Skip to main content

Full text of "Zeitschrift für soziale Medizin"

See other formats


THEUNIVERSITY 


OF  ILLINOIS 

LIBRARY 

0,10.5 


■V.  ^-W!W 


kiffe* 


';•  ^,v  :  ■•••  ••  *•?  !<  a?k  1 : ' ßmwwm. 

\  ■■ 

/'  s-  ...  -  '  ... 

■>■£  ^  ■  ' 

.  v  •  ■::.. 


ZEITSCHRIFT 


SOZIALE  MEDIZIN 

MEDIZINALSTATISTIK,  ARBEITERVERSICHERUNG,  > 
SOZIALE  HYGIENE  UND  DIE  GRENZFRAGEN  DER 
MEDIZIN  UND  VOLKSWIRTSCHAFT. 


HERAUSGEGEBEN  VON 


A.  GROTJAHN  UND  v  F.  KRIEGEL 

Dr.  med.  Dr.  phil. 


ZWEITER  BAND. 


LEIPZIG. 

VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL. 

1907. 


Inhaltsverzeichnis  des  zweiten  Bandes. 


Erstes  Heft. 

Seite 

Umschau .  1 

Gottstein,  Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele  ...  3 

Prinzing,  Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen 

Berufen . 37 

Kaff,  Der  Ausbau  der  Abeiterversicherung  in  Österreich . 51 

Sozialmedizinische  Kasuistik . 61 

Konkurrenz  zwischen  Berufsgenossenschaft  und  Krankenkasse.  —  Ge¬ 


wöhnung  an  Verlust  von  Gliedmaßen.  —  Ärztliche  Gutachtertätigkeit  hei 
den  Berufsgenossenschaften.  —  Erhält  ein  arbeitswilliger  Arbeiter ,  der 
während  eines  Streikes  von  Ausständigen  auf  dem  Wege  zur  Arbeit  mi߬ 
handelt  wird,  Unfallrente?  —  Beurteilung  der  Erwerbsbeschränkung  nach 
Kopfverletzung.  —  Die  Verschlimmerung  bösartiger  Geschwülste  als  Unfall¬ 
folge  (Ref.  Ernst  Joseph). 

Medizinalstatistische  Daten . 64 

1.  Die  Abnahme  der  Totgeburten.  —  2.  Die  Sterblichkeit  an  Lungen¬ 
schwindsucht  in  Schweden  1751 — 1830.  —  3.  Hohe  Morbidität  einzelner  Ge¬ 
werbe.  —  4.  Zunahme  der  Tuberkulose  mit  der  Höhenlage  der  Wohnung.  — 

5.  Der  Flecktyphus  in  Galizien  im  Jahre  1902  (Ref.  F.  Prinzing). 

Aus  der  Gesellschaft  für]  Soziale  Medizin ,  Hygiene  und  Medizinal¬ 


statistik  in  Berlin . 68 

Zeitschriftenübersieht . 93 


2420o‘ 


IV 


Inhaltsverzeichnis. 


Zweites  Heft. 

Seite 


Umschau . 97 

Gottstein,  Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele  (Schluß)  100 
Eisenstadt,  Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung . 136 

Nesemann,  Das  preußische  Gesetz,  betreffend  die  Bekämpfung  übertragbarer 

Krankheiten  vom  28.  August  1905  (Nachtrag) . 155 

Kaff,  Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich  (Fortsetzung)  .  .  168 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin . 180 

Zeitschriftenübersicht . 189 


Drittes  Heft. 


Umschau . 193 

Grotjahn,  Die  Lungenheilstättenbewegun  g  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene  196 
Kaff,  Der  Aushau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich  (Schluß)  ....  234 

Stimmen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft .  .  261 

L.  Brentano  über  Wehrfähigkeitsstatistik.  —  v.  Bethmann-Holl- 
weg  über  Sexuelle  Hygiene.  —  K.  Bittmann  über  Mangel  an  sozial¬ 
politischem  Verständnis  hei  Ärzten. 


Medizinalstatistische  Daten . 269 

1.  Die  Häufigkeit  der  Phosphornekrose  in  den  böhmischen  Zündholz¬ 
fabriken.  —  2.  Befreiung  der  Schüler  vom  Turnen  in  Budapest.  —  3.  Tuber¬ 


kulose  und  Wohlhabenheit.  —  4.  Die  Pellagra  im  österreichischen  Küsten¬ 
lande.  —  5.  Häufigkeit  einiger  epidemischer  Krankheiten  in  englischen 
Großstädten  (Ref.  F.  Prinzing).  —  6.  Zur  Statistik  der  Wehrfähigkeit 
(Ref.  F.  Kriegei). 

Bücheranzeigen . 277 

Prinzing,  Handbuch  der  medizinischen  Statistik  (A.  Grotjahn).  — 
Schwanck,  Die  Reform  des  Heilverfahrens  (Th.  Rumpf). 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin . 279 


Inhaltsverzeichnis. 


Y 


Viertes  Heft. 

Seite 

Umschau . 289 

Schmidt,  Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen  .  .  .  293 

Grotjahn,  Der  Einfluß  der  sozialen  Versicherungsgesetzgebung  auf  die  Ent¬ 
wicklung  des  Krankenhauswesens . 333 

Medizinalstatistische  Daten . 365 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin .  367  > 

Druckschrifteneinlauf . 372 

Namenverzeichnis  . 376 


v 


Umschau. 


Berlin,  den  1.  Dezember  1906. 

Die  Soziale  Medizin  und  die  Soziale  Hygiene  sind 
lebhaft  daran  interessiert,  daß  das  ärztliche  Element  nicht  nur 
durch  die  gewiß  recht  wichtige,  aber  doch  nur  sekundäre  Gut¬ 
achtertätigkeit  die  staatlichen  und  städtischen  Behörden  beeinflußt, 
sondern  diese  Behörden  auch  mit  eigenen  Standesgenossen  durch¬ 
setzt  und  so  unmittelbar  an  Legislative  und  Verwaltung  sich  be¬ 
teiligt,  Die  letzten  Monate  brachten  beachtungswerte  Fortschritte 
nach  dieser  Richtung  hin.  In  Köln  ist  P.  Krautwig  zum  städti¬ 
schen  Beigeordneten  und  in  Charlottenburg  A.  Gottstein  zum 
Stadtrat  erwählt  worden.  Auch  die  Ernennung  von  P.  Pollitz, 
den  bisherigen  Arzt  der  Irrenanstalt  der  Strafabteilung  in  Münster, 
zum  Direktor* der  königlichen  Strafanstalt  zu  Düsseldorf  muß  in 
diesem  Zusammenhänge  freudig  begrüßt  werden.  Hoffentlich  werden 
nun  die  Arzte  auch  mehr  als  bisher  in  die  deutschen  Volksver¬ 
tretungen  gelangen.  In  dieser  Beziehung  ist  uns  Frankreich  er¬ 
heblich  voraus.  Sitzen  doch  im  französischen  Parlamente  mehr  als 
60  Ärzte  und  war  doch  der  jetzige  Ministerpräsident  Clemenceau 
Arzt,  ehe  er  seine  erfolgreiche  Laufbahn  als  Journalist  und  Parla¬ 
mentarier  begann.  Diese  medizinische  Provenienz  bekundete  jetzt 
Clemenceau  dadurch,  daß  er  bei  der  Bildung  seines  Kabinetts 
ein  Ministerium  für  Arbeit  und  Hygiene  unter  Leitung  von  Vi  viani 
ins  Leben  rief,  dem  er  bezeichnenderweise  die  Vorbereitung  für 
die  geplante  Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung  übertrug. 

Den  Betrachtungen  in  der  Umschau  des  vorigen  Heftes  über 
die  Ausbeute,  die  die  Soziale  Medizin  und  die  Soziale 
Hygien  e  aus  den  zahlreichen  Kongressen  dieses  Jahres  davon¬ 
getragen  haben,  mögen  noch  einige  Bemerkungen  zugefügt  werden. 
Die  internationale  diplomatische  Arbeiterschutzkonferenz,  die  vom 
17. — 26.  Sept.  in  Bern  tagte,  hat  das  wichtige  Ergebnis  gezeitigt, 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  IT.  I 


2 


Umschau. 


daß  sieben  Staaten,  nämlich  Deutschland,  Frankreich,  Italien,  Däne¬ 
mark,  Luxemburg,  Holland  und  die  Schweiz  die  Konvention  be¬ 
treffend  das  Verbot  des  weißen  (gelben)  Phosphors  in  der  Zünd¬ 
holzindustrie  unterzeichnet  haben  und  daß  außer  diesen  sieben 
Staaten  auch  England,  Österreich  -  Ungarn ,  Belgien,  Portugal, 
Spanien  und  Schweden  auch  der  Konvention  betreffend  das  Verbot 
der  industriellen  Nachtarbeit  der  Frauen  beigetreten  sind.  Die 
internationale  Vereinigung  für  internationalen  Arbeiterschutz,  die 
vom  27.-29.  September  ihre  4.  Generalversammlung  in  Genf 
abhielt,  beschäftigte  sich  unter  anderem  mit  den  gewerblichen 
Giften;  das  ärztliche  Element  war  auf  dieser  Tagung  numerisch 
leider  sehr  schwach,  glücklicherweise  aber  sehr  sachverständig 
durch  Sommerfeld  (Berlin)  und  T  e  1  e  k  y  (Wien)  vertreten.  Vom 
21. — 25.  September  fand  die  5.  Jahresversammlung  des  Vereins  für 
Volkshygiene  in  Metz  statt.  Diese  Veranstaltung,  die  in  früheren 
Jahren  eine  bedenkliche  Neigung  zur  Bagatellhygiene  verriet,  er¬ 
hob  sich  dieses  Mal  in  dem  Vortrage  von  Mathe s  (Metz)  über  die 
„Wohnungsnot“  zu  einer  beachtenswerten  sozialpolitischen  Höhe. 
Dagegen  zeigte  die  31.  Versammlung  des  Deutschen  Vereins  für 
öffentliche  Gesundheitspflege,  die  am  12.  September  in  Augsburg 
ihre  Sitzungen  begann,  noch  stärker  die  greisenhaften  Züge,  die 
diese  ehemals  so  bedeutsame  Veranstaltung  in  den  letzten  Jahren 
leider  angenommen  hat.  Vom  1.— 4.  Oktober  tagte  in  Berlin  ein 
Kongreß  für  Kinderforschung,  an  dem  Ärzte  und  Lehrer  sich  zu 
gemeinsamer  Arbeit  zusammenfanden.  Unter  den  zahlreichen  Vor¬ 
trägen  verdienen  wohl  die  Mitteilungen  des  Berliner  Schularztes 
Bernhard  über  den  unzureichenden  Schlaf  der  Berliner  Gemeinde¬ 
schüler  die  größte  Beachtung. 

Die  Medizinalstatistik,  die  jahrzehntelang  unter  den 
medizinischen  Disziplinen  eine  Aschenbrödelstellung  eingenommen 
hat,  dokumentiert  ihre  von  Jahr  zu  Jahr  steigende  Bedeutung 
augenblicklich  durch  das  Erscheinen  eines  Handbuches  der  medi¬ 
zinischen  Statistik 2)  von  F.  P  r  i  n  z  i  n  g ,  das  noch  an  anderer  Stelle 
dieser  Zeitschrift  eine  eingehende  Besprechung  finden  wird.  Die 
Soziale  Medizin  und  die  Soziale  Hygiene  haben  natürlich  das  größte 
Interesse  daran,  daß  der  Sinn  für  Zahlen-  und  Massenbeobachtung 
unter  den  Ärzten  geweckt  wird  und  begrüßen  deshalb  das  Erscheinen 
dieses  Buches  mit  besonderer  Freude.  A.  Grotjahn. 


9  Jena.  G.  Fischer.  553  S. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben 

nnd  Ziele. 

Von  Dr.  med.  Adolf  Gottstein,  Charlottenburg. 

Einleitung. 

Die  „Soziale  Hygiene“  ist,  wie  die  geschichtliche  Be¬ 
trachtung  lehrt,1)  die  geradlinige  Fortsetzung  jener  ersten  Periode 
der  Gesundheitswissenschaft,  deren  Anfänge  bis  zum  Beginn  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  zurückreichen  und  die  etwa  bis  zu  dessen 
Mitte  gerechnet  werden  kann.  Die  Kontinuität  der  Entwicklung 
wurde  dann  für  mehrere  Jahrzehnte  dadurch  unterbrochen,  daß  die 
zwei  noch  heute  maßgebenden  Richtungen  der  Hygiene,  die  physio¬ 
logische  und  die  mikroparasitäre  Schule,  entstanden.  Ebenso  die 
Wichtigkeit  der  Probleme  wie  die  Schöpferkraft  der  Persönlich¬ 
keiten,  welche  der  Forschung  die  neuen  Bahnen  wiesen,  be¬ 
wirkten  die  Abweichung  von  dem  ursprünglich  eingeschlagenen  Wege. 
Gegenwärtig  verlangen  wieder  eine  Reihe  von  Umständen  eine  ein¬ 
gehendere  Beschäftigung  mit  den  Grenzgebieten  zwischen  Gesund¬ 
heitslehre  und  Nationalökonomie,  vor  allem  aber  ein  genaueres 
Studium  des  Einflusses,  welchen  gesellschaftliche  Vorgänge  auf 
die  Gesundheit  der  gesamten  Bevölkerung  und  ihrer  einzelnen 
Gruppen  ausüben.  Die  Bewegung  für  die  Erweiterung  unserer 
Aufgaben  in  dieser  Richtung  befindet  sich  erst  in  ihrem  Beginn; 
ihre  Anhänger  finden  sich  unter  dem  Schlagwort  der  „Sozialen 
Hygiene“  und  der  „Sozialen  Medizin“  zusammen.  Die  Energie 
dieser  Bewegung  ist  aber  eine  so  große,  daß  sie  schon  frühzeitig 
beachtenswerten  Widerständen  begegnet. 

*)  A.  Gott  st  ein,  Geschichte  der  Hygiene  des  XIX.  Jahrhunderts.  Berlin 
1901,  F.  Schneider. 


1* 


4 


Adolf  Gottstein, 


So  benutzte  der  Berliner  Hygieniker  Max  Hübner  in  seiner 
„Bede,  gehalten  zur  Eröffnung  des  neuen  hygienischen  Instituts  zu 
Berlin“,1)  den  sich  ihm  bietenden  Anlaß,  um  in  ausführlichen  Worten 
seine  Stellung  als  Forscher,  Lehrer  und  Anstaltsleiter  zur  „Sozialen 
Hygiene“  zu  begründen.  Er  lehnt  die  „moderne  Propaganda“ 
für  die  Soziale  Hygiene  und  deren  Ziel,  die  Schaffung  einer  neuen 
Disziplin,  trotz  voller  Würdigung  des  sozialen  Momentes  in  der 
Gesundheitslehre  ab;  denn  die  heute  geltende  Zweiteilung  der 
offiziellen  hygienischen  Wissenschaft  in  öffentliche  und  private  Ge¬ 
sundheitspflege  sei  erschöpfend  genug,  um  berechtigte  neue  Forde¬ 
rungen  mit  zu  umfassen;  durch  die  verschiedenen  Neugestaltungen 
der  menschlichen  Gesellschaft  werde  allerdings  die  Aufstellung 
neuer  Probleme  beeinflußt;  aber  deren  Lösung  fiele  durchaus  in 
das  Bereich  der  Methodik,  welcher  die  experimentelle  Hygiene  sich 
schon  längst  bediene;  die  Soziale  Hygiene  sei  daher  „nichts  von 
der  hygienischen  Wissenschaft  Abtrennbares“. 

Neben  dieser  positiven  Aussage  bringt  dann  Bub n er  noch 
drei  kritische  Einwände  gegen  die  moderne  Propaganda  für  eine 
selbständige  Soziale  Hygiene.  Erstens  führt  er  Klage  über  den 
Mißbrauch  des  Schlagwortes  „sozial“;  was  heute  als  Inhalt  einer 
neuen  sozialen  Disziplin  vorgebracht  werde,  sei  weiter  nichts 
als  ein  Versuch,  das  längst  vorhandene  Material  unter  diesem  Titel 
anders  zu  gruppieren;  er  vermißt  zweitens  eine  klare  Definition 
der  neuen  Aufgaben;  alle  Yerwaschenheit  und  Unklarheit  aber 
pflege  mit  einem  Mißerfolg  zu  enden.  Drittens  bestreitet  Bubner 
das  Becht,  überhaupt  von  einer  neuen  noch  nie  dagewesenen 
Disziplin  zu  reden,  denn  schon  das  erste  Handbuch  der  Hygiene 
von  Pettenkofer  und  Ziemssen  aus  dem  Jahre  1882  habe  den 
Stoff  in  individuelle,  soziale  Hygiene  und  Infektionskrankheiten 
eingeteilt.  Die  an  sich  erwünschte  Anlehnung  der  Hygiene  an  die 
Nationalökonomie  sei  ebenfalls  keine  neue  Forderung;  denn  schon 
Pettenkofer  habe,  wie  vor  ihm  z.  B.  Lorenz  von  Stein,  die 
Verwandtschaft  stets  betont;  humanitäre  Gesinnung  sei  überdies 
von  jeher  eine  Triebfeder  der  Hygiene  gewesen;  eine  vorsichtige 
Bespektierung  der  Wissensgrenzen  von  Hygiene  und  National¬ 
ökonomie  sei  schließlich  ebenso  wie  die  Vermeidung  von  Exkursionen 
in  das  andere  befreundete  Gebiet  notwendig. 

Bubner’s  Bichtspruch  gegen  die  Vorkämpfer  einer  neuen 
Disziplin  lautet  also:  Keine  neuen  Probleme,  keine  selbständigen 


l)  Berliner  klinische  Wochenschrift  1905,  Nr.  19  n.  20. 


Pie  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  5 

Methoden,  kein  Grund,  wegen  Überlastung  oder  mangelnden  Interesses 
der  vorhandenen  Lehrinstitute  neue  Arbeitsstätten  zu  suchen. 

Gegen  diese  Ausführungen  läßt  sich  eine  Reihe  von  Gegen¬ 
gründen  geltend  machen.  Zunächst  ein  persönlicher.  Das  Forschungs¬ 
gebiet  eines  Mannes  wie  Rubner  ist  ein  ganz  ungewöhnlich  großes; 
die  Aufzählung  seiner  Leistungen  und  die  Hervorhebung  aller 
seiner  Verdienste,  so  aufrichtig  sie  auch  gemeint  ist,  im  Rahmen 
einer  rein  sachlichen  Diskussion,  würde  zu  leicht  mißdeutet  werden 
können,  um  nicht  besser  zu  unterbleiben.  Rubner  hat  es  ver¬ 
mocht,  seinen  experimentellen  Entdeckungen  zahlreiche  gleich¬ 
wertige  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  Sozialen  Hygiene  anzureihen, 
wie  seine  Mitteilungen  über  „Luftfeuchtigkeit  in  AVohnräumen“ 
seine  „Betrachtungen  über  Krankenhaushygiene“,  vor  allem  aber 
seine  Rede  über  „Prophylaxe  der  Wohn-  und  Arbeitsräume  und 
des  Verkehrs“  auf  dem  Internationalen  Tuberkulosekongreß  1899 
beweisen.  Er  hat  ferner  in  der  Einleitung  zu  seinem  „Lehrbuch 
der  Hygiene“  höchst  wichtige  und  gedankenreiche  methodologische 
Fragen  zum  Begriff  der  Gesundheit  angeregt  und  deren  Behand¬ 
lung  angedeutet,  Fragen,  deren  Bearbeitung  durchaus  in  das  Gebiet 
der  Sozialen  Hygiene  fällt.  Rubner  ist  schließlich  im  Begriff,  für 
seine  Person  die  Zusage  zu  lösen,  die  er  in  der  vorliegenden  Rede 
gab,  nämlich  eine  Reihe  hygienischer  Fragen  mit  sozialer  Sonder-' 
färbung  der  experimentellen  Behandlung  zugänglich  zu  machen. 
Aber  Rubner’s  Vielseitigkeit,  die  ihn  befähigt,  der  biologischen 
und  Sozialen  Hygiene  gleichmäßig  gerecht  zu  werden,  ist  nur 
wenigen  Forschern  gegeben.  AVer  wie  der  ATerfasser  dieses  Auf¬ 
satzes  ein  Anhänger  von  Ferdinand  Hueppe  ist,  der  darf  mit 
besonderer  Befriedigung  hervorheben,  daß  dessen  Auffassung  in 
zahlreichen  Einzelarbeiten  und  in  seinem  Lehrbuch  der  Hygiene 
stets  seinem  Satze  entspricht:  „Die  Hygiene  wird  Soziale  Hygiene 
sein  oder  sie  wird  nicht  sein.“  Außer  Rubner  und  Hueppe 
jedoch  haben  von  deutschen  lebenden  Universitätslehrern  der 
Hygiene  nur  gelegentlich  Max  G r u b e r  in  München,  Prausnitz 
in  Graz,  Lehmann  in  Würzburg,  M.  Neißer  in  Frankfurt  a.  M. 
und  W.  Kruse  in  Bonn  sozialhygienische  Probleme  behandelt;  in 
den  Arbeitsstätten  der  anderen  lebenden  deutschen  Lehrer  der 
Gesundheitslehre  aber  hat  die  Soziale  Hygiene  weder  ein  Arbeits¬ 
feld  noch  nennenswertes  Interesse  gefunden.  Mit  dieser  persön¬ 
lichen  Erörterung  erledigt  sich  zugleich  der  Einwand  Rubner’s, 
daß  die  Soziale  Hygiene  Spielraum  zur  Betätigung  an  den  schon 

1 

heute  bestehenden  Forschungsstätten  fände. 


6 


Adolf  Gottsteiu. 


Von  den  drei  sachlichen  Einwänden  Rubner’s  soll  der  erste, 
daß  die  sozialhygienischen  Bestrebungen  nichts  Neues  seien,  später 
behandelt  und  dort  soll  zugleich  untersucht  werden,  inwieweit 
wirklich  gerade  der  Humanitätstrieb  und  nicht  vielmehr  ganz  andere 
Gesichtspunkte  den  Urquell  für  die  wissenschaftliche  Behandlung 
dieses  Sonderzweiges  bedeuten.  Der  zweite  Grund  von  Eubner, 
der  in  seinem  Aufsätze  dem  Sinne  nach  enthalten  ist,  daß  nämlich 
die  Soziale  Hygiene  wegen  Mangels  eigener  Methoden  und  wegen 
Zureichens  der  Methoden  ihrer  Mutterdisziplin  keinen  Anspruch 
auf  Selbständigkeit  habe,  erinnert  doch  zu  sehr  an  die  gleichen 
Einwände,  die  vor  mehr  als  20  Jahren  gemacht  wurden,  als  diese 
Mutter  Wissenschaft  selbst  sich  ihr  erstes  eigenes  Heim  in  Preußen 
gründen  wollte.  Rubner  erwähnt  ja  auch  im  Anfang  seiner  Rede 
jene  denkwürdigen  Verhandlungen  im  preußischen  Abgeordneten¬ 
hause  vom  1.  Februar  1884,  in  denen  Virchow  sagte,  daß  die 
Hygiene  wie  die  gerichtliche  Medizin  angewandte  Wissenschaften 
seien,  welche  weder  selbständige  Methoden  noch  selbständige  Objekte 
der  Untersuchung  besäßen.  Virchow  bestritt  damals  bekanntlich 
das  Bedürfnis  sowohl  für  besondere  Vorlesungen  über  Hygiene  wie 
für  die  Errichtung  eigener  Institute  als  Forschungsstätten. 

Was  schließlich  den  letzten  Vorwurf  der  Verwaschenheit  und 
Unklarheit  bei  der  Umgrenzung  der  Aufgaben  der  neuen  Disziplin 
betrifft,  so  könnte  hier  ein  bloßer  Dialektiker  sogar  einen  Vorzug 
herausrechnen.  Er  könnte  anführen,  daß  bei  einer  induktiven,  in 
steter  Entwicklung  befindlichen  Wissenschaft  die  Festnagelung 
auf  eine  Definition  nur  störend  und  darum  überflüssig  ist;  daß 
Schlagworte  für  den  Schüler  nützlich  sein  mögen,  aber  den  Forscher 
noch  stets  gehindert  und  den  Gang  der  Entwicklung  nur  verzögert 
haben.  Man  könnte  aus  den  gangbaren  Lehrbüchern  der  Hygiene 
die  einzelnen,  nicht  immer  glücklichen  Versuche  einer  Definition 
dieser  Disziplin  aufzählen  und  dadurch  beweisen,  daß  auch  die 
Hygiene  trotz  verwaschener  und  unklarer  Definitionen  zur  Blüte 
gelangt  ist.  Man  könnte  schließlich  an  die  Worte  von  Petten- 
k  o  f  e  r  in  der  Einleitung  zu  seinem  Handbuch  erinnern,  nach  denen 
„die  Gegenstände  der  Hygiene  sich  stetig  ändern  müssen,  so  daß 
manches,  was  eine  Zeitlang  für  richtig  gehalten  wird,  mit  der 
Zeit  hinfällig  wird“,  und  an  die  dem  Sinne  nach  gleichen  Worte 
von  Rubner  selbst  in  der  Einleitung  zu  seinem  Lehrbuch,  daß 
die  Hygiene  keine  Wissenschaft  von  stetem  Arbeitsgebiete  sei. 
Mit  der  Anerkennung  dieser  Tatsache  fiele  aber  auch  die  Pflicht 
fort,  ein  neues  Sondergebiet  durch  eine  präzise  Definition  zu  um- 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  7 

grenzen.  Die  Tatsache,  daß  gegenwärtig  neue  Formen  der  Gesell¬ 
schaft  neue  Probleme  erstehen  lassen,  hat  ja  Rubner  selbst  hervor¬ 
gehoben. 

Indes  der  Kampf  mit  Gründen  und  Gegengründen,  der  am  Ende 

darauf  hinauskommt,  ob  das  Wort  „Soziale  Hygiene“  glücklich 

gewählt  ist  oder  nicht,  ist  eben  ein  Wortstreit  und  darum  belanglos. 

Ich  selbst  halte  den  Ausdruck  nicht  für  erschöpfend,  indes  er  ist 

•  • 

einmal  eingebürgert,  übrigens  ist  das  deutsche  von  A.  Ploetz 
gewählte  Wort  „Gesellschaftshygiene“  kaum  glücklicher  geprägt. 
Die  Hauptsache  bleibt  immer,  ob  das  Wort  einen  Inhalt  deckt. 
Eine  Reihe  von  Ärzten,  zu  denen  sich  der  Verfasser  rechnet,  be¬ 
haupten,  daß  die  Schaffung  einer  solchen  Sonderdisziplin  die  not¬ 
wendige  Folge  dringend  gewordener  Probleme  sei,  daß  deren  Be¬ 
handlung  keinen  Raum  im  Bereich  der  Mutterwissenschaft  mehr 
findet  und  daß  aus  diesem  Grunde  der  Anspruch  auf  Selbständig¬ 
keit  als  Spezialwissenschaft  entsteht.  Es  ist  an  uns,  den  Beweis 
für  unsere  Behauptung  zu  erbringen.  Rubner  hat  deren  Zutreffen 
bestritten;  es  mußte  daher  vor  Antritt  dieses  Beweises  auf  seine 
Darstellung  ausführlich  Bezug  genommen  werden.  Rubners  Rede 
war  für  mich  zugleich  auch  der  willkommene  Anlaß,  unsere  Auf¬ 
gaben  und  Methoden  einmal  öffentlich  ausführlicher  darzustellen. 

Es  gewährt  mir  eine  besondere  Befriedigung,  hierbei  vielfach 
Beweisgründe  gerade  ans  den  Arbeiten  von  Rubner  schöpfen  zu 
können,  der  durch  seine  Rede  scheinbar  ein  Gegner  unserer  Ziele, 
durch  seine  Untersuchungen  aber  einer  ihrer  Förderer  wurde. 

I. 

Die  Grundlagen  der  Hygiene  und  der  Sozialen  Hygiene. 

Die  Entstehung  einer  Sonderwissenschaft  und  ihre  Abspaltung 
von  ihrer  Mutterdisziplin  geschieht  vornehmlich  aus  drei  Gründen. 
Entweder  eröffnet  ein  genialer  Forscher  durch  schöpferische  Ideen 
und  deren  Durchführung  der  Wissenschaft  ganz  neue  Bahnen;  er 
allein  erschließt  ein  Gebiet  der  Erkenntnis,  das  dann  einer  ganzen 
Schar  von  Schülern  Arbeit  für  Lebenszeit  gibt;  oder  eine  bestimmte 
Entdeckung  ermöglicht  die  Überschreitung  bisher  unzugänglicher 
Grenzen;  die  neuen  Methoden,  die  sich  so  ausgiebig  erweisen,  er¬ 
fordern  zugleich  die  Einübung  einer  besonderen  Fertigkeit,  und  so 
entwickelt  sich  die  Spezialität,  welche  die  Erlernung  einer  eigenen 
instrumentellen  Technik  zur  Voraussetzung  hat.  Für  diesen  Ur- 


8 


Adolf  Gottstein. 


sprung“  eines  Sonderzweiges  bieten  gerade  einige  praktische  Teile 
der  Medizin  gute  Beispiele;  es  sei  nur  der  Erfindung  des  Augen¬ 
spiegels,  der  Beleuchtungsapparate  für  Körperhöhlen  und  der  Ent¬ 
deckung  der  Röntgenstrahlen  gedacht.  Schließlich  kann  eine  Spezial¬ 
wissenschaft  sich  von  ihrer  Mutterwissenschaft  auch  ohne  eigene 
Probleme  und  Methoden  lediglich  deshalb  abspalten,  weil  ihr  Um¬ 
fang  ein  so  großer  geworden,  die  Zahl  und  die  Leistungen  der  sich 
mit  besonderer  Vorliebe  ihr  widmenden  Forscher  so  angestiegen 
sind,  und  schließlich  ihre  praktische  Bedeutung  als  Gegenstand  des 
Forschens  und  Lehrens  eine  solche  Höhe  erreicht  hat,  daß  sie  allein 
hierdurch  schon  das  Anrecht  auf  Selbständigkeit  erwirkt.  So 
wurden  die  Nervenheilkunde  und  die  Kinderheilkunde  Spezial¬ 
wissenschaften.  Natürlich  können  für  die  Abspaltung  eines  Sonder¬ 
zweiges  alle  drei  Ursachen  gleichzeitig  bestimmend  werden  und 
dies  trifft  für  die  Hygiene  zu.  Wichtige  Aufgaben  der  öffent¬ 
lichen  Gesundheitspflege  wurden  schon  von  den  ältesten  Kultur¬ 
völkern  aufgestellt  und  oft  erfolgreich  gelöst.  Hygienische  Lehren 
wurden  schon  am  Ende  des  18.  und  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  in  Systeme  gebracht  und  gerade  Rubner  hat 
vor  kurzem  die  Verdienste  einiger  Vorgänger  der  heutigen  Forschung 
wieder  gewürdigt.  Aber  diese  Vorgeschichte  genügte  noch  nicht, 
um  der  hygienischen  Forschung  das  Recht  auf  Selbständigkeit  zu 
sichern.  Erst  die  Persönlichkeit  Pett enkofer’s,  der  sich  ein 
eigenes  Arbeitsgebiet  der  individuellen  Gesundheitslehre  auf  dem 
Boden  naturwissenschaftlicher  Technik  schuf  und  es  so  groß  er¬ 
schloß,  daß  er  eine  eigene  bedeutende  Schule  gründen  konnte,  erst 
die  Erfindung  der  mikrobiologischen  Technik,  die  sich  vornehmlich 
an  die  Namen  von  Pasteur  und  Koch  knüpft,  verliehen  den 
beiden,  noch  heute  nebeneinandergehenden  Richtungen  der  modernen 
Hygiene  die  Macht,  sich  trotz  der  bekannten  Einsprüche  die  Selb¬ 
ständigkeit  in  Forschung  und  Lehre  zu  sichern  und  allmählich  in 
weiterer  Ausgestaltung  eine  herrschende  Stellung  im  Gesamtgebiet 
der  Medizin  zu  gewinnen.  Aber  wahrscheinlich  hätte  die  moderne 
H}rgiene  trotz  der  hervorragenden  Bedeutung  der  Schöpfer  ihrer 
Hauptrichtungen,  trotz  der  Fülle  der  Forschungsergebnisse,  diese 
Vorherrschaft  auf  die  Dauer  nicht  behaupten  können,  wenn  nicht 
alle  ihre  Aufgaben  und  Ziele  auf  einer  eigenen  Grundidee  sich 
aufgebaut  hätten,  die  wesentlich  verschieden  ist  von  der  Grundidee 
der  Heilkunde  in  engerem  Sinne.  Wir  sind  uns  allerdings  heute 
darüber  einig,  daß  die  Hygiene  ein  Zweig  der  gesamten  Heilkunde 
ist  und  bleiben  muß.  Diese  Anschauung  hat  nicht  durchweg  be- 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


9 


standen.  Für  Pettenkofer  ist  z.  B.  die  Hygiene  „die  Kenntnis 
der  gegebenen  äußeren  Umstände,  unter  welchen  Gesunde  leben, 
und  jener  Einrichtungen,  welche  das  dauernde  Wohlbefinden  der 
Menschen  bedingen  und  bezwecken“.  In  Verfolgung  dieser  Idee 
erklärte  Pettenkofer  die  Hygiene  nicht  für  ein  ausschließliches 
Besitztum  des  Arztes,  sondern  ebenso  sehr  des  Ingenieurs  und 
Architekten  und  schließlich  auch  des  Verwaltungsbeamten.  Aber 
„die  Störungen  in  der  gesundheitlichen  Harmonie  der  Funktionen 
des  Organismus“,  um  die  Pettenkofer’sche  Definition  der  Krank¬ 
heit  aufzunehmen,  bilden  eben  das  Maß  für  die  Einwirkung  der 
Umwelt  auf  den  menschlichen  Organismus,  deren  Studium  den  Inhalt 
der  Hygiene  ausmacht.  Und  selbst  wenn  man  mit  Kubner  als 
deren  fundamentale  Aufgabe  nicht  bloß  die  Erhaltung,  sondern 
auch  die  Mehrung  der  Gesundheit  hinstellt,  so  kann  kein  ex¬ 
perimentierender  Hygieniker  bei  seinen  Versuchen  auf  die  Funktions¬ 
störung  als  Maß  für  die  Grenzen  des  Anpassungsvermögens  an 
äußere  Bedingungen,  also  auf  die  Heranziehung  von  Physiologie 
und  Pathologie  verzichten.  In  den  Versuchen  einer  Definition  der 
Aufgaben  der  Hygiene  greifen  daher  alle  Forscher  mehr  oder 
weniger  ausgesprochen  auf  die  krankhaften  Zustände  zurück,  und 
auch  Kubner  bringt  das  in  der  oben  angeführten  Rede  noch 
schärfer  als  in  seinem  Lehrbuch  zum  Ausdruck,  wenn  er  über  die 
Grenzen  der  Gesundheit  spricht.  Die  Hygiene  bleibt  also  ein 
Teil  der  Heilkunde,  weil  die  krankhaften  Vorgänge  das  Maß  für 
die  Feststellung  der  Gesundheit  bilden.  Aber  ihre  Grundauffassung 
in  der  Stellung  zum  Objekt  ist  trotz  ihrer  Zugehörigkeit  ganz  und 
gar  verschieden  von  der  des  Arztes.  Wenn  kubner  vom  Humani¬ 
tätstrieb  als  dem  Urquell  der  Hygiene  spricht,  so  gilt  dies  Wort 
lediglich  für  den  Arzt;  wäre  dieser  Grundgedanke  aber  der  allein 
leitende  geblieben,  so  wäre  niemals  eine  hygienische  Sonderwissen¬ 
schaft  entstanden.  Im  Gegenteil,  die  Triebfeder  vieler  Maßnahmen 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege  ist  der  berechtigte  Egoismus 
der  durch  die  Krankheit  Anderer  Gefährdeten.  Die  Errichtung 
der  Leproserien  im  Mittelalter  und  die  erste  moderne  hygienische 
Großtat  der  Neuzeit,  die  Kuhpockenimpfung,  hatten  mit  Mitleid 
für  die  Erkrankten  gar  nichts  zu  tun;  sie  bezweckten  den  Schutz 
der  Gesunden,  die  durch  jene  bedroht  waren.  Die  Aufgaben  der 
Städtereinigung,  der  Kanalisation  und  Wasserversorgung  wurden 
gestellt  und  gelöst,  weil  die  Cholera  drohte,  nicht  aus  Mitleid  für 
die  Leiden  der  Erkrankten,  sondern  um  die  außerordentlich  schweren 
wirtschaftlichen  und  gesundheitlichen  Gefahren,  die  den  Bewohnern 


10 


Adolf  Gott  stein. 


eines  großen  Gemeinwesens  durch  das  Zusammengepferchtsein  mit 
gefährdeten  Elementen  erwuchsen,  zu  vermindern.  Unsere  ganze 
seither  fortgebildete  Seuchenprophylaxe  hat  keine  anderen  Grund¬ 
ideen.  Auch  die  weitere  Entwicklung  unserer  Gewerbehygiene, 
die  an  die  Errichtung  der  sog.  sozialen  Versicherungsgesetze  an- 
kntipft,  geht  von  der  Grundidee  aus,  die  Lasten,  die  der  gesamten 
Gesellschaft  durch  die  Schädigung  einzelnen  Gruppen  erstehen, 
auf  alle  zu  verteilen  und  so  vermindern.  Das  gleiche  gilt 
für  die  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Wohnungshygiene  und 
der  Bekämpfung  der  Tuberkulose-  und  Säuglingssterblichkeit.  Ja, 
die  Hygiene  verzichtet  in  der  Verfolgung  ihrer  berechtigten  Forde¬ 
rungen  gelegentlich  einmal  nicht  darauf,  im  Einzelfalle  geradezu 
inhuman  und  mitleidslos  vorzugehen,  wenn  sie  Zwangsmaßnahmen 
fordert,  die  den  einzelnen  hart  treffen,  wofern  sie  nur  im  Interesse 
der  Gesamtheit  unerläßlich  erscheinen.  Im  übrigen  findet  sich  sogar 
diese  gewiß  soziale  Idee  von  dem  staatlichen  Zwang  als  dem 
kleineren  Übel  schon  bei  J.  P.  Frank.  Die  Aufgabe  des  Indi¬ 
vidualtherapeuten  wiederum  ist  die  Herabsetzung  der  Letalität 
der  Erkrankten  oder  die  Milderung  ihrer  Leiden  bei  geschwundener 
Aussicht  auf  Heilung;  hier  ist  Mitleid  am  Platze  selbst  gegenüber 
Menschen,  die  sonst  auf  solches  kein  Anrecht  haben;  hier  ist  Ver¬ 
längerung  des  Lebens  die  Aufgabe,  selbst  wenn  dies  Leben  dem 
Betroffenen,  seiner  Umgebung  und  der  Gesellschaft  unnütz,  lästig 
oder  gar  schädlich  sein  sollte.  Umgekehrt  hat  der  H}Tgieniker 
die  Pflicht,  die  Frage  wenigstens  zu  erörtern,  ob  die  Ausdehnung 
der  Schutzmaßregeln  bis  unter  die  Grenze  der  durchschnittlichen 
Widerstandskraft  durch  Verweichlichung  nicht  der  mittleren  Ge¬ 
sundheit  sogar  schädlich  werden,  ob  übel  angebrachtes  Mitleid 
gegenüber  einer  großen  Gruppe  Minderwertiger  nicht  das  Gegenteil 
des  Erstrebten  bewirken  könnte.  Das  Betätigungsobjekt  des 
Individualtherapeuten  ist  das  abnorme  Individuum,  dasjenige  des 
Hygienikers  der  gesunde  Durchschnittsmensch,  dessen  Gesundheits¬ 
wert  sich  aus  der  Massenbeobachtung  ergibt.  Der  leitende  Grund¬ 
gedanke  des  hygienischen  Tuns  ist  in  der  Tat  in  vielen  Fällen  ein 
sozialer,  der  Schutz  der  Gesellschaft  gegen  die  wirtschaftlichen  und 
gesundheitlichen  Gefahren,  die  durch  das  Zusammenleben  mit  stärker 
gefährdeten  Einzelgruppen  für  die  Gesamtheit  entstehen.  LTnd 
darum  hat  ßubner  unbestreitbar  recht,  daß,  wenn  man  willkürlich 
diesen  Grundgedanken  in  den  Vordergrund  stellt,  man  beliebig  alle 
Zweige  der  Gesundheitslehre  für  die  Soziale  Hygiene  beanspruchen 
kann,  daß  aber  dieser  Gedanke  schon  längst  Eigentum  aller  führen- 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


11 


den  Hygieniker  war.  Man  könnte  die  geschichtlichen  Beispiele, 
die  Rubner  anführt,  leicht  vervielfältigen,  vor  allem  aus  Petten- 
kofer’s  Schriften  die  Auffassung,  daß  die  Gesundheit  ein  wirt¬ 
schaftliches  Gut  und  daher  die  Gesundheitswissenschaft  ein  Teil 
der  Nationalökonomie  ist,  in  zahlreichen  Variationen  entnehmen. 
Wie  Pettenkofer  in  seiner  Rede  im  Jahre  1887,  in  der  er  den 
eben  zitierten  Ausspruch  tat,  den  Geldwert  einer  Verminderung 
der  Sterblichkeit  zu  berechnen  versuchte,  so  hat  vor  ihm  schon 
1733  der  Abbe  de  St.  Pierre  den  ökonomischen  Vorteil  für  den 
Staat  bei  Verlängerung  des  Lebens  um  zehn  Jahre  auszurechnen 
versucht,  so  haben  noch  vor  Pettenkofer  Laplace,  Vi llerme 
und  Qu  et  eiet  auf  den  wirtschaftlichen  Nutzen  der  Pockenimpfung 
hingewiesen.  Die  umgekehrte  Fassung  des  wichtigen  Zusammen¬ 
hangs  zwischen  wirtschaftlichen  Zuständen  und  krankhaften  Vor¬ 
gängen  ist  ebenfalls  schon  lange  mit  Verständnis  gewürdigt  worden, 
ehe  es  eine  selbständige  Hygiene  gab.  Die  Entstehung  und  Steige¬ 
rung  von  Volksseuchen  durch  wirtschaftliche  Not  hat  namentlich 
dem  jungen  Virchow  Stoff  zu  ausführlichen  Erörterungen  ge¬ 
geben,  die  er  in  dem  Satze  zusammenfaßte:  „Sehen  wir  nicht 
überall  die  Volkskrankheiten  auf  Mangelhaftigkeiten  der  Gesell¬ 
schaft  zurückdeuten?“  Nur  der  an  glänzenden  experimentellen 
Entdeckungen  so  reichen,  aber  der  Synthese  so  abholden  bakterio¬ 
logischen  Schule  war  es  Vorbehalten,  diese  Lehre  von  Virchow 
zu  bestreiten.  Am  schärfsten  hat  dies  Koch  in  seiner  Rede  über 
die  Bekämpfung  der  Infektionskrankheiten  1888  getan,  indem  er 
gegenüber  der  Verschleppung  der  spezifischen  Keime  „die  Summe 
der  Faktoren,  die  man  gewöhnlich  mit  dem  Ausdruck  soziales 
Elend  zusammenfaßt,“  nur  als  höchstens  begünstigend  in  den  Hinter¬ 
grund  stellt  und  darauf  hinweist,  daß  trotz  Schmutz  und  Elend 
ein  großer  Teil  der  Menschen  dauernd  ron  Seuchen  verschont  werde. 
Der  Widerspruch  gegen  diese  „kontagionistische“  Lehre  von  Koch 
und  seiner  Schule  hat  freilich  dazu  geführt,  die  sozialen  Momente, 
die  bei  der  Entstehung  und  Verbreitung  der  Seuchen  disponierend 
mitwirken,  wieder  mehr  in  den  Vordergrund  zu  rücken ;  aber 
natürlich  kann  diese  berechtigte  Opposition  gegen  eine  einseitige 
Überschätzung  der  Bakterienwirkung  niemals  ein  ausreichender 
Grund  sein  für  die  Abspaltung  einer  eigenen  Spezialwissenschaft. 
Denn  ob  man  die  Bedeutung  des  sozialen  Faktors  bei  Entstehung 
und  Verbreitung  der  Seuchen  gering  oder  groß  bewertet,  so  ist  er 
doch  für  beide  Richtungen  Gegenstand  der  Erörterungen. 

Die  Triebfeder  für  die  Entstehung  der  Hygiene,  der  sie  ihre 


12 


Adolf  Gottstein. 


Lebenskraft  überhaupt  verdankt,  ist  also  allerdings  ein  sozialer 
Grundgedanke;  ja  sogar  schon  die  Vorgänger  der  selbständigen 
Wissenschaft  wurden  von  sozialem  Empfinden  geleitet,  und  wenn 
die  Bestrebungen  zur  Errichtung  einer  eigenen  sozialhygienischen 
Richtung  nur  dahin  gingen,  der  Mutterdisziplin  diese  Grundidee 
bestreiten  und  für  sich  beanspruchen  zu  wollen,  so  wären  deren 
Vertreter  zu  entschiedenstem  Widerspruch  berechtigt.  Die  Ziele 
der  Sozialen  Hygiene  sind  aber  ganz  andere.  Wenn  wir  be¬ 
müht  sind,  unter  diesem  Namen  bestimmte  Forschungsrichtungen 
abzutrennen  und  gesondert  zu  behandeln,  so  ist  hierbei  weder  ein 
Eingriff  in  das  Arbeitsgebiet  der  Mutterwissenschaft  noch  ein 
Überschreiten  der  Grenzen,  welche  die  Hygiene  von  der  verwandten 
Nationalökonomie  trennen,  beabsichtigt. 

Soll  einmal  unter  dem  Vorbehalt  der  Unzulänglichkeit  jeder 
Definition  hier  der  Versuch  einer  vorläufigen  Begriffsbestimmung 
der  Sozialen  Hygiene  gemacht  werden,  so  würde  diese  Definition 
ungefähr  in  folgender  Form  gefaßt  werden  können:  Die  Aufgabe 
der  Sozialen  Hygiene  ist  die  Untersuchung  der  Einwirkung  der 
Umwelt  auf  eine  bestimmte  Einheit  genau  so  wie  dies  die  Aufgabe 
der  Hygiene  ist.  Während  aber  die  letztere  ihren  Forschungen  als 
Einheit  das  durchschnittliche  Einzelindividuum  zugrunde  legt, 
ist  im  Gegensatz  hierzu  die  Einheit  der  Sozialen  Hygiene  eine  gleich- 
artige  Gruppe  von  Einzelindividuen,  deren  Abgrenzung  von 
anderen  Gruppen  weniger  durch  biologische,  als  durch  bestimmte 
in  ihrer  gesellschaftlichen  Lage  begründete  Einflüsse  bedingt  ist.1) 
Diese  Abspaltung  von  besonderen  Gruppen  hat  die  mannigfachsten 
Ursachen;  der  Gegensatz  von  Wohnort,  Beruf,  Lebensweise,  Her¬ 
kunft  führt  zu  so  vielfachen  wechselnden,  aber  doch  den  Lebens¬ 
lauf  der  Angehörigen  dieser  Gruppe  beeinflussenden  Komplikationen,, 
daß  deren  Erörterung  überreiches  Material  zu  Studien  für  eine 
eigene  Schule  gewährt.  Notwendigerweise  muß  aber  auch  der  Ein¬ 
fluß,  den  die  Gruppenbildung  nicht  bloß  auf  die  von  ihr  U  m  - 
schlossenen,  sondern  auch  auf  deren  Nachwuchs  ausübt. 
untersucht  werden  und  durch  diesen  Umstand  wird  der  Anschluß 
an  diejenige  Richtung  der  sog.  Rassenhygiene  erreicht,  welche 
A.  Plötz  in  der  Einleitung  zu  dem  ersten  Hefte  seines  Archivs 
für  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie  umgrenzt.  Nach  Plötz  ist 
Rasse  eine  Erhaltungs-  und  Entwicklungseinheit  des  dauernden 
Lebens,  ihr  Element  die  Summe  der  zu  einem  Fortpflanzungszyklus 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


13 


gehörenden  Einzelwesen.  Die  Gesellschaftshygiene,  die  er  als  die 
Lehre  von  den  Bedingungen  der  optimalen  Erhaltung  der  gesell¬ 
schaftlichen  Bildungen  definiert,  ist  demnach  identisch  mit  unserer 
Sozialen  Hygiene  und  die  Bezeichnung  von  Plötz  wäre  vielleicht 
zur  Verhütung  von  Mißverständnissen  vorzuziehen,  wenn  nicht  der 
andere  Name  schon  Verbreitung  gefunden  hätte.  Das  Arbeits¬ 
gebiet  der  Sozialen  Hygiene  ist  also  das  Studium  der  spezifischen 
Veränderungen,  welche  die  Gesundheit  bestimmter  Gesellschafts¬ 
gruppen  durch  die  Einwirkung  der  ihre  Sonderstellung  bedingenden 
Faktoren  erfahrt,  und  weiter  das  Studium  der  Kückwirkungen 
dieser  spezifischen  Veränderungen  auf  den  Nachwuchs  der  betei¬ 
ligten  Gruppen  und  auf  die  Gesamtheit  der  Gesellschaft.  Nun  wird 
man  wieder  Rubner  zustimmen  müssen,  daß  eine  Reihe  der  wich¬ 
tigsten  Fragen  der  Gesundheitslehre  trotz  der  Spaltung  der  Ge¬ 
sellschaft  in  Gruppen  eben  für  alle  Einzelindividuen  gleich  bedeu¬ 
tungsvoll  sind,  so  die  Fragen  nach  den  Mindestanforderungen  an 
Ernährung,  Wohnräume,  Beheizung  und  Ähnliches.  Aber  diesen 
Ein  wand  hat  A.  Grotjahn,  schon  ehe  ihn  Rubner  aussprach, 
berücksichtigt;  er  hat  die  zwei  möglichen  Formen,  hygienische 
Fragen  zu  behandeln,  im  Vorwort  zum  dritten  Band  des  Jahres¬ 
berichts  über  Soziale  Hygiene  und  Demographie1)  auseinander¬ 
gesetzt.  Grotjahn  betrachtet  als  die  Aufgaben  der  Sozialen 
Hygiene  die  Ergänzung  der  physikalischen  Hygiene; 
während  die  letztere  z.  B.  in  der  Sonderfrage  der  Wohnungs¬ 
hygiene  die  Soll -Wohnungsart  experimentell  normiert,  stellt  die 
Soziale  Hygiene  im  Gegensatz  hierzu  durch  Beschreibung  der 
Wohnungen,  wie  sie  in  Wirklichkeit  sind,  in  ihrer  unendlichen 
Verschiedenheit  nach  Stadt  und  Land,  Größe  und  Belegungsziffer, 
und  in  ihren  Beziehungen  zu  den  Gesundheits Verhältnissen  der  Be¬ 
wohner  die  Ist- Wohnungsart  zusammen.  Die  daraus  zu  ziehende 
Bilanz  liefert  dann  einen  Maßstab  für  die  Notwendigkeit  und 
Dringlichkeit  der  Maßnahmen,  die  getroffen  werden  müßten,  um 
das  Ist  dem  Soll  tunlichst  anzunähern. 

Grotjahn  schließt  seine  ausführlichen  und  bemerkenswerten 
Erörterungen  mit  der  folgenden  Begriffsbestimmung,  deren  An¬ 
führung  an  dieser  Stelle  die  Heranziehung  seines  Aufsatzes  zur 
Ergänzung  meiner  Ausführungen  anregen  soll: 

1.  Die  Soziale  Hygiene  als  deskriptive  Wissenschaft  ist  die 
Lehre  von  den  Bedingungen,  denen  die  Verallgemeine- 


v)  Jena  190t,  Fischer. 


14 


Adolf  Gottstein. 


rung  hygienischer  Kultur  unter  der  Gesamtheit  von  örtlich, 
zeitlich  und  gesellschaftlich  zusammengehörigen  Individuen 
und  deren  Nachkommen  unterliegt. 

2.  Die  Soziale  Hygiene  als  normative  Wissenschaft  ist  die 
Lehre  von  den  Maßnahmen,  die  die  Verallgemeinerung 
hygienischer  Kultur  unter  der  Gesamtheit  von  örtlich,  zeit¬ 
lich  und  gesellschaftlich  zusammengehörigen  Individuen  und 
deren  Nachkommen  bezwecken. 

Den  praktischen  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Zweiteilung 
hat  Grotjahn  selbst  geführt  durch  seine  sozialhygienische  Arbeit 
über  „Wandelungen  in  der  Volksernährung“,1)  die  ähnlichen  Unter¬ 
suchungen  als  Vorbild  dienen  kann.  Nur  als  Beispiel  für  die 
Mannigfaltigkeit  der  Fragestellung  und  für  die  Sonderfärbung  des 
Arbeitsgebietes  der  Sozialen  Hygiene  seien  die  Titel  einiger  zu  ihr 
gehöriger  Arbeiten  lediglich  aus  dem  Jahre  1905  angeführt: 

0.  Spann,  Untersuchungen  über  die  uneheliche  Bevölkerung  in 

•  • 

Frankfurt  a.  M.;  Dohrn,  Uber  den  Einfluß  großer  Streiks  auf  die 
gesundheitlichen  Verhältnisse  und  die  Bevölkerungsbewegung; 
L.  Lewin,  Die  Hilfe  für  Giftarbeiter;  Vogl,  Die  wehrpflichtige 
Jugend  Bayerns;  M.  Kirchner,  Die  Tuberkulose  und  die  Schule; 
Laqueur,  Der  Haushalt  des  amerikanischen  und  des  deutschen 
Arbeiters.2)  Das  wesentliche  Moment  in  allen  diesen  Arbeiten  ist 
die  Feststellung  der  besonderen  gesundheitlichen  Erscheinungen, 
welche  bei  irgend  einer  Gruppe  im  Gegensatz  zur  Gesamtbevölke¬ 
rung  zur  Beobachtung  gelangen  und  die  Erörterung  des  ursäch¬ 
lichen  Zusammenhanges  dieser  Erscheinungen  mit  den  gesellschaft¬ 
lichen  Gründen  für  die  Entstehung  dieser  Gruppenbildung.  Die 
Untersuchungsmethodik  hält  sich  aber  durchaus  innerhalb  der  festen 
Grundlagen  der  Heilkunde  und  deren  größten  Zweiges,  der  Hygiene 
und,  entsprechend  dem  bewährten,  schon  von  Johannes  Müller 
für  die  wissenschaftliche  Medizin  aufgestellten  Grundsätze,  daß  das 
Wesentliche  das  Problem  ist,  für  dessen  Lösung  dann  jede  natur¬ 
wissenschaftliche  Methodik  recht  sei,  behauptet  die  Soziale  Hygiene 
durchaus  nicht  den  Besitz  eigener  Methoden,  sondern  hält  sich  für 
berechtigt,  gegebenenfalls  alle  vorhandenen  Untersuchungsmittel 
heranzuziehen;  doch  liegen  ihr  einige  derselben,  auf  welche  aus¬ 
führlicher  eingegangen  werden  muß,  besonders  nahe. 

9  Staats-  und  sozialwissenschaftliche  Forschungen  von  Schm  oller,  XX. 
2,  1902. 

2)  U.  a.  m.  cf.  F.  Kriegei ’s  Bibliographie  in  den  Jahresberichten  über 
Soziale  Hygiene  und  Demographie. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


15 


Die  Fürsprecher  einer  eigenen  Sonderdisziplin  innerhalb  der 
Gesamthygiene  machen  also  von  den  drei  Gründen,  die  zu  einer 
Abspaltung  berechtigen,  nur  den  letzten  für  sich  geltend,  das  all¬ 
mählich  durch  die  gesellschaftliche  Entwicklung  hervorgerufene 
außerordentlich  große  Anwachsen  des  Arbeitsgebiets,  das  aus  prak¬ 
tischen  Gründen  eine  Arbeitsteilung  notwendig  macht.  Sie  ver¬ 
treten  die  Überzeugung,  daß  dieses  von  ihnen  beanspruchte  Arbeits¬ 
gebiet  ein  genügend  umfangreiches  ist  und  durch  täglich  erstehende 
gesellschaftliche  Neubildungen  eine  so  große  Vermehrung  erfährt, 
um  Gegenstand  der  Lebensarbeit  einer  ganzen  Schule  werden  zu 
können.  Sie  werden  in  ihrem  Vorhaben  gestützt  durch  den  Wieder¬ 
hall  der  breiten  Schicht  der  deutschen  Ärzte,  welche  in  den  letzten 
Jahren  ihre  Fähigkeit  bewiesen  haben,  aus  sich  selbst  heraus  Ein¬ 
richtungen  nicht  bloß  zur  Verbesserung  ihrer  eigenen  Lage,  son¬ 
dern  auch  gleichzeitig  zur  Verbesserung  der  Lage  der  gesundheit¬ 
lich  bedrohten  Bevölkerungsklassen,  die  sich  ihrem  Rate  anver¬ 
trauen,  zu  schaffen.  Es  wäre  verlockend,  in  kurzer  geschichtlicher 
Schilderung  den  ersten  Anzeichen  dieser  ärztlichen  Bewegung  nach¬ 
zugehen.  Es  dürfte  dann  nicht  verschwiegen  werden,  daß  wir  um 
die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  viel  weiter  waren  als  heute,  daß 
damals  unter  dem  Einfluß  der  politischen  Bewegung  die  Betonung 
der  sozialen  Seite  der  Medizin  und  der  öffentlichen  Gesundheits¬ 
pflege  viel  schärfer  hervortrat,  als  dies  gegenwärtig  der  Fall  ist. 
Was  in  der  Theorie  von  Pe tt enkofer  und  jetzt  von  Eubner 
klar  hervorgehoben  wird,  die  soziale  Grundlage  aller  hygienischen 
Maßnahmen,  geriet  in  der  Praxis,  als  die  experimentelle  Hygiene 
und  die  experimentelle  Mikrobiologie  ihren  Siegeszug  antraten, 
ganz  erheblich  in  den  Hintergrund.  Das  gediegene  Gold,  das  heute 
den  Ärzten  die  Stätten  der  wissenschaftlichen  Forschung  bieten, 
können  diese  ohne  ihre  Schuld  nicht  in  kleine  Münzen  einwechseln. 
Die  Vertreter  der  mikrobiologischen  Schule,  die  Nochfolger  Vir- 
chow’s  in  der  Deutung  der  Seuchenätiologie,  dieselbe  Schule,  für 
die  jüngst  E.  v.  Behring  den  Ausdruck  von  der  „überzeugungs¬ 
treuen  Spucknapfpropaganda“  geprägt  hat,3)  erklärten  wiederholt, 
gegen  soziales  Elend  seien  wir  ja  doch  machtlos;  durch  Vernich¬ 
tung  der  Kontagien  sei  aber  wenigstens  etwas  Wirksames  zu  er¬ 
reichen  und  sie  verlangten,  daß  die  Ärzte  sich,  mit  diesen  Waffen 
begnügen.  Da  griffen  diese,  von  der  Wissenschaft  im  Stich  ge- 


J)  Brauer’s  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuberkulose,  III,  2,  S.  113. 


16 


Adolf  Gottstein . 


lassen,  zur  Selbsthilfe.  Aus  ihren  Kreisen  wurden  die  zahlreichen 
praktischen  Maßnahmen  zur  Verbesserung-  der  Volksgesundheit 
ausgedacht  und  in  die  Wirklichkeit  umgesetzt,  die  Walderholungs¬ 
stätten  für  Kranke  und  Gesunde,  für  Erwachsene  und  Kinder,  die 
Waldschulen,  die  Milchküchen  für  Säuglinge,  der  Rettungsdienst 
in  Großstädten,  der  Arbeitsnachweis  für  Unfallinvalide  und  zahl¬ 
reiche  andere  Einrichtungen.  Aus  ärztlichen  Kreisen  wurde  zuerst 
die  Forderung  für  Anstellung  von  Schulärzten  gestellt  und  be¬ 
gründet,  die  Belehrung  des  Arbeiters  über  gesundheitliche  Vor¬ 
gänge  durch  öffentliche  Vorträge  ins  Leben  gerufen.  Von  den 
Ärzten  gingen  durch  praktische  Erfahrung  belegte  Vorschläge  zur 
Verbesserung  und  Erweiterung  der  Arbeiterversicherungsgesetze 
aus,  lediglich  mit  dem  Ziele  der  Hebung  der  Volksgesundheit.  Aus 
Ärztekreisen  wurde  schließlich  die  Forderung  nach  Fortbildung 
der  Kollegen  vornehmlich  in  der  sog.  Sozialen  Medizin,  dem  Gebiete 
der  Arbeiterversicherung,  gestellt  und  mit  der  Errichtung  der  er¬ 
forderlichen  Bildungsstätten  begonnen. 

Dieser  stürmische  Drang  der  gesamten  deutschen  Ärztewelt, 
sich  neue  Unterlagen  für  eine  erfolgreiche  Durchführung  der  ihr 
erwachsenden  neuen  Aufgaben  zu  schaffen,  Unterlagen,  die  sie  bei 
der  offiziellen  Wissenschaft  vergeblich  suchten,  begründet  schärfer 
als  exakte  Begriffsbestimmungen  die  Notwendigkeit,  diese  Be¬ 
wegung  wissenschaftlich  zu  organisieren.  Ein  guter  Anfang  ist 
gemacht;  der  „Jahresbericht  über  Soziale  Hygiene“  von  Grotjahn 
und  Kriegei  erscheint  schon  zum  fünften  Male;  eine  Wochen¬ 
schrift,  die  „Medizinische  Reform“  von  R.  Denn  hoff  wird  mit  Sach¬ 
kenntnis,  Geschick  nnd  Eifer  geleitet  und  bringt  eine  Fülle  von 
Material;  zwei  Publikationsorgane  für  größere  Arbeiten,  die  „Soziale 
Medizin“  von  Fürst  und  Jaffe  und  die  „Zeitschrift  für  Soziale 
Medizin“  von  Grotjahn  und  Kriegei,  stehen  für  wissenschaft¬ 
liche  Veröffentlichungen  zur  Verfügung;  verwandten  Ideen  dient 
das  „Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie  einschließlich 
Rassen-  und  Gesellschaftshygiene“  von  A.  Plötz,  das  auch  schon 
erfolgreich  im  dritten  Jahrgang  erscheint.  Und  die  im  vorigen 
Jahre  gegründete  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und 
Medizinalstatistik,  welche  ausschließlich  wissenschaftlich  wirken 
will,  ist  ebenso  wie  die  Sektion  „Versicherungsmedizin“  des  deut¬ 
schen  Vereins  für  Versicherungswissenschaft  eifrig  an  der  Arbeit 
und  erfreut  sich  reger  Teilnahme. 

Die  bisherige  Behandlung  des  Themas  hat  die  eine  wohl  nicht 
mehr  zu  bestreitende  Tatsache  ergeben,  daß  die  Anforderungen  der 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


17 


Zeit  eine  ausgedehnte  und  gründliche  Erörterung  von  Fragen  nahe 
legten,  die  von  der  offiziellen  Wissenschaft  weniger  berücksichtigt 
werden;  daß  eine  große  Zahl  eifriger  und  vorgebildeter  Arbeits¬ 
kräfte  sich  gefunden  hat,  welche  die  Fassung  und  Ergründung 
dieser  Fragen  zu  ihren  besonderen  Aufgaben  macht  und  daß  eine 
noch  größere  Zahl  von  Interessenten  vorhanden  ist,  welche  aus 
diesen  Arbeiten  Nutzen  zieht.  Die  Soziale  Hygiene  hat  zwar 
keine  andere  Grundlagen  als  die  Hygiene  selbst,  sie  bedient  sich 
auch  wie  die  Hygiene  jeder  zureichenden  naturwissenschaftlichen 
Methode,  welche  geeignet  scheint,  das  gewählte  Problem  der  Lösung- 
später  zu  führen,  aber  die  Natur  dieser  Probleme  bringt  es  mit 
sich,  daß  einige  Methoden  besonders  ausgiebig  herangezogen  werden, 
und  die  Zeitlage  bedingt  es,  daß  der  Sozialen  Hygiene  die  Lösung- 
einiger  Aufgaben  besonders  angelegen  ist.  Der  folgende  Abschnitt 
soll  die  Methoden,  auf  welche  die  wissenschaftlich  behandelte  Soziale 
Hygiene  vorzugsweise  angewiesen  ist,  ausführlicher  schildern.  Da 
auch  für  diese  Methoden  eine  besondere  Vertrautheit  mit  ihrem 
Inhalt  und  den  Grenzen  ihrer  Anwendung  unerläßlich  ist,  so  ver¬ 
vollständigen  die  folgenden  Darstellungen  den  Beweis  für  die  Be¬ 
rechtigung  unserer  Forderung  von  der  Selbständigkeit  der  Sozialen 
Hygiene, 


II. 

Die  Statistik  als  Methode  der  Sozialen  Hygiene. 

Im  Schlußsätze  seiner  Rede  begrüßt  es  Rubner  mit  Freude, 
wenn  die  Hygiene  Hand  in  Hand  mit  ihrer  langbewährten  Freundin, 
der  Statistik,  ihre  Fühlung  mit  den  Sozialwissenschaften  recht 
innig  gestaltet.  Die  Einleitung  zu  seinem  Lehrbuch  ebenso  wie 
viele  seiner  Arbeiten  beweisen,  daß  er  selbst  die  zahlenmäßigen 
Angaben  der  Statistik  als  Probe  für  den  Erfolg  hygienischer  Ma߬ 
nahmen  heranzuziehen  pflegt.  Der  Nutzen  der  Statistik  kann  aber 
ergiebiger  gefaßt  werden;  als  Methode  kann  sie  wie  das  Experi¬ 
ment  durch  richtige  Versuchsanordnung  und  scharfe  Fragestellung- 
direkt  zur  Beantwortung  von  Problemen  herangezogen  werden. 
Freilich  heißt  es  nicht  Statistik  treiben,  wenn  man,  wie  vielfach 
geschieht,  aus  zweistelligen  Zahlen  Prozentberechnungen  anstellt; 
noch  weniger  lohnt  es  sich,  ernsthaft  auf  das  Schlag  wort  von  dem 
„mensonge  en  chiffre“  einzugehen,  das  gern'  dann  geltend  gemacht 
wird,  wenn  die  Zahlen  gegen  den  Autor  sprechen  und  er  zu  ihrer 

Zeitschrift  fiir  Soziale  Medizin.  II.  ^ 


18 


Adolf  Gottstein, 

Widerlegung  das  ganze  Gewicht  seiner  subjektiven  Erfahrung* 
geltend  macht. 

Die  wissenschaftliche  Statistik  zerfallt  in  drei  voneinander  im 
Ziel  und  auch  in  der  Technik  durchaus  zu  trennende  Abschnitte* 
die  amtliche  Statistik,  von  der  uns  für  unsere  Zwecke  die 
Medizinalstatistik  interessiert ,  die  Bevölkerungs¬ 
statistik,  für  deren  die  Ärzte  interessierenden  Teil  F.  Prin- 
zing  die  Bezeichnung  der  „medizinischen  Statistik“  ange¬ 
geben  hat,  und  die  „angewandte  Statistik“  oder  „statisti¬ 
sche  Arithmetik“. 


Die  amtliche  Statistik. 

Die  amtliche  Statistik  hat  die  Aufgabe,  das  den  Staat  und 
die  Wissenschaft  interessierende  Zahlenmaterial  in  möglichst  zu¬ 
verlässiger  Weise  zu  beschaffen  und  zu  sammeln,  auf  seine  Richtig¬ 
keit  zu  prüfen  und  in  übersichtlicher  und  für  eine  weitere  Behand¬ 
lung  vorbereiteter  Form  zu  veröffentlichen.  Eine  eingehende  Ge¬ 
schichte  der  amtlichen  Statistik  findet  sich  in  dem  Werke 
„Geschichte,  Theorie  und  Technik  der  Statistik“  von  August 
Meitzen. *)  Über  die  Geschichte  der  preußischen  Medizinal¬ 
statistik  hat  Guttstadt  einen  kurzen  Vortrag  in  der  Gesellschaft 
für  Soziale  Medizin  am  25.  Mai  1905  gehalten.  Unter  Hinweis  auf 
diese  Quellen  seien  hier  nur  die  Hauptpunkte  der  Geschichte  der 
„Medizinalstatistik“  wiedergegeben. 

Andeutungen  einer  amtlichen  Aufzeichnung  der  Zahl  der 
Lebenden  und  der  Todesfälle  finden  sich  gelegentlich  schon  im 
Altertum  und  im  früheren  Mittelalter.  Der  Beginn  einer  systema¬ 
tischen  Aufzeichnung  der  Geburten,  Sterblichkeitszahlen  und  Todes¬ 
ursachen  fällt  in  das  16.  Jahrhundert,  und  zwar  war  es  das  Be¬ 
streben,  über  die  Ausdehnung  der  tödlichen  Verheerungen  der  Pest 
nähere  Kenntnis  zu  erlangen,  welches  in  Frankreich  und  England 
die  Regierungen,  in  Deutschland  die  städtischen  Verwaltungen  ver- 
anlaßte,  Aufzeichnungen  anzubefehlen.  Die  Ausführung  dieser  Be¬ 
fehle  wurde  den  Pfarrern  übertragen  und  Konzile  schärften  ihren 
Untergebenen  die  erforderliche  Sorgfalt  ein.  Die  genaueren  An¬ 
gaben  über  diese  Edikte  finden  sich  bei  Meitzen,  und  soweit 
dort  nicht  erwähnt,  in  meinem  Vortrag  „Beiträge  zur  Geschichte 


9  Berlin  1886,  Hertz. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


19 


der  Kindersterblichkeit“. l)  Die  meisten  dieser  Kirchenbücher 
gingen  in  den  Kriegswirren  der  nächsten  Jahrhunderte  verloren; 
von  den  übrig  gebliebenen  Aufzeichnungen  sind  am  wertvollsten 
die  für  Breslau,  welche  Grätzer  in  seiner  Schrift  „Edmund 
Halley  und  Caspar  Neumann“2)  wiedergegeben  hat  und  die¬ 
jenigen  für  Frankfurt  a.  M„  die  sich  in  dem  Werke  von  Bleicher 
„Statistische  Beschreibung  der  Stadt  Frankfurt  a.  M.“  3)  finden. 
Von  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  in  dem  1749  der  Göttinger 
Staatsrechtslehrer  Achen  wall  das  Wort  Statistik  zum  ersten  Male 
anwendete  und  Büsching  1767  die  erste  periodische  statistische 
Schrift  herausgab,  datiert  das  lebhaftere  Interesse  des  Staates  an 
amtlichen  Aufzeichnungen.  Den  ersten  Auftrag  zur  staatlichen 
Aufnahme  erhielt  1790  Lavoisier  von  der  französischen  Republik; 
die  von  ihm  geschaffenen  Einrichtungen  überdauerten  die  Republik 
nicht,  wurden  aber  später  vom  Kaiserreich  wieder  aufgenommen. 
Das  Preußische  statistische  Bureau  wurde  von  Stein  auf  An¬ 
regung  von  Krug  1805  geschaffen  und  nach  dem  Tilsiter  Frieden 
1808  in  seinem  Bestand  gesichert.  Es  erläßt  seit  1845  periodische 
Veröffentlichungen.  Andere  deutsche,  außerdeutsche  und  europäische 
Staaten  verfolgten  von  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  das  gleiche 
Ziel.  Da  die  verschiedenen  Arten  der  Erhebung  in  den  einzelnen 
Ländern  die  Benutzung  der  Zahlen  für  den  internationalen  Ver¬ 
kehr  und  die  Wissenschaft  erschwerten,  so  regte  der  belgische 
Statistiker  Qu  et  eiet  die  Abhaltung  ständiger  internationaler 
Kongresse  an,  die  sich  nicht  mit  der  Theorie,  sondern  nur  mit  den 
Forderungen  möglichst  gleichmäßiger  Erhebungen  beschäftigen 
sollten.  Der  erste  Kongreß  fand  1853  in  Brüssel  statt;  die  pe¬ 
riodische  Wiederkehr  ist  gesichert  und  seit  1872  ist  eine  Permanenz¬ 
kommission  eingesetzt.  Die  Grundlage  der  Erhebungen  bilden  die 
nach  feststehenden  Grundsätzen  in  allen  Ländern  eingeführten 
Volks-  und  Berufszählungen,  deren  Geschichte  Meitzen  ausführ¬ 
lich  angibt.  In  Deutschland  erhielt  1877  das  Reichsgesundheitsamt 
den  Auftrag,  periodische  Zusammenstellungen  über  den  Bevölkerungs¬ 
stand,  die  Morbiditäts-  und  Mortalitätsstatistik  zu  veröffentlichen. 
Da  die  zugrunde  gelegten  Schemata  im  Reich  und  in  den  einzelnen 
Ländern  verschieden  waren,  so  wurde  nach  längeren  Beratungen 
in  Deutschland  1904  ein  einheitliches  Todesursachensystem  zu- 


0  Medizin.  Reform  1906. 

2)  Breslau  1883,  Schottländer. 

3)  Frankfurt  1895.  I.D.  Sauerländer. 


20 


Adolf  Gott  st  ein. 


gründe  gelegt,  das  den  Ärzten  zur  Berücksichtigung  empfohlen,  in 
Preußen  schon  angenommen  ist  und  in  den  Bundesstaaten  eingeführt 
werden  soll.  Dem  Beispiele  des  Staates  sind  städtische  Behörden 
gefolgt,  indem  sie  eigene  statistische  Ämter  errichteten  und  deren 
Leitung  hervorragenden  Fachmännern  übertrugen.  Die  städtischen 
statistischen  Jahrbücher  sind  oft  hervorragende  Quellenwerke.  In 
Deutschland  haben  sich  die  meisten  Städte  außerdem  noch  vereinigt 
und  geben  gemeinsam  unter  der  Leitung  von  Neefe  ein  statisti¬ 
sches  Jahrbuch  deutscher  Städte  heraus,  von  dem  jetzt  schon  der 
13.  Jahrgang  vorliegt.  Die  Grundbedingung  für  die  Zuverlässigkeit 
der  Todesursachenstatistik  ist  eine  richtige  Aufzeichnung  des 
Einzelfalles  an  der  ersten  Stelle,  und  diese  Voraussetzung  ist  nur 
erfüllt  bei  dem  Bestehen  einer  sachverständigen  Leichenschau. 
An  einer  solchen  mangelt  es  in  Preußen  mit  Ausnahme  einer  An¬ 
zahl  von  Städten  und  vereinzelten  Kreisen.  In  anderen  deutschen 
und  außerdeutschen  Ländern  ist  es  damit  besser  bestellt.  Eine 
eingehende  Darstellung  der  Zustände  in  den  einzelnen  Ländern 
findet  sich  in  der  Arbeit  von  F.  Prinzing:  Die  Zuverlässigkeit 
der  Todesursachenstatistik  Württembergs  im  Vergleich  mit  der 
anderer  Staaten.1)  Eine  amtliche  Morbiditätsstatistik  ist  erst  eine 
Hoffnung  der  Zukunft.  Nur  die  Erkrankungen  an  bestimmten 
Seuchen  in  allen  Ländern  finden  in  den  Veröffentlichungen  des 
Reichsgesundheitsamts  ihre  Aufzeichnung,  weil  deren  Anmeldung 
im  Inland  durch  gesetzliche  Bestimmungen,  die  Meldung  von  Land 
zu  Land  durch  internationale  Konferenzen  geregelt  ist.  Außerdem 
verzeichnet  die  amtliche  Statistik  die  Zahl  der  LTifälle,  Gebrechen 
und  Geistesstörungen,  sowie  die  Zahl  und  Beschaffenheit  der  zu 
ihrer  Versorgung  geschaffenen  Anstalten. 

Die  amtlichen  Erhebungen  geschehen  nach  sorgfältiger  Vor¬ 
bereitung  durch  staatliche  Maßnahmen;  die  Verarbeitung  ist  Auf¬ 
gabe  der  staatlichen  Ämter;  wie  genau  hierbei  die  Prüfung  der 
Zuverlässigkeit  der  Angaben  stattfindet,  dafür  liefert  der  Vortrag 
von  Guttstadt  zahlreiche  Beispiele,  Die  Veröffentlichung  ge¬ 
schieht  in  amtlichen  Quellenwerken,  die  periodisch  in  größeren  und 
geringeren  Abständen  erscheinen,  das  gesammelte  Material  in 
tabellarischen  und  graphischen  Darstellungen  nach  eigener,  durch 
Erfahrung  bewährter  Technik  zur  Anschauung  bringen  und  oft 
genug  schon  zu  Schlußfolgerungen  über  die  Entwicklung  bestimmter 
Vorgänge  monographisch  bearbeiten.  Im  allgemeinen  aber  be- 


b  Württ.  Jahrbuch  für  ltOO.  Not.  1901. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele, 


21 


schränken  sich  die  amtlichen  Quellenwerke  darauf,  das  Material 
wohl  vorbereitet  zur  weiteren  Ausgestaltung  anderen  Statistikern 
zur  Verfügung  zu  stellen. 


Die  medizinische  Statistik. 

Auf  die  Quellen  der  amtlichen  Statistik  als  die  Grundlage 
ihrer  Arbeiten  ist  die  medizinische  Statistik  angewiesen. 
Sie  ist  ein  Teil  der  Bevölkerungsstatistik,  aber  sie  hat  die  weitere 
Aufgabe,  nicht  nur  wie  diese  die  normalen  Vorgänge  der  Be¬ 
völkerungsbewegung,  sondern  nach  der  Definition  von  Prinzing,1) 
ihrem  bedeutendsten  Vertreter  in  der  Gegenwart,  die  zahlenmäßige 
Untersuchung  der  pathologischen  Erscheinungen  der  menschlichen 
Gesellschaft  als  selbständige  empirische  Disziplin  vorzunehmen. 
Im  allgemeinen  reichen  hierzu  die  einfachsten  Rechenmethoden  aus, 
doch  ist  eine  Kenntnis  der  theoretischen  mathematischen  Grund¬ 
lagen,  des  schon  vorhandenen  Tatsachenmaterials  und  der  seit  lange 
eingeführten  bewährten  Methoden  für  den  selbständigen  Forscher 
auf  diesem  Gebiete  erforderlich.  Vor  allem  bedarf  es  genauer 
Kenntnis  der  zahlreichen  Fehlerquellen,  in  deren  Fallstricke  sich 
immer  wieder  Ungeübte  verwickeln,  wenn  sie  aus  den  absoluten 
Zahlen  der  Quellenwerke  Prozentberechnungen  in  beliebiger  Ein¬ 
heitsreduktion  anstellen  und  damit  allen  Anforderungen  Genüge 
getan  zu  haben  glauben.  Größere  Darstellungen  der  Theorie  und 
Praxis  der  medizinischen  Bevölkerungsstatistik  finden  sich  in  dem 
älteren  Werke  von  Österlen,  Medizinalstatistik,  Tübingen  1866  — 
und  den  neueren  Werken  Weste rgaard,  Die  Lehre  von  der 
Morbidität  und  Mortalität,  Jena,  II.  Aufl.,  1901  und  Georg  von 
Mayr,  Statistik  und  Gesellschaftslehre,  II.  Bd.,  Freiburg  1897. 
Kürzere  Darstellungen  bietet  der  4.  Teil  des  „Grundriß  zum  Stu¬ 
dium  der  politischen  Ökonomie“  von  Conrad2)  und  das  volkstüm¬ 
liche  AVerk  von  G.  v.  Mayr  „Die  Gesetzmäßigkeit  im  Gesellschafts¬ 
leben“.3)  Die  mathematischen  theoretischen  Grundlagen  der  Be¬ 
völkerungsstatistik  finden  sich  ausführlich  behandelt  in  der  ersten 
Auflage  des  Werkes  von  Westergaard  (Jena  1887)  und  in  den 
„Abhandlungen  zur  Theorie  der  Bevölkerungs-  und  Moralstatistik“ 


1)  Die  heutige  Bedeutung  der  medizinischen  Statistik.  Württemb.  Korre- 
spondenzbl.,  Jahrg.  75. 

2)  Jena,  Fischer,  1900. 

:{)  München,  Oldenburg,  1877. 


22 


Adolf  Gottstein. 


von  Lexis.1)  Ein  ausführliches  neueres  Handbuch  der  medizini¬ 
schen  Statistik,  einschließlich  der  pathologischen  Vorgänge  von 
Pr  in  z  in  g  verfaßt,  hat  soeben  die  Presse  verlassen.2)  Eine  genaue 
kritische  Darstellung  der  Geschichte  der  Bevölkerungsstatistik 
bringt  W  e  s  t  e  r  g  a  a  r  d  in  der  zweiten  Auflage  seines  Werkes ;  eine 
ganz  kurze  Übersicht  findet  sich  in  meinem  oben  zitierten  Vortrag 
zur  Geschichte  der  Kindersterblichkeit. 

Danach  kann  man  drei  Perioden  der  Bevölkerungsstatistik 
unterscheiden.  Die  erste  ist  die  der  rein  naiv  beschreibenden  Dar¬ 
stellung.  Sie  beginnt  mit  dem  Werke  des  Londoner  Kapitän 
Gr  au  11t,  der  einer  Anregung  seines  Freundes  Petty  folgend  die 
Totenzahl  der  Stadt  London  1667  zu  einem  kleinen  Werke  „Na¬ 
türliche  und  politische  Bemerkungen  über  die  Totenzahlen  der  Stadt 
London“  verarbeitete.  Von  seinen  Zahlenangaben  ist  für  uns  selbst 
zu  Vergleichen  nicht  mehr  viel  brauchbar;  höchstens  sind  sie  für 
nosologisch-historische  Betrachtungen  verwendbar.  Bewundernswert 
ist  aber  heute  noch  der  Scharfsinn  und  die  Unbefangenheit,  mit 
der  G  raunt  sein  Material  für  Schlußfolgerungen  über  Bevölke¬ 
rungsbewegungen  heranzog.  Fast  in  dieselbe  Zeit  fällt  die  Arbeit 
des  Astronomen  Halley,  der  durch  die  Vermittlung  von  Leib- 
nitz  sich  das  Zahlenmaterial  der  Stadt  Breslau  verschaffte  und 
auf  Grund  dieser  nach  Geburts-,  Todesjahr  und  Geschlecht  ge¬ 
trennten  Angaben  1693  die  erste  Sterbetafel  konstruierte.  Zu 
Anfang  des  18.  Jahrhunderts  sammelten  der  Breslauer  Arzt 
Kund  mann  und  der  Berliner  Arzt  Go  hl  das  Zahlenmaterial 
ihrer  Vaterstädte  und  verwandten  es  für  medizinalstatistische 
Studien.  Den  Höhepunkt  erreichte  dieser  Abschnitt  in  dem  Werke 
von  Johann  Peter  Süßmilch  „Betrachtungen  über  die  Gött¬ 
liche  Ordnung  in  den  Veränderungen  des  menschlichen  Geschlechtes 
aus  der  Geburt,  dem  Tode  und  der  Fortpflanzung  erwiesen“  (1.  Aufl., 
2  Bände,  1749.  Seither  zahlreiche  neue  Ausgaben  und  ein  dritter 
von  Bau  mann  herausgegebener  Ergänzungsband  mit  umfang¬ 
reichem  Zahlenmaterial).  Der  wissenschaftliche  Standpunkt  dieses 
bahnbrechenden,  für  lange  Zeit  vorbildlichen  Werkes  geht  aus  dem 


0  Jena,  Fischer,  1903. 

2)  Jena,  Fischer,  1906.  Anmerkung  bei  der  Korrektur.  Das  Prinz  in  g’sche 
Werk,  dessen  Erscheinen  einen  lange  ausgesprochenen  Wunsch  der  Bewunderer 
seiner  Arbeiten  erfüllt,  bringt  nicht  nur  das  vorhandene  Material  vom  Standpunkt 
des  Arztes  in  übersichtlicher  Form,  sondern  verarbeitet  es  zu  klaren,  vorsichtigen 
und  darum  um  so  eindrucksvolleren  Schlußfolgerungen.  Besondere  Berücksichtigung 
findet  die  Soziale  Hygiene. 


Hie  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


23 


Titel  hervor;  seine  eingehenden  Tabellen  und  Angaben  sind  noch 
heute  für  historische,  epidemiologische  und  statistische  Arbeiten 
von  Interesse.  Süßmilch  regte  in  den  folgenden  Jahrzehnten 
zahlreiche  Ärzte  zu  ähnlichen  Arbeiten  an. 

Die  zweite  Periode  stützt  sich  auf  die  seither  erfolgte  Aus¬ 
bildung  der  mathematischen  Unterlagen  der  Statistik,  deren  Aus¬ 
gangspunkt  die  durch  Euler,  Bernoulli,  Laplace  und 
Four nier  geschaffene  Wahrscheinlichkeitsrechnung  wurde.  Der 
Fortschritt  kam  zunächst  der  Lebensversicherung  zugute,  für  deren 
geschäftliche  Aufgaben  eine  theoretische  Grundlage  gegeben  war; 
dann  aber  auch  der  Durcharbeitung  der  Gesetze  der  natürlichen 
Bevölkerungsbewegung.  Das  Hauptwerk  dieses  Abschnittes  ist 
das  Buch  des  belgischen  Mathematikers  und  Berufsstatistikers 
Qu  et  eiet  „Sur  l’homme  et  le  developpement  de  ses  facult.es,  un 
essai  de  physique  sociale“,  Bruxelles  1835.  Quetelet  suchte  aus 
seinem  oft  nicht  ganz  zuverlässigen  und  genügend  umfangreichen 
Material  mittels  exakter  mathematischer  Methoden  die  gesetz¬ 
mäßigen  Erscheinungen  im  Leben  des  „homme  moyen“  festzustellen. 
Er  ging  in  der  Ableitung  von  Gesetzen  weiter,  als  uns  heute  zu¬ 
lässig  erscheint;  wenn  er  auch  in  seiner  Bearbeitung  der  Zahlen 
streng  methodisch  verfuhr,  so  konnte  er  sich  doch  in  seinen 
Schlußfolgerungen  von  den  damals  herrschenden  naturphilosophi¬ 
schen  Anschauungen  und  vor  allem  von  dem  Einfluß  der  Theorien 
von  Malthus  nicht  genügend  frei  machen,  um  immer  als  unbe¬ 
fangen  zu  gelten.  Viel  extremer  aber  waren  seine  Nachfolger,  wenn 
sie,  wie  der  Königsberger  Physiker  Moser,  an  die  Stelle  der 
naiven  göttlichen  Ordnung  von  Süßmilch  ebenso  aphoristisch  die 
mathematische  Formel  setzten,  nach  der  sich  die  Zahlen  der  Todes¬ 
fälle  jeden  Alters  richten  sollten. 

Die  dritte  noch  jetzt  wirkende  Richtung  der  medizinischen 
Statistik  verzichtet  auf  die  Auffindung  von  Formeln  und  Gesetzen, 
die  den  Tatsachen  Gewalt  antun;  entsprechend  den  Grundlagen 
naturwissenschaftlicher  Methodik  beschränkt  sie  sich  darauf,  ein 
möglichst  zuverlässiges  Material  herbeizuschaffen,  auf  seine  Brauch¬ 
barkeit  streng  zu  prüfen  und  die  sich  aus  ihm  ergebenden  Schlu߬ 
folgerungen  nur  beschreibend  abzuleiten.  Im  Gegensatz  zur  x4r- 
beitsrichtung  ihrer  Vorgänger,  die  hauptsächlich  das  Bleibende,  das 
Gesetzmäßige  anlockte,  richten  sich  ihre  Studien  auf  die  Ergründung 
der  Veränderungen,  welche  die  Zahlen  unter  dem  Einfluß 
der  sich  entwickelnden  biologischen  und  sozialen  Gestaltung  der 
Gesellschaft  erfahren.  Im  Laufe  des  großen  Zeitraums  rastloser 


24 


Adolf  Gottstein, 

Arbeiten  ist  eine  Fülle  von  Tatsachen  festgestellt,  deren  Kenntnis 
durch  Sonderstudien  erworben  werden  muß. 

Der  Gegenstand  der  medizinischen  Statistik  ist  die  Bevölke¬ 
rungsbewegung,  die  durch  natürliche  Veränderungen  und  durch 
Wanderungen  beeinflußt  wird.  Auch  die  letzteren  Veränderungen 
beanspruchen  die  Beachtung  des  medizinischen  Statistikers,  weil 
sie  die  Behandlung  und  Verarbeitung  des  Materials  ganz  wesent¬ 
lich  verändern  können  und  darum  bei  Vernachlässigung  zu  Fehl¬ 
schlüssen  Anlaß  geben.  Ihr  Einfluß  muß  daher  erst  durch  be¬ 
stimmte  Methoden  ausgeschaltet  werden,  ehe  das  Material  zu 
Schlußfolgerungen  für  medizinische  Zwecke  verwendbar  wird.  Die 
medizinische  Statistik  umfaßt  vorzugsweise  die  Lehre  von  den 
Geburten,  Sterbefällen,  Eheschließungen,  Krankheiten  und  die 
gegenseitige  Beeinflussung  dieser  Vorgänge.  In  der  Lehre  von 
den  Geburten  kommen  z.  B.  folgende  Fragen  in  Betracht:  die 
absolute  Geburtenzahl  in  räumlicher  Verteilung  und  in  zeitlichem 
Verlauf,  der  Einfluß  der  Jahreszeiten,  die  Geburtenhäufigkeit,  das 
Geschlechtsverhältnis  bei  ehelichen  und  unehelichen  Kindern,  die 
Totgeburten,  die  einfachen  und  Mehrlingsgeburten,  Ehelichkeit  und 
Unehelichkeit.  Bei  der  Behandlung  der  Sterblichkeit  sind 
die  Hauptfragen,  die  untereinander  mehrfach  kombiniert  werden 
können,  die  folgenden:  Absolute  Sterblichkeit  insgesamt  und  im 
Vergleich  zu  den  früheren  Zeitabschnitten,  Einfluß  der  Jahres¬ 
zeiten,  des  Geschlechtes,  Sterbe  Verhältnis  nach  den  Lebensaltern, 
Sterblichkeit  nach  Beruf,  Wohnort,  Vermögenslage,  Todesursachen. 
Das  Verhältnis  der  Geburtenzahl  zur  Sterblichkeit  in  der  Zeit- 
und  Ortseinheit  bildet  das  Maß  für  die  natürliche  Bevölkerungs¬ 
zunahme  bzw.  -abnahme.  —  Welche  Fülle  von  Arbeiten  die  weitere 
Spezialisierung  dieser  Hauptabschnitte  gezeitigt  hat  und  mit  der 
Änderung  der  jeweiligen  Verhältnisse  (Epidemien,  Kriege,  soziale 
Einflüsse,  neue  Heilmethoden)  ständig  anregt,  braucht  nicht  be¬ 
sonders  betont  zu  werden.  Einen  der  umfangreichsten  und  der 
größten  Zerlegung  fähigen  Abschnitte  bildet  die  Kindersterblich¬ 
keit,  bei  der  Ernährung,  soziale  Stellung,  Familienstand  (ehelich 
oder  unehelich),  geographische  Lage,  Lebensalter  und  Gesundheits¬ 
zustand  der  Eltern,  Stellung  in  der  Geburtenfolge  die  Hauptpunkte 
der  Differenzierung  sind. 

Bei  der  Untersuchung  dieser  Fragen  ist  die  Sachverständigkeit 
des  Arztes  gar  nicht  zu  entbehren,  namentlich  wenn  es  die  Er¬ 
örterung  von  pathologischen  Zuständen  gilt.  Et  numerandae  sunt 
observationes  —  et  perpendendae.  Ein  schlagendes  Beispiel  hierfür 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


25 


gibt  ein  Vorgang  aus  jüngster  Zeit.  Seit  fast  100  Jahren  ist  es 
ein  Rätsel  der  Bevölkerungsstatistik,  daß  das  Geschlechtsverhältnis 
der  Geburten  bei  Ehelichen  und  Unehelichen  ein  verschiedenes  ist. 
An  diesem  Rätsel  erprobten  zahlreiche  Statistiker  in  kühnen  Hypo¬ 
thesen  ihren  Scharfsinn.  Der  Jenenser  Gynäkologe  B.  S.  Schultze *) 
weist  nun,  gestützt  auf  klinische  Erfahrungen  und  auf  Zahlen¬ 
material  darauf  hin,  daß  es  sich  wahrscheinlich  gar  nicht  um  einen 
Lebens  vor  gang  handelt,  sondern  daß  der  ganze  Unterschied  in 
abweichenden  Bedingungen  des  Sterbens  liegen  muß.  Unter  den 
Totgeborenen  der  unehelichen  Mütter  sind  weniger  Knaben,  als 
unter  den  ehelich  Totgeborenen,  wTeil  bei  den  unehelichen  Geburten 
die  Zahl  der  vor  der  Geburt  Absterbenden,  der  Faultoten,,  größer 
ist  und  bei  diesen  die  größere  Gefährdung  der  Knaben  durch  den 
Geburtsakt  selbst  fortfällt.  Nach  Abrechnung  der  Totgeburten  aber 
besteht  kein  Unterschied  des  Geschlechtsverhältnisses  bei  unehe¬ 
lichen  und  ehelichen  Geburten  mehr. 

Die  Erörterung  der  Sterblichkeitsverhältnisse  hat  zur  Aus¬ 
bildung  einer  strengen  Methodik  in  der  Behandlung  der  Fragen 
geführt,  wobei  als  Vergleichspunkte  die  für  jede  Bevölkerungsmasse 
empirisch  zu  berechnende  mittlere  und  wahrscheinliche  Lebensdauer 
eine  Rolle  spielen.  Die  Grundlage  für  Vergleichsbetrachtungen 
und  für  praktische  Zwecke  des  Versicherungswesens  bildet  die 
Sterbetafel,  die  mühselig  durch  umständliche  Rechnungen  und 
Korrekturen  für  eine  bestimmte  Bevölkerungsmasse  die  Ab- 
sterbeordnung  nach  Lebensaltern  angibt;  die  zugrunde  gelegte 
Bevölkerungsmasse  kann  die  Zahl  der  Lebenden  eines  ganzen 
Landes,  nach  Geschlechtern  getrennt,  einer  Stadt  oder  eines  ein¬ 
zelnen  Staates  sein.  Die  erste  Absterbeordnung  berechnete  1693 
Halley.  Er  ging  von  der  Voraussetzung  der  Konstanz  der  Be¬ 
völkerung  ohne  Berücksichtigung  von  deren  regelmäßiger  Zunahme 
durch  den  Geburtenüberschuß  aus.  Halley  bezog  daher  einfach 
die  Zahl  der  in  einem  Jahre  vorgekommenen  Todesfälle  nach  ihrem 
Alter  auf  die  Geburtenzahl  des  gleichen  Jahres  und  konstruierte 
deren  Absterbeordnung  auf  Grund  der  Verteilung  der  beobachteten 
Todesfälle  ihres  Geburtsjahres  nach  Lebensjahren.  Jetzt  braucht 
man  zwei  Methoden  zur  Herstellung  von  Sterbetafeln.  Die  direkte 
oder  Hermann’sche  Methode  verfolgt  sämtliche  Individuen  eines 
bestimmten  Zeitraums  von  der  Geburt  bis  zum  Tode;  sie  ist  natür¬ 
lich  nur  anwendbar,  wenn  diese  Voraussetzung  ausführbar  ist,  also 


l)  Winckels  Handbuch  der  Geburtshilfe.  Wiesbaden  1905. 


26 


Adolf  Gottstein. 


in  abgeschlossenen  Bevölkerungen  ohne  nennenswerte  Wanderungen 
und  für  einen  bestimmten  Lebensabschnitt,  nämlich  vorzugsweise 
das  Kindesalter.  Wo  diese  Voraussetzung  nicht  zutrifft,  also  in 
der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle,  bedarf  es  der  indirekten 
Methode.  Diese  stellt  für  die  Geburten  eines  Zeitabschnittes  die 
Zahl  der  Todesfälle  im  ersten  Lebensjahre  fest;  auf  den  Rest  der 
Lebenden  wird  die  Zahl  der  relativen  Todesfälle  des  zweiten 
Lebensjahres  reduziert  usw. ;  hierbei  sind  verschiedene  Kontrollen 
nötig,  vor  allem  die  Herstellung  des  Gleichgewichts  von  Lebensjahr 
und  Kalenderjahr.  Durch  die  Sterbetafel  wird  nicht  nur  den 
Forderungen  der  Versicherung  genügt;  es  ergibt  sich  auch  aus  ihr 
der  natürliche  Altersaufbau  einer  Gesellschaft  im  Gegensatz  zu 
dem  künstlichen,  welchen  unsere  sozialen  Bedingungen  schaffen.  Aus 
der  Absterbeordnung  folgt  auch  die  Erkennung  einer  typischen 
Kurve  des  Absterbens,  welche  in  dem  ersten  Lebensjahre  den 
höchsten  Punkt  erreicht,  steil  bis  zum  frühen  Jünglingsalter  ab¬ 
sinkt,  dort  den  Tiefstand  erreicht  und  dann  langsam  aber  stetig 
bis  zu  den  höchsten  Lebensaltern  ansteigt.  Die  Sterblichkeitskurve 
der  beiden  Geschlechter  verläuft  verschieden,  die  der  einzelnen 
Krankheiten  deckt  sich  entweder  für  die  einzelnen  Lebensalter 
annähernd  mit  ihr  (Cholera  asiatica,  Pneumonie)  oder  sie  zeigt 
einen  mehr  oder  weniger  abweichenden  Verlauf  (z.  B.  Kinderseuchen, 
Krebs).  Der  Vergleich  der  Sterbetafeln  verschiedener  Zeitabschnitte 
und  Länder  berechtigt  zu  wichtigen  Folgerungen  über  Änderungen 
der  Sterblichkeit. 

Bei  ärztlichen  Untersuchungen  über  die  Sterblichkeit  zu  ver¬ 
schiedenen  Zeiten,  in  verschiedenen  Ländern  oder  an  verschiedenen 
Krankheiten  werden  häufig  genug  von  Ungeübten  zwei  fundamentale 
Fehler  gemacht,  die  man  sich  nur  einmal  klar  gemacht  zu  haben 
braucht,  um  sie  für  immer  zu  vermeiden.  So  beziehen  Viele,  um 
das  Vergleichsmaterial  gleichnamig  zu  machen,  die  Zahl  der  Todes¬ 
fälle  auf  die  Gesamtzahl  der  Bevölkerung.  Diese  Bevölkerungs¬ 
massen  aber  zeigen  in  verschiedenen  Orten  und  zu  verschiedenen 
Zeiten  infolge  der  Wanderungen  und  anderer  Ursachen  mehr  oder 
minder  große  LTngleichheit  durch  verschiedene  Besetzung  der  Alters¬ 
klassen.  In  den  Großstädten  z.  B.  sind  die  arbeitskräftigsten, 
jüngeren  und  gesünderen  Elemente  durch  Zuwanderung  viel  stärker 
vertreten,  als  dem  natürlichen  Aufbau  der  Bevölkerung  durch  Ge¬ 
burtennachwuchs  entsprechen  würde;  dagegen  ist  die  Zahl  der  dem 
Tode  gegenüber  viel  widerstandsloseren  Kinder  und  Greise  eine 
verhältnismäßig  geringere  als  in  der  Gesamtbevölkerung  oder  auf 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


27 


dem  Lande.  Noch  krasser  wird  der  Fehler,  wenn  man  die  Todes¬ 
fälle  an  den  Krankheiten  einer  Lebensstufe  oder  eines  Geschlechts 
(Kinderkrankheiten,  Puerperalfieber)  auf  die  Gesamtbevölkerung 
bezieht  und  dann  Vergleiche  anstellt.  Es  ist  daher  unumgänglich 
nötig,  die  Zahl  der  Gestorbenen  nach  Altersklassen  zu  teilen,  auf 
die  Lebenden  derselben  Altersklassen  und  desselben  Geschlechts 
zu  beziehen  und  dann  erst  zu  vergleichen.  Ein  zweiter  Fehler 
besteht  darin,  Schlußfolgerungen  daraus  zu  ziehen,  daß  man  den 
Anteil  einer  Todesursache  an  der  Gesamtzahl  aller  Todesfälle  ohne 
Rücksicht  auf  die  Zahl  der  Lebenden  in  den  einzelnen  Lebens¬ 
altern  untersucht.  Bei  gleichzeitiger  Berücksichtigung  dieser  An¬ 
gaben  kann  die  Untersuchung  des  Anteils  einer  Krankheit  an  der 
Gesamtsterblichkeit  immerhin  wertvoll  sein;  ohne  sie  aber  sind 
große  Irrtiimer  möglich.  Denn  die  einzelne  Todesursache  kann 
scheinbar  zugenommen  haben,  während  sie  konstant  blieb  oder 
sogar  abnahm,  nur  nicht  in  solchem  Grade  wie  die  Gesamttodes¬ 
ziffer;  und  umgekehrt,  eine  Todesursache  hat  scheinbar  abgenommen, 
weil  durch  das  Herrschen  einer  Epidemie  die  Gesamtsterblichkeit 
enorm  angestiegen  ist.  So  hat  noch  neulich  ein  Hygieniker  auf 
die  enorme  Höhe  der  Tuberkulosesterblichkeit  im  schulpflichtigen 
Alter  hingewiesen,  während  die  Sterblichkeit  an  Tuberkulose  hier 
die  geringste  von  allen  Altersklassen  ist;  sie  bat  nur  in  diesem 
Alter  nicht  annähernd  so  stark  abgenommen  wie  die  anderen  Todes¬ 
ursachen  und  spielt  daher  eine  relativ  größere  Rolle  als  die  anderen 
Todesursachen.  Es  ist  dies  vom  prophylaktischen  Standpunkt 
immerhin  wichtig  genug,  darf  aber  nicht  darüber  hinwegtäuschen, 
daß  wegen  der  Kleinheit  der  absoluten  Sterblichkeitsziffern  in 
diesem  Lebensalter  der  relative  Unterschied  perspektivisch  ver¬ 
größert  erscheint.  Am  besten  erleichtert  bei  Zweifeln  in  die 
Methodik  die  graphische  Darstellung  das  Verständnis.  Wenn  man 
sich  auf  einer  Tafel,  um  bei  dem  eben  erwähnten  Beispiele  zu 
bleiben,  drei  Kurven  einzeichnet,  die  absolute  Zahl  der  Lebenden 
nach  Altersklassen,  die  absolute  Zahl  der  Todesfälle  an  allen 
Krankheiten  und  die  absolute  Zahl  der  Todesfälle  an  Tuberkulose, 
so  ergibt  der  Abstand  der  Kurven  in  den  einzelnen  Lebensjahren 
einen  Anhalt  für  das  relative  Verhältnis  der  drei  Werte.  Ja  schon 
die  Einzeichnung  zweier  Kurven,  der  relativen  Sterblichkeit  an 
allen  Krankheiten  und  an  Tuberkulose  allein  nach  Altersklassen, 
schützt  vor  falschen  Folgerungen.  Ebenso  mag  man  bei  Vergleichen 
verschiedener  Zeiträume  verfahren,  wobei  die  horizontalen  Ab¬ 
schnitte  die  Kalenderjahre  bedeuten  und  die  einzelnen  Kurven  die 


28 


Adolf  Gottstein, 

Zahl  der  Lebenden,  die  Gesamtsterbliclikeit  und  die  Sterblichkeit 
an  einer  bestimmten  Krankheit  darstellen. 

Welche  feinen  Aufschlüsse  wir  bei  der  Behandlung  der  medi¬ 
zinischen  Statistik  als  einer  eigenen  naturwissenschaftlichen 
Forschungsmethode  erzielen  können,  das  beweisen  z.  B.  die  Unter¬ 
suchungen  von  Ralits  und  Würzburg  in  den  Arbeiten  des 
Reichsgesundheitsamts,  von  Geißler  in  den  amtlichen  sächsischen 
Veröffentlichungen  und  vor  allem  die  zahlreichen  Arbeiten  von 
F.  Prinz ing,  der  diesen  Zweig  der  Statistik  so  erfolgreich  zu 
einem  eigenen  Arbeitsgebiet  ausgestaltet  hat. 


Angewandte  Statistik. 

Die  statistische  Arithmetik  hat  scheinbar  nur  zufällig  mit  der 
Statistik  dadurch  etwas  zu  tun,  daß  sie  sich  auf  deren  Material 
beruft.  Ihre  Technik  wird  von  vielen  für  außerordentlich  einfach 
gehalten,  und  doch  beruhen  ihre  Voraussetzungen  unmittelbar  auf 
den  kompliziertesten  Problemen  der  Mathematik,  doch  ist  ihre 
Anwendung  mit  so  viel  Fehlerquellen  verknüpft,  wie  die  schwierigste 
experimentelle  Methode.  Den  Grundideen  nach  ist  sie  ebenfalls 
eine  experimentelle  Methode,  bei  der  die  Folgerichtigkeit  der 
Fragestellung  und  die  Fehlerlosigkeit  der  Versuchsanordnung  ebenso 
wie  bei  den  biologischen  Experimenten  den  Erfolg  entscheidet. 
Die  angewandte  Statistik  ist,  ohne  daß  dies  immer  ohne  weiteres 
ersichtlich  ist,  die  häufigste  Grundlage  aller  Schlußfolgerungen, 
welche  die  Klinik,  die  pathologische  Anatomie,  die  Laboratoriums¬ 
technik  aus  ihren  Versuchen  ziehen.  Es  heißt  angewandte  Statistik 
treiben,  wenn  der  Kliniker  aus  einigen  hundert  Beobachtungen  den 
Schluß  auf  die  Wirksamkeit  eines  Heilmittels  zieht,  wenn  der 
pathologische  Anatom  aus  dem  Leichenbefunde  die  Immunität  oder 
Disposition  bestimmter  Organe  für  eine  typische  Geschwulstform 
erweist,  wenn  der  Experimentator  aus  zahlreichen  Tierversuchen 
die  Empfänglichkeit  oder  Unempfänglichkeit  einer  Tierart  gegen 
einen  Mikroorganismus  ableitet.  Für  andere  Versuchsanordnungen 
mit  experimenteller  oder  auf  Beobachtung  gestützter  Fragestellung 
bildet  ferner  die  statistische  Arithmetik  die  Kontrolle;  wenn  z.  B. 
die  Wirksamkeit  von  Desinfektionsmaßregeln,  die  gegen  eine  be¬ 
stimmte  Seuche  getroffen  werden,  durch  experimentelle  Grundlagen 
sichergestellt  erscheint,  so  liefert  die  Untersuchung  des  Verhaltens 
jener  Krankheit,  der  Vergleich  der  Krankheitsziffern  vor  und  nach 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  29 

der  Einführung  der  Desinfektion,  die  Probe  auf  die  Richtigkeit 
der  Voraussetzungen.  Schließlich  bleibt  die  statistische  Arithmetik 
die  allein  mögliche  Methode  der  Feststellung  von  ursächlichen  Be¬ 
ziehungen,  wenn  das  Problem  der  direkten  experimentellen  Prüfung 
nicht  zugänglich  ist,  wenn  z.  B.  Versuche  ausgeschlossen  sind,  wie 
fast  stets  in  der  Pathogenese  des  Menschen  oder  wenn  das  Problem 
aus  Mangel  an  Methoden  oder  wegen  des  Umfangs  der  Zeiträume 
sich  der  direkten  Beobachtung  entzieht,  wie  z.  B.  die  Frage  der 
Bedeutung  von  Krankheitsanlagen ,  des  Zusammenhangs  zweier 
Krankheiten  wie  Syphilis  und  Aneurysma.  Die  Technik  der  sta¬ 
tistischen  Arithmetik  geht  dahin,  die  zu  untersuchende  Größe  B 
mit  der  bekannten  Größe  A  derart  in  einen  einfachen  Vergleich 
zu  bringen,  daß  B  in  jeder  Beziehung  dem  Faktor  A  gleichartig 
und  gleichnamig  ist.  Der  Ansatz  muß  so  aufgestellt  sein,  daß 
beide  Seiten  der  Gleichung  sich  nur  durch  den  zu  eruierenden 
Faktor  unterscheiden.  Dann  ergibt  sich  die  einfache  Formel: 
A  :  B  =  100 :  X.  Grundbedingung  aber  ist,  daß  sowohl  A  wie  B 
Ergebnisse  einer  Massenbeobachtung  sind,  für  deren  Behand¬ 
lung  die  Prinzipien  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  feststellende 
Methoden  angeben. 

Diese  erste  Forderung  beruht  auf  der  mathematischen  Theorie 
der  Statistik,  die  auf  den  Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
aufgebaut  ist  und  deren  elementare  Grundlage  sich  jeder  zu  eigen 
gemacht  haben  muß,  der  sich  bei  Anwendung  der  statistischen 
Arithmetik  vor  Trugschlüssen  bewahren  will.  Die  Wahrscheinlich¬ 
keit  eines  Ereignisses  wird  ausgedrückt  durch  einen  Bruch,  dessen 
Zähler  die  durch  Beobachtung  festgestellte  Zahl  der  wirklichen 
Fälle,  dessen  Nenner  die  Zahl  aller  möglichen  Fälle  ist.  Unsere 
Mortalitäts-  und  Letalitätsbestimmungen  sind  alle  Wahrscheinlich¬ 
keitswerte.  Die  Wahrscheinlichkeit  für  einen  Mann  im  dritten 
Lebensdezennium  an  Unterleibstyphus  zu  erkranken,  ist  die  Zahl 
der  innerhalb  einer  gegebenen  Bevölkerung  beobachteten  Erkran¬ 
kungen  dieses  Lebensalters  und  Geschlechts  dividiert  durch  die 
Zahl  aller  lebenden  Männer  des  dritten  Dezenniums.  Die  Wahr¬ 
scheinlichkeit,  aus  einer  Urne,  die  je  eine  schwarze  und  eine 
weiße  Kugel  enthält,  eine  weiße  Kugel  zu  ziehen,  ist  gleich  ’/V 
In  der  Wirklichkeit  verhält  es  sich  aber  durchaus  nicht  so,  daß, 
wenn  ich  viermal  nacheinander  in  die  Urne  greife,  ich  je  zweimal 
eine  weiße  und  zweimal  eine  schwarze  Kugel  finde.  Hier  spielt 
der  unberechenbare  Zufall  mit.  Nun  lehrt  das  von  Bernoulli 
aufgestellte  und  mit  großem  Scharfsinn  mathematisch  bewiesene 


30 


Adolf  Gottstein, 


Gesetz  der  großen  Zahlen,  daß,  wenn  dieser  Versuch  sehr 

* 

oft  hintereinander  angestellt  wird,  die  nach  der  einen  oder  anderen 
Seite  ausschlagenden  zufälligen  Einwirkungen  sich  gegenseitig 
kompensieren ;  bei  etwa  10  000  Ziehungen  nähert  sich  das  Ergebnis 
der  Beobachtung  dem  Wahrscheinlichkeitskalkul  derart,  daß  an¬ 
nähernd  in  je  5000  Fällen  eine  weiße  oder  eine  schwarze  Kugel 
gezogen  wird.  Und  zwar  sind  die  Abweichungen  vom  erwarteten 
Ergebnis  um  so  geringer,  je  größer  die  Zahl  der  Ziehungen  ist. 
Die  zur  Untersuchung  herangezogene  Masse  setzt  sich  nun 
aus  einer  großen  Zahl  von  Einzelbeobachtungen  zusammen,  deren 
jede  ihre  eigene  von  zufälligen  Einflüssen  bedingte  Abweichung 
vom  Mittelwert  bietet,  den  zufälligen  Fehler,  der  nach  oben  oder 
unten  mehr  oder  weniger  vom  Durchschnitt  abweicht  und  der  die 
Folge  einer  Fülle  von  Ursachen  ist,  die  bei  dem  statistischen  Ex¬ 
periment  ausgeschaltet  werden  sollen.  Die  Ausschaltung  dieser 
Fehlerquellen  ist  die  zweite  Aufgabe  des  Beobachters,  der  sein 
Material  gleichartig  zu  machen  hat.  Die  Größe  des  Fehlers 
ist  auf  die  Richtigkeit  des  Schlusses  bei  der  Zusammenfassung 
in  der  Massenbeobachtung  von  entscheidender  Bedeutung;  es  ist 
daher  erforderlich,  den  Umfang  der  Masse  des  Materials  so  groß 
zu  wählen,  daß  die  Exkursionen  der  zufälligen  Fehler  nach  oben 
oder  unten  vom  Durchschnitt  keinen  Einfluß  auf  die  Gleichartigkeit 
des  Materials  gewinnen  können.  Für  die  Berechnung  der  Be¬ 
ziehungen  zwischen  der  Höhe  des  „mittleren  Fehlers“  und  der  zu 
seiner  Ansschaltung  erforderlichen  Größe  des  Beobachtungsmaterials 
hat  die  höhere  Mathematik  eine  Reihe  von  Methoden  angegeben, 
die  bei  so  exakten  Forschungen,  wie  sie  die  Astronomie  oder  die 
Lebensversichernngsteclinik  beansprucht,  angewendet  werden  müssen. 
Für  unsere  Zwecke  genügt  oft  eine  elementare  Betrachtung  der 
einzelnen  Bestandteile  des  Massenobjekts,  aus  denen  man  ersieht, 
ob  die  zufälligen  Schwankungen  um  den  Gesamtdurchschnitt  nicht 
größer  sind  als  die  Abweichungen,  die  uns  erst  auf  einen  besonderen 
ursächlichen  Faktor  schließen  lassen.  Wenn  man  z.  B.  die  Wirkung 
eines  Heilmittels  gegen  eine  bestimmte  Krankheit  untersucht,  etwa 
der  kalten  Bäder  gegen  Unterleibstyphus,  und  feststellt,  daß  der 
Durchschnitt  der  Letalität  vor  jener  Behandlung  15  Proz.,  nach 
Einführung  der  Kaltwasserbehandlung  8  Proz.  betrug,  so  ist  der 
Schluß  auf  eine  Heilwirkung  der  Bäder  noch  nicht  zulässig  ohne 
Diskussion  des  Vergleichsmaterials.  Zeigt  sich  nämlich,  daß  dieses 
sich  aus  einzelnen  Epidemien  zusammensetzt,  bei  denen  die  Letalität 
zwischen  4  und  30  Proz.  schwankte,  so  sind  diese  Schwankungen 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


31 


zu  groß,  um  die  Ergebnisse  eines  kurzen  Zeitraums  der  Bäder¬ 
behandlung  für  Schlüsse  als  ausreichend  zu  betrachten.  Will  man 
dann  die  Brauchbarkeit  seines  Materials  rechnungsmäßig  prüfen, 
so  ist  die  ziemlich  elementare  Formel  von  Gavarret1)  sehr 
nützlich  zur  Bestimmung  der  Größe  des  zulässigen  mittleren  Fehlers 
in  ihrem  Verhältnis  zum  Umfang  des  Beobachtungsmaterials.  Wenn 
bei  dem  Vergleich  zweier  Ergebnisse  die  W ahrscheinlichkeitswerte 


M 

des  einen  Ereignisses  =  ,  die  des  anderen 

K 


m 


sind,  so  müssen 


nach  der  Formel  von  Gavarret  die  zulässigen  Fehler,  d.  h.  die 
zu  vernachlässigenden  Abweichungen  vom  Mittel  innerhalb  der 
Werte 

M 


R  ± 


-1/  8  M  (R— M)  ,  m 

(/ - jp - -  bzw-  r 


4" 


8  m  (r— nn 


liegen,  wenn  bei  der  gegebenen  Größe  des  Materials  von  einer 
ausreichenden  Zuverlässigkeit  der  Schlußfolgerung  die  Rede  sein 
soll.  Liegen  die  durch  Beobachtung  festgestellten  Abweichungen 
der  einzelnen  Gruppen  vom  arithmetischen  Mittel  innerhalb  der 
aus  der  Formel  berechneten  Grenzen,  so  darf  man  sich  beruhigen. 
Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  kann  man  durch  Einsetzen  der  be¬ 
obachteten  Werte  der  Fehlergrenzen  in  die  Formel  für  R  und  r 
die  Größe  des  Materials  berechnen,  die  erforderlich  ist,  um  Schlüsse 
zuzulassen.  Beispiele  für  die  Anwendung  und  Tabellen  zur  Er¬ 
leichterung  der  Rechnung  finden  sich  in  dem  Werke  von  Fick. 
Mit  dem  Hinweis  auf  diese  exakte  Methode  ist  zugleich  der  Ein¬ 
wand  widerlegt,  der  so  oft  von  statistischen  Laien  gegen  den  Wert 
des  Verfahrens  gemacht  wird,  daß  das  persönliche  Urteil  des  Unter¬ 
suchers  maßgebender  sei,  als  die  alle  feineren  Unterschiede  nivel¬ 
lierende  Massenbeobachtung.  Denn  gewiß  ist  das  Material  der 
Massenbeobachtung  in  seinen  einzelnen  Bestandteilen  von  sehr  un¬ 
gleicher  Zusammensetzung,  aber  wir  haben  Methoden,  um  festzu¬ 
stellen,  ob  diese  Ungleichheiten  wesentlich  sind  oder  sich  im  Raum 
der  großen  Zahlen  genügend  ausgleichen,  um  vernachlässigt  wrerden 
zu  dürfen. 

Ist  die  erste  Aufgabe  erfüllt,  daß  A  und  B  groß  genug  sind, 
um  nach  den  Anforderungen  des  Gesetzes  von  den  großen  Zahlen 
die  kleineren  Fehler  zu  kompensieren,  daß  also  das  Material 
gleichartig  ist,  so  entsteht  die  zweite  Forderung,  daß  die  ver- 


b  Vgl.  A.  Fick,  Die  medizinische  Physik,  Anhang  über  Wahrscheinlich¬ 
keitsrechnung.  Braunschweig,  Vieweg,  III.  Aufl.,  1885. 


32 


Adolf  Gottstein, 


giichenen  Größen  absolut  gleichnamig  gemacht  werden.  Um 
diese  Bedingung  zu  erfüllen,  bedarf  es  der  Kenntnis  des  Tatsachen¬ 
materials  der  medizinischen  Statistik.  Will  man  z.  B.  die  Sterblich¬ 
keit  an  einer  bestimmten  Krankheit  nach  Stadt  und  Land  oder  für 
verschiedene  Zeitabschnitte  bestimmen,  so  muß  eine  Berechnung 
auf  gleiche  Altersklassen  bei  deren  verschiedenem  Altersaufbau 
erfolgen;  die  gröberen  Differenzen  liegen  meist  klar  zutage;  es 
bedarf  aber  weiter  durch  genaues  Studium  der  Sonderbedingungen 
in  jedem  einzelnen  Falle  eines  möglichst  genauen  Ausgleichs  der 
Ungleichheiten,  bis  schließlich  nur  ein  einziger  Unterschied  übrig 
bleibt,  derjenige,  der  Anlaß  zur  Fragestellung  gegeben  hat.  Hier¬ 
bei  kann  man  nicht  skeptisch  und  kritisch  genug  Vorgehen,  um 
innere  Ungleichheiten  durch  Deduktionen  auszuschalten.  Bei  der 
Vielfältigkeit  der  erstehenden  Aufgaben  lassen  sich  bestimmte 
Kegeln  nicht  aufstellen.  Hier  ist  eingehende  Kenntnis  der  Lehren 
der  Bevölkerungsstatistik,  genaue  Durchforschung  des  Einzelfalles 
und  Anwendung  von  Scharfsinn  dringend  geboten,  um  alle  Un¬ 
gleichheiten  zu  durchdringen  und  auszuschalten,  die  der  Einzelfall 
bietet.  Und  wenn  schließlich  das  Ergebnis  dahin  geht,  daß  der 
Vergleich  das  Einwirken  einer  besonderen  Ursache  erschließen  läßt, 
so  soll  man  neunmal  prüfen,  ob  nicht  eine  übersehene  innere  Un¬ 
gleichheit  das  Resultat  ganz  oder  teilweise  herbeigeführt  hat,  bis 
man  endlich  beim  zehnten  Male  auf  eine  Bestätigung  der  gemachten 
Annahme  schließt.  Die  Fähigkeit,  die  statistische  Arithmetik  zu 
beherrschen,  läßt  sich  darum  nur  durch  Studium  und  Übung  er¬ 
werben,  sie  ist  nicht  angeboren.  Hat  man  endlich  einen  ganz 
einwandsfreien  Vergleichsansatz  gemacht,  so  ist  sowohl  die  Gleich¬ 
heit  wie  die  Ungleichheit  der  beiden  Seiten  beweisend.  Im  letzteren 
Falle  ist  die  Mitwirkung  der  besonderen  Ursachen  dargetan,  im 
ersteren  Falle  ihre  Einflußlosigkeit  auf  den  Ablauf  der  Erschei¬ 
nungen. 

Oft  ist  eine  gleichnamige  Reduktion  nicht  möglich,  weil  die 
erforderlichen  Vergleichszahlen  nicht  vorhanden  sind.  Es  gilt  z.  B. 
den  Einfluß  der  Wohlhabenheit  auf  die  Kindersterblichkeit  an  be¬ 
stimmten  Krankheiten  zu  erörtern ;  man  kennt  die  Zahl  der  Todes¬ 
fälle  und  die  Vermögenslage  der  Eltern;  aber  es  fehlt  die  Angabe 
über  die  Zahl  der  lebenden  Kinder  in  den  einzelnen  Schichten. 
Oder  man  will  beweisen,  daß  die  Gewohnheit,  von  je  ein  schlechter 
Esser  zu  sein,  ein  disponierendes  Moment  für  die  Entstehung  einer 
späteren  Tuberkulose  ist.  Laienstatistiker  halten  die  Beobachtung, 
daß  in  ihrem  Material  an  Tuberkulösen  die  Zahl  der  schlechten 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  33 

9 

Esser  eine  auffallend  große  ist,  für  ausreichend  genug,  um  aus  ihr 
allein  einen  Schluß  zu  ziehen.  Der  Statistiker  verlangt  den  Ver¬ 
gleich  mit  der  Zahl  der  schlechten  Esser  in  der  Gesamtbevölkerung, 
die  nicht  tuberkulös  geworden  sind,  und  das  Abwägen  beider 
Werte.  Da  der  Vergleichswert  aber  fehlt,  so  verzichtet  er  auf 
Schlußfolgerungen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  eine  zufällig  richtige 
Beobachtung  fallen  lassen  zu  müssen.  Für  solche  Fälle  hat  aber 
Körösy  darauf  hingewiesen,  daß  man  auf  Umwegen  zum  Ziele 
kommen  kann;  nicht  wegen  der  methodischen  Bedeutung  des  an 
sich  sehr  naheliegenden  Verfahrens,  sondern  wegen  der  Ermög¬ 
lichung  der  Lösung  schwierigerer  Probleme  hat  er  seinen  Kunst¬ 
griff  als  eine  eigene  Methode  der  „Intensitätsberechnung“  ein¬ 
geführt.1)  Nach  Körösy  vergleicht  man  die  Veränderungen  der 
zur  Beobachtung  stehenden  Massengröße  mit  den  Veränderungen, 
welche  eine  andere  Massengröße  erfährt,  die  mit  ihr  den  unbe¬ 
kannten  Faktor  gemein  hat,  sich  aber  von  ihr  durch  das  Fehlen 
des  zu  prüfenden  Faktors  unterscheidet.  Das  Maß  des  Zurück¬ 
bleibens  oder  der  Steigerung  gegenüber  dem  Vergleichsobjekt  be¬ 
zeichnet  K.  als  relative  Intensität;  es  dient  ihm  zur  Erörterung 
der  Bedeutung  des  geprüften  Faktors.  Ein  einfaches  Beispiel  soll 
die  Anwendung  der*  Methode  erläutern.  An  einem  begrenzten  Be¬ 
obachtungsmaterial  einer  Säuglingsklinik  soll  der  Einfluß  der  künst¬ 
lichen  Ernährung  auf  die  Sterblichkeit  geprüft  werden.  Bekannt 
ist  die  Zahl  der  Todesfälle  der  verschieden  ernährten  Kinder,  be¬ 
kannt  auch  das  Verhältnis  der  mit  Mutterbrust  und  der  künstlich 
ernährten  Säuglinge  —  3:7.  Spielte  die  Ernährung  keine  Rolle, 
so  müßte  auch  das  Verhältnis  der  Sterblichkeit  beider  Gruppen 
=  3:7  sein.  Tatsächlich  ist  es  aber  1  :  15.  Folglich  ist  die 
Intensität  der  Sterblichkeit  der  künstlich  ernährten  Kinder  an 
diesem  Material  6—7  mal  so  groß  als  die  der  Brustkinder.  Beispiele 
komplizierterer  Fälle  finden  sich  bei  Körösy. 

Ist  man  nach  Überwindung  aller  technischen  Schwierigkeiten 
zu  dem  Ergebnis  gekommen,  daß  eine  ganz  bestimmte  Ursache 
bei  der  Abweichung  des  Ergebnisses  von  dem  Vergleichsobjekt 
eingewirkt  hat,  so  ist  hiermit  die  Wirkungssphäre  der  statistischen 
Arithmetik  erschöpft;  über  die  innere  Beziehung  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  vermag  sie  nicht  Auskunft  zu  erteilen;  wer  derartige 
Anforderungen  stellt,  verkennt  die  Grenzen  der  Anwendbarkeit  des 


b  Armut  und  Todesursachen,  Zugleich  ein  Beitrag  zur  Methodologie  der 
Statistik.  Willi.  Seidel,  1886  und  Ztschr.  f.  Hygiene,  Bd.  18. 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  8 


34 


Adolf  Gottstein, 

Verfahrens.  Mit  besonderer  Schärfe  und  Klarheit  hat  F.  Martius 
diese  Grenzen  der  Methodik  betont.1)  Höchstens  vermag  die 
Methode  durch  Teilung  des  Materials,  wofern  eine  solche  möglich 
ist,  die  ursächlichen  Beziehungen  schärfer  zu  fassen.  Ein  Beispiel 
mag  auch  hier  diesen  Satz  erläutern.  Im  Juni  des  Jahres  1889 
stieg  die  Gesamtsterblichkeit  in  Berlin  in  ungewöhnlichem  Maße 
an,  so  daß  die  Annahme  einer  besonderen  Ursache  unerläßlich  war. 
Eine  Teilung  des  Materials  nach  Altersklassen  und  Todesursachen 
ergab,  daß  diese  Übersterblichkeit  auf  das  Konto  der  Säuglinge 
und  ihrer  Sterblichkeit  an  Brechdurchfall  kam.  Die  weitere  Teilung' 
nach  dem  Gesichtspunkt  der  Ernährung  lehrte  weiter,  daß  von 
2969  Todesfällen  dieser  Gruppe  allein  2424  Todesfälle  auf  Kinder 
fielen,  die  mit  Tiermilch  allein  oder  mit  Tiermilch  und  Surrogaten 
ernährt  wurden.  Ein  Studium  der  Temperaturverhältnisse  zeigte 
schließlich,  daß  der  Juni  1889  in  vierzigjährigem  Zeitraum  die 
höchste  Temperatur  bot,  die  überhaupt,  nicht  bloß  in  jenem  Monat, 
in  Berlin  zur  Beobachtung  gekommen  war.  Eine  Teilung  nach  der 
Wohnungsgröße  und  -läge  durch  Intensitätsberechnung  ergab,  daß 
die  ärmere  Bevölkerung  den  Hauptanteil  an  der  Sterblichkeit  trug. 
Eine  weitere  Teilung  des  Materials  ist  nicht  möglich.  Die  sta¬ 
tistische  Methode  berechtigt  also  zu  dem  Schluß,  daß  die  abnorme 
Sommerhitze  durch  Beeinflussung  der  künstlichen  Säuglingsnahrung 
namentlich  in  den  ungünstigen  Wohnungen  der  ärmeren  Bevölkerung 
die  gesteigerte  Sterblichkeit  verursacht  hat.  Über  den  inneren 
Zusammenhang  ein  Urteil  abzugeben,  ist  die  Statistik  nicht  zu¬ 
ständig,  das  mußten  weiter  die  klinische  Beobachtung  und  die  ex¬ 
perimentelle  Methodik  entscheiden,  wie  sie  das  im  vorliegenden 
Falle  ja  auch  wirklich  getan  haben.  Hat  die  Statistik  das  Vor¬ 
handensein  ursächlicher  Beziehungen  erwiesen,  so  ist  sie  ferner 
nicht  in  der  Lage  zu  entscheiden,  was  Ursache,  was  Wirkung  ist. 
Wenn  z.  B.  der  Löffler’sche  Bazillus  sich  selbst  bei  25  Proz. 
gesunder  Individuen  auf  den  Schleimhäuten  findet,  dagegen  bei 
mehr  als  90  Proz.  solcher  Menschen,  welche  das  klinische  Bild  der 
Diphtherie  darbieten,  so  hieße  es  die  Gesetze  der  Logik  verleugnen, 
wenn  man  einen  ursächlichen  Zusammenhang  zwischen  der  spe¬ 
zifischen  Krankheit  und  dem  Vorkommen  des  Keims  in  ihren 
Produkten  bestreiten  wollte.  Ob  aber  das  Vorkommen  des  Bazillus 
die  Ursache  oder  die  Folge  der  pathologischen  Veränderungen  ist, 


0  Virchow’s  Archiv,  Bd.  83,  und  Pathogenese  innerer  Krankheiten.  Teplitz 
u.  Deudike,  1Ü00. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


35 


das  kann  die  Erörterung  des  Zahlenverhältnisses  nicht  entscheiden. 
Dafür  ist  der  Kliniker  und  der  Bakteriologe  zuständig,  der  aus  seinen 
Versuchen  und  Beobachtungen  den  Beweis  zu  erbringen  hat,  daß  der 
Keim  spezifisch  und  der  Erreger  der  Krankheit  ist.  Nur  darf  er  seiner¬ 
seits  wiederum  nicht  verlangen,  daß  man  ihm  blindlings  folgt,  wenn 
er  weiter  nichts  als  das  Zahlenverhältnis  für  den  inneren  Zusammen¬ 
hang  der  ursächlichen  Bedeutung  vorzuführen  vermag. 

Auch  verrät  schließlich  die  Aufdeckung  der  ursächlichen  Be¬ 
ziehungen  nichts  darüber,  ob  der  kausale  Zusammenhang  ein  un¬ 
mittelbarer  ist  und  nicht  vielmehr  über  viele  Zwischenglieder  wirkt. 
Im  obigen  Beispiel  der  Juniepidemie  des  Jahres  1889  war  der  Zu¬ 
sammenhang  zwischen  Sommerhitze  und  Verderbnis  der  Kuhmilch 
ein  unmittelbarer  ohne  weitere  Zwischenglieder.  Das  hat  aber 
nicht  der  statistische  Schluß  ergeben,  sondern  die  biologische  Er¬ 
fahrung.  Wenn  jedoch  z.  B.  der  Nachweis  geliefert  wird,  daß  die 
Zahl  der  Knöchelbrüche  im  Winter  eine  erheblich  größere  ist  als 
im  Sommer,  so  würde  sich  niemand  der  Lächerlichkeit  des  Schlusses 
aussetzen  wollen,  daß  die  Winterkälte  unmittelbar  die  Knochen 
brüchiger  mache.  Und  doch  darf  lediglich  auf  Grund  der  Tatsache, 
daß  im  Sommer  die  Zahl  der  Grippen  und  Katarrhe  erheblich  ge¬ 
ringer  ist  als  im  Winter,  ungestraft  behauptet  werden,  daß  dies 
auf  die  bakterientötende  Wirkung  der  Sonnenstrahlen  zurückzu¬ 
führen  sei.  Wieviel  Zwischenglieder  zwischen  den  beiden  End¬ 
punkten  der  Kausalreihe  Klima  und  Zahl  der  Grippeerkrankungen 
deren  Abhängigkeit  der  Zahlenansatz  ergibt,  eingeschaltet  sein 
mögen,  darüber  gibt  dieser  Ansatz  gar  keinen  Aufschluß.  Wenn 
also  bei  dem  statistischen  Experiment  durch  vorsichtigste  Anord¬ 
nung  und  scharfsinnige  Fragestellung  endlich  alle  Schwierigkeiten 
überwunden  sind,  und  das  Ergebnis  fertig  und  einwandsfrei  zutage 
tritt,  so  gilt  bei  der  Ziehung  der  Schlüsse  nirgends  mehr  als  hier 
das  Wort:  In  der  Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister.  Wenn 
man  aber  die  Grenzen  dieser  Methode  kennt  und  beachtet,  so  ge¬ 
währt  auf  dem  Gebiete  der  biologischen  Wissenschaften  kaum  eine 
andere  Art  der  wissenschaftlichen  Fragestellung  eine  solche  Sicher¬ 
heit  wie  gerade  die  statistische  Arithmetik.  Das  beweisen  z.  B. 
folgende  Beispiele  aus  der  neueren  Literatur,  in  denen  es  gelang, 
lediglich  mittels  der  statistischen  Methode  für  bestimmte  schwierige 
Probleme  aus  der  Pathogenese  des  Menschen  ganz  eindeutige 
Lösungen  zu  finden.  So  stellt  Westergaard1)  das  statistische 


x)  Lehrbuch,  2.  Aufl.,  S.  512 — 522. 

3* 


36  Adolf  G  ottstein,  Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  u.  Ziele. 

Material  zusammen  und  vermehrte  es  durch  eigene  Beobachtungen, 
aus  denen  hervorgeht,  daß  die  Abkömmlinge  aus  Familien,  in 
denen  Fälle  von  Schwindsucht  vorgekommen  sind,  eine  größere 
Wahrscheinlichkeit  haben,  später  an  Schwindsucht  zu  erkranken, 
als  der  Durchschnitt.  In  besonders  fein  ausgebildeter  Methodik 
zeigte  ferner  W.  Weinberg,1)  daß  die  überlebenden  Ehegatten 
Schwindsüchtiger  eine  doppelt  so  hohe  Schwindsuchtssterblichkeit 
haben  wie  die  Gesamtbevölkerung;  er  schließt,  daß  hierbei  der 
Gefahr  direkter  Ansteckung  eine  erhebliche,  wenn  auch,  wie  er 
weiter  ausführt,  nicht  ausschließliche  Bedeutung  zukommt.  Wein¬ 
berg2)  zeigte  ferner,  daß  umgekehrt  bei  der  Verfolgung  des 
Schicksals  der  Ehegatten  von  Krebskranken  das  Zahlenverhältnis 
keinen  Anhaltspunkt  für  eine  gesteigerte  Erkrankungsgefahr  er¬ 
gibt,  daß  vielmehr  die  Zahl  der  beobachteten  Fälle  von  Krebs 
beider  Gatten  (Cancer  ä  deux)  innerhalb  der  Grenzen  der  Erwartung 
liegt,  ein  nach  Methodik  wie  Ergebnis  gleich  bemerkenswerter 
Schluß.  A.  Gottstein3)  und  G.  Flor  schütz4)  zeigten,  daß  die 
Wahrscheinlichkeit,  an  Lungenschwindsucht  zu  erkranken,  für 
Menschen  mit  einem  Mißverhältnis  von  Brust-  bzw.  Bauchumfang 
und  Körpergröße  größer  ist  als  für  den  Durchschnitt  und  daß  dieses 
Mißverhältnis  nicht  die  Folge  latenter  Erkrankung  ist,  sondern 
ihr  der  Zeit  nach  vorausgeht.  Damit  ist  auf  indirektem  Wege  die 
Bedeutung  konstitutioneller  Minderwertigkeit  für  die  Begünstigung 
des  Umsichgreifens  einer  tuberkulösen  Infektion  bewiesen. 

Die  statistische  Arithmetik  ergänzt  also  in  Fällen,  die,  wie 
die  oben  erwähnten,  der  direkten  experimentellen  und  klinischen 
Beantwortung  nicht  zugänglich  sind,  erfolgreich  die  Lücken  der 
Untersuchungsmethodik. 

(Schluß  folgt.) 

1)  Beiträge  zur  Ivliuik  der  Tuberkulose,  V,  4. 

2)  Zeitschrift  für  Krebsforschung,  Bd.  II  u.  IV. 

3)  Med.  Reform,  1905. 

4)  Berichte  des  II.  Kongresses  für  Versicherungsmedizin.  Mittler,  1906,  Bd.  I. 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen 
Gehilfen  in  vielen  Berufen. 


Von  Dr.  med.  Fr.  Prinzing,  Ulm. 

In  einer  früheren  Arbeit  wurde  von  mir  darauf  hingewiesen, 
daß  die  Erkrankungshäufigkeit  der  jungen  Arbeiter  höher  ist  als 
die  der  späteren  Lebensalter,  als  Ursache  wurde  die  geringere 
Energie  der  jungen  Arbeiter;  die  auch  bei  leichten  Erkrankungen 
eher  zu  Hause  bleiben,  und  die  kleinere  Widerstandskraft  ange¬ 
führt.1)  Es  ist  von  Wert,  dieser  Erscheinung  weiter  nachzugehen, 
insbesondere  zu  untersuchen,  bei  welchen  Berufen  sie  besonders 
getroffen  wird,  ob  sie  etwa  davon  abhängig  ist,  daß  schwächliche 
Personen  in  diese  eintreten,  durch  was  sie  verursacht  wird  und 
welche  Erkrankungsformen  sie  hauptsächlich  bedingen.  Wir  be¬ 
schränken  uns  dabei  auf  das  männliche  Geschlecht. 

Da  zu  derartigen  Untersuchungen  eine  Trennung  der  Gesamt¬ 
zahl  der  Kassenmitglieder  und  der  Erkrankten  nach  Altersklassen 
nötig  ist  und  diese  Trennung  bei  den  deutschen  Krankenkassen  fast 
nirgends  vorgenommen  wurde,  so  ist  man  hauptsächlich  auf  außer¬ 
deutsches,  insbesondere  österreichisches  Material  angewiesen.  Für 
Deutschland  liegen  nur  die  Arbeiten  Heym’s  für  die  Gegenseitig¬ 
keit,  die  Bleicher’s  für  die  Frankfurter  und  Bockenheimer  Orts¬ 
krankenkassen  und  einige  kleinere  Veröffentlichungen  vor. 

Man  findet  die  höhere  Morbidität  der  jungen  Arbeiter  mehr, 
wenn  nur  die  Krankheiten  mit  Erwerbsunfähigkeit  in  Betracht  ge¬ 
zogen  werden,  viel  weniger  bei  den  Krankheiten,  die  ohne  diese 


x)  Die  Erkrankungshäufigkeit  nach  Beruf  und  Alter.  Ztschr.  f.  die  ges. 
StaatsAV.,  1902,  S.  435. 


38 


Fr.  Prinzing, 


einli ergehen.  Um  einen  allgemeinen  Überblick  zn  gewinnen,  seien 
die  folgenden  Ziffern  mitgeteilt.1)  Auf  100  Mitglieder  kamen  Krank¬ 
heitsfälle  im  Jahre 


beim  Alter  von 

Frankfurt 

(1896) 

erwerbsf.  erwerbsunf. 

Bockenheim 

(1896-97) 

erwerbsf.  erwerbsunf. 

Österreich 

(1891—95) 

erwerbsunf. 

unter  15  Jahren 

56,5 

43,5 

49,6 

68,6 

43,0 

16—20  „ 

66,6 

35,1 

67,0 

63,0 

42,3 

21—30  „ 

66,6 

35,1 

70,9 

54,6 

43,6 

31-40  „ 

59,6 

43,9 

69,7 

61,6 

47,4 

41—50  „ 

59,7 

52,6 

72,7 

66,4 

52,6 

51 — 60  „ 

66,8 

63,5 

79,8 

68,2 

58,8 

über  60  „ 

65,0 

56,0 

67,7 

76,0 

68,2 

In  allen  drei  Keihen  zeigen  die  erwerbsunfähig  Erkrankten 
beim  Alter  von  unter  15  oder  von  15 — 20  Jahren  eine  höhere 
Morbidität  als  die  späteren  Altersklassen.  Dieselbe  Erscheinung 
findet  man  bei  den  Wiener  Krankenkassen,  bei  denen  der  Morbidi¬ 
tätsstatistik  besondere  Sorgfalt  zuteil  wird.  S.  Rosenfeld  hat 
deren  Ergebnisse  in  einer  großen  und  sorgfältigen  Arbeit  zusammen¬ 
gestellt.2)  Wir  entnehmen  derselben  die  Ziffern  für  die  allgemeinen 
Arbeiterkrankenkassen  und  für  die  Genossenschaftskassen  bis  zum 
40.  Lebensjahre;  sie  beziehen  sich  auf  die  Jahre  1892 — 1902.  Auf 
100  Mitglieder  kamen  Erkrankungen 


beim  Alter  von 

Allgemeine  Arbeiterkrankenkasse 

o 

erwerbsf.  erwerbsunf. 

Genossenschaftskassen 
erwerbsf.  erwerbsunf 

unter  15  Jahren 

16,4 

45,9 

66,5 

46,2 

16-20  „ 

29,7 

57,4 

27,2 

38,8 

21—25  „ 

31,7 

53,4 

26,5 

33,1 

26-30  „ 

28,0 

53,3 

24,7 

29,5 

31 — 35  „ 

27,0 

54,4 

23,2 

30,1 

36—40 

27,0 

55,5 

23,8 

32,9 

Noch  viel  mehr  als  bei  den  oben  angeführten  Kassen  tritt  hier 
die  hohe  Zahl  der  erwerbsunfähig  Erkrankten  im  Alter  von  unter 
20  Jahren  hervor. 

Es  muß  hier  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die  Feststellung 


ö  H.  Bleicher,  Frankfurter  Krankheitstafeln,  Frankfurt  a.  M.  1900.  — 
Nachträgliche  Mitteilungen  über  die  Ergebnisse  der  Krankheitsstatistik  der 
Krankenkassen  in  den  Jahren  1891—95.  Wien  1900.  —  F.  Prinzing,  Handb. 
der  med.  Statistik,  1906,  S.  106  ff. 

2)  Die  Gesundheitsverhältnisse  der  Wiener  Arbeiterschaft.  Stat.  Mon.,  1905, 
N.  F.,  Bd.  10,  S.  853  ff. 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  39 


der  durchschnittlichen  Mitgliederzahl  bei  den  österreichischen  Kassen 
nur  annähernd  stattfindet;  bei  den  Kassen  des  ganzen  Landes  wurde 
sie  für  1891 — 95  aus  den  Anfangs-  und  Endbeständen  unter  An¬ 
wendung  eines  aus  der  Bewegung  des  Mitgliederstandes  gewonnenen 
Korrektionsfaktors  berechnet,  bei  der  Allgemeinen  Arbeiterkranken¬ 
kasse  nur  aus  Aufnahmen  des  Bestandes  am  Anfang  und  Ende  des 
Jahres,  bei  den  Genossenschaftskassen  aus  diesen  und  zwei  weiteren 
Aufnahmen  (am  15.  März  und  15.  September).  Gerade  bei  den 
Lehrlingen  und  jungen  Gehilfen  finden  Schwankungen  im  Bestand 
statt:  tritt  die  größere  Anzahl  im  Frühjahr  ein,  so  wird  die  durch¬ 
schnittliche  Mitgliederzahl  zu  groß,  ist  dies  im  Herbst  der  Fall, 
so  wird  sie  zu  klein.  Viel  genauer  ist  die  Ermittlung  des  Mit¬ 
gliederstandes  bei  den  Frankfurter  Krankheitstabellen,  da  hier  die 
Zahl  der  Mitgliedertage  und  aus  dieser  durch  Division  mit  365 
bzw.  366  die  genaue  Mitgliederzahl  berechnet  wurde. 

Trotz  der  höheren  Morbidität  ist  die  Dauer  der  Erkrankung 
bei  den  jungen  Arbeitern  kleiner  als  bei  den  älteren;  auf  einen 
Krankheitsfall  mit  Erwerbsunfähigkeit  kamen  Krankentage 


beim  Alter  von 

Frankfurt 

Bockenheim 

Österreich 

unter  15  Jahren 

14,7 

10.3 

12,6 

16-20 

16,4 

12,5 

13,7 

21—30 

19,3 

12,3 

14,3 

31—40 

22,7 

13,9 

15,9 

41-50  „  . 

27,1 

17,9 

18,6 

51-60 

32,9 

19.4 

21,4 

über  60  „ 

38.9 

26,0 

29,8 

Die  kürzere  Dauer  der  Erkrankungen  beweist,  daß  das  Mehr 
derselben  nicht  durch  konstitutionelle  Leiden  bedingt  ist,  die  durch 
die  Berufsarbeit  eine  Verschlimmerung  erfahren,  sondern  durch 
leichte  Erkältungen  und  Verletzungen,  durch  Übermüdung  und 
andere  Dinge.  Daß  die  Mortalität  der  Lehrlinge  und  jungen  Ge¬ 
hilfen  keine  höhere  ist,  braucht  wohl  kaum  besonders  erwähnt  zu 
werden. 

Wir  gehen  zur  Morbidität  der  einzelnen  Berufs  arten 
über.  Die  Ziffern  der  Frankfurter  Kasse  sind  zwar  sehr  exakt 
berechnet,  beziehen  sich  aber  leider  nur  auf  ein  Jahr,  so  daß  sie 
bei  der  Teilung  nach  Beruf  und  Alter  sehr  klein  werden.  Es  seien 
daher  nur  für  die  Berufe  mit  großer  Mitgliederzahl  die  Ziffern  an¬ 
geführt;  sie  beziehen  sich  auf  die  Zahl  der  Erkrankten,  nicht  der 
Erkrankungen. 


40 


Fr.  Prinzing, 


Zahl 

der  Mitg'lieder 

erwerbsf. 

Erkrankte 

erwerbsunf. 

Erkrankte 

Ton  unter  20  Jahren 

14—20  J. 

21—30  J. 

14—20  J. 

21—30  J. 

Kautleute 

1079 

59,1 

55,1 

21,1 

21,0 

Schneider 

184 

40,5 

44,1 

28,6 

20,8 

Schreiner 

214 

31,1 

39,6 

36,7 

33,0 

Schmiede,  Schlosser 

890 

42,7 

49,0 

41,8 

35,9 

Maler,  Lakierer 

223 

24,0 

28,1 

30,2 

28,7 

Buchdrucker 

336 

39,4 

43,3 

37,1 

28,5 

Bierbrauer 

43 

25,6 

32,2 

46’5 

43 ,5 

Fuhrleute,  Kutscher 

54 

28,1 

31,6 

28.1 

31,3 

Alle  Berufe 

7423 

424 

40,7 

30,0 

28,7 

Bei  den  erwerbsfähig  Erkrankten  haben  die  14 — 20  Jahre 
alten  keine  höheren  Ziffern,  dagegen  fast  stets  bei  den  erwerbs¬ 
unfähig  Erkrankten;  am  schlechtesten  stellen  sich  die  jungen 
Schneider,  Schmiede,  Schlosser  und  Buchdrucker,  doch  haben  auch 
die  jugendlichen  Schreiner,  Maler  und  Bierbrauer  höhere  Ziffern, 
bei  den  Kaufleuten  und  Kutschern  ist  dies  dagegen  nicht  der  Fall. 

Sehr  großes  Material  bietet  die  österreichische  Statistik  der 
Jahre  1891 — 95,  in  welcher  für  viele  Berufsarten  die  Morbidität 
nach  Altersklassen  ermittelt  ist.  Die  Ziffern  sind  teils  für  Ge¬ 
nossenschaftskassen,  in  denen  das  Kleingewerbe  vertreten  ist,  teils 
für  Betriebskassen,  die  dem  Großgewerbe  entsprechen,  berechnet. 
Die  Mitgliederzahlen  sind  vom  16.  Jahre  an  zur  Berechnung  von 
Verhältnisziffern  genügend  groß,  im  Alter  von  unter  15  Jahren 
dagegen  manchmal  recht  klein,  für  diese  Altersklasse  sind  daher 
die  Mitgliederzahlen  beigefügt.  Zunächst  geben  wir  die  Ziffern 
für  die  Genossenschaftskassen. 


Beobach¬ 
tete  Per¬ 
sonen 
unter  15  J. 

Auf  100  Mitglieder  Erkrankungen 

unter  15  J. 

16— 20  J. 

21— 25  J. 

26—30  J. 

31— 40  J. 

Handlungsbedienstete  . 

471 

9,1 

18,8 

19,1 

17,5 

17,6 

Metzger . 

179 

16,8 

28,5 

30,2 

30,2 

30,1 

Schneider . 

119 

23,5 

31,4 

27,4 

17,2 

24,3 

Schuhmacher  .... 

223 

27,8 

36,1 

29,9 

23,5 

23.4 

Drechsler . 

49 

24,5 

29,6 

26,6 

25,9 

24,9 

Buchbinder . 

68 

50,0 

35,5 

29,5 

25,7 

25  5 

Handschuhmacher  .  . 

44 

22,7 

33,8 

31.4 

34,6 

31,2 

Gold-  u.  Silberarbeiter 

8 

12,5 

35,0 

32,7 

25,2 

28.3 

Lederarbeiter  .... 

147 

22,4 

32,8 

24,9 

24,2 

24,3 

Bäcker,  Zuckerbäcker  . 

227 

20,7 

35,0 

34,0 

28,8 

30,7 

Schreiner,  Wagner  .  . 

66 

47,0 

33,9 

28,6 

28,3 

29,9 

Schlosser,  Schmiede  .  . 

350 

27,7 

41.1 

38,8 

36,4 

32,8 

Buchdrucker  .... 

26 

57,7 

47,3 

39,6 

36,9 

36.3 

Fuhrleute,  Kutscher  . 

9 

33,3 

21,6 

32,6 

38,4 

41,0 

Bauarbeiter  .... 

953 

76,3 

52,1 

39,4 

38,7 

42.1 

Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  41 


In  Österreich  haben  die  jugendlichen  Gehilfen  derselben  Ge¬ 
werbe,  für  die  dies  in  Frankfurt  nachgewiesen  wurde,  hohe  Ziffern, 
außerdem  bei  mehreren  Gewerben,  die  in  Frankfurt  wegen  der 
kleinen  Grundzahlen  nicht  in  Betracht  kommen  konnten,  bei  den 
Schuhmachern,  Buchbindern,  Bäckern,  Gold-  und  Silberarbeitern, 
Sattlern  und  Bauarbeitern.  Wie  in  Frankfurt  haben  auch  in 
Österreich  die  jungen  Handlungsgehilfen  und  die  Fuhrleute  keine 
höheren  oder  nur  wenig  höhere  Ziffern  als  die  späteren  Altersklassen, 
dasselbe  findet  sich  in  Österreich  bei  den  Metzgern,  Drechslern  und 
Handschuhmachern. 

Nach  Bosenfeld  teilen  wir  einen  Teil  der  Ziffern  für 
die  Wiener  Genossenschaftskassen  mit  und  fügen  zugleich  die 
Zahlen  für  die  Wiener  Lehrlingskassen  der  Tabelle  bei.  Auf 
100  Mitglieder  kamen  Erkrankungen  bei  den  Genossenschafts¬ 
krankenkassen 


der 

Lehrlinge 

(1894—1902) 

de 

unter  20  J. 

r  Gehilfen  (1892—1902) 

21— 25J.  26— 30  J.  31— 40J. 

Schneider . 

9,4 

44,3 

32,6 

19,5 

19,3 

Schuhmacher  .... 

20,8 

33,4 

29,3 

24,7 

26,2 

Drechsler . 

28,2 

25,3 

23,3 

29,8 

30,8 

Buchbinder . 

19,2 

36,0 

32,4 

26,7 

26,0 

Handschuhmacher  .  . 

14,5 

— 

25,7 

22,6 

22,8 

Gold-  u.  Silberarbeiter  . 

21,5 

39,2 

35,5 

30,6 

31,0 

Sattler . 

13,5 

29,0 

28,1 

22,1 

22,7 

Bäcker . 

20,7 

27,9 

31,4 

30,4 

26,4 

Friseure . 

19,9 

20,5 

24,2 

21,4 

24,8 

Posamentierer  .... 

23,4 

29,6 

21,1 

18,9 

25,5 

Hutmacher . 

18,4 

34,7 

34,6 

33.1 

38,8 

Schreiner . 

17,4 

35.3 

35,8 

33,3 

33,8 

Zimmerleute  .... 

— 

47^ 

44,8 

36,8 

40,4 

Glaser  . 

10,4 

31,5 

27,5 

32,1 

32,6 

Spengler . 

11,1 

31,6 

31,1 

31,9 

34,9 

Maler . 

32,7 

31,6 

34,2 

36,7 

Mechaniker . 

— 

42,6 

35,5 

32,4 

37,2 

Schlosser  . 

39,3 

47,5 

46;o 

39,8 

38,8 

Hufschmiede  .  .  . 

19,9 

35,9 

30.4 

31,4 

33,2 

Feinzeugschmiede  .  . 

23,2 

52,9 

44M 

38,8 

36,5 

Buchdrucker  .  .  . 

— 

46,3 

50.3 

45,4 

42,3 

Lithographen  .... 

29,5 

79,0 

38,9 

21,2 

20.4 

Im  allgemeinen  entsprechen  auch  diese  Ergebnisse  den  bisher 
gewonnenen;  die  jungen  Gehilfen  haben  hohe  Ziffern  bei  den  für 
Frankfurt  und  Österreich  angeführten  Gewerben  und  außerdem  bei 
den  Zimmerleuten,  Posamentierern  und  Mechanikern,  für  welche 
dort  keine  Ziffern  vorhanden  sind.  Kleine  Ziffern  vor  dem  20.  Jahre 


42 


Fr.  Prinzing, 


haben  wie  dort  die  Drechsler,1)  außerdem  die  Hutmacher,  Friseure, 
Glaser  und  Spengler;  ein  Unterschied  zeigt  sich  nur  bei  den  Malern, 
die  in  Frankfurt  vor  dem  20.  Lebensjahre  eine  höhere,  in  Wien 
eine  kleinere  Morbidität  haben  als  in  den  späteren  Altersklassen. 
Da  sich  somit  aus  allen  drei  statistischen  Erhebungen  dieselben 
Schlußfolgerungen  ergeben,  so  ist  als  sicher  anzunehmen,  daß  es 
nicht  mangelhafte  Aufnahmen  sind,  die  diese  Vortäuschen,  sondern 
daß  sie  auf  tatsächlichen  Verhältnissen  beruhen. 

In  den  bisher  gegebenen  Zahlen  sind  die  Lehrlinge  gewöhnlich 
nicht  inbegriffen.  In  Deutschland  werden  sie  beim  Kleingewerbe 
meist  in  die  Krankenpflegeversicherung  aufgenommen,  in  Österreich 
bestehen  eigene  Lehrlingskassen.2)  Da  diese  andere  Bestim¬ 
mungen  haben  als  die  Genossenschaftskassen  für  die  Gehilfen,  so 
können  natürlich  Vergleiche  zwischen  beiden  Kassen  nicht  ange¬ 
stellt  werden;  die  Ziffern  für  die  Genossenschaftskrankenkassen  der 
Lehrlinge  in  Wien  sind  in  obiger  Tabelle  enthalten,  ln  den  großen 
Betrieben  sind  auch  die  Lehrlinge,  die  hier  meist  schon  einen 
kleinen  Tagesverdienst  haben,  in  den  Betriebskassen  versichert, 
weshalb  bei  diesen  auch  die  Mitglieder  unter  15  Jahren  sehr  zahl¬ 
reich  sind  und  sichere  Verhältniszahlen  für  letztere  berechnet 
werden  können. 


Fabriken 

Beobach¬ 
tete  Per¬ 
sonen 
unter  15  J. 

Auf  100  Mitglieder  Erkrankungen 

unter  15  J. 

16— 20  J. 

21— 25  J.  26— 30  J. 

1 

31— 40J. 

Textilarbeiter  .... 

21425 

45,3 

42.2 

38,6 

35,5 

34,6 

Fabriken  f.  Bekleidung 

310 

50,6 

42;o 

39;o 

38,1 

40,2 

Ton-  u.  Porzellanwaren 

2  433 

60,6 

48.4 

43,7 

40,7 

39,6 

Zündholzfabriken  .  . 

236 

43,6 

49.0 

43.5 

49,4 

48,6 

Ziegeleien.  Zementfabr. 

552 

56,5 

45,0 

45,6 

47,1 

47,2 

Buchdruckereien  .  .  . 

440 

35,0 

47,9 

51,2 

47,7 

46,9 

Lederfabriken  .... 

264 

47J 

55,4 

47,5 

47,7 

43,6 

Holzwarenfabriken  .  . 

875 

44,6 

50,5 

45.1 

47,6 

51,7 

Glasfabriken  .... 

3  729 

69,1 

56,0 

58,4 

61,6 

56,5 

Zuckerfabriken  .  .  . 

3  711 

61,4 

60.6 

64,4 

61,1 

56,5 

Papierfabriken  .  .  . 

1202 

69,1 

64,1 

61,1 

58,9 

58,7 

Heizung  u.  Beleuchtung 

78 

47,4 

71,6 

65,3 

58,2 

58,5 

Eisen-  u.  Metallwaren  . 

5  526 

67,6 

70,3 

66.9 

64,4 

58,7 

Brauereien,  Brennereien 

150 

111,3 

80,2 

68,7 

70.9 

58,4 

Eisenbahndienst  .  .  . 

1403 

90,8 

75.8 

64.4 

63,3 

63,9 

Chemische  Industrie  . 

484 

87,4 

100,2 

86,8 

79,0 

70,6 

Hüttenwerke  .... 

1305 

86,1 

93,1 

94,1 

90,8 

78,5 

b  Bei  der  Lehrlingskasse  haben  die  Drechsler  hohe  Morbiditätsziffern.  Vgl. 
Rosenfeld  a.  a.  0.  S.  900. 

2)  Rosenfeld  a.  a.  0.  S.  901. 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  43 


In  den  Betriebskassen  sind  die  Erkrankungsziffern  beträchtlich 
höher  als  beim  Kleingewerbe;  die  Ursachen  hiervon  habe  ich  an 
anderer  Stelle  auseinandergesetzt.  Die  Ziffern  für  die  österreichi¬ 
schen  Betriebskassen  aus  den  Jahren  1891—95  finden  sich  in  der 
vorstehenden  Tabelle. 

Fast  bei  allen  Fabrikationszweigen  ist  die  jüngste  Altersklasse 
sehr  hoch  belastet,  Ausnahmen  machen  nur  die  Zündholz-,  Zucker¬ 
und  Holzwarenfabriken  und  die  großen  Buchdruckereien.  Sehr 
bedeutend  ist  die  Morbidität  der  jungen  Gehilfen  bei  den  großen 
Bierbrauereien,  in  den  Ton-  und  Porzellanwarenfabriken,  beim 
Eisenbahndienst  und  in  der  chemischen  Industrie.  Am  größten  ist 
der  Unterschied  in  den  Brauereien;  die  bedeutende  Höhe  der 
jugendlichen  Arbeiter  bei  denselben  beruht  nicht  auf  Zufall,  wir 
finden  sie  z.  B.  auch  bei  den  Krankenkassen  der  Bezirkshauptmann¬ 
schaft  Pilsen;  dort  kamen  1898—99  auf  100  Kassenmitglieder  Er¬ 
krankungen  *) 


beim  Alter  von 

1898 

1899 

15 — 20  Jahren 

145,0 

165,5 

20-40 

44,4 

68,2 

40-60 

55,4 

72,7 

Der  Ein  wand  ist  naheliegend,  daß  die  hohen  Morbiditätsziffern 
in  den  ersten  Jahren  der  Berufstätigkeit  nicht  sowohl  auf  den 
Einfluß  des  Berufs  als  darauf  zurückzuführen  seien,  daß  gewisse 
Berufe  von  schwächlichen  Leuten  besonders  gerne  ergriffen  werden. 
Einen  zahlenmäßigen  Ausdruck  für  die  körperliche  Entwicklung 
der  Berufsangehörigen  gibt  der  Grad  ihrer  Militärtauglichkeit. 
Wie  meist,  so  fehlen  solche  Feststellungen  auch  in  Österreich. 
Daher  sind  in  der  folgenden  Tabelle  die  Ergebnisse  der  Schweizer 
Rekrutierungsstatistik  aus  den  Jahren  1885 — 91  benützt;* 2)  im  all¬ 
gemeinen  wird  ja  das  gegenseitige  Verhältnis  der  Berufsarten  in 
dieser  Hinsicht  in  der  Schweiz  und  in  Österreich  nicht  sehr  ver¬ 
schieden  sein.  Man  erhält  so  die  folgende  Gegenüberstellung: 

(Siehe  Tabelle  auf  folgender  Seite.) 

Aus  dieser  Zusammenstellung  geht  mit  Sicherheit  hervor,  daß 
die  hohe  Morbidität  der  jungen  Gehilfen  in  manchen  Berufen  nicht 

b  J.  Pelc,  Bericht  über  die  sanitären  Verhältnisse  und  Einrichtungen  im 
Ivgr.  Böhmen  1899 — 1901.  Prag  1903,  S.  73. 

2)  0.  Heer,  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Rekrutierungsverhältnisse  der  land¬ 
wirtschaftlichen  und  industriellen  Bevölkerung  der  Schweiz.  Schaffhausen  1897. 
—  Prinzing,  Handbuch  der  med.  Statistik,  1906,  S.  242  f. 


44 


Fr.  Prinzing, 


Auf  100  definitiv  beurteilte 
Stellungspliichtige  sind 
tauglich 

Die  Morbidität  ist  bei  jungen  Arbeitern 

höher  als  bei  den  älteren  nicht  höher  als  b.  d.  älteren 

weniger  als  50 

Schneider 

Friseure 

50 — 55 

Textilarbeiter 

— 

55 — 60 

Schuhmacher,  Buchbinder 

— 

60 — 65 

Buchdrucker 

Maler,  Spengler,  Kaufleute 

65—70 

Maurer,  Bäcker,  Schreiner 

Glaser 

70—75 

Zimmerleute.  Schlosser, 
Mechaniker,  Schmiede, 
Eisenbahndienst 

Metzger,  Fuhrleute 

davon  herrührt,  daß  diesen  mit  Vorliebe  schwächliche  Personen 
sich  zuwenden:  sie  findet  sich  auch  in  vielen  Gewerben,  deren  An- 
gehörige  eine  sehr  hohe  Militärtauglichkeit  aufweisen,  also  eine 
gute  körperliche  Beschaffenheit  in  den  Beruf  mitbringen. 

Die  Ursachen  der  hohen  Morbidität  der  Lehrlinge  und 
jungen  Gehilfen  sind  zweierlei  Art: 

1.  Unerfahrenheit  und  Ungeschicklichkeit, 

2.  ungenügende  körperliche  Entwicklung  und  Mangel  an  Wider¬ 
standskraft. 

Unerfahrenheit  und  Ungeschicklichkeit  sind  die  Ursachen  der 
zahlreichen  kleinen  Verletzungen  junger  Arbeiter  bei  vielen  Berufen 
(Maurer,  Zimmerleute,  Schlosser,  Mechaniker,  Schmiede,  Hütten- 
Averke,  Eisenbahndienst  u.  a.)  und  mancher  Erkrankungen  durch 
Berufsschädlichkeiten,  die  schon  bald  zur  Wirkung  kommen  und 
gegen  die  sich  erfahrene  Arbeiter  eher  zu  schützen  wissen;  solche 
sind  scharfe  Gase  und  Wasserdampf  (in  chemischen  Fabriken, 
Fabriken  für  Heizung  und  Beleuchtung,  Textilfabriken)  oder  ge¬ 
fährliche  Staubarten  (Glas-,  Ton-  und  Porzellan-,  Textilfabriken, 
schlecht  eingerichtete  Buchdruckereien). 

Viele  Lehrlinge  und  junge  Gehilfen  sind  noch  nicht  genügend 
entwickelt,  um  den  Anforderungen,  die  an  sie  gestellt  werden, 
vollauf  genügen  zu  können,  so  daß  sie  in  den  ersten  Jahren  ihrer 
Berufstätigkeit  an  Übermüdung  leiden,  besonders  wird  dies  durch 
lange  Arbeitszeit,  unvollkommene  Nachtruhe  (Bäcker,  Kellner), 
dauerndes  Stehen  (Plattfuß,  Xbeine)  befördert.  Werden  die  Lehr¬ 
linge  und  jungen  Gehilfen  gleich  zu  schwerer  Arbeit  herangezogen, 
so  zeigen  sich  die  gewöhnlichen  Folgen  der  Überanstrengung 
(Muskelschmerzen,  Herzklopfen).  Sehr  gering  ist  die  Widerstands- 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  45 

kraft  vieler  jungen  Arbeiter,  so  daß  sie  sehr  zu  Erkältungen 
(Katarrhen,  Angina)  disponiert  sind;  Frostbeulen  werden  bei  jungen 
Leuten  viel  mehr  beobachtet  als  bei  älteren.  Daß  sehr  junge 
Arbeiter  im  Erkrankungsfalle  eher  zu  Hause  bleiben,  wurde  schon 
eingangs  erwähnt. 

Endlich  wären  noch  die  allgemeinen  Lebensverhältnisse  zu 
erwähnen.  Die  Schlafstellen  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen 
sind  oft  sehr  ungesund,  dies  spricht  sich  z.  B.  in  der  Häufigkeit 
der  Krätze  aus,  die  in  Frankfurt  und  in  Wien,  wie  gleich 
nachher  gezeigt  werden  soll,  bei  ihnen  häufiger  als  bei  älteren 
Arbeitern  beobachtet  wird.  Tausende  von  Lehrlingen  in  den  Städten 
haben  keine  Verwandte  und  sind  allein  auf  das,  was  sie  in  der 
Familie  des  Meisters  erhalten,  angewiesen,  so  daß  nicht  selten  die 
Ernährung  ungenügend  ist.  Andererseits  treiben  sich  die  Lehrlinge 
und  jungen  Gehilfen,  wenn  sie  weder  bei  ihren  Eltern  noch  Meistern 
wohnen,  sehr  oft  abends  in  den  Kneipen  herum,  wodurch  sie  teils 
wegen  des  ungenügenden  Schlafes,  teils  durch  übermäßiges  Bier¬ 
trinken  und  Rauchen  und  selbst  durch  zu  frühzeitigen  Geschlechts¬ 
verkehr  ihrer  Gesundheit  schweren  Schaden  zufügen. 

Die  letzteren  Schädlichkeiten  kommen  in  den  großen  Städten 
viel  mehr  in  Betracht  als  auf  dem  Lande  und  in  Kleinstädten, 
wobei  noch  hinzukommt,  daß  die  Landbewohner  mit  15  Jahren 
körperlich  mehr  entwickelt  sind  als  die  Stadtbewohner,  daß  die 
Arbeitszeit  in  den  Städten  meist  länger  ist  und  daß  die  Arbeits¬ 
räume  auf  dem  Lande  vor  den  städtischen  verschiedene  Vorzüge 
haben.  Lehrlinge  und  junge  Gehilfen  zeigen  daher  in  den  Gro߬ 
städten  eine  viel  größere  Erhöhung  der  Morbidität  als  in  Klein¬ 
städten  und  auf  dem  Lande.  Bei  dem  Mangel  einer  Morbiditäts¬ 
statistik  der  Krankenkassen  auf  dem  Lande  stehen  mir  hierfür 
keine  direkten  Beobachtungen  zu  Gebote,  doch  geht  es  aus  einem 
Vergleich  der  Erkrankungszitfern  der  Genossenschaftskassen  Wiens 
(1892 — 1902)  und  der  von  ganz  Österreich  (1891 — 95)  deutlich 
hervor.  Leider  beziehen  sich  die  Ziffern  nicht  auf  die  gleichen 
Perioden.  Auf  100  Mitglieder  kamen  Erkrankungen  bei  den  Ge¬ 
nossenschaftskrankenkassen 


beim  Alter  von 

in  Wien 

in  Österreich 

unter  15  Jahren 

46,2 

37,7 

16-20 

38,8 

29,7 

21-25  „  . 

33,1 

26,3 

26-30 

29,5 

25,8 

31 — 35  „ 

30,0 

28,2 

36—40 

32.9 

31,1 

46  Fr.  Prinzing, 

# 

Während  nach  dem  30.  Lebensjahre  sich  fast  kein  Unterschied 
mehr  zeigt,  ist  die  Morbidität  in  Wien  vorher,  besonders  vor  dem 
20.  Jahre,  ganz  erheblich  höher  als  bei  den  Genossenschaftskassen 
ganz  Österreichs. 

Um  ein  genaues  Bild  von  der  Morbidität  der  Lehrlinge  und 
jungen  Gehilfen  zu  erhalten,  wäre  eine  Kenntnis  der  Art  der 
Erkrankung  nötig.  Leider  wird  diese  fast  stets,  auch  bei  den 
Wiener  Kassen,  ohne  Unterscheidung  nach  dem  Alter  mitgeteilt; 
eine  Trennung  nach  Beruf,  Alter  und  Art  der  Erkrankung  ist 
meines  Wissens  überhaupt  noch  nie  vorgenommen  worden.  Die 
Ursache  liegt  darin,  daß  selbst  die  Zahlen  sehr  großer  Kassen  bei 
dieser  reichen  Gliederung  zu  klein  werden.  Bleicher  hat  für 
die  Gesamtzahl  der  Mitglieder  der  Frankfurter  Ortskrankenkassen 
für  1896  eine  Trennung  nach  Alter  und  Art  der  Krankheit  vor- 
genommen;  die  in  der  folgenden  Tabelle  mitgeteilten  Ziffern  be¬ 
ziehen  sich  auf  die  Erkrankungen  mit  und  ohne  Erwerbsfähigkeit. 
Auf  100  Mitglieder  jeden  Alters  kommen  Erkrankungen  an1) 


14—20  J. 

21—30  J. 

31— 40  J. 

Infektionskrankheiten 

4,6 

4,2 

5,8 

Syphilis 

3,1 

5,8 

2,6 

Anämie,  Chlorose 

1J 

0,6 

0,5 

Andere  allgemeine  Krankheiten 

1,6 

1,5 

1,2 

Erkrankungen  des  Nervensystems 

2,5 

3,3 

3,8 

„  „  Herz-  und  Gefäßsystems 

1,8 

2,0 

2,3 

Angina 

5,3 

4,4 

Erkrankungen  der  Atmungsorgane 

11,9 

13,4 

15,9 

„  „  Zähne 

9,4 

6,4 

4,9 

„  „  Verdauungsorgane 

7,8 

10,2 

15,0 

„  „  Harn-  u.  Geschlechtsorgane  2,2 

4,0 

2,3 

„  „  Bewegungsorgane 

8,7 

8,7 

13,7 

Ano’Pii 

8,3 

6,6 

5,7 

„  „  Ohren 

2,3 

1,9 

1,7 

Chronische  Hautausschläge 

3,9 

3,2 

2,3 

Geschwüre  und  Abszesse 

4,2 

3,3 

3,4 

Krätze 

1,2 

1,0 

0,3 

Andere  Hautkrankheiten 

7,7 

5,6 

4,7 

Unfall,  Verletzung 

13,1 

14,6 

12,3 

Ohne  Angabe 

0,8 

1,0 

1,7 

Überhaupt 

101,5 

101,7 

103,5 

Die  Krankheiten,  die  danach  bei  den  jungen  Arbeitern  häufiger 
auftreten  als  im  späteren  Lebensalter,  sind  die  Allgemeinkrank- 

9  F.  Prinzing,  Die  Erkrankungshäufigkeit  nach  Geschlecht  und  Alter. 
Ztschr.  f.  Hyg.  u.  Inf.,  Bd.  42,  1903,  S.  479  ff. 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  47 

heiten  (besonders  Blutarmut  und  Syphilis),  Angina,  Zahnleiden, 
Krankheiten  der  Augen  und  Ohren  und  die  Krankheiten  der  Haut, 
wobei  zu  bemerken  ist,  daß  die  zu  dieser  Rubrik  gezogenen  Ge¬ 
schwüre  sehr  häufig  Frostbeulen  oder  Folgen  von  Verletzungen 
(Panaritien)  sind. 

Auch  für  die  Lehrlingskassen  in  Wien  wird  die  Art  der  Er¬ 
krankung  mitgeteilt;  sie  lassen  sich  aber  mit  den  Genossenschafts¬ 
kassen  der  Gehilfen  nicht  ohne  weiteres  vergleichen,  da  die  Be¬ 
stimmungen  der  beiden  Kassen  verschieden  sind  und  zweifellos  bei 
den  Lehrlingen  leichte  Fälle,  die  bei  den  Gehilfen  zur  Anzeige 
kommen,  nicht  zur  Anmeldung  gebracht  werden,  auch  gelten  die 
Ziffern  für  beide  Geschlechter  zusammen.  Es  seien  nach  Rosen- 
feld  von  den  häufig  vorkommenden  Erkrankungen  die  angeführt, 
die  bei  den  Lehrlingen  mit  höheren  Zahlen  als  bei  der  Gesamtzahl 
der  Gehilfen  vertreten  sind.  Auf  10000  Mitglieder  kamen  mit 
Arbeitsunfähigkeit  verbundene  Erkrankungen1) 


Lehrlinge 

Gehilfen 

Scharlach 

8 

3 

Masern 

7 

3 

Blutarmut 

32 

32 

Lungenentzündung 

39 

33 

Augenkrankheiten 

68 

66 

Kontagiöse  Bindehautentzündung 

14 

10 

Krankheiten  der  Nase 

u.  des  Kehlkopfs 

49 

30 

Krätze 

62 

30 

Wunden 

150 

147 

Deformitäten 

11 

7 

In  Frankfurt  und  Wien  sind  demnach  ungefähr  dieselben 
Krankheiten  bei  den  jungen  Arbeitern  häufiger,  zugleich  bestä¬ 
tigen  die  statistischen  Angaben  das,  was  oben  über  die  Ursachen 
der  hohen  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  gesagt 
wurde. 

Von  diesen  Ursachen  lassen  sich  manche  beseitigen;  hierzu 
kann  teils  der  einzelne,  teils  die  Regierung  beitragen. 

Nur  bei  strengen  und  gewissenhaften  Lehrmeistern  können  die 
Jungen  ihren  Beruf  ordentlich  erlernen;  man  sieht  daher,  daß 
gerade  diese  Meister  von  den  Eltern  für  ihre  Kinder  gesucht  sind. 
Selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  der  Meister,  bei  dem  viel  gelernt 
wird,  nicht  so  sehr  gewissenhaft  ist  und  die  Kinder  ausnützt,  erhält 


0  Rosenfeld  a.  a.  0.,  Bd.  XI,  1906,  S.  57. 


48 


Fr.  Prinzing. 


er  doch  reichen  Nachschub  an  Lehrlingen.  Von  großer  Wichtigkeit 
ist  es,  daß  die  Eltern  für  ihre  Söhne  solche  Berufe  auswählen,  zu 
denen  ihre  Körperkräfte  ausreichen;  ein  Vorzug  ist  es,  wenn  die 
Söhne,  die  einen  an  die  Körperkräfte  große  Anforderung  stellenden 
Beruf  ergreifen  wollen,  bei  etwas  mangelhafter  Entwicklung  erst 
ein  Jahr  später  in  die  Lehre  gebracht  werden;  ein  vernünftiger 
Meister  versteht  es  übrigens  auch  da  zu  individualisieren  und  wird 
nicht  kräftige  und  weniger  kräftige  Lehrlinge  mit  demselben 
Arbeitsmaß  belasten. 

Die  Schwierigkeiten  wachsen,  wenn  der  Junge  nicht  am  Wohn¬ 
ort  der  Eltern  in  die  Lehre  gebracht  werden  kann.  Es  wird 
immer  weniger  Brauch,  daß  der  Lehrling  bei  seinem  Meister  Kost 
und  Wohnung  erhält.  Wo  letzteres  der  Fall  ist,  müssen  die  Be¬ 
hörden  dafür  sorgen,  daß  den  Lehrlingen  gesunde  Schlafräume  zu¬ 
gewiesen  werden;  meist  hat  hier  schon  die  von  den  Eltern  vor¬ 
genommene  Auslese  die  beste  Wirkung.  Wohnt  der  Lehrling 
nicht  beim  Meister  und  können  ihn  die  Eltern  nicht  bei  Ver¬ 
wandten  oder  Freunden  unterbringen,  so  ist  Kost  und  Wohnung 
oft  mangelhaft,  ganz  abgesehen  von  den  sittlichen  Gefahren,  die 
dann  den  Jungen  in  den  Städten  drohen.  Durch  Gründung  von 
Lehrlings-  und  Jünglingsheimen  kann  dem  am  besten  abgeholfen 
werden. 

Der  Staat  hat  die  Pflicht,  der  Ausnützung  der  Lehrlinge  und 
jungen  Arbeiter  durch  den  Meister  bzw.  Fabrikanten  vorzubeugen; 
die  Ausnutzung  kann  entweder  in  überlanger  Arbeitszeit  bestehen 
oder  darin,  daß  dem  Lehrling  ungesunde  Arbeit  zugemutet  wird, 
welche  zu  übernehmen  ältere  Arbeiter  sich  weigern.  In  Deutsch¬ 
land  regelt  die  Gewerbeordnung  das  Verhältnis  zwischen  Lehrherrn 
und  Lehrling;  die  Grundlage  bildet  §  127:  „Der  Lehrherr  hat  dafür 
Sorge  zu  tragen,  daß  den  Lehrlingen  nicht  Arbeitsverrichtungen 
zugewiesen  werden,  welche  seinen  körperlichen  Kräften  nicht  an¬ 
gemessen  sind.“  Außerdem  gibt  §  120a  der  Gewerbeordnung  den 
Behörden  die  Möglichkeit,  junge  Arbeiter  von  gesundheitsgefährlichen 
Betrieben  auszuschließen.  Für  manche  gefährliche  Gewerbe  wurden 
besondere  Bestimmungen  vom  Bundesrat  erlassen,  die  stets  zugleich 
das  Lehrlingswesen  bei  diesen  regeln,  so  z.  B.  für  die  Bäcker  am 
4.  März  1896,  für  die  Müller  am  26.  April  1899,  für  die  Kellner 
am  23.  Januar  1902,  für  die  Konfektionsindustrie  am  17.  Februar 
1904,  für  die  Maler  und  Anstreicher  am  27.  Juni  1905.  Die  Ver¬ 
wendung  von  Arbeitern  von  14—16  Jahren  in  Fabriken  ist  durch 
§  135  der  Gewerbeordnung  geregelt;  außerdem  bestehen  für  eine 


Die  hohe  Morbidität  der  Lehrlinge  und  jungen  Gehilfen  in  vielen  Berufen.  49 

sehr  große  Anzahl  von  besonders  gefährlichen  Betrieben  eigene 
Bestimmungen,  so  für  Bergbau,  Hüttenwerke,  Bleifarben-,  Zigarren-, 
Glas-,  Zichorien-,  Textilfabriken,  Ziegeleien  und  manche  andere. 
Der  Zwang  zum  Besuch  der  Fortbildungsschule  ist  durchaus  be¬ 
rechtigt;  daß  die  obligatorischen  Schulstunden  in  die  normale 
Arbeitszeit  eingefügt  und  nicht  spät  abends  angesetzt  werden 
sollen,  bedarf  für  den,  der  mit  den  Verhältnissen  nur  ein  wenig 
vertraut  ist,  keiner  Begründung. 

Auf  den  ersten  Blick  erregt  es  Befremden,  wenn  wir  sehen, 
daß  in  Deutschland,  das  doch  in  vielem,  was  soziale  Fürsorge  und 
Arbeiterschutz  betrifft,  tonangebend  ist,  das  Lehrlingswesen  nicht 
einheitlich  geregelt  ist;  daß  §  127  Gew.-O.  nicht  als  solche  Rege¬ 
lung  angesehen  werden  kann,  beweisen  ja  die  Sonderbestimmungen, 
die  für  manche  Gewerbe  getroffen  wurden.  Dies  hängt  mit  der 
ganzen  Entwicklung  unserer  Arbeitergesetzgebung  zusammen,  die 
sich  mit  den  gefährlichsten  Betrieben  zuerst  befaßte,  dann  Schritt 
für  Schritt  auf  andere  Betriebe  sich  ausdehnte.  Daß  die  Materie 
endlich  einmal  durch  ein  einheitliches  Gesetz  geregelt  werden  muß, 
das  alle  Berufe  umfaßt,  und  nicht  nur  diejenigen,  deren  Gefährlich¬ 
keit  durch  politische  Parteien,  Fachvereine  u.  a.  ans  Tageslicht 
gezogen  wurde,  darüber  besieht  wohl  auch  in  Regierungskreisen 
kein  Zweifel,  und  daß  auch  eine  einheitliche  Regelung  des  Lehrlings¬ 
wesens  möglich  ist,  beweisen  die  Lehrlingsgesetze  der  Kantone 
Zürich  und  Bern.  Einzelbestimmungen  eines  solchen. Gesetzes  zu 
besprechen,  gehört  nicht  in  den  Rahmen  dieser  Arbeit;  nur  das 
eine  möchte  ich  jedem,  der  sich  mit  der  Frage  befaßt,  ans  Herz 
legen:  mit  der  Beschränkung  der  Arbeitszeit  allein  ist  es  nicht 
getan,  es  muß  zugleich,  sei  es  vom  Staat,  sei  es  von  den  Ge¬ 
meinden,  für  Räume  gesorgt  werden,  in  denen  die  Lehrlinge  und 
jungen  Gehilfen,  die  keinen  Familienanschluß  haben,  außerhalb  der 
Arbeitsstunden  sich  aufhalten  können. 

Leider  steht  uns  außer  der  Frankfurter  Statistik  in  Deutsch¬ 
land  kein  Material  über  die  Morbidität  junger  Arbeiter  zu  Gebote. 
Die  Untersuchungen,  die  von  Reichs  wegen  zur  Klarlegung  un¬ 
günstiger  Einwirkungen  eines  Gewerbes,  einer  Industrie  angestellt 
werden,  geschehen  daher  immer  auf  dem  Wege  der  Enquete.  Un¬ 
bedingt  sicherer  wäre  der  Weg  einer  fortlaufenden  Erkrankungs¬ 
statistik.  Die  Anwendung  des  §  127  Gew.-O.  kann  doch  erst  dann 
in  Frage  kommen,  wenn  nachgewiesen  ist,  daß  die  Arbeit  über  die 
Kräfte  des  Lehrlings  geht.  Dies  geschieht  in  viel  zweckmäßigerer 
Weise  dadurch,  daß  regelmäßig  statistische  Erhebungen  über  die 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  4 


50  Fr.  Prinzing,  Die  hohe  Morbidität  d.  Lehrl.  u.  jung.  Gehilfen  in  viel.  Berufen. 


Häufigkeit  der  Erkrankungen  gemacht  werden,  als  wenn  gelegent¬ 
lich  einer  Enquete  besonders  krasse  Beispiele  gewissenloser  Prinzipale 
hervorgezogen  werden,  die  geeignet  sind,  ein  ganzes  Gewerbe  zu 
diskreditieren.  Wir  können  daher  nur  dringend  die  Einführung 
einer  Morbiditätsstatistik  bei  den  Krankenkassen  mit  Unterscheidung 
von  Altersklassen  befürworten,  aus  der  man,  wenn  sie  in  richtiger 
Weise  benutzt  wird,  jederzeit  erfahren  kann,  ob  Abhilfe  nötig  ist 
und  ob  etwa  getroffene  Maßnahmen  die  gewünschte  Abhilfe  gebracht 
haben. 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 

Von  SiEGMUND  Kafe,  Wien. 

Der  frühere  Ministerpräsident  K  ö  r  b  e  r  hat  am  9.  Dezember 
1904  im  Abgeordnetenhause  ein  Programm  für  die  Reform  und 
den  Ansbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich  vorgelegt  und 
damit  ein  Versprechen  der  Regierung  eingelöst,  dessen  Erfüllung 
schon  in  der  Thronrede  vom  Jahre  1900  zugesagt  worden  war. 
Das  Progamm  hat  die  Form  eines  vollständig  ausgearbeiteten  Ge¬ 
setzentwurfes  und  unterliegt  nunmehr  der  Kritik  der  Interessenten. 
Bisher  haben  sich  hauptsächlich  die  Arbeiter  zum  Wort  gemeldet. 
Doch  rühren  die  Klagen,  welche  über  die  Mängel  der  geltenden 
Gesetzgebung  erhoben  wurden  nicht  bloß  von  diesen,  sondern  auch 
von  den  Unternehmern  her.  Letzteren  hat  insbesondere  das  Un¬ 
fallversicherungsgesetz  seit  seinem  Bestände  Anlaß  zu  lebhaft  vor¬ 
gebrachten  Beschwerden  gegeben,  die  sich  hauptsächlich  auf  das 
Deckungssystem  bezogen,  dem  eine  zu  starke  Belastung  der  In¬ 
dustrie  nachgesagt  wurde.  Später  kam  man  allerdings  zur  Über¬ 
zeugung,  daß  ein  Ersatz  des  geltenden  Kapitaldeckungssystems 
durch  das  sogenannte  Umlageverfahren  kaum  den  erwarteten  Effekt 
einer  wesentlichen  Entlastung  der  Industrie  haben  dürfte;  um  so 
mehr  wurden  dann  andere  Mängel  des  Gesetzes  in  den  Vorder¬ 
grund  geschoben:  die  Begünstigung  der  Landwirtschaft,  für  deren 
Unfälle  die  Industrie  zum  Teil  aufkommen  müsse;  die  ungleich¬ 
mäßige  Verteilung  der  Versicherungslasten,  hervorgerufen  durch 
die  willkürliche  Einreihung  der  Betriebe  in  hohe  Gefahrenklassen; 
das  territoriale  Organisationssystem,  welches  starke  und  schwache 
Industrien  zusammenkopple;  die  großen  Regien  der  Versicherungs¬ 
anstalten;  der  bureaukratische  Apparat  derselben.  Von  seiten  der 
Arbeiter  wurde  insbesondere  über  die  Unzulänglichkeit  der 

4* 


52 


Siegmund  Kaff, 


Leistungen  Klage  geführt,  den  geringen  Umfang  der  Versicherungs¬ 
pflicht,  das  umständliche  Rechtsverfahren,  den  Mangel  einer  Un¬ 
fallverhütung  und  das  Fehlen  eines  organischen  Zusammenhanges 
mit  den  Krankenkassen. 

Weniger  leidenschaftlich  war  die  Beschwerdeführung  hinsicht¬ 
lich  der  Krankenversicherung.  Doch  machten  sich  auch  hier  früh¬ 
zeitig  zahlreiche  große  Mängel  bemerkbar,  unter  welchen  freilich 
vorwiegend  die  Versicherten  allein  zu  leiden  hatten.  Die  meisten 
dieser  Mängel  lassen  sich  auf  die  starke  Zersplitterung  der  Organi¬ 
sationsformen  und  den  geringen  Umkreis  der  Versicherungspflicht 
reduzieren. 

Da  die  Wünsche  nach  einer  durchgreifenden  Reform  sowohl 
des  Unfall-  als  des  Krankenversicherungsgesetzes  allseitig  erhoben 
wurden,  entschloß  sich  die  Regierung  zur  Abhaltung  mündlicher 
Expertisen,  welchen  schriftliche  Umfragen  bei  den  Interessenten 
vorausgingen.  Ende  1895  beschäftigte  sich  der  durch  Experten 
verstärkte  Versicherungsbeirat  mit  der  Beratung  der  wünschens¬ 
werten  Abänderungen  des  Unfallversicherungsgesetzes.  Im  Früh¬ 
jahre  1897  folgte  sodann  die  vom  Ministerium  des  Innern  veran¬ 
staltete  Enquete  über  die  Reform  des  Krankenversicherungsgesetzes. 
Vor-  und  nachher  beschäftigten  sich  zahlreiche  Kongresse  der 
Unternehmer  aller  Kategorien  sowie  der  Arbeiter  mit  der  gleichen 
Angelegenheit,  so  daß  man  die  Reformfrage  als  eine  wohldiskutierte 
bezeichnen  konnte  und  in  der  Lage  war,  eine  Übersicht  über  die 
Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Arbeiterversicherung  zu  ge¬ 
winnen.  Insbesondere  in  Arbeiterkreisen  wurde  die  Materie  sehr 
eingehend  erörtert  und  auf  den  Krankenkassentagen  (1896,  1904, 
1905)  das  Thema  bis  in  die  kleinsten  Details  zergliedert. 

Es  ist  nun  vor  allem  nötig,  den  Standpunkt  der  Interessenten 
kennen  zu  lernen,  der  sich  in  den  Beschlüssen  der  Enquete  und 
der  erwähnten  Kassentage  am  deutlichsten  ausprägt.  Hinsichtlich 
der  Unfallversicherung  sprach  sich  die  Enquete  vom  Jahre 
1895  im  wesentlichen  für  folgende  Reformen  aus:  Ausdehnung  der 
Versicherungspflicht  auf  breitester  Basis  unter  Ausschluß  von  Aus¬ 
nahmen,  ferner  für  die  selbständige  Organisation  der  land-  und 
forstwirtschaftlichen  Betriebe,  für  die  verbesserte  Berechnung  des 
Jahresarbeitsverdienstes  und  der  Naturalbezüge,  die  Erhöhung  der 
Renten  bei  totaler  Invalidität,  Einführung  von  Minimalrenten,  die 
Aufhebung  der  Karenzzeit,  die  Festsetzung  eines  Minimums  und 
Maximums  für  die  Beerdigungskosten,  die  größere  Berücksichtigung  für 
Aszendenten  und  Deszendenten,  für  die  Beibehaltung  des  Kapital- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversichenuig  in  Österreich. 


53 


deckungsv erfahr en s,  eine  Beitragsleistung  des  Staates,  die  Förde¬ 
rung  der  Unfallverhütung  durch  Einreihung  gefährlicher  Betriebe 
in  höhere  Gefahrenklassen,  die  Beseitigung  des  zehnprozentigen 
Arbeiterbeitrags,  die  Aufhebung  des  gemeinsamen  Reservefonds, 
Einhebung  von  Verzugszinsen  für  rückständige  Beiträge,  Ein¬ 
führung  des  Lohnlistenzwanges,  Berechtigung  der  Anstalten  zum 
Zwecke  der  Unfallverhütung  Aufwendungen  zu  machen,  Einflu߬ 
nahme  auf  das  Heilverfahren,  Erweiterung  des  Begriffes  Betriebs¬ 
unfall,  Verbesserung  des  Verfahrens  bei  der  Unfallmeldung  und 
Unfallserhebung,  sowfle  bei  der  Rentenliquidierung,  Einsetzung  einer 
schiedsgerichtlichen  Berufungsinstanz,  verbesserte  Definition  des 
Schadensbegriffes,  Aufhebung  der  Unternehmerhaftpflicht,  Errich¬ 
tung  eines  Reichsversicherungsamtes,  Konstituierung  von  berufs¬ 
genossenschaftlichen  Fachabteilungen  innerhalb  der  Territorial¬ 
abteilungen  und  für  eine  Verbandsorganisation. 

Bezüglich  der  Krankenversicherung  gelangten  anläßlich 
der  Enquete  1897  hauptsächlich  nachstehende  Wünsche  zum  Aus¬ 
druck:  Erweiterung  der  Versicherungspflicht  (insbesondere  Ein¬ 
beziehung  der  land-  und  forstwirtschaftlichen  Arbeiter),  der  Haus¬ 
industriellen  und  Heimarbeiter,  der  Dienstboten,  der  bei  öffentlichen 
Korporationen  Angestellten,  der  Kleingewerbetreibenden  und  Klein¬ 
bauern,  Zentralisation  der  Krankenkassen  unter  Beseitigung  der 
verschiedenen  Kategorien,  Verbesserung  der  Verbandsorganisation 
des  Meldewesens,  Erweiterung  der  Kassenleistungen  insbesondere 
hinsichtlich  der  Dauer  und  Höhe;  Beseitigung  der  Karenzfrist, 
größere  Berücksichtigung  der  Familien  kranker  Kassenmitglieder 
und  der  Arbeitslosen ;  Herabsetzung  der  Maximalhöhe  des  an¬ 
zusammelnden  Reservefonds,  Erleichterung  der  freiwilligen  Versiche¬ 
rung,  Zulassung  der  Doppelversicherung,  Verbesserung  des  Wahl¬ 
verfahrens,  Entlastung  der  Kassen  von  den  Kosten  der  Betriebs¬ 
unfälle  und  (seitens  der  Arbeiterdelegierten  auch  der)  Spitalspflege. 

Selbstverständlich  sind  diese  Wünsche,  welche  zumeist  durch 
Majoritätsbeschlüsse  produziert  wurden,  nur  zum  Teil  der  Ausdruck 
der  Bestrebungen  seitens  der  verschiedenen  Interessentengruppen 
Das  kritische  Moment  überwog  so  sehr,  daß  dadurch  zwar  eine 
Klärung,  keineswegs  aber  eine  Lösung  des  Problems  in  allen 
Details  vorbereitet  wurde.  Auch  die  von  einzelnen  Korporationen 
wie  z.  B.  der  Wiener  Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt,  dem 
niederösterreichischen  Gewerbeverein,  den  Handelskammern  und 
den  verschiedenen  industriellen  Organisationen  ausgehenden  Denk¬ 
schriften  und  Gutachten  bewegen  sich  vorwiegend  nach  der  nega- 


54 


Siegmund  Kaff, 


tiven  Richtung.  Es  handelt  sich  mehr  um  die  Abwehr  und  Be¬ 
seitigung  von  Übelständen,  als  um  positive  Beiträge  und  Vorschläge 
zur  Reform.  Deutlicher  ausgesprochen  und  begründet  sind  die  von 
den  Arbeitern  auf  den  .sogenannten  Kassentagen  beschlossenen 
Forderungen. 

Insbesondere  der  zuletzt  (1905)  abgehaltene  Kassen  tag  for¬ 
mulierte  die  Wünsche  der  Arbeiterschaft  hinsichtlich  der  Reform 
der  bestehenden  Gesetzgebung  in  präziser  Weise.  Seine  Forde¬ 
rungen  bezüglich  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  lassen  sich 
wie  folgt  zusammenfassen:  Neben  einer  ausreichenden  Unfallver¬ 
hütung  wurde  die  Erweiterung  des  Kreises  der  Versicherung  mit 
Einbeziehung  der  Landwirtschaft,  der  Seeschiffahrt,  des  Handwerks, 
der  Hausindustriellen  usw.,  Individualversicherung,  Lohnlistenzwang, 
strafgerichtliche  Verfolgung  bei  Hinterziehung  von  Beiträgen,  Be¬ 
seitigung  des  Defizits  im  Wege  der  Amortisation  durch  die  Unter¬ 
nehmer,  die  es  verschuldet  haben,  Übernahme  der  Gewerbeinspek¬ 
tionskosten,  des  Aufwandes  für  Unfallverhütung,  der  Portoauslagen, 
sowie  der  Kosten  der  Statistik  durch  den  Staat,  Erweiterung  des 
Begriffes  Betriebsunfall,  Erhöhung  des  Rentenausmaßes  eventuell 
Erweiterung  der  Haftpflicht  der  Unternehmer,  Zugrundelegung  des 
wirklichen  Jahresarbeitsverdienstes,  Festsetzung  von  Minimalrenten 
für  Personen,  die  einen  Lohn  von  weniger  als  700  Kronen  beziehen, 
für  Lehrlinge,  Praktikanten  und  noch  nicht  ausgebildete  Personen 
überhaupt  —  in  letzterem  Falle  mit  entsprechender  Steigerung 
der  Rente  bei  zunehmendem  Alter,  Wegfall  der  Abfertigung. 
Ähnlich  lauten  die  Wünsche  hinsichtlich  der  Krankenversicherung. 
Sie  decken  sich  im  wesentlichen  mit  den  Beschlüssen  des  ersten 
und  zweiten  Kassentages,  wonach  die  obligatorische  Versicherung 
auf  alle  im  Lohn-  und  Gehaltsbezug  stehenden  Personen,  auch  auf 
Kleingewerbetreibende,  welche  nur  mit  Lehrlingen  oder  mit  ein 
oder  zwei  Gehilfen,  sowie  auch  auf  kleinbäuerliche  Unternehmer, 
welche  nur  mit  ihren  Angehörigen  arbeiten,  und  endlich  auf  die 
Hausindustrie  ausgedehnt,  das  Krankengeld  bis  zur  Höhe  von  100 
Proz.  des  unter  Einfluß  der  Versicherten  festzusetzenden  Lohnes 
erhöht  und  die  Unterstützungsdauer  bis  zu  einem  Jahre  verlängert, 
den  Arbeitslosen  der  Anspruch  durch  10  Wochen  gewahrt,  den 
Wöchnerinnen  die  Unterstützung  durch  6  Wochen  geleistet,  die 
Spitalspflege  unentgeltlich,  Rekonvaleszenten-  und  Angehörigen¬ 
versicherung  zulässig,  Arzte  und  Apothekerwesen  verstaatlicht 
werden  sollen.  Sehr  weitgehend  sind  auch  die  Wünsche  hinsicht¬ 
lich  der  Organisation  der  Versicherung.  Außer  der  allseitig  ge- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherun.o-  in  Österreich.  55 

forderten  Lostrennung  der  Bezirkskrankenkassenverbände  von  den 
Unfallversicherungsanstalten  wurde  verlangt:  die  Beseitigung  der 
verschiedenen  Kassenkategorien  und  ihr  Ersatz  durch  eine  Kassen- 
type,  welcher  neben  der  Entschädigung  in  Fällen  vorübergehender 
Erwerbsunfähigkeit,  Maßnahmen  der  Unfall-  und  Krankheitsver¬ 
hütung  und  zu  diesem  Zweck  auch  das  Recht  der  Überwachung 
der  versicherten  Betriebe  zugewiesen  werden  sollen.  Den  terri¬ 
torial  zu  organisierenden  Kassenverbänden  wäre  die  Unfall-,  In- 
validitäts-  und  Altersversicherung,  sowie  die  Witwen-  und  Waisen¬ 
versicherung  zur  Durchführung  zu  übergeben.  Ein  ßeichsverband 
mit  einem  Reichsver sicherungsamte  hätte  für  die  Rückversicherung 
und  einheitliche  Durchführung  des  ganzen  Versicherungswesens 
Sorge  zu  tragen.  Den  Verbänden  würde  überdies  obliegen:  Die 
Vertretung  der  gemeinsamen  Kasseninteressen,  die  Kontrolle  der 
Einrichtung  und  der  Gebahrung  der  Kasse,  die  Mitwirkung  bei 
Abschluß  von  Verträgen  mit  Ärzten,  Apotheken  und  Heilanstalten 
usw.,  die  Leistung  von  Rechtsschutz,  die  Retaxierung  der  Medi- 
kamentenrechnungen  und  die  Beschaffung  von  gemeinsamen  Be¬ 
zugsquellen  von  Verbandszeug  und  therapeutischen  Behelfen,  der 
Abschluß  von  Verträgen  mit  Kurorten  und  Badeanstalten,  die 
Regelung  der  Rekonvaleszenten-  und  Tuberkulosenheilpflege.  Im 
Zusammenhänge  mit  der  Organisationsfrage  verlangen  die  Kassen¬ 
tage  die  Einführung  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahl¬ 
rechtes  für  die  Versicherten  aller  Kassen  und  die  Verbesserung  des 
verwaltungsrecht-  sowie  des  schiedsgerichtlichen  Verfahrens  und 
der  Behördenorganisation  durch  Errichtung  eines  Reichsversiche¬ 
rungsamtes,  welches  aus  Arbeitern,  Unternehmern  und  richterlichen 
Funktionären  zusammengesetzt,  die  Rechtssprechung  und  Ent¬ 
scheidung  in  allen  administrativen  Fragen  übernehmen  soll  an 
Stelle  des  Verwaltungsgerichtshofes  und  jener  Ressorts  bei  den 
Zentralstellen,  die  heute  mit  Agenden  der  Arbeiterversicherung 
befaßt  sind,  während  in  den  unteren  Instanzen  durch  Beistellung 
eigener  Organe  für  die  Aufgaben  der  Arbeiterversicherung  Vor¬ 
sorge  getroffen  werden  sollte. 

Im  allgemeinen  ist  die  Haltung  des  Kassentages  gegenüber 
dem  Programm  eine  schroff  ablehnende  und  zwar  aus  vier  Haupt¬ 
gründen:  wegen  der  Überwälzung  eines  Teiles  der  Unfallslasten 
auf  die  Krankenkassen,  der  unzulänglich  befundenen  Reorganisation 
der  letzteren  und  der  Herabsetzung  der  Leistungen  in  der  Unfall- 
und  Krankenversicherung,  insbesondere  aber  wegen  der  Einschrän¬ 
kung  des  Selbstverwaltungsrechtes  der  Arbeiter.  Als  sonstige 


56 


Siegmund  Kaff, 

Mängel  des  Programms  werden  hingestellt:  die  unbefriedigende 
Erweiterung  des  Kreises  der  Versicherungspflichtigen,  der  Mangel 
einer  Witwen-  und  Waisen  Versicherung,  die  geringe  Zahl  der  Lohn¬ 
klassen,  die  langen  Wartefristen,  sowie  der  Ausschluß  der  unter 
16  und  über  60  Jahre  alten  Personen  von  der  Invaliditätsver¬ 
sicherung  und  die  Bureaukratisierung  des  ganzen  Verwaltungs¬ 
apparates. 

Noch  ziemlich  unklar  und  widerspruchsvoll  ist  die  Haltung 
der  Industrie.  Weder  liegen  seitens  ihrer  Verbände  noch  seitens 
der  Handelskammern  genügend  motivierte  umfangreiche  Gutachten 
vor,  die  erkennen  ließen,  wie  sich  die  Industrie  im  einzelnen  zu 
den  Reformfragen  der  Arbeiter  Versicherung,  welche  das  Regierungs¬ 
programm  aufgerollt  hat,  stellt.  Was  an  Äußerungen  bekannt 
geworden  ist,  deutet  darauf  hin,  daß  die  Industrie  vor  allem  einen 
Aufschub  der  Reform  wünscht,  soweit  es  sich  um  die  Einführung 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  handelt.  Als  dringlich 
wird  bloß  die  Reform  oder  richtiger  die  Beseitigung  der  Unfall¬ 
versicherung  erklärt,  während  man  im  übrigen  der  Reform  der 
Arbeiterversicherung  prinzipiell  zustimmt,  ohne  jedoch  die  Grund¬ 
bestimmungen  des  Regierungsprogramms  zu  akzeptieren.  In  diesem 
Sinne  äußerten  sich  zuletzt:  der  „Bund  österreichischer  Indu¬ 
strieller“  und  der  „Zentralverband  der  Industriellen  Österreichs“ 
auf  seinem  letzten  Verbandstage  vom  3.  Dezember  d.  J.,  wobei 
nicht  zu  verkennen  ist,  daß  zwischen  den  Vertretern  der  Gro߬ 
industrie  und  jenen  der  kleineren  und  mittleren  Betriebe  eine 
Differenz  in  der  Auffassung  besteht,  insofern  als  die  letzteren 
einer  Ergänzung  der  Arbeiterversicherung  weit  schärfer  opponieren 
als  die  ersteren. 

Was  die  Reform  außerordentlich  erschwert,  ist  nicht  bloß  der 
Umstand,  daß  die  Materien  des  Arbeiterversicherungsrechtes  un¬ 
gleichmäßig  ausgebildet  sind  und  daß  die  Ansprüche  an  die  Re¬ 
form  je  nach  der  wirtschaftlichen  Klassenzugehörigkeit  eine  ver¬ 
schiedene  ist,  sondern  auch  daß  die  historische  Rechtsbildung  eine 
verschiedene  Bewertung  der  einzelnen  Grundsätze  her.beigeführt 
hat.  Es  ist  deshalb  notwendig,  auch  einen  kurzen  Rückblick  auf 
die  Entwicklung  der  Gesetzgebung  zu  werfen.  Als  erste  gesetz¬ 
liche  Grundlage  für  die  Entstehung  von  Assoziationen  zum  Zwecke 
der  sozialen  Fürsorge  ist  das  Vereinspatent  vom  Jahre  1852 
zu  betrachten,  welches  jedoch  in  der  Praxis  sowohl  wegen  seiner 
ungünstigen  Bestimmungen  als  insbesondere  infolge  der  assoziations¬ 
feindlichen  Handhabung  seitens  der  Behörden  nur  in  ganz  wenigen 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


57 


Ausnahmefäll  eil  benutzt  worden  ist.  Weitaus  günstiger  war  das 
Vereinsgesetz  vom  Jahre  1867,  welches  zahlreichen  Hilfs¬ 
organisationen  der  Arbeiterschaft  —  sowohl  den  Gewerkvereinen 
als  auch  den  Unterstützungskassen  derselben  —  als  legale  Grund¬ 
lage  diente.  Als  im  Jahre  1880  die  Regierung  daranging,  die 
Staatsaufsicht  über  die  Assekurranzinstitute  zu  regeln  (durch  das 
sog.  Versicherungsregulativ  vom  1 8.  August  1880,  RGBl. 
Nr.  110),  versuchte  die  Regierung,  die  Unterstützungsvereine  der 
Arbeiter,  die  sich  auf  Grund  des  67er  Gesetzes  konstituiert  hatten, 
im  Sinne  des  §  2  dieses  Gesetzes  —  wonach  Vereine,  welche  Ver¬ 
sicherungsgeschäfte  betreiben,  dem  52er  Patent  unterstellt  werden 
sollen  —  die  bisher  als  Wohltätigkeits vereine  behandelten  Unter¬ 
stützungskassen  der  Arbeiter  von  dem  die  Staatsaufsicht  entbehr¬ 
lich  machenden  67er  Gesetze  abzudrängen.  Es  gelang  ihr  dies 
auch  hinsichtlich  jener  Vereinigungen,  die  ausschließlich  zur  Unter¬ 
stützung  in  Ivrankheits-  und  Invaliditätsfällen  gegründet  worden 
waren,  während  die  sog.  gewerkschaftlichen  Fachvereine  mit  ihren 
Unterstützungseinrichtungen  bis  in  die  jüngste  Zeit  (November  1902) 
von  dieser  Auffassung  verschont  blieben.  Wenngleich  nun  zuge¬ 
geben  werden  muß,  daß  das  67er  Gesetz  für  die  Regelung  des 
Unterstützungswesens  sich  nicht  eignet,  so  muß  doch  andererseits 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  auch  das  52er  Patent  für  diese 
Zwecke  nichts  weniger  als  tauglich  war,  weil  es  bloß  die  auf  ka¬ 
pitalistischer  Grundlage  gewerbsmäßig  betriebenen  Versicherungen 
im  Auge  hatte.  Dieser  Zustand  war  um  so  bedauerlicher,  als  auch 
die  ältere  Gewerbeordnung  vom  Jahre  1859  weder  hinsichtlich  des 
Obligatoriums  der  Gewerbsinliaber,  noch  hinsichtlich  der  Art  der 
Unterstützungseinrichtungen  eine  klare  Rechtslage  schuf.  Bloß  das 
Haftpflichtgesetz  vom  Jahre  1869  fixierte  für  die  Eisenbahn¬ 
bediensteten  einen  wirklichen  Rechtsanspruch  bei  Verunglückungen 
und  legte  den  Bahnen  eine  Ersatzflicht  auf,  soweit  die  Bahn  nicht 
zu  beweisen  in  der  Lage  ist,  daß  die  Ereignung  durch  einen  un¬ 
mittelbaren  Zufall  (höhere  Gewalt  —  vis  major)  oder  durch  eine 
unabwendbare  Handlung  einer  dritten  Person,  deren  Verschulden 
sie  nicht  zu  vertreten  hat,  oder  durch  Verschulden  des  Be¬ 
schuldigten  selbst  verursacht  wurde.  Im  übrigen  aber  wird  die 
Fürsorge  für  die  erwerbsunfähigen  Massen  den  Armenverwaltungen 
überlassen,  wiewohl  schon  damals  die  Einrichtungen  der  Armen¬ 
pflege  keineswegs  als  ausreichend  erkannt  werden  mußten  und  die 
im  Heimatsgesetze  vom  3.  Dezember  1863,  RGBl.  Nr.  105  ausge¬ 
sprochene  Pflicht  Verpflichtung  der  Gemeinden  zur  Armenver 


58 


Siegnmnd  Kaff, 


sorgung  angesichts  der  Schwäche  der  Gemeinden,  ihrer  Aufgabe 
in  dieser  Richtung  nachzukommen,  großenteils  auf  dem  Papiere  blieb. 

Unter  solchen  Umständen  entstand  die  Idee  einer  reichsgesetz¬ 
lichen  Organisation  des  Versicherungswesens  speziell  für  die  ar¬ 
beitenden  Klassen.  Die  zuerst  in  Deutschland  auf  diesem  Gebiete 
unternommenen  Versuche  trugen  überdies  dazu  bei,  daß  auch  in 
Österreich  der  Gedanke  aufgegriffen  wurde.  Es  entstand  zunächst 
das  Unfallversicherungsgesetz  vom  18.  Dezember  1887,  RGBl.  Nr.  1, 
welches  durch  die  Novelle  vom  20.  Juli  1894,  RGBL  Nr.  168  eine 
Ei* Weiterung  des  Kreises  der  Versicherungspflichtigen  erfuhr,  wobei 
insbesondere  die  bisher  bloß  auf  das  erwähnte  Haftpflichtgesetz 
angewiesenen  Eisenbahnbediensteten  in  Betracht  kamen.  Diese 
Verschmelzung  des  Haftpflichtprinzipes  mit  dem  Gedanken  der 
sozialen  Versicherung  zeigt,  daß  die  Unfallversicherung  der  Ersatz 
für  die  individuelle  Haftung  der  Betriebsinhaber  ist  und  daß  sie 
die  Bestimmung  hat,  die  Lasten,  welche  die  Anerkennung  des 
Schadenersatzprinzipes  der  Haftpflichtgesetzgebung  dem  einzelnen 
Unternehmer  auf  bürdete,  auf  die  Allgemeinheit  zu  übertragen. 
Dabei  konnten  der  Natur  der  Sache  nach  nur  solche  Betriebe  in 
Betracht  kommen,  in  welchen  eine  besondere  spezifische  Unfalls¬ 
gefahr  vorhanden  ist,  die  ebenso  wie  im  Verkehrswesen  durch  eine 
plötzliche  Einwirkung  von  außen  eine  Verunglückung  herbeiführt. 

Ohne  Rücksicht  auf  die,  wenn  auch  langsam  und  lange  un¬ 
merkbar  wirkenden  Gesundheitsschädigungen,  die  sonst  in  den  Be¬ 
trieben  den  Arbeiter  bedrohen,  bezweckt  das  Krankenver¬ 
sicherungsgesetz  vom  30.  März  1888,  RGBl.  Nr.  33  die  Kranken¬ 
unterstützung  in  allen  Fällen,  in  welchen  vorübergehende  Arbeits¬ 
unfähigkeit  eintritt,  wobei  zu  bemerken  ist,  daß  der  Kreis  der 
Unfallversicherungspflichtigen  mit  jenen  der  Krankenversicherungs¬ 
pflichtigen  durchaus  nicht  kongruent  ist.  Das  Gesetz  mußte  als¬ 
bald  durch  die  Novelle  vom  4.  April  1889,  RGBl.  Nr.  39  amendiert 
werden,  da  es  sich  in  einem  Punkte  (Übertragung  der  Reserve¬ 
fondsanteile  ausscheidender  Kassenmitglieder)  undurchführbar  zeigte. 

Neben  diesen  zwei  Hauptgesetzen  kommt  ein  spezielles  für  die 
Bergarbeiter  in  Betracht.  Die  unzureichenden  Vorschriften  des 
allgemeinen  Berggesetzes  vom  Jahre  1854  über  die  Bruderladen 
wurden  durch  das  Gesetz  vom  28.  Juni  1889,  RGBl.  Nr.  127  ersetzt. 
Mit  wie  geringem  Erfolge,  beweist  die  Tatsache,  daß  dasselbe 
dreimal  durch  Novellen  ergänzt  werden  mußte  und  zwar:  Durch 
das  Gesetz  vom  17.  Januar  1890,  RGBl.  Nr.  14,  das  Gesetz  vom 
30  Dezember  1891,  RGBl.  Nr.  3  ex  1892  und  durch  das  Gesetz 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


59 


vom  17.  September  1892,  RGBL  Nr.  178,  wozu  noch  die  Ausführungs¬ 
verordnung'  vom  11.  September  1889,  RGB.  Nr.  148  und  der  Erlaß 
über  das  Musterstatut  vom  15.  September  1890,  Z.  16  906  kommt, 

Anfangs  der  Neunziger  Jahre  wurde  merkwürdigerweise  ein 
Versuch  zur  Regelung  des  freien  Hilfskassen wesens  unternommen, 
obwohl  die  bestehenden  Vereinskassen  das  52  er  Vereinspatent, 
sowie  das  Krankenversicherungsgesetz  durchaus  vorzogen  und  für 
sie  auch  sonst  keine  Notwendigkeit  bestand,  die  gesetzliche  Grund¬ 
lage  zu  verändern.  Mittlerweile  war  durch  das  verbesserte  Asse¬ 
kurranzregulativ  vom  5.  Mai  1896,  RGBl.  Nr.  31  der  Regierung 
über  die.  Versicherungskörper  der  kleinen  Leute  wie  über  die  ge¬ 
schäftlich  betriebenen  Institute  ein  erweitertes  Aufsichtsrecht  ein¬ 
geräumt  worden.  Allein  man  glaubte ,  daß  für  die  nicht  ver¬ 
sicherungspflichtigen  Kreise  der  Bevölkerung  —  insbesondere  die 
Gewerbetreibenden  —  die  geltende  Gesetzgebung  keine  passende 
Grundlage  bilde  und  entschloß  sich  daher  nachträglich  noch  zur 
Herausgabe  des  Gesetzes  vom  16.  Juli  1892  RGBl.  Nr.  202  über 
die  registrierten  Hilfskassen,  ohne  daß  jedoch  die  darauf 
gegründeten  Hoffnungen  in  Erfüllung  gegangen  wären.  An  diesem 
Tatbestände  wurde  auch  dann  nicht  viel  geändert,  als  durch  die 
Gewerbe-Gesetznovelle  vom  Jahre  1897  der  Versuch  gemacht  wurde, 
die  Krankenversicherung  der  Kleingewerbetreibenden  dadurch  zu 
fördern,  daß  man  den  Genossenschaften  die  Befugnis  erteilte,  auf 
Grund  eines  qualifizierten  Beschlusses  den  V.ersicherungszwang  für 
alle  Genossenschaftsmitglieder  auszusprechen. 

Neben  den  erwähnten  Gesetzen  kommen  endlich  noch  jene  Be¬ 
stimmungen  des  5.  Hauptstückes  der  Gewerbeordnung  in 
Betracht,  welche  von  den  seitens  der  Genossenschaften  zu  er¬ 
richtenden  Gehilfen- Krankenkassen  und  von  der  Krankenfürsorge 
für  die  Lehrlinge  handeln. 

Diese  knappe  Aufzählung  der  verschiedenen  Gesetze  läßt  nicht 
nur  den  äußeren  Entwicklungsgang  der  die  soziale  Versicherung 
betreffenden  Gesetzgebung  in  Österreich  erkennen,  sondern  verrät 
auch ,  welche  Gesichtspunkte  und  Interessen  in  den  einzelnen 
Stadien  der  Entwicklung  maßgebend  waren.  Diese  aber  erklären 
es,  weshalb  sich  heute  nicht  bloß  theoretisch  als  zweckmäßig  er¬ 
kannten,  sondern  noch  vielmehr  praktisch  empfundenen  Notwendig¬ 
keit  einer  Vereinfachung  und  Vereinheitlichung  der  Versicherungs¬ 
organisation  so  große  Hindernisse  entgegen  türmen,  wiewohl  es 
sich  bloß  um  eine  organisatorische  Verschmelzung  der  drei  Ver¬ 
sicherungskörper  und  nicht  etwa  um  eine  finanzielle  Vereinigung 


60  Siegmund  Kaff,  Der  Ausbau  der  Arbeiterversi'ch erring  in  Österreich. 

der  Versicherungszweige  handelt.  Freilich  darf  man  neben  den 
historischen  auch  die  politischen  Momente,  die  übrigens  mitunter 
als  soziale  ausgegeben  werden,  nicht  unterschätzen.  Darauf  ist  es 
beispielsweise  zurückzuführen,  daß  die  Regierung  im  Jahre  1901 
für  die  verschiedenen  Kategorien  der  privaten  Angestellten 
mit  Beamtencharakter  eine  eigene  Pensionsversicherung  vorschlug. 
Wie  schwierig  aber  eine  solche  versicherungstechnische  Isolierung 
einzelner  versicherungsbedürftiger  Gruppen  der  lohnarbeitenden 
Klassen  ist,  geht  unter  anderem  daraus  hervor,  daß  die  Regierung 
sich  genötigt  sah,  den  Privatbeamten  auch  die  Handlungsgehilfen 
anzuschließen.  Nichtsdestoweniger  erschienen  dem  sozialpolitischen 
Ausschüsse  des  Abgeordnetenhauses  die  aus  einer  solchen  Sonder¬ 
versicherung  erwachsenden  Lasten  zu  hoch  und  er  vollzog  deshalb 
in  seinem  Elaborate  eine  solche  Herabsetzung  der  Anwartschaften, 
daß  der  Wert  einer  Spezialversicherung  für  die  Privatbeamten 
nahezu  illusorisch  gemacht  wurde.  Es  ist  damit  der  unwider¬ 
legliche  Beweis  erbracht,  daß  ohne  ausgiebigen  Staatszuschuß  eine 
Spezialversicherung  nicht  durchführbar  ist  und  daß  es  sich  sowohl 
im  Interesse  der  Versicherungsbedürftigen  als  ihrer  Dienstgeber 
empfiehlt,  die  Privatbeamten  in  die  allgemeine  Versicherung  ein¬ 
zubeziehen. 

Aber  davon  abgesehen,  ist  die  versicherungstechnische  Ab¬ 
sonderung  irgend  einer  sozialen  Klasse  erfahrungsgemäß  eine  den 
Interessen  der  Gesamtheit  abträgliche  Sache.  Es  bedarf  deshalb 
nicht  erst  des  gefährlichen  Präjudizes  einer  eigenen  Beamten¬ 
versicherung,  um  das  Bedenkliche  eines  solchen  Experimentes  zu 
widerraten.  Die  Beispiele  der  Berg-  und  Eisenbahnarbeiter,  der 
Wiener  Kommunal-  und  der  fürstlich  Schwarzenbergschen  Arbeiter 
sind  lehrreich  genug,  um  Ausnahmsverhältnisse  auf  dem  Gebiete 
der  sozialen  Versicherung  als  mit  dem  Wesen  und  Grundsätzen 
der  letzteren  im  Widerspruch  stehend,  erscheinen  zu  lassen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Sozial  medizinische  Kasuistik 


Konkurrenz  zwischen  Berufsgenossenschaft  und  Krankenkasse.  (Die  Ar- 

beiterversorgung  1908.  Nr.  12.) 

Eine  Krankenkasse  hatte  auf  Beschwerde  hei  der  Aufsichtsbehörde  einem 
LTnf  all  verletzten  Unterstützung  über  die  13.  Woche  hinaus  zuteil  werden  lassen. 
Sie  erhebt  vor  Gericht  gegen  ihn  Anspruch  auf  Rückerstattung  dieser  Unter¬ 
stützung  mit  der  Begründung,  daß  nicht  sie,  sondern  die  Berufsgenossenschaft 
verpflichtet  sei,  für  den  Verletzten  nach  der  13.  Woche  zu  sorgen.  Die  Klage 
wird  aus  folgenden  Gründen  abgewiesen:  Durch  Artikel  I,  IV  des  Gesetzes  be¬ 
treffend  weitere  Änderungen  des  KVG.  vom  25.  Mai  1903  ist  die  Dauer  der 
Krankenfürsorge  der  Krankenkassen  von  13  auf  26  Wochen  ausgedehnt  worden. 
Eine  entsprechende  Änderung  hat  auch  der  §  11  des  Statuts  der  Klägerin  vom 
9.  Juni  1903  erfahren.  Trotzdem  hat  die  Klägerin  nach  Ablauf  der  13.  Woche 
die  Fortgewährung  der  Krankenunterstützung  verweigert,  in  der  Meinung,  daß 
ihre  Verpflichtung  in  dem  Augenblicke  ende,  wo  die  Entschädigungspflicht  der 
Berufsgenossenschaft  einsetze,  also  mit,  Beginn  der  14.  Woche  nach  Eintritt  des 
Unfalls.  Sie  geht  dabei  von  der  Ansicht  aus,  daß  eine  Verpflichtung  der  Kranken¬ 
kasse  zugleich  neben  der  Verpflichtung  der  Berufsgenossenschaft  ausgeschlossen 
sei,  da  aus  dem  Gesetze  klar  hervorgehe,  daß  der  von  einem  Unfall  Betroffene 
nur  einmal  Unterstützung  erhalten  solle.  Wenn  die  Klägerin  behauptet,  daß  aus 
§  25  GUVG.  nicht  zu  folgern  sei,  daß  den  infolge  von  Unfällen  erkrankten  Ar¬ 
beitern  neben  dem  Anspruch  gegen  die  Berufsgenossenschaft  ein  Anspruch  gegen 
die  Krankenkasse  zustehe,  so  ist  ihr  darin  Recht  zu  geben,  wie  andererseits  ihre 
Ansicht  unrichtig  ist,  daß  aus  diesem  Paragraph  gerade  das  Gegenteil  hervorgehe. 
Denn  der  Paragraph  handelt  doch  gerade  von  der  Möglichkeit  eines  Zusammen¬ 
treffens  zwischen  den  Verpflichtungen  der  Berufsgenossenschaft  und  der  Kranken¬ 
kasse,  und  daraus,  daß  die  Krankenkassen  für,  während  der  Dauer  der  Ver¬ 
pflichtungen  der  Berufsgenossenschaften  geleistete  Unterstützungen  von  diesen 
Ersatz  verlangen  können,  geht  doch  durchaus  nicht  hervor,  daß  sie  aus  diesem 
Grunde  zu  solchen  Leistungen  nicht  verpflichtet  sind.  Es  besteht  also  hier  ge¬ 
wissermaßen  eine  Konkurrenz  zwischen  den  Verpflichtungen  der  Krankenkasse 
und  der  Berufsgenossenschaft.  Daß  eine  solche  im  Gesetz  beabsichtigt  worden 
ist,  geht  aus  der  Begründung  der  Novelle  von  1905  hervor,  wro  es  auf  Seite  8 
unter  anderem  heißt:  „Eine  ähnliche  Rechtslage,  wie  sie  künftig  eintreten  wird, 
nämlich  das  Nebeneinanderbestehen  von  Fürsorgepflichten  der  Krankenkassen 
und  der  Berufsgenossenschaften  war  schon  bisher  da  vorhanden,  wo  Kranken- 


62 


Sozialmedizinisclie  Kasuistik. 


kassen  die  Unterstützung'sdauer  statutarisch  über  13  Wochen  hinaus  verlängert 
hatten.  Für  den  Verletzten  bietet  die  im  Entwurf  vorgesehene  Verlängerung  der 
Unterstützungspflicht  der  Krankenkassen  den  Vorteil,  daß  Fälle,  in  welchen  die 
Fürsorgepflicht  der  Krankenkasse  beendet  und  diejenige  der  Berufsgenossenschaft 
noch  nicht  festgestellt  ist,  sich  wesentlich  vermindern,  wenn  nicht  völlig  auf¬ 
hören  werden.  Denn  die  Verpflichtung  der  Krankenkasse  zur  Gewährung  der 
Unterstützung  wird  nicht  durch  die  Annahme  aufgehoben,  daß  die  Erwerbs¬ 
unfähigkeit  durch  einen  Unfall  herbeigeführt  worden  sei.  Hat  künftig  hiernach 
eine  Krankenkasse  Unterstützung  für  die  Zeit  vom  Beginn  der  14.  Woche  ge¬ 
leistet,  so  steht  ihr  der  im  UVG.  geordnete  Ersatzanspruch  gegen  die  Berufs¬ 
genossenschaft  zu“  (§  25  GUVG.).  Hier  ist  also  der  Krankenkasse  der  Weg  ge¬ 
wiesen,  wie  sie  für  ihr&  Leistungen  Ersatz  erlangen  kann. 

Gewöhnung  an  Verlust  von  Gliedmaßen.  (Spruchsitzung  des  Reichsversiche- 
rungsamtes  vom  5.  Oktober  1905.) 

Welchen  Wert  die  jahrelange  Gewöhnung  bei  Verlust  von  Gliedmaßen  haben 
kann,  wird  durch  nachfolgende  Entscheidung  des  Reichsversicherungsamtes 
illustriert,  bei  der  es  sich  um  einen  Arbeiter  handelt,  welcher  das  Nagelglied  des 
rechten  Daumens  glatt  verloren  hatte.  Unter  Aufhebung  des  Urteils  des  Schieds¬ 
gerichts  für  Arbeiterversicherung  in  M.  vom  6.  Mai  1905  Avird  die  Rente  des 
Klägers  vom  1.  Februar  1905  ab  aufgehoben.  Gründe:  Als  Folge  des  Unfalls 
vom  3.  September  1894  besteht  lediglich  der  glatte  Verlust  des  Nagelgliedes  am 
rechten  Daumen.  Unzweifelhaft  ist  in  den  mehr  als  zehn  Jahren  nach  dem  Un¬ 
fall  eine  vollständige  Angewöhnung  an  den  veränderten  Zustand  der  rechten 
Hand  eingetreten.  Hierin  ist  die  Avesentliche  Besserung  zu  finden.  Der  glatte 
Verlust  des  rechten  Daumennagelgliedes  bedingt  nur  unter  besonderen  Verhält¬ 
nissen  noch  nach  eingetretener  Angewöhnung  eine  Minderung  der  Erwerbsfähig- 
keit.  Solche  Verhältnisse  liegen  hier  nicht  vor.  Der  Kläger  ist  nicht  gelernter 
Arbeiter,  mag  er  auch  die  eine  oder  die  andere  Tätigkeit,  die  er  vor  dem  Unfall 
ausüben  konnte,  nicht  mehr  verrichten  können,  so  besteht  doch  kein  Bedenken, 
daß  er  auf  dem  allgemeinen  Arbeitsmarkt,  noch  dazu  im  Osten  der  preußischen 
Monarchie,  eine  annähernd  ebenso  lohnende  Tätigkeit  finden  kann,  Avie  ein  voll¬ 
ständig  gesunder  Mann. 

Ärztliche  Gutachtertätigkeit  hei  den  Berufsgenossenscliaften.  (Die  Berufs¬ 
genossenschaft,  Nr.  8,  1906.) 

Arzte,  Avelche  mit  Berufsgenossenschaften  und  Krankenkassen  beruflich  viel 
zu  tun  haben,  erleiden  häufig  erhebliche  materielle  Schädigungen  durch  die 
latente  Gegnerschaft,  Avelche  die  letzteren  gegen  alles  hegen,  Avas  mit  den  Be¬ 
rufsgenossenschaften  in  Konnex  steht.  So  hat  in  Berlin  die  größte  Gruppe  von 
Kassen  den  Satz  proklamiert,  daß  Arzte,  Avelche  mit  Berufsgenossenschaften  in 
einem  Vertragsverhältnis  stehen,  nicht  als  Kassenärzte  angestellt  Averden  dürfen. 
Eine  Rekursentscheidung  des  Reichsversicherungsamtes  vom  17.  November  1905 
spricht  sich  nun  dahin  aus,  daß  Ärzte,  mit  welchen  eine  Berufsgenossenschaft  ein 
Abkommen  lediglich  darüber  getroffen  hat,  nach  Avelchen  Sätzen  sie  Honorare  für 
Gutachten  von  ihr  beanspruchen  dürfen,  nicht  in  einem  „Vertragsverhältnis“  (§  69 
Abs.  3  GUVG.)  zu  der  Berufsgenossenschaft  stehen. 

Erhält  ein  arbeitswilliger  Arbeiter,  der  während  eines  Streikes  von 
Ausständigen  auf  dem  Wege  zur  Arbeit  mißhandelt  wird,  Unfall¬ 
rente  1  (Die  Berufsgenossenschaft,  Nr.  4,  1906.) 


Sozialmediziniscke  Kasuistik. 


63 


Diese  Frage  von  weittragender  Bedeutung  hat  das  Reichsversicherungsamt 
in  einer  Entscheidung  vom  16.  Juni  1905  bejaht.  Der  Entscheidung  lag  folgender 
Sachverhalt  zugrunde:  Der  Maurerpolier  K.  begab  sich  am  27.  April  1904  morgens 
57a  Uhr  zur  Arbeit.  In  der  Nähe  seiner  Wohnung  wurde  er  von  zwei  aus- 
gesperrten  Bauarbeitern  körperlich  mißhandelt.  Der  Verletzte  erhob  Unfall¬ 
entschädigungsansprüche,  indem  er  geltend  machte,  daß  die  Veranlassung  zur 
Mißhandlung  in  seiner  Betriebstätigkeit  gelegen  habe,  die  Verletzung  sich  also 
noch  als  ein  Ausfluß  der  Betriebsgefahren  darstelle.  Der  Fall  sei  anders  zu  be¬ 
urteilen  als  diejenigen  Unfälle,  die  sich  infolge  der  Gefahren  des  täglichen  Lebens 
auf  dem  Wege  zur  Arbeit  ereigneten.  Die  Berufsgenossenschaft  und  das  Schieds¬ 
gericht  verhielten  sich  ablehnend;  die  erstere  wandte  insbesondere  ein,  daß  K. 
sich  im  eigenen  wirtschaftlichen  Interesse,  nicht  etwa  im  Interesse  des  Betriebes, 
dem  Ausstande  nicht  angeschlossen  habe  und  die  Mißhandlung  nicht  in  seiner 
Eigenschaft  als  Polier  seines  Arbeitgebers,  sondern  als  unliebsamer  wirtschaft¬ 
licher  Konkurrent  der  feiernden  Arbeiter  habe  dulden  müssen.  Dieser  Anschauung 
ist  das  Reichsversicherungsamt  in  seiner  die  Berufsgenossenschaft  verurteilenden 
Entscheidung  mit  folgenden  Ausführungen  entgegengetreten :  „K.  ist  keineswegs 
einer  Gefahr  des  täglichen  Lebens  erlegen:  er  ist  vielmehr  einer  besonders  ge¬ 
arteten  Gefahr  zum  Opfer  gefallen,  der  andere  Straßenpassanten  nicht  ausgesetzt 
waren,  sondern  die  gerade  ihn  wegen  seiner  Betriebstätigkeit  bedrohte.  In 
Zeiten  des  Streiks  oder  der  Aussperrung  tritt  erfahrungsgemäß  für  die  Arbeits¬ 
willigen  zu  den  technischen  Gefahren  des  Baubetriebes  noch  die  weitere  Gefahr, 
von  den  feiernden  Arbeitern  bedroht  und  angegriffen  zu  werden.  In  solchen 
Zeiten  erstreckt  sich  daher  der  Gefahrenbereich  des  Betriebes  über  die  Betriebs¬ 
stätte  hinaus,  weil  seine  Arbeiter  alsdann  auch  außerhalb  der  letzteren  infolge 
ihrer  Betriebstätigkeit  besonderen,  nur  ihnen  drohenden  Gefahren  ausgesetzt  sind. 
Der  Umstand,  daß  K.  die  Betriebsstätte  im  Augenblicke  des  Überfalles  noch  nicht 
erreicht  und  seine  Arbeit  noch  nicht  aufgenommen  hatte,  steht  daher  der  An¬ 
nahme  eines  Betriebsunfalles  nicht  entgegen.  Dazu  kommt,  daß,  während  im 
allgemeinen  der  Weg  zur  Betriebsstätte  überwiegend  im  eigenen  wirtschaftlichen 
Interesse  des  Arbeiters  unternommen  wird  —  bei  den  zur  Zeit  des  Unfalls  herr¬ 
schenden  Arbeitsverhältnissen  der  Betriebsunternehmer  in  mindestens  gleich  hohem 
Maße  daran  interessiert  war,  daß  die  Arbeitswilligen  sich  zur  Arbeit  einfanden. 
Es  entfällt  daher  vorliegendenfalls  auch  der  Grund,  der  hauptsächlich  dafür  be¬ 
stimmend  gewesen  ist,  die  den  Arbeiter  auf  dem  Wege  'von  und  zur  Arbeit  zu¬ 
stoßenden  Unfälle  von  der  Versicherungspflicht  auszunehmen. 

Beurteilung  der  Erwerbsbeschränkung  nach  Kopfverletzung.  (Liniger- 
Bonn,  Monatsschrift  für  Unfallheilkunde,  1906.) 

Nach  einer  schweren  Kopfverletzung  mit  anscheinend  glatter  Heilung 
wurden  einem  Verletzten  30  Proz.  Rente  zuerkannt.  Die  lebhaften  Beschwerden 
wurden  als  Übertreibung  bezeichnet.  Nach  ll|2  Jahren  erfolgte  der  Tod  an 
Meningitis  und  Hirnerweichung.  Der  Sektionsbefund  war  folgender :  Entzündung 
der  Hirnhaut  in  großer  Ausdehnung,  Erweichung  des  Gehirns  im  Bereiche  des 
linken  Schläfen-  und  Stirnlappens,  frische  Entzündung  und  Blutung.  Daß  die 
Gehirnveränderungen  schon  lange  bestanden,  beweist  die  vom  Hausarzt  nach¬ 
gewiesene  Schwäche  des  rechten  Armes.  Die  Gehirnerweichung  saß  genau  an 
der  Stelle  des  Gehirnes,  wo  das  Zentrum  des  Armes  liegt.  Der  Verletzte  war 
also  kein  Übertreiber  und  es  ist  ihm  hoch  anzurechnen,  daß  er  mit  seinem  Ge- 


64 


Sozialmedizinische  Kasuistik.  —  Medizinalstatistische  Daten. 


himleiden  noch  gearbeitet  hat.  Er  verdiente  nicht  30  Proz.,  sondern  Vollrente. 
Der  Fall  zeigt,  wie  vorsichtig  man  bei  der  Beurteilung  der  Folgen  von  Schädel¬ 
verletzungen  sein  soll. 

Die  Verschlimmerung  bösartiger  Geschwülste  als  Unfallfolge.  (Franz 
Honigmann,  Monatsschrift  für  Unfallheilkunde,  1906.) 

Bei  einem  Manne,  welcher  durch  Fall  Verschlimmerung  einer  Geschwulst 
erlitten  haben  soll,  welche  schließlich  mit  dem  Tode  endete,  lehnte  das  Reichs¬ 
versicherungsamt,  weil  eine  Verschlimmerung  als  Unfallfolge  nicht  erwiesen  sei, 
jeden  Zusammenhang  ab.  H.  macht  hierbei  auf  folgende  von  Vries  aufgestellten 
Momente  aufmerksam.  1.  Der  Verletzte  muß  vor  dem  Unfall  noch  eine  geAvisse 
nennenswerte  Erwerbsfähigkeit  besessen  haben.  2.  Die  Erwerbsfähigkeit  muß 
nach  dem  Unfall  geringer  geworden  sein  und  3.  soll  zAvischen  der  Abnahme  der 
Erwerbsfähigkeit  und  dem  Unfall  ein  Zusammenhang  bestehen.  Einen  strikten 
BeAveis  kann  man  natürlich  nicht  verlangen.  Es  genügt  hohe  Wahrscheinlichkeit. 
Das  Reichsversicherungsamt  betont  ausdrücklich:  Wollte  man  unter  allen  Um¬ 
ständen  einen  strikten  Nachweis  verlangen,  so  Aviirde  man  damit  gegen  den  Geist 
der  Gesetzgebung  verstoßen.  Die  Erfahrungen  sprechen  dafür,  daß  ein  bis  dahin 
langsam  Avachsender  Tumor  zuweilen  durch  ein  Trauma  zu  rascherem  Wachstum 
angeregt  wird.  Ein  Zusammenhang  muß  als  enviesen  angesehen  Averden,  wenn 
die  Symptome,  die  auf  eine  Verschlimmerung  des  Leidens  hinweisen,  sich  un¬ 
mittelbar  an  die  Verletzung  anschließen,  so  daß  die  Kontinuität  der  Erschei¬ 
nungen  nachzuAveisen  ist.  Ernst  Joseph. 


Medizinalstatistiselie  Daten. 

1.  Die  Abnahme  der  Totgeburten. 

In  vielen  europäischen  Staaten  Avurde  ein  Rückgang  der  Totgeburten  in  den 
letzten  Jahrzehnten  nachgeAviesen.  Es  mußte  jedoch  hierbei  in  Frage  kommen, 
ob  nicht  dieser  Rückgang  durch  Änderungen  in  der  Art  der  Aufzeichnung  vor¬ 
getäuscht  Avürde.  Daß  dies  nicht  der  Fall  ist,  ergibt  sich  aus  der  dänischen  Sta¬ 
tistik,  in  Avelcher  bis  zum  Jahre  1860  zurück  die  am  1.  Lebenstage  gestorbenen 
Kinder  gesondert  aufgeführt  Averden.  Die  Totgeburtsziffer  ist  in  Dänemark  von 
4,3  in  der  Periode  1841 — 50  auf  2,5  in  den  Jahren  1891 — 1900  zurückgegangen. 
Die  Kindersterblichkeit  ist  sich  in  dieser  Zeit  annähernd  gleichgeblieben ;  sie  Avar : 


1861- 

-70  •  13,4 

1881—90 

13,5 

1871- 

-80  13,8 

1891—1900 

13,5 

Von 

1000  Geborenen  überhaupt  sind  in 

Dänemark : 

männliches  Geschlecht 

Aveibliches  Geschlecht 

totgeboren  am  }■  p» 
ö  gestorben 

zusammen 

totgeboren 

am  1.  Tag 
gestorben 

zusammen 

1860—69 

43,2 

10,6 

53,8 

34,5 

8,1 

42,6 

1870-79 

36,6 

10,4 

47,0 

29,7 

7,7 

37,4 

1880—89 

31.1 

10,3 

41,4 

25,5 

7,8 

33,3 

1890—1900  26,7 

12,0 

38,7 

22,4 

9,1 

31,5 

Medizinalstatistische  Daten. 


65 


Jm  letzten  Jahrzehnt  wurden  anscheinend  manche  Neugeborene  als  lebend¬ 
geboren  eingetragen,  bei  denen  früher  Totgeburt  angenommen  worden  wäre,  doch 
zeigt  sich  auch  in  ihm  eine  beträchtliche  Abnahme  der  Totgeburten.  Die  Ur¬ 
sache  liegt  hauptsächlich  in  der  allgemeinen  Besserung  der  sozialen  Lage.  (Nach 
Befolkningsforholdene  i  Danmark  i  det  19.  aarhundrede.  Kopenhagen  1905,  S.  134  f.) 

2.  Die  Sterblichkeit  an  Lungenschwindsucht  in  Schweden 

1751—1830. 

In  Schweden  wurde  1686  den  Pfarrern  die  Führung  von  Familienregistern 
auferlegt,  die  von  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  an  statistisch  verwertet  wurden. 
Von  1751  an  mußte  von  den  Pfarrern  auch  die  Todesursache  eingetragen  werden ; 
letztere  wurde  also  in  der  Weise  erhoben,  wie  dies  heute  noch  im  größten  Teile 
Preußens  der  Fall  ist.  Es  waren  hierzu  besondere  Todesursachenverzeichnisse 
ausgearbeitet,  die  im  Laufe  der  Zeit  mehrfach  wechselten;  das  erste  von  1751 — 73 
hatte  33  Nummern,  das  zweite  (1774 — 1801)  41,  das  dritte  (1802 — 10)  33,  das 
vierte  (1811 — 20)  35,  das  fünfte  (1821— 30)  34.  Im  Jahre  1831  wurde  den  Pfarrern 
die  Verpflichtung,  bei  allen  Sterbefällen  die  Art  der  Erkrankung  einzutragen,  ab¬ 
genommen,  da  man  einsah,  daß  ihre  Einträge  einer  wissenschaftlichen  Kritik  oft 
nicht  standhalten  konnten;  es  wurden  daher  von  ihnen  von  diesem  Jahre  an 
nur  die  epidemischen  Krankheiten,  die  Unfälle  und  Selbstmorde  in  die  Leichen¬ 
register  eingetragen,  wie  dies  heute  in  ScliAveden  auf  dem  Lande  noch  der  Brauch 
ist  (in  den  Städten  muß  für  jeden  Sterbefall  eine  ärztliche  Bescheinigung 
beigebracht  werden). 

G.  Sundbärg  (Mortalite  par  tuberculose  pulmonaire  en  Suede  pendant  les 
annees  1751 — 1830  in  La  lutte  contre  la  Tuberculose  en  Suede  Upsala  1905, 
S.  164)  hat  es  versucht,  aus  den  alten  Zusammenstellungen  die  Häufigkeit  der 
Tuberkulose  zu  berechnen.  Leider  ist  die  Bezeichnung  ungleichmäßig.  In  den 
Jahren  1751 — 73  sind  die  Lungenkrankheiten  und  Phthisis  (lungsot)  in  einer 
Kubrik,  die  Abzehrung  (tvinsot)  getrennt  aufgeführt,  1774 — 1801  lungsot  und 
tvinsot  getrennt,  1802—20  sind  letztere  beide  Todesursachen  vereinigt,  1821 — 30 
wieder  getrennt.  Phthisis,  Abzehrung  und  Hämoptoe,  welch  letztere  stets  für 
sich  aufgeführt  wird,  hat  Sundbärg  zusammen  als  Lungentuberkulose  gerechnet, 
in  der  Periode  1751—73  wurde  Phthisis  nach  dem  Verhältnis  der  späteren  Jahre 
rechnerisch  ausgeschieden.  So  kam  Sundbärg  zu  den  folgenden  Ziffern.  Auf 


1000  Einwohner  starben  in 

Schweden : 

überhaupt 

an  Lungenschwindsucht 

1751-60 

27,4 

2,1 

1761—70 

27,7 

2,1 

1771—80 

28,9 

2,1 

1781—90 

27,7 

2,3 

1791—1800 

25,4 

2,4 

1801—10 

27,9 

2,5 

1811—20 

25,8 

2,7 

1821-30 

23,6 

2,8 

Ein  Vergleich  mit  der  Gegenwart  läßt  sich  leider  nicht  geben,  da  die 
Lungenschwindsucht  nicht  mehr  zu  den  von  den  Pfarrern  erhobenen  Krankheiten 
gehört;  in  sämtlichen  schwedischen  Städten  kamen  1891—1900  auf  1000  Ein- 
Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  t) 


66 


Medizinalstatistische  Daten. 


wohner  2,4  Todesfälle  infolge  dieser  Krankheit.  Aus  den  obigen  Ziffern  geht 
hervor,  daß  die  Tuberkulose  in  Schweden  von  1780 — 1830  regelmäßig  zugenommen 
hat;  da  auch  für  Laien  die  Diagnose  im  eigentlichen  Mannesalter  viel  leichter  zu 
stellen  ist,  als  bei  Kindern  und  bei  Greisen,  so  ist  es  von  Wert,  daß  die  Ziffern 
für  einzelne  Altersklassen  berechnet  werden  können.  Es  starben  an  Lungen¬ 
schwindsucht  auf  je  1000  Lebende  beim  Alter  von: 


10-25  J. 

25—50  J. 

über  50  J. 

Schweden  1776—1800 

0,8 

2,3 

6,0 

„  1801—1810 

1,0 

2,6 

6,9 

„  1811—1820 

1,2 

3,0 

6,7 

„  1821—1830 

1,0 

3.1 

7,6 

Stockholm  1891 — 1900 

1,0 

3,6 

4,1 

Nach  diesen  Ziffern  kann  wohl  kein  Zweifel  darüber  obwalten,  daß  die 
Tuberkulose  in  Schweden  in  der  2.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  kleiner  war  als 
im  ersten  Drittel  des  folgenden  Säkulums. 

3.  Hohe  Morbidität  einzelner  Gewerbe. 

S.  Kosenfei  d  hat  in  einer  großen  Arbeit  „Die  Gesundheitsverhältnisse  der 
Wiener  Arbeiterschaft“  (Stat.  Monatsschrift  1905  u.  1906).  behandelt.  Für  die 
Genossenschaftskassen  in  Wien  sind  die  Erkrankungen  nach  7  Altersklassen  aus¬ 
gezählt;  die  Mitgliederzahlen  der  Kasse  lassen  sich  annähernd  sicher  für  diese 
Altersklassen  feststellen,  da  am  15.  März,  15.  September  und  31.  Dezember  die 
Mitgliederbestände  erhoben  werden.  Da  sich  die  Kosenfei d'scken  Untersuchungen 
bei  dieser  Kasse  auf  11  Jahre  (1892—1902)  erstrecken,  so  sind  die  Ziffern  auch 
zu  feineren  Berechnungen  groß  genug.  Die  höchste  Morbidität  haben  die  Küfer 
und  Seidenfärber,  dann  folgen  die  Gießer,  Buchdrucker,  Zimmerleute,  Schlosser, 
Feinzeugschmiede,  Mechaniker,  Hutmacher,  Lithographen.  Um  die  Berufe  ver¬ 
gleichen  zu  können,  haben  wir  aus  den  Kosenf eld’schen  Ziffern  die  Standard¬ 
morbidität  berechnet,  d.  h.  es  wurde  ermittelt,  wie  groß  die  Morbidität  dieser 
Berufe  wäre,  wenn  alle  die  Altersbesetzung  der  ganzen  Arbeiterschaft  hätten,  die 
Morbidität  der  letzteren  wurde  dann  =  100  angenommen  und  danach  Verhältnis- 
Zahlen  für  die  genannten  Berufe  berechnet. 


Berufe 

Auf  100  Mitglieder  Erkrankungen  mit 
Erwerbsunfähigkeit 

Standard- 

Morbidität 

Allgemeine 
Morbidität 
=  100 

unter 
20  J. 

21—25  26  -30 

31—40 

h- L 

1 

Cn. 

O 

51-60 

über 
60  J. 

Küfer 

50,9 

39.3 

45,0 

54.8 

65,5 

78,7 

51.63 

153 

Seidenfärber 

57,7 

48,3 

44.0 

43,5 

44,7 

47,1 

57,1 

50.88 

151 

Gießer 

44,2 

47,2 

44*0 

46,9 

47,2 

49.6 

66,7 

46^57 

138 

Buchdrucker 

46,3 

50,3 

45,4 

42.3 

39,7 

41,5 

60,5 

45,44 

135 

Zimmerleute 

47,5 

44,8 

36,8 

40*4 

49,5 

63,2 

76,2 

44,86 

133 

Schlosser 

47,5 

46.0 

39,8 

38,8 

42,8 

51,1 

59,4 

43.59 

129 

Feinzeugschmiede 

52,9 

44M 

38,8 

36,5 

45,2 

45,2 

— 

43,15 

128 

Mechaniker 

•42.6 

35,5 

32,4 

37,2 

43,3 

59,2 

— 

39.05 

116 

Hutmacher 

31,7 

34,6 

33,1 

38,8 

49,1 

56,5 

68,0 

38,80 

115 

Lithographen 

79,0 

38,9 

21,2 

20,4 

40,2 

48,1 

— 

38,43 

114 

Alle  Berufe 

31,4 

26,2 

23,1 

24,4 

27,9 

32,2 

42,1 

33,77 

100 

Medizinalstatistische  Daten. 


67 


4.  Zunahme  der  Tuberkulose  mit  der  Höhenlage  der  Wohnung. 

In  Leipzig-  werden  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  zwischen  Wohnung 
und  Tuberkulose  angestellt.  Nach  E.  Hasse  (Die  Tuberkulose  und  Wohnungs- 
verhältnisse,  Bulletin  de  lTnstitut  international  de  Statistique,  Bd.  XV,  2,  London 
1906,  S.  363)  ergab  sich  dabei  eine  Zunahme  der  Tuberkulose  mit  der  Höhenlage 
der  Wohnungen.  Die  Untersuchungen  beschränkten  sich  vorerst  auf  die  „Innere 
Stadt“;  während  der  Jahre  1880—1904  kamen  dort  1386  Sterbefälle  an  Tuber¬ 
kulose  vor,  die  Haushaltungsbevölkerung  war  1880  22  341  und  1900  16  609. 


Hasse  führt  folgende 

Ziffern  an: 

Todesfälle  an 

Mittlere 

Tuberkulosefälle  im  Jahre 

Tuberkulose 

Bevölkerung 

auf  1000  Einw. 

Erdgeschoß 

22 

603 

1,46 

I.  Stock 

218 

3  201 

2,72 

II.  „ 

364 

4  957 

2,94 

i— i 

i— i 

t— i 

358 

5  891 

2,43 

IV.  „  und  höhere  382 

4  523 

3,38 

Mehrere  Stockwerke 

etc.  42 

756 

— 

Zusammen 

1386 

19  934 

2,78 

Hasse  sieht  selbstverständlich  die  Ursachen  der  hohen  Belastung  der 
obersten  Stockwerke  mit  Tuberkulose  nicht  in  der  Höhenlage,  sondern  in  den 
verschiedenen  „Formen  der  Minderwertigkeit  der  Wohnungen  selbst  und  des  me¬ 
chanischen  und  sozialen  Zusammenwohnens  der  Bewohner“. 


5.  Der  Flecktyphus  in  Galizien  im  Jahre  1902. 

Der  Flecktyphus  war  1902  in  Galizien  immer  noch  ziemlich  häufig,  wenn 
auch  seine  Verbreitung  gegen  früher  abgenommen  hat.  In  der  Bukowina  ist  er 
erheblich  seltener  als  in  Galizien,  in  den  übrigen  österreichischen  Kronländern 
kommt  er  nur  bei  gelegentlicher  Einschleppung  vor.  Nach  der  „Österreichischen 
Statistik“  (Bewegung  der  Bevölkerung,  1902,  Bd.  73,  H.  3)  starben  1902  an 
Flecktyphus  in  Galizien  320,  in  der  Bukowina  2  Personen.  Die  Zahl  der  Todes¬ 
fälle  war  in  den  letztvergangenen  Jahren  (der  Flecktyphus  wird  erst  seit  1895 
getrennt  aufgeführt) : 


in  Galizien 

in  der  Bukowina 

1895 

1132 

13 

1896 

980 

5 

1897 

423 

2 

1898 

480 

24 

1899 

603 

2 

1900 

467 

2 

1901 

285 

6 

1902 

320 

2 

Im  Durchschnitt  der  Jahre  1898 — 1902  starben  auf  100  000  Einwohner  in 
Galizien  5,9,  in  der  BukoAvina  1,0  Personen  an  Flecktyphus.  Im  Jahre  1902 
waren  wieder  fast  nur  die  Bezirke  besonders  heimgesucht,  die  auch  sonst  Fleck¬ 
typhusherde  sind;  sie  liegen  fast  alle  im  südöstlichen  Galizien,  nur  Jaworow 

5* 


68  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


westlich  und  Kamionka  Strumilowa  nördlich  von  Lemberg.  Auf  100  000  Personen 
starben  an  Flecktyphus: 


Bezirkshauptmannschaften 

1902 

1898—1902 

Jaworow 

37,2 

49,0 

Tlumacz 

35,0 

16,1 

Nadworna 

27,8 

18,5 

Bohorodczany 

25,9 

27,6 

Kalusz 

25,3 

9,9 

Kamionka  Strumilowa 

20,2 

16.7 

Stanislau 

17,9 

5,2 

Horodenka 

15,3 

22,8 

Buczacz 

12,1 

6,0 

Im  westlichen  Galizien  kam  der  Flecktyphus 
nirgends  in  größerer  Ausdehnung  vor. 


in  den  letzten  5  Jahren 
F.  Prinzin g. 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  22.  März  1906. 

Vorsitzender:  Herr  Gottstein.  Schriftführer  Herr  Grotjahn. 

•  • 

Herr  Schwieniug:  Uber  Körpergröße  und  Brustumfang  bei  Tuber¬ 
kulösen  und  Nichttuberkulösen.  Tn  der  ersten  Sitzung  unserer  Gesellschaft2) 
hat  Herr  Gottstein  über  interessante  Untersuchungen  berichtet,  die  er  über 
das  Verhältnis  von  Brustumfang  zur  Körpergröße  bei  Tuberkulösen  und  Nicht- 
tuberkulösen  an  dem  Material  einer  Lebensversicherungsanstalt  angestellt  hat. 
Zufällig  bot  sich  mir  bald  nachher  die  Möglichkeit,  ein  umfangreiches  Zahlen¬ 
material  über  tuberkulöse  und  nichttuberkulöse  Soldaten  beschaffen  zu  können; 
ich  glaubte  daher  eine  Nachprüfung  der  Gott  st  ein’ sehen  Untersuchungen  nicht 
unterlassen  zu  sollen  und  benutzte  die  Gelegenheit,  die  Beziehungen  zwischen 
Körpergröße  Brustumfang  und  Brustspielraum  überhaupt  nach  verschiedenen 
Biclitungen  einer  Untersuchung  zu  unterziehen,  über  deren  Ergebnisse  ich  mir 
Ihnen  kurz  zu  berichten  erlaube.  Die  Untersuchungen  erstrecken  sich  auf  4707 
nichttuberkulöse  und  4540  tuberkulöse  Soldaten,  zusammen  also  auf  9247  Mann  — 
ein  Material,  wie  es  bisher  in  dieser  Beziehung  noch  nicht  untersucht  sein  dürfte. 
Die  Angaben  über  Körpergröße  und  Brustumfang  beziehen  sich  auf  den  Befund 
bei  der  Einstellung  der  Leute,  wie  er  in  den  Mannschaf tsuntersuchungslisteii 
festgelegt  wird,  und  zwar  sind  die  betreffenden  Angaben  für  die  nichttuberkulösen 
Leute  diesen  Listen  direkt  entnommen,  während  diejenigen  für  die  tuberkulösen 

9  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  10,  11,  14, 
21  der  „Medizinischen  Beform“,  herausg.  von  B.  Lennhoff. 

2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  Bd.  1  H.  1  S.  75. 


Aus  cler  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  69 


den  Zählkarten  entstammen,  welche  über  jeden  an  Tuberkulose  der  ersten  Luft¬ 
wege  und  Lungen  erkrankten  Mann  aufgestellt  werden.  Für  beide  Kategorien 
erstrecken  sich  die  Erfahrungen  auf  die  6  Jahre  vom  1.  Oktober  1898  bis 
30.  September  1904.  Was  nun  die  Beteiligung  der  verschiedenen  Körper¬ 
größen  bei  den  Tuberkulösen  und  Nichttuberkulösen  betrifft,  so  konnten  auch 
meine  Untersuchungen  die  Gottsteinschen  Ergebnisse  bestätigen,  daß  bei  den 
ersteren,  den  Tuberkulösen,  die  größeren  und  großen  Leute  überwiegen,  eine  Er¬ 
fahrung,  die  auch  schon  früher  von  anderer  Seite  gemacht  ist.  Auf  Tafel  I  sind 
als  Vergleich  neben  den  Tuberkulösen  die  betreffenden  Größen  Verhältnisse  der  in 
den  Jahren  1899  bis  1903  beim  Oberersatzgeschäft  vorgestellten  Militärpflichtigen 
aufgezeichnet,  welche  wohl  am  besten  ein  Bild  von  der  Körpergröße  im  militär¬ 
pflichtigen  Alter  überhaupt  geben.  Das  Übergewicht  der  großen  Leute  bei  den 
Tuberkulösen  tritt  deutlich  in  die  Erscheinung. 

Des  weiteren  hatte  Herr  Gottstein  berechnet,  daß  das  prozentuale  Ver¬ 
hältnis  zwischen  Brustumfang  und  Körpergröße  d.  h.  Br.  X  103  durch  Gr.  bei 
den  Nichttuberkulösen  wesentlich  höhere  Werte  ergaben,  als  bei  den  Tuberku¬ 
lösen.  Ich  erlaube  mir,  Ihnen  die  Gottstein’schen  Zahlen  ins  Gedächtnis  zu¬ 
rückzurufen. 

Brustumfang:  Körpergröße  nach  der  Größe. 


151—160 

161-170 

171-180 

181—190 

cm 

cm 

cm 

cm 

Nichttuberkulöse . 

57,1 

55,1 

54,5 

53,4 

Tuberkulöse . 

53,2 

52,5 

51,6 

50,8 

Von  den  Tuberkulösen  ///////  bezw.  von  den  Militärpflichtigen  überhaupt 

besaßen  eine  Körpergröße  von  cm 


70  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Mit  zunehmender  Körpergröße  findet  ferner  —  wie  Gottstein  sagt  — 
eine  Abnahme  des  Prozentsatzes  bei  beiden  Kategorien  statt;  die  Kurve  der 
Körpergröße  steigt  steiler  an  als  die  des  Brustumfanges,  wodurch  ein  Mißver¬ 
hältnis  zwischen  Längenwachstum  und  Brustumfang  zu  ungunsten  des  letzteren 
eintritt.  Die  Unterschiede  sind  allerdings  frappant,  insbesondere  erreichte  die 
Prozentzahl  für  die  allergrößten  Nichttuberkulösen  zwar  Werte,  die  dem  Durch¬ 
schnitt  der  Tuberkulösen  nahe  kommen,  immerhin  ist  die  Zahl  bei  den  kleinsten 
Tuberkulösen  noch  etwas  niedriger  als  die  Zahl  bei  den  größten  Nichttuber¬ 
kulösen. 

Wenn  sich  ein  derartiges  Verhältnis  einigermaßen  konstant  erweisen  sollte, 
so  würde  dadurch  ein  nicht  unwesentliches  Hilfsmittel  bei  der  Beurteilung  der 
Körperbeschaffenheit  gegeben  sein.  Allerdings  hat  Gottstein  nur  103  Einzel¬ 
fälle  (von  Tuberkulösen)  seiner  Statistik  zugrunde  gelegt,  eine  Zahl,  die  zur  Ge¬ 
winnung  von  einwandfreien  Durchschnittswerten  etwas  gering  erscheint.  Sodann 
hat  er  als  Brustumfang  das  sog.  mittlere  Brustmaß  —  in  der  Buhe  —  genommen. 
Dieses  ist  natürlich  um  einige  Zentimeter  größer  als  das  nach  tiefster  Exspiration 
gewonnene,  wie  es  beim  Militär  gebräuchlich  ist.  Daher  sind  auch  seine  Ver¬ 
hältniszahlen,  wie  wir  sehen  werden,  durchweg  nicht  unwesentlich  höher  als  die 
von  mir  berechneten  und  mit  letzteren  nicht  unmittelbar  zu  vergleichen.  Da 
aber  das  Verhältnis  zwischen  den  mittleren  und  dem  Ausatmungsbrustmaß  stets 
ein  ziemlich  konstantes  sein  dürfte,  so  würden  auch  die  auf  Grund  des  Aus¬ 
atmungsbrustumfanges  berechneten  Prozentzahlen  beim  Vergleich  unter  sich  die¬ 
selben  Unterschiede  zeigen  müssen,  wie  die  Gott  stein  sehen  Zahlen,  —  wenn 
wirklich  die  Tuberkulösen  und  Nichttuberkulösen  ein  so  konstantes,  verschiedenes 
Verhalten  in  dieser  Beziehung  aufweisen.  Die  von  mir  berechneten  Zahlen  sind 
nun  folgende :  Es  betrug  das  Verhältnis  von  Brustumfang  zur  Körpergröße  bei 
einer  Größe  von 


bei  den 

bis 

155  cm 

155,1-160 

cm 

160.1-165 

cm 

165,1-170 

cm 

170,1-175 

cm 

175,1-180 

cm 

180,1-185 

cm 

über 

185  cm 

Nichttuberkulösen  .  .  . 
Tuberkulösen . 

53.1 

52.1 

51.9 

51,3 

50,9 

50,4 

50,1 

49,4 

49,2 

48,7 

48,5 

48,1 

47,7 

47,3 

47,7 

47,1 

Es  zeigen  sich  auch  hier  zwischen  den  Nichttuberkulösen  und  Tuberkulösen 
Unterschiede,  die  aber  bei  weitem  nicht  so  bedeutend  sind,  wie  bei  Gottstein; 
gerade  bei  den  großen,  der  Tuberkulose  an  sich  verdächtigen  Leuten  ist  der 
Unterschied  so  gering,  daß  eine  praktische  Verwertung  im  Einzelfalle  ausge¬ 
schlossen  erscheint.  Noch  eine  andere  Überlegung  wird  das  zeigen.  Derartige 
Durchschnittszahlen  haben  wohl  einen  gewissen  wissenschaftlichen  Wert  als  Ma߬ 
stab  für  die  Körperverhältnisse  „des  Gesunden  oder  des  Tuberkulösen  an  sich“, 
für  die  praktische  Verwertung  ist  es  aber  noch  erforderlich,  die  Schwankungs¬ 
breite  zu  kennen,  innerhalb  der  die  einzelnen  die  Durchschnittszahl  ergebenden 
Summanden  sich  bewegen.  Erst  wenn  die  niedrigste  Prozentzahl  des  Brustum¬ 
fangs  zu  einer  bestimmten  Körpergröße  bei  den  Nichttuberkulösen  stets  höher 
wäre,  als  die  höchste,  bei  den  Tuberkulösen  vorkommende,  ließen  sich  hier  im 
Einzelfall  verwertbare  Schlüsse  ziehen.  Dies  .ist  aber  —  bei  unseren  Zahlen 
wenigstens  —  durchaus  nicht  der  Fall.  Bei  den  Tuberkulösen  übersteigt  viel¬ 
mehr  die  Prozentzahl  in  vielen  Fällen  den  Durchschnitts-,  ja  den  höchsten  Satz 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  71 

der  Nichttuberkulösen,  und  umgekehrt  bleibt  bei  vielen  Nichttuberkulösen  das 
Prozentverhältnis  hinter  dem  niedrigsten  Werte  der  Tuberkulösen  zurück.  Um 
das  zahlenmäßig  nachweisen  zu  können,  habe  ich  ausgezählt,  in  wieviel  Fällen 
dieses  Verhalten  Platz  greift,  und  da  ergibt  sich,  daß  bei  nicht  weniger  als 
36  von  100  Tuberkulösen  das  Prozentverhältnis  zwischen  Brustumfang  und  Körper¬ 
länge  größer  war  als  im  Durchschnitt  hei  den  Nichttuberkulösen,  und  daß  sogar 
heidi  von  100  Nicht  tuberkulösen  dasselbe  Prozentverhältnis  kleiner  war 
als  im  Durchschnitt  bei  den  Tuberkulösen.  Betrachtet  man  die  verschiedenen 
Größengruppen  für  sich,  so  erhält  man  z.  T.  noch  höhere  Prozentzahlen,  deren 
Aufzählung  ich  mir  wohl  ersparen  darf.  Hieraus  geht  klar  hervor,  daß  die  Unter¬ 
schiede  zwischen  Tuberkulösen  und  Nichttuberkulösen  wohl  bei  den  aus  großen 
Zahlenmassen  gewonnenen  Durchschnittswerten  nachweisbar  sind,  im  Einzelfalle 
aber  keine  wesentliche  Bedeutung  für  die  Beurteilung  des  Körperzustandes  hin¬ 
sichtlich  etwaiger  Anlage  zu  tuberkulösen  Erkrankungen  beanspruchen  können. 
Man  kann  meinen  Deduktionen  entgegenhalten,  daß  man  ja  nicht  wissen  könne, 
ob  nicht  von  den  Nichttuberkulösen  die  mit  so  geringem,  der  Tuberkulose  ver¬ 
dächtigen  Brustumfang  ausgestatteten  Leute  später  tatsächlich  an  Tuberkulose 
erkranken  könnten,  während  man  bei  Gottstein  dies  für  die  Nichttuberkulösen 
ausschließen  könne,  da  es  sich  bei  ihm  um  bereits  Verstorbene  mit  bekannter 
Todesursache  handelt.  Der  Einwand  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  berechtigt. 
Immerhin  handelt  es  sich  hei  unseren  Nichttuberkulösen  zum  großen  Teil  um 
Leute,  die  wenigstens  die  anstrengenden  Jahre  ihrer  aktiven  Militärzeit  durch¬ 
gemacht,  ohne  tuberkulös  zu  erkranken,  und  dann  kann  man  wohl  kaum  an¬ 
nehmen,  daß  z.  B.  von  1069  bisher  gesunden  Soldaten  der  Größengruppe  von 
160 — 165  cm  442  =  41,3  Proz.,  deren  Brustumfang  den  Durchschnitt  der  Tuber¬ 
kulösen  nicht  erreichte,  später  an  Tuberkulose  erkranken  sollten,  oder  daß  von 
den  121  Mann  der  Gruppe  180 — 185  cm  gar  60,  d.  i.  gerade  die  Hälfte,  den 
Keim  der  späteren  Lungenerkrankung  in  sich  tragen.  Auf  Grund  unseres  um¬ 
fangreichen  Materials  glaube  ich  also,  der  Berechnung  des  Prozentverhältnisses 
zwischen  Brustumfang  und  Körpergröße  eine  praktische  Bedeutung  im  wesent¬ 
lichen  absprechen  zu  können.  Aus  den  obigen  Prozentzahlen  ist  ferner  zu  er¬ 
sehen,  daß,  ebenso  wie  bei  Gott  st  ein,  das  Prozentverhältnis  zwischen  Brust¬ 
umfang  und  Körpergröße  kleiner  wird,  je  mehr  letztere  ansteigt;  des  weiteren 
geht  aus  ihnen  hervor,  daß  die  vielfach  aufgestellte  Forderung,  daß  der  Aus¬ 
atmungsbrustumfang  mindestens  gleich  der  halben  Körpergröße  sein  solle,  nicht 
als  zutreffend  angesehen  werden  kann,  wie  es  übrigens  auch  schon  von  anderer 
berufenster  Seite,  namentlich  von  F  e  t  z  e  r  und  S  e  g  g  e  1 ,  nachgeAviesen  ist.  Von 
je  100  Leuten  der  betreffenden  Größengruppe  hatten  einen  Brustumfang,  der 
kleiner  war  als  die  halbe  Körpergröße: 


bei  den 

bis 

155  cm 

155,1-160 

cm 

160,1 165 
cm 

165,1-170 

cm 

170,1-175 

cm 

175,1-180 

cm 

vO 

CO 

V  g 

-  o 

O 

CO 

rH 

i 

über 

185  cm 

insgesamt 

N  i  ch  ttub  erkul  Ösen 
Tuberkulösen 

92,6 

92,6 

91,9 

81,8 

68,9 

57,5 

53,4 
40,7  ■ 

32,1 

24,6 

24,9 

18,8 

17,4 

9,3 

19,1 

12,5 

51,3 

40,0 

Je  größer  die  Körperlänge,  desto  mehr  nimmt  der  Prozentsatz  derjenigen 
Leute  ab,  deren  Brustumfang  die  halbe  Körperlänge  erreicht.  Dabei  zeigt  sich, 


72  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Von  100  Leuten  der  betreffenden  Körpergröße  hatten  bei  den  Nichttuberkulösen 
ü.  bei  den  Tuberkulösen  //////  einen  Brustumfang  größer  als  die  halbe  Körperlänge. 


daß  bei  den  Tuberkulösen  —  mit  Ausnahme  der  ganz  kleinen  Leute  —  in  allen 
Größengruppen  die  Zahl  derjenigen  mit  einem  die  halbe  Körperlänge  über¬ 
steigenden  Brustumfang  beträchtlich  kleiner  ist,  als  bei  den  Nichttuberkulösen. 
Wie  stellt  sich  nun  für  jede  Körpergröße  das  durchschnittliche  Brustmaß?  Die  fol¬ 
gende  Tabelle  (S.  74  oben)  enthält  die  entsprechenden  Zahlenangaben,  und  auf 
Tafel  III  habe  ich  versucht,  sie  graphisch  zu  erläutern.  Die  Abscissenachse  ent¬ 
spricht  jedesmal  der  halben  Körpergröße,  die  aufsteigenden  Säulen  stellen  das  Plus 
(in  cm)  dar,  um  welche  der  Brustumfang  die  halbe  Körperlänge  übersteigt,  die 
absteigenden  Säulen  das  Minus,  um  welches  der  Brustumfang  hinter  der  halben 
Körperlänge  zurückbleibt.  Sie  sehen,  daß  bei  den  Nichttuberkulösen  die  Grenze, 
an  der  das  Brustmaß  der  halben  Größe  entspricht,  bei  168  cm  liegt;  bei  ab¬ 
nehmender  Größe  nimmt  das  Plus  kontinuierlich  zu,  bei  steigender  Größe  kon¬ 
tinuierlich  ab.  Sie  sehen  ferner,  daß  bei  den  Tuberkulösen  die  Grenze  etwas 
tiefer  liegt,  schon  bei  165  cm,  und  daß  weiter  einerseits  die  positive  Differenz 
zur  halben  Größe  nicht  so  groß  ist,  wie  bei  den  Nichttuberkulösen,  andererseits 
das  Minus  fast  durchweg  größer  ist  als  bei  den  gesunden  Leuten.  Auch  hierin 
drückt  sich  die  geringere  Ausbildung  des  Thorax  bei  den  Tuberkulösen  aus. 
Aber  auch  hier  hat  der  durchschnittliche  Brustumfang  für  den  Einzelfall  wenig 
praktische  Bedeutung,  da  die  Schwankungsbreite,  innerhalb  der  sich  die  einzelnen, 
die  Durchschnittszahl  ergebenden  Summanden  bewegen,  eine  recht  erhebliche  ist. 
So  bewegt  sich  z.  B.  bei  den  363  Leuten  mit  einer  Körpergröße  von  168  cm  der 
Brustumfang  zwischen  74  und  93  cm;  nur  40  =  11  Proz.  besaßen  den  durch¬ 
schnittlichen  Brustumfang  von  84  cm ;  158  hatten  einen  geringeren  und  165  einen 
größeren.  Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  allen  anderen  Größen  —  ich 
brauche  Avohl  Aveiter  keine  Beispiele  dafür  anführen.  Um  den  Gegenstand  zu  er¬ 
schöpfen,  habe  ich  endlich  auch  das  3.  Maß,  welches  bei  der  Brustmessung  in 
Betracht  gezogen  zu  Averden  pflegt,  nämlich  die  Ausdehnungsfähigkeit 
oder  den  Brustspielraum  bei  meinen  Untersuchungen  berücksichtigt.  Der 
durchschnittliche  Brustspielraum  betrug  bei  einer  Körpergröße  (siehe  Tabelle  auf 
S.  74  unten) 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  73 


\  vVxVSKx’x 


%  f* 


W\\\\Ws>\^ 

■ü 

_ 

S-l 

<u 

^2 


!-< 

O) 


■T 


^WWWN 


3ä 


O 

^7 


03 

C3 

SO 

S-H 

ÖjD 

s 

Pu 

r- 

o 

?H 

o 

:o 

W 

»•* 

1  ^ 

o 

r 

?* 

<N 

•-H 

fl 

4 


74  Alls  cler  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  lind  Medizinalstatistik. 


Körpergröße 

Halbe 

Körpergröße 

Nichttuberkulöse 

Tuberkulöse 

Differenz 
zwischen 
Tuberkulösen 
und  Nicht- 
tuberkulösen 

Brustumfang 

+  Zur 
halben 
Körpergröße 

Brustumfang 

+  Zur 
halben 
Körpergröße 

154 

77 

82,2 

1-5.2 

80,3 

[-3,3 

Ul, 9 

155 

77,5 

83,0 

-5,5 

81,4 

b3,9 

-1,6 

156 

78 

81,6 

[-3,6 

80.4 

[-2,4 

-1,2 

157 

78,5 

82,6 

Kl 

80,3 

bl, 8 

[-2,3 

158 

79 

82,1 

|— 3,1 

81,2 

[—2,2 

r0,9 

159 

79,5 

82,3 

U2,8 

80,5 

bi,o 

hl, 8 

160 

80 

82,4 

[-2,4 

82,2 

[-2,2 

b0.2 

161 

80.5 

82,7 

-2,2 

81.5 

KLO 

+, 2 

162 

81 

82.6 

-1,6 

82,1 

-U 

r-0,5 

163 

81,5 

83,3 

-1,8 

82,2 

[-0,7 

-1,1 

164 

82 

83.4 

[-1,4 

82,5 

-0,5 

b0,9 

165 

82,5 

83,2 

h0,7 

82,5 

+0,0 

+,7 

166 

83 

84,2 

+1>2 

82.5 

-0,5 

bl.7 

167 

83,5 

84.1 

+0.6 

82,8 

-0,7 

-1,3 

168 

84 

84,1 

+o,i 

83,1 

-0,9 

Ki,o 

169 

84,5 

84,2 

-0,3 

83,1 

-1.4 

+1,1 

170 

85 

84,5 

-0,5 

83,1 

-1.6 

+1,1 

171 

85,5 

84,2 

-1,3 

83,4 

-1.9 

b0,6 

172 

86 

84,3 

-1,7 

83.6 

-2,3 

+3.6 

173 

86,5 

85,3 

-0.8 

83,7 

-2,3 

+1,1 

174 

87 

85,3 

-1,7 

84,2 

-2.7 

bLO 

175 

87,5 

85,7 

-1.8 

84,3 

-2,8 

bi,o 

176 

88 

85,8 

-2.2 

84,2 

-3,8 

bl, 6 

177 

88,5 

86,1 

-2,4 

85.2 

-3.3 

b0,9 

178 

89 

86.1 

-2,9 

85,2 

-3,8 

-0,9 

179 

89,5 

86;7 

-2,8 

85,6 

-3,9 

[-1,1 

180 

90 

86,0 

-4,0 

87,0 

-3.0 

-1,0 

181 

90,5 

87,3 

-3,2 

85,4 

-5.1 

+1,9 

182 

91 

86,1 

-4,9 

86,7 

-4,3 

+0,6 

183 

91,5 

87.2 

-4,3 

86,0 

-5.5 

+1,2 

184 

92 

86,9 

-5,1 

86,7 

-5,3 

+0,2 

185 

92,5 

85.4 

-7,1 

88.4 

-4.1 

+3,0 

186 

93 

89,5 

-3,5 

86,7 

-6.3 

+2,8 

187 

93,5 

91,3 

-2.2 

89,5 

-4.0 

+1,8 

188 

94 

93,4 

-0,6 

84,0 

'  - 

10.0 

+9.4 

bei  den 

bis 

160  cm 

160,1-165 

cm 

o 

t-H 

'  ff 

-  o 

co 

tH 

170,1-175 

cm 

175,1-180 

cm 

über 

180  cm 

N  ichttuberkulösen 
Tuberkulösen 

7,2 

6,8 

7.4 

7,1 

7,6 

7,2 

7,8 

7,5 

7,9 

7,8 

8,2 

8,1 

bei  einem  Ausatmungsbrustumfang’ 


bei  den 

bis 

über 

über 

über 

ins- 

80  cm 

80-85  cm 

85-90  cm 

90  cm 

gesamt 

Nichttuberkulösen 

7.9 

7,7 

7.4 

7,1 

7,6 

Tuberkulösen 

73 

7,4 

7,2 

7,8 

7,3 

Aus  der  Gefellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


<0 


Es  zeigt  sich  also,  daß  die  Ausdehnungsfähgkeit  mit  steigender  Körper¬ 
größe  zu  nimmt,  und  zwar  bei  beiden  Kategorien  in  ziemlich  gleicher  Weise, 
wenn  auch  der  Brustspielraum  bei  den  Tuberkulösen  durchweg  etwas  kleiner  ist, 
als  bei  den  Nichttuberkulösen.  Ferner  ergibt  sich,  daß  die  Ausdehnungsfähigkeit, 
worauf  bisher  verhältnismäßig  selten  hingewiesen  ist,  mit  steigendem  Aus¬ 
atmungsbrustumfang  ab  nimmt.  Diese  Abnahme  der  Ausdehnungsfähig¬ 
keit  bei  steigendem  Brustumfang  wird  mit  gleichzeitig  steigender  Körperlänge 
größer,  d.  h.  die  Differenz  zwischen  dem  durchschnittlichen  Brustspielraum  bei 
dem  niedrigsten  und  dem  höchsten  Brustumfang  steigt  proportional  der  Körper¬ 
länge.  Die  Differenz  beträgt  bei  den  Nichttuberkulösen  bei  einer  Größe  von 


bis 

160  cm 

160,1-165 

cm 

165,1-170 

cm 

170,1-175 

cm 

175,1-180 

cm 

über 

180  cm 

0,7 

0,8 

1,2 

1,2 

1,8 

1,4 

Eine  Erklärung  für  diese  Erscheinung  ist  nicht  schwer;  bei  den  höheren 
Brustumfängen  genügt  eben  schon  ein  etwras  geringerer  Spielraum,  um  die  er¬ 
forderliche  Ausdehnung  der  Lungen  zu  ermöglichen,  während  bei  kleineren  Brust¬ 
umfängen  hierzu  eine  größere  Ausdehnung  des  Thorax  nötig  ist.  Aber  auch  diese 
Untersuchungen  über  den  Brustspielraum  haben  mehr  ein  theoretisches  Interesse 
als  praktische  Bedeutung.  Die  Differenzen  zwischen  Tuberkulösen  und  Nicht- 
tuberkulösen  sind  so  gering  und  bewegen  sich  zum  Teil  innerhalb  so  enger 
Grenzen,  daß  sie  bei  der  Brustmessung  in  praxi  überhaupt  nicht  in  Frage  kommen. 
Dazu  kommt,  daß  auch  hier  wieder  die  Schwankungsbreite  der  einzelnen  Brust¬ 
spielräume  so  erheblich  ist,  daß  man  mit  den  Durchschnittszahlen  im  Ernstfälle 
nichts  anfangen  kann.  Ich  darf  mir  wohl  nähere  Angaben  darüber  ersparen.  In 
praktischer  Beziehung  sind  also  auch  meine  Untersuchungen  ergebnislos  gewesen 

—  ebenso  wie  die  zahlreichen  früheren  derartigen  Versuche.  Natürlich  will  ich 

die  Brustmessung  nicht  als  völlig  wertlos  aus  den  Untersuchungsmethoden  des 
Militärarztes  oder  des  Versicherungsarztes  ausscheiden  —  sie  wird  dem  erfahrenen 
Arzt  im  Verein  mit  anderen  objektiv  nachweisbaren  Abweichungen  im  Körperbau 
und  an  den  inneren  Organen  immerhin  in  manchen  Fällen  ein  wertvolles  Mittel 
zur  Beurteilung  der  Körperbeschaffenheit  sein.  Ob  es  gelingen  wird,  auf  anderem 
Wege  einen  praktisch  venvertbaren  Maßstab  durch  Messungen  festzustellen,  möchte 
ich  dahingestellt  sein  lassen.  Vielleicht  würde  man  zu  sicheren  Besultaten 
kommen,  wenn  man  das  Brustmaß  nicht  auf  die  gesamte  Körpergröße,  sondern 
nur  auf  die  Länge  des  Kumpfes  bezöge,  als  den  Körperteil,  dessen  Entwicklung 

für  den  Zustand  der  Lungen  in  erster  Linie  maßgebend  ist.  Neuerdings  wird  das 

Pi  gn  et  sehe  Verfahren  gerühmt,  welches  darin  besteht,  daß  man  den  Brustumfang 
(in  cm)  und  das  Gewicht  (in  kg)  addiert  und  diese  Summe  von  der  Körperlänge 

(in  cm)  abzieht.  Die  Differenz  soll  um  so  geringer  sein,  je  kräftiger  der  be¬ 

treffende  Mann  ist.  Eine  Differenz  von  35  soll  völlige  Untauglichkeit  bedingen. 
Soweit  ich  die  Literatur  übersehe,  liegen  aus  Deutschland  noch  keine  Erfahrungen 
hierüber  vor.  Es  dürfte  sich  lohnen,  hierüber  an  einem  größeren  Material  Unter¬ 
suchungen  anzustellen,  zumal  für  die  Pignetsche  Berechnung  nur  die  schon  jetzt 

—  beim  Militär  und  bei  der  Versicherung  —  festgestellten  Maße  —  Körpergröße, 
Brustumfang  und  Gewicht  —  gebraucht  werden.  Weitere  Messungsmethoden,  zu 
deren  Ausführung  besondere  Instrumente,  z.  B.  Tasterzirkel  usw.,  erforderlich 


76  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatitik. 


sind,  wie  sie  u.  a.  Seggel  und  Fetz  er  ausgeführt  und  empfohlen  haben,  halte 
ich  hingegen  —  wenigstens  für  militärische  Zwecke  —  bei  Massenuntersuchungen 
für  praktisch  undurchführbar. 

Sitzung  Yom  3.  Mai  1906. 

Vorsitzender :  Herr  M a y e t.  Schriftführer :  Herr  Lennhoff. 

Herr  Brat:  Berufskrankheit  und  Unfall.  Daß  die  gewerblichen  Ver¬ 
giftungen  nur  einen  geringen  Bruchteil  der  beruflichen  Schädigungen  ausmachen, 
ist  genügend  auf  der  vorletzten  Konferenz  der  Zentralstelle  für  Arbeiterwohlfahrt 
betont  worden.  Man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  als  ob  manche 
Sozialpolitiker  zunächst  nur  deswegen  eiaer  besonderen  Entschädigung  für  be¬ 
stimmte  gewerbliche  Vergiftungen  das  Wort  reden,  weil  sie  hoffen,  mittels  einer 
wohlfeilen  Waffe,  wie  sie  das  Schlagwort  Vergiftung  darstellt,  eine  Bresche  zu 
schaffen,  durch  welche  später  das  ganze  Heer  von  sogenannten  Berufskrankheiten 
zum  Teil  mit  Recht,  zum  Teil  mit  Unrecht  eindringen  könnte.  Wesentlich  er¬ 
leichtert  wird  dieses  Bemühen  dadurch,  daß  in  zwei  Staaten,  England  und  Frank¬ 
reich,  gesetzliche  Maßnahmen  ergriffen,  bezüglich  in  Aussicht  genommen  sind, 
die  gewerblichen  Vergiftungen  den  Unfällen  gleichzustellen.  Aber  wenn  man 
sich  auf  diese  Tatsache  beruft,  vergißt  man  vollständig,  daß  in  den  beiden  heran¬ 
gezogenen  Staaten  zwar  eine  obligatorische  Unfall-,  aber  keine  staatliche  Kranken¬ 
versicherung  existiert,  und  daß  die  Forderung  der  Gleichstellung  von  gewerb¬ 
lichen  Vergiftungen  und  Unfällen  aus  diesem  Mangel  heraus  entstanden  ist. 

In  England  und  in  Frankreich  sind  mehr  praktische  Tendenzen,  bei  uns  in 
Deutschland  sozial  ideale  Momente ,  um  diesen  Ausdruck  zu  gebrauchen ,  die 
Triebfeder  für  die  Forderung  der  Gleichstellung  von  Berufskrankheit  und  Unfall. 
Bei  den  beiden,  in  gleicher  Begeisterung  für  eine  große  Aufgabe  entstandenen 
und  in  diesem  Verein  vorgetragenen  Entwürfen  zum  Umbau  der  sozialen  Gesetz¬ 
gebung  finden  sich  trotzdem  unvereinbare  Gegensätze  bezüglich  der  hier  auf¬ 
geworfenen  Spezialfrage. 

In  umfangreicher  Weise  werden  aber  die  Schwierigkeiten  bei  Gleichstellung 
der  Betriebskrankheiten  mit  den  Unfällen  ersichtlich,  wenn  man  die  Grundlagen 
des  französischen  Gesetzentwurfs  betrachtet.  Die  Dauer  der  Verantwortungsfrist 
der  Arbeitgeber  bei  den  einzelnen  beruflichen  Schädigungen  —  für  die  Er¬ 
krankungen  der  Atmungsorgane  und  der  einzelnen  Infektionskrankheiten  ist  vor¬ 
sichtigerweise  eine  Verantwortungsfrist  nicht  angegeben  —  ist  ganz  willkürlich 
in  dem  genannten  Entwurf  festgesetzt  worden.  Als  Krankheiten,  welche  infolge 
einer  gewerblichen  Bleivergiftung  entstehen  können,  sind  bezeichnet:  Bleikolik, 
Myalgie,  Arthralgie,  Paralyse,  Encephalopathie,  Hysterie,  progressive  Anämie, 
Nierenentzündung,  Gicht,  Arteriosklerose.  Als  Folgen  der  gewerblichen  Queck¬ 
silbervergiftung  sind  angeführt :  Stomatitis,  Zittern,  Ernährungsstörungen,  Kachexie ; 
die  Symptome  der  gewerblichen  Arsenvergiftung  sind  mit  folgenden  Affektionen 
angeführt :  Verdauungsstörungen ,  Laryngo -Bronchitis ,  Hautkrankheiten ,  Kopf¬ 
schmerzen,  Paralyse,  Nierenentzündung,  Kachexie.  Als  Symptome  der  Schwefel¬ 
kohlenstoffvergiftung  sollen  gelten:  Schwere  spezifische  Vergiftung,  Augen¬ 
erkrankungen,  Verdauungsstörungen,  Zittern,  Hysterie,  Paralyse,  Kachexie. 

Nach  diesem  Entwürfe  wird  das  Krankheitsbild  der  bis  jetzt  angeführten 
Vergiftungen,  abgesehen  von  wenigen  spezifischen  Symptonen,  bestimmt  durch 
Allgemeinstörungen  oder  lokale  Krankheitsprozesse,  welche  keineswegs  in  irgend 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  77 

einer  Weise  für  eine  dieser  Vergiftungen  als  bestimmt  charakteristisch  angesehen 
werden  können.  1  )as  gilt  insbesondere  auch  von  Krankheitserscheinungen  wie  Zittern, 
Paralyse,  Hysterie.  Die  Symptome,  welche,  bei  der  gewerblichen  Kohlenwasser¬ 
stoffvergiftung  angeführt  sind,  möchte  ich  nach  meinen  Erfahrungen  als  direkt 
falsch  bezeichnen.  Die  große  Anzahl  Industrien  aufzuzählen,  bei  welchen  nach 
nach  diesem  Entwurf  Erkrankungen  der  Luftwege ,  Tuberkulose  Vorkommen, 
kann  unterlassen  werden,  ebenso  die  Aufzählung  aller  ansteckenden  Krankheiten, 
welche  in  den  verschiedensten  Industrien  Vorkommen  können.  Nach  diesem 
Entwurf  kann  das  ganze  Gebiet  der  menschlichen  Pathologie,  als  zu  (len  Berufs¬ 
krankheiten  gehörig,  angesehen  werden  —  angefangen  mit  den  sogenannten 
sichergestellten  Berufskrankheiten  —  zum  Schluß  wird  die  ganze  Pandorabüchse 
geöffnet.  Wenn  man  überhaupt  die  Frage  entscheiden  will,  ob  man  in  den  Krank¬ 
heiten  des  täglichen  Lebens  Berufskrankheiten  erblicken  kann,  muß  man  zunächst 
berufsstatistische  Unterlagen  beschaffen,  welche  nicht  allein  den  Beruf,  sondern 
auch  die  äußeren  Lebensverhältnisse  berücksichtigen.  Bei  derselben  gewerblichen 
Gefahr  können  die  Arbeiter  einer  Stadt  oder  auf  dem  flachen  Lande  in  ganz 
verschiedenen  Prozentsätzen  an  den  verschiedensten  Affektionen  erkranken.  Es 
spielen  dabei  Wohnungsverhältnisse  die  Frage  einer  zweckmäßigen  Beköstigung 
und  auch  klimatische  Faktoren  eine  Rolle.  Aus  den  obigen  Ausführungen  geht 
wohl  zur  Genüge  hervor,  wie  die  Begriffe  Krankheit  und  Berufskrankheit  in¬ 
einander  übergehen,  und  daß  eine  Sonderstellung  der  Berufskrankheiten  gegen¬ 
über  den  Krankheiten  überhaupt  nur  auf  einer  unzureichenden  wissenschaftlichen 
Basis  zurzeit  geschaffen  werden  kann.  Wie  in  dieser  Gesellschaft  von  anderer 
Seite  und  auch  von  mir  die  Meldepflicht  bei  gewerblichen  Versicherungen  auf 
Grund  unserer  Kenntnisse  zurzeit  als  unmöglich  bezeichnet  wurde,  so  hat  auch 
die  Trennung  von  Krankheit  und  Berufskrankheit  gegenwärtig  noch  kein  Recht, 
gesetzlich  sanktioniert  zu  werden. 

In  zweiter  Linie  habe  ich  es  mir  zur  Aufgabe  gestellt,  zu  prüfen,  mit 
welchen  Schwierigkeiten  die  Unfallbegutachtung  zu  tun  hat.  Das  Gesetz  selbst 
gibt,  wie  bekannt,  keine  nähere  Begriffsbestimmung  des  Wortes  „Unfall“.  — 
Erkrankungen  im  allgemeinen,  Gewerbekrankheiten,  Schädigungen  infolge  ge¬ 
wisser  Einflüsse  :  Zugluft,  Feuchtigkeit  usw.  sollen  nicht  als  Unfälle  angesehen 
werden.  Trotzdem  werden  die  Arzte  vor  die  Entscheidung  gestellt,  ob  eine 
Lungenentzündung  durch  eine  Kontusion,  ob  eine  Handgelenkstuberkulose  durch 
bestimmte,  bei  einem  Beruf  notwendige  Bewegungen,  ob  eine  Sehnervenatrophie 
bei  Tabes  als  Folge  von  Zugluft,  eine  Apoplexie  oder  ein  Blutsturz  als  Folge 
einer  Überanstrengung  entstanden  aufzufassen  ist,  ob  eine  Körperbewegung  als 
Überanstrengung  betrachtet  werden  kann.  Bei  derartigen  Urteilen  ist  nicht  das 
Maß  unseres  ärztlichen  Wissens,  sondern  das  subjektive  Empfinden  des  Gut¬ 
achters,  so  scharfsinnig  die  Deduktionen  desselben  im  Einzelfalle  auch  zu  sein 
scheinen,  allein  ausschlaggebend.  Kann  der  Arzt  sich  überhaupt  mit  dem  Sprach¬ 
gebrauch  des  Wortes  Unfall,  der  eigentlich  der  Sprachgebrauch  der  Laien  ist, 
zufrieden  geben?  Für  den  Nachweis  des  Zusammenhangs  einer  Körperschädigung 
durch  einen  Unfall  verlangt  die  Beweispflicht  entweder  ein  zweifellos  als 
Ursache  der  Verletzung  in  Betracht  kommendes,  akutes,  äußeres,  von  dem  Willen 
des  Betroffenen  unabhängiges  Ereignis  oder  eine  Erkrankung,  welche  die  Be¬ 
wertung  eines  Ereignisses  als  akute  Ursache  derselben  zuläßt.  Die  Recht¬ 
sprechung  hat  an  der  zeitlichen  Begrenzung,  welche  in  dem  Begriff  „Unfall“ 
nach  dem  Sprachgebrauch  liegt,  nicht  festhalten  können  und  eine  über  Stunden, 


78  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

resp.  einen  Tag  sich  ausdehnende  Einwirkung  als  genügend  abgegrenztes  zeit¬ 
liches  Ereignis  angesehen  Die  Beurteilung,  ob  eine  Erkrankung  derartig  auf¬ 
zufassen  ist,  daß  irgend  ein  äußeres  Ereignis  als  Unfallursache  angesehen  werden 
kann,  ist  den  Ärzten  Vorbehalten.  Diese  Beurteilung  kann  sich  nach  meiner 
Ansicht  nicht  nach  dem  Sprachgebrauch  richten.  Es  gibt  mikroskopische 
Ge walt ein  Wirkungen  und  es  gibt  mikroskopische  Folgeerscheinungen  der¬ 
selben.  Es  ist  denkbar  —  nicht  notwendig  — ,  daß  beim  Eindringen  eines  be¬ 
stimmten  Steinpartikelchens  in  die  Lunge  des  Steinhauers  der  Ort  für  die 
Ansiedlung  des  ersten  Keims  der  Tuberkulose  geschaffen  wird.  Es  ist  möglich, 
daß  durch  den  Wollstaub  in  einer  Spulerei  bei  einem  Individuum  eine  geringste 
akute  Verletzung  gesetzt  wird,  die  den  Boden  für  ein  chronisches  Siechtum 
bildet.  Daß  uns  diese  geringste  Verletzung  entgeht,  weil  vielleicht  mit  derselben 
keine  Blutung  verbunden  ist,  daß  uns  die  ersten  Anfänge  der  Unfallfolgen  nicht 
bekannt  werden,  weil  die  Krankheitserscheinungen  nicht  gleich  manifest  sind, 
berechtigt  uns  keineswegs,  die  Unfallmöglichkeit  in  solchen  Fällen  ab  streiten  zu 
wollen.  Wenn  nach  der  Unfallstatistik  der  Berufsgenossenschaft  für  Landwirt¬ 
schaft  und  Forstwesen  aus  dem  Jahre  1901  bei  68  Fällen  von  „Blutvergiftung' ‘ 
nur  in  einem  Teil  die  Entstehung  der  Wunde  und  in  einem  anderen  Teil  die 
Entstehung  der  Infektion  bekannt  geworden  ist  und  trotzdem  alle  Fälle  ent¬ 
schädigt  worden  sind,  so  sieht  man,  wie  formal  die  Beweisführung  an  dem  akuten 
Ereignis  festhält,  während  an  die  Würdigung,  ob  in  der  Verletzung  an  und  für 
sich  oder  der  Infektion  das  wesentliche  Moment  für  den  Verlauf  des  Unfalls, 
resp.  der  Unfallfolgen  zu  erblicken  ist,  nicht  herangetreten  wird. 

Wie  auf  der  einen  Seite  eine  Trennung  von  Krankheit  und  Unfall  nicht 
möglich  ist,  und  ein  Teil  der  für  gewöhnlich  nicht  als  Unfälle  aufgefaßten  In¬ 
fektionen  nach  dem  Stand  der  heutigen  ätiologischen  Forschungs¬ 
ergebnisse  —  das  gilt  nicht  allein  für  die  Tuberkulose  —  oft  als  Unfälle 
auf  gefaßt  werden  müssen  resp.  können,  so  hat  auch  die  Anschauung  kleinster 
Gewalteinwirkung  Anhänger  gefunden,  um  die  gewerblichen  Vergiftungen  in 
die  Beihe  der  Unfälle  zu  stellen.  Man  hat  den  Begriff  „kumulativ“  so  allgemein 
gefaßt,  daß  jede  chronische  Einwirkung  mit  diesem  Wort  bezeichnet 
werden  kann.  Unter  kumulativ  wirkenden  Substanzen  kann  man  aber  nur  solche 
verstehen,  welche  zunächst  bei  ihrer  Einverleibung  sichtbare  krankhafte  Er¬ 
scheinungen  nicht  bewirken,  welche  aber  nach  der  Kumulation  des  Giftes  ver¬ 
hältnismäßig  schnell  zur  Zuführung  geringer,  vorher  ohne  ersichtlichen  Schaden 
vertragener  Mengen  Krankheitserscheinungen  manifest  werden  lassen.  Derartige 
Einwirkungen  können  nach  meiner  Ansicht  auch  heute  schon  mitunter  als  Unfälle 
zur  Entschädigung  kommen.  Zu  solchen  kumulierend  wirkenden  Substanzen 
gehören  eine  Anzahl  Blutgifte;  für  das  Blei  kann  man  vom  pharmakologischen 
Standpunkte  eine  derartige  kumulative  Wirkung  annehmen.  Die  Nachschübe 
von  Bleikolik,  welche  z.  B.  nach  Entfernung  eines  Bleiarbeiters  aus  dem  Betrieb 
entstehen  und  welche  dadurch  zu  erklären  sind,  daß  im  Organismus  deponiertes, 
entgiftetes  Blei  wieder  mobil  gemacht  wird,  weisen  auf  die  kumulative  Wirkung 
der  Noxe  hin.  Man  ist  zu  sehr  von  der  Vorstellung  befangen,  daß  jede  Blei¬ 
erkrankung  nur  als  Gewerbekrankheit  aufzufassen  ist  und  versäumt  sicher  oft 
im  Einzelfall  nachzuforschen,  ob  nicht  in  der  minutiösen  Beachtung  der  Vor¬ 
gänge  und  der  Eigenschaften  des  Bleies  die  Möglichkeit  zur  Konstruktion 
eines  Unfalles  gegeben  ist.  Wir  keimen  die  Natur  zahlreicher  Substanzen 
zu  wenig,  um  zu  wissen,  ob  derartige  Annahmen  ebenfalls  für  dieselben  gestattet 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  79 

sind.  Die  Möglichkeit,  daß  Kohlenoxyd,  Phosphor,  Quecksilber  in  dem  obigen 
Sinne  als  kumulativ  wirkende  Substanzen  zu  bezeichnen  sind,  ist  nicht  aus¬ 
geschlossen.  Unter  dieser  Voraussetzung  würde  in  der  letzten  die  Er¬ 
krankung  in  die  Erscheinung  bringenden,  wenn  auch  minimalen  Ein¬ 
wirkung  das  Unfallereignis  liegen.  Die  Erforschung  der  Natur  der  gewerblichen 
Noxen  stellt  sich  hier  wiederum  als  ein  Erfordernis  heraus,  damit  der  Recht¬ 
sprechung  exaktere  Grundlagen  gegeben  werden  könnten,  als  der  Sprachgebrauch 
bedingt,  der  in  den  Worten  Gewerbekrankheit  und  Unfall  liegt. 

Wie  bei  der  Infektion,  so  muß  auch  bei  der  Intoxikation  der  Begriff  des 
kleinsten  wirksamen  äußeren  Unfallereignisses  aufgestellt  werden. 

Im  vorgehenden  habe  ich  mich  bemüht,  auseinanderzusetzen,  wie  für  das 
ärztliche  Auge  oder  besser  für  die  Wissenschaft  keine  Grenzen  zwischen  Krank¬ 
heit,  Gewerbekrankheit  und  Unfall  bestehen;  wesentlich  Neues  habe  ich  nicht 
anführen  können.  Dennoch  erschien  es  zweckmäßig,  gerade  im  Anschluß  an  die 
großen  sozialpolitischen  Vorträge  in  diesem  Verein  diesen  Standpunkt  zu  be¬ 
tonen.  Wir  Ärzte  fordern  im  Interesse  der  Volkshygiene,  „daß  jede  Versicherung 
gegen  das  Erlöschen  der  Arbeitsfähigkeit  den  mininalen  Bedürfnissen  der  Existenz 
Genüge  leiste,  und  zwar  ganz  gleichgültig,  welche  Ursachen  das  Erlöschen  der 
Arbeitsfähigkeit  bewirkt“.  Mit  der  Erfüllung  dieses  Postulats  fällt  von  selbst 
die  Forderung  nach  besonderer  Entschädigung  von  Berufs-  oder  Betriebskrank¬ 
heiten  fort. 

Für  den  Fall,  daß  bei  der  Neugestaltung  der  sozialen  Gesetzgebung  die 
Ansprüche  an  die  Ärzte  bezüglich  der  Begutachtung  nicht  eine  Verringerung 
erfahren  können,  wird  auf  die  Ärzte  eine  Verantwortung  geladen,  die 
nie  in  ihrem  Sinne  liegen  kann,  zumal  wenn  neue  Begriffe,  wie 
derjenige  der  Berufskrankheiten,  zu  den  alten,  Krankheit,  Unfall 
und  Invalidität,  in  die  Gesetzgebung  eingeführt  werden  sollten.  Aus  inneren 
Gründen  muß  der  x4.rzt  für  sich  und  als  natürlicher  Vorkämpfer  der  Versicherungs¬ 
nehmer  die  Vereinheitlichung  der  Arbeiterversicherung  fordern. 

Auch  ich  hoffe,  daß  die  von  Lennhoff  in  seinem  Vortrag  geforderte  Be¬ 
rücksichtigung  des  Existenzminimums  und  die  hierdurch  mögliche  Vereinfachung 
der  Arbeiterversicherung  sich  ihr  Recht  erobern  wird.  Hier  fehlt  uns  noch 
der  große  Entwurf,  der  das  Werk  wirklich  aus  einem  Gusse  plant 
und  der  die  Möglichkeit  der  praktischen  Durchführung  auch  ohne  Diktator  voraus¬ 
sehen  läßt.  Bei  einer  Vereinfachung  der  sozialen  Gesetzgebung,  wie  sie  dann 
möglich  wäre,  würde  sich  das  ärztliche  Können  frei  entfalten  in  der  prophy¬ 
laktischen  und  therapeutischen  Bekämpfung  der  Krankheiten,  und  die  Grenzen 
des  nötigen  ärztlichen  Wissens  würden  nicht  so  eng  gesteckt  sein,  daß  wir  vielen 
an  uns  gestellten  Fragen  ein  Ignorabimus  entgegenhalten  müssen. 


Sitzung  vom  14.  Juni  1906. 

Vorsitzender:  Herr  May  et.  Schriftführer:  Herr  Lennhoff. 

Herr  Lassar  legt  die  Veröffentlichung  der  Deutschen  Gesellschaft  für 
Volksbäder  über  ihre  letzte  Versammlung  vor.  Es  verdient  hervorgehoben  zu 
werden,  daß  die  Vereinigung  in  wenigen  Jahren  die  Aufmerksamkeit  verschiedener 
Faktoren  auf  sich  gezogen  hat,  in  erster  Linie  die  der  Städte.  Die  Frage  der 
Volksbäder  ist  direkt  zu  einer  Kommunalangelegenheit  geworden.  Es  ist  eine 


80  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

sozialpolitische  Umwandlung  gegen  frühere  Auffassung  eingetreten,  wo  man  wohl 
Badeanstalten  besaß,  aber  weit  entfernt  war,  sie  zur  Aufgabe  des  Gemeinwesens 
zu  erheben.  Das  ist  inzwischen  geschehen.  Das  Interesse  für  die  Bewegung 
hat  sich  erweitert,  und  es  ist  bemerkenswert,  daß  man  auch  in  einer  verhältnis¬ 
mäßig  so  beschränkten  Fragestellung  das  Gesamtbild  des  nationalen  und  des 
ökonomischen  Lebens  sich  wiederspiegeln  sieht.  Denn  sowohl  hervorragende 
Hygieniker  wie  größere  Kommunalverwaltungen  und  führende  Staatsregierungen 
haben  sich  praktisch  beteiligt;  daran  schließt  sich  natürlich  auch  eine  Anregung 
für  die  Industrie.  Eine  ganze  Reihe  von  Technikern  beschäftigen  sich  jetzt  mit 
Bade-  und  Installationseinrichtungen.  Die  Aufgabe  der  Deutscheu  Gesellschaft 
für  Volksbäder  geht  dahin,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  darauf  zu  lenken,  daß 
ein  hygienisches  Bedürfnis  vorliegt  und  Abhilfe  dringend  geboten  erscheint.  In 
der  Tat  sind  auch  so  viele  Vorschläge  gemacht  worden,  daß  es  sich  lohnt,  einen 
Blick  auf  die  über  10  Bogen  starken  Verhandlungen,  welche  an  einem  Tage  er¬ 
ledigt  sind,  zu  werfen.  Es  ist  ein  Haupterfordernis,  daß  die  Anregungen  ge¬ 
druckt  bleiben  und  später  noch  Einfluß  gewinnen  können.  Eine  ganze  Reihe 
von  Thematen  sind  angeregt  worden,  gar  nicht  mit  der  ausgesprochenen  Absicht, 
daß  dieselben  zur  ausführlichen  Besprechung  gelangen,  sondern  daß  jeder  sieht, 
hier  liegt  etwas  Diskutables  vor.  Ich  möchte  noch  bemerken,  daß  auch  eine 
direkt  sozialmedizinische  Frage  zur  Besprechung  gelangt  ist,  die  ich  selbst  zur 
Erörterung  gestellt  habe.  Es  handelt  sich  um  die  Beziehungen  der  Kassen  zu 
den  Volksbädern.  Ich  muß  hervorheben,  daß  ein  gewisses  Manko  vorliegt.  Die 
Kassen  haben  nur  für  die  Kranken  zu  sorgen.  Sobald  ein  Mitglied  nicht  krank 
ist,  hört  die  Fürsorge  für  dasselbe  auf.  Die  prophylaktische  Idee,  welche  den 
Landesversicherungsanstalten  zugrunde  liegt,  war  damals  noch  nicht  bekannt,  als 
das  Krankengesetz  eingeführt  wurde;  man  dachte  nicht  an  die  Möglichkeit,  eine 
weitere  Fürsorge  eintreten  zu  lassen.  Von  Herrn  L  e  n  n  h  o  f  f  ist  mir  reiches 
Material  zugegangen  und  ich  darf  ihm  auch  hier  meinen  Dank  wiederholen. 

Sodann  trägt  Herr  Zondek  über  „Ursächliche  Beziehungen  zwischen 
Unfall  und  Magencarcinom“  vor.  Seit  Einführung  der  Unfallversicherungs- 
Gesetzgebung  werden  bei  fast  allen  möglichen  Erkrankungen  Unfälle  als  Krank¬ 
heitsursachen  angegeben.  Das  ist  begreiflich;  denn  die  Feststellung  der  Er¬ 
krankung  als  Folge  eines  Unfalls  ist  gewöhnlich  von  großer  wirtschaftlicher  Be¬ 
deutung  für  den  Patienten  sowohl  für  seine  Angehörigen.  Wenn  hierbei,  was 
mehrfach  vorkommt,  von  den  Patienten  unwahre  Angaben  gemacht  werden,  so 
geschieht  dies  oft  im  besten  Glauben.  Das  sehen  wir  in  denjenigen  Fällen,  in 
denen  keinerlei  materielle  Interessen  in  Betracht  kommen.  Auch  hier  führen  oft 
die  Patienten  ihre  Erkrankung,  wenn  sie  keine  andere  bestimmte  Ursache  für 
die  Entstehung  ihres  Leidens  ermitteln  können,  auf  ein  Trauma  zurück,  und  ein 
Trauma  hat  schließlich  ein  jeder  einmal  erlitten.  Die  Aufgabe  des  Arztes  ist  es 
nun,  in  dem  Einzelfalle  den  wirklich  ursächlichen  Zusammenhang  zwischen  dem 
Unfall  und  der  Erkrankung  festzustellen.  So  kommt  es  aber,  daß  auch  die 
Arzte  auf  die  angeblichen  Unfälle  der  Patienten  mehr  als  früher  zu  achten  haben 
und  auch  achten.  Sehr  interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  eine  Äußerung,  die 
Für  bring  er  in  einer  Diskussion  machte.  Fürbringer  sagte,  er  beobachte 
jährlich  etwa  50  Fälle  von  Magencarcinom,  und  im  Laufe  der  Jahre  habe  er 
mehr  als  ein  halbes  Tausend  Fälle  von  Magencarcinom  gesehen,  aber  niemals  ist 
ihm  hierfür  als  Krankheitsursache  ein  Unfall  betont  worden.  Allerdings,  fügte  er 
hinzu,  habe  er  nie  danach  gefragt.  Diese  Ausführung  von  Fürbringer  zeigt 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  81 


aber  ferner,  wie  häufig  das  Magencarcinom  vorkommt.  Nach  Wyss  sind  2  Proz. 
aller  Todesfälle  die  an  Magencarcinom ;  das  trifft  allerdings  nicht  für  alle  Gegenden 
zu;  so  soll  in  den  Tropen  ein  Magencarcinom  sehr  selten  beobachtet  werden. 
Auch  Virchow  hat  auf  die  Häufigkeit  des  Magencarcinoms  hingewiesen.  Von 
allen  Carcinomen  betreffen  nach  Virchow  die  des  Magencarcinoms  35  Proz.. 
nach  anderen  Zusammenstellungen  sogar  40  Proz.  Das  Magencarcinom  ist  also 
ein  relativ  häufiges  Vorkommnis.  Die  ätiologische  Bedeutung  des  Traumas  für 
die  Entwicklung  des  Magencarcinoms  verdient  darum  ein  hohes  Interesse.  Es 
fragt  sich  nun  zunächst:  Läßt  sich  die  traumatische  Genese  des  Magencarcinoms 
wissenschaftlich  begründen?  Bekanntlich  gibt  es  für  die  Entwicklung  der  Carci- 
nome  vornehmlich  zwei  Theorien,  die  von  Virchow  und  die  von  Cohn  he  im. 
Virchow  führt  die  Entwicklung  der  Carcinome  auf  irritative  Momente  zurück: 
Häufig  wiederkehrende,  oder  chronisch  wirkende  Traumen,  mechanische,  chemi¬ 
sche,  thermische  Reize  führen  zur  Entwicklung  und  zum  Wachstum  der  Ge¬ 
schwulst.  Cohnheim  hingegen  nimmt  eine  innere  Ursache  für  die  Genese  der 
Carcinome  an ;  eine  fehlerhafte  embryonale  Gewebsanlage  ist  es,  aus  der  sich  die 
Geschwulst  bildet.  In  der  neueren  Zeit  neigt  man  mehr  der  Cohnheim’schen 
Theorie  zu,  und  den  irritativen  Momenten  wird  für  bestimmte  Fälle  (Lippenkrebs 
der  Pfeifenraucher,  Hodensackkrebs  der  Schornsteinfeger)  eine  direkte,  für  die 
meisten  Fälle  aber  nur  eine  indirekte  Bedeutung  zuerkannt;  durch  die  Reizung 
kommt  es  zur  Wucherung  der  embryonal  versprengten  Keime,  zur  Geschwulst¬ 
bildung,  oder  es  kommt  zu  entzündlichen  Veränderungen,  auf  deren  Boden  sich 
die  Geschwulst  entwickelt.  Diese  Theorie  läßt  sich  besonders  gut  auf  die  Ent¬ 
stehung  der  Magencarcinome  anwenden.  Die  Entwicklung  von  Magencareinomen 
auf  der  Basis  von  Magengeschwüren  ist  pathologisch-anatomisch  festgelegt.  Nach 
einer  Zusammenstellung  von  Menne  trifft  dies  für  8,25  Proz.  aller  Magen¬ 
carcinome  zu.  Ferner  ist  auch  die  traumatische  Entstehung  von  Magenulcera 
pathologisch-anatomisch  anerkannt.  Demnach  ist  die  Möglichkeit  der  traumati¬ 
schen  Genese  eines  Magencarcinoms  für  wissenschaftlich  erwiesen  anzusehen.  Wie 
werden  wir  uns  nun  bei  der  Beurteilung  des  Einzelfalles  verhalten?  Setzen  wir 
das  Trauma  als  sicher  festgestelit  voraus,  so  werden  wir  zunächst  danach  fragen : 
Wohin  ist  das  Trauma  erfolgt?  Die  einen  Autoren  verlangen,  daß  das  Trauma 
in  die  Magengegend  eingesetzt  hat,  denn  nur  an  dem  Ort  der  Einwirkung  des 
Traumas  kann  sich  das  Carcinom  entwickeln.  Nach  Boas  und  Menne  genügt 
indes  eine  allgemeine  Gewalteinwirkung,  eine  Erschütterung  des  ganzen  Körpers ; 
es  kommt  hierbei  zur  Kontraktion  der  Bauchwand  bei  feststehenden  Zwerchfell, 
es  entstehen  Risse  in  der  Magenschleimhaut,  eine  chronische  Gastritis  entwickelt 
sich,  und  auf  ihrer  Basis  entsteht  ein  Magencarcinom.  Eine  weitere  Frage  ist 
es,  in  welcher  Zeitdauer  nach  dem  Unfall  kann  sich  das  Magencarcinom  bilden. 
Nun,  das  ist  schwer  zu  sagen,  denn  das  Magencarcinom  kann  lange  bestehen, 
ohne  daß  sein  Nachweis  möglich  wäre;  gibt  es  ja  doch  okkulte  Magencarcinome, 
die,  ohne  irgend  welche  Störungen  verursacht  zu  haben,  bei  Sektionen  als  zu¬ 
fällige  Nebenbefunde  erhoben  werden.  Im  allgemeinen  nimmt  Boas  als  kürzeste 
Frist  zwischen  Trauma  und  Geschwulstbildung  ein  halbes  Jahr  und  als  längste 
Dauer  4—5  Jahre  an.  Auch  die  Frage,  wie  lange  Zeit  zwischen  Trauma  und 
dem  Tod  des  Patienten  liegen  muß,  um  hier  von  einer  Unfallerkrankung  sprechen 
zu  können,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Es  gibt  Magencarcinome,  die  von  weicher 
Konsistenz  sehr  schnell  und  stark  wuchern,  sehr  bald  zu  Metastasen  und  zum 
Tode  führen,  es  gibt  aber  auch  harte  Carcinome  (Scirrhen),  bei  denen  die  Me- 
Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  Tf.  6 


82  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


tastasen  erst  später  auftreten  und  bei  denen  erst  nach  mehreren  Jahren  der  Tod 
erfolgt.  Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  einen  Fall  zu  beobachten,  bei  dem  wegen 
eines  vorgeschrittenen  Magencarcinoms  die  Gastro-Enterostomie  gemacht  wurde: 
der  Patient  ging  jedoch  erst  nach  5  Jahren  an  dem  Carcinom  zugrunde.  Auch 
der  Sitz  des  Carcinoms  ist  von  wesentlicher  Bedeutung  für  den  Verlauf  des 
Carcinoms.  Ein  Carcinom  am  Pylorus  dürfte  früher  und  zu  intensiveren  Magen¬ 
störungen  führen  als  ein  Carcinom  an  der  übrigen  Magenwand.  Dadurch  dürfte 
aber  auch  bei  den  Pyloruscarcinomen  die  Widerstandskraft  des  Individuums  früh¬ 
zeitiger  und  in  höherem  Grade  herabgesetzt  werden  als  bei  den  mehr  oder  weniger 
fern  vom  Pylorus  lokalisierten  Carcinom en.  Wenn  nun  bei  einem  Individuum 
mit  gesundem  Magen  im  Anschluß  an  ein  geeignetes  Trauma  in  der  erfahrungs¬ 
mäßigen  Zeit  zwischen  V2  und  5  Jahren  (Für  bring  er  setzt  die  unterste  Grenze 
auf  V4  Jahr  fest)  ein  Carcinom  des  Magens  konstatiert  wird,  so  kann  das  Car¬ 
cinom  als  Unfallfolge  aufgefaßt  werden.  Es  können  hierbei  zweierlei  Möglichkeiten 
vorliegen.  Das  Trauma  kann  zur  chronischen  Gastritis  oder  einem  Ulcus  geführt 
haben,  und  daraus  kann  sich  ein  Carcinom  entwickelt  haben,  oder  aber  es  kann 
ein  bereits  bestehendes  okkultes  Magencarcinom  durch  das  Trauma  zu  lebhafterem 
Wachstum  angeregt  und  mit  seinen  Folgen,  Blutungen,  entzündlichen  Störungen 
der  angrenzenden  Magenwand,  in  die  Erscheinung  gebracht  worden  sein.  Indes 
auch  für  diesen  Fall  der  Steigerung  eines  bestehenden  Krankheitsprozesses  durch 
einen  Unfall  erkennt  die  Gesetzgebung  die  Rentenansprüche  an.  Menne  hat 
nun  aus  den  Akten  der  Bonner  Berufsgenossenschaft,  aus  den  Mitteilungen  des 
Reichsversicherungsamtes  und  aus  sonstiger  Unfallliteratur  diejenigen  Fälle  zu¬ 
sammengestellt,  bei  denen  „ein  direkter  ursächlicher  Zusammenhang  zwischen 
Trauma  und  Magencarcinom  seitens  der  entscheidenden  Instanzen  auf  Grund  der 
ärztlichen  Gutachten  oder  seitens  der  Autoren  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  an¬ 
genommen  worden  ist,  oder  angenommen  werden  kann“.  Es  sind  im  ganzen 
10  Fälle.  Über  einen  gleichartigen  Fall  kann  ich  Ihnen  heute  berichten.  Herr 
Reichstagsabgeordneter  Robert  Schmidt  war  so  freundlich,  mir  die  Akten  über 
diesen  Fall  zur  Veröffentlichung  zu  überlassen.  Es  handelte  sich  um  einen 
40  jährigen  Bergmann,  der  einen  Hufschlag  von  einem  Pferde  in  die  Magengegend 
erlitten  hatte.  Ungeachtet  dieses  Traumas  ging  der  Mann  seiner  täglichen  Arbeit 
weiter  nach.  Nach  3  Monaten  traten  Magenbeschwerden  auf  und  nach  weiteren 
3  Monaten  wurde  an  dein  Patienten  bei  einer  Operation  einer  Hernie  in  der 
Linea  alba  ein  Pyloruscarcinom  konstatiert,  das  die  Gastro-Enterostomie  not¬ 
wendig  machte.  1  Jahr  nach  dem  Unfall  starb  der  Patient  an  den  Folgen  des 
Magencarcinoms.  Ich  will  hier  auf  die  einzelnen  Gutachten  nicht  näher  eingehen. 
Der  am  meisten  strittige  Punkt  in  ihnen  ist  die  Frage:  Wie  lange  Zeit  liegt 
zwischen  Beginn  der  Entwicklung  eines  Magencarcinoms  bis  zu  seinem  endlichen 
Ablauf,  oder  mit  anderen  Worten,  eine  wie  lange  Zeit  darf  zwischen  Trauma 
und  Tod  des  Individuums  liegen,  um  hier  einen  ursächlichen  Zusammenhang  an¬ 
zunehmen.  Die  Gutachter  der  einen  Partei  nehmen  die  durchschnittliche  Zeit 
von  2  Jahren  an,  die  anderen  Gutachter  hingegen  setzen  die  erfahrungsmäßige 
Dauer  auf  1 — 2  Jahre,  und  die  unterste  Grenze  auf  2  Monate  und  74  Jahr  fest. 
Das  Reichsversicherungsamt  hat  in  diesem  Falle  die  Rentenansprüche  der  An¬ 
gehörigen  des  Verstorbenen  anerkannt.  Zum  Schluß  sei  es  mir  gestattet,  aus 
dem  Obergutachten  des  Prof.  F.  folgenden  Passus  zu  verlesen: 

„Allein  es  darf  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  daß  wir  bei  der  Beurteilung 
des  Zusammenhangs  von  inneren  Krankheiten  mit  Unfalltraumen ,  meist  auf 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  83 

Wahrscheinlichkeitsschlüsse  angewiesen,  den  höheren  Wert  dem  geeigneten  Unfall 
und  der  Kontinuität  der  Erscheinungen  zuzuerkennen  haben;  andernfalls  würden 
wir  wohl  im  Löwenanteil  der  Fälle  den  Arbeiter  resp.  seine  Angehörigen  durch 
unsere  Ablehnung  des  Zusammenhangs  auf  Grund  unserer  mangelhaften  Kennt¬ 
nisse  ungerechterweise  leiden  lassen.  Die  Unsicherheit  unseres  derzeitigen  Wissens 
gestattet  meines  Erachtens  nicht  bei  dem  Begriff  der  bloßen  Möglichkeit  Halt  zu 
machen  da,  wo  die  Abhängigkeit  einem  strikten  Nachweise  unzugänglich  ist.“ 
So  richtig  diese  Anschauung  ist,  so  wenig  wir  Ren Vers  beipflichten  können, 
wenn  er  1898  in  einem  Obergutachten  sagt:  „Ein  genetischer  Zusammenhang 
zwischen  Trauma  und  Magencarcinom  ist  in  jedem  Falle  zu  verneinen,“  so  müssen 
wir  uns  doch  vor  Augen  halten,  daß  wir  in  den  günstigsten  Fällen  nur  mit 
einem  mehr  oder  weniger  hohen  Grade  von  Wahrscheinlichkeit  das  Careinom  des 
Magens  wie  das  der  inneren  Organe  als  Folge  eines  Unfalls  nachweisen  können. 
Reicht  auch  diese  Feststellung  im  Sinne  des  jetzt  bestehenden  Gesetzes  zur  An¬ 
erkennung  der  Rentenansprüche  hin,  so  können  wir  uns  damit  doch  nicht  zu¬ 
frieden  geben.  Sehen  wir  davon  ab,  daß  wir  die  traumatische  Genese  dieser 
Erkrankung  nie  mit  Sicherheit  erbringen  können,  so  erscheint  uns  überhaupt  die 
dem  Gesetz  zugrunde  liegende  Auffassung  nicht  zu  Recht  zu  bestehen.  Denn 
von  so  wissenschaftlichem  Interesse  auch  bei  den  verschiedenen  Erkrankungen 
die  Feststellung  sein  mag,  ob  und  inwieweit  ihre  traumatische  Entstehung  in 
Betracht  kommt,  so  muß  es  doch  in  praktischer  Hinsicht  gleichgültig  erscheinen, 
ob  eine  Invalidität  auf  einen  Unfall  oder  eine  andere  Ursache  zurückzuführen 
ist.  Wir  werden  darum  der  Forderung  R.  Lennhoffs  beipflichten:  Nicht  die 
Ursache  für  die  Entstehung  der  Invalidität,  nicht  ihre  traumatische  Genese,  son¬ 
dern  die  Feststellung  der  Invalidität  an  sich  und  ihres  Grades  muß  für  die  Be¬ 
stimmung  der  Rentenansprüche  maßgebend  sein. 

Sodann  berichtet  Herr  M  u  n  t  e  r  über  folgenden  Fall  aus  der  Unfallkasuistik  : 
Es  handelt  sich  um  einen  66  jährigen  Zimmermann  aus  der  Nähe  von  Wandsbek. 
Ich  habe  den  Mann  zusammen  mit  den  Herren  Kollegen  Strauß  und  Zondek 
untersucht,  als  Gutachter  im  Aufträge  des  Arbeitersekretariats.  Der  Mann  hat 
eine  Verstümmelung  eines  Fingers  von  früherem  Unfall,  er  war  nie  infiziert  und 
in  keiner  Weise  erblich  belastet;  er  trank,  wie  alle  Bauhandwerker,  täglich  für 
ungefähr  15  Pfg.  Schnaps.  Wie  aus  den  Akten  feststeht,  hatte  er  trotz  seiner 
66  Jahre  ununterbrochen  bis  zu  dem  Tage  des  Unfalls  gearbeitet  und  täglich 
5  Mk.  verdient.  Am  1.  Juni  1904  fand  der  Unfall  statt.  Der  alte  Mann  fiel  von 
der  1.  Etage  etwa  4  m  tief,  wobei  er  auf  die  Stirn  aufschlug  und  auf  die  rechte 
Seite;  er  trug  eine  Schädelverletzung  sowie  einen  Bruch  des  Brustbeins  und 
einiger  Rippen  davon.  Der  Verletzte  wurde  vom  Kassenarzt  dem  Altona  er 
Krankenhaus  überwiesen;  dort  blieb  er  eine  Reihe  von  Wochen  und  hat  dann 
allmählich  wieder,  trotz  vieler  Beschwerden,  die  sich  im  Anschluß  an  den  Unfall 
einstellen,  gearbeitet;  er  hat  die  Arbeit  als  Zimmermann  aufgeben  müssen  und 
als  gelegentlicher  Arbeiter  sich  ernährt.  Das  Höchste,  was  er  dabei  verdiente, 
waren  3,40  Mk.  Der  Mann  versuchte  bei  der  zuständigen  Berufsgenossenschaft, 
seine  Ansprüche  geltend  zu  machen,  indem  er  behauptete,  daß  er  durch  den  Un¬ 
fall  an  Kopfschmerz  und  Kurzatmigkeit  litte,  und  daß  eine  ziemlich  bedeutende 
Rückgratsverkrümmung  auf  diesen  Unfall  zurückzuführen  sei.  Der  Kassenarzt 
erklärte  die  sämtlichen  Zustände  als  senile  Veränderungen,  besonders  die  Ver¬ 
änderungen  an  der  Wirbelsäule,  sowie  eine  ziemlich  beträchtliche  Knickung  am 
Brustbein  selbst.  Er  erklärte  die  Rückgratsverkrümmung  als  Greisenveränderung 

6* 


84  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatisti^. 

und  bezog  sämtliche  subjektiven  Klagen  auf  Gefäßverkalkung,  die  teils  auf 
Senium,  teils  auf  Alkoholgenuß  zurückzuführen  ist.  Die  Berufsgenossenschaft,  die 
sich  auf  das  Urteil  des  Kassenarztes  bezog,  sowie  auf  das  Gutachten  des  Altonaer 
Krankenhauses,  wies  den  Mann  auch  ab.  Nachträglich  hat  der  erstbehandelnde 
Arzt  dann  doch  die  Möglichkeit  zugegeben,  daß  die  Schmerzen,  über  die  der 
Mann  klagte,  wohl  vorher  nicht  bestanden  haben  mögen,  und  infolge  des  ziemlich 
bedeutenden  Unfalls  eingetreten  seien  und  eine  Verminderung  der  Erwerbsfähig¬ 
keit  veranlaßt  haben  könnten.  Auch  das  Schiedsgericht  wies  den  Verletzten 
infolge  der  Erklärung  des  ersten  Arztes  vollständig  ab,  einmal,  da  die  bloße 
Möglichkeit  eines  Zusammenhangs  mit  dem  Unfall  nicht  ausreichte,  um  eine 
Beute  zu  erteilen,  ferner  aber,  weil  bei  dem  Alter  des  Mannes  anzunehmen  sei, 
daß  die  Veränderungen  in  den  Gefäßwänden  schon  vor  dem  Unfall  bestanden 
haben.  Der  Mann  wandte  sich  an  das  Zentral-Arbeitersekretariat  und  erhob 
Bekurs  gegen  die  Entscheidung  des  Beichsversicherungsamts.  Es  trat  ein  Gut¬ 
achterkollegium  zusammen.  Unter  den  Vorschlägen,  die  von  den  deutschen 
Ärzten  zur  Beform  der  sozialpolitischen  Gesetze  jetzt  gemacht  werden,  befindet 
sich  auch  der  Vorschlag,  daß  da,  wo  die  Ärzte  in  ihrem  Gutachten  nicht  einig 
sind,  eine  Gutachterkommission  gebildet  werden  soll.  Diese  geplanten  ständigen 
Kommissionen  haben  ihre  Bedenken,  denn  zur  Abstimmung  kann  man  wissen¬ 
schaftliche  Besultate  nicht  stellen.  Unsere  Untersuchung  ergab  ein  überein¬ 
stimmendes  Resultat;  auch  von  chirurgischer  Seite  hat  Kollege  Zondek  fest- 
gestellt:  das  Vorhandensein  der  Rückgratsverkrümmung,  Seitwärtsneigung  der 
Wirbelsäule  nach  rechts,  Veränderungen  am  Brustbein,  die  Schmerzen  an  jener 
Stelle  wahrscheinlich  machen.  Es  fand  sich  ferner  Zittern  der  ausgestreckten 
Hände,  vor  allen  Dingen  aber  erhebliche  Störungen  des  Gleichgewichts  bei  Prü¬ 
fung  mit  geschlossenen  Augen  und  beim  Vor-  und  Rückwärtsbeugen  des  Rumpfes 
mit  offenen  Augen.  Dann  stellte  Kollege  Strauß  eine  hochgradige  Gefäßver¬ 
kalkung  und  eine  entsprechende  Veränderung  des  Herzens  fest.  Wir  haben  dann 
in  unserem  Gutachten  mit  den  Vorgutachtern  die  Veränderungen  an  der  Wirbel¬ 
säule  für  ausschließlich  senile  erklärt.  Dagegen  haben  wir  doch  die  Wahrschein¬ 
lichkeit  ausgesprochen,  daß  die  Veränderungen  am  Brustbein  ausschließlich 
traumatischen  Ursprungs  sind.  Die  nervösen  Erscheinungen  haben  wir  in  Zu¬ 
sammenhang  mit  der  Arteriosklerose  gebracht  und  zugegeben,  daß  der  Mann  sich 
noch  vor  dem  Tage  des  Unfalls  an  Arteriosklerosis  gelitten  hat;  aber  absolut 
abweichen  mußten  wir  in  der  Beurteilung,  welche  Folgen  dieser  Unfall  für  den 
Mann  gehabt  hat.  Ein  Mann,  der  bis  zu  dem  Tage  des  Unfalls  trotz  der  alko¬ 
holischen  und  senilen  Veränderungen  an  den  Gefäßwänden  schwer  gearbeitet  hat, 
der  außerdem  seine  Arbeitswilligkeit  auch  jetzt  zeigt  und  jede  Gelegenheit  be¬ 
nutzt  hat,  zu  arbeiten,  und  als  Kranker  3, 40  Mk.  verdient,  bei  diesem  zeigen 
sich  jetzt  deutlich  nachweisbare  Veränderungen  auf  nervösem  Gebiet,  er  hat 
Schmerzen,  die  durchaus  glaubwürdig  sein  müssen.  Der  Mann  hat,  wie  alle 
Gutachter  angeben,  niemals  den  Eindruck  eines  Simulanten  gemacht.  Hier  muß 
man  zu  dem  Besultat  kommen,  daß  unter  dem  Einfluß  des  Traumas  sich  die 
Anpassung  des  Organismus  an  die  allmählich  entstandene  Degeneration  verloren 
hat  und  in  akuter  Weise  der  Verlauf  der  allmählichen  Umwandlung  der  Gefä߬ 
wände  ein  beschleunigter  geworden  ist.  Wir  haben  eigentlich  noch  hart  geurteilt, 
indem  wir  dem  Verletzten  nur  eine  Einbuße  von  50  Proz.  seiner  früheren  Er¬ 
werbsfähigkeit  zusprachen.  Das  Reichsversicherungsamt  hat  noch  einmal  den 
Mann  der  Königl.  Klinik  in  Kiel  überwiesen.  Und  hier  hat  allerdings  Professor 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  85 

Quincke,  weil  eine  Möglichkeit  eines  traumatischen  Zusammenhangs  der 
jetzigen  Beschwerde  mit  dem  Unfälle  vorliegt  eine  Rente  von  nur  25  Proz.  für 
ausreichend  erachtet.  Das  Reichsversicherungsamt  hat  sich  dem  Gutachten  der 
Berliner  Kommission  angeschlossen.  Wer  die  erklärliche  Neigung  vieler  Ent- 
sch eidun gsinstanzen  kennt,  Urteilen  der  beamteten  Ärzte  eo  ipso  größere  Bedeu¬ 
tung  beizulegen  als  den  Gutachten  der  Privatärzte,  der  wird  bei  dieser  Ent¬ 
scheidung  der  höchsten  Instanz  mit  Genugtuung  erkennen,  daß  von  diesem  Brauch 
abgewichen  ist  zugunsten  der  Sachlichkeit. 

Uber  Arteriosklerosis  und  Trauma  sind  ja  verschiedene  Besprechungen  er¬ 
schienen.  Man  hat  behauptet,  daß  Gefäßverkalkungen  auch  bei  jüngeren  Leuten 
entstehen  können  als  Folgen  des  Unfalls.  Das  glaube  ich  nicht  in  Fällen,  wo 
nicht  Syphilis  oder  Alkoholismus  vorliegt;  ich  glaube  nicht,  daß  bei  ganz  ge¬ 
sunden  Leuten  eine  solche  Veränderung  durch  Trauma  entstehen  kann.  Aber  es 
ist  m.  E.  nicht  selten  und  wird  von  den  Gutachtern  nicht  hinlänglich  betont,  daß 
bestehende,  gewissermaßen  physiologische  Arteriosklerosis  durch  Unfall  in  ihrem 
Verlaufe  und  ihrer  Wirkung  schädigender  wird.  Dadurch,  daß  die  Arbeiter  sich 
freiwillig  eine  Organisation  geschaffen  haben,  bei  der  es  dem  einzelnen  möglich 
ist,  unter  Umständen  noch  ein  Obergutachten  einzuholen,  konnte  dieser  Mann 
zu  seinem  Rechte  kommen.  Es  ist  bezeichnend,  daß  das  Reichsversicherungsamt, 
das  sonst  sehr  sparsam  mit  Gewährung  von  Entschädigung  für  Privaturteile  ist, 
dem  Rentenerwerber  in  diesem  Fall  zu  diesem  Zweck  50  Mk.  zuerkannt  hat  und 
sagte,  er  hätte  vielleicht  ohne  das  ebensoviel  bekommen. 

Sodann  trägt  Herr  Albu  über  „Die  sozialmedizinische  Bedeutung  der 
Errichtung  von  Yolksheilstätten  für  Stoffwechselkrauke'**  vor:  Der  über¬ 
raschend  umfangreiche  Ausbau  der  diagnostischen  Methoden  auf  dem  Gebiete  der 
inneren  Medizin  in  den  letzten  Jahrzehnten  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß  inner¬ 
halb  dieses  Gebietes  einzelne  Wissenszweige  zu  einer  solch  kräftigen  selbständigen 
Entwicklung  gelangt  sind,  daß  sie  geradezu  schon  als  Spezialdisziplinen  in  die 
Erscheinung  treten.  Das  gilt  insbesondere  von  der  Physiologie  und  Pathologie 
der  Verdauungs-,  Ernährungs-  und  Stoffwechselvorgänge.  So  notwendig  es  auch 
ist,  immer  von  neuem  zu  betonen,  daß  die  souveräne  Beurteilung  jedweder  Frage 
auf  einem  Spezialgebiete  die  Beherrschung  der  Grundlagen  der  gesamten  inneren 
Medizin  voraussetzt,  so  läßt  sich  doch  nicht  leugnen,  daß  die  Ansammlung  von 
Erfahrungen  auf  einem  enger  umschriebenen  Felde  stets  das  Wissen  vertieft  und 
mehrt.  Mit  der  Gewinnung  reicherer  Kenntnisse  über  das  Wesen  einzelner 
Krankheiten  haben  sich  auch  allenthalben  neue  Mittel  und  Wege  zu  ihrer  Be¬ 
kämpfung  ergeben.  So  wurde  Br  e hm  er  durch  die  ausschließliche  Beschäftigung 
mit  der  Behandlung  von  Phthisikern  zu  der  Idee  der  Begründung  von  Lungen¬ 
heilstätten  geführt,  und  die  im  Kampf  ums  Dasein  und  im  Großstadtleben  sich 
immer  mehr  häufende  Zahl  von  Neurasthenikern  gab  die  Anregung  zur  Errichtung 
von  Nervenheilstätten.  Die  erfolgreiche  Wirksamkeit,  welche  die  Anstalten  beider 
Art  nun  schon  seit  mehreren  Jahrzehnten  entfalten,  ist  so  allgemein  anerkannt, 
daß  der  gesteigerte  soziale  Sinn  der  Neuzeit  die  Wohltat  einer  derartigen  Krank¬ 
heitsbehandlung  auch  den  Armen  und  Ärmsten  hat  zugute  kommen  lassen.  Für 
die  Lungentuberkulosen  haben  Stadtgemeinden,  staatliche  Versicherungsanstalten 
und  Krankenkassen  im  umfangreichsten  Maße  die  Fürsorge  der  Behandlung  in 
solchen  Anstalten  übernommen.  Es  ist  ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  des 
Nationalvermögens,  welches  alljährlich  in  Deutschland  für  diese  Zwecke  auf¬ 
gewendet  wird.  Dieses  Geld  fließt  zum  großen  Teil  dem  Volkswohlstände  wieder 


80  Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

zu,  insofern  durch  die  Erfolge  der  Heilstättenbehandlung  Tausende  von  Kranken 
für  kürzere  oder  längere  Zeit,  zuweilen  selbst  dauernd  wieder  in  den  Zustand 
voller  oder  teilweiser  Erwerbsfähigkeit  gesetzt  werden.  Die  Zahl  der  tuber¬ 
kulösen  Lungenkranken  überwiegt  weitaus  alle  anderen  und  deshalb  erscheint 
die  Fürsorge  für  diese  Gruppe  von  Kranken  in  erster  Reihe  notwendig.  Aber  es 
darf  damit  nicht  das  soziale  Interesse  für  alle  anderen  Kranken  erlöschen  oder 
auch  nur  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden.  Das  ist  um  so  weniger  berechtigt, 
als  die  chronischen  Lungenkrankheiten  zu  einem  großen  Teil  in  bezug  auf  Heil¬ 
barkeit  und  Wiederherstellung  der  Arbeitsfähigkeit  weit  weniger  günstige  Chancen 
bieten  als  viele  andere  Krankheiten,  welche  gleichfalls  für  kürzere  oder  längere 
Zeit  die  Arbeitsfähigkeit  beschränken  oder  bei  ihrer  Vernachlässigung  auch  all¬ 
mählich  vollständig  aufheben  können.  Für  die  Behandlung  der  Nervenkrank¬ 
heiten  ist  das  Prinzip  der  Heilstättenfürsorge  auch  schon  offiziell  zur  Anerkennung 
gelangt.  In  steigendem  Maße  übernehmen  insbesondere  die  Landesversicherungs¬ 
anstalten  die  Anstaltsbehandlung  der  Neurastheniker,  welche  sich  als  eine  außer¬ 
ordentlich  dankbare  erwiesen  hat,  insofern  als  auf  diese  Weise  schnellere  und 
dauerndere  Heilerfolge  erzielt  werden,  als  es  bei  ambulanter  und  medikamentöser 
Behandlung  möglich  ist.  Indessen  scheint  mir  die  Behandlung  der  Neurasthenie 
und  verwandter  Krankheiten  in  besonderen  Nervenheilstätten  noch  nicht  die  Aus¬ 
dehnung  erlangt  zu  haben,  welche  ihrer  Verbreitung  einerseits,  ihrer  Bedeutung 
für  das  Erwerbsleben  im  modernen  Kulturstaate  andererseits  entspricht.  Während 
es  zahllose  private  Anstalten  zur  Behandlung  wohlhabender  Nervenkranker  gibt, 
existieren  nur  wenige  für  das  minderbemittelte  Bürgertum  und  keine  einzige 
m.  W.  für  die  Angehörigen  der  Krankenkassen,  Unbemittelte  u.  dgl.  Noch  viel 
ärger  liegt  es  aber  zurzeit  auf  dem  Gebiete  der  Behandlung  der  Verdauungs-, 
Ernährungs-  und  Stoffwechselkrankheiten.  Seit  zwei  Jahrzehnten  hat  sich  gerade 
in  Deutschland  die  Zahl  der  privaten  Sanatorien  für  die  Behandlung  dieser 
Krankheitszustände  außerordentlich  vermehrt.  Die  Mehrzahl  derselben  ist  ständig- 
gefüllt  oder  überfüllt,  und  das  Bedürfnis  schafft  hier  fortwährend  immer  wieder 
neue  Gründungen  dieser  Art.  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  ist  in  der  Er¬ 
kenntnis  zu  suchen,  daß  diese  Krankheitszustände  so  wenig  wie  Lungen-  und 
Nervenkrankheiten  auf  medikamentösem  Wege  zur  schnellen,  sicheren  und 
dauernden  Heilung  gebracht  werden  können.  Die  moderne  diätetisch-physikalische 
Therapie  hat  sich  erheblich  leistungsfähiger,  ja  überhaupt  als  die  einzige  Behand¬ 
lungsmethode  erwiesen,  welche  als  eine  physiologisch  begründete,  als  eine  rationelle 
bezeichnet  werden  kann.  Tausendfältige  Erfahrungen  der  letzten  Jahrzehnte 
haben  gezeigt,  daß  diese  Therapie  den  früher  üblichen  Behandlungsarten  an 
praktischem  Wert  weitaus  überlegen  ist.  In  der  Natur  der  Sache  liegt  es  be¬ 
gründet,  daß  das  neuzeitige  Prinzip  der  physikalisch-diätetischen  Behandlung  in 
erster  Reihe  in  der  Bekämpfung  der  Ernährungsstörungen,  der  Verdauungskrank¬ 
heiten  und  der  Stoffvvechselanomalien  am  Platze  ist.  Diese  Krankheitszustände 
sind  ihr  ureigenste  Domäne.  Auf  diesem  Gebiete  ist  die  physikalisch-diätetische 
Therapie  am  ältesten  und  am  meisten  bewährt.  Wenn  nun  dieser  Fortschritt 
der  wissenschaftlichen  Heilkunst  unausgesetzt  Tausenden  von  wohlhabenden 
Leuten  zugute  kommt,  so  muß  es  als  unsozial  erscheinen,  eine  solche  Wohltat 
nicht  auch  den  wirtschaftlich  Schwächeren  zugänglich  zu  machen.  Solche  Sana¬ 
torien  für  arme  Kranke  zu  errichten,  erscheint  als  eine  Pflicht  der  ausgleichenden 
Gerechtigkeit,  welche  die  Gemeinschaft  der  sozial  Stärkeren  den  Armen  gegen¬ 
über  zu  üben  hat.  Doch  kann  vor  der  Erfüllung  einer  solchen  Verpflichtung  der 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  87 


Nachweis  gefordert  werden,  daß  ein  Bedürfnis  für  solche  Heilanstalten  vorliegt 
oder  in.  a.  W.,  ob  staatliche  und  städtische  Behörden,  Versicherungsanstalten, 
Krankenkassen  u.  dgl.  die  Interessen  ihrer  Schutzbefohlenen  besser  wahrzunehmen 
imstande  sind,  wenn  sie  auch  für  solche  Kranken  Spezialheilanstalten  errichten. 
Hie  Frage,  ob  denn  die  Zahl  der  Kranken  dieser  Art  in  der  Neuzeit  zugenommen 
habe,  muß  entschieden  bejaht  werden.  Die  Gesundheitsschädigungen,  welche  das 
moderne  Kulturleben  mit  sich  bringt,  treffen  auch  Verdauung  und  Ernährung  in 
hohem  Maße,  und  die  körperlich  arbeitenden  Bevölkerungsklassen  werden  von 
den  Schäden  des  Berufs-  und  Erwerbslebens  meist  in  stärkerem  Grade  getroffen 
als  die  wirtschaftlich  besser  Situierten,  weil  sie  sich  weniger  Schonung  auferlegen 
und  nicht  die  gleiche  zweckmäßige  und  gute  Verpflegung  angedeihen  lassen 
können.  Die  allgemeine  Hast,  die  sich  in  unserem  Wirtschaftsleben  nach  ameri¬ 
kanischem  Muster  einzubürgern  begonnen  hat,  beeinträchtigt  Ernährung  und  Ver¬ 
dauung  vielfach  in  schwerster  Weise.  Die  weite  Entfernung  von  der  Arbeitsstelle 
verkürzt  die  Mittagspause  für  Arbeiter  und  Angestellte  oft  so  stark,  daß  das 
Essen  in  großer  Schnelligkeit  erledigt  werden  muß ;  Speisen  und  Getränke  werden 
heiß  genossen,  große  Bissen  werden  verschluckt,  und  mit  dem  letzten  Bissen  im 
Munde  wird  schon  wieder  der  Weg  zur  Arbeit  angetreten.  Die  Zwischenmahl¬ 
zeiten  werden  im  Stehen  oder  bei  der  Arbeit  hastig  eingenommen.  Das  Abend¬ 
essen  wird  vielfach  erst  in  später  Abendstunde  genommen,  so  daß  Bettruhe  und 
Schlaf  oft  noch  bei  vollem  Magen  eintreten.  Besonders  dürftig  scheint  mir  viel¬ 
fach  die  Ernährung  der  großstädtischen  jugendlichen  Fabrikarbeiterinnen  zu  sein, 
die,  während  ihrer  Mittagspause  auf  der  Straße  sich  herumtummelnd,  nur  ein 
Butterbrot  oder  gar  nur  frisch  vom  Wagen  gekauftes  Obst  für  5  oder  10  Pfg. 
als  Mittagsmahlzeit  genießen,  abends  aber  dann  nur  selten  eine  größere  warme 
Kost  zu  erhalten  Gelegenheit  haben.  Verteilung  von  Arbeit  und  Kühe  während 
des  Tages  und  die  Einrichtung  der  Mahlzeiten  erscheinen  bei  uns  in  Deutschland 
viel  weniger  zweckmäßig  als  in  anderen  Ländern,  insbesondere  in  England.  Bei 
der  immer  mehr  um  sich  greifenden  Sitte  zu  abendlichen  Kneipereien  und  Ver¬ 
gnügungen  aller  Art  kommt  der  Arbeiter  oft  nicht  völlig  ausgeruht  am  nächsten 
Morgen  wieder  an  seine  Werkstätte.  Ein  großer  Teil  der  arbeitenden  Bevölkerungs¬ 
klassen,  insbesondere  auch  der  in  gewerblichen  Betrieben  tätigen  männlichen  und 
weiblichen  Angestellten  leidet  dauernd  an  körperlicher  Übermüdung,  welche  nicht 
nur  das  Nervensystem  schwächt,  sondern  auch  die  Ernährungs-  und  Verdauungs¬ 
vorgänge  direkt  und  indirekt  beeinträchtigt.  Die  weiten  Wege  zur  Arbeitsstelle, 
das  stundenlange  ununterbrochene  Stehen  in  manchen  Berufen,  andererseits  das 
stundenlange  Sitzen  schaffen  eine  Reihe  von  organischen  Veränderungen  und 
nervösen  Störungen  der  Verdauungsorgane,  welche  mit  der  Länge  ihrer  Dauer 
oft  auch  die  Ernährungsverhältnisse  des  Körpers  schädigen.  Ich  erinnere  hier  an 
die  in  der  Neuzeit  immer  häutiger  zur  Beobachtung  kommenden  Senkungen  der 
Unterleibsorgane,  speziell  des  Magens,  des  Darms  und  der  Nieren  (die  sog. 
Visceralptose  oder  Glenard’sche  Krankheit),  welche  bei  Stadt-  und  Landbevölkerung 
eine  der  häufigsten  Erkrankungen  der  Verdauungsorgane  geworden  ist.  Diese 
Organsenkungen  sind  die  Folge  einer  allgemeinen  Gewebserschlaffung  des  Körpers, 
welche  in  den  locker  aufgehängten  Unterleibsorganen  am  ehesten  und  stärksten 
zum  Ausdruck  zu  kommen  pflegt.  Dadurch  wird  eine  mannigfaltige  Fülle  von 
Beschwerden  ausgelöst,  welche  solche  Kranken  oft  für  Monate  und  zuweilen  sogar 
dauernd  erwerbsunfähig  machen,  weil  mit  der  allgemeinen  Gewebserschlaffung 
meist  ein  chronischer  Unterernährungszustand  einhergeht,  welcher  zu  Körper- 


88  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Gewichtsabnahmen  von  10 — 20  Pfund  und  mehr  in  wenigen  Monaten  oder  Jahren 
führt.  Wer  solche  Kranken  viel  zu  sehen  Gelegenheit  hat,  gewinnt  den  Eindruck, 
daß  sie  oft  geradezu  Arbeitsfähigkeit  simulieren,  weil  sie  im  Kampfe  ums 
Dasein  auf  den  Erwerb  ihrer  Händearbeit  angewiesen  sind.  Vielfach  werden 
solche  Kranken  wegen  der  begleitenden  nervösen  Symptome  als  Nervenkranke 
angesehen  und  behandelt,  aber  jeder  erfahrene  Arzt  wird  bestätigen,  daß  die 
Heilung  dieser  Leiden  fast  stets  nur  durch  diätetische  Kuren  in  Verbindung  mit 
physikalischen  Behandlungsmethoden  u.  dgl.  zu  erreichen  ist.  Neben  den  eben 
erwähnten  Krankheitszuständen  führen  auch  noch  andere  Momente  zu  einer 
Schwächung  der  LTnterleibsorgane,  speziell  des  Magens  und  Darms,  welche  in  un¬ 
genügender  Tätigkeit  dieser  Organe  zutage  tritt.  Es  sei  nur  an  die  häufige 
Unterdrückung  der  natürlichen  Bedürfnisse  des  Körpers  erinnert,  welche  nach  der 
Lage  der  Arbeit  oft  gar  nicht  zu  verhüten  ist.  Dadurch  wird  die  Entwicklung 
einer  chronischen  Darmschwäche  in  hohem  Grade  begünstigt.  Das  stundenlange 
Stehen  bei  schwerer  körperlicher  Arbeit,  wie  es  in  manchen  Berufen  erforderlich 
ist,  schafft  u.  a.  auch  einen  Krankheitszustand,  welcher  oft  Verdauungsbeschwerden 
erheblichster  Art  jahrelang  auslöst :  das  sind  die  sog.  Brüche  der  vorderen  Baucli- 
wand,  namentlich  in  der  Mittellinie  derselben  (Hernia  epigastrica),  welche  man 
nur  bei  körperlich  schwer  arbeitenden  Männern  anzutreffen  pflegt.  Als  weiteres 
schädliches  Moment  kommt  die  oft  unzureichende  und  fast  immer  sehr 
einseitige  Ernährung  in  den  ärmeren  Klassen  der  Bevölkerung 
hinzu,  welche  aus  der  allgemeinen  wirtschaftlichen  Lage  einerseits,  der  Teuerung 
auf  dem  Nahrungsmittelmarkte  andererseits  sich  ergibt.  Vor  allem  herrscht 
immer  ein  Mangel  an  frischer  tierischer  Nahrung  (Fleisch,  Fische,  Eier,  Milch, 
Butter  u.  dgl.).  Auch  in  Zeiten,  wo  keine  Fleischnot  herrscht,  sind  ja  die  Fleisch¬ 
preise  für  eine  größere  Arbeiterfamilie  meist  so  hoch,  daß  die  armen  Leute 
höchstens  am  Sonntag,  nicht  ein  Huhn,  aber  wohl  einmal  ein  Stückchen  von 
Kind  oder  Kalb  in  ihrem  Topfe  haben.  Die  Ärmsten  der  Armen  befriedigen  be¬ 
kanntlich  ihr  Hungergefühl  mit  Kartoffeln,  allenfalls  mit  Brot,  und  mancher 
Proletarier  betäubt  seinen  Hunger  durch  Schnaps.  Auch  die  bei  armen  Leuten 
oft  recht  mangelhafte  Art  der  Zubereitung  der  Speisen  und  der  Anrichtung  des 
Essens  beeinträchtigt  die  Verdaulichkeit  derselben  und  ihre  Ausnutzung  im  Körper 
nicht  unwesentlich.  Es  sei  nur  daran  erinnert,  wie  wenig  appetit-  und  verdauung¬ 
anregend  die  in  Arbeiterkreisen  vielfach  übliche  Mischung  der  ganzen  Mittags¬ 
mahlzeit  auf  einem  Teller  ist.  Bekömmlichkeit  und  Ausnutzung  des  Nährstoff¬ 
gehalts  der  Nahrung  ist  von  der  Art  ihrer  Zubereitung  und  Darreichung  sehr 
wesentlich  abhängig. 

Schädlicher  aber  als  diese  kleinen  unhygienischen  und  undiätetischen  Ge¬ 
wohnheiten,  die  ja  oft  auch  nur  eine  Folge  von  Mangel  und  Not  sind,  wirkt 
immer  das  Fehlen  eines  ordentlichen  Gebisses,  dessen  Verlust  für  den  Armen  eben 
deshalb  schwieriger  ins  Gewicht  fällt,  weil  er  ihn  nicht  zu  ersetzen  vermag. 
Unter  den  Ursachen  chronischer  Magenkrankheiten  ist  der  Mangel  an  Zähnen  seit 
langer  Zeit  wissenschaftlich  anerkannt.  Eine  ordentliche  Magen  Verdauung  hat 
eine  gehörige  Mund  Verdauung  zur  unerläßlichen  Vorbedingung,  und  deshalb  hat 
die  Behandlung  jeder  Magenkrankheit  eigentlich  im  Munde  anzufangen.  Die 
Gewährung  eines  künstlichen  Gebisses  an  einen  Menschen,  der  an  Verdauungs- 
oder  Ernährungsstörungen  leidet,  ist  deshalb  als  eine  soziale  Verpflichtung  anzu¬ 
sehen,  der  sich  ja  auch  die  Landes  Versicherungsanstalten  und  neuerdings  auch 
die  Armenverwaltungen  nicht  mehr  entziehen.  Aber  in  dem  notwendigen  Umfange 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  $9 


wird  diese  materielle  Unterstützung  den  Kranken  «noch  immer  nicht  gewährt. 
Soviel  über  die  gewerblichen  und  beruflichen,  sowie  aus  sozialen  Verhältnissen 
und  Mißständen  hervorgehenden  Ursachen  der  Verdauung«-  und  Ernährung- 
Störungen,  soweit  sie  überhaupt  einer  Ermittlung  zugänglich  sind.  Einen  Beweis 
für  ihre  soziale  Bedeutung  liefert  die  Häufigkeit  dieser  Krank¬ 
heitszustände.  Aus  den  letzten  Jahresberichten  des  städtischen  Kranken¬ 
hauses  Moabit,  sowie  fast  aller  größeren  Krankenkassen  Berlins  (Ortskranken¬ 
kassen  der  Kaufleute,  gewerblichen  Arbeiter,  Buchdrucker,  Gastwirte,  Bierbrauer, 
Schneider  u.  a.)  habe  ich  festgestellt,  daß  die  Zahl  der  Verdauungskranken  allent¬ 
halben  etAva  12 — 15  Proz.  aller  erwerbsunfähigen  Kranken  ausmacht,  bei  Frauen 
meist  noch  um  einige  Prozent  mehr.  Nimmt  man  aber  dazu  noch,  wie  notwendig, 
auch  die  Ernährungs-  und  Stoffwechselkrankheiten,  welche  in  den  Statistiken 
unter  den  verschiedensten  Rubriken  auf  gezählt  zu  werden  pflegen,  so  erhöht  sich 
die  Zahl  der  in  Betracht  kommenden  Kranken  bis  auf  20  Proz.  und  darüber.  Es 
ist  dabei  noch  zu  berücksichtigen,  daß  die  Statistik  dieser  Krankheiten  bisher 
noch  nicht  mit  der  gleichen  Genauigkeit  aufgenommen  wird  Avie  bei  Lungen¬ 
erkrankungen.  East  in  allen  Statistiken  rangieren  nach  den  Lungenkrankheiten 
die  Verdauungs-  und  Ernährungsstörungen  ihrer  Häufigkeit  nach  an  zweiter 
Stelle.  Nur  zuweilen  tiberAviegen  die  Infektionskrankheiten,  Avobei  freilich  dann 
oft  auch  Brechdurchfall,  Typhus,  Dyssenterie  u.  dgl.  mitgezählt  werden,  oder 
auch  die  Muskel-  und  Gelenkerkrankungen  unter  Einrechnung  der  Gicht  u.  dgl. 
Die  Landesversicherungsanstalt  Berlin  hat  in  ihrer  Heilstätte  Beelitz  im  letzten 
Berichtsjahre  1904  unter  1346  männlichen  Kranken  52  Proz.  Nervenkranke  und 
16  Proz.  Magen-  und  Ernährungskranke  verpflegt;  bei  den  Frauen  schwankt  die 
Beteiligung  dieser  Kranken  zwischen  11  und  50  Proz.  Unter  den  Hauptursachen 
der  Invalidität,  die  von  der  genannten  Versicherungsanstalt  im  gleichen  Berichts¬ 
jahre  zuerkannt  wurde,  sind  Verdauungs-,  Ernährungs-  und  Stoffwechselstörungen 
bei  Männern  zu  nicht  ganz  5  Proz  ,  bei  Frauen  zu  7,5  Proz.  angegeben.  Diese 
auffällig  geringen  Zahlen  erklären  sich  Avohl  dadurch,  daß  jene  Krankheitszustände 
bisher  eben  noch  nicht  im  vollen  Umfange  als  Invaliditätsursachen  anerkannt 
Averden.  Wie  schAver  oft  die  Heilung  solcher  Zustände  zu  erreichen  ist,  das 
beAveist  am  überzeugendsten  der  Erfolg,  welchen  die  Landesversicherungsanstalt 
Berlin  in  ihrem  Sanatorium  Beelitz  bei  solchen  Kranken  erreicht  hat:  er  beträgt 
nur  48  Proz.  bei  den  Krankheiten  des  Verdauungsapparates  und  68  Proz.  bei  den 
Störungen  der  Entwicklung.  Dieser  Prozentsatz  muß  sich,  da  bösartige  Erkran¬ 
kungen  bei  der  Aufnahme  von  vornherein  ja  ausgeschlossen  sind,  unbedingt  er¬ 
heblich  erhöhen  lassen  bei  einer  umfassenderen  Gestaltung  der  physikalisch¬ 
diätetischen  Therapie,  Avie  sie  die  Behandlung  dieser  Krankheitszustände  dringend 
erheischt.  Es  sind  also  die  mit  der  Entwicklung  des  modernen  Kulturlebens  un¬ 
vermeidlich  verbundenen  sozialen  Schäden  in  Berufs-  und  Enverbstätigkeit,  welche 
die  Zahl  der  krankhaften  Störungen  der  Ernährung  und  Verdauung  vermehrt 
haben  und  sie  in  den  wirtschaftlich  schwächeren  Schichten  der  Bevölkerung  außer¬ 
ordentlich  stark  fühlbar  machen.  Mit  der  Erkenntnis  der  Ursachen  ergibt  sich 
auch  hier  gleichzeitig  der  Weg  zu  ihrer  Bekämpfung.  Was  dem  Reichen  recht 
ist,  muß  für  die  Armen  billig  sein,  d.  h.  diejenigen  Behandlungsmethoden,  welche 
sich  für  derartige  Leiden  am  wirksamsten  erwiesen  haben,  müssen  ungeachtet 
ihrer  Umständlichkeit  und  Kostspieligkeit  auch  den  Unbemittelten  zugänglich 
gemacht  werden.  Wenn  es  nun  schon  den  Wohlhabenden  selten  möglich  ist,  in 
ihrer  Häuslichkeit  eine  physikalisch-diätetische  Behandlung  durchzuführen,  so  er- 


90  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

scheint  dies  für  Kassenkranke  und  die  Angehörigen  der  niederen  Berufsstände 
überhaupt  von  vornherein  ausgeschlossen.  Schon  die  Ausführung  von  Magen¬ 
ausspülungen,  Darmeingießungen,  Bädern  und  ähnlichen  Heilprozeduren  stößt  in 
der  Kassenpraxis  fast  immer  auf  große  Schwierigkeiten.  Noch  schlimmer  ist’s 
aber  um  die  zweckmäßige  Ernährung  der  Kranken  bestellt.  Dazu  gehört  vor 
allem  schon  ein  Milieu,  welches  sich  in  den  Wohnungen  der  ärmeren  Bevölkerung 
niemals  findet.  Wo  es  an  einem  abgesonderten  Speiseraume  fehlt,  oder  gar  an 
einem  außerordentlich  gedeckten  Tische,  da  kann  Yerdauungskranken  die  Kost 
niemals  so  munden,  wie  es  für  sie  besonders  wünschenswert  ist.  Es  kommt  hinzu, 
daß  Hausfrauen  und  Mädchen  der  niederen  Stände  schon  im  allgemeinen  die  Koch¬ 
kunst  viel  zu  wenig  beherrschen,  und  vollends  den  Anforderungen  der  Kranken¬ 
küche  wohl  nur  in  den  seltensten  Fällen  Rechnung  zu  tragen  imstande  sein 
werden.  Schließlich  erfordert  eine  diätetische  Behandlung  meist  auch  einen 
größeren  Aufwand  von  Geldmitteln,  als  sie  solchen  Kranken  zur  Verfügung  stehen. 
Wer  Erfahrung  auf  diesem  Gebiete  hat,  weiß,  daß  sich  die  diätetischen  Kuren 
bei  Kassenkranken  u.  dgl.  überhaupt  nicht  durchführen  lassen,  z.  B.  eine  syste¬ 
matische  Mastkur.  Und  unsere  Krankenhäuser  versagen  in  dieser  Hinsicht  auch 
fast  vollkommen!  Schon  die  Größe  der  Krankenhäuser  in  den  Städten  wenigstens 
erfordert  eine  so  schematische  Festsetzung  einiger  weniger  Kost-formen,  daß 
einzelnen  Kranken  die  für  sie  zweckmäßige  Diät  gar  nicht  gewährt  werden  kann. 
Es  erscheint  durchaus  begreiflich,  daß  der  Betrieb  in  einer  Krankenküche  für 
200,  500  oder  mehr  Kranke  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten  stoßen  müßte, 
wenn  darin  mehr  als  die  üblichen  3  oder  4  Kostformen  zur  Verabreichung  ge¬ 
langen  sollten.  Die  Mehrzahl  der  Verdauungs-,  Ernährungs-  und  Stoffwechsel- 
Störungen  erfordert  aber  nach  Quantität  und  Qualität  eine  viel  weitgehendere 
Individualisierung  der  Kost,  als  sie  je  in  einem  allgemeinen  Hospitale  möglich 
ist.  Die  diätetische  Behandlung  von  Zuckerkranken  und  Fettleibigen,  von  Kranken 
mit  Magenerschlaffung  und  Magenerweiterung,  chronischer  Stuhlverstopfung, 
Darmkatarrhen  u.  dgl.  wird  gegenwärtig  in  den  großen  Krankenhäusern  recht 
stiefmütterlich  durch  geführt,  weil  es  eben  an  Zeit  und  Raum  für  derartig  spezielle 
Aufgaben  der  Therapie  mangelt.  Auch  die  Anwendung  von  Ruhe-  und  Liege¬ 
kuren,  wie  sie  bei  Ernährungs-  und  Verdauungsstörungen  sich  so  oft  als  zweck¬ 
mäßig  bzw.  notwendig  erweisen,  läßt  sich  in  einem  großen  Krankensaale,  in  dem 
die  verschiedensten  Kranken  nebeneinanderliegen,  nicht  mit  dem  wünschenswerten 
Erfolge  durchführen.  Schon  die  Intensität  des  Betriebes  auf  einer  solchen  Kranken¬ 
abteilung  wirkt  störend.  Auch  Massage,  Elektrizität,  Wasserbehandlung  u.  dgl. 
können  nicht  in  dem  Umfange  zur  Verwendung  gelangen,  welcher  oft  zweck¬ 
mäßig  erscheint.  All  dieser  Vorteile  der  modernen  wissenschaftlichen  Therapie 
werden  aber  auch  die  Ärmeren  teilhaftig  werden  können,  wenn  man  bei  der 
weiteren  Verwirklichung  des  Gedankens  eines  Ausbaues  von  Spezialkranken¬ 
häusern,  der  leider  bisher  nur  sehr  langsam  vorwärts  kommt,  auch  an  die  Er¬ 
richtung  von  Sonderheilstätten  für  die  Krankheiten  der  Verdauung,  der  Ernährung 
und  des  Stoffwechsels  denken  wird.  Die  allgemeinen  Krankenanstalten  würden 
dadurch  erheblich  entlastet  und  hauptsächlich  für  solche  Kranken  Vorbehalten 
bleiben,  bei  denen  es  eben  weniger  oder  gar  nicht  auf  die  Anwendung  spezieller, 
insbesondere  diätetischer  Heilmethoden  ankommt.  Das  Material  zur  Füllung1 
solcher  „Magenheilstätten“  würde  also  sicherlich  in  großer  Menge  Zuströmen.  All 
die  Kranken,  welche  jetzt  des  Vorteils  und  des  Segens  einer  sorgfältigen  Ver¬ 
pflegung  in  der  Häuslichkeit  entbehren  müssen,  würden  dort  einen  geeigneten 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  91 


Platz  zu  ihrer  Behandlung-  finden,  an  dein  sie  schneller  genesen  und  eine  dauerndere 
Aufbesserung  ihrer  Erwerbsfähigkeit  zu  erwarten  hätten.  Die  gründlichere  Hebung 
des  Ernährungszustandes  bei  Leuten  mit  Visceralptose  und  ähnlichen  Verdauungs¬ 
erkrankungen,  bei  chronischen  Schwächezuständen  infolge  andauernd  unzureichender 
Ernährung  u.  dgl.,  wird  ihnen  vielfach  einen  Grad  von  Erwerbsfähigkeit  ver¬ 
schaffen,  welchen  sie  vorher  nie  besessen  haben!  Die  bei  Verdauungskrankheiten 
in  der  Kassenpraxis  so  häufigen  Rückfälle,  welche  durch  das  Fortbestehen  des 
Grundleidens  bedingt  sind,  werden  sicherer  verhütet  werden  können,  wenn  eine 
gründliche  systematische  Behandlungskur  durchgeführt  werden  kann.  So  liefert 
z.  B.  die  Behandlung  des  Magengeschwürs  gegenwärtig  hauptsächlich  deswegen 
so  ungünstige  Dauerresultate,  weil  die  Kranken  weder  lange  noch  energisch 
genug  das  notwendige  diätetische  Regimen  durchzuführen  in  der  Lage  sind. 
Wenn  wir  in  der  in  letzter  Zeit  so  heiß  angestrebten  Prophylaxe  des  Carcinoms 
überhaupt  etwas  leisten  wollen,  so  kann  es  nur  dadurch  geschehen,  daß  wir  die 
als  Vorkrankheiten  des  Carcinoms  bekannten  Affektionen  einer  möglichst  gründ¬ 
lichen  und  dauernden  Beseitigung  entgegenzuführen  suchen.  Für  das  Magen- 
carcinom  z.  B.  gipfelt  diese  Aufgabe  in  der  radikalen  Ausheilung  von  Geschwüren 
und  schweren  chronischen  Katarrhen  der  Schleimhaut.  Solche  chronischen  Krank¬ 
heitszustände  wie  Atonie  und  Ectasie  des  Magens,  welche  beim  Mangel  zweck¬ 
mäßiger  Ernährung  im  Laufe  der  Jahre  immer  stärkere  Beschwerden  zu  machen 
pflegen  und  die  Erwerbsfähigkeit  in  immer  stärkerem  Grade  beeinträchtigen, 
können  eine  dauernde  Besserung  und  Heilung  nur  erfahren  durch  eine  strenge 
Regelung  der  gesamten  Lebensweise,  insbesondere  der  Ernährung.  Sie  wird  von 
allen  Kranken,  namentlich  aber  den  Angehörigen  der  weniger  gebildeten  Be¬ 
völkerungsschichten  in  einer  speziell  darauf  eingerichteten  Heilanstalt  weit  besser 
erlernt  werden,  als  es  je  mündliche  oder  schriftliche  Vorschriften  eines  Arztes 
erreichen  können.  Wie  die  Lungenheilstätten  für  die  armen  Tuberkulösen  vor¬ 
bildlich  für  die  Wohnungshygiene  wirken  sollen,  so  darf  man  das  Gleiche,  viel¬ 
leicht  sogar  noch  i*  leichter  erreichbarem  Maße,  für  die  Ernährung  durch  solche 
Sonderheilanstalten  erwarten.  Naturgemäß  wird  aber  auch  hier  allgemeine  Hebung 
der  Bildung  und  des  Wohlstandes  notwendig  sein,  um  die  Nachahmung  solcher 
Vorbilder  in  den  beschränkten  häuslichen  Verhältnissen  der  Proletarierbevölkerung 
zu  erreichen.  Wenn  in  der  ersten  Erörterung  des  Planes  zur  Errichtung  von 
Magenheilstätten  in  der  Presse  (Vossische  Zeitung  vom  26.  Mai  1906)  auf  die 
wertvollen  Dienste  hingewiesen  worden  ist,  welche  die  in  den  letzten  Jahrzehnten 
in  mehreren  deutschen  Großstädten  errichteten  öffentlichen  Kranken¬ 
küchen  für  die  bessere  Verpflegung  der  in  Rede  stehenden  Kranken  leisten 
könnten,  so  ist  dazu  zunächst  zu  bemerken,  daß  die  Organisation  dieser  Kranken¬ 
küchen  fast  durchgängig  eine  derartige  ist,  daß  sie  für  die  Krankenkassenmit¬ 
glieder  und  die  Angehörigen  der  ärmeren  Bevölkerungsklassen  kaum  verwertet 
werden  können.  Selbst  die  billigste  Mittagsmahlzeit  für  75  Pf.  überschreitet  zu¬ 
meist  noch  den  Etat,  welchen  ein  Arbeiter  oder  ein  Angestellter,  selbst  ein  un¬ 
verheirateter,  dafür  herzugeben  imstande  ist.  Aber  auch  das  an  sich  höchst 
lobenswerte  Prinzip  der  Krankenküche,  eine  gute  und  schmackhafte  Krankenkost 
möglichst  billig  zu  verabreichen,  ist  unzureichend  für  die  Mehrzahl  der  Kranken, 
um  die  es  sich  hier  handelt.  In  der  Großstadt  ist  der  Weg  zur  Krankenküehe 
viel  zu  weit  und  die  Mittagsruhe,  die  den  Kranken  dort  geboten  wird,  viel  zu 
kurz,  um  eine  diätetische  Kur  in  wünschenswertem  Rahmen  überhaupt  zur  Aus¬ 
führung  bringen  zu  können,  und  selbst  wenn  die  Leiter  der  Krankenküchen  sich 


92  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

in  einzelnen  Fällen  bereit  erklären,  das  bestellte  Essen  in  die  Häuslichkeit  der 
Kranken  zu  bringen,  so  bleibt  das  immer  noch  ein  dürftiger  Notbehelf  im  Ver¬ 
gleich  zu  den  zahlreichen  Vorteilen,  welche  eine  geordnete  Anstaltsbehandlung* 
bietet.  Sobald  man  also  das  Bedürfnis  nach  einer  systematischen  diätetischen 
Behandlung  auch  für  die  unbemittelten  Kranken  überhaupt  anerkennt,  dann  er¬ 
gibt  sich  auch  die  Forderung  der  Errichtung  von  Spezialheilanstalten  für  diesen 
Zweck  als  eine  unausbleibliche  Folge.  Denn  die  etwaige  Errichtung  von  Kranken¬ 
küchen  oder  die  Ausnützung  derselben  für  Kassenkranke  wäre  doch  nur  halbe 
Arbeit,  die  nicht  entsprechenden  und  ausreichenden  Gewinn  bringen  würde.  Für 
solche  Magenheilstätten  für  Unbemittelte  gibt  es  bisher  nur  einige  wenige  un¬ 
bedeutende  Vorbilder  in  einigen  deutschen  Kurorten,  wo  sie  von  privaten  Ver¬ 
einigungen  im  Interesse  ihrer  Mitglieder  und  Angehörigen  ins  Leben  gerufen 
worden  sind.  Zumeist  erweist  sich  der  Umfang  dieser  Anstalten  als  viel  zu  klein 
und  ihr  Betriebskapital  viel  zu  gering,  um  einer  größeren  Zahl  von  Kranken 
diese  Wohltat  zuteil  werden  lassen  zu  können.  Eine  Verpflichtung  zur  Errichtung 
solcher  Heilstätten  erwächst  m.  E.  in  erster  Reihe  den  Kommunen  und  den 
staatlichen  Versicherungsanstalten.  Wenn  die  letzteren  die  Gründung  und  den 
Betrieb  solcher  Anstalten  vom  Standpunkte  der  Rentabilität  betrachten  und  be¬ 
rechnen  wollen,  so  wird  m.  E.  der  Erfolg  wahrscheinlich  schon  in  wenigen  Jahren 
lehren,  daß  in  solchen  Heilstätten  das  Anlagekapital  sich  weit  besser  rentiert  als 
in  Lungenheilstätten,  eben  weil,  wie  oben  schon  angedeutet  worden  ist,  bei  den 
Störungen  der  Verdauung,  Ernährung  und  des  Stoffwechsels  die  Besserung  meist 
nicht  nur  viel  schneller  eintritt,  sondern  weil  sie  auch  die  Aussicht  auf  Heilung* 
bzw.  dauernde  Erwerbsfähigkeit  in  weit  größerem  Umfange  bieten  als  die  Lungen¬ 
tuberkulose.  Die  öffentlichen  Krankenküchen  soll  man  den  Magenheilstätten  in 
dem  Sinne  etwa  angliedern,  wie  die  Fürsorgestellen  den  Lungenheilanstalten. 
Den  Krankenküchen  könnte  man  die  aus  den  Heilstätten  Entlassenen  und  sonstigen 
Rekonvaleszenten  und  die  Leichtkranken  überweisen.  In  welcher  Weise  sich  eine 
solche  feste  Beziehung  zwischen  Krankenkassen  und  Landesversicherungsanstalten 
einerseits,  den  Krankenküchen  andererseits  sich  organisieren  ließe,  bleibt  späteren 
Erwägungen  überlassen.  Ich  möchte  glauben,  daß  sich  für  die  Vereinigung* 
mehrerer  großer  Krankenkassen  selbst  die  Errichtung  eigener  Krankenküchen 
wohl  rentieren  würde.  Die  Gewährung  zweckmäßiger  Krankenkost  dürfte  als  ein 
Heilmittel  im  gesetzlichen  Sinne  wohl  nicht  bestritten  werden  können. 


Zeitschriftenübersicht. 


93 


Zeitschriftenübersiclit. 

Medizinische  Reform.  1906.  Nr.  26:  Albu,  Die  sozialhygienische  Be¬ 
deutung  der  Errichtung  von  Magenheilstätten.  —  Nr.  27:  L.  Feilchenfeld, 
Über  den  Unterschied  zwischen  der  staatlichen  und  privaten  Unfallversicherung. 

—  Nr.  28:  A.  Lasson,  Die  Kapitalienanlage  der  Deutschen  Invalidenversicherung. 

—  Nr.  29:  V.  Löwenthal,  Die  chronisch  und  rückfällig  Kranken.  —  Nr.  30: 
M.  Bloch.  Die  prozentuale  Abschätzung  der  Erwerbsfähigkeit  bei  Unfallverletzten. 

—  Nr.  31:  R.  Lennhoff,  Die  persönlichen  und  die  Wohnungsverhältnisse  der 
städtischen  Arbeiterschaft  in  Magdeburg;  D.  Munter,  Die  königliche  Eisenbahn¬ 
direktion  Berlin  und  die  freie  Arztwahl.  —  Nr.  32:  S.  Rosenfeld,  Zur  Gesund¬ 
heitsstatistik  der  Berufe ;  M.  N  e  i  ß  e  r ,  Hygiene  und  Statistik.  —  Nr.  33 : 
G.  Körting,  Noch  einmal  die  prozentuale  Abschätzung  der  Erwerbsfähigkeit 
bei  Unfallverletzten ;  S.  R  o  s  e  n  f  e  1  d ,  Fortsetzung  aus  Nr.  32.  —  Nr.  36 :  M.  C  o  h  n , 
Hygienische  Mißstände  im  Nahrungsmittelverkehr.  —  Nr.  37 :  R.  Lennhoff,  Die 
Bedeutung  der  Kollektivversicherung  für  nichtversicherungspflichtige  Berufs¬ 
gruppen  des  Mittelstandes.  —  Nr.  38:  W.  Weinberg,  Schularzt  und  Schul¬ 
hygiene  in  Stuttgart.  —  Nr.  43:  A.  Baginsky,  Die  Impressionabilität  des 
Kindes  unter  dem  Einfluß  des  Milieus.  —  Nr.  44:  Th.  Sommerfeld.  Verbot 
der  Verwendung  des  weißen  Phosphors  in  der  Zündholzindustrie. 

Medizinische  Klinik.  1906.  Nr.  21:  E.  Bloch,  Einiges  über  die  Simu¬ 
lation  bei  der  traumatischen  Neurose;  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  20; 
W.  Esch,  Dilettanten  und  Stümper  in  der  Heilkunde.  —  Nr.  22:  E.  Kürz, 
Fortsetzung  aus  Nr.  21;  Th.  Ben  da,  Hygienelehrtafeln  für  Schüler;  H.Häb  er¬ 
lin,  Die  neue  Standesordnung  der  „Gesellschaft  der  Ärzte  in  Zürich“;  E.  Bloch, 
Fortsetzung  und  Schluß  aus  Nr.  21.  —  Nr.  23:  J.  Samo  sch,  Zur  Frage  der 
geistigen  Uberbürdung  der  Kinder;  Guglieminetti,  Die  vierjährigen  Erfolge 
der  Straßenteerung  gegen  die  Staubentwicklung;  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus 
Nr.  22.  —  Nr.  24:  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  23.  —  Nr.  25:  H.  Häberlin, 
Staatsarzt  oder  Privatarzt-System?  —  Nr.  26:  R.  Behla,  Die  geographisch- 
statistische  Forschungsmethode  vom  ätiologischen  und  seuchenbekämpfenden 
Standpunkt;  H.  Häberlin,  Fortsetzung  aus  Nr.  25.  —  Nr.  27:  Th.  Witry, 
Behördliche  Anordnungen  bei  Epidemien  in  der  alten  Zeit;  H.  Häberlin,  Fort¬ 
setzung  aus  Nr.  26.  —  Nr.  28:  H.  Häberlin,  Fortsetzung  aus  Nr.  27.  —  Nr.  29: 
K.  H.  Gerwin,  Wie  kommt  Degeneration  zustande?;  R.  Bing,  Die  heredo- 
familiären  Degenerationen  des  Nervensystems,  in  erblichkeitstheoretischer,  allge¬ 
mein  pathologischer  und  rassenbiologischer  Beziehung;  H.  Häberlin,  Fort¬ 
setzung  aus  Nr.  28.  —  Nr.  31:  W.  Kühn,  Ethisch-soziale  Betrachtungen  über 
die  Rezepte  in  England  und  Deutschland.  —  Nr.  33:  E.  Aron,  Ländliche  Haus¬ 
pflege  für  Lungenkranke.  —  Nr.  34:  W.  G.  Esch,  Beiträge  zu  einer  biologischen 
Heillehre.  —  Nr.  35:  W.  Weinberg,  Die  Gefahr  der  tuberkulösen  Infektion 
durch  Ehegatten;  W.  Knust,  Über  Wohlfahrtsstellen  für  Alkoholkranke.  — 
Nr.  37:  F.  Kirchberg,  Über  das  ärztliche  Berufsgeheimnis.  —  Nr.  38: 
Th.  Ben  da,  Zur  Hygiene  des  Hotelwesens;  E.  Kürz,  Soziale  Hygiene.  — 
Nr.  41:  Th.  Witry,  Die  erstmalige  Entfernung  der  Ketten  der  Irren  in  der 
französischen  Irrenanstalt  Bicetre;  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  40. 


94 


Zeitschriftenüb  ersieht. 


Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschafts-Biologie.  1906.  Nr.  4:  J.  Drü¬ 
se  k  e ,  Gehirngewicht  und  Intelligenz ;  H.  Fehlinger,  Die  natürliche  Bevölke- 
rungszunahme  in  den  Vereinigten  Staaten;  W.  Claaßen,  Die  Frage  der  Ent¬ 
artung  der  Volksmassen  auf  Grund  der  verschiedenen,  durch  die  Statistik  dar¬ 
gebotenen  Maßstäbe  der  Vitalität,  I.  Teil;  R.  Thurnwald,  Historisch-soziale 
Gesetze.  —  Nr.  5:  S.  Meyer,  Gedächtnis  und  Vererbung;  W.  Claaßen, 
Fortsetzung  aus  Nr.  4;  J.  Grober,  Ein  praktischer  Versuch  in  der  Rassenhygiene. 

Politisch- Anthropologische  Revue.  1906.  Nr.  4:  G.  de  Lapouge,  Die 
Entartung  in  den  höheren  und  niederen  Ständen;  Chr.  v.  Ehrenfels,  Das 
Mütterheim.  —  Nr.  5:  L.  W oltmann,  Anhänger  und  Gegner  der  Rassetheorie; 
K.  Schmidh,  Die  Mutterschaftsversicherung  als  Grundlage  einer  mutterrecht- 
lich-polygamischen  Sexualordnung.  —  Nr.  6:  II.  Pudor,  Geschlechtsleben  und 
Nachkommenschaft;  F.  H.  Krolle,  Strafrechtsreform  und  Homosexualität.  — 
Nr.  7:  L.  W oltmann,  Über  die  Beziehungen  von  Gehirn  und  Kultur.  —  Nr.  8: 
J.  Häny-Lux,  Die  Körpergröße  der  Menschen  im  Laufe  der  Zeiten;  A.  Reib- 
mayr,  Die  biologischen  Gefahren  der  Frauenemanzipation. 

Deutsche  Krankenkassen  -  Zeitung.  1906.  Nr.  24:  13.  Jahresversamm¬ 
lung  des  Zentralverbandes  der  Ortskrankenkassen  im  Deutschen  Reiche.  —  Nr.  29: 
Ärztliche  Stellungnahme  zur  Düsseldorfer  Resolution.  —  Nr.  30:  Die  Beschrän¬ 
kung  der  Krankenkassen  auf  reine  Geldleistungen.  —  Nr.  31:  Wilhelmi,  Über 
Aufgaben  und  Grenzen  ärztlicher  Wissenschaft  und  Kunst. 

Zeitschrift  für  Samariter-  und  Rettungswesen.  1906.  Nr.  12:  Kor- 
m an n,  Welche  Einrichtungen  kann  der  Verein  für  Wohlfahrtspflege  auf  dem 
Lande  zur  Fürsorge  für  Verunglückte  und  Kranke  treffen?  —  Nr.  15:  H.  Bach, 
Unfallmeldewesen  auf  dem  Lande.  —  Nr.  20:  L.  Sofer,  Das  Rettungswesen  in 
Wien.  —  Nr.  21:  F.  Kotter,  Über  Transportwesen. 

Die  Arbeiterversorgung.  1906.  Nr.  18:  F.  Lutz,  Die  Krankenversiche¬ 
rung  der  eingezogenen  Reservisten  und  Landwehrleute;  Fuld,  Bereicherungs¬ 
anspruch  im  Verhältnis  von  Krankenkassen.  —  Nr.  19:  O.  Neve,  Die  amtliche 
Denkschrift  betreffend  die  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit.  —  Nr.  21: 
F.  Kleeis,  Erweiterung  der  Tätigkeit  der  Krankenkassen;  H.  Unfried,  Haft¬ 
barkeit  des  Arbeitgebers  bei  Vernachlässigung  der  Unfallanzeigepflicht  gemäß 
§  63  GUVG.  —  Nr.  22:  F.  Kleeis,  Die  Aufnahme  von  Lohn  Statistiken  durch 
die  Krankenkassen ;  Gemeindeschwestern  im  Dienste  der  Krankenkassen.  —  Nr.  23 : 
M.  Wörmbke,  Zum  §18  des  Invalidenversicherungsgesetzes;  W.  Münzinger, 
Nochmals  die  Handhabung  des  §  34  IVG.  und  das  Einzugsverfahren.  —  Nr.  24: 
Empfiehlt  sich  die  Wiedereinführung  des  Staatskommissars?;  P.  Koppen,  Zur 
Auslegung  des  §  25  GUVG.  —  Nr.  25:  H.  Unger,  Alters-  und  Invalidenrente; 
W.  König,  §  78a  und  die  Dauer  des  Krankengeldbezuges.  —  Nr.  26:  Schellong, 
Ist  die  Ersatzberechtigung  der  Armenverbände  aus  der  Unfallrente  von  dem  ur¬ 
sächlichen  Zusammenhang  ihrer  Unterstützung  mit  dem  Unfall  abhängig,  der  zur 
Bewilligung  der  Unfallrente  geführt  hat?;  E.  Dr agenscheck,  §53  und  61  des 
Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes.  —  Nr.  29:  Hahn,  Berechnung  der  Dauer 
der  Krankenunterstützung.  —  Nr.  30:  0.  Braun,  Das  Recht  der  Krankenkasse 
aus  §  64  GUVG.;  R.  Weck,  Der  Königsberger  Ärztekonflikt. 

Volkstümliche  Zeitschrift  für  praktische  Arbeiterversicherung.  1906. 
Nr.  14:  Silber  gleit,  Krankenkassen  und  Arbeiterstatistik;  E.  Wendlandt, 
Die  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten  durch  die  Krankenkassen.  —  Nr.  15 : 
E.  Wendlandt,  Der  Bericht  der  geschäftsführenden  Kasse  für  die  13.  Jahres- 


Zeitschriftenübersicht. 


95 


Versammlung  des  Zentralverbandes  von  OKK.  zu  Düsseldorf;  F.  Stockin  ge r, 
Die  Ruhegehalts-  und  Hinterbliebenenfürsorge  in  Baden.  —  Nr.  16:  G.  Hoch, 
Rechte  und  Pflichten  der  Selbstverwaltung  gegenüber  den  Krankenkassenbeamten ; 
B.  Hilse,  Inanspruchnahme  der  Berufsgenossenschaft  durch  die  Krankenkasse 
infolge  verzögerter  Erklärung  wegen  Übernahme  des  Heilverfahrens  für  Betriebs¬ 
verletzte.  —  Nr.  17 :  E.  Wen  dl  and  t,  Der  Abschluß  des  Tarifvertrages  zwischen 
den  Ortskrankenkassen- Vorständen  und  den  organisierten  Krankenkassen¬ 
angestellten.  —  Nr.  20:  E.  Funke,  Das  Verhältnis  der  Krankenversicherung  und 
der  Invalidenversicherung  zur  Unfallversicherung.  Vorschläge  zur  Vereinfachung; 
Fuld,  Das  konkurrierende  Verschulden  der  Versicherten  in  der  Krankenversiche¬ 
rung.  —  Nr.  21:  B.  Hilse,  Anspruch  des  Empfängers  einer  Unfallrente  auf 
Fortdauer  der  Mitgliedschaft  trotz  nicht  geleisteter  Krankenkassenbeiträge; 

E.  Funke,  Fortsetzung  aus  Nr.  20. 

Reformblatt  für  Arbeiterversicherung.  1906.  Nr.  9:  A.  Roth,  Der 
Gesetzentwurf  für  die  Hilfskassen;  A.  Saucke,  Die  Rentenberechnung  nach  §  10 
Abs.  5  des  Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes;  Seelmann,  Die  Invalidenver¬ 
sicherung  in  Luxemburg.  —  Nr.  10:  F.  Kleeis,  Die  Krankenversicherung  der 
landwirtschaftlichen  Arbeiter;  H.  Pott  hoff.  Die  Sicherung  des  Rentenanspruchs 
bei  Versäumnis  des  Klebens  durch  den  Arbeitgeber;  Sayffaerth,  Die  Verein¬ 
heitlichung  und  Ausbau  der  deutschen  Arbeiterversicherung.  —  Nr.  11:  P.  Koppen, 
Gehört  die  „Beseitigung  der  Unfallversicherung“  zu  den  dringlichsten  Aufgaben 
der  Weiterbildung  der  reichsgesetzlichen  Arbeiterversicherung  ? ;  Bekämpfung  des 
Alkoholmißbrauchs  durch  Krankenkassen;  Grüllich,  Die  freie  Arztwahl  auf 
dem  Lande;  Sayffaerth,  Fortsetzung  aus  Nr.  10.  —  Nr.  12:  P.  Koppen, 
Fortsetzung  aus  Nr.  11;  v.  Frankenberg,  Die  Umgestaltung  des  Hilfskassen¬ 
wesens;  Seelmann,  Zum  Begriff  „Invalidität“;  Sayffaerth,  Fortsetzung  aus 
Nr.  11;  Seel  mann,  Der  Mayet’sche  Reformplan.  —  Nr.  14:  P.  Brunn,  Die 
Hausgewerbetreibenden  und  die  Versicherung  gegen  Invalidität  und  Alter; 
Appel  ins,  Fortsetzung  aus  Nr.  13.  —  Nr.  15:  Appelius,  Fortsetzung  aus 
Nr.  14;  J.  Heiden,  Das  Wiederaufnahmeverfahren  in  Rentenprozessen;  M.  Ep¬ 
stein,  Fortsetzung  aus  Nr.  14.  —  Nr.  16:  Appelius,  Schluß  aus  Nr.  15; 
Seelmann,  Die  Lehre  vom  Erhalten  und  Erlöschen  der  Anwartschaft  (II.); 

F.  Kleeis,  Die  Vereinigung  von  Ortskrankenkassen.  —  Nr.  17:  Seel  mann, 
Fortsetzung  aus  Nr.  16;  0.  Magen,  Ärztetag  und  Arbeiterversicherungsreform. 
—  Nr.  18:  Güldenberg,  Zur  Vereinigung  der  Ortskrankenkassen ;  W.  Pieper, 
Ein  Vorschlag  zur  Abänderung  des  Unfallversicherungsgesetzes  für  Land-  und 
Forstwirtschaft.  —  Nr.  19:  H.  Unger,  Die  Knappschaftsnovelle;  L.  Feile hen- 
feld,  Die  öffentliche  Unfallversicherung  auf  dem  IV.  internationalen  Kongreß 
für  Versicherungsmedizin;  M.  Wagner,  Zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung. 

Kommunale  Praxis.  1906.  Nr.  27 :  F.  Kleeis,  Die  Errichtung  und  Ver¬ 
waltung  öffentlicher  Heilanstalten  durch  die  Gemeinden;  E.  Nitzsche,  Die 
Pensionsberechtigung  der  Gemeindebeamten  in  Sachsen.  —  Nr.  28:  F.  W ork¬ 
mann,  Zur  Hygiene  des  Badens.  —  Nr.  30:  G.  Michels,  Kommunale  Brot¬ 
bereitung.  —  Nr.  31:  F.  Kleeis,  Die  Festsetzung  der  „ortsüblichen  Tagelöhne“ 
und  die  Gemeinden.  —  Nr.  33:  Lokalverkehr  und  Wohnungsfrage;  Milchver¬ 
sorgung  und  Milchkontrolle.  —  Nr.  37:  F.  Kleeis,  Die  Ausdehnung  der  Kranken¬ 
versicherungspflicht  durch  die  Gemeinden.  —  Nr.  41:  C.  Eberle,  Städtische 
Arbeiterfürsorge.  —  Nr.  43:  W.  Kolb,  Die  Milchversorgung  der  Stadt  Karlsruhe. 

Soziale  Kultur.  190.?.  Nr.  7:  Grunenberg,  Arbeiterfrau  und  Arbeiter- 


96 


Zeitschriftenübersicht. 


wohnung.  —  Nr.  8:  G.  Neu  haus,  Das  Studium  der  Statistik  in  Deutschland.  — 
Nr.  9:  G.  Neuhaus,  Die  amtliche  Statistik  in  Deutschland;  A.  Baur,  Die  Ent¬ 
wicklungsgeschichte  der  Sehulgesundheitspflege.  —  Nr.  10:  0.  Schwartz,  Der 
biologische  Unterricht  und  die  Selbsthilfe  bei  Krankheiten;  B.  Schilling,  Erste 
Schritte  zur  Förderung  des  Wohnungswesens  und  der  Wohnungspliege;  J.  Weyd- 
niann,  Zur  deutschen  Armenrechtsreform. 

Monatsschrift  für  Kriminalpsychologie  und  Strafrechtsreform.  1906. 

Nr.  4:  Botering,  Das  Landstreichertum  der  Gegenwart;  Polligkeit,  Die 
Bedeutung  der  Berufsvormundschaft  im  Kampfe  gegen  Verwahrlosung  und  Ver¬ 
brechen.  —  Nr.  5/6:  Kraepelin,  Das  Verbrechen  als  soziale  Krankheit.  — 
Nr.  7:  Simons,  Die  neuen  niederländischen  Gesetze  betr.  verwahrloste  und 
verbrecherische  Kinder:  Kurelia,  Die  soziologische  Forschung  und  Cesare 
Lombroso. 

Deutsche  Vierteljahrsschrift  für  Öffentliche  Gesundheitspflege.  1906. 

Nr.  2:  A.  Tenholt,  Über  die  Anchylostomiasis ;  P.  Hesse,  Über  die  Auskunfts¬ 
und  Fürsorgestellen  für  Lungenkranke;  A.  Eckert,  Das  Wöchnerinnenasyl 
„Luisenheim“  in  Mannheim;  J.  Grassl,  Die  gegenwärtige  Tuberkulosenmortalität 
in  Bayern;  0.  Gerl  and,  Noch  einmal  der  preußische  Gesetzentwurf  zur  Ver¬ 
besserung  der  Wohnungsverhältnisse;  E.  Kempf,  Die  Reform  des  Apotheken¬ 
wesens;  Th.  Wey  1,  Über  Müllentladestellen  in  Wohn  quartieren;  0.  Schwartz, 
Die  freie  Ärztewahl  vom  Standpunkte  der  öffentlichen  Gesundheitspflege; 
L.  Ascher,  Der  Kohlenrauch,  seine  Schädlichkeit  und  seine  Abwehr;  Gemünd, 
Hygienische  Betrachtungen  über  offene  und  geschlossene  Bauweise,  über  Klein¬ 
haus  und  Mietskaserne.  —  Nr.  3:  Gemünd,  Schluß  aus  Nr.  2;  M.  Pistor,  Zur 
Medizinalreform  in  Preußen;  K.  Kolb,  Einfluß  der  Basse  und  Häufigkeit  des 
Krebses  nach  dessen  Verbreitung  im  Kanton  Bern;  Solbrig,  Das  öffentliche 
Badewesen  im  Beg.-Bez.  Arnsberg;  H.  Ohr.  Nußbaum,  Die  Wassergewinnung 
durch  Talsperren;  An  kl  am,  Die  Wasserversorgung  Berlins  bisher  und  in  Zukunft. 

Außerdem  sind  folgende  Druckschriften  eingegangen : 

Barthelmes,  Grundsätze  der  Militärgesundheitspflege  für  den  Truppen¬ 
offizier.  Berlin  1907.  E.  S.  Mittler  u.  Sohn.  Mk.  2,50.  —  L.  Berthenson, 
Über  russische  Buddhisten  und  die  sog.  tibetanische  Medizin.  Sonderabdr.  aus 
Petersb.  med.  Wochenschr.,  Nr.  24,  1906.  —  A.  Newsholme,  A  Manual  of 
Personal  and  Public  Health.  Bevised  Edition.  London  1906.  Gill  and  Sons.  — 
B.  Weil,  Die  Wohnungsverhältnisse  der  Stadt  Metz.  Straßburg  i.  E.  u.  Leipzig 
1906.  J.  Singer.  —  Denkschrift  zur  ersten  Wohnungsenquete  der  Ortskranken¬ 
kassen  in  Breslau,  bearbeitet  von  A.  Bergmann.  Breslau  190h  —  Statisti¬ 
sche  Mededeelingen  uitgegeven  door  het  Bureau  van  Statistiek  der  Gemeente 
Amsterdam.  No.  15.  Armenzorg  te  Amsterdam  1904  en  1905.  No.  16.  Sta¬ 
tistiek  der  Bevolkning  van  Amsterdam  en  eenige  voorname  steden  der  wereld  in 
de  jaren  1899—1905.  Amsterdam  1906.  J.  Müller.  —  Soweit  die  eingesandten 
Publikationen  aus  Platzmangel  in  der  „Zeitschrift  für  Soziale  Medizin“  nicht  be¬ 
sprochen  werden  können,  werden  sie  im  „Jahresbericht  über  Soziale  Hygiene, 
hrsg.  von  A.  Grotjahn  und  F.  Kriegei“,  der  alljährlich  im  Juli  erscheint,  eine 
Besprechung  finden.  Daselbst  vgl.  auch  Chronik,  Kongresse,  Gesetzestafel  und 
vollständige  Bibliographie  der  Sozialen  Hygiene  und  der  Sozialen  Medizin. 


Umschau. 


Berlin,  den  15.  Februar  1907. 

ln  einer  der  ältesten  Universitätsstädte  Deutschlands,  in  Greifs¬ 
wald,  hat  ein  Schwurgericht  einen  Epileptiker  znm  Tode  verurteilt 
wegen  Morde,  die  der  Patient  nach  dem  Gutachten  der  Ivönigl. 
Preuß.  wissenschaftlichen  Deputation  für  das  Medizinalwesen  und 
zahlreicher  Irrenärzte  von  Ruf  im  epileptischen  Dämmerzustände 
vollbracht  hat.  In  einer  für  den  sozial  empfindenden  Arzt  er¬ 
schreckenden  Weise  hat  dieser  Urteilsspruch  deutlich  gemacht,  wie 
wenig  klare  Errungenschaften  der  medizinischen  Wissenschaft  in 
das  Bewußtsein  selbst  der  gebildeten  Kreise  unseres  Volkes,  denen 
doch  Staatsanwalt,  juristische  und  geschworene  Mitglieder  eines 
Schwurgerichts  angehören,  eingedrungen  sind.  Eine  Abhilfe  kann 
nur  dadurch  geschaffen  werden,  daß  intensiver  und  extensiver  als 
bisher  breite  Schichten  unseres  Volkes  mit  den  Kenntnissen  der 
medizinischen  Forschungen  bekannt  gemacht  werden.  Der  einzige 
Weg  hierzu  geht  durch  die  Tagespresse,  die  im  viel  größeren  Um¬ 
fang  sich  die  Mitarbeit  medizinischer  Publizisten  sichern  müßte. 
Es  sind  nur  wenige  ganz  große  Blätter,  die  eine  regelmäßige  lite¬ 
rarische  Tätigkeit  ärztlicher  Mitarbeiter  zu  schätzen  wissen,  und 
es  gibt  nur  wenige  Mediziner,  die  sich  der  ungemein  schwierigen, 
leider  nicht  genugsam  anerkannten  und  doch  für  das  allgemeine 
Wohl  so  überaus  wichtigen  Aufgabe  unterziehen,  in  den  Tages¬ 
zeitungen  alle  medizinischen,  die  Allgemeinheit  interessierenden 
Fragen  kurz,  gemeinverständlich  und  doch  interessant  zu  besprechen. 
Der  Typus  des  medizinischen  Journalisten,  den  der  jüngst  ver¬ 
storbene  Wolf  Becher  in  besonders  vorbildlicher  Weise  repräsen¬ 
tierte,  hat  sich  noch  nicht  hinreichend  durchgesetzt  und  nur  wenigen 
Ärzten  (wie  J.  Käst  an,  P.  Meißner,  R.  Denn  hoff)  geben 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  * 


98 


Umschau. 


große  Tageszeitungen  Gelegenheit ,  ihre  publizistische  Begabung 
und  den  größten  Teil  ihrer  Arbeitskraft  in  den  Dienst  der  Journa¬ 
listik  zu  stellen. 

Eine  höhere  Wertung  der  medizinischen  Publizistik  scheint 
sich  selbst  unter  den  ärztlichen  Standesgenossen  anzubahnen. 
Wenigstens  ist  das  aus  der  Berufung  von  namhaften  Schriftstellern 
in  die  am  weitesten  verbreiteten  Standesblätter  zu  schließen.  So 
ist  mit  Beginn  dieses  Jahres  0.  Magen  in  die  Redaktion  des 
„Ärztlichen  Vereinsblattes“,  des  Organs  des  Deutschen  Ärztever¬ 
einsbundes,  eingetreten  und  weiterhin  W.  He  11p ach  zur  Redak¬ 
tion  der  „Ärztlichen  Mitteilungen“  des  Leipziger  Verbandes  berufen 
worden.  Diese  Namen  bieten  eine  Gewähr,  daß  unsere  gelesensten 
Standesblätter  in  Zukunft  nicht  nur  nach  der  formalen  Seite  auch 
hochgespannten  publizistischen  Ansprüchen  genügen,  sondern  trotz 
kräftiger  Wahrung  der  Standesinteressen  auch  die  allgemeinen 
Gesichtspunkte  nicht  außer  acht  lassen  werden.  Die  Soziale 
Medizin  und  die  Soziale  Hygiene  sind  deshalb  wohl  zu  der 
Hoffnung  berechtigt,  von  jetzt  ab  auch  bei  den  leitenden  Standes¬ 
blättern  mehr  Berücksichtigung  zu  finden. 

Vom  12. — 14.  Januar  fand  in  Berlin  die  Generalversammlung 
des  unter  der  Leitung  von  Helene  Stöcker  und  Marie 
Lischnewska  stehenden  Bundes  für  Mutterschutz  statt.  Außer 
dem  Schutze  lediger  Mütter  und  deren  Kinder  strebt  der  Bund 
auch  eine  Reform  der  sexuellen  Ethik  au.  Eine  Kritik  letzterer 
Bestrebungen  muß  so  lange  vertagt  werden,  als  nicht  die  Grundsätze, 
die  als  Unterlage  für  eine  Propaganda  dienen  sollen,  in  klarer 
Formulierung  vorliegen.  Es  muß  abgewartet  werden,  ob  sich  aus 
dem  Chaos  der  Meinungen,  das  besonders  die  erste  Mitglieder¬ 
versammlung  offenbarte,  feste  Gebilde  oder  nur  Höhennebel  ab¬ 
scheiden  werden.  Jedenfalls  ist  es  vom  Standpunkte  der  Sozialen 
Hygiene  höchst  beachtenswert,  daß  auf  der  Tagung  über  Mutter¬ 
schaftsversicherung  (Ref.:  P.  May  et)  und  über  Heiratsverbote 
minderwertiger  Personen  (Ref.:  M.  Markuse)  verhandelt  wurde. 
Die  Diskussion  über  dieses  Problem  endete  mit  einer  Resolution, 
in  der  die  Forderung  eines  obligatorischen  Gesundheitsattestes  vor 
der  Eheschließung  gefordert  wurde.  Der  Gedanke ,  direkt  die 
Frauenwelt  für  eine  allen  hygienischen  Anforderungen  gerecht 
werdende  Gestaltung  des  Generationsprozesses  und  des  Geschlechts¬ 
lebens  zu  gewinnen,  ist  fast  zu  schön,  als  daß  man  an  seine  Ver¬ 
wirklichung  glauben  könnte.  Die  traurigen  Erfahrungen,  die  die 
Soziale  Hygiene  bei  dem  Versuche  machte,  die  Frauenwelt  für  eine 


Umschau. 


99 


wichtige  Frage  wie  die  Wiederaufnahme  der  Sitte  des  Selbst¬ 
stillens  oder  die  etwas  weniger  wichtige  der  Reform  der  Frauen- 
kleidung  zu  interessieren,  läßt  hier  ein  gewisses  Mißtrauen,  obldie 
große  indifferente  Masse  der  Frauenwelt  den  klugen,  eifrigen  und 
willensstarken  Führerinnen  auch  wirklich  folgen  wird,  wohl  gerecht¬ 
fertigt  erscheinen. 

Mit  Beginn  des  Wintersemesters  hat  Th.  Rumpf  an  der 
Universität  Bonn  ein  Seminar  für  Soziale  Medizin  eröffnet,  das 
sich  regen  Zuspruches  sowohl  der  Studierenden  als  auch  der  prak¬ 
tischen  Ärzte  erfreut. 

In  Brüssel  erscheint  seit  Beginn  des  Jahres  1907  die  Halb¬ 
monatsschrift  „La  Revue  Medico-Sociale“,  lirsg.  von  0.  Laurent 
und  J.  Crocq. 

Am  20.  November  1906  starb  der  Berliner  Medizinalstatistiker 
Georg  Heimann  im  54.  Lebensjahre.  In  Leipzig  starb  am 
8.  Januar  1907  der  bekannte  Nervenarzt,  Psychologe  und  um  die 
Errichtung  von  Volksheilstätten  für  Nervenkranke  verdiente 
P.  J.  Möbius  im  54.  Lebensjahre.  Am  4.  Februar  1907  starb  in 
Berlin  der  frühere  langjährige  Präsident  des  Reichsversicherungs¬ 
amtes,  T.  Bödiker,  einer  der  bedeutendsten  Organisatoren  des 
sozialen  Versicherungswesens,  im  64.  Lebensjahre. 

A.  Grotjahn. 


♦ 


7* 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben 

und  Ziele. 

Von  Dr.  med.  Adolf  Gottstein,  Charlottenburg. 


III. 

l)ie  Anthropometrie. 


(Schluß.) 


In  seinem  Aufsatz  „Hygienisches  von  Stadt  und  Land“  betont 
Rubner,1)  daß  die  Sterblichkeitsstatistik  als  Maß  für  die  Gesund¬ 
heit  des  Volkes  vielfach  überschätzt  werde.  Eine  geringe  Mortalitäts- 
ziffer  sei  immer  nur  der  Ausdruck  für  die  Herabsetzung  der  Lebens¬ 
gefahr,  aber  noch  kein  Beweis  für  den  Grad  des  körperlichen 
und  geistigen  Wohlbefindens.  Trotz  des  Zurückgehens  der  Todesziffer 
hebe  sich  die  Qualität  des  Menschenmaterials  in  manchen  Landes¬ 
teilen  nicht  oder  sinke  sogar.  Die  Tatsache  selbst  ist  zutreffend, 
nicht  ganz  aber  die  ihr  von  Rubner  gegebene  Deutung.  Denn 
bei  der  von  Rubner  betonten  Unzulänglichkeit  der  Mortalitäts¬ 
statistik  spielt  eine  rein  statistische  Frage  wesentlich  mit.  Wester- 
gaard,  der  einmal  die  Sterblichkeit  „ein  Thermometer  der  Freuden 
und  Leiden  der  Gesellschaft“  nennt,  gibt  für  diese  den  Statistikern 
wohl  bekannte  Erscheinung  zahlreiche  Beispiele  an,  aus  denen 
hervorgeht,  „  daß  in  a  1 1  e  n  einzelnen  Elementen  einer  Gesellschaft 
ein  Fortschritt  stattfinden  kann,  während  die  Gesellschaft  als  ein 
Ganzes  betrachtet,  doch  zurückgeht,  indem  die  Zusammensetzung 
derselben  minder  gut  wird,  als  sie  vordem  war.“2)  Die  Ursache 
dieser  Unzulänglichkeit  in  der  Methode  für  einen  ganz  speziellen 


:)  München,  Oldenbourg,  1898. 

2)  I.  Anfl.,  S.  124.  • 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


101 


Fall  ist  eine  so  elementar  arithmetische,  daß  sie  Weste rgaard 

gar  nicht  erst  besonders  begründet.  Da  dieses  Problem  aber  für 

den  Hygieniker  recht  wichtig  ist,  so  sei  hier  auf  die  Fehlerquelle 

ausführlicher  eingegangen.  Wenn  eine  Bevölkerung  M  mit  der 

Gesamtsterblichkeit  A  sich  aus  einzelnen  Gruppen  nq,  m0  etc. 

zusammengesetzt,  deren  zugehörige  Sterblichkeit  a1?  a2  etc.  ist,  so  ist 

4  a1  a1  a2 

Vr  selbstverständlich  weder  =  — etc.  noch  =  — T  -\ - setc.  Ver- 

M  m1  m1  m2 

schieben  sich  die  Werte  nq,  m.?  untereinander  durch  Binnenwande¬ 
rungen  oder  andere  soziale  Einflüsse,  so  können  rechnerisch  in  den 
einzelnen  Gruppen  und  insgesamt  scheinbare  Besserungen  vorgetäuscht 
werden,  die  sogar  gelegentliche  Verschlechterungen  völlig  verdecken. 


Immerhin  besteht  hier  eine  Lücke  in  der  Methodik.  Bub n er 
hält  es  darum  für  „dringend  erwünscht  und  zeitgemäß“,  eine  wirk¬ 
liche,  den  anthropometrischen  Grundsätzen  entsprechende 
Gesundheitsstatistik  zu  schaffen.  Grotjahn1)  macht  mit  Becht 
darauf  aufmerksam,  daß  diese  Aeußerung  eines  Forschers,  dessen 
Bedeutung  auf  dem  Gebiete  der  Laboratoriumstätigkeit  liege,  be¬ 
sonders  eindringlich  für  die  Wichtigkeit  der  Anthropometrie  als 
Hilfswissenschaft  der  Sozialen  Hygiene  spräche;  er  hebt  weiter 
hervor,  daß  andere  Länder,  wie  namentlich  England,  uns  in  der 
Heranziehung  dieser  Methode  überlegen  sind.  Als  Hilfsmethode 
der  Sozialen  Hygiene  steht  sie  aber  auch  im  Auslande  erst  in  den 
Anfängen. 


Die  Anthropometrie  war  ursprünglich  ein  Teil  des  wissen¬ 
schaftlichen  Büstzeuges  der  Künstler,  später  wurde  sie  eine  eifrig 
bearbeitete  Methode  der  Anthropologie.  Schon  im  Altertum  bemühten 
sich  die  Künstler  für  die  Größenverhältnisse  der  einzelnen  Körper¬ 
teile  bestimmte  gesetzmäßige  Beziehungen  aufzufinden,  um  eine 
ideale  Körperform  festzustellen,  welche  dem  schaffenden  Künstler 
zum  Anhalt  dienen  sollte ;  und  auch  in  neuerer  Zeit  haben  Künstler 
wie  namentlich  Schadow  und  Bietschel  die  Proportionen  der 
Körpergestalt  in  bestimmte  Gesetze  zu  bringen  versucht,  Carus 
legte  in  seinem  Werke  über  „die  Symbolik  der  menschlichen  Gestalt“2) 
das  Verhältnis  der  einzelnen  Glieder  zur  Wirbelsäule  zugrunde 
und  schuf  in  seinem  „Modulus“,  welcher  den  dritten  Teil  der 
Wirbelsäule  bildete,  ein  neues  Einheitsmaß  an  Stelle  der  im  Altertum 


:)  Die  Anthropometrie 
I,  12.  1905. 

2)  Leipzig-  1858. 


im  Dienste  der  Sozialen  Hygiene. 


Mediz.  Klinik, 


102 


Adolf  Gottstein, 

gebrauchten  Einheiten.  Man  nannte  ein  solches  System,  welches 
die  Größe  der  einzelnen  Glieder  in  Bruchteilen  oder  Prozenten  des 
Modulus  ausdrückte,  einen  „Kanon“.  Der  neueste  Versuch  der 
Aufstellung  eines  Kanons  wurde  von  dem  Berliner  Anthropologen 
Fritsch1)  gemacht.  Der  Amerikaner  Gould  stellte  zahlreiche 
Messungen  an  gesunden  Individuen  verschiedener  Rassen  an,  deren 
Vergleich  mit  dem  Ideal-Kanon  der  Künstler  deshalb  von  Interesse 
ist,  weil  er  eine,  auffällige  Uebereinstimmung  der  Normalfiguren 
mit  den  künstlerischen  Postulaten  ergibt.  Es  sei  hier  aus  dem 
Werke  von  Ranke2)  folgende  Tabelle  wiedergegeben: 


Schadow 

Gould 

Carus 

Körpergröße 

100 

100 

100 

Eumpflänge 

37 

39 

39 

Sclmlterbreite 

26 

24 

24 

Hängender  Arm 

44 

43 

43 

Oberarm 

20 

20 

20 

Vorderarm 

23 

23 

23 

Hand 

10 

— 

10 

Fuß 

15 

15 

15 

Ganz  andere  Zwecke  verfolgt  die  Heranziehung  der  Antliro- 
pometrie für  anthropologische  und  physiologische  Probleme. 
Es  war  zuerst  wieder  Quetelet,  der  systemathische  Messungen  an 
ausgewachsenen  und  wachsenden  Individuen  beider  Geschlechter 
vornahm,  um  durch  Feststellung  eines  Durchschnittstypus  die 
Verhältnisse  des  erwachsenen  Menschen  und  die  Wachstumsgesetze 
aufzuklären.  Er  berichtete  über  seine  Forschungen  in  seinem 
ersten  Werke  „Sur  Thomme“  und  versuchte  schon  damals  Normal - 
formeln  einzuführen;  er  setzte  dann  durch  lange  Zeit  diese  Unter¬ 
suchungen  fort  und  legte  sie  in  einem  größeren  Werke  nieder.3) 
Quetelet  beschäftigte  sich  hauptsächlich  mit  Körpergröße,  Brust¬ 
umfang  und  Körpergewicht.  Seither  wurden  Massenbeobachtungen 
über  die  Beziehungen  dieser  Zahlen  in  den  verschiedenen  Bevölke¬ 
rungsschichten  und  Rassen  Gegenstand  des  Studiums  vieler  Forscher, 
vor  allem  ist  die  Frage  des  Wachstums  des  menschlichen  Körpers, 
der  Wachstumsstufen  im  Kindesalter,  der  gesetzmäßigen  Zunahme 
von  Körpergröße  und  Körpergewicht  vom  Säugling  bis  zur  Reife 
Gegenstand  zahlreicher  Arbeiten  geworden.  Die  Ergebnisse  sind 

1)  Ztschr.  f.  Ethnologie,  1893. 

2)  Johannes  Ranke,  Der  Mensch,  Leipzig  1894,  2.  Aufl.,  Bd.  I,  S.  15. 

3)  Anthropometrie.  Bruxelles  1871/73. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


103 


in  mehreren  größeren  Werken  niedergelegt,  von  denen  hier  nur  die 
folgenden  genannt  werden  sollen: 

Ranke,  Der  Mensch, 

Daffner,  Das  Wachstum  des  Menschen,  Anthropologische 
Studie,1) 

Anthony,  Anthropologie  pliysique.2) 

Das  letztere  Werk  sei  deshalb  hervorgehoben,  weil  es  auch 
die  außerdeutsche  Literatur  ausführlich  behandelt  und  die  Methoden 
und  Instrumente  der  Anthropometrie  genau  schildert  und  abbildet. 
Genannt  werden  müssen  auch  die  Prachtwerke  von  Straatz, 
wie  z.  ß.  „der  Körper  des  Kindes“.3)  Die  Methoden  in  der  Ver¬ 
wertung  der  Ergebnisse  sind,  da  es  sich  um  Massenbeobachtungen 
handelt,  im  wesentlichen  dieselben,  wie  die  der  Statistik,  nur  dem 
besonderen  Zwecke  einigermaßen  angepaßt.  Einen  großen  Wert 
legen  die  Anthropologen  auf  die  Methode  der  „Serienberechnung“. 
Wenn  z.  B.  eine  bestimmte  Anzahl  Messungen  der  Körpergröße 
eines  bestimmten  Lebensalters  und  einer  bestimmten  Bevölkerungs¬ 
schicht  vorliegen,  die  innerhalb  einer  gewissen  Breite  schwanken, 
so  werden  die  Werte  der  Körpergröße  in  Serien  von  je  5  cm 
zerlegt  und  die  für  jede  Serie  beobachteten  Zahlen  graphisch  in 
einer  Kurve  aufgezeichnet.  Die  Kurve  zeigt  dann  meist  das 
Ueberwiegen  eines  bestimmten  Durchschnittstypus,  der  als  der 
gesetzmäßige  zu  gelten  hat  (Quetelet’s  Binomial-Kurve).  Die 
Abweichungen  nach  beiden  Seiten  von  dem  steilen  Kurvengipfel 
ergeben  bei  eindeutigem  Resultate  nur  sehr  niedrige  Werte.  Natürlich 
ist  diese  Serienmethode  nichts  weiter  als  eine  graphische  Darstellung 
des  , quittieren  Fehlers“  der  Statistik.  Außer  den  Hauptgegen¬ 
ständen  der  Beobachtung,  Schädelmaße,  Rumpfmaße,  Körpergröße, 
-Umfang  und  -Gewicht  hat  man  sich  auch  bemüht  noch  andere 
Werte  heranzuziehen.  Man  hat  Methoden  der  Oberflächenmessung 
empirisch  und  durch  Aufstellung  von  Formeln  angegeben,  und  man 
hat  ferner  versucht,  das  spezifische  Gewicht  zu  bestimmen.  Alle 
diese  Versuche,  die  zum  Teil  in  die  Konstruktion  ungeheuerlicher 
Formeln  ausliefen,  haben  bisher  keine  praktische  oder  unanfechtbare 
wissenschaftliche  Bedeutung  gewonnen.  Viel  wichtiger  sind  die 
Arbeiten,  welche  mit  Hilfe  der  Leichenbeobachtung  über  Organ¬ 
wägungen  berichten.  Namentlich  die  Wägungen  des  Gehirns  haben 


J)  Leipzig-,  Engelmann,  1902,  2.  Auli. 

2)  Traite  cfHygiene  von  Brouardel  u.  Mosny,  Bel.  III.  Paris,  Baillere  1906. 

3)  Stuttgart,  Enke  1903. 


104 


Adolf  Gottsteiu . 


seit  Biscli off  große  Bedeutung  gewonnen,  aber  auch  die  Studien 
der  Bölling  ersehen  Schule  über  normale  Größen-  und  Gewichts¬ 
verhältnisse  der  inneren  Organe  verdienen  Beachtung.  Eine  große 
Lücke  der  Forschung  ist  darin  zu  sehen,  daß  die  Histologie  zu 
antliropometrischen  Messungen  bisher  fast  gar  nicht  herangezogen 
ist.  Zwar  Messungen  der  Größe  und  Zahl  der  Blutkörperchen 
gehen  um  viele  Jahrzehnte  zurück,  aber  wir  wissen  wenig  oder 
gar  nichts  über  die  Zahl  der  Zellen  und  Zellengruppen  der  einzelnen 
Organe  in  normalen  und  abnormen  Verhältnissen  und  über  die 
Aenderung  dieser  Zahlen  mit  dem  Wachstum. 

Die  bis  zu  Quetelet  zurückreichenden  Versuche,  für  gesetz¬ 
mäßige  Beziehungen  Formeln  aufzustellen,  sind  in  der  Neuzeit  fast 
ganz  verlassen  worden;  wie  in  der  Statistik  ist  man  auch  hier 
mehr  bemüht,  zuverlässiges  Material  durch  Massenbeobachtungen 
zu  sammeln.  Namentlich  in  England  haben  Forscher,  wie  Gal  ton, 
eigene  anthropometrische  Institute  eingerichtet,  und  es  bestehen 
Komitees  zur  antliropometrischen  Aufnahme  der  Gesamtbevölkerung, 
von  denen  einige  Berichte  schon  vorliegen.  Auch  in  Deutschland 
hat  unter  Gustav  Schwalbe ’s  Leitung  die  Deutsche  Anthropolo¬ 
gische  Gesellschaft  mit  Unterstützung  des  Staates  die  anthropome¬ 
trische  Aufnahme  der  Wehrpflichtigen  beschlossen,  und  wir  haben 
von  diesem  großen  Werke  in  der  nächsten  Zeit  wichtige  Aufschlüsse 
zu  erwarten.  Kleinere  und  größere  Aufnahmen  einzelner  Gruppen 
wie  der  Wehrpflichtigen,  der  Schuljugend  usw.  liegen  im  Auslande 
und  zum  Teil  in  Deutschland  vor.  Es  sei  nur  der  großen  Werke 
von  L  i  v  i  *)  gedacht. 

An  der  Anthropometrie  haben  noch  verschiedene  andere  Gruppen 
Interesse.  Von  Anfang  an  haben  sich  besonders  die  Rassen- 
f  o  r  s  c  h  e  r  mit  deren  Ergebnissen  beschäftigt,  weil  sie  Abweichungen 
der  Schädelform  und  der  Körpergröße  als  Rassenmerkmale, 
als  bleibende  wie  als  veränderliche,  hinstellen  konnten  und  die 
Einflüsse  von  Klima,  Bodenbeschaffenheit,  Vererbung  und  Wande¬ 
rungen  auf  die  Körpermaße  festzulegen  sich  bemühten.  Ferner 
haben  die  Militärärzte  Interesse  an  antliropometrischen  Auf¬ 
nahmen,  weil  Abweichungen  von  dem  normalen  Typus  Anhalte 
für  die  Brauchbarkeit  geben.  Ihnen  verdanken  wir  zwar  viele 
Bereicherungen  unseres  wissenschaftlichen  Materials,  aber  dieses 
erstreckt  sich  nur  auf  ein  bestimmtes,  wenige  Jahre  umfassendes 
Lebensalter  und  ist  deshalb  für  Schlußfolgerungen  nur  mit  Vorsicht 


b  R.  Livi,  Antliropolog'ia  militare.  I  Rom  1898.  II  1905. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


105 


zu  gebrauchen.  Daß  die  Psychologen  auf  Grund  der  Messungen 
von  Scliädelgröße  und  Hirngewicht  seit  Bi  sch  off  der  Anthropo- 
metrie  sich  bedienten,  ist  bekannt.1)  Aus  der  neuesten  Zeit  sind 
die  Studien  D.  v.  Hansemanns  2 3)  über  die  Gehirne  hervorragender 
Männer,  wie  H e  1  niliol  tz ,  besonders  bemerkenswert.  —  Von  größter 
Bedeutung  ist  die  Anthropometrie  für  die  Yer sicherungsärzte, 
und  gerade  ihnen  verdanken  wir  manche  Aufschlüsse.  Aus  der 
neuesten  Zeit  datieren  die  schon  angeführten  Arbeiten  von  Flor¬ 
schütz  und  Gottstein,  und  der  Versicherungsmathematiker  der 
Gothaer  Lebensversicherungsbank  Kamp  hat  erst  kürzlich  ein 
Schema  des  normalen  Verhaltens  der  absoluten  Werte  von  Körper¬ 
größe,  Leibumfang  und  Körpergewicht  nach  Körpergröße  und 
Lebensalter  auf  Grund  eines  großen  Materials  aufgestellt,8)  das 
allerdings  mehr  praktische  als  wissenschaftliche  Bedeutung  hat, 
weil  die  Messungen  am  bekleideten  und  beschuhten  Körper  statt- 
fan den.  Kinderärzte  und  Schulärzte  bedienen  sich  ebenfalls 
für  ihre  Schlußfolgerungen  über  das  normale  Wachstum  der  Daten 
dieser  Wissenschaft.4)  Daß  auch  die  Klinik  aus  der  Anthropo¬ 
metrie  zum  Zweck  des  Ausbaues  der  Prognostik  Nutzen  zu  ziehen 
bemüht  ist,  beweisen  z.  B.  die  Arbeiten  der  Schüler  von  Strümpell 
über  das  spezifische  Gewicht,5 6)  ferner  eine  größere  Arbeit  von 
F.  Kraus,0)  sowie  die  Untersuchungen  von  W.  Becher  und 
B.  Lennhoff7)  über  den  Zusammenhang  von  Körperformen  und 
Tiefstand  der  Nieren.  Selbst  die  Kriminalistik  hat  sie  heran¬ 
gezogen,  und  besonders  hat  A.  Bertilion  die  Aufnahme  des 
Körpers  zur  Feststellung  der  Individualität  zu  einem  großen  Gebäude 
ausgebildet  und  hierbei  interessante  Gesetze  über  die  gegenseitige 
Beeinflussung  des  Wachstums  einzelner  Organe  infolge  größerer 
Inanspruchnahme  aufgestellt.  Das  Bertillon’sche  anthropometrische 
System  wird  vielfach  zur  Feststellung  der  Identität  angewendet. 

Zum  Hilfsmittel  der  Sozialen  Hygiene  wird  indes  die 
Anthropometrie  erst  durch  die  Feststellung,  daß  unter  der  Ein- 

1)  Ranke,  Bd.  II,  S.  551  ff. 

2)  Ztschr.  f.  Psycli.,  Bd.  XX. 

3)  Verhandlungen  des  IV.  internationalen  Kongresses  für  Versicherungs- 
medizin,  1906. 

4)  Stephani,  D.  m.  Woch.,  1906,  Nr.  44  n.  Rietz,  Arch.  f.  Anthropol.. 
I,  1,  1903. 

5)  Münchener  med.  Woch.,  1903,  34  n.  35  und  Med.  Klin..  1906,  Nr.  9. 

6)  Über  konstitutionelle  Schwäche  des  Herzens.  Festschrift  für  Leuthold 

Hirschwald,  1906,  S.  327. 

r)  Verhandl.  des  17.  Kongresses  f.  innere  Medizin  u.  Med.  Reform,  1906. 


106 


Adolf  Gottstein, 


Wirkung  gesellschaftlicher  Einflüsse  die  Maße  des  Körpers  ganz 
wesentlich  verändert  werden.  Freilich  stehen  wir  hier  erst  am 
Anfang  der  Forschung,  trotzdem  die  Feststellung  der  Tatsache 
selbst  bis  in  den  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  zurückreicht.  Schon 
Villerme  hat  1819  betont,  daß  „die  Körpergröße  um  so  mehr  an¬ 
steigt  und  das  Wachstum  sich  um  so  schneller  beendet,  je  reicher 
das  Land,  je  größer  der  Wohlstand;  daß  Wohnung,  Kleidung  und 
vor  allem  Nahrung  von  Einfluß  sind  und  daß  Sorgen,  Anstrengungen, 
Not  in  der  Kindheit  und  Jugend  das  Wachstum  hemmen,  mit 
anderen  Worten,  daß  das  Elend  und  seine  Begleitumstände  die 
Entwicklung  des  Körpers  herabsetzen  und  geringere  Körpergröße 
herbeiführen.“  4)  Diese  Beobachtungen  blieben  lange  ziemlich  un¬ 
beachtet.  Größeres  Aufsehen  erregte  es,  als  Pfitzner2)  sozial¬ 
anthropologische  Studien  veröffentlichte,  in  denen  er  auf  Grund 
von  Beobachtungen  an  Lebenden  und  Leichen  die  Überlegenheit 
der  Körpergröße  und  Kopfgröße  bei  höherer  Intelligenz  nachwies. 
Nach  ihm  dokumentiert  sich  höhere  Intelligenz  schlechthin  in  durch¬ 
schnittlich  höherer  Statur.  Derartige  Studien  hat  neuerdings 
Röse:J)  fortgesetzt  und  ist  bei  Untersuchungen  an  Kindern  und 
Erwachsenen  aller  Stände  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  ge¬ 
kommen.  Von  weiten  Gesichtspunkten  und  mit  sorgfältiger  Me¬ 
thode  hat  ferner  Rietz  in  seiner  Studie  über  Körperentwicklung 
und  geistige  Begabung4)  die  Ergebnisse  von  Messungen  an  20000 
Schülern  zu  der  Schlußfolgerung  verwertet,  daß  in  jedem  Alter  die 
normal  vorgeschrittenen  Schüler  durchschnittlich  die  entwickelteren, 
andererseits  die  minderbefähigten  auch  die  körperlich  zurückge¬ 
bliebenen  sind.  Besonders  eingehend  hat  sich  mit  diesen  Fragen 
noch  Marina5)  beschäftigt,  indem  er  den  Einfluß  der  Lebens¬ 
weise,  der  Ernährung,  des  Wohlstandes,  des  Klimas  und  voraus¬ 
gegangener  Krankheiten  auf  die  Körpermaße  des  wachsenden  Or¬ 
ganismus  studierte  mit  dem  Ergebnis,  daß  neben  den  in  erster 
Reihe  in  Betracht  kommenden  Rassenschwankungen  sozialhygie¬ 
nische  Einwirkungen  con  weitgehendem  Einfluß  auf  die  Entwick¬ 
lung  des  Körpers  sind.  Mit  diesen  Literaturangaben  soll  das  Thema 
nicht  als  erschöpft  gelten.  Die  Arbeiten  von  Ammon,  welcher 
die  Änderung  der  Körperformen  und  namentlich  der  Schädelformen 

9  Quetelet,  Sur  l’homine  etc.,  Bd.  II,  S.  14. 

2)  Ztschr.  f.  Morphol.  u.  Anthropologie,  1901. 

:l)  Arch.  f.  Bassen-  u.  Gesellschaftsbiologie,  II,  5  u.  6,  1905. 

4)  Ztschr.  f.  Schulgesundheitspflege,  XIX,  1906. 

5)  Politisch-an thropol.  Bevue,  1903,  11  u.  12. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


107 


durch  die  Abwanderung-  vom  Land  nach  der  Stadt  untersuchte  und 
dem  das  Verdienst  zukommt,  auf  die  Wichtigkeit  der  Methode  als 
einer  der  ersten  nachdrücklich  hingewiesen  zu  haben,  sind  hier 
absichtlich  nicht  eingehender  besprochen,  weil  sie  viel  Widerspruch 
gefunden  haben.  Soviel  geht  aus  der  kurzen  Schilderung  der  ge¬ 
schichtlichen  Entwicklung  der  Anthropometrie  hervor,  daß  ihre 
Anwendung  auf  die  Probleme  der  Sozialen  Hygiene  reiche  Aus¬ 
beute  verspricht,  daß  aber  erst  bescheidene  Anfänge  vor¬ 
liegen.  Diese  Anfänge  schienen  aber  der  von  der  englischen  Re¬ 
gierung  eingesetzten  Kommission  zur  Untersuchung  einer  körper¬ 
lichen  Entartung  des  britischen  Volkes,  deren  Ergebnisse  im  Jahre 
1904  in  einem  Bericht  von  2  Bänden x)  dein  Parlament  unterbreitet 
und  der  Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht  wurden,  bedeutsam  ge¬ 
nug,  um  periodische  anthropometrische  Aufnahmen  der  Bevölkerung 
zu  beantragen.  Es  verspricht  in  der  Tat  eine  reiche  Ausbeute, 
zunächst  umfangreiches  Material  über  die  Körperverhältnisse  der 
einzelnen  Bevölkerungsschichten  zu  sammeln  und  deren  Abhängig¬ 
keit  von  ganz  bestimmten  Faktoren  systematisch  zu  bearbeiten. 
Eine  Teilung  der  Aufgaben  in  interessante  Einzelprobleme  ist  nach 
den  verschiedensten  Richtungen  möglich.  Man  kann  z.  B.,  wie 
dies  Röse  getan,  bei  der  Untersuchung  von  Rekruten  die  Werte 
der  Körpergröße  mit  der  Art  der  Ernährung  im  Säuglingsalter  in 
Zusammenhang  bringen. 

Das  Bestreben  der  Heranziehung  der  Anthropometrie  zur 
Lösung  von  Aufgaben  der  Sozialen  Hygiene  zeigt  noch  überall 
die  Spuren  der  Jugendlichkeit,  ein  Grund  mehr,  sich  mit  ihr  ernst¬ 
lich  zu  befassen.  Sollte  es  dereinst  in  hoffentlich  nicht  zu  ferner 
Zukunft  auch  bei  uns  Laboratorien  geben,  welche  der  Sozialen 
Hygiene  zur  Verfügung  stehen,  so  wird  es  dann  auch  möglich  sein, 
die  mikroskopische  Anthropometrie  auszubilden,  von  der  heute 
nicht  einmal  Anfänge  vorliegen.  Daß  aber  die  Heranziehung  des 
Mikroskops  zu  Messungen  der  Zahl  und  der  Größe  der  Elementar¬ 
bestandteile  in  den  einzelnen  Organen  im  wachsenden  und  er¬ 
wachsenen  Zustande,  bei  normalen  und  krankhaften  Vorgängen, 
wichtige  Aufschlüsse  für  Klinik,  Anthropologie  und  Soziale  Hygiene 
verspricht,  das  ist  eine  Vorstellung,  die  sich  bei  mir  durch  jahre¬ 
lange  Beobachtungen  der  individuellen  Reaktion  am  Krankenbett 
herausgebildet  hat.  Hier  könnte  vielleicht  eine  ganz  neue  Sonder- 


r)  London  1904.  Eyre  u.  Spottiowoode.  Referat:  Politisch-anthropol.  Revue, 
V,  3,  von  Hans  Fehlin  ge  r. 


108 


Adolf  Gottstein. 


methode  entstehen  von  so  überraschend  reicher  Ernte,  wie  sie  vor 
25  Jahren  in  ganz  kurzem  Zeitraum  die  neu  erstandene  Bakterio¬ 
logie  einbrachte. 


IV. 

Das  weitere  methodische  Rüstzeug  der  Sozialen  Hygiene. 

In  seiner  oft  erwähnten  Rede  betont  Eubner,  daß  National¬ 
ökonomie  und  Hygiene  auf  einander  als  Hilfswissenschaften  an¬ 
gewiesen  seien  und  daß  jede  r  Arzt  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete 
der  Nationalökonomie  haben  müsse.  Mit  den  Berührungspunkten 
beider  Wissenschaften  beschäftigt  er  sich  aber  nur  kurz ;  neue  Er¬ 
findungen  bedingten  .neue  Gesundheitsgefahren,  Umwälzungen  der 
Produktion  reiften  andere  Lebensverhältnisse  für  den  Arbeiter, 
neue  Handelswege  schüfen  veränderte  Existenzbedingungen.  Gründ¬ 
licher  noch  als  Rubner’s  Arzt  muß  aber  der  Vertreter  der  So¬ 
zialen  Hygiene  mit  der  Geschichte  der  wirtschaftlichen  Umge¬ 
staltungen  in  den  letzten  hundert  Jahren  und  mit  der  Natur  der 
Kräfte,  die  zu  ihnen  geführt  haben,  vertraut  sein.  Bei  dem  steten 
Fluß  dieser  Vorgänge  darf  er  sogar  sein  Wissen  nicht  bloß  aus 
der  Geschichte  und  aus  den  Handbüchern  schöpfen,  sondern  er 
muß  es  verstehen,  nach  den  Worten  von  Hueppe  selbst  frisch 
und  mit  gesunden  Sinnen  umherzuspähen.  Und  da  die  Rückwir¬ 
kungen  aller  dieser  Umwälzungen  auf  die  Gesundheit  der  zunächst 
beteiligten  Kreise  noch  lange  nicht  erschöpfend  studiert  sind,  so 
ist  für  das  offene  Auge  noch  recht  viel  Neues  zu  sehen. 

Wohl  wenigen  Geschlechtern  war  es  seit  dem  Bestehen  einer 
menschlichen  Kultur  auferlegt,  in  der  Aufeinanderfolge  von  kaum 
drei  Generationen  sich  so  tiefen  Veränderungen  der  Existenzbe¬ 
dingungen  anzupassen,  wie  den  Lebenden  der  letzten  sechs  bis 
sieben  Jahrzehnte;  niemals  aber  ist  eine  derartige  Anpassung 
mit  so  geringem  Verlust  an  Menschenleben  vollzogen  worden.  Die 
Gründung  der  Städte  und  festen  Siedelungen  in  Mitteleuropa  vor 
etwa  tausend  Jahren  hatte  für  deren  Bewohner  jahrhundertelange 
und  recht  erhebliche  Todesgefahren  zur  Folge,  die  oft  bis  in  die 
neueste  Zeit  fortbestanden,  falls  nicht  ein  großer  Brand  oder  eine 
ähnliche  elementare  Katastrophe  die  Rolle  der  Sanitätspolizei  über¬ 
nahm.  Die  positiven  und  negativen  gesundheitlichen  Folgen  der 
Entdeckung  von  Amerika  und  der  Eröffnung  anderer  Erdteile  ver¬ 
teilten  sich  ebenfalls  auf  einen  außerordentlich  langen  Zeitraum. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


109 


Wir  und  unsere  unmittelbaren  Vorfahren  erlebten  in  ganz  kurzem 
Zeitraum  zwei  ganz  ähnliche  Vorgänge,  die  Massenabwanderung 
vom  Lande  in  die  riesenhaft  anwachsenden  Städte  und  die  wirt¬ 
schaftliche  Erschließung  der  Länder  der  bevölkerten  Erde ;  ihre  Be¬ 
wohner  und  ihre  Produkte  wurden  einander  so  genähert,  daß  statt 
Monaten  und  Wochen  nunmehr  nur  noch  Tage  und  Stunden  uns 
trennen  und  daß  statt  vereinzelter  lockerer  Fäden  uns  ein  rasch 
entstandenes  dichtes  Maschengewebe  von  Beziehungen  verbindet. 
Und  die  großen  technischen  Entdeckungen,  denen  wir  diese  An¬ 
näherungen  verdanken ,  erforderten  den  intensivsten  Frondienst 
zahlreicher  Menschen,  deren  veränderte  Lebensbedingungen  nach 
Verpflanzung  aus  den  angestammten  verstreuten  Siedlungsstätten 
in  die  Zentren  enger  Anhäufungen  bei  jäher  Änderung  der  Lebens¬ 
weise  Gegenstand  eifrigsten  Studiums  der  Nationalökonomie  ge¬ 
worden  sind. 

Die  Hygiene,  deren  engere  Aufgabe  die  Erforschung  der  Rück¬ 
wirkung  dieser  Wandlung  auf  die  Gesundheit  der  Gesellschaft  und 
ihrer  Teile  ist,  stellt  nun  die  überraschende  Tatsache  fest,  daß  mit  dieser 
Umwälzung  ein  Sinken  der  Sterblichkeit  aller  Altersklassen  ver¬ 
bunden  ist,  daß  die  Mortalität  der  Städte,  früher  viel  erheblicher 
als  die  der  Landbevölkerung,  sogar  stärker  herabgegangen  ist  als 
die  letztere.  Aber  bei  der  Teilung  des  Materials  zur  näheren  Er¬ 
örterung  dieser  Tatsache  ist  die  Hygiene  Schritt  für  Schritt  darauf 
angewiesen,  sich  Rat  in  den  Schriften  der  volkswirtschaftlichen 
Forscher  zu  holen  und  deren  Methoden  so  weit  verstehen  zu  lernen, 
um  nicht  jeder  kritischen  Würdigung  der  übermittelten  Ergebnisse 
entbehren  zu  müssen.  Der  Hygieniker  muß  wissen,  was  ihm  der 
Nationalökonom  über  die  Lebens-  und  Ernährungsverhältnisse,  die 
Arbeitsbedingungen ,  die  Lohnverhältnisse  und  deren  ortsübliche 
Verwertung  in  den  einzelnen  Schichten  der  Gesellschaft,  was  er 
ihm  über  die  Gewohnheiten  während  der  Arbeit  und  der  Erholungs¬ 
zeit  mitzuteilen  hat.  Ja,  er  muß  auch  die  Forderungen  kennen, 
welche  die  Arbeiterklassen  zur  Verbesserung  ihrer  Lage  aufstellen; 
er  muß  versuchen,  eine  Vorstellung  von  der  seelischen  Verfassung 
und  Denkweise  dieser  Bevölkerungsgruppe  zu  gewinnen.  So  vor¬ 
gebildet  vermag  er  mit  seinem  ärztlichen  Rüstzeug  die  Ergebnisse 
der  Nationalökonomie  zu  ergänzen,  indem  er  die  Rückwirkung 
dieser  Zustände  auf  die  Gesundheit  der  beteiligten  Gruppen  er¬ 
forscht  und  die  Mittel  zur  Beseitigung  von  Mißständen  sucht. 

Im  Gegensatz  nun  zu  dem  günstigen  Vorurteil,  welches  die 
Herabsetzung  der  Gesamtsterblichkeit  erweckt,  ist  die 


110 


Adolf  Gottstein. 


Rückwirkung  der  Änderungen  der  Gesellschaft  durch  den  tech¬ 
nischen  Aufschwung  auf  zahlreiche  Einzelschichten  doch  oft 
recht  u ngünstig  und  verbesserungsbedürftig.  Am  deutlichsten  ist 
dies  auf  dem  Gebiete  der  Gewerbehygiene  zutage  getreten;  die 
zahlreichen  anderen  Beziehungen  zwischen  volkswirtschaftlicher 
Entwicklung  und  Gesundheitsgefahr,  die  nicht  unmittelbar  mit  der 
Gewerbehygiene  Zusammenhängen,  sind  bisher  viel  weniger  be¬ 
arbeitet  worden,  als  sie  bei  ihrer  Wichtigkeit  beanspruchen  müssen. 
Darum  seien  einige  dieser  Probleme  hier  beispielsweise  erwähnt, 
schon  weil  sie  den  engen  Zusammenhang  zwischen  Nationalökonomie 
und  Sozialer  Hygiene  dartun.  Hierher  gehört  zunächst  eine  Frage, 
welche  die  Gesamtbevölkerung  angeht,  und  welche  durch  Ascher 
und ßubner  ganz  neuerdings  zum  Gegenstand  besonderen  Studiums 
und  eindruckvollster  Propaganda  gemacht  worden  ist;  die  Frage  der 
Luftverschlechterung  in  den  Städten  durch  die  Kohlenfeue¬ 
rung  der  Industrie.1)  Das  Mahnwort  von  Rubner,  daß  uns  heute 
ein  Kampf  gegen  die  schlechte  Luft  obliegt,  wie  wir  einstmals 
einen  solchen  gegen  das  schlechte  Wasser  der  Städte  geführt,  wird 
hoffentlich  Nachhall  finden.  Wohl  ebenso  wichtig  ist  die  besondere 
Frage  der  durch  wirtschaftliche  Vorgänge  erheblich  umgestalteten 
Lage  des  jugendlichen  Alters  beider  Geschlechter  und  der 
außerordentlich  komplizierten  Rückwirkung  auf  deren  Gesundheit. 
In  den  Klassen  der  Arbeiter  werden  die  Jünglinge  jetzt  in  einem 
Lebensalter  wirtschaftlich  unabhängig,  in  dem  sie  sonst  als  Hilfs¬ 
arbeiter  der  Eltern  von  diesen  erhalten  wurden  und  in  deren 
Heim  unselbständig  verweilten.  Der  Einfluß  dieses  Vorganges  auf 
körperliche  und  moralische  Gesundheit  bedarf  der  sorgfältigsten 
Beachtung.  Umgekehrt  bleiben  die  Söhne  der  besitzenden  Stände 
durch  den  Zudrang  zu  Berufsarten  mit  längerer  Vorbildungszeit  viel 
häufiger  wirtschaftlich  abhängig  als  früher.  Ist  aber  hier  das  Ziel 
erreicht,  so  haben  Ehrgeiz,  geselliger  Zwang,  das  Bedürfnis,  die  in 
stetem  Kampf  ums  Weiterkommen  stark  mitgenommenen  Nerven 
durch  Kontrastwirkung  zu  entspannen,  vielfach  zu  einer  Lebens¬ 
weise  geführt,  welche  von  der  Einfachheit  und  Körperschonung 
früherer  Zeiten  erheblich  ab  weicht.  Und  diese  Kehrseite  einer 
höheren  sozialen  Stellung  läßt  sich  in  ihrer  Rückwirkung  auf  die 
Sterblichkeit  schon  jetzt  deutlich  erkennen.  Im  Gegensatz  zur 
allgemeinen  Abnahme  der  Sterblichkeit  steht  die  Zunahme  der 


b  Daß  auch  diese  Frage  schon  vor  200  Jahren  die  Ärzte  Yiel  beschäftigte, 
beweist  meine  Notiz  in  Ztschr.  f.  Soz.  Med..  I.  267. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  lind  Ziele. 


111 


Todesziffern  in  den  besser  situierten  Gesellschaftskreisen  an  Stoff¬ 
wechselkrankheiten  und  Krankheiten  des  Gefäßsystems, 1)  deren 
Ursachen  Go  lim  er  direkt  in  der  Überernährung,  dem  gesteigerten 
Konsum  von  Genußmitteln,  der  beruflichen  geistigen  Überanstrengung 
und  der  Zunahme  des  Gesellschaftslebens  findet. 

Wenn  einst  die  Hygiene  des  Geistes,  deren  Wichtigkeit 
Ru b n er  betont,  mehr  bearbeitet  wird,  so  wird  auch  die  gesund¬ 
heitsschädliche  Wirkung  der  grellen,  auf  Auge  und  Ohr  wirken¬ 
den  täglichen  Reize  der  Großstadt,  wie  des  steten  Gehetztseins 
ohne  genügend  große  Ruhepausen  einer  größeren  Beachtung  wert 
gefunden  werden.  Sie  verkürzen  unser  Leben  statistisch  nach¬ 
weisbar  vielleicht  nicht  um  eine  Stunde;  wie  sehr  aber  sie  unsere 
Nerven  abnutzen,  fühlen  wir  Großstädter  am  deutlichsten  bei 
unserer  jährlichen  Sommerflucht.  Ebenso  wichtig  sind  die  Ein¬ 
wirkungen  der  Monotonie  maschineller  Arbeit  auf  die  Seele.  Diese 
häufige  Quelle  schwerer  Neurasthenie,  die,  gewiß  unter  Mitwirkung 
anderer  Momente,  zu  schweren  nervösen  Herzaffektionen,  gelegent¬ 
lich  zu  verfrühter  Invalidität,  aber  auch  einmal  zu  psychischen 
Störungen  führen  kann,  ist  wenigstens  in  der  gewerbehygienischen 
Literatur  bisher  nicht  genügend  gewürdigt  worden.  Das  Gegen¬ 
stück  bilden  die  Neurasthenien  und  der  völlig  geistige,  körperliche 
oder  moralische  Zusammenbruch  solcher  Geistesarbeiter,  welche  der 
Ehrgeiz  des  Tages  trieb,  Zielen  nachzugehen,  denen  ihre  körper¬ 
lichen,  geistigen,  moralischen  oder  materiellen  Kräfte  auf  die  Dauer 
nicht  gewachsen  waren.  Diese  Erscheinung  selbst  ist  nicht  neu, 
wohl  aber  ihre  Häufung  und  deren  ursächlicher  Zusammenhang  mit 
wirtschaftlichen  Vorgängen. 

Die  Anforderungen  an  nationalökonomisches  Wissen  und  Ver¬ 
stehen  sind  daher  nicht  gering,  und  fast  könnte  es  zu  weitgehend 
erscheinen,  daß  als  Rüstzeug  der  Sozialen  Hygiene  außer  ihnen 
auch  noch  die  Beschäftigung  mit  einem  anderen  Gebiete  der  Geistes¬ 
wissenschaften  verlangt  wird,  nämlich  mit  der  Gesetzeskunde. 
Und  doch  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  legislatorische  Tätig¬ 
keit  auf  dem  Gebiete  der  Gesundheitspflege  durch  Gesetze  und 
Verordnungen  einen  Umfang  angenommen,  der  schon  dem  Arzte, 
mehr  noch  dem  Vertreter  der  öffentlichen  Gesundheitspflege,  aber 
auch  speziell  dem  Sozialhygieniker  die  Pflicht  auferlegt,  wenigstens 
sich  mit  der  Tatsache  des  Vorhandenseins  dieser  gesetzlichen  Be- 


l)  Gollmer,  Die  Todesursachen  bei  den  Versicherten  der  Gothaer  Lebens¬ 
versicherungsbank,  Berlin,  Mittler,  1906. 


112 


Adolf  Gottstein, 

Stimmungen  und  der  Gebiete,  auf  die  sie  sich  erstrecken,  vertraut 
zu  machen.  Diese  Aufgabe  wird  dem  Arzte  durch  das  Bestehen 
eigener  Sammlungen  und  viel  verbreiteter  Kommentare  erleichtert. 
Auch  besondere  Fachblätter,  wie  z.  B.  die  „Soziale  Praxis“  dienen 
diesem  Zwecke;  besonders  sei  auch  auf  die  Abschnitte  „Chronik 
der  Sozialen  Hygiene“  und  „Gesetzestafel“  im  Jahresbericht  der 
Sozialen  Hygiene  von  Grotj ahn  und  Kriegei  hingewiesen.  Vor 
allem  seien  als  Quelle  die  Veröffentlichungen  des  deutschen  Reichs¬ 
gesundheitsamtes  hervorgehoben. 

Von  diesen  Gesetzen  interessiert  der  eine  Teil  nur  den  ärzt¬ 
lichen  Praktiker  in  der  Ausübung  seiner  Berufspflichten  und  sei 
deshalb  hier  nicht  erwähnt.  Einen  anderen  Teil  von  hohem  sozial  - 
hygienischen  Interesse  bilden  die  Gesetze  der  Arbeiterversickerung 
gegen  Krankheiten,  Unfälle,  Invalidität  und  die  Altersversicherung, 
sowie  die  Pläne  ihres  weiteren  Ausbaues  zur  Versicherung  gegen 
Arbeitslosigkeit  und  ihrer  Ausdehnung  auf  die  Versicherung  der 
Hinterbliebenen.  Diese  Arbeiterversicherungsgesetze  beeinflussen 
in  so  großem  Umfang  die  Aufgaben  des  Arztes,  daß  die  Be¬ 
schäftigung  mit  ihnen  zur  Bildung  einer  eigenen  Sonderwissen¬ 
schaft,  der  Sozialen  Medizin  im  engeren  Sinne,  Anlaß  gegeben 
hat.  Immerhin  greifen  sie,  auch  wenn  sie  sich  zunächst  nur  mit 
den  krankheitlichen  Vorgängen  befassen,  durch  zwei  Umstände 
auch  in  das  Gebiet  der  Sozialen  Hygiene  über,  erstens  weil  zu 
deren  Aufgaben  das  Studium  ihrer  Rückwirkung  auf  die  Gesund¬ 
heit  der  beteiligten  Bevölkerungskreise  gehört  und  zweitens  weil 
seit  etwas  mehr  als  einem  Jahrzehnt  die  durch  das  Gesetz  ge¬ 
schaffenen  Verwaltungskörper  auch  die  Vorbeugung  krankhafter 
Vorgänge  als  zu  ihren  Aufgaben  gehörig  ansehen  und  die  ihnen 
zur  Verfügung  stehenden  großen  Geldmittel  für  diese  Aufgaben 
bereit  stellen. 

Eine  weitere  große  Gruppe  gesetzlicher  Bestimmungen  und 
Verordnungen  interessiert  in  erster  Linie  den  beamteten  Arzt  als 
staatlichen  Vertreter  der  öffentlichen  Gesundheitspflege.  Hierher 
gehören  zunächst  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  amtliche 
Beaufsichtigung  der  gewerblichen  Anlagen,  der  Bauten,  Kranken¬ 
anstalten,  Schulen  und  sonstigen  öffentlichen  Einrichtungen,  die 
Überwachung  des  Verkehrs  mit  Nahrungsmitteln  und  die  Kontrolle 
ihrer  Verfälschungen,  Verordnungen,  die  durch  die  bevorstehende 
staatliche  Wohnungsgesetzgebung  noch  eine  erhebliche  Erweiterung 
erfahren  werden.  Es  gehören  hierzu  ferner  die  gesetzlichen  Be¬ 
stimmungen  über  die  Bekämpfung  der  ansteckenden  Krankheiten, 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


113 


die  Seuchen gesetze  für  das  Inland  und  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
über  die  Bekämpfung  eingeschleppter  Seuchen  in  der  Form  inter¬ 
nationaler  Konventionen,  welche  das  Meldewesen  sowie  den  Grenz¬ 
verkehr  von  Personen  und  leblosen  Dingen  regeln. 

Neben  allen  diesen  Gesetzen  interessieren  aber  noch  besonders 
die  Soziale  Hygiene  die  deutschen  und  internationalen  Bestim¬ 
mungen,  Gesetze  und  Verordnungen,  welche  die  Gesundheit  der 
Arbeiter  im  Betrieb  schützen  wollen.  Hierher  rechnen  die  Be¬ 
stimmungen  der  Gewerbeordnung  über  die  Konzessionspflicht  be¬ 
stimmter  Betriebe,  über  die  Schutzvorrichtungen  und  deren  Beauf¬ 
sichtigung  durch  Gewerbeinspektoren,  die  Regelung  der  Arbeits¬ 
zeit  und  Sonntagsruhe,  die  Bestimmungen  über  gewerbliche  Nacht¬ 
arbeit  der  Frauen  und  Beschäftigung  und  Arbeitszeit  der  jugend¬ 
lichen  Arbeiter  und  Kinder.  Gerade  diese  letzten  Fragen  inter¬ 
national  zu  regeln,  ist  die  besondere  Aufgabe  des  Internationalen 
Arbeitsamtes  in  Basel,  welches  als  Organ  der  „Internationalen 
Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz“  unter  Leitung  von 
Stephan  Bauer  und  unter  offizieller  Beteiligung  der  zivilisierten 
Staaten  Konferenzen  abhält,  Erhebungen  anstellt  und  veröffentlicht 
und  gesetzliche  Maßnahmen  vorbereitet.  Einen  großen  Erfolg  hat 
dieses  Arbeitsamt  im  letzten  Jahre  auf  dem  Gebiete  der  gesund¬ 
heitsgefährlichen  Industrien  durch  das  Übereinkommen  einer  Reihe 
von  Staaten  über  das  gesetzliche  Verbot  des  weißen  Phosphors  in 
der  Zündholzindustrie  erzielt. 

Die  Beschäftigung  mit  diesem  umfangreichen  Material  aus  dem 
Gebiete  der  Gesetzgebung  führt  den  Arzt  gelegentlich  dahin,  in 
der  Praxis  Lücken,  Mängel  und  Unstimmigkeiten  zwischen  der  Ab¬ 
sicht  des  Gesetzgebers  und  der  erzielten  Wirkung  festzustellen. 
Die  Versuchung  liegt  nahe,  durch  Besserungsvorschläge  selbst  als 
Gesetzgeber  auftreten  zu  wollen.  Es  muß  aber  vor  dieser  tatsäch¬ 
lichen  Überschreitung  der  Grenzen  unserer  Aufgaben  dringend  ge¬ 
warnt  werden.  Der  Arzt  kann  es  z.  B,  als  eine  bedauerliche 
Lücke  feststellen,  daß  zwar  der  eine  Arbeiter  durch  die  Unfall¬ 
gesetzgebung  entschädigt  wird,  welcher  der  plötzlichen  Einwirkung 
schädlicher  Stoffe  ausgesetzt  war,  nicht  aber  sein  Nachbar,  welcher 
durch  monatelange  Einatmung  kleiner  Mengen  desselben  schädlichen 
Giftes  mindestens  ebenso  stark  in  seiner  Gesundheit  geschädigt 
wurde.  Der  Arzt  dient  aber  dem  Interesse  seines  Kranken  besser, 
wenn  er  im  Einzelfalle  den  Zusammenhang  zwischen  Berufsgefahr 
und  Gesundheitsschädigung  jedesmal  genau  studiert,  als  wenn  er 
allgemein  durch  Verwischung  der  Unterschiede  zwischen  Berufs¬ 
zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  IT.  ^ 


114 


Adolf  Gottstein, 


krankheiten  und  Unfällen  dem  Wortlaut  der  gesetzlichen  Bestim¬ 
mungen  dialektisch  Gewalt  antun  will.  Innerhalb  der  Grenzen 
seines  Wirkungskreises  bleibt  ihm  noch  genügender  Kaum  zu  gut 
begründeten  Vorschlägen  für  den  Gesetzgeber,  wie  gerade  die 
Arbeiten  von  Ärzten  wie  L  e  n  n  h  o  f  f , 1 )  M  u  g  d  a  n  2)  und  Grot- 
jahn8)  auf  dem  Gebiete  der  sozialen  Gesetzgebung  beweisen. 

Neben  den  staatlichen  gesetzlichen  Einrichtungen  zum  Schutze 
des  Arbeiters  und  seiner  Familie  gegen  Berufsschädigung  und 
gesundheitliche  Mißstände  sind  in  den  letzten  20  Jahren  durch  frei¬ 
willige  Tätigkeit  von  Gemeinden,  Beteiligten  und  Menschenfreunden 
eine  große  Zahl  ganz  eigenartiger  Wohlfahrtseinrichtungen  ent¬ 
standen.  Auf  diesem  Felde  wetteifern  die  einzelnen  Nationen, 
unter  denen  Deutschland  vielfach  eine  führende  Stellung  einnimmt. 
Die  Zahl  dieser  Einrichtungen  ist  schon  heute  eine  außerordent¬ 
lich  große;  ihre  Formen  sind,  da  sie  meist  ohne  Vorbild  aus  freier 
Anregung  entstanden,  außerordentlich  mannigfaltig. 4)  Es  sind  auf 
diese  Einrichtungen  große  Summen,  welche  private  und  öffentliche 
Wohltätigkeit,  wie  Gemeinden  aufbringen,  verwendet  worden  und 
viele  Kräfte  dienen  ihrer  Verwaltung  und  Leitung.  Es  ist  eine 
unerläßliche  Aufgabe  der  Sozialen  Hygiene,  alle  diese  Einrichtungen 
zu  registrieren  und  auf  ihren  Wert  für  die  Volksgesundheit  ständig 
zu  prüfen.  Ich  habe  (1.  c.)  den  Vorschlag  gemacht,  daß  der  neu¬ 
gegründeten  Zentrale  des  deutschen  Städtetags  der  Auftrag  erteilt 
werde,  als  Sammelstelle  allen  Materials  über  diese  Einrichtungen 
zu  dienen  und  vermöge  des  so  gewonnenen  Überblicks  zugleich  als 
Beratungsstätte,  um  etwa  drohenden  Zersplitterungen  und  Ver¬ 
geudungen  an  Geld  und  Kraft  vorzubeugen.  Es  scheint  aber,  daß 
der  „Zentralstelle  für  Arbeiterwohlfahrt“  nach  ihrer  Umwandlung 
in  eine  „Zentralstelle  für  Volks  Wohlfahrt“  diese  Aufgabe  zu¬ 
fallen  wird. 


V. 

Epidemiologie. 

Die  bisherige  Darstellung  bezweckte  den  Nachweis,  daß  die 
Soziale  Hygiene  einige  Methoden  besonders  heranzuziehen  hat, 

b  Med.  Reform.  1906,  Nr.  5. 

-)  Bert.  klin.  Woch.,  1905,  Nr.  89  und  Ztschr.  f.  Sozialwiss.,  IX,  3/4. 
s)  Ztschr.  f.  Soz.  Med.,  I,  S.  15. 

*)  Ich  habe  versucht,  sie  in  einem  Aufsatze  im  Arch.  f.  Städtekunde,  März 
1906,  einigermaßen  vollständig  aufzuzählen. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


115 


welche  den  anderen  Zweigen  dieser  Wissenschaft,  der  physio¬ 
logischen  wie  der  mikroparasitären  Hygiene,  ferner  liegen.  Bei 
dieser  Gelegenheit  ist  schon  in  der  Form  von  Beispielen  einer  An¬ 
zahl  von  Einzelproblemen  gedacht  worden,  welche  die  Selbständig¬ 
keit  dieses  Sonderzweiges  auch  durch  den  Nachweis  besonderer 
Aufgaben  erweisen.  Im  übrigen  aber  muß  die  Soziale 
Hygiene  einige  längst  erschlossene  große  Sonderzweige  der  Hygiene, 
die  in  der  Folge  besprochen  werden  sollen,  geradezu  als  aus¬ 
schließliche  Aufgaben  ihres  eigenen  Arbeitsgebiets 
für  sich  beanspruchen.  Zu  diesen  großen  Sonderabschnitten  aus 
dem  Gesamtgebiete  der  Hygiene  gehört  in  erster  Linie  die  „Epi¬ 
demiologie“.  Denn  das  Auftreten  von  Seuchen  ist  in  doppelter 
Beziehung  mit  wirtschaftlichen  Vorgängen  eng  verbunden. 

Es  heißt  einer  geschichtlichen  Wahrheit  Gewalt  antun,  wenn 
man  bestreiten  will,  daß  große  Umwälzungen  im  Völkerleben, 
Kriege,  Hungersnöte,  wirtschaftliche  und  kulturelle  Mißstände, 
durch  Schädigung  der  Volksgesundheit  schneller  oder  langsamer 
in  der  Form  von  Seuchen  nachhallen;  das  Wort  von  Virchow 
gilt  noch  heute,  unangefochten  von  den  Errungenschaften  der 
Bakteriologie:  „Epidemien  gleichen  großen  Warnungstafeln,  an 
denen  der  Staatsmann  von  großem  Stil  lesen  kann,  daß  in  dem 
Entwicklungsgänge  seines  Volkes  eine  Störung  eingetreten  ist!“ 
Die  Aufgabe  des  Epidemiologen  kann  es  höchstens  sein,  festzu¬ 
stellen,  über  wie  viele  Zwischenglieder  sich  dieser  ursächliche  Zu¬ 
sammenhang  erstreckt.  Zweitens  aber  fordern  die  Seuchen¬ 
ausbrüche  nicht  nur  Opfer  an  Menschenleben,  sondern  außerdem 
noch  Opfer  an  wirtschaftlichen  Gütern,  sie  haben  politische,  kul¬ 
turelle  und  seelische  Nachwirkungen,  auf  die  hier  nicht  einge¬ 
gangen  werden  kann,  die  aber  oft  auf  sehr  verschlungenen  Wegen 
recht  wichtig  und  nachhaltig  waren.  Gerade  auch  als  Warnungs¬ 
tafeln  haben  die  Seuchenausbrüche  oft  schon  große  Fortschritte 
beschleunigt.  Mit  dem  Nachweis  der  mikroparasitären  Ursachen 
und  der  Mittel  zu  deren  Vernichtung  ist  also  das  Seuchenproblem 
noch  lange  nicht  erschöpft. 

Noch  mehr  aber  als  wegen  dieser  Zusammenhänge  ist  die 
Soziale  Hygiene  aus  einem  weiteren  Grunde  verpflichtet,  die 
Seuchenlehre  ganz  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Dieser  schöne, 
über  eine  große,  stolze  Geschichte  verfügende  Zweig  ärztlicher 
Wissenschaft  ist  unter  der  ein  Vierteljahrhundert  währenden  Vor¬ 
herrschaft  der  Bakteriologie  auf  das  bedauerlichste  vernachlässigt 
worden  und  in  Verfall  geraten;  ja  es  fehlte  gelegentlich  nicht  an 


116 


Adolf  Gottstein. 


Stimmen,  welche  die  bewährten  Methoden  der  Epidemiologie  als 
überholt  und  wertlos  geworden ,  seitdem  uns  die  Bakteriologie 
präzisere  Untersuchungsmethoden  an  die  Hand  gegeben,  zum  alten 
Gerümpel  werfen  wollten.  Ein  Einblick  in  die  kleinen  und  großen 
Handbücher  der  Gesamthygiene  beweist,  wie  geringschätzig  auch 
als  Gegenstand  des  Unterrichtes  dieser  Sonderzweig  behandelt  wird. 
Das  scheint  allerdings  neuerdings  anders  werden  zu  sollen,  denn 
selbst  von  bakteriologischer  Seite  werden  zuweilen  Bekenntnisse 
vernehmlich,  daß  außer  den  Bakterien  noch  andere  ursächliche 
Momente  des  Studiums  wert  seien.1) 

Mehr  als  zwei  Jahrzehnte  herrschte  das  Dogma,  daß  mit  der 
experimentellen  Erforschung  spezifischer  Krankheitserreger  sämtliche 
Probleme  der  Seuchenentstehung  zu  lösen,  daß  mit  der  Vernich¬ 
tung  der  Kontagien  durch  Aufstöberung  in  ihren  belebten  und 
unbelebten  Schlupfwinkeln  sämtliche  Quellen  der  Seuchenentstehung 
und  Seuchenverbreitung  zu  verstopfen  seien.  Vergeblich  verhallten 
lange  Zeit  alle  Versuche,  an  der  Hand  nüchterner  Tatsachen  das 
Unzulässige  dieser  Verallgemeinerung  von  Schlußfolgerungen  aus 
den  Tierversuchen  zu  beweisen.  Es  kann  hier  auf  die  Gründe  und 
Gegengründe  des  lange  geführten  Streites  nicht  eingegangen  werden ; 
es  ist  dies  um  so  weniger  erforderlich,  als  wir  in  der  „Pathogenese 
innerer  Krankheiten“  des  Rostocker  Klinikers  F.  Martius2)  eine 
ganz  vorzügliche  historischkritische  Darstellung  des  Gegenstandes 
besitzen.  Die  kontagionistische  Lehre  von  der  ausschließlichen 
Bedeutung  der  Bakterieninvasion  als  alleiniger  Ursache  der  Seuchen¬ 
entstehung  mußte  schließlich  doch  an  den  Erfahrungstatsachen 
scheitern,  daß  Seuchen  ausblieben,  trotzdem  die  bakteriellen  Be¬ 
dingungen  ihrer  Entstehung  sämtlich  Vorlagen,  daß  herrschende 
Seuchen  verschwanden,  ohne  daß  deren  belebte  Kontagien  ver¬ 
nichtet  waren,  daß,  wie  Jürgens,  ein  aus  der  Ko  elfischen  Schule 
her  vorgegangener  F  orscher,  sich  ausdrückt, 3)  „sie  i  h  reu  G  a  n  g 
gehen,  unbeeinflußt  durch  unsere  nach  bakterio¬ 
logischen  Gesi  ch  tsp  unkten  aus  geführten  Maßnahmen, 
daß  also  eine  Seuchenbekämpfung  durch  Versuche,  die  Bakterien 
zu  vernichten,  nicht  möglich  ist.“ 

Bei  der  Entstehung  einer  Infektionskrankheit,  sei  es.  daß  sie 
vereinzelt  oder  daß  sie  in  Massen  auftritt,  spielt  stets  das  Zu- 


x)  P,e lila,  Med.  Klin.,  1906,  Nr.  26. 

2)  Heft  1,  Leipzig-  und  Wien,  Deuticke.  1899. 

3)  Festschrift  f.  Lenthold  I.  Hirschwald.  1906. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


117 


sammenwirken  zweier  Faktoren  eine  Rolle,  die  Invasion  des 
spezifischen  Kontagiums  und  eine  durch  sehr  verschiedenartige 
innere  und  äußere  Ursachen  zu  einer  gewissen  Höhe  angestiegene 
Hinfälligkeit  des  betreffenden  Individuums  gegenüber  diesem  Kon- 
tagium. 

Nun  ist  allerdings  in  vielen  Fällen  nicht  bloß  in  dem  Para¬ 
digma  des  experimentellen  Tierversuchs  sondern  auch  in  der  Patho¬ 
genese  des  Menschen,  die  Hinfälligkeit  einer  größeren  Zahl  von 
Menschen  gegenüber  dem  Kontagium  eine  so  große  oder  so  kon¬ 
stante,  daß  sie  bei  dem  Studium  der  Seuchenentstehung  ohne 
weiteres  übersehen  werden  darf.  Das  berechtigt  aber  nicht  zu 
einer  ganz  allgemeinen  Vernachlässigung  des  Faktors  der  quanti¬ 
tativ  in  weiten  Grenzen  schwankenden  individuellen  Resistenz,  wie 
dies  die  bakteriologische  Schule  bei  der  Übertragung  ihrer  Tier¬ 
versuche  auf  die  Seuchenlehre  getan  hat,  genau  nach  dem  Muster 
des  Schülers,  der  als  Viereck  nur  das  Quadrat  gelten  läßt.  Es 
gelüstet  keinen  Einsichtigen  nach  dem  herostratischen  Ruhm,  die 
große  Bedeutung  der  Bakteriologie  für  die  verschiedensten  Zweige 
der  Naturwissenschaft,  insbesondere  auch  für  die  Seuchenlehre,  und 
die  Verdienste  ihrer  Schöpfer  verkleinern  zu  wollen;  aber  für  die 
Seuchenlehre  ist  die  Bakteriologie  nur  eine  Methode,  wenn  auch 
eine  der  wichtigsten  und  direktesten.  Und  selbst  in  denjenigen 
seltenen  Sonderfällen,  in  welchen  die  Entstehung  und  Verhütung 
der  Seuchen  sich  lediglich  aus  den  Eigenschaften  der  spezifischen 
Parasiten  ganz  oder  fast  ganz  ableiten  läßt,  bleibt  noch  die  Kon¬ 
trolle  durch  andere  Methoden,  die  Probe  auf  die  Richtigkeit  des 
Schlusses  unerläßlich.  Und  darum  ist  die  Verwahrlosung  der  Epi¬ 
demiologie  während  zweier  Dezennien  ein  beklagenswerter  Vor¬ 
gang,  darum  ist  ihre  Wiederbelebung  eine  wissenschaftliche  und 
praktische  Notwendigkeit. 

Der  Begriff  der  Epidemie  ist  ein  quantitativer,  er  be¬ 
deutet  das  Ansteigen  der  Zahl  der  Erkrankungen  über  das  Durch¬ 
schnittsmaß  in  der  Zeiteinheit.  Erst  die  weitere  Untersuchung 
lehrt,  daß  meist,  aber  durchaus  nicht  immer,  auch  die  Qualität 
der  beobachteten  Erkrankungen  eine  klinisch  einheitliche  ist;  an 
diesem  Punkte  setzte  dann  die  bakteriologische  Analyse  ein,  indem 
sie  in  glänzender  Methodik  die  Mittel  lieferte  zur  Bestätigung  der 
seit  lange  empirisch  aufgestellten  Theorie  von  der  Spezifität  der 
Krankheitsursachen  und  der  Identität  der  klinischen  und  der  ätio¬ 
logischen  Einheit.  Trotzdem  aber  decken  sich  die  Begriffe  „mikro- 
parasitäre  Krankheit“  und  „Epidemie“  nicht  ohne  weiteres,  ebenso- 


118 


Adolf  Gottstein. 


wenig  wie  die  Begriffe  epidemisch,  infektiös  und  kontagiös.  Pis 
gibt  Seuchen,  die  nicht  durch  belebte  Kontagien  ausgelöst  werden, 
wie  die  Vergiftungen  durch  die  Produkte  mikroparasitärer  und 
höherer  Pflanzen  (z.  B.  Ergotismus),  ja  sogar  durch  anorganische 
Stoffe  (Epidemien  von  Quecksilbervergiftung).  Und  es  gibt  bak¬ 
terielle  Krankheiten,  die  niemals  zu  Epidemien  anschwellen,  wie 
z.  B.  der  Tetanus.  Selbst  bei  denjenigen  Seuchen  aber,  bei  denen 
die  genannte  Trias  unanfechtbar  feststeht,  bleibt  außer  der  bak¬ 
teriellen  Durchforschung  zur  Aufklärung  der  Entstehung,  des  Ver¬ 
laufs  und  des  Verschwindens  noch  viel  des  Wissenswerten  zu  ver¬ 
zeichnen  übrig. 

Die  Epidemiologie,  die  allgemeine  wie  die  spezielle,  hat  alle 
Tatsachen  zusammenzustellen,  welche  sich  aus  Massenbeobachtung 
und  Einzelforschung  ergeben.  Ihre  erste  Aufgabe  ist  das  Studium 
der  Geschichte  der  einzelnen  Seuchen;  doch  soll  auch  hier  das 
Durchforschen  der  alten  Dokumente  wie  bei  der  Bakteriologie 
nicht  Selbstzweck,  sondern  Methode  bleiben.  Aus  einem  sehr  lehr¬ 
reichen  Grunde  sind  dem  geschichtlichen  Studium  enge  Grenzen 
gezogen.  Die  systemisierende  Auffassung  der  Krankheiten  änderte 
sich  nicht  nur  aus  theoretischen  Schulmeinungen,  sondern  oft  genug 
aus  außerordentlich  praktischen  Anlässen,  deren  Ursachen  nur  die 
gleichzeitige  Vertiefung  in  die  Gesamtgeschichte  des  einzelnen  Zeit¬ 
abschnitts  verstehen  läßt,  ganz  erheblich.  Politische  Not  und  wirt¬ 
schaftliche  wie  wissenschaftliche  Ohnmacht  lehrten  in  Zeiten  der 
Seuchengefahr  mehr  die  Todesgefahr  als  die  Zeichen,  unter  denen 
der  Tod  Eingang  fand,  zu  bewerten.  Es  ist  daher  nicht  ein  Be¬ 
weis  mangelhafter  Beobachtungskunst,  wenn  die  Trennung  von 
Scharlach  und  Masern  erst  ins  17.  Jahrhundert,  die  von  Fleck¬ 
typhus  und  Abdominaltj^phus  in  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
fällt;  man  legte  eben  mehr  Wert  auf  die  Prognose  als  auf  die 
Symptome.  Es  liegt  also  oft  keine  Veränderung  des  Krankheits¬ 
charakters,  sondern  nur  eine  Veränderung  des  nosologischen  Stand¬ 
punktes  vor.  Es  bleibt  darum  vergeblicher  Aufwand  von  Scharf¬ 
sinn  und  müßig,  wenn  man  jetzt  bestimmen  will,  welcher  heute 
noch  vorhandenen  bekannten  oder  ausgestorbenen  Krankheit  die 
Thycydideische  Pest  entspricht,  ob  der  Aussatz  der  Bibel  sich  mit 
der  heutigen  Lepra  deckt.  Die  Werke  auch  des  Altertums  und 
Mittelalters  bieten  uns  genügende  zahlreiche  solidere  Studien¬ 
objekte,  selbst  bei  der  Entnahme  aus  der  zweiten  Hand  durch 
Haeser  und  Hecker,  wie  die  Schilderung  der  Lungentuber¬ 
kulose  durch  Hippokrates,  die  des  schwarzen  Todes  und  der 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


119 


Lungenpest  durch  G u y  de  C  h  a  u  1  i  a  c ,  der  Syphilis  durch  F  r  a  - 
castor  und  Petronius,  der  schon  1535  eine  Theorie  der  er¬ 
worbenen  Immunität  aufstellte.  Und  die  Einsichten  in  die  zahlreichen 
Seuchenchroniken  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  geben  reiche,  oft 
auch  zahlenmäßige  Ausbeute  für  Vergleiche  mit  den  gegenwärtigen 
Zuständen  und  für  Schlußfolgerungen  auf  den  Verlauf  der  Seuchen¬ 
züge  durch  die  Jahrhunderte.  Hätte  man  die  Geschichte  der 
Seuchen  in  der  Gegenwart  eifriger  gepflegt,  so  wäre  die  Unsicher¬ 
heit  gegenüber  den  Einbrüchen  der  Influenza,  der  Cerebrospinal¬ 
meningitis,  die  Unkenntnis  des  periodischen  Auftretens  der  Diph¬ 
therie,  die  sich  in  unseren  Tagen  jäh  verriet,  nicht  möglich 
gewesen. 


Eine  zweite  Aufgabe  der  Epidemiologie  ist  das  Studium  der 
geographischen  Verteilung  der  einzelnen  Seuchen  auf  Länder 
und  Kassen  und  die  Verzeichnung  der  Wanderzüge  der  einzelnen 
spezifischen  Formen.  Es  ist  für  uns  beschämend,  daß  die  histo¬ 
risch  geographische  Pathologie  von  August  Hirsch  seit  einem 
Vierteljahrhundert  keine  neue  Auflage  erfahren  hat,  und  es  ist  um 
so  dringender,  diese  Lücke  auszufüllen,  als  durch  die  Kolonisations¬ 
bestrebungen  der  europäischen  Reiche,  durch  die  Erweiterung 
unseres  Wissens  mittels  bakteriologischer  Methoden  und  durch  das 
Aufblühen  der  Tropenhygiene  die  Summe  unserer  Kenntnisse  eine 
ganz  erhebliche  Bereicherung  erfahren  hat.  Zur  Vervollständigung 
muß  übrigens  auch  der  Gang  der  Epizootien  herangezogen 
werden. 

Eine  d ritt e  Aufgabe  ist  die  rein  beschreibende  Registrierung 
der  individuellen  Eigenschaften  einer  jeden  einzelnen  Seuchenform 
auf  der  Grundlage  der  Massenbeobachtung.  Hierzu  gehören  die 
Angaben  über  das  Verhalten  der  Seuchen  zur  Jahreszeit,  zu  Lebens¬ 
altern  und  Geschlechtern,  die  Verteilung  auf  die  einzelnen  sozialen 
Schichten  der  Bevölkerung,  die  Feststellung  des  Vorhandenseins 
oder  Fehlens  von  Beziehungen  zur  unbelebten  Umgebung,  die 
Immunität  oder  gesteigerte  Disposition  der  Örtlichkeit.  Zu  diesem 
Abschnitt  gehört  ferner  die  Feststellung  der  Form  der  Seuchen¬ 
kurve,  nämlich  die  graphische  Darstellung  des  Zeitraumes,  inner¬ 
halb  dessen  die  verschiedenen  Seuchen  ausbrechen,  an  steigen  und 
wieder  abklingen,  der  Gesetzlichkeit  oder  Gesetzlosigkeit  ihrer 
Wiederkehr.  Es  gehört  schließlich  hierzu  die  zahlenmäßige  Fest¬ 
stellung  des  Verhältnisses  der  Erkrankungen  zur  Gesamtbevölkerung 
und  zu  der  Zahl  der  der  Erkrankung  ausgesetzten  Bevölkerungs¬ 
schichten  (Kontagionsindex). 


120 


Adolf  Gottstein, 

Ein  anderes  Gebiet  der  Seuchenkunde  berührt  sehr  eng  die 
Aufgaben  der  Klinik,  nämlich  die  Feststellung  des  Zeitraumes  der 
Inkubation,  der  Krankheitsdauer,  der  Lebensgefahr  nach  Alter  und 
Geschlecht,  des  schließliehen  Ausganges,  der  Zusammengehörigkeit 
der  einzelnen  Seuchenformen  nach  klinisch-ätiologischen  Gesichts¬ 
punkten,  zuletzt  noch  die  Feststellung  des  Verhaltens  der  Genesenen 
gegenüber  der  Gefahr  einer  erneuten  Infektion. 

Eine  der  wichtigsten  Seiten  des  Seuchenproblems  ist  die  der 
Ätiologie  der  einzelnen  Formen.  Unter  strengster  Wahrung 
des  zuerst  von  Hu  epp  e  und  Ottomar  Rosen back  begründeten 
und  später  von  mir  in  meiner  „Allgemeinen  Epidemiologie“  J)  und 
von  Marti us  in  seiner  „Pathogenese“  vertretenen  Standpunktes, 
daß  die  spezifischen  Erreger  Krankheitserscheinungen  nur  auf  dem 
Boden  einer  vorher  vorhandenen  Anlage  auszulösen  vermögen,  muß 
doch  die  grundlegende  Förderung  dieser  Seite  des  Seuchenproblems 
durch  die  Entdeckungen  der  Bakteriologie  nachdrücklichst  betont 
werden.  Lediglich  mit  Hilfe  der  bakteriologischen  Methoden  ist 
es  jetzt  möglich,  die  Beziehungen  der  uns  größtenteils  bekannt 
gewordenen  mikroparasitären  Krankheitserreger  zur  Außenwelt, 
die  Art  ihrer  Übertragung  vom  Erkrankten  zum  Gesunden  direkt 
oder  durch  belebte  und  unbelebte  Zwischenträger,  die  Ausscheidungs¬ 
wege  aus  dem  Körper  der  Erkrankten,  die  Bedeutung  der  Bolle 
der  gesund  gebliebenen  „Bakterienträger“  näher  zu  erforschen. 
In  glücklichster  Weise  ergänzen  und  kontrollieren  sich  hier  gegen¬ 
seitig  die  Methoden  der  indirekten  Massenbeobachtung  und  der 
direkten  bakteriologischen  Durchforschung  des  Einzelfalles. 

Schließlich  ist  es  noch  die  Aufgabe  der  Epidemiologie,  für 
jede  individuelle  Seuche  die  Maßnahmen  der  Bekämpfung  zu  ver¬ 
zeichnen,  kritisch  an  der  Hand  der  Wirklichkeit  zu  betrachten 
und  die  Beobachtung  mit  den  experimentell  begründeten  Vor¬ 
schlägen  ins  Gleichgewicht  zu  bringen.  Daß  sie  hier  ihre  Aufgabe 
mit  den  Ratschlägen  zur  Vernichtung  des  belebten  Kontagiums 
nicht  für  abgeschlossen  ansieht,  sondern  über  diese  hinaus  auch 
die  Berücksichtigung  der  mittelbaren  inneren  und  äußeren  Ur¬ 
sachen  und  die  Behandlung  der  Folgen  einer  Epidemie  zu  ihren 
Aufgaben  rechnen  muß,  das  bedarf  in  der  heutigen  Zeit  der  nach¬ 
drücklichsten  Hervorhebung. 

Mit  dieser  Aufzählung  sind  zur  Not  die  Aufgaben  erschöpft, 
welche  der  Epidemiologie  als  Gegenstand  des  Unterrichts  zu- 


J)  Leipzig,  Wigand,  1897. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


121 


fallen,  ganz  und  gar  aber  nicht  die  Aufgaben  der  Forschung. 
Hier  können  die  Berührungspunkte  zwischen  Seuchenlehre  und 
anderen  Forschungsgebieten  nicht  weit  genug  gezogen  werden. 
Von  größtem  Interesse  ist  die  Verfolgung  der  Beziehungen  zwischen 
Seuchenausbrüchen  und  Rassenbildung,  die  Frage  der  Auslese 
durch  epidemische  Krankheiten  und  der  Anpassung  der  einzelnen 
Rassen  an  endemische  symbiotische  Kontagien.  Es  scheint  ein 
durchgehendes,  von  Ausnahmen  natürlich  nicht  freies  Gesetz  zu 
sein,  daß  gegen  dauernd  vorhandene  endemische  Kontagien  eine 
relative  Immunität  der  Autochthonen  besteht,  welche  den  Ein¬ 
wanderern  abgeht.  Für  diese  Erscheinung  hat  E.  Ziegler1)  auf 
Grund  der  Weismann’ sehen  Theorien  die  Hypothese  aufgestellt, 
daß,  da  erworbene  Eigenschaften  nicht  vererbbar  sind,  wohl  aber 
erblich  überkommene,  diese  Anpassung  durch  allmähliche  Ausmerzung 
der  hinfälligen  Individuen  im  Verlauf  langer  Zeiträume  zustande 
gekommen  ist.  Dieser  Theorie  hat  R.  Koch  eine  andere  gegen¬ 
übergestellt.  Nach  Koch  kommt  die  Rassenimmunität  der  Auto¬ 
chthonen  gegenüber  den  endemischen  Kontagien  ihrer  Heimat  da¬ 
durch  zustande,  daß  sie  als  Kinder  die  Krankheit  erwerben  und 
nun  als  Erwachsene  infolge  erworbener  individueller  Immunität 
nicht  zum  zweiten  Male  befallen  werden.  Die  Unrichtigkeit  dieser 
Theorie  haben  für  Malaria  A.  Plehn,2)  für  Abdominaltyphus 
Jürgens3)  dargetan.  TrotzderiT  hat  sie  Koch4)  jüngst  für  die 
afrikanische  Rekurrens  von*-  neuem  aufgenommen  und  durch  diese 
Behauptung  die  Möglichkeit,  ihre  Unrichtigkeit  allgemein  zu  erweisen, 
erleichtert.  Denn  die  Koch’ sehe  Theorie  setzt  eben  die  Tatsache 
voraus,  daß  das  Überstehen  einer  Krankheit  in  der  Kindheit  oder 
später  überhaupt  gegen  die  spätere  Wiedererkrankung  schützt. 
Diese  Tatsache  ist  aber  schon  bei  Malaria  und  Abdominaltyphus 
recht  zweifelhaft.5)  Bei  Rekurrens  vollends  macht  Koch  die 
durchaus  nicht  zutreffende  Angabe,  diese  erworbene  Immunität  sei 
„etwas  fest  Gegebenes“  und  es  entspräche  den  Erfahrungen  aus 
den  früheren  Rekurrensepidemien,  „daß  die  Kranken,  die  den  Re¬ 
kurrens  überstanden  haben,  gegen  eine  nochmalige  Erkrankung 


0  Können  erworbene  Eigenschaften  vererbt  werden?  etc.  (Jena,  Eischer,  1886). 

2)  Die  Malaria  der  afrikanischen  Bevölkerung,  besonders  in  bezug  auf  die 
Immunitätsfrage.  Jena,  Fischer,  1902  und  D.  med.  Woch..  1901. 

3)  Festschrift  f.  Leuthold  1.  c. 

4)  Berl.  klin.  Woch.,  1906,  Nr.  7. 

5)  A.  Gottstein,  Die  erworbene  Immunität  bei  den  Infektionskrankheiten 
des  Menschen.  Berliner  Klinik  1897,  H.  111. 


122 


Adolf  Gottstein. 


geschützt  waren“.  In  Wirklichkeit  ist  das  Gegenteil  richtig; 
hier  haben  alle  Autoren,  welche  die  Krankheit  beobachteten,  das 
Fehlen  einer  erworbenen  Immunität  festgestellt.  Das  berichten 
nicht  nur  Griesinger1)  in  seiner  klassischen  Arbeit  über  das 
Rückfallsfieber  und  ältere  englische  Forscher;  sondern  auch  Autoren, 
welche  nach  der  Entdeckung  der  Spirochaeten  Gelegenheit  zu  Be¬ 
obachtungen  hatten,  betonen  ausdrücklich  dieses  Fehlen  der  Im¬ 
munität,  wieSeitz,2)  Weichselbaum,3)  B.  Spitz4)  und  M. 
Litten.5)  Die  ganze  Frage  ist  deshalb  so  wichtig,  weil  die 
Ziegler’ sehe  Theorie  das  Verständnis  des  Mechanismus  ermög¬ 
licht,  durch  welchen  im  Laufe  langer  Zeiträume  die  Gattung  Mensch 
die  Gefahr  der  ihr  symbiotischen  belebten  Parasiten  überwindet  und 
sie  allmählich  aus  Kontagien  in  Wohnparasiten  verwandelt,  wie 
solche  für  uns  schon  jetzt  die  Eiterbakterien  und  Kolibazillen  sind 
und  wie  auch  die  Malariaplasmodien  nach  x4.  Plelin  bei  den  Negern 
vielfach  keine  andere  Bedeutung  haben. 

Das  Studium  der  Beziehungen  der  Seuchenkunde  zur  Literatur, 
Kunstgeschichte,  Politik  und  Psychologie  mag  Liebhabern  von 
Sonderstudien  Vorbehalten  bleiben;  von  allgemeiner  Wichtigkeit 
sind  aber  noch  die  Berührungspunkte  der  Epidemiologie  mit  der 
Kulturgeschichte.  Bringt  doch  z.  B.  Haeser,6)  um  nur  ein  Beispiel 
anzuführen,  die  erfolgreiche  Abschaffung  des  geistlichen  Cölibats 
mit  der  Syphilispandemie  zu  Ende  des  15.  Jahrhunderts  und  der 
durch  ihre  Verheerungen  hervorgerufenen  Erstarkung  der  sexuellen 
Moral  in  Verbindung. 


VI. 

Gewerbehygiene. 

Die  Gewerbehygiene  gehört  zum  Arbeitsgebiete  der  So¬ 
zialen  Hygiene,  denn  sie  behandelt  die  Gesundheit  von  Bevölke¬ 
rungsgruppen,  insoweit  sie  durch  deren  berufliche  Beschäftigung 
beeinflußt  wird.  Bisher  ist  die  Gewerbehygiene  stets  als  ein 
wichtiger  Abschnitt  der  Gesamthygiene  betrachtet  und  ihrer  Be¬ 
deutung  entsprechend  auch  sorgfältig  behandelt  worden.  In  großen 

b  Virchow's  Handbuch  der  speziellen  Pathologie  und  Therapie,  II.  2,  1864. 

2)  Handbuch  von  Niemeyer-Seitz,  1877,  Bd.  II,  S.  685. 

3)  Epidemiologie.  Jena,  Fischer,  1899. 

4)  Die  Rekurrensepidemie  in  Breslau.  Schottländer,  1879. 

5)  D.  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  12. 

6)  Haeser,  Bd.  III.  S.  315. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


123 


Lehrbüchern.  Avie  dem  von  Rubner,  finden  alle  ihre  Probleme 
eingehende  Besprechung;  die  Hauptbetriebe  werden  dem  Verständ¬ 
nis  des  Arztes  durch  ausführliche  Darstellung  und  zahlreiche  Ab¬ 
bildungen  näher  gerückt.  In  den  kleinen  Lehrbüchern  ist  für 
diesen  Abschnitt  freilich  nicht  stets  genügender  Raum;  immerhin 
ist  z.  B.  in  dem  Leitfaden  von  Gärtner  die  Darstellung  noch 
zureichend.  Überdies  wird  die  Gewerbehygiene  in  zahlreichen 
Monographien,  deren  Titel  sich  bei  Rubner  und  in  dem  „Ge- 
Averbearz t“  von  Sommerfeld1)  angegeben  finden,  abgehandelt. 
Unter  diesen  Werken  sei  besonders  das  kleine  „Kompendium  der 
GeAverbekrankheiten“  von  E.  Roth2 3)  hervorgehoben.  Auch  seitens 
der  Unterrichtsverwaltung  wird  der  Gewerbehygiene  eine  große 
Wichtigkeit  beigemessen;  denn  es  ist  an  einigen  Universitäten 
neuerdings  jüngeren  Dozenten  der  Hygiene  ein  besonderer  Lehrauf¬ 
trag  für  dieses  Gebiet  erteilt  worden  und  auch  an  den  technischen 
Hochschulen  werden  eigene  Vorlesungen  gehalten.  Die  Gewerbe¬ 
hygiene  ist  somit  bisher  das  einzige  Spezialgebiet,  das  offiziell  von 
der  Gesamthygiene  abgetrennt  worden  ist;  damit  ist  aber  im 
,  Prinzip  die  Teilbarkeit  der  Hygiene  zugestanden.  Die  Gewerbe¬ 
hygiene  verfügt  über  eine  Geschichte  Aron  mehr  als  zweihundert 
Jahren  und  schon  in  verhältnismäßig  früher  Zeit  sah  sich  die  Ge¬ 
setzgebung  veranlaßt,  Bestimmungen  zum  Schutz  der  Gesundheit 
der  Arbeiter  im  Betriebe  zu  erlassen,  nachdem  die  Beobachtung 
die  Gefährlichkeit  einiger  häufig  vorkommender  Gifte  und  Betriebs¬ 
weisen  nachgewiesen  hatte.  Eine  ausführliche  Darstellung  ihrer 
Geschichte  und  der  legislatorischen  Tätigkeit  gibt  H.  E ulen b erg 
in  der  Einleitung  zu  seinem  großen  Handbuch  der  Gewerbe¬ 
hygiene.  8)  In  den  drei  Jahrzehnten  seit  dem  Erscheinen  dieses 
Werkes  aber  ist  jener  industrielle  Aufschwung  eingetreten,  welcher 
zu  dem  Schlagwort  von  der  Umwandlung  des  Agrarstaates  in  den 
Industriestaat  geführt  hat;  zahlreiche  technische  Entdeckungen 
haben  ganz  neue  Betriebsweisen  erstehen  lassen,  welche  die  ge¬ 
sundheitlichen  Gefahren  vervielfältigt  haben.  Seitdem  sind  weiter 
die  Arbeiterschutz-  und  Versicherungsgesetze  eingeführt  worden, 
Avelche  die  finanzielle  Haftung  des  Arbeitgebers  von  Grund  aus 
verändert  und  sein  materielles  Interesse  an  der  Vorbeugung  ge¬ 
steigert  haben.  Schließlich  ist  auch  die  Aufgabe  des  Arztes  eine 


1)  Jena,  Fischer,  1905. 

2)  Berlin,  Schütz,  1904. 

3)  Berlin,  Hirschwald,  1S76. 


124 


Adolf  Gottstein, 


ganz  andere  geworden.  Als  Kassenarzt  bedarf  er  viel  eingehenderer 
Kenntnisse  der  gesundheitlichen  Gefahren,  die  in  der  Ätiologie  der 
von  ihm  beobachteten  Krankheitsfälle  von  Bedeutung  sind;  noch 
viel  mehr  ist  diese  Kenntnis  Voraussetzung  für  die  ihm  jetzt  zu¬ 
fällende  Tätigkeit  als  Gutachter;  überdies  eröffnet  sich  dem  Arzt 
in  nicht  zu  ferner  Zukunft  ein  neues  Feld  praktischer  Tätigkeit 
als  „Gewerbearzt“,  als  Gesundheitstechniker  für  den  industriellen 
Großbetrieb.  —  Die  Aufgaben,  welche  die  Gewerbehygiene  zu  be¬ 
handeln  hat,  sind  also  derart  angewachsen,  daß  dieser  Zweig  mit 
der  ihm  gebührenden  Aufmerksamkeit  innerhalb  des  Rahmens  der 
Gesamthygiene  auf  die  Dauer  kaum  mehr  wie  bisher  gepflegt 
werden  kann,  selbst  wenn  man  alles  nicht  unbedingt  Zugehörige 
ausscheidet.  Man  kann  dem  verdienten  Vertreter  der  Gewerbe¬ 
hygiene  in  München,  M.  Hahn,1)  darin  beistimmen,  daß  die  Un¬ 
fallverhütung  nicht  Sache  des  Hygienikers  sondern  des  Tech¬ 
nikers  ist,  da  nur  er  die  Ursache  der  Unfälle  festzustellen  ver¬ 
möge  und  nur  er  in  der  Lage  sei,  auch  die  richtige  Abhilfe  zu 
treffen.  Man  kann  auch  die  Behandlung  der  Unfälle  als 
Aufgabe  des  Chirurgen  und  nicht  als  die  des  Hygienikers  erklären 
und  damit  von  der  eigentlichen  Gewerbehygiene  ab  trennen.  Und 
auch  die  Gutachtertätigkeit  hat  mit  der  Hj^giene  nichts  zu  tum 
Aber  selbst  dann  bleibt  immer  noch  eine  eigene  große  Spezial¬ 
wissenschaft  übrig,  die  nicht  ohne  weiteres  in  den  Rahmen  der 
Gesamthygiene  hineinpaßt. 

Wenn  in  der  Einleitung  die  enge  Zugehörigkeit  der  Hygiene 
zur  Medizin  damit  begründet  wurde,  daß  der  stete  Maßstab  für 
die  Schlußfolgerungen  der  Gesundheitslehre  das  Eintreten  krank¬ 
hafter  Vorgänge  ist,  so  zeigt  sich  dieser  Zusammenhang  mit  der 
Medizin  am  schärfsten  bei  der  Gewerbehygiene.  Es  ist  daher  kein 
Zufall,  daß  an  dem  Ausbau  dieses  Zweiges  in  den  letzten  Jahren 
nicht  so  sehr  Hygieniker  beteiligt  sind  wie  die  Vertreter  der  ver¬ 
schiedensten  ärztlichen  Spezialitäten.  Um  nur  einige  Namen 
deutscher  Forscher  aus  den  letzten  Jahren  zu  nennen,  so  verdanken 
wir  die  Mehrung  unserer  Kenntnisse  Hygienikern  wie  K.  Lehmann 
und  M.  Hahn;  Pharmakologen  wie  L.  Lew  in;  Pathologen  wie 
Chiari;  Klinikern  wie  G.  Merkel,  Brauer,  M.  Ster nb erg; 
beamteten  Ärzten  wie  Grandhomme  und  vor  allem  E.  Roth; 
Statistikern  wie  Oldendorff,  dessen  ältere  Arbeiten  noch  heute 

x)  Der  gewerbehygienische  Unterricht  an  Universitäten  und  technischen 
Hochschulen.  Med.  Reform,  1906,  Nr.  29. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  ]  25 

belangreich  sind,  ferner  Prinzing  und  S.  Rosen feld;  Volkswirten 

wie  Francke,  H.  Alb  recht  und  E.  J.  Neißer;  Pädagogen  wie 

Agahd;  besonders  umfangreich  aber  waren  die  Forschungen  von 

Praktikern,  die  als  Fabrik-  und  Kassenärzte  ihre  Beiträge  lieferten, 

wie  Th.  Sommerfeld,  M.  Fürst,  Brat,  Teleky.  Auch  an 

dieser  Stelle  muß  wie  auf  so  vielen  Gebieten  der  Sozialen  Hygiene 

des  zu  früh  verstorbenen  Wolf  Becher  gedacht  werden,  dessen 

starkes  Talent  zur  Lösung  praktischer  Fragen  auch  in  Vorschlägen 

für  die  Organisation  der  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Gewerbe- 

•  • 

krankheiten  sich  betätigte.  Den  Arbeiten  der  genannten  Arzte 
gesellen  sicli  zahlreiche  Beiträge  aus  der  spezialärztlichen  Kasuistik 
hinzu,  zu  denen  z.  B.  Dermatologen  (Chlorakne,  Salzflechte,  Berufs¬ 
ekzeme  usw.),  Ophthalmologen  (elektrische  Blendungen),  Otologen 
(Schmiede,  Lokomotivführer).  Rhinologen  (Chrom),  Gynäkologen 
(Nähmaschinen),  Chirurgen  (Phosphornekrose),  Neurologen  (Blei) 
und  innere  Mediziner  (Caissonkrankheit) ,  zahlreichste  Beiträge 
geliefert  haben.  Dieser  enge  Zusammenhang  der  Gewerbehygiene 
mit  der  gesamten  Pathologie  kommt  auch  dadurch  zum  Ausdruck, 
daß  die  meisten  Speziallehrbücher  der  Gewerbehygiene,  wie  zum 
Teil  schon  aus  deren  Titel  hervorgeht,  im  wesentlichen  Lehrbücher 
der  Gewerbekrankheiten  sind.  Es  zeigt  sich  weiter  auch 
in  dem  Vorschlag  von  M.  Hahn  (1.  c.),  daß  der  Unterricht  in  der 
Gewerbehygiene  im  Anschluß  an  klinische  Demonstrationen  von 
Gewerbekrankheiten  stattfinden  solle. 

Der  Hauptabschnitt  der  Gewerbehygiene  ist  also  die  Lehre 
von  den  Gewerbekrankheiten.  Diese  Krankheiten  sind 
ätiologisch  unmittelbar  oder  mittelbar  mit  der  Art  der  Beschäf¬ 
tigung  verknüpft.  Eine  Reihe  von  Schädlichkeiten  sind  vielen  Be¬ 
trieben  gemeinsam,  oder  durch  die  Arbeit  im  Massenbetrieb 

überhaupt  hervorgerufen,  wie  Erkältungsgefahren,  Hitzewirkung. 
•  • 

Überanstrengungen  des  Herzmuskels,  Staubinhalationen.  Die 
größere  Zahl  der  Berufsgefahren  haftet  spezifisch  dem  betreffenden 
Betriebe  und  den  aus  ihr  erwachsenden,  chemischen,  physikalischen, 
gelegentlich  auch  mikroparasitären  Schädlichkeiten  (Hadernkrankheit, 
Milzbrand  der  Pinselarbeiter,  Wurmkrankheit)  an.  Zur  Ergründung 
des  ursächlichen  Zusammenhanges  ist  wenigstens  für  den  Forscher 
und  Lehrer  eine  Berücksichtigung  der  technischen  und  wirtschaft¬ 
lichen  Seiten  des  Betriebes  erforderlich.1)  Es  ist  darum  durchaus 


b  Lehrreiche  Beispiele  liefert  z.  B.  der  Aufsatz  von  Sternberg'.  Med. 
Eef.,  1906,  Nr.  49/50. 


126 


Adolf  Gottstein, 

richtig,  daß  die  meisten  Verfasser  von  Lehrbüchern  von  den  drei 
Einteilungsmöglichkeiten  des  Gebietes,  nach  Organen  des  Körpers, 
nach  Krankheitsformen  und  nach  technischen  Betrieben,  das  letztere 
System  bevorzugt  haben. 

An  das  Studium  der  Gewerbekrankheiten  schließt  sich  unmittel¬ 
bar  die  Lehre  von  deren  Verhütung  und  Bekämpfung  an.  Auch 
hier  ergibt  das  bisher  vorliegende  Tatsachenmaterial,  daß  eine 
erfolgreiche  Arbeit  nur  durch  die  Beobachtung  der  praktischen 
Betriebsverhältnisse  und  nur  ausnahmsweise  auch  noch  durch 
Heranziehung  der  Laboratoriumsergebnisse,  die  z.  B.  gelegentlich 
ein  wirksames  Neutralisierungsmittel  aufgenommener  Giftstoffe  an 
die  Hand  geben,  geleistet  werden  kann.  Zu  diesem  Abschnitt  ge¬ 
hört  die  Erörterung  der  Lebensgewohnheiten  der  beteiligten  Ar¬ 
beiterschichten  im  täglichen  Verkehr  mit  der  ihnen  drohenden 
Gefahr,  der  Kontrolle  der  staatlich  vorgeschriebenen  Schutzma߬ 
nahmen,  der  gesundheitlichen  Überwachung  und  der  Versorgung 
der  Erkrankten. 

Neben  der  Hauptaufgabe  des  Studiums  der  Gewerbekrank¬ 
heiten  zählen  aber  noch  eine  Anzahl  von  anderen  Fragen  zu  dem 
Gebiete  der  Gewerbehygiene,  die  hier  nur  kurz  aufgeführt  werden 
sollen.  Ein  Teil  von  ihnen  gehört  durchaus  ins  Arbeitsgebiet  der 
allgemeinen  Hygiene,  wie  die  Fragen  der  Beschaffenheit  des  Arbeits¬ 
raumes,  seiner  Beheizung,  Beleuchtung,  Ventilation,  die  Fragen  der 
Arbeitsdauer,  der  Frauen-  und  Kinderarbeit,  der  Erholungsfristen; 
auch  die  Behandlung  der  Wohlfahrtseinrichtungen  in  weitestem 
Sinne  rechnet  hierzu.  Eine  andere,  in  der  Neuzeit  viel  besprochene 
Frage  ist  die  Feststellung  der  Grundsätze  für  die  Prüfung  der 
Neueintretenden  auf  ihre  Eignung  zu  dem  von  ihnen  erwählten 
Berufe,  namentlich  auch  im  Verhalten  der  Sinnesorgane  und  der 
Lungen.  Ferner  gehört  es  noch  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  der 
Gewerbehygiene,  die  Rückwirkung  des  industriellen  Betriebes  auf 
die  Umgebung  zu  würdigen,  und  die  Grenzen  des  erforderlichen 
Schutzes  der  Gesamtheit  gegen  gesundheitliche  Bedrohung  festzu¬ 
stellen.  Hierher  zählt  die  Belästigung  der  Umgebung  durch  Staub, 
Rauch,  Gerüche  und  die  große,  gesundheitlich  und  wirtschaftlich 
gleich  wichtige  Frage  der  Fluß  Verunreinigung  durch  industrielle 
Abwässer. 

Schließlich  kommt  noch  ein  Problem  in  Betracht,  welches  ein 
Grenzgebiet  der  Volkswirtschaft  berührt,  aber  doch  noch  seinen 
hygienischen  Charakter  bewahrt,  nämlich  die  Beeinflussung  der 
Gesundheit  des  ganzen  Volkes  durch  die  Zunahme  der  Industrie. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden.  Aufgaben  und  Ziele. 


127 


Diese  überwiegend  politische  und  mit  Zuhilfenahme  der  Statistik 
zu  behandelnde  Frage  erstreckt  sich  nicht  nur  auf  das  gesund¬ 
heitliche  Verhalten  der  beteiligten  Bevölkerung,  sondern  auch  ihres 
Nachwuchses.  Schon  jetzt  liegen  eine  Reihe  von  Arbeiten  vor, 
welche  namentlich  den  Gesichtspunkt  der  Wehrfähigkeit  und  ihrer 
Beeinflussung  durch  die  Zunahme  der  Industrie  behandeln.  Diese 
Arbeiten  sind  ausführlich  in  Prinzings  Handbuch  der  medizinischen 
Statistik  im  Abschnitt  über  Militärtauglichkeit  kritisch  besprochen, 
und  nur  die  neuere  wichtige  Arbeit  von  Abelsdorff,1)  auf  die 
hier  ausdrücklich  verwiesen  werden  soll,  wird  von  Prinzing 
noch  nicht  erwähnt. 

Das  Gebiet  der  Gewerbehygiene  ist  in  der  letzten  Zeit  so 
angewachsen,  daß  man  schon  jetzt  für  nötig  gefunden  hat,  es  von 
der  Gesamthygiene  als  Gegenstand  eines  besonderen  Lehrauftrages 
abzutrennen.  Es  berührt  sich  in  seinem  Hauptabschnitt  der  Berufs¬ 
krankheiten  mit  soviel  Spezialzweigen  der  praktischen  Medizin, 
daß  es  keinem  dieser  Zweige  zufallen  darf)  sondern  die  gesonderte 
Sammlung  des  beigebrachten  Tatsachenmaterials  durch  eigene 
Kräfte  verlangt.  Es  beansprucht  im  übrigen  so  sehr  die  Heran¬ 
ziehung  von  Erfahrungen  der  Volkswirtschaft,  daß  seine  Angliederung 
an  die  Soziale  Hygiene  eine  natürliche  Forderung  ist.  Da  aber 
die  Gewerbehygiene  als  Gegenstand  des  Unterrichts 
„Etwas  v  o  n  der  hygienischen  Wissenschaft  Abtrenn¬ 
bares“  geworden  i  s  t ,  s  o  kann  auch  unserer  w  e  i  t  er¬ 
geh  e n d e n  Forderung  der  Abtrennung  jener  Gesamt- 
disziplin,  von  der  die  Gewerbe hygie ne  nur  einen 
Teil  bildet,  kaum  noch  länger  ein  begründeter  Wider¬ 
stand  entgegengebracht  werden. 


VII. 

Weitere  Aufgaben  der  Sozialen  Hygiene. 

Da  es  zum  angebotenen  Beweise  von  der  Selbständigkeit  der 
Sozialen  Hygiene  nach  den  bisherigen  Auseinandersetzungen  wohl 
kaum  noch  weiterer  Tatsachen  bedarf,  so  sollen  hier  einige  andere 
größere  Abschnitte  dieser  Sonderwissenschaft,  deren  Erwähnung 
nicht  unterlassen  werden  darf,  nur  ganz  kurz  angedeutet  werden. 


J)  Die  Wehrfähigkeit  zweier  Generationen  mit  Rücksicht  auf  Herkunft  und 
Beruf.  Berlin,  Reimer,  1905.  • 


128 


Adolf  Gottstein, 


Von  den  Aufgaben,  welche  die  medizinische  Statistik  zu  leisten  hat, 
sind  wenige  in  der  Gegenwart  wichtiger,  als  die  Schaffung  einer 
Morbiditätsstatistik.  Was  hier  an  Ergebnissen  vorliegt, 
findet  sich  sorgfältig  in  den  oft  angeführten  Werken  von  Wester- 
gaard  und  Pr  in  z  in  g  aufgezählt;  aber  die  Sichtung  des  großen 
deutschen  und  außerdeutschen  Materials  legt  nur  die  großen  Lücken, 
die  noch  bestehen,  bloß.  In  nicht  zu  ferner  Zukunft  haben  wir 
von  der  Untersuchung,  die  auf  Kosten  des  Reiches  an  dem  Material 
der  großen  Leipziger  Ortskrankenkasse  angestellt  wird,  eine  große 
Förderung  unseres  Wissens  zu  erwarten.  Doch  wird  hier  nicht 
eher  ein  grundsätzlicher  Fortschritt  erreicht  werden,  ehe  man  sich 
nicht  ganz  scharf  über  das  System  geeinigt  hat,  welches  den 
Betrachtungen  über  die  Morbidität  zugrunde  gelegt  werden  soll. 
An  sich  hängt  die  Wahl  eines  Systems  ganz  von  den  Zielen  ab, 
denen  man  nachgeht  und  jedes  System  kann  ein  natürliches  sein, 
wenn  es  dem  beabsichtigten  Zwecke  gut  angepaßt  ist.  Der  Gro߬ 
händler  mit  ausländischen  Waren  wird  die  Pflanzenwelt  in  ein 
ganz  anderes  System  bringen  als  der  Botaniker,  und  doch  sind 
beide  für  ihren  Wirkungskreis  im  Recht.  Bei  der  Aufstellung  eines 
Systems  der  Morbiditätsstatistik  kann  man  sich  immer  noch  nicht 
entschließen,  von  derjenigen  Systematik  abzugehen,  die  für  die 
Todesursachen  sich  bewährt  hat.  Solange  man  aber  mit  diesem 
Prinzip  nicht  von  Grund  auf  bricht,  schwindet  die  Aussicht  auf 
praktische  Ergebnisse.  Das  medizinische  System  der  Todesursachen¬ 
statistik,  deren  folgerichtige  Grundlage  eine  Mischung  ätiologischer, 
klinischer  und  anatomischer  Gesichtspunkte  ist,  verträgt  aus  Gründen, 
die  ich  in  zwei  Aufsätzen  der  Medizinischen  Reform1)  auseinander¬ 
gesetzt  habe,  nicht  die  Uebertragung  auf  die  Krankheiten.  Die 
Krankheit  ist  ein  durchaus  subjektiver  Begriff  und  kommt  nur 
dann  zur  Kenntnis,  wenn  der  Betroffene  sich  beim  Arzte  meldet. 
Dazu  sieht  sich  der  Neurastheniker  bei  jeder  Kleinigkeit  veranlaßt, 
mancher  Phthisiker  und  Nephritiker  kaum  kurz  vor  dem  Tode, 
und  einige  Krankheiten  von  größter  Lebensbedrohung,  wie  z.  B. 
Arterien-Erkrankungen  (Aneurysmen)  und  Psychosen  (Selbstmord), 
kommen  oft  überhaupt  erst  durch  den  Eintritt  des  Todes  zur 
Kenntnis.  Die  meisten  Krankheiten  sind  nur  für  das  Individuum 
von  Belang:  von  allgemeiner  Bedeutung  werden  sie  erst,  wenn  sie 

b  Medizin.  Ref.,  1904,  Nr.  19  und  1905,  Nr.  6.  Im  neueingeführten  amt¬ 
lichen  Schema  fehlen  z.  B.  Taubstummheit,  Farbenblindheit  und  Verstümmelungen, 
die  kein  individuell  therapeutisches  Interesse,  dagegen  hervorragende  sozial¬ 
medizinische  Bedeutung  besitzen. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  129 

durch  ihre  Ansteckungsfähigkeit  eine  allgemeine  Gefahr  bilden, 
oder  durch  ihre  Dauer  oder  ihren  Ausgang  in  Tod  oder 
Arbeitsunfähigkeit  einen  Aufwand  aus  allgemeinen  Mitteln  bean¬ 
spruchen;  oder  endlich,  wenn  ein  Zusammenhang  zwischen  ihrer 
Entstehung  und  vermeidbaren  Berufsgefahren  besteht.  Nur  diese 
drei  Gesichtspunkte  interessieren  die  Allgemeinheit  und  mit  ihr 
die  Soziale  Hy giene ;  die  meisten  anatomischen  und  pathogenetischen 
Gesichtspunkte  haben  nur  Interesse  für  den  behandelnden  Arzt, 
Eine  Morbiditätsstatistik,  welche  sozialhygienische  Interessen  ver¬ 
folgt,  muß  also  ein  System  zugrunde  legen,  welches  die  oben  ge¬ 
nannten  Gesichtspunkte  berücksichtigt.  Wie  leicht  das  bisher 
geltende  nosologische  System  diesen  Anforderungen  angepaßt  werden 
kann,  habe  ich  1.  c.  angeführt. 

Eine  weitere  Aufgabe  der  Sozialen  Hygiene  ist  das  Studium 
der  gesundheitlichen  Wechselverhältnisse  von  Stadt  und  Land. 

Dieses  Gebiet  ist  in  den  letzten  Jahren  vielfach  eingehend  be¬ 
handelt  worden,  bedarf  aber  noch  weiterer  Vertiefung.  Von 
größeren  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  seien  abgesehen  von  dem 
schon  zitierten  Aufsätze  von  Rubner  die  folgenden  Werke  her¬ 
vorgehoben,  weil  sie  teils  methodische  Beiträge,  teils  ausführliche 
Literaturangaben  bringen:  F.  Weleminsky,  über  Aklimati- 
sation  in  Großstädten  *) ;  R.  T  h  u  r  n  w  a  1  d  Stadt  und  Land  im  Lebens¬ 
prozeß  der  Rasse2);  L.  Bauer,  Der  Zug  nach  der  Stadt  und  die 
Stadterweiterung3);  ferner  die  statistischen  Untersuchungen  von 
B  a  1 1  o  d  und  Bleicher.4) 

An  diesen  großen  hier  nur  erwähnten  Abschnitt  schließt  sich  un¬ 
mittelbar  die  in  stetem  Fortschritt  begriffene  K  o  m  m  u  n  al  li  y  g  i  e  n  e 
an.  Gerade  die  Städtehygiene  ist  geschichtlich  wie  inhaltlich  auf 
das  engste  mit  der  Gesamthygiene  verknüpft.  Die  gesundheitliche 
Not  der  Städter  veranlaßte  deren  Behörden  von  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  an,  auf  rein  empirischer  Grundlage  jene  Ma߬ 
nahmen  der  Bodenreinigung  und  Wasserversorgung  zu  schaffen, 
deren  Erfolge  der  etwas  später  erstehenden  Gesundheitsforschung 
starken  Rückhalt  gaben. 

Umgekehrt  kommen  gerade  die  Ergebnisse  der  biologisch- 
experimentellen  Hygiene  den  zahlreichen  sanitären  Einrichtungen, 
welche  der  Gemein  sinn  der  Städte  schuf,  zugute  und  wenn  man 

x)  Arch.  f.  Hygiene,  Bel.  36. 

2)  Arch.  f.  Bassen-  u.  Gesellschaftsbiologie,  Bel.  I. 

;!)  Stuttgart,  Kohlhammer,  1904. 

4)  Literatur  hei  Prinzing,  S.  452. 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  9 


130 


Adolf  Gottstein. 


die  wissenschaftlichen  Grundlagen  aufführt,  auf  denen  die  private 
Wohnungshygiene  wie  die  öffentlichen  Werke  der  Städte  beruhen, 
so  muß  man  immer  wieder  auf  jenen  großen  Abschnitt  der  Hygiene 
zurückgreifen,  deren  Ausbau  wir  namentlich  der  P  e  1 1  e  n  k  o  f  e  r  sehen 
und  Rubn  ersehen  Schule  verdanken.  Hier  haben  jahrzehntelange 
Wechselbeziehungen  erfolgreicher  Arbeit  eine  Interessengemeinschaft 
geschaffen,  die  so  eng  ist,  daß  die  Soziale  Hygiene  keinen  An¬ 
spruch  hat  auf  Mitwirkung  an  dem,  was  bis  heute  auf  diesem 
Gebiete  geleistet  worden  ist.  Hier  stehen  wir  vor  einem  fertigen 
Werke,  bei  dessen  Erweiterung  in  Einzelpunkten  die  biologische 
Hygiene  keiner  Hilfe  bedarf.  Das  Arbeitsfeld  der  Sozialen  Hy¬ 
giene  beginnt  erst  da,  wo  die  Leitungen  der  Städte  ihre  Aufgaben 
zur  Fürsorge  der  Gesundheit  der  Einwohner  mit  modernem  Em¬ 
pfinden  über  das  Mindestmaß  der  Pflicht  hinaus  erweiterten  durch 
die  Durchführung  der  Idee,  daß  auch  in  der  Armenpflege  die  Vor¬ 
beugung  organisiert  werden  müsse.  Diesem  Ziele  dienen  die  zahl¬ 
reichen  gemeindlichen  sozialhygienischen  Einrichtungen ,  deren 
früher  gedacht  worden  ist. 

Auf  den  Ergebnissen  der  Gesundheitswissenschaft  hat 
sich  aber  in  den  großen  Gemeinden  eine  systematische  Gesund¬ 
heitswirt  Schaft  aufgebaut,  die  so  umfangreich  und  wichtig 
geworden  ist,  daß  deren  Organisation  insgesamt  und  in 
den  einzelnen  Abschnitten  eines  gesonderten  Studiums  bedarf. 
Die  Ansprüche  an  die  Versorgung  der  beteiligten  Bevölkerungs¬ 
schichten  ändern  sich  mit  der  Größe  der  Gemeinden,  mit  ihrer 
sozialen  Zusammensetzung,  mit  ihrer  wirtschaftlichen  Lage,  sowie 
mit  der  beruflichen  Gliederung  ihrer  Einwohner.  Auch  hier  wieder 
häuft  sich  eine  Fülle  von  Fragen,  deren  wissenschaftliche  Behand¬ 
lung  eine  dringende  Forderung  an  die  Gesundheitsforschung  ist, 
deren  Erörterung  aber  im  Rahmen  der  Gesamtwissenschaft  nicht  über 
den  genügenden  Spielraum  verfügt. 

Auch  der  neu  erstehende  Sonderzweig  der  V ersieh e run gs - 
medizin,  dessen  Pflege  die  gleichnamige  Sektion  des  deutschen 
Vereins  für  Versicherungswissenschaft  dient,  berührt  das  Arbeits¬ 
gebiet  der  Sozialen  Hygiene.  Die  Veröffentlichungen  des  jüngst 
in  Berlin  abgehaltenen  IV.  internationalen  Kongresses  für  Ver¬ 
sicherungsmedizin  geben  ein  Bild  von  der  Reichhaltigkeit  der  hier 
vorliegenden  Probleme.  Ein  großer  Teil  der  zur  Erörterung  ge¬ 
kommenen  Fragen  scheidet  aus,  soweit  es  sich  um  Krankheits¬ 
vorgänge  und  ihre  Beurteilung  handelt,  da  diese  zur  Sozialen 
Medizin  gehören.  Das  Material  der  Lebensversicherungsgesell- 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


131 


schäften  aber  ist  eine  wertvolle  Fundgrube  für  die  prinzipielle  Er¬ 
örterung  wichtiger  hygienischer  Probleme;  darauf  hat  schon  vor 
Jahren  P.  Börner  hingewiesen,  das  beweisen  neuerdings  zahl¬ 
reiche  Arbeiten,  wie  diejenigen  von  W.  Weinberg  und  Anderen. 

•  • 

vor  allem  die  Untersuchungen  der  Arzte  der  Gothaer  Lebens¬ 
versicherungsbank  Flor  schütz  und  Gollmer. x)  Wir  erhalten 
hier  genauen  Aufschluß  über  die  Mortalitätsverhältnisse  der  Lehrer, 
Arzte,  Geistlichen  usw.  und  die  Gründe  der  Unterschiede,  über 
die  Bedeutung  der  Syphilis  und  des  Alkohols  als  Ursache  der  Lebens¬ 
verkürzung  usw. 

Auch  die  prinzipiell  und  praktisch  wichtige  Frage  der  De¬ 
generation  und  Regeneration  soll  hier  nur  erwähnt  werden. 
Sie  ist  neuerdings  ausführlich  von  A.  Grotj ahn*  2)  monographisch 
dargestellt  worden  und  auch  Prinz ing  hat  sie  in  seinem  Hand¬ 
buch  der  medizinischen  Statistik  in  einem  eigenen  Abschnitte 
kritisch  behandelt.  Ganz  überflüssigerweise  ist  diese  bedeutungs¬ 
volle  Frage  mit  leidenschaftlichen  Erörterungen  überden  Nutzen  oder 
Nachteil  hygienischer  Maßnahmen  verquickt  worden ;  wie  nüchtern 
dieses  Problem  behandelt  werden  kann,  beweisen  die  schon  ange¬ 
führten  englischen  Verhandlungen. 3) 

Auch  ein  letztes  Kapitel  der  „Sozialen  Hygiene“,  eines  der 
allerwichtigsten,  kann  hier  nur  ganz  kurz  angedeutet  werden,  die 
Hygiene  der  Fortpflanzung.  An  sich  wäre  es  der  er¬ 
wünschtere  Zustand,  wenn  gerade  dieses  Gebiet  lediglich  der  all¬ 
gemeinen  Hygiene  Vorbehalten  bleiben  könnte.  Es  muß  hier  ge¬ 
radezu  als  eine  bedauerliche  Tatsache  gelten,  wenn  tausende  laute 
Stimmen,  berufen  und  nicht  berufen,  Abhilfe  gegen  die  Störungen 
der  normalen  Voraussetzungen  durch  soziale  Einrichtungen  fordern. 
Es  ist  ein  unhygienischer  Zustand,  wenn  die  gesellschaftliche  Ent¬ 
wicklung  es  erschwert,  daß  der  normale  Geschlechtstrieb  lediglich 
in  den  Dienst  der  Erzeugung  einer  gesunden,  legitimen  Nach¬ 
kommenschaft  gestellt  wird;  wenn  unsere  männliche  Jugend,  an 
der  rechtzeitigen  Eheschließung  durch  ihre  wirtschaftliche  Lage 
gehindert,  Gefahr  läuft,  entweder  durch  den  Verkehr  mit  der 
Prostitution  die  eigene  Gesundheit,  die  ihrer  späteren  Gattin  und 
des  Nachwuchses  zu  gefährden,  oder  wenn  sie  einen  Nachwuchs 

*)  Kamp,  Gollmer  u.  Flor  schütz,  Aus  der  Praxis  der  Gothaer  Lebens¬ 
versicherungsbank.  Jena,  Fischer,  1902.  Vgl.  auch  mein  Referat  in  Ztschr.  f. 
Soz.  Med.,  I,  S.  260. 

2)  Soziale  Hygiene  und  Entartungsproblem.  Jena,  Fischer,  1904. 

3)  Fe  hl  ing  er,  Politischanthropol.  Revue,  V,  3. 


9* 


132 


Adolf  Gottsteii). 


unehelicher  Kinder  unter  ungünstigen  Bedingungen  des  späteren 
Fortkommens  erzeugt.  Die  Gegenseite  ist  das  sterile  Hinwelken 
zahlreicher  zur  Fortpflanzung  gut  geeigneter  Mädchen  aus  wirt¬ 
schaftlicher  Not  und  die  Gatten  wähl  nach  den  Gesichtspunkten 
eigenen  materiellen  Vorteiles  ohne  Rücksicht  auf  die  Voraus¬ 
setzungen  für  das  Gedeihen  des  Nachwuchses.  Die  Soziale  Hygiene 
darf  an  solchen  Zuständen  nicht  achtlos  vorübergehen,  aber  als 
Wissenschaft  hat  sie  nur  nach  Zahl  und  Maß  zu  schließen,  unbe¬ 
rührt  von  der  Agitation  des  Tages,  welche  mit  Leidenschaft  und 
Feuer  Resolutionen  beschließt  und  dabei  die  quantitative  Bewertung 
durch  den  Vergleich  unterläßt.  Daß  die  Geschlechtskrankheiten 
als  Volksseuchen  heute  sorgfältiger  beachtet  werden,  ist 
freudig  zu  begrüßen;  ob  sie  heute  häufiger  sind  als  früher,  ist 
mindestens  zweifelhaft.  Für  die  enorme  Verbreitung  dieser  Leiden 
unter  der  männlichen  Jugend  der  großstädtischen  Bevölkerung 
werden  gewöhnlich  die  Zahlen  von  Blase h ko  angeführt,  gegen 
deren  Zutreffen  ich  schon  1897  in  meiner  „Allgemeinen  Epidemio¬ 
logie“  und,  soweit  die  Gonorrhoe  in  Betracht  kommt,  jüngst  Erb1) 
Bedenken  erhoben  haben.  Jedenfalls  war  es  in  den  Städten  vor 
hundert  Jahren  nicht  besser,  denn  die  „schöne  Seele“  in  Goethes 
Wilhelm  Meister  wußte  schon,  „daß  mit  den  meisten  dieser 
leidigen  Burschen  nicht  allein  die  Tugend,  sondern  auch  die  Ge¬ 
sundheit  eines  Mädchens  in  Gefahr  sei,“  und  in  meinem  Aufsatz 
über  „Berlins  hygienische  Zustände  vor  hundert  Jahren“  2)  findet 
sich  ein  Zitat,  nach  dem  schon  damals  die  Zahl  der  infizierten 
jungen  Leute  auf  95°/0  geschätzt  wurde.  Was  ferner  die  Gefahr 
der  erblichen  Übertragung  der  Syphilis  betrifft,  so  fehlen  uns  über¬ 
haupt  noch  sichere  Zahlen  als  Unterlagen;  Spezialkliniken,  welche 
nur  von  den  positiven  Fällen  Kenntnis  erhalten  oder  nur  sozial 
tiefstehende  Bevölkerungsschichten  aufnehmen ,  erhalten  kein 
richtiges  Bild;  nur  Sammelforschungen  von  Hausärzten  könnten 
Aufschluß  geben;  nach  meinen  persönlichen  Erfahrungen  in  25 jäh¬ 
riger  hausärztlicher  Praxis  bleibt  der  größere  Teil  des  Nachwuchses 
von  Vätern,  deren  Syphilis  gründlich  geheilt  war,  von  der  erb¬ 
lichen  Übertragung  der  Krankheit  verschont.  Aber  selbst  wenn 
sich  heraussteilen  sollte,  daß  im  guten  Kampfe  die  Agitatoren  die 
Zahlen  gegenüber  der  Wirklichkeit  irrtümlich  um  das  Doppelte 
zu  hoch  geschätzt  hätten,  so  ist  darum  das  Übel  noch  immer  groß 
und  ernst  genug. 


L)  Münch,  med.  AVoch.,  1906,  Nr.  48. 
2)  J).  med.  AVoch.,  1906,  Nr.  22. 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele. 


133 


Auch  gegen  die  übrigen  sozialen  Hindernisse  eines  erwünschten 
Zustandes  der  sexuellen  Hygiene  setzt  in  der  Gegenwart  eine 
eifrige  Propaganda  aus  ganz  verschiedenartigen  Beweggründen  ein, 
von  denen  die  Soziale  Hygiene  besonders  die  Vorschläge  zur  ge¬ 
sundheitlichen  Überwachung  der  Eheschließung,  eventuell  durch 
gesetzliche  Zwangsmaßregeln  interessieren.  In  wissenschaftlicher 
Form  werden  diese  Fragen  z.  B.  von  A.  Plötz  in  seinem  Werke 
„Die  Tüchtigkeit  unserer  Rasse  und  der  Schutz  der  Schwachen“  J), 
von  G  a  1 1  o  n*  2)  und  von  R.  Koßma n n  in  seinem  lesenswerten 
Werke  über  „Züchtungspolitik 3)  ausführlich  behandelt.  Unserer 
Zeit  erscheint  gerade  auf  diesem  Gebiete  der  Zwang  wenig  an¬ 
nehmbar;  aber  oft  genug  hat  eine  mächtige  geistige  Bewegung 
die  Auffassung  der  Bevölkerung  derart  umgewandelt,  daß  die 
nächste  Generation  als  selbstverständliche  Pflicht,  als  unerläßliche 
moralische  Forderung  diejenigen  Einschränkungen  sich  freiwillig 
auferlegte,  welche  ihre  Vorfahren  nur  auf  dem  wenig  sympa¬ 
thischen  Weg  des  gesetzlichen  oder  polizeilichen  Zwanges  durch¬ 
setzen  zu  können  glaubten. 


Schluß. 

In  den  abgehandelten  Abschnitten  ist  ein  großes  Material  bei- 
gebracht  worden  zur  „Propaganda  für  das  Ziel  der  Schaffung  einer 
neuen  Disziplin“.  Da  für  eine  solche  Aufgabe  die  Subjektivität 
der  Darstellung  durchaus  zulässig  war,  sind  die  einzelnen  Ab¬ 
schnitte  inhaltlich  ungleichmäßig  behandelt  worden,  was  nicht  an¬ 
gängig  gewesen  wäre,  wenn  die  Absicht  bestanden  hätte,  einen 
„Grundriß  der  Sozialen  Üygiene“  zu  verfassen.  Dazu  ist  es  aber 
noch  zu  früh.  Nur  einige  wenige  Abschnitte,  nämlich  gerade  die 
liier  ausführlicher  dargestellten,  zeigen  schon  heute  Abrundung; 
bei  den  übrigen  handelt  es  sich  vielfach  um  Probleme  und  Auf¬ 
gaben,  um  „Bebauungspläne“,  über  deren  Form  allerdings  schon 
Klarheit  herrscht.  Wir  verlangen  darum  heute  noch  nicht  die 
Aufnahme  in  die  bestehende  Organisation  des  Unterrichtes,  sondern 
begnügen  uns  mit  dem  Nachweise,  daß  die  Ziele,  die  wir  uns  ge¬ 
steckt,  aus  eigenem  Streben  heraus,  ohne  die  Gunst  und  Förderung 


J)  S.  Fischer,  Berlin  1895. 

2)  Entwürfe  zu  einer  Fortpflanzungshygiene  (Eugenik).  Arch.  f.  Kassen-  u. 
Gesellschaftsbiologie,  II,  5  u.  6,  1905. 

;!)  Verlag  Renaissance,  Lehmann,  1905. 


134 


Adolf  Gottstein, 


der  offiziellen  Kreise,  der  Arbeit  wert  sind.  Haben  wir  heute  noch 
um  die  Anerkennung  zu  ringen,  so  wird  sie  uns  eine  sehr  nahe 
Zukunft  freiwillig  entgegenbringen.  Wenn  die  soziall^gienische 
Forschung  weiter  streng  an  den  Grundsätzen  der  naturwissen¬ 
schaftlichen  Methodik  festhält,  wenn  sie  unbeeinflußt  von  politischen 
Parteiprogrammen  oder  leidenschaftlich  erörterten  Tagesproblemen, 
aber  auch  nicht  abgelenkt  durch  den  Glanz  medizinischer  Mode- 
strömungen  den  Zusammenhang  der  Vorgänge  nach  Zahl  und  Maß 
prüft,  so  ist  ihr  Ausbau  nichts  als  eine  Pflicht  des  ärztlichen 
Standes  gegen  die  Gesellschaft,  die  von  ihm  eine  Beschäftigung  mit 
ihren  Lebensfragen  dringend  verlangt.  Die  Auffassung  der  heutigen 
Gesellschaft  vom  Werte  des  Lebens  steht  im  stärksten  Gegensätze 
zu  derjenigen  früherer  Zeitabschnitte.  Wir  bewerten  das  irdische 
Dasein  höher  als  unsere  Vorgänger,  lediglich  weil  es  jetzt  der 
Mühe  Wert  ist.  Wir  sind  weniger  bedroht  von  unvermeidlichen  Ge¬ 
fahren,  die  uns  fatalistisch  machen,  denn  die  plötzlichen  Todes¬ 
bedrohungen  durch  politische  Wirren,  Gewalttaten,  Seuchen,  Natur¬ 
ereignisse  haben  erheblich  abgenommen  und  brauchen  nicht  besonders 
gefürchtet  zu  werden.  Es  lohnt  jetzt,  das  Leben  wohnlich  zu  ge¬ 
stalten  und  auf  seine  Erhaltung  und  Verlängerung  Wert  zu  legen. 
In  den  Kreisen  unserer  modernen  Zivilisation  ist  darum  der  Hy¬ 
gieniker  im  Begriff,  diejenige  Stellung  im  Volksempfinden  einzu¬ 
nehmen,  welche  vor  ihm  der  Priester  besaß.  Man  erkennt  diesen 
Zusammenhang  der  Entwicklung  leicht  durch  den  Vergleich  mit 
dem  seelischen  Verhalten  solcher  Bevölkerungsgruppen,  die  noch 
heute  stündlich  Gefahr  laufen,  den  Naturgewalten  zu  erliegen. 
So  stellt  der  Alpenbewohner  sein  ganzes,  nicht  geringes  Emp¬ 
finden  für  Schönheit  und  höhere  Güter  *  in  den  Dienst  des  Todes¬ 
kultus;  sein  Leben  ist  stetig  zu  sehr  bedroht,  als  daß  es  großen 
Wert  hätte,  viel  Kraft  auf  dessen  erträgliche  Ausgestaltung  zu 
verschwenden  und  sein  treuester  Berater  und  Freund  ist  nicht  der 
Arzt,  sondern  der  Priester. 

Ein  zweiter  Grund  der  höheren  Einschätzung  des  Einzellebens 
ist  wichtiger,  denn  von  einer  möglichst  großen  Zahl  wettbewerbs¬ 
fähiger  Einzelindividuen  hängt  im  Kampfe  der  Völker  das  Schick¬ 
sal  der  einzelnen  Nationen  ab.  Nicht  „Humanitätsdusel“  oder  das 
berühmte  „soziale  Empfinden“,  sondern  nüchterne  Rechnung  ver¬ 
anlaßt  die  sorgsamere  Wartung  des  spärlicher  werdenden  Nach¬ 
wuchses  und  den  Schutz  der  Lebenden  vor  verfrühter  Abnutzung, 
um  über  genügend  zahlreiche  und  kräftige  Hände  im  friedlichen, 
wie  im  kriegerischen  Wettbewerb  in  Gegenwart  und  Zukunft  zu 


Die  Soziale  Hygiene,  ihre  Methoden,  Aufgaben  und  Ziele.  135 

gebieten.  Auf  der  Pariser  Weltausstellung  von  1900  stand  im  un¬ 
mittelbaren  Schatten  eines  riesigen  Creuzot’schen  Schilfsgeschützes 
ein  zierlicher  Pavillon,  der  eine  Couveuseneinrichtung  zur  Erhaltung 
schwach  geborener  Säuglinge  barg.  Diese  unbeabsichtigte  Zu¬ 
sammenstellung  gibt  ein  bezeichnendes  Bild  der  einander  wider¬ 
sprechenden  und  doch  zusammengehörenden  Bestrebungen  unserer 
Zeit  zur  Erhaltung  der  Gesellschaft. 

Bei  der  heutigen  Auffassung  vom  wirtschaftlichen  Werte 
des  gesunden  Einzellebens  für  die  höhere  Einheit  der  Gesellschaft 
ist  der  Arzt  nicht  mehr  nur  ein  Linderer  der  Leiden  des  Indivi¬ 
duums  sondern  einer  der  wichtigsten  Berater  der  Gesellschaft  in 
ihrem  Ringen  nach  Fortschritt  und  Kultur.  Die  Wissenschaft  hat 
für  diese  Aufgabe  dem  Arzte  das  Rüstzeug  bereit  zu  stellen,  sie 
hat  die  Methoden  auszubilden,  deren  Ergebnisse  es  ihm  ermög¬ 
lichen,  seinen  Wirkungskreis  zu  erweitern.  Ihre  Ziele  erstrecken 
sich  hierbei  nach  zwei  Richtungen.  Sie  hat  nicht  bloß  wie  die 
öffentliche  Gesundheitspflege  die  Pflichten  und  Lasten  zu  be¬ 
stimmen,  die  der  Einzelne  im  Interesse  des  Fortschrittes  der  Ge¬ 
samtheit  auf  sich  zu  nehmen  hat,  sie  hat  weiter  auch  die  Rechte 
des  Einzelnen,  der  als  Teil  der  Gesellschaft  Gefahr  läuft,  von  ihr 
unterdrückt  zu  werden,  zu  sichern  und  so  viel  als  möglich  zu  er¬ 
höhen.  Es  ist  ihre  besondere  und  dankbarste  Aufgabe,  die  Grenzen 
festzustellen,  die  nirgends  überschritten  werden  dürfen,  wenn  nicht 
der  Bewegungs-  und  Entwicklungsfreiheit  des  Einzelnen  inner¬ 
halb  der  weiterschreitenden  Reihen  ein  für  ihn  selbst  unerträg¬ 
licher  und  für  die  Gesamtheit  nicht  förderlicher  Zwang  auf  erlegt 
werden  soll. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 

Von  Dr.  med.  L.  Eisensdadt,  Berlin. 

Unter  allen  Problemen,  welche  die  Neugestaltung  der  Arbeiter- 
Versicherung  aufrollt,  ist  das  obige  sicher  das  schwierigste  und 
trotz  seiner  Bedeutung  am  wenigsten  wissenschaftlich  durchforscht, 
ja  auffallend  wenig  beachtet.  Erschöpfend  es  zu  behandeln  liegt 
nicht  im  Bereiche  einer  Studie,  auch  nicht  eines  Beurteilers; 
handelt  es  sich  doch  um  neu  zu  schaffende  Einrichtungen,  neue 
Betriebs-  und  Organisationsformen.  Aber  vielleicht  genügen  die 
folgenden  Erwägungen,  um  die  hierhergehörigen  Interessengruppen 
zu  veranlassen,  mehr  als  bisher  Wünsche  und  Forderungen  zu 
äußern. 

Der  Begriff  „Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung“  ist  zu¬ 
nächst  zu  definieren.  Während  die  privaten  Lebens-,  Unfall- 
und  Invalidenversicherungen  ihre  Geschäfte  ausschließlich  mit  Be¬ 
amten  führen,  reichen  solche  für  die  soziale  Versicherung  nicht 
aus.  Die  Städte  als  Schöpfer  von  Volksbädern*  Wasserleitungen 
und  zahllosen  anderen  hygienischen  Einrichtungen,  die  privaten 
Vereine  als  Begründer  einer  Fürsorge  für  Verletzte  und  deren  Fa¬ 
milien,  als  Begründer  von  Massenernährungseinrichtungen  stehen 
genau  so  wie  Kassen-  und  Vertrauensarzt,  Krankenhaus,  Heilstätte, 
Apotheker,  Masseur  im  unentbehrlichen  Dienste  der  sozialen  Ver¬ 
sicherung,  nachdem  diese  Begutachtung,  Heilung  und  Verhütung 
von  Krankheiten  in  ihr  Programm  aufgenommen  hat. 

Von  allen  diesen  verdient  aber  nur  eine  bestimmte  Gruppe, 
nämlich  diejenigen  Personen  und  Betriebe,  welche  am  Heilprozesse 
beteiligt  sind,  und  zwar  mit  vollem  Rechte  die  Bezeichnung  „Arbeit¬ 
nehmer“. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


137 


02 


© 

3' 


Cd 


.oc^.oUiLoayd.19^ 


.oimpnanazuig 


=3 

© 

02 


73 

-©> 

02 

3 

18 

•  pM 

8? 

£5 

7« 

•i— i 

S3 
©  :© 

~  © 

x  M 


© 

©3 

02 

oa 

d 

© 

©3 

©> 

:c3 

©3 

02 


s 

© 

©s 

02 


S5 

© 

Ä 

JI 


© 

©3 

m 


S3 

® 

03 

© 

-d 

© 


:c3 

©> 

rd 

© 


© 

•©> 

r“H 

© 

«© 

rd 

*  F-H 

© 

rq 


© 

©3 

4© 


©JD 

© 

Qß 

•rH 

CD 

*h 


c3 

CQ 


44 

© 

TC 

d 

gS 

s-< 

44 

©H 

f-H 

© 


© 


© 

er 


öS 


^  pq  PQ 


4-» 

fl 

CD 


44 

r/3 

fl 


CD 

-fl 

CD 

44 

o 

r-H 

<1 


© 

•  rH 

D 

CiD 

o 


CÖ 


D 

44 


rfl 

:c3 


-4-3 

02 


bß 

d 


d 

© 

er 

c3 

£ 

d 

© 

rd 


Cj 
© 

'd  s3 

c3  © 

pq  M 


44 

O 


D 

PH  rfl 

CD  •>— i 


44 

32 

•  rH 

bß 

öS 


c5 

pq 


d 

© 

©3 

d 

© 


02 


Oß 

d 

j=! 

i-ö 

d 

C5 

rd 


_© 

© 

eß 

© 

© 


© 


c8 


© 

©3 

© 

© 


:c3 


(Hebamme,  Krankenpfleger,  Masseur) 


138 


L.  Eisenstadt. 


Es  handelt  sich  um  private  gewerbliche  Berufe,  welche  in  den 
Dienst  der  Krankenkassen  aufgenommen  wurden.  Infolgedessen 
trat  eine  völlige  Änderung  ihrer  wirtschaftlichen  Lage  ein.  (Vgl. 
Die  therapeutische  Ökonomie:  Nr.  17.  1905.  Ärztl.  Sachverständigen- 
Zeitung.) 

An  vorstehendem  Schema  sind  die  hierhergehörigen  Personen 

und  Betriebe  aufgeführt,  es  sind  1.  die  vier  Formen  des  ärztlichen 

Betriebes,  2.  ärztliches  Hilfspersonal  (Masseure,  Krankenpfleger. 

Hebammen),  3.  Fabrikanten  und  Lieferanten  von  Heilmitteln.  Wie 

•  • 

ebendort  bereits  geschildert  wurde,  bestand  die  wichtigste  Ände¬ 
rung  darin,  daß  vielfach  laut  Gesetz  nur  bestimmte  Vertreter  dieser 
Berufsgruppen  zum  Krankenkassendienst  herangezogen  wurden. 
Die  verschiedenen  Orts-,  Betriebs-,  Innungs-  und  Hilfskassen  nahmen 
als  Arbeitgeber  eine  vertikale  Scheidung  in  diesen  Berufen  vor; 
daraus  ergaben  sicli  z.  B.  bei  den  Ärzten  unwürdige  Abhängigkeit 
und  Senkung  des  Honorars.  Diese  Zustände  gäben  ihrerseits  einen 
fruchtbaren  Boden  für  Bildung  von  Schutz-  und  Trutzbündnissen, 
von  Gewerkschaften. 

In  der  gegenwärtigen  Krankenversicherung  nehmen  Heilpersonal 
und  Heilmittelfabrikanten  noch  nicht  völlig  die  Stellung  von  Arbeit¬ 
nehmern  ein,  mehr  oder  weniger  sind  sie  selbständige  Betriebe  und 
Gewerbetreibende.  Denn  noch  gibt  es  keine  obligate  Familien¬ 
versicherung,  noch  sind  die  Krankenkassen  im  Hinblick  auf  die 
Heilung  nicht  ausreichend,  so  daß  der  Selbstversorgung  mit  Heil¬ 
personen  und  Heilmitteln  noch  ein  bedeutender  Spielraum  bleibt. 

Wie  aber,  wenn  die  Krankenkassen  doch  die  so  lange  herbei¬ 
gesehnte  Zentralisation  erfahren  und  wenn  gar  die  Versorgung  der 
Angehörigen  eingeführt  wird?  Dann  wird  die  Selbstversorgung 
der  Versicherten  einerseits,  die  Privatpraxis  der  Heilpersonen  und 
-betriebe  andererseits  so  eingeschränkt,  daß  beispielsweise  bei 
Ärzten  der  Industriegegend  Privatpatienten  eine  recht  seltene  Er¬ 
scheinung  werden  dürften.  Nun  kommen  noch  einige  Vorgänge 
hinzu,  die  mit  Notwendigkeit  zu  der  gefürchteten  weiteren  Prole¬ 
tarisierung  dieser  „Arbeitnehmer“  führen. 

Bekanntlich  wirken  neue  Maschinen  zunächst  verderblich  auf 
die  Lage  der  Handarbeit;  genau  so  muß  z.  B.  die  Vermehrung  der 
Heilstätten  den  Apothekern  und  Kassenärzten  einen  großen  Arbeits¬ 
kreis  entziehen,  während  andererseits  ein  sicheres  Heilmittel  gegen 
Tuberkulose  die  Heilstätten  entbehrlich  machen  würde.  Zu  diesem 
Wettbewerb  der  Heilmittel  kommt  der  Wettbewerb  der  Arzt¬ 
formen  untereinander  und  mit  den  nichtärztlichen  Heilpersonen. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung'. 


139 


Daß  Wohnungsnot  oder  zu  geringe  Zahl  von  Kassenärzten 
oder  der  Mangel  an  kleinen  speziellen  Heilstätten  die  Vermehrung 
der  Krankenhausbetten  für  die  Kranken  versicherten  erforderlich 
macht,  diese  Erscheinung  hat  Wolf  Becher  als  gesetzmäßig  nach¬ 
gewiesen.  Daß  Ärzte  bzw.  Ärztinnen  in  der  künftigen  Kranken¬ 
versicherung  den  Beistand  auch  bei  normalen  Entbindungen  leisten 
und  so  die  Hebammen  teils  entbehrlich  machen,  teils  dazu  ver¬ 
anlassen  werden,  sich  zur  Wochenbettpflege  zu  spezialisieren,  daß 
Ärzte  die  Massage  als  Sondergebiet  den  Heilgehilfen  entreißen 
werden,  diese  weitere  Entwicklung  läßt  sich  nicht  verhüten,  wenn 
die  Ärzte  angemessen  honoriert  werden. 

Schließlich  ist  noch  der  Wettbewerb  der  Ärzte  untereinander 
von  großer  Bedeutung  für  die  Arbeitnehmer  der  Arbeiterversicherung. 
Es  ist  kein  Zufall,  daß  erst  mit  der  freien  Zulassung  der  Ärzte 
zur  Kassenpraxis  Heilstätten  für  Tuberkulöse  und  einige  andere 
sozialmedizinische  Einrichtungen,  wie  Landaufenthalt,  Trinkerheil¬ 
stätten,  Walderholungsstätten  gegründet  und  von  den  Kassen  be¬ 
schickt  wurden.  Je  größer  die  Zahl  der  Ärzte  ist,  die  an  Einzel¬ 
leistungen  gegenüber  den  Kassenpatienten  beteiligt  ist,  desto  mehr 
entwickelt  sich  der  medizinische  Beruf  zur  Kunst,  desto  mehr  tritt 
soziale  Fürsorge  an  die  Seite  der  individuellen  Therapie.  Wenn  für 
das  ganze  Reich,  wie  May  et  will  (Verhandlungen  der  Ges.  f.  Soziale 
Medizin.  Med.  Reform,  1906,  S.  117 — 140),  volle  Kassenfreizügigkeit 
durchgeführt  wird,  wenn  eine  Bezirkskrankenkasse  große  Territorien 
zu  versorgen  hat,  dann  wird  der  Wettbewerb  der  Ärzte  unterein¬ 
ander  mit  seinen  Folgen  selbst  in  das  entlegenste  Dorf  getragen. 

Wie  ist  nun  bei  der  Neugestaltung  der  Arbeiterversicherung 
die  Lage  der  Arbeitnehmer  derselben  am  besten  zu  regeln?  Be¬ 
trachten  wir  die  Vorschläge,  die  auf  diesem  Gebiete  gemacht  worden 
sind,  nämlich 

1.  die  freie  korporative  Vereinbarung  auf  Grund  einer  Pauschal¬ 
bezahlung, 

2.  die  Einführung  eines  gesetzlichen  Maximaltarifs, 

3.  die  Einführung  eines  gesetzlichen  Mindesttarifs, 

4.  Bildung  einer  Genossenschaft  bzw.  Großeinkaufsgesellschaft, 

5.  völlige  Verstaatlichung. 


Die  freie  korporative  Vereinbarung 

ist  bereits  bei  größeren  Kassen  eingeführt,  befindet  sich  aber  noch 

•  • 

hier  im  Anfangsstadium,  da  sie  nur  den  Ärzten  gegenüber  eine 


140 


L.  Eisenstadt, 


Regelung  des  Kopfpauschales  und  der  Zahl  der  Einzelleistungen  vor¬ 
gesehen  hat.  Daß  diese  Regelung  oft  eine  völlig  subjektive  ist, 
weil  tatsächlich  hier  das  Arztsystem  nichts  anderes  als  eine  Er¬ 
weiterung  des  sogenannten  fixierten  Systems  ist,  kann  nicht  be¬ 
zweifelt  werden.  Die  therapeutische  Ökonomie  wird  hier  nicht  von 
Sachverständigen,  sondern  vom  Kassenvorstand  und  -geschäftsführer 
einerseits,  den  ärztlichen  Vertrauensmännern  andererseits  gehandhabt, 
welche  nicht  selten  noch  in  der  Vorstellung  befangen  sind,  daß  die 
Krankenkassen  nur  Armenpflege  zu  leisten  haben  und  welche  mit  dem 
behandelnden  Arzte  hinsichtlich  der  therapeutischen  Ökonomie  oft 
verschiedener  Anschauung  sind.  Sehr  schwierig  ist  auch  für  die 
ärztlichen  Vertrauensmänner  die  Aufgabe,  bei  den  behandelnden 
Ärzten  die  Zahl  der  Leistungen  zu  begrenzen.  Da  gestattet  man 
homöopathischen  Ärzten  die  „homöopathische“  Rezeptur,  Natur¬ 
ärzten  bei  allen  Krankheiten  die  Behandlung  ausschließlich  mit 
Bädern  und  überläßt  diesen  Sonderlingen  ein  Maximum  an  Leistungen 
und  Heilmitteln,  während  andererseits  die  ärztliche  Vertrauens¬ 
kommission  in  einer  großen  Dienstbotenkrankenkasse  die  tägliche 
Behandlung  einer  eiterigen  Zellgewebsentzündung  beanstandete.  In 
beiden  Fällen  begeht  man  den  Fehler,  den  Versicherten  nach  Art 
eines  Privatpatienten  zu  behandeln.  Gewiß  besteht  das  Wesen 
der  Arbeiterversicherung  „in  nichts  anderem  als  in  dem  stets  sich 
wiederholenden  Aufsteigen  eines  /Teils  der  unteren  Klasse  zu  der 
Lebensführung  der  höheren,  in  einem  Hineinwachsen  in  den  Be¬ 
dürfniskreis,  aber  auch  in  die  Denkweise,  in  das  Massenseelenleben 
der  Mittelklassen“.  Gewiß  hat  die  Versicherung  vornehmlich 
die  Aufgabe,  „die  durch  das  Aufsteigen  der  Klasse  sich  mit¬ 
hebenden  Individuen  vor  dem  Zurückfallen  in  die  Charakterlosig¬ 
keit  der  materiellen  Gnadenexistenz  des  „Armen“  zu  bewahren“.1) 
Aber  der  Arzt  darf  nicht  individuellen  Neigungen  der  Ver¬ 
sicherten  Rechnung  tragen,  nicht  die  Moden  der  Privatpatienten 
auf  die  Kassenpraxis  übertragen ,  er  muß  vielmehr  Zahl  der 
Leistungen  und  Art  der  Heilmittel  nach  dem  jeweiligen  Stande 
der  therapeutischen  Ökonomie  bemessen,  damit  nicht  die  Gesamt¬ 
heit  der  Versicherten  durch  Extrakosten  des  einzelnen  Mit¬ 
gliedes  geschädigt  werde. 

Der  Arzt  muß  objektiv  genug  sein,  zwischen  der  viel  gelästerten 
Begehrlichkeit  der  Versicherten  und  dem  enghei^igen  „Unter- 


*)  y.  Z  w  i  e  d  i n  e  c k  -  S  ü  d  e  n  h  o  r  s  t ,  Arbeiterschutz  und  Arbeiterversicherimg. 
B.  G.  Teubner’s  Verlag,  S.  147. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung.  141 

nehmers tan dpunkt“  der  Kasse,  unbekümmert  um  Lob  und  Tadel 
jeder  Partei,  die  richtige  Mitte  zu  finden. 

Erst  recht  gilt  diese  Forderung  für  die  Vertrauensmänner  der 
ärztlichen  Organisationen.  Die  eine  ärztliche  Arzneimittel-Kontroll¬ 
kommission  hat  den  Ersatz  eines  Sandow’schen  Salzes  durch  natür¬ 
lichen  Mineralbrunnen  mit  der  Androhung  der  Entfernung  aus  dem 
kassenärztlichen  Verbände  bestraft,  die  andere  ließ  die  Verordnung 
notorischer  Geheimmittel,  Pinkpillen  und  Pain  Expeller,  anstandslos 
passieren ! 

Wenn  man  weiter  die  bisherigen  Vereinbarungen  bezüglich 
des  Honorars  betrachtet,  so  ist  es  merkwürdig,  daß  die  einzelnen 
Vertragskommissionen  ganz  ungleich  hohe  Pauschalsummen  fixieren 
und  ganz  verschiedene  Arten  der  Honorarverteilung  handhaben. 
Hier  wird  ein  Honorar  von  3,50  Mk.  pro  Kopf  als  eine  Errungen¬ 
schaft  der  Organisation  bezeichnet,  während  dort  bereits  4,50  Mk. 
errreicht  sind.  Ein  stets  wechselnder  Monats-  oder  Quartalsbon 
oder  ein  nicht  minder  schwankender  Point  belohnt  die  ärztlichen 
Bemühungen  im  ganzen,  während  die  „dringlichen“  Leistungen  der 
Nichtkassenärzte  nach  den  Mindestsätzen  der  Gebührenordnung 
belohnt  und  vielfach  vom  Honorar  der  Kassenärzte  abgezogen 
werden.  Man  sieht,  diese  Vereinbarungen  sind  eher  unfrei  als  frei, 
weil  sie  mehr  von  den  Kassen  als  von  den  Ärzten  diktiert  werden, 
aber  sie  bezeichnen  einen  kolossalen  Fortschritt  gegenüber  der 
Zeit,  als  es  noch  keine  Koalitionsbewegung  der  Ärzte  gab.  Bessere 
Verträge  konnten  die  Ärzte  hauptsächlich  deshalb  nicht  erreichen, 
weil  ihnen  die  Notwendigkeit  einer  gewerkschaftlichen  Organisation 
gegenüber  ihren  Arbeitgebern  noch  nicht  klar  geworden  war  und 
weil  sie  die  Existenz  der  kleinen  leistungsunfähigen  Kassen  durch¬ 
aus  schonen  wollten. 

Jedenfalls  haben  die  fortwährenden  Guerillakämpfe  mit  den 
Kassen  die  Solidarität  der  Ärzte  derart  gefördert,  daß  sie  zen¬ 
tralisierten  Kassen  gegenüber  in  größerer  und  festerer  Organisation 
stehen  werden;  dasselbe  könnte  man  für  das  übrige  Heilpersonal 
hoffen.  Die  Honorierung  würde  besser  werden,  während  die  Schieds¬ 
gerichte  der  Arbeiterversicherung  bei  Differenzen  über  Heilmittel  - 
verordnung  und  Zahl  der  Leistungen  als  Berufungsinstanz  gegen¬ 
über  dem  Urteil  der  Vertrauensmänner  fungieren  würden.  Um 
aber  die  territorialen  Verschiedenheiten  zu  beseitigen  und  der 
Möglichkeit  der  Honorarstreitigkeiten  vorzubeugen,  halten  mehrere 
Reformpläne  eine  reichsgesetzliche  Ordnung  für  erwünscht  bzw.  für 
notwendig  und  fordern  einen  Maximaltarif. 


142  L.  Eisenstadt, 

Soweit  die  Krankenkassenkommission  des  Deutschen  Ärzte¬ 
vereinsbundes  sich  geäußert  hat,  wünscht  sie  eine  Pauschalsumme 
derart,  daß  die  Einzelleistung  den  Minimalsatz  der  Gebühren¬ 
ordnung  erreicht.  Für  dieses  sogenannte  Maximalpauschale  sind 
mehrere  Ärzte  in  den  Standesorganen  eingetreten.  M  a  y  e  t  (a.  a.  0.) 
wünscht  für  die  Kassenärzte  ebenfalls  die  gesetzliche  Festlegung 
eines  Maximaltarifs  in  der  Form:  4  Mk.  pro  Kopf  und  4  Mk.  pro 
Mille  des  Lolin fonds.  Hiernach  würden  sich  die  Ärzte  besser 
stehen,  je  höher  der  Lohnfonds  ist  und  größere  wirtschaftliche 
Krisen  und  Streiks  durch  Honorarkürzung  verspüren,  während  doch 
eine  allgemeine  Erfahrung  lehrt,  daß  zur  Zeit  der  Hochkonjunktur 
in  der  gewerblichen  Arbeit  die  Inanspruchnahme  der  Kasse  am 
geringsten  ist.  Mit  einem  derartigen  Pauschale  werden  sich  die 
Ärzte  mit  Recht  nicht  einverstanden  erklären. 

Frühere  Ärztetage  verlangten  einen  Maximaltarif,  nämlich  die 
Bezahlung  der  kassenärztlichen  Leistungen  nach  den  Mindestsätzen 
der  Gebührenordnung.  Lennhoff  befürwortet  auch  für  Kranken¬ 
häuser  einen  Maximaltarif,  jedoch  solle  deren  Unterbilanz  durch 
einen  gesetzlich  geregelten  Zuschuß,  der  vom  Reich  oder  den 
Kommunen  oder  Wohlfahrtsstiftungen  oder  von  der  Versicherung* 
selbst  zu  leisten  sei,  gedeckt  werden.  (Verhandlungen  der  Ges.  f. 
soz.  Medizin,  1905,  H.  12,  S.  24.) 

Eine  Bindung  nach  oben,  einen  Maximaltarif  gesetzlich  ein¬ 
zuführen,  ist  m.  E.  aus  dem  Grunde  verfehlt,  weil  die  Inanspruch¬ 
nahme  des  Heilpersonals  bei  zentralisierten  Kassen  sich  im  voraus 
gar  nicht  berechnen  läßt.  Wie  ich  bereits  hervorhob,  ist  vielfach 
z.  B.  in  den  peripheren  Stadtteilen  Berlins  und  in  allen  Gegenden 
mit  starker  Bevölkerung  der  Industrie  zu  erwarten,  daß  die  dortigen 
Kassenärzte  ausschließlich  von  den  Einnahmen  aus  der  Kassen¬ 
praxis  sich  und  ihre  Familien  werden  ernähren  müssen.  Wie  ferner 
sich  voraussehen  läßt,  wird  eine  weit  größere  Zahl  von  Kassen¬ 
patienten  früher  und  auf  längere  Zeit  als  jetzt  der  kassenärztlichen 
Behandlung  durch  Überweisung  an  die  Heilstätten  entzogen  werden. 
Ein  Maximaltarif  hindert  die  höhere  Bewertung  der  ärztlichen 
Leistung  und  den  Wettbewerb  der  Arztformen;  die  vermehrte 
Arbeitstätigkeit  der  Ärzte  endet  jetzt  bei  ungenügender  Bewertung 
derselben  mit  einer  vermehrten  Inanspruchnahme  der  Krankenhäuser. 

Auch  bei  den  Kliniken,  Heilstätten,  Krankenhäusern  ist  ein 
Maximaltarif  nicht  minder  zwecklos.  Die  städtischen  Kranken¬ 
häuser  Berlins  waren  genötigt,  immer  mehr  Ausgaben  für  diagnosti¬ 
sche  Apparate,  Heilmittel  und  Heilpersonal  zu  machen.  Daher  war 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


143 


die  Stadt  Berlin  genötigt,  allmählich  eine  höhere  Bezahlung  des 
Verpflegungstages  zn  beanspruchen  und  in  allen  Krankenhäusern 
durchzuführen.  Jetzt  ist  sie  bereits,  weil  sie  seit  Bestehen  des 
Krankenversicherungsgesetzes  dem  Gesetz  vom  Wettbewerb  der 
Arztformen  und  der  Ärzte  untereinander  interesse-  und  verständnis¬ 
los  gegenüberstand,  genötigt,  für  jedes  im  Krankenhause  verpflegte 
Kassenmitglied  2  Mk.  der  Krankenkasse  zuzuschießen.  Bekannt 
ist  der  bisher  abgelehnte  Wunsch,  zur  Deckung  dieser  gewaltigen 
Kosten  für  die  Vorortsbewohner  einen  höheren  Tarif  durchzuführen. 
Daß  für  die  Krankenhäuser  eine  Zwangslage,  keineswegs  aber 
die  Absicht  besteht,  durch  „Heraufsetzung  der  Pflegegebühren“  die 
Bilanz  der  Versicherung  zu  erschüttern  oder  die  Einwohner  aus¬ 
zubeuten,  beweist  auch  die  Erhöhung  der  Sätze  für  kranke  Kinder, 
welche  in  den  städtischen  Krankenhäusern  eintreten  mußte,  sobald 
die  Charite  ihre  diesbezüglichen  Sätze  erhöhte. 

Wenn  also  der  Maximaltarif  der  veränderten  wirtschaftlichen 
Existenz  des  Heilpersonals  nicht  gerecht  werden  und  daher  die 
Bilanz  der  Versicherung  vor  Erschütterungen  keineswegs  bewahren 
kann,  so  ist  seine  gesetzliche  Festlegung  völlig  überflüssig  und 
schädlich,  weil  er  den  Wettbewerb  der  Arztformen  hindert. 

Der  Minimaltarif 

ist  bereits  von  Ascher,  dem  ersten  Befürworter  der  Idee  der 
Vereinheitlichung,  gefordert  worden.  Er  sagt  es  rund  heraus : 
„Während  bei  gelieferten  Materialien  (Apothekerwaren,  Kranken¬ 
hausverpflegung  etc.)  der  Kostenpreis  ein  Heruntergehen  unter 
einen  bestimmten  Satz  von  selbst  verbot,  hat  man  bei  den  Ärzten 
in  vielen  Gegenden  hierzu  noch  nicht  gelangen  können“  (Ascher, 
Zur  Vereinfachung  des  Reichsversicherungswesens,  Olendorff’s 
Ztschr.  f.  Soz.  Medizin,  1895,  S.  237).  Genau  genommen  besteht 
allerdings  bisher  nur  für  die  Apothekerwaren,  d.  h.  die  in  Apo¬ 
theken  fertig  gelieferten  Tabletten,  Originalpackungen,  ein  Mindest¬ 
satz.  Denn  die  Leistungen  verschiedener  Krankenhäuser  sind 
bisher  selbst  bei  einheitlicher  Pflegegebühr  außerordentlich  ver¬ 
schieden,  je  nach  dem  Vermögen  bzw.  den  Zuschüssen  des  einzelnen 
Krankenhauses.  Die  Apotheken  werden  aber  auch  ebenso  wie  die 
Ärzte  territorial  verschieden  für  ihre  Arbeit  entlohnt,  je  nachdem 
sie  mit  den  Krankenkassen  einen  höheren  oder  geringeren  Rezeptur¬ 
rabatt  vereinbart  haben. 

Hier  muß  das  neue  Gesetz  das  bisher  Versäumte  nachholen, 


144 


L.  Eisenstadt. 


einheitliche  Mindestsätze  für  die  Honorierung  des  Heilpersonals 

schaffen  und  zwar: 

•  • 

1.  für  die  Arzte.  Hebammen  und  Heilgehilfen  nach  Einzel¬ 
leistungen. 

2.  für  Krankenhäuser,  Heilstätten  und  Krankenpfleger  (Kranken¬ 
pflegerinnen)  nach  Verpflegungstagen. 

Wenn  für  die  Leistungen  der  Ärzte  1  Mk.,  des  ärztlichen 
Hilfspersonals  75  Pfg.,  der  Krankenhäuser  und  Krankenpfleger 
4  Mk.  als  reichsgesetzliche  Mindestgrenze  festgelegt  werden,  so 
würden  daraus  bemerkenswerte  Folgen  sich  ergeben: 

1.  Die  territorialen  und  lokalen  Verschiedenheiten  in  der  Be¬ 
wertung  der  Leistungen  des  Heilpersonals  würden  aufhören. 

2.  Die  sogenannte  Dringlichkeit  der  Hilfeleistungen  würde 
stark  eingeschränkt  werden.  Es  würde  unmöglich  gemacht,  daß 
eine  Schifferkrankenkasse  für  die  Gonorrhoebehandlung  ihrer  Mit¬ 
glieder  den  Kassenärzten  der  Heimat  10  Pfg.,  den  Nichtkassenärzten 
der  fernen  Großstadt  1  Mk.  bezahlt,  weil  dort  die  Gonorrhoe¬ 
behandlung  dringlich  geworden  ist.  Die  Existenz  der  privaten 
und  berufsgenossenschaftlichen  Unfallversicherung,  die  Zunahme 
der  Unfälle  im  großstädtischen  Verkehr,  im  Baugewerbe,  Berg¬ 
werken  und  vielen  anderen  Industrien  sind  nicht  die  alleinigen 
Ursachen  der  übertriebenen  Wertschätzung  und  Ausdehnung  der 
ersten  Hilfe,  vielmehr  ist  auch  das  bisherige  Krankenversicherungs¬ 
gesetz  mit  der  Gewährung  der  dringlichen  Hilfe  einerseits, 

•  • 

der  bestimmten  Arzte  andererseits,  und  vor  allem  das  Fehlen 
einer  gesetzlichen  Mindestgebühr  für  die  ärztliche  Leistung 
LTrsache  für  die  sonderbare  Erscheinung,  daß  die  erste  Hilfe 
in  Unfallstationen  und  Rettungswachen ,  ferner  die  Leistungen 
der  Nichtkassenärzte  weit  höher  bezahlt  werden,  als  wenn  eben 
dieselben  von  Kassenärzten  ausgeführt  werden.  In  Berlin  hat  sich 
die  städtische  Verwaltung  nicht  entschließen  können,  eigene 
Rettungswachen  zu  gründen,  deshalb  müssen  die  Krankenkassen 
für  die  Existenz  von  Rettungswachen  und  Unfallstationen  bedeutende 
Summen,  mag  es  sich  nun  um  eine  Pauschalhonorierung  der  dortigen 
ärztlichen  Leistungen  oder  um  eine  Bezahlung  nach  den  Mindestsätzen 
der  preußischen  Gebührenordnung  handeln,  zuschießen.  Die  Stadt 
Berlin  kann  allerdings  demgegenüber  auf  ihren  Zuschuß  für  die  Be¬ 
handlung  von  Kassenmitgliedern  in  ihren  Krankenhäusern  hinweisen. 

Das  Rettungswesen  würde  nun  dort,  wo  unfallreiche  Betriebe 
vorhanden  sind,  bei  gesetzlichem  Minimaltarif  einfach  auf  Grund 
einer  breiten  ärztlichen  Organisation  geregelt  werden  können, 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


145 


derart,  daß  der  Wachtdienst  während  der  Fabriktätigkeit  für  die 
anwohnenden  Ärzte  geregelt  wird.  Dann  wird  bei  dieser  Gesetzes- 
änderung  ein  geregelter  ärztlicher  Nacht-  und  Sonntagsdienst,  der 
jetzt  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten  stößt,  leicht  durchführ¬ 
bar  sein.  Ein  Rettungsdienst  auf  Kosten  der  ökonomischen  Existenz 
der  Ärzte  und  Krankenkassen  hat  keine  Berechtigung. 

Eine  Unterfrage  des  allgemeinen  ärztlichen  Dienstes,  das  Ver¬ 
treterwesen,  könnte  dann  kraft  der  Organisation  so  geregelt  werden, 
daß  dem  zu  vertretenden  Arzt  der  Praxiskreis  erhalten  bleibt. 

3.  Aus  der  Mindestbezahlung  der  einzelnen  Leistung,  sollte 
man  ohne  weiteres  denken,  folgt  die  freie  Zulassung.  Wenigstens 
ist  es  sonst  die  selbstverständliche  Folge  der  Tarifverträge  zwischen 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  daß  diejenigen  Personen,  welche 
sich  dem  Tarif  unterwerfen,  eingestellt  werden,  sofern  sie  den  An¬ 
forderungen  des  betreffenden  Faches  entsprechen,  also  gelernte 
Arbeiter  sind  und  soweit  das  Maß  der  Beschäftigung  in  jedem 
einzelnen  Betriebe  eine  Höchstzahl  von  Arbeitern  gestattet. 

Anders  denken  aber  noch  recht  viele  Sozialpolitiker  und  Ärzte 
auf  dem  Gebiete  der  Krankenversicherung.  Zwar  gestehen  sie  den 
Krankenhäusern,  Spezialheilstätten  und  dem  ärztlichen  Hilfspersonal 
das  Recht  auf  freie  Zulassung  zu,  in  der  Meinung,  es  handle  sich 
bei  ersteren  um  eine  begrenzte  Zahl  von  Verpflegungstagen,  bei 
letzteren  um  eine  begrenzte,  vom  behandelnden  Arzt  gewünschte 
und  leicht  zu  kontrollierende  Zahl  der  Leistungen.  Dagegen, 
meinen  sie,  sind  die  Krankheitszustände  elastische  Dinge  im 
Hinblick  sowohl  auf  die  Z  a  h  1  der  L  e  i  s  t  u  n  g  e  n  als  auf  Quali¬ 
tät  und  Quantität  der  Heilmittel,  welche  Haus-  und 
Spezialärzte  in  der  Kassenpraxis  „zum  besten  geben“. 

Diese  Elastizität  der  Krankheiten  der  Versicherten  ist  erstens 
zurückzuführen  auf  die  formelle  Unzulänglichkeit  der  Kranken¬ 
journalführung.  Vielfach  wird  Erneuerung  des  Krankenscheines, 
der  Milch-  und  Bädergewährung  als  einzelne  Leistung  gebucht, 
während  doch  tatsächlich  für  die  ganze  Dauer  der  Erkran¬ 
kung  Milch,  Krankengeld,  bei  rationeller  kassenärztlicher  Buch¬ 
führung  zu  verordnen  wäre.  Zweitens  sind  namentlich  Laien  ge¬ 
neigt,  die  subjektiv  verschiedene  Begehrlichkeit  der  Kranken  als 
eine  Ursache  der  Elastizität  der  Krankheitszustände  hinzustellen. 
Patienten  mit  Herzklappenfehler  seien  in  verschiedenem  Grade 
anspruchsvolle,  besonders  seien  derartige  weibliche  Kranke  über¬ 
trieben  anspruchsvoll.  Die  Vertreter  dieses  Standpunktes  kümmern 
.sich  sehr  wenig  um  die  Frage,  ob  diese  subjektiv  verschiedene 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  10 


146  L.  Eisenstadt, 

Begehrlichkeit  gänzlich  unberechtigt  oder  nur  der  Ausdruck  einer 
objektiv  vorhandenen,  individuell  (nach  Konstitution  und  Beruf) 
verschiedenen  Erkrankung  sei. 

Drittens7  viele  Ärzte  verfallen  angeblich  in  der  Krankenver¬ 
sicherung  der  Polypragmasie  oder  einer  ungebührlichen  Sparsam¬ 
keit.  „Bei  Einzelbezahlung  haben  die  Kassen  ein  Interesse,  wenige 
Ärzte  anzustellen,  indem  erfahrungsgemäß  die  Gesamtleistungen 
steigen,  je  mehr  Ärzte  an  einer  Kasse  tätig  sind“  (Ärztl.  Mit¬ 
teilungen,  1906.  Nr.  25,  S.  321). 

„Natürlich  hängt  auch  die  Ausdehnung  der  ärztlichen  Tätig¬ 
keit  von  dem  Arzt  ab;  wer  sich  in  seinen  Besuchen  und  Be¬ 
ratungen  zu  beschränken  weiß,  den  Angehörigen  bzw.  Kranken¬ 
schwestern  auch  etwas  zu  tun  gibt,  ist  weniger  belastet  als  der¬ 
jenige,  der  selbst  jede  Temperatur  mißt,  jedes  Bad  leitet,  jeden 
Verband,  jeden  Umschlag  macht  und  viermal  am  Tage  zu  einem 
Kranken  läuft,  um  diesem  sein  Interesse  zu  bezeugen,  wo  ein 
Besuch  auch  genügend  wäre“  (Ärztl.  Mitteilungen,  1906,  Nr.  26, 
8.  341).  Diesen  engen,  philiströsen  Horizont  einer  ärztlichen 
Kontrollkommission  darf  der  Gesetzgeber  bei  einer  Zentralisierung 
der  Krankenversicherung  nicht  annehmen.  Im  informatorischen 
Attest  muß  das  Recht  des  behandelnden  Arztes,  seinen  Heilplan 
gegenüber  dem  kranken  Individuum  aufzustellen  und  durchzuführen, 
anerkannt  werden,  vorausgesetzt,  daß  dieser  Heilplan  mit  den  Er¬ 
fahrungen  und  dem  Stande  der  therapeutischen  Ökonomie  überein¬ 
stimmt.  Demnach  ist  es  erwiesen,  daß  der  Mindesttarif  für  jede 
ärztliche  Leistung  die  Zulassung  eines  jeden  Arztes,  der  sich 
durch  die  wissenschaftlichen  Anforderungen  der  therapeutischen 
Ökonomie  gebunden  erklärt,  zur  Folge  hat,  vorausgesetzt,  daß  die 
kassenärztliche  Buchführung  rationell  umgestaltet  wird.  Nur  die¬ 
jenigen  Ärzte  würden  sich  also  eine  Konventionalstrafe  zuziehen, 
welche  Krankheiten  nach  längst  überlebten  Methoden  (Homöopathie) 
oder  kunstwidrig  behandeln  und  daher  den  therapeutisch  ökonomi¬ 
schen  Endzweck  der  Behandlung  außer  acht  lassen. 

In  engem  Zusammenhang  hiermit  steht  es,  daß  der  Mindest¬ 
tarif  der  Einzelleistungen  eine  wesentliche  Verschiebung  der 
Grenzen  zwischen  Allgemein-  und  Spezialarzt  und  zwischen  ärzt¬ 
lichen  und  nichtärztlichen  Spezialisten  zur  Folge  hat.  Schon  in 
einem  früheren  Aufsatz  zur  Neugestaltung  der  Arbeiterversicherung 
wies  ich  darauf  hin,  daß  es  eine  absolute  Grenze  zwischen  der 
Tätigkeit  des  Allgemein-  und  derjenigen  des  Spezialarztes  nicht 
gibt.  Ich  wies  dort  auf  die  sozialen  Ursachen  für  die  Zunahme 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


147 


der  Spezialistenzalil  hin.  Eine  solche  soziale  Ursache  ist  auch  die 
heutige  Verfassung  der  Krankenversicherung,  deren  Organe  viel¬ 
fach  der  Zulassung  der  Spezialisten  —  freilich  notgedrungen  — 
weniger  Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen  als  den  Allgemein¬ 
ärzten,  und  auch  die  spezialistischen  Übungsstätten  alias  Poli¬ 
kliniken  wegen  deren  „Billigkeit“  zu  konservieren  suchen.  Nun 
ist  es  ja  bekannt,  wie  vielfach  in  den  modernen  ärztlichen  Spezial¬ 
disziplinen  zahlreiche  diagnostische  und  chirurgisch  -  technische 
Einzelleistungen  das  Wesen  der  spezialistischen  Therapie  aus¬ 
machen.  Gegenwärtig  findet  sich  der  Kassenarzt  mit  diesen  spe¬ 
zialistischen  Einzelleistungen,  z.  B.  bei  Kontusion  eines  Oberschenkels, 
derart  ab,  daß  er  solche  Patienten  einem  Heilgehilfen  oder  einem 
Spezialarzt  für  Massage  oder  einem  Krankenhause  überweist. 

Bei  einem  gesetzlichen  Mindesttarif  der  Einzelleistung  kann 
er  nicht  mehr  der  Polypragmasie  beschuldigt  werden,  wenn  er 
solche  Patienten  selbst  täglich  oder  jeden  zweiten  Tag  massiert- 
Der  Allgemeinarzt  würde  zahlreiche  Heilungsarten  erlernen  und 
ausüben,  welche  jetzt  ausschließlich  dem  Spezialarzt  überlassen  sind. 
Er  würde  Magen-,  Blasen-,  Harnröhrenspülungen,  Injektionen  usw. 
selbst  ausführen,  und  den  Spezialarzt  nur  zum  Zwecke  sicherer 
Diagnosestellung  hören.  Andererseits  würden  die  seltneren  und 
schwierigeren  Spezialkrankheiten  und  -behandlungen  dem  Spezial¬ 
arzt  verbleiben.  Dieser  würde  —  nicht  zum  Nachteile  der  Ver¬ 
sicherten  —  ob  nun  die  Krankenkasse  einem  Kreise  oder  Ver¬ 
waltungsbezirke  entsprechen  würde,  die  spezialistische  Kunst  in  die 
kleineren  Städte  und  auf  das  flache  Land  tragen.  Eine  sozial¬ 
medizinisch  außerordentlich  wichtige  Verteilung  der  Spezialisten 
würde  erfolgen.  Unbeschadet  der  Hochachtung  vor  dem  Landarzt, 
der  mit  kleinen  Mitteln  Großes  leistet,  würde  im  Bunde  mit  ihm 
der  erfahrene  Spezialarzt  viel  zur  Verringerung  unheilbarer  Krank¬ 
heiten  der  Dorfbewohner  beitragen. 

Wenn  infolge  des  Mindesttarifs  der  Arzt  mehr  und  mehr 

die  nichtärztlichen  Spezialisten,  Heilgehilfen  und  Krankenpfleger 

•  • 

ersetzt,  wenn  die  Ärztin  mehr  und  mehr  die  Funktionen  der  Heb¬ 
amme  und  Wochenpflegerin  übernimmt,  wenn  das  höher  gebildete 
Heilpersonal  überall  das  niedere  verdrängt,  so  ist  das  in  der  Tat 
ein  großer  Fortschritt! 

Der  Arzt  ist  und  bleibt  nun  einmal  der  beste  Samariter,  und 
besser  ist  es,  in  Heilstätten  und  Krankenhäusern  ärztliches  Hilfs¬ 
personal  als  verheiratete  Beamte  unter  ständiger  ärztlicher  Direktion 
fest  anzustellen,  als  Personen  kürzer  oder  länger  in  Krankenhäusern 

10* 


148 


L.  Eisenstadt, 


auszubilden,  um  dieselben  zu  veranlassen,  nach  der  Entlassung  den 
Heerbann  der  Kurpfuscher  zu  vermehren.  Auch  sonstige  erwerbende 
Nebenbeschäftigung  des  ärztlichen  Hilfspersonals  scheint  mir  nicht 
der  Würde  derjenigen  angemessen  zu  sein,  die  auch  nur  Diener 
der  Ärzte  sind;  einen  Heilgehilfen  von  der  Feldarbeit  wegzuholen, 
damit  er  blutige  Schröpfköpfe  setze,  das  entspricht  kaum  den 
Anforderungen  der  Asepsis. 

Zwar  genügt  schon  die  freie  Zulassung  der  Ärzte,  um  den 
Wettbewerb  in  der  Heilkunst  zu  veranlassen;  derselbe  wird  noch 
durch  den  Mindesttarif  der  einzelnen  Leistung  erheblich  verstärkt. 
Ohne  die  freie  Zulassung  bedingt  dagegen,  wie  bereits  dargelegt, 
der  Mindesttarif  ungebührliche  Sparsamkeit  in  der  Verordnung  der 
Heilmittel,  in  der  Zahl  der  ärztlichen  Leistungen  und  vermehrten 
Zugang  zu  den  Krankenhäusern. 

Der  Mindesttarif  vermag  auch  den  Wettbewerb  unter  den 
Arztformen  zu  fördern.  Wenn  der  hausärztliche  Besuch  nicht  mehr 
mit  20  Pfg.,  sondern  z.  B.  mit  1 3/2  Mk.  honoriert  wird,  so  dürfte 
so  manche  Erkrankung  mit  nicht  geringerem  Erfolge  als  im  Kranken¬ 
hause  häuslich  behandelt  werden.  Man  wird  erwidern,  in  Anbetracht 
der  Wohnungsverhältnisse,  die  allein  bei  manchen  Krankheiten  eine 
häusliche  Pflege  unmöglich  machen,  wäre  das  kein  Fortschritt.  In¬ 
des  schon  die  häusliche  Behandlung  von  Frakturen,  Abszessen,  des 
inoperablen  Carcinoms  wäre  den  Patienten,  der  Ökonomie  der 
Krankenkassen  und  der  Entlastung  der  großen  Krankenhäuser 
förderlich;  diese  läßt  sich  auch  in  dürftigen  Wohnungen  vornehmen. 

Unter  dem  Schutze  des  Mindesttarifs  für  den  Verpflegungstag 
kann  der  Augen-  und  Nervenarzt,  sowie  jeder  andere  Spezialist 
mit  geringeren  finanziellen  Opfern  sich  ein  kleineres  Krankenhaus 
errichten,  ein  hygienischer  Fortschritt,  der  wiederum  vor  allem 
dem  platten  Lande  zugute  kommen  würde.  Desgleichen  kann 
der  Allgemeinarzt  allein  oder  in  Verbindung  mit  Berufsgenossen 
kleinere  Verpflegungsstationen,  Genesungs-,  Siechenheime  usw. 
mieten  und  so  mit  geringen  Kosten  viel  z.  B.  zur  Bekämpfung  der 
Tuberkulose  und  des  Carcinoms  beitragen. 

Auf  Grund  des  Mindesttarifs  könnten  auf  dem  Wege  korpo¬ 
rativer  Vereinbarung  eine  territorial  verschiedene  oder  noch  besser 
auf  dem  Wege  der  Reichsgesetzgebung  eine  im  ganzen  Reich 
geltende  Mindestgebührenordnung  für  Kassenärzte  geschaffen  werden. 
Andere  Gebührenordnungen,  etwa  die  Mindestsätze  der  für  die 
Privatpraxis  der  Ärzte  geltenden  preußischen  Gebührenordnung  sind 
aus  zwei  Gründen  zu  verwerfen:  1.  würden  solche  die  Einführung 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung.  149 

eines  Maximaltarifs  bedeuten,  2.  sind  auch  hier  Privat-  und  Kassen¬ 
praxis  zwei  miteinander  nicht  zu  vergleichende  Dinge.  Es  be¬ 
stehen  zwar  bereits  mittels  korporativer  Verträge  entworfene 
Mindestgebührenordnungen  auf  Grundlage  eines  Mindesttarifs  der 
einzelnen  Leistung,  z.  B.  beim  Verein  der  freigewählten  Kassen¬ 
ärzte  zu  Berlin  für  einige  Krankenkassen;  dieselbe  ist  aber  un¬ 
vollkommen,  weil  der  Mindesttarif  der  einzelnen  Leistung  jedesmal 
aus  einem  Pauschalhonorar  entwickelt  wird,  und  weil  wichtige 
Positionen  fehlen:  so  ist  es  doch  eine  schon  zeitlich  höher  zu  be¬ 
wertende  Leistung,  wenn  der  Arzt  in  der  Sprechstunde  einen  tech¬ 
nischen  Eingriff  vornimmt,  als  wenn  er  dem  Patienten  ein  Bad  oder 
ein  Medikament  verordnet. 

So  kompliziert  die  kassenärztliche  Tätigkeit  ist,  weit  kompli¬ 
zierter  als  diejenige  des  übrigen  Heilpersonals,  so  scheint  mir  doch 
die  Festlegung  einer  Mindestgebührenordnung  nicht  schwierig  zu  sein. 

Aus  welchen  Ursachen  werden  die  Ärzte  und  überhaupt  das 
Heilpersonal  eine  Erhöhung  des  Mindesttarifs  verlangen  müssen  ? 

I.  Wenn  der  Aufwand  für  Instrumente,  Einrichtung,  Mieten, 
Grundstücke  notwendig  steigt. 

II.  Wenn  die  Tätigkeit  aller  Formen  des  ärztlichen  Betriebes 
den  Saisoncharakter  annimmt,  z.  B.  durch  Fortschritte  der  öffent¬ 
lichen  Gesundheitspflege  und  sozialen  Prophylaxe. 

III.  Wenn  sich  Krankheitsfälle  häufen,  die  durchaus  der  Iso¬ 
lierung  in  geschlossenen  Anstalten  bedürfen,  vermindert  sich  die 
Tätigkeit  der  Hauskassenärzte  (Choleraepidemie). 

IV.  Bei  Einführung  obligatorischer  Familienversicherung  oder 
bei  Belassung  freiwilliger  Mitglieder  in  der  Versicherung  infolge 
der  Reduktion  der  Privatpraxis. 

V.  Wenn  die  genossenschaftliche  Organisation  (Unterstützungs¬ 
wesen)  nicht  ausreicht,  um  für  invalide  Heilpersonen  resp.  deren 
Witwen  und  Waisen  zu  sorgen. 

VI.  Wenn  die  sonstige  gewerkschaftliche  (Stellennachweis, 
Warnung  vor  dem  Berufe)  und  genossenschaftliche  Organisation  nicht 
ausreichen  zur  Unterbringung  neu  hinzukommender  Heilpersonen. 

Die  hygienische  Bedeutung  der  mit  dem  Mindesttarif  ver¬ 
bundenen  freien  Zulassung  besteht  nicht  nur  in  dem  ununter¬ 
brochenen  Dienst  für  erste  Hilfe,  sondern  auch  in  dem  so  gut 
funktionierenden  Dienst  für  die  Bekämpfung  der  Geschlechtskrank¬ 
heiten,  der  Säuglingssterblichkeit  und  der  Tuberkulose.  Die  so¬ 
genannten  Dispensaires,  eine  vorläufige  Form  des  Ärztedienstes, 
dürften  sich  dann  erübrigen. 


150 


L.  Eisenstadt. 


Die  Bildung  einer  Genossenschaft  bzw.  einer  Gro߬ 
einkaufsgesellschaft 

dient  zur  Regelung  der  Herstellung  und  Lieferung  von  Heilmitteln. 
(Im  obigen  Schema  sind  die  hierhergehörigen  Gruppen  links  von 
„Kassenarzt“  aufgeführt.)  May  et1)  empfiehlt  einen  ständigen 
Ausschuß  der  Bezirkskassen  und  als  dessen  reale  Funktionen: 
Besitz  und  Betrieb  von  Krankenlogierhäusern  in  allen  anerkannten 
Heilbädern,  ferner  den  genossenschaftlichen  Vertrieb  von  Bandagen. 
Desinfektionsmitteln.  Handverkaufsartikeln.  Es  gibt  eine  Reihe 
von  Heilmitteln,  deren  Verordnung  nicht  dringlich  ist,  die  also 
meist  ohne  Gefahr  für  den  Kranken  aus  einer  zentralen  Bezugs¬ 
quelle  in  1—2  Tagen  bestellt  werden  können.  Dazu  gehören 
Brillen,  Inhalationsapparate,  Irrigatoren,  Lederfinger,  gewöhnliche 
Leibbinden.  Der  zentrale  Ausschuß  der  Bezirkskassen  könnte  diese 
Artikel  im  großen  einkaufen  oder  in  eigenen  Produktionsstätten 
herstellen.  Von  der  zentralen  Geschäfts-  oder  Produktionsstätte 
könnte  auf  die  genaue  Verordnung  des  Arztes  hin  dieses  Heilmittel 
geliefert  werden.  Mit  solcher  Einrichtung  könnte  eine  Kontrolle 
der  Qualität  leicht  verknüpft  werden.  Die  Kassen  würden  nicht 
mehr  billige  und  schlechte  Waren  liefern  und  Kosten  für  Wieder¬ 
holung  der  Verordnung  des  Heilmittels  sparen  können.  Gegenwärtig 
übt  der  von  den  Kassen  festgesetzte  Einheitspreis  oft  einen  ver¬ 
schlechternden  Einfluß  auf  Beschaffenheit  und  Haltbarkeit  des 
Materials  aus ;  verschiedene  Verkaufsstellen  liefern  ungleich  brauch¬ 
bare  Lederfinger,  Gummischläuche  usw.  Mit  den  Zentralstellen 
könnten  Prüfungskommissionen  für  Verbesserungen  und  neue  Appa¬ 
rate  auf  diesem  Gebiete  verbunden  werden.  Man  bemerkt,  daß 
seltener  verlangte  Augengläser  schwieriger  Konstruktion  von  den 
kleinen  optischen  Verkaufsstellen  gar  nicht  oder  nach  langem 
Warten  zu  erhalten  sind. 

Was  nun  die  dringlichen  Heilapparate,  Verbandstoffe,  Katheter. 
Bougies,  Eisblasen  usw.  betrifft,  so  bestehen  bei  deren  Bezug  eben 
solche  Mißstände.  Die  feineren  Katheter  und  elastischen  Bougies, 
die  von  Drogengeschäften  oder  Apotheken  in  eiligen  Fällen  be¬ 
zogen  werden,  entsprechen  oft  genug  keineswegs  den  Anforderungen 
des  Arztes,  sind  brüchig  oder  in  der  gewünschten  Nummer  nicht 
vorhanden.  Von  ungleichartiger  Beschaffenheit  sind  in  den  meisten 
Lieferungsstätten  die  Mullbinden  und  im  Einzelpreis  recht  teuer. 
Die  gewöhnlichen  Kanülen  der  Subkutanspritzen  sind  billig  aber 


x)  Verhandl.  d.  Ges.  für  Soz.  Med.  A.  a.  0. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


151 


äußerst  schlecht  und  für  wiederholte  Anwendungen  unbrauchbar. 
Auch  hier  würde  die  zentrale  Produktion  resp.  der  Großeinkauf 
einen  wichtigen  Fortschritt  bedeuten.  Nur  fragt  es  sich,  wo  diese 
Artikel  am  besten  untergebracht  werden  können.  Die  Kassen 
eignen  sich  hier  nicht  zu  Filialdepots,  weil  es  sich  ja  um  dringlich 
verlangte  Instrumente  handelt.  Am  zweckmäßigsten  dürfen  diese 
Gegenstände  dem  Arzte  einerseits,  dem  Apotheker  andererseits  in 
Verwahrung  gegeben  werden.  Manches  ist  nach  dem  Gebrauche 
noch  verwendbar  (Inhalationsapparate  Eisblasen,  u.  dgl.),  könnte 
von  den  Zentralstellen  zur  Sterilisation  im  großen  abgeholt  und 
anderen  Kranken  gegeben  werden.  Von  Wichtigkeit  dürfte  der 
Großeinkauf  künstlicher  Nährmittel  durch  den  ständigen  Ausschuß 
<ler  Bezirkskassen  sein ;  auch  die  selbständige  Produktion  wird  hier 
gewünscht,  nämlich  die  Errichtung  von  Krankenküchen  für  Er¬ 
wachsene  und  Milchstuben  für  Säuglinge.  Das  ist  ein  sozial 
therapeutisches  Gebiet,  welches  stark  in  die  soziale  Prophylaxe 
hinübergreift. 

Manche  Gebiete  der  Heilmittellieferung  vertragen  aber  eine 
so  weitgehende  Zentralisation  nicht.  Der  von  Röder  gemachte 
Vorschlag  eines  Zentralbadeinstitutes  für  die  Berliner  Kranken¬ 
kassen  wäre  kein  ökonomischer  Fortschritt,  denn  sehr  viele  Ver¬ 
sicherte  können  erst  spät  nach  Verlassen  der  Arbeit  ihr  Dampfbad 
in  der  nächsten  Badestelle  nehmen.  Hier  ist  die  Dezentralisation 
bequemer  und  billiger,  diese  hat  aber  wiederum  den  Nachteil,  daß 
in  den  privaten  Badeanstalten  die  Kontrolle  fehlt  und  daher  zum 
Schaden  der  Kassen  die  Kurpfuscherei  sich  üppig  entwickeln  darf. 
Die  privaten  Badeanstalten  geben  dem  Besucher  gern  den  Rat,  sich 
doch  recht  viele  Dampfbäder  verschreiben  zu  lassen,  erst  deren 
Masse  könne  wirken. 

Dort  wo  eine  Bandage  besondere  Konstruktion  (Wanderniere, 
Bruchband  usw.)  erfordert,  sind  tüchtige  Fachleute  nötig,  die  fertigen 
Bruchbänder  entsprechen  nicht  der  Größe  des  Bruches,  sind  schlecht 
hergestellt,  müssen  daher  zu  oft  erneuert  werden  und  verursachen 
so  unnötige  Kosten. 

Im  Mittelpunkt  dieser  genossenschaftlichen  Umbildung  steht 
die  Frage  nach  dem  Bestände  der  Apotheken.  Mögen  die  Hand- 
verkaufsartikel  im  großen  ein  gekauft  oder  hergestellt  werden,  ihre 
Bezugsquellen  sollten  nur  die  Apotheken  sein.  Der  Fehler,  den 
gegenwärtig  einzelne  Krankenkassen  durch  das  Hereinziehen  der 
Drogengeschäfte,  also  durch  das  Heruntergehen  von  einem  geprüften 
zum  ungeprüften  Stande,  begangen  haben,  muß  durch  zentralisierte 


152 


L.  Eisenstadt, 


Kassen  wieder  beseitigt  werden.  Denn  die  Drogengeschäfte,  diese 
Brutstätten  der  Kurpfuscherei,  dürfen  bei  der  sozialen  Versicherung  in 
Zukunft  nicht  zugelassen  werden.  Andere  Fragen  sind,  ob  die  wirt¬ 
schaftliche  Existenz  der  ilpotheken  und  des  Personals  derselben  ge¬ 
sichert  wird,  wenn  der  Handverkauf  auch  der  heute  freigegebeuen 
Mittel  in  die  Apotheken  zurückkehrt  und  ob  dann  die  „ärztliche  Rat¬ 
erteilung“,  die  Verbindung  mit  Kurpfuschern,  die  Empfehlung  von  Ge¬ 
heimmitteln  aus  diesen  Stätten  des  Heildienstes  verschwinden  werden. 
Leider  dürften  diese  Fragen  nicht  zu  bejahen  sein,  wenn  wir  uns 
überlegen,  daß  die  Zentralisation  der  Kassen  die  Selbstversorgung 
mit  Heilmitteln  vermindert,  den  Kreis  des  privaten  Bedarfs  einengt 
und  das  Medikament  im  Wettbewerb  mit  anderen  Heilfaktoren 
noch  mehr  als  jetzt  in  den  Hintergrund  treten  läßt.  Erinnern  wir 
uns  ferner,  wie  die  einzigen  Apotheken  kleiner  Ortschaften  auf 
die  Kassen  bzw.  die  Kassenärzte  einen  Druck  dahin  auszuüben 
suchen,  daß  der  Arzneikonsum  ja  nicht  verringert  werde.  Schlie߬ 
lich  ist  auch  des  Konzessionswesens  und  der  schlimmen  Lage  der 
Apothekergehilfen,  die  mit  Notwendigkeit  zur  Bildung  einer  Gewerk¬ 
schaft  führte,  zu  gedenken.  Alles  dieses  macht  uns  begreiflich, 
weshalb  von  verschiedenen  Seiten  besonders  auch  von  den  Apo¬ 
thekern  selbst  der  Wunsch  nach  Kommunalapotheken  laut  wurde. 

Die  berufliche  Tätigkeiten  der  Pharmazeuten  ist  auch  mit 
einer  beamteten  Stellung  ohne  Schaden  für  die  Kranken  leicht  zu 
vereinen.  Sie  besteht  einerseits  aus  rein  geschäftlichen  Leistungen, 
Abgabe  vorrätiger  Substanzen  andererseits  in  pharmakologisch- 
wissenschaftlischer  Arbeit  bei  Mischungen,  Wägungen,  Harn¬ 
analysen  u.  a.  Mag  die  letztere  auch  mit  hoher  Verantwortung 
verbunden  sein,  so  erfolgt  sie  doch  im  Aufträge  des  Arztes;  der 
Apotheker  tritt  nicht  mit  seiner  ganzen  Persönlichkeit  so  dem 
Kranken  entgegen  wie  der  Arzt. 

Die  Körperschaften  der  Krankenversicherung  haben  an  der 
Reform  der  Apotheken  ein  wichtiges  Interesse  nicht  allein  aus 
ökonomischen  Gründen,  sondern  auch,  weil  eine  Kontrolle  der  Be¬ 
schaffenheit  der  eingekauften  Stoffe  und  fertigen  Verordnungen 
von  größter  Bedeutung  für  die  Versicherten  ist. 

Die  Vermehrung  der  ländlichen  Krankenhäuser  wird  den 
Krankenkassen  auch  die  Pflicht  auferlegen,  das  Krankentransport¬ 
wesen  zu  verbessern,  eigene  Krankenwagen,  Desinfektionsvor¬ 
richtungen.  Sauerstoffinhalationsapparate  anzuschaffen  und  dauernd 
bereit  zu  halten.  Krankenpfleger  würden  hierzu  von  den  Kassen 
als  Beamte  angestellt  werden. 


Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


153 


Die  völlige  Verstaatlichung. 

Wenn  wir  aus  obiger  Darlegung  sehen,  wie  zahlreiche  Fach¬ 
leute  der  Heilkunst  der  zweifelhaften  Existenz  eines  freien  Gewerbes 
entzogen  werden  und  an  den  zentralen  und  lokalen  Dienststellen 
der  sozialen  Versicherung  als  Beamte  fungieren  können,  so  liegt 
die  Idee  nahe,  auch  das  Heilpersonal  aus  Arbeitnehmern  in  Beamte 
umzuwandeln.  Es  fungieren  ja  heute  bereits  die  leitenden  Ärzte 
der  Heilstätten  der  Landesversicherungsanstalten  und  Berufs¬ 
genossenschaften  als  festangestellte  Beamte,  ebenso  die  dort  be¬ 
schäftigten  Pfleger,  Pflegerinnen  und  Assistenzärzte,  wenn  auch 
letztere  vorläufig  als  Beamte  in  Übergangstellung.  Dazu  kommen 
schon  gegenwärtig  die  gutachtlich  tätigen,  beamteten  Vertrauens-, 
Spezialärzte  und  wohl  auch  ärztliche  Gewerbeinspektoren.  Es  fragt 
sich  nun,  ob  es  auch  ratsam  ist,  den  frei  praktizierenden  Kassen¬ 
ärzten  einen  beamteten  Charakter  zu  geben.  Bein  vom  Standpunkte 
der  wirtschaftlichen  Versorgung  haben  einige  Ärzte  diese  Frage  bejaht. 
Sehr  eher,  Verhandl.  d.  Ges.  f.  Soz.  Medizin  u.  Reform,  1906,  S.  281, 
beantwortet  ganz  im  Sinne  Z  e  p  1  e  r  s  und  L  a  s  s  a  r  s  den  Wunsch  nach 
freier  Zulassung  dahin,  daß  jeder  Arzt,  der  es  wünsche,  als  beamteter 
Kassenarzt  anzustellen  sei,  aber  dabei  begeht  er  den  Kardinalfehler, 
ein  festes  Gehalt  zu  verlangen.  Jedes  feste  Gehalt,  mag  es 
sogar  doppelt  so  hoch  sein  als  Sehr  eher  zugesteht,  wirkt 
nämlich  als  Pauschalhonorar,  die  Patienten  geraten 
dadurch  in  Gefahr  hinsichtlich  der  Einzelleistungen. 
Das  ist  die  Ursache,  weshalb  bisher  in  allen  Fällen  das  System 
beamteter  Kassenärzte  Fiasko  gemacht  hat.  Das  Pauschale  in 
Form  des  festen  Gehaltes  zerstört  völlig  den  Wettbewerb  sowohl 
der  Ärzte  als  der  Arztformen  untereinander.  Diese  aus  dem  Werde¬ 
gang  der  Kassenarztfrage  hervorgegangene  Erfahrung  und  unum¬ 
stößliche  Tatsache  hat  Sehre ber  übersehen,  sonst  hätte  er  außer 
einem  festen  Gehalt  als  der  Grundlage  eine  Bezahlung  jeder  ein¬ 
zelnen  Leistung  nach  einen  korporativ  zu  vereinbarenden  Mindest¬ 
tarif  fordern  müssen. 

Ein  solches  Grundgehalt  würde  nur  zur  Versorgung  dienen, 
also  ein  Existenzminimum  der  Kassenärzte  bedeuten,  in  der  Er¬ 
kenntnis,  daß  selbst  bei  freier  Zulassung  und  Bezahlung  der  Einzel¬ 
leistungen,  aus  deren  Einnahmen  ausschließlich  nur  wenige  Ärzte 
ihren  Unterhalt  beschaffen  können. 

Doch  entspricht  jede  Beamtung  des  frei  praktizierenden  Heil¬ 
personals  kaum  dem  sozialen  Geiste  der  Versicherung,  noch 


154 


L.  Eisenstadt,  Die  Arbeitnehmer  der  sozialen  Versicherung. 


weniger  der  Stellung  des  Arztes  in  derselben,  am  wenigsten  den 

Bedürfnissen  des  Versicherten.  Dieser  soll  am  behandelnden 

Arzte  seinen  Rechtsanwalt,  nicht  einen  Staatsanwalt  oder  Richter 

haben.  Das  kranke  Individuum,  die  individuelle  Krankkeit  erfordern 

eine  individuelle  Behandlung.  Gering  ist  die  Gefahr  der  Poly- 

•  • 

pragmasie,  welche  durch  den  Ausbau  der  therapeutischen  Ökonomie 
gemildert  werden  kann,  gegenüber  der  Sparsamkeit  genügsamer, 
selbstzufriedener  und  verknöcherten  Beamten.  Außerdem  bietet 
sich  ein  anderer  schon  betretener  Weg  der  wirtschaftlichen  Hebung 
des  Standes,  nämlich  die  Förderung  und  weiterer  Ausbau  der  ärzt¬ 
lichen  Gewerkschaft  und  Genossenschaft.  Dieser  muß  aufgetragen 
werden,  jedem  einzelnen  Mitgliede  einen  ausreichenden  Wirkungs¬ 
kreis  zu  verschaffen,  ihre  Fürsorgeeinrichtungen  für  die  invaliden 
Ärzte  und  die  Hinterbliebenen,  ihre  Organisation  des  Rettungs-, 
Nacht-  und  Sonntagsdienstes  sind  von  den  Körperschaften  der 
sozialen  Versicherung  zu  fördern.  Sehr  wesentlich  könnte  die  Lage 
des  frei  praktizierenden  Heilpersonals  durch  die  Errichtung  von 
Tarifämtern  für  die  Privatpraxis  gebessert  werden.  (Vgl.  Medizi¬ 
nische  Klinik  1905,  49,  S.  1255.) 

Von  den  Nichtärzten,  die  sich  zum  Kapitel  der  Arbeitnehmer 
der  sozialen  Versicherung  geäußert  haben,  scheint  mir  besonders 
Sayffaerth  diese  verwickelten  Verhältnisse  erkannt  zu  haben. 
Er  meint,  die  Krankenkassen  würden  durch  vorzeitige  Überlassung 
geeigneter  Fälle  zwecks  intensiven  Heilverfahrens  an  Berufs¬ 
genossenschaften  und  Landesversicherungen  Ersparnisse  machen, 
welche  zur  Aufbesserung  der  Leistungen  an  einigen  Stellen  und 
zur  besseren  Bezahlung  der  Ärzte  verwendet  werden  könnten 
(Verhandl.  d.  Ges.  f.  Soz.  Med.,  H.  12,  1905,  S.  47). 

Größere  Beiträge  würden  hierzu  bei  der  Organisation  der 
Arbeitsvermittlung  frei  werden  (ebendort  S.  47).  Vielleicht  wird 
die  Zunkunft  lehren,  daß  die  freie  Arztwahl  und  die  höhere  Hono¬ 
rierung  der  Einzelleistung  gar  nicht  die  befürchtete  Steigerung 
der  Ausgaben  zur  Folge  hat  (S.  54).  Aus  unseren  Darlegungen 
ergeben  sich  klar  die  Maßnahmen,  welche  zu  treffen  sind,  um  bei 
der  Neuordnung  der  Arbeiterversicherung  auf  diejenigen  Berufe 
Rücksicht  zu  nehmen,  für  deren  Versorgung  zwar  die  Versicherung 
nicht  geschaffen  wurde,  auf  deren  Schultern  aber  die  Ausführung 
der  wichtigsten  Funktion  ruht,  nämlich  die  der  Wiederherstellung 
der  Arbeitsfähigkeit. 


Das  preußische  Gesetz,  betreffend  die  Bekämpfung 
übertragbarer  Krankheiten  vom  28.  August  11)05.  \) 

Von  Dr.  Franz  Nesemann, 

Regierungs-  und  Medizinalrat  in  Berlin. 

Die  vom  preußischen  Ministerium  der  Medizinalangelegenheiten 
in  Anssicht  gestellten  Änderungen  der  Ausführungsbestimmungen 
zu  dem  Gesetze  vom  28.  August  1905,  auf  welche  in  Heft  3  Band  I 
dieser  Zeitschrift  auf  Seite  246  (Anmerkung)  hingewiesen  worden 
war,  sind  inzwischen  durch  Erlaß  des  Herrn  Ministers  vom  25.  Sep¬ 
tember  1906  bekannt  gegeben  worden. 

Eine  Zusammenstellung  der  sämtlichen  nunmehr  gültigen 
Ausführungsbestimmungen  ist  unter  der  Bezeichnung  „Allgemeine 
A u s f ü h  r u n gs b e s t i m m u ng e n  z  u  dem  G e s e  t z ,  b e  t r  e f f  e n d 
dieBekämpfungübertragbarerKrankheiten“  erschienen 
und  in  Nr.  17  des  Ministerialblattes  1906  für  Medizinal-  und 
medizinische  Unterrichts- Angelegenheiten  abgedruckt. 

Gleichzeitig  mit  diesen  „Allgemeinen  Ausführungsbestimmungen“ 
sind  für  neun  übertragbare  Krankheiten,  nämlich  Diphtherie,  übertrag¬ 
bare  Genickstarre,  Kindbettfieber,  Körnerkrankheit  (Granulöse,  Tra¬ 
chom),  Milzbrand,  Rotz,  übertragbare  Ruhr,  Scharlach  und  Unterleibs¬ 
typhus  Sonder  an  Weisungen  zu  ihrer  Bekämpfung  erschienen, 
welche  in  einer  besonderen  Beilage  zu  Nr.  16  des  genannten 
Ministerialblattes  abgedruckt  sind.  Diese  Sonderanweisungen  ent¬ 
halten  nun  zwar  einzelne,  für  jede  der  übertragbaren  Krankheiten 
besonders  gültige  Bestimmungen,  bringen  jedoch  im  wesentlichen 
eine  Zusammenstellung  der  für  die  einzelnen  übertragbaren  Krank¬ 
heiten  in  Betracht  kommenden  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom 


l)  Nachtrag  zu  den  Artikeln  in  Band  I  dieser  Zeitschrift. 


ißer  Erkran- 
Hi£  ist  aucli 
er  Todesfall 
«azuzeigen. 


156  Franz  Nesemaim, 

28.  August  1905  selbst  sowie  der  dazu  erlassenen  allgemeinen 
Ausführungsbestimmungen  in  ihrer  jetzigen  Fassung.  Aus  diesem 
Grunde  kann  von  einem  Abdruck  und  eingehender  Besprechung 
der  einzelnen  Sonderanweisungen  an  dieser  Stelle  Abstand  genommen 
werden,  doch  werden  sie,  soweit  möglich,  Berücksichtigung  finden. 

Die  Ausführungsbestimmungen  in  ihrer  jetzigen  Fassung  ent¬ 
halten  gegenüber  ihrer  ursprünglichen  in  den  früheren  Nummern 
dieser  Zeitschrift  abgedruckten  Fassung  einige  Änderungen  und 
Ergänzungen. 

Viele  derselben  haben  jedoch  hauptsächlich  Interesse  für  die 
Behörden,  weniger  für  das  ärztliche  und  weitere  Publikum.  Sie 
werden  daher,  zumal  da  auch  der  in  dieser  Zeitschrift  zur  Ver¬ 
fügung  stehende  Raum  beschränkt  ist,  nur  insoweit  wörtlich  abge¬ 
druckt  werden,  als  es  zum  Verständnis  notwendig  ist,  dabei  aber 
auch  die  übrigen  Bestimmungen  ihrem  wesentlichen  Inhalt  nach 
Erwähnung  finden. 

Die  Änderungen  und  Zusätze  der  Ausführungsbestimmungen 
in  ihrer  neuen  Fassung  betreffen  hauptsächlich  die  Abschnitte  2 
und  3  des  Gesetzes  über  die  Ermittlung  der  Krankheit  und  die 
Schutzmaßregeln,  ferner  die  Desinfektions-Anweisung,  während  die 
Ausführungsbestimmungen  zu  den  übrigen  Abschnitten  des  Gesetzes 
nur  wenig  geändert  sind. 

Im  ersten  Abschnitt,  welcher  sich  auf  die  Anzeige¬ 
pflicht  bezieht,  haben  die  Ausführungsbestimmungen  zu  §  1 
folgenden  Zusatz  erhalten: 

Der  Todesfall  ist  auch  dann  anzuzeigen,  wenn  die 
Erkrankung  des  Verstorbenen  bereits  an  gezeigt  war. 

Hiermit  wird  allerdings  nur  die  Auffassung  bestätigt,  welche 
bereits  bei  Besprechung  des  §  1  Abs.  1  des  Gesetzes,  in  Heft  2, 
Seite  164  Ausdruck  gefunden  hatte.  In  der  Praxis  dürfte  indessen 
diese  Bestimmung  auf  manche  Schwierigkeiten  stoßen  und  auch 
manche  veranlassen. 

Es  sei  nur  an  folgenden  Fall  gedacht.  Auf  dem  Lande  er¬ 
krankt  jemand  an  einer  übertragbaren  Krankheit.  Es  wird  ein  Arzt 
zugezogen ,  der  auch  den  Krankheitsfall  vorschriftsmäßig  der  Orts¬ 
polizeibehörde  anzeigt.  Der  Arzt  wird  indessen  nicht  weiter  zu  dem 
Kranken  geholt,  dieser  bleibt  ohne  weitere  Behandlung  und  stirbt.  Eine 
Leichenschau  besteht  nicht  für  den  Bezirk,  zu  welchem  der  Ort 
gehört.  Nnn  wäre  der  Haushaltungsvorstand  zur  Anzeige  ver¬ 
pflichtet.  '  Wird  dieser  aber  überhaupt  von  dieser  Verpflichtung 
Kenntnis  haben?  Unterläßt  er  aber  die  Anzeige,  so  ist  er  nach 


Preul*.  Gesetz  betr.  d.  Bekämpf,  über  tragt).  Krankheiten  y.  28.  Aug.  1905.  157 

§  35  Abs.  1  des  Gesetzes  strafbar.  Vielleicht  hat  nun  auch  der 
zugezogene  Arzt  zufällig,  etwa  dadurch,  daß  die  Angehörigen  die 
Arztkosten  begleichen  wollen,  Kenntnis  von  den  erfolgten  Tode 
des  Kranken  erhalten.  Ist  er  damit  gemäß  §  1  Abs.  1  und  §  2 
Ziffer  1  verpflichtet,  die  Anzeige  an  die  Ortspolizeibehörde  zu  er¬ 
statten,  falls  diese  von  den  Angehörigen  noch  nicht  erstattet  ist? 

Um  derartige  Schwierigkeiten  zu  vermeiden,  die  Anzeige  des 
erfolgten  Todes  aber  unter  allen  Fällen  zu  sichern,  dürfte  es  zweck¬ 
mäßig  sein,  den  Standesbeamten  die  Verpflichtung  aufzuerlegen, 
daß  sie  die  bei  ihnen  amtlich  zur  Anmeldung  gelangenden  Todes¬ 
fälle  an  übertragbaren  Krankheiten  der  Ortspolizeibehörde  an- 
zeigen  oder,  sollte  sich  dieses  als  untunlich  erweisen,  daß  sie 
wenigstens  die  Angehörigen  des  Verstorbenen  an  ihre  Verpflichtung 
erinnern,  den  Todesfall  auch  der  Ortspolizeibehörde  anzuzeigen. 

Das  hier  mit  Bezug  auf  das  preußische  Gesetz  Erörterte  hat 
in  gleicher  Weise  auch  für  das  Reichsgesetz  vom  30.  Juni  1900 
Geltung. 

In  den  Ausführungsbestimmungen  zu  §  4  hat  Abs.  2  nur  eine 
unbedeutende  formale  Änderung  erlitten,  A  b  s  a  t  z  6  dagegen  folgenden 
Zusatz  erhalten: 

Ratschläge  an  Ärzte  für  die  Bekämpfung  der  übertragbaren 
Genickstarre,  der  Körnerkrankheit,  der  übertragbaren  Ruhr,  des 
Typhus  und  des  Milzbrandes,  sowie  zur  Verteilung  an  die  Bevölke¬ 
rung  geeignete  gemeinverständliche  Belehrungen  über  die  Diphtherie, 
die  übertragbare  Genickstarre,  die  Körnerkrankheit,  die  übertrag¬ 
bare  Ruhr,  den  Scharlach,  den  Typhus,  den  Milzbrand  und  den 
Rotz,  werden  in  der  erforderlichen  Anzahl  in  dem  Ministerium 
der  Medizinalangelegenheiten  bereit  gehalten  und  können  behufs 
Verteilung  zur  Zeit  einer  Epidemie  erbeten  werden. 

Die  zur  Verteilung  an  die  Hebammen  und  Standesbeamten 
bestimmte  gemeinverständliche  Belehrung:  „Wie  schützt  sich  die 
Wöchnerin  vor  dem  Kindbettfieber  ?“  kann  durch  Vermittlung  des 
Ministeriums  der  Medizinalangelegenheiten  zum  Selbstkostenpreis 
bezogen  werden. 

Die  Ratschläge  für  die  Ärzte  sind  in  genügender  Anzahl  den 
Regierungen  und  dem  Polizeipräsidium  in  Berlin  zur  alsbaldigen 
Verteilung  an  die  Ärzte  überwiesen  worden.  Diese,  wie  die  Be¬ 
lehrungen  für  die  Bevölkerung  und  die  Belehrungen  für  Wöchnerinnen, 
finden  sich  in  den  Sonderanweisungen  für  die  einzelnen  übertrag¬ 
baren  Krankheiten  abgedruckt. 

Nach  §  29  der  Sonderanweisung  zur  Bekämpfung  des  Kindbett- 


Ratschläge  ai 
Ärzte. 


Belehrung  fü 
Schwangere  i 
Wöchnerinnei 


158 


Franz  Nesemann, 


fiebers,  wird  den  Gemeinden  oder  weiteren  Kommunalverbänden 
empfohlen,  die  Belehrungen  für  die  Wöchnerinnen,  die  Hebammen 
und  Standesbeamten  in  angemessener  Anzahl  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Die  Standesbeamten  sollen  ferner  veranlaßt  werden,  jeder 
Person,  welche  eine  Geburt  anmeldet,  ein  Exemplar  mitzugeben, 
die  Hebammen  dagegen  angewiesen  werden,  jeder  Schwangeren, 
welche  sich  an  sie  wendet,  ein  Exemplar  davon  auszuhändigen. 

Es  sollen  also  die  Belehrungen  den  vor  oder  kurz  nach  ihrer 
Entbindung  befindlichen  Frauen  direkt  in  die  Hand  gegeben  werden. 

Nun  werden  aber  in  den  an  und  für  sich  ja  recht  wertvollen  Be¬ 
lehrungen  einmal  das  Wesen  und  die  Ursachen  des  Kindbettfiebers 
ausführlich  behandelt  und  die  Mittel  zu  seiner  Verhütung  ange¬ 
geben. 

Diese  erstrecken  sich  auf  Vorsichtsmaßregeln  bei  der  inneren 
Untersuchung  der  Schwangeren  oder  Gebärenden  sowie  auf  die 
Desinfektion  der  Hände  und  der  bei  der  Entbindung  gebrauchten 
Instrumente.  Das  sind  doch  aber  alles  Vorschriften,  die  nur  für  den 
Arzt  und  die  Hebamme  Geltung  haben,  nicht  aber  für  betreffende 
Frauen. 

Außerdem  werden  zum  Teil  für  die  Verhütung  des  Wochenbett¬ 
fiebers  Vorbedingungen  gefordert,  welche  in  der  ärmeren  Bevölke¬ 
rung  oft  nicht  erfüllt  werden  können.  Dazu  gehört  es,  wenn  ver¬ 
langt  wird,  daß  das  Geburts-  und  Wochenzimmer  hell,  groß  und 
luftig  sein  muß,  eine  Temperatur  von  17 — 19°  Celsius  haben  soll, 
daß  das  Bett  mit  einer  festen  Matratze  und  einer  wasserdichten 
Unterlage  versehen  sein  soll  usw. 

Es  ist  nun  zu  befürchten,  daß  die  betreffenden  Frauen  bei 
dem  Hinweis  auf  die  Gefahren,  welchen  sie  im  Wochenbett  aus¬ 
gesetzt  sind,  und  in  der  Erkenntnis,  daß  ihre  Verhältnisse  es  ihnen 
nicht  gestatten,  die  geforderten  Maßnahmen  zur  Verhütung  dieser 
Gefahren  zu  treffen,  ernstlich  beun r u h i g t  werden,  während  ihnen 
doch  in  ihrem  Zustande  Ruhe  des  Gemüts  besonders  vonöten  ist. 

Dieser  Ubelstand  könnte  vermieden  werden,  wenn  nur  die 
Hebammen  die  Belehrungen  in  die  Hand  bekämen  mit  der  An¬ 
weisung,  danach  die  sich  ihnen  anvertrauende  Frauen  in  schonender 
Weise  zu  belehren.  Es  dürfte  sich  dann  aber  empfehlen,  die  Be¬ 
lehrungen  weiteren  Kreisen,  namentlich  solchen  Frauenvereinen, 
welche  sich  der  Schwangeren  und  Wöchnerinnen  annehmen,  zu¬ 
gänglich  zu  machen. 

Als  eine  hohe  Aufgabe  privater  Fürsorge  dürfte  es  sich  schlie߬ 
lich  erweisen,  jede  ihrer  Entbindung  entgegensehende  Frau  unter 


Preut».  Gesetz  betr.  d.  Bekämpf,  übertragt).  Krankheiten  v.  28.  Aug.  1905.  159 


solche  hygienischen  Verhältnisse  zu  versetzen,  wie  sie  in  den  Be¬ 
lehrungen  zur  Verhütung  des  Kindbettfiebers  vorausgesetzt  werden. 


Im  zweiten  Abschnitt  betreffend  die  Ermittlung  der 
Krankheit  sind  die  Ausführungsbestimmungen  der  Übersichtlich¬ 
keit  wegen  in  zwölf  kleinere  Abschnitte  geteilt.  Außerdem  ent¬ 
hält  der  Abschnitt  viele  Änderungen  und  Zusätze. 

Die  von  dem  beamteten  Arzt  zu  veranlassenden  bakteriologischen 
Untersuchungen  sind  nach  den  jetzigen  Bestimmungen  in  jedem 
Fall  von  Typhus,  Milzbrand  und  Rotz  zu  veranlassen. 

Neu  ist  die  Bestimmung,  daß  der  beamtete  Arzt  in  Fällen 
von  Milzbrand  und  Rotz  die  Ermittlungen  im  Benehmen  mit  dem 
beamteten  Tierarzt  vorzunehmen  hat  und  daß  darauf  zu  achten  ist, 
die  gesundheitspolizeilichen  Maßnahmen  im  Einklang  mit  den  vete¬ 
rinärpolizeilichen  zu  treffen. 

Neu  ist  ferner  folgende  Bestimmung:  In  Ortschaften  mit  mehr 
als  10  000  Einwohnern,  in  welchen  die  Seuche  0  bereits  festgestellt 
ist,  haben  die  Ermittlungen  und  Feststellungen  auch  dann  zu  ge¬ 
schehen,  wenn  die  Entfernungen,  in  welchen  neue  Krankheitsfälle 
sich  ereignen,  von  den  alten  Fällen  so  groß  oder  die  örtlichen  Be¬ 
dingungen  ihrer  Entstehung  so  verschieden  sind,  daß  die  Sachlage 
nicht  viel  anders  ist,  als  wenn  die  Krankheit  in  zwei  verschiedenen, 
einander  naheliegenden  Ortschaften  ausbricht.  Es  empfiehlt  sich, 
daß  in  solchen  Ortschaften  die  Polizeibehörde  im  Einvernehmen 
mit  dem  beamtetem  Arzt  im  voraus  allgemein  Bezirke  räumlich  ab¬ 
grenzt,  in  deren  jeden  der  erste  Seuchenfall  von  ihnen  jedesmal 
behandelt  werden  soll,  wie  der  erste  Fall  der  ganzen  Ortschaft. 

In  den  Sonderanweisungen  für  die  einzelnen  übertragbaren 
Krankheiten  sind  besondere  Bestimmungen  enthalten,  welche  Punkte 
von  den  Ärzten  bzw.  beamteten  Ärzten  bei  der  Ermittlung  der 
ersten  Fälle  zu  berücksichtigen  sind.  Wegen  Raummangels  muß 
leider  auf  nähere  Angaben  verzichtet  werden. 


Jeder  Fall  von 
Typhus,  Milz¬ 
brand  u.  Rotz 
bakteriol.  zu 
untersuchen. 

Verfahren  bei 
Milzbrand  und 
Rotz. 


Ermittlungen 
in  Ortschaften 
über  10000  Ein¬ 
wohner. 


In  betreff  des  ersten  Falles  von  Diphtherie,  Körnerkrankheit  verfahren  bei 
oder  Scharlach  in  einer  Ortschaft  wird  bestimmt,  daß,  falls  der  Körnerkrank- 
Fall  nicht  einem  Arzte  angezeigt  worden  ist,  die  Polizeibehörde,  heit  und 
sobald  sie  irgendwie  Kenntnis  von  dem  Ausbruche  der  Krankheit 
erhalten  hat,  behufs  Kostenersparnis  stets  dem  fiächsterreichbaren 
Arzt  unter  Übersendung  der  Anzeige  mit  der  Ermittlung  und 


9  Unter  „Seuche“  ist  hier  jede  übertragbare  Krankheit  zu  verstehen. 


160 


Franz  Nesemann, 


Ermittlungen 
hei  jedem  Fall 
von  Kindbett¬ 
fieber. 


Wöchentliche 

Nach¬ 

weisungen. 


Bakteriolog. 

Feststellung. 


Feststellung’  des  Falls  beauftragt  ;  falls  aber  die  Anzeige  durch 
einen  Arzt  erstattet  ist,  diesen  um  die  erforderlichen  Aufschlüsse 
ersucht. 

Die  Regierungspräsidenten  3)  können  Ermittlungen  über  jeden 
einzelnen  Krankheits-  und  Todesfall  anordnen.  Neu  ist,  daß  ihnen 
empfohlen  wird,  von  dieser  Befugnis  bei  jedem  einzelnen  Krank¬ 
heits-  oder  Todesfall  an  Kindbettfieber  oder  Kindbettfieberverdacht 
Gebrauch  zu  machen. 

Die  Bestimmungen  über  die  dem  Regierungspräsidenten  nach 
Anlage  3  einzureichenden  Wochennachweisungen  über  die  gemel¬ 
deten  Erkrankungen  und  Todesfälle  übertragbarer  Krankheiten 
sind  in  der  Weise  geändert,  daß  die  Nach  Weisungen  nunmehr  von 
den  Kreisärzten,  und  zwar  am  Dienstag  zu  erstatten  sind. 
Die  Regierungspräsidenten  haben  andererseits  ihre  Wochennachwei¬ 
sungen  nach  Anlage  4  auch  dem  Kaiserlichen  Gesundheitsamt 
und  dem  Generalkommando,  und  zwar  am  Dienstag  einzureichen. 

Neu  sind  ferner  folgende  Bestimmungen:  Für  die  bakterio¬ 
logische  Feststellung  übertragbarer  Krankheiten  sind  eine  Anzahl 
staatlicher  und  städtischer  Untersuchungsanstalten  namhaft  ge¬ 
macht.  Aus  der  Zahl  dieser  Anstalten  sollen  die  Regierungspräsi¬ 
denten  im  voraus  bestimmte  Stellen  bezeichnen,  an  welche  die 
Untersuchungsobjekte  aus  ihrem  Bezirk  eingesandt  werden  können, 
ebenso  haben  sie  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  zur  Aufnahme  der 
Untersuchungsobjekte  geeignete  Gefäße  an  bestimmten  Stellen, 
welche  den  beamteten  sowie  den  praktischen  Ärzten  bekannt  zu 
geben  sind,  bereitstehen. 

Die  bakteriologischen  Untersuchungsanstalten  sind  somit  nicht 
nur  zur  amtlichen  bakteriologischen  Feststellung  der  Krankheit 
bestimmt,  sondern  können  auch  von  den  Ärzten  zur  Sicherung  der 
Diagnose,  so  besonders  bei  Diphtherie,  Genickstarre,  Typhus,  Ruhr, 
Milzbrand  und  Rotz  in  Anspruch  genommen  werden,  sobald  die 
für  den  einzelnen  Bezirk  in  Betracht  kommenden  xAnstalten  amt¬ 
lich  bekannt  gegeben  sind.  Zur  Entnahme  und  Versendung  der 
Untersuchungsobjekte  werden  dann  an  gleichfalls  bekannt  zu 
gebenden  Stellen  (Apotheken  usw.)  für  jede  der  genannten  Krank¬ 
heiten  besondere  Gefäße  bereit  gehalten  und  unentgeltlich  abgegeben, 
denen  auch  eine  Anweisung  zur  Entnahme  und  Versendung  der 
Objekte  beigefügt  sind. 


l)  Alle  Funktionen,  welche  in  den  Ausführungsbestimmungen  den  Itegie- 
rungspräsidenten  als  Landespolizeibehörde  zugewiesen  werden,  fallen  im  Landes¬ 
polizeibezirk  Berlin  dem  Polizeipräsidenten  von  Berlin  zu. 


Prenß.  Gesetz  betr.  d.  Bekämpf,  übertragb.  Krankheiten  v.  28.  Ang.  1905.  101 


Schließlich  ist  noch  die  neue  Bestimmung  zu  erwähnen,  daß  Feststellung 
der  Minister  der  Medizinalangelegenheiten  zur  endgültigen  Fest- 
Stellung  des  Typhus  in  einer  Ortschaft  auch  besondere  Sachver¬ 
ständige  an  Ort  und  Stelle  zu  entsenden  berechtigt  ist. 

Den  Schluß  der  Ausführungsbestimmungen  zu  §  6  bilden  Be¬ 
stimmungen  über  wöchentlichen  Austausch  der  Mitteilungen  über 
Erkrankungen  und  Todesfälle  an  übertragbaren  Krankheiten  zwischen 
Zivil-  und  Militärbehörden. 


Die  Ausführungsbestimmungen  zu §8  des  Gesetzes  (Schutz¬ 
maßregeln)  haben  verschiedene  wichtige  Änderungen  und  Zu¬ 
sätze  erhalten. 

•  • 

Zunächst  wird  den  Ärzten,  welche  von  der  Polizeibehörde  mit  Grundsätze  tur 
der  Ermittlung  der  Krankheit  betraut  werden,  —  nicht  beamtete  Gehenden1 
Ärzte  kommen  nur  bei  Diphtherie  und  Scharlach  in  Frage  —  zur  Vorschläge. 
Pflicht  gemacht,  bei  den  Vorschlägen,  welche  sie  den  Polizei¬ 
behörden  machen,  darauf  Rücksicht  zu  nehmen,  daß  sich  ihre  Vor¬ 
schläge  nur  auf  solche  Maßnahmen  beschränken,  welche  nach  Lage 
des  Falls  ausreichend  erscheinen  eine  Weiterverbreitung  der  Krank¬ 
heit  zu  verhüten. 

Soweit  bei  Milzbrand  und  Rotz  veterinärpolizeiliche  Interessen 
berührt  werden,  hat  sich  der  beamtete  Arzt  mit  dem  beamteten 
Tierarzt  ins  Benehmen  zu  setzen. 

Die  zur  Verhütung  der  Weiterverbreitung  eines  Falls  einer  Aufhebung  der 
übertragbaren  Krankheit  getroffenen  Maßnahmen  sind  wieder  Maßregeln- 
a  u  f  z  n heben: 

bezüglich  der  kranken  Personen  nach  erfolgter  Genesung, 
nach  Überführung  in  das  Krankenhaus  oder  nach  dem  Ableben 
des  Kranken,  in  allen  Fällen  jedoch  nur,  nachdem  die  vor¬ 
schriftsmäßige  Schlußdesinfektion  stattgefunden  hat; 

bezüglich  der  krankheitsverdächtigen  Personen  bei 
Kindbettfieber,  Rückfallfieber,  Typhus  und  Rotz,  wenn  sich  der 
Verdacht  als  begründet  nicht  herausgestellt  hat ;  bei  Typhus 
ist  dieses  erst  dann  anzunehmen,  wenn  eine  mindestens  zwei¬ 
malige  bakteriologische  Untersuchung  negativ  ausgefallen  ist. 

Absatz  I  enthält  folgende  neue  Bestimmungen:  Die  Dauer  Dauer  der 
der  zulässigen  Beobachtung  ansteckungsverdächtiger  Personen  Beobachtun«- 
beträgt  bei  Tollwut  längstens  ein  Jahr. 

Anscheinend  gesunde  Personen,  welche  in  ihren  Ausleerungen  Bazillenträger, 
die  Erreger  von  Diphtherie ,  übertragbarer  Genickstarre ,  Ruhr 
oder  Typhus  ausscheiden  („Bazillenträger“)  sind  auf  die  Gefahr, 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  11 


162 


Franz  Xesemann. 


Zureisende 

Personen. 


Absonderung 
des  Kranken. 


Aufhebung  der 
Absonderung. 


Transport 
kranker  und 
krankheits¬ 
verdächtiger 
Personen. 


welche  sie  für  ihre  Umgebung  bilden,  aufmerksam  zu  machen  und 
zur  Befolgung  der  erforderlichen  Desinfektionsmaßregeln  anzu¬ 
halten).  x) 

Die  in  A  b  s  a  t  z  II  den  Regierungspräsidenten  erteilte  Ermäch¬ 
tigung  für  zureisende  Personen,  welche  aus  Bezirken  kommen,  in 
denen  Körnerkrankheit,  Rückfallfieber  oder  Typhus  ausgebrochen 
ist,  die  Meldepflicht  anzuordnen,  wird  auf  Fälle  dringender  Gefahr 
beschränkt. 

In  Absatz  III  haben  die  Bestimmungen  über  die  Abson¬ 
derung  des  Kranken  eine  gewisse  Einschränkung  erfahren. 

So  soll  die  Absonderung  womöglich  in  der  Behausung  des 
Kranken  stattfinden;  in  Fällen,  in  denen  dieses  nicht  möglich  ist,, 
soll  der  Kranke  veranlaßt  werden,  sich  freiwillig  in  ein  Kranken¬ 
haus  zu  begeben. 

Nur  falls  die  nach  dem  Gutachten  des  beamteten  Arztes  zum 
Zweck  der  Absonderung  notwendigen  Einrichtungen  auf  Erfordern 
der  Polizeibehörde  nicht  getroffen  werden,  kann  die  zwangsweise 
Überführung  des  Kranken  in  ein  geeignetes  Krankenhaus  oder  in 
einen  anderen  geeigneten  Unterkunftsraum  angeordnet  werden,  falls 
es  der  beamtete  Arzt  für  unerläßlich  und  der  behandelnde  Arzt 
ohne  Schädigung  des  Kranken  für  zulässig  erklärt. 

Neu  sind  ferner  folgende  Bestimmungen:  Die  Absonderung 
eines  an  Ruhr  oder  Typhus '  Erkrankten  ist  auch  nach  seiner  Ge¬ 
nesung  erst  dann  aufzuheben,  wenn  sich  die  Stuhlentleerungen  des 
Kranken  bei  zwei,  durch  den  Zeitraum  einer  Woche  voneinander 
getrennten  bakteriologischen  Untersuchungen  als  frei  von  Ruhr- 
bzw.  Typhusbazillen  erwiesen  haben. 

Ist  dieses  nach  Ablauf  von  10  Wochen,  vom  Beginn  der  Er¬ 
krankung  an  gerechnet,  noch  nicht  der  Fall,  so  ist  die  Absonderung 
aufzuheben,  doch  ist  die  betreffende  Person  als  „Bazillenträger“ 
zu  behandeln. 

Es  folgen  dann  besondere  Bestimmungen  über  den  Transport 
von  Personen,  welche  nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  ab¬ 
gesondert  werden  können.  Es  betrifft  dieses  kranke  und  k  r  ank- 
heits verdächtige  Personen  (s.  Heft  3.  S.  238)  bei  Rotz,  Rück¬ 
fallfieber  und  Typhus  sowie  kranke  Personen  bei  übertragbarer 
Genickstarre,  Ruhr,  Tollwut.  Diphtherie  und  Scharlach.  Droschken, 
Straßen-  oder  Eisenbahnwagen  und  dgl.  sollen  in  der  Regel  von 


l)  In  den  ursprünglichen  Ausführungsbestimmungen  waren  die  Bazillenträger 
nur  bei  Typhus  berücksichtigt  worden. 


Preuli.  Gesetz  betr.  d.  Bekämpf,  iibertragb.  Krankheiten  v.  28.  Aug.  1905.  103 


diesen  nicht  benutzt  werden.  Ein  ausnahmsweiser  Transport  von 
Kranken  oder  Krankheitsverdächtigen  im  Sinne  des  Gesetzes  auf 
der  Eisenbahn  ist  von  der  Polizeibehörde  nur  zu  gestatten,  falls 
ein  zuverlässiger  Begleiter  mitgegeben  wird  und  weitere  Vorsichts¬ 
maßregeln  getroffen  werden.  Das  betreffende  Wagenabteil  und 
der  Abort  sind  vorschriftsmäßig  zu  desinfizieren. 


Es  ist  schon  in  seuchenfreien  Zeiten  darauf  hinzuwirken,  daß 
wenigstens  in  größeren  Städten  zur  Beförderung  der  Kranken  ge¬ 
eignete,  außen  und  innen  desinfizierbare  Fuhrwerke  von  Fuhrherrn, 
Vereinen  oder  aus  öffentlichen  Mitteln  bereit  gehalten  werden. 

Nach  jedem  Krankentransport  (es  kommen  nur  die  übertrag¬ 
baren  Krankheiten  in  Betracht)  ist  dem  Wagenführer  von  der  Orts¬ 
polizeibehörde  ein  Schein  über  die  Ausführung  des  Transports  aus¬ 
zustellen.  Diesen  hat  der  Wagenführer  innerhalb  24  Stunden  der 
Ortspolizeibehörde  mit  einem  Ausweis  über  die  Desinfektion  des 
Fuhrwerks  der  Ortspolizeibehörde  wieder  zurückzugeben. 

Im  Absatz  VIII  haben  die  Bestimmungen  über  das  Fern¬ 
halten  jugendlicher  Personen  vom  Schul-  und  Unterrichtsbesuch 
Ergänzungen  erfahren. 

Die  Bestimmungen  finden  auch  auf  Erziehungsanstalten, 
Kinderbewahranstalten,  Spielschulen,  Warteschulen,  Kindergärten. 
Krippen  u.  dgl.  Anwendung. 

Von  jeder  Fernhaltung  einer  Person  von  dem  Schul-  und  Unter¬ 
richtsbesuche  hat  die  Polizeibehörde  dem  Vorsteher  der  Schule 
(Direktor,  Rektor,  Hauptlehrer,  ersten  Lehrer,  Vorsteherin  usw.) 
unverzüglich  Mitteilung  zu  machen. 


Einrichtung 
eines  Kranken 
transport- 
wesens. 


Schulen, 
Erziehungs¬ 
anstalten  usw 


Wenn  eine  im  Schulhause  wohnhafte  Person  an  einer  der 
vorbezeichneten  Krankheiten  erkrankt,  so  wird  die  Schulbehörde 
die  Schule  unverzüglich  zu  schließen  haben,  falls  der  Kranke  nicht 
wirksam  abgesondert  werden  kann. x) 

Besonders  sorgfältig  sind  bei  dem  Ausbruch  einer  übertrag¬ 
baren  Krankheit  die  Kranken  in  Pensionaten,  Alumnaten,  Inter¬ 
naten,  Waisenhäusern  u.  dgl.  abzusondern  und  erforderlichenfalls 
unverzüglich  in  ein  geeignetes  Krankenhaus  oder  in  einen  anderen 
geeigneten  Unterkunftsraum  zu  überführen. 

Bei  Diphtherie,  übertragbarer  Genickstarre  und  Scharlach  ist 
darauf  hinzuwirken,  daß  diejenigen  Zöglinge,  welche  mit  Erkrankten 


v)  Die  Entscheidung  zu  treffen,  ob  die  Absonderung  genügt,  ist  Sache  des 
beamteten  Arztes. 


11* 


Desinfektion. 


Hausdesinfek¬ 

tion. 


164  Franz  Nesemami. 

» 

in  Berührung  gewesen  sind,  täglich  mehrmals  Rachen  und  Nase 
mit  desinfizierendem  Mundwasser  ausspülen.  Auch  ist  denjenigen 
Zöglingen,  welche  mit  Diphtheriekranken  in  Berührung  gekommen 
sind,  dringend  anzuraten,  sich  durch  Einspritzung  von  Diphtherie¬ 
heilserum  gegen  die  Krankheit  immunisieren  zu  lassen. 

Während  der  Dauer  und  unmittelbar  nach  dem  Erlöschen  der 
Krankheit  empfiehlt  es  sich,  daß  der  Anstaltsvorstand  nur  solche 
Zöglinge  aus  der  Anstalt  entläßt,  welche  nach  ärztlichem  Gut¬ 
achten  gesund,  und  in  deren  Absonderungen  die  Erreger  der  Krank¬ 
heit  nicht  nachgewiesen  sind. 

In  Absatz  XI  ist  zunächst  zu  erwähnen,  daß  die  Des¬ 
infektionsanweisung  (Anlage  5)  gegen  die  frühere  wesent¬ 
lich  vereinfacht  ist.  5  proz.  Karbolsäurelösung,  5  proz.  Kresolwasser, 
Kresolschwefelsäure,  Schmierseife  und  Steinkohlen-  oder  Holzteer 
sind  als  Desinfektionsmittel  überhaupt  fortgefallen. 

Außer  der  Desinfektion  mittels  strömenden  Wasserdampfes, 
durch  Verbrennen  und  Auskochen  infizierter  Gegenstände  kommen 
jetzt  nur  folgende  Desinfektionsmittel  in  Betracht:  verdünntes, 
2,5  proz.  Kresolwasser,  3  proz.  Karbolsäurelösung,  1/1Q  proz.  Sublimat¬ 
lösung,  Kalkmilch,  Chlorkalkmilch  und  Formaldehyd  in  Dampfform, 
oder  in  1  prozentiger  wässeriger  Lösung.  Für  die  Bereitung 
dieser  Desinfektionsmittel  sind  besondere  Vorschriften  gegeben. 

Für  die  Ausführung  der  Desinfektion  ist  es  als  besonders 
wichtig  hervorgehoben,  daß  während  der  ganzen  Dauer  der 
Krankheit  die  Desinfektion  am  Krankenbett  stattzu finden 
hat.  Es  soll  in  jedem  Fall  angeordnet  und  sorgfältig  darüber 
gewacht  werden,  daß  womöglich  vom  Beginne  der  Erkrankung  an 
bis  zu  ihrer  Beendigung  alle  Ausscheidungen  des  Kranken,  und 
die  von  ihm  benutzten  Gegenstände,  soweit  sie  als  mit  dem  Krankheits¬ 
erreger  behaftet  anzusehen  sind,  fortlaufend  desinfiziert  werden. 

Es  wird  besonders  als  Aufgabe  der  Polizeibehörde  und  der  beamteten 
•  • 

Arzte  (nach  der  zuerst  erlassenen  Anweisung  auch  der  praktischen 
Ärzte)  bezeichnet,  die  Bevölkerung  bei  jeder  sich  darbietenden, 
Gelegenheit  auf  die  Desinfektion  am  Krankenbett  hinzuweisen. 

Diese  Desinfektion  hat  sich  zunächst  auf  alle  Ausscheidungen 
des  Kranken  zu  erstrecken;  je  nach  der  Natur  der  Krankheit 
kommen  besonders  Lungen-  und  Kehlkopfauswurf.  Rachen-  und 
Nasenschleim,  dann  Gurgelwässer,  blutige,  eitrige  und  wässerige 
Mund-  und  Geschwürsausscheidungen,  bei  Sterbenden  auch  aus 
Mund  und  Nase  hervorquellende  Flüssigkeit,  weiter  Erbrochenes 


Preuß.  Gesetz  betr.  <1.  Bekämpf,  tibertragb.  Krankheiten  v.  28.  Aug.  1905.  165 


Stuhlgang  und  Harn,  endlich  Hautabgänge  (Schorfe,  Schuppen 
n.  dgl.)  in  Betracht. 

Außerdem  sind  zu  desinfizieren  Verbandgegenstände,  Vorlagen 
von  Wöchnerinnen,  Schmutz-  und  Bade  Wässer,  Waschbecken,  Spuck- 
gexäße,  Nachtgeschirre,  Steckbecken,  Badewannen  (nachdem  vorher 
der  Inhalt  desinfiziert  ist),  Eß-  und  Trinkgeschirre,  Tee-  und  E߬ 
löffel,  Messer,  Gabeln  usw.,  Spielsachen,  Bücher,  Bett-  und  Leib¬ 
wäsche,  zur  Reinigung  der  Kranken  benutzte  Tücher,  waschbare 
Kleidungsstücke,  Haar-,  Nagel-  und  Kleiderbürsten;  ferner  kommen 
für  die  Desinfektion  noch  in  Betracht  der  Fußboden  des  Kranken¬ 
zimmers,  der  Nachttisch  oder  die  Wand  in  der  Nähe  des  Bettes, 
je  nachdem  diese  mit  Ausscheidungen  des  Kranken  beschmutzt 
worden  sind.  Kehricht  und  Gegenstände  von  geringerem  Wert 
(Strohsäcke  mit  Inhalt,  gebrauchte  Lappen,  einschließlich  der  bei 
der  Desinfektion  gebrauchten,  abgetragene  Kleidungsstücke,  Lumpen 
u.  dgl.)  sind  am  besten,  wo  dieses  angängig  ist,  zu  verbrennen. 

Auch  die  mit  der  Wartung  und  Pflege  des  Kranken  betrauten 
Personen  sollen  ihren  Körper,  ihre  Wäsche  und  Kleidung  nach 
näherer  Anweisung  regelmäßig  desinfizieren,  besonders  müssen  die 
Hände  des  Kranken  und  der  ihn  umgebenden  Personen  jedesmal, 
wenn  sie  mit  infizierten  Gegenständen  (Ausscheidungen  des  Kranken, 
beschmutzter  Wäsche  usw.)  in  Berührung  gekommen  sind,  gründlich 
desinfiziert  werden. 

Fast  für  alle  diese  Desinfektionszwecke  genügt  das  verdünnte 
2,5  proz.  Kresolwasser.  Es  empfiehlt  sich  daher,  im  Kranken¬ 
zimmer  ein  Gefäß  mit  dieser  Flüssigkeit  vorrätig  zu  halten. 

Genesene  sollen  vor  Wiedereintritt  in  den  Verkehr  ihren  Körper 
gründlich  reinigen,  und  womöglich  ein  Vollbad  nehmen.  Auch  die 
sogenannte  S  c  h  1  u  ß  d  e s  i  n  f  e  k  t  i  o  n ,  d.  h.  die  Desinfektion,  welche 
erfolgt,  nachdem  der  Kranke  genesen,  in  ein  Krankenhaus  oder 
in  einen  anderen  Unterkunftsraum  übergeführt,  oder  aber  ver¬ 
storben  ist,  läßt  sich  nach  den  nunmehr  gültigen  Desinfektions¬ 
vorschriften  wesentlich  vereinfachen. 

4 

Es  lassen  sich  die  übertragbaren  Krankheiten  *)  in  2  große 
Gruppen  teilen,  nämlich  in  solche,  bei  denen  zur  Desinfektion 
der  zu  desinfizierenden  Räume  das  Formaldehydgas  anzu¬ 
wenden  ist,  und  in  solche,  bei  denen  es  nicht  anwendbar  ist. 

x)  Jn  betreff  der  Desinfektion  bei  gemeingefährlichen  Krankheiten  dürfte 
bald  eine  besondere  Anweisung  ergehen.  Eine  solche,,  steht  dem  Vernehmen 
nach  zurzeit  beim  Bundesrat  zur  Beratung. 


Scliluß- 

desinfektion. 


106 


Franz  Nesemann. 


Erlaß  von  Des¬ 
infektions¬ 
ordnungen. 


Überwachung 

der 

Desinfektion. 


Zur  ersten  Gruppe  gehören:  Diphtherie,  übertragbare  Genick¬ 
starre,  Rotz,  Rückfallfieber,  Scharlach,  Tuberkulose. 

Zur  zweiten :  Granulöse,  Kindbettfieber.  Milzbrand,  Ruhr,  Unter¬ 
leibstyphus  (einschließlich  des  Paratyphus). 

Von  den  sonstigen  oben  angeführten  Desinfektionsmitteln  ge¬ 
nügen  für  die  Wohnungsdesinfektion  vollständig  verdünntes  Krosol- 
vvasser,  Kalkmilch  und  1  %  Formaldehydlösung;  außerdem  kommt 
für  einzelne  Gegenstände  Verbrennen,  für  andere  Auskochen  in 
Betracht,  während  weitere  (nicht  waschbare  Kleidungsstücke,  Feder¬ 
betten,  wollene  Decken,  Matratzen  ohne  Holzrahmen,  Teppiche  usw.) 
am  besten  in  einer  Desinfektionsanstalt  mittels  strömenden  Wasser¬ 
dampfes  desinfiziert  werden. 

Außer  für  die  Wohnungsdesinfektion  sind  in  Anlage  5  noch  be¬ 
sondere^ Vorschriften  für  die  Desinfektion  von  Krankenwagen,  Kranken¬ 
tragen  usw.  sowie  Personenfahrzeugen  aller  Art,  dann  aber  auch 
von  Schiffen  und  Flößen  gegeben.  Für  Schifte  ist  bei  übertrag¬ 
barer  Ruhr  und  Unterleibstyphus  auch  eine  Desinfektion  des 
Kiel-(Bilge-)Raumes  vorgesehen. 

Von  weiterem  Interesse  dürften  folgende  neu  aufgenommenen 
Bestimmungen  sein :  Es  empfiehlt  sich,  in  Gemeinden  und  weiteren 
Kommunalverbänden,  welche  das  Desinfektionswesen  regeln,  in  Be¬ 
nehmen  mit  dem  beamteten  Arzt  Desinfektionsordnungen 
zu  erlassen;  diese  bedürfen  der  Genehmigung  des  Regierungsprä¬ 
sidenten. 

Die  angeordneten  Desinfektionsmaßregeln  sind,  soweit  tunlich, 
durch  staatlich  geprüfte  und  amtlich  bestellte  Desinfektoren  aus¬ 
zuführen,  jedenfalls  aber  durch  derartige  sachverständige  Personen 
zu  überwachen. Schließlich  wird  in  Abschnitt  XII  bei  Be¬ 
erdigungen  von  Leichen  der  an  einer  übertragbaren  Krankheit 
Verstorbenen  noch  besonders  das  Betreten  des  Sterbehauses  durch 
Schulkinder  verboten,  während  weitere  Verbote  für  diese  schon  in 
den  früheren  Ausführungsbestimmungen  enthalten  waren. 

Die  Sonderanweisungen  enthalten  für  einen  Teil  der  übertrag¬ 
baren  Krankheiten  noch  besondere  Bestimmungen,  betreffend  Ma߬ 
regeln  bei  gehäuftem  Auftreten  der  Krankheit  sowie  Vorbeugungs¬ 
und  Vorbereitungsmaßregeln,  die  jedoch  nur  für  die  Staats-  und 
Kommunalbehörden  von  wesentlichem  Interesse  sind. 


l)  Diese  Bestimmung  kann  sich  nur  auf  die  Schlußdesinfektion  beziehen.  Die 
Überwachung  der  Hausdesinfektion  wird,  wie  schon  S.  298  hervorgehoben,  am 
besten  dem  behandelnden  Arzte  überlassen  bleiben,  auch  Krankenschwestern  usw. 
imvertraut  werden  können. 


PreiiiJ.  Gesetz  betr.  d.  Bekämpf,  Übertrag!).  Krankheiten  y.  28.  Aug.  1905.  167 


Militär-  und 
Marine¬ 
behörden. 


In  den  Ausfuhr ungsbestimmungen  zu  den  anderen  Abschnitten 
sind  noch  folgende  Änderungen  erfolgt: 

Die  Ausführungsbestimmungen  zu  §  12  des  Gesetzes  weisen  die  verfahren  der 
Ermittelung  der  Krankheit  und  die  Ausführung  der  nach  Maßgabe 
der  Allgemeinen  Ausführungsbestimmungen  zu  dem  Gesetz  vom 
28.  August  1905  zu  ergreifenden  Schutzmaßregeln  den  Militär-  und 
Marinebehörden  zu.  soweit  es  sich  um  zu  diesen  gehörige  Militär¬ 
personen,  Grundstücke  und  Einrichtungen  handelt;  den  Eisenbahn¬ 
behörden  die  Ausführung  der  zu  ergreifenden  Schutzmaßregeln,  so¬ 
weit  es  sich  um  Maßnahmen  für  den  Eisenbahnverkehr  und  im 
Anschluß  an  diesen  geführte  Schiffahrtsbetriebe  handelt. 

Zu  §  25  haben  die  Ausführungsbestimmungen  folgenden  Zusatz  Kostenprüfung 
erhalten.  Ist  der  Vorschrift  zu  §  6  zuwider  r)  von  der  Ortspolizei¬ 
behörde  nicht  der  nächster  reichbare  Arzt  zugezogen 
worden  und  sind  hierdurch  Mehrkosten  entstanden,  so  hat  der 
Regierungspräsident  zu  prüfen,  ob  diese  Abweichung  gerechtfertigt 
erscheint.  Ist  dieses  nicht  der  Fall,  so  ist  der  Ortspolizeibehörde 
nur  derjenige  Betrag  zu  erstatten,  welcher  im  Falle  der  Zuziehung 
des  nächsterreichbaren  Arztes  entstanden  sein  würde.  Zu  §  30 
hat  Absatz  1  folgende  Erweiterungen  und  Zusätze  erhalten: 

Die  Kommunalaufsichtsbehörden  haben  beizeiten  dafür  Sorge  Beschaltung 
zu  tragen,  daß  der  Bedarf  an  Unterkunftsräumen,  Ärzten,  Pflege-  Unt™“nfts 
personal,  Arzenei,  Desinfektions-  und  Beförderungsmitteln  für  Kranke  räumen  usw. 
und  Verstorbene  durch  freiwillige  Beschaffung  seitens  der  Kom¬ 
munalverbände,  namentlich  der  Kreise,  sicher  gestellt  wird. 

In  größeren  Ortschaften  ist  auf  die  Errichtung  von  öffent¬ 
lichen  Desinfektionsanstalten,  in  welchen  die  Anwendung  von 
Wasserdampf  als  Desinfektionsmittel  erfolgen  kann,  hinzuwirken, 
sofern  solche  Anstalten  nicht  bereits  in  genügender  Anzahl  vor¬ 
handen  sind.  Die  Ausbildung  eines  geschulten  Desinfektionsper¬ 
sonals  ist  ebenfalls  rechtzeitig  vorzubereiten. 

Weitere  Änderungen  enthalten  die  nunmehr  in  Kraft  ge¬ 
tretenen  allgemeinen  Ausführungsbestimmungen  gegenüber  den  zu¬ 
erst  erlassenen  nicht. 


0  Es  handelt  sich  um  die  Entwicklung  der  ersten  Fälle  hei  Diphtherie, 
Körnerkrankheit  und  Scharlach. 


l)ev  Ausbau  der  Arbeiterversicherjing  in  Österreich. 


Von  Siegmünd  Kaff,  Wien. 


(Fortsetzung.) 

Das  erste  Kriterium  für  die  Beurteilung  des  sozialpolitischen 
Wertes  eines  Arbeitergesetzes,  welches  die  obligatorische  Ver¬ 
sicherung  bezweckt,  ist  die  Frage  nach  dem  Umfange  der  Ver¬ 
sicherungspflicht.  Nachdem  einmal  der  Versicherungszwang  in 
Theorie  und  Praxis  zum  Axiom  der  Gesetzgebung  geworden  ist, 
folgt  daraus  mit  Notwendigkeit,  daß  das  Obligatorium  für  eine 
bestimmte  Klasse  zur  möglichst  ausnahmslosen  Regel  werden  muß 
und  daß  eine  Durchbrechung  derselben  nur  dann  als  zulässig  an¬ 
gesehen  werden  kann,  wenn  die  Schwierigkeiten,  welche  einer 
obligatorischen  Einbeziehung  aller  Versicherungsbedürftigen  ent¬ 
gegenstehen,  so  ganz  außerordentlich  große  sind,  daß  sie  die  Durch¬ 
führung  des  Versicherungszwanges  unter  gewöhnlichen  Umständen 
verhindern. 

Wie  verhält  sich  nun  der  Entwurf  in  diesem  wichtigen  Punkte? 

Hier  muß  zunächst  ein  Moment  besprochen  werden,  welches 
in  der  Arbeiterversicherung  Österreichs  aktueller  ist  als  in  der 
Gesetzgebung  des  Deutschen  Reiches.  Das  Regierungsprogramm 
führt  nämlich  die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  der  Arbeiter 
ein,  verbunden  mit  einer  Unterstützung  der  hinterbliebenen  Witwen 
und  Waisen  der  Versicherten.  Während  nun  im  Deutschen  Reiche 
die  Zahl  der  gegen  Unfall  Versicherten  weitaus  größer  ist  als  die 
Zahl  der  gegen  Krankheit  und  Invalidität  Versicherten,  soll  nach 
dem  Programm  der  österreichischen  Regierung  die  Zahl  der  Unfall¬ 
versicherten  weitaus  geringer  sein  als  jene  der  gegen  Krankheit 
und  Invalidität  versicherten  Personen. 

Eine  Kongruenz  der  drei  Versicherungskreise  ist  weder  in 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


169 


Deutschland  vorhanden  noch  würde  sie  nach  dem  Regierungs¬ 
programm  bei  uns  ein  treten.  Während  aber  im  Deutschen  Reiche 
die  Inkongruenz  der  drei  Versicherungskreise  untereinander  eine 
ganz  erhebliche  ist,  würde  sich  nach  dem  vorliegenden  Entwürfe 
bloß  hinsichtlich  der  Unfallversicherung  eine  Inkongruenz  ergeben, 
indes  der  Kreis  der  Kranken-  und  Invaliditätsversicherung  sich 
nahezu  völlig  deckt.  In  Anbetracht  der  auch  vom  Regierungs- 
entwurfe  unternommenen  Versuche  einer  organisatorischen  Ver¬ 
schmelzung  der  Versicherungskreise  ist  dieses  Moment  nicht  ganz 
ohne  Belang.  Das  Regierungsprogramm  läßt  denn  auch  deutlich 
die  Absicht  erkennen,  vor  allem  zwischen  der  Kranken-  und  In¬ 
validitätsversicherung  einen  Zusammenhang  herzustellen.  Der 
deutlichste  Beweis  für  diese  gewiß  nicht  unzweckmäßige  Tendenz 
liegt  in  der  Bestimmung  der  Versicherungspflicht  hinsichtlich  der 
Kranken-  und  Invaliditätsversicherung,  der  alle  Per¬ 
sonen  unterworfen  sein  sollen,  „welche  auf  Grund  eingegangener 
Arbeits-,  Dienst-  oder  Lehrverhältnisse  nicht  in  eigener  Betriebs¬ 
stätte  arbeiten,  oder  Dienste  gegen  Entgelt  verrichten  Damit 
ist  der  Kreis  der  Versicherungspfiicht  allerdings  weit  gezogen,  er 
wird  aber  durch  so  zahlreiche  Ausnahmen  eingeengt,  daß  er  nicht 
einmal  als  Norm  gelten  kann.  Immerhin  sollen  die  Vorteile  der 
Definition  anerkannt  werden.  Der  Entwurf  kennt  mit  Recht  keine 
Grenze  nach  unten,  dafür  aber  eine  solche  nach  oben,  indem  er 
festsetzt,  daß  vom  Versicherungszwange  die  im  Monats-  oder 
Jahresgehalt  stehenden  Personen,  deren  Bezüge  monatlich  200  Kr., 
oder  jährlich  2400  Kr.  übersteigen,  ausgenommen  sein  sollen.  So 
sehr  man  nun  die  Bestimmung  einer  Maximalgrenze  als  berechtigt 
anerkennen  mag,  ebenso  sehr  wird  man  wohl  —  wenn  man  es 
nicht  doch  lieber  vorzieht,  von  der  Festsetzung  einer  Maximal¬ 
grenze  gänzlich  abzusehen  —  sich  für  eine  höher  gesteckte  Grenze 
aussprechen  müssen.  Diese  Forderung  erscheint  schon  deshalb  als 
begründet,  weil  auch  die  Kategorie  der  Beamten  in  die  Versiche¬ 
rung  einbezogen  ist  und  für  den  Fall,  daß  für  dieselben  eine  eigene 
Versicherungsorganisation,  wie  sie  der  Entwurf  betreffend  die 
Pensionsversicherung  der  Privatangestellten  vorsieht,  geschaffen 
werden  sollte,  eine  Maximalgrenze  nicht  normiert  wurde.  Ebenso¬ 
wenig  ist  dies  in  der  geltenden  Gesetzgebung  geschehen.  Das 
Abweichen  von  dem  bisherigen  Prinzipe  bezweckt  —  was  die  Re¬ 
gierung  in  den  erläuternden  Bemerkungen  zum  Entwürfe  freilich 
nicht  hervorhebt  —  eine  Konzession  an  die  Ärzte,  welche  Personen 
mit  Jahresbezügen  über  2400  Kr.  nicht  als  versicherungsbedürftig 


170 


Siegmund  Kaff. 


anerkennen  und  für  ihre  freie  Praxis  reklamieren.  Wie  sehr  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  auch  der  sogenannten  höheren  Dienst¬ 
kategorien  unter  den  Privatbeamten  und  Angestellten  die  Zulässig¬ 
keit  einer  solchen  Konzession  widerlegen,  soll  hier  nicht  weiter 
erörtert  werden.  Wir  wollen  uns  bloß  auf  die  Bemerkung  be¬ 
schränken,  daß  durch  die  Fassung  des  Regierungsentwurfes  leicht 
die  Möglichkeit  eintreten  kann,  daß  weitaus  besser  situierte  Per¬ 
sonen,  als  es  die  hier  von  der  Versicherungspflicht  ausgenommenen 
Kategorien  sind,  der  obligatorischen  Versicherung  unterworfen  sein 
könnten,  wenn  sich  nur  ihre  Bezüge  nicht  als  monatlich  oder 
jährlich  ausgezahlte  „Gehalte“  darstellen,  und  daß  entgegen  der 
Absicht  der  Regierung  leicht  ein  Einschleichen  in  die  Versiche¬ 
rungspflicht  stattfinden  könnte,  wenn  —  wie  dies  bei  nicht  wenigen 
Kategorien  von  Privatangestellten  der  Fall  ist  —  die  Auszahlung 
der  Bezüge  wöchentlich  oder  halbmonatlich  erfolgt.  Diese  Tatsache 
zeigt  zur  Genüge,  daß  die  Einschränkung  der  Versicherungspflicht, 
wie  sie  wenigstens  hinsichtlich  der  Krankenversicherung  nach  dem 
Entwürfe  gegenüber  dem  geltenden  Gesetze  erfolgt,  leicht  den 
Effekt  haben  kann,  die  sinngemäße  Anwendung  des  Gesetzes 
illusorisch  zu  machen  oder  zu  erschweren,  und  daß  es  daher  schon 
aus  rein  gesetzestechnischen  und  praktischen  Gründen  bedenklich 
erscheint,  die  in  Monatsgehalt  stehenden  Personen  auszuschließen 
und  die  Gehaltsgrenze  mit  200  Kr.  monatlich  abzustecken. 

Noch  weniger  begründet  ist  die  Ausschließung  jener  Personen, 
deren  Beschäftigung  bei  einem  und  demselben  Dienstgeber  nicht 
länger  als  drei  aufeinanderfolgende  Tage  dauert.  Auch  diese 
Kategorie  von  Versicherungsbedürftigen  unterliegt  nach  dem 
geltenden  Krankenversicherungsgesetze  dem  Versicherungszwange. 
Ihr  Ausschluß  läßt  sich  sozialpolitisch  ebensowenig  rechtfertigen, 
wie  jener  der  sogenannten  besser  situierten  Privatangestellten. 
Er  bedeutet  eine  Konzession  an  die  Dienstgeber,  aber  auch  an  die 
Kassenbureaukratie .  welche  man  von  der  administrativen  Mehr- 

7 

arbeit,  die  die  unständigen  Personen  verursachen,  befreien  will. 
Aber  heben  denn  „Saison“  und  wechselnde  Konjunktur  die  Ver¬ 
sicherungsbedürftigkeit  auf?  Oder  muß  etwa  diese  ihre  Schranke 
finden  an  der  mehr  oder  minder  größeren  Leichtigkeit  bei  der 
Durchführung  des  Gesetzes  ?  Es  soll  nicht  weiter  bestritten  werden, 
daß  sich  heute  schon  durch  die  fortwährende  An-  und  Abmeldung, 
sowie  durch  die  wechselnde  Beitragsabfuhr  unstabiler  Lohnarbeiter 
mancherlei  Schwierigkeiten  ergeben  haben.  Allein  es  ist  gerade 
nach  den  bisherigen  Erfahrungen  zum  mindesten  zweifelhaft,  ob 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich.  171 

es  einen  praktisch  wertvollen  Ausweg  bedeutet,  von  den  unstabilen 
Lohnarbeitern  gerade  diejenigen  auszuschließen,  deren  Beschäftigung 
bei  demselben  Dienstgeber  nicht  länger  als  drei  aufeinander¬ 
folgende  Tage  dauert.  Es  soll  hierbei  die  sozialpolitische  Seite 
gar  nicht  erörtert,  sondern  nur  in  Parenthese  bemerkt  werden,  daß 
die  Ausnahmsstellung  der  unstabilen  Arbeiter  hinsichtlich  der 
Krankenversicherung  vielfach  dazu  führen  wird,  daß  die  Dienst¬ 
geber  von  einer  dreitägigen  Beschäftigung  Umgang  nehmen  werden, 
um  der  Versicherung  zu  entgehen.  Allein  selbst  wenn  man  sich 
auf  den  rein  administrativen  Standpunkt  stellt  und  die  Frage  nach 
der  Durchführbarkeit  des  Gesetzes  beurteilt,  wird  der  Praktiker 
zugeben  müssen,  daß  mit  dem  teilweisen  Ausschluß  der  unstabilen 
Lohnarbeiter  auch  administrativ-technisch  nicht  allzu  viel  gewonnen 
werden  könnte,  weil  es  in  der  Praxis  schwer  halten  dürfte,  die 
Versicherungspflichtigen  von  den  übrigen  herauszugreifen.  Gerade 
die  Teilung  dieser  Kategorie  von  bisher  versicherungspflichtigen 
Personen  ist  sehr  geeignet,  die  Handhabung  des  Gesetzes  zu 
komplizieren,  und  es  stellt  sich  deshalb  diese  Bestimmung  als  eine 
ganz  überflüssige  Verschlechterung  des  gegenwärtigen  Zustandes 
dar,  bei  dem  die  angeblich  administrativen  Vorteile  in  keinem 
Verhältnis  zum  Endeffekt  stehen.  Allein  selbst  wenn  man  die  Un- 
zukömmlichkeit ,  die  die  ausnahmslose  Versicherung  verursacht, 
noch  so  hoch  veranschlagen  würde,  darf  daraus  keineswegs  die 
Zulässigkeit  eines  Ausschlusses  gefolgert  werden;  vielmehr  müßte 
dieser  Umstand  nur  dazu  benützt  werden,  um  die  Unmöglichkeit 
oder  Unzweckmäßigkeit  zu  illustrieren,  die  in  der  Verquickung 
des  Arbeitsvertrages  und  der  Versicherungspflicht  liegt.  Ist  es 
nicht  angängig,  den  ersteren  von  der  letzteren  vollständig  zu 
emanzipieren,  so  müßte  es  im  Hinblick  auf  die  unständigen  Arbeiter 
als  notwendig  befunden  und  angesehen  werden,  den  Versicherungs¬ 
zwang  in  gewissen  Fällen  unabhängig  vom  Dienstvertrag  zu 
machen.  Die  Regierung  selbst  empfindet  die  Härte  des  Ausschlusses 
und  räumt  deshalb  den  hiervon  Betroffenen  das  Recht  des  frei¬ 
willigen  Versicherungsverhältnisses  ein;  damit  gibt  sie  selbst  die 
Überschätzung  der  administrativen  Schwierigkeit  zu  und  schwächt 
die  Gründe  ab,  die  sie  zum  Ausschlüsse  veranlaßten. 

Eine  dritte  schwerwiegende  Ausnahme  betrifft  die  land- 
und  forstwirtschaftlichen  Arbeiter,  soweit  dieselben  nicht 
unter  die  Dienstboten-  und  Gesindeordnungen  fallen.  Diese 
Kategorie  von  Versicherungsbedürftigen  war  zwar  bisher  nicht 
krankenversicherungspflichtig;  ihre  nunmehrige  Einbeziehung  ist 


172 


Siegmund  Kaff. 


offenbar  unter  dem  Gesichtspunkte  erfolgt,  daß  es  sich  hier  um 
eine  Masse  handelt,  für  welche  der  Versieherungszwang  durchaus 
notwendig  ist.  Dadurch  aber,  daß  die  Versicherungspflicht  auf  die 
den  Dienstboten(Gesinde)-ordnungen  unterstehenden  Knechte  und 
Mägde  der  Land-  und  Forstwirtschaft  beschränkt  wird,  welche 
heute  im  Erkrankungsfalle  auf  eine  vierwöchentliche  Naturalver¬ 
pflegung  seitens  des  Dienstgebers  Anspruch  haben,  bleibt  die  über¬ 
wiegende  Mehrzahl  der  land-  und  fortwirtschaftlichen  Arbeiter 
außerhalb  der  Versicherung;  denn  nicht  nur  der  Großgrundbesitz^ 
auch  die  mittleren  Landwirte  sowie  die  Kleinbauern  beschäftigen 
heute  vielfach  nichtständige  Arbeiter.  Insbesondere  zur  Erntezeit 
schwillt  die  Zahl  dieser  vorübergehend  beschäftigten  Tagelöhner 
derart  an,  daß  sie  die  Menge  des  ständigen  Gesindes  weitaus  über¬ 
ragt.  Es  hat  aber  auch  in  anderer  Beziehung  sein  Mißliches,  die 
vollständig  veralteten  Dienstboten-  und  Gesindeordnungen  zum  Aus¬ 
schluß  einer  nicht  bloß  zahlenmäßig,  sondern  auch  sonst  schwer 
feststellbaren  Masse  von  versicherungsbedürftigen  Personen  zu  be¬ 
nützen.  In  der  Praxis  würde  sich  eine  solche  Scheidung  als  voll¬ 
ständig  verfehlt  heraussteilen,  weil  weder  die  Grundbesitzer  noch 
die  versicherungsbedürftigen  Landproletarier  an  der  Einhaltung 
dieser  Bestimmungen  interessiert  erscheinen  und  eine  strikte 
Durchführung  des  Gesetzes  auch  hier  an  den  Wirklichkeiten  des 
wirtschaftlichen  Lebens  ohnmächtig  zerschellen  würde.  Die  Agrar¬ 
verfassung  muß  sozialpolitisch  genommen  werden,  wie  sie  ist  und 
darf  kein  Hindernis  bilden  für  die  Anerkennung  des  Prinzips  der 
Versicherungspflicht,  wenn  man  sich  überhaupt  teilweise  dafür 
schon  zu  engagieren  bereit  ist.  Aber  nicht  bloß  sozialpolitisch, 
auch  agrarpolitisch  erscheint  der  Ausschluß  der  landwirtschaftlichen 
Tagelöhner  unangebracht. 

Ja,  man  muß  sagen,  daß  die  Bedenken,  die  hinsichtlich  des 
Ausschlusses  der  unständigen  Arbeiter  geäußert  wurden,  in  ver¬ 
stärktem  Maße  gegen  die  unvollständige  Einbeziehung  der  land¬ 
wirtschaftlichen  Arbeiter  in  die  Versicherungspflicht  sich  geltend 
machen  lassen.  Die  Landflucht  wird  durch  die  Beschränkung  der 
Versicherung  auf  die  Arbeits-  und  Hausgenossen  des  Landwirts 
nicht  im  geringsten  oder  nur  unwesentlich  eingeschränkt  werden. 
Sie  wird  vielmehr  dazu  führen,  daß  die  der  Hausgenossenschaft 
des  Landwirts  nicht  angeliörigen  Arbeiter  in  erhöhtem  Grade  das 
Bedürfnis  empfinden  werden,  in  der  Industrie  Beschäftigung  zu 
finden,  und  die  Landflucht  wird  um  so  größere  Dimensionen  an¬ 
nehmen,  je  auffälliger  der  Unterschied  zwischen  der  Lebenshaltung 


Der  Ausbau  der  Arbeiter  Versicherung-  iu  Österreich. 


173 


des  ständigen  Dienstpersonals  und  dem  vorübergehend  beschäftigten 
Tagelöhner  in  der  Landwirtschaft  sich  gestaltet.  Dazu  kommt, 
daß  die  Zahl  der  bäuerlichen  und  landwirtschaftlichen  Betriebe, 
von  welchen  ständiges  Arbeitspersonal  gehalten  wird,  überhaupt 
im  Abnehmen  begriffen  ist,  und  daß  das  agrarische  Arbeitsver¬ 
hältnis  mein*  und  mehr  den  ursprünglichen  patriarchalischen  Cha¬ 
rakter  verliert.  Die  Naturallöhnung  spielt  nicht  mehr  jene  Rolle 
wie  einstmals,  und  die  Verhältnisse  nähern  sich  hinsichtlich  der 
Inständigkeit  jenen  gewisser  Industriezweige,  nur  daß  diese  Ände¬ 
rung  für  beide  Gruppen  der  Landbevölkerung  von  weit  un¬ 
günstigeren  Konsequenzen  begleitet  ist,  als  dies  beim  Übergang 
vom  Handwerksbetriebe  zur  Großindustrie  der  Fall  war. 

Auch  bei  den  übrigen  Kategorien  Versicherungsbedürftiger 
kommen  wesentlich  administrativ-technische  Momente  in  Betracht. 
Die  Eigenartigkeit  der  Arbeitsverhältnisse  macht  die  glatte  Ein¬ 
beziehung  schwierig  und  läßt  die  Frage  einer  besonderen  Organi¬ 
sation  als  zunächst  nicht  unberechtigt  erscheinen.  Allein  bei 
näherem  Zusehen  ergibt  sich  doch,  daß  die  Schwierigkeiten  auch 
hier  stark  überschätzt  und  dadurch  nicht  geringer  werden,  daß 

man  die  betreffenden  Kategorien  aus  dem  Rahmen  der  allgemeinen 

•  • 

Versicherung  ausschaltet.  Uber  die  sozialpolitische  Notwendigkeit 
der  Fürsorge  selbst  besteht  kein  Zweifel.  Im  Gegenteil,  sie  ist 
gerade  bei  diesen  Kategorien  vielfach  größer  als  bei  der  Mehrheit 
der  industriellen  Arbeiter.  Nur  daß  eben  die  erhöhte  Versicherungs¬ 
bedürftigkeit  die  Durchführung  erschwert.  Darf  das  aber  ein 
Hindernis  sein? 

Die  Versicherung  der  Seeleute  und  zwar  sowohl  gegen 
Krankheit  und  Invalidität  wie  gegen  Unfall  wird  von  der  Re¬ 
gierung  selbst  als  dringlich  anerkannt,  und  es  kann  sich  daher 
bloß  um  die  Prüfung  der  Frage  handeln,  ob  die  Versicherung  der¬ 
selben  durch  ein  eigenes  Gesetz  von  den  speziellen  Verhältnissen 
dieser  Kategorie  unbedingt  gefordert  wird.  Im  Deutschen  Reiche 
ist  der  Unfall-Berufsgenossenschaft  der  Seeleute  auch  die  Invaliden¬ 
versicherung  übertragen  und  wenn  man  auch  die  Art  der  Organi¬ 
sation  als  strittig  hinstellen  kann  —  die  Entscheidung  der  Ver¬ 
sicherungspflicht  durch  das  allgemeine  Gesetz  ist  sicherlich  als 
zweckmäßig  zu  bezeichnen. 

Vollständig  außerhalb  der  Kranken-  und  Invalidenversicherung 
bleibt  ferner  die  Heimarbeit,  wiewohl  die  Aufdeckung  der 
Verhältnisse  in  dieser  Sphäre  der  Produktion  die  soziale  Not¬ 
wendigkeit  des  Versicherungszwanges  längst  dargetan  hat.  Hier 


174 


Siegnmnd  Kaff. 


gilt  das  vorhin  Gesagte  in  verstärktem  Maße.  Wenn  auch  die 
besonderen  Verhältnisse  der  Heimarbeiter  die  Versicherung  im 
Rahmen  eines  allgemeinen  Gesetzes  nicht  vollständig  und  in  jedem 
Detail  leicht  regeln  lassen,  so  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß 
sich  auch  bei  der  Ausarbeitung  eines  speziellen  Gesetzes  Schwierig¬ 
keiten  ergeben  müssen,  die  nicht  geringer  sein  können,  als  sie  an 
sich  schon  sind.  Worum  es  sich  gegenwärtig  handelt,  ist, 
wenigstens  den  Versicherungszwang  und  die  Versicherungsleistungen 
grundsätzlich  durch  das  allgemeine  Gesetz  festlegen  zu  lassen. 
Alles  übrige  kann  der  weiteren  Durchführung  auf  dem  Verord¬ 
nungswege  überlassen  werden.  Die  Sache  selbst  ist  längst  spruch¬ 
reif  und  wenn  die  Regierung  trotzdem  mit  der  endlichen  Regelung 
zögert,  so  ist  der  Verdacht  nicht  abzuwehren,  daß  politische  Mo¬ 
mente  mitspielen,  und  daß  diese  bislang  gewichtig  genug  sind,  um 
die  sozialen  und  wirtschaftlichen  Rücksichten  verstummen  zu 
machen.  Wie  wenig  aber  im  Grunde  genommen  die  technischen 
Bedenken  ins  Gewicht  zu  fallen  brauchen,  ist  durch  Spezialforscher 
auf  dem  Gebiete  der  Heimarbeit,  wie  Professor  Sch  wiedland, 
überzeugend  dargetan  worden.  Die  Regierung  fühlt  denn  auch 
die  Schwäche  ihrer  Vorschläge  und  sie  läßt  deshalb  für  die  Heim¬ 
arbeiter  wie  auch  für  die  hausindustriell  tätigen  Personen,  welche 
sich  von  den  ersteren  nur  dadurch  unterscheiden,  daß  sie  ein 
Kollektivum  (die  Familienmitglieder)  darstellen  und  Frauen-  und 
Kinderarbeit  mit  umfassen,  die  Selbst  Versicherung  zu  und 
behält  sich  überdies  die  Einbeziehung  —  generell  oder  teilweise 
nach  bestimmten  Berufsarten  (Gewerbszweigen)  —  in  einzelne  oder 
alle  Versicherungen  vor.  Das  gleiche  gilt  hinsichtlich  der  Klein¬ 
gewerbetreibenden,  welche  industrielle  Erzeugnisse  ausschließlich 
oder  hauptsächlich  nur  für  Rechnung  anderer  Unternehmer  her- 
steilen  oder  bearbeiten.  Die  freiwillige  Invalidenver¬ 
sicherung  ist  ferner  zulässig  bei  den  nicht  der  Gesindeordnung 
unterliegenden  Landarbeitern,  den  unständigen  Arbeitern  und  bei 
Personen,  welche  keinen  Barlohn  beziehen. 

Den  bisher  aufgezählten  Ausnahmen  von  der  Kranken-  und 
Invaliditätsversicherung  gesellen  sich  noch  weitere  hinzu,  die  sich 
speziell  auf  die  Invaliditäts Versicherung  beziehen.  Von  derselben 
sollen  —  allerdings  bloß  bedingungsweise  —  die  Privat¬ 
beamten  ausgenommen  werden,  wenn  nämlich  für  sie  eine  be¬ 
sondere  Pensions Versicherung  geschaffen  werden  sollte.1)  Ein  dies- 


1  Was  inzwischen  geschehen  ist. 


Der  Ausbau  <ler  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


175 


bezüglicher  Entwurf  liegt  denn  auch,  vom  sozialpolitischen  Aus¬ 
schüsse  des  Abgeordnetenhauses  wesentlich  geändert,  vor,  ohne  daß 
aber  die  Berechtigung  einer  Sonderorganisation  eine  Vertiefung 
erfahren  hätte.  Im  Gegenteil ,  der  versicherungstechnische  Iso¬ 
lierungsversuch ,  der  da  bei  den  Privatangestellten  unternommen 
wurde,  ist  ein  Schulbeispiel  dafür,  daß  die  mangelhafte  Fürsorge, 
wenn  sie  sich  nur  auf  die  breiten  Massen  der  Allgemeinheit  stützt, 
noch  immer  vorzuziehen  ist  einer  bloßen  Standesorganisation. 
Zwar  haben  sich  große  Kreise  um  die  Schaffung  einer  solchen  leb¬ 
haft  bemüht.  Allein  nicht  minder  groß  ist  die  Zahl  derjenigen 
Privatangestellten,  die  von  einer  Ausschaltung  aus  dem  Rahmen 
der  allgemeinen  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  nichts  wissen 
wollen ,  und  ebenso  haben  sich  zahlreiche  Körperschaften  der 
Industriellen  (Handelskammern,  Industrierat  sowie  Privatverbände) 
gegen  die  Abtrennung  der  Privatbeamten  ausgesprochen. 

Mit  großem  Nachdruck  tat  dies  auch  die  Arbeiterschaft.  In 
der  Tat  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  es  sich  hier  um  eine 
prinzipiell  wichtige  Frage  handelt,  die  nicht  bloß  die  Privat¬ 
beamten  allein  angeht.  Es  ist  für  die  Gesamtheit  keineswegs 
gleichgültig,  ob  eine  große  Menge  von  versicherungsbedürftigen 
Personen  versicherungstechnisch  und  organisatorisch  isoliert  wird 
oder  nicht.  Dafür  mögen  Gründe  der  Politik  sprechen,  in  der  Eigen¬ 
art  des  Kreises  der  Versicherungspflichtigen  sind  sie  nicht  zu 
suchen.  Die  Sonderversicherung  steht  im  Widerspruch  mit  dem 
von  der  Regierung  wiederholt  ausdrücklich  anerkannten  Grundsatz 
eines  möglichst  umfangreichen  Risiken- Ausgleichs.  Nicht  minder 
spricht  gegen  eine  solche  Maßregel  die  Notwendigkeit  einer  übrigens 
durch  das  Regierungsprogramm  selbst  versuchten  organischen  Ver¬ 
einigung  aller  Versicherungszweige  und  innerhalb  derselben  aller 
-körper.  Es  ist  klar,  daß  die  Momente,  welche  für  einen  solchen 
Zusammenschluß  sprechen,  in  erhöhtem  Maße  geltend  gemacht 
werden  können,  wenn  es  sich  um  einen  einzigen  Versicherungs¬ 
zweig  handelt.  Ist  es  unzweckmäßig  —  weil  unökonomisch  —  die 
Rentenversicherung  in  einem  bloß  losen  Zusammenhänge  mit  der 
Versicherung  gegen  vorübergehende  Arbeitsunfähigkeit  zu  belassen, 
so  muß  es  noch  widersinniger  genannt  werden,  wenn  für  einen 
und  denselben  Versicherungszweig  mehrere  Körper  geschaffen 
werden.  Es  liegt  weder  wirtschaftlich  noch  sozial  ein  zureichender 
Grund  vor,  die  Privatangestellten  anders  zu  behandeln  als  die 
übrige  Masse  der  versicherungsbedürftigen  Personen.  Steht  man 
aber  auf  dem  gegenteiligen  Standpunkt,  dann  erfordert  es  die 


176 


SiegTimnd  Kaff. 


Konsequenz,  auch  hinsichtlich  der  Unfall-  und  Krankenversicherung' 
die  Privatbeamten  aus  der  allgemeinen  Organisation  auszuscheiden. 
Gegen  eine  solche  Separation  lassen  sich  aber  zahlreiche  versiche¬ 
rungstechnische,  finanzielle  sowie  administrative  und  nicht  zuletzt 
auch  politische  Gründe  anführen.  Wir  wollen  hier  nur  auf  einen 
einzigen  Punkt  aufmerksam  machen.  Die  von  der  Kranken-  und  In¬ 
validenversicherung  ausgeschlossenen  Beamten  der  höheren  Kate¬ 
gorien  (mit  Jahresbezügen  von  mehr  als  2400  Kr.)  können  nach 
dem  Programm  eine  freiwillige  Krankenversicherung  eingehen, 
doch  wird  ihre  Aufnahme  von  den  statutarischen  Satzungen  ab¬ 
hängig  gemacht.  Wir  haben  schon  auf  die  praktischen  Schwierig¬ 
keiten  hingewiesen,  die  sich  der  Durchführung  dieses  Grundsatzes 
entgegenstellen  würden.  Die  Sache  würde  um  kein  Haar  erleich¬ 
tert  werden,  wenn  man  ein  anderes  Kriterium  als  die  Bezüge  — 
beispielsweise  die  längere  Kündigungsfrist  —  heranziehen  würde. 
Durch  die  eventuelle  Ausschaltung  sämtlicher  Privatbeamten  aus 
der  Invalidenversicherung  würde  nun  eine  ganz  ungeheuerliche 
Komplikation  entstehen.  Ein  Teil  der  Privatangestellten  wäre 
nämlich  krankenversicherungspflichtig,  ein  anderer  Teil  freiwillig 
für  den  Krankheitsfall  versichert,  ein  dritter  Teil  überhaupt  ohne 
jede  Krankenfürsorge.  Der  krankenversicherte  Teil  würde  überdies 
verschiedenen  Kassenkategorien  angehören.  Und  ebenso  würden 
die  der  Invalidenversicherungspflicht  unterliegenden  Kategorien  der 
Privatbeamten  den  verschiedenartigsten  Pensionsinstituten  zugeteilt 
sein.  Daß  eine  solche  Zersplitterung  allen  administrativen  Grund¬ 
sätzen  widerspricht,  bedarf  keiner  weiteren  Erörterung.  Man  fragt 
vergebens,  wozu  diese  ganz  überflüssige  Unterscheidung  gemacht 
wird.  Gibt  es  Gründe  für  eine  andere  Behandlung  der  Privat¬ 
beamten  (denen  übrigens  auch  die  Handlungsgehilfen  beigesellt 
werden)  auf  dem  Gebiete  der  Invalidenfürsorge,  warum  nicht  auch 
auf  dem  der  Krankenversicherung? 

Eine  weitere  Ausnahme  von  der  Invalidenversicherungspflicht 
betrifft  das  Alter.  Jene  Personen,  welche  das  60.  Lebensjahr 
noch  nicht  erreicht  haben,  sowie  diejenigen,  die  erst  nach  dem 
60.  Lebensjahre  versicherungspflichtig  werden  oder  beim  Inkraft¬ 
treten  des  Gesetzes  das  bezeichnete  Alter  bereits  überschritten 
haben,  sollen  ausgeschlossen  sein.  Bei  dieser  Ausnahme  handelt  es 
sich  um  eine  versicherungstechnische  oder  genau  ausgedrückt,  um 
eine  finanz-politische  Maßregel,  die  mit  der  Tendenz  des  Gesetzes 
durchaus  nicht  in  Einklang  gebracht  werden  kann.  Erwägt  man. 
daß  es  sich  um  eine  verhältnismäßig  geringfügige  Zahl  von  Per- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung-  in  Österreich. 


177 


sonen  handelt,  und  daß  man  demgemäß  die  finanzielle  Wirkung, 
welche  durch  die  Berücksichtigung  der  im  vorgerückten  Alter  be¬ 
findlichen  Personen  hervorgerufen  wird,  bedeutend  überschätzt,  so 
wird  man  dieser  Ausnahme  das  Motiv  der  Notwendigkeit  kaum 
zuerkennen  können.  Für  diese  Kategorie  versicherungstechnische 
Übergangsmöglichkeiten  zu  schaffen,  würde  nicht  auf  unüberwind¬ 
liche  Schwierigkeiten  stoßen.  Ebenso  muß  es  als  unbillig  be¬ 
zeichnet  werden,  daß  Personen,  die  ein.en  Gehalt  oder  Lohn  in 
Barem  nicht  beziehen,  von  der  Invalidenversicherung  ausgeschlossen 
werden  sollen.  Diese  Ausnahme  ist  schon  deshalb  unverständlich 
und  unmotiviert,  weil  ja  die  versicherungspflichtigen  land-  und 
forstwirtschaftlichen  Arbeiter  ebenfalls  zum  großen  Teil  auf  die 
Naturallöhnung  angewiesen  sind  und  dennoch  als  versicherungs¬ 
pflichtig  erklärt  werden. 

Endlich  sind  von  der  Invalidenversicherung  solche  Personen 
ausgenommen,  die  bereits  invalid  sind  oder  im  Genüsse  einer  Rente 
im  Mindestausmaße  des  Grundbetrages  der  zweiten  Lohnklasse 
(150  Kr.  jährlich)  aus  einem  öffentlichen  Pensionsinstitute  stehen. 

Befreit  können  diejenigen  Personen  werden,  die  eine  Unfall¬ 
rente  im  Mindestausmaße  von  drei  Fünfteln  der  Vollrente  seit 
mindestens  drei  Jahren  beziehen,  ohne  daß  sie  als  invalid  anzusehen 
sind ;  doch  soll  bei  Wegfall  dieser  Rente  die  Invalidenversicherungs- 
pflicht  wieder  aufleben. 

Eine  ganz  neue  Stellung  erhält  nach  dem  Programm  die  U  n  - 
fallversicherung  angewiesen.  Sie,  die  bisher  im  Hinblick  auf 
ihre  Entwicklung  aus  der  Haftpflicht  und  dem  Schadenersatzrechte 
einen  vollgültigen  Rang  besessen  hatte,  soll  nunmehr  eine  unter¬ 
geordnete  Stellung  einnehmen  und  bloß  ein  Akzessorium  zur  all¬ 
gemeinen  Invaliden-  und  Krankenversicherung  bilden,  das  nicht  die 
besonders  schweren  Berufsgefahren  in  gewissen  Betrieben  sondern 
bloß  die  historische  Entstehung  erforderlich  macht.  Die  Gründe 
für  diese  Herabdrückung  dieses  bisher  als  vollwertig  betrachteten 
Versicherungszweiges  treten  nicht  sofort  klar  zutage.  Sie  werden 
jedoch  erkenn-  und  feststellbar,  wenn  man  die  auf  die  Unfallver¬ 
sicherung  bezüglichen  Spezialvorschriften  einer  kritischen  Prüfung 
unterzieht.  Vorläufig  sei  nur  festgestellt,  daß  der  Kreis  der  unfall¬ 
versicherten  Personen  keine  Erweiterung  erfährt,  weil  das  Pro¬ 
gramm  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  daß  sich  die  Unfallver¬ 
sicherung  auf  die  Entschädigung  solcher  Unfälle  zu  beschränken 
habe,  die  in  den  bisher  als  ganz  spezifisch  unfallgefährlich  erkannten 
Betrieben  sich  ereignen.  Daß  der  Charakter  und  das  Wesen  des 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  12 


178 


Siegmuml  Kaff. 


Betriebsunfalls  der  gleiche  bleibt,  ob  er  in  einem  fabriksmäßig  oder 
in  einem  handwerksmäßig  betriebenen  Berufe,  ob  er  im  Verkehrs¬ 
oder  im  Handelsgewerbe  sich  ereignet,  darauf  nimmt  das  Programm 
keine  Rücksicht,  weil  für  die  Regierung  nicht  so  sehr  soziale  und 
wirtschaftliche  als  vielmehr  politische  Gründe  maßgebend  waren.  Das 
Programm  begnügt  sich  deshalb  damit,  an  dem  Kreis  der  unfallver¬ 
sicherungspflichtigen  Personen  verschiedene  kleine  Korrekturen  vor¬ 
zunehmen.  Zunächst  werden  die  Bergarbeiter,  deren  Provisionsver¬ 
sicherung  für  Unfälle  nicht  ausreicht  ,  in  die  Unfallversicherung 
einbezogen.  Ein  schlagendes  Argument  dafür,  daß  die  Invalidenver¬ 
sicherung  —  auch  wenn  sie  durch  die  Annahme  mehrerer  Invaliden¬ 
grade  abgestuft  würde  —  durchaus  nicht  als  Ersatz  für  die  wesent¬ 
lich  höhere  Entschädigungen  leistende  Unfallversicherung  aufgefaßt 
werden  kann.  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  nebenbei  bemerkt, 
daß  es  sich  doch  wohl  auch  empfehlen  würde,  den  Ausschluß  der 
Bergwerke  auf  nicht  vorbehaltene  Mineralien  (Erdharze)  aufzuheben. 
Eine  sehr  einschneidende  Korrektur  wurde  hinsichtlich  der  bei  Bau¬ 
betrieben  beschäftigten  Arbeiter  vorgenommen.  In  der  bisherigen 
Praxis  wurden  die  sogenannten  Werkstättenarbeiter  nicht  als  unfall¬ 
versicherungspflichtig  angesehen,  wiewohl  sie  unter  Umständen  von 
den  Unfallsgefahren  genau  so  bedroht  sind,  wie  die  unmittelbar 
am  Bau  selbst  beschäftigten  Personen.  Das  Programm  versucht 
die  Grenze  der  Unfallversicherungspflicht  bei  Betrieben,  die  sich 
auf  Bauausführungen  erstrecken,  durch  Aufzählung  der  einzelnen 
Kategorien  genau  zu  präzisieren.  Die  Aufzählung  ist  jedoch  eine 
unvollständige  ;  es  fehlen  beispielsweise  die  Glaser,  Hafner,  Pflasterer, 
Asphaltierer,  Schlosser,  Tapezierer,  Zimmermaler.  Aber  auch  sonst 
bedürfen  die  Bestimmungen  über  die  Unfallversicherungspflicht 
mancherlei  Ergänzungen.  So  wären  neben  den  Gruben  auch  die 
Gräbereien  zu  erwähnen,  ferner  die  Betriebe  der  Schmiede,  Fleisch¬ 
hauer  und  Selcher.  Bei  der  Aufzählung  der  Bauunternehmungen 
fehlen  die  Erdarbeiten. 

Ungenügend  motiviert  ist  der  Ausschluß  des  Personals  solcher 
Gewerbetreibender,  die  nur  einzelne  Bauarbeiten  auszuführen  haben 
und  deren  Gewerbebetrieb  an  sich  der  Versicherungspflicht  nicht 
unterliegt.  Ferner  die  Beschränkung  der  Versicherungspflicht  auf 
Betriebe,  in  welchen  zwar  Dampfkessel  oder  motorisch  bewegte 
Maschinen  verwendet,  nicht  aber  Verkehrsgegenstände  erzeugt  oder 
verarbeitet  werden.  Auch  daß  Lagerungsbetriebe,  die  nicht  mit 
einer  Handelsunternehmung  verbunden  sind,  außerhalb  der  Ver¬ 
sicherungspflicht  bleiben,  läßt  sich  nach  den  bisherigen  Erfahrungen 


Der  Ausbau  der  Arbeiter  Versicherung'  in  Österreich. 


179 


Aaiim  rechtfertigen.  Ein  Mangel  liegt  ferner  in  der  fehlenden 
Definition  des  Fabriksbegriffes,  der  durch  die  bisher  hierfür  geltende 
Ministerialverordnung  nur  ungenügend  umgrenzt  ist. 

Zieht  man  alle  Ausnahmen  von  der  Versicherungspflicht  hin¬ 
sichtlich  der  Fürsorge  für  vorübergehende  und  dauernde  Erwerbs¬ 
unfähigkeit  in  Betracht,  dann  schrumpft  der  Kreis  der  Versicherten 
ganz  bedeutend  zusammen  und  es  wird  nicht  einmal  jene  Zahl  er¬ 
reicht,  die  das  Regierungsprogramm  angibt.  Dabei  zeigt  sich,  daß 
die  Gründe  für  den  Ausschluß  lediglich  administrativer  und  finan¬ 
zieller  Natur  sind  und  daß  weder  diesen  noch  jenen  das  Schwer¬ 
gewicht  zukommt,  welches  ihnen  die  Regierung  beimißt.  Die  Zu¬ 
lässigkeit  der  freiwilligen  Selbstversicherung  ist  ganz  wertlos,  die 
Befugnis  der  Regierung  zur  nachträglichen  Einbeziehung  in  den 
Versicherungszwang  von  problematischem  Wert,  die  Ausschließung 
der  Landwirtschaft  und  anderer  Produktionsgruppen  aus  der  Unfall¬ 
versicherung  eine  direkte  Gefahr  und  Schädigung  der  übrigen 
Interessenten. 

(Fortsetzung  folgt.) 


der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung“  vom  5.  Juli  1906. 

Vorsitzender:  Herr  May  et.  Schriftführer:  Herr  Gott  st  ein. 

•• 

Herr  L.  Feile henfeld:  Uber  den  Unterschied  zwischen  der  staat¬ 
lichen  und  privaten  Unfallversicherung'.  Die  Unterscheidung’  zwischen  der 
staatlichen  und  privaten  Unfallversicherung  hat  einen  theoretischen  und  einen 
praktischen  Wert.  Sie  ist  theoretisch  wichtig,  weil  sie  zu  der  schärferen  Be¬ 
griffsbestimmung  des  Unfalls  beitragen  kann,  die  noch  immer  der  Versicherungs¬ 
technik  große  Schwierigkeit  bereitet.  Praktisch  ist  sie  von  Bedeutung  sowohl 
für  die  staatliche,  weil  diese  aus  der  privaten  Unfallversicherung  hervorgegangen 
ist  oder  wenigstens  nach  ihrem  Vorbilde  eingerichtet  wurde,  als  auch  besonders 
für  die  Privatversicherung,  weil  wiederum  die  ärztliche  Begutachtung  der  Ver¬ 
letzten  und  die  gerichtliche  Entscheidung  in  strittigen  Fällen  außerordentlich  von 
den  Gepflogenheiten  bei  der  staatlichen  Versicherung  beeinflußt  wird.  Die  Frage 
ist  zweifellos  eine  vorwiegend  juristische.  Aber  wir  können  als  Ärzte  durchaus 
nicht  auf  die  Kenntnis  solcher  wichtigen  Begriffe  verzichten,  da  unser  Gutachten 
schließlich  die  Grundlage  für  den  Spruch  des  Richters  bilden  muß  und  wesentlich 
die  Klarstellung  des  Falles  erleichtert.  Übrigens  ist  bereits  hier  eine  Verschieden¬ 
heit  bei  beiden  Versicherungsanstalten  vorhanden,  die  ich  aber  erst  später  aus¬ 
führlicher  berühren  will.  Auch  kann  ich  nicht  auf  die  feineren  juristischen 
Unterschiede  eingehen,  sondern  will  mein  Thema  rein  praktisch  vom  ärztlichen 
Standpunkte  behandeln.  Der  Unfall  ist  eine  aus  drei  verschiedenen 
V  o  r  g  ä  n  g  e  n  zusammengesetzte  Begebenheit,  nämlich  aus  dem 
Unfallereignis,  der  Unfall  Verletzung  und  den  Unfallfolgen. 
Die  Unfallverletzung  hat  am  wenigsten  charakteristische  Merkmale  für  eine 
Differenzierung  bei  den  verschiedenartig  Versicherten.  Das  Wesentliche,  das  ihr 
die  Besonderheit  gibt,  liegt  in  der  Tatsache  des  Unfalls,  in  dem  Unfallereignis. 
Dieses  ist  es  daher  hauptsächlich,  das  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch  nehmen  wird.  Das  Unfallereignis  muß  durch  mehrere  Eigenschaften 
ausgezeichnet  sein,  wenn  wir  es  als  solches  anerkennen  sollen,  durch  Plötz- 


x)  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  27  der 
„Medizinischen  Reform“,  herausg.  von  R.  Le  null  off. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  181 


lichkeit.  Zufälligkeit,  Äußerlichkeit  und  Gewaltsamkeit.  Ich  folge  hierin  der 
Ansicht  von  Gerkrath,1)  der  von  diesen  Kriterien  des  Unfalls  behauptet, 
dall  sie  im  Grunde  von  den  staatlichen  Avie  den  privaten  Versicherungsanstalten 
beachtet  AArerden.  Aber  freilich  —  hier  zeigt  sich  der  wichtigste  Unterschied  — 
die  Arbeiterversicherung  beschränkt  ihre  Entschädigungspflicht  auf  die  im  Be¬ 
triebe  vorkommenden  Unfälle.  Das  ist  eine  rein  willkürliclie*  keinesfalls  der 
Natur  des  Unfalls  anhaftende  Einschränkung.  Denn  ob  ein  Maurer  von  der 
Leiter  fällt  und  sich  ein  Bein  bricht,  indem  er  auf  seinem  Hofe  Kirschen  vom 
Baume  pflückt,  oder  ob  er  auf  einem  Baugerüst  arbeitet,  das  ist  hinsichtlich  der 
Verletzung  selbst  ganz  gleichgültig.  Aus  dieser  Tatsache,  aus  der  Voraussetzung 
des  Betriebsunfalls  ist  ersichtlich,  daß  die  öffentliche  Versicherung  eine  soziale 
Einrichtung  ist  und  die  Bedeutung  einer  Fürsorge  hat  für  den  in  einem  Betriebe 
besonderen  Gefahren  ausgesetzten  Arbeiter.  Alle  Unterschiede  sind  auf  dieses 
Grundprinzip  zurückzuführen.  Denn  die  private  Versicherung  steht  auf  dem 
rechtlichen  Boden  ihrer  Vertragsbedingungen,  nach  deren  Auslegung  sie  die  An¬ 
sprüche  des  Versicherten  erfüllt  oder  ablehnt.  Und  die  Vertragsbedingungen  sind 
vor  allem  darauf  gerichtet,  das  Unfallereignis  als  etAvas  Unerwartetes,  vom 
Willen,  aber  auch  von  der  besonderen  körperlichen  und  geistigen  Verfassung  des 
Versicherten  Unabhängiges  zu  behandeln.  Daher  wird  die  private  Versicherung 
in  einer  Beziehung  Aveiter  gehen,  als  die  staatliche,  indem  es  für  sie  nichts  aus¬ 
macht,  ob  der  Unfall  im  Beruf  oder  außerhalb  des  Berufs  erlitten  Avurde:  aber 
sie  Avird  doch  Aviederum  weniger  Aveitherzig  sein  mit  Rücksicht  auf  die  näheren 
Umstände  des  Unfallereignisses,  sondern  strenger  in  ihren  Forderungen  sein 
müssen  in  betreff  der  Tatsache  eines  solchen.  Über  die  Anforderueg  der  Plötz¬ 
lichkeit  des  Unfallereignisses  ist  in  diesem  Vereine  bereits  ausführlich  bei  der 
Besprechung  der  Berufskrankheiten  verhandelt  worden.  Diese  spielen  bei  Privat¬ 
versicherungen  keine  große  Rolle,  weil  hier  eben  der  Nachdruck  auf  den  Unfall 
gelegt  wird .  Avährend  das  Erleiden  einer  Krankheit  durch  den  Betrieb  und 
während  des  Betriebes  AArohl  zur  Erörterung  der  Frage  führen  kann,  wieweit 
die  Störung  in  der  Gesundheit  des  Versicherten  durch  Aviederholte  schwächere 
Unfallereignisse  verursacht  Avorden  ist.  Bei  manchen  inneren  Krankheiten  könnte 
man  so  zu  dem  Resultat  kommen,  daß  in  der  Tat  eine  häufige,  sei  es  innerliche 
oder  äußerliche  Verletzung  stattgefunden  hat.  Bisher  haben  aber  die  Berufs- 
genossenschaften  eine  solche  Auslegung  nicht  für  zulässig  gehalten.  Wohl  aber 
wird  oft  bei  der  staatlichen  Versicherung  eine  wenn  auch  länger  dauernde,  jedoch 
immerhin  auf  einen  bestimmten  Zeitraum  sich  erstreckende  Anstrengung  als 
Unfallereignis  anerkannt.  Das  typische  Beispiel  hierfür  ist  der  von  Becker  in 
seinem  Lehrbuch  angeführte  Fall  jenes  Kapitäns,  der  nach  mehrstündiger  Leitung 
seines  Schiffes  Avährend  eines  Typhons  einen  Herzschlag  erlitt  und  starb.  Hier 
wurde  der  Unfall,  AAreil  das  Unglück  sich  im  Betriebe  ereignete,  angenommen, 
obgleich  man  von  einer  Plötzlichkeit  im  Sinne  eines  Unfallereignisses  gewiß  nicht 
sprechen  konnte.  Immerhin  war  hier  ein  anderes  Avesentliches  Kriterium  vor¬ 
handen,  nämlich  die  GeAvaltsamkeit  des  Naturereignisses,  die  mit  der  Plötzlich¬ 
keit  innig  zusammenhängt  und  sie  aa  oIiI  auch  zum  Teil  ersetzen  kann.  Trotzdem 
Aväre  jene  Entscheidung  bei  einer  privaten  Unfallversicherung  kaum  denkbar. 
Denn  es  fehlt  jede  Erkennbarkeit  einer  Verletzung,  die  bei  der  Privatversicherung 
eine  Rolle  spielt.  Am  besten  erkennen  wir  die  Natur  des  Unfallbegriffs,  Avenu 


l)  Zur  Begriffsbestimmung  des  Unfalls,  Zeitschr.  f.  Ver.  Wissensch.,  1906. 


182  Aus  (1er  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


wir  die  verschiedenen  Einschlüsse  und  Ausschlüsse  auf  die  zugrunde  liegende 
Berechtigung  prüfen.  Eine  durch  den  Druck  des  zu  engen  Stiefels  schief  ge¬ 
wordene  Zehe,  ein  ein  gewachsener  Nagel,  eine  Schleimbeutelentzündung  am  Knie 
(Hausmaidknee)  sind  keine  Unfälle,  weil  ihnen  das  Plötzliche,  das  Einmalige  der 
äußeren  Gewalteinwirkung  fehlt.  Solche  Fälle  werden  also  von  vornherein  als 
versicherungspflichtig  ausscheiden.  Sie  sind  übrigens  bei  beiden  Versicherungs- 
arten  kaum  strittig.  Schwieriger  liegt  die  Frage  bei  dem  Erfrieren  und  dem 
Hitzschlage.  Bei  der  staatlichen  Versicherung  ist  wiederum  der  Nachweis  nötig, 
daß  das  Unglück  sich  im  Betriebe  ereignete;  bei  der  privaten  steht  nach 
Gerkrath  für  die  Erfrierungen  nichts  im  Wege,  die  Entschädigungspüicht 
anzuerkennen,  obgleich  hier  doch  das  Plötzliche  der  Schädlichkeit  fehlt.  Für 
den  Hitzschlag  aber,  für  den  das  Plötzliche  geradezu  charakteristisch  ist,  müsse 
man  eine  körperliche  Disposition  annehmen,  so  daß  hier  nicht  ein  objektives 
Risiko,  welches  allein  die  Grundlage  aller  Unfallversicherungen  bildet,  vorliegt, 
sondern  ein  subjektives,  das  anderer  Einrichtungen  bedürfe,  als  die  Unfallver¬ 
sicherung  zur  Deckung  anwende.  Ich  komme  auf  diesen  Punkt  noch  zurück. 
Eine  gewisse  Gewaltsamkeit  ist  also  mit  die  Voraussetzung  bei  dem  Unfall¬ 
ereignis.  Nicht  ein  Streicheln  ist  ein  Unfall,  sondern  ein  Schlag  oder  Stoß,  nicht 
ein  langsamer  Druck,  sondern  eine  Quetschung.  Man  sieht,  daß  diese  Begriffe 
der  Plötzlichkeit  oder  Gewalt  ineinander  übergehen.  Die  Äußerlichkeit  ist  ein 
ferneres  wesentliches  Merkmal  des  Unfalls.  Aber  damit  ist  nicht  gesagt,  daß 
jedes  Unfallereignis  äußerlich  sichtbar  oder  erkennbar  gewesen  sein  muß.  Bei 
einer  Muskelzerrung  ist  ja  scheinbar  die  Ursache  des  Ereignisses  eine  innerliche. 
Aber  nur  scheinbar.  In  Wirklichkeit  ist  der  Grund  in  einem  äußeren  Vorfall 
zu  suchen.  Die  betreffende  Person  wollte  einen  schweren  Ballen  Ware  von  einem 
Spinde  herunterholen  und  machte  dabei  eine  plötzliche,  gewaltsame  Anstrengung, 
oder  es  gibt  sich  jemand,  um  das  Ausgleiten  zu  verhüten,  einen  plötzlichen 
Ruck.  Das  sind  reine  Unfälle,  wenn  auch  hier  die  genaue  ärztliche  Begutachtung 
des  Unfallereignisses  notwendig  ist,  weil  oft  ein  Muskelrheumatismus  mit  der 
Muskelzerrung  verwechselt  werden  kann.  Die  öffentliche  Versicherung  ist  im 
Vorteil  vor  der  privaten,  weil  sie  bei  allen  Unfällen  eine  genaue  Feststellung 
sowohl  der  Tatsache  des  Unfallereignisses  verlangt  und  erhält,  als  auch  der 
näheren  Gründe  und  Umstände,  die  zu  dem  Ereignis  geführt  haben  und  führen 
könnten,  oder  mußten.  Dadurch  wird  von  vornherein  die  Sicherheit  geschaffen, 
daß  entweder  eine  Betriebsstörung  die  Ursache  war  oder  eine  so  und  so  geartete 
außergewöhnliche  Anstrengung  die  Veranlassung  gewesen  ist.  Nichts  von  alle¬ 
dem  ist  bei  der  Privatversicherung  möglich.  Selten  sind  Zeugen  des  Vorfalls 
vorhanden,  noch  seltener  wird  ein  Beweis  nach  dieser  Richtung  erhoben.  Viel¬ 
mehr  kommt  alles  auf  das  Urteil  des  untersuchenden  Arztes  an  und  dieser  richtet 
sich  zumeist  nach  der  Aussage  des  Verletzten,  die  er  freilich  nach  der  Wahr¬ 
scheinlichkeit  beurteilt,  ob  die  vorliegende  Beschädigung  durch  einen  Unfall  be¬ 
wirkt  sein  kann.  Ich  komme  zu  dem  wichtigsten  Kriterium  des  Unfallereignisses, 
der  Zufälligkeit.  Wichtig  ist  es  namentlich  für  die  private  Versicherung.  Eine 
große  Schuld  wie  das  Herabspringen  von  einem  in  voller  Fahrt  befindlichen 
Straßenbahnwagen  verwirkt  das  Anrecht  auf  Unfallentschädiguug.  Grobe  Fahr¬ 
lässigkeit  beeinträchtigt  den  Anspruch  aber  auch  bei  der  Berufsgenossenschaft. 
Wiederum  geben  uns  am  besten  die  Ausschlüsse  Aufklärung,  weil  sie.  wie 
Gerkrath  mit  Recht  behauptet,  nur  Erläuterungen  des  Unfallbegriffs  sind.  Bei 
einer  Schlägerei,  die  provoziert  wurde,  bei  einem  Wettrennen,  bei  einem  Duell, 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin. 


Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


183 


handelt  es  sich  doch  nicht  um  zufällige  Ereignisse,  wenn  eine  Verletzung  zu¬ 
stande  kommt,  sondern  um  etwas,  das  zu  erwarten  war,  und  das  durch  den 
eigenen  Willen  des  Versicherten  herbeigeführt  wurde.  Anders  wieder  bei  dem 
Versuch,  einen  in  Gefahr  befindlichen  Menschen  zu  retten.  Hier  handelte  der 
etwa  Verunglückte  bei  seinem  Rettungswerke  unter  einem  Zwange,  nämlich  dem 
äußeren,  unvorhergesehenen,  also  von  seinem  Willen  unabhängigen  Ereignisse. 
Tatsächlich  werden  solche  Verunglückungen  als  Unfälle  entschädigt.  Anders, 
wenn  jemand  selbst  Hand  an  sich  legt.  Dann  handelt  er  nur  aus  innerem 
Zwange,  weder  zufällig,  noch  unabsichtlich,  weshalb  Selbstmord  mit  Recht  nicht 
ein  Unfall  genannt  wird.  Auch  wird  eine  Operation  nicht  als  Unfall  gelten,  weil 
jedes  Merkmal  der  zufälligen  unvorhergesehenen  Verletzung  fehlt.  Daher  kann 
auch  der  ungünstigste  Ausgang  einer  Operation  nie  als  Unfall  angesehen  werden 
und  gleichfalls  nicht  eine  Verletzung  beim  Nägelschneiden,  die  nichts  anderes  ist 
als  eine  Operation  mit  ungünstigem  Ausgang.  Wenigstens  ist  sie  bei  den  meisten 
Versicherungen  besonders  ausgeschlossen.  Etwas  anderes  muß  ich  noch  als  be¬ 
sonders  medizinisch  wichtig  erwähnen,  das  ist  die  Entstehung  des  Unfallereig¬ 
nisses  infolge  einer  inneren  Erkrankung.  Hier  fehlt  sicherlich  auch  dem  Unfall¬ 
ereignisse  das  Zufällige,  wenn  wir  nacliweisen  können,  daß  es  eben  wegen  des 
inneren  Leidens  wohl  zu  erwarten  war.  Wenn  ein  Epileptiker  einen  Krampf¬ 
anfall  erleidet,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  er  in  Abwesenheit  einer  be¬ 
aufsichtigenden  Person  hinfällt.  Daher  pflegt  die  Privatversicherung  solche  Fälle 
nicht  zu  entschädigen;  wohl  aber  die  öffentliche,  falls  der  Unfall  sich  im  Be¬ 
triebe  ereignete.  Bemerkenswert  ist  ein  Fall,  von  dem  ich  das  gerichtliche  Gut¬ 
achten  anführen  will,  weil  hier  offenbar  eine  ganz  falsche  Auffassung  des  Unfall¬ 
begriffs  zu  dem  für  die  Gesellschaft  ungünstigen  Urteile  führte.  Der  Fall  ist 
übrigens  auch  von  Gerkrath  bereits  erwähnt  worden.  Ein  Hauptmann  a.  D., 
der  wiederholt  an  Schwindelanfällen  litt,  reitet  auf  ebenem  Boden  und  fällt 
vom  Pferde  infolge  eines  Schwindelanfalls,  wie  allseitig  angenommen  wurde. 
Es  entwickelt  sich  eine  geistige  Störung  bei  ihm .  die  zum  Teil  schon 
vorher  bestanden  haben  soll.  Das  Gericht  verurteilte  die  Gesellschaft  zur 
Zahlung  der  vollen  Rente.  (Aus  dem  Urteil  des  Oberlandesgerichts  in 
Sachen  L.  contra  Urania.)  Bildet  somit  der  Sturz  vom  Pferde,  oder  richtiger 
gesprochen  das  durch  den  Sturz  bedingte  heftige  Aufschlagen  des  Kopfes  auf  den 
harten  Boden  der  Straße  das  Ereignis,  welches  die  Körperverletzung  des  Klägers 
zur  Folge  gehabt  hat,  so  fragt  sich  nur  noch,  ob  jenes  Ereignis  im  Sinne  der 
Allgemeinen  Versicherungs-Bedingungen  der  Beklagten  als  „Unfall“,  d.  h.  als  ein 
solches  Ereignis  zu  betrachten  ist,  welches  gewaltsam,  plötzlich  und  unabhängig 
vom  Willen  des  Versicherten  von  außen  her  mit  mechanischer  Gewalt  auf  ihn 
gewirkt  hat.  Dem  Berufungsgerichte  ist  es  unbedenklich  erschienen,  die  Frage 
zu  bejahen.  Die  Beklagte  hat  zwar  dieser  Auffassung  widersprochen.  Sie  ver¬ 
mißt  den  von  außen  her  kommenden  Anstoß  zu  dem  Sturze,  ipdem  sie  nur  solche 
Ereignisse  als  Unfälle  gelten  lassen  will,  welche  aktiv  und  mit  aggressiver  Ge¬ 
walt  auf  den  Versicherten  als  leidenden  Teil  einwirken.  Sie  denkt  dabei  offen¬ 
bar  an  die  Fälle,  wo  jemand  durch  einen  herabstürzenden  Balken  getroffen  oder 
von  einem  Wagen  überfahren  wird  oder  an  Verletzungen  durch  den  Huf  schlag 
eines  Pferdes,  durch  den  Biß  eines  Hundes  und  dem  ähnliche.  Eine  derartige 
in  den  Sinn  fallende  äußere  Gewalteinwirkung  auf  den  Kläger  läge  nicht  vor,  da 
er  infolge  eines  innerlichen  Vorgangs  des  Bewußtseins  beraubt,  lediglich  nach 
dem  Gesetze  der  Schwerkraft  vom  Pferde  herabgesunken  sei,  und  durch  das  Auf- 


184  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

schlagen  auf  den  Fußboden  sich  selbst  verletzt  habe.  Der  Ansicht  der  Beklagten 
läßt  sich  indes  nicht  beipflichten.  Sie  haftet  zu  sehr  an  der  Wortfassung  der 
Bestimmung  in  §  1  Abs.  1  der  Versicherungs-Bedingungen;  sie  führt  zu  einer 
Einengung  des  Unfallbegriffs,  die  von  den  Kontrahenten  des  Versicherungsantrags 
gewiß  nicht  gewollt  ist  und  widerstreitet  zudem  der  Anschauung  des  gewöhn¬ 
lichen  Lebens.  Wer  auf  glattem  Parkett  ausgleitet  und  sich  im  Fallen  verletzt, 
der  Dachdecker,  der  infolge  eines  Fehltritts  vom  Dache  herunterstürzt,  der 
Spaziergänger,  der.  weil  er  kurzsichtig  ist,  in  eine  am  Wege  liegende  Grube 
fällt,  der  Tourist,  der  beim  Überschreiten  eines  über  den  Bach  gelegten  Baum¬ 
stammes  das  Gleichgewicht  verliert  oder  der,  weil  er  nicht  schwindelfrei  ist, 
vom  steilen  Abhange  herabfällt:  —  sie  alle  erleiden  Unfälle  im  Sinne  der  Ver¬ 
sicherungs-Bedingungen  und  sie  würden  gewiß  schwer  enttäuscht  sein,  wenn  die 
Beklagte  in  solchen  Fällen  ihre  Entschädigungspflicht  ablehnen  wollte  unter  Be¬ 
rufung  darauf,  daß  ihr  Sturz  nicht  durch  die  äußere  Einwirkung  einer  fremden 
Körperkraft,  sondern  ausschließlich  durch  das  Naturgesetz  der  Schwere  veranlaßt 
worden  sei.  Das  hier  von  außen  her.  plötzlich  und  unabhängig  von  dem  Willen 
des  Versicherten  mit  mechanischer  Gewalt  auftretende  Ereignis  liegt  in  dem 
Aufschlagen  des  Körpers  auf  den  Erdboden,  oder,  wenn  man  lieber  will:  in  dem 
äußeren  Widerstande,  den  der  durch  die  Anziehungskraft  der  Erde  abwärts  ge¬ 
zogene  menschliche  Körper  am  festen  Erdboden  findet.  An  einer  äußeren  Gewalt- 
e  in  Wirkung  fehlt  es  also  auch  in  diesem  Falle  keineswegs,  und  es  liegt  daher  in 
der  Tat  kein  Grund  vor,  ihn  von  der  Entschädigungspflicht  der  Versicherungs¬ 
gesellschaft  auszuschließen.  Den  Gegensatz  zum  „Unfall“  als  einem  zeitlich  be¬ 
grenzten.  plötzlichen,  körperlichen  Ereignisse  bildet  die  auf  allmählicher  Entwick¬ 
lung  und  meist  auf  inneren  Ursachen  beruhende  organische  Erkrankung. 
Derselbe  Gegensatz  der  Begriffe  tritt  auch  auf  dem  Gebiete  der  öffentlichen 
Unfallversicherungs-Gesetzgebung  des  Reiches  in  Erscheinung.  Die  Versicherungs¬ 
gesellschaft,  welche  gegen  körperliche  Unfälle  Versicherung  gewährt,  will  damit 
grundsätzlich  innere  organische  Erkrankungen  ausgeschlossen  wissen.  Sie  steht 
lediglich  ein  für  die  wirtschaftlichen  Folgen  körperlicher  Beschädigungen,  sofern 
und  soweit  sie  sich  auf  mechanische  Einwirkungen  von  außen  her  zurückführen 
lassen.  Im  wesentlichen  und  auf  dem  gleichen  Standpunkte  steht  aber  auch  das 
Unfallversicherungsgesetz  vom  6.  Juli  1884,  insofern  es  sich  ebenfalls  unter  Aus¬ 
scheidung  der  Fürsorge  für  Krankheitsinvalidität,  auf  die  Versicherung  gegen 
Unfälle  bei  dem  Betriebe  beschränkt.  Obwohl  das  Gesetz  sich  nicht  ausdrücklich 
darüber  ausspricht,  was  es  unter  Unfall  versteht,  so  herrscht  doch  im  großen 
und  ganzen  Übereinstimmung  darüber,  daß  dazu  begrifflich  die  Einwirkung  eines 
äußeren  Vorgangs  auf  den  menschlichen  Körper  zu  fordern  sei,  gleichviel,  wo¬ 
durch  die  Einwirkung  im  einzelnen  Falle  hervorgebracht  wird,  und  ob  durch 
Naturkräfte,  durch  dritte  Personen,  durch  den  Verletzten  selbst  oder  ob  durch 
irgend  welche  andere  zufällige  Umstände.  Dagegen  sind  Vorgänge  im  Innern 
eines  Menschen,  welche  ohne  Einwirkung  von  außen  sich  vollziehen,  im  Sinne  des 
Gesetzes  keine  Unfälle.“  Hier  wird  also  der  Fehler  begangen,  daß  man  haupt¬ 
sächlich  nur  die  Unfall  Verletzung  beachtet  mit  den  Unfallfolgen,  die  aber  auch 
nicht  allein  durch  die  Verletzung  bedingt  sind,  sondern  noch  durch  die  vorauf¬ 
gegangene  Krankheit  kompliziert  wurden.  Dem  Falle  fehlte  nicht  nur  das 
Äußerliche  (wogegen  das  Urteil  ankämpft),  sondern  auch  das  Zufällige,  weil  bei 
der  Neigung  zu  Schwindel  entschieden  das  Besteigen  des  Pferdes  vermieden 
werden  mußte  und  das  Herunterfallen  somit  ein  wohl  zu  erwartendes  Ereignis 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  185 


war.  Ganz  anders,  wenn  das  Pferd  über  einen  Stein  gestrauchelt  oder  durch  ein 
Automobil  scheu  gemacht  worden  wäre.  Dann  hätten  Avir  ein  wirklich  zufälliges, 
unvorhergesehenes  und  von  außen  einwirkendes  Ereignis  als  Ursache  der  Unfall¬ 
verletzung  zu  verzeichnen.  Ich  verfüge  über  einen  ähnlichen  Fall,  in  dem  das 
Gericht  zu  der  entgegengesetzten  Entscheidung  gelangte.  Ein  45jähriger  Land- 
Avirt  Aval*  infolge  von  Schwindelanfällen  die  Treppe  hinuntergefallen  und  hatte 
sich  die  Schulter  verstaucht.  Der  Arzt  stellte  xArteriosklerose  und  Neigung  zu 
SchAvindelanfällen  fest,  die  auch  schon  heim  Vater  und  Großvater  bestanden  haben 
sollten.  Das  Gericht  nahm  an,  daß  der  Unfall  durch  das  innere  Leiden  hervor¬ 
gerufen  worden  war  und  lehnte  die  Klage  auf  Entschädigung  ab.  Eine  Berufs¬ 
genossenschaft  aber  beAvilligte  in  diesem  Falle  45  Proz.  Beute  wegen  dauernder 
Behinderung  der  Schulter.  Ein  Aveiterer  Fall  ist  bemerkenswert.  Ein  50  jähriger 
Maurer  empfindet  beim  Aufreißen  von  Holz  einen  heftigen  Schmerz  in  der  Brust, 
Avird  ohnmächtig,  bricht  zusammen  und  stirbt  nach  Avenigen  Stunden.  Sektion: 
Zerreißung  des  Ansatzes  der  Aorta  infolge  von  Fettherz.  Ablehnung  von  der 
Privatversicherung,  während  der  Fall  von  der  Berufsgenossenschaft  als  Betriebs¬ 
unfall  anerkannt  wird.  Von  der  Unfallverletzung  habe  ich  schon  gesagt,  daß  sie 
nichts  Avesentlich  Erkennbares  an  sich  hat.  Entweder  liegt  eine  chirurgische 
Krankheit  vor.  ein  äußerliches  Leiden,  das  freilich  stets  durch  eine  mechanische 
Gewalt  bewirkt  sein  muß,  oder  es  handelt  sich  um  eine  innerliche  Verletzung, 
hei  der  es  Avohl  zuweilen  schwierig  sein  kann,  die  Ursachen  sicher  zu  erkennen. 
Hier  trifft  nun  Avieder  das  zu.  was  ich  schon  einmal  gesagt  habe.  Bei  der  öffent¬ 
lichen  Versicherung  kann  der  Betriebsleiter,  oder  eiii  Sachverständiger  oder  Mit¬ 
arbeiter  Näheres  über  die  Vorgänge  bei  dem  Unfallereignis  im  Betriebe  angeben. 
Als  je  erheblicher  sich  dieses  Ereignis  darstellt,  um  so  Avahrscheinlicher  Avird  der 
Unfall  als  Grund  der  vorliegenden  Krankheit  erscheinen.  Bei  der  privaten  Ver¬ 
sicherung  hat  der  Arzt  hauptsächlich  die  Entscheidung  in  seiner  Hand.  Er  soll 
möglichst  objektiv  sein  Urteil  darüber  abgeben,  ob  die  Verletzung  oder  das 
Leiden  des  Versicherten  durch  einen  versicherungspflichtigen  Unfall  beAvirkt 
Avurde.  Weiter  will  ich  auf  diesen  Punkt  nicht  eingehen,  sondern  noch  etAvas 
hei  dem  dritten  Vorgänge  venveilen,  der  zu  dem  Begriff  eines  Unfalls  gehört, 
bei  den  Unfallfolgen.  Diese  setzen  sich  Aviederum  aus  mehreren  Momenten  zu¬ 
sammen.  Sie  zeigen  das  Besultat  aus  Unfallereignis  und  Unfallverletzung,  avozu 
aber  noch  als  erheblich  mitwirkend  zAvei  Umstände  kommen,  einmal  die  Erwar- 
tung  und  der  Wunsch  einer  hohen  Bente  und  zAveitens  das  allgemeine  körperliche 
Verhalten  des  Versicherten  zur  Zeit  des  Unfallereignisses.  Daß  die  Begehrungs¬ 
vorstellungen  eine  große  Bolle  bei  beiden  Arten  von  Unfallverletzten  spielen,  ist 
•eine  zu  bekannte  Tatsache,  als  daß  man  sie  noch  begründen  müßte.  Ich  will 
nur  erwähnen,  daß  ich  vor  zAvei  Jahren  einen  jungen  Arzt  veranlaßte,  den  Ver¬ 
lauf  bei  etwa  100  Unfällen  bei  einer  Privatversicherung  zu  untersuchen.  Wir 
haben  dabei  durch  Vergleich  mit  bekannten  Zahlen  aus  den  großen  chirurgischen 
Kliniken  festgestellt,  daß  bei  allen  Versicherten  die  Unfallfolgen  weit  schlimmer 
waren,  als  bei  Nichtversicherten,  ja,  daß  ganz  typische  Verletzungen,  wie  Unter¬ 
schenkelbrüche  und  Schulterkontusionen  oft  das  Doppelte  der  Zeit  zur  Heilung 
gebrauchten,  Avie  dieselben  Verletzungen,  wenn  keine  Bente  zu  erwarten  Avar. 
Das  Nähere  ist  in  der  Arbeit  von  Samson  (Zeitschr.  f.  Vers.  Wiss.  1905) 
nachzulesen.  Hier  besteht  also  bei  beiden  Versicherungsarten  kein  Unterschied. 
Noch  wichtiger  aber  als  die  Begehrungs  Vorstellungen  ist  die  Frage  nach  der  Be¬ 
teiligung  der  etAva  bei  dem  Unfallereignis  schon  vorhandenen  Krankheiten  au 


186  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


dem  ganzen  im  Gefolge  des  Unfalls  auftretenden  Krankheitsbilde.  Diese  Frage 
wird  auf  dem  IV.  internationalen  Kongreß  f.  Vers.-Med.  im  September  d.  J.  ein¬ 
gehend  behandelt  werden.  Ich  möchte  aber  doch  kurz  auf  einiges,  mein  heutiges 
Thema  Betreffendes  eingehen.  Der  Zusammenhang  zwischen  innerer  Krankheit 
und  Trauma  beschäftigt  in  hohem  Maße  auch  die  öffentliche  Versicherung.  Der 
Unterschied  liegt  wohl  hauptsächlich  darin,  daß  die  Staatsversicherung  eine 
mildere  Auffassung  für  geboten  hält,  die  private  sich  zur  strengeren  Auseinander¬ 
haltung  von  Verletzung  und  innerer  Krankheit  für  verpflichtet  hält.  Becker  • 
zitiert  folgenden  hierauf  bezüglichen  Ausspruch  des  Reichsversicherungsamts: 
„Wollte  man  unter  allen  Umständen  einen  stringenten  Nachweis  verlangen  (näm¬ 
lich  des  Zusammenhangs  einer  Krankheit  mit  einem  Unfall),  so  würde  man  damit 
gegen  den  Geist  der  Gesetzgebung  verstoßen,  deren  Segnungen  in  manchen  Fällen 
illusorisch  machen.  Es  handelt  sich  nicht  um  eine  privatrechtliche  Versicherung, 
sondern  um  eine  öffentlich-rechtliche  Fürsorge.“  —  Und  weiter:  „für  dessen  An¬ 
wendung  deshalb  nicht  Grundsätze  maßgebend  sein  dürfen,  welche  gegenüber 
der  Privatversicherung  vielleicht  statthaft  erscheinen  möchten“.  Ich  führe  diese 
Sätze  darum  an,  weil  sie  als  Beweis  dafür  gelten  müssen,  daß  die  ersten  recht¬ 
lichen  Vertreter  der  staatlichen  Versicherungsanstalten  die  Berechtigung  an¬ 
erkennen,  bei  der  Behandlung  der  erwähnten  Fragen  einen  wesentlichen  Unter¬ 
schied  zu  machen  zwischen  den  beiden  Versicherungsarten.  Man  wird  hiernach 
bei  der  Privatversicherung  mit  größerer  Strenge  den  Nachweis  eines  erheblichen 
Unfallereignisses  verlangen  dürfen,  wenn  man  eine  innere  Krankheit  als  Unfall¬ 
folge  annehmen  soll,  als  bei  der  öffentlichen  Versicherung  der  Fall  sein  wird. 
War  die  innere  Krankheit  sicher  schon  vor  dem  Unfall  vorhanden  und  wurde 
sie  nicht  wesentlich  durch  diesen  beeinflußt,  so  pflegt  bei  jeder  Art  von  Ver¬ 
sicherung  die  Entschädigung  abgelehnt  zu  werden.  Anders  bei  der  Verschlimme¬ 
rung  von  inneren  Leiden  durch  Unfälle.  Diese  wird  bei  den  Berufsgenossen¬ 
schaften  als  gleichwertig  einer  reinen  Unfallfolge  angesehen  und  die  Entschädigung 
gewährt,  wenn  das  bereits  latente  oder  deutliche  innere  Leiden  durch  den  Be¬ 
triebsunfall  in  seinem  ungünstigen  Verlaufe  beeinflußt  wurde,  oder  früher  als 
sonst  zu  erwarten  wäre,  zu  Tode  geführt  hat.  Freilich  zieht  sie  auch  die 
Arbeitsfähigkeit  des  Verletzten  vor  seinem  Unfall  in  Betracht  und  beurteilt  nach 
der  Häufigkeit  seines  Aussetzens  der  Arbeit  die  Beeinträchtigung,  die  durch  das 
innere  Leiden  schon  früher  gegeben  war.  Eine  solche  Kontrolle  hat  die  Privat¬ 
versicherung  nicht.  Sie  setzt  dafür  die  Gesundheit  des  Versicherten  bei  seiner 
Aufnahme  voraus.  Der  Versicherte  ist  aber  auch  verpflichtet,  von  etwaigen 
später  sich  entwickelnden  inneren  Krankheiten  der  Gesellschaft  Mitteilung  zu 
machen.  Natürlich  kann  er  das  nur,  wenn  er  es  selbst  weiß.  Man  wird  nun  bei 
manchen  Leiden  mit  Sicherheit  annehmen  dürfen,  daß  sie  zur  Kenntnis  des  Ver¬ 
sicherten  gekommen  sein  müssen.  Wenn  jemand  an  Syphilis  leidet  oder  an 
Lungentuberkulose,  oder  wegen  Diabetes  nach  Karlsbad  geht  und  eine  bestimmte 
Diät  befolgt  oder  auch  wegen  Neurasthenie  mehrfach  Sanatorien  aufgesucht  hat. 
so  muß  man  annehmen,  daß  er  genau  weiß,  was  ihm  fehlt.  Falls  ein  solcher 
Versicherter  die  Anzeige  an  die  Unfallversicherungsgesellschaft  verabsäumt,  so 
darf  man  in  dem  Verschweigen  einen  Grund  für  die  Ablehnung  etwaiger  bei 
Unfällen  sich  zeigender,  durch  das  innere  Leiden  bedingter  Komplikationen  für 
berechtigt  halten.  Das  kann  man  den  Gesellschaften  nicht  verargen,  weil  sonst 
die  Voraussetzung  der  Unfallversicherung,  die  das  Zufällige,  von  außen  Kommende 
betrifft,  vollkommen  hinfällig  wird  und  die  Versicherung  gegen  unvorhergesehene 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  187 


Unglücksfälle  iu  eine  Versicherung  gegen  bestimmt  zu  erwartende  Krankheits¬ 
zustände  sich  umwandelt,  für  die  natürlich  eine  ganz  andere  Prämienberechnung 
erforderlich  wäre,  wenn  es  überhaupt  möglich  ist,  versicherungstechnisch  einer 
solchen  Krankheitsversicherung  beizukommen.  Genau  so  wie  innere  Leiden 
können  auch  äußerliche  Krankheiten  durch  einen  Unfall  verschlimmert  werden. 
Hier  scheint  in  manchen  Fällen  eine  Übereinstimmung  zwischen  privaten  und 
öffentlichen  Versicherungen  zu  bestehen.  Plattfüße,  Kniegelenkveränderungen 
werden  wohl  in  Betracht  gezogen,  wenn  sie  schon  vor  dem  Unfall  vorhanden 
waren.  Auch  eine  Spontanfraktur  infolge  von  Syphilis  oder  Tabes  wird  selbst 
bei  Mitschuld  eines  Unfalls  nicht  als  solcher  von  der  staatlichen  Versicherung 
angesehen.  Sehr  bemerkenswert  ist  folgender  Fall,  der  wohl  schon  öfter  zitiert 
wurde.  Ein  Mann,  Mitte  der  Zwanziger,  bemerkte  an  seiner  Wange  am  15.  Sep¬ 
tember  1895  einen  kleinen  Furunkel.  Am  17.  September  ließ  er  sich  rasieren, 
wobei  der  Furunkel  etwas  verletzt  wurde.  Am  19.  September  zeigten  sich  Er¬ 
scheinungen  von  Blutvergiftung,  am  22.  Ausbruch  allgemeiner  Pyämie,  am 
26.  September  Tod.  In  diesem  Falle  wurde  vom  Kammergericht  und  Reichs¬ 
gericht  gegen  die  Gesellschaft  entschieden,  daß  der  Tod  durch  einen  Unfall 
herbeigeführt  worden  war.  Die  zahlreichen  Gutachten  der  bedeutendsten  Chi¬ 
rurgen  lauteten  durchaus  widersprechend.  Körte  z.  B.  sagte:  „Der  Versicherte 
ist  an  einem  bösartigen  Furunkel  des  Gesichts  gestorben,  der  vielleicht  durch 
den  Schnitt  verschlimmert  wurde.  Es  sei  kein  Beweis  dafür  vorhanden,  daß  der 
Schnitt  die  bösartige  Infektion  gemacht  habe.“  Mir  scheint  in  der  Tat,  daß  hier 
eine  vollständig  falsche  Auffassung  des  Unfallbegriffs  wieder  die  Ursache  der 
richterlichen  Entscheidung  war.  Die  Gesichtsfurunkel  sind  wegen  ihrer  Bös¬ 
artigkeit  und  ihrer  Neigung  zu  allgemeiner  Infektion  berüchtigt.  Darum  war  in 
solchem  Falle  durchaus  jede  Manipulation  kontraindiziert.  Es  war  ebensogut 
möglich,  oder  sogar  wahrscheinlicher,  daß  das  Einseifen,  das  Berühren  der  Wange 
und  das  Drücken,  das  Abwaschen  etc.  die  Verschlimmerung  des  Furunkels  be¬ 
wirkt  hat  und  nicht  die  durch  das  Rasiermesser  bewirkte  Abtragung  der  obersten 
Spitze  des  Furunkels.  Man  wird  aber  sicher  nicht  das  Rasieren  an  sich  und  die 
damit  verbundenen  Maßnahmen  als  ein  Unfallereignis  ansehen  dürfen.  Zum 
mindesten  hätten  in  einem  solchen  Falle  die  Bedenken  der  Sachverständigen 
dahin  führen  müssen,  daß  man  die  Hauptschuld  an  dem  traurigen  und  bedauerns¬ 
werten  Ausgange  der  Bösartigkeit  des  Furunkels,  also  nicht  dem  unbedeutenden 
Unfallereignisse  beigemessen  hätte.  Hier  hat  zweifellos  das  Gericht  die  Ge¬ 
pflogenheiten  der  Behörden  für  die  staatliche  Unfallversicherung  in  Anwendung 
gezogen.  Ich  bin  am  Ende  meiner  Ausführungen,  weiß  aber  wohl,  daß  ich  nur 
eine  Skizze  geben  konnte.  Um  dieses  Thema  erschöpfend  zu  behandeln,  müßte 
man  ein  ganzes  Buch  schreiben.  Als  wesentlichsten  Unterschied  zwischen  der 
staatlichen  und  privaten  Unfallversicherung  haben  wir  die  Einschränkung  der 
ersteren  durch  den  Nachweis  des  Betriebsunfalls  kennen  gelernt.  Dadurch  wird 
eine  bessere  und  objektivere  Klarstellung  des  Unfallereignisses  bei  den  Arbeitern 
möglich,  während  man  bei  den  Versicherten  der  Privatgesellschaften  fast  immer 
lediglich  auf  die  eigenen  Angaben  der  Verletzten  angewiesen  ist.  Eine  weitere 
Konsequenz  aus  diesen  Verhältnissen  ist  die  Tatsache,  daß  bei  der  öffentlichen 
Versicherung  das  ärztliche  Gutachten  fast  gar  nicht  für  die  Beurteilung  des 
Unfallereignisses,  nur  zum  Teil  für  die  Auffassung  der  Unfallfolgen  und  haupt¬ 
sächlich  für  die  Feststellung  der  Unfall  Verletzung  in  Betracht  kommt.  Anders 
bei  der  Privatversicherung.  Hier  ruht  alles  auf  dem  Ausspruche  des  Arztes,  der 


188  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


die  Frage  zu  entscheiden  hat,  ob  überhaupt  ein  Unfall  und  dann  ob  ein  ent¬ 
schädigungspflichtiger  Unfall  vorliegt.  Darum  hat  die  genaue  und  möglichst 
präzis  gefaßte  Begriffsbestimmung  des  Unfalls  für  die  Privatversicherung  einen 
noch  viel  höheren  Wert,  als  für  die  staatliche.  Freilich  glaube  ich,  daß  die 
mancherlei  Übelstände  und  Nachteile,  die  sich  bei  der  öffentlichen  Versicherung 
im  Laufe  der  Jahre  herausgestellt  haben,  auf  das  Fehlen  einer  genauen  Be¬ 
stimmung  des  Unfallbegriffs  in  dem  Unfallversicherungsgesetz  von  1884  zurück¬ 
zuführen  sind.  Wenn  zwar  die  wiederholt  erwähnte  Einschränkung  auf  den  Be¬ 
triebsunfall  einer  kurzen  Definition  widerstrebt,  so  würde  es  doch  von  Vorteil 
sein,  wenn  auch  für  die  staatliche  Versicherung  eine  solche  gegeben  würde. 
Allerdings  werden  wir  bei  der  Absicht  des  Gesetzgebers,  ein  Fürsorgegesetz  für 
die  Arbeiter  zu  schaffen,  die  milde  und  humane  Behandlung  der  Fälle  begreifen, 
die  von  den  Behörden  angewandt  wird,  sobald  nur  der  Betriebsunfall  festgestellt 
wurde.  Die  Privatversicherungen  aber  müssen  streng  darauf  achten,  daß  den 
Anforderungen  genügt  wird,  die  nach  den  Vertragsbedingungen  an  das  Unfall¬ 
ereignis  gestellt  werden  müssen.  Diese  Vertragsbedingungen  sind  indessen  stets 
unzureichend,  wenn  man  sie  noch  so  sorgfältig  und  vorsichtig  mit  allen  mög¬ 
lichen  Einschlüssen  und  Ausschlüssen  ausgearbeitet  hat.  Sie  bilden  weder  für 
die  Versicherten  eine  Garantie,  noch  einen  Schutz  für  die  Gesellschaft.  Nur 
durch  eine  klare  und  bestimmte  Definition  des  Unfallbegriffs  selbst  können  die 
Versicherungsgesellschaften  für  alle  Teile  eine  sichere  rechtliche  Grundlage 
schaffen.  Ich  will  aber  nicht  schließen,  ohne  noch  auf  einen  wesentlichen  äußer¬ 
lichen  Unterschied  hinzuweisen,  der  zwischen  der  staatlichen  und  privaten  Unfall¬ 
versicherung  besteht.  Das  ist  die  Entscheidung  in  strittigen  Fällen.  Bei  der 
öffentlichen  Versicherung  haben  wir  ein  gut  geregeltes  Verfahren.  Wir  haben 
die  drei  Instanzen :  Berufsgenossenschaft,  Schiedsgericht,  Reichsversicherungsamt. 
Bei  den  Berufungsgerichten  wiederum  das  Prävalieren  der  juristischen  Faktoren. 
Anders  bei  den  privaten  Unfallversicherungen.  Die  meisten  Gesellschaften  haben 
die  Einrichtung  von  ärztlichen  Schiedsgerichten  getroffen,  in  denen  ein  Berater 
des  Versicherten,  ein  Vertreter  der  Gesellschaft  und  ein  von  beiden  Ärzten  ge¬ 
wählter  Obmann  die  Entscheidung  zu  treffen  haben.  Aber  wenn  auch  die  Gesell¬ 
schaften  sich  an  dieses  Urteil  stets  gebunden  halten,  so  bleibt  doch  dem  Ver¬ 
sicherten  immer  noch  der  Rechtsweg  in  der  Anrufung  der  zuständigen  Gerichte 
bis  zum  Kammergericht  und  Reichsgericht.  Zuweilen  wird  auch  einfach  Be¬ 
schwerde  beim  Kaiserlichen  Aufsichtsamt  für  die  Privatversicherungen  geführt. 
Ich  halte  dieses  ganze  Verfahren  für  unzureichend.  Mir  scheint  hier  eine  Ände¬ 
rung  dringend  geboten.  Häufig  haben  die  entscheidenden  Ärzte  doch  nicht  die 
genügende  Kenntnis  der  rechtlichen  Lage  und  andererseits  die  Gerichte  nicht 
das  volle  Verständnis  für  die  ärztliche  Seite  des  Falles.  Ich  halte  es  für  durch¬ 
aus  geboten,  daß  ein  besonderes  Gericht,  vielleicht  als  Angliederung  an  das 
Kaiserliche  Aufsichtsamt  für  die  Privatversicherung  eingerichtet  wird.  Es  müßte 
aus  Richtern  bestehen  und  ärztlichen  Sachverständigen,  vielleicht  auch  unter  Zu¬ 
ziehung  von  Laien,  die  nach  dem  jeweiligen  Beruf  des  klägerischen  Versicherten 
zu  wählen  wären.  In  diesem  Sondergerichtshofe  müßte  vor  allem  der  Unterschied 
zwischen  der  privaten  und  der  staatlichen  Unfallversicherung  klar  erkannt  werden, 
um  die  Verpflichtungen  der  privaten  Versicherungsgesellschaften  gegenüber  den 
Versicherten  in  gerechter  Weise  beurteilen  zu  können. 


Zeitschriftenübersicht. 


189 


Zeitschriftenübersicht. 

Medizinische  Reform.  1906.  Nr.  45:  A.  Sticker.  Die  Bedeutung  des 
Tierexperimentes  für  die  soziale  Hygiene  und  die  soziale  Medizin.  —  Nr.  46: 
N.  Nahm,  Über  Heilstättenfragen.  —  Nr.  47:  L.Berthenson,  Die  Überwachung 
der  Prostitution  in  Rußland ;  Ko ß m an n ,  Deutschland  in  den  Augen  eines  franzö¬ 
sischen  Arztes.  —  Nr.  48:  F.  Prinzing,  Nimmt  die  Zuckerkrankheit  an  Häufig¬ 
keit  zu?;  R.  Kayser,  Die  Bedeutung  kassenärztlicher  Versicherung  der  Gesamt¬ 
bevölkerung  für  das  Einkommen  der  Arzte.  —  Nr.  49:  M.  Sternberg,  Erfahrungen 
über  gewerbliche  Bleivergiftung  in  Wien;  G.  Liebe,  Der  Alkohol  als  „Heilstätten- 
Streitfrage“.  —  Nr.  50:  M.  Sternberg,  Fortsetzung  aus  Nr.  49;  M.  Flesch, 
Die  Steigerung  der  Lebensmittelpreise  und  die  Aufgaben  der  Hygiene.  —  Nr.  52: 
Rabnow,  Die  städtische  Auskunfts-  und  Fürsorgestelle  für  Tuberkulöse  in 
Schöneberg;  E.  Lennhoff,  Armenpflege  und  Armenpolitik.  —  1907.  Nr.  1: 
J.  Katz,  Die  Ansiedelung  leicht  lungenkranker  Arbeiter  in  Deutsch-Südwestafrika, 
eine  Aufgabe  der  Landesversicherungsanstalten.  —  Nr.  2:  E.  Israel,  Die  Vor¬ 
schriften  über  die  staatliche  Prüfung  von  Krankenpflegepersonen ;  R.  L  e  n  n  h  o  f  f , 
Die  Säuglingsfürsorge  der  Stadt  Berlin. 


Medizinische  Klinik.  1906.  Nr.  41:  Th.  Witry,  Die  erstmalige  Ent¬ 
fernung  der  Ketten  der  Irren  in  der  französischen  Irrenanstalt  Bicetre;  E.  Kürz, 
Soziale  Hygiene.  —  Nr.  42:  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  41.  —  Nr.  43:  E.  Kürz, 
Fortsetzung  aus  Nr.  42.  —  Nr.  44:  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  43.  —  Nr.  45: 
E.  Abderhalden,  Zur  Frage  der  Unfähigkeit  der  Frauen,  ihre  Kinder  zu  stillen; 
E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  44.  —  Nr.  46:  G.  Gisler,  Stillungsunfähigkeit 
der  Frauen  und  familiärer  Alkoholismus;  B.  La  quer,  Der  Alkohol  im  Arbeiter¬ 
haushalt  ;  E.  Kürz,  Fortsetzung  aus  Nr.  45.  —  Nr.  47  :  C.  Colombo,  Notwendigkeit 
eines  besonderen  Sanitätsbeistandes  für  die  von  Betriebsunfällen  betroffenen  Ar¬ 
beiter.  —  Nr.  48:  E.  Abderhalden,  Ein  Vorschlag  zur  Bekämpfung  des  Alkoho¬ 
lismus  auf  internationaler  Grundlage ;  E.  Landsberg,  Überdas  ärztliche  Berufs¬ 
geheimnis;  W.  Br  an  dis,  Freie  Arztwahl  der  Unfallverletzten;  Witry,  Le 
malade  et  le  medecin.  —  Nr.  49:  Nolte,  Über  Gesundheitspflege. 

Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschafts-Biologie.  1906.  Nr.  6:  L.  Plate, 
Über  Vererbung  und  die  Notwendigkeit  der  Gründung  einer  Versuchsanstalt  für 
Vererbungs-  und  Züchtungskunde ;  W.  Claassen,  Die  Frage  der  Entartung  der 
Volksmassen  auf  Grund  der  verschiedenen,  durch  die  Statistik  dargebotenen  Maßstäbe 
der  Vitalität.  (Schluß) ;  A.  P 1  o  e  t  z ,  Zur  Abgrenzung  und  Einteilung  des  Begriffs 
Rassenhygiene. 

Politisch- Anthropologische  Revue.  1907.  Nr.  10 :  Fr.  von  denVelden, 
Die  voraussichtlichen  Folgen  der  Mutterschaftsversicherung. 

Deutsche  Krankenkassen- Zeitung.  1906.  Nr.  32:  Die  Beschränkung 
der  Krankenkassen  auf  reine  Geldleistungen.  —  Nr.  35:  Fortsetzung  aus  Nr.  32. 
—  Nr.  36:  Fortsetzung  aus  Nr.  35. 

Zeitschrift  für  Samariter- und  Rettungswesen.  1906.  Nr.  23:  L.  Sof  er, 

Das  Rettungswesen  im  Bergbaubetriebe.  1907.  Nr.  2 :  G.  M  e  y  e  r ,  Einige  Gesichts¬ 
punkte  für  die  Organisation  des  Rettungswesens  und  der  Krankenbeförderung. 

Die  Arbeiterversorgung.  1906.  Nr.  31:  R.  Weck,  Der  Königsberger 
Ärztekonflikt.  —  Nr.  32:  F.  Kl e eis  Die  Krankenhauspflege  und  die  Kosten 
derselben;  Hahn,  Zu  den  Voraussetzungen  der  Befreiung  von  der  Versicherungs¬ 
pflicht  nach  §  3a  Abs.  1  Nr.  2  KVG.  —  Nr.  35:  J.  Rotholz,  Die  Krankenrenten; 


190 


Zeitsc  h  ritten  übe  rsich  t . 


Zu  der  Anwendung'  des  §  140  Absatz  2  des  IVG.  —  Nr.  36:  L.  Fuld,  Zur 
Verwendung  des  Eventualdolus  in  der  Arbeiterversicherungsgesetzgebung:  F. 
Kleeis.  Die  Quittungsbücher  für  die  Kasssenmitglieder.  —  1907.  Nr.  1:  Die 
Invaliden-  und  Waisenversicherungskasse  der  Seeberufsgenossenschaft. 

Volkstümliche  Zeitschrift  für  praktische  Arbeiterversicherung.  1906. 
Nr.  22:  H.  Unger,  Die  Steigerung  der  Lebensmittelpreise  und  ihre  Einwirkung 
auf  die  Arbeiterversicherung:  E.  Funke.  Das  Verhältnis  der  Krankenversicherung 
und  der  Invalidenversicherung  zur  Unfallversicherung.  (Schluß.)  —  Nr.  23: 
H.  v.  Frankenberg,  Die  Bedeutung  des  Zwecks  der  Arbeiterversicherung.  — 
Nr.  24:  A.  Kiß,  Der  ungarische  Arbeiterversicherungsgesetzentwurf.  — .1907. 
Nr.  1:  G.  Hoch,  Ein  Rückblick  und  ein  Ausblick. 

Reformblatt  für  Arbeiterversicherung.  1906.  Nr.  20:  L.  Fuld, 
Wüchnerinnen-Unterstützung  und  Schwangerschaftsunterstützung.  —  Nr.  21. 
CI.  Heiß,  Der  fünfte  internationale  Kongreß  für  Versicherungswissenschaft :  Die 
reichsgesetzliche  Regelung  des  Apothekemvesens :  Das  staatliche  Versicherungswesen 
in  Deutschland.  —  Nr.  22:  Seelmann,  Die  Witwen-  und  Waisen  Versicherung 
der  Seeleute;  Güldenberg,  Die  Beteiligung  der  Krankenkassen  bei  der  Fest¬ 
setzung  der  ortsüblichen  Tagelöhne.  —  Nr.  23:  v.  Frankenberg,  Der  Gehalts¬ 
abzug  in  Krankheitsfällen:  F.  Kleeis,  Die  Beseitigung  der  Gemeindekranken¬ 
versicherungen  ;  Seelmann,  Die  ärztliche ,  Begutachtung  des  Beginns  der  Invali¬ 
dität.  —  Nr.  24 :  E.  Giesberts,  Fünfundzwanzig  Jahre  Sozialreform ;  0.  Scheven, 
Zur  Frage  der  ökonomischen  Verordnungsweise  bei  den  Krankenkassen  mit  freier 
Arztwahl;  Tribius,  Was  die  Knappschaftskassen  leisten.  —  1907.  Nr.  1. 
G.  Mi  kusch,  Das  österreichische  Gesetz  über  die  Pensionsversicherung  der  Privat¬ 
angestellten:  Stier -Somlo.  Der  augenblickliche  Stand  des  Problems  der  Witwen- 

O  i  1  CT* 

und  Waisenversicherung.  —  Nr.  2:  P.  Lohmar,  Der  Industrielle  und  die  Reform 
der  Arbeiterversicherung;  Stier -Somlo,  Der  augenblickliche  Stand  des  Problems 
der  Witwen-  und  Waisenversicherung. 

Kommunale  Praxis.  1906.  Nr.  48:  F.  Kleeis,  Die  Gemeinden  und  die 
Krankenversicherung.  —  Nr.  50 :  P.  H  i  r  s  c  li ,  Beiträge  zur  Schulgesundheitspflege.  — 
1907.  Nr.  1:  H.  Lin  de  mann.  Verfassung  und  Verwaltungsorganisation  der 
Städte  in  der  Schweiz. 

Soziale  Kultur.  1906.  Nr.  12:  B.  Schmitt  mann,  Die  Versorgung  vor¬ 
geschrittener  Lungenkranker:  B.  Schmidt-Blanke,  Strafrecht  und  Verbrechers¬ 
prophylaxe.  1907.  Nr.  1 :  H.  R o s t ,  V om  Alkohol ;  K.  J o  w ano wr i t s  c h ,  Die 
Heimstättenfrage. 

Monatsschrift  für  Kriininalpsychologie  und  Strafrechtsreform.  1906. 

Nr.  8:  Polligkeit,  Das  Mailänder  Istituto  Pedagogico  Forense  per  la  Redenzione 
dei  Minorenni  Traviati. 

Deutsche  Vierteljahrsschrift  für  öffentliche  Gesundheitspflege.  1906. 

Nr.  4:  G.  Meyer,  Die  Entwicklung  und  zukünftige  Ausgestaltung  des  Rettuugs- 
und  Krankenbeförderungswesens ;  G.  Puppe,  Über  Gefängnishygiene;  E.  Arends, 
Zur  Frage  der  Milch hygiene :  Dosquet-Manasse,  Vorschläge  zur  Entlastung 
der  städtischen  Krankenhäuser. 

Tuberculosis.  1906.  Nr.  10:  Ve  Conference  de  l’Association  Internationale 
contre  la  tubereulose.  —  Nr.  11:  Fortsetzung  aus  Nr.  10. 

Zeitschrift  für  ärztliche  Fortbildung.  1906.  Nr.  20:  E.  Cramer, 
Augenverletzungen  und  Unfallheilkunde.  —  Nr.  22:  F.  Köhler.  Die  moderne 
allgemeine  Behandlung  der  Lungentuberkulose,  mit  besonderer  Berücksichtigung 


Zeitschriftenübersicht. 


191 


der  Heilstätten.  —  Nr.  24:  R.  Kutner,  E.  v.  Bergmann  und  das  ärztliche  Fort¬ 
bildungswesen :  G.  Meyer,  E.  v.  Bergmann  und  das  Rettungswesen:  Th.  Rumpf, 

1  )er  Unterricht  in  der  sozialen  Medizin. 

Zeitschrift  für  Medizinalbeamte.  1906.  Nr.  21 :  F.  Spaet ,  Über  Gemein¬ 
gefährlichkeit  der  Geisteskranken:  F.  Ahlfeld,  Kreisarzt  und  Kindbettfieber,  — 
Nr.  20:  0.  Rapmund.  Das  preußische  Gesetz,  betr:  die  Bekämpfung  übertrag¬ 
barer  Krankheiten.  —  Nr.  22:  R.  Thomalla,  Über  Kreuzotterbisse.  —  Nr.  23: 
Über  Trinkwasserleitungen  des  Kreises  Simmern;  Oehmke.  Die  milchhygienische 
Anstalt  Hof  stede-Oud-Bussem .  —  Nr.  24 :  F.  Ah  lf  el  d,  Augenschutz  der  Neugeborenen, 
1907.  —  Nr.  1:  Klix.  Die  Säuglingssterblichkeit  und  ihre  Bekämpfung  in  Posen. 

Ärztliche  Sachverständigen ■  Zeitung.  1906.  Nr.  20:  Ledderhose, 
Zur  Frage  der  ärztlichen  Behandlung  der  Unfallverletzten.  —  Nr.  21:  Wiener 
UnfaR  und  Frauenkrankheiten.  —  Nr.  22:  Sch wechten,  Invalidenfürsorge  der 
Pensionskasse  für  die  Arbeiter  der  preußisch-hessischen  Eisenbahngemeinschaft.  — 
Nr.  23:  Mercklin,  Sittlichkeitsvergehen.  Zwangsvorstellungen;  Eisenstadt, 
Eine  populär-medizinische  Enzyklopädie.  —  Nr.  24 :  S  t  r  a  u  ß ,  Über  einige  Fragen 
der  Unfallbegutachtung  bei  Herzkrankheiten. 

Prager  medizinische  Wochenschrift.  1906.  Nr.  24:  Zur  Organisation 
der  Distrikts-  und  Gemeindeärzte  in  Böhmen.  —  Nr.  32:  F.  Per  ko,  Entwurf 
eines  Landessanitätsgesetzes  für  das  Königreich  Böhmen.  —  Nr.  33:  F.  Per  ko. 
Fortsetzung  aus  Nr.  32.  —  Nr.  35:  Kantor,  Arzte  und  gesundheitliche  Volks¬ 
aufklärung  in  Deutschböhmen.  —  Nr.  36 :  Kantor,  Fortsetzung  aus  Nr.  35.  — 
Nr.  37:  F.  Stein,  Das  ärztliche  Berufsgeheimnis  nach  österreichischem  Rechte.  — 
Nr.  38:  G.  Weiß,  Alhoholliteratur.  —  Nr.  39:  J.  Ekstein,  Hygienische  Be¬ 
trachtungen.  —  Nr.  42:  A.  Marian,  Über  Krankenkassenstatistik  im  Aussiger 
Bezirke;  A.  Hartmann,  Ärztliche  Sonntagsruhe;  G.  Pick,  Die  freie  Arztwahl 
in  München.  —  Nr.  43:  F.  Perko,  Kritische  Bemerkungen  zur  Gründung  des 
Reichsverbandes  österreichischer  Ärzteorganisationen  in  Wien.  —  Nr.  49:  G.  Pick. 
Die  ärztliche  Buchführung  in  der  Privat-  und  Kassenpraxis. 

Zeitschrift  für  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten.  1906.  Nr.  9 : 
J.  Fabry,  Zur  Frage  der  Inskription  unter  sittenpolizeiliche  Aufsicht  mit  be¬ 
sonderer  Berücksichtigung  Dortmunder  Verhältnisse;  J.  Rutgers,  Skizzen  aus 
Holland.  —  Nr.  10:  Galewsky,  Über  die  Übertragung  von  Geschlechtskrankheiten 
beim  Stillgeschäft;  L.  Bendix,  Zur  Verschwiegenheitspflicht  der  Ärzte.  —  Nr.  11: 
W.  Erl),  Zur  Statistik  des  Trippers  beim  Manne  und  seiner  Folgen  für  die  Ehe¬ 
frauen:  E.  Finger,  Zur  Prophylaxe  der  Geschlechtskrankheiten  in  Österreich. 

Monatsschrift  für  Unfallkunde.  1908.  Nr.  1:  Liniger,  Interessante 
Fälle  aus  der  Unfallpraxis;  C.  Schmidt,  Störungen  in  der  Gewohnheit  an 
körperliche  Gebrechen  und  ihre  Bedeutung  für  die  Invalidenversicherung:  — 
Nr.  3:  G.  Haag,  Mitteilungen  aus  der  Rechtspflege.  —  Nr.  4:  Liniger,  Fort¬ 
setzung  aus  Nr.  1.  —  Nr.  6:  F.  Honig  mann,  Die  Verschlimmerung  bösartiger 
Geschwülste  als  Unfallfolge.  —  Nr.  8:  Ph.  Ko op erb  erg,  Organisation  des 
.Medizinalwesens  in  bezug  auf  das  Unfällgesetz  in  Holland ;  L.  Feilehen feld, 
Über  die  Verschlimmerung  von  Krankheiten  des  Zirkulationsapparates  durch  Un¬ 
fälle.  —  Nr.  9:  C.  Thiem,  Über  den  Einfluß  der  neueren  deutschen  Unfallgesetz¬ 
gebung  auf  Heilbarkeit  und  Unheilbarkeit  chirurgischer  Krankheiten:  Gaupp, 
Der  Einfluß  der  deutschen  Unfallgesetzgebung  auf  den  Verlauf  der  Nerven-  und 
Geisteskrankheiten;  Bericht  über  den  vom  10. — 15.  Sept.  in  Berlin  abgehalteuen 
IV.  internationalen  Kongreß  für  Versicherungsmedizin.  —  Nr.  10:  M.  Nonne, 


192 


Zeitschriftenübersicht. 


Über  den  Einfluß  der  Unfallgesetzgebung  auf  den  Ablauf  von  Unfallneurosen.  — 
Nr.  11:  E.  Gramer,  Ausländische  Ansichten  über  die  Möglichkeit,  Unfallverletzte 
zur  Duldung  von  chirurgischen  Eingriffen  zu  ihrem  Besten  zu  zwingen. 

-  Außerdem  sind  folgende  Druckschriften  eingegangen : 

Jahresbericht  der  Deutschen  Gartenstadt-Gesellschaft  1905 — 1906.  — 
B.  Kampf fmey er,  Gartenstadt  und  Landeskultur.  Flugschrift  der  deutschen 
Gartenstadt-Gesellschaft  Nr.  10.  Berlin-Schlachtensee  1906  (0,30  M.).  —  M.  H  i  r  s  c  h  - 
feld,  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen.  VIII.  Jahrgang.  Leipzig  1906. 
M.  Spohr.  —  G.  Cor  net,  Die  Tuberkulose.  2.  Aufl.  2  Hälften.  Wien  1906. 
A.  Holder  (32.00  M.).  —  E.  Sief  er  t,  Über  die  Geistesstörungen  der  Strafhaft. 
Halle  1907.  C.  Marhold  (6,00  M.).  —  G.  v.  Bunge,  Die  zunehmende  Unfähigkeit 
der  Frauen  ihre  Kinder  zu  stillen.  5.  durch  neues  statistisches  Material  vermehrte 
Auflage.  München  1907.  E.  Reinhardt  (0,80  M.).  —  J.  Bresler,  Greisenalter 
und  Kriminalität.  Halle  1907.  C.  Marhold  (1.80  M.).  —  A.  Jap  ha  und  H.  Neu¬ 
mann,  Die  Säuglingsfürsorgestelle  I  der  Stadt  Berlin.  Berlin  1906.  S.  Karger 
(2,00  M.).  —  G.  Gor  net,  Die  Prophylaxis  der  Tuberkulose.  Separatabdruck  aus- 
G.  Cornet,  Die  Tuberkulose.  II.  Aufl.  Wien  1906.  A.  Holder.  —  F.  Hirschfeld 
Chronische  Krankheiten  und  Lebensversicherung.  Sonderabdruck  aus  Die  Deutsche 
Klinik.  Berlin  und  Wien  1906.  Urban  und  Schwarzenberg.  —  F.  Perutz,  Medi¬ 
zinisches  und  Sozialhygienisches  von  der  Jubiläumsausstellung  in  Nürnberg. 
Separatabdruck  aus  Münch,  med.  Wochenschr.  1906  Nr.  26.  —  A.  Celli.  Achter 
Jahresbericht  der  Italienischen  Gesellschaft  für  Malariaforschung.  Abdruck  aus 
dem  Zentralblatt  für  Bakteriologie  etc  XXXVIII.  Band.  Jena  1906.  G.  Fischer.  — 
A.  Holitscher,  Gewerbliche  Gesundheitslehre.  Aus  Bibliothek  der  gesamten 
Technik  XIV.  Band.  Hannover  1907.  Dr.  M.  Jänecke  (2,60  M.j.  —  J.  Hampe, 
Über  den  Schwachsinn  nebst  seinen  Beziehungen  zur  Psychologie  der  Aussage. 
Braunschweig  1907.  F.  Vieweg  und  Sohn  (2,00  M.).  —  L.  S.  A.  M.  v.  Römer, 
Beiträge  zur  Erkenntnis  des  Uranismus.  Heft  I :  Die  uranische  Familie. 
Untersuchungen  über  die  Ascendenz  der  Uranier.  Leipzig  und  Amsterdam 
1906.  Maas  und  van  Suchtelen  (4,00  M.).  —  F.  Dörbeck,  Geschichte  der 
Pestepidemien  in  Rußland  von  der  Gründung  des  Reiches  bis  auf  die  Gegenwart. 
Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Medizin.  Heft.  XVIII.  Breslau  1906.  J.  U. 
Kerns  Verlag  (6,00  M.).  —  J.  L.  Reimer,  Grundzüge  deutscher  Wiedergeburt. 
2.  erweiterte  Auflage.  Leipzig  1906.  Thüringische  Verlagsanstalt  (1,00  Mj.  — 
Gr  tili  ich,  Ärztliche  Hilfe,  Kranke  und  Krankenkassen  auf  dem  Lande.  Frank¬ 
furt  a.  M.  1906.  Verlag  des  Reformblatt  für  Arbeiterversicherung.  Dr.  E.  Schnapper. 

—  M.  Sternberg,  Erfahrungen  über  gewerbliche  Bleivergiftungen  in  Wien. 
Separatabzug  aus  Das  österreichische  Sanitätswesen  1906  No.  32-39.  —  Ergeb¬ 
nisse  des  von  der  Landes- Versicherungsanstalt  der  Hansestädte  eingeleiteten  Heil¬ 
verfahrens  hei  lungenkranken  Versicherten  bis  Ende  1905.  —  Berichte  und  Ver¬ 
handlungen  des  Vierten  Internationalen  Kongresses  für  Versicherungs-Medizin  zu 
Berlin  vom  10.  bis  15.  September  1906.  II.  Band.  Berlin  1906.  E.  S.  Mittler 
und  Sohn.  —  K  n  ö  p  f  e  1 ,  Zur  Säuglingssterblichkeit  in  Hessen.  Sonderabdruck 
aus  der  „Darmstädter  Zeitung“.  —  Soweit  die  ein  gesandten  Publikationen  aus 
Platzmangel  in  der  „Zeitschrift  für  Soziale  Medizin“  nicht  besprochen  werden 
können,  werden  sie  im  „Jahresbericht  über  Soziale  Hygiene,  lirsg.  von  A.  Grotjahn 
und  F.  Kriegei“,  der  alljährlich  im  Juli  erscheint,  eine  Besprechung  finden.  Daselbst 
vgl.  auch  Chronik,  Kongresse,  Gesetzestafel  und  vollständige  Bibliographie  der 
Sozialen  Hygiene  und  Sozialen  Medizin. 


Umschau. 


Berlin,  den  25.  April  1907. 

Das  Beichsamt  des  Innern  hat  den  Entwurf  eines  Reichs- 
Apothekengesetzes  der  Öffentlichkeit  übergeben.  Die  An¬ 
nahme  dieses  Gesetzentwurfes  würde  die  Errichtung  von  veräußer¬ 
lichen  und  übertragbaren  Realkonzessionen,  die  in  Preußen  bereits 
seit  dem  Jahre  1894  nicht  mehr  erteilt  werden,-  auch  für  das  übrige 
Reichsgebiet  unmöglich  machen.  An  den  bereits  erteilten  Real¬ 
berechtigungen,  deren  Anzahl  in  Preußen  gegenwärtig  noch  2736 
beträgt,  soll  vorläufig  reichsgesetzlich  nichts  geändert  werden; 
doch  soll  den  Inhabern  von  Apotheken  eine  Betriebsabgabe  auf¬ 
erlegt  werden,  aus  der  ein  Ankaufsfond  zur  Tilgung  eines  großen 
Teils  der  Apothekenberechtigungen  angesammelt  werden  soll.  Ein 
gesetzliches  Vorkaufsrecht  und  eine  Kontrolle  der  Abschätzung 
durch  die  Verwaltungsbehörde  werden  diesen  Prozeß  erleichtern. 
Alle  bereits  bestehenden  landesrechtlichen  Vorschriften,  die  schon 
gegenwärtig  das  Recht  eines  Realkonzessionärs  zur  Veräußerung 
seiner  Konzession  beschränken  und  die  Umwandlung  übertragbarer 
in  nichtübertragbare  Konzessionen  bezwecken,  werden  von  dem 
Gesetz  nicht  berührt.  Der  Grundzug  des  Gesetzes  bezweckt  also 
einen  allmählichen  Ersatz  der  zum  Apothekenschacher  führenden 
Realkonzession  durch  die  Personalkonzession.  Diese  Tendenz 
ist  selbstverständlich  zu  begrüßen.  Doch  darf  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  auch  diese  Lösung  der  brennenden  Apothekerfrage 
nur  als  eine  provisorische  angesehen  werden  kann.  Auch  die  Per¬ 
sonalkonzession  ist  und  bleibt  ein  Privilegium,  und  Privilegien 
sollten  im  modernen  Wirtschaftsleben  niemals  Privatpersonen  son¬ 
dern  immer  nur  öffentlichen  Institutionen  zur  Exploitation  über¬ 
lassen  werden.  Gerade  der  Apothekenbetrieb  dürfte  sich  vorztig- 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  .13 


194 


Umschau. 


lieh  entweder  zur  Verstaatlichung  oder  noch  besser  zur  Kommu¬ 
nalisierung  eignen,  zumal  die  Apotheke  in  neuerer  Zeit  immer 
mehr  den  Charakter  einer  Produktionsstätte  verliert  und  sich  zu 
einer  reinen  Distributionsstätte  von  Heilmitteln  entwickelt.  Vor¬ 
bildlich  dürfte  nach  dieser  Eichtling  sein,  daß  im  Großherzogtum 
Hessen  die  neuerteilten  Konzessionen  größtenteils  an  Gemeinden 
vergeben  sind,  so  daß  hier  bereits  13  Kommunalapotheken  ent¬ 
standen  sind,  mit  denen  man  die  besten  Erfahrungen  gemacht  hat. 

Der  Beratung  dieser  und  ähnlicher  Vorlagen  wird  es  zugute 

•  • 

kommen,  daß  in  den  neuen  Keichstag  eine  Anzahl  von  Ärzten  ge¬ 
wählt  sind,  die  sich  auf  fast  alle  Parteien  verteilen,  nämlich 
A  r  n  i  n  g  -  Nienburg  (Nationalliberal),  Höffel-Zabern  (Freikonser¬ 
vativ),  Leonhart-Husum  (Freisinnige  Volkspartei),  Mugdan- 
Görlitz  (Freisinnige  Volkspartei),  Ricklin- Altkirch  (Centrum), 
Struve- Oldenburg  (Freisinnige  Vereinigung)  und  Eügenberg- 
Hagenau  (Centrum).  Diese  erfreuliche  Durchsetzung  des  Parlaments 
mit  ärztlichen  Elementen  ist  besonders  für  den  Fall  wichtig,  daß 
dieser  Eeichstag  über  weitgehende  Eeformen  des  Krankenversiche¬ 
rungswesens  oder  gar  die  Vereinheitlichung  des  gesamten  sozialen 
Versicherungswesens  zu  beschließen  haben  würde. 

In  Dänemark  wird  eine  anthropometrische  und  anthro¬ 
pologische  Massen  Untersuchung  der  gesamten  Bevölkerung 
vorbereitet.  An  der  Spitze  des  leitenden  Ausschusses  stehen  Ge¬ 
neralstabsarzt  H.  Laub,  der  Statistiker  H.  Westergaard  und 
der  Anthropologe  S.  Hansen.  Um  eine  Unterlage  für  die  all¬ 
gemeine  Untersuchung  zu  gewinnen,  hat  man  zunächst  damit  be¬ 
gonnen,  isolierte  kleine  Bezirke  gründlich  zu  studieren,  indem  man 
möglichst  sämtliche  Erwachsene  beiderlei  Geschlechtes  einer  antliro- 
pometrischen  Aufnahme  und  einer  anthropologischen  Beschreibung 
unterzieht. 

Auf  Anregung  des  neuen  Präsidenten  des  Reichsversicherungs¬ 
amtes  Kaufmann  ist  unter  dem  Titel  „Monatsblätter  für  Arbeiter¬ 
versicherung“  eine  neue  Zeitschrift  ins  Leben  gerufen  worden,  die 
sich  die  Verbreitung  der  Grundzüge  der  Arbeiterversicherung  zum 
Ziele  setzt  und  von  den  Mitgliedern  des  Reichsversicherungsamtes 
bearbeitet  wird.  Die  neue  Veröffentlichung  dieser  Zeitschrift  soll 
die  „Amtlichen  Nachrichten“  des  Deutschen  Reichsversicherungs¬ 
amtes  in  volkstümlicher  Weise  ergänzen. 

In  der  Genf  erscheint  seit  Beginn  dieses  Jahres  eine  „Revue 
Suisse  des  Accidents  du  Travail“  als  deren  Redakteure  E.  Patry, 
H.  Secretan,  Ch.  Julliard  und  L.  Rehfous  zeichnen. 


Umschau. 


195 


Am  30.  Januar  1907  ertrank  in  Sestri  beim  Baden  im 
Mittelländischen  Meere  der  Soziologe ,  Arzt  und  Anthropologe 
L.  Wo lt mann  im  36.  Lebensjahre.  Wenn  auch  die  Bedeutung 
des  Verstorbenen  vornehmlich  auf  anthropologischem  Gebiete  liegt, 
so  beklagt  doch  auch  die  Soziale  Hygiene  in  ihm  den  Verlust  eines 
der  ihren,  da  W oltmann  sowohl  in  seinem  Hauptwerke  über 
„Politische  Anthropologie“  wie  als  Herausgeber  der  „Politisch¬ 
anthropologischen  Revue“  der  Sozialen  Hygiene  und  zwar  besonders 
dem  Teile  derselben,  der  sich  mit  dem  Problem  der  körperlichen 
Entartung  befaßt,  manche  anregende  Erörterung  gewidmet  hat. 

Am  14.  Februar  1907  starb  in  Bonn  J.  von  Rottenburg 
im  62.  Lebensjahre.  Der  Verstorbene  stand  im  Jahre  1881—1891 
an  der  Spitze  der  Reichskanzlei  und  bewährte  sich  in  dieser  Stellung 
als  einer  der  maßgebendsten  Mitarbeiter  des  Fürsten  Bismark  auf 
dem  Gebiete  der  sozialen  Versicherungsgesetzgebung. 

A.  Gro tj ahn. 


/ 


13* 


Die  Limgeiiheilstättenbewegimg  im  Lichte 
der  Sozialen  Hygiene. 

Von  Dr.  med.  A.  Geotjahn,  Berlin. 

I. 

Seitdem  Brehmer  und  seine  Schüler  gezeigt  haben,  daß  die 
diätetische  Behandlung  der  Lungenkranken  in  besonderen  Anstalten 
zahlreiche  Patienten  teils  wirklich  zu  heilen,  teils  erheblich  zu 
bessern  imstande  ist,  kann  die  Notwendigkeit  der  Errichtung  von 
Anstalten  für  Lungenkranke  nicht  mehr  bestritten  werden,  auch 
nicht  von  denen,  die  den  optimistischen  Erwartungen  bezüglich  der 
Bekämpfung  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit  durch  Anstalten, 
die  für  Patienten  im  Frühstadium  bestimmt  sind,  skeptisch  gegen¬ 
überstehen.  Derartige  optimistische  Erwartungen  sind  bekanntlich 
von  den  agitatorisch  so  überaus  rührigen  Befürwortern  der  Lungen¬ 
heilstätten  gehegt  worden.  Die  lebhafte  Propaganda,  deren  Seele 
in  Deutschland  G.  Pannwitz  war  und  die  ihre  größte  Kraft¬ 
entfaltung  in  den  Jahren  erreichte,  die  auf  den  im  Jahre  1899  in 
Berlin  tagenden  Kongreß  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als 
Volkskrankheit  folgten,  hat  dazu  geführt,  daß  in  Deutschland  eine 
achtunggebietende  Zahl  Lungenheilstätten  von  Vereinen,  Kommunal¬ 
behörden  und  besonders  von  Landesversicherungsanstalten  gegründet 
worden  sind.  Sie  haben  zahlreichen  Patienten  Segen  gebracht; 
aber  daß  sie  die  Tuberkulose  als  Volkskrankheit  auch  nur  im  be¬ 
scheidenen  Maße  eingedämmt  hätten,  kann  nicht  behauptet  werden. 
Diese  zwar  nicht  eingestandene,  aber  doch  gefühlte  Erkenntnis  hat 
in  den  Kreisen,  die  für  das  Heilstättenwesen  enthusiasmiert  waren r 
gegenwärtig  eine  etwas  niedergeschlagene  Stimmung  hervorgerufen. 
Doch  dürfte  eine  pessimistische  Auffassung  jetzt  wohl  ebenso  un- 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  tler  Sozialen  Hygiene.  197 

* 

berechtigt  sein,  wie  es  früher  die  übertriebenen  Hoffnungen  waren. 
Der  Fehler  liegt  darin,  daß  die  deutsche  Lungenheilstätten¬ 
bewegung  sich  auf  das  Heilen  der  Tuberkulose  kapriziert  hat 
und  deshalb  vorwiegend  Anstalten  für  Patienten  schuf,  die  noch 
im  Frühstadium  der  Krankheit  sich  befanden,  die  vorgeschritte¬ 
nen  Fälle  dagegen,  die  für  die  Verbreitung  der  Tuberkulose  als 
Volkskrankheit  ausschlaggebend  sind,  vernachlässigte.  Lungen¬ 
heilstätten  für  im  Anfangsstadium  Erkrankte  sind  notwendig,  weil 
ein  bescheidener  Prozentsatz  durch  den  Aufenthalt  in  denselben 
geheilt  oder  dauernd  gebessert  werden  kann.  Die  Lungenheilstätten 
sind  also  nützlich,  ja  dringend  erforderlich  vom  Standpunkte  der 
Medizin  und  der  Therapie.  Fraglich  ist  nur  ihr  Wert  vom  sozial¬ 
hygienischen  Gesichtspunkte  aus;  denn  das  Sinken  der  Sterblich¬ 
keit  an  Tuberkulose  ist  auf  ihre  Wirksamkeit  nicht  zurückzuführen. 
Die  Zahl  von  30000  Plätzen,  die  für  die  Heilbehandlung  zur  Ver¬ 
fügung  stehen,  ist  zwar  absolut  genommen  höchst  achtungswert, 
aber  im  Vergleich  zu  der  Ausdehnung  der  Tuberkulose  fast  ver¬ 
schwindend.1 2) 

Der  lähmende  Einfluß  dieser  Erkenntnis  ist  auch  in  den 
Kreisen,  die  in  dem  im  Jahre  1895  gegründeten  Zentralkomitee 
zur  Errichtung  von  Lungenheilstätten a)  die  Spitze  ihrer  Organi¬ 
sation  sehen,  bemerkbar.  Das  äußert  sich  zurzeit  in  der  Bevor¬ 
zugung  der  Errichtung  von  Fürsorgestellen,  Tuberkulosemuseen 
und  anderen  kleinen  Mitteln  vor  der  Förderung  des  Baues  neuer 
Anstalten.  Die  frühere  Sicherheit  und  hochangesehene  Stellung 
wird  das  Zentralkomitee  erst  zurückgewinnen,  wenn  es  den  Ge¬ 
danken  der  Anstaltsbehandlung  wieder  in  den  Vordergrund  der 
Betätigung  stellt.  Nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  jetzt  die  Asyli- 
sierung  der  Lungenkranken  im  vorgeschrittenen  Stadium  ebenso 
energisch  propagiert  werden  muß,  wie  früher  die  Hospitalisierung 
der  im  Frühstadium  Befindlichen.  Einen  Leitstern  hierfür  kann 
die  Rede  abgeben,  die  Robert  Koch  bei  der  Empfangnahme  des 
Nobelpreises  hielt,3)  und  die  auffallenderweise  weniger  Beachtung 
gefunden  hat  als  die  gleichzeitigen  Mitteilungen  des  nämlichen 


0  B.  y.  Fetz  er  schätzt  (Lungentuberkulose  und  Heilstättenbehandlung. 
•Stuttgart  1900)  die  Zahl  der  Tuberkulösen  in  Deutschland  auf  etwa  1  Million. 
L.  Brauer  schätzt  nach  einer  recht  sorgfältigen  Stichprobe  die  Zahl  der  in 
Baden  im  Jahre  1904  lebenden  Lungenkranken  aller  Stadien  auf  13650. 

2)  Seit  1906  ist  die  Bezeichnung  in  „Zentralkomitee  zur  Bekämpfung  der 
Tuberkulose“  abgeändert  worden. 

3)  Deutsche  medizin.  Wochenschr.,  1906,  S.  89. 


198 


A.  Grotjahn, 


Forschers  über  Tropenkrankheiten,  die  für  uns  doch  nur  ein  sekun¬ 
däres  Interesse  haben.  Robert  Koch  führte  in  schlichter  aber 
überzeugender  Weise  aus,  von  welch  großem  Werte  für  die  Ein¬ 
dämmung  der  Lungentuberkulose  die  Absonderung  der  vor¬ 
geschrittenen  Fälle  aus  ihrer  Umgebung  sein  würde.  Er  sagt: 
„Was  soll  nun  mit  den  als  gefährlich  anzusehenden  Kranken  ge¬ 
schehen,  sobald  sie  zur  Kenntnis  gekommen  sind?  Wenn  es  mög¬ 
lich  wäre,  sie  sämtlich  in  Krankenhäusern  unterzubringen  und 
dadurch  relativ  unschädlich  zu  machen,  dann  würde  die  Tuber¬ 
kulose  sehr  rasch  abnehmen.  Aber  daran  ist  wenigstens  zurzeit 
gar  nicht  zu  denken.  Die  Zahl  der  Tuberkulösen,  für  welche 
Krankenhausbehandlung  erforderlich  sein  würde,  ist  beispielsweise 
für  Deutschland  auf  mehr  als  200000  berechnet.  Es  würde  un¬ 
erschwinglicher  Mittel  bedürfen,  um  eine  derartige  Zahl  von 
Kranken  in  Anstalten  unterzubringen.  Nun  ist  es  aber  auch  gar 
nicht  notwendig,  daß  sofort  alle  Tuberkulösen  in  Krankenhäuser 
gebracht  werden.  Wir  dürfen  auf  eine  Abnahme  der  Tuberkulose, 
wenn  auch  eine  langsamere,  rechnen,  wenn  ein  erheblicher  Bruch¬ 
teil  dieser  Kranken  Aufnahme  in  geeigneten  Anstalten  findet.  Ich 
erinnere  in  dieser  Beziehung  an  das  so  außerordentlich  lehrreiche 
Beispiel  der  Leprabekämpfung  in  Norwegen.  In  diesem  Lande  hat 
man  auch  nicht  alle  Leprösen  isoliert,  sondern  nur  einen  Bruchteil 
derselben,  darunter  aber  gerade  die  besonders  gefährlichen,  und 
man  hat  damit  erreicht,  daß  die  Zahl  der  Leprösen,  welche  im 
Jahre  1856  noch  fast  3000  betrug,  zurzeit  auf  etwa  500  herab¬ 
gegangen  ist.  Nach  diesem  Vorbilde  sollte  man  auch  in  der  Tuber¬ 
kulosebekämpfung  verfahren,  und  wenn  man  nicht  alle  Schwind¬ 
süchtigen  berücksichtigen  kann,  so  sollte  man  doch  so  viel  als 
irgend  möglich  und  darunter  die  gefährlichsten,  das  heißt  die  im 
letzten  Stadium  der  Schwindsucht  befindlichen,  in  Krankenhäusern 
unterbringen.  In  bezug  hierauf  geschieht  an  manchen  Orten  aber 
auch  schon  mehr,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  In  der  Stadt 
Berlin  sind  im  letzten  Jahrzehnt  mehr  als  40  Proz.  der  Schwind¬ 
süchtigen  in  den  Krankenhäusern  gestorben.  Recht  günstig  müssen 
diese  Verhältnisse  auch  in  Stockholm  sein,  da  Carls  so  n  in  seiner 
Schrift  über  die  Tuberkulosebekämpfung  in  Schweden  angibt,  daß 
410  Schwindsüchtige  in  den  Krankenhäusern  dieser  Stadt  verpflegt 
werden,  was  für  eine  Stadt  von  300000  Einwohnern  keine  geringe 
Zahl  ist.  Die  Anzahl  der  Schwindsüchtigen,  welche  auf  solche 
Weise  in  Verhältnisse  gebracht  werden,  unter  denen  sie  nicht 
mehr  anstecken  können,  ist  doch  eine  recht  erhebliche  und  kann 


Die  Limgenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  199 

nicht  ohne  Einfluß  auf  den  Gang  der  Seuche  bleiben.  Im  Zu¬ 
sammenhänge  hiermit  möchte  ich  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  eine 
Erscheinung  lenken,  welche  die  größte  Beachtung  verdient.  Es 
ist  dies  der  gleichmäßige  und  bedeutende  Rückgang  der  Schwind¬ 
suchtssterblichkeit  in  einigen  Ländern.  In  England  ist  diese  Ab¬ 
nahme  schon  seit  etwa  40  Jahren  im  Gange.  Merkwürdigerweise 
ist  dieselbe  in  Schottland  geringer,  und  sie  fehlt  in  Irland  voll¬ 
ständig.  Sehr  ausgesprochen  ist  der  Tuberkuloserückgang  in 
Preußen.  Während  des  Jahrzehnts  von  1876 — 1886  stand  die 
Schwindsuchtssterblichkeit  noch  gleichmäßig  hoch.  Von  1886  ab 
fiel  sie  dann  aber  von  Jahr  zu  Jahr  und  ist  bis  jetzt  um  mehr 
als  30  Proz.,  also  etwa  um  ein  Drittel  gesunken.  Man  hat  aus¬ 
gerechnet,  daß  infolgedessen,  obwohl  die  Bevölkerungsziffer  in¬ 
zwischen  gestiegen  ist,  jetzt  in  Preußen  alljährlich  etwa  20000 
Menschen  weniger  an  Schwindsucht  sterben  als  vor  20  Jahren. 
In  anderen  Ländern,  z.  B.  Österreich  und  Ungarn,  ist  die  Schwind¬ 
suchtssterblichkeit  auf  der  früheren  bedeutenden  Höhe  geblieben. 
Es  läßt  sich  schwer  sagen,  wodurch  dies  eigentümliche  Verhalten 
der  Tuberkulose  in  den  genannten  Ländern  bedingt  ist.  Vermut¬ 
lich  haben  mehrere  Faktoren  zusammengewirkt.  Die  Verbesserung 
der  Lage  der  unteren  Volksschichten  namentlich  in  bezug .  auf 
Wohnungsverhältnisse  und  die  bessere  Kenntnis  der  Ansteckungs¬ 
gefahr,  welche  den  einzelnen  veranlaßt,  sich  der  Ansteckung  nicht 
mehr  ahnungslos  auszusetzen,  haben  sicher  das  Ihrige  getan,  um 
die  Tuberkulose  abnehmen  zu  lassen.  Aber  ich  bin  fest  davon  über¬ 
zeugt,  daß  die  bessere  Fürsorge  für  die  Schwindsüch¬ 
tigen  im  letzten  Stadium,  nämlich  ihre  Unterbrin¬ 
gung  in  Krankenanstalten,  die  in  England  und  in  Preußen 
in  verhältnismäßig  großem  Umfänge  geschieht,  am  meisten  zur 
Besserung  der  Tuberkuloseverhältnisse  beigetragen  hat.  Ich  werde 
in  dieser  Meinung  noch  besonders  durch  das  Verhalten  der  Tuber¬ 
kulose  in  Stockholm  bestärkt,  wo,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  ver¬ 
hältnismäßig  viel  Schwindsüchtige  in  den  Anstalten  verpflegt  werden, 
und  wo  auch  im  Laufe  der  letzten  Dezennien  die  Schwindsuchts¬ 
sterblichkeit  um  38  Proz.  herabgegangen  ist.  Hieraus  sollen  wir 
aber  die  Lehre  entnehmen,  daß  auf  diese  Maßregel,  nämlich  die 
Unterbringung  der  Schwindsüchtigen  in  geeigneten  Anstalten,  im 
Kampfe  gegen  die  Tuberkulose  der  größte  Nachdruck  zu  legen  ist, 
*  und  man  sollte  noch  viel  mehr  als  bisher  dafür  sorgen,  daß  die 
Schwindsüchtigen  nicht  in  ihren  Wohnungen  sterben,  wo  sie  sich 
überdies  meistens  in  hilfloser  Lage  und  ohne  ausreichende  Pflege 


200 


A.  Grotjahn, 


befinden.  Wenn  nicht  mehr  wie  bisher  die  Schwindsüchtigen  als 
Unheilbare  von  den  Krankenhäusern  zurückgewiesen  werden,  son¬ 
dern  wenn  wir  ihnen  die  denkbar  beste  und  unentgeltliche  Pflege 
anbieten,  in  einzelnen  Fällen  sogar  noch  Heilung  in  Aussicht 
stellen  können,  wenn  ferner  für  ihre  Familien  während  der  Krank¬ 
heit  gesorgt  wird,  dann  wird  nicht  der  geringste  Zwang  nötig  sein, 
um  noch  viel  mehr  dieser  unglücklichen  Kranken  zu  veranlassen, 
die  Krankenhäuser  aufzusuchen,  als  es  jetzt  schon  geschieht.“ 

Heilungen  und  Besserungen  werden  in  den  Anstalten  erzielt, 
aber  sie  sind  nicht  so  zahlreich,  daß  sie  gegenüber  der  Verbreitung 
der  Lungentuberkulose  in  Frage  kommen.  Wirkliche  Heilungen  *) 
im  medizinischen  Sinne  sind  so  selten  bei  den  proletarischen 
Lungenkranken,  auch  wenn  sie  die  Heilstätte  passiert  haben,  daß 
sie  auch  von  den  begeistertsten  Verfechtern  nicht  zum  Beweis 
der  Vorzüge  der  Anstaltsbehandlung  vorgebracht  worden  sind. 
Weicker  berechnet  aus  seinem  Material,  das  mehr  als  3000  Pa¬ 
tienten  umfaßt,  einen  Dauererfolg  „von  voller,  resp.  teilweiser 
Arbeitsfähigkeit  im  Durchschnitt  von  6  Jahren“  auf  41,6  Proz. 
(Beiträge  zur  Frage  der  Volksheilstätten,  VIII,  Leipzig  1903).  Die 
vom  Reichsversicherungsamt  herausgegebenen  „Amtlichen  .Nach¬ 
richten“  verzeichnen  einen  Dauererfolg  bei  40  Proz.,  der  2  Jahre 
nach  dem  Aufenthalt  in  der  Heilstätte  noch  anhält,  d.  h.  der.  noch 
nicht  der  Invalidisierung  der  Patienten  gewichen  ist.  Dauererfolg 
ist  hier  aber  gleich  Arbeitsfähigkeit  im  Sinne  des  §  5  Abs.  4  des 
IVG.  und  bedeutet  das  Vermögen  des  Patienten,  „durch  eine  seinen 
Kräften  und  Fähigkeiten  entsprechende  Tätigkeit,  die  ihnen  unter 
billiger  Berücksichtigung  ihrer  Ausbildung  und  ihres  bisherigen 
Berufes  zugemutet  werden  kann,  ein  Drittel  desjenigen  zu  erwerben, 
was  körperlich  und  geistig  gesunde  Personen  derselben  Art  mit 
ähnlicher  Ausbildung  in  derselben  Gegend  durch  Arbeit  zu  ver¬ 
dienen  pflegen“. 

Aus  den  zahlreichen  Ermittlungen  über  die  in  den  Lungen¬ 
heilstätten  erzielten  Erfolge  sind  nur  die  von  Wert,  die  sich  auf 


0  Unter  Heilung  versteht  der  gesunde  Menschenverstand  und  mit  ihm  der 
exakte  ärztliche  Sprachgebrauch  die  dauernde  Beseitigung  eines  krankhaften  Zu¬ 
standes.  Es  dient  nur  zur  Verwirrung,  wenn  außer  dieser  Heilung  im  klinischen 
Sinne  von  einer  „sozialen  Heilung“  gesprochen  wird,  worunter  man  dann  die 
Wiedererlangung  einer  dauernden  Erwerbsfähigkeit  beim  Fortbestehen  der  Krank¬ 
heit  selbst  verstehen  soll.  Es  ist  deshalb  zweckmäßig,  das  Wort  „soziale  Heilung“ 
wieder  aus  dem  Sprachschatz  verschwinden  zu  lassen  und  sich  mit  dem  Ausdruck 
„voraussichtlich  dauernder  Erwerbsfähigkeit“  zu  begnügen. 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  201 


wirkliche  Heilungen  oder  auf  dauernde  Besserungen  bis  zu  einem 
Grade,  daß  noch  im  5.  Jahre  nach  der  Heilstättenkur  keine  Inva¬ 
lidisierung  eingetreten  war,  beziehen.  Absolute  Heilungen  waren 
nach  den  Ermittlungen  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamtes  nur  bei 
3,4  Proz.  der  Heilstättenpfleglinge  zu  konstatieren.  Daß  diese  ge¬ 
ringe  Zahl  auf  den  Gang  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit 
irgend  welchen  Einfluß  gehabt  haben  könne,  wird  niemand  be¬ 
haupten  wollen.  Aber  auch  die  Zahl  derer,  die  so  gebessert  wurden, 
daß  sie  noch  5  Jahre  nach  der  Kur  nicht  invalidisiert  zu  werden 
brauchten,  beträgt  durchschnittlich  nur  31  Proz.  Die  Erzielung 
dieses  Prozentsatzes  ist  nicht  so  besonders  rühmenswert,  wenn  man 
bedenkt,  daß  die  für  die  Heilstättenbehandlung  ausgesuchten  Fälle 
doch  nur  solche  im  Anfangsstadium  waren.  Daß  diese  auch 
ohne  Lungenheilstättenbehandlung  noch  jahrelang  arbeitsfähig  sind, 
pflegt  unter  den  Ärzten,  die  mit  den  besser  gestellten  Arbeiter¬ 
kategorien  beruflich  zu  tun  haben,  seit  langem  bekannt  zu  sein. 
Es  ist  unbegreiflich,  wie  man  sich  dieser  Zahlen  jemals  hat  freuen 
können.  Sie  sind  doch  eher  niederschmetternd  und  haben  für  die 
Ausbreitung  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit  wenig  zu  be¬ 
deuten.  Zählen  doch  nach  Köhler1)  die  Tuberkulösen,  deren 
Leiden  so  vorgeschritten  ist,  daß  sie  Krankenhausbehandlung  er¬ 
fordern,  im  Deutschen  Reiche  mindestens  225000.  Die  Sterblich¬ 
keit  allein  an  Tuberkulose  betrug  2,25  °/oo  bei  einer  Gesamtsterb¬ 
lichkeit  von  21,8  °/(io  in  den  Jahren  1894 — 1897.  Wie  skeptisch 
R.  Koch  über  die  hygienische  Wirksamkeit  der  Lungenheilstätten 
für  im  Frühstadium  befindliche  Patienten  denkt,  geht  aus  folgenden 
Worten,  die  der  nämlichen  Stelle  wie  die  oben  zitierten  entnommen 
sind,  hervor.  „Die  Heilstätten  wurden  gegründet  in  der  Erwartung, 
daß  in  ihnen  ein  großer,  vielleicht  der  größte  Teil  der  Schwind¬ 
süchtigen  geheilt  werden  könne.  Wenn  diese  Voraussetzung  richtig 
wäre,  dann  würden  die  Heilstätten  entschieden  eine  der  besten 
Waffen  im  Kampfe  gegen  die  Tuberkulose  sein.  Aber  über  die 
Erfolge  der  Heilstätten  ist  viel  hin-  und  hergestritten.  Von  der 
einen  Seite  wurde  behauptet,  daß  sie  bis  zu  70  Proz.  Heilerfolge 
hätten,  von  der  anderen  Seite  wurde  ihnen  jeder  Erfolg  abgestritten. 
Nun  muß  zugegeben  werden,  daß  die  70  Proz.  Erfolge  sich  nicht 
auf  eigentliche  Heilungen,  sondern  nur  auf  die  Wiedergewinnung 


9  Die  Verbreitung  der  Lungenschwindsucht  und  der  entzündlichen  Er¬ 
krankungen  der  Atmungsorgane  in  den  europäischen  Staaten.  Hrsg,  vom  Kaiserl. 
Gesundheitsamt.  Berlin  1899. 


202 


A.  Grotjahn, 


der  Erwerbsfähigkeit  beziehen.  Vom  Standpunkte  der  Prophylaxis 
ist  das  aber  kein  Gewinn,  da  ein  Kranker,  welcher  nicht  voll¬ 
kommen  geheilt,  sondern  nur  so  weit  gebessert  ist,  daß  er  für 
einige  Zeit  wieder  erwerbsfähig  wird,  später  in  den  Zustand  der 
offenen  Tuberkulose  gerät  und  allen  Folgen  derselben,  wie  sie 
früher  geschildert  wurden,  anheimfällt.“ 

Die  Anschauungen,  die  hier  von  kompetenter  bakteriologischer 
Seite  geäußert  werden,  sind  von  klinischer  Seite  schon  früher  nach¬ 
drücklich  vertreten,  aber  nicht  genug  beachtet  worden.  In  einer 
ruhigen,  die  Vorzüge  und  Lücken  der  vorbeugenden  Heilstätten¬ 
behandlung  vorsichtig  gegeneinander  abwägenden  Schrift  kam 
B.  v.  Fetzer1)  schon  im  Jahre  1900  zu  dem  Schlußurteil,  daß 
„die  Heilstätten  für  Lungenkranke,  auch  wenn  sie  in  großem  Ma߬ 
stabe  eingeführt  werden,  zur  Verminderung  der  Infektionsgefahr 
der  Tuberkulose  für  die  Gesamtheit  des  Volkes  nichts  oder  doch 
nur  in  sehr  geringem  Maße  beizutragen  vermögen,  ferner,  daß  selbst 
bei  günstigen  Erfolgen  der  Heilstättenbehandlung  ein  erheblicher 
nationalökonomischer  Gewinn  nicht  zu  erwarten  steht,  während 
durch  die  Schaffung  von  Volksheilstätten  in  einigermaßen  zu¬ 
reichender  Menge  dem  Volksvermögen  sehr  beträchtliche  Opfer 
zugemutet  werden  und  endlich,  daß  der  —  a  priori  nicht  zu  leug¬ 
nende  —  erzieherische  Wert  der  Heilstättenbehandlung  voraus¬ 
sichtlich  kein  sehr  großer  sein  wird,  demnach  die  Heilstätten¬ 
behandlung,  so  hoch  die  humanitäre  Bedeutung  für  die  Erkrankten 
selbst  anzuschlagen  ist,  für  das  soziale  Erwerbsleben  und 
das  hygienische  Wohl  des  Volkes  doch  nur  von  be¬ 
schränkter  Bedeutung  bleiben  wird.“  Aus  neuerer  Zeit 
möge  hier  noch  die  Stimme  eines  so  erfahrenen  Klinikers  wie 
L.  Brauer2)  Platz  finden,  der  über  den  Wert  der  Heilstätten¬ 
behandlung  urteilt:  „Die  Heilstätte  ist  und  bleibt  eine  humane 
Einrichtung;  sie  schafft  einem  Teile  ihrer  Pfleglinge  Nutzen,  sie 
verzögert  damit  für  die  Versicherungen  die  Auszahlnng  einiger 
Renten  und  erhält  dem  Staate  Arbeitskräfte.  Die  Heilstätte  ist 
auch,  ebenso  wie  viele  andere  Anstalten,  befähigt,  im  Nebenamte 
sozialen  Anforderungen  allgemeiner  Art,  z.  B.  der  Belehrung,  zu 
dienen.  Den  wichtigsten  Aufgaben  der  Antituberkulosebewegung 
aber  dient  die  Heilanstalt  nicht.  Für  die  Bekämpfung  der  Tuber- 


x)  a.  a.  0.  S.  68. 

2)  Der  Einfluß  der  Krankenversorgung  aiü  die  Bekämpfung  der  Tuberkulose 
als  Volkskrankkeit.  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuberkulose,  1905,  S.  97. 


Pie  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  (1er  Sozialen  Hygiene.  203 


kulose  als  Volkskrankheit  für  die  Verhütung  stets  wieder¬ 
kehrender  neuer  Erkrankungen  • —  kommt  dieselbe  kaum  in  Be¬ 
tracht,“  Er  empfiehlt  dann  auf  das  wärmste,  möglichst  viele 
fortgeschrittene  Fälle  der  Anstaltsbehandlung  zuzuführen  und  in 
kleinen  einfachen  Heimstätten  zu  asylisieren.  „Es  wäre 
sehr  förderlich,  wenn  man  diejenigen  Kranken,  welche  aus  dem 
Hause  oder  geschlossenen  Fabrikräumen  entfernt  werden  sollen, 
mit  ihrem  Einverständnisse  schon  vor  Eintritt  der  Erwerbsunfähig¬ 
keit  invalidisieren  dürfte  und  wenn  alsdann  die  Versicherungs¬ 
anstalt  als  Äquivalent  für  diese  vorzeitige  Zuwendung  von  den 
Kranken  die  Übersiedelung  in  eine  Heimstätte,  resp.  den  Übergang 
in  .  einen  Beruf  verlangen  würde,  in  welchem  sie  die  Gesunden 
nicht  gefährden.  Aus  einem  so  gestalteten  Vorgehen  würde  weiten 
Schichten  der  handarbeitenden  ärmeren  Bevölkerung  ein  tatsäch¬ 
licher  und  beträchtlicher  Tuberkuloseschutz  erwachsen.“  Die  ärzt¬ 
liche  Leitung  derartiger  Heimstätten  sollte  nach  Brauer  dem 
Arzte  des  Ortes  übertragen  werden;  es  fällt  dieses  mit  der  Ab¬ 
sicht  zusammen,  die  einzelnen  Heimstätten  möglichst  klein  zu 
erbauen  und  lieber  eine  große  Zahl  derselben  auf  die  Gemeinden 
zu  verteilen.  Es  entsteht  hierdurch  für  den  Kranken  der  Vorteil, 
daß  er  mit  seinem  Beruf  in  Konnex  bleiben  kann.  Die  finanzielle 
Fundierung  der  Heimstätten  ist,  wie  dieses  in  einzelnen  Versuchen 
schon  zur  praktischen  Tat  wurde,  durch  Gewährung  billiger  Kapi¬ 
talien  seitens  des  Staates,  der  Versicherungsanstalten  und  Wohl¬ 
fahrtsgesellschaften  zu  erleichtern.  Aus  den  Einzahlungen  der 
Pfleglinge  würde  für  die  Gemeinden  eine  geringe  Verzinsung  des 
angelegten  Kapitals  resultieren,  wenn  die  Versicherungsanstalten 
in  wachsender  Zahl  von  dem  ihnen  zustehenden  Beeilte  Gebrauch 
machten,  ihren  ßentenempfängern  die  Zuschüsse  so  lange  zu  er¬ 
höhen,  als  dieselben  in  den  Heilstätten  verbleiben. 

Die  wichtigste  Infektionsquelle  ist  eben  der  Tuberkulöse  im 
vorgeschrittenen  Stadium.  Die  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als 
Volkskrankheit  muß  hier  ihren  Hebel  einsetzen.  Das  ist  um  so 
wichtiger  geworden,  seitdem  die  Untersuchungen  R.  Kochs  und 
seiner  Schüler  wahrscheinlich  gemacht  haben,  daß  der  Binder¬ 
tuberkulose  —  was  übrigens  die  Ergebnisse  der  Medizinalstatistik 
von  vornherein  wahrscheinlich  machten  —  keine  bedeutendere  Rolle 
bei  der  Entstehung  der  menschlichen  Tuberkulose  zuzuweisen  ist.1) 


b  Sehr  lehrreich  und  in  diesem  Zusammenhänge  mitteilenswert  sind  die 
Beobachtungen  und  Maßnahmen,  die  der  dänische  Tierarzt  B.  Bang  bei  der  von 


204 


A.  Grotjahn, 


•  • 

Unter  den  Forschern,  die  sich  mit  der  Ätiologie  der  Tuber» 
kulose  beschäftigen,  ist  der  Streit,  ob  die  Infektion  oder  die  Ver¬ 
anlagung  der  wichtigste  Faktor  in  der  Entstehung  der  Lungen¬ 
schwindsucht  ist,  noch  nicht  zum  Austrag  gekommen.  Aber  mit 
einer  möglichst  ausgebreiteten  Detention  der  Tuberkulösen  in 
Heimstätten  können  sowohl  die  Kontagionisten  (E.  Koch,  Flügge, 
Com  et  u.  a.)  wie  die  Dispositionisten  (Hueppe,  Gottstein, 
Ei f fei  u.  a.)  zufrieden  sein.  Denn  durch  das  Herausziehen  der 
Tuberkulösen  aus  der  übrigen  Bevölkerung  werden  doch  ohne 
Zweifel  die  Infektionsquellen  bedeutend  vermindert  und  zugleich 
wird,  da  die  Insassen  der  Heimstätten  zölibatär  leben,  auch  die 
Weitergabe  der  konstitutionellen  Minderwertigkeit  im  Wege  des 
Erbganges  vermieden.  Treffen  doch  die  meisten  Todesfälle  an 
Lungentuberkulose  auf  das  Alter  von  20 — 30  Jahren,  nämlich  im 
Deutschen  Eeiche  allein  87  000  im  Durchschnitt  der  Jahre  1894 
bis  1897,  das  sind  2,95  auf  1000  Lebende  dieser  Altersperiode  und 
von  1000  Arbeitern,  die  im  Alter  von  20 — 30  Jahren  invalide  im 
Sinne  des  Invalidengesetzes  geworden  sind,  sind  mehr  als  die 
Hälfte  infolge  Lungentuberkulose  invalide.  Das  Jahrzehnt  von 


ihm  organisierten  Bekämpfung  der  Tuberkulose  der  Rinder  mittels  Aussonderung 
gemacht  hat  (Tuberculosis,  1904,  Nr.  5).  Er  hatte  beobachtet,  daß  die  Verbreitung 
der  Tuberkulose  bestände  weise  vor  sich  ging,  daß  Bestände  tuberkulosefreier 
Tiere,  die  durch  eigene  Zucht  ergänzt  wurden,  erst  durchseucht  wurden,  wenn 
fremde  Tiere,  die  so  unerheblich  krank  waren,  daß  ihre  Tuberkulose  klinisch 
nicht  zu  erkennen  war,  den  Beständen  zugesellt  wurden.  Von  10344  Beständen, 
die  Bang  bis  zum  Januar  1904  mit  Hilfe  der  Tuberkulinprobe  untersuchte,  er¬ 
wiesen  sich  2664,  also  mehr  als  der  vierte  Teil,  als  gesund.  Er  schloß  aus  seinen 
Beobachtungen,  daß  „1.  Viehbestände,  welche  bislang  gesund  gewesen  waren,  in 
Zukunft  tuberkulosefrei  gehalten  werden  könnten,  wenn  man  genau  darüber 
wache,  daß  keine  Ansteckung  eingeschleppt  würde  und  2.  es  möglich  sein  müßte, 
allmählich  einen  tuberkulösen  Bestand  zu  einem  gesunden  umzubilden,  wenn  man 
gleich  nach  der  Geburt  die  nüchternen  Kälber  von  den  infizierten  Müttern  aus 
den  infizierten  Ställen  wegnehmen  würde  und  sie  in  einen  seuchenfreien  Raum 
bringen  ließe  und  ihnen  tuberkelfreie  Milch  geben  würde“.  Er  empfahl  daher, 
jeden  Bestand  durch  die  Tuberkulinprobe  untersuchen  zu  lassen  und  die  rea¬ 
gierenden  Tiere  von  den  nicht  reagierenden  abzusondern.  Es  genügte  dazu  häufig 
eine  Teilung  des  gemeinschaftlichen  Stalles  durch  eine  dichtschließende  Bretter¬ 
wand.  Das  Personal  darf  nicht  für  beide  Abteilungen  das  nämliche  sein  und  im 
Sommer  müssen  die  Tiere  auf  getrennten  Weiden  grasen.  In  der  gesunden  Ab¬ 
teilung  muß  jedes  Tier  halbjährlich  der  Tuberkulinprobe  unterworfen  werden, 
damit  man  sicher  ist,  daß  die  Tiere  auch  wirklich  gesund  sind  und  die  Seuche 
sich  nicht  einschleicht.  Mit  staatlicher  Unterstützung  ist  das  Bang  sehe  System 
in  großem  Umfange  in  Dänemark  angewandt  worden. 


Die  Lungeiiheilstätteubewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  205 


20—30  ist  aber  dasjenige,  in  dem  die  meisten  Kinder  der  unteren 
Volksschichten  erzeugt  werden. 

Während  zurzeit  in  Deutschland  etwa  80  Volksheilstätten  mit 
ungefähr  7500  Betten,  außerdem  31  Privatanstalten  mit  2028  Betten 
und  13  Anstalten  für  tuberkulöse  Kinder  mit  500  Betten  zur  Ver¬ 
fügung  stehen,  sind  erst  vereinzelte  Asyle  geschaffen  worden,  die 
für  Patienten  bestimmt  sind,  bei  denen  eine  Heilung  ausgeschlossen 
erscheint.  Aber  gerade  diese  Versuche  sind  höchst  beachtenswert, 
da  sie  den  Anfang  einer  rationellen  Bekämpfung  der  schrecklichen 
Volkskrankheit  durch  das  Anstaltswesen  darstellen;  sie  werden  im 
folgenden,  den  Kosten  der  Anstalten  für  Lungenkranke  gewidmeten 
Abschnitte  des  näheren  besprochen  werden.  Hängt  ja  doch  gerade 
von  der  Lösung  der  Kostenfrage  die  Möglichkeit  ab,  die  Heimstätten 
für  Tuberkulöse  in  einem  Maße  zu  verallgemeinern,  daß  daraus 
ein  wesentlicher  sozialhygienischer  Vorteil  auch  für  den  gesunden 
Teil  der  Bevölkerung  resultiert. 


II. 

Da  die  Lugentuberkulose  so  überaus  häufig  ist,  wird  die 
wünschenswerte  Verallgemeinerung  der  Anstalten  für  Lungenkranke 
natürlich  große  Kosten  verursachen.  Um  so  wichtiger  ist  es,  hier 
zu  verlangen,  daß  die  Erreichung  des  Zweckes  unter  Aufwendung 
der  geringsten  Mittel  geschehe.  Auf  keinen  Fall  darf  das  Grund¬ 
gesetz  jeder  sozialhygienischen  Maßnahme  vernachlässigt  werden: 
man  suche  den  billigsten,  aber  gerade  noch  den  Vor¬ 
gesetzten  Zweck  erreichenden  Typus  und  verall¬ 
gemeinere  ihn,  ohne  seine  Extensität  durch  Y  er  - 
feinerung  der  einzelnen  Einrichtungen  zu  beein¬ 
trächtigen.  Leider  ist  dieses  wichtige  Gesetz  von  der  Ausbildung 
und  dem  Festhalten'  des  billigsten  Typus  und  von  der  Bevorzugung 
der  Extensität  vor  der  Intensität  in  der  Lungenheilstättenbewegung 
unserer  Tage  gröblich  vernachlässigt  worden.  Es  ist  gewiß  kein 
Zufall,  daß  die  Bewegung  zur  Errichtung  von  Lungenheilstätten 
gerade  zu  einer  Zeit  abflaute,  in  der  einige  Landesversicherungs¬ 
anstalten  so  luxuriöse  und  in  Bau  und  Betrieb  so  teure  Anstalten 
gründeten,  daß  mit  bescheideneren  Mitteln  arbeitende  Faktoren 
kleinmütig  gemacht  und  vom  Bau  einfacher  Anstalten  abgeschreckt 


206 


A.  Grotjahn, 


w 

CD 


C fl 

,  p 


Q 


CD 


CD  ^  - 
_ _ _  CD 

m  ~ 

'-‘"Ul  .  I— 1 

eP  CD  I  HJ 

lj. 

^  o  r  o 

•  '  ty* .  .  t=- 
p"  M  ~  p3  » 


p  n> 

P  2- 

cc  CT4 

CD 

®  S, 

<r+-  ^ 

£:'q 


p  ö 

ä5  LJ 

p"  p:  t“1 


P  CD 


f  s--®? 

Ö  CD  * 

;  L— J  *H 

p  >1  P-  p 

erq  n  gf  f 

g  g  gi| 
f'*'“  c 

tu  £-  ,_,  N 

Ul  .  CT*-  bfd  cd 
CD  'Q  {Z 

HH.  p- 


SS* 

>— I 

p 


<rr 

p  • 

t-1  • 

I 

t>* 
td  ‘ 

CD 


“  p  P  ■ 


CD 

.-r 

3  erq 

p:  cd 

1  ^  S- 

£-  CD 

•  M< 

P  I* 

p  p- 
»— i  CD 

®  CP 

CD 


^-h»  CD 

s  E? 

p:  p 

P  "-r 

P  *5 

. — 1  CC 
CD 

W  p 
TT.  P 
P  <=-*- 
00 


p 


I 


o. 


cro 

p 


p 

H » 

U 


CD 


CD 


Ul 


rrt- 

c-e 

CD 


w 

CD 


erq 

H-T 

p 

cc 

p 


’-i  p 

l_J. 

«  pH 

P^  pN 

H 

F  p 

W© 

«2 

pj  CD 

^  p 
l-+a  Sa 

*  e4- 

M  02 

3  tr 

p:  cd 

^  • 
r~>  >— ' 

£3  Ul 

H-  r-K 

•  p: 

p  p 

~-CO 
P  — .  . 
P  F- 

hH-  *— 1 
P  N  • 

53  tr 

■  p  ■ 

'C 


O  ° 
Ul  Hi 
CD  b-i 


ec  ■ 

H 1 


P-‘  l-H 
P  ° 

s  tr 

ö  s 

j?r  5=5 
oTerq 

CD 

Ö 

.  tr 

CD 

Ul 
c+ 
p: 
c^ 

CD 
<*** , 

tC 

*i 

f> 


HH  P 

•,  fP 

>-P 

*  P 

p  *-b 

w-®* 

p  bd 

p  gf 

Ul  i-> 

p;  p 
&  e 

•^■jo 

cd  t-1 

r-  p 
W  2 

T-i  P 
P  PJ 

p  2. 
tp  & 
p  2. 

•  p: 

r^- 
r4- 
.  CD 


Ul  ^  HO:  Qj 

&  ^  ,  p  • 

rH-'P  *2  HJ.  | 

g“  •  ' K  \ 


tC  P  M  .  . 

.  3  5  cro  g 

<1  H 
^  P  P 

td  P 
P  P  ‘ 

s  ®  3  » 


td  * 

’  N  *-s  . 

p  so  >; 


•i  p 

^  ■  t»0Q 

jq  p  •  cd 

^  e  ®  m1  _  _ 

o  p  HL  p 

•  %  Z*  s- 
Q®^ig 
e  ~ 

O  c  S:  P  ^  O  IH;  ® 
®  nE-4  g  p  ö  ‘ 

H  gj-^tnlg  lg1 

Ji  pg  P  rq  PjrJ0 

5  P  H  (JO  *—  •  P 

2.  so»?  CD  M 
cs-—  2  p  P  fg  p- 
r-  tr1  E.  t3"  p  F  5  2. 
h-H  P  2  .erq  B  o«?  JT 
•C^p  p  ^pcfq  p  p. 
TT  -  -  ■  ec  ,_,  cd  a  p: 


p  erq 
s  ®  P 


(p 


p  p 


p:  fp 


P  ^  . 
CD 


c-t-  p  CD  p 


ert- 
e«  CD 

^  S  hP  P  H 
SPP 
r"  p  p  t-s 


1897 

1899 

1895 

1902 

1900 

1903 

1898 

1904 

1897 

1899 

1901 

1902 

Eröffnuugsjahr 

CW*— T*-T -  —  *-T L  >— T|— *1— 1 ■ 

O*—r*<iT^0D0DOOCn-<]~000 

oo  o*^oooo-joood 

Zahl  der  Betten 

11  030 

13  500 

42  900 

10  000 

38  000 

29  000 

104  000 

i  40009 

27  000 

30  000 

Grnnderwerb 

insgesamt 

.  161  525 

155  200 

189  000 

159  500 

544  000 

560  009 

822  000 

840  000 

754  090 

1  294  000 

1108  000 
4190000 

Bau¬ 

kosten 

insgesamt 

1878 

2  217 

2  700 

2  798 

5  440 

5  600 

6  323 

6  461 

6  614 

7  612 

10  073 
14  000 

Bau¬ 

kosten 

pro 

Bett 

30  465 

38  800 

42  000 

45  400 

55  676 

66  030 

64  000 

105  000 

91  030 

125000 

162  000 

Inven¬ 

tar 

insge¬ 

samt 

>— *. 

|M^-J~30C*£nG5Ü*-<]C5C*CW 

|~jODOODOODC^CDOcncn 

OD  CJ*  00  QO  DO  O  “O  *<I  O  jf». 

Inventar  pro  Bett 

191990 

194  000 

231000 

204  900 

599  676 

626  000 

886  000 

945  000 

845  000 

1  429  030 

1  270  000 

1  < 

Bau¬ 

kosten 

und 

Inventar 

insgesamt 

N-* 

H*  QC  — 3  CD  CD  C*  &£  OS  t>5  IC 

Ic^W^lNSGOtCiOC^Oi-JtC 

©  -a  ic  ©  oi  ©  -j  c?*  ©  t— k  to 

Baukosten  und 
Inventar  pro  Bett 

jp-cn  jfH  Jd»  |  .  |  JP-  CO  JW  05  JOD 

'osT-h  'cs  "c»  |  1  1  'ai  bo  H  '©  lo 

H-*C0C005  *p.(jOCOO<l— *• 

Kur-  und  Verpfle¬ 
gungskosten  pro 

V  erptlegungstag 

1.93 

1.40 

1.37 

1.41 

1,57 

2,00 

2.37 

1,75 

1,32 

Naturalverpfle- 
gungskosten  pro 

V  erpflegungstag 

Tabelle  über  die  Kosten  der  von  den  Landesversiclieriingsanstalten  in  eigener  Regie 

errichteten  und  betriebenen  Lungenheilstätten. 


Die  Lungenheilstättenbewegimg  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  207 


c 

<D 

ft 

02 

ft 

O 


CD 


02 


. 

5h  Ö 

CD  CD 
>  +=> 
03 

ft  :cö 

5h  -+-> 

t-t  02 


c3 

<ft 


O 


CD 


02 

br 


°  fl 
& 

CD  & 

bc  c 

a> 

Ö  rO 

♦  rfl 

O  *»— I 


<£> 


cr> 

rO 

02 

O  'ö 

Nd  ö 

^  Pj 

CD 

•  i— i 

Ti 

5-i 

02 

02 

CD 

cö 

EH 


.  P 

i  d 

g  ft 

a  m 

m  s 


c  ?  5 

02  g  d 


pq 


/  rn 

2  <D 
-  -A 

zn 

o 


c3  Ö 
tS  o3 

ö  üg 

CD  CD 
ÖJD 
fl  OG 
Hfl  fl 


fl 

-J— 3 

rH 

A 

CD 

> 

fl 


o  i-J 

rH  <D 

&  pq 


rH 

fl 

s 

O 

o 

o 

o 

o 

o 

O 

o 

CO 

-M 

fl 

o 

o 

o 

o 

o 

CO 

O 

CD 

o 

D 

> 

CO 

o 

o 

o 

o 

CD 

O 

O 

O 

o 

<D 

br 

CO 

(H 

o 

o 

o 

D— 

Cd 

ft 

o 

O  ■ 

CO 

rH 

hfl 

ft 

ft 

D— 

ft 

Oi 

rfl 

Oi 

ft 

[H 

o 

ft 

<x> 

ft 

OJ 

® 

03 

O 

o 

® 

«5 

® 

■^H 

X 

ft 

H 

l- 

ft 

ec 

ec 

i  - 

CO 

® 

CO 

ft 

l  - 

OI 

® 

ec 

CO 

«fl- 

ft 

ft 

ft 

ft 

ft 

X 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

c~> 

o 

<o 

Q 

o 

o 

o 

C2 

o 

o 

o 

O 

o 

o 

o 

fl 

ft 

o 

03 

ffl 

o 

o 

CO 

rfl 

ft 

-*-H 

l> 

o 

ft 

CH 

o 

o 

ft 

ft 

CO 

ft 

CO 

Ift 

ft 

CH 

00 

o 

o 

IH 

03 

▼fl 

CO 

03 

ft 

o 

CO 

l- 

03 

r-H 

CH 

CO 

GO 

Ol 

CO 

CO 

ft 

CO 

ft 

rfl 

ft 

fl* 

ft 

o 

Ban¬ 

kosten 

pro 

Bett 

3058 

3235 

3915 

4669 

4189 

4754 

00 

00 

Ol 

ft 

5625 

7000 

n  S 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

■  S  § 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

ft 

fl  4^  zn 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

c? 

CO  02  d 

o 

>o 

o 

CO 

ch 

ft 

03 

o 

o 

pq  3  6x) 

CH 

CO 

ft 

03 

CO 

20 

CO 

CO 

ft 

rfl  zn 

rft 

CO 

CO 

CH 

ft 

ft 

ft 

ft 

ft 

o 

•  rH 

-fl 

*  3 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

'P  fn  ci 

o 

o 

o 

o 

CD 

o 

o 

o 

fl  cd  zn 

H  >■  <D 

ft 

1 

ft 

ft 

ft 

o 

o 

o 

o 

S  p  6X1 

▼fl 

ft 

ft 

▼fl 

o 

ft 

03 

Ci  d  ES 

fl 

Tfl 

Tfl 

ft 

ft 

▼fl 

03 

ft 

P 

H  Ph  P 

▼fl 

03 

03 

03 

ft 

CO 

CO 

03 

o 

‘  C3  ©  4H 

03 

T-fl 

CO 

rfl 

ft 

CO 

co 

▼H 

o 

^  ft  d 

rfl 

Tfl 

rfl 

Hfl 

▼A 

tfl 

▼fl 

rfl 

pq 

g  ft  6X3 

CH 

fl 

ft 

O 

03 

>o 

ft 

03 

ft 

■03 

O 

03 

ft 

03 

CO 

o 

o 

o 

P  ft  ‘"h  p 

CO 

03 

CO 

03 

CO 

CO 

03 

03 

03 

^  H  p 

Tfl 

tH 

rfl 

▼H 

Tfl 

Tfl 

T— * 

rfl 

Tfl 

4H 

br 

rH 

D 

fl 

zn 


<D 

fl 

^H 

<1 

CD 

:fl 

-4-3  <-i 

CO  <D 

"-j  4-^ 

*<D  ö 

ft  fl 

CO  4^ 

rfl  fl 

■oCq 

r*  cd 
ft 

d  o 

ft  •’O 

03  P 

•  rH  fl 

2:3 

fl 

s s 
02 


<D 

6X3 


Ph 

03 

rn 

ft 

•  rH 

fl 


N 

CD 

rH 

fl 


CD 
ft 
O 

pq 

©  ^ 

p§ 
fl  S 

rH  -g 

r2  «2 


CD 

4-2 

-fl 

:fl 

4^ 

zn 

•  rH 

CD 

rfl 

zn 

rfl 

r-H 

o 


*  ®  P 
fl  © 

.  ft  03 

ft 

d  © 

•  +3  CS 

-g  02 

Ifl 

4— 1  • 

CO  p- 

.ft  o 

d  rH 


ft 
GO  ' 

I  d’S 

c3  6X)ft 

•rH  p)  03 
5h  pS  ft 

Ofl'o 

£  d> 

^  ft  . 

£>fl  © 

Ö  ® 
!S  3  ® 
■+3  :eö  ^ 
02  a 


d 
zn 
zn 

fl 

d  fl 

ft  -H 
P  © 
cö  ft 

H  p 


6X3 


d 

ft 


P 

•rH 

fl 

.  r—j 

zn 

4^ 

rH 

CD 


rH 

rH 

rH 

CD 

CD 

•  1  pJ 

r~j 

rH 

O 

CD 

». 

• 

r^\ 

ft 

D 


5  © 
•-S  ft 
d  P 

•  r^  CÖ 

•  rH  rH 

.  pft 

_3  5=1 

d  ft  d 
ft  fl  6  ß 


d 

ft 


h  m  M  ft  rn  OJ 
Oft  <x)  pj  ft  h 

•  H  (H  T  ’  •“! 


P  03  Cö 


d 


d 


^  o 

b£ft 

P  H  ?H 

fl  ft 


.  g  03 

1=1  P 

ft  ft 

•  d  d 

ft  rH 

6X3  £ 

£  fl  P 

k>  fl  N  ^  2 

^  CD  fl  ^ 

,  <T) 

<D  Oß  fr., 

pM 

•ft  P  6X)  . 

ft  ■  d  t+H 

'-4H 

-Sö 

X2  CÖ 

fs  ■ 


c3 

✓  rH 

PH 


ö  ^  P 

P  P 

03  O 

Sä« 


S  fl 

o  :cö 

03  i 


ft  ft 
P  :cö 

öS  +C3 

S  iS 

'S  *3 
§w 

oi) . 
fl  fl 

p£ 

b 


ft  g  .  «  P  ft 
P  g  6x)^  ce  a  ©  • 

ftpd  !h 

p  p  ft 


d  >3 

6X^4h 


d  1 

6D 


d 


?pP-' 

d-  P  «ft  ® 
ö  ■+=  ft  —  .  — 1 

d 


ft  GO 


r.  03 
.rj  d  d 

ft  ,_Q  ft 


1 — 1  CD 
d 

6X)  P 
o  r> 

P> 


P 
fH 

ft  d  E-I  H 

•  rH  r-' 

Q  ft 


’ - •  ,  .  fl  C4H  CD 

'  rS  M  P  ©  6X) 

r»  9  d  £  ft  .a 

H  ^43  ä  4^  ft 

fl  4— 5  #  (X) 

d  ft  ifi  1+4  o  6X3 

rH  zn  ?h  4H  fl 

^  rfl  TA  rfl  ^  CD 

oiO  O  d  P  d  “ 

3  ®f 

in  6JD  ^  _cg 

ft  3  cö  -J3  -S 
ft  H 


208 


A.  Grotjahn, 


worden  sind.  Höchste  technische  Vollkommenheit,  die  den  Kranken 
gewiß  jeder  gönnt,  die  aber  doch  nicht  unbedingt  zur  Erreichung 
des  Zweckes  erforderlich  ist,  kann  infolge  der  damit  verbundenen 
Verteuerung  geradezu  zum  Hindernisgrund  der  Verallgemeinerung 
der  Anstalten  für  Lungenkranke  werden.  In  den  8  Jahren  von 
1898 — 1905  haben  die  Landesversicherungsanstalten  nicht  weniger 
als  33  Millionen  für  den  Bau  von  Heilstätten  und  35  Millionen 
für  ihren  Betrieb  ausgegeben. 

In  den  vorstehenden  Tabellen  sind  nach  den  vom  Zentralkomitee 
zur  Errichtung  von  Lungenheilstätten  herausgegebenen  Berichten 
die  Kosten  einer  Anzahl  von  Lungenheilstätten  zusammengestellt 
worden.  In  der  ersten  Tabelle  sind  die  Anstalten  verzeichnet, 
die  von  den  Landesversicherungsanstalten  in  eigener  Regie  ver¬ 
waltet  werden;  ihnen  sind  zwei  Knappschaftsheilstätten  zugefügt 
worden.  In  der  zweiten  Tabelle  sind  die  Angaben  über  einige 
Anstalten  zusammengestellt,  die  von  Wohlfahrtsvereinen  gegründet 
worden  sind,  die  aber  deshalb  der  Beziehungen  zu  den  Landes¬ 
versicherungsanstalten  nicht  entbehren,  weil  letztere  eine  große 
Zahl  von  Patienten  dahin  abzugeben  pflegen.  Will  man  die  ein¬ 
zelnen  Anstalten  bezüglich  ihrer  Kostspieligkeit  miteinander  ver¬ 
gleichen,  so  empfiehlt  es  sich,  die  Kosten  für  den  Grunderwerb 
außer  Betracht  zu  lassen,  weil  einige  Anstalten  den  Baugrund 
unentgeltlich  erhielten,  andere  eine  geringe  jährliche  Pacht  dafür 
entrichten  und  noch  andere  ihn  teuer  bezahlen  mußten.  Zum  Ver¬ 
gleich  eignet  sich  wohl  am  besten  die  Summe,  die  zusammen  für 
Baukosten  und  Inventar  gezahlt  worden  ist,  dividiert  durch  die 
Anzahl  der  Betten.  In  unseren  Tabellen  ist  diese  Zahl  in  der 
neunten  Kolumne  aufgeführt.  Ein  Blick  auf  letztere  zeigt  uns, 
daß  der  Aufwand  pro  Bett  bei  den  einzelnen  Anstalten  in  einer 
Weise  differenziert,  wie  er  wohl  kaum  allein  durch  die  sachlichen 
Anforderungen  zu  rechtfertigen  ist.  Man  sieht  deutlich,  wie  sich 
insbesondere  die  Landesversicherungsanstalten  von  Jahr  zu  Jahr 
im  Aufwande  überboten  haben. 

Um  eine  Vorstellung  von  den  speziellen  Kosten  der  Anstalts¬ 
behandlung  der  Lungenkranken,  die  auf  Kosten  der  Landesversiche¬ 
rungsanstalt  eine  vorbeugende  Heilbehandlung  genießen,  zu  bekommen, 
seien  diese  hier  von  den  hanseatischen  Anstalten  wiedergegeben. 

Die  Heilstätte  Glückauf  für  weibliche  Lungenkranke  zählte 
nach  dem  Jahresbericht  der  hanseatischen  Versicherungsanstalt  im 
Jahre  1905  bei  100  Betten  25  784  Verpflegungstage.  Die  Kosten 
verteilten  sich  folgendermaßen: 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  209 


im  ganzen 

Mk.  Pfg. 

auf  das 
Bett 

Mk. 

a)  Persönliche  Kosten  (Gehälter,  Löhne  und 
sonstige  Ausgaben) . 

13  921 

•60 

139 

b)  Kosten  der  Beköstigung . 

36  872 

98 

369 

c)  Bedürfnisse  für  Reinigung  der  Wäsche,  der 
Möbel,  der  Zimmer  etc . 

597 

85 

60 

d)  Instandhaltung  und  Ergänzung  der  Beklei¬ 
dungsstücke  . 

4  862 

91 

49 

e)  Kosten  der  Hin-  und  Rückreise . 

10  657 

— 

107 

f)  Arzneien,  Verbandstoffe,  an  Instrumenten  .  . 

1922 

24 

20 

g)  Heizungs-  und  Beleuchtungsbedürfnisse  ein¬ 
schließlich  Kosten  der  Reinigung  und  Unter¬ 
haltung  der  dafür  bestehenden  Einrichtungen 
und  Anlagen . 

13  234 

17 

132 

h)  Unterhaltung  der  Gebäude,  Einfriedigungen, 
Gartenanlagen,  Wege,  Wasserleitungsanlagen 
und  aller  maschinellen  Einrichtungen  .  .  . 

8  495 

12 

85 

i)  Kosten  der  Feuerversicherung  für  Gebäude 
und  Inventar . 

324 

15 

k)  Unterhaltung  des  Inventars  und  Ergänzung 
desselben . 

2  020 

83 

20 

1)  Für  die  zur  geselligen  und  belehrenden  Unter¬ 
haltung  etc.  der  Pfleglinge  angeschafften 
Bücher,  Noten,  Gesellschaftsspiele,  Lehrmittel 
und  Schreibutensilien,  ferner  für  Ausflüge  der 
Kranken  und  die  Kosten  der  Weihnachtsfeier 

498 

33 

5 

m)  Bureaubedürfnisse,  Postgebühren,  Fernsprech¬ 
anschluß  und  sonstige  verwandte  Ausgaben  . 

438 

96 

4 

n)  3  Proz.  Verzinsung  des  Anlagekapitals  und 

1  Proz.  des  Bauwertes . 

23  042 

230 

o)  Nicht  vorgesehene  Ausgaben . 

376 

40 

— 

p)  Aufwendungen  für  die  Gartenwirtschaft  .  . 

4 

65 

4 

117  269 

19 

Hiernach  würde  auf  den  Verpflegungstag  ein  Durchsclmitts- 
aufwand  von  ungefähr  4,54  Mk.  entfallen. 

Die  Heilstätte  0  derb  erg  für  männliche  Lungenkranke  der 
nämlichen  Versicherungsanstalt  erforderte  im  Jahre  1905  bei  35954 
Verpflegungstagen  und  114  Betten: 


■  .  '  •  v  . 

Mk. 

Pfg. 

a)  Persönl.  Kosten  (Gehälter,  Löhne  und  sonstige  Ausgaben) 

31  049 

99 

b)  Kosten  der  Beköstigung . 

78  695 

86 

c)  Bedürfnisse  für  Reinigung  der  Wäsche,  der  Möbel,  der 
Zimmer  etc . 

1430 

45 

Übertrag : 

111176 

30 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  If.  H 


210 


A.  Grotjahn, 


Übertrag- : 


(1)  Instandhaltung  und  Ergänzung  der  Bekleidungsstücke, 
des  Schuhwerks  und  der  Leibwäsche  der  Pfleglinge,  ein¬ 
schließlich  der  Vervollständigung  der  Kleidung  vor  An¬ 
tritt  der  Reise . 

e)  Kosten  der  Hin-  und  Rückreise . 

f)  Arzneien,  Verbandstoffe,  Spuckfläschchen,  sowie  Bedürf¬ 

nisse  an  Instrumenten  und  wissenschaftlichen  Werken 
des  Arztes . 

g)  Heizungs-  und  Beleuchtungsbedürfnisse  einschließlich 

der  Kosten  der  Reinigung  der  dafür  bestehenden  Ein¬ 
richtungen  und  Anlagen . 

h)  Unterhaltung  der  Gebäude,  Einfriedigungen,  Garten¬ 

anlagen,  Wege,  Wasserleitungsanlagen  und  aller  ma¬ 
schinellen  Einrichtungen . 

i)  Kosten  der  Feuerversicherung  für  Gebäude  und  Inventar 

k)  Unterhaltung  des  Inventars  und  Ergänzung  desselben 

l)  Für  die  zur  geselligen  und  belehrenden  Unterhaltung  etc. 

der  Pfleglinge  angeschafften  Bücher,  Noten  etc.  .  .  . 

m)  Bureaubedürfnisse,  verwandte  Ausgaben . 

n)  3  Proz.  Verzinsung  des  Anlagekapitals  und  1  Proz.  des 

Bauwertes . 

o)  Nicht  vorgesehene  Ausgaben . 

p)  Kosten  der  Viehhaltung,  Landwirtschaft  und  des  Fuhr¬ 
werks  . . 


Mk. 

Pfg. 

111 176 

30 

5  309 

49 

15  374 

95 

1662 

56 

24  737 

20 

9  974 

84 

520 

80 

4  369 

67 

723 

19 

1124 

88 

32168 

75 

174 

26 

23  595 

39 

230  912 

28 

Hiernach  würde  auf  den  Verpflegungstag  ein  durchschnittlicher 
Aufwand  von  ungefähr  6,42  Mk.  kommen. 


Daß  man  auch  billiger  wirtschaften  kann,  zeigt  der  Rechnungs¬ 
abschluß  der  Nürnberger  Heilstätte  Engelthal  für  1903.  Es  wurden 
hier  verausgabt: 


Mk. 

Pfg. 

Auf  den  Bestand  der  Vorjahre . 

92 

88 

Auf  Haus  und  Garten . . 

3047 

79 

Auf  die  Verwaltung: 

Besoldungen  und  Remunerationen . 

11838 

55 

Für  Versicherung. des  Personals . 

202 

36 

Sachliche  Ausgaben . 

1  048 

63 

Auf  den  Zweck  der  Anstalt: 

Verköstigung . 

37  000 

95 

Heilpflege . 

1473 

— 

Auf  Wäsche  .  . . 

199 

87 

Auf  Beheizung . 

3  896 

77 

Auf  Beleuchtung . 

1087 

38 

Übertrag : 

59  888 

18 

Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  211 


Mk. 

Pfg. 

Übertrag : 

59  888 

18 

Auf  Reinigung  und  Wäscherei . 

825 

69 

Auf  Gerätschaften . 

1296 

62 

Sonstiges  für  die  Hauswirtschaft . 

84 

75 

Unterhalt  eines  Fuhrwerks  (2  Pferde) . 

1676 

96 

Mohiliar-F  euer  Versicherung . 

133 

80 

Akkumulatorenversicherung . 

265 

— 

Rückzuersetzende  Barauslagen . 

3  544 

05 

Sonstige  Ausgaben  (Christbescherung  etc.) . 

584 

27 

Abschreibungen  für  den  Erneuerungsfonds . 

4 

1500 

— 

Summa  der  Ausgaben: 

69  799 

32 

Da  22046  Pflegetage  gezählt  wurden,  entfällt  auf  jeden  ein 
durchschnittlicher  Aufwand  von  3,17  Mk.  Auf  das  zur  Verpflegung 
verwandte  Rohmaterial  kam  1,32  Mk.  pro  Kopf  und  Tag  der 
Kranken  und  des  Personals. 

In  einigen  außer  deutschen  Ländern  hat  man  die  Volksheil¬ 
stätten  für  Lungenkranke  erheblich  billiger  hergestellt  als  in 
Deutschland.  So  hat  Schmid1)  auf  der  oben  erwähnten  Konferenz 
erklärt,  daß  guteingerichtete  Volksheilstätten  in  der  Größe  von 
80 — 120  Betten  wohl  zu  4500 — 5500  Fr.  ohne  Terrain  hergestellt 
werden  könnten.  Er  gibt  über  die  Schweizerischen  Lungenheil¬ 
stätten  folgende  Tabelle: 


Zahl  der 
Betten 

Baukosten 
pro  Bett 

Fr. 

Kosten  für 
Inventar 
pro  Bett 

Fr. 

Ver¬ 
pflegungs¬ 
kosten 
auf  den  Tag 
i.  Jahre  1905 

Fr. 

Levsin . 

120 

3727 

449 

3,12 

Heiligenschwendi  .  .  . 

141 

4191 

497 

2,20 

Wald . 

100 

4880 

700 

2.96 

Basler . 

90 

5433 

1111 

4,15 

Clairmont . 

60 

5394 

909 

Braunwald . 

33 

5506 

576 

Auch  die  vier  National  Vereinssanatorien  in  Dänemark  mit 
zusammen  350  Betten  haben  ohne  Terrain  durchschnittlich  nur 
3500  Mk.  pro  Bett  gekostet  und  erheischen  an  Verpflegungskosten 
nur  2,45  Mk.  täglich. 


0  Tuberculosis,  VI,  Nr.  1,  1907. 


14* 


212 


A.  Grotjahn, 


Außerordentlich  billiger  stellt  sich  die  Errichtung  von  Heim¬ 
stätten  für  Lungenkranke,  falls  man,  was  durchaus  zulässig  ist, 
ältere  Baulichkeiten,  die  zuvor  anderen  Zwecken  gedient  haben, 
benutzt,  denn  erfahrungsgemäß  wird  ein  Neubau  zu  Anstalts¬ 
zwecken  stets  üppiger  und  damit  auch  teurer  ausfallen,  als  es  zur 
Erreichung  seines  Zweckes  dringend  erforderlich  ist.  So  kostete 
die  eigens  erbaute  Berliner  städtische  Heimstätte  für  Lungenkranke 
in  Buch  pro  Bett  10  000  Mk.,  während  die  auf  den  Bieselgütern 
Malchow,  Blankenburg  und  Blankenfelde  belegenen  Anstalten,  die 
alte  Herrschaftshäuser  benutzten,  sich  nicht  nur  bei  der  Gründung 
sondern  auch  bei  der  Einrichtung  und  beim  Betriebe  wesentlich 
billiger  stellten. 

Auf  der  Internationalen  Tuberkulosekonferenz  im  Haag  im 
September  1906  sprach  sichPannwitz  in  einem  Referat  über  die 
Pflegekosten  der  Deutschen  Lungenheilstätten  dahin  aus,  daß  diese 
im  Durchschnitt  3 — 4  Mk.  betrügen  und  die  Rohmaterialien  zur 
Nahrung  nicht  billiger  als  für  1,50— M, 60  Mk.  täglich  zu  beschaffen 
seien.  Wenn  dieses  in  der  Tat  der  Fall  wäre,  so  würde  damit 
eine  nennenswerte  Verallgemeinerung  der  Anstalten  für  Lungen¬ 
kranke  geradezu  ausgeschlossen  sein,  denn  es  würde  ja  dann  das 
Rohmaterial  für  die  Ernährung  eines  der  arbeitenden  Bevölkerung 
angehörigen  Heimstättenpfleglings  erheblich  teurer  sein,  als  das,  was 
im  Familienbetriebe  für  ein  Mitglied  einer  Familie  des  wohl¬ 
habenden  Mittelstandes  in  Betracht  kommt.  Der  Verwaltungs¬ 
technik,  die  in  unseren  Lungenheilstätten  Platz  gegriffen  hat, 
stellen  diese  Angaben  ein  bedauerliches  Zeugnis  der  Irrationalität 
aus.  Wenn  die  Anstalten  für  Lungenkranke  erst  ihren  luxuriösen 
Anstrich  aufgegeben  haben  und  die  an  sich  dankenswerte  Bewegung, 
die  zu  ihrer  Errichtung  führte,  erst  aus  dem  Stadium  der  Über¬ 
schwenglichkeit  in  das  der  Bescheidenheit  eingetreten  sein  wird, 
dürften  die  in  Betracht  kommenden  Faktoren  von  den  Erfahrungen, 
die  im  übrigen  Anstaltswesen  gemacht  worden  sind,  wohl  noch 
manches  profitieren  können  und  lernen,  daß  man  auch  mit  der 
Hälfte  der  obigen  Summe  einen  Kranken  schmackhaft  und  aus¬ 
reichend  zu  ernähren  vermag. 

Für  eine  weitgehende  Verallgemeinerung  ist  also  der  T}Tpus 
der  großen,  mit  allen  technischen  Errungenschaften  der  Neuzeit 
versehenen  Lungenheilstätte,  wie  ihn  besonders  unsere  Landesver¬ 
sicherungsanstalten  ausgebildet  haben,  zu  teuer.  Doch  braucht  man 
sich  gerade  darüber  deshalb  nicht  aufzuregen,  weil,  wie  wir  ge¬ 
sehen  haben,  die  Verallgemeinerung  dieses  Typus  zur  Bekämpfung 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  213 


der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit  überhaupt  nicht  angezeigt  er¬ 
scheint.  Die  Frage,  ob  diese  Anstalten  zu  teuer  wirtschaften,  bleibt 
deshalb  eine  interne,  deren  Beantwortung  man  den  Behörden  über¬ 
lassen  kann,  die  die  Kosten  und  die  Verantwortung  für  diese  An¬ 
stalten  tragen.  Übrigens  erscheinen  die  Kosten  nicht  so  hoch, 
wenn  man  sie  auf  den  einzelnen  Kranken  bezieht.  Gebhard1) 
berechnet  den  Durchschnittsaufwand  für  je  einen  von  der  Landes¬ 
versicherungsanstalt  der  vorbeugenden  Heilbehandlung  zugeführten 
Kranken  im  Jahre  1903  auf  367,75  Mk.  oder,  wenn  man  die  Wieder¬ 
holungskuren  mitrechnet,  auf  434  Mk.  Diese  Summe  ist  nicht  so 
hoch,  als  daß  man  sie  nicht  schon  im  Interesse  des  Individuums 
anzu wenden  verpflichtet  wäre,  da  ja  es  nicht  ganz  ausgeschlossen  ist, 
daß  der  Patient  vollkommen  geheilt  wird  und  die  Wahrscheinlichkeit 
besteht,  daß  der  Patient  zu  dem  Drittel  von  Lungenkranken  gehört, 
deren  Krankheit  durch  eine  Heilstättenkur  in  einem  Grade  auf¬ 
gehalten  wird,  daß  ihre  Invalidisierung  einige  Jahre  später  erfolgt. 

Wer  der  Ansicht  ist,  daß  durch  eine  wenige  Monate  währende 
Kur  in  einer  Lungenheilstätte  ein  erheblicher  Teil  der  Tuberkulösen 
dauernd  geheilt  werden  kann,  der  wird  sich  über  die  großen 
Kosten,  die  diese  Heilstätten  verursachen,  nicht  aufregen,  denn 
wirkliche  und  dauernde  Heilungen  wären  eines  erheblichen  Kosten¬ 
aufwandes  wohl  wert.  Nachdem  sich  aber  herausgestellt  hat,  daß 
diese  Heilungen  doch  nicht  zahlreich  genug  sind,  um  numerisch  ins 
Gewicht  zu  fallen  oder  gar  die  Behauptung  zu  rechtfertigen,  daß 
die  Heilstätten  in  der  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als  Volks¬ 
krankheit  von  wesentlicher  Bedeutung  sind,  gewinnt  die  Kosten¬ 
frage  denn  doch  ein  erhebliches  Interesse.  Hat  sich  die  An¬ 
schauung  erst  mehr  Bahn  gebrochen,  daß  weniger  eine  allgemeine 
Hospitalisierung  der  Leichterkrankten  als  vielmehr  eine  weit¬ 
gehende  Asylisierung  der  Patienten  im  vorgeschrittenen  Stadium 
anzustreben  ist,  dann  ist  es  von  größter  Wichtigkeit  hinzuzufügen, 
daß  diese  Asyle  doch  erheblich  billiger  zu  errichten  und  zu  be¬ 
treiben  sind  als  unsere  luxuriösen  Heilstätten.  Wir  müssen  uns 
nur  vollständig  von  dem  Gedanken  befreien,  in  diesen  Vorbilder 
für  jene  Asyle  zu  sehen,  und  uns  vielmehr  nach  solchen  an  anderer 
Stelle  umsehen.  Man  kann  gar  nicht  energisch  genug  Widerspruch 
dagegen  einlegen,  daß  man  den  kostspieligen  Typus  unserer  Lungen¬ 
heilstätten  auch  auf  die  Invalidenheime  für  Lungenkranke  anwendet, 


l)  Der  Stand  der  Tuberkulosebekämpfung  in  Deutschland.  Verlag  des  Zentral¬ 
komitees,  1905. 


214 


A.  Grotjahn, 


wie  das  in  der  Tat  bereits  von  den  beiden  wohlhabendsten  Landes¬ 
versicherungsanstalten  Deutschlands  geschehen  ist. 

Die  Landesversicherungsanstalt  Berlin *)  hat  im  Jahre  1901 
in  Lichtenberg  bei  Berlin  ein  Invalidenhaus  für  20  Pfleglinge  mit 
einem  Kostenaufwande  von  71 000  Mk.  errichtet.  Es  war  dies  der 
erste  Versuch,  welcher  von  einer  deutschen  Versicherungsanstalt 
mit  der  neuen  Einrichtung  gemacht  wurde.  Das  Haus  wurde  für 
20  Betten  eingerichtet.  Das  Grundstück  ißt  1700  Quadratruten 
groß,  die  eine  Hälfte  dient  den  Zwecken  des  Invalidenhauses,  die 
andere  Hälfte  findet  Verwendung  für  eine  Heilstätte  für  Geschlechts¬ 
kranke.  Das  eigentliche  Invalidenhaus  ist  in  einer  ehemaligen 
herrschaftlichen  Villa  untergebracht,  die  für  diesen  Zweck  um¬ 
gebaut  wurde.  Nach  dem  Verwaltungsbericht  über  1904  (S.  111) 
betragen  die  Gesamtkosten  (vermutlich  einschließlich  Verzinsung 
und  Amortisation  des  Anlagekapitals)  41 319  Mk.,  das  ist  pro  Bett 
rund  2066  Mk.,  also  eine  unverhältnismäßig  hohe  Summe.  Auch 
in  diesem  kleinen  Invalidenheime  kamen  fünf  Todesfälle  vor,  ein 
Hinweis,  daß  diese  Pflegeheime  auf  keinen  Fall  groß  sein  dürfen, 
da  sie  sonst  unter  allen  Umständen  allein  infolge  ihrer  Größe  und 
der  unvermeidlich  vorhandenen  Zahl  der  Todesfälle  den  Charakter 
von  Sterbehäusern  annehmen.  Als  vorbildlich  kann  dieser  Versuch 
der  Berliner  Landesversicherungsanstalt  nicht  hingestellt  werden, 
da  die  Kosten  pro  Bett  viel  zu  hoch  sind,  als  daß  diese  Art  Pflege¬ 
heime  eine  Verallgemeinerung  finden  könnten. 

Auch  die  hanseatische  Versicherungsanstalt  hat  unter  Direktor 
Gebhard  ein  Invalidenheim,  Groß-Hansdorf  bei  Hamburg,  er¬ 
richtet.  Es  wurde  ein  Grundstück  ausgewählt,  das  die  Größe  von 
rund  22,5  ha  hat.  Davon  werden  nur  etwa  1,5  ha  noch  als  xAcker- 
land  benutzt;  von  dem  übrigen  Grundstück  umfassen  etwa  0,75  ha 
den  Obstgarten  und  0,25  ha  kleine  Stücke,  die  solchen  Kranken, 
welche  es  wünschen,  zur  Blumenzucht  und  Gemüsebau  überlassen 
werden.  Das  Invalidenheim  sollte  nach  seiner  vollständigen  Aus- 


r)  Die  Befugnis  der  Landesversicherungsanstalten,  den  Rentenberechtigten 
statt  der  Rentenzahlung  Heimstättenpflege  zu  gewähren,  stützt  sich  auf  §  25  des 
Invalidengesetzes,  welches  bestimmt,  daß  „auf  Grund  statutarischer  Bestimmung 
der  V ersicherungsanstalt  der  V orstand  einem  Rentenempfänger  auf  seinen 
Antrag  an  Stelle  der  Rente  Aufnahme  in  einem  Invalidenhaus  oder  in  ähn¬ 
lichen  von  Dritten  unterhaltenen  Anstalten  auf  Kosten  der  Versicherungsanstalt 
gewähren  kann.  Der  Aufgenommene  ist  auf  ein  Vierteljahr  und,  wenn  er  die 
Erklärung  nicht  einen  Monat  vbr  Ablauf  dieses  Zeitraumes  zurücknimmt,  jedesmal 
auf  ein  weiteres  Vierteljahr  an  den  Verzicht  der  Rente  gebunden.“ 


Die  Lungenheilstättenbewegung-  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  215 


Gestaltung  etwa  200  Kranken  Unterkunft  gewähren.  Es  wurde 
über  lobenswerterweise  Abstand  davon  genommen,  ein  alle  Kranken 
umfassendes  großes  Gebäude  zu  errichten,  vielmehr  sollten,  verteilt 
auf  dem  Grundstück  und  jedes  gleichsam  für  sich  gelegen  —  etwa 
sechs  —  Wohnhäuser  errichtet  werden,  je  eines  für  25 — 35  Kranke. 
Die  Kosten  für  den  Erwerb  des  Grundstücks  (in  der  Größe  für 
die  beabsichtigte  Gesamtanlage)  stellten  sich  auf  rund  72  700  Mk., 
die  Aufwendungen  für  die  Bauten  und  sonstigen  Anlagen  auf  rund 
188600  Mk.  und  die  Kosten  der  Inventarbeschaffung  auf  rund 
22  700  Mk.  Die  gesamten  bisherigen  Anlagen  haben  mithin  einen 
Aufwand  von  rund  284000  Mk.  erfordert.  Wenn  die  Anstalt  den 
beabsichtigten  Umfang  erhalten  sollte,  so  würden  noch  aufzuwenden 
sein  für  jedes  der  übrigen  fünf  Wohnhäuser  je  75000 — 85000  Mk. 
und  für  die  innere  Ausstattung  je  15000  Mk.;  für  die  Erweiterung 
der  Nebenanlagen  (Kläranlagen,  Wasserreservoir  u.  dgl.)  50000  bis 
60000  Mk.  Die  Gesamtkosten  der  ganzen  Anlage  würden  sich 
dann  auf  etwa  800000  Mk.  stellen.  Auf  jedes  der  200  Kranken¬ 
betten  würde  demnach  ein  Kostenaufwand  von  etwa  4  000  Mk.  ent¬ 
fallen.  Die  Kosten  des  Betriebes  der  Anstalt  haben  sich  im  Jahre 
1904  so  gestellt,  daß  die  nach  Rückrechnung  der  Betriebsein¬ 
nahmen  sich  ergebenden  Gesamtkosten  einschließlich  der  Verzinsung 
des  bis  jetzt  aufgewandten  Anlagekapitals  35661,57  Mk.  ausgemacht 
haben.  Der  Pflegetag  (insgesamt  8092  Pflegetage  wurden  1904 
verabreicht)  stellte  sich  demnach  auf  4,40  Mk.  und  unter  Weg¬ 
lassung  der  auf  den  Pflegetag  1,19  Mk.  ausmachenden  Kosten  der 
Verzinsung  des  Anlagekapitals  auf  3,21  Mk.  Da  in  dem  Invaliden¬ 
heime  nur  Personen  verpflegt  werden,  welchen  bereits  Invaliden¬ 
rente  bewilligt  ist,  und  die  Verpflegung  in  dem  Invalidenheime  an 
die  Stelle  des  Rentenbezuges  tritt,  so  steht  für  die  Landesver¬ 
sicherungsanstalt  dem  Aufwande  für  den  Betrieb  des  Invaliden¬ 
heimes  die  Einnahme  (oder  eigentlich  Minderausgabe)  gegenüber, 
welche  durch  den  Wegfall  des  Bezuges  der  Invalidenrenten  ent¬ 
steht.  Der  Gesamtbetrag  dafür  belief  sich  1904  auf  3805,33  Mk. 
Für  die  Landesversicherungsanstalt  stellte  sich  die  Sache  also  so, 
daß  im  Jahre  1904  einer  Minderausgabe  an  Renten  von  3805,33  Mk. 
eine  Ausgabe  für  den  Betrieb  des  Invalidenheimes  in  Höhe  von 
35661,57  Mk.  gegenüberstand.  Trotz  dieses  enormen  Aufwandes 
von  Mitteln  ist  es  dem  Invaliden  heim  nicht  gelungen,  genügend 
Rentenempfänger  zum  Eintritt  zu  veranlassen.  Der  neueste  Ver¬ 
waltungsbericht  muß  erklären,  daß  „das  ganze  Jahr  1905  hindurch 
durchschnittlich  nur  etwa  -j,  der  vorhandenen  31  Plätze  besetzt  waren. 

•  fj 


216 


A.  Grotjahn, 


Die  einsame  Lage  der  Anstalt,  die  für  die  Pfleglinge  im  Interesse 
der  Disziplin  und  der  Abschließung  erlassenen  Bewegungsbe- 
schränkungen  und  nicht  zum  wenigsten  die  naturgemäß  öfter  in 
der  Anstalt  eintretenden  Todesfälle  haben  wohl  manchen  zur  Auf¬ 
nahme  geeigneten  Rentenemplänger  abgeschreckt,  das  ihm  bei  Be¬ 
willigung  der  Rente  mitgesandte  Aufnahmeantrags-Formular  zu 
unterschreiben  und  einzureichen.  Auch  von  den  im  Berichtsjahre 
zur  Aufnahme  gelangten  Pfleglingen  hat  eine  Anzahl  nach  mehr 
oder  minder  kurzem  Aufenthalt  in  der  Anstalt  das  Verhältnis 
wieder  gelöst,  so  daß  das  Invalidenheim  nur  mit  einem  Bestände 
von  18  Pfleglingen  in  das  neue  Geschäftsjahr  eingetreten  ist.“ 
Danach  dürfte  der  Versicherungsanstalt  wohl  die  Lust  benommen 
worden  sein,  das  Invalidenheim  für  200  Betten  auszubauen.  Ver¬ 
ständlich  wird  das  Verhalten  der  Rentenempfänger,  wenn  man  aus 
dem  nämlichen  Bericht  entnimmt,  daß  trotz  der  geringen  Belegzahl 
nicht  weniger  als  14  Patienten  starben.  Man  sieht,  auch  der 
größte  Anstaltsluxus  kann  den  Charakter  des  Sterbehauses  nicht 
wieder  gutmachen,  wenn  man  nur  Fälle  aufnimmt,  die  so  weit 
vorgeschritten  sind,  daß  das  Ende  nahe  ist.  Das  Experiment,  das 
die  hanseatische  Versicherungsanstalt  mit  dem  Invalidenheim  Groß- 
Hansdorf  gemacht  hat,  muß  trotz  der  aufgewandten  Mittel  als 
gescheitert  angesehen  werden. 

Wie  wir  gesehen  haben,  sind  gerade  die  Landesversicherungs¬ 
anstalten  mit  der  Unterbringung  von  vorgeschrittenen  Tuberkulösen 
in  eigens  dazu  gebauten  Asylen  bisher  nicht  besonders  glücklich 
gewesen.  Die  Asyle,  die  von  ihnen  gegründet  worden  sind,  sind 
zu  üppig  und  zu  teuer  und  außerdem  so  groß,  daß  in  ihnen  zu  viel 
Insassen  sterben,  zumal  wenn  sie  ausschließlich  mit  weit  vorge¬ 
schrittenen  Patienten  belegt  werden.  Es  ist  eine  Frage  der  Zeit, 
ob  die  Landes  Versicherungsanstalten  dieser  Schwierigkeiten  Herr 
werden.  Sollte  dieses  nicht  der  Fall  sein,  so  würde  es  sich  em¬ 
pfehlen,  wenn  sie  dem  Beispiel  der  Landesversicherungsanstalt  für 
das  Königreich  Sachsen  folgen  und  sich  darauf  beschränken  würden, 
Darlehen  zu  einem  billigen  Zinsfuß  zur  Errichtung  von  Asylen  für 
Tuberkulöse  zu  gewähren.  Einen  anderen  Weg  hat  die  Landes¬ 
versicherungsanstalt  Westfalen  eingeschlagen ,  indem  sie  sich  an 
sämtliche  Stadt-  und  Kreisbehörden  mit  der  Anfrage  wandte,, 
welche  Krankenhäuser  fähig  und  bereit  wären,  Rentenberechtigte 
aufzunehmen.  Mit  der  Unterbringung  von  Rentenempfängern  wurde 
1901  in  dieser  Weise  begonnen.  Betragen  die  Kosten  mehr  als 
1  Mk.  täglich,  so  wird  von  den  Angehörigen,  den  Armenverbänden 


Die  Limgenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  217 


oder  den  Gemeinden  ein  Zuschuß  erhoben.  Von  der  Landesver¬ 
sicherungsanstalt  Westfalen  wurden  im  Jahre  1902  nicht  weniger 
als  100000  Mk.  für  Invalidenhauspflege  im  Sinne  des  §  25  IVG. 
verausgabt. 

In  ähnlicher  Weise  ist  auch  die  Versicherungsanstalt  Olden¬ 
burg  vorgegangen,  deren  Leitung  es  auch  für  zweckmäßiger 
hält,  die  vorhandenen  Krankenhäuser  zu  benützen,  als  besondere 
Invalidenheime  in  eigener  Regie  herzustellen. 

Diese  Versuche  einiger  gutgeleiteten  und  wohlhabenden  Landes¬ 
versicherungsanstalten,  die  im  vorgeschrittenen  Stadium  befindlichen 
Lungenkranken  zu  asylisieren,  sind  höchst  anerkennenswert,  da  sie 
beweisen,  daß  diese  Anstalten  sich  der  sozialhygienischen  Trag¬ 
weite  der  Aufgabe,  die  Ansteckungsquellen  durch  Aussonderung 
der  vorgeschrittenen  Fälle  zu  vermindern,  wohlbewußt  sind.  Die 
Kritik  muß  aber  einsetzen  bei  der  Art  und  Weise,  in  welcher 
gerade  die  größten  und  reichsten  Landesversicherungsanstalten  sich 
dieser  Aufgabe  zu  unterziehen  begannen.  Das  Beispiel  der  oben¬ 
erwähnten  Invalidenheime  zu  Groß-Hansdorf  und  Lichtenberg  zeigt 
uns  deutlich,  das  es  falsch  ist,  bei  der  Asylisierung  sich  ähnlicher 
kostspieliger  Anstalten  zu  bedienen,  wie  unsere  Lungen  h  eil  - 
anstalten  sind. 

Wesentlich  bescheidener  und  merkwürdigerweise  trotzdem  er¬ 
folgreicher  sind  die  Asylisierungsversuche  ausgefallen,  die  an  einigen 
Stellen  Deutschlands  unabhängig  von  den  Landesversicherungs¬ 
anstalten  von  privaten  Wohlfahrtsvereinen  meist  unter  geistlicher 
Leitung  unternommen  worden  sind.  So  ist  von  der  evangelisch 
kirchlichen  Hilfsunion  für  die  Ober-Lausitz  bei  Ostritz  im  Re¬ 
gierungsbezirk  Liegnitz  das  Invalidenheini  „Bergfrieden“  gegründet 
worden.  Es  vermag  25 — 30  männliche  Lungenkranke  im  vorge¬ 
schrittenen  Stadium  aufzunehmen  und  zwar  zu  dem  billigen  Ver¬ 
pflegungssätze  von  1,80  Mk.  täglich.  Auch  P.  v.  Bodelschwingh 
hat  in  Eckhardsheim  bei  Bielefeld  das  Pflegeheim  „Gute  Hoffnung“ 
eingerichtet,  in  dem  30  Kranke  in  einer  Art  familiären  Hausord¬ 
nung  verpflegt  werden.  Mit  diesen  Heimen  hat  man  bisher  gute 
Erfahrungen  gemacht,  obgleich  sie  doch  wesentlich  einfacher  sind 
wie  die  bautechnisch  so  vollkommene  Anstalt  zu  Groß-Hansdorf. 
Endlich  ist  ein  Pflegeheim  für  unheilbare  lungenkranke  Frauen 
kürzlich  vom  Brandenburgisclien  Provinzialverein  zur  Bekämpfung 
der  Tuberkulose  in  Burg-Daber  bei  Wittstock  a.  d.  Dosse  begründet 
worden.  Der  Magistrat  der  Stadt  Charlottenburg  hat  die  Stadt¬ 
ärzte  angewiesen,  fortan  nach  Burg-Daber  solche  Frauen  zu  über- 


218 


A.  Grotjalm, 


weisen,  bei  denen  nachgewiesen  wird,  daß  keine  Aussicht  auf 
Heilung  oder  wesentliche  Besserung  mehr  besteht,  daß  ferner  die 
Kranke  eine  Gefahr  für  die  Umgebung  bildet  und  daß  eine  aus¬ 
reichende  Isolierung  der  Kranken  in  der  Wohnung  nicht  möglich 
ist.  Die  Anstalt  ist  die  erste  in  ganz  Deutschland,  die  unheilbar 
lungenkranke  Frauen  aufnimmt.  Der  Pflegesatz  ist  auf  nur  2,50  Mk. 
pro  Tag  festgesetzt  worden.  Ist  die  familie  nicht  in  der  Lage, 
auch  diesen  geringen  Pensionssatz  zu  zahlen,  so  übernimmt  die 
Armenverwaltung  die  Kosten.  * 

Die  beste  Lösung  für  die  Frage  der  Organisation  von  In¬ 
validenheimen  scheint  aber  doch  in  Norwegen  gefunden  zu  sein, 
einem  Lande,  in  dem  die  glückliche  Bekämpfung  der  Lepra  auf 
dem  Wege  der  Asylisierung  dazu  ermutigte,  den  nämlichen  Weg 
auch  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose  einzuschlagen.  Die  Nor¬ 
wegischen  Pflegeheime  verdienen  in  der  Tat  auch  für  andere 
Länder  vorbildlich  zu  werden. 

Auf  der  internationalen  Tuberkulosekonferenz  in  Kopenhagen 
im  Mai  1904  berichtete  Oberarzt  Dr.  Hansen  aus  Bergen  über 
die  Pflegeheime,  die  in  Norwegen  für  tuberkulöse  Kranke  einge¬ 
richtet  sind.  Diese  fassen  nicht  mehr  wie  20  Betten  und  werden 
von  den  staatlichen  oder  kommunalen  Behörden  unterhalten.  Das 
Programm  dieser  Pflegestätten  wird  im  Protokoll x)  wie  folgt 
geschildert:  „Diese  Krankeime  sind  wesentlich  darauf  berechnet, 
die  Kranken  in  der  Periode  aufzunehmen,  wo  die  Gefahr  der 
Ansteckung  am  größten  und  die  Fähigkeit  der  Kranken,  die¬ 
selbe  zu  begrenzen  am  geringsten  ist.  Doch  darf  der  Zutritt 
zu  diesen  Krankenheimen  nicht  allzu  eng  begrenzt  werden.  Auch 
in  früheren  Stadien  der  Krankheit  müssen  namentlich  heimat¬ 
lose  arme  Kranke  da  aufgenommen  werden  können,  anstatt  vom 
Armenwesen  in  Familien  untergebracht  zu  werden,  wo  die  hygie¬ 
nischen  Verhältnisse  schon  im  voraus  wenig  günstig  sind  und  wo 
daher  die  Vermehrung  der  Mitglieder,  und  noch  dazu  um  einen 
Schwindsüchtigen,  für  die  Kranken  wie .  für  die  Gesunden  gleich 
unheilvoll  ist.  Die  Krankenheime,  für  die  vorgeschrittenen  Fälle 
berechnet,  müssen  so  viel  als  möglich  dem  Daheim  der  Patienten 
naheliegen.  Man  darf  voraussetzen,  daß  die  Kranken  weder  im¬ 
stande  sind  noch  wünschen  werden,  eine  weitere  Eeise  zu  machen; 
anzunehmen  ist  auch,  daß  sie,  je  näher  den  Ihrigen,  desto  weniger 
Unlust  haben  werden,  in  einem  Krankenhause  verpflegt  zu  werden, 


*)  Tuberculosis,  1904,  Nr.  8. 


Die  Limgenlieilstättenbeweg’ung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  219 


wenn  dies  für  dienlich  gehalten  wird.  Man  muß  es  deshalb  darauf 
änlegen,  diese  Krankenheime  so  viel  als  möglich  zu  verteilen ;  man 
muß  deren  mehrere  und  kleinere  errichten.  Bei  diesen  Anstalten 
läßt  sich  dies  innerhalb  gewisser  Grenzen  tun,  ohne  den  ökono¬ 
mischen  Rücksichten  zu  nahe  zu  treten.  Auch  bei  der  Wahl  des 
Ortes  sind  nicht  so  viel  Rücksichten  zu  nehmen  wie  bei  den  Kur¬ 
anstalten,  und  sie  werden  sich  auf  eine  völlig  befriedigende  Weise 
ohne  größere  Kosten  einrichten  lassen.  Den  ärztlichen  Beistand 
kann  ein  am  Orte  wohnender  Arzt  leisten,  dessen  meiste  Zeit  von 
anderer  Arbeit  in  Anspruch  genommen  sein  kann.  Überhaupt 
werden  sich  diese  Pflegeanstalten  mit  wesentlich  geringeren  Kosten 
als  die  Kuranstalten  errichten  und  betreiben  lassen. 

Während  die  zwei  Volksheilstätten  Norwegens  durch  Staats¬ 
oder  andere  öffentliche  Geldmittel  errichtet  sind  und  zum  größten 
Teil  mit  Zuschuß  von  der  Staatskasse  betrieben  werden,  könnten 
diese  Pflegestätten  zu  ihrem  Bau  keinen  Beitrag  von  der  Seite 
des  Staates  erwarten.  Das  nötige  Geld  müßte  durch  private  Gaben 
und  Zuschüsse  von  den  engeren  Kommunen  (Städte-,  Gemeinde- 
und  Amtskassen)  herbeigeschafft  werden.  Dagegen  werden  die 
Betriebskosten  teilweise  von  der  Staatskasse  refundiert,  insofern 
diese,  laut  unserem  Tuberkulosegesetze,  4/10  der  Verpflegungskosten 
solcher  Kranken  bezahlt,  die  durch  Verfügung  der  Gesundheits¬ 
kommissionen  in  die  Pflegestätten  eingelegt  wrerden.  In  den  letzten 
Jahren,  namentlich  nach  Emanieren  des  Tuberkulosegesetzes  i.  J. 
1900,  ist  eine  energische  Arbeit  für  die  Errichtung  solcher  Pflege¬ 
stätten  geleistet  worden.  Der  norwegische  Frauensanitätsverein 
hat  durch  seine  über  das  ganze  Land  verstreuten  Unterabteilungen 
für  die  Sache  gearbeitet  und  Geldmittel  gesammelt,  sowie  die 
zivilen  Behörden,  in  mehreren  Bezirken  die  Ärzte  und  andere 
Interessierten  um  die  Sache  vereinigt.  Namentlich  haben  aber  die 
Ärzte  selbst  die  Initiative  ergriffen,  die  nötige  Statistik  gesammelt, 
Entwürfe  zum  Bau  der  Pflegestätten  ausgearbeitet  und  das  Inter¬ 
esse  der  kommunalen  Autoritäten  sowie  das  der  übrigen  Bevölkerung 
zu  erwecken  gesucht.  Als  ein  schönes  Beispiel  darf  ich  die  Arbeit 
des  Tuberkulosekommitees  im  Amte  M.  Drontheim  erwähnen,  das 
unter  dem  Präsidium  des  Dr.  Tillisch  gearbeitet  hat.  Das 
Komitee  hat  fünf  Pflegestätten  für  das  ganze  Amt  mit  einer  Be¬ 
völkerung  von  ca.  80  000  Einwohnern  für  nötig  erachtet.  Die 
Baukosten  sind  auf  ca.  50000  Kr.  berechnet.  Davon  hat  das 
Komitee  ca.  14000  Kr.  gesammelt.  Die  Amtsversammlung  hat  ein¬ 
stimmig  beschlossen,  was  noch  nötig  ist  zur  Errichtung  der  fünf 


220 


A.  Grotjalm, 


Pflegestätten  zu  bewilligen.  Die  erste  Pflegestätte  ist  schon  im 
Betriebe,  die  nächste  wird  während  des  Sommers  fertig,  die  übrigen 
werden  im  Laufe  der  nächsten  Jahre  gebaut.  Nach  den  Angaben, 
die  ich  mit  Beihilfe  meiner  Kollegen  in  diesen  Tagen  gesammelt 
habe,  sind  jetzt  in  Norwegen  im  Betriebe:  drei  Pflegestätten,  sämt¬ 
lich  im  letzten  halben  Jahre  eröffnet;  fünf  werden  im  Laufe  des 
Jahres  gebaut,  für  16  ist  das  nötige  Geld  schon  zum  größten  Teile 
gesammelt  worden.  Die  Pflegestätten,  für  eine  oder  mehrere  Nach¬ 
bargemeinden  bestimmt,  werden  für  6 — 20  Kranke  gebaut;  das 
Medizin aldirektoriat  hat  Entwürfe  zu  Pflegestätten  von  verschie¬ 
dener  Größe  veröffentlicht.  Die  Baukosten  sind  auf  ca.  1000  Mk. 
für  ein  Bett  berechnet,  die  Betriebskosten  zu  1  Kr.  bis  1,50  Kr. 
p.  d.  Die  wenigen  Pflegestätten,  die  wir  bis  jetzt  haben,  sind  noch 
zu  kurze  Zeit  in  Betrieb  gewesen,  als  daß  wir  uns  mit  Sicherheit 
darüber  aussprechen  könnten,  wie  sie  von  den  Kranken  geliebt 
und  gesucht  werden.  Die  erst  errichtete  Pflegestätte,  nahe  Bergen, 
ist  jedenfalls  so  stark  gesucht,  daß  sie  nicht  Plätze  genug  hat,  um 
alle  aufzunehmen,  die  es  wünschen,  und  ich  habe  selbst  Gelegen¬ 
heit  gehabt,  zu  sehen,  wie  gut  die  Kranken  dort  gedeihen  und  wie 
vergnügt  sie  sind.  Ich  möchte  aber  davor  warnen,  solche  Pflege¬ 
stätten  in  zu  intime  Verbindung  mit  den  gewöhnlichen  Armen¬ 
heimen  und  Arbeiterkolonien  zu  stellen.  Diese  sind,  jedenfalls  bei 
uns,  nicht  so  sehr  von  den  Armen  geliebt,  und  wenn  die  Pflege¬ 
stätten  mit  ihnen  verbunden  sind,  werden  gewiß  auch  sie  nicht 
sehr  beliebt.  Tn  dem  Umstande,  daß  das  meiste  Geld  für  Errichtung 
der  Pflegestätten  von  der  Bevölkerung  selbst  herbeigeschafft  ist, 
hat  man  ein  Zeugnis  dafür,  wie  stark  sich  die  Bevölkerung  nach 
solchen  Pfiegestätten  sehnt.  Die  Erfahrungen  von  meinem  eigenen 
Heimatorte  Bergen  haben  mich  auch  gelehrt,  daß  die  Familien, 
auch  die  Mütter,  gern  ihre  Kranken  in  einer  guten  Pflegestätte 
sehen.  Das  Bestreben,  ihre  übrigen  Kinder  gegen  die  verheerende 
Krankheit  zu  bewahren,  vermag  den  Wunsch,  die  Kranken  selbst 
zu  pflegen,  zu  überwinden.  Nach  dem,  was  bisher  in  dieser  Rich¬ 
tung  im  Kampfe  gegen  die  Tuberkulose  in  unserem  Lande  geleistet 
ist,  ist  es  wohl  zu  hoffen,  daß  man  nach  Ablauf  dieses  Dezenniums 
Pflegestätten  in  den  meisten  Bezirken  Anden  wird.“  Zwei  Jahre 
später  vervollständigte  Hansen  diese  Angaben  auf  der  Konferenz 
im  Haag1)  in  folgender  Weise:  „Einige  zwanzig  dieser  Pflegestätten 
sind  jetzt  in  Betrieb  oder  ihrer  Vollendung  nahe.  Sie  liegen  alle 


x)  Tuberculosis,  1906,  Nr.  8. 


Die  Limgenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  221 

auf  dem  Lande  und  jede  ist  nur  für  den  Gebrauch  der  nächsten 
Umgebung  bestimmt.  Daher  ist  die  Zahl  der  Betten  niedrig,  von 
8 — 15,  einige  wenige  haben  doch  bis  20  Betten.  Diese  geringe 
Bettenanzahl  macht  eine  einfache  Administration  und  Ausstattung 
möglich.  Die  Pflegerin  ist  Administrator,  so  daß  die  Anstalt  wie 
ein  gewöhnlicher  Haushalt  betrieben  werden  kann.  Infolgedessen 
sind  auch  die  Gebäude  einfach  und  billig.  Oft  sind  ältere  Wohn¬ 
häuser  zu  diesem  Gebrauch  angekauft.  Wo  die  Pflegestätten  neu 
aufgebaut  sind,  belaufen  sich  die  Baukosten  inklusive  Inventar  auf 
800—1200  Kr.  pro  Bett.“  Die  Verpflegungskosten  betragen  durch¬ 
schnittlich  1,50  Kr.  pro  Verpflegungstag.  Die  norwegischen  Pflege¬ 
heime  sind  wegen  ihrer  Billigkeit,  Zweckmäßigkeit  und  Beliebt¬ 
heit  eher  geeignet,  als  Vorbilder  für  eine  weitgehende  Asylisierung 
der  Tuberkulösen  zu  dienen  als  die  wenigen,  sehr  teueren  und 
wegen  ihres  kasernenmäßigen  Betriebes  unbeliebten  Anstalten,  die 
unsere  Landesversicherungsanstalten  bisher  errichtet  haben. 

Die  Hoffnung,  daß  auch  in  Deutschland  trotz  einiger  Mißerfolge 
der  Landesversicherungsanstalten  mit  ihren  Invalid enheimen  für 
Tuberkulöse  in  Zukunft  die  Asylisierung  der  vorgeschrittenen  Fälle 
in  zielbewußter  Weise  zur  Anwendung  kommt,  basiert  vorläufig 
weniger  auf  der  Tätigkeit  des  Zentralkomitees  zur  Bekämpfung 
der  Tuberkulose,  das  sich  der  Asylisierung  gegenüber  immer  noch 
ablehnend  verhält,  als  darauf,  daß  in  einem  Rundschreiben  des 
Deutschen  Reichskanzlers  vom  16.  Juli  1904  eine  Resolution  des 
Reichsgesundheitsrates  vom  24.  Juni  1904  den  Landesregierungen 
eindringlich  empfohlen  wurde,  die  folgende  Vorschläge  machte: 

„Nach  dem  jetzigen  Stande  der  Wissenschaft  ist  die  Tuber¬ 
kulose  eine  Infektionskrankheit,  die  namentlich  in  ihrer  Form  als 
Lungen-  und  Kehlkopfschwindsucht  sich  von  einem  Menschen  auf 
den  anderen  verbreiten  kann.  Zur  Beseitigung  dieser  Ansteckungs¬ 
möglichkeit  ist  erforderlich,  Schwindsüchtige,  namentlich  solche  im 
vorgeschrittenen  Stadium  in  Krankenhäusern  entsprechend  abzu¬ 
sondern.  Zu  diesem  Zwecke  wird  empfohlen :  1.  die  Errichtung 
von  eigenen  Krankenhäusern  für  solch eKranke;  2.  wo 
dies  nicht  angängig  ist,  die  Errichtung  von  beson¬ 
deren  Abteilungen  in  den  allgemeinen  Kranken¬ 
häusern,  welche  baulich  getrennt  und  als  „Sanatorien“1) 


b  Vorbildlich  für  derartige  Sanatorien  kann  das  Bremer  Luftknrhaus  be¬ 
zeichnet  werden,  über  das  Stoevesandt  in  der  Tuberculosis  (1906,  Nr.  2)  fol¬ 
gende  interessante  Angaben  machte :  „Die  Kosten  betrugen  inkl.  Inventar 


222 


A.  Grotjahn, 


einzurichten  sind;  3.  wo  auch  dies  nicht  auszuführen 
ist,  die  Unterbringung  der  Kranken  in  besonderen 
Räumen  der  Krankenanstalten.  Es  sollte  die  Reichsver¬ 
waltung  gebeten  werden,  diese  Grundsätze  den  Landesregierungen 
zur  Annahme  warm  zu  empfehlen.  Insbesondere  sei  ihnen  anheim¬ 
zugeben,  in  allen  Fällen,  wo  der  Bau  neuer  Krankenhäuser  in 
Frage  komme,  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  daß  durch  entsprechende 
Auflage  der  sich  bietenden  Handhaben  (Konzessionsbedingungen, 
Aufsichts-  und  Kuratelverfügungen)  die  Schaffung  besonderer  und 
getrennter  Einrichtung  für  Schwindsüchtige  sichergestellt  werde.“ 

Wenn  diese  Vorschläge  dauernd  zur  Richtschnur  genommen 
werden  und  außerdem  die  Errichtung  von  zahlreichen  kleinen 
Pflegeheimen  für  invalide  Lungenkranke  nach  norwegischem  Muster 
in  die  Wege  geleitet  wird,  darf  man  hoffen,  daß  das  Anstaltswesen 
wirksamer  in  den  Dienst  der  Bekämpfung  der  Tuberkulose  als 
Volkskrankheit  gestellt  sein  wird,  als  das  bisher  in  Gestalt  der 
Lungenheilstätten  geschehen  ist. 


III. 

Wenn  im  Frühstadium  befindliche  Lungenkranke  einige  Zeit 
in  einer  Lungenheilstätte  geweilt  haben,  beginnen  sie  infolge  des 
reichlichen  Milchgenusses  und  der  absoluten  Ruhe  stark  an  Körper¬ 
gewicht  zuzunehmen.  Diese  Gewichtszunahme,  die  häufig  5—8  oder 


180000  Mk.  Das  Haus  wurde  im  Februar  1904  zunächst  von  etwa  30  Phthisikern 
bezogen;  schnell  kamen  von  der  chirurgischen  Abteilung  einige  alte  Fälle  von 
Knochentuberkulose  hinzu,  und  in  wenigen  Wochen  wurden  so  viele  Phthisiker 
aus  der  Stadt  dazu  gesandt,  daß  das  für  60  bestimmte  Haus  im  April  schon  etwa 
70  aufnehmen  mußte.  Im  Sommer  verminderte  sich  dann  naturgemäß  die  Zahl 
wieder.  Dann  fingen  wir  an,  in  die  oberen  Bäume  auch  alte  Bronchiektatiker, 
langsam  heilende  Empyeme  nach  Pneumonie,  Fälle  von  Lungenabszeß  und  auch 
Neurastheniker  und  Herzfehler,  die  der  Liegebehandlung  in  freier  Luft  bedurften, 
zu  verlegen,  während  die  Parterreräume  immer  ganz  streng  für  Tuberkulöse  re¬ 
serviert  blieben.  Diese  Fälle  heilten  bei  der  neuen  Behandlung,  die  es  auch  den 
bettlägrigen  Kranken  gestattete,  den  ganzen  Tag  mit  ihren  Betten  draußen  zu 
sein,  zum  Teil  überraschend  gut,  besonders  fiel  uns  dies  auf  bei  den  Lungen¬ 
abszessen  und  Empyemen.  Zugleich  verlor  aber  das  Haus  in  den  Augen  des 
Publikums  schnell  den  Charakter  des  Tuberkulosehauses;  die  ganze  Behandlungsart 
in  ihm  wurde  in  jedem  Falle  so  viel  wie  möglich  der  Freiluftbehandlung  angepaßt, 
und  daher  wurde  dem  Hause  auch  der  Name  „Luftkurhaus“  gegeben.“ 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  223 

noch  mehr  kg  beträgt,  schwindet  in  den  meisten  Fällen  leider 
wieder,  wenn  der  Patient  in  die  alten  Verhältnisse  und  zur  ge¬ 
wohnten  Arbeit  zurückkehrt.  Überhaupt  führt  der  plötzliche  Über¬ 
gang  von  der  vollständigen  Untätigkeit  in  der  Heilstätte  zur  neun- 
und  zehnstündigen  Arbeit  im  gewerblichen  Leben  mancherlei 
Schädigungen  mit  sich,  die  die  definitive  Ausheilung  oder  dauernde 

Besserung  in  Frage  stellen.  Unter  den  Maßregeln,  die  getroffen 

•  • 

werden,  um  den  Übergang  von  der  Anstalt  zum  freien  bürgerlichen 
Leben  weniger  schroff  zu  gestalten,  verdienen  am  meisten  die  in 
den  letzten  Jahren  gemachten  Versuche  Beachtung,  die  Lungen¬ 
kranken  entweder  schon  in  der  Heilstätte  selbst  leichte  Arbeit 
verrichten  zu  lassen  oder  sie  von  der  Heilstätte  in  eine  besondere 
landwirtschaftliche  Kolonie  zu  verbringen,  in  der  sie  unter  ärzt¬ 
licher  Aufsicht  sich  wieder  an  die  Arbeit  gewöhnen  können.  Diese 
Versuche  sind  deshalb  auch  hier  zu  erwähnen,  weil  aus  ihnen  sich 
die  Möglichkeit  erweisen  läßt,  die  Lungenkranken  in  Anstalten  mit 
produktiver  Arbeit  zu  beschäftigen  und  sie  so  zu  den  Kosten  ihrer 
Asylisierung  selbst  mit  beitragen  zu  lassen. 

Natürlich  ist  man  mit  der  Heranziehung  lungenkranker  Individuen 
zur  Arbeit  zunächst  sehr  zaghaft  vorgegangen.  So  stellt  E 1  k  a  n  l) 
in  einem  Bericht  über  die  Beschäftigung  der  Patienten  in  Gütergotz, 
der  Heilstätte  für  lungenkranke  Männer  der  Stadt  Berlin,  die  Norm 
auf,  daß  die  Arbeit  der  Lungenkranken  nicht  in  geschlossenen 
Räumen  stattfinden,  nicht  sehr  anstrengend  und  nicht  mit  Staub¬ 
entwicklung  verbunden  sein  dürfe.  Er  verwirft  mit  Recht  Kerb¬ 
schnitzerei,  Flechtarbeiten  usw.  als  Spielerei  und  empfiehlt  aus¬ 
schließlich  Gartenarbeit.  Nach  seiner  Ansicht  ist  jeder  zur  Heil¬ 
behandlung  zugelassene  Patient  nach  zweimonatiger  Anstaltsbehand¬ 
lung  fähig,  etwas  zu  arbeiten.  Er  sagt  darüber:  „Ich  habe  die 
Beobachtung  gemacht,  daß  die  Arbeit  bisher  noch  keinem  Patienten 
irgendwie  geschadet  hat,  im  Gegenteil,  die  arbeitenden  sind  gerade 
diejenigen,  welche  regelmäßig,  dauernd  von  Woche  zu  Woche  eine 
Gewichtszunahme  zu  verzeichnen  haben,  bedingt  durch  den  größeren 
Appetit,  welcher  sich  nach  der  körperlichen  Arbeit  einstellt.  Gerade 
dieser  günstige  Einfluß  auf  das  Wohlbefinden  ist  es  auch,  welcher 
oftmals  solche,  die  nicht  sehr  für  eine  Beschäftigung  schwärmen, 
antreibt,  sich  auch  zu  melden  und  Arbeit  zu  leisten.“  Elkan 
will  allerdings  die  Freiwilligkeit  der  Arbeit  bestehen  lassen  und 
von  einer  Entlohnung  der  geleisteten  Arbeit  absehen.  x41s  Arbeits- 


x)  Zeitschrift  für  Tuberkulose,  Bd.  4,  H.  5. 


224 


A.  Grotjalm, 


zeit  sind  in  Güt ergötz  vormittags  und  nachmittags  je  zwei  Stunden 
bestimmt.  Die  Arbeit  bestellt  im  Reinigen  und  Abstecken  von 
Wegen,  An-  und  Umpflanzen  von  Sträuchern  und  Bäumen,  Ansäen 
von  Rasen  u.  a.  m.  Einer  der  Patienten  wird  zum  Vorarbeiter 
bestimmt. 

In  Engelthal  werden  nach  B^uer  gegen  Ende  der  Verpfle¬ 
gung,  meist  von  der  9.  oder  10.  Woche  ab,  geeignete  Kranke  mit 
Holzsägen  oder  Wegearbeiten  beschäftigt.  Gerade  dadurch  ist  dem 
Arzte  die  beste  Gelegenheit  geboten,  die  Erwerbsfähigkeit  der 
Kranken  praktisch  zu  erproben  und  so  das  im  Untersuchungszimmer 
gewonnene  Urteil  zu  ergänzen. 

Über  den  Wert  der  Einführung  der  Arbeit  in  der  Anstalt 
Albertsberg  berichtet  Wolff  (Heilstätten-Korrespondenz  1898  Nr.  5) 
folgendes:  „Überraschend  gut  hat  sich  die  Beschäftigung  der 
Kranken  mit  Arbeit  bewährt.  Die  Hausordnung,  die  inne  zu  halten 
sich  die  neu  eintretenden  Kranken  verpflichten,  bestimmt,  daß  die 
Patienten  je  nach  ihrem  Beruf  und  Krankheitszustand,  zu  leichten 
Arbeiten  für  die  Anstalt  herangezogen  werden  können,  soweit  dies 
vom  Arzt  vorgeschrieben  und  gestattet  ist,  und  es  ist  diesem  Satze 
der  Hausordnung  nicht  nur  gern  nachgekommen  worden,  sondern 
häufig  genug  ein  Übereifer  zu  hemmen.  Das  Reinhalten  der  Wege 
vom  Schnee  während  des  vergangenen  Winters,  die  Herstellung  von 
Waldwegen  in  der  Nähe  der  Anstalt,  die  neue  Schöpfung  von 
Gartenanlagen,  alles  dies  ist  nur  von  Patienten  besorgt  worden, 
und  gern  haben  sie  sich  dabei,  welchem  Stande  sie  auch  angehörten, 
selbst  Kranke  des  Lehrer-  und  Kaufmannsstandes,  den  Anordnungen 
des  Inspektors,  des  Arztes  oder  eines  fachmännischen  Leidensge¬ 
nossen  gefügt.  Aber  auch  die  Liegehallen  im  Walde,  mancherlei 
Nützliches  und  Unnützliches  zum  Zierrat  ist  von  der  Hand  der 
Patienten  entstanden.  Vor  allem  sind  stets  geeignete  Kranke, 
natürlich  nur  wenige  Stunden,  mit  Holzschlagen  beschäftigt  ge¬ 
wesen,  so  daß  schon  allein  hierdurch  der  Anstalt  eine  pekuniäre 
Ersparnis  von  nicht  ganz  geringer  Bedeutung  möglich  war.  Die 
Erfolge  der  Patienten  sind  nicht  im  mindesten  durch  die  Be¬ 
schäftigung  beeinträchtigt  worden,  im  Gegenteil  —  wie  sich  nicht 
anders  erwarten  ließ  —  bei  manchen  zur  Hypochondrie  neigenden 
oder  an  mangelhaftem  Appetit  leidenden  Kranken  erwies  sich  die 
Arbeit  geradezu  als  Hilfsmittel  bei  der  Heilung  und  die  Warnungen 
einzelner  Ärzte  haben  sich  nicht  als  gerechtfertigt  erwiesen.“  In 
der  sächsischen  Volksheilstätte  für  Lungenkranke  Albertsberg  sind 
überhaupt  mit  der  Arbeit  der  Patienten  die  besten  Erfahrungen 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  225 

gemacht  worden.  Es  werden  daselbst  nicht  nur  landwirtschaftliche 
und  gärtnerische  Arbeiten  regelmäßig  verrichtet,  sondern  es  be- 
lindet  sich  dort  auch  eine  Tischlerei  und  eine  Schlosserwerkstatt, 
in  denen  alle  laufenden  Reparaturen  ausgeführt  werden.  Die  An¬ 
staltsleitung  gesteht  zu,  daß  ihr  aus  der  Beschäftigung  der  Patienten 
ein  erheblicher  ökonomischer  Vorteil  erwächst.  Eine  Arbeitsver¬ 
weigerung  ist  niemals  vorgekommen,  da  die  Patienten  über  den 
Nutzen  der  Arbeit  für  ihr  eigenes  körperliches  Befinden  aufgeklärt 
werden.  Auch  die  Heilstätten  der  Berliner  Landesversicherungs¬ 
anstalt  zu  Beelitz  besitzen  ein  eigenes  Werkstättengebäude,  in  dem 
sich  die  Genesenden  nach  freier  Wahl  betätigen  können. 

Wichtiger  noch  als  diese  zaghaften  Versuche,  die  Lungenkranken 
in  den  Heilstätten  zu  leichter,  oft  an  Spielerei  erinnernde  Arbeit 
anzuhalten,  sind  die  Experimente  einiger  Landesversicherungsan¬ 
stalten,  Lungenkranke,  die  schon  einen  mehrmonatlichen  Aufenthalt 
in  einer  Heilstätte  hinter  sich  haben,  zu  produktiver  Arbeit  in 
eine  landwirtschaftliche  Kolonie  zu  verwenden  und  sie  dort  erst  an 
das  Arbeiten  unter  günstigen  gesundheitlichen  Bedingungen  zu  ge¬ 
wöhnen,  ehe  sie  zur  freien  gewerblichen  Arbeit  zurückkehren.  So 
errichtete  die  hannoversche  Landesversicherungsanstalt  die  Er¬ 
holungsstätte  Stübeckshorn  als  ländliche  Ackerbaukolonie  für 
Lungenkranke  im  Jahre  1901.  Das  gegen  einen  jährlichen  Pacht¬ 
zins  von  2 150  Mk.  gepachtete  Gut  umfaßt  ein  Wirtschaftsareal  von 
66  ha  22  ar  97  qm  oder  rund  253  hannoversche  Morgen,  wovon 

55  ha  64  ar  49  qm  auf  Ackerland, 

9  „  46  „  60  „  „  Wiesen  und 
1  „  11  „  88  „  „  Gartenland 

entfallen. 

Für  einen  Neubau  und  den  Umbau  der  alten  Gebäude  wurden 

ausgegeben  . 

Das  Hausinventar  kostete . 

Das  Wirtschaftsinventar  kostete . 

Der  Viehbestand  (4  Pferde,  8  Kühe,  16  Schweine  und  Federvieh) 
kostete . .  .  •  . 

Summe  des  Anlagekapitals  105  530  Mk. 

Die  Erholungsstätte  bezeichnete  in  §  6  ihrer  Hausordnung 
ihren  Zweck  folgendermaßen:  „Die  Erholungsstätte  will  von  längerer 
Krankheit  genesenen,  insbesondere  den  in  der  Landesversicherungs¬ 
anstalt  Hannover  gewesenen  —  und  sei  es  auch  nur  beschränkt 
erwerbsfähig  wieder  hergestellten  Versicherten  für  den  zwischen 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  lö 


55  000  Mk. 
37  345  „ 

7  357  „ 


5  828 


226 


A.  Grotjalm, 


beendigter  Heilbehandlung  und  Wiedererlangung  der  vollen  Er¬ 
werbsfälligkeit  liegenden  Zeitraum  einen  gesunden  Übergangsauf- 
enthalt  bieten,  um  zu  verhüten,  daß  durch  einen  schrolfen  Über¬ 
gang  aus  dem  Zustande  der  Genesung  zur  bisherigen  Berufstätig¬ 
keit  der  Heilerfolg  in  Frage  gestellt  wird.  Zur  Erreichung  dieses 
Zweckes  hat  jeder  Pflegling  innerhalb  der  vom  Hausarzte  be¬ 
scheinigten  Grenze  der  Arbeitsfähigkeit  die  Verpflichtung,  die  ihm 
vom  Vorsteher  in  der  Land-  und  Hauswirtschaft  der  Erholungs¬ 
stätte  angewiesenen  Arbeiten  willig,  pünktlich  und  gut  auszuführen. 
Im  Gegensätze  zu  dem  Aufenthalt  in  dem  Genesungshause  war 
hiernach  Arbeitszwang  Grundsatz  und  zwar  wurde  eine  Mindest¬ 
grenze  der  Arbeitsfähigkeit  in  der  Dauer  von  vier  Stunden  für 
unerläßlich  gehalten.  Folgende  drei  Grade  der  Arbeitsfähigkeit 
wurden  unterschieden : 

1.  Grad  —  geringer  —  Mindestbeschäftigung  von  vier  Stunden 
täglich ; 

2.  Grad  —  mittlerer  —  Beschäftigung  bis  zu  sechs  Stunden 
täglich, 

3.  Grad  —  hoher  —  Beschäftigung  bis  zu  acht  Stunden 
täglich. 

/ 

War  der  Pflegling  voll  arbeitsfähig  wieder  hergestellt  und. 
hatte  er  sich  in  diesem  Zustande  eine  gewisse  Zeit  hindurch  be¬ 
währt,  so  wurde  er  entlassen.  Der  Aufenthalt  in  der  Erholungs¬ 
stätte  sollte  im  allgemeinen  die  Dauer  von  zwei  Monaten  nicht 
überschreiten.  Es  fanden  in  Stübeckshorn  Aufnahme  1.  tuberkulöse 
Lungenkranke,  die  bis  dahin  in  einer  Heilstätte  Avaren,  keinen 
Auswurf  oder  doch  keine  Bazillen  im  Auswurf  mehr  hatten,  selbst¬ 
verständlich  nicht  mehr  fieberten  und  nicht  am  Durchfall  litten; 
2.  nicht  tuberkulöse  Lungenkranke,  die  nicht  in  einer  Heilstätte 
waren;  alle  mußten  zur  Verrichtung  landwirtschaftlicher  Arbeiten 
fähig  und  bereit  sein.  Die  Höchstbeschäftigungsdauer  betrug  acht 
Stunden  für  den  Tag,  die  Leistung  wurde  mit  10  Pfg.  für  die 
Stunde  vergütet,  mithin  belief  sich  der  Höchstsatz  des  Tagesarbeits¬ 
verdienstes  auf  80  Pfg.,  der  dem  Pflegling  gutgeschrieben  und 
spätestens  bei  der  Entlassung  ausgezahlt  wurde.  Die  Angehörigen 
der  Pfleglinge  erhielten  Unterstützung  nach  Maßgabe  des  §  18,  4 
des  IVG.  Die  Pfleglinge  waren  als  landwirtschaftliche  Arbeiter 
in  der  für  den  Kreis  Soltau  zuständigen  Lohnklasse  versicherungs¬ 
pflichtig. 

Wir  hätten  hier  also  den  Typus  einer  landwirtschaftlichen 


Die  Lungeriheilstättenbewegiiiig’  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene. 


227 


Phthisikerkolonie,  wenn  nicht  die  kurze  Dauer  des  Aufenthaltes 
der  Patienten  uns  verböte,  diesen  der  Irrenheilkunde  mit  ihren 
längst  eingeführten  und  bewährten  agrikolen  Irrenkolonien  ent¬ 
lehnten  Terminus  technicus  hier  zu  gebrauchen.  Im  ganzen  sind 
im  ersten  Betriebsjahre  in  Stübeckshorn  36  Pfleglinge  zur  Ent¬ 
lassung  gekommen.  Das  Durchschnittsalter  betrug  30  Jahre.  Nach 
dem  Grade  der  Arbeitsfähigkeit  bemessen  ergab  sich  folgende  Ver¬ 
teilung  in  Prozenten: 


I.  Grad 

0/ 

Io 

II.  Grad 

0/ 

Io 

III.  Grad 

0/ 

Io 

bei  der  Aufnahme  ....... 

25 

36 

39 

bei  der  Entlassung- . 

3 

3 

94 

Von  den  Industriearbeitern  sind  9  Proz.  zu  anderen  Berufen 
übergetreten,  und  zwar  3  Proz.  zur  Landwirtschaft  und  6  Proz. 
zum  Handel  und  Verkehr.  Ein  Industriearbeiter  trat  durch  Ver¬ 
mittlung  der  Erholungsstätte  zur  Landwirtschaft  über.  Obgleich 
die  Mehrzahl  der  Pfleglinge  wohlgenährt  aus  den  Genesungshäusern 
überwiesen  wurde,  haben  gleichwohl  noch  28  durchschnittlich  3,1  kg 
auf  der  Erholungsstätte  an  Körpergewicht  zugenommen.  In  einem 
Falle  betrug  die  Gewichtszunahme  sogar  16,4  kg.  Die  Durch¬ 
schnittsaufenthaltsdauer  betrug  48  Tage.  An  Arbeitsverdienst 
wurde  den  36  Entlassenen  im  ganzen  der  Betrag  von  977  Mk. 
65  Pfg.  oder  im  Durchschnitt  für  den  Kopf  27  Mk.  15  Pfg.  gewährt. 

Auch  die  Landesversicherungsanstalt  Oldenburg  hat  ein  Bauern¬ 
gut  in  Samnum  erworben,  um  daselbst  eine  ländliche  Kolonie  für 
zunächst  20  Pfleglinge,  die  aus  der  Lungenheilstätte  gebessert  ent¬ 
lassen  sind,  einzurichten.  Die  ersten  Pfleglinge  wurden  am  1.  März 
1903  aufgenommen.  Der  Erfolg  des  Aufenthaltes  wird  bisher  als 
befriedigend  bezeichnet. 

Trotz  der  reichen  Aufwendung,  die  die  Landesversicherungs¬ 
anstalt  Hannover  für  die  Kolonie  Stübeckshorn  gemacht  hat,  ist  das 
Unternehmen  daran  gescheitert,  daß  sich  nicht  genug  Patienten  bereit 
finden  ließen,  sie  aufzusuchen.  Von  650  aus  den  Heilstätten  der 
Landesversicherungsanstalt  im  Jahre  1904  entlassenen  Männern 
waren  nur  65  zum  Eintritt  in  die  Kolonie  zu  bewegen.  Da  man 
fürchtete,  daß  in  Zukunft  sich  der  Zuzug  noch  mehr  verringern  würde, 
beschloß  man,  die  Kolonie  als  solche  aufzugeben  und  sie  in  eine 
gewöhnliche  Lungenheilstätte  für  Männer  umzuwandeln.  Dennoch 

ist  dieses  Experiment  nicht  ohne  nützliche  Lehren  gewesen.  Es 

15* 


228 


A.  Grotjalm, 


hat  bewiesen,  daß  Lungenkranke  sehr  wohl  ein  erhebliches  Maß 
körperlicher  Arbeit  im  Freien  verrichten  können,  ja,  daß  sie  dabei 
noch  erheblich  an  Körpergewicht  zuzunehmen  vermögen.  Der 
Fehler  des  Versuches  lag  daran,  daß  man  die  Insassen  nicht  dauernd 
zu  halten  suchte,  so  daß  diese  dann  vorzogen,  da  sie  doch  einmal 
wieder  an  ihre  Arbeitsstätte  zurückkehren  mußten,  diese  Rückkehr 
lieber  gleich  nach  der  Entlassung  aus  der  Heilstätte  als  wie  nach 
der  Absolvierung  einer  Zwischenstation  zu  bewerkstelligen.  Das 
Scheitern  der  Kolonie  Stübeckshorn  beweist  nichts  gegen  die  Mög¬ 
lichkeit,  in  Heimstätten,  in  denen  Lungenkranke  dauernd  unter¬ 
gebracht  sind,  ernste  landwirtschaftliche  Arbeit  treiben  zu  lassen. 
Die  dort  gemachten  Erfahrungen  ermuntern  vielmehr  dazu,  sogar 
schon  in  den  jetzt  bestehenden  Lungenheilstätten  regelmäßig 
arbeiten  zu  lassen. 

Die  Arbeit  lungenkranker  Personen  im  Anstaltswesen  verdient 
aber  noch  von  einem  anderen  als  vom  rein  medizinischen  und 
psychologischen  Standpunkte  betrachtet  zu  werden.  Der  Arzt  hat 
doch  täglich  Gelegenheit  zu  sehen,  wie  schwindsüchtige  Personen 
beiderlei  Geschlechts  eine  erhebliche  Arbeitsleistung  regelmäßig 
verbringen.  Es  ist  sogar  die  Regel,  daß  der  Tuberkulöse  abge¬ 
sehen  von  vorübergehenden  Verschlimmerungen,  Blutungsperioden 
und  dem  terminalen  Stadium,  so  gut  es  geht,  einen  Beruf  ausübt.. 
Keineswegs  setzt  also  die  Tuberkulose  ohne  weiteres  eine  absolute 
Arbeitsunfähigkeit  voraus.  Der  Tuberkulöse  ist  eben  auch  wie 
jeder  chronisch  Erkrankte  der  Bruchteil  eines  normalen  Menschen 
und  verfügt  deshalb  auch  über  einen  Bruchteil  von  Arbeitskraft 
und  Arbeitsfähigkeit.  Dieser  Bruchteil  schwankt  nach  der  Indivi¬ 
dualität  des  Patienten,  nach  dem  Stadium  seiner  Krankheit  und 
nach  den  jeweiligen  klimatischen  Einflüssen;  aber  trotz  seines 
Schwankens  läßt  sich  dieser  Bruchteil  von  Arbeitsfähigkeit  vom. 
kundigen  Arzte  unschwer  bestimmen.  Im  freien  gewerblichen  Leben 
besteht  nun  die  Schwierigkeit,  daß  man  von  jedem  in  einem  Beruf 
stehenden  Individuum  ungefähr  die  gleiche  Arbeitskraft  voraus¬ 
setzt  und  ihn  zu  eliminieren  trachtet,  falls  er  die  normale  Arbeits¬ 
fähigkeit  nicht  erreicht.  Bei  der  schematischen  Nivellierung  in¬ 
folge  des  Stunden-  und  Akkordlohns,  der  für  alle  gleichen  Arbeits¬ 
zeiten  und  gar  bei  der  Verknüpfung  des  Arbeitsprozesses  mit  der 
Maschine  ist  es  ganz  unmöglich  geworden,  lungenkranke  Indi¬ 
viduen,  die  nur  über  einen  Bruchteil  von  Arbeitskraft  verfügen,, 
so  zu  beschäftigen,  daß  sie  diesen  Bruchteil  ausnützen,  ohne  sich 
zu  schädigen.  Dieser  Übelstand  des  freien  gewerblichen  Lebens 


Die  Lungenheilstättenbewegung’  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  229 


fällt  nun  in  einer  von  einem  Arzte  geleiteten  Anstalt  vollkommen 
fort.  Es  wäre  denkbar,  daß  tuberkulöse  Personen  in  richtiger 
Ausnutzung  des  ihnen  verbliebenen  Anteils  an  Arbeitskraft  be¬ 
schäftigt  würden  und  soviel  leisteten,  daß  sie  für  die  Anstalt  einen 
erheblichen  ökonomischen  Gewinn  erarbeiteten,  der  den  Anstalts¬ 
betrieb  verbilligt.  Sie  wären  dann  noch  nützliche  Mitglieder  in 
der  nationalen  Volkswirtschaft,  ohne  daß  sie  Gefahr  liefen,  sich  zu 
überanstrengen.  Während  der  Tuberkulöse  im  freien  gewerblichen 
Leben  ruckweise  eine  Zeitlang  wie  ein  Gesunder  zu  arbeiten  pflegt 
und  dann  wieder  zu  vollem  Nichtstun  aufs  Krankenlager  geworfen 
wird,  würde  ihm  in  einem  Arbeitskrankenhause  für  Lungenkranke 
unter  sachkundiger  Aufsicht  und  günstigen  äußeren  Bedingungen 
täglich  nur  soviel  Arbeitsleistung  zugemutet  werden,  wie  er  nach 
ärztlicher  Voraussicht  ohne  Schaden  zu  leisten  imstande  ist.  Dieses 
wäre  nur  möglich  in  einer  Kombination  von  Pflegeheim  und  Arbeits¬ 
haus  oder  landwirtschaftlichen  Kolonie.  Nicht  der  heute  übliche 
Typus  der  Anstalt  für  Lungenkranke,  der  Heilstätte,  in  der  die 
Patienten  im  Frühstadium  einige  Monate  verbringen,  nicht  die 
Kolonie  zu  vorübergehender  Aufnahme  und  selbst  nicht  das  reine 
Invalidenhaus  für  vorgeschrittene  Lungenkranke  ist  das  erstrebens¬ 
werte  Ideal,  sondern  die  Heimstätte,  in  der  der  noch  rüstige  Lungen¬ 
kranke  unter  verhältnismäßig  günstigen  Bedingungen  jahrzehnte¬ 
lang  rationell  lebt  und  seinen  Bruchteil  von  Arbeitskraft  unter 
ärztlichen  Kautelen  verwertet.  Die  im  vorhergehenden  Abschnitt 
geschilderten  Heimstätten  für  Lungenkranke,  wie  sie  in  Norwegen 
im  Entstehen  sind,  ließen  sich  vielleicht  in  großem  Maßstabe  ver¬ 
billigen  und  deshalb  auch  verallgemeinern,  wenn  mit  ihnen  eine 
vorsichtige,  den  Kräften  der  Insassen  angepaßte  Produktion  von 
landwirtschaftlichen  Erzeugnissen  oder  gewissen  Fabrikaten  der 
Hausindustrie  verknüpft  werden  könnte. 


IV. 

Die  Erkenntnis,  daß  Lungenkranke  im  Stadium  der  offenen 
Tuberkulose  eine  Gefahr  für  ihre  Umgebung  bedeuten,  ist  uns  erst 
durch  die  bakteriologische  und  klinische  Forschung  seit  wenigen 
Jahrzehnten  zur  Gewißheit  geworden.  Da  es  immer  eine  lange 
Zeit  braucht,  bis  ein  solches  Forschungsergebnis  in  die  Massen- 


230 


A.  Grotjahn, 


psyche  eindringt,  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  wenn  der  größte- 
Teil  der  Bevölkerung  der  Gefahr,  die  seitens  tuberkulöser  Per¬ 
sonen  dem  Mitmenschen  drohen,  noch  ziemlich  teilnahmlos  gegen¬ 
übersteht.  Deshalb  kann  an  die  Idealisierung  der  sachlich  wohl 
zu  rechtfertigenden  Forderung  einer  obligatorischen  Anstaltsbehand¬ 
lung  für  gewisse  Formen  der  Lungentuberkulose  zurzeit  noch  nicht 
gedacht  werden.  Die  große  Zahl  der  Tuberkulösen  und  die  Un¬ 
möglichkeit,  eine  genügende  Anzahl  von  Anstalten  aus  dem  Boden 
zu  stampfen,  verbietet  schon  an  und  für  sich  eine  obligatorische 
Einführung  der  Anstaltsbehandlung.  Es  dürfte  auch  vorläufig,  bis 
die  Anzahl  der  Anstalten  für  Lungenkranke  vermehrt  worden  ist 
und  das  große  Publikum  sich  mit  dem  ihm  heute  noch  fremden 
Gedanken  einer  monate-  oder  jahrelangen  Anstaltsbehandlung  ver¬ 
traut  gemacht  hat,  genügen,  wenn  man  einen  stets  wachsenden 
Bruchteil  der  Lungenkranken  den  Anstalten  zuführt. 

Am  zweckmäßigsten  erfolgt  diese  Zuführung  in  der  Weise, 
daß  man  die  Anstalten  so  einrichtet  und  den  Aufenthalt  in  ihnen 
so  angenehm  macht,  daß  die  Patienten  sie  gern  aufsuchen  und 
freiwillig  in  ihnen  verbleiben.  Außerdem  kann  man  dadurch  einen 
mittelbaren  Druck  ausüben,  daß  man  die  zahlreichen  hilfsbedürftigen 
Lungenkranken,  die  heute  mit  Hilfe  unzureichender  Renten  der 
staatlichen  Invalidenversicherung  oder  von  den  Almosen  der  Armen¬ 
verwaltung  ein  kärgliches  Dasein  fristen,  auf  den  Weg  der  Asyli- 
sierung  in  geeigneten  Anstalten  hindrängt.  Auf  keinen  Fall  darf 
man  aber  vergessen,  daß  der  Lungenkranke,  der  häufig  über  einen 
hohen  Grad  von  geistiger  Frische  verfügt,  den  Aufenthalt  in  einer 
Anstalt  ebenso  schwer  als  eine  Beeinträchtigung  seiner  persön¬ 
lichen  Freiheit  empfindet  wie  irgend  ein  anderes  gesundes  und 
rüstiges  Individuum.  Mutet  man  ihm  das  freiwillige  Opfer  einer 
langen  oder  gar  ständigen  Aufgabe  seiner  Bewegungsfreiheit  zu, 
so  ist  es  unbedingt  erforderlich,  daß  man  ihm  innerhalb  der  An¬ 
stalt  jeden  Zwang  erläßt,  der  nicht  unter  allen  Umständen  durch 
die  Rücksicht  auf  die  Anstaltsordnung  geboten  ist.  In  dieser  Rich¬ 
tung  haben  wir  noch  außerordentlich  viel  an  den  üblichen  Anstalts¬ 
ordnungen  zn  verbessern.  Ausgehzeit,  Empfangszeit  für  Besuche, 
Möglichkeit  des  einzelnen  Patienten,  für  sich  allein  zu  sein  usw, 
—  das  sind  Dinge,  die  in  viel  liberalerer  Weise  geordnet  sein 
müssen,  als  das  bisher  der  Fall  war.  Da  die  Anhäufung  zahlreicher 
Menschen  auf  einen  Punkt  erfahrungsgemäß  Ordnungsmaßregeln 
erfordert,  die  den  einzelnen  auf  die  Dauer  sehr  lästig  zu  sein 
pflegen,  so  muß  auch  schon  aus  diesem  Grunde  von  großen  An-. 


Die  Liingenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  231 

stalten  abgesehen  werden.  Die  Zahl  der  Anstaltsinsassen  sollte 
nicht  größer  sein,  als  daß  gerade  noch  dem  Ganzen  ein  familiärer 
Charakter  bewahrt  bleibt.  Die  Patienten  empfinden  sich  dann 
nicht  als  Objekte  einer  ihnen  fremden  Bureaukratenherrschaft, 
sondern  können  sich  in  ihrer  Anstalt  zu  einer  mehr  korporativen, 
sich  selbst  verwaltenden  Genossenschaft  zusammenschließen,  deren 
Oberleitung  natürlich  einem  nichttuberkulösen,  im  Pflegedienst  aus- 
gebildeten  Hausvater  zufiele.  Sehr  schwer  wird  in  den  gegen¬ 
wärtigen  Anstalten  das  Zusammenwohnen  in  großen  Räumen 
empfunden.  Es  würde  technisch  durchaus  möglich  sein,  jedem 
Patienten,  wenn  nicht  ein  eigenes  Zimmer,  so  doch  ein  besonderes, 
nach  drei  Seiten  geschlossenes  Abteil  in  einem  größeren  Raume  zu 
gewähren. 

Von  der  Regelung  dieser  Dinge  hängt  die  Durchführbarkeit 
einer  Verallgemeinerung  der  Heimstätten  für  Tuberkulöse,  die  nach 
dem  Vorgänge  von  L.  Brauer  an  dieser  Stelle  vom  sozialhygie¬ 
nischen  Standpunkte  als  wichtigstes  Mittel,  die  Tuberkulose  als 
Volkskrankheit  zu  bekämpfen,  gefordert  werden  muß,  mehr  ab 
als  von  ihrer  technischen  Ausstattung.  Es  mag  ungemein  schwer 
sein,  eine  Anzahl  Personen  ohne  blutsverwandtschaftlichen  Zu¬ 
sammenhang  zu  einem  familiären  Zusammenleben  zu  veranlassen. 
Dennoch  muß  es  versucht  werden,  dieses  Problem  auch  ohne  die 
Mittel  zu  lösen,  die  den  kirchlichen  Gemeinschaften  für  diese 
Zwecke  zur  Verfügung  stehen,  und  einen  genossenschaftlichen  Geist 
unter  einer  beschränkten  Anzahl  von  Individuen,  die  ein  gemein¬ 
sames  Unglück  zu  tragen  haben,  zu  erzeugen  und  festzuhalten. 
Man  muß  sich  nur  mehr  als  bisher  klar  machen,  daß  es  nicht  ge¬ 
nügt,  Fassaden,  Parkanlagen,  erstklassiges  hygienisches  Inventar 
und  andere  Errungenschaften  der  glänzend  entwickelten  Technik 
unserer  Zeit  in  einer  Anstalt  zu  konzentrieren,  sondern  es  wichtiger 
ist,  durch  eine  sorgfältige  Abmessung  von  Zwang  und  Freiheit  die 
Insassen,  ihre  Leitung  und  ihre  Bedienung  zu  einem  harmonischen 
Organismus  zu  verbinden. 

Es  mag  unendlich  schwer  sein,  den  richtigen  Typus  zu  finden 
für  eine  Heimstätte,  in  der  lungenkranke  Individuen  der  unteren 
Volksschichten  dauernd  verweilen,  den  ihnen  gebliebenen  Rest  von 
Arbeitskraft  nützlich  an  wenden  und  ein  bescheidenes  Maß  von 
Lebensgenuß  eingeräumt  erhalten  können ;  aber  dieser  Typus  muß 
gefunden  werden,  wenn  anders  nicht  vollkommen  darauf  verzichtet 
werden  soll,  auf  dem  Anstaltswege  die  Tuberkulose  als  Volks¬ 
krankheit  zu  bekämpfen.  Der  rege  Eifer,  den  die  letzten  Jahr- 


232 


A.  Grotjahn, 


zehnte  auf  dem  Gebiete  der  Gründung-  von  Anstalten  für  Lungen¬ 
kranke  bewiesen  haben,  läßt  hoffen,  daß  auch  dieses  Problem  in 
nicht  zu  ferner  Zeit  einer  befriedigenden  Lösung  entgegengeführt 
werden  wird. 


Leitsätze. 


1.  Die  Errichtung  von  Anstalten  für  Lungenkranke,  die  sich 
im  Anfangsstadium  der  Erkrankung  befinden,  ist  in  den  letzten 
Jahrzehnten,  besonders  im  Anschluß  an  das  soziale  Versicherungs¬ 
wesen,  sehr  gefördert  worden.  Wir  verdanken  dieser  Lungenheil¬ 
stättenbewegung  zunächst  überhaupt  die  Idee,  die  Lungentuber¬ 
kulose  mit  Hilfe  des  Anstaltswesens  zu  bekämpfen,  und  sodann 
eine  großzügige  Mobilmachung  privater  und  öffentlicher  Kräfte  zu¬ 
gunsten  der  Anstaltsverbringung  lungenkranker  Individuen  der 
unteren  Volksschichten,  —  aber  eine  erhebliche  Verminderung  der 
Tuberkulose  infolge  dieser  Heilstätten  ist  nicht  eingetreten  und 
ist  auch  in  Zukunft  nicht  zu  erwarten. 

2.  Dieses  zurzeit  mehr  dunkel  gefühlte  als  klar  bewußte  Fehl¬ 
schlagen  hat  dazu  geführt,  auch  Anstalten  für  fortgeschrittene 
und  unheilbare  Tuberkulöse  zu  bauen.  In  diesen  Heimstätten  liegt 
der  entwicklungsfähige  Keim  für  die  Zukunft  des  Anstaltswesens 
für  Lungenkranke. 

3.  Außer  dieser  Errichtung  von  Invalidenheimen  zeigt  sich 
als  eine  zweite  Tendenz  zu  einer  erfreulichen  Weiterbildung  des 
Anstaltswesens  für  Lungenkranke  das  Bestreben,  die  Lungen¬ 
kranken  unter  ärztlichen  Kautelen  den  ihnen  gebliebenen  Rest 
von  Arbeitskraft  ausnutzen  und  sie  innerhalb  der  Anstalt  arbeiten 
zu  lassen. 

4.  Die  Idee  des  Invalidenheims  muß  mit  der  der  Arbeitskolonie 
zusammentreten  zur  Forderung  von  Heimstätten  für  Lungenkranke, 
in  der  diese  dauernd  sich  aufhalten  und  ihren  Kräften  angemessene, 
ökonomisch  wertvolle  und  den  Anstaltsbetrieb  verbilligende  Arbeit 
leisten.  Die  tunlichst  weitgehende  Verallgemeinerung  solcher  An¬ 
stalten,  die  von  ökonomischen  Gesichtspunkten  aus  durchaus  nicht 
undurchführbar  ist,  würde  einen  außerordentlich  hohen  sozial¬ 
hygienischen  Wert  haben  und  die  rationellste  und  humanste  Art 
der  Tuberkulosebekämpfung  überhaupt  bedeuten;  denn  allein  die 
Umwandlung  des  Heilstättenwesens  in  ein  Heimstättenwesen  er- 


Die  Lungenheilstättenbewegung  im  Lichte  der  Sozialen  Hygiene.  233 


möglicht  zugleich  die  Disposition  (Empfänglichkeit)  wie  die  In¬ 
fektion  (Ansteckung)  mit  gleicher  Energie  zu  bekämpfen. 

5.  Als  Vorbilder  für  die  Heimstätten  dürfen  nicht  die  großen 
und  teuren  Anstalten  der  deutschen  Landesversicherungsanstalten 
sondern  die  billigen  norwegischen  Pflegeheime  dienen,  da  von  der 
Wohlfeilheit  des  Baues  und  Betriebes  dieser  Anstalten  die  größt¬ 
mögliche  Verallgemeinerung  abhängig  ist  und  außerdem  nur  in 
kleinen  Heimstätten  der  Charakter  des  Sterbehauses  vermieden  sowie 
den  Insassen  ein  familiäres  Zusammenleben  ohne  überflüssigen 
Zwang  geboten  werden  kann. 


Der  Ausbau  der  A  rbeiterversi clieru  ng  in  Österreich. 


Von  Siegmund  Kafe,  Wien. 

(Schluß.) 

Nach  dem  Regierungsprogramm  würde  die  Zahl  der  ver¬ 
sicherungspflichtigen  Personen  rund  5,2  Millionen,  davon  1,65  Milli¬ 
onen  unfallversicherungspflichtig,  betragen.  Von  den  5,2  Millionen 
gegen  Krankheit  Versicherten  werden  nach  der  Berechnung  der 
Regierung  2,5  Millionen  voll-  und  2,7  Millionen  Personen  teilversichert 
sein  und  zwar: 


voll- 

teil¬ 

versichert 

Landwirtschaftliche  Betriebe 

— 

2,0 

Gewerbliche  „ 

2,1 

0,2 

Eisenbahnen 

0,2 

— 

Bergbau 

0,15 

— 

Häusliche  Dienstboten 

— - 

0,5 

Sonstige 

0,05 

— 

Gegenüber  dem  heutigen  Stande  bedeutet  dies  eine  Verdoppe¬ 
lung  der  Zahl  der  Versicherungspflichtigen,  wobei  allerdings  der 
Zuwachs  fast  ausschließlich  auf  die  sog.  Teilversicherten  entfällt. 
Dabei  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß,  wenn  die  Versicherungs¬ 
pflicht  im  Sinne  des  Reformprogramms  nur  auf  die  den  Ge¬ 
sindeordnungen  unterstehenden  Landarbeiter  ausgedehnt  wird,  die 
Zahl  derselben  mit  2  Millionen  zu  hoch  angenommen  ist.  Hier 
wird  also  die  stärkste  Korrektur  eintreten,  wodurch  das  Ziffernbild 
eine  nicht  unwesentliche  Veränderung  erfahren  muß.  Unter  dieser 
Voraussetzung  ist  die  nachstehende  Aufstellung  über  das  Beitrags¬ 
erfordernis  zu  betrachten.  Nach  den  Berechnungen  der  Regie¬ 
rung  würden  die  jährlichen  Beitragsleistungen  voraussichtlich  be¬ 
tragen  : 


Der  Ausbau  der  A  rbeiterversicherung  in  Österreich. 


235 


Voraussichtliche  jährliche  Beitragsleistung  in 
Millionen  Kronen 


in  der  Kranken¬ 
versicherung' 
zu  Lasten  der 


CD 

pO 

CD 

bß 

-4-3 

ui 

fl 

CD 


fl 

<D 

-4-n 

pH 

CD 

D 

•  rH 

2Q. 

CD 

t> 


CD 


CS 


in  d.  Invaliden¬ 
versicherung 
zu  Lasten  der 


o> 

'S 

-M 

02 

(-H 

r“H 

CT» 

•  p— t 

Q 


fl 

CD 
Sh ( 

<D 

rH 

o 

•  I— I 

32 

rH 

<D 

> 


<D 


C5 

02 


in  der  Unfall¬ 
versicherung 
zu  Lasten  der 


rH 

CD 

hs 

CD 

bß 


CD 

•  pH 

Q 


CD 

-4-=> 

<D 

O 

•  ^H 

02 

pH 

CD 

> 


03 


cö 

tß 

CS 

SJ 


in  allen  drei 
Versicherungs¬ 
zweigen 
zu  Lasten  der 


CD 

rO 

<D 

oß 

ui 

fl 

<D 

•  rH 

Q 


fl 

(D 

rH 

<D 

r~| 

02 

pH 

CD 


03 


P 

ci 

03 

p 

Kl 


Landwirtschaftliche 

■ 

Betriebe  .  .  . 

5,0 

5,0 

10,0 

7,0 

7,0 

14,0 

— 

— 

— 

12,0 

12,0 

24,0 

Gewerbliche  Be- 

triebe  .... 

22,0 

22,0 

44.0 

17.5 

17,5 

35,0 

18,0 

— 

18.0 

57.5 

39,5 

97,0 

Bergbau  .... 

2,1 

2,1 

4,2 

(1,3) 

(1,3) 

(2,6)9 

4,0 

— 

4,0 

7,4 

3,4 

10,8 

Häusliche  Dienst- 

boten  .... 

1,3 

1,3 

2,6 

2,3 

2,3 

4,6 

— 

— 

— 

3.6 

3.6 

7,2 

Sonstige  .... 

0,4 

0,4 

0.8 

0,3 

0,3 

0,6 

— 

— 

— 

0(7 

o;7 

1,4 

Zusammen 

30,8 

30,8 

61,6 

28,4  28,4 

7  1  7 

56,8 

22,0 

— 

22,0 

81,2 

59,2 

140,4 

Zusammen  würden  also  die  jährlichen  Beiträge  ausschließlich 
der  Eisenbahnen  ungefähr  140,4  Millionen  Kronen  betragen,  wovon 
ca.  81,2  auf  die  Dienstgeber  und  59,2  auf  die  Versicherten  ent¬ 
fallen  dürften. 

Zieht  man  die  Eisenbahnen  mit  in  Betracht,  welche  gegen¬ 
wärtig  ca.  4  Millionen  für  Krankenversicherung  und  10  Millionen 
für  Unfallversicherung  auf  bringen,  so  gelangt  man  zu  einem  Ge¬ 
samterfordernis  von  rund  155 — 156  Millionen  Kronen,  wovon  etwa 
62  Millionen  die  Versicherten  und  93  Millionen  die  Unternehmer 
zu  tragen  hätten.  Es  ist  bei  dem  Umstande,  daß  die  Zahlen  über 
die  Versicherungspflichtigen  teilweise  überaus  unzuverlässig  sind, 
mißlich,  die  oben  angegebene  Summe  zu  Schlußfolgerungen  zu  be¬ 
nutzen.  Sie  gibt  höchstens  von  dem  Verhältnis  der  Belastungen 
der  Unternehmer  und  Versicherten  eine  Vorstellung  und  besagt, 
daß  sich  beide  Belastungen  wie  1,5 : 1  verhalten.  Das  ist  nun 
ganz  verschieden  nach  den  einzelnen  Versicherungszweigen  und 
verschieden  nach  dem  geltenden  Gesetze  und  dem  Kegierungs- 
programm.  Nach  dem  geltenden  Gesetze  stellt  sich  das  Verhältnis 
in  der  Krankenversicherung  wie  2:1,  in  der  Unfallversicherung 
wie  9 : 1,  ein  Verhältnis,  das  allerdings  durch  Ausnahmen  bezüglich 


0  Von  den  Provisionskassen  der  Bergbruderladen  abzuführender  Invaliden¬ 
versicherungsbeitrag. 


236 


Siegmund  Kaff, 


der  Bergarbeiter  und  Eisenbahnen  einigermaßen  alteriert  wird. 
Nach  dem  Regierungsprogramm  würden  sich  die  Beiträge  für  die 
Kranken-  und  Invalidenversicherung  wie  1 : 1  stellen,  während  in 
der  Unfallversicherung  die  Prämie  vom  Unternehmer  allein-  zu 
tragen  wäre.  Demgemäß  drängen  sich  hier  zwei  Fragen  auf: 
1.  Ob  die  von  der  Regierung  benutzte  Rechnungsgrundlage  auf  eine 
genügende  Verläßlichkeit  Anspruch  machen  kann  und  2.  inwiefern 
eine  Verschiebung  der  Beitragslasten  für  Unternehmer  und  Ver¬ 
sicherte  eintritt?  Was  nun  die  erste  Frage  anbelangt,  so  haben 
wir  bereits  erwähnt,  daß  hinsichtlich  der  wichtigsten  Grundlage 
—  der  Zahl  der  Versicherungspflichtigen  —  die  Voraussetzung  der 
Verläßlichkeit  nicht  zutrifft.  Es  gilt  dies  nicht  bloß  hinsichtlich 
der  landwirtschaftlichen  Betriebe,  bei  welchen  durch  die  teilweise 
Einbeziehung  des  Gesindes  eine  Abschätzung  erschwert  wird;  auch 
sonst  dürften  sich  Korrekturen  als  notwendig  heraussteilen.  Aber 
die  Hauptfehler  der  Rechnungsgrundlage  liegen  doch  mehr  in  der 
Unterschätzung  der  Krankheits-  und  Invaliditätsgefahr  sowie  der 
Kosten  für  ihre  Bekämpfung.  Vor  allem  würde  die  Verlängerung 
der  Unterstützungsdauer  in  der  Krankenversicherung  bewirken, 
daß  die  mit  10  Proz.  angenommene  Morbilitätszilfer  in  der  Praxis 
sich  von  dieser  theoretischen  Grundlage  entfernen  wird.  Zu  diesem 
Effekte  wird  auch  beitragen  die  Einbeziehung  von  einer  größeren 
Krankheitsgefahr  unterworfenen  Berufsgruppen,  z.  B.  der  Berg¬ 
arbeiter.  Und  ebenso  werden  das  landwirtschaftliche  Gesinde  und 
die  Teilversicherten  überhaupt  eine  Erhöhung  der  Morbilitätszilfer 
herbeiführen,  wenngleich  diese  Tendenz  durch  die  Vorenthaltung 
eines  Krankengeldes  beschränkt  werden  soll.  In  derselben 
Richtung  wird  die  Belastung  der  Krankenkassen  mit  den  Heil¬ 
verfahrenskosten  der  Unfälle  und  die  Ausdehnung  der  Ersatzpflicht 
an  die  Spitäler  wirken.  Vor  allem  aber  muß  bemerkt  werden,  daß 
die  Annahme  der  Regierung  von  vornherein  auf  einer  falschen 
Voraussetzung  beruht,  wenn  sie  meint,  es  genüge,  die  durchschnitt¬ 
liche  Morbilitätszilfer  in  dem  Zeitraum  1890 — 1902  zu  berechnen. 

Schon  in  dieser  13jährigen  Beobachtungszeit  ergibt  sich  eine 

* 

starke  Steigerung,  wobei  übrigens  die  ersten  Jahre  nicht  in  Be-, 
tracht  gezogen  werden  können,  weil  damals  das  Gesetz  noch  all¬ 
zuweit  von  einer  vollkommenen  Durchführung  entfernt  war.  Wird 
nun  diese  steigende  Tendenz  zusammen  mit  den  übrigen  erwähnten 
Momenten  ins  Kalkül  gezogen,  so  ergibt  sich,  daß  eine  Morbilität 
von  10  Proz.  als  viel  zu  gering  anzusehen  ist. 

Ähnliches  gilt  hinsichtlich  der  Sterblichkeitsziffer.  Vor  allem 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


237 


aber  erscheint  es  notwendig,  die  Naturalleistungen  (ärztliche  Hilfe, 
Medikamente,  therapeutische  Behelfe,  physikalische  und  andere  Kur- 
mittel)  mit  einem  höheren  Betrage,  als  ihn  die  Regierung  kalku¬ 
liert,  zu  veranschlagen.  Wenn  sich  heute  schon  der  jährliche 
Aufwand  pro  Mitglied  auf  durchschnittlich  4,56  Kronen  beläuft,  so 
wird  er  sich  in  Zukunft  auf  mindestens  6— 6V2  Kronen  stellen. 
Die  Regierung,  welche  bloß  5  Kronen  ansetzt,  übersieht,  daß  zu¬ 
nächst  die  steigenden  Anforderungen  der  Ärzte  zu  dieser  Erhöhung 
beitragen  müssen;  dann  aber  auch,  daß,  wenn  schon  nicht  die 
eigentlichen  Medizinalauslagen,  dafür  andere  Erfordernisse  der 
Heilpflege,  wie  sie  durch  die  Rekonvaleszentenpflege  und  durch 
die  gesteigerte  Anwendung  der  physikalischen  Heilmethoden  sowie 
durch  die  Einbeziehung  der  Unfallkosten  sich  als  notwendig  heraus¬ 
steilen  werden,  eine  Erhöhung  des  durchschnittlichen  Kassenauf¬ 
wandes  bewirken  müssen. 

Die  Kosten  der  Spitalspflege  erfahren  zwar  eine  Einschränkung 
insofern,  als  die  Kassen  zum  Ersatz  der  Verpflegsgebühren  ledig¬ 
lich  in  der  Höhe  des  Krankengeldes  verpflichtet  werden.  Allein 
durch  die  Ausdehnung  des  Dispositionsrechtes  der  Kassen  und  vor 
allem  durch  die  Verlängerung  der  Haftdauer  wird  eine  Mehr¬ 
belastung  ein  treten,  die  gleichfalls  nicht  ignoriert  werden  darf. 
Bezüglich  der  Verwaltungsauslagen  wird  erst  die  Praxis  zeigen 
müssen,  ob  eine  Mehrbelastung  vermeidbar  ist  oder  nicht.  Die 
Erweiterung  der  Befugnisse  der  Kassenagenden  und  die  dadurch 
bedingte  Ausgestaltung  des  Verwaltungsapparates  wird  die  Sach- 
und  Personalregie  der  Kassen  erhöhen,  auch  wenn  für  die  aus  dem 
übertragenen  Wirkungskreis  erwachsenden  Auslagen  den  Kassen 
Ersatz  geleistet  und  überdies  der  leitende  Beamte  von  der  staat¬ 
lichen  Versicherungsanstalt  besoldet  werden  sollte.  Letzteres  ist 
jedoch  nicht  in  allen  Fällen  sicher  —  die  Gründe  sind  weder  aus 
den  Bestimmungen  des  Gesetzentwurfes  noch  aus  den  Erläuterungen 
hierzu  ersichtlich.  Wie  immer  dem  aber  auch  sein  mag:  eine  Ver¬ 
billigung  der  Regie,  die  heute  schon  bei  den  Bezirkskrankenkassen 
81/.,  Proz.  der  laufenden  Beiträge  erfordert,  ist  kaum  zu  gewärtigen, 
weil  das  Hauptmittel  der  Verbilligung  —  die  Konzentration  der 
Mitglieder  in  einheitlich  organisierte  Kassen  —  unterbleibt.  Ebenso 
erscheint  es  etwas  gar  zu  optimistisch,  das  Beitragserfordernis  für 
den  Verband  zu  vernachlässigen,  da  den  Verbänden  weitaus  größere 
Aufgaben  zugedacht  sind  als  heute.  Hingegen  werden  für  die 
Dotierung  des  Reservefonds,  der  nur  in  der  Höhe  der  einfachen 
durchschnittlichen  Jahresausgabe  der  letzten  drei  Rechnungsjahre 


238 


Siegmund  Kaff. 


erfolgen  soll,  künftig  kleinere  Rücklagen  genügen.  Das  Regierungs¬ 
programm  berechnet  hierfür  einen  5proz.  Zuschlag  zu  dem  für  die 
Deckung  der  Kassenerfordernisse  ermittelten  Beitrag. 

Nach  der  Berechnung  des  Regierungsprogramms  wird  sich  das 
Nettoerfordernis  in  der  Krankenversicherung  pro  Jahr 
stellen  auf  Kronen: 


an  Krankengeld 

an  Beerdignngs- 
kostenbeitrag 

in  der 

1. 

Lohnklasse 

4 

0,12 

ii  V> 

2. 

11 

8 

0,24 

11  11 

3. 

11 

12 

0,36 

ii  ri 

4. 

11 

20 

0,60 

11  11 

5. 

11 

30 

0,90 

11  11 

6. 

11 

40 

1,20 

Demgemäß  werden  Vollversicherte  Wochenbeiträge  zu  zahlen 
haben  für  Krankengeld  und  Beerdigungskostenbeitrag  von  10.  20, 
30,  50,  76  und  100  Hellern,  für  Arzt  und  Medikamente  12  Heller, 
macht  zusammen  22,  32,  42,  62,  88,  112  Heller  Beiträge  per  Woche 
gleich  ein  Viertel  (25  Proz.)  des  täglichen  Krankengeldes.  Die 
zulässige  Maximalhöhe  des  Wochenbeitrages  wird  mit  50  Proz.  des 
täglichen  Krankengeldes  begrenzt.  Diese  Normalsätze  werden  sich 
je  nach  der  Zusammensetzung  des  Mitgliederstandes  rücksichtlich 
Alter,  Beruf,  Geschlecht  etc.  ändern.  Das  F atale  an  der  Sache  ist 
nur,  daß  die  ganze  Voraussetzung,  von  der  die  Berechnung  ausgeht, 
weder  den  bisherigen  Gepflogenheiten  noch  den  Bedürfnissen  der 
Versicherten  entspricht.  Ganz  Österreich  mit  seinen  kolossalen 
Lohnunterschieden  als  einen  einzigen  undifferenzierbaren  Kassen¬ 
sprengel  zu  betrachten,  mag  vielleicht  vom  bureaukratischen  oder 
genauer:  vom  rechnerisch  -  buchhalterischen  Standpunkte  aus  er¬ 
wünscht  sein;  sozialpolitisch  ist  dies  weder  wünschenswert  noch 
möglich.  Die  wirtschaftlichen  Abstufungen  der  arbeitenden  Be¬ 
völkerung  lassen  sich  keineswegs  auf  sechs  Lohnklassen  reduzieren. 

Eine  solche  Nivellierung  würde  nicht  nur  zu  einer  Umwälzung 
der  in  der  Krankenversicherung  bestehenden  Verhältnisse  sondern 
auch  zu  einer  enormen  Schädigung  der  Versicherten  führen. 
Sicherlich  ist  das  heutige  System  der  Lohnkategorien  nicht  als 
ideal  anzusehen.  Die  Lohnsätze  entsprechen  durchaus  nicht  den 
faktischen  Lohnverhältnissen.  Sie  werden  höchst  einseitig  von  den 
Gewerbebehörden  festgesetzt,  ohne  daß  die  Versicherten  nennens¬ 
werten  Einfluß  zu  üben  vermöchten.  Auch  wenn  dies  der  Fall 
wäre  und  eine  größere  Spezialisierung  der  Lohnkategorien  ein- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich.  239 

treten  würde,  ergäben  sich  noch  immer  mannigfache  Nachteile  ad¬ 
ministrativ-technischer  Natur,  die  beim  Lohnklassensystem  in  Weg¬ 
fall  gebracht  werden  können.  Soll  dies  aber  geschehen,  dann 
müssen  die  Lohnklassen  den  wirklichen  Verhältnissen  eines  jeden 
Kassensprengels  durchaus  angepaßt  und  nicht  auf  sechs  beschränkt 
werden. 

Die  vorhin  berechneten  Gesamtbeiträge  stellen  aber  auch  eine 
ganz  ungleiche  Belastung  der  Versicherten  in  den  einzelnen  Lohn¬ 
klassen  dar.  Sie  machen  6,1,  4,4,  3,5,  3,2,  2,9,  2,7  Proz.  vom  mitt¬ 
leren  Lohnsatz  aus,  d.  h.  sie  begünstigen  die  höheren  Kategorien 
auf  Kosten  der  unteren.  Wenn  nun  auch  die  Morbilität  der  schlecht 
entlohnten  Kassenmitglieder  eine  höhere  als  die  der  besser  ent¬ 
lohnten  ist,  so  ist  doch  damit  die  große  Differenz  in  der  Belastung 
nicht  begründet. 

Auch  die  Beitragsberechnung  für  die  Teilversicherten,  welche 
nur  auf  die  Naturalleistungen  (ärztliche  Hilfe,  Medikamente  und 
therapeutische  Behelfe  bis  zur  Dauer  eines  Jahres,  eventuell  auf 
vierwöchentliche  Spitalspflege)  sowie  auf  einen  Beerdigungskosten¬ 
beitrag  Anspruch  haben,  erscheint  sehr  optimistisch  angestellt. 
Erwägt  man,  daß  für  die  landwirtschaftlichen  Dienstboten  die  Bei¬ 
stellung  der  ärztlichen  Hilfe  und  Medikamente  aus  verschiedenen 
Gründen  sich  teurer  stellen  wird  als  für  städtische  Versicherte, 
daß  ferner  die  Kosten  der  Kontrolle  sich  etwas  höher  stellen  dürften, 
so  gelangt  man  auch  hier  zu  dem  Ergebnis,  daß  eine  Unter¬ 
schätzung  des  Erfordernisses  stattgefunden  hat.  Immerhin  kann 
eines  Vorteils  erwähnt  werden,  der  bisher  fehlte:  Eine  Abstufung 
der  Beiträge  nach  Geschlecht,  Berufsarten  und  Betriebszweigen  ist 
zulässig,  weil  die  Morbilitätsziffern  für  männliche  und  weibliche 
Kassenmitglieder  einerseits  sowie  für  gewisse  Berufe  und  Betriebs¬ 
gruppen  andererseits  starke  Differenzen  aufweisen. 

Aus  all  den  bisher  angeführten  Gründen  müssen  die  Grund¬ 
lagen  für  die  Berechnung  des  Erfordernisses,  bzwr.  der  Beiträge  in 
Zweifel  gezogen  werden.  Diese  Zweifel  werden  noch  verstärkt, 
wenn  man  die  Gesamtbelastung,  die  nach  dem  Regierungsprogramm 
eintreten  soll,  mit  der  gegenwärtigen  vergleicht.  Für  2 x/2  Millionen 
gegen  Krankheit  Versicherter  beträgt  der  Aufwand  für  Ver¬ 
sicherungsleistungen  und  Verwaltungszwecke  gegenwärtig  48,361 
Millionen  Kronen.  Für  die  mit  5,2  Millionen  geschätzte  Zahl  der 
Voll-  und  Teil  versicherten  ist  ein  Aufwand  von  61,6  Millionen  be¬ 
rechnet.  Es  würden  sonach  die  2,7  Millionen  Teilversicherter  rund 
13,2  Millionen  erfordern,  wenn  man  mit  dem  Regierungsprogramm 


240 


Siegmund  Kaff, 

annimmt,  daß  für  die  Vollversicherten  auch  künftig*  kein  höherer 
Aufwand  notwendig  sein  wird.  Hält  man  dieser  Ziffer  jenen  Auf¬ 
wand  entgegen,  welchen  die  heute  vollversicherten  Kassenmitglieder 
an  Arzt,  Medikamenten  und  Verpflegs-  und  Beerdigungskosten 
erfordern,  so  gelangt  man  zu  einer  Belastung  von  17,408  Millionen 
Kronen;  dabei  sind  Regie  und  Reservefonds  nicht  berücksichtigt. 
Nun  ist  allerdings  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  diese  sowie  die 
Ärztekosten,  da  sie  sich  auf  eine  größere  Anzahl  von  Mitgliedern 
verteilen,  sich  im  allgemeinen  nicht  höher  stellen  werden.  Trotz¬ 
dem  ergibt  sich  eine  Differenz  von  rund  4  Millionen  Kronen,  die 
wohl  dafür  spricht,  daß  die  Wirklichkeit  über  die  Schätzung  des 
Reformprogramms  hinausschreiten  wird.  Dies  dürfte  auch  sonst 
der  Fall  sein.  Wenn  im  Jahre  1902  die  Versorgung  von  2 1/2  Mil¬ 
lionen  Versicherten  mit  Arzt,  Medikamenten,  Spitalspflege  und  Be¬ 
erdigungskosten  17  Millionen  erfordert,  so  ist  wohl  nicht  an¬ 
zunehmen,  daß  das  künftige  Erfordernis  für  diese  Leistungen  hinter 
diesem  Betrage  Zurückbleiben  wird.  Im  Gegenteil! 

Bisher  handelte  es  sich  um  das  gesetzliche  Mindestausmaß  der 
Unterstützungen,  deren  Deckung  je  zur  Hälfte  (statt  wie  bisher  zu 
ein  Drittel  und  zu  zwei  Drittel)  von  den  Unternehmern  und  Ar¬ 
beitern  getragen  werden  soll.  Es  hat  sich  gezeigt,  daß  die  Aus¬ 
dehnung  der  Unterstützungsdauer  sowie  die  Erweiterung  der  Er- 
satzpflicht  gegenüber  den  Heilanstalten,  wozu  noch  die  Überwälzung 
der  Heilkosten  für  Betriebsunfälle  kommt,  zwar  eine  Erhöhung  des 
absoluten  Aufwandes  herbeiführen  muß ,  daß  jedoch  diese  Er¬ 
höhung  keineswegs  den  Versicherten  zugute  kommt,  weil  gleich¬ 
zeitig  durch  die  Fixierung  der  Höhe  des  Krankengeldes  mit  40,  80, 
120,  200,  300  und  400  Hellern  der  relative  Anteil  an  der  wich¬ 
tigsten  Versicherungsleistung,  dem  Krankengelde,  für  die  Kassen¬ 
mitglieder  sinkt.  Die  letzteren  profitieren  demnach  von  der  Er¬ 
höhung  der  Unternehmerbeiträge  auf  die  Hälfte  der  Gesamtprämie 
nur  wenig  oder  nichts,  denn  jede  Erweiterung  der  Kassenleistungen, 
insbesondere  die  Ausgestaltung  der  Heil-  und  Rekonvaleszenten¬ 
pflege,  die  Einführung  der  Angehörigenversicherung  sowie  der 
außerordentlichen  Unterstützungen  fällt  gänzlich  den  Kassenmit¬ 
gliedern  zur  Last. 

Weitaus  schwieriger  noch  als  in  der  Krankenversicherung  ist 
die  Berechnung  des  Beitragserfordernisses  für  die  Invaliditäts¬ 
versicherung,  da  hier  die  Erfahrungen  und  somit  auch  die 
statistischen  Grundlagen  für  Österreich  vollständig  fehlen.  Das 
Regierungsprogramm  berechnet  die  jährlichen  Beitragsleistungen 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung’  in  Österreich. 


241 


mit  56,8  Millionen  Kronen,  die  je  zur  Hälfte  von  den  Dienstgebern 
und  von  den  Versicherten  aufzubringen  sein  werden.  Es  schätzt 
im  fünften  Jahre  der  Versicherung  den  Aufwand  an  Invaliditäts¬ 
und  Altersrenten  auf  3,4  Millionen  Kronen  und  läßt  ihn  bis  zum 
70.  Jahre  der  Versicherung,  wo  der  Sättigungspunkt  als  erreicht 
angenommen  wird,  auf  120,6  Millionen  steigen.  Die  Kapitals¬ 
abfertigungen  an  Hinterbliebene,  Witwen  und  Waisen,  welche 
schon  im  ersten  Jahre  zahlbar  sein  werden,  schätzt  es  auf  eine 
halbe  Million,  im  70.  Jahre  der  Versicherung  auf  11,6  Millionen. 
Die  Beitragsrückerstattungen  werden  im  fünften  Jahre  der  Ver¬ 
sicherung  mit  1,1  Millionen  Kronen,  im  70.  Jahre  mit  2,6  Millionen 
angenommen,  die  Verwaltungskosten  jährlich  mit  7  Millionen.  Von 
diesem  Gesamtaufwande  hätten  die  Versicherten  im  ersten  Jahre 
5.5  Millionen,  im  70.  Jahre  99,1  Millionen,  der  Staat  2,  bzw.  42,8 
Millionen  Kronen  zu  tragen.  Wiederum  muß  hier  daran  erinnert 
werden,  daß  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  von  der 
Kegierung  augenscheinlich  zu  hoch  angenommen  worden  ist.  Dem¬ 
gemäß  wird  die  mit  24  Millionen  Kronen  berechnete  Belastung  der 
Landwirtschaft,  wovon  12  zu  Lasten  der  Dienstgeber  fallen  sollen, 
wesentlich  zu  reduzieren  sein.  Aber  noch  ein  anderes  ergibt  sich: 
die  Landwirtschaft,  welche  bisher  für  die  Gesamtkosten  der 
Krankenfürsorge  für  das  Hausgesinde  aufzukommen  hatte,  wird 
künftig  hinsichtlich  dieser  Kosten  entlastet  werden,  weil  die  Ver¬ 
sicherten  einen  Teil  derselben  zu  übernehmen  haben.  Die  so  ersparte 
Hälfte  wird  für  die  Zwecke  der  Invaliditätsversicherung  zur  Ver¬ 
wendung  gelangen,  welche  die  Dienstgeber  in  der  Landwirtschaft 
mit  7  Millionen  belasten  soll,  woraus  sich  ergibt,  daß  die  von  den 
Grundbesitzern  bisher  verausgabten  Beträge  trotz  der  Einführung 
der  Invaliditätsversicherung  keine  wesentliche  Erhöhung  erfahren 
dürften.  Ähnliches  gilt  von  der  Belastung  der  übrigen  Arbeitgeber 
durch  die  Versicherung  der  häuslichen  Dienstboten.  Da  für  die  Eisen¬ 
bahnen  und  den  Bergbau  heute  schon  Pension s-  und  Provisions¬ 
institute  bestehen,  so  kann  auch  hier  kaum  von  einer  nennens¬ 
werten  Mehrbelastung  durch  die  Invaliditätsversicherung  gesprochen 
werden.  Es  verbleiben  also  lediglich  die  gewerblichen  Betriebe, 
für  welche  die  mit  35  Millionen  berechneten  Kosten  der  Invalidi¬ 
tätsversicherung  eine  Neubelastung  darstellen,  da  die  Hälfte  dieser 
Kosten  auf  das  Konto  der  Unternehmer  kommt. 

Die  Verwaltungskosten  veranschlagt  das  Programm  mit  1  Krone 
für  jede  versicherte  Person,  was  durchschnittlich  10  Proz.  der 

Prämien  ausmachen  würde.  Vorsichtshalber  werden  aber  10  Proz. 

16 


Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  IT. 


242 


Siegmund  Kaff, 


angenommen,  weil  die  Einhebnng  durch  die  Krankenkassen  kost¬ 
spieliger  ist  als  das  in  Deutschland  übliche,  viel  beklagte  Marken¬ 
system.  Überdies  werden  noch  Sicherheitszuschläge  als  erforder¬ 
lich  erachtet,  weil  die  für  die  Rechnung  benutzten  Grundlagen  — 
wie  die  Regierung  selbst  betont  —  jeder  Verläßlichkeit  entbehren 
und  die  Erfahrungen  in  Deutschland  zur  größten  Vorsicht  mahnen. 
Im  Widerspruch  mit  dieser  Anschauung  steht  es  nun,  wenn  die 
Regierung  die  Prämien  gleich  für  zwölf  Jahre  festsetzt.  Eine  an¬ 
gemessene  Abkürzung  dieses  Zeitraumes  wäre  aus  den  von  der 
Regierung  selbst  angeführten  Gründen  wohl  am  Platze.  Bei  dieser 
Gelegenheit  sei  übrigens  bemerkt,  daß  auch  die  20jährige  Fixierung 
der  Krankenversicherungsbeiträge,  wiewohl  hier  die  Grundlagen 
verläßlichere  sind,  besser  zu  beseitigen  wäre.  Es  liegt  gar  kein 
zureichender  Grund  vor,  den  Kassen  in  diesem  Punkte  Beschrän¬ 
kungen  aufzuerlegen,  von  denen  sie  bisher  frei  waren.  Sowohl 
hinsichtlich  der  Kranken-  wie  der  Invaliditätsversicherung  muß 
ferner  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  die  neue  Festsetzung 
der  Beiträge  nach  erfolgter  Überprüfung  zweckmäßig  nur  im  Gesetz¬ 
gebungswege  erfolgen  soll. 

Ganz  offenkundig  kommt  die  Tendenz  zur  Entlastung  der 
Dienstgeber  in  der  Unfallversicherung  zum  Ausdruck.  Es  handelt 
sich  bei  der  Regierung  darum,  ein  weiteres  Anwachsen  des  Ge¬ 
barungsabganges  hintanzuhalten,  wohingegen  sie  hinsichtlich  der 
Beseitigung  des  vorhandenen  Defizits  erforderliche  Maßnahmen 
anzugeben  unterläßt.  Diese  Unterlassung  ist  eine  so  auffällige 
Tatsache,  daß  sie  nur  aus  einer  Annahme  erklärt  werden  kann, 
der  Annahme  nämlich,  daß  die  Regierung  selbst  hinsichtlich  der 
Deckung  des  vorhandenen  Defizits  vollständig  ratlos  ist.  Und  doch 
gibt  es,  wenn  man  nicht  zu  einer  ganz  unmöglichen  Kürzung  der 
Ansprüche  greifen  will,  nur  zwei  Wege,  um  den  Gebarnngsabgang 
zu  beseitigen.  Entweder  müssen  die  Unternehmer  durch  Hinauf¬ 
setzung  des  Beitragstarifs  für  den  Gebarungsabgang  aufkommen, 
oder  aber  es  hätte  der  Staat  die  Amortisierung  vorzunehmen,  bzw. 
es  wären  Unternehmer  und  Staat  heranznziehen.  Mit  einer  dieser 
Möglichkeiten,  die  unvermeidliche  Notwendigkeiten  sind,  wird  sich 
die  Industrie  und  die  Regierung  vertrant  machen  müssen.  Hier 
näher  auf  dieses  Kapitel  einzugehen,  erscheint  aus  Raummangel 
nicht  angebracht.  Um  so  notwendiger  ist  die  Prüfung  der  Frage, 
ob  die  zur  Hintanhaltung  eines  künftigen  Defizits  vorgeschlagenen 
Maßnahmen  ansreichen.  Durch  die  Verlängerung  der  Karenzzeit 
auf  die  Dauer  des  Heilverfahrens  sowie  durch  den  Ersatz  der 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung’  in  Österreich. 


243 


kleinen  Renten  durch  Abfertigungen,  endlich  durch  den  Wegfall 
der  Versicherung  landwirtschaftlicher  Maschinenbetriebe  glaubt  die 
Regierung  2  794  000  Kronen  ersparen  zu  können,  wodurch  sich  das 
Erfordernis  in  der  Unfallversicherung  auf  18  461000  Kronen,  d.  i. 
2,07  Proz.  der  Lohnsumme  im  Durchschnitt  der  Jahre  1897 — 1901 
reduzieren  würde.  Da  im  Jahre  1901  die  tatsächlichen  Beitrags¬ 
einnahmen  1,89  Proz.  der  Lohnsumme  betrugen,  so  würde  sich  auch 
nach  der  Rechnung  der  Regierung  eine  Differenz  ergeben,  deren 
Ausgleichung  sie  von  der  Einführung  individueller  Beitragsvor- 
schreibungen  erwartet;  überdies  werden  Zusatzbeiträge  vorgesehen. 
Im  Vertrauen  auf  die  Wirkung  dieser  Maßnahmen  glaubt  die  Re¬ 
gierung  die  Kontingentierung  der  gegenwärtigen  Beitragseinnahmen 
empfehlen  zu  können,  d.  h.  der  Gesamtbeitrag  würde  auch  nach 
Durchführung  des  Reformprogramms  für  die  Betriebe  der  gleiche 
sein  wie  jetzt,  doch  würde  sich  der  Beitrag  in  den  einzelnen  Ge¬ 
fahrenklassen  infolge  der  Revision  derselben,  die  durch  die  Kon¬ 
tingentierung  erforderlich  wäre,  anders  stellen. 

Der  Effekt  der  von  der  Regierung  vorgeschlagenen  Maßnahmen 
wäre  also,  daß  die  Gesamtesten  sowohl  in  der  Unfall-  wie  in  der 
Krankenversicherung  keine  Erhöhung  erfahren  würden.  Auch  in 
der  Krankenversicherung  nicht  trotz  der  Verlängerung  der  Unter¬ 
stützungsdauer  und  der  erweiterten  Ersatzpflicht  an  die  Spitäler, 
sowie  trotz  der  Übernahme  der  Heilkosten  für  die  Unfälle,  weil 
diese  Erweiterung  der  Verpflichtungen  durch  die  allgemeine  Herab¬ 
drückung  des  Krankengeldes  infolge  der  Fixierung  und  der  Uni¬ 
fizierung  desselben  paralysiert  wird.  Nur  die  Verteilung  der 
Lasten  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  würde  eine  andere 
werden.  Die  Beiträge  zur  Unfallversicherung,  welche  bisher  zu 
10  Proz.  von  der  Arbeiterschaft  getragen  wurden,  würden  gänzlich 
auf  das  Konto  der  Unternehmer  kommen  (18  Millionen  pro  1902). 
Die  Beiträge  für  die  Krankenversicherung  würden  künftig  zur 
Hälfte  von  den  Unternehmern  getragen  werden  (22  Millionen  pro 
1902).  Dazu  kämen  noch  die  halben  Beiträge  für  die  Invaliden¬ 
versicherung  per  17  V3  Millionen,  so  daß  also  für  die  Unternehmer, 
welche  bisher  29,3  Millionen  aufzubringen  hatten,  eine  Mehrbelastung 
von  28,2  Millionen  erwachsen  würde. 

Die  bei  der  Unfallversicherung  gemachten  Erfahrungen  sowie 
das  Beispiel  Deutschlands  haben  die  Regierung  veranlaßt,  auch 
einen  staatlichen  Zuschuß  in  Aussicht  zu  nehmen.  Derselbe  gilt 
bloß  für  die  Invalidenversicherung,  wenn  man  davon  absieht,  daß 

der  Staat  in  Zukunft  die  Kosten  der  Schiedsgerichte  sowie  des 

16* 


244 


Siegmund  Kaff. 


Obergerichtes  tragen  will,  welche  Einrichtungen  für  alle  Ver¬ 
sicherungszweige  gelten.  Der  Zuschuß  des  Staates  würde  zunächst 
mit  einem  fixen  Verwaltungsbeitrag  an  die  ßeichsanstält  im  Be¬ 
ilage  von  jährlich  2  Millionen  Kronen,  sodann  aber  auch  in  der 
Aufbesserung  jeder  liquiden  Rente  um  90  Kronen  jährlich  bestehen. 
Diese  Art  der  Beitragsleistung  ist  für  den  Staat  die  bequemste; 
sie  enthebt  ihn  der  Notwendigkeit,  das  Risiko  in  allen  seinen 
Steigerungsmöglichkeiten  mittragen  zu  müssen,  was  zumal  bei  der 
Unfallversicherung  von  außerordentlicher  Bedeutung  wäre,  ist  also 
vom  fiskalischen  und  technischen  Standpunkte  kaum  anfechtbar;  um 
so  mehr  freilich  vom  sozialpolitischen.  Eine  weitere  Heranziehung 
des  Staatsschatzes  zu  den  Zwecken  der  Invaliditätsversicherung  ist 
dadurch  beabsichtigt,  daß  der  Staat  für  den  Ent  gang  an  Prämien 
während  der  aktiven  Militärdienstzeit  eines  Versicherten  auf- 
kommen  soll,  indem  er  für  jeden  ausfallenden  Wochenbeitrag  einen 
Teil  der  zu  leistenden  Rente  auf  sich  nimmt. 

Würde  dies  teilweise  wenigstens  auch  für  die  Arbeitslosen  ge¬ 
schehen,  dann  könnte  man  nicht  bloß  von  einem  sozialpolitisch 
überaus  wertvollen  Fortschritte  sprechen,  es  wäre  dann  auch  mög¬ 
lich,  die  Einbuße  der  Rentenanwärter  bei  Beschäftigungslosigkeit 
zu  verringern  und  auf  ein  Minimum  zu  reduzieren,  wenn  nicht 
ganz  zu  beseitigen.  Allein  es  ist  überaus  bedenklich,  an  den  Staat 
erhöhte  Ansprüche  zu  stellen,  wenn  nicht  zuvor  die  Gewähr  ge¬ 
geben  ist,  daß  die  Quellen,  welche  zur  Deckung  des  neuen  Er¬ 
fordernisses  geöffnet  werden  müssen,  auch  dem  sozialpolitischen 
Zwecke  entsprechen.  Durchaus  perhorresziert  muß  es  werden,  wenn 
die  indirekte  Besteuerung  für  Zwecke  der  Arbeiterversicherung 
erweitert  werden  sollte.  Hingegen  müßte  es  auf  das  freudigste 
begrüßt  werden,  wenn  etwa  im  Wege  von  Zuschlägen  zur  Personal¬ 
einkommensteuer,  oder  durch  andere  direkte  Abgaben  die  Mittel 
zur  Deckung  des  staatlichen  Zuschusses  aufgebracht  werden  würden. 
In  diesem  Falle  könnte  es  sogar  zugegeben  werden,  daß  ein  großer 
Teil  des  Gesamterfordernisses  für  die  Zwecke  der  Arbeiterver¬ 
sicherung  im  Wege  der  Besteuerung  hereingebracht  würde.  Abge¬ 
sehen  von  der  Aussichtslosigkeit  jedoch,  welche  für  das  Verlangen  des 
Steuerweges  prognostiziert  werden  muß,  wäre  es  nicht  zu  empfehlen, 
dem  Wunsche  der  Industrie  nach  vollständiger  Überwälzung  des 
Gesamterfordernisses  auf  die  Allgemeinheit  Rechnung  zu  tragen, 
vielmehr  erscheint  es  ratsam,  bei  dem  bisherigen  System  der 
direkten  Haftung  der  unmittelbaren  Interessenten  zu  verbleiben. 
Dies  braucht  aber  durchaus  nicht  auszuschließen,  daß  der  Staat 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung’  in  Österreich.  245 

einen  größeren  Teil  des  Erfordernisses,  als  dies  nach  dem  Programm 
in  Aussicht  genommen  ist,  selbst  deckt.  Ja,  man  könnte,  wiewohl  die 
drei  Versicherungskreise  nicht  kongruent  sind  und  das  Erfordernis  für 
dieselben  ein  ungleiches  ist,  dennoch  eine  Drittelung  der  Gesamt¬ 
beitragsleistungen  derart  herbeiführen,  daß  Arbeiter,  Unternehmer 
und  Staat  je  ein  Drittel  des  Gesamterfordernisses  übernehmen. 
Schon  die  bisherigen  Berechnungen  lassen  erkennen,  daß  man  von 
diesem  Verhältnis  nicht  allzuweit  entfernt  ist.  Nach  der  Berechnung 
des  Programms  ergibt  sich,  wie  bereits  erwähnt,  daß  von  der  vor¬ 
aussichtlich  jährlichen  Beitragsleistung  81  Millionen  auf  die  Dienst¬ 
geber  und  59  Millionen  auf  die  Versicherten  entfallen.  Da  im 
70.  Jahre  des  Bestandes  der  Versicherung  der  staatliche  Zuschuß 
mit  42,8  Millionen  angenommen  wird,  so  ist  es  weniger  die  absolute 
Differenz  zwischen  dem  in  Aussicht  genommenen  Zuschuß  und  dem 
vollen  Drittel,  welches  nach  Aufteilung  der  gesamten  Beitrags¬ 
leistung  auf  den  Staat  entfiele,  als  vielmehr  der  Umstand,  daß  der 
Staat  seinen  Beitrag  nicht  als  sofort  fällige  Prämie  sondern  bloß 
als  nachträglich  zahlbaren  Zuschuß  aufgefaßt  wissen  will. 

Das  Problem  der  Arbeiterversicherung  ist  vor  allem  ein  finan¬ 
zielles  Problem.  Eine  aufmerksame  Überprüfung  des  Finanzplanes 
wird  daher  von  allen  Interessenten,  zumal  im  Hinblick  auf  die 
traurigen  Erfahrungen  in  der  Unfallversicherung,  begehrt  werden 
müssen.  Die  Erwartungsmöglichkeiten  dürfen  nicht  wieder  unter¬ 
schätzt  werden,  vielmehr  erheischt  die  Schwierigkeit  der  Gesetz- 
werdung  eine  Beruhigung  vor  allem  im  Hinblick  auf  die  Verlä߬ 
lichkeit  der  Rechnungsgrundlagen.  Insbesondere  in  dem  neuen 
Zweige  der  Invalidenversicherung  erscheint  eine  solche  Überprüfung 
der  angenommenen  Invaliditätswahrscheinlichkeit  geboten.  Aber 
auch  die  Frage  des  Zinsfußes,  welcher  mit  4  Proz.  angenommen 
Avird,  wird  in  strenge  Erwägung  zu  ziehen  sein,  wenngleich  die 
Annahme,  daß  die  Folgen  eines  etwaigen  Rückganges  des  Zinsfußes 
durch  die  Wahl  eines  aus  den  deutschen  Beobachtungen  abgeleiteten 
bedeutend  höheren  Vermehrungsfaktors  für  Versicherungspflichtige 
ausgeglichen  werden  könne,  wohl  berechtigt  ist. 

Es  ist  eines  der  charakteristischen  Merkmale  der  Arbeiter¬ 
versicherung,  daß  sie  zum  Unterschiede  von  der  bürgerlichen  Pii- 
vatversicherung  neben  den  Geldleistungen  auch  Naturalleis¬ 
tungen  kennt.  Schon  die  geltende  Gesetzgebung  hat  solche  für 
die  Krankenversicherung  eingeführt,  indem  sie  vom  Krankheits¬ 
beginne  an  die  Beistellung  freier  ärztlicher  Hilfe  mit  Inbegriff  des 
geburtshilflichen  Beistandes  sowie  der  notwendigen  Heilmittel  und 


246 


Siegmund  Kaff, 


sonstigen  therapeutischen  Behelfe,  ferner  in  gewissen  Fällen 

Krankenhauspflege  vorschrieb.  Den  Krankenkassen  verursachte  die 

« 

Beistellung  dieser  Leistungen  ganz  außerordentliche  Schwierig¬ 
keiten.  Insbesondere  gilt  dies  im  Hinblick  auf  die  notwendige 

Organisation  des  ärztlichen  Dienstes,  der  die  Kassen 

•  • 

zwang,  zu  den  Interessen  der  Arzte  in  einen  gewissen  Gegensatz 
zu  treten.  Denn  nach  der  Vorschrift  des  Gesetzes  sind  die  Kassen 
nicht  bloß  verpflichtet,  einen  ärztlichen  Kontrollapparat  einzu¬ 
richten,  dem  die  Feststellung  und  Prüfung  der  Arbeitsfähigkeit 
der  Kassenmitglieder  obliegt,  sie  sind  vielmehr  im  Sinne  des  Ge¬ 
setzes  genötigt,  den  ärztlichen  Dienst  zum  Zwecke  der  Heilbehand¬ 
lung  der  Kassenmitglieder  zu  organisieren.  Die  Durchführung 
dieser  erweiterten  Aufgabe  der  Krankenkassen  liegt  sowohl  im 
Interesse  der  Mitglieder  wie  auch  der  Kassen  selbst.  Der  Mit¬ 
glieder  deshalb,  weil  diese  dadurch  der  ärztlichen  Behandlung  teil¬ 
haftig  werden,  die  sie  trotz  des  Krankengeldes  sonst  wohl  nur  in 
Ausnahmefällen  in  Anspruch  nehmen  würden;  im  Interesse  der 
Kassen,  weil  sie  dadurch  die  Gewähr  erhalten,  daß  die  Arbeits¬ 
unfähigkeit  nicht  über  die  normalmäßige  Dauer  ausgedehnt  werde. 
Immerhin  ergeben  sich  hinsichtlich  des  Ausmaßes  der  Behandlung 
in  der  Praxis  für  die  Kassen  sowohl,  als  auch  für  die  Ärzte  ge¬ 
wisse  Beschränkungen  nicht  bloß  zeitlicher  und  quantitativer  son¬ 
dern  auch  solche  qualitativer  Natur.  Es  ist  ohne  weiteres  klar, 
daß  trotz  aller  Bemühungen  der  Kassen  und  der  Ärzte  eine  Art 
Massenordination  eingeführt  werden  mußte,  bei  der  individuellen 
Ansprüchen  nicht  immer  in  der  wünschenswerten  Weise  "Rechnung 
getragen  werden  konnte.  Daß  dies  nicht  möglich  war,  lag  und 
liegt  weder  an  den  Ärzten  noch  an  den  Kassen  sondern  lediglich 
an  der  Unzulänglichkeit  der  den  letzteren  zur  Verfügung  stehenden 
Mittel  sowie  an  der  fehlerhaften  Organisation  des  Kassenwesens, 
die  notwendigerweise  eine  imökonomische  Verwendung  der  vor¬ 
handenen  Mittel  mit  sich  bringt.  Da,  wo  es  den  Kassen  durch 
die  Organisation  von  Verbänden  gelang,  eine  einheitliche  Organi¬ 
sation  des  ärztlichen  Dienstes  zu  schaffen,  haben  sich  auch  die 
Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Heilbehandlung  nicht  unwesent¬ 
lich  gebessert. 

Im  allgemeinen  jedoch  müssen  sich  die  Kassen  und  die  Ärzte 
auf  ein  vom  Gesetz  und  von  der  Praxis  erzwungenes  Minimum  so¬ 
wohl  hinsichtlich  der  Leistungen  der  Kassen  an  die  Ärzte  als 
auch  hinsichtlich  der  Leistungen  der  Kassen  und  Ärzte  an  die 
Kassenmitglieder  beschränken.  Der  Komplex  der  Übelstände,  wel- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung’  in  Österreich. 


247 


eher  sich  daraus  ergibt,  konzentriert  sich  in  der  sog.  Ärztefrage, 

deren  W  esen  nicht  bloß  in  dem  Mißverhältnis  zwischen  den  Honorar- 

•  • 

anforderungen  der  Arzte  und  den  Kassenmitteln  sondern  auch  in 
der  Unzufriedenheit  der  Kassenmitglieder  mit  der  Behandlung  durch 
die  letzteren  besteht.  Nebenher  gehen  auch  die  Differenzen,  die 
sich  aus  den  maßgebenden  Kompetenzen  der  Kassenleitungen  gegen¬ 
über  den  Ärzten  ergeben.  Alle  diese  Schwierigkeiten  glauben  die 
•  •  •  • 

Arzte  durch  die  Einführung  der  freien  Arzte  wähl  beseitigen  zu  können, 
von  der  sie  sich  sowohl  eine  materielle  Aufbesserung  ihres  Einkommens 
aus  dem  Titel  der  Krankenversicherung  als  auch  eine  gewisse  Un¬ 
abhängigkeit  von  den  Kassenvorständen  versprechen,  während  die 
Kassen  grundsätzlich  an  dem  System  der  beamteten  Ärzte  festhalten 
und  es  vermeiden,  konkrete  Vorschläge  zur  Reform  zu  machen. 

Was  nun  die  Regierung  in  ihrem  Programm  zur  Beseitigung 
dieses  Gegensatzes  vorschlägt,  bedeutet  keineswegs  die  Regelung 
der  Ärztefrage,  wiewohl  sie  es  unternimmt,  zwischen  den  beiden 
Interessentengruppen  —  Ärzten  und  Kassen  —  zu  vermitteln.  An 
die  materielle  Seite  der  Frage  rührt  sie  nur  insofern,  als  sie  sich 
vorbehält,  im  ,, Notfälle“,  d.  h.  offenbar  wenn  eine  Einigung  zvischen 
Ärzten  und  Kassenvorständen  nicht  anders  zu  erzielen  sein  sollte, 
im  Verordnungswege  ärztliche  Minimal-  und  Maximaltarife  fest¬ 
zusetzen.  Es  ist  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  mehr  als  frag¬ 
lich,  ob  es  gegebenenfalls  der  Regierung  gelingen  würde,  trotz  der 
vorgeschriebenen  Bedachtnahme  auf  die  Wünsche  beider  Inter¬ 
essengruppen  beide  zu  befriedigen  und  die  Einseitigkeit  zu  ver¬ 
meiden.  Auch  zeigt  sich  hier  eine  gewisse  Überschätzung  des 
bureaukratischen  Systems,  die  erfahrungsgemäß  auf  Selbsttäuschung 
beruht.  Wenn  auch  gegen  eine  Intervention  der  Regierung  in 
Streitfällen  kaum  von  irgend  einer  Seite  Einwendungen  erhoben 
werden  dürften,  so  ist  es  doch  mehr  als  zweifelhaft,  ob  sich  die 
streitenden  Parteien  der  diskretionären  Gewalt  der  Aufsichtsbehörde 
vorbehaltlos  anvertrauen  würden.  Im  Interesse  der  Ärzte  sowohl 
wie  der  Kassen  und  nicht  zuletzt  auch  in  Berücksichtigung  der 
durch  die  behördliche  Autorität  zu  schützenden  Interessen  der 
Kassenmitglieder  scheint  es  deshalb  gelegen  zu  sein,  wenn  bei  der 
Festsetzung  von  ärztlichen  Minimal-  und  Maximaltarifen  sowie 
überhaupt  bei  der  Regelung  der  Beziehungen  zwischen  Ärzten  und 
Kassen  diesen  selbst  der  ihnen  gebührende  Einfluß  voll  eingeräumt 
werden  würde.  Es  wäre  sowohl  überflüssig  als  schädlich,  wenn 
die  Regierung  hier  eine  Verantwortung  auf  sich  laden  würde,  die 
besser  von  den  Interessenten  allein  getragen  wird. 


248 


Siegmund  Kaff. 


Xocli  mein*  dürften  sicli  die  Kassen  gegen  jene  Einschränkung^ 

ihrer  bisherigen  Befugnisse  aussprechen,  die-  darin  besteht,  daß  die 

Regierung  der  Aufsichtsbehörde  das  Recht  einräumt,  die  Bestellung 
•  • 

weiterer  Arzte  anzuordnen,  wenn  die  Zahl  der  Kassenärzte  nicht 
als  ausreichend  erachtet  wird.  Woher  will  die  Aufsichtsbehörde 
die  Kenntnis  schöpfen,  daß  in  einem  bestimmten  Falle  der  ärzt¬ 
liche  Dienst  unzureichend  eingerichtet  ist?  Ein  eventueller  Kon¬ 
flikt  zwischen  Ärzten  und  Kassen  besagt  noch  nichts.  Und  es  den 
Ärzten  überlassen,  ob  sie  unter  gegebenen  Umständen  ihren  Ver¬ 
pflichtungen  nach  wissenschaftlicher  Überzeugung  nachzukommen 
vermögen  oder  nicht,  ist  deshalb  eine  prekäre  Sache,  weil  schlie߬ 
lich  das  Urteil  darüber,  ob  die  Qualität  der  ärztlichen  Behandlung 
genügt,  vor  allein  auch  den  Kassenmitgliedern  zukommt.  Deren 
Urteil  aber  gelangt  in  der  Willensäußerung  der  Kassen  Vorstände 
zum  Ausdruck  und  kann  nicht  leicht  durch  die  letzteren  gefälscht 
werden.  Bestimmte  Normen  lassen  sich  sonach  hinsichtlich  der 
Regelung  des  ärztlichen  Dienstes  und  der  Festsetzung  der  ärztlichen 
Honorare  nicht  aufstellen,  weil  die  Bedürfnisse  der  Kassenmit¬ 
glieder  von  Ort  zu  Ort  wechseln  und  in  den  einzelnen  Fällen  da¬ 
her  individualisierend  vorgegangen  werden  muß.  Die  Möglichkeit 
hierzu  ist  aber  der  mehr  oder  minder  fernstehenden  Aufsichts¬ 
behörde  in  den  meisten  Fällen  fast  völlig  benommen  und  nur  den 
Organen  der  Kassen  gegeben,  welche  vermöge  ihrer  Tätigkeit  und 
Funktion  in  den  intimsten  Beziehungen  zur  Kassenmitgliedschaft 
stehen  und  deren  Bedürfnisse  daher  am  genauesten  kennen  müssen. 
Aus  diesem  Grunde  scheint  es  keineswegs  zweckmäßig  zu  sein, 
die  Kompetenz  der  Kassenvorstände  in  diesem  Punkte  ohne 
zwingende  Not  einzuschränken. 

Immer  wieder  muß  es  daher  wiederholt  werden,  daß  die  Ärzte¬ 
frage  zum  weitaus  größten  Teil  eine  materielle  Frage  ist  und  daß 
diese  nur  durch  die  Steigerung  der  finanziellen  Leistungsfähigkeit 
der  Kassen  gelöst  werden  kann.  Zwar  wird  ein  gewisser  Gegen¬ 
satz  zwischen  den  beiden  Interessentengruppen  immer  fortbestehen. 
Allein  ebenso  ausgeschlossen  ist  es,  den  Gegensatz  aufzuheben,  in 
welchem  das  Wesen  des  Versicherungszwanges  zur  freien  Ärzte¬ 
wahl  steht.  Zwang  und  Freiheit  sind  eben  nicht  bloß  begrifflich 
sondern  auch  praktisch  unvereinbar.  Das  Interesse  der  Ärzte 
liegt  deshalb  nicht  in  einer  Einschränkung  der  Kassenbefugnisse 
und  des  Versicherungszwanges  sondern  in  der  planmäßigen  Fort¬ 
entwicklung  der  sozialen  Versicherung,  in  der  zweckbewußten 
Organisation  des  Zusammenwirkens  aller  Faktoren.  Die  Aus- 


Der  Ausbau  der  Arbeiter  Versicherung'  in  Österreich. 


249 


Schaltung  überflüssiger  Regiespesen  durch  die  Beseitigung  der 
Kassenzersplitterung,  die  Einbeziehung  neuer  Kreise  von  Ver¬ 
sicherungspflichtigen ,  die  Entlastung  der  Kassen  von  Agenden, 
Aufgaben  und  Leistungen,  die  ihnen  heute  durch  ein  mangelhaftes 
(besetz  und  durch  die  Schwierigkeiten  der  Verhältnisse  aufgebürdet 
sind,  werden  große  Mittel  freimachen  für  die  zweckmäßige  Aus¬ 
gestaltung  des  ärztlichen  Dienstes,  aber  auch  für  die  bessere  Do¬ 
tierung  desselben. 

Weitaus  einfacher  liegen  die  Dinge  in  bezug  auf  die  Bei¬ 
stellung  der  Medikamente  und  therapeutischen  Behelfe. 
Hier  besteht  das  Problem  wesentlich  darin,  durch  Herstellung 
einer  eigenen  Arzneitaxe  für  die  Krankenkassen  diese  vor  einer 
übermäßigen  Inanspruchnahme  zu  schützen. 

Leider  unterläßt  es  die  Regierung  vollständig,  in  dem  vor¬ 
gelegten  Programm  ihre  Absichten  in  der  Arzneifrage  anzudeuten. 
Die  Reserve,  die  sie  sich  in  diesem  Punkte  auferlegt,  wird  nur 
daraus  erklärlich,  daß  die  Organisation  der  Kassen  und  Verbände 
künftig  gefördert  werden  soll  und  daß  den  Kassenverbänden  die 
Befugnis  eingeräumt  wird,  mit  Ärzten,  Apothekern  und  Kranken¬ 
häusern  gemeinsam  Verträge  abzuschließen,  sowie  Apotheken  und 
Heilanstalten  selbst  zu  errichten.  Der  Wert  dieser  Maßregel  wird 
freilich  dadurch  beeinträchtigt,  daß  die  Errichtung  von  Kassen¬ 
verbänden  als  eine  fakultative  erklärt  wird  und  daß  man  von  dem 
Drucke  der  Verhältnisse  eine  raschere  Entwicklung  der  Verbands¬ 
organisation  erwartet,  die  teilweise  auch  die  Gegensätze  zwischen 
den  verschiedenen  Kassenkategorien  selbst  überwinden  soll. 

Die  Leistungen  der  Krankenkassen  können  nicht  bloß  teil¬ 
weise,  sondern  auch  ganz  in  natura  beigestellt  werden  durch 
die  Verpflegung  in  einem  öffentlichen  Kranken  hause.  Die 
Anordnung  hierzu  ist  nur  in  bestimmten  Fällen  (bei  Vorhandensein 
häuslicher  Pflege)  an  die  Zustimmung  des  Kassenmitgliedes  ge¬ 
bunden.  Eine  Erweiterung  des  freien  Dispositionsrechtes  der 
Kassen  findet  insofern  statt,  als  auch  die  in  häuslicher  Pflege  be¬ 
findlichen  Kranken  selbst  gegen  ihren  Willen  in  ein  Spital  ge¬ 
wiesen  werden  können,  wenn  sie  sich  den  Anordnungen  des  Kassen¬ 
arztes  nicht  fügen  und  so  den  Genesungsprozeß  verzögern.  Um 
den  Kranken  zur  Folgeleistung  zu  zwingen,  wird  der  Kasse  die 
Befugnis  eingeräumt,  das  Krankengeld  ganz  zu  entziehen  oder  auf 
die  Hälfte  zu  reduzieren,  wenn  das  Mitglied  aus  seinem  Arbeits¬ 
verdienste  den  Unterhalt  für  seine  Angehörigen  bestritten  hat. 
Darnach  wird  also  den  Kassen  eine  Art  Disziplinarrecht  gegenüber 


250 


Siegmund  Kaff. 


den  Kranken  eingeräumt,  welches  unter  Umständen  auch  deren 
Angehörige  treffen  kann.  Die  Notwendigkeit  eines  solchen  Rechtes 
im  Hinblick  auf  die  Zweckmäßigkeit  eines  möglichst  raschen  Heil¬ 
erfolges,  der  selbstverständlich  vor  allem  auch  im  Interesse  des 
Erkrankten  gelegen  ist,  kann  wohl  nicht  geleugnet  werden.  Allein 
es  ist  doch  zu  erwägen,  daß  die  Art  der  Behandlung  durch  die 
fix  besoldeten  Kassenärzte  eher  als  das  System  der  freien  Ärzte- 
walil  zur  Spitalspflege  zu  drängen  geeignet  ist  und  daß  insbe¬ 
sondere  dort,  wo  infolge  der  —  wenn  auch  nur  vorübergehenden 
—  Überbürdung  der  Kassenärzte  oder  durch  die  Ausdehnung  des 
Kassensprengels  die  Kontrolle  erschwert  ist,  leicht  die  Gefahr  ein- 
treten  kann,  daß  der  Kassenarzt  zum  Zwecke  seiner  Entlastung 
oder  auch  die  Kasse  selbst  die  Spitalspflege  anordnet,  ohne  daß  es 
das  Verhalten  des  Kranken  oder  die  Art  seiner  Erkrankung  un¬ 
bedingt  erfordern  würde,  ja  es  ist  sogar  nicht  ausgeschlossen,  daß 
dort,  wo  der  Einfluß  der  Kassenmitglieder  auf  die  Verwaltung  aus 
irgend  welchen  Gründen  ein  schwacher  ist  und  bureaukratische 
Rücksichten  seitens  der  Aufsichtsbehörde  oder  finanzpolitische  der 
an  der  Erhaltung  der  Spitalspflege  interessierten  Gemeindever¬ 
waltungen  vorwalten,  gleichfalls  eine  ungebührliche  Begünstigung 
der  Spitalspflege  auf  Kosten  der  häuslichen  stattfindet.  Es  kommt 
dazu  das  weitere  Moment,  daß  nach  dem  Regierungsprogramm  die 
Spitalspflege  auch  ohne  Zustimmung  der  Kasse  in  Anspruch  ge¬ 
nommen  werden  kann,  so  daß  also  die  Kassen  auch  deshalb  mehr 
als  bisher  für  die  Erhaltung  der  Krankenanstalten  tributpflichtig 
gemacht  werden  können.  Endlich  ist  noch  in  diesem  Zusammen¬ 
hänge  festzuhalten,  daß  die  sog.  Teilversicherten  —  das  sind  die 
in  die  Versicherung  einbezogenen  landwirtschaftlichen  Arbeiter  so¬ 
wie  die  häuslichen  Dienstboten  und  Lehrlinge  —  überhaupt  nur 
auf  die  Naturalleistungen  Anspruch  haben  und  daß  diese,  ins¬ 
besondere  die  Spitalskosten,  demnach  in  Zukunft  absolut  und  relativ 
einen  weitaus  größeren  Teil  des  Kassenaufwandes  erfordern  werden. 
Da  ferner  das  Krankengeld  und  zwar  im  Gegensatz  zur  bisherigen 
Vorschrift  nicht  bloß  bis  zur  Dauer  von  4  Wochen  sondern  wäh¬ 
rend  der  gesamten  Zeit  der  Spitalsbehandlung  gezahlt  werden  soll, 
so  ergibt  sich  auch  daraus  eine  gesteigerte  Belastung  der  Kasse 
aus  dem  Titel  der  Spitalskosten.  Dafür  sollen  freilich  die  Kassen 
von  der  Leistung  des  Krankengeldes  an  den  Versicherten  und 
zwar  auch  in  den  wenigen  Fällen,  in  welchen  die  Spitalspflege 
nicht  für  Rechnung  der  Kasse  erfolgte,  vollständig  befreit  werden. 
Diese  Einschränkung  der  jetzt  geltenden  Ansprüche  von  im  Spitale 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherimg  in  Österreich. 


251 


verpflegten  Kassenmitgliedern,  die  vielleicht  versicherungstechnisch 
•und  juristisch,  keineswegs  aber  sozialpolitisch  begründet  werden 
kann,  stellt  eine  einschneidende  Änderung  dar,  welcher  große  prin¬ 
zipielle  Bedeutung  zukommt,  Denn  sie  besagt  nicht  weniger,  als 
daß  das  versicherte  Krankengeld  kein  unbedingter  Rechtsanspruch 
ist,  der  bei  Eintritt  der  Arbeitsunfähigkeit  fällig  wird,  sondern 
daß  auch  die  Bedürftigkeit  vorhanden  sein  muß,  ein  Erfordernis, 
das  bisher  in  der  sozialen  Versicherung  überflüssig  war.  Daß  sich 
künftig  der  Anspruch  nicht  ausnahmslos  auf  die  Prämienleistung 
gründen  soll,  daß  in  das  System  der  Arbeiterversicherung  ein 
Moment  der  Armenpflege  einbezogen  werden  soll,  bedeutet  nun 
keineswegs  eine  Ausgestaltung  des  sozialen  Gedankens  der  Arbeiter¬ 
versicherung  sondern  eine  Rückbildung  desselben.  Aber  ist  es 
denn  wahr,  daß  die  Bedürftigkeit  des  Spitalkranken  eine  geringere 
ist?  Die  Frage  muß  bedingungslos  verneint  werden.  In  den  aller¬ 
meisten  Fällen  handelt  es  sich  um  ledige  Personen,  die  ohne  ver¬ 
wandtschaftliche  Hilfe  in  der  Stadt  ihr  Brot  verdienen  müssen 
und  in  der  Regel  ganz  auf  sich  allein  angewiesen  sind.  Und 
diesen  soll  das  restliche  Krankengeld  nicht  ausgefolgt  werden  ?  Die 
Abweichung  von  der  bisherigen  Gepflogenheit  erscheint  mit  dem 
Zwecke  der  Spitalsbehandlung  und  mit  der  ganzen  Tendenz  der 
Krankenversicherung  nicht  verein barlich.  Denn  es  ist  bekannt, 
daß  viele  Spitäler  aus  naheliegenden  Gründen  zeitweilig  wenigstens 
auf  die  möglichst  rasche  Evakuierung  der  Kranken  bedacht  sein 
müssen  und  daß  der  Spitalskranke  nach  seiner  Entlassung  in 
höherem  Grade  noch  als  der  häuslich  verpflegte  Kranke  einer  Art 
Nachkur  bedarf,  wenn  die  Krankheit  längere  Zeit  hindurch  an¬ 
gedauert  hat  und  dadurch  eine  größere  Schwächung  des  Organismus 
eingetreten  ist.  Da  die  vom  Programmentwurf  vorgesehene  Rekon¬ 
valeszentenpflege  bloß  als  fakultative,  von  den  Versicherten  selbst 
zu  deckende  Leistung  gedacht  ist,  kann  von  einer  wirklichen  Be¬ 
einträchtigung  der  Interessen  der  Versicherten  gesprochen  werden, 
wenn  der  Überschuß  des  Krankengeldes  den  aus  dem  Spital  Ent¬ 
lassenen,  bzw.  der  ganze  Betrag  denjenigen,  für  welche  nicht  die 
Kasse  aufzukommen  hatte,  vorenthalten  werden  sollte.  Es  ist  ein 
Widerspruch  eigener  Art,  wenn  die  Regierung  die  Entziehung  des 
Krankengeldes  in  diesen  Fällen  damit  motiviert,  daß  ja  die  aus 
der  häuslichen  Krankenpflege  Entlassenen  gleichfalls  keine  weitere 
Unterstützung  ausgefolgt  erhalten,  obwohl  sie  sich  nicht  in  einer 
günstigeren  materiellen  Lage  befinden  als  jene.  Letzteres  voraus¬ 
gesetzt  aber  nicht  zugegeben,  würde  logischerweise  aus  dieser  An- 


252 


Siegmund  Kaff, 


sicht  bloß  folgen,  daß  auch  dieser  Kategorie  von  genesenen  Kassen¬ 
mitgliedern  als  Ersatz  der  Rekonvaleszentenpflege  noch 
Krankengeld  für  8  oder  14  Tage  ausbezahlt  werden  sollte. 

Es  kann  hier  nicht  auf  die  finanzielle  Wirkung  der  erhöhten 
Ersatzpflicht  der  Kasse  gegenüber  den  Spitälern  eingegangen 
werden.  Selbst  wenn  tatsächlich  dadurch,  daß  die  Kasse  für  die 
gesamte  Dauer  der  Spitalspflege,  sofern  sie  nicht  die  längste  Unter¬ 
stützungsdauer  (1  Jahr)  überschreitet,  aufzukommen  hat,  die  für 
den  Kranken  nachteilige  vorzeitige  Entlassung  aus  dem  Heilver¬ 
fahren  künftig  hintangehalten  würde,  was  freilich  im  Interesse  des 
Kranken  gelegen  erscheint,  so  tritt  doch  auf  der  anderen  Seite 
durch  die  Verlängerung  der  Ersatzpflicht  über  die  bisherigen  vier 
Wochen  eine  ganz  erhebliche  Mehrbelastung  der  Kasse  ein,  die 
dadurch  nicht  viel  geringer  wird,  daß  in  Zukunft  die  Verpflegungs* 
gebühr  nur  in  der  Höhe  des  täglichen  Krankengeldes  geleistet 
werden  soll.  Es  ist  ja  sicherlich  erfreulich,  daß  die  unfruchtbaren 
und  zwecklosen,  oft  sogar  auch  kostspieligen  Verwaltungsstreitig¬ 
keiten  hinsichtlich  des  Spitalkostenersatzes  künftig  entfallen,  weil 
das  Moment  der  Zustimmung  der  Kassen  zur  Spitalspflege  be¬ 
deutungslos  wird.  Aber  die  Hauptsache  ist  das  nicht;  das  Problem 
liegt  vielmehr  in  der  Entlastung  der  Kassen  von  den  Spitals¬ 
kosten.  Gerade  sie  sollen  aber  eine  Erhöhung  erfahren  vor  allem 
durch  Verlängerung  der  Haftung  durch  Übernahme  der  Unfälle. 
Daß  sich  der  Aufwand  für  Spitalspflege  durch  Verbesserung  des 
kassenärztlichen  Dienstes  verringern  ließe,  ist  bei  dem  System  der 
fix  besoldeten  Kassenärzte  wegen  der  Kosten  nicht  gut  möglich. 
Im  Gegenteil  tritt,  wie  erwähnt,  unter  Umständen  die  Gefahr  einer 
Mehrbelastung  für  die  Kasse  auf,  wenn  die  Ärzte  in  Fällen,  wo 
es  der  Heilzweck  nicht  erfordert,  Spitalspflege  anordnen  würden. 

Die  Mehrbelastung  der  Kasse  aus  dem  Titel  der  über  die 
vier  Wochen  verlängerten  Ersatzpflicht  gegenüber  den  Spitälern 
und  durch  Übernahme  der  Unfallverletzungen  ist  demnach  kaum 
ernstlich  zu  bestreiten  und  bedeutet  eine  prinzipielle  Veränderung 
in  der  Natur  der  Krankenversicherung,  die  nunmehr  in  höherem 
Ausmaße  für  Zwecke  der  Armenpflege  herangezogen  werden  soll. 
Daran  ändert  auch  die  Tatsache  nichts,  daß  künftig  die  Höhe  der 
Verpflegungsgebühr  für  die  Kasse  bedeutungslos  wird. 

Die  Tendenz  einer  Entlastung  derjenigen  Körperschaften,  denen 
bisher  die  Erhaltung  der  Spitäler  auferlegt  war,  tritt  noch  deut¬ 
licher  in  der  Bestimmung  hervor,  daß  die  den  Landwirten  und 
sonstigen  Dienstgebern  auferlegte  Verpflichtung,  für  ihr  Haus- 


Der  Ausbau  (1er  Arbeiterversicheruno’  in  Österreich. 


253 


gesinde  im  Falle  der  Erkrankung-  die  Verpflegung-  durch  vier 
Wochen  entweder  selbst  oder  durch  ein  kSpital  besorgen  zu  lassen, 
nach  dem  Programm  vollständig-  auf  die  Kassen  übergehen  soll. 
Nur  gegenüber  den  Gebäranstalten,  welche  künftig  nicht  mehr  als 
Krankenhäuser  angesehen  werden,  entfällt  die  Ersatzpflicht  der 
Kassen,  es  werden  daher  die  in  den  Gebäranstalten  untergebrachten 
Wöchnerinnen  ihre  vierwöchentliche  Unterstützung  ungeschmälert 
erhalten. 

Neben  den  obligatorischen  Leistungen  der  Kassen  können 
künftighin  auch  Rekonvaleszenten  pflege  und  A  n  ge¬ 
hör  igenv  er  Sicherung  sowie  andere  Leistungen  vorgesehen 
werden.  Handelt  es  sich  um  die  Verabreichung  von  außer¬ 
ordentlichen  Unterstützungen,  die  über  das  gesetzliche 
Maß  hinausgehen,  oder  um  die  Gewährung  von  Rekonvaleszenten¬ 
kuren,  so  ist  ein  besonderer  Fonds  zu  errichten.  Bei  der  Ange¬ 
hörigenversicherung’  können  freie  ärztliche  Behandlung  mit  Inbe¬ 
griff  des  geburtshilflichen  Beistandes  und  Beistellung  der  not¬ 
wendigen  therapeutischen  Behelfe  bis  zur  Dauer  eines  Jahres  an 
die  mit  dem  Versicherten  im  gemeinsamen  Haushalte  lebenden 
Personen  verabreicht  werden.  Auch  die  Sterbegeldversiche¬ 
rung  für  die  Ehefrau  oder  Kinder  des  Versicherten  ist  zulässig. 
Die  für  die  Kostendeckung  der  Angehörigenversicherung  erforder¬ 
lichen  Zuschläge  zu  den  Beiträgen  der  Kassenmitglieder  fließen  in 
den  Krankenkassenfonds.  Infolge  der  Übernahme  der  Betriebs¬ 
unfälle  sowie  der  steigenden  Bedeutung  der  pl^sikalischen  Heil¬ 
methoden  wird  künftig  die  Rekonvaleszentenpflege  einen  wichtigen 
Teil  der  Kassenleistungen  ausmachen.  Daneben  dürfte  die  Ange¬ 
hörigenversicherung  wegen  der  wachsenden  Kostspieligkeit  der 
ärztlichen  Behandlung  zurückstehen.  Heute  ist  die  Bestellung 
ärztlicher  Hilfe  und  Medikamente  an  Familienangehörige  vorzugs¬ 
weise  bei  Betriebskassen  eingeführt,  wo  auf  Naturalleistungen  mehr 
Gewicht  gelegt  wird.  Daß  aber  die  Geldleistungen  die  wichtigeren 
sind,  beweist  der  erhebliche  Prozentsatz  von  nichtversicherten  Per¬ 
sonen  bei  den  freien  Vereins-  und  den  Bezirkskassen,  die  auch 
nach  dem  Programm  allein  berechtigt  sind,  nicht  versicherte  Per¬ 
sonen  zur  freiwilligen  Krankenversicherung  zuzulassen. 

Das  gemischte  Unterstützungssystem  der  Verabreichung  von 
Geld-  und  Naturalleistungen  ist  aber  nicht  bloß  in  der  Kranken¬ 
versicherung  bei  Fällen  vorübergehender  Arbeitsunfähigkeit  son¬ 
dern  auch  in  der  Invaliditäts-  und  Unfallversicherung  bei  dauernder 
Erwerbsunfähigkeit  vorgesehen.  Die  Reichsinvalidenkasse 


254 


Siegmund  Kaff, 


kann  Aufwendungen  machen  und  zwar  bezüglich  der  Versicherten, 
um  drohender  Invalidität  vorzubeugen,  bezüglich  der  Kenten¬ 
empfänger,  um  deren  Erwerbsfähigkeit  wieder  herzustellen.  Zu 
diesem  Zwecke  kann  der  Versicherte  in  einer  Heilanstalt  unter¬ 
gebracht  werden  und  zwar  soweit  es  sich  um  Zeiträume  handelt, 
in  welchen  die  Krankenkasse  unterstützungspflichtig  ist,  unter  den¬ 
selben  Voraussetzungen,  unter  welchen  die  Kasse  berechtigt  er¬ 
scheint,  Spitalspflege  anzuordnen,  im  übrigen  nur  mit  Zustimmung 
des  Versicherten.  Während  der  Dauer  der  Heilstättenpflege  ist 
den  Angehörigen  des  Versicherten  eine  Unterstützung  mindestens 
in  der  Höhe  des  halben  Krankengeldes  zu  gewähren,  welches  der 
Lohnklasse  entspricht,  in  die  der  Versicherte  eingereiht  ist.  Er¬ 
folgt  die  Unterbringung  des  Versicherten  in  einer  Heilanstalt  auf 
Anordnung  der  Invalidenkasse,  so  ist  die  Krankenkasse  von  jeder 
Unterstützungspflicht  befreit.  Die  Verpflegung  von  Rentenempfängern 
im  Krankenhause,  beziehungsweise  in  der  Heilanstalt  erfolgt,  für 
Rechnung  ihrer  Rente,  jedoch  haben  Angehörige,  zu  deren  Lebens¬ 
unterhalt  der  Rentenempfänger  wesentlich  beiträgt,  Anspruch  auf 
eine  Unterstützung  in  der  Höhe  der  Invalidenrente,  die  keines¬ 
wegs  den  Grundbetrag  der  dritten  Lolmklasse  übersteigen  darf. 
An  Stelle  der  Rentenleistung  kann  mit  Zustimmung  des  Bezugs¬ 
berechtigten  freie  Verpflegung  in  einem  Versorgungshause  oder  in 
einer  ähnlichen  Anstalt  treten.  Ebenso  ist  es  mit  Zustimmung 
des  Bezugsberechtigten  zulässig,  demselben  anderweitig  den  Lebens¬ 
unterhalt  ganz  oder  teilweise  auf  Kosten  der  Rente  sicherzustellen. 
Trunksüchtigen  können  auf  Grund  gesetzlicher  Bestimmungen  oder 
behördlicher  Maßnahmen  Beschränkungen  auferlegt  werden,  ohne 
daß  ihre  Zustimmung  erforderlich  wäre. 

Analoge  Normen  berechtigen  auch  die  U  n  fall  v  er  Siche¬ 
rungsanstalten  zur  Einflußnahme  auf  das  Heilverfahren. 
Grundsätzlich  sind  die  Versicherungsanstalten  in  jedem  Stadium 
des  Heilprozesses  befugt,  der  Krankenkasse,  welcher  der  Verletzte 
angehört,  beziehungsweise  dem  Betriebsunternehmer,  der  eine  nicht 
vollversicherte  oder  eine  von  der  Krankenversicherung  überhaupt 
befreite  Person  beschäftigt,  die  Krankenfürsorge  abzunehmen.  Die 
Unfallversicherungsanstalt  übernimmt  in  solchen  Fällen  alle  Pflichten 
und  Rechte,  die  das  Gesetz  den  Krankenkassen  hinsichtlich  der 
Unterstützung  und  der  Spitalspflege  auferlegt.  Ist  das  Heilver¬ 
fahren  abgeschlossen,  so  kann  die  weitere  Verpflegung  in  einer 
Heilanstalt  für  Rechnung  der  Unfallrente  nur  mit  Zustimmung  des 
Verletzten  erfolgen.  Hingegen  ist  diese  Zustimmung  nicht  er- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 


255 


forderlich,  wenn  der  Verletzte  die  Heilung  vorsätzlich  verhindert 
oder  verzögert.  Wenn  zur  Beurteilung  des  Rechtsanspruches  auf 
Unfallrente  spitalsärztliche  Beobachtung  notwendig  ist,  so  kann 
der  Verletzte  für  die  Dauer  des  Erfordernisses  in  ein  Krankenhaus 
überwiesen  werden.  Diese  Kosten  bilden  dann  einen  Teil  der  Un- 
fallserhebungskosten  der  Versicherungsanstalt.  So  wie  die  In¬ 
validenkasse  können  demnach  auch  die  Unfallversicherungsan¬ 
stalten  mit  Zustimmung  des  Versicherten  Heilstättenpflege  zu  dem 
Zwecke  anordnen,  um  drohender  Invalidität  vorzubeugen.  Im 
übrigen  aber  bezweckt  die  Heilbehandlung  von  Unfallverletzten 
ebenso  wie  die  Krankenhauspflege  von  Krankenkassenmitgliedern 
die  Wiederherstellung  der  Erwerbs-,  beziehungsweise  der  Arbeits¬ 
fähigkeit. 

Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen,  daß  die  Natural¬ 
leistungen  und  damit  die  Dienste  und  Aufgaben  der  Ärzte  in 
Zukunft  eine  erhöhteBedeutu  n  g  erlangen  sollen.  Die  finanzielle 
Wirkung  dieser  Tendenz  läßt  sich  natürlich  vorläufig  noch  nicht 
absehen.  Nach  den  bisherigen  Schwierigkeiten  zu  schließen,  die 
insbesondere  die  Beistellung  der  freien  ärztlichen  Hilfe  verursacht 
und  die  künftig  sich  noch  steigern  dürfte,  wäre  es  übrigens  be¬ 
greiflich,  wenn  sich  innerhalb  der  Krankenkassen  das  Bestreben 
geltend  machen  würde,  an  Stelle  der  freien  ärztlichen  Hilfe  unter 

gewissen  Voraussetzungen  ein  Geldäquivalent  setzen  zu  können. 

•  • 

Es  ist  bezeichnend,  daß  sich  die  Stellung  der  Arzte  keineswegs 
gegen  die  Naturalleistungen  richtet ;  vielmehr  sehen  die  Ärzte  sehr 
wohl  ein,  daß  die  obligatorische  Beistellung  der  ärztlichen  Hilfe 
durch  die  Krankenkassen  auch  im  Interesse  der  Ärzte  selbst  ge¬ 
legen  ist,  wenigstens  soweit  Versicherte  mit  Einkünften  bis  zu 
2400  Kr.  jährlich  in  Betracht  kommen.  Wogegen  sich  ihre  Ein¬ 
wendungen  kehren,  ist  die  Höhe  des  ärztlichen  Honorars  und  die 
Art  der  Berechnung  desselben.  Die  Ärzte  übersehen  nur,  daß  ihre 
Stellung  in  der  Krankenversicherung  —  so  prekär  sie  auch  sein 
mag  —  noch  immer  derjenigen  vorzuziehen  ist,  die  sie  zum  großen 
Teile  vordem,  ohne  den  Versicherungszwang,  eingenommen  haben, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  es  sich  jetzt  um  die  Anpassung  an  eine 
unaufhaltsame  Entwicklung  handelt.  Wenn  dies  damals  nicht  so 
sehr  zum  Ausdruck  kam,  so  deshalb,  weil  der  Bedarf  an  Ärzten 
vor  Einführung  der  staatlichen  Versicherung  ein  weitaus  schwächerer 
war  und  erst  seit  dem  Inkrafttreten  der  Versicherungsgesetze  an 
Umfang  und  Intensität  zunahm.  Das  würde  sich  auch  zeigen, 
wenn  —  wie  gesagt  —  die  ärztliche  Hilfe  der  Krankenkassen 


256 


Siegmund  Kaff, 


durch  Geldleistungen  ersetzt  werden  würde  und  die  Kassen  sich 
auf  die  Bestellung  einiger  weniger  Kontrollärzte  beschränken 
könnten,  obzwar  es  gerade  die  obligatorische  Versicherung  ist, 
welche  den  Bedarf  an  ärztlicher  Hilfe  gesteigert  hat. 

So  wichtig  nun  die  Naturalleistungen  an  sich  sind,  ebenso  ver¬ 
fehlt  erscheint  es,  dieselben  zum  ausschließlichen  Zweck  der  Ver¬ 
sicherung  zu  machen.  Wenn  die  Einbeziehung  der  landwirt¬ 
schaftlichen  Dienstboten  und  des  Hausgesindes  nur 
unter  dem  Gesichtswinkel  erfolgen  soll,  diesen  versicherungsbedürf¬ 
tigen  Personen  die  Krankenfürsorge,  auf  welche  sie  bereits  nach 
den  Gesindeordnungen  Anspruch  haben,  für  sie  —  statt  wie  bisher 
bei  den  Dienstgebern  —  bei  der  Krankenkasse  sicherzustellen,  dann 
mag  dies  immerhin  einen  Vorteil  für  die  Versicherten,  jedenfalls 
für  die  Dienstgeber,  keineswegs  aber  für  die  Krankenkassen  be¬ 
deuten.  Ja  es  muß  die  Befürchtung  ausgesprochen  werden,  daß 
die  Beschränkung  auf  die  Naturalleistungen  dazu  mißbraacht 
werden  könnte,  um  die  agrarischen  Interessenten  auf  Kosten  der 
städtischen  Dienstgeber  zu  entlasten.  Diese  Entlastung  könnte 
um  so  unauffälliger  vor  sich  gehen,  als  naturgemäß  die  Kranken¬ 
fürsorge  für  die  teilversicherten  ländlichen  und  städtischen  Dienst¬ 
boten  fast  ausschließlich  in  der  Spitalsverpflegung  bestehen  und 
die  Erhaltung  der  Spitäler  in  Zukunft  mehr  als  bisher  den 
Krankenkassen  zufallen  wird.  Hierbei  wird  leicht  eine  Überwälzung 
der  bisher  den  Landwirten  obliegenden  Krankenfürsorge  für  die 
Allgemeinheit  eintreten  können,  insofern  als  die  Kommunal-  und 
Landeszuschläge,  aus  welchen  teilweise  die  Erhaltungskosten  der 
Spitäler  bestritten  werden,  mehr  die  städtische  als  die  ländliche 
Bevölkerung  treffen.  Aber  von  allen  diesen  Befürchtungen  abge¬ 
sehen,  gilt  vor  allem  die  Frage,  ob  durch  die  Teilversicherung  der 
angestrebte  Zweck,  die  soziale  Lage  —  insbesondere  des  landwirt¬ 
schaftlichen  Proletariats  —  zu  heben,  erreicht  wird.  Es  ist  heute  ein 
offenes  Geheimnis,  daß  der  große  Abstand  zwischen  dem  Standard  of 
life  der  industriellen  Arbeiter  und  jenem  der  in  der  agrarischen 
Produktion  beschäftigten  Personen  die  wesentlichste  Ursache  ins¬ 
besondere  der  Arbeiterflucht  vom  Lande  und  des  unaufhaltsamen 
Zuges  nach  der  Stadt  ist.  Der  Mangel  an  landwirtschaftlichen 
Arbeitern  kann  nur  durch  die  vollständige  Gleichstellung  des 
agrarischen  mit  dem  industriellen  Proletariat  behoben  werden. 
Wenn  schon  hinsichtlich  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  und  des 
Arbeiterrechtes  eine  Ausnahme  zu  ungunsten  der  landwirtschaft¬ 
lichen  Arbeiter  vorhanden  ist,  so  erklärt  sich  dies  aus  der  über- 


Der  Ausbau  der  Arbeiterversicheruirg  in  Österreich. 


257 


vagenden  Machtstellung-  der  Agrarier,  die  sich  weder  in  bezug’  auf 
Koalitionsrechte  noch  in  bezug  auf  den  Arbeitsvertrag  Einschrän¬ 
kungen  gefallen  lassen  will.  Anders  aber  liegen  die  Dinge  in  der 
Arbeiterversicherung,  wo  es  sich  nicht  um  das  Herrenrecht  der 
Landwirte  sondern  nur  darum  handelt,  der  Wanderbewegung  des 
ländlichen  Proletariats,  wodurch  die  vielbeklagte  Leutenot  entsteht 
und  indirekt  die  Produktionskosten  in  der  Landwirtschaft  ver¬ 
teuert  werden,  einen  wirksamen  Hemmschuh  anzulegen.  Es  ist 
nun  für  jeden  Kenner  der  Verhältnisse  klar,  daß  durch  die  Teil¬ 
versicherung  das  vorhin  gekennzeichnete  Ziel  nicht  erreicht  werden 
wird  und  daß  die  überschüssige  d.  h.  die  nicht  im  ständigen  Dienst 
des  Landwirts  stehende  Arbeiterschaft  nach  wie  vor  industrielle 
Arbeitsplätze  suchen  wird,  die  nicht  nur  höhere  Löhne  sondern 
auch  bessere  Arbeitsbedingungen,  Koalitionsfreiheit  und  Versiche¬ 
rung  für  den  Fall  der  Arbeitsunfähigkeit  gewährleisten. 

Die  Krankengeld  Versicherung  soll  aber  nicht  bloß  bei  den 
Arbeitern  der  Landwirtschaft  und  dem  städtischen  Hausgesinde 
sondern  bei  sämtlichen  versicherungsbedürftigen  Personen,  als  Lehr¬ 
lingen,  Volontären  und  anderen  Unmündigen,  die  wegen  noch  nicht 
beendigter  Ausbildung  einen  niedrigen  Arbeitsverdienst  oder  über¬ 
haupt  keinen  Barlohn  beziehen,  unterbleiben.  Und  doch  ist  sie 
gerade  das  Wichtigste,  sind  die  Geldleistungen  das  eigentliche 
Charakteristische,  der  Hauptzweck  der  sozialen  Versicherung.  Wie 
verhält  sich  aber  in  diesem  entscheidenden  Punkte  das  Regierungs¬ 
programm  ?  Es  drückt  die  Geldleistungen  herab.  Weder  die 
Wöchnerinnen-  noch  die  eigentliche  Krankengeldunterstützung  er¬ 
fährt  eine  Erhöhung.  Und  doch  wäre  eine  solche  dringend  ge¬ 
boten,  soll  der  Heilprozeß  rasch  und  vollständig  zu  Ende  geführt 
und  der  Zweck  der  ärztlichen  Hilfe  wirklich  erreicht  werden. 

Der  Wöchnerinnenschutz  kann  nur  wirksam  werden,  wenn  eine 
sechs  wöchentliche  Fernhaltung  von  jeder  gewerblichen  Arbeit  ge¬ 
sichert  wird;  dies  aber  ist  nur  möglich,  wenn  die  Wöchnerinnen¬ 
unterstützung,  wenn  schon  nicht  erhöht,  so  doch  von  vier  auf  sechs 
Wochen  verlängert  wird.  Desgleichen  wäre  hinsichtlich  der  Sterbe¬ 
geldversicherung  dem  heute  schon  vielfach  empfundenen  Bedürfnisse 
Rechnung  zu  tragen,  daß  der  Begräbniskostenbeitrag  auch  nach  Er¬ 
schöpfung  des  Anspruches  auf  Krankenunterstützung  zu  gewähren  wäre. 

Dafür  bringt  das  Programm  eine  wichtige  Neuerung  in  der 
FixierungderKrankengelder,  welche  für  sämtliche  Sprengel 
der  Krankenkasse  einheitlich  festgesetzt  werden.  Und  zwar  sollen 
dieselben  betragen  in  der 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II. 


17 


258 


Siegmund  Kaff, 


Lohnklasse  1 


40  h 


6 


4 


Die  gewaltige  Differenz,  die  sich  zwischen  der  1.  und  6.  Lohn¬ 
klasse  bemerkbar  macht  und  darin  zum  Ausdruck  kommt,  daß  das 
Krankengeld  in  der  6.  Klasse  zehnmal  so  groß  ist  als  in  der 
1.  Klasse,  deutet  die  großen  Unterschiede  an,  die  bei  der  Ver¬ 
sicherung  zu  berücksichtigen  sind.  Das  heute  übliche  Verfahren, 
die  Krankengelder  nach  dem  für  jede  Arbeiterkategorie  behördlich 
festgesetzten,  in  jedem  Gerichtsbezirk  üblichen  Taglohn  zu  be¬ 
messen,  hat  einen  wenn  auch  nur  unvollständigen  Einblick  in  die 
große  Mannigfaltigkeit  der  in  Österreich  bestehenden  Lohnstufen 
gewährt.  Die  so  gewonnenen  Taglohnsätze,  welche  bloß  rohe 
Durchschnitte  der  wirklichen  Löhne  bedeuten,  lassen  erkennen, 
daß  nicht  allein  zwischen  Stadt  und  Land,  zwischen  Osten  und 
Westen  Österreichs  und  zwischen  den  einzelnen  Gewerben  und 
Berufen  sondern  auch  innerhalb  derselben  Industriegruppen,  ja  so¬ 
gar  für  die  Arbeiter  derselben  Branchen  innerhalb  eines  be¬ 
stimmten  Bezirkes  oft  ganz  erhebliche  Unterschiede  sich  ergeben. 
Nun  hat  das  System  der  Lohnklassen  sicherlich  zahlreiche  Vorteile 
für  sich,  Vorteile,  die  sich  wesentlich  in  der  administrativen  Ge- 
bahrung  und  leichten  Handhabung  bemerkbar  machen.  Es  soll 
auch  nicht  der  extreme  Standpunkt  vertreten  werden,  daß  in  der 
Krankenversicherung  der  tatsächliche  Arbeitsverdienst  die  Grund¬ 
lage  für  die  Bemessung  des  Krankengeldes  abgeben  soll.  Tatsache 
aber  ist,  daß  der  gegenwärtige  Zustand  in  der  Krankenversicherung 
diesem  Ideale  weitaus  näherkommt  und  sich  immer  mehr  nähert 
und  daß  daher  die  Beschränkung  auf  sechs  Lohnklassen  ein  ganz 
ungerechtfertigter  Sprung  ist,  der  abgesehen  davon,  daß  dadurch 
die  Arbeiterschaft  zu  Schaden  kommt,  auch  keineswegs  durch  die 
Notwendigkeit  der  Vereinfachung  administrativer  Geschäfte  be¬ 
gründet  werden  kann. 

Soll  daher  das  System  der  Lohnklassen  den  Kassen  wie  den 
Versicherten  annehmbar  erscheinen,  so  müssen  zwischen  der  nied¬ 
rigsten  und  höchsten  Lohnklasse,  die  das  Programm  fixiert,  zahl- 
reiche  Übergänge  geschaffen  werden  und  —  was  nicht  minder 
wichtig  ist  —  es  wäre,  da  die  unterste  Einkommensgrenze  für 
die  Versicherungspflichtigen  mit  2400  Kr.  ohnedies  zu  niedrig 
angesetzt  ist,  die  Zahl  der  Lohnklassen  um  einige  ent- 


Der  Ausbau  der  Arbeiter  Versicherung'  in  Österreich.  259 

sprechend  höher  fixierte  Lohnsätze  zu  vermehren.  In  der  Kranken¬ 
versicherung  müssen  die  zahlreichen  Übergänge,  die  das  Lohn¬ 
niveau  der  österreichischen  Arbeiter  aufweist,  weitaus  mehr  be¬ 
rücksichtigt  werden ,  als  dies  durch  das  Programm  geschieht. 
Selbst  mit  einer  Verdreifachung  der  Lohnklassen  wäre  dem  tat¬ 
sächlichen  Bedürfnisse  nicht  genügend  Rechnung  getragen,  und  es 
könnte  daher  eine  Abhilfe  nur  dadurch  platzgreifen,  daß  Lohn¬ 
sprengel  geschaffen  werden,  die  sich  mit  den  Kassensprengeln 
selbst  möglichst  zu  decken  hätten.  Auch  wäre  die  Versicherung 
in  einer  höheren  Lohnklasse  als  der  erforderlichen  ausdrücklich  als 
zulässig  zu  erklären. 

Wie  in  der  Krankenversicherung,  so  erfährt  auch  in  der  Un¬ 
fallversicherung  die  Grundlage  für  die  Berechnung  der 
Entschädigungen  eine  vollständige  Veränderung.  Der  Be¬ 
seitigung  des  bis  jetzt  üblichen  Taglohnes  in  der  Krankenver¬ 
sicherung  folgt  die  Beseitigung  des  Jahresarbeitsverdienstes  in  der 
Unfallversicherung.  Die  Grundlage  für  die  Rentenbemessung  bildet 
das  tägliche  Krankengeld,  welches  mit  300  multipliziert  die  jähr¬ 
liche  Vollrente  ergibt.  Da  von  jeder  Lohnklasse  nur  der  mittlere 
Lohnsatz  in  Betracht  kommt,  so  bleiben  alle  Löhne,  die  sich  über 
diesen  mittleren  Lohnsatz  erheben,  außerhalb  der  Berechnung.  Da 
andererseits  die  unterhalb  des  mittleren  Lohnsatzes  befindlichen 
Renten  eine  Steigerung  erfahren,  könnte  man  sich  mit  der  einheit¬ 
lichen  Rechnungsgrundlage  für  Krankengelder  und  Unfallrenten 
befreunden,  wenn  damit  wirklich  eine  Vereinfachung  und  Er¬ 
leichterung  in  der  Durchführung  des  Gesetzes  geschaffen  werden 
würde.  Allein  die  Festlegung  des  Krankengeldes  als  Grundlage 
für  die  Rentenbemessung  wird  durchaus  nicht  aus  bloß  administrativ- 
technischen  Gründen  vorgenommen,  vielmehr  handelt  es  sich  dabei 
um  einen  fiskalischen  Zweck:  die  Herabdrückung  des  Rentenetats 
der  Anstalten.  Zu  dieser  Vermutung  führt  auch  die  Tatsache,  daß 
künftig  die  Renten  für  teilweise  Erwerbsunfähigkeit  bloß  in  fünf 
Kategorien  nach  dem  Grade  der  Erwerbsunfähigkeit  abgestuft 
werden  sollen.  Die  Regierung  entspricht  damit  einem  Wunsche 
der  Anstalten,  die  so  eine  Einschränkung  der  Sach  verständige  n- 
Tätigkeit  und  in  weiterer  Folge  auch  eine  Entlastung  der  An¬ 
stalten  herbeizuführen  beabsichtigt.  Die  Versicherten  jedoch  per- 
horreszieren  jede  Art  von  Rentenschematisierung  nicht  bloß  für 
die  qualifizierten  sondern  auch  für  die  unqualifizierten  Arbeiter; 
sie  erblicken  darin  nur  ein  Mittel  zu  dem  Zwecke,  um  Ersparnisse 
zu  erzielen  und  die  Unternehmer  zu  entlasten. 


17* 


260  Siegmund  Kaff,  Der  Ausbau  der  Arbeiterversicherung  in  Österreich. 

Die  Leistungen  der  In  validitätsv  er  Sicherung  sind 
Renten  für  die  Versicherten  und  Kapitalsabfertigungen  für  ihre 
Hinterbliebenen.  An  Stelle  der  Renten  kann,  wie  erwähnt,  die  Ver¬ 
pflegung  in  einer  Versorgungsanstalt  treten.  Die  Renten  setzen 
sich  aus  Grundbeträgen  und  Steigerungsraten  zusammen.  Die 
Karenz  für  die  Invaliditätsrente  beträgt  200,  die  für  die  Alters¬ 
rente  1200  Beitragswochen.  Bloß  für  die  Kapitalsabfertigung  der 
Witwen  und  Waisen  genügt  schon  eine  Beitragsleistung  von  40 
Wochen.  Vom  medizinischen  Standpunkte  wichtig  ist,  daß  die 
Altersrente  vom  65.  Lebensjahre  an  gewährt  werden  kann  und 
daß  die  Invalidität  dann  als  eingetreten  gilt,  wenn  der  Versicherte 
durch  eine  seinen  Kräften  und  Fähigkeiten  entsprechende  Lohn¬ 
arbeit,  die  ihm  unter  Berücksichtigung  seiner  Ausbildung  und  seines 
bisherigen  Berufes  billigerweise  zugemutet  werden  kann,  nie  mehr 
3/;>  des  Verdienstes  erzielt,  den  körperlich  und  geistig  gesunde  Per¬ 
sonen  derselben  Art  mit  ähnlicher  Ausbildung  in  der  gleichen 
Gegend  zu  verdienen  pflegen.  Die  Zuerkennung  der  Renten  er¬ 
folgt  durch  Kommissionen,  denen  auch  Ärzte  angehören. 

Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Frage  zu  untersuchen, 
ob  die  Dauer  der  Karenzfristen  und  die  Höhe  der  Leistungen  den 
sozialhygienischen  Anforderungen  entsprechen;  es  ist  dies  auch 
überflüssig,  denn  man  weiß  ja,  daß  lediglich  fiskalische  und  finanz¬ 
politische  Gesichtspunkte  maßgebend  sind.  Um  so  heikler,  um  so 
komplizierter  und  großartiger  werden  sich  künftig  die  Aufgaben 
der  Ärzte  in  der  Arbeiterversicherung  gestalten,  um  so  höher  wird 
ihr  Einfluß  sein  auf  das  Wohl  und  Wehe  nicht  nur  der  Millionen 

Versicherter,  sondern  auch  ihrer  Familien  und  der  öffentlichen  Ver- 

•  • 

Sicherungskorporationen,  innerhalb  deren  Organisation  die  Arzte 
eine  bedeutungsvollere  Rolle  als  bisher  einzunehmen  berufen  sind. 


Stimmen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin 

und  Volkswirtschaft. 


Es  ist  eine  dringliche  Forderung  der  Sozialen  Hygiene,  dal.) 
die  Welirfähigkeitsstatistik  so  ausgestaltet  wird,  daß  sie 
als  ein  Gradmesser  der  Volksgesundheit  und  als  eine  Darstellung 
des  Status  praesens  der  biologischen  Qualitäten  der  gesamten  Nation 
angesehen  werden  kann.  Wieweit  sie  gegenwärtig  noch  davon 
entfernt  ist,  dafür  liefern  folgende  Äußerungen  des  Münchener 
Nationalökonomen  L.  Brentano,1)  die  auch  dem  Hygieniker  zu 
denken  geben,  den  Beweis:  „Während  des  Streites  um  den  Zoll¬ 
tarif  wurde  immer  und  immer  wieder  betont,  daß  die  Wehrkraft 
Deutschlands  bedroht  sei,  wenn  nicht  durch  hohe  Agrarzölle  der 
fortschreitenden  Industrialisierung  Deutschlands  Einhalt  geschehe. 
Am  9.  März  1892  behauptete  Professor  Sering  im  deutschen  Land¬ 
wirtschaftsrat,  daß  die  „Industriestädte  im  Verhältnisse  zu  ihrer  Be¬ 
völkerung  weniger  als  ein  Drittel  so  viel  waffenfähige  Männer  stellen 
als  die  rein  ländlichen  Distrikte“.  Das  Gerede  von  einer  um  200Proz. 
höheren  Tauglichkeit  der  landwirtschaftlichen  Wehrpflichtigen  wurde 
fortan  ein  beliebtes  Argument  im  Kampfe  um  höhere  Getreidezölle,  und 
selbst  Graf  Posadowsky  hat  sich  auf  die  Ergebnisse  der  Heeres¬ 
ergänzungsstatistik  berufen,  um  an  der  Hand  der  Tauglichkeits¬ 
zittern  die  Unentbehrlichkeit  höherer  Getreidezölle  zu  beweisen. 
Als  ich  das  Unhaltbare  dieser  Behauptungen  nach  wies,  wurde  ich 
von  dem  gesamten  Agrariertum  bald  wie  ein  Verbrecher,  bald  wie 
ein  Monomane  behandelt.  In  Naumanns  „Patria“  für  1906  habe 
ich  über  den  ganzen  „Streit  über  die  Grundlage  der  deutschen 
Wehrkraft“  kritisch  berichtet.  Ich  habe  keinen  Anlaß,  darauf  zu- 


l)  Berliner  Tageblatt  vom  23.  Februar  1907. 


262  Stimmen  ans  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft. 


rückzukommen,  und  möchte  nur  dem  norddeutschen  Leser  mitteilen, 
daß  die  soeben  veröffentlichte  bayerische  Heeresergänzungsstatistik, 
die  einzige,  die  bisher  den  Beruf  der  Eltern  der  Rekruten  berück¬ 
sichtigt,  die  überraschenden  Aufschlüsse,  welche  schon  die  Er¬ 
hebungen  für  die  Jahre  1902  und  1903  gegeben  hatten,  auch  für 
das  Jahr  1904  bestätigt.1)  Man  hat  von  agrarischer  Seite  nämlich 
stets  behauptet,  wenn  die  nicht  überwiegend  agrarischen  Gegenden 
heute  die  größere  Rekrutenzahl  lieferten,  so  dankten  sie  dies  nur 
der  Zuwanderung  von  der  Landwirtschaft  zu  den  anderen  Berufs¬ 
arten.  Nun  gehörten  im  Jahre  1882  noch  50,89  Proz.  der  baye¬ 
rischen  Bevölkerung  der  Landwirtschaft  an.  Danach  hätte  also  in 
den  Jahren  1902,  1903  und  1904  mehr  als  die  Hälfte  der  bayerischen 
Rekruten  von  landwirtschaftlich  tätigen  Eltern  abstammen  müssen. 
Statt  dessen  stammten 


im  Jahre 

1902 

1903 

1904 


von  landwirtschaftlich 
tätigen  Eltern 
14  949 
14  782 
14  539 


von  anderweitig 
tätigen  Eltern 

17  582 
15  293 
15  758 


Summa  44  270 


48  633 


In  den  drei  Jahren  1902/04  wurden  in  Bayern  also  92  903  Rekruten 
eingestellt.  Nach  der  Berufsverteilung  ihrer  Eltern  zur  Zeit  ihrer 
Geburt  hätten  davon  47  278  von  landwirtschaftlich  tätigen  und  nur 
45625  von  anderweitig  tätigen  Eltern  abstammen  müssen.  Weit 
entfernt,  daß  jene  agrarische  Behauptung  ihre  Bestätigung  fände, 
ist  die  Landwirtschaft  um  3008  hinter  dem,  was  von  ihr  an  Re¬ 
kruten  zu  erwarten  war,  zurückgeblieben.  Die  nicht  landwirt¬ 
schaftliche  Bevölkerung  Bayerns  war  in  dem,  was  sie  an  Re¬ 
kruten  zur  Wehrkraft  des  Reiches  geleistet  hat,  der  landwirtschaft¬ 
lichen  überlegen.  In  der  „Nation“  vom  10.  März  1906  habe 
ich  schon  gezeigt,  daß  der  Fehlbetrag  der  Landwirtschaft  nicht 
auf  solche  bayerische  Landesteile  beschränkt  ist,  die  sich  durch 
besondere  Rasseeigentümlichkeiten  und  örtliche  Verhältnisse  von 
anderen  unterscheiden.  Die  folgende  Tabelle  zeigt,  daß  auch  die 
neueste  Heeresergänzungsstatistik  dies  bestätigt. 

Hätte  Fürst  Bülow  nicht  die  Erhebung  über  den  Beruf  der 
Eltern  der  Rekruten  als  staatsgefährlich  verweigert,  so  wüßten  wir 
nicht  nur  für  Bayern  sondern  auch  für  das  ganze  Reich  Bescheid. 


3)  Vgl.  Zeitschrift  des  kgl.  bayerischen  statistischen  Bureaus,  Jg.  38,  S.  249. 


Stimmen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft.  263 


Es  betrug  1882  die 
landwirtschaftl.  Be- 


Von  den  eingestellten  Rekruten  stammten  von 
landwirtschaftlich  tätigen  Eltern 


plus  od. 
minus 


,  - - - - Ö - - 

zenten  der  Gesamt- 

1902 

1903 

1904 

1902- 

-1904 

bis 

bevülkeran« 

;  in 

absol. 

Ol 

Io 

absol. 

0/ 

Io 

absol. 

Ol 

Io 

absol. 

Ol 

Io 

1904 

Oberbayern 

44.63 

2719 

42,26 

2657 

49,62 

2311 

46,24 

7687 

45,79 

+1,16 

Niederbayern 

62,38 

1824 

62,72 

2380 

64,22 

2385 

64,52 

6589 

63,87 

+1,49 

Pfalz 

46.63 

2054 

39,09 

1586 

38,83 

1483 

33,81 

5123 

37,32 

— 9,31 

Oberpfalz 

57,73 

1231 

51,55 

1491 

52,85 

1680 

53,86 

4402 

52,85 

— 4,88 

Oberfranken 

47,45 

1518 

41,95 

1481 

38,34 

1514 

42,79 

4513 

41,05 

— 6,40 

Mittelfranken 

43,02 

1591 

37,46 

1437 

41,96 

1398 

40,06 

4426 

39,66 

-3,36 

'Unterfranken 

56.17 

1884 

50,83 

1881 

51,09 

1975 

50,01 

5740 

50,63 

—5,54 

Schwaben 

53,47 

2128 

53,54 

1869 

59,14 

1793 

57,37 

5790 

56,53 

+3,06 

Königreich 

50.89 

14949 

45,95 

14782 

49,15 

14539 

47,98 

44270 

47,65 

—3,24 

Daß  dieser  nicht  im  Sinne  der  Agrarier  ansfallen  dürfte,  zeigt, 
daß  selbst  einer  meiner  heftigsten  Gegner.  Professor  Ballod  so¬ 
eben  in  Schmollers  Jahrbuch  1907,  Seite  385  eingeräumt  hat.  daß 
„die  Verhältnisse  sich  mit  jedem  Jahre  mehr  zugunsten  der  in¬ 
dustriefreundlichen  Auffassung  verschieben“  und  für  1902/05  nicht 
mehr  behauptet  werden  könne,  daß  die  Mehrzahl,  mindestens  aber 
die  Hälfte  aller  Rekruten  aus  der  Landwirtschaft  stammen.  Würde 
eine  Erhebung  für  das  ganze  Reich  korrekt  durchgeführt,  so  bin  ich 
überzeugt,  daß  meine  Behauptung,  nur  mehr  ungefähr  ein  Drittel  der 
als  tauglich  befundenen  Abgefertigten  kämen  aus  der  Landwirtschaft, 
etwa  zwei  Drittel  aus  anderweitigen  Beschäftigungen,  volle  Bestäti¬ 
gung  finden  würde.  Nun  hat  der  Reichskanzler  schließlich  doch 
den  Einwand  der  Staatsgefährlichkeit  fallen  lassen,  und  es  sind 
im  Jahre  1906  auf  Veranlassung  des  Reichsamts  des  Inneren  Er¬ 
hebungen  veranlaßt  worden,  um  auch  für  das  preußische  Kon¬ 
tingent  die  Abstammung  der  Rekruten  zu  ermitteln.  Auch  für  das 
sächsische  und  württembergische  Kontingent  sollen  solche  Er¬ 
hebungen  stattfinden.  Etwas  auffallend  ist  dabei,  daß  die  gesamte 
Verarbeitung  —  auch  für  Bayern,  Sachsen,  Württemberg  —  weder 
dem  kaiserlichen  statistischen  Reichsamt  noch  den  betreffenden 
Landesämtern  sondern  dem  preußischen  statistischen  Landesamt 
übertragen  worden  ist.  Da  sitzen  allerdings  Herren,  die  sich  bisher 
am  zähesten  dagegen  gesträubt  haben,  die  Veränderungen  in  der 
Zusammensetzung  der  deutschen  Wehrkraft,  wie  sie  sich  als  natur¬ 
gemäße  Folge  der  veränderten  Berufsgliederung  ergeben,  anzuer¬ 
kennen.  Allein  davon  abgesehen,  dürfte  die  ganze  Art  der  Er¬ 
hebung,  wie  sie  angeordnet  ist,  nicht  geeignet  sein,  die  Entschei¬ 
dung  der  Frage  nach  dem  Einfluß  des  Berufes  auf  die  Tauglichkeit 
rgend  zu  fördern.  Es  ist  nämlich  angeordnet,  daß  die  Erhebungen 


264  Stimmen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft. 

über  die  Abstammung’  der  Rekruten  nicht  etwa  wie  in  Bayern  bei 
der  Aushebung’  sondern  bei  den  bereits  eingestellten  Mannschaften 
vorgenommen  werden  soll.  Auf  diese  Weise  läßt  sich  zwar  die 
tatsächliche  Zusammensetzung  von  Heer  und  Marine  feststellen, 
aber  alle  die  Tauglichen,  die  wegen  bürgerlicher  Verhältnisse  oder 
als  Überzählige  nicht  eingestellt  worden  sind,  bleiben  dabei  außer 
Betracht.  Die  Zahl  der  so  nicht  Eingestellten  betrug  für  Heer 
und  Marine  im  Jahre  1904  nicht  weniger  als  14185  auf  286  748. 
das  heißt  nahezu  5  Proz.,  der  an  sich  Tauglichen.  Für  die  Frage 
der  an  sich  Tauglichen  muß  eine  derartige  Erhebung  völlig  irre¬ 
führende  Ergebnisse  bieten.  Einen  drastischen  Beleg  dafür  bieten 
die  Erfahrungen,  die  ich  bei  Ausarbeitung  meines  in  der  „Patria“ 
veröffentlichten  Aufsatzes  bezüglich  der  Tauglichkeitsziffern  von 
München  und  Nürnberg  gemacht  habe.  Ich  fand  für  das  Jahr 
1902  für  München  A  eine  Tauglichkeitsziffer  von  57,30  Proz.,  für 
München  B  eine  von  nur  49,44  Proz.,  für  Nürnberg  A  eine  von 
59,51  Proz.,  für  Nürnberg  B  nur  von  41,52  Prozent.  Mein  erster 
Gedanke  war,  daß  es  sich  in  beiden  Städten  bei  B  um  verwahr¬ 
loste  Viertel  handle.  Allein  auf  Erkundigung  wurde  mir  mitgeteilt, 
bei  beiden  Städten  umfaßten  die  Aushebungsbezirke  A  die  Wehr¬ 
pflichtigen  mit  den  Anfangsbuchstaben  A  bis  K,  die  Bezirke  B  der 
von  L  bis  Z.  Da  man  am  Beginn  des  Aushebungsgeschäfts  das 
Verhältnis  des  Vorrats  zum  Bedarf  nicht  zu  überblicken  vermag, 
wird  der  Arzt,  um  dem  Bedarf  unter  allen  Umständen  zu  genügen, 
gar  oft  in  die  Zwangslage  versetzt,  im  Verlauf  der  Aushebung  den 
Maßstab  seiner  Beurteilung  zu  verschieben.  So  kam  es,  daß  mehr 
Träger  von  Namen,  die  mit  A  bis  K  angehen,  eingestellt  wurden 
als  Träger  von  Namen,  die  mit  L  bis  Z  beginnen.  Unter  den 
letzteren  fanden  sich  aber  wahrscheinlich  ebensoviel  Taugliche 
wie  unter  den  ersteren.  Diese  Einwirkung  des  Verhältnisses  von 
Bedarf  und  Vorrat,  macht  sich,  wie  ich  in  der  „Nation“  vom 
10.  März  1906  ziffernmäßig  dargetan  habe,  besonders  geltend  je 
nach  der  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  der  verschiedenen  Landes¬ 
teile.  Je  größer  die  Zahl  der  Tauglichen  ist  im  Verhältnis  zur 
Zahl  der  Rekruten,  die  notwendig  eingestellt  werden  müssen,  um 

die  Cadres  zu  füllen,  desto  größer  ist  auch  die  Zahl  der  wegen 

•  • 

bürgerlicher  Verhältnisse  oder  als  Überzählige  dem  Landsturm  und 
den  Ersatzreserven  überwiesenen.  Bei  der  Erhebung  der  Herkunft 
der  Soldaten  bei  der  Truppe,  wie  sie  angeordnet  worden  ist. 
werden  die  dünner  bevölkerten  agrarischen  Gegenden  einen  größeren, 
die  dichter  bevölkerten  industriellen  Gegenden  einen  geringeren 


Stimmen  ans  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft.  265 


Prozentsatz  von  Truppen  •  aufweisen,  als  ihnen  wirklich  zukommt. 
Das  Ergebnis  wird  ein  falsches  Bild  sein. 

Die  wirkliche  Taugdichkeitsziffer  ist  aber  von  der  größten  Be¬ 
deutung  nicht  nur  in  militärischer  Beziehung  sondern  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  gesamte  Volkswohlfahrt.  Unser  gesamtes 
Leben  ist  in  der  lebhaftesten  Umgestaltung  begriffen.  Neue  Be¬ 
rufsverhältnisse,  neue  Arbeitsbedingungen,  neue  Wohnverhältnisse, 

neue  Erziehungsweisen,  neue  Erholungen  sind  an  die  Stelle  der 

•  • 

alten  getreten,  und  Tag  für  Tag  treten  neue  Änderungen  ein  und 
werden  die  Änderungen  größer.  Im  Anschluß  daran  ist  die  Volks- 
hygiene  in  den  Vordergrund  getreten.  Aber  wie  können  wir  zu 
richtigen  Vorbeugungsmitteln  ein  tretender  Verschlechterungen  ge¬ 
langen,  so  lange  unsere  Methoden  zur  Feststellung  des  Übels, 
seiner  Ausbreitung  und  seiner  Ursachen  so  entsetzlich  mangelhafte 
sind.  Schon  vor  Jahren  hat  der  Münchener  Hygieniker,  Ober¬ 
medizinalrat  Professor  Dr.  Grub  er  in  seiner  Schrift  „Schulärzte“, 
München  1905,  die  Notwendigkeit  betont,  den  Gesundheitszustand 
aller  Schüler  beim  ersten  Eintritt  in  die  Schule  festzustellen  und 
bis  zum  endgültigen  Austritt  fortzuführen.  Der  Lehrer  hätte  dann 
hinzuzufügen  den  Beruf  der  Eltern,  ihre  Wohn  weise,  ihre  wirt¬ 
schaftlichen  Verhältnisse,  soweit  sie  ihm  zur  Kenntnis  kommen. 
Bei  der  Gestellung  zur  Leistung  der  Wehrpflicht  brächte  der  Wehr¬ 
pflichtige  dieses  Zeugnis  mit.  Es  würde  dem  Arzt  das  Urteil  über 
den  physischen  Wert  des  Rekruten  erleichtern,  während  der  flüch¬ 
tigen  Besichtigung,  wie  sie  heute  bei  der  Gestellung  der  Wehr¬ 
pflichtigen  stattfindet,  eine  höhere  Bedeutung  nicht  zukommt. 
Außerdem  wäre  bei  dieser  Gelegenheit  festzustellen,  was  der  Wehr¬ 
pflichtige  in  der  Zeit  zwischen  der  Entlassung  aus  der  Schule  und 
seiner  Stellung  zum  Heeresdienst  getrieben  und  wo  er  sich  auf¬ 
gehalten  hat,  und  seine  Körperbeschaffenheit  wäre  aufs  neue  fest¬ 
zustellen.  Das  letztere  dann  wieder  nach  Ableistung  der  Wehr¬ 
pflicht  durch  den  Militärarzt.  Endlich  ließe  sich  der  Soldat  bei 
seinem  Übergang  zur  Landwehr  unter  Feststellung  von  Beruf  und 
Wohnort  einer  Prüfung  unterwerfen.  Erhalte  dann  ein  zentrales 
Amt  diese  Materialien,  so  wären  wir  imstande,  nicht  nur  zuverläs¬ 
sige  Aufschlüsse  über  die  Einwirkung  der  verschiedenen  Berufe, 
des  Wohnorts,  der  Rasse  zu  geben,  sondern  dann  erst  könnten 
auch  wirksame  Mittel  zur  Behebung  von  Mißständen  in  Angriff 
genommen  werden.  Dann  würde  auch  klar  werden,  warum  rein- 
agrarisclie  Gegenden  wie  Niederbayern,  die  Oberpfalz  und  andere 
so  schlechte  Tauglichkeitsziffern  aufweisen,  und  eine  energische 


266  Stimmen  ans  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft. 


Wohlfahrtspflege  auch  auf  dem  Lande  könnte  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  stattfinden. 

In  England  hat  eine  aus  Vertretern  der  verschiedenen 
Ministerien  zusammengesetzte  Kommission  schon  im  Jahre  1904 
die  Einsetzung  eines  solchen  anthropometrischen  Amtes  gefordert, 
Deutsche  Ärzte,  wie  A.  Grotjahn,  haben  das  gleiche  für 
Deutschland  angeregt.  In  der  Tat  wäre  bei  uns,  wo  der  Staat 
den  Menschen  von  cfer  Wiege  bis  zum  Grabe  wiederholt  in  die 
Hand  bekommt,  —  zuerst  vermöge  des  Impfzwanges,  dann  in  der 
Schule,  dann  bei  Leistung  der  Dienstpflicht,  viel  später  wieder  als 
Landwehrmann  —  die  Beschaffung  des  Materials  für  ein  derartiges 
Amt  weit  leichter  sein  als  in  England.  Wird  sich  nicht  endlich 
im  Reichstag  ein  Abgeordneter  finden,  welcher,  sei  es  bei  der  Be¬ 
ratung  des  Etats  des  Reichsamts  des  Inneren,  sei  es  bei  der  des 
Militäretats,  auf  das  völlig  Unzuverlässige  unserer  bisherigen 
Heeresergänzungsstatistik  hinweist  und  zur  Abhilfe  die  Errichtung 
eines  derartigen  Amtes  verlangt?“  ' 


Der  zurzeit  amtierende  preußische  Minister  des  Inneren, 
v.  B  eth  mann- Holl  weg,  der  schon  als  Oberpräsident  anläßlich 
der  Verhandlungen  der  Berlin-Brandenburger  Ärztekammer  sozial¬ 
medizinisches  Verständnis  an  den  Tag  legte,  äußerte  sich  über  die 
Bekämpfung  der  Prostitution  in  der  Sitzung  des  preußischen 
Abgeordnetenhauses  vom  21.  Februar  1907  folgendermaßen:  „Zum 
Schluß  will  ich  noch  auf  die  Prostitutionsfrage  eingehen.  Aller¬ 
dings  nur  kurz.  Nicht  um  deswillen,  weil  dieses  Gebiet  an  sich 
ein  heikles  ist.  Eigentlich  ist  es  ja  heikel  nicht  sowohl  wegen 
des  Gegenstandes,  um  den  es  sich  handelt,  als  wegen  der  persön¬ 
lichen  Heuchelei,  mit  der  wir  vielfach  an  diese  Dinge  hera’ntreten. 
Es  handelt  sich  hier  um  einen  Gegenstand,  welcher  so  tief  in  die 
allerverschiedensten  Zweige  des  Lebens  eingreift  und  so  sehr  be¬ 
einflußt  wird  durch  die  verschiedensten,  nach  allen  Richtungen  hin 
differenzierten  Lebensverhältnisse  der  einzelnen,  daß  man  immer 
nur  ein  unvollständiges  Bild  von  der  Sache  geben  kann.  Ich  will 
deshalb  denjenigen  Punkt  herausgreifen,  der,  wie  mir  scheint,  der 
wichtigste  und  der  praktischste  ist.  Der  Herr  Abgeordnete 
Münster berg  hat  das  Reglementierungswesen,  die  polizeiliche 
Kontrolle  bemängelt.  Aber  er  hat  gleichzeitig  auf  diejenige  Quelle 
hingewiesen,  aus  der  alle  die  von  ihm  gerügten  Mißstande  hervor¬ 
gehen.  Das  ist  unsere  Gesetzgebung.  Ich  kann  in  dieser  Be- 


Stimmen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft.  267 

zieliung  nur  meine  persönliche  Überzeugung  aussprechen,  und  auch 
die  Kritik,  die  ich  an  dieser  Gesetzgebung  ausübe,  bitte  ich  als 
eine  persönliche  aufzufassen.  Der  Herr  Abgeordnete  Münster berg 
hat  meines  Dafürhaltens  sehr  treffend  und  klar  hingestellt,  daß 
das  System  unseres  Reichsstrafgesetzbuches  ein  unlogisches  und 
verworrenes  ist.  Ich  neige  persönlich  der  Ansicht  zu,  daß  wir 
uns  einem  System  werden  nähern  müssen,  wie  es  beispielsweise 
gegenwärtig  in  Dänemark  eingeführt  ist,  und  welches  absieht  von 
der  Reglementierung,  aber  die  gefährlichsten  Auswüchse  der  Prosti¬ 
tution  in  moralischer  und  hygienischer  Beziehung  durch  verschärfte 
Strafbestimmungen  zu  beseitigen  trachtet.  Es  kommt  eben  dabei 
in  Betracht,  daß  gerade  über  den  vorliegenden  Gegenstand  die  An¬ 
sichten  nicht  nur  in  moralischer,  sondern  auch  in  hygienischer  Be¬ 
ziehung  so  außerordentlich  auseinandergehen,  daß  es  sehr  schwierig 
ist,  eine  Übereinstimmung  herbeizuführen.  Trotzdem  bleibt  es  un¬ 
zweifelhaft,  daß  bei  einer  neuen  Formulierung  der  betreffenden 
Paragraphen  des  Strafgesetzbuches  unter  allen  Umständen  rekur¬ 
riert  werden  muß  auf  die  Ansichten  derjenigen  Leute,  die  sich  bei 
uns  seit  Jahrzehnten  in  freier  Weise  speziell  dem  Studium  dieser 
Angelegenheiten  mit  Kopf  und  Herz  hingegeben  haben.  Aber  auch 
wenn  wir  zu  einer  neuen  Gesetzgebung  auf  diesem  Gebiete  ge¬ 
kommen  sein  werden,  so  werden  wir  immer  noch  nicht  oder  noch 
nicht  wieder  im  Paradiese  leben.  Auch  hier  kann  die  Gesetz¬ 
gebung  nur  Schranken  wegräumen,  sie  kann  nur  einen  allgemeinen 
Rahmen  aufstellen,  der  nachher  in  der  freien  Tätigkeit  der  Gesell¬ 
schaft  und  durch  die  richtig  geleiteten  Anschauungen  des  Volkes 
mit  Leben  erfüllt  werden  kann.  Mittelbar  können  wir  unzweifel¬ 
haft  unendlich  viel  tun.  Im  ganzen  werden  alle  Bestrebungen, 
welche  den  Kampf  gegen  die  Prostitution  unterstützen  sollen, 
meines  Dafürhaltens  von  dem  einen  Gedanken  getragen  sein  müssen, 
daß  es  sich  darum  handelt,  die  körperliche  und  sittliche  Selbst¬ 
achtung  bei  beiden  Geschlechtern  zu  heben.  Wie  dies  im  einzelnen 
geschehen  soll,  darüber  kann  ich  mich  hier  nicht  verbreiten.  Aber 
es  sind  sehr  praktische  Dinge,  durch  die  es  geschehen  kann,  prak¬ 
tische  Dinge,  die  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtswesens,  die  auf 
dem  Gebiete  des  Fortbildungsschulwesens,  auch  auf  dem  Gebiete 
der  Beförderung  des  Sportlebens  liegen.  Ich  glaube,  daß  in  dieser 
Beziehung  gar  nicht  genug  geschehen  kann ,  um  unsere  Jugend 
abzuhalten  von  Vergnügungen,  die  nichts  taugen,  und  um  die  über¬ 
schüssige  Kraft,  die  in  der  Jugend  lebt,  auf  ein  Gebiet  zu  lenken, 
wo  sie  in  der  Stählung  von  Körper  und  Geist  zum  Ausdruck  kommt. 


268  Stimmen  aus  den  Ctrenzgebieten  der  Medizin  und  Volkswirtschaft. 

Eine  bedeutungsvolle  Aufgabe  unserer  Kommunen  ist  es,  nach 
dieser  Richtung  hin  die  bereits  vorhandenen  Bestrebungen  im 
Volke  auf  das  nachdrücklichste  zu  unterstützen  durch  die  Schaffung 
von  Spielplätzen,  von  Turnplätzen,  eventuell  auch  durch  die  Be¬ 
günstigung  von  Sportvereinen,  durch  die  Anregung  zu  Wettkämpfen, 
wie  wir  sie  aus  England  und  aus  Amerika  kennen.  Wenn  in 
allen  diesen  Richtungen  mit  wirklicher  Energie  gearbeitet  wird, 
dann  wird  auch  mittelbar  auf  demjenigen  Gebiet,  von  dem  ich 
ausgegangen  bin,  geholfen  werden  können.  Wenn  es  gelingt,  die 
freie  Tätigkeit  der  Gesellschaft  in  den  Dienst  dieser  Sache  zu 
stellen,  die  Anschauung  des  Volkes  in  dem  von  mir  bezeichneten 
Sinne  mehr  und  mehr  zu  läutern,  und  wenn  dann  durch  eine 
anderweite  Gesetzgebung  diejenigen  üblen  Einrichtungen  beseitigt 
werden  können,  unter  denen  wir  gegenwärtig  kranken,  dann  wird 
es,  wie  ich  hoffe  —  und  mein  Streben  wird  jedenfalls  innerhalb 
meines  Ressorts  dahin  gerichtet  sein  —  mit  der  Zeit,  vielleicht 
mit  immer  wiederkehrenden  Rückschlägen,  gelingen,  die  bösesten, 
Körper  und  Geist  des  Volkes  vergiftenden  Auswüchse  einer  Natur¬ 
macht  zu  beschränken,  der  wir  am  letzten  Ende  doch  alle  Leben 
und  Kraft,  Lust  und  Leid,  Arbeits-  und  Schaffensfreudigkeit  ver¬ 
danken.“ 


Der  Vorstand  der  badischen  Fabrikinspektion,  K.  Bi tt mann, 
klagt  in  seinem  Buche  „Hausindustrie  und  Heimarbeit  im  Gro߬ 
herzogtum  Baden  zu  Anfang  des  XX.  Jahrhunderts“  über  das 
mangelnde  sozialpolitische  Verständnis  der  Ärzte 
folgendermaßen:  „Rundfragen  bei  einer  größeren  Anzahl  von 
Ärzten,  bei  denen  nach  Mitteilung  der  Bezirksärzte  Kenntnis  der 
hausindustriellen  Verhältnisse  vorausgesetzt  werden  konnte,  brachten 
mäßige  Ausbeute.  Die  meisten  schwiegen,  andere  antworteten  knapp, 
eine  Minderzahl  erteilte  eingehendere  Auskünfte,  die  zum  Teil 
Verwendung  fanden.  Einen  besseren  Erfolg  hatte  die  Rundfrage 
bei  Geistlichen  der  Hausindustriebezirke.“ 


Medizinalstatistische  Daten. 


1.  Die  Häufigkeit  der  Phosphornekrose  in  den  böhmischen 

Zündholzfahr  iken. 


Nach  L.  Teleky  (Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Verbreitung  der  Phosphor¬ 
nekrose  Wien.  klin.  Woch.  1906  S.  1063)  sind  die  amtlichen  Angaben  über  das 
Vorkommen  der  Phosphornekrose  ganz  unvollständig.  Er  hat  daher  in  einem 
kleinen  Gebiet,  dem  Zentrum  der  böhmischen  Zündholzindustrie  mit  Hilfe  der 
Arbeiterschaft  alle  Fälle  zu  ermitteln  gesucht;  die  in  Frage  kommenden  acht 
Fabriken  liegen  alle  am  Nordabhang  des  Böhmerwalds,  in  den  Bezirkshaupt¬ 
mannschaften  Prachatitz  und  Schüttenhofen  und  gehören  in  den  Gewerbeaufsichts¬ 
bezirk  Budweis;  von  den  Fabriken  waren  zur  Zeit  der  Untersuchung  nur  4  in 
Betrieb,  2  kommen  nicht  in  Betracht,  weil  in  ihnen  seit  1897  bzw.  1899  nicht 
mehr  gearbeitet  wurde,  in  2  anderen  datierte  der  Betriebsstillstand  aus  den  Jahren 
1904  bzw.  1906.  In  den  Jahren  1896  bis  Mitte  1906  wurden  Erkrankungen  an 
Phosphornekrose  von  Teleky  konstatiert 


Fabrik 

Winterberg 
Kaltenbach 
Ferchenhaid 
Bergreichenstein 
Schüttenhofen  (obere  Fabrik)  ca 
Schüttenhofen  (untere  Fabrik) 


Arbeiterzahl 
ca.  100 
ca.  40 
40—50 
70—80 
400 

700-800 


zusammen  ca.  1400 


männlich 

2 

4 
2 

5 
4 
8 

25 


weiblich 

4 

10 

4 

3 


21 


Neun  von  den  Erkrankten  waren  zur  Zeit  der  Aufnahme  schon  gestorben, 
31  hat  Teleky  selbst  untersucht.  Im  ganzen  Gewerbeaufsichtsbezirk  Budweis,  in 
welchem  noch  6  andere  Betriebe  liegen,  konnten  vom  Gewerbeinspektor  1896 — 1905 
nur  19  Fälle  festgestellt  werden. 


2.  Befreiung  der  Schüler  vom  Turnen  in  Budapest. 

In  Budapest  werden  seit  1892  statistische  Notizen  über  die  Schüler  der 
kommunalen  Elementarschulen  (Volksschulen)  gemacht,  die  vom  Turnen  befreit 
werden.  Bis  zum  Jahre  1906  sind  alle  Schüler  der  elementaren  Knabenschulen 
von  der  dritten  Klasse  aufwärts  turnpflichtig,  von  jetzt  an  alle  Klassen  der 


270 


Medizinalstatistische  Daten. 


Elementarschulen,  auch  die  Mädchenklassen  (nach  privater  Mitteilung-  von  Prof. 
G.  T  h  i  r  r  i  n  g,  dem  Direktor  des  Kommunalstatistischen  Bureaus  in  Budapest).  Nach 
den  statistischen  Jahrbüchern  der  Haupt-  und  ^Residenzstadt  Budapest  (letzte 
Mitteilung  Jahrgang  1904,  Budapest  1906  S.  279)  war 


1892/93—1895/96  1896/97—1899/1900  1900/01—1903/04 
die  mittlere  Zahl  der  turn- 


pflichtigen  Kinder 

11  246 

15  245 

•  18  692 

auf  1000  Knaben  w$ren  befreit 

vom  Geräteturnen 

16,7 

9,2 

6,6 

vom  Turnen  überhaupt 

33,3 

30,9 

23,0 

zusammen  50,0 

40,1 

29,6 

Wie  man  sieht,  wird  der  Prozentsatz  der  vom  Turnen 

befreiten  Knaben  von 

Jahr  zu  Jahr  kleiner,  was  sicher  nicht  bloß 

auf  einer  Besserung  der  körperlichen 

Beschaffenheit  des  Schülermaterials  beruht, 

sondern  auch 

auf  der  in  Schule  und 

Haus  mehr  und  mehr  eindringenden  Erkenntnis  von  dem 

Wert  des  Turnens  für 

die  physische  Kräftigung 

der  Kinder. 

Auch  über  die  Art 

der  Gebrechen  und  Krankheiten, 

die  Dispensation  vom 

Turnen  bedingen,  werden 

Angaben  gemacht.  Unter  1000  turnpflichtigen  Knaben 

wurden  vom  Turnen  befreit  wegen  folgender  Leiden 

1892/93-1895/96 

1896/97—1899/1900  1900/01—1903/04 

Knochenkrankheiten 

6,7 

5,3 

4,3 

Bachitis,  Skrofulöse 

3,3 

3,3 

2,4 

Verkrümmung  der  Wirbelsäule  2,6 

2,9 

2,0 

Gelenksleiden 

4,4 

4,4 

2.9 

Blutarmut 

5,7 

3,4 

2,6 

Organische  Herzleiden 

3,2 

3,1 

2,4 

Allgemeine  körperliche  Schwäche  5,7 

2,8 

1.2 

Atmungsstörungen 

1,0 

1,2 

0,7 

Brüche 

5,4 

7,0 

6,2 

Ohrenleiden 

1,4 

0,9 

0,6 

Augenleiden 

4,0 

0.9 

0.9 

Nervenleiden 

2.0 

1,9 

1,4 

Andere  Krankheiten 

4,6 

3,0 

2,0 

zusammen  50,0 

40,1 

29,6 

Abgesehen  von  den  Brüchen  zeigt  sich  bei  allen  Leiden  eine  Abnahme  der 
vom  Turnen  Befreiten,  besonders  auffallend  ist  sie  bei  der  allgemeinen  körperlichen 
Schwäche  und  bei  den  Augenleiden  (sicherlich  zum  größten  Teil  Kurzsichtigkeit). 

3.  Tuberkulose  und  Wohlhabenheit. 

Seit  einer  großen  Keihe  von  Jahren  werden  in  Hamburg  Erhebungen  über 
den  Zusammenhang  zwischen  Tuberkulose  und  Wohlhabenheit  angestellt.  Diese 
bewegen  sich  in  doppelter  Bichtung;  einerseits  wird  für  die  einzelnen  Stadtteile 
das  Durchschnittseinkommen  und  die  Tuberkulosesterblichkeit  ermittelt,  anderer¬ 
seits  werden  die  an  Tuberkulose  Gestorbenen  nach  ihrem  Einkommensteuerver¬ 
hältnis  zu  den  Steuerzahlern  überhaupt  in  Beziehung  gesetzt.  In  der  folgenden 


Medizinalstatistische  Daten. 


271 


Tabelle  ist  für  die  einzelnen  städtischen  Bezirke  das  jährliche  Einkommen  pro 


Kopf  der  Bevölkerung  im  Jahre  1903  und  die  Zahl 

der  Sterbefälle  an  Lungen- 

tuberkulöse  auf 

10000  Einwohner 

1901 — 1905  nach 

dem  Bericht  des 

Med.-Rats 

über  die  medizinische  Statistik  des  hamburgischen 

Staates  für  das 

Jahr  1905 

(Hamburg  1906 

S.  3  und 

S.  48)  mit 

geteilt. 

Phthisis- 

Phthisis- 

Einkommen  . 

.  Sterbe¬ 

Einkommen 

Sterbe- 

fälle 

fälle 

Harvestehude 

3179 

6,3 

Eimsbüttel 

573 

15,6 

Rotherbaum 

2345 

8,7 

Altstadt-Nord 

562 

23,2 

Hohenfelde 

1368 

10,7 

Eppendorf 

518 

12,9 

Winterhude 

1003 

10,1 

St.  Pauli-Nord 

506 

16,5 

Uhlenhorst 

945 

15,9 

Horn 

429 

14,8 

St.  Georg-Nord 

808 

15,9 

St.  Pauli-Süd 

428 

21,2 

Eilbeck 

752 

12,2 

St.  Georg-Siid 

425 

16,4 

Altstadt-Süd 

726 

17,3 

Barmbeck 

378 

18,2 

Hamm 

713 

12,2 

Neustadt-Süd 

375 

19,8 

Borgfelde 

624 

16,2 

Veddel 

374 

12,9 

Neustadt-Nord 

616 

21,4 

Bilwärder  Ausschlag  323 

14,7 

Die  günstige  Stellung  der  reichsten  Bezirke  bezüglich  der  Tuberkulosesterb¬ 
lichkeit  geht  aus  dieser  Tabelle  deutlich  hervor,  schon  vom  Bezirk  Uhlenhorst  an 
ist  aber  ein  Zunehmen  der  Tuberkulosesterblichkeit  mit  der  Abnahme  des  Durch¬ 
schnittseinkommens  nicht  mehr  deutlich  zu  erkennen ;  die  Ursache  liegt  jedenfalls 
darin,  daß  in  diesem  Bezirken  Reiche  und  Arme  gemischt  wohnen.  In  der  ganzen 
Stadt  Hamburg  betrug  die  Sterblichkeit  an  Lungenschwindsucht  auf  10000  Ein¬ 
wohner  16,8. 

Sehr  deutlich  zeigt  sich  die  große  Höhe  der  Tuberkulosesterblichkeit  bei  den 
weniger  Bemittelten  in  der  folgenden  Tabelle  (nach  S.  50  des  genannten  Berichts); 
bei  den  Sterbefällen  sind  die  der  Angehörigen  eingeschlossen. 


Einkommen 

Steuerzahler  1903 

900—  1  200  M. 

71526 

1200—  2  000 

48  855 

2  000—  3  500 

5? 

21  397 

3  500—  5  000 

55 

8  342 

5  000—10000 

5? 

7  764 

10  000—25  000 

?? 

4  210 

25  000—50  OOO 

5? 

1411 

über  50  000 

n 

938 

Auf  10000  Lebende  Sterbefälle  an 
Lungenschwindsucht  1901 — 1905 

48.2 
44,7 
27,4 

25.2 

11.2 

13,9 

9,4 

4,2 


Die  Unregelmäßigkeit  bei  den  reichen  Gruppen  hängt  damit  zusammen,  daß 
es  sich  um  eine  verhältnismäßig  kleine  Zahl  von  Sterbefällen  handelt. 


4.  Die  Pellagra  im  österreichischen  Küstenlande. 

Nach  dem  „Sanitätsberichte  des  österreichischen  Küstenlandes  für  die  Jahre 
1901 — 1903“  von  A.  Bohata  und  J.  Tamaro  (Triest  1905)  zeigt  die  Pellagra  im 
Bezirk  Gradiska,  in  welchem  sie  endemisch  ist,  seit  mehreren  Jahren  eine  be- 


272 


Medizinalstatistische  Daten. 


trächtliche  Zunahme;  1901  betrug  die  Zahl  der  in  diesem  Bezirke  nachgewiesenen 
Pellagrösen  860  (=  15.8  auf  1000  Einwohner  der  befallenen  Gemeinden),  1903  da¬ 
gegen  1098  (=18,8).  Das  weibliche  Geschlecht  und  die  Kinder  sind  am  meisten 
befallen:  es  waren  erkrankt 


Männer 

Weiber 

Kinder 

1901 

239 

397 

224 

1902 

234 

420 

324 

1903 

236 

447 

415 

Die  kleine  Zahl  der  männlichen  Erkrankungen  beruht  nach  dem  Bericht 
auf  dem  Umstande,  daß  die  männliche  Bevölkerung  den  deletären  Einflüssen  ab¬ 
soluter  Maisnahrung  weniger  ausgesetzt  ist,  bei  den  Frauen  dagegen  untergraben 
außer  der  ungenügenden  Ernährung  mit  verdorbenem  Mais  der  dauernde  Aufent¬ 
halt  in  elenden  Hütten  und  die  Schwangerschaften  die  Widerstandskraft.  Der 
eigentliche  Herd  der  Pellagra  ist  der  Gerichtsbezirk  Cervignano,  wo  1903  28,8 
unter  1000  Einwohnern  befallen  waren,  hier  tritt  zu  den  genannten  Schädlichkeiten 
die  Malaria,  die  in  diesem  Gebiet  endemisch  ist.  Von  den  1900  bekannten  Pella¬ 
grösen  sind  1901 — 1903  119  genesen  und  147  gestorben,  in  Irrenanstalten  wurden 
in  den  drei  Jahren  16  Erkrankte  abgegeben.  Die  getroffenen  bzw.  vorgeschlagenen 
Maßnahmen  bestehen  in  Verabreichung  von  reichlicher  und  geeigneter  Nahrung  in 
sanitären  Küchen  (Locande  sanitarie)  und  in  der  Beseitigung  von  ungesundem 
Mais  aus  der  Volksernährung. 

5.  Häufigkeit  einiger  epidemischer  Krankheiten  in  englischen 

Großstädten. 

Dem  13.  Medizinalbericht  von  London  (Report  of  the  Public  Health  committee 
of  the  London  county  council  fo  the  year  1904,  London  1906)  sind  die  folgenden 
Ziffern  der  Todesfälle  an  einigen  epidemischen  Krankheiten  in  den  englischen 
Städten  mit  mehr  als  200000  Einwohnern  während  des  Jahres  1904  entnommen: 


Städte  mit  über 
200000  Einw. 

Sterblichkeit 

Kinder¬ 

sterblichkeit 

Auf  10  000  Einwohner  Sterbefälle  an 

Pocken 

Masern 

Scharlach 

Diphtherie 

Keuchhusten 

Diarrhoe 

Typhus,  un¬ 
best.  Fieber 

London 

16,6 

14,6 

0,1 

4.9 

0.8 

1,6 

3,3 

10,4 

0,7 

Liverpool 

22,6 

19,6 

0,0 

9,4 

2.0 

2,7 

5.8 

25,2 

1,5 

Manchester 

21,3 

18,7 

0,2 

7,6 

1,5 

1,7 

5,0 

13,7 

1,2 

Birmingham 

19.9 

19,7 

3.8 

1,2 

2.4 

8,5 

17,6 

0.7 

Leeds 

18,0 

17,5 

0,0 

7,6 

1,3 

1,0 

4,7 

9.9 

i;i 

Sheffield 

16,8 

15,8 

0.0 

0.8 

2,0 

1,1 

3,4 

13.5 

1$ 

Bristol 

15,6 

13.4 

0.0 

3,0 

1,1 

3;o 

3,4 

5.1 

0.8 

West  Ham 

16,5 

16,2 

0,0 

6,0 

1,4 

1,5 

3,5 

20.8 

1,1 

Bradford 

17,6 

16.6 

0,1 

5,2 

1,5 

5,7 

1,7 

8,3 

1,7 

Hüll 

18,6 

17,8 

0.2 

7,1 

0,5 

2,5 

2.6 

20.8 

1,5 

Nottingham 

17,7 

17,6 

0.5 

1.8 

1.1 

2,8 

3,6 

13,7 

23 

Salford 

21,2 

19,2 

0.1 

11.1 

2,5 

4,9 

6.2 

16,6 

2,3 

Newcastle 

19.4 

15,6 

0,8 

2,5 

1,1 

2,2 

ö;s 

5,1 

0,4 

Leicester 

14,5 

16,7 

0,2 

1.4 

0,2 

0,3 

3,9 

13,1 

0.6 

F.  P  r  i  n  z  i  n  g. 


Medizinalstatistische  Daten. 


273 


6.  Zur  Statistik  der  Wehrfähigkeit. 

Die  dem  Reichstage  vom  Reichskanzler  am  9.  November  1906  vorgelegten 
Übersicht  über  die  Ergebnisse  des  Heeresergänzungsgeschäfts  sowie  der  Nach¬ 
weisung  über  die  Herkunft  und  Beschäftigung  der  Militärpflichtigen  oietet  als 
Gesamtergebnis  folgende  Zahlen: 


Endgültig 

Abge¬ 

fertigte 

Taugliche 

Von  100 
Taug¬ 
lichen 
kamen  auf 
jede 
Gruppe 

Von  100 
endgültig 
Ab  ge¬ 
fertigten 
waren 
tauglich 

Auf 

dem 

Lande 

In  der  Land-  u.  Forstwirtschaft 
usw.  (Gruppe  I  u.  II  der  Klassi¬ 
fikation  der  Berufsarten)  be¬ 
schäftigt  . 

130  346 

78  476 

27,68 

60,21 

ge¬ 

boren 

Anderweitig  beschäftigt  .  .  . 

171897 

100603 

35,50 

58,53 

Zusammen : 

302  243 

179  079 

63,18 

59.25 

In 

der 

Stadt 

In  der  Land-  u.  Forstwirtschaft 
usw.  (Gruppe  I  u.  II  der  Klassi¬ 
fikation  der  Berufsarten)  be¬ 
schäftigt  ....... 

16  305 

9  420 

3,38 

57,77 

ge¬ 

boren 

Anderweitig  beschäftigt  .  .  . 

184  869 

94  920 

33,49 

51,34 

Zusammen : 

201 174 

104  340 

36,87 

51,86 

S.S.: 

503  417 

283  419 

100,00 

56.30 

Von  den  Militärpflichtigen,  die  im  Jahre  1905  eine  endgültige  Entscheidung 
erhalten  haben,  sind  56,30  Proz.  tauglich  befunden  worden.  Nahe  zwei  Drittel 
der  tauglich  Befundenen  sind  auf  dem  Lande,  etwas  über  ein  Drittel  ist  in  der 
Stadt  geboren  worden.  Die  relative  Tauglichkeit  der  auf  dem  Lande  Geborenen 
59,25  übersteigt  nicht  so  erheblich  diejenige  der  in  der  Stadt  Geborenen  51.86. 
Im  Bezirk  des  ersten  Armeekorps  Königsberg  i.  Pr.  sind  von  14141  auf  dem 
Lande  geborenen  endgültig  Abgefertigten  9889,  d.  s.  69,63  Proz.,  tauglich,  von 
3669  in  der  Stadt  geborenen  2217,  d.  s.  60,42  Proz.  Anders  verhält  es  sich  im 
Bezirk  des  dritten  Armeekorps,  der  die  Provinz  Brandenburg  und  Berlin  umfaßt. 
Hier  sind  von  13  749  auf  dem  Lande  geborenen  endgültig  Abgefertigten  7751, 
d.  s.  56,37  Proz.,  von  21 671  in  der  Stadt  geborenen  aber  nur  8928,  d.  s. 
41,19  Proz.,  tauglich  erklärt  worden.  Die  beiden  Bezirke  vertreten  am  reinsten 
ländliche  und  städtische  Verhältnisse,  sie  zeigen  die  für  die  Rekrutierung  vor¬ 
läufig  wenigstens  präponderante  Bedeutung  des  Landes. 

Über  die  Veränderungen  der  Körperlänge  im  Laufe  der  menschlichen  Ent¬ 
wicklung  besitzen  wir  wenig  verläßliches  Material;  je  weiter  wir  zurückgehen, 
desto  spärlicher  ist  es.  Es  ist  deshalb  schwierig,  die  für  das  Entartungsproblem 
wichtige  Frage  zu  entscheiden,  ob  unsere  Körperhöhe  etwa  unter  dem  Einfluß 
veränderter  sozialer  Bedingungen  geringer  geworden  ist  als  die  unserer  Vorfahren. 
Leider  fehlt  es  bis  heute  an  anthropometrischen  Aufnahmen,  die  sich  auf  die  Ge¬ 
samtheit  eines  Volkes  erstrecken;  dank  der  Einführung  der  allgemeinen  Dienst- 
Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  16 


274 


Medizinalstatistische  Daten. 


pflicht  in  den  meisten  Ländern  hat  sich  unsere  Kenntnis  der  somatischen  Ver¬ 
hältnisse,  wenigstens  der  männlichen  Bevölkerung,  erweitert.  Die  Rekrutierungs¬ 
statistik,  auf  die  allein  wir  unser  Urteil  über  das  Verhalten  der  Körperlänge 
stützen  können,  datiert  erst  vom  Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  Hießt  aber  der 
Öffentlichkeit  nicht  so  reichlich  zu,  daß  man  nicht  jede  neue  Publikation  dankbar 
begrüßen  müßte.  In  der  Zeitschrift  für  Schweizerische  Statistik,  XLII.  Jahrg. 
(1906)^  p.  290  findet  sich  eine  hier  abgedruckte  Tabelle,  die  die  zu  geringe 
Körperlänge  als  Dienstbefreiungsgrund  in  einem  20jährigen  Zeitraum  dar¬ 
stellt.  Danach  hat  „Untermaß“  als  Dienstbefreiungsgrund  sich  1  ortschreitend 
vermindert,  die  Körperlänge  somit  zugenommen.  Das  Resultat  deckt  sich  mit 
dem,  zu  dem  Kruse1)  bei  seinen  Betrachtungen  der  Rekrutierungsergebnisse 
mehrerer  europäischer  Staaten  gelangt.  Auch  Retz  ins  und  Fürst2)  konsta¬ 
tieren  eine  Zunahme  der  Körpergröße  der  Skandinavier  in  jüngster  Zeit,  ebenso- 
der  norwegische  Anthropologe  C.  Arbo3)  für  die  Jahre  1841 — 1870. 


Die  zu  geringe  K ö r p e r  1  ä n g e  als  Dienstbefreiungsgrund  in  den 

J  a  h  r  e  n  1 886 — 1905. 

(Aus  den  Ergebnissen  der  sanitarischen  Rekrutenprüfungen.) 

Rekruten  des  jüngsten  Jahrganges,  d.  h.  solche,  die  im  nächstfolgenden  Jahre 

das  20.  Altersjahr  zurücklegten. 


Jahr 

Gesamtzahl 

der 

untersuchten 

Rekruten 

davon  wegen  zu  geringer  Körperlänge  (unter  156  cm) 

zurückgestellt 

bleibend  un- 
taugl.  erklärt 

Gesamtzahl 

Ol 

1 0 

auf  1  Jahr 

auf  2  Jahre 

1905 

26  654 

396 

326 

227 

949 

1904 

26  310 

375 

348 

238 

961 

1903 

26  564 

436 

320 

154 

910 

3,7 

1902 

27  232 

475 

417 

162 

1054 

1901 

26  754 

449 

418 

146 

1013 

J 

1900 

26  282 

439 

356 

178 

973 

1899 

25  809 

486 

426 

197 

1109 

1898 

26  457 

451 

421 

141 

1013 

4.1 

1897 

26  362 

474 

517 

159 

1150 

1896 

27  256 

567 

514 

151 

1232 

J 

1895 

26  698 

563 

639 

254 

1456 

1894 

26  326 

548 

613 

164 

1325 

1893 

25  241 

606 

612 

186 

1404 

1892 

24  521 

559 

674 

271 

1504 

1891 

24  511 

678 

553 

266 

1497 

J 

1890 

23  265 

594 

622 

332 

1548 

1889 

23  009 

703 

657 

253 

1613 

1888 

22  224 

553 

594 

327 

1474 

6.5 

1887 

21  966 

536 

608 

231 

1375 

1886 

22  963 

493 

518 

314 

1325 

J 

1)  Physische  Degeneration  und  Wehrfähigkeit  bei  europäischen  Völkern.. 
Zentralbl.  f.  allg.  Gesundheitspflege,  XVII.  Jahrg.  Bonn  1898. 

2)  Anthropologia  Suecica.  Stockholm  1902. 

3)  Sessions-Undersögelsernes  og  Recruterings-Statistikens  Betydning  for 
Videnskaben  og  Staten.  Christiania  1875. 


Medizinalstatistische  Daten. 


275 


Im  selben  Jahrgang-  der  Zeitschrift  für  Schweizerische  Statistik  (p.  108) 
werden  fiir  den  gleichen  Zeitraum  wie  oben  die  Zahlen  derjenigen  Eekrnten  ver¬ 
öffentlicht,  die  wegen  körperlicher  Schwächlichkeit  nicht  zum  Dienst  gelangten. 
Auch  hier  zeigt  sich  ein  Rückgang. 


Die. allgem  eine  körperliche  Schwächlichkeit  als  Dienst- 
bef r eiungsgrund  in  den  Jahren  1886—1905. 

(Aus  den  Ergebnissen  der  sanitarischen  Rekrutenprüfungen.) 

Rekruten  des  jüngsten  Jahrganges,  d.  h.  solche,  die  im  nächstfolgenden  Jahre 

das  20.  Altersjahr  zurücklegten. 


Jahr 

Cles  amtzahl 
der 

untersuchten 

Rekruten 

davon  wegen  Schwächlichkeit.  Anämie,  Konvaleszenz 
oder  zu  geringem  Brustumfang 

zurück 

gestellt 

bleibend  un- 
taugl.  erklärt 

Gesamtzahl 

0/ 

Io 

auf  1  Jahr 

auf  2  Jahre 

1905 

26  654 

1431 

673 

662 

2766 

) 

1904 

26  310 

1521 

586 

487 

2594 

1903 

26  564 

1841 

724 

528 

3093 

11,1 

1902 

27  232 

1817 

738 

454 

3009 

1901 

26  754 

1925 

919 

551 

3395 

) 

1900 

26  282 

2121 

760 

519 

3400 

1899 

25  809 

1866 

787 

471 

3124 

1898 

26  457 

2042 

867 

426 

3335 

\  12,8 

1897 

26  362 

1989 

940 

497 

3426 

1896 

27  256 

2100 

1091 

495 

3686 

J 

1895 

26  698 

2406 

1152 

357 

3915 

) 

1894 

26  326 

2063 

1068 

502 

3633 

1893 

25  241 

2312 

882 

391 

3585 

13,8 

1892 

24  521 

2155 

722 

349 

3226 

1891 

24  511 

2011 

806 

450 

3267 

) 

1890 

23  265 

1784 

709 

402 

2895 

1889 

23  009 

1873 

695 

439 

3007 

1888 

22  224 

1603 

646 

423 

2672 

13,0 

1887 

21  966 

1649 

704 

402 

2755 

1886 

22  963 

2044 

883 

489 

3416 

) 

Mehrfachen  Anregungen  der  Turnvereine  und  Offiziergesellschaften  folgend 
beschloß  das  schweizerische  Militärdepartement,  im  Jahre  1905  im  engen  Anschluß 
an  das  Rekrutierungsgeschäft  neben  der  pädagogischen  Prüfung  der  Rekruten 
auch  eine  solche  der  physischen  Leistungsfähigkeit  vornehmen  zu  lassen.  Das 
Material  wurde  dem  eidgenössischen  statistischen  Bureau  zur  Bearbeitung  über¬ 
wiesen;  die  Ergebnisse  findet  man  in  der  Zeitschrift  für  Schweizerische  Statistik, 
XL II.  Bd.  (1906),  p.  285.  Der  Prüfung  unterzogen  wurden  alle  Rekruten  nach 
geschehener  ärztlicher  Untersuchung,  soweit  sie  nicht  ärztlicherseits  davon  dis¬ 
pensiert  waren.  Die  Prüfung  erstreckte  sich  auf  einen  Weitsprung,  das  Heben 
eines  Hantels  und  einen  Schneilauf.  Als  Erhebungsformular  diente  eine  Zähl¬ 
karte,  die  neben  den  üblichen  Personalien  Fragen  nach  dem  Schulbesuch,  dem  in 
Schule,  Verein  oder  militärischem  Vorunterricht  genossenen  Turnunterricht  oder 

18* 


276 


Medizinalstatistische  Daten. 


den  dort  getriebenen  anderen  körperlichen  Übungen  enthielt;  anfgenommen 
wurden  ferner  die  Ergebnisse  der  zur  Prüfung  stehenden  turnerischen  Leistung 
und  der  sanitarischen  Untersuchung.  Die  Leistungen  wurden  folgendermaßen 
klassifiziert : 


Note 

W  e  i  t  s  p  r  u  n  g 

Heben 

17  kg  Gewicht  rechts 
und  links  zusammen 

Schneilauf 

80  m  Distanz 

Gut  (1) 

3,5  m  und  mehr 

8  mal 

In  höchst.  11.9  Sek. 

Mittelmäßig  (2) 

2,5 — 3,4  m 

5—7  mal 

In  12,0—13,9  Sek. 

■  Schwach  (3) 

Bis  2,4  m 

Bis  4  mal 

In  14  Sek.  u.  mehr 

Nach  ihren  Leistungen  verteilte  sich  die  Gesamtzahl  der  Geprüften: 


Zahl  der  Geprüften  mit 

Weitsprung 

Heben 

Schnellauf 

Note  1  (gut) . 

3  545 

14  879 

2  295 

„  2  (mittelmäßig) . 

15  792 

3  904 

12  262 

„  3  (schwach) . 

6  940 

7  494 

11720 

Zusammen : 

26  277 

26  277 

26  277 

Die  Resultate  der  Prüfung  sind  nicht  hervorragend.  Ordnet  man  die  Ge¬ 
prüften  nach  ihrer  Vorbildung, 


Vorbildung 

Zahl  der  Geprüften 

Von  je  100  Geprüften  der  betr. 
Kategorie  hatten  die  Note 

Durchschnittswerte 

1 

2 

3 

2 

3 

1 

2 

3 

Weitsprung 

Heben 

Schnellauf 

Total 

im 

Weit 

sprun 

er 

ö 

im 

Heben 

im 

Schnellauf 

Vereinsturnen  .  . 

2  913 

39 

56 

5 

83 

9 

8 

22 

61 

17 

1,66 

1,26 

1,94 

4,86 

Sport . 

796 

31 

62 

7 

68 

16 

16 

29 

54 

17 

1,77 

1.32 

1.88 

4,97 

Militärischer  Vor- 

unterricht  .  .  . 

4  211 

23 

65 

12 

65 

14 

21 

13 

55 

32 

1,90 

1,55 

2,19 

5,64 

Bloßes  Schulturnen  . 

12  029 

11 

63 

26 

55 

15 

30 

7 

46 

47 

2,16 

1,75 

240 

6,31 

Keine . 

7  406 

4 

54 

42 

47 

16 

37 

4 

39 

57 

2,37 

1,90 

2,54 

6,81 

so  zeigt  sich,  daß  die  Vereinsturner  die  bei  weitem  besten  Prüfungsergebnisse 
aufweisen,  nur  im  Schneilauf  werden  ihre  Leistungen  von  den  Sporttreibenden 
übertroffen. 


E.  Kriege!. 


Bücheranzeigen. 


277 


Bücheranzeigen. 

Prinzing,  F.,  Handbuch  der  medizinischen  Statistik.  Gustav  Fischer,  Jena 
1908,  559  S.  (15  Mk.). 

In  dem  vorliegenden  Werke  beschenkt  uns  der  Verfasser  mit  einem  Hand¬ 
huche  der  medizinischen  Statistik,  das  das  längst  veraltete  Österlensche  abzu¬ 
lösen,  das  ausschließlich  vom  mathematisch-statistischen  Standpunkte  ausgehende 
W  e  s  t  e  r  g  a a r d sehe  zu  ergänzen  berufen  ist.  Prinzing  definiert  die  medizini¬ 
sche  Statistik  als  „die  exakte,  zahlenmäßige  Untersuchung  der  pathologischen 
Erscheinungen  der  menschlichen  Gesellschaft“,  wofür  wohl  besser  „der  Menschen“ 
zu  setzen  ist.  Jedenfalls  muß  man  ihm  darin  beistimmen,  daß  er  die  medizini¬ 
sche  Statistik  nicht  nur  auf  die  zahlenmäßige  Beschreibung  der  pathologischen 
Erscheinungen  sondern  auch  auf  die  Ursachen  der  verschiedenen  Häufigkeit  ihres 
Eintritts  erstreckt  wissen  will.  Der  Verfasser  verwirft  die  Österlensche  Ein¬ 
teilung  der  medizinischen  Statistik  in  eine  allgemeine  und  eine  spezielle  und 
wählt  dafür  die  Einteilung  in  1.  die  Statistik  der  Geburten,  2.  die  der  Krank¬ 
heiten,  Unfälle  und  Gebrechen  und  3.  die  der  Sterbefälle.  Daß  der  erste  und 
letzte  Teil  uns  ein  zuverlässiges  Bild  alles  dessen  liefert,  was  die  Medizinal¬ 
statistik  zurzeit  über  Eintritt  und  Austritt  der  Menschen  aus  dem  unendlichen 
Strome  der  Gesellschaft  bietet,  war  bei  der  meisterhaften  Beherrschung  des  Stoffes, 
die  Prinzing  eigen  ist,  wohl  selbstverständlich.  Aber  daß  auch  der  zweite 
Teil,  der  sich  auf  die  zurzeit  noch  so  unvollständigen  Erhebungen  über  Mor- 
bilität  aufbaut,  ein  so  klares  Bild  über  die  Erkrankungsmöglichkeit  nach  Alter, 
Geschlecht,  Beruf  usw.  liefert,  war  doch  eine  Überraschung,  die  wir  nicht  nur 
dem  Wissen  sondern  besonders  auch  dem  wissenschaftlichen  Takte  des  Verfassers 
verdanken.  Das  Studium  gerade  dieses  Teiles  des  vorliegenden  Buches  ist  für 
jeden  Arzt  unerläßlich,  der  sich  für  die  Soziale  Medizin  und  die  Soziale  Hygiene 
zu  interessieren  beginnt.  A.  Grotjahn. 

ISclnvanck,  A.,  Die  Reform  des  Heilverfahrens.  Köln  1906. 

Wenn  ein  Altmeister  des  Versicherungswesens  nach  mehr  als  20jähriger 
Tätigkeit  auf  diesen  Gebieten  zur  Reform  unserer  sozialen  Gesetzgebung  das  Wort 
nimmt,  so  haben  die  Ärzte  gewiß  allen  Grund,  dieser  Arbeit  eine  eingehende 
Prüfung  zu  teil  werden  zu  lassen.  Der  Verfasser  geht  ebenso  wie  es  vor  kurzem 
der  Referent  (Soziale  Medizin  und  Hygiene  1907)  getan  hat,  von  dem  verbesserungs¬ 
bedürftigsten  Punkte,  dem  Heilverfahren,  aus.  „Das  durch  die  meisten  Orts¬ 
krankenkassen,  viele  Betriebskrankenkassen  und  die  Gemeindeversicherung  ge¬ 
leitete  Heilverfahren  bei  Verletzungen  ist  in  den  erzielten  Heilerfolgen  im  Bereich 
der  Rheinprovinz  und  Westfalen  als  derartig  mangelhaft  und  folglich  für  das 
Wohl  der  der  Versicherungspflicht  unterliegenden  Personen  schädlich  erkannt,  daß 
dieser  Zustand  dringend  Abhilfe  erfordert.“  Diesen  Satz  erläutert  der  Verfasser 
an  belehrenden  Beispielen  eigener  Erfahrung  und  Zitaten  erfahrener  Versicherungs¬ 
ärzte  und  zeigt,  welche  überflüssigen  Kosten  den  Berufsgenossen¬ 
schaften  und  welcher  Schaden  der  Arbeitskraft  des  Volkes  aus  den  an¬ 
geführten  Fehlern  erwächst.  Es  sind  teilweise  schwere  Vorwürfe,  welche  gegen 
Ärzte  erhoben  werden  —  Vorwürfe,  die  leider  nicht  einer  gewissen  Berechtigung 
entbehren.  Ein  Teil  der  Mißstände  beruht  allerdings  auf  den  fehlenden  Be¬ 
ziehungen  zwischen  Krankenkassen,  Unfallversicherung  und  Invalidenversicherung. 


278 


Bücheranzeigen. 


Schwanck  kommt  daher  zu  folgenden  hauptsächlichen  Schlüssen, 
daß  1.  durch  die  Errichtung1  von  Lehrstühlen  für  Unfallheilkunde  und  Soziale 
Medizin  an  den  Universitäten  und  Akademien  für  praktische  Medizin  für  eine 
besondere  Vorbildung  der  Ärzte  Sorge  zu  tragen  ist  und  diese  Disziplinen  zu 
wr  Prüfungsgegenständen  zu  machen  sind;  und  2.  eine  Verwaltungsgemeinschaft 
zwischen  Krankenkassen,  Unfall-  und  Invalidenversicherung  eingerichtet  wird. 

Von  letzterer  erwartet  der  Verfasser  a)  eine  schärfere  Überwachung  des  Ver¬ 
letzten  und  des  Heilverfahrens;  b)  Vermeidung  von  Verzögerungen  in  den  not¬ 
wendigen  Maßnahmen  (raschere  Einleitung  des  Heilverfahrens)  und  Fortfall  der 
sonst  unvermeidlichen  Störungen  und  Keibungen;  c)  Vereinfachung  und  Klärung 
der  ärztlichen  Gutachten;  d)  Herabminderung  der  Verwaltungskosten  und  der 
Kenten;  e)  Minderung  der  Berufungen. 

Die  Verwaltungsgemeinschaft  denkt  sich  der  Verfasser  in  folgender  Weise: 

Die  Krankenkassen  werden  zu  größeren  Verbänden  zusammengefaßt.  Der 
Kassenvorstand  besteht  aus: 

zwei  oder  mehr  Vertreter  der  Arbeitnehmer, 
zwei  oder  mehr  Vertretern  der  Arbeitgeber, 
einem  Vertreter  der  betreffenden  Berufsgenossenschaften, 
einem  Vertreter  der  betreffenden  Invalidenversicherung  und 
einem  Staatskommissär  als  Vertreter  der  Keichsregierung. 

Diese  Einrichtung  bedingt  eine  wesentlich  größere  Umgestaltung  der 
Krankenkassen,  als  sie  Sayffaerth  mit  seinem  sozialpolitischen  Kreisamt,  der 
Beferent  mit  seinem  Versicherungsamt  als  Bindeglied  der  drei  Versicherungen  ge¬ 
dacht  hat.  Die  Vertretung  der  Invalidenversicherung  ist  einem  Arzte  zugedacht, 
ebenso  das  Amt  als  Keichskommissär.  Damit  würde  die  erweiterte  Kranken¬ 
kasse  der  Unterbau,  in  dem  alle  Fälle  von  Anfang  bis  zu  Ende  Hilfe  finden. 
Der  Verband  der  Krankenkassen  im  Bezirk  einer  Landesversicherungsanstalt,  der 
Verband  der  Unfallversicherungsträger  und  die  betreffende  Landesversicherungs¬ 
anstalt  werden  dann  zu  einem  Gesamtverband  resp.  einer  Betriebsgemeinschaft 
zur  einheitlichen  und  planmäßigen  Durchführung  des  Heilverfahrens  in  allen 
Versicherungen  zusammengeschlossen.  • 

Der  Verfasser  zitiert  die  beachtenswerten  Ausführungen  von  Kampfmeyer 
aus  der  deutschen  Krankenkassenzeitung  über  die  Aufgaben  der  erweiterten 
Krankenfürsorge  in  der  Erhaltung  der  Arbeitskraft,  Erhaltung  gesunder  Familien 
und  eines  gesunden  Nachwuchses  —  Aufgaben,  die  sich  nach  des  Verfassers  Sinne 
auch  zum  Teil  durch  die  Verwaltungsgemeinschaft  der  drei  Versicherungen  lösen 
lassen.  Als  Vorbild  einer  Verwaltungsgemeinschaft  führt  S.  den  Allgemeinen 
Knappschaftsverein  zu  Bochum  an,  in  welchem  die  drei  Versicherungsträger  auf 
das  zweckmäßigste  Zusammenwirken.  Den  Schluß  des  interessanten,  von  wärmstem 
Interesse  für  die  Soziale  Hygiene  und  die  Mitarbeitung  des  Volkes  erfüllten 
Buches  bilden  Berichte  über  Kongresse  und  solche  aus  Heilanstalten.  Aber 
der  Inhalt  des  Buches  ist  damit  hei  weitem  nicht  erschöpft.  Eine  Fülle  von 
einzelnen  Gedanken,  die  der  Verbesserung  unserer  Gesetzgebung  gewidmet  sind, 
findet  sich  in  dem  Buche  zerstreut.  Gewiß  werden  nicht  alle  Leser  völlig  mit 
dem  Verfasser  einer  Meinung  sein,  aber  indem  ich  das  Buch  zu  eingehender 
Lektüre  empfehle,  glaube  ich  betonen  zu  müssen,  daß  die  geplante  Verbesserung 
unserer  sozialen  Gesetzgebung  an  vielen  wichtigen  Punkten  die  Ausführungen 
des  erfahrenen  Verfassers  berücksichtigen  muß.  Th.  Rumpf. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  279 

llschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
Medizinalstatistik  in  Berlin.1 

Sitzung  vom  13.  September  1906 

zu  Ehren  des  V.  Internationalen  Kongresses  für  Versicherungswissenschaft  und 

des  IV.  Internationalen  Kongresses  für  Versicherungsmedizin. 

V orsitzender :  Herr  M  a  y  e  t.  Schriftführer :  Herr  G  r  o  t  j  a  h  n. 

Herr  May  et:  In  Anerkennung  einer  weitgehenden  Interessengemein¬ 
schaft  zwischen  den  Aufgaben  unserer  Gesellschaft  mit  denen  der  beiden 
versicherungswissenschaftlichen  Kongresse  hat  die  sozial  -  medizinische  Gesell¬ 
schaft  Sie  zu  sich  ein  geladen.  Sie  hat  mir  den  ehrenvollen  Auftrag  erteilt, 
Sie  herzlichst  zu  begrüßen  und  Ihnen  warm  für  Ihr  Erscheinen  zu  danken,  das 
Ihnen  wegen  der  großen  Inanspruchnahme  durch  Arbeit  an  den  Vor-  und  Nach¬ 
mittagen  und  Geselligkeit  an  den  Abenden  besonders  hoch  anzurechnen  ist.  Die 
Medizin  hat  es  vornehmlich  mit  der  Ätiologie,  die  Hygiene  mit  der  Defensive,  die 
Medizin  und  die  Individualhygiene  mit  biologischen  Veränderungen  des  einzelnen 
Individuums  und  ihrer  unmittelbaren  Veranlassung  zu  tun  und  mit  den  Ver- 
haltungs-,  Verhütungs-  und  Abwehrmaßregeln  des  einzelnen,  die  Soziale  Medizin 
mit  der  Auffindung  der  gesellschaftlichen,  beruflichen,  gewerblichen  Verhältnisse, 
welche  die  Krankheit  entstehen  ließen.  Das  sprach  bereits  vor  60  Jahren  unser 
Ehrenmitglied,  Herr  Sanitätsrat  Saloinon  Neumann,  aus.  Er  sagte  in  seiner 
Schrift  „Die  öffentliche  Gesundheitspflege  und  das  Eigentum“ ,  „daß  der  größte 
Teil  der  Krankheiten,  welche  entweder  den  vollen  Lebensgenuß  stören  oder  gar 
einen  Teil  der  Menschheit  vor  dem  natürlichen  Ziel  dahinraffen,  nicht  auf  natür¬ 
lichen,  sondern  auf  gesellschaftlichen  Verhältnissen  beruhe,  bedürfe  keines  Beweises. 
Die  medizinische  Wissenschaft  sei  in  ihrem  innersten  Kern  und  Wesen  eine  soziale 
Wissenschaft,  und  so  lange  ihr  diese  Bedeutung  in  der  Wirklichkeit  nicht  vindi- 
ziert  wäre,  werde  man  ihre  Früchte  nicht  genießen,  sondern  sich  mit  der  Schale 
und  dem  Gehäuse  begnügen  müssen.“  Hier  ist  immer  noch  allein  von  den  Ärzten 
die  Kede;  auf  dem  Gebiete  der  Sozialen  Medizin  haben  aber,  wie  obige  Beispiele 
uns  zeigten,  auch  gerade  Nichtmediziner,  Männer  der  verschiedensten  Berufe, 
Volkswirtschaftler  und  Techniker,  Sozialpolitiker,  Verwaltungsbeamte  und  Sta¬ 
tistiker  mitzuarbeiten;  die  Soziale  Hygiene  ferner,  welche  es  nicht  mit  der  Ätio¬ 
logie  der  Krankheiten,  sondern  mit  der  Erstrebung  der  Sanierung  der  gesundheit¬ 
lichen  Verhältnisse  in  Berufen,  Gewerben,  Altersklassen,  Volksschichten  zu  tun 
hat,  braucht  erst  recht  außer  dem  Arzt  die  Mitarbeit  der  Technik,  der  Industrie 
und  der  Verwaltungskunst.  Demgemäß  lud  unsere  Gesellschaft  von  Hause  aus 
neben  den  Medizinern  alle  übrigen  Berufe  zur  Mitarbeit  ein ;  sie  wollte,  die  Tätig¬ 
keit  der  Gesellschaft  sollte  sich  auf  dem  Grenzgebiete  von  Medizin  und  Volks¬ 
wirtschaft  bewegen.  Ungefähr  der  vierte  Teil  unserer  Mitglieder  sind  Nicht¬ 
mediziner,  und  in  demselben  Verhältnis  ungefähr  sind  die  Nichtmediziner  unter 
den  Vortragenden  und  Diskussionsrednern  vertreten.  Eines  der  Haupthilfsmittel 
zur  Feststellung  der  sozialen  Ätiologie  von  Krankheiten  und  zur  Erkenntnis  der 
Wirkung  der  sozialhygienischen  Maßregeln  ist  die  Statistik,  insbesondere  die  Be- 


9  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  Nr.  38  u.  44  d.  Jg.  1906  u. 
Nr.  9  u.  10  d.  Jg.  1907  der  „Medizinischen  Reform“,  herausg.  von  R.  Lennhoff. 


280  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik, 

völkerungs-  und  Medizinalstatistik ;  sie  erfreut  sich  besonderer  Pflege  in  unserem 
Verein.  Von  statistischen  Vorträgen  waren  zwei  historischer  Art.  A.  Gutt- 
stadt  behandelte  die  Entwicklung  der  Medizinalstatistik  in  Preußen.  A.  Gott- 
stein  die  Geschichte  der  Kindersterblichkeit ;  G.  Heimann  machte  Mitteilung 
über  die  Organisation  der  Volkszählung  in  Berlin,  Schwiening  behandelte 
statistisch  die  Frage  des  Verhältnisses  von  Brustumfang  und  Körpergröße  bei 
Tuberkulösen  und  Nichttuberkulösen  —  ein  Thema  von  bekanntem  Interesse  für 
die  Versicherungsmediziner  Die  Frage  der  Ernährung  behandelte  B.  La  quer 
in  einem  Vortrag  über  „Nahrungsmittel  und  Alkoholkonsum  im  Haushalte  des 
amerikanischen  Arbeiters4“  und  H.  Neumann,  der  über  die  Milchversorgung  der 
Säuglinge  sprach.  A.  Albu  behandelte  die  sozialmedizinische  Bedeutung  der  Er¬ 
richtung  von  Magenheilstätten.  Praktische  Maßnahmen  auf  einzelnen  Gebieten 
der  Hygiene  besprachen  E.  Joseph  mit  einem  Bericht  über  das  Krankentrans¬ 
portwesen  und  die  Neuorganisation  desselben  in  Berlin,  und  Professor  0.  Lassar 
in  seiner  Mitteilung  über  die  Deutsche  Gesellschaft  für  Volksbäder.  Schließlich 
behandelte  geschichtlich  „Die  Soziale  Hygiene  im  Mittelalter44  Herr  Th.  Weyl. 
Die  Idee,  daß  ein  neuer  Beruf  für  Blinde  sich  in  der  Massage  darbiete,  veran- 
laßte  Eggebrecht  über  seine  in  Leipzig  bereits  durchgeführte  Ausbildung  von 
Blinden  in  der  Massage  zu  berichten.  In  gleicher  Linie  mit  diesem  Gedanken 
liegt  die  mehrfach  im  Laufe  der  Diskussionen  von  A.  Grotjahn  und  W.  Eisner 
vertretene  Idee ,  daß  gewisse  Beschäftigungen  und  Tätigkeiten  monopolartig 
minderwertigen  Arbeitskräften,  z.  B.  Verkrüppelten  und  Unfallverletzten,  Vor¬ 
behalten  bleiben  sollten,  um  auch  diese  schwachen  Kräfte  zum  Heil  für  sie  selbst 
noch  in  der  Volkswirtschaft  nützlich  zu  verwenden.  M.  Radziejewski  spracji 
über  die  Bedingungen  und  die  Bedeutung  der  Sehschärfe  für  die  einzelnen  Be¬ 
rufsarten. 

Da  die  umfassendste  hygienische  Maßnahme  des  Deutschen  Reiches  die  Ein¬ 
richtung  seines  sozialen  Versicherungswesens  ist,  nahm  selbstverständlich  letzteres 
in  den  Erörterungen  der  Gesellschaft  den  breitesten  Raum  ein.  Einzelpunkte 
der  Arbeiterversicherung  behandelten  A.  Bielefeldt  und  H.  Schönheim  er. 

Themata  von  Wichtigkeit  für  die  Unfallversicherung  behandelten  Feilchen- 
feldt,  Th.  Sommer  fei  dt  und  Brat.  Die  in  Aussicht  genommene  Reform  der 
Arbeiterversicherung  veranlaßte  mehrere  Vorträge  in  der  Gesellschaft.  R.  Le  nu¬ 
ll  off  trug  die  ärztlichen  Wünsche  zur  Reform  der  Arbeiterversicherung  vor, 
Herr  Sayffaerth,  Vorsitzender  des  Schiedsgerichts  in  Köln,  behandelte  die 
deutsche  Arbeiterversicherung  der  Zukunft  und  ich  meinerseits :  Umbau  und  Weiter¬ 
bildung  der  sozialen  Versicherung.  Hier  möchte  ich  noch  den  viel  beachteten 
Vortrag  des  Geheimen  Ober-Medizinalrates  Dr.  Dietrich  erwähnen  über  den 
zahlenmäßigen  Rückgang  des  medizinischen  Studiums,  der  eine  sich  einleitende 
Abschwächung  der  Überfüllung  des  ärztlichen  Standes  darlegte  und  von  Bedeu¬ 
tung  für  die  Beurteilung  der  augenblicklichen  Aussichten  des  ärztlichen  Standes 
ist.  Im  Unterschiede  von  den  großen,  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  auf  ein¬ 
zelnen  Gebieten  sich  widmenden  Vereinen,  wie  dem  Deutschen  Verein  für  öffent¬ 
liche  Gesundheitspflege,  dem  Deutschen  Zentralkomitee  zur  Errichtung  von  Heil¬ 
stätten  für  Lungenkranke,  dem  Deutschen  Verein  gegen  den  Mißbrauch  geistiger 
Getränke,  der  Vereinigung  für  Schulgesundheitspflege,  der  Deutschen  Gesellschaft 
für  Volksbäder,  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der  Geschlechts¬ 
krankheiten,  dem  Allgemeinen  Deutschen  Zentralverband  zur  Bekämpfung  des 
Alkoholismus,  der  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  u.  a. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  281 

versagt  es  sich  unsere  Gesellschaft,  Resolutionen  zu  fassen,  Petitionen  heraus¬ 
zugeben,  Agitation  zu  treiben.  Wir  wollen  nur  eine  Stätte  der  freien  Rede  und 
der  voraussetzungslosen,  wissenschaftlichen  Forschung  sein,  wir  wollen  durch  den 
Streit  der  Meinungen  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  fördern,  wir  huldigen  dem 
heraklitischen  Lehrsatz,  daß  Kampf  der  Erzeuger  alles  Bestehenden  ist.  ttöXsuo^ 
Ttarijo  Ttdf  Tiov.  Deshalb  treffen  wir  aber  auch  besondere  Fürsorge,  daß  unsere  Dis¬ 
kussionen  wohlvorbereitete,  nicht  nur  dem  Augenblick  verdankte,  sind.  Wir  erreichen 
dieses  dadurch,  daß  wir  die  Diskussionen  nicht  unmittelbar  auf  den  Vortrag  folgen 
lassen,  sondern  erst  ansetzen,  nachdem  der  Vortrag  den  Mitgliedern  gedruckt  zu¬ 
gegangen  ist.  Wir  erreichen  dadurch  zugleich  den  weiteren  Vorteil,  daß  wir  unseren 
auswärtigen  Mitgliedern  es  ermöglichen,  an  der  Diskussion  durch  Einsendung  ge¬ 
schriebener  Beiträge  teilzunehmen,  welche  von  dem  Schriftführer  verlesen  werden. 
Ich  sprach  eingangs  von  der  Interessengemeinschaft  unserer  Gesellschaft  mit  den 
beiden  Kongressen.  Scheint  nicht  eigentlich  mehr  ein  gewisser  Gegensatz  zwischen 
den  beiden  Körperschaften  zu  walten?  Hat  es  nicht  die  Versicherungsmedizin 
und  die  Versicherungswissenschaft  hauptsächlich  mit  der  privaten  Versicherung, 
wir  dagegen  vornehmlich  mit  der  öffentlichen  Versicherung  zu  tun?  Die  private 
Versicherung  will  für  jeden  Versicherten  eine  bereits  erreichte  Höhe  festhalten, 
indem  sie  ihn  vor  Schaden  bewahrt.  Die  öffentliche  soziale  Versicherung  will 
einerseits  dasselbe,  andererseits  aber  strebt  sie  doch  an,  die  betreffenden  Volks¬ 
kreise  über  ihren  gegenwärtigen  sanitären  und  wirtschaftlichen  Zustand  herauf¬ 
zuheben.  Die  Interessengemeinschaft  unserer  beiden  Körperschaften  macht  sich 
wohl  am  meisten  geltend  in  den  statistischen  Erfahrungen  der  Lebensversicherungs¬ 
gesellschaften  einerseits,  der  Krankenkassen  und  Invalidenversicherungsanstalten 
andererseits  und  in  der  weiteren  Ausgestaltung  der  Morbiditäts-  und  Mortalitäts¬ 
statistik  nach  Berufen,  welche  von  der  öffentlichen  Krankenversicherung  mit  der 
Zeit  zu  erwarten  ist.  Äußerlich  bekundete  sich  die  Interessengemeinschaft  da¬ 
durch  ,  wie  ich  wohl  erwähnen  darf ,  daß  den  beiden  Kongreß-Organisationsaus¬ 
schüssen  nicht  weniger  als  14  unserer  Mitglieder  angehörten  und  ein  sehr  großer 
Teil  der  deutschen  Teilnehmer  des  versicherungsmedizinischen  Kongresses  aus 
Mitgliedern  unserer  Gesellschaft  besteht.  Auch  der  Gegenstand  des  heutigen 
Vortrages  darf  für  eine  Interessengemeinschaft  angeführt  werden.  Wir  haben 
dasselbe  Thema  gewählt,  welches  in  dem  den  Kongreßmitgliedern  von  dem  Kaiser¬ 
lichen  Statistischen  Amt  übergebenen  großen,  mehr  als  14C0  Seiten  umfassenden 
Werke  behandelt  wird:  „Die  Versicherung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit“. 
Wir  glaubten,  es  würde  den  Kongreßmitgliedern  lieb  sein,  von  dem  Bearbeiter 
des  Werkes,  der  zugleich  Mitglied  unserer  Gesellschaft  ist,  einen  kurzen  Vortrag 
über  die  Grundprobleme  der  Arbeitslosenversicherung  zu  hören. 

Ich  gebe  Herrn  Leo  das  Wort  zu  seinem  Vortrage. 

Herr  Leo  trägt  vor  über  „Die  Versicherung  gegen  die  Folgen  der 
Arbeitslosigkeit.44  Der  Kreis,  vor  dem  ich  heute  zu  sprechen  die  Ehre  habe, 
setzt  sich  in  erster  Linie  zusammen  aus  Personen,  die  entweder  am  Versicherungs¬ 
wesen  und  an  der  Versicherungswissenschaft  oder  an  der  ärztlichen  Wissenschaft 
in  erster  Linie  interessiert  sind.  Das  sind  zwei  Kreise,  die  schon  seit  langem  dem 
Problem  der  Arbeitslosenversicherung  das  lebhafteste  Interesse  entgegengebracht 
haben.  Die  Ärzte  ihrerseits  haben  dieses  Interesse  durch  verschiedene  Resolu¬ 
tionen  betätigt,  in  denen  sie  die  Arbeitslosenversicherung  sogar  noch  als  dringen¬ 
der  als  die  Witwen-  und  Waisenversicherung  bezeichnet  haben.  Als  Versicherungs¬ 
problem  ist  das  ganze  Problem  nicht  älter  als  rund  15  Jahre.  Die  Forderung 


282  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

einer  öffentlichen  Versicherung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  taucht  zum 
ersten  Male,  soweit  sich  übersehen  läßt,  im  Jahre  1892  auf  und  führt  bald  darauf 
zu  dem  Vorgehen  in  Bern  und  in  Basel.  Seither  ist  diese  Forderung  von  der 
Tagesordnung  nicht  wieder  verschwunden.  Einen  besonderen  Impuls  hat  die 
ganze  Frage  erhalten,  seitdem  im  Jahre  1901  die  Gemeinde  Gent  in  einer  sinn¬ 
reich  ausgedachten  Weise  unter  Anknüpfung  an  die  Selbsthilfeeinrichtungen  der 
Arbeiter  ein  System  ins  Leben  gerufen  hat,  daß  die  Nachteile  und  Schwierig¬ 
keiten  der  sonstigen  Systeme  zu  vermeiden  schien.  Näheres  davon  später.  Wenn 
auch  das  Problem  als  Versicherungsproblem  danach  ganz  jungen  Datums  ist,  so 
ist  das  keineswegs  der  Fall  mit  dem  erweiterten  Problem  der  Arbeitslosenfürsorge 
überhaupt.  Die  Arbeitslosenfürsorge  greift  als  Armenpflege  sehr  weit  zurück. 
Dieser  Teil  der  Arbeitslosenfürsorge  nimmt  noch  heute  einen  und  zwar  den  be¬ 
deutendsten  Teil  ein,  und  seine  Bedeutung  wird  auch  nicht  gering  bleiben  müssen, 
wenn  es  wirklich  gelingen  sollte,  eine  öffentliche  Versicherung  gegen  die  Folgen 
der  Arbeitslosigkeit  zu  schaffen.  Armenpflege  und  private  Wohltätigkeit  waren 
es,  mit  denen  früher  bei  Eintritt  größerer  Arbeitslosigkeit  dieser  zu  begegnen 
versucht  wurde;  wo  sie  versagte,  traten  Staat  und  Provinzen  als  Träger  der 
öffentlichen  Armenlasten  ein,  oder  die  Gemeinden  gingen  mit  der  Beschaffung  von 
Arbeit  vor ,  indem  sie  entweder  Arbeiten ,  welche  ohnehin  ausgeführt  werden 
mußten,  in  die  Zeiten  größerer  Arbeitslosigkeit  legten ,  oder  besondere  Arbeiten 
für  diesen  Zweck  einrichteten.  Betont  sei  dabei,  daß  der  Bezug  von  Armenunter¬ 
stützung  in  einer  Reihe  von  Staaten  den  Verlust  politischer  Rechte  nach  sich 
zieht.  Mit  dem  Beginn  der  neunziger  Jahre,  mit  der  Entwicklung  der  Organi¬ 
sation  der  Arbeiter,  änderte  sich  die  Auffassung  der  Arbeiter  in  dieser  Frage. 
Man  empfand  es  schwerer  als  zuvor,  daß  ein  Arbeiter  bei  unverschuldeter  Arbeits¬ 
losigkeit  auf  Wohltätigkeit  angewiesen  sei  oder  gar  der  Armenpflege  anheimfallen 
und  damit  einen  Teil  seiner  politischen  Rechte  einbüßen  sollte.  Die  Auffassung 
der  Arbeiter,  zumal  in  Deutschland,  machte  sich  dahin  geltend,  daß  es  Sache  des 
Staates  sei ,  für  Arbeit  zu  sorgen  oder  bei  unverschuldeter  Arbeitslosigkeit  den 
Arbeiter  zu  unterhalten.  In  der  Schweiz  wurde  sogar  der  förmliche  Antrag  auf 
Aufnahme  der  Bestimmung  des  Rechts  auf  Arbeit  an  die  Bundesregierung  ge¬ 
stellt,  allerdings  schließlich  abgelehnt.  Im  Zusammenhang  mit  diesem  Wechsel 
der  Auffassung  steht  auch  um  diese  Zeit  das  Vorgehen  der  Staaten  und  Gemein¬ 
den  auf  dem  Gebiete  des  Arbeitsnachweises.  Wurde  so  auf  der  einen  Seite  von 
den  öffentlichen  Organen  durch  Arbeitsverschaffung  und  Arbeitsvermittlung  der 
Arbeitslosigkeit  direkt  entgegengetreten,  so  setzte  auf  der  anderen  Seite  um  diese 
Zeit  in  Deutschland  die  Selbsthilfe  des  Arbeiterstandes  durch  Einführung  der 
Arbeitslosenunterstützung  in  den  Verbänden  ein.  Anfänglich  ging  man  dabei 
von  karitativen  Gesichtspunkten  aus,  wurde  sich  indessen  wohl  bald  darüber  klar, 
daß  diese  Unterstützung  der  Arbeitslosen  nicht  nur  diesen,  sondern  auch  den  in 
Arbeit  stehenden  Mitgliedern  zugute  kam,  da  die  Arbeitslosen  sie  nicht  mehr  auf 
dem  Arbeitsmarkt  unterboten.  Was  eingeführt  war  als  Linderungsgrund  für  die 
Not  der  arbeitslosen  Mitglieder,  das  wurde  zum  wertvollsten  Instrument  der  ge¬ 
werkschaftlichen  Politik  der  Hochhaltung  der  Lebenshaltung.  Dieser  Einsicht 
verdankt  die  Arbeitslosenunterstützung  die  Entwicklung,  die  sie  in  den  letzten 
20  Jahren  genommen  hat,  von  der  Sie  einen  Begriff  erhalten  werden,  wenn  ich 
erwähne,  daß  im  Jahre  1904  die  englischen  Gewerkvereine  13  Millionen,  die  deutschen 
Arbeiterverbände  über  2  Millionen  Mark  für  Arbeitslosenunterstützung  verausgabt 
haben.  So  wurde  das  Problem  praktisch  von  zwei  Seiten  in  Angriff  genommen, 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  283 


Ton  den  Gemeinden  einerseits,  von  den  Arbeitern  selbst  andererseits,  und  zwar 
von  beiden  in  der  Richtung  der  Trennung  der  Arbeitslosenfürsorge  vom  Armen¬ 
wesen.  Man  lehnte  von  Arbeiterseite  Armenunterstützung  als  Hilfe  hei  unver¬ 
schuldeter  Arbeitslosigkeit  ab  und  verlangte  strenge  Scheidung  von  Arbeitslosen¬ 
unterstützung  und  Armenpflege,  man  lehnte  ebenso  Almosen  ab,  und  so  ent¬ 
wickelte  sich  historisch  die  Idee  einer  öffentlichen  Arbeitslosenversicherung,  die 
begrifflich  und  tatsächlich  vom  Armenwesen  und  Wohltätigkeit  streng  geschieden 
sein  sollte. 

Welches  ist  nun  positiv  die  Aufgabe  der  Arbeitslosenversicherung?  Die 
Antwort  stößt  sofort  auf  Schwierigkeiten  bei  Feststellung  des  Begriffs  „arbeits¬ 
los“.  Wer  ist  arbeitslos?  Arbeitslos  ist  z.  B.  auch  der  Arbeitsscheue.  Für  ihn 
ist  augenscheinlich  die  Arbeitslosenversicherung  nicht  bestimmt.  Arbeitslos  ist 
auch  der  Arbeitsunfähige.  Auch  an  ihn  ist  augenscheinlich  in  diesem  Zusammen¬ 
hänge  nicht  gedacht.  Er  ist  Gegenstand  der  Invalidenversicherung  oder  der  Wohl¬ 
fahrtspflege  oder  der  Armenpflege.  Es  handelt  sich  bei  dem  Problem  der  Arbeits¬ 
losenversicherung  vielmehr  lediglich  um  die  Frage  der  zeitweiligen  wirtschaft¬ 
lichen  Sicherstellung  der  arbeitswilligen  und  arbeitsfähigen  Personen  während 
vorübergehender  Arbeitslosigkeit.  Aber  die  Grenze  muß  noch  enger  gezogen 
werden.  '  Arbeitslos  kann  nur  jemand  sein,  der  gewöhnlich  erwerbstätig  ist  und 
zwar  erwerbstätig  als  Arbeitnehmer.  Es  werden  also  aus  dem  Begriff  auszu¬ 
scheiden  sein  die  ganze  nicht  erwerbstätige  Bevölkerung  und  außerdem  ..alle  selb¬ 
ständigen  Erwerbstätigen,  wie  die  Unternehmer,  Handwerker,  Gewerbetreiben¬ 
den  usw.  Wann  ist  denn  nun  aber  Arbeitslosigkeit  als  eingetreten  anzusehen? 
Vom  Standpunkt  des  Individuums  ist  Arbeitslosigkeit  vorhanden,  wenn  der  Arbeit¬ 
nehmer  seine  Beschäftigung  verloren  und  eine  noch  nicht  gefunden  hat  und  zur¬ 
zeit  nicht  finden  kann.  Anders  kann  die  Frage  der  Arbeitslosigkeit  als  Massen¬ 
erscheinung  vom  Stande  der  Volkswirtschaft  aus  beurteilt  werden.  Arbeitslosig¬ 
keit  in  der  Industrie  steht  hier  neben  Arbeitermangel  in  der  Landwirtschaft. 
Ausländische  Arbeiter  werden  z.  B.  zu  billigeren  Löhnen  herangezogen,  während 
inländische  Arbeiter  beschäftigungslos  sind.  Kann  volkswirtschaftlich  von  Arbeits¬ 
losigkeit  gesprochen  werden,  wenn  auf  der  anderen  Seite  in  der  gleichen  Volks¬ 
wirtschaft  ein  großer  Bedarf  an  Arbeitskraft  besteht?  Die  Frage  wird  mit  „ja“ 
zu  beantworten  sein.  Arbeitskraft  ist  nicht  ohne  weiteres  eine  fungibile  Ware; 
Industriearbeiter  sind  nicht  ohne  weiteres  fähig,  in  der  Landwirtschaft  tätig  zu 
sein.  Was  sowohl  in  der  Industrie  wie  in  der  Landwirtschaft  gebraucht  wird, 
ist  nicht  die  abstrakte  Arbeitskraft,  sondern  Arbeiter  mit  bestimmten  Qualitäten 
und  Arbeit  zu  bestimmten  Bedingungen.  Es  ist  wohl  möglich,  daß  in  einer 
Volkswirtschaft  Mangel  an  einer  Art  von  Arbeitern  und  Überfluß  in  einer  anderen 
Art  vorhanden  ist.  In  der  Frage  der  Arbeitslosenfürsorge  wird  danach  für  die 
Feststellung  des  Begriffes  „Arbeitslosigkeit“  vom  Standpunkt  des  Individuums 
auszugehen  sein.  Arbeitslosigkeit  ist  vorhanden,  wenn  der  Arbeiter  seine  Be¬ 
schäftigung  verloren  und  eine  angemessene  neue  noch  nicht  gefunden  hat  und 
zurzeit  nicht  finden  kann.  Wenn  wir  uns  über  die  Stellung  der  Frage  einer 
Arbeitslosenversicherung  unter  Zuhilfenahme  öffentlicher  Mittel  im  einzelnen  klar 
werden  wollen,  so  müssen  wir  uns  nunmehr  noch  über  einige  allgemeine  Gesichts¬ 
punkte  verständigen.  Welches  ist  denn  die  Aufgabe,  die  dem  Staate  auf  diesem 
Gebiete  zukommt?  Ist  danach  die  Forderung  einer  Arbeitslosenversicherung  be¬ 
rechtigt,  und,  falls  sie  berechtigt  ist,  ist  sie  möglich  und  ist  sie  notwendig?  Das 
sind  die  Fragen,  auf  die  die  Antworten  zu  finden  sind.  In  jeder  Volkswirtschaft 


284  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

befindet  sich  ständig  und  ganz  normalerweise  ein  gewisser  Prozentsatz  von  Per¬ 
sonen  vorübergehend  außer  Arbeit  und  stets  im  Begriff,  neue  Arbeit  zu  suchen. 
Für  Deutschland  wird  man  diese  Ziffer  im  Jahresmittel  auf  etwa  400000  Per¬ 
sonen  veranschlagen  können.  Wenn  man  nach  systematischen  Gesichtspunkten 
eine  Einteilung  der  bisher  versuchten  Lösungen  der  Arbeitslosenversicherung  vor¬ 
nehmen  will ,  so  ergeben  sich  vier  große  Gruppen ,  in  die  man  die  vorhandenen 
Einrichtungen  einzugliedern  vermag.  In  einzelnen  Fällen  finden  sich  ivohl  auch 
Mischformen,  die  in  mehrere  Gruppen  gehören;  sie  bereiten  indessen  der  Syste¬ 
matik  wenig  Schwierigkeiten.  Die  vier  Gruppen,  die  hier  in  nachstehendem  be¬ 
handelt  werden  sollen  und  die  meinen  Ausführungen  als  Einteilungsprinzip  zu¬ 
grunde  liegen,  sind  folgende:  Alle  bisherigen  Versuche  lassen  sich  charakterisieren 
als  1.  Selbsthilfe,  2.  obligatorische  Versicherung,  3.  fakultative  Versicherung  und 
4.  Subvention  der  Selbsthilfe  unter  Verzicht  auf  selbständige  Versicherungsein¬ 
richtungen.  Es  ist  das  die  gleiche  Einteilung,  die  auch  der  amtlichen  Darstellung 
im  Beichsarbeitsblatt  zugrunde  gelegt  ist.  Von  diesen  vier  Gruppen  hat  bisher 
praktisch  weitaus  die  größte  Bedeutung  die  erste  Gruppe,  nämlich  die  Selbsthilfe. 
Ich  nannte  oben  schon  die  Zahl  von  13  Millionen  Arbeitslosenunterstützung,  die 
die  englischen  Gewerkvereine,  und  von  2  Millionen  Mark,  die  die  deutschen 
Arbeiterverbände  im  Jahre  1904  an  Arbeitslosenunterstützung  zahlten.  Es  sind 
das  Beträge,  die  alles,  was  sonst  auf  diesem  Gebiete  geleistet  worden  ist,  weitaus 
hinter  sich  lassen.  Die  Selbsthilfe  auf  diesem  Gebiete  ist  im  allgemeinen  in  allen 
Ländern  gewerkschaftlicher  Natur  gewesen.  Wie  schon  oben  gestreift  wurde,  ist 
die  Arbeitslosenunterstützung  gleichzeitig  ein  wertvolles  Instrument  der  gewerk¬ 
schaftlichen  Lohnpolitik.  Durch  die  Arbeitslosenunterstützung  verhindert  die 
Gewerkschaft,  ihre  in  Arbeit  stehenden  Kollegen  zu  unterbieten  und  dadurch  auf 
den  Lohn  im  Gewerbe  zu  drücken ;  sie  soll  verhindern,  daß  der  Standard,  den  die 
Organisation  bei  guter  Konjunktur  an  Arbeitskämpfen  erreicht  hat,  bei  schlechter 
Konjunktur  wieder  herabgesetzt  wird,  sie  ist,  vom  gewerkschaftlichen  Standpunkt 
betrachtet,  die  logische  und  notwendige  Ergänzung  der  Streikunterstützung.  Ich 
will  auf  die  Bedeutung  der  Selbsthilfeorganisationen  in  den  einzelnen  Ländern 
nicht  näher  eingehen,  da  ich  Ihnen  sonst  ein  großes  Zahlenmaterial  vorführen 
müßte,  das  Sie  nur  verwirren  würde;  ich  möchte  nur  betonen,  daß  England, 
Deutschland  und  Dänemark  in  dieser  Hinsicht  die  führenden  Länder  sind.  In 
Deutschland  ist  übrigens,  wie  ich  hervorheben  möchte,  die  Selbsthilfe  nicht  auf 
die  gewerkschaftliche  Unterstützung  beschränkt  geblieben,  sondern  sie  hat  sich 
hier  auch  die  Form  des  Konsumvereins  nutzbar  gemacht,  um  durch  Regelung  des 
Warenkredits  und  der  Spartätigkeit  in  eigenartiger  Weise  die  Sicherstellung  der 
Arbeiter  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  zu  erreichen.  Es  handelt  sich  um 
das  sehr  bemerkenswerte  Beispiel  des  von  Arbeiterseite  begründeten  „Konsum-, 
'Bau-  und  Sparvereins  Produktion  in  Hamburg“.  Dieser  Konsumverein  zahlt  seine 
Einkaufsdividende  nicht  aus,  sondern  bildet  aus  ihr,  soweit  sie  nicht  zur  Ergän¬ 
zung  des  Geschäftsanteils  der  Mitglieder  erforderlich  ist,  einen  Notfonds.  Die  auf 
ein  Mitglied  pro  rata  seiner  Bezüge  entfallenden  Dividenden  werden  bis  zur  Höhe 
von  100  Mark  zu  einem  personellen  Notfonds  angesammelt.  Um  Mitgliedern,  für 
welche  noch  kein  oder  kein  Notfonds  mehr  besteht,  in  Notfällen  beizustehen,  wird 
aus  dem  jährlichen  Reingewinn  ein- Warenvorschußfonds  angelegt.  Der  Arbeiter 
bildet  hier  also  dadurch,  daß  er  die  Einkaufsdividende  nicht  ausgezahlt  erhält, 
ein  Guthaben  bis  100  Mark.  Hat  er  im  Falle  der  Arbeitslosigkeit  dieses  ver¬ 
braucht,  so  tritt  der  Konsumverein  für  ihn  ein  und  gewährt  ihm  Warenvorschuß, 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  285 

bis  er  wieder  in  der  Lage  ist,  zu  verdienen.  Die  Einrichtung  hat  sich  bei  ge¬ 
nanntem  Verein  sehr  bewährt.  Der  Verein  zählt  im  Jahre  1905  18766  Mitglieder, 
der  Reingewinn  betrug  1904  rund  108000  M. ,  der  Umsatz  3  Mill.  M.  Berück¬ 
sichtigt  man,  daß  wir  in  Deutschland  zurzeit  etwa  2000  Arbeiterkonsumvereine 
haben,  so  wäre  au  sich  die  Möglichkeit  gegeben,  den  genossenschaftlichen  Ge¬ 
danken  dazu  zu  benutzen,  um  auch  diesem  Zweige  der  Selbsthilfe  zur  Abwehr 
der  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  eine  weitere  Ausdehnung  zu  geben  nach  dem 
Vorbilde,  wie  es  in  der  gewerkschaftlichen  Arbeitslosenunterstützung  bereits  heute 
vorliegt.  Eine  solche  Entwicklung  ist  indessen  bisher  nicht  eingetreten ;  es  liegen 
bislang  auch  keine  Anzeichen  vor,  daß  sie  in  nächster  Zeit  eintreten  wird.  Was 
die  Beurteilung  der  gewerkschaftlichen  Arbeitslosenunterstützung  betrifft,  so  stellt 
sie  sich,  versi.cherungstechnisch  betrachtet,  als  eine  Sammlung  der  besseren 
Risiken  dar.  Durch  die  gewerkschaftlichen  Anforderungen,  die  Beitragszahlung, 
das  Eintrittsgeld,  ist  die  Mitgliedschaft  soweit  erschwert,  um  die  schlechteren 
Risiken  herauszulassen.  Alle  die  schwierigen  Fragen,  wie  die  freiwillige  Arbeits¬ 
losigkeit  durch  Kündigung  oder  sonstige  Herbeiführung  des  Unterstützungsfalles, 
außer  durch  grobes  Verschulden,  wie  die  Annahme  von  Arbeit  zur  Beendigung 
des  Unterstützungsfalles  zu  behandeln  ist,  alle  diese  Fragen  löst  dieses  System 
einfach ,  und  zwar  nicht  vom  versicherungstechnischen  sondern  vom  spezifisch 
gewerkschaftlichen  Standpunkt.  Maßgebend  für  die  Entscheidung  dieser  Frage 
ist  das  gewerkschaftliche  Interesse.  Was  bisher  in  den  meisten  Ländern  dieser 
Selbsthilfeorganisation  der  Arbeiter  noch  fehlt,  ist  die  Verbreiterung  der  Grund¬ 
lage,  die  durchgehends  auf  einen  verhältnißmäßig  engen  Kreis  der  Arbeiter  be¬ 
schränkt  ist.  Die  Höhe  der  Leistungen  ist  in  den  vorgeschrittenen  Ländern  und 
Verbänden  zum  Teil  eine  recht  bedeutende  —  ein  Beweis,  daß  sich  auf  diesem 
Wege  au  sich  nicht  unbedeutende  Leistungen  erzielen  lassen.  Die  obligatorische 
Arbeitslosenversicherung,  die  vorher  in  der  systematischen  Einteilung  an  zweiter 
Stelle  genannt  wurde,  ist  nur  einmal  praktisch  geworden,  und  zwar  in  St.  Gallen 
in  der  Schweiz.  Zwei  weitere  Versuche  in  Zürich  und  Basel  entfallen  ebenfalls 
auf  die  Schweiz;  sie  sind  jedoch  über  das  Stadium  des  Projektes  nicht  hinaus¬ 
gekommen.  An  dritter  Stelle  war  oben  die  fakultative  Versicherung  genannt. 
Die  freiwillige  Versicherung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  setzt  offensicht¬ 
lich  ein  großes  Maß  wirtschaftlicher  Voraussicht  und  Selbstdisziplin  voraus;  un¬ 
organisierte  Arbeiter  mit  knappen  Einkommensverhältnissen  entschließen  sich  nur 
schwer  zu  der  Verpflichtung  der  Zahlung  regelmäßiger  Beiträge  auf  die  unge¬ 
wisse  Möglichkeit  hin,  arbeitslos  zu  werden.  Das  Ergebnis  ist  daher  bei  dieser 
Form  der  Versicherung  durchweg,  daß  nur  die  besser  gelohnten  Arbeiter  sich 
zur  freiwilligen  Versicherung  entschließen,  und  auch  diese  nur,  soweit  sie  mit 
ziemlicher  Sicherheit  damit  rechnen  müssen,  einen  Teil  des  Jahres  keine  Be¬ 
schäftigung  zu  haben,  vor  allem  die  Bauarbeiter.  Dies  sind,  wie  auch  das  Reichs¬ 
arbeitsblatt  hervorhebt,  die  Gründe  und  psychologische  Erwägungen,  aus  denen 
sich  ergibt,  daß  der  Umfang  fakultativer  Arbeitslosenversicherung  stets  ein  sehr 
beschränkter  sein  wird,  und  die  Erfahrung  bestätigt  es.  An  letzter  Stelle  in 
unserer  obigen  Einteilung  war  genannt  die  Subvention  der  Selbsthilfe  unter  Ver¬ 
zicht  auf  selbständige  Versicherungseinrichtungen.  Der  diesem  System  zugrunde 
liegende  Gedanke  von  Louis  Varlez  geht  zurück  auf  seine  Anschauung,  daß 
die  zweckmäßigste  Betätigung  der  öffentlichen  Körperschaften  in  der  Arbeitslosen¬ 
frage  die  sei,  an  die  Selbsthilfeeinrichtungen  der  Arbeiter  anzuknüpfen  und  durch 
die  Aussicht  auf  Gewährung  von  Zuschüssen  an  die  Verbände  nach  dem  Maß  der 


286  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

eigenen  Leistungen  der  Verbände  einen  Anreiz  zur  Selbsthilfe  zu  schaffen.  Die 
Erziehung  zur  Selbsthilfe  unter  Beihilfe  von  Gemeinden  und  Staat  ist,  kurz  ge¬ 
faßt,  die  Idee,  die  dem  System  zugrunde  liegt.  Das  System  hat  seine  großen 
Vorzüge,  aber  auch  seine  Schwächen  und  Grenzen.  Die  Vorzüge  liegen  darin, 
daß  hier  die  Organisation  nach  Berufen  der  Arbeiter  und  die  Gruppierung  der 
Berufsrisiken  schon  gegeben  ist,  daß  die  ganze  Kontrolle  und  Verwaltung,  die 
Einziehung  der  Beiträge  und  die  Auszahlung  zu  Lasten  der  Arbeiter  verbände 
verbleibt.  Die  Grenzen  des  Systems  liegen  in  anderer  Richtung.  Dies  System 
hilft  nur  dem,  der  sich  schon  selbst  hilft.  Wo  die  eigene  Initiative  versagt,  versagt 
auch  das  System;  wer  sich  nicht  selbst  hilft,  bleibt  nach  wie  vor  auf  Armenpflege 
und  Wohltätigkeit  verwiesen.  Die  Arbeiterelemente,  welche  es  am  dringendsten 
bedürfen,  Averden  danach  auch  von  diesem  System  nicht  erfaßt.  Was  die  Erfahrungen 
mit  dem  sogenannten  Genter  System  anlangt,  so  ist  das  System  verhältnismäßig 
glücklich  in  seiner  Lösung  der  Kontrolle.  Die  Gemeinde  zahlt  nur  Zuschuß,  so¬ 
weit  der  Verband  selbst  Unterstützung  zahlt.  Hinter  diesem  Wall  des  finanziellen 
Selbstinteresses  der  Verbände,  wie  Varlez  es  nennt,  war  der  Fonds  im  wesent¬ 
lichen  vor  mißbräuchlicher  Ausbeutung  sicher,  zumal  die  Vereine  in  Gent  ihre 
geringe  Mitgliederzahl  gut  zu  kontrollieren  in  der  Lage  waren.  Die  Frage  des 
Selbstverschuldens  wird  beim  Genter  System  nicht  gestellt;  wem  die  Verbände 
Arbeitslosenunterstützung  zahlen,  bleibt  ihnen  überlassen.  Nur  einen  gemeind¬ 
lichen  Zuschuß  erhalten  sie  lediglich  bei  solchen  Unterstützungen,  die  sich  auf 
unfreiwillige  Arbeitslosigkeit  infolge  von  Arbeitsmangel  oder  Betriebsstörungen 
beziehen.  Dem  Vorbild  von  Gent  sind  in  Belgien  selbst  eine  Reihe  von  Gemeinden 
und  Provinzen  gefolgt,  wogegen  die  belgische  Regierung  sich  bisher  ab- 
wartend  verhalten  hat.  In  Frankreich  hat  man  den  Gedanken  des  Genter  Systems 
ebenfalls  aufgegriffen  und  hat  im  letzten  Jahre  allerdings  in  sehr  geringem  Um¬ 
fange  staatliche  Zuschüsse  zu  den  Unterstützungsleistungen  der  Verbände  zu  ge¬ 
währen  begonnen.  In  Italien  ist  aus  privater  Initiative  in  Mailand  eine  Arbeits¬ 
losenkasse  nach  dem  Genter  System  im  vorigen  Jahre  eingerichtet  worden.  Nor¬ 
wegen  hat  in  diesem  Sommer  ein  Gesetz  zur  Annahme  gebracht,  wonach  eben¬ 
falls  den  Verbänden  der  Arbeiter  staatlicherseits  gewisse  Zuschüsse  zu  ihren 
Unterstützungsleistungen  gewährt  werden.  In  Dänemark  sind  ähnliche  Ma߬ 
regeln  von  einer  königlichen  Kommission  in  Vorschlag  gebracht  und  dem  Parla¬ 
ment  unterbreitet  worden.  Überblicken  Sie  die  Reihe  der  Versuche  einer  Arbeits¬ 
losenversicherung,  wie  ich  sie  Ihnen  hier  vorgeführt  habe,  so  ergibt  sich  zweierlei, 
einmal,  daß  auf  dem  Gebiet  der  Arbeitslosenunterstützung  und  der  Arbeitslosen¬ 
versicherung  bisher  nur  die  Selbsthilfe  wirklich  bedeutende  Leistungen  aufzu¬ 
weisen  hat;  zweitens,  daß,  wo  bisher  ein  staatliches  Vorgehen  staatgefunden  hat, 
es  sich  vollzogen  hat  in  der  Richtung  des  Verzichts  auf  selbständige  Ver¬ 
sicherungseinrichtungen  und  sich  beschränkt  hat  auf  Subvention  der  vorhandenen 
Selbsthilfeeinrichtungen.  Inwieweit  das  berechtigt  und  wirkungsvoll,  werden  Sie 
aus  meinen  Ausführungen  selbst  zu  schließen  in  der  Lage  sein.  Dies  Ergebnis, 
wonach  es  den  Anschein  hat,  als  ob  hier  auf  dem  Gebiet  der  Arbeitslosenfürsorge 
nur  etwas  durch  Selbsthilfe  zuwege  gebracht  sei,  könnte  indessen  zu  einer  voll¬ 
kommen  falschen  Auffassung  führen.  Es  könnte  scheinen,  als  ob  die  öffentlichen 
Organe  bisher  auf  dem  Gebiet  der  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  und  ihrer 
Folgen  ganz  untätig  gewesen  wären.  Dem  ist  nicht  so.  Die  bisherige  Tätigkeit 
der  öffentlichen  Organe  hat  sich  allerdings  bisher  weniger  darauf  gerichtet,  durch 
Gewährung  eines  Rechtsanspruches  auf  Unterstützung  die  wirtschaftlichen  Folgen 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  287 

der  Arbeitslosigkeit  zu  mildern  und  zu  beseitigen,  als  vielmehr  darauf,  die  Ur¬ 
sachen  der  Arbeitslosigkeit  selbst  zu  bekämpfen.  Ich  erwähnte  oben  schon  die 
Tätigkeit  der  Gemeinden  auf  dem  Gebiete  des  Arbeitsnachweises,  und  möchte 
noch  erinnern  an  die  Einrichtung  von  Notstandsarbeiten ,  an  die  zeitliche  Ver¬ 
schiebung  der  öffentlichen  Arbeiten  auf  Zeiten  geringer  Beschäftigung,  an  die 
Durchführung  des  Fortbildungszwanges,  die  die  Qualitäten  des  Arbeiters  hebt  und 
weiterbildet.  Auf  diesem  Wege  hat  man  bisher  versucht,  die  Quellen  der  Arbeits¬ 
losigkeit  einzudämmen,  und  der  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  selbst  und  ihrer 
Quellen  wird  bei  der  Bekämpfung  der  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  wohl  auch 
weiterhin  eine  hervorragende  Stelle  einzuräumen  sein.  Gelingt  es,  die  Arbeits¬ 
losigkeit  selbst  durch  zweckmäßige  Organisation  der  Volkswirtschaft  wesentlich 
herabzumindern,  so  ist  damit  auch  der  größte  Teil  des  zweiten  Problems,  der 
Sicherstellung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  in  seiner  Lösung  vorbereitet. 
Die  Durchführung  aller  der  Maßnahmen,  welche  geeignet  sind,  die  Erreichung 
dieses  Zweckes  zu  erleichtern,  die  Hebung  der  Fachschulbildung,  der  Ausbau  des 
Arbeitsnachweises,  die  Erleichterung  der  fachlichen  und  freien  Organisation  der 
Arbeiter,  die  Regulierung  der  Einwanderung,  sie  bilden  die  Vorbereitung  zu  einer 
zweckmäßigen  Behandlung  auch  des  weiteren  Problems :  der  Sicherstellung  gegen 
die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit.  Was  die  Projekte  anbetrifft,  welche  eine  staat¬ 
liche  Organisation  der  Arbeitslosenversicherung  an  die  Einrichtungen  der  deutschen 
Arbeiterfachverbände  anknüpfen  wollen ,  so  handelt  es  sich  dabei  um  ein  den 
deutschen  Verhältnissen  entsprechend  modifiziertes  Genter  System.  Nach  den 
Vorschlägen  von  Elm’s  und  des  Korrespondenzblattes  der  Gewerkschaften  wird 
allerdings  den  staatlichen  Organen  weniger  Einfluß  auf  die  Verwaltung  einge¬ 
räumt,  als  wie  dies  beim  Genter  System  der  Fall  ist.  Bemerkenswert  bei  diesen 
Projekten  ist  vor  allem  die  Begründung.  Begründet  werden  sie  in  der  Weise, 
daß  die  Arbeiterorganisationen  mit  ihren  bisherigen  Leistungen  Aufgaben  er¬ 
füllten,  die  zu  leisten  eigentlich  Sache  des  Staates  wäre,  und  daß  der  Staat  sie 
in  Zukunft  dafür  entschädigen  muß.  Wir  haben  uns  mit  dieser  Auffassung  bereits 
oben  auseinandergesetzt  und  ich  will  hier  nicht  erneut  darauf  eingehen,  sondern 
möchte  mich  nur  auf  meine  Bemerkungen  über  das  Genter  System  überhaupt  be¬ 
ziehen.  Die  Vorschläge,  welche  an  die  Unternehmerverbände  anknüpfen  wollen, 
nehmen  zum  Ausgangspunkt  durchgehends  die  deutsche  Unfallversicherung.  Es 
handelt  sich  um  die  Vorschläge  von  Herkner,  Zacher  und  Buschmann. 
Gemeinsam  ist  diesen  Vorschlägen  die  Auffassung,  daß  die  Industrie  verantwort¬ 
lich  wäre  für  die  Schwankungen  der  Konjunktur  und  daher  auch  die  Lasten 
der  Arbeitslosenversicherung  ihrerseits  zu  tragen  habe.  Auch  diese  Auffassung 
kann  gewissen  Bedenken  unterliegen.  Ich  möchte  bloß  darauf  hinweisen,  daß 
der  größte  Prozentsatz  der  Arbeitslosigkeit  in  Deutschland  im  Winter  auf  die 
Wettersaisongewerbe  entfällt,  also  mit  Umständen  zusammenhängt,  die  von  dem 
Willen  oder  von  dem  Verschulden  der  Unternehmer  gänzlich  unabhängig  sind, 
sondern  nach  dem  Klima,  in  dem  wir  leben,  mit  dem  betreffenden  Gewerbe  un¬ 
veränderlich  verknüpft  sind.  Ob  es  angängig  ist,  bei  dieser  Sachlage  den  Ge¬ 
dankengang,  der  diesen  Vorschlägen  zugrunde  liegt,  festzuhalten,  lasse  ich  dahin¬ 
gestellt.  Die  Idee,  die  Kosten  der  Arbeitslosenversicherung  ausschließlich  durch 
die  Arbeitgeber  auf  bringen  zu  lassen,  die  von  den  ScliAvankungen  der  Konjunktur 
selbst  betroffen  werden  und  gerade  in  Zeiten  der  Krisen  selbst  am  wenigsten 
leistungsfähig  sind,  bedürfte  in  jedem  Fall  sehr  genauer  Prüfung,  bevor  man  sie 
in  diesem  Umfange  als  berechtigt  anerkennen  könnte.  Die  Vorschläge,  die  an 


288  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

« 

die  Krankenversicherung  und  an  die  Invalidenversicherung  anknüpfen,  werden 
dadurch  beeinträchtigt,  daß  diese  beiden  Organisationen  für  ganz  andere  Zweige 
geschaffen  sind  als  für  den  Zweck  einer  Arbeitslosenversicherung  und  daher  für 
diesen  neuen  Zweig  nicht  so  recht  geeignet  erscheinen ;  die  Krankenversicherung, 
weil  sie  in  ca.  23000  Kassen  zersplittert,  für  diese  Zweige  nicht  einheitlich  genug 
organisiert  ist,  die  Invalidenversicherung,  weil  ihr  jede  Gliederung  der  Berufe 
und  ein  lokaler  Unterbau  fehlt,  —  zwei  Vorbedingungen,  die  für  die  Organisation 
einer  Arbeitslosenversicherung  unerläßlich  erscheinen.  Auf  die  Projekte,  welche 
an  den  Arbeitsnachweis  und  an  die  Gemeinden  anknüpfen  wollen,  brauche  ich 
nicht  weiter  einzugphen,  weil  von  ihnen  nur  eine  allmähliche  Entwicklung  er¬ 
wartet  wird,  nicht  die  Organisation  einer  Arbeitslosenversicherung  für  das  ganze 
Reich  mit  einem  Schlage.  Wenn  ich  mich  kurz  zusammenfassen  darf,  so  möchte 
ich  meine  Ausführungen  damit  schließen,  daß  ich  sage,  man  ist  bisher  bestrebt 
gewesen,  die  Arbeitslosigkeit  selbst  zu  bekämpfen  und  wird  weiter  bestrebt  sein 
müssen ,  diese  Bekämpfung  mit  allen  Mitteln  zweckmäßiger  Organisation  der 
Volkswirtschaft  auch  weiter  durchzuführen  und  weiter  auszubauen,  und  diese 
Bekämpfung  wird  dem  zweiten  Problem,  der  Sicherstellung  gegen  die  Folgen  der 
Arbeitslosigkeit,  seine  größte  Schärfe  nehmen.  Die  verschiedenen  Systeme  der 
Sicherstellung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit,  welche  bereits  heute  ge¬ 
braucht  sind  oder  vorgeschlagen  werden,  vermögen  alle  nicht,  entweder  das  Pro¬ 
blem  einwandfrei  oder  es  in  seinem  vollen  Umfange  zu  lösen.  Es  handelt  sich 
bei  allen  diesen  Vorschlägen  entweder  nur  um  mangelhafte  oder  nur  um  partielle 
Lösungen.  Ein  System,  welches  allen  Anforderungen  in  vollem  Umfange  genügte, 
ist  bisher  nicht  bekannt  geworden.  Man  kann  nur  hoffen ,  daß  die  weitere  Ent¬ 
wicklung  die  vielen  Zweifelsfragen ,  die  auf  diesem  Gebiete  noch  bestehen, 
klären  wird,  und  daß  es  dann  möglich  sein  wird,  zu  einer  Lösung  zu  gelangen, 
die  in  gleicher  Weise  dem  Interesse  des  Staates^  Avie  demjenigen  der  Arbeiter 
Rechnung  trägt.  Als  Vorbedingung  für  die  zAveckmäßige  Inangriffnahme  der 
Frage  muß  in  jegem  Fall  für  die  ausländischen  ebenso  Avie  für  unsere  deutschen 
Verhältnisse  der  weitere  Ausbau  des  Arbeitsnachweises  bezeichnet  werden.  Es 
ist  eine  gesunde  volkswirtschaftliche  Auffassung,  daß  der  Staat  öffentliche  Mittel 
nur  soAveit  zur  Verfügung  stellen  soll,  als  den  Arbeitslosen  angemessene  Arbeit 
nicht  zur  Verfügung  gestellt  Averden  kann.  Eine  Übersicht  darüber,  ob  das  der 
Fall  ist  ,  ist  aber  nur  möglich  bei  vollständiger  Organisation  der  Arbeitsver¬ 
mittelung. 


Umschau. 


Berlin,  den  10.  Juli  1907. 

Eine  tiefgehende  Reform  des  sozialen  Versicherungswesens  im 
Sinne  einer  Zusammenlegung  der  drei  großen  Versicherungskörper 
ist  nach  den  Ausführungen,  die  der  Staatssekretär  v.  Posadowsky- 
Wehner  hei  der  diesjährigen  Etatberatung  im  Reichstage  machte, 
in  weitere  Ferne  gerückt,  als  nach  früheren  Äußerungen  anzu¬ 
nehmen  war.  Doch  steht  eine  Reform  des  Krankenversicherungs¬ 
gesetzes,  die  in  der  Tat  dringend  notwendig  ist,  in  absehbarer 
Zeit  bevor.  Ferner  soll  die  hinausgeschobene  Vereinheitlichung 
des  Versicherungswesens  durch  eine  Zusammenlegung  der  drei  Ge¬ 
setze  in  Form  einer  neuen  Kodifikation  der  Gesetzgebung  vor¬ 
bereitet  werden.  In  dieses  neue  Gesetz  soll  dann  auch  die  Witwen- 
und  Waisenversicherung  hineingearbeitet  werden,  die  nach  dem 
Zolltarifgesetz  bis  zum  Jahre  1910  in  Kraft  treten  muß. 

Anläßlich  des  Scheidens  des  Grafen  v.  Posadowsky-Wehner 
aus  seinem  Amte  als  „Minister  für  Sozialpolitik“  sei  vom  Standpunkt 
der  Sozialen  Medizin  und  Sozialen  Hygiene  daran  erinnert,  daß  seiner 
Amtsführung  eine  umfassende  Reform  der  Invaliden-  und  Unfall¬ 
versicherung,  eine  neue  Seemannsordnung,  eine  Reform  der  Kranken¬ 
versicherung,  das  Kinderschutzgesetz,  der  Acht-  und  Neunuhrladen¬ 
schluß,  das  Reichsgesetz  über  die  Bekämpfung  gemeingefährlicher 
Krankheiten,  das  Verbot  zur  Herstellung  von  Phosphorzündhölzern 
und  die  Errichtung  der  dauernden  Ausstellung  für  Arbeiterwohl¬ 
fahrt  in  Charlottenburg  gutzuschreiben  ist.  Da  das  Ausscheiden 
des  Grafen  von  Posadowsky  und  seine  Ersetzung  durch  von 
Bethmann-Hollweg  aus  allgemeinpolitischen  Gründen  erfolgte, 
dürften  daraus  für  die  Sozialpolitik  keine  pessimistischen  Schlüsse 
zu  ziehen  sein. 


Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II. 


19 


290 


Umschau. 


Der  Plan  einer  obligatorischen  Arbeitslosenversicherung 
ist,  wenn  er  überhaupt  jemals  ernstlich  ins  Auge  gefaßt  worden 
ist,  wohl  definitiv  aufgegeben.  Das  ist  im  Interesse  einer  klaren 
und  zielbewußten  Weiterentwicklung  durchaus  zu  begrüßen. 
Damit  soll  keineswegs  gesagt  werden ,  daß  das  Problem  der 
Arbeitslosigkeit,  das  die  Nationalökonomen  so  viel  beschäftigt, 
etwa  für  die  sozial  empfindenden  Ärzte  gleichgültig  sei.  Sie 
haben  dazu  manches  zu  sagen  und  müssen  die  Volkswirte  warnen, 
sich  bei  ihren  Deduktionen  zu  sehr  an  den  abstrakten  Begriff  der 
Arbeitslosigkeit  zu  halten,  anstatt  sich  die  Personen  anzusehen,  die 
hinter  diesem  Begriffe  stehen.  Man  kann  diese  Individuen  zwanglos 
in  vier  Gruppen  einteilen  und  so  am  besten  die  Vielseitigkeit  des 
Problems  erkennen.  Die  erste  Gruppe  bilden  die  Saisonarbeiter,, 
die  an  stets  wiederkehrenden  Perioden  von  Arbeitslosigkeit  zu 
leiden  haben.  Für  diese  Art  der  Arbeitslosigkeit  eine  staatliche 
Versicherung  einzuführen,  dürfte  zwar  technisch  möglich  sein,  ist 
aber  nicht  dringend  erforderlich,  weil  gerade  diese  Arbeiter  in 
der  Regel  gelernt  haben,  sich  mit  der  Saisonarbeitslosigkeit  ab¬ 
zufinden.  Die  zweite  Gruppe  bilden  jene  Arbeiter,  die  eine  frei¬ 
willige  Arbeitslosigkeit  auf  sich  nehmen,  weil  ihnen  Arbeit 
nur  zu  Bedingungen  angeboten  wird,  die  ihnen  ungenügend  er¬ 
scheinen,  um  dafür  ihre  Ware  Arbeitskraft  auf  dem  Arbeitsmarkte 
abzugeben.  Diese  freiwillige  Arbeitslosigkeit,  die  prinzipiell  natür¬ 
lich  durchaus  zu  billigen  ist  und  ja  auch  von  uns  Ärzten  bei  Standes¬ 
kämpfen  zur  Anwendung  gelangt,  kann  natürlich  niemals  Gegen¬ 
stand  einer  staatlichen  Versicherung  sein,  sondern  muß  den 
Berufsorganisationen  überlassen  bleiben. 

Diese  beiden  Kategorien  von  Arbeitslosen  haben  das  gemeinsam,, 
daß  sie  nur  den  Volkswirt,  Politiker  oder  Gewerkschaftler  inter¬ 
essieren,  während  die  folgenden  ein  spezielles  sozialmedizinisches 
Interesse  darbieten.  Die  dritte  Kategorie  bilden  nämlich  jene 
Arbeitslosen,  die  keine  Arbeit  zu  finden  vermögen,  weil  sie  infolge 
chronischer  Erkrankungen,  Schwächezuständen,  Alter  oder  ererbter 
körperlicher  oder  geistiger  Minderwertigkeit  nur  über  einen  Bruch¬ 
teil  von  Arbeitskraft  verfügen.  Die  Zahl  dieser  Arbeitslosen  ist 
außerordentlich  groß  und  ihre  Situation  ist  durchaus  eines  gesetz¬ 
lichen  und  behördlichen  Eingriffes  bedürftig.  Die  drei  großen 
Versicherungskörperschaften  gewähren  ja  zurzeit  den  meisten  dieser 
Individuen  eine  dürftige  Rente.  Aber  sie  gewähren  ihnen  nicht 
die  Möglichkeit,  diese  Rente  durch  einen  Verdienst  zu  ergänzen, 
f  der  ihrer  verminderten  Arbeitsfähigkeit  entspricht.  Eine  neue 


Umschau. 


291 


Versicherung’  für  Arbeitslosigkeit  würde  ihnen  nichts  helfen.  Viel¬ 
mehr  dürften  hier  Maßregeln  allgemeiner  Natur,  Arbeitsnachweis 
und  vor  allen  Dingen  Assanierung  der  Heimarbeit,  zu  der  sich 
diese  bruchteiligen  Arbeitskräfte  unter  den  unwürdigsten  Arbeits¬ 
bedingungen  hinflüchten,  am  Platze  sein.  Die  vierte  Kategorie  von 
Arbeitslosen  umfaßt  jene,  die  überhaupt  nicht  mehr  in  der  Lage 
sind,  im  freien  gewerblichen  Leben  einen  Platz  auszufüllen,  die 
Vagabunden,  Arbeitsscheuen,  kriminellen  Individuen  usw.,  deren 
Zahl  in  Deutschland  noch  nach  Hunderttausenden  geschätzt  werden 
muß.  Der  größte  Teil  dieser  Individuen  besteht  aus  Epileptikern, 
Schwachsinnigen,  Trunksüchtigen  usw.  Für  diese  Art  Arbeitslosen 
kommt  natürlich  nur  ihre  Unterbringung  in  Asyle  in  Frage.  Aber 
es  muß  von  ärztlicher  Seite  immer  wieder  betont  werden,  daß 
diese  Asylisierung  in  viel  größerem  Maße  verallgemeinert  werden 
muß,  als  das  bisher  geschehen  ist. 

Am  31.  Mai  1907  starb  M.  Litten,  der  außerordentliche  Pro¬ 
fessor  für  innere  Unfallkrankheiten  an  der  Universität  Berlin,  im 
62.  Lebensj ahre.  A.  G  r  o  t  j  a h  n. 

Ein  Beispiel  dafür,  daß  kostspielige  hygienische  Anlagen  nicht 
ausschließlich  nach  bakteriologischen  Gesichtspunkten,  sondern 
unter  Würdigung  aller  in  Betracht  kommenden  Faktoren,  unter 
denen  besonders  die  wirtschaftlichen  ins  Gewicht  fallen,  vorbereitet 
und  durchgeführt  werden  müssen,  ist  die  Wasserversorgung  der 
Stadt  Breslau,  über  die  bereits  früher  *)  in  dieser  Zeitschrift  be¬ 
richtet  worden  ist.  Nach  einem  kurzen  Zeitraum  vorzüglicher 
Leistungsfähigkeit  nahm  Ende  März  1906  die  Wassermenge  ab, 
gleichzeitig  trat  eine  Beimengung  von  Eisen  und  vor  allem  von 
gelösten  Mangansalzen  in  solcher  Stärke  auf,  daß  das  Wasser  durch 
Aussehen  und  Geschmack  ungenießbar  und  auch  für  wirtschaftliche 
Zwecke  unbrauchbar  wurde.  Man  mußte  zu  filtriertem  Oder wasser 
zurückkehren  und  die  Wasserwerke  lieferten  der  Bevölkerung  eine 
je  nach  dem  Vorrat  von  einwandfreiem  Grundwasser  wechselnde 
Mischung,  in  der  das  Oderwasser  mehr  als  die  Hälfte  ausmachte. 
Zeitweise,  besonders  bei  Hochwasser,  versagten  die  Oderwasserfilter 
und  die  Bevölkerung  mußte  amtlich  aufgefordert  werden ,  das 
Leitungswasser  nur  in  gekochtem  Zustande  zu  trinken. 

Über  die  Ursachen  der  Katastrophe  wurden  umfangreiche 
Untersuchungen  angestellt,  an  denen  namentlich  A.  Lührig,  der 


0  Vgl.  diese  Zeitschrift,  Bd.  1,  H.  2,  S.  100. 


19* 


292 


Umschau. 


Leiter  des  städtischen  chemischen  Untersuchungsamts,  der  Direktor 
der  Geologischen  Landesanstalt  Beyschlag  und  der  Landes¬ 
geologe  Michael,  sowie  der  Breslauer  Geologe  Frech  beteiligt 
waren.  Aus  den  Verhandlungen,  welche  der  Breslauer  Magistrat 
Anfang  1907  in  einer  umfangreichen  Denkschrift  veröffentlichte, 
ergab  sich  als  die  hauptsächlichste  Ursache  der  Störung,  daß  die 
Menge  des  zur  Verfügung  stehenden  Grundwassers  für  den  Bedarf 
durchaus  ungenügend  war  und  daß  in  den  wenigen  Monaten  der 
Benutzung  viel  größere  Mengen  entnommen  wurden  als  nachströmten ; 
schließlich  entstammte  das  den  Brunnen  entnommene  Wasser  haupt¬ 
sächlich  den  tiefsten,  an  Sedimenten  reichen  Schichten. 

Das  praktische  Ergebnis  der  Untersuchungen  war  jeden¬ 
falls,  daß  die  Breslauer  Gemeindeverwaltung  die  verunreinigten 
Brunnen  einzog,  die  Wasserentnahme  aus  den  gut  gebliebenen 
Brunnen  herabsetzte  und  mit  der  Neuerrichtung  großer  Oderwasser¬ 
filter  vorging;  trotz  der  Bedenken,  die  gegen  die  Verwendung  des 
Wassers  eines  Stroms  vorliegen,  der  durch  industriereiche  Gegenden 
fließt  und  einen  regen  Schiffsverkehr  vermittelt,  konnte  nur  durch 
dieses  gemischte  System  die  erforderliche  Wassermenge  bereit 
gestellt  werden. 

Die  eingehende  Erörterung  der  Breslauer  Katastrophe  hat 
eine  Reihe  von  Vorschlägen  hervorgerufen,  in  denen  ein  praktischer 
Kern  enthalten  ist  und  die  möglicherweise  nicht  nur  für  Breslau, 
sondern  auch  für  andere  Städte  in  gleicher  Lage  die  Lösung 
großer  Schwierigkeiten  bringen.  Auch  Magdeburg  z.  B.  hat  damit 
zu  kämpfen,  daß  es,  wenn  irgend  möglich,  vom  Flußwasser  sich 
frei  machen  muß,  aber  nicht  über  genügende  Mengen  von  Grund¬ 
wasser  verfügt.  Man  hat  nun  in  Breslau  den  Vorschlag  gemacht, 
die  Grundwassermenge  dadurch  künstlich  und  regulierbar  anzu- 
reicliern,  daß  man  Oberflächenwasser  auf  das  Gebiet  der  Grund¬ 
wasserversorgung  leitet,  sei  es  in  Gestalt  von  Teichen  oder  in 
anderer  Form  und  durch  natürliche,  mittels  technischer  Einrich¬ 
tungen  geförderte  Filtration  in  den  Boden  einsickern  läßt,  um 
so  den  Grundwasserspiegel  stets  auf  der  für  den  Bedarf  erforder¬ 
lichen  Höhe  zu  erhalten.  Die  Versuche,  deren  Ergebnis  noch  aus¬ 
steht,  können  für  die  Frage  der  Wasserversorgung  großer  Städte 
bedeutungsvoll  werden.  A.  Gottstein. 


Das  Heilverfahren 

nach  (len  Unfallversicherungsgesetzen. 

Von  Dr.  med.  Heinrich  Schmidt, 

Assistent  für  Soziale  Medizin  und  Abteilnngsarzt  im  Krankenhaus  der  Barmherzigen 
Brüder  (Direktor  Prof.  Dr.  Th.  Rumpf),  Bonn. 

I.  Heilverfahren  im  formellen  Sinne. 

1.  Beginn  des  Heilverfahrens. 

Das  Heilverfahren  beginnt  regelmäßig  nach  dem  Gew.-G.  §  9 
u.  Iw.  G.  §  8  vom  Beginn  der  14.  Woche  nach  Eintritt  des  Un¬ 
falles  ab.  Mit  dem  Abläufe  der  ersten  13  Wochen,  der  sog.  Karenz¬ 
zeit,  beginnt  also  die  Verpflichtung  der  Bg.  Dieselbe  hat  zu  ge¬ 
währen  : 

„Freie  ärztliche  Behandlung,  Arznei  und  sonstige  Heilmittel, 
sowie  die  zur  Sicherung  des  Erfolges  des  Heilverfahrens  und  zur 
Erleichterung  der  Folgen  der  Verletzung  erforderlichen  Hilfsmittel 
(Krücken,  Stützapparate  u.  dgl.).“ 

Mit  der  übernommenen  Verpflichtung  zur  Gewährung  der 
Leistungen  gemäß  Gew.-G.  §  9,  lw.  G.  §  8,  Bau-G.  §  9  und  See-G. 
§  9  steht  der  Bg.  auch  das  Recht  der  Leitung  und  Überwachung 
zu.  Denn  die  Bg.  hat  das  größte  Interesse  daran,  daß  der  Ver¬ 
letzte  sich  einer  sachgemäßen  Behandlung  unterzieht,  die  eine 
möglichst  schnelle  Wiederherstellung  bzw.  eine  möglichst  gute 
Besserung  im  Auge  hat.  Es  geht  daher  nicht  an,  daß  der  Ver¬ 
letzte  nach  freiem  Belieben  eine  Behandlung  bzw.  ein  Heilverfahren 
aufnimmt,  das  mit  den  Interessen  der  Bg.  nicht  in  Einklang  steht, 
es  sei  denn,  daß  ein  Fall  der  Not  vorliegt,  was  im  Einzelfalle  zu 
beurteilen  ist. 

Hier  sei  noch  erwähnt,  daß  bestimmte  Vorschriften  über  die 


294 


Heinrich  Schmidt, 


„sonstigen  Heilmittel  nicht  bestehen“.  Nach  der  Entscheidung  des 
RVA.  vom  17.  IV.  Ol,  A.-N.  1901,  S.  398,  Besch.  1861,  ist  von  Fall 
zu  Fall  unter  Berücksichtigung  der  gesamten  in  Betracht  kommen¬ 
den  Verhältnisse  zu  prüfen,  ob  etwaige  Hilfsmittel,  wie  z.  B.  künst- 

"T\ 

liehe  Gliedmaßen  etc.,  zu  gewähren  sind  oder  nicht. 

Die  Pflicht  zur  Gewährung  der  erforderlichen  Hilfsmittel 
schließt  auch  die  Pflicht  zur  Instandhaltung  und  Erneuerung  in 
sich,  vorausgesetzt,  daß  nicht  eine  schuldhafte  Zerstörung  oder  Be¬ 
schädigung  vorliegt  (A.-N.  1903,  S.  476,  Besch.  2005). 


2.  Übernahme  in  der  Wartezeit. 

Die  Bg.  ist  berechtigt,  schon  während  der  Wartezeit  das  Heil¬ 
verfahren  in  Erkrankungsfällen,  die  durch  Unfall  herbeigeführt 
werden,  auf  ihre  Kosten  zu  übernehmen.  Die  betr.  Bestimmungen 
des  §  76  b,  c,  d  KVG.  finden  hierbei  entsprechende  Anwendung; 
siehe  auch  RG.  über  die  Abänderung  des  KVG.  vom  10.  IV.  92, 
RGBl.  S.  379  ff.  (Gew.-G.  §  12,  Abs.  II,  lw.  G.  §  27,  Abs.  III,  Bau-G. 
§  9  u.  10,  See-G.  §  14).  Die  Verwaltungen  der  Gemeinde-Kranken¬ 
versicherung,  die  Vorstände  der  Krankenkassen  und  die  im  §  75 
KVG.  bezeichneten  Hilfskassen  sind  verpflichtet,  jeden  durch  Unfall 
herbeigeführten  Erkrankungsfall,  der  durch  einen  nach  den  Unfall¬ 
gesetzen  zu  entschädigenden  Unfall  herbeigeführt  hat,  dem  Vor¬ 
stande  der  Bg.,  bei  welcher  der  Erkrankte  versichert  ist,  anzu¬ 
zeigen.  Die  Bg.  wird  sich  dann  darüber  schlüssig  werden,  ob  sie 
gemäß  §  76  c  KVG.  das  Heilverfahren  selbst  übernehmen  will  oder 
nicht.  Es  liegt  im  Interesse  der  Bg.,  von  dieser  Befugnis  in  vielen 
Fällen  und  hauptsächlich  mehr  als  seither  Gebrauch  zu  machen, 
vor  allem  um  eine  möglichst  rasche  Arbeitsfähigkeit  bzw.  eine 
möglichst  geringe  Beschränkung  der  Erwerbsfähigkeit  des  Ver¬ 
letzten  durch  ein  ihr  günstig  erscheinendes  Heilverfahren  zu  er¬ 
zielen.  Wie  wichtig  diese  Bestimmung  des  §  76 bl  KVG.  erscheint, 
geht  daraus  hervor,  daß  die  Unterlassung  der  Anzeige  mit  einer 

Geldstrafe  bis  zu  20  Mk.  geahndet  werden  kann. 

•  • 

Die  Übernahme  des  Heilverfahrens  gemäß  §  76  c  KVG.  seitens 
der  Bg.  gehört  unzweifelhaft  zu  denjenigen  Faktoren,  die  bisher 
noch  viel  zu  wenig  gewürdigt  sind.  Eine  volle  Würdigung  kann 
nur  erzielt  werden,  wenn  sowohl  seitens  der  Bg.  jeder  einzelne 
Erkrankungsfall  einer  sorgfältigen  Prüfung  im  Sinne  des  §  76  b  c 
unterzogen  wird,  als  auch  der  erstbehandelnde  Arzt  nach  sorg- 


295 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 

faltiger  Untersuchung’,  sich  alsbald  darüber  schlüssig  wird,  ob  nicht 
im  gegebenen  Fall  die  Übernahme  des  Heilverfahrens  durch  die 
Bg.  erfolgen  soll  oder  nicht.  Wir  werden  auf  diesen  Punkt  unten 
ausführlicher  zurückzukommen  haben,  bemerken  aber  schon  hier, 
daß  ein  wirklich  sachgemäßes  und  zweckentsp rechen¬ 
des  Handeln  der  Bg.  im  Vereine  mit  dem  erstbehan¬ 
delnden  Arzte  unzweifelhaft  ein  weit  besseres  Besultat  zur 
Folge  haben  wird,  als  solches  in  der  Gesamtübersicht  für  das  Jahr¬ 
zehnt  1893/1902  A.-N.  1904  S.  270  verzeichnet  ist.  Die  Zukunft 
dürfte  lehren,  daß  einmal  ein  zielbewußtes  Vorgehen  der  Bg.  und 
weiterhin  eine  schärfere  Beurteilung  des  einzelnen  Falles  seitens 
des  erstbehandelnden  Arztes  allein  oder  unter  Hinzuziehung  eines 
weiteren  Arztes  nicht  nur  zur  Ermäßigung  der  Unfallkosten 
überhaupt  beiträgt,  sondern  auch  in  vielen  Fällen  für  d  i  e  Wohl¬ 
fahrt  des  Verletzten  selbst  und  seiner  Familie  von 
ganz  außerordentlicher  Bedeutung  ist. 

3.  Übertragung  des  Heilverfahrens  an  die  Kranken¬ 
kasse  nach  der  Wartezeit. 

(Gew.-G.  §  11,  lw.  G.  §  14,  Bau-G.  §  9,  See-G.  §  16.) 

„Die  Bg.  ist  befugt,  der  Krankenkasse,  welcher  der  Verletzte 
angehört  oder  zuletzt  angehört  hat,  gegen  Ersatz  der  ihr  dadurch 
erwachsenen  Kosten  die  Fürsorge  für  den  Verletzten  über  den  Be¬ 
ginn  der  14.  Woche  hinaus  bis  zur  Beendigung  des  Heilverfahrens 
in  demjenigen  Umfange  zu  übertragen,  welchen  die  Bg.  für  geboten 
erachtet.“ 

Eine  ausdrückliche  Übertragung  des  Heilverfahrens  ist  nicht 
erforderlich,  wenn  bereits  gemäß  §  21,  Abs.  1,  Ziff.  1  KVG.  die 
Dauer  der  Krankenunterstützung  auf  einen  längeren  Zeitraum  als 
13  bzw.  26  Wochen  festgesetzt  ist  oder  wenn  sich  gemäß  §  6, 
Abs.  II  KVG.  die  Leistungen  der  Krankenkassen  auf  einen  längeren 
Zeitraum  als  13  Wochen  erstrecken. 

Daß  die  Bg.  befugt  ist,  auch  schon  innerhalb  der  ersten 
13  Wochen  nach  dem  Unfall  das  Heilverfahren  zu  übertragen, 
z.  B.  wenn  die  Krankenkasse  die  ihr  obliegenden  Leistungen  zu 
Unrecht  eingestellt  hat,  bedarf  keiner  weiteren  Ausführung. 

Im  übrigen  kann  den  Krankenkassen  von  den  Bg.  die  Für¬ 
sorge  für  Verletzte  nur  bis  zur  Beendigung  des  Heilverfahrens 
übertragen  werden  (A.-N.  1889,  S.  196,  Rek.-E.  705).  Die  beauf¬ 
tragten  Kassen  (siehe  Gew.-G.  §  11,  Abs.  IV  und  lw.  G.  §  14,  Abs.  V, 


296 


Heinrich  Schmidt, 


Bau-G.  §  9,  See-G.  §  16)  sind  zur  Übernahme  des  Heilverfahrens 
verpflichtet. 

Eine  Sonderbestimmung  trifft  Gew.-G.  §  11,  Abs.  II,  lw.  G. 
§  14,  Abs.  III,  indem’  nämlich  die  Landes-Zentralbehörde  anordnen 
kann,  daß  die  Mitglieder  derjenigen  Krankenkassen,  welche  Heil¬ 
anstalten  errichtet  haben,  in  denen  ausreichende  Einrichtungen  für 
die  Heilung  der  durch  den  Unfall  herbeigeführten  Verletzungen 
getroffen  sind,  bis  zum  Beginn  der  14.  Woche  nur  mit  Ge¬ 
nehmigung  der  Vorstände  dieser  Kassen  in  andere  Heil¬ 
anstalten  untergebracht  werden  dürfen.  Diese  Bestimmung  hat 
wohl  in  erster  Linie  einen  materiellen  Charakter,  indem,  wie  be¬ 
greiflich,  die  betr.  Kassen  in  der  Lage  sein  sollen,  ihre  eigenen 
Heilanstalten  mit  Kranken  belegen  zu  können,  ferner  um  jede  un¬ 
nötige,  mit  Auslagen  verbundene  Überweisung  in  eine  andere  An¬ 
stalt  tunlichst  vermeiden  zu  können. 

Der  Verletzte  darf  während  des  Heilverfahrens  nur  mit  seiner 

Zustimmung  in  eine  andere  Heilanstalt  überführt  werden.  Dies 

hat  seine  Berechtigung,  indem  einerseits  nicht  nach  Willkür  eine 

Überweisung  in  eine  andere  Anstalt  erfolgen  kann  und  weil  anderer- 

•  • 

seits  Beschwerden  des  Verletzten  wegen  unnötiger  Überweisung 
vorgebeugt  werden  soll.  Es  kann  allerdings  diese  Zustimmung 
durch  die  untere  Verwaltungsbehörde  des  Aufenthaltes  ergänzt 
werden.  Die  untere  Verwaltungsbehörde  (als  welche  nach  der 
Ausführungsanweisung  zum  Unfallversicherungsgesetz  für  G.  und  F. 
vom  19.  VIII.  1900  in  Städten  mit  mehr  als  10000  Einwohnern 
die  Gemeindebehörden,  im  übrigen  die  Landräte  anzusehen  sind) 
wird  z.  B.  von  diesem  Beeilte  Gebrauch  machen,  wenn  die  Über¬ 
führung  offenbar  oder  nach  Ansicht  des  Arztes  im  Interesse  des 

Heilverfahrens  für  unbedingt  erforderlich  erachtet  wird  oder  wenn 

•  • 

gar  der  Verletzte  aus  Schikane  einer  Überführung  widersprechen 
sollte. 

Die  Ersatzpflicht  ergibt  sich  aus  Satz  1  u.  2  des  Abs.  I  zu 
§11  Gew.-G.  und  §  14  lw.  G.,  Bau-G.  §  9  und  See-G.  §  16. 

Über  das  Verhältnis  der  Krankenkasse  zu  der  Bg.,  wTelche  ihr 
die  Fürsorge  für  einen  Verletzten  über  die  13.  Woche  hinaus  über¬ 
tragen  hat,  siehe  Entscheidung  des  preuß.  Oberverwaltungsgerichts 
vom  14.  II.  1889,  A.-N.  1890,  S.  510.  Die  Übertragung  der  Ent¬ 
schädigungsleistung  seitens  der  Bg.  ist  nicht  Voraussetzung  des 
Ersatzanspruches  der  Krankenkassen  an  die  Bg.  für  statutarische 
Leistungen  der  Krankenkassen  nach  dem  Beginn  der  14.  Woche 
nach  dem  Unfall  (A.-N.  1896,  S.  305 jr 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


297 


4.  Beendigung  des  Heilverfahrens  bei  fortdauernder 

Erwerbsunfähigkeit. 

Für  den  Fall,  daß  das  Heilverfahren  beendet,  die  volle  Er¬ 
werbsfähigkeit  aber  noch  nicht  hergestellt  ist  und  die  Kranken¬ 
kasse  kein  Krankengeld  mehr  gewährt,  trifft  Gew.-G.  §  13,  lw.  G. 
§  15,  Bau-G.  §§  9  u.  10,  See-G.  §  15  die  Bestimmung,  daß  die  Bg. 
dem  Verletzten  die  Unfallrente  schon  von  dem  Tage  ab  zu  ge¬ 
währen  hat,  an  welchem  der  Anspruch  auf  Krankengeld  in  Weg¬ 
fall  kommt. 

Der  allgemeine  Grundsatz,  daß  die  Leistungen  aus  der  Unfall¬ 
versicherung  erst  mit  dem  Ablauf  der  ersten  13.  Woche  eintreten, 
wird  also  durch  obige  Bestimmung  durchbrochen  und  ist  als  Vor¬ 
aussetzung  hierfür  erforderlich,  daß  entweder  Krankengeld  seitens 
der  versicherungspflichtigen  Personen  bezogen  worden  ist  oder  ein 
Anspruch  auf  Krankengeld  in  jener  Zeit  bestanden  hat. 

Auf  landwirtschaftliche  Arbeiten  findet  obige  Bestimmung  in¬ 
sofern  keine  Anwendung,  als  dieselben  Krankengeld  nicht  bezogen 
haben.  (Siehe  im  übrigen  A.-N.  1901,  S.  363,  Besch.  1854,  A.-N. 
1901,  S.  599,  RE.  1881.) 

5.  Ein  neues  Heilverfahren  jederzeit. 

(Gew.-G.  §  23,  lw.  G.  §  24,  Bau-G.  §  9,  See-G.  §  18.) 

Die  Bg.  kann,  wenn  begründete  Annahme  vorhanden  ist,  daß 
der  Empfänger  einer  Unfallrente  bei  Durchführung  eines  Heilver¬ 
fahrens  eine  Erhöhung  der  Erwerbsfähigkeit  erlangen  werde,  jeder¬ 
zeit  ein  neues  Heilverfahren  eintreten  lassen.  Eine  begründete 
Annahme  im  obigen  Sinne  ist  stets  als  vorhanden  anzunehmen,  so¬ 
lange  eine  Aussicht  auf  Besserung  der  Unfallfolgen  besteht.  Es 
finden  die  früheren  Bestimmungen  gemäß  Gew.-G.  §  11,  Abs.  I  u.  II 
und  lw.  G.  §  14  mit  Ausnahme  des  Abs.  III  bzw.  Abs.  IV  dieser 
Paragraphen  entsprechende  Anwendung. 

Weigert  sich  der  Verletzte  ohne  gesetzlichen  und  triftigen 
Grund,  bei  Wiedereröffnung  eines  neuen  Heilverfahrens  den  Ma߬ 
nahmen  der  Bg.  nachzukommen,  so  kann  ihm  der  Schadenersatz 
auf  Zeit  ganz  oder  teilweise  versagt  werden  unter  den  weiteren 
Voraussetzungen  des  Gew.-G.  §  23,  Abs.  II,  lw.  G.  §  24,  Abs.  II, 
Bau-G.  §  9,  See-G.  §  18. 

Als  gesetzlicher  Grund  zur  Weigerung  ist  z.  B.  die  Bestimmung 


298 


Heinrich  Schmidt, 


des  §  22  Gew.-G.,  Abs.  I.  Ziff.  1  anzusehen  und  die  analogen  Be¬ 
stimmungen  der  übrigen  Gesetze. 

Welche  Gründe?  als  triftig  oder  als  nicht  triftig  anzusehen 
sind,  wird  im  Einzelfalle  zu  entscheiden  sein.  Unter  den  zahl¬ 
reichen  hierüber  eingegangenen  Entscheidungen,  die  sich  auf  Moral, 
Zweckmäßigkeit,  allgemeine  Vorschriften,  analoge  Bestimmungen 
anderer  Gesetze  etc.  beziehen  können,  sei  nur  auf  folgende  hin¬ 


gewiesen  : 


A.-N. 

1900 

Seite 

669 

EE. 

752 

1889 

358 

EE. 

1219 

1893 

?? 

167 

EE. 

1535 

1896 

382 

EE. 

1685 

1897 

580 

EE. 

2107 

1905 

V) 

430 

EE. 

501 

1888 

197 

EE. 

610 

1888 

333 

EE. 

871 

1890 

499 

EE. 

500 

1888, 

?? 

196 

B. 

1353 

1894 

V) 

283 

1903 

?? 

593 

EE. 

1216 

1893 

166 

EE. 

1718 

189§ 

362 

1899 

?? 

442 

EE. 

1219 

1893 

167 

« 


Im  Falle  der  Weigerung  können  (gemäß  einer  Rek.-Entsch. 
2026  A.-N.  1903,  S.  593/94)  die  für  den  Verletzten  ungünstigen 
Schlüsse  gezogen  werden.  Es  wird  darin  ausdrücklich  betont,  daß 
die  Bg.  bei  endgültiger  Weigerung  zu  dem  Renten anspruche  Stellung 
zu  nehmen  hat  gemäß  Abs.  II  obiger  Paragraphen. 

Wegen  der  weiteren  Auslegung  dieser  Paragraphen  siehe 
Rek.-Entsch.  A.-N.  1903,  S.  468  ff.,  RE.  2000. 

Nach  einer  mit  Bewilligung  des  Verletzten  vorgenommenen 
Operation  darf  letzterer  den  Heilprozeß  nicht  vereiteln,  muß  viel¬ 
mehr  die  Durchführung  desselben  im  Krankenhause  ab  warten  (A.-N. 
1890,  S.  499,  RE.  871). 


6.  Das  Wahlrecht  der  Bg.  a u s  G e w. - G.  §  22,  1  w.  G.  §  23, 

Bau-G.  §  9,  See-G.  §  17. 

Die  Bg.  hat  die  Befugnis,  an  Stelle  der  Leistungen  aus  Gew.-G. 
§§11  u.  12,  lw.  G.  §  8  dem  Verletzten  freie  Kur  und  Verpflegung 
in  einer  Heilanstalt  zu  gewähren.  Zustimmung  des  Verletzten  ist 
erforderlich,  wenn  derselbe  verheiratet  ist,  eine  eigene  Haushaltung 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfaüversicherimgsgesetzen.  299 

hat  oder  Mitglied  der  Haushaltung  seiner  Familie  ist.  Die  Zu¬ 
stimmung  ist  nicht  erforderlich,  wenn  die  Behandlung  und  Pflege 
in  der  Familie  nicht  sachgemäß  ausgeführt  werden  kann,  oder 
wenn  nach  Ansicht  des  Arztes  des  Aufenthaltsortes  des  Verletzten 
eine  fortgesetzte  Beobachtung  des  Verletzten  erforderlich  ist. 

Die  Ausübung  des  Wahlrechts  hat  unter  Hinweis  auf  die 
Folgen  der  Weigerung  durch  formellen  Bescheid  zu  erfolgen,  welcher 
der  Berufung  auf  schiedsgerichtliche  Entscheidung  unterliegt. 

Wann  das  Wahlrecht  von  der  Bg.  ausgeübt  wird,  ergibt  sich 
im  Einzelfalle,  jedenfalls  muß  ähnlich,  wie  oben  bei  der  Wieder¬ 
eröffnung  des  Heilverfahrens  —  abgesehen  von  den  Fällen,  in 
denen  die  Anordnung  der  Heilanstaltsbehandlung  unausführbar  ist, 
wenn  der  Verletzte  z.  B.  im  Zuchthaus,  im  Ausland,  oder  nicht 
transportfähig  ist  —  hinsichtlich  der  „begründeten  Annahme“  dar¬ 
gelegt  ist,  Aussicht  auf  Erfolg  der  Heilbehandlung 
•  vor  liegen.  Handelt  es  sich  bei  der  Einweisung  in  eine  Heil¬ 
anstalt  um  ärztliche  Beobachtung  behufs  Feststellung  der  Unfall¬ 
folgen,  so  ist  zu  diesen  Maßnahmen  außer  der  Bg.  unter  Umständen 
auch  das  Schiedsgericht  und  das  Reichsversicherungsamt  bei  Er¬ 
stattung  der  dem  Verletzten  entstehenden  Kosten  befugt  (Hdb.  der 
Unfallversicherung  von  Breitkopf  und  Härtel  —  S.  180,  Anm.  2). 

Der  Verletzte  ist  verpflichtet,  sich  den  ärztlichen  und  häus¬ 
lichen  Anordnungen  der  Heilanstalt  zu  unterwerfen  (A.-N.  1888, 
S.  196).  Er  hat  persönlich  dazu  beizutragen,  daß  ein  möglichst 
guter  Heilerfolg  erzielt  wird.  Dagegen  kann  der  Verletzte  ohne 
Nachteil  für  seinen  Entschädigungsanspruch  Operationen,  sowie 
Eingriffe,  die  mit  einer  gewissen  Lebensgefahr  verbunden  sind,  wie 
z.  B.  Narkose,  stets  ablehnen. 

Im  Falle  der  Widersetzung  seitens  des  Verletzten  kommt 
Gew.-G.  §  23,  Abs.  II  und  die  analogen  Paragraphen  der  übrigen 
Gesetze  in  Betracht. 

Gegen  den  Willen  des  Verletzten  kann  von  der  Bg.  das  Wahl¬ 
recht  nur  ausgeübt  werden,  solange  das  Heilverfahren  nicht  be¬ 
endigt  ist  (A.-N.  1891,  S.  358,  B.  1073).  Wann  letzteres  als  be¬ 
endigt  anzusehen  ist,  siehe  A.-N.  1891,  S.  211,  Rek.-Entsch.  969. 

Übt  die  Bg.  nachträglich  das  Wahlrecht  aus,  wenn  also  von 
anderer  Seite  eine  Heilanstaltsbehandlung  eingeleitet  war,  so  ist 
sie  auch  im  Falle  der  Übernahme  der  Anstaltsbehandlung  ver¬ 
pflichtet,  die  Angehörigenrente  zu  zahlen.  Weigert  sie  sich  in¬ 
dessen,  so  kann  die  Angehörigenrente  nicht  beansprucht  werden 
OV-N.  1900,  S.  716,  RE.  1819  —  siehe  auch  1888,  S.  282,  RE.  551). 


300 


Heinrich  Schmidt, 


Die  Bg.  können  regelmäßig  behufs  mediko-mechanischer  Be¬ 
handlung  den  Eintritt  des  Verletzten  fordern,  auch  wenn  der  Ver¬ 
letzte  eine  an  sich  gute,  ambulante  mediko-mechanische  Behandlung 
genießt  (A.-N.  1893,  S.  167,  RE.  1218).  Siehe  im  übrigen  hinsicht¬ 
lich  des  Wahlrechts: 

1886  Seite  292  B.  241 

1888  „  282  RE.  552 

1889  „  358  RE.  752 


7.  Kosten  des  Heilverfahrens. 

Als  Kosten  des  Heilverfahrens  kommen  in  Betracht  nach 
Gew.-G.  §  9,  Abs.  I,  Ziff.  I  u.  Iw.  G.  §  8,  Abs.  I,  Ziff.  I:  Freie 
ärztliche  Behandlung,  Arznei  und  sonstige  Heilmittel,  nach  Gew.-G. 
§  22,  lw.  G.  §  23,  Bau-G.  §  9,  See-G.  §  9:  freie  Kur  und  Ver¬ 
pflegung  in  einer  Heilanstalt;  auch  Irrenpflege,  ev.  mit  der  Kranken¬ 
pflege  in  Zusammenhang  stehende  Reise-  und  Transportkosten,, 
künstliche  Gliedmaßen,  deren  Instandsetzung  und  Erneuerung  und 
Ähnliches. 

Die  Leistungen  beginnen  mit  dem  Tode  sofort,  sonst  regel¬ 
mäßig  mit  dem  Beginn  der  14.  Woche.  Die  Leistung  bei  Über¬ 
tragung  ist  bereits  oben  berührt.  Ausnahme  siehe  Gew.-G.  §  12 
u.  13,  Bau-G.  §§  9,  10,  See-G.  §  14. 

Es  wird  grundsätzlich  nur  dafür  Ersatz  geleistet,  was  objektiv 
zu  einem  sachgemäßen  Heilverfahren  erforderlich  war.  Eine  sub¬ 
jektive  Entschädigungsfeststellung  seitens  des  Verletzten  oder  des 

Versicherers  kommt  nicht  in  Betracht.  Als  Kosten  des  Heilverfahrens 

•  • 

gelten  auch  Honorare  der  Arzte  vor  der  Auftragserteilung  seitens 
der  Bg.,  wenn  die  Behandlung  angezeigt  war  (A.-N.  1896,  S.  493). 
Die  Ersatzpflicht  ist  unter  Umständen  beschränkt  bei  einem  ohne 
Befragung  der  Bg.  vom  Verletzten  veranlaßten,  notwendigen  Heil¬ 
verfahrens  A.-N.  1898,  S.  261,  RE.  1706,  B.  1563),  desgleichen  bei 
einem  von  der  Krankenkasse  eingeleiteten  Heilverfahrens  (A.-N.  1898,. 
S.  555,  RE.  1733). 

Kosten  der  Reise  eines  Verletzten  behufs  Gestellung  in  einer 
Heilanstalt  hat  die  Bg.  vorzuschießen  (A.-N.  1887,  S.  27,  B.  276). 
Einweisung  in  eine  Heilanstalt  verpflichtet  die  Bg.  unter  Umständen 
auch  zur  Lieferung  von  Kleidungsstücken  an  den  Verletzten 
(A.-N.  1891,  S.  210,  RE.  966),  aber  nicht  zur  Gewährung  von  Bier 
und  Zigarren  zum  bloßen  Genuß  (Ä.-N.  1891,  S.  210,  RE.  967). 


Das  Heilverfahren  nach  ilen  Unfallversicherungsgesetzen. 


301 


Die  Höhe  der  von  der  Bg.  zu  erstattenden  Kosten  des  Heil¬ 
verfahrens  kann  auch  gegenüber  der  an  Stelle  des  Verletzten  ge¬ 
tretene  Krankenkasse  (UVG.  §  8)  nur  von  den  Instanzen  des  UVG. 
festgestellt  werden.  Entscheidung  des  Reichsgerichts  vom  25.  II. 
1896,  A.-N.  1896,  S.  311,  Nr.  2.  —  Kosten  des  Heilverfahrens  inner¬ 
halb  der  ersten  13.  Woche  können  die  Krankenkassen  von  der  vor¬ 
her  nicht  befragten  Bg.  nicht  erstattet  verlangen  (A.-N.  1905,  S.  411, 
B.  2103).  Wegen  Lieferung,  Instandhaltung  und  Erneuerung  von 
Hilfsmitteln  (Stützen,  Krücken  etc.)  siehe  A.-N.  1903,  S.  476,  B.  2005. 

Hinsichtlich  der  Kosten  vermehrter  Pflege  und  Aufwartung, 
der  Kosten  des  Heilverfahrens  siehe  Entscheidung  des  Reichsgerichts 
(A.-N.  1892,  S.  259,  Nr.  6). 

Die  Feststellung  erfolgt  gemäß  Gew.-G.  §  69,  lw.  G.  §  75,  Bau-G. 
§  37,  See-G.  §  74  durch  Beschlußfassung,  und  zwar  sofern  die  Ge¬ 
nossenschaft  in  Sektionen  eingeteilt  ist,  durch  den  Vorstand  der 
Sektion,  wenn  es  sich  handelt  um  die  im  Gew.-G.  §  69,  Abs.  I, 
Zifl*.  I  und  lw.  G.  §  75,  Abs.  I,  Ziff.  I  unter  a.  bis  e.  bezeichneten 
Leistungen,  in  allen  übrigen  Fällen  durch  den  Vorstand  der  Ge¬ 
nossenschaft. 

Gemäß  Absatz  2  obiger  Paragraphen  kann  die  Feststellung 
auch  durch  besondere  Kommissionen,  Vertrauensmänner,  Ausschuß 
des  Genossenschafts-  oder  Sektionsvorstandes  erfolgen. 

Soll  nach  Gew.-G.  §  69  u.  lw.  G.  §  75,  Abs.  II,  (Bau-  u.  See-G.) 
auf  Grund  eines  ärztlichen  Gutachtens  die  Bewilligung  einer  Ent¬ 
schädigung  abgelehnt  werden,  so  ist  vorher  der  behandelnde  Arzt 
zu  hören.  Ev.  Zurückweisung  an  die  Vorinstanz.  (A.-N.  1903, 
S.  472,  RE.  2001.  2002.)  Wer  als  behandelnder  Arzt  anzusehen  ist, 
siehe  A.-N.  1901,  S.  180,  Bescheid  1843. 

Die  Festsetzung  der  Entschädigung  erfolgt  von  Amts  wegen  in 
beschleunigtem  Verfahren  (Gew.-G.  §  71,  Abs.  1,  lw.  G.  §  77,  Bau-G. 
§  37,  See-G.  §  76).  Siehe  hierzu  Motive  (1900)  zu  §  58.  Die  Be¬ 
schleunigung  gilt  auch  für  den  Fall  des  Abs.  II  dieser  Paragraphen. 
Im  Falle  des  Abs.  III  hat  vorläufige  Zubilligung  der  Entschädigung 
zu  erfolgen. 

Daß  diese  Beschleunigung  wohl  die  größte  Verzögerung  erleidet 
durch  das  Heilverfahren,  die  Feststellung  des  Grades  der  Erwerbs¬ 
fähigkeit,  die  erforderlichen  ärztlichen  Beobachtungen  und  die  im 
Anschluß  daran  zu  erstattenden  Gutachten  liegt  auf  der  Hand. 
Immerhin  aber  muß  prophylaktisch  für  eine  möglichst  schnelle  Er¬ 
ledigung  dieser  Maßnahmen  mehr  als  bisher  Sorge  getragen  werden. 
Wir  werden  auf  diesen  Punkt  später  zurückkommen. 


302  Heinrich  Schmidt, 

Die  Feststellung*  bat  zu  erfolgen  in  demjenigen  Zeitpunkt,  in 
welchem  alle  für  die  Entschädigung  erheblichen  Tatsachen  fest¬ 
stehen.  Zu  diesem  Behufe  ist  unter  Umständen  nicht  erforderlich, 
daß  die  Bg.  die  Durchführung  der  Unfalluntersuchung  etc.  ab¬ 
wartet.  Siehe  im  übrigen  Anleitung  des  RVA.  vom  11,  I.  1888 
(Hdb.  S.  901  ff.) 

Eine  Feststellung  der  Entschädigung  wird  auch  dann  als  ge¬ 
schehen  angesehen,  wenn  die  Fürsorge  für  den  Verletzten  einer 
Krankenkasse  übertragen  ist  oder  nur  die  Kosten  des  Heilverfahrens 
übernommen  sind  (A.-N.  1891,  S.  290,  RE.  1066). 

Bei  wesentlichen  Veränderungen  der  Verhältnisse  (z.  B.  erheb¬ 
liche  Besserung,  Verschlechterung,  Tod,  Notwendigkeit  der  Heil¬ 
behandlung)  für  die  Feststellung  kann  anderweite  Feststellung  er¬ 
folgen  (Gew.-G.  §  88,  lw.  G.  §  94,  Bau.-G.  §  37,  See-G.  §  92).  Die¬ 
selbe  erfolgt  auf  Antrag  oder  ex  officio  durch  Bescheid  der  Bg., 
ev.  auf  Antrag  durch  Entscheidung  des  Schiedsgerichtes.  Zu  dem 
Anträge  auf  Wiederaufnahme  eines  Heilverfahrens  ist  neben  dem 
Verletzten  auch  die  Krankenkasse,  der  er  angehört,  berechtigt 
(Abs.  IV).  Dieselbe  hat  nicht  nur  ein  berechtigtes  Interesse  an 
dem  Heilerfolge  ihrer  Mitglieder  sondern  auch  hinsichtlich  des  zu 
leistenden  Ersatzanspruches  im  Sinne  des  Gew.-G.  §  25,  Iw.  G.  §  30, 
Bau-G.  §  9,  See-G.  §  29.  Siehe  hierzu  Gew.-G.  §  91,  lw.  G.  §  97, 
Bau-G.  §  37,  See-G.  §  95  bezüglich  des  neuen  Heilverfahrens.  Nach 
Abschluß  desselben  erfolgt  die  Entschädigungsfestsetzung  etc.  stets 
durch  Bescheid  der  Bg. 

Wesentliche  Veränderung  ist  in  der  Hauptsache  nur  dann  vor¬ 
handen,  wenn  Konnexität  zwischen  Unfall  und  Veränderung  vor¬ 
liegt  (RE.  1955,  A.-N.  1902,  S.  560). 

Zur  Prüfung,  ob  überhaupt  wesentliche  Veränderungen  vor¬ 
liegen,  können  ärztliche  Untersuchungen  vorgenommen  werden 
(Rechtshilfe  §  154  lw.  G.),  bei  grundloser  Weigerung  die  dem  Ver¬ 
letzten  ungünstige  Schlußfolgerung  (RE.  2026,  A.-N.  1903,  S.  593). 

8.  Rekurs  unzulässig  überKosten  desHeilverfahrens 
(Gew.-G.  §  80,  lw.  G.  §  86,  Bau-G.  §  37,  See-G.  §  84). 

Aus  den  erwähnten  Paragraphen  der  verschiedenen  Unfall¬ 
gesetze  geht  hervor,  daß  nur  in  den  Fällen  §  69,  Abs.  I,  Ziff.  2 
und  den  entsprechenden  Paragraphen  der  übrigen  Unfallgesetze 
dem  Verletzten  oder  dessen  Hinterbliebenen,  sowie  dem  Genossen- 
schaftsvorstande  das  Rechtsmittel  des  Rekurses  zusteht. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Uiifallversichernngsgesetzen. 


303 


Es  ist  also  die  Entscheidung  des  Schiedsgerichts  endgültig, 
wenn  es  sich  handelt: 

1.  um  freie  ärztliche  Behandlung,  Arznei  und  sonstige  Heil¬ 
mittel,  sowie  die  zur  Sicherung  des  Erfolges  des  Heilverfahrens 
und  zur  Erleichterung  der  Folgen  der  Verletzung  erforderlichen 
Hilfsmittel  (Krücken,  Stützapparate  u.  dgl.) 

2.  um  die  Aufnahme  des  Verletzten  in  eine  Heilanstalt. 

Die  wichtigsten  ergangenen  Entscheidungen,  das  Heilverfahren 
betreffend,  sind  folgende; 

Streit  darüber,  wieweit  das  Heilverfahren  reicht  und  was  zu 
den  Kosten  desselben  gehört,  ist  nicht  rekursfähig  (A.-N.  1890, 
S.  194,  RE.  819).  Dagegen  ist  Rekurs  zuzulassen  über  Kosten  des 
Heilverfahrens  nach  Verbindung  mit  einem  Rekurse  zu  gemein¬ 
samer  Verhandlung  und  Entscheidung  (A.-N.  1890,  S.  487,  RE.  847). 
Siehe  hierzu  A.-N.  1903,  S.  257,  RE.  1979,  wonach  die  Zulässigkeit 
des  an  sich  unzulässigen  Rekurses  (Heilanstaltsbehandlung)  durch 
Verbindung  zur  Verhandlung  mit  einem  zulässigen  Rekurse  der 
Gegenpartei  nicht  begründet  wird.  Rekurs  ist  ferner  zulässig  in 
einem  Streite  über  die  Kosten  des  Heilverfahrens  wegen  der  Frage 
der  Zuständigkeit  des  Schiedsgerichtes,  das  sich  ohne  sachliche 
Entscheidung  für  unzuständig  erklärt  hat  (A.-N.  1898,  S.  555. 
RE.  1733). 

Rekurs  ist  unzulässig,  wenn  es  sich  um  Erstattung  der  Kosten 
des  Heilverfahrens  handelt  (A.-N.  1900,  S.  670,  RE.  1808).  Rekurs 
ist  unzulässig  gegen  Schiedsgerichtsurteil,  das  nur  für  die  Dauer 
eines  beendigten  Heilverfahrens  Anspruch  auf  freie  Krankenhaus¬ 
behandlung  zuerkennt  (A.-N.  1895,  S.  260,  RE.  1468).  Rekurs  ist 
ferner  zulässig  wegen  der  Wirkung  des  eigenmächtigen  Ver- 
lassens  einer  Heilanstalt  auf  den  Rentenanspruch  (A.-N.  1901,  S.  625, 
RE.  1891). 

II.  Das  eigentliche  Heilverfahren. 

Das  eigentliche  Heilverfahren  nach  den  Unfallgesetzen  ge¬ 
staltet  sich  im  allgemeinen  nicht  anders  als  dasjenige  im  Privat¬ 
betrieb  überhaupt.  Es  findet  daher  bei  der  Behandlung  seitens 
des  Arztes  kein  Unterschied  statt,  ob  der  Verletzte  einer 
Krankenkasse,  Berufsgenossenschaft  angehört  oder  ob  sich  jemand 
in  private  Behandlung  begibt.  Alle  Verpflichtungen,  welche  dem 
gewissenhaften  Arzt  durch  seine  Berufspflicht  gegenüber  einem 
Privatkranken  zufallen,  gelten  in  gleicher  Weise  für  das  Mitglied 


304  Heinrich  Schmidt, 

einer  Krankenkasse,  einer  Genossenschaft  oder  der  Invalidenver¬ 
sicherung  etc.  —  Infolge  der  mangelhaften  Honorierung 
der  kassenärztlichen  Leistungen  und  des  geringen  Interesses  vieler 
Krankenkassenvorstände,  weiterhin  infolge  der  mangelnden  Zeit 
für  die  einzelnen  Fälle,  hat  sich  leider  vielfach  der  Gebrauch  aus¬ 
gebildet,  den  Mitgliedern  von  Krankenkassen  oder  Genossenschaften 
bei  der  Behandlung  nicht  das  Interesse  zu  zeigen,  nicht  jene  Auf¬ 
merksamkeit  zuzuwenden,  wie  sie  bei  der  Behandlung  eines  be¬ 
mittelten  Privatkranken  die  Begel  ist.  Es  ist  dies  eine  traurige 
Tatsache ,  die  durchaus  zu  verurteilen  ist.  Hat  der  Arzt  einmal 
seinen  Beistand  zugesagt,  so  darf  eben  kein  Unterschied  mehr  ge¬ 
macht  werden  zwischen  Arm  und  Reich,  Freund  oder  Feind.  Ja, 
man  kann  nicht  selten  wahrnehmen,  daß  bei  der  Behandlung  sogar 
ein  Unterschied  gemacht  wird  zwischen  Krankenkassenmitgliedern 
und  solchen  Kranken,  deren  Behandlung  die  Berufsgenossenschaften 
übernommen  haben.  Wenn  auch  die  Berufsgenossenschaften  meist 
in  den  wichtigeren  Fällen  das  Heilverfahren  selbst  übernehmen,  so 
liegt  darin  doch  noch  kein  Grund,  die  weniger  wichtig  erscheinenden 
Fälle,  die  in  der  Behandlung  der  Krankenkassen  bleiben,  stief¬ 
mütterlicher  zu  behandeln.  Durch  letzteren  Umstand  wird  das 
Heilverfahren  unnütz  in  die  Länge  gezogen  und  die  Kranken 
werden  nicht  selten  systematisch  zu  sogenannter  „traumatischer 
Neurose“  (Hypochondrie,  Neurasthenie,  Hysterie,  Querulantentum) 
erzogen.  Den  von  einigen  Ärzten  gemachten  Einwand,  daß  man 
von  den  Kassenmitgliedern,  von  den  Armenverwaltungen  gesandten 
Kranken  etc.  keinen  oder  zu  wenig  Dank  ernte,  können  wir  nicht 
unterstützen.  Undankbare  Menschen  gibt  es  überall,  dieselben 
findet  man  bei  Privatkranken  ebenso  wie  bei  Mitgliedern  der 
A  r  b  eit  er  versieh  erun  g. 

Die  Tätigkeit  des  erstbehandelnden  Arztes  ist 
hinsichtlich  der  Folgen  desUnfallesvon  allergrößter 
Bedeutung,  sei  es,  daß  eine  äußere  Verletzung  stattgefunden 
hat,  sei  es,  daß  ein  Unfall  durch  Einwirkung  stumpfer  Gewalt  vor¬ 
liegt.  Wird  nach  dem  Unfall  der  erste  Moment  energischen  Ein¬ 
greifens,  vor  allem  die  sichere  Beurteilung,  ob  der  Verletzte  sofort 
in  eine  geeignete  Heilanstalt  zu  überweisen  ist  oder  nicht,  ver¬ 
paßt,  dann  pflegt  oft  viel  verloren  zu  sein,  da  es  in  nur  wenig 
Fällen  gelingt,  das  Versäumte  wieder  nachzuholen.  Der  Verletzte 
ist  gleich  nach  dem  Unfälle  einer  Erfolg  versprechenden  Behand¬ 
lung  und  einem  operativen  Eingriff  zugänglich.  Nach  Ablauf  einer 
gewissen  Zeit  pflegt  das  nicht  mehr  der  Fall  zu  sein. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


305 


Hat  man  vollends  so  lange  gewartet,  bis  sich  teils  eigene  Vor¬ 
stellungsideen  bei  den  Verletzten  gebildet  haben,  teils  von  dritter 
Seite  ungünstige  Einwirkungen  stattgefunden  haben,  dann  ist  sehr 
oft  das  Heilverfahren  sowohl  hinsichtlich  der  Dauer  und,  was  das 
Wichtigste  ist,  hinsichtlich  der  späteren  Erwerbsfähigkeit  in  vielen 
Fällen  ein  wenig  aussichtsvolles. 

Wir  können  hier  den  Ausführungen  von  Pieper1)  (Seite  19) 
nur  beipflichten,  daß  jede  Berufsgenossenschaft  unmittelbar  bei  Be¬ 
ginn  ihrer  Entschädigungspflicht  in  jenem  einzelnen  Falle  sich  dar¬ 
über  klar  werden  soll,  ob  der  betr.  Verletzte  noch  eine  weitere  Be¬ 
handlung  nötig  hat  oder  nicht. 

In  der  Tat  läßt  die  Behandlung  innerhalb  der  ersten  Wochen 
häufig  zu  wünschen  übrig,  entweder  dadurch,  daß  die  Fälle  nicht 
mit  genügender  Rücksicht  auf  das  zu  erstrebende  funktionelle 
Resultat  behandelt  oder  nicht  rechtzeitig  zu  einer  sachgemäßen 
Nachbehandlung  abgegeben  werden.  Man  sollte,  wie  Lossen2) 
(S.  452)  sagt,  meinen,  daß  es  nicht  schwer  sei,  aus  den  Unfall¬ 
anzeigen  zu  entnehmen,  ob  ein  Fall  zur  Nachbehandlung  geeignet 
sei  oder  nicht.  Daß  der  erstbehandelnde  Arzt  oft  kein  Interesse 
zeigt,  einen  Patienten  abzugeben,  wie  Lossen  (S.  452)  hervorhebt, 
spielt  doch  wirklich  hier  keine  Rolle.  Es  kommt  doch  nicht  die 
etwaige  Benachteiligung  des  erstbehandelnden  Arztes  in  Betracht, 
sondern  nur  das  Ziel,  die  schnellste  Wiederherstellung 
des  Verletzten.  Als  Folgen  einer  mangelhaften  Diagnose,  be¬ 
sonders  für  die  inneren  Fälle,  hört  man  nicht  selten  Aussprüche 
seitens  des  Verletzten:  „Das  wird  doch  nicht  wieder  gut“,  „kein 
Arzt  kann  mehr  helfen“  und  ähnliche.  Es  ist  ungemein  schwer 
und  erfordert  außerordentlich  viel  Mühe,  den  Verletzten  dann  zu 
einer  anderen  xAnsicht  zu  bekehren  und  ihm  zu  beweisen,  daß  die 
teils  von  den  Angehörig en  teils  vom  Arzt  suggerierte 
schwere  Erkrankung  tatsächlich  nicht  besteht. 

Auch  können  wir  nicht  sagen,  daß  die  anderweitige  Anordnung 
von  Maßnahmen  seitens  der  Berufsgenossenschaft  oder  eine  in 
diesem  Sinne  ausgeführte  Kontrolle  seitens  eines  Vertrauensarztes 
ein  Mißtrauen  in  die  Behandlungsmethode  des  erstbehandelnden 
Arztes  bedeutet.  Es  ist  wahrlich  die  höchste  Zeit,  daß  endlich 
mal  von  berufener  und  interessierter  Seite,  nämlich  von  Vertretern 

5  Pieper,  Betrachtungen  über  das  Heilverfahren  bei  den  Berufsgenossen¬ 
schaften.  Darmstadt  1904,  Verlag  von  G.  L.  Schlapp. 

2)  Lossen,  Die  Ernst  Ludwig -Heilanstalt.  Darmstadt  1905,  Verlag  von, 
G.  L.  Schlapp. 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II. 


20 


306 


Heinrich  Schmidt, 


der  Bg.,  energisch  gegen  die  vielfachen  Verfehlungen  seitens  der 

•  • 

erstbehandelnden  Arzte  Front  gemacht  wird.  Neuerdings  hat 
Lohmar  in  einem  Vortrage  (Sitzung  für  Soziale  Medizin  in  Bonn 
am  10.  I.  07)  eingehend  die  Mangelhaftigkeit  des  Heilverfahrens 
an  zahlreichen  Beispielen  illustriert.  In  gleichem  Sinne  wie 
Pieper  und  Lohmar  hat  Schwanck1)  (S.  1 — 20)  die  Mängel 
des  Heilverfahrens  in  der  Unfallversicherung  zur  Genüge  dargelegt* 
Ärzte,  welche  sich  viel  mit  Angelegenheiten  der  Unfallversicherungs¬ 
gesetze  beschäftigen,  können  in  der  Tat  jedes  Wort  der  oben¬ 
genannten  Vertreter  von  Bg.  unterschreiben.  Es  sind  immer  die¬ 
selben  traurigen  Ergebnisse  des  Heilverfahrens,  welche  sich  in  den 
Unfailakten  der  Bg.  bzw.  deren  Sektionen  vorfinden,  auf  welche  in 
gleichem  Maße  von  ärztlicher  Seite,  so  z.  B.  von  Einiger  2 3>  8» 4) 
Ledderhose5)  und  Hoffa6 *)  und  anderen  immer  und  immer 
wieder  aufmerksam  gemacht  wird. 

Solange  der  erstbehandelnde  Arzt  nicht  die  ein¬ 
schlägigen  modernen  Behandlungsmethoden  und  den 
Betrieb  bei  der  Bg.  kennt,  kann  von  einem  idealen 
Heilverfahren  nicht  die  Rede  sein. 

In  der  Unfallchirurgie  ist  ,im  allgemeinen  das  konservative 
Verfahren  im  Prinzip  zu  verwerfen;  es  ist  einzig  und  allein  das 
Augenmerk  darauf  zu  richten,  eine  völlige  Wiederherstellung  oder 
den  bestmöglichsten  Erfolg  hinsichtlich  der  Erwerbsfähigkeit  zu 
erzielen  (operativer  Eingriff  bzw.  entsprechende  Nachbehandlung). 
Damit  hat  man  nicht  nur  dem  Verletzten  und  seiner  Familie,  den 
Bg.  etc.  am  meisten  gedient,  sondern  der  Arzt  wird  auch  durch 
solches  Verfahren  den  größten  Dank  ernten.  WTas  nützt  dem 
Arbeiter  der  erhaltene  Finger,  wenn  derselbe  im  Grundgelenk  nicht 
bewegt  werden  kann?  Die  betreffende  Hand  ist  dann  oft  nicht 
nur  gebrauchsunfähig,  sondern  aus  dem  früher  fleißigen  wird  jetzt 


x)  A.  Schwanck,  Die  Reform  des  Heilverfahrens  etc.  Köln  1906,  Verlag 
von  Paul  Neubner. 

2)  Die  Behandlung  und  Begutachtung  von  Verletzungen  der  Arbeiterhand. 
Bonn  1906. 

3)  Oberschenkelbruch  und  Unfallversicherung.  Archiv  für  Orthopädie,. 
Mechanoth.  u.  Unf.-Chir.,  Bd.  V,  H.  2/3. 

4)  Arzt  und  Attest.  Monatsschrift  für  Unfallheilkunde  und  Invalidenwesen, 
14.  Jahrg.,  Nr.  2,  1907. 

5)  Vortrag,  gehalten  auf  dem  21.  Verbandstage  der  deutschen  Baugewerks- 
Bg.  am  8.  September  1906  in  Stuttgart. 

6)  Vortrag,  gehalten  auf  dem  internationalen  medizinischen  Kongreß  in 

Lüttich  (Juni  1905):  „Über  Unfallfolgen  und  deren  Behandlung“. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


307 


ein  arbeitsscheuer  Arbeiter,  ein  Hysteriker,  ein  Querulant,  der  den 
Trägern  der  Versicherung  nur  zur  Last  fällt,  sich  niemals  operieren 
läßt  und  nur  den  Gedanken  hat,  möglichst  Kapital  aus  seinem  er¬ 
littenen  Unfälle  zu  schlagen.  Nachdem  durch  die  Arbeiter- Ver¬ 
sicherungsgesetze  nun  einmal  die  Zahl  der  sog.  Unfallneurosen  in 
bedenklichem  Maße  gestiegen  ist,  muß  es  eine  der  höchsten  Auf¬ 
gaben  des  Arztes  sein,  danach  zu  trachten,  daß  solche  im  Keime 
erstickt  werden. 

Dies  kann  in  der  Unfallchirurgie,  wie  oben  dargetan,  vielleicht 
in  den  weitaus  meisten  Fällen  nur  durch  die  zeitige  operative  Be¬ 
handlung  bzw.  entsprechende  Nachbehandlung  geschehen.  Die 
Nachbehandlung  ist,  wie  im  Laufe  der  Zeit  die  Erfahrungen  ge¬ 
lehrt  haben,  unbedingt  angezeigt  nach  allen  Knochenbrüchen,  Ver¬ 
renkungen,  schweren  Quetschungen,  Distorsionen,  länger  andauern¬ 
den  Zellgewebsentzündungen  u.  dgl.  Siehe  hierzu  Schwanck 
a.  a.  0.,  Anhang  S.  2.  Daneben  darf  selbst  hier  nicht 
vergessen  werden,  daß  der  Verletzte  ofteiner  psychi¬ 
schen  Behandlung  bedarf. 

Es  hat  sich  ferner  im  Laufe  der  Zeit  nach  dem  Inkrafttreten 
der  Unfallversicherungsgesetze  eine  Erscheinung  bemerkbar  ge¬ 
macht,  die  sich  nach  und  nach  sehr  ausgebreitet  hat  und  die  be¬ 
züglich  einer  prophylaktischen  Maßnahme  mehr  Beachtung  ver¬ 
dient.  Viele  Verletzte  glauben  nämlich,  selbst  wenn  nach  einem 
Unfall  irgendwelche  Unfallfolgen ,  welche  später  zu  einer  Be¬ 
schränkung  der  Erwerbsfähigkeit  führen ,  nicht  mehr  bestehen, 
dennoch  ein  Recht  auf  eine  Entschädigung  zu  haben.  Zur  Er¬ 
langung  dieses  vermeintlichen  Anspruches  —  der  nicht  lediglich  als 
eine  Folge  der  Unkenntnis  der  Gesetze  anzusehen  ist,  sondern  wohl 
mehr  aus  den  Gedanken  entspringt,  als  sei  der  in  Frage  stehende 
Anspruch  gewissermaßen  ein  Schmerzensgeld  —  wird  dann  zu  den 
erdenklichsten  Mitteln  gegriffen,  zumal  wenn  nach  dem  Un¬ 
fall  weder  eine  psychische  noch  irgend  eine  andere, 
besondere  Behandlung  ein  geleitet  wurde.  Hier  müssen 
die  Ärzte  durch  Belehrung  eingreifen  und  zwar  in  Fällen  ohne 
organische  Erkrankung  durch  offene  Aufklärung,  bei  der  Behand¬ 
lung  kleiner  Leiden  durch  Anspornung  der  Energie.  Der  Umstand 
aber,  daß  nichts  geschieht,  ist  eben  für  Verletzte  die  Ursache, 
aus  dem  Unfall  Tatsachen  zu  konstruieren,  die  möglicherweise  doch 
zu  einer  Entschädigung  führen.  Es  kann  daher  bei  vielen  der¬ 
artiger,  meist  in  Behandlung  der  Krankenkassen  bleibender  Fälle, 
die  scheinbar  ohne  alle  Folgen  —  ohne  Einleitung  eines  be- 

20* 


308  Heinrich  Schmidt, 

j* 

sonderen  Heilverfahrens  —  heilen,  nur  von  Nutzen  sein,  wenn 
auch  nur  irgend  eine  besondere  Maßnahme  vorgenommen  wird, 
damit  der  Verletzte  sieht,  daß  man  sich  seiner  voll  und  ganz  an¬ 
nimmt,  um  seine  Wiederherstellung  herbeizuführen.  Die  Ausführung 
einer  solchen  Behandlung  will  vielleicht  kleinlich  erscheinen.  Wenn 
man  aber  bedenkt,  daß  durch  solche  Maßnahmen  recht  viele  kleinere 
Renten  vermieden  werden,  so  dürfte  diese  scheinbar  überflüssige, 
prophylaktische  Behandlung  doch  wohl  etwas  mehr  als  bisher  in 
geeigneten  Fällen  am  Platze  sein.  Sie  kann  häufig  doch  auch  in¬ 
sofern  von  Nutzen  sein,  als  sie  vorbeugend  die  Anzahl  von  etwa 
später  eintretenden  Hysterien  herabmindert. 

Wir  betonen  noch,  daß  die  hier  fraglichen  Fälle  am  besten  in 
der  Behandlung  des  erstbehandelnden  Arztes  verbleiben,  da  durch 
eine  Überweisung  in  eine  Heilanstalt  der  Ideenkreis  zur 
Erlangung  einer  Rente  vielleicht  nur  noch  vergrößert  wird.  Gerade 
bei  solchen  kleineren  Leiden  empfiehlt  es  sich  sehr,  die  Verletzten 
über  das  Wesen  der  Unfallversicherungsgesetze  aufzuklären;  man 
erreicht  dadurch  manchmal  mehr,  als  man  vorher  geglaubt  hat. 

Nicht  nur  die  Bg.  sondern  auch  die  Versicherungsanstalten 
erwägen  im  gegebenen  Falle,  obi  ein  Arzt  für  eine  etwaige  Unter¬ 
suchung  und  Behandlung  geeignet  ist  oder  nicht.  Eine  solche  Er¬ 
wägung  kann  nur  im  Interesse  der  Versicherungsträger  liegen, 
weshalb  es  auch  von  diesen  auf  Grund  der  gesammelten  Erfahrungen 
in  der  Regel  so  gehalten  wird,  daß  den  tüchtigen  und  gewissen¬ 
haften  Ärzten  die  Patienten  belassen  werden,  daß  letztere  hingegen 
aus  der  Behandlung  von  zweifelhaften  Ärzten  entfernt  werden. 

Der  oben  ausgesprochene  Grundsatz,  die  Unfallneurosen  im 
Keime  zu  ersticken,  kommt  noch  mehr  als  in  der  Unfallchirurgie 
in  denjenigen  Fällen  zur  Geltung,  in  denen  eine  äußere  Verletzung 
nicht  stattgefunden  hat  oder  bei  denen  eine  operative  Behandlung 
nicht  erforderlich  ist  oder  die  anatomischen  Unfallfolgen  ge¬ 
schwunden  sind.  Es  ist  daher  in  solchen  Fällen,  z.  B.  Gehirn- 
und  Rückenmarkserschütterungen,  Brustkontusionen  etc.,  von  vorn¬ 
herein  neben  sachgemäßer  symptomatischer  Behandlung  das  Haupt¬ 
augenmerk  des  erstbehandelnden  Arztes  darauf  zu  richten,  der 
Entstehung  der  Unfallneurosen  durch  psychische  Behandlung  mög¬ 
lichst  vorzubeugen.  Versäumt  der  erstbehandelnde  Arzt,  zu  welchem 
der  Kranke  in  der  Regel  das  größte  Vertrauen  hat  oder  wenigstens 
haben  soll,  den  Kranken  in  entsprechender  Weise  psychisch  zu  be¬ 
einflussen,  so  ist,  wie  oben  bereits  berührt,  damit  häufig  bereits 
soviel  verloren,  daß  es  in  sehr  vielen  Fällen  überhaupt  nicht  mehr 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


309 


gelingen  wird,  ein  befriedigendes  Resultat  zu  erzielen.  Auf  diese 
Weise  muß  man  hin  und  wieder  sehen,  daß  Kranke,  bei  denen 
nachweislich  vom  Unfall  an  jeder  objektive  Befund  gefehlt  hat, 
für  das  Heilverfahren  ganz  oder  teilweise  als  verloren  anzusehen 
sind,  nur  aus  dem  Grunde,  weil  von  Anfang  an  nicht  die  Ma߬ 
nahmen  eines  sachgemäßen  Heilverfahrens,  einer  geeigneten,  psychi¬ 
schen  Behandlung  vorgenommen  wurden.  Solche  Kranke  wollen 
dann  häufig  später  gar  nicht  mehr  gesund  werden. 

In  gewissen  Fällen  wäre  die  Aussicht  auf  eine  Besserung  viel¬ 
leicht  noch  vorhanden,  aber  die  Kosten  des  Heilverfahrens  dürften 
dann  oft  wohl  kaum  noch  im  Verhältnis  zu  dem  Erfolge  stehen. 
Denn  was  nützt  ein  vielleicht  monatelanges  Heilverfahren,  um  den 
Verletzten  ev.  wieder  auf  die  Beine  zu  bringen,  zum  Arbeiten 
bringt  man  einen  solchen  Kranken  doch  nicht  mehr:  also  in  bezug 
auf  die  Erwerbsfähigkeit  wäre  nichts  erreicht;  dann  steht  sich 
eine  Bg.  noch  am  besten,  wenn  sie  einem  solchen  Verletzten  auf 
sein  immerwährendes  Verlangen  hin  z.  B.  einen  Fahrstuhl  schenkt, 
damit  sie  für  eine  gewisse  Zeit  von  einem  solchen  unheilbaren 
Hysteriker  und  Querulanten  nicht  mehr  belästigt  wird.  Wenn 
auch  die  meisten  Fälle  nicht  so  kraß  sind,  wie  der  eben  erwähnte, 
vor  einiger  Zeit  bei  uns  vorgekommene,  so  ähneln  ihm  hinsichtlich 
des  Erfolges  doch  recht  viele.  Dieser  und  ähnliche  Fälle  sind  ein 
Beweis  für  die  Ausstellung  von  unbegründeten  ärztlichen  Zeug¬ 
nissen,  namentlich  hinsichtlich  einer  mangelhaften  Untersuchung, 
einer  falschen  Diagnose  und  einer  ungerechtfertigten  Prognose. 

Daß  die  sachgemäße,  psychische  Behandlung  keine  leichte  Auf¬ 
gabe  ist,  weiß  jeder.  Vielleicht  ist  dies  auch  der  Grund,  weshalb 
dieselbe  zu  wenig  ausgeführt  wird.  Es  kann  hier  nicht  auf  das 
einzelne  eingegangen  werden,  doch  es  sei  bemerkt,  daß  es  für 
die  Folgezeit  unbedingt  erforderlich  werden  wird, 
sich  mit  prophylaktischen  Maßnahmen,  der  psychi¬ 
schen  Behandlung  mehr  als  bisher  zu  befassen,  worauf 
ja  auch  das  RVA.  wiederholt,  so  z.  B.  in  seiner  Bemerkung  zu  der 
Gesamtübersicht  für  das  Jahrzehnt  1893/19Q2  hingewiesen  hat 
(A.-N.  1904,  S.  270)  und  auch  ferner  neuerdings  in  einem  Rund¬ 
schreiben  vom  17.  VII.  06  an  die  Versicherungsträger  der  Unfall- 
und  Invalidenversicherung  (betr.  die  Bekämpfung  des  Alkoholmi߬ 
brauchs)  zum  Ausdruck  gelangt,  daß  durch  vorbeugende  und  heilende 
Maßnahmen  analog  den  Unfallverhütungsvorschriften  schädigenden 
Einflüssen  entgegenzuwirken  sei  (A.-N.  1906,  S.  507/8). 

Daß  die  bisherige  ärztliche  Behandlung  einen  so  wenig  pro- 


310 


Heinrich  Schmidt, 


phylaktischen  Charakter  hat,  hat  aber  einen  nicht  geringen  Grund 
darin,  daß,  abgesehen  von  den  oben  erwähnten  Momenten,  zum 
Teil  die  Ärzte  mit  Arbeit  überlastet  sind  und  daß  vor  allem  von 
vornherein  zu  wenig  materielle  Mittel  für  das  Heilverfahren  ver¬ 
wandt  werden.  Dazu  kommt  noch,  daß  auf  dem  Lande  oft  die 
Kranken  wegen  großer  Entfernung  schwer  zu  erreichen  sind. 

Bei  der  Krankenhausbehandlung  sind  den  einzelnen  Ärzten 
nicht  selten  50  Betten  und  noch  mehr  zugewiesen.  Daß  in  solchen 
Fällen  eine  wirklich  sachgemäße  Behandlung  stattfinden  kann,  ist 
wohl  nicht  gut  zu  erwarten.  Es  ist  für  diese  Fälle  sowie  für  die 
Verhältnisse  auf  dem  Lande,  wo  die  Verbindung  mit  der  Kranken¬ 
kasse  und  den  Bg.  eine  zu  lockere  ist,  dringend  zu  wünschen,  daß 
mehr  Ärzte  angestellt  bzw.  dieselben  besser  honoriert  werden  und 
daß  bei  einer  demnächstigen  Reform  der  Arbeiterversicherungs¬ 
gesetze  dafür  Sorge  getragen  wird,  daß  die  Verbindung  zwischen 
den  behandelnden  Ärzten  und  den  Bg.,  sowie  zwischen  den  Kranken¬ 
kassen  und  den  Bg.  eine  innigere  ist.  Nur  auf  diese  Weise  können 
die  häufigen  Verzögerungen  des  Heilverfahrens,  die  wieder  die  un¬ 
befriedigenden  Heilerfolge  zur  Folge  haben,  vermieden  werden. 
Ein  verm  ehr  ter  Kost  enaiifwand  für  dasHeilver  fahren 
ist  keine  Mehrausgabe.  Es  ist  nur  eine  einmalige  er¬ 
höhte  Ausgabe,  die  ein  zweifelsohne  erhöhtes  besseres 
Resultat  hinsichtlich  der  Erwerbsfähigkeit  zur  Folge 
hat.  Wir  behaupten,  daß  ein  länger  andauerndes, 
aber  billigeres  Heilverfahren  hinsichtlich  der 
späteren  Erwerbsfähigkeit  nicht  denselben  guten 
Erfolg  verspricht,  wie  ein  sofort  ein  geleitetes, 
scheinbar  kostspieligeres  Heilverfahren,  das  in 
kürzerer  Zeit  beendigt  wird. 

Diese  Ansicht  wird  auch  von  Pieper  a.  a.  0.  vertreten,  der 
daselbst  zur  Genüge  dargetan  hat,  daß  bei  Durchführung 
eines  geeigneten  Heilverfahrens  trotz  der  Mehr¬ 
leistungen  das  Anwachsen  der  Ges  am  tr  eilten  außer¬ 
ordentlich  gering  war.  Es  wird  im  übrigen  auf  die  betr. 
Schrift  verwiesen. 

Siehe  hierzu  auch  Lossen,  Darmstadt  1905,  ,,Die  Ernst- 
Ludwig-Heilanstalt“ ,  S.  455,  der  genau  denselben  Standpunkt 
vertritt. 

Wir  können  die  Behauptung  von  L  e  d  d  e  r  h  o  s  e , *)  daß  viel- 

x)  Ledder h ose,  Vortrag,  gehalten  in  Stuttgart  auf  dem  21.  Verbandtstage 
der  deutschen  Baugewerks-Bg.  am  8.  IX.  06. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


311 


leicht  ein  Drittel  der  Summe  von  Arbeitsbeschränktlieit,  welche 
zurzeit  infolge  von  Betriebsunfällen  Versicherter  in  Deutschland 
existiert,  durch  andere  Gestaltung  des  Heilverfahrens  hätte  ver¬ 
mieden  werden  können,  in  jedem  Punkte  unterschreiben.  Wir 
glauben,  daß  diese  Schätzung  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch  gegriffen 
ist,  womit  auch  die  Ansichten  einiger  Privat  Versicherungsgesell¬ 
schaften  übereinstimmen,  welche  die  unverhältnismäßig  hohen 
Rentenauszahlungen  fast  einzig  und  allein  auf  die  mangelhafte  und 
unzweckmäßige  Durchführung  des  Heilverfahrens  zurückführen. 

ln  der  Arbeiterversicherung,  besonders  in  Angelegenheiten,  in 

denen  die  Krankenkassen  das  Heilverfahren  übernommen  haben, 

wird  die  Unzweckmäßigkeit  des  Heilverfahrens,  wie  man  sich 

bei  Durchsicht  der  Fundberichte  überzeugen  kann, 

•  • 

oft  genug  von  den  Ärzten  selbst  unterstützt,  indem 
dieselben  eine  Reihe  von  Fällen  ambulant  behandeln, 
nur  damit  der  Verletzte  der  Krankenrente  nicht  ver¬ 
lustig  geht. 

Die  Wiederherstellung  der  Funktionsfähigkeit  ist  also  hier 
Nebensache.  Bei  Ausführung  solcher  Maßnahmen  geht  man  wirk¬ 
lich  nicht  zu  weit,  wenn  man  vielen  Ärzten  das  richtige  Ver¬ 
ständnis  für  die  Sache  direkt  abspricht. 

Wir  können  daher  einstweilen  den  Bg.  nur  dringend 
empfehlen,  mehr  noch  als  bisher  von  der  Übernahme 
des  Heilverfahrens  Gebrauch  zu  machen  und  keine 
Kosten  für  dasselbe  zu  scheuen.  Vielleicht  tun  die  Bg. 
gut,  das  Heilverfahren  in  allen  Fällen  zu  über¬ 
nehmen,  mit  Ausnahme  derjenigen,  in  denen  es  offen¬ 
bar  nicht  nötig  erscheint.  Auch  Schwanck  a.  a.  0. 
S.  40—43  vertritt  dieselbe  Ansicht. 

Die  eigentliche  psychische  Behandlung  ist,  wie  oben  bemerkt, 
keine  leichte;  allgemeine  Regeln  lassen  sich  dafür  nicht  gut  auf¬ 
stellen.  Es  ist  Voraussetzung,  daß  sich  der  Arzt  dem  Kranken 
gegenüber  die  volle  Autorität  bewahrt  und  denselben  nach  und 
nach  in  seine  volle  Einflußsphäre  hineinzieht.  Wir  müssen  hier  be¬ 
merken,  daß  es  verkehrt  ist,  von  vornherein  einem  Verletzten  mit 
Mißtrauen  gegenüberzutreten,  wie  es  in  der  Arbeiterversicherung 
so  häufig  der  Fall  ist,  indem  man  ihn  für  einen  Übertreiber  oder 
sogar  für  einen  Simulanten  hält. 

Damit  erreicht  man  ganz  selten  etwas,  vielmehr  zumeist 
nichts.  Mehr  oder  weniger  wird  ja  von  den  meisten  Verletzten, 
mögen  dieselben  der  Arbeiter-  oder  Privatversicherung  angehören. 


312 


Heinrich  Schmidt, 


übertrieben.  Die  Fälle  der  eigentlichen  völligen  Simulation  sind 
aber  (gegenüber  der  Fälle  anderer  Fälle)  u.  E.  gar  nicht  so  häufig, 
wie  dies  von  anderer  Seite  öfters  mitgeteilt  wird.  Auch  können 
wir  entgegen  anderer  Mitteilungen  nicht  behaupten,  daß  die 
Simulation  bei  den  Mitgliedern  der  Arbeitersicherung  häufiger  vor¬ 
kommt  als  bei  der  Privatversicherung.  Sicherlich  aber  steht  nach 
unserer  Ansicht  fest,  daß  die  Simulation  im  allgemeinen  von  den 
Privatversicherten  mit  viel  größerer  Raffiniertheit  ausgeführt  wird 
als  von  den  Mitgliedern  der  Arbeiterversicherung.  Der  Beruf  spielt 
allerdings  eine  große  Rolle  bei  der  Simulation.  Daß  z.  B.  Pastoren, 
Offiziere  und  Gymnasiallehrer  nicht  so  häufig  und  raffiniert  simulieren 
werden  wie  Personen  aus  der  Geschäftswelt,  z.  B.  Handelsleute, 
Agenten,  Prokuristen  dürfte  einleuchtend  erscheinen. 

Es  ist  daher  auch  eine  bekannte  Tatsache,  daß  z.  B.  bei  Eisen¬ 
bahnunfällen  meistens  nur  solche  Personen  Entschädigungsansprüche 
gegen  den  Eisenbahnfiskus  gemäß  den  Bestimmungen  des  Reichs- 
Haftpflichtgesetzes  vom  7.  VI.  1871  bzw.  Art.  42  des  Einführungs¬ 
gesetzes  zum  Bürgerlichen  Gesetzbuche  geltend  machen,  welche  der 
Geschäftswelt  angehören,  wie  Kaufleute,  Agenten,  Prokuristen,  Fabri¬ 
kanten  etc.,  während  unter  denselben  gegebenen  Verhältnissen  solche 
Ansprüche  von  Beamten,  Lehrern,  Offizieren,  Pastoren  etc.  nicht 
oder  nur  höchst  selten  gemacht  werden. 

Die  psychische  Behandlung  ist  ganz  individuell.  Außer  dem 
Berufe  wird  der  Arzt  die  genaue  Anamnese,  das  Vorleben  des  Ver¬ 
letzten  sowie  die  Art  und  Weise  des  eigentlichen  Unfalles  zu  be¬ 
rücksichtigen  haben.  Auf  nicht  geringe  Schwierigkeiten  wird  man 
öfters  stoßen  hinsichtlich  der  Unterbringung  des  Verletzten,  wenn 
die  Behandlung  des  letzteren  im  Kreise  seiner  Angehörigen  nicht 
angängig  ist.  Die  Heilanstaltsbehandlung  hat  auch  ihre  Schatten¬ 
seiten,  indem  die  Verletzten  häufig  von  dritter  Seite  Beeinflussungen 
ausgesetzt  sind,  die  eine  sachgemäße  psychische  Behandlung  des 
Arztes  sehr  erschweren  können.  Man  kann  aber  einen  Kranken 
nicht  isolieren  oder  ihm  das  Sprechen  mit  anderen  Kranken  ver¬ 
bieten.  In  solchen  Fällen  ist  es  bei  unseren  heutigen  Verhältnissen 
oft  im  Interesse  eines  guten  Heilerfolges  dringend  angebracht,  wenn 
man  in  geeigneten  Fällen  den  Verletzten  in  einer  Privatpension 
unterbringt,  wo  die  gewohnten  häuslichen  Verhältnisse  desselben 
möglichst  ersetzt  werden,  wo  derselbe  ein  ruhiges,  behagliches  Da¬ 
sein  führen  kann,  oder  indem  man  den  Verletzten  mit  anderen, 
nicht  Unfallkranken,  zusammenlegt.  Gegenüber  Übertreibungen  ist 
alsdann  eine  gute  und  scharfe  Beobachtung  erforderlich.  Wir 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversichernngsgesetzen. 


313 


müssen  gestehen,  daß  solche  Maßnahmen  für  eine  erfolgreiche, 
psychische  Behandlung  von  größter  Bedeutung  sind,  indem  sie 
neben  den  erwähnten  Annehmlichkeiten  gegenüber  der  Kranken¬ 
hausbehandlung  eine  Beeinflussung  von  dritter  Seite  auf  das  ge¬ 
ringste  Maß  herabsetzen.  Leider  ist  dieses  Verfahren  nicht  immer 
durchführbar,  weil  es  zu  kostspielig  erscheint,  obwohl,  wie  oben 
dargetan,  diese  erhöhten  Pflegekosten  gar  keine  Mehrausgaben  be¬ 
deuten  und  meistens  ein  besserer  Heilerfolg  erzielt  wird.  Nicht 
nur  die  Bg.,  sondern  selbst  gut  fundierte  Privatversicherungen,  die 
an  einem  schnellen  und  guten  Heilerfolge  sicherlich  das  größte 
Interesse  haben,  sträuben  sich  oft  unbegreiflicherweise  gegen  solche 
Maßnahmen. 

Es  möge  hier  noch  kurz  erwähnt  sein,  daß  dieAn- 
wendung  der  Röntgenstrahlen  bisher  von  vielen  Be¬ 
rufsgenossenschaften  nicht  die  Würdigung  erfahren 
hat,  die  sie  haben  sollte. 

In  welcher  Weise  die  psychische  Behandlung  ausgeführt  wird, 
richtet  sich,  wie  oben  berührt,  nach  dem  Individuum  im  Einzelfall. 
Bei  den  Fällen  der  reinen  traumatischen  Hysterie  und  der  schweren 
Neurasthenie,  die  wohl  an  und  für  sich  die  größten  Schwierigkeiten 
darbieten,  haben  wir  uns,  abgesehen  von  symptomatischer  Therapie, 
mit  großem  Erfolge  der  Suggestion  durch  Hypnose  bedient.  Die 
Erfolge  waren  häufig  geradezu  wider  Erwarten  überraschende.  Bei 
Ausführung  derselben  mag  jeder  die  ihm  geeignet  erscheinende 
Methode  anwenden.  Daneben  wird  man  gelegentlich  sowohl  durch 
innerliche  Darreichung  von  Medikamenten  als  auch  durch  ört¬ 
liche  Behandlung  von  schmerzhaften  Stellen,  wie  Injektionen  von 
S  c  h  1  e  i  c  h’schen  und  anderen  Lösungen,  ferner  durch  kohlensaure 
Bäder,  elektrische  Scheinwerfer,  Massage  etc.  eine  langsame,  aber 
stete  Besserung  erzielen.  Es  ist  außerordentlich  wichtig,  daß  bei 
subjektiven  Beschwerden  irgend  eine  besondere  Behandlung  statt¬ 
findet.  Die  bloße  Suggestion  reicht  hier  oft  nicht  aus  und  kann 
die  Heilung  verzögern.  Man  wolle  ferner  nicht  versäumen,  auch 
in  der  Zwischenzeit  sich  öfter  mit  dem  Kranken  beeinflussend  zu 
beschäftigen,  da  hierdurch  die  Autorität  des  Arztes  nach  und  nach 
erhöht  wird.  Die  Behandlung  der  Suggestion  durch  Hypnose  ist 
in  geeigneten  Fällen  eine  außerordentlich  dankbare  und  es  wäre 

zu  wünschen ,  wenn  dieselbe  mehr  gepflegt  würde.  Immerhin 

•  • 

wird  es  wohl  nur  einen  gewissen  Prozentsatz  von  Ärzten  geben, 
welche  gute  Erfolge  mit  dieser  Behandlung  aufzuweisen  haben 
werden,  da  es  nicht  jedermanns  Sache  ist,  durch  persönlichen  Ein- 


314  Heinrich  Schmidt, 

fluß  die  oben  erwähnten  Erfolge  zu  erreichen.  In  solcher  Lage 
ist  es  dringend  Sache  des  einzelnen  Arztes,  die  möglichst  rasche 
Aufnahme  des  Verletzten  in  eine  Heilanstalt  zu  veranlassen. 

Man  w  oll  e  n  ich  t  vergessen,  daß  der  Unfall  verletzte 
Arbeiter  ein  ganz  besonderer  Mensch  ist  und  daher 
auch  einer  ganz  besonderen  Behandlung  bedarf.  Das 
Allererste  und  Wichtigste  ist,  daß  man  solchen  Per¬ 
sonen  mit  Menschlichkeit  und  Wärme  gegenübertritt 
und  sich  derselben  auf richtigan nimmt.  Letzteres  ist 
für  ein  erfolgversprechendes  Heilverfahren  von  so 
großer  Bedeutung,  daß  es  nicht  dringend  genug  em¬ 
pfohlen  werden  kann. 

Es  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  daß  es 
viele  sogenannte  ältere  Fälle  gibt,  bei  denen  selbst 
unter  den  eben  erwähnten  Voraussetzungen  nichts 
mehr  zu  erreichen  ist.  Doch  diese  bilden  nicht  die 
Regel.  Auch  der  Unfallverletzte  Arbeiter  ist  sofort 
nach  dem  Unfall  fast  jedweder  ärztlichen  Maßnahme 
zugänglich,  wenn  man  ihm  mit  aufrichtiger  mensch¬ 
licher  Liebe  gegenüber  tritt.  Der  einen  Unfallver¬ 
letzten  behandelnde  Arzt  sei  daher  vor  allem  recht 
wohlwollend  und  menschlich  gesinnt  und  scheue  keine 
Mühe.  Ist  der  Arzt  hierauf  bedacht,  so  ist  ihm  ein 
schöner  Erfolg  sicher. 

Man  muß  dem  Verletzten  auch  oft  die  Sorgen  ab- 
nehmen,  die  er  für  die  Familie  hat.  Dazu  gehören  in 
erster  Linie  schleunige  Berichte  an  die  Versicherungsträger 
behufs  sofortiger  Auszahlung  der  Krankenrenten  oder  von  Vor¬ 
schüssen  an  die  Familienmitglieder,  für  welche  der  Verletzte  zu 
sorgen  hat.  Es  ist  keine  leichte  Sache  für  einen  Arbeiter,  sich 
auf  Grund  einer  Aufforderung  der  Bg.  unter  Androhung  der  Rechts¬ 
nachteile  in  einer  außerhalb  seines  Heimatortes  befindlichen  Heil¬ 
anstalt  zur  Untersuchung  und  Beobachtung  bzw.  Behandlung  ein¬ 
zufinden,  nachdem  er  Weib  und  Kinder  in  Notdurft  zurückgelassen. 
Viele  Bg.  wissen  solche,  die  Familienangelegenheiten  betr.  Ma߬ 
nahmen  im  Hinblick  auf  ein  Erfolg  versprechendes  Heilverfahren 
voll  und  ganz  zu  würdigen;  recht  viele  andere  Bg.  jedoch  lassen, 
wie  man  täglich  erfahren  kann,  mit  der  Auszahlung  der  Ent¬ 
schädigungen  an  die  Familie  lange  auf  sich  warten  und  schädigen 
sich  selbst  sowie  den  Verletzten  und  seine  Familie  besonders  in 
den  Fällen  der  traumatischen  Neurose. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherimg-sg’esetzen.  315 

Nicht  unterschätzen  soll  man  ferner  eine  entsprechende  er¬ 
munternde  Aufklärung  und  Belehrung  den  Familienangehörigen 
gegenüber,  z.  B.  bei  Gelegenheit  von  Besuchen  in  der  Heilanstalt. 
Eine  solche  kann  nur  im  Hinblick  auf  eine  etwaige  ungünstige 
Beeinflussung  des  Verletzten  von  Nutzen  sein. 

In  einer  nicht  geringen  Zahl  von  Fällen  wird  man  bei 
mangelndem  objektiven  Befunde  oft  die  Erfahrung  machen,  daß 
selbst  bei  bester  Behandlung  und  Pflege  nach  Angabe  des  Ver¬ 
letzten  ein  wesentlicher  Erfolg  nicht  erzielt  wird.  Hierhin  ge¬ 
hören  in  erster  Linie  Gehirnerschütterungen  und  ähnliche  körper¬ 
liche  Einwirkungen  stumpfer  Gewalten ,  wie  Brustkontusionen, 
(Schädelbasisfrakturen  ohne  objektiven  Befund)  u.  dgl.  In  sehr 
vielen  dieser  Fälle  sind  bei  mangelndem  objektiven  Befunde  ana¬ 
tomische  Folgen  sicherlich  nicht  vorhanden.  Doch  ist  bei  Beur¬ 
teilung  dieser  Fälle  große  Vorsicht  geboten,  da  die  subjektiven  Be¬ 
schwerden  des  Verletzten  auch  oft  begründet  sind,  wie  z.  B.  eine 
bei  uns  vor  nicht  langer  Zeit  ausgeführte  Obduktion  eines  Ver¬ 
letzten  dargetan  hat,  der  für  einen  Simulanten  gehalten  worden 
war,  aber  erhebliche  anatomische  Veränderungen  an  der  Dura  mater 
aufwies. 

Andererseits  wird  man  oft  freilich  nicht  fehl  gehen,  wenn  man 

anatomische  Folgen  ausschließt.  Jedoch  ist  eine  genaue  Ana- 

mense  mit  genauester  Pr äzisi er ung  der  subjektiven 

Beschwerden  allerdings  zur  Beurteilung  unbedingt 

erforderlich,  da  man  hierdurch  häufig  die  Über- 

•  • 

zeugung  von  starken  Übertreibungen  des  Leidens 
oder  gar  von  Simulation  gewinnen  wird.  Wird  bei  der¬ 
artigen  Fällen  (abgesehen  von  einer  Reihe  von  Basisfrakturen, 
welche  günstig  verlaufen)  durch  das  Heilverfahren  ein  nennens¬ 
werter  Erfolg  nicht  erzielt,  und  behaupten  die  Verletzten  konstant, 
ganz  und  gar  erwerbsunfähig  zu  sein  oder  nur  leichte  Arbeit  ver¬ 
richten  zu  können  (sei  es,  daß  z.  B.  Arbeiten  in  gebückter  Haltung 
nicht  verrichtet  werden  können,  oder  daß  nur  auf  ebener  Erde  ge¬ 
arbeitet  werden  könne  anstatt  wie  früher  auf  Gerüsten  etc.),  so 
wird  man  mit  aller  Entschiedenheit  dafür  Sorge  zu  tragen  haben, 
solche  Verletzte,  wenn  tunlich,  irgendwie  an  die  Arbeit  zu  be¬ 
kommen,  und  zwar  sofort,  wenn  sie  aus  der  Behandlung  entlassen 
werden,  denn  ein  längeres  Nichtstun  nach  ihrer  Entlassung  aus  der 
Behandlung  kann  nur  den  Müßiggang  begünstigen  und  die  psy¬ 
chogenen  Vorstellungen  bestärken.  Dieses  Prinzip  wird  in  ge¬ 
eigneten  Fällen  bei  uns  am  Krankenhause  seit  Jahren  mit  recht 


316  r  Heinrich  Schmidt, 

befriedigendem  Resultate  geübt.  Die  Verletzten  werden  dann  unter 

•  • 

Zubilligung  einer  Ubergangsrente  zu  leichteren  Arbeiten  ent¬ 
lassen.  Man  erreicht  dadurch  doch  in  den  weitaus  meisten  Fällen, 
daß  die  Arbeitslust  der  Leute  wieder  gehoben,  daß  sich  dieselben 
langsam  wieder  an  die  Arbeit  gewöhnen  und  ihr  Sinnen  und  Denken 
auf  etwas  anderes  als  Nichtstun  und  dessen  Folgen  gerichtet  wird. 
Andererseits  wird  man  durch  die  Aufnahme,  wenn  auch  leichterer 
Arbeit  später  in  die  Lage  versetzt,  durch  Unterstützung  von 
technischen  Beamten  und  Vertrauensmännern  besser  die  Erwerbs¬ 
fähigkeit  des  Verletzten  beurteilen  zu  können.  Die  nächste  Kontroll- 
untersuchung  ergibt  dann  bereits  meistens  eine  wesentliche  Besse¬ 
rung.  Es  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  man  bei  diesen  Ver¬ 
fahren  nicht  selten  auf  recht  große  Schwierigkeiten  stößt,  indem 
die  Verletzten  angeben,  daß  sie  eine  entsprechende  leichte  Arbeit 
nicht  finden  können.  Sicherlich  sind  diese  Angaben  oft  übertrieben, 
doch  auch  in  vielen  Fällen  bestehen  sie  gewiß  zu  Recht.  Es 
wäre  dringend  zu  wünschen ,  daß  diesem  Übel  in  Zukunft  mehr 
Abhilfe  geschafft  würde  durch  diesbezügliche,  neue  gesetzliche  Be¬ 
stimmungen.  So  weit  uns  bekannt,  sorgen  die  Eisenbahndirektionen, 
sowie  zahlreiche  Bg.  seit  längerer  Zeit  insofern  für  ihre  Verletzten, 
indem  sie  denselben,  soweit  angängig,  in  anderen  leichten  Betrieben 
Arbeitsgelegenheit  verschaffen.  Doch  durch  diese  Versicherungs¬ 
träger  wird  nur  für  ein  Bruchteil  von  Arbeitern  der  Arbeitsnach¬ 
weis  erbracht.  Nachdem  die  in  Elsaß-Lothringen  und  den  Nach¬ 
barstaaten  durchgeführte  Zentralisation  der  Arbeiternachweise  sich 
bewährt  hat,  nachdem  ferner  durch  die  freiwillige  Tätigkeit  der 
Städte  (Köln)  auf  diesem  Gebiete  recht  erfreuliche  Resultate  erzielt 
worden  sind,  dürfte  es  doch  wohl  an  der  Zeit  sein,  durch  Gesetz 
seitens  des  Reiches  bzw.  der  Staaten  den  öffentlichen  Arbeitsnach¬ 
weis  zu  fördern.  Damit  würde  auch  eine  allmähliche  Beseitigung 
der  gewerbsmäßigen  Vermittelung  von  Arbeitsgelegenheit  erzielt 
werden ,  was  dringend  im  Interesse  des  arbeitenden  Volkes  zu 
wünschen  wäre,  das  durch  die  gewerbsmäßigen  Vermittelungen 
nicht  selten  geradezu  ausgebeutet  wird. 

Neuerdings  hat  das  Sächsische  Ministerium  des  Innern  in 
einer  Verordnung  vom  30.  November  1906  darauf  hingewiesen,  daß 
die  Einrichtung  allgemeiner  öffentlicher  und  unparteiischer  Arbeits¬ 
nachweise  gemeinnütziger  Art  auch  im  Königreich  Sachsen  an  Ver¬ 
breitung  gewinnen  und  wenigstens  in  allen  Gemeinden  mit  mehr  als 
10000  Einwohnern  entweder  als  obrigkeitliche  Maßnahme  oder  durch 
gemeinnützige  Vereine  zur  Durchführung  gebracht  werden  müssen. 


317 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  der  Arbeitsnachweis  wesentlich  ge¬ 
fördert  werden  könnte  durch  Arbeiterausschüsse,  wie  sie  in  ähn¬ 
licher  Weise,  z.  B.  bei  den  Knappschaften  und  anderen  großen  Be¬ 
trieben  bereits  bestehen. 

Es  ist,  wie  auch  Lossen  (Seite  455)  mit  Recht  hervor¬ 
hebt,  zu  bedauern,  daß  so  viele  praktische  Vorschläge  meistens 
nur  in  fachwissenschaftlichen  Blättern  niedergelegt  und  nicht  von 
dem  eigentlichen  Interessen  kreis  gelesen  werden.  Es  wäre  zu 
wünschen,  wenn  die  ärztliche  Behandlung  von  Mitgliedern  der 
Arbeiterversicherung  mehr  als  bisher  Gemeingut  der  Ärzte  würde. 

Es  muß  doch  wahrlich  unangenehm  berühren  wenn  Nichtärzte, 
wie  Lohmar,  Pieper  und  Schwank,  die  Beamte  von  Bg.  sind, 
auf  die  vielfache,  zurzeit  noch  bestehende  Mangelhaftigkeit  des 
eigentlichen  Heilverfahrens  hinweisen.  Aber  diese  Beamten  haben 
durchaus  recht.  Wir  wollen  es  unterlassen,  in  dieser  Hinsicht 
auf  weiteres  Material  einzugehen.  Es  könnte  nur  dazu  geeignet 
sein,  ein  betrübendes  Bild  auf  viele,  früher  ausgeführte  ärztliche 
Maßnahmen  zu  werfen  und  zeigen,  daß  nicht  selten  durch  die 
Mangelhaftigkeit  des  Heilverfahrens  nicht  allein  den  Verletzten 
selbst  und  seinen  Angehörigen  sondern  auch  den  Trägern  der 
Versicherung  erheblicher  materieller  Schaden  zugefügt  worden  ist. 

Es  kann  wohl  kaum  ausbleiben,  daß  die  Schadenersatzpflicht 
des  Arztes  bei  der  demnächstigen  Reform  eine  besondere  Regelung 
erfahren  wird. 

Wenngleich  die  Haftung  Dritter,  also  auch  der  Ärzte,  gemäß 
§  140  Gew.-G.,  §  151  lw.  G.,  §  45  Bau-G.,  §  138  See-G.  sich  nach 
den  sonstigen  gesetzlichen  Vorschriften  bestimmt,  also  z.  B.  die 
Bestimmungen  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  entsprechende  An¬ 
wendungen  finden,  so  wird  es  doch  dringend  wünschenswert  sein, 
daß  hinsichtlich  eines  geordneten  Geschäftsganges  und  um  den 
folgenschweren  Verschleppungen  des  Heilverfahrens  vorzubeugen, 
Rechtsnormen  aufzustellen  sind,  die  für  den  Fall  eines  Verschuldens 
seitens  des  Arztes  nicht  nur  Bestimmungen  bezüglich  einer  etwa 
zu  verhängenden  Ordnungsstrafe  sondern  auch  solche  bezüglich 
eines  entstandenen  Schadenersatzanspruches  enthalten.  Der  Er¬ 
laß  besonderer  diesbezüglicher  Rechtsnormen  ist  auch 
aus  dem  Grund  gerechtfertigt,  daß  er  in  vorbeugendem  Sinne 
den  Arzt  an  seine  Pflicht  erinnert.  Andererseits  muß  es 
als  eine  Pflicht  angesehen  werden,  bei  der  sozialen  Haltung  der 
Arbeiterversicherungsgesetze  den  wirtschaftlich  Schwachen  durch 
positive,  gesetzliche  Bestimmungen  auch  wirklich  voll  und  ganz  zu 


Heinrich  Schmidt, 


318 

schützen,  worauf  der  Verletzte  bzw.  kraft  cessio  legis  der  Bg.  einen 
Anspruch  hat.  Wenn  bislang  eine  ganze  Reihe  von  Prozessen  be¬ 
treffend  Schadenersatzansprüche  gegen  Ärzte  nicht  angestrengt 
worden  sind,  so  beweist  das  gar  nichts.  Es  ist  lediglich  Sache 
des  öffentlichen  Rechts,  daß  der  wirtschaftlich  Schwache  zu  seinem 
Recht  kommt.  Andererseits  hätten  die  Bg.  mehr  wie  genug  Gelegen¬ 
heit  gehabt,  erfolgreiche  diesbezügliche  Prozesse  anhängig  zu 
machen.  Aber  bei  der  bestehenden  Organisation  haben  es  Bg.,  wie 
uns  öfter  von  Geschäftsführern  mitgeteilt  worden  ist,  vermieden, 
mit  der  Ärzteschaft  in  Konflikt  zu  geraten. 

Ein  Verschulden  des  Arztes  würde  z.  B.  vorliegen,  wenn  der¬ 
selbe  offenbar  einen  Kunstfehler  begeht.  Bei  dem  heutigen  Stande 
der  Wissenschaft  würde  auch  z.  B.  darin  ein  Verschulden  zu  er¬ 
blicken  sein,  wenn  der  Arzt  bei  einer  Fingerverletzung  nicht  da¬ 
für  Sorge  trägt,  daß  durch  sachgemäße  Behandlung  die  Funktions¬ 
fähigkeit  der  übrigen,  durch  den  Unfall  nicht  betroffenen  Finger 
erhalten  bleibt.  Im  übrigen  würde  von  Fall  zu  Fall  zu  beurteilen 
sein,  ob  ein  Verschulden  vorliegt  oder  nicht. 

Daß  natürlich  sehr  häufig  das  Verhalten  des  Verletzten 
die  Ursache  für  ein  wenig  befriedigendes  Resultat 
der  Heilbehandlung  ist,  bedarf  keiner  näheren  Ausführung. 
Es  muß  daher  verlangt  werden  können,  daß  der  Ver¬ 
letzte  auch  seinerseits  das  Erforderliche  tut,  um  den 
bestmöglichsten  Erfolg  hinsichtlich  der  Erwerbsfähigkeit  zu  erzielen. 
Man  kann  aber  bei  den  bestehenden  Gesetzen  nicht  behaupten, 
daß  dies  der  Fall  ist. 

Die  bisherige  Rechtsprechung  des  RVA. ,  daß  der 
Verletzte  grundsätzlich  in  Operationen  und  Narkose  nicht  einzu¬ 
willigen  braucht,  dürfte  auf  die  Dauer  in  ihrem  ganzen 
Umfange  wohl  nicht  haltbar  sein.  Es  ist  geradezu  ein 
Jammer,  wenn  man  sieht,  daß  junge,  muskelkräftige  Leute  eine 
hohe  Rente  beziehen,  nur  aus  dem  einzigen  Grunde,  weil  sie  sich 
einen  einfachen,  kleinen  operativen  Eingriff  nicht  gefallen  zu  lassen 
brauchen.  Weshalb  sollen  in  geeigneten  Fällen  nicht  die  Narkose 
oder  andere  gleichwertige  Mittel  behufs  Anästhesierung  anzuwenden 
sein?  Man  sollte  doch  meinen,  daß  man  von  einem  Mitgliede  der 
Arbeiterversicherung  verlangen  kann,  darin  einzuwilligen,  worin 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  nach  der  objektiven  Meinung 
ein  Privatkranker  einzu willigen  pflegt.  Der  Zweck  der  Arbeiter¬ 
versicherung  ist  aber  durch  das  Recht  des  Verletzten,  operative 
Eingriffe  und  Narkose  grundsätzlich  verweigern  zu  können, 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


319 


teilweise  verfehlt.  Weshalb  willigt  jetzt  der  Verletzte  direkt 
nach  dem  Unfälle  fast  ausnahmslos  sowohl  in  die  Narkose  wie 

■% 

in  die  Operation  ein?  Ganz  einfach,  weil  er  zuerst  noch  an 
eine  Wiederherstellung  denkt  und  sich  innerhalb  der 
kurzen  Zeit  nach  dem  Unfälle  noch  nicht  klar  darüber 
geworden  ist,  daß  er  im  Falle  der  Weigerung  einer  Operation 
beim  Bezug  einer  hohen  Rente  durch  Nichtstun  das  Leben  hin¬ 
bringen  kann.  Sobald  der  Verletzte  sich  aber  über  diesen  Punkt 
klar  geworden  ist,  wird  er  in  den  seltensten  Fällen  zu  einer 
Operation  zu  bewegen  sein. 

Welcher  Kontrast  zwischen  der  Einwilligung  im  ersten  und 
der  Verweigerung  im  letzten  Fall?  Ist  etwa  ein  operativer  Ein¬ 
griff  sofort  nach  einer  schweren  Verletzung  nicht  so  gefahrvoll 
als  einige  Zeit  später?  Nein,  das  kann  man  doch  wohl  im  all¬ 
gemeinen  nicht  behaupten;  es  wird  vielmehr  im  Gegenteil  der 
Verletzte  später,  wenigstens  in  sehr  vielen  Fällen,  körperlich  besser 
imstande  sein,  ohne  Lebensgefahr  sich  einer  Operation  unterziehen 
zu  können.  Trotzdem  darf  der  Verletzte  nun  jedweden 
operativen  Eingriff,  der  ärztlicherseits  behufs  Wiederher¬ 
stellung  der  Funktion  für  unbedingt  erforderlich  erachtet  wird, 
verweigern.  Der  Standpunkt,  daß  der  Verletzte  allein  darüber 
zu  entscheiden  hat,  ob  er  sich  operieren  lassen  will  oder  nicht,  ist 
ganz  verfehlt.  Es  entspricht  dieser  Standpunkt  nicht  ganz  dem 
Charakter  des  öffentlichen  Rechts.  Es  kommt  doch  wohl  in  erster 
Linie  alles  auf  die  Wiederherstellung  oder  wenigstens 
eine  wesentliche  Besserung  der  Arbeitskraft  an.  Ist 
eine  solche  im  Einzelfalle  nach  den  gegebenen  Ver¬ 
hältnissen,  den  besonderen  Umständen  und  nach  dem 
gewöhnlichen  Laufe  der  Dinge  mit  Wahrscheinlich¬ 
keit  zu  erhoffen  und  würde  sich  zur  Vornahme  der¬ 
selben  unter  Abwägung  aller  Umstände  ein  ver¬ 
nünftiger  Mensch  entschließen,  so  sollte  der  Ver¬ 
letzte  nicht  allein  über  eine  etwaige  Weigerung  der 
Operation  zu  entscheiden  haben.  Wenn  der  Verletzte 
direkt  nach  dem  Unfälle  so  vernünftig  ist  und  fast  ausnahmslos 
jeden  operativen  Eingriff,  welcher  auf  eine  Wiederherstellung  ge¬ 
richtet  ist,  ermöglicht,  so  sollte  im  Falle  einer  späteren 
Weigerung,  die  eben  dann  im  vollen  Sinne  des 
Wortes  als  grundlos  bezeichnet  werden  muß,  das  Ge¬ 
setz  eing reifen,  indem  es  z.  B.  die  für  den  Verletzten  un¬ 
günstigen  Schlüsse  eintreten  läßt.  Das  Motiv,  das  dieser  Weigerung 


320 


Heinrich  Schmidt, 


zugrunde  liegt,  ist  doch  weder  ein  moralisches,  ethisches,  noch 
irgendwie  im  wirklichen  Sinne  rechtlich  begründetes.  Es 
geht  nur  darauf  hinaus,  die  Wiederherstellung  oder 
eine  wesentliche  Besserung  zu  verhindern,  um  sich 
auf  diese  Weise-  eine  hohe  Rente  zu  verschaffen.  Nur 
insofern  ist  die  Weigerung  als  begründet  anzusehen,  als  dem  Ver¬ 
letzten  nach  den  bestehenden  Gesetzen  formell  das  Recht  zu¬ 
steht,  grundsätzlich  in  einen  operativen  Eingriff  nicht  einzuwilligen. 
Die  Verletzten  werden  so  durch  unsere  bestehende 
Rechtsprechung  zu  Hypochondern,  Hysterikern, 
Querulanten  und  Tagedieben  ausgebildet. 

Eine  Veränderung  dieser  bestehenden  Verhältnisse  herbeizu¬ 
führen,  Avird  zweifelsohne  großen  Schwierigkeiten  begegnen,  aber 
im  Laufe  der  Zeit  wird  dieselbe  sicherlich  eintreten.  Die  weitere 
Vervollkommnung  der  Heilmethoden  und  der  Narkose  bzw.  der 
lokalen  Anästhesie  werden  uns  diesem  Ziele  etwas  näher  bringen. 
Andererseits  wird  die  Zukunft  lehren,  ob  und  inwieweit  bei  der 
voraussichtlichen  Erweiterung  der  Begriffe  in  der  Medizin  auch 
eine  Erweiterung  solcher  Begriffe  in  der  Jurisprudenz  geeignet  ist, 
neue  oder  analoge  Gesichtspunkte  bzw.  neue  juristische  Rechts¬ 
verhältnisse  entstehen  zu  lassen,  welche  es  ermöglichen,  daß  der 
Verletzte  nicht  mehr  allein  über  die  Frage  der  Operationsver¬ 
weigerung  entscheiden  kann.  Könnte  nicht  etwa  auch  bei  der 
Arbeiterversicherung  die  Erklärung  des  Verletzten  bezüglich  einer 
grundlosenWeiger  u  n  g  durch  eine  anderweitige  rechtskräftige 
Entscheidung  ersetzt  werden? 

Man  müßte  eigentlich  zu  dieser  Annahme  auf  Grund  einer 
Entscheidung  des  Reichsgerichts  in  Privat- Versicherungsange¬ 
legenheiten  gelangen.  In  dem  Urteil,  wodurch  die  Entscheidung 
des  Oberlandesgerichts  zu  Köln  bestätigt  wird,  heißt  es  unter 
anderem:  „Der  Versicherte  ist  nicht  verpflichtet,  sich  einer  von  der 
Gesellschaft  angeordneten  Operation  auch  dann  zu  unterziehen,  wenn 
deren  Erfolg  in  einem  gewissen  Maße  unsicher  und  deren  Vor¬ 
nahme  nach  den  besonderen  individuellen  Umständen  mit  größeren 
Gefahren  verknüpft  ist.  Eine  Verbindlichkeit  des  Versicherten, 
sich  operieren  zu  lassen,  ist  nur  dann  begründet,  wenn  ein  ver¬ 
nünftiger  Mensch  unter  Abwägung  aller  Umstände  auch  ohne 
rechtliche  Bindung  sich  zur  Vornahme  der  Operation  ent¬ 
schließen  würde.“ 

Es  möge  hier  nur  ein  Beispiel  erwähnt  sein,  das  einen  Ver¬ 
letzten  betrifft,  der  mit  einer  ausgedehnten  eitrigen 


Das  Heilverfahren  nach  den  UnfaÜversicherungsgesetzeii. 


321 


Se h  n  e n  s  c li e  i  d  e n e n  t  z ii n d u n g  d  e r  Hand  im  hiesigen  Kranken- 
liause  der  Barmherzigen  Brüder  aufgenommen  wurde  und  jeden 
operativen  Eingriff  verweigerte.  Ein  solcher  Fall  allein  beweist, 
daß  die  häufige  Verweigerung  von  operativen  Eingriffen  seitens 
der  Verletzten  geradezu  skandalös  ist  und  unserer  jetzigen  Recht- 
sprechung  und  dem  Gefühle  eines  nur  einigermaßen  vernünftig 
denkenden  Menschen  Hohn  spricht:  Der  ideale  Gedanke,  der  den 
Arbeiterversicherungsgesetzen  zugrunde  liegt,  nämlich  die  Arbeits¬ 
kraft  des  Volkes  möglichst  zu  erhalten,  wird  durch 
unsere  bisherige  Rechtsprechung  bezüglich  der  Verweigerung  von 
operativen  Eingriffen  seitens  der  Verletzten  wahrlich  nicht  unter¬ 
stützt  ! 

Wir  können  nicht  einsehen,  weshalb  der  §  254  des  Bürger¬ 
lichen  Gesetzbuches,  der  das  eigene  Verschulden  des 
Verletzten  behandelt,  nicht  auch  in  der  Arbeiterversicherung 
Anwendung  finden  soll.  Der  §  254  lautet: 

„Hat  bei  der  Entstehung  des  Schadens  ein  Verschulden 
des  Beschädigten  mitgewirkt,  so  hängt  die  Verpflichtung 
zum  Ersätze  sowie  der  Umfang  des  zu  leistenden  Ersatzes 
von  den  Umständen,  insbesondere  davon  ab,  inwieweit  der 
Schaden  vorwiegend  von  dem  einen  oder  von  dem 
anderen  Teile  verursacht  worden  ist.“ 

Bei  Crome1)  heißt  es : 

„Zu  einer  Verursachung  von  seiten  des  Verletzten  wird  auch 
gerechnet,  wenn  er  es  unterlassen  hat,  den  Nachteil  abzuwenden 
oder  zu  mindern.  Demgemäß  wird  der  Dritte  ganz  oder  gar 
nicht  resp.  teilweise  je  nach  den  vom  Richter  zu  berücksichti¬ 
genden  Umständen  des  Falles  für  den  Erfolg  verantwortlich  gemacht.“ 

Daß  unter  diesem  Gesichtspunkt  besonders  streitig  ist,  ob  der 
Verletzte  sich  behufs  Wiederherstellung  bzw.  Herbeiführung  einer 
wesentlichen  Besserung  einer  Operation  zu  unterziehen  habe,  ist 
bekannt.  Immerhin  dürfte  die  Rechtsprechung  des  Reichsgerichts 
in  Fällen  der  Verweigerung  einer  Operation  in  Privatversicherungs¬ 
angelegenheiten  den  für  die  Folge  unhaltbaren  Anschauungen  in 
der  Arbeiterversicherung  die  Wege  ebnen. 

Es  ist  daher  ernstlich  zu  erwägen,  ob  nicht  de  lege 
ferenda  dem  willkürlichen  und  grundlosen  Handeln 
des  Verletzten  in  der  öffentlichen  Versicherung  als¬ 
bald  ein  Ende  gemacht  werden  soll. 


*)  Crome,  System  des  Bürgerl.  Rechts,  I.  Teil,  S.  495. 
Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II. 


21 


322 


Heinrich  Schmidt, 


Es  ist  in  der  öffentlich-rechtlichen  Versicherung,  meinen  wir, 
keine  Konsequenz,  wenn  einerseits  dem  Verletzten  und  seinen 
Hinterbliebenen  ein  Anspruch  bei  vorsätzlicher  Herbei¬ 
führung  des  Unfalles  nicht  zusteht  (Gew.-G.  §  8,  Abs.  II,  lw.  G. 
§  7,  Abs.  II),  andererseits  bei  vorsätzlicher  Unterlassung 
der  Abwendung  oder  Minderung  des  Nachteils  (Weigerung 
der  Operation)  der  Anspruch  des  V erletzten  bestehen  bleibt. 

(Hinsichtlich  der  Bedeutung  von  „Verschulden“,  „Vorsatz“, 
„Fahrlässigkeit“,  „Absicht“,  „vorauszusehen  in  der  Lage  war“ 
siehe  Crome  a.  a.  0.,  S.  496/97.) 


III.  Einiges  zur  Reform. 

Über  die  Reform  der  drei  großen  Versicherungsgesetze  herrscht 
im  allgemeinen  insofern  Übereinstimmung,  als  die  Vereinfachung 
der  bestehenden  Gesetze  notwendig  geworden  und  auch  von  den 
gesetzgebenden  Faktoren,  der  Regierung  wie  der  Volksvertretung 
anerkannt  worden  ist. 

Die  Ansichten  über  die  eigentliche  Reform  gehen  weit  aus¬ 
einander.  Die  einen  z.  B.  fordern  eine  Verschmelzung  aller  drei 
Versicherungszweige  zu  einem  geschlossenen  Ganzen:  Freund,1) 
v.  Frankenberg,2)  Rob.  Schmidt,3)  Lohmar;4)  die  anderen 
sind  Gegner  einer  solchen  Verschmelzung  und  wollen  nur  eine 
Vereinigung  unter  Aufrechterhaltung  der  Versicherungsanstalt  und 
der  Berufsgenossenschaften:  Boediker,5)  Dilttmann,6)  v.Jag- 
wTitz,7)  Sayffaerth,8)  May  et.9) 

9  Richard  Freund,  Die  Verschmelzung  der  Krankenversicherung  mit 
der  Invalidenversicherung.  Soz.  Pr.,  Jahrg.  XII,  Nr.  22. 

2)  v.  Frank enb erg,  Ganze  oder  halbe  Reform,  Soz.  Pr.,  Jahrg.  XIII,  Nr.  48. 

3) Rob.  Schmidt,  Eine  einheitliche  Arbeiterversicherung.  Sozialistische 
Monatshefte,  Bd.  I,  H.  6.  1906,  S.  469  ff. 

4)  Paul  Lohmar,  Über  Reform  und  Vereinheitlichung  unserer  Arbeiter¬ 
versicherung.  Köln  1905. 

5)  Boediker,  Vereinfachung  der  Arbeiterversicherung.  Schmollers  Jahr¬ 
bücher,  Jahrg.  XXX,  H.  1,  S.  1  ff. 

6)  Diittmann,  Umbau  der  Arbeiterversicherung,  Arbeiterversorgung.  Jahr^ 
gang  XXL,  H.  17—19. 

7)  v.  Jagwitz,  Die  Vereinheitlichung  der  Arbeiterversicherung.  Berlin  1906, 
Verlag  von  A.  W.  Hayns  Erben. 

8)  Sayffaerth,  Die  deutsche  Arbeiterversicherung  in  Zukunft.  Medizin. 
Reform,  Jahrg.  XIV,  Nr.  8. 

9)  P.  May  et,  Umbau  und  Weiterbildung  der  sozialen  Versicherung.  Medizin. 
Reform,  Jahrg.  XIV,  Nr.  10. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


323 


Es  kann  hier  nicht  auf  das  einzelne  eingegangen  werden  und 
wird  auf  die  reichhaltige  Literatur  bzw.  auf  die  untenstehenden 
Schriften  der  genannten  Autoren  verwiesen. 

Wir  möchten  kurz  betonen,  daß  es  schwer  ist,  sich  im  Prinzip 
der  einen  oder  der  anderen  dieser  beiden  Richtungen  anzuschließen. 
Jedenfalls  aber  kann  man  sagen,  daß  die  bisherige  sozialpolitische 
Gesetzgebung  lediglich  ein  Erzeugnis  der  historischen  Entwicklung 
ist,  daß  es  aber  nunmehr  im  Interesse  einer  Reform  der  bestehenden 
Gesetze  heißt,  mit  manchen  überkommenen  Traditionen  brechen, 
wie  sehr  man  zum  Teil  auch  an  ihnen  hängen  mag.  Man  könnte 
allerdings  zweifelhaft  sein,  ob  die  Vereinheitlichung  schrittweise 
vorzunehmen  sei  oder  nicht.  Wir  möchten  uns  hier  der  Ansicht 
von  Mugdan1)  anschließen  (der  ein  schrittweises  Vorgehen  emp¬ 
fiehlt),  und  zwar  nicht  nur  aus  den  von  diesem  Autor  vertretenen 
Gründen  —  es  sei  auf  die  betreffende  Schrift  verwiesen  — , 
sondern  weil  im  Interesse  der  tadellosen  Funktion 
eines  so  gewaltigen  Apparates  noch  zu  viele  Vorbe¬ 
reitungen  geschehen  müssen,  welche  auch  durch  ein 
noch  so  vollkommenes  Gesetz  nicht  ohne  weiteres  er¬ 
ledigt  werden  können. 

Die  Berufsgenossenschaften  haben  im  allgemeinen,  wie  all¬ 
seitig  anerkannt  wird,  von  den  Versicherungsträgern  am  besten 
funktioniert. 

Diese  Tatsache  wird  demnächst  bei  der  Reform  zu  einer  ein¬ 
gehenden  Beurteilung  insofern  Anlaß  zu  geben  haben,  ob  oder  in¬ 
wieweit  die  Berufsgenossenschaften  im  Prinzip  zu  erhalten  sind 
oder  nicht. 

Unsere  Ansicht  geht  dahin,  daß  man  das,  was  man  besitzt, 
sich  so  lange  erhalten  soll,  als  man  objektiv  nichts  Besseres  an 
seine  Stelle  setzen  kann.  Letzteres  kann  man  nicht  von  der  . 
Kranken-  bzw.  Invalidenversicherung,  wohl  aber  von  der  Unfall¬ 
versicherung  sagen.  Anders  verhält  sich  die  Frage,  inwieweit  die 
Berufsgenossenschaften  zu  erhalten  sind.  Soweit  das  Heilverfahren, 
das  einzig  und  allein  die  Basis  für  das  ganze  weitere  Ver¬ 
fahren  ist,  in  Betracht  kommt,  ist  es  unerläßlich,  die  bis¬ 
herigen  Wirkungskreise  zu  ändern  und  unter  die  Leitung  von  Be¬ 
rufsbeamten  mit  möglichst  weitgehenden  und  selbständigen  Be¬ 
fugnissen  (Reichs-  oder  Staatsbeamte,  daneben  Kontrollbeamte)  zu 


1 )  Otto  Mugdan,  Zur  Reform  der  Arbeiterversicherung.  Zeitschr.  f. 
Sozialwissenschaft,  1906,  H.  3  u.  4. 


21* 


324  Heinrich  Schmidt, 

stellen,  denen  nicht  nur  die  Vorbereitung  und  Feststellung  der 

Entschädigung  sondern  auch  die  Maßnahmen  für  das  Heilverfahren 

obliegen  und  die  in  ständiger  Fühlung  mit  den  behandelnden 
•  • 

Ärzten  stehen.  Zu  letzterem  Behüte  wäre  es  erforderlich,  daß  die 
künftigen  Wirkungskreise  höchstens  den  Umfang  eines  preußischen 
Stadt-  oder  Landkreises  erreichen  dürfen. 

Rumpf1)  empfiehlt  behufs  Herstellung  eines  engeren  Konnexes 
zwischen  den  Krankenkassen  einerseits,  den  Berufsgenossenschaften 
und  der  Invalidenversicherung  andererseits  die  Schaffung  einer 
amtlichen  Stelle  (Versicherungsamt,  Agenturen),  in  welcher 
alle  Meldungen  von  Krankheit  zusammenlaufen  und  auf  ihre  Be¬ 
ziehungen  zur  Unfall-  und  Invalidenversicherung  geprüft  werden. 
An  der  amtlichen  Stelle  soll  ein  Arzt  tätig  sein  und  ihm  die 
Prüfung  der  ärztlichen  Angelegenheiten  etc.  übertragen  werden. 
Die  bestehenden  Betriebs-  und  Krankenkassen  sollen  von  Unfällen 
möglichst  sofort  und  telephonisch  dem  Versicherungsamt  oder  der 
Agentur  Mitteilung  machen.  Auf  Grund  dieser  Mitteilungen  über 
Unfälle  sollen  dann  die  Ermittelungen  (auch  über  Gewerbe¬ 
schutz  etc.)  stattfinden,  die  Ergebnisse  derselben  den  interessierten 
Behörden  schleunigst  mitgeteilt  werden. 

Die  Einrichtung  einer  solchen  amtlichen  Stelle  wäre  in 
der  Tat  eine  einfache  Form  des  von  Sayffaerth  geforderten  Unter¬ 
baues  der  Gesamtversicherung.  Die  Verminderung  der  Zahl  der 
Krankenkassen  sowie  der  Berufsgenossenschaften  (letztere  durch 
Verschmelzung  gleichartiger  Betriebe)  dürfte,  wie  Rumpf  hervor¬ 
hebt,  wünschenswert  sein.  Es  ist  weiter  nicht  zu  verkennen,  daß 
nach  den  Vorschlägen  von  Rumpf  die  bisherige  mangelhafte  Mit¬ 
teilung  von  Anzeigen,  Untersuchungen  und  vor  allem  eine  not¬ 
wendige  Kontrolle  wesentlich  gefördert  werden  könnte.  Rumpf 
ist  der  Ansicht,  daß  die  Schaffung  der  in  seinem  Sinne  gedachten 
Versicherungsämter,  als  Institute  der  drei  Versicherungen,  eine 
Basis  darstelle,  auf  welcher  in  der  Verknüpfung  weiter  gegangen 
werden  könnte,  während  die  bewährte  Selbstverwaltung  in  seit¬ 
heriger  Weise  erhalten  würde. 

S  cli  w  an  ck  (S.  20)  betont,  daß  das  Heilverfahren  aller  Kranken¬ 
kassen  für  dieselben  nur  ein  vorübergehendes  Interesse  habe  und 
infolgedessen  das  sich  anschließende  Heilverfahren  der  Berufs¬ 
genossenschaft  nachteilig  beeinflußt,  sehr  häufig  schwer  geschädigt 


b  Th.  Rumpf,  Zur  Reform  der  sozialen  Gesetzgebung.  Soziale  Medizin 
und  Hygiene,  Bd.  II,  1907,  S.  61  ff. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversichernngsgesetzen. 


325 


und  oft  gänzlich  gelähmt  werde.  Er  fordert  daher  behufs  Be¬ 
seitigung  dieser  Übelstände,  daß  den  Berufsgenossenschaften  und 
Krankenkassen  gesetzlich  die  Pflicht  auferlegt  werde,  das  Heilver¬ 
fahren  von  Anfang  an  gemeinschaftlich,  d.  h.  durch  eine 
zwischen  den  Trägern  der  Kranken-  und  Unfall -Versicherung  be¬ 
stehende  organische  Verbindung  nämlich  eine  Verwaltungs¬ 
gemeinschaft  durchzuführen. 

Es  ist  keine  Frage,  daß  man  mit  Hilfe  der  Verwaltungsgemein¬ 
schaft  nach  Schwank  einer  sachgemäßen  Abwickelung  des  Heil¬ 
verfahrens  wesentlich  näher  kommt.  Dieser  Autor  läßt  die  jetzigen 
Versicherungsträger  nebst  ihren  Organisationen  an  sich  bestehen. 
Um  aber  ein  einheitliches  Organ  für  das  Heilverfahren  der  großen 
Versicherungszweige  zu  schaffen,  schlägt  er  die  Bildung  je 
eines  Verbandes  der  im  Bezirk  einer  Landes -Versicherungs¬ 
anstalt  ansässigen  Krankenkassen,  sowie  der  in  einem  solchen  Be¬ 
zirk  ansässigen  Berufsgenossenschaften  (Sektionen)  und  sonstigen 
Versicherungsträger  vor.  Die  einzelnen  Verbände  sollen  dann  den 
Ge  samt  verband  bilden,  dessen  Organe  (eine  Mitgliederversamm¬ 
lung,  Ausschuß  und  ein  Vorstand)  die  Verhältnisse  der  Verbände 
statutarisch  regeln  (S.  100/101).  Wir  müssen  sagen,  daß  in  der 
Bildung  solcher  Verbände  bzw.  des  Gesamtverbandes  ein  System 
liegt,  das  Ordnung  und  Wandel  in  dem  bestehenden,  durchaus 
mangelhaften  Heilverfahren  herbeizuführen,  vermag.  Da  die  ein¬ 
zelnen  Verbände  nach  Schwanck  den  Bezirk  einer  jetzigen  Landes- 
Versicherungsanstalt  umfassen  sollen,  die  neu  gebildeten  Versiche¬ 
rungsämter  nach  Rumpf  dagegen  etwa  den  Umfang  eines  jetzigen 
Kreises  ausmachen,  so  dürfte  eine  zweckentsprechende  Vereinigung 
dieser  beiden  neuen  Ideen  nicht  allein  für  den  wichtigsten  Punkt 
und  die  alleinige  Basis  der  Unfallversicherung,  das  Heilverfahren, 
von  außerordentlicher  Bedeutung  sein,  sondern  auch  für  den  Ge¬ 
samtbetrieb  der  Arbeiterversicherung  in  Betracht  kommen.  Die 
neu  zu  schaffenden  Organe  müssen  durchaus  selbständig  sein.  Eine 
Angliederung  derselben  an  andere  Behörden,  z.  B.  an  Landratsämter, 
ist  schon  allein  wegen  des  ungeheuren  Arbeitsfeldes,  das  sich  auch 
auf  Arbeitsnachweis,  sowie  sämtliche  die  Fürsorgebestrebungen  be¬ 
treffenden  Maßnahmen  u.  dgl.  zu  erstrecken  hat,  zu  verwerfen. 

Wenngleich  die  Ansicht  dieser  Autoren  —  es  wird  im  ein¬ 
zelnen  auf  die  betr.  Schrift  verwiesen  —  voll  und  ganz  anerkannt 
werden  muß,  so  will  es  uns  doch  scheinen,  als  ob  die  bei  R  u  m  p  f , 
wie  auch  bei  Schwanck  berücksichtigte  Ausbildung  der  Ärzte  zu 
wenig  in  den  Vordergrund  getreten  sei. 


326  Heinrich  Schmidt, 

Wir  s  t  e  h  e  n  a  u  f  d  e  m  S  t  a  n  d  p  u  n  k  t  e ,  d  a  ß  a  1 1  e  Reform¬ 
ideen  und  Bestrebungen,  die  auf  eine  Umwälzung'  der 
Organisation  der  Ar  beiter  Versicherung  hin  zielen, 
nicht  den  praktischen  Wert  besitzen,  wie  eine  zu¬ 
nächst  von  Grund  aus  vorzunehmende  Änderung  hin¬ 
sichtlich  der  Vorbildung  der  praktischen  Ärzte. 

•  • 

Ohne  eine  solche  Änderung  hat  die  vollkommenste 
Reform  nur  einen  halben  Wert;  denn  was  nützt  es, 
wenn  der  einzelne,  der  zur  Mitarbeit  an  dem  großen, 
erhabenen  Werke  berufen  ist,  seine  Stelle  nicht  voll 
und  ganz  aus  führen  kann? 

Der  praktische  Arzt  aber  ist  nach  wie  vor  zur  Übernahme 
der  ersten  Maßnahmen  berufen  und  ein  gewisses  Können,  nicht 
allein  hinsichtlich  der  selbständigen  Behandlung,  sondern  auch  in 
der  sofortigen  Beurteilung  über  die  weiteren  Maßnahmen  (Über¬ 
weisung  etc.)  muß  unbedingt  verlangt  werden  können. 

Die  nicht  genügende  Ausbildung  der  Ärzte  wird  seit  Jahren 
nicht  nur  von  Ärzten,  sondern  auch  von  den  Versicherungsträgern 
betont.  Doch  es  bleibt  immer  beim  Alten.  Die  bisherige  Art  und 
Weise  des  Heilverfahrens  in  der  Arbeiter  Versicherung  erfordert 
daher  sobald  als  möglich  eine  Änderung  der  Prüfungs¬ 
bestimmungen  im  erwähnten  Sinne. 

Behufs  einheitlicher  Regelung  des  Heilverfahrens  in  Arbeiter¬ 
versicherungssachen  bzw.  einer  diesbezüglichen  Änderung  der 
Prüfungsvorschriften  für  praktische  Ärzte  ist  es  nach  unserer  An¬ 
sicht  wünschenswert,  daß  außer  dem  schon  vorhandenen  Material 
bei  den  Berufsgenossenschaften  noch  gutachtliche  Äußerungen  von 
bekannten  Autoren  auf  dem  Gebiete  der  Unfallheilkunde,  nament¬ 
lich  der  Chirurgen  und  inneren  Mediziner  an  Unfallkrankenhäusern, 
welche  unter  Aufsicht  des  Reiches  stehen,  eingeholt  werden.  Wir 
sind  überzeugt,  daß  dann  eine  von  Grund  aus  vorzunehmende 
Reform  der  bestehenden  Prüfungsbestimmungen  für  praktische 
Ärzte  wohl  kaum  noch  eine  Aufschiebung  wird  erfahren  können. 
Im  einzelnen  sei  kurz  erwähnt,  daß  die  behandelnden  Arzte  mit 
den  einschlägigen,  modernen  Heilfaktoren  besser  vertraut  sein 
müssen;  ebenso  ist  es  bei  der  demnächstigen  Vergrößerung  des 
Kreises  der  Versicherten  unbedingt  erforderlich,  daß  bei  den  Ärzten 
ein  größeres  Interesse  bezüglich  der  Arbeiterversicherungs-Gesetz- 
gebung  erweckt  wird,  was  aber  nur  durch  Errichtung  von  Lehr¬ 
stühlen  für  Soziale  Medizin  sowie  durch  geeignete  Maßnahmen  von 

_  •  • 

berufener  Seite  geschehen  kann,  z.  B.  Ärztliche  Vereine,  medizinische 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen.  327 

Gesellschaften,  Komitees  für  das  ärztliche  Fortbildungs  wesen,  fach¬ 
wissenschaftliche  Zeitschriften  u.  dgl. 

Für  die  Beurteilung  dieser  letzteren  Gesichtspunkte  sei  kurz 
hervorgehoben,  daß  an  hiesiger  Universität  von  seiten  der  Medizin¬ 
studierenden  dem  Fache  der  Sozialen  Medizin  ein  sehr  großes  In¬ 
teresse  entgegengebracht  wrird  und  daß  die  von  Th.  Rumpf  ins 
Leben  gerufenen  Vortragsabende  aus  dem  Gebiete  der  Sozialen 
Medizin,  an  denen  Juristen,  Verwaltungsbeamte,  Beamte  von 
Berufsgenossenschaften  neben  Medizinern  Vorträge  mit  nach¬ 
folgender  Diskussion  halten ,  sich  einer  außerordentlich  regen 
Beteiligung  und  sehr  großen  Interesses  erfreuen. 

Die  bisherige  Teilnahme  seitens  der  Ärzte  in  Angelegenheiten 
der  Reform  bezog  sich  hauptsächlich  nur  auf  die  Organisation  der 
Gesetze  (freie  Arztwahl,  Honorarfrage,  Schaffung  von  Schieds¬ 
gerichten  bei  Streitigkeiten  mit  den  Kassen  usw.),  weniger  auf 
engere  Frage  der  Verschmelzung  u.  dgl. 

In  *  beredten  Worten  hat  auf  dem  deutschen  Ärztetag  in 
Halle  der  Vorsitzende,  Löbker- Bochum,  darauf  hingewiesen, 
daß  die  gesamten  Ärzte  sich  noch  viel  zu  wenig  mit  den  Vor¬ 
gängen  auf  sozialem  Gebiete  beschäftigten.  Er  sieht  es  als  eine 
Pflicht  des  einzelnen  Arztes  an,  seine  Erfahrungen  in  den  Dienst 
des  allgemeinen  Volkswohls  zu  stellen,  und  fordert  weiter,  daß  der 
Mediziner  möglichst  frühzeitig  in  das  Studium  der  Sozialen  Medizin 
eingeführt  werde.  ' 

In  ähnlicher  Weise  heißt  es  am  Schluß  des  Referates 

von  Pfeiffer-  Weimar :  „Die  in  den  Thesen  gegebenen 

Grundsätze  für  die  Mitarbeit  der  Ärzte  an  der  Abänderung 

der  drei  großen  Versiclierungsgesetze  verlangen  eine  stärkere 

•  • 

Beteiligung  der  Arzte  an  der  sozialen  Gesetzgebung,  besonders 
nach  der  Richtung  hin,  daß  in  Zukunft  eine  auf  Erfahrung  ge¬ 
stützte  ärztliche  Kritik  rechtzeitig  an  den  vielen  neuen  Fürsorge¬ 
bestrebungen  zur  Geltung  kommen  kann.“ 

Auch  Lennhoff1)  hat  in  einem  Vortrage  über  „Ärztliche 
Wünsche  zur  Reform  der  Arbeiterversicherung“  mit  Recht  bemerkt, 
daß  eine  Stellungnahme  der  Ärzte  zu  der  Frage  des  Umbaues  der 
Arbeiterversicherung  in  größerem  Umfange  als  bisher  dringend 
wünschenswert  sei,  zumal  der  Arzt  nicht  nur  als  medizinischer  Be¬ 
rater  der  Versicherten,  sondern  auch  als  Sachverständiger  derVer- 


b  Lennhoff,  Vortrag’,  gehalten  in  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin. 
Medizin.  Reform,  Jahrg.  XIV,  Nr.  6. 


328 


Heinrich  Schmidt, 


Sicherungskörperschaften  umfassend  und  ständig  an  der  praktischen 
Durchführung  der  Gesetze  mitarbeite  und  dabei  eine  Fülle  von  Er¬ 
fahrungen  sammle. 

•  • 

Die  bisherigen  Wünsche  und  Forderungen  der  Arzte  sind  zum 
Teil  auf  dem  34.  deutschen  Ärztetag  in'  Halle  a./S.  am  22.  und 
23.  VI.  06  erörtert  und  wird  auf  die  betr.  Verhandlungen  ver¬ 
wiesen  (Extr.-Nr.  Juli  III  Ärztliches  Vereinsblatt  für  Deutschland 
35.  Jahrg.). 

Die  Einführung  der  Sozialen  Medizin  und  zwar 
als  obligatorisches  Prüfungsfach  scheint  uns  daher 
unerläßlich.  Denn  nur  so  steht  zu  erwarten,  daß  sich  die  dem- 
nächstigen  jüngeren  Ärzte  eine  Kenntnis  der  Arbeiterversicherungs¬ 
gesetze  in  der  erforderlichen  Weise  aneignen.  Wenngleich  in 
Preußen  sozusagen  sämtliche  Universitäten  sich  gegen  die  Errich¬ 
tung  von  Lehrstühlen  für  Soziale  Medizin  ausgesprochen  haben,  so 
unterliegt  es  doch  keinem  Zweifel,  daß  man  —  wie  Löbker  auf 
dem  Ärztetag  in  Halle  a./S.  treffend  bemerkt  hat  —  sich  der  Er¬ 
richtung  dieser  Lehrstühle  für  die  Folge  ebensowenig  verschließen 
kann,  wie  es  seinerzeit  für  die  Hygiene  der  Fall  war.  Es  wird 
daher  aufs  dringendste  verlangt  ,  daß  an  sämtlichen  Universitäten 
seitens  des  Kultusministeriums  Lehrstühle  für  Soziale  Medizin  errichtet 
werden  für  den  Fall,  daß  sich  die  medizinischen  Fakultäten  auch 
für  die  Folge  in  dieser  Hinsicht  ablehnend  verhalten  sollten.  Man 
sollte  doch  meinen,  daß  die  bei  Errichtung  von  'neuen  Lehrstühlen 
so  oft  im  Wege  stehenden  persönlichen  Interessen  im 
vorliegenden  Falle,  wo  es  sich  um  das  Wohl  so  vieler  Millionen 
Menschen  handelt,  an  zuständiger  Stelle  keinerlei  Beachtung  ver¬ 
dienen.  Es  kommt  doch  kein  persönliches  Interesse  einzelner  Personen 
in  Betracht,  sondern  nur  das  öffentliche  Interesse,  das  öffentliche 
Recht,  das  öffentliche  Wohl  unserer  Mitmenschen. 

Daß  die  Soziale  Medizin  ihre  volle  Berechtigung  als  besonderes 
Lehrfach  hat,  dürfte  Rumpf1)  zur  Genüge  dargetan  haben. 

Es  mögen  nur  noch  verschiedene  Einzelheiten  erwähnt  sein: 
Die  Bg.  sind  lediglich  darauf  angewiesen,  ihre  Unfallverletzten  nach 
Möglichkeit  in  Behandlung  derjenigen  Ärzte  zu  geben,  von  denen 
sie  eine  im  oben  erwähnten  Sinne  rasche  Erledigung  des  Heilver¬ 
fahrens  erwarten  können.  Diese  Erwartung  ist  aber  lediglich  eine 
Vertrauenssache.  Die  Bg.  stehen  nicht  selten  machtlos  da,  sobald 
das  Verfahren  dadurch  eine  Verzögerung  erleidet,  daß  der  erst- 


5  Zeitschrift  für  ärztliche  Fortbildung',  1906  Nr.  24,  1907  Nr.  1. 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen.  329 

behandelnde  Arzt  den  Fundbericht  nicht  oder  nicht  rechtzeitig 
bzw.  nicht  unverzüglich  einsendet.  Gesetzliche  Bestimmungen  betr. 
die  Folgen  einer  nicht  rechtzeitigen  Mitteilung  des  Fundberichtes 
oder  Bestimmungen  im  Falle  der  Weigerung  seitens  des  Arztes 
nach  erfolgloser  Aufforderung  durch  die  Bg.  zur  Abgabe  von  Er¬ 
klärungen,  bestehen  eben  nicht,  und  solange  letzteres  der  Fall  ist, 
sind  in  der  Tat  die  Versicherungsträger  auf  die  Güte  der  Ärzte 
angewiesen,  es  sei  denn,  daß  im  einzelnen  ein  genau  festgesetztes 
vertragliches  Verhältnis  besteht  oder  daß  weitere  Bestimmungen 
des  bürgerlichen  Rechtes,  z.  B.  Dienstvertrag  usw. ,  in  Betracht 
kommen.  Wenngleich  ein  solches  Verhalten  (beharrliches  Nicht- 
beant Worten  von  Ersuchen  seitens  einer  Bg.)  eines  Arztes  als 
standeswidrig  zu  betrachten  und  dementsprechend  zu  ahnden  ist 
(Beschluß  des  Ehrengerichtshofs  vom  15.  V.  03  M.  Bl.  III  357),  so 
bleibt  einstweilen  in  solchen  Fällen  nichts  anderes  übrig,  als  den 
betr.  Arzt  gerichtlich  als  Sachverständigen  (ev.  auch  als  Zeugen) 
vernehmen  zu  lassen.  Siehe  hierüber  Rek.-Entscheidung  des  RVA. 
vom  2.  VIII.  05. 

Es  muß  unter  allen  Umständen  die  unverzügliche  (d.  h.  ohne 
schuldhaftes  Zögern)  Einsendung  des  Fundberichtes  verlangt  werden. 
Dieselbe  ist  von  so  immenser  Bedeutung  für  das  Heilverfahren  und 
für  die  demnächstige  Festsetzung  der  Entschädigung,  daß  hierüber 
bei  der  Reform  der  Gesetze  ausführliche  Rechtsnormen  zu  erlassen 
sind.  Es  kann  unseres  Erachtens  nur  dadurch  Ordnung  geschaffen 
werden,  daß  einerseits  im  prophylaktischen  Sinne  Strafbestimmungen 
zu  erlassen  sind,  andererseits  der  Arzt  zum  Ersätze  des  Schadens 
verpflichtet  ist,  welcher  durch  die  nicht  unverzügliche  Mitteilung 
des  Fundberichtes  verursacht  wird.  Diese  Vorschrift  wäre  in  Unfall¬ 
versicherungsangelegenheiten  strikt  zur  Durchführung  zu  bringen, 
Den  beamteten  Ärzten,  also  den  Kreisärzten,  würde  aufzugeben 
sein,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  die  fraglichen  Bestimmungen  den 
sämtlichen,  auch  den  neu  sich  niederlassenden  Ärzten  ihres  Bezirks, 
auf  vorschriftsmäßigem  Wege  zugestellt  würden.  Damit  wäre  im 
Einzelfalle  dem  Einwande  einer  Exkulpation  seitens  eines  Arztes 
vorgebeugt.  Vielleicht  würde  es  sich  außerdem  empfehlen,  bei  Er¬ 
suchen  an  Ärzte  behufs  Untersuchung  und  Erstattung  eines  Fund¬ 
berichtes  einheitliche  Formulare  zu  benutzen,  in  denen  die  Ärzte, 
unter  Androhung  einer  Ordnungsstrafe  und  der  ev.  weiteren  privat¬ 
rechtlichen  Folgen  im  Nichtbefolgungsfalle  auf  die  unverzügliche 
Einsendung  des  Fundberichtes  anzuhalten  sind,  ähnlich  wie  solche 
Vorschriften  bei  Zeugen-  oder  Sachverständigen-Ladungen  vor  die 


330  Heinrich  Schmidt, 

ordentlichen  Gerichte  bestehen.  Mit  dieser  Änderung  würde 

zum  Teil  der  heute  so  schwer  empfundene  Übelstand  beseitigt,  der 

darin  besteht,  daß  die  Verbindung  zwischen  den  Bg.,  Krankenkassen 
•  • 

und  Ärzten  eine  zu  lockere  ist. 

Mit  einigen  Worten  wollen  wir  noch  die  ärztliche  Begutach¬ 
tung  streifen.  Es  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  daß  gewiß 
sehr  viele  ärztliche  Gutachten  den  sämtlichen  an  sie  gestellten 
Anforderungen  gerecht  werden  und  sehr  sorgfältig  angefertigt  sind. 
Bei  zahlreichen  Gutachten  ist  dieses  aber  nicht  der  Fall.  Es 

würde  zu  weit  führen,  wollte  man  genauer  darauf  eingehen.  Meistens 

• » 

sind  es  die  Atteste  der  erstbehandelnden,  der  praktischen  Arzte, 

die  den  gewünschten  Anforderungen  der  Versicherungsträger  oft  in 

keiner  oder  nur  in  mangelhafter  Weise  genügen.  Es  ist  daher 

auch  nicht  zu  verwundern,  wenn  von  den  Bg.  immer  und  immer 

wieder  auf  diese  Schäden  aufmerksam  gemacht  wird.  (Pieper 

a.  a.  0.  S.  34 — 35.  Lohmar  a.  a.  0.,  Schwanck  S.  15.) 

Man  kann,  glauben  wir,  getrost  sagen,  daß  die  meisten  prak- 
•  • 

tischen  Arzte  nach  bestandener  Prüfung  sich  zur  Ausübung  ihres 
Berufes  niederlassen,  ohne  vorher  Gelegenheit  zur  Anfertigung  ärzt¬ 
licher  Atteste  im  Unfallangelegenheiten  gehabt  zu  haben.  Es  ist 
dies  ein  Übelstand,  der  dringend  der  Abhilfe  bedarf. 

Es  muß  daher  in  Zukunft  gefordert  werden,  daß  die  ärztlichen 
Prüfungsbestimmungen  eine  Abänderung  dahin  erfahren,  daß  der 
Kandidat  der  Medizin  gehalten  ist,  bei  dem  Gesuche 
um  Zulassung  zurärztlichenStaatsprüfung  den  Nach¬ 
weis  darüber  zu  liefern,  daß  er  außer  einem  Zeugnisse 
über  die  Erlangung  der  erforderlichen  Kenntnisse  bezüglich  der  bei 
öffentlichen  Versicherungen  vorkommenden  einschlägigen  modernen 
Heilfaktoren,  wenigstens  zwei  bis  drei  mit  einem  aus¬ 
reichenden  Prädikate  versehene  ärztlicheGutachten 
—  sei  es  über  innere,  sei  es  über  chirurgische  Krank¬ 
heitsfälle  —  vor  legt. 

In  den  Vorschriften  für  die  erste  juristische  Staatsprüfung 
bestehen  solche  ähnliche  Bestimmungen  schon  längst,  obwohl  dort 
die  Bedeutung  dieser  Bestimmung  im  Vergleich  zur  Medizin  eine 
untergeordnete  Rolle  spielt,  indem  nach  absolvierter  erster  juristi¬ 
scher  Staatsprüfung  eine  weitere  vierjährige  praktische  Ausbildung 
als  Referendar  in  Preußen  folgt.  Man  könnte  vielleicht  einwenden, 
daß  die  Medizinalpraktikantenzeit  für  die  Übung  zur  Anfertigung 
von  ärztlichen  Attesten  auszuersehen  sei.  Dieses  halten  wir  nicht 
für  richtig.  Es  geht  nicht  an,  einem  Medizinalpraktikanten  alles 


Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


331 


Mögliche  noch  aufbürden  zu  wollen.  Wir  halten  es  für  das  Richtige, 
wenn  die  oben  zitierte  Bestimmung  während  der  Studienzeit  zu 
einer  obligatorischen  und  ev.  der  Sozialen  Medizin  ange¬ 
gliedert  wird.  Wir  möchten  noch  betonen,  daß  durch  diese 
erwähnte  Bestimmung  in  keiner  Weise  eine  Mehrbelastung  der 
Arbeitstätigkeit  der  Studierenden  hervorgerufen  wird,  was  daraus 
geschlossen  werden  muß,  daß  fast  sämtliche  vor  der  Staatsprüfung 
stehende  Hörer  der  Sozialen  Medizin  an  hiesiger  Universität  frei¬ 
willig  ärztliche  Atteste  angefertigt  haben,  welche  von  Th.  Rumpf 
mit  den  Kandidaten  eingehend  durchgesprochen  und  zensiert  wurden. 
Und  selbst  bei  einer  erheblichen  Belastung  für  die 
Studierenden  dürfte  in  Zukunft  bei  der  außerordent¬ 
lichen  Wichtigkeit  dieses  Gegenstandes  und  dem  zu¬ 
grunde  liegenden  öffentlichen  Interesse  von  einem 
Verzicht  auf  erwähnte  Bestimmung  keine  Rede  sein. 

Zum  Schluß  wollen  wir  nicht  verfehlen,  noch  kurz  auf  die 
Vertrauensärzte  bei  den  Schiedsgerichten  sowie  auf  das  unter  Zu¬ 
ziehung  derselben  stattfindende  schiedsgerichtliche  Verfahren  zu¬ 
rückzukommen. 

Nach  §  8  des  Gesetzes  betr.  Abänderung  des  Unfallversiche¬ 
rungsgesetzes  vom  30.  VI.  1900  sind  die  Vertrauensärzte  bei  den 
Schiedsgerichten  nur  „in  der  Regel“  und  „nach  Bedarf“  zuzuziehen. 
Es  ist  leicht  erklärlich,  daß  die  Schiedsgerichte  in  sehr  vielen 
Fällen  ohne  Zuziehung  von  Sachverständigen  wohl  kaum  eine  Ent¬ 
scheidung  werden  treffen  können.  Es  sollen  aber  die  Vertrauens¬ 
ärzte  keineswegs  als  Gegengutachter  gegenüber  den  von  den  Bg. 
beauftragten  Ärzten  angesehen  werden,  sondern  dieselben  sollen 
eine  unparteiische  Stellung  haben. 

In  der  Praxis  wird  es  häufig  so  gehalten,  daß  die  Schieds¬ 
gerichte  nach  einem  einzigen  Termine  auf  Grund  des  Gutachtens 
des  zugezogenen  Sachverständigen  zu  einer  endgültigen  Ent¬ 
scheidung  gelangen,  und  zwar  in  Fällen,  in  denen  der  behandelnde 
Arzt  ein  Gutachten  in  entgegengesetztem  Sinne  erstattet  hat  und 
zwar  auf  Grund  wochen-  ja  monatelanger  Behandlung,  Beobachtung 
und  häufiger  eingehender  Untersuchungen. 

Ein  solches  Verfahren,  nämlich  über  den  Kopf  des  erst¬ 
behandelnden  Arztes  hinaus  eine  Entscheidung  in  grundverschie¬ 
denem  Sinne  zu  treffen,  dürfte  nicht  als  sachlich  und  einwandsfrei 
zu  betrachten  sein. 

Es  ist  ein  Unding,  daß  durch  eine  einmalige,  auch  noch  so 
genaue  Untersuchung  seitens  des  Vertrauensarztes  ein  in  gleichem 


332  H.  Schmidt,  Das  Heilverfahren  nach  den  Unfallversicherungsgesetzen. 


Maße  ausführliches,  genaues  und  sachliches  Gutachten  erstattet  werden 
kann  wie  auf  Grund  wochen-  oder  monatelanger  Behandlung,  Be¬ 
obachtung  und  eingehender  Untersuchungen  seitens  des  behandeln¬ 
den  Arztes,  zumal  wenn  letzterer  noch  als  eine  Autorität  in  seinem 
Fache  gilt. 

Beim  Vorliegen  erwähnter  oder  ähnlicher  Fälle  dürfte  es 
daher  ratsam  sein,  daß  die  Schiedsgerichte  nicht  eher  eine  end¬ 
gültige  Entscheidung  herbeiführen,  als  bis  der  behandelnde  Arzt 
gehört  ist. 

Diese  Ansicht  entspricht  nicht  allein  dem  Gefühle  der 
Billigkeit,  sondern  sie  ist  auch  in  mehreren  Rek.-Entsch.  des 
RVA.  2001,  2002  vom  20.  VI.  03,  A.-N.  1903,  S.  472/473  zum  Aus¬ 
druck  gebracht. 

Danach  gilt  die  Vorschrift  des  §  75,  Abs.  1,  Satz  1  des  lw.  G. 
bzw.  §  69,  Abs.  1,  Satz  1  des  Gew.-G.,  daß,  wenn  man  auf  Grund 
eines  ärztlichen  Gutachtens  die  Bewilligung  einer  Entschädigung 
abgelehnt  oder  nur  eine  Teilrente  festgestellt  werden  soll,  der  be¬ 
handelnde  Arzt  zu  hören  ist,  nicht  nur  für  das  Bescheidsverfahren 
sondern  auch  für  die  Rechtsmittelinstanzen.  Das  RVA.  geht  noch 
weiter,  indem  es  genannte  Vorschrift  als  eine  allgemeine,  das 
gesamte  Feststellungsverfahren  beherrschende  und  deshalb  auch 
von  den  Rechtsmittelinstanzen  zu  beachtende  kennzeichnet. 

Es  hat  also  das  Schiedsgericht  auf  Grund  sorgfältiger  Prüfung 
des  Einzelfalles  (RE.  2002)  zu  erwägen,  ob  es  die  Sache  an  die 
Bg.  zurückverweisen  oder  seinerseits  den  behandelnden  Arzt 
hören  will. 

Die  Frage  bedarf  wegen  ihrer  außerordentlich 
großen  sachlichen  Bedeutung,  sowie  auch  um  Un¬ 
zweckmäßigkeiten,  Zwistigkeiten  der  Arzte  u.  dgh 
zu  verhüten,  einer  einheitlichen  Regelung.  (Siehe 
solche  sachliche  Erwägungen,  die  für  die  Einführung  der  fraglichen 
Vorschrift  —  §  75  —  bestimmend  waren:  Verhandlungen  des  Reichs¬ 
tages —  Drucksachen  des  Reichstages,  10.  Legislaturperiode,  I.  Session 
1898/1900,  Stenographische  Berichte,  S.  5334  ff.) 


Der  Einfluß  der  sozialen  Versicherungsgesetzgebung 
auf  die  Entwicklung  des  Krankenhauswesens. 

Von  Dr.  med.  A.  Gbotjahn,  Berlin. 

Die  Kranken-,  Unfall-  und  Invalidenversicherung  auf  obligato¬ 
rischer  Grundlage  ist  erst  wenige  Jahrzehnte  alt.  Trotzdem  hat 
sie  auf  die  Versorgung  der  Kranken,  Verunglückten  und  Invaliden 
des  größten  Teiles  der  Bevölkerung  einen  bedeutenden  Einfluß  ge¬ 
habt,  der  auch  auf  das  Krankenhauswesen  sehr  fördernd  eingewirkt 
hat.  Es  empfiehlt  sich,  diesem  Einfluß,  der  voraussichtlich  in  Zu¬ 
kunft  noch  steigen  wird,  bei  den  drei  großen  Versicherungskörper¬ 
schaften  getrennt  nachzugehen. 


I. 

Infolge  ihrer  dezentralisierten  Organisation  hat  die  Kranken¬ 
versicherung  es  zwar  weniger  wie  die  Unfallversicherung  mit 
ihren  Unfallkrankenhäusern  oder  gar  die  Invalidenversicherung 
mit  ihren  Anstalten  zur  vorbeugenden  Heilbehandlung  zu  eigenen 
Schöpfungen  im  Krankenhauswesen  gebracht,  dafür  aber  um  so 
nachhaltiger  das  allgemeine  Krankenanstaltswesen  gefördert 
und  mehr  als  andere  beteiligte  Faktoren  zu  dessen  Aufblühen  bei¬ 
getragen.  Die  Krankenhauspflege  ist  der  doch  im  allgemeinen  nicht 
der  Armenpflege  unterstehenden  Arbeiterbevölkerung  überhaupt 
erst  durch  die  Krankenkassen  zugänglich  gemacht  worden.  Die 
Verbringung  in  ein  Krankenhaus  ist  zurzeit  anerkanntermaßen  für 
ein  Krankenkassenmitglied  jedesmal  am  Platze,  wenn  die  Genesung 
oder  Besserung  weniger  von  der  Anwendung  einfacher  Arzneimittel 


334 


A.  Grotjahn, 


als  von  der  Loslösung  aus  einem  dem  Heilungsprozesse  ungünstigen 
sozialen  Milieu  abhängt  oder  operative  Eingriffe  und  komplizierte 
Kurmethoden  angewandt  werden  müssen,  die  nur  einer  mit  allen 
technischen  Hilfsmitteln  ausgerüsteten  Anstalt  zur  Verfügung 
stehen.  Die  Entwicklung  der  medizinischen  Anschauungen  geht 
dahin,  die  Vorbedingungen  für  eine  Verbringung  in  ein  Kranken¬ 
haus  schon  früher  und  weit  häufiger  als  gegeben  anzusehen,  als 
das  in  früherer  Zeit  mit  der  damals  beliebten  Bevorzugung  der 
Arzneimittel  in  der  Behandlung  der  inneren  und  dem  arglosen 
Operieren  von  äußeren  Krankheiten  in  der  Wohnung  des  Patienten 
der  Fall  war. 

Die  mit  der  Verfeinerung  der  mechanischen  Methoden  einher¬ 
gehende  Spezialisierung  der  Medizin  und  die  gegen  früher  voll¬ 
ständig  verschiedene  Wertung  der  physikalischen  Heilmethoden 
macht  diesen  Gesichtspunkt  ohne  weiteres  verständlich.  Wenn 
dieses  schon  ganz  im  allgemeinen  gilt,  um  wie  viel  mehr  ist  es 
dann  im  besonderen  erforderlich,  die  der  arbeitenden  Klasse 
angehörigen  Patienten  einem  Krankenhause  zu  überantworten.  Zu 
den  Krankheiten,  die  auch  beim  Wohlhabenden  nach  dem  Stande 
unserer  gegenwärtigen  medizinischen  Ansichten  unbedingt  Kranken¬ 
hausaufenthalt  erfordern,  gesellen  sich  beim  versicherten  Arbeiter 
noch  jene  krankhaften  Zustände,  die  durch  Mangel  an  Pflege, 
Beengung  in  den  Wohnungs Verhältnissen  und  Infektionsgefahr 
für  die  Familienmitglieder  erst  verhängnisvoll  werden.  Es  ist  das 
Verdienst  einer  bereits  in  den  Anfängen  der  Krankenkassengesetz¬ 
gebung  erschienenen  Schrift  von  R.  Thomalla,1)  für  die  Ver¬ 
bringung  der  Krankenkassenmitglieder  in  eine  Anstalt  ganz  be¬ 
stimmte  Indikationen  aufgestellt  und  alle  jene  Krankheiten  aufge¬ 
führt  zu  haben,  die  in  der  Wohnung  der  Erkrankten  mit  gutem 
Frfolge  nur  bei  Wohlhabenden  oder  wenigstens  dem  Mittelstände 
angehörigen  Kranken  behandelt  werden  können,  beim  Kranken¬ 
kassenmitglied  aber  unbedingt  die  Verbringung  in  das  Krankenhaus 
nötig  machen. 

Der  Einfluß  des  Krankenversicherungsgesetzes  auf  die  Ent¬ 
wicklung  des  Krankenhauswesens  beruht  auf  dem  §  7  dieses  Ge¬ 
setzes,  Abs.  I,  der  in  der  Fassung  der  Novelle  vom  10.  xÄpril  1892 
lautet : 


l)  Thomalla,  R.,  Über  die  Behandlung  erkrankter  Kassenmitglieder.  Für 
Ärzte,  Krankenkassenvorstände,  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  1894. 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  335 

An  Stelle  der  im  §  6  vorgeschriebenen  Leistungen  kann  freie  Kur  und  Ver¬ 
pflegung  in  einem  Krankenhause  gewährt  werden,  und  zwar 

I.  1.  für  diejenigen,  welche  verheiratet  sind,  oder  eine  eigene  Haushaltung 

haben,  oder  Mitglieder  der  Haushaltung  ihrer  Familie  sind,  mit  ihrer 
Zustimmung,  oder  unabhängig  von  derselben,  wenn  die  Art  der  Krankheit 
Anforderungen  an  die  Behandlung  oder  Verpflegung  stellt,  welchen  in 
der  Familie  des  Erkrankten  nicht  genügt  werden  kann,  oder  wenn  die 
Krankheit  eine  ansteckende  ist.  oder  wenn  der  Erkrankte  wiederholt 
den  auf  Grund  des  §  6a  Abs.  2  erlassenen  Vorschriften  zuwider  gehandelt 
hat,  oder  wenn  dessen  Zustand  oder  Verhalten  eine  fortgesetzte  Beob¬ 
achtung  erfordert ; 

2.  für  sonstige  Erkrankte  unbedingt. 

II.  Hat  der  in  einem  Krankenhause  Untergebrachte  Angehörige,  deren 
Unterhalt  er  bisher  aus  seinem  Arbeitsverdienst  bestritten  hat,  so  ist  neben  der 
freien  Kur  und  Verpflegung  die  Hälfte  des  im  §  6  als  Krankengeld  festgesetzten 
Betrages  für  die  Angehörigen  zu  zahlen.  Die  Zahlung  kann  unmittelbar  an  die 
Angehörigen  erfolgen. 

Die  wichtigsten  Bestimmungen  dieses  Paragraphen  bedürfen 
wegen  ihrer  Eindeutigkeit  keines  Kommentars.  Einige  vom  Gesetz¬ 
geber  nebensächlich  behandelte,  aber  in  der  Tat  nicht  ganz  gleich¬ 
gültige  Punkte  verdienen  jedoch  eine  nähere  Erläuterung.  Dazu 
gehört  zunächst  die  Frage:  wer  verfügt  über  die  Gewährung  des 
Krankenhausaufenthaltes?  Dem  Gesetze  nach  ohne  Zweifel  der 
Krankenkassenvorstand  und  nicht  der  Arzt,  wie  in  der  Pegel  an¬ 
genommen  wird.  Verständlich  wird  diese  Bestimmung  nur  dadurch, 
daß  man  sich  vergegenwärtigt,  daß  zur  Zeit  der  Ausarbeitung  des 
Gesetzes  und  auch  wohl  bis  in  die  unmittelbare  Gegenwart  hinein 
die  Verbringung  in  ein  Krankenhaus  nicht  nur  als  eine  medizinisch 
zu  rechtfertigende  Maßregel  sondern  mehr  noch  als  ein  Disziplinar¬ 
mittel  des  Kassenvorstandes  gegenüber  der  Simulation  oder  der 
Übertreibung  verdächtigen  Kassenmitgliedern  betrachtet  wurde. 
Dieser  Anschauung  ist  auch  zuzuschreiben,  daß  nach  dem  Gesetze 
die  Wahl  der  Anstaltspflege  nur  dem  Kassenvorstande,  nicht  aber 
dem  Versicherten  zusteht  und  daß  letzterer  jeden  Anspruch  auf 
Unterstützung  verliert,  wenn  er  sich  ohne  zureichenden  Grund 
weigert,  auf  die  Verfügung  des  Kassen  Vorstandes  in  ein  Kranken¬ 
haus  zu  gehen.  Eine  derartige  Spekulation  auf  die  Furcht  der 
Mitglieder  vor  dem  Krankenhause  erinnert  an  Zustände,  wie  sie 
glücklicherweise  der  Vergangenheit  des  Hospitaiwesens  angehören. 
Sie  ist  bei  aufgeklärten  Arbeitern  durch  die  Umgestaltung  der 
Krankenhauspflege  in  den  letzten  Jahrzehnten  obsolet  geworden 
und  wird  also  bei  fortschreitender  Vervollkommnung  der  Anstalten 
ein  von  Jahr  zu  Jahr  untauglicheres  Disziplinarmittel  werden. 


336 


A.  Grotjahn, 


Andererseits  wird  aber  auch  das  Verhältnis  der  Bevölkerung  zum 
Krankenhaus  dadurch  beeinträchtigt,  daß  die  hie  und  da  infolge 
traditioneller  Vorurteile  noch  bestehende  Scheu  vor  dem  Kranken¬ 
hause  zu  Verwaltungszwecken  ausgenutzt  wird.  Die  Fassung  des 
§  7  Abschnitt  II  ermuntert  hierzu,  indem  er  die  Krankenkassen¬ 
verwaltung  ermächtigt,  den  Patienten  einem  Krankenhause  zu  über¬ 
weisen,  wenn  der  Erkrankte  wiederholt  den  auf  Grund  des  §  6 
Abschnitt  II  erlassenen  Vorschriften  zuwider  gehandelt  hat.  Da 
der  Krankenhausaufenthalt  in  keinem  Falle  den  Charakter  einer 
Strafe  haben  sollte,  dürfte  eine  Änderung  dieser  Bestimmung 
wünschenswert  sein,  zumal  es  ja  an  anderweitigen  Strafmitteln 
nicht  fehlt. 

Zu  beklagen  ist  ferner,  daß  in  unserem  Krankenversicherungs¬ 
gesetz  dem  Versicherten  kein  Recht  auf  Krankenhausbehandlung 
gesetzlich  eingeräumt  worden  ist.  Diese  Unterlassung  war  in  der 
Zeit,  in  der  das  Gesetz  erlassen  wurde,  verständlich,  weil  damals 
Krankenhäuser  wohl  schwerlich  in  ausreichendem  Maße  vorhanden 
waren.  Nachdem  gegenwärtig  auch  die  kleineren  Städte  mit  solchen 
ausgerüstet  worden  sind  und  auch  die  Transportverhältnisse  sich 
ganz  außerordentlich  gebessert  haben,  liegt  kein  Grund  mehr  vor, 
den  versicherten  Krankenkassenmitgliedern  einen  rechtlichen  An¬ 
spruch  auf  Krankenhausaufenthalt  zu  versagen.  Einem  Mißbrauch 
dieser  Berechtigung  seitens  der  Versicherten  kann  ja  leicht  durch 
das  Beibringen  eines  ärztlichen  Attestes  vorgebeugt  werden,  wie 
ja  denn  überhaupt  der  Arzt  auch  de  jure,  nicht  nur  wie  heute  fast 
überall  de  facto  die  Instanz  für  die  Entscheidung  der  Krankenhaus¬ 
bedürftigkeit  des  Versicherten  sein  sollte.  Von  Wichtigkeit  für 
die  Einbürgerung  der  Krankenhausbehandlung  unter  den  Ver¬ 
sicherten  ist  ferner  der  §  21  des  Krankenversicherungsgesetzes,  der 
bestimmt : 

Eine  Erhöhung  und  Erweiterung  der  Leistungen  der  Ortskrankenkassen  ist 
in  folgendem  Umfange  zulässig: 

1.  Die  Dauer  der  Krankenunterstützung  kann  auf  einen  längeren  Zeitraum 
als  26  Wochen  bis  zu  einem  Jahre  festgesetzt  werden. 

2.  Neben  freier  Kur  und  Verpflegung  in  einem  Krankenhause  kann,  falls  der 
Untergebrachte  Angehörige  hat,  deren  Unterhalt  bisher  aus  seinem  Arbeits¬ 
verdienste  bestritten  wurde,  ein  Krankengeld  bis  zur  Hälfte  des  durch¬ 
schnittlichen  Tagelohnes  bewilligt  werden. 

3.  Neben  freier  Kur  und  Verpflegung  in  einem  Krankenhause  kann  Kranken¬ 
geld  bis  zu  einem  Viertel  des  durchschnittlichen  Tagelohnes  auch  solchen 
bewilligt  werden,  welche  nicht  den  Unterhalt  von  Angehörigen  aus  ihrem 
Lohne  bestritten  haben. 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  337 

3  a.  Für  die  Dauer  eines  Jahres  von  Beendigung  der  Krankenunterstützuiig  ab 
kann  Fürsorge  für  Rekonvaleszenten,  namentlich  auch  Unterbringung  in 
einer  Rekonvaleszentenanstalt  gewährt  werden. 

Diese  Bestimmungen  haben  wesentlich  dazu  beigetragen,  den 
Krankenhausaufenthalt  bei  der  Arbeiterbevölkerung  populär  zu 
machen.  Denn  die  Trennung  von  der  Familie  wird  durch  die  Ge¬ 
währung  des  Krankengeldes  an  diese  erheblich  erleichtert.  In  den 
Großstädten,  wo  die  früher  bestehende  Furcht  vor  dem  Kranken¬ 
hause  am  ehesten  geschwunden  ist,  tritt  gegenwärtig  sogar  schon 
das  Bestreben  zutage,  bei  geringfügigen  Leiden  den  Arzt  um  Über¬ 
weisung  in  ein  Krankenhaus  zu  ersuchen. 

Da  die  Krankenkassen  in  der  Regel  zu  klein  sind,  um  eigene 
Rekonvaleszenten-  oder  Krankenanstalten  bauen  und  betreiben 
zu  können,  hat  das  Gesetz  im  §  46  den  Zusammenschluß  mehrerer 
Krankenkassen  zu  diesem  Zwecke  vorgesehen: 

Sämtliche  oder  mehrere  Krankenversicherungen  und  Ortskrankenkassen 
innerhalb  des  Bezirks  einer  Aufsichtsbehörde  können  durch  übereinstimmende  Be¬ 
schlüsse  der  beteiligten  Kassen  sich  zu  einem  Verbände  vereinigen  zum  Zweck: 

der  Anlage  und  des  Betriebes  gemeinsamer  Anstalten  zur  Heilung  und  Ver¬ 
pflegung  erkrankter  Mitglieder,  sowie  zur  Fürsorge  für  Rekonvaleszenten. 

In  der  Tat  haben  es  im  Verlaufe  der  weiteren  Entwicklung  nur 
zu  einem  Verbände  zusammengetretene  Krankenkassen  oder  ver¬ 
schmolzene  Zentralkassen  zu  eigenen  Neugründungen  von  Kranken- 
und  Rekonvaleszentenhäusern  gebracht. 

In  welchem  Umfang  die  Krankenkassen ,  die  allgemeinen  und 


Gem.- 

Krv. 

Orts-Krk. 

Betr.- 

Krk. 

Bau- 

Krk. 

Inn.- 

Krk. 

Eing. 

H.-K. 

Ldsr. 

H.-K. 

Alle 

Kassen¬ 

arten 

Absolute  Zahlen  in  1000  M. 

1892 

1834,0 

5  219.6 

2221,1 

151,9 

197,8 

733,6 

67,0 

10  425,0 

1893 

2066,3 

5  947,6 

2385,1 

177,0 

233,2 

708,4 

51,4 

11  569,0 

1894 

2050,8 

6  145,5 

2444,4 

190,1 

270,1 

713,9 

54,0 

11  868,8 

1895 

2315,1 

6  427,1 

2594,5 

167,4 

312,2 

736,2 

51,6 

12  604,1 

1896 

2479,0 

6  861,9 

2938,6 

118,9 

338,4 

780,3 

57,9 

13  575,0 

1897 

2591,0 

7  514,0 

3346,2 

93,8 

393,2 

810,3 

56,3 

14  804,8 

1898 

2604,4 

8  024,9 

3745,7 

89,3 

440,7 

888,3 

59,0 

15  852,3 

1899 

2850,8 

9  019,5 

4389,0 

77,9 

498,8 

989,5 

28,3 

17  883,8 

1900 

2836,2 

10  042,7 

4899,9 

93,1 

598,8 

1106,8 

30,3 

19  607,8 

1901 

3033,3 

10  695,0 

4977,3 

68,3 

694,8 

1139,5 

33,0 

20  641,2 

1902 

3106,7 

11  087,0 

5107,4 

87.5 

759,3 

1160,1 

35,0 

21  343,0 

1903 

3284,7 

12  504,6 

5579,4 

114,6 

882,4 

1257,9 

35,2 

23  658,8 

1904 

3751,5 

14  938,8 

6497,1 

133,4 

1041,6 

1295,0 

36,9 

27  694,3 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II. 


338 


A.  Grotjahn, 


privaten  Anstalten  in  Anspruch  nehmen,  erhellen  am  besten  die 
von  Jahr  zu  Jahr  steigenden  Aufwendungen,  die  sie  für  Kranken¬ 
hauspflege  machen. 

Die  Krankenkassen  verausgabten  nach  den  Zusammenstellungen 
des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes  *)  an  Kur-  und  Verpflegungs¬ 
kosten  in  Krankenhäusern:  (s.  Tabelle  auf  S.  337.) 

Die  Aufwendungen  für  Krankenhauspflege  haben  sich  also 
innerhalb  dieser  13  Jahre  absolut  genommen  fast  verdreifacht.  Da 
es  sich  in  den  meisten  Fällen  aber  um  Patienten  handelt,  die  ohne 
den  Rückhalt  an  der  Kasse  das  Krankenhaus  schwerlich  aufge¬ 
sucht  haben  würden,  so  ist  diese  Zunahme  für  die  Entwicklung  des 
Krankenhauswesens  ein  reiner  Gewinn,  der  dadurch  nicht  beein¬ 
trächtigt  wird,  daß  'die  relative  Zunahme,  berechnet  unter  Berück¬ 
sichtigung  der  Verallgemeinerung  des  Kassenzwanges,  nicht  ganz 
so  hoch  ist. 


Gem.- 

Krv. 

Orts- 

Krk. 

Betr.- 

Krk. 

Bau- 

Krk. 

Inn.- 

Krk. 

Eing. 

H.-K. 

Ldsr. 

H.-K. 

Alle 

Kassenarten 

1 

Bei  sämtl. 

Kassen  gegen 

1892  in  % 

Krankheits¬ 

kosten 

überhaupt 

auf  1  Mitglied 

Auf  1  Mitglied  entfielen  Mark 

1892 

1,55 

1,74 

1,27 

5,11 

2,59 

0,92 

0,51 

1,50 

13,55 

1893 

1,67 

1,84 

1,34 

5,68 

2,58 

1,07 

0,82 

1,63 

b  8,7 

14,35 

1894 

1,64 

1,85 

1,32 

5,96 

2,68 

1,08 

0,90 

1,63 

b  8,7 

13,67 

1895 

1,80 

1,86 

1,36 

6,30 

2,72 

1,10 

0;85 

1,67 

b  11,3 

13,93 

1896 

1,85 

1,88 

1,44 

4,83 

2,56 

1,12 

0,97 

1,71 

b  14,0 

13,81 

1897 

1,89 

1,95 

1,55 

4,70 

2.70 

1,11 

0,96 

1,78 

b  18,7 

14,45 

1898 

1,85 

1,97 

1,64 

4,94 

2,77 

1,16 

1,03 

1,81 

-20,7 

14.60 

1899 

1,99 

2,11 

1,83 

3,95 

2,94 

1,23 

0,63 

1,95 

-30,0 

15,87 

1900 

1,97 

2,25 

1,96 

4,56 

3,17 

1,31 

o;66 

2,06 

b  37,3 

16,58 

1901 

2,07 

2,35 

1,99 

4,33 

3,41 

1,32 

0,73 

2,14 

b  42,7 

16,94 

1902 

2,09 

2,36 

2,05 

5,57 

3,49 

1,29 

0,79 

2,16 

b  44,0 

17,02 

1903 

2,19 

2,51 

2,17 

6p6 

3,82 

1,42 

0,85 

2,31 

b  54,0 

17,69 

1904 

2,48 

2,80 

2,41 

5,87 

4,18 

1,52 

0,99 

2,59 

b  72,7 

19.97 

Betrachten  wir  die  einzelnen  Kassenarten,  so  zeigt  sich  bei 
einer  Vergleichung,  die  hier  natürlich  nur  nach  Maßgabe  der 
relativen  Zahlen  vorgenommen  werden  kann,  daß  bei  den  umfassen¬ 
den  Gemeindekrankenkassen,  Ortskrankenkassen,  Betriebskranken¬ 
kassen  und  eingeschriebenen  Hilfskrankenkassen  die  Steigerung  der 
Leistungen  für  die  Krankenhausbehandlung  sich  ziemlich  gleich¬ 
mäßig  vollzieht. 


*)  Statistik  des  Deutschen  Keiches.  Neue  Folge,  Bd.  170.  Statistik 
der  Krankenversicherung  im  Jahre  1904.  Berlin,  Puttkammer  und  Mühlbrecht,  1907. 


Der  Einfi.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhausweseus.  339 

Welche  Bolle  die  Verpflegungskosten  im  Verhältnis  zu  den 
übrigen  Arten  der  Krankheitskosten  spielen,  geht  aus  folgender 
Tabelle  hervor: 


Jahr 

% 

Von  je  100  M.  der  Krankheitskosten  kommen  auf 

Arzt 

Arznei 

und 

sonstige 

Heilmittel 

* 

Kranken¬ 

geld 

Fürsorge 

für 

Rekon¬ 

vales¬ 

zenten 

Unter¬ 
stützung 
an  Wöch¬ 
nerinnen 

Sterbe¬ 

geld 

• 

Verpfle- 
gungs- 
kosten  an 
Anstalten 

1888 

20,34 

16.16 

47,11 

1,32 

4,27 

10,80 

1889 

20,59 

16,59 

46,30 

— 

1.29 

4.07 

11,16 

1890 

19,97 

16,88 

47,46 

— 

1,21 

3,90 

10,58 

1891 

20,03 

16,70 

46.94 

— 

1,32 

3,71 

11,30 

1892 

20.23 

17,02 

46,63 

— 

1.29 

3,77 

11,06 

1893 

21,01 

17,35 

44,89 

0,04 

1,61 

3,75 

11,35 

1894 

22,30 

17,50 

42,78 

0,07 

1,78 

3,65 

11,92 

1895 

22,08 

17,30 

43,27 

0,05 

1,74 

3,54 

12,02 

1896 

22^1 

17.23 

42,35 

0,07 

1,84 

3,53 

12,37 

1897 

22,34 

17,18 

42.93 

0,06 

1,80 

3,40 

12,29 

1898 

22,73 

17,19 

42,47 

0,07 

1,83 

3.33 

12,38 

1899 

21,96 

16,90 

43,74 

0.07 

1,68 

3;34 

12,31 

1900 

21,75 

16,47 

44,31 

0,07 

1,62 

3,36 

12,42 

1901 

21,82 

16,03 

44,68 

0,08 

1,60 

3,15 

12,64 

1902 

22,35 

15,84 

44,33 

0,08 

1,62 

3,06 

12,72 

1903 

22,54 

15,98 

43,75 

0,09 

1,58 

2,98 

13,08 

1904 

22,40 

15,02 

44.77 

0,07 

2,00 

2,79 

12,95 

Innerhalb  der  gesamten  Krankheitskosten,  die  z.  B.  im  Jahre 
1900  157  865  000  M.  betrugen,  nehmen  die  Aufwendungen  für 
Krankenhauspflege  fast  den  achten  Teil  in  Anspruch,  und  zieht 
man  die  einzelnen  Kategorien  von  Krankenkassen  in  Betracht,  so 
ergibt  sich,  daß  z.  B.  für  das  Jahr  1900  von  je  100  M.  Krankheits¬ 
kosten  kamen  auf: 


hei  den 

Arzt 

Arznei 

und 

sonstige 

Heil¬ 

mittel 

Kran¬ 

ken¬ 

geld 

Fürsorge 

für 

Rekon¬ 

vales¬ 

zenten 

Unter¬ 
stützung 
an  Wöch¬ 
nerinnen 

Sterbe¬ 

geld 

V  erpfle- 
gungs- 
kosten 
an  An¬ 
stalten 

Gemeinde-Krankenv. 

28,72 

18,57 

30,22 

0.00 

0,00 

0,01 

22,48 

Ortskrankenkassen 

20,70 

16,82 

42,99 

0,09 

1,98 

3.18 

14,24 

Betriebskrankenkassen 

22,80 

17,19 

44,89 

0,09 

2,04 

4,16 

8,83 

Baukrankenkassen 

24,95 

10,44 

40,89 

0,06 

0.10 

2,31 

21,45 

Innungskrankenkassen 

21,40 

13,94 

40,03 

0,01 

0,30 

2,99 

21,33 

Eingeschr.  Hilfskassen 

17,09 

11,08 

60,59 

0,01 

0,11 

3,87 

7,25 

Landesr.  Hilfskassen 

19,24 

17,23 

49,80 

0,02 

0,11 

9,40 

4,20 

Danach  würden  Gemeinde-,  Innungs-  und  Baukrankenkassen 


340 


A.  Grotjahn, 


häufiger  als  die  übrigen  Krankenkassen  die  Krankenhausbehand¬ 
lung  in  Anspruch  nehmen.  Diese  Tatsache  dürfte  sich  wohl  ans 
der  besonders  großen  Anzahl  lediger  Personen  erklären,  die  in  jenen 
Kassen  versichert  sind. 


Staaten  und  Landesteile 


an  Kur-  und  Verpflegungskosten 
in  Krankenanstalten 


im  Jahre  1893 

im  Jahre  1904 

Provinz  Ostpreußen . 

131671 

294  604 

„  Westpreußen . 

103  355 

234  210 

Stadt  Berlin . 

1211035 

2  631  344 

Provinz  Brandenburg  ohne  Berlin  .  . 

430  618 

1  255  847 

„  Pommern . 

156  247 

393  237 

„  Posen . 

88  051 

286  523 

„  Schlesien . 

589  911 

1  451  844 

„  Sachsen  . 

439  639 

1  071  847 

„  Schleswig-Holstein  .... 

358  062 

698  728 

,,  Hannover . 

350  897 

977  598 

„  Westfalen . 

657  419 

1  661  606 

„  Hessen-Nassau . 

343  810 

963  562 

„  Bheinland . 

1  315  822 

3  473  756 

Hohenzollern . 

9  480 

12  305 

Königreich  Preußen  insgesamt  .  .  . 

6  186  017 

15  407  011 

Bayern  rechts  des  Bheins . 

1  450  346 

3  185  962 

Bayrische  Pfalz . 

146  375 

268  962 

Königreich  Bayern  insgesamt  .  .  . 

1  596  721 

3  454  924 

9 

Unterschied 


162  933 
130  855 
1  420  309 
825  229 
236  990 
198  472 
861  933 
632  208 
340  666 
626  701 

1  004  187 
619  752 

2  157  934 

2  825 
9  220  994 


+  1  735  616 
+  122  587 

-f  1858  203 


Königreich  Sachsen  .  .  . 

„  Württemberg  . 

Baden . 

Hessen . 

Mecklenburg-Schwerin  .  . 
Sachsen- Weimar  .  .  .  . 


829  158  2  299  618 

443  467  984  714 

786  936  1  662  698 

201669  |  455  052 

47  187  92  244 

53  098  169  598 


1470  460 
541  247 
875  762 
253  383 
45057 
116  500 


Mecklenburg-Strelitz . 

Oldenburg  . 

Braunschweig . 

Sachsen-Meiningen . 

Sachsen-Altenburg . 

Sachsen-Koburg-Gotha  .  .  .  . 

Anhalt . 

Schwarzburg-Sondershausen  .  . 
Schwarzburg-Budolstadt  .  .  . 

Waldeck . 

Beuß  älterer  Linie . 

Beuß  jüngerer  Linie . 


7  872 
57  902 
135  494 
20  633 
31  188 
37  399 

53  917 
12  242 
10  454 
5  826 
12141 
22  845 


15  657 
122  571 
341  649 
73132 
81  245 
76  329 

101  627 
21  687 
27  116 
9  214 
18  283 
62  037 


+ 

7  785 

+ 

64  669 

+ 

206  155 

+ 

52  499 

+ 

50057 

+ 

38  930 

_  — 

47  710 

— 

9  445 

— 

16  662 

— 

3  388 

— 

6142 

— 

39  192 

Schaumburg-Lippe 
Lippe  .... 
Lübeck  .  .  . 
Bremen  .  .  . 
Hamburg  .  .  . 

Elsaß-Lothringen 


1362 
41  189 
19  812 
93  596 
623  784 
237  057 


2  802 
93  817 
55  352 
247  937 
1  033  729 
784  342 


1440 
52  628 
35  540 
154  341 
409  945 
547  285 


Deutsches  Beich 


11568  966 


27  694  385  +16  125  419 


Der  Einfi.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  341 

Ein  anschauliches  Bild  von  dem  Steigen  der  Aufwendungen 
der  Krankenkassen  für  Kur-  und  Verpflegungskosten  in  Kranken¬ 
häusern,  läßt  sich  dadurch  gewinnen,  daß  man  an  der  Hand  der 
amtlichen  Statistik1)  diese  Aufwendungen  nach  den  einzelnen 
Landesteilen  bestimmt  und  untereinander  vergleicht.  Wenn 
auch  infolge  der  geänderten  statistischen  Berichterstattung  dieser 
Vergleich  nur  für  einen  Zeitraum  von  11  Jahren  angestellt  werden 
kann,  so  ist  doch  selbst  in  dieser  kurzen  Zeit  ein  außerordentliches 
Anwachsen  der  für  die  Krankenhausbehandlung  aufgewendeten 
Summen  deutlich  erkennbar.  Im  folgenden  sollen  die  Jahre  1893 
und  1901  herausgegriffen  und  miteinander  verglichen  werden. 

Es  ergeben  sich  in:  (s.  Tabelle  auf  S.  S40.) 

Das  enorme  Wachsen  der  Aufwendungen  im  Laufe  weniger 
Jahre  ist  natürlich  in  erster  Linie  dem  Umstande  zu  danken,  daß 
die  kassenärztliche  Versorgung  überhaupt  bedeutend  an  Ausdehnung 
gewonnen  hat.  Doch  sind  die  Aufwendungen  auch  relativ  erheb¬ 
lich  gestiegen,  wie  aus  folgender  Tabelle,  die  auf  Grund  des  näm¬ 
lichen  amtlichen  statistischen  Materials  zusammengestellt  worden 
ist,  hervorgeht.  (S.  Tabelle  auf  S.  342.) 

Also  auch  die  relative  Vermehrung  der  Kosten  für  Kranken¬ 
hausaufenthalt  ist  bedeutend,  und  zwar  haben  die  Staaten  und 
Provinzen,  die  die  größte  absolute  Steigerung  dieser  Aufwendungen 
zeigen,  auch  mit  wenigen  Ausnahmen  die  größte  Vermehrung  der 
Kopfquote  aufzuweisen. 

Nicht  nur  ist  aber  die  Entwicklung  des  Krankenhauswesens 
während  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  für  die  arbeitende 
Bevölkerung  von  großem  Nutzen  gewesen,  sondern  umgekehrt  hat 
die  Zunahme  der  Versicherten  auch  das  Krankenhaus  wesen  im 
Sinne  einer  aufsteigenden  Entwicklung  beeinflußt. 

Vor  allem  haben  die  Krankenhäuser  immer  mehr  den  Charakter 
von  Armenanstalten  verloren,  seitdem  ein  großer  Teil  der  Insassen 
mit  den  Bechten  von  versicherten  Personen  ausgestattet  worden 
ist.  Dann  aber  auch  werden  gegenwärtig  bedeutend  mehr  aus¬ 
sichtsvolle  und  heilbare  Fälle  in  den  Krankenhäusern  behandelt, 
so  daß  nicht  mehr  wie  früher  die  Anstalten  in  der  Bevölkerung 
als  Sterbehäuser  angesehen  werden.  Dadurch  wird  die  auch  gegen¬ 
wärtig  noch  bestehende  Furcht  vor  dem  Hospital  innerhalb  der 
arbeitenden  Bevölkerung  immer  mehr  zum  Schwinden  gebracht. 


9  Statistik  des  Deutschen  Reichs.  Hrg.  vom  Kais.  stat.  Amt. 
Neue  Folge,  Bd.  78,  Berlin  1895  und  Bd.  147,  Berlin  1904. 


342 


A.  Grotjahn, 


Es  dürfte  die  Zeit  nicht  mehr  fern  sein,  wo  die  Patienten  der 
Überredung  oder  gar  der  Androhung  des  Verlustes  der  ihnen  zu¬ 
stehenden  Bezüge  nicht  mehr  bedürfen,  um  sich  in  ein  Hospital  ver¬ 
bringen  zu  lassen,  sondern  freiwillig  und  gern  ein  solches  aufsuchen. 


Staaten  und  Landesteile 


T 


Provinz  Ostpreußen  .  . 

„  Westpreußen .  . 

Stadt  Berlin . 

Provinz  Brandenburg  (ohne 
„  Pommern  .  .  . 

„  Posen  .... 

„  Schlesien  .  .  . 

„  Sachsen  .  .  . 

„  Schleswig-Holstein 
„  Hannover  .  .  . 

„  Westfalen  .  .  . 

„  Hessen-Nassau  . 

„  Rheinland  .  .  . 

Hohenzollern . 


Königreich  Preußen 


B.) 


Bayern  rechts  des  Bheins 
Bayrische  Pfalz  .... 
Königreich  Bayern .  .  . 


Auf  ein  durchschnittlich  vorhanden  gewesenes 
Mitglied  an  Kur-  und  Verpflegungskosten 


im  Jahre 
1893 

im  Jahre 
1901 

im  Jahre 
1904 

• 

Unterschied 

1,24 

1,55 

1,96 

+  0,31 

+  0,72 

1,25 

1,58 

1,79 

+  0,33 

0,54 

3,16 

3,68 

3,79 

+  0,52 

0.63 

1,18 

1,84 

2,29 

+  0,66 

1,09 

1,29 

1,74 

2,12 

+  0,55 

0,83 

1,07 

1,49 

2,13 

+  0,42 

1,06 

1,18 

1,73 

2.11 

+  0,55 

0,93 

0.98 

1,43 

1,65 

+  0,45 

0,67 

1,89 

1,94 

2,23 

+  0,05 

0,34 

1,40 

1,90 

2,36 

+  0,50 

0,96 

2.21 

2,90 

3,44 

+  0,69 

1,23 

1,55 

2,19 

2,58 

+  0,64 

1,03 

1,86 

2,58 

3,07 

+  0,72 

1.21 

1,35 

0,97 

1,23 

—  0,38 

—  0.12 

1,64 

2,21 

2,61 

+  0,57 

+  0,97 

2,77 

3,27 

3,95 

+  0,50 

1,18 

1,46 

1,45 

1,92 

-0,01 

+  0,46 

2,56 

2,99 

3,65 

+  0,43 

1,09 

Königreich  Sachsen 

„  Württemberg 

Baden . 

Hessen . 

Mecklenburg-Schwerin 
Sachsen- Weimar  .  . 


0.91  1,41 

2;01  2,17 

2,41  2,95 

1,10  1,43 

1,00  1,12 

0,88  1,50 


1,79 

2,77 

3,51 

1,76 

1,32 

2,03 


0,50 

o;ie 

0,54 

0,33 

0,12 

0,62 


0,88 

0,76 

1,10 

0,66 

0,32 

1,15 


Mecklenburg-Strelitz  . 
Oldenburg  .  .  .  * .  . 

Braunschweig  .  .  . 
Sachsen-Meiningen  .  . 

Sachsen- Altenburg  .  . 

Sachsen-Koburg-Gotha 


Anhalt . 

Schwarzburg-Sondershausen 


Schwarzburg-Budolstadt 

Waldeck . 

Beuß  älterer  Linie  .  . 
Reuß  jüngerer  Linie  . 


Schaumburg-Lippe  . 

Lippe . 

Lübeck . 

Bremen  .  .  .  .  . 
Hamburg  .  .  .  . 
Elsaß-Lothringen  . 


1,16 

1,93 

1,18 

0,65 

0,72 

0,89 


1,73 

0.92 

1,07 

0,85 


0,98 

0,82 

0,62 

1,70 

0,65 

0,78 

0,50 

1,42 

1,61 

2,50 

2,38 

1,07 


1,19 

0,97 

0,71 

1,17 

0,63 

1,22 

0,63 

1,64 

2,03 

2.84 
2,63 

1.84 


1.63 

2.63 
2,26 
1,31 
1,44 
0,98 


1,47 

1,15 

L28 

1,63 

0,83 

1,49 


0,76 

2,10 

2,21 

3,97 

3,51 

2,43 


0,41 
0,21 
0,55 
0,27 
0,35 

—  0,04 

+  0,21 
+  0,15 
+  0,09 

—  0,53 

—  0,02 

+  0,44 

+  0,13 
+  0,22 
+  0,42 
+  0,34 
+  0,25 
+  0,77 


0,47 
+  0,70 
1,08 
0,66 
0,72 
+  0,09 


+  0,49 
0,33 
0,66 
—  0,07 
+  0,18 
0,71 


0,26 

0,68 

0,60 

1,47 


1,13 

1,36 


Deutsches  Reich 


1,63 


2,14 


2,59 


+  0,51 


0.96 


Der  EinH  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  343 

Daß  die  Aufnahme  zahlreicher  Krankenkassenmitglieder  in  die 
allgemeinen  Krankenhäuser  deren  Niveau  unverkennbar  gehoben 
hat,  lehrt  die  eigentlich  befremdliche  Tatsache,  daß  die  Kranken¬ 
kassen  so  wenig  eigene  Krankenhäuser  gegründet  haben,  geradezu 
als  einen  Glücksumstand  betrachten.  Die  Krankenkassen  haben 
von  der  ihnen  gesetzlich  gewährten  Befugnis  zur  Gründung  und 
Verwaltung  eigener  Anstalten  bisher  in  einem  Grade  Gebrauch 
gemacht,  der  in  keinem  Verhältnis  zu  den  ungeheuren  Zahlungen 
an  allgemeine  Krankenhäuser  steht.  Das  liegt  wohl  in  erster 
Linie  an  der  weitgehenden  Dezentralisation  und  der  damit 
verbundenen  Zersplitterung  der  finanziellen  Kräfte.  Namentlich 
gilt  dieses  von  dem  Kern  der  deutschen  Krankenkassen,  den 
Ortskrankenkassen,  sowie  von  den  Innungskrankenkassen,  am 
wenigsten  von  den  an  Einkünften,  Verwaltung  und  Mitgliederzahl 
relativ  stabilen  Knappschafts-  und  Betriebskrankenkassen.  Bei 
den  Orts-  und  Innungskrankenkassen  hat  die  stete  Änderung  ihrer 
inneren  Organisation,  die  Fluktuation  ihrer  Mitglieder  und  die 
damit  einhergehende  Unsicherheit  ihrer  finanziellen  Basis,  endlich 
aber  auch  die  für  den  inneren  Betrieb  wertvolle,  für  weitergehende 
Ziele  jedoch  leicht  versagende  Selbständigkeit  der  Kassenvorstände 
es  mit  sich  gebracht,  daß  in  die  Zukunft  reichende  Maßnahmen, 
wie  es  der  Bau  und  Betrieb  eigener  Krankenhäuser  ist,  selten  ins 
Auge  gefaßt  und  noch  seltener  verwirklicht  worden  sind. 

Obwohl  die  Krankenversicherung  der  älteste  Zweig  der  sozialen 
Arbeiterversicherungsgesetzgebung  ist,  ist  sie  doch  erst  wenige  Jahr¬ 
zehnte  alt  und  weder  hinsichtlich  ihrer  Organisation  noch  ihrer 
Leistungsfähigkeit  so  gefestigt,  daß  sich  ihre  zukünftige  Entwick¬ 
lung  auf  Grund  der  bis  jetzt  gemachten  Erfahrungen  mit  Zuver¬ 
lässigkeit  Voraussagen  läßt.  Soviel  aber  kann  man  mit  Bestimmtheit 
prophezeien:  die  Beziehungen  zum  Krankenhauswesen  werden  in 
Zukunft  noch  inniger  und  mannigfaltiger  werden.  Wenn  die  von 
Jahr  zu  Jahr  dringender  werdende  Beform  der  Krankenversiche¬ 
rungsgesetzgebung  erst  den  Kassen  eine  größere  Stabilität  gegeben 
und  das  Verhältnis  zwischen  Kassen  und  Ärzten  einer  befriedigenden 
Lösung  zugetührt  haben  wird,  dann  werden  die  Krankenkassen¬ 
verwaltungen  auch  dem  Anstaltswesen  eine  noch  größere  Aufmerk¬ 
samkeit  als  bisher  zuwenden  können,  zumal  ihre  Mitglieder  immer 
mehr  den  Aufenthalt  in  einer  Anstalt  beanspruchen  dürften.  Aber 
gerade  weil  diese  Entwicklung  vorauszusehen  ist,  muß  davor  ge¬ 
warnt  werden,  daß  bei  der  aus  anderen  Gründen  wünschenswerten 
größeren  Zentralisation,  die  voraussichtlich  die  Zukunft  den  Kranken- 


344 


A.  Grotjahn, 


kassen  bringen  wird,  die  Kassen  in  größerem  Umfange  als  bisher 
eigene  Krankenhäuser  bauen  und  in  eigener  Kegie  betreiben,  da 
der  jetzige  Zustand  sowohl  für  das  Emporblühen  der  allgemeinen 
Krankenhäuser  als  auch  für  die  Krankenkassen  selbst  am  vorteil¬ 
haftesten  ist.  Gegenwärtig  zahlen  die  Kassen  für  ihre  Mitglieder 
einen  Pflegesatz,  der  wenigstens  in  den  Großstädten  unter  dem 
Selbstkostenpreise  der  Kommunalverwaltungen  bleibt.  Es  würde 
ein  Fehler  sein,  wenn  die  Pflegesätze  so  weit  erhöht  würden,  daß 
sie  unter  allen  Umständen  die  Selbstkosten  erreichen  würden,  weil 
damit  den  Kassen  ein  mächtiger  Anreiz  gegeben  würde,  selbst 
Anstalten  zu  bauen  und  so  zu  einer  überflüssigen  Zersplitterung 
im  Krankenkassenwesen  beizutragen.  Damit  das  Krankenhaus¬ 
wesen  seine  medizinischen  und  hygienischen  Aufgaben  in  möglichst 
vollkommener  Weise  erfüllen  kann,  ist  es  zwar  notwendig,  daß  es 
sich  selbst  wieder  differenziert  und  spezialisiert;  aber  diese 
Spezialisierung  muß  eben  nach  medizinischen  Gesichtspunkten  und 
der  Art  der  zu  behandelnden  Kranken  sich  vollziehen,  nicht  aber 
nach  der  Art  der  Organisation,  die  ein  Krankenhaus  benötigt. 
Eine  derartige  falsche  Spezialisierung  würde  vielmehr  die  wünschens¬ 
werte  Differenzierung  nach  Maßgabe  der  Erfordernisse  bestimmter 
Krankheiten  unmittelbar  lähmen. 

Die  Ausgaben  der  Krankenkassen  für  die  Krankenhausbehand¬ 
lung  sind  zwar  groß  und  wachsen  von  Tag  zu  Tag,  stehen  aber 
doch  in  keinem  richtigen  Verhältnis  zu  den  enormen  Ausgaben,  die 
die  Kassen  noch  immer  für  Arzneimittel  und  für  Behandlung  in 
der  ärztlichen  Sprechstunde  machen.  Es  drückt  sich  darin  die 
Überschätzung  der  medikamentösen  Behandlung  aus,  die  häufig 
dazu  führt,  daß  die  Mittel  der  Krankenkassen  für  Bagatellsachen 
übermäßig  in  Anspruch  genommen  werden.  Demgegenüber  muß 
den  Krankenkassenmitgliedern  immer  mehr  zum  Bewußtsein  kommen, 
daß  Krankenhausbehandlung  mit  gleichzeitiger  Zahlung  von  Unter¬ 
stützungsgeldern  an  die  Familie  das  beste  ist,  was  die  Kasse  zu 
leisten  vermag.  Wenn  diese  Erkenntnis  erst  Gemeingut  aller  Ver¬ 
sicherten  ist,  dann  werden  die  Kassenmitglieder  noch  mehr  als 
bisher  unter  den  Patienten  der  Krankenhäuser  vorherrschen.  Eine 
künftige  Reform  der  Krankenversicherung  sollte  die  Tendenz  zu 
einer  gesteigerten  Inanspruchnahme  der  Anstalten  zu  unterstützen 
suchen,  während  sie  die  jetzt  zur  Verschwendung  von  Mitteln 
führende,  uferlose  Gewährung  von  ärztlicher  Behandlung  und  Arznei 
bei  allen  möglichen  vorübergehenden  Unpäßlichkeiten  einzudämmen 
suchen  sollte. 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  345 


Wenn  das  Kontingent  der  Patienten,  das  das  Krankenkassen¬ 
wesen  den  Heilanstalten  stellt,  noch  mehr  wachsen  wird,  so  wird 
sich  auch  der  Zustand  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  lassen,  daß 
man  die  Verwaltungen  der  Krankenkassen  von  der  Mitverwaltung 
und  Kontrolle  der  Krankenhäuser  ausschließt.  Es  wäre  vielmehr 
nur  gerecht,  daß  man  ihnen  an  der  Verwaltung  der  Krankenhäuser 
einen  Anteil  einräumte,  vielleicht  in  der  Form,  daß  eine  Anzahl 
Vorstandsmitglieder  jener  Kassen,  die  dem  betreffenden  Kranken¬ 
hause  die  meisten  Patienten  zuweisen,  in  das  Kuratorium  der  An¬ 
stalt  eintreten.  Die  Beliebtheit  des  Hauses  bei  den  Kassenmit¬ 
gliedern  würde  dadurch  nur  zunehmen  und  zahlreiche  Reibungen 
und  Mißhelligkeiten,  die  gegenwärtig  die  Popularität  der  Kranken¬ 
häuser  mindern,  zum  Verschwinden  gebracht  werden. 


II. 

Die  durch  Unfälle  in  gewerblichen  Betrieben  entstandenen 
leichten  Verletzungen  und  auch  die  größeren,  bei  denen  aber  nach 
erfolgter  Heilung  keine  bleibenden  Folgen  zu  gewärtigen  sind, 
fallen  noch  den  Krankenkassen  zur  Last.  Dagegen  gewährt  das 
Gewerbeunfallversicherungsgesetz  vom  6.  Juli  1884  mit  der  Novelle 
vom  30.  Juni  1900  dem  Betroffenen  1.  die  Kosten  des  Heilverfahrens, 
soweit  nicht  die  Krankenkassen  in  Betracht  kommen,  und  2.  die 
Rente.  Für  den  Einfluß  der  Unfallversicherung  auf  das  Kranken- 
hauswesen  wurde  von  großer  Bedeutung  die  Bestimmung,  nach  der 
statt  der  Kosten  des  Heilverfahrens  und  der  Rente,  Kur  und 
Verpflegung  in  einem  Krankenhause  gewährt  werden  kann  (aber 
nicht  muß). 

Der  §  22  bestimmt  darüber: 

„An  Stelle  der  in  den  §§  9  und  12  vorgeschriebenen  Leistungen  kann  von 
der  Berufsgenossenscbaft  freie  Kur  und  Verpflegung  in  einer  Heilanstalt  gewährt 
werden,  und  zwar : 

1.  Für  Verletzte,  welche  verheiratet  sind  oder  eine  eigene  Haushaltung  haben 
oder  Mitglieder  der  Haushaltung  ihrer  Familie  sind,  mit  ihrer  Zustimmung.  Der 
Zustimmung  bedarf  es  nicht,  wenn  die  Art  der  Verletzung  Anforderungen  an  die 
Behandlung  oder  Verpflegung  stellt,  denen  in  der  Familie  nicht  genügt  werden 
kann,  oder  wenn  der  für  den  Aufenthaltsort  des  Verletzten  amtlich  bestellte  Arzt 
bezeugt,  daß  Zustand  oder  Verhalten  des  Verletzten  eine  fortgesetzte  Beobachtung 
erfordert. 

2.  Für  sonstige  Verletzte  in  allen  Fällen. 

3.  Für  die  Zeit  der  Verpflegung  des  Verletzten  in  der  Heilanstalt  steht 


346 


A.  Grotjahn, 


seinen  Angehörigen  ein  Anspruch  auf  Rente  insoweit  zu,  als  sie  dieselbe  im  Falle 
seines  Todes  würden  beanspruchen  können. 

4.  Die  Berufsgenossenschaften  sind  befugt,  auf  Grund  statutarischer  Be¬ 
stimmungen  allgemein,  ohne  eine  solche  im  Falle  der  Bedürftigkeit  dem  in  einer 
Heilanstalt  untergebrachten  Verletzten  sowie  seinen  Angehörigen  eine  besondere 
Unterstützung  zu  gewähren.“ 

Eine  gleichlautende  Bestimmung  trifft  §  8  des  Unfallyersicherungsgesetzes 
für  Land-  und  Forstwirtschaft  vom  5.  Mai  1886  in  der  Fassung  der  Novelle  vom 
30.  Juni  1900. 

Diese  Bestimmungen  kommentiert  C.  Thiem3)  mit  folgenden 
Worten:  „Die  Anordnungen  bezüglich  des  Heilverfahrens,  nament¬ 
lich  das  Recht  zu  wählen,  ob  an  Stelle  freier  ärztlicher  Behandlung 
und  Rente  freie  Kur  und  Verpflegung  in  einem  Krankenhause  statt¬ 
zufinden  hat,  steht  nur  der  Berufsgenossenschaft  zu  und  ein  ent¬ 
sprechender  Bescheid  verpflichtet  den  Verletzten  hierzu.  Weigerung 
in  ein  Krankenhaus  oder  in  ein  mediko-mechanisches  Institut  zu 
gehen  und  unerlaubtes  Verlassen  desselben  erlauben  der  Berufs¬ 
genossenschaft,  entweder  die  Rentenzahlung,  solange  die  Weigerung 
besteht,  ganz  einzustellen,  oder  den  für  den  Verletzten  ungünstigsten 
Schluß  zu  ziehen,  also  die  Rente  so  weit  herabzusetzen,  als  dies 
nach  vernünftigen  Erwägungen  bei  geeignetem  Heilverfahren  vor¬ 
aussichtlich  zulässig  gewesen  wäre.  Zeitweilige  Entlassung  eines 
Verletzten  aus  dem  Krankenhause  ist  gerechtfertigt,  kann  also 
vom  Verletzten  verlangt  werden  zur  Zeit  der  Entbidung  der  Ehe¬ 
frau  usw.“ 

Besonders  günstig  hat  der  §  76  c  der  Novelle  zum  Kranken¬ 
versicherungsgesetz  gewirkt,  durch  den  die  Berufsgenossenschaften 
ermächtigt  werden,  das  Heilverfahren  schon  vor  Ablauf  der  ersten 
13  Wochen  zu  übernehmen. 

Die  Organe  des  Unfallversicherungswesens,  die  Berufsgenossen¬ 
schaften,  haben  in  der  Folge  denn  auch  große  Aufwendungen  für 
Krankenhauspflege  der  Unfallkranken  machen  müssen.  Das  erhellen 
folgende  Tabellen,  in  denen  an  der  Hand  der  amtlichen  Nachweise 
über  die  Rechnungsergebnisse  der  Berufsgenossenschaften*  2)  die 
Aufwendungen  aus  dem  Jahre  1902  mit  denen  aus  dem  Jahre  1888, 
dem  am  weitesten  zurückliegenden  Jahre,  aus  dem  die  Daten 
einen  Vergleich  gestatten,  zusammengestellt  worden  sind.  Es  be¬ 
zahlten  : 


9  Thiem,  C.,  Spezielle  Krankenversorgung  für  Arbeiter  in  Betriebsunfällen. 
Handb.  d.  Krankenversorg.  u.  Krankenpflege,  Bd.  2,  Abt.  2,  1899,  S.  28. 

2)  Herausg.  vom  Reichsversiclierimgsamte  in  Berlin. 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh.' -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Kraukeukauswesens.  347 


die  Berufsgenossenschaften 


an  Kur-  und  Verpflegungskosten 
in  Krankenhäusern 


im  Jahre  1888  im  Jahre  1905  Unterschied 


A.  Gewerbliche  Berufsgenossenschaften. 


Knappsc.hafts-B.-G . 

Steinbruchs-B.-G . 

B.-G.  der  Feinmechanik . 

Süddeutsche  Eisen-  und  Stahl-B.-G.  . 

Südwestdeutsche  Eisen-B.-G . 

Rheinisch -Westfälische  Hütten-  und 

Walzwerks-B.-G . 

Maschinenbau-  und  Kleineisenindustrie- 

B.-G . 

Sächs.-Thüring.  Eisen-  und  Stahl-B.-G. 
Nordöstliche  Eisen-  und  Stahl-B.-G.  . 
Nordwestliche  Eisen-  und  Stahl-B.-G. 
Süddeutsche  Edel-  u.  Unedelmetall-B.-G. 
Schlesische  Eisen-  und  Stahl-B.-G.  .  . 

Norddeutsche  Metall-B.-G . 

B.-G.  der  Musikinstrumentenindustrie 

Glas-B.-G . ’  .  .  . 

Töpferei-B.-G . 

Ziegelei-B.-G . 

B.-G.  der  chemischen  Industrie  .  .  . 

B.-G.  der  Gas-  und  Wasserwerke  .  . 

Leinen-B.-G. .  .  ....... 

Norddeutsche  Textil-B.-G.  .  .  .  .  . 

Süddeutsche  Textil-B.-G . 

Schlesische  Textil-B.-G . 

Textil-B.-G.  von  Elsaß-Lothringen  .  . 

Rheinisch- Westfälische  Textil-B.-G.  . 

Sächsische  Textil-B.-G . 

Seiden-B.-G . 

Papiermacher-B.-G . 

Papierverarbeitungs-B.-G . 

Lederindustrie-B.-G . 

Sächsische  Holz-B.-G . 

Norddeutsche  Holz-B.-G . 

Bayrische  Holz-B.-G . 

Südwestdeutsche  Holz-B.-G . 

Müllerei-B.-G . 

Nahrungsmittelindustrie-B.-G.  .  .  . 

Zucker-B.-G . 

B.-G.  der  Molkerei-  und  Brennerei-  und 

Stärkeindustrie . 

Brauerei-  und  Mälzerei-B.-G . 

Tabak-B.-G.  . . 

Bekleidungsindustrie-B.-G . 

B.-G.  der  Schornsteinfegermeister  des 

Deutschen  Reiches . 

Hamburger  Baugewerks-B.-G.  .  .  . 

Nordöstliche  BaugeAverks-B.-G.  .  .  . 

Scklesisch-Posensche  Baugewerks-B.-G. 
Hannoversche  BaugeAverks-B.-G.  .  . 

Magdeburger  BaugeAverks-B.-G.  .  .  . 


95  774 
17  667 
1694 
5194 
5  469 

22  878 

10  603 

4  725 

5  745 
5  965 

328 

7  809 
1921 

200 
2  085 
169 
11266 
12  423 
1589 
768 
2  262 

2  381 
225 

86 

3  622 
3181 

585 

8  649 
1736 
1618 

420 
8030 
416 
1104 
10  771 
2  740 
1356 

2  931 
17  177 
39 
1034 


1465 
6  722 
9118 
3  950 
3198 
2  755 


776  432 
167  464 
28  820 
72  139 

53  058 

110  294 

78  193 
45  518 
38  694 
60  220 
10  550 

54  125 
18  491 

2  245 
17146 
9  872 
121  481 
88  076 
12  333 

7  638 
17  239 

15  795 

8  866 
4  729 

11264 
12  804 
4  778 
48  610 
8  338 

16  037 
8  675 

160  287 
6  312 
15  455 
54  529 
20  354 
25  760 


!  4-680  658 
-f  149  797 
I  4-  27126 
I  4-  66  945 
4-  47  589 

4-  87  416 

+  67  590 

—  40  793 

—  32  949 

—  54  255 

—  10  222 

—  46  316 
4-  16  570 

—  2  045 

—  15  061 

—  9  703 

4-  110  215 
-4  75  653 
-f  10  744 

!  4-  6  870 

4-  14  977 

—  13  414 

—  8  641 

—  4  643 

—  7  642 

—  9  623 

|4-  4 193 

—  39  961 

—  6  602 

—  14  419 

—  8  255 

—  152  257 

—  5  896 

—  14  351 

—  43  758 
I  -f  17  614 

—  24  404 


14  250  4-  11  319 

87  334  4-  70  I57 

2  601  !  +  2  562 

10  549  +  9  515 


3  602 
18  804 
84  466 
37  155 
32  385 
13  400 


2137 
12  082 
75  348 
33  205 
29  187 
10  645 


348 


A.  Grotjahn, 


die  Berufsgenossenschaften 

an  Kur-  i 
in 

im  Jahre  1888 

md  Verpflegungskosten 
Krankenhäusern 

im  Jahre  1905  Unterschied 

Sächsische  Baugewerks-B.-G . 

7  415 

47  006 

+  39  591 

Thüringische  Baugewerks-B.-G.  .  .  . 

1  414 

12  308 

+  10894 

Hessen  -  Nassauische  Baugewerks-B.-G. 

4  215 

38  352 

4-  34137 

Rheinisch  -  Westfälische  Baugewerks- 

B.-G . 

10  788 

93  352 

-  82  564 

Württembergische  Baugewerks-B.-G.  . 

2  308 

18  047 

-  15  739 

Bayrische  Baugewerks-B.-G . 

7  522 

48  895 

r  41373 

Südwestliche  Baugewerks-B.-G.  .  .  . 

5  884 

44  850 

-  38  966 

Deutsche  Buchdrucker-B.-G . 

— 

7  221 

-  7  221 

Privatbahn-B.-G . 

3  534 

10  264 

f-  6  730 

Straßen-  und  Kleinbahn-B.-G.  .  .  . 

2  757 

27  030 

L  24  273 

Lagerei-B.-G . 

8  962 

119  936 

\-  110974 

Fuhrwerks-B.-G. . 

13  494 

100  788 

-  87  294 

Westdeutsche  Binnenschiff ahrts-B.-G.  . 

2  463 

9  837 

L  7  374 

See-B.-G . 

991 

24  020 

L  23  029 

Tiefbau-B.-G . 

9  699 

160  245 

L  150  546 

Fleischerei-B.-G . 

— 

24  713 

h  24  713 

Schmiede-B.-G . 

— 

19  465 

b  19  465 

Elbschiffahrts-B.-G . 

1  764 

18  828 

-  17  064 

Ostdeutsche  Binnenschiffahrts-B.-G. 

910 

5  814 

-  4  904 

B.  Landwirtschaftliche 

Berufsgenossenschaften. 

Ostpreußische  landwirtschaftl.  B.-G.  . 

9 

52  568 

Westpreußische  landw.  B.-G . 

33 

41  913 

Brandenburgische  landw.  B.-G.  .  .  . 

365 

52  767 

Pommersche  landw.  u.  forstw.  B.-G.  . 

— 

43  242 

Posensche  landw.  B.-G . 

— 

57  187 

Schlesische  landw.  B.-G . 

191 

60  454 

Landw.  B.-G.  f.  die  Provinz  Sachsen  . 

11 

45  397 

Schleswig-Holsteinsche  landw.  B.-G.  . 

54 

29126 

Hannoversche  landw.  B.-G . 

382 

32  290 

Westfälische  landw.  B.-G . 

— 

32  840 

Hessen-Nassauische  landw.  B.-G.  .  . 

— 

24  766 

Rheinische  landw.  B.-G . 

— 

94  749 

Oberbayrische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

28  051 

Niederbayrische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

13  837 

Pfälzische  landw.  u.  forstw.  B.-G.  .  . 

— 

9  880 

Oberpfälzische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

17  027 

Oberfränkische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

8  250 

Mittelfränkische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

13  797 

Unterfränkische  landw.  u.  forstw.  B.-G. 

— 

12143 

Schwäbische  landw.  u.  forstw.  B.-G.  . 

— 

13  900 

Landw.  u.  forstw.  B.-G.  für  das  König- 

reich  Sachsen . 

— 

61  657 

Landw.  B.-G.  für  den  Neckarkreis .  . 

— 

17  812 

Landw.  B.-G.  für  den  Schwarzwaldkreis 

— 

5186 

Landw.  B.-G  für  den  Jagstkreis  .  . 

— 

6  728 

Landw.  B.-G.  für  den  Donaukreis  .  . 

— 

13  679 

Badische  landw.  B.-G . 

— 

25  317 

Land-  u.  forstw.  B.-G.  f.  d.  Grh.  Hessen 

— 

44  919 

Landw.  B.-G.  f.  Mecklenburg-Schwerin 

77 

13  868 

Weimarische  landw.  B.-G . 

269 

3  234 

Der  Einfl.  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  349 


die  Berufsgenossenschaften 

an  Kur-  und  Verpflegungskosten 
in  Krankenhäusern 

im  Jahre  1888 

im  Jahre  1905 

Unterschied 

Mecklenburg  -  Strelitzsche  landw.  und 
forstw.  B.-G . 

3  879 

B.-G.  Oldenburger  Landwirte  .  .  . 

— 

9  874 

Braunschweigische  landw.  B.-G.  .  . 

— 

9  295 

Meininger  land-  u.  forstw.  B.-G.  .  . 

— 

4  292 

Altenburgische  landw.  B.-G . 

— 

2  698 

Coburgische  land-  u.  forstw.  B.-G. . 

— 

662 

Gothaische  land-  u.  forstw.  B.-G.  .  . 

— 

2  554 

Anhaltische  land-  u.  forstw.  B.-G.  .  . 

— 

3  686 

Rudolstädtische  land-  u.  forstw.  B.-G. 

— - 

1296 

Schwarzb.-Sondershausensche  ldw.  B.-G. 

— 

1646 

Land-  u.  forstw.  B.-G.  f.  d.  Fürstent. 
Reuß  ä.  L . 

915 

Land-  u.  forstw.  B.-G.  f.  d.  Fürstent. 
Reuß  j.  L . 

1682 

Schaumburg-Lippesche  landAv.  B.-G.  . 

— 

102 

Lippesche  land-  u.  forstw.  B.-G.  .  . 

— 

1 107 

B.-G.  der  Bremischen  Landwirte  .  . 

— 

— 

Hamburgische  landw.  B.-G . 

— 

1  408 

Landw.  B.-G.  Unter-Elsaß . 

— 

25  819 

Landw.  B.-G.  Ober-Elsaß . 

— 

7  551 

Landw.  B.-G.  Lothringen . 

— 

16  129 

Gewerbliche  Berufsgenossenschaften  . 

395  963 

3  348  138 

+  2  952  175 

Landwirtschaftliche  Berufsgenossen¬ 
schaften  . 

1  391 

971 179 

+  969  788 

Sämtliche  Berufsgenossenschaften  des 
Deutschen  Reiches . 

397  354 

4  319  317 

+  3  921  963 

1 

Diese  enormen  x4ufwendungen  der  Berufsgenossenschaften,  die 
von  Jahr  zu  Jahr  steigen,  sind  zum  bei  weitem  größeren  Teile 
den  allgemeinen  Krankenhäusern  und  hier  wieder  vornehmlich  den 
chirurgischen  Abteilungen  zugute  gekommen.  Der  Aufschwung, 
den  die  praktische  Chirurgie  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  Deutsch¬ 
land  in  einer  vom  Auslande  beneideten  Weise  genommen  hat,  wird 
sicher  außer  den  wissenschaftlichen  und  technischen  Leistungen 
der  modernen  Chirurgie  auch  der  geregelten  Versorgung  der  ver¬ 
unglückten  Arbeiter  verdankt,  die  das  soziale  Unfallversicherungs- 
wesen,  das  an  die  Stelle  der  älteren,  durchaus  unzulänglichen  Haft¬ 
pflicht  getreten  ist,  inauguriert  hat.  Die  regelmäßigen  Einkünfte, 
die  die  allgemeinen  Krankenhäuser  in  steigendem  Maße  durch  die 
Überweisung  von  Unfallkranken  genießen,  haben  zahlreiche  An¬ 
stalten  in  Provinzial-  und  Kreisstädten  veranlaßt,  eigene  chirurgische 


350 


A.  Grotjahn, 


Stationen  einznrichten  und  spezialistisch  geschulte  Chirurgen  mit 
deren  Leitung  zu  betrauen. 

Aber  nicht  nur  durch  förderliche  Einwirkung  auf  die  allge¬ 
meinen  Krankenhäuser  sondern  auch  durch  Errichtung  eigener  An¬ 
stalten  hat  die  Unfallversicherung  der  Entwicklung  des  Kranken¬ 
hauswesens  genützt.  Das  Interesse,  das  die  Berufsgenossenschaften 
sowohl  an  der  baldigen  Heilung  der  Unfallverletzten  im  anatomischen 
Sinne  als  auch  an  der  funktionellen  Heilung,  d.  h.  der  Wieder¬ 
herstellung  der  Gebrauchsfähigkeit  der  verletzten  Glieder  haben, 
hat  zur  Gründung  eigener  Unfallkrankenhäuser  geführt,  in  denen 
nach  den  Grundsätzen  der  Orthopädie  und  Neurologie  diese 
funktionelle  Heilung  angestrebt  wird.  Da  in  diese  Anstalten 
aber  auch  die  nicht  seltenen  Patienten  zur  Beobachtung  einge¬ 
wiesen  werden,  die  nach  Ansicht  der  Berufsgenossenschaften  zu 
hohe  Entschädigungsansprüche  stellen,  genießen  die  Unfallkranken¬ 
häuser  unter  der  versicherten  Arbeiterschaft,  die  sie  mit  dem 
Namen  „Rentenquetschen“  zu  bezeichnen  pflegt,  keine  besondere 
Popularität. 

Daß  die  Berufsgenossenschaften  das  Interesse  für  die  funktio¬ 
neile  Heilung  energisch  zur  Geltung  bringen,  ist  sehr  erfreulich. 
Diese  Bestrebungen  haben  auf  die  chirurgische  Tätigkeit  in  den 
allgemeinen  Krankenhäusern,  die  sich  früher  vielfach  gar  zu  schnell 
lediglich  auf  die  Heilung  im  chirurgischen  Sinne  beschränkte,  an¬ 
feuernd  gewirkt.  Ob  es  aber  zweckmäßig  ist,  die  Unfallverletzten 
in  eigenen,  den  Berufsgenossenschaften  gehörenden  Anstalten  einer 
Nachbehandlung  zu  unterziehen,  ist  eine  Frage,  die  keineswegs 
ohne  weiteres  bejaht  werden  kann.  Vielmehr  läßt  sich  mit  guten 
Gründen  die  Berechtigung  eigener  Unfallkrankenhäuser  bestreiten. 
Die  dort  auf  Grund  der  Beobachtung  angefertigten  ärztlichen 
Atteste,  die  für  den  Rentenbezug  der  Unfallverletzten  natürlich 
maßgebend  sind,  führen  in  den  Augen  der  Versicherten  und  — 
das  muß  offen  ausgesprochen  werden  —  auch  in  den  Augen  mancher 
Privatärzte  das  Odium  mit  sich,  daß  sie  nicht  von  unparteiischen 

und  unabhängigen  Ärzten,  sondern  von  solchen,  die  das  Interesse 

•  • 

der  Berufsgenossenschaften  pflichtgemäß  bis  zum  Äußersten  zu 
wahren  gezwungen  sind,  ausgehen.  Es  kommt  nicht  selten  vor, 
daß  die  Gutachten  der  berufsgenossenschaftlichen  Ärzte  im  Gegen¬ 
satz  zu  denen  stehen,  die  von  den  Vertrauensärzten  der  Versicherten 
selbst  beigebracht  werden.  Kein  Wunder,  wenn  daher  bei  allen 
Beteiligten  (außer  den  Berufsgenossenschaften)  das  Verlangen  nach 
einer  ganz  unabhängigen  und  unbeteiligten  Stellung  der  testierenden 


Der  Einfi.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  351 

•  • 

Arzte  laut  wird,  einem  Verlangen,  das  der  Gesetzgeber  wohl  am 
besten  dadurch  erfüllen  könnte,  wenn  er  die  Begutachtung  der 
Unfallverletzten  den  Kreis-  oder  Gerichtsärzten  übertrüge.  Die 
eigenen  Unfallkrankenhäuser  würden  dann  aber  ihren  Wert  für  die 
Berufsgenossenschaften  verlieren. 

Dagegen  dürfte  die  Zukunft  die  Organe  der  Unfallversicherung 
wohl  vor  die  Aufgabe  stellen,  geeignete  oder  besonders  bedürftige 
Unfallverletzte  in  Anstaltspflege  dauernd  unterzubringen.  Zwar 
ist  der  Versuch,  anstatt  der  Bente  dem  Unfallgeschädigten  den 
Aufenthalt  in  einem  Versorgungsheim  zu  bieten,  wie  er  uns  später 
bei  der  Invalidenversicherung  begegnen  wird,  leider  bis  jetzt  von 
den  Berufsgenossenschaften  noch  nicht  gemacht  worden.  Doch 
deutet  manches  darauf  hin,  daß  dieses  in  nicht  allzu  ferner  Zeit 
geschehen  wird.  Wenigstens  ist  in  dem  höchst  beachtenswerten 
Versuch,  den  der  Berliner  Verein  für  Unfallverletzte  mit 
einer  Werkstätte  für  Unfallverletzte  unter  Leitung  von  W.  Eisner 
unternommen  hat,  eine  Vorstufe  zu  erblicken  zu  Versorgungsheimen 
für  Unfallverletzte,  die  sich  aus  eigenen  Mitteln  nicht  erhalten 
können  und  die  nur  noch  in  begrenzter  Weise  zu  gewinnbringender 
Arbeit  fähig  sind. 

III. 

Im  Laufe  der  Jahre  hat  sich  herausgestellt,  daß  das  ursprüng¬ 
lich  am  wenigsten  beliebte,  in  der  Bevölkerung  verächtlich  „Klebe¬ 
gesetz“  genannte  Alters-  und  Invalidenversicherungsgesetz  sich  be¬ 
züglich  Organisation,  Wirksamkeit  und  Beliebtheit  bei  der  arbeiten¬ 
den  Bevölkerung  am  besten  von  den  drei  sozialen  Versicherungs¬ 
gesetzen  bewährt  hat.  Auch  auf  das  Krankenhauswesen  ist  es, 
obgleich  dieses  den  Zwecken  der  Invalidenversicherung  auf  den 
ersten  Blick  recht  fern  zu  liegen  scheint,  von  großem  Einfluß  ge¬ 
wesen.  Während  das  Krankenversicherungs-  und  Unfallversiche¬ 
rungsgesetz  auf  Vermehrung  und  Ausbau  vornehmlich  der  allge¬ 
meinen  Krankenhäuser  gewirkt  haben,  ist  das  Invalidenversiche¬ 
rungsgesetz  besonders  in  seiner  Fassung  vom  13.  Juli  1899  zum 
Träger  einer  ganz  neuen  Art  von  Krankenfürsorge,  der  sog.  vor¬ 
beugenden  Anstaltsbehandlung,  geworden. 

Diese  vorbeugende  Krankenhausbehandlung  ist  eng  verquickt 
mit  den  medizinischen  Anschauungen  des  letzten  Jahrzehntes  und 
sie  würde  wohl  kaum  eine  so  große  praktische  Bedeutung  gewonnen 


352 


A.  Grotjahn, 


haben,  wenn  nicht  gleichzeitig  eine  geschickt  inszenierte  und  mit 
großer  Wucht  um  sich  greifende  Bewegung  besonders  die  Lungen¬ 
tuberkulose  durch  rechtzeitiges  Verschicken  im  Anfangsstadium 
befindlicher  Lungenkranker  in  wirkungsvoller  Weise  bekämpfen 
zu  können  geglaubt  hätte. 

Das  ältere  Gesetz  über  Alters-  und  Invaliditätsversicherung 
vom  22.  Juli  1889  enthielt  in  seinem  §  12  nur  unzureichende  Be¬ 
stimmungen  über  vorbeugende  Krankenhausbehandlung.  Das  Ver¬ 
dienst  auf  Grund  dieser  Bestimmungen  zum  ersten  Male  die  Be¬ 
handlung  eines  Patienten  auf  Kosten  der  Landesversicherungsanstalt 
durchgesetzt  zu  haben,  gebührt  J.  Pauly  in  Posen,  der  Mitte  der 
90er  Jahre  die  Landesversicherungsanstalt  Posen  bewog,  eine  von 
ihm  an  beginnender  Lungentuberkulose  behandelte  Patientin  in  die 
W  e  i  c  k  e  r’sche  Lungenheilstätte  in  Görbersdorf  auf  die  Dauer  von 
mehreren  Monaten  zu  verschicken,  damit  ihr  Lungenspitzenkatarrh 
dort  ausheile  und  die  für  diese  vorbeugende  Behandlung  veraus¬ 
gabte  Summe  eine  frühzeitige  Invalidisierung,  die  beim  Unterlassen 
der  Kur  unausbleiblich  gewesen  wäre,  erspare.  Dem  Beispiele 
Pauly’s  ist  man  an  zahlreichen  anderen  Orten  gefolgt  und  unter 
dem  Drucke  von  übertrieben  optimistischen  Anschauungen  über  die 
Heilbarkeit  der  Frühtuberkulose  haben  sich  die  Landesversicherungs¬ 
anstalten  unter  der  Führung  der  von  Gebhardt  geleiteten 
hanseatischen  Anstalt  an  die  Gewährung  dieser  vorbeugenden 
Krankenhausbehandlung  gewöhnt,  bis  endlich  die  Novelle  vom  13.  Juli 
1899  eine  unzeifelhafte  rechtliche  Grundlage  für  dieses  Verfahren 
schuf. 

Die  wichtigsten  Bestimmungen  des  Invalidenversicherungs¬ 
gesetzes  vom  13.  Juli  1899,  die  die  vorbeugende  Krankenfürsorge 
betreffen,  lauten  (Reichsgesetzblatt  S.  463): 

§  18. 

Ist  ein  Versicherter  dergestalt  erkrankt,  daß  als  Folge  der  Krankheit  Er¬ 
werbsunfähigkeit  zu  besorgen  ist,  welche  einen  Anspruch  auf  reichsgesetzliche 
Invalidenrente  begründet,  so  ist  die  Versicherungsanstalt  befugt,  zur  Abwendung 
dieses  Nachteils  ein  Heilverfahren  in  dem  ihr  geeignet  erscheinenden  Umfang 
eintreten  zu  lassen. 

Die  Versicherungsanstalt  kann  das  Heilverfahren  durch  Unterbringung  des 
Erkrankten  in  einem  Krankenhaus  oder  in  einer  Anstalt  für  Genesende  gewähren. 
Ist  der  Erkrankte  verheiratet,  oder  hat  er  eine  eigene  Haushaltung,  oder  ist  er 
Mitglied  der  Haushaltung  seiner  Familie ,  so  bedarf  es  hierzu  seiner  Zu¬ 
stimmung. 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  353 

Läßt  die  Versicherungsanstalt  ein  Heilverfahren  eintreten,  so  gehen  bei  Ver¬ 
sicherten,  welche  der  reichsgesetzlichen  oder  landesgesetzlichen  Krankenfürsorge 
unterliegen,  vom  Beginne  dieses  Heilverfahrens  an  bis  zu  dessen  Beendigung  die 
Verpflichtungen  der  Krankenkasse  gegen  den  Versicherten  auf  die  Versicherungs¬ 
anstalt  über.  Dieser  hat  die  Krankenkasse  Ersatz  zu  leisten  in  Höhe  desjenigen 
Krankengeldes,  welches  der  Versicherte  von  der  Krankenkasse  für  sich  bean¬ 
spruchen  konnte. 

Während  des  Heilverfahrens  ist  für  solche  Angehörigen  des  Versicherten, 
deren  Unterhaltung  dieser  bisher  aus  seinem  Arbeitsverdienste  bestritten  hat,  eine 
Unterstützung  auch  dann  zu  zahlen,  wenn  der  Versicherte  der  reichs-  oder  landes¬ 
gesetzlichen  Krankenversorgung  nicht  unterliegt.  Diese  Angehörigenunterstützung 
beträgt,  sofern  der  Versicherte  der  reichs-  oder  landesgesetzlichen  Krankenfürsorge 
bis  zum  Eingreifen  der  Versicherungsanstalt  unterlag,  die  Hälfte  des  für  ihn 
während  der  gesetzlichen  Dauer  der  Krankenunterstützung  maßgebend  gewesenen 
Krankengeldes,  im  übrigen  ein  Viertel  des  für  den  Ort  seiner  letzten  Beschäfti¬ 
gung  oder  seines  letzten  Aufenthalts  maßgebenden  ortsüblichen  Tagelohns  ge¬ 
wöhnlicher  Tagearbeiter.  Wenn  der  Versicherte  Invalidenrente  erhält,  kann  die¬ 
selbe  auf  die  Angehörigenunterstützung  angerechnet  werden. 

§  19. 

Die  Versicherungsanstalt,  welche  ein  Heilverfahren  eintreten  läßt,  ist  befugt, 
die  Fürsorge  für  den  Erkrankten  der  Krankenkasse,  welcher  er  angehört  oder 
zuletzt  angehört  hat,  in  demjenigen  Umfange  zu  übertragen,  welchen  die  Ver¬ 
sicherungsanstalt  für  geboten  erachtet.  Werden  dadurch  der  Kasse  Leistungen 
auferlegt,  welche  über  den  Umfang  der  von  ihr  gesetzlich  oder  statutarisch  zu 
leistenden  Fürsorge  hinausgehen,  so  hat  die  Versicherungsanstalt  die  entstehenden 
Mehrkosten  zu  ersetzen.  Bestand  eine  Fürsorgepflicht  der  Krankenkasse  nicht 
mehr,  so  ist  ihr  von  der  Versicherungsanstalt  bei  Gewährung  der  im  §  6  Abs.  1 
Ziffer  1  des  Krankenversicherungsgesetzes  bezeichneten  Leistungen  das  halbe,  bei 
Unterbringung  des  Versicherten  in  ein  Krankenhaus  oder  in  eine  Anstalt  für 
Genesende  das  einundeinhalbfache  Krankengeld  zu  ersetzen,  sofern  nicht  höhere 
Aufwendungen  nachgewiesen  werden. 

§  22. 

Wird  der  Versicherte  infolge  der  Krankheit  erwerbsunfähig,  so  kann  ihm, 
falls  er  sich  den  gemäß  §§  18,  19  von  der  Versicherungsanstalt  getroffenen  Ma߬ 
nahmen  ohne  gesetzlichen  oder  sonst  triftigen  Grund  entzogen  hat,  die  Invaliden¬ 
rente  auf  Zeit  ganz  oder  teilweise  versagt  werden,  sofern  er  auf  diese  Folgen 
hingewiesen  worden  ist  und  nachgewiesen  wird,  daß  die  Erwerbsunfähigkeit  durch 
sein  Verhalten  veranlaßt  ist. 


§  45. 

Durch  übereinstimmenden  Beschluß  des  Vorstandes  und  des  Ausschusses 
kann  bestimmt  werden,  daß  die  Überschüsse  des  Sondervermögens  einer  Ver¬ 
sicherungsanstalt  über  den  zur  Deckung  ihrer  Verpflichtung  dauernd  erforder¬ 
lichen  Bedarf  zu  anderen  als  den  im  Gesetze  vorgesehenen  Leistungen  im  wirt¬ 
schaftlichen  Interesse  der  der  Versicherungsanstalt  angehörenden  Bentenempfänger, 
Versicherten  sowie  ihrer  Angehörigen  verwendet  werden. 

Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  23 


354 


A.  Grotjahn, 


Solche  Beschlüsse  bedürfen  der  Genehmigung  des  Bundesrats.  Die  Genehmi¬ 
gung  kann  widerrufen  werden,  wenn  das  Sondervermögen  der  Versicherungsanstalt 
zur  dauernden  Deckung  ihrer  Verpflichtung  nicht  mehr  ausreicht. 

§  47. 

Tritt  in  den  Verhältnissen  des  Empfängers  einer  Invalidenrente  eine  Ver¬ 
änderung  ein,  welche  ihn  nicht  mehr  als  erwerbsunfähig  (§§  15,  16)  erscheinen 
läßt,  so  kann  demselben  die  Beute  entzogen  werden. 

Ist  begründete  Annahme  vorhanden,  daß  der  Empfänger  einer  Invalidenrente 
bei  Durchführung  eines  Heilverfahrens  die  Erwerbsfähigkeit  wieder  erlangen 
werde,  so  kann  die  Versicherungsanstalt  zu  diesem  Zwecke  ein  Heilverfahren  ein- 
treten  lassen.  Dabei  finden  die  Bestimmungen  des  §  18  Abs.  2  bis  4,  §§  19  bis 
21,  23  mit  der  Maßgabe  Anwendung,  daß  an  Stelle  der  Angehörigenunterstützung 
die  Invalidenrente  treten  kann.  Hat  sich  der  Bentenempfänger  solchen  Ma߬ 
nahmen  der  Versicherungsanstalt  ohne  gesetzlichen  oder  sonst  triftigen  Grund 
entzogen,  so  kann  ihm  die  Beute  auf  Zeit  ganz  oder  teilweise  entzogen  werden, 
sofern  auf  diese  Folgen  hingewiesen  worden  ist  und  nachgewiesen  wird,  daß  er 
durch  sein  Verhalten  die  Wiedererlangung  der  Erwerbsfähigkeit  vereitelt  hat. 

Nach  diesen  Bestimmungen  kann  sich  also  die  vorbeugende 
Krankenhausbehandlung  auf  alle  Krankheiten  erstrecken,  wenn 
man  sich  von  ihr  eine  Verhinderung  frühzeitiger  Invalidisierung 
verspricht,  wenn  auch  in  der  Tat  die  Lungentuberkulose  den 
größten  Teil  an  dieser  prophylaktischen  Heilbehandlung  gegen¬ 
wärtig  noch  genießt. 

Der  Umfang,  in  dem  die  Landesversicherungsanstalten  wegen 
beginnender,  voraussichtlich  noch  heilbarer  oder  erheblich  besserungs¬ 
fähiger  Krankheiten  die  vorbeugende  Heilstättenbehandlung  ein- 


treten  lassen, 

ist  von 

Jahr 

zu  Jahr  bedeutender 

geworden. 

wurden  den  Heilstätten  übergeben : x) 

mit  einem  Kostenaufwande 

und  in  %  der 
Einnahme 

im  Jahre 

Personen 

von  M. 

1888 

13  758 

2  769  330 

2J 

1899 

20  039 

4  056  975 

2,8 

1900 

27  427 

6  210  720 

4,0 

1901 

32  710 

7  912  219 

4,9 

1902 

35  949 

9  056  240 

5,4 

*)  Statistik  der  Heilbehandlung  bei  den  Versicherungsanstalten  und 
zugelassenen  Kasseneinrichtungen  der  Invalidenversicherung  für  die  Jahre  1897, 
1899,  1900,  1901  und  1902  und  Statistik  der  Heilbehandlung  1901 — 1905.  Amt¬ 
liche  Nachrichten  des  Beichsversicherungsamtes,  1903,  1.  Beiheft  und  1906,  2.  Bei¬ 
heft.  Ascher  &  Co. 


Der  Einfi.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  355 


im  Jahre 

1903 

1904 

1905 


Personen 


mit  einem  Kostenaufwande 
von  M. 


43  593 
49  491 
56  420 


11  501  205 

12  735  081 
14  448  005 


und  in  °/o  der 
Einnahme 

6.5 

6.6 
7,1 


Die  meisten  Patienten,  nämlich  54  Proz.  litten  an  Lungen¬ 
tuberkulose,  an  deren  Heilung  oder  doch  umfassenden  Besserung 
den  Versicherungsanstalten  deshalb  viel  gelegen  sein  muß,  weil  die 
Tuberkulose  zu  den  wichtigsten  Ursachen  der  Invalidität  gehört. 
Die  Beteiligung  der  einzelnen  Versicherungsanstalten,  soweit  es 
sich  um  Lungentuberkulose  handelt,  ergibt  sich  aus  den  folgenden 
Tabellen. 

Ueber  die  Dauererfolge  der  vorbeugenden  Lungenheilbehand¬ 
lung  veröffentlichte  das  Reichsversicherungsamt  im  Jahre  1906 
folgende  Angaben: 


Krankheitsgruppen 

und 

Geschlecht 

der 

behandelten 

Personen 


Bei  den  wegen 
Lungentuberkulose 
behandelten 
Personen  und  zwar : 


Auf  100  ständ. 
behandelte 
Personen 
wurde  bei  Ab¬ 
schluß  d.  Heil¬ 
verfahrens 
Heilerfolg  er¬ 
zielt,  so  daß 
Erwerbsun¬ 
fähigkeit  in 
absehbarer 
Zeit  nicht  zu 
besorgen  war 


im  Jahre 


Auf  100  ständig  behandelte  und 
kontrollierte  Personen 


aus  dem 
Jahre  1901 


aus  dem 
Jahre 
1902 


aus 

dem 

Jahre 

1903 


aus 

dem 

Jahre 

1904 


aus 

dem 

Jahre 

1905 


wurde  Erwerbsunfähigkeit  verhindert 
bis  zum  Schlüsse  des  Jahres 


■»“H 

Ol 

CO 

wo 

CO 

-n 

wO 

Ol 

CO 

wo 

CO 

-H 

WO 

wo 

>o 

o 

o 

o 

o 

o 

o  o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

o 

05 

OS 

05 

05 

05 

05  jOS 

05 

05 

05 

05 

05 

05 

'05 

05 

05 

05 

05 

05 

05 

rH 

rH 

rH 

rH 

-1 

-r 

tH 

rH 

H 

rH 

rH 

rH 

rH 

t-H 

t—H 

r— 1 

rH 

rH 

a)  bei  Männern  und 
Frauen  zus. 

c)  bei  Männern  allein 

b)  bei  Frauen  allein 


77 

77 

77 


78  80 
77  79 
8082 


79 

79 

81 


82 

81 

83 


70 

70 

72 


55 

53 

60 


46 

45 


40 

38 


5145 


34 

32 

39 


73 

72 

76 


58 

57 

62 


50 

48 

54 


42 

41 

46 


74 

73 

77 


60 

59 

64 


51 

49 

55 


74 

73 

76 


61 

60 

64 


77 

77 

79 


Aus  den  nämlichen  amtlichen  Publikationen  lassen  sich  fol¬ 
gende  Angaben  über  Umfang  und  Erfolg  der  im  Jahre  1905  ab¬ 
geschlossenen  vorbeugenden  Behandlung  wegen  beginnender  Lungen¬ 
tuberkulose  zusammenstellen : 


23* 


356 


A.  Grotjahn, 


Y  ersickerungsanstalten 

Zahl  der 

Ver¬ 

sicherten 

Be¬ 

handelte 

Personen 

überhaupt 

Heilerfolg,  so  daß  Erwerbs¬ 

unfähigkeit  im  Sinne  des 
§  5  Abs.  4  IVG.  nicht  zu  be¬ 

fürchten  war,  trat  ein  bei 

Heilerfolg  im  Sinne  des  §  5 

Abs.  4  IVG.  wurde  nicht 

erzielt  bei 

Ostpreußen . 

410  721 

229 

169 

60 

Westpreußen . 

300  129 

161 

108 

53 

Berlin . 

452  644 

2  204 

1955 

249 

Brandenburg  . 

641  715 

1332 

1034 

298 

Pommern . 

335  024 

217 

132 

85 

Posen . 

361  824 

484 

461 

23 

Schlesien . 

1  041  258 

1038 

959 

79 

Sachsen-Anhalt . 

633  066 

526 

409 

117 

Schleswig-Holstein . 

291  828 

346 

298 

48 

Hannover . 

504  857 

1082 

870 

212 

Westfalen . 

469  062 

1  785 

1  617 

168 

Hessen-Nassau . 

355  110 

1041 

894 

147 

Rheinprovinz  .  • . 

994  252 

3  580 

3  076  • 

504 

Oberbayern . 

330  219 

1098 

994 

104 

Niederbayern . 

162  389 

63 

44 

19 

Pfalz . 

155  312 

287 

191 

96 

Oberpfalz  und  Regensburg  .... 

116  864 

92 

80 

12 

Oberfranken . 

135  053 

90 

76 

14 

Mittelfranken . 

177  693 

382 

336 

46 

TJnterfranken  und  Aschaffenburg  .  . 

120  555 

120 

28 

92 

Schwaben  und  Neuburg . 

161  597 

119 

91 

28 

Königreich  Sachsen . 

942  642 

1  525 

1  329 

196 

Württemberg . 

386  531 

1  114 

691 

423 

Baden  . 

362  553 

1  605 

751 

854 

Großherzogtum  Hessen . 

210  947 

714 

590 

124 

Mecklenburg . 

179  463 

126 

88 

38 

Thüringen . 

295  935 

850 

728 

122 

Oldenburg  . 

58  808 

81 

72 

9 

Braunschweig . 

107  203 

344 

294 

50 

Hansestädte . 

244  023 

1439 

1  323 

116 

Elsaß-Lothringen . 

326  361 

618 

502 

116 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Preuß.-Hess. 
Eisenbahngem . 

192  159 

810 

707 

103 

Norddeutsche  Knappsch.-  Pens.-  Kasse 

69  803 

476 

391 

85 

Saarbrücker  Knappschaftsverein  .  . 

30  740 

— 

— 

— 

Arb. -Pens.-Kasse  d.  Iv.  Bayr.  Staats- 
eisenbahnverw . 

23  770 

63 

48 

15 

Arb. -Pens.-Kasse  der  K.  Sächsischen 
Staatseisenbahnen . 

24111 

34 

31 

3 

Allg.  Knappschafts-Pens.-Kasse  f.  d. 
Königr.  Sachsen . 

27  230 

12 

10 

2 

Arb.-Pens.-Kasse  d.  Bad.  Staatseisenb. 
u.  Salinen . 

12  577 

61 

51 

10 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Reichseisen- 
bahnverw . 

12  544 

64 

51 

13 

Allgemeiner  Knappschaftsverein  zu 
Bochum . 

154  687 

409 

309 

100 

Insgesamt  1905 

1  11  813  259 

26  621 

21  788 

4833 

Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh  .-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  357 


Die  Kosten  der  ständigen  im  Jahre  1905  abgeschlossenen  vor¬ 
beugenden  Behandlung  wegen  beginnender  Lungentuberkulose  be¬ 
liefen  sich  bei  den 


V  ersicherungsanstalten 

Kosten 

insgesamt 

M. 

pro  Kopf 
der  mit 
Erfolg 
Behandelten 
M. 

pro  Kopf 
der  ohne 
Erfolg 
Behandelten 

M. 

Ostpreußen . 

84  941 

420 

232 

Westpreußen . 

66  023 

467 

294 

Berlin . 

1  055  144 

510 

231 

Brandenburg  . 

545  585 

465 

217 

Pommern . 

77  698 

483 

164 

Posen . 

146114 

307 

201 

Schlesien . 

442  273 

437 

297 

Sachsen-Anhalt . 

186  382 

397 

205 

Schleswig-Holstein . 

93  320 

278 

217 

Hannover . 

360  322 

360 

221 

Westfalen . 

512  176 

299 

175 

Hessen-Nassau . 

305  624 

306 

218 

Kheinprovinz . 

1  180  190 

357 

165 

Oberbayern . 

114  799 

102 

128 

Niederbayern . 

17  414 

333 

145 

Pfalz . 

97  787 

398 

226 

Oberpfalz  und  Kegensburg  .... 

25  610 

286 

227 

Oberfranken . 

29143 

337 

251 

Mittelfranken . 

114  284 

309 

230 

Unterfranken  und  Aschaffenburg  .  . 

30  644 

277 

249 

Schwaben  und  Neuburg . 

39  818 

363 

241 

Königreich  Sachsen . 

689  310 

484 

237 

Württemberg . 

367  056 

363 

275 

Baden  . 

522  839 

452 

215 

Großherzogtum  Hessen . 

272  459 

432 

142 

Mecklenburg . 

48  851 

444 

256 

Thüringen . 

289  662 

360 

224 

Oldenburg  . 

44  201 

561 

423 

Braunschweig . 

95  330 

297 

162 

Hansestädte . 

623  986 

434 

429 

Elsaß-Lothringen . 

213  395 

377 

210 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Preuß.-Hess. 
Eisenbahngem . 

491  688 

653 

291 

Norddeutsche  Knappsch. -Pens.-Kasse  . 

174  711 

386 

280 

Saarbrücker  Knappschaftsverein  .  . 

— 

• — 

— 

Arb. -Pens.-Kasse  d.  K.  Bayr.  Staats- 
eisenbahnverw . 

21  589 

397 

169 

Arb. -Pens.-Kasse  der  K.  Sächsischen 
Staatseisenbahnen . 

15  243 

461 

314 

Allg.  Knappschafts-Pens.-Kasse  f.  d. 
Königr.  Sachsen . 

3  569 

290 

333 

Arb.-Pens.-Kasse  f.  d.  Bad.  Staatseisenb. 
u.  Salinen . 

34  217 

625 

233 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Keichseisen- 
bahnverw . 

24  433 

405 

290 

Allgemeiner  Knappschaftsverein  zu 
Bochum . . 

221  705 

616 

314 

Insgesamt  1905 

9  679  535 

394 

225 

358 


A.  Grotjahn, 


Umfang  und  Erfolg  der  im  Jahre  1905  abgeschlossenen  Heil¬ 
behandlung  wegen  anderer  Krankheiten  als  Lungentuberkulose 
betrug  bei  den 


V  ersicherungsanstalten 

Behandelte 

Personen 

überhaupt 

Heilerfolg, 
daß  Erwerbs¬ 
unfähigkeit 
im  Sinne  d.  §  5 
Abs.  4  IVG. 
nicht  zu  be¬ 
fürchten  war, 
trat  ein  bei 

Heilerfolg  im 
Sinne  des  §  5 
Abs.  4  IVG. 
wurde  nicht 
erzielt  bei 

Ostpreußen  . . 

2  049 

1554 

495 

Westpreußen . 

730 

536 

194 

Berlin . 

2  392 

2191 

201 

Brandenburg  . 

599 

433 

166 

Pommern . 

441 

310 

131 

Posen . 

714 

669 

45 

Schlesien . 

844 

779 

65 

Sachsen- Anhalt . 

261 

209 

52 

Schleswig-Holstein . 

789 

638 

151 

Hannover . 

1299 

1 150 

149 

Westfalen . 

1089 

1  002 

87 

Hessen-Nassau . 

685 

545 

140 

Rheinprovinz . 

1623 

1371 

252 

Oberbayern . 

807 

697 

110 

Niederbayern . 

114 

69 

45 

Pfalz . . 

166 

90 

76 

Oberpfalz  und  Regensburg  .... 

177 

118 

59 

Oberfranken . 

88 

64 

24 

Mittelfranken . 

111 

83 

28 

Unterfranken  und  Aschaffenburg  .  . 

85 

42 

43 

Schwaben  und  Neuburg . 

93 

62 

31 

Königreich  Sachsen . 

1046 

901 

145 

Württemberg . 

1362 

976 

386 

Baden . 

451 

195 

256 

Großherzogtum  Hessen . 

539 

476 

63 

Mecklenburg . 

172 

136 

36 

Thüringen . .  . 

1353 

1101 

252 

Oldenburg  . 

115 

86 

29 

Braunschweig . 

56 

45 

11 

Hansestädte . 

618 

552 

66 

Elsaß-Lothringen . 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Preuß.-Hess. 

250 

160 

90 

Eisenbahngem . 

558 

517 

41 

Norddeutsche  Knappsch. -Pens. -Kasse  . 

137 

105 

32 

Saarbrücker  Knappschaftsverein  .  . 

— 

— 

— 

Pens.-Kasse  d.  K.  Bayr.  Staatsb.  .  . 

Arb. -Pens.-Kasse  der  K.  Sächsischen 

63 

56 

7 

Staatseisenbahnen . 

Allg.  Knappschafts-Pens.-Kasse  f.  d. 

19 

15 

4 

Königr.  Sachsen . 

6 

3 

3 

Arb.-Pens.-Kasse  f.  d.  Bad.  Staatsb.  . 
Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Reichseisen- 

158 

132 

26 

bahnverw . 

32 

25 

7 

Allg.  Knappschaftsverein  zu  Bochum  . 

231 

172 

59 

Insgesamt  1905 

22  322 

18  265 

4057 

Der  Einfi.  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhaus  wesens.  359 


Die  Kosten  der  ständigen  im  Jahre  1905  abgeschlossenen  vor¬ 
beugenden  Behandlung  wegen  anderer  Krankheiten  als  Lungen¬ 
tuberkulose  beliefen  sich  bei  den 


pro  Kopf 

pro  Kopf 

Kosten 

der  mit 

der  ohne 

V  ersicherungsanstalten 

insgesamt 

Erfolg 

Erfolg 

Behandelten 

Behandelten 

M. 

M. 

M. 

Ostpreußen . 

177  346 

86 

89 

Westpreußen . 

105  933 

146 

143 

Berlin . 

878  239 

375 

280 

Brandenburg  . 

161  090 

297 

196 

Pommern . 

66  872 

159 

134 

Posen . 

120  425 

164 

233 

Schlesien . 

218  611 

265 

192 

Sachsen- Anhalt . 

57  836 

238 

155 

Schleswig-Holstein . 

130  136 

172 

134 

Hannover . 

261  953 

200 

213 

Westfalen . 

169  933 

157 

146 

Hessen-Nassau . 

121  882 

179 

173 

Bheinprovinz . 

337  906 

212 

186 

Oberbayern . 

78  949 

90 

145 

Niederbayern . 

16  023 

177 

85 

Pfalz . 

36  065 

247 

182 

Oberpfalz  und  Regensburg  .... 

20  867 

115 

124 

Oberfranken . 

16  665 

184 

204 

Mittelfranken . 

15  950 

151 

121 

Unterfranken  und  Aschaffenburg  .  . 

8  886 

102 

107 

Schwaben  und  Neuburg . 

16  339 

160 

206 

Königreich  Sachsen . 

236  507 

228 

213 

Württemberg . 

231  648 

172 

165 

Baden . 

67  797 

168 

137 

Großherzogtum  Hessen  . . 

145  841 

280 

198 

Mecklenburg . 

47  599 

289 

232 

Thüringen . 

209  759 

159 

136 

Oldenburg . •  .  .  . 

29  251 

247 

277 

Braunschweig . 

8  536 

154 

145 

Hansestädte . 

172  353 

282 

250 

Elsaß-Lothringen . 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Preuß.-Hess. 

36163 

165 

109 

200 

Eisenbahngem . 

123  467 

223 

Norddeutsche  Knappsch. -Pens.-Kasse  . 

22  148 

149 

202 

Saarbrücker  Knappschaftsverein  .  . 

Arb. -Pens. -Kasse  d.  K.  Bayr.  Staats- 

— 

246 

132 

eisenbahnverw . 

Arb. -Pens.-Kasse  der  K.  Sächsischen 

14  708 

300 

316 

Staatseisenbahnen . 

5  766 

Allg.  Knappschafts-Pens.-Kasse  f.  d. 

Königr.  Sachsen . 

Arb. -Pens.-Kasse  f.  d.  Bad.  Staatseisenb. 

647 

108 

108 

161 

u.  Salinen . 

Pens.-Kasse  f.  d.  Arb.  d.  Reichseisen- 

28  738 

186 

245 

212 

bahnverw . 

7  623 

Allgemeiner  Knappschaftsverein  zu 
Bochum . 

76  735 

380 

193 

Insgesamt  1805 

4  483  192 

209 

163 

360 


A.  Grotjahn, 


Am  Anfang  des  Jahres  1903  besaß:  die  Landesversicherungs¬ 
anstalt  Berlin  1  Lungenheilstätte,  1  Heilstätte  für  geschlechts- 
kranke  Männer  und  2  Sanatorien  für  andere  Kranke  mit  insgesamt 
678  Betten;  die  Landesversicherungsanstalt  Brandenburg 
1  Lungenheilstätte  mit  110  Betten;  die  Landesversicherungsanstalt 
Hannover  3  Lungenheilstätten  und  2  Sanatorien  für  andere 
Kranke  mit  insgesamt  316  Betten;  die  Landesversicherungsanstalt 
Schlesien  3  Sanatorien  mit  zusammen  340  Betten;  die  Landes¬ 
versicherungsanstalt  Baden  1  Lungenheilstätte  mit  122  Betten; 
die  Thüringische  Landesversicherungsanstalt  1  Lungenheilstätte 
und  2  Sanatorien  mit  insgesamt  143  Betten;  die  Landesversiche¬ 
rungsanstalt  Braunschweig  2  Lungenheilstätten  mit  116  Betten- 
die  Landesversicherungsanstalt  der  Hansestädte  2  Lungenheil¬ 
stätten  und  2  Sanatorien  mit  insgesamt  360  Betten;  die  Landes¬ 
versicherungsanstalt  Württemb er g  1  Sanatorium  mit  45  Betten. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  die  Erfolge  der  vorbeugenden  Heil¬ 
behandlung,  wie  sie  in  einem  von  Jahr  zu  Jahr  wachsenden  Maße 
von  den  Versicherungsanstalten  angewandt  wird,  kann  hier  füglich 
unterbleiben,  da  ja  die  Notwendigkeit  und  Zweckmäßigkeit  dieser 
Behandlung  weder  von  medizinischer  noch  von  verwaltungstech¬ 
nischer  Seite  bestritten  wird,  es  vielmehr  nur  noch  Gegenstand 
der  Kontroverse  ist,  welche  chronischen  krankhaften  Zustände 
bei  dieser  Behandlung  vorzugsweise  berücksichtigt  werden  sollen. 
Für  die  Entwicklung  des  Heilstättenwesens  an  sich  ist  diese  Frage 
jedoch  bedeutungslos,  da  ja  innerhalb  des  Betriebes  dieser  Anstalten. 
Verschiebungen  bezüglich  der  Verpflegung  und  Behandlung  je  nach 
dem  augenblicklichen  wissenschaftlichen  Standpunkte  jeder  Zeit  vor¬ 
genommen  werden  können. 

Von  Jahr  zu  Jahr  ist  die  vorbeugende  Krankenhausbehandlung 
in  größerem  Umfange  von  den  Behörden  der  Invalidenversicherung 
angeordnet  worden.  Nach  den  amtlichen  Nachrichten  des  Keichs- 
versicherungsamtes  ist  in  dem  Jahrfünft  von  1897  bis  1902  die 
Zahl  der  wegen  Lungenschwindsucht  in  vorbeugende  Heilstätten¬ 
behandlung  genommenen  Männer  auf  fast  das  Fünffache,  die  Zahl 
der  tuberkulösen  Frauen  auf  nahezu  das  Sechsfache,  die  Anzahl 
der  wegen  anderer  Krankheiten  als  Lungentuberkulose  in  vor¬ 
beugende  Anstaltsbehandlung  genommenen  Männer  um  mehr  als 
das  Doppelte,  die  die  Frauen  um  mehr  als  das  Dreifache  ge¬ 
stiegen. 

Auch  auf  das  pri  vate  Krankenhauswesen  hat  die  vorbeugende 
Heilstättenbewegung  förderlichen  Einfluß  ausgeübt.  Davon  legen 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  3ßp 

folgende  Angaben  Zeugnis  ab:  In  dem  Jahrfünft  1898  bis  1902 
überwiesen  die  Landesversicherungsanstalten  999  Patienten  dem 
Weicker’schen  Krankenheim  für  Lungenkranke  in  Görbersdorf,  473 
Patienten  der  Hettinger’schen  Lungenheilanstalt  in  Nordroch  (Baden), 
198  Patienten  der  Lungenheilanstalt  von  Dr.  Lipp  in  Reichelsheim 
im  Odenwald,  167  Patienten  der  Heilstätte  Waldhof-Elgershausen 
im  Kreise  Wetzlar  von  Dr.  Liebe,  204  Patienten  der  von  Hahn’schen 
Anstalt  in  Sülzhain  im  Südharz,  80  Patienten  dem  Rassenberg’schen 
Sanatorium  für  Lungenkranke  ebendaselbst,  78  Patienten  der 
Lungenheilanstalt  von  Pintschovius  in  Altan brak  am  Harz,  67 
Patienten  der  Brehmer’schen  Heilanstalt  in  Görbersdorf,  228  Pa¬ 
tienten  der  Schmitt’schen  Heilanstalt  in  Lindenfels  im  Odenwald, 
28  dem  Niemöller’schen  Kurhaus  in  Zwischenahn  u.  a.  m. 

Auch  zahlreiche  Krankenanstalten,  die  von  Wohlfahrtsvereinen 
unterhalten  werden,  werden  von  den  Landesversicherungsanstalten 
durch  Zuweisung  von  Patienten  unterstützt  und  so  mit  festen  Ein¬ 
nahmen  versehen.  In  den  Jahren  von  1898  bis  1902  überwiesen 
die  Landesversicherungsanstalten  u.  a.  686  Patienten  der  Volks¬ 
heilstätte  vom  Roten  Kreuz  am  Grabowsee  bei  Oranienburg,  432 
Patienten  der  Volksheilstätte  Vogelsang  (bei  Gommern)  des  Vater¬ 
ländischen  Frauenvereins  Oberkaufungen  (bei  Kassel),  149  Patienten 
dem  Johanniterhospital  Plön,  39  Patienten  dem  Johanniterhospital 
Altena  i.  W.,  403  Patienten  dem  Augusta- Viktoriastift  in  Lipp- 
springe,  123  Patienten  dem  Augusta- Viktoriaheim  zu  Eberswalde, 
110  Patienten  der  Lungenheilstätte  des  Bergischen  Vereins  für 
Gemeinwohl  in  Honnef,  80  Patienten  der  Heilstätte  Luitpoldheim 
bei  Lohr  a.  M.,  46  der  Lungenheilstätte  des  Berlin-Brandenburger 
Heilstätten  Vereins  zu  Belzig,  17  der  Heilstätte  des  Kölner  Heil¬ 
stättenvereins  in  Rosbach  (Rheinprovinz),  24  Patienten  der  Heil¬ 
stätte  des  Magdeburger  Vereins  zur  Bekämpfung  der  Lungen¬ 
schwindsucht  in  Loslau. 

Die  vorbeugende  Krankenhauspflege  wird  voraussichtlich  auch 
in  der  Zukunft  von  den  Landesversicherungsanstalten  ausgebaut 
werden.  Erst  die  Erfahrungen  von  Jahrzehnten,  die  gegenwärtig 
noch  ausstehen,  können  uns  genauer  Aufschluß  geben,  welche 
Krankheiten  die  beste  Aussicht  bei  der  die  Invalidität  vorbeugen¬ 
den  Behandlung  gewährleisten.  Erst  wenn  diese  Erfahrungen,  von 
Fachleuten  verarbeitet,  vorliegen ,  wird  man  Regeln  aufstellen 
können,  die  sowohl  den  medizinischen  wie  den  fiskalischen  Gesichts¬ 
punkten  entsprechen.  Wie  auch  die  vorbeugende  Krankenhaus¬ 
pflege  sich  dereinst  qualitativ  entwickeln  wird,  jedenfalls  kann 


362 


A.  Grotjahn, 


man  schon  heute  Voraussagen,  daß  sie  sich  quantitativ  von  Jahr 
zu  Jahr  ausdehnen  wird. 

Endlich  deuten  Anzeichen  darauf  hin,  daß  neben  der  vorbeugen¬ 
den  Krankenhauspflege  in  Zukunft  die  Landesversicherungsanstalten 
mehr  der  Einrichtung  von  Invalidenheimen,  in  denen  auf  Grund  des 
§  25 IVG.  der  zum  Rentenbezug  Berechtigten  eine  dauernde  Unterkunft 
geboten  wird,  ihr  Interesse  zu  wenden  werden.  Die  Kostspieligkeit,  die 
wir  leider  an  unseren  modernen  Krankenhaus-  und  Heilstättenbauten 
als  unvermeidlich  anzusehen  uns  gewöhnt  haben,  ist  bei  den  Invaliden¬ 
häusern  durchaus  zu  vermeiden,  da  einfache  Wohnhäuser  für  eine 
beschränkte  Anzahl  von  Insassen  (20 — 25)  durchaus  genügen.  Es 
brauchen  gar  keine  Neubauten  zu  sein;  sondern  ältere  Wohnhäuser 
können  ganz  gut  den  neuen  Zwecken  angepaßt  werden.  Mit  1,50 
pro  Tag  höchstens  müssen  die  Kosten  für  den  Pflegling  sich  be¬ 
streiten  lassen.  Die  Einrichtung  besonderer  Invalidenheime  durch 
die  Versicherungsanstalten  wird  natürlich  dadurch  gehemmt,  daß 
der  Aufwand  für  einen  Pflegling  in  einem  Heim  auch  bei  denkbar 
sparsamster  Einrichtung  immer  sich  noch  erheblich  teurer  stellt, 
als  der  Betrag  der  Rente  ist.  Das  Reichsversicherungsamt  steht 

aber  gegenwärtig  der  Einrichtung  besonderer  Invalidenheime  wie 

•  • 

der  Überweisung  von  Rentenempfängern  an  andere  Anstalten  durch¬ 
aus  wohlwollend  gegenüber.  Wenigstens  sind  die  erforderlichen 
Satzungsänderungen  und  die  von  den  einzelnen  Versicherungsanstalten 
erlassenen  Ausführungsbestimmungen  stets  genehmigt  worden. 

Der  §  45  des  Invalidenversicherungsgesetzes  vom  13.  Juli  1899 
erlaubt  den  Landesversicherungsanstalten,  die  Überschüsse  des 
Sondervermögens  auch  zu  anderen  als  den  im  Gesetze  vorgesehenen 
Leistungen  im  wirtschaftlichen  Interesse  der  Rentenempfänger, 
Versicherten,  sowie  ihrer  Angehörigen  zu  verwenden.  Diese  Er¬ 
laubnis  ist  dem  Anstaltswesen  sehr  zugute  gekommen,  indem  viele 
Versicherungsanstalten,  die  keine  eigenen  Krankenhäuser  oder  Heil¬ 
stätten  gebaut  haben,  doch  Wohlfahrtsver einen  durch  Herleiliung 
von  Kapital  zu  niedrigem  Zinsfuß  den  Bau  von  Heilstätten  ermög¬ 
licht  oder  erleichtert  haben.  Die  Gesamtsumme,  die  von  den  In¬ 
validenversicherungsanstalten  bis  Ende  1902  zugunsten  gemein¬ 
nütziger  Zwecke  angelegt  worden  ist,  betrug  323  Mill.  Mk.  Nach 
dem  Geschäftsbericht  des  deutschen  Zentralkomitees  zur  Errichtung 
von  Heilstätten  für  Lungenkranke  von  1904  entfielen  davon  auf 
die  Landwirtschaft  (Hypotheken,  Kleinbahnen,  Land-  und  Wege¬ 
verbesserungen,  Hebung  der  Viehzucht,  Linderung  der  Futternot  usw.) 
mehr  als  67  Mill.  Mk.,  auf  Kranken-  und  Genesungshäuser,  Volks- 


Der  Einfl.  d.  soz.  Versich.-Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Krankenhauswesens.  363 

heilstätten,  Gemeindepflegestationen,  Volksbäder,  Kleinkinderschulen, 
Schlachthäuser,  Kanalisationsanlagen  und  ähnliche  Wohlfahrtsein¬ 
richtungen  nahezu  128  Mill.  Mk.,  auf  den  Bau  gesunder  Arbeiter¬ 
wohnungen  103  Mill.  Mk.  und  endlich  auf  eigene  Krankenhäuser, 
Heilstätten  und  Invalidenhäuser  der  Versicherungsträger  rund  24 
Mill.  Mk.  Diese  Aufstellung  legt  zwar  ein  Zeugnis  ab  für  das 
erfreuliche  Interesse  der  Landes  Versicherungsanstalten  für  das 
Krankenhaus-  und  Heilstättenwesen  und  die  Höhe  der  zu  deren 
Gunsten  hergeliehenen  Kapitalien,  zeigt  uns  aber  auch  anderer¬ 
seits,  daß  die  Versicherungsanstalten  in  großem  Maßstabe  Unter¬ 
nehmen  finanziell  stützen,  die,  wie  Hebung  der  Viehzucht,  Wege¬ 
verbesserungen,  Bau  von  Kleinbahnen  mit  den  Zwecken  der  sozialen 
Versicherungsgesetzgebung  keinen  oder  doch  nur  einen  sehr  lockeren 
Zusammenhang  haben.  Aus  diesem  Grunde  dürfte  in  §  45  das 

Wort  „wirtschaftlich“  zu  beanstanden  sein.  Hoffentlich  wird  es 
•  • 

bei  einer  Änderung  des  Gesetzes  in  „hygienisch“  umgewandelt  und 
im  Gesetz  selbst  festgestellt,  daß  ein  bestimmter  hoher  Prozentsatz, 
50  oder  75  Proz.  der  Überschüsse  für  die  Förderung  des  Anstalts¬ 
wesens  Verwendung  finden  müsse.  Der  §  45  ließe  sich  sogar  auf 
die  Fürsorge  für  die  bedrohten  Kinder  der  erkrankten  Versicherten 
anwenden.  Es  erhellt  daraus,  in  wie  umfassender  Weise  sich  in 
Zukunft  die  Invalidität  vorbeugende  Anstaltspflege  durch  Verfolgung 
der  in  der  Invalidenversicherungsgesetzgebung  ruhenden  Tendenzen 
ausbauen  ließe  und  wie  enge  Beziehungen  sich  zwischen  Kranken¬ 
hauswesen  und  Versicherungsgesetzgebung  auch  bei  diesem  Zweige 
der  Arbeiterversicherung  ergeben.  Doch  ist  immer  noch  fraglich, 
ob  die  Landesversicherungen  gut  daran  tun,  eigene  Anstalten  zu 
bauen  und  zu  betreiben  oder  ob  sie  nicht  auch  besser  fahren,  wenn 
sie  kommunale  oder  Landesanstalten  beschicken.  Die  bisherigen 
Erfahrungen  sprechen  mehr  für  das  letztere  Verfahren,  da  die 
eigenen  Anstalten  außerordentlich  teuer  im  Bau  und  im  Betrieb 
zu  stehen  kommen. 

Leitsätze. 

1.  Die  soziale  Versicherungsgesetzgebung  hat  auf  die  Entwick¬ 
lung  des  Krankenkassenwesens  einen  sehr  großen  Einfluß  ausgeübt 
und  die  Krankenhauspflege  erst  in  Deutschland  volkstümlich  ge¬ 
macht. 

2.  Die  Krankenversicherung  hat  insbesondere  zur  Vermehrung 
und  Verbesserung  der  allgemeinen  Krankenhäuser  beigetragen  und 
diesen  den  Charakter  der  Armenanstalten  abstreifen  helfen. 


304  Der  Einfl.  d.  soz.  Versieh. -Gesetzgeb.  auf  d.  Entwickl.  d.  Kraukenhanswesens. 

3.  Die  Unfallversicherung  hat  die  Vermehrung  und  Verbesse¬ 
rungen  der  chirurgischen  Abteilungen  der  allgemeinen  Kranken¬ 
häuser  angeregt  und  diese  genötigt,  neben  der  chirurgischen  auch 
die  funktionelle  Heilung  der  Unfallverletzten  mit  Nachdruck  zu 
betreiben. 

4.  Die  Invalidenversicherung  hat  eine  ganz  neue  Art  von  Kranken¬ 
hausfürsorge,  die  vorbeugende  Anstaltsbehandlung,  inauguriert. 

5.  Um  die  fördernde  und  anregende  Wirkung  der  Versiche¬ 
rungsgesetzgebung  auf  die  Ausbreitung  und  Differenzierung  des 
Krankenkassenwesens  auch  in  Zukunft  tätig  zu  erhalten,  muß  bei 
einer  kommenden  Zentralisierung  des  Versicherungswesens  ver¬ 
mieden  werden,  daß  die  Versicherungskörperschaften  eigene  An¬ 
stalten  bauen,  da  eine  Spezialisierung  des  Anstaltswesens  zweck¬ 
mäßig  nach  der  Art  der  zu  behandelnden  Kranken  aber  nicht  nach 
der  der  errichtenden  Instanzen  anzustreben  ist. 


Medizinalstatistische  Daten. 

1.  Beziehungen  zwischen  sozialer  Lage  und  Sterblichkeit  an 

Krebs  und  Schwindsucht. 

In  dem  S.  272  zitierten  Londoner  Medizinalbericht  findet  sich  eine  Erhebung 
über  die  Höhe  der  Sterblichkeit  an  Krebs  und  Schwindsucht  während  der  Jahre 
1901 — 1904  in  den  einzelnen  Londoner  Bezirken,  die  nach  der  Zahl  der  in  über¬ 
füllten  Wohnungen  lebenden  Einwohner  geordnet  sind.  Es  wird  dabei  darauf  hin¬ 
gewiesen,  daß  allerdings  die  Keichen  Gelegenheit  haben,  die  besten  und  erfahrensten 
Arzte  zu  befragen,  dies  aber  dadurch  bei  den  Armen  ausgeglichen  werde,  daß 
für  diese  öffentliche  Anstalten  in  großer  Fülle  vorhanden  sind.  Bei  der  Berechnung 
ist  die  verschiedene  Altersbesetzung  der  Bevölkerung  der  einzelnen  Bezirke  be¬ 
rücksichtigt,  es  wurden  Standardziffern  berechnet  unter  Zugrundelegung  der  Alters¬ 
verhältnisse  der  Bevölkerung  von  ganz  London. 


Bezirke,  in  denen 
von  100  Bewohnern 
in  überfüllten  Woh¬ 
nungen  leben 

Sterblichkeit  an  Lungen¬ 
schwindsucht 

1  -  -  - 

Sterbefälle 
auf  10000  co 
Einw.  % 

H-1  • 
« 
& 

Standard- 
Sterblichkeit  ^ 

p 

p 

W 

Verhältnis-  % 

zahl  (London  gf 

=  100) 

Sterbe¬ 
fälle  auf 
10000 
Einw. 

Standard- 

Sterb¬ 

lichkeit 

V  erhält- 
niszahl 
(London 
=  100) 

unter  7.5  Prozent 

11,2 

11,3 

70 

9,4 

9,3 

101 

7,5 — 12,5  „ 

14,2 

14,4 

89 

9,1 

9.2 

100 

12,5-20,0  „ 

15,4 

15,1 

94 

9,6 

9,1 

99 

20,0-27,5  „ 

21,6 

20,8 

129 

9,9 

9,6 

104 

über  27,5  „ 

21,2 

22,2 

138 

8,0 

9,0 

98 

Ganz  London 

16,1 

16,1 

100 

9,2 

9,2 

100 

Wie  man  sieht,  ist  die  soziale  Lage  ohne  Einfluß  auf  die  Krebshäufigkeit, 
während  sie  für  das  Vorkommen  der  Tuberkulose  von  weittragender  Bedeu¬ 
tung  ist. 


2.  Die  Zahl  der  Gebrechlichen. 

Bei  den  englischen  Volkszählungen  werden  auch  die  Gebrechen  erhoben.  In 
Großbritannien  und  Irland  werden  nur  die  Irrsinnigen,  Blinden  und  Taubstummen 
mit  annähernder  Sicherheit  ermittelt,  während  die  infolge  von  Krankheit,  Unfall, 
Alter  usw.  Gebrechlichen  daselbst  nur  ganz  unvollständig  erhoben  werden.  Viel 


366 


Medizinalstatistische  Daten. 


besser  sind  die  Zählungen  der  letzteren  im  Kapland  und  in  Australien;  nach  dem 
Census  of  the  British  Empire  für  1901  (London  1906)  kamen  auf  1000  Einwohner 
Gebrechliche  dieser  Art 


männlich 

weiblich 

Kapland 

10,7 

6,5 

Neusüdwales 

14,9 

8,1 

Victoria 

20,8 

13,1 

Queensland 

11,0 

7,2 

Südaustralien 

12,7 

8,6 

Westaustralien 

12,6 

7,1 

Tasmanien 

18,1 

13,5 

Neuseeland 

15,0 

8,0 

Für  einige  dieser  Staaten  ist  die  Art  des  Gebrechens  nach  Alter  und  Ge¬ 
schlecht  ausgezählt,  am  eingehendsten  wurden  die  Erhebungen  in  Neuseeland 
verwertet  (ohne  Einbeziehung  der  Maoris).  Nach  den  Zahlen  des  Zensus  von  1901 
wurden  von  mir  die  folgenden  Verhältnisziffern  für  Neuseeland  berechnet: 


Auf  je  10000  Lebende  kommen  Gebrechen 


infolge  von 

0—15 

Jahre 

15—30 

Jahre 

30-40 

Jahre 

40—50 

Jahre 

50—60 

Jahre 

60—70 

Jahre 

üb.  70 
Jahre 

Zus. 

Männliches  Geschlecht 

Krankheiten,  genannte 

5,4 

20,9 

20,5 

32,7 

58,7 

158,3 

344,4 

34,7 

„  ungenannte 

10,7 

28,2 

39,1 

50,1 

91,1 

240,9 

380,8 

50,7 

Unfall 

7,2 

30,9 

26,3 

38,8 

53,0 

88,3 

121,4 

30,3 

Taubstummheit 

3,9 

3.5 

3,3 

2,7 

2,7 

1,3 

1,1 

3,3 

Blindheit 

1,5 

2’5 

5,4 

5,2 

16,5 

32,6 

81,6 

7,3 

Geisteskrankheit 

1,1 

16,2 

53,0 

95,6 

126,4 

107,8 

101,5 

39,4 

Idiotie 

0,9 

2,5 

1,3 

1,0 

0,3 

1,3 

1,1 

1,4 

Epilepsie 

0,9 

2,1 

3,0 

0,5 

1,7 

2,6 

3,3 

1,7 

Lähmung 

0,9 

2,3 

2,8 

5,6 

8,6 

40,0 

58,5 

6,1 

Verkrüppelung 

1,9 

4,8 

4,2 

4,7 

10,7 

17,4 

18,8 

5,2 

Schwäche 

0,4 

0,8 

1.3 

2,2 

9,0 

70,8 

429,4 

15,0 

Taubheit  allein 

0,7 

3,7 

4,8 

4,9 

12,9 

23,9 

56,3 

6,0 

überhaupt 

35,5 

118,4 

165,0 

244,0 

390,7 

785,2 

1598,2 

201,1 

Weibliches  Geschlecht 

Krankheiten,  genannte 

5,5 

25,3 

31,6 

38,3 

54,6 

116,7 

276,9 

29,8 

„  ungenannte 

9,0 

26,2 

38,0 

41,9 

69,6 

123,9 

139,2 

31,4 

Unfall 

2,7 

5,1 

6,2 

8,3 

10,1 

20,6 

45,8 

6,3 

Taubstummheit 

2,4 

2,6 

3,3 

1,9 

2,8 

1,4 

3,2 

2,5 

Blindheit 

1,3 

1,6 

1,9 

6,1 

9,1 

25,6 

60,6 

4,3 

Geisteskrankheit 

0,9 

12,7 

44,5 

81,8 

102,8 

112,5 

86,8 

29,3 

Idiotie 

0,7 

1,5 

2,1 

1.9 

0,9 

1,4 

1,5 

1,3 

Epilepsie 

0,8 

1,5 

1,2 

1,0 

2,3 

1,4 

1,2 

Lähmung 

0,9 

0,9 

1,4 

2,2 

13,7 

34,2 

49,1 

4,0 

Verkrüppelung 

0,9 

1,5 

2,0 

1,6 

3,7 

4,3 

3,2 

1,6 

Schwäche 

0,1 

1,9 

2,7 

4,4 

15,5 

49,1 

272,0 

8,7 

Taubheit  allein 

0,5 

3,1 

4,1 

6,7 

13,3 

19,2 

50,7 

4,6 

überhaupt 

|  25,7 

83,9 

139,0 

196,1 

298,4 

510,3 

989,0 

125,0 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  367 

Die  Zahlen  der  Gebrechlichen  in  den  ersten  Jugendjahren  sind  stets  unvoll¬ 
ständig,  da  manche  Gebrechen  in  ihrem  vollen  Umfang  erst  beim  Eintritt  in  die 
Schule  oder  bei  der  Berufswahl  erkannt  werden.  Wie  rasch  viele  Gebrechen  mit 
dem  Alter  zahlreicher  werden,  ist  deutlich  ersichtlich;  bei  allen  Gebrechen  sind 
die  Verhältniszahlen  beim  weiblichen  Geschlecht  höher,  und  zwar  meist  erheblich 
höher  als  beim  männlichen. 

F.  Prinzing. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  25.  Oktober  1906. 

V orsitzender :  Herr  M a y e t.  Schriftführer :  Herr  R.  Lennhoff. 

Herr  Th.  Sommerfeld  trägt  vor  über  „das  Verbot  der  Verwendung 
des  weißen  Phosphors  in  der  Ziindholzindustrie44. 

Wenn  durch  einen  Bergsturz  oder  durch  Explosion  von  Schlagwettern 
Hunderte  von  Bergleuten,  von  der  Außenwelt  abgeschlossen,  durch  giftige  Gase, 
Feuer  oder  die  Gewalt  der  umhergeschleuderten  Massen  jäh  dahingerafft  werden, 
so  durcheilt  diese  Trauerbotschaft  mit  Blitzesschnelle  die  gesamte  Kulturwelt, 
und  jedes  fühlende  Herz  beklagt  nicht  nur  die  Opfer  ihres  Berufes,  sondern  ist 
auch  bereit,  die  Not  der  ihrer  Ernährer  beraubten  Witwen  und  Waisen  zu  lin¬ 
dern.  Das  Plötzliche ,  das  mit  elementarer  Gewalt  Hereinbrechende  ist  es ,  was 
des  Menschen  Gemüt  hier  so  mächtig  packt;  man  forscht  eifrig  nach  den  Ur¬ 
sachen  des  Unglücks,  fordert  stürmisch  die  Bestrafung  der  Schuldigen  und  ruft 
von  allen  Seiten  mit  kräftiger  Stimme  nach  behördlichen  Maßnahmen,  um  gleichen 
Ereignissen  für  die  Zukunft  vorzubeugen.  Doch  was  bedeuten  die  Hunderte  oder 
Tausende,  welche  auf  diese  oder  andere  Weise  tödlich  verunglücken,  was  selbst 
die  Zehntausende,  welche  infolge  von  Betriebsunfällen  körperliche  Schädigungen 
mit  teilweiser  oder  auch  gänzlicher  Erwerbsunfähigkeit  davontragen,  gegenüber 
der  unabsehbaren  Zahl  derjenigen,  die  durch  die  allmähliche  Einwirkung  des  mit 
der  Ausübung  zahlreicher  Berufe  verbundenen  Schädlichen  ihre  Gesundheit  und 
oft  auch  ihr  Leben  einbüßen?!  In  meinem  Handbuch  der  Gewerbekrankheiten 
glaube  ich  durch  umfangreiche  tabellarische  Übersichten,  deren  Ergebnisse  sich 
mit  den  Forschungen  anderer  Gewerbehygieniker  decken,  den  Beweis  erbracht 
zu  haben,  daß  zahllose  Arbeiter  durch  die  Beschäftigung  in  geschlossenen  Räumen, 
namentlich  in  sitzender,  vornübergebeugter  Haltung,  chronische  Erkrankungen 
der  Atmungsorgane  erwerben,  daß  insbesondere  jene  Arbeiter,  welche  berufsmäßig 
reichliche  Mengen  eines  scharfen,  zackigen,  spitzen  Staubes  einzuatmen  verurteilt 
sind,  zu  einem  sehr  erheblichen  Prozentsätze  allmählich  der  Lungentuberkulose 
anheimfallen.  Sterben  doch  von  100  Steinmetzen  und  Steinbildhauern  an  dieser 
Geisel  des  Menschengeschlechtes  nach  meiner  Berechnung  nicht  weniger  als  89, 
von  100  Stahlschleifern  75,  von  100  Kürschnern,  Hutmachern,  Schiefergriffel- 

x)  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  44  u.  49, 
1906  der  „Medizinischen  Reform“,  herausg.  von  R.  Lennhoff. 


368  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

arbeitern,  Drechslern  60 — 70,  von  100  Porzellanarbeitern,  Tischlern,  Vergoldern 
und  Glasschleifern  50—60!  Wenn  indessen  diese  den  Stolz  des  Menschen  als 
Krone  der  Schöpfung  demütigenden  Erfahrungen,  ebenso  wie  die  betrübende  Tat¬ 
sache,  daß  zahllose  Tausende  von  Arbeitern  durch  das  Hantieren  mit  gewerb¬ 
lichen  Giften  schwere  Einbuße  an  ihrer  Gesundheit  erleiden  und  oft  im  kräftigen 
Mannesalter  elend  dahinsiechen,  von  der  Allgemeinheit  schweigend  hingenommen 
werden,  so  findet  diese  auffallende,  ungerechtfertigte  Geringschätzung  der  inneren 
Berufsschädigungen  gegenüber  den  Unfallverletzungen  lediglich  in  dem  Umstande 
eine  Erklärung,  daß  erstere  nicht  wie  die  Unfälle  sich  mit  elementarer  Gewalt 
kundgeben  und  eben  noch  blühende  Menschen  verstümmeln  oder  dahinraffen, 
sondern  ihre  Wirkung  nur  langsam  schleichend  entfalten,  um  ihre  Opfer  dann 
desto  sicherer  zu  verderben.  Zudem  reicht  die  Kenntnis  der  inneren  Berufs¬ 
schädigungen  nicht  weit  über  die  Kreise  der  Arzte,  Sozialhygieniker  und  Kranken¬ 
versicherungsanstalten  hinaus,  was  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  als  die  allge¬ 
meine  Kenntnis  dieser  Verhältnisse  die  Volksseele  aufrütteln,  das  soziale  Emp¬ 
finden  der  maßgebenden  Kreise  verschärfen  und  hierdurch  ein  tatkräftigeres  Ein¬ 
greifen  der  Regierungen  zeitigen  würde.  Augenblicklich  steht  im  Vordergründe 
des  Interesses  die  Bekämpfung  der  Giftgefahr  in  gewerblichen  Betrieben,  und 
ich  werde  mir  mit  Erlaubnis  unseres  verehrlichen  Vorstandes  heute  gestatten, 
über  den  Stand  der  Phosphorfrage  zu  berichten.  Wenn  gegenüber  dem  Blei  und 
manchen  anderen  gewerblichen  Giften  der  weiße,  nach  Lichteinwirkung  gelblich 
durchscheinende  Phosphor  bezüglich  des  Umfanges  seiner  Verwendung  auch  weit 
in  den  Hintergrund  tritt,  so  hat  er  vor  jenen  doch  den  bedauerlichen  Vorzug 
voraus,  daß  er  schon  in  kleinsten  Mengen  die  schwersten  Vergiftungen  auszu¬ 
lösen  vermag. 

Die  hauptsächlichste  Verwendung  findet  der  Phosphor  zur  Fabrikation  von 
Zündmitteln,  besonders  in  der  Phosphorzündholzindustrie. 

Seinen  Eingang  in  den  Körper  findet  hier  das  Gift  teils  durch  die  Phosphor¬ 
dämpfe,  welche  sich  trotz  weitgehendster  Vorbeugungsmaßregeln  in  selbst  vor¬ 
züglich  geleiteten  Fabriken  erfahrungsgemäß  nicht  gänzlich  verhüten  lassen,  zum 
Teil  auch  dadurch,  daß  die  mit  phosphorhaltiger  Masse  verunreinigten  Finger 
an  den  Mund  gebracht  werden  und  das  Gift  von  hier  aus  in  die  Verdauungs¬ 
wege  und  in  den  Blutkreislauf  gelangt.  Mit  und  auch  völlig  ohne  Vermittelung 
einer  Zahnfäulnis  (caries  dentium)  erkranken  die  Arbeiter  vereinzelt  bald  nach 
Aufnahme  ihrer  Beschäftigung,  in  der  Regel  jedoch  erst  nach  mehrjähriger  Tätig¬ 
keit;  zudem  sind  in  der  Literatur  Fälle  beschrieben,  in  denen  Arbeiter  noch  3 
bis  5  Jahre  und  selbst  noch  längere  Zeit  nach  dem  Aussetzen  ihrer  Beschäftigung 
in  der  Zündholzindustrie  zum  erten  Male  an  Phosphorvergiftung  erkrankt  sind. 

Da  ich  es  für  wahrscheinlich  halte,  daß  die  Mehrzahl  unter  Ihnen  die  Phos¬ 
phornekrose  in  natura  noch  nicht  gesehen  hat,  gestatte  ich  mir,  Ihre  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  die  ausgestellten  Präparate  zu  lenken.  Sie  erkennen  an  den  Präpa¬ 
raten  die  von  mir  in  Kürze  angedeuteten  tiefen  Zerstörungen  der  knöchernen 
und  fleischigen  Teile  am  Unterkiefer  und  in  dessen  Umgebung;  auch  sehen  Sie 
neugebildete  Knochenmassen,  sowie  die  sogenannte  Todenlade  mit  dem  Se¬ 
quester.  Was  nunmehr  die  Verbreitung  der  Phosphornekrose  anbelangt,  so  müssen 
wir  daran  festhalten,  daß  unsere  Kenntnis  hierüber  recht  mangelhaft  ist,  denn 
einerseits  finden  über  diese  Frage  in  einzelnen  Ländern  überhaupt  keine  Er¬ 
hebungen  statt,  andererseits  entsprechen  die  Fälle,  die  zur  amtlichen  Kenntnis 
gelangen,  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  fast  aller  Forscher  nicht  der  Wirk- 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  309 

\ 

lichkeit,  sondern  bleiben  hinter  dieser  vermutlich  weit  zurück.  In  Deutschland 
berichten  die  Gewerbeinspektoren,  denen  man  ein  Verständnis  für  die  Schädioumo-en 
der  Arbeiter  wahrlich  nicht  absprechen  darf,  alljährlich  nur  über  vereinzelte  Fälle 
von  Phosphorvergiftung;  in  England  sollen  nach  den  Berichten  der  Certifying 
surgeons  (Amtsärzte)  in  der  Zeit  von  1900  bis  1903  nur  9  Fälle,  davon  4  mit 
tödlichem  Ausgange,  sich  ereignet  haben,  und  auch  in  den  jüngsten  Jahren  soll 
die  chronische  gewerbliche  Phosphorvergiftung  nur  ganz  vereinzelt  aufgetreten 
sein,  seit  der  Berner  Staatenkonferenz  im  Jahre  1905  nur  in  3  Fällen.  Derartige 
amtliche  Erhebungen,  die  sich  doch  nur  auf  das  stützen  können,  was  gerade  zur 
Kenntnis  der  Aufsichtsbeamten  gelangt,  können  gar  nicht  den  wirklichen  Umfang 
der  Schädigung  erfassen.  Der  einzig  richtige  Weg,  den  auch  ich  bei  der  Fest¬ 
stellung  der  hygienischen  Lage  der  Steinhauer,  der  Porzellanarbeiter,  der  Schiefer¬ 
griffelarbeiter,  der  Perlmutterdrechsler  und  der  Schriftgießer  gegangen  bin,  ist 
eine  spezielle  Untersuchung  am  Sitze  der  Industrie  durch  einen  sachkundigen 
Arzt.  Herrn  Telekv,  einem  der  österreichischen  Delegierten  auf  der  diesjährigen 
Versammlung  der  internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz, 
gebührt  das  Verdienst,  in  der  vorgezeichneten  Weise  vorgegangen  zu  sein.  Er 
beschränkte  anfangs  seine  Untersuchungen  auf  einen  kleinen  Bezirk  in  Böhmen.  In 
insgesamt  8  Fabriken  waren  in  den  letzten  10  x/2  Jahren  46  Fälle  von  Phosphor¬ 
nekrose  vorgekommen,  9  mit  tödlichem  Ausgange;  aus  früheren  Zeiten  konnte 
er  weitere  31  Fälle  feststellen.  57  Kranke  hat  er  selber  gesehen  und  untersucht. 
Trotzdem  der  Bezirk  des  zuständigen  Gewerbeinspektors  bei  weitem  größer  war 
als  der,  auf  dem  T.  seine  Untersuchungen  anstellte,  gelangten  im  letzten 
Jahrzehnt,  1896—1905,  doch  nur  19  Fälle  zur  amtlichen  Kenntnis,  wobei  noch 
besonders  hervorgehoben  werden  muß,  daß  gerade  der  Gewerbeinspektor  von  Bud- 
weis  der  Phosphorfrage  ein  sehr  großes  Interesse  entgegenbringt.  Die  gleichen 
Besultate  zeitigten  Teleky’s  jüngste  Untersuchungen  in  Steiermark,  woselbst 
er  aus  2  Fabriken  mit  je  200 — 250  Arbeitern  9  frische  Phosphorerkrankungen 
aus  den  Jahren  1905  und  1906  feststellen  konnte.  Im  ganzen  sind  aus  diesen 
2  Fabriken  in  den  letzten  10  Jahren  22  Fälle  von  Nekrose  hervorgegangen, 
während  der  Gewerbeinspektor  aus  seinem  ganzen  Aufsichtsbezirke,  der  6  Phosphor¬ 
zündholzfabriken  umfaßt,  nur  von  9  Fällen  Kenntnis  erhielt.  Sechs  Jahrzehnte 
sind  vergangen,  seitdem  Lorinser  in  den  Medizinischen  Jahrbüchern  des  K.  K. 
österreichischen  Staates  die  nekrotische  Zerstörung  der  Kieferknochen  auf  die 
Einwirkung  des  weißen  Phosphors  zurückführte.  Er  berichtete  damals  über  9 
Fälle  von  Nekrose,  von  denen  5  tödlich  verliefen.  In  späteren  Jahren  konnte  er 
Hirt  über  weitere  126  Fälle  Mitteilung  machen.  Bald  nach  Lorinser ’s  erster 
Publikation  kamen  weitere  Mitteilungen  aus  den  verschiedensten  Landesteilen 
Österreichs  und  auch  aus  anderen  Ländern,  so  daß  die  Begierungen  nunmehr  der 
Frage  nähertreten  mußten,  wie  der  furchtbaren  Wirkung  des  Phosphors  mit  Er¬ 
folg  entgegengetreten  werden  könnte.  Nach  und  nach  wurden  in  fast  allen 
Kulturstaaten  Gesetze  erlassen,  welche  der  gewerblichen  Schädigung  der  Arbeiter 
durch  gesundheitsgemäße  Ausgestaltung  der  Arbeitsräume  und  Arbeitsweise 
sowie  durch  Belehrung  der  Arbeiter  zu  steuern  suchten.  Aber  weder  die  Trennung 
der  einzelnen  Arbeitsräume  noch  die  Anordnung  einer  bestimmten  Höhe  und 
eines  Mindestluftraumes  für  die  einzelnen  Betriebsräume  noch  auch  die  Begelung 
der  Ventilation  und  Reinigung  und  die  Überwachung  des  Gesundheitszustandes 
der  Arbeiter  waren  imstande,  Vergiftungen  völlig  auszuschalten.  In  dieser  Er¬ 
kenntnis  sahen  sich  einzelne  Länder  genötigt,  zu  dem  einzig  rationellen  Aushilfs- 
Zeitschrift  für  Soziale  Medizin.  II.  ^ 


370  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

mittel  zu  greifen,  d.  h.  den  weißen  Phosphor  für  die  Herstellung  von  Zünd¬ 
hölzchen  gänzlich  zu  untersagen.  So  gingen  der  Eeihe  nach,  Dänemark,  die 
Schweiz,  die  Niederlande,  Frankreich  und  jüngst  auch  Deutschland  vor.  In  dem 
Kampfe  gegen  den  weißen  Phosphor  haben  auf  Grund  ihrer  Erfahrung  immer  in 
erster  Keihe  die  Ärzte  gestanden,  aber  wirksamer  als  deren  Anstrengungen  waren 
die  Bemühungen  der  Internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz. 
Sogleich  hei  ihrer  Begründung  hat  die  Vereinigung  die  Frage  der  Bekämpfung 
des  weißen  Phosphors  als  eine  der  dringendsten  Aufgaben  ins  Auge  gefaßt  und 
auf  Grundlage  sorgfältiger  Vorarbeiten  ihr  Bureau  in  Basel  beauftragt,  an  den 
hohen  Schweizerischen  Bundesrat  mit  der  Bitte  heranzutreten,  er  möge  die  Initia¬ 
tive  ergreifen,  auf  dem  Wege  einer  internationalen  Vereinigung  die  Verwendung 
des  weißen  Phosphors  bei  der  Herstellung  von  Zündhölzchen  zu  verbieten.  Die 
Frucht  dieser  Bemühungen  war  die  Berner  Konferenz  im  Jahre  1905.  Die  hier 
gegen  das  gewünschte  Verbot  geltend  gemachten  Bedenken  gipfelten  namentlich 
darin,  daß  die  Konkurrenz  Japans  in  Ostasien  zu  befürchten  sei.  Nur  unter 
großen  Schwierigkeiten  gelang  es,  manche  Exportstaaten  dazu  zu  bewegen,  von 
der  weitergehenden  Forderung  abznstelien ,  daß  nämlich  auch  die  Zustimmung 
der  Absatzgebiete,  insbesondere  der  Balkanstaaten,  Ägyptens,  Ostindiens  zum 
Verbote  erforderlich  wäre.  Es  gaben  schließlich  die  Begierungen  des  Deutschen 
Beiches,  von  Österreich,  Ungarn,  Belgien,  Dänemark,  Spanien,  Frankreich,  Italien, 
Luxemburg,  Norwegen,  der  Niederlande,  Portugal  und  die  Schweiz  dem  Weiß- 
pliosphorverbot  in  der  Zündhölzchenindustrie  ihre  Zustimmung  unter  der  Bedingung, 
daß  dasselbe  erst  vom  1.  Januar  1911  an  in  Kraft  trete  und  nur  dann,  wenn  die 
auf  der  Konferenz  nicht  vertretenen  europäischen  Staaten  und  auch  Japan  bei¬ 
getreten  sind.  Großbritannien  und  Schweden  haben  dem  Verbot  auch  in  dieser 
Form  nicht  ihre  Zustimmung  erteilt,  Großbritannien  namentlich  in  der  Meinung, 
daß  die  im  Jahre  1900  erlassenen  Verhütungsmaßregeln  jeden  Ausbruch  der 
Phosphornekrose  hintanhalten  würden ,  eine  Hoffnung ,  die  sich  nicht  bestätigt 
hat.  Die  japanische  Begierung  erklärte  auf  eine  Anfrage,  daß  sie  für  den  Augen¬ 
blick  nicht  in  der  Lage  sei,  dem  Vertrage  beizutreten.  Im  September  d.  J.  er¬ 
folgte  eine  erneute  Zusammenkunft  der  Begieruugsvertreter,  um  die  endgültigen 
Vereinbarungen  zu  unterzeichnen.  Das  Besultat  war  ein  wenig  erfreuliches,  denn 
außer  den  5  Ländern,  Dänemark,  Deutschland,  Frankreich,  den  Niederlanden  und 
der  Schweiz,  welche  das  Verbot  des  weißen  Phosphors  zur  Herstellung  von  Zünd¬ 
hölzchen  bereits  gesetzlich  festgelegt  hatten,  traten  nur  Italien  und  Luxemburg- 
neu  der  Konvention  bei.  Die  Bedenken  der  übrigen  Staaten  konnten  nicht  zer¬ 
streut  werden.  Die  größten,  aber  nicht  gerechtfertigten  Befürchtungen  hegten 
die  widerstrebenden  europäischen  Staaten  wiederum  vor  der  Konkurrenz  Japans, 
aber  nach  zuverlässigen  Nachrichten  besteht  der  Hauptexport  dieses  Landes  aus 
nichtgiftigen  Zündhölzchen.  Der  Verzichtleistung  auf  den  weißen  Phosphor  stehen 
auch  keine  technischen  Bedenken  entgegen.  Die  Erkenntnis,  daß  die  Tage  dieses 
giftigen  Stoffes  trotz  aller  Widerstände  gezählt  sind,  hat  längst  schon  die  Chemie 
dahin  gedrängt,  geeignete  Ersatzstoffe  zu  suchen.  Die  Masse  für  die  sogenannten 
schwedischen  Zündhölzer  ist  völlig  frei  von  Phosphor,  und  nur  die  Beibfläche  der 
Schachteln  enthält  den  ungiftigen  roten  oder  amorphen  Phosphor.  Der  allge¬ 
meinen  Einführung  dieser  Zündhölzchen  steht  jedoch  neben  dem  höheren  Preise 
der  Umstand  entgegen,  daß  sie  einer  besonderen  Beibfläche  und  dadurch  einer 
Verpackung  in  Schachteln  bedürfen.  Daß  sie  z.  B.  auf  glattem  Papier  mit  fester 
Unterlage  entzündbar  sind,  kommt  nicht  in  Betracht.  Als  zweckmäßiger  und 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  371 

nichtgiftiger  Ersatz  des  weißen  Phosphors  wird  das  Phosphorsesquisulfid  (P3S4) 
bezeichnet,  welches  u.  a.  in  Frankreich  und  in  der  Schweiz  umfangreiche  Ver¬ 
wendung  findet.  Auch  die  deutschen  Fabrikanten  werden,  soweit  ich  unter¬ 
richtet  bin,  vom  1.  Januar  1907  an  Veranlassung  nehmen,  sich  dieses  Präparates 
zu  bedienen.  Es  fragt  sich  jedoch,  ob  die  Annahme,  daß  das  Phosphorsesquisulfid 
in  der  Tat  ungiftig  sei,  zutrifft,  zumal  in  der  Huch’schen  Patentschrift  selbst 
ausgesprochen  wird,  daß  man  durch  Schmelzen  von  Phosphor  mit  Schwefel,  auf 
welchem  Wege  bekanntlich  das  Phosphorsesquisulfid  gewonnen  wird,  niemals 
ein  ungiftiges  Produkt  erhält,  da  hierbei  die  Temperatur  eine  so  hohe  wird,  daß 
mit  der  steigenden  Wärme  auch  steigende  Mengen  gelben,  giftigen  Phosphors 
entstehen.  Voraussichtlich  werden  sich  auch  die  Reichsbehörden  mit  dieser  Fragte 
befassen,  und  ich  selber  behalte  mir  vor,  behufs  Feststellung  einer  etwaigen  Giftig¬ 
keit  dieses  Präparates  umfangreiche  Tierexperimente  anzustellen.  Auch  Sulfo- 
phosphit,  eine  Verbindung  von  Phosphortrisulfid  oder  Phosphorpentasulfid  mit 
Zinksulfid,  wurde  als  Ersatzmittel  empfohlen,  doch  scheint  es  nirgends  eine  nennens¬ 
werte  Verwendung  gefunden  zu  haben.  Geben  wir  selbst  zu,  daß  der  rote  Phos¬ 
phor,  wie  das  Phosphorsesquisulfid  und  auch  das  Sulfopliosphit  völlig  unschäd¬ 
liche  Substanzen  sind,  so  müssen  wir  immer  noch  in  Erwägung  ziehen,  daß  die 
Darstellung  dieser  Präparate  die  Gewinnung  des  giftigen  weißen  Phosphors 
voraussetzt  und  daß  auch  hierbei  eine  Gefährdung  der  Arbeiter  nicht  ausge¬ 
schlossen  ist.  Es  ist  deshalb  mit  Freude  zu  begrüßen,  daß  es  den  langjährigen 
Bemühungen  von  Gans  gelungen  ist,  ein  Zündsalzgemisch  zu  erfinden,  welches 
vollkommen  frei  von  Phosphor  ist.  Die  hieraus  gefertigten  Zündhölzchen  sind 
an  jeder  indifferenten  Reibfläche,  selbst  in  urväterlicher  Weise  an  den  Bein¬ 
kleidern  entflammbar.  So  ist  auch  dem  Bedürfnis  und  der  Sitte  derjenigen  V olks¬ 
schichten  Rechnung  getragen,  welche  die  Verwendung  von  Schachteln  zurück- 
weisen  und  die  Hölzchen  lose  in  ihrer  Tasche  tragen  wollen.  Auch  in  letzterer 
Beziehung  verdienen  die  neuen  Zündhölzchen  vor  den  phosphorhaltigen  den  Vor¬ 
zug,  weil  sie  sich  nicht  so  leicht  wie  diese  durch  Aneinanderreiben  entzünden. 

Soweit  sich  bisher  überblicken  läßt,  sind  die  Arbeiter  bei  der  Herstellung 
und  Verarbeitung  des  neuen  Zündsalzgemisches  keiner  gesundheitlichen  Gefahr 
ausgesetzt,  es  entwickeln  sich  hierbei  keine  gesundheitsschädlichen  Stoffe,  weder 
in  Gas-,  noch  Dampf-  oder  Staubform,  so  daß  die  ausschließliche  Verwendung 
der  Riedelhölzer,  wie  wir  sie  kurz  bezeichnen  wollen,  auch  vom  Standpunkte  der 
gewerblichen  Gesundheitspflege  aufs  wärmste  empfohlen  werden  muß.  Aus  diesen 
Ausführungen  geht  unzweifelhaft  hervor,  daß  die  Technik  bei  der  Fabrikation 
von  Zündhölzchen  jeder  Phosphor  Verbindung,  sicherlich  des  giftigen  weißen  oder 
gelben  Phosphors  entraten  kann,  und  da  auch  das  Vorgehen  mehrerer  Länder 
bewiesen  hat,  daß  die  Zündholzindustrie  sich  den  veränderten  Verhältnissen  gut 
anpassen  kann,  so  dürfen  wir  uns  mit  den  Erfolgen  der  Berner  Konvention  keines¬ 
wegs  zufrieden  geben.  Sache  der  gesamten  nationalen  Sektionen  für  gesetzlichen 
Arbeiterschutz  wird  es  sein,  mit  vermehrter  Aufmerksamkeit  das  Auftreten  von 
Phosphornekrose  unter  den  Zündholzarbeitern  zu  verfolgen,  entsprechend  dem 
Beschlüsse  der  Internationalen  Vereinigung  vom  29.  September  d.  J.  geeignete 
Sachverständige  mit  dieser  Aufgabe  zu  betrauen  und  alle  bekannt  gewordenen 
Fälle  dem  Internationalen  Arbeitsamte  als  der  zuständigen  Sammelstelle  zu  melden. 
Handelt  es  sich  auch  selbst  nur  um  Hunderte  von  Arbeiterleben,  die  alljährlich 
vor  Siechtum  bewahrt  bleiben ,  so  dürfen  wir  doch  nicht  eher  ruhen,  bis  auch 
diese  Gefahr  beseitigt  ist,  da  bei  dem  jetzigen  Stand  der  Technik  jeder  Fall 

24* 


372 


Druckschriften-Einlauf. 


Ton  Nekrose  ein  Verbrechen  ist,  das  die  Industrie  an  der  Arbeiterschaft  begeht. 
Nur  der  erste  Spatenstich  ist  in  Bern  getan;  wir  müssen  weiter  graben  und  die 
noch  harte  Erde  fleißig  bearbeiten,  bis  endlich  aus  ihr  die  erhoffte  Saat  hervor¬ 
sprießt. 


Druckschriften-Einlauf. 

G.  T  e  m  m  e ,  Die  Säuglingssterblichkeit  in  Nordhausen.  Nordhausen,  Selbst¬ 
verlag  (0,30  M.).  —  G.  Sobernheim,  Leitfaden  für  Desinfektoren.  Halle  a.  S. 
1907,  C.  Marhold  (0,40 M.).  —  E.  Pietrzikowski,  Die  Begutachtung  der  Unfall¬ 
verletzungen.  2  Bde.,  Berlin,  Fischer’s  Medizin.  Buchhandl.  H.  Kornfeld,  1904  u. 
1907  (4,50  M.  u.  13,00  M.).  —  A.  Nu e sch,  Zur  Tuberkulosefrage  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Bekämpfung  der  Rindertuberkulose.  St.  Gallen  1907, 

L.  Kirschner-Engler  (2,50  M.).  —  L.  Eisenstadt,  Zur  Würdigung  und  Verein¬ 
fachung  der  ärztlichen  Begutachtung  in  der  Krankenversicherung.  Sonderabdr. 
aus  Ärztl.  Sachverständigen-Ztg.,  1907,  Nr.  5.  —  W.  v.  Kalckstein,  Die  im 
Deutschen  Reiche  erlassenen  Vorschriften  über  Benutzung  und  über  Beschaffen¬ 
heit  von  Wohnungen.  Bremen  1907,  G.  Winter.  —  M.  Bollag,  Die  Verbreitung 
der  Lungentuberkulose  im  Kanton  Basellandschaft.  Sonderabdr.  aus  Zeitschr.  f. 
Schweiz.  Statistik,  Jahrg.  1907.  —  E.  Rumpf,  Die  Prognose  der  Lungentuber¬ 
kulose.  Sonderabdr.  aus  Deutsche  Med.  Wochenschr.,  1907,  Nr.  9.  —  H.  Roh- 
leder,  Vorlesungen  über  Geschlechtstrieb  und  gesamtes  Geschlechtsleben  des 
Menschen.  2.  Aufl.,  Berlin  1907,  Fischer’s  Medizin.  Buchhandl.  (H.  Kornfeld) 
(10,00  M.).  —  R.  Sand,  La  Simulation  et  l’Interpretation  des  Accidents  du  Tra- 
vail.  Bruxelles  1907,  H.  Lamartin.  —  J.  Bongardt,  Die  Naturwissenschaften 
im  Haushalt.  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  125.  u.  126.  Bändchen,  Leipzig  1907, 
B.  G.  Teubner  (2,50  M.).  —  P.  Gerber,  Die  menschliche  Stimme  und  ihre 
Hygiene.  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  136.  Bändchen,  Leipzig  1907,  B.  G.  Teubner 
(1,25  M.).  —  E.  Pütt  er,  Die  Bekämpfung  der  Tuberkulose  innerhalb  der  Stadt. 
Ein  Beitrag  zur  Wohnungsfrage.  Erfahrungen  aus  den  Berliner  Auskunfts-  und 
Fürsorgestellen  für  Lungenkranke,  Berlin  1907,  R.  Schoetz  (0,60  M.).  —  H.  Ferdy, 
Die  Mittel  zur  Verhütung  der  Konzeption.  Eine  Studie  für  Arzte  und  Geburts¬ 
helfer,  8.  Auf!.,  Leipzig  1907,  M.  Spohr  (2,40  M.).  —  Derselbe,  Die  Stellung¬ 
nahme  des  Arztes  gegenüber  dem  Verlangen  nach  Konzeptions-Verhütung  im 
Volke.  Die  Mittel  zur  Verhütung  der  Konzeption,  Teil  II.  Leipzig  1907, 

M.  Spohr  (1,00  M.).  —  F.  Lorentz,  Die  Beziehungen  der  Sozialhygiene  zu  den 
Problemen  sozialer  Erziehung.  Sonderabdr.  aus  Zeitschr.  f.  d.  Erforschg.  u.  Be- 
handlg.  des  jugendlichen  Schwachsinns,  I.  Bd.  —  A.  Celli,  Antagonismi  igienico- 
economici.  Estratto  dal  „Ramazzini“  Giornale  Italiano  di  Medica  Sociale,  I,  1.  — 
Erhebungen  über  die  Arbeitszeit  der  in  Plättanstalten  und  in  nicht  als  Fabriken 
oder  Werkstätten  mit  Motorbetrieb  anzusehenden  Waschanstalten  beschäftigten 
Personen.  Drucksachen  des  Kaiserl.  Statistischen  Amts,  Abteilung  für  Arbeiter¬ 
statistik.  Erhebungen  Nr.  4,  Berlin  1907,  C.  Heymann.  —  Die  Regelung  des 
Arbeitsverhältnisses  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten.  Bearbeitet  im  Kaiserl. 
Statist.  Amt,  Abteilung  für  Arbeiterstatistik.  Beiträge  zur  Arbeiterstatistik  Nr.  6, 


Druckschriften-Einlauf. 


373 


Berlin  1907,  C.  Heymann.  —  Verhandlungsbericht  der  IV.  Generalversammlung 
des  Komitees  der  Internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz  in 
Genf  vom  26. — 29.  September  1906.  Jena  1907,  G.  Fischer.  —  H.  Schwiening, 
Beiträge  zur  Kenntnis  der  Verbreitung  der  venerischen  Krankheiten  in  den 
europäischen  Heeren  sowie  in  der  militärpflichtigen  Jugend  Deutschlands.  Ver¬ 
öffentlichungen  aus  dem  Gebiete  des  Militärsanitätswesens,  Heft  36.  Hrsg,  von 
der  Medizinalabteilung  des  Königl.  Preuß.  Kriegsministeriums.  Berlin  1907, 
A.  Hirschwald.  —  C.  Hamburger,  Die  neueren  Arbeiten  über  die  Stilling’sche 
Theorie.  Sonderabdr.  aus  Zeitschr.  f.  Augenheilk.,  Bd.  XVII,  H.  1.  —  J.  Donath, 
Die  Alkoholfrage  in  der  österr.-ungar.  gemeinsamen  und  Honvedarmee  und  in 
den  ungarischen  Sports  vereinen.  Sonderabdr.  aus  Alkoholgegner,  VI.  Jahrg.,  Nr.  6. 
—  J.  Donath,  Der  Arzt  und  die  Alkoholfrage.  Sonderabdr.  aus  Wiener  mediz. 
WTochenschr.,  1907,  Nr.  7 — 9.  —  M.  Bol  lag,  Tuberkulosebekämpfung  und  Kranken¬ 
versicherung.  Sonderabdr.  aus  Schweiz.  Blätter  für  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik, 
XIV.  Jahrg.,  H.  19 — 20.  —  K.  Boas,  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Alkohol¬ 
frage.  Sonderabdr.  aus  der  Gesundheit  in  Wort  und  Bild,  IV.  Jahrg.,  H.  3.  — 

O.  Kunow,  Die  Heilkunde  „Verdeutschung  der  entbehrlichen  Fremdwörter  aus 
der  Sprache  der  Ärzte  und  Apotheker“,  V.  Aufl.  Berlin  1907,  Verlag  des  Allg. 
Deutschen  Sprachvereins  (0,60  M.).  —  Erhebung  über  die  Arbeitszeit  der  Ge¬ 
hilfen  und  Lehrlinge  im  Fleischergewerbe,  II.  Teil.  Veranstaltet  im  Sommer  1905. 
Bearbeitet  im  Kaiserl.  Stat.  Amt,  Abteil,  f.  Arbeiterstatistik  und  im  Kaiserl.  Ge- 
sundheitsamt.  Berlin  1907,  C.  Heymann.  —  B.  Lennhoff,  Walderholungsstätten 
und  Genesungsheime.  Sonderabdr.  aus  D.  Vierteljahrsschr.  f.  öffentl.  Gesundheits¬ 
pflege,  XXXIX,  1.  —  K.  W.  F.  Boas,  Wie  soll  sich  die  Bekämpfung  der  Genu߬ 
gifte  in  den  breitesten  Volksschichten  gestalten?  Sonderabdr.  aus  Zeitschr.  f. 
Krankenpfl.,  1907,  Nr.  3.  —  Die  Krankenversicherung  im  Jahre  1904.  Bearbeitet 
im  Kaiserl.  Stat.  Amt  (Referent:  P.  Mayet),  Berlin  1907,  Puttkammer  &  Mühl¬ 
brecht  (5,00  M.).  —  L.  Becker,  Lehrbuch  der  ärztlichen  Sachverständigen- 
Tätigkeit  für  die  Unfall-  und  Invaliditäts-Versicherungs-Gesetzgebung,  5.  neu- 
bearb.  u.  vermehrte  Aufl.  Berlin  1907,  R.  Schoetz  (14,00  M.).  —  A.  Pfeiffer, 
XXII.  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  und  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der 
Hygiene,  Jahrg.  1904.  Braunschweig  1907  (14,00  M.).  —  A.  Rabe,  Ärztliche 
Wirtschaftskunde  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Buchführung,  Gebührenwesen  und 
soziale  Gesetzgebung.  Leipzig  1907,  Dr.  Werner  Klinkhardt  (6,00  M.).  — 
K.  Schneider,  Das  preußische  Gesetz  betr.  die  Bekämpfung  übertragbarer 
Krankheiten.  Breslau,  J.  U.  Kern  (Max  Müller)  (5,00  M.).  —  L.  Ascher,  Die 
Rauchbekämpfung  in  England  und  Deutschland.  Sonderabdruck  aus  D.  Viertel¬ 
jahrsschr.  f.  öffentl.  Gesundheitspfl.  —  L.  Lewin,  Die  Grundlagen  für  die  medi¬ 
zinische  und  rechtliche  Beurteilung  des  Zustandekommens  und  des  Verlaufs  von 
Vergiftungs-  und  Infektionskrankheiten  im  Betriebe.  Sonderabdr.  aus  den  Amtl. 
Nachr.  des  Reichsversicherungsamts,  1907,  Nr.  5.  —  M.  Fiebig,  Rachitis  als 
eine  auf  Alkoholisation  und  Produktionserschöpfung  beruhende  Entwicklungs¬ 
anomalie  der  Bindesubstanzen.  Sonderabdr.  aus  Beiträge  z.  Kinderforschung  und 
Heilerziehung,  H.  XXVIII,  Langensalza  1907,  H.  Beyer  &  Söhne  (0,75  M.).  — 
Drucksachen  des  Beirats  für  Arbeiterstatistik.  Verhandlungen,  Nr.  17.  —  Sta¬ 
tistisches  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin.  30.  Jahrgang  enthaltend  die  Statistik  des 
Jahres  1905  (zum  Teil  auch  1906).  Hrsg,  von  H.  Silber  gleit.  Berlin  1907, 

P.  Stankiewicz.  —  D.  Rothschild,  Die  Stellung  der  offenen  Kurorte  im  Kampfe 
gegen  die  Tuberkulose.  Sonderabdr.  aus  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1907,  Nr.  16. 


374 


Druckschriften-Einlauf. 


—  W.  Hanauer,  Der  Gang  der  Sterblichkeit  in  Frankfurt  a.  M.  vom  Mittelalter 
bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts.  —  Die  Gebarung  und  die  Ergebnisse  der 
Krankheitsstatistik  der  nach  dem  Gesetz  vom  30.  März  1888,  RGBl.  Nr.  23,  betr. 
die  Krankenversicherung  der  Arbeiter,  eingerichteten  Krankenkassen  im  Jahre 

1904.  Wien  1907,  K.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  —  Die  Gebarung  und  die  Er¬ 
gebnisse  der  Unfallstatistik  der  im  Grunde  des  Gesetzes  vom  28.  Dezember  1887 
(RGBl.  Nr.  1  ex  1888),  betr.  die  Unfallversicherung  der  Arbeiter,  errichteten 
Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten  im  Jahre  1904.  Wien  1907,  K.  k.  Hof-  und 
Staatsdruckerei.  —  L.  Lewin,  Protection  des  ouvriers  dans  les  industries  toxi- 
ques.  Projet  de  preservation  par  renseignement.  Extrait  des  Annales  d’Hygiene 
Publique  et  de  Medecine  Legale,  1907,  Avril.  —  L.  Laquer,  Der  Warenhaus¬ 
diebstahl.  Halle  1907,  C.  Marhold  (1,00  M.).  —  J.  Bur  ns,  Arbeit  und  Trunk, 
Vortrag.  Wien  1907,  Brüder  Suschitzky  (0,40  M.).  —  L.  Knöpf el,  Über  die 
spezifische  Sterblichkeit  der  beiden  Geschlechter.  Sonderabdr.  aus  dem  Allg.  Stat. 
Archiv,  VII.  Bd.,  1.  Halbband.  Tübingen  1907.  —  Enseignement  public  et  prive 
1903  et  1904  (et  1905  en  partie).  Communications  statistiques  publiees  par  le 
Bureau  municipal  de  Statistiques  d’ Amsterdam.  Amsterdam  1907,  J.  Müller.  — 
Ungarisches  Statistisches  Jahrbuch.  N.  F.,  XIII.  Bd.,  1905.  Im  Auftr.  des  kgL 
ungar.  Handelsministers  verfaßt  und  herausgegeben  vom  kgl.  ungar.  Statist. 
Zentralamt.  Budapest  1907  (5,00  Kr.).  —  Volkszählung  in  den  Ländern  der 
Ungar.  Krone  im  Jahre  1900.  VI.  Teil.  Einige  Details  der  Berufstätigkeit  der 
Bevölkerung,  ferner  Statistik  der  Unternehmungen.  Budapest  1906  (6,00  Kr.).  — 
Dasselbe,  VII.  Teil.  Berufstätigkeit  der  Bevölkerung  kombiniert  mit  den  wich¬ 
tigeren  demographischen  Angaben.  Im  Auftr.  d.  kgl.  ungar.  Handelsministers 
verf.  u.  hrsg.  v.  kgl.  ungar.  Statist.  Zentralamt.  Budapest  1906  (4,00  Kr.).  — 

—  Mortalitätstafel  der  Länder  der  Ungarischen  Krone  auf  Grund  der  Volks¬ 
zählungsangaben  vom  Jahre  1900  und  der  Volksbewegungsangaben  für  die  Jahre 
1900  und  1901.  Im  Auftr.  d.  kgl.  ungar.  Handelsministers  verf.  u.  hrsg.  v.  kgl. 
ungar.  statist.  Zentralamt.  Budapest  1906  (5,00  Kr.).  —  Me  inert,  Die  „Trink¬ 
festigkeit“  vom  ärztlichen  Standpunkt  aus.  Sonderabdr.  aus  der  Alkoholfrage, 
IV,  H.  1.  —  Krankenkassen  und  freie  Arztwahl.  Erwiderung  auf  die  Denkschrift 
der  Handelskammer  M.-Gladbach  vom  28.  Februar  1907  vom  Vertrags-Ausschuß 
der  Arzte  von  M.-Gladbach  und  Umgegend.  —  Erhebung  über  die  Arbeitszeit  im 
Binnenschiffahrts-Gewerbe.  Bearb.  im  Kaiserl.  Statist.  Amt.  Abteil,  f.  Arbeiter¬ 
statistik,  Erhebungen  Nr.  7.  —  Jahresbericht  des  Vereins  Säuglingsschutz  in 
Wien  für  das  Jahr  1906.  Wien  1907,  Verlag  des  Vereins.  —  Jahresbericht  der 
Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  in  Berlin  über  das  Jahr 

1905.  —  H.  Stadelmann,  Das  nervenkranke  Kind  in  der  Schule.  Magdeburg 
1907,  Faber’sche  Buchdruckerei  (0,50  M.).  —  K.  Singer,  Die  Bevölkerungs¬ 
bewegung  in  München  im  Jahre  1906  im  Vergleich  mit  den  Vorjahren.  Statisti¬ 
sches  Amt  der  Stadt  München.  —  W.  Weinberg,  Die  familiäre  Belastung  der 
Tuberkulösen  und  ihre  Beziehungen  zu  Infektion  und  Vererbung.  Sonderabdr. 
aus  Brauer’s  Beiträge  zur  Klinik  der  Tuberkulose,  VII,  3.  —  F.  L  o  r  e  n  t  z 
Wohnungsnot  und  Schulhygiene.  Sonderabdr.  aus  Das  Schulzimmer,  V,  1.  — 
G.  Hey  mann,  Das  tuberkulöse  Weib  in  der  Schwangerschaft  und  der  Arzt. 
Sonderabdr.  aus  Medizinische  Klinik,  1907,  Nr.  19.  —  E.  Net  er,  Muttersorgen 
und  Mutterfreuden.  Wie  erhalten  wir  unsere  kleinen  Kinder  gesund?  Verlag 
der  Ärztl.  Rundschau  (0.  Gmelin),  München  1907  (1,20  M.).  —  G.  Vorberg, 
Freiheit  oder  gesundheitliche  Überwachung  der  Gewerbsunzucht  ?  Verlag  der 


Druckschriften-Einlauf. 


375 


Ärztl.  Rundschau  (0.  Gmelin),  München  1907  (1,50  M.).  —  Der  Alkoholismus. 
•Seine  Wirkungen  und  seine  Bekämpfung.  Hrsg,  vom  Zentralverband  zur  Be¬ 
kämpfung  des  Alkoholismus  in  Berlin.  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  145.  Bändchen, 
Leipzig  1906,  B.  G.  Teubner  (1,25  M.).  —  A.  Kolm,  Unsere  Wolmungs-Enquete 
im  Jahre  1906.  Berlin  1907,  Verlag  der  Ortskrankenkasse  für  den  Gewerbebetrieb 
der  Kaufleute,  Handelsleute  und  Apotheker.  —  Geschäftsbericht  der  Ortskranken¬ 
kasse  für  den  Gewerbebetrieb  der  Kaufleute,  Handelsleute  und  Apotheker,  1906. 
—  Nietner,  Der  Stand  der  Tuberkulose-Bekämpfung  im  Frühjahr  1907.  Berlin 
1907,  Deutsches  Zentralkomitee  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose.  —  E.  Rumpf, 
Prophylaxe  oder  Therapie  der  Lungentuberkulose?  Sonderabdr.  aus  Zeitschr.  f. 
Tuberkulose,  Bd.  IX,  H.  1.  —  Ensch,  L’hygiene  et  le  droit.  Extrait  de  la 
Revue  de  l’Universite  de  Bruxelles.  Mai-juin  1907.  —  L.  Lewin,  Die  Grund¬ 
lagen  für  die  medizinische  und  rechtliche  Beurteilung  des  Zustandekommens  und 
des  Verlaufs  von  Vergiftungs-  und  Infektionskrankheiten  im  Betriebe.  Berlin 
1907,  C.  Heymann  (0,80  M.).  —  Soweit  die  eingesandten  Publikationen  aus  Platz¬ 
mangel  in  der  „Zeitschrift  für  Soziale  Medizin“  nicht  besprochen  werden  können, 
werden  sie  im  „Jahresbericht  über  Soziale  Hygiene“,  hrsg.  von  A.  Grotjahn 
und  F.  Kriegei,  der  alljährlich  im  Juni  erscheint,  eine  Besprechung  finden. 
Daselbst  vgl.  auch  Chronik,  Kongresse,  Gesetzestafel  und  vollständige  Biblio¬ 
graphie  der  Sozialen  Hygiene  und  der  Sozialen  Medizin. 


Namenverzeiehnis 


A. 

Abelsdorff,  W.  127. 
Achenwall  19. 

Agahd,  K.  125. 

Albrecht,  H.  125. 

Albu,  A.  85.  280. 

Ammon  106. 

Anthony  103. 

Arbo,  C.  274. 

Arning  194. 

Ascher  143. 

Ascher,  L.  110. 

B. 

Ballod  129.  263. 

Bang,  B.  203.  204. 

Bauer  224. 

Bauer,  L.  129. 

Bauer.  St.  113. 

Baumann  22. 

Becher,  W.  97.  105.  125. 
139. 

Becker  181.  186. 

Behla  116. 

Behring,  E.  v.  15. 
Bernoulli  23.  29. 

Bertillon,  A.  105. 
Bethmann-Hollweg,  v.  266. 
Beyschlag  291. 

Bielefeldt,  A.  280. 

Bischoff  104.  105. 
Bittmann,  K.  268. 
Blaschko,  A.  132. 

Bleicher,  H.  19.  37.  38.  46. 

1  9U 

Boas  81. 

Bodelschwingh,  P.  v.  217. 
Bödiker,  T.  99.  322. 
Börner,  P.  131. 

Bohata,  A.  271. 

Bollinger  104. 


Brat  76.  125.  280. 

Brauer,  L.  124.  197.  202. 
231. 

Brehmer  85.  196. 

Brentano.  L.  261. 

Bülow,  y.  262. 

Blisching  19. 

Buschmann  287. 

C. 

Carlsson  198. 

Carus  101. 

Chiari  124. 

Clemenceau  1. 

Cohnheim  81. 

Conrad,  J.  21. 

Cornet  204. 

Crocq,  J.  99. 

Crome  321.  322. 

D. 

Daffner  103. 

Dietrich,  E.  280. 

Dohrn,  K.  14. 

Diittmann  322. 

E. 

Eggebrecht  280. 
Eisenstadt,  L.  136. 

Eisner,  W.  280.  351. 

Elkan  223. 

Erb  132. 

Eulenberg,  H.  123. 

Euler  23. 

F. 

Fehlinger,  H.  107.  131. 
Feilchenfeld.  L.  180.  280. 
Fetzer,  P.  v.  71.  76.  197. 
202. 


Fick,  A.  31. 

Florschütz,  G.  36.  105.  131. 
Flügge  204. 

Fournier  23. 

Fracastor  119. 

Francke,  E.  125. 

Frank,  J.  P.  10. 
Frankenberg,  H.  v.  322. 
Frech  291. 

Freund,  B.  322. 

Fritsch  102. 

Fürbringer  80.  82. 

Fürst,  C.  M.  274. 

Fürst,  M.  16.  125. 


G. 

Gärtner  123. 

Galton,  F.  104.  133. 

Gans  371. 

Gavarret  31. 

Gebhard,  H.  213.  214.  352. 
Geißler  28. 

Gerkrath  181.  182.  183. 
Goethe  132. 

Gohl  22. 

Gollmer  111.  131. 
Gottstein,  A.  1.  3.  36.  68. 
69.  70.  71.  100.  105.  121. 
180.  204.  280.  292. 

Gould  102. 

Grätzer  19. 

Grandhomme  124. 

Graunt  22. 

Griesinger  122. 

Grotjahn,  A.  12.  13.  14.  68. 
99.  101.  112.  114.  131. 
195.  196.  266.  277.  279. 
280.  291.  333. 

Gruber,  M.  5.  265. 
Guttstadt,  A.  18.  20.  280. 
Guy  de  Chauliac  119. 


H. 

Haeser  118.  122. 

Hahn,  M.  124.  125. 

Halley,  E.  19.  22.  25. 
Hansemann,  D.  v.  105. 
Hansen  218.  220. 

Hansen.  S.  194. 

Hasse,  E.  67. 

Hecker  118. 

Heer,  0.  43. 

Heimann,  G.  99.  280. 
Hellpach,  W.  98. 
Helinholtz,  R.  v.  105. 
Herkner,  H.  287. 

Hermann  25. 

Heym  37. 

Hippokrates  118. 

Hirsch,  A.  119. 

Hoeffel  194. 

Hoffa  306. 

Hueppe,  F.  5. 108. 120.  204. 

J8 

Jaffe,  K.  16. 

Jagwitz,  y.  322. 

Joseph,  E.  64.  280. 
Jürgens  116.  121. 

Julliard,  Ch.  194. 

K. 

Kaff,  S.  51.  168.  234. 
Kampffmeyer,  P.  278. 
Karup  105.  131. 

Kastan,  J.  97. 

Kaufmann  194. 

Kirchner,  M.  14. 

Koch,  R,  8.  116.  121.  197. 

198.  201.  204. 

Köhler  201. 

Körber  51. 

Körösy,  J.  y.  33. 

Körte  187. 

Koßmann,  R.  133. 

Kraus,  F.  105. 

Krautwig,  P.  1. 

Kriegei,  F.  14.  16.  112. 
276. 

Krug  19. 

Kruse,  W.  5.  274. 
Kundmann  22. 


L. 

Laplace  11.  23. 

Laquer,  B.  14.  280. 
Lassar,  O.  79.  153.  280. 
Laub,  H.  194. 

Laurent,  0.  99. 
Lavoisier  19. 

Ledderhose  306.  310. 


N  amenverzeichnis. 


Lehmann,  K.  B.  5.  124. 
Leibniz,  G.  W.  22. 
Lennhoffl,  R.  16.  80.  83. 
97.  105.  114,  142.  180. 
279.  280.  327.  367. 

Leo  281. 

Leonhart  194. 

Lewin,  L.  -14.  124. 

Lexis  22. 

Einiger  306. 

Lischnewska,  M.  98. 
Litten,  M.  122.  291. 

Livi,  R.  104. 

Löbker  327.  328. 

Löffler  34. 

Lohmar  306.  317.  322.  330. 
Lorinser  369. 

Lossen  305.  310.  317. 
Lührig,  A.  291. 


M. 

Magen,  0.  98. 

Malthus  23. 

Marina  106. 

Markuse,  M.  98. 

Martius,  F.  34.  116.  120. 
Mathes  2. 

Mayet,  P.  79.  98.  139.  142. 

150.  180.  279.  322.  367. 
Mayr,  G.  y.  21. 

Meißner,  P.  97. 

Meitzen,  A.  18.  19. 

.Menne  81.  82. 

Merkel,  G.  124. 

Michael  291. 

Moebius,  P.  J.  99. 

Moser  23. 

Müller,  J.  14. 
Muensterberg  266.  267. 
Mugdan,  0.  114.  194.  322. 
Munter,  JD.  83. 

N. 

Neefe,  M.  20. 

Neißer,  E.  J.  125. 

Neißer,  M.  5. 

Nesemann,  F.  155. 
Neumann,  C.  19. 

Neumann,  H.  280. 
Neumann,  S.  279. 

O. 

Oesterlen  21.  277. 
Oldendorff  124.  143. 


P. 

Pannwitz,  G.  196.  212. 
Pasteur  8. 

Patry,  E.  194. 


377 

Pauly,  J.  352. 

Pelc,  J.  43. 

Petronius  119. 

Pettenkofer  4.  6.  8.  9.  11. 

15.  130. 

Petty  22. 

Pfeiffer  327. 

Pfitzner  106. 

Pieper  305.  306.  310.  317. 
330. 

Pignet  75. 

Plehn,  A.  121.  122. 

Ploetz,  A.  7. 12. 13.  16.  133. 
Pollitz,  P.  1. 

Posadowsky,  v.  261.  289. 
Prausnitz,  W.  5. 

Prinzing,  F.  2.  18.  20.  21. 
22.  28.  37.  43.  46.  68. 
125.  127.  128.  131.  272. 
277.  367. 

Q- 

Quetelet  11.  19.  23.  102. 

103.  104.  106. 

Quincke  85. 

R. 

Radziejewski,  M.  280. 
Rahts  28. 

Ranke,  J.  102.  103.  104. 
Rehfous,  L.  194. 

Renyers  83. 

Retzius,  G.  274. 

Ricklin  194. 

Rietschel  101. 

Rietz  106. 

Riffel  204. 

Röse  106.  107. 

Rosenbach,  0.  120. 
Rosenfeld,  S.  38.  41.  42.  47. 
66.  1251 

Roth,  E.  123.  124. 
Rottenburg,  J.  v.  195. 
Rubner,  M.  4.  5.  6.  7.  8. 
9.  10.  11.  13.  15.  17.  100. 
101.  108.  110.  111.  123. 
129.  130. 

Rügenberg  194. 

Rumpf,  Th.  99.  278.  293. 
324.  325.  327.  328.  331. 

S. 

Saint  Pierre,  de  11. 

Samson  185. 

Sayffaerth  154.  278.  280. 

322.  324. 

Schadow  101. 

Schleich  313. 

Schmid  211. 

Schmidt,  H.  293. 


378 


Namenverzeichnis. 


Schmidt,  R.  82.  322. 
Schmoller,  G.  263. 
Schönheimer,  H.  280. 
Schreber  153. 

Schultze,  B.  S.  25. 
Schwalbe,  G.  104. 
Schwanck,  A.  277.  278.  306. 

311.  317.  324.  325.  330. 
Schwiedland  174. 
Schwiening  68.  280. 
Secretan,  H.  194. 

Seggel  71.  76. 

Seitz  122. 

Sering,  M.  261. 
Sommerfeld,  Th.  2.  123. 

125.  280.  367. 

Spann,  0.  14. 

Spitz,  B.  122. 

Stein,  H.  F.  K.  v.  19. 
Stein,  L.  v.  4. 

Stephani  105. 

Sternberg,  M.  124.  125. 
Stöcker,  H.  98. 

Stoevesandt  221. 


Straatz  103. 

Strauß  83.  84. 

Strümpell  105. 

Struve  194. 

Süßmilch,  J.  P.  22.  23. 
Sundbärg,  G.  65. 

T.. 

Tamaro,  J.  271. 

Teleky,  L.  2.  125.  269.  369. 
Thiem,  C.  346. 

Thirring,  G.  270. 
Thomalla,  R  334. 
Thurnwald,  B.  129. 
Tillisch  219. 

T. 

Varlez,  L.  285.  286. 
Yillerme  11.  106. 

Yirchow,  R  6.  11.  15.  81. 
115. 

Yi  viani  1. 

Yogi,  A.  v.  14. 


W. 

Weichselbaum  122. 
Weicker,  H.  200.  352. 
Weinberg,  W.  36.  131. 
Weismann,  A.  121. 
Weleminsky,  F.  129. 
Westergaard,  H.  21.  22.  35. 

100.  101.  128.  194.  277. 
Weyl,  Th.  280. 

Wolff  224. 

Woltmann,  L.  195. 
Würzburg  28. 

Wyss  81. 


Z. 

Zacher,  G.  287. 

Zepler  153. 

Ziegler,  F.  121.  122. 
Ziemssen  4. 

Zondek  80.  83.  84. 
Zwiedineck-Südenhorst,  v. 
140.