosphorvergiftung nur ganz vereinzelt aufgetreten
sein, seit der Berner Staatenkonferenz im Jahre 1905 nur in 3 Fällen. Derartige
amtliche Erhebungen, die sich doch nur auf das stützen können, was gerade zur
Kenntnis der Aufsichtsbeamten gelangt, können gar nicht den wirklichen Umfang
der Schädigung erfassen. Der einzig richtige Weg, den auch ich bei der Fest¬
stellung der hygienischen Lage der Steinhauer, der Porzellanarbeiter, der Schiefer¬
griffelarbeiter, der Perlmutterdrechsler und der Schriftgießer gegangen bin, ist
eine spezielle Untersuchung am Sitze der Industrie durch einen sachkundigen
Arzt. Herrn Telekv, einem der österreichischen Delegierten auf der diesjährigen
Versammlung der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz,
gebührt das Verdienst, in der vorgezeichneten Weise vorgegangen zu sein. Er
beschränkte anfangs seine Untersuchungen auf einen kleinen Bezirk in Böhmen. In
insgesamt 8 Fabriken waren in den letzten 10 x/2 Jahren 46 Fälle von Phosphor¬
nekrose vorgekommen, 9 mit tödlichem Ausgange; aus früheren Zeiten konnte
er weitere 31 Fälle feststellen. 57 Kranke hat er selber gesehen und untersucht.
Trotzdem der Bezirk des zuständigen Gewerbeinspektors bei weitem größer war
als der, auf dem T. seine Untersuchungen anstellte, gelangten im letzten
Jahrzehnt, 1896—1905, doch nur 19 Fälle zur amtlichen Kenntnis, wobei noch
besonders hervorgehoben werden muß, daß gerade der Gewerbeinspektor von Bud-
weis der Phosphorfrage ein sehr großes Interesse entgegenbringt. Die gleichen
Besultate zeitigten Teleky’s jüngste Untersuchungen in Steiermark, woselbst
er aus 2 Fabriken mit je 200 — 250 Arbeitern 9 frische Phosphorerkrankungen
aus den Jahren 1905 und 1906 feststellen konnte. Im ganzen sind aus diesen
2 Fabriken in den letzten 10 Jahren 22 Fälle von Nekrose hervorgegangen,
während der Gewerbeinspektor aus seinem ganzen Aufsichtsbezirke, der 6 Phosphor¬
zündholzfabriken umfaßt, nur von 9 Fällen Kenntnis erhielt. Sechs Jahrzehnte
sind vergangen, seitdem Lorinser in den Medizinischen Jahrbüchern des K. K.
österreichischen Staates die nekrotische Zerstörung der Kieferknochen auf die
Einwirkung des weißen Phosphors zurückführte. Er berichtete damals über 9
Fälle von Nekrose, von denen 5 tödlich verliefen. In späteren Jahren konnte er
Hirt über weitere 126 Fälle Mitteilung machen. Bald nach Lorinser ’s erster
Publikation kamen weitere Mitteilungen aus den verschiedensten Landesteilen
Österreichs und auch aus anderen Ländern, so daß die Begierungen nunmehr der
Frage nähertreten mußten, wie der furchtbaren Wirkung des Phosphors mit Er¬
folg entgegengetreten werden könnte. Nach und nach wurden in fast allen
Kulturstaaten Gesetze erlassen, welche der gewerblichen Schädigung der Arbeiter
durch gesundheitsgemäße Ausgestaltung der Arbeitsräume und Arbeitsweise
sowie durch Belehrung der Arbeiter zu steuern suchten. Aber weder die Trennung
der einzelnen Arbeitsräume noch die Anordnung einer bestimmten Höhe und
eines Mindestluftraumes für die einzelnen Betriebsräume noch auch die Begelung
der Ventilation und Reinigung und die Überwachung des Gesundheitszustandes
der Arbeiter waren imstande, Vergiftungen völlig auszuschalten. In dieser Er¬
kenntnis sahen sich einzelne Länder genötigt, zu dem einzig rationellen Aushilfs-
Zeitschrift für Soziale Medizin. II. ^
370 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
mittel zu greifen, d. h. den weißen Phosphor für die Herstellung von Zünd¬
hölzchen gänzlich zu untersagen. So gingen der Eeihe nach, Dänemark, die
Schweiz, die Niederlande, Frankreich und jüngst auch Deutschland vor. In dem
Kampfe gegen den weißen Phosphor haben auf Grund ihrer Erfahrung immer in
erster Keihe die Ärzte gestanden, aber wirksamer als deren Anstrengungen waren
die Bemühungen der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz.
Sogleich hei ihrer Begründung hat die Vereinigung die Frage der Bekämpfung
des weißen Phosphors als eine der dringendsten Aufgaben ins Auge gefaßt und
auf Grundlage sorgfältiger Vorarbeiten ihr Bureau in Basel beauftragt, an den
hohen Schweizerischen Bundesrat mit der Bitte heranzutreten, er möge die Initia¬
tive ergreifen, auf dem Wege einer internationalen Vereinigung die Verwendung
des weißen Phosphors bei der Herstellung von Zündhölzchen zu verbieten. Die
Frucht dieser Bemühungen war die Berner Konferenz im Jahre 1905. Die hier
gegen das gewünschte Verbot geltend gemachten Bedenken gipfelten namentlich
darin, daß die Konkurrenz Japans in Ostasien zu befürchten sei. Nur unter
großen Schwierigkeiten gelang es, manche Exportstaaten dazu zu bewegen, von
der weitergehenden Forderung abznstelien , daß nämlich auch die Zustimmung
der Absatzgebiete, insbesondere der Balkanstaaten, Ägyptens, Ostindiens zum
Verbote erforderlich wäre. Es gaben schließlich die Begierungen des Deutschen
Beiches, von Österreich, Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien,
Luxemburg, Norwegen, der Niederlande, Portugal und die Schweiz dem Weiß-
pliosphorverbot in der Zündhölzchenindustrie ihre Zustimmung unter der Bedingung,
daß dasselbe erst vom 1. Januar 1911 an in Kraft trete und nur dann, wenn die
auf der Konferenz nicht vertretenen europäischen Staaten und auch Japan bei¬
getreten sind. Großbritannien und Schweden haben dem Verbot auch in dieser
Form nicht ihre Zustimmung erteilt, Großbritannien namentlich in der Meinung,
daß die im Jahre 1900 erlassenen Verhütungsmaßregeln jeden Ausbruch der
Phosphornekrose hintanhalten würden , eine Hoffnung , die sich nicht bestätigt
hat. Die japanische Begierung erklärte auf eine Anfrage, daß sie für den Augen¬
blick nicht in der Lage sei, dem Vertrage beizutreten. Im September d. J. er¬
folgte eine erneute Zusammenkunft der Begieruugsvertreter, um die endgültigen
Vereinbarungen zu unterzeichnen. Das Besultat war ein wenig erfreuliches, denn
außer den 5 Ländern, Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und
der Schweiz, welche das Verbot des weißen Phosphors zur Herstellung von Zünd¬
hölzchen bereits gesetzlich festgelegt hatten, traten nur Italien und Luxemburg-
neu der Konvention bei. Die Bedenken der übrigen Staaten konnten nicht zer¬
streut werden. Die größten, aber nicht gerechtfertigten Befürchtungen hegten
die widerstrebenden europäischen Staaten wiederum vor der Konkurrenz Japans,
aber nach zuverlässigen Nachrichten besteht der Hauptexport dieses Landes aus
nichtgiftigen Zündhölzchen. Der Verzichtleistung auf den weißen Phosphor stehen
auch keine technischen Bedenken entgegen. Die Erkenntnis, daß die Tage dieses
giftigen Stoffes trotz aller Widerstände gezählt sind, hat längst schon die Chemie
dahin gedrängt, geeignete Ersatzstoffe zu suchen. Die Masse für die sogenannten
schwedischen Zündhölzer ist völlig frei von Phosphor, und nur die Beibfläche der
Schachteln enthält den ungiftigen roten oder amorphen Phosphor. Der allge¬
meinen Einführung dieser Zündhölzchen steht jedoch neben dem höheren Preise
der Umstand entgegen, daß sie einer besonderen Beibfläche und dadurch einer
Verpackung in Schachteln bedürfen. Daß sie z. B. auf glattem Papier mit fester
Unterlage entzündbar sind, kommt nicht in Betracht. Als zweckmäßiger und
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 371
nichtgiftiger Ersatz des weißen Phosphors wird das Phosphorsesquisulfid (P3S4)
bezeichnet, welches u. a. in Frankreich und in der Schweiz umfangreiche Ver¬
wendung findet. Auch die deutschen Fabrikanten werden, soweit ich unter¬
richtet bin, vom 1. Januar 1907 an Veranlassung nehmen, sich dieses Präparates
zu bedienen. Es fragt sich jedoch, ob die Annahme, daß das Phosphorsesquisulfid
in der Tat ungiftig sei, zutrifft, zumal in der Huch’schen Patentschrift selbst
ausgesprochen wird, daß man durch Schmelzen von Phosphor mit Schwefel, auf
welchem Wege bekanntlich das Phosphorsesquisulfid gewonnen wird, niemals
ein ungiftiges Produkt erhält, da hierbei die Temperatur eine so hohe wird, daß
mit der steigenden Wärme auch steigende Mengen gelben, giftigen Phosphors
entstehen. Voraussichtlich werden sich auch die Reichsbehörden mit dieser Fragte
befassen, und ich selber behalte mir vor, behufs Feststellung einer etwaigen Giftig¬
keit dieses Präparates umfangreiche Tierexperimente anzustellen. Auch Sulfo-
phosphit, eine Verbindung von Phosphortrisulfid oder Phosphorpentasulfid mit
Zinksulfid, wurde als Ersatzmittel empfohlen, doch scheint es nirgends eine nennens¬
werte Verwendung gefunden zu haben. Geben wir selbst zu, daß der rote Phos¬
phor, wie das Phosphorsesquisulfid und auch das Sulfopliosphit völlig unschäd¬
liche Substanzen sind, so müssen wir immer noch in Erwägung ziehen, daß die
Darstellung dieser Präparate die Gewinnung des giftigen weißen Phosphors
voraussetzt und daß auch hierbei eine Gefährdung der Arbeiter nicht ausge¬
schlossen ist. Es ist deshalb mit Freude zu begrüßen, daß es den langjährigen
Bemühungen von Gans gelungen ist, ein Zündsalzgemisch zu erfinden, welches
vollkommen frei von Phosphor ist. Die hieraus gefertigten Zündhölzchen sind
an jeder indifferenten Reibfläche, selbst in urväterlicher Weise an den Bein¬
kleidern entflammbar. So ist auch dem Bedürfnis und der Sitte derjenigen V olks¬
schichten Rechnung getragen, welche die Verwendung von Schachteln zurück-
weisen und die Hölzchen lose in ihrer Tasche tragen wollen. Auch in letzterer
Beziehung verdienen die neuen Zündhölzchen vor den phosphorhaltigen den Vor¬
zug, weil sie sich nicht so leicht wie diese durch Aneinanderreiben entzünden.
Soweit sich bisher überblicken läßt, sind die Arbeiter bei der Herstellung
und Verarbeitung des neuen Zündsalzgemisches keiner gesundheitlichen Gefahr
ausgesetzt, es entwickeln sich hierbei keine gesundheitsschädlichen Stoffe, weder
in Gas-, noch Dampf- oder Staubform, so daß die ausschließliche Verwendung
der Riedelhölzer, wie wir sie kurz bezeichnen wollen, auch vom Standpunkte der
gewerblichen Gesundheitspflege aufs wärmste empfohlen werden muß. Aus diesen
Ausführungen geht unzweifelhaft hervor, daß die Technik bei der Fabrikation
von Zündhölzchen jeder Phosphor Verbindung, sicherlich des giftigen weißen oder
gelben Phosphors entraten kann, und da auch das Vorgehen mehrerer Länder
bewiesen hat, daß die Zündholzindustrie sich den veränderten Verhältnissen gut
anpassen kann, so dürfen wir uns mit den Erfolgen der Berner Konvention keines¬
wegs zufrieden geben. Sache der gesamten nationalen Sektionen für gesetzlichen
Arbeiterschutz wird es sein, mit vermehrter Aufmerksamkeit das Auftreten von
Phosphornekrose unter den Zündholzarbeitern zu verfolgen, entsprechend dem
Beschlüsse der Internationalen Vereinigung vom 29. September d. J. geeignete
Sachverständige mit dieser Aufgabe zu betrauen und alle bekannt gewordenen
Fälle dem Internationalen Arbeitsamte als der zuständigen Sammelstelle zu melden.
Handelt es sich auch selbst nur um Hunderte von Arbeiterleben, die alljährlich
vor Siechtum bewahrt bleiben , so dürfen wir doch nicht eher ruhen, bis auch
diese Gefahr beseitigt ist, da bei dem jetzigen Stand der Technik jeder Fall
24*
372
Druckschriften-Einlauf.
Ton Nekrose ein Verbrechen ist, das die Industrie an der Arbeiterschaft begeht.
Nur der erste Spatenstich ist in Bern getan; wir müssen weiter graben und die
noch harte Erde fleißig bearbeiten, bis endlich aus ihr die erhoffte Saat hervor¬
sprießt.
Druckschriften-Einlauf.
G. T e m m e , Die Säuglingssterblichkeit in Nordhausen. Nordhausen, Selbst¬
verlag (0,30 M.). — G. Sobernheim, Leitfaden für Desinfektoren. Halle a. S.
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verletzungen. 2 Bde., Berlin, Fischer’s Medizin. Buchhandl. H. Kornfeld, 1904 u.
1907 (4,50 M. u. 13,00 M.). — A. Nu e sch, Zur Tuberkulosefrage mit besonderer
Berücksichtigung der Bekämpfung der Rindertuberkulose. St. Gallen 1907,
L. Kirschner-Engler (2,50 M.). — L. Eisenstadt, Zur Würdigung und Verein¬
fachung der ärztlichen Begutachtung in der Krankenversicherung. Sonderabdr.
aus Ärztl. Sachverständigen-Ztg., 1907, Nr. 5. — W. v. Kalckstein, Die im
Deutschen Reiche erlassenen Vorschriften über Benutzung und über Beschaffen¬
heit von Wohnungen. Bremen 1907, G. Winter. — M. Bollag, Die Verbreitung
der Lungentuberkulose im Kanton Basellandschaft. Sonderabdr. aus Zeitschr. f.
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kulose. Sonderabdr. aus Deutsche Med. Wochenschr., 1907, Nr. 9. — H. Roh-
leder, Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechtsleben des
Menschen. 2. Aufl., Berlin 1907, Fischer’s Medizin. Buchhandl. (H. Kornfeld)
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Druckschriften-Einlauf.
373
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des Komitees der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz in
Genf vom 26. — 29. September 1906. Jena 1907, G. Fischer. — H. Schwiening,
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europäischen Heeren sowie in der militärpflichtigen Jugend Deutschlands. Ver¬
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der Medizinalabteilung des Königl. Preuß. Kriegsministeriums. Berlin 1907,
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Die Alkoholfrage in der österr.-ungar. gemeinsamen und Honvedarmee und in
den ungarischen Sports vereinen. Sonderabdr. aus Alkoholgegner, VI. Jahrg., Nr. 6.
— J. Donath, Der Arzt und die Alkoholfrage. Sonderabdr. aus Wiener mediz.
WTochenschr., 1907, Nr. 7 — 9. — M. Bol lag, Tuberkulosebekämpfung und Kranken¬
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XIV. Jahrg., H. 19 — 20. — K. Boas, Über den gegenwärtigen Stand der Alkohol¬
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O. Kunow, Die Heilkunde „Verdeutschung der entbehrlichen Fremdwörter aus
der Sprache der Ärzte und Apotheker“, V. Aufl. Berlin 1907, Verlag des Allg.
Deutschen Sprachvereins (0,60 M.). — Erhebung über die Arbeitszeit der Ge¬
hilfen und Lehrlinge im Fleischergewerbe, II. Teil. Veranstaltet im Sommer 1905.
Bearbeitet im Kaiserl. Stat. Amt, Abteil, f. Arbeiterstatistik und im Kaiserl. Ge-
sundheitsamt. Berlin 1907, C. Heymann. — B. Lennhoff, Walderholungsstätten
und Genesungsheime. Sonderabdr. aus D. Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheits¬
pflege, XXXIX, 1. — K. W. F. Boas, Wie soll sich die Bekämpfung der Genu߬
gifte in den breitesten Volksschichten gestalten? Sonderabdr. aus Zeitschr. f.
Krankenpfl., 1907, Nr. 3. — Die Krankenversicherung im Jahre 1904. Bearbeitet
im Kaiserl. Stat. Amt (Referent: P. Mayet), Berlin 1907, Puttkammer & Mühl¬
brecht (5,00 M.). — L. Becker, Lehrbuch der ärztlichen Sachverständigen-
Tätigkeit für die Unfall- und Invaliditäts-Versicherungs-Gesetzgebung, 5. neu-
bearb. u. vermehrte Aufl. Berlin 1907, R. Schoetz (14,00 M.). — A. Pfeiffer,
XXII. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der
Hygiene, Jahrg. 1904. Braunschweig 1907 (14,00 M.). — A. Rabe, Ärztliche
Wirtschaftskunde mit besonderer Rücksicht auf Buchführung, Gebührenwesen und
soziale Gesetzgebung. Leipzig 1907, Dr. Werner Klinkhardt (6,00 M.). —
K. Schneider, Das preußische Gesetz betr. die Bekämpfung übertragbarer
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jahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. — L. Lewin, Die Grundlagen für die medi¬
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Vergiftungs- und Infektionskrankheiten im Betriebe. Sonderabdr. aus den Amtl.
Nachr. des Reichsversicherungsamts, 1907, Nr. 5. — M. Fiebig, Rachitis als
eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfung beruhende Entwicklungs¬
anomalie der Bindesubstanzen. Sonderabdr. aus Beiträge z. Kinderforschung und
Heilerziehung, H. XXVIII, Langensalza 1907, H. Beyer & Söhne (0,75 M.). —
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tistisches Jahrbuch der Stadt Berlin. 30. Jahrgang enthaltend die Statistik des
Jahres 1905 (zum Teil auch 1906). Hrsg, von H. Silber gleit. Berlin 1907,
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gegen die Tuberkulose. Sonderabdr. aus Berl. klin. Wochenschr., 1907, Nr. 16.
374
Druckschriften-Einlauf.
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Krankheitsstatistik der nach dem Gesetz vom 30. März 1888, RGBl. Nr. 23, betr.
die Krankenversicherung der Arbeiter, eingerichteten Krankenkassen im Jahre
1904. Wien 1907, K. k. Hof- und Staatsdruckerei. — Die Gebarung und die Er¬
gebnisse der Unfallstatistik der im Grunde des Gesetzes vom 28. Dezember 1887
(RGBl. Nr. 1 ex 1888), betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, errichteten
Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten im Jahre 1904. Wien 1907, K. k. Hof- und
Staatsdruckerei. — L. Lewin, Protection des ouvriers dans les industries toxi-
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Publique et de Medecine Legale, 1907, Avril. — L. Laquer, Der Warenhaus¬
diebstahl. Halle 1907, C. Marhold (1,00 M.). — J. Bur ns, Arbeit und Trunk,
Vortrag. Wien 1907, Brüder Suschitzky (0,40 M.). — L. Knöpf el, Über die
spezifische Sterblichkeit der beiden Geschlechter. Sonderabdr. aus dem Allg. Stat.
Archiv, VII. Bd., 1. Halbband. Tübingen 1907. — Enseignement public et prive
1903 et 1904 (et 1905 en partie). Communications statistiques publiees par le
Bureau municipal de Statistiques d’ Amsterdam. Amsterdam 1907, J. Müller. —
Ungarisches Statistisches Jahrbuch. N. F., XIII. Bd., 1905. Im Auftr. des kgL
ungar. Handelsministers verfaßt und herausgegeben vom kgl. ungar. Statist.
Zentralamt. Budapest 1907 (5,00 Kr.). — Volkszählung in den Ländern der
Ungar. Krone im Jahre 1900. VI. Teil. Einige Details der Berufstätigkeit der
Bevölkerung, ferner Statistik der Unternehmungen. Budapest 1906 (6,00 Kr.). —
Dasselbe, VII. Teil. Berufstätigkeit der Bevölkerung kombiniert mit den wich¬
tigeren demographischen Angaben. Im Auftr. d. kgl. ungar. Handelsministers
verf. u. hrsg. v. kgl. ungar. Statist. Zentralamt. Budapest 1906 (4,00 Kr.). —
— Mortalitätstafel der Länder der Ungarischen Krone auf Grund der Volks¬
zählungsangaben vom Jahre 1900 und der Volksbewegungsangaben für die Jahre
1900 und 1901. Im Auftr. d. kgl. ungar. Handelsministers verf. u. hrsg. v. kgl.
ungar. statist. Zentralamt. Budapest 1906 (5,00 Kr.). — Me inert, Die „Trink¬
festigkeit“ vom ärztlichen Standpunkt aus. Sonderabdr. aus der Alkoholfrage,
IV, H. 1. — Krankenkassen und freie Arztwahl. Erwiderung auf die Denkschrift
der Handelskammer M.-Gladbach vom 28. Februar 1907 vom Vertrags-Ausschuß
der Arzte von M.-Gladbach und Umgegend. — Erhebung über die Arbeitszeit im
Binnenschiffahrts-Gewerbe. Bearb. im Kaiserl. Statist. Amt. Abteil, f. Arbeiter¬
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Wien für das Jahr 1906. Wien 1907, Verlag des Vereins. — Jahresbericht der
Gesellschaft zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Berlin über das Jahr
1905. — H. Stadelmann, Das nervenkranke Kind in der Schule. Magdeburg
1907, Faber’sche Buchdruckerei (0,50 M.). — K. Singer, Die Bevölkerungs¬
bewegung in München im Jahre 1906 im Vergleich mit den Vorjahren. Statisti¬
sches Amt der Stadt München. — W. Weinberg, Die familiäre Belastung der
Tuberkulösen und ihre Beziehungen zu Infektion und Vererbung. Sonderabdr.
aus Brauer’s Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, VII, 3. — F. L o r e n t z
Wohnungsnot und Schulhygiene. Sonderabdr. aus Das Schulzimmer, V, 1. —
G. Hey mann, Das tuberkulöse Weib in der Schwangerschaft und der Arzt.
Sonderabdr. aus Medizinische Klinik, 1907, Nr. 19. — E. Net er, Muttersorgen
und Mutterfreuden. Wie erhalten wir unsere kleinen Kinder gesund? Verlag
der Ärztl. Rundschau (0. Gmelin), München 1907 (1,20 M.). — G. Vorberg,
Freiheit oder gesundheitliche Überwachung der Gewerbsunzucht ? Verlag der
Druckschriften-Einlauf.
375
Ärztl. Rundschau (0. Gmelin), München 1907 (1,50 M.). — Der Alkoholismus.
•Seine Wirkungen und seine Bekämpfung. Hrsg, vom Zentralverband zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus in Berlin. Aus Natur und Geisteswelt, 145. Bändchen,
Leipzig 1906, B. G. Teubner (1,25 M.). — A. Kolm, Unsere Wolmungs-Enquete
im Jahre 1906. Berlin 1907, Verlag der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb
der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker. — Geschäftsbericht der Ortskranken¬
kasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, 1906.
— Nietner, Der Stand der Tuberkulose-Bekämpfung im Frühjahr 1907. Berlin
1907, Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose. — E. Rumpf,
Prophylaxe oder Therapie der Lungentuberkulose? Sonderabdr. aus Zeitschr. f.
Tuberkulose, Bd. IX, H. 1. — Ensch, L’hygiene et le droit. Extrait de la
Revue de l’Universite de Bruxelles. Mai-juin 1907. — L. Lewin, Die Grund¬
lagen für die medizinische und rechtliche Beurteilung des Zustandekommens und
des Verlaufs von Vergiftungs- und Infektionskrankheiten im Betriebe. Berlin
1907, C. Heymann (0,80 M.). — Soweit die eingesandten Publikationen aus Platz¬
mangel in der „Zeitschrift für Soziale Medizin“ nicht besprochen werden können,
werden sie im „Jahresbericht über Soziale Hygiene“, hrsg. von A. Grotjahn
und F. Kriegei, der alljährlich im Juni erscheint, eine Besprechung finden.
Daselbst vgl. auch Chronik, Kongresse, Gesetzestafel und vollständige Biblio¬
graphie der Sozialen Hygiene und der Sozialen Medizin.
Namenverzeiehnis
A.
Abelsdorff, W. 127.
Achenwall 19.
Agahd, K. 125.
Albrecht, H. 125.
Albu, A. 85. 280.
Ammon 106.
Anthony 103.
Arbo, C. 274.
Arning 194.
Ascher 143.
Ascher, L. 110.
B.
Ballod 129. 263.
Bang, B. 203. 204.
Bauer 224.
Bauer, L. 129.
Bauer. St. 113.
Baumann 22.
Becher, W. 97. 105. 125.
139.
Becker 181. 186.
Behla 116.
Behring, E. v. 15.
Bernoulli 23. 29.
Bertillon, A. 105.
Bethmann-Hollweg, v. 266.
Beyschlag 291.
Bielefeldt, A. 280.
Bischoff 104. 105.
Bittmann, K. 268.
Blaschko, A. 132.
Bleicher, H. 19. 37. 38. 46.
1 9U
Boas 81.
Bodelschwingh, P. v. 217.
Bödiker, T. 99. 322.
Börner, P. 131.
Bohata, A. 271.
Bollinger 104.
Brat 76. 125. 280.
Brauer, L. 124. 197. 202.
231.
Brehmer 85. 196.
Brentano. L. 261.
Bülow, y. 262.
Blisching 19.
Buschmann 287.
C.
Carlsson 198.
Carus 101.
Chiari 124.
Clemenceau 1.
Cohnheim 81.
Conrad, J. 21.
Cornet 204.
Crocq, J. 99.
Crome 321. 322.
D.
Daffner 103.
Dietrich, E. 280.
Dohrn, K. 14.
Diittmann 322.
E.
Eggebrecht 280.
Eisenstadt, L. 136.
Eisner, W. 280. 351.
Elkan 223.
Erb 132.
Eulenberg, H. 123.
Euler 23.
F.
Fehlinger, H. 107. 131.
Feilchenfeld. L. 180. 280.
Fetzer, P. v. 71. 76. 197.
202.
Fick, A. 31.
Florschütz, G. 36. 105. 131.
Flügge 204.
Fournier 23.
Fracastor 119.
Francke, E. 125.
Frank, J. P. 10.
Frankenberg, H. v. 322.
Frech 291.
Freund, B. 322.
Fritsch 102.
Fürbringer 80. 82.
Fürst, C. M. 274.
Fürst, M. 16. 125.
G.
Gärtner 123.
Galton, F. 104. 133.
Gans 371.
Gavarret 31.
Gebhard, H. 213. 214. 352.
Geißler 28.
Gerkrath 181. 182. 183.
Goethe 132.
Gohl 22.
Gollmer 111. 131.
Gottstein, A. 1. 3. 36. 68.
69. 70. 71. 100. 105. 121.
180. 204. 280. 292.
Gould 102.
Grätzer 19.
Grandhomme 124.
Graunt 22.
Griesinger 122.
Grotjahn, A. 12. 13. 14. 68.
99. 101. 112. 114. 131.
195. 196. 266. 277. 279.
280. 291. 333.
Gruber, M. 5. 265.
Guttstadt, A. 18. 20. 280.
Guy de Chauliac 119.
H.
Haeser 118. 122.
Hahn, M. 124. 125.
Halley, E. 19. 22. 25.
Hansemann, D. v. 105.
Hansen 218. 220.
Hansen. S. 194.
Hasse, E. 67.
Hecker 118.
Heer, 0. 43.
Heimann, G. 99. 280.
Hellpach, W. 98.
Helinholtz, R. v. 105.
Herkner, H. 287.
Hermann 25.
Heym 37.
Hippokrates 118.
Hirsch, A. 119.
Hoeffel 194.
Hoffa 306.
Hueppe, F. 5. 108. 120. 204.
J8
Jaffe, K. 16.
Jagwitz, y. 322.
Joseph, E. 64. 280.
Jürgens 116. 121.
Julliard, Ch. 194.
K.
Kaff, S. 51. 168. 234.
Kampffmeyer, P. 278.
Karup 105. 131.
Kastan, J. 97.
Kaufmann 194.
Kirchner, M. 14.
Koch, R, 8. 116. 121. 197.
198. 201. 204.
Köhler 201.
Körber 51.
Körösy, J. y. 33.
Körte 187.
Koßmann, R. 133.
Kraus, F. 105.
Krautwig, P. 1.
Kriegei, F. 14. 16. 112.
276.
Krug 19.
Kruse, W. 5. 274.
Kundmann 22.
L.
Laplace 11. 23.
Laquer, B. 14. 280.
Lassar, O. 79. 153. 280.
Laub, H. 194.
Laurent, 0. 99.
Lavoisier 19.
Ledderhose 306. 310.
N amenverzeichnis.
Lehmann, K. B. 5. 124.
Leibniz, G. W. 22.
Lennhoffl, R. 16. 80. 83.
97. 105. 114, 142. 180.
279. 280. 327. 367.
Leo 281.
Leonhart 194.
Lewin, L. -14. 124.
Lexis 22.
Einiger 306.
Lischnewska, M. 98.
Litten, M. 122. 291.
Livi, R. 104.
Löbker 327. 328.
Löffler 34.
Lohmar 306. 317. 322. 330.
Lorinser 369.
Lossen 305. 310. 317.
Lührig, A. 291.
M.
Magen, 0. 98.
Malthus 23.
Marina 106.
Markuse, M. 98.
Martius, F. 34. 116. 120.
Mathes 2.
Mayet, P. 79. 98. 139. 142.
150. 180. 279. 322. 367.
Mayr, G. y. 21.
Meißner, P. 97.
Meitzen, A. 18. 19.
.Menne 81. 82.
Merkel, G. 124.
Michael 291.
Moebius, P. J. 99.
Moser 23.
Müller, J. 14.
Muensterberg 266. 267.
Mugdan, 0. 114. 194. 322.
Munter, JD. 83.
N.
Neefe, M. 20.
Neißer, E. J. 125.
Neißer, M. 5.
Nesemann, F. 155.
Neumann, C. 19.
Neumann, H. 280.
Neumann, S. 279.
O.
Oesterlen 21. 277.
Oldendorff 124. 143.
P.
Pannwitz, G. 196. 212.
Pasteur 8.
Patry, E. 194.
377
Pauly, J. 352.
Pelc, J. 43.
Petronius 119.
Pettenkofer 4. 6. 8. 9. 11.
15. 130.
Petty 22.
Pfeiffer 327.
Pfitzner 106.
Pieper 305. 306. 310. 317.
330.
Pignet 75.
Plehn, A. 121. 122.
Ploetz, A. 7. 12. 13. 16. 133.
Pollitz, P. 1.
Posadowsky, v. 261. 289.
Prausnitz, W. 5.
Prinzing, F. 2. 18. 20. 21.
22. 28. 37. 43. 46. 68.
125. 127. 128. 131. 272.
277. 367.
Q-
Quetelet 11. 19. 23. 102.
103. 104. 106.
Quincke 85.
R.
Radziejewski, M. 280.
Rahts 28.
Ranke, J. 102. 103. 104.
Rehfous, L. 194.
Renyers 83.
Retzius, G. 274.
Ricklin 194.
Rietschel 101.
Rietz 106.
Riffel 204.
Röse 106. 107.
Rosenbach, 0. 120.
Rosenfeld, S. 38. 41. 42. 47.
66. 1251
Roth, E. 123. 124.
Rottenburg, J. v. 195.
Rubner, M. 4. 5. 6. 7. 8.
9. 10. 11. 13. 15. 17. 100.
101. 108. 110. 111. 123.
129. 130.
Rügenberg 194.
Rumpf, Th. 99. 278. 293.
324. 325. 327. 328. 331.
S.
Saint Pierre, de 11.
Samson 185.
Sayffaerth 154. 278. 280.
322. 324.
Schadow 101.
Schleich 313.
Schmid 211.
Schmidt, H. 293.
378
Namenverzeichnis.
Schmidt, R. 82. 322.
Schmoller, G. 263.
Schönheimer, H. 280.
Schreber 153.
Schultze, B. S. 25.
Schwalbe, G. 104.
Schwanck, A. 277. 278. 306.
311. 317. 324. 325. 330.
Schwiedland 174.
Schwiening 68. 280.
Secretan, H. 194.
Seggel 71. 76.
Seitz 122.
Sering, M. 261.
Sommerfeld, Th. 2. 123.
125. 280. 367.
Spann, 0. 14.
Spitz, B. 122.
Stein, H. F. K. v. 19.
Stein, L. v. 4.
Stephani 105.
Sternberg, M. 124. 125.
Stöcker, H. 98.
Stoevesandt 221.
Straatz 103.
Strauß 83. 84.
Strümpell 105.
Struve 194.
Süßmilch, J. P. 22. 23.
Sundbärg, G. 65.
T..
Tamaro, J. 271.
Teleky, L. 2. 125. 269. 369.
Thiem, C. 346.
Thirring, G. 270.
Thomalla, R 334.
Thurnwald, B. 129.
Tillisch 219.
T.
Varlez, L. 285. 286.
Yillerme 11. 106.
Yirchow, R 6. 11. 15. 81.
115.
Yi viani 1.
Yogi, A. v. 14.
W.
Weichselbaum 122.
Weicker, H. 200. 352.
Weinberg, W. 36. 131.
Weismann, A. 121.
Weleminsky, F. 129.
Westergaard, H. 21. 22. 35.
100. 101. 128. 194. 277.
Weyl, Th. 280.
Wolff 224.
Woltmann, L. 195.
Würzburg 28.
Wyss 81.
Z.
Zacher, G. 287.
Zepler 153.
Ziegler, F. 121. 122.
Ziemssen 4.
Zondek 80. 83. 84.
Zwiedineck-Südenhorst, v.
140.