This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that 's often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the file s We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't off er guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books white helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at |http : //books . google . com/
ilM'lil
B 3 657 7MS
LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
v./i-
.•■^^
► 7 V
#-Y
..•«•,iv r
L. :^.
F
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Vierzehnter Band. Erstes Heft.
Inhalt.
Zahlon von kosmischer Bodentung, haapt-
HJichlicli liei Indem und (iriecnen, uod
^W'ichtiKkoit von Oenealogieu im My-
Uitts. I. Von A. F. Pott.
T>a8 Buch der Wunder des Bftymandiu
LtaUtis. Von G. Sold an.
Die alten Jungfern im Glanben und Bniach
des deatachen Volkes. VonL. Tobler.
Beurteilungen:
' 1) S^ Keligionon der europäischen Cul>
turvSlker, der Litauer, Slawen, Ger-
manen, Griechen und Römer, in ihrem
gMchichtliohfln Ursprünge.
2) Der Soolencult in seinen Beziehungen
zur althebrtUschen Religion. (Schluss.)
Von K. Bruchmann.
AAalf BcuHan, Die heilig Sage der Po-
lynesier. Von U. Steinthai.
S. tioM», Das Kind in Brauch und Sitte
der Völker. Von H. Stointhal.
Berlin
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung
Harrwits and Gcaamann
1882.
L_
In unserem Verlage ist erschienen:
Kleinere Schrifter>
von
Wilhelm Grimm
herausgegeben
von
' Oustav Einrichs.
Zweiter Band.
gr. 8. geheftet. 10 Mark.
(Preis von Band I Ji 11.50; der III. ßand [Schluss des Werkes]
erscheint 1882.)
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung
(Harrwitz und Gossmann) in Berlin.
Bei uns ist erschienen:
Rede
auf
Berthold A^uerbach.
An seinem Sarge
zu
Cannes
am 9. Februar 18S2
gesprochen
von
Prof. Dr. M. Lazarus.
gr. 8. geheftet 30 Pfennig.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung
(Harrwitz und Gosftemnn) in Berlin.
Vor kurzem ist erschienen:
Kleinere Schriften
von
Jacob Grimm*
' .VI.
gr. 8. ( Preis 9 Mark.
Die Bände VII/MU (Schlua ' in im Laufe des Jahres 1883.
Ferd. I>ümi ^erlagshuchhandlung
(Sarru i9$mann) in Berlin.
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Vierzehnter Band.
•WNIVER8ITY
or
Berlin,
Ferd. Dümralers Verlagsbuchhandlung.
Harrwitz & Gossmann.
1883.
WCiMAR. - HOr-BUOHIMUOKUIEI.
Inhalts -Verzeichnis.
Erstes Heft.
Seite
Zahlen Ten kesmlseher Bedeatnngy hauptsäclilich bei Indern
und Griechen, und Wichtigkeit von Genealogien im
Mythus. I. Von A. F. Pott 1-48
Einleitung. Bedeutung der Mythologie 1—7. Zum Ver-
ständnis einer mythischen Persönlichkeit ist die Ver-
wantschaft derselben von Wichtigkeit 7.
Beispiele. Die thrakischen SAnger 7. Geryones als
Wolkendämon 10. Kentauren dunkle Mächte am
Himmel 13. Lapithen als Lichtwesen 15. Kentauren
als halb vertiert 19. Gestalt des Eurytos und
Kleatos SO.
Bezeichnungsmethode von Zahlen mittelst Wörtern
bei den Indem und Javanern 21. Verbindung be-
stimmter Zahlen mit Hauptwörtern zur Bezeichnung
der Vielheit oder Allheit bei den Chinesen 26.
Weitere Beispiele der Ersetzung von Zahlen durch
Wörter 27.
Darstellung von Gottheiten mit einer Ueberzahl von
Gliedern. Janus 30. Verschiedenheit der Zeitein-
teilung 31, Triopas und die drei Jahreszeiten 33.
Verwante mythische Wesen 34. Die Dreizahl der
Nomen und Mören 39. Diana und die Dreizahl 40.
Amphion bedeutet Umlauf 42. Verwante mythische
Wesen in ihren Beziehungen zu den Himmels-
lichtern 44.
Das Bneh der Wunder des Baymuidas LnUns. Von G. Soldan 49—64
Litterarische Stellung des Raymundus LuUus 49.
Libre de Meravelles 50. Einkleidung 50. Abschnitt
von den Tieren 53. Ist ein FQrstenspiegel 59.
Arabische Quelle 60. Selbständige Benutzung 61.
in<.:o.>i.3
IV
Seite
Die alten Jangfern im Glauben nnd Brauch des dentschen
Yolkes. Von L. Tobler 64—90
Geringschätzung des ehelosen Standes 64. Strafe
alter Jungfrauen nach dem Tode 68. Im Giritzen-
moos 69. Bedeutung des Wortes 70. Das Moos-
fahren 77. Aehnliche UmzQge 81. Natursymbolische
Bedeutung derselben 85. Jüngere auf den Ehestand
bezfigliche 86. Verhältnis zu den Nerthusumzügen
und dem wilden Heer 88.
Benrteilnngren.
1) Zur vergleichenden Religionsgeschichte. Von
Dr. K. Bruchmann (Schluss) 91-120
Weder Seelencult bei den Hebräern erwiesen 91,
noch dass ihre Götter und besonders Jahve Ahnen-
geister 94. Seelencult nicht einziger Anlaß zur Ent-
wickelung des Aberglaubens 98, auch nicht bei den
Indogermanen 112.
2) Adolf Bastian, Die heilige Sage der Polynesien Von
H. Steinthal 121-124
Bastian giebt die ursprünglichere Form der bisher
bekannten Tradition.
3) H. Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker.
Von H. Steinthal 125—128
Vorschlag einer doppelten Form der Anordnung ethno-
logischer Tatsachen 125. Ethnologie und Geschichte
128.
Zweites Heft.
Zahlen Yon kosmiseher Bedentungr» hauptsächlich bei Indern
und Griechen, und Wichtigkeit von Genealogien im
Mythus. Von A. F. Pott (Schluß) 129-174
Der zweileibige Gaii^a 129. Kuvära 129.
Die Dreiwelt 131. Mittelpunkt der Erde 136. Die Dwtpas
136. Vierzahl der Weltgegenden 138.
Richtungsverhältnisse des Raumes durch Mehrgliederig-
keit an den Göttern ausgedrückt 139. Bedeutung
der Neunzahl 141. Goldener Regen im Dana§mythus
und Genealogie der DanaS 147. Die Zahl Dreiund-
dreißig 148. Der hundertäugige Argus und die
Jo 150. Selenemythus 155.
Okeanos und seine Sippe in ihren Beziehungen zu den
Anfängen aller Dinge 157. Atlas und seine Genea-
logie 163.
Seite
Trita als Wassergoltheit im Indischen, Thra§taona im
Zend und sein Mythus 167. Die griechischen Tri-
tonen 170. Tritogeneia, Trito als Beiname der
Athene 173. Schluß 174.
Ist mm accadlsch-sameriseheii Ursprungs? Von Fr. Philippi 175—190
Die Hypothese Delitzschs 175. Widerlegung der Ein-
wände gegen die bisherige Erklärung 176, der Er-
klärung Delitzschs 185. Auch von ^k ist der acca-
disch-sumerische Ursprung nicht nachgewiesen 189.
Zar Pentateaehkriük. Von Dr. S. Maybaum 191—202
• Die nach K. H. Graf benannte Theorie 191. Ihr
Verhältnis zum Elohisten 192. F. Giesebrecht aber
die Entstehungszeit desselben 194. Kritik der lexi-
calischen Beweise 195. Kein Buch des Elohisten 200.
Benrteilimgren.
1) G. Vogrinz, Zur Gasustheorie. Von Hermann Ziemer 203—214
Bekämpfung der Synkretisten durch Vogrinz 203.
Seine Erklärung der Casus nach psychologisch-histo-
rischer Methode 206.
2) J. ten Doornkaat Koolman, Wörterbuch der ost-
friesischen Sprache, Band I u. IL Von H. Jellinghaus 214—222
Das im 17. Jahrhundert aussterbende Friesisch 214,
das heutige ist ein Seeniederdeutsch 217. Etymo-
logien Doomkats 220.
3) Carl Abel, Linguistic essays. Von K. Bruchmann . . 222—228
Inhalt und Methode 222. Laut und Bedeutung im
Koptischen 225. Der Aufsatz über die Liebe 227.
4) Julius Lipper t, Christentum, Volksglaube und Volks-
hrauch. Von K. Bruchmann 228—237
Inhalt des ersten Teiles 228. Der zweite Teil mit
Kritik einzelner Deutungen 230.
5) Fr. A. Lange, Logische Studien. Von C. Th. Michaelis 237—247
Inhalt der sechs Abschnitte 237. Die Raumvor-
stellung ist nicht Grundlage aller synthetischen Geistes-
tätigkeit 245.
6) Capesius, Die Metaphysik Herbarts. Von C. Th.
Michaölis 248-257
Entwicklungsgeschichte der Herbartschen Metaphysik
249. Historische Stellung 252. Wert der Herbart-
schen Metaphysik 256.
7) E. Sasse, Das Zahlengesetz in der Völker-Reizbarkeit. 1.
Von C Th. Michaelis 257-260
Kritik der Aufgabe des Werkes.
Anmerloiiig zu S. 175—190. Von Fr. Philippi 260
VI
Drilles Heft. ^^
Kant and der JBadftmonismns« Von Jul Duboc 261—280
Kants theoretbcher Gegensatz zum Eudämonismus
261. Freiheit der Vernunft von der Bestimmung
durch sinnliche Antriebe 264. Kritik dieser Kant-
sehen Auffassung 267. Der Mensch als Triebwerk
und Lust als Triebeserfüllung 270. Erklärung der
Tatsächlichkeit der gewissenhaften Handlung vom
eudämonistischen Standpunkte 278. Verhältnis dieser
Erklärung zu Kants Morallehre 280.
Bemerkung zum Yorgtehenden Anfsatz. Von H. Steinthal . 280—289
Nähere Aufklärung aber die Tendenz des Verfassers
280. Ethik von Naturwissenschaft und Geschichte
unabhängig 281. Einwürfe gegen die Kritik der
Kantschen Auffassung 283, gegen die Bezeichnung
des Menschen als Triebwerk 285, gegen die Deduction
des eudämonistischen Hauptlehrsatzes 286. Für die
Ethik unumstößlich erwiesene Punkte 288.
Die Theorie der Abschleifktng im Indogermanisehen und
Ugrischen» Von Franz Misteli 289—335
Falsche Grundsätze der altern indogermanischen
Sprachforschung 289. Uebertragung derselben auf
stammfremde Sprachen 290. Kürzung der Wort-
formen auf ugrischem Grebiete noch als Lautver-
witterung erklärt 291. Beispiele neuer abweichender
Erklärung im Indogermanischen 294. Formlose und
geformte Ausdrücke im Ugrischen und indoger-
manische Parallelen 296. Weglassuug überschüssiger
Personalbezeichnung im ugrischen Verb 304. Willkür
und Inconsequenz des Indogermanischen 311. An-
geblicher Abfall der Personalendung im Indoger-
manischen 313. Quantitätsunterschiede der Vocale
durch angebliche Kürzung erklärt im Ugrischen 319,
im Latein nach Corssen 323. Neuere Erklärung
im Latein 324. Auch für das Ugrische zu er-
warten 330.
Masken und Maskereien. Von Prof. Bastian 335—358
Entwickelung der Masken 335. Masken als Entzau-
berungsmittel 338. Masken im Toten- 342 und
Heroencult 345. Tänze und Spiele in Verbindung
mit Masken und Maskeraden 347. Verweltlichung
VII
Seite
der Bühne 353. Eine Vorstufe der Masken 354.
Gomödie und Tragödie 355. Masken entstellend 357.
Benrteiliuig.
John Koch, Die Siebenschläferlegende. Von K. Bruch-
mann 359—363
Die Legende 359. Die Siebenschläfer und die Kabiren
368. Zahl der verschlafenen Jahre 363.
Nachtrag zu S. 299 flgde. Von Franz Misteli 364
Notiz zum Duboc'schen Aufsatze von H. Steintbal 364
Viertes Heft.
Die Entdeekniig des Beharmngsgesetzes. Von Dr. Emil
Wohlwill 365—396
Einleitung: Interesse des bisher nur unvollständig ergrün-
deten Gegenstandes 365.
Aristoteles. Naturgemäße und gewaltsame Bewegung 367.
Seine Erklärung der gewaltsamen Bewegung 368.
Beobachtung des Beharrens im Altertum 370.
Mittelalter 374. Nicolaus von Gusa. Vis impressa 375.
Giordano Bruno 380. Niccolo Tartaglio 383. Die vis
impressa in ausd röcklicher Opposition gegen Aristo-
teles. Gardano 386. Benedetti 389. Zunahme der
Geschwindigkeit als Vergrößerung der Impression
390. Streben nach geradliniger Bewegung 391.
Galilei unter dem Einflüsse Benedettis 395. Gesetz
der Fallräume 402. Beschleunigung proportional der
Zeit 404. Unabhängigkeit der Entdeckung von Ein-
sicht in Beharrungsgesetz 405.
(Fortsetzung im folgenden Bande.)
Ueber den Beinlir und besondere Bedentongen des Plurals
bei Substantiven. Von Prof. L. Tobler 410—434
Singular und Plural im Verhältnis zur Zahl 410.
Bezeichnungsarten des Plurals 413. Bildung des
Plurals aus Singular 417. Aus dem Plural gebildete
Singulare 417. Qualitative Verschiedenheit der Be-
deutung des Plurals von der des Singulars 419.
Pluralia tantum 434.
VUI
Seite
Bearteilangen.
1) J. Wellhausen, Muhammed in Medina.
2) Ghristiaan Snouck, Het Mekkaansche Feest
3) Carlo Landberg, Proverbes et diciions du peuple
arabe. VolarOßi' r i \7 »*^
Von A. Müller . . ': . ,, .' 434—460
lieber arabischen Volksgeist/ 434. Vorislamitische
Gedichte uud Spxüche43^ Muhammeds Verhältnis
zum Heidentum 44^. 'IDegendarische Ausschmückun-
gen des Wäkidl 445. Vormuhammedanische Form
des Mekka-Gultus 451. Jüdische Einflüsse 453.
Referat über die angezogenen Werke 456.
4) Victor Egger, La parole Interieure. Von G.Th. Michaelis 460—473
Tatsächlichkeit der stillen Rede 460. Verhältnis
zum Denken 462 und zur äußern Rede 463. Be-
schränkung und Absonderung des Untersuchungs-
objectes bei Egger 465. Scheidung der Phänomene
in äußere und innere 470.
(Fortsetzung im folgenden Bande.)
Schlussbemerkung zu dem Aufsatz: Kant und der Eudä-
monlsmus. Von Jul. Duboc 473—476
Of THC
ÜNIVER8ITY
Zahlen yon kosmischer Bedentnng,
hauptsächlich bei Indem und Griechen,
und Wichtigkeit von Genealogien im Mythus,
Their langnages and niythology constitate
tfae internal tnio and only History of piimitiTe
races and are by tax the oest ezponents of their
real condition as tbinlnng and acüng Beings.
B. H. Hodgson.
Fragen mit zahlreichen Unterfragen, zu deren Lösang
verbündet Naturforseher und Philosophen in gemeinsamem,
mehr oder minder erfolgreichem Kampfe mit der wirren und
knotenreichen Aufgabe noch heute sich abmühen, haben im
Hirne des Erdensohnes, seit er denkt, — und zu welcher
Zeit und unter welchem Volke war das nicht der Fall? —
gespukt und eine Beantwortung gefunden. Freilich gab
Antwort hierauf dieser in seiner Art, d. h. in einer kind-
lichen, zuweilen, wie uns Spätlebenden scheinen will, kin-
dischen, ja mitunter vernünftigen Sinnes schier ermangelnden
Unbefangenheit, welche die schwersten Steine wissenschaft-
lichen Anstoßes mit leichtem Herzen und mit durch nichts
gehemmtem Fuße überspringt. Noch lange bevor zu Befrie-
digung des Wissensdurstes, welche den menschlichen Geist
quält und drängt, behufs Verständnis von Mikro- und Makro-
kosmus die ersten, grundlegenden Vorbedingungen erfüllt,
namentlich langjährige und streng geregelte Beobachtung
sowie gereifte, mit kühler Besonnenheit forschende Verstandes-
Zeittchr. für VOlkerpaych. nnd Sprachw. Bd. XIV. 1. 1
2 A. F. Pott,
kraft ihre Schuldigkeit getan, ließ eine aufgeregte Phantasie
ihrem rasch dahineilenden Flügelrösse die Zügel schießen.
So kam es, dass durch dichterische Kühnheit geschaffen und
bald so bald anders gewendet aus der wirklichen Welt
heraus sich neben sie eine andere, eine Welt des Scheines
stellte. Und ward nun letztere von dem Menschen, obschon
sein eigenstes und nur sein Werk, eine wirkliche nokiatg,
für gegenständliche Wahrheit genommen, und überdies mit
Wesen höherer, ihm selber ähnlicher, allein auch an Weisheit
und Macht ihn weit, weit liberragender Art bevölkert, vor
denen, gleich Beherschern seiner Geschicke, er in heilig-
ernster Demut, ja voll banger Scheu das Knie beugt, und
deren Gimst er sich durch Opfer und sonstige Bezeugungen
der Ehrfurcht zu erwerben wie auch ihren Zorn abzuwenden
eifrig bestrebt ist. Und gleichwohl sind das in solcher Fassung
und in der Vielheit Gebilde bloß in ihm, nicht wie der All-
einzige, Wirklichkeit außer ihm.
Es ist die Rede, wie man sieht, vom Mythus, dem
wir allerorten, bald in äußerst dürftiger, bald in mehr oder
minder ausgearbeiteter und geistreicher Form, wie auch in
mannichfaltigster Lebendigkeit begegnen, und von dem sich
gänzlich loszusagen selbst den gebildetsten Völkern nur schwer
und kaum völlig gelungen ist So groß erweist sich das
Bedürfnis der Menschenseele, von der Weltordnung und dem
geheimen, aber gleichwohl in ihr. so unendlich wirksamen
Getriebe der mächtigen Naturgewalten, gegen welche der
arme Sterbliche rücksichtlich seines Wohl oder Wehe sich
ohnmächtig und in steter Abhängigkeit fühlt und weiß,
einigermaßen den Schleier zu lüften. Und wo ihr der Auf-
schluss über die ursachlichen Zusammenhänge des Waltens
im All als nüchtern prosaische Wirklichkeit versagt bleibt,
doch wenigstens nach einem eingebildeten und erträiunten
zu haschen, und glaubens-innig daran festzuhalten, lässt sie
nicht ab und fährt Jahrhunderte hindurch fort, die in
gedachter Richtung angeknüpften Fäden fortzuspinnen, mit
neuen einheimischen oder von fernher überkommenen zu
verknüpfen und alles dies zuletzt zu einem großen bunt-
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 8
farbigen Gewirk verwebt von sich auf Kind und Enkel zu
v^nerben. Demgemäß handelt es sich vor Allem um ersehnte
Audcunft, wie über unseres Geschlechtes Ursprung, Wesen
und sittliche, noch über des Einzelmenschen kurze Lebens-
dauer hinaus dessen Loos bedingende Pflicht, so um dreist
speculative Lösung kosmogonischer Rätsel. In letzterer
Rücksicht demzufolge um das Wie, Woher und Wohin dieser
uns umgebenden unendlichen Welt mit allem in ihr Vorhan-
denen, ihren verschiedenen wunderbaren Gliedern, Kräften,
gegenseitigen Verhältnissen und den Vorgängen großartiger,
zum Teil in wohlgeordneter Wiederkehr erfolgenden Natur-
ereignisse. Alles Erscheinungen, welche auch unbegriffen
den Sinn zu bewunderungsvollem Staunen fortreißen und,
wie von unsichtbaren Händen hervorgebracht, ihn durch
den Zauber eines geheimnisvollen Mysteriums gefangen
nehmen. Da wirken und schaffen nun dem Menschen bald
feindselig bald gegen ihn gut gesinnt, fruchtbaren wie land-
verwüstenden Regen entsendender Himmel und die AU-
em&hrerin Erde mit Feld, Berg, Wald und Tal; Sonne,
den Fluren wohltätig oder sie versragend, desgleichen Mond
und Gestirne mit Tages- und Jahreswechsel; Kriege und
Frieden unter den Menschen entsprechend Liebe und Hass
(Eros und Polemos) in der Natur, wenn ihre Kräfte oder
Elemente einander liebevoll suchen oder in Widerstreit und
Aufruhr geraten: die bewegte Luft sammt Winden linder,
abkühlender Art und anderen, welche wild daher brausen,
die stärksten Bäume entwurzeln und Schiffen Gefahr bringende
Wogen aufwühlen; im Erdenschoß wütendes Feuer, und
Feuer mit Donnerschall und herabströmendem Wasser geeint
im Gewitter; der buntfarbige Bogen ^ welcher sich zeitweise
über das Wolkenmeer bin ausspannt; Ocean und die sich
mit ihm vermählenden Flüsse u. s. w. Dies und so manches
Andere, darunter namentlich noch solches, was den Menschen
unimttelbar angeht, Geburt und Tod, Ehe und das Haus,
Besitz, Schicksal, Tätigkeiten wie Ackerbau, Jagd, Sorge
für die Herden, Gewerbe, z. B. Schmiedearbeit, selbst Künste
und Wissenschaft, wie u. A. Stern- und Heilkunde, Handel
1»
4 A. F. Pott,
zu Land und Wasser; ethische Begriffe: die Themis, welche
das Recht abwägt, und Eidschwur; Treue und gerechter,
gottesfürchtiger Sinn, das Mitleiden, "Eleog; Freiheit, Mann-
haftigkeit mit Kampf und Sieg, aber auch geistbetörende
Verblendung und Schuld, Rächerinnen der Missetat und
Schlangenbisse des bösen Gewissens, — sie alle, alle müssen
sich gefallen lassen, gelegentlich zu lebenatmenden Personen
umgedichtet und im Geiste als solche gedacht und behandelt
zu werden. So gut wie selbstverständlich aber ist: derartigen
mythischen Wesen muss, in so fern der Mensch sich selber
wie zum Nachbilden jener saß, auch alles Menschliche, nicht
bloß allein, was Löbliches an ihm, anhaften, nur freilich zum
Ueberraenschlichen hinaufgeschraubt und potenzirt. Solcher-
gestalt schreiten Götter und Untergötter (die sind ja natür-
lich gemeint) verschiedenen Ranges und mit bald weiterem
bald beschränkterem Geschäfte und Amte innerhalb des
großen Götterstandes betraut, — Einen Allkönig oder mehrere
Herscher an der Spitze, — jeder zumeist in dem, ihm im
Besonderen zugewiesenen Gebiet als dessen Vorsteher und
Lenker, falls nicht selbst Urheber, schaltend und waltend
daher. Und ferner begreift sich leicht: der jedesmaligen
Gottheit Geschlecht, Gestalt und Aussehen, ihre Verbindungen
mit anderen durch Blutsverwantschaft oder Heirat, ihr je
nach dem Charakter oder in verschiedenen Situationen un-
gleiches Sinnen und Trachten, auch der Inbegriff der von
ihr vollführten Taten müssen, wennschon nicht innerhalb
allzu eng gesteckter Grenzen, doch der Hauptsache nach in
angemessenem Einverständnis sich erweisen mit der, wo
nicht ursprünglichen und einzigen, doch wesentlichsten Auf-
gabe, die zu erfüllen ihm obliegt. Taten, sagten wir, der
Götter? Nun gewiss; keine Person, und die Götter sind ja
Personen, ohne Handlung sowenig als ohne Denken und
Fühlen; und so entsteht allmählich eine eigene Götter-
geschichte, welche oftmals, mit Heroentum und Helden-
sage verquickt, zumal wenn euhemeristisch umgedeutet,
wieder hinabgezogen wird in die irdische Welt durch An-
knüpfung an bestimmte Völker, Städte und andere Oertlich-
* iZahlen von kosmischer Bedeutung. 5
keiten, vorzuglich dann, wenn eine Gottheit dort besondere
Verehrung als Schutzmacht genießt.
Wenn anders aber der Mensch, auch sollte er unter
allen Objecten seines Forschens nicht selber der wissens-
wurdigste sein, doch ohne Widerspruch zu den wichtigsten
zahlt: dann verdiente auch sein über sich hinaus erwachtes
Sinnen und Denken, sein dem Ueberirdischen zugewendeter
Einderglaube, wie voll Irrthümer sie stecken, und trotz häufigen
Verlaufens in widerwärtigen Aberglauben unsre ganze volle
Aufmerksamkeit. Kaum minder als die ungezählte Menge
von Sprachen, auch eine wunderbare und vielgeartete
Schöpfung des Menschen im Völkerfrühling. Oder vermeint
man, deren weitausgreifendes, in die Tiefe grabendes, nament-
lich auch sie vergleichend zu einander haltendes Studium
werde nicht, noch abgesehen von dessen praktischer Verwer-
tung, durch Erschließung so mancher dunklen Seiten des
Menschengenius in reichem Maße und von Tage zu Tage
mehr die aufgewendete Mühe lohnen?
»Wer den Dichter will verstehn, muss ins Land des
Dichters gehn.c Freilich, die Sprache der Dichtung ist eine
andere, ja muss, wenn sie uns anmuten soll, eine andere
sein, als die der reinen Prosa. Der Mythus aber, überallhin
von dichterischem Geiste durchhaucht, vergleicht sich deshalb
einem kastalischen Borne, dem mehr als eine der schönsten
Dichtungen entflossen; und aus ihm geschöpft hat begeistern-
der Trank, wie Poesie so darstellende Kunst überhaupt, von
je das Wesen, welches nicht bloß vom Brote zu leben ver-
mag, mit immer neuen Lebensfrische gestärkt und gelabt.
Spricht doch auch wirklich er eine andere uns Prosa-Menschen
ungewohnte Sprache, zu deren Verständnis uns kein Wörter-
buch, keine Grammatik hülfreich zur Seite steht. Und doch
frommte es, in dem Mythus auch einmal dem nackten, des
dichterischen Gewandes entkleideten Gedanken nachzuspüren,
der ihm ja hier und dort zu Grunde liegt. Um deswillen,
damit man jenem, gleichwie durch Entzifferung hieroglyphisch-
änigmatischer Schrift, eine Auflösung und Uebersetzung aus
6 A. F. Polt, ♦
trunkener Poesie abgewinne in ernüchterte und einfach ver-
ständliche Prosa.
Die Mythologie weiß uns von so Vielem zu berichten,
das auf den ersten Blick und an sich wie vernunftbaar aus-
sieht, während es doch, ins rechte Licht gerückt, diesen
Vorwurf entweder gar nicht mehr oder doch in minderem
Grade verdient. Ja, es kann kommen, dass der Anschein
von Unvernunft, sobald von der Hülle eines kecken, aber
treffenden Spieles der Phantasie befreit, sich als inhaltsvolle
Wahrheit entpuppt. Streng logische Folge darf man in dem
mythischen Gedankengange freilich nicht voraussetzen. Ebenso
schwindet das namentlich im Punkte der Geschlechtlichkeit
Anstößige, was uns in mythischen Erzählungen begegnet,
wie häufige Buhlereien der Gk)tter, die Darstellung des Priapus
als Muiunm (vgl. nmto m.), sowie der Phallus im Dienste
des Dionysus und Gebrauch von Linga und Yoni im Gült
der Inder, — oder mildert sich wenigstens, wird der richtige
Schlüssel zu ihrem Verständnis gefunden. All dergleichen
beruht auf symbolischer Verwendung desselben, wie denn die
Geschlechtsteile meist in aller Unschuld auf die Nützliches
enseugenden und fruchtbringenden Kräfte der Natur hinweisen.
Schwerlich war es eine Frivolität, dergleichen etwa dem
Aristophanes zuzutrauen, wenn er den Zeus beim Regnen
S^ä xoifxiyov odgetv lässt, bezeichnet der Inder seinen Indra
mit dem nicht gerade ästhetisch klingenden Zunamen eines
Widderhodigen, mSskäAdii. Es liegt ja offen zu Tage,
durch solche Vergleiche mit dem Mehrer der Herde soll der-
jenige Gott, in welchem die Veden den namentlich in
Tropenlanden für Flur und Feld so notwendigen Gott des
regenspendenden Himmels verehren, sinnbildlich als Heil-
bringer und Wohltäter der Menschheit bezeichnet und ver-
ehrt werden. Eonunt doch in dem Grundgedanken nicht
allzu verschieden davon heraus, wenn die ephesische Artemis,
ihrer Jungfräulichkeit zum Trotz, als fnuUimafnmia darge-
stellt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach dies in ihrer
Eigenschaft als Mondgöttin, weil ja in der Aufeinanderfolge
von Monaten, und so gleichsam unter den Schutz jener
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 7
gestellt, die Menge Tier wie Menschen notwendiger Nähr-
pflanzen zur Brauchbarkeit gelangt. So wird sie also gleich-
sam zu der Allmutter Natur, aus deren milchstrotzenden
Brüsten jeglichem, was lebt, die Speise gewährt wird, die
es zu seines Leibes Notdurft bedarf.
Zum Verständnis einer mythischen Persönlichkeit dient,
wie sich leicht begreift, in erster Reihe aufmerksames Ver-
folgen ihres Gesammt-Habitus und Behabens. Allein
von besonderer Wichtigkeit hiebei ist auch der stemmatische
Punkt, welchen sie in Verwantschaft nach oben, unten
oder seitwärts, desgleichen durch Heirat einnimmt, und am
wenigsten gleichgültig etymologische Aufklärung, wo
anders diese gelingt, ilu^es natürlich ja bedeutsamen Namens.
Belegen wir dies sogleich durch ein Beispiel. Die Griechen
fabelten von alten Sängern in Thracien, wie dem Thracius
Orpheus; dem schon durch seinen, mit der Muse Melpo-
mene zusammenstimmenden Namen hinlänglich gekennzeich-
neten Humolpus; dann dem Musäus, nach dessen Beziehung
zu den Musen man m'cht weit zu suchen hat, und dessen
Sangergabe sich femer dadurch verrät, dass er als Schüler
des Orpheus gilt, und Sohn des Eumolpus oder auch des
Hiamifras genannt wird. Letzteres ist bloße Variante von
Thamyris, welcher Name sich, wie ich glaube, aus &afAVQig, ^,
beim Hesychius nvxv&riig TtviSv, atSvodogj nav^yvQ^g dahin
erklärt, dass er gleichsam personificirt die dichte Zuhörer^
Schaft (Corona) vorstellt, welche um den Sänger versammelt
den Tönen seiner Lyra lauscht. Thamyris war angeblich Sohn
des 0$Xdf$fMv\md der Nymphe W^^M/r^. Was bedeutet das?
Jener erste Name als gleichfalls der eines Sängers entzieht
sich meiner Beurteilung. Bei dem auch vorkommenden
eines Faustkämpfers ließe sich zur Not auf das Bestreuen
mit Sand, äfAfMg behufs Ringkampfes, wo nicht an das Um-
schlingen, afifia, dabei ratea Hätte sich aber ein solcher
Name auf einen »Liebhaber des Wettgesanges« übertragen
lassen? Auch wüsste ich etwaigen Bezug zum ägyptischen
Zeus Ammon nicht zu rechtfertigen. Weiter sodann mit dem
Namen der Nymphe kommt man gleichfalls einigermaßen in
8 A. F. Pott,
Verlegenheit, wie beim evQvona Z&iq. Soll man ihm o^,
Stimme, wie KaiMoni/^ oder im Sinne von Auge, Gesicht, z. B.
im Frauennamen *Pod6nfj (Rosen -Antlitz), at&oip dunkel-
farbig u. s. w. im zweiten Gliede unterlegen? Zwar reden
die Römer von einer vox et Candida et fusca; allein das
beweist nichts für das Griechische, das zwar äqyioöov^ hat,
aber nichts dem Latein Aehnliches. Wir kommen daher
nicht um »eine mit weißem Antlitzec herum, wie gern wir
uns sonst in obigem Zusammenhange eine helle Stimme
gefallen ließen. Dass aber ein mit Schnee überdecktes Land
unter dem Namen verborgen liege, ersieht man aus einer
unabweisbaren Parallele. Da haben wir die nach dem Schnee
benannte Xtovii^ Tochter des Nordsturmes Boreas und eines
weiblich gefassten Windes ^Sigsit^vta, d. i. Bergdurchstürmerin,
und Mutter, anscheinend wenig dazu geeignet, eines andern,
des auch schon erwähnten mythischen Sängers Eumolpus.
Ja ferner gebar eine Ghione Zwillinge : vom Musengotte den
Philammon. Aber von dem seiner Listen wegen berühmten
Hermes den Autolykus, d. i. ganz Wolf (vgl. jivtoliwv),
welcher vermöge seines Namens und als Herdendieb sich
hinlänglich charakterisirt. Will dies etwas anderes sagen,
als: das gegen Hellas winterliche und stürmische, noch von
Wölfen bewohnte Nordland war, aus welchem Grunde, wäre
eine andere Frage, die Geburtsstätte vieler gefeierter Sänger?
Bewiesen wird das nicht nur durch den Threkittö Boreas
oder Aquüo, sondern femer durch die Thr^dae hiemes
Lucan. 7, 833, und den nivosus Strymon Ov. Trist. 5, 3,
21. Es steht aber Ghione (s. z. B. Jacobi Hdwb.) als Schnee
auch anderweit mit Wasser imd Wind in ungesuchter
mythischer Verbindung. So ist eine dieses Namens »Tochter
des Flussgottes Neilos und der (Schönslrömerin) Kallirrhoe,
einer Tochter des Okeanos, die das Landleben liebte [als
Schnee sich über die Erde ausbreitet], von Hermes aber,
auf Zeus' Befehl geraubt und [wieder zerschmolzen und ver-
dunstet] in die Wolken gehüllt wurde. Daher heisse [nein,
umgekehrt!] der Schnee auf griechisch %iovsg. Serv. Virg.
Aen. 4, 250.« — Die unserige aber hat zur Schwester Eleo-
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 9
patra und zu Brüdern Zetes und Ealais, welche letztere, mir
in ihrem Namen dunkel, doch als Argonauten und zwar mit
Flugebi versehen, eine Beziehung zu, durch günstigen Wind
aufgebläheten Segeln durchblicken lassen. KdXaig^ $3og ließe
als Sohn des Boreas, etwa auf einen »Schönweher« aus äfjfi$
raten; hat aber sonst die Bedeutung eines »meergrünen«
Edelsteins, des Türkises, mit welchem Murad Effendi, wie
ich mich entsinne, mehrmals die Farbe des Meeres vergleicht.
War es jenes Brüderpaar doch auch, welches den thrakischen
König Phineus von Belästigung durch die Harpyien, d. h.
fortraiFende Stürme, befreite! Diese Chione, erzählt der
Mythus weiter, »gebar von Poseidon den Eumolpus und
warf den Knaben, um ihren Fall zu verheimlichen,* ins Meer.
Poseidon aber rettete ihn.« Wer entsänne sich hierbei nicht
des durch emen Delphin geretteten Citherspielers Arion?
Um so mehr, als diesem gleichnamig ist das mit Sprache
und Seherkunst begabte Pferd (eine Art Pegasus?), welches
vom Neptun dem Adrastus geschenkt worden. In sinniger
Weise wird, sollte ich meinen, durch den Schutz, welchen
sogar der stürmische Ocean dem Sänger angedeihen lässt,
nicht nur der Sturm der Begeisterung und Leidenschaft
angedeutet, welcher in des letzteren Inneren wogt und tobt
und ihn zu verderben droht, sondern auch die Rettung
daraus. Die Macht der Töne und des dichterischen Wortes
bezwingt nicht bloß alles Lebendige, was ihm zuhorcht (vgl.
z. B. Orpheus, wie nicht anders Wäinemöinen der Finnen),
selbst wenn es des Lebens ermangelt (Beweises genug die
Sage von Amphion), sondern wirkt auch befreiend von
Uebel und reinigend auf den, welchem jene göttliche Gabe
verliehen ist. Negat sine furore (fMxvia) Democritus quem-
quam poetam magnum esse posse; quod idem dicit Plato.
So Cicero. Wie nun, sollte nicht in dem Lebensende des
Orpheus, abermals ein6s thrakischen. Sängers, dessen wir
noch kurz gedenken wollen, Aehnliches dem Griechen volke
vorgeschwebt haben? »Seinen Tod fand er in Thrakien,
wo ihn die Mänaden zerrissen, weil er sich der Feier der
Orgien widersetzte.« Mahsc^m^ woher Ma^vag^ wird ja
10 A, F. Pott,
nicht bloß vom weintrunkenen Dionysos gesagt, sondern
auch von poetischer und prophetischer Verzückung und
Raserei (vgl. fMpt^g). Der also musste Orpheus, obgleich
des Apollon (vermutlich mit, weil dieser auch *rn€Qß6QB$og)
oder Oiagros (dieser, als wildes Schaf, wohl für Bewohner
von Thrakien genommen) und der Muse Kalliope Sohn, zum
Opfer fallen, obschon Stifter bakchischer und sonstiger Myste-
rien und geheimer Weihen verschiedener Art. Da ogg^
Finsternis, insbesondere Nachtdunkel, doch wohl mit Sgo^
Dach, und dem finsteren "Efeßog gleichen Ursprungs, d. h.
aus iqiipm^ bedecken, sein möchte, wage ich auch den ^Oq^svq
damit in etymologischen Zusammenhang zu bringen. Er
hätte darauf einen doppelten Anspruch. Einmal als »Ver-
hüller« von Geheimnissen, und zweitens wegen seiner Beziehung
zur Schattenwelt. Gegen das Totenreich ist der Sänger,
wie groß sonst seine Macht sei, machtlos, und auch dem
sangesgewaltigen Orpheus gelingt, sein Teuerstes durch
Wiederkehr zum Leben zurück zu erhalten, freilich nicht
ohne entschuldbare Schuld, nur halb. Muss doch auch
EvQvSintf^ d. h. die weithin (auch wohl über die Verstorbenen)
Gerechtigkeit übt, bei den Richtern der Unterwelt verbleiben,
sie, die den Verlockungen selbst eines Aristäus mit seinem
Gutes vorbedeutenden Namen und segenreichen Charakter
widerstand. Es sei aber zu Bewahrheitung des Namens-
ursprunges von Orpheus noch daran erinnert, dass die
erklärlicher Weise schwarzen Rosse, womit Hades Perse-
phone entführt, beim Claudian Orphnaeus (von o^yv^),
Aßthan (brandfarbig), Nykteus (nächtlich) und Alastor
(den Missetäter als Rächer nicht vergessend) heißen. Da-
g^en naturgemäß Aurora croceis roscida equis. Pedo
Albin. 282.
Fügen wir dem obigen Mythus einen zweiten bei, der
uns noch von anderer Seite interessirt. Es spricht Lucr.
5, 28 von der tripectora tergemini vis Otrycmai. Was
solFs mit einer so unschönen und naturwidrigen Dreigestalt?
Das Rätsel erklärt sich alsbald, vermögen wir darin einen
Wolkendämon nachzuweisen, in welchem zur Zeit des Gewitters
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 1|
nicht nur die sonst einander bekämpfenden beiden Elemente
Feuer und Wasser, sondern auch, als drittes, der dumpf
erdröhnende Schall sich zu einer Einheit verbinden, r^^ved^g,
auch €vg hat von ff/Qvgj Stimme, Ton, Schall, hier als Donner-
stimme gemeint, seinen Namen, und, weil Sohn des Chrysaor,
also Goldschwertes, d. i. Blitzes, und der Schönströmerin
Kallirrhoe (will sagen: die Fluren tränkender Regen), tritt
die geforderte Dreiheit klar zu Tage. Es ist, als dächte
man sich den Zcrg, d. i. Himmel, in der Eigenschaft von
OfißQiog, vitiog^ auch £17^, Jupiter pluvius, dann v^^QefUtti^j
ßgowalog {v st. p) oder tanans, und drittens a(S%$Qoni^lig
fuigwraior, fvlminatar in eins verwachsen. Eine solche Miss-
gestalt hätte hellenischer Schönheitssinn zum wenigsten als
obersten seiner Götter geduldet, der höchstens als Blitze-
schleuderer zur Darstellung kam. An einem untergeordneten
Wesen, wie Geryones, gestattete man sie sich gleichfalls wohl
nur vor dem Auge des Geistes. Der wirkliche Sinn dieses
Ungetüms bestätigt sich aber noch anderweit. Kallirrhoe,
b^eiflicher Weise Tochter von Gottheiten, welche dem
Wasser vorstehen, wie der Okeanos oder Poseidon, auch von
Flüssen wie Achelous und Skamander, gebar dem Chrysaor
die Echidna, worunter alsdann nur der schlangenähnlich sich
windende und zischende Blitz (s. Schwartz, Urspr. S. 32.
36 ff. Wolken S. 122) gemeint sein kann. Dann soll Geryones
als dreiköpfiger König in Spanien auf der Insel Erytheia
ausgezeichnet schöne Rinder besessen haben. ApoUod. 2, 5,
10. Jener Wohnsitz des Geryones und seiner Tochter ^v^bm
(sonst auch eine so geheißene Hesperide) Paus. 10, 17, 4
nach dem Westen hin, könnte zumal vermöge des Klanges
in ihrem Namen als Rötliche, sich auf die Abendröte
beziehen. Ob aber die Alten Gewitter vorzüglich bei West*
wind sich entladend geglaubt hätten, bedünkt mich zweifel-
haft, und hat deshalb vielleicht Schwartz so Unrecht nicht,
wenn er Urspr. S. 186 meint, die rötlichen, vom Gewitter-
feuer funkelnden Wolken hätten in der Geryones -Sage die
Vorstellung von rötlichen Rindern hervorgerufen, die der
Sonnenberos Herakles entfuhrt. Dunkelfarbige Rinder für
12 A. F. Polt,
Wolken. Simrock D. M. S. 224. Das Vergleichsdritte läge
dann etwa bloß in der gemeinsamen Farbe vom Blitz ge-
röteter, obschon auch den Himmel darauf alsbald wieder
verdüsternder Wolken und von dem Rot bei untergehender
Sonne. Beachtenswert bleibt in den Erzählungen vom
Geryones (s. z. B. Jacobi Wb. S. 409.) noch manches Andere.
Wenn ihm als xgtiffofAatog ßot^Q ^Egv^siag Spätere sechs
Hände und Füße gaben, so ist das bloße Gonsequenz von
seiner Dreileibigkeit, wenn aber überdies vier Flügel, d. h.
Sturmesflüge], so liegt darin wohl ein Fingerzeig nach Herauf-
ziehen des Gewitters von einer der vier Windrichtungen her.
Auf eine Haupt- Richtung, welche der jedesmalige Wind
einschlägt, wenn nicht gerade ein Cyklon, in welchem
Sinne etwa der Kentaur '!Afig)iwv beim Diodor gemeint ist,
scheint der Nachdruck gelegt, bei dem Namen des Indi-
schen Sturmes -Genius ajds ekapod. Das P. Wb. übersetzt
»der einfüßige Treiber«. Ich möchte aber nicht allzusehr
widerstreben, falls jemand im ersten Worte — der Windstöße
wegen — einen (stößigen) Ziegenbock (auch ajas) finden
wollte. — Bedeutsam ferner ist der Name des Hirten, welcher
des Geryones Rinderherden bewacht. Wie ließe sich nämlich
im EvQvtiwvy Sohn des Ares und der Erytheia, bei dessen
Herkunft aus svQvtogj reichlicher Regenerguss, als trefflich in
die Sage hineinpassend (Preller Gr. Myth. S. 203, der freilich
bei Geryones mehr an winterliches Wetter denkt), verkennen?
Und muss demnach Herleitung aus ev^v^ nach etwaiger Ana-
logie von jitnvroQj Mlvvrogj "'Sixvtog^ 'Hövtw, dagegen auf-
gegeben werden. Ares des Kampfes im Gewitter wegen.
EvQvtiwv hieß ja desgleichen einer der Kentauren.
Diese hat zwar A. Kuhn Ztschr. I. 513 fgg. mit den Indischen
Gandharva, auch etymologisch, in Einklang zu bringen
versucht, was jedoch — wenigstens für mich — überaus
gewagt erscheint. Die Beziehung von Gandharva zu dem
Soma, als Götter-Trank, die ihm zugeschriebene Kräuter-
kunde, ferner die Angabe, dass die Gandharva (in der
Mehrheit) aus Brahmas Nasenspitze entsprungen, könnten
lebhaft an gandha, Geruch, erinnern, und, um so dringen-
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 13
der, da Bekämpfung des Gandharva durch Indra, um für
die Menschen Soma, d. i. Regen (damit gleichen Ursprungs
v€*v)^ zu gewinnen, den Schwefelgeruch des Blitzes (gan-
dhaka ist Schwefel) mit einschließen könnte. Wäre nicht
denkbar, Oandharva hieße der Duftige, aus einem, freilich
nur nach Weise von ahas, aha/r , Tag, vorauszusetzenden
Neutrum ganähas mit Suffix -va? Doch gleichviel. Das
griechische KivtavQog gibt für sich, ohne dass man es mit
Gandharva zusammenzuzwängen brauchte, ein nach allen
Seiten genügendes Etymon. »Nach der gewöhnlichen Sage
sind die Kentauren Söhne des Ixion (s. über diesen später)
und der Nephele (Nubes), oder der Wolkengestalt, welche
Zeus statt der Here jenem preisgab«, und die Hippokentauren
sollen aus Begattung des Eentauros mit magnesischen Stuten
entsprungen sein. Wer kann nun daran zweifeln, dass wir
in ihnen rider of the clouds (bei Ossian) vor uns haben,
welche, wie der Reiter sein Ross spornt, ihrerseits vom
Spornen (xevtetv) der Luft (aiqa) den Namen mit vollem
Recht tragen. Vgl. nXffiavQn KZ. 6, 272, wie UXii^mnog,
und FaXa^avQfi (mit milchweißen Luftblasen, und Schaum
in die Luft spritzend) als Töchter des Okeanos und der
Tethys, und bei Horaz aquae salubres et lovis aurae. Geht
man überdem das Verzeichnis der Namen von Kentauren
bei Jacobi, so auch in Ovids Metam. XII, durch, so finden
sich darunter nicht wenige, in welchen ihr auf Wolken- und
Gewitter-Bildung bezügliches Wesen sich zur Genüge offen-
bart. So sind nach der Schwärze benannt: MsXave^g und
Melanchätes (Schwarzhaar), Phäokomas (grauhaarig). Nach
dem Donnerschall Jovnatv und ""EqiYdovnoq (so doch wohl
trotz y bei Ovid); Bromus und TijXsßöag (fernhin die
Stimme erschallen lassend). Chromis a fremitu. Auch
"Oftadog Kriegslärm, Kampf. Vom Blitze hergenommen aber
scheinen Jix%vq^ d. h. doch wahrscheinlich »Werfer« (vgl.
d$»BXv^ diiSMog), jacidator fidminis. Ov. 339, stürzt er vom
hoben Berge herab, et pondere corporis omum Ingentem
fregit Den Ripheus erklärt man, der Länge vom wegen
kaum sprachgerecht, aus ^ttp^. Sollte man nicht aber h
14 A. P. Pott,
fortlassen dürfen, und dann di6 Erklärung in ^^n^ Boqiao
suchen, welchem auch das fabelhafte Gebirge vd ^Pmata Sqi/
am Nordrand der Erde seine Namengebung verdanken mag?
Nach dem feurigen Glanse PJdegraeus^ PjfrekiS^ unstreitig
nv^Btog Gluthitze, zufolge Ov. M. XII. 449, wo aber
die Quantität eine Umstellung von PMphania P^rSH am
Schluss des Hexameters zu verlangen scheint. Oder wie
ttfio^og etwa von /rv^a, mit Feuerstätten versehen? Der
Lapithe Usgi^ag bringt jenen Kentauren um. Also ein Rings^
leuchtender (Sonnenschein) vertilgt, — gleichsam homöopa-
thisch — ein Feuer, das andere. Auch securiferumque
Pyracman soll, vermute ich, den im Feuer Unermüdlichen
besagen. Qrgnem welcher Ov. 260 zu Feuerbränden als
Waffe greift, verrät hiedurch deutlich seinen Ursprung aus
ygvvdg. "AaßoXog^ Ruß, mag doppelsinniger Weise auf
Schwärze, schon der Wolken an sich, allein auch durch
Brand, anspielen. Vgl. niveis Leucon et villis Asbolus atris,
Hunde. Ov. M. 3, 218. Den Regen vertritt, außer EurtftMs
Krenaem, indem sich ja die Wolke füglich einer Quelle
vergleichen lässt. Ich weiß nicht, ob Imbreus Ov. 310,
als dem Lat. imber angepasst, doch eigentlich den Zeus
''OftßQtog zum Vorbilde hatte. — Nach Rossen: Hippasus
von InnaCofMM^, mithin Rosselenker. Vgl. n^yaaoq von
nfiyd^f»^ aufsprudelnd wie ein Quell, Hippokrene. nipp<h
tum wahrscheinlich von innoxf^g wie ^AQ%s%itü¥ (äQx^^9)j
Jtjftovimy (d^ikitffg)^ *lq>$%iwv ("ifpitogjj während Idvi^tnindv
eher eine hypokoristische Kürzung aus Urd(}itifiog enthält.
Mönychus d. i. Einhufer. *iaonl^g enthält meines Be-
dunkens auch eher onXij als Sniov: hufartig oder mit gleich-
mäßigem, ungespaltenem Hufe, solidipes? — Den Ausdruck
von Gewalttätigkeit und Kampf schließen ein: Bianor.
MifMgj avToc, anstürmend, als Part. Präs., ähnlich wie
iY%Biffa$ fUfHuirsg, Desgleichen Mi^fkSQog wegen großer
Kri^^aten, ikiqiAsqa l^ya. Antimachus und auch wohl
nBitfifvwQj als sinngleich mit IJeitfavSQog^ dem Sohne eines
Antimachus. Dorylas wie Jofvlaog: ein mit Speeren (Blitzen)
bewaffiietes Volk anführend. — Auch das Staunen, welches
Zahlen von kosttiisehet Bedeutung. 15
das Cremüt während des Gewitters oder beim Anblicke des
Regenbogens ob dieser Wunder (&avfia idia^a$) empfindet,
erhalt im €tov/E*ac, awog seinen Ausdruck. Nicht nur aber
führt einer der Kentaurenschar diesen Namen, sondern
ferner ein Sohn des Pontos und der 6e, welcher mit der
Okeanide Elektra (also Wasser und Lichtglanz) die Iris und
die Harpyien (fortraffende Stürme) zeugte. Odites aber bei
Ovid wird als iditiig »eilende Wolkenc auf ihrer Wanderung
bezeichnen, und OmSus deren Vogelfluge vergleichbares
Dahinziehen. — Aphidas, *Afpsidag, könnte, bei Berück-
sichtigung von dg>BiS^g, auf eine zwiefache Deutung führen.
Einmal ließe sich, wenn zunächst auf den Blitz bezogen
gedacht, einer herausdeuten, der selbst den Menschen nicht
schont. Da ihn aber Ovid 317 als, nachdem er sich im
Weine übernommen, vom Nährgenius Phorbas getötet dar-
stellt, rät man wohl besser auf »nicht sparsamenc, d. h.
zu reichlichen und deshalb vielleicht durch Ueberschwemmung
Auen und Fluren nachteiligen Regen.
Welches sind aber die Mächte, die den Kentauren trotz
deren Stärke das Garaus machen? Naturgemäß doch vor
Allem Lichtwesen, welche den Himmel wieder von den
Wolkenmassen befreien und ihm sein ungetnlbtes heiteres
Antlitz zurückgeben. Das müssten nun Aanl^q und sein
Geschlecht in Thessalien bedeuten. Hiefür liefert dann wohl
den Beweis, dass, wenigstens zu Folge einer späteren Sage
(Diod. IV, 69.), jener Stammherr der Lapithen, übrigens ein
Bruder des Kentaurus, Apollo und Stilbe (Glanz) zu Aeltem
hat, und durch seine weitere Verwantschaft, wie als Gemahl
der Orsinome, einer Tochter des Eurynomos, als Förderer
der Weiden und Triften (vo^i) sich kund gibt. Kein
Zweifel, dass für diese beiden zum Segen des Menschen ein-
ander stetig bekämpfenden Mächte Wärme und Sonnmschein
^er- und wohltätiges Unwetter andererseits, nach späterer
Vorstellung vom Himmel zur Erde herabgezogen, die Scenerie
nach Thessalien verlegt wurde, unstreitig mit, weil dies
Land durch seine Rosse und Reiter berühmt war. Daher
ja erklärlich, warum für die Thessali ci equi laut Virg.G.
16 A. F. Pott,
III. 115. Frena Pelethronii (nach einem thessalischen Gebirge)
Lapithae gyrosque (Reitbahnen) dedere, vgl. Plin. VII, 57
p. 416. Während die Kentauren nämlich noch gar ungezähmte
Wildheit zeigen, tragen die Lapithen dagegen einen weitaus
milderen und zahmeren Charakter zur Schau. Dass man
hier zu Pferde nach verwilderten Stieren gejagt habe, mag
seine Richtigkeit haben. Allein im höchsten Grade unwahr-
scheinlich, um nicht zu sagen falsch, bleibt darum doch die
vom Schol. Pind. p. 319, Boeckh für Kivtavqoq aufbewahrte
Deutung: äno xov iv tnnotg x£^f(r* dnoxsvT^ifa$ vovg
tavQovg. Ließe sich auch vielleicht Wegbleiben des einen
r (vgl. xiv'%(aQj uiv-vQOv neben xsa^og zu starkformigem
»iv-aa»^ aber xevtfiTog) vor dem t des zweiten Gliedes ver-
schmerzen : xevtelv ist erst später vom Durchbohren, Erstechen
in Gebrauch, während einen xhnfaq tnmov schon die Ilias
kennt. In Betreff des Namens Aani&a$ hingegen befindet
man sich in Verlegenheit. Trotz Mangels von Labial dächte
ich doch dabei am liebsten an Xafinsiv^ sowie etwa femer
an die in id^aqog (heiter, klar, rein) und id^aivm enthaltene
Wurzel, wo nicht an S. idh, entzünden, woher (igntdh^
Feuer entzündend, a»^a». I76Qtg>agj avtog^ der Lapithe, kann
doch auch nur als »rings (also nach Weise der Sonne)
Leuchtender« gemeint sein, wie der gleichnamige Diener
Apollos, welchen, wegen dessen gleicher Verehrung, Zeus
vernichten wollte. OdXtiqog licht, hell, Hes. Sc. 180. Die
Hochzeit aber des Peirithoos mit der Hippodameia,
welche den Anlass zu dem berühmten Untergange der Ken-
tauren durch die Lapithen gab, weil im Weinrausch (vgl.
den beim Gewitterbrauen eine so große Rolle spielenden Soma
der Inder) Eurytus dem Lapithen Peirithoos dessen Neu-
vermählte entführen wollte, scheint naturgemäß etwa so aus-
zulegen. Nach Vollendung seines »Tagesumlaufes (Ue^Qi^oog)^
will Helios sich mit der, wegen ihres Gespannes mit zwei
weißen Rossen als »Rossebändigerin« gekennzeichneten Selene
vermählen. Allein das Fest wird durch den Regen (Eurytos)
mit seiner Sippe gestört. Im Homerischen Hymnus auf diese
Göttin erscheint sie, für den Mond ja passend genug, mit
Zahlen von köstnischei* Bedeutung. 1^
goldenen at£q>avog geschmückt. Und so auch führt ^iva den
Beinamen Qa^igekhara, die Mondsichel (den Halbmond)
zum Diadem habend. Kein Wunder, wenn das Stirnband
äftnvi (zu nvxä^civ fftsipdvoig mit gekürztem a[*fi) in einem,
so zu sagen ihrem Gefolge angehörenden Lapithen zur Person
erhoben sich zeigt, wie ^Ponaloq nach der Keule seines Vaters
Herakles. Diesem "^/e^ttv^ aber gibt die Sage einerseits zum
Vater den T^tdqmv^ weil so eine Stadt und ein Berg Thes-
saliens, des Schauplatzes der Lapithen, geheißen, und nach
abwärts zum Sohne den berühmten Seher Moxpog. Der
Ämpycides Mopsus aber war Priester Apollos, jedoch nicht
minder tapferer Krieger. Auch das erklärt sich leicht unter
Berücksichtigung von Ov. M. 5, 110: Cererisque sacerdos
Amptfcus^ albenti velatus tempora vitta. Desgleichen
MaxctQBvq^ der den Fdethrcnmm (d. i. thessalischen Ken-
tauren Jacobi, M. Wb. S. 531. 594). Erygdupum Ov. 12,
452, niederstreckt, verrät, wie schon durch seinen, an die
fuzMaQsg d'€oi erinnernden Namen, so noch augenscheinlicher
als Namensvetter von einem Sohne des Helios und der
Rhodos, ein höheres und zwar dem Lichte zugewendetes
Wesen.
Außerdem lässt sich, soviel ich einsehe, in den Wand-
lungen der Kmviq nicht der »Wechsel des Monds« verkennen.
Der Name selbst weist vermöge seiner Herkunft auf etwas
Neues und Ungewohntes hin. Der Mond, als Selene, im
Griech. Weib, ist in seinem ersten, noch gewissermaßen
jungfräulichen Lebenslaufe unter Kainis verborgen. Von
Poseidon umarmt (d. h. wohl in dessen Wellen sich spiegelnd)
jedoch erlangt sie von diesem, zum Manne zu werden, in
welcher Eigenschaft als Ka$v€vg^ d. h. der Mond in seiner
Vollkraß, er nunmehr mit der Lapithenschar mannhaft
gegen die lichtfeindlichen Kentauren ankämpft und deren
fünf umbringt (d. h. die Wolken zerstreut). Mit dieserlei
Geschlechts-Wandel, von welchem auch, obschon kaum mit
der gleichen Anwendung wie hier, indische Märchen (s.
Benfey, Pantschatantra L S. 42 fgg.) genug Beispiele lieferten,
hat es inzwischen noch nicht sein Bewenden. Kaineus bleibt
Zaitsdir. fOr VOlkerpsTch. uid Spnchw. Bd. XTV. l. 2
- ^ .- *• J- ' --v
A. P, Polt,
bei Andringen der Kentauren (eine statmensw^e aova
j;e& Ov. M. 12, 498, also h«$v6v) unverwundet, und durch
auf ihn gehäufte Baumstämme dem Ersticken nah, entflattert
er doch unter jener (natürlich Wolken*) Last weg als Vogel
mit rotgelben, also auch mondfarbenen Flugein (fulvis
pennis), d. h. zur Zeit des letzten Viertels, wo er dann für
eine Zeit unsichtbar wird. Charakteristisch in diesem Zu-
sammenhange ist ferner, dass gerade ein vittatus saeerdos
des Sonnengottes, nämlich Mopsus, den Vorgang mit dem
Ausruf: salve, Lapithaeae gloria gentis begrüßt. Nicht
in Widerspruch mit der von uns versuchten Deutung steht
aber auch die Verwantschaft des Kaineus. Sein Sohn ^offmvou
König der Lapitheq in Qyrton, also in Thessalien, scheint
wegen xoQmvSg^ naq^^vtg von krummhömigen) Rindvieh, auf
die camua Itmae anspielen zu sollen. Da zufolge Strabo die
Oisyvoi bei Gyrlon wohnten, scheint hieraus erklärte warum
auch OXsY^ag (als wieder andere Form des Mondes vom
qil6r9$v XQ^^^^^)i ebenfalls Lapithenkönig, Sohn des kämpfe
haften Ares und der Ghrysa (mithin goldig) oder auch einer
KoQnviQ ist. Freilich als Mutter des Asklepios vom. Apollo
dürfte man diese wohl nur als mittelst der Heilkunst das
Leben verlängernde Krähe auslegen. Daher mQmvwdßtf,
ein altes Weib, welches gleichkam das hohe Alter der nach
der Sage 900 (also 3 x 300) Jahre lebenden Krähe und der
Hekuba in sich vereinigte. Nesijor lebte nach Ovid dodi
nur annos bis centum, was vermutlich schon das Doppelte
von triseclisenex. Indess mittelst der Krähe kämen wir auch
wieder auf den Mond zurück, weil diesei:^ werden wir später
erfahren, sogar dem Namen nach in mehrten Sprachen für
alt gilt. Unter den Symbolen für die Aßternitas befinden
sich auch Sonne und Mond. Jacobi S. 46. Pes Koronos
Sohn Asoyvsvg verstände ich gern von der Löwenfarbe des
Mondes. FnUvus von Uo, aurum, sidera. Bemerkenswerter
Weise aber kennt nicht nur ApoUodor einen dieses Nammas
als Freier dar Helena (etwa als fax belli aus liUvf?), sondern
Mov^ff selbst wird als anderer Name für Helena oder Tochter
des Heliog und der Led^ erwähnt. ''Slm^g ni^Hnnna waren
Zahlen von kosmischer Bedeutung.
des Kaioeus Eltern. Letztere wohl aus ähnlichem Änlass als
des Peirithoos Gemahlin 'InnodäfASia (& oben) und Artemis
mit Beinamen ^Innqtsda. An "EXomoq dagegen möchte nicht
unwahrscheinlich angeknüpft sein, als Eponymus von der
Stadt Slorcia in Thessalien. Ist doch dies Land Heimat
Yon Lapithen und Kentauren, weshalb auch ein Kentaur
dieses Namens vorkommt. Jene Stadt lag zufolge Steph. B.
am Peneios. Nun findet sich auch ein Jäqiv$Q unter den
Kentauren. Vielleicht nur, weil nach einer unter andern
Angaben Daphne Tochter des oben genannten Flussgottes
sein soll.
Sonach hätten wir in diesem Kampf von Lapith^ und
Kentauren eine Art Sieges von Licht über dunkle Mächte
am Himmel vor uns, der jedoch seiner Einseitigkeit und seines
Mangels an tieferem ethischen Gehalt wegen (sonst stehen die
großen Helden der Vorzeit, wie Nestor und Theseus, auf
Seiten der Lapithen deren ungeschlachten und halb vertierten
Feinden gegenüber) nur einen sehr entfernten Vergleich zu-
ließe mit dem Dualismus in d^ Religion . Zoroasters. Die
Kentauren sind nicht nur selbst ^^Qsg (ferae, d-^gsg) oq^tsiimoh
laxvi(evT9gy zottig wegen des Vergleiches von Wolken mit
veUera (vgl. auch einen <P^»^oc, etwa als hircus, Sabin, fireus?)^
sondern unter ihnen tragen selbst mehrere von Tieren den
Namen. So denn QtiQBvg, "AQxvoq und der Wolf vertreten
durch Avxog, l4^cidas, Lycatas (Nom. ag. von Ivxi») und
LyoaboÄ, was aber nicht im Sinne von Xvxaßac, Jahr, gemeint
sein wird, sondern eher der Verein von Aixog mit einem
anderen Kentauren Ahas. Dieser wohl: unzugänglich, als
Berg, wie Or^us und Ovgeiog (montani), nach Bergen so
heißen, um welche ja gerade die Wolken sich zu lagern
pflegen. Dann wäre Lycabas der, weil Wolkengebirge in der
Luft, selbst Wölfen unzugängliche (äßcnog) Berg oder Felsm,
nach dem Muster von aiyUnf; nit^, sogar von der Ziege
(im Dat.) verlassen. Und so ergäbe sich der Kentaur Ustgatog
schon durch sich erklärlich. Doppelt aber, indem das aucli
der theasalische Beiname Poseidons war, »weil er die Fdsen
geteilt, zwischen denen sich der Peneios in das Meer ergießt«.
20 A. P. Pott,
Daran schließen sich dann auch Waldleute, wie Stfles,
'YXatog und Hyhnome (die im Walde weidende), scbicÜich
genug an, sei es nun des lichtlosen Waldes wegen, womit
sich die durch dicht zusammengedrängte Wolkenmassen hervor-
gebrachte Dunkelheit in Vergleich bringen lässt, oder auch
mit, weil die noch rohen Kentauren mit Baumasten anstatt
künstlicher Waffen zu kämpfen pflegen. Die beiden Peukiden,
auch wohl nicht umsonst nach der dunkelfarbigen Pechfichte,
nsvx^j so geheißen, jQvaXog (vgl. Idiftvalog) und Jlsf&fjt^d^g,
aber stellen, wenn ich mich nicht täusche, ersterer als »Baum-
springerc den Blitz vor, insofern er einschlägt, und der zweite
einen durch fruchtbares Nass »rings Fürsorgec bekundenden
Genius. Oder stellt dies Brüderpaar den Gegensatz von dem
schon mehr gesitteten Menschen (vgl fj^^dog. Anstelligkeit,
und z. B. XsiQmv, d. h. doch vermutlich eher mit geschickter,
als mit großer Hand) zu dem im Urzustände befindlichen
Waldläufer vor? Noch vermisse ich aber den Schlüssel,
welcher uns von dem zarten Verhältnis der Hylonome zum
Eyllaros Äufschluss brächte. Die Krabbe, uvXXagog^ hätte
in solcher Verbindung kaum- einen vernünftigen Sinn. Viel-
leicht jedoch wäre der Name gewählt nach etwaiger Aehn-
lichkeit in der Farbe (vgl. unser Fuchs), nach Vorgange des
auch KvXXaQog, und zwar nach Suidas naQä to xiXlstv (vgl.
etwa xiltig) geheißenen Bosses des Kastor. An den un-
geheueren Krebs, welcher den Herakles bei Bekämpfung der
lernäischen Schlange in den Fuß kneipte, wüsste ich keine
schickliche Anknüpfung.
Nicht umsonst aber gelten auch die beiden Aktorionen
und Molioniden Evqvtog und Ktiatog für doppelgliederig,
d$q>vsXg^ aber mit nur einem Leibe versehen. Jacobi S. 633.
Wird doch hiedurch das innige Verwachsen des Erwerbes (vgl.
»tsätiiQ, xt^mq) mit wohltätigem Regen symbolisirt. Aktor
soll dann wohl den Wind als Führer oder Brecher darstellen,
Molione aber von fMoXsty (vgl. avtOfioXstv vom Ueberläufer
KZ. 6, 284) die »wandemdec Wolke. Es kommt auch wenig
anders heraus, wenn der Gott des Reichtums UXovtog Sohn
des lasion (mildes, Wachstum erzeugendes Welter) und der
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 21
Demeter (d. i. Gaben, zu Wz. da aus da statt *66a^ spendende
Mutler) heißt, »auf dreimal geackertem Brachfeld erzeugt in
Kretas fruchtbarem Eilande Weil er aber oft seine Gaben
blind verteilt, sollte er geblendet sein, oder als Eind in den
Armen der Tyche ruhen. Zu Athen trug Eirene (also der
Friede, »welcher ernährte) als Statue ihn im Arme, wie in
Thespiä, nicht minder sinnig, die Athene Ergane, als Arbeit-
same, Gewerbfleißige. — Ferner wird "O^^^og, der vom frühen
Erwachen am Morgen so geheißene Hirtenhund Eurytions
zweiköpfig (ich weiß nicht, ob Tag und Nacht wegen oder
ob nach bald gutem bald schlechtem Wetter), sicherlich nicht
umsonst zu einem Abkömmlinge des durch Sturm Unheil
bringenden Typhon und der Echidna (Blitzes, s. ob.) gemacht
Jacobi S. 410. Sonst soll auch S. 403 der nemeische Löwe
ein Sohn des Orthros imd der Echidna gewesen sein. Heyne
Obss. ad ApoU. p. 160 weist für Orthros, was übrigens
M. Müller dem Sskr. Vrtra gleichstellt, ^ÜQog nach; statt
ovQog, Wächter, vgl. «>^a, so scheint es. — Ueber Eurytos,
König im thessalischen Oichalia, der, ohne Zweifel in seiner
Eigenschaft als Blitzschleuderer, im Bogenschießen den
Herakles, d. h. wohl mit Bezug auf die Strahlen, welche
die Sonne schießt, unterrichtet hatte, s. Jacobi S. 339. 422.
Damach I^che an ersterem, weil er die vom Herakles als
Kampfpreis gewonnene Tochter lole ihm verweigert hatte.
. Erwähnter Name übrigens so gut wie ^lolaog (vgl. JoQvlaog\
Gefahrte des Herakles, entstammen deshalb, kann ich kaum
anders glauben, den Ja als Geschosse, Pfeile, von deren volk-
artiger Menge das zweite Glied des Gompositums die Aus-
deutung enthält. Einer seiner Söhne To^svg Diod. 4, 37
passt dazu aufs beste. Aber auch MoUtav, s. kurz vorher,
Ji/Savevg (vgl. d^Sov nvf)j ''l^htog, der Gewaltige.
Dies so eben beleuchtete Beispiel soll hinüberführen zu
dem eigentlichen G^enstande unserer gegenwärtigen Be-
sprechung. Es wtirde von uns gewählt einesteils auch wieder
um der darin, wie man gesehen haben wird, nicht zufälligen,
sondern mit einer gewissen Absichtlichkeit durchgeführten
Genealogie willen, andererseits aber wegen der nicht leicht
J2 A. F. Polt,
ins Gewicht fallenden hemmten Zahl. Weniger in der
griechischen Mythologie, um so häufiger, bis zur Maßlosig-
keit, in der indischen spielen die Zahlen eine große, und
zwar, eine nicht etwa ihnen schlechthin willkürlich verliehene,
Tidmehr, auf ihren wahren Wert zuräckgeführt, nicht selten
in sinniger Weise aus dem jeweiligen kosmischen Verhältnis
sich naturgemäß ergebende Rolle. Bei den Indern und,
durch Herübernahme von dort bei den Javanern, ist eine
Bezeichnungs-Methode von Zahlen mittelst Wörter in Ge-
brauch, welche durch sich in wirklichem oder durch con-^
ventionel angenommenes Zusammen den jeweilig geforderten
Wert jener ausdrücken, und, wie unser Ausschreiben von
Zahlen in Buchstaben, Irrtümer zu verhüten dienen sollen.
Ausführliches darüber bei Humboldt, zu Anfange des Kawi^»
Werkes § 3, über die Chandhra Sangkala, Mond-Zählung; — *
dies der Name jener Methode, welche man nach dem Monde
so hieß, weil dieser darin die Eins vorstellt Auch A. 6u. de
Schlegel, Refl. p. 197^ und H. Brockhaus, Vorschlag S. 64«
Das kommt dann ungefähr so heraus, als wenn man aus
der Zusammenstellung von 1—12, z. B. Unus est Dens, tres
sunt patriarchae, quinque libri Mosis, Septem sunt artes, octo
sunt partes (orationis), novem Musae, decem leges, duodecim
apostoli das jedesmalige Substantiv die Stelle, der dazu
gehörigen Zahl vertreten ließe.
So nun wegen der fünf Elemente, welche der Inder
rechnet, ist bei ihm Wiüia auch Bezeichnung der Zahl 5.
Abgerechnet noch ein feines Element gellen ihm dafür als
grobe: Erde, Feuer, Wasser, Luft und Aether. Eine Fünf-
zahl, wie auch der Chinese davon, jedoch unter Hinzunahme
von Holz (wohl als Stoff, Bauholz, wie vJl^, materies), heraus-
bekommt. DMiu im Sskr«, dem Etymon nach von dha
(tidijiu) s. V. w. Satz, Lage; dann Bestandteil, erleidet ver-
schiedene Anwendung, z. B. für Urstoff der Wörter, ^i/na,
Verbalwurael, und wechselt deshalb (s. PWB.) in der Zahl.
Als Element, Urstoff =» mahdbhüta (großes Wesen). >Wenn
von 6 dhätu im Menschen die Rede geht, so sind die 6 Ele-
mente (Aether, Luft, Feuer, Wasser und Erde; es werden
Zahlen von kosmiäther Bedeutung. 23
aber nur 4 Clemente mit Weglassang deä Aethers an«
gmommen) und vijMna (Organ der Srkehntnid, auch —
etwa das QOttlfohe in uns^ brahnkin) gemeint.« Aber auch
panoMMa deka, der aus 5 Elementen bestehende Körp^.
»Na((h den Lexikographen bezeichnet dhdiu auch die 6 Sinnes-
orgäne (inA^ä) Und die ton ihnen wahrgenommenen 6 Eigene
0ßhaften der Urstoflb {gandhä Geruch, tasa Geschmack, i^pa
Gestalt) 6par^ Gefühl, geMa Sdiall).« ^ Auch vishayä
komml als Bezeichnung der 5 vor, weil das Object eineiS;
Sinneswerkzeuges (Laut u. s. w.) so heißt. Daher inshoyln
den Sinnen fröhnend; ein Verlidjter; auch der Liebesgott.
Kann man hienach einen Augenblick darüber in Zweifel
sein, war^im eben der Indische Liebesgott Käim mit fünf
Pfeilen ausgerüstet (deshalb paneeshu, pancab&Aa, pancagara,
fflnfpfeilqif, ^ubenannt) ist, um dainR zu verwunden? -^
In dem PWB. — es sei aber biet ein für alle Mal mit
wilHäirigstöm Danke bemerkt, dass für alles auf bdien Be^
Kugliehe meine in died^r Abhandlung ausgekramte Weisheit
fiist allein von dort stammt und eben da zu allem Tatsäch-^
lUshen (f&r diä Deutungsversuche Jedoöh muss ich oft die
Verantwortung selbst übernehmen) die nötigen Bel^ nach-^
eusehen sind — ^ bietet auch d^ Artikel üiäri^ die interessan-
testen Notizen« Als ursprünglich dem Worte und Namen
des Gottes iMtu entstammendes Adjectiv eiiifilt ^ im
Neutrum den Öfam eines Vermögens, Ipolentia, mit Ver-^
sehiedener BesonderUng des Begriffs, darunter der Sinnes^
cH^ane, woher denn audb sein symbolischä* Gebrauch von
der FSnfzahl. Indiöche Speculation aber versteht es die Zahl
der indrkfa auf 14 zu bringen » indem den 5 aufh^mendM
Skinen eben^ viel Organe für sinnliche Verrichtungen: After,
Sohamglled, Hände, Ffifie^ Stimme Zugezählt werd^n^ Wozu
dann äodh ^Honas (etwa sensus communis und Denkvermögen?)
mit ZmASU (vielleicht re^e^tlvä Warnehmung?), ahaf^kitm
(khfiiachung als Selbstbewusstsein?) und citta (Aufmerken,
Vorstellen; Absiebt, Wille) als innere Organe sich gesellen. —
Jedem dieser 14 Organe steht als Lenker ein göttliches Wesen^
zum Teil nach leicht in die Augen Springender, andere Male
24 A. F. Polt,
nach verwunderlicher und schwer erratbarer Wahl zur Seite»
Dem Ohre, vermutlich weil von jeder Richtung her der
Schall vernehmlich zu ihm dringt, die Weltgegenden. Der
Haut, als von ihr gefühlt, der Wind. Dem Auge, des lichtes
wegen selbstverständlich, die Sonne« Der prüfenden Zunge
Prac&tas, d. i. besonnen, verständig, wie mir scheint, weil
auch Beiname Varuna's, insofern er Wasser, und somit
Flussiges vorstellt. Man entsinne sich aber auch des ästhe-
tischen Geschmackes. Der Nase wohl kaum anders als ihrer
zwiegeteilten Einheit zu Gefallen die beiden Ä^vinen, Indiens
Dioskuren. So sind Aether, äkätay als Vermittler des Schalles,
Luft, Feuer, Wasser untergebracht, und zuletzt findet ander-
wärts die Erde mit ihren Blumendüften, aber auch minder
angenehmen Gerüchen leidliche Vertretung durch die Nase. —
Willkürlicher sieht die Zuweisung der übrigen Organe aus.
Der Stimme entspricht das Feuer, nicht unwahrscheinlich
das himmlische mit seiner Donnerstimme. Der Hand Indra,
vielleicht weil er als fHyradakshiAa^ mit dem Donnerkeil in
der Rechten, dem Wolkendämon Vritra die Regenschätze
entreißt, um sie dem Menschen zu Gute kommen zu lassen.
Ist Vischnu, in der Götterdreiheit zweitem, dem Erhalter der
Welt, vielleicht deshalb die Soi^e des Fußes anvertraut, weil
man ihn als gleichsam feste, unerschütterliche (das bedeutet
sein Beiname Äctfuta) Stütze des Alls nach Fußesweise be-
trachten möchte? Das Schamglied eignet sich, wie man ohne
Zögern einräumen wird, vortrefflich für den Herrn der Ge-
schöpfe; — dies nämlich ist der wörtliche Sinn von F^cyä-
pati. — Bedenklicher steht es mit dem After. Als sein
Lenker gilt Müra, unstreitig in dessen Eigenschaft als Vater
des ütsarga (der Entleerung). Unsere Landwirte hätten
schwerlich allzuviel gegen einen freundlichen Geber von
Dünger {müra besagt ja als Appellativ: Freund, Gefihrte)
wie der Sterctdius bei den Römern. Anders gememt aber
ist wohl KonQsvg (als Kot erzeugender Regen), welcher im
Namen seines Herrn Eurystheus dem Sonnenheros Herakles
Auftrage zu erteilen hat. Und so ja auch die Ausmistung
des Rinderstalles von AHyBiag^ Sohne des Hdios, d. h. Be-
Zahlen von kosmischer Bedeutong. 25
freiung des leuchtenden Himmels von dem grauen Schmutz
der Wolkenherden. TJtsarga aber bedeutet nicht nur das
Aussichentlassen, Vonsichgeben, woher tßydtsarga von der
regenspendenden Wolke, sondern auch Spende. — Dem Monde
ßHt Manas, d. h. wohl, weil nicht immer in der Dunkelheit
klar sehend, das Geistesauge zu, wie der Sonne das leib*
liehe. — Und buddhi, dha/fikara, dtta verteilen sich unter
Brahman, Qiva (etwa ahankara dann im Siime von Selbst-
überhebung für ihn als zerstörende Macht aufgespart?) und
nochmals Vischnu (Äcyuta unerschütterlich; beständig, un-
vergänglich, s. oben) als Wille? — Die Jainas teilen sodann
die gesammte Schöpfung in 5 Klassen, nach der Zahl der
Sinnesorgane, die dem Geschöpfe inne wohnen: von den
vier gewöhnlichen Elementen und Pflanzen, die nur fühlen,
aufwärts Würmer u. s. w«, welche außerdem schmecken;
dann Ameisen u. s« w., bei denen noch als dritte Sinnes*
tätigkeit das Riechen hinzukommt; femer Spinnen u. s. w.,
welchen auch das Sehen nicht abgeht, bis hinan zu den
höheren Tieren, Menschen, Göttern und Bewohnern der
Unterwelt, welche Glasse sich im Besitz der unverkürzten
Zahl von Sinnen befindet. Jedenfalls ein von Nachdenken
zeugender Stufengang, welcher seinem Urheber alle Ehre
macht Auch wird man dem Inder sein Streben nach einer
gewissen Vergeistigung der Lebenstätigkeit überhaupt, freilich
ohne physiologische Einsicht in deren Vorgänge und ihre
Bedingungen, nicht allzu übel nehmen. Plattem Materialismus
verfiel er nicht. Und könnte man, indes nicht ganz ohne
Grund, scherzweise behaupten, er habe das Wort von Krause,
Abriss der Logik S. 21 : »Dasein und Wirksamkeit der unseren
Leib umgebenden Sinnenwelt, welcher das Dasein und
die Wirksamkeit der Sinnglieder, nach der Ord-
nung der Naturprocesse, entsprichtc weiter auszulegen
und zu begründen beabsichtigt.
Die neueren Perser wissen nur von einer Vierzahl der
Elemente. Das bezeugen viele Verbindungen von Substan-
tiven mit eehär, cär (4) davor im Sinne letzterer bei VuUers
in seinem Le^on. Nicht notwendig unter griechischem
26 A. F, Pott,
Einflasse. Sonst war ja eine Tvr^ttxrtfc ((|uatemk)) bei den
Pythagoreern Wtirzel und Quelle aller Dinge^ ^il^^fMx, nayd
devdov fpvüemg. Pyth. öarni. aur. 48. Und bekanntlich nahm
zuerst Empedokles 4 Elemente, ^vü§xeTa, an, die er ^tj^ti/unw^
also gleichsam Wurzeln nannte, was aber nicht mit den
dfxaij formellen Ursachen der Schöpfung der Dinge, 2U
verwechseln.
Wir wenden unsere Aufmerksamkeit jetzt einem bei den
Chinesen ablieben Sprachgebrauche zu. Diese pflegen näm^
lieh (Endlicher, Ghin. Gramm. S. 196) »häufig mit gewissen
Hauptwörtern eine bestimmte Zahl zu verbinden, um die
Vielheit oder Allheit auszudrückenc Allein, man sidit wohl|
es ist dann die Wahl des Zahlwortes keine schlechthin will-
kürliche.
So z. B. hatte man bei ss4 fi, die 4 Glieder, für »alle
Gliedere entweder die beiden Paare von Händen und Fäfien
im ^ne, oder, mir wahrscheinliche, unter Absehen von
der Höhendimension, die vier Seiten am menschlichen Körper.
Auch Nps. cär divär (mit 4 Mauern) wird für corpus hominis
angegeben; sozusagen als vierwandige Wohnung des Geistes?
Mit auffälliger, allein für einen Menschen, dessen derber,
gedrängter Wuchs und Leibesumfang seiner Länge sich in
hohem Maße nähet, erklärlicher Uebereinstimmung gibt es
der Vierzahl abgeborgte Bezeichnungen bei verschiedenen
Völkern. So tfrfdrayo^* Bei uns: vierschrötig, Mhd. fMr*'
sdkroetec, d. 1. viereckig zugehauen, g[uadraiuSj von eineni
Manne, aber im Weinschwelg selbst von einem mannhaft
tächtigen Trünke. Hamme carri, dicker untersetzter Mann«
Nps, iUtr skdneh Homo exiguae staturae et grossis scapulls;
pumilio; auch tough, hardy; fat, lusty. 8Mmk bedeutet
pecten, aber auch scapula und os manus vel pedls. 6o auch
cärpcMA, eig. quadrangulus; met. corpulentus, pinguis, sowie
von einem recht vollen Bauche shihemi cär paMA^
Ferner sagte man auch saS fan§, die 4 Gegenden, im Chine-
sischen, um damit alle Gegenden zu bezeichnen; währmd man
andere Male sich bd gleichem Sinne dafär des hyperbolisohetl
Ausdruckes wan^fang, die zehntausend Gegenden, bediente. -^
Zahlen von kosmiflchir Bedeutung. 27
Im ersten Falte hatte man unstreitig dabei die Tierzahl der
Weltg^fenden im Auge, »was sich aber vielleicht noch
bestimmtere, meint Humboldt a« a. 0., »auf die aus dem
Berg Meru entspringenden vier Flüsse besieht«, so Tiel ja
auch im A. T. die Paradiesesflässe , woraus Wormstall,
Hesperien S. 28, 56 ein subalpines Yierstromland als Paradies
2SU gewinnen ach bemiUit.
Weiter: während die alten Griechen sich den Ocean
als, vermutlich des Luftkreises wegen, die Erde wte eine
Insel umfließend (Gic. Rep. XX, 21. Or. 6, 26) Totstellten, --
▼gl auch Delitzsch, Wo lag das Paradies? S. 112, — be*
gegnen wir anderwärts der Vonstellung, als sei unser Festland
von vier Meeren, und zwar von Je dnem in Ost, West,
Sfid und Nord begrenzt. So haben wir im Japanischen
ei4m, die vier Meere, Pfizmaier, Oest Sitz« XGII, S. 640, was
jedoch ohne Zweifel blofl von den sse hat, mit gleicher
Bedeutung bei den Chinesen, herubergenommen ist. Hiefär
war aber offenbar, wie fär die obigen ssS fang, möglicher
W&ße ohne an eine wirkliche Vierzahl von Meeren zu glauben,
die gleiche Zahl von Weltgegenden (also: die Meere nach
allen vier Winden hin) maßgebend. — Gewiss erregt es nun
ein besonderes Interesse, wiederum in Indien auf Gleich«^
Stellung des Begriffes »Meere gleicMalis mit der Vierzahl zu
stoßen. Humboldt Kawiwk. I, S. 27. 32 führt außer mehrere
Wörtern für verschiedene Arten von Gewässern bloß das
eine abdhi aus dem Sskr. an. Gerade dieses Wcnrt aber für
Heer kennt das PWB. nur als Bezeichnung der Zahl Sieben —
»wegen der 7 Meerec, was dann freilich wieder auf einer
anderen Vorstellung beruht. Nämlich jener von der Erde,
insofern sie als aus 7 Inseln ($apkidii4pa) bestehend gedacht
wird, in Einklang mit den haptdkarshvare im Zend. Justi
Hdb. Sw 80, 320. Spiegel, ZAv. I, S51. Auch wird im Sskr.
die Erde saptatik^oä, 7 Meere habend, zubenannt. Sapta
sindhaws, die sieben Flüsse, wird sowohl unbestimmt als
auch von den arischen Siebenströmen gebraucht Vg^.
pi hapta MMu, Ostkabulistan. Justi S. 325. Das unter dem
Titel Heß itdaum (entlehnt aus KMcfka; auch Stadt dieses
28 A. F. Pott,
Namens), d. i. Siebenmeer 1822 erschienene Wörterbuch der
Persischen Sprache nebst Grammatik verdankt seinen Namen
den 7 Teilen, woraus es besteht. Qtdetxnh i nigün, gleichsam
gekrümmtes oder herabhängendes Meer, bezeichnet meta-
phorisch den Himmel, sozusagen als Wolken -Ocean. In
Yullers, Lex. Pers. I, 841 findet sich die Angabe von 3 Meeren
1. die Dünste und Wasser der Erdoberfläche, 2. maria supra
coelum, 3. die Wolken. Sieben Himmel desgl. ZAv. I, 251«
In dem reichen Artikel hrft (sieben) bei Yullers außer 7 Pla-
neten, 7 Klimaten, 7 Himmeln u. s. w. auch 7, II, p. 1460
aufgezählte Meere. Desgl. p. 1458 septem urbes in septem
maribus, und hrft deryä. The seven seas. Von den 7
Kareshvar s. Spiegel, Av. III, S. LIU, in welche die Erde
durch böse Dämonen zerbrochen worden, nach späterer Quelle
aliein QanircUha als vorzüglichstes, in 7 ELlimas (s. vorhin)
geteilt: JErän, Turän, Magenderän, dnastän, Büm (d. i. Europa,
durch Rom bei den Orientalen in Aufnahme gekommen).
Sind (d. i. Indien, Pers. Hindustan mit h statt s, eigentlich
das den Persem nächst gelegene Land am Indus, S. Sindhu)
und Turkestän.
Dagegen nun ist Sskr. sam-uära, Sammlung der Ge-
wässer am Himmel und auf der Erde, ebenfalls Bezeichnung
der Vierzahl (wegen der vier Hauptmeere, nach jeder Himmels-
richtung eines). Ind. St.. 8, 167. Z. B. in :i^8aniudrddi, d. i.
die 4. u. s. w. Silbe in einem päda, wenn darnach eine Gäsur
eintrittc. Eine Auffassung, die aber nicht erst, wie man
sonst vermuten könnte, den Chinesen braucht mit dem
Buddhismus aus Indien zugeführt zu sein. Sam-udra, als
Anverwante von o^, zusammen, und vömq^ tmda in sich
schließend, bedeutet also dem Wortsinne nach: Zusammen-
fluß von Gewässern, vgl. Goblenz, Münden. Kein Wunder
übrigens, dass sari&)hartar, buchstäblich der Flüsse Gatte,
auch das Meer vorstellt, welches als Mann gedacht alle Flüsse
(diese sind aber im Sskr. vorzugsweise weiblichen Geschlechts)
zu seinen Geliebten (samudrapaint, samudrakäntä) hat. Poseidon
war nicht minder feuriger Liebhaber von Nymphen und
Nereiden. Preller, Gr. Myth. I, 458, wie auch Okeanos eine
Zahlen von kösfiiis(ihelr Bedeutung. 29
Menge Okeaninen zeugt. Umgekehrt: in Venetien bei Tima"
vam befanden sich zufolge Polybius (Wormstall, Hesperien
S. 30f 46) 7 Quellen 9 die sich in einen großen Strom ver-
einigten. Nur eine der Quellen war trinkbar, die andere
führte Salzwasser: die Anwohner nannten sie (deshalb?)
Mutter und Quelle des (adriatischen?) Meeres; einer von
den 7 Armen wurde Okeanos genannt. Saräbhartar aber
kommt, wie nicht minder sägara, als Bezeichnung der 2^hl
4 von Bei letzterem unterschied man außerdem ein oberes
(uUara, para) sowie unteres (adhara oder awira). Daher
»die beiden Meere«, wie U Mos. 1, 7, Kaegi, Rigv. S« 90,
wobei man an die Gewässer nicht nur der Erde, sondern
auch des Himmels dachte. Grundes genug, um den Odgavog
nicht von dem VaruAa der Inder zu trennen. Dem Varuna,
soDsl »Umfasser des Alls« (von v(xr, umschließen, wehren;
aber auch verhüllen, bedecken), sind besonders zugeeignet
die Gewässer (daher auch s. v. a. Ocean), aber auch, wohl
des verhüllenden Dunkels, wo nicht des Tagesabschlusses
w^;en, Nacht und der Westen. — Vorderes (pürva) und
hinteres (apara) Meer dagegen sind, bei ausdrücklichem Hin-
weis auf den Wind, Rv. 962, 5. Uebersetz. von Grassm. U,
S. 499 als nach dem Sonnenaufgange hin befindliches und
westliches zu verstehen.
Samudra bezeichnet, wie bemerkt, die Vierzahl; allein
auch, wie ich vermute, wegen Unendlichkeit der Ausdehnung
des Meeres und der Fülle seiner Bewohner zu Gefallen, eine
Zahl 1 mit 14 Nullen dahinter. Auf ersteres spielt aber
unstreitig an, dass die Erde u. A. catur-antd, dem Buchstaben
nach »vierendig« heißt, was sich indes auch »vieruferig«
übersetzen ließe, da man samudränta, sägaränta für Meeres-
ufer sagt. Es ist vermutlich bloß gemeint: die Erde sei nach
allen 4 Weltgegenden (caturdigam) von Wasser umschlossen.
Man wollte damit dem orbis terrarum wohl nicht gerade
eine streng quadratische Gestalt beilegen. Dem vndersprächen
mindestens sagaraniniii, vom Meer umfelgt, wie samudranimi,
vom Meer rund umgrenzt, als Beiwörter der Erde. Ihr
zweites GompositionsgUed nämlich nSmi bezeichnet Radfelge
80 A. P. Pott,
und danach das Rund, Umkreis. Auch BoimidriMJbard wie
sdgardmbard das Meer zum Umkreis habend, und samuAti-
mekhoM, meenm^ürtet, t&yanUn, Wasser zum Schurze habend,
zeugen ^er für eine kreisrunde Gestalt der Erde, wogegen
sonstige Epitheta derselben, wie z. B. samudra-paryantA,
vom Meere umgrenzt; -^asanä^ davon umkleidet, die Sache
zweifelhafter lassen. Das Meer heißt auch der Erde fSn-
friedigung, moUpräctn».
Ganz besondere Beachtung verdient weiter noch die
Darstellung mehrerer Gottheiten namentlich bei den Indem
mit Qiner Ueberzahl von Gliedern. Solcherlei Missgestalten
aber, wie sehr sie der Natur widersprechen und den Schön-
heitssinn verletzen, sind nicht rein willkürliche ^Zeugnisse
ungezügelter Phantasie, haben vielmehr in dem Streben ihren
Grund, gewissen entweder wirklichen oder doch voraus-
gesetzten Zahlenverbältnissen der Weltordnung in symbolisch
bedeutsamer Weise zu einem sichtbaren Ausdrucke zu ver*
helfen.
Madien wir uns das sogleich klar an dem Uceps, bifrans,
biformis Janus d«: Römer. Der soll doch unstreitig seiner-
seits als Sonnengott mit seinen zwei einander entgegen-
gesetzten Gesichtern das Hinter- und Vor-uns in der
Zeit (im S. yätam nägatamca, das Vergangene und Noch-
nichtgekommene, also die Zukunft, Frz. Vavemr) sinnbildlich
veranschaulichen. Das hindert nicht, dass seine Zwiegeteilt-
heit noch andere Deutung (s. Jacobi WB.) erfuhr. Mag er
immerhin auch Gott des Schaugebietes an dem Himmel für
die Auguren, das tengdum, gewesen sein. Dergestalt, dass
sein Doppelgesicht auf den eardo, die von Süden nach Norden
laufende Mittagslinie, Bezug nahm, seine vier Gesichter aber
auf die zum Behufe der Auspicien getroffene, tuskisehe Vier-
teilung des Himmels durch den cardo und den limes decu-^
m^tM, der von Osten nach Westen lief. Und eben so mögen
darin ihre Elrklärung finden die zwei gegen N. und S., oder
vier, gegen die vier Himmelsgegenden gerichteten, einander
gegenüberstehenden Türme in den Heiligtümem des
Gottes. Bald sind es räumliche bald zeitliche Verhältnisse, deren
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 9t
Vertretung ihm suftUt« Servius deutet daher, gewiss nicht
adilecht, d^ Do(qpielgesicht auf Beginn und Ende des Tages,
dessen Gott Janus sei, und die Vierzabl der GesicUer auf die
Tier Teile des Jahres. So ist er denn auch in sinniger Weise
eoeii jurnUar, indem er bei Sonnen-Auf- und Niedergang die
Pforten des Hinunels, sozusagen, öffnet oder schließt Auch
hat es einen Sinn, wenn man nach anderer Deutung mit dem
Janas hermaphroditisch die Jana (Mond), also die beiden
Zeitr^enten Sonne und Mond, in eins verwachsen erklarte.
thni hießen transitiones perviae, su beiden Seiten offene, aber
überdachte Durchgänge. Das pa st nun recht gut zu S.
jßäna (von y4, gehen, tsfHii)^ Bahn, weshalb Janus etwa als
Ganger -- auf der Sonnenbahn zu denken. Mit paragrhi
beseichnet yAna, das Gehen in ein fremdes Haus. Erklärlich
genug, wenn deshalb Janus auch Beschützer der jantuie (aus
jrnii mit Sufßx -tca) und in dieser Eigenschaft daviger (vgl.
SisiMxoCf s. Jacobi, von mehreren Gottheiten) Ist, Wem
könnte aber ratgehen, wie Offenstehen od^ Verschluss des
Tempels von eiijer Gottheit, welcher raumlich wie seitlich
£m- und Ausgang geweiht, ein überaus sinn^es Symbol sei
von Ausgang m den Krieg ohne Gewähr der Heimkehr, und
andererseits von friedlichem Daheimbleiben? Auf den quadri*
frons Janus haben ohne Zweifel die vidssitudines dierum ac
noctium conunutalionesque tempormn quadripartitae Cic.
Tusc. I, 28, also Vierteilung des Tages: Morgen, Mittag,
AJi^end, Nacht, wie des Jahres gleichen Anspruch. Zum
UeberQuss bezeichnet Janus als Jahresbeginner in der Biegung^
seiner Finger an seinen Bildern die Zahl der Tage im Jahre,
nämlich mit den Fingern der Rechten die Zahl 300, mit
deaea der Linken (als der minder geachteten), die kleinere
?ahl 5&, oder später 66. Wie aber im Vertumnus, als der
skik Wandelnde, die vieissitudines anniversariae (dies auch
ja von vertere) Gia N. D. % 38, sich spiegeln, ist KZ. 8, 31^.
Qäher von mir begründet.
Hebet die Zeiteinteilung herschen fireUich öfters, je nach
wderem Gesichtspunkt, verschiedene Ansicht^. So rechnet
Zeod-Av. Spiegel ZA. HI, S. XL) 6 (im Winter 4) Tages*
34 A. P. Pott,
hören; allein ginge des o wegen nicht an« Wir mössten uns
älso^ einen xQiSniigy ov, d..h. nlit drei Antlitzen, wo nicht
hloß Dreläugij^eii gefallen fassen, und Warum auch nichts
Man findet dies schon £2. V, S. 331 fgg. von mir au^eführt.
Apollo wurde Tgtomog angeblich nach TQt6n$oy, einem Vor-
^öbitge auf der knidischein Üalbinsel in Karien genannt, wie
auch iüfolge Paus. l6, 11, 1 eui TjfipTiac als Erbauer von
Snidös gilt. TQ$6nag, ep. TQtpniigy auch Tgioip (s. Jacobi
WB.) scheint nun' nicht, was Weicker aus Ihini herausliiest,
»Inbegriff der drfel Naturreichec, vielmehr wirklich als Vertreter
der drei Jahreszeiten geiüeint, und hätte so' auch wohl
der tiriopische Apollo, dem vielleicht erst umgekehrt das Vor-
gebit^e semen Namen verdankt, als einer mit drei Antlitzen,
die nebenbei auch auf Morgen, Mittag und Abehd Bezug
haben könnten, emen ganz Vemänfti^en Sinn. Kein anderer
Gedanke hegt dann auch' wöhl einetn zweiten ^riopas zum
Grunde. Er ist' Sohn des fielios und def' Rhodos (augen-
scheinlich wegen des auf dieser Insel befindlichen, den Sonnen^
gott darstellenden Kolosses), abei' Vater der Iphimedeia (mit
Macht, kraftvoll waltenid; will vermutlich sagen:* Wachstum
fördernder oder bäumender Sonnenschein) und des Ery-
sichthon, dessen Name freilich nach stark voii einander ab-
weichender Herleitung etymologisch ausgelegt worden (EZ.
VI, 365). Der Ackerbau Ist vom Wetter in den verschiedenen
Jahreszeiten abhängig, und wäre E. demnach als von einem,
die Erde in Furchen durchziehenden Pflüger hergenom-
mene Benennung passend genug. Nur weiß ich nicht, ob
igiüv %96va mit solchem Sinne der Sprachgebrauch dujde,
und riete man vielleicht, iQvofux$ zum Grunde gelegt, allen-
felis auf einen Behüter des Feldes vor allerhand Schäden.
Vgl. iQV(flntoX$t^ Ilohdg Von der Athene. ' Müller, Üorier tj
S; 400 (Jfacobi S. 238) erklärt: >bie Mythen von Triopas
und dessen Sohne Erysichthon (Kornbrand) b^ehen sich
imtner auf eine Ackerreligioii, die zugleich Cultus der Unter-
welt' ist.c Erclenkt sich also unter Erysichthon, bei Hinblick
nach iQvtfißii (robigo) gleichsam einen die Erde rötenden,
d.h: die Felder durch Rost schädigenden, Dämon. Um-
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 35
gdcefart V)dii der Demeter i^vtf^ßl^, und von d^m ApÖllö
iqvffißto^ und dem Bdbigus dar Römer, weMhen die Saaten
von Brand frei 2u halten die Sdrge oblag. Der unersätt-
liche Heißhunger, womit Demeter die an ihr begangene
Freveltat Erysichthons bestrafte, wäre sonach als Folge der
durch Brand entstandenen Missemte zu deuten. Ei^sichthoA
hatte einen heiligen Hain der Göttin durch Fällen von
Bäumen verletzt, und empfing dafSr die Strafe. Das ver-
stehe ich nun doch lieber ^: als die Menschheit aufhörte
ein paradiesisches Leben noch ohne Äckerbau zu ffifaretr,
bedurfte es der Urbarmachung des Bodens durch 'Umhauen
und Ausroden von Wald, und Aufreißen der Erde, d. i. eben
Demeters Heiligtum, mit Pflug und Karst. Hieraus floß dann,
gleichwie nach dem Sändenfall, fOr den Menschen die Not-
wendigtieit, sich im Schweiße seines Angesichts durdh Feld-
bau zu ernähren. Vgl. Preller, Gr.Myth. P, 606 fg. Uy^iv
fäf tM UYm)tSvif ji/AaJi^eliig ttiqaq elvM Pseudophocyl. p. 64
ed. Schier., wie die Demeter ja in ähnlicher Welse mit deift
Jasion den Plutos zeugt. Ksfäd scheint in gutem Sinne als
Gewinn dem Pfaorcmeus zur Gattin beigegeben. 0oQ(ovsig
nämlidi soll die zerstreuten Menschen in gehieinisdiaftlichiä
Wohnorte vereinigt und auch das Feuer erfunden haben.
Ein unverkennbarer Hinweis auf feste Wohnsitze und dadurch
ermöglichtm Ack^bau. Dies bestätigt sich aber weiter durch
den Namen, welcher auf g>ofA, praventus von Früchten, und
zwar cBesen, da -mv Ampliativ-Suffix, in reichem Maße zurück-
geht. Localisirung aber des Phoroneus als »ergiebigen Frucht-
landes« mittelst seines Bruders Aegialeus (Gestade) und Vaters,
d« Stromgottes Inachos, im Lande Argos widerspricht dem
natürlich nicht, weil an dieses ja gleichfalls die Erzählung
von den Danaiden, als Genien des lle^ens, g^näpft ist.
Aach 0ogßä^ (KZ. Vi, 385) erklärt sich unschwer als
Vater oder Sohn des Triopas aus Aet gleichen Abhängigkeit
des Wadistdtns von Sonne und V^etter. ^o^päg, hrrog ist
ja augensdieinlich (vgl. ^fpdg y^ Soph.) reich an Weide,
iVttter^ Nahrung. Aus ^öQß^ mit Suffix «vr, wie desgleücheuj
ao achehit es, OAtag, »vibg und OXtaSq Sohn des Dionysus,
3»
86 A, P. Pott,
auch Olsiwv Beiname desselben Gk)tteS| vermutlich üppigen
Pfiianzenwuchses (s. Passow ^lim) wegen. Um dem immer
und immer sfcb einstellenden Hunger zu wehren (vgl. M^tst^a,
Enkelin des Triopas, Ov. M. 8, 872, EZ. VI, 357), bedarf es
allerlei Tätigkeit {i(fT$ ßitf nav inyov Phocyl. 148) für den
Menschen, wie auch die Not (xe*i») ihm Lehrmeisterin
geworden in allen Künsten. Diod. S. I, 8. Grundes genug,
warum ein Bruder des Phorbas BsQiBgyog heißt Denn
nsQisfyog bedeutet ja als Adj.: sorgßltig um eine Arbeit
herum, mit Sorgfalt, Fleiß, Mühe arbeitend. Auch will
IIqovoii, d. h. die Vorsorgerin, als Tochter des Phorbas Apoll
1, 7 gewiss Aehnliches sagen, wogegen, der nötigen Fürsorge
für Schiffe halber, sich derselbe Name auch ganz vorzüglich
für eine Okeanine Hes. Th. 261 eignet Vgl. Uolwo^ (viel
Umsicht erfordernd), Tochter des Nereus und der Doris. Auch
^xXvoq^ sei es nun mit vwq componirt, oder bloßes De-
rivat (s. EZ. 6, 241), weist auf verschiedenerlei inya hin.
So als Sohn der BwSösm oder Bwitifif auf Rinderzucht und
Ackerbau. Als Argonaut und Sohn Poseidons auf 9^al&tSfS$a
Igya. Sollte er nicht aber auch als Vater des Tqo^vto^
und l^Yafkijdiig eine bedeutsame Geltung haben? Uj'a/M^dfc,
d. h. anschlägig, wohl als mit seinem Bruder Erbauer des
Apollo-Tempels zu Delphi und der Schatzkammer des Hyrieus
ließe Hinweis auf Bauwerke vermuten, aber TifO^vtog auf
reichlichen Lebensunterhalt (tqo^) überhaupt.
"läfsaq u. s. w. EZ. 6, 336, falls zu ialvm wie viavfStq und
via<s$q sich verhaltend, und als »erfrischender warmer R^n
oder Tau«, schickte sich nicht übel in die ihm angedichtete
Genealogie: Sohn des Triopas, Enkel des Phorbas, Urenkel
des Argus (also Nachthimmel), Bruder des Agenor, Vater der
lo (Mond!), Eönig m Argos (wohl dem Argus zu Liebe)
Paus. 2, 16, 1. Agenor für gewöhnlich: mannhaft, hier viel-
leicht dux virorum, i« e. stellarum?
Auch TQ$m6X€fAog^ Verbreiter des Ackerbaues über den
ganzen Erdboden, weist auf einen Dreikampf hin. D. h. wohl,
zieht man nicht vor, auf die dreifache Lebensweise: Viehzucht,
Jagd mit Fischerei, und Ackerbau zu raten, mit einer für den
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 97
Ackerbau wichtigen DreiheiL Etwa von Erde, Wasser und
Ifimmel; oder von Regen, Wind und Hitze. Möglich auch,
unter anderer Herleitung, aus noXstv^ jedoch ohne r, im
Sinne eines recht fruchtbaren und dreimal gepflügten (ystog
tfinolog) Ackers. Interpp. ad Theoer. 25, 25, KZ. 6, 340. 350.
Vgl. Frz. iiereer, E. irifaUaw, aus Mhd. vcUge, pflüge zum
zweiten oder dritten Male. Vgl. über mehrfaches Pflägen
und Ernten in Indien Lassen, Altert I, 224, z. B. trMtya,
dreimal gepflügt. Lith. kartati zum zweiten Male pflügen,
von kartas, eine gewisse Zeit, s. v. a. mal bei Multiplication.
Ich schalte hier eine kurze Bemerkung über jiw$6nfi
ein, weil ja auch in ihr otp enthalten. Als Tochter des
Nykteus (Nacht) und der Polyxo erweist sie sich als anderer
Ausdruck für den Mond. Einmal hat ide mit der lo Irr-
fahrten gemein, und besagt der Name, wie ävti&tog, gott-
gleich, aller Wahrschemlichkeit nach Wetteifer in ihrer
Erscheinung, ihrem Antlitze mit dem — der Sonne. Oder
auchy wie Pind. Ol. 3, 36: SXav i^aJ^^iv dvti^l§is M^a^
der Mond erhellete sein ganzes Auge wieder (den Anblicken-
den entgegen), d. i. es wurde Vollmond. Dann ist sie vom
Nykteus mit der /ZoAvJfcf, einem Hypokor.'*') von J7oJlt;|<yf,
^ So erklären sich gleichfalls aus Kürzung "i^^^ statt !il^9Mx^ao^
Femer einige unter den Gompp. mit 0&iyog, wie *Av%t€^ivnq; 'Afitp^t^itnis,
Sohn des UfitptxUii (rings Macht, Ruhm besitzend), Uolv9^i^s^ Jfcyo-
9Hinii^ ÜQc^&ipiift aber auch Eigennamen auf -if^ivf. Vor Allem schon
durch seines Vaters Namen X^inloc dies yerratend, jener B^^^Hvs,
dessen Macht (vgl ß4^9C^ivns), sich (etwa als wolkenbedeckter, gewitter-
schwangerer und sturmbewegter Himmel) weithin erstrecken muss, da
er dem jugendstarken Herakles, in dessen 12 Jahre dauerndem Dienste
bei ihm Vollbringung der schweren 12 Taten auferlegt, welche allem
Vermalen nach auf den Sieg jenes Helden als Sonnengottes über der
Sonne feindliche Naturmftchte während der 12 Monate hinauslaufen.
Daxm Miytc^tvi, auch -tf^; statt MiriC^iyiify d. i. ausharrend in Kraft —
Und selbst vielleicht daher Mir^M und TÜt^^ Töchter des Okeanos
beim Hesiod, als »ausharrend in der Macht und sie zu Ende führende,
d. h. doch wohl im Interesse der ^cx2 riftg, die schnell und ohne Unfall
ans Ziel gelangen sollen. ^O^^Mg, gleich dem Ahttogj Sohn des
Arkadiers Lykaon, könnte da zur Not »in den Bergen laufend (&i»y)€ sein,
allein doch auch, weil in Arkadien noch Wolf und Bär heimisch, soviel
wie in »genanntem Berglande die Macht gleich diesen Tieren ausübende
38 A. F. Pott,
wie Odo^c^i erzeugt, wodurch angezeigt sein sali, sie be*
herberge in ihrer Behausung» dem nächtlichen Himmel, viele
Gaste, nämlich Sterne. Gerade wie der Hades, weil omnes
animas locus accipit ille Ov. M. IV, 440, navöonsvgy nolv^
din^t/i oder nolvdiyi^^ *^ noMafxog Ruhnken ad Hymn»
G^» y. 9 heißt Desgleichen'^jr^aiilMS, weil er alles Volk
in sein Reich versammelt, wie auch Lact, de Falsa Rel. I,:
p. 17 ed. Aid. vom Pluto, cui cognomen Ai^esflao füit, angibt^
es sei ihm bei Verteilung der Heirschaft i über die Welt als
dritter Teil nicht die Erde, sondern als pars inferior. der-
Ocddent, wogegra dem Jupiter der lichtbringende Orient
zugefallen. Weiter berichtet der Hymnus an die Demeter i
V« 31: Die Persephonei entföhrte auf des Zeua Geheiß:, Umgo^
uaaiyvffog (wj^il Bruder des Zeu$, ihr Onkel) ^oXvüfpHivffmft .
ÜQXvdiYiH^ 'InnQ^ d^ava%o¥SkVi Kf69fop nolvmwfkog . v»6g^
Dj9 Vieilnamigkeit des unterirdischen Gottes . könnte buch«*
siaiKlich genommen sein. Jqdoch, nicht gerade gegen den
Sprachgebrauch, für Berühmtheit, wegen JUi^/Mfoc, Beiname
de^.Ha^eß oder Phitp, örtlich gedacht als locus ceieber,
frecmentatus. Mir drängt sich indes noch. eine andere Mög«-
lichXeit auf. Wi^ nun, dafem darin ausgedruckt läge^ der
Hades ziehe Personen mit allerlei Namen zu sich hinab?
Kvd'mvifkov alifxpQ steht sprichwörtlich von der Schande
Jemaji;ides, dejr deshalb seinen Namen verbergen sollte. Aber
K^v^^iwiikQQ^ Vater von JUavoiviog^ welcher die Rinder des
Hades weidet, — kann das etwas anderes heifien, als einer,
durch den so viele Namen dem Leb^ abhanden kommen,
und, unter der Herde der Unterwelt versteckt, aus dem Ge-
dächtnis der Menschen schwinden? MevoitiOQ bezeichnet
ohnp Zweifel, soviel als ikhfmv okav^ sein Loos, das ihm/
bestimmte Schicksal, auch seinen Tod erwartmd und ihm
Stand haltend. FoAror nrer^g Ahr. Dor. p. 55, woher o«ti(^
iUyoc wie aOUvog. Man vergleiche den Zsvg — yiaoit^ij als .
Lenker der Geschicke von Völkern wie Einzelmenschen,
Mo&Qayit^g Gerb. M. I, 162, aber eben so vom Poseidon,
des dem Seefahrer so nötigen Schutzes wegen S. 218. Gerhard
jedoch tsiehb S. 87, da Menoitios, Prometheus und der erst
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 39
nisichber Überlegende Epimetheus Brüder yoi^ Atlas sindi in
letzterem, als »Dulderc (^), und Prometheus die Grundlage,
eines auch ohne die Götter frei waltenden menschlichen
Daseins; im Gegensatze zu MenQtius. und Epimetheus^ die
durch sich selber untergeben.« Sonst k^nnt dar Grieche po(^h
eine M^nge ähnliqh ausgehender Eigennamen, Fick, Griech.
Personennamen S« 130, wofür dort otffpfk€f^ (ififi^)^!^ Etymon
üigenommen wird. r^ach.Form (vgl. o/cr-rrf^, dessen .^ den-
talen Schluss in der Wurzel vermu|en lässt) und Sinq gleich
unwahrscheinlich. Etwa z. B. JofkoUag^ ^AydqolwQ^ ]^voi%a^i
0doitil^ (der vorn Genannte^ Geschicke wohltätig beein-.
flussend), äb^r J^itag^ *Hqoi%^^ diesen Gottheiten sein S^atu^,
•anempfehlend; GviAoiti/gi KUohagi jpü Miiit und ruhmvoll
es bestehend. Uvioixn^ über, 4ie Torp der Stadt wachend ?
Dünke} J§fäoit^g^ Ttßottijg. S$nQoit^g wohl kaum zu ügotwog^
schmutzig? s. später,.
Die 8, Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft, von den Inderu in das CplL trikala zu^am^iengoft^sst,
finden in den 3 Nornen der germanischen Mythologie jähren
Widerschein. KZ. VIII, 21. Etw;as abweichend Qüdinger best.
Sitz. 1881, S. 407 fg. Als 2eit- und. Sc^^ksal^öttinnen Reißen
sie: die älteste Ürd^, d. i. Gewordene, Verdf^an^U, di^, Wer-
dende (vgl. amuSf mensiSi vertens)^ d. i^ G^enwart, und
Skuld^ als erst kommen Sollende (vgl. Engl Ufsihali zur ,ßi)-
di|ng des Fut„ 6 ixvsviAtvog zii6vog) die jungte ider Schwestern.
Von Got. vairthanf werden, flfvea^^^^ g(f$a^a^, ^welches den^ .
S. vart (vertere), — d^nn Werden ist Siebanderswenden, •— ..
entspricht', geben auis nicht nur (mdvairths, gegenwärtig, .
nix(itiv,sQj}ieTnßxi^h anavairths^ zukünftig« iQxoiAevafy f^Mofv^ i
Unter 10. aber gibt, von vart (sich drehen, rollen) das PWß.
die Bedeutung »in einem gegebenen Augenblick i^ s^s
und daher als mediales Particip. iPraes. vfirhmäna (wie Lat.
Fef*im^ii«), gegenwärtig, ma^c. Gegenwart,, und Part. FujU,
vartiäitfdtnMa oder ÄcL varbftfon^, zuki^nfüg. Man nehme
hihzu die 3 Brunnen bei den Wurzeln des ^l^äh^nden ,
Weltbaum^ Yggdrasil, dei^ auch »als ß^um d^ Zeit , (um...
die Worte Simrocks Myth. S. 38 zu wiederholen) ein Bild
40 A. F. Pott,
des Lebens der Welt abgibt, wie es sich in der Zeit dar-
stellt«. — Im Pers. (Vullers Lex. II, p. 455) sih naübai Tres
vices. a. infantia, Juventus et senectus. Außerdem b. Tempus
nocturnum, matutinum, meridianum. — Kann man zweifeln,
die MotQa$ ((iOQog, zugeteiltes Los, mit movirendem Suffix
$ä) bei den Griechen treffen, insofern sie als tgtadsltpai, wie
die Parzen triplices sorores, xqiikoqfpo$ (s. Jacobi) des Lebens
Anfang, Mitte und Ende vorstellen, im Wesentlichen mit
dem Gedanken zusammen, welcher den Nornen zum Grunde
liegt ? Unverkennbar ist mit der Spinnerin Klotho jene den
Lebensfaden spinnende Walterin gemeint, welchen Atropos,
die Unabwendbare, grausamer Weise abschneidet; denn —
wie viel (nach dem berühmten Chore in der Sophokleischen
Antigone) der nsQt(pQad^g dvijQ erfunden habe , "A^da /aSvov
(psv^tv odx indlatah. Bleibt noch die Lachesis, welche dem
Menschen sein zukünftiges Schicksal überhaupt gleichsam in
die Wiege legt. — Auch der Erinnyen zählte man in späterer
Zeit drei, wie auch die gewöhnliche Zahl von Köpfen des
Kerberus gleichfalls wohl nicht auf reiner Willkür beruht. —
Zu geschweigen aber der tergemina dextra der drei
Grazien oder Chariten, spricht Ovid. Her. 12, 79 von triplex
vtdtus Dianae, sowie von der triformis dea (bei Hör. diva)
und triceps Hecate. Dies allerdings wohl mit Hinblick auf
die drei ineinander fließenden Tätigkeiten wesentlich Einer
Göttin Luna, Diana als Jägerin, und der den Griechen ab-
geborgten Hecate. Letztere als »die Femec kann ursprünglich
auch nur vom Monde gemeint sein, wie ^ExaSQ/ij, Artemis,
und ihr Bruder 'Exaigyog zunächst darum so heißen, weil siä
ihre Strahlen gleich Pfeilen schießen, und damit in die
Ferne wirken {Iqyov digammirt; daher der Hiatus). Näm-
lich noch mhd. bedeutet sträle nur Pfeil, und donersträle
Donnerkeil, Donnerstrahl, Blitzstrahl, vgl. daners pfUe; und
die Strelitzen, d. i. Bogenschützen der Russen, führen auch
von strjela, Pfeil, ihren Namen. Leicht verband sich aber
mit der Artemis als deren Geschäft auch die Ausübung der
Jagd, weil mit besonderem Erfolg dem Wilde aufgelauert
wird beim Aufgehen des Mondes, wo es seine Schlupfwinkel
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 41
zur AesuDg verlässt, und in der Morgenfrühe, wo es jenen
wieder vom Felde her zueilt. Wer aber etwas auffällig, wo
nicht unschicklich fände, das edle Waidwerk, welches doch
sonst pflegt vom kräftigen Manne geäbt zu werden, im
Gotterkreise einem Wesen aus dem weiblichen Geschlechte
anvertraut zu sehen, der muss sich eben daran erinnern,
der Mond, wes Namens immer, ist bei Griechen und Römern,
in naturgemäßerer Weise als bei uns, Weib, und die Sonne
ihr Bruder, also Mann. Diana, nach Weise von cainpanttö
dgl. aus divum gebildet, ist so viel als die Himmlische, und
daher auch so viel als Luna und Lucina, letzteres weil die
E[atamenien wie die Schwangerschaft an Monate gebunden
sind. Und auch Jitavi/, obwohl nicht Mond, doch als Tochter
des Uranos oder Aethers und der Ge, weist gleichfalls auf
den Himmel hm. Aber für "A^sfitg s. EW6. Nr. 646 scheint
mir aiga tifbvovtsa (wie t{(avs$v odov und vom Schiffe Mv/iata
d-alaM^g, secare aethera pennis. Frz. un oiseau, qui fend
Tair ä tire d'ailes gesagt wird) noch immer die rätlichste
Erklärung, wobei nur die vorauszusetzende Gontraction vorn
(vgl. MQotoiAog) einigen Anstoß erregte. Auch »ig^ofiog aus
»ictfj x^Q unterlag einer ähnlichen Kürzung. Vergebens hat
man hiebe! an S. kart, schneiden, gedacht, was weder nach Sinn
noch Form (in Betreff des mittleren o) passt. Aehnlich ^fUH
ßoQog; und xiftofAog (mit dem H. sehn., weil nicht paroxytonirt ?)
im Smne von »hinterlistig«, mit Anklang an xtqdog. Wenigstens
steht dahin, ob sich äqtsi^g auf jungfräulidie Unverletztheit
beziehen und mit mehr Glück ein keuscher Mond heraus*
deuten lasse. — Nun haben wir aber noch Tqtodlxkg von der
Hekate, wie irwia virgo, d. i. Diana oder Hekate Lucr. 1, 85,
aber auch — dea und allein Trivia anderwärts. Ferner *Evodia,
die auf Wegen verweilt, für Artemis, Hekate und Persephone.
Man will den Grund der Benennung darin finden, »weil diese
Gottheiten auf Scheidewegen Kapellen hatten«. Mir kommt
dabei aber die nachmalige Folge falschlich zur Ursache
gestempelt vor. Dreiwege haben für den des Weges Un-
kundigen, vollends zur Nachtzeit und ohne Mondschein,
etwas Unheunliches. Es sind deshalb aber beilige Stätten
42 A. F. Pott,
dadelbst nicht imr erw&ischt, sondern zugleich der Kreuzung''
wegen für' eine grSfiere Anzahl von Vorübergehenden leicht
erreii^hbar und bequem. Sollte nicht aber auch dem Braüchid'
wie der Behenhtmg das dreifache Stadhim des Mondes auf
seiner Bahn, erstes wie letztes Viertel {daher SeX^v^ itxi-
toi*og, iMnä siderum regiM bicomi8,'din$Qtag) mit Vollmond
dazr^chen, zum Grunde liegen, und dies den ttiplex vuUui'
Diänae wenigsten^ init bedeuten?
Selene ist begrelÄicher Weise nicht gemeiner Herkunft, da
ihrestetä auf den Hitnmel hm weist. Der Name ihres Vaters'
'Vnhfiwi^j sehe man nun dwnn den ^iXiog ^Tns^iwv (dem
Tä^t^' folgt die N^cht) oder den Himmdl über uiis, weist
natärlich ax^ vnif zurück. Die alte Erküärung aus inig
ttii^, über uns wändeünd, (s. Schneider T^;) wftrd vonPaösow '
verworfen. ' Und zwar mit der Länge des » wegen. Analoga'
gebildet^ jedoch ist Id^^itäv, gleichfalls mit langem *. Nicht
untüöglicfti nun, es rährö beiderseits die Länge von alter
Gontraction des • der Präp. in$iQ (durch üebertritt von •
aud'S. upatf) vni äp<pt mH der Vei^balwurzel 'Miei^. Sonst'
mfOiSte man auf unmittelbare ode^ auch vermittelte (vgl;
8üp^) Herleitüng raten* aus der^ Präp. durch Suffit wv"
Fi^l^cb, ob paUronymtscb, wie JTj^d^JiMV, «vo^, einmal au6h'
Unter den venschiedehen Persönlichkeiten, welche den
Nämien Anvphion tragen, passt auf n^hrere ersichtlich eiti
ambikis, als Umlauf , wie 'z.B. ambitu breviore luna cuirrit
quäkn sol. 'Plin. 2, 23, 21. Da erzählt uns Ai^oll. Rh. 1, 17*6 1^.'
von ' d^n Argonaiiten t
IlBJMjivfig äq^tuaißov *A%tt$td6^,^v nins üiXliig '
Alle^ durchdchtige Namen. Nach den Gestiiteen und'
ihrer Umdrehung (vgl. auBer /r^Aoc das AnäkreohtSsche cftr^i-^
if0€m M äqwso^) hat der SchifTer seihe Fahrt' zu richten;
und daher — BegMüng und i^liutz der Argö abseiteti der '
beiden erstgentintateh. In' dem ^itBqufSiJbQ als Vater derselben
suchte man nun gern eine Abart Voit Tft^^iW, was' auch '
Zahlen von kdsibische^ Bedeutung. 43^
unter Hinblick nach äimfla^pc von äfkfpwttm wiö äiniff^tb
nicht allzu gewagt sehiene, zumal seine Gen^ahlin T^cS; also
Höbe, beißt. TUuQ^^mq Mopoig, aber sein Großvater Titardn.^
Was den mU^g^ Vater des Hyperasios, anbetrifft, sei vorweg
daran erinnert, dass in aufEallend ähnlichbr' Verbindung beim
Plin. X, 6& alsardeolarum tria genera: leucon, alsterias
und pellos zudanunenstehen. Del* letzte hat von dunkler
Farbe seinen Namen, o^ferio» abei^ hiefie,' wenig^icrnÄ zufolge
Harduins Anmerkung, so: nön' apünctis,- sed'qtiiavdlatü
Stellas petere videätUr: uude ^et ardea (mit Verlaub, d. i.
verwant mit iqfftdM^ und nicht etwa ardua). EBncf poeftä:
«iQ^fti t;oM ointfeei nubem. • Man 'konnte diese altiVolae ates
mit der altivolalns^solis^rota beim Lucrer fuglidi in mythischen
Zusammenhang bringen, • .wie ja>der Adlek^ imDiendte des Zeus '
steM. Mir daher nieht unwahiBcheinli^h, es sei mit B&iX^i
urqfMränglidiV als von t^sIMq auegihend, dasr Dünkef der
Nacht gemeint; weldietti durch Dazwischenkiki^ des üb^r
(in^y den Horizont «herauffiteipendeh Hyperäsi^ Tage»' und '
Naditgestime folg»; loh übersehe: nicht, wie der^Mytlltui'
den nüJm Zum GrOnder der Stadt nill^ii und deii'
'ITirtf^ia^ zunirEömg'Von Achajh macht, in wtslcher Land<^
schalt^ wiä Pillöhe, so auth die Stadt^ ^Kfr^fif/f bdi^en
war. Stcph« Bj: kennt > auch eine* Stadt Tfrc^ttd^/a, wisflch^m
unseR Tjv«eif <Aoc rücksichtUch des (vielleiofat erstspAtek^ver-
langertiBo) »nnahe geling käme. Man wird inf diesen Grfin- '
dungsgeschichten fui* unseren Fall nichts anderes filmen
durüen als eme Art ge^MehlSieher Verweltlfehung" und Herath*
ziehen von Himmlischem auf die Erde;
Ummauern Thebins duireb > einen zweiten Amphiön '
mitkekt seider Lyra ist: auch ) wohl bloß aus' dent Namto'
herausgedeutete Didser tbebäisdse Amphion und sein Zwillings^
biudety mit im^ärständlkhem Näitifen und Wes^ Z^&o^ f etwa
mit Ca- und 'einein Derivat' van aX9my vf(h iiip$9Q6^; unter
Wegbleiben v(»i> Jota, vgl afMf^?), ^ aber sind Söhne des
Zeus und der Anioopei wdthe letztere wk als Mondesglaüz
haben kenneiil iehien, und wdsen aomibauch auf den Himmel
zitfäcLwDahini zielt jedotb -nicht minder, dass Jenes Bi^äder^
44 A. F. Pott,
paar als Zwillingsgestirn, Zethos die Zona (Himmelsgärtel?),
Amphion die Lyra haltend am Himmel glänzt. Hinter diesem
Amphion sodann als Sohne der Antiope (Mond) mid Gemahle
der Niößii mit ihren sechs Söhnen mid sechs Töchtern wäre
ich geneigt, den Ordner zu suchen, welcher, als geschehe es
mit taktmäßiger Wiederkehr und mit harmonischem Zu-
sammenstimmen, den Jahresumlauf (nsgioSo^ unter die
zwölf verschieden geordneten Monate verteilt. Es begreift
sich weiter, warum Nykteus, Fährer der Nacht, erzürnt über
die Schwangerschaft seiner Tochter, sich selbst umbringt,
aber seinem Bruder yivxog den Auftrag gibt, ihn an %nrfli-
n$ig, zu welchem Antiope entflohen, und an letzterer zu rächen.
D. h« aus dem Schöße der Nacht entsprang der Mond, mit
dessen Flucht erlischt jene von selbst, und das Zwielicht,
lv»6(img, äfäq>$Xvu^ {vgl auch Ivndßaq^ Jahr) beginnt.
lEnmnBiq ist der von hoher Warte, in»n^, Herabschauende,
wie TSfJfa mit v aus o, zu ifOQog gehört, E. 0. Müller, Gott.
Gel. Anz. St. 9. 1833, S. 86, weshalb auch ^mänj genannt,
und es vom Helios heißt: ndy%* iffo^q nai n&v^ inaxaJsi.
Demgemäß stellt Epopeus aller Wahrscheinlichkeit nach, zu-
mal als sinnverwant den Beinamen des Zeus und Apollo
^m^iogy ein Lichtwesen vor, das also mit der Dunkelheit
in Feindschaft lebt Oder geradezu die Himmelswarte.
Auch die Rache, welche Apollo in seiner Mutter ^t/tii
(d. i. Verbergerin, Umacht) Namen an der prahlerischen
Niobe übt, möchte sich wohl dahin erklären, dass mit dem
jedesmaligen Jahreslaufe (Sonnenjahre?) 12 Mondumläufe von
zu einer Hälfte mildem, gleichsam weiblichem, zur anderen
von strengerem Charakter dahin geschwunden sind. — So
wurden dem Hades und der Persephone, der Farbe nach
(begreiflich) schwarze Schafe geopfert, und zwar auch, ohne
Zweifel, weil der finstere Orkus keines Geschlechtes schont,
männliche und weibliche. Dabei wendete aber der Opfernde
sein Gesicht ab, um durch solche Abkehr (aversio) die bange
Furcht vor jenen und seinen Abscheu kund zu geben. —
Kann Niöß^y analog mit Ool-ßiij d. i. im Licht (Lok. wie
ivÖQt neben da») wandelnd, die stets mit der tvt/ uai via
Zahlen von kosmischer Bedentang. 45
(vgl die Sskr. Acc PI. sanä navaca, Altes und Neues,
Gaedicke, Accus. S. 54) verjüngt, vsti/j daher Wandelnde aus-
drücken? Die Verwandlung der unglücklichen Mutter in
Stein (Eis?) auf dem einsamen Felsen des Sipylos, so jedoch
dass der Stein noch das Leid fühlt, das ihr die Gottheit zu-
gefügt (schmilzt?), — irre ich, oder wird nicht gleichwie durch
Versteinung der auch wider Willen mit unabänderlicher Stetig-
keit einzuhaltende, durans (von durus, hart!) per (Mevum,
Schritt des Mondwechsels und seine jedesmalige Wiederkehr
durch die Pforte des Himmels versinnbildlicht? S(nvlog
kann von einer wirklichen Oertlichkeit gebraucht sein, wie
S. Haridoara, Vischnu's Pforte, Hurdwar, die letzte Tal-
schlucht ist, welche der Ganges aus dem Bergland Gerwhals
zur Ebene durchbricht und der erste Versammlungsort der
Pilger. K. Ritter, Berl. Eal. 1829, S. 158. Indess auch in
einem mehr idealen Sinne. Es bedeutet nämlich, so viel ich
einsehe, trotz der Kürze des », »götterpfortig« aus mundart-
lichem St^ statt d'BtO' (vgl. sdQvnvXog^ svQvnvl^g vom Ein-
gange in die Unterwelt; und das von Herakles gegründete
^MaTo§mvl9g); und ist es auch sonst bezeichnend genug, dass
einer dieses Namens zum Sohne des Amphion (Umlairf) und
der Niobe gemacht wird und ihr Vater »Tantalos, König von
Lydien, von Sipylos in Phrygien« u. s. w. öfters von den
Göttern zur Tafel gezogen wurde, allein nachmals wegen
Uebermutes gleichfalls harte Strafe erleiden musste. Lässt
sich aber in dem Tdvtoüiog der zwischen festem Himmel
(das der ungeheuere Fels zu seinen Häuptenl) und Erde »in
der Schwebe gehaltenec Luftraum misslcennen? In solcher
Eigenschaft konnte auch er sich frevelhafter Weise vermessen,
dea Himmlischen gleichzustehen. Man begreift hienach,
dass ich M. Müllers Erklärungs- Versuch von Niobe als
»schmelzender Schnee, nivesc, von einem fingirten *snyu,
Einl. in die Vgl. Religionsw. S. 330 mir nicht aneigne.
Er genügt sachlich nicht, und auch sprachlich keineswegs
ohne Zwang. Ich darf aber noch andere Umstände zu
Gunsten meiner Auslegung anführen, wozu die Grundlage
bei Jacobi S. 25, 696. Auf den ersten Blick sieht unver*
48 A. P. Pott,
sonst heiteren Himmel. Äntion seinerseits war Sohn des
Lapithen ÜSQiipag (rings leuchtend) und der j4ctvdYs$a.
Letztere, als Tochter des ^JTtpevq^ mithin der Höhe, lässt
möglicher Weise auf eine Götterstadt raten, deren Führung
sie (vgl. Idy^ainoXig) hätte. Im Fall das mittlere a lang
wäre, erhielte man, nach Vorgange von vaväyoq, eine »Städte-
zerbrecherinc, was alsdann kaum etwas anderes sein könnte
als der Blitz.
Kehren wir jetzt zu dem Hyperion zurück. Als Sohn
des Uranos und der 6e, ein Titane, beansprucht er gewisser-
maßen die ganze lichte Oberwelt für sich, und werden daher
Helios, Selene und Eos, mithin Sonne, Mond und Morgenrot;
Aethra (Aether), Euryphaessa (die weithin voll Lichts) und
Theia mit ihm in verwantschaftliche Verbindung mehrfacher
Art gesetzt. Von der &€ia weiß ich nicht, soll man sie als
»Göttinc schlechtweg (dies, weil zu charakterlos, Wohl mit
geringerer Wahrscheinlichkeit) oder »Tantec ansehen. Das
zweite wäre nicht ganz unglaubhaft unter Berücksichtigung
von Tfidvq^ welche kaum ihren Namen von den Austern
xä Tijd-va hat, sondern wirklich möchte als ^17^17, Amme
oder Großmutter, gemeint sein. Als Tochter des üranos und
der Gäa ist sie in natürlicher Weise durch das Wasser im
Himmel auf Erden »Mutter der Stromgötter und der Okeani-
denc; indess anderseits auch als Gemahlin des Okeanos
»Amme der Herac, Versorgerin des Luftkreises mit nähren-
dem Nass. Es werde aber nicht auch noch eine dritte
Möglichkeit übergangen. Wäre Osia Derivat von ^etov,
Schwefel, dann müsste hiebei an die Schwefelfarbe und den
schwefeligen Geruch (sulfurea lux fulminum) gedacht sein.
(Schluss im nächsten Hefte.)
Bas Buch der Wnnder
des
Raymündüs LüLLÜS.*)
Die Lebensgeschichte des berühmten Franciscanermöncbes
Raymundus Lullus von Palma auf der Insel Mallorca, wie
dieselbe miter dem Datum des 30. Juni in den »Acta Sancto-
rumc zu lesen ist, entrollt ein interessantes Bild von dem
bewegten Leben, dem tatkräftigen Opfersinn, dem rastlosen
Fleiße und der wunderbaren Vielseitigkeit und schrift-
stellerischen Fruchtbarkeit des Mannes. Enthält doch die
seiner Biographie beigegebene Liste nicht weniger als
321 Titel von Werken, teils in lateinischer, teils in cata-
lanischer, teils in arabischer Sprache abgefasst.
Freilich sind von diesen Schriften gerade diejenigen
langst in Vergessenheit geraten, denen das Mittelalter seine
besondere Bewunderung zollte: diejenigen alchemistischen
und mathematisch -philosophischen Inhalts, in welchen Lull
die Grundsätze der »Ars magnac niedergelegt hatte und die
ihm den Ehrentitel eines Doctor illuminatissimus eingebracht
haben. Dafür ist in den letzten Jahren wiederholt auf eine
andere Seite seiner litterarischen Tätigkeit hingewiesen worden,
nämlich einerseits auf seine Bestrebungen als Moralschriftsteller,
andererseits auf seine Rolle als Vermittler zwischen der
geistigen Gultur des Orients und der des Occidents. Zwei
Werke namentlich sind es, welche in dieser Hinsicht in
Betracht kommen. Das eine ist der lehrhafte Roman Bla-
quema, in welchem die Erlebnisse des frommen Einsiedlers
Blaquerna auf seiner Wanderung durch die Welt erzählt
werden, wobei Ramon Lull Veranlassung findet, sich über
die wichtigsten Verhältnisse im menschlichen Leben, z. B. Ehe,
Religion, Erziehung, geistlichen Stand u. s. w., auszusprechen,
und zwar in einer höchst interessanten Weise**).
^) Nach einem in Basel gehaltenen Vortrag.
*^) S. Morel-Fatio: Le Roman de Blaquerna, Romania Bd. 6, p. 504ff.
ZaitMhr. ffir VSIkexpsych. und Spmchw. Bd. UV. i. 4
Das zweite umfangreichere Werk ist das ebenfalls ur-
spninglich catalanisch geschriebene Libre de Meravelles, das
Buch der Wunder, welches mit Ausnahme eines Abschnittes*)
meines Wissens noch nirgends gedruckt ist, und von welchem
bis jetzt vier Handschriften, zwei in Manchen*), eine in
London**) und eine in Bologna***) bekannt geworden sind.
Da die von Herrn Prof. E. Hofmann am Schlüsse seiner
Publicalion in Aussicht gestellte ausführlichere Behandlung
verschiedener durch dieses Werk angeregter Punkte so viel
ich weiß noch nicht erschienen ist, so möge es mir gestattet
sein, an dieser Stelle aber Inhalt, Plan und Tendenz des
Lullschen Buches, sowie über die Quellen desselben, einige
Mitteilungen zu machen, welche einer umfassenden Erörterung
keineswegs vorgreifen sollen, sondern das Interesse für die-
selbe bei einem weiteren nicht speciell romanistischen Publicum
vorzubereiten beabsichtigen f).
Die religiös-lehrhafte Tendenz des Buches erhellt gleich
aus der Einleitung, die den Rahmen ankündigt, innerhalb
dessen der Verfasser seine Betrachtungen über irdische und
überirdische, über göttliche und menschliche Dinge darlegen
will. Aus dieser Einleitung geht auch hervor, was das für
Wunder sind, von denen Lullus sprechen will. Es heißt da
(in freier und verkürzter Wiedergabe):
»In einem fremden Lande lebte einst in Trauer und
Bekümmernis ein Mann, der sich sehr darüber wunderte,
dass die Menschen Gott so wenig kennen und lieben, der
ja doch in seiner Güte die Welt erschaffen hat zu der
Menschen Frommen .... Dieser Mann hatte einen Sohn,
Namens Felix, den er sehr liebte; diesen beschloß er hinaus-
*) S. Konrad Hofmann, ein catalanisches Tierepos von Ramon
Lull, aus den Abhandl. d. K. bayer. Akad. d. W. München 1872.
**) S. meinen Aufsatz in dem Jahrb. f. Roman, und Engl. Litter.
Xni, p. 386 ff.
*^) S. Notiz von E. Monaci in Rivista di Filol. Rom. II, 117. —
Das von Benfey, Pantschatantra I, 904 erwähnte Li vre des Merveilles,
das eine Uebersetzung des L. d. Meravelles zu sein scheint, ist mir leider
nicht zugänglich gewesen.
t) Eine kurze Inhaltsangabe befindet sich bei Helfferich, Ramon
Lull. p. 123, N. 128.
Das Buch der Wunder des Raymundus Lullus. 61
zuschicken in die Welt, damit er einerseits die Güte und
Größe Gottes, wie sie sich an den Wunderwerken der
Schöpfung offenbart, verehren, andererseits auch die Undank-
barkeit und Sündhaftigkeit der Menschen kennen lernen und
beweinen möge. Felix gehorchte und begleitet von dem
Segen Gottes und den Lehren seines Vaters zog er hinaus
durch Wälder und Felder, über Berge und Ebenen, besuchte
Schlösser und niedere Hütten, lebte unter dem Volke und an
Ffirstenhöfen und erstaunte über die vielen Wunder, die in
der Welt sind. Was er nicht verstand, das ließ er sich
erklären; was er wusste, das erzählte er weiter, und scheute
nicht Mühe noch Gefahren, um die Menschen zu bewegen,
Gott zu ehren und zu preisen.c
Auf dieser seiner Wanderung kommt Felix zuerst in
einen dichten Wald, wo er eine Schäferin antrifft. Auf seine
Frage, ob sie sich denn nicht fürchte, so ganz allein in der
Wildnis, antwortet sie: »ich baue auf Gottc. Kaum hat
Felix sie verlassen, so hört er einen Schrei und sieht, wie
sie von einem grimmigen Wolfe in Stücke zerrissen wird.
Dies erregt bei Felix Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes, ja
an seiner Existenz überhaupt; und während er darüber nach-
grübelt, kommt er zu einem Einsiedler. Dieser erkennt
sofort, dass Felix' Geist durch ii^end ein Ereignis tief ver-
stört ist; er lässt sich das Geschehene erzählen, und beweist
dem an Gott zweifelnden Felix durch ein Gleichnis, dass es
auf der Welt mehr Gutes gäbe als Böses, und dass es folglich
einen Gott geben müsse. Am folgenden Motten begleitet
der Einsiedler Felix eine Strecke Weges: sie begegnen einer
Schlange. Felix. fürchtet sich, der Einsiedler aber nicht, und
erklärt Felix auf sein Befragen, der Tod sei nur der Anfang
eines bessern Lebens und Gottvertrauen mache in allen
Wechselfallen des Lebens stark. Felix lässt sich nun von
ihm belehren, was das Wesen Gottes sei, und hiermit beginnt
das erste Hauptstück des Buches, unter dem Titel: Von
Gott, das eine durchaus selbständige Abhandlung für sich
ist und mit F^x und dem Einsiedler weiter nichts mehr zu
tun hat. Am Schlüsse heißt es dann, dass Felix dem Ein-
52 0. SoUati,
Siedler für die Belehrung dankt, weiterzieht, wieder etwas
sieht, das er nicht versteht, und wieder einen weisen und
frommen Mann antrifft, der ihm die gewünschte Auskunft
in Gestalt. einer neuen selbständigen Abhandlung zukommen
lässt. Somit ist der ziemlich lockere Rahmen gegeben, der
die zehn Hauptstücke des Buches miteinander verbindet.
Diese zehn Abschnitte behandeln folgende Materien:
1) Gott, 2) die Engel, 3) den Himmel, 4) die Elemente,
5) die Pflanzen, 6) die Metalle, 7) die Tiere, 8) den Menschen,
9) das Paradies und endlich 10) die Hölle. Sie umfassen
also ziemlich alle erdenklichen Gegenstände, die sich der
philosophisch -moralischen Betrachtung darbieten können.
Als ein Beispiel, wie systematisch und formalistisch gewissen-
haft Ramon Lull dabei vorgeht, erlaube ich mir die Rubriken
der ersten Capitel des Abschnitts über den Menschen an-
zuführen:
1) Was der Mensch ist,
2) Von was der Mensch ist,
3) Warum der Mensch ist,
4) Warum der Mensch lebt,
5) Warum der Mensch gern Söhne hat,
6) Warum der Mensch gesund ist oder krank,
7) Warum der Mensch alt wird,
8) Warum der Mensch stirbt,
9) Warum der Mensch die Freuden dieser Welt liebt,
und dies wird in einer Reihe von Capiteln ausgeführt,
nämlich: warum der Mensch Freude hat an der Erinnerung,
am Sehen, am Wollen, am Hören, am Riechen u. s.w.
Dann kommen sämmtliche Tugenden und Untugenden, deren
der Mensch teilhaftig sein kann, zur Besprechung, kurz, es
werden alle m^liche physische und moralische Verhältnisse
des Menschen auf seiner Erdenlaufbahn berührt, so dass
dieser Abschnitt, der freilich einer der längsten ist, nicht
weniger als 72 Capitel enthält.
Würde man nun nach der eben skizzirten Anlage und
Einteilung des Buches allein urteilen, so könnte man leicht
glauben, man habe es nur mit einer Art Encyklopädie des Ge-
Das Bach der Wunder des Raymundus LuUos. 53
sammtwissens der Menschheit za tun^ wie sie das Mittelalter
liebte und uns verschiedene, mehr oder minder mnfangreiche,
lateinisch und romanisch, in Prosa wid in Versen, unter ver-
schiedenen Titehi übermittelt hat. Aber von dieser Art
didaktischer Werke unterscheidet sich das libre de Meravelles
wesentlich, sowohl durch die Tendenz, als auch durch den
Stoff selbst. Lulls Zweck ist nicht bloß, seinem Leser eine
bestimmte Summe von positiven Kenntnissen beizubringen,
sein Gedächtnis durch eine Anzahl ihm neuer Tatsachen zu
bereichern, sondern er will vor allen Dingen erziehend auf
das Gemüt des Menschen einwirken, in ihm den Glauben an
eine sittliche Weltordnung kräftigen, die sich in allen Wunder-
werken der Schöpfung offenbart Diese von den erwähnten
Werken durchaus abweichende Art der Behandlung zeigt
sich am auffallendsten in demjenigen Abschnitt, der betitelt
ist: Von den Tieren, und der auch vom Standpunkte der
vergleichenden Litteraturgeschichte unstreitig der interessan-
teste ist, weil gerade in demselben Lull orientalische Quellen
in ausgiebigster Weise benutzt hat.
Wer in dem genannten Abschnitte etwas Naturhistorisches
zu hören erwartet, wird sich sehr enttäuscht finden. Be-
schreibungen der Tiere und ihrer Eigentümlichkeiten, an die
etwa moralisirende, symbolisirende, allegorische Betrach-
tungen geknüpft werden — wie dies z. B. in dem bekannten
altfranzösischen Bestiaire des Philippe de Thaun geschieht,
wo unter anderen das Einhorn und der Panther mit Christus
verglichen werden wegen gewisser vorher beschriebener
Eigenschaften — solche Beschreibungen kommen bei Lull
gar nicht vor. Sein Buch über die Tiere hat durchaus
keinen naturhistorischen Charakter; es ist eine Tiersage, ein
Roman de Renart, freilich aber von besonderer Art und von
so entschieden ausgeprägter didaktischer Tendenz, dass der
Name Tierepos, den Hofmann gebraucht, nicht darauf passt.
Die Anordnung des ganzen Werkes findet sich auch
innerhalb dieses einen Abschnittes wiederholt. Eine Haupt-
erzählung bildet den Rahmen, in welchen sich eine Reihe
anderer Erzählungen oder Fabeln einfügen. Die handelnden
54 C^* Soldan,
Personen, sei's Tiere, sei es Menschen, haben n&miich die
Gewohnheit, ihre Ansichten durch Erzählung ii^end eines
Gleichnisses auszusprechen und zu begründen.
Der Gang der Erzählung ist kurz folgender*):
Felix, nachdem er den Philosophen verlassen, der ihm
Auskunft über die Metalle gegeben hat, begegnet in einem
Tale zwei ärmlich gekleideten Männern, die zum Orden der
Apostel gehören. Nach einigen erbaulichen Reden erzählen
sie Felis:, es seien soeben auf einer schönen Ebene die Tiere
versammelt, um einen König zu wählen. Felix begibt sich
dorthin, um die Sache mit anzusehen, wird aber während
der ganzen Erzählung nicht wieder erwähnt.
Es geht bei dieser Wahl stürmisch zu: alle m^lichen
Sonderinteressen und Eifersüchteleien kommen zur Geltung
und namentlich stehen Fleischfresser und Grasfresser einander
feindlich gegenüber. Erstere portiren den Löwen als den
Stärksten, letztere das Pferd, weil ein König schön, groß,
bescheiden sein müsse und seinem Volke keinen Schaden
bringen dürfe; diese Bedingungen träfen bei dem Löwen aber
nicht zu. Durch eine geschickte Rede des Fuchses wird
dennoch schließlich der Löwe gewählt, und sein erstes
Regierungsgeschäft ist, sich einen Rat zu wählen. Die Be-
stellung desselben ruft, wenn möglich, noch mehr Rivalitäten
wach, als die Königswahl selbst. Bär, Leopard, Unze,
Schlange und Wolf werden gewählt; der Fuchs aber nicht,
obwohl er doch eigentlich dem Löwen zu seiner Würde ver-
holfen hat Er empfiehlt zwar, mit Hinweis auf Christus,
der am liebsten mit einfältigen und demütigen Leuten um-
gegangen sei, die Wahl eines schwächeren Tieres in den
Rat; aber nicht er wird gewählt, wie er gehofft, sondern der
Hahn, weil er schön sei von Person, klug, in Weiber-
beherschung erprobt und außerdem ein guter Sängeh Ferner
wird der Kater zum Kammerherm des Königs und der Hund
zum Türhüter gemacht.
*) Es sei mir erlaubt, auf die sehr ausführliche Analyse hinzuweisen,
welche K. Hofmann dem catalanischen Texte dieses Abschnittes bei-
gegeben hat und die ich teilweise benütze.
Das Buch der Wunder des Raymundus Lullus. 55
Der Fuchs, durch seine Zurücksetzung tief gekränkt,
fingt nun sofort an Verrat zu q)innen und sich durch List
einen Einfluas zu yerscbaffen, den er gegen den König be-
nutzen will. Er sucht vor Allem sich mit den Häuptern
der Opposition, den Grasfressern, zu verständigen. Mit diesen
ist aber nicht viel anzufangen: Stier und Pferd sind bald
nach ihrer Niederlage bei der Wahl freiwillig in die Ver-
bannung gegangen, d. h. unter die Menschen, so dass von
dieser Partei nur noch der Eber und der Elephant bei Hofe
verbleiben. Letzterer, an den sich der Fuchs zuerst mit
seinem Plane wendet, den Löwen zu stürzen und ihn, den
Elephanten, auf den Tron zu erheben, ist misstrauisch. Art
lässt nicht von der Art, denkt er, und der Fuchs, der selbst
Fleisch frisst, kann es mit uns Grasfressern unmöglich ehrlich
meinen. Diesen Zweifel deutet er dem Fuchs durch folgendes
Gleichnis an:
»In einem Lande geschah es, dass eine Weihe eme Ratte
davon trug, und ein Eremit zu Gott betete, er möge die
Ratte in seinen Schoß fallen lassen, was Gott auf die Bitte
des heiligen Mannes auch geschehen liefi. Nun bat da:
Eremit den Herrn, er möge ein schönes Fräulein aus ihr
machen. Auch diese Bitte wurde erhört Liebe Tochter,
sprach der Eremit, willst Du die Sonne zum Manne haben? —
Nein, denn die Sonne wird von der Wolke verdunkelt. —
Den Mond? — Nein, denn er hat kein eigenes Licht, sondern
muss es von der Sonne leihen. — Die Wolke? — Nein, denn
der Wind fuhrt sie hin wb er will- — Den Wind? — Nein,
denn der Berg hemmt ihn in seiner Bewegung. — Den
Berg? — Nein, denn die Ratten durchlöchern d^ Bei^r* —
Den Menschen? — Nein, denn er tötet die Ratten. — End-
lich bat das Fräulein den Eremiten, er möge sie doch wieder
zu einer Ratte machen und ihr einen schönen Ratzen zum
Manne geben.c
Der schlagfertige Reineke weiß diesem Verdacht durch
ein anderes Gleichnis zu begegnen und beweist durch die
Erzählung von dem Hasen, der den Löwen dadurch umbringt,
dass er ihm einen vermeintlichen Nebenbuhler im Wasser-
56 (^' Soldan,
Spiegel einer Cisterne zeigt , dass es schon oft Kleinen
gelungen sei, Große za Falle zu bringen. Da auch darauf
hin noch der Elephant Bedenken hegt, so wundert sich
Renart, wie in einem so großen Körper so viel Furcht vor-
handen sein könne, und greift daher, als ultima ratio, wie
er immer tut wenn sonst nichts verfangen will, zu einem
Exempel aus der Bibel: »Frau Evac, sagt er, »war nur ein
Weib und doch hat sie über Adam und seine ganze Nach-
kommenschaft Gottes Zorn gebracht. Warum sollte denn
ich nicht, mit meiner Schlauheit, es dahin bringen können,
dass der König bei seinem Volke so verhasst wird, dass
wir ihn leicht stürzen können ?c Nun willigt der Elephant
ein, und verspricht die Krone anzunehmen, falls Renart den
Löwen tötet
Renarts Streben geht nun vor allen Dingen dahin, die
übrigen Ratgeber des Königs auf die Seite zu schaffen und
selbst Einfluss zu erringen. Und man muss sagen, dass er
dabei mit einer Geschicklichkeit vorgeht, mit einer Raffinirt-
heit operirt, die bei dem Verfasser auf eine ganz bedeutende
Welt- und Menschenkenntnis schließen lässt. Freilich hat
auch Lull m seinem bewegten Leben Gelegenheit genug
gehabt solche sich anzueignen, z. B. an den Höfen König
Philipps des Schönen von Frankreich, der Päpste Bonifaz'
des Achten und Clemens' des Fünften, anderer weltlicher und
geistlicher Herren nicht zu gedenken. Es ist wunderbar, wie
der Fuchs es versteht, die persönlichen Schwächen seiner
Gegner auszubeuten und die kleinen Rivalitäten der Einen
und der Anderen gegen einander auszuspielen.
Eine zufällige Begegnung mit dem Stiere kommt ihm
bei der Ausführung seines Planes sehr zu Statten. Der
Stier hat die Menschen verlassen, weil man ihn hat schlachten
wollen, ist aber nun in großer Sorge, wegen seines Weg-
gangs vom Löwen bestraft zu werden. Auf Renarts Rat
versteckt er sich in der Nähe des Hof lagers und brüllt zu
wiederholten Malen so laut er kann. Niemand an des Löwen
Hofe kennt diese Stimme und Alle geraten daher in großen
Schrecken. Renart zeigt natürlich keine Furcht: er erbietet
Das Buch der Wunder des Raymundus Lullus. 57
sich sogar, nachzusehen, woher dieser Laut komme, und
imponirt durch diesen Beweis von ünerschrockenheit dem
Löwen sehr. Er bringt den Stier vor den Löwen und dieser
nimmt den reumütig zurückkehrenden huldvollst zu Gnaden
an. Der Stier muss von seinen Erfahrungen unter den
Menschen erzählen-, und schildert den Menschenkönig als so
mächtig, dass der Löwe wiederum Angst bekommt und gerne
auf Renarts Vorschlag eingeht, eine Gesantschaft an ihn zu
schicken, um sich seines Wohlwollens zu versichern. Weil
aber, nach Renarts Aussage, die Menschen stets die edelsten
und angesehensten im Rate als Gesante schicken, so werden
Unze und Leopard als solche bezeichnet; Hund und Kater
sollen als passende Geschenke fungiren. Auf diese Weise
werden zwei Hofamter vacant, in welche Renart und seine
Greatur, der Stier, einrücken.
Die Erzählung von den Erlebnissen der Gesanten am
Hofe des Menschenkönigs bietet ein im Ganzen etwas con-
fuses Bild einer Hofhaltung die nichts weniger als musterhaft
ist und in des Verfassers Sinne jedenfalls abschreckend
wirken soll. Der König ruinirt seine Untertanen durch maß-
lose Verschwendungen, und auch den Gesanten gegenüber
benimmt er sich wenig rücksichtsvoll. Nur durch Bestechung
gelingt es ihnen eine Audienz zu bekommen, und bei der-
selben begeht der König die unverzeihliche Taktlosigkeit, die
beiden Geschenke, Kater und Hund, sofort weiter zu ver-
schenken, trotzdem der Kater gewissermaßen das Ebenbild
en miniature des Löwen ist und aus diesem Grunde be-
sonderen Wert hätte haben sollen. Leopard und Unze ver-
lassen in Folge dessen höchst unzufrieden den Hof; die
letztere aber trägt noch einen besonderen Stachel in der
Brust: der König hat dem Leopard mehr Ehre erwiesen als
ihr und die Eifersucht nagt nun an ihrem Herzen.
Es lässt sich denken, dass der Fuchs inzwischen seine
Zeit nicht verloren, sondern jede Gelegenheit benutzt hat,
um sich unenÜ^hrlich zu machen. Um den Löwen desto
besser beherschen zu können, verführt er ihn zu einem Ver-
68 G. Sold»o,
brechen; er erzählt ihm so viel von den Reizen 4er Frau
Leopardin, dass der Löwe sich wirklich in sie verliebt and
sie jedermann zum Trotze gewaltsam zu seinem Weibe
macht. Als der Leopard bei seiner Rückkehr die Schmach
erfährt, die ihm der König angetan hat, ist er rasend vor
Zorn und Bekümmernis. Vor dem ganzen Hofe beschuldigt
er den Löwen der Verräterei und fordert ihn zum Gottes-
gerichtskampf heraus. Nicht Einer von den anwesenden
Baronen meldet sich, den Handschuh aufzunehmen und die
Ehre des Königs zu verteidigen, bis endlich der Fuchs die
Eifersucht der Unze dazu benutzt, sie zu überreden gegen
ihr besseres Wissen und Gewissen für die Unschuld des
Königs einzutreten. Aus dem nun folgenden Gottesgericht
geht endlich der Leopard, obwohl er der schwächere ist, als
Sieger hervor, weil er das Recht auf seiner Seite hat. Aber
der Löwe, außer sich vor Verwirrung und Beschämung, vor
seinem ganzen Volke als Verräter dastehen zu müssen, stürzt
sich auf den vom blutigen Kampfe ermatteten Leopard und
zerreißt ihn. Durch diese Gewalttat zerfällt der König immer
mehr mit seinem Volke und sein böser Genius Renart gewinnt
immer mehr Einfluss auf ihn.
Nach und nach werden auf sein Anstiften auch noch
die letzten bedeutenderen Mitglieder des königlichen Rates
beseitigt. Bär und Wolf werden als Geschenke, die Schlange
als Botschafter an den Menschenkönig gesanL Den Stier
weiß der Fuchs zu bereden, dass er sich aus lauter Höflich-
keit dem Löwen freiwillig als Speise anbietet; dieser aber
nimmt ihn beim Wort und frisst ihn auf. Den Hahn tötet
der Fuchs selbst, angeblich um die beleidigte Majestät zu
rächen, weil sich der Hahn erlaubt hat, dem Löwen einen
guten, aber unangenehmen Rat zu erteilen. Und so hat
Renart es schließlich dahin gebracht, dass er alleiniger Rat-
geber ist und die übrigen Hofchargen nur durch seine eigenen
Creaturen, Pfau und Kanmchen, bekleidet sind. Den König
beherscht er vollkommen, »dennc, sagt Ramon Lull bedeut;-
sam, »seit der König so schwere Schuld auf sich geladen
und den Leopard ermordet hatte, hatten auch seine Geistes^
Das Buch der Wunder des Raymundus Lullus. 59
kräfte abgenommen, und er hatte keinen so subtilen Kopf
mehr wie fräher.c
Nun hält der Fuchs den Zeitpunkt für gekommen, das
mit dem Elephanten geplante Complot gegen das Leben des
Königs in Ausführung zu bringen. Dem Elephanten jedoch
ist nicht wohl zu Mute dabei Wer steht mir dafür, denkt
er sehr richtig, dass dieser Intrigant, wenn es ihm geglückt
sein wird, den Löwen aus der Welt zu schaffen, nicht auch
Mittel und Wege finden wird, mich zu stürzen, wenn ich
ihm nicht in allen Stücken willfahre? Er entschließt sich
daher kurz, dem Löwen das Complot zu entdecken: der
Verräter Fuchs wird der Schuld überführt und vom Könige
selbst zerrissen. Von nun an, heißt es, kam der Hof wieder
in bessern Stand, und die rechtschaffenen Barone, Eber und
Elephant wurden in den Rat gewählt.
Der ganze Abschnitt schließt folgendermaßen: Hiermit
ist das Buch yon den Tieren beendigt, welches Felix einem
Könige brachte, damit er aus der Art, wie die Tiere handeln,
abnehmen möchte, auf welche Weise ein König regieren und
sich vor bösem Rate und falschen Mepschen hüten soll.
Der ausgesprochenen Absicht des Verfassers nach soll
das Buch also ein Fürstenspiegel sein, ein pädagogisches
Werk ad usum Delphini ; es ist ein Vorgänger von Föneions
Telömaque. Dies allein schon unterscheidet R. Lulls Werk
von den oben erwähnten naturgeschichtlichen Büchern des
Mittelalters einerseits, und andererseits auch von der fran-
zöfflsch-germanischen Tiersage. In letzterer sollen ja die
Erzählungen von den Streichen, die Renart dem Wolfe, der
Katze, dem Bären u. s. w. zu spielen weiß, nicht in erster
Linie pädagogisch wirken; ihr Charakter mag vielleicht an-
fangs rein episch gewesen sein, in Frankreich jedenfalls aber
haben sie sehr frühe eine satirische Färbung angenommen.
Dass diese Tiersage Ramon Lull nicht als Vorbild gedient
hat, geht femer daraus hervor, dass die handelnden Persön-
lichkeiten, abgesehen vom Fuchs, wesentlich andere sind.
Bei ihm sind Elephant, Stier, Leopard, Unze und Schlange
die miäcbtigen Barone des Hofstaats, während gerade die-
6. Soldao,
jenigen Tiere, die im Roman de Renard oder im Reineke
Fuchs die Hauptrollen spielen, z. B. Wolf, Bär, Dachs, Katze,
Widder, Hase, bei Lull entweder gar nicht vorkommen, oder
doch nur ganz nebensächlich behandelt werden. Auch die
zahlreichen eingeschalteten Erzählungen und Gleichnisse sind
ganz andere als die bekannten des Roman de Renard; sie
sind aber auch hinwiederum total verschieden von den
sogenannten äsopischen Fabebi, die aus dem griechisch-
römischen Altertum in unsere abendländischen Litteraturen
herübergekommen sind.
Dasjenige Werk, durch welches Lull zu seinem Buch
von den Tieren angeregt worden ist, und welchem er die
lehrhafte Tendenz, eine Reihe der eingeschalteten Gleichnisse
und sogar einen Teil des Rahmens entlehnt hat, ist ganz
unstreitig die arabische Sammlung der Fabeln des Bidpai,
Kalilah ve Dimnah, welche selbst auf dem indischen Pantscha-
tantra und dessen Auszug, dem Hitopadesa, beruht. Alle drei
genannten Werke haben, wie das Lullsche, eine durchaus
lehrhafte auf die Fürstenerziehung abzielende Tendenz; in
jedem findet man einen Weisen, der einem Könige oder
dessen Söhnen Lehren erteilt, wie man sich im Umgange
mit Menschen und in Regierungsfragen benehmen soll, und
der seine Lehren stets durch Gleichnisse aus dem Menschen-
und Tierleben erläutert.
Höchst wahrscheinlich hat Ramon Lull direct aus der
arabischen Quelle geschöpft und gehört somit zu den Männern,
welche, wie seine Zeitgenossen Johann von Gapua, Jaques
de Vitri, Raymond de Beziers u. a. m. die Verpflanzung
des orientalischen Sagenschatzes nach dem Abendland ge-
fordert haben. Er gehörte ja durch seine Geburt dem Grenz-
gebiete zwischen Christentum und Islam an und verstand
das Arabische von Grund aus. Er hatte es von einem
sarazenischen Sklaven gelernt und zwar mit Gefahr seines
Lebens; denn der Sklave machte einen Mordversuch gegen
ihn. Er hat es sein Leben lang geübt in seiner Missions-
tätigkeit in Afrika, welcher er schließlich zum Opfer gefallen
ist; er hat bei Päpsten und Fürsten die Errichtung von
OrTMt
UNIVER8ITY
Of
LUFC
Das Bach der Wunder des.Raymundos LuUus« 61
Missionsschulen, in denen Arabisch gelehrt werden sollte, stets
auf das Wärmste, freilich ohne Erfolg, befärwortet Er hat
die moralisirende Litteratur des Orirats so gründlich studirt,
dass er sogar mehr als einen buddhistischen Zug in seine
religiösen und moralischen Anschauungen aufgenommen hat,
was später seiner Heiligsprechung hinderlich in den Weg
getreten ist; er soll sogar mehrere seiner Werke in>arabischer
Sprache geschrieben haben. Er hat also keinenfalls einer
Uebersetzung bedurft, um die Fabeln des Bidpai in seinem
Werke zu verwerten, seligst wenn man annimmt, dass die
Uebersetzung des Johann von Gapua vor seinem Libre de
Meravelles erschienen und ihm bekannt gewesen sei.
Uebrigens ist Lull keineswegs ein sklavischer Nachahmer
gewesen. Seine specielle Benutzung des Ealiiah ve Dimnah
beginnt von dem Momente, wo der Stier durch sein Brüllen
dem Löwen Entsetzen einjagt; die Idee der ganzen Intrigue,
durch welche Renart vermittelst des Stiers Einiluss beim
Könige erringt, ebenso des schließlichen Todes des Stiers ist
dem ersten Buche entnommen, welches den Titel führt: Der
Löwe und der Stier. Nur hat Lull an Stelle des Schakals
Dimnah den Fuchs gesetzt; eine Substitution, in welcher
unschwer eine Goncession an die abendländische Tiersage zu
eriLennen ist, umsomehr als Lullus den Eigennamen Renard
geradezu beibehält, ohne je das catalanische Wort für Fuchs
zu gebrauchen. Es ist dies übrigens der einzige Punkt, wo
sich dieser Einfluss bemerklich macht. Der fernere Verlauf
aber unserer Erzählung, von dem Augenblicke an, wo die
Gesantschaft an den Menschenkönig beschlossen wird, weicht
vollständig von dem arabischen Buche ab; nur in den ein-
geschalteten Gleichnissen macht sich dessen Einfluss wieder
geltend. Ich bin geneigt, die fernere Entwicklung der Haupt-
erzählung, wie Renard sich allmählich sämmtlicher ihm
gefährlichen Ratgeber entledigt, für originelle Erfindung Lulls
zu halten, was ja nicht das etwaige Vorkommen von Re-
miniszenzen im Detail ausschließt*). Er hat den Stoff selb-
*) Folgende eingeschaltete Erzählungen stammen, mehr oder minder
verändert, aus Kalil. t. Dimnah. Ich citire Lull nach den §§ des Hof<
62 0^ Soldan,
ständig verarbeitet utid jedenfalls manche seiner personlichen
Erfahrungen, namentlich von dem höfischen Leben dabei
verwertet Ganz abgesehen davon, dass die handelnden
Personen in ihren Reden und Erzählungen vielfach auf die
Bibel Bezug nehmen und das Ganze demnach einen christ-
lichen Anstrich bekommt, — abgesehen davon, machen viele
Stellen den Eindruck des Selbsterlebten. Wenn z. B. Renart
(§8) von einem Christen erzählt, der einen sarazenischen
Diener hatte, welcher trotz guter Behandlung seinen Herrn
nicht aufrichtig lieben konnte, sondern ihm nach dem Leben
trachtete, so haben wir da ein persönliches Erlebnis des
Verfassers vor uns. An einer andern Stelle (§ 7) wird von
einem Grafen berichtet, der mit einem mächtigen König
Krieg fährt und sich dadurch hilft, dass er dessen Sekretär
besticht und so alle Plane seines Feindes vereiteln kann, weil
er bei Zeiten davon in Kenntnis gesetzt wird — auch das
macht, namentlich durch die schmucklose Form, in der es
gebracht wird, den Eindruck, als habe LuUus es aus seiner
eigenen Erfahrung geschöpft. Ganz besonders gilt dies von
der ganzen Episode der Gesantschaft an den Menschenkönig,
für welchen mehr als Einer der französischen, spanischen
oder italienischen Fürsten, mit denen R. LuU in persönliche
Berährung gekonmien ist, als Modell hätte sitzen können.
An diesem Hofe befinden wir uns unverkennbar im Abend-
land. Es wird uns beschrieben, wie bei der großen Hoflafd
Spiellente ab- und zugehen und zu ihren Instrumenten Lieder
singen, die wohlerzogenen Ohren widerwärtig sind, da darin
mannachen Textes; Bidpai nach der Uebersetzung von Phil. Wolff,
Stuttgart 1837, in 2 Bändchen.
§ 9. Der Eremit und die Ratte, K. v. D. I, 219.
§ 11. Der Löwe und der Hase, K. v. D. I, p. 46.
§ 18. Der Fuchs und die Pauke, K. t. D. I, p. 22.
§ 19. Der Rabe und die Schlange, K. y. D. I, p. 40*
§ 21. Der Fischreiher und der Krebs, K. t. D. I, p. 41.
§ 25. Eremit, Bär, Rabe, Schlange und Mensch, K. t. D. II, p. 97.
(Der Pilger und der Goldarbeiter.)
§ 29. Die BOcke und der Fuchs, K. v. D. I, 29.
§ 44. Der Affe und der Glühwurm, K. v. D. I, 91.
t)as Öudh iet Woncter des Itaymandus Lullus. ^^
gelobt wird, was tadelnswert ist, und umgekehrt. R. Lttll ist
äyethaupt aus leicht böt^iflK^hen GfQnden dön Spielleuteh
nicht hold; an einer anderen Stelle in dem gleichen Abschnitt
erklärt er es sogar für ein sehr schlimmes Zeichen, wenn
jemand von Spielieüten gelobt werde.
Als unmittelbar aus dem Leben gegriffen erscheinen auch
die Beschwerden, welche gegen den König und seine Be-
amten erhoben werden. Der Wirt, bei welchem die Ab-
gesanten des L5wen ihre Wohnung genommen, klagt ihnen:
gegenüber aber die Verschwendungen und den Luxus des
Ffirsten, der gar keinen eigenen Schatz besitze, sondern jede
Stadt, in der er jeweilen geruhe sein Parlament abzuhalten,
zwinge, sämratliche Kosten für seine üppigen Hoffeste auf-
zubringen. Bei dem Könige selbst führen Abgeordnete des
Volks, die Lull prozomes (prud'hommes) nennt, öffentlich
Klage über die schlechten und unredlichen Beamten des
Königs, die das Volk aussaugen. Dass diese Beschwerden
zu keinem Resultat führen, ist wiederum höchst charakteristisch
und naturwahr. Die Prud'hommes werden an den könig-
lichen Rat verwiesen; in diesem aber sitzen lauter gute
Freunde oder Verwante der Angeklagten, und folglich werden
die Kläger unverrichteter Sache wieder heimgeschickt, mit
einem scharfen Tadel ob ihrer Frechheit obendrein.
Wenn wir nun noch endlich auf die ganze Erzählung
von dem gottesgerichtlichen Zweikampfe zwischen Leopard
und Unze hinweisen, dessen Idee eben nur auf den An-
schauungen des christlichen Mittelalters basiren kann, so wird
dies wohl genügen um zu beweisen, dass Ramon Lull in
diesem Buch von den Tieren das Verdienst einer gewissen
Originalität nicht abzustreiten ist, sowohl was den Stoff, als
auch was die Behandlung betrifft. Die Haupterzählung, die
defa Rahmen bildet, hat er mit weit größerer Sorgfalt be-
handelt als sein Vorbild ; er hat sie erweitert und in durchaus
selbständiger Weise zu einem befriedigenden Abschlüsse
geführt Wenn er auch eine bedeutende Anzahl von Er-
zählungen fast wörtlich der arabischen Quelle entlehnt hat,
SD hat er es doch verstanden, bei Verwertung derselben
64 0. Soldan, Das Buch der Wunder des Raymundna LuUos.
seinen Standpunkt als strenger Christ zu waren gegenüber
der laxeren und wesentlich auf dem Princip der Nätzlichkdt
basirenden Moral seines Vorbildes.
Der gleiche Geist, der diesen Abschnitt des Lullschen
Buches durchweht, durchweht das ganze Werk. Es ist der
Geist hohen sittlichen Ernstes, warmen Strebens, die Menschen
zur Erkenntnis Gottes und der Tugend zu fuhren. Dem
Charakter des Verfassers macht dasselbe alle Ehre. Außer-
dem aber documentirt er sich durch dieses Buch der Wunder
als Einer der Ersten unter denjenigen, die dem Abendland
den übervollen Sagenschatz des Orients erschlossen haben,
in welchem es bald nachher förmlich geschwdgt hat und an
dem es heute noch zehrt.
G. Soldan.
Die alten Jnngfem
imGlanben nnd Branch des deutschen Volkes«
Von L. Tobler.
Seit einiger Zeit haben die Lebensverhältnisse der hohem
Stände in den größern Städten sich so gestaltet, dass ein
beträchtlicher Teil der erwachsenen Personen beim besten
Willen nicht mehr dazu kommt, in den Stand der Ehe treten
zu können, und in Folge davon geht vielleicht das öffent-
liche Urteil aber die Ehelosigkeit einer allmählichen Ver-
änderung entgegen. Es ist zwar kaum zu erwarten, dass die
Schätzung des Ehestandes selbst eine merkliche Abnahme
erlitten habe oder erleiden werde, da die Notwendigkeit und
die heilsamen Wirkungen desselben als der physischen und
moralischen Grundlage der menschlichen Gesellschaft zu sehr
am Tage liegen; aber das Urteil aber die Ehelosigkeit kann
L Tobler, Die alten Jangfern im Glauben und firauch etc. 65
doch sehr verschieden ausfallen ^ je nachdem man dieselbe
als einen selbst erwählten resp. selbst verschuldeten Zustand
betrachtet oder als eine in gewissem Maße unvermeidliche
Folge herschender socialer Uebelstände, welchen ein Teil der
Bevölkerung zum Opfer fallen müsse, wie etwa gewissen
Krankheiten oder gar Verbrechen. Die Statistik weist nach,
dass auf dem Lande und in kleineren Städten, wo die Lebeni»-
verhältnisse einfacher und natürlicher geblieben sind, Ehen
zwar oft erst in etwas reiferem Lebensalter, aber immer noch
häufiger vorkommen als in großen Städten. In demselben
Maße wird dort auch das Urteil über die Ehelosigkeit, als
einen verhältnismäßig ausnahmsweisen, also auffallenden
Zustand weniger günstig sein; denn die öffentliche Meinung
urteilt nach Durchschnitten und Mehrheiten und weiß Aus-
nahmen nicht zu begreifen. Da nun die ländliche Bevölke-
rung in Reden und Bräuchen mehr Offenheit als Zartgefühl
walten lässt, so ist sich nicht zu verwundem, wenn etwelche
Geringschätzung des ehelosen Standes sich in Wort und Tat
ziemlich unverhohlen äußert, und zwar so, dass derselbe mehr
Spott als etwa Mitleid hervorruft. Hier muss nun freilich
sogleich erinnert werden, dass diese Beurteilung des ledigen
Standes nicht beide Geschlechter in gleichem Maße trifft,
sondern vorzugsweise das weibliche. Dieser Unterschied wird
seinen Grund in der natürlichen Beschaffenheit haben, ver-
möge welcher das männliche Geschlecht, durchschnittlich
mit größerer Kraft und Selbständigkeit ausgestattet und da-
durch auch für einen größeren Umfang von Berufs- und
Existenzarten beftlhigt, eher im Stande ist, im Notfall die
Ehelosigkeit zu ertragen und leidlich zu gestalten, während
das weibliche Geschlecht mehr darauf angewiesen ist, im
Anschluss an das männliche nicht nur eine Existenz zu
suchen, sondern in derselben auch die besten Eigenschaften
seines Wesens erst recht zu entfalten. Nun ist es ja mög-
lich, — und manche Erscheinungen neuester Zeit deuten
daraufhin — dass jener Unterschied zunächst in den Städten,
wo er bisher auch am empfindlichsten war, sich mildere und
dass eine Au^ldchung d^ Rechte und Leistungen beider
ZcitMlir. fBi VSIlceipiych. und Spnchw. Bd. XIV. i. 5
66 L. tobler,
Geschlechter allmählich in höherem Maße Platz greife als
man früher für mögiich erachtete. Aber diese Fragen einer
näheren oder ferneren Zukunft können und sollen uns hier
nicht beschäftigen, wo wir die rein theoretische und historische
Frage uns vorgelegt haben, wie eine ältei^ Zeit in deutschen
Landen den Stand lediger Weibspersonen betrachtet und
behandelt habe und was davon bis auf heute, bescmders
auch in der Schwefe, als alter Glaube und Brauch, zuletzt
nur nodi als volkstumlicher Sprachgebrauch, übrig ge-
blieben sei.
Bei den Gulturvölkem des Altertums war die Schätzung
des weiblichen Geschlechtes bekanntlich eine verschiedene,
auch bei demselben Volke in verschiedenen Zeiten; aber
wenn Eindererzeugung gewissermaßen als eine Pflicht des
erwachsenen Bärgers, Eindersegen als Glück und Ehre an-
gesehen wurde, so war damit für die zeitige Versorgung der
Jungfrauen einigermaßen gesorgt, mochte ihre Stellung als
Hausfrauen nachher mehr oder weniger günstig sein. Die
von der Natur begünstigte und auch in der Gultor noch
einfacheren Lebensbedingungen erleichterten die Schließung
von Ehen, und wenn gerade dem weiblichen Teil freie Wahl
dabei wenig gestattet war, so musste eben dadurch auch det
Fall des Ledigbleibens um so seltener werden. Wir finden
daher fast keine Nachrichten über eine besondere Auffassung
desselben; die Ausnahmen, die nicht gefehlt haben werden,
konnten neben der Regel weniger auffallen, in dem Maße
als das weibliche Geschlecht im Ganzen weniger berüdc-
sichtigt wurde.
Bei den alten Germanen hebt Tacitus (Germ. cap. 20)
die verhältnismäßig späte Verheiratung der Männer hervor,
welche auch eine größere Reife der Jungfrauen entsprach.
Die späteren Volksrechte enthalten darüber keine Bestimmungen
und für unsere Frage ließe sich auch nichts daraus ent-
nehmen, da es ja nicht darauf ankommt, in welchem Alter
man zur Ehe geschritten, sondern in welchem Maße sie über-
haupt verbreitet gewesen sei. Wenn der Erieg einen beträcht-
lichen Teil der jungen Mannschaft vorweg aufrieb, so musste
Die alt. Jungfern im 6iaul)en u. firaach d. deutsch. Volkes. 67
allerdixigs d^durc)} die Veri^ii^tung der Mädchep veraimdeit
werden; aber der Selbsterhaltungstrieb der Stämme mufiste
in demselben Grade auf Ersetzung der Verluste gerichtetf und
jedenfalls konnte die Ansicht vom Ebßstand äberhaupt keine
ungunstige sein, besonders wepn die Schätzung des weiblichen
Geschlechtes im ganzen etwas höher stand ^Is bei den
Völkern des Altertums. Das Wort Hagestolz, w/slchei^
allerdings in seiner Grundform (hagustalt) sehr altertjumlic)^
ist, bezeichnet ursprunglich nicht den ehelosien Mann als
solchen, sondern d&a. bei der Erbteilung eines Bauernhofes
mit einem kleineren Grundstück abgefundenen Sohn (schweiz*
Erb Vetter, bei Gotthelf), der dadurch allerdings a^ Kriegs-
dienst und Ehelosigkeit angewiesen war, aber ohne Einbuße
an seiner männlichen Ehre und ohne allen spQttischen Neben-
b^riff, der erst durch die Umdeutung auf Stolz sich dem
Wort angehängt hat.
So ist es auch möglich, dass ledig gebliebene Jungfrauen
als Priesterinnen, Wahrsagerinnen und heilkundige Helferinnen
gerade im Kriege mitten unter den Männern eine angesehene
Stellung eingenommen und dadurch das Ansehen des Jungfrau-^
liehen Standes überhaupt gehoben haben, wie bei den Römern
die Vestalinnen. — Das Christentum erhöhte die Geltung des
weiblichen Geschlechtes als solchen, ohne Rücksicht auf die
Ehe, aber indem es später das Elosterleben als sittliches
Vordienst beiden Geschlechtem eröffnete, war es der Be-
förderung der Ehe (wenn dieselbe nicht dem Eintritt ins
Kloster vorangegangen war) nicht günstig; auf die ehelos in
der Welt gebliebenen Mädchen konnte immerhin das un-
günstige Licht fallen, dass sie beide ihnen eröffnete Zufluchts-
stätten eigenwillig verschmäht hätten.
Da positive Angaben über solche Dinge in den geschicht-
lichen Quellen älterer Zeit immer selten sind, so können
wir die Ansicht des deutschen Mittelalters von dem ehelosen
Stand nur aus der Quelle von Volksbräuchen und -Redensarten
schöpfen, welche oft etwas trübe fließt, aber ihren Ursprung
ohne Zweifel meistens in älterer Zeit hat, da die in jenen
68 L. Tobler,
Aeufierungen herschende Symbolik dem Geiste der neueren
Zeit durchaus fremd ist.
Wir wollen also an jene Quelle, und zwar wie sie zu-
nächst auf schweizerischem Boden fließt, mit Bedacht heran-
treten und nur das noch vorausschicken, dass die fraglichen
Ansichten und Bräuche vielleicht weniger schlimm gemeint
waren als es jetzt scheinen mag, und zwar erstens darum,
weil zu dem ehelosen Stand nicht bloß die ganz hoffnungs-
losen alten Jungfern gehören, sondern auch die jüngeren
Mädchen, denen jeder Tag mit dem Eintritt in die Ehe einen
Uebergang von der vermeintlichen Schande zur Ehre bringen
kann; zweitens aber darum, weil Manches, was jetzt spöttisch
und gehässig oder wenigstens rein komisch zu sein scheint,
früher ehrenhaft und ernst gemeint gewesen sein kann. Wenn
das ganze germanische Götterwesen später zu teuflischem
Unwesen verkehrt werden konnte, so kann auch in der
Sittengeschichte unter gemeiner Oberfläche eine edlere Grund-
lage zu Tage kommen. Jedenfalls sind die Vorstellungen der
Deutschen über das Schicksal der alten Jungfern weniger
unheimlich als bei anderen Völkern, s. Globus Bd. XXXIV,
Nr. 13.
Rein scherzhaft und wahrscheinlich erst aus neuerer
Zeit stammend, sind gewisse weit verbreitete Redensarten,
welche sich auf das den alten Jungfern nach ihrem Tode
bevorstehende Schicksal beziehen und ihnen meistens eine
Beschäftigung zuweisen, welche als Strafe für ihre Miss-
achtung der natürlichen Triebe gelten soll und zum Teil
nicht ohne Witz ausgedacht ist, meistens in Gestalt einer
unfruchtbaren Beschäftigung. In Tirol müssen sie bis zum
jüngsten Tag den kalten Boden des Sterzinger Mooses (s. u.)
mit Fingerspannen ausmessen, oder: Schnee reitem. (Alpen-
burg, Mythen und Sagen Tirols, S. 350.) Das Gegenstück
dazu ist: in der Hölle Schwefelhölzchen und Zunder feil-
bieten (Philander von Sittewalt, Sechstes Gesicht, S. 389,
Straßburg 1642). Weniger bedeutsam ist: Flederwische ver-
kaufen (Grimm Wtb. 3, 1747). In Straßburg müssen alte
Jungfern »die Citadelle verbändein helfenc, ähnlich in Basel
Die alt. Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 69
»die Rheinbrücke verbändein und das Mänster abreibenc ;
in Frankfurt »den Parrtom (Pfarrturm) bohnenc, in Wien den
Stephansturm; in Nürnberg »mit den Barten alter Jung-
gesellen den weißen Turm fegenc. Unter den Fastnacht-
spielen erscheint: Einsalzen der übrig gebliebenen Mägde.
(Keller Nr. 76, 77, 91). Am gelindesten erscheint die Strafe,
die eher eine Wohltat zu nennen sein möchte, dass die alten
Jungfern in eine Rendel geworfen und als junge heraus-
geblasen werden, wie aus dem Jungbrunnen alte Weiber
verjüngt hervortauchen. Die Strafe der alten Jungfern wird
auch dadurch etwas gemildert, dass den Hagestolzen da und
dort Aehnliches zugedacht wird; so in Tirol »Nebel schichten,
Wolken schieben, Felsen abreiben, Steinböcke einsalzen, den
kleinsten Ameisen einen Drahtring durchs Maul ziehen, lAnsen
wie Scheitholz klaftern, schwarzen 6&nsekot weiß kauenc.
Doch scheint dergleichen erst nachträglich von den Jung-
frauen ersonnen, um das Gleichgewicht herzustellen. Wich-
tiger ist und weiter führt uns der Umstand, dass den Ver-
storbenen bestimmte Aufenthaltsorte angewiesen sind,
an welchen sie die genannten Tätigkeiten und ähnliche aus-
üben oder entsprechende Leiden erdulden sollen. Schon in
den obigen Angaben waren zwei solche Orte mit genannt,
das Sterzinger Moos in Tirol und die Hölle; in der Schweiz
findet sich die Angabe, dass die alten Jungfern auf den
Gletscher des schauerlich wilden Rottales kommen (unterhalb
der Jungfrau im Hemer Oberland), wohin noch eine Menge
anderer unseliger Geister verbannt werden. Die alten Jung-
gesellen kommen ebenfalls an bestimmte Stellen, in Tirol auf
den nahe am Sterzinger Moos liegenden Rosskopf, in Wallis
in die Aucenda-Eluft bei Gez, wo sie in durchlöcherten
Körben Sand aus der Rhone zu Berge tragen müssen; in
Soiothum in den sogenannten Aflfenwald. Diese Angaben
scheinen aber wieder nur eine Erwiderung auf den Namen
des Ortes zu sein, an welchen nach weit verbreitetem Glauben
und Sprachgebrauch die alten Jungfern kommen und um
den sich die meisten andern hieher gehörigen Vorstellungen
concentriren. In der Schweiz heißt dieser Ort meistens das
70 t. Tobler,
GiritzenmoöSf dessen Bedeutung wir nun zunächst genauer
erforschen mfissen, um dann zu der Sitte des »Moosfahrenst
überhaupt und ähnlichen älteren Umzügen überzugehen,
welchen eine allgemeinere und ernstere Bedeutung zukam. —
»Giritz (meist mit langem % der ersten Silbe und masc.
seltener Giritze, fem.) ist die in der heutigen Volkssprache
der Schweiz herachende Form des Namens für den Vogel
Kibitz (tringa vanellus, van. cristatus); von den vielen
andern Nebenformen desselben handelt Grimm WOrtb. 5,
6S7 — 8. Der schweizerische Lexikograph Maaler schreibt
Gyfiz und Gybitz, Redinger Eifiz und Geiriz, Denzler
Gyfix; am Zürichsee kommt auch Giwiz vor, in Bern
Gywitz; über dem Bodensee Gewitz u. s. w. Die heutige
Form erinnert zunächst an das Verbum giren, welches
den hellen Ton z. B. frisch gewichster Schuhe oder einer
in Uhgeschmierten Angehi sich bewegenden Türe bezeichnet.
Aber die auch In der Schwete früher üblich gewesenen Neben*-
formen mit Lippenlaut in der Mitte zeigen, dass das r nicht
wesentlich ist, sondern nur die beiden i als Silben trennen
soll, und in dieser Function berührt sich r mit tc? auch in
InterjecUonen der älteren Sprache (s. Lachmann, Zu den
Nibelungen, S. 66); ein Uebergang zwischen den beiden
Lauten ist sonst natürlich nicht annehmbar. Wesentlich ist
das wiederholte i als Nachahmung eines Vogelrufes, wie in
Kiwitt! Kiwitt! was nicht gerade den Laut des Kibitz, sondern
eines Singvogels bezeichnet. Der Abstand zwischen g und k
im Anlaut fällt ebenfalh nicht ins Gewicht, da oberdeutsch-
scfaweizeridches g von mittel- oder norddeutschem k oft schwer
zu unterscheiden ist. — Der Name Giritz wird in der
Schweiz allerdings noch einem andern Vogel g^eben, einer
Art Seeschwalbe oder ^Möve (sterna hirundo^ capra vel
capella); aber alles Folgende bezieht sich auf den Eibitz, von
des^n naturgeschichtlichen Eigenschaften wir also ausgehen
müssen. Brehm, Vögel ISP, 3^ hebt den lebhaften, fast
h^igen und kühnen Charakter des Vogels hervor, der
besonders hervortritt, wenn man ihn in seinem einsamen
Aufenthalt stört; er ist menschensdieu, hat aber eine gewisse
Die alt. Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 71
Aefanlichkeit mit Maischen, und insbesondere mit weiblichen
Wesen, in seinem Schrei und in den haubenartig an seinem
Hinterkopf hervorstehenden Federn. Von symbolisch-mytho-
logischen Beziehungen brauchte Brehm als Naturforscher
nichts zu wissen oder zu sagen; das Grimmsche Wörtb. aber
schreibt dem Kibitz ein unheimliches Wesen zu, ähnlich dem
von Kauz, Eule und Eukuk. Wenn in einer westfälischen
Redensart der Eiwitt, gleich dem Eukuk, fast die Stelle des
Teufels vertritt, so geht dies über das Gebiet der Menschen-
ähnlichkeit hinaus, das uns hier vorli^; dagegen gehört
hieher der norddeutsche Gebrauch des Wortes Kibitz für
einen Menschen, der sich unberufw in anderer Leute Sachen
mischt, also vorlautes Wesen und Neugier verrät. Wegen
der Schwatzsucht könnten auch die Friseure früher in Ham-
burg »Eibitzec genannt worden sein; doch mag dies sich
ursprunglich auf den Eopfputz des Vogels bezogen haben.
Im Eanton Schaffhausen beißt Giritz eine vorwitzige Person,
aber auch ein böses (vorwitziges, reizbares oder oft schreien-
des?) Eind. Giritzli auch eine kleine, aber gewante Person,
die sich zu helfen weiß. Von einem witzigen Mädchen gilt
im EantoQ Luzem der Spruch (der freilich noch die nachher
zu erörternde Beziehung hat) : >£fi ist es MeiÜi voller Witg,
drum wSl $i mr Fnm ha der Giritß.€ Besondere Anwendung
auf Mädchen, aber ohne jene Nebenbeziefaung, zeigt auch
eme Stelle v<hi J. Gotthelf: »Die Mädchen machten [aus
Neugier] Häise länger als die Giritzen,« währwd die Be-
zeichnung al ter Jungfern als »magere Giritzrac jene Beziehung
zu verraten scheint, der wir nun näher zu tretai haben.
Dieselbe wird im Grimmschen Wörterbuch gar nicht berührt,
es kann uns aber zu derselben die dort beigebrachte Erinne-
rung an das Märchen vom Zaunkönig (Grimm 2, 342) hinüber-
fuhren, wonach, als die Vögel ^en Eönig haben wollten,
einzig der Eibitz sich dag^en ausmacht welcher frei leben
und sterben wollte und angstvoll hin- und herfliegend rief:
Wo bliw ik? wo bliw ik? Er soll sich dann in einsame
Sumpfe zurückgezogen und nicht wieder gezeigt haben.
Jenes frei leben und sterben wollen und die einsamen
72 ^* Tobler,
Sümpfe, am Ende auch die mit dem Ruf: Wo bliw ik?
vereinbare Beziehung auf »Sitzenbleiben« im bildlichen
Sinne versetzen uns auf das Giritzenmoos als Aufenthaltsort
in Eibitze verwandelter alter Jungfern und es ist nur noch
die allgemeine Vorstellung der Verwandelbarkeit von Menschen
in Vögel durch einige Parallelen zu unterstützen, da die Er-
klärung, warum gerade der Giritz hier eintritt, durch die
obigen Angaben betreffend seine natürlichen und menschen-
ähnlichen Eigenschaften bereits so weit gegeben ist, als über-
haupt für solche Einzelheiten verlangt werden kann. Eine
eigentliche, formliche Verwandlung, resp. der bestimmte Act
oder Vorgang derselben, findet zwar im Glauben und in der
Sprache des Volkes nirgends ausdrückliche Bezeichnung oder
Beschreibung, aber er muss doch, wenn die alten Jungfern
Giritze sein sollen, als irgendwie geschehen gedacht werden,
•und die Möglichkeit solchen Geschehens ist durch ähnliche
Erzeugnisse der mythologischen Phantasie hinlänglich bezeugt.
Nach uralter und weitverbreiteter, auch leicht begreiflicher
Vorstellung nahm die Seele emes abgeschiedenen Menschen
unter andern Tiergestalten die eines Vogels an« Ich verweise
dafür auf die betreffenden Gapitel in Grimms Mythologie,
auf Wackemagels TEnea mcQoewa (El. Sehr. Bd. 3, S. 228
bis 244 und auf Uhlands Schrift. Bd. 3, S. 278—86 (dieses
Gitat zugleich für Verwandlung von Menschen in andere
Tiere als Vögel). Die bekanntesten deutschen Märchen, in
welchen jene Vorstellung spielt, sind das von den sieben
Raben und das vom Machandelbaum. Die Verwandlung
erscheint bald als Strafe für ein begangenes Verbrechen,
bald als Erlösung aus einer dringenden Not; sie kann aber
auch als freiwillige Auflösung eines Menschenwesens in ein
ihm irgendwie näher verwantes Naturwesen eintreten, und je
nach dem Charakter des Menschen, semer Tat oder Not,
sind die Vögel z. B, Eule oder Rabe, Taube oder Nachtigall.
Die Eule ist nach Shakespeare (Hamlet IV, 5) die Tochter
eines Bäckers, welche dem Heiland Brod verweigerte und
dafür von ihm in jene Gestalt verwandelt wurde. Nach
einer schweizerischen Sage wurde eine Eindsmörderin in ein
Die alt Jxmgtesm im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 73
Vögelein mit blutroten Füßen verwandelt. Den spukenden
Geist einer geizigen Frau im Harz musste man aus dem
Hause wegfahren in einen Eibitzbruch (d. h. Sumpf, wo er
also ohne Zweifel in einen Eibitz überging). In einem neu-
griechischen Liedchen (Zeitschr. f. Völkerpsych. Bd. 9, S. 430)
sieht ein Mädchen, das einen ihr empfohlenen Mann ver-
schmäht, ihre Verwandlung in ein Rebhuhn voraus. In den
15 Büchern der Metamorphosen des Ovid kommen nicht
weniger als 20 Verwandlungen von Menschen in Vögel vor,
welche nach der erfinderischen, aber oft etwas spitzfindigen
und frostigen Art jenes Dichters auf mannichfaltige Weise
motivirt und modificirt sind. Es darf endlich auch erinnert
werden, dass das sogenannte Wilde Heer da und dort zum
Teil aus wilden Vögeln besteht, welche eben auch Seelen
unseliger Menschen sind. In Ehstland erscheint statt des
Eibitz der Brachvogel, welcher daher scherzhaft auch »alte
Jungferc genannt wird, weil der jungfräuliche Leib dem
Brachfeld gleicht (s. u.). Neben Vögeln kommen besonders
geflügelte Insecten vor, welche sonst auch die Erscheinungs-
form elbiscber Wesen sind; zwischen Eiben und Menschen-
seelen besteht aber alter Zusammenhang und Austausch.
In WoUbach (Großherzogtum Baden) werden die alten
Jungfern in Bremsen verwandelt, und wenn eine solche auf
dem Giritzenmoos herumschwärmt, so sagen die Bursche:
warum best mi nit welle? warum best mi nit g'nö? Den
alten Griechen galt eine Art Grille oder Heuschrecke (/lavrK,
YQctvgj ifsQOJv^g, ^^^^ vvfkgui genannt), deren Blick Jedem
Schaden brachte, für eine verzauberte alte Jungfer. Vielleicht
gehört auch der Name Wasserjungfer = Libelle hieher,
welche in Baiem Mosfräulein beißt In der Gegend von
Pforzheim sagt man, die Eidechsen seien einst Jungfern
gewesen. — Ob nun den alten Jungfern Tiergestalt als Strafe,
Erlösung oder naturgemäße Auflösung zugeteilt ist, darüber
hat wohl der Volksglaube nie ein klares Bewusstsein gehabt,
ebensowenig wie über den Zeitpunkt und den Vorgang der
Verwandlung; meistens gilt nur der Ausdruck: »aufs oder
ins Giritzenmos kommen oder gehen«, der freilich auch den
74 ^ Tobler,
nur bUdlichen Sinn »keinen Mann bekommene hat, wie in
Appenzell »ins Hennenmos kommenc; aber es unterliegt
wohl keinem Zweifel, dass man ursprünglich sich eine Ver-
wandlung als mit oder nach dem Tode eintretend und die
Seelen als in jener Gestalt fortlebend dachte, da sie ja ohne
irgend eine Körperlichkeit überhaupt nicht gedacht wurden;
übrigens bleibt auch eine nur zeitweise Annahme von
Tiergestalt schon während des Lebens (wie bei den Hexen)
nicht ausgeschlossen.
Nachdem wir den ersten Bestandteil des Compositums
Giritzenmoos näher untersucht haben, soll nun auch der
zweite noch seinen Beitrag zur Erklärung des Gesammt-
begriffs ergeben.
Das schweizerische und baierische Wort Mos » mhd.
mos, nur mit verlängertem Vocal, ist, wenigstens in seiner
jetzigen Bedeutung, verschieden von nhd. Moos, muscu$,
wofür in der Schweiz und in Balem, wie auch mhd. nebai
mo8, meist Mies, Miesch gilt, und ganz verschieden von
nhd. Moor, Sumpf, mhd. muar. Mos kann zwar auch ein
Torfinoor bezeichnen, aber, wenigstens in der Schweiz, nicht
dnen bloßen Sumpf, sondern nur feuchten Boden (baier.
Moswise), auf dem höchstens Streugras wächst; synonym
gilt Ried, auch in der Zusammensetzung Giritzenried.
Sachlicher Zusammenhang des Schweiz. Mos mit Mies, nhd.
Moos besteht darin, dass auf dem Mos unter anderem auch
Moose wachsen. Dtese gehören zu den dürftigste Formen
des Pflanzenreiches und Moos als Bestandteil von Wohnung
oder Ersatz von Kleidung weist, sowie Stroh in derselben
Verwendung, auf dürftige Anfange von Gultur oder auf arm-
selige Lebensverhältnisse*). Mit der Dürftigkeit des Mooses
stimmt nun die Unfruchtt>aiteit des Moses, welche wahr-
scheinlich zu dner symbolischen Bedeutung dieses Wortes
in Giritzenmos mitgewirkt hat. Zunächst zwar könnte
man sich daran genügen lassen, dass die Eibitze, bei ihrem
Hang zu einsamem Leben, eben solche abgelegene, wenig
*) VgLaocb mhd.jantersmo»f neben; derMcktmden'fd99faUch0imuar.
Die alt. Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 75
besuchte Orte wie die Schweiz. Moser (Piur. von Mos) auf-
suchen und mit Vorliebe bewohnen; aber ilir einziger Auf-
enthalt sind sie doch nicht, es musste also wohl von Seite
des Moses noch etwas hinzukommen, was die Verbindung
des V^ortes mit Oiritz und bildliche Bedeutung beider W^örter
in derselben begünstigte. Andererseits sind von Aufenthalt
auf dem Mose auch noch andere Tiere, besonders Vögel,
baiannt Moshu(w) heißt in der Schweiz eine Art Eule,
Mosweih der Weih, der über dem Mose kreist, Moskuh
und Mosstier der sonst auch LOrind*) genannte Vogel, die
Rohrdommel, von dem der schweizerische Lexikograph Fries
sagt: »der ein wunderbar Geschrei führt, so er den Schnabel
ins Moos stößtc, und ahnlich Schmeller V 1673. LOrind
wird auch als Schimpfname für rohe, ungeberdige Menschen
gebraucht Die von Mos benannten Vögel haben etwas
Unheimliches, wie der auf dem Mos hausende Glritz. Als
unheimlich und als Brutstätte von Unheimlichem gilt aber
auch das Mos selbst« Fischart (Flöhatz X, 117) sagt vom
Mur (= Moor, welches mit Mos mehrfache Berührung zeigt),
es komine alle Unfuhr (Unfug, Unheil) daraus. Mos ab^
scheint geradezu das Totenreich, wenigstens den Aufenthalt
unseliger Geister, bedeutet zu haben, wobei zu bedenken
ist, dass das Altertum sich auch die Unterwelt von Wassern
durchströmt dachte, als feuchte Höhle, nicht als Feaerhölle.
Die Stretlinger Chronik (herausgegeben von B&chtold, Aeltere
Schriftwerke der Schweiz, Bd. I, S. 108) erzählt: als Diebold
von Stretlingen, der die Kirche von Einigen beraubt hatte,
zum Sterben kam, haben die Umstehenden die Stimme des
St. Michael (des Patrons jenes alten Gotteshauses) den bösen
Geistem befehlen gehört, die Seele des Sünders in ein Mos
am (Thuner) See zu tragen, das noch HöUenmos genannt
werde. Mos als Verwesungsstätte kennt audi Frommann
Zeitschr. f. deutsch. Mundarten 4, SOO. Dass Mos in der
Schweiz audi die unverfftnglidie Bedeutung »Allmendec
{Gemeinweide) bat, Mosfart im Canton Schwyz, neben der
*) LO bt mhd. lök, CtehOlz, Gestrftuch, Oebäsch.
76 L. Tobler,
später anzuführenden Bedeutung auch die von Benutzung
der Allmende, Moslehen den zu Lehen gegebenen Anteil an
der Benutzung des Moses zu Weide, Heu und Stroh, Mos-
huhn die dafür entrichtete Abgabe eines Huhns bedeutet, —
kann die Nebenbedeutung nicht aufheben; und es liegt doch
schon hier, noch abgesehen von den später für diese Auf-
fassung anzuführenden Gründen, nahe genug, das Mos oder
die unangebaute Allmende im Gegensatz zum bebauten und
fruchtbaren Acker mit dem ledigen und kinderlosen Stand
weiblicher Personen im Gegensatz zu fruchtbarer Ehe in
Parallele zu setzen. Unfruchtbarkeit kann auch geradezu
emem Zustande des Todes gleichgesetzt werden, dem die
alten, der Welt »abgestorbenenc Jungfern eigentlich schon
im Leben verfallen sind, sowie auch Heide und Wüste »tote
genannt werden. Hier mag auch noch angeführt werden,
dass nach Schmeller P, 868. 72 das Wort altwis nicht bloß
eine (alte) Wiese bezeichnet, welche nie gedüngt und darum
nur ein Mal jährlich gemäht wird, sondern zugleich (bildlich)
alte Jungfer. Daher der wortspielende Zuruf an eine solche:
Olde Oldwis, moust abi gei af d Oldwisen und Gauwize
heitn! (Elibitze hüten). — Ich erinnere auch an die oben
vorgekommene Angabe, dass in Ehstland statt des Eibitz
der Brachvogel als verwandelte alte Jungfer erscheint;
die Brache ist der (zeitweise) unfruchtbare Acker, und ent-
spricht der Altwiese. — Auf Vergleichung des weiblichen
Leibes mit fruchtbarem Boden beruhen die antiken Aus-
drücke: muliebria arva conserere (Lucrez), griech. agSe^v
(pflügen) für: eheliche Beiwohnung, atdcus, Furche, auch für
cunmis, wmer, Pflugschar, für penis.
Aus der Erklärung beider Bestandteile des Wortes
Giritzenmos wird sich nun mit genügender Sicherheit
ergeben haben, wie der Gesammtbegriff der schon oben
angegebene werden konnte. Es musste aber nicht allent-
halben der symbolische Sinn eintreten; darum findet sich
das Wort auch als Ortsname ohne ausdrückliche Neben-
bedeutung, zunächst also nur zur Bezeichnung eines einsamen,
etwas sumpfigen Ortes, wo eben gelegentlich und unter
Die alt Jongfern im Glauben tt. Brauch d. deutsch. Volkes. 77
anderen Tieren, doch vorzugsweise, Eibitze sich aufhalten.
So gibt es einen Hof, genannt Giritzenmos, bei Sempaeb,
Canton Luzem. Giritzacker ist ein Flurname im Canton
Solotburn, an einer Stelle, wo vielleicht sumpfiger Boden
erst ausgetrocknet worden war. Es findet sich auch Giritz
allein als Name einer sumpfigen Gegend (bei Einsideb,
Ganton Schwyz), wobei ohne Zweifel Mos oder Ried hinzu-
gedacht werden muss. Ein »feuriger Manne flackert dem
öden Giriz zu. (Rochholz, Aargauische Sagen 1, 47.) Aber
diese vereinzelten Fälle können natürlich die viel reichlicher
bezeugte appellativ-symbolische Bedeutung nicht aufheben,
und es ist bier nur noch nachzutragen, dass einmal auch
statt Giritz der Name eines anderen Vogels in dem Compo-
situm erscheint. Im Canton Appenzell sagt man (wie oben
schon bemerkt wurde) Hennenmos. Ein Madchen, dem
man vorhielt, es komme ins Hennenmos (bekomme keinen
Mann), erwiderte mit der dem dortigen Volksschlag eigenen
Schlagfertigkeit: Wo Hennen sind, werden auch Hähne sein!
Damit wären also hier Hagestolze gemeint, von deren Schick-
sal auch oben schon die Rede war. Wirklich findet sich
aber auch ein Hahnenmos, aber einfach als Ortsname, im
Bemer Oberland. Bei Hahn und Henhe ist hier wohl an
wilde Hühner (Auerhahn, Birk-, Perl- oder Rebhuhn) zu
denken. (Vgl. das Rebhuhn in dem ngr. Märchen, oben).
Es handelt sich jetzt darum, den Volksglauben, dass den
alten Jungfern irgend ein Mos als Aufenthalt beschieden sei,
in seiner Verbreitung und sprachlichen Ausdrucksform noch
etwas bestimmter im Einzelnen nachzuweisen, woran sich
einige weitere Vorstellungen und Bräuehe knüpfen werden,
welche ebenfalls in besonderen Namen und Redensarten
ausgeprägt sind.
Neben dem oben schon erwähnten allgemeinen Ausdruck
»auCs Giritzenmos gehen oder kommenc, der bald eigentlich,
für Ortsveränderung, mit oder ohne gleichzeitige Verwand-
lung der Gestalt der Verstorbenen, bald nur bildlich als
Bezeichnung des Verbleibens der Lebenden im ehelosen Stand
gebraucht werden mochte, findet sich in der Schweiz, aber
78 ti. Tobler,
nachwdslich nur in dnem Bezirk des Cantons Zfirich, von
den ledigen Bursdnen gebraucht, der Ausdruck »ein Madchen
au£s Gir.-Mos tunc, der aber nur bildlich verstanden wird
und ungefiihr so viel bedeutet als unter Studenten »in Ver-
schiss tunc. Das betreffende Verfahren, welches in einer
dem Mädchen gebrachten Katzenmusik besteht, sonst aber
nur die imaginäre Bedeutung hat, findet statt, wenn ein
Mädchen der Gemeinde mit einem auswärtigen Barschen
ein Verhältnis angeknöpft hat. Ein solches gilt den einr
heimischen als ungültig oder wenigstens als regelwidrig, und
darum wird die betreffende von ihnen gleichsam in Bann
getan, von ihren eigenen Bewerbungen ausgeschlossm; sie
kann jedoch, wenn sie ihr Verhalten ändert, wieder »heim-
getanc, d. h. rehabilitirt werden. Abgesehen von diesem
AusnahmefiBiU, in welchem der Ausdruck Gir.-Mos immerhin
noch seine gewöhnliche bildliche Bedeutung verrät, bestehen
die concreten Redensarten »auf oder in das G.-M. fahren
oder fuhren, mit welchen ein entsprechender Gebrauch ver-
bunden ist, und zwar nicht bloß in der Schweiz, nur dass
auf dem benachbarten Gebiet statt Giritzen- ein anderes
Wort oder auch gar keines vorgesetzt wird, wobei immer
noch ein local bestimmter, hinlänglich bekannter Name (wie
in Tirol das Sterzinger Mos) gemeint sein kann. Die Vor*
Stellung einer Verwandlung ist hier, auch wenn Giritzen-
mos gesagt wird, schon darum ausgeschlossen, weil der
Brauch mit lebenden (auch jungen und noch ganz heirats-
fähigen und -lustigen) Mädchen und zu gewissen Zeiten als
festliche Lustbarkeit wiederholt, vollzogen wird.
Im Fricktal (Ganton Aargau) werden zum Schluss der
Fastnacht alle ledigen Mädchen ub^ 24 Jahre von ihren
Burschen auf mehrere Wagen geladen, auf die Allmende
hinausgefahren und dort beim ersten Graben sachte um-
geworfen. Das heißt man: ins Giritzenmos fahren und
die alten Jungfern begraben. Man kehrt dann mit den
Mädchen ins Wirtshaus zurück, um ihnen den Wein in die
Schärze zu gießen (d. h. wohl ihren Schoß zu künftiger
Fruchtbarkeit einzusegnen) und mit ihnen zu tanzra. (Rodith.
Die alt. Jungfern im GlaulMn u. Brauch d. deutsch. Volkes. 79
Aarg. Sagen 2, XLIII. Glaube und Brauch 2, 74. Arbeit»*
entwürfe 2, 14.) Im Canton Luaem heißt Giritzenmoe
fähren eine Fastnachtbelustigung am Hirsmontag, wobei mit
den Jungfern allerlei Schabernak getrieben wird, hn üntei^
bm-Tal (Tirol) heißt »aufs Mos fahrenc der Brauch, dass
die Bursche einen Wagen voll alte Jungfeni packen, angeblich
um sie statt Hölzern zu einer Brücke auf das Sterzinger Mos
zu li^m, eine als Wisbaum oben auf gebunden. Es gibt
dort auch ein darauf bezügliches Lied, das Mosgesang«
(Frommann, deutsche Mundarten 4, 500 ff.) Das sogenannte
Gr&ttziehen, früh^ der beliebteste Faschingsumzug im
Allgau und Tinschgau, bei welchem Ma^en einen großen
Karren (Grätt) ziehen, auf welchen Bursche als Jung-*
frauen rerkleidet sitzen und aufs Moos gefahren werden^
ist jetzt seltner geworden. (Von Reinsberg->During8feld, das
festliche Jahr, 1. Aufl., S. 65.)
In der Schweiz verbindet sich der Brauch des Mosfafarens
der alten Jui^em zum Teil mit dem eines förmlichen Gerichts^
Verfahrens, das gegen die alt^ Junggesellen gerichtet ist«
Am Fastnacht-Montag oder -Dienstag wkd in versdiiedenen
Gegenden des Gantons Aargau das sogenamite Giritzea*
mosgericht abgehalten, an dem auch noch angesehene
M&mer Tdl nehmen. Eine Maske, welche die älteste Jungfer
der Gemeinde vorstellen soll, erscheint als Verwalterin des
Giritzenmoees vor einem improvisirten Gericht auf dem Miffkt
und klagt den ältesten Junggesellen an, dass er noch immer
in Dorfe lebe statt unter ihre Obhut gekommen zu seuL
Der Angeklagte, ebenfalls maskirt, tritt vor, verteidigt sich
aller so schlecht, dass man dem Weibel (Gerichtsdiener) des
G.-Moses den Schlüssel zu demseilben abm'mmt und ihn
jenem alten Enab^i anhängt, der auch in die Kosten ver-
gilt wird. Dann fahren die jungen Bursche mit den
Mädchen in der oben angegebenen Weise auf das Mos und
nachher ins Wirtshaus. — Im Ganton Luzem heißt der Leiter
und Sprecher eines Maskenzuges, der eine Fahrt auf das
6.-M. darstellt^ Giritsenvater, und es wird ihm eine Weide
zugeschrieben, auf die er die ihm unteiyebenen austreibt«
80 li* Tobl«r»
Es werden dabei allerlei witzige Spräche gewechselt, ähnlich
den von Stalder (Id. 1, 45) beschriebenen Hirsmontagbriefen,
nur dass diese ein Volksgericht über alle Personen, Stande
und Vorfalle der Gemeinde enthalten, während jene Sprüche
sich nur auf den Stand der Ehelosen beziehen. Bei der
Weide darf man wohl an Vogel weide, also auch an die
Giritzgestalt der Mädchen denken. Der Ausdruck Vater
kann den Aufseher und Pfleger von Tieren (Bienen-, Bären-
valer) bezeichnen, aber Fritschivater heißt auch der je-
weilige Veranstalter des berühmten Fastnachtumzuges in der
Stadt Luzem, der auf das Vermächtnis eines Bürgers
Namens Fritschi zurückgeführt wird und nicht selten eine
Kritik der öffentlichen Zustände mit sich führt wie die Mosr
fahrt im Muotatal des Cantons Schwyz und das Haberfeld-
treiben in Baiem, welches letztere sonst hauptsächlich gegen
gefallene Mädchen gerichtet wird. Endlich mag hier noch
ein in den Zusammenhang der obigen gehörender Brauch
erwähnt w^den, den der Freiherr v. Reinsberg-Düringsfeld
a. a. 0. erwähnt, aber vielleicht aus nicht ganz sicherer
Quelle geschöpft oder selber missdeutet hat In Uri und
Luzern sammeln die Bursche in einem Henkelkorbe, der von
zwei Giritzreitern (als hässliche alte Weiber verkleideten
Burschen) getragen wird, vorjähriges Moos und ziehen mit
den Dorfspielleuten von Haus zu Haus. Wo sie eine Giritze
wissen, bestreuen sie die Türschwellen mit Sand, nageln vor
das Haustor einen Strohmann und beschenken die alte
Jungfer mit Giritzenmoos. Manchmal aber bringen sie ihr
statt dessen einen Bräutigam. Der Ausdruck Giritzreiter
kann neben den obigen wohl bestanden haben; etwas auf-
fallend bleibt aber die Umdeutung von G.-Mos auf Moos.
An sich wäre Moos in diesem Zusammenhang und Sinn
wohl denkbar, besonders neben dem Stroh, denn beide sind
sonst Zeichen des Winters und der Ühfruchtbarkeit; in
München wird vor die Türen verstorbener Jungfrauen ein
Strohwisch gelegt. —
Fragen wir schließlich, was die (ursprünglich wohl aus
eigenem Antrieb) auf das Moos gefahrenen oder nach dem
Die alt Jungfern im Olauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 81
Tode sonst dorthin versetzten alten Jungfern daselbst zu tun
haben, so lautet die nächste Antwort: Wenn sie nicht selbst
in Eibitze verwandelt sind, so müssen sie auf dem Mos die-
selben bäten: (so im Lechrain) oder sich mit denselben
unterhalten (Salzburg). Der Volkswitz ist aber erfinderisch,
ihnen noch andere Beschäftigungen zuzuteilen, ähnlich jenen
unfruchtbaren oder geradezu unmöglichen, aber zum Teil
anzüglichen, welche schon oben, unabhängig von der Vor-
stellung eines bestimmten irdischen Aufenthaltsortes, an-
geführt wurden. In der Schweiz müssen sie: Sägemehl
knüpfen (Luzem), Hosenlätze flicken (SL Gallen, Winterthur),
auch diese Bestandteile der männlichen Kleidung dreschen
oder sogar kauen (Solothum), femer: Leinsamen spalten und
Wolken schichten (bigen) ebd. Nach emer alten Sage der
Sarganser sollen die Mädchen, die aus eigener Schuld alte
Jungfern werden und nach ihrem Tod auf dem großen Ried
bei Schan im Lichtensteinschen sich sam^neln, dort Grüsch
(Kleie) erlesen. Ein Pinzgauer Mädchen, das keinen Lieb-
haber findet, muss nach ihrem Tod auf das Bruggermos,
dort Backscheiter zu rosein (sieben) und Ladhölzer zu fähen
(fassen?) Schmeller 2^ 151. Im Unterinntal müssen die
alten Jungfern auf dem Sterzinger Moos Leinsamen schichten.
Holzscheiter sieben u. s. w. Sie selbst aber sagen, sie müssen
dort von einem Zuckerfels mit einer silbernen Haue Zucker
abhacken. Frommann 4, 500. —
Wir verlassen nun sowohl den Giritz als das Mos, nicht
aber die Vorstellung eines Fahrens der ledigen Mädchen,
welche uns vielmehr zu einer neuen Reihe von Bräuchen
hinüberführt, wo unter verschiedener Form derselbe Grund-
gedanke zum Vorschein kommt Statt dass die Mädchen auf
einem Wagen gefahren werden, finden wir sie selbst an
einen Wagen oder ein anderes Fahrzeug gespannt. Natürlich
können sie nicht selbst die Gestalt von Zugtieren annehmen,
aber wir finden Spuren, dass sie in solche verkleidet, resp.
als solche gedacht und behandelt wurden. Verkleidung
von Menschen in Tiergestalt bei heidnischen Festen der alten
Deutschen wird durch viele kirchliche Verbote des frühen
ZeitBchr. Ar VöOceipsych. und Spmchw. Bd. XIV. 1. 6
82 ^- Tobler,
Mittelalters ausdrücklich bezeugt. Die betreffenden Tiere
können ursprünglich teils Opfertiere, teils Attribute oder
Symbole von Gkittheiten gewesen sein; es kann aber auch
reine Festlust ohne tieferen Grund sich solcher Masken
bedient haben, um unter denselben um so wilder sich aus*
zulassen. Erwähnt werden besonders Kälber, Hirsche und
Bären; auch Wolf und Fuchs werden nicht gefehlt haben,
da sie in der Tiersage die Hauptrolle spielen; Eberhäupter
trug man als Hehnschmuck. Hier kommt es aber haupt-
sächlich auf Haustiere an, welche den Menschen näher
stehen und insbesondere zur Vertretung weiblicher Per-
sonen dienen konnten. Kühe finden wir vor dem Wagen der
Göttin Nerthus bei deren festlichem Umzug; sie werden noch
zu anderen Gultuszwecken gedirat haben, können aber auch
unmittelbar nach ihrem natürlichen Wesen und ihrer Nutz-
barkeit im menschlichen Haushalt aufgefasst worden sein.
Einen Ueberrest solchen Gebrauches haben wir vieUeioht noch
in dem sogenannten Kuhtreiben, wie es bis auf neuere
Zeit im Salzburgischen üblich war. (Philipps Verm. Sehr.
3, S. 402 ff.). Dasselbe gleicht nach seinem Hauptzweck, in
Form eines dialogischen Schauspiels gewisse Üebelstände
und Vorfälle scherzhaft zu rügen, den oben erwähnten Volks*
spielen in der Fastnachtzeit; wesentlich sind aber bei dem
nächtlichen Aufzug die transparent beleuchteten Tiermasken,
insbesondere Kuhmasken, welche von den handelnd» Per-
sonen getragen werden, und dass das vor dem Hause eines
Herrn aufgeführte Gespräch mit der an denselben gerichteten
Frage beginnt, ob er keine Kühe feil habe. Alle im Hause
befindlichen erwachsenen Weibspersonen werden dann mit
treffenden Kuhnamen bezeichnet und unter dieser Madce der
Reihe nach mit witzigen Bemerkungen, besonders über ihre
Liebesverhältnisse, durchgenommen. Zuletzt wird bei jed^
gefragt: Was tun wir nut dieser Kuh? und es wird auch
diese Frage mit irgend einer Anspielung auf Charakter und
Lebensumstände der Person beantwortet. Die den Kühen
zugeschrid>enen Weideplätze sind die Wohnungen der Lieb-
haber der Dirnen. Ein ähnlicher Brauch sdieint früher in
Die alt Jungfern im Olauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 83
der Schweiz bestanden zu haben. Das im Muotatal, Ganton
Schwjz, unter den Namen Mosfahrt, aufs Mos fahren
periodisch aufgeführte volkstfimliche Fastnachtspiel scheint
erst in diesem Jahrhundert durch Einfluss der Geistlichkeit
einen halb kunstmäfiigen Zuschnitt bekonunen und kirchlich-
politische Tendenz angenommen zu haben. Gott Bachus mit
seinem Hof halt und Gefolge, worunter die Todsünden, aber
auch Vertreter der ganzen modernen Bildung, Freimaurer
und Doctoren auftreten, wird nach vergeblicher Warnung
eines Buflpredigers zuletzt vom Teufel geholt, und es soll
dadurch die Hinfälligkeit aller Weltlust und -Weisheit gegen^
über der durch die katholische Kirche vertretenen alten Sitte
dargestellt werden. Schon der Name Mosfahrt beweist aber,
dass das Spiel ursprünglich einen engeren Rahmen und ein-
facheren Sinn hatte, wie die oben angeführten Fastnacht-
spiele an anderen Orten, bei denen eben das Fahren der
M&dchen auf das Mos ein Hauptstück ist. Die Persemen des
Spiels werden in Muota noch jetzt auf Schlitten (da die
Jahreszeit gewöhnlich winterlich ist) von Rindern nach
den verschiedenen im Freien aufgeschlagenen Bühnen gezogen,
wo die einzelnen Acte des Stückes gespielt werden ; es ergibt
sieh aber aus Erinnerungen älterer Iieute, dass früher (noch
im vorig» Jahrhundert) die ledigen Mädchen, irgendwie als
Kühe verkleidet und benannt, mitspielten, und eben darin
läge eine Aehnlichkeit mit dem salzburgischen Euhtreiben.
Das letztere hat man als Darstellung der Heimkehr der Herde
von der Alp erklären wollen und so auch die Mosfahrt im
Muotatal in ihrer älteren Gestalt als Darstellung der Sennerei.
Beide Deutungen sind ohne Zweifel irrig, da jene Scenen des
Hirtenlebens unter dem Hirtenvolk selbst eine besondere
»Darstellung€ weder bedürfen noch gestatten; wohl aber ist
es ganz naturlich, dass unter Hirten die Vergleicfaung der
Mädchen mit Rindern sich einstellte und gelegentlich drastische
Gestalt annahm. Bei dem Euhtreiben scheinen übrigens die
Kühe wirklich nur als frei wddende aufgefasst, während sie
bei der Mosfahrt als Zugtiere auftreten. Setzen wir hier statt
ihrer weibliehe Personen, so führt uns die Mosfahrt auf
6»
84 L. Tobler»
einen weit verbreiteten alt und sicher bezeugten Brauch,
wonach wirklich ledige Mädchen, an ein Fahrzeug (das
gelegentlich auch als Schlitten erscheint) gespannt, mit
demselben umzogen, in einer bildlichen Bedeutung, die leicht
erkennbar und mit der von Mos vereinbar ist. Dass die
ziehenden Personen zuweilen nicht wirkliche Mädchen, sondern
hur in weibliche Gestalt verkleidete Bursche sind, begreift
sich aus der ihnen gestellten Aufgabe und ändert am ur^
sprünglichen Sinne des Brauches nichts. Wir fanden die
Stellvertretung der Geschlechter auch schon bei dem Grätt-
ziehen und finden sie wieder bei dem Pflugziehen in England
und Frankreich; übrigens kommt sie als Verkleidung priester-
licher Personen auch in älteren Gülten vor (z. B. bei dem
der Alcis, Tac. Germ. 43) und hat vielleicht noch tieferen
Grund. — Wichtiger ist der Unterschied, dass an einem Ort
die Mädchen auf demselben Fahrzeug herumgeführt werden,
das sie anderswo selbst ziehen müssen; aber dadurch wird
gerade die ursprüngliche Identität beider Bräuche ins Licht
gesetzt, so zwar, dass das Herumgefahren werden als
spätere Milderung des Selbstziehens zu betrachten sein wird.
Was endlich das Fahrzeug selbst betri£ft, welches meistens
als Pflug oder Egge, seltener als Schlitten und Schiff erscheint,
so sind diese verschiedenen Gestalten in eigentlicher oder
bildlicher Bedeutung mit einander zu vermitteln; unzweifel-
haft ist auch die wesentliche Identität derselben mit dem
Wagen oder Karren, den wir bei derMosfahrt fanden; auch
zwischen Schiff und Wagen wird Verbindung hergestellt
durch die Berichte von einem zu Lande auf einem Wagen
herumgeführten Schiff. Unwesentlich ist auch der Unter-
schied der Termine des Umzugs, der meistens in die Zeit
zwischen Weihnacht und Ostern fiel und später auf die Fast-
nacht verlegt wurde. Die sämmtlichen Berichte finden sich
am vollständigsten zusammengestellt bei Mannhardt, Wald-
und Feldculte I, 553—65. Ebendaselbst 581 ff., 593 ff. ist
dann auch der schon von W. Müller und MüUenhoff ver-
mutete Zusammenhang der späteren Frühlingsumzüge mit
dem von Tacitus berichteten Culte der Nerthus behandelt,
Die alt. Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 85
mit der Simrock (Myth.« 370 flf., 381, Hertha die Spinnerin
105 ff.) und G. Meyer (Germania 17, 199) auch die Isis des
Tacitus zusammenstellen, sowie Wolf (Beiträge 1, 151) diese
mit der niederländischen Nehalennia. Ueber Schiff und Pflug
vgl. auch noch Grimms Myth.* 3, 86—7. Ich beschränke
mich auf Hervorhebung der Hauptzüge mit einigen Er-
gänzungen und auf Ausdeutung des Zusammenhangs der
sämmtlichen Vorstellungen und Bräuche.
Bei diesen sind ziemlich deutlich zwei Gruppen zu unter-
scheiden, deren eine, ohne Zweifel von höherem Alter, eine
rein natursymbolische Bedeutung des Herumziehens von
Mädchen enthält, während die andere, jüngere, ausdrücklich
auf den Ehestand sich bezieht. Es wird eine mittlere Zeit
gegeben haben, wo der ursprüngliche Sinn nicht mehr deutlich
bewusst war und anfing, in eine mittelbare Beziehung über-
zugehen. Auch dieser Uebergangszustand scheint sich da
und dort erhalten zu haben; räumliche Grenzen aller drei
Auffassungen lassen sich natürlich noch weniger als die zeit-
lichen feststellen, da die Ueberlieferung lückenhaft und zu-
fallig ist.
Seb. Frank berichtet im Weltbuch (1534): am Rhein,
in Franken u. a. O. sammeln die jungen Gesellen alle Tanz-
jungfrauen, setzen sie auf einen Pflug und ziehen diesen ins
Wasser. — In Siebenbürgen entkleiden sich bei anhaltender
Dürre einige Mädchen und tragen eine Egge in einen Bach;
dann setzen sie sich auf die Egge und unterhalten auf den
vier Ecken derselben während einer Stunde ein Flämmchen.
Laut der Zimmemschen Chronik zogen in Oberschwaben am
Aschermittwoch die Mägde und Bursche eine Egge durch die
Donau. Aus derselben Zeit wird berichtet, am Aschermittwoch
reißen die Bursche die Mägde aus den Häusern und spannen
sie vor einen Pflug, dem ein Sand oder Asche streuender
Sämann folgt; zuletzt fahre 'man in einen Bach und führe
dann die Mädchen zu Mahlzeit und Tanz. Alle diese Ge-
bräuche hatten offenbar den Sinn, durch einen Umzug des
Ackergerätes, das ins Wasser getaucht wurde, dem Felde
Fruchtbarkeit, zunächst die zur Wärme nötige Feuchtigkeit,
86 L. Tobte,
zu versebaffen; die Mädchen stellten dabei sinnbildlich den
zur Fruchtbarkeit bestimmten Schoß der Erde vor, wie die
Bursche das männliche Element Denselben Sinn werden
ähnliche Bräuche gehabt haben, bei denen das Wassertauchen
nicht mehr erwähnt wird. Noch heute wird alle sieben Jahr
im Februar zu Hollstadt in Unter&anken ein Pflug und eine
RObenschleife mit ausgesucht schönen Jungfrauen bespannt.
In England heißt der Montag nach Epiphania Plough monday«
Laut Zeugnissen vom 15. — 18. Jahrhundert zogen Bursche,
genannt Ploughbullocks, in weiblicher Verkleidung begleitet
von einem alten Weib und einem als Tier verkleideten
Narren, einen Pflug herum. In Dänemark veranstalteten
noch am Ende des vorigen Jahrhunderts Bursche und
Mädchen am Neujahrstag ein Festmahl, dessen Kosten durch
einen Pfluggang aufgebracht wurden; die Bursche zogen den
Pflug von Haus zu Haus, Gaben sammelnd und ein Lied
singend, in welchem den Feldern und Häusern Fruchtbarkeit
gewünscht wurde. — Später erscheint das Einspannen der
Mädchen als Strafe für ihre Ledigkeit. So zwangen um das
Jahr 1500 in Leipzig am Fastnachtdienstag verlarvte Jung-
gesellen die unterwegs au^^^iffenen Jungfrauen in das Joch
eines Pfluges, der dann nur den Ehestand bedeuten konnte.
Wenn im Schaumburgischen das erste »Spanne (Pflügen)
getan ist, so sdileichen sich die Knechte zu den Mägden und
peitschen sie (Flöhausklopfen). In einem Fastnachtspiel
(bei Keller I, Nr. 30) werden die ledig gebliebenen (»ver-
legenenc) Maide »in den Pflug und in die Egge gespannt«,
weil sie von der weiblichen Natur ihres Leibes (welche dort
derb genug beschrieben wird) noch keinen Gebrauch gemacht
haben. Hans Sachs (Ausgabe von Keller V, 179) erzählt, wie
er an einem Aschermittwoch in Regensburg Hausmaide einen
Pflug habe ziehen sehen, getrieben von Junggesellen, zur
Strafe dafür, dass sie diese verachtet oder genarrt haben,
und mit dem Rat, bis zur nächsten Fastnacht Männer zu
nehmen. Betreffend diese Zeitbestimmung finden wir im
Stadtrecht von Liestal (Baselland) aus dem Jahr 1411 die
auch sonst bemerkenswerte Angabe, dass der Schultheiß
Die alt. Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 87
»jährlich vor Fastnacht, wo man gewöhnlich zu
der heiligen Ehe greift«, nachsehen soll, welche Knaben
und Töchter das richtige Alter dazu haben, und dass er aus
ihnen angemessene Paare bilde. — Zuletzt wird das Ein-^
spannen auch noch den Ehefrauen zu Teil, hat dann aber
nur noch sprichwörtliche Bedeutung, So m Friesland: Zieh,
sagte Age, da spannte er seine Frau vor den Pflug. In
Mecklenburg: So muss es kommen, sagte der Bauer, und
spannte seine Frau vor die Egge. — Dazu der schweizerische
Volksreim:
Wenn i emal e$ SchäbseU ha, I will ems mteli tnache:
I Uggcrn- em en Summet a Und fahre mitemtf Acher. —
Ins Geisterhafte spielt der in Steiermark herschende
Glaube, die wilde Jagd erscheine mit einem Schlitten, der
wie ein Schiff gestaltet sei und von vorgespannten Dienst-
mägden durch die Luft gezogen werde. Da im wilden Heere
allerlei unselige Geister zur Strafe mitfahren müssen, so
konnten auch die ledig gebliebenen ll&gde in dieselbe ver-
setzt werden. Auch die Gestalt des schiff&hnlichen Schlittens
ist nicht auffallend; denn in Ulm wurde um 1530 in der
Adventzeit ein Pfilug mit Schiff oder Schiffschlitten
herumgefShrt. Das Schiff wird sich auf die ErÖflhung der
Schiffahrt im Frähling bezogen haben; der Pflug auf die
OeShung des Erdenreichs zur Saat. An die häufige Ver-
gleichung des Schiffes mit einem Pfluge (z. B. im Gebrauch
des Wortes Furche) und des Ackerfeldes mit der Meerfläche
braucht nur erinnert zu werden*). Endlich ist zu erwähnen,
dass in Kärnten am Aschermittwoch vorhandener Schnee
mit einem Pflug umgeackert wird und dass in der Schweiz
*) Ob das Wort Pflug aus dem SUvisehen ins Deutsche gedningeD
sei (Ebel) oder umgekehrt (Weigand), ist streitig und mag hier un-
oitehiedeD bleiben; aber wahrsoheinliah gehört das Wort lu griecb«
»UlMf, skr. pkwa^ navis. YgL Grimm, Myth., 4. Aufl., Bd. III, 8. 87.
Gesch. d. Spr., 3. Aufl., S. 40. Nach Ebel (Kuhns Zeitschr. VII, 328)
stammt von derselben Wurzel (plu) auch das lat. plauttrtm^ Wagen.
Pflog und Wagen wären also nach Analogie des Schiffes als »Fkhneugec
überhaupt benannt worden.
88 !-• Tobler,
das schlittenartige, zur Bahnung des Weges im Winter
dienende Gerät Schneepflug heißt*).
Dass die angeführten Festbräuche als Ueberreste aus
heidnischer Zeit zu betrachten sind, kann kaum bezweifelt
werden, wenn auch die Continuität nicht positiv nachweisbar
ist. Die älteste Nachricht vom Herumführen eines Schiffes
(durch die Weberzunft in Jülich) datirt aus dem Jahre 1033.
Zwischen diesem Zeitpunkt und den Berichten des Tacitus
von dem Schiff der Isis und dem Wagen der Nerthus liegen
nicht weniger als 1000 Jahre, und dass bei jenen Umzügen
Jungfrauen eine besondere Rolle gespielt haben, ist nirgends
gesagt. Aber dass bei dem Fest einer Göttin das weibliche
Geschlecht beteiligt war, ist eine fast unausweichliche An-
nahme und dass im Laufe eines Jahrtausends der ursprüng-
liche Sinn und auch die Gestalt einer alten Cultushandlung
durch allmähliche teilweise Neuerungen entstellt und um-
gedeutet werden konnte, liegt in der Natur der Sache und
wird durch zahlreiche Analogien bestätigt. Insbesondere
kann die Umwandlung eines ursprünglichen durchaus ernst-
haften und feierlichen Brauches in einen spätem derb lustigen
Fastnachtscherz und die Einschränkung eines ursprünglich
auf das ganze Naturleben bezogenen Frühlingsfestes auf das
Verhältnis der Geschlechter kein Bedenken gegen den Zu-
sammenhang erwecken. Wir haben aus verhältnismäßig
später Zeit noch eui Zeugnis gefunden, dass die Fastnacht-
zeit, welche meist in den Vorfrühling fallt, zugleich als Zeit
ehelicher Verbindungen unter der Landbevölkerung galt, und
bei zahh^ichen Frühlingsfestbräuchen ist Paarung zwischen
Burschen und Mädchen, als sinnbildliches Vorspiel nahe
*) Ein den Germanen eigenes Wort für Pflug war das got hoha,
erhalten im ahd. Diminutiv huohüi. Verschieden davon ist ahd. slito-
choho C-chöeho f. dtuocho?) Schlittenkuchen = -kufen, s. Grimm Wtb.
V, 2490, 2530. Aber die appenzellische Form huecke, Schlittenkufe»
neben chwche scheint doch einen Zusammenhang mit ahd. kuok- zu
verraten. — Von mhd. hocke, rundes Schiff, wahrscheinlich zu frz. coque,
aus lat. conchtti Schale, ist ahd. chocho schon darum verschieden, weil
jenes auch ahd., aber mit anderm Anlaut, erscheint: hericoeho, celoz.
Die alt Jungfern im Glauben u. Brauch d. deutsch. Volkes. 89
bevorstehender Ehe ein wesentlicher Bestandteil. Dass dann
das Gegenteil derselben, das Ledigbleiben von Mädchen, als
Ausnahme, um so stärker hervorgehoben und in humoristisch-
satyrischer Weise hauptsächlich ausgebeutet wurde, liegt
wiederum in der menschlichen Natur und im Geist einer
späteren Zeit. Gehen die fraglichen Bräuche wirklich bis
auf das Frühlingsfest der großen (ursprunglich einzigen)
Göttin zurück — was nicht bestimmt behauptet werden
kann — so werden die Jungfrauen ursprünglich den von
Rindern gezogenen Wagen (resp. das auf einen Wagen
gesetzte Schiff) vorzugsweise begleitet, später ihn gelegent-
lich selbst gezogen oder ziehen geholfen haben, bis sie
von den jungen Männern abgelöst oder ganz durch sie ersetzt
und zuletzt selbst auf den Wagen gesetzt wurden, so dass,
was ursprunglich eine Ehre war, scherzhaft in Spott und
Schande verkehrt wurde, wie die Flur in das Mos. Zweifel
an der unmittelbaren Identität des späteren Brauches mit
dem ältesten mag sich auch darauf stützen, dass der letztere
nichts von Pflug oder Egge weiß, welche später neben dem
Wagen (resp. Schiff oder Schlitten) und statt flesselben hervor-
treten. Aber es ist ja wahrscheinlich, dass zu Tacitus' Zeit
Pflug und Egge bei den Germanen noch gar nicht üblich
waren, während sie später ganz naturgemäß an die Stelle
des Wagens traten, dessen Umzug ja jedenfalls der Ein-
s^nung der Fluren zur Fruchtbarkeit dienen sollte. War
der Ackerbau einmal eingeführt und das Hauptgeräte des-
selben bei der Festfeier an die Stelle des Wagens getreten,
(auf dem wohl längst nicht mehr eine Göttin fahrend gedacht
wurde), so war nach den oben angeführten aus den classischen
Sprachen belegten Anschauungen die Vergleichung der frucht-
baren Natur mit fruchtbarer Ehe, der Flur mit dem weib-
lichen Leibe nur noch näher gelegt; und es kam dazu noch
die Vergleichung des Pflugjoches mit dem Joche des Ehe-
standes (vgl. jugum : conjugium), welches wohl zu allen Zeiten
auf dem weiblichen Teil schwerer als auf dem männlichen
gelastet hat, wie denn auch ein großer Teil der Feldarbeit
noch heute den Frauen und Mädchen obliegt.
90 L. Tobler^ Die alien Jungfera im GUvben und Brautb ete«
In welcher Richtung und bis zu welchem Punkte man
die fraglichen Bräuche ausdeuten mag, — jedenfalls zeigen
sie einen Reflex alter Gült Urzustände, in welchen Viehzucht,
Ackerbau und Schififahrt, je nach der Beschaffenheit des
Landes, auch im Cultus ihre Spuren hinterlassen haben,
und wenn wir das mit der Moosfahrt, dem Kuhtreiben oder
anderen Fastnachtbräuchen verbundene öffentliche Volks-
gericht bedenken, welches, wie das bairische Haberfeld-*
treiben, keineswegs auf das Verhalten weiblicher Personen
beschränkt war, so können wir sogar einen Rest alten Zu-
sammenhangs zwischen Cultus und Justiz heraosspuren, da
die altgermanischen hohen Festtage zugleich Gerichtstage
waren und die Priester wohl nicht bloß im Kriege eine Art
Strafgewalt auszuüben hatten. Für die mythologische Grund-
lage mag schliefllich noch, wenn auch ohne besonderen Nach-
druck, daran erinnert werden, dass einen Schiffschlitten auch
die wilde Jagd in Steiermark mit sich führt. Wenn nun die
wilde Jagd nur die spätere Gestalt eines besonders um die
Zeit der Wintersonnenwende von dem höchsten Gotte mit
seinem Gefolge gehaltenen Umzuges ist, so kann derselbe
allerdings mit dem Frühlingsumzug der Göttin zusammen^
gestellt werden. Das Schiff kann dann freilich nicht die
eigentliche Bedeutung haben, die ihm oben bei den mensch^
liehen Umzügen zugeschrieben wurde, sondern es wird das
sein, auf welchem die Seelen durch die Lüfte geführt werden;
aber auch das Schiff der Göttin ist vielleicht ursprünglich
das Wolkenschiff, auf welchem fruchtbares Wetter herbei-
gefahren wurde. Diese beiden Bedeutungen lassen sich zu-*
letzt auch wieder vereinigen; das altheidnische Schiff aber,
dessen nächste Fortsetzung das des Skeaf oder Scild und des
Schwanritters (Lohengrin) war (Simrock, Myth.^ 291 — 3),
hat zuletzt vielleicht noch einen christlichen Nachklang ge-
funden in dem Weihnachtliede von Tauler: Uns kommt ein
Schiff gefahren. (Mittler, Deutsche Volkslieder > Nr. 404—5.)
Beurteilungen.
Zur vergleichenden Beligionsgesohichte.
Von
Dr. K. Brachmann.
(Schluss.)
Wenn es sich nun um den historischen Nachweis des
Seelencults bei einzelnen Völkern handelt , so haben wir
zunächst die Hebräer ins Auge zu fassen, denen der Verfasser
ja eine besondere Schrift gewidmet hat.
Ist also JahYe ein Ahnengeist? Glaubte man an das
Weiterleben der Seelen? Bestand ein Cult dieser Seelen?
Entsprang der Ahnencult aus dem Totencult? Erklärt des
Verfassers Hypothese Alles? Wird das vorliegende Material
besser durch sie gedeutet als bisher?
Wenn auch im A. T. nicht viel vom Leben nach dem
Tode die Rede ist oder wann es gelegentlich bezweifelt wird
(wie EoheL 3, 31), so sind wir doch mit dem Verfasser über-
zeugt, dass man, wie die Vorstellung von der Seele, so auch
die von ihrer Fortdauer hatte. Denn es gibt Worte für
Seele wie ruach und naphSS, sodann gab es einen Ort ihres
Aufenthalts wohin sie hinuntersteigen, der freilich nicht
überall mit besonderem Namen (S^'öl) genannt wird (in der
Gen. heifit es »zu den Vätern versammelt werdent); endlich
gab ed Totenbeschwörer, die zu Zeiten ihr Wesen ziemlich
arg getrieben haben müssen*).
Ist nun auch die Gottes-Idee der Juden sonst nirgends
anzutreffen, so wird sich doch wohl Jahve aus den religiösen
Elementar -Vorstellungen entwickelt haben, welche bei den
Juden wie bei allen andern Völkern sich vorfinden.
*) Ueber die Unterwelt und das Leben nach dem Tode vgl. Popper
1. c 8. 410. Ueber die Rephaim Oppert, Journal asiatique VII, 7, 1876,
S.381f. Schlottmann, die Inschrift Eschmunazam. Halle 1868. Die Mytho-
logie der Semiten von Konrad Schwenk, Frankfurt a./M. 1849. S. l&O U
92 K. Bruchmann,
Es heißt also »singe, meine Seelec Ps. 103. 104 (naphsi).
Ps. 30, 4: du hast meine Seele aus dem i^*öl geführt (Ps. 86,
13 und 89, 49). An einer anderen Stelle heißt es (Ps. 115, 17):
nicht die Toten werden dich loben und nicht die hinunter-
fahren in die Vernichtung. Jes. 14, 9 : Die Unterwelt erzitterte
vor dir (König von Babel), da du ihr entgegen kamst. Sie
erwecket Dir die Toten (r^ph^im) . . . Oppert übersetzt aus
der Inschrift des Eschmunazar: toute race royale et tout
homme qui ouvriront le couvercle de cette couche ou qui
enleveront le sarcophage oü je repose, ou qui me molesteront
dans cette couche | il ne leur sera pas de Heu de repos chez
les Rephaim et ils ne seront pas enterres dans des tombeaux
et il ne leur sera pas un fils ou une race pour leur succMer
et les dieux sacräs leur infligeront Textinction.
Als besondere Strafe wird im A. T. die Ausrottung der
Seele aus dem Stamm angedroht. Wenn aber auch die
Ausrottung der Nachkommenschaft (wie Mal. 2, 12) als Strafe
hingestellt wird, so führt uns das (nach L.) zu der Vorstellung,
dass mjEin hierbei den Verlust der Seelenpflege fürchtete.
Wenn nun auch gelegentlich missliebig vermerkt wird, dass
sich das Volk in Gräbern aufhält (wie Jesa. 65, 4), so scheint
mir das immer noch nicht einen wirklichen Seelen-Gult zu
beweisen. Zudem ist von der besonderen Leistung an die
Seele und deren Gegenleistung nirgends die Rede. Nur Jahve
verleiht (Genes. 22, 16, L. 2, 162) für das Opfer, das man
ihm gibt, vielfachen Segen.
Die Tatsache des Totenbeschwörens, meint L., setze
Seelenpflege voraus. Ich kann es nicht finden; nur Seelen-
glauben. Meint man aber, eine Seele werde nicht umsonst
geantwortet haben, so fehlt wieder jede Andeutung über den
Entgelt. Kurz, bis jetzt ist nur (Glaube an die Seelen er-
wiesen. Wenn nun auch bei den Ebräern Schlangencult
bestanden hat, so muss die alte Frage wiederholt werden,
ob man in den Schlangen die Seelen von Toten wohnhaft
dachte?
Ein anderes Argument dagegen bilden die Teraphim
und andere Götzen. So heißen die von Rahel gestohlenen
BeurteilotlgeiL 93
Götzen Genes. 31, 30 dohe. Wenn sich aber L. für den Zu-
sammenhang der Götter elohim mit den Seelen der Toten
auf 1. Sam. 28, 13 beruft, so scheint er mir zu irren; denn
dort sagt das Zauberweib, von Saul befragt, was sie sehe,
mit bedeutsamer Voranstellung des Objects: dohim sehe ich,
sodass man meint, sie wolle das Außergewöhnliche bezeichnen.
Daraus würde dann folgen, dass man keineswegs die Seelen
immer dohim nannte und dass dieser Name nichts für die
Herkunft der Götter aus der Unterwelt beweist.
Rieht 17, 5 wird ein Abgott aus Silber gemacht; das
heißt Y.i päsgl und massekhah (ein gegossenes Bild); und
Micha hatte also ein Gotteshaus (beth dohim) und machte
einen Leibrock und Heiligtum (ephod und teraphim). 18, 24
heißt es: und er sagte, meinen Gott habt ihr genommen
(dohq).
An einer anderen Stelle (Hos. 3, 4) wird eine traurige
Zeit der Entfremdung von Gott so geschildert, dass es heißt:
ihr werdet ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne
Altar, ohne Ephod und Teraphim sein. Was hier »bedeut-
same sein soll (L. 2, 114) sehe ich nicht. Wenn der Teraphim-
Dienst hier als berechtigt und somit sein Fehlen als Strafe
erscheint, so bleibt die Natur und Herkunft der teraphim
hierbei durchaus dunkel.
2. Reg. 23, 24 heißt es von Josia: er fegte aus die • . .
Bilder und Götzen teraphim und gülülim. 1. Sam. 19, V. 13
und 16: Michal nahm ein Bild (teraphim) und legte es in
das Bett. Exod. 22, 8: findet man aber den Dieb nicht, so
soll man den Hauswirt »vor die Götterc (dohim) bringen;
ib. V. 11: so soll man es unter ihnen auf einen Eid bei dem
Herrn (Jahve) kommen lassen. Diese dohim können, meint
L., nur teraphim, Haus- oder Familiengötter gewesen sein
und die Stelle lasse vermuten, dass es dergleichen m jedem
Hause gegeben hat*). Hören wir also einmal, was die
* Vgl übrigens Dr. Aug. WQnsche: die Vorstellungen vom Zustande
nach dem Tode nach Apokryphen u. s. w. Psalm 58 und 82.
94 K. Bruchmantt,
Philologen sagen, nämlich Knobel, die Bücher Exodus und
LeFiticus 1857, S. 235, und DiUmann, Kurzgefasstes exe-
getisches Handbuch zum A. T. XII. Abteilung 1880, S. 236.
Letzterer sagt: wird der Dieb nicht entdeckt, so soll der
Hausbesitzer sich nahen zu der Gottheit, d. h. mit ihm,
dem Kläger sich vor das Gericht beim Heiligtum begeben
und hier untersuchen und feststellen lassen . . Nicht etwa
durch das Los sollte der Streit hier entschieden werden,
sondern durch einen Eid. Und später: wenn emer ein
Stack Vieh seinem Nächsten gibt .... ohne dass außer
dem Hüter einer es sieht und Zeuge sein kann, so soll der
Jahve-Eid in dem Streit zwischen beiden sein. Auch
Knobel sagt: so soll der Herr des Hauses zu Gott nahen,
d.h. vor Gericht erschemen vgl. 21, 6, an dem Orte des
Gerichts, wo die Richter im Namen Gottes Recht sprechen«
Das Gericht gehörte nach hebräischer Ansicht Gott an, bei
ihm ging man Gott um Entscheidung an und bediente sich
auch des Loses, dessen Entscheidung man auch als von Gott
kommend betrachtete. Was sich gegen diese Erklärung sagen
lässt, weiß ich nicht Der plur. elohim sagt bekanntlich gar
nichts dagegen. Und wenn nachher von einem Jahve-Eid
die Rede ist, so scheint gar kein Gegensatz zwischen döhim
und Jahve zu bestehen, als ob zu den (oder dem) elohim
kommen etwas wäre, was nicht unter Jahves Entscheidung
und Aufsicht steht Und so sehe ich keine Veranlassung, der
Memung des Verfassers zu folgen.
Wer möchte aus den bisher angeführten Tatsachen wohl
den Eindruck gewonnen haben, dass sich die Ebräer besonders
um die Seelen der Toten kümmerten? Dass ihre Götter und
besonders Jahve aus dem schg^öl stammen, d. h. Ahnengeister
sind? Die Stelle Exod. 22, 8/9 beweist im günstigsten Falle,
dass man einen oder mehrere ekhim im Hause dachte.
Woher, wird L. sagen, kamen denn die? Die Japaner
hatten auch Hausgötter (Familien* Seelen): folglich sind die
hebräischen Hausgötter Familiengeister. Dass dies kein
bündiger Schluss ist, brauche ich nicht zu beweisen« Gesetzt
aber die teraphim seien wirklich Laren gewesen, so folgt
Beurteilungen. 95
daraus noch lange nicht, dass die drei Patriarchen und gar
Jahve aus Ahnengeistern entstanden sind*).
Die Frage, ob die hier angeführten teraphim wesentlich
übereinstimmen, muss wohl bejaht werden. Wenn 1. Sam.
20, 6 von einem Opfer die Rede ist, welches alljährlich vom
ganzen Geschlecht des David in Bethlehem vollzogen wird,
so kann ich auch darin nicht die Tatsache des Ahnencults
für erwiesen ansehen.
Zweierlei haben wir noch zu erwähnen; den Ausdruck
»zu den Vätern versammelt werden« und die Verehrung der
drei Patriarchen. Jene Redensart (2, 121) kommt etwa sechs
mal in der Genesis vor und zwar beim Tode von Abraham,
ismael, Isaak, Jakob und Aaron. Selbst eine Frau wie Rahel
stirbt einfach, ohne zu den Vätern versammelt zu werden.
Alle Seelen, meint L., kommen zwar zu ihren voran-
gegangenen Volksgenossen, aber zur Ahnenschaft, die im
Gedächtnis und Cult des Stammes fortlebte, gelangten auch
die treuesten Knechte und bei den Ebräem die Frauen nicht,
obgleich die Eönigin-Mutter einen so hohen Rang einnahm.
Nur die im Erdenleben hervorragenden Väter und Herren
werden damit ausgezeichnet**). Mir scheint das jedoch
wenig zu beweisen. Denn wenn auch Ismael ein Sohn
Abrahams ist, was geht er uns an, d. h. welche Rolle spielt
er im A. T. ? und welche »geschichtliche« Wichtigkeit hat
denn Aaron? Lippert meint nun, diese »Väter« habe man
einst in Israel verehrt. Darum heiße es Jesa. 63, 16: Jahve
ist unser Vater, nicht Abraham. Allerdings brauche die
Gottheit Abraham, Isaak, Jakob in dieser Dreiheit nicht von
Anfang an gedacht worden zu sein. Je ein Stamm (2, 123)
könne je einen Patriarchen geliefert haben; bei der Ver-
bindung der Stämme habe man jene Ahnen genealogisch
verbunden.
^ Ueber die BetehneidoDg als Seelenbond und das blutige Opfer
f, i58f. Exod. i, 241. Zacfa. 9, 11. Exod. 98, 89. 13, 8. Levit 19, 3a
81, 6. DtDter. 14^ 1. U 8, 14a
^) Gen. 8&, a 15^ 1& 8Cv 17. 35, 89. 3Gv 19. 49, 89.
96 K* Bruchmand,
Wie manches ließe sich hiergegen sagen; wir sagen nur
eins. Der Verfasser sagt: Abraham wurde göttlich verehrt.
Abraham war einer der Väter; daraus schließen wir:
also war einiges, was göttlich verehrt wurde »Vaterc.
Hierbei ist noch zu bemerken, dass Abraham allerdings
zu einer gewissen Zeit als Stammvater gedacht wurde; aber
wenn nun jemand behauptet, Abraham bedeute Himmel*),
und sei erst nachträglich menschlicher Ahn geworden — so
hat er es freilich zu beweisen. Aber der Verfasser hat nur
bereits Bekanntes angeführt, um daraus meiner Meinung nach
falsche Schlüsse zu ziehen.
Wie steht es aber mit Isaak? und wie ist jene berühmte
Stelle zji erklären, wo vom Pachad Isaak die Rede ist Gen.
31, 42?**) Jakob sagt also zu Laban: wo nicht der Gott
(eloha) meines Vaters, der Gott Abrahams und die Furcht
Isaaks auf meiner Seite gewesen wäre, du hättest mich leer
ziehen lassen. Aber Gott (elohim) hat mein Elend und Mühe
angesehen und hat dich gestern gestraft, ib. V. 49: der Herr
(Jahve) sähe drein zwischen dir und mir, V. 53 : und Jakob
schwur ihm bei der Furcht seines Vaters Isaak***). Dass
hier von mehreren Mächten mit göttlicher Autorität die Rede
ist, kann nicht geleugnet werden. Wer und was sind also
diese verschiedenen Götter? L. behauptet, hier habe man
ein Rudiment davon, dass die Ahnenseele als Gott verehrt
wurde. V. 42 könnte der Gott Abrahams und das, wovor
Isaak Furcht hat, dasselbe sein, nämlich der ihnen beiden
und auch Jakob gemeinsame Gott. Nach L. muss die Furcht
Isaaks = Abraham sein. Isaak selbst konnte Jakob noch
nicht als Richter anrufen, da Isaak lebte. Wenn aber Furcht
Isaaks = Abraham ist, so müsste Gott meines Vaters = Gott
Abrahams sein. Denn sonst wäre Isaaks Gott zweimal
genannt Denn Isaaks Furcht kann nur Abraham sein.
♦) Popper 1. c. S. 147, 155-160.
*♦) L. 2, 130. Popper S. 300. Diese Zettschr. 8, 349. 9, 284.
***) L. 2, 131. Ueber Isaak = Azidahäka (!!) Lenormant lettres
assyriologiques I, p. 11, 92 f., 110. Bernstein, Ursprung der Sagen
von Abraham u. s. w. Berlin 1871. S. 3, 14, 17..
ßenrteilungeii. 9^
Warum heißt es denn also nicht einfach: Abrahams Gk)tt
und Abraham (dessen Seele mein Vater Isaak fürchtet)?
V. 53: die Götter (ekhe) Abrahams und die Götter Nahors
sollen richten zwischen uns und die Götter ihrer Väter. Die
drei Söhne Therachs sind Abraham, Nahor, Haran. Des zeitig
yerstorbenen Haran (Gen. 11, 28) Sohn ist Lot. Soll hier
an göttlich verehrte Ahnenseelen gedacht werden, so müssten
doch Abrahams und Nahors Götter dieselben sein, denn sie
sind Brüder. Setzt man sich darüber hinw^, dass Therach
nicht Gott genannt wird, so fragt man, wer sollen die »Götter
ihrer Väter seine? Man erwartet doch, dass es heiße »und
der Gott (die Götter) ihres Vaters«. Und Jakob schwur* ihm
bei der Furcht seines Vaters Isaak. Also bei Abraham?
Lag es denn bei diesen verwantschaftlichen Verhältnissen
nicht nahe, dass Jakob sich auf die Autorität derselben
Ahnenseelen berief, wie Lot, besonders da Lot seinen Vater
und die »Furcht seines Vaters« nicht erwähnt? Möge hier
also von mehreren Göttern die Rede sein: dass sie Ahnen-
seelen sind, ist nicht bewiesen.
Wenn L. meint, das IV. Gebot (2, 144) habe zunächst
nicht die Verehrung der lebenden Eltern verlangt — dafür
habe die patria potestas genügend gesorgt — sondern den
Seelencult der Eltern, so ist das eine unbeweisbare Behaup-
tung, welche auch im Zusammenhange mit den andern Be-
hauptungen des Verfassers nicht glaublicher wird.
Der Leser indessen wird diese und andere Ansichten des
Verfassers am besten in seiner Schrift selbst aufsuchen und
so beurteilen können. Wenn uns auch der Glaube an das
Fortleben der Seele vorhanden schien, so schien mis der
Beweis zu fehlen, dass man sich irgendwie eifrig um diese
Seelen gekümmert hätte. Merkwürdig ist es doch, dass die
Ebräer keine einzige weibliche Gottheit entwickelt haben,
wenn Abraham u. s. w. Ahnenseelen gewesen sind. Nur
Rahel genoss einer weiteren Verehrung*). Aber auch das,
*) lieber ihr Grab, vgl. Bernstein 1. c S. 60. 67.
ZritBohi. für VQlkeipsych. nnd Spxaohw. Bd. XIV. l.
98 ^ Brachmaim,
was man von Verehrung männlicher Seelen hört, isl sehr
dürftig. Soli der Ahneneult aus dem Totencult entstanden
sein, so erwartet man wohl, dass auch Yon Opfern die Rede
ist, welche man den Ahnen darbringt. Davon indessen fehlt
jede Spur. Auch Rahel ist ohne Opfer. Das Tätowiren »um
einer Seele willen« kann ein Zeichen der Trauer gewesen
sein, wie man auch »seine Kleide zerrisse
Dass die Furcht vor den Seelen der Toten überall und
allein den Anlass gab zur Entwicklung von Aberglauben, hat
der Verfasser nicht bewiesen. Sollen wir uns jene tief-
stehenden Völker, denen die Vernichtung der Leichen so sehr
am Herzen liegt, ohne Aberglauben denken? Und ist jenes
Vorsetzen von Speisen ursprünglich eine Folge von Furcht?
im Gegenteil ist es wohl denkbar, dass man Speise hin-
setzte, weil man nicht wusste, was tot ist, weil man den
Toten nur für sehr schwach hielt Mit der Zeit kam man
freilich dahinter, dass es mit solchen Schwächte »vorbei«
sei; die Merkmale, wodurch er sich vom Lebenden unter-
schied, wurden deutlicher. Es lisst sich nicht ausmachen,
ob nach der Erfindung des Feuers als entscheidendes Merk-
mal die Kälte des Toten betrachtet wurde. Dass man später
das Vorsetzen der Speisen beibehielt, ist nicht wunderbar;
entweder von der alten Ansicht aus, dass wenigstens ein
Teil vom Menschen lebendig geblieben ist, die Seele, oder
dass jede Seele übel gelaunt ist und schaden will, wenn
etwas an ihrer Pflege fehlt. Dieser zweite Grund, die Furcht,
mag allerdings bei weitem der vorhersehende sein. Das
bloße Vorsetzen von Speisen beweist also noch nicht
»Seelencult«.
Die erste Rücksicht*), welche Tote forderten, entstand
durch den die Umgebung erschreckenden und belästigenden
Process der Verwesung. Man musste sie wegwerfen oder
vergraben oder zudecken. Nach der Erfindung des Feuers
konnte man sie auch verbrennen, während die Möglichkeit
*) Les rites fun^raires aux ^poques pr^historiques et leur origine
par Mme. d^mence Rayer. Paris, Leroux, 1876. 44 S. 8.
Paulsen: Was uns Kant sein kann? S. 60, 61.
BeartahmceD« 99
sie zu yerzehren, immer vorlag. Von da bis zum Vorsetzen
von Speisen ist ein weiter Weg im Gefühlsleben des Menschen,
welcher nicht von allen zurückgelegt worden ist. Wo es
geschah« brautiit es weder die erste Regung des Aberglaubens
noch eine blofie Wirkung der Furcht gewesen zu sein. Oder
ist verdächtig, was z. B. Strabo von den llassageten orzähtt
(lib. XI, cap. 8): für ein» Gott halten sie einzig die Sonme*),
ihr opfern sie Rosse. Jeder heiratet nur eine einzige Frau,
sie haben aber auch mit den Frauen von einander Umgang,
nicht heimlich ...» für den besten Tot halten sie es, wenn
sie, alt geworden, totgeschlagen werden mit den Stücken der
Herde (i^stä %wv nQoßatsiatv xQsäv) und, mit diesem Fleisch
vermischt, verzehrt werden; die aber, wdche an einer Krank-
heit gestorben sind, w^en sie als ruchlos und als wert von
Tieren gefressen zu werden, fort. Lib. XI, cap. 11: (ed.
Tauchn. vol. 11 , S. 439) ist von den Baktrianem die Rede;
man erzählt, dass die, welche durch Krankheit oder das
Alter erschöpft sind, lebend Hunden vorgeworfen werd»,
welche man (dazu) zog**) gerade zu diesem Zweck, welche
in der einheimischen Sprache iv%a^imis%»i hießen. Sodaas
es außerhalb der Mauern der Hauptstadt rein aussah, während
inn^halb alles von menschlichen Knochen voU war. Erst
Alexander habe dieser Sitte ein Ende gemacht Von den
Kaspiem aber wird erzählt, dass sie die Ellem, wenn sie
70 Jahre alt geworden sind, einschließen und durdi Hunger
toten (v. 1. l$gioittovij(tay9^sg ctg t^y ig^fkiav itf%%9ia^i). Von
den Hjrkaniem heißt es bei Cicero (Tuscul. I, 46, § 108):
in Hyrcania plebs publicos alit canes, optimates domesticos:
nobile autem genus canum illud scimus esse, sed pro sua
quisque facultate parat a quibus lanietur, eamque optimam
iÜi censent esse sepulturam. Permulta alia coUigit Chrjr-
sippus et
Dass die Seelen überall, auch in Tieren, ihren Wohnsitz
nehmen können, ist bekannt. Ist aber bewiesen, dass das
^ Herod. 1, 912. 216. ^ III, 88 ein aaderes Beispiel ▼om Venehren
der Eltern.
100 . K. firachmftnn,
Tier äberall, wo es im Aberglauben eine Rolle spielt, eine
Toten-Seele in sich enthalten sollte ? Da der Mensch zunächst
die Natur nur nach der Kategorie von Nutzen und Schaden,
ohne jede ästhetische Regung, betrachtet, so waren ihm
Tiere, auch Pflanzen, sehr wichtig. Daher treten besonders
die Tiere zu seinen religiösen Vorstellungen in innige Be-
ziehung, die Tierwelt wird fär ihn zu einer Gebterwelt Und
den Tieren soll nicht genug individuelle Lebendigkeit inne-
wohnen, nicht der Schein seelisches Lebens anhaften, um
unmittelbar Gegenstand des Aberglaubens zu werden? Sie
sollten erst einer geborgten Seele bedürfen, damit man ihr
Wesen begreiflich findet?*)
Und wodurch erinnert denn das gegossene Bild des Micha
an Verehrung einer Familienseele? Findet sich denn eine
solche beliebig ein, wenn man einen Fetisch aufstellt? Vfenn
er auf das Los-Orakel des Fetisches vertraut, ist damit irgend
angedeutet, dass ein hilfreicher Ahn dort seine besondere
Wirksamkeit entwickelt?
Nachdem wir einige Punkte aus dem hebräischen Alter-
tum hervorgehoben haben, an deren Betrachtung sich der
Grundgedanke des Verfassers bewähren sollte, bleibt uns
übrig erstens einige Tatsachen anzuführen, welche gegen
seine Hypothese zu sprechen scheinen, und dann einen Blick
auf die Indogermanen zu werfen. Die endlose Prüfung aller
Einzelheiten muss dem Urteil des Lesers überlassen bleiben.
In erster Linie muss also auf die Schriften über Stein-
und Baumcult verwiesen werden, z. B. auf die Arbeiten von
Bötticher und Dozy**). Dozy hält den Stein- und Baumcult
für die älteste Religion der Semiten (S. 18) und Bötticher
fasst am Schlüsse seines Buches (Baumcultus S. 522) seine
Ansicht in die Worte zusammen, es sei der Baumcultus nicht
blofi das erste, ursprüngliche und fortwährend neben dem
Bildercultus bestehende, sondern auch das endliche und letzte
*> Vgl Waitz, Anthropologie I, 403. 409.
^) Vgl. auch Bastian diese Zeitschr. V, 887 f. und Bastian: die Seele
und ihre Erscheinungsweisen in der Ethnographie. Berlin 1868. Dozy,
die Israeliten zu Mecca. Leipzig und Haarlem 1864.
Beurteilungen. 101
der GötterverehruDg vorchristlicher Völker gewesen. Außer-
dem wären hier Tatsachen aus der Geschichte der Architektur
zu berücksichtigen, da ja Lippert (wie viele von altersher
auch) glaubt, dass der griechische Tempel aus der Hütte
über dem Heroengrab entstanden ist.
Darum seien zunächst einige Tatsachen angeführt, welche
mindestens nicht gegen den Verfasser sprechen und teils von
ihm, teils von Botticher erwähnt sind. Der Tempel*) wird
sehr oft durch ein Schlangenbild vor Profanation gehütet,
ein Mittel, dessen man sich ganz allgemein für heilige Gegen-
stände und unbetretbare Orte bediente (Tektoh. 4. Buch,
S. 88. 305 f.)* Die Schlange war aber bekanntlich sehr oft
Symbol der Seele. »Und es steht wenigstens fest, dass einer
jeden Gottheit, welcher der Schutz eines heiligen Ortes (ob-
liegt), der auch seinem genius loci obliegt, die Schlange bei-
gegeben ist. Eui solcher Dämon, Heros oder genius eines
Ortes wird von den Alten durchgehends als Schlange gedacht
und keui Ort ohne solchen genius angenommen. Daraus
folgt natürlich die Pflege von Schlangen, die Anlage von
Schlangengemächem und Zellen für die sacra des genius loci
in den Tempelhäusem solcher Gottheiten.c Gleich der
Geburtsstätte und dem Heroengrabe im Tempel wird auch
die Wiege wie das Grab der Familien-Ahnen von der Haus-
schlange bewacht; denn nicht nur kommen Schlangenbilder
an Grabmalen und Gräbertüren vor, oder es ließ die Sage
in der Gruft des Scipio die Manen dieses in der Verbannung
gestorbenen Mannes von einem Drachen hüten, sondern die
Versicherung des Theophrast, dass jeder Strenggläubige den
Ort seines Hauses heilige, wo sich die Schlange sehen lässt,
und einen Opferaltar gründe, bezeugt das Vorhandensein
und den Dienst der Schlangen in den Häusern als Orts-
dämonen, welchen die Opferehre werden muss. Kaum
möchte einer der Gultustempel ohne heiliges Grab in seinem
*) BAttichers gelehrte Forschnngen sind natürlich nicht flberali
unangefochten und unwiderlegt gebliehen. Vgl. besonders üher den
Ursprung des Tempels G. Semper: der Stil in den technischen nnd
tektonischen Künsten, U. Band (1863) 909. 975f. 406. 496. I, 1
103 K. Bnichxnaim,
Innern zu denken sein und Namen wie Erechtheion, Oidi-
podeion geben sehr deutlich kund, wie ganze hochheilige
Tetnpel oder Teile von ihnen nach den Grüften der Heroen
und Dämonen, welche sie bergen, den Namen erhalten
haben .... Nach alledem scheint es mithin als Grundsatz
dazustehen, dass stets solche Heroen und Heroinen, mythische
Träger eines Cults, wie Stifter des Tempels, im Heiligtum,
wenn auch nicht in das Tempelhaus selbst, doch in den
Peribolos begraben werden und zwar gewöhnlich unter oder
Tor einem Altare*).
Im privaten Leben (I. c. S. 314) zeigt sich hier und da
ganz ähnliches und dem heiligen Grabe des Gottesgesanten
im Tempel entsprechend ist die uralte Sitte italischer
Völker, die Mitglieder der Familie im Hause zu begraben;
aus diesem Umstände schrieb sich auch die Verehrung der-'
selben als Manen, Laren und hausschätzende Ortsgenien; es
waren sedes und sepulcrum auch in dieser Bedeutung
Synonyma.
Wie der Tempel so hat auch der heilige Baum seine
Schlange (BaumcuKus S. 905. 138, 139). Ist eine Seele in
den Baum angenommen, »so hat auch sie als Hüterin die
Schlänget. (Lippert sagt natürlich: so ist die Schlange ihr
Symbol.) Die Manenschlange (ib. 206), welche sich um den
Baum schlingt, wird gefüttert. Die Manen leben häufig im
Baum fort (ib. 254 f.): daher ist der Baum ursprünglich die
Heroenkapelle.
Wird nun der Baum (wie B. meint) als Sitz der Gottheit
betrachtet, so machte die Gottheit durch Aufnahme in ihren
Wohnsitz jeden Transflgurirten (S. 258) zum Teilhaber ihrer
sacra, zu ihrem Tisch- und Altargenossen, weil ihm ja alle
*) Arnob. adv. geni VI, 6 ... • nonne palet et promptum est aut
pro düs immortalibus mortuoB vos oolero aat inezplicabüem fieri
numinibus contumeliam quonim delubra et templa mortuorum superlata
sunt bustist Giern. Alex. Protr. p. 13 Sylb.: yftig fä¥ tv^fs^ Syofia^
Nonius: templum et sepulcmm did potest Teterum auctoritate. Lippert
1, 417. Böttieber, Tektonik IV, 909. 138. 313. 253.
BeurteUungeiu 103
Opfer- und Cultusehren zu Teil wurden, welche auf dem
Gottesbaum ruhten und fortwährend ihm dargebracht wurden.
So weit die Sage nur hinaufreicht (S. 278), ist kern Grab
ohne Pflanzung zu denken; es sind Bäume die ältesten ge-
heiligten Denkzeichen der Gräber gewesen; und wenn die
Götter Helios und Zeus selbst durch Sonne und Blitz Bäume
auf Gräbern entsprießen lassen, wenn die Erinnyen oder
auch liebe Nymphen dieselben pflanzen . . so führte die Heilig-
haltung dieser Sagen in der Pflege der Gräber zur Anlage
der Blumengärten, welche die Grabstätten der Alten neben
den Bäumen anmutig umgaben, als zu einer religiös
gebotenen Sitte.
Im allgemeinen ist es ein richtiger Schluss (S. 293), dass,
wenn dm'ch eine solche Transfigaration des Leibes eines
Sterblichen in einen Baum» der letztere zum Hause seiner
Manen wird, sich auch die Manenschlange als Wächt^in
einstellen und ihre Wohnstätte hier finden muss, wie dies
die Myrte an des Scipio Grabe deutlich genug macht; daher
diese Schlange in Verbindung mit dem Baume der Familie
des Ahnen so häufig auf Bildwerken zur Teilnahme an dem
Gedächtnismale herbeigerufen wird.
Wie in der Mythe an den Gottesbaum das Leben und
Bestehen des Heiligtums und Cultus, an den Staatsbaum die
Existenz und Wohlfahrt der Staatsgesellschaft, an die Bäume
der Heroen und Ahnen das Leben der Familie geknüpft
war, so überträgt die alte religio gleiches Verhältnis auch
auf die Bäume, welche in historischer Zeit von der Hand
geweihter und erlauchter Persönlichkeiten bei außerordent-
lichen Anlässen als Gedächtnisbäume gepflanzt, auspidrt und
geheiligt werden; auch sie werden zu Lebensbäumen«
Bäume werden also sehr oft auf Gräbern gepflanzt.
Dies hängt, wie es scheint, mit der alten Sitte zusammen,
die geweihten Toten in Hainen zu begraben. Viele Heroen-
gräber gab es in heiligen Hainen und es bestand der Glaube,
dass die Manen dort wohnen und im Hain Verehrung
gießen. Servius (zur Aen.) sagt: . . . dicuntur enim heroum
animae lucos teuere, nam in ipsis lucis habitant manes
104 K. Bnichmann,
priorum, qui lares viales sunt, in his autem lucis heroum
animae coluntur. nemora enim aplabant sepulcris ut in
amoenitate animae forent post vitam. Alle alten Orakel,
meint B., seien wesentlich chthonische (S. 112). Bäume als
Manenbehausung kommen auf Bildwerken so vor, dass die
Manenschlange am Baume erscheint, während der Verstorbene
unter dem Baum sitzend dargestellt ist, wie er das Gedächtnis-
Opfer von den herantretenden Seinigen empfängt Kein Grab
ist ohne Manenschlange und Gräberbaum zu denken (ib. 164).
Nicht bloß jedes Heiligtum, sondern auch jeder Staat und
jede Stadt, jeder Volksstamm wie jedes Geschlecht und jede
Familie hat ihren Lebens- und Schicksalsbaum, welcher (z. B.
durch sein Wachstum) das Schicksal der ihm Angehörigen
offenbart. Nicht bloß die Gründung von Tempeb und Gultus-
stätten knüpft sich an Bäume, auch zur Stiftung von Städten
und Königssitzen geben geheiligte Bäume den Anlass; ja man
dürfte dreist behaupten, dass kein alter Fürstensitz ohne
heiligen Baum in seinem atrium zu denken sei, weil sich
hier überall der Altar der Familiengötter befindet, welcher
niemals ohne solchen Baum neben ihm erschemt. Wenn
Heraklea im Pontus von Herakles gegründet sein sollte, so
mussten jene zwei heiligen Eichen mit den Altären des Zeus,
welche Herakles pflanzte und stiftete, wohl der Anfang und
das erste dieser Gründung sein*). Zu erwähnen ist auch,
dass zu den unentbehrlichen Gultgeräten im sacrarium der
Altartisch Ufa tfäne^a oder dvao^og, sacra oder augusta
mensa gehörte (Tekton. IV, S. 265 f.)**). Auf diesem Tisch
wurden gewisse Opfer niedergel^, welche nicht zum Ver-
brennen bestimmt waren. Auch der Baum hat einen Speise-
Opfertisch. Götter werden unter Bäumen geboren oder
suchen dort Schutz. Die Zweige des Baumes sind heilig; die
Römer z. B. brauchten Zweigbündel als Symbole der Gottheit.
•) Plin. 16, 89. Verg. Aen. 7, 59 f. 173 f. 2, 513.
^) Bilder der Abgeschiedenen in einer aedicula IV, 253. lieber
die älteste Form von Fetischen (blofien St&ben u. s. w.) ib. 130. Baum-
cult 232. Lippert 1, 431 u. 6, Baumcult 72 f.
BeorteilungeiL 105
Und der Baumstamm wird (wie Appuleius erwähnt) zum
Bilde zurechtgehauen: truncus dolamine effigiatus.
Die Frage, warum man so allgemein die Bäume verehrt
hat, beantwortet Böttieher (S. 495) wesentlich mit dem Hin-
weis auf ihren Nutzen, auf den mannlchfachen Segen, den
ae dem Menschen verliehen. So habe es auch Sagen ge-
geben, welche die älteste Nahrung einzelner Völkerschaften
festzustellen suchten (Aelian. V. H. 3, 39); danach hätten
z. B. die Arkader sich zuerst von Eicheln, die Argiver von
Birnen, die Athener von Feigen ernährt. Das Holz des
Baumes sei sehr mannichfach benutzt worden und habe auch
zur Gotterverehrung (Feuer) beigetragen. Auch muss man
erinnern, wie an das Leben der Scheiterflamme auf den
Staatsherden in Hellas und Rom das Leben und Bestehen
des Staates geknüpft war, wie auch die Gegenwart der gött-
lichen numina in den Tempeln von solcher ewigen Flamme
so abhängig gemacht wh*d, dass die Gottheit und ihre sacra
mit der Flamme lebten und verschwanden. »Wie heilig
also musste ^das Holz des Baumes geachtet werden, wenn
ohne dasselbe das Lebensfeuer des Gultus unmöglich war.c
Fär die Anlegung der recht zahlreichen geheimen, meist
unterirdischen Zellen gibt B. drei Gründe an. Der ganze
Gedanke des Adyton*) habe seine Wurzel in der ursprüng-
lichen Vorstellung vom Verhältnis des Menschen zur unnah-
baren Gottheit. Die geheime Aufbewahrung von Schutzbildem
und dergleichen Staatsheiligtümem ist auch ein Grund dafür.
Oft wurde zur öffentlichen Verehnmg nur ein Abbild auf-
gestellt des wahren in der cella aufbewahrten Bildes. Eine
andere Ursache ist die Anforderung gewisser Gellen oder
Sekoi; in denen die heiligen Tempelschlangen gehegt und
gepflegt werden. Die Schlange ist Wächterin heiliger Orte,
Hüterin der Manen, Symbol der erhaltenden Naturkraft. Der
dritte Grund betrifft die heiligen Gräber mit den Reliquien
der Gottespropheten, der Stifter des Tempels, der ersten
Träger seines Göttercults, der Dämonen, ja selbst der Götter.
•) Teklon. IV, S. 309.
106 K. Bnicibiiuiniit
Wenn daher zugleich mit solchen Gräbern Tempel entstehen,
so hat die unter den Alten weit verbreitete Ansicht, es seien
die Tempel aus Gräbern hervorgegangen und man habe des-
wegen das Grab euphemistisch Tempel genannt, nach dieser
Seite hin einen sehr wahren Hintergrund.
Hier aber erinnern wir uns endlich, dass namentlich die
Tatsachen aus der Darstellung des Baumcultus mehr und
etwas anderes beweisen, als was Lippert behauptet. Wo ist
der Beweis, dass man alle adorirten Bäume als Wohnsitze
von Seelen Abgeschiedener gedacht hat ? Wo . der Beweis,
dass alle heiligen Bäume auf Gräbern gestanden habai?
Und sind denn alle aufgestellten Weihegaben '^) verständlich
als Spenden für die Seelen? Was soll es denn heißen, wenn
Kinder, die aus den Einderjahren treten, dem Pan ihr Spiel-
zeug weihen (S. 79). Wie erklärt sich der durchgehende
Brauch der Landleute zur Zeit der Obsternte imd Weinlese
einen schönen Baum ihrer Pflanzung als Dionysosbild aus-
zustaffiren und vor ihm, wie vor dem Gott, die sacra aus-
zurichten?**) Aber wozu endlos Einzelheiten anführen! Dass
der Baum als feuerbergend zu verehren sei, mag später auch
empfunden sein. Im Rig-Veda, wo die Bäume sich gelegent-
lich einmal freuen und traurig sind, ist davon nicht die
Rede: also trotz des Prometheus -Mythos braucht es keinen
Baumcult zu geben. Der Verfasser wird bei allem einwenden,
dass die Acte des Baumcults psychologisch unbegreiflich sind,
schon deswegen, weil man den Bäumen einen Speisetisch
hingesetzt habe. Was sollen denn Bäume mit Speisen tun?
Nur Wesen mit menschlicher Constitution können etwas mit
Speisen anfangen. Und wie sei überhaupt zu erklären, dass
sich der Mensch um die Bäume gekümmert habe? Nur der
Mensch habe ihm nahe gestanden.
Wie sollen wir uns also das Verhältnis des Menschen
zu den Dingen der Außenwelt vorstellen? In seinen Em-
pfindungen gab es doch einen Indifferenzpunkt, über den
*) Baumcult S. 56 f.
»*) Baumcult S. 80 f.
Beurteüangen. 107
binaas zu einer gewissen Zeit nichts mit einem plus von
Empfindung betrachtet wurde. Was mag ihn also zu be-
sonderer Rücksichtnahme oder sogar zu besonderer Erregung
des Gefühls gebracht haben? Und entsteht denn jedes so-
genannte religiöse Gefühl nur aus Furcht? Sind die Bäume
aus Furcht verehrt worden?
Die von L. 1, 5 angeführten Beispiele lehren, dass man
sich Menschen sehr wohl ohne kindliche Pietät denken kann.
In solcher Gemüts- Verfassung haben sie auch nur das Interesse,
sich der Kranken und Toten zu entledigen, nicht ihnen
irgendwelche Rücksicht zu schenken« Um dies zu bewirken,
gibt es nur drei denkbare Veranlassungen. Entweder Furcht
vor der Macht einer Erscheinung, oder Anhänglichkeit und
eine Regung von Dankbarkeit für das, was dem Menschen
nützlich und unentbehrlich ist. Oder endlich eine Erscheinung
bot offenbare Aehnlichkeit mit dem Wesen des Menschen,
so dass sie Eigenschaften zu wiederholen schien, welche ihm
für sein eigenes Wesen charakteristisch galten. Furchtbar
waren die Bäume nicht; dagegen, wie B. hervorhebt, nütz-
lich. Die Etymologie allerdings bringt uns hier (für den
europäischen Zweig der Indogermanen) keine nennenswerte
Unterstützung.
Für den Nomaden konnte der Baum überhaupt nicht
leicht eine besondere Bedeutung erhalten. Und so werden
wir wieder auf jene dritte Ursache gewiesen, ob nicht der
Mensch den Baum zu einer gewissen Zeit nach einer Kategorie
betrachtet hat, welche ihm für sein eigenes Wesen bestimmend
schien. Darin aber, dass der Baum, wie der Mensch, Feuer
m sich barg, jene Kategorie zu suchen, haben wir keinen
hinreichenden Grund.
Weniger wunderlich wird uns zunächst die Adoration
des Baumes erscheinen, wenn wir bedenken, dass sogar
Steine eine ähnliche Reizung des religiösen Gefühls bewirken
konnten. Denkbar ist es wohl, dass die Bewegung und das
Rauschen der Zweige (eine Art Sprache) den Menschen an-
geheimelt haben, zumal wenn der Baum nicht veremzelt
stand, sondern im Hain. Auch sind die Bäume, im Gegensatz
108 K. Bruchmann,
zu den Steinen, Individuen und bieten nach dieser Seite hin
ein Analogon der Persönlichkeit. Ihre Wurzeln dringen in
den geheimnisvollen Schoß der Erde (die der Zeus-Eiche bis
zum Tartaros): auch das konnte als mystische Qualität
empfunden werden. Auch wachsen sie und verändern ihr
Aeußeres. Wie erklärt sich aber demnach der Gült des
Baumes? Wie, dass man einen Tisch mit Speisen hinsetzte?
Entweder der Baum ist ein analogon personalitatis und
dann hat jeder Baum eine Seele und demgemäß gelegentlich
auch — mfissen wir schließen — ein Bedürfnis nach Speise
und sonstigen menschlichen Dingen. Und dass diese Meinung
nicht unerhört ist*), scheinen die Worte zu beweisen, welche
noch Plinius über diesen Glauben äußert. Er sagt (N. H.
12, 1 und 2) animalium omnium, quae nosci potuere, naturae
generatim membratimque ita se habent. Restant neque ipsä
animä carentia (quandoquidem nihil sine ea vivit) terra edita,
ut inde eruta dicantur, ac nullum sileatur rerum naturae
opus. Diu fuere occulta eins beneficia: summumque munus
homini datum, arbores silvaeque intellegebantur ct. Oder
der Ursprung des Menschen wird auf den Baum zurück-
geführt, dann ist er erst recht menschenähnlich. Dass diese
Anschauung in den Sagen vertreten ist, ist bekannt**). Hier
wird L. einwenden, das sei entweder nur Dichtung oder nur
denkbar, wenn man den Baum als Totem, das heißt Sitz
der Seele der Vorfahren betrachtet habe. Beweisen aber
ließe sich seine Meinung nicht. Wenn die Germanen in
Hainen andächtig gewesen sind, wer sagt uns denn, dass sie
dort die Seelen der Toten wohnhaft glaubten?***) Dass die
Spuren des Baumcults in Aegypten sehr dürftig sind, ist kein
Wunder, denn Aegypten ist ein baumarmes Land. Für die
Baumverehrung ist es natürlich entscheidend, ob der Mensch
sesshaft oder als Nomade lebt. Was konnte also für den
*) Vgl. Peschel, Völkerkunde S. 261.
**) Vgl. Kuhn, die Herabkunft des Feuers 1859, S. 263, index
s. V. Mensch.
***) Tac. Germ. cap. 9: lucos ac nemota consecrant deorumque
nominibus appellant secretum illud, quod sola reverentia vident
Beurteilungen. 109
Nomaden Gegenstand des religiösen Gefühls (und späterhin
des Mythos) werden? Es gab da immer einen Führer oder
Häuptling, welcher Respekt verlangte und genoss. Sehr
wichtig war Wasser und Weide für das Vieh. Dass aber
die Toten nicht besonders verehrt wurden, scheint deswegen
notwendig, weil man sich von ihnen trennte. Geht also die
Empfindung des Nomaden noch über die Unterwerfung unter
den Häuptling hinaus, so scheint uns nur denkbar, dass er
sich mit den Mächten zu tun macht, welche er braucht, und
dass er, falls es bis zur Mythenbildung kommt, Sonnen- und
Regenmythen erfindet.
Ich sehe also keine psychologische Nötigung dafür, dass
sich Aberglauben durchaus vom Totencult her entwickeln
muss, sell^ wenn man, wie die Nomaden, an Fortleben der
Seelen glaubt.
Das sesshafte Leben jedoch ist der Entwicklung »religiösere
VcHTstellungen sehr viel günstiger, wobei sich von selbst ver-
steht, dass das Herdfeuer und überhaupt der Besitz des
Feuers die mannichfachsten Antriebe für die Gestaltung des
subjectiven Weltbildes abgeben musste. Geht der Name der
Vesta auf vas wohnen zurück, so ist sie gleichwohl, wie auch
ihr Gült im Altertum beweist, vom Herdfeuer, also überhaupt
vom Feuer, unzertrennlich.
Wie sollen wir uns also den Menschen vorstellen, als er
noch nicht sesshaft war oder als er Genosse des Höhlenbären
gewesen ist? Entweder sie waren, wie gegen alles andere
außer essen und trinken, so auch gegen die Tatsache des
Todes gleichgiltig oder sie betrachteten (später) den Toten
als schwach und überließen ihn mit Lebensmitteln seinem
Schicksal. Wodurch wurden sie also »religiöse? Furcht
oder Pietät gegen den Toten konnten sie doch nur haben,
wenn sie dergleichen bei seinen Lebzeiten empfunden hatten«
Die tierische Gleichgiltigkeit gegen die Eltern musste der
Pietät weichen und die Vorstellung von Tot und Leben
gründlicher werden.
Der Nomadismus kennt Familienleben und die Autorität
des Familien-Oberhauptes sehr wohl, aber ich sehe nicht|
110 It. Bruehmaoo,
wie sich hätte auf dieser Lebensstufe Totendienst ^twickeln
können. Wohl aber Gespensterglaube; nicht bloß deswegen,
weil der Mensch an der Tatsache des Todes die Vorstellung
der Seele und des Gespenstes sich bilden konnte« sondern
weil er nach psychologischer Analogie mancherlei Arten des
Geschehens in der Natur nach der Kategorie von innerlichem
Grund und äußerlicher Folge auffasste und, ohne von Natur-
mächten etwas zu wissen oder sie zu personificiren (wusste
er selbst doch kaum etwas von Persönlichkeit), eine allgeineine
Aehnlichkeit des Werdens voraussetzte, wonach bei ihm Taten,
in der Natur etwas ähnliches wie Taten entstanden. Dass
also das Gefühl, welches wir heute noch wahrhaft religiös
nennen, das der £hrfurcht und Unterwerfung, auch in da*
Familie seinen Ursprung hat, ist bekannt und unbestritten:
unbewiesen dagegen, dass die abergläubische Interpretation
der Natur sich nur durch die Seelen der Toten bewerkstelligt
hat, dass aller Aberglaube, oder, in höherer Form, alle
Mythologie sich an den Seelenglauben und Seelencult
anschließt.
So lässt sich vielleicht vermuten, dass deswegen im
A. T. nirgends (außer bei Jahve) von Opferspenden die Rede
ist, weil aus der Nomaden-Tradition gar keine Erinnerung
an Totenspeisung vorhanden sein konnte.
Wenn es nun schwierig scheint (außer jenen Tatsachen
des Baiuncults und Steincults (Dozy)) den Verfasser außer
durch die Prüfung seiner Schlüsse noch durch prähistorische
Details zu bekämpfen, so beweist das meiner Meinung nach
nichts für die Stärke seiner Behauptungen. Denn bei seiner
und bei unserer Ansicht sind die Folgen für den Ritus kaum
irgend verschieden. Er lässt eben z. B. den Baum nur
mittelbar Object der Verehrung werden, da es ja nichts
gegeben habe, was sie erheischte, außer der gespenstischen
Macht der Schatten. Wir dagegen fragen* in diesem FaUe,
warum gerade die Bäume dazu i^userseben wurden die Seelen
zu beherbergen.
Wenn aber n^ben einer Behandlung der Toten, welche
das Gegenteil der Verehrung ausdrückt, Aberglaube besteht.
Beurteilungen. 111
so wissen wir nicht, wie das nach der Theorie des Verfasaers
^cjwbi i$t. Diesen Widerspruch darf man a})er, meijoie iqh,
nicht verkennen, wo uns vom Aussetzen der Greise als einer
unverfänglichen Sitte berichtet wird. Grimm, Rechtsaltertümer
S. 487 f. Zimmer, Altindisches Leben S. 326—328. W. Wacker-
nagel, Kleine Sdiriften I, 15—17. Weinhold, Altnordisches
Leben S. 473 £ Haupts Zeitschrift V, 7%
Wem endlich fallen ffir das alte Testament (Jahve)
nicht alle die Ausdrücke ein, mit denen, offenbar in alten
Stellen, die Erscheinung Jahves und die besondere Art seiner
Wirksamkeit charakterisirt wird?*) Er fahrt auf, er fahrt
herab, er erscheint im Feuer, im brennenden Busch, seine
Erscheinung ist licht und glänzend, seine Lieblinge, wie Elia,
fahren im feurigen Wagen gen Himmel^ er schickt das Feuer,
um das Opfer als wohlgefälliges zu bezeichnen, er lässt
Feuer ausgehen, um Aarons S&hne zu töten, er lässt, wenn
er nicht in der Wolkensäule selbst vermutet werden soll,
dies sein Zeichen leuchtend werden. Elia, der Wetterprophet,
sein Liebling, gebietet über den Regen. Regen wird an
einer anderen Stelle als erste Segnung verheißen, wenn
Jahves Gebote und Salzungen vom Volke erfüllt werden
(Levit. 26, 3 und 4). Dass das Feuer auf dem Altar Jahves
niemals verlöschen soll, wird befohlen Levit. 6, 12 und 13.
Und wie soll man sich nach dem Verfasser die Redens-
art erklären, dass der Ursprung des Menschen in Fels (und
Wolke) gesetzt und so gelegentlich vom Prppheten bekämpft
wurde?**) »Höret mir zu, die ihr der Gerechtigkeit imchr
jaget, die ihr den Herrn suchet: schauet den Fels an, davon
ihr gehauen seid, und des Brunnens Gruft, daraus ihr gegraben
seid. Schauet Abraham an, euren Vater und Sarah, von
welcher ihr geboren seidc Jesai. 51 in.
Unmöglich ist es, dem Verfasser in die Details seiner
Darlegung über die Indogermanen zu folgen. Wer zur ver-
gleichenden Sprachwissenschaft, wie der Verfasser, so wenig
Vertrauen hat, dem müsste man mit der Litteratur seit Bopp
*) Der Yerfusaer nennt nattMich Jahve einen Ahoengeist 2, 137. 176.
Num. 11, 1.
•♦} Vgl. auch Dozy S. 20, 27. Deuter. 32, 18. Jerem. 2, 27,
112 K. Bruchmanfi,
aufwarten und das geht doch nicht Von einigen Punkten
war in der bisherigen Darstellung schon die Rede: auch hier
muss dem Leser die Einzelkritik äberlassen bleiben, welche
das Buch, wie ich wiederholt hervorhebe, wohl verdient.
Der Verfasser erhebt Protest gegen die Ansicht, dass wir
vom Indus bis an den atlantischen Ocean Mythologie und
noch dazu vielfach übereinstimmende Mythologie*) finden
sollen. Die Lichtgötter spuken ihm zu sehr in den Köpfen
der Mythologen; wenn wir historisch sein wollen, dürfen wir
nur die Gespenster spuken lassen. Jenes Mistrauen gegen
die vergleichende Mythologie teilt er mit vielen Gelehrten
und es ist wahrscheinlich, dass diese Wissenschaft, wie andere
auch, öfter geirrt hat. Nur kann ich auch für die Indo-
germanen nicht die Entwicklung alles Aberglaubens aus dem
Seelencult für bewiesen annehmen.
Ich beginne damit die indischen Vorstellungen kurz zu
erwähnen, von denen bei L. nicht die Rede ist. Dass in
den Veden an die Unsterblichkeit geglaubt wird, ist bekannt.
Alles, was sich darüber sagen lässt, findet sich kurz und
erschöpfend bei Eaegi**)« So heißt es: wie den ewigen
Göttern so bezeugt man seine Ehrfurcht auch den Dahin-
geschiedenen, den früheren, mittleren und letzten. Ist jemand
gestorben oder feiert man den Gedächtnistag des Todes eines
Angehörigen, so ruft man mit Jama***) und Agni auch die
Väter alle, die man kennt und die man nicht kennt, zum
Totenfest herbei, zur lieben Speise auf der Opferstreu und
dem begehrten Somatrank. Und jene unsterblich gewordenen
schauen auf die Sterblichen herab, jene Geister der Ver-
storbenen achten wohl auf ihre Kinder hier auf Erden: in
der Erde Dunstkreisf), durch den ganzen Luftraum, unter
*) Soory, essais de critjqae reüg^euse, Paris 1878, 375 S. S15 hat
dafür den Ausdruck panaryanisme.
*♦) Kaegi 1. c S. 95 f.
***) Kaegi 1. c. Anm. Paul Wurm, Gesch. der indischen Religion.
Basel 1874. S. 51 f.
t) Kaegi betrachtet die maruts nicht als Todesgötter. Vgl. Kuhn
in Haupts Zeitschr. 1846. S.485f. Grassmann K.Z. 16, 161 f. Hesiod
Op. 121 f. 253 f.
BeurteiltmgeD« ItS
den Scharen, welche in schönen Dörfern wohnen« wandeln
sie dahin; wo man das Opfer rüstet und sie ruft, da kommen
die heiligen, treuen, weisen Väter gabenreich mit segens-
reicher Hilfe, mit Heil und Segen zum sterblichen Verehrer.
Sie bringen ihren Söhnen Kraft und Reichtum und Nach-
kommenschaft; sie hören, helfen, trösten; sie kämpfen kähn
und heldenhaft in Schlachten, sie lohnen tausendfach die
Opfergabe und strafen auch um eines Unrechts willen . • •
Sie bringen die Morgenröte an den Himmel und hüten mit
tausend Mitteln und Wegen die Sonne, sie schmücken wie
ein dunkles Ross mit Perlen den Himmel mit Gestirnen aus
und legen in die Nacht das Dunkel und in den Tag den
Lichtglanz.€ Aber nur die Seelen der Frommen kommen
zu diesem himmlischen Aufenthalt, die anderen in eine tiefe,
finstere Grube.
Wir sehen hier also Verehrung der pitaras und eine
Anschauung, wonach sie von Lichtwesen kaum zu unter-
scheiden sind. Aber wo ist der Beweis, dass aus ihrer Ver-
ehrung sich aller Aberglaube entwickelt hat?*^) Erwähnt
muss auch werden, dass die Seelen, wie sie zum Himmel
aufsteigen, auch vom Himmel gekommen sind R. V. 10, 15,
14; 10, 16, 2; 10, 16, 5; 10, 56, 1. Daher ruft man dem
Toten zu:
Vereine mit den V&tem dich, mU Tama,
Und mit der Tugend Lohn im höchsten HimmeL
Zur Heimat kehre, aller Mängel ledig,
Vereine dich dem Leib, in Kraft erblühend •♦).
Dieser Yama ist also der erste Mensch gewesen und als
solcher der erste Ankömmling im Reiche der Unsterblichkeit,
das natürliche Haupt derer, welche ihm folgen. So heißt er
gelegentlich (10, 135, 1) der Stämme Herr, der Vater, 10,
14, 1 der Völkersammler. Wie im Griechischen drjaapdfog
*) Vgl über dies ganze Gapitel bei Indiem u. 8. w. Kaegi 1. c.
S. 907, Anm. 270-287. K. Z. 10, 327. 11, 254 f.
**) Kaegi citirt: Spiegel, Eran. Altertumskunde 2, 140. Zimmer,
Altindiscfaes Leben 403. Grimm MythoL« 1, 464. Weber, ind. Stud.
H 393. K. Z. 4, 76.
ZaitBcbr. IBr YQUceiptyclL und Spmchw. Bd. XIV. 1. g
114 K. Braehmann,
o U$dii^ (Hesych.) und Athen. III, 55, p. 99 B. oidfa d'<i*
ftw $ln$v yiiüxtiXoc rdv ^Atdifp ay^ailDcav, Preller 1. c. I, 660.
Wer nun Lust bat, etwas aussichtsloses zu unternehmen,
mag versuchen die indische Religion als Entwicklung des
Seeiencults zu erklären. Da das meines Wissens noch kein
Historiker getan hat, so brauche ich sie als Argument gegen
Lippert. Gerade hier wird der »Väterc mit großer Pietät
gedacht; aber daneben gibt es Gdttergestalten von sicherer
Bedeutung, wie Indra, Agni, Varuna, die Gandhanren u. s. w.
Sehr r^e war bei den abergläubischen und phantasie-
losen Römern*) die Verehrung der Toten und um so dfirftiger
ihre Mythologie. So schreibt Cornelia an ihren Sohn: ubi
mortua ero parentabis mihi et invocabis deum parentem.
Und: in eo tempore non pudet te eorum deum preces expetere,
quos vivos atque praesentes relictos atque desertos habueris**).
Bei Cicero heißt es (de leg. 2, 9, 22) deorum manium iura
sanda snnto: nos (Vahlen) leto datos divos babento. Ein
Grab-Epigramm lautet:
manes colamus, namque opertis manibus
divina vis est aevitemi temporis,
opertis, d. h. rite sepultis. Vgl. Ovid. Fast. 5, 129 f.
Allein eine Anhäufung von Tatsachen dieser Art wurde
nach meiner Meinung . nichts zur Unterstützung von Lippert
beitragen. Dass besonders die Römer die Seelen ihrer Toten
verehrt haben, ist bekannt, und nicht im mindesten bewiesen,
dass ihr Götterpersonal sich aus jenen Seelen recrulkt hat.
Und so können wir jetzt, wo es sich darum handelt, einige
Beispiele von Namen und Mythen anzuführen, welche sich
(nach der Meinung der Sprachforscher) bei mehreren indo-
germanischen Völkern finden, zunächst des Mars gedenken.
Mars ist dem Verfasser der »Gott Tote (1, 449 f.), d. h. ein
Ahnengeist, welcher mannichfach schaden und nützen konnte.
Als Stammvater sei er in älterer Zeit natürlich auch ein
*) Kaegi S. 214. Ueber die Griechen, Kaegi S. SlO. Die Germanen,
Grimms MythoL* 1, 133. 177 f. Mannhardt, German. Mythen.
**) Sdioemann, de diia manibiu et opitsc. acad. I, 359 f. Lip|vert
1, 442f. 430f. 423f.
ßearteilungeti. 115
Gott der Viehzucht und des Ackerbaues gewesen; indem er
aber auch mit dem Pferdeopfer ausgezeichnet wird, mahnt
er an eine Zeit, da auch in ItaKen Pferdezucht zu Nahrungs^
zwecken getrieben sein muss. Unter seinem Schutze stand
ab^ auch schon die herbstliche Frucfatemte. Er schätzt die
Weiden sowohl wie die Weinberge und das Eom vor dem
Brande. Eriegsgott ist er natürlich auch. Dabei besorgt er
aber auch den ndtigen Regen: kurz, man erkennt auch in
ihm wieder, wie weit entfernt die Götlervorstellungen davon
sind, orsprfinglioh in systematischer Verteilung die Kräfte der
Natur als deren Geister repräsentiren zu sollen.
Die Polemik des Verfassers sehfeOt hier wieder über das
Ziel hinaus. Wer glaubt denn, dass »ursprüngliche »die
Naturkräftec »systematisch« mit Geistern ausgestattet werden?
Der Verfasser sagt uns aber nicht, wodurch sich dieser Ahnen-
geist von anderen unterscheidet. Er ist nicht benannt von
der Form seines Fetisches, er ist nicht aus dem Geschlecht
derer . • . was heißt also d^ Name etymologisch? Nun,
Totengott. Was heifit das? Ein Geist, der die Macht hat,
Tod zu bringen und davor zu behüten oder ein im Totenreich
hersdiender Geist? Also nur das erstere. Verträgt sich das
mit der Theorie des Verfassers? Wenn Mars auch den Acker-
bau besehätzt hat, wie kommt er zu seinem Namen? Diese
aligemeinen Functionen der Ahnenseele: fiberall helfen oder
schaden zu können, sind doch jedem Geist eigen der sich
eines aUgemeineren Ansehens erfreute. Und dass man die
Macht des Todes in alter Zeit (Mars ist alt) personifldrt
hätte, läfist sich nicht annehmen nach dem Verfasser. Außer-
dem ist die Uebersetzung und der Sinn jenes alten Arval-
Liedes (1, 4S0) keineswegs philologisch sicher. Mars hat darin
das Ansehen eines Feldgottes. Woher also sein Name?*)
Die vergleichende Sprachwissenschaft weist hier auf
seinen Zusammenhang mit dem skr. manÜ hin. Aus ihrer
*) Vgl. Grassmann K. Z. 16^ 161 f. Kuhn, die Herabktmft des Feuen
und des Göttertranks, 1859, 8. 90 f. Wie leieht Dftmonen auch gebeten
werden, neb^n anderen Leistungen Krankheiten abauwehren, leigt eine
VedensteHe, in welcher Wolken-Dtmonen angerufen werden K.£. I,5S9:
|lg K. Bruefamann,
Attribute gerade so und nicht anders zurechtgelegt hat
ich gestehe, daas die genialen Arbeiten von Jacob Grimm,
Adalbert Kuhn und anderen doch schon deswegen einen
wissenschaftlichen Sinn und Charakter beanspruchen können,
weil sie zu erklären versuchen, während wir beim Verfasser
für diese wichtigen Details nur den terminus Tierfetisch finden,
wo er überhaupt auf diese Dinge eingeht.
Wenn die Indogermanen vor der Trennung glaubten,
dass die Seelen zum Himmel aufsteigen, dass dort der Eerberos
wacht u. 8. w., so werden wir uns freilich nicht wundern,
dass ^ter, wo sich dieser Glaube z. B« bei den Griechen
ändert, himmlische Mächte in misverständlicher Erinnerung
in den Tartaros versetzt werden, in dessen düsteren Regionen
sich jetzt die Totenscenen abspielen. Geradeso wie Varunas
(oiqaviq) später Gott der Gewässer und des Meeres wird*).
Die pontifices nennt L. 1, 473 einen Rat der Sach-
verständigen in allen Dingen der Staatsculte. Indem die
pontifices die genaueste Erfüllung aller öffentlichen Cult-
verpflichtungen zu überwachen, diese aber an (in?) regel-
mäßigen Zeiträumen sich zu wiederholen hattm, so wurde
die Feststelhmg der Zeiten, die Einrichtung des römischen
Festkalenders ihre Hauptaufgabe. Aber die ganze römische
Kalendereinteilung zeigt keine Spur davon dass es
bei diesen Cultfesten auf eine Versinnlichung von Natur-
kräften abgesehen wäre.
Hier gestatten wir uns abermals die Frage, woher der
Name dieser wichtigen Priester gekommen ist. Wie kommen
die Brückenbauer zu dieser hochbedeutsamen Stellung? nee
caelestes modo caerimonias sed iusta quoque funebria
placandosque manes ut idem pontifex edoceret quaeque
prodigia fidminibus aliove quo visu mlssa susciperentur atque
*) Ueber das Zusamnuenwirken nationaler und fremder Elemente
in der griechischen Mythologie spricht kurz ab Dr. G. P. Tiele, Gom-
pendium der Religionsgeschichte, deutsch von F. W.T.Weber, Berlin 1880,
S. 235; übrigens ist das Buch eine brauchbare Einführung in das
Studium.
-\
ßeurteiluBgen. ÜQ
curarentur (Liv. I, 90)« Name ist hier yielleicht auch nicht
Schall und Rauch umnebelnd sondern enthüllend Himmelsglut?
Denn man höre, was Adalbert Kuhn über die Vor-
stellung von den pontifices und ihren Namen sagt"^). Im
Skr. heißt der GStterpfad, auf welchem das Opfer zum Himmel
au&teigt, paihas (panthas), der Pfadbereiter heißt ptxthikrd.
Pontifex, dessen erster Teil dem Skr. Compositum entspricht,
heifit also der Pfadbereiter, der zum Pfade der Götter leitet.
»Dem König Yama bringt dar das Opfer; ihm das süßeste,
Verehrung sei den Rishis auch, den Urvätern, den alten
Pfadbereitern.€ Die stete Darbringung der Opfer war sowohl
fär die heirogegangenen Väter als auch für die zurück-
bleibenden Nachkommen sehr wichtig, weil es diesen den
eigenen Heimgang sicherte. Den Zusammenhang der römischen
pontifices mit den indischen kann sich der Leser selbst ver-
mittebi.
Aus der Erwähnung dieser wenigen Beispiele wird der
Leser wohl den Eindruck erhalten haben, dass die Arbeit der
vergleichenden Mythologie trotz Lippert nicht antiquirt ist.
Versuchen wir also schließlich unser Urteil ub^ die
Sache (und über L.) kurz auszusprechen* Der SeelencuK ist
eine Form des Aberglaubens, welche sich, mehr oder wenige
entwickelt, bei allen Völkern zu finden scheint. In einzelnen
Fällen hat er ausschließlich die religiöse Phantasie der Völker
beherscht Dass sich die Vorstellung der Seele an der Tat-
sache des Todes entwickelt hat, ist nicht mit SidiM'heit
bewiesen. Aber selbst wenn es der Fall wäre, so folgte
daraus nicht im mindesten, dass man die Dinge in der Natur
nur mit Seelen Verstorbener ausstatten musste, um sie zu
beseelen. Nicht alle Völker haben Mythologie; wo sich
Mythologie findet, lässt sich ihre Entwicklung aus dem
bloßen Seelencult nicht beweisen, weder ihre wunderlichen
Einzelheiten, noch gewisse Hauptgestalten und Ereignisse.
Es gibt Naturmythen, in denen der Himmel, die Sonne, der
•) K. Z. IV, 73 f. Curtius G. E.*, S. 270. K. Z. II, 311 f,
120 K. Bruchmann, Beurteilungen.
Blitz*), die Wolken Gegenstände religiöser Phantasie ge*
wesen sind.
Wenn Völker, wie die indogermanischen, verwant sind,
so folgt daraus nicht mit Sicherheit, dass in irgend einer
ihrer Hauptgottheiten nach der Trennung völlige üeberein-
Stimmung getroffen wird. Nur den allgemeinen Charakter
der religiösen Anschauungen wird man erwarten wieder-
zufinden. Dyaus, Zeus, Jupiter, Ziu brauchen nur darin
übereinzustimmen, dass es Lichtgötter sind, dass sie am
Himmel ihren Ursprung haben, dass manche Erzählungen
von ihnen den Luftraum als ursprunglichen Schauplatz
wiedererkennen lassen. Himmlische Gestalten können, nach-
dem man ihren Ursprung vergessen hat, zu unterirdischen
werden. Manche Mythen wieder scheinen nur erklärlich,
wenn man an große Sagen-Wanderungen und an Entlehnung
von einem nichtverwanten Volke glaubt. Die Sagengeschichte
beweist, dass ein und derselbe Vorgang einer inuner er-
neuerten Darstellung fähig war und dass naturgemäß jede
mythische oder sagenhafte Erzählung dieser Art sich in
irgend etwas von einer früheren oder gleichzeitigen unterschied.
Stimmt der Leser meiner Kritik bei, so wird er sich
g^en die übereilten Folgerungen des Verfassers erklären,
während die Darstellung des Seelencults, der sehr wohl neben
anderen Gebieten des religiösen Aberglaubens bestehen kann,
vielfach sein Interesse erregen wird.
*) Die altgriechischen Schlangen-Gottheiten u. s. w. von Dr. Schwarlz.
Berlin 1858. Programm des Werderschen Gymnasiums.
H. Steinthal, Beurteilungen. 121
Adolf Bastian, Die heilige Sage der Polynesier. Kosmogonie
und Theogonie. Leipzig, Brockhaus 1881. XII, S.
302 S. 8^
Was uns mit dem Verfasser im allgemeinen verbindet,
ist die gemeinsame Ueberzeugung, »dass bei dem gesellschaft-
lichen Naturcbarakter des Menschen der Gedanke der Gesell-
schaft (oder, in weiterem Sinne, des Volkes) als der primäre
zu betrachten ist, der den individuellen als integrirenden
Teil des Ganzen vorbedingte (S. 219. Vgl. auch S. 146).
Diesmal hat uns der Verfasser durch besonders wertvolle
Mitteilungen eben so überrascht als erfreut. Zuerst nämlich
gibt er den Schöpfungs-Mythos der Maori auf Neu-Seeland
nach einer Fassung, die er »der Güte des Judge Manning
verdankte, dann denselben Mythos in dem »Tempel-Gedichte
von Hawaii, das er in der Bibliothek des dortigen Königs,
Sr. Majestät Kalakaua, fand.
Keiner der unlitterarischen Völker-Stämme ist uns so
bekannt wie die Polynesier; über keinen sind wir so ein-
gehend unterrichtet. So scheint es mir; und dies danken
wir gewiss auch der ausgezeichneten, zusammenfassenden,
so höchst sorgsamen Behandlung dieses Teils der Ethnologie
durch Georg Gerland im 5. und 6. Bande der Anthropologie
von Waitz. * Ich kann daher den Verdacht nicht unterdrücken,
dass, wenn wir mit Gerland 6, 120 meinen, die Polynesier
»stehen an geistiger Begabung um ein Bedeutendes höher,
als alle übrigen Naturvölker der Erde, ja sie haben sich
verhältnismäßig so hoch entwickelt, wie kaum ein anderes
Volk der Weite, dieses Urteil nur daher rühren dürfte, dass
wir die Polynesier besser kennen, als alle übrigen cultur-
iosen Völker. Oder sind wir so gewiss, alle Erzeugnisse
mündlicher Litteratur der Neger oder der Amerikaner zu
kennen ? sind wir so gewiss, dass nicht vieles davon für uns
spurlos zu Grunde gegangen ist? Und ich bin allerdings
davon überzeugt, dass, je besser wir ein Volk kennen lernen,
122 H, Stdothol»
wir um so günstiger von seiner Begabung und seinen Leistungen
urteilen werden.
AufFallend in hohem Maße muss es mir sein, dass, bei
der hoben poetischen Begabung der Polynesier, ihre Sprache,
nach meiner Ansicht, die unvollkommenste auf Erden sein
därfte. Wie dieser Widerspruch zu erklären, bleibe hier
dahingestellt, nur geleugnet kann er wohl nicht werden.
Die Kenntnis der mündlichen Litteratur der Polynesier,
ihrer Sagra, verdanken wir vorzugsweise dem auch um Afiika
so verdienstvollen Gouverneur Sir George Grey. Er schöpfte
mehr aus der im Volke lebenden Tradition. Jetzt erbalten
wir durch Bastian die ursprünglichere Form jener Tradition,
welche sie im Munde der Priester hatte. Es ist bekannt,
wie schwer es den Reisenden wird, etwas von der Religion
jener eulturlosen Völkw zu erfahren. Wie mitteilsam letztere
auch sein mögen: von religiösen Dingen schweigen sie. Teils
mag sie eine gewisse Keuschheit bestimmen, ihr Innerstes,
Heiligstes vor dem fremden Manne zu verschließen; sie mögen
geradezu fürchten, ihr Höchstes verspottet zu finden; teils
aber halten sie auch den Fremden für unfähig, so schwierige
Dinge zu verstehen. So sagten Indianer, Weiße könnte die
Mysterien nicht verstehen, nur alte Indianer wissen, dieselben
zu würdigen. So wird der gewöhnliche EuropSer, zumal der
Handelsmann, den Frauen und Kindern gleichgestellt; nur
mit dem Padre lasse sich vielleicht darüber reden (S. 9»
226). — Diese eulturlosen Gemüter zu erforschen, was die-
selben bestimmt, genau abzuwägen, ist schwer. Als Bastian
einen alten Priester nach gewissen kosmogonischen Momentai
fragte, antwortete dieser, dass man von dem besprochenen
Punkt ab nicht auf einen noch weiteren Anfang zurückgehen
könne, »da sich wohl die Folgen der Entwicklung in einem
Baume beobachten lassen, von dem Samen ab, nicht aber
die Entstehung selbst, so dass mit dem Samen abzuschließen
istc. Als aber Bastian, weil er von den ursprünglichsten
Momenten schon Kunde hatte, auf dieselben hindeutete und
wissen wolHe, welche Bewandnis es damit habe: blieb der
AHe stumm. Als nun auch seine Kinder in ihn drangen, er
BeiiiicUwigeii. 128
möge doefa erzählen, da endlieh »schaute er auf, mit einem
wehmütig seelenvollen Blick, und seine rechte Hand auf die
Brust pressend, sagte er mit zitternder Stimme in ein^mi fast
herzzerreißenden Tone: wollt ihr mir meinen einzigen Schatz
rauben ?€ Der Hawaii -Mann glaubte sich also im Besitz
eines beneidenswerten Wissens, das dem Fremden abgehe,
wenn ihm auch dieser vielfach so fiberlegen sei. Dazu mag
noch kommen, dass der Priester einen Eid ablegen musste,
gewisse Lehren geheim zu halten.
Als etwa 1890 König und Volk von Hawaii mit dem
alten Geiste brach und sich europäisch einrichtete, da wurde
manches, was bisher nur mundlich fortgepflanzt ward, nieder-
geschrieben, zum Teil aus praktischen Gründen, weil auf
Genealogien Rechts-Anspräche g^n^undet wurden. Solch
ein Ms. enthielt auch die Theogonie, welche uns Bastian
jetzt mitteilt.
So könnte man sich die Aui^abe stellen, die Erzählungen,
welche wir bis jetzt nur in Form von Sagen und Märchen
kennen, auf ilure ursprüngliche, mythische Form zurück-
zuführen, und weiter die Mythen der verschiedenen poly<p
nesisehen Stämme mit einander zu vergleichen. Indessen ist
östlich die Uebersetzung der polynesischen Poesien noch
nieht durchweg gesichert, zumal die Sprache derselben von
der heutigen bedeutend abweicht; und dann scheint es auch
ratsam, noch eine kurze Zeit zu warten, bis gewisse, bald
zu erwartende Publicationen zugänglich sein werden. Nament-
lich ist Herr White, der schon an den Arbaten Greys be-
teiligt war, in der günstigen Lfige, uns noch mit vielen echt
polynesi3chra Documwten zu beschenken und dadurch die
Ethnologie auf diesem Gebiete bedeutend zu fördern. Sind
wir aber erst auf einem Punkte zu einer tieferen Einsicht
gelangt, so wird dies der ganzen Disciplin zu Gute kommen.
Hoffen wir also, dass uns Herr White nicht zu lange
warten lasse.
Ich muss hier noch einen Punkt hervorheben, wo ich
mir eine größere Enthaltsamkeit auferlegen würde, als
Bastian tut: dies ist die Vergleichung. Zunächst müsste nach
124 H. Steinthal,
meiner Ansicht die Vergleichung der Mythen und Sagen wie
die der Grammatik und Wörter auf den Völker-Stamm
beschränkt werden. Erst wenn hier fester Boden gewonnen
ist, kann man weiter gehend auch die Mythen jedes Stammes
mit denen jedes anderen vergleichen, um so zu erfahren und
durch Erfahrung festzustellen, wie weit die Gleichheit des
menschlichen Geistes ähnliche oder gleiche Mythen er-
zeugen mag.
Wie mir zuerst der Stamm eine Grenze für die Ver-
gleichung zu bilden scheint, so noch mehr die Bildungsstufe.
Ich kann die griechischen Philosophen nicht mit Volks-Mythen
vergleichen; ich muss furchten, dass hier die Aehnlichkeit
geradezu nur scheinbar ist.
Auf diese Fragen zurückzukommen, wird sich oft Ge-
legenheit finden.
Widerspruch muss ich auch gegen des Verfassers An-
sicht vom Monotheismus erheben. Er sagt (S. 299): »Der
monotheistische Gott schließt die Möglichkeit anderer Götter
deshalb aus, weil die Eifersucht des Priesters, der die Würde
erteilt hat, keinen Rivalen duldet, und dafür werden Beispiele
genug in Indien geliefert durch den stets nur auf die jedes-
malige Prädilection gerichteten Cultus, sei es eines Siwa oder
Wischnu, sei es eines Ganesa, Erischna u. a. m.c Der Ver-
fasser hat Monolatrie mit Monotheismus verwechselt. Er
möge sich auch die Frage vorlegen, ob er bei irgend einem
Volke eine Institution gefunden hat, gleich der des hebräischen
Volkes, welche wir hergebrachtermaßen Prophetentum nennen,
für die wir aber, meine ich, gar keinen treffenden Namen
haben, noch haben können, weil sie eben einzig ist.
Beiirtmlungßn. 125
Ploss^ H., Dr.y Das Kind in Brauch und Sitte der Völker.
Anthropologische Studien. Zweite, bedeutend vermehrte
Auflage. Berlin, Auerbach 1882.
394 S. gr. 8^ in engem Druck, 44 Zeilen auf der Seite!
voll von Volksgedanken über das Kind, d. h. den Menschen
bis zur geschlechtlichen Reife.
Die Ethnologie (denn »ethnologische Studienc schiene
mir der richtigere Titel des Buches) hat nicht viele solcher
Themen: ich will damit sagen, es müsse für die Darstellung
eines Volkes ein übersichtliches Schema von Kategorien geben,
wie es ein solches für die Grammatik gibt. Es bietet sich leicht
folgende Topik dar: Heirat, Kind, Tod; Arbeit; Wohnung und
Kleidung, Putz, Mahlzeit und Genuss; Stellung des Weibes
und Familie; sociale Gliederung und Staat; Religion, Recht,
Kunst und Spiel; Geselligkeit, Krieg und Waffen. Doch dies
bleibt natürlich der Vereinbarung der Ethnologen anheimgestellt.
So würde sich eine doppelte Form der Anordnung der
ethnologischen Tatsachen ergeben, genau wie in der Sprach-
wissenschaft. In der einen Richtung würden, wie in unseren
Ethnologien geschieht, die Völker hinter einander, in gewissen
größeren und kleineren Gruppen geordnet, nach allen Seiten
ihres Lebens vorgeführt; in der anderen würde die eine oder
die andere Seite des Menschen-Lebens durch alle Völker
hindurch verfolgt, wie in dem angezeigten Buche das Kind.
Ob der Erfolg einer solchen doppelten Bearbeitung der
Ethnologie der gleiche wäre, wie der, den W. v. Humboldt,
Pott, Gabelentz rücksichtlich der Sprachwissenschaft an-
nahmen? oder ob die verschiedene Natur des Objects dort
und hier eine solche Gleichartigkeit der Behandlung untunlich
macht? Die Sprachwissenschaft ist freilich nur ein Abschnitt
der Ethnologie; sie würde aber nicht solch ein verselb-
ständigter Ab- oder Ausschnitt geworden sein, wenn sie
nicht eine eigentümliche Natur durch ihr Object besäße.
Doch dürfte es immerhin der Mühe wert sein, einmal zu-
zusehen, inwieweit die, methodologisch besser gestellte, Sprach-
wissenschaft eine Analogie für die Ethnologie bieten könne,
126 R. Steinthal,
Dies wird auch durch den Umstand nahe gelegt, dass letztere
Disciplin bisher vorzugsweise entweder durch Reisende und
zwar durch Naturforscher, welche von der Anthropologie
oder auch der Geographie in die angrenzende Ethnologie
drangen, oder durch Sprachforscher, welche vom Wort zum
Mythos uncL zur Sitte d^ Völker übergingen, bearbeitet ward.
Nur Waitz war vom philosophischen Interesse ausgegangm«
Ich hofFe, dass die eben angedeutete doppelte Ordnung
des ethnologischen Materials nicht ein gleichgältiges Umstelka
und Hin- und Herschieben desselben bewirken wird: eine
andere Zusammenstellung erzeugt fast von selbst andere
Gesichtspunkte der Betrachtung. So dürfte es schon etwas
nicht unwesentliches sein, dass z« B. bei unserem Verfasser
die Sitten der germanischen Stimme, auch noch neuester
Zeit, neben die Gebräuche sehr fem wohnender Völkerschaften
gehalten werden. Mit vollem Recht: denn die Verschieden-
heit der Gultur kommt für die Volkssitbe nicht oder nur
waiig in Betracht. Diese lebt ja vorzugsweise in Kreisen,
welche doch allemal nur wenig von der Gultur ergriffen
sind, und, was noch wesentlicher ist, stammt aus einer Zeit,
in welcher ein ganz anderes, viel primitiveres Bewusstsein
im ganzen Volke herschte.
Gesichtspunkte d^ Betrachtung, die ich soeben an-
gedeutet habe, sie, ich muss es gestdien, sind was ich in der
Ethnologie noch in hohem Mafie vermisse. Wer überhaupt
eine kraftige Phantasie hat, besonders aber eine ethndlogisch
geübte, der mag sich die Schilderungen der Völker, wie sie
in unseren Ethnologien (z. B. von Friedrich Müller in recht
gefälliger, abgerundeter Form) gegeben werden, zu einem
lebendigen Lebensbilde gestalten. Ich vermag das nicht, und
sehe bloß eine erdrückende Fülle vereinzelter, zusammenhangs-
loser Tatsachen. »Volksorganismen« ist ein schöner Ausdruck,
den ich mich bei Gerland gelesen zu haben erinnerei und der
sich vermutlidi auch bei anderen findet; ab^ es ist mir
eben fraglich, ob dieses Wort nicht für die Sache, wie sie
heute noch liegt, ein zu kostbares Wort ist, ob es nicht mehr
eine Aufgabe, als die Leistung charakterisirt. Die Einheit,
Beurteilungen. 127
die ja auch in der Sprache zu erkennen upd nachzuweisen
so schwierig Ist, den alle EinzelheJten durchdringenden Nerv»
dieselben alle einander anpassend, einander gleich gestaltend:
das ist was ich vermisse. Und dazu eben, um einen Organis^
mos des Volkslebens zu erkennen, gehören leitende Gesichts-
punkte, wie sie in d^ oben angedeuteten Topik, die nur ein
äufieres Fachwerk bietet, noch nicht enthalten sind.
Ein nie außer Acht gelassener Punkt ist die allgemein
menschliche Aehnlichkeit oder Gleichheit der Völker-Sitten,
die weder auf Entlehnung oder geschichtlicher Berährung und
Mischung, nodi auf urspränglicherStammverwantschaft beruht,
sondern aus der wesentlich gleichen Natur aller Menschen
stammt Der an sich gleiche Menschen -Geist schafft sich
überall dieselben Lebens-Ordnungen, wie Ehe und Familien^
Leben, umfassendere Gemeinsamkeiten, Religion u. s. w. Ur-
sachen jedoch, die hier nicht näher bestimmt zu werden
brauchen, erzeuge innerhalb dieser gleichen Ordnungen
unter den specielleren Bestimmungen derselben bei den veiv
schiedenen Völkern neben den gleichen auch ungleidie Be-
stimmungen. Wie weit mag wohl die Gleichheit gehen?
d. h. inwieweit kann die fiberall gleiche menschliche Natur
als Ursache gleicher Sitten angesehen werden?
Hier scheint es mir nun sogleich ein Gewinn der doppelten
Bearbeitung der Ethnologie, dass dabei beiden Hinsichten
genügt wird: wenn in der fiblichen Form der Ethnologie
sich Torzugsweise die Verschiedenheit dem betrachtenden Auge
aufdrängt, so ist es in der anderen Form, welche unser Ver-
fasser gewählt hat, und welche in unserer Zeitschrift durch
die AuMtze Haberlands (Bd. XII) vertreten ist, mindestens
auch die Gleichheit der Sitten bei sich sonst femstehenden
Völkern, welche gerechte Verwunderung erregt, selbst wenn
diese Sitte sehr natürlich, sehr angemessen erscheint. (Wir
wissen ja, dass das, was uns naturlich und angemeasfenerscheintt
nicht imm^ das überall Uebliche ist.) So lesen wir beim Ver^
fasser S. 62, dass bei den Hottentotten das neugeborene Kind
▼or den Vater gebracht und zwar auf die Erde gelegt wird;
der Vater erkennt es an, indem er es aufhebt. Eben so ist
128 H. Steinthal, Beurteilungen.
es, wie auf derselben Seite zu lesen, bei den Tupi-Indianern
in Südamerika, aber auch bei den Römern (humi positio
infantum) und bei den alten Germanen. Oft aber zeigt sich
die Gleichheit in Gebräuchen, deren Zweckmäßigkeit, ja deren
Sinn wenig einleuchtet, d. h. auf Vorstellungen beruht, die
uns Gultur-Menschen abhanden gekommen sind, und in die
wir uns nur durch mühsame Forschung versetzen können.
Wenn man die Einheit des Lebensbildes jedes Volkes
erfassen will, so wird dabei der Unterschied zwischen Ge-
schichte und Ethnologie sich entschieden geltend machen.
Solche Einheit sucht ja auch die Geschichte, und sucht sie
selbst durch die Verschiedenheit der Perioden eines Volkes
hindurchzuführen; aber sie wird anders geartet sein, als bei
den ungeschichtlichen Völkern. In letzterem Falle ist sie
gewiss nicht minder streng und kräftig in allen Einzelheiten
ausgeprägt; ja wahrscheinlich ist sie consequenter durchgeführt
als bei Cultur -Völkern, die mehr von einander entlehnen;
aber sie wird weniger individuell zugespitzt sein, wie über-
haupt Bildung die Individualität fördert.
Die Geschichte betrachtet den Menschen in seinem Fort-
schritt zu einer höheren Bestimmung; die Ethnologie betrachtet
ihn weder so, noch auch als Tier, sondern als dieses eigen-
tümliche Natur -Geschöpf, und trägt dennoch einen anderen
Charakter als die naturgeschichtliche Zoologie. Bei den Tier-
Arten liegt die Entwicklung in der Folge der Arten; und
sobald eine Tier-Art geworden ist, einen relativ festen Cha-
rakter angenommen hat, ist ihre Entwicklung vollendet. Es
sind Natur-Wesen. In diesem Sinne ist kein Volk ein Natm>
Volk; jedes hat, weil es Geist ist, über das physiologische
Werden des gmus hämo hinaus eine geistige Entwicklung
durchgemacht, und manches culturlose Volk ist sogar zurück-
gesunken. Andererseits bleibt auch jedes geschichtliche Volk
immer auch Object der ethnologischen Betrachtung. Der Nach-
weis der Einheit des Volks-Geistes wird wesentlich eine ethno-
logische Aufgabe sein, auch wo es sich um das höchste Volk
der Geschichte handelt. g^^
Zahlen von kosmischer Bedentong,
hauptsächlich bei Indem und Griechen,
und Wichtigkeit von Genealogien im Mythus.
(Schluss.)
DüidSha, zweileibig, heifit GnASfa, der indische Gott der
Klugheit, weil er mit dem Gesicht des Elephanten, als klügsten
Tieres, dargestellt wird. Außerdem stehend auf einer Ratte,
welche in die verborgensten Schlupfwinkel zu dringen ver-
möge. Dies Nagetier ist sonach zum Symbol der Klugheit
erwählt, wie die Eule der Athene vermöge ihrer Fähigkeit
im Finstem zu sehen. Warum übrigens hat unser Gott nur
einen Zahn und einen hängenden Bauch? Sein Beiname
Madanta, einzahnig, diente vermutlich zu schärferer Hervor-
hebung des Unterschiedes von dem dantin, d. i. »bezahntenc
Elephanten mit zwei Fangzähnen. Der zweite kommt ihm
vielleicht als Sohn des Qiva zu, welcher letztere Qotddara,
100 Bäuche habend, zubenannt wird. Dies Epitheton gebührt
aber dem Qiva seinerseits unstreitig in seiner Eigenschaft
als Zerstörer, Hara, als ten^ms edax remm, wie E[ronos seine
eigenen Kinder verzehrt. Was aber den Hängebauch seines
Sohnes betrifft: da hatte man vielleicht bei ihm, allerdings
stark sinnlich, — einen Körperteil im Auge, der die ganze
Weisheit der Welt in sich aufzunehmen und zu verdauen
hat, wie der Elephant elephantenmäßige Speise bedarf.
Sollte nicht hiemach auch die Erklärung des Namens
Kuvira aus Pron. hu mit vSra, Körper, angeblich im Sinne
von »missgestaltetc einigen Grund haben, indem er nach
ZaitBohr. IBr VTSIkorpsyoh. imd Spnchw. Bd. UV. t. 9
130 A. P. Pott,
einer Nachricht mit 3 Beinen und 8 Zahnen gedacht worden?
Kübira, später Kuvira, ist der N. eines Vorstehers der
Geister der Tiefe und des Dunkels, Itarajana (buchstäblich
andere Leute). Nachmals der Gott der Schätze, der Welt-
hüter im Norden. Etwa weil dort der Götterberg MSru sich
befindet, und diese Gegend für den südlich Wohnenden die
den Abend ablösende Nachtseite vorstellt? Dass man aber
die Schätze gern in der verborgenen Tiefe der Erde sucht,
bezeugen Ja genugsam Phäo, und sein römischer Pendant
Dispüer durch Gontr. aus dives, üis. Aus der Genealogie
weiß ich keinen besonderen Schluss auf das Wesen des
Gottes zu ziehen. Kuberas Großvater Putastga wiese ver-
möge etwaiger Herkunft aus pulasti, schlichtes Haupthaar
tragend, in Gemeinschaft mit Itarajana nicht unmöglicher
Weise auf ein fremde Volk des Nordens hin. Vigravas
(allberühmt), Name seines Vaters, ist zu allgemein, als dass
sich hieraus etwas folgern liefie. Sonst gehen Reichtum und
Ruhm leicht zusammen. Worauf nun raten, falls wir nicht
reine Willkür gelten lassen, bei obigen sonda'baren Zahlen ?
Bezöge sich KiASra auf menschlichen Reichtum und unersätt-
liches Jagen danach: da möchte hiervon zur Not das Zuviel
eines Beines für ein menschenähnliches Wesen sprechen; allein
die große Minderzahl von sonst allerdings etwa nach Fest*-
halten und Gefräßigkeit hinzielenden Zähnen kaum. Der
symbolische Ausdruck muss demnach wohl in der Drei und
Acht liegen; und käme ein Schick hinein, wenn wir im
Kuvera die Unendlichkeit des Alls (und zwar inbegriffen
alle in ihr enthaltenen Schätze) anerkennen dürfen. Dann
wäre durch die drei Beine die ebenso große Anzahl der
Dimensionen des Raumes, wo nicht Osten, Süden und Westen,
sodass der Kubera in den Norden fiele, angezeigt, und durch
die acht Zähne die Windrichtungen, d. h. vier Hauptwinde
mit gleicher Zahl dazwischen. Die Winde mfissten dann
aber als, gleich dem Zahn der Zeit, zerstörende aufgefasst
sein, was mit dem dämonischen Wesen von Euvera nicht
gerade tn Widerspruch stände. Uebrigens braucht Kuvera,
wenn s. v« a. »welch einen Leib besitzende , nicht gerade
Zahlen von komiachar Bedeutung. 131
>inis«gestaltet< za bedeuten, sondern könnte fuglich das
Staunen ausdrOcken »welch ein Körper Ic über die unermessh
liehe GröAe der Welt.
T^$X^d di ndvta 6iiaa%a$ legt Homer II. 15, 189 dem
Poseidon in den Mund, welcher daselbst des Weiteren die
verschiedenen, jedem der drei Brüder obliegenden Geschäfte
anCzahlt. Gerh. 11. 1, 144. Diese Dreiheit von Weltregenten
geht bekanntlich auf Kronos und Rhea zurück. Jenes be*
zeichnet wahrscheinlich, wie bald hierauf gezeigt wird,
»Schöpferc. *Fta aber halte ich für kürzere Form von
Dorisch Migia^ sei nun darunter die Weite des Weltalls
überhaupt verstanden, was für diesen Fall mehr für sich
hat, oder bloß die Erde als tv^vüs^a. Sskr. umht, dem
genau ai^sta entspricht, als Fem. zu uri^ ci^^v, • bezeichnet
a. die weite Erde; im Dual die beiden Weiten, Erde und
HinuneL b. Weite, Raum ; von den 6 Räumen oder Dimen*
sicHien, nämlich den 4 Himmelsgegenden zusammt dem Oben
und Unten. Da urUy wie der Gompar. var-^ffans lehrt, sein
vorderes u einer Kürzung aus va verdankt, hat ^PsXa viel-
leicht nach erfolgter Synkope auch noch ein Digamma vor
^ eingebüßt. Sonst haben wir ja auch oryM zu Reis ver-
unstaltet
Dem wrvi parallel geht nwM, die große, für Erde, was
dann auch wieder im Dual die beiden großen Räume, Erde
und Himmel, umfasst. Aus dem Begriffe des Großen und
Hohen entwickelt sich aber der des magni facere, Hoeh-
haMeBS imd der Verehrung. Daher mahita (wie Lat. augere
hcmare, und allein: durch Opfer verberrttchen), Lat. maäe
vküde hiOy madare zu magnus, fMralvnm. Mit Hülfe dieses
Vorgangs gelangt man femer, meine ich, zu dem Grundsinne
des Wortes brahman. Von hrh, barh ist nur das Pari, brhamt
(eigentlich wohl: wachsend, dann dicht, breit, massenhaft,
vgl. hahu, groß), im Zrad hemnUt (hoch) vorhanden. Das
Gaus, von barh lautet bmhayaH, und bedeutet Jemand feist
machen; kräftigen, stärken, und zu bfliant gesellt sich der
ans einer kürzeren Form gebildete Superl. barbishfha, der
derbste, breiteste, kraftigste, höchste. Zend bamfista, der
9»
132 A. F. Pott,
Höchste. Bröihman (mit Umstellung des Vocals) als Neutrum
bezeichnet nun nach Weise von körman Handlung, Geschäft;
Object einer Handlung, seinerseits allerhand auf Andacht
und Götterverehrung, innere wie durch äußere Kundgebungen,
Bezügliches, wie im P.W.B. nachzusehen. Und gehört dann
auch das zu gewissen Geremonien bestimmte Bar^m oder
Zweigbändel laregman n. der Parsen dazu, falls es nicht,
wie Sskr. harhis^ Opferstreu, vielmehr von harh, ausraufen,
ausgeht. Letzterem entspricht Zend haressi$, Decke, Matte.
Brahmd/n als m., und durch den Accent ein Nom. ag. an-
zeigend, ist der Brahmane, d. h. ein solcher, welcher vermöge
Standes und Amtes die Gottesverehrung ausübt und die
dazu nötigen Studien gemacht hat. Jetzt stehen wir aber
vor der Frage, wie einerseits Brdhman n., das Brahman,
die unpersönlich gedachte Gottheit, das Absolute, und dagegen
Brähmdn m. der Brahman, das persönlich gedachte
Brahman, im System Schöpfer der Welt und oberster Gott
des indischen Pantheons, nach ihrem subjectiven, d. h. rein
etymologischen und sprachlichen Sinne auszulegen sind. Ich
denke: letzter ist zunächst »der Großec nach dem Umfang
seiner Allherschaft, wie MdhadSva, Mdhtgoa/ra; und das
Brahman Ausdruck für die ganze ungeteilte amplitudo des
großen Alls. Das ihnen beigegebene Epitheton praükomaja^
zuerst schaffend, wo nicht zuerst geboren, wie svayanibM,
durch sich selbst geworden, »causa suic, zielen auf ein Ur-
anfangliches. S. nqmtwq früher.
So nun auch sprechen lateinische Dichter von Mfiex
oder Mfarmis mmmdus, womit Himmel, Laühd und Meer
gemeint sind, wie triplex regmim sich unter Jupiter, Pluto
(Unterwelt) und Neptun verteilt. Daher denn auch ein Bei^
name des Zeus beim Paus. T^#6^ail/*o$, weil er als Oberster
der Trias auf die Dreiwelt sein Auge zu richten hat. Auch
Qiva heißt trüoeana, dreiäugig, s. später. Tq^ipvhoq^ vom
Zeus, Hock, Kreta 3, 327; ich weiß nicht, ob nach der Ort-
schaft, oder etwa auf die ^lu ^ccSv, dv^qtinmv und Tiere
bezüglich. Tqitatoq d* \dtdfiq und ein Schwur bei diesem
(Per tertia numina juro) ist ein sehr heiliger, weil der Falsch-
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 133
schwörende schlimme Vergeltung für seinen Meineid fürchtet,
abseilen der Höllenrichter. — üeber Trilogien in der ger-
manischen Mythologie ist nachzusehen Simrock S. 100, 170,
452. Wir wollen uns daraus nur die Worte an erster Stelle
aneignen: »Die Götter der Trias waren ursprünglich Ele-
mentargötter, dem Wesen jedes der Dreie liegt eins der Ele-
mente, Luft, Wasser und Feuer zu Grunde und von dieser
ihrer elementaren Natur ist erst ihre geistige Bedeutung
ausgegangen.€ Auch mag es mit Triglav, d. i. triceps, der
Slawen eine ähnliche Bewantnis haben.
Hiermit in Einklang wissen auch schon die Inder von
einer Dreiwelt, worunter sie Himmel, Luftraum und
Erde, oder auch Himmel, Erde und Unterwelt ver-
stehen. Der Namen hiefür giebt es nicht wenige: Ihmanor
Uraya (der Aufenthalte Dreiheit) oder tribhuvana, Tripatha n.
(die drei Pfade). Tridhatu hhüma (die dreiteilige Welt) P.W.B.
unter dhatu, Trüoka und coUectiv trääokjfa. Begreiflich, dass
mehrere Götter als Weitherscher davon einen Beinamen ent-
lehnen, wie Mbhuvanegvara, Mlokega (das letztere auch für
Sonne), trüokanätha, Indra (wörtlich: der Drei weit Herr) wie
iräakinäiha, MbhüvanapaH, Vischnu. Tribhuvanaguru für
Qiva, enthält guru, eigentlich gravis, ehrwürdig, wie Väter;
msbesondere Lehrer. Aber auch für diesen Gott traüohyor
kartar, d. L triplicis mundi creator. Kartar nämlich steht
als Weltschöpfer nicht nur für Brahman und Vischnu, sondern
auch als Epithel von ^iva. Das etymologisch damit ver-
wante haraAa, bedeutet als n. Werk, aber in Gompp. machend,
bewirkend, z. B. sai^vakaraM AushcuOii, Aufleben bewirken-
des Kraut.
Hiemach halte ich die Frage nicht fOr unüberlegt, ob
etwa KQ6vog, selbst Vater der drei Hauptgötter Zeus, Poseidon
und Hades (vgl. h. Hom. Merc. 427, xqaivmv u. s. w., gleich-
sam nachschaffend),, wenn auch mythisch mit tgivQ^ (zu %QQi^f
z. B. äiftf^Vj Tanz der Hören?) zusammenrinnend, dem. Wort-
sinne nach »Schöpferc, x^aKr^Ci besage. Zend ervänem (von
ßar, Sskr. jar, altem, y^^ag) akaranem, die unendliche Zeit,
dag^en hat freilich von einem anderen Jearana m. Seite,
184 A. F. Pott,
Ende, seinen Ursprung, wie harana im Dual, die beiden
Enden, d. h. Anfang und Ende (des Himmels). Diesseit der
anfanglosen Zeit ließe sich freilich Kqovoq zur Not auch als
erster »Anfange denken, ohne dass man jedoch hierfür im
Griechischen einen Anhalt hätte. Traüohytmatka aber ist
Beiname Rämas als Vischnus, wie desgleichen -prahhavti^
was »Ursprung, Entstehung bedeutende, im M.Bh. lokdnäm
prabhavoä-tu sah im Sinne von »der Welten Schöpferc , vgl.
nQoqwttt^, Keim, vorkommt
Wenn aber als Vischnus Hauptwerk die Durchmessung
des Luftkrebes in drei Schritten betrachtet wird, da begreift
sich unschwer, diese Schritte (jpcda, vikraman'a) stellen die
drei Dimensionen im Räume vor. Und bedeutet demgem&fi
auch t^fh«pada 1. Zenith, Scheitelpunkt und 2. Luftraum;
Himmel. Vi-skiu hat daher unstreitig, als nach jeder Rich-
tung gleichsam auseinander fließende Luft, seinen Namen,
und gilt, da alles Organische zu seiner Erhaltung eben dieser
notwendig bedarf, in der Götterdreiheit mit Recht tär den
»Erhalterc. Die Stellimg Vischnus zwischen Himmel und
Erde giebt sich aber noch anderweit kund. Er ruht auf
dem die Erde tragenden Schlangendämon Qeska (d. h. Rest,
das Uebrige; vermutlich nach Abzug von Himmel und Luft-
raum), aber sein Reittier ist Crorufa, der hellstrahlende Färst
der Vögel und Feind der Schlangen (wohl gerade weil letztere
im Gegensatz zu jenen recht eigentlich Tiere der Erde sind).
Da haben wir mithin die verticale Richtung von der Erde
nach der Lichtr^on aufwärts. Es kommt hierzu aber übei^
dem Vischnus Sitz im (ttocMsiilya- Feuer, das östliche
(also des Sonnenaufgangs wegen vornehmlichste) der drei [1]
Feuer des üblichen Opferherdes (vidi). Und hat demnach
auch viskiüuhräma, Vischnu-Schritt, d. i. drei von dem Opferer
zu machende Schritte zwischen vidi und dhaivanijfa, einen
^klärlichen symbolischen Sinn: Morgen, Mittag, Abend (Länge
und Breite).
Darf man nicht mit Recht vermuten, in Nachahmung
der wirUichen realen Dreiweft sei dieser als eine trügerische
Scheinwelt, als bloßes ikip^fka^ tripura, d. i. Dreiborg, sonst
Zahlen von kcMwuscher Bedeutung. 135
aueh Name einer Stadt (vgl. TQmvQyia Ort in Aegina, Zwei-
brücken, Fünfkirchen) gegenübergestellt? Im P.W.B, heißt
es in^ dem Artikel darüber: >im Epos drei Burgen (von
Gold, Silber und Eisen, im Himmel, im Luftraum und auf der
Erde), welche Maya den Asura erbaute und welche ^va durch
Feuer vemichtete.c Diese für die Asuren, d. h. d^ Göttern
feindlich gesinnte Dämonen, und zwar aus sinnig abgestuftem
Metall, geschaffene Welt, also hat zu ihrem Erbauer selber
einen Asuren, einen vollendeten Werkmeister und Kenner aller
Zauberkünste, Mäya. Ein Name, worin ich gern eine Abart
von maya (vgl auch (k%ikoq) suchte. Dies bedeutet: Trug-
bilder schaffend, Gaukler, Taschenspieler, und mäyA f. (List,
Trug, Gaukelei; Trugbild, Blendwerk), personificirt als Tochter
der Lüge (An/rta) und der Nirrti f. (Genie des Todes und
der Verwesung). Eine solche Welt verdient den Untergang.
Ob aber nicht überhaupt die Welt nach pantheistischer An*
schauung der Inder bloß den Anspruch auf Scheinexistenz
erhet>en dürfe, bleibe hier ungefragt. Da Qiva, als Zerstörer
der Dreiwelt, selbst als Tripura vorkommt, stehen damit
auch wohl seine Beinamen irif^rsha dreiköpfig, ferner tridrg,
träocana, der Dreiäugige, imd, angeblich gleichen Sinnes, noch
ein anderer, tryambaka, in gedanklichem Zusammenhange,
Sonst riete man allenfalls auch etwa auf zwei natürliche
Augen mit der Sonne als Hauptauge des Himmels.
Dass tricahra (dreiräderig) als Epitheton des Wagens
der Afvine eine mythische Bedeutung hab^, scheint nach
den Angaben bei Zimmer, Altindiscbes Leben S. VIIL ziemlich
gewiss. Welche aber, darüber lässt dieser uns in Ungewiss-
beit, die ich meinerseits nicht zu heben weiß. Gleichgültig
hierbei wird freilich nicht die Dreiheit von RIbhus, als den
Künstlern sein, welche jenen Wagen anfertigten.
MacOiyal<^ oder macB^yamdloka, die mittlere (zwischen
Himmel und Unterwelt gelegene) Welt, wird von der Erde
gesagt, wie vom Luftraum madhyastkäna, d. L der mittlere
Raum. Anspruchsvoller aber setzte man im Altertum die
Erde in den Mittelpunkt der Welt. So Cicero Tusc. I, 28:
globum (also doch Kugel?) terrae eminentem e mari, fixum
136 A. F. Pott,
in medio mundi universi loco, duabus oris distantibos habi-
tabilem et cultum, quarum altera, quam nos incolimus,
Sab axe posita ad Stellas Septem (septentrionem u. s. w.),
altera australis ignota nobis, quam vocant Graeci avtix&ova,
ceteras partes incultas u. s. w. Und Rep. V, 15: Deus is,
cujus (schön gedacht!) hoc templum est omne, quod con-
spicis, und: homines qui sunt hac lege generati, qui tuerentur
illum globum, quem in hoc templo medium vides, quae
terra dicitur, — die übrigens, den Sternen g^^enüber, ab
klein angegeben wird.
Wiederum: den Mittelpunkt der Erde einzunehmen
schmeichelte sich, eigensüchtig genug, mehr als eine Oert-
lichkeit: China (Reich der Mitte), Tibet, Delphi (jenes wie
dieses: Nabel der Erde), Jerusalem, in Amerika Kuzko.
Madhyadega, Mittelland, aber hieß der Inder seinen Haupt-
wohnsitz, das Ländergebiet zwischen Himälaya im Norden
und dem Vindhya, welches Gebirge die Indische Halbinsel
von Ost nach West durchzieht und den Abschluss der Ganges-
mulde bildet gegen das Südland Dekhan (eigentlich das zur
Rechten). Im Westen wird es begrenzt von Vinagana, Ver-
schwinden, d. h. wohl nicht bloß des Grenzflusses von
Brahmdvarta, der Sarasvati, im Sande, sondern desgleichen
der Sonne bei ihrem Untergange. Im Osten sodann von
Prayäga als Opferstätte, wo die Yamunä sich mit der Crongd
vereinigt. — Näbha (Nabel) ist auch der Name eines Sohnes
von Qruta, d. i. Klvtog^ und Vaters von Sindhudvipa (sich
beziehend auf das Indusland), wie Näbhigupta (vom N.
geschützt), Beherscher von Kufodvipa. Bhagiratha, d. h.
der mit glücklichem Wagen, vermutlich daher so geheißen,
weil er die Gangä auf die Erde herabfuhrte, passte etwa
als Vater des Qrutä in die genealogische Reihe.
Unter diApa bemerkt das P.W.B.: »nach dem kosmo-
graphischen System der Inder besteht die Erde aus 4, 7
oder (vermutlich die 4 mit 9 nach wieder einer anderen
Zählung) 13, dvtpa, d. h. Inseln, welche wie die Blätter einer
Lotusblume um den Berg Meru gelagert sind.€ Von den
7 großen Inseln (s. ob.), welche nach ihrer Vorstellung den
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 137
Berg der Himmlischen Svargigiri (gleichsam den indischen
Olymp) umlagern, begreift JamlmdiApa Indien in sich, und
bezeichnet daher bei den Buddhisten Indien selbst. Der
Name rührt aber von einem riesigen, Frächte tragenden
Jambu-Baume (Eugenia Jambolana Lam.) her, der auf der
Spitze des Meru als Standarte über das ganze Land erhoben
isL Vitvaivrksha, der Baum des Alls, unter den Beinamen
Vischnus. Von einem Götterberg gleichfalls wissen auch eis-
indische Völker. Delitzsch, Paradies S. 118. Wormstall, Hespe*
rien S. 11, wie desgleichen von Welt- und Lebensbäumen.
Der indische Feldherr der Götter Skanda, von Agni
(Feuer) und der Ga^ä, doch wohl der himmlischen, Nabho-
nadi, d. i. Himmelsfluss, erzeugt, wurde von den sechs
Srttikd, Plejaden, ernährt, und erhielt davon den patro-
nymischen Beinamen KärttikSya. Das erklärt sich leicht
Dem Mythus liegt der Widerstreit von Feuer und Wasser
im Gewitter zum Grunde, und die Plejaden geraten vermut-
lich deshalb hinein, weil sie Agni zum Regenten haben. Aber
auch, dass ihrer sechs sind, Skanda aber sechs Antlitze besitzt,
mag mit ein Anlass gewesen sein zu solcher Anknüpfung.
ShacFangin f. sechsgliederig (vgl. auch shad'vidham baiam)
ist Bezeichnung eines vollständigen Heeres. Dies dann auch
meines Erachtens der wahre Grund, warum Skanda sechs-
mundig skad^änana, shacTvaktra, shaimukha heißt, indem
zugleich dadurch die Verheerungen des Krieges (auch Agni,
Skandas Vater, ist gefräßig) angedeutet werden sollen. Auch
begreift sich, warum Skanda ewig jung bleibt, und deshalb
QigiA, Kimiära (Kind,. Knabe, Jüngling) zubenannt wird. Der
Krieg verlangt manneskräftige Jugend (Juventus). Hebe,
Schwester des Ares und dem Herakles vermählt. Seltsamer
sieht aus, wenn nun meAevAsMdka (achtteilig, achtfach), allein
femer Navaka (neunfach), als Beiname Qtfus angegeben wird.
Und zwar ersteres, »weil dieser sieben Mütter und einen
Vater (Skanda; sich selbst?) hattet! Nur schüchtern wage
ich die Vermutung, ob nicht etwa unter den sieben Müttern
die sieben Götterwelten, oder die sieben Dwfpas, wo nicht
die sieben Indien, verborgen liegen, welche die Jugend*
138 A.TP, Polt,
liehe Heereskraft zu stellen haben* Oder soll etwa das
himmlische Kriegsheer die Doppelung von dem irdischen
caturanga, d. i. viergliederig, weil es aus Fußvolk, Reiterei,
Elephanten und Wagen besteht, vorstellen ? In dem, letzterem
nachgebildeten Schach sind der Fußsoldaten acht und der Offi-
ciere auch acht auf jeder Seite. Bemerkenswerter Weise gilt
Skanda, d. i. der Ueberfallende, auch als Haupt der Kinder
befallenden Krankheitsdämonen. Nicht unpassend: bringt er
doch überhaupt vorzeitigen Tod.
Die Annahme einer Vierzahl von Dwipas richtete sich
unstreitig nach der gleichen Zahl der Weltgegenden.
Hiemach findet man in Vullers Wörterbuch eine Menge neu-
persischer Namen für Welt als Substantiva mit cor (oder
voller noch cekär, d. i. quatuor) vorauf. So cär bälish oder
häiislU, wörtlich quatuor pulvinaria; metaph. a. solium, in
quo sedent reges et principes (gleichsam als Erdengötter);
b. mundus, vermutlich als, sozusagen, Herschertron Gottes.
Ueberdem quatuor plagae coeli; allein auch quatuor ele-
menta. Femer cär deri, meines Erachtens zunächst »vier-
pfortige, da derväiB, großes Tor, auch für porta coeli, unde
met. Goelum gebraucht vorkommt. De3gleichen cär jihat,
eigentlich quatuor latera, i. e. plagae coeli. Cär aü Res
quaevis quadrangula s. locus vel forum, in quod a quatuor
lateribus (sA) viae vergunt, und dann auch für Welt. Cär
mit dem Maltiplicativ-Zeichen tä oder mit tdr, Faden, Saite,
bedeutet ein viersaitiges Instrument, indess nicht minder, durch
Uebertragung, die vier Elemente, und in cär tä (dieses vier-
saitige) die Welt. Außerdem werden die vier Himmels^
gegenden auch mit cehär arkän, einer Art vierseitiges Zelt,
bezeichnet, was zu der Vorstellimg von einem Himmelszelte
stimmt. Anders aufgefasst cehär divär-i jehdn (eigentlich die
vier Mauern der Welt) einmal die vier Elemente, als woraus
die Welt besteht, indess auch zweitens, die Welt als Gebäude
vorgestellt, die vier Weltgegenden. Cär dtvär nämlich ist
domus vel aedificium a quatuor partibus muro circumdatum,
allein auch metaph. die Hauptweltgegenden. Daher cär
(Rvär-i nafs, die vier Wände (das Gemach) der Seele. Unter
Zahlen von kosmisehor Bedeutung. 139
letzterer mag aber die Weltseele gemeint sein, wie in naf^^i
kid (letzteres pagus, yIcus; kaum als gibber, curvus, was
dann der gewölbte Himmel sein mässte), d. i. anima universi,
met. a. thronus Dei b. tabula, cui charactere indelebili inscripta
sunt rerum fata.
Sollte nicht auch die Zahl der Paradieses-Flusse cor jüi
(übertragen auf die vier Elemente) in mythischer Weise den
Weltgegenden abgesehen sein, sodass man bei Eden nicht
notwendig von vornherein eine bestimmte Oertlichkeit, wie
z. B. eine Gegend in Khorasan so hieß (doch s. Delitzsch,
Wo das Paradies lag?), vor Augen gehabt hätte? Caman
ist Garten, auch locus viridis et amoenus, pratum. Da
außerdem jedoch area horti et via utrinque arboribus septa
et pulvini vel areolae hortenses, bleibt zweifelhaft, soll cdiär
caman im Sinne von mundus als »aus vier Beeten« oder
»ans vier Gärten« bestehend vorstellen. Zu Gunsten des
letzteren spräche nicht nur, dass cär (oder cehär) bägh, die
vier Gärten, als Name von zwei berühmten Gärten, sondern
auch bägh (Garten, Lustgarten), sei es allein oder mit
besonderen Epitheten, auf die Welt übertragen vorkommt,
ha Zend-Avesta sind der Paradiese df ei, und mit OaronemätM
vier, wie desgleichen drei Höllen verzeichnet. Spiegel, Z.A.
ffl, S. LXXIV.
Ohne Zweifel machen sich nun auch bei den Indem die
Richtungsverhältnisse des Raumes*) mehrfach gdtend,
indem sie unter Hmblick danach ihren Göttern in zwar un*
schöner, allein symbolisch ausdrucksvoller Darstellung eine
bestimmte Mehrgliederigkeit liehen. So ist (vgl. abhi-
*) Gael. na eeithir äirdean The four cardinal points of the compass.
Ä'frd (von ardf arduus) 1. A height, 2. A quarter of the heavens. South
iko«, rar Rechten, wie S. Dekhan, dak$hm'a. North iualh. Etwa als
titath tOi geiü rustica vel agrestis. Vidleidht, weil man sich den Norden
(Skandinavien, Island, oder wohl gar Grönland) von allopbylen und
den Kelten verächthchen Völkern bewohnt vorstellte? Annor. tuda
(gens) wie got thiuda, i^yot^ wonach wir Deutsche uns »Volksgenossen«
heißen und als solche fühlen, müsste dann im Hunde der Kelten einen
Betsohmack etiialten haben, wie got thiuda im PI. Heiden, j^rwol^
genlfls, beieichoet
140 A- F. Pott,
mUkhamy nach der Richtung von, zu — hin) eakirmuJcha, vier-
antlitzig, Beiwort oder Beiname nicht nur von Brahman,
sondern auch von Vischnu und ^iva, in deren Dreigestalt
(trimArti) man auch mit an die Dreiteilung der Zeit gedacht
haben könnte, dafem jene etwa nur als Spaltung Einer
Gottheit in drei gemeint wäre, vermöge deren Aemter als
Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt Auch
wurde caturbähu, vierarmig (vgl. tetQccntixvg, was jedoch:
Vier Ellen lang), von Vischnu und Qiva gesagt; das gleich-
bedeutende caturbhuja aber von Vischnu oder Erischna.
Inzwischen femer von einem D&nava, — Name einer Glasse
von Wesen dämonischer Art, wo damit vielleicht nur ver-
doppelte Stärke angezeigt werden soll, wie bei dem gewaltigen
Hekatoncheiren Briareus und, als Meerriese, Atyctimv. Un-
streitig nach dem ^üyatog novzogy da xvds'i (dsi) yaimv bei
Hesiod natärlich bloß eiteles etymologisches Spiel ist, Welcker
Götterl. I, 288, wie desgleichen yat^oxog nicht gaudens o/^if-
fAa0$ sein kann. Vgl. nvldoxog. — »Odins windschnelles Ross,
von zwei Winden erzeugt,! meint Simrock S. 60, »eine an-
sprechende Dichtung, auch wenn man bei seinen acht Fußen
nicht an die Hauptwinde der Windrose denkt, und die Ver-
doppelung nur für eine Steigerung der Schnelligkeit nimmt.€ —
Um die, auch schon durch den Namen seiner Mutter Alk-
mene angezeigte Stärke des Herakles in noch mehr erhöhtem
Lichte zu zeigen, wurde die Dauer der Nacht, worin er
gezeugt wurde, von Zeus dreifach verlängert* Hercidea
temox Stat Theb. 12, 301.
Die übrigen Vierarmigen möchte man mit einem Weg-
weiser vergleichen, der, mit seinen vier Armen nach den
Weltgegenden hin gerichtet, an einem Quadrivium stände.
Außer caturw/i)iha ist übrigens auch fUif>avy<llha, worin vom
die Neun enthalten, Beiname Vischnus. Vy0M bedeutet
u. a. Verteilung, auch ein Heer in Schlachtordnung, dem bei
den Indem als seinem Vorbilde gleichnamig das Schachspiel
caluranga, viergliederig, heißt. Demgemäß haben wir auch
vermutlich in ojihirvyüha eine Vierteilung der Erde zu suchen.
— Sodann sind die Zahlen drei und vier kaum gleichgültig
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 141
in dem Mythus, wonach die drei Ribhus (fär jede der drei
Welten einer?) es u. a. verstehen » aus der einen Schale
(die ganze Weit?) des Tvaschtar — des eigentlichen Götter-
künstlers, der darum auch ihr Nebenbuhler ist, — vier
Schalen (nach den Windrichtungen geteilt?) zu machen«
P.W.B. I, 1059. Vgl. Benfey KZ. VIII, S. 191 fg.
Was fangen wir aber mit der Neunzahl in der zweiten
der obigen Verbindungen an ? Schon Humboldt Eawispr. I,
S. 36 macht auf die häufige Verwendung von Wörtern, die
Oeffnungen, Durchgänge, Tore bezeichnen, für die Neun bei
Indem und Javanen aufmerksam, und leitet mit Recht den
Ursprung dieses Gebrauches von den neun Oeffnungen des
menschlichen Leibes her. Das P.W.B. unter randkra giebt
deren zehn an: je zwei an Nase, Augen und Ohren, dann
Harnröhre, After und Mund. Hierzu noch eine vermeintlich
zehnte am Schädel (hrahmarandhra). Mithin allem Vermuten
nach die Naht Jedoch wird der Leib (pwn) als navawiukki,
d. i. neunmundig, angegeben. Desgleichen steht navaivära n.,
neuntorig, für Leib ; ja wird defodnam (der Götter) pOh mit
dem gleichen Epitheton erwähnt. Pur, Leib, Körper, belehrt
uns das PWB., ist eigentlich als Burg des Puruscha gedacht,
und, da devapwr, devapura, d. i. »Grötterstadtt, Indras Resi-
denz ist, geht man kaum fehl, in jenem neuntorigen Götter-
leibe eine, dem menschlichen Körper abgeborgte, aber gleich-
wie zum Allkörper hinauf potenzirte Welt zu erblicken, welche
ihrerseits der Weltseele zum Leibe dient. Ist doch pttrusha
(nicht etwa gar aus pur mit vcls wohnen, im Gegensatz zu
dem im Freien lebenden Getier?), ursprünglich Mann, Mensch;
Person, gleichfalls vom Persönlichen und Beseelenden im
Menschen zu der höchsten Persönlichkeit, der Weltseele,
gesteigert in Brauch. Vgl. auch mahapurusha, der große
Geist, Beiname Vischnus. Wir brauchen uns dann auch
nicht weiter zu wundem, dass man die neun Oeffnungen
des Menschenleibes auch in die Copie hineindichtete. Weiter
haben wir navakhatn purum für neun. Kha Höhle, ist Oeff-
nung am menschlichen Leibe, steht aber gleichfalls für: leerer
Luftraum, Aether.
142 A. F. Pott,
Zu weiterer Aufhellung und Bestätigung werden, hoffe
ich, noch dnige weitere Angaben willkommen sein. Der-
gleichen aus Vullers Nps. W.B. II, 1375 unter nuh (novera).
Daselbst finden sich mit der Bezeichnung nuh gewher, neun
Juwden, die neun kostbaren Edelsteine aufgezählt; wie im
Sskr. eben so viele, Perlen und Korallen einbegriffen, als
navaraiha gerechnet werden. Sonst steht nuh aber auch
metaphcnrisch: a. nuh bdm (das zweite Wort: Dach eines
Hauses), novem sphaerae coelestes. Ich weiß nicht, ob
s. V. a. Wohnungen der neun Väter, d. h. der sieben Planeten,
mit Kopf und Schwanz« b. novem foramina corporis humani,
sc. aurium, oculorum, narium, oris, penis et podicis. Man
vergleiche hiermit noch als Sskr. Beinamen Qivas trüdkätman,
was, dafem nicht als besitzliches Adj. »die Dreiwelt zur Seele
(eigentlich Atem, s. Grimm Wb.) habende, geradezu »Drei-
welt-Seelec besagen wurde. Wobei zu berücksichtigen: para^
mdiman, das höchste Lebensprincip, findet sich synonym mit
purusha. Als einziger Urgeist erschdnt ekapwrwSM, was
freilich, als vielleicht pantheistisch genommen, nicht gerade
för eigentlichen Monotheismus (th&nta, ekayana) zeugt. Bei
TertuUian permeator universitatis spiritus. Und ferner im
sogenannten Puruscha-Liede RV. 10, 90 (Grassm. Debers. n,
S. 486) wird purusha als »Urindividuum« geschildert, aus
welchem der Makrokosmos sich entwickelt. Was diesem,
allerdings erst späteren Liede zufolge, aus den Gliedmaßen
(nicht bloß: Oeffnungen) des Urmenschen hervorgeht, Gber-
schreitet freilich um nicht weniges die Neunzahl. Sein Mund
Ward zum Brafamanen (in naturgemäßer Weise als Lehr-
stande), seine Arme zum Räjanya (ebenso erklärUch als
forstlichen und ritterlichen Wehrstande), während die Vaißfa
(als Nährstand, die Ackerbauer) mit dem Ursprünge aus
dessen Schenkel, und die ^Mra (d. i. Handwerker) gar nur
mit dem aus den Fäßen sich begnügen mussten. Dagegen
»aus seinem Geiste entsprang der Mond.« Etwa bloß der
etymologischen Verwantschaft von mAs, Mond, als Zeitmesser,
und mäU 1. Maß, 2. richtige Erkenntnis, Jffnc, zu Uebe,
der, weil dem gesammelten Nachdenken und dem Umgeben
Zahlen von kosmiaehtfr Bedeutung. 14S
der Geister die Nacht gewidmet? Nicht unmöglich aber
vielleidbt: weil der Mond Licht bringt in das Dunkel, wie
der denkende Geist ja auch. Oder warum anders doch wäre
der auch im Finstern scharfblickende Vogel GefShrte von
der Gottin der Weisheit, der y^iavxoinK Athene? Ferner:
»aus seinem Auge, was selbstverständlich, die Sonne, und
ans seinem Munde Indra und Agni (letzteres, weil das Feuer
alles verzehrt) und aus seinem Atem der Wind.« Aus
seinem Nabel ward die Luft (als mittlere Region; Näbha,
Näbhya Beiname Qivas, wohl s. v. a. Mittelpunkt), aus seinem
Kopfe entstand (als Oberes) der Himmel, aus seinen Füßen
(als Unteres, xa/ux», humilis) die Erde, aus seinem Ohr die
Weltgegenden; so entstanden die Welten«. Entstehen der
letzteren aus asMdlcam% achtohrig, als Beiname Brahmans,
der ja auch vier Gesichter hat. Kam'a, Ohr, zu hartf spalten,
einmal als von jeder Richtung her den Schall (was mit
dem Auge und Lichte ohne Umdrehung sich nicht so verhält)
aufnehmendes Organ, und weil das Wort auch den Sinn
von Steuerruder hat (vgl. ce/tf^ycor*^), lässt unter obiger Acht^
zahl, als für die Schifffahrt so wichtig, die Hauptrichtungen
des Compasses, zu den vieren die dazwischen liegenden vier
hinzugerechnet, nicht verkennen. Deshalb ja auch in Athen
der achtseitige Turm, auf dessen jeder Seite in fliegender
Gestalt einer der acht Hauptwinde dargestellt ist, die nach
den Himmelsgegenden, aus denen sie w^en, gerichtet sind.
Jacobi S. 884. Aus gleichem Grunde heißt Dikkarin ein
mythischer, in einer der vier oder acht Himmelsgegenden
stehender Elephant, der die Erde tragen hilft. Von dify
Himmel^egend (aus dig, zeigen, wie regio eigentlich Rich-^
tung), was seinerseits auch für die Zahl zehn steht, indem
zu jenen acht Richtungen noch das Oben und Unten kommt.
Fünf Gegenden bringt man heraus durch Hinzunahme der
dhruvä dik (feste Gegend) als Fußpunktes zu den vieren,
woh^ wohl die fünf Bäume in Indras Himmel s. P.W.B.
wandära. Aber sechs, wenn man den vorigen noch die
Hohe (ürdhvä), den Zenith (udiA) zugeseUt Man lässt indess
sogar deren sieben zu, was durch Mitzählen der swischen
144 A. F. Pott,
Zenith und Erdoberfläche liegenden, daher »halbwegigc,
vy-adhvä, genannten Luftregion ermöglicht wird. Uebrigens
bezeichnet Väyu Wind, auch Gott des Windes, im PI. die
Maruts, mid zwar deren 49, welche Zahl, vermute ich, als
7x7 einen besonderen Grund hat. S. auch VuUers unter
hrft (septem) Nr. f. quadraginta novem.
Um auf die Neunzahl wieder zurückzukommen. Nicht
ganz klar ist, was für eine Bewantnis es mit der lemäischen
Schlange und ihren neun Häuptern habe, wovon acht sterb-
lich, das mittelste aber unsterblich war. Obgleich deren
Bekämpfung auf der Erde spielt, ist doch wohl der im Luft-
räume sich ereignende Kampf der Sonne in der Rolle des
Sonnenheros Herakles und seines nach einem »Pfeileheerc
(Sonnenstrahlen) lolaos geheißenen Gefährten mit dem
gewitterschwangeren Himmel gemeint. Hydra als Wasser-
schlange stellt das Ungetüm von Regenwolken vor, deren
Häupter stets sich erneuend, nach acht Windrichtungen mit
Blitzen züngeln, während nur ein fester Punkt, die Erde
inmitten der Welt bleibt. Die zwei Teile, in welche Herakles
ihren Rumpf zerlegt, sind aber wohl Luftraum und Firma-
ment. »Die Sieben- und Neunzahl haben eine besondere
Bedeutung,€ sagt Schiefner, Heldensagen der Minussinschen
Tataren S. XXX. Z. B. S. XII: »Ueber der Erde oder dem
Sonnenlande wohnen in dem Himmel die sieben oder nach
anderen neun Kudais in einer Jurte. Vor der Jurte steht
ein goldener Pfosten, an den die Rosse angebunden werden.
In der Jurte sitzen die sieben Kudais hinter dem Vorhang
und haben ein großes Buch vor sich, in welchem die Ge-
borenen und Verstorbenen verzeichnet und auch die Geschicke
der Menschen zu lesen sind.« Und S. XX: »Als eigentliche
Herren der Unterwelt treten die neun Irle Chane auf« u. s. w.
Die Neun genießt, abgesehen von ihrer eigentümlichen Auf-
fassung bei den Indem, auch sonst den Ruf einer gewissen
Heiligkeit Dies vermutlich als Verdreifachung der Drei, an
welche sich mehr als ein Aberglaube anlegt ' Daher bei
Simrock § 20, S. 43 neun Welten; drei und neun Himmel
S. 50, 255. Zufolge S. 548 stehen neunerlei Heilmittel (noch
Zahlen von kosmischer BedeutuDg. 14g
jetzt Neankraflkraut dgl) neunerlei Krankheiten gegemiber.
»Jene neun Heilmittel aber zeigen den Zusammenhang mit
dem Opfer: wir sahen zu Ubsola jedes neunte Jahr neun
Häupter jeder Tiergattung, zu Lethra gar 99 Menschen und
Pferde u. s. w. darbringen.« Also ein nicht ganz volles
Hundert, wie im Zend-Avesta bei Spiegel lü, S. LXIX der
Körper Kerefäfpa von der nicht minder seltsamen Zahl, näm-
lich 99,999 Fravaschis bewacht wird. Dahin gehört auch eine
etwaige Woche von neun Tagen wie die römischen Nundinä.
Hieraus erklärt sich S. 85: »Von Draupnirs Ringe
tropften (daher der Name) jede neunte Nacht acht gleiche
Goldringe.« Man rechnete im Norden nach Nächten und
Wintern; es ist daher wohl in den Goldringen das Erscheinen
der goldigen Sonne nach Aufhören der Nacht zu suchen.
Zufolge S. 271 sodann stände das Kegelspiel (vgl. auch
Schwartz Urspr. S. 5) in Bezug mit dem Sturze der heid-
nischen Götter durch das Christentum, »da die Neunzahl der
Götter nach § 58 den neun Tagen der alten Woche ent-
sprechend in Deutschland schwerlich überall zur Zwöltzahl
stieg.« Es weiß nämlich z. B. S. 215 von zwölf Männern
(der Asenzahl), welche unter dem badischen Schloss Hoch-
berg mit goldenen Kegeln und Kugeln spielen ; eine Andeutung
von Donner und Blitz. Viele einschlägige Notizen sind ge-
sammelt in dem Aufsatze »Zur Geschichte des Kegelspiels«
in der 2. Beil. zur Hall. Zeit. (G. Schwetschke) Nr. 231,
4. October 1881. Das Kegelspiel, von echt germanischem
Ursprung, sei durch die dabei geltende Neunzahl*) gewisser-
maßen als ein symbolisch -religiöser Brauch gekennzeichnet.
Die Neun war dem Frd heilig, außerdem entsprach die Zahl
der K^el den neun Welten und den neun Zeitaltem. »Die
*) Vom Standpunkte des die Mitte einnehmenden Kegels, des so-
genannten Königs, diesen als Beschauer von der Masenzahl in Abnig
gebracht, böte sich in der übrig bleibenden Achtzabl auch etwa ein
Bild der acht Windrichtungen, und, die Mitte mit .eingeredmet, in der
Kegelsumme gewissermaßen ein solches der gesammten Welt dar.
Jedoch will ich nicht behaupten, es sei Ton unseren Vorfahren auch
dieser Sinn in der Zahl und Stellung der Kegel gefunden.
ZeitBchr. Ki TSUEmpsych. nnd Sprachw. Bd. XIV. S. 10
146 A. F. Pott,
Götter selbst,« heißt es weiter, »erlustigten sich g^n am
Kegelschieben, bsbesondere Donar, der diese Passion, als er
infolge der Ausbreitung des Christentums zur Abdicirung
gezwungen war, auf den heiligen Petrus vererbte, der, einer
pfälzischen Sage zufolge, noch heute im Himmel Kegel schidat,
wenn es donnert. Durch seinen Bock und seine Hacke,
sowie durch sein Spiel mit feurigen Kugeln, welche er nach
den vor ihm aufgerichteten K^dn unter Donnergepolter
schleudert, scheint sich gleichfalls der Donnetgott (Thor,
Thunar u. s. w.) in der von Pröhle nutgeteilten Sage vom
Schweinehirten zu Drubeck zu verraten. — Der Ziegenbocks-
reiter erschien auf einer Kegelbahn; und unter dem Schall
der Musik sah ihn der Schweinehirt nun mit mehreren
anderen Geistern Kegel schieben. Die Kegel waren glühend
und die Kugeln auch (natürlich, weil Blitz), und nach dnem
furchtbaren Krach war zuletzt alles verschwunden. Es
blieben aber Kegel und Kugel, die sich mmmehr als eitel
Gold darstellten, für den armen Hirten zurück.« Eine natur-
wahre Beschreibung des Gewitters, in welcher der Vorgang,
trotz mythischer Ausschmückung, deutlich genug hervortritt
In dem Bock erkenne ich die heftigen Zusammenstöße, dne
wahre arietatio, von Wind und Wetter, vgl den mythischen
KfXog. Ferner Schwartz, Urspr. S. 219 al$, atyig^ wie auch
das Ziege XifMt^Qu genannte, feuerschnaubende Ungetüm
mit drei Leibern (s. oben Geryones), vom Löwe (brüUender
Donner), hinten Drache (sich schlängelnder Blitz) und GeiA
(etwa der Regen als nährende Milch; vgl auch das Hom
der Amalthea) in mythischer Weise ein Bild des Gewitters
sein möchte. Der Schweinehirt aber zielt memes Erachtens
auf Wolken, die hier, wie in Indien mit Nahrung spendenden
Kühen, Kuhn, Herabk. S. 213, mit einer schmutzliebenden
Sauherde verglichen werden. Das zurückbleibmde Gold lässt
sich auf die Wiederkehr der aurea lunwna codi nach dem
Gewitter deuten, vielleicht jedoch nicht ohne Grund auch auf
den reichen Frucht-Segen, welchen dieses für den seiner gar
bedürftigen Menschen zurücklässt. S. mdrödana, Rudras (der
Winde) Tränen, d. i. Gold.
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 147
Auch der goldene Regen, In welchen verwandelt Zeus
durch das Dach in das Gemach der Danae eindringt, enthält
kaum einen anderen Sinn als den von Erzeugung goldener
Saat durch das wohltätige Nass des Himmels und seinen
Efguss in den Schoß der Erde. Letztere, auch durch das
Fass der Danaiden, welche das bisher wasserarme Argos zu
einem Jsvvdqov machten^ wie unserenfalls durch das Gefängnis
der Danae, sinnvoll dargestellt, bezeichnet als Ja-vd^ ver-
möge Herkunft aus iiavdm s. v. a. durchfließend, »durch-
kssend, vgl. äBivaoq Ni^^evg von vi/gdg, vaQog (ngr. ys^v^
Wasser) — das Regen wassere Eurydike (die weithin her-
schende, d. h. wohl Erde und Himmel, so weit der Blick
reicht) gebar dem Akrisios die Danae. Die Genealogie ihres
Vaters aber weist deutlich, wie mir scheinen will, auf
Wettererscheinungen hin. Ungi^^og selbst möchte man ver-
möge seines Namens der Unentschiedenheit anklagen, sei es
nun des Wetters, oder auch zwischen Nacht und Tag. Er
ist aber Sohn des "Aßag, d. h. des Unzugänglichen, was mich
an unersteigiiche Donnersberge (mons Jovis) erinnert, an
da^n Gipfeln sich Gewitter zusammenzubrauen pflegen, und
der ^SiuäiiM, die eilig (vgl. cixaUog) vom Winde fortgetriebene
Wolke; dann Enkel des Lynkeus, Urenkel des Danaos,
Zwillingsbruder des auch in die Bellerophon- Sage verfloch-
tenen ngoTtog^ womit sich immerhin dessen appellativer
Sinn »schmutzig« recht wohl vertrüge. Der JaPaog^ sonst
ja auch mit den Danaern in Verbindung gebracht, ist wohl
nur um der flmfzig Javatdsg willen^ welcher Name äbrigens
mit dichten, so wenig als Natdeg, NauiSsg, Patronymikum
zu sein braucht^ zu deren Stammvater gemacht. Im Avynwvg
aber, Sohn des Aegyptus und der jigYvq>ta (d. i. hell glänzend,
dgfvfpog)^ glaube ich, ist nicht zu verkennen der bei hellem
Sonnenschein oder beim Aufleuchten des Blitzes luchsartig
scharfe und weithin reich^de Blick des Himmels. Er und
sein Bruder Proteus, der als Meergreis und durch seinö
vielerlei Wandlungen unstreitig das Wasserreich vertritt,
empfangen vom Danaos, mit alleiniger Bevorzugung vor den
Brfidem, ohne Los dessen Töchter zu Gemahlinnen. Jener
10»
148 A. P. Pott,
Hypermnestra, dieser Gorgopbone, also GorgotÖterin. Dann
wieder aber wird Lynkeus allein von seiner Gattin verschont;
und zwar, weil sie ihn ernstlich liebt, and »um ihn (fSnif tsvoc,
wohl eher als: in der Hohe) werbende, was der Name zu
besagen scheint, eine Sehnsucht in sich fühlt nach Wieder-
kehr eines hellen, unbewölkten Himmels. Aegyptus und sein
Land stellt gewissermaßen die heiße Zone vor, welche nach
Regen dürstet, ohne solchen häufig zu empfangen. Im Danaos
hingegen haben wir einen Vertreter von Hellas vor uns, das
zum Oeftem gleichsam eine Vermählung feiert mit den Söhnen
des (nördlichen) Aegyptus; als willkommenen R^en bringen-
den Südwinden, wie Navog, Aitp, Africus, wo nicht gar des
Typhon (Taifun).
Unserer wartet jetzt die Dreiunddreißig, auch eine
eigentümliche und vielleicht nicht ohne Einfluss der drei
(drei Dekaden und drei Einheiten) gewählte Zahl. Den
indischen Rrcyäpati (der Geschöpfe, progeniei, Herr) behandeln
nach den Belegen des P.W.B., trotz hoher Prädikate, welche
diesem obersten Gotte der älteren Theologie, an deren Stelle
die Philosophie Brahman setzt, beigelegt werden, zahb*eiche
Legenden durchaus polytheistisch. Und zwar werden drei-
unddreißig Götter, als Söhne der Adüi, Unendlichkeit, an-
genommen, wozu als der vierunddreißigste PraöäpcM kommt,
er der vierte über den drei Welten. Ich fände in den drei-
unddreißig Göttern gern ein Gegenbild von den durchschnitt-
lich dreißig Tagen des Monats sammt der Haupttrias als
Ueberschuss. Pishfapa (Var. vom mit v, oberster Teil, Höhe),
Welt, ist seinem Ursprünge nach unklar. Daher aber stammt
iripi^'tapa, Dreiwelt = tridiva n. (von div, Himmel), Wohn-
ort der dreiunddreißig Götter, Indras Himmel. Auch tri-
dofäväsa, der Götter Wohnort, Himmel. Tridofa (3 X 10)
M. PL die drei mal zehn, nämlich ist vereinfachte Bezeich-
nung für die drei mal eilf Götter; die zwölf JdUifa, die acht
Vasu, weshalb auch Bezeichnung der Zahl acht, die elf Rudra
(auch Bezeichnung der elf), und die beiden Afvin. Unter
vasu (gut; Götter) wird, außer acht, auch 333 für deren
Zahl angegeben. Budra im PK bezeichnet eine besondere
Zahlen toü kosmischer Bedeutung. 149
Schar von VtHnien, oder die Maruti Söhne Rudras. In
besümmten Zahlen gedacht elf, oder — diese verdreifacht —
dreionddreißig Götter. Das P«W.B. verwirft Herleitung aus
md, heulen, weinen, was doch für heulende und regen-
bringende Winde sich nicht übel schickte. Allein selbst für
Bddaai, entweder, wie Rudrdn'%, Gattin Rudras^ oder auch
der Marut, Blitz. Warum sollte nicht der Dual Rodast, die
obere und untere Welt, Himmel und Erde, obere und untere
Lufterschütterung — durch Donner und Winde — anzeigen
können?
Es wäre nun von hohem Interesse, wenn man die im
Ya^na I, 33, m, 47, fhry<ifca thriiä(ca, d. i. dreiunddreißig
nächsten am Hävani mit Bumouf fär die der Indischen gleiche
Anzahl altpersischer Gottheiten halten dürfte. Indess sprechen
dagegen die von Spiegel Z.-Av. n, S. 40 aufgeworfenen Be-
denken. Wenn aber auch nun dreiunddreißig von Anquetil
namhaft gemachte Sachen gemeint sind, so bliebe selbst
dann Zusammentreffen in einer so ungewöhnlichen Zahl bei
den beiden Nachbarvölkern beachtenswert. Uebrigens wird
Yd. 14, 36. 37 unter den zusammen zwölf Gerätschaften des
Krieges, 5) eines Bogenschaftes nebst einem Stachel (?) und
dreißig eisernen Spitzen, sowie 6) einer Armschleuder mit
dreißig Schleudersteinen gedacht. Inzwischen, man übersehe
nicht: wenn auch erst das Ehorda-Avesta Spiegel III, 4,
weiß dies von dreiunddreißig Amesha gpefUa. Hierzu kommt:
hävani (s. Justi; Spiegel m, S. XLI. Hang, Zdphil. S. 22, 26)
ist der Name eines CMh oder Tagesabschnittes von Sonnen-
aufgang bis Mittag, dessen Beschützer Mithra. Mit den
Amesha gpmta, d. i. den unsterblichen Heiligen und sieben
obersten Genien (s. Justi) hat man die indischen Adityas
verglichen. Wie letztere aber in ihrer ZwÖlfisahl Vertreter
der gleichen Zahl von Monaten zu sein scheinen, könnte
man sich versucht fühlen, in der Hebdomas der Amescha
auf die siebentägige Woche einen Bezug zu finden. Jedoch
war der Monat bei den Parsen nicht eigentlich nach Wochen
abgeteilt. Spiegel n, S. XCIX. Wie nun aber noch heute
unsere Wodientage zum größten Teil nach heidnischen
150 A. F. Pott,
Qöttera benannt sind, und viele Kalendertage Heiligen ge-
widmet: so auch tragen bei den Parsen (s. a. a.O.) Monats-
tage und die Monate selbst von Genien ihren Namen. Hierzu
kommt dann weiter zufolge S. LXXXI, als zu den im Khorda-
Avesta enthaltenen liturgischen Stacken gehörend, dsLsS3rr60ah,
d. i. dreifiigtägige. Siehe Uebers. III, 198. Man celebrirt
diese Liturgie sammt dem Ya^na wegen eines Toten am
dreißigsten Tage nach seinem Tode und auch am dreißigsten
Tage des sechsten Monates, — Die Vorstellung bei Herodgt
sowie der Römer von dem durchschnittlichen Menschenalter
zu 33 Vs J^r als Drittel vom Jahrhundert, ysvsd, secidum
(vgl. z. B. triseclisenex Nestor) gerechnet, dürfen wir fügUch
nicht heranziehen. Es fragt sich ja gar sehr, ob man in
Asien von einer solchen Rechnung wusste. — Noch möchte
aber eine andere indische Götterordnung beachtenswert sein,
entweder Abhäsura oder Abhäsüara mit Namen , deren jene
aus sechzig, diese aus vierundsechzig Göttern bestehen soll,
was wie eine Art Verdoppelung der dreiunddreißig aussiebt.
Der Mythus vom Argus und lo ist durchsichtig genug.
Jener alsHundertaugiger, centoculuSf und Allschauer, navontii^
stellt den gestirnten Nachthimmel vor, welcher die Mondkuh
{camua lunae; bicamis Hör. Garm. sec. 35, vgl. Simrock
S. 231) zu hüten hat. Weist doch auch femer sein Name
'AfY^g aus ctQ^ög^ weiß, albus; auch glänzend, schimmernd,
unabweisbar auf Lichterscheinungen hin. Vgl. Skr. ofjuna,
weißlich, licht, die Farbe des Tageslichts; silbern, arget^feus;
aber auch ein Name Indras. Und ist dann ferner wohl des
Namens Klang Grund für Anknüpfung an die gleichgenannte
Oertlichkeit "jigrog. lo nämlich wird unstreitig deshalb zur
Tochter des Inachos, ersten Königs von Argos, gemacht,
weshalb sie auch als Ifuichis, Inachia juvenca; ja selbst
InacMa bos (als mit der lo identificirte Isis) erscheint Dass
Zeus, als Himmelskönig, mit lo, als Mondgöttin, welche von
ihm KsQosatraj a)so die Gehörnte, zur Tochter hat, buhlt
und seine unter ihm stehende, weil nur den Luftkreis
beherschende Gemahlin das übel nimmt, und ihren Zorq,
{Jnachia ira, Petron. Sat. 139) an dem Gegenstande seiner
Zahlen von kooniseher Bedeutung. 151
Liebe ausl&ast, ist ja nach antfaropomorpher Ansieht ganz
in der Ordnung«
Aehnlich kommt herausi wenn ^Iftwy seinen FreTeli der
Juno nachzustellen, an deren Statt er jedoch nur eine Wolke
zu umarmen bekommt, schwer büßen muss. Sein einem
Abstr. => skr. sikti, das Gießen, Ausgießen, Et W.B. Nr. 1069,
entsprungener Name verrat ihn unverkennbar als einen
zweiten *ixftaXoQ, Wolkendämon. Auch ist skr. seecüka, Wolke,
eigentlich ausgießend. Ich vermag daher nicht die von
anderer Seite au^gfestellte Erklärung (Erek, Slaw. LitL*6esch.
I, 204) als »Radmann, d. i. Sonnengottc, mir anzueignen.
Das zu diesem Ende geschmiedete ^dkahivan (von aksha)^
Achse, widerstrebte überdies dem vorderen $ in ^litmy, welches
gewiss nicht, me in S(r9$, durch Assimilation Entschuldigung
fände« Wohl aber mag das Rad des Ixion auf die Himmels-
aohse, äl£m^, Bezug haben, um welche man sich das Himmels*-
ge¥FöIbe drehend dachte. Und Us^fi^oog^ falls nicht sowohl
»der überaus schnellet, was Hippodameia, Name seiner Ge<*
mahlin, anzeigen könnte, als vielmehr »der Herumlaufendec,
ginge ganz wohl auf den ciroumactus coeli. Sen. Qu« Nat. 7, 2.
Er war ein Sohn des Ldon, oder des Zeus und der Dia.
Diese zwei letzten Namen gehen ja aber beide von skr. dio,
Himmel, aus. Vielleicht selbst hat die Zauberin £/^»f , die
Tochter des Helios und der Perse, von irgendwelchem xtfnogj
drmlm, den Namen. Vgl. auch bei Diod. S. I, 7: äy>* ^g
ai%iag (der leichten Feuematur) tw f^iv ^l$op nal td Jlomdv
Sodann, weil der Mond ja oft, seines Nichterscheinens
halber^ für verreist gelten könnte, fällt hierdurch auf die
Wanderungen der lo ein Lichtstrdf. Den Namen %< an-
langend, mag der Grieche dabei unter Hinblick nach Ufva$
wirklich an eme Wandelnde (permeans coelumP) gedacht
haben. Nur nicht, wie 6. Hermann, der überhaupt in
Deutung mythischer Namen sich nicht allzu glücklich erweist,
wollte, s« Sehellmg, Einl« in die Phil. d. Myth. S« 60, als:
»fortfließendes Gewässert. Die angebliche Wanderung der
lo aber (s. oben eine ähnliche der Antiope) nadi Aegypten
152 A. F.Pott,
und deren Verheiratung mit Osiris und nachmalige Gleich-
stellung mit der Isis dürfte, wie ja auch Java6^, Gränder
von Argos (s. bereits weiter zurück) und Aiyvnto^ als Söhne
des B^io^ und Enkel Poseidons die drei am Meere an-
gesessenen Völker, Griechen, Aegypter und Babylonier in
eine genealogische Verbindung bringen, wo nicht auf einem
ursprünglich ägyptischen Mythus beruhen, dann doch wenigstens
angeknüpft sein an den ägyptischen Namen des Mondes.
Dieser lautet nämlich im Koptischen ioh, aih. Sah. ooh, oou
(freilich mit männlichem Art pi, also wie der Lunus von
Garrae) Ghamp. Gramm. Eg. p. 75. Parthey, Voc. Copt.
p. 385, luna. Humb. Versch. S. 459. Nicht genug damit:
noch weitere Umstände von Gewicht erheben die Vermutung
so gut wie zur Gewissheit. Wie doch, wenn Plut. de L et
Os. c. 10, p. SSi'Ocr^^K für gleichbedeutend mit noXvotpd-aJifjyog
erklärt! Das gäbe ja der Sache nach eine bloße Abart vom
Argus. Ja beim Diod. S. 1, c. 11 liest man: t6v ts ^k§ov
9tai x^ üsXpfipßy (Av tdv fUv "OtftQiVy t^v di '/(Tiy SvofAcltfatj
mit der weiteren Angabe, Osiris würde auf hellenisch
nolvo^aXfkpg zu übersetzen sein, . . . y^v di ^l(S$v ikB^sqft^
VBVQikivfiv slva$ nalaidv^ t&&s(A6v^g %^q nQOfSfiYoqiag and %^q
d'idiov xal naXatäg ysviffsmg. Sah. as, Baschm. es (antiquus,
vetus) klingen wenigstens an, und darf an ßsxxBütl^vog (vgl.
auch nQOftiXfirog) erinnert werden, das allerdings mit ßi*og
in dem von Herod. 2, 2 erzählten Experimente seinen Grund
hat Die Araukanen in Südamerika nennen den Mond hn^en
und alt kuje; auf gleiche Weise die Samojeden ira, ire, d. L
der Alte, und bei den Ostiaken von Lumpokolsk heißt der-
selbe iki, d. i. Greis. Junius Faber, Synglosse S. 87. S. auch
Vater, Proben S. 120, 130. In Gasträns, von Schiefiier
herausg. Samoj. Wörterverz. S. 103, 107 und unter Greis,
Mond finden sich zwar nicht völlig gleiche, aber wenig ab-
weichende Ausdrücke, z. B. ära, ird Greis, ärdl, irtU alt, aber
hinten mit e für Mond är6, iri.
Was nun aber den sinnigen Gebrauch von Auge für
Gestirne anbetrifift: sind wir damit nicht in Verlegenheit.
Nicht des Augensternes zu gedenken, lieben es die Dichter,
Zahlen yoii kosmischer Bedeutuog. 153
i^aXikoq (gleichsam des Antlitzes Blüte, vgl. d^cd6Q6fAfunoi?)
für Sonne und Mond, und ofAftaxa desgleichen von den Augen
des Himmels zu gebrauchen. Odin ist seiner Natur nach
einäugig, weil der Himmel nur Ein Tages-Auge hat, die
Sonne. Simrock S. 294. Hat er aber sein anderes Mimir
Yerpfändet, so deutet das Simrock auf den Widerschein der
Sonne im Wasser. Hierzu das Widerspiel bildet die Er-
zählung vom Bade der Artemis, worin sie der Mann des
Gestades Idxvaimv (von dxv^) und gleichfalls großer Jäger
(s. KZ. VI, 412) erblickt Es handelt sich hierbei um den
Mond, dessen im Meere sich spiegelndes Abbild demjenigen
nicht entgehen kann, welcher bei abendlicher Heimkehr von
der Jagd der See entlang dahinschreitet. Auch der Kreter
2$nQolTiig soll in ein Weib verwandelt sein, weil er auf der
Jagd die Artemis im Bade gesehen. — Man erinnere sich hier-
bei nur etwa der Stelle bei Hör. II, 5, 19: ut pura nocturno
renidet Luna mari. — Und weiter: Junonis volucrem quae
cauda sidera portat Ov. M. XV, 38. Dass man aber die
glänzenden Augen des Argus auf dem Schweife des Pfauen
(pavo aus taäg) wiedererkennen wollte, konnte natärlich nicht
geschehen, bevor mit dem indischen Vogel (fikhin, d. i.
cristatus, in der Bibel die tukkirn) in Griechenland Bekannt-
schaft gemacht war. Hiemach vmrd man sich nicht daräber
wundem, dass dies Prachttier seiner gleichsam dem Himmel
abgeborgten Zierde wegen der Himmelskönigin Hera im
Tempel ta Samos geweiht worden, wohin er vielleicht zuerst
durch Phönicier gelangte. — Auch im Sskr. haben wir
fotäkshi, die Hundertäugige, fär Nacht.
In ägyptischen Hieroglyphen dient das Auge als Deter-
minativum von Sonne und Mond. Brugsch, hierogl. Gramm.
Anhang II, Nr. 38. Nach diesem Allen scheint sich die oben
angegebene etymologische Erklärung des Namens Osiris zu
bewahrheiten. Im Koptischen nämlich ist bei Parthey o$ch,
isch (multus); und iorh bedeutet wenigstens pupilla oculi
sowie eierhe (lux, radius lucis), eirhe (radius). Es giebt
übrigens Plutarch a. a. 0. ausdrücklich tQ$ für oip^alfkog an.
Als weitere Verwante kommen hinzu iorem (intentis oculis
154 A. F. Pott,
adspioare, prospioere, stupescere), eiorm (adspicere, intaeri,
OGulos convertere). Aber auch eierh (adspectus; indere, con-
templari, perpendere, medijari), eiorh (intentis oculis intueri,
contemplari). Dass der Herscher der Welt sein Regenten-
Auge nach allen Seiten wendet, wäre, auch in ethischem
Sinne genommen, verständlich. Im physischen stellte sich
Helios als nuvont^g^ naydeq^ oder noXvoqid-alf^og (überall
hin. seine Strahlen leuchten lassend) mit der Isis, diese als
Mondgöttin, und, etwa der Umacht wegen, älter gedacht, in
einen gewissen Gegensatz. Sonst, warn Isis Her. 11^ 156 der
Demeter gleichstellt, als Gott des Himmels mit der — Erde.
Vgl etwa die ovo (Sw»Sfia%a DMZ. XXX, S. 15. Sahaardrcis,
saJuMrarofmi, sahasränfii, tausendstrahlig, sahasräkara (wört-
lich tausendhändig), sahasragu (buchstäblich tausend Kühe,
dies für Strahlen, besitzend) wird im Sskr. von der Sonne
gesagt; allein auch von Qiva. Mit einer geringeren Zahl muss
sich der Mond, weil lichtschwächer, genügen lassen, als nur
hundertstrahlig geUafnat^ha. Ja der Planet Venus als bloß
skod^tmängu, secbzehnstrahlig, brmgt es nur auf eine noch
kleinere Summe. Mayükha, eigentlich Pflock, ist dann auf
Strahlen übertragen, wie radius, ursprünglich Radspeiche.
Andererseits heißt Indra, svarpaH oder svargapaU, d. i. des
Himmels Herr, desgleichen mit Beinamen salMsratuiifanok,
sahasraideana, sahasrdkshaj sahasradrg. Alles s. y. a. tausend-
äugig. Das letztgenannte Epithet gilt auch vom Vischnu,
womit gleichbedeutend sahasnmetra; überdies indes sahami-
vadana mit tausend Gesichtern und sahasra^rshm, tausend-
köpfig. Die Sonnenscheibe, sein Diskus (Rad), ist tausend-
speichig, sahasrära. Zu sahasräksha bemerkt Wilson überdem,
es bezeichne fig. wachsam, alles bemerkend, aUes beaufsichr
tigend, allmächtig. Dazu femer: Indra having been covered
over with marks resembling the female organ, in consequence
of a curse of Gautama (also nicht etwa ein Gott herma-
phroditisch mit einer Fülle von Zeichen weiblicher Frucht-
barkeit, sondern schimpfweise als geil oder wohl gar feig),
those marks were changed subsequently to eyes (Sterne?)
by the relenting saint«
Zahlen Yon koamisofaer Bedeutung. 155
Im Ya^na LXVH, 6a 62 hdßt es: »Preis dem Mithra,
der viele Triften besitzt Preis der Sonne, die mit schnellen
Pferden begabt ist. Preis den beiden Augen des Ahura-
Mazda.€ Unter diesen versteht Spiegel mit großer Wahr-*
scbeinlicbkeit Sonne und Mond, mit welchen ja der Himmel
die Welt bei Nacht wie am Tag färsorglich und auf Recht
sehend überschaut. Daher im Khordä-AvQsta VU,. 16 Ormazd
sich den viel und ferne Sehendsten nennt. Y. I, 35 geschieht
hinter dem Monde der Sonne als (mithin hier nur Eines.)
Auges des Ahura-Mazda und des Mithra, Herrn der Gegendi.
Erwähnung. Sonst heifit Mithra baSvarecasImum, mit einer
Myriade von Augen versehen« und wird eine gleiche Anzahl
von Yazatas Yt 6, 1 angegeben. S. auch Spiegel Av. nj,
S. 22. 80: wo im Khorda-Avesta Mithra gepriesen wird als
Besitzer weiter Triften [gewiss auch himmlischer mit der.
Herde von Sternen darauf, vgl. im Sskr. go im PI. Gestirne,
buchstäblich Kähe], tausendohrig, haganragaosha, und zehnr
tausend Augen besitzend, groß, mit weiten Watten, stark,
schlaflos, wachsam.€ Mag nun unter Mithra die Sonne zu
verstehen sein, oder ihr Begleiter, der Planet Venus (s. auch
DMZ. XIII, 372): immer zielt das auf den Himmel, der, sor
zusagen. Alles sieht und hört, was vorgeht (und wäre es in
der Verborgenheit der Nacht). Ob Mithra dem Helios, als
Sonne, gleichzustellen, findet Spiegel Av. I, 274 nicht allzu
gewiss. Mit den himmlischen Lichtern stehe er jedenfalls in
Bezug* Er ist ein Wächter (spoQdnd, gleichen Ursprungs mit
uigpectar); mit seinen vielen Augen (das müssten hier also
wphl die Somienstrahlen sein) wirft er den Dämon des
Winters zurück. — In dem Gestirne Haptätrailg glaubt Sp.
den großen Bären rk^ = ä^xrog, wiederzuerkennen. Daher
später die sieben BehCss. Kuhn in Höfers Zeitschr. I; s. auch
nm/ni, was hiernach femer zur Bezeichnung von sieben dient.
Schließen wir hieran noch eine Bemerkung über das
bei Jacobi im Wb. belegte Behaben der Selene an. Mit
dem Endymion, den sie liebt und den sie einschläfert, zeugt
sie fonfzjg Töchter. Kann das, von der Mondgöttin erzählt,
einen anderen Sinn haben, als :;u nächtlicher Schlafenszeit
156 A. F. Pott,
werden am Himmel zugleich mit dem Monde in ungefährer
Zahl ein halbes Hundert von solchen Sternen sichtbar, welche
an Starke des Glanzes (weiblich, weil dies Selene selber) sich
ihm zumeist nähern? ^vdvftiwvy nach Jacobi Wb. S. 303
als Genius des Schlummers »der sanft beschleichendec, musste
von ivdvB$v seinen Namen fuhren, und dies etwa wie
xd^atoq yvta diövns gebraucht sein. Ob man sogar, wie
dort vermutet wird, mit dem Namen des Berges Adt^q
habe an die Selbstvergessenheit während des Schlafes (obrepit
alicui oblivio) anspielen wollen, möchte ich nicht verbürgen.
Wenn wahr, hätte man solchenfalls jenem Herkunft aus Wz.
lad^ untergelegt, wie ich denn allerdings Affim (s. EIS. VI, 2,
S. 163) für die Umacht, weshalb xvavonsnXog, halte, aus
deren Schöße das leuchtende Geschwisterpaar durch den
höchsten der Götter hervorging. Nicht ohne Grund aber
macht der Mythus die Leto sammt ihrer Schwester Asteria
(Sternenhimmel) zu Töchtern des Titanen Kotog und der
Ooiß^. Durch letztere wird gewissermaßen schon das
einstige Entstehen wenigstens von der gleichnamigen Phöbe
als Artemis (Mond) vorbedeutet, und auch der Sinn vom
Vater der Leto, welche nach ihm Ko$iiU, Kotoyive&a heißt, ist
kein zu schweres Rätsel. Kolog ist, nach Weise von nlotov
aus nXöog, Sskr. plava n., das Schwimmen, aus plu mittelst
Gunirung, gebildet. Nämlich aus einer Form wie lat. cavum;
und dies entsprang aus xvoi, in sich fassen oder aufnehmen,
von allerlei Höhlungen, insbesondere auch schwanger werden.
Kotog steUt demnach den »noch leeren unendlichen Räume
vor, welcher der Erfüllung durch geschaffene Dinge, bildlich,
obschon Mann, einer Schwängerung harrt. Und zwar be-
stimmter den »Lufträume zwischen Firmament (Uranos) und
Erdfeste (Ge), welche er seinerseits zu Eltern hat. Vgl. vom
Himmelsgewölbe cavema (wie lucerna) coeli, auch Aetheriae,
aeris cavemcte, und codum selbst, dafern »otlav (vgl. no^x-iXog).
Vix solum complere caum terroriM codi Enn. macht einiger-
maßen den Eindruck, als fügte es sich zum Kotog. Die
Frage ist nur die, ob ihm nicht ein etymologisch berechtigtes
h zukomme. Es steht nämlich beim Festus: Odhum poetae
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 157
dixerunt chaos (Codd. a chao?), ex quo putabant coelum
esse formatum. Wäre nicht inchoare, auch incohare: da
schöbe man das h ohne weiteres auf falsche Anknäpfung an
xäog. Inchoare (mit seltenem ch) könnte mit x^^^^ ver-
mittelt sein, wie unser beginnen, -gann vermittelst mhd.
enginne, schneide auf, spalte, an gine, den Mund aufsperren,
grenzt. Zu beachten bleibt jedoch ein zweites cohum beim
Festus: lorum, quo temo buris cum jugo coUigatur, a cohibendo
dictum. Wie es sich nun mit dieser Herleitung des Wortes
verhalte (man erwartete dann eher ein *c3buin): sollte nicht
indukxre, auf dieses bezogen, s. v. sein können a. anschirren,
anspannen, was ja in der Tat nur die Vorbereitung wäre,
der Anfang wovon?
Wir wenden uns jetzt dem Okeanos und seiner Sippe
zu, worin man vielfach die An&nge aller Dinge zu finden
glaubte. ^ÜKsa-vog ist, woran ich nicht zweifeln möchte,
von ra» wie dsivaog, contr. -vmg, nur, vielleicht des vorauf-
gehenden a wegen, kurzer gebildet. Aehnlich wie £QYvg>og,
''Awiq)og, "Iqtixiog statt ''IqnxX^g. Demgemäß bezeichnet es
einen »Schnellströmerc , in Einklang mit seiner Tochter
''Qxv(f6^ aus (üxü^^oog. Sein Name enthält vom (wohl kaum
unter Ergänzung eines Acc. xvfAara) einen adverbial gefassten
Acc PI. im Neutrum, wie z. B. o^ia xsxXfiyfig n. 2, 222,
und desgleichen dSxa, fraja, vgl. (kdX$c%a. Steckt ja auch in
seinem Beinamen dxala^^eiT^g, sanft fließend, nicht minder
eme solche Adverbialform von dxakog. Vgl. ngr. dyaUa leise.
Hingegen ^Oyijvj tvog^ auch Nom. *I2/ev<($, obschon alter
Name für Okeanos und dem unge&hren Laute nach daran
streifend, muss man etymologisch davon fern halten. An
Sskr. ogha, dugha Flut, Strom, lasst sich der unfügsamen
Lautverhältnisse wegen (denn 6, du verlangten et;, av, und
nicht «, an ihrer Statt) nicht unmittelbar *Siyjv anknüpfen.
Wohl aber, unter Voraussetzung, y darin sei aus x« wie z. B.
in iy^, Sskr. aham, gemildert, an andere Sprößlinge von
vah (vehere), — ohne Wandel von vaznu und h zu gh, wie
in den obigen. Da haben wir nun z. B. Sskr. pdhu (dahin
fahrend, vom Wagen, oxog; jedoch nicht minder: dahin
158 A, F. Pött,
fließend, vom Flusse). Ferner mhd. toäe, bewegtes Wasser
in einem Flosse, nhd. faoge. Sinhoäc große Flut; sintwaege
Sfindflut. SoIRe nicht aber vermittelst Reduplication (Sskr.
Perf. iiMfäha yorn statt vor) damit zusammenhängen "'Q^fyö^,
auf den man die ogygische Ueberschwemmung in Theben,
auch in Attika, zurfickfährte, und dem man Poseidon und
UUifTQa (volutabrum, oder von älij^to) Tztetz. Lycophr.
1200 zu Eltern gab? —
Wird aber Okeanos zu des Uranos und der 6&a, mithin
zu Himmels und d^ Erde Sohn gemacht: so kann man dabei
an die beiderlei Wassermassen, auf der Erde tmd hn
Wolkei^biete, gedacht haben. Allenftills auch an die schein-
bare Umgrenzung der Erde und zweitens des erdumgürtenden
Oceans. SägaräwM (das Meer zum Ende habend) wird bei
den Indem die Erde zubenannt und der Mond gilt für
Meeressohn, sägarasünu, wo nicht als häufig von GewSik
umgeben, dann (und das bedankt mich wahrscheinlicher)
seines scheinbaren Aufsteigens aus dem Ostmeere wegen.
Ffir dessen Anwohner ein natürlicher Anlass. Sägara, Meer,
nämlich ist patronymisch hergeleitet von sagtim, Luflmeer,
und seine Abkunft der des Okeanos vom Uranos vergleich-
bar. Die OcmgA, der heilige Gangesstrom, wird patronymisch
BhdgftraOA zubenannt nach Bhagiratha (mit vortrefflichem
Wagen, dafem nicht das erste Glied genitivisch gedacht),
weil sie durch diesen soll vom Himmel zur Erde und von
da zum Meere geführt sein. Und zwar, so heißt es, um die
Asche seiner Väter, der 60000 [ein stark gesteigertes sexcenti]
Söhne des Sagara (d. h. doch ka\im etwas anderes als Regen-
wolke) zu entsühnen, die beim Suchen des ihnen geraubten,
zum Opfer bestimmten Bosses die Erde durchwühlt (und so
das Gangesbett, wo nicht die Tiefe des Meeres, ausgegraben?)
hatten und dafür von Vischnu in der Gestalt von Eapila
verbrannt waren. Unstreitig durch hapüA vidffuö, d. h. den
rötlichen Blitz. Was es übrigens mit dem Bosse auf sich
hat, welches zu einem, ich weiß nicht, ob ihnen, oder von
ihnen, und dann wem? darzubringenden afvamedha bestimmt
gewesen, vermag ich nicht zu sagen. Dass Vischnu medhorja,
Zahlen Ton kosmischer Bedeutung. 159
aus dem Opfer hervorgegangen, zubenannt wird, bringt uns
kaum weiter, und ofva, wenn dasjenige , unter welcher Be-
seiehnung der Sonnenball als ein den Himmel durchlaufendes
Ross vorgestellt wird, fägte sich vermutlich nicht allzu
schicklich in den Zusammenhang. Jene HerabfiQhrung aber
des Himmelstromes auf die Erde hat einen naturlichen Sinn,
indem das Wasser in stetem Kreislaufe zwischen Erde und
Himmel den Ort wechselt.
Thaies hat, ist bereits von Anderen erinnert, wenn er
das Wasser für den Ursprung der Dinge {Ooeanumfue
patrem rerum. Virg.) eitiart, schon gewissermaßen den Homer
zum Vorgänger. Diesem zufolge nämlich ist »Okeanos Ur-
quell alles dessen^ was ist, auch der Ursprung d^ Götter,
^Bmy five^K D. 14, 901. 302, derjenige, icnsq yivsftig nain
t$<f(U T6vvx%ai.€ So Jacobi. Hieran reihen sich nun in
ungezwungener Wdse noch andere mythische Speculationen.
Das möchte ich also erstens vom IIi/lw^ und der Gitt^ nach
dem behaupten, was in KZ. VHI, 171 fgg. von mir zur Er-
klärung dieser beiden mythischen Persönlichkeiten beigebracht
worden. Ersterer, als Sterblicher, weil alle geschaffenen
Dinge vergänglich und endlich, gilt mir als der chaotische
Urschlamm, niiUg, als die rohe und noch formlose Materie,
welche aber bei Vermählung ihres Vertreters mit &iug, einer
Göttin, das lasse man auch nicht unbeachtet, des Meeres,
mannichfaltige und zweckentsprechende Gestalt gewinnt. Das
beweist ja ihr mit dem der Themis gleichstämmiger Name
als Schöpferin (conditrix) und ordnendes Princip (vgl. ev&Btfw,
MoiJU&ifM^log VL s. w.) zur Genüge. Allein auch der auf
den ersten Blick auffällige Umstand, dass Peleus unter dem
ehrenden Beisein aller Götter (mit Ausnahme der Eris, aber
auch des Apoll und der Artemis CatuU XLII, 300) eine Un-
sterbliche zur Gattin erhalt, findet, meine ich, darin seine
Erklärung, dass man jenes Ereignis in eine Urzeit verlegte,
ehe denn Sonne und Mond am Himmel leuchteten, wo also
noch fiberall tiefe Nacht herschte. Das chaotische Wider-
einander aber, diese Eris, sollte fortan, bei geordnetem Welt-
lauf, verbaimt sein. Begreiflich äbrigens, dass m komischer
160 A. P. Polt,
Nachäffung der heroischen Dichtung auch die Batrachomyo-
machie unter den Fröschen einen Hi^lsvg als Schmutzbartel
l^ennt und einen Schlammlieger BoQßoQoxoit^g, Zu letzterem
halte man aber »den Zeig Boqßo^oxoitfiq des Pamphus
(Phil. Her. ü, 19, p. 695), der unstreitig den alles durch-
dringenden Naturgeist der Stoiker vorstellen soUtec, Lobeck
in Friedländer, Mitteil, aus Lobecks Briefw. S. 183. Sonst
ließe sich auch allenfalls dabei an Zeus denken, insofern der
Himmel in Wolken verhallt Hegt, welche, selbst kotartig aus-
sehend, durch Regen auch den Erdboden zu Schmutz er-
weichen. Nicht unpassend aber glaube ich aus der von
Diod. S. I, 7 vorgetragenen Kosmogonie %^v y^v ni/lmSii xal
navtsXtSg äncd^^ sowie to di tXvtS6sg nai d'olsQÖv ikstä
%^q %äv vyQwv (SvyxQiitsmQ heranzuziehen, die sich von Luft,
Feuer u. dergl. ausgeschieden hätten. Vgl. Tuch, Genes. S. 6,
Ausgabe 1. n^Xoyovot^ für Giganten beim Eallimachus ist
wahrscheinlich nichts als poetische Variante für das sonstige
rnt^vBtq. Anlangend aber den Peliden Achilles: da begreift
sich für ihn, gleichsam als Musterbild menschlicher, halb
irdischer, halb geistig-göttlicher Natur, seine hohe Abkunft,
die aber doch nicht zu verhindern vermag, dass ihn das
Schicksal aller Sterblichen ereile. Ist doch auch er schließ-
lich nur aus einem Erdenklofie, d. h. tt^ JU($, geformt. Uebrigens
entstammte 4>iiSxog, Halbbruder des Peleus, nach Seetieren
so geheißen, dem Aeakus und, kaum ganz zufällig, der
Nereide Psamathe, d. i. also Sand!
Sodann gehören die beiden llQiateig hierher. 1. also
Proteus, Sohn des Poseidon und, mindestens nicht in Wider-
sprach mit dem Wesen seines Vaters als Wassergottes, und
wohl kaum mit bloßem Hinweis auf die Menge von Seetieren,
seinerseits Erzeuger des BoXvyovog und 7\liyaya^^ also selbst
Vieles und fernhin Erzeugender. Apollod. 2, 5, 9. Mir nicht
ganz klar: soll IlQmtofMeu» (auch vieUeicht UQWvo/Udavca
Apollod.), übrigens, gleich Ufmrmj als Tochter des Nereus
und der Doris, ebenfalls mit Meorgöttem in Verbindung
stehend, dem Range nach die erste Walterin sein, oder die
uranfängliche, wo nicht gar, um Uranfängliches (nqm%a)
Zahlen Yon kosmischer Bedeutung. . 161
Sorge tragend, ludtoviSa. Dagegen IlQmtQYovsMx^ weil Tochter
Deukalions und der Pyrrha, erklärt sich als Begründerin (Fem.
zu fWBvq) einer neuen Nachkommenschaft seit der großen
Flut von selbst. Gewiss anders verhält es sich aber mit
UumziY^voq Jacobi S. 775 und 780, Anm. 9. Dieser nämlich
ist nach den orphischen Gesängen Vater der mystischen
Rhea, welche ihrerseits den Eronos (die Zeit oder Schöpfer?)
zum Gemahl hat. Da nun aber aus dieser Rhea »Erde,
Himmel, Meer und Winde hervorgegangen sind und sie der
Götter und Menschen Mutter istc, erschien nichts natürlicher,
als den Protogonos fär das schaffende Urprincip zu halten.
Dem Accente auf der drittletzten Silbe gemäß hätte man
vielleicht bei ihm an einen prmogenitus, n^m%itoxQq, zu
denken, wie Sskr. praOurna-jd, erstgeboren, vom Brahman
im Neutrum, mithin auch als Uranf&nglichem, gebraucht ist,
und nicht an einen ersten Erzeuger nguvotoxog. Abgesehen
jedoch davon, dass die Betonung der Eigennamen mehrfach
von den sonst gleichlautenden Appellativen abweicht, hat
man in ngw^oyopog vielleicht gar nicht ein Abhängigkeits-
Gomp. vor sich, sondern ein besitzliches mit Yovog^ was dem-
nach hieße: die erste Nachkommenschaft besitzend, oder:
hervorbringend. Vgl. äq%ifovoq. Bei Paus. 1, 31, 2, vgl. 4,
1, 5, geschieht eines Altars K6((fig nqntofovfig wie auch
J^fi^qoQ 'An/ittdiiQag Erwähnung. Daran genießt die unter-
irdische Jungfrau, allem Vermuten nach, in dem Betracht
besondere Verehrung, als sie die ersten Blumen und
Früchte des Jahres erzeugt, welche, eben als ersehnte
Erstlinge, primäiae, mit erhöhter Freude begrüßt werden. —
Noch muss aber, als nicht unwahrscheinlich bedeutungsvoU
für unseren Fall der TQnondroQsg, Väter im dritten Gliede,
gedacht werden. Diesen alten Gottheiten (Jacobi S. 874), die
in Athen verehrt wurden, legte man sehr verschiedenen Sinn
unter: Winde; Ehe- und Geburtsgottheiten; inzwischen auch
»erstgeschaffene Wesen der Schöpfungc. An die letzte Aus-
legung möchte ich, schon des Namens wegen, am liebsten
glauben, ohne dass darum brauchten die anderen, namentlich
die zweite, jeglichen Grundes zu entbehren. Es werden aber,
ZeitMlur. Ar VQULetpgyoh. und SpTKchw. Bd. UV. S. \\
lÖi . A, P. Polt.
äoAer Söhnen des Uranos und der 6e, auch ein Ätniükdded
und Protokles, Prötokleon genannt, in welchen letzteren a«ch
eine Andeutung liegen mochte fOr dad UranOnglithe^ Hes^
Th. 108, 116—6 von Göttern und Chaos (gleichsam daö
Klaffende, die Leei^? Vgl. eoeli immanis et taötos hiah»,
s. lat. cokmn früher), inJ nQdltu — nqmt^ata %doi ytpewQ^
Benfey bringt^EZ. Vm, 187 fgg. xäoc mit Sskr. iriMifM in
Verbhidnng, was, aus vi^, auseinandefweidien, si^ auftun,
klaffen, entspringend, das Offene, Freie, d« i. die freie Luft,
Luftraum bezeichnet. Das äp erklärte sich dann etwa ans
dem i im Pris. ji-hirte, etwa wie lat. Mate, dehiscere, mhd.
gine, gähne, gkce neben jafo^, wozu x^9^^ bi t^^ '^^ ein
Vokal, # oder t^ (X^ivoöf
2. jener andere Proteus, dli^g yi^v uüd wenig^end
Untertan Poeeidons. Er, welcher, um dem Weissagen ssd
entgdiai, sieh id die verschiedensten Dinge und destaltefi
irerwandelt. Dahinter liegt meines Bedänkens als Grund-«
gedanke d^ Glaube an Mannichfaltigkeit der Urschöpfimg,
und zwar mittelst des vielbeweglichen Wassers. Daher des
Proteus Tochter 9«o^^9 gewissermaßen den schaifenden gOtt^
liehen tqC^ des Anaxagoras vorstellt, um so mehr als sie
aueh El6o9ia (Gestalten- Göttki) keifit. £iniges hiervon Ist
bereits in KZ. VI, 115 etwas näher von mir begründet.
Jedoch will ich jetzt noch einige ändere Aigomente tSx dtase
Ansicht nachholen. Von der Thetls werden ebenAdls (Jacob!
S. 713) eine Menge Wandlungen in Feuar, Wasser, ein wildes
Tier, Tintenfisch berichtet, bis sie endlich in ihrer orspröng-'
heben Gestalt sich dem Um sie freienden Peleus hiiigab. Auch
von den Wolken sagt Arist. Wolken 347: rtyoyvm liip»^
9i$ ß4viMv%a^, also -^ quaetis. Ai]^rdem befindet sich^
nach Heraklits Alisspruche, alles in einem ewigen Flusse}
und dasselbe, nur mit anderen Worten ausdräckend« sagt
Ov. M. 16, 177: Nihil est toto quod perstet in orbe, cüncta
fluunt. Airf ein Uranfingliches and whr durch den Namen
nqmtiiq angewiesen, und bestätigt sich das durdk tA Ttf^kut^
die ursprCbaglichen Elemente; vgl. Steinth. Gesch. S. 44. Audi
halte ich es hiemach nicht fiär aßzu terwunderlicti, wettti
Zahlen Yon MöäihiBefa^ Bedeutung. i^
zW«t nicbt 0£f*fi selbst, siber 6dth äie mit ilht nüä TheKls
eitren gleich£ft!&mitf!^6n Natndti ffllirefndä Gspiüvti (d. h. Ori^
rtmg schaffend) Yetm6ge ihrefr Eltern Nereos und Dbrii^
(wahrs^heinBdi äurth Fischetet, Schiffahrt, ibet auch durch
befrachtende Naäs, wie desgleichen Polydorat, den Menschen
durch Qab^ beglädtend) ihlS, dem ilkiet^ in itonst et^as
läfctelhäfte Ve^bindünfg geraten.
Dann gewährt Waä «her Mich lüdlM Wüllkomiuene HflHbl
Nach Wiläott heiBt Viscbnftif ^akuBiMän, hurnterfidbig, being
multipiied h!i äs tnanjr $hsLpe^ is the' cr^ation exhlbitä.
DhOmin jedodh bedeutet hiebt eigentRdi Leib, obwohl bei
Wilson ä body; xtttd id üttehrdeutig». Das P.W.B., Wa S^
Sbiä des Comp, unübers^tzt geblieben, faa(t fäi^ dkänkgH (aas
Atf, legen, setzen, \^ozu auch 49<iic> z. Ö. Wöhnstfttte; Auch
Reich (der GOtter), z. t. l/t&r^idhamm, Beinan^ ^ivas; Tihüppe,
Schar ; l^taff , A[acht, Haj^riät. TvanH hrdo prixihoMö äkämoOtä
M tiV. 9, 86, 29 tnrd daselbst!: «i'ster ^rdnung^fteif odei^
Sefaöpfer^i wiedergegeben, währeläd Gra^tstefänÄ im W.B. es:
>€r8ndei^ (dhä) der WohnsfSlIte oder' dies Gesebdei? (dkanHanJt
abefsetet, welclies letaitere iäi »ip^äi ei^xnert. Tiftärä]^
Takihg All tonak, elisUng M all lörtnä, universal, omnf-
prtsetd. Als ib. Yisthati. Im P.W.B. vielfäit^; viellgestaKi^
(vgl. Weftfer, OmiAa 9. d9i) von* v6ih»chiedefteA Göttern; so
mieb pt^mHlpa von dem hlbmlisCbeM Wertolelster ttnd
Sehd()fer TbäsM'ai^. QäUM^ hundeM GesftäUen habend.
AM m. ÜS^tiname ehies Mtmi;, Däfifegi^n als Tetü. auf -4:
BeseichJiung einer kos'üiog6'nlsch«n' Pofena^, eitter koötno^
gonischen EifMnaftbA BrahnVtas i!md GaCtiti des Mtmu
a^igaMMivä. Let^tereö bedeutet: zu dem dtarcb sich selbst
(vgL ßS& 090^03 der Scholasfikei^) Seienden (svayambhü), ta
Bt^mhMftn, hl Beziehtmg^ steh^d, ttl ihm gehflrfg.
Wi« der Okeanois bat äudü Atlas (s. JRacobi S. tW)
däa Endb der ErA^, tttd zwai" <fie l^eris^he Küste, ta
Utinem Reiche. Dort beherscht er Lahd und Ifleei^. Deshalb
mach! dleisetr Gott-Berg eine seiirier G^hieehfstaflsln tum
Sohne des Hesperos (Abendgegend, a^ab. Hslghreb). Eine
mmt dagegen» laast iim efiien Sohn des AeflMr und dier Ge
11»
164 A. P. Polt,
sein, was, in dürre Prosa übersetzt, begreiflicher Weise nichts
anderes sagt, als: er reiche vom Erdboden in den Aether
hinein. Sonst wird er mit seinem Bruder Eronos auf Uranos
zurückgeführt. Womit dann wohl gemeint wird: er sei Tom
Beginn der Dmge her zur Stütze des Himmels bestimmt
gewesen. Der »Trägere jedoch ist wohl erst durch falsche
etymologische Legende, als ob aus rXäva$j hineingekommen.
Dem widerspricht nämlich das An£angs-a, was jedenfalls
nicht das gerade negative in ätlag, nicht duldend, nicht
wagend, sein könnte. Ich habe daher Humboldt l\ S. 466
gefragt, ob nicht *AtXag dem nordafrikanischen Appellativum
ädrar für Berg, etwa zunächst durch Phönicier, entnommen
sei; und findet das vielleicht an Idtagavteg oder Uv^lavrio*
Acad. des Inscr. 1881, p. 28 weiteren Anhalt SvBQ6niig
(Blitz) war seinerseits ein Sohn des Uranos und der Gäa
(begreiflich genug), aber eine StBQonii, Tochter des Atlas
und der Okeanide Pleione (nach der Schiffahrt so geheißen),
welchen beiden die PIejaden entstammen. Allein femer auch
zeugte Atlas mit der auf den Himmel im Namen hinweisen-
den Okeanide Ald-Qa die regnerischen Hyaden sammt Hyas.
Vgl. einerseits: Greberque procellis Africus (Südwestwind)
Virg. Aen. 1, 90 und den Alles leicht erklärenden Umstand,
dass sich oft um hohe Berge Wolken lagern und deren
Häupter Blitze umzücken. Aber ^HlixTQa als des Atlas und
der Pleione Tochter hat, wie mich bedünkt, keinen anderen
Sinn als den der Beleuchtung jenes Berges durch himmlisches
Licht, sei es nun Sonnen-, Mondes- oder Stemenglanz. Auch
eine der Töchter des AUas hieß Ufftsgla, möglicher Weise
indess s. v. a. »bis an die Sterne reichende. Da ^litnwQ die
strahlende Sonne ist, scheint Anknüpfung an Sskr. reg (sich
färben, rot sein) angezeigt, da l (vgl. raksJiä, räkshä und
Wcshäy aus dessen prakritisirender Form unser Lack) kein
Hindernis abgäbe. Bäktar ist: Färber, und d^äkta, rötlich,
dessen hier Annäherung bezeichnendes Präfix vielleicht in
dem if des griechischen Wortes, wennschon kaum in dem
nämlichen Sinne, sich spiegelt.
Auf das Buch von Wormstall, Hesperien, zur Lösung
Zahlen Yon kosmischer Bedeutung. 165
des rel^Ss-geschichtlichen Problems der alten Welt Trier
1878, hier näher einzugehen, ¥mrde uns viel zu weit von
dem Zwecke, den wir uns gesetzt, abfuhren. Es enthält
mancherlei eigentämliche, allein schwerlich durchweg an-
nehmbare mythologische Ansichten, indem alle Gottes-
verehrung einzig von heiligen Bergen als Göttersitzen aus-
gegangen sein soll, und eine ursprünglich einfachere und
reine Religion erst nachmals durch »Sprachkrankheitc in
einen aberwitzigen Mythenwust sich verirrt habe. Okeanos
(und zwar zunächst als Wolkenmeer) ist ihm Paradies-
Wasser, Atlas Paradies-Berg und Hesperien Paradies-
Land. Die ganze Scene aber spielte ihm zi^olge urspränglich
am Südfuße der Alpen (dies der wahre Atlas!). Da sei
das der alten Welt heilige hesperische paradiesische Vier-
stromland (Rhone, Rhein, Tessin-Po, Inn-Donau) belegen.
Was aber die etymologischen Mittelchen anbetrifil, welche
zur Bestätigung seiner Ansichten vom Verfasser angewendet
werden, kranken sie selber, besorge ich, an abenteuerlichen
Abnormitäten. So z. B., um der üblichen Erklärung von den
hoch im Norden wohnenden 'YheQßoQsot oder -6«o# aus Bogtag
(russ. durch Entlehnung harßf, poln. horeasg; aber Sturm:
b^rya, pobi. htrsjsa; ital. iunrasca) zu entgehen, gegen deren
uog (statt iftog, wie Bogeiog, ßoQ^itog) wohl so wenig als in
nv^afSQSHn, §Mn)(fstav etwas einzuwenden, wird aus unserem
lerg ein angebliches har fingirt. Ein alpines tramontana, im
ItaUenischen begreiflich genug für Nordwind, gewinnt, man
nicht auf diesem Wege. Russ. bir^, poln. Idr ist Fichtenwald.
'rnsQß6(itto$ bezeichnet ein mythisches Volk, das man sich
fan damals den Griechen unbekannten Norden, noch »ober-
halb Thrakiens als Sitzes des Boreasc, Jacobi S. 884, wohnend
dachte.
Wichtiger für mich ist ein noch zum Teil dunkler
Mythus, zu welchem wir nun übergehen. Ungefähr gleich-
zeitig behandehi Benfey, Säma- V. S. 21, 83 unter Trita und
Roth DMZ. II, S. 216 fgg. (die Sage von Feridun in Indien
und Iran) diese wichtigen mythischen Persönlichkeiten. Ekata
und Dvita (das wäre gewissermaßen Nr. 1 und 2, und wahr-
166 A- F. P9t^f
9Qhfiiin\iQh ^ Vertreter vpQ Hipmel u^d Erde) schli(efien
Jir. 3 2Vifti, <Jr^issm. Wb. S. 558 (w<* Tfia, mjt r-Vp|f|il,
]iiirahrschei|ilich i^^ AnpajbieruQg an trUya, lat. ^^, der,
obwob) 4pch ujB^b^ejtig da« Wasser vertretend, prisßqwh
durc^ die d^i IVeVgebiete r^jyphen4, erM|rt wj^dt iQ e^n^ff
Brji^aen ein, wodi^c}^ iß^ an 4^ 14^ « WP picbt ))iesBer
den Wolt^oliwuRe) (vi9n A^n, graben, iini Ss)ur. A:^ Hoble;
),4ifbmi;in; ^Is {^ i^ QueUfs, Brpppßp) eriQnert w'- Pi?
lifa^iju: TPP 2Vj^ pj^ep)^ äcly ^m Tai| darip, di^g^ /er ii;
der »GQtlprordpung dejp 4ptif4 j(vie 4pya, ;mß Wf^$ser, qp,
gfitffipe) sicji beftpdeltf Qip Bildung wohl nicbt p^Utel4ßiifl|x
-^ yop Präpp,, wie 4(H^-^^, Abjfömwl^ (Benfey erippprj;
p^^p&^a), ^nderp naph IVeise vop ^«p&i, nicM wfiseejng,
jpit Suffix tßf d^ ci^h icjiapp wieder ya apscWpse, etw^
ipijt pa^opymjacbem Sinnp, i^nd deiner y^elleiphlb A aI$ Vr^bi.
Da ^^er diese yjedjsc^ Gottheit jn Verbindung n,axn/exi4ic)i
vßit den ^yinden, den M^amxt^ V4fa oder Yäyu und luit d^
Qptte des HipuneL^ epspheipti ppd ilir, gljeich diei^ep, Kampfe
p4^ däpipn^en ^Veeen, depi !Pvä^'rq, Vrtra, (let;sterer
Wol](ppd$piop)« i^m Pr^i^sbep zugescjbr^elxep werdpn: l^)eU^
k^pm eip ^wei&I, yrir );i#^en e» hierbei pc^it Vorgängen \ß.
der ^uft, ipsbesppde^ Geynii^f w |tpp- ßo gestände dQPP
f^ucl^ ein ^egriff^^her S^psanipienl^ang mit dep^ ^pdi^cli^n
ßgpäm nap^f (aquarufp nepos), zufiplg^ (Ji^i^ti ß. 16ß eip^
pjspjrpnglicl^ ipit ßßm »y«d, ocpäty »m|K«, d. l da^ a«/5 4ep
Tyaßs^rp (Wolkep) entspränge plitzfeuer, idenjtiscb^n Wß^rr
gottbej^^ wpiphe di^ ariscl^p Mfijestät (lew^ur^ ppd d^
Irdiscbep Fnfphtbi9^)[eit vorstebtc Daljipr aueh pers. nßft,
BXf ^(rff, rc^V^ ^olge Bepj^y, ^Ifi^natpaamen. ^ndlicjb^
!Rr4iitwq Pf, fMs ap^heinen4 fa^riopyiiü^op vpp Trita, isjt
der Name eines übermenschlichen Wesens und Bejpipme
eine;; Qott)ss. Ueb^er eipen !f%^^ ^i^ Heil)[un4igef , upd, als
Tpiel^ ZajrfUbiistra«, eine Thfitif also etwa wie lat Ti^ijr,
Ter^ia^^p ^^e Justi S. IdQ^ Diea^ piitlup wohl phpe
paythisches ^ipyerstfipdpis pii^ Trita, füe Tatjen def T^^fta
J^e^en ^bef (ßfAh S. 220) dfrln, ,4<ü3s ßf flen D^lkö^Qgep
{ygh Geryone;) ipit siebpp Schwäpzep sctdpg pn4 W?
Zahlen von koomischor Bedeatung. 167
JMsUTras Gewalt die Rinder (SonneiutraUeQ?) befreite,
TgL BeUerophcm KZ. IV, 416. Von größter Wichtigkeit hin*
gegen ist zend« TJmitaona, woraus im Parsi FriMn (/"nach
ruasascber Wei^e statt fh) und später IMdin (als ob; Glans
der Welt?)* Denn, wenn gleich mit Trääama sich nicht
deckend und auch wohl, nicht wie Dmta-vmM hinten als
Comp, ein Wort für Wald enthaltend, scheint es nichts*
destpweniger von Trita qntrennbar. Dafär liefert den Be-
weis, d^iss ThrßHama (s. Justi S« 50, wo mehrere Eigen-
namen auf -ofid) den äth^aga, d. h. Wasserbewohner, zum
Vilter hat, was von dem indischen 4p^ nux durch die
Umstellung des Labials verschieden ist Von dieser üblichen
Annahme glaube ich schon um des obigen iifpdm nqpdf nicht
abgehen %u dfirfen. Son^t hat neuerdings Bartholomft,
Arische Forsch. I, S. 9 es mit einer entgegengesetzten Meta*
these versucht, indem er ap den vedischen Beinamen Indras
ätt^äs carshafiibhffast (brennend, Schmerz verursachend den
Menschen) anknupfL Weiter wird von Thraetaona erzahlt,
»d^ er erschlagen habe die verderbliche Schlange mit drei
Rachen, drei Schwänzen, (mit bloßer Doppelung) aechs Augen
und tausend Kräften gemacht von Ahriman zum Verderben
dieiier Welt«, Diese Schlange heifit nun bei Firdusi Zohäk
oder asiki (feM^^ dt i. verderbliche Schlange. Roth S. 118 fg.
Das «ffste — Sskr. ähi, lat anguia^ 1%^, wie ja auch Echidna«
Jhi, Schlange, ist aber auch al3 Schlange am Himmel, der
Dämon Vrtrai (deshalb im Naigh. duroh Wolke od«r Wasser
erklärt). Daher dann Mihan, Schlangentöter, als Beiwort
Indras, insofern er den Wolkendämon vernichtet, und »aü-
f^sk»fia9attvanj, dessen Mannen (die Marut, also Winde) wie
die Schlangen j^ischen«. Wie sehr nun auch der Mythus
vom Zohak der indischen Vorstellung von den indischen
Unholden Mi und J)ß$ß (dazu zend. dähäka, verderblich,
mit h statt 4| desgleichen das turanische Volk JMha, die
Jd0i)j die im Gewitt^ ihre Erklärung finden, sich allmählich
durch v^rachiedme Anwendung entfremdet habe: die ur-
sprüngliche Grundlage bleibt dieselbe. Es fuhrt aber Roth
S. W w^ter aqa, wi^ der indiache Ufom^ (im E;po« «f
168 A. F. Pott,
^akra, d. i. Planet Venus) mit Zusatz Kdvya (Kawisohn) sich
im pers. Kdv-us wiederfinde. Weiter, dass, wie Kdvya Ugana
dem Indra das tausendzaekige (auch fatdgri, hundertkantige)
Geschoss und den Donnerkeil aus Eisen (dtfosa) geliefert
habe, so Kätoe der Eisenschmied sei, mit dessen Hülfe
Feridün den Drachen besiegt. Unverkennbar ähnlich gedacht
ist das Schmieden des Donnerkeils durch Zeus' Diener, die
* Kyklopen Arges, Steropes, ßrontes mit Namen, wodurch sie
als personificu*fe Wetterstrahlen sich zur Genüge verraten.
Im Sanskrit entspringen aus vcyra, Donnerkeil, eine Menge
Compp. So vcyraghosha, wie em Donnerkeil tosend. Vqjra-
jvolatM, -jväiä Blitz. Also zwei von den drei im Geryones
vereinigten Erscheinungen, ülkd, auch ulkushi (als ob hinten
fem. zu usha, leuchtend) und fdmtika, Feuerbrand, würden
bei nicht unmöglichem Wegfall der Palatalis und vermöge
Samprasaran'a (u statt va) aus jvaia, jvdla, Flamme, Glanz
sich erklären, und beanstandete ich kaum, damit den Vülcanus
in Verbindung zu bringen. Etwa 'H<pa$ir%og aus ä<p^ (das f
wie in ^eftos^g dgl.?) mit Adj. Verb, aus aid-w? Was könnte
aber dem Blitze ähnlicher sein, als die sprühenden Funken
beim Schmieden auf dem Amboß? Und nun gar, wenn
äxfjMv = avgavSg Lob. Aj. 814, p. 351, wirklich eigentlich
als Amboß, und nicht etwa im Sinne von dxdfuttog (un-
ermüdlich, von Feuer, oder von der Erde), gemeint wäre?
Ihfrakman, Feueramboß, hieß einer der Kyklopen, wie ein
anderer Akatncts, der Unermüdliche. Jacob! S. 557. 2&6^Q€og
oder xaXxeog odqav6g vom Himmelsgewölbe; nur, so vermute
ich, seiner anscheinenden Festigkeit wegen. Sskr. agman ist
1. Schleuderstein; 2. harter Stein überhaupt, Felsstück; über-
tragen, wie andere Bezeichnungen von Fels, Berg (etwa,
weil die aufgetürmten Wolken auf das Auge einen ähn-
lichen Eindruck machen) auf die Wolke; 3. die himmlische
Schleuder waffe, Donnerkeil; 4. vielleicht Himmel (wie im
Zend). Zd. ofmon oder agma 1. Stein; 2. Himmel, weil
dieser aus Sapphirstein gebaut ist. Vom Indra finden sich
als Beinamen Vcyra-pdAi, -bahu, -musMi, sämmtlich dem
Wortverstande nach »den Donnerkeil in der Hand führende.
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 169
Aach Vajrdyudha, dessen Waffe der Donnerkeil ist, während
InärdyiMui, Indras Waffe, den Regenbogen meint, denselben
als Werkzeug zum Schießen gefasst. Vajrahasta, auch wieder
Donnerhand, wird nicht bloß vom Indra verstanden, sondern
desgleichen von Indra -Agni (ignis), von ^iva, und, auch
erklärlich, von den Marut geheißenen Windgottheiten. Als
Fem. hinten mit -ä ist es Name einer der neun Samidh.
Dies Wort, dessen Glieder dem griech. a^*« und al^fa ent-
sprechen, bedeutet »flammende, und »Holzscheit, Brennholzc,
deren sieben oder neun gezählt werden. Ich weiß nicht, ob
wenigstens deren Siebenzahl von dem siebenstrahligen (sa/ptät"
ds) Feuer, oder von der siebenrossigen (sa/pt&tva) Sonne her-
rührt. Bei den sieben harüas, d. h. Falbe, Gelbe, für Sonnen-
rosse darf man wohl kaum an die sieben Farben denken,
welche wir jetzt im Regenbogen unterscheiden. Wenn ich
recht vermute, kam man auf diese Zahl dadurch, dass man
den Tag sich in sieben Abschnitte zerlegt dachte: Auf- und
Untergang, Morgen, Mittag, Abend, und dazu Vor- und
Nachmittag« ÄQva, Ross, selbst daher ist ein Ausdruck für
die Siebenzahl.
Geboren ist Thraitaona in VarSna, mit dem Zusätze
cathrugaosha, was man »viereckige übersetzt. Ursprünglich
ist dieses, wohl erst später localisirte Land ein mythisches,
und bringt Justi es (S. 270) mit Vdruna und Odqavoq in
Vergleich. Man könnte auch, da vara (dem Etymon nach:
abgeschlossen, eingehegt) ein von Yima angelegter Garten
heißt, an die im Sskr. caturantä »vierendige zubenannte
Erde überhaupt denken. Wie immer, die vier Ohren, denn
das bedeutet gnosha ursprünglich, erinnern lebhaft an die
vier Weltgegenden, und namentlich an den schon weiter
vorhin besprochenen achtohrigen Brahman.
Als Verweltlichung hat man wohl anzusehen, dass
Fridtmy s. Justi S. 289, das Reich unter seine drei Söhne
(etwa in schwacher Erinnerung an Thraitcuma als einen
Dritten in der Weltherrschaft) verteilt. Qdlm (verm. l statt
r) erhalt Qairmay wobei man an Sarmatien gedacht hat,
17p A. F. PoU,
Erßj (mit 3skr. jß, natiis?) den Kern des Reiche (Ern^ oder
Iran) und Tür 4ie Gegend am Oxus (Land 4er Tur^nier).
Fassßp ^r die ^erkl^lft des Tbra§taona von einem
Wasser-Wesen ins Auge: 4a dr&ngt sich uns die Erinnerung
^uf an die versclp^enen, Tqi^mv^ mwg geheißßnen mythische^
Gestalten der Griechf^n. Diese alle gehören ja auch, vermöge
lißrkunfl und als Meerbewohner, dem Wasserreiche an;
un4 kompit 4er Klapg ihres Namens den) des Thraötaona
so xißbß^ 4ass der G^anke an Entlehnung defi TqJ%»v ai|s
4em Persischen }ier e^M^as ^Einschmeichelndes hat. Bei wirk-
lichter Yf^want^chaft je4och mfisste den^ Griecbischisn, wie
mit dem Parsi-N4^l^^ der Fall, eine Herleitung vqp v^^
zum Grunde liegen. Allein tgitog fiigt sich durchaus nichi
rücksichtlich seines kurzen » zu 4er entschiedenen Länge, sei
es ii^ Tgi^t^y mit seiner Sippe, oder auch in dem sicherlich
verwanten I4f*g>*^8^ffi, welche als Göttin des Mittelm^ers
überall das Land umgiebt, oder von ihm umgeben
wifd. Kaum dochf wie aUrttuSf zu rsigw. Allein auch an
Vßrwantscbaft ipit i^fQfAa (vgl* Tsif$a als übernatürliche
Wunderzeichen, iri^aa), lat. temmus von Sskr. tar (trans-
gredi), etw^ als »umgrenzt« zu denken, möchte sich für das
Griechische durch die Form verbieten, dem Sskr. tira, Ge-
stade, und Urtha, Steig zupi Wasser, zum Trotz. Ich weiß
nicht, ob Tqitoyivßia^ oder TQ^rovs^x, Tochter des Aeolus,
Weib des Minyas, o4er von Poseidon Mutter des Minya^
Jacobi S. 871, eine Ausnahme macht. Vielleicht gelangen
wir zu deren Verständnis, sobald wir eine zweite Tochter
des Aeolus und der "EpaQhi/^ d« h. die Tugendhafte (vermut-
lich, um damit milde, dem Menschen Gunst erweisende Winde
zu bezeichnen), hinzunehmen. Diesß nämlich, Kavdx^ (also
doch kaum etwas anderes, als xavaxj, Geräusch, Getön, wie
der Wind es hervorbringt), ist von Poseidon (mithin vom
Erzeuger der Feuchtigkeit) Mutter des ^OnXsvg (in diesem
Zusammenhange wahrscheinlich, wenn die Lesart richtig, von
einer mundartlichen Form statt inlt>p, als Schiffsgerat),
Nereus (Wasser), Epopeus (etwa Seewarte). Femer des
Ulmw^y was sich vermöge Herkunft aus dlmjj ion. statt
Zahlen von kos^iaicber Bedeutung. ^^1
aiMif FruchtlfMidi anf flon A^k^bay deuten lässt, Ms man
nicht uqter Hinblick p^ch IJßafMmvog äl^^ oder aifSTK^e»,
Ujuenfes campi, Ifi^itmia arva, pert^are p(mhm^ aucb hierbei
wje4er .^ 4^ Jtfe^r zif denken vorsieht. ]ßnd}lch ab^r auch
\s^ T|iopSf in dess^Q Naiven wjr e^)en Hinweiß ^^i 4P^ dns|
(Fahfreszeitei^ fanden, der ]B^ana^ Spbi^. Mithin, dft wir iq
Ean^e (^nch Canß^> j^qpd Akt^n^ bei Ovid) den Wind
^kanntep |[wie auch ioi ßskfr. Z)A(]^ ein vpiQ TOqen SQ
gjen^umtßf^ Wii^d beiß^» yf^^^ hlerdureb der Wepbspl d^r
J^bi'eszeit — iQeteoro)ogisqb nicht pnwahr — ^|;s n^ yp|3|
Wpule bedipgt Yoqi;^ellt. ßoJUei^ pi^n njpht Td^yovspa^ ß]s
Fem. ma x^^if yf^^^ §^^9^^^ ^pn ßa^^f, ppd denipsicb
»dreim^Ji^e Erz^eugpr^p«, uqd Tg^vorfv^i^, sßi ßs muji, l^qrzes
# vorau^esetzt, »eine ^tt^n ße^chlechts, r^jff v t^vp^^y o^if
web >ßine aus tritoi)i$chei|[i Geschlecht«, gjpichl^Us derartige
Deutung zulassen? Von genügender Feuchtigt^eit hing^ ja,
^umal ip heii^rep ]Underp, der Fr^ch^en so überaus
wesentlich i^b. — Die Aloaden, V^^^da» oder ^AX^ßXf^f
(d- br jenes yon äi^^ letzteres Yon ^Ai^ßv^) ^n^^gendt
bleibt mir so ziemlich na^h Al)(en^, wfi^ der Mythus von
ihnen weiß, kauija ein Bedenkep, sie nicb)^ tu/c gßwa}tigß
WoDcendjämopen zu haltep. ^If^gtids^ (die pH Jfi^pht wal-
tende)! ai^ch wieder (nicht bedeutungslos) Tocbter des T^^QPßi
spw^e ihre Tochter JJayMQv^^g (Allbßrspber|ii) sollen nach
pieiner Meinung das fillerwärts )fdn über 4i9 ißrdiläcbe ^ph
erweckende Gebiet der Winde yor. |fun sind aber Qtpß
uqd Epbijaltes, Söhne dßs Poseidon ppd de|r Iphimedd^i vqa
deren Gen»^ Aloeus (hier alaD nipht upwahrscbßinlich ^ben
so gut bloße Abaft yom ße^^eus rßx, ^ls aeguofß ca^fy9f)
^ ihreq patronvmischep Ni^men fjahren, YfHS spU's ß\)er ip^t
ilwm ub^rin^ßigep yTachsttnp^ derart, d^iss ^ie |m qeuntßn
Jabrp (die neun al3 3 >< 3 l^eint; gi^nz willkprljohe ?^1) neiin
Ellep in der ßreijte^ neun El.^fter in der Qröße ma^, \m^
4ie ynsterblicben auf depi Olympps bedrohet^n? »Ossa
WoUt^n sie auf den Qlympos, auf den Ossa den Pßlion js^et^ep
und s^ dep ^inupel stürmen, das Meer i^er die Erde
ergießen und ^as Me^sr ^um fe^and machen. Ephialt^
172 A. P. Pott,
warb um die Hera, Otos um die Artemis.€ Fährt uns eine
derartige Schilderung nicht lebhaft das Bild von nach auf-
wärts und in horizontaler Richtung langgestreckten Riesen
vor Augen, welche in dreifacher Schicht Wolkenberge über-
einander himmelan auftürmen? Das sieht dann freilich wie
eine Bedrohung der Olympier in ihrem Göttersitze aus. Und
weiter: indem sie alle Wassermassen gleichsam dem Meere
entziehen und damit wieder das Land überschwemmen, wird
hierdurch eine gewaltsame Umkehrung aller naturlichen Ver-
hältnisse vollzogen. ^q>$aX%ii^, dem Buchstaben nach >Auf-
springerc, sonst drückender Alp oder Nachtmahr aber kann
füglich BUd der Wucht sein, womit regenschwangere Wolken
den Himmel belasten, und auch, wenn man will, als Werbung
um Hera, die Beherscherin des Luftraumes, ausgelegt werden.
SHog^ amitm, wo nicht vielmehr, vgl. dimrog^ gehenkelt,
erinnert an die beiden Homer des Mondes im ersten und
letzten Viertel. Jedoch seine Beziehung zur Artemis hat noch
einen anderen glaubhafteren Grund, 'üko^, die Ohreule, ver-
lässt zur Nachtzeit, also wo der Mond leuchtet, ihre Schlupf-
winkel, und kann überdem, auch das Dunkel liebend, nicht
unschicklich mit dem nubüum codum (vgl. bei Horaz: Aira
nubes candidU lunam) in Verbindung gebracht werden. Für
Griechenland bleiben wir am sichersten bei der gleich dem
Monde gehörnten »Homeulec stehen. Sonst wäre unter Hin-
blick nach Indien verführerisch, den Langohr und, was mit
dem Ephialtes stimmte, Springer Lampe, überdem ja ein der
Artemis genehmes Jagdtier, ins Interesse zu ziehen. Der
Inder nämlich glaubt in den Mondflecken einen Hasen fofo,
angeblich s. v. a. Springer, zu erblicken und nennt deshalb den
Mond (ofin, gagdnka (mit einem Hasen gezeichnet, gestempelt).
Zufolge einer Angabe fielen die beiden Brüder bald nach Be-
siegung der Thrakier (Nordwinde? @Qaanlag)y von welchen
Iphimedeia und deren Tochter Pankratis nach der Insel
Strongyle bei Sicilien, Sitze des Windgottes Aeolus, entführt
worden, im Kampfe mit einander. Nach einer anderen tötete
sie Apollon, d. h. nach dem stürmischen Unwetter kehrt die
Sonne zurück. Oder: »Artemis auf Naxos verwandelte sich
Zahlen von kosmischer Bedeutung. 173
in eine Hirschkuh und sprang zwischen jenen Brüdern hin-
durch. Beide warfen ihre Speere (Blitze), fehlten das Tier
und trafen sich gegenseitig.c Wiederum s. v. a.: auch zur
Nachtzeit geht der Mond, nachdem durch ihn die Wolken
zerteilt, schließlich wieder unversehrt und siegreich aus dem
Gewitter-Kampfe hervor. Zuletzt, die reizende Stiefmutter
der beiden Aloeiden TSsQißota wüsste ich nur als »in der
Luft Rmder (Lichtstrahlen? oder auch: Wolken?) weidende
zu deuten, wennschon mir der natürliche Sinn des durch
Otos und Ephialtes in einem ehernen Kerker dreizehn Monate
unter Verschluss gehaltenen Ares entgeht, dessen Aufenthalt
jene dem Hermes verrät. Etwa Ares, in feindlicher Absicht
gegen die Himmelsförsten Zeus und Hera, dessen Eltern?
Da kennt nun außerdem der Mythus eine TQ^to^ivsta^
TQ$%oYsv^g und, vermutlich als hypokoristische Abkürzung,
T(p»T», die Tritoentsprossene, als Beiname der Kriegsgöttin
Athene. Das angebliche jq^tco, welches Haupt bedeuten soll,
scheint bloße Erfindung, um damit die Entstehung der Göttin
aus Jupiters Haupte zu rechtfertigen. Ihre obigen Beinamen
aber weisen, wie Preller Gr. Myth. S. 147 mit vollem Recht
erinnert, auf einen alten Urmythus zurück, der erst später
auf verschiedene Oertlichkeiten bezogen sei, Flüsse oder Seeen,
bald in Böotien, bald in Thessalien, bald in Libyen, für
welches sich zuletzt die meisten Stimmen entschieden. Be-
achtenswert schemt mir aber überdies die Dreiheit (Schol.
ApoUon. 1, 109) TQitwvsg i^fetg, Bomviag Gaaacdiag A$ßviig,
h di %ß Motot Atßvipf i%i%^ ^ Id&i/va. Weiter lesen wir
bei PreUer: »Die auf den Ursprung der Athene bezüglichen
Mythen und überhaupt die ältesten Bilder und Symbole ihres
Dienstes sind reich an eigentümlichen kosmogonischen Ideen,
welche ein hohes Altertum verraten und sich am nächsten
an die Vorstellungen anschließen, welche die Welt aus dem
Okeanos und aus Nacht und Dunkel entspringen lassen
(S. 31). Athene selbst erscheint in ihnen deutlich als eine
starke Macht des Himmels (J$dg, also coeli, ^vrati/f und
*OßQ$§*ondtQii), welche sowohl über Blitz und Donner (ndXiag,
nicht = näxiiii, sondern, wie mbrans fidmina Jupiter) als
176 Fr. Philippi,
liehe Gottesname im ist den Hebräern wenigstens mit den
Philistern, wahrscheinlich mit den Kanaanaern überhaupt
gemeinsam und gerade im Gegensatze zu dem Jau dieser
anderen Völker erfolgte die specifisch hebräische Umprägung
zu mm = der Seiende. Der kanaanäische Gottesname Jak,
Jahu aber hat gleich den meisten übrigen kanaanäischen
Gottesnamen seine Wurzeln im babylonischen Pantheon und
entspricht dem Joru zubenannten Gott Hu, dem obersten Gott
des ältesten babylonischen Göttersystems.€ Dieser Gottesname
ist aber eine Schöpfung des nichtsemitischen Volkes
Babyloniens. Die Eanaanäer haben ihn allerdings nicht diesem
direkt entlehnt, sondern durch Vermittlung der semitischen
Babylonier überkommen. Die ursprüngliche accad.-sumer.
Form war t. Diese bildeten die semitischen Babylonier um
in Jom; in dieser Gestalt kam der Name zu den Kanaanaern,
von denen er dann weiter zu Jahu umgeformt ward etc.
»Umgekehrt wird ein Schuh darausc heißt es von dieser
Umkehrung jedenfalls nicht. Doch hören wir zunächst seine
Hauptargumente gegen die bisherige Erklärung des Gottes-
namens: 1) Nur w m ist als populärer Gottesname nach-
weisbar. Denn es giebt keinen einzigen Eigennamen, der
mit dem vier-buchstabigen mm zusammengesetzt ist (p. 159).
2) m (m) •» (1, ja) wie in '»?«ii?, ««im sind als Abkürzungen von
mm unbegreiflich. 3) Keine semitische Gottheit ist jemals
nach einem so abstracten Begriffe wie der Seiende ursprüng-
lich benannt worden; ein Name von solcher Bedeutung trägt
von vornherein das Gepräge späterer aus Reflexion hervor-
gegangener Umdeutung (p. 161). 4) Jahu war allgemein
kanaanäischer Gottesname. Daraus ergiebt sich eine neue
Instanz gegen die Ableitung von mn, rm =» sein, da diese
Wurzel rein aramäisch-hebräisch, aber nicht kanaanäisch ist,
es wird dadurch Babylonien, das Heimatland des ganzen
oder fast ganzen übrigen kanaanäischen Pantheons, als
Heimat auch des Gottesnamens Jahu ohne weiteres nahe
gelegt p. 162, 163.
Alle diese Einwände sind leicht widerlegbar. Ich bemerke
gegen 1): Wenn alle Propheten und sonstigen Gottesmänner
Ist tDVP accadisch -sumerischen Ursprungs? 177
des Alten Testaments zum Volke stets von mrri reden, wenn
Manner und Frauen aus dem Volke Israel stets mm im Munde
führen, wenn in der gewöhnlichen Schwurformel mm "^n sich
der volle Gottesname findet, conf. auch mm '^yitt »m, wenn die
kürzere Form m außer in den zusammengesetzten Eigennamen
nur in poetischer und gehobener Rede vorkommt, im Ganzen
Oberhaupt nur 44mal, davon 27mal in der Formel m ^i^ oder
ähnlichen (nämlich 2mal ^bm resp. m "fAm^ Imal m Urm), wenn
die Moabiter in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts v. Chr.
den Gott Israels als mm kennen (Mesainschrift Z 18), sind das
nicht Beweise genug, dass mm in Israel der populäre Gottes-
name war ? Will man behaupten, dass die Schriftsteller überall
absichtlich die längere Form der kürzeren substituirt hätten?
Es bliebe doch noch die Mesainschrift! Höchstens hätte also
das spätere Kunstproduct die ursprünglichen Formen schon
sehr früh ganz verdrängt! Jedenfalls lässt sich aber aus
dem alleinigen Vorkommen der kürzeren Formen in den
zusammengesetzten Eigennamen durchaus noch nicht auf
ihre Ursprünglichkeit schließen. Gerade von Del. Standpunkt
aus hätte man umgekehrt in diesen Namen die vollere Form
erwartet. Waren die kürzeren Formen nicht auf lautlichem
Wege aus den längeren entstanden, war mm ein aus Reflexion
in sibsichtlichstem Gegensatz zu dem kanaanäischen 4m hervor-
g^angenes Kunstproduct, man sollte glauben, die längere
Form hätte in den specifisch theokratischen Eigennamen im
Gegensatz zu den entsprechenden heidnisch -kanaanäischen
Namen die kürzeren Formen verdrängen müssen! Dagegen
können Abkürzungen des vollen Namens in längeren zu-
sammengesetzten Eigennamen gar nicht befremden. Erfahren
doch in allen Sprachen Nom. propr. und insbesondere längere
selbst sonst nicht nachweisbare Verstümmelungen von Formen!
Ueber Verstümmelungen in hebr. Nom. propr. vgl. Baudissin
Stud. z. sem. Relg. I, p. 324; Mitler: De prouerb. quae
dicuntur Aguri etc. p. 40, 41; Bottich. Lehrg. § 264. Olsh.
I^ehrb. der hebr. Spr. p. 613 conf. z. B. ^y^ statt ityn?«},
bM statt bfionj u. V. a. Wenn mm vielleicht mehr als andere
Wörter in Nom. propr. Verkürzung erfahren hat, so liegt das
ZsitBchr. fOr Völkerpsych. und Spnchw. Bd. XTV. a. 12
178 Fr. Phiiippi,
einmal in dem haufigern Gebraueb gerade d^ mit mm za-
sammengesetzten Eigennamen und sodann m der schwachen
Natur des Wortes, das besonders txat Verkärzong neigte.
Gegen 2): Zunächst verstehe ich nicht, wie Delitzsch unter
den kürzten Formen des Gottesnamens auch eine Form ja
aufführen kann. Nach ihm scheint Mrn aus Mm entstanden
zu sein. Womit will er aber diesen auf dem Boden hebrftisdier
Sprache ganz u^oelegbaren Uebergang von ja in ji beweisen?
Die assyrische Namensform Ja *ü a (Schrad^ transcribirt
Ja-huna, Del. pw 285: «Ahu-a) hat doch ffir die hebräische
Aussprache dieses Namens ebensowenig Beweiskraft wie etwa
das ass3n:ische fiWr-^-Za^ (Dei. /Sir-'«h4a-a-a) oder Ui^sidimmu
für die hebräische Aussprache von Weinr» oder DVm*r». Höch-
stens können wir aus der assyrischen Namensform sehlieAen,
dass zur Zeit Sabnanassars il. neben mrrj in Israel noch die
ufspr&iglichere Namensform wutiw; in Gebrauch war*). Wie
die Assyrer m^ durch Ja-i$-da-€Hi (Jumäa) wiedergeben,
oder ein nmim durch Ja-^jM^-diy mKim durch Ja-w^ha^^
so machten sie wohl aus v»^rx^ zunächst Ja^ura und daraus
dann Jaua. Jedenfalls darf Miim nicht von mh getrennt
werden und beide sind ganz zweifellos aus fiwvi'«, antSn^^ ent-
standen und zwar nach ekier auch sonst im Hebräischen
unter denselben Bedingungen eintretenden Regel voealischer
Dissimilation, worauf schon Geiger: Ursprung und Ent-
wicklung der menschlichen Vernunft und Sprach p. 4SI auf-
merksam gemacht hat. Als Beispiele dieser noch immer
nicht genügend gewürdigten Dissimilation führe ich an: fia^
statt i'wn, fisrh statt ^ixsin, oiV»? statt o'iViy etc. und mit
Dissimilation in aweiter Sylbe vfsff^ statt t^!i, ^sfir statt ^Mh
conf. arab. ja'JcHl, aram. jShuly daher hebr. Inf. ^i» eonf.
noch qb»;, aber tfoir> u. a. Sodann ist mir unb^reifKcb,
warum die Verkürzung m, m und besonders I aus mm eine
auf semitischen Gebiete unerhörte sprachliche Gewaltsamkeit
sein soll? Natürlich wird niemand diese Abkürzungen direct
aus mm herleiten wollen. Aus mm ward zunächst ^m resp.
*) M^im war woM mehr der Tolkstämlfcbe Name.
Ist rnm accadisch-sameriMhen Ursprungs? 179
irr; -<- und zwar zuerst in zusammengesetzten Nom. propr.
je nach dem der Gottesname am Ende oder Anfang des
Gompositiims stand — eine Abkänning, deren Möglichkeit
Dd. sdbst aagielxt. Aus ^m ward dann, zunächst wieder
am Ende zusammengesetzter Namen, m. Ist Abfall eines
unbetonten auslautenden ü im Semitischen, specieH hebräisch
etwas so Unertiörtes? Ist nicht im Hebräischen das unloelonte
frei ausbuitende Nomin. ü schon äberall abgefallen und kn
Syrisdien gar das ü in %'^p? Vielleicht sah die spätere
Sprache in dem ^ von ^m ein sdches Nmnm. ü und streifte
es daher ab. Aber auch sonst wäre d^ Abfall eines un-
betonten auslautenden ü in einem tängeten Nora, propr. nicht
auffallend. Aus m ward eventuell w wie aus »-7- eventuell
cm n-^; aus i aber (sils Suffix der ersten Person oder so-
genanntes Jod paragog.!) -f i^ (^ B. tr; -f '^vAroj conf. rn^
(•w); nj»w {v») nj*y« i*^^)) ein tjd, ij, i, wofär ich mich
nicht auf den Abfall des unbetonten Acc. n— , sondern auf
analoge Fälle wie ai ^aVeo) aus aif'ay aij berufen wül*).
SckeinI doch Delitzsch seitist eine Verkärzong von »;, n^, I
ans ^ auf hebräischen Boden zuzugestehen, nur dass er
rr nicht weiter aus rrrrt verkivzt sein lässt, obwohl er selbst
die Möglichkeit eines sokben Ursprungs anerkennt. Oder ist
er der Meinung, dass die Hebräer nebeneinander die Formen
i und joH den Assyrern eoitlehnt hätten, aios i«u daan jahü
bdddien, indem ihnen aber ia diesem jahAja als der wesent-
üchste Bestandteil des GottesOiajOfiens lebendig blieb, daneben
auch noch jd und jäh sagten? So unwahrschdnUdi diese
Ann^Q^e ist, 90 unbedenklich jedenfalls unsere Erklärung
der kärzeren Formen des Gottesnamens, und keinenfalis ist
diese Art der Abkürzung ebenso unmöglich »wie dass i'iai
und ia; jemals zu n oder a verfifichtigt erschienen«.
Gegen 3): Auch meines Eraohtens ist mrr nicht Hiphil-
sond^nKalforai. ^rachlich ist diese Annahme ganz unanfecht-
bar s. DeL p. 160. 161, auch Gesen. Handwörterbuch 8. Aufl.
•) So wohl auch i^M aus hjaM = Geschenke Jähs, '»jn = Feste
Jähs VL &hnl.
12*
180 Fr- Phüippi,
p. 332. Aber das hebräische Volksbewusstsein verband jeden-
falls mit dem Namen nicht den abstracten Begriff der meta-
physischen, sondern den concreten der moralischen Un-
Veränderlichkeit. »Ich bin der ich bin«, bezeichnete den
Gott Israels als den sich stets gleich bleibenden, unveränder-
lichen in seinem Verhalten Israel gegenüber, üeberall wo
offenbar auf die etymologische Bedeutung von mm angespielt
wird, steht dieser Begriff ohne Frage im Vordergrunde conf.
Deut. 7, 9; Mal 3, 6; Jes. 26, 4; Hos. 12, 6. In der Tat
eine ebenso zutreffende als erklärliche Bezeichnung Gottes
als Bundesgottes.
Gegen 4): Dass die hamathensischen, phönicischen, ammo-
nitischen Eigennamen, in denen sich vielleicht unser Gottes-
name findet, ihn noch nicht als allgemein kanaanäischen
Gott erweisen, giebt Delitzsch selbst zu (p. 159, 163)*). Aus
den keilinschrifllichen philistäischen Königsnamen Mitiati,
Padi, Sidkä p. 163 lässt sich aber gar nichts beweisen, da
es höchst problematisch ist, ob in ihnen unser Gottesname
steckt. Jedenfalls hat Sidkä »zweifellos« gar nichts mit
m|p^9 zu tun, und es mit dem dazu ganz unsicheren (s. Olshaus.
p. 613) nn^s zu vergleichen (so Schrader) ist erst recht ver-
fehlt. Man hätte nach Analogie dieser Form doch Sidikkä
oder Sadakkä erwartet!
Schwerer wiegende Bedenken gegen die Ableitung des
mm von mn als diese Delitzschs, die ich glaube durch das
Vorstehende vollkommen gehoben zu haben, werden sich
kaum vorbringen lassen. Man wird kaum noch einwenden
wollen: da mn im Sinne von »sein« auf hebräischem Boden
zu mn geworden sei, und die wenigen Formen von mn
Aramaismen seien, könne mm als specifisch hebräischer
Gottesname in keinem Zusammenhang mit jener ursprüng-
lichen Form des Seins stehen. Die Möglichkeit, dass in einem
altüberlieferten Namen sich eine ursprünglichere Form erhalten
habe, wird selbst der enragirteste Junggrammatiker nicht
leugnen wollen, vgl. außerdem mn und mn in demselben
*) Vgl. auch Baudissin a. a. 0. p. 2201
Ist tr\rp accadisch- sumerischen Ursprungs? 181
Sinn und mn als Nom, propr, gegenüber n^n, sowie trm
2. Sam. 23, 13*) in analoger Bedeutung mit mn (Lager, Dorf).
Dazu kommt, dass in mn aus rm jedenfalls kein spontaner
Lautwandel — denn i als zweiter Radikal bleibt der Regel
nach im Hebräischen, conf. rria, yü mi, nin rrup u. s. w. —
sondern ein combinatorischer vorliegt, sehr wohl also eine
Form von mn sich erhalten konnte, wo eben jene Laut-
combination, durch die i zu *« ward, nicht eintrat. Die ur-
sprungliche Form der Wurzeln rm (mn) wie mn durfte
nämlich gewesen sein 'm und nn: daher die Formen mn,
mn**). ha Perf. des Grundstammes haben wohl schon in
der Grundsprache neben einander existirt act. Formen wie
mn und mn und neutr. wie inn und ^in. Aus diesen sind
durch assimilatorischen Einfluss des i sowie dissimilatorischen
der beiden i — denn auch das zweite hielt sich zunächst
in der Grundsprache zwischen den Vocalen i und a — neben
einander hervorgegangen die beiden Formen jin resp. y\n und
w resp. i-^n. Die Formen ^m resp, ^in dürften die activen
Perf. zu Verbis''4 umgestempelt haben, conf. arab. haunja und
hawa(j), haurija und hawa(j). An ^in resp. das act Perf. -Ji
dieser Wurzel schließen sich die aram. Bildungen «jnn (syr.)
resp. «j-jn (targ.), an ^-^n aram. Bildungen wie v^rm resp.
«m^n (syr.) und «nw (bibl. aram. und targ.)***), sowie das
aeth. hajSiva. Aus r.i? ward aber später auf arab. wie
aram.-hebr. Boden durch assimilatorischen Einfluss des i ein
ym resp. contrahirt ?n, so arab. ^-^n resp. ?n, syr. «jn statt
•^n activ geworden, bibl. aram. wm, syr. und bibl. aram.
auch als Verb, 'is behandelt, conf. syr. »m, «rra, -^nK, bibl.
aram. «na Dan. 5, 19, syr. und targ. als Nomen ^ «jn conf.
noch targ. «mn Dorf, hebr. mn, *»n. Denselben Process werden
wir nun aber auch für das parallele ^y^ ansetzen können
*) Zu S Sam. 12, 11 s. Wellhausen : der Text der B. B. Samuelis p.S13.
^) lieber die BedeutungBflberg&nge in beiden Wurzeln s. Gesen.
HandwOrterb. 8. Auflage s. v., sowie Fleischer und Del. Job. 2. Auflage,
p. 94, 95.
***) Gonf. auch arab. 'ji'jn, doch mehr aram. Entlehnung.
182 Fr. PhUippi,
und auf diesem Wege die Form des rm entstanden sein
lassen. Im Arabischen erhielt sich als Verbum wie Nomen
in der Bedeutung »iebenc nur die Wur zelform *nn, sonst *nn —
beachte aber X von *^ in der Bedeutung von nn und neben
einander lua^jun und J^wd'un (Zelt) — von einem "«^ findet
sich keine Spur sondern nur *«ih; im Aramäischen verdrängte
*«vi als Verbum alle andere Formen, im Nomen haben sich
aber neben «m noch Spuren der Wurzelformen *nn und rti
erhalten, von r\n begegnen wir auch hier nur der Form "nn;
im Hebräischen endlich siegten als Verbum die Formen rm
und rm über die anderen, während sich im Nomen noch
Spuren der Formen rm imd im aufweisen ließen und selbst
im Verbum in der ursprünglichen Bedeutung »fallenc eine
Spur von "«in s. Hiob 37, 6*) sich zeigL Nach dem allen
sind wir aber durchaus zu der Annahme berechtigt, dass im
Hebräischen zu einer und da^selben Zeit neben rm im Sinne
des Seins noch und vielleicht noch gebräuchlicher ^n existirte,
und dass zu dieser Zeit von *«in sich mm als Gottesname
ausbildete. Wenn dann mn allmählich "nn als Verbum ver-
drängte, in dem erstarrten Nomen propr. sich aber ein Rest
des früheren "^n erhielt, so ist das doch wohl sehr erklärlich
und jedenfalls erklärlicher als die Erhaltung eines appellat.
Nomens mr\ neben nyn.
Beiläufig sei noch bemerkt, dass die Ableitung von kvi
(rrn) aus M^n die Delitzsch allerdings nur zweifelnd giebt
p. 165, 166, ebenso verfehlt ist wie die früher beliebte
umgekehrte von K^n aus Ktn (s. z. B. Nolde: Concordantiae
particuL ebraeochald. p. 226). Zunächst sind die Analogien,
die Delitzsch zur Unterstützung seiner Ableitung aus dem
Aethiopischen und Assyrischen beibringt, möglichst unglück-
lich gewählt. Im Aethiopischen und Assyrischen hat sich
ja nicht aus den Pron. separat. 3. Pers., sondern aus der
Präposition n mit einem Suffix ein wirkliches Verbum ent-
*) Wie übrigens die hebräischen Formen von min im Sinne des
Seins aram. Einfluss ihr Dasein verdanken, so vielleicht diese Form
arabischem.
Ist nim aocadisch-sumerisched Ursprungs? 183
wickelt. In den Verbindungen, aus denen z. B. ein aeth.
bo oder assyr. basA als Verbum hervorging, war die Präpo-
sition durchaus nicht an sich fOr den Sinn entbehrlich und
für die hier vorliegende Begriffsentwicklung ganz wesentlich.
Von Sätzen als wie »bei ihm (bd) bei mir (^4)a^ viel Besitze,
»dabei (darin) ist das und das« erhielten bo, b^ die verbale
Bedeutung von »er hat«, »ich habe« und werden daher auch
schon gewöhnlich mit dem Acc. des Objects verbunden, b6
aber auch die verbale eines »es ist vorhanden«, »es giebt«.
Aehnlich ist die Entwicklung des assyr. basu aufzufassen.
Wie ein Pron. separat, irgend einer Person zu einer solchen
oder ähnlichen Bedeutung hätte gelangen können, ist mir
unklar. Sodann scheint mir Delitzsch keinen klaren Begriff
von dem Wesen eines sogenannten Verbum substantivum
zu haben. Unter Verbum substantivum versteht man doch
bekanntlich ein Verbum, das an sich durchaus ganz inhaltlos
ist, daher man es auch Verbum abstractum nennt, durchaus
keine attributive Bestimmimg des Subjects enthält, vom Sub-
ject durchaus nichts prädicirt, sondern nur als Aussage dient,
dass ein anderes Wort dem Subject als Prädicat angehöre,
als Bindeglied (copula) zwischen Subject und Prädicat. Dar-
nach sind aber die eben be^rochenen aethiop. bo, beja etc.
sowie das assyr. basu in ihrer verbalen Verwendung durchaus
keine Verba substantiva, zu denen sie Delitzsch degradirt,
sondern volle concrete Verba. Fürs Aethiopische verweise
ich auf die Beispiele bei Dillmann: Gramm, der aeth.
Sprache p. 320. 343. 386. 401 und Lexicon ling. aeth. p. 481;
fürs Assyrische auf die Beispiele in ZDMG. 1872, p. 304 und
Norris: Assyr. Diction. I, p. 129. In einem assyr. bam
Wtibua ina BtAel «> mein Hen war in Babel, ist basu ebenso-
wenig C!opula als unser »war« in »Es war einmal ein König«
oder das »war« = befand sich in der entsprechenden
deutschen Uebersetzung dieses Beispiels. Allerdings kann
der Semite in Beispielen wie dem obenangefuhrten an die
Stelle eines Verbalsatzes einen Nominalsatz setzen, man kann
also z. B. hebräisch sagen bnaa *«&>, dann ist baaa virtuelles
Prädicat = ein in Babel befindliches, steht gleichsam fOr
J
i
184 , Fr. Philippi,
'^2 rm und die Gopula fehlt wie der Regel nach in den
semitischen Nominalsatzen. Sobald man aber rrn hinzusetzt,
ist aus dem Nominalsatz ein Verbalsatz geworden und rr>n
ebensowenig verbale Gopula wie unser »wäre in dem be-
trefifenden Beispiele. Ebenso ist aber das assyrische basu
in jenem Beispiel aufzufassen wie in analogen, wo wir es
Öfter durch »habenc als volles Verbum wiedergeben können,
conf. auch usabsu = er bringt zu Stande. Jedenfalls hat
sich zunächst aus bctöu ebenso ein volles concretes
Verbum entwickelt, wie aus aethiop. bd. Ob dieses dann je
zu einer bloßen Gopula herabgesunken ist, ist mir nach den
bisher vorliegenden Beispielen höchst fraglich. Nun geben
wir gerne die Möglichkeit zu, dass aus mn in seiner copula-
tiven Verwendung (conf. z. B. o^hiwi «in mm Deut. 4, 35. 39)*)
eine verbale Gopula «in, mn hervorgehen konnte. Aber «in
(mn) kommt ja noch oft, ja hebräisch noch öfter als in der
copulativen, in der Bedeutung eines vollen Verbums, in der
von geschehen, eintreten, werden, vorhanden sein, sich
befinden vor. Aus einem «^n können sich, wie wir schon
bemerkten, diese Bedeutungen schlechterdings nicht direct
entwickelt haben. Sollen wir also etwa annehmen, dass aus
«^n sich zunächst eine verbale Gopula, sodann aber aus
*) Das Pronomen der dritten Person dient in allen solchen Fällen
dazu, auf das Prädicat hinzudeuten, es hervorzuheben. Sieben Kühe —
sie (mn) sieben Jahre; Deut. 32, 39 «in «^a« «^a« nicht = ich ich es
(bin), sondern ich (bin) er oder es n&mlich ich, also ich bin ich, der,
fOr den ich mich ausgebe, Psalm 44, 5 ^nsbxa «^n nrm nicht = du, er
ist mein König, d. i. du, d u bist mein König, sondern du (bist) er, mein
König. Daher Zach. 3, 8: nan n&ixa *iU93« "«9, Tprii nn« einfach: Du
und deine Genossen ja (ihr seid) sie die Männer des Vorzeichens, und
von einem plötzlichen Uebergang in ein Pronomen der dritten Person
kann hier so wenig die Rede sein, wie in dem oben angefahrten Bei-
spiel Psalm 44, 5. Ueberall hat «in, rmn etc. als Ckipula dieselbe Be-
deutung und dieselbe Function und ich verstehe nicht, wie Kautzsch noch
in der neuesten Auflage Beispiele wie Psalm 44, 5 als Fälle anderer
Art bezeichnen kann. Die frühere Darstellung beiRödiger war jeden-
falls richtiger.
Ist nnm accadisch-samerischen Ur^rungs? 185
diesem Verbum abstractum ein Yerbam concretum in den
angegeb^ien Bedeutungen herausbildete? Das hieße in der
Tat für das Hebräische hier eine ganz einzigartige, allem
was wir bisher über die BedeutungsentwicUung der Sprachen
wissen, widersprechende Erscheinung constatiren. Dagegen
bedarf es für den Abschwächungsprocess eines concreten
Verbums wie eintreten, vorhanden sein zu einem rein ab-
stracten, einer reinen Gopula keiner Belege weiten Und
wenn nun für den Lautcomplex mn notorisch im Arabischen
wie Hebräischen die Bedeutungen Idbi, ddabi, eadere, dearsum
ruere — fürs Hebräische conf. aufier Job. 37, 6 das Sub-
stantivum n^n Sturz, Job. 30, 13 — und für eben diesen
Lautcomplex im Hebräischen die Bedeutungen eintreten (wir
können doch ebenso gut sagen einfallen, vorfallen), geschehen,
vorhanden sein nachweisbar sind — derselbe Lautcomplex
also, um uns einer lateinischen Analogie zu bedienen, neben
cadßre die Bedeutung acdderCf conf. auch schon lateinische
Phrasen wie hoc percommode cecidit, entwickelt hat, so ist
mir schlechterdings unverständlich, wie Delitzsch behaupten
konnte: auf die Verblassung der Grundbedeutung des ara-
bischen 'w zu acddere =* fieri, esse führe sonst im Semi-
tischen keine Spur. Es wird danach doch wohl bei der
alten Bedeutungsentwicklung (s. schon Gesenius, Thesaurus I,
p. 375) von mn, rrti, die neuerdings bekanntlich durch
Fleischer ihre weite Vollendung erfahren hat, sein Be-
wenden haben müssen.
So wenig sich aber gegen die bisherige Erklärung des
mm und des Verhältnisses der volleren zu den kürzeren
Formen sagen lässt, so viel gegen Delitzschs Erklärung.
1) Wie kamen die Hebräer darauf, aus einem den Assyrern
entlehnten jau ein jahA zu bilden? Warum wurde daraus
nicht nach den gewöhnlichen Lautgesetzen des Hebräischen
einfach ein jd? Man wird doch wohl nicht dieses zu erwar-
tende jd in dem "t« von siitfi'»' u. a. entdecken wollen ! Und
wie will man von dieser Annahme aus die Form in;« erklären?
Nimmt man an: die Hebräer hätten das )i in ^m mit Recht
186 ^' Philipp],
mit dem ^ in rhxanm etc. (s. Del. p. 164)'*') identificlrt, und
daher bisweilea für dasselbe ein ihrer Sprache eigenes, ver-
wantes i (conf. nan Num. 24, 3. 15) gesetzt, woher finden
wir dann niemals am Ende eines zusammengesetzten Nom.
propr. ein in; und ebenso niemals am Anfang desselben dn
nrr»? Wir können einen sehr einfachen Grund für diese
Erscheinung anfuhren. Das aus nnrp y^rslummelte im ward
im Anfang zusammengesetzter Eigennamen nach Analogie
von -1^ u. a. zu j^hau^ j^ho umgebildet, weil ein jähü in
diesen zu einem einheitlichen Worte v^:^schmolzeiMii «nd
daher einen Hauptton tragenden Namen den Ton zu sehr
nach vorne gezogen hätte, während ein ^rr aus nrp sich für
die Tonstelle vorzüglich eignete. Statuirt man aber mit
Schrader für den assyrischen Gottesnamen die Aussprache
Jahu, so bliebe immer noch das hebräische irr« unerklärt
9) Aber Jau (Jaku) ist bisher als Name eines assyrischen
(babyl.) Gottes noch gar nicht erwiesen, sondern höchstens
die accadisch-sumerische Urform i. Hören wir, auf welchem
Wege man zum Ansatz dieser Nebenform zu i gelangt. In
den nämlichen Wörtern wechseln phonetisch geschriebenes t
und ein Schriftzeichen dem die Lautwerte ni, 0al, säl, ü
zukommen, das aber in diesen Fällen ü zu lesen sein wird,
unterschiedslos als Benennungen Gottes. Nun fOhrt dieses
Schriftzeichen dm Namen i od^ mhi; letzteres ist nichts
weiter als das mit assyrischer Nominatfvendung versehene i.
Also wird der Gottesname i semitisch-babylonisch gelegentlich
auch mit Nominativendung iau gelautet haben und es kann
nur als Zufall gelten, dass Jam bislang noch nicht als baby-
lonisch-semitischer Name des Gottes selbst nachgewiesen ist,
(s. p. 163, 164). Aber nach welchen Lautwandelgesetaen
des Assyrischen ward aus t 4~ ^ ^^ ^^^ Delitzsch scheint
*) Uebrigens ist bei dieser Annahme auch die Umbildung des
im in mm doch einigermaßen rftteelhaft Wenn man das 4 in jakA
als nicht zur Wurzel gehörig fasste, wie kam man darauf, dies i« oder
jßh in Zusammenhang mit mn zu bringen, es als AbkOrzung von mm
zu betrachten und dafür diese volle Form einzusetzen?
Ist rnm accadisch- sumerischen Ursprungs? 187
diesen Uebeigang für so unanstöfiig zu halten, das6 er ffir
seine Erklärung jetsst nichts mehr beizubringen für nötig hätL
Früher berief er sich auf die Analogie von gthu, su-u aus
ga, sL Dieser Vorgang ist nach den auch sonst in den semi-
tischen Sprachen vorkommenden Erscheinungen vocalischer
Assimilation denkbar, aber aus » -f ^ konnte nach semi-
tischer Grammatik nur hervorgehen yu oder m (als Diphthong !) ;
ich wüsste überhaupt keine Sprache, speciell keine semitische,
in der aus i -{- w ein jau oder tau geworden wärel Also
kann die Nebenform tau des Schriftzeicbens i nicht auf diese
Weise erklart werden. Auf den Namen der Schriftzeichen
lagert überhaupt noch teilweises oder völliges Dunkel In
einer Anzahl von Namen sind diese ohne Frage wie
Friedr. Delitzsch richtig erkannt hat, identisch mit einem
der accadisch- assyrischen Sylbenwerte der Zeicbra, dieser
nur vermehrt durch die semitische Nominativendung , so
Nr. 1 Sylbenwert ai, rum, rtw, du, Name düu*)^ Nr. 2
S. iHd, N. iaUu, Nr. 105 S. rab, N. räbbu, Nr. 136 & bi, hai,
JsQS, gaä, N. käSu, Nr. 196 S. mat, hur, iat, iad, lat, rat,
N. küru, s. Nr. 3, 58, 153, 198, 263. VocaUsch auslautende
Sylbenwerte scheinen sich dabei zu reduplidren, so Nn 14
Sylbenwert ka, Name kägu, Nr. 28 S. la, N. lalü, Nr. 32
S. U, N. lau, conf. Nr. 56, 254, 276, doch conf. Nr* 293,
S. gu, N. gü, Nr. 78 S. ri, JH, sA (aus sif-w), s. Nr. 164 und
Nr. HO S. si, N. aunnu, Nr. 55 S. sti, N. (AUl Andere
Scbriftzeichen sind nach dem Sinn werte genannt, ao Nr. 173
Sylbenwert üs, Mß, Name urinnu, nach dem SKnnwert uru,
Nr. 202 S. iw, N. hiitu, nach dem Sinnwerte gleicher Form,
Nr. 301 S. ur, lik, lü^, toi, ias, N. hUbu, nach dem Sinnwerte
gleicher Form, conf, Nr. 145. 208. 283. 278. Aber andere
harren noch einer sicheren Erklärung, so z. B. Nr. 10 Sylben-
wert bui, pul, Name mük minnafn, Nr. 33 S. bab, hur, hur,
N. pappu, Nr. 41 S. bi, bat, mid, mit, tu, eig, bü, N. bc^u,
idimmu, kabiu, Nr. 50 S. b^, pag, bah, bog, N. nmSin(n)u,
^ Ich dtire nach Delitzscba Scbrifttafel in seinen assyrischen Lese«
stücken.
188 Fr. Philippi,
Nr. 82 S. dir, N. dirigu, Nr. 83 S. tob, täb, dop, N. tabhu,
düi minnäbi, Nr. 86 S. ab, ap, N. iSu, Nr. 98 S. i N. igittü,
conf, Nr. 103, Nr. 99 S. km, gtm, N. hü, Nr. 100 S. tur,
N. dumu, Nr. 180 S. aS, N. diSSu, iiSu, Nr. 185 S. mir,
N. t^m-gwiü, Nr. 211 S. uft, N. huSu, Nr. 245 S. Si, lim, liv,
N. ^ä, Nr. 279 S. Iti, dFt&, tib, N. cmIA, dt&&u u. a. m. Hierher
gehören nun auch die Namen i und tau resp. jahu*) des
Schriflzeichens Nr. 141, auch iminnabi, wenn das Schrift-
zeichen verdoppelt ist, wobei minnabt »verdoppelte zu be-
zeichnen scheint, conf. Nr. 128. Nach Delitzsch führt dieses
Schriftzeichen den Namen i nach seinem ihm besonders
charakteristischen nichtsemitischen Lautwert t. Das wäre
möglich, obwohl dieser Lautwert des Zeichens noch gar nicht
nachgewiesen ist, und vielleicht sind in der Tat einige der
eben aufgeführten Namen in ähnlicher Weise zu erklären,
so z. B. der Name von Nr. 33, weil das Zeichen außer den
angeführten Lautwerten auch den von pe^ oder pa besaß**),
von Nr. 83, weil das Zeichen eventuell in dem freilich nicht
mit aufgeführten Lautwert von dil vorkam, conf. Nr. 86. 99.
180. 279***) etc. Wenn danach aber vielleicht öfter ein
Zeichen zwei Namen nach zwei in der ersten Golumne der
Syllabare nicht miterwähnten Lautwerten führte, conf. z. B.
Nr. 180, könnten wir da nicht annehmen, dass unserem
Zeichen neben i der Name iau (oder jahu)^ der nicht aus
i -{- u entstanden sein kann, zu Teil ward, weil ihm neben
dem nicht mitaufgeführten Lautwerth i auch der gleichfalls
nicht angegebene ja(ia) oder jah(iah) zukam? Oder ist
vielleicht gar t — man beachte das Fehlen des diesem Namen
sonst fast stets charakteristischen Auslauts u— eine graphische
Abkürzung von iau?f) Jedenfalls sind wir durchaus nicht
*) Nach P. Haupt: Assyr. Bcht. herausgegeben von Friedr. Delitisch
und P. Haupt p. 3 ist das erste diesen Namen darstellende Zeichen su
lesen ia nicht ja.
**) F. Haupt 1. c. Nr. 23 giebt den Lautwert pap mit an.
***) Zu Nr. 100 conf. P. Haupt 1. c. Nr. 78, der als accad. Sinn-
wert dum angiebt
t) Nach Halevy (Revue crit p. 461) ist • Abkürzung von ü, wie
a von akph, aber was machen wir dann mit iau?
Ist rnrr accadisch-somerisehen Ursprungs? 189
berechtigt, aus der Nebenform iau, jähu 0au, iahu) des
Schriftzeichens i ohne Weiteres auf eine gleiche Nebenform
des Gottesnamens i zu schließen!
3) Doch sdbsl der accadisch-sumerische resp. babylonisch^
semitische Gottesname i ist meines Erachtens noch nicht er-
wiesen. Wenn phonetisch geschriebenes i und jenes Schrift-
aseichen des Namens i zur Bezeichnung des Lautwertes U in
denselben Wörtern unterschiedslos als Benennungen Gottes
wechseln, liegt da nicht der Schluss am nächsten, dass sie
beide nur verschiedene graphische Bezeichnungen desselben
Wortes sein sollen? Und wenn weiter Aimr auch abgekürzt
as geschrieben wird (DeL p. 253), ist da nicht i einfach als
graphische Abkürzung von il zu fassen? conf. die targum.
Abkürzung '?'•» für mm. So zerrinnt in der Tat das accadisch-
sumerisch-assyrische Gottesgebilde iau oder jahu bei schär-
ferem Zusehen in Nichts 1
Ebensowenig wie der Nachweis des accadisch-suroerischen
Ursprungs von mm ist übrigens Delitzsch der gleichfalls in
dieser Schrift versuchte Nachweis desselben Ursprungs von
Vk gelungen (s. p. 163 flg.). Wenn den Aramäern, Phöniciemi
Hebräern, Arabern und Himjariten der Gottesname ^k gemein-
sam war (& den Nachweis bei Nöldeke, Monatsb. K. A.
der W. W. zu Berlin 1880, p. 760 flg.), so ist doch sein
accadisch-sumerischer Ursprung im höchsten Grade unwahr^
scheinlich. Dazu kommt, dass das Wort im Hebräischen wie
Phönicischen noch appellative Bedeutung hat und seine ein-
fache etymologische Erklärung im semitischen Sprachschatz
findet, indem seiner Ableitung von der semitischen Wurzel
Vm, sei es im Sinne von voran sein (^m also Herr, Fürst,
voriste) oder von stark sein {hvt also Starker, Held) nichts
im Wege steht. Auch der Behauptung Delitzschs, dass der
Vocal des Wortes ursprünglich ein kurzes i gewesen sei, das
Wort also ursprünglich XI gelautet habe, muss ich entschieden
entgegentreten. Bei der notorischen Unzuverlässigkeit der
assyrischen Schrift in Bezeichnung der Quantität und auch
Qualität der Vocale, kann ein assyrisches I gegenüber einem
als ursprünglich langes S erwiesenen Vocal dieses Wortes im
190 ^* Philipp!, Ist rnrr« aeeediseh-Mnnerisdien Ursprungs?
Arabischen y Aramäiseben und Hebräischen gar nichts be-
weisen. Fürs Hebräische lässt sich allerdings die ursprfing«
liehe Länge des Vocals nicht mit voller Sicherheit erhärten.
Doch dfirfte dafür die Punetation ütr^ Ez. 31, 14 (s. NoMeke
1. c. p. 773) sprechen. Und dagegen darf man nicht Formen
wie fiwiÄ, Dtoi«, teaiM, nspi«, ooji«, -oAk, «51*», ti^mi«,
B-^^Ä, y^tk etc. (s. Olshausen 1. c. p. 614, 618 flg.) an-
fuhren. Denn hier kann sehr wohl das ursprängKch lange
6 nicht eine abnorme (so die meisten Forscher, auch NOldeke
). c. p. 762), sondern eine ganz regelmäßige Verkörzmig
erfahren haben. Im Hebräischen wird nämlich eine
ursprüngliche oder wesentliche Länge nicht nur in dner
doppelt geschlossenen Sylbe (conf. rnisttStt neben rnnxxm aus
'ahnürty^ sondern auch in einer geschlossenen Sylbe auf die
wieder eme folgt, regehnäfiig gekürzt, conf. mg neben e^
(aram. mg), «op; neben o^pj, tatitia neben «Äa*) etc. Da
nun in jenen Nom. propr. b» mit dem folgenden Worte zu
einem Worte zusammenschmolz, wäre hier ein wesentlich
langes $ desselben einer ganz regeimäfiigen Verkürzung unter-
legen. Formen aber wie mrr^M, aK*4M, y\}ioAvt etc. (s. Olsfa.
p. 615) können als Analogiebildungen nach tm^ H?^ ^<^-
angesehen werden, d. h. dem ^ in diesen Namen ats erstem
Gliede eines Nomen eompos. ward die sonst an dieser Stelle
in Compositionen vorkommende Form Wt zu Grunde gelegt,
resp. der Vocal des "Ak in diesen Formen nach Analogie des
Vocals in ropbK etc. umgewandelt.
*) Ebenso ja aucli arab. conf. kändaf jäküifma etc. Im Aram. ist
wenigstens in einer solchen gesclilossenen unl)etonten Sylbe sp&ter Ver-
karzung eingetreten, conf. in Dan. 4, 31 vcAy (sprich 'dUnd) neben
»oi»; 3, 16: T»rnön; 4, 16: rj-wto neben TJ'wato; 5, 8: yiii? neben 1%?
und fflrs Syrische s. ZDM6. 1878, p. 95.
Rostock. Fr. Phllippi.
Anm. d. Red. Siehe den Schluss des Heftes.
S. Maybaum, Zur Pealaieuchkritik. 191
Zur Pentatenchkritik.
Von Dr. S. Maybaum.
In der Kritik der Quellenschriften des Pentateuchs hat
sich in der neueren Zeit eine äbDliche Revototion Tollzogen,
wie sie in der Astronomie durch den Domherrn Nicolaus
Kqiemikus und in der Erkenntnistheorie durch den Königs-
berger Philosophen Immanuel Kant herbeigeführt wurde.
Die Unbegreiflichkeit und die Widersprucbey za denen der
geocentrtohe Irrtum fährte» brachten Kopemikns dahin^ die
alte Erde aus ihrer Ruhe aufzurütteln und sie yereint mit
den ai^ren Planeten unseres Systems um die Sonne kreisen
zu lassen, und in ähnlicher Weise ist auch der philosophische
Kriticismust die Lehre, dass die G^penstande sich nach der
Art unseres Erkenntnisvermögens richten müssen, dadurch
entstanden, dass die Aufgaben d&t Philosophie nadi der
firuberen Annahme, wonach unsere Erkennlni& von den
Dingen nur abhängig sei von der Natur dieser Dinge, sich
nicht befirieaigend lösen ließen, »Es ist hiermit ebenso,«
sagt Kant, »als mit dem ersten Gedanken des Kopemikus
bewant, der, nachdem es mit der Erklärung der Himniel»-
bewegongen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das
ganze Stenienheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte,
ob es nicht besser gelingen möchtev wenn er den Zuschauer
sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe. In der
Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegen-
stände betrififl, es auf ähnliche Weise versuchen.«
In der Kritik des Pentateuchs wollte es auch lange Zeit
nicht recht fort. Der Widerspruch zwischen den als uraltes
litterariscbes Erzeugnis angesehenen mittleren Bachern des
PentateudiB und dem späteren mehrhundertjährigen religiösen
Leben des israelitischen Volkes, wie es uns hi den geschieht-
Kchen und prophetischen Büchern des Kanons geschildert
wird, konnte auf keine Weise befriedigend gelöst werden.
192 S. Maybaum,
Wie sollte man es sich auch erklären können, dass groüe,
das gesammte israelitische Volksleben umspannende Gesetz-
sammlungen und hochentwickelte gottesdienstliche Einrich-
tungen litterarisch längst fixirt waren, ohne dass sich viele
Jahrhunderte nachher mehr als die Keime zu einer solchen
Entwicklung im geschichtlichen Leben dieses Volkes nach-
weisen ließen P Erst die nach K. H. Graf benannte Theorie*),
welche das bisher angenommene Verhältnis umkehrt: dem
geschichtlichen Leben das ihm gebührende Recht der Priori-
tät einräumt und die gesetzlichen Einrichtungen der mittleren
Bücher in nachdeuteronomischer Zeit entstehen lässt, löst
alle Widersprüche und erklärt alle Erscheinimgen in natür-
licher und darum befriedigender Weise. Mag darum auch
dieser Theorie zur Zeit noch das Vorurteil der Gelehrten
und die Abneigung der Theologen entgegenstehen: sie wird
gleichwohl an Ausbreitung gewinnen und dereinst die un-
bestrittene Voraussetzung der bibelkritischen Wissenschaft
bilden.
Zu bedauern ist es indessen, dass der zu früh ver-
storbene Graf das Verhältnis seiner Hypothese zu den
früheren Theorien, besonders zu derjenigen von der so-
genannten elohistischen Quellenschrift, der die meisten
gesetzlichen Partien der mittleren Bücher zugeschrieben
wurden, nicht mehr ausführlich auseinandersetzen und be-
gründen konnte. Wohl hat er noch (in Merx' Archiv etc.
I, H. 4, S. 466 ff.) auf den zusammenhangslosen und lücken-
haften Charakter der elohistischen Erzählung in der Genesis
hingewiesen und die Vermutung ausgesprochen, dass eine
solche Quellenschrift niemals bestanden habe, und
*) Anm. des Herausgebers: Ich kann nicht umhin, bei dieser Ge-
legenheit ein großes Unrecht hervorzuheben, welches die Bibel-Kritiker
sich haben zu Schulden kommen lassen. Der erste, der die spätere
Abfassung der mittleren BQcher des Pentateuchs im Verhältnis zum
fQnflen Buche ausgesprochen hat, war wahrlich nicht Graf, sondern
ein paar Jahrzehent vor ihm George; und nicht bloß obenhin aus-
gesprochen hat er sie, sondern in eingehendster Weise erwiesen. Dieses
Verdienst Georges wird anerkannt bleiben, wenn seine Metaphysik bis
auf den Namen vergessen sein wird.
2ar t^entäteuthkritik. 193
dass alle jene Bestandteile der Genesis, die von den Kritikern
für sie ausgeschieden werden, nichts weiter als Zusätze
eines die Urgeschichte nach neuen Gesichtspunkten
überarbeitenden Redactors seien; die gesetzlichen Par-
tien der mittleren Bücher^ ^ien demnach nicht an das
Schicksal der sogenannten elohistischen Erzählung gebunden,
mit der sie nicht als jemals vereinigt gedacht zu werden
brauchen. Gleichwohl sprechen die meisten Anhänger Grafs
nach dem Vorgange Wellhausens noch immer von einer
selbständigen elohistischen Erzählung, deren Teile in dem
ganzen Hexateuch zerstreut seien, und von ^der dasselbe
gelte, was Graf von den gesetzlichen Partien der mittleren
Bächer nachgewiesen hat.
Darunter leidet aber die ganze Hypothese. Denn auf
dem Wege der sachlichen Kritik, die allein ein verläss-
liches Resultat zu bieten vermag, kann nur bewiesen werden,
dass die gesetzlichen Partien der mittleren Bächer
jung, d. h. mindestens nachdeuteronomisch, wahrscheinlich
aber auch nachezechielisch seien. Diese den Ritus ordnenden
Bestimmungen mögen einen besonderen zusammenhängenden
Priestercodex gebildet haben '^), wie wir noch einen ähnlichen
Codex in Ezechiel c. 40—48 besitzen, und sodann vom Re-
dactor mit der durch 'das Deuteronomium bereits erweiterten
jehovistischen Erzählung nach einem bestimmten Plane ver-
einigt worden sein. Dagegen können für die Jugend so wenig
wie fär die Einheit der sogenannten elohistischen Erzählung
beachtenswerte sachliche Beweise erbracht werden, da die
Genesis nur wenig Gesetze enthält; aber Beweise aber, die
lediglich aus der Sprachfarbe und der Ausdrucksweise eines
Autors hergeholt werden, lässt sich bei dem geringen Um-
fange der biblischen Litteratur mit vielem Grunde streiten.
Hält man nun noch länger an der Einheit der elohistischen
Erzählung fest, trotz der erwiesenen Hinfälligkeit der für
*) lieber die Teile der mittleren BQcher, die diesem Codex za-
«iweisen sind, vgl. m. Sehr.: »Die Entwicklmig des altisr. Priestertamsc
S. 67 ff.
ZaitBclff. fOr VOIkeiptych. und Sprachw. Bd. XIV. 9. 13
194 S. Blaybaum,
ihre Ausscheidung maßgebenden Krilerien, so leidet die
Graf sehe Hypothese, die ursprünglich bloß von dem Ritual-
gesetze handelt, unter dem Ballast der elohistischen Zusätze
in der Genesis, deren Entstehungszeit überaus schwer zu
ermitteln ist. ^
Diese Bedenken werden kemeswegs zerstreut durch die
im Uebrigen ebenso geistvolle, wie gelehrte Arbeit: »Zur
Hexateuchkritik etc.< von F. Giesebrecht (in der Zeitschrift
f. d. alttest. Wissenschaft, herausgeg. von Dr. Bernhard Stade,
1881, H. 2), welche in Erwiderung auf die Rysselsche
Schrift »de sermone Eloh. Peut.c aus dem Sprachgebrauch des
hexateuchischen Elohisten beweisen will, dass die Entstehung
desselben in die Zeit des Exiles falle. Zu diesem Behufe hat
Herr Giesebrecht die Sprache des Elohisten mit desjenigen
jener Schriften verglichen, die anerkanntermaßen in dem
Zeiträume von 700—450 a. entstanden sind, und da auf dem
Felde der Formenlehre keine durchschlagenclen Resultate zu
gewinnen waren, lediglich das elohistische Lexikon in
Betracht gezogen. Von ungefähr 90 Vocabeln, die vei^lichen
werden, erweise sich 32 als Aramaismen, und diese sowohl,
wie die echt hebräischen Wörter kommen in den ver-
glichenen Schriften um so häufiger vor, je später die Ab-
fassungszeit derselben anzusetzen ist. - Sodann werden drei
Erscheinungen des elohistischen Sprachgebrauchs, das Suffix
^^TTf die Bevorzugung der Form >aM f3r »ichc und die Er-
setzung des Verbalsuffixes durch n» c. Suff, besprochen und
auch hier wird der Nachweis geführt, dass diese Erscheinungen
in den älteren Schriften seltener, in den jüngeren dagegen
häufiiger auftreten. Darauf werden einige syntaktische Er-
scheinungen im Elohisten, die Ryssel als Beweise des
höchsten Alters angesehen, zum Teil als indifferent, zum Teil
aber gerade als Zeichen der Jugend erklärt und zuletzt» nach
einer lUustrirung des Verhältnisses zwischen der Sprache
Ezechiels und der des Elohisten, für die Abhängigkeit des
letzteren von dem ersteren plädirt. —
Vorauszusdiicken ist nun, dass hier die Einheit des
Elohisten als unanfechtbare Voraussetzung gilt, was aber
Zur Pentateuchkritik. 195
mindestens noch fraglich ist; das Vocabularium des Elohisten
wird mit einer solchen Sicherheit hingestellt, als ob das
elohistische Buch wirklich vor uns läge. Geben wir indessen
die Einheit des Elohisten zu: was beweisen 32 aramäische
Vocabeln in diesem Buche bei der nahen Verwantschaft der
aramäischen und hebräischen Sprache und bei dem Verkehre
zwischen den beiden Völkerschaften, der schon zur Zeit
Chiskijas ein so inniger war, dass die Hofbeamten, also
wahrscheinlich auch alle Gebildeten, die aramäische Sprache
verstanden (2. Eon. 18, 26. Jes. 36, 11)? Werden nicht
auch auf diesen Umstand die Aramaismen in Hosea zurück-
geführt, und darf man überhaupt bei dem geringen Umfange
der älteren biblischen Litteratur aus dem selteneren Auftreten
von Aramaismen in den älteren Schriften*) auf die Jugend
des Elohisten schließen? Uebrigens finden sich auch in den
älteren Schriften manche der aufgezählten Aramaismen,
namentlich im Deuteronomium , das ja auch seine Sprache
nicht erfunden, sondern von den Altvordern überkommen
hat. Durch die bekannte Methode aber, dass man alle
älteren Stellen, die gegen die vorgetragene Behauptung
sprechen, als Ueber arbeitungen des Diaskeuasten und
Redactors erklärt, sobald der Ausdruck »kein sehr gelenker
genannt werden kannt, — als ob die Alten nicht auch ein-
mal ungelenk schreiben durften — wird man für die Graf sehe
Hypothese keine Anhänger gewinnen.
Ohne Willkürlichkeit kann es hierbei selbstverständlich
nicht abgehen, n-^nn D-pn in der Bedeutung »einen Bund
schließenj errichtenc, soll ein Aramaismus sein, den
der Elohist aus zwei Stellen des Ezechiel 16, 60, 62 ent-
lehnt, obgleich er auch noch den alten Sprachgebrauch,
wonach tnpn »halten oder bestätigenc bedeutet, in Num.
30, 14 angewant haben soll. Wir würden hier lieber an
der vermeintlichen Einheit des Elohisten zweifeln. Indessen
kann rma jä^n alt sein wie m-ta nna und gleichfalls aus
*) BeachteDswert ist der Aramaismus ppa in dem ältesten Denk-
mal der nationalen Litteratur, Rieht. 5, 21.
13»
196 S. Maybaum,
einem sinnlichen, concreten Vorgang bei der Bundes^
Schließung, der uns aber nicht mehr bekannt ist, hergeholt
sein**"). — Ebenso kommt nat in der Bedeutung »ftio^c außer
den 2 Stellen im Deuteronomium uud den 4 Stellen in Gen.
34**), noch in Rieht. 21, 11. Jos. 5, 4***) und l.Kön. 11,
15. 16 vor. Diese Stellen genägen aber selbst gegenüber den
47 Stellen des Elohisten, wenn man bedenkt, dass für den
Elohisten von vornherein alle Partien, die von der Beschnei-
dung, denOpfervorschriflen und den Reinheitsgesetzen handeln,
ausgeschieden wurden, in denen dieser Ausdruck notwendig
häufiger gebraucht werden musste, und dasselbe gilt auch
von den meisten Stellen aus der späteren Sprachgeschichte,
in denen nsr erscheint Dieser Umstand wurde aber hier so
wenig, wie bei den anderen vermeintlichen Vocabeln des
elohistischen Lexikons beachtet, deren größter Teil aus dem
angegebenen Grunde gewissermaßen auch in die Reihe jener
Kunstausdrücke gehört, die nicht in allen Büchern zu
erwarten waren, und darum tatsächlich weggelassen wurden.
Dieselbe Willkür zeigt sich auch bei Behandlung der
echt hebräischen Wörter. Derselbe Elohist, der sonst
als der prosaischeste Darsteller geschildert wird, soll plötzlich
eine Vorliebe für den poetischen Sprachgebrauch offenbaren,
weil er eine Reihe Vocabeln mit den ältesten Dichtungen
gemein hat, die er natürlich nur entlehnt habe, um auf
hohem Kothurn einherzuschreiten. Man sieht, dem Elohisten
kann nichts mehr helfen. Dass er das Verbum nv> mit
*) Die Bundesschließung in Gen. 31, 44 ff., wobei Jacob eine
Hazzeba, und die in Ex. 24, 4ff., wobei Moses zwölf Hazzebot
errichtet, enthält einen solchen Vorgang, auf den der Ausdruck tppn
tvn:3 möglicherweise zurückzuführen ist
*•) Gen. 7, 3. 10 steht auch im Jehovisten popai "nat, vgl. Dillm. z. St
***) Vgl. über diese dem Jehovisten gehörige Stelle unsere
Schrift: »Die Entwicklung etc.c S. 118. Wo der Jehovist und das
Deuteronomium n^iaY haben, wie Ex. 23, 17. 34, 23. Deut 16, 16. 90, 13,
da ist der abstracte Begriff »das Männlichec gemeint In IST
ist demnach nicht, wie Wellhausen meint, die spätere Form für das
ältere "n^iat zu erblicken.
Zur Pentateuchkritik. 197
1. Kön. 10, 15. Rieht. 1, 23 und mit dem Jehovisten Nmn.
10, 33 gemein hat, nützt ihm auch wenig. Die erste Steile
soll wegen Erwähnung der n*ini} jung sein, trotzdem Schrader
das Gegenteil behauptet; die zweite Stelle ist »mindestens
ungeschickte, weshalb i*wi nach der LXX in i'im emendirt
wird, trotzdem dieses Verbum in der Bedeutung »belagernc
niemals mit der Präp. a, sondern stets mit dem bloßen Dat.
oder Acc. verbunden wird; die dritte Stelle aber wird in Folge
eines Misverstandnisses, das von Wellhausen herrührt, dem
Diaskeuasten zugeschrieben. Das nrna&b wird nämlich falsch-
lich so gefasst, als ob eine Strecke von 3 Tagereisen zwischen
der Lade und dem Volke gelegen wäre: tatsächlich aber ist das
oma^ rmAo 'pn eine Zeitbestimmung, (vgl. Nachmanides z. St.)
oder es ist aus dem vorhergehenden mar^ nv^o ^n dittographirt.
Der Umstand aber, dass im Deut. 1, 33 Jahweh selbst und
nicht die Lade als voranziehend erwähnt ist, darf gar nicht
urgirt werden, weil Jahweh als in der Lade gegenwärtig
gedacht wird, wie aus Num. 10, 35. 36 ersichtlich ist.
Ebenso unerwiesen ist, was von dem häufigen und aus-
schließlichen Gebrauch der Form i^bin im Elohisten behauptet
wird. Was den häufigen Gebrauch dieser Form betrifft, so
ist an das oben bereits Erwähnte zu erinnern,, dass fast
sämmtliche genealogischen Berichte für den Elohisten aus-
geschieden wurden, wodurch es leicht erklärlich wird, warum
diese Form in den anderen Quellen angeblich so selten
erscheint. Und wenn sodann auf den häufigen Gebrauch
dieser Form in den nachexilischen Schriften so viel Gewicht
gelegt wird, so muss wieder erinnert werden, dass auf die
Genealogien des Chronisten allein 37 Stellen entfallen. Was
aber den vermeintlich ausschließlichen Gebrauch dieser Form
im Elohisten betrifft, so stimmt diese Behauptung nicht, wenn
man eben nicht den in solchen Fällen stets paraten Redactor
heranziehen will, denn der Elohist gebraucht in Gen. 10, 13.
15. 24. 26. 22, 23 und 25, 3 auch die Form ^ vom Vater.
Warum sollte übrigens die Scheidung des Begriffes "^ in eine
männliche und weibliche Form, wie sie uns in Hiob 38, 28. 29
so instructiv entgegentritt, nicht alt sein? Sonst wird ja das
198 S. Maybaum,
Vernünftige und Klare immer für das Altertmn in Anspruch
genommen, Uebrigens kommt die Form yi\n außer Deut,
Jer. Hiob und Jes. 20, 18 auch Riebt. 11, 1 vor, wo uns die
Darstellungsweise gar nicht »unebene erscheint, jedenfalls
nicht so uneben, wie die nach der LXX vorgenommene
Correctur lAA tvb^; femer in der alten Josephsgeschichte
Gen. 40, 20 {rrAn\ da wir nicht bereit sind, überall, wo es
eben beliebt, einen Eingriff des Redactors zu concediren.
Dasselbe gilt in Betreff des häufigen Gebrauches der
Worte M*)«) und ma im Elohisten, dem ja sämmtliche Listen
zugewiesen werden. Dass M*wa in der Bedeutung »Stammes-
furstt, in jenen Berichten, welche von der Zeit vor dem
Eönigtume handeb, und im Ezechiel, der das Königtum
wahrscheinlich abgeschafft wissen wollte, am häufigsten vor-
kommt, ist selbstverständlich. Aber es erscheint ja auch in
der älteren Litteratur. Von 1. Kön. 11, 34 können wir ab-
sehen, zumal es hier als Bezeichnung für den König gebraucht
wird. Aber es genügen die Stellen 1. Kön. 8, 1. Jos. 13, 21.
Gen. 34, 2. Ex. 34, 31 — wenn man nicht gerade in dem
indifferenten Worte K'^oa die überarbeitende Hand des Re-
dactors erblicken will — besonders aber Ex. 22, 27*), um
sich hier gegen die vorgebrachten Schlussfolgerungen skeptisch
zu verhalten. Ebensowenig gelingt es aber die Beweiskraft
von 1. Kön. 7, 14 für das ntaa des Elohisten abzuschwächen,
da es nicht möglich ist, diese Stelle gegenüber 2. Ghron.
2, 13 als tendenziöse Aenderung anzusehen. Denn was hilft
die angebliche Interpolirung von ruab» und 'ibriBs msaa, da
in dem 'nx v^ T^nm das Odium stehen bleibt, dass ein Halb-
phönizier der Erbauer des Tempels gewesen sei?**) Ist aber
diese Stelle gesichert, so ist es auch MDsri ■nofin 1. Kön. 8, 1
ebenso wie die sonst schwierige Stelle Micha 6, 9. Der eine
*) Man vgl. die gleiche Gonstruction yos:^ V(ym hier und Xf^Sfi«^
rrwa Ex. 34.
**) Viel Wahrscheinlichkeit hat die Annahme Grafs für sich (die
geschichtl. Bücher S. 127), dass der Chronist hier an Oho Hab aus dem
Stamme Dan Ex. 31, 6. 35, 34 gedacht hat, da ihm in V. 13 offenbar
die Stelle Ex. 35, 34. 35 vorgeschwebt haben muss.
Zur PentaieuehkritiL 199
Schriftsteller gebraucht eben ma, der andere, wie z. B. noch
der späte Ezecbiel, ta», je nach seiner schriftstellerischen
hidindualität, ohne dass sich entscheiden liefie, welcher Auf-
druck der ältere sei.
Dieselbe Methode wird auch bei der Behandlung der
anderen Vocabeln des Elohisten angewant: Die Parallel-
stellen aus den älteren Schriften werden zum Teil als Inter-
polationen*) und zum Teil als verderbt erklärt, bis dann
dne so kleine Anzahl von Stellen zuräckbleibt, die g^^enüber
der größeren Anzahl aus dar silbernen Litteraturperiode und
der Masse aus den exilischen und nachexilischen Schriften
gar nicht mehr ins Gewicht fällt.
Was nun noch die oben erwähnten Erscheinungen des
elohistischen Sprachgebrauchs betrifft, so ist es wohl ebenso
wenig möglich, den Gebrauch des nichtcontrahirten Suffixes
^ihrr iui IHohisten und Deuteronomiker als einen jungen wie
als emen alten nachzuweisen. Die aus der Sprachgeschichte
zum Nachweise der Jugend dieses Gebrauches von G. heran-
gezogenen Stellen sind zum großen Teil an sich noch strittig und
können auch für die gegenteilige Ansicht verwertet werden;
die Behauptung aber, dass der sonst so prosaische Elohist
»diese Form aus der gehobenen poetischen Sprache seiner
Zeitc entlehnt habe, wird schwerlich Zustimmung finden.
Dagegen ist der Nachweis, der von dem ausschließlichen
Gebrauch des Pron. '«dM für die Jugend des Elohisten erbracht
wird, vollständig missgläckt und offenbart die ganze Willkur
der angewanten Methode. In den meisten spätesten Schriften
des Kanons prävalirt allerdings ■«dM gegen "^s^vt ganz bedeutend,
aber schon der Umstand, dass Deuterojes. noch 18 ■^d^k gegen
62 •«», Hiob 14 "m« gegen 28 -»a« hat, in Ruth sogar die erste
Form äberwiegt (7 gegen 2), musste zur Vorsicht mahnen.
Unbegreiflich ist dagegen die Ausflucht, dass das häufigere
■o)K in Hiob und Ruth darauf zuräckzufuhren sei, dass »sie
*) So wird von Ex. 34, 10 wegen des Wortes »"na behauptet, dass
hier der Redactor spreche, trotsdem hier der jehovistische Ausdruck
nmn n-o gebraucht wird.
200 S* Maybaum,
künstlich archaisirenc , denn in diesem Falle dürften sie *4k
niemals bieten. Allein auch die von dem Redactor über-
arbeiteten Partien in Genesis, Exodus, Numeri, Josua, Richter,
Samuel und Könige zeigen im Ganzen ein solches Verhältnis
zwischen beiden Formen, dass kein Unbefangener irgend
welchen Schluss daraus zu ziehen vermag. Sieht man aber
von der Scheidimg zwischen Quellenschriften und späterer
Ueberarbeitung ab, so sollen nach der Meinung 6s. die
historischen Bücher die auffallende Tatsache ergeben, »dass
am Anfange derselben das -«dsm ganz bedeutend über -«dK
prävalirt und gegen die Mitte und das Ende hin demselben
entweder gleichsteht • oder weniger gebraucht wirdc Dem
widersprechen aber die Bücher Samuelis, die ja ursprünglich
als eine Einheit zu denken sind, da 1. Sam. gegen Ende,
d. i. von c. 21—31 fünf '»m« gegen 4 -»i«, und 2. Sam. von
c. 1—8 neun *«d9M gegen 3 ^sk bietet. Die Ausflucht aber,
zu der sich G. in Folge dessen gezwungen sieht, dass der
Redactor beim Abschreiben und Verarbeiten seiner Quellen
das *«d3K in "«dM änderte, dass er aber andererseits, weil ihm
das "«asK von der benutzten Quelle her im Ohre lag, bei
Stücken, die er selbst verfasste, resp. freier componirte, oft
zur Setzung eines *«daM veranlasst wurde — femer, dass gerade
am Anfang des 2. Samuelisbuches »ein blindes Ungefähr
gewaltet hatc, ist doch zu unwissenschaftlich, um beachtet
zu werden. Die übrigen Schriften des E^anons aber offen-
baren vollends, dass »der Kampf, den die beiden Formen
*o)M und "«SK mit einander führtenc, bloß m der Phantasie
des Herrn G. besteht, und dass der Gebrauch der einen oder
der anderen Form lediglich durch die Individualität des
betreffenden Schriftstellers veranlasst wurde. So hat das
Deuteronomium gar kein -«sk, als ob um die Mitte des 7. Jahr-
hunderts »der Kampf der beiden Formenc noch gar nicht
begonnen hätte, und dennoch hat schon der alte Amos 1
•»5« gegen 7 •»»«, Hosea gar 10 •'Jä gegen 11 -»Dsai, Jes.*)
*) Wir folgen hier überaU Herrn 6. und lassen die von ihm als
ezilbch erklärten Stellen weg.
Zur Pentateuchkritik. 201
3 •«« gegen 3 '^w» und Micha 2 «»a» gegen 1 »^m«. Herr 6.
ist auch hier um Ausflüchte nicht in Verjegenheit und will
das häufige -«aK in Hosea dessen nordisraelitischer Herkunft
zuschreiben, auf welche auch »gewisse Äramaismen (aber
*iaK ist doch wohl kein Aramaismus!) zurückzuführen sind,
die sich bei ihm finden«, obgleich Herr G. in Betreff der
Äramaismen des Elohisten den gleichen Einwand, der bei
der geringen Ausdehnung Palästinas und bei dem stets regen
Verkehre mit den aramäischen Völkerschaften wohl berechtigt
ist, sicherlich nicht gelten lassen dürfte. V^ir gestehen:
würden wir nicht in dem Gebrauche von »»iK oder »«äa« ledig-
lich eine Geschmacksrichtung des Schriftstellers erblicken, so
würde sich uns auch aus der Tatsache, dass der Elohist
ausschließlich '«aK hat, ein Beweis ergeben, dass die Aus-
scheidung des Elohisten, der doch auch alte Quellen benutzt
hat, falsch, und dass die Einheit desselben eine bloße
Fiction sei.
Nicht besser verhält es sich mit den Betrachtungen, die
über den Gebrauch des n» c. Suflf. im Elohisten und in den
übrigen Büchern des Kanons angestellt werden. Denn selbst
nach den Ergebnissen des Herrn G. ist das Verhältnis des
nx zum Verbalsuffix in den elohistischen Stücken der Ge-
nesis = 32 : 25, im Richterbuche = 66 : 143 und in
Samuel = 91 : 363, also nicht bedeutend differirend, ab-
gesehen davon dass, wenn aus diesen Berechnungen ge-
schlossen werden darf, das Richterbuch jünger als die Bücher
Samuelis erscheint. Aber die Hinfälligkeit solcher Schlüsse
erweist sich auch daraus, dass die jehovistischen Stücke der
Genesis bloß 242mal Verbalsuffix gegen 142 n» bieten, also
ein Verhältnis, das nicht viel besser ist als das des Elohisten.
Freilich soll hier wieder alle Schuld den Redactor, diesen
alten Sündenbock, treffen, der das Sufiix gegen n» vertauscht
hat; allein wir denken, dass er nach sdle dem, was ihm
sonst schon zugemutet wird, weit Wichtigeres zu tun hatte,
als sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben«
Wir scheiden hiermit von dem Verfasser, denn wir
hätten gegen den größten Teil seiner weiteren Ausführungen
$03 S. Mayb4^un, Zar PenUteuchkrltik.
gegen Ryssel nur bereits Bemerktes vorzubringen*). —
Die von uns schon ausgesprochene Ueberzeugung, dass das
vielbesprochene Buch des Elohisten niemals existirt hat,
wurde in uns durch die Ausführungen des Herrn Giesebrecht
nur noch mehr gefestigt Es hat wahrscheinlich nur einen
Priestercodex gegeben, der, weil nach dem Muster des
ezechielischen Codex angefertigt, keinerlei Erzählung als
Rahmen der Gesetze, sondern nur die Schilderung des Stift-
zeltes in Exodus, die Opfer-, Reinheits- und Festgesetze des
Leviticus, die Lagerordnung, die Scheidung der Leviten von
dai Priestern, das Abgabensystem etc. aus Numeri enthielt
und mit der Schlussrede Levit. 26, 3 ff. endigte. Dies^
Priestercodex, der auch viele alte Stacke, wie namentlich
die »Thoroth« enthielt, wurde sodann vom Redactor in die
»Thora« der Propheten aufgenommen und an verschiedenen
Stellen mit der Urgeschichte verflochten. Soweit ruht die
Graf sehe Theorie auf dem sicheren Boden sachlicher Kritik;
durch ihre Verbindung aber mit der sogenannten elohistischen
Erzählung, deren Entstehungszeit durch die oben geschilderten
Berechnungen kaum zu ermitteln ist, wird sie auf das schwan-
kende Gebiet grammatischer und lexikalischer Untersuchungen
gefuhrt, wodurch die bereits gesicherten Resultate neuerdings
gefährdet werden. —
*) Den auffalligen Gebrauch des Artikels in den zwei Stellen:
■«mh D*!*« und ■t9*in\sn Di*« — denn Gen. 1, 21. 28 sind (vgl. Dillm. Gen.
z. St.) ebenso wie 1. Sam. 25, 10 als Relativpronomina vor dem Partie,
zu erklären ^ kann man mit demselben Rechte auf eine »schlechte
Tradition des Textest zurückführen, wie 1. Sam. 19, 22. Gen. 41, 26
und Jes. 22, 24 (andere Stellen bei Ges. § 111 a.), und aUe hieraus ge«
zogenen Schlüsse auf die Jugend des Elohisten erweisen sich als hin>
fällig. Ebenso sind die SteUen *«^fino^n OTK Lev. 24, 10 und wnVi
i:Ti^n 1. Sam. 25, 25, II, Sam. 16, 7, auf welche schon Abr. ihn Esra
(Gomm. Ps. 118, 26) im Zusammenhang mit Gen. 2, 3 aufmerksam
gemacht hat, zu erklären. •
Hermann SSiexner, Beurteilungen. 203
Beurteilungen,
6. YogrlnZj Gymnasiallehrer, »Zur Casustheorie« , Bei-
lage zum Programm des Gymnasiums zu Leitmeritz 1882.
27 S. Lex. 8^
Seit einem Jahrzehent ungefähr begann durch eine ver-
ständige und fruchtbare Reaction innerhalb der sprach-
vergleichenden Philologie der Cultus der reinen Form zu
verblassen. Wie man, die alten Bahnen und Traditionen
verlassend, eine starke Einwirkung der Psyche auf den durch
physiologische Bedingungen erzeugten und auch in seiner
Entwicklung begleiteten Laut auf Seiten der Neugranunatiker
aimahm, so fangt man neuerdings endlich an sich darauf zu
besinnen, dass in noch weit höherem Grade psychische Kräfte
auf dem Gebiete der Syntax waltend gedacht werden müssen.
Durch aufmerksame und systematische Beobachtung des
psychologischen Moments in der Bildung syntaktischer Sprach-
formen ist man bereits zu manchen lohnenden Resultaten
sprachlicher Erkenntnis gelangt, und es steht zu hoffen, dass
die Zeit nicht fem ist, in welcher die Syntax endlich aus
ihrer im Vergleich zur Morphologie stiefmütterlichen Behand-
lung heraustritt und m der Forschung diejenige Berück-
sichtigung erfahrt, die ihr gebührt.
Es ist erfreulich zu sehen, wie die Zahl derjenigen
Forscher zusehends wächst, welche an der Hand dieser
neuen Methode der lange vernachlässigten Syntax sich an-
nehmen. Zu ihnen gehört auch G. Vogrinz, dessen Pro-
grammabhandlung »Zur Casustheoriec anregende und
gesunde Anschauungen vom Leben der Sprache bekundet.
Die wissenschaftliche Begründung der Casuslehre ist noch
keineswegs in befriedigender Weise abgeschlossen. Wir ver-
kennen nicht die großen Verdienste eines Bopp, J. Grimm,
Schömann, W. v. Humboldt, Pott, Gurtius, Jolly, Misteli um
diese Frage; sie ist es aber auch trotz der bahnbrechenden
204 Hermann Ziemer,
Arbeit Kumpels, dessen »Gasuslehre in besonderer Beziehung
auf die griechische Syntax« Vogrinz übersehen zu haben
scheint, und ungeachtet der fördernden Untersuchungen von
Hübschmann , Holzweißig und B. Delbrück noch nicht. Sie
ist es verhältnismäßig nicht mehr als die durch Em. Hoflfmann
und Lübbert auf festere Grundlagen gestellte Tempuslehre
und die durch L. Lange ausgebaute Moduslehre, wenngleich
auch diese Partien der Syntax, im Sinne der junggramma-
tischen Methode von neuem durchforscht, vielfach ver-
besserungsfähig gefunden werden dürften. Vogrinz' Beitrag
zur Lösung jener Frage muss als eine hochwillkommene
Ergänzung früherer Forschungen bezeichnet werden.
Zwar tauchen noch immer Versuche auf, die sogenannte
localistische Casustheorie in veränderter Gestalt von neuem
aufleben zu lassen, doch ist man unter den wissenschaft-
lichen Grammatikern jetzt so ziemlich einig darüber, dass
sie sich im wesentlichen als unhaltbar erwiesen und ab-
gewirtschaftet hat. Es kam nämlich durch Pott, Gurtius,
Schleicher, Holzweißig und besonders B. Delbrück die Lehre
von den synkretis tischen oder Misch-Gasus in Auf-
nahme, als welche im Griechischen der Genetiv und Dativ,
im Lateinischen der Ablativ aufzufassen wären, welche drei
die Functionen der seit dem Altindischen verloren gegangenen
Casus übernommen haben sollten. Verfasser wendet sich in
seiner abweisenden Kritik dieser Theorie zunächst S. 4—8
in einem negativen Teile besonders gegen Holzweißigs und
Delbrücks Beweisführung und zwar so, dass er in völlig
davon verschiedener Weise untersucht, wie die Sprache dazu
gekommen ist, dieselben Functionen durch verschiedene
Mittel auszudrücken, dass er ohne Sprachvergleichung und
ohne Zurückgehen auf die Ursprache die Wege zunächst in
der Einzelsprache verfolgt, welche der Gedanke in den
Köpfen des spracherzeugenden Volkes genommen hat, um
mit einem Mittel viele Ideen auszudrücken, kurz so, dass
er die psychologische Fortentwicklung der Casus, die
zugleich ihre Geschichte ist, betrachtet Nur so gelangt
man zu einer höheren und besseren Spracherkenntnis , die
Beurteilungen. 205
sich auch für die Schule verwerten lässt und für die Schul-
praxis fruchtbar zu werden verspricht, während die logische
Bildung des Schülers nach der bisherigen Auffassung schwer-
lich gefördert wird. Das ist jedenfalls ein wohl zu erwägender
Grundsatz, zu dem Holzweißig und Delbrück, obwohl sie die
Macht des Psychischen in der Sprachgeschichte nicht ver-
kennen, wie z. B. Delbrücks Auffassung und Anerkennung
der Macht des Bedeutungswandels verrät, noch nicht hindurch-
gedrungen sind. Delbrück nennt die Macht der 'Bedeutung
ein inneres Motiv für die Uebemahme . der Function eines
geschwundenen Casus durch einen anderen. Nach Vogrinz
dagegen hat in diesem Falle in der Anschauung des Sprechen-
den der übernehmende Casus schon von Haus aus oder
durch die Fortbildung seiner ursprünglichen Be-
deutung die Fähigkeit, jene neue Function auf sich zu
nehmen. Diese Auffassung wird wesentlich gestützt durch
die Lehre von der Bedeutung der Präpositionen, welche an
dem Entstehen der Mischcasus jedenfalls unschuldig sind,
wahrend die Synkretisten diesen Begleitwörtem die Rolle
zuweisen, dass nur jener Teil des Gebrauchs eines Mischcasus
Präpositionen zulasse, welcher die Function eines verlorenen
Casus angenommen hat. Die Präpositionen können in der
Sprache zu jedem Casus, mit Ausnahme des Nominativs,
treten, ohne die Grundbedeutung desselben zu ändern, sie
drücken nämlich pleonastisch (in psychologischem Sinne)
die momentane Function des Casus deutlicher aus. Auch
wir sind der schwerlich anzufechtenden Ansicht, dass die
Sprache des Mittels der Präpositionen sich bedient als einer
Reaction gegen die Isolirung, d. h. gegen die bereits abstract,
vergeistigt oder formelhaft gewordenen einfachen Casus; sie
wirken als concretes Element dem für die Bedeutung des
danebenstehenden reinen Casus geschwundenen Sprachgefühl
entgegen. Die Isolirung, in welche die Casus im Lateinischen
und Deutschen mehr als im Griechischen verfallen sind, wird
so aufgehoben. Ja die Isolirung kann sogar den Casus sammt
der Präposition ergreifen, so dass beide wiederum durch eine
Präposition gestützt werden wie in dem volkstümlichen >von
$06 ttermann 2iemer,
zu Hause«, vgl. der herre von über Rin, engl, from before
bis eyes, from among the trees, from under a eap, frz. de
devanty de dessus. Dieser scheinbare Pleonasmus im Ge-
brauche der Präpositionen ist also psychologisch zu erklären,
wie so manche andere Pleonasmen, Häufungen und Doppe-
lungen (s. d. Ref. Junggrammatische Streifzuge im Gebiete
d. Syntax, Colberg 1882, 2. Aufl., S. 45. 46. 140—157). Die
Präpositionen sind nicht ein Mittel, die Mischcasustheorie der
Synkretisten zu stutzen.
Um zu einer richtigen Erkenntnis des Casussystems zu
gelangen, beantwortet der Verfasser in einem positiven Teile
S. 8 — 11 die Fragen: Wie ist das Casussystem entstanden?
Wie verhält sich die Minderzahl der Casus im Griechischen
und Lateinischen zu den ursprünglich als vorhanden voraus-
gesetzten acht Casus und welche Momente sind bei der Ver-
minderung der Casusformen wirkend zu denken? Antwort:
Die Casus sind im Indogermanischen höchst wahrscheinlich
schichtenweise entstanden, und zwar lassen sich mindestens
zwei Schichten unterscheiden: I.Nominativ, Accusativ, Vo-
cativ — 2. jünger die locale oder deiktische Function aus-
übenden Dativ, Localis, Instrumentalis, Ablativ. Die jüngere
Schicht weist Parallelformen auf, zwei sogenannte Instru-
mentalformen z. B. In diesen erkennt Vogrinz einen der
ältesten Sprache eigenen Zug zur Polyonymie, welcher auf
dem Gebiete der Bedeutung Synonymie entspricht. Aus so
als synonym erkannten Casus hat sich eine Auslese bewerk-
stelligen lassen. Ein mögliches Zusammenfallen der Formen
braucht nicht ein Zusammenfallen der Bedeutung zur Folge
zu haben. Präpositionen alteriren die Bedeutung des Casus
nicht, sondern drücken nur das im Casus angedeutete ver-
fluchtigte Begriflfsverhällnis distinct aus.
Im zweiten Hauptteile seiner Arbeit mustert Verfasser
den Gebrauch der Casus im Griechischen und den des
Ablativs im Lateinischen, um zu zeigen, wie ohne Annahme
von Mischcasus die Gebrauchsweisen psychologisch durch
erfolgte Subsumirung einer neuen Beziehung unter schon
vorhandene und geeignet befundene Kategorien entstanden
Bearteilnngen. S07
sein mögen. Er fahndet also stets nach einer einheit-
lichen Grundidee des betreffendai Casus. Dieselbe ist,
wie er nachzuweisen versucht, mutmaßlich fOr den Nominativ:
die tätige Person, für den Accusativ: die leidende Person,
für den Genetiv: Zugehörigkeit, Dativ: beteiligte Per-
son, Ablativ: Begleitung durch Person oder Sache, Locativ:
B^leitung durch den Ort, Instrumental: Begleitung durch
Ort, Person oder Sache. Vor Curtius, Delbrück und
Hübschmann geschah dies Bestreben, für die verschiedenen
Casus eine bestimmte Grundbedeutung ausfindig m machen,
in ziemlich unhistorischer Weise, die den Tatsachen Gewalt
antat und ein Verständnis für die geschichtliche Entwicklung
von vornherein ausschloss. Aber auch die Versuche der
eben genannten Sprachforscher, durch Vergleich der indo-
germanischen Sprachen das Wesen der wichtigsten Casus
(Genetiv, Dativ, Ablativ) zu ergründen, sowie die Versuche
anderer, welche u. a. auch agglutinirende Sprachen zum Ver-
gleich heranzogen, haben bislang noch keinen durchgreifenden
Erfolg erzielt. Dem Referenten will diese ganze Grund-
bedeutungsfrage, besonders diese principielle Betonung der
Fundamentalbedeutung, nicht recht gefallen. Gibt es denn
überhaupt äine Grundbedeutung eines Casus, eines
Modus, eines Tempus? Oder gibt es auch nur eine mut-
maßliche Grundbedeutung eines Casus? Ist das nicht
eine jener zu Realitäten gestempelten Abstractionen der
Grammatiker alten Schlages, die, um die Sprache zu be-
greifen, in logischen Kategorien ihr Heil suchten, eine Remi-
niscenz an einen nachg^ade glücklich überwundenen Stand-
punkt, die man deshalb besser abgetan sehen möchte, wie
ja die neuere Methode der Sprachforschung mit vielen der-
artigen Abstractionen aus den beobachteten Tatsachen auf-
zuräumen beginnt? Referent vermag deshalb an eine solche,
von Vogrinz vorsichtig ausgedrückt »mutmaßliche«, Grund-
bedeutung eines Casus nicht recht zu glauben. Er ist vielmehr
der Meinung, dass wir die wahre Natur des Casus vielleicht
niemals erkennen werden, in Uebereinsthnmung mit Miklosich,
der irgmnlwo sich ähnlich ausdrückt. Wir vermögen wirklich
210 Hermann Ziemer,
auf Grund der Genetive bei Verben des Entferntseins, Weichens,
Sichenthaltens. Mittels dieser Analogiebildungen weiß Ver-
fasser auf sehr geschickte Weise gar manche schwierige Fälle
zu erklären und wir, die wir die weitgreifende Macht der
Analogie voll und ganz anerkennen und stets betont haben,
sind gewiss die letzten, dies Verfahren zu tadeln — nur
können wir in allen solchen Verwendungen des Genetivs
keine genetivische Function an sich erblicken, die sich etwa
darin deutlich verriete. Es ist (Paul a. a. O. S. 86) sprach-
geschichtlich von der höchsten Wichtigkeit, zu scheiden
zwischen solchen Functionen eines Casus, die im Sprach-
gefähl wirklich lebendig sind, die also der betrefifenden
Flexionsform eines jeden beliebigen Wortes beigelegt werden
können, ohne dass sie frfiher einmal mit demselben ver-
bunden gewesen zu sein brauchen — und solchen Functionen,
für die das in früheren Perioden einmal lebendig gewesene
Gefähl abgestorben ist, die nur bei Formen aus ganz
bestimmten Wörtern rein gedächtnismäßig beibehalten sind
und keiner anderen Form beigelegt werden können. So
sind, um Beispiele für den letzteren Fall anzuführen, griech.
isolirt dnige Genetive, die ein räumliches Verhältnis bezeich-
nen, z. B. %^ odov^ Tov nqotfm^ v^g V^y^^ Thuk. Man konnte
aber nicht sagen z. B. %^g &8ü(faliag^ %^g d'oXcitfaiig. Da-
gegen ist der Gebrauch des temporalen Genetivs unbeschränkt
Auf diese Unterschiede hat Vogrinz nicht genug Rücksicht
genommen. Aber eine streng historisch und genetisch ver-
fahrende Betrachtung wird sie nicht entbehren können.
Es ist dem V^fasser namentlich gehmgen, eine Anzahl
sonst ganz unverständlicher Gebrauchsweisen durch psycho-
logische Analyse leicht verständlich zu machen, wie z. B. die
Freiheiten in der Verwendung des griechischen Subjects beim
Infinitiv (S. 14)*), den Accusativ des inneren Objects (S. 15),
*) Hier war auf Jollys Geschichte des hifiniUvs im faidogennanischea
Rücksicht zu nehmen. In Bezug auf den Accusativ überhaupt, z. B. in
Bezug auf die formale Identität des Nom. und Acc. u. a. m. verweisen
wir auf die sehr beachtenswerte, treffliche Programmabhandlung Iglan
1879 von FV. Piger: »Die sog. Grädsmen im Gebrauche des lat. Aecu8.t
BeiiHeilang6ii. SU
den iidvetbiellen Accusativ (S. 16), den Dativ als Casus der
beteiligten oder interessirten Person oder Sache, als in-
strumental, als modal, local u. s. w.
Noch in einem Punkte stimme ich dem Verfasser nicht
bei. Er vermag eine Ablativfunction des Genetivs nicht an-
zuerkennen (S. 20). Das mag sein. Aber wie erklärt er
sich denn den lat Ablat. comparationisP Als instrumentale
Function? Oder als locale? Verfasser schweigt über ihn
ganz. Als separativus jedenfalls nicht, da er nur jene beiden
Functionen als im Wesen des Ablativs begründet findet.
Abo wahrscheinlich als instrumentale, eine Bedeutung, die
auch Draeger und andere Grammatiker annehmen. Seinem
Princip gemäß, eine neue Beziehung unter schon vorhandene
Kategorien zu subsumiren, musste Vogrinz ja jede Uebef'^
nähme emer neuen selbständigen Function beim Genetivus
oomparationis von einem fremden Casus her schlechtweg
leugnen. Aber auch für diesen Casus in Vergleichungssätzen
vermissen wir eine genügende Erklärung. Uns ist ganz un-
zweifelhaft, dass der Abi. comp, als separativus ebenso auf^
zufassen ist wie der griech. Gen. comp. Auch Siecke und
Wöfflin sind dieser Ansicht« welche sich durch unabweisliche
Gründe stützen lässt; mehr darüber s. Jggr. Streife. S. 107.
106* 131 ff. Es ergibt sich also für beide die Bedeutung:
von wo, im Abstände von, von wo gerechnet, daher
im Vergleich zu. Der beste Beweis dafür ist, dass beide
Casus auch bei Positiven und Superlativen vorkommen:
nuDos hoc meticulosus aeque Plaut. Amph. 293, quo nemo
adaeque parcus Most. 1, 1, 30. S^ duvfiofwtatoi äXi,mif
lnX9t* Hom. II. a. 505. Od. X. 483. Hier kann doch der
Genetiv unmCglich bezeichnen, dass der höchste Grad durch
das zweite in ihm stehende Vergleichungsglied zum Vorschein
komme. Man muss hierin wohl oder übel entweder den
45 S., welcher aoch auf dem Boden der neueren spradiwissenscheft-
lichen Mettiode stehend dem Verfasser ebenso vielfach hätte von Nutzen
sein kflnnen, wie die vorzflglich orientirende Darstellung von Gerh.
Heinr. Hüller, lieber den Ac<;nsativ und sein Verhältnis ta den Übrigen
Casus in dieser Zeitschrift Bd. XIÜ, S. 1—81 (Heft 1 und 3).
14*
212 Hennann Ziemer,
proethnischen Gen. compar. oder eine an innerem Wert ihm
gleichkommende Fortbildimg finden, die immer noch älter
ist als der Ersatz durch ^ im Griech., durch quam im LaL
Diese Functionsübernahme würde nun freilich fär die syn-
kretistische Theorie und gegen des Verfassers Deductioiien
sprechen: aber sollte von dem Gebrauche des griech. Gene-
tivs, des lat. Ablativs in solchen Vergleichen nicht eine
Bracke zu früheren verwanten Gebrauchsweisen dieser Casus,
an die sie in naturgemäßer Entwicklung sich angelehnt
haben, sich schlagen lassen? Gesteht doch Vogrinz selbst
einen Genetiv, scheinbar auf die Frage woher? stehend, ein,
während er allerdings solche sinnliche Ortsbestimmung, als
dem Wesen des Ablativs fremd, diesem Casus nicht ein-
räumt. Wir empfehlen diesen Gegenstand dem weiteren
Nachdenken des scharfsinnigen Verfassers; vielleicht gelingt
es ihm dennoch, einen solchen Stein des Anstoßes aus dem
Wege zu räumen. Dergleichen gibt es noch mehrere. Viel-
leicht aber gelangt er bei weiterem Forschen zu der Ueber-
zeugung, dass er sein strenges Princip ohne Einschränkung
nicht durchführen kann. Nicht alles lässt sich eben durch
analogische Fortbildung erklären. Das Mittel ist nicht zu
verwerfen, allein es fragt sich, ob die vielgestaltige Masse
syntaktischer Erscheinungen in Analogiewirkungen ohne Rest
aufgeht, ob man nicht noch ein mittleres Gebiet an^
zunehmen hat, in welchem die Mischcasustheorie zu ihrem
Rechte kommt. Verfasser hat, und das verdient alle An-
erkennung, den Mut gehabt, einen bedeutenden Gedanken
auch wirklich m allen seinen Consequenzen auszudenken,
eine Tugend, die selbst Männer wie Madvig und Draeg^
nicht immer geübt haben, wie deren Auffassung der so-
genannten Gräcismen im Gebrauche des lat. Accusativs —
dieser schon von Em. Hoffmann gebührend gebrandmarkten
Jammergestalt — deutlich beweist, da sie den Acc. ähnlich
wie Rumpel (und Hübschmann) defhiiren und dennoch in-
consequent von Gräcismen reden. Auf jeden Fall kann eine
Consequenz, wie Vogrinz sie bewährt, der Wissenschaft nur
Benrteilungen. 213
nützen; aber es ist schwerlich Aussicht vorhanden, dass man
mit einem Princip alle vorliegenden Tatsachen erklären
wird. Wenn der Grund des Zusammentreffens verwanter
Sprachen in der Gleichheit der ursprünglichen Anlage, die
Verschiedenheit in den abweichenden Wegen zu finden ist,
welche die Entwicklung der Sprachen eingeschlagen hat
(Miklosich, Vergl. Gr. IV, 287), warum sträubt Verfasser sich
bei dem unleugbaren Zusammenhang der indogermanischen
Sprachen, in emer Sprache Reste einer Erbschaft anzu-
erkennen, welche auch aus vergangener Zeit da und dort
sich erhalten haben können, neben den in anderer Richtung
gleichmäßig vorgerückten Bildungen? In der organischen
Natur hat man doch solche Uebergänge allenthalben, auch
wird hier ein Gesetz durch ein anderes eingeschränkt; warum
nicht in dem Leben der Sprache (s. L. Tobler in der Zeitschr.
für germ. und rom. Philol. 1881, S. 123)?
Diese Bedenken gegen seine Theorie konnten wir dem
Verfasser nicht verschweigen. Weitere Ausarbeitung, Be-
gründung imd emgehendere Entwicklung dessen, was in
diesem Programm nur angedeutet und in großen Zügen
umschrieben werden konnte, wird derselbe, dies hoffen wir,
der Wissenschaft nicht vorenthalten. Ihm bleibt aber schon
hierdurch das Verdienst, in deutlicher Gestalt einen neuen
Weg vorgezeichnet zu haben, auf dem man der heiklen
Gasustheorie beikommen kann, einen Weg, den die For-
schung bisher übersehen, den sie aber forthin nicht un-
beachtet lassen darf. Es wird ihm zwar nicht gelingen, die
Synkretisten ganz aus dem Felde zu schlagen, ebensowenig
wie diese die Localisten völlig haben mundtot machen
können — denn beide Theorien enthalten offenbar, die eine
mehr die andere weniger, manches Wahre -— aber er hat
doch gezeigt, dass mit ihnen beiden die Sache noch nicht
abgeschlossen ist
Vogrinz' formgewante und lehrreiche Abhandlung ver-
dient daher die Beachtung nicht bloß der Universitäts-
docenten, sondern auch der Gymnasiallehrer, welche den
214 Hermana Ziem9r, Beurteilungen.
Gonnex des Unterrichts mit der Wissenschaft als den Lebens-^
nerv des ersteren anerkennen*).
Colberg, den 1. August 1882.
Dr. Hermann Ziemer.
Wörterbuch der ostfriesischen Sprache. Etymologisch be-
arbeitet von J. ten Doomkaat Koolman. Band I, A bis
Gut. Norden bei Braams 1879. S. I bis XVm Vor-
wort, Verzeichnis der Quellen und Hölfsmittel, 710 Seiten
gr. 8«. Band n, H bis Pi (Heft 9 bis 15) 1879—1882.
Der Wortschatz der niederdeutschen Sprache Ostfrieslands
war uns im Wesentlichpn bereits durch das Wörterbuch von
Stürenburg, Aurich 1857 belcannt. Herr ten Doomkaat hat
denselben in einheitlicher Orthographie zusammengestellt, zu
jedem Worte Beispielsätze gegeben, unter welchen die Sprich-
wörter eine besondere Stelle einnehmen, darauf das betreffende
Wort durch die übrigen germanischen Dialekte verfolgt und
schließlich durch Zurückgehen auf eine indogermanische
Wurzel oder doch auf ein germanisches Stammwort die
Grundbedeutung des Wortes festzustellen versucht. Die ety-
mologische Betrachtung nimmt weitaus den größten Raum
in Anspruch. Eine Beschreibung der Sitten, Sagen und Ge-
bräuche des Volkes, wie sie namentlich in älteren nieder-
deutschen Idiotiken zu finden ist, will das Werk nur in sehr
beschränkter Weise geben. Wer sich über diese unterrichten
will greife zu den Schriften: H. Meier, Ostfriesland, Land
und Volk in Geschichte und Gegenwart geschildert, Kern und
Wilms, Ostfriesland wie e9 denkt und spricht, F. Hoissen
Müller: Döntjes iu Brokmerlander Taal.
*) Störende Oniokfishler sind 6. 19 Mitte: SulMnimmirung st Sub*
somirung; S. 15^ Anm. 4: Monate st Momente.
H. Jellinghaus, Beurteilungen. 215
Noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts redete
das Landvolk Ostfrieslands eine wirkliche friesische Mundart.
Die Sprache, welche uns der Pastor zu Stedesdorf, Cadovius
Müller im Jahre 1691 in seinem Memoriale Linguae Frisicae
überliefert hat, ist, wenn man die aus der hochdeutschen,
holländischen und niederdeutschen gemengte Orthographie
richtig interpretirt, reichlich so gut friesisch, wie heute das
Landfriesische in der niederländischen Provinz Friesland.
Wir beobachten da die friesisch- englische Senkung von
kurzem a : kurzem e: esk «» Asche, tv^ter = Wasser, gles «
Glas, fett = Gefäß, ecker «= Acker, schleg » Schlag. An
Stelle von altsächsischem langem ä, nndd. i steht langes i:
jehr SS Jahr, nedd = Nadel, mehl » Mal, lehnen «» lassen,
eifend ^^ Abend (englisch year, needle, meal, eve). Den
angelsächsisch-friesischen Uebergang von kurzem a zu kurzem
o: nacht — Nacht, Umm = Lamm, man = Mann. Friesisch
ist wohl auch der Vocal in d^ = Tag, diggelik s» täglich,
nusee === Nase, iusck = Zahn.
Auch in dir ~ Ohr, stree = Stroh, meehn = Morgen,
heeme = Winkel, wo ee »= altem äu, aü ist, zeigt sich eine
dem Englischen verwante Lautentwicklung. Wie im West-
friesischen ist Vocaldehnung beliebt : peest = Pest, wyhnter =
Winter, tcihnd = Wind, nuuht — Nuas, huhne =* Hund,
wuhnder = Wunder, stuhnde = Stunde.
Bei den Gonsonanten erscheinen die bekannten frie-
sischen Laute: fh ist entweder erhalten: fhtfsdy « Dienstag,
ttust »I Durst, Aam =^ Dom, theck =» Dach, ihianster =«
Hexe. Oder es geht wie in den neufriesi3chen Mundarten
und im Dänischen in t über: teile. ^ Estrich, tankede =»
dankte, iredde »» dritte. Bisweilen wird die damalige frie-
sische Aussprache des alten ih charakterisirt: tjunck »
Finsternis, tiuchsd ^^ Deichsel. Anlautendes k ging wie bei
allen Friesen in tseh über und wird 8, 0, t» geschrieben:
siUem =» Keller, simcken — Kücken, ßiercke ^ Kirche, ßiet »
Katze, eiehl = Kerl, teise » Käse, tschittel = Kessel. Wie
im Englischen hält sich ha (ndd. es): icagsm = wachsen,
saghe ^ Messer, foghe ^ Fuchs» eeghsfhyn » sechzehn, eghs,
216 H. Jellinghaus,
oghse = Ochse. Wie im Westfriesischen zeigt sich an-
lautendes j = gemi. g: jaaten = gießen, jeffd = Gabel,
jiffen = geben, jilde = Geld, verjcnstiginne = Vergonst.
In denjenigen Lauten, welche nicht im Friesischen und
Englischen eine von den aridem germanischen Dialekten ab-
weichende Umbildung erlitten haben, zeigt die Sprache des
GadoYius wenig Gemeinschaft mit dem Holländischen und
Niedersächsischen. Vielmehr ist die Entwicklung eme ähn-
liche, wie in den westfälischen Mundarten, Das altem i
(und a), mittelniederdeutschem und niedersächsischem S ent-
sprechende westfälische ia ist bei Cadovius i, z. B, miU =
Mehl, iten — essen, fridde == Friede, fidder = Feder, Mdde =
treten, rienhagg = Regenbogen; drien = tragen. Auch hirg
s= Berg. Einmal ia: fiahndd = Fähnlein. Das altem i,
niedersächsischem S entsprechende westfälische fe ist y
(wyhk = Woche, hyhimd = Himmel), ie {sckwiep = Peitsche)
und iu, io {niuggen, nioggen = neun). In byhnen = binden,
und gryhnen = mahlen zeigt sich die Dehnung des «, wie
im westf. Urnen und im engl to bind. Altes u, o ist nicht
wie im Niedersächsischen und Holländischen o, sondern u, ent-
sprechend westfälischem ua, üa, üe; z. B. hussen = Strümpfe,
jsfihn = Sohn, se kuhnd = sie können, schude = Schürze,
ührbedde = Ueberbett, hunig = Honig, uUi == Oel. In
fiuggd «= Vogel, siugge = Sau ist das iu wohl schon recht
alt (engl, fowl, sow). Altes 6 ist au, wie in vielen binnen-
ländisch-niederdeutschen Mundarten: krauch = &ug, bauck =
Buch, raupen = rufen, faut = Fuß, plaug = Pflug. Als
Umlaut dazu dient ay, westfälisch oi (und ai): Jcayckes =
Kuchen, fiayken =s fluchen, sayken = suchen, taifen = warten.
Altes au, westfälisch au und äu, bleibt: lauhnen == lohnen,
daudekist = Sarg, braudekarff = Brodkorb, daufkeide «==
Taubheit, auck = auch. Den Umlaut zu diesem au stellt
ein ay dar : bayse = böse, schmayken = schmauchen, glaifen =»
glauben. Altes ü ist in der Regel tih, jedoch: sypen = saufen,
0yen = nähen. Ein iu erscheint in diupe = tiefe, tuhntiug =
Unzeug, stucken = Küken. Ein anderes eigentümliches, viel-
leicht altes iu erscheint vor ch in: liucht = Licht, riMcW —
BeorteiluDgen. gl7
recht, schliucht =s schlecht; siwMber = sichtbar. Das alte
««, für welches das Niederdeutsche meist H, ai aufweist,
lautet ia: schiaten «= scbiefien, fliagen = fliegen, liafde =»
Liebe, thyanen =: dienen, tria «= drei. Oder tau: triau =
drei, fliauge = Fliege. Daneben kommt auch jaaten = giefien
vor. Endlich ist das sonderbare io in fiosck 3» Fisch, spiock =»
Speck, tiochter = Tochter, fliash = Fleisch, diow = schlau
zu erwähnen.
Die im 17. Jahrhundert aussterbende Sprache, welche
Gadovius Muller aufgezeichnet hat, war so gut friesisch, wie
heute das Landfriesische in Hindelopen. Diejenige, welche
das Doomkaatsche Wörterbuch behandelt, ist ein rein nieder-
deutscher Dialekt und gehört dem Seeniederdeutsch an, wie
es sich von den Niederlanden bis nach Preußen und Schles-
wig breit zwischen die dänischen und friesischen Dialekte
auf der einen Seite, und die westfälischen auf der anderen
eingeschoben hat. Hier ist unter anderem altes kurzes (u):
a {apen » offen), das mittelniederdeutsche e ist ä {häkts=
Hecht, flägd = Flegel, fräfd = Frevel, fräde = Friede,
dräpm == treffen, nä/vd = Nebel, käld a> Kessel, lag =
leer), altes 6 und au sind gleichmäßig 6 (au) z. B. bldd 1=
Blut, blot =3 bloß. Einige phonetische Eigentümlichkeiten
hat das moderne Ostfriesisch mit niederländischen Mundarten
gemein, nämlich das d = nds. (danner = Donner, knötte =
Knote, körf = Korb), das « = nds. u {f rückt = Frucht,
dm a toll), auch langes 6 statt 6 (dr/kn «^ Traum, JSde =
Jude, hrSme «= Krume). Femer das niederländische an-
lautende fn in fnüggen = zackig schneiden, fetzen, fnOiken ==
knuffen. Vorliebe für anlautendes / zwischen Vocalen statt t;;
girafea = graben, TMfer = Hafer, Jdifen = kleben, vXfd =
Nebel. Inlautendes ik hält sich, wie überall, im Nieder-
deutschen westlich der Elbe {y>a&k&l^ = waschen). Orga-
nisches niederdeutsches Uo ist dw in dwars = quer, dunlsk =
schwindlig, dmngen = zwingen.
Das Friesische hat nur schwache Spuren hinterlassen«
Mit Sicherheit lässt sich nur die Bildungssilbe -je anführen,
welche nach t = niederdeutschem -ken, -ke (hüt^e = Hüttchen)
218 H, Jellinghaus,
steht. Dagegen haben sich in einzelnen Wörtern offenbar
friesische Laute gehalten. Das i in bSn ^= Kind, das i in
iU n Schwiele (neben dU I, 28) und in tsk »^ Esch, das
ei in eilarn = Mutterschaf lamm , in eUand = Insel und in
Heien — blühen (neben bloien). Das o in lane »: Gasse,
das in b$rUje — Mörder, das ö in nöse = Nase. Friesisch
ist das j in jätten =» gießen, b^e = Beere, baye = Bube,
vielleicht auch in böje = Böe und blcje = blöde. Eigen-
tümlich ist auch dw in dtcessen =s thauen, sich erweichen und
in dwo s Thon. Das Englische hat hier daugh, das Nieder*
deutsche do, jedoch steht auch dwa im Bremischen Wörter-
buche. Von folgenden bei ten Doornkaat verzeichneten
Wörtern ist nicht bekannt, dass sie in Norddeutschland
außerhalb des alten Frieslands heimisch wären: bame =>
Stechfliege, batte = Brücke, dagge = Schlumpe, fon <=
Madchen, f{U »> Milchrahm, gröm =» Fischeingeweide, grünen
» Grütze, Mn, hänt s Schilf, jid = Fahrweg den Deich
hinauf, ladde = Rasendecke, 2^ = Kibitz, lauken = blicken,
nesse, nes =» Halbinsel.
Zwischen den Ostfriesen und den Westfalen scheint
ein ähnlicher scharfer Gegensatz existirt zu haben, wie
zwischen den Westfalen und Hessen. Die Sprichwörter Bd. I
S. 435 geben dieser nationalen Abneigung den schärfsten
Ausdruck. :i^Fdingskt heißt erzdumm, unbeholfen, verlegen,
armselig. »TFof heb' m ddr'n lüst hadt sff de f&ing, »cfo
hcMrren se mit sSfen 'n glas bSr dild^€ — ^Harm! hebben de
fiumen ok bSnen?€ frög de filing, "kdo ham' hd 'n pogge dal-
slaken, de hS under d! plAwlbifiin ispgrapst hvn^A
So hat denn auch das Ostfiriesische viel mehr Idiotismen
mit dem Niedersächsischen als mit dem Westfälischen
gemein: bit » Loch im Eise, blas = blass, fdUe = Werk-
zeug zum Flachsbrechen, feilen — »feudehic, fd = schnell,
heftig, flä » Bach, Kanal, fohken ^^ züchten, gloien =
schräg abfallen, gSk = Gauch, göre = Duft, gröpe s=s Jauch-
rinne, grude »» das zugebundene Ende des Sackes, gulf =
Scheunenfach, heiter, htder ^ heiter, karig ^ sorglich, kei =
ländlicher Stein, klSnen » langweilig schwatzen, klise, eine
BeurteUungen. 219
Bruckenart, laken = tadeln, IS » Sichel, leim »=» blitzen,
tnule =» Pantoffel. Deren =» Mädchen (westfälisch nur im
verächtlichen Sinne), ditne «= betrunken (westf. nur in ^dick
un dkmtiec), Idm = lahm.
Andererseits teilt das Ostfriesische auch eine Anzahl
eigentümlicher Worte mit dem Westfälischen. So babbe «
Vater, bälsse = Kater, drift = Herde, drubbd == Knäuel,
ferknusen = zerdrücken, grinen = weinen, jeddewdrd «»
Scherzwort (westf. bei Lyra, Plattdeutsche Briefe s. XI u. 194
jeddewaart = Sprichwort), klüse => Hure, kolkrafe =9 corax
nobilis, krtteür = beißend sauer, hcOUem » schwatzen,
ol =3 Wasserrinne (westf. -<iu2 in Ortsnamen). Das Ost*
friesische hat femer ganz die westfälischen Wörter für
»Brunnenc und »Quellec. Dann heißt »Aomc auch in West-
falen: 1) Schnitte (Brod), 2) Wiese, 3) Schinken, 4) Netz.
Die ostfriesische Bedeutung »über den Giebel schrägherab-
hängendes Strohdach (II, 23) fehlt dagegen, weil Bauern-
häuser mit abgestumpftem Giebel erst nördlich von Westfalen
auftreten. Den Kindern die »Bremer Gänsec zu zeigen, indem
man sie an Kopf und Ohren in die Höhe hebt (I, 226) ist
ebenfalls in Westfalen üblich.
Dass eine ganze Anzahl niederländischer Wörter ins
Ostfriesische eingedrungen, ist begreiflich. Dahin gehören:
drseln «=» zaudern, bäher = Bäher, bakken = machen, aus-
führen, beschäfd »= gebildet, bünsel = Dtis, düge s= Fass-
daube, dwäpen «= tiefsinnig sein, fU = öde, fSdster = Amme,
fr^ BS Frist, gute »» loser Bube, nrnnje = baares Geld,
dders «» Eltern, peinsen = denken. Freilich ist es zu be-
zweifeln, ob alle von Doomkaat aufgeführten Wörter volks-
tämlioh sind. Bd. I, 26 steht ein Artikel ^alfader€ mit dem
Beispiel »£hxZ ia de Alf oder €. Soweit Recensent das Nieder-
deutsche kennt, werden christliche Begriffe in hochdeutscher
Wortfonn ausgesprochen. Ist amen <= nachahmen und andldt
«» Antlitz im Volke lebendig ? Anen = vermuten erscheint,
ohne Beispiel angeführt, verdächtig, da das Wort sonst im
Niederdeutschen nicht vorhanden ist. Erst S. 43 erfahren
wir unter ämk, dass die Ostfriesen das Wort wirklich
220 H. Jellinghaus,
gebrauchen. Bd. I, 43 ändk = ähnlich ist doch gewiss
hochdeutsch. Bd. II, 632 »wenY g6n mus (mut) ioas€ ist
hochdeutsch. Die Niederdeutschen sagen: et was m möten.
Herr ten Doornkaat ist vielfach getadelt worden, weil
er der Etymologie so viel Raum gegeben hat. Allein an sich
sind die etymologischen Untersuchungen nirgends so an ihrem
Orte, als in einem Dialekt -Wörterbuche. Und man wird
zugeben müssen, dass dieselben vom Verfasser mit großer
Umsicht geführt worden sind. Es ist nur, dass die Sucht
jedes Wort auf ein Stamm- oder Wurzelwort »zurück-
zuführenc den Leser stört, weil er auf ein Gebiet geführt
wird, wo für ihn die Urteilsfähigkeit aufhört.
Einige Bemerkungen und Einwände gegen einzelne Wort-
erklärungen des Verfassers mögen hier folgen.
hise, schmaler Lederstreif (I, 171) ist auch sonst bekannt.
Es bedeutet in der Form hüse in hochdeutschen Dia-
lekten »Einfassung, Vorstoß eines Rockesc. Im Flämischen
lautet das Wort lieee. In der Komödie von Teweschen
Eindelbehr, welche um 1650 entstand, steht Act I:
Dama quam och ein Kerl, de beurde (dem Priester im
Ornate) de Biese tip.
idmte, Gehölz (I, SOI). Die Endung te ist doch wohl nicht
aus ati verstümmelt. Wenigstens heißt das osnabrückische
Dorf Bohmte in alter Zeit ^B(mwidi€,
bos8, bosse, verschnittener Eber (I, 209) wird als connex
mit dem ahd. bdmn = stoßen angesehen. Westfälisch
ist basse das Schweinemännchen. Englisch basse = swine
Topsel's Foure Footed Beasts p. 661. In Heepen bei
Bielefeld heißt bässen = brünstig, läufsch (von Tieren).
bot, Bund, »#n bot flas€ (I, 212). Für Grimms Ableitung
von böten = stoßen spricht westf. flasbcMde, dessen m =^
altem au ist. Wir sagen ja auch »ein Stoß Heue«
Unter dale = Diele, Tenne (I, 275) werden von Doornkaat
zwei ziemlich verschiedene Worte vermengt. Westfälisch
heißt das angelsächsische und nordische O^ü, ihüia:
diele = hd. Diele, Planke. Dagegen die Dreschtenne
Beurteilungen. 221
dici, f. Nur letzteres Wort wird mit dal == in der Be-
deutung »herunterc zusammenhängen.
Zo düst, Klumpen, Büschel (I, 367) gehört das bei Moser,
Osnabr. Geschichte vorkommende dusthoU, Unterholz,
Schlagholz.
tmp = knapp, enge (I, 394) »scheint aus nip^ nip (knapp,
nahe) versetzt zu seine (!?). Das Wort ist weit ver-
breitet. Niederländisch bei Oudemans I, 168 amper —
sauer, scharf (von Wein), bissig (von Weibern), nord-
friesisch (Johannsen S. M) em = empfindlich, westf.
ämpen, beempten =^ verletzlich, zimpferlicb, englisch diaL
amper = weak, unhealthy.
fUt, seicht (I, 520) hat ein westfälisches laut = flach, seicht
zur Seite. Das 6 in dem Wort ist also altes au.
half ern, abbrechen, sich erbrechen (U, 161). Eine Erklärung
ist von ten Doomkaat nicht versucht. In Westfalen
heißt köUoem aufstoßen, rülpsen, was für die zweite
Bedeutung des ostfries. hdfem auf ein anderes Stamm-
wort führt, nämlich Kvlhai, Vertiefung, Sack, mit welchem
wieder hulk = Schlund zusammenhängt.
kolkrafe, corax nobilis (H, 322) bedeutet »wie TcUmkrafe:
krächzender Rabe«. Nach dem handscl;iriftlichen west-
fälischen Wörterbuche von Honcamp ist Tuilk, ktdh bei
Vögehi und Kühen ein Sack am Halse. Daher hölkräwe,
»eine Art Raben, die sich von einer kleineren Art durch
einen großen Sack unterm Schnabel auszeichnet, in
welchem das Tier Allerlei diebisch verbirgt«.
kören, sich erbrechen (II, 329) ist jedenfalls contrahirt aus
köderen, da das Wort in Westfalen kadderen lautet.
krable = Krebs (11, 334). Vor allem ist heranzuziehen das
osnabrückische kratbe, ein sperrhafter Strauch, ein un-
ordentlich gewachsener Zweig (bei Elöntrup, Wörterbuch
der Osnabr. Ma. S. 467). WeslfSWsch Misekrabbe » ilex
aquifolium.
kwäl, masc. das hochdeutsche Qual (II, 431). Wichtig für
die Grundbedeutung ist, dass im Ravensbergischen hwSlen
S22 H. Jellinghans, BaartAilungen.
nur >Blutstr!einen€ heißen kann. Dies leitet doch not-
wendig auf Ableitung von quülen.
langwagen, Verbindungsstock am Wagen (ü, 489). Ed muss
^lankwägen€ heißen. Das lank gehört zu englisch Unk =
Kettenglied.
nöchtern, nüchtern (H, 654). Wenn Verfasser an der Er-
klärung des schwierigen Wortes aus Muchte »^ in der
Morgendämmerung festhält, so hätte das noch vor
50 Jahren lebendige osnabräckische üchten = gebären
herangezogen werden können, welches auch auf die
Etymologie von gotischem iMv6 ein schönes Licht wirft.
H. Jellinghaus.
Linguistic essays. By Cari Abel, Dr. ph. London, Trübner&Co.
{Trübners Oriental series) 1882. 265 S. 8.
Das Inhaltsverzeichnis des Bandes weist folgende Num-
mern auf:
1, Language as the expression of national modes of
thought. 2. The conception of love in some ancient and
modern languages. 3. The english verbs of command.
4. The discrimination of synon]rms. 5. Philological methods.
6. The connection between dlctionary and grammar. 7. The
possibility of a common literary language for the Slave nations.
8. Coptic intensiflcation. 9. The origin of language. 10. The
Order and position of words in the Latin sentence.
Ein Teil dieser Abhandlungen lehnt sich an Arbeiten
an, welche früher in deutscher Sprache erschienen sind und
die wir hier gleichfalls aufzählen wollen. 1. Ueber Sprache
als Ausdruck nationaler Denkweise. Ein Vortrag; Berlin,
Dümmler 1869. 29 S. 2. Ueber den Begriff der Liebe in
einigen alten und neuen Sprachen. Sammlung Virchow*^
Holtzendorff; Berlin, Carl Habel 1872. 63 S. 3. Die eng-
K. Bruchmann, Beurteilungen. 223
lischen Verba des Befehls. Berlin, Liepmantissohn 1878.
62 S. 5. Ueber philologische Methoden. Deutsche Rund-
schau, August 1877. S. 333—338. 9, Ueber den Ursprung
der Sprache. 2. Angabe. Berlin, Liepmannssohn 1881. 23 S.
10. Ueber einige Grundzäge der lateinischen Wortstellung.
Zweite Auflage. Berlin, Dfimmler 1871. 23 S.
Die Formel, in deren Kreis alle diese Abhandlungen
gehören, ist die psychologische Sprachwissenschaft. Nicht
in dem Sinne, als gäbe es verschiedene Sorten von Sprach-
wissenschaft, sondern in dem, dass den Verfasser hauptsäch-
lich die psychische Seite der Spracherscheinungen beschäftigt
und dass er stets von der Ueberzeugung geleitet wird, dass
die Sprache ein psychisches Organ ist, dass die Sprach-
wissenschaft (»oder Glottikc wie Schleicher sich ausdrückte),
nicht sowohl ein Teil der Natur — als der Geistesgeschichte
der Menschen bildet.
Da diese Essays doch hauptsächlich für das englische
Publicum bestimmt sind, so ist dies an erster Stelle wegen
dieser V^tretung psychologischer Sprachwissenschaft zu be-
glückwünschen. Denn wenn es in England auch nicht an
Forschem von gleicher Tendenz fehlt, so scheinen sie doch
seltener zu sein als in Deutschland. Max Müller, an dessen
geistvolle Arbeiten der deutsche Leser sogleich denken wird,
hat, trotz abweichender theoretischer Formulirung, viele
seiner Untersuchungen nach gleicher Methode unternommen.
Sie haben jedoch eine andere Richtung eingeschlagen als
diese Essays von Abel.
In ihnen zeigt sich die Sprachwissenschaft in ihrem
ganzen Umfange vertreten. Neben dem Ursprung der Sprache,
welchem der Verfasser an der Hand ägyptisch -koptischer
Sprachgeschichte nachgeht, wird die Sprache als Ausdruck
eines besonders gefärbten, m sich abgeschlossenen Volks-
geistes betrachtet. Die feine Abstufung des Gefühls und die
mannicbfachen Verzweigungen des Denkens, welche sich
innerhalb emes einzigen Volksgeistes gebildet haben, werden
uns dargelegt und wir wandeln an der Hand des kenntnis-
224 K- Brachmann,
und gedankenreichen Verfassers die verschiedenen Wege
nach, welche alte und moderne Völker (die Ebräer, Römer,
Engländer und Russen) einschlugen, um eine so charakteristische
und inhaltreiche Vorstellung wie die von der Liebe zu ent-
wickeln und in Worten zum Ausdruck zu bringen. Die
Mittel der Sprache, eine besondere Färbung des Gedankens
zu bewirken, treten uns teils in der bloßen Verwendung von
Vocal -Verschiedenheiten entgegen, teils in dem wuchtigeren
und schwerer zu controUirenden der Wortstellung und Satz-
bildung.
Besonderes Interesse erweckt die Herbeiziehung der
slavischen Sprachen, von denen außer den Special-Gelehrten
doch nur wenige etwas wissen. Hier ist auch der siebente
Essay zu nennen: über die Möglichkeit einer gemeinsamen
Litteratursprache für die slavischen Völker. Nach einer Ver-
gleichung des Alphabets, der Orthographie, des gramma-
tischen Baues, des Wortschatzes und der litterarischen Ent-
wicklung dieser Sprachen kommt der Verfasser zu der
Ueberzeugung, dass es nur dem Russischen beschieden sein
könnte, diese gemeinsame Litteratur- Sprache der Slaven zu
werden.
Der Leser wird bereits einen Begriflf davon haben, dass
er vielfache Anregung und Belehrung vom Verfasser zu
erwarten hat. Seine reichhaltigen Untersuchungen sind
synonymische, grammatische, lexikalische und völkerpsycho-
logische. Und für deutsche Leser hat es viel Reiz, eine
Untersuchung über englische Synonyma (der 3. essay) in eng-
lischer Sprache zu lesen.
Die Beleuchtung, in welcher dem Verfasser gewisse Tat-
sachen aus der ägyptisch-koptischen Sprachgeschichte er-
scheinen, kann bei dieser Gelegenheit nicht Gegenstand einer
eingehenden kritischen Untersuchung werden. Wohl aber
scheint es mir wert, seine Gedanken über diesen schwierigen
Punkt hier wiederzugeben, damit auch der Leser zu ihrer
Würdigung und Beurteilung herangezogen werde. Der Voll-
ständigkeit wegen sei einiges wiederholt, wovon schon früher
in dieser Zeitschrift (Bd. X, S. 336 f.) die Rede war.
Beurteilungen. 225
Seinen Ausgang nimmt der Verfasser von den ägyptischen
Homonymen. Ein Wort wie ab heißt tanzen, Herz, Mauer,
Kalb u. s. w.; mak heißt bedecken (beschützen), anschauen
(weil, denn), Leinwand, Boot, freuen; hes heißt Krug, an-
schauen, durchdringen, singen, jubeln, befehlen, Excremente;
chemt heißt drei, ermangeln, verlangen, gehen, Feuer, heizen,
Wurfspieß u. s. w.
Dieser Tatsache einer sehr ausgedehnten Homonymie
steht zur Seite eine ebenso ausgebildete Synonymie, sodass
es z. B. für schneiden etwa drei Dutzend Synonyma gibt,
für rufen ein Dutzend, für Schiflf zwei. Dass wir trotzdem
die Hieroglyphen- Schrift lesen können, verdanken wir dem
Umstände, dass sie Text mit begleitenden Illustrationen ist;
außer durch seinen Buchstabenwert lernen wir ein Wort
auch danach schätzen, was für ein Bildchen ihm beigegeben
ist, zu dem Zweck, die Begriffsklasse zu bezeichnen, welcher
es an dieser Stelle zuzurechnen ist, sodass z. B. hinter dem
buchstabirten Namen einer Blume das Pflanzenbiid, hinter
der buchstabirten Bezeichnung irgend einer Arbeit das Tätig-
keitsbild als Erläuterung hinzugefügt ist.
Hat also die geschriebene Sprache des Bildes bedurft,
um verständlich zu sein, so die gesprochene der Geberde,
wenn auch die bloße Situation und der Zusammenhang der
Rede zum Verständnis hülfreich war. Während es nun auch
im Altägyptischen schon einige Worte gab, welche nur eine
einzige Bedeutung hatten, war die Sprache im Lauf der Jahr-
tausende auf diesem Wege fortgeschritten, sodass im Kop-
tischen (der Volkssprache der Aegypter, welche das Christen-
tum angenommen haben) eine Unzahl von Homonymen und
Synonymen verschwunden ist. Ersatz ist geschaffen durch
die Differenzirung von Laut und Sinn.
Mögen nun die Aegypter, welche doch Eaukasier sind,
mit den Semiten und Indogermanen verwant sein oder nicht,
so lässt sich trotzdem die Möglichkeit nicht bestreiten, dass
es in semitischen und indogermanischen Sprachen ähnlich
zugegangen ist. Dann wäre es ungerechtfertigt, bei gewissen
Zeitsohr. Ar VöQcerpsych. und Sptachw. Bd. XIV. S. 15
226 K* Braehmann,
Worten des Arabischen, deß Sanskrit und des Ebr&ischen,
in Verkennnng der Tatsache der Homonymie, alle Ver-
schiedenheiten des Sinnes auf eine centrale Grundbedeutung
zurückzuführen und jene weitgetrennten Vorstellungen durch
systematische Apperception aus einer einzigen Urbedeutung
entstanden zu glauben.
Damit wäre die Frage nach dem Zusammenhang von
Laut und Bedeutung, die Frage, warum gewisse Begriffe
durch gewisse Laute oder Lautcomplexe ausgedrückt werden,
»warum der Mann Mann und die Frau Frau heißte, von
der Sprachschöpfung getrennt und in eine verhältnismäßig
späte Periode gerückt. Erst die fortgesetzte Wahl vieler
Geschlechter muss über den Zusammenhang zwischen Laut
und Begriff entschieden haben.
Im Zusammenhang mit diesen Erscheinungen glaubt der
Verfasser auch an bewusste Sinnverkehrungen, sodass ein
und dasselbe Wort zugleich sein Gegenteil bedeutet Aus
dem Aegyptischen citirt er folgende Beispiele: m heißt sowohl
»in etwas drinc, als »zu etwas hinc, als »von etwas wegc;
er heißt sowohl »von etwas w^c, als »zu etwas hin«, als
»mit etwas zusammen«. Koptisch bedeuten ute und sa so-
vfotil »von etwas weg« als »in etwas drin«. Wenn es auch
im Aegyptischen unter den vielen Homonymen einige geben
kann, welche zuf&llfg entgegengesetzte Vorstellungen bedeuten,
so ist für die Präpositionen (die oben angeführt wm-den)
diese Möglichkeit allerdings geringer. Dazu kommt, dass
zusammengesetzte Präpositionen vorhanden sind, deren ein-
zelne Teile sich gegensätzlich gegenüberstehen: ebol bedeutet
»von etwas weg«; e »zu etwas hin«, hol »von etwas weg«.
»Und was ist es anders als ein auf vergleichende Zusammen-
stellung gebautes ürt«l, wenn der Engländer noch heute
unihout, d. h. mit ohne sagt, um ohne auszudrücken? Und
hat nicht wiäi selbst ursprünglich sowohl mit als ohne
geheißen, wie auch aus wühdraw fortgehen, wUhgo gesondert,
zuwider gehen, wühoid entziehen u. a. zu ersehen ist? Er-
kennen wir nicht dieselbe Wandlung noch heute in dem
Deutschen wider (gegen und zusammen mit)? In dem
Beurteilungen. 227
deutschen Boden als Bezeichnung von oben und unten; dem
deutschen Stumm und Stimme ?« u. s. w.
Mir scheint mindestens anzuerkennen, dass der Verfasser
hier Fragen angeregt hat, welche wirkliche Fragen sind und
eine emgehende Beantwortung yerlangen. Man wird durch
seine Abhandlung wieder auf die Kritik des höchst geist-
vollen Versuchs hingewiesen, welchen August Fick angestellt
hat» um die Wurzeln und Wurzeldelermlnative festzustellen,
welche den ersten Besitz unserer Vorfahren ausmachten.
Denn bei Fick (Vergl. W&rterbuch, dritte Auflage, vierter
Band 1876) begegnen uns auch Ansätze wie pu reinigen und
stinken (S. 40)« kam sich mfihen, ruhen (S. 46) und andere.
Hier indessen sei es genug, die Theorie des Verfassers dem
Leser angedeutet zu haben.
Die Art, wie der Verfasser untersucht, sei noch kurz
erläutert an seinem Aufsatz dber die Liebe, in welchem er
mir besonders glucklich gewesen zu sein scheint. Zunächst
werden die Synonyma für Liebe und die sich darin spiegeln-
den Verschiedenheiten der Empfindung bei den einzelnen
Völkern, den Römern, Engländern, Ebräern, Russen nach-
einander dargelegt Sodann werden uns die Ergebnisse dieser
Betrachtung in doppelter Weise zur Anschauung gebracht.
Die einzelnen Völker werden als Ganze betrachtet und ein-
ander gegenübergestellt; daneben aber werden alle Worte
für Liebe und die Vorstellungen, welche dadurch repräsentirt
werden, betrachtet als die Arten der Erscheinung der Idee
der Liebe überhaupt, wie sie sich im ganzen, in allen Volks-
geistem zusammengenommen und in der ganzen Reihe der
Zeiten, verwirklicht hat. Hierbei ist besonders bemerkenswert
die Ausbildung religiöser Liebe; zu sehen, ob die Menschen
die Götter bloß furchten, oder auch lieben; ob sie glauben,
dass Gott sie immer liebt, selbst wenn er sie straft, und ob
es religiöse Vorschriften gibt, welche die Liebe zu Gott als
heilige Pflicht vom Menschen fordern. Wie sich die Völker
darin unterscheiden, so auch in der Beurteilung desselben
Verhältnisses in verschiedenen Zeiten. So sagt der Verfasser
sehr treflfend (S. 59 der Essays, S. 44 des deutschen Vor-
15*
228 K. Bruchmann,
trags): »ein anderer Differenzpunkt dieser allgemeinen Be-
zeichnungen der Liebe ist das ideale Element, das der
Geschlechtsliebe in den modernen Sprachen, als deren Ver-
treter wir das Englische und Russische hier vor uns haben,
im Gegensatz zu den alten innewohnt. Auch im Ebräischen
und Lateinischen kann die Liebe ein verzehrendes Gefühl
sein, welches alle Güter des Lebens wegwirft, um den
geliebten Gegenstand zu besitzen .... aber es dürfte schwer
sein eine Belegstelle dafür aufzufinden, dass die Liebe zum
andern Geschlecht diesen alten Völkern jene innere Erhöhung
und Läuterung bedeutet habe, als die sie in ihrer höchsten
Potenzirung heute gekannt ist. Dass der Mensch durch dieses
völlige Aufgehen in einem andern selber besser werden, dass
er dadurch die Schönheit einer liebenden Annäherung an
alle Nebenmenschen begreifen und die ganze Welt in dem
verklärten Lichte eines inneren Gefühlszusammenhanges
schauen und schätzen lerne, war den Alten noch nicht zum
Bewusstsein gekommen. Heute haben die Poeten so viel
davon zu erzählen, dass jeder es gehört hat, wenn er auch
sonst nichts davon weiß.c
Wie sich solche Wandlung des Gefühls vollzogen hat
und vollziehen musste, dieser Nachweis ist von der Cultur-
geschichte zu führen, welche die ethischen Betätigungen des
menschlichen Geistes als notwendige Folgen seiner Organi-
sation und Geschichte begreift. Nach dem Vorangehenden
wird es einer besonderen Empfehlung dieser Essays nicht
mehr bedürfen.
K. Bruchmann.
Christentum, Volksglaube und Volksbrauch. Geschichtliche Ent-
wicklung ihres Vorstellungsinhaltes. Von Julius Llppert.
Berlin, Th. Hofmann. 1882. 696 S. u. Vffl.
Die ablehnende Haltung des Herrn Verfassers gegenüber
der vergleichenden Sprachwissenschaft und Mythologie legt
Beurteilungen. 229
es der Kritik nahe, seine Ansichten in zwei Teile zu scheiden;
gerade da, wo die vergleichende Mythologie anders gedeutet
hat als er, muss aufmerksam geprüft werden, ob sein Grund-
gedanke sich besser bewährt. Aber auch hier werde ich
mich (nach der langen Besprechung seiner beiden ersten
Bächer) kurz fassen.
Der erste Teil des Buches S. 3—370 führt den Titel:
Das Christentum in seiner Verwantschaft mit den vorchrist-
lichen Cultvorstellungen. Darin will der Verfasser erweisen
(S. 370. 4) inwieweit der Vorstellungsinhalt des Christentums
als die natürliche Fortentwicklung von Denkprocessen zu
begreifen sei, welche die geistige Arbeit der vorchristlichen
Menschheit ausmachten; wie weit auch in die christliche
Kirche die Spuren des allgemein menschlichen Seelencults
hineinführen oder wie viel Rudimente dieses Cults sich etwa
als Baustücke der neuen Religion mit verwendet zeigen.
lieber die Anschauungen dieses ersten Teils mögen
folgende Andeutungen genügen.
Der Lehrbegriff, welcher den Inhalt des ersten Christen-
tums unter denjenigen Völkern bildete, die im Gegensatz zum
Judentum für die Weiterentwicklung von größter Bedeutung
waren, liegt in der Lehre des Paulus deutlich vor. Diese
ist, dass der Sohn des höchsten Gottes als Mensch auf Erden
erschienen ist, freiwillig den Opfertod gestorben ist und da-
durch ein für allemal Entsühnung der Menschen bewirkt hat.
Anteil daran erwirbt der einzelne durch den Glauben an
jene Tatsache. Diese Vorstellungen enthalten, meint der
Verfasser, nichts Unvermitteltes und Wunderbares, sondern
sind entstanden auf dem Boden der Volksvorstellungen und
mussten an die Begriffe jener Zeit vielfach Anknüpfung
gewähren.
Auch die Veranstaltungen des Cultus sind zum großen
Teil analog dem, was zu andern Zeiten von andern Völkern
an religiösen Gebräuchen entwickelt worden ist.
Wie über den Gebeinen des Heros ein Heroon errichtet
wird, so über denen des Märtyrers ein Martyrien; der Altar
erhält seine Stelle womöglich über dem Grabe des Märtyrers.
230 K. BrucbmauQ,
Ein Rudiment der Sitte, sagt der Verfasser, dass man einst
den Hausvater unter dem Herde begrub oder den Herd über
den Gebeinen des Hausvaters errichtete. »Dieser Stein- oder
Rasenherd, der Uraltar, wurde so auch in geistiger Weise
der Mittelpunkt der Urfamilie, der Sitz dar guten Geister des
Hausesc (286).
Beim Märtyrergrab werden Totrawachen, Versamm-
lungen, Mahle, Opfer und' Spenden veranstaltet. Diese Mahl-
zeiten bei den Gräbern und Denkmälern der Märtyrer waren
zugleich Freudenmahle der Armen, Wittwen und Waisen, welche
man heranzuziehen pflegte, wie einst Oberhaupt öffentliche
Opfermable Gemeinmahle gewesen sind. Wenn nun Augustinus
(civ. d. VIII, S?)"*") berichtet, dass einige ihre Mahlzeiten an
die Stätten der Märtyrer trugen, so schließt der Verfasser,
dass ursprunglich auch die Christen die verdienten Toten
mit Speisespenden pflegten und in Gesellschaft der gegen-
wärtig gedachten Seele das Mahl einnahmen: verlangte ja
doch nach altem Glauben die abgeschiedene Seele Ergötzung
und Pflege von Seiten der Lebenden.
Fetischistisch ist die bei Theodoret erhaltene Anschauung
vom Wesen und von der Macht der Märtyrerseelen: die edlen
Seelen der Sieger durchziehen den Himmel, dem Chore der
Engel beigesellt Ihre Leiber sind nicht so verborgen, dass
jeder ein Grab allein hätte, sondern Städte und Dörfer haben
sich in sie geteilt; sie nennen sie Retter der Seelen und Leiber
und Aerzte und ehren sie als Horte und Wächter der Städte;
wenn auch der Leib geteilt sei, bleibe die Gnade ungeteilt
und auch der kleinste Ueberrest habe die gleiche Kraft mit
dem auf keine Weise geteilten Märtyrer. Sie sind Vorfechter
des Menschen, ihre Helfer und Beschützer, die Abwehrer der
Uebel, die Vertreiber der von den Dämonen erzeugten Plagen,
und die, welche eine Reise unternehmen, bitten sie um ihre
Begleitung auf dem Wege.
Der zweite Teil des Buches enthält eine Wüi'digung und
Deutung zum Teil noch fortblühender, zum Teil im Aus-
*) Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch I, 305.
fieifftaikuigea« 231
sterben begriffener Volksvorstellungen und Voiksbräuche,
welche in ihr^ Gesammtheit immer noch der Welt- und.
Lebensanschauung in den weitesten Kreisen den Stempel
aufdrucken. Diese Vorstellungen sind hervorgegangen aus
dem Seelencult. Auch hier muss aus dem Aberglauben alter
Glaube erschlossen werden. Der Verfasser, welcher die
umfangreiche Litteratur herbeizieht, gibt viele anziehende
Deutungen. Die UeberfüUe des Stoffs nötigt aber zu einer
kleinen Auswahl.
Dass den Tot^i allerlei mitgegeben wird, wie Nahrungs^
mittel und Waffen, ist bekannt (S. 400). Wie aber allmählich
auch im deutschen Culturleben an die Stelle dieser Objecte
die geprägte Mänze trat, so wurden auch schon in alter Zeit
den Toten gegrafiber alle diese Dinge in Geld ▼»'dichtet
und endlich bildete eine kleine Münze den rudimentären und
schon mehr symbolischen Rest des Ganzen. Solche, den
Schatz vertretende Münze, Silber oder Goki, dem Toten in
die Hand zu geben oder in den Mund zu legen, ist noch weit
und breit üblich, in Preußen, Sachsen, Thüringen, Branden*
bürg, am Harz, in der Lausitz und Oberpfalz» Dass die
Münze immer dn Fährgeld als Eintrittsgeld m die Unterwelt
bedeuten sollte, sei nicht festzuhalten.
Diese Deutung scheint mir nicht sicher« Es ist bekannt,
dass jenes Geld weit und breit als Fährgeld aufgefasst wurde
(vgl. z. B. Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch I, S. 169 f.);
war dies der Fall, so schließen wir auf eine mythologische
Anschauung. Wenn sich aber Waffen, Nahrungsmittel und
sonstige Beigaben noch außer dem Gelde vorfinden, so
schmit das Geld wiederum nicht Rudiment zu sein. Endlieb
bt denkbar, dass man das Geld hinemlegte, weil es zu den
Wertsachen gehörte, ganz ohne Nebengedanken: dann wäre
es nur aus alter Sitte beibehalten und nicht Rudiment für
Speisen und Waffen.
Vielfach bezeugt ist der Aberglaube, dass man den Toten
nicht zu sehr beweinen dürfe und dass Thränen, welche auf
ihn fallen, ihn wie Feuer quälen (S. 409), dass seine Ruhe
geetckt wird u. s. w. Denn die abgeschiedene Seele liebt
^j^^Jp?^ k 7 "" \ ',JBÄ K. Bruchmann,
* ' \t naUr^ächlich Ergötzung. Und so werde man auch nicht
"^ ^ '^t rii fr^^'^^ ^^" dürfen, dass gewisse Gefäße in deutschen Gräbern
Thränenkruge sind. Ich finde die Behauptung des Verfassers
übertrieben. Jener Glaube rofisste doch in älterer Zeit
besonders lebendig sein. Aber im Nibelungenlied finde ich
in der Klage um Siegfrieds Tod keine Spur davon (Lachm.
943 f. Simrock XVII, Abenteuer), und wenn Rochholz (1. c. I,
207, 208) diesen Glauben auch aus dem eddischen Helgiliede
belegen kann, so scheint er Nibel. 2239 mit Unrecht an-
geführt zu haben, weil dort als Grund dessen, dass die Klage
unterbleiben soll, nicht ihr übler Erfolg für den Toten be-
zeichnet wird:
unde ob mich mine mäge nach tode wellen klagen,
den n&hsten unt den besten, den sult ir von mir sagen,
daz si nach mir iht weinen, daz si äne not:
von eines küneges banden lig ich h^rlichen tot.
Auch erinnert man sich hier der Institution der Klage-
weiber, der Totenklage um Hektor, um an der unumschränkten
Geltung dieser Behauptung des Verfassers zu zweifeln.
Das Zudrücken der Augen (S. 412, Rochholz I, 196)
steht im Zusammenhang damit, dass ein Toter nicht den
Mund offen behalten darf. »Nachzehrer« hiefi ein Toter,
von dessen irgendwie beleidigter Seele man fürchtete, sie
werde jemand nachholen, welcher eine Verpflichtung gegen
den Toten versäumt hatte. Aufhalten des Mundes und der
Augen, besonders des linken Auges, schien anzudeuten, dass
der Tote noch nicht ganz tot sei. Damit in Zusammenhang
wird erzählt, dass man eine unter der Geburt gestorbene
Frau noch im Grabe mit einem Pfahle durchstochen habe,
wahrscheinlich, damit sie, ganz tot, das nachgelassene Kind
nicht hole.
Die Zwerge (S. 444), deren unterirdisches Wesen allgemein
bezeugt ist, gelten dem Verfasser lediglich als Seelen Ab-
geschiedener. Die Furcht vor Kindervertauschung, welche
vielen Leuten in Bezug auf die Zwerge geblieben ist, der
Zug, dass die Zwerge so oft verheiratet erscheinen und dass
die Zwerginnen Kinder gebären, deute darauf hin, dass sich
Beurteilungen.
' XiNIVERSlTt
Spuren der Erinnerung an ein gestürztes Volkstum mit^
Geistvorstellungen vermischt haben. »Es ist nicht undenkba^
dass die Reste eines besiegten Volkes versprengt und zigeuner-
haft unter unseren Vorfahren lebten, mit Scheu betrachtet
und jener Racheacte geziehen wurden.« Und alle anderen
Völker, welche an Zwerge glaubten, haben sie auch Reste
eines besiegten Volkes unter sich gehabt?
Dass die Zwerge als Seelen Verstorbener gedacht wurden,
steht fest; aber ebenso, dass sie als Lichtwesen betrachtet
wurden, gerade wie die pitaras. Und das letztere scheint
der Verfasser nicht anzuerkennen. Eine Vermittelung dieser
beiden Vorstellungen wird gegeben durch die Verbindung der
Seelen mit den Sternen. Glaubte der Verfasser unsere Ein-
sicht fiber die Zwerge zu verbessern, so hätte er wohl ein
paar Aeußerlichkeiten deuten können, wie die, dass den
Zwergen so oft etwas an den Füfien fehlt (Henne am Rhyn,
Deutsche Volkssage S. 285 f.), dass ihnen entweder eine Zehe
fehlt, oder dass sie die Füße sorgfältig verbergen, welche,
entdeckt, sich als Zi^en- oder Gänsefüße zeigen (ib. 346).
Den Gredanken des willkürlich durch Menschen- oder
Tierseelen herbeigeführten Schutzes erläutern folgende Tat-
sachen (S. 457 f.). Wenn der unter dem Herd begrabene
Ahn Schutz gibt, so kann man vielleicht beliebig eine Seele
irgendwo fesseln, damit sie Schutz gibt. Man kann, wo nicht
sie selbst, so doch ihren Körper einmauern, in dessen Nähe
sie dann verweilt.
Lassen wir ungefl'agt, warum gerade Kinder diese traurige
Ehre genossen! Rudimentär, scheint es, wurden Tiere statt
der Menschen eingemauert. Oder solches Tieropfer sollte die
Wut eines schädlichen Geistes besänftigen, so dass er dann
die anderen Stucke verschonte. So steckte man bei Vieh-
seuchen Köpfe von Pferden und Kühen rings um die Ställe
auf. Wenn viele Pferde fallen, muss vor der Stalltür ein
Pferd lebendig begraben werden. Wird nun ein Rossschädel
au& Haus gesteckt, so habe das entweder den Sinn, dass er
Wächter ist, wie jene begrabenen Tiere, oder dass der Schutz-
geist des Hauses, welchem jener Schädel dargebracht wurde,
234 K. Bradimaiiii,
nun bei ihm, seinem Besitz, hütend verweilt. Auch der
-Wetterhahn scheint dem Verfasser solches Sicherheits^Symbol.
Weniger glaublich scheint mir, was er vom Storch behauptet
»Der Storch durfte sich nicht zum wenigsten in den
Geruch der Heiligkeit dadurch gesetzt haben, dass er sich
gerade in seiner Weise mit seinem Giebelneste anbaute; man
musste ihn auch für einen schützenden Geist halten, da er
dort oben zwischen den Rosshäuptem wacht ... in dieselbe
Stellung trat die Schwalbe; auch ihr Nest darf man nicht
stören, sie bringt dem Hause Glück.« Hier scheinen mir
wieder einige Züge der Storchentätigkeit unerklärt zu bleiben,
wie der, dass der Storch aus dem Teich oder Brunnen (der
Wolke) die Kinder holt. Kuhn, Herabkunft S. 105 ff.
Glaublich dagegen erscheint die Deutung des Polter-
abends (S. 467). Vom altrheinischen Hochzeitsbraueh erfahren
wir folgendes: »Die Nacht vor der Hochzeit Gesang und
Schüsse, überall Freude und Jubel, die ganze Gemeinde schien
die Vermählung mitzufeiern. Dabei war die Vomacht ein
fürchterliches Lärmen in dem Hause, welches die Brautleute
beziehen sollten. Alle Fensterläden wurden gesclilossen, nur
die Haustür weit oflbn gelassen. Dann wurde oben unterm
Dach mit schrecklichem Lärmen und Poltern begonnen, mit
Wasser aus dem Weihborn in allen Winkeln herumgespritzl
und mit Stocken herumgefuchtelt, mit Bannspruchen gespiel*
fechtet. Vom Speicher ging das Lärmen hinabwärts durch
alle Räume bis in den Keller, dann die Kellertreppe hinauf,
zur Haustür hinaus mit möglichst vielem Lärmen. Das war
der Polterabend. Die Absicht war, aUe bösen Zank- and
Plagegeister aus dem Hause zu vertreiben, damit morgm
mit der Braut nur Friede und Freude einkehren und wohnm
bleibe u. s. w.< Der Polterabend bezwedct also eine Remiguog
des neu zu beziehenden Hauses von bösen Greistern. Kirch-
lich geordneter Lärm »ir Vertreibung böser Geister und
dadurch zum Schutz vor Donner und Blitz ist das Glocken-
geläute.
Bäume werden nur dadurch zu Fetischen, dass man
Tote an ihren Wurzeln begrabt So Hollimder und Hasel
BeurteiluQgen, gg5
(474 f.), welche die Wünschelrute liefert. Wird jemand unter
der Hasel mit den üblichen Mitgaben begraben, so hält sich
die Seele bei diesen auf. Sie, die in der Hasel wohnt, muss
auch wissen, wo ihr Schatz liegt So wird die Haselgerte
die W^weiserin. Vgl. dagegen Kuhn, Herabkunft S. 184.
205. 218—243, besonders auch über den Zusammenhang der
Springwurzel mit dem Gewitter.
Auch über unsere Drachensagen ist der Verfasser anderer
Meinung als die Mythologen. Richtig ist, was er im all-
gemeinen vom Märchen bemerkt: Die Zahl der deutschen
Sagen und Märchen erscheint überwältigend groß; desto mehr
staunt man bei genauerer Zergliederung über die verhältnis-
mäßig geringe Zahl der Elemente, aus denen sich alle zu-
sammensetzen. Große Gruppen erscheinen nur als der mit
Localton gefärbte Ausdruck ein und derselben Vorstellung,
als epische Darstellung einer Tatsache, die sich allenthalben
gleicher Weise zugetragen hat, aber allenthalben als eine
individuelle hingestellt wird.
unbewiesen scheint mir folgendes. So lange man die
Toten oder wenigstens gewisse Tote in der Hütte oder dem
Gehöfte barg, musste das Erscheinen der Ringelnatter immer
in engere Beziehung mit dem Toten gebracht werden. Die
nordische Phantasie hat das Schlangenbild nur ins Riesen-
hafte zu vergrößern vermocht. Die Midgardschlange ist die
Grabschlange. Da sich aber dichtende Mönche mit einer
gelehrten Weltanschauung dieser Elemente bemächtigten, um
damit ihre wunderliche Kosmographie einzukleiden, wurden
diese Gemeinnamen individualisirt und aus der Schlange, die
nichts anderes ist als unser Liniwurm oder Haselwurm, wurde
die Weltschlange und aus dem Malbaum der Weltbaum . . .
für die phantastische Umgestaltung des Bildes hat zweifellos
erst das Christentum die nötigen Elemente hinzugebracht,
wie es denn auch den Namen Drache vermittelt hat . . .
keine geringe Rolle mag hierbei der Drache der Apokalypse
gespielt haben. Dadurch war die ganze Erscheinung m den
Luftkreis des Himmels verlegt und den unbestimmtesten
Deutungen preisgegeben. Stellt man sich ab^ di^ llilacht
236 ^' Bruchmann,
einer Grabschlange ins Ungeheuerliche gesteigert vor, so ist
das Verwegenste, ihr mit menschlichen Waffen entgegen-
zutreten. Darum sind in der Zeit, da Heidentum und Christen-
tum zusammenstoßen, die sagenhaften Nationalhelden ins-
besondere Lintwurmkämpfer gewesen. Höhlen und Totenhaine
sind die typischen Grundlagen der Drachensage. Dass die
Errettung einer vom Drachen bedrohten Jungfrau aus der
Apokalypse*) entlehnt ist, zeige sich »auf den ersten Blicke
(501). Dem Leser dagegen werden wohl wie mir die indischen
und griechischen Drachenkämpfe einfallen, bei denen es an
Jungfrauenbefreiung auch nicht gefehlt hat.
Die Jahreseinteilung, die Festzeiten, die Gebräuche bei
der Festfeier leitet der Verfasser lediglich aus den wirtschaft-
lichen Verhältnissen unserer Vorfahren ab, besonders aus der
Schweinezucht (S. 580 f.). Das Johannisfeuer z. B. ist ein
Feuer zum Hexenscheuchen. Das sogenannte Fest der Sonnen-
wende sei nur ein Sommer -Auszugsfest gewesen und die
Berücksichtigung der Sonnenwende sei nur insofern hinzu-
gekonunen, als sie im Norden und Osten jenen Zeitpunkt
bezeichnete.
Der Ausgangspunkt der Herbstfestzeit (651) liegt nach
dem Verfasser in der Vereinigung größerer oder kleinerer
Organisationsgruppen des Volkes an ihrer Dingstätte.
Hiermit glaube ich, den Leser ausreichend auf das Buch
des Verfassers hingewiesen zu haben; es enthält meiner
Meinung nach viel Anregendes, weniger sichere Deutungen
und kann wegen seiner Reichhaltigkeit des Interesses weiter
Kreise sicher sein.
Schließlich citire ich eine uns gemeinsam verbindende
Anschauung: »eine große Zahl immer noch fortlebender
Vorstellungen muss man ihrem Inhalte nach in die älteste
Zeit menschlicher Cultanfange zurückverlegen. Versuchen
wir es uns von dazwischen liegenden Zeiträumen einen Be-
griflf zu machen, so ergreift uns Staunen über die Lebens-
zähigkeit der Producte der ältesten menschlichen Geistesarbeit.
♦) Gap. Xn.
Beurteilungen. S37
So möchte man wohl zu dem Glauben geneigt sein, dass
überhaupt keine wesentliche Staffel unseres Vorstellens so
leicht je wieder verloren gehe.«
E. Bruchmann.
Fr. A. Lange, logische Studien. Iserlohn 1877. J. Baedeker.
Fr. A. Langes logische Studien sind schon 1877 von
H. Cohen herausgegeben, Dass in dieser Zeitschrift derselben
gedacht wird, und dass auch jetzt noch eine Besprechung
nicht zu spät erscheint, trotzdem gerade die Logik in letzter
Zeit durch vortreffliche Arbeiten in Deutschland und England
gefördert ist, wird der Inhalt der Schrift rechtfertigen, deren
Untersuchungen vielfach das Gebiet der Sprachwissenschaft
streifen, imd deren vorzüglich klare Darstellungsweise im Zu-
sammenhange mit einem Teil ihrer Resultate derselben einen
bleibenden Wert verleiht.
Folgen wir zunächst, um die Grundgedanken zu erfassen,
in schnellem Gange den Untersuchungen Langes:
Im ersten Abschnitt handelt es sich um die Grenz-
bestimmung des logischen Gebietes. »Hat die Wissenschaft
von dem Versuch einer abgesonderten Behandlung der rein
formalen Elemente der Logik eine wesentliche Förderung
zu erwarten oder nicht?« Lange bejaht diese Frage. Sie
ist keineswegs zu verwechsebi mit der Frage nach dem
Werte der überlieferten formalen Logik. Sie fordert vielmehr
eine Kritik der hergebrachten Logik, eine Scheidung des rein
Logischen von dem Grammatischen und Metaphysischen, mit
dem es seit Aristoteles eng verbunden ist. Das wahrhaft
Apodiktische in dem überlieferten Stoff der Logik muss
herausgeschält werden; während die Metaphysik auf keine
allgemeine Zustimmung rechnen kann, und über die Richtig-
keit metaphysischer Schlüsse der Streit fortbesteht, bilden
288 t Th. Michaelis,
das Apodiktische und allgemein Anerkannte in der Logik
nur »diejenigen Lehren, welche sich, gleich den Lehrsätzen
der Mathematik, in absolut zwingender Weise entwickehi
lassen«.
Lange verlangt nun auf das bestimmteste die Herstellung
einer solchen rein formalen Logik. Weder der Zweifel an
der Ergiebigkeit, noch der Einwand der ün Vollständigkeit
und Unzulänglichkeit einer derartigen Wissenschaft kann eine
Unterlassung der Untersuchung genügend motiviren. Die
formale Logik ist noch keine Erkenntnistheorie, wohl aber
eine Voraussetzung und Bedingung derselben. Wir stimmen
dem vollkommen bei. Die Analyse des Bewusstseinsinhaltes,
die Aufstellung und Ordnung der tatsächlich in ihnen ent-
haltenen formalen Elemente ist eine klar in sich bestimmte
und festbegrenzte Aufgabe, deren Lösung noch keineswegs
in der bisherigen Form befriedigt. —
Weder in der aristotelischen, noch in der kantischen
Logik kommt, wie Lange meint, der rein formale Gesichts-
punkt ganz zur Geltung; dort nicht, wegen der Hinein-
mengung metaphysischer Principien, hier nicht, wegen der
Scheidung der Logik und Mathematik und des Vorurteiles,
dass die Sätze der Logik analytisch seien. Dort muss erst
der technische Teil von dem erkenntnistheoretischen, einer
angewandten Logik angehörigen S^eculationskreise gesondert,
hier muss die Synthese in ihr Hecht eingesetzt werden und
keineswegs der Satz des Widerspruches als alleiniges Prtn-
cipium gelten. Lange rechtfertigt diese Behauptungen an
einzelnen Beispielen der Sebhiss- und Urteitelehre; charak-
teristisch für die Schärfe, mit der er die Aufgabe der rein
formalen Logik bestimmt, ist seine Verwerfung sinnreicher
und geschmackvoller Beispiele in der Logik. Lange fordert
vom Standpunkt der Technik triviale Beispiele, um das rein
Formale zur Darstellung zu bringen. »Das nichtssagende
Schulbeispiel erfüllt annähernd dieselbe Aufgabe, wie die
geometrische Figur und wie die Sphärenzeichnung in der
Technik der Logiker.« Wo es sich nicht um d«i Nachweis
des Nutzens der Logik, sondern um scharfe Hervorhebung
BearteiIuBg6n. 2S9
des eigentlich Betreiakräftlgen handelt, und die Anschauung
noch nicht an Sphärenbildern geübt ist, ist das inhallärmste
Beispiel das berte. Lange vertritt seinen wohlberechtigten
Gedanken von der Selbständigkeit der formalen Logik mit
vollem Nachdmek.
Im zweiten Abschnitte untersucht Lange (S. SO— 54)
von dem Gesichtspunkte einer formalen Logik aus die
Modalitat der Urteile. Die Lehre von der Modalität der
Urteile bei Aristoteles hängt aufs engste mit seiner Meta-
physik zusammen. Für Aristoteles ist die Möglichkeit die
unvollkommene Vorstufe der Wirklichkeit, ein unfertiges Sein.
Aristoteles verlegt diese Möglichkeit, wie andere subjective
Elemente, z. B. die Negation, in die Dinge. Die moderne
naturwissenschaftliche Weltauffassung dagegen lässt jedes
Ereignis aus dem Zusamm^wirken unabänderlicher Natur*
kräfte hervorgehen. Die reale Möglichkeit verliert damit
ihren Boden. Das Wesen der Modalitätsurleile kann nur
noch in einer subjectiven Beziehung des Inhaltes der Aus*
sage li^;en. Selbst also für eine auf moderner Wissen*
scbaftsgrundlage beruhende metaphysische Logik wäre trotz
der Einmengung des fremden Gesichtspunktes die aristcH
telisdie Modalitätslebre unhaltbar. Nur das Denken kann
den Begriff der MögUcbkeit vollziehen und Trendelenburgs
und Ueberwegs Versuche, eine objective und reale Möglich-
keit nachzuweisen, said roisslungen. Der auf Grund der
modernen Weltanschauung zulässige Begriff einer realen
Möglidikeit führt auf Erfahrungstatsachen zurück und ent-
hält von der eigentlichen Natur des Problematischen nichts
mehr. Es handelt sich aber für Lange überhaupt nicht um
die Modalität der Urteile, so weit sie einer metaphysischen
Logik, sondern so weit sie einer rein formalen Lc^ik an*
gehört Für die formale Logik lassen sich die Begriffe, auf
denen die Modalität der Urteile beruht, auf Functionen
assertorischer Urteile zurückfuhren. Beseitigt man in
logischer Analyse allen Anthropomorphismus in unseren Vor-
steDungen, so zeigt sich zunächst, dass, wo wir von Not-
wendigkeit reden, doch nur assertorische Sätze zu Grunde
240 ^ 'I'h- Michaelis,
liegen. »Die Notwendigkeit des Geschehens besagt weiter
nichts als seine Allgemeinheit innerhalb der Grenzen eines
bestimmten Begriffs. Spreche ich diese Allgemeinheit in
Beziehung auf einen einzelnen Fall aus, — so erhalte ich
den Ausdruck der Notwendigkeit dieses Falles.« Das apo-
diktische Urteil hat keineswegs höhere Gewissheit als das
assertorische. — Ein allgemeines Urteil kann aber auf
doppeltem Wege zu Stande kommen. Ein unbedingt all-
gemeines Urteil entsteht zwar nur da, wo die Verbindung
des Prädicates mit dem Subject schon durch die Natur des
Subjectes gegeben ist, aber wir geben auch den durch Zu-
sammenfassung einzelner Fälle inductiv gewonnenen Urteilen
nahezu strenge AUgemeingültigkeit, und der Begriff der Not-
wendigkeit tritt daher durch Unterordnung des einzehien
Falles unter den allgemeinen Obersatz nach der Doppelnatur
desselben auch in doppelter Form in die Logik ein. Es gibt
eine Notwendigkeit des Inhalts und eine Notwendigkeit des
Umfangs, oder auch eine Notwendigkeit des Wesens und
eine Notwendigkeit der Tatsache. Notwendigkeit fällt logisch
mit Allgemeinheit zusammen; die Unterscheidung beider
Begriffe in der Logik beruht auf einem Anthropomorphismus,
dessen einziges rationelle Element in der Unmöglichkeit eines
anderen Schlusssatzes bei richtigem Schlussverfahren, also in
der Anwendung des Satzes des Widerspruchs besteht. Die
Kategorie der Notwendigkeit kann daher in der formalen
Logik wohl entbehrt werden. Auch die Kategorie der Mög-
lichkeit lässt sich auf das assertorische Urteil zurückfuhren.
Auch die Möglichkeit ist entweder die Möglichkeit des Inhalts
oder die Möglichkeit des Umfangs, je nach dem Vorhanden-
sein eines Teiles der Bedingungen des Prädicatsbegriffes
oder nach dem Vorkommen einiger Fälle, welche unter den-
selben gehören. Für die moderne Wissenschaft ist die Ein-
führung des Begriffes der Möglichkeit des Umfanges in die
formale Logik von der höchsten Wichtigkeit gewesen; auf ihr
beruht die Wahrscheinlichkeitsrechnung und der statistische
Schluss. Die rein formale Möglichkeit dagegen, die nichts
ist, als die Negation der Notwendigkeit des G^enteiis, beruht
Beurteiiungeh. |4j[
auf einer Beziehung zum erkennenden Subjecte und gehört
daher nicht in die rein formale Logik. Auch mit dem Be-
griffe der Notwendigkeit und Möglichkeit des Wirklichen
kommen wir, im logischen Sinne, auf das assertorische Urteil
zurück. Die Elasticitat der Sprache ist eine sehr große; sie
gestattet ein freies Spiel mit den Ausdrücken der Modalität,
wo die logische Analyse sehr einfache Beziehungen nach-
weist. Der assertorische Ausdruck ist der Ausdruck der
größten Gewissheit, welche wir haben, und die scholastische
Lehre von der höheren Gewissheit des apodiktischen Urteils
lässt sich nicht aufrecht erhalten.
Die Betrachtung des Begriffes der Möglichkeit führt auf
das particulare Urteil hin. Lange untersucht daher in einem
dritten Abschnitt diese besondere Urteilsform mit der
die wichtigsten Regeln der Gonversion zusammenhängen
(S. 55—73). Das particulare Urteil könnte in der formalen
Logik beseitigt werden. Nimmt man in einem particularen
Urteil als Subject nicht den allgemeinen Begriff, sondern
diesen zusammen mit der Zusatzbestimmung: Einige, die
zunächst nur eine bestimmte Anzahl einzelner Fälle, oder
einen bestimmten Bruchteil einer Begriffssphäre bezeichnen
kann, so verschwindet das particulare Urteil gänzlich, und
die Umkehrung der Urteile vereinfacht sich außerordentlich.
Die Schullogik nimmt aber in den particularen Urteilen den
Begriff gewöhnlich im Sinne einer unbestimmten Anzahl
oder eines unbestimmten Teils. Einige heißt ihr gewöhnlich
mindestens einige und in diesem Sinne hat das particulare
Urteil eine inductive erkenntnistheoretische Bedeutung. Gerade
durch die Aufnahme des Urteils in der letzteren Form in die
Logik werden die logischen Formen für die empirische
Forschung brauchbar. Die Unbestimmtheit un Subjects-
begriffe ist Ausdruck der Vermutung, des Suchens nach dem
Allgemeinen, und mit Hülfe desselben vollzieht sich die Um-
bildung der Gattungs- und Artbegriffe, die in der heutigen
Wissenschaft eine gewöhnliche und notwendige Erscheinung
ist. Lange will daher, er weicht hier freilich von seinem
rein formalistischen Gesichtspunkt ab, das particulare Urteil
ZtllMlff. fOr VSIkerpiyoli. und Spnohw. Bd. XIV. S. 16
Ui C. Th. Micha«»»,
nicht verwerfai, und dass auch die rein formale Logik es
zulassen kanni ist allerdings zuzugeben. Die Kreuzung der
BegrifEssphären und die Uinkdirung des kat^gforischoi Ver-
hältnisaes fährt auch in der formalen Logik zu der Gon-
eeption des particularen Urteils. Die Lehren der ConvendoUt
die sich im Anschluss hieran am besten behandeln lassen,
fuhrt Lange auf die durch Sphären darstellbaren BegrifiGs»
Verhältnisse zurück. Er trennt die identischen Urteile von
den kategorischen» Identische Urteile sind schlechthin um-
kehrbar. »Das kategorische Urt^ kann nur wieder in ein
kategorisches umgekehrt werden, bei welchem der Subjects-
begriff die Kategorie und die Beschränkung derselben auf
einen (bestimmten) Teil derselben ausdruckt, während das
Praedicat die diesem Teile entsprechende Klasse von Gegen-
ständen angiebLc Urteile, die aus der Kreuzung der Begriffs-
sphären hervorgehen, nennt Lange reciprok-particulare; diese
sind schlechtbin umkehrbar. »Aus dem umgekehrt-kategori-
schen Urteil kann durch Umkehrung das direct-kategorische
hergesteUt werdende »Das al^f^Bmein vemßinende Urteil ist
schlechthin umkehrbar. Das reciprok-particulare Urteil, ver-
neinend genommen, ist umkehrbar; das umg^ehrt-kate-
gorische Urteil, wenn v^neinend genommen, ist dagegen
nicht umkehrbar. Aus der Betrachtung der mdglichen
Begrifiisverhältnisse, der Identität, des kategorischen und
umgekehrt- kategorischen Verhältnisses, der Begriffskreuzung
und der Trennung leitet also Lange die bestimmteren Regdn
der Conversion her, die die englische Logik auf einem viel-
leicht einfacheren, aber für die Erkenntnistheorie doch
absurden Wege, nämlich durch die Quantificirung des Praedi-
cates und die Verwandlung des Urteils in eine Gleichung
erreicht hat. Man wird freilich auch bei Lange den Ein-
wurf auf der Zunge und im Herzen haben, dass er mit
Unrecht Praedicats- wie Subjectsbegriff allgemein für ver-
tauschbar hält und nicht auf die Kategorie derselben (eine
rein formale Unterscheidung) Rücksicht nimmt Die Um«
kehrung der Urteile hat doch selbst in der formalen Logik
ihre Beschränkung. Aus der inductiven Bedeutung der parti-
fieurteilangeti. 24d
colftren Urieile leitet Lange am Schlüsse des dritten Ab-
schnittes die Collectivbedeutung des AlIgemeinbegrifEs und
damit die Notwendigkeit der Wahrnehmung und Anschauung
für unsere Erkenntnis ab. Ihm speciell erscheint die Raum-
anschauung das Fundament aller Synthese abzugeben.
Demgemäfi leitet er in einem vierten Abschnitt
(S. 75 — ^98) die logischen Schlüsse aus den im dritten Ab-
schnitte gewonnenen Begriflhverhältnissen mit Zuhilfenahme
der räumlichen Begriffsbilder, der Sphären ab, hierbd die
Syllogistik in ähnlicher Weise erweiternd, wie das vielfach
in England geschehen ist, wo ja sogar die SchlQsse siehende
Denkmaschine erfunden ist. Dass nicht alle der aufgestellten
Schlösse naturlich sind, ist dabei unvermeidlich. Lange ver-
teidigt die SyUogistik vom Standpunkt der formalen Logik
und hält auch die Umwandlung der Begriffe durch kategorale
Verschiebung für völlig zulässig und in der formalen Logik
notwendige Er mustert einzelne Schlussweisen ihrem Werte
nach und verwirft die aristotelische Lehre, däss der Mittel«
begriff der Realgrund sei, die ihre letzte Wurzel im Platonis-
mus hat; er bekämpft schließlich den Satz: conclusio sequitur
partem debiliorem, soweit er zur Bestimmung der Modalität
des Schlusssatzes angewant wird. Aus einem apodiktischen
Obersatze z. B. und einem assertorischen Untersatze folgt
ein apodiktischer Schluss-Satz. Die exacte Logik muss sich
hier durchaus von der Sprachform befreien und sich nicht
durch den Gebrauch des alltäglichen Denkens leiten lassen.
Die aristotelische Erkenntnistheorie verkennt die Wich-
tigkeit der indirecten Erfassung der Wahrheit; dem gegenflber
sind durch die moderne Wissenschaft die Grundsätze einer
modernen Logik überall eingedrungen. Lange sieht im dis-
junctiven Urteile eine wichtige Errungenschaft dieser modernen
Logik. Er handelt daher im fünften Abschnitt (S. 190
bis 126) zunächst von dieser Form des Urteils. Das dis-
jttoctive Urteil lässt sich zwar auf eine Anzahl hypothetischer
Urteile zurückfahren; aber viel riditiger wird man ihm die
Pricrität zuschreiben und die hypothetischen Urteile aus ihm
ableiten« Es führt vielmehr auf ein divisives und ein kate*
16*
^ C. Th. Michaelis,
goriscbes Urteil zurück. Aus dem disjunctiven Urteil leitet
Lange die verschiedenen Arten logischer Gegensätze und vor
allen Dingen die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
ab. »Die Möglichkeiten des disjunctiven Urteils verwandehi
sich in Wahrscheinlichkeiten, sobald ihnen eine bestimmte
Größe beigelegt wird, welche abhängt von dem Verhältnisse
des Umfangs der einzelnen Möglichkeit zur Summe aller
Möglichkeiten.« Die formalen und apriorischen Grundlagen
der Wahrscheinlichkeitsrechnung — das eigentlich Mathe-
matische muss freilich ausgeschlossen werden — gehen daher
aus dem disjunctiven Urteil hervor.
Wiederholt ist bei allen Auseinandersetzungen der fünf
ersten Abschnitte Lange zu der Behauptung gekommen, dass
die Raumvorstellung die einzige Grundlage aller apriorischen
Sätze sei. Er unternimmt es in einem letzten Abschnitte
(S. 127—149) diesen Gedanken besonders zu rechtfertigen
und Zeit und Zahl aus der Raumanschauung herzuleiten.
Die Raumvorstellung ist durch Physiologie nicht ihrem Ur-
sprünge nach herzuleiten; die empiristische Ableitungsweise
setzt den Raum überall schon voraus. Auch Lotzes Theorie
der Localzeichen setzt den Raum schon voraus. Die Vor-
stellung des Raumes kann nicht aus äußeren Erscheinungen
durch Erfahrung erborgt sein, sondern sie allein macht Er-
fahrung erst möglich. Lange bt nun der Ansicht, dass nicht
der Raum wie andere Formen der Synthese aus einem
gemeinsamen synthetischen Princip abzuleiten ist, sondern
dass jede andere Synthese auf die räumliche Synthese zurück-
führt. Er behauptet zunächst, wie er meint, im Gegensatze
zu Kant, dass alle wirkliche Anschauung auch empirische
Anschauung, und dass die reine Anschauung gar keine An-
schauung ist. Für das Zustandekommen dieser empirischen
Anschauung muss es freilich einen Grund im Subjecte geben;
aber im Wesen dieser Anschauung liegt auch ein objectiver
Factor. Aus der Verbindung von Begriff und Anschauung
geht im Geiste das Schema hervor. Das Schema ist die
unmittelbare psychologische Erscheinung des Begriffs. Lange
verwirft, auf dies Schema hinweisend, die Trennung Kants
Beurteilungen. 245
von Verstand und Sinnlichkeit, aber alles was er gegen die
Trennung vorbringen kann, ist doch nur, dass die Verbindung
beider eine psychologische Tatsache ist. Die objective
Seite aller Synthesis findet Lange demgemäß in der Raum-
vorstellung. Der Raum ist ihm die anschauliche Form des
Ich mit seinem wechselnden Inhalte. Das Ich ist nichts ohne
jenen Inhalt; es gibt keinen besonderen inneren Sinn. Lange
schließt daher, dass die Zeit secundär ist. Eine Zeitgröße
ist ja nicht gegeben; und ebenso fährt er die Zahl auf die
Raumvorstellung zuräck. Die ganze, dürftige Rechtfertigung
dieser Behauptung ist freilich ein Hinweis auf Zahlnamen.
Auch von den algebraischen Axiomen behauptet Lange, dass
sie aus der Anschauung hervorgehen. Die Herstellung einer
logischen Zeichensprache hält er daher für nicht unmöglich.
Nur lässt sich der Reichtum des Geistes, der in der ent-
wickelten Sprache zum Ausdruck kommt, nicht in eine solche
pressen. Den Grundlagen der Logik wie der Mathematik
kommt eine absolute Notwendigkeit zu. Sie sind die Grund-
lage unserer intellectuellen Organisation. Ihre Grundlage
wiederum ist die Raumvorstellung; diese also ist die »bleibende
und bestimmte Urform unseres geistigen Wesens, das wahre
objective Gegenbild unseres transcendentalen Ich«.
Zwei Grundgedanken sind es also, die die Schrift Langes
durchziehen. Es gibt eine formale Logik, und die Grundlage
aller synthetischen Geistestätigkeit ist die Raumvorstellung.
Dem ersteren Gedanken stimmte ich schon in der Darlegung
der Langeschen Untersuchungen bei. Ich habe hier nur die
Bemerkung hinzuzufügen, dass ich mir den Kreis der formalen
Logik weiter denke als Lange, dass mir z. B. ein Neubau
der Logik auf Grund der Unterscheidung der wahren BegrifTs-
und Urteilsformen notwendig erscheint; dem zweiten Grund-
gedanken Langes glaube ich dagegen entschieden entgegen-
treten zu müssen. Ich glaube, dass derselbe nur kümmerlich
gerechtfertigt und in sich unrichtig ist. Dass die logische
Synthese sich auf Anschauung gründe, halte ich für eine
irrige Darlegung des Sachverhalts. Wenn Lange im I. Ab-
schnitt sagt: »Ganz blind, d. h. anschauungslos, ist eine
246 CL Th. Michaels,
Operation des Denkeps vrM niemals«, und wenn er für das
Rechnen selbst Anschauung fordert, so mag das für den
Vorgang im einzelnen Kopfe völlig richtig sein, nur wird
damit eben nur eine psychologische Tatsache constatirt
Beim realen Denkvorgang werden wir auch nie ohne Inhalt,
ohne bestimmte Empfindung etc. rein formal denken, aber
die Logik verlangt ja eben die Herausschälung der rein
formalen Elemente des Gedankens; und dass der erstQ Modus
der ersten Schlussfigur auf anschaulicher Synthese beruhe,
kann man imr behaupten, wenn man statt auf die BegrifE^
Verhältnisse und das Object des Gedankens zu sehen, vielmehr
auf die Aneignungsprocesse dieser rein abstracten Verhält-
nisse achtet. Die logische Analyse der Recbnungsoperationen
führt durchaus nicht zu irgend welchem Element der An*
schauung, mag die Frage nach Erwerb und Anwendung
derselben, eine Frage der empirischen Psychologie, zu welchem
Resultate sie wolle, führen; und den Satz des Widerspruchs
auf räumliche Anschauung zu gründen, ist doch eine der
schrulligsten Verkehrtheiten, die man sich denken kann.
Können die Worte: »Wir sehen an einem Raumgebilde
irgend welcher Art, sei es in einem concreten Falle, sei es
in einem bloßen Linienschema, dass ich nicht dasselbe von
demselben bejahen und verneinen kann«, wirklich ein Beweis
dafür sein, dass Anschauung die Grundlage des abstracten
Denkens bilde? Kant hat völlig .richtig Anschauung und
Begriff geschieden; Lange greift ihn mit Unrecht an; logisch
sind beide vollständig geschieden; die allgemeinere Synthese
liegt im Begriff, die speciellere in der Anschauung, (Üe kein
Object, das wir uns beschauen können, sondern ein Gesetz
der Zusammenfassung im Bewusstsein ist, das höchstens in
der Einheit des Objectes widerspiegelt. Trenne man doch
die Frage nach Inhalt und Classification der Vorstellungs-
elemente, bei der die Vorstellungen in ihrer objectiven Be-
deutung zu nehmen sind, scharf und völlig von der Frage,
was bei der Entwicklung des Bewusstseins das erste, zweite,
dritte oder ganze ist. Um Langes eigene Worte zu gebrauchen,
es wäre an der Zeit, dass »bei einer logischen Untersuchung
Bwirtellungen. 247
auch nur das logische Wesen der Sache ins Auge gefasst
werdec. Analysirt man die Zeit- und die Zahlvorstellung,
so findet man in der ersten den Begriff des Nacheinander
und der Ordnung, der im Räume absolut nicht enthalten
ist, und in der letzteren überhaupt nichts als den Begriff der
synthetischen Zusammen&ssung. Die Zahl-Synthese, die im
Begriff der allgemeinen Zahl am reinsten zum Ausdruck
kommt, ist rein logische Synthese, und darum auf alles, auf
jede blondere Anschauung anwendbar. Rechnend verbinden
wir die Gröfien, aber die Zahlen frei von jeden) Gröfien-
element, sind nicht die Objocte der Zählung, sondern drücken
eben nur die Verbindung aus« Zahlensyntbese ist keines-
^egs anschauliche Synthese. Pie ZJeits^these aber sti^
neben der Raumsynthese und beide sind gam besondere
Arten synthetischer Verbindung, beide enthalten etwas, was
voneinander unterschieden und nicht aufeinander zurück*
führbar ist« Das Nebeneinander ist eine andere Form der
Synthese wie das Nacheinander, sie 9ind unreducirbare
Fonnenelemente. Ebep$o wenig, wie der Versuch neuerer
Forscher gelungen ist, die Raumvorstellung aus der Zeit-
vorstellung abzuleiten, ebensowenig ist das umgekehrte der
Fall« I^wge macht das Bewusstsein zum Object wie andere
das Object zur Tätigkeit der Vor^ellpng machen« Immer
uod immer wieder wird dabei psychologische und logische
Methode verwechselt Nach Lange müsste die Geonietrie die
eiste mathenia,tiscl^e Wissenschaft sein, während die Arith-
pietik mit ihren allgemeinere!^ Prpces^n dieser m Grunde
liegt. Es p^ig einen pädagogischen Wert h^^bcm, abstracto
Vorstellupg an Raumbildern zu erläutern; aber nimmermehr
4arf uns die Pädagogik, die in engster Verhindpng mit der
Psychologie steht, über logische Methode und logische Ver*
hältnisse belehren wollen. Mögen die logischen Bücher davqr
bewahrt bleiben, in Bildcorbüchcqr verwandelt zu werden, w^
doch die letzte Gonsequenz der Ansicht Langes wäre.
ß«^""- C. Th. Michaelis.
248 C Tb. Ifiehaäis,
CapesinSy die Metaphysik Herbarts, Leipzig 1878 (Heinrich
Matthes).
Herbarts Psychologie, gereinigt Ton dem Ballast mathe-
matischer Formeln, befreit Ton den metaphysischen Sab-
structionen der Störungen und Selbsterhaitungen, berichtigt
durch die Trennung der Seelenkräfte, erweitert in ihrem
Forschungskreise und fortgeführt durch die genaueste Einzel-
forschung und Beobachtung, besteht, von den weitesten
Kreisen anerkannt, fort und fort. Herbarts Metaphysik, wer
kann sie noch sein eigen nennen, eine Metaphysik, die ohne
Prüfung der Grenzen unserer Erkenntnis, rationalistisch auf-
gebaut ist auf einen Begriff des Seins, der weder aus der
Erfahrung abgeleitet ist, noch der Wirklichkeit entspricht,
die systematisch fehlerhaft, das was sie zunächst der Realität
nimmt, die Einheit und das Zusammen des Vielen, dieser
nachher wieder, man weiß nicht woher, gibt, weil weder
Schein noch Sein ohne diese Einheit begreifbar ist? Herbarts
Metaphysik gehört der Geschichte an, und nur das eine
bleibt an ihr anerkennenswert, von ihr erhalten: der
realistische Grundzug, der Zielpunkt des Systems, durch den
die ganze Herbartsche Philosophie vor den idealistischen
Systemen Fichtes und Schellings immerhin einen großen
Vorzug besitzt. Eine Schrift, die es sich zur Aufgabe setzte,
die Metaphysik Herbarts zu erneuern und anzupreisen, wurde
kaum auf große Sympathie in den philosophischen Kreisen
rechnen dürfen, eine Schrift aber, die unter gerechter Wür-
digung der Verdienste Herbarts um die Psychologie und
Pädagogik uns eine historische Darstellung und eine kritische
Beurteilung der Herbartschen Metaphysik gibt, uns die sub-
jective Entstehung seines metaphysischen Systems zu erklären
versucht, kann bei dem großen und allgemeinen Interesse,
das die Gegenwart mit Recht an jenem Philosophen nimmt,
für eine verdienstvolle Leistung gelten, obwohl die Haupt-
punkte der Entstehungsgeschichte von Herbarts System
bereits von Hartenstein und Zimmermann zusammengestellt
Beurtenungen. 249
und die kritische Beurteilung und Auseinandersetzung mit
Herbart im Einzelnen von dem auf dem Boden der Eanti-
sehen Philosophie sich orientirenden modernen Eriticismus
vielfach vollzogen ist. Die Schrift von Capesius, die Meta-
physik Herbarts in ihrer Entwicklungsgeschichte
und nach ihrer kritischen Stellung, verdient darum,
trotzdem sie nicht gerade überreich an neuen Resultaten
oder Gedanken ist, volle Beachtung und Anerkennung.
Der Verfasser, der von jedem Versuch, Herbarts meta-
physische Speculationen zu verteidigen oder zu retten. Ab-
stand nimmt, hält sich gleich fem von ungerechtfertigtem
Lob wie von übertriebenem Tadel und bemüht sich, so weit
es die Quellen zulassen, das System durch Nachweis der
äußeren Einflüsse und inneren Bedingungen, aus denen es
erwachsen ist, klar zu entwickeln und durch rechte Wür-
digung dieser Factoren kritisch zu beleuchten. Seine Absicht
kann als vollständig erreicht angesehen werden; wo er sich
gegen die bisherigen Aufstellungen über Herbart erklärt,
scheint meist das Recht auf seiner Seite zu sein. Auch der
Art und Weise, wie er die einzelnen Grundlagen der Herbart-
schen Metaphysik als ungeeignet, ein Gebäude zu tragen,
nachweist, kann von dem volle Beistimmung geschenkt
werden, der wie Recensent von der metaphysischen Specu-
lation wenig oder gar nichts erhofft und die innigste Ver-
bindung aller philosophischen Reflexionen mit dem reichen
hihalte der Einzelwissenschaften für absolut notwendig
erachtet.
Capesius gibt in dem ersten Teil seiner Schrift eine
Entwicklungsgeschichte der Herbartischen Metaphysik. Er
rechnet die Zeit der Entwicklung Herbarts von 1788 bis 1806;
er stützt das Anfangsdatum allerdings zwar auf unzweideutige
Angaben Herbarts selbst, aber er weist damit die Anfange
der Herbartischen Speculation einem so frühen Lebensalter
desselben zu (geb. 1776), dass man doch nur mit Ein-
schränkung die Zulässigkeit dieser Ansetzung gelten lassen
kann: Das Wunderkind Franz Sanchez war doch wenigstens
vierzehn Jahre alt, als es seinen skeptischen Versuch, quod
nibil scitur, wa{[te; Zifpin^rinaim beginnt 4ie p)ulosophi9(^
Entwickluiig Herbarts erst iqit 1794 und unteiBcheidet zwei,
EntwickluDgsstadien. Capesius dagegen niount innerhalb 4er
Jahre 1788—1806 vier Stufen der Entwicklung an, 4i? Scihulr
zeit, 4en Universitatsaufenlhalt, die Erzidierwirksamkdt in
Bern und die Zeit der Vorbereitung zum akademischen Benif
mit dem Anfang der akademischen Tätigkeit.
Auf dem Oldenburgischen Gymnasium (1788 — 1794)
bereits wurde Herbart mit dem Wolffischen Rationalismiift
bekannt. »Die tüchtige logisch-formale Bildung und die dar
mit verbundene rationalistische Tendenz, die er aus dea
Kreisen der Wolflischen Schule fiberkommt,€ gibt das Apperr
ceptionsorgan ab »fär alle philosophischen Einflösse, die
weiterhin auf ihn einwirkenc«
Auf der Universität Jena (1794—1797) eignet er sich
zunächst die Wissenschaftslehre Fichtes ap; aber so sehr cor
auch zuerst durch dieselbe ergriffen und durchrüttelt wird,
schon im Sommer 1796 befindet er sich im bewussten Gegenr
satz zu derselben* Durch das Studium des Apostds der
Wissenschaftslehre, Schellings, wird Herbart auf die Mängel
des Id^Usmus aufmerksam« Es drängt ihn aus dem Idealis-
mus heraus, aber er erreicht eine neue eigene Position nur
in den ersten allgemeinen methodologischen Grundlagen.
Er appercipirt die »Wissenschaftslehre durch das logisch
streng geschulte Denken und das Streben nach einer im
rationalistischen Sinne vollendeten systematischen Erfcenntnisc«
Er gewinnt im Verlauf seiner Universitätsstudien seine An-
sichten über Princip und Methode der Pbflosophie und damit
den Eingang in ein neues metaphysisches System; die Eigeor
.artigkeit dieses Eingangs trennt ihn von den zeitgraössischen
idealistischen Systemen und weist Um von nun an lediglich
auf sich selbst an.
Die Veränderung seiner Lebensstellung im Jahre 1797 —
H^rbart weilt bis 1800 als Erzieher in dem Hause de^ Land-
vogts von Steigei* — bleibt nicht ohne Einwirkung auf die
Richtung seines Philosophirens. Er studirt Mathematik und
4ie Naturwissenschaften, Physik und Chemie, beschäftigt sieb
BearMitioflriui. f51
mit der griechiscben Litteratur. Die sp^cielle An^gestattuiig
seiner metapl^ysischen Ansichten schreitet nicht erhehlich
fort; aber seine £rziehertätigkeit legt ihm psychologische
Ueberlegmigen nahe, und er gelangt durch Beseitigung der
Schwierigkeiten, die er in dem Ich-Begriff gefunden hat, zur
Grundlegung einer neuen Psychologie. Von nun an gewinnen
die psychologischen Betrachtungen eine präyalirende Stellung
in Herbarts theoretischem Philosophiren. Das Ich-Problem
war für ihn von vorne herein kein speciell psychologisches,
sondern das allgemeine phik)sophische Grundproblem g^
Wesen. —
In der Epoche seines Bremer Aufenthalts (1800—1802)
und seiner ersten akademischen Tätigkeit in Göttingen (1802
bis 1806) gelangt Herbart zum Ahschluss seines metar
physischen Systems. Bei der Bestimmung dieser Entwick*
lungsreihe tritt nun Capesius, wohl mit Recht, Hartenstein
und Zimmermann entgegen. Jene setzen den Schlusspunkt
der philosophischen Entwicklung Herbarts schon ins Jahr 1803^
Capesius findet in den Promotions- und Habilitationsthesen
des Jahres 1802 an positiven Ged^ken nichts, was nicht
bereits in den älteren Arbeiten ausgesprochen wäre, und setzt
demgemäß den Ahschluss der Entwicklung in den Sommer
1806, wo Herbart die »Hauptpunkte der Metaphysikc uih
fasst. Unterstützt wird diese Ansetzung durch die eigenen
Worte Herbarts in einem Briefe an von Steiger vom
23. August 1806. — In dieser letzten Epoiche stellt Herbart
das Problem der Inhärenz und Veränderung auf, formulirt
die Lösungsmethode, kommt zur Annahme seiner Realen
und zur Theorie der Störungen und Selbsterhaltungen und
behandelt endlich die durch Zeit, Raum, Bewegung und
Materie aufgegebenen synechologischen Probleme. Er ent-
lehnt die Probleme, die die äußere Erscheinungswelt be-
treffen, der Philosophie der Griechen, namentlich den Eleaten
und Plato. Seine allgemeine Lösungsmethode, die Methode
der Beziehungen, ist eine Erweiterung und FormuUrung der
Lösung des Ich-Problems. Sie führt ihn zur Aufstellung
seiner spiritualistisch-monadologischen Metaphysik; die mathe»
254 C 'Kl- Itiebaftllfl,
selben spricht, erklärt er das Sein für »absolute Ruhe und
Stille, feierliches Schweigen über der Spielfläche des ruhen-
den Meeresc und stets schlieBt er von der absoluten Position
alle Negationen und Relationen aus. Herbarts BegriflF ab-
soluter Position^ ans dem unmittelbar seine Lehre von den
unveränderlichen Realen hervorgetrieben wird, ist also ein
ganz anderer als Kants Begriff. Kants Begriff vom Dasein
verweist ihn direct auf die Erfahrung, Herbarts Begriff setzt
ihn in Widerspruch mit der Erfahrung. Herbart hat Kant
völlig missverstanden, indem er sich Kantianer nennt; er hat
die Kantische Philosophie erst von dem eigenen, bereits
gewonnenen Standpunkt aus wirksam appercipirt, d. h. er
hat sie nur so weit berücksichtigt, als sie wirklich oder
scheinbar sich mit seinen eigenen Meinungen verschmebsen
Heft. Da zeigt sich so recht die Einsamkeit und Ab-
geschlossenheit des H^bartischen Denkens, die Unmöglich'*
keit in eine fruchtbare Verbindung mit dem Gedankenkreise
eines anderen Philosophen zu treten, und dem entsprechend
begegnen wir in der ganzen Darstellung der Kantischen
Lehre bei Herbart schiefen Auffassungen. Auffällig ist es
zum Beispiel, wie Herbart nach Kant als Princip synthetischer
Urteile noch den Satz des Widerspruchs festhalten kann. Er
zeigt damit, dass er auf den ganzen Sinn der Kritik der
reinen Vernunft durchaus nicht einzugehen versucht hat
Mir persönlich scheint auch eine irrtämliche Auffassung
Herbarts darin zu liegen, dass er Kants Lehre von den An-
schauungen und Kategorien eine psychologische Basis zu-
schreibt; dieser Punkt hätte eine eingehendere Untersuchung
in der Schrift Gapesius' verdient als er gefunden hat. Kant
geht von der Logik und nicht von der Psychologie aus; mau
darf sich durch seine Ausdrücke nicht täuschen lassen. Die
Gliederung sdner Untersuchung fdgt im Anschluss an die
hergebrachten logischen Unterscheidungen von Begriff, Urteil
und Schluss. Die ganze analysirende Methode Kants, um
das Reine und Empirische zu scheiden, ist logische vom
Objecte ausgehende, nicht psychologische Arbeit, und auch
hiw trifft HerbiMrts Kritiki der die Lehrei von den Seeleo-
Tteindgen verwirft, um für eine Ableitung der Torsf ellungeti
als Krifte Platz m gewinnen, Kant ganz üiid gal* nicht.
Ich kanh CapeMus demgem&fi nicht beistimmen, Wenn
er hl der weiteren Untersuchnng fiber die historische Stellung
der Herbartischen Metaphysik Kants System psycho*-
logischen Rationalismus nennt. Kant^ System ist
cbento gut logischer Rationalismus wie der Herbarts, nut
geht Kant mit der Unterscheidung der analytischen und
synthetiBchen Urteile aber die unvollkommene scholastische
Logik wdt hinatis, und seine Lehre vom Sein beschr&nkt
seinen Rationalismus. Kant weiß, dass die bisherigen Untef^
Scheidungen der Logik unzureichend sind, er schafft sich fär
die Erkenntniskritik neue logische Begriflie; er weiß, dasft
Dasein nictit aus Begiiffen erschlossen werden kann. Er
verwirft deswegen im Kriticismus den unbeschränkt rationa-
listischen Standpunkt der Dissertation von 1770, dass Er-*
kenntois auis reinen Begriffen möglich sei, dass es einen
realm Vemunftgebrauch gebe, und er druckt in der Kritik
des ontologischen Beweises seinen Standpunkt aufs Klarste
aus. Er ist gemäßigter Rationalist. Es gibt Vemunfterkennbus
durch Anwendung der Begriffe auf Anschauungen, aber tiicht
alles, wie das Dasein, lässt sich aus reiner Vernunft erkennen;
die empirisdie Erkenntnis ist unentbehrlich, unuberwindbar.
Von psychologisdier Grundlage seines Rationalismus ist doch
wirklich kaum auch nur der Schein in der Kritik der reinen
Vernunft zu finden.
Um so mehr stimme ich dem Resultate der Unter»
suchung Capeaus' bei, dass die Stellung Heriliärls m Kant
eine wesentlich negative, ablehnende iiM, und »dass die
positive Anschauung, die Herbart ton der theoretischen
Philosophie Kants hat, eine durchaus unzutreffende, durch
das Medium seines eigenen, unabhängig von Kant gewonneneil
Systems wesentlich gefarti^ und getrübte istc
Gapesius weist daher audi, wie mir scheint, ebenfalls
mit vollem Rechte, der Herbarlischen Metaphysik, im Eior
klänge mit dem Resultate, das die Entwicklungsgesehiehte
ei«ab, ihn Stellung in unmittelbarer Nähe des Wolfllsehetl
256 C. Th. Michaelis,
Rationalismus an. Herbart ist mehr durch seinen den Satz
des Widerspruchs als Fundament aller Erkenntnis Anerkennen-
den Rationalismus, als durch seinen Realismus charakterisirt.
»Die Metaphysik Herbarts gehört unter die von Descartes
anhebenden logisch-rationalistischen Systeme der neueren
Philosophie, wobei sie am nächsten der Leibniz-WolfEischen
Schule sich anschließt, und steht dadurch im Gegensatz zu
dem von Kant begründeten — Rationalismus, des sogenannten
deutschen Idealismus.c Wir haben ein System nach Kant,
auf das die scheinbar alles beherschende Kanüsche Philo-
sophie keinen Einfluss gewonnen hat.
Und wie sieht es schließlich mit der Zulässigkeit und dem
Werte der Herbartischen metaphysischen Grundvorstellungen
aus? Gapesius ist der Ansicht, dass die Tragweite des Satzes
des Widerspruches sich auf die Abwehr unzulässiger, wider-
spruchsvoller Verbindungen beschränkt, dass derselbe aber
nicht zur Gewinnung neuer Synthesen gebraucht werden
könne. Das ist die Ansicht Kants, von deren Richtigkeit
auch ich fiberzeugt bin. Gapesius ist weiter der Ansicht,
dass die vermeintlichen Widerspräche, die Herbart in einigen
Vorstellungsweisen der Erfahrung, dem Dinge mit mehreren
Merkmalen, der Veränderung, dem Ichbegriff u. s. w. zu finden
meint, in Wahrheit nicht gegeben, sondern von Herbart
kunstlich geschaffen sind, und wenn sie wirklich vorhanden
wären, auch von Herbart gar nicht hätten beseitigt werden
können. Ich stimme Gapesius vollkommen bei. Einheit und
Vielheit sind keineswegs Widersprüche, der Begriff der Viel-
heit involvirt vielmehr den Begriff der Zusammenfassung im
Bewusstsein, also den Begriff der Einheit, und das Zusammen
der Realen, die erfunden sind, um die Vielheit von der Ein-
heit zu reinigen, fallt bei Herbart plötzlich vom Himmel
herab. —
Die Kritik, die Gapesius an der Methode Herbarts und
an den eihzebien Positionen übt, ist durchweg eine klare
und besonnene. Ich gehe auf dieselbe nicht weiter ein.
Herbärt entwickelt seine Metaphysik aus dem eigentümlichen
Begriff vom Sein, den er sich geschaffen hat, heraus; jener
Beurteilungen. 257
Begriff widerspricht der Erfahrung; aber die Synthese, deren
er dann zu der Entwicklung bedarf, ist doch hier wiederum
keineswegs eine rein logische, sondern eine auf Erfahrung
hinweisende und beruhende. Der innere Widerspruch des
metaphysischen Systems Herbarts liegt klar zu Tage, und
man wird nicht anstehen, mit Gapesius dem Metaphysiker
sein reines Sein, mit dem doch nichts anzufangen ist, zu
schenken, und sich selbst an die fruchtbarere Erfahrung
halten, deren Wert Herbart zwar auch zu schätzen gewusst
hat, die aber doch nicht die eigentliche Quelle seines Systems
ist. »Das Rüstzeug der Herbartischen Metaphysikc ist in
der Tat »ein höchst dürftiges und kümmerlichesc, und der
Versuch, mit diesen Mitteln auszukommen, führt unvermeidlich
zu Künsteleien und -zu Inconsequenzen in dem Aufbau des
Systems. Herbarts System scheitert an den Mängeln der
rationalistischen Systeme, in denen die Erfahrung stets zurück-
gewiesen und doch überall mit ihren Resultaten ausgenutzt
wird; die Vorzüge, die trotzdem an dem Herbartischen
System in die Augen springen, sind die realistische Tendenz
und der klare durchsichtige, darum auch der Kritik um so
leichter zugängliche Bau des Systems; und für die Gesammt-
würdigung Herbarts ist keineswegs seine Metaphysik ent-
scheidend. Ganz anders als das Urteil über diese muss
die Abschätzung seiner psychologischen und pädagogischen
Schöpfungen ausfallen. Die Metaphysik enthält nach dem
Urteile Gapesius' am wenigsten von allen Leistungen Herbarts
von bleibendem Werte, und man kann gewiss bei aller Hoch-
achtung vor dem großen Psychologen sie ohne Nachteil der
Geschichte überlassen. —
Berlin. G. Th. Michaelis.
E. Sasse, das Zahlengesetz in der Völker- Reizbarkeit, eine
Anregung zur mathematischen Behandlung der Welt-
geschichte. L Statistik der neueren Geschichte von
Frankreich. Brandenburg 1877.
Es ist wohl möglich und mag auch nicht ganz ohne
Reiz sein, den Verlauf bestimmter geschichtlicher Ereignisse,
Znttdir. fflx Völkeipfjoh. ond Spiachw. Bd. XIV. S. 17
258 a T^ mthtMs,
wie der Kriege und Bündnisse, der ERfindungen^ Enbfeekongeii,
der wiasensehaMiohen: und Kunsttotlgkeit: in einem^ Lande in
einec Wellenlinie: zur Darstellung, zu; bringen, deanen KrSnv-
roungen und: Abwetehungien. von- einer Geraden, d» CMfie
der Bewegung^ die NervenreizbarUeit eines Volkes in bestimnu-
ten Maßen auadfüctcen« Dass.iüe versotnedenentWdlienlinieB^
beispielsw^se die der Kriege und die der. Litteratur^ aiefa
deebien, mag bil%. bezweifelt werdem. Wer aber* für sftimDfe-
liehe Völker der. Erde auf aMen; Gebieten menschlidssr Täfigf
keit ein Reizmaximum: und -Minimum zu. gleicher Zeit
erwartet, oder gar durchs Sebiebung uihIi Deubung der g&*>
achichtlieh^i Ei^ignisae heczustellen. versnobt,, verkennt doeh
wohl von. vorne hemin die Natur der geschicbtlicheD Ur^
Sachen und: sieht, nur da% was er sehen will. E« Sasse hat
zwar zunächst nur die politische Gesclnchte äes neueren
Frankreichs in: einer Wellenlinie dargesleßt,. deicn Krfim*-
mung^ da& Resultat ergehen,, »dass die VSlkerbewBgang: eine
Welle von: nahe tO Jahreui Länge zeigt, weiche etwa alle
6Q' Jahre stärker abschwillt und auf die. Inter&reczr ensep
zweiten Welle voH' nahe 19, Jahren. Länge, deutet«, a&ec en
gibt diesem Resultate- allgemeine Bedeutung und> bshmiptetv
dass die Symptome gesteigerter Ri^amkeit in; den Zeiten, der
größten. Häufung der Sonnenflecken uod dec magostiBchen
Variationen überwiegeui. Der Form, wenn auohmd[tda&
Inhalte nach, soU die Geschichte von den Schwankungen der
SohsTiK^kraftsslirahleD der Sonne abhängen^ und: mit Hfflfo
der statistischen Methode der Mittelzahlen, und» der Wahr^
scheinüehkeitsEechnung soll; di& Astrologie,, »nidit mefar
eine geheimnisvolle, sondern eine Uare^ statistiaehe Wissen«»*
schaflc, auferabdien.
Also statt eines Teiles geschichtlicher Forschung Astro-
logie, neben; der Duiohforschung der Peegamente-Mktbemvtik!'
Im den Sternen, stellt, wieder unser Sohidtsali wenn* auch' nur
deo Form naofa^ geschrieben, und- eine Vbrberbestfimnang der
wahrscheinlichsten einfachen Form' dt&r Gesdiichte ist mSglich.
1 Aufgabe: der Gesehichtsfloreckung» wj^ jeder' Wissensehaft
isb (Sa: EnUdedumgi wni Natürgesetlsens« llHitet die' S^ffinisse^
Beurteikmi^. 25^
von cter Sasse atisg^ht. Die Pi^mfage ist felsch. Nicht
Nttturgesefze lassen sieh in der politlsGiieni socialen, religiösen
und inteUectuelk»! Entwicklung d^r VSIker entdieeken, sondern
dsm eompllcirten Ureachen - des' geschichtliehen Lebens^, den
localen^iEiiiffflsseni der Rassenanktge, den CuItüFbestfebungen,
dtai ÜAtagonismus der Nationen entepringen verwickelte Ge^
setse, die man nicht mit den einfachen Gesetzen-^ die den
Sti^ff bebersehen, anfeine Linie stellen kann. Zahl nnd Größe
shid plump rationale Hilfsmittel, mit denen in der WeH^
ge0etiiichte ebenso weirig wie in dför Betrachtung des^Seel^i«
leben» auszukommen ist, selbst nicht, wenn man die Form
der Weltgeschichte von ihrem Inhalte loszutrennen versQcht,
was doch, bei dei; Abhängigkeit der ersteren von dem: letz-
teren unzulässig ist. In der Anwendung der mathematischen
Forschungsweise auf Fragen der Philosophie, die keine
mathematische Behandlung- lulassen^ weil es keinen Maßstab
für die Messung geistiger Größen gibt,, liegt eine der
schlimmsten Verirrungen. der neuerem Philosophie^ Neben
die w^igsteM nicht ganz nneimiige matbemaitische Logik
der Neuzeit will si^ nun auch» die mathematische Gesehichts-
forschung stellen , und Sassres Versuch ist nicht der einzige,
der in den^ letzten isiffBU aufgetaucht ist,. Sehult^y ver-
danken wir das »Quadrat der Biläung.<. Alle,, denen Ge-
schichte lieb istr werden gegen solche Methode der Geschichts-
forschung energisch protestiren, wenn es sich eines Protestes
überhaupt verlohnt. Die Wissenschaft bleibt von solchen ab-
geschmackten Versuchen doch wohr ziemlich unberührt. Es
ist eine völlig fälsche und den Sachverhalt entstellende Be-
hauptung, da99 die Statistik zahlreiche scheinbar freie mensch-
liche Tätigkeiten als regelmäßige und nofw^ige nach-
gewiesen bot. Big zu den^ Ursachen reicht überhaupt sta-
tistische Wissenschaft, reicht der- B^riff der ZaU nie heran.
Verbindung und Grdhung^, damit erschöpft sich sein Amt
und sein Können, zur Ergründung des Tatsächlichen ist er
viel zu leer und armselig. Die Notwendigkeit irgend eines
Vorganges hat die Statistik noch nie bewiesen, und die
Moralstatistik z. B. hat sich die gerechte Einschränkung und
260
G. Th. Michaelis, Beurteilungen.
Abweisung ihrer Uebergriffe von verschiedenen Seiten gefallen
lassen müssen. Was aber die Abhängigkeit der Reizbarkeit
der Völker von den Sonnenflecken und den durch sie hervor-
gerufenen Beunruhigungen der Schwerkraftsstrahlen der Sonne
betrifft, so ist das Band, welches beide Vorgange verbinde!,
etwas locker und die Ursache für die Wirkung jedenfalls
weit hergeholt. Eine Notiz über Sonnenflecke findet sich
übrigens schon in den Thontafeln des alten Babylonien, der
Heimat der Astrologie. Ein Strafcodex aber, der auf die
Sonnenflecken Rücksicht nimmt,, und zu Zeiten der Beun-
ruhigung der Sonne mildernde Umstände bewilligt, wäre doch
etwas bedenklich.
Berlin.
C. Th. MichaSlis.
Anmerkung.
Der Verfasser des Aufsatzes über den Ursprung des
Wortes mm, der durch Krankheit verhindert war, sich an der
Correclur zu beteiligen, bittet folgendes zu verbessern:
Seite
175 ZeUe 12 v. u.
statt der
lies des
lf
— .
tt
9 V. u.
II
noch
ff
auch
>9
177
II
5 V. u.
fi
Hitler
tf
Mflhlau
•f
178
If
12 V. 0.
If
Ursulimmu
If
Ursalimmu
ft
—
11
17 V. 0.
If
Juudd
If
Jaudd
>l
180
If
16 V. 0.
II
Mitiatl
ff
MitlnU
1»
181
II
7 V. u.
»1
noch
ff
auch
»
—
If
3 V. u.
ff
und
ff
in
}|
—
If
1 ▼. u.
II
mehr
II
wohl
If
183
II
4 V. u.
If
oben
If
eben
tf
184
II
6 V. u.
ff
oben
ff
eben
»1
185
II
12 V. u.
ff
weite
If
ezacte
If
188
II
3 V. 0.
ff
kun, gun
If
han, gan
»1
»•
"■"
If
fi
5 y. 0.
8 V. u.
If
If
guaü
Bcht.
ff
ff
gunü
Bibliothek
l>
190
II
6 V. 0.
If
ta^^^K
fi
^i^^
»»
—
II
16 V. 0.
ff
mopj
»1
m»p9
II
—
II
24 V. 0.
ff
!>M
ff
H
II
II
30 V. 0.
1»
rii? lii?
ff
r^\i r>i?.
Kant und der Endämonismus.
Es ist eine Revision von Processacten, die ich auf
den nachfolgenden Blättern vorzunehmen beabsichtige, eine
Revision des Processes, den Kant s. Z. durch die Aufstellung
und B^irfindung seiner Morallehre mit dem Endämonismus
zu fuhren hatte. Dabei gilt es mir indessen nicht um ein
bloß historisches Referat, sondern um eine gleichzeitige Ab-
wägung der Principien, der zu Grunde liegenden Gesichts-
punkte, um die der Kampf der Meinungen geführt wurde
und um die er noch, bei einer Erneuerung desselben, zu
fähren ist. Kant fährte, wenn man den äußeren Erfolg in
Betracht zieht, seinen I^ocess siegreich durch. Die Gegner,
u. A. Garve, der damals eine ansehnliche Stellung einnahm
und dem Kant eine eigene, sehr lehrreiche Abhandlung
widmete*), waren seiner öberlegenen Denkerkraft nicht ge-
wachsen. Sie wurden zum Schweigen gebracht, ohne sich
eigentlich geschlagen zu fühlen. Während sie in ihrem Kopf
vergeblich nach einem Halt suchten, um von den zwingenden
Argumenten Kants nicht bewältigt zu werden, protestirten
sie mit dem Herzen, wie denn Garve ausdrücklich in Betreff
der von Kant gemachten Unterscheidung zwischen Glück-
seligkeit und Gluckwfirdigkeit hervorhob: »ich für mein
*) Von dem Verhältnis der Theorie lur Praxis in der Moral fiber-
haopt (Zur Beantwortung einiger Einwürfe des Herrn Prof. Garve.)
17Ö3. Die Einwflrfe sind in dem ersten Band von Garves »Versuche
über verschiedene Gegenstände aus der Moral und LiUeratur.c (1792 bis
1802 in 5 Bänden) enthalten.
Zaitwhr. fflrVOlkorptyoli. und Spnchw. Bd. ZIV. I. 18
S62 Duboe,
Teil gestehe, dass ich diese Teilung der Ideen in meinem
Kopfe sehr wohl begreife, dass ich aber diese Teilung der
Wünsche und Bestrebungen in meinem Herzen nicht findet,
was Eant mit Grund Veranlassung gab, ihn einer gewissen
Unfertigkeit und Inconsequenz des Denkens zu zeihen.
Zwei Gesichtspunkte sind es vor Allem, die meiner Auf-
fassung nach ganz im Allgemeinen gerade in miserer Zeit
die Veranlassung abgeben sollten, die Eant'schen principiellen
Argumente fw sdoe Montouffesgtmg ekier emsuerlen tieferen
Prüfung zu unterziehen, einerseits, weil der »Mechanismus
der Notwendigkeit« — um Eantisch za sprechto — den
Kant in der Ethik für hinfällig und unverbizKUich erklärte^
uns überhaupt von hSherer, allgemwn bindender, unver«
rückbarer Bedeutung erscheint^ so dass wir uns dagegen zur
Wehre setzen müssen ihn preiszugeben ^ und dann, weil es
dem antimetapbysischen Zug der Gegenwart am besten ent*
spricht das, was i m Mensehea vorgeht, auch aus des Menschen
Wesen in anthropologisch -psychologischer Deduction zu er-
klären. Wir müssen wenigstens versuchen, den anthropo^
logischen Grund und Boden festzuhalten und zü sehen, wie
weit derselbe reicht Kant dagegen schuf eine Metaphysik
der Sitten, von der er mit Grund sagen durfte und sagte«
dass sie zwar auf Anthropologie angewant, aber nicht auf
«e gegründet werden könne, weil lAe nicht Natur, sondern
die Freiheit der Willkur zum Objeete habe.*)
Kants theoretischer Gegensatz zum Eudämonismus ruht
in der Hauptsache gänzlich auf eben dieser Freiheit der
Willkür. Der seiner selbst bewusste und coUsequente
Eudämonismus behauptet Folgendes als Grundtatsaefae: Der
Mensch strebt inuner nach Glückseligkeit oder ^ wie ich
lieber sage ^ Lust, er kami keinen Schritt außerhalb dieses
Strebens tun, er kann sich kein anderes Motiv zulegen, er
sucht in Gemäßheit der Anlage seiner Natur die Lust und
flieht den Schmerz ausnahmslos. Der Ausspruch Epikursi
«) Kants Werke V. 6änd S. 15 n. f. (IfetaphTsik der Sitten). Ich
citire nach der Hartenstein*8chen Gesammtau^abe.
Kant und der Eodämonismttd. 963
dass die Last allen Geschfipfen oiiutop, imturgemäß und an-
gemessen, der Sdimcrz dkXfifiQim^, fremd und naturwidrig
sei, — dieser Ausspruch, der dort »ehr im Sinne der Ettv-
pfehlung einer pri^Ltiscben Lebensmazime, einer Regel der
Weisheit gemeint ist -*• wird hier als Naturgesetz, welches
das BeUeben ausscfaHefit, es aufhebt, angesdiaiit und so be-
hauptet Dee Mensehen Wollen und Tun ruht allüberall
auf dem Loistbedarf« Er tut daher audi niduto, als dass
er das größtmögliche Mafi von Lust reaUsirt oder — CaMs
ihm das nicht gelingt *- dass er das mögfichst geringe
Maft Ton Unlust an sich heranlässt
Kant dagegen lehrt: Der Mensch ist nicht so an die
Lust gebunden, dass er ihr unbedingt Untertan ist. Eir ist
frei und hat praktische Yemunfl. Der positilFe Begriff
der Freibeit der WiUki^ ist das Vermögen der reinen Ver-
nunft, für sich selbst praktisch su sein, was negativ genecmnen
SD viel bedeutet als: die Willkur ist unaUiängig von der
Bestimmung durch smidlche Antriebe. Freie Wilftür ist
also die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werd^i
kann. Eine solche besitzt — mm Unterschied vom Tier -—
der Mensch, dessen Willkür durch sinnliche Antriebe zwar
afficirt, aber nicht bestimmt wird. Dies^e ist also fibr
sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kaim
aber doeh zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt
werden.'*') ~ Das Verhältnis von Willkür m Wille gibt
bei Kant leicht Veranlassung zu Irrungen, well er unter
letzterem, ohne gleichwohl die Ausdrücke im Grebraudi streng
zu scheiden, insofern er die Willkür bestimmt, die praktische
Vernunft (oder das Vermögen der reinen Vernunft, für sich
selbst praktisch zu sein) selbst versteht. Er drückt sieh
hierüber so aus: Wille heißt das Begehrungsvermögen^ dessen
innerer Bestimmungsgrund, friglieh das Bdieben seibst, in
der Vernunft des Subjects angetroffen wird. Dar WUle iit
also das BegehrungsvermOgen, nicht sowohl (wie die Wfllkür)
in Beziehung auf die Handlung, als vielmdir auf den Be^-
•) Kants Werl« a. a. O. p. tt.
18^
264 Düboc,
stimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und
hat selber für sich eigentlich keinen Bestimmungs-
grund sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann,
die praktische Vernunft selbst (a. a. 0. p. 11).
Diese letzten hier gesperrten Worte, wonach zugegeben
wird, dass der so beschaffene Wille »selber für sich eigentlich
keinen Bestitnmungsgrundc hat, enthalten, genau genommen,
das Zugeständnis, dass das, was Kant unter Wille verstanden
haben wollte, nichts weiter ist als die Vernunft selbst
als Wille gedacht oder zum Willen umgestempelt, und
dass auch der vorher von ihm aufgestellten Bestimmung:
j^ Wille ist das Begehrungsvermögen, dessen innerer Be-
stimmungsgrund in der Vernunft des Subjectes angetroffen
wirdc, nichts weiter zu Grunde liegt als eben dies.
Kant gibt die »Verwunderunge darüber, dass unsere
Vernunft ein Vermögen besitzen solle »durch die bloße Idee
die Willkür zu bestimmenc, als berechtigt zu; er leugnet nicht:
»das gebietende Ansehen dieses Gesetzes, ohne dass es
doch sichtbar eine Triebfeder bei sich führt, muss
freilich anfänglich befremden«, aber dies Befremden, meint
er, schwindet, wenn wir belehrt werden, dass die Freiheit
uns durch das moralische Gesetz unwidersprechlich dar-
getan wird. Die Vernunftidee der Pflicht oder des
moralischen Gesetzes — was bei Kant soviel heißt als die
Idee der Qualiücation einer Maxime zur Allgemeinheit eines
praktischen Gesetzes — würde uns nicht erstehen, würde
überhaupt nicht vorhanden sein, wenn der Mensch nicht in
der Vernunft die Freiheit besäße, d. h. ein Vermögen der
Selbstbestimmung oder der Unabhängigkeit der Willkür von
der Bestimmung durch sinnliche Antriebe, d. h. durch Schmerz
und Lust.
Kurz gefasst, deckt sich dies mit der bekannten Formel:
du kannst, denn du sollst, oder dusollst, also kannst du.
Freilich ist dies ganze Verhältnis, so angeschaut und
aufgefasst, völlig transcendent. Denn besteht eine innere
Gesetzgebung der Vernunft im Menschen als Freiheit in dem
Sinn eines Vermögens, ist das in der Vemunftbeschaffenheit,
Kant und der Eudämonismus. 265
in ihrem Wesen enthalten, so ist nicht mehr abzusehen,
wie gegen dies Vermögen, dies Beschaffensein gehandelt
werden kann. Die Unmoralität des Menschen wird unbe-
greiflich. Kant spricht dies auch selber mit dürren Worten
aus, wenn er z. B. an einer Stelle seiner Einleitung in die
Metaphysik der Sitten, gegen die Vorstellung der Wahl-
freiheit gewendet, davon spricht »dass die Freiheit nimmer-
mehr darin gesetzt werden kann, dass das vernünftige Subject
auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende
Wahl treffen kann, wenngleich die Erfahrung oft genug
beweist, dass es geschieht (wovon wir doch die Mög-
lichkeit nicht begreifen können)€. Und • an einer
anderen Stelle: »Die Freiheit, in Beziehung auf die innere
Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Ver-
mögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unver-
mögen. Wie kann nun jenes aus diesem erklärt werden ?€
Auch diese Bemerkung*) bildet ja nur einen Gommentar zu
der eingestandenen Unvereinbarkeit des Begriffs der Freiheit
mit dem empirischen Tatbestande der Unmoralität. Und
eben deshalb ist nach Kant »der Begriff der Freiheit ein
reiner Vemunftbegriff, der fär die theoretische Philosophie
transcendent d. h. eme solcher ist, dem kein angemessenes
Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden
kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen
theoretischen Erkenntnis ausmachte**).
Wenden wir qns nun zurück. Nach Kant kann die blofie
Idee die Willkür bestimmen d. h. also bewegen. Und zwar
vollzieht sich diese Operation nicht etwa durch irgendwelche
mit der Idee stillschweigend verbunden gedachten Trieb-
federn des Angenehmen oder Unangenehmen, so dass die
Idee mittelst derselben wie mittelst Organteilen auf die Will-
kür resp. den wollenden. Menschen emwirkte, sondern es ist
immer die bloße Idee ohne jegliche solche Organteile.
Dürften wir das Verhältnis so fassen, so würde sich eine
*) Man vergleiche zu d^i angeführten Stellen noch die Anmerkung
im Anfang der Einleitung zur Tugendlehre. St.
••) A, a. 0. p. 20.
DuIkmv
Verimttkaatg mit der Grundanschauttog des Eud&moniämus
tersteUea lassen, aber es ist eben das <diarakterifitische
Moment uad da^jeo^e, welches das Ganae zu einer philo-
sophischen Pirincqpien&age macht, dass diese VermittkiDf
nicht bestehti dass der Brodi ein ganz reinar ist Die Idee
als solche wiisd als hewegend angenooimiHi. Wal das bei
Eaat als möglich gilt, deshalb kann dem Menschen an-
gesonnen wecden, »dass sicii keine von jener (der Glückselig-
keit) hergeleilete Triebfeder in die PihchtlMkimmung un*
beoierkt mit eumusche«« das Pflichtgebot besitzt ein »sich
selbst getuigdames, keines anderen Einflusses bedürftiges An-
aebeac. Wenn Kant auch an einer Stelle von »Achtung«
ak »Trtebfeder« des »Gesetzes« sptioU*), sso ist er doch weit
entfernt], daraus iisendwelcbe mit seiner Giundanfichaoung
in Widefftfpnich stehende Folgerungen zu jüefaen. Ware er
der Ansicht gieweseB, dass »des Menschen pffichtm&Siges Ver^
halten respw seine Moralität irgendwie aus emem Drang der
Seihstbefriedigang {also in letzte Instanz aus einem Lust-
notiv) abflhleiten wäre, wobei ja aach dib von der Gesetze»-
iAse eingeflSßte »Achtung« als flandhiEa)e dienen kMnte, so
Wärde er Garve nicht widersprochisn habeni, als dersdbe
diese letzte Station des Ettdämonismus zu hatten versuchte.
Garve plaidirte, in der heckdmmlichen Weise., dass die
moralisohe ünzufinedetiheit Uidast erzeugei, dass der Mensdi
sich durch Abweichung voin. Gesetz nngiäcklich mache and
dies lEilsö den üteweggrimd .tugencUiaft zu aem ausmache.
»Aus tdeir GluebseUgkcii, im aUgemeinsten Siim des Wortes,
enfafpsiiigen die Motive zu jedem Bestreben^ lalso auch zur
B^lgung ides moralisdMn Gesetaes.« Eailt nannte dies ehie
»v*ernäiift^de T&ideifii.« £Qime man nämlich bei Anffihnmg
einer Ufsadie izn ehier gewissen Wirkmig indit aufhören zu
fragen, uso mache man endlidh die Widamg tw Drsaofae von
*) A..a. 0. p.373. Die Tnehfeder, weicherer .Mensch vorher hahen
kann, ehe' ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar
nichls Andesss sein als ias » Gone ti salbst durch «die Achtung, die es
(unbestimmt, welche Zwecke man haben «nd durch dessm «BeSolaui^
erreichen mag) einfloßt.
Kant und der Euflftmonismus« ^ffj
&ch selbst. Der reinen nKuralischen Unzu&Jedenhfijt .(wqfeia
Gesetzwidrigkeit der HaadJwg) ^ wr 4er Tpgeadbafie oder
der auf dem Wege se\, ee m werden^ &big. Folgliich sei
sie nicht dieUrsyacbe, soj;idern4ie Wir^u^ davoni
dass er tugendhaft sei und der Qewi^ggrund zur Tilgend
könne nicht von ihr entnommeo wecdepiu Die £jiapfäng-
lichkeit de^ WiUens, ^icb unter dem Gesetz (Pflicbtgebot)
als unbedingter jNötVPing zu befin^eUj heifte dsfs moraUsche
Gefähl und sei nicfait Ursache« sonißm Wirkung der
Willensbesiimmung. In dieeem letzten Sa^ culminict
eigentlich die uaaufhebb^re Dittßrem zwisicfien de^ Kanti-
scben und dem modernen Stfm^iinkt Denn shJer wird die
»Empfänglichkeit des Wittens«! ^Jso df(s e^nWcbe Grwd-
verhäliUiis. seines BesehaiSenseJos^ deswn Urfi>rung und ße*
dingtheit ein natwrwjseenac^aftUch gemfi;bteta3 Denken in
emem Naturiurocess geksen erbitt;en w4« iß ejw abstracie
Besiebwg, die W,i|IIeosbestwpui«i verl^ 4ie es wirkt und
also iiervorru?« Die (»£]n(p|Si)g|iqlikeit des W!ilien&( wkd
der .moderne M^iscli ßtaU jsie als Wirfcwg rcler Witfen^
bestiramm^g iämcb dJe yevmmft) anzusehen, ihrem (Ursprung
nach auf lieabnuw dejr zufaUlgeo Umstwde, d^r Sterne
setzen, welcfce die ConsteUetiw meiner Geburt behsi?schten.
Der ^modernen Auffassung ist der Nf^turprocass allzeugend
und dsimit wd ihr Denket sobald es das Sxzeugte^
das GewHHrdeuie betrachtet, immer .iinf 4w »Meohmismus
der Nalurnotwmdvkeitc «uruokgefiiihrt. fw K^ besteht
dieser ,unv,eRFuqkbare Auqgaxig^unk^ di^ AuOE^ssung nipht,
sem Zeugungspmkt ist, wenigstem avif isthiaebew iGohiet, ,m
absAraiCiter.
Kant steht ^it «dnem Semuhen, .die Qestimming durch
sinxdiche iR^u^ ß»( dem .Gebiet 4^xuQrftUschei» VerMItens
vBXüg i9wzumerzen, sq daas nw ^ unbe0eckite:ldee cals 4»ß
aUein jSewegende Mbr« bleibt» ¥9r ^em^r AhnUchw iSitoieRig-
keit wie der Jude im ^aufmftnn ^vpo F^aedw, «wenn demeUDe
ein Pfund Fleisch aus dem lebenden Menschenleib Ipskoeen
soll ohne dabei einen Xrciptfenfilufa zu vei^giefien. ^ur dass
fiuf dwi ^Qbiet des siimUobrgrei(baren h^h^^ .diese Operation
268 I>ubo«f
sich sofort als augenscheinlich unmöglich, das Unterfongen
derselben also als widervernünftig resp. absurd heraus-
stellt, während das ähnliche Vorhaben auf dem verwickelten,
mühsam zu ergrundenden seelischen Gebiet sich nur als
üb er vernünftig resp. transcendent kundgibt und damit in
eine schwer angreifbare Region zurückzieht Kants Ent-
gegnung an Garve in der hier betrachteten Stelle ist aber
gleichwohl nicht völlig unzutreffend. Das moralische Gefühl
ist allerdings keine Wirkung der Willensbestimmung, wie
Kant behauptete, aber auch das ist falsch zu sagen: weil
die moralische Unzufriedenheit Unlust bringt, ist ersichtlich,
dass die moralische Handlung aus dem Bedürfnis, die Unlust
zu meiden, hervorgeht resp. von ihr verursacht wird. Denn
in der Tat wird dadurch nichts ersichtlich gemacht, da die
moralische Unzufriedenheit nur von dem, der bereits moralisch
ist, empfunden werden kann, das Moralisch-sein also nicht
aus der moralischen Unzufriedenheit (d. h. dem zu Grunde
liegenden Luststreben) hervorwächst, sondern mit ihr in
Eins zusammenfällt. Dass ich diese besondere Art der
Unlust, die das moralische Gefühl ausmacht, empfinde, das
ist eben meine moralische Qualität, es macht sie aus, aber
es verursacht sie nicht Was übrigens dem Eudämonismus
in ethischer Beziehung als Aufgabe oblag, was er aber bei
Garve und überhaupt bisher nicht leistete, war der Nachweis,
dass und warum dieser besonderen Art von Unlustempfindung,
die das sogenannte moralische Gefühl ausmachen soll, mora-
lische Qualität wirklich zukommt. Die Bestimmung der
Moralität darf nicht von außen an sie herantreten, sondern
muss aus ihr heraus entwickelt werden. Davon weiterhin.
Was nur nun, von allen Principienfragen absehend, für
die eudämonistische Auffassung entscheidend in die Wag-
schale zu fallen scheint, ist vor Allem das, dass wir gar keine
Gedankenanalyse der willkürlichen Bewegung als seelischen
Vorgangs vornehmen können, ohne direct in sie hineinzu-
geraten.
Est deus in nobis, agitante calescimus illo.
Wer ist dieser deus, dieses bewegende Princip, dies in
Kant und der Eudämonismus. 269
uns wirkende Feuer, dass uns erglühen lässt? Wir wissen
es nicht, wir fühlen nur, dass uns, so lange wir leben und
uns bewusster Weise bewegen, ein Etwas treibt, dass wir
uns bewusster Weise nicht bewegen, wenn uns kein Antrieb
gegeben ist, dass wir aber, sobald derselbe wirkt, uns be-
wegen und zwar in der Richtung, in welcher derselbe uns
antreibt. Das Verhältnis des Triebes zur Bew^^ung ist
keine hinzuerfundene, sondern unmittelbar mit dem Be-
w^^ngsvorgang gegebene Größe. Der Bewegungsvorgang
als gewusster, also in seiner offenbar gewordenen, auf-
geschlossenen, ans Licht gezogenen Beschaflienheit ist überall
mit einem Trieb verbunden. Kein Trieb, keine Bewegung
oder keine Bewegung ohne Trieb. Aus diesem Grundver-
hältnis ergibt sich dann aber auch die Notwendigkeit ebenso
wie die Berechtigung, die Bezeichnung »Triebe bei jedem
Bewegungsvorgang anzuwenden, die Kraft des Gewissens,
Moraliiät u. s. w., insofern sie treibend wirken, also eine
Bewegung verursachen, ebensogut den Trieben anzureihen
als die gemeinhin mit einer sehr willkürlichen und undurch-
führbaren Trennung der sinnlichen und seelischen Seite im
Menschen so bezeichneten sinnlichen Triebe.
Der Mensch ist in diesem Sinn, buchstäblich genommen,
als ein Triebwerk anzusehen, weil und insofern er nur
durch und in Gemäßheit seiner Triebe (Triebfedern) bewegt
wird, wie das mechanische Triebwerk ebenfalls nur durch
und in Gemäßheit semer Triebräder, Federn u. s. w. Be-
wegung erhält und vollzieht. Die Kraft, die dahinter steckt,
und die beim menschlichen Triebwerk unenthüllt, transcendent
bleibt — Lebenskraft ist ja auch nur eine Umschreibung —
lassen wir in beiden Fällen aus dem Spiel, der seelische
Bewegungsapparat aber hat seine fassliche und messbare
Begrenzung in dem Verhältnis des Triebes zur Bewegung*)«
*) Wenn es mich aber zu ruhen treibt, so liegt darin doch kein
Verhftltnis des Triebes zur »Bewegungc ausgesprochen? Auch die Ruhe
fällt in die Sphäre der Activität d. h. Bewegung des Menschen, sobald
wir sie als von ihm vorgenommen und vollzogen betrachten. Wenn
der Mensch »sich ausruhte, wie man zu sagen pflegt, wird das Ruhen
270 Puboe,
Diese AuffassuDg tübrl nun direct in den Eudämonismus
hinein. Wird der Mensch aJusschlieüUoh von Trieben bewegt,
was demnach auch zur Quelle seines gesammten Tuns und
VerhaHeus wird, so ist diese Quelle auch ni^ts anderes als
der Lust bedarf, und des Menschen gesammtes Tun, aus
diesem Quell sich ergießend, bezweckt nichts anderes als den
Luslerweri). Denn Lust wird uns nur offenbar und zu
Teil, indem sich mit einem von uns gehegten Verlangen,
einem Trieb, die Gewährung yarknupft. Triebes-£r/üllung
bedeutet daher unbedingt Lust, wie sein Gegensatz, Triebes-
Hemmung UnlusL Am durchsichtigsten und jüarsten er-
scheint dies Verhältnis in der gewissermafte« abstracten
Sphäre der nur v org^estellt^n und in der Vorsbellung durdi-
gekosteten Triebes -Erfüllung. Bei der in die Wirklichkeit
übergeführten TriebesnEr£uUung kam üß Lust dem Bewußt-
sein gewissermasaen verloren gehen, wenn der Trieb, einer
irrigen Vorspi^elung fdgend, einem CQr den Gesammtzustand
des Individuums unangemessenen Ziel zustrebt vaxd daher die
Bieaction der andearen gehemmten Triebe d. h. ein über-
wiegendes Unlustguantum h^rorrufL Jn diesem fall atjr^if t
die durch den erfiiUten Trieb erzeqgte Lust nur das Bewus^tr
sein, ohne v^on ihm {festgehalten au werden« sie geht, iwenn
wir so sagen sollen, dem Erinnerungsvermögen des Bew^sst-
seins verloren und wkd zu sclmell gelöacjit, um .g^ebuchrt
S3U wierden. Aber diese irxeluhrenden Momente lajlen 3ämmt-
lich weg^ wenn wir statt des Maßstabs 4er Hufi^rej;! Ver-
wirklicbuDg das in lUns wirksame Verhältnis des Triebes
zu seiner Erfüllung zu tGniode legen. Uinrnfiglich ist .es, leioen
Trieb in uns sich regen zu Höhlen ^ ohne seine vorgestellte
£r£ulhu)g gleichzeitig als Lust zu i^npfixiden. Selbst wenn
der voi^gesteUte Genuss von unseren tsittlichen Bewusstsein
.verwiorfen xinä daher ^hm im Entstehen vergiftet *J wird«
ist es unmöglich ihn gleichwohl als Lust zu bannm, «dtudd
der Mensch mit «einen Ctedanfken bei der ErfÜKung desTdebes
ia Oliver iFona^ also io dem Sinn« in dem wir biar von Bewegung
flprenheot gaaoBuaen.
-*) Dieser Auacbofifc kt jabaolut HerwarQidi« ^
Kant und der Eod&monismus. 271
Vierweilt. Hier fällt Eins mä dem Anderen achleditbin zu-
sammen. Wir schöpfen die Ueberzeogung Ton der Wahrheit
des behaupteten Grundverhaltnisses nicht erst aus äuSerear
Erfahrung beobachteter Fälle, sondera erüassea das Gruod-
TOrhiltnis selbst am Urquell seines Prindps« wie dies auf
p^^ologischem Gebiet geboten ist
Diese Deduction des eudämonistischen Haupüehrsatzesi
dass des Menschen Tun allüberall auf dein Lustbedarf ruht
und nirgends anders ruhen kann, stützt sich, um dies noch
einmal als Hauptpunkt hervoczuheben, nicht auf irgend eiae
v^arweg angenommene Selbstverständlichkeit, sie ist nicht un-
kritisGlier Naturalisnais, scmdem hat als Ausgangspunkt die
Erkenntnis der einfachen Tatsache, 4ass wir die Lebens-
Erscheinung nach der Seite ihrer Bewegung, d. h. ^das
gesammte Tun und Verhalten des Menschen Oberhaupt nicht
fasBen können, ohne auf den Trieb und dadurch auf Lust
und Unlust .zu recurrben. Das Prinoip des Eudamonismus
wird aus der einfachsten Tateache gefolgert «und dadurch
um so bindender bewiesen.
Die eodfimonistiscfae Annahme, dass des Menseben Tun
überall auf dem Lustbedarf ruht, was gleichbedeutend mit
dem Satz ist,, dass er immer die Lust sucht« den Schmer«
flieht und sidb nicht anders verhalten kann, hat iur unae»
Gesammtanf&ssiing einen unleugbaren Vocteil, welcher darin
besteht, ^dass die £.iniheit der Lebewesen unseres Planeten
in einer wichligen Beziebui^ dadurch in hohem Maße ge-
wadirt emcheint. Denn audi das Tier in allen iseinen Ab^
stufungra und Ausgaben flieht ja — und zwar unbetUngt -^
den Schmerz und sucht »die Lust. Den »MeeihaBiismufi der
NaturcNrdmmgyc um .mit Kant zu sprechen;, an dieser Stelle
hat inodi niemand anzuzweifeln sich gemufiigt gescdien. Hur
der Mensch soll kraft sein^ höhecen Natur eine AusnahHie
bilden, fiegen Ausnahmen, .namentlich gegw solche, die ilas
(3rand|)rincip eines einhällioheQ Bestandes anzotaateii schemessu
ist Aun unsere nalurlbrschende, monistisch c^sinnte Gegen-
wart krttisoh und misstrauisch gestimmt und iman sdtte in-
sofern ^eine Geneqfttieit, mh den Grundsätzen eines eth Ischen
272 Duboc,
Monismus resp. Eudämonismus zuzuneigen, von vornherein
voraussetzen. Allein einerseits hat die Untersuchung sich
bisher noch wenig auf diesem Gebiet bewegt und mit diesen
schwierigen Problemen eingelassen, andererseits complicirt
sich das im Anfang durchsichtige Verhältnis zwischen Trieb
und Lust im Fortgang mehr und mehr, wie wir dies bereits
erläutert haben. Grade die tatsächliche Erfahrung scheint
uns im Stich zu lassen oder wohl gar direct gegen uns zu
sprechen, und nii^nds ist das mehr der Fall als wo es sich
um Pflicht und Gewissen handelt. Hier scheint es der
eigensten innersten Erfahrung zu entsprechen, dass der Mensch,
wenn ihn die Stimme des Gewissens drängt, lediglich von
der Idee des Rechts bewegt wird, die sich ihm zwingend
au&iötigt und ihn von allen Eindrücken von Lust und Unlust
abdrängt resp. befreit. Mag dies Verhältnis transcendent
sein, es wird erlebt. Es hat die größte Scheinbarkeit
fär sich und ohne Zweifel auch eine große Popularität,
die teils eben in dieser Scheinbarkeit, teils in der resoluten,
gewissermaßen militärischen Kürze des kategorischen Impera-
tivs und seiner darin gelegenen Anwendbarkeit wurzelt.
Sehr unglüklich griff Garve u. A. grade diesen Punkt in
Kants Morallehre an und sehr richtig erwiderte derselbe
darauf, dass der Begriff der Pflicht in seiner ganzen Reinig-
keit nicht allein ohne allen Vergleich einfacher, klarer, für
jedermann zum praktischen Gebrauch fasslicher und natfiiv
licher sei als jedes von der Glückseligkeit hergenommene oder
damit und mit der Rücksicht auf sie vermengte Motiv,
welches jederzeit viel Kunst und Ueberlegung erfordere.
Wie stellt sich nun das tatsächliche Verhältnis der ge-
wissenhaften Handlung, mit der erforderlichen »Kunst und
Ueberlegungc betrachtet, dar, wenn wir sie vom Standpunkt
der eudämonistischen Anschauung ins Auge fassen ? Vergessen
wir nicht, dass zug^ebener Maßen ein specifisches Moment
im Verhalten des Gewissenhaften besteht, wo derselbe nur
seine Pflicht vor Augen hat, wo er von nichts wissen will
als nur von dieser, wo er nichts bezweckt als nur diese und
wo er also gegen jede eudämonistische Regung abgesperrt
Kant und der Eudftmonismus. S73
oder über dieselbe erhaben erscheint; vergessen wir nicht,
dass eben hierin das Wesen der Pflichterfüllung, ihre »Reinig-
keitc, wie Kant sie sich vorstellte, culminirt und dass die
Scheinbarkeit dieser Vorstellung, mit der wir es jetzt zu tun
haben, ebenfalls in dieser Beziehung wurzelt. Diese zu er-
klaren und auf ihren wahren Wert zu reduciren ist daher
an dieser Stelle die erste Aufgabe, und dazu bedarf es einer
eindringenden psychologischen Klärung des ganzen höchst
verwickelten Seelenvorganges.
Ich habe an einer anderen Stelle*) eine psychologische
Theorie des Gewissens aufgestellt, an die ich hier zurück-
zuerinnern habe, ohne mich auf die dort enthaltene Be-
gründung im Einzelnen, die hier zu weit führen würde, noch-
mals einlassen zu können. Dieser Theorie zufolge hängt die
Action des Gewissens an dem Moment des Gebührlichen.
Das heißt: der Mensch reagirt im Gewissen gegen jede von
ihm ausgehende Verkürzung des einem Anderen zugebilligten
Anteils, des diesem als gebührlich Zuerkannten, und diese
Reaction ruht auf dem Grund ;der Beanspruchung und Be-
sitzergreifung eines sich selbst zuerkannten Gebührlichen.
Denn nur weil und insofern dies geschieht, tritt dem Ich,
welches sich selbst ein ihm Gebührendes zugesprochen und
insofern erworben hat, innerhalb der eignen Erkenntnis-
sphäre ein Du gegenüber, welches, weil von gleicher Be-
schaffenheit resp. soweit die gleiche Beschaffenheit reicht,
auch als Träger des Anspruchs eines ihm gebührenden An-
teils erkannt wird. Bei Verkürzung desselben kommt also ein
zunächst nur theoretisch, für die Erkenntnis flxirter Wider-
spruch zu Tage. Wenn ich mich nun an einer solchen
Verkürzung beteilige und demgemäß einen Widerspruch be-
gehe, so fragt sich's, wie ich innerlich dazu stehe. Dies kann
entweder gleichgültig und reactionslos oder von einer mehr
oder minder starken Reaction g^gen den Widerspruch be-
haftet sein. Welches ist nun aber die tiefere Bedeutung einer
im Innern des Menschen vorhandenen oder fehlenden Reaction
*) Der Optimismus als Weltanschauung (Bonn 1881.) IV. Abschnitt,
274 thibo«,
gegen den Widerspruch als solchen? Diese, dass damit an
das Gesetz alles Seins, an das Gesetz des Lebens selbst
gerCSirt wird. Das Seiende, das Leben besteht nur als Ein-
heit, d. h. es besteht nur, indem es die in ihm wirksamen
Momente nicht als Gegensätze in sich duMet, sondern sie zur
Einheitlichkeit und damit zm* Harmonie zusammensdihefit.
Gelnagt ihm dies nicht mehr, treten die wirkenden und in
der individual-Existenz yerbundenen Momente in feindlichen
Gegensatz zu einander, wird Wider^ruch ilu* Seinsprineip,
so ist die Lebenserscheinung in ihrem Bestand bedroht und
ihr Zerfall eingeleitet. Insofern kann man also sagen, dass
das Seinsprineip durch den Widerspruch als solchen yemeint
wird. Reagirt des Menschen Inneres gegen den Widerspruch
als solchen, so reagirt er also gegen die Verneinung des
Seinsgesetzes — und umgekehrt, findet keine solche Reaetion
statt, so hat die Gesetzmäßigkeit des Seins in ihm keinen
Boden« Bin ich gewissenhaft, so hat dies also diese Be-
deutung: ich empfinde den Widerspruch (der sich in der
Verkürzung eines Geböhriichen vor meinen Augen aufbaut)
als meinen Widerspruch, ich widerspreche dem Wider-
spruch, d. b. ich betätige das allgemeine Seinsgesetz aTe
mein Seinsgesetz. Hier liegt die tiefe Bedeutung, weshalb
der Gewissenhaftigkeit als solcher, gleichviel wess Inhalts sie
ist oder was von dem Individuum in seinem Gewissen als
recht und verbindlich angesehen wird, ein und dieselbe
moralische Qualität zugerechnet wird.
Wer nun, insofern er gewissenhaft ist, vor einer gewissen^
losen Handlung (d. h. vor der Verkärzung eines dem Du
zuerkannten Gebuhrenden) wie vor einem Widerspruch gegen
sich selbst steht, dem bedeutet die gewissenlose Handlung
eben deshalb ein Attentat auf sem eignes Sein. Sie ist ge*
Wissermafien sein Nichtsein und als solche mit Unlust
behaftet, weil der Seinstrieb sich ihr widersetzt und durch
sie gehemmt wird. Die Lust, die in der gewissenlosen Hand*
hing, abgesehen von ihrer Gewissenlosigkeit, insofern Hegen
muss, als die Handlung doch irgend einem Antrieb, aus dem
sie hervorgegangen ist, entspricht, ist alao vergfiHti diese
Kant und der Ebdftmonismüs. 276
selbst hl 2ur Unlast geworden. Indem der Mensch »seinem
Oewisseit e^h(nt!ht4^, wie nrnn zu s^agen pflegt, werst er
eine Unlust zurficic, wa^ lediglich dem allgememen Gesetz
entspricht Denn wenn es auch factisch und saefalieh ein
großer Unterschied ist, ob ich Lust in mich faineinzidlie oder
Unlust abwehre — derselbe Unterschied, welcher besteht,
wenn ich ein wohlschmeckendes Gericht mit LiM yersehre
oder ein mir widerliches znrfickweise, in weichem letzteren
Fall der hungrige Magen leer ausgeht -— , so ruhen doch
beide Handlungen auf demselben bewegenden Prmcip, dem
Lastbedarf, und ajnd beide durch diesen motivirt, die eine
als Position, die andere als Negation.
Wir kommen nun zu dem Punkt, der für die Sehern^
baikeit eines »rein pflichtmäßigenc, durch kemerlei Trieb-
federn von Lust und Unlust motirirten Handeins im Eantschen
Sinn eigentlich der entscheidende ist Dem Gewissenhaften
ist eine Handhmg, die sieh ihm wegen irgend einer Beeiebung
als gewissenlos darstellt, allerdings vergällt und zur Unlust
geworden, möge sie ihm sonst — abgesehen von dieser Be-
ziehung der Gewissenlosigkeit — auch noch so hüstbringend
erscheinen, allein diese Vergällung liegt doch nur in ihm.
Der IVopfen Galle, der ihm die ganze Lost verdirbt, liegt ja
nur m seiner Auffassung. Es kostet eine einzige kleine
Wendung von sich selbst weg und die Lust ist wieder da.
Und diese Wendung zu machen, kann ihm van so verfahre*
rischer erscheinen, je mehr das, was dem Tun die Gewissen^
losigkeit aufprägt, vielleicht nur in einem zuf&llig hinzu«
tretenden Umstand liegt, der leicht in Gedanken von der
Haupthandlung losgelöst werden kann. Denn was der Mensch
leicht ui Gedanken streicht, darfiber setzt er sich auch leichter
in Wirklichkeit hinweg. Diese Gefahr des Abfalls steigt mit
jedem Sieh-O^ienlassen, jedem Blick zur Seite, jeder Er-
wägung, die eine andere Richtung einschlägt als die ge-
bundene Harschroute der Pflicht, des kategorischen Impera«
tivs, des: du sollst (so und nidit anders handeln). Nur wemi
das Individuum sich so verhält, ist es seiner sicher, es fubH
sieb gestählt gegen Lockungen, ganz vom Pflichtbewusstsein
376 Duboc
durchdrungen, es füfilt sich als Sieger und eben deshalb er-
scheint ihm erst da die Action des Gewissens auf ihrer
ganzen Höhe zu stehen« Die Idee der Pflicht, die Pflicht
als Pflicht, scheint das in Wahrheit Bewegende geworden
zu sein, und in dem Bewegtwerden durch diese Idee wird
demnach das Wesen der Moralität gesetzt. Für die eudä-
monistische Auffassung, wie sie hier vertreten wurde, stellt
sich das Verhältnis beinahe umgekehrt. Das heißt: je voll-
endeter, je sicherer Einer in der Gewissenhaftigkeit ist, desto
weniger ist er darauf angewiesen nur auf die gebundene
Marschroute der Pflicht zu blicken und sich, damit er nicht
strauchele, mit moralischen Scheuklappen zu versehen. In-
dessen ist nicht zu vergessen, dass gegenüber dem, der leicht-
sinnig oder begehrlich seine Bücke schweifen lässt, der ent-
schlossene Verzicht darauf immer die höhere Moralität des
Wollens repräsentirt und dass aus den obengedachten Granden
praktisch der Kampf zwischen Pflicht und Neigung im
günstigsten Fall meistens auf diese Weise seinen Abschluss findet.
In dem obenerwähnten Aufsatz Kants gegen Garve ist
irgendwo die Bemerkung enthalten: der Mensch solle nicht
der Glückseligkeit entsagen, sondern nur wenn das Gebot
der Pflicht emtrete, gänzlich von dieser Rücksicht abstrahiren.
Wäre dies nur als ein praktischer Rat zur Sicherung eines
pflichtmäßigen Verhaltens gemeint, hieße es also nur so viel
als: du musst, wenn das Pflichtgebot an dich herantritt,
weder an Lust noch an Unlust denken, so würde es mit
unserer Auffassung vereinbar sein und mit ihr zusammen-
fallen. Aber weil bei Kant einzig und allein durch das
Pflichtgebot motivirt zu werden der Angelpunkt ist, um den
sich Alles dreht, so tritt auch hier eine Verzerrung ein, die
Schiller in dem bekannten Versdben:
Gerne dien' ich den Freunden, doch tu* ich es leider mit Neigung
Und 80 wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin
fein, wenn auch nicht ganz richtig ironisurte. Was natürlich
verbunden ist, wird unnatürlich geschieden. Immer bleibt
ja das Verhältnis der Lustempfindung zum pflichtmäßigen
Verhalten und innerhalb desselben ein höchst verwickeltesi
Kant und der fiudftmonismttii. 27t
aber es lässt sich bei folgerichtiger Festhaltung des euda-
moDistischen Standpunktes gleichwohl entwirren, ohne in die
Transcendenz zu v^allen. Wir haben gesehen, dass und
wie dem Gewissenhaften die Lust sich in Unlust verwandelt,
indem sie einen Widerspruch gegen sein Sein involvirt und
also zur Hemmung des Seins-Triebes wird. Daher ist auch
der Act der Zurfickweisung dieser Unlust, rein fär sich ge-
nommen, als Erfüllung eines Triebes mit positiver unzweifel-
hafter Lust verknüpft, wie das jeder an sich erleben kann,
der im Begriff, einer Versuchung zu unterliegen, sich aus ihr
herausrettet und den nun das Bewusstsem erfüllt: Dem
Himmel sei Dank, ich habe mich wieder, ich ha)>e mich nicht
verloren. Hier ist also der Zusammenhang mit dem eudä-
monistischen Grundgesetz unschwer zu übersehen. Schwieriger
gestaltet sich das weitere Verhältnis, weil im unmittelbaren
Anschluss an die Lust der Zurückweisung einer Unlust die
Trauer tritt, dass dadurch anderen Trieben Hemmungen be-
ratet wurden, und diese Trauer, wenn der Mensch bei ihr
verweilt, so überhand nehmen kann, dass das ausschlag-
gebende Motiv der Lust scheinbar entschwindet Aber nur
scheinbar. In Wirklichkeit erfolgt in solchem Fall, sobald
es sich um die Entscheidung handelt, ein Rückschlag. Der
Mensch, im Begriff eine Gewissenlosigkeit zu begehen, um
sich die Lust, der er sonst entsagen müsste, zu verschaffen,
kommt wiederum, soweit er gewissenhaft ist, vor der Unlust
des eigenen Nichtseins, welches die Gewissenlosigkeit für ihn
bedeutet, zu stehen und handelt dem entsprechend. Ist aber
seine Gewissenhaftigkeit und damit stets proportional auch
die Unlust seines Nichtseins unter dem Wert der ihm an-
gebotenen Lust gesunken, so vollzieht er den Abfall. Dass
im ersteren Fall Lustmotive für ihn in die Wagschale
fEÜlen, dass seine Entscheidung für die Gewissenhaftigkeit
gestützt werden kann durch das freudige Gefühl der Selbst-
achtung und der Achtung Anderer, das er sich erringt und
das er schon im voraus gewissermaßen als moralische Hfllfs-
truppen zu seiner Stärkung heranzuziehen vermag, das ist er-
fflchtlich für den Wert seiner Gewissenhaftigkeit völlig unver-
MtMhr. Ar VQDMpsydL und Spndnr. Bd. XIV. t. 19
278 Öüfcoc,
fänglich. Denn sie besteht ja eben darin , dass er gerade
die^e Lns^mqtive als solche empfindet. Nicht auf das Vor-
handensein ¥on L^strnotiyen an sich, auf die Beschaffen-
heit derselben kommt es an.
Ich habe in dem Vorstehmden eine tiefere Auffassung
des EudämonismuB gegen Kants MoraUe^^e aufrecht eu err
halten gesucht. Aber gleichwohl schreibe ich derselben einen
hohen und eigentümlichen Wert zu, der mir nwientlich in
der Vertiefung der ethischen Problem? gegenilber einer flach
eudämonistisohen Auffassung gelegen ist. Selbst die scharfe
T- nur allzu scharfe — Unterscheidung der pflichtmäßigen
resp. geyrissenhaften Handlung von einer jeden, die aus
Neigung erfolgt, behalt auch für unsereq Standpvmkt ihre
tiefe Bedeutung und relative Wahrheit, die nicht ubersehep
werden darf. Und zwar ßtelU sich dies Verhältnis fyap uns
folgendermalSen dar. Wir habeq die ethische Bedeutung
d^ Gewissenhaftigkeit daraus fxi pharakterjsiren uptemQmn^?!!*
dass sie dem Widerspruch widerspricht. Pein Gej? wider-
spricht Freigebigkeit, d^r I^erzensgüte Harte, der Gro^mi|t
Knauserei u. s. w.; immer irt Pß ip diesen Fällen pur der
eigene G^ensatz, dem widersprochen wird. Pie Gewissen-
haftigkeit allein widerspricht dem, wap sich widerspricht,
rrr nämlich, dass dem, der eine beßtimmte Bei^chaffenheit
besitzt 9 sein Gebührliches ver^un^t wird — ßie hat an dem
Gegensatz -^ ihren Gegensatz, ynd darin eben hat sie il^^
ganz aparte, absolut unterschiedene Eigenart i|pd ethische
Bedeutung, weil sie sich nun als ethische Betätigung des Qch
setzes seinem allgemeinsten Begriff nach darstellt « weil 4as
Seinsgeset? ihr Gesetz geworden ist. Pa auf eudämonistisy;hepi
Standpunkt jede Handlung auf einen Trieb hervorgeht, resp.
einer Neigung entspricht, so ist als gewisseiii|af|e Han^l^Pg
also nur die zu rechnen, die aus dem so aufgefassten Ge-
astzesrTrieb (um einen kurzen A^sdrucl^ zu gebrai^heq, Kant
nannte es das »moralische GefühU) hervorgeht A^^i* ebep
damit dieser Trieb hervor-? und in Actipn (rete, damit er
Gelegenheit habe sich zu äußern, dainit also eine ge-
wissenhafte Handlung, eine PfUcbterfüUflng wjrk'-
Kant und der Budämonismus. 379
lieh entstehe, müssen alle anderen Neigungen
schweigen — das ist die Grundwahrheit in der Kantsehen
Auffassung. Erst wenn der Fall 30 ü^i dass keinerlei
Neigung aufler der, dem Widerspruch zu widersprechen,
uns treibt, kann von einer Gewissensaction, einer Pflicht-
erfüllung die Rede sein. Darin liegt das Unrichtige in dem
Schillerschen Beispiel: »Gerne dien' ich den Freunden u.s.w.«,
denn dieses Gerntun, diese Dien^bereitwilligkeit Freunden
gegenüber ist nicht mehr das Lustmotiv der Geset^srNeigung.
Der Fall ist als Beispiel überhaupt unrichtig gewählt. Aber
doch trifft Schiller in jenem Vers auch wieder einen wunden
Fleck der Kantsehen Morallehre, wenn er hinzufügt
Und so wunni 69 mich oft, dass ich nicht tugendhaft bip.
Denn eben, das3 bei Kant auf den Täter einer lediglich
durch die Idee der Pflicht yerursachten Gesetzeshandlung die
höchste Moralität entfallt, dass dadurch eine ahstracte
Tugendhaftigkeit za Stande kommt, bringt einen weiteren
Büsß mit der natürlichen Auffassung zu Wege. Die Hand-
lung aus Neigung (die Geset2;es-Neigung nf^türlich immer ausr
genommen) ist, da die Umstände ganz anders liegen, etwas
Anderes als die Gewissenstat, aber sie ist nicht ihr Gegen-
satz, oder braucht es wenigstens nicht zu sein. Nur das
lässt sich sagen, dass in ihr die bestimmte ethische Qualität
dieser letzteren nicht offenbar werden ^ann. Es liegt übrigens,
was hier noch anzufügen ist, in der hier festgehaltenen und
zu Grunde gelegt^ Definition dß^. Pflichteirfullmig als eineß
Acte^, der wesentlich nur aus dem dem Widerspruch ent-
gegengesetztesn Widerspruch her-yprgegangen ist, kein prinr
cipieller Gegensatz zu jener Auffassung, welche 4ie?elhQ viel-
mehr aus der Sphäre des Ideals ablftitet. Vi^lniiehr sehe ic^
diese implieite in derselben enthalten an, vindicire aber dei^
ecsteren YerhaUnis die grundlegende Priorität. Denn das
bloßß Erl^ennen eines Widerspruchs und das Verwerfen desr
sdben aus derjenigen moralischen Cresundheit und Totalitä,t,
wekhe ds^ Sfßinsgesetz in sich trägt, geht dem Erheben de&-
^Ib^n in die Beziehung des Schönen und Unschönen, womit
d$is Idefil zu tun hat, voraus. Gleichwohl ist letztere aber
19*
280 gteinthal,
nur ihre logische Fortentwicklung und Entfaltung, denn das»
dem ich als einem Widerspruch widerspreche, trfigt, auf
seuie Form angesehen, notwendig die Gontour der Unord-
nung, der Disharmonie und damit des Hässlichen an sich,
sein Gegensatz, die Gewissenstat, die Pflicht zeichnet sich
also in der Schönheitslinie ab, und damit ist der Schritt in
das Reich des Sittlich-Schönen getan. Nur kann nicht von
ihm ausgegangen werden.
Hier endet unsere Revision der Processacten zwischen
Kant und dem Eudämonismus. Wir haben Kant entgegen
den Menschen als Triebwerk aufgefasst und darin einbedungen
all sein Tun, auch die Gewissenstat nicht au$genommen, als
auf dem Lustbedarf ruhend und auf den Lusterwerb gerichtet
erkannt. Hieraus ergibt sich auch für jene andere große,
unsicher schwankende Frage, nach der Gewissheit einer
sittlichen Erhebung der Menschheit, die bindende Richtschnur
der Betrachtung. Ihr Fundament kann nur die Erkenntnis
und der Nachweis sein, dass im Luststreben das sittliche
Entwicklungsprincip der Menschheit enthalten ist
Bemerkung zum vorstehenden Anftats.
Von Steinthal.
Die Tendenz des Verfassers wird noch fasslicher werden,
wenn ich hier eine Aeuflerung mitteile, die derselbe anderswo
(die Gegenwart 1882 Nr. 4) gemacht hat: Er spricht dort
von den »fruchtbaren Keimen des Eudämonismus c in der
griechischen Philosophie, und dessen Grundgedanken, »dass
die Lust allen Geschöpfen o/xcrov, naturgemäß und ange-
messen, der Schmerz oüULoTQtovj fremd und naturwidrig seit,
und fugt hinzu: »Denn dies ist meines Erachtens die unum-
gängliche Voraussetzung ffir jeden Versuch in unsrer Zeit
eine Ethik zu schaffen, die mit den wissenschaftlichen Resul-
taten unserer Erkenntnis auf anderen Gebieten in Ueberein-
Stimmung steht Denn diese Erkenntnis entzieht uns in
immer steigendem Maße die Möglichkeit, den Menschen aus
dier Einheit sämmtlicher Lebewesen, welche unsem Planeten
Bemerkung zum vorstehenden AufsaU. 281
bewohnen, und der sie Alle bindenden Gesetze loszulösen.
Ist aber der Mensch dem großen Gesetz, welches alle Wesen
bindet: die Lust zu suchen, den Schmerz zu fliehen, Untertan
wie sie, so vollzieht er seine Bewegung demgemäß, und
jede Möglichkeit seine Bewegung zu verstehen, d. h. sein
sittliches Verhalten und daran anknüpfend die sittliche Ent-
wicklung der Menschheit zu begreifen, ist bei Anlegung eines
andren Maßstabs unmöglich. Dass es eine sittliche Bewegung
der Menschheit, wenn Oberhaupt, jedenfalls nur im Lust-
streben geben kann, da es außerhalb desselben überhaupt
kerne Bewegung gibt, das ist ein Gesichtspunkt, der schwer
wiegt, wenn auch die pessimistischen Spielerein auf diesem
Gebiete sehr kurzerhand mit ihm fertig werden.€
Weiter heißt es dann: »Der Beweis, der für den Eudä-
monismus nicht zu umgehen ist, dass größte Sittlichkeit größtes
Glück bringe, ist (von den Griechen) nirgends erbracht, da
die Beweisführung sich teils nur auf subjective Momente stützt,
teils in eine Gleichsetzung der Begriffe sittlich und glücklich
verlegt ist, die, an die Spitze gestellt, den zu führenden Be-
weis nur umgeht. Noch weniger ist für das andere Problem,
ob die Welt naturgesetzlich zur Sittlichkeit fortschreitet,
und wie dies au&ufassen, eine eingehende Formulirung auf
anthropologischer oder psychologischer Basis versuchte
Lassen wir die Griechen bei Seite und reden wir von
uns und für uns. Dann ist mir sogleich der Au3gangspunkt
des V^assers, seine »unumgängliche Voraussetzungc weder
gültig noch auch nur verstandlich. Ich sehe nicht im
mindesten ein, wie die Ethik mit den wissenschaftlichen Er-
gebnissen auf andren Gebieten, d. h. doch auf dem Gebiete
der Natur und Geschichte, in Uebereinstimmung stehen könne,
geschweige denn: müsse. »Die Möglichkeit, den Menschen
aus der Einheit sämmtUcher Lebewesen, welche unsren Planeten
bewohnen, und der sie alle bindenden Gesetze loszulösen«
hat der Mensch im Laufe der Geschichte bewiesen und be-
weist sie täglich in höherem Maße. Dem Gesetz ist der
Mensch nicht Untertan, weder dem, welches die Hyäne, noch
dem, welches das Lamm bindet: dies ist heute noch so wahr.
282 Steinthal,
wie bei den Juden und Griechen; und wenn in allen Frei-
heitsbestrebungen und allen socialistischen Reformen von
ehemals und Tön heute dn Gran von Sinn und V^^tand
sein soll: so kann dies nur unter der Voraussetzung geschehen,
dass uns kein Wolf- und kein Schaf- Gesetz bindet. »Die
Lust zu suchen und den Schmerz zu fliehenc ist aber noch
nicht einmal eiii Gesetz der Tiere; es ist nur die subjectire
Maxime schlaffer Geister, die daran zu Grunde gegangen sind.
Dies ist trivial. Aber ich würde mir verächtlich er-
scheinen, wenn ich nicht den Mut hätte, diese Trivialität
der Kinder-Lehre der Geistreichigkeit sogenannt darwinistischer
Theorien entgegen zu stellen. »Pessimistische Spielereienc?
Der Leser weifi es schon, wie ich von jener philosophischen
Fratze denke; aber wenn A&t Verfasser den P^mismus eine
Spielerei nennt, so muss ich ihn ernstlich bitten, sich zu
fragen, ob dies nicht aus dem Gefühl stammt, dass der Pessi-
niismus der unwiderlegliche Gegner jedes Eudämonismus ist,
uhd zwar nicht der ethische Gegner, sofadern der natur-
wissenschaftliche.
Der Pessimismus ist das unentrinnbare Gesetz, welches
alle Wesdi bindet; uhd die Ethik ist die Erhebui% über den-
selben, deren allein der Mensch fähig ist. Durch die Ethik
löst er sich aus »der Einheit« des Elends dek* Naturwesen.
Damit glaube ich dem Verfasser seinen Rechtstitel zu
einer Revision des alten, von Kant gewonnenen Ptocesses
anrrissen zu haben. Indessen erkenne ich die Berechtigung
an, jede Wahrheit, auch den pythagoreischen Lehrsatz, in
eine Kritik zu ziehm. I^'eses Recht hat auch der Verfasser.
Ich muss aber^ indem ich nun zu dem hier abgedruckten
Aufsatz übergehe, wiederholen^ dass das Natur-Gesetz durch
keiiie Phrase über seine Grenze hinaus ausgedehnt werden
kann. Ja wohl, es ist »unverrückbar« und bindet, wo es
steht, aber ist machtlos da^ wohin es nicht gehört, wo es
keine Stelle hat.
Der Verfasser will den anthropologischen Boden fest-
halten : das kann verfänglich werden; er will »was im Mensdten
vorgeht« in anthropologisch -psychologischer Deduction er-
Bemerkung zum vbrslätiendeu Aufsatz. 283
klii^n : Uahcte vMule I Nur Eins. Kennst du was im MenscheA
vorgeht? Sebed wir.
Der Verfasser beginnt damit^ einen Satk E^ikurs, den er
aber nur als Klughdls-Regel (seien wir ezact^ also: Weis«
heits-Regel) aussprach, als Natur*6esetz zu behaupten. Wenn
jeinAnd einai wissenschaftlichen Satz aul^ Luerez als Natur-
gesetz behauptete, wurde man nicht Qb^ dieäd Quelle, aus
d^ man itan Hand^Umdriehen Nätüigesefze gewinneh kann,
q[)otten? Der VerAtssek* gibt mir damit das Röcht, aus dem
fliegenden Worte: »Liebe deineii Nächsten wie dich selbst«
ein Naturgesetz zu machen.
Der fügende Angriff gegen Kant ist mir l^veMandlich.
Wenn Kant die Freiheit« das Vei^mögen der Vernunft praktisch
zu sein, für transcendient hält: so üt die Frage, ob e^ daran
recht tut Ich hätte dem Verfasser gratülirt. Wenn er die
reine praktische Vernunft anthro|)ölo^seh-Lpsybhologisch dedu-
cirt hätte. Statt Kant zu ergänzen, Matt die Lücke, die dieser
ungeheure Denker ^elitsseii hat, auszufällen, will er ihn wider*
legeta« Wdttit wiH er das? mit der Behauptung, dass dann
die Unmoralüät des Mtaschen unbegreiflich Werde« Ich weift
nicht, warum et nicht lieber auf die gehäuften St^eh ver-
weist, wo Kant die (Biltlichkeit des Menächen unbegreiflich
findet« Die Sache ist ebisn nur die« däss Kaät, vbn Psycho-
k)gie ganz verlassen, weder die Sittlichkeit noch die Unsitt-
Uchkeit begreift. Statt nun wie gesagt, Kant durch eine ge-
sunde Psychologie zu ergänzen. Wirft ihm der V^asset nur
die ton ihih selbst bis zum Uebwdrüss dngestandene üb*
begreiflichkeit vor.
Aber ganz allgemein: denn so steht es hiebt bloß mit
Kant, lindem mit sammtlichen großen Denkern Deutsch-
lands, Bdckh, Lacbmanh, Wilhehb von Humbddt^ Herbart.
Wer gebau zusieht « wird merken, dass sie Lücken in ihrem
Oedanküeolfr^^ zugestehen^ Also sind sie im Irrtum? viel»
leiefat. Also muss man gerade das Gegenteil behaupten P
Das ist eben so leicht, als es sichisr in Irrtümer fuhrt Ich
rate besseres: Verti^ euch dermafieA in die Gedanken der
deutschen Denkodr, dase ihr sie durchdringt: dabn werdet
284 Steinthal»
ihr merken, was ihnen zur vollen Wahrheit fehlL Der
Kritiker der deutschen Idee (ja ja, darum handelt es sich,
um die Idee Deutschlands, will sagen: um die Idee Deutsch-
land) wird nicht kommen, um sie au&ulSsen, sondern um sie
zu erfüllen.
Der Verfasser legt die Differenz seiner »modernen Auf-
fassung« in Gemäßheit des »allzeugenden Naturprocesses«
gegen Kants Ansicht recht gut dar; aber ist denn diese
Differenz ein Widerspruch? Wenn ein Kaufmann findet, dass
in seiner Abrechnung das Ist und das Soll nicht überein-
stimmen, ist ihm das ein Grund, einen Rechnnngsfehler zu
vermuten? Oder soll es etwa in der Ethik nicht eben so
wohl wie in der kaufmännischen Buchführung ein Soll neben
dem Ist geben? Und ist das Soll nicht allemal eine Idee?
Uebrigens ist der Vergleich Kants mit Shylok durchaus falsch
gezogen. Denn Kant will nicht »die Bestimmung durch sinn-
liche Regung« ausschneiden und die daneben fließende Idee
unvergossen lassen; sondern er postulirt, dass die Idee neben
die erstere gestellt und in allen Fällen, wo sie Gelegenheit
zum Wirken findet, auch als*~ wirkend angenommen werde.
Und nicht übervemünftig, so wenig wie widervemünftig, ist
das Wirken der Idee, sondern nur fibersinnlich, aber ganz
eigentlich der Vernunft zukommend. Wenn der Verfasser
seinen Widerspruch gegen Kant festhalten will, so muss er
erst die Vernunft fiberhaupt streichen. Das sage er, er setze
eine der Vernunft unfähige Natur, eme Natur, in welche
sich kein Gran Vernunft bringen lasse — und jeder Gärtner,
der uns Rosen schafft, welche die Natur nicht ahnte, jeder
Tier-Züchter, der uns Tauben, Pferde, Schafe producirt aus
Vernunft, von der die Natur nichts wusste, v^ird ihn aus-
lachen. Dass der sittliche Mensch, der Kalo^agathos,
schwerer zu produciren ist, als schön gezeichnete Blumen
und Tiere, ist wahr; aber selbst wenn es unmöglich wäre
(was nicht zu erweisen ist und nie zu erweisen sein wird),
so bleibt der ethische Gedanke solcher Production in seiner
vollen Gültigkeit bestehen und des Schweißes aller Edlen
wert Und wenn man mir einen Unglücklichen vorführt.
Bemerkung zum vorstehenden AuCsati. 285
ich mdne einen Verbrecher, und manlcönnte in aller Strenge
den Beweis fähren, dass seine Verworfenheit, sein Elend
»auf Rechnung der Sterne zu setzen sei, welche die Gon-
stellation seiner Geburt beherschtenc: so werde ich wahr-
scheinlich auch nicht fragen, ob es zu erweisen sei, dass er
mit seiner Vernunft diese GonsteUation nicht überwinden
konnte, aber wohl werde ich zu den Menschen sagen: ihr
seid erbärmliche Menschen-Gärtner und Menschen -Züchter,
wenn ihr solche GonsteUation möglich werden lasset; sie
soll, sie muss, sie kann unmöglich- sein. Seht zu, me
ihr es anzufangen habt, dass dergleichen nie wieder v(»r-
kommen könne, und hört nicht eher auf zuzusehen, als bis
ihr es gefunden habt; und kommt mir nicht mit der faulen
Ausrede: ja, wer kann gegen das allbindende Naturgesetz!
sondern schämt euch vor dem Gärtner und dem Schafzüchter!
Der Mensch, sagt der Verfasser, ist ein Triebwerk« Ob-
wohl ich dies noch nicht einmal leugne, so muss ich es
dennoch ein schales Glekhnis nennen oder eine falsche Ueber-
tragung der Kraft der Natur auf die Seele. Dass die Kraft
in der Natur -Bewegung Realität hat, ist durch Experiment
und Rechnung erwiesen; aber der seelische Trieb? ist er
nicht ein Product der sogenannten Selbst-BeobachtungP Habt
ihr seine Erhaltung und seinen Wandel und seine Wieder-
kehr durch alle Formen seiner Verwandlung beobachtet und
berechnet, wie die Naturforscher die Erhaltung und den
Wandel der Kraft? Darum nenne ich diese Uebertragung
falsch; schal aber ist sie, weil nun hinter dem Triebe erst
noch eine unenthüllte, transcendente Kraft stecken solle.
Und das nennt man antimetaphysische Richtung! Nicht
eine Kraft enthüllt sich hinter dem Triebe, sondern ein
Kreisel. Kraft treibt den Trieb, und Trieb treibt die Kraft.
Ich möchte wissen wie die Kraft bewegen soll, wenn sie
nicht getrieben wird; und wie der Trieb treiben soll, wenn
er nicht von einer Kraft bewegt wird. Nun fügt nur den
Reiz hinzu, der die Kraft zum Triebe anregt, selbst aber
Ton einer Kraft geweckt wird, und — der Hexentanz ist fertig.
Glaubt's nur dem Mephistopheles, ihr Herren: »Du glaubst
286 Btdothali
ZU schiebeil und du wirst geischoben.« So 6teht es mit allto
Trieben.
Der Verfasser h&It es der Mühe wert^ wenigstetas in der
Antnerkung su zeigen, dass der immer tur Bewegung treibetide
Trieb auch zur Ruhe bewegen könne. Aber Hchtigeir wäre
die Frage gewesen, ob der Trieb wirklich ruhen^ d. h« nicht
treiben und bewegen könne^ und wie dies denkbat sei.
lieber die folgende »Deduction des eudamonistischen
Hauptlehrsatzesc will ich nur kurz bemerken, dass hier eine
mangelhafte Theorie der Gefühle zu Grunde liegt Leidet ist
auch Lobies Ethik hier unzulänglich. Ich kann hier nur,
ruckrerweistod auf eine oben gtemachte Bemerkung, hinzu^
fugen, däBs es eine sittliche Aufgabe gewesen wäre, allen
Ethikem gestellt, das Unternehmen, ein selbständiges ethi*-
sches, monistisches und mit den modernen Naturwissenschaften
übereinstimmendes System aufzubauen, so länge tri uhter-
lassen, bis sie das Gapitd in Herbarts Ethik »Einleitung:
L Vbm sittlichen Geschmackc psychologisch etschöpfoid be*
gründet und ausgeführt oder aber vernichtet hätten. Oder
Wo wäre letzteres geschehen?
Des Verfässek« Theorie vom Gebührlichen mag richtig
sein, wie auch seine Ansicht v<hi der Einheit des Seins
(obwohl ich das eine wie das andere leugne): tüerkt denn
der Verfasser nicht, dass was Kant gegen Garve sagt, auch
gegen ihn riditig ist? »Wer nun, insofern ei: gewiss^ihafl ist^
vor einer gewissenlosen Handlung steht«, d^n wird diese
»vergällte Also geht doch die Gewissenhaftigkeit d^
moralischen Lust und Unlust voran; und dieses Gefühl ist
nicht Ursache sondern Wirkung der Gewissenhaftigkeit; oder,
anders ausgedrückt: die Lust und Unlust mag Trieb det
Handlung sein; aber die Kraft dieses Triebes, Wenn et zum
Sittlichen treibt, ist die Gewissenhaftigkeit*
Somit dreht sich nun auch alles wirktioh um. Der Ver-
fasser sagt: ^Nicht auf das Vorhanden^in von Lustmotiven
an sich^ auf die BeschäfTenheil dersellMl kommt es an.«
Dann ist es eine irreführende Teniünologie, scrfche THeorb
mit demselben Nam^n vk netibc^ niit dem wir Aristipps uod
Bemerkung zum vorstehenden Aufsatz. 287
£pikurs Lehre bezeiebnen. DaB ist nicht eine »tiefere Auf*
fitssang des fiudämonisittusc, sondern eine gändiehe Um*
drehung. Zwischen »Vorhandensein c schlechthin und be-
sonderer » Beschaffenheit c besteht ein Gegendat^, möglich
9()gar, wie hier, ein Widerspruch.
Der Gegensatz zu Kant liegt also blofi darin, dass dieser
die sittliche Lust als Erfolg der Pflicht *Uebung zugesteht,
der Verfasser die sittliche Lust zum Motiv der sittlichen Tat
macht. Er gesteht aber zu, dass sittliche Lust und Unlust
nur möglith ist, wenn Gewissenhaftigkeit vorbanden ist,
sohst nichts
Dieser Widerspruch in der Darl^ung d^ Verfossers
rftcht sich noch stärker, indem er sich gerade Kant ann&hem
will. Er sagt: »Damit eine gewissenhafte Handlung, eine
Pflichterfüllung wirklich entstehe, mässen alle and«*en
Neigungeik schweigen.c Gehen deiüi nidit aUe Neigungen
auf Erhaltung der Einheit, auf das Seins -Gesetz zurück?
Keste Gresetz ist nichh; anderes als d^ Slßlbsl-^Eii'häitüngdlrieb,
er ist der versteckte und veftN*ämte Egoismus. Seins'-
Gesetze können nie etwas anderes sein als egoistische. Wenn
nun der Egoist gewissenhaft ist, so wird ihm die Pfliehterfülln^g
höchstes Seiiis-Gesetz sein. Wenn!
Der Verfasser sieht also in Vollem Wideri^ruch g^n
Kant Wenn er meint, es sei ^kebi prineipielter Gegensatz,
ob die PflitfaterfüUung aus der Sphäre des Ideals« oder aus
dem Seins* Gesetz abgeleitet Werde, so tritt dies» augen*«-
Micklich hervor, wenn die Abldtung aus dem Ideal implicite
in das Daseins- Gesetz gelegt wird, wodurch das Ideal säne
Sphfire vertauschen und verfälschen muss.
Soll ^s dam wirklich für ewig dabei sein Bewenden
haben I daäs, sobald wir das Gebiet der Naturwissenschaft
verlassen, wir ein wogendes Meer von Meinüiq^en und An-
sichten finden, von denen sich einige für eine gewisse Zeit
auf den Wdlen -Belagen, andere ia den Wellen-Tälern be-
finden, tarn dann die Plätze zu tauschen, und dann wieder
£e ersten Plätze einzunehmen? Nein, und abermals nein.
Jedem tüchtigen Philologen worden gewisse Streit-Fragen er««
288 Steinthal,
ledigt scheinen 9 z. B. die Homer -Frage, und wenn sie auch
noch tausendmal von Einzelnen und von Parteien oder
Schulen anderswohin gezerrt werden. So auch dem Ethiker
die Frage vom Eudämonismus.
Folgende Punkte sind fär die Ethik unumstößlich erwiesen,
und wer dies nicht weiß, weiß es eben nicht:
1. Ethik ist von Naturwissenschaft und Geschichte un-
abhängig. Den Ethiker geht die Frage von Monismus oder
Dualismus, von Einheit oder Vielheit der Principien nicht an.
2. Moralische Gefühle und der ästhetische Geschmack
bilden eine eigene Glasse von Gefühlen. Will man die
moralische Billigung und das ästhetische Gefallen Lust
nennen, die Missbilligung und das Missfallen Unlust: so wäre
dagegen nichts einzuwenden, wenn dafür gesorgt ist, dass
Gefallen und Billigung eine Lust ganz anderer Art sind, als
die auf die Seins- Gesetze begründete Lust — toto genere
verschieden.
3. Sittlichkeit ist eine Tatsache. Kann die Psychologie
dieselbe erklären, so ist es schön; kann sie es nicht, so wird
sie es lernen: denn es wird ihr damit nichts zugemutet, was
nicht ihre Aufgabe wäre.
4. Es ist sehr schlimm, dass diese längst erwiesenen
Sätze Herbarts von allen denen, die nicht Herbartianer sein
wollen, ganz unbeachtet, ja dass sie ihnen unbekannt bleiben.
Dazu kommt der Fluch der Teilung der Arbeit. In der
Sprachwissenschaft war es der fruchtbarste Fundamental-
Satz Humboldts: um das Sprechen zu begreifen, muas man
das Verstehen erforschen. Gerade das hat Herbart von der
Ethik gesagt. Die Handlung ist ja auch eine Sprache. Also
nicht von der Handlung hat die ethische Forschung aus-
zugehen, sondern von ihrem Verständnis, d. h. von der
Billigung oder Missbilligung des ruhigen Zuschauers.
In Jahres Frist wird hoffentlich -meine Ethik erscheinen
und die obigen Sätze durchführen. Auch wird sie dem Ein-
sichtsvollen zeigen (denn ich werde es nicht ausdrücklich
nachweisen), wie Kant und Herbart in der Ethik wesentlich
übereinstimmen; und mag man dann fortfahren, Epikur zu
Die Theorie der Abschleifülig im Indogerin. u. ügrlscheti. S89
preisen, oder auch nicht. Wenn das Gute an{fenehm und
auch nützlich ist für den, dem es widerfährt, wie auch für
den, der es übt: fol^ daraus, dass Lust und Nutzen das
Princip des Guten sind? Soll dasselbe etwa durchaus und
nur schädlich sein und Unlust erweckend?
Hierzu fuge ich nur zur Vermeidung von Missverständ-
nissen noch folgendes: Die Kritik der Ethik eines Autors ist
nicht eine Beurteilung seiner Sittlichkeit oder auch nur seines
sittlichen Urteils. Ich bin überzeugt, dass alle Menschen
in der sittlichen Beurteilung, d. h. in den sittlichen Ideen,
übereinstimmen. Keiner will das menschliche Leben zur
Unsittlichkeit umdrehen. Nur in den Principien, in der
Deduction der sittlichen Tatsache im Menschengeschlecht,
besteht Abweichung. So brauche ich kaum hinzuzufügen,
dass alles was ich in Vorstehendem gesagt habe, nicht
persönlich gegen den V^asser gemeint ist
Die Theorie der Abschleifimg
im Indogermanisclien und Ugrischen.
In der altem Periode der indogermanischen Sprach-
forschung herschten viele Vorstellungen, die keineswegs bloß
auf indogermanische Sprachart sich anwenden ließen, sondern
von der Sprache überhaupt zu gelten schienen, auch nicht
immer auf empirischem Wege gewonnen waren, sondern
auf logische und philosophische Sitze sich stützten. Delbrück
weist in sein^ »Einleitung in das Sprachstudium« (1880)
S. 7 nach, wie sogar Bopp vom Streben, in den Verbalformen
die drei logischen Stücke: Subject, Merkmal und C!opula zu
finden, verleitet wurde, das 8 vieler Verbalformen als Rest
der Wurzel as »sein« auszugeben, und so mit Gottfried Her-
mann auffallend darin zusammentraf, in esse »sein« das
i90 ^«1^2 MisteH,
einzige echte Verbum zu erblichen. Diese Erhebung des
{iulfiszeitwprteß gar exoellence zqm Verbum par exceäe^ce war
eben so alt aUi weitverbreitet; schon die OramfiuUiea Nicolai
Pirotti*) vom Jahr 1475/6 sagt: dicuntur (verba) sxibstanüva,
ut sum es est, quod per se stibstant, %ft ego sum, et in ipsum
, e^terß verba resdvuniur, i4 amo i. (e.) amans sum, legebam
i* (^} Icgens eram, et ab eo composita, ut adsum absum; in
neuerq räsonpirenden Grarnipatiken aus der ersten Hälfte
dieses J^hrhi^nderts findet ma^n diese Ansicht noch überall^
besonders, bei den Franzosen, so in De Lemeao: Art de parier
et d^eorir^ correetem^ Iß langue fratkQaise (1822) Bd. U
S. 2; II n^y a q'^^m seut wrbe, g^i est Stre, parcegu' ü
n' y «1 lui s^, qui expfime Vafiwmatian ... .le d^isir d^dbreger
le diiscours ß partä leß ium^mßs ä invenier des mqts qui renfer-
vi^ et le verbe dtre et VattrihU . . . . ü aime est pour ü
est aimant; tu hais paur tu es hqiss^nt; im Sc^ulunterr^cl\t
wird derlei von unwissenschaftlichen Lehrern bis auf die
heutigen Zeiten vererbt.
Die Herschafl dieser und ähnlicher Vorstellungen halte
zwei Folgen: teils dass die indogermanische Sprachforschung
die Entstehung der Sprache belauschen zu können meinte,
teils dass auch andere stammfremde Sprachen nach jenen
allgemeine^ Sätm^ b^^ndelt wurd^. Pie Unterschiede
isolirender agKlut|nirender flexivischer Sprachen, der einstige
Wurzelzustand des Indogermanischen und die AltertGmlich-
l^eit c^Ujesischer Sprachart gehören m ^enjenigpn wissen-
achaftlic))ea Resultaten, welche bereit^ im gebildeten Pi^bli-
evun sieb eiiv^bärgert haben, aber im Kreise der Sprach-
t(XBfihßr mv ^9ch schwaches Interesse erregen oder gar ent^
schiedenem i;n(l h^ründetem Wi4arsprudie'^t) begegf^eq.
*) In der Vorrede: a Nicoiao JPerotio; die citirte Stdle steht
Blatt 46 b «iQ^r aapiviQirtea Aufgabe ohne Jf^brzaU und Angabe d^s
Dfuckortes.
'^*) Siebe »die sprachgeschichtlicbe Stellun([ des ^binesischeo« von
Dr. Wilh. Grube (1881) S. 29; in Sayce'a Introduction to the science
of language Bd. I 8. 86. 190. 195. 379. 882. Bd. II 916. 329 gelten die
nordamerikaniscben Sprachen als an interesUng surmvtU bf Ükt
mrly coiMHon cf lai^iuqg^ ^vw^h^e, pT€$wwing ß semblßnfie of Ibe
Die Theori« der Abscbleifutig ira Indogerm. u. Ügrischen. "1191
WenjgQr bewosst war selbst den Sprachfolrschern der Drqek
gewprd^, dqn auf indcfenaam^bem Gebi^e eQtsbuideiie
Vc^rstellongen auch bei Behandlung stammfremder Spraeben
auf sie ausübten; vielmehr schienen diese drückenden Vop-
ste.llungen elastische JCräAe, die den Forscher auf die Höhe
wissenschaftlicher und theoretischer Auffassung hoben, frei-
lieh auf di^ Gefahr hin, jene Sprachen dem Indogermanischen
näher zu rucken als es rätlich oder richtig war. Dass die
neue WQudnugi welche die indogermanische Sprachwissen-
schaft seit einigen Jahren genommen, anderwärts noch keinen
bedeutenden llnckschU^ geübt hat, darüber mues man sich
nicht verwundern, weil die ganze Bewegung nodi gar nicht
^^u hinein Abschlnsse gelangt ist; aber nützlich wird es immer-
hin sein, im mdogennanischen und ip einem anßerindoger-
miinifi^en Sprachbezirke, dem ugriseheni speciel} imFinnir
sehen und Ungarischen, die Wirkung eines jener abstracten
Sät;» zu verfplgen, dessen Macht bei uns ^hon gebrochen
ist, (loft noch in voller Blüte steht, dass näpilich längere
Formen sqhon Yon vornherein als ursprungUehe
gelten dürfen- Nicht bloß wird dadur9h die wisw^
sohafUiche Methode beleuchtet, sondern die ngnsche Spraehr
art in ein richtigeres Verhältnis zur indogormaniachen geruckt
P^ei bwnt^e ich Sigpaund Simonyi's, Professors an der
Universität zu Buda-Pest, höchst lehnrpichc und interessante
Schrift: 4 regi ny^the^ekek olvßs^sdröl, ß tekitifett^l a ffoMH
Siqejs^dre. SMlönnjfamat a Mog^cur umeiv^lfii. ÄHolotH
JBimiä0tek f^ ßtomkegrafwä»(^ (1880« 9» S.) »IJel^er daß
Lpscu der alten Spractidcnlunäler, init besonderer Berück-
sichtigung der Lächenrede. Sonderabdruck aus dem Ungarir
sehen Sprachwart. Hit der ersten Photozinkographie der
Leicbenredec, ferner von dessen neuer Zeitschrift : Tantdmdnyok
Of egj/etemi Magyqr n/jf^hfUm tdrsßsäg kordbÖl »Studien ai}s
dem Kreise der ungarische grammatischen Gesellschaft an
der Universitätc die drei ersten Hefte (1880/1), besonders die
fwrm imoe OMumM Ay olZ ^wk u. s. vf • la Sayce's fräherem Werke
(M principkß €f cmpaira^w phiMogy beai^hte Cap. IV: Die Th«ori9
im dfd BatwicUiingwtufmi in der 8prai!li9«s^ichto«
292 Franz Misteli«
nydvenü&tanuhndnyok »Sprachdenkmälerstudienc S. 1—37,
endlich desselben Bendszeres Magyar nydvUm, fSMUb osgtd-
lyohnak Ss magän-hasendlatra. MAsodik kiadds (1880. Vm
und S. 230) »Methodische Ungarische Sprachlehre, für obere
Abteilungen und zum Selbstunterricht Zweite Au8gabe.€*)
Diese und andere beiläufig zu citirende Schriften bilden eine
nichts weniger als weitläufige Giimdlage, reichen, aber fiSr
meinen Zweck so ziemlich aus, weil sie die Anschauungen
methodischer Sprachforscher . der neusten Zeit ent-
halten. —
Dass die Wortformen kurzer werden« weil der Sprechende
Zeit und Muhe spart oder, wie andere sagen, durch den
Process der Lautverwitterung, gilt auf ugrischem Gebiete
noch als ausgemacht; Lautverwitterung druckt dabei nur
objectiv und gleichnisweise aus, was die Ersparnis an Zeit
und Muhe subjectiv und reell. Tanulm. I S. 32 heißt es:
»Steinthal sagt, dass Sprachgeschichte nichts anderes sei als
Verlust und Abnutzung der einzelnen Sprachformen, das
Wort in seinem weitesten Sinne genommen, ein unbezweifd-
bares Factum, das eben so gut t&v die indogermanische
Sprachen gilt als für die altajischen. Handelt es sich um
Erklärung oder Auffassung einer beliebigen Sprachform,
wenden wir uns nicht an die Sprachdenkmäler oder, wenn
diese nicht befriedigenden Au&chluss geben, an die verwanten
Sprachen? Und haben nicht die ersteren gar häufig, die
letzteren aber, oder wenigstens die eine oder andere von
ihnen, fast immer eine unversehrtere vollere Form bewahrt
als die lebende Sprache? Das lässt sich mit jener Natur-
erscheinung vergleichen, nach der ein in den Bach geworfe-
*) Von andern Schriften Simonyi*8 nenne ich noch »fiber Analogie-
Wirkungen, haapUftchlich m der Wortbildung« (1881. S. 34). »Die
Grundzüge der Bedeutungslehre. Die in den Formen ausgedrflckten
Bedeutungen« (1881. S. 48), beide zu den von der Akademie heraus-
gegebenen »Abhandlungen sprach- und schonwissenschaftlichen Inhalts«
gehörig. »Die ungarischen Bindewörter mit einer Theorie des zu-
sammengesetzten Satzes. Die beiordnenden Bindewörter« (1881. S. S68),
von der Akademie gekrOnte Preisschrift — alle in ungarischer Spradie.
Die Theorie der Abschleifang im tndogerm. u. Ugrischen. $93
ner Kiesel im Laufe der Zeit zwar glatt wird, aber dafür
zugleich an Umfang einbüßt. Das Fallenlassen mancher
Wörtchen noch nicht einmal in Rechnung gezogen, weil hier
der Verlust noch ganz unbedeutend ist, brauchen wir nur die
einzelnen Formen der Flexions- und Ableitungssilben zu be-
trachten, um uns von der Wahrheit dieser Ansicht zu über-
zeugen. Und es hält auch nicht schwer, die Ursache davon
anzugeben: die schnelle und bequeme Aussprache, der Mangel
an Betonung, der häufige Gebrauch sind eben so viele Ur-
sachen, dass der und jener Buchstabe (hetü) ausfallt, die und
jene Silbe sich abnützt, so dass die eine und andere Bildungs-
oder Flexionssilbe kaum mehr ihrer ursprünglichen Form
gleicht.€ Diese Ansichten sind seit einigen Jahren selbst bei
den Physiologen in Verruf gekommen (siehe Sievers »Grund-
zfige der Lautphysiologiec (1876) S. 125 flg., auch Paul
»Principien der Sprachgeschichte« S. 4f8), w^elche die all-
mählich fortschreitende und unbewusst sich vollziehende Ver-
schiebung in der Aussprache von Generation zu Generation
als Grund jedes Lautwandels ansehen, eine Verschiebung,
welche jedenfalls nicht selbst wieder auf Bequemlichkeit*)
oder Sparsucht beruht; vergl. Ztschr. für Völkerpsych. und
Sprachwissensch. Bd. XII S. 370 flg. und Bd. XIII S. 387;
wie zur scheinbaren Verkürzung von Formen, das Verblassen
der Bedeutung beiträgt, ist Bd. XIII S. 91 flg. derselben Zeit-
schrift an den Hülfszeitwörtem nachgewiesen, und dieser
Auffassung kommt auch Simonyi nahe in seiner ungarischen
Grammatik S. 10: »Zwar lieben es die meisten Menschen,
mit möglichst wenig Anstrengung die Worte auszusprechen.
So kommt es, dass man die langen Vocale oft rascher und
kürzer spricht. Aber im allgemeinen ist die Sprache des-
wegen geneigt, die einzelnen Laute zu kür2en oder gar aus-
zulassen^ weil der Gedanke die Hauptsache ist und
*) Schon deswegen, weil manche Lautänderungen offenbare Ver-
sUrkongen sind; zu- den gewöhnlichen Beispielen ist noch osk. k =
lat. g zu fügen: acum =:agere, deketanui neben degetasis, lüfri-hünüss
s= Uberi-genOa, fifikus von *fikum = figere nadi BQcheler »Oskische,
BleitafeU (1877) S. 28; dagegen Soph. Bugge AltiUl. Stud. S. 31.
Zeltschr. für YGIkoipeych. nnd Sprachw. Bd. XIV. 9. 20
S94 l^^n^ Itisteli,
nur dieser genau ausgedrückt und b^vorgehoben werden soll«
nicht aber der Laut an und für sich.c Sdir richtigl
wenn z. B. egy-sjser »einmalc zwar geschrieben, aber etaer*)
gesprochen wird, ebenso nagysäg »GröSec nälSag lautet, so
hat man einiges Recht, yon Erleichterung der Aussprache
zu reden, und doch wird man in Wendungen wie »einmal
und nicht wieder«, »gerade seuie Größe vernichtete ihn« die
genauere Aussprache ec^jser und na4jsaf ohne Ermüdung
und Schwierigkeit vollziehen, weil es darauf ankommt, den
Begriff »ein« egy und »groß« nagy zu Gehör zu bringe;
so ist es doch nur das Zusammenschwinden der je zwei
Silben in einen Begriff, was die scheinbar bequemere Aus*
spräche hervorruft. Aehnliehe Bei^iele bieten sich leicht
aus jeder Sprache dar* —
Jene irrtümliche Aufbssung mit einem Worte zu er^
wähnen, hätte hingereicht, wenn nicht daraus der ob^i er-
wähnte für die Erklärung i^achlicher Formen folgenschwere
Irrtum flösse: von zwei Formen, einer längeren und
einer kürzeren, sei eofj^^o die erstere die ursprüng-
liche, die andere verkürzt, der eben näher besprochen
werden soll. So galten auch früher im Indogermanischen
— ich wähle absichtlich nicht zu abgegriffene Beispiele —
umbr. partcda kuraia etaians für älter und ursprünglicher
als die entsprechenden lateinischen portet curet itenf, deren
-^ -ent sich, was natürUch auch jetzt noch gilt, in aU Oiint
zerl^, femer aber auf ajat ajani zurückdeutai sollte, was
heute nianand mehr annniramt, obschon att. tifMfti^, v^jMSf ,
zu ir»/Mo-if-c tt(AU't^(r) auseinander gezogen, eine äußer*
liehe Bestätigung bot Vielmehr sind die umbrischen Formen
junge Nachschöpfungen, die den lateinischen als Vorbild zu
dienen kein Recht haben; denn zuerst ist das Optativzeidien
sskrt. ja europäisch, als iB anzunehmen, was die Ueberein-*
Stimmung von lat. skm mit hijv**) beweist; dann kommt t,
*) e hier und im Verlauf kurzes geschlossenes an 9 streifendes $
oder Kürze zu ^, das langem frenzöBischem i glekh kommt
**) Elisches ffa ss thi beruht auf specieller Liebhaberei dieses Dia«
lektes zu S.
Die Theorie der Abschleifung im tndogerm. u. Ügrischen. S95
und nicht jä oder tS, den abgeleiteten Verben zu; Ttfito^
hat von der /u-Conjugation aus neben TtfAtSi^k sich gestellt.
Die wahren Optative auf iSm iss iit, die auch das Umbrische
besessen haben muss und zu denen vielleicht fuia gehört,
bequemten sich in der Färbung des Vocals zunächst Gon-
junctiven mit uraltem a an: ftifia habia lat. faciat hcibeat,
und zwar um so eher, weil wie im Lateinischen die beiden
Modi sjmtaktisch im »Subjunctivt zusammenfielen; nachdem
ein solches zweideutiges ja Qber j- und ^Präsentien und alle
»starkent Verben sich erstreckte — es kommt noch die IV.
oder f-Gonjugation hinzu — , heftete es sich auch an die
O-Stämme der L, die ohnehin den alten Conjuncliv, weil er
vom Indicativ sich nicht unterschied, durch den Optativ zu
ersetzen sich genötigt sahen. Einigermafien vergleichbar,
nur ohne Stamm-a, ist Italien, dia diäte von da »gebenc, stia
stiate von sta »stehenc (sia suxte von es »sein«) nach faccia
abbin; die Vergleichung wäre zutreffender, dürfte man, mit
Beseitigung wahrer Optative auf i^ = ia^ einfach das con-
junctivische ia der /-, ?- und 7-Conjugation auf die a-Verben
übergehen lassen. Dann aber hätte sich wohl eher parHa
huria etians ergeben; es scheint also doch, als wären um-
gelautete wahre Optative wie fthia *s^, das neben sir sei
^ so gut bestanden haben könnte als lat. si^s sist neben
^ Sftj mit im Spiele gewesen und als hätte die Proportion
gewirkt: es4 fu4u: *&4a fu-ia «=» *portat portatu: partaia.
V7enn nun auch osL deivaid »er schwöre« lat. atnet portet
eben so neugebildet sein sollten nach der Proportion*) est
est (edrt) volt: sft edU velU ^=^ *deivat anuxt pertat: deivaid
*a$nait (amet) ^partait (portet), so verhielte sich eben umbr.
portaia(d) zu lat. partaü (portet) wie et^^ zu ehe, doii/g zu
doUej und auch so könnte sich die umbrische Form nicht
größerer Altertflmlichkeit rühmen und eben so wenig lat.
portet {avis portaK) aus portariS4 abgeleitet werden, weil selbst
*} Man bedenke, dass auch dat det mithilft, von denen wenigstens
da (c= dm)f von i statt iB abgesehen, richtig den schwachen Stamm
da s=s griech. do enthält, während der starke dö in dat (cf, das) die
Qualität von da annahm; cf. cätus cöt^, *gnäiuB cognitua gnö'.
20*
396 tVanz Misteli,
siet sich nicht zu $U zusammenzieht, sondern durch letzteres
verdrängt wird. — Wie wenig die Lange der Formen einen
Mafistab für Altertämlichkeit abgibt, hat sich am homerischen
äxov6pT6€f(ft, lesb. inschr. dQxdvttaatj herakliens. inschr.
ngacttoytaa^t augenföUig gezeigt, deren urgriech.' Vorgänger
wie *ipsQat(fi (sskr. bhdratsu Locat.) gestaltet waren, und
gerade herakliens. nqaaaovTaafS^ = ^^acrcr-oi^-aT-cr« birgt
den schwachen Stamm q>sQa%' sskrt. hharat- lat ferent-
neben dem starken tpiqovt- sskrt. bharant- lat *ferunt-j un-
gefähr wie in lat. jecinoris die zwei sskr. Stämme j'air-< und
jak(a)n, griech. ^naQ und ^nv(%)y neben einander liegen;
vergl. Job. Schmidt in Kuhns Ztschr. Bd. 25 S. 592. Die
Dative auf £<x<x« a<x<x» sind wohl voller, aber nicht deutlicher
oder ursprünglicher als das gewöhnliche er«.*) Diese zwei
Beispiele mögen dazu dienen, die in Rede stehende falsche
Voraussetzung zu beleuchten, von welcher ich zwei Special-
falle zur Erörterung ausgewählt: wenn eine kürzere und
eine durch eine Flexionsendung vermehrte Form
sich neben einander finden, so dass die Endung abgefallen
scheint; wenn Formen mit kurzer und langer Schluss-
silbe einander gegenüber treten, so dass die Endung ge-
kürzt scheint. —
Simonyi nimmt an mehreren Stellen seiner Granmiatik
Abfall von Suffixen an, die bei längeren Formen sich er-
halten hätten. So lautet § 370: »Die Silbe kippen kommt
vom Haupt Worte h^ (Bild, Gestalt, Gesicht, Antlitz), und
z. B. mdskippen (in anderer Weise, anders) ist ganz dasselbe
als wenn ich sagen würde: mos kippten (in hen anderer nids
Gestalt kip). Verkürzt heißt es: nidskip ekkip (in dieser
ez Weise, so).< Dazu kommt hivdUk^open von § 375, wo-
*) Die beiden St&mme -okt- -ot-, indogerm. <mt nt, spiegeln sich
auch im altslav. Nominativ Sing, wieder: plety plet^ == »flechtende,
worüber Miklosich »Altsloven. Formenlehre« (1874) S. XXXIII, »Ver-
gleich. Gramm.« Bd. II § 95 in., während alle anderen Casus das
starke Thema aufweisen; vergl. Hahlow »die langen Vocale a e 0€
S. 150. Aehnlich zeigt sich auch im Lat. das schwache Thema ent nur
im Nom. Sg. bei iena euntis, —
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 297
neben auch kivdlfkip (in hm aus- A^' geschiedener vd2^ Weise
hep, hauptsächlich vorzüglich). § 378: »Das regelmäßige
Zeitsuffix ist fc>r, z. B. mikor (welche mi Zeit har^ wann),
Ssa-kor (Herbstzeit, im Herbste), kä örchkor (zwei hä Stunden
Zeit, um zwei Uhr). Ehemals (rSgente) sagte man mit der
Flexionssilbe -n (zu in) : mikoran, akkoron (in on jener ae Zeit
kor, damals), tavasekoron (im -on Frühling iavasi^.€ Dieselbe
Auffassung erscheint für dieses kor und koron auch Tanulm. I
S.269 und*) §380: »Manchmal verlieren auch die Zeit-
adverbien ihre Flexionssilben, z. B. statt vasdmapon sagt
man nur msdmap (Sonntag, Sonntags), hetkosmap (Wochen-
tag, am Wochentag, h& sieben), hdnap (morgen), tegnap
(gestern), ma (heute), mai napsdg (heut-iger tna-4 Tag nap
und napsdg, am heutigen Tage).« Von Verlust der Endung
darf man nicht reden; viebnehr entbehren die mit kip kor
nap endenden Wörter der Formung und verwenden bloßen
Stoflf, Yf eil k^ kor**) nap gleichzeitig und unverändert
»Weise, Zeit, Tag Sonne« bedeuten, wie wir ähnlich etwa
»laut (Gesetz), kraft (Gesetz)« verwenden; daher heißt ösz-kor
sowohl . »Herbstzeit« als auch »im Herbst«, vasämap sowohl
»Sonntag« als auch »Sonntags« ; die drei Endungswörter ent-
sprechen also trotz ihrer sonstigen vollen Bedeutung auch
unsem Präpositionen (im) oder Endungen (Genetiv-s). Dazu
stimmt trefflich, wenn das kräftige ungeschwächte fog »er
greift« als Hülfszeitwort beim Futur auftritt, worüber Ztschr.
für Völkerpsych. und Sprach wissensch. Bd. Xni S. 129 nach-
zulesen. Dass die Sprache zwischen geformten (-keppen
'koron -napon) und materiellen Ausdrücken überhaupt
schwanken, ja letztere im Laufe der Zeit bevorzugen konnte,
verrät wenig Formensinn. Der Formlosigkeit konnte man
auf dreifache Weise entgehen: entweder durch Anfügung
*) Hamar, »geschwind rasche und hamaran, wenn die on-Form
nicht obigem -kor -koron bloß nachgemacht ist, unterliegt demselben
Grundsatz wie letzteres.
**) Weil kor nap Stämme und keine Endungen sind, fehlt die Vocal-
harmonie in öazkor und tegnap; vergl. die suffixale Verwendung in
ünnep »Festtag« aus üd-nap.
298 l^rsLnt Misteli,
eines Suffixes, was in einzelnen Fällen nicht beseitigt werden
darf, z. B. in helyett helyt »am Platze (hely) sx anstatt, für«,
midän => mi idö^ »zu -n welcher m» Zeit idö »= wann, alsc,
oder dadurch dass das suffixal gebrauchte Wort nicht mehr
selbständig sich zeigt; z. B. das Dativzeichen nek (nah) ent*
sprechend lappischem nyeik(a) nyeig(a)*) findet sich nie
für sich, ebensowenig tuil (nä) »beic, während hoB (heg)
»zu nach« das Verb hoi »bringen« neben sich hat; oder
das Suffixwort erliegt solchen lautlichen Veränderungen,
dass es an das selbständige Wort nicht mehr erinnert; so
setzen die Gasussuffixe ben (ban) he (ha) hol (hol) volleres
*hel(e)n hde heiöl voraus, die, ausgen. helen- wofär benn-
aus hdn-, mit den Possessivsuffixen wirklich auftreten; das
selbständige bel&- scheidet sich außerdem durch die Bedeutung
»Darm, Eingeweide, Kern, Holz- Mark« eigenll. »Inneres«
von den Suffixen ab. Besonders stark ist der Abstand von
nUve dUal »durch (dUai) das Werk (miv = mü) von« und
miatt auch midtt »wegen halber«, sieh Simonyis Gramm.
§ 377. Das dort angeführte Beispiel €ut esö miatt »wegen
des Regens« eigentl. om esö mive dual kommt dem sskrt.
varSavafät (vafjOr »Wille Macht«) ziemlich nahe.
Das letzte Beispiel gibt Gelegenheit, ähnliche Suffixworte
namentlich des späteren Sanskrits zu vergleichen, auf die
schon Ztschr. für Völkerpsych. und Sprachwissensch. Bd. X
S. 128 Anm. hingewiesen wurde. Auf die Frage woher
wohin wo antworten der Ablativ Accusativ Locativ von
antika, samlpa, eakäfa, äbhimukha (ohne Ablativ), pargva,
von denen die drei ersten »Nähe, Anwesenheit, Gegenwart«
und dergl. bedeuten, das vierte frzsischem vis ä vis Italien.
in faocia entspricht, das letzte eigentl.**) »Seite« von parQU
»Rippe« heißt: det^dh sakagat »von der Fürstin her«, rO^iidh
saMpe »bei dem Könige«, tava pd/rgve »bei dir«, ekLSjäbkinwio-
harn »ihm entgegen« ; ferner dieselben Casus von agra »Spitze
*) **y *V ^ i^^ palatales n, französ. Italien, gn,
**) Vergl. ^kanUlS Str. 9 name düre kühcU kianatnapi na pär^ve
raiha^avat »Nichts (erseheint) mir ferne, nichts nahe auch nur einen
Augenblick, so schnell ist der Wagen.c
Die Theorie der AI)scLleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 299
Vorderes« und prifha t Rücken c, um vomen und hinten
wiederzugeben I wobei agram »nach vorn« kaum vorkommt«
der Ablativ mit -toB gebildet wird; endlich von madl^a
»mitten«: samudra-tnacO^e »im Meere« eka stri tasam
madhjütt eine Frau unter (aus) diesen« ^nafnaäkjath vivega
»trat unter die Leute« u. s. w. Auf die Frage weswegen
warum antworten Locativ Ablativ Instrumentalis von Jietu
nimUta kam$a »Grund Ursache« vaga »Wille Macht« artha
»Sache Zweck« kfta »Tat« ohne Unterschied: fOstra-vigiüana-
hetuna »um die Wissenschaft zu lernen« tava (tvat^) hrtena
»deinetwegen« iaravo f^atavagena bhagnaf^ »vom Winde ge*
brochene Bäume.« Für »wann« pfiffen so vela »Zeit« und
saimaja »Zeitpunkt, Gelegenheit« zu stehen: vasantasanuye
»im Frühling« (anUsamßje »im Herbst« a^tanumaveU^jam
»bei Sonnenuntergang«« Rein unmöglich wäre es» diese Be-
stunmungen durch die bloßen Stämme auszudrücken, viel-
mehr ist gerade die Casusform die Haupteache, der diese
Substantiven alle nur äußerliche Fülle Idhen; das Ungarische
stellt umgekehrt alles auf das Nomen ab und lässt das Fcnrm-
element auch fallen.
Auch das Finnische zeigt formlose neben geformten Aus-
drücken, die in der Bedeutung den eben aufgezählten sans-
kritischen nahe kommen und entweder mit Genet. und Parti-
tiv oder mit Possessivsuffix sich verbinden: kera »Folge Ge-
sellschaft« kerama 4le -Ifo, nur als Postpositionen im Sinne
von »mit neben« verwendet: taisen k&rä »mit einem andern«,
toisten horalla »mit andern«; kohti »Stelle gegenüber,
Richtung gegen (in freundlicher Absicht)« kohden^ nur als
Postpositionen im Sinne von »gegen, nach«: kchti-ni und
minua kohdm »gegen mich«, linnaa koMi (kdhden) »gegen
das Schloss, die Burg«; luo »Nähe Nachbarschaft« luo-na
hKhksi Iwhta gemäß den Fragen des wo wohin woher, nur
als Podtpositionen: luona-ni »bei mir«, mennä kirkon luoksi
(hto) »nahe zur Kirche gehen«; iuo ist nicht aus luaksi ver-
kürzt; läpi »Loch, das durchgeht, Lücke, Durchbrechung«
lävi4se, beide als Verbalparlikel; nur ist läpi sichtlich nicht
aus lävUee gekürzt und läpUse Analogieform: käifdä läpi
300 Franz Mistel!,
(lävitse) >durchwandern«, und als Prä(Post)po8ition, worüber
Lönnrots großes finnisch-schwedisches Lexikon nichts besagt:
Ealewala IV 477 : Itkemistänsä vesistä, läpipäänsä WUemiM,
alta hidman kulkemisia »von den Wassern (vesi), die sie
weinte (üke), die durch ihr (-nsa -^sä) Haupt (pää) gingen,
von der Seite (kulma) herunter (aUa) kamen (huUce)^^
VI 113 Zopi 9y(d)ämen, maksan kautta, halki hartio-Uhcjen
»durch das Herz, durch die Leber, durch das Schulterfleischc ;
ohi »das zur Seite oder neben befindliche, Stelle nahebei,
Seite« ohe-ssa und ohe-Ua öhe-en und che-lle che-sta und
ohe4ta auf die Fragen wo wohin woher ; chUse und <M, das
nicht aus der tse Form gekürzt ist »vorüber vorbei«; post-
positiv, die beiden letzten auch adverbiell gebraucht: tien
oheen »neben den Weg«, tien ohessa (oheOa) »neben dem (am)
Wege«, käydä hirkon ohi (ohitse) »an der Kirche vorbei
gehen«; poikki »Quere Stellung, Lage, Erstreckung« paikessa
poäceUa u. s. w. wie vorhin, p&ikUse und paiUci »querüber«,
postpositiv und adverbiell : juosta tien poikki und poikki tien
»quer über den Weg (tie) springen«; k und kk zeigt, dass
poikki neben poikitse steht; taka »was hinten ist« takana,
takaa, taaksi taa taka auf die Fragen wo woher wohin;
taatse taitse »hinten vorbei«; auch hier leuchtet ein, wie taka
nicht aus taaksi gekürzt sein kann: mene tdka^ii »geh hinter
mich«, antoi rahat takse-ni »gab Geld hinter mich = in
Verwahr«; tykö »Nähe« tykonä sskr. samJpe, tyköä sskrt.
samlpat, iiföksi työ tykö sskrt. samlpam: tvie työkse^i und
tuie tykö^i »komm zu mir«; Kürzung von työksi zu tykö ist
unmöglich; die Formen dieses und des vorigen Stammes er-
scheinen nur postpositionell; yli »was oben ist, das oben
belegene«, nebst einigen Casus wie yllä (für yMlä) »oben,
auf«, yUä (für yle-Uä) »von oben«, yUe (für yMle) »nach
oben, auf«, die mit Gen. als Postpositionen gebraucht
werden; yli4se und yli, das nicht aus ersterem verstümmelt
ist, »über — hin« : mennä meren yJitse »über Meer gehen«, yli
vuoden »über ein Jahr«; ytnpäri »was ringsum, rundherum
ist, Umgebung« nebst andern allem vorhergehenden ana-
logen Formen als Adverb und Postposition gebraucht : mennä
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 30l
fftnpäri und ympärüse »ringsum gehen«; deswegen ist aber
ympäri nicht aus ympärüse abgeschliffen, wie man nach
obigem behaupten musste. Dass äberhaupt die ksi- (kse^)
und fee-Formen nicht als vollere Grundformen gelten können
zu den in gleichem Sinne verwendeten Stämmen^ sollte meine
Zusammenstellung bewiesen haben ; sonst erfordert die Conse-
quenz, dass man da, wo jene angeblichen Grundformen nicht
vorkommen, den partikelartig verwendeten Stamm als Ab-
kürzung der andern längeren Formen betrachte, z. B. kera
als Abkürzung von keralla^ oder kohti als die von kohden!
Gegenüber dem Ungarischen bemerke man den wichtigen
Unterschied, dass keiner dieser Stämme mit gewöhnlichen
Nomina auf einer Linie steht, sondern alle schon zuHülfs-
Wörtern heruntergesunken sind, so dass es nicht gestattet
wäre, z. B. iykoni, luoni im Sinne von »deine Nähe« zum
Subjecte eines Satzes zu machen. Volldeutige Nomina fungiren
kaum je mit ihrem bloßen Stamme resp. Nominative als
Formwörter hinter andern Nomina oder vor den Possessiv-
suffixen; während kohti^i oder minua kohti »gegen mich,
auf mich zu« keinen Anstoß bietet, weil der Stamm kohie,
Nom. kchtij Gen. Acc. Instr. kohden äberhaupt nur als Form-
wort dient, findet sich von kohta^ das auch als gewöhnliches
Substantiv im Sinne von »Stelle Entfernung Ort« u. s. w. er-
scheint, in Lönnrots Lexikon kohtani »gegen mich« mit dial.
bezeichnet, wofür köhiaani (= kohta-hatirm) oder minua
kohtaan zu sagen wäre. Ebenso unerhört ist es, z. B. bloßes
stammhafies nominativisches jäiie- jcUki »Fußspur« (vei^L
jalka »Fuß«), pää »Haupt Spitze Oberstes« aika ikä »Zeit«
u. s. w., auch sonst übliche Nomina, andern Nomina nach-
zusetzen zur Bezeichnung des räumlichen »nach«, »oben, auf«,
zeitlichen »in, um«, was durch jäl(j)ä89ä pääilä ai(j)aüa yäUä
und andere Casus geschieht. Was ungarischem ös^kor gliche
in der Zweideutigkeit von »Herbstzeit« und »im Herbste«,
wird sich kaum oder wenig auftreiben lassen, wie denn das
Finnische an Formgefühl seine Schwestersprache unbedingt
überragt. Wäre das, was soeben als formlose Stämme erklärt
wurde, Abkürzungen von ksi- und fo6-Casus, warum be-
302 Frant Miaieli,
schränken sie sich blofi auf die zu Formwörtern degradirten
Nomina?
Ungarisch zeigt oft kein Accusativzeichen at et bei engem
»mich« iiged »dich« neben engemet Ugedet, und bei den
Possessivsufßxen, die 3. Sing, ausgenommen: cinibardidmeUeted
Idtjuk iUni »deine (id) Genossen (ambora) sehen (W) wir
neben dir ('^) sitzen« (Jokai), aeirt fdedd 6t s add nekünk
magad »Deswegen vergiss ihn (öt) und ergib dich (tnagad
dein Selbst) uns« (Pet^fi), wo eimbordidat und magadaJt auch
gestattet wäre. Die Idee lautlicher Einbuße kann bei der
Verschiedenheit der Silben on und ai (6n und et) nicht auf-*
kommen, vielmehr muss man auch da ein Nebeneinander
formloser und geformter Wendungen anerkennen (sieh noch
Ztschr. für Völkerpsych. u. Sprachwissensch. Bd. X S. 1S9,
XIIL S. 107, 116 flg.), das ebenso charakteristisch als be*
denklich ist.
Als indogermanische Parallele nimmt sich der vedische
Locativ Sing, auf an und an-t aus: uddn uddni »im Wasser<(,
mürdhdn mürdhdni »im (am) Haupt (Gipfel), ddhvan ddhvani
»im (am) Wege« u. s. w., bei dem in der Tat gewöhnlich
von Abfall der Endung geredet wird, ohne Zweifel mit un-
recht. Nicht nur verschwindet sonst i am Schlüsse sskrtischer
Worte nicht und ist im Gegenteil ein an dieser Stelle sehr
gern gesehener Vocal, sondern diese Locative auf an sind
im Veda zahlreicher und daher vielleicht älter als ihre Neben-
formen auf i (Whitneys ind. Gramm. §425c.). Für ihr
Altertum zeugen entschieden die griech. Infinitive, wie d6iisv
(pigeev «s tpigstp^ die als i-lose Locative anzusehen shid; denn
der Abfall von i verstößt gegen die griechische Lautlehre
gerade so gut als der von o», und wird durch ip ivi so
wenig erwiesen als der andere durch naq nagai; Proklitika
gestatten keinen Schluss auf andere Wörter, und das Au»*
bleiben solcher an -Infinitive im Veda berechtigt nicht, ihre
Existenz im Griechischen zu leugnen. Dann zeigen auch die
li-Stämme, ausschließlich im gewöhnlichen Sanskrit, neben
at;* im Veda, nacktes au: Mndu und eUndvi von sünü >Sohn«,
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 303
sänau und 8dnavi von sänu*) »Bergrücken«; hier verbietet
schon die verschiedene Quantität von a, hinter äu ein i an«
zuflicken. Auch Zend und Altpersisch zeigen die i-lose Form,
das letztere im Landschaftsnamen Margauv neben dem Accus.
Margum; ja selbst goth. sunau (auch Vocat) und altslav.
Sjfnau (auch Vocat. und Genet.) brauchen kein i eingebüßt
zu haben, so wenig als der Vocativ. Eine i-lose Bildung
des Locativs lässt sich nicht ableugnen, was man immer
davon halten mag; nach Mahlow »die langen Vocale a e <hc
S. 54 und de Saussure Memoire sur le Systeme u. s. w. S. 46
könnte griech. äyev hierher gehören, wenn man das sskrt-
Thema sanur »verstohlen unvermerkt« vergleicht. So hätte
das Ungar, öss-iar-on und dsjg-kor »im Herbst« glücklicher-
weise eine Entschuldigung an der vediscben Doppelform -ani
und -^m/ Als wenn nicht in dsa-kcr das Locale resp. Tempo-
rale, welches in den -an-Formen gar nicht bezeichnet ist,
recht dick mit hw »Zeit« dargestellt und eben deswegen,
weil hör in öejs-kar-on zwischen selbständiger und suffixaler
Geltung unsicher hin und her schwankte, in der doppelten
Bezeichnung das geistigere und formale -on überflüssig er«
schienen wäre; das genaue Gegenbild müsste vielmehr ds0en
(wie n^aran »im Sommer« von nyär) und ösa sein, was
keiner, der sich mit altajischen Sprachen beschäftigt, er-
warten wird. Die beiden Sprachstämme bleiben sich eben
immer gleich fern; man lese die schöne und lebhafte Dar^
Stellung von Sayce in dem schon citirten Gap. IV seiner
Rrmdples. Ebensowenig können sich im Indogermanischen
Accusativ und blofier Stamm resp. Nominativ gleichzeitig
vertreten; Nom. oder Acc. muss verschwunden sein, damit
einer an des andern Stelle rücke. Scheinausnahmen machen
nicht irre: so bemerkt Delius zu Sbakespeare's Hamlet im
Anfang des II. Actes bei den Versen: Tour party m oonverse,
htm ifou uHmld sound, . ... He closes wiäi you in ihis eonse*
quence »Euer Mitunterredner, er den ihr sondiren wolltet, ....
*) Eine dritte Form ist täno »nur bei unmittellMir folgendem aigi^;«
oder dpje* nach Graßmanns Wörterbuch zum Rigveda «. v. sätm.
304 Franz Mistel!,
er trifft mit euch in folgendem Schlüsse zusammen« kurz
und gut: »htm für he; him gebraucht Sh. oft so, wenn das
Verbum von dem Personalpronomen getrennt steht.« Natär-
lich liegt hier nichts anderes vor — von der »Auslassung«
des Relativs (»er, den«) abgesehen — als eine Casusassi«
milation des Demonstrativs an das Relativ, zu der der erste
Vers des Prologs der Captivi eine genaue Parallele bildet:
Hos, quös videtis stäre hie captivös duos, , . . . hi statU anibo,
ndn sedent. — Auch in den thessalischen Genetiven auf
0$ (z. B. \dpt$Ysvsio$ oder "Alsiinnoi Xiiavtog) liegt kein
Abfall von o in -o»o vor, sondern einfach der Locativ (Rieh.
Meister »die griechischen Dialekte« 1. Bd. S. 304), der als
Ersatz wohl auch im Lat. eintrat (bdli Carinthi)^ wie im
Altslav. der Ablativ {raba »des Knechtes«).
Die Verbalformen lese »er wird« tesjs »er tut« vese »er
nimmt« hisa »er glaubt« vise »er trägt« jö »er kommt« megy
»er geht« nincs »er ist nicht« sincs »er ist auch nicht«
(vergl. nem »nicht« sem »auch nicht«), neben denen auch
lesjsen Useen vesBen hiseen visjsen jön migyen nincsm sincsen
vorkommen, haben hinten nicht lautliche Einbuße von m
erfahren, sondern die zwei Glieder eines Paares verhalten
sich so zu einander wie -Icor zu -koron. Die Personalendung
en (an) wird zugesetzt, wenn die 2. Pers. Sing, nicht deutlich
genug ist; denn fast alle aufgezählten einsilbigen Formen
können auch der 2. Pers. Sing, dienen: lese oder ISsßu. s.w.
fnigy*) »du gehst«. Sobald aber die 2. Pers. eigene Endungen
(-ese -el) annimmt: lesgesB lesed ISseel u. s. w. menesz megyesB
mesB »du gehst« j6sg »du kommst«, reicht fär die 3. less
u. s. w. men (min) oder megy jö aus. Weder ist lese als
2. Pers. aus lesed leszes», noch als 3. aus leseen »verkürzt«
und das gilt für alle anderen, wie schon in der Ztschr. für
Völkerpsych. und Sprachwissensch. Bd. Xm S. 105 flg. be-
hauptet wurde. Somit bedeutet die 3. Sing, vdr ver eigent-
*) Migy 2. Pers., megy 3. nach Riedl Töpler und Simonyi; der 3.
scheint i der Wurzel nicht eigen; le$8t 2. PerB. ist deutelnde Ortho-
graphie.
Die Theorie der Abschleifung im tndogenn. u. ügrischen. 305
lieh nur: »wart- schlag-«, deren Endung durch das dabei
stehende oder hinzugedachte Subject ersetzt oder vielmehr
neben diesem überflässig wird — ein hämo flig(it)I Das steht
im Zusammenhang mit dem Fehlen der Copula: eui efhber jö
»Der Mann (ist) gut« wie 00 eniber vdr »Der Mann wart(et)«;
denn »ist« und »et« entsprechen der kräftigen Synthesis von
Subject und Prädicat, die selbst das flexionsarme Englische
mit s (aus th) vollzieht: he hchs (hath) »er ha-t.« Man rede
nur nicht von Verkürzung oder Verstümmelung aus *vdr<m
*veren zu vdr ver; denn abgesehen davon, dass ein solches
Lautgesetz (oder »Lautneigung« meinetwegen) nicht nach-
gewiesen ist, wie kämen denn die Laute dazu, dies -cn -en
nur da stehen zu lassen, wo die 2. un bezeichnet ist, außer
obigen Fällen im Imperativ (vd/rj- warte« vdrjon »er warte«)
und bei vagyon oder van »ist« neben vagy- »bist«? Man
rede lieber von nüchterner*) Logik, die aus unlogischer Fülle
sich herausarbeiten mag — noch genug phantasievolle An-
hängsel werden an ihr haften bleiben — , die aber nur nicht
als zweifelhaftes Angebinde in die Wiege gegeben sein muss;
denn ein Unglück ist's, das schon zu besitzen, was man
erst erwerben soll; man erwirbt Größeres und Besseres.
Diese Auftassung der 3. Pers. Sing. Praes. als bloßer
Wurzel, an die natürlich Tempus-, Modus und Object-Suffixe
antreten können, findet darin Bestätigung, dass dkdr (aka/r)
»will« wie laL v%8 vd It/ibet in disjunctiven Sätzen und hinter
Pronomina verwendet wird: akdr tetszik akdr nem »gefalle
es oder nicht« akdrki »wer immer« akdrmi »was immer«
ahdrhd »wo immer« u. s. w. Mit »er (sie es) will« lässt
sich hier nichts anfangen, sondern nur mit »(man) will«,
»beliebig«, wie auch lat i;f8 vd (Imperativ) ein »du »= man«
*) Immerhin lautet dieses Urteil gOnstiger als die Ansicht derer,
die die Negationssilbe talan UXm unter anderem »wegen des einfachen
regelmäßigen Gedankenganges der altajischen Volker, von dem wir nicht
annehmen dürfen, dass er den Begriff der Yerbalhandlung als selb-
Stftndiges Ohject zu nehmen und ihr Fehlen auszudrficken fähig gewesen
wäre«, fQr ein ursprOnglich denominatives, nicht deverbales Suffix an«
sehen; sieh Tanulm. I S. 266 unt. soviel traue ich ihnen noch lu!
306 Frans Mlstell,
enthält und libet unpersönlich ist; man stelle sich doch
imltguis vuUquid = quitAs quidvis vor! AJcAr drückt also nur
»will« aus, ohne bestimmtes Subject, und das gilt von jeder
andern ähnlichen Verbalform. Dass etwa jemand zu den
Sanskritspruchen sich flüchte, in denen häufig die 3. Pers«
Sing. Act. »man« vertritt, oder zum Finn., wo dasselbe ge-
schieht, um zu beweisen, dass akdr »er (sie es) will« unbe-
stimmten Gebrauch gestatte, befürchteich kaum; denn »man«
wird ung. durch die 3. Plur. wiedergegeben. — Unbestimmte
Pronomina können auch durch Vorsetzen von voHa »war«
entstehen: valaki »irgendwer« vcHami »irgendwas« valdkd
»irgendwo« u. s. w. Sollte nicht der Anfang von Erzählungen
und Märchen: es war (einmal) einer (etwas ein Ort), der
(das wo) . . . wodurch das Imperfect sich von selbst erklärte,
eingewirkt haben? Wer den Beweis verlangt, dass ungarische
und finnische Märchen auch so anfangen, schlage in Paul
Hunfalvys Finn civasmdnyoh a finn nydvet tcmüÜk sgdmdra
(»Finnische Lesestücke für finnisch Studirende«) (1861) die
erste Seite auf: finn. oli mauianKiSsa kyläsaä äijäja ämmä »
Ungar, vala egy fdluban ferj i$ felesig »es war in einem
Dorfe ein Mann und eine Frau.« Nimmt man noch griech.
ItTTiv Ol »einige« iatiy hs »manchmal« itfup ov »da und
dort« u. s. w., so wird man obige txrfa- Pronomina be-
greiflich finden. Ob auch sskrt. asti »ist« hn Anfang von
Erzählungen hierher gehöre? Im Pantschatantra findet es
sich nach der Ausgabe von Eosegarten (1848) S. 13S, 22.
163, 18. 169, 4. S09, 22. 214, 12. 217, 19 in folgenden
Wendungen: asH kasmifiieid (uOiiifhane . . . praUvasati sma
»es wohnte in irgend einer Residenz« . . «, asH kasmififcid
wMnoddete . . . äham avasam »ich wohnte in irgend einer
Waldgegend« . . ., mH katsmitigcit hupe . . . avasat »es
wohnte in irgend einem Brunnen« . . . Oder soll eisti im
Sinn von »es ist so, factisch« die folgende unwahrscheinliche
Geschichte verbürgen als lukianische dl^d^^ tatoqia? So
findet sich auch finn. an »ist« häufig als pleonastische Par-
tikel verwaidet, eig. versichernd, im Gegensatz z. B. zu
schwed. kanske^ mihämda, frzsch. petxtttre. Das Petersburger
Die Theorie der AbschleiAnig im Indogenn. u. ügrischen. d07
Wfirtertnich fahrt nämlich auch Stelloi an, in denen kein
unbestinuntes Pronomen nachfolgt, das ja nicht durch asH
unbestimmt wird, sondern es schon ist, so dass der Fall
doch anders scheint als bei den ongar. und griech. Aus-
druckoi. Dies rala hat eigentlich den folgenden ki- mi-Satz
zum Subjecte, wie laL nesdo den folgenden gm»- juMi-Satz
zum Ohjecte, bis beides zusammenräckte; ein unpersönlicher
Gebrauch wie in akdr Hegt also nicht vor. —
Beim Imperativ Sing. S einfacher Gonjugalion heißt es
dialektisch vmyai statt bloB^i Mrfs, das auch seines { ver-
lustig gehen kann, wie in anderen von Riedl § 19 S. 27 bei-
gebrachten Fällen. Auch hier scheint mir Schwinden von
dl anzunehmen, das in allen anderen 3. Personen Sing, der-
sdben Gonjugation festhaftet, auch wenn dasselbe den Laut*
gesetaen bemet ent^räche, ein verzweifeltes Mittel, zu dem
num nur grdft, wenn man durchaus die längeren Formen
für die älteren ansieht. Vielmehr ist vdrj ursprunglich und
vdfj4l nach den übrigen cU*Formen gebildet, was um so
natärheher ist, als die Deponentien oder t^T-Verben auch im
Imperativ nicht j, sondern jdl (ja) anfOgen; sieh Ztschr. fQr
Völkerps. und Sprachwissensch. Bd. XIII S. 106. Jedenfalls
hat auch die Rucksicht, dass vthrjak als 1. und vdfjon als
3. deutlich eharakterisirt sind, entweder zur Bewahrung von
vdfj, wenn dieses, wie ich meine, älter ist, oder dann zur
Beseitigung von dl, wenn jdl älter ist, das Ihrige beigetragen.
Also auch im letzteren Falle — keine lautliehe Abschleifung,
sondern Schöpfung eines ungeformten Ausdruckes! Denn j
ist Moduszeichen.
Aus derselben prosaischen Rucksicht gibt gelegentlich
auch das Finnische beim Imperativ 2. Pers. Plur. die
Personalendung Ue auf: tuo »bringe«, tuo-kaßjornme »lasst
uns bringen«, iuO''ka(h)a'Ue oder tuo4ca(h)a »bringet«; d^
kää^} fHM-sta syMa, Byö4cä&{tte) tatvasta »Fresst (syd)
nicht vom (-sta) Boden, fresst von (sta) der Spitze« sagt
dne Spätzin zu ihren Jungen in der Orammaire fitmoise von
Djfiavif und Hertzberg (1876) S. 8a Vdkfokaa ja nücMhaa
(statt "kaatte) »wachet und betet« Matth. 26, 41. Gegenfiber
308 Pran2 Histeli,
tuo »bring« und syö »iss<f> schien tuokaa »bringet« und syokä&
»esset« just verständlich genug, auch ohne Me^ und äberdies
gleichmäßiger, was bei consonantischen Wurzeln sichtbar
wird. Die 2. Pers. Sing, endet nämlich auf die Aspiration,
welche »Vermilderung« vorhergehender Consonanten fordert^
und immer Ueberrest voller Consonanten ist; sieh Ztschr.
fär Völkerps. und Sprachwissensch. Bd. XI S. 425 und
Xin S. 87 Anm. Demnach lautet von antaa »er gibt« die
2. Pers. »gib« anna' provinziell*) annak (aus *afdak)^ und
»gebt« antalcaa(tte) , so dass das Moduszeichen Je auch im
Sing, nicht fehlt. — Wenn auch sonst in der Gonversation
und in der Poesie das Prädicat oft in der 3. Pers. Sing,
steht trotz dem pluralischen Subjecte, so dürfte man von
Abschleifung der Pluralendung vat (väi) um so weniger reden,
als der Rest gar nicht immer mit der 3. Pers. Sing, zu-
sammenfiele. Die 2. Rune des Ealevala z. B. bietet folgende
Belege : 33 Wksi puut ylenemahän »es begannen {lähden ich
gehe) die Bäume (puu-t) hoch (yle-) zu (hän) werden«; 61 ne
oli »diese waren« statt divat; 225 siiP alkoi saht säota »da
begannen (alka-) die Haine (salo4) zu grünen«; 231: hasvai
. . . marjan-varret, kükat kultaiset u. s. w. »es wuchsen (kasvor)
Beeren-stengel (varse-), goldene Blumen«, also meist bei
Voranstellung des Verbs; auch bei der negativen Gonjugation:
ei pidot parane, jos ei vieraat vähene »die Verhältnisse (pido4)
bessern sich nicht, wenn die Fremden (vieraa-) nicht ab-
nehmen«, wo zweimal ei statt eivät. Die 3. Person Sing,
entbehrt mit wenigen Ausnahmen, wie sofort erhellen wird,
eines Personalkennzeichens und drückt eigentlich den Begriff
des Verbums im allgemeinen aus, sodass ihre Verbindung mit
dem Plur. nicht auffallen darf. Dasselbe Verfahren gestattet
sich »namentlich in der volkstümlichen Sprache« und so,
dass das Subject dem Verb »fast immer« vorangeht, auch
das Italienische nach Vockeradts Gramm. § 161 2. —
*) 9(mna* noch dialektisch mit starker Aspiration, in Savo fast
annak; da und dort hört man sogar atmafta, annakha* Simonyi S. 7 oh.
der Schrift »Die ugrischen Modusbildungenc 1876 in ungarischer Sprache.
tMe Theorie der Ahsehleifmig im tndogerm. iL Ügrisdien. 309
Bei der 3. Pers. Sing, verdirat es Beachtung, dass sie
nur beim Optativ und Imperativ auf -n ausgeht, auch bei
an »istc, wdl dort die 2. Sing.*) endungslos ist, hior cn
durch seine Kurze kein o neben sich aufkommen ließ —
ralsprechend dem Ungarischen (vergl. van »istc und värjon
»er wartec tferjen »er scUagec), dagegen bei deutlicher Be-
zeichnung der zweiten durch i vocalisch ausläuft: tuat »du
bringstc tuo »er bringtc, tait »du brachtestt toi »er brachtet,
twmet »du bringst wohU iuanee »er bringt wohU, taisä »du
wurdest bringenc ioisi »er würde bringenc, ähnlich in den
negativen und den componirten Formen: et tuo »du bringst
nichtc ei tuo »er bringt nichtc u. s. w., ölet twmut »du hast
gebrachte cn twmut »er hat gebrachte u.s. w.; dagegen:
fciö'o»**) » bringe c tuoko(h)an »er bringet, tuo »bringet
tuoka(h)an »er bringe.t Offenbar wurde n der 3. dem (
der 2. gegenubertreten, wenn nicht die sparsame Logik solch
phantastischen Ueberfluss verabscheute, die auch dem Ungarn
^vdran »er wartett ^vdrdn »er wartetet *vdrtan »er hat
gewartet t neben den entsprechenden 2. Personen värsM vdrM
värtdl statt der wirklichen 3. vdr vdra vdri unmöglich machte.
Im Finnischen kommt aber ein eigener Umstand hinzu: die
Endung der 3. Sing, ist wie die der 1. Plur. possessiver Art:
%-n mit dem Vocale der vorhergehenden Silbe «= 9-n, wie
das andere gleichbedeutende Possessivsafflx nsa zeigt; tuo-
ko'hon uiid das seltenere***) tuo-ka-han »er bringet (mit
*) Dass 2. Sg. des Imperativs keine Endung hat, xeigte sich so
eben; vom Optativ lautet sie: tüUoB = ^tüWoa =s ^tuU-ko^a »komm«
Kalew. V 137, najos = nai'oe *= ^nat-ko-a »heirate« Kalew. V S36;
8 entspricht entw. dem Aon der 3. Fers.: tul''kO'ß)on nai'ko^h)on ntich
bekannten Wechsel von h und «, was sonderbar wäre, oder ist ein»
fach die Partikel s, deren Gebrauch folgende Beispiele aus Hunfalvys
finn. Chrestomathie zeigen: maUappas =» maUa'-pa'a »warte doch«
(pa-a) S. 18, 22, d-kö-a huuk hör(kuuie)8l (4) denn (kö-s) nichtc S. 26.30,
jo-ko-i aünä kUkwi >schaukel-st f^^du denn (ktha) schon (io)daL(Hkia)€,
miien'kä'8 muuUui'kaan tä89ä mieU-naä »wie (müm) veränderte sich
doch ßä-B kaan) da (tä»8ä) sein (nsa) Sinn« 8. 64, 15—17.
**) Gemildert aus tuokoa!
***) Doch z. B. Kalew. III 127/8: aeisO'ka-{h)(m »er stehe«, attWy-
kä-(h)än »er weiche.«
SMtMhr. fax VOlkerpsyofa. und Bprachw. Bd. XIV. 9. 21
dlQ Pranz Itistell,
ho ha als Moduszeiohen) unterscheide sich von mo-ssa-han
»in seinem Sumpfe (su0)< (mit ssa des Inessivs) nicht im
mindesten, ebenso wenig als tuo-mme »wir bringen c von
suo-mme »unser Sumpf.c Wärden in äberschässiger Weise
alle drei Singular-Personen bezeichnet, so lauteten sie: tmo^
»ich bringe« tuo4 »du bringst« *twhh<m »er bringt« (eigentl.
»sein Bringen«) oder mit üblicher Gontraction: ^hunm =
*tu,m, anna-n »ich gebe« aHna4 »du gibst« *antahan con-
trahirt *antaan »er gibt«, Uume^ hume4 ^tuan&'ben ^tuonem
(Potential) u. s. w.; man sieht, wie in der Nachbarschaft
von n dec ersten, das ursprünglich m gewesen sein kann,
und t der zweiten sich n der drittel zur voll«i Personal-
endung verschieben konnte, so dass, als die überschuasige
Bezeichnung unangenehm empfunden wurde, hto antaa tmnee
als die heutigen Formen nachrückten, in denen durch die
Gunst der Umstände trotz dem mangelnden n doch in der
Vocallänge der dritten Person oft eine Eigentümlichkeit ge-
wahrt blieb; und dass der Finne nicht auch diesen Rest
tilgte, zeugt immerhin von einigem Formgefühl, wenn er gleich
eigentlich beabsichtigte, für die 3. Pers. Sing, den endungsr
losen Stamm zu benutzen. Wirklich erscheint die 3. Pers«
Sing, des Negations -Verbums, ei, als bloBes »nidit«, das
aus einer strengen Verbalform sich kaum gewinnen lässt;
man versuche etwa, »nein« aus »er (sie es) (ver)neint« ab-
zuleiten I So steht denn neben einander en minä tunne tsod
eihä poihaa »ich kenne nicht Vater und nicht Sohn« eig.
»ich nichte kennen V. und nicht S.«; femer ei ainoostaan,
vaan myöshin »nicht nur •— sondern auch«. Eben so ist die-
selbe Pers. der Hül&zeitwörter unpersönlich in Sätzen wie
tämän haupungin voi-pi valloittaa »diese Stadt erobern (ist)
möglich« eig. »kann« ; ahkeraa cppilasta ei tarvitse muistuttaa
»(einen) fleißigen Schuld unnötig (eig. braucht nicht) mah**
nen«; cf. ob. ung. äkdr. Von lautlicher mechanischer Kürzung
des ^tfMhon *antähan *tuonehen zu tuo antaa twmee, das
Schwinden des h abgerechnet, kann der nicht reden, der
das Vorstehende erwägt; n ist zudem ein Ueblingslaat am
Schlüsse finnischer Worte. Eines weiß ich nicht zu erklftren.
bie Theorie der Abschleifang im tndogerm. u. Ugrischen. 31 i
warum beim Imperfeet und Conditionalis nicht auch U steht:
toi »er braehtec toisi »er wärde bringenc, während doch
das Präsens von i-Stämme z. B. revin revü repii lautet von
repi- »reißen.«'*')
Dieser logischen Nüchternheit gegenüber nimmt sich das
indogermanische Verfahren bei der 3. und 3. Pers.
Sing, gar willkürlich und inconsequent aus, indem man teils
der 3. Pers. ihren Charakter H t 8 wahrt, auch wenn die
2. mit 9i 8 (ha deutlich genug ist, teils vor dem Zusammen^
fallen der beiderseitigen Ausgänge sich keineswegs scheut,
wie die Sskrt- Formen 0han(s) »du tötetest« ähan(i) »er
tötete«, a}tmak(s) »du verbandest« €yunak(t) »er verband«,
advef von äwi »du hasstest, er hasste« zeigen. Und doch
Ist der Trieb nach formeller Unterscheidung so groß, dass
wurzelhaftes und sufßxales s der zweiten Person, das mit
M ft ^ der genannten Formen auf einer Stufe steht, ana-
logisches t der dritten nach sich zieht: ckfOs »du befahlst«
aga^^) »er befahl« von (Os, das der Sprechende an ajas
»du gingst« ajat »er ging« von ja anlehnte; dagegen ved.
{a$ »du wärest«) äs »er war« von os, aber wieder ved. Aor.
ä§ai8 »du siegtest« «^AtY »er siegte«, deren erste Pers. a^aüam,
von jfi (vergl. Whitney ind. Gramm. § 889 und Kuhns Ztschr.
Bd. 26 S. 403 Anm.). Und wenn gar eine deutlich be-
zeichnete 3. Pers. als 3. oder vke versa aufträte, erreichte
die Willkür ihren Höhepunkt; in der Tat erwähnt die Sskrt-
Grammatik a§(ü auch als 2. Pers., das, wenn etwas daran
ist, aus dem bereits durch Analogie erzeugten agos ofäl durch
neue Anlehnung an z. B. tstvet twet von t^ »wissen« ver-
schoben sein müsste, und das ist um so unwahrsefaeidlicher,
als aja» ajat auch aves avet erzeugen kann; kurz; OfOt der
2. ist gerade so eigentümlich wie ein aves der 3. und eben
so wenig belegt. Umgekehrt hat altpers. cAunauS »er machte«
^ Dass auf Huhha-kamme iWhJM-haUe »lasst uns bringen, {»ringet«
han der 3. iuokahan »er briogec flbergegangen ist (-han^me 'han-te),
schein! evident and findet eine Parallele in der finwirkung Ton z. B.
imgar. mipja »sein Tage auf nap-Ja^i-nk nap-ja^i-tok »unsere eure Tage.«
**) z. B. Ramaj. I 80, 25. II 10, 8 Oorr. anv-acäi »behersefate.«
31^ Pranz Misielt,
adaränatiS »er wagtet = ved. akpjiot adkrSiitol, das Aussehen
2ter Pers., und gewiss ist, dass diese nicht anders lauten
konnte, während Zend *kerenaoS und ierenaod unterscheidet
(vergl. (pas)€U>S (pa8)aod Genet. und Ablat. von (pG8)u »Viehc).
Zufällige Uebereinstimniung nimmt Bopp an »Vergleich. Ac-
centuationssystem« S. 246 und etwas unsicher Spiegel »die
altpers. Eeilinschr.c § 29 der Gramm. (1862), und allerdings
ließe sich denken: wie im Zend t am Ende der Wörter in
d übergeht, das hinwieder den Spiranten und Zischem sehr
nahe steht (vergl. Spiegels vergleich. Gramm, der alterän.
Sprachen S. 34), so dürfte sich auch im Altpers. t in derselben
Stellung durchweg in einen*) Laut verwandehi, der ähnlich
dem primären Zischer nach a so schwach tönle, um nicht
geschrieben zu werden, nach anderen Vocalen als i erschien;
t und Zischlaute begegnen sich ja auch in den Pronominal-
formen cücij avaäcij anyaScij, die, wo sie vorkommen, Neutra
sind, aber eben so gut mäilnliche Formen darstellen könnten,
wie zweimaliges kaSc^ = sskrt. kagcit**) zeigt. Aber eben
dieses -ei)', wenn s= -cU ==^ osk. pid^ bewiese, dass t nicht
bloß nach a, sondern auch nach i, also doch wohl auch
nach au abfiel und akunau adarSnau die lautgesetzlichen
Formen wären; auf naij = zend. naid naeda ist deswegen
weniger Gewicht zu legen, weil auch tio^ von naeciS na^d^
fMecHrn entsprechen kann (sieh Spiegels Vergleich. Gramm.
S. 329 ob.). Nun darf man aber die Vocallänge von eü =
cf nicht übersehen, die, wie bei ca »undc, Abfall von Conso-
nanten anzunehmen nicht gestattet (sieh Spiegels »Vergleich.
Gramm, der erän. Spr.c S. 82 flg.); folglich ist cij trotz allem
Scheine mit sskrt. cU zend. oi^ nicht identisch und kann
sehr wohl z. B. der Instrum. Sing, dieses Pronomens sein,
der Vendid. III 148 mit ca vorkommt: spqj^ t^ispa ta
*) Wandlang von ablaiivbcfaem d va h nimmt für das Oskische
Bücheier an »Osk. BleitafeU S. 47 und 54: aoloh « eoUod »im Ganienc
und 8vai puh &= avai pod »wenn etwac
**) In der Stelle kaicij naij adarinaui cikij ^asianaü »Niemand
wagte etwas zu redenc kann man doch schwanken, wie sich qwis und
quid verteilen.
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 813
Skjao9na jaeieä veresffeüi »er tilgt alle die Sunden, welche
er immer begeht.« Altlat. qu%^ das indefinit hinter Be-
teaerungen und quippe ut steht, über das man Lorenz zum
Pseudolus 1260 pdppe ego qui lanica probe perdidici und
Brix zu den Capt. 550 ut qui med op^ sit insptäarier ver-
gleiche, fallt mit altpers. cn zusammen. Eine Analogie-
Wirkung, nach der eine deutliche 2. Pers. die Rolle der 3.
übernimmt, wie sie in Osthoff -rBrugmans Morpholog. Unter-
sach. II S. 100 Anm. behauptet wird, übersteigt meinen
Glauben. Daraus folgt natürlich keineswegs, dass auch alt-
pers. BäbirauS aus Bäbiraut entstanden sein müsse, wie
ahunauS aus akunaut^ sondern bei den mehrfachen Beziehungen
des Gftthddialektes und des Altpersischen (z. B. fehlen in
beiden die medialen Spiranten) folgt daraus, dass die G&thSs
nur emen Ablativ der o-Stämme besessen haben — bünaid*)
ausgenommen — , für das Altpersische wohl derselbe dem
Altindischen entsprechende Zustand, und für BabirauS, dass
es ursprünglich Genetiv ist. Die indogerman. Sprachen tun
zu viel — vom praktischen Gesichtspunkte aus — , wenn
sie 2. und 3. Pers. Einz. mit eigenen Zeichen versehen; sie
tun zu wenig, wenn sie ihnen dieselbe Form belassen; sie
taten verkehrt, wenn sie die eine durch die andere ersetzten;
sie binden sich an kein festes System, das zwar Ordnung
schafft, aber geistige Beweglichkeit hindert, sondern sie finden
sich mit den durch die Lautgesetze hervorgebrachten Uebel-
ständen und Vorteilen ab und zurecht in einer Weise, die
oft auf ganz andern Wegen und Richtungen weiter fuhrt
als den anfänglich vorgezeichneten.
Abfall von Endungen scheint im Indogermanischen in
der 1. Pers. Sing, der ved. Conjunctive b^egnet zu sein, in
(ya**) von i »gehenc brava von brü »sprechenc stava von
stu » preisen € krnava von Isar »machen« hinavä von hi
»treiben« gegenüber bravani eairO/if^ bha^äni jti^ani u. s. w.
(Vergl. Delbrück »das altindische Verbum« S. 26. 194.)
*) Spiegel, Vergleich. Gramm, der alt^ran. Sprachen S. 279 m.
**) Der Padatext bietet immer ßja bräva stava u. s. w. sieh Benfeys
Abhandlung Qber die mil r anlautenden Personalendungen S. 5 Aom.
814 Franz Misteli,
Aber wenn üast alle Sprachforscher heute darin einig giiid,
dass y>iiiäi hinten kein mi eingebüßt habe, ebenso daas
Zendformen wie ufja va%^a (von vap »weben aussinnen«
vae »^rechenc) ursprünglich sind, so werden sie wenig ge*
neigt sein, Abfall von ni in obigen Formen anzunehmen.
Trotz Schwankungen hinüber und herüber gewinnt man
den Eindruck, dass die »stärket Conjug. a in der 1. P^:^,
die schwache oder o-Coi^ug. ani beanspruche. Jectenfalls
weist auf eme solche Scheidung lat. ero eris erü, das man
am besten wie Brugman Morpholog. Untersuch. III. S. 29
mit ved. *asa aaaa asat identiflcirt, Und veham vehäs vehat
ved. vaiham vahliai vdhati, die man vom indicativisdieB
veho vehis vehü eben so wenig herleiten kann als honä-
von ftofiS- btm^. Wenn Brugman S. 30 bemerkt :»di^
formelle Verschiedenheit zwischen der 1. Sg. Gonj. tfderö
erö und der 1. Sg. Goi^. feram hat ihren Grund darin, dass
dort e, 0, hier a der Moduscharakter istc, so vermag ich
keine Spur von Gausalnexus zu erkennen, man müsste denn
beweisen, dass im Latem Ihn und a nicht am Schlüsse stehen
durfm. Im Griechischen, das von der ersten Art nur einige
homerische G(M]j. wie Ib/iicv ß^op^ev -^ofMP des Aor. erhalten,
bei der anderen d indicativischem « und o zu ^ und « assi-
milirt hat, kann man als Rest jenes Unterschiedes die Aorist-
formen äydYi^fu Tt;xc0^ stn^/M uvßivmfu tdm^i betrachten,
die ja^äni rateprechend (h bewahrt haben, weil kein m im
IndicaUv gegenüber stand {i^iXmfn verdankt sein gn etwa
seinem aoristischen Begriff, der in der Odyssee-Phrase sich
zeigt: oJx ^^sXs dtog *OdviS(f$vc »konnte sich nicht ent-
Bchließenc, p^d" I&9JU »unternimm nicht, erdreiste dich nichtc),
im Gegensatze zu £0^ =» lat. erö 9ij(» (^eim) ß^m (ßeim) u, s. w.^
denen als »starkenc Formen mi nicht zukam. Woher seilten
auch jene Aoriste ihr mi entlehnt haben? es muss ihnen
eigentümlich zugehören. Freilich die Verschiedenheit der
Endungen sskrt ni lat m griech. fu g^enüber dem einheit-
lichen a ö <» weiß ich auch nicht zu erklären; die Identität
von lat. veham mit allslav. vegq (Indic.) hilft nicht weiter
(vergl. (ras)(m = (ryh)q).
Die Theorie der Abschleifong im Indogerm. u. Ugrischen. 315
Wenn ved. hr^ßM tantdii fnmhi grrmffn*) class. sans*
kritischem krnu kmu ^mu »mache d^ne faörec entspricht,
so mangelt allerdings hi dhi; ob aber diese tf-Formen nicht
eben so ursprünglich sind als hharay ist nicht ausgemacht,
und sollte auch ein Abfall vorliegen, so hat doch logische
Genügsamkeit nichts damit zu tun, wie die Regel der späteren
Sprache zeigt, dass hi ias consonantisch endenden Wurzeln
zukomme^
Zwei Fälle, in denen den Lautgesetzen zum Trotz Äb«^
fall der Personalendung behauptet wird, bietet das Lateinische:
^e = erunt im Perfect und re =^ ris der 2. Fers. Sing.
Med. Pass. Bei der ersten Form weiß sich auch Brugman
in den morpholog. Untersuch, n S. 28 nidit zu helfen; denn
der Ausdruck »abgeschliffene Endung« kann doch nicht als
Erklärung gelten. Zwei Dinge stehen gerade nach der heutigen
Lautlehre fest: 1) nt kann weder abgefallen noch abgeschliffen
sein, weil es sich sonst in allen Zeiten und Modi behauptet
hat, mag es auch in d^ Volkssprache schwach getönt haben,
wie das pisaurensische dedro und die Messung beweist
Adelphi 900 studgnt fAeere (andere Stellen gibt Spengel in
seiner Andria-Ausgabe XXV). 2) Der Vocal e ist nicht aus
u geschwächt oder herabgesunken, wie auch iste ipse nicht
aus istu8 ipsns entstanden ist; auch kann re == se zufolge
1) nicht sent (^=^ b^) darstellen.*'*') Somit muss man es
nicht mit einer Form des mrbi finiH, sondern, so paradox
es scheint, des verbi i9^iH in Verbindung bringen. Dieses
€re scheint mir innerhalb des Perfectes dem historischen
Infinitiv innerhalb des Präsens nachgebildet etwa nach der
Proportion***) scribgre : soribftt == serip^re : Mripsüt. Man
vergesse nämlich nicht, dass sowohl der historische Infinitiv
als das perfectische 9re schon im ältesten Latein üblich sind,
*) Ueberall -dhi naeli Graßmanns Wörterbuch.
**) Eine Anknüpfung an die mit r anfangenden Endungen der ari-
dcben Sprachen wird niemand versuchen, ebensowenig als Benfey in
seiner einschlägigen Abhandlung das lat. re erwähnt.
*^) M flglicberweise auch 9cnbmU : tteribere ^ ^^riptermi : «ertp-
316 Franz Mistel!,
dass der erstere bei Terenz sogar eine Lieblingswendung ist
(vergl. Spengel zur Andria 62) und gerade mit Formen des
verbi finUi gern gemischt wird (vergl. Dziatzko zu Phormio 92).
Es ließe also sich wohl denken, wie man eine so bequeme
endungslose und doch nachdräckliche und lebendige Form
auch im Perfect zu besitzen'*') wünschte, die dann freilich
wegen der Nachbarschaft von -nmt auf die 3. Fers. Flur,
sich einschränkte, während im Fräsens keine Form dem
Infinitiv lautlich so nahe lag, um ihn an sich zu reifien.
Ist es wirklich so ganz grundlos, wenn Bre »der gehobenen
gesteigerten aufgeregten Rede«, erunt »der ruhigen Rede«
zugeteilt wurde (sieh Euhners ausfuhrliche Gramm, der lat
Sprache I Bd. S. 438 Anm.), was ganz zu der Schilderung
stimmt, die Kühner Bd. II S. 103 vom historischen Infinitiv
entwirft? Auch passt dazu, wenn nach Neues Formenlehre
der lateinischen Sprache Bd. II' S. 391 bei Cäsar »beinahe
überall« erunt, bei Sallust »gewöhnlich« ere sich findet, wenn
nach Kühner -erunt als die rein classische Form der Prosa
anzusehen ist, während ere »mehr der Volkssprache an-
gehört«. — Im Passiv sind ris und rezwei besondere Formen,
die letztere dem Imperativ eigentümlich, welche sich genau
wie scribis und scribe zu einander verhalten. Wertvoll war
diese Unterscheidung nur bei den Deponentien, bei denen
daher Cicero im Indic Praes. ris »weit häufiger« verwendet:
arhitraris recordaris criminaris u. s. w., obwohl er sonst für
re eine bemerkenswerte Vorliebe hegt (sieh Kühner Bd. I
S. 441). Der formell mögliche Imperativ wurde bei Passiven
so selten verwendet als unser »werde geliebt«, so dass re
ohne Schaden im Indic. Praes. eintreten konnte, um von da
aus auch in den andern Zeiten und Modi Doppelformen zu
erzeugen. Unentschieden bleibe es, ob -re nicht -ri sei,
2. Sing. Act., vertere = *verte9i sskrt. vartasi, die bloß
wegen ihres lautgesetzlichen r zum Passiv geschlagen und
zwar der Proportion -ris ; -re = is ; -e zu lieb als Imperativ
*) Der Infinitiv Perf. lied sich wegen seiner relativen Natur, wo-
nach er Vorzeitigkeit bezeichnet, nicht absolut verwenden.
Die Theorie der Abschleifüng im ladogerm. u. Ugrischen. 317
verwendet wurde. Verstümmelung von ris zare anzunehmen
hindert der Umstand, dass schon bei Plautus und Terenz
die kürzere Form weitaus die geläufigere ist; man vergl.
Briz zu mU. glor. 505. 554 und Dziatzko zu den Ädelphi 181,
was eher alten Doppelformen gleich sieht. Will man poHs
pote magis möge geltend machen, so kann das erstere ganz
wohl ein Adjectiv wie levis Uve sein, das in diesen zwei
Formen sich krystallisirte, die deswegen für alle Geschlechter
und Casus dienen, für den Accus. Sing, beispielsweise
Menächmi 632 (625): (Mnculim ie istdee flagäia fdeere
cmsebäs potis mit Bem. von Brix. Dazu mag die Zusammen-
setzung und Verschmelzung mit esse (zunächst in pate est =»
patesl) das meiste beigetragen haben, die den Genetiv Dativ
und Ablativ von vornherein ausschloss und endlich auch die
Mehrzahl und den Accus, der Einzahl nicht mehr zuließ;
das hat alles seine Analogien am zusammengesetzten Futur
des Sanskrit: dnütaemas »wir werden*) sehen.c Mit magis
mage, wenn man es der Einwirkung von patis pate entziehen
will, ist es nicht schwer, auch ohne Abstumpfung zurecht
zu kommen , z. B. nach Mahlow »die langen Vocale a e 0€
S. 45 u. Auch ve von ^ve nSve ist nicht nach Corssen so*
viel als sms n^vJs, sondern mit sskrt. va zu vergleichen, wie
denn swe und jadwa im Gebrauche zusammenstimmen. Die
Lautverbindung is bleibt am Ende lateinischer Wörter. —
Das Passivzeichen r scheint abgefallen im Infinitiv kwdari regi,
den man meist als Verstümmelung von laudarier regier tassL
Nun macht allerdings schliefiendes r hie und da keine
Position, so in den Versanfängen des Phormio 50 pugr eaüsa
342 pri6r bibds 609 patSr vi^^, wenn man nicht etwa ein-
silbiges puer prior pai/r vorzieht. Dennoch beharrt r sonst
am Ende,^so da^ sein Schwinden im passiven Infinitiv auf-
fallend genug wäre. Zudem ist gar nicht ausgemacht, dass
*) Wie pUi» ohne mm, so erscheint auch jenes Participialfutor
ohne OS z. B. Nala S4, 43 (BflhU.) aham wAtm . . . dfokta »ich werde
den Nala sehent, während jmUL in f<r. 139 (BOhU.) der QaikwiAfAä: neiä
iamLS laoa s omlpam upaiiiaii bloßes ParÜcip ist : »um (dich ins Harem)
ra führen, wird eine Person zu dir kommen.c
3i8 ^«nz Miste»,
die f^-Form an Alter die andere fibertrifft» weil auch die
f-Form sich schon in den ältesten Denkmäiem findet; sieh
Raph. Kuhners Ausfahrt. Gramm, der lat. Spr. Bd. I (1877)
S. 450 Anm. 2. »Das Vorkommen der kfirzeren Form (paocui)
statt der volleren paearier berechtigt nidit zu ehronologtschen
SchlQssenc sagt auch Jordan im Hermes XVI S. 247. Btt
den Komikern freilich erscheint ier, wie der Goi^unctiv dkm
paB$iem, der Optativ dmU petduint, die vollen n9vmm
pugnawfto audivero u. s. w. und andere Allerlämlichkeften
nur am Ende jambisch auslautender Verse oder Halbverse;
sieh Dziat2ko zu Adelphi 106, Spengel zu Andria 2(fö, Bris
sm tnil. glor. 328 Anbang. Aber das könnte eben so gut
auf eine nicht durchdringende Neubildung weiden,
wie denn lauitirier wirklich den Eindruck einer Hisichaog
von lafufori und lauäarg mit angehängtem r macht. W^
derselbe Jordan im Hermes XV & 17 aber ffoavus und
ikMmts, noölvue und nocuus urteilt, gilt audi für vma&t^ In-
finitive: »Dass die schwereren Formen aus der classischea
Spraehe früher verschwinden, beweist nicht, dass sie die
älteren sind.« Endlich sind die i-Fcntnen auch sonst ver-
8tin(Utch, wie sich unten zeigen wird, und bedürfen der
AnnaiBile dner Verstümmelung aus ier gar nicht.*)
In den bisherigen Fällen überbot die längere F<mn die
kürzere um eine Silbe, ohne deswegen die volle Fcurm za
sein; in den folgenden Fällen liegt der Unterschied bloß in
der Quantität des Vocals; denn »dne der allgemeinsten fi>
scheinungen unter den Lautveränderungen der Spraehe ist
die Kürzung lang^ Vocale, weil durchweg ein großer TeU
der Laut Veränderungen Ausfiiuss der Neigung idt, die Laute
abzunutzen und so Zeit und Kraft m sparen. Finden whr
ja dodi in unsere heutigen Aussprache beliebig vi^ Ueber^
gailgsf&lle der Art, dass man einen und denselben Voed
hier lang dort kurz spricht, ja sogar m derselben Oegend
bald lang bald kurz, z. B und richtig folgert Ignaz Eisch,
*) Dass in F&llen wie »dem Kinde »den FQnl« nieht -e -eti «Jige«
fkllen sind, sendeiu die Form des Nom. Sieg, sidi amgtlir^tet iHii»
liegt auf der Hand.
Die Theorie der Abschleifuiig im Ihdogerm. u. Ugrischen. 319
wenn er sagt: Dass einst das lange e einen ausgebreiteteren
Gebrauch hatte als gegenwärtig, zeigt schon der Umstandi
dass unser Volk in den kirchlichen Gebeten noch heute so
spricht: Ujiym (es werde) dein Wille, unser tagliches l^rod
gib nekimk (uns) heute, der Herr sei väed (mit dir), legyen
nekem (es werde mir) nach deinem Worte u. s. w., während
es in der gewöhnlichen Rede bei diesen Wörtern nie ge-
dehntes e verwendete (Simonyi lieber das Lesen der alten
Sprachdenkmäler S. 10). Hier konnte die Theorie der Ur*
sprünglichkeit längerer oder gedehnter Formen sich darauf
berufen, dass die langvocaligen Formen auch in den altem
Sprachdenkmälern entweder allein oder unter Bedingungen
vorkommen, bei denen die heutige Aussprache die Kurze er-
fordert, und zwar sowohl in der Wurzel als in den Suffixen
der Wortableitung und Flexion. Daraus ließ sidi der Schhiss
ziehen, dass auch sonsit, wo die heutige Sprache Lange und
Kärze einander gegenüber stellt, die erstere für das ältere
zu halten sei Beispiele in Wurzelsilben: aaggya » aäga &=»
oiia »er gibt (gebe) es«, aädi » aid (aäjad) »gib es«,
meg^hoM »er stirbt«, leemdc » Usewk »sie werden«, eemnA »
esMeifc »sie essen«; leelMk kelkewnk » lükök Ulkünk »ihre
(Pior.) Sed<^, unsere Seele«, läA »Seele«, Stamm lUke^ iu>
spränglich JäK^; haat »sechs« >» hat; dann auch: hie »Hand«
Aocus* heg04i Biamm urspr. keßfe-^ wie mee »Honig« Accus.
M^te^, Stamm mAfa- (Simonyi Ueber das Lesen u. s. w. S. 11;
Tanuhnänyok I S, 17). Meist steht der Länge audi ein
etymologi£^er Grund zur Seite; so ent^richt dem magjar.
ad »gibt« finn. antoh annc^, wie hid »^ weifi« finn. teilte*
imm-, und <fie altem Handschriften bieten auch add, das
wie aad tibd ad auf and hinweist; zum aa von haal »stirbt«
stimmt der lange Vocal von finn. kmie-; leesM eems könnte
aus Uv-^ ev-^ Entstanden sein, wenn man levA »ich wurde«
ev&c »er aß« veigleicU; haai »sechs« passt zu finn. Ä^mife-
hmtäe- u* s. w. Beispiele in Ableitungssilben: Die
Gaussativ* und PasstvsUbe at (et) tat (iet) tritt auch mit
oft (es) auf: Utotteemmk ^t^iatöe^Ut'je^ »sie ^m£> magen
'(je) veittanden (kam) werden (tet)<^ iartogtaat »er hält an«
320 ^nz Misteli,
(Tanulm. S. 26), womit sich finn« ebenfalls caassatives und
passives att (ett) vergleichen lässt : ku^jeUaa »gehen machenc
von ktdkea »gehenc, lähdeUää von lähteä »gehenc, anneUi(h)in
»es wurde gegebene, tunnetti(h)in »es wurde gewusstc
u. s. w. haat (-heetj, auch -hM (-hett) »könnenc, in der
heutigen Sprache nicht mehr als eigenes Verb verwendet,
Zusammensetzungen mit Präpositionen ausgenommen, sondern
nur noch andern Verben nachgesetzt: ad-hai-ok »ich kann
geben € ver-Jiet-ek »ich kann schlagen« (hatalom »Macht«)
wird tanulm. S. 6, 8 besprochen und mit estnisch jaksa
»können vermögen« verglichen. — Idsseebh »kleiner« 5ee& =s
szehb »schöner« mit dem ursprunglich nib lautenden und so
im Finn. erhaltenen GomparativsufBx (tanulm. S. 28) ; nemteäk
BS nemeet »Geschlecht Nation« und ähnliche Bildungen, wohl
nach Budenz «=: nemMett =» nemeäv, wie aus kingatv heute
kinfsäs »Qual Pein«, üdetv heute üidözSs »Verfolgung«, kegdäv
»Anfang« zu schließen ist (tanulm. S. 27). Beispiele .in
Flexionssilben: -neek (-fMok) = -nek (-nah) »hin . . . zu«,
-veel -(vaal) »mit« = vd (val), nur noch mit den Possessiv-
sufSxen n&em »zu mir« n4ked »zu dir« v4lem »mit mir«
väed »mit dir« erhalten; eben so -been (-baan) =. -ien (-ban)
»in«, dem jedenfalls der Stamm bde- »Gedärm Eingeweide«
eigentl. »Inneres« vergL belsö »Inneres« zu Grunde liegt.
Dazu kommen viele Beispiele mit langem Schlussvocale
gegenüber der heutigen Kürze: a) feketee »schwarz« = fekete^
das ts erst in den andern Casus zeigt: feketä Accxis. feketA
Nom. Plur.; die Kurze der Endsilbe im Nom. Sing, ist erst
nachträglich eingetreten und die obliquen Casus zeigen den
wahren Stamm, was man auch für hefe »Bärste« Accus.
hefit, mese »Fabel« Accus, mesit, csata »Schlacht« Accus.
esatdt, fa »Baum« Accus. f6t u. s. w. annehmen muss. b) die
Possessivsuffixe a ja e je »sein ihr (Sing.)« lang: Idhee »sein
Geist« keeee »seine Hand« nevee »sdn Name», deren ^, im
Nom. Sing, gekürzt, im Accus, sichtbar wird: lelk^ keßä
nevä; ebenso eUenee »gegen ihn« bennee »in ihm« t^Jee »mit
ihm« eigentl. »sein g^fen (eUen) innen (bmn) mit (vel)€, die
heute nur mit Kürzung auslauten, c) Die 8. Pers. Einz. Ühe
Die Theorie der Abschkifahg im tfidogel-tti. u. ügrischen. 3S1
»er safi« fddee »er antwortete« maradaa »er blieb«, men-4iee
»er wärde gehen« lennee »er wärde sein« aUanaa »er würde
stehen« in Harmonie mit den 2. Pers. ülil »du safiest«
maraddl »du bliebst«, $nennä »du wurdest gehen« cdlandl
»du ständest«, aber im Gegensatz zum heutigen täe marada
u. s. w. Andere Fälle sehe man bei Simonyi Ueber das
Lesen u. s. w. S. 12 flg. nach. Auch ohne Vocaldoppelung
erhellt für »die Leichenrede« Länge des a daraus, dass es
nicht in o übergeht: vola »er war« = vala eig. vala, ouga
s= cugtfa «= cigya = oldrja heute cHd^a »er löst (löse) es«,
oäuMa = *adaUa heute adta »er gab es« {adott »hat gegeben«).
Alle diese Schlüsse scheinen sicher und der allgemeine Grund-
satz unantastbar: wo zwei Vocale ungleicher Quanti-
tät im selben Formensysteme sich zusammen-
finden, da hat der längere das Präjudiz der Ur-
sprünglichkeit für sich — insoweit diese Vocalver^
doppelungen wirklich grammatischer und nicht etwa bloß
orthographischer Natur sind, wie ihr inconsequentes Vor-
kommen vermuten ließe.
Man ist aber weiter gegai^n und bat den methodischen
Satz aufgestellt, »dass Bildungs- Elemente (k^gök) in jedem
auch ohne besonderes Zeichen versehenen Vocale stecken
(regllenek)y wenn er stehen bleibt d. h. nicht vor der Bildungs-
oder Flexionssilbe verschwindet« (tamlfn. S. 24), dass somit
die bloße Existenz kurzer Vocale ausserhalb der Wurzelsilbe
ihre einstige Länge*) erweise. Schreibweisen wie nepeem
(n^pem) »mein Volk«, erteem (Mem) »meinet (nn^ wegen«
oder »ich (m) verstehe (M-) es«, laüaak (IdÜak) »ich sehe
dich (euch)«, utannaad (utdnad) »nach dir« tygtiUyeed
(iisgtefjed) »du ehrst (ehre) ihn (sie)«, vdeetbk (veUtok) »mit
euch (foniilm. S. 29) erklärt man durch das Element n,
welches sich oben in den Präsentien wie Useen »wird« ge-
zeigt hat, im -^/uxk -nek der 3. Plur. enthalten ist, und in
*) »Diese unsere Meinung wird durch das Stehenbleiben des Vocals
des Pluralsuffixes besUtigt, weil dieser Umstond, wie wir schon oft
sahen« wo es sich um Lftnge handelt, von Bedeutung istc; ein conso«
nautisches Element mOsse eingeschmolzen (beolvadi) sein (toniiim. S. 29)^
tu tVanz Itisieli,
der Conjugation der verwanten Sprachen eine grofie Rolle
spielt; finn. -rnme 4te der 1. und 2. Pers. Phir. scheinen
auf -^nme -fUe zorückniweisen ; vei^l. Anm. S. 311 und die
Possessivsilbe der 2. Plur. -nne. Ffir das Ungarische ist
aber i^-cn -m) lediglieh Zeichen der 3. Person und nie be-
deutet les$en »wirst« wie Usg »wirst« und »wird« ; wie man
gar dem nmi (-^nk) der 1. Flur, dasselbe Element -^ zu*
schreiben kann, während doch -mmä:*) der »Leichenrede«
deutlich die Entstehung aus m zeigt, bereift man kaum)
endlich ist der Ausfall resp. Assimilation Ton n vor so ver-
schiedenen Gonsonanten wie m k d t, wodurch die lange
Silbe entstände, höchst unwahrscheinlich, wenn man es auch
vor d (wegen ad »gibt« Utd »weiß« sieh oben) einräumen
muss. Auch vor dem Aecusativzeiohen t, behauptet Budenz,
sei das wahre Charakteristicum dieses Casus, nämUch m,
ausgefallen, teils weil einfaches auslautendes t sonst zu 2
werde, teils wegen Schreibweisen wie testeet (=^ testet »den
Leib« feldeet (^ ßldet) »die Erde« utaat (= utat) »den
Weg« u. s. w. (Simonyi üeber das Lesen u. s. w. S. 26 ob.,
tanuim. S. 31.) In Längungen wie üneeh (^ ünek) »sie
leben«, lesmeek (=^ Usmek) »sie werden«, irtaäk (^=^ irtak)
»sie haben geschrieben«, nyerteek (^= nyerteh) »sie haben
erreicht«, oder hoUaak »die Toten«, MWfeek (^=^ tfsm^} »die
Jungfrauen«, dölgoiA »die Sachen« u. s. w., Nominative Plur.,
soll etwa das ugrische Dualzeichen j g mitspielen (tantilm.
S. 38 und 30). Diese Deutungen gründen sich auf die Vor-
stellung, dass jede Gonsooantengruppe sich gdegentäcb
aasimiliren od^ Ersatzdehnung (pdüö-njftlijtds) hinterlassen
k^Vie**), dass insbescmdere der Ausfall von Liquiden und
Nasalen vor andern Gonsonanten Regel sei (toiii«Afi. S. 16),
Bezeichnend ist hiebei der typische Ausdruck ie-6tvadda be^
*> Voffmuo (^ ffogyfnuk): heute va^srual; »wir sind« ^ iiemueut
(s= isemüküt): heute öaütikd »unsern Stamm vater.c
^) Ebenso im Prakrit, wo Vocallänge vor Doppeleoosonanz nicht
Torkommt; daher a^a sskrt ätya und aäju, appä sskrt. tüpa und
atima, an^nifM sskrt ajM und aaijä, patMk sskrt. patram und prapiam^
eaühom sskrt. ^aetram und ifleiram u. s. w.
Die Theorie der Abscbteifmig im Ihdogerm. u. Ügrischen. §2^
^fjodm »Hineinschm^Izen« des CkHismaiiten in den Voeal,
ikr den andern nachiieht: es berge sich (reß^, lappang)
in den VocaULängen dieses oder jenes eonsonantische Ele*
mimt Diese bildlichen Ausdräcke, wie sie Pott geläufig sind
auch noch in seinem neusten Aufsatz im 26. Bde von Kuhns
Zlschr., zeigen nicht nur den Mangel genauer Lautgesetze
an, sondern gleichzeitig die Neigung, die rationelle KMung
der Formen nachzuweisen, beides Eigentümlichkeit der ftHern
indogermanischen Forscher. So hUt es denn auch nicht
9ehwer, die meisten Längen und die damit zusammenhangen-
den Cmisonanten- Doppelungen (imuI-* und adä- »gd^en«),
wenn nur guter Wille dazu kommt, zu ^kl&ren, und es ist
ein nichts weniger als zureichender Grund für die Richtigkeit
der eiBzelnen Längen, »dass auch kein einaigeff Beispiel auf*
taucht, wo consonantische [oder vocalisc^] Länge sieh als
Unmöglichkeit erwiese^ und kaum ein oder zwei, welche wir
nicht auf Grund der verwanten SprachM, bei dem heutigen
Standpunkte unserer Forschungen, zu deuten Termdehten«
{tamäm. S. 1). Derselbe, der diesen Ausspruch tut, sieht
ach doch S. 4 genötigt, »wahrscheinlich aus Irrtum« doppelt
geschriebene Gonsonanten anzimehmen (zweimaliges häüok
nUh sterbe« » haloh »=> bahk findet im langen Wurzel-
vocale der ¥erwanten Sprachen nach S. 93 Rechtfertigung,
während es als »ich höre« aus hadhk assimilirt ist) und
S. 15 Schreibungen mit U au&uzählen, »denen wir durchaus
keinen etymologisoben Grund unterlegen können.«
Ganz so verfährt auch Corssen in den Fällen, wo die
äUere lateinische Litteratnr und nach ihrem Vorbilde auch
die classische Dichtung Längen an der Stelle der Kurzen
verwendet, und es ist gewiss im allgemeinen richtig, solche
Längen nicht der Willkür der Dichter oder dem Zufelle,
sondern wirklicher Aussprache zuzuschreiben, wenn sie erstens
ganz sicher verbürgt shid, sei es metrisch sei es inschriftlioh^
»wenn sie zweitens aus sprachllchai Granden einmal lang
gewesen sein können« (lieber Aussprache u. s. w. n^ S.447),
oder, wie er S. 499 äußert, »eine bqi den altlateinischeo
Dichtern lang gemessene Silbe erklärt man aim bosken» wenn
§j(4 ^TAtA Mistell,
man den sprachlichen Nachweis führt, dass sie einmal' lang
gesprochen isU. In der Tat : so sicher sich aus dem ungar.
Accus. Sing, kefä csatdt auf den alten Nom. Sing, krfi csata,
heute krfe »Bürste« csata »Schlacht«, schließen lässt, ebenso
sicher kann man aus dem ö von damSrem den Ennianischen
Nominativ damör als urlateinisch erweisen, ebenso aus
langii^em das hngUhr des Plautus, ja auch exemplar vectigal
w^en des a in den übrigen Casus postuliren, wenn es un-
möglich wäre sie aufzufinden. Beim Verbum gleicht der
Schluss Ton addl »du gabst« auf ada »er gab«, heute ada,
von adndl »du gäbest« auf odita »er gäbe«, heute aäna^ ganz
dem von lat. dabas auf dabai, von darSs auf darit; beide
sind gleich zwingend, und alte Schreibweisen sowie Ver»-
messungen kommen bestätigend zu Hülfe. Auf beiden Ge-
bieten lieh eine schlaffe Lautlehre und die Ungewissheit über
die Formen der (ugrischen und indogermanischen) Ursprache
so ziemlich allen Längen den Schein der Rechtfertigung.
Ja, die RitschPsche Schule war nahe daran, gleichfalls den
Satz aufzustellen, alle kurzen Endsilben des Lateinischen
wären früher einmal lang gewesen; wer wie Wagner*) das
nominativische us der 2. Declination, oder wie Fleckeisen tis
der 2. Pers. Flur, als ursprünglich lang ausgeben konnte
(Gorssen lieber Aussprache u. s. w. 11^ S. 497 Anm., S. 506),
der ist doch gewiss von jenem allgemeinen Satze nicht mehr
weit entfernt. So hat denn auch Gorssen diese metrischen
Längen, wo es nur anging, als ursprünglich und berechtigt
darzustellen gesucht, noch im besondem durch seinen vagen
Begriff von Vocalsteigerung unterstützt, der von Vocallänge
sich kaum unterschied; ihm folgt Raph. Kühner in seiner
Ausführlichen Grammatik der lateinischen Sprache (Bd. 1 1877)
S. 62 flg. fast durchweg.
Gorssen setzt für die 2. und 3. Fers. Sing, der 3. Gon-
jug. '18 "it an, indem er sie mit griech. -stg -e» verknüpft
und als »gesteigert« ansieht (Bd. I S. 599 flg., Bd. II S. 492
*) Man erwäge die vielen Altertumlichkeiten, die Wilh. Wagner
S. 18 seiner Hautontimorumenos-Ausgabe (1872) noch bei Terenz, frei*
lieh nach den metrischen Grundsätzen Ritschb, bewahrt glaubt«
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ügrischen. 325
und 498), Darfiber viele Worte zu verlieren lohnt sich heut
zu Tage nicht der Mühe und schon damals konnte des
Ennius quocum mutta volup ac gaudia damque palamque
(Annal. 247) gegen ein altertumliches U in mtdta foro panü
et agoea longa repletur (Annal. 484) gegründete Bedenken
erregen ; ebenso V. 90 ^ exspectäbat poptdüs atque ara tenebat
gegen U von V. 346 sensit voce sua niäit tdulatque Hn acute.
Für -i$ führt Corssen S. 498 nur Belege neuerer Dichter an;
aber z. B. auch der Vers 694 aus Terenz Hautontim. Loquere,
audio. M jam hoc ndn agis. Agdm. Vidindum^st inquam
wird aufgewogen durch den bald folgenden 699 At enim
istoc nil est mägis Syri meis nüptiis advdrsum, beides an der
bekannten Cäsurstelle. PonÜ steht mit vcltipf nidü mit
populüs, agis mit SyrS auf einer Linie. Auch er%s erit
(Trinumm. 971, Capt. 206), früher aus *esjis *esjit erklärt,
bedarf heute keiner Widerlegung mehr. — Dasselbe gilt vom
angeblichen "iüs der Comparative und von büs des Dat.
Ablat. Plur. Der bekannte Vers 327 der Menächmi proin
tu ne quo dbeas Idngiüs ab dedibus findet seine Parallele in
V. 11 der Gaptivi negdt hercU ttlic tUtumüs, accSdito und
einigermaßen in 957 der Andria proviso quid agat Pdmphüüs
atque kcum . . . Eben so wenig beweist V. 846 der Men.
prius quam türbarum quid fdciat dmpliüs» Hern jam reor
(Ritschl für überliefertes enim ereo) oder Adelphi 521 ita
ftat et Hstoc stquid pötis est rMiüs. Ita, nam hünc diem,
schon wegen des Personenwechsels; zudem setzt Oxytonirung
daktylischer Wörter nicht gleich Länge der Schlusssilbe
voraus, worüber Brix in einer langen Anmerkung zum mil«
glor. y. 27 sich auslässt; sieh auch Brugman in Kuhns Ztschr.
Bd. 24 S. 56 Anm. Lateinisches iOSj mit sskrt. ^a$ und
altslav. 'je(s) stimmend, wurde nie vom Nasale der ohnehin
bestrittenen Grundform -Ums afficirt, um lang zu werden,
und griech. $ov ist wohl jetzt allgemein als Neubildung an«
erkannt. — Die Endung bUs mit Corssen Bd. II S. 498 wie
bis von vobls nöbls gemeinschaftlich aus sskrt. bhjas herzu-
leiten und ihm deswegen die Länge zuzuteilen, geht jetzt
nicht mehr an. Men. 842 üt ego iUic oculos exuram Umpor
ZeitBohr. Ar Völknpsych. und Sprachw. Bd. igv. 9. 3S
326 Franx Mistdi,
dibüs ardMibus kann man lampadl$ schreiben; denn Corssens
Idmpaäfbus ist barbarisch betont und empfangt durch das
gleich unerhörte vaiidus von V. 877 nur eine zweifelhafte
Stütze. — Dag^ien ist eine Grundform -inOs der 1. Pers.
Plur. an sich nicht zu verwerfen, weil als indogermanische
Grundform matns*) mans schon vorgeschlagen wurde und
altslav. -mS ja jedenfalls unter mus mum mun mam tnon die
Wahl lässt. Nur begriffe man eben die vereinzelte Kürzung
dieses -mfis nicht. — Bei den Infinitiven wie äioerS quaererS
u. 8. w. steht die Kürzung innerhalb der historischen
Zeiten des Lateinischen gar nicht fest; vielmehr hätte sie
schon vorher stattgefunden. »Die Annahme der Länge für
Schlusssilben wie in insuper JuppUer scilicel dicere (ledibus
iurpiter ed. ist ganz willkürlich«. i^PHhnerS bildet keinen
Greticus an sich, da die Länge dieser Infinitivendung sicher-
lich der vorplautinischen Zeit angehört; die starke Sinnes-
pause hat, wie es scheint, hier die syUaba anceps zu ver-
antworten« Brix zu V. 27 und 848 des mil. glor. Damit ist
Dziatzko zu den Adelphi (1881) V. 34G pro vtrginS dari ein-
verstanden: »Eine solche Betonung daktylischer Wörter ist
zwar nicht häufig, aber gesichert« im Gegensatz zu Spengels
Ausgabe (1879). Nun bedarf man aber jener vorplautinischen
Kürzung gar nicht, die doch nur auf der beliebten Gleichung
fivdse =Ä t^vere cardse = eolere (*gueUse) u. s. w. beruht;
warum sollte tfvere cctere nicht Locativ *tflve$i *g[uele$i
sein können, dessen Schluss-¥ sich regelrecht zu g vergröberte?
Vergl. lat. rurg = zend. *rava!hi von ravanh- »freier Raum,
Weite«. Dann sind die entsprechenden rf-Infinitive Dative
(^ "SS), und ebenso fällt afi mit ved. d^e, dM mit dtge von
der (Quantität der Wurzel abgesehen, posdP (für porsci) mit
pfche, jungl mit ju^6 von der Nasalirung abgesehen, ver^
(für vorgi) mit vr^e, vertl (für vortl) mit rrfe zusammen.
Anschluss an die Präsensbildung zeigt auch ved. r^^jdse
*) Benfey setzt in der Schrift >Ueber einige Pluralbildungen des
indogermanischen Verbumc (1867) S. 18 als Grundform manU an, aus*
gebend von der Jetzt nicht mehr haltbaren Gleichung: sskrt -im s
griech. »fftf» •orr».
Die Theorie der Abschleifting im Indogerm. tu ügrisehen« 327
vrA^dse, die sich za den Locativen regerS vergeri ähnlich
verhalten wie junfi zu jts^& Activer oder passiver Sinn
entschied sich ursprünglich nur nach dem Zusammenhange;
an sich liegt im Locativ der os-Bildung: agere =» sskrt.
'^a^iisi das Active ebensowenig ausgedrfickt als das Passive
im Dative der Wurzel-Bildung: ogNT =3 ved. a^e; auch laudarS
und laudaH, därg und darf sind nur verschiedene Casus
derselben Bildung,*) und dass Locativ und Dativ neben ein-
einander herlaufen können, bewies oben döf^sv und d6fAsva$
des Griechischen. — Beim Ablativ Einz. der 3. Decl. muss
man f nicht als Kürzung von ^ f ei betrachten, wie Gorssen
Bd. n^ S. 462 und nach ihm Raph. Kühner in der ausführl.
Gramm. Bd. I S. 64 annhnmt; pairB nomine des Plautus
kürzte sich nicht zu patrgnamin^^ sondern, weil es nicht auf
die Schreibung mit ^ ei i ankommt, die bekanntlich in den
italischen Dialekten überhaupt sehr schwankt, ist der Grund-
satz festzuhalten, dass der lange Vocal ursprünglich den
{-Stammen, der kurze den consonantischen gehört. PatrS
naming hat mit patrg namins gerade so wenig zu schaffen
als der Ablativ marg der alten Sprache mit gewöhnlichem
marf, als ignS mit ignJ, als äbsentg mit cAsenti. Daher heißt
es auch bei Bücheier- Havet PrMs de la didinaison latine
§ 246 mit Recht, ati setze altes a^, avg altes avid, richtiger
aviä, voraus. Dieser Unterschied der t-Stämme und der
consonantischen in fd eid Sd und üd muss trotz allen
Schwankungen doch schon im ältesten Latein bestanden sein;
denn wie könnte aus gemeinschaftlichem ?d etd id gerade
patre matre, juvene cane, majore priore u. s. w. sich nieder-
geschlagen und die verlorne Scheidung gerettet haben? Und
zwar hat sich d lautgesetzlich nach langen Vocalen fad öd
fd ^d eid ud) verflüchtigt, was dann seinen Fall auch in Sd
nach sich zog, das von derselben grammatischen Kategorie
eingeschlossen war; denn lautgesetzlich wäre nach kurzen
Vocalen d geblieben, wie id quid quod aliud istud, und
namentlich der Gegensatz von dB s= *ded sskrt. *adhat und
*) Des Ennios memM me fler^ patum zeigt die OleichgOltigkeit
gegen das Genus.
328 Fram Misteli,
8^ »aber« klar zeigt. Ante poste*) darf man nicht ein-
wenden; denn dass sie aus antid posUd von anüähacanfideo
anfidit postfdea, von denen antidhac und pastidea (loci) am
Versschlusse erscheinen, entstanden seien, bezweifle ich um
so mehr, als die Formen antid- postid- kaum Ablat. sind.
Antidhac durfte sich zu antehaCf postidea zu pastea verhalten
wie ideo zu eo, d» b. id das Neutrum von is sein; Urformen
auf ablativisches -id lehnte anfanglich Ritschi op. II 553
selbst ab und nahm von einander unabhängige Doppelformen
an. Postid für sich ist = post id; sieh Bergk »auslautendes
d im alten Latein« S. 89. Dass inschriftl. asted = ast sei,
hat Jordan im Hermes XVI 235 nicht so erwiesen, dass man
es als Tatsache anfuhren durfte. — BenS und male lassen
keine andere Erklärung zu, als dass sich die für jambische
Wörter und Wortformen bei den lateinischen Komikern ge-
stattete Kürzung befestigt hat, weil sie, wie das ebenfalls
einige Male von Plautus mit 8 gemessene probe, allgemeineren
Sinn als Steigerungs- Ausdrücke überhaupt anzunehmen be-
gannen. Wegen pöng supemS infemS sing, impunS sublimS;
peregrg enthalte ich mich eines Urteils, obwohl diese Wörter
die Theorie der Kürzung und Abschleifung kaum unent-
behrlich machen; wenigstens sieht Mahlow die drei letzten
als Neutra von »8-Formen an S. 122 seiner Schrift »die
langen Vocale a e o« (1879). — Dass a im Nom. Sing, der
1. Decl. des lateinischen sich gekürzt habe, galt und gilt
noch heute vielen als sicher. Die Stellen der altern Litteratur,
welche a enthalten oder zu enthalten scheinen, sammelte
Gorssen Bd. II S. 448 flg. und Kühner Ausführl. Gramm.
Bd. I S. 63. Nun zeigt das Umbrische*"**) einen beim
ersten Anblick sonderbaren Wechsel von a und o resp. u,
und Michel Br^al les täbl Eugub. S. 319 bemerkt: der
Nom. Sing, der 1. Decl. wird bald durch a bald durch u
dargestellt; neben panta muta »= qiMnta multa findet man
*) Ennius Annal. 235 poste recumbüe vesiraque pectora peUite
tonsia und Ritschis opuse. II S. 543.
**) Nom, -a kommt im osk. nur selten vor; vergl. Enderis »Versuch
einer Formenlehre der osk. Sprächet S. LVII.
Die Theorie der Abschleifung im Indogerm. u. Ugrischen. 329
vier Linien weiter unten etantu mutu = tanta mtdta. Erinnert
das nicht auffallend an das Ennianische Et densis aquüä
pinnis ohnixä voldbat (Annal. 148) mit gleichem Wechsel
von ä und ef, es mfisste denn wie oben in vdup und ponH
der bloße Ictus wirken? Sollten sich nicht osk. umbr. o und
latein. ä, dann osk. umbr. a und latein. ü entsprechen ? Aber
kann in den beiden Schwesterdialekten unmöglich aus a
»geschwächt« sein, jedenfalls auf italischem Boden nicht,
sondern die a- und die o-Form stellen eher zwei verschiedene
Casus vor und zwar die erste den Nominativ, die andere
den Vocativ, was der altslav. Nom. ryba »der Fisch« und
Voc. rybo »o Fisch« schön bestätigt, obgleich das Zusammen-
treffen im o-Laute ^= ä) zufallig ist. Dann müssen wir
auch lat. rosa als Nom., rosa als Vocativ auffassen und das
• Verschwinden der a-Form aus dem Vordringen des Vocativs,
nicht aus der Abschleifung der Vocallänge, erklären, wozu
das Zusammenfallen mit dem ablativischen a(d) das meiste
beitragen mochte. Damit geht das Neutr. Plur. Hand in
Hand: Ose. Umbr. zeigen wieder a neben o, resp. umbr. u:
veskla veshlu (=^ vascula), die sich zu einander verhalten
wie -ginta der Zehner zum gewöhnlichen neutr. a des Plur.
Beispiele anderer a, freilich nicht alle von gleichem Werte,
siehe bei Corssen Bd. II S. 460 flg. Auch hier muss man
zwei Ausgänge annehmen, ä und a, deren erster ursprung-
lich den o-Stämraen, der andere den <- u- und consonanti-
sehen Stämmen angehörte. Im Anschlüsse an Job. Schmidts
Hypothese, dass das Neutrum des Indogermanischen ur-
spränglich die Zahl gar nicht unterschieden habe, worüber
man Näheres bei Mahlow S. 72 nachsehe, ließe sich das
Neutr. Plur. Nom. Accus. Voc. unmittelbar als Sing.*) des
Fem. verstehen , was auch de Saussure S. 92 des MÄnoire
sur le Systeme primUif u. s. w. andeutet, tmd die doppelte
Endung wäre sehr begreiflich; man hätte, von auswärtigen
Analogien abgesehen, an ^ tnnog »die Reiterei«, 7 aüntg
*) Wenn der Nom. auch fflr den Aec. eintritt, so erklftrt sich das
leicht aus dem Zusammenfallen der beiden Casus im Singular des
Neutrums.
330 ^^^ Mbteli,
»Trupp Schwerbewaffneter«, f xdiAi/Xog »Trupp von Kameelen«
zu denken» Als Beweis könnte der dem Fem. und Neulr.
der ä-Stämme schon in der Ursprache identische Dual gelten:
Sskrt. kanje von katya »Mädchen« wie altslav. ryM von ryba
»Fisch«, sskrt. fote von gatam »hundert« wie altslav. süti
von 8äto »hundert«. Wenn Mahlow S. 80 slav. igo »das
Joch« weder mit jugum J^vyov gleich setzt, weil man igü er-
warten mässte, noch als Nachbildung von slovo = »Xipo^
verstehen mag, weil zwischen o- und os- (es-JSi&mmen zu
wenig Aehnlichkeit bestehe, sondern mit juga Cvyd identificirt,
80 bietet zu diesem neutralen (ig)o = (3ug)ä (tvY)ä (veskl)u
das Feminin (ryb)o = (rosjä (mutju eine schickliche Parallele,
während (ig)a Plur. = (ve$kl)a neben (ryh)a = (ros)a (mtäja
zu stellen wäre. — Von Kürzungen jambischer Worte ab-
gesehen liegen in den aufgezählten Fällen entweder gar keine^
Längen vor, weil an denselben Stellen des Verses auch ent-
schiedene Kürzen den Ictus zu tragen vermögen, oder, wo
solche vorliegen, haben sie doch mit den Kürzen nichts zu
schaffen. Die Beurteilung des einen und des andern ist
Sache der Sprachvergleichung, und wird nach dem jeweiligen
Stande der Wissenschaft verschieden ausfallen. Gorssen, mit
seinen vergleichsweise schlaffen Lautgesetzen und ohne festes
Bild der indogermanischen Urformen, zudem von der Vor-
stellung beherscht, dass das Längere auch das Aeltere sei,
sah Längen da, wo Kurzen waren, und machte jedenfalls
die letzteren von den ersteren abhängig. —
Auch die ungarischen Sprachforscher, vor der Hand
noch auf Gorssens Standpunkte, werden ihn im Laufe der
Zeit verlassen und zu einer weniger abstracten Betrachtung
gelangen. Zugestanden wird ja schon, dass die Codices in
der Bezeichnung der Vocallänge und der davon kaum zu
trennenden Gonsonanten- Doppelung gar nicht consequent
verfahren resp. sie fast eben so oft nicht bezeichnen; ferner
dass der Gravis über c*) nur dessen Qualität, das Offene,
*) Verzeichnisse von Wörtern mit h stehen bei Simonyi Ueber
Lesung n. s. w. S. 16 und in den ianukn. I S. 36/7; Wörter, welche die
dialektischen Vertreter von h enthalten, in denselben tanukn. S. 296/7;
Die Theorie der Abschleif ung im Indogerm. u. Ugrischen. 331
nicht dessen Quantität, die Länge, andeute; endlich dass im
ältesten Sprachdenkmal, in der Leichenrede, gar keine Quanti-
tätszeichen vorkommen. Sollte unter solchen Umständen die
Länge nicht auch falsch bezeichnet sein oder oft etwas anderes
als die Quantität? Das muss eindringendere Forschung nach-
weisen. Vor der Hand merke ich nur an, dass, abgesehen
von -neek -^veel (-noak "Vaal), deren Beurteilung nicht ganz
fest steht, neki nektee vüled vele der Handschriften, trotz
heutigem niki nektik vekd väe neben n&ci nMek vüed vXU
»ihm euch, mit dir mit ihm«, sehr wohl die erste Silbe kurz
besessen haben können, während meist die Aussprache als
nik" vU' bestimmt wird. Wenigstens ließe sich unter Vor-
aussetzung uralter Länge die heutige gewöhnliche Kürze nicht
begreifen, während altes niki sich gut entweder erhalten oder
in n&d wandeln kann, weil die verlängernde und ver-
dünnemde Wirkung des Accentes allseitig anerkannt ist
Naturlich wäre auch nek der Formen muganec*) fqfanec
haialnec pucidnec (heute tnaganak fajdnak hälMnak pckolnak)
der Leichenrede, ebenso vd, von kegümehd ^= kegyümehd)
S0u»wbwihd (^«=s s»ünUiukkd) heute ktgyelmiiDA ssfemetekkd
desselben Denkmales kurz. Gegen die Kürze von vd (val)
spricht auch nicht die Schreibung mit a in haialnec halaladl
hoUf (= haldlnek halaldval (meg-) hdlag) »mit dem Tode des
Todes stirbst du«, welche gewöhnlich auf Länge deutet, weil
die Grundform *halaiavol nach Einbuße des t; den Vocal
des Suffixes assimilirte. Und dass es sich hier um Meinungen,
nicht um Tatsach» handelt, zeigt der Umstand, dassSimonyi
in seiner Specialschrift über die Leichenrede (1880) mila8(jß}(b^
»in der Gnade«, paradisuniben »im Paradiese«, g(tOimil(c)sben
»in der Frucht«, kebäiben »in seinem (ihrem) Schöße«, aber
IMd »Rede Gesprftchc nthtz »schwere, heute buid mekigf eind als
beüd nekBs lu verstehen, wobei e langes offenes f , e langes geschlosse-
nes e, h offenes e im allgem. bezeichnet.
*) »Sicht (eigenU. semem Selbst), »seinem Stammec (fcyj^ »dem
Todec, »der HöUec ; »mit seiner Gnadec, »mit eurem Augec (aus BiemeUk'
vd). Die Schreibung bald mit k bald mit e hat blo0 orthographisehen
Wert
332 Franz Misteli,
jovbSn »im Guten« umschreibt, dagegen in der Grammatik
(1880) S. IV flg. gleichmäßig -bSn ansetzt , also zwischen
kurzem geschlossenem und langem offenem e hin und her-
schwankt, und das trotz handschriftlichem -5een -baan. Wie
mit niki neki »ihm« kann es sich auch mit liseek Uszek
»ich werde« ligyen legyen »er (sie es) werde« verhalten,
dass ihre 6 nicht nur nach der Qualität, sondern auch nach
der Quantität erst der Accent zu Stande gebracht hat, wie
schon Riedl S. 46 seiner Grammatik es eingesehen. Damit
wären gerade jene Beispiele beseitigt, die Ignaz Eisch (sieh
oben) als Beweis ehemaliger Länge aus dem »Vater unser«
anfahrte und zwar trotz dem Zugeständnisse, dass in der
gewöhnlichen Rede (1coeA>e8z6d'ien) bei diesen Wörtern nie
gedehntes e verwendet werde; sie scheinen bloß für die
Vorliebe etwas zu beweisen, mit der man dem Satze, die
Länge sei ursprunglicher als die Kürze, im ganzen Bereiche
der Sprache Geltung zu verschaffen sucht. Mit obigen Fällen
muss man nun freilich nicht Beispiele wie hiz »Hand« neu
»Name« lAt »sieben« ßl »Hälfte« u. s. w. vermischen, in
denen die Länge syntaktischen Wert hat und zur Gestalt
des Nominativs gehört, wie die heutigen hee niv häfü^ Accus.
Tceeel nevet hetet feiet zeigen; für das Alter dieser nominativi-
schen Länge legen Wörter wie nehfys »schwer« nehezet, egyeb
»anderer« egyebet, elSg »genug« eleget u. s. w. Zeugnis ab,
in denen die Länge der zweiten Silbe doch kaum dem Accent
der ersten sich zuschreiben ließe.'*') Somit fähren obige
Schreibweisen nebst nehez egylb eUg auf die alte Sprech«
weise: hiz nSv hit fSl, nehiz egyth eÜg und Symonyis Regel,
welche er »Ueber das Lesen« u. s. w. S. 15 aufstellt, »die-
jenigen Wörter und Wortformen, deren heutiges langes i
in einigen Fällen oder in einigen G^enden zu offenem e sich
verkürzt, oder auch: die heute langes 6 und kurzes
offenes e neben einander aufweisen, wurden einst
alle mit langem offenem & ausgesprochen«, müsste
*) Umgekehrt verwandelt sich dkdf *m\U, wie es sieh als Partikel
erhalten hat, unter dem Drucke des betonten oA- beim Verb in akar.
Die Theorie der Abschleif ung im.Indogerm. u. Ugrischen. 333
nicht diejenigen Wörter treffen, die in der Wurzelsilbe einen
ungrammatischen Wechsel von 6 und e eintreten lassen, den
der bloße Accent nachträglich verursacht haben kann; zu
ihnen gehört wohl auch leleh lühet »Seele Geist«, dessen e
der Accent im offenen Nom. zu e längte. Wenn heute im
Schrift- Ungarisch an die Stelle des langen offenen S das
lange geschlossene 6 durchweg getreten ist, so ist das die-
selbe Zuspitzung, welche ein e wieder zu f verschiebt. Da-
durch ist das h$z keeet mit gleichartigen e zum heutigen keiS
hezet mit ungleichartigen e geworden, während in Wörtern
wie m&s meeet »Honig« Uebertragung des Nominativ-e auf
die andern Casus stattgefunden hat, und zwar deutet finn.
mesi tneden auf ein altes miz meeet mit ursprunglichem ge-
schlossnem «, so wie Ann. iäsi häden mit dem offenen e des
nachgewiesenen h6z iijset harmonirt.*)
Gegenüber den schwierigen Fällen wie elneek (=z änek)
»sie leben« ddgook (=^ ddgdk) »die Sachen« u. s. w. wird
vorsichtige Beurteilung geboten sein, weil ihre ratio^ falls sie
eine solche enthalten, einen zu complicirten Apparat gram-
matischer Elemente nötig macht. Das Bedärfnis nämlich,
die ratio der Formen zu begreifen, beförderte nebst der
Theorie von Verwitterung der Laute oder von Ersparnis an
Zeit und Mühe die Neigung, in den durch Silbenzahl oder
Vocalquantität längeren Formen die ursprünglichem zu
sehen. Die kurzem keineswegs immer gekürzten Formen
stellen einer .rationellen Erkenntnis oft unüberwindliche
Hindernisse entgegen; in den längeren legen sich die Be-
standteile deutlicher und anschaulicher auseinander oder sie
gewähren wenigstens mehr Raum zum Zerlegen ; kein Wunder,
dass man längere Formen auch construirte, wo sie die
*) Oanz 80 gab es aueh ursprünglich im j on is c h e n Dial ekte zwei 9:
ein geschlossenes % artiges es t und durch B ausgedrückt, und ein
offnes a artiges « l und durch H wiedergegeben, jenes altes panhelleni-
sches 9/ dieses jüngeres spedell jouisches 9; wenigstens zeigt sich der
Unterschied noch in den Inschriften von Keos und Naxos, bis beide 9
in emem, wohl geschlossnem, ? zusammen fielen; sieh Hermes XV
»5 flg.
334 Franz Misteli,
Sprachgeschichte darzubieten nicht gefällig war, um ver-
mittelst ihrer die »zusammengeschrumpften« historischen zu
begreifen ! Huldigt man vollends der Meinung, die auf indo-
germanischem Boden verbreitet genug ist, auf ugrischem erst
recht sich festgesetzt hat, dass alle Endungen selbständige
Wörter gewesen oder aus ihnen abgestumpft wären, so hat
man alle Bedingungen bei einander, die antreiben mussten,
um die Altertämlicbkeit der Formen mit ihrer Länge ins
gleiche* Verhältnis zu setzen. So heißt es denn in den
tantdm. I 24: »Wenn man sieht, wie oft sogar in den aller*
wichtigsten Elementen der Wörter, in den Wortstämmen,
die stärksten Zusammenziehungen und deren Uebergang»-
stufe, die Form mit Ersatzdehnung (pdUö'njftytds), statt-
findet, so können wir uns leicht denken, dass für eine solche
Entwicklung sich ein noch größerer Spielraum bei den bloß
modificirenden Wortbestandteilen zweiter Ordnung öffnen
muss. Denn was sollte auch eine Bildungssilbe oder ein
SufBx anders sein, als ein Wort, das seine Selbständigkeit
eingebäßt hat, das, in seinem ursprünglichen Sinne und in
seinem Tongewicht heruntergekommen, zuerst als Zusammen«
Setzung, später als völlig untergeordneter Wortteil sich einem
Stamme anreiht und so außergewöhnlich fähig zur Zusammen-
ziehung, zum Verschwinden bis auf einen Laut, eine Laut-
schattirung geworden ist? Bildungssilben, leibhaftige Formen
bergen sich (rejlenek) in einzelnen Lautfarbungen, in hoher
oder tiefer, offener oder geschlossener Art des Lautes, in
Länge oder Kürze, ja sogar, um weiter zu gehen, in jedem
ohne besonderes Zeichen versehenen Vocale, wenn er nur
stehen bleibt, d. h. vor der Bildungssilbe und dem SuCBz
nicht verschwindetc sieh oben. Auch Donner erwähnt S. 102
seiner Schrift »die gegenseitige Verwantschaft der finnisch-
ugrischen Sprachen € (1879) »die aus dem selbständigen
Pronomen entwickelten Formen der possessiven und prädi-
cativen Suffixe« und Anderson behauptet S. 79 seiner »Studien
zur Vergleichung der indogermanischen und finnisch-ugrischen
Sprachen« (1879): »Mit diesen selbständig gebrauchten Pro-
nominibus sind die sogenannten Personalaffixe .... ohne
Masken und Maskereien. 335
Sweifel ursprünglich ideDtisckc Auf indogermanischem Boden
connle man früher sogar die Identität von iipeqiik^v und
)skrt. dbharäi aufstellen, indem man /»7V und i sowie fMx«
ind äi aus mami ableitete; heute rauss man sogar die
dentität von -mi und nt<i-, -ti und ta-, geschweige denn von
-jH und tva-, aus mehr als einem Grunde leugnen. Vor-
itellungen, die nur vom Indogermanischen übertragen sind
md sich dort nicht mehr aufrecht halten können, werden
iuch auf ugrischem Boden fallen, und dann auch das günstige
Vorurteil schwinden, das man den längeren Formen hin-
sichtlich ihrer Ursprünglichkeit jetzt noch entgegen bringt. —
Basel, den 31. October 1882.
Franz Misteli.
Masken und Maskereien.
Von Prof. Bastian.
Zu den verschiedenen Aufgaben der Forschung, die mit
der geographischen Umschau sich zu verallgemeinem beginnen,
und unter Sicherung des Materials in den ethnologischen
Sammlungen dem Studium zugänglich werden, tritt als eine in
der Aneinanderreihung begriffene Series die der Masken*)
hervor.
Neben der praktischen Nutzbarkeit, als Visire (an Gladia-
torenhelmen u. dgl. m.), ergeben sich die durchweg be-
kannten Formen, wie für Bühnenzwecke, die der Theater-
masken, sowie die der Totenmasken bei Leichenceremonien,
und dazu würden sich dann die dem Gultus angehörigen fugen,
als primäre Unterlage gleichsam der beiden andern, in Be-
*) Trotz des Vielen, was Ton »jeher gepredigt, gezankt, gelacht und
gespottet wurdec (abeMie Masken), hat man sich noch nicht einmal ge-
einigt, »ob die Sache eine dffenUiche Torheit oder eine verlarvte Weis-
heit zu nennen seic (s. G. A. Böttiger).
836 Bastian,
Ziehungen, die für die Funeral-Gebräuche an sich nahe liegen,
und bei der Komödie sowohl (in den, heilige Weihen be-
gleitenden, Spottspielen), wie bei den Dramen (bezuglich einer
Anknüpfung an epische Gestalten) bereits mehrfach nach-
gewiesen sind. Wenn, wie in der Ethnologie bei derartigen
Untersuchungen vorgeschrieben, der genetische Weg ein-
schlagen wird, so kommen wir aus der Jugend der Völker
bis auf ihre Kindheit: Kinder machen Fratzen und so die
Eskimo*) (s. Richardson) : ^/^hideous faces€ (to defy strangers).
Dazu tritt zunächst Bemalung, wie bei den Galliern einst,
bei den Australiern noch heute (in ihren Corroberry), ein
Bestreichen des Gesichts**) mit Ruß und Asche, oder »mit
Kot, und die in die Mysterien Eingeweihten waren mit
Schlamm und Kleie bestrichene (s. Köhler), mit spätem
Deutungen über symbolische Reinigung, oder des Verbergens
(der Demeter vor den Verfolgungen des Alpheus).
Von selbst folgt zur Verstärkung der Kopfaufsatz, der
in den Raritätenkammern prunkende »Federputz der Wilden
bei ihren Cannibalenfestenc, und ähnlich den Phallophoren (bei
Athenäus), als (vor Terehz) die Mimen noch galeris nonpersonis
utebantur (s. Diomedes). Bald aber gewinnen die letzteren
den Vortritt, und nach den Larven aus »Baumrinde und
Borkenmasken« (hellenisch) aus »cedar-bark« bei den Haidah
(s. Dawson) (oder »Bedecken des Gesichts mit Pflanzenblättem
in der Weinlese« foliis firnlnis velabantt) trifft man die Holz-
maske (s.Hesych.), als xvXiyd^toy {xvQ$9Qa) oder (mit Thespis)
larvarum lintearum usum (s. Suidas), als Chorilos' Erfindung.
Anfangs noch mit dem Kopfaufsatz verbunden; und wie
*) Die Eskimo verhöhnen sich in Wettgesängen durch SpotUieder
(b. Crantz) und (s. Richardson) »u«e the tnost extraordinary gestures
and contartians of the body and Umhs, making <U the same Hme hideous
faces.* In früherer Zeit ließ man sich durch Masken, Grimassen (sannis)
und Popanze (numiis) schrecken (weiß auch Ämobius).
**) Histriones ante inventas larvas fadem iUinebant vel foliis
ficülnis velabant (iUinebant cclore batraehio), Biems (ex Icario) primum
cerussa fadem oblitus tragoedias egit, deinde fadem andraehna in
docendis fabulis texit, postmodum larvarum lintearum usum iniroduxit
(Suidas).
Masken und Maskereien. 337
die dramatischen Theatermasken (der Griechen und Römer)
nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Kopf bedeckten
(s. Wieseler), so begegnen wir Helmmasken überall, in Me-
lanesien, besonders in (Neu-Britannien), in Afrika längs der
Westküste, in den Popanz -Vermummungen mit der Herr-
schaft der Geheimbünde verzweigt, sowie in Amerika. Die
Jwri (bei Spix und Martius) tanzten in Masken aus Mehl-
körben, worüber ein Stück Basttuch (Turiri) gezogen war,
und bei den Haidah erweitem sich die Masken bis zu kolos-
salen Dimensionen, mit allerlei mechanischen Vorrichtungen*)
zum Verdrehen der Augen, zum Bewegen des Mundes, der
sich bei den classischen Masken dagegen nicht schließen
ließ, denn die »trichterförmige Oeffnung des Mundesc diente
zur Verstärkung der Stimme (s. Hölscher), bei den männ-
lichen Masken, während die Masken für Frauenrollen ont la
tauche seuiement entr'auveri (s. Mongez), und so findet es sich
bei den japanischen Theatermasken in der Sammlung des
Museums. So als durch ein Metallrohr mit großer Mund-
öffhung den Schall verstärkend, wurde persona Yon personare
hergeleitet, und von Aglais, Tochter des Megaloiles (bei
Athen) zum Trompeten eine Backenunterstützung getragen
(pour sautenir les joues)^ von Casaubon als Maske erklärt
(wogegen neQt&sr^, als Perrücke).**)
Bei all der Vielgestaltigkeit buntester Formen, wie sie
*) Die mit Schnurrbärten aus Seehundshaar besetzten Masken wurden
durch Federn bewegt (bei den Thlinkithen), und bei den im Museum
befindlichen der Haidah finden sich Surprisen aller Art '0 di ^ifjuap
^t^anny ^mXqav l/ci r^t/cJi^ nv^^fSyj dyariraxi tag i<f>Qvg, cvvafkt ro
iTHitxvrioy (Pollux), wie Sklavenmasken fcftar^o^o* r^y Bif/ty), Zur Ver-
stärkung der Stimme wurde der Maske ein Sprachrohr (Chalkophonos)
angefOgt (s. Plin.). Nach Roos konnte der Mund an den Larven ge-
rändert werden (lUud üide, 08 ut 8ibi düioriii eamifex).
**) La pariie du masque, qui couvraü la figure Hau de bois, et
Oft ff c^'auiaü la peruque (s. Chaignet). Auf den thOnemen Larven (aus
Greta) waren UeberzQge aus feinen Häuten angebracht (s. Böttiger). Die
Muyscas trugen bei den Festen Goldraasken mit Nachahmung von
Thränen (s. Duquesne), und so bei den Haidah in Streifen aufgezeichnete
(und in Guatemala auch an Steinsculpturen bemerklich).
338 Bastian,
uns bei den Masken vor Allem aus allen Teilen der Erde, enU
gegentritt, liegt als unterste nun jene Wurzel des Schreckens ver-
steckt, des Schreckens und des Abschreckens. Brimus in orhe
deos fecU timor zur Gottesfurcht dem s^tfeß^j^^ und zur deisi-
daemania dem, dem's gruselt. Die Larven dienten »als
Amulette gegen das böse Auge, gegen Behexung, gegen den
Zauber, der ganze Saatfelder versetzt u. s. w.c (s. Böttiger),
als »EntzauberungsmitteU in den Rätselgemmen der Grillen,
wo Masken mit Tieren, mit Widder*, Stier- und Steinbock-
köpfen verschlungen sind (bei Gori), die Satyrmaske (als
(ßa<fxäyH)v), wie das Gorgoneion (Löwenköpfe, Schlangen
u. s. w.) zum dnovQonaiov (s. Jahn)."*")
So die Verbindung zu den ^co» äno %Qona$o$^ den Aver«
runci, und auf deren Gült läuft der der Naturvölker hinaus,
so lange ihnen noch überall der Fetisch en^egenlugt, so
lange die gesammte Welt, als unbekannt, unheimlich schreckend,
zum Kampf aufstachelt gegen die unsichtbaren Gewallen, die
tückisch heimlich und heimtückisch nur darauf lauerui Schaden
und Pein zuzufügen.
Wird bei geläuterter Darstellung das Elend, das getroffen,
als Strafe einer gerecht rächenden Gottheit aufgefasst, dann
tritt der alle ethnischen Kreise der fünf Gontinente in viel-
fachsten Windungen durchkreuzende Gursus der Sühn-
Ceremonien hinzu, wogegen, so lange es sich nur noch um
die, gleich den Efrit, umdrängenden Dämone handelt, um
eitel Missgunst und Neid, um boshafte Streidie nichts-
nutziger Kobolde wohl auch, diesem Pack mit gleicher Münze
zu zahlen ist.
Allerdings muss hier nun die geographische Provinz
sich ihren Effecten nach in psychischer Localfarbung mani-
festiren. Wo in übermächtig wuchernder Natur, aus dunklem
Urwald, in wildem Getier der Herr desselben hervortritt,
*) Die Masken, wie in »Erz und Ton so häufig als ein Abwehrungs-
mittel gegen Hexenangen und Zaubereien angewant«, wurden »aucfa auf
Steinen als Anmiete und Ringen getragen« bei den Maskenintaglios, tu
Siegelringen (s. Böttiger). Das schätzende Gorgonenbild versteinert
(wie selbst seine Priesterin Jodama, wenn unbedacht angeschaut).
Masken tmd Maskereien. 339
da wird der hulflos Schwache sich ebenso bereitwillig beugen,
wie in einem durch Härte bedrohenden Klima dem vermeint*
liehen Anstifter desselben.
Wenn dag^en in begünstigter Umgebung der starke
Stamm, der seine greifbaren Feinde niedergeworfen, sich durch
andere Wesenheit angegriffen fühlt, mit Erankheitsstichen im
Körper, mit Eigentumsberaubung durch Misswachs u. dgl. m.,
dann heißt es auch hier die Waffen ergreifen und zum
Streit ausrücken, mit der Verwegenheit der Ateranten einst,
oder der Sumbaer noch heute, die ihre Lanze schwingend
den Todesgott herausfordern, wenn er ihnen einen der
Ihrigen entrissen. So sind es nicht Bitten oder Gebete, die
bei den stolzen Maori der Tohunga in seinen Karakia
spricht, es sind Befehle, kraft Tu-mata-uenga^s für seine
Nachkommen errungenen Siegs, Befehle an die Natur und
ihre Elemente, an den brausenden Sturm, an den Wogen-
schwall, an das tosende Feuer der Vulcane, und wer solchen
Machtgewalten ungescheut sich entgegenzustellen wagt, der
wird mit Krankheitsteufehl und ähnlichem Gelichter desto
kürzeren Process machen. Es gilt nur, ihm ein bisschen
Angst zu machen, also Masken aufgesetzt, je grausiger,*)
desto besser (und wirksamer).
Allerdings wäre dies nicht Jedem zu raten, denn wer
sich des >HöllenzwangS€ leichtsinnig unter^gt, ohne die
Holle zwingen zu können, verfallt dieser selbst, jeder Fehler
*) Die Peguer (beim Leichenbegängnis der Talapoinen) ^faisaient des
eomt&riiaM de$ postideM ayatU sur le ptsage des masques hideux*
(s. Tachard). Bei den in ein lächerlicbes FraUengesicht venerrten
Masken (Oscilla oder Maulsperrer) sollte »durch das Aufhängen oder
Aufstellen dieser alles zu verschlingen drohenden Garricaturmasken jedem
gefährlichen Einfluss der Missgunst und Zauberei entgegengewirkt werden,
ans den hftsslichsten Gestalten sich eine Beruhigung zu verschaffenc
(s. Böttiger). Alle Larven hatten ein wütendes Ansehen, drohenden
Blieky gesträubtes Haar und eine Art Geschwulst auf der Stirn, die sie
noch fflrchterlidier machte (FlOgel), und da die Griechen alle Helden der
Vorzeit (auJSer Tydeus) sich von übematarlicher Größe vorstellten,
kamen (neben den Gothunien) ausgestopfte Bäuche hinzu (»entsetzlicher
Dicke«).
340 fiastiaHi
in den „verba conc^taf^ bridit ihm das Genick, das beweist
sich überall im Schachspiel weisser m)d schwarzer Magie,
zwischen Theurgie und Gotie, im Kampf der Hankas und
Eimbundas, der Ganga und Endoxe, der Obeah mit ihren
Gegnern u. s« w.
Nur also, wer sich mit dem vollen Wissen ausgerüstet
fühlt, dem Wissen der Veda, der Runekaflar, der Parita
(Buddha's) u. s. w, wird mit Aussicht auf Erfolg den Feldzug
gegen das unsichtbare Reidi des Jenseits eröffnen können.
Als erste Vorbedingung ist minutiös genaue Detailkenntnis
erfordert, aller der Launen und Wandlungen launenhaft sich
wandelnder Dämone, um nun sogleich, wenn es der Ernst des
Augenblickes bedarf, die richtige Maske zum Aufsetzen zur
Hand zu haben. Kein Wunder deshalb, dass die wunderlichst
bunte Vervielfachung der richtigen Kenntnis sich mehr und
mehr der großen Masse entzieht, in verboi^enen Geheimnissen
der Mysterien abgeschlossen, wie in der auf den Schuler
fortgepflanzten Tradition der Klausnerpropheten Nukahivas
als Piromi, oder erblich in ndvQtat UqiAiSvvai^ so lange
sich der Charakter des Priesterkönigs in den Ariki be-
wahrt.
Das auf solchen Unterlagen umhertreibende Hexen- und
Zauberwesen erhielt nun durch mehr oder weniger geschickte
Combination der erlernten Operationen allmähliche Gestaltung
zu einem Gultus mit fasslichen umschriebenen Ceremonien.
Worauf es hier hauptsächlich ankommt, liegt deutlich
genug vor Augen. Es handelt sich um einen Kampf gegen
böse Feinde, die sich manchmal nicht nur bös, sondern
auch allzu stark beweisen. Also der Rat, sich nach Bundes-
genossen umzusehen, und wenn diese in den guten Göttern
gefunden sind, bekämpft man mit denen des Lichtes die
der Finsternis, wie überall in den dualistischen Religionen.
Doch auch da, wo der spaltende Gegensatz fehlt. Besonders
unterrichtend dafür ist der ceylonische Kapuismus, der neben
dem orthodoxen Buddhimus, mit den brahmanischer Götter-
welt entnommenen Dewadas in ihren furchtbaren Wand-
lungen (wie im tibetischen Tantradienst) die Ausgeburten des
Masken und Maskereien. S41
Tartarus bekämpft, unbeschadet des Rfickgreifens auf diese
selbst im Äußersten Notfalle, um dann durch die mit ge-
waltigem, freilich eben deshalb auch gefährlicheni. Banne
Beschworenen ihre eigenen Genossen zu bezwingen, gegen
welche sich die guten Genien, trotz aller guten Absicht, als
zu schwach erwiesen. So ist es ein häkelig verwickeltes
Ding mit diesem Dienst der Dewala**") auf der heiligen Insel,
und mit ihren Masken dazu, für deren genaues Studium
sich in der ethnologischen Abteilung eine Sammlung aufge-
stellt findet.
Hier indess, auf Indiens altem Culturboden, standen
bereits die Erzeugnisse desselben zur Verfugung, in reich-
lichst ausgestatteten Himmelsterrassen der Mythologie. Bei
den Naturstämmen ist es ärmlicher bestellt. Ihnen lächeln
keine Götter aus sonnigen Hohen, und wenn sie es den-
noch empfinden das Walten jenes »Großen Geistesc, des
Kitch^nanitu, des Quawteaht, oder andern Numen's unter
den vielen Namen, so setzen sie den Wohnort Mawu's
oder Njankopong's zu weit entfernt, um durch Gebete erreicht
zu werden, vorausgesetzt, dass sie überhaupt eine Belästi-
gung wagen wfirde, — belästigende Störung des Dolee far
niente, worin, als Ideal eigenen Wohlseins auch ihre Götter
schwelgen, gleich denen Epicurs in den Zwischenwelten.
Da es mit den Göttern nicht geht, so haben die Halb-
götter auszuhelfen, die wie die Wong bei den Eweern und
andere Flugelboten, von oben hemiederschwebm mögen,
häufiger aber sich von der Erde aufwärts erheben, wie die
abgeschiedenen Seelen (in Australien) noch jetzt zu den
Gipfeln der Bäume aufsteigen, und im Dickicht derselben einst
bei den Böhmen huschten, »flatternd von Zweig zu Zweig.c
Mit den Seelen hat man bereits Allerlei zu tun gehabt,
*) In den Dewala (der Kapundle auf Ceylon) there %$ aJwayaiome
fdk m ttMtm of a martial charaeiiTf iwsh a$ bows, thulds, tpean
8word$ or arr&w$ (s. Pridham), wie im Heiligtham Kamakora's (in Japan),
für den Heros» um damit zu streiten, und als Herakles fQr solche Zwedce
von Theben ausgezogen war, fehlten die Waffen im dortigen Tempel
(s. Xenophon).
ZfitNhr. fb VlUknpfych. und S|v»chir. Bd. XIV. S. S3
842 Basttan,
allerlei Auseinandersetzungen auch, im Outen und, mehr
leider noch, im Bösen.
Einigermaßen verdächtig ist das Seelenge^nst, die in
Sisa verwandelte Kla (in Dahomey), immer schon, weil un-
heimlich. Auch in Betreff zurückbleibender Eigentumsan-
Sprüche, wenn in den »^itötoc gefehlt sein soUte. Unter
friedlich-freundlichen Verhaltnissen mögen Tahiti's Oromatua
(hellenische) Eintrachtsfest^ gefeiert werden, aber im All-
gemeinen ist man die spukhafte Nachbarschaft lieber los, und
sucht sie bei dem Leichenmahle mit höflichen Abschieds-
worten, wie bei den Esthen gesprochen, zu verabschieden.
Will das indess nicht gehen, bleibt beim Quergehen im
Haushalt der Argwohn, dass es dort umgeht und dass der
Abgeschiedene den Fluss der Vergessenheit noch nicht passirt,
so musB auch gegen ihn, der sich dem dämonischen Heere
zugesellt hat, mit denselben Maßnahmen vorgegangen werden,
wie sonst im Allgemeinen. Ein besonders buntes Masken-
treiben findet (unter dem /uafai ^f^i^aO an dem AUer-
seelentage des großen Reinigungsfestes statt, das sich in
gleichartigen Zügen auf allen Continenten über die ganze
Erde verfolgen ISsst, und aus dem Monat des i^Mundus
patett in den Garnevalscherzen erhalten geblieben.
Mit dieser Verwendung der Masken beim Toten -Gült
beginnt sich nun das Verständnis zu compliciren.
Von vornherein ist vierfach zu unterscheiden:
1) Die dem Toten selbst angelegte Maske, damit er,
wie die Aleuten"*") meinen, auf dem Wege ins Jenseits nicht
durch, die begegnenden Dämone geschreckt werde, oder ab^
*) Die Leichen der Aleuien erhielten Gesicbtsmaskeii anfj^esebt,
um bei der Reise nach Westen nicht durch die Dämone erschreckt za
werden (s. Pinard). So goldene Masken aas Eertsch und silberne aus
Peru. In den Gräbern von Warka finden sich Goldblättchen im Ge-
sicht befestigt, in karthagischen polychrome Tonmasken« Sohre la
mortßia U ponian una wuueara pMada (Tprquemada), beim KOnig
(die Ghichimeken). In Omet^Mc wurde eine Kupfermaske. gründen
(ef, S<iuier), eine Maske aus fossilem Holz in Ghipben (cf. Schott).
Vergoldete Holzmasken finden sich bei den Mayas (s. Diaz). Bei Koyund-
schik wurde, in einem Grabe aus römischer Zeit, eine Goldmaske
Masken und Ibßkereien. ^43
auch, dasB tr odt^ Fahrunir ^^ Hundes (bei den Eskioio),
oder eines Anubis, iD Tielr?erkIeidfiDgen unb^lligt den Tür-
wäcbtem TOrüb^-gebe.
S) Die Ibdcen, angelegt tum Kampf gttgeo dämonische
Widersacher, £e vielleicht auf die Sede des Toten lauern
oder sonst seine Ruhe zu stören beabsiehttgen möditen.
Die Pruscsi hieben beim Leichenzug mit den {Schwertern in
der Luft herum, die rerfolgenden Dämone fortzujagen, und
die Wettkfimpfe der Agonen, die sich von Etrurien aus dep
GfaidiatorengdEBchten, die sie zur Eaiserteit >pro saluie prifh
c^€ veranstaltet wurden, mit den ludi fimebree verknüpften}
wiederholen sich in Mangaia, beim UmherzidieD der Akoa
von Distriet zu District, und dann werdai, wie bei Thlin*^
kitten (^La Perauset) die Mad&to'*') auch im Kriege getragen»
3) Die Masken zum Forlscheuchen des Seeleng^penstes**)
feftoden (s. Basnm). Waehametken worden van dan fruutteisehea
Könij^ bewahrt, und die Wachsköpfe (der Eothaupteten) im Grabe voa
Gumae gefunden. Die verstorbenen Könige erhielten (in Anahuac) i^una
mdscara de orO€ und in Azcapuzalco (wie beim Tode Tesozomoc's) »cor«
forme a 2a fisonimna de eu rostrot (cf. Iztlilxoehitl) , während ans der
Asche der Könige der Tarasker eine Figur geknetet wurde unter Auf*
setsen einer Maske (nadi Art der »cabegas poeHäßs* peruanischer
Mumien). Auch wird Begraben im Gostüm des Gotts (mit zugehöriger
Maske) erwähnt, sowie bei heutigen Greolen im Mönchshabit dortiger
Klosterorden.
*) Die Yisirhelme (des Amphitheaters) wurden (obwc^I bei
Turnieren seit Hadrians Zeit) im Felde nidit benutst (cf. Beandorflk
Die Yisire der japanischen Hehne entsprechen den Wappen (des Trägers).
ieder Graf und Edelmann hatte seinen Knecht Tor sich, der das Wappen
trug, und seinen Knecht hinter sich, der den Helm trug, so dass man
deutlich Jedes Wappen und Kleinod erkennen konnte (s. Grimm), auf
Ludwig des Eisernen Schloss (zu Naumburg).
**) The dance f$r the dead (damced b^ the ^ocwum äUme) cammeneed
ai duäk, er aoo» öfter, and ecmM^med mniü Unowrde mommg, fBhm ike
akadee of the dead, who wer$ believed io be prtseiU and parHcipaie in
the danee$y ieere supposed ie dtaa^ear (hei den Irokesen). Neben dem
>Feaiher^ance€ (ofa religiaue charaeter) und dem » War-dance* (eoetume
danees) were four other coetume danees (s. Morgan). Im Totentanz, der
4as Reich der Toltekcn abechiiefit, mischen sich die Schattengeister in
die Reigen der Lebenden ein, diese mit sieh reifiend»
23*
344 BatÜu.
selbst (wenn dies zu bdSsUgen fortffthrt), der Larva durdi
eine Larva*) (wie im mittdalterlichen Masca die Hexe ein*
begriffen ist, als dadurch vertrieben). Dass derartiger Seelen*
spuk| wie aaf Kreuzwegen , besonders an Stellen gefärchtet
wird, wo Mordtaten stattgefunden, hat sich ungeschwicht
erhalten, aber die Seelen der gewaltsam Getuteten spielen
eine doppelte Rolle in der Ethnologie, einmal die der gefähr-
lichsten unter den Dämonenteufeln, und dann die der zu Heroen
v^Uärten Helden. Die Grund-Idee ist in beiden Fallen die-
selbe, nämlich die einer noch volle Kraft bewahrendai Sede,
also Kraft zum Guten oder zum Bösen, je nachdem. Wer
in ungestörtem Naturgange mit zunehmender Erschöpfung
im Alter endet, ist damit eben auch aufgebraucht, und srin
Schatten kraftlos und matt, nicht viel besser, als die ua/iApwtg
bei Homer, die, ehe sie Blut getrunken haben, kaum zischen
können. So lassen die Maori die in ihr Hdheim, die
Unterwelt des Reinga, eingetretene Seele, dort von Terrasse
zu Terrasse, tiefer und tiefer niedersinken, immer schwächer
abgeschwädit, bis schließlich nichts übrig bleibt als Meto
(Verwesungqgestank). Mit solchen armen Seelen und Seelchen
bat es keine großen Bedenken, selbst nicht, wenn sie mit-
unter in die frühere Behausung zurückkommen sollten, um
die unter den Tisch gefallenen Bissen, die ihnen gehören, auf-
zulesen, ja man mag so weit gehen, es ihnen für ein
Weilchen gemütlich zu machen, durch Anzünden eines
Feuers (in Tirol), durch Hinstellen von Oel u. dgl. m.
Ganz anders nun aber mit deijenigen Seele, die plötzlich
und unvermittelt dem Leben entrissen ist. Sie fühlt sich
noch ganz der Mann, ist auch vielleicht mit dieser gewalt-
samen Trennung nicht zufrieden, und will deshalb nach den
alten Sitzen zurück. Hier heißt es auf der Hut sein, und
bei den Ghamorro wurden deshalb, der allgemeinen Sicherheit
wegen, alle die Seelen gewaltsam Getöteter in den eisernen
Kerker Chayhers eingeschlossen und dort bewacht.
^ GerritQs und LarTatos geltmi ab Beieichmnig^n einas durch dia
Eracheinwig eines Schattens irre Gewordenen.
Hasken und lUskerden. $45
Das war ein friedlicfa gesinntes VOIkcheni aber die
kriegerischen SUUnme anderer Inseln denken verschieden«
Wenn die Parze den Lebensfaden in der Jugendzeit durch-
schnitten, steigt aus dem Blute der auf der Wahlstatt Ge-
fallenen der Geist bei den Batta sowohl, wie einst bei den
Aztekai, zu jedesmaliger Walhalla empor, die bei den
letztem in den Sonnenball verlegt war. Sonst Uetet sich
vieUach das Bergplateau für himmlische Paläste, gldch denen
in Daodängsa, mit zugehörigen Analogien«
Wie im Besonderen, ob so oder so, immer war hier
eine wertvolle Entdeckung gemacht, die sich weiter ver-
werten ließ, für Alliirte aus dem Jenseits. Hit den armen
Seelen der Unterwelt wäre nichts anzufangen gewesen, sie
können sich selbst kaum helfen. Aber nun die Seelen, die
dort oben tronen, in lichten Höhen. Sie können gegen
dämonische Feinde natürlich alle dieselben Dienste leisten,
wie sie von Göttern gewährt sind, ja man wird sich an sie
noch vertrauensvoller wenden dürfen, unter Berufung auf
frühere Verwantschaft (und Anrufung der Ahnen bei den
Schamanen).
Hier setzt nun eine Bfannichfaltigkeit der Gultus-
handlungen ein, überführend
4) zu dem Gebrauch der Masken im Heroendienst, dem
Dienst der Chao in Slam, — bei den Nationaltänzen auch in
Birma gerufen, damit der »Herrc (der Chao oder Lar) ein-
fahre in sein irdisches Gefäß, das dann geschmückt steht
in dem seiner würdigen (oder von ihm als genehm vor-
geschriebenen) Gostüm-Putz. Wenn es sich dabei um poli-
tisch bedeutsame Namen handelt, oder um historisch aus
der Erinnerung mit Liedern gefeierte, dann werden die in der
Tradition stereotypen Gestaltungen, auch nachdem die thea-
tralischen Vorstellungen von dem Tempel — dem Tempel Cho-
lula's in Mexico (mit der Bühne Tlatelolco's davor), von dem
^neighboyrhood'*) temple€ (s. Doolittle) in China, von den
*) Tke neighbinurhood Umpk$ (ron China) are provided wüh an
OevaUd platform where play- aäon sUmd ar waOt ahaui wkih per-
formimg fhtaHiriedl plajf9 (s. DolitUe). Laima9 eamoedm Aonm nou
346 BttÜim;
Kircbeti die im XtH/ Jahrhundert ^arinbegangeneui Mysterien
im XV. Jahrhundert — abgelöst sind, ihre stdtenddn Masken
fortbewahren, und im Len*Khon der Siamesen sind diesdben
dem Epos des Ramakhien (Ramayana) entnommen,») wie
Aeschylos sich von Homer's**) reichbeset^r TaW genährt
bekannte, aus den Brocken ders^ben (s. Athenaus). Bei
solcher Üeberföhrung aus den Heiligtämem ins Profane
erhob sich dann die Anklage gegen ihn der ätfiß^a (s. Aelian)
und der darauf fär Lohn gedungene Stand der Schauspieler
^^infamia notaturt in Rom, außer***) in den Atellanen-f)
habent sed duobus membris ituitum consiant diverbia e( coMiied
(Diomedes).
*') Neben den Maskenspielen, als Len-Khcm (den Len-^Htin oder
Piq)peD9pielen und Len-Nung oder.SchatUnepielen), worin das Ramakhien
(Ramayana) aufgeführt werden kann, finden sich noch die KhonTalok
oder Spaße der Komiker (in Siam). JPfays usuaRy rdate to aneietit
titnes, and ihe adors attempt to imitatethe dreas ad (hecusUmsofihose
titneB; ihe maska wom are very imperfeet and eoarse (s. Doolittle) imd
(neben ^hiiiorieal plays^) puppä $haw$ (In CSiina), dreierlei Art auf
Java (hl den Wayang). Dasu die Jataka« wie bei den »Po^« der Birmanen
(in den fflr die Persönlichkeit stereotypen Gostüm-Masken). L'ipop^ a
fouvm ä la tragtdie la plm grand$ parUe de ses mythes (s. Ghaignet).
Das >No€ genannte Mysteriendrama in Japan wird auf die Mythe der
aus der Höhle hervorgelockten Sonnengöttin Amatera zurfickgeführt
(s. Bousquet).
^) Solch homerisches Preisen wurde von GUsthenes , (Tyrann in
Sikyon), wegen der Erinnerung aua argivischer Vergangenheit (s.Herodot)
bei den Rhapsoden verfolgt, wie außerdem dem Heros Adrastus, dem
er seinen Feind Melanippus aus Theben herbeigebracht, die Ghöre genom-
men wurden , um auf Dionysos übertragen su werden (auch hier frei-
lich mit Leidensgeschichten verknüpft durch Icams und seine Tochter
Erigone).
**^) Mit den Fesoennien oder Fescennini versus verband sich der
mimische Tanz in den Saturae (der Satiren), und wenn mit der Ab-
leitung von fascino, die weitere Beziehung (im Oscum Ludricum).
t) Die Kinder der Arcadier wurden \\\ den Melodien der Heroen-
götter des Landes eingeübt, um jahrlich auf dem Theater am Fest des
Bacchus SU fungiren (s. Athenaeus), wie die Büigerssöhne in den Atellanen
zu Rom). Der ernste Stoff der Atellanen wurde in den Exodien paro-
dlrt (und comikirt). Nach Zenobius sehweiHen die Ditbyrambiker zu
den Mythen des Aias und der Kentauren von DIonysoe fort (dem die
Gatyrn verblieben).
Masken and Maskereien. 847
Spielen, bei denen sacb, von fi:eien Bflrgenssöhnen aufgeführt^
ein religiös gefärbter Charakter bewahrte, ein Uebergang*)
zur Komödie (wie aus dem Dithyrambus der ländlidien
Dionysien).
In Athen stellte sich die ControUe der Staatä)ehörde
aber dramatische Äuffahrungen hec durch das Nachsuchen
um emen Chor.
In Verbindung mit den Masken und Maskerade stehen
m nächster Betraditung:
1) die Tänze, iti 39 Arten**) der Irokesen, WafTeutänze (des
Scalpes u. s. w.), sowie besonders die den LebensuntM'balt
*) LMüM Andronlcus (aus Tarent) ab iahtrii auiui M primm ar^
gumenio fabulam aerere (s. Livius). Dass Yarro »tti rebus divinis pmere^
ludas 8ceHko$€f verwundert Augastin. Die mimiechen Darstellangen
bei den ländlichen Dionysien (Jioyv^ta rtt tnt* dyo^) erhielten
zaeret im Demoi IkaHa eine Regelmißigkeit (bei den Lan'dleuten) und
dann folgte die Scheidung iwieehen TragOdia und KomOdia (seit
Thespis), als aus den Dörfern (des Gottes Komos) In die Stadt Über-
tragen (fit «rar* Scrv) und dort bald unter obrlgkeiUioher Aufirieht (Im
X^^ iäntv), Ng'üong Saui (god ofpläy acHng, wresWng^ wut&c xl b. w.)
wird als dritter Sohn des ^Pearlg Emperor Supreme Bükr* (g. Doo«
litUe) verehrt (m China).
**) The IroqwHt hafte 32 dietmei daneee out ofiohkhnumbeir 26 were
damed io be fohoUy of ihek &wn mveiUim (wme were eoetumedtmeee).
To eaeh a eeparaie hieiory ad okjeet aUa^ed (s. Morgan). Everg daaee
ha$ Us peeuHar $tep ad eterg 9Up hos Üb meaming, everg dattee hos ii$
awn pecuUar eotig aind that ie $o ihtrieate and tagstmaue ofUnUmee
ihai noi one inim ofVie young men who are daneing and ehiging «f,
knato ihe meaamg of the eomg iohieh theg are chatiHng aver. Nane
bfU ihe medkine- men, are aUawed to ttndereiand them, aad even theg
are generaüg anig MHated into iheee seeret areana, an ihe pagmeni
of a hberdl aiipend for ihew ^nttion, tohkih requkee much appKcaÜan
and eiudg (s. GaUin), m a tfarieig of forme (the bt^äUh^Umee, ihe boatHng
danee, ihe begging-dance^ ihe ecäkp-danee etc.). Everg man in ihe Mondän^
fMage ie obliged bg a viUageregulaiion iokeepihemaeh of ihe bufalö
hanging on a poet alt the head of hie bed, whieh he ean nee on hie
head whenevor he ie oaüed npon bg the ehiefe, to danee for ihe eommg
of buguäoee (*making bufalo eamet). Der Tarn (der Warrau) %oae
käended io repreeent the aniice of a herd of Kakomke or bneh-
hoge (B. Brett). Am Hofe Karls IX. von f^nkrelch wurde nach
Melodie der Psahnen getanzt.
34f8 Bastian,
(wie anderswo Erntetänze*), als ^luch ar grem com iZoneec
der Creeks**) u. s. w.) bedingenden Büffeltinze der Mandan
(& Gatlin), der Emu und der kriegerischen Tanze Austra*
lien's u. s. w., in magischer Herbeiziehung der Thiere***),
oder sonstiger Nachahmung, wie (von Soracte) bei Hirpini
Sorani der Wölfe, als vom Orakel befohlen, und dann d»
Luperci (in den palatinischen Höhlen), wobei auch hier
der VerwelUichung die Ehrlosigkeit folgte bei Venatores and
Fyrrhicharii (quicumgue in ludum venatmum fuerint dsm-
nati), als Bestiarii oder Venatoresf) (bei Casdodor).
2) Die Spiele, wie htcU saecutarea oder TeretUini (mit
dramatischen Aufführungen verbunden) zur Befreiung von
der Pest eingeführt (bei Publicola*s Opfer), die lucU Ttwrii
*) Beim Tani fflr die Cacao- Ernte (in Nicaragua) wurden Vogel«
Masken getragen (cf. Oviedo).
**) Bei Nahrongsmangd (unter den Mandan): Every wum mmUri
amd Mmg$ out of kis lodge hia maik(ihe8hin of a bufaio'$ head with
the hama on) für den Buffalo -Tans (s. Gatlin). Bei den Frühlinge-
festtftnxen trugen die Aleuten phantastisch Terzierte Masken (s. Sauer).
***) Die Bestiarii oder Venatores (fflr die VenaUones oder Tierhetsen)
wurden hei dem ludu$ maivtinuB geüht, und solche Schauspiele bestanden
nicht nur in Kämpfen von Jägern mit wilden Tieren (oder dieser unter-
einander), sondern auch in Executionen von Verurteilten (oft in mytho-
logischen Gostümen), während später (s. dassiodor) Schutzmittel ein-
geführt worden (oder Aushülfen, um sich der Gefahr durch Gewantheit
und Schnelligkeit zu entziehoi). üüagatu$ el Weyviata eapUa geru$U
lupi, quae ab onmibui impune paterunt amp^dari (in der Normandie).
t) Bei dem achtjährig gefeierten Fest AtamalqualizUi wurde in
Masken von Tieren (unter Nachahmung derselhen) getanzt (in Mexico).
Aehnlich den maskirten Priestern bei dem Opferfeste der Muyscas, sind
die Tecunas (bei den Festen in Tabalinga), mit grotesken Masken an*
getan, welche die Tiere des Waldes Onze, Tapier, Reh, Vügel, das lästige
Insect, die Zecke (Carapato, Ixodes) u. s. w. darstellen, aus Flechtwerk
von Sdtamineen- Stengeln und Bast von Gouratari-Bäumen (Aichama)
und Kfirbisschale verfertigt und mit Erdfarben bemalt; auch der Dämon
Jticho erscheint als solche Maske, und ebenso finden sich derartige Masken-
Züge oder Teufelstänze bei den Indianern an obem Qrinoco und Yupuri
(s. Martins). Zeus zeigte sich dem Heracles (in Theben) mit dem Kopf
eines Widders, im Ueberziehen der Haut (s. Herodot) und die behaarte
Darstellung der Satyrn blieb aus früherer Fellbekleidung (wie bei scha-
manischen Ck)8tümen mit anhängendem Kopf).
Masken und Maskereien. 349
bei zunehmender Menge von Fehlgeburten durch Tarquinius
superbus bestellt (ex Kbris fataiHms), dann König Dainbe«
dewa'js Maskeraden in d^ Krankheit seiner Gemahlin Piliat
(nach Ceylon ubergebrachtX sowie die ludi votivi^ gelobt: si
re^nMica in mdiorem statum vertissel, oder der ^Mededne
tnask dance€ (s, Kane), perfonned before and afler any im-
partant aeUan of fhe tribe (bei den Clallum), und dement«
sprechend auch in China.*)
3) Die Schattenapiele (der Heroen) in ^dtffkota des
i$if0^vt^g, IkWttafmfig^ hQivg 6 %d fiVf/tiJQta d$m4m^
(s. Hesych.), od^ Puppenspiele (der Marionetten) bd der
Oseillatio (s. Ho£hiann)i wie bei den verschiedenen Arten
der Wayang (in Java) oder (bei doi Siamesen) die Len-Hun,
als Puppenspiele und Len-Nang, als Schattenspiele (neben
den Khon Talok oder Späfien der Komiker).
4) Masken zum Verbergen, wie bei den T&nzen der Aleuten,
^propter veirecundiiam€, nach Festus, unter den Oscillantes (ab
eo, gwd os cdare sint sotüi persanis), und bei XiuhmoIpiUi
wurde (In Mexico) das Gesicht der Frauen und Kinder mit
Blättermasken bedeckt, wie das der letzteren am Jahresende
in China gegen den Blatterngott, very fand of disfiguring
fhe prettif faoes cf ehädren wifh fhe mark and sears of fhe
smaU pax (s. Doolittle)**).
^ Jfony rdigiaw eermiumki, attended wUh theoMcalif are hM
dmmg tke year, at the expen9e of the individuai member$ of ihe com*
mumUy, eUker in the dueharge of a vow, or tu Order io exprese ikeir
/oy (s. DoolitUe). Die scenisehoi Anfführungen gehören m den ladii
die als Sache des Gotte8?erehrang aufgefasst wurden (s. Krahner).
BttEinfOhning des theatralischen Tanxes xur Sühnung der Pest wurden
etrurische Pfeifer nach Rom berufen (s. Livins). Die Gureten galten als
phrygisehe Flötenspieler (cf. Strabo). Der Schäfller-Tanx in Mflnchen
wurde auf Anlass des Schwanen Todes erneuert (1360 n. Chr.) Onmia
neaira Baeeho ei Veneri (in Griechenland) eaera fuermt (s. Potter).
Le thSatre chee le$ Oreee HaU une imsHMion eminemmeiU religiemee
(8. F. Lenormant) im cvtfdf tmt^ m^i r^y ^*oKvtfeKrff/ivriiK'(als itMi^)*
^) Menee the fireguent uh of horrid'lookimg Motftt by ehüdren
on fhe loai eoenitig of every year, when the god tt euppoeed to be on
the look out for pietme. Den ersten If askenaufoig hielten die CMtter
350 Bastian,
Heilige Spiele oder feierliche Sehaustellungen bildeten (in
Rom) dnen Teil des Gottesdienstes*), bei Einführungen neuer
Gulte {Megalesfia bei dem der Magna mater oder die bei
Erbauung des Tempels für Mars Ultor eingeführten Circus-
spiele), sowie um den Zorn (in Prodigien oder Krankheiten)
abzuwenden (durch ludi ApolUnares) oder wieder um Dank
darzubringen , in den lueU plebei (pro libertatt pldns), ludi
Bofnani (fär den Sieg über die Latiner) u. s. w., auch als
ludi vciM (vor dem Auszug zum Kriege), al6 magm oder
maximi (s. Friedlander), dann die der Arvalen im Fe)d«r«
dienst {Judi funebres den Leichen u. s. w.).
Beim Fertesjnbel**) der Dionysien in Icaria mochte das
Gesicht in Blätteranhfingen für ausgelassene Scherze dienen
oder bei denselben sich yerhullen, aber die Eomfidie, nach-
dem zu den vn0Qx^fmwa (des Chortanzes) mimische Darstel*
lungen getreten, bewahrte die Möglichkeit, wie mit den übrigen
des Olymps, als sie unter Gestalt von Tieren den Titanen zu entkommen
suchten, den zweiten die Titanen, mit weißer Farbe übertüncht, um
unerkannt den Dionysos zu töten (s. Köhler). OsciUanies^ aii Oomificitts,
ab eo, quod os celare aifft aoliH personis propter verecundiam, gm eo
gtnere lu9U$ uUbantut (Festus).
*) So lange die Spiele In der Kir«be selbst stattfanden, war die
Bühne unter dem Singchor aufgeschlagen (s. Janssen), mit mündlicher
Ueberlieferung der Scenen, vor dem Aufschreiben (im deutschen Mittel-
alter). Der Bischof hieß Praesules a praesiliendo (cf. Scaliger) bei den
Festt&nzen auf dem Chor der Kirche (s. Gzerwinski), und so die Salier
(und Ihresgleichen vide). Mit den großen Dionysien (im ElapheboUon
gefeiert) waren Theateraufführungen verbunden (in Attien). A Sicy^m
an abtmdonna le terrai» purement reUgieux, pour Ua aujeti Mrinquea
(s. Gbaignet). Iheairieäl Performances (connected urith religioua eeUbration
of ihe fesHväl of ike god) are got up by the prieatSt wko aend their
neophytea around wüh a aubacripiion paper (s. Williams) in China, (wo
dann zu der, mit dem Tempel- Vorhof verbundenen, Bühne die vorüber-
gehend auf der Straße aufgeschlagene getreten ist).
^ IthypkaUi larvaa ebriorum habebant et manicaa vario eciore
duHndaa tunieamque taiarem, PhaUophori vero aerpyüo et paederote
fadem velaha^t, hedera et tiobi ooronati (AutoeabdaU ooronam hedera*
ceam geatabantj Pfwüophori cortice bgbUi fadem velabant (s. Suidas).
Beauchamps führte zuerst Tänzerinnen, in dem Ballet auf dem Odeon-
Theater, ein (statt FrauenverUeidungen von M&nnern).
Masken und Maskereien. 851
Gliedern des E5rpa^ auch mit dem Geeicht tu spreehen*),
indem erst bei Darstellmig der Frauen durch Knaben Phry-
nidioB zur Einfährung der fVauenmasken veranlasst sei,
wie in China ebenfalls die Knaben in den FrauenroUa:i'^*)
Masken tragen.
Wenn dagegen in ernsterer Stimmung, wenn wie inSicyont
an des Weingotts Stelle Adrastus stand (s. Herodot)i wenn
dann der Pantomimus***) neben dem Wechselgesang, dem (von
Susarion geregelten) Wettstreit, der QiÖre (in verschiedenen
Cantica), die nacheinander folgenden Rollen darzustdlen
hatte, machte Adx der Wechsel der Masken fär ihn erforder-
lich, wie fär den HyasshTyhee (s. Macdomdd) bd pantomimi*
sehen Darstelhmgen, nebst Auskleidung^ mit Larven, — den
Grima der Zauberkundigen als TroUsham (s. Grimm) — und
der H&uptling (bei den Clatset) dresses for euch eharanter
lekmd a large curtain (in personificatwn of variaus spirüs)^
bei den ma^irten Winterfesten (in Comwallis), wobei den
Baidah eine Gostäm-Kiste dient, statt der Gamara paramenti
oder (bei Hesych.) B$a%§dQMv unter dem ProtovesUarius
(als späterem Sacristan),
Die Aegypter erklärten die Verwandlungen des Proteus
aus dem Brauch der Könige, sich den Kopf mit Gesichtern
von Löwen, Stieren und Drachen zu bedecken (s* Diod.).
Bei den im Religiösen rituell bestimmten Ceremonien
*) Brake wurde von Hioh (in New- Albion) tanzend empfangen,
tmd wie der KOnig von Dahomey, tanzte (beim Mithras Fest) der persisdie
(berauscht), Priester dagegen Tripuäia Säliarum (in Rom).
♦•) Bei den Tänzen (der Moqui) werden die FVauen vertreten
bg ytnmg men^ toho drtas in imUathn of ihe nnmen; aü ihe äancera
loear maskn made ofpeekd mikno iwiga (s. Cknsens).
***) Als (nach Einführung der Etrurischen Pantomimen) die drama-
tischen AuffQhrungen (durch Livius Androuicus) eingerichtet waren (von
Tarent her), verbanden sich die Ittü Bomäni (magni oder maxmi zu
Ehren der capitolinfschen Götterdreiheit) mit Bflhnenspielen (dann htäi
MegäUnses, ludi Oereaka, ludi Äpoüinares u. s. w.). Nach Einfflhrung
chinesischer Tänze religiösen Charakters (VI. Jahrhundert p. CSh.) folgte
der Gostüm-Tanz /»o-fto-Zuizi*s am japanesiscben Hof (IX. Jahrb.), und
1624 wurde das erste Theater in Teddo eröffnet (in der Straße Saru-
waka).
356 Bastian,
und die nun leibhaftig kämpfen mussten, wie den Locrem
ihr Ajax, oder den Batu ihre Mahlozi, in der vordersten
Sehlachtreihe Toranziehend.
Als bei den Hellenen dann Aeschylus'*) imposanter
Genius die Tragik des Lebens erfasste, da verlor sich bald,
ehe noch durch Euripides weiter darnach die Philosophie
auf der Bohne zu Worte kam, von dem Volksglauben abge-
löst, jede Beziehung zum fräheren Bocks-Schmaus und ebenso
auch zu den praktischen Zwecken des Krieges, aber in Qst-
asien's passiver stagnirender Umgebung, erscheinen noch immer
die identischen Scenen der Epen auf der Buhne, nicht die aus
ihren Stoffen^) von dichterischem Geiste verarbeiteten Tra-
gödien, während die ernst gedrückte Stimmung buddhisti-
scher Weltanschauung die lustigen Schwanke der Posse aus-
schließt
Die alte Tragödie, in der Dreiheit ihrer großen Kory-
phäen, Aeschylus, Sophokles und Euripides, verkörpert (un
eisernen Kreislauf von Schuld und Sühne, mit dem ent-
sprechenden Ceremonial-Cursus) noch jene »religiös« ge-
bundene Weltanschauung***), die sich (autärQunta arV<r^ailf
*) UeberaU ist Aeschylus kunstmftfiig bis zum Strensen» feierlich
bis zum Rdigiösen, in allen Mitteln der Darstellung (s. Weleker).
**) Von Tespis wurde an die Stelle der improTtsirten Schwanke
eine vorher aufgezeichnete Action gesetzt (s. Schömann), während frilher
die Chöre im Wettstreit gegeneinander sangen, wie die Dichter auf der
Wartburg, deren Krieg Klingsor schlichten sollte, der sich im besten
Wirtshaus »hatte niedersetzen lassen« (im Helgreren-Hof). Die Bflcher
der siamesischen Dramen (Lakbon) geben nur die allgemeine An-
lage des Stockes, die Ausfahrong der Scenen dem Improvisationstalcnt
der Spieler fiberlassend, doch finden sich neben den KUmg Tobikai (fOr
Wechselchöre) die Both tä^mg rang (worin die dramatischen Epen ge-
sdirieben sind.
^ FQr die Reconstmction zum Gesammtbild sind die Materialien
aus allen Teilen der Erde zusammen zu lesen, weil sich in dem einen
die eine, im andern die andere Phase des Entwicklungsganges dem
Verständnis gerade zugänglich erhalten haben mag, sei es aus der
Gegenwart, sei es ans verschiedenen Perioden der Vergangenheit, und
erst, wenn nach genflgendem UeberblidL der Index des organischen Ge-
setzes erkannt, wird dieses fOr die Methode zum leitenden werden dOrfen.
Masken und Maskereien. 357
^iav vofA$fM basirend) unter der Allgemeingültigkeit psycholc^-
scher Wachstumsprocesse von den primären Anfangen, bei den
Naturstämmen aufwärts, verfolgen lässt. Nicht in der vß^tg das
Niveau durchbrechend, den Neid, oder gerechten Zorn, der
Götter zu erwecken, davor warnend, mahnt der Chor zum
<smfpqov$lv^ und na%^ dy&gdnov <pQ(ovet der Mensch, der sein
eigenes Bestes versteht. Doch durch die Philosophie frei ge-
worden, beginnt der Geist aus Plato's Munde gegen Aeschylus
Auffassung der Gerechtigkeit zu protestiren, und dann folgte
im Getümmel individueller Schwankungen jener Meinungsstreit,
ein Kri^ Aller gegen Alle, der die Gulturgeschichte höher
und höher emportreibend, noch heute zum steten Kampfe
aufirufli bis auf dem, neuer Weltanschauung entsprechendem,
Stufengrade eine Einheit wiederhergestellt sein mag, zur
Versöhnung des Glaubens und des Wissens, von Philosophie
und Religion (nach psychologischer Induction).
Die Maske, als (verbergend und) verstellend, schließt damit
immer etwas Entstellendes ein, zumal die Verbindung mit
dem Costüm in der Mehrzahl der Fälle weniger natürlich ist,
als bei dem aus der ganzen Haut des Tieres mit Kopfmaske
hergestellten Schamanen-Anzug (so eines Bären auch bei den
Beschwörern der Haidah). »Alles ist fremdartig, Groteske
auf »alter Bühnec, worauf »ästhetische Natfirliehkeits-Vor-
stellungenc nicht anzuwenden, bemerkt Müller, und ähnliche
Eindrücke hatten auch bereits die Augenzeugen selbst ge-
wonnen, wie Lucian (s. Pauly) : »Welch ein fürchterlich ab-
scheulicher Anblick? Menschen zur äußersten Unförmlichkeit
aufgestutzt, auf hohen Absatzen, wie auf Stelzen einher-
wankend, mit ungeheuren Masken, die weit über den Kopf
hmausragen, und aufgerissenen Mäulem, als ob sie die Zu-
schauer verschlingen wollten« (in der Tragödie), dann die
»dicken Wattirungen« für Brust und Bauch. »Aus jener Larve
nun singt oder brüllt vielmehr der Mensch aus Leibeskräften.c
Den blutigen Schaum, der dem Rasenden vor den Mund tritt
{aq>Qddfi^ n%Xav6g bei Euripides), »leckt hündisch die Furiec
(s. Böttiger), als fit^onaQ&eyog (bei Lycophron).
Magnis m(üis, lote dehiscens, ingentem dentilms sonitum
Zeituchr. IQt Völlerpsych. nnd Sprachw. Bd. XIV. 3. 24
358 Bastian, Masken und Maskereien.
edens (Festus), als Gorgonenmaske*) oder fivQfMolvxsiov (mit
ausgestreckter Zunge). Ruft persona Batavi (bei Martial)
zum Lachen (und Kinder zu schrecken). Die Habichtsnase
findet sich bei den xola^ oder naqatSixoq (des classischen
Theaters). Die Maske des kahlköpfigen Alten (mit »einem
Fliegen- oder Bienenkopfc auf dem Scheitel) wird von Winckel-
mann auf Zcvq änofjkviog bezogen (s. Köhler), oder Beelzebub
(und so bei Haidah, mit einer Bremse auf der Nase). »Hie
tritt fraw Hulde herfür mit der Potznasen **)€ (s. Luther).
Und dafür der Seitenstücke nun viele, von Holden oder Un-
holdinnen, aus der Maskenwelt der Erde fiberall, cum daemo-
num turba in simüüudinem mulierum transformata, quam
vfdgaris sttdtUia Holdom (Unhcidam) vocat, certis nocUbus
equüare debere super quasdam bestias, bis zum Hexensabbath
classischer Walpurgisnacht, wenn Faust zur Unterwelt nieder*
steigt, »um Helene zu holen, und bringt eine köstliche
Dichtung heraufc (s. Schröer).
»Seh* ich, wie durchs alte Fenster,
In des Nordens wüstem Graus
Ganz abscheuliche Gespenster,
Bin ich hier, wie dort zu Hause
Freilich aber:
Zwar Masken, merk ich, weißt du zu verkünden,
AUein der Wesen Schale zu ergründen.
Sind Herolds Hofgesch&fte nicht:
Das fordert schärferes Gesicht,
und solchem also zur Prüfung möge dieser Versuch hier vor-
gelegt sein.
*) In den GorgonenkOpfen (mit »gedunsen breitgedrücktem Gesicht
und herausgestreckter Zungec) liegt (im Aufschwellea der Wangen) häas-
Hches Spottgelächter ausgedrückt (s. Böttiger). Spectabantur capiiUms
serpentibus crimtis, vuUibua tetricis et horrmdia, crueniis etflammanUbus,
ali8 coriacis, cruribus longis et macüentis, mamtnis foede exserUa,
facüius sanguineum quid rubentibus et tortia e serpentibua flageUis
armat€ie, paUa denique sangumea veaiitae, im tragischen Furienkostüm
des Euripides (bei Barnes).
**) Frau Eisennase (Vasorrü bäba) zeigt nadelspitsige Eisennase (bei
den Ungarn), und in Skandinavien rührt die Hexe ihren Brei mit
langer Nase.
K. Bruchmann, Beurteilung. 359
Benrteiliing.
Die Siebenschläferlegende, ihr Ursprung und ihre Ver-
breitung. Eine mythologisch-litteraturgeschichtliche Studie
von John Koch. Leipzig, 1883. 215 S. 8.
Der Verfasser dieser fleißigen und wie es scheint er-
schöpfenden Arbeit musste sein Augenmerk zunächst darauf
richten, die älteste Form der Legende festzustellen, sodann
ihren Varianten und den Spuren ihrer Wanderung nachzu-
gehen, endlich ihre Entstehung zu erklären. Demgemäß be-
gegnen wir den Gapitelüberschriflen: L Ueberlieferung der
Legende, II. Sage vom langen Schlaf, III. Ursprung der ephesi-
schen Legende, IV. die ältesten Versionen der Legende,
V. weitere Entwicklung bei den Mohammedanern, VI. Ver-
breitung im Abendlande während des Mittelalters, VII. die
Legende im 16. — 18«, VIIL im 19. Jahrhundert.
Als der Kaiser Decius eine grausame Ghristenverfolgung
in Ephesus anstellte, konnten sich sieben Junglinge Achillides,
Diomedes, Eugenius, Stephanus, Probatius, Sabbatius, Cyriacus
nicht zur Verleugnung ihres Glaubens entschließen. Sondern
sie sammelten, als der Kaiser ihnen Bedenkzeit gegeben hatte,
Geld, um es unter die Armen zu verteilen. Außerdem aber
entflohen sie aus der Stadt in die Höhle des Berges Anchilus.
Von dort wird Diomedes, der jüngste, in die Stadt geschickt,
um Brot zu kaufen. Er musste ihnen bald melden, dass
Decius nach ihnen geforscht hätte. Als sie nun traurig bei
ihrer dürftigen Mahlzeit saßen, entschliefen sie sanft. Von
den Angehörigen der sieben erfährt man, dass sie zum Berge
Anchilus geflohen sind, und der Kaiser lässt den Eingang zur
Höhle vermauern. Theodorus und Rufinus, Christen aus der
Umgebung des Kaisers, beschlossen die Geschichte der sieben
auf Bleitafeln zu schreiben und sie in einem wohl versiegelten
Kästchen unter den Mauersteinen zu verbergen.
Als sich nun nach langer Zeit im 38. Jahr der Regierung
des Theodosius, des Arkadius Sohn, ketzerische Zweifel an
der Auferstehung der Toten regten, beschloss Gott ein Wunder
360 K* Bruchmann,
zu tun und die Auferstehung zu beweisen. Somit wird dem
Adolius, dem Besitzer jenes Berges mit der Höhle, eingegeben
dort einen Stall zu bauen. Die Steine werden fortgenommen
und die sieben erwachen zu neuem Leben, Ihre Kleider
waren unversehrt, ihre Leiber frisch und blühend.
In der Meinung sie hätten nur eine Nacht geschlafen
und Decius sei noch am Leben, schickten sie wieder den
Diomedes in die Stadt Der erkannte sie freilich nach
200 Jahren nicht wieder. Als er nun beim Bäcker mit seinem
alten Gelde Brot kaufen wollte, glaubte der Bäcker, der Käufer
habe sein Geldstuck aus einem gefundenen Schatze. Er wird
zum Statthalter geschleppt; nach den Aufklärungen, welche
er gibt, eilt man zur Höhle, findet die Bleitafeln und die
Jünglinge mit glänzendem Antlitz.
Der Kaiser Theodosius wird von Konstantinopel herbei-
gerufen. Auch er findet die Jünglinge in der Höhle, welche
alsbald ihren Geist aufgeben. Nachts erscheinen sie ihm im
Traume und bitten in der Höhle belassen zu werden. Der
Kaiser lässt sie mit Gold und kostbaren Steinen füllen und
darüber eine große Kirche erbauen.*)
Der allgemeine Gedanke der Legende ist vertreten durch
die Sagen nach welchen Helden (und Götter) in Berge ent-
rückt werden, wo sie ein traumhaftes Leben führen, bis sie
einstmals wieder aus dem Berge hervorkommen sollen. Wer
mit solchen Wesen in Verkehr kommt, verliert oft die mensch-
liche Empfindung für den Ablauf der Zeit, so dass ihm z. B.
100 Jahre wie ein Tag entschwinden. Letzteres wird auch
im Talmud, in arabischen und chinesischen Sagen erzählt.
Allein damit ist nicht alles eiiclärt. Warum sind es gerade
7 Schläfer (daneben auch 8, in der mohammedanischen Er^
Zählung 3 und 5) und warum ist die Sage bei Ephesus
localisirtP
Der Verfasser sucht hier mit Recht zunächst nach heid-
nischen Resten. Der Grottenberg, sagt er, ist der Natur-
*) Von den sardinischen Neunschläfern handelt Erwin Rohde im
Rheinischen Museum 35^ 157 f. 37, 465 f.
Beurteilung. 361
göttin, mag sie nun Demeter oder Kybele genannt werden,
heilig gewesen. Rhea, Kybele und Demeter haben in ihrem
Dienst (Preller Gr. M. I « 529. 542. 707) die Korybanten
und Daktylen, welche oft mit den Kabiren verwechselt werden
und mitsamt der Göttin verehrt wurden.
Gab es denn aber 7 Kabiren? Was wir von ihnen
wissen, hat Preller P 695 f. zusammengestellt. Der Name
scheint phönicisch Kabirim, die mächtigen, großen ; ihre Zahl
schwankt zwischen 2, 3, 4, so dass sie auch mit den Dios-
kuren verwechselt werden (Preller II • 107), dass aber außer
dem Namen auch ihre Verehrung von den Phöniciem her-
stammte, lässt sich nicht glaublich machen, wenigstens nicht
so, dass es je nach Meinung der Griechen 7 oder 8 Kabiren
gegeben hätte. Die Phönicler allerdings (Movers I 527 f.)
verehrten mit E&mun 7 Kabiren. Esmun wird von Movers
als der Himmel erklärt, der die Bahnen der 7 Planeten,
deren Götter die Kabiren sind, umfasst. Das würde die von
Rohde behandelte sardische Sage vielleicht aufhellen. Zudem
spricht die älteste Aufzeichnung unserer Legende durch den
syrischen Bischof Jakob von Sarug in Mesopotamien (519 bis
522) von 8 Jünglingen, daraus müsste denn die als heilige
Zahl beliebte 7 geworden sein.
Sehen wir zu, ob wir trotz des Umstandes, dass bei den
Griechen nie von 7 oder 8 Kabiren die Rede war, doch
durch andere Zuge an sie erinnert werden.
Im QorEn wird uns als Begleiter der Männer in der
Höhle ein Hund genannt, welcher auch besondere Verehrung
genoss. Vom selben Hund ist die Rede in einer älteren
christlichen Schrift Theodosius de situ terrae sanctae (zw.
520 und 530), und es lässt sich nicht annehmen, dass der
Hund eine Erfindung Mohammeds oder eine Zutat der christ-
lichen Legende gewesen ist. Dag^^n stand er bei den
Griechen in Verbindung mit Asklepios und den Kabiren.
Aaklepios nämlich, auf dem Tivd-^oy öqo^ bei Epidaurus
ausgesetzt, sei von einer Ziege der Herde genährt und vom
Hunde der Herde beschützt worden (Preller I * 426) und in der
Kabirengrotte auf Samothrake (dem Mittelpunkt dieser Cult-
362 ^- Bruch mann,
erscheinungen) würden Hundeopfer dargebracht (Movers 1404).
Hundeopfer wurden im Orient und in Ländern am Mittel-
meer dargebracht, wenn der Sirius, Ende Juli, aufging. Die
Kabiren wurden ebenso wie die orientalischen Siebenschläfer
als Beschützer der Seefahrt gedacht (S. 65, 66), die Phönicier
führten Kabirenbilder an Bord ihrer Schifife, die Moham-
medaner, denen die Nachbildung lebender Wesen verboten
ist, schreiben die Namen der Siebenschläfer auf den Stern
ihrer Fahrzeuge.
Diese Tatsachen legen allerdings den Gedanken nahe,
dass Sagenelemente der Kabiren mit denen der Siebenschläfer
vermischt sind. Aber, wird man einwenden, wo ist je ge-
sagt, dass die Kabiren als schlafend vorgestellt werden?
Diese Vermittelung bringt der Verfasser so zu Stande (S. 67).
Während der Verfolgung des Decius suchten Christen in
einer Höhle Schutz und kamen darin um. In dieser Höhle
sollten aber nach der Sage Dämonen wohnen, bei denen
Sterbliche in längerem Schlafe zu liegen pflegten. Später,
als die heidnischen Vorstellungen mehr und mehr verblassten,
wurden jene Märtyrer mit den Dämonen verwechselt. Aller-
dings besitzen wir keine Ueberlieferung davon, dass die
Kai)iren in Ephesus ein Heiligtum besessen hätten, wohl aber
wusste man von ihnen, da sich die Bewohner von Ephesus
an den Kabirenmysterien auf Samothrake beteiligten.*)
Was bedeuten nun aber die 7 Kabiren ? Bei den Phöniciem
waren es die 7 Planeten. Diese konnte man vielleicht ver-
wechseln mit dem für die Schiffahrt der östlichen Völker
bedeutsamen Siebengestim. Bei den Pleiaden schwankt die
Zahl auch nach 6 hin, Hyaden rechnete man 7, 3 oder 5
(Preller P 381, 384); das Siebengestirn war den Griechen
bekanntlich immer sichtbar, die Pleiaden (im Sternbild des
Stiers) gingen Mitte Mai auf und Ende October unter; mit
der Zeit ihres Untergangs begann die Aussat und Regen
und Stürme, so dass die Pleiaden wie gejagt vom großen
*) Verfasser verweist auf manche Einzelheiten der Darstellung im
Buche Daniel S. 77 f. welche an unsre Legende anklingen.
Beurteilung. 3g3
Jäger Orion erschienen; auch die Hyaden wurden in diese
Jagd hineingezogen.
Dies alles sind Elemente, welche wohl bei unsrer Legende
verwendet werden konnten; gleichwohl scheint auch hier
der Gang der Sagenbildung im einzelnen nicht mehr mit
Sicherheit festzustellen.
Dazu kommt Folgendes. Paulus Diaconus (I 4) will ein
Wunder berichten, welches in ganz Deutschland sehr berühmt
sei. Im äußersten Norden dieses Landes, am Ufer des Oceans
schlafen in einer Höhle unter einem gewaltigen Felsen
7 Männer seit unbestimmt langer 2^it. Ihre Leiber und-
Kleider sind unversehrt, darum werden sie auch von den
Leuten jener Gegend verehrt. Nach dem Gewände zu
urteilen müssen es Römer sein. Vielleicht werden diese
Männer, welche unzweifelhaft Christen sind, die heidnischen
Völker jener Gegenden eines Tages zum rechten Glauben
bekehren.
Wenn man nicht annehmen will, dass die Version
Wamefneds, welche mit der mohammedanischen manche
Aehnlichkeit zeigt, selbständig entstanden ist, so müsste Wame-
fried, als er noch in Italien lebte, eine ähnliche Version wie
Mohammed gehört und später Züge daraus in eine nordische
Sage, welche von schlafenden Heroen berichtet, übertragen
haben.
Nun bleibt noch die Zahl der verschlafenen Jahre zu
betrachten, sie schwankt hauptsächlich zwischen 372 und 309.
Von Decius 249—251'^) bis zum 38. Regierungsgahr Theodosius
IL (408 — 450) sind noch nicht 200 Jahre verflossen, so dass
spätere Erzähler 170, 184, 1% Jahre angeben. Der Ver-
fasser stellt eine Gombination an, welche an das Todesjahr
Neros anknüpft; von diesem 68 bis 440 wären allerdings
372 Jahre. Das Nähere darüber S. 71.
K. Bruchmann.
*) Vgl. Ranke Weltgescb. III, 1, 414.
364 Mistel], Nachtrag. — Steinthal, Notiz.
Nachtrag.
S. 299 flgde. Dem Verzeichnis finnischer Worte, deren
bloßer Stamm meist auf die Frage wohin neben eigentlichen
Formen üblich ist, lässt sich noch beifügen : liki »Nähec,
wovon likellä likdU likeltä zur Beantwortung der Fragen
wo wohin woher dienen : likellä kirkkoa »nahe bei der Kirchec
u. s. w., aber auch talo on liki kirkkoa »das Haus ist nahe
bei der Kirchec, älä mene Mntä liki »gehe nicht zu ihmc
Sivu »Seite Flanke Flugelt, sividla und sivassa, sivuUe und
sivu(h)un, sivf^lta und sivusta nach obigen Fragen, sif?u
und sivutse »vorbei«. — S. 312. Danach wäre Brugmans
Aorist-Erklärung in Kuhns Ztschr. XXV 308 überflüssig. —
S. 331 flgde. Für die Länge zeigt sich der Unterschied der
beiden e, ähnlich wie in den heutigen Dialekten, auch in
SilvestersGrammatik(1539), abgedruckt in Franz Kazinczys
Magyar Begisegek es Ritkasdgok (»Ungar. Altertümer imd
Seltenheiten« 1808^, darin, dass geschlossenes ^ zu i wird,
offenes e ein e bleibt, während in der heutigen Schriftsprache
beide im e zusammenfließen. Die Accentzeichen rühren vom
Herausgeber her nach S. XXII der Vorrede {kijem seerint
sagt er). So ist das B von €gy&> ander, ^n ich, es und, het
sieben, f^l halb, {fü fürchten), fH-rtse halb Teil, keresi^
suchte obj., kU zwei, keves wenig, nelkül ohne, neme^ zeugte
obj., tu Winter, teremU schuf obj., tive (= teve) tat obj.
u. s. w. offen. —
Endlich sei es mir erlaubt, meinem verehrten Gollegen
Dr. Alb. Teichmann, ordentl. Prof. des Strafrechtes, der
sich auch umfassende sprachliche Kenntnisse erworben, für
die wohlwollende und werktätige Teilnahme, welche er seit
Jahren meinen Studien gewidmet, hiermit öffentlich den
wohlverdienten Dank auszusprechen. —
Franz Mistell.
Notiz.
Herr Dr. Jul. Duboc, dem ich meine Bemerkungen za seinem in
diesem Hefte abgedruckten Aufsatz über den Eudämonismus schon mit*
l^eteilt hatte, hat mir seine Gegenbemerkungen zukommen lassen, die
ich im nächsten Hefte veröffentlichen werde.
Für jetzt, da es an Raum gebricht, genüge im voraus die Anzeige,
dass er den Zusammenhang der Ethik mit den Naturwissenschaften
näher bestimmt und die Uebereinstimmung des Eudämonismus mit der
Tatsache des Gewissens betont. St.
Die Entdecknng des Beharnmgsgesetzes.
Von Dr. Emil Wohlwill.
»Es ist ein von allen Forschern anerkanntes Naturgesetze,
so schreibt im Jahre 1713 Roger Cotes, »dass jeder Körper
in seinem Zustande, sei es der Ruhe, sei es der gleichförmigen
geradlinigen Bewegung beharrt, so lange er nicht von auf
ihn wirkenden Kräften genötigt wird, diesen Zustand zu
ändernde Die allgemeine Uebereinstimmung , die der eng-
lische Astronom in diesen Worten zuversichtlich annimmt,
war eine jüngst entstandene. Kaum 70 Jahre waren ver-
gangen, seitdem das Beharrungs- oder Trägheitsgesetz, das
Cotes in Newtons Fassung wiedergibt, zum ersten Mal in
ähnlichem Wortlaut ausgesprochen war, nicht viel mehr als
ein Jahrhundert, seitdem man angefangen hatte, auf einzelne
Erscheinungen eine Betrachtungsweise anzuwenden, die diesem
Gesetz entspricht. Am Ausgange des 16. Jahrhunderts er-
scheint noch die entgegengesetzte Anschauung, nach der mit
der bewegenden Ursache die Bewegung endet, als die allein-
herschende, und nur aber die Natur des Vorgangs, durch
den ein zeitweiliges Fortwirken der Ursache ermöglicht wird,
besteht eine Verschiedenheit der Meinungen zwischen den
unabhängigen Forschem und den Anhängern der aristo-
telischen Ueberlieferung. Die geschichtliche Entwicklung,
durch die in so kurzem Zeitraum eine so tief eingreifende
Umgestaltung der Denkweise zu Stande kam, hat in mehr-
facher "Beziehung Anspruch auf unser Interesse. Wie nach
Kant auf dem Gesetz der Trägheit »die Möglichkeit einer
eigentlichen Naturwissenschaft beruhte, so beginnt geschicht-
ZeitMbr. für VOlkorpsjch. nnd Spnchw. Bd. XIV. 4. 25
366 EmU Wohlwill,
lieh mit der Erkenntnis dieses Gesetzes erst die zusammen-
hängende Entwicklung einer rationellen Mechanik und Physik;
sie bildet den Ausgangspunkt für die Schöpfung einer Mechanik
des Himmels. Aber man braucht kaum den gleichen Satz
in der allgemeineren Fassung zu lesen, in der man ihn in
der Gegenwart unter den »Axiomenc der Physik verzeichnet :
»die Wirkung jeder Ursache verharrte*), um sich seiner
Bedeutung weit über die Grenzen des heute als Physik be-
zeichneten Wissenschaftsgebiets hinaus bewusst 2U werden.
So muss auch die Geschichte seiner Entdeckung nicht allein
als das notwendige Fundament einer Geschichte der neueren
Physik betrachtet werden, sondern auch für die Geschichte
der Gesammtentwicklung des menschlichen Geistes eingehende
Berücksichtigung finden als Geschichte einer Erkenntnis, die,
bewusst oder unbewusst, in dem Denken aller folgenden
Generationen wirkt, die zum Hebel alles sp&teren Erkenn^is
geworden ist.
Die Geschichte der Entdeckung des Beharrungagesetzes
ist bisher nur unvollständig ergründet. Man betrachtet all-
gemein Galilei als denjenigen, der die neue Lehre zu Tage
gefordert, aber darüber, wie die Entdeckung vorbereitet
wurde, bieten uns die Schriften zur Geschichte der Physik
nur vereinzelte Notizen**); in Betreff des entscheidenden
Ideengangs im Geiste des Entdeckers sind zwar mannich-
fache Mutmaßungen zur Sprache gebracht, es ist jedoch
kaum jemals ernstlich versucht, die wesentlich psychologi-
schen Erwägungen, auf die man sich dabei gestützt hat, auf
Grund einer eigentlich historischen Forschung als zutreff^d
zu erweisen. Eine lediglich psychologische Ableitung ist aber
in solchem Falle lun so mehr der Gefahr des Feblgreifens
*) Vergl. W. Wandt, Die physikalischen Axiome und ihre Be-
ziehung zum Gausalprincip. Erlangen 1866. p« 42 u. f.
**) Die Geschichte des Beharrungsgesetzes ist in neuerer Zeit außer
in den allgemeinen Werken von Whewell, Döhring, Poggendorff unter
anderm von W. Wundt in der citirten Schrift und von E. Mach in dem
Vortrag über »die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Er-
haltung der Arbeite (Prag 1879) behandelt.
Die Entdeckung des Behamingsgesetzes. 367
ausgesetzt» als Alles, was sich dem späteren Forscher als
einfacher, naheliegender oder gar notwendiger Zusammen-
hang der Gedanken und der Tatsachen darbietet, sich erst
unter dem Einflüsse der neuen Erkenntnis gestaltet hat und
für den Entdecker mindestens in abweichender Gombination
vorhanden war. Glücklicherweise ergibt die Befragung der
Utteratur, dass bei unserm Gegenstande nicht Mangel an
Material der UnvoUständigkeit der geschichtlichen Berichte
zu Grunde liegt, dass vielmehr eine wenigstens annähernde
Reconstruction der Gedankenfolge, die von der wider-
sprechenden Lehre des Aristoteles zur Einsicht in das uni-
verselle Wirken des Beharrungsgesetzes geführt hat, noch
heute möglich ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu
erheben, gebe ich im Folgenden den Versuch einer solchen
Reconstruction.
Der Gegensatz des Natürlichen und des Naturwidrigen
oder Gewaltsamen gilt bekanntlich in der aristotelischen
Bewegungslehre als entscheidend für die Erledigung der
wichtigsten Fragen, so auch für die Erörterungen über die
Fortdauer der Bewegung. Wenn gewissen Körpern gewisse
Bewegungen naturgemäß zukommen, so bedarf die Fort*
dauer derselben keiner weiteren Erklärung; hat die natür-
liche Bewegung, wie dies bei der nach unten und oben ge*
richteten der schweren und der leichten Körper angenommen
wird, ein vorbestimmtes Ziel, so endet sie naturgemäß, so-
bald das Ziel erreicht ist; lässt sich, wie bei der gleichfalls
naturgemäßen Kreisbewegung der Himmelsmaterie von einem
Ziel nicht reden, so wird auch die Bewegung eine immer-
währende sein; da eine äußere Ursache dafür, daas sie auf-
höre, nicht zu begreifen ist, so fehlt auch hier die Veran-
lassung, für die Erhaltung der Bewegung nach einer Ursache
zu suchen, wenigstens nach einer physikalischen, denn die
teleologische spielt in der Tat im System des Aristoteles eine
wichtige Rolle.
Ist nun durch die Ordnung der Natur dem Ordnungs-
mäßigen, Natürlichen gegenüber das Naturwidrige nicht aus-
25*
368 Emil Wohlwill,
geschlossen, so kann es doch nur voräbergehenden Bestand
haben; es entspricht demnach dem Wesen der gewaltsamen
Bewegung, dass sie am Anfang die größte Geschwindigkeit
hat, dann sich verlangsamt und endlich aufhört. Der
weiteren Erörterung bedarf, wie sie entsteht und wie sie
auch mit abnehmender Geschwindigkeit fortdauern kann.
In ersterer Beziehung gilt als allgemeine Regel, dass nichts
sich bewegt, ohne mit einem andern Bewegten in Berührung
zu sein. In der Auffassung des Aristoteles ist durch dies
Princip die Annahme einer Uebertragung der Bewegung, die
den Moment der Berührung überdauert, ausgeschlossen; es
gibt demnach im Bereich der gewaltsamen Bewegung kein
eigentliches Beharren; wie aber erklärt sich dann, dass der
geschleuderte Körper sich fortbewegt, nachdem er von der
bewegenden Hand getrennt ist?
Die bekannte Antwort läuft auf eine mäßige Einschränkung
des Grundprincips hinaus. Der Luft, dem Wasser »und der-
gleichen mehre kann ihrer Natur gemäß die Fähigkeit über-
tragen werden, selbst bewegend zu wirken, auch wenn die
erste bewegende Ursache zu wirken aufgehört hsX*); indem
also mit dem geschleuderten Körper zugleich das umgebende
Medium den Antrieb der Bewegung empfängt, wird auch
für jenen eine Erhaltung der Bewegung über den Moment des
ersten Antriebs hinaus möglich; das allmähliche Nachlassai
und endliche Aufhören der vermittelnden Bewegung bedingt
dann mit Notwendigkeit die entsprechenden Aenderungen
in der Bewegung des geschleuderten Körpers.
Die eigentümliche Rolle, die diese Erklärung dem Medium,
also vorzugsweise der Luft zuweist, hat die Commentatoren
vielfach beschäftigt; eine besondere Erwähnung verdient
vielleicht die Erläuterung des Averroes, der in diesem Zu-
sammenhange darauf hinweist, dass abweichend von den
andern Körpern, Luft und Wasser sich nicht als Ganzes,
**) Dies der nicht überall gleich deutlich hervortretende Sinn der
aristotelischen ErklArung, wie er Phys. VIII, 10. p. 267 a ed. Bekker
am ausführlichsten entwickelt wird.
Die Entdeckung des Behamingsgeselzes. 359
sondern Teil nach Teil bewegen und demgemäß, wie
Aristoteles fordert, nicht gleichzeitig aufhören bewegt zu
werden und bewegend zu wirken"^). Die übrigen Auslegungen
documentiren durchgehends mehr das Bestreben, die Ansicht
des Aristoteles unter allen Umstanden zu rechtfertigen, als
das Bedürfnis physikalischer Verdeutlichung des Vorgangs.
Die Lehren, die hier einleitend in Erinnerung zu bringen
waren, sind die herschenden gewesen, so weit und so lange
die aristotelische Physik das physikalische Denken beherscht
hat ; man findet sie im 16. Jahrhundert in allen auf Schulen
und Universitäten benutzten Lehrbüchern als wissenschaft-
liche Wahrheit reproducirt, in einem großen Teil der philo-
sophisch-naturwissenschaftlichen Litteratur noch in viel
späterer Zeit; noch 1667 brauchte Borelli in seiner Schrift
de vi percussionis den Raum von 16 engbedruckten Seiten,
um das Dogma von der Erhaltung der Bewegung durch das
Medium zu widerlegen.
Dennoch darf man als gewiss betrachten, dass nament-
lich dieser letzteren eigentümlichen Lehre gegenüber es schon
in alter Zeit nicht an abweichenden Auffassungen gefehlt
hat Offenbar ist ja die Ansicht des Aristoteles über die
Fortdauer der Bewegung eine keineswegs naheliegende und
einfache, sie ist vielmehr erst im Zusammenhang einer compli-
cirten Reflexion entstanden und nur in diesem zu begreifen;
man erklärt sie nicht, wenn man darauf hinweist, dass
Aristoteles das Beharrungsgesetz nicht gekannt habe**).
Durch dieses wird statuirt, dass für eine jede Aenderung des
Bewegungszustandes eine Ursache erforderlich ist; wenn dieser
wissenschaftlichen Erkenntnis die Erfahrung des täglichen
Lebens nicht zu entsprechen scheint, so zeigt doch das täg-
liche Leben aller Orten irgendwelches Beharren der erzeugten
*) AiistoteliB op. omnia lat cum Averrois commentariis. Venet 1560
YoL IV p. 73 u. 195. In diesem Zusammenhange ftußert AverroSs, dass
Wasser und Luft, als in gewissem Grade durchdringlich, gleichsam
zwischen dem geistigen und körperlichen Sein ein MitUeres darstellen.
«•) Gf. Zeller, Die Philosophie der Griechen. Tl. II, Abt. 2. Aufl. 3.
1879. p. 356.
370 E^niil Wohlwill,
Wirkung; wer das Beharrungsgesetz nicht kennt, erwartet
daher, dass die mitgeteilte Befwegung aufhöre, aber nicht,
dass ihre Dauer sich auf den Moment des Anstoßes be-
schränke, durch den sie hervorgerufen wurde; wer selbst ffir
den Vorgang der Mitteilung und Uebertragung eine weitere
Verdeutlichung für erforderlich hält, denkt dabei doch nicht
an eine äußere mechanische Veranstaltung, deren Wirkungs-
weise nochmals der Erklärung bedarf. So wenig wahr-
scheinlich es demnach ist, dass jemals Bogenschützen und
Kanoniere das Wesen ihrer Kunst darin gesehen haben, das
Medium zur Ausübung seiner Functionen anzuregen, so wenig
lässt sich glauben, dass bis zum Ende des 16. Jahrhunderts
kein ernster Forscher das Unzureichende und Gekünstelte
der aristotelischen Erklärung durchschaut habe.
Nachweislich hat man wenigstens für einen Teil der
Bewegungserscheinungen schon im Altertum das Beharren
des Zustands als Erklärung verwertet. In den »mechanischen
Problemenc, die dem Aristoteles zugeschrieben werden, wird
bei der Erörterung der Frage, weshalb die gerundeten Körper
sich leichter bewegen, unter anderem angeführt, dass »Einige
sagen: die Kreislinie sei immer in Bewegung, wie das Bleibende
(beharrl), weil es Widerstand leistete*). Der Vergleich
schließt hier jede Zweideutigkeit der ersten Worte aus. Dass
ein Princip der Erhaltung der Kreisbewegung aufgestellt
werden konnte, lange bevor der Begriff eines allgemeinen
Beharrens der mitgeteilten Bewegung zur Erkenntnis gelangte,
lässt sich auf die Wahrnehmung zahlreicher überall zugäng-
licher Erscheinungen zurückführen, in denen die Fortdauer
*) Aristotelis quaestiones mechanicae, cap. 9, p. 43—44 der Aus-
gabe von T. P. van Gapelle (Amstelodami 1812). Der Text lautet:
In Uyoval uvh ^tt xal ^ ygafifiti ^ rov xvxXov iv tpoQf itfrtr dil, tSmuQ
td fiiyoyra (f*a ro dvjiQkidHv. Dass für den ganzen Satz keine andere
Deutung als die im Text angenommene möglich ist, scheint auch daraus
hervorzugehen I dass schon Nie. Leonicenus (f 1524) die Worte ebenso
wiedergibt, wie alle diejenigen, die zur Uebertragung die Kenntnis des
Beharrungsgesetzes mitgebracht haben. Man vergl. Aristot. Opera ed.
Ac. reg. Bor. vol. III p. 411 und F. T. Poselgers Ueiiersetzung, heraus-
gegeben von M. Rahlmann. Hannover 1881. p. 31.
Die Entdeckung des Bebamingsgeseizes. 371
der Kreisbewegung namentlich um dessentwillen auffällig ist,
weil mit derselben eine zeitweilige Aufhebung der Schwere
verbunden erscheint Dahin gehören unter anderem die Be-
wegung des Kreisels, die Erhaltung des Steines in der
Schleuder und jenes schon bei Aristoteles erwähnte Experi-
ment, bei dem durch eine schleuderartige Vorrichtung ein
mit Wasser gefällter Becher im Kreise gedreht wird, ohne
dass das Wasser herausfließt, »auch wenn es sich unterhalb
des Erzes befindete*). An die Erörterung dieser und ver-
wanter Bewegungserscheinungen knüpfen sich bei den Schrift-
stellern des Altertums Aeußerungen, die mit dem Gitat der
»mechanischen Problemec ihrem wesentlichen Inhalte nach
äbereinstimmen. Ihre ErUfirung besteht — dem strengen
Sinn der Worte nach — in der Hervorhebung des Gemein-
samen: dass die schnelle Bewegung im Kreise sich erhält
und eben dadurch den Körper, dem sie mitgeteilt ist, hindert,
einer andern ihm ursprünglich zukommenden Bewegung zu
folgen. In der 'Anwendung des gleichen Princips zur Er-
klärung der ewigen Bewegung des Himmels liegt die eigent-
liche Bedeutung einiger Sätze älterer griechischer Philosophen,
in denen man die Begri£te der neueren Himmelsmechanik,
wenn auch nur als Ahnungen wiederzufinden geglaubt hat**).
Fügt man den Worten nicht aus der Anschauungsweise der
späteren Astronomie Fremdartiges hinzu, so reden auch diese
*) De coelo U, 13. ed. Bekker p. 295 a.
**) Diese Sätze sind namenUich von A. y. Humboldt im Kosmos I,
138; III 12, 37, 595 u. f., 619 gesammelt and in der im Text bezeich-
neten Weise ausgelegt. Eine nähere Begründung der Ansicht, dass
Humboldts Auslegungen Aber den Inhalt der Worte hinausgehen, muss
ich mir an dieser Stelle versagen. Der sehr wesenUiche Unterschied
zwischen der alten und der neuen Anschauung bei scheinbarer Aehn-
lichkeit liegt darin, dass nach dieser zur Entstehung und Erhaltung der
Kreisbewegung ein fortdauernder Zug zum Gentrum unerlässlich ist,
während den Alten die Kreisbewegung immer eine einfache ist, die
sieh daher sehr wohl ohne Zug zum Gentrum denken lässt, die aber
bei hinreichender Gesehwindigkeii diesen Zug, wenn er nebenbei vor-
handen sein sollte, flberwindet nnd aufhebt. Die rein geometrische Er-
örterung an der Spitze der >mechan. Probleme« widerspricht nur scheinbar.
372 Emil Wohlwill,
Sätze nur von einem Uebergewicht der schnellen Kreis-
bewegung über den Trieb der schweren Körper nach unten.
Einer Erklärung dafür, wie eine Aufbebung des letzteren statt«
finden, die Gestirne am Fall zur Erde verhindert werden
können, schien es zu bedürfen, wenn man nach Anaxagoras
sich die Gestirne als Felsstücke denken konnte, die der feurige
Aether in der Starke seines Umschwungs von der Erde ab-
gerissen und entzündet hatte und wenn demnach erdartig
schwere Körper die Kreisbewegung des Himmels teilten.
»Gegen das Fallen c, so lautet die Erklärung in Bezug auf
den Mond, »hilft ihm seine Bewegung selbst und die grofie
Schnelligkeit des Kreisumlaufs, sowie die in Schleudern ge-
legten Dinge an dem Umschwung im Kreise ein Hindernis
des Herabfallens haben«'^). Andere Stellen, namentlich die
von Aristoteles als Meinung des Empedokles, von seinem
Gommentator Simplicius zugleich als Lehren des Anaxagoras
und Demokrit angeführten Behauptungen'^*) lassen als
wenigstens wahrscheinlich ansehen, dass diese älteren Philo-
sophen angenommen haben, die Kreisbewegung des Himmels
müsse kraft des alsbald sich äußernden, den Trieb nach
unten überwiegenden Schwunges eine ewigdauernde sein.
Solche Ansichten hatten freilich in der Kosmologie des
Aristoteles bei der völligen Sonderung des Himmlischen und
Irdischen und der Beschränkung der Schwere auf die erd-
artigen Körper keinen Raum. Aristoteles und mit ihm sein
Gommentator erklären, dass eine so entstandene Bewegung
als eine gewaltsame unmöglich dauern könne; die Wider-
legung jener älteren Meinungen gehört daher auch zu den
notwendigen Bestandteilen aller späteren Auslegungen der
Schrift de coelo.
Andrerseits hatte aber auch Aristoteles darauf binge-
*) Plutarchi de fade in orbe lunae. Cf. Piutarchi Moralia ed.
Dübner p. 1130. Gf. v. Humboldts Kosmos III 697» 619.
**) Aristoteles de coelo 11, 1 ed. Bekker p. 284 a. Dazu Simplidus
Gommentar in den Scholia ed. Brandis p. 491. A. v. Humboldt
(Kosmos III, 597) dtirt diese Aeußerungen irrtamlich als »Ansichtc
des Simplidus.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 373
wiesen, dass, ganz abgesehen von der Substanz, die Kugel
zwar fär die fortschreitende Bewegung die untauglichste der
Formen sei, dagegen für die Drehung im unveränderten Räume
die geeignetste; »denn soc, sagt er, »würde sie am schnellsten
sich bewegen und zumeist denselben Ort einnehmenc*).
Ebenso leitet Aristoteles aus der Natur der Kreislinie die
Vorstellung ab, dass, wenn es eine immerwährende Bewegung
gebe, dies nur die Bewegung im Kreise sein könne*'^). Dem
schliefit sich ergänzend die Erörterung in den »mechanischen
Problement an, die, über die Betrachtungen in Aristoteles
Hauptwerken hinausgehend, die größere Beweglichkeit der
gerundeten Körper ganz allgemein zu erklären suchf^"*"*).
Die bereits erwähnte Stelle unterscheidet Drehungsbewegungen,
bei denen die Axe des rotirenden Körpers entweder sich fort-
bewegt oder in horizontaler oder in vertikaler Stellung ruht.
Als Beispiele für diese drei Gattungen werden ausschließlich
solche Bewegungen angeführt, die nach aristotelischer Auf-
fassung als gewaltsame zu betrachten sind; dennoch ist bei
der Beantwortung der Frage die Schwierigkeit, die darin
liegt, dass »das Gewaltsame dauerte, unberücksichtigt ge-
lassen. Darf man annehmen, dass der oben hervorgehobene
Deutungs versuch der »«nvcgt nicht die Billigung des jeden-
falls peripatetisch denkenden Verfassers gefunden hat, so
lässt doch auch die an die Spitze gestellte Ansicht: die
schnelle Bewegung der rollenden Körper hänge damit zu-
sammen, dass dieselben die Unterlage weniger berühren als
die eckigen — offenbar die größere Zahl der Berührungspunkte
als Ursache der Geschwindigkeitsabnahme erscheinen, es
*) De coelo 11, 8 ed. B. 390 b.
♦♦) Phys. VIU, 9 ed. B. 265 a.
***) S. oben. Eine eingehende Vergleichung dieses und einiger
anderen verwante Gegenstände betreffenden Abschnitte der Quaestiones
mecbanicae mit den Ausführungen der aristotelischen » Physik c und
der Schrift >de coeloc ergibt in der Behandlungsweise wie im Ausdruck
so wesentliche Verschiedenheiten, dass man selbst, wenn es erwiesen
wftre, dass alle diese Schriften denselben Verfasser haben, ihre Ent-
stehung jedenfalb sehr verschiedenen Lebensperioden zuschreiben mfisste.
374 Ehnil Wohlwill,
wird demnach auch hier die Fortdauer selbst — soweit von
Hindernissen abzusehen ist — keineswegs als naturwidrig
und weiterer Erklärung bedürftig angesehen. Auch in dieser
Betrachtung wie in den zuvor angeführten treten also Vor-
stellungen zu Tage, die einen Widerspruch gegen die aristo-
telische Lehre von der Fortdauer der Bewegung wenigstens
vorbereiten.
Es ist nicht bekannt, dass man im Altertum in der
gleichen Richtung weitergegangen wäre oder auch nur in
nacharistotelischer Zeit auf den Satz vom Beharren der
Kreisbewegung zurückgegriffen hätte'^). Erwähnung verdient,
dass der Skeptiker Sextus Empiricus (um 200 v. Ch.) in
seiner Schrift »gegen die Mathematikerc unter vielen and^n
die Bewegungslehre betreffenden Zweifeln auch das Problem
der Mitteilung der Bewegung erörtert, das gleich unlösbar
bleibe, möge man annehmen, dass das Bewegende dem Be-
wegten folgt oder nicht folgt*"*"). Ergebnisse, die der weiteren
Entwicklung dienen konnten, bieten auch diese Erörterungen
nicht
Sucht man in der Litteratur des Mittelalters nach den
Anfangen einer fortschreitenden Erkenntnis in Bezug auf das
gleiche Problem, so wird man dergleichen von vornherein
nur bei der kleinen Zahl solcher Denker erwarten dürfen,
die auch in anderer Beziehung dem Aristoteles gegenüber
Unabhängigkeit bekunden, nicht bei den Albertus Magnus
*) In der kleinen Schrift m^l xht^twgy die dem Produs xuge-
schrieben wird, und die im übrigen nur aristotelische Sätse in scholasti-
scher Weise commentirt, wird ohne Einschränkung das Theorem hin-
gestellt: »Die Bewegung im Kreise ist immerwährende. Der sich an-
schließende überaus dürftige Versuch einer Beweisführung stellt außer
Zweifel, dass der Verfasser an ein mechanisches Princip, wie es in dem
Gitat der »mechanischen Problemec ausgesprochen scheint, nicht gedacht
hat. Die nähere Prüfung ergibt, dass der Satz: »Die Bewegung im
Kreise ist immerwährende ebenfalls ohne einschränkenden Zusatz bei
Aristoteles vorkommt (vergl. de coelo II, 6. B. 288 a 26), allerdings in
einem Zusammenhange, wo die ausschließende Bezugnahme auf die
Bewegung des Himmels sich Ton selbst versteht.
**) Sexti Empirici Opera ed. Jo. Alb. Fabridus Lips. 1718 p. 645—16.
Die Entdeckung des Behan'ungsgeseizes. 375
und Thomas von Aquino, wohl aber bei den Roger Bacon
und Nicolaus von Gusa. Die Commentare der beiden ersteren
zur aristotelischen Physik schließen sich in der Tat in der
Bewegungslehre aufs Strengste der Lehre des Meisters und
den Erläuterungen des Averroes an. In Betreff Bacons er-
scheint bemerkenswert, dass wenigstens in der bekannten
Ausgabe des Opus majus die Lehre von der Notwendigkeit
steter Berührung des Bewegten mit einem Beweger und von
der Wirkung des Mediums bei der Wurfbewegung nirgends
erwähnt wird. Einer unzweideutigen Opposition im Anschluss
an eine Fortführung der Untersuchung über die Bewegung
runder Körper begegnen wir bei Nicolaus von Cusa in dessen
merkwürdiger Schrift »über das Kugelspielc'^).
Wenn der runde Körper sich leichter bewegt, weil er
die Unterlage weniger berührt — welchen Einfluss wird es
haben, wenn das aus der Berührung entspringende Hinder-
nis verschwindend klein ist? »Eine vollkommen runde KugeU,
antwortet Nicolaus von Cusa , »die sich auf einer Unterlage
von vollkommenster Ebenheit befindet, würde die Ebene nur
in einem Atom berühren und könnte, wenn sie von a nach
c bewegt wird, niemals in c zur Ruhe kommen; denn wie
sollte sie über einem Atom ruhen? Ein vollkommen runder
Körper wird also, da sein Oberstes auch sein Unterstes und
ein Atom ist, nachdem er angefangen hat, bewegt zu werden,
soviel an ihm ist, niemals aufhören, da er sich nicht ver-
schiedenartig verhalten kann« Denn das, was bewegt wird,
würde nicht irgend einmal aufhören, wenn es sich nicht in
der einen und der andern Zeit verschieden verhielte. Des*
halb würde eine Kugel, die auf ebener und gleicher Ober-
fläche sich immer gleichmäßig verhält, einmal bewegt, immer
bewegt werden. Die Form der Rundheit ist demnach zu
immerwährender Dauer der Bewegung die geeignetste. Kommt
zu dieser auf natürliche Weise Bewegung, so wird sie nie-
mals aufhören.«
Bedarf es nach dieser Erläuterung zur Entstehung der
*) Opera Gusani ed. Basileae 1565 p. 213 u. f.
376 Emil Wohlwill,
dauernden Bewegung immer noch eines »natürlichenc An*
Stoßes, so kann doch dieser so klein gedacht werden, wie
man will ; dem entspricht, dass an einer späteren Stelle, die
Bewegung der vollkommen runden Kugel als eo ipso natür-
liche und eben deshalb immerdauernde bezeichnet wird.
Die immerwährende Dauer der irgendwie entstandenen
Rotation einer freischwebenden Kugel und die ewige Be-
wegung der äußersten Sphäre des Himmels erscheinen dem-
nach nur als Fälle desselben allgemeinen Gesetzes'^).
Die wesentlich neue Ansicht über die Mitteilung und
Erhaltung der Bewegung, die den Kern dieser Aeußerungen
bildet, wird noch klarer in der weiteren dialogisch ge-
führten Erörterung ausgesprochen. »In welcher Weiset,
fragt Herzog Johannes von Baiern, »hat Gott mit der
Sphäre der Fixsterne ihre Bewegung geschaffen?! »In ähn-
licher Weiset, erwiedert der Cardinal, »wie du die Be-
wegung einer Kugel schaffst; denn jene Sphäre wird durch
Gott den Schöpfer oder den Geist Gottes nicht bewegt, wie
auch die Kugel, wenn du sie laufen siehst, nicht durch dich
und deinen Geist bewegt wird, obgleich du sie in die Be-
wegung versetzt hast, die sie ausführen soll, durch den Wurf
deiner Hand, durch den Willen, indem du ihr einen Antrieb
gabst (impetum in ipsum faciendo); so lange dieser dauert,
wird sie bewegtt**).
*) Offenbar besteht ein inniger Zusammenbang zwischen diesen Vor-
stellungen und den eigentamlichen Ansichten des Gardinais Gusa aber
die Bewegung der Erde. Man yergl. Aber diese besonders E. F. Apelt,
die Reformation der Sternkunde. (Jena 1852) p. 15—30 und S. Günthers
Studien zur Geschichte der mathematischen und physikalischen Geo-
graphie. Halle 1879 p. 23 u. f.
**) Ich werde den im Folgenden häufig vorkommenden Ausdruck
impetus regelmäßig mit »Antrieb c übersetzen, da es mir wichtiger
scheint, in der deutschen Wiedergabe eines solchen Ausdrucks durch-
gehends das gleiche, annähernd dem Sinn entsprechende Wort zu ge-
brauchen, als den vergeblichen Versuch zu machen, durch wechselnde
Uebertragung den mannicbfaltigen Modificationen der Auffassung zu
folgen. Das im Text citirte impetum in ipsum facere ist offenbar
gleichbedeutend mit dem alsbald folgenden impetum ei imprimere und
demgemäß übersetzt.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 377
Ein Zusatz erklärt den Unterschied im Verhalten der
durch Menschenhand geworfenen oder gestoßenen Kugel und
der durah göttlichen Willen in Bewegung gesetzten Sphäre.
»Ich bemerke«, sagt Cardinal Cusa, »dass die Bewegung der
Kugel nachlässt und aufhört, weil sie nicht eine Bewegung
ist, die der Kugel als eine natürliche innewohnt, sondern
eine accidentelle und gewaltsame. Sie hört also auf, wenn
der Antrieb, der ihr eingeprägt ist, nachlässt (impetu, qui
impressus est ei, deficiente). Wäre aber die Kugel voll-
kommen rund, so würde, (wie schon gesagt) ihre Kreis«
bewegung, weil sie solcher Kugel natürlich und durchaus
nicht gewaltsam wäre, niemals aufhören.«
Dieser Bestimmung gemäß wird also dieselbe Bewegung,
die der unYoUkommenen Kugel gewaltsam ist, der vollkomme-
nen eine natürliche sein. Diese eigentümliche Auffassung
der traditionellen Unterscheidung ist mit einer Beseitigung
des Gegensatzes fast gleichbedeutend. Wie jene alten griechi-
schen Philosophen nimmt auch Nicolaus von Cusa bei Ver-
gleichung der Kreisbewegung des Himmels mit der der
irdischen Körper vor allem die Uebereinstimmung der Er-
scheinungen wahr; die dauernde Kreisbewegung ist ihm der
einfachere, die aufhörende der verwickeitere Fall. Freilich
greift er dann doch, statt, wie man erwartet, aus der Un-
voUkommenheit der bewegten Kugel das Aufhören der Be*
wegung zu erklären, wieder zur Annahme eines wesentlich
andern Verhaltens des gewaltsam wirkenden Antriebs: nicht
in Folge der Gegenwirkung des Widerstandes, sondern well
er ein gewaltsamer ist, nimmt der »eingeprägte Antrieb« ab.
Kann deshalb in Nie. von Cusas Auffassung — auch
in der Beschränkung auf die Kreisbewegung — nur eine
Annäherung an den Begriff des absoluten Beharrens ge-
funden werden, so liegt ein unzweifelhafter und entscheiden-
der Fortschritt darin, dass er die directe Uebertragung der
Bewegung auf den bewegten Körper, die Aristoteles als un-
annehmbar betrachtet, als Tatsache unbedingt anerkennt.
Obgleich seine Ausemandersetzung sich unmittelbar nur auf
die rollenden oder gedrehten Körper bezieht, so gewinnt
378 Emil Wohlwill,
sie doch namentlich durch die ausdrückliche Bezugnahme auf
den Wurf als Ursache der Bewegung die allgemeinere Be-
deutung eines Widerspruchs gegen die aristotelisch« Lehre.
In der Geschichte der neueren Naturwissenschaft sehen
wir nicht selten eine wesentliche Förderung der Forschung
sich daraus ergeben, dass, unter Verzicht auf begriffliche
Verdeutlichung des naturlichen Geschehens, schlechthin als
gegeben gesetzt wird, was man bis dahin als unbegreiflich
bezweifelt und bestritten hatte. Auch die Lehre von einer
Uebertragung der Fähigkeit zur Fortsetzung der Bewegung
scheint uns mehr ein Verzicht auf Erklärung als eine eigent-
liche Erklärung zu sein. Diese Auffassung entspricht jedoch
nicht den Worten und der Absicht Nicolaus von Cusa. Es
ist in der Tat mehr als eine Umschreibung der Tatsache,
wenn er die mitgeteilte Bewegung motus impressus, den über-
tragenen Antrieb Impetus impressus nennt. Diese Bezeich-
nungsweise, die nach einiger Zeit die übliche geworden ist,
durch die fast drei Jahrhunderte später noch Newton die
Uebertragung der Kraft und der Bewegung veranschaulicht,
hatte, ehe sie dem physikalischen Denken dienstbar ge-
macht wurde, in der Terminologie der »gehehnen« Wissen-
schaften die mannichfaltigste Verwendung gefunden. Ueberall,
wo von mystischen »Einflüssen« die Rede ist, sei es in der
Alchemie, wenn es sich um die Beziehungen zwischen den
7 Planeten und den 7 Metallen handelt, sei es in der Astro-
logie und den astrologischen Capiteln der älteren Medicin,
sei es im Bereich der eigentlichen Magie — begegnet uns die
»Impression«, das »Imprimiren« der geheimen KrafL Aus
der astrologischen Periode der Meteorologie hat sich für
wässrige wie feurige Metecure der Ausdruck »hnpressionen«
lange erhallen. Durch »Influenz« und »Impression« kamen
alle jene zahllosen Fern Wirkungen und übertragenen Wirkungen
zu Stande, mit denen frommer und unfrommer Glaube die
sinnliche wie die übersinnliche Welt erfüllte. Zu erörtern,
wie auf diesem Wege die Mitteilung der Kräfte und Fähig-
keiten sich verwirklicht, gehörte zu den Aufjgfaben der mysti-
schen Wissenschaft. In diesem Sinne erklärt noch Paracelsus
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 379
die Aasfährung der Lehre von den »Impressionen« tar den
Hauptgegenstand der kabalislischen Magie.
Fehlt demnach der Vorstellung von einer ^»Einprägung«
der Kraft noch viel zur Bedeutung eines wissenschaftlichen
B^riffes, so spricht sich doch in ihr die Ueberzeugung aus,
dass ein Wirken ohne fortgesetzte Berührung als in der
Natur der Dinge gegeben anerkannt werden muss. Von der
gleichen Ueberzeugung ausgehend, gelangte ohne Zweifel
auch Nicolaus von Gusa oder derjenige, dem er folgte, dazu,
die Schwierigkeit, die Aristoteles in dem Problem der Er-
haltung der Bewegung fand, durch die Annahme einer
Uebertragung des Impetus zu beseitigen. Es ist eine Gattung
natürlicher Wirkungsweisen, der er diese Uebertragung unter-*
ordnet, indem er sie mit dem Ausdruck impressio bezeichnet.
In der Aeußerungsweise der Schrift »über das Kugel-
spielc liegt keine Nötigung, das Verdienst der soeben gekenn-
zeichneten Wendung in der Bearbeitung unsres Problems
dem Cardinal von Cusa zuzuschreiben; eine gründliche Durch-
forschung der älteren, namentlich auch der arabischen Litte-
ratur wird vermutlich zur Entdeckimg gleichdenkender Vor-
gänger in viel früherer Periode fähren. Eine Ausdrucksweise
wenigstens, die der soeben besprochenen nahe verwant ist,
kommt im Zusammenhang der Erörterungen über den gleichen
Gegenstand schon bei den ältesten griechischen Auslegern
des Aristoteles vor. Es wird nämlich in den Erläuterungen
der Themistius und Simplicius, die zum größeren Teil die
Auffassung und die Worte des Alexander von Aphrodisias
(200 n. Chr.) wiedergeben, die nach Aristoteles Lehre der
Luft übertragene bewegende Kraft als eine dvvafAtg ivdo^siaa
bezeichnet und zur Verdeutlichung dieses Begriffs, der vor-
übergehenden Befähigung gegenüber, die das Eisen nur in
der Nähe des Magneten zeigt, auf diejenige hingewiesen, die
ein Körper in Folge der Erwärmung erlangt, indem er nicht
allein selbst warm wird, sondern auch »als eine eigene Kräfte
{oixBia dvvafjug) die Fähigkeit erlangt, selbst weiter zu er-
wärmen und diese Kraft weiterzugeben. »Dies, heißt es
bei Themistius, geht eine Weile so fort und hört dann all-
380 Emil WohlwiU,
mählich auf, indem nach und nach die von dem Feuer ein-
gegebene Kraft sich verringerte*). Dass man eine solche
Erläuterung auf die Lehre von der Vermittlung der Be-
wegung durch das Medium, nicht aber auf die Vorstellung
der directen Uebertragung anwendbar fand, macht nur der
Gesammtcharakter dieser Commentare begreiflich. Offenbar
besteht keine wesentliche Verschiedenheit zwischen der diira/ug
ivdo&sl(Sa und dem impetus impressus; dem entsprechend
findet sich auch in der alten von Hermolaus Barbarus her-
rührenden Uebertragung der Stelle des Themislius die
Wendung: vim imprimere.
Klare Vorstellungen über das Beharren der Bewegung
finden wir nach Nie. von Cusa zunächst bei dem Manne, der
als einer der größten Naturforscher aller Zeiten erst seit dem
Ende des vorigen Jahrhunderts erkannt worden ist, bei
Leonardo da Vinci (1452—1519). Leider sind es noch immer
Fragmente aus seinen Manuscripten, denen wir die für die
Geschichte der Wissenschaft wichtigsten Tatsachen zu ent-
nehmen haben, und — was schlimmer ist — Fragmente,
bei deren Zusammenstellung das Bestreben maßgebend ge-
wesen ist, Leonardos außerordentliche Bedeutung durch mög-
lichst augenfällige Beispiele zu illustriren. Es ist daher auch
die Tragweite der hier anzuführenden Aeußerungen nicht
mit Sicherheit zu übersehen; noch weniger sind wir in der
Lage, eine Einwirkung bestimmter Vorgänger auf Leonardos
Denkweise anzunehmen oder in Abrede zu stellen.
Ein vielerörterter Gegenstand ist es jedenfalls, der ihn in
einem schon von Venturi mitgeteilten Fragment veranlasst,
Ansichten auszusprechen, um derentwillen man ihm die
Kenntnis des Beharrungsgesetzes zugeschrieben hat. »Könnten
wirc, heißt es in diesem Fragment, »die Erde in Stücke
schneiden und diese Stücke oberhalb der Elemente ausstreuen,
*) Brandis Scholia in Aristotelem. Berolini 1836 p. 452. Die
lateinische Uebersetzung des Gommentars des Themislius ist 1528 in
Paris erschienen.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 381
wie die Sterne am Himmel ausgestreut sind, so würde, wenn
wir eins dieser Stucke von da oben herabfallen ließen, dieser
schwere Körper, zum gemeinsamen Gentr^m fallend, sicher
dort nicht anhalten, seine Bewegung würde ihn bis nahe
an den entgegengesetzten Ort der Elemente tragen, und da
er hier nicht zur Ruhe kommen kann, wurde er wieder um-
kehren und in die Nähe des Orts zurückkommen, von dem
er ausgegangen ist. Er würde zum zweiten Mal denselben
Weg machen, zurückkehren und in gleicher Weise fortfahren,
ganz wie ein an einer Schnur aufgehängtes Gewicht seitlich
abgelenkt und dann sich selbst überlassen, lange Zeit hin
und hergeht, bis es endlich unter der Schnur, die es hält,
zur Ruhe kommt«*). Allem Anscheine nach ist diese zu-
sammenhangslos mitgeteilte Stelle hauptsächlich bestimmt,
den falschen Vorstellungen von einer Bewegung zum Centrum
zu widersprechen; sie lehrt, dass ein Körper, der durch den
Fall zum Centrum Geschwindigkeit erlangt hat, wenn er
keinen Widerstand findet, sich mit dieser Geschwindigkeit
fortbewegen muss, sie sagt eine pendelnde Bewegung voraus
und erklärt implicite auch die Fortdauer der Pendelbewegung
als Folge der in tiefster Lage erlangten Geschwindigkeit, sie
bekundet also eine Beschäftigung mit Tatsachen und eine Auf-
fassung dieser Tatsachen, die ihre consequente Durchführung
nur auf Grund des Beharrungsgesetzes finden kann, aber
Kenntnis dieses Gesetzes nicht voraussetzt und nicht beweist.
Das gleiche gilt von Leonardos Betrachtung über die
Wasserstrudel. »Wenn das Wassere, heißt es hier, »sich
nicht über der Luft halten kann, wie kommt es, dass bei
den Wasserstrudeln das Wasser einen Wall um die Höhlung
bildet, die nur Luft enthält? Wir haben gezeigt, dass jeder
schwere Körper in der Richtung, nach der er sich bewegt.
Schwere entwickelt (deployc de la gravit^); das ist der Grund,
weshalb die Wasserstrudel in der Mitte hohl wie Brunnen
*) J. B. Venturi, essai sur les ouvrages physicomalh^matiques de
Leonard de Vinci. Paris 1797 p. 9. Diese wie die beiden folgenden
Stellen sind, soviel mir bekannt, nur in französischer Uebersetzung
YeröffenUicht
SMtachr. mr VOUteipfych. und Spnchw. Bd. XTV. 4. 26
382 EmU WoUwill,
sind; das Wasser, das die Wände der Höhlung bildet, hält
sich daselbst so lange, als es die Rotationsbewegung beibehält,
die man ihm mitgeteilt hat (qu'on lui a imprim^); während
dieser ganzen Zeit ist es schwer (eile päse) nach der Rich-
tung seiner Bewegung!*). Hier wird also zunächst als Tat-
sache betrachtet, dass der Körper die mitgeteilte Bewegung
eine Zeitlang beibehält, und hinzugefugt, dass er in der Rich-
tung dieser Bewegung Kraft und Widerstand ausäbt; das
ist offenbar der Sinn des, wie Venturi sagt, von da Vinci
häufig wiederholten Ausspruchs, dass der Körper in der
Richtung seiner Bewegung »wiegte oder »Schwere entwickelte.
Der Wortlaut lässt ferner erkennen, dass L« d« V., wie
seine Vorgänger an die Hitteilung eines Antriebs zur Kreis-
bewegung glaubt. Da also auch hier von einer Erhal-
tung weder der gleichen Geschwindigkeit noch der geraden
Richtung die Rede ist, so lässt sich auch von dieser Aus-
führung nicht behaupten, dass ihr Inhalt über den von
N. V. Gusa erreichten Standpunkt wesentlich hinausfahre.
Man könnte die äbereinstimmende Auffassungsweise beider
Forscher auf em Princip der »zeitweiligenc Erhaltung der
mitgeteilten Bewegung zurückfuhren. Wichtig ist jedoch,
dass in den angeführten Sätzen durch Leonardo da Vinci
Bewegungserscheinungen in den Kreis der Betrachtung ge-
zogen werden, die in der bekannten älteren Litteratur bisher
in der gleichen Beziehung noch nicht erörtert worden waren.
Auf ein drittes, den beiden citirten sich anschließendes
Fragment wird in anderm Zusammenhange einzugehen sein.
Wird auch diese Prüfung kein abweichendes Resultat er-
geben, so erscheint es doch notwendig, die bestimmte Aeufle-
rung des Zweifels denjenigen gegenüber, die L. da Vinci als
Entdecker des Beharrungsgesetzes feiern, auf die Verwertung
der bisher veröffentlichten Fragmente ausdrücklich zu be-
schränken. Der außerordentliche Scharfblick, der sich in allen
bekannt gewordenen mechanischen Untersuchungen des
großen Mannes bekundet, gibt der Vorstellung, dass er auch
♦) Venturi, 1. c. p. 21 u. f.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 383
in dieser Beziehung vor Galilei die volle Wahrheil habe
sehen können, Tolle, unbestreitbare Berechtigung.
L. da Vincis bedeutende Leistungen im Bereich der
mechanischen Wissenschaften sind, wie bekannt, Jahr-
hunderte hindurch in seinen Handschriften begraben ge-
blieben. Dass auf dem Wege, den er so erfolgreich beschritten,
die folgende Generation noch einmal zu beginnen hatte, geht
aufs klarste aus der 18 Jahre nach seinem Tode (1537) er-
erschienenen »neuen Wissenschaft c des Niccolo Tartaglia
hervor. Diese Schrift bedeutet in der Tat einen neuen An-
fang, wie er kaum dürftiger zu denken ist. Die Fragen und
Angaben der Artilleristen haben den berühmten Mathematiker
zur Beschäftigung mit der Bewegungslehre veranlasst; in den
Werken des Archimedes, deren ältesten Abdruck wir ihm
verdanken, hatte er das Vorbild einer mathematischen Be-
handlung mechanischer Probleme kennen gelernt, auch fehlte
es ihm nicht an Unabhängigkeit des Geistes der Autorität
des Aristoteles gegenüber; dennoch hat er mit einem außer-
ordentlichen Aufwand an formell mathematischer Deduction
seinen Hauptgegenstand, die Lehre von der Wurfbewegung,
nicht wesentlich gefördert. Unter einer Folge von »comune
sententiec, die bei seinen Beweisen die Hauptgrundlage bildet,
Qgurirt als vierte die Behauptung: der gewaltsam bewegte
Körper übe auf einen Widerstand eine um so kräftigere
Wirkung aus, je näher dieser Widerstand dem Anfang der
Bewegung sei. Diese Voraussetzung wird dann weiterhin so
verwertet, als sei in Wirklichkeit für jede beliebige Ent-
fernung proportionale Abnahme der Wirkung erfahrungs-
mäßig festgestellt. Mit Hilfe der »Suppositioc , dass ein
Körper in jeder Bewegung um so schneller ist, je stärker
seine Wirkung, wird dann sehr leicht in aller Form erwiesen:
dass die gewaltsame Bewegung an Geschwindigkeit von An-
fang bis zu Ende stetig abnimmt. Die so zum Lehrsalz er-
hobene Behauptung des Aristoteles bildet eine Hauptgrund-
lage aller weiteren Beweisführung*). In gleicher Weise wird
*) Im WesentlicheD der gleichen Art sind fast ohne Ausnahme
die Ableitungen der »Nova Scientiac Die günstigeren Urteile Ober
26*
384 lEknil Wohlwill,
deducirt, dass bei der natürlichen Bewegung eine continuir-
liche Zunahme der Geschwindigkeit stattfinden muss; da nun
ein Körper unmöglich gleichzeitig an Geschwindigkeit wachsen
und abnehmen kann, so folgt nach T., dass kein Körper in
irgend einem Teil der Zeit oder des Raums eine aus natur-
licher und gewaltsamer gemischte Bewegung haben kann.
Dem entspricht Tartaglias Construction der Bahn der ge-
worfenen Körper; die natürliche Bewegung, die sich (wenn
kein Widerstand hindert) jeder gewaltsamen anschließt, be-
ginnt genau an dem Punkt, wo diese völlig aufgehört hat,
der letzte Teil der Bahn ist daher immer .geradlinig und
vertikal; allerdings hat T. nicht übersehen können, dass der
geworfene Körper in allen Teilen seiner Bahn unter dem
Einflüsse der Schwere steht, ja er erklärt ausdrücklich, dass
eben deshalb die Bahn in dem der gewaltsamen Bewegung
angehörigen Teil von Anfang an gekrümmt sei, wenn gleich
sie der anfanglich schwachen Abweichung wegen in einen
geradlinigen und gekrümmten Teil zu zerfallen scheine; aber
er merkt nicht, dass in dieser Abweichung von der Richtung
des Wurfs schon eine »Mischungc der natürlichen mit der
gewaltsamen Bewegung sich bekundet, er steht also seiner
Aufgabe völlig hilflos gegenüber.
Die Krümmung der Wurflinie wird in einer späteren
Schrift des Tartaglia, den 1546 erschienenen Quesiti et in-
ventioni diversi umständlicher besprochen. In einer Unter-
redung zwischen dem Herzog Francesco Maria von ürbino
und dem Verfasser'^) wird zunächst festgestellt, dass die Ur-
sache für die anfanglich geradlinige Bewegung der abge-
schossenen Kugel in der großen Geschwindigkeit zu suchen
ist, mit der die Kugel die Mündung des Geschützes verlässt.
diese Schrift, die man in einigen historischen Darstellungen findet,
können nicht auf genauerer Kenntnisnahme beruhen. Als nicht su-
treffend muss insbesondere die Schilderung der Verdienste Tartaglias
um die Wurflehre bei Poggendorff (Geschichte der Physik p. 126} be-
zeichnet werden.
*) Opere del famosissimo Nicolo Tartaglia. In Venetia 1606. Darin
Quesiti diversi L. I. q. 3. p. 20 ff.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 3g5
und dass ebenso das Nachlassen dieser Geschwindigkeit be-
wirke, dass sie in ihrer Bewegung sich in krummer Linie
erdwärts neige: je mehr die Geschwindigkeit nachlässt, um
so größer wird die Neigung oder Krümmung der Bahn.
Dass aber die Geschwindigkeit und ihr Nachlassen diesen
Einfluss ausüben können, beruht nach T. darauf, dass der
Körper »um so mehr an Schwere verliert, je größer die
Geschwindigkeit ist, mit der er durch die Luft bewegt wird«,
während andrerseits, was seine Wirkungen anlangt (nel far dl
suoi effetti), der bewegte Körper eine nach dem Verhältnis
seiner Geschwindigkeit zunehmende Schwere (gravitä) er-
langt. Bei aller anderweitigen Unklarheit geht aus diesen
Auseinandersetzungen ziemlich deutlich hervor, dass auch
Tartaglia die Fortdauer der Bewegung in der Richtung des
Wurfs als schlechthin naturgemäß ansieht; nichts weiter
glaubt er erklären zu mfissen als die Beseitigung des Hinder-
nisses, das die Schwere einer von der Richtung zum Gentrum
abweichenden Bewegung entgegensetzt.
Eine verwante Aeußerung in Tartaglias Nova Scientia
darf um so weniger unerwähnt bleiben, je spärlicher die
wertvollen Sätze in dieser Schrift zu finden sind. T. stellt
hier der Ansicht derjenigen, die den fallenden Körper in
einem diametral durch die Erde gebohrten Kanal am Mittel-
punkt sofort zur Ruhe kommen lassen, als die bessere und
wahre die eigene gegenüber, die im wesentlichen mit der
oben angeführten von L. da Vinci übereinstimmt. Der
Körper, meint er, wird vielmehr durch di^ große Geschwindig-
keit, »die sich in ihm findet«, genötigt sein, in gewaltsamer
Bewegung sehr weit über das Centrum hinauszugehen, in-
dem er zum Himmel der entgegengesetzten Halbkugel auf-
steigt; dann wird er in natürlicher Bewegung zum Centrum
zurückkehren, über dasselbe nochmals hinausgehen u. s. w.
und dabei, während gewaltsame und natürliche Bewegung
wechseln, beständig an Geschwindigkeit abnehmen und end-
lich im Centrum selbst zur Ruhe kommen. Charakteristisch
ist, dass Tartaglia an diese Betrachtung nichls weiter knüpft
als die Erwägung: dass aus der natürlichen Bewegung die
386 Emil Wohlwill,
gewaltsame entstehen könne, aber niemals umgekehrt die
natürliche aus der gewaltsamen*). —
Die Erkenntnis, dass es für die Fortdauer der Bewegung
der Vermittlung des Mediums nicht bedürfe, gelangte natur-
gemäß zu größerer Bedeutung, sobald sie ausdrücklich der
aristotelischen Lehre gegenübergestellt wurde. Dies scheint
zuerst Tartaglias Nebenbuhler, Girolamo Cardano gewagt
zu haben, freilich zunächst nur zögernd. »Äristotelesc,
sagt er**), »zweifelt in seinen mechanischen Problemen,
welches die Kraft sei, die den Stein bewegt, nachdem er
fortgeschleudert ist? und zweifelhaft ist nicht, dass es zum
Teil die bewegte Luft ist, sowohl nach dem Vernunftschluss:
sie bewegt, weil sie bewegt wird — als nach der Eifahrung
wie bei den Blitzen***) und dem, was durch den Wind
getrieben wird; aber bei den Geschützen und Bogen und
Pfeilen scheint dies nicht auszureichen; deshalb ist anzu-
nehmen, dass, wie die Wärme und Kälte in Körpern von
entgegengesetzter Natur eine Zeitlang bleiben und wirken, so
auch die gewaltsamen Bewegungen. Zum Beweis dient, was
aus längeren Wurfmaschinen geschleudert wird; denn ob-
gleich dieselben keine Luft enthalten und doch auch nicht
leer sind, werfen sie Pfeile und Geschosse weiter, weil jene
Kraft ihnen fester eingeprägt wird (vis illa firmius impriroi-
tur), wie von Steinen und Eisen dasjenige, was sich länger
im Feuer aufgehalten hat oder anhaltend mit Blasebälgen
zum Glühen erhitzt worden ist, dann um so langsamer ab-
gekühlt wird und anderes durch jene von außen gekommene
Wärme brennt und entzündet, obgleich es von Natur kalt ist.c
*) Nova Scientia Lib. I Prop. I p. 13—14 der citirten Ausgabe.
Ein directer oder indirecter Einfluss L. d. Vincis auf Tartaglia ist bis-
her nicht nachgewiesen, aber — wie auch bei Gardano — keinesw^
unwahrscheinlich.
**) H. Gardani opus novum de proportionibus numerorum, motuum,
ponderum etc. Basileae 1570 Prop. 90 p. 83. Die Stelle muss vor
1550 geschrieben sein.
***) In Gardani de subtilitate ed. 1550 p. 54 wird das dahin er-
läutert, dass der Blitz die Bäume niederwirft ohne sie su berühren.
Die EntdeckuDg des Beharrungsgesetzes. ggy
Wie zur Entschuldigung seiner Abweichung vom Aristo-
teles bemerkt Gardano: derselben Ansicht seien Alexander
und Simplicius. Der angeführte Wortlaut ergibt jedoch,
dass C. vielmehr die Auffassung und die Ausdrucksweise,
der alten Commentatoren , insbesondere den Vergleich des
Themistius*) zur Verdeutlichung seiner eigenen , dem In-
halte nach entgegengesetzten Ansicht wohl geeignet befunden
hat; Dass er diese letztere unter dem Einflüsse des N. v. Gusa
ausgebildet hat, ist mindestens wahrscheinlich; er hat nach-
weislich die Werke des Gardinais gekannt und hochgeschätzt,
auch erhebt er nirgends den Anspruch darauf, eine neue
Lehre zur Geltung zu bringen. Zu bemerken ist jedoch, dass
die Beschränkung der Betrachtung auf rollende und gedrehte
Körper bei ihm nicht mehr vorhanden ist. Bei der aus-
führlichen Besprechung des gleichen G^enstandes in der
Schrift de subtilitate**) sagt Gardano: »Der geworfene Körper
wird durch die Kraft bewegt, die er von dem Werfenden
erhalten hatc (vi acquisita a projiciente) und weiterhin:
»Was ihn bewegt , ist der erlangte Antriebe (impetus acqui-
Situs). Das ist fast wörtlich die Erklärung des N. v. Gusa.
Was Gardano bei der gleichen Gelegenheit hinzufügt, ist
eine weitschweifige Erörterung der Gründe für und gegen
die aristotelische Ansicht Auch in dieser Ausführung veiv
ziehtet er wenigstens für einen Teil der Bewegungserscheinungen
nicht auf die fördernde Mitwirkung der Luft. Wie Tartaglia
hält nämlich auch G. an der vermeintlichen Erfahrungs-
tatsache fest, dass bis zu einem gewissem Abstände die
Wirkung der abgeschossenen Pfeile und Kugeln zunächst
zunimmt; er schließt daraus ganz allgemein, dass die ge-
waltsame Bewegung nicht zu Anfang, sondern in der Mitte
am schnellsten ist, wie dies auch Aristoteles zu behaupten
scheint***), und dies scheint ihm unerklärlich, wenn man
auf die helfende Wirkung der Luft verzichtet; denn »die Luft
•) S. oben p. 379-380.
•*) H. Gardani de subtiliUte ed. 1550 p. 54^--58.
^**) De coelo H, 6 B. 988a 34. An andern Stellen spricht A. nur
von der Verlangsamung der gewaltsam bewegten Körper.
388 Emil Wohlwill,
fördert anfangs die Bewegung nur wenig; dann aber wird
ihre naturliche Bewegung, insofern sie bewegt wird, stärker,
insofern sie aber gleichzeitig bewegt, nimmt sie allmählich
ab, es muss also die Geschwindigkeit notwendig so lange zu-
nehmen, bis sie weniger zu bewegen anfangt, als sie bewegt
zu werden ihrer Natur nach fähig ist*)€.
Ohne Rücksicht auf diese wunderliche Ergänzung fand
Gardanos Antwort auf die alte Frage bei Mathematikern
und unabhängigen Philosophen Zustimmung. Die aufier-
ordentliche Verbreitung, deren sich die Schrift de subtilitate
zu erfreuen hatte, kam auch der Lehre von der vis impressa
zu Gute. Wie sehr sie zeitgemäß war, darf man daraus
entnehmen, dass selbst J. C. Scaliger, der in seinen exer-
citationes gegen Cardano (1557) sich nicht leicht eine Ge-
legenheit zum Widerspruch entgehen lässt, hier nur die Aus-
führung ungenügend, die Ansicht selbst als zutreffend, ja
als selbstvei*ständlich bezeichnet. »Schon als Enabenc, sagt
er, »die von geschriebener Philosophie nichts wussten, hatten
wir die Antwort: die Kraft der treibenden Sehne bleibt im
Pfeil«**). Die Aufgabe sei, nicht das zu sagen, sondern zu
erklären, wie es geschehe. Erklären hieß auch für Scaliger
noch: die Behauptung in den aristotelischen Schematismus
einfügen, seine Erläuterung ist daher nur insofern nicht ohne
Bedeutung, als sie durch Wiederholung der Ausdrücke motus
impressus und vis impressa in einem gleichfalls viel gelesenen
Buche dazu beiträgt, Wort und Begriff in der Sprache der
Gelehrten einzubürgern.
Unter denen, die sich derselben bedienen (ohne übrigens
einen Vorgänger zu nennen) ist der italienische Philosoph
Bernardino Telesio hervorzuheben. In seiner Schrift de rerum
natura (1565) heißt es in bestimmter Wendung gegen den
Aristoteles: »Was durch Gewalt geworfen wird, wird keines-
wegs von der treibenden Luft, sondern von der eingeprägten
*) Im Original lauten die letzten Worte noch weniger verständlich:
quoad plus movere minus incipit quam moveri natura sit apium.
**) J. G. Scaligeri exotericarum exercitationum lib. XV de subtilitate
ad H. Gardanum ed. 1576 p. 127.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 389
Kraft gelrageD.€ Auch Telesio findet es seiner Erklärung
durchaus entsprechend, dass mit der Entfernung von dem
Werfenden die Bewegung sich verlangsame, v^eil mit dieser
Entfernung die mitgeteilte Kraft allmählich abnehmen müsse*).
Ebenso urteilte Giordano Bruno, als er im Jahre 1586
in seiner grofien Pariser Disputation in der 35. der 120 Thesen
gegen den Aristoteles gleichfalls die vis impressa verteidigte**).
Eine wichtige Rolle spielt derselbe Begriff in dem Denken
des Job. Bapt. Benedetti, des bedeutendsten unter Galileis
unmittelbaren Vorgängern. In den »Disputationen über einige
Ansichten des Aristoteles c bezeichnet B., über Cardano
hinausgehend, die Lehre von der Erhaltung der Bewegung
durch das Medium nicht nur als unzureichend, sondern als
völlig falsch; er erörtert näher, wie insbesondere eine Luft-
bewegung »zur Vermeidung des leeren Raumsc dem Zweck
nicht entspreche, da eine solche die Geschwindigkeit des
geworfenen Körpers vielmehr hemmen müsse. Seine eigene
Erklärung stimmt im wesentlichen mit der mehrfach er-
wähnten überein. »Die Geschwindigkeit des bewegten
Körpersc, sagt er, »wenn derselbe von dem bewegenden ge-
trennt ist, hat ihren IJrsprung in einer gewissen natürlichen
Impression in Folge des empfangenen Antriebst (a quadam
naturali impressione ex impetuositate recepta a dicto mo-
bili)«***). Eine erhöhte Bedeutung erhält diese Antwort bei
Benedetti dadurch, dass er dieselbe auch zur Erklärung der
beschleunigten Bewegung fallender Körper anwendet. »Diese
Impression und dieser Antrieb (impetuo$itas)€, sagt er im
unmittelbar folgenden Satze, »nimmt bei den geradlinigen
*) B. Telesii de rerum natura. Lib. IL cap. 10 p. 56.
**) Jord. Bnini Nolani opera latine conscripta recens. F. Fiorentino.
NeapoH Vol. I 1879 p. 138 qtMe vniuB impreaaa quandiu durai, tandiu
pdUt.
***) Jo. Bapt. Benedetti speculationum liber. Taurini 1585 p. 184.
Diese und die folgende wichtige Stelle sind schon von Whewell (history
of the inductive sciences, third edition (1851) 11, 17—18) hervorgehoben,
seitdem aber iu historischen Ausführungen meist unberficksichtigt
gelassen.
390 Emii Wohlwill,
natürlichen Bewegungen beständig zu, da in diesem Falle
der bewegte Körper beständig in sich die bewegende Ursache,
dass heifit die Neigung hat, zu dem ihm von der Natur
angewiesenen Orte zu gehen.c »Aristotelesc, meint B., »hätte
(de coelo I, 8) nicht sagen sollen, dass der Körper um so
schneller sei, je näher er seinem Ziele kommt, sondern viel-
mehr um so schneller, je weiter er sich vom Ausgangspunkt
entfernt, weil die Impression immer in dem Verhältnis größer
wird, je mehr der Körper sich naturgemäß bewegt, und er
beständig neuen Antrieb (impetus) empfangt, da er in sich
die Ursache der Bew^^ng enthalte*).
Für die Genesis dieser wesentlich neuen Ansicht ist die
Antwort beachtenswert, die Benedetti auf Aristoteles' Frage
gibt: weshalb die Körper durch die Schleuder viel weiter
geworfen werden als durch die Hand**). Aristoteles (oder
vielmehr der Verfasser der Quaestiones mechanicae) hatte
als Ursache angedeutet: dass Alles, was in Bew^ung ist,
leichter bewegt wird, als das Ruhende; und dass bei der
Schleuder die Hand das Gentrum bilde, der geschleuderte
Körper also vom Centrum entfernt die Bewegung erhalte
und demgemäß um so rascher bewegt werde. Benedetti
findet diese Erklärung unzureichend; nach seiner Meinung
nimmt mit der Zahl der Umdrehungen der dem gesdileuder-
ten Körper eingeprägte Antrieb zu und demgemäß muss
auch seine Geschwindigkeit eine größere sein als beim Wurf
aus freier Hand***). So einfach das klingt, so wird man
doch vergebens bei B.s Vorgängern ähnliches such^i; und
ebenso muss auch der angeführte, auf das gleiche Prineip
basirte Satz als ein erster Versuch zur rationellen Er-
klärung der Fallbeschleunigung betrachtet werden. Aristo-
teles hatte die Zunahme der Geschwindigkeit schlechthin als
charakteristisch für die Bewegung eines Körpers zu dem ihm
eigentumlichen Ort betrachtet; noch Tartaglia weiß zur Er-
*) Ganz ahnlich äuBert B. sich p. 287 oben.
**) Aristotelis qaaest. mechan. recens. et illustr. J. P. van Gapelle
Amstelodami 1812 p. 51-~52.
♦♦♦) L. c. p. 160.
Die Entdeckung des Behairungsgesetzes. 391
läuterung nichts weiter hinzuzufügen als den Vergleich aus
dem menschlichen Gemütsleben. »Wie ein Pilgere, sagt er,
»der aus der Fremde kommt, wenn er der Heimat nahe ist,
sich naturgemäß anstrengt zu gehen, so schnell er kann und
um so mehr, aus je ferneren Ländern er kommt; so auch
der schwere Körper, da er zu seinem eigenen Neste geht,
das ist zum Centrum der Welt; imd aus je größerer Feme
von diesem Centrum er herkommt, um so schneller wird
er gehenc*).
Bernardino Telesio, der nur die gleichförmige Bewegung
als die eigentlich natürliche, den Fall als Wirkung eines
nicht naturgemäßen Zwanges betrachtet wissen will, ver-
gleicht die Beschleunigung der fallenden Körper mit der
menschlichen Gewohnheit, sich unangenehmer Verpflichtungen
möglichst rasch zu entledigen*'*').
Benedetti erklärt dagegen, ganz im Sinne der späteren
Physik, auf Grund der Erkenntnis, dass der einzelne Impuls
Bewegung für eine gewisse Zeitdauer überträgt, die Zunahme
der Geschwindigkeit durch das Hinzukommen immer neuer
Impulse der bewegenden Kraft. Mit seiner Erklärung ist zu-
gleich der Anfang gemacht, dem specifischen Unterschied der
gewaltsamen und der natürlichen Bewegung denjenigen der
Bewegungen unter dem Einflüsse momentan wirkender und
continuirUch wirkender Ursachen zu substituiren.
Nicht minder klar spricht Benedetti — auch darin wahr-
scheinlich der Erste — über das Bestreben der Körper, ihre
Bewegung in gerader Linie fortzusetzen. Soviel bekannt, hat
niemand vor ihm in bestimmten Worten gesagt, dass der im
Kreise geschwungene oder gedrehte Körper und seine Teile in
der Richtung der Tangente zu entweichen streben***), und
*) Tartaglia, della nova scientia. Lib. I, prop. 1 p. 13 der Ausgabe
von 1606.
**) Telesii de rerum natura lib. II cap. 12 p. 57. Gf. Francesco
Fiorentino, B. Telesio ossia studi storici su Tidea della natura nel
risorgimento Italiano. Firenze 1872. Vol. I p. 255—56.
•*•) Benedetti, speculationum über p. 160 corpus liberabim cum
fuerü a funda, natura duee, üer suum a puncto, a quo prosiKüf per
lineam conHguam giro, quem postremo faciebat^ suicipü.
394 Emil Wohlwill,
zwei Kräften bewegt wird, nämlich der »eingeprägten Ge-
waltc und »der Naturc; auch stellt er diese Erklärung aus»
drucklich der Behauptung Tartaglias gegenüber, nach der
ein Körper nicht gleichzeitig in gewaltsamer und natürlicher
Bewegung sich bewegen könne*); dagegen steht auch für
Benedetti fest, dass der »eingeprägte Antriebe naturgemäß,
also abgesehen vom Widerstand des Mediums, beständig ab-
nimmt In Uebereinstimmung mit Tartaglia scheint er eine
gewisse Abnahme der vis impressa als die Vorbedingung da-
für anzusehen, dass die Schwere ihre ablenkende Wirkung
auf den geworfenen Körper äufiem könne**). In diesen
Ansichten lag ein wesentliches Hindernis für die weitere Ver-
wertung seiner Erkenntnis; eine eigentliche Gonstruction der
Wurflinie scheint er nie versucht zu haben.
Unfruchtbar blieb in gleicher Weise Benedettis neue
Lehre über den Ursprung der Beschleunigung und die An-
wendung derselben auf die natürliche Bewegung der schweren
Körper. Die Erklärung aller Fortdauer der Bewegung durch
eine »vis« impressa erschwerte das Verständnis für das
Eigentümliche derjenigen Bewegungserscheinungen, die unter
dem Einflüsse einer »naturgemäß« fortwirkenden Ursache zu
Stande kommen. Es war nicht ohne weiteres einleuchtend,
dass durchaus Verschiedenes resultiren müsse, wenn nach
B.S Ausdruck die Kraft als eine »natürliche Impression« dem
Körper übertragen wird und wenn sie als »Natur« ihm inne-
wohnt, ja Benedetti selbst hat demgemäß als möglich an-
gesehen, dass die vis impressa auch bei der gewaltsamen
Bewegung anfangs beschleunigend wirke. »Wenn es wahr
wäre«, sagt er, »dass die Kugel, nachdem sie den Lauf des
Geschützes verlassen, in einer gewissen Entfernung schneller
ist als zu Anfang, so möchte das von einer Ursache her-
rühren, die teilweise derjenigen ähnlich wäre, die bei den
natürlichen Bewegungen eine Zunahme der Geschwindigkeit
♦) L. c. p. 161.
**) L. c. p. 160. Verum quidem est, impreBSwn Hhtm impetum
eofäinuo paulatim decrescere^ unde aiaiim inclinaiio graoüatis eiusdem
corporis subinffredikir.
Die Entdeckung des Bebammgsgesetzes. 395
mit der Entfernung vom Ausgangspunkt bewirkt, weil der
geschossene Körper eine gewisse Strecke hindurch bewegt
würde, wie durch natürliche Bew^fungc'*').
Andrerseits konnte man sehr wohl eine Beschleunigung
info^e der wiederholten KrafUmpulse bei der Schleuder-
bewegung begreifen, ohne verständlich zu finden, dass in
ähnlicher Weise die Zunahme der Fallgeschwindigkeit zu
Stande komme, so lange die Ursache des Falls ausschließlich
in einem gleichbleibenden Innern Verlangen der fallenden
Körper gesehen wurde.
Der Forschung Benedettis schließt sich diejenige Galileis
unmittelbar an; seine Erstlingsarbeit, das Fragment de motu
gravium, ist unverkennbar unter dem Einflüsse der Haupt-
Schrift des bedeutenden Vorgängers entstanden. Dieser Zu-
sammenhang wie die anderweitigen hochinteressanten Auf-
schlüsse, die sich Galileis ältester Schrift entnehmen lassen,
haben eigentumlicher Weise bis heute kaum Beachtung ge-
funden. Die Veranlassung dazu hat vermutlich die unkritische
Weise der ersten Veröffentlichung durch E, Alberi gegeben**).
In dieser ist nämlich den unzweifelhaft älteren Bestandteilen,
dem Bruchstück eines Dialogs und vier nach Inhalt und
Behandlungsweise verwanten Abhandlungen über specielle
Fragen der Bewegungslehre ein Abschnitt über die natürlich
beschleunigte Bewegung angereiht, der in seinem größeren
Teil fast wörtlich mit Galileis lateinisch geschriebenen Aus-
einandersetzungen über denselben Gegenstand in dem Haupt*
werk von 1638 übereinstimmt. Statt nun aus der in die
Augen springenden Ungleichartigkeit dieser Bestandteile zu
entnehmen, dass die Handschrift, wie sie vorlag, Nichtzu-
*) Op. cit. p. 2S0. Die vorsichtig bedingte Aeußerungsweise zeigt,
dass B. die Tatsache, die er erklärt, nicht als verbärgt betrachtet.
Einen entschiedenen Widerspruch hat der Angabe Tartaglias wohl erst
Galilei entgegengesetzt Man vergl. dessen Trattato di fortificazione
cap. XXIV. Opere di Galileo Galllei ed. Alberi. Vol. XI. p. 181.
**) Semiones de motu gravium (nunc primum ediU) in Le Opere
di Galileo Cralilei, prima edidone completa Firenze 1842—66. Vol. XI
p. 1—80. Ich citire im Folgenden stets diese Ausgabe als »Operec.
396 EmU Wohlwill,
sammengehöriges vereinigt, hat der Herausgeber vielmehr
jene Uebereinstimmung verwertet, um zu beweisen, dass
Galileis wichtigste Entdeckungen zur Bewegungslehre schon
der frühen Periode angehören, die man als wahrscheinliche
Entstehungszeit für den Dialag de motu gravium betrachten
muss, und dass demnach das Größte, was die Wissenschaft
Galilei verdankt, schon in seinen Jünglingsjahren, kurz nach
dem Beginn seiner Forschertätigkeit geschaffen und so gut
wie vollendet war. Neben diesem überraschenden Ergebnis
musste freilich der anderweitige Inhalt der Schrift kaum der
Beachtung wert erscheinen.
Die seltsame Folgerung ist fast allgemein accepUrt
worden*). Die Gewohnheit, dem Genius alles l^ögliche zu-
zutrauen, hat hier dazu geführt, ihn auch das Unmögliche
leisten zu lassen; denn in dies Gebiet wird man doch wohl
die Fähigkeit verweisen müssen, gleichzeitig als Anfänger
auf dem Wege zur Wahrheit zu tasten und ihr als Meister
ins Auge zu sehen. Dass nichts Geringeres als eine solche
Fähigkeit die Voraussetzung ist, wenn in Wirklichkeit Galileis
Entdeckung der Bewegungsgesetze in die Zeit seiner ersten
Pisaner Professur (1589—92) zu setzen wäre, wird am besten
erhellen, wenn wir zunächst ohne Rücksicht auf die Ab-
handlung .über die natürlich beschleunigte Bewegung den
Standpunkt seiner ersten Arbeit in Betracht ziehen, lieber
die Zeit ihrer Entstehung kann kaum ein Zweifel stattfinden,
wenn man ihre Ausführungen mit der Behandlung gleich-
artiger Gegenstände in der italienisch geschriebenen Abhand-
lung della scienza meccanica vergleicht, die Galilei selbst in
die ei'sten Jahre seiner Paduaner Professur verlegt. Die un-
*) Am weitesten ist in der geschichtlichen Verwertung der ver-
meintlichen Tatsache Vinc. Antinori gegangen. Man vergl. die Ab-
handlung suUa filosofia del Galileo (geschrieben 1863) in Scritti editi e
inedlti di V. Antinori. Firenze 1868. Aber auch in dem soeben er-
scheinenden wichtigen Werk von A. Favaro : Galileo Galilei e lo Studio
di Padova. Firenze 1883. Vol. I p. 41 ist die Ansicht, dass das Capitel
de motu naturaliter accelerato unzweifelhaft in Pisa entstanden sei, als
unangreifbar hingestellt
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 397
vergleichlich größere Reife dieser letzteren Untersuchungen*),
wie sie sich namentlich in der Fassung der Definitionen be-
kundet, wurde eine Entstehung der Fragmente in Pisa durch-
aus wahrscheinlich machen^ auch wenn nicht die gewählte
Scenerie — ein Spaziergang am Ufer des Arno von Pisa
bis zum Meere — diese Annahme bestätigte. Die Schrift ist
überdies in allen ihren Teilen als Werk des jugendlichen
Forschers gekennzeichnet; jugendlich frisch mutet sie uns an
in ihrer Begeisterung für den Archimedes und die Mathe-
matik, wie in ihrer Opposition gegen Aristoteles und die
Schulgelehrsamkeit; sie bietet der herschenden Autorität die
Stirn und erscheint doch unmittelbar darauf im Banne der
überlieferten Denkweise; ihre Grundbegriffe wie ihre Termino-
logie sind fast durchgehends die der Vorgänger, und doch
regen sich überall in den Anschauungen wie in der Dar-
stellungsweise die Keime der neuen Wissenschaft. Der Name
Benedetti wird nirgends genannt**), aber seine Ansichten
bilden das eigentliche Thema der Erörterung; 6.s Ein-
wendungen g^en aristotelische Lehren treffen genau dieselben
Punkte wie die Kritik Benedettis, die Weise der Beurteilung
und Widerlegung ist eine vielfach ähnliche, aber auch in
der Lossagung von Aristoteles geht die Schrift de motu
gravium kaum einen Schritt weiter als das Buch »der Specu-
lationen«.
So bedeutet G.s Auftreten auch für die hier erörterte
Gedankenfolge nichts weniger als einen Sprung. Die alte
Gegenüberstellung von gewaltsamer und natürlicher Be-
wegung lässt er sich widerspruchslos gefallen, wenn auch,
wie schon bei Benedetti, dieser Gegensatz in seiner Auf-
*) Der IMterschied tritt sehr klar heryor, wenn man die dem In-
halte nach übereinstimmende Beweisführung für das Gesetz der schiefen
Ebene in beiden Abhandlungen vergleicht. Während in der älteren noch
das Gewicht am kürzeren Hebelarm >Ieichter wird«, (minus gravat)
ist in der zweiten stets von Verringerung des Moments die Rede.
••) Ein Vorwurf kann darauf um so weniger begründet werden,
als es sich um eine von Cralilei nicht veröffentlichte, ja vielleicht nicht
einmal zur Veröffentlichung bestimmte Arbeit handelt.
SSeitscbr. fllr VOlkerpsych. und Spnushw. Bd. XTV. 4. fj
398 £niil WohlwiU,
fassung im Wesentlichen mit dem der Wurf- und Fall-
bewegung zusammentrifft. Dagegen verwirft er mit Bene-
detti und in teilweise übereinstimmender Motivirung die
Lehre von der Erhaltung der Bewegung durch das Medium;
mit ihm nimmt er eine Uebertragung, EinprSgung der Kraft
in den bewegten Körper an, ganz r^elmäßig bedient er
sich bei Erläuterung der betreffienden Erscheinungen des Aus*
druckes vis impressa^ Dabei zeigt sich jedoch sofort ein für
Galileis spätere Forschung charakteristischer und den Vor-
gängern gegenüber unterscheidender Zug. »Was diese Kraft
sei«, sagt er bei der eisten Einfuhrung des Hilfsbegriffs, »ist
uns verborgen«*).
Gleichfalls in Einklang mit Benedetti, aber noch wesenl-^
lieh schärfer als dieser, bezeichnet Galilei die vis impressa
in seiner ersten Schrift als naturgemäß abnehmend; er glaubt
sogar die Notwendigkeit dieser Abnahme beweisen zu können.
»Ein Körper«, lehrt er ganz aristotelisch, »der von einer
begrenzten eingeprägten Kraft bewegt wird, kann in ge-
waltsamer Bewegung nicht durch einen unbegrenzten Raum
bewegt werden. Dies vorausgesetzt, folgt, dass die vom Be-
weger eingeprägte Kraft in stetiger Abnahme schwächer
werden muss; es können daher in derselben Bewegung nicht
zwei Punkte bezeichnet werden, an denen die treibende
Kraft die gleiche wäre«**). Von dieser Deduction, die offen-
bar eine Kenntnis des Beharrungsgesetzes ausschließt, macht
nun der junge Galilei einm höchst eigentümlichen Gebrauch,
um die Verzögerung der aufwärts geworfenen Körper und
— abweichend von Benedetti — die Beschleunigung der
*) Opere XI p. 18. In den »Dialogen über die beiden Weltsysteme«
zählt Galilei die vis impressa neben der gravitas und der »Natur« zu
den Namen, durch die man Unkenntnis des Wesens zu verhallen pflegt.'
Gf. Opere I p. S58.
**) Opere XI p. 33. Man vergl. Aristoteles Phys. VIII, 10 »kein
Begrenztes kann eine unbegrenzte Zeit hindurch bewegend sein«; »es
ist Oberhaupt nicht mOglich, dass in einer begrenzten ßrOfie eine un-
begrenzte Kraft und dass eine begrenzte Kraft in einer unbegrenzten
Größe sei.«
Die Eatdeckting des Beharrungsgesetxes. 399
follenden za erklären*). Er schickt vorausi daas der Körper,
dem eine Kraft in der Richtung nach oben mitgeteilt wiix],
nur dann aufsteigt, wenn diese Kraft größer ist als die
widersteh»de Schwere, dass er zur Ruhe kommen wird,
wenn i)eide bewegenden Ursachen gleich groß sind und end-
lich in natärlicher Bewegung absteigen, wenn die Schwere
überwiegt. Nach Galileis Ansicht bleibt nun, während die
noch oben treibende vis impressa stetig abnimmt, die Schwere
(grayitas) unabänderlich die gleiche; da aber der Körper
mit der Differenz dieser beiden Kräfte aufwärts bewegt wird,
genügt die Abnahme der vis impressa, um eine stetige Ver<-
langsamung der Bewegung nach oben zu bewirken; der
Körper hört auf zu steigen, sobald infolge der stetigen Ab-
nahme die vis impressa gleich der Schwere geworden ist;
»beginnt er alsdann sich abwärts zu bewegen, so bewegt er
sich dabei offenbar nicht einfach in natürlicher Bewegung;
denn im An&ng dieser Bewegung ist in dem Körper noch
etwas von der eingeprägten Kraft, die ihn aufwärts trieb und
ihn zwar jetzt, weil sie kleiner geworden ist als die Schwere,
nicht mehr aufwärts treibt, aber doch dem abwärts streben-
den noch widersteht, weil sie nicht ganz vernichtet ist.« So
kommt es, dass der Körper zu Anfang seiner natürlichen
Bewegung sich langsam bewegt, dann schneller, weil die
entgegengesetzte Kraft nachlässt und schwächer wird, und
zwar muss, da der Widerstand continuirlich abnimmt, auch
die natärliche Bewegung beständig zunehmen.
War dem Fall keine Bewegung nach oben vorausge-
gangen, so bleibt die Erklärung die gleiche; denn so gut
dem Körper eine Kraft von beliebiger Größe eingeprägt sein
kann, die ihrer Größe gemäß zu beliebig großen oder ge-
ringen Höhen aufwärts treiben würde, kann man sich denken,
dass die vis impressa schon von vornherein der Schwere
gliche, und dies hat man für den Körper anzunehmen, der
aus der Ruhelage sich abwärts bewegt, denn auch bei diesem
wird die Geschwindigkeit allmählich zunehmen, wie die vis
«) Opere XI p. 33 ff. und 50 ff.
27»
400 Gmil Wohlwill,
impressa abnimmt. >Um so klarer wird dies einleuchtenc,
sagt Galilei, »wenn wir in Betracht ziehen, dass, wenn der
Körper in der Hand ruht, er mit seiner Schwere nach unten
druckt; er muss also von der Hand mit ebensogroßer Kraft
aufwärts getrieben werden, als seine Schwere nach unten
druckt ; denn wenn er nicht von einer andern gleich großen
aufwärts treibenden Kraft gehindert wird, müsste er sich
abwärts bewegen, wenn der Widerstand größer wäre, auf-
wärts; es ist demnach klar, dass der schwere Körper, wenn
ihm seine Unterstützung entzogen wird, mit einer virtus im-
pressa sich zu bewegen beginnt, die seiner eigenen Schwere
gleich ist.€ Unbedenklich acceptirt Galilei die Gonsequenz
seiner Erklärung, dass eine weitere Beschleunigung nicht
stattfinden könne, sobald die vis impressa zur Null geworden,
dass also von diesem Augenblicke an die Bewegung eine
gleichförmige sein mässe; wenn der Erfahrung gemäß bei-
spielsweise bei dem Fall eines Steins von einem hohen Turm
die Geschwindigkeit beständig zuzunehmen scheine, so li^e
dies daran, dass der Stein im Verhältnis zum Medium, durch
das er fällt, sehr schwer sei, und dass zur vollständigen
Vernichtung der entsprechend großen vis impressa die Be-
wegung von der Höhe des Turmes herab nicht ausreiche.
Bei Körpern, deren Schwere die der Luft in geringerem Ver-
hältnis überträfe, würde man bei völlig ruhiger Luft, bald
nach dem Anfang der Bewegung dieselbe gleichförmig werden
sehen, und auch bei dem fallenden Stein wurde bei hin-
reichenden Höhen das Gleiche wahrzunehmen sein, wenn nur
der unten stehende Beobachter auf einander folgende gleiche
Weglängen nicht unter zunehmend größeren Winkeln sähe.
In dem Zusammenhang dieser Erklärtmgen sind Ele-
mente des Fortschritts und des Rückschritts in höchst
eigentümlicher Weise gemischt. Benedettis AufiTassung der
gleichen Erscheinungen steht unzweifelhaft der heutigen näher;
sie würde von dieser nicht wesentlich abweichen, sobald
man den eingeprägten Antrieb als unveränderlich setzte.
Dieselbe richtige Voraussetzung in Galileis Vorstellung em-
geführt, würde ein offenbares Absurdum ergeben, sofern man
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 401
nicht gleichzeitig seine Ansicht über die Wirkungsweise der
Schwere modificirte. Wie Benedetti, nimmt es auch der
junge Galilei ernst damit, die vis impressa als Kraft zu
behandeln; während aber jener infolge dessen seine vis
impressa der gravitas soweit nähert» dass er sie sogar be-
schleunigend wirken lässt, verringert Galilei den Wesens-
unterschied beider, indem er auch der Schwere die be-
schleunigende Wirkung abspricht; er unterscheidet nur eine
gleichbleibende und eine stetig abnehmende Kraft, jene be-
wirkt fär sich allein gleichförmige, diese gleichförmig ver-
zögerte Bewegung; jede Bewegung endet, wenn die Kraft
vernichtet ist, in gewissem Sinne existlrt also nach dieser
Auffassung überhaupt kein Beharren der Bewegung, es be-
harrt nur die Kraft, und zwar die naturliche fär alle Zeiten,
die von außen übertragene, indem sie sich im Wirken verzehrt.
War die Aufgabe, die sich aus dieser Betrachtungsweise
ergab, die Zusammensetzung einer gleichförmigen Bewegung
nach unten mit einer gleichförmig verzögerten nach oben,
falsch formulirt, so zeigt sich doch in ihrer Bearbeitung der
scharfe Blick des künftigen Meisters, und in den Folgerungen,
zu denen sie führt, treten wichtige Elemente der späteren
Forschung zu Tage; trotz der falschen Grundlage sehen wir
schon hier die Bewegung des aufsteigenden und des fallenden
Körpers als eine solche geschildert, bei der der Körper ab-
nehmend und zunehmend die gesammte Folge der Ge-
schwindigkeitsgrade durchläuft, ohne in irgend einem zu ver-
weilen; gegen Aristoteles wird bewiesen, dass auch bei der
Umkehr zwischen der kleinsten Geschwindigkeit in der
Richtung nach oben und der kleinsten in der Richtung nach
unten im Punkt der Umkehr ein Ruhen nicht stattfinde.
Es ergibt sich daraus die für die geschichtliche Betrachtung
nicht unwichtige Tatsache, dass die Ableitung dieser und
verwanter Erkenntnisse von einer latenten, geschweige einer
klaren Einsicht in die Wirkungsweise der constanten Kraft
und in das Beharrungsgesetz nicht abhängig war. Galilei
hat vielmehr, was ihm in dieser Richtung Benedetti bot,
geflissentlich nicht verwertet.
402 Emil Wohlwill,
Die erörterten Ansichten sind aber auch keineswegs als
ein rasch äberwundener Uebergangsstandpunkt anzusehen.
Es ist wahrscheinlich genug, dass bei der Entdeckung der
Fallgesetze nicht klarere Vorstellungen über die Ursache der
Beschleunigung, sondern soweit überhaupt Speculation bei
den Experimenten eine Rolle spielte, Betrachtungen der an-
geführten Art für Galilei die leitenden gewesen sind. Das
Gesetz der Fallräume wird zuerst in dem Brief an Paolo
Sarpi vom 16. October 1604 als Ergebnis der Beobachtung
erwähnt*) und scheint nicht lange vor diesem Datum ent-
deckt zu sein. Galilei berichtet dem Freunde: es habe ihm
bis dahin ein völlig unzweifelhaftes Princip gefehlt, das sich
als Axiom der Erklärung der beobachteten Erscheinung«!
zu Grunde l^en lasse; er sei nunmehr zu einer Annatune
gekommen, die viel Natürliches und Einleuchtendes habe
und aus der das Gesetz der ungeraden Zahlen u. s. w. sich
ableiten lasse, zu der Annahme nämlich, dass der natürliche
Körper an Geschwindigkeit in demselben Verhältnis zunehme,
wie er sich vom Ausgangspunkt der Bewegung entferne**^).
Wenn man dies Princip annehme, so werde nicht allein das
Gesetz der Fallräume daraus abzuleiten, sondern äberdies zu
zeigen sein, dass der naturgemäß fallende und der gewalt-
sam aufwärts geworfene Körper die gleichen Geschwindig-
keitsverhältnisse durchlaufen. »Dennc, führt er aus, »wenn
der geworfene Körper vom Punkte d [aufwärts] zum Punkte
a geworfen wird, so hat er offenbar im Punkte d einen
Antriebsgrad (grado d'impeto), der im Stande ist, ihn bis
. zum Punkte a zu treiben und nicht weiter; und wenn der*
•
*) Opere VI, 24, wo der Brief nach einer Gopie abgedruckt ist.
Der Abdruck nach dem seit 1864 in Pisa befindlichen Original, den so-
eben A. Favaro (Galileo Galilei e lo Studio di Padova II p. 226—227)
veröffentlicht, weist keine den Inhalt berührende Varianten auf.
**) Auch Leonardo da Vinci scheint nach einer von Libri (bistoire
des sc. math. en Italie III p. 210) mitgeteilten Notix Proportiooalit&t
der Geschwindigkeitszunahme und der zurückgelegten Wege angenommen
zu haben. Dieselbe Annahme findet sich, wie Whewell gezeigt hat, bei
M. Varro (tractatus de motu, Genevae 1584 p. 13). Dass Galilei Varros
Schrift gekannt habe, bt nicht nachzuweisen.
Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. 403
selbe geworfene Körper [auf seinem W^e nach a] nach c
gelangt ist, so ist klar, dass er mit einem Antriebsgrad aus-
gestattet ist, der im Stande ist, ihn bis zu demselben Punkte
a zu treiben, und gleichermaßen genügt der Antriebsgrad in
b, um ihn nach a zu treiben. OfTenbar nimmt demnach
der Antrieb in den Punkten d, c, b nach dem Verhältnis
der Linien da, ca, ba ab; wenn also der Körper beim natür-
lichen Fall nach demselben Verhältnis Geschwindigkeitsgrade
erlangt, so ist wahr, was ich gesagt und bis jetzt geglaubt
habe.€
Was 6. hier als offenbar hmstellt, erscheint uns heute
nichts weniger als zutreffend, so lange wir nicht Alles, was
wir vom Beharren der Bewegung wissen, ausschließen. Nur
wenn eine naturgemäße stetige Abnahme des Antriebs oder
der vis impressa und die dadurch bedingte Verlangsamung
der Bewegung stillschweigend vorausgesetzt wird, lässt sich die
Größe des Antriebs an jedem Punkt der Bahn eines aufwärts
geworfenen Körpers als genau ausreichend zur Erreichung des
Ziels betrachten. Falsch erscheint uns Galileis Satz auf den
ersten Blick nur darum, weil wir die Größe des erforderlichen
Antriebs unter der Voraussetzung gleichförmiger Bewegung be-
rechnen; dieser Voraussetzung liegt aber die Einsicht in das Be-
harrungsgesetz zu Grunde. Es bedarf keines weiteren Beweises
dafür, dass Galilei in dem Zusammenhange seines Briefes an
Sarpi der Entdeckung dieses Gesetzes, wenigstens in seiner
Anwendung auf die Erscheinungen der beschleunigten und
verzögerten Bewegung noch nicht näher gekommen ist; es geht
aas seinen Erörterungen klar hervor, dass er unter Andrem
das Gesetz, nach dem die Körper im Fallen die Geschwindig-
keit gewinnen, die zum Aufsteigen durch den zurückgelegten
Fallraum erforderlich ist, nicht aus dem Beharrungsgesetz
abgeleitet und ohne Rücksicht auf dasselbe begreiflich ge-
funden hat; als mindestens wahrscheinlich ergibt sich aber
auch aus dem Brief an Sarpi, dass G. noch gegen das Ende
des Jahres 1604 seine ältere Grundvorslellung über das
Zusammenwirken der vis impressa und der Schwere fest-
gehalten hat.
404 t^mil Wohlwill,
Ohne Weiteres gestattet derselbe Brief, für die oben*)
aufgestellte Behauptung, dass der Abschnitt de motu natu-
raliter accelerato nicht gleichzeitig mit dem Dialog mid den
andern Abhandlungen des Fragments de motu gravium ent-
standen sein kann, den bestimmten Beweis zu liefern. Die
Annahme, dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers
nach dem Verhältnis der zurückgelegten Wege wachse, er-
scheint in dem Brief an Sarpi als eine neue, seit Kurzem
zur Erklärung der Tatsachen au3gedachte; diese irrtümliche
Ansicht hat Galilei, wie er selbst im dritten Tag seiner
Discorsi erzählt, eine Zeit lang festgehalten**), dann als un-
möglich und widersinnig erkannt und nun erst in der Vor-
aussetzung einer Beschleunigung proportional der Zeit das
ausreichende Princip für die Erklärung der Fallgesetze ge-
funden. Die Erläuterung eben dieses später entdeckten
Princips bildet den Gegenstand der Abhandlung de motu
naturaliter accelerato; es kann also diese Abhandlung, auch
wenn man von allgemeineren Gründen absehen will, nicht
vor dem 16. Oktober 1604***), also frühestens 12 Jahre nach
dem Dialog de motu gravium entstanden sein. Es ist dem-
nach berechtigt und geboten, Galileb Standpunkt zur Zeit
der Abfassung dieser Schrift ohne Rücksicht auf den fremd-
artigen Anhang zu erörtern.
Darf man diesen letzteren als einen Bestandteil der
Bücher de motu locali betrachten, die G. in der Zeit zwischen
1604 und 1609 ihrem wichtigsten Inhalte nach niederge-
schrieben hat, so geht daraus allerdings hervor, dass er nach
kurzer Zeit das richtige Gesetz entdeckt hat, nach dem die
Beschleunigung der fallenden Körper der Zeit vom Anfang
der Bewegung an proportional ist, die Geschwindigkeit also
in gleichen Zeitteilen um gleichviel zunimmt ; man wird aber
— so überraschend das klingen möge — keineswegs weiter
♦) p. 395 ff.
♦♦) Opere XIU p. 161.
***) Das Datum ist zwiefach verbürgt, da auch der Brief Sarpis,
den Galilei beantwortet, mit dem Datum des 9. October 1604 im Original
erhalten ist. Gf. Opere VIII, 29.
Die Entdeckung des BeharningsgeseUes. 405
schließen dürfen, dass Galilei um dieser Entdeckung willen
genötigt gewesen sei, ungefähr, zur gleichen Zeit seine ältere
Vorstellung über das Zusammenwirken der Schwere und der
vis impressa gegen die richtige Einsicht in die Ursache der
Beschleunigung zu vertauschen. Schon seine oft citirte Aus-
einandersetzung, die er fast gleichlautend in dem älteren
Entwurf und dem Werk von 1638 der Definition der gleich-
förmig beschleunigten Bewegung vorausschickt, scheint mir
einer solchen Annahme ziemlich deutlich zu widersprechen.
Er habe sich die Aufgabe gestellt, sagt 6., »eine Definition
der beschleunigten Bewegung zu finden, die dem Wesen der
naturlich beschleunigten Bewegung entspricht. Bei dem end-
lichen, nach langem Geistesmähen erzielten Gelingen habe
ihn die Betrachtung geleitet, dass die Natur in allen ihren
Werken sich der ersten, einfachsten, leichtesten Mittel be-
diene, das Gleiche sei bei der Geschwindigkeitszunahme der
fallenden Körper zu erwarten. Bei aufmerksamer Betrachtung
werde man nun keinen Zuwachs einfacher finden als den-
jenigen, der immer auf dieselbe Weise hinzufügt; gleichförmig
und immer auf dieselbe Weise beschleunigt werde also die
Bewegung sein, wenn in gleichen Zeitteilen ihr gleiche Ge-
schwindigkeitszunahme hinzugefügt werdet*).
Will man nun nicht annehmen, dass G. bei dieser Er-
örterung seines Gedankengangs wissentlich die wichtigste
Veranlassung verschweigt, so ist durch dieselbe der Einfluss
nicht nur einer richtigen, sondern jeder Speculation über
die Ursache der Beschleunigung auf die Entdeckung des Ge-
G.S Aeußerungen in dieser Richtung hypothetisch zu
ergänzen, könnte vielleicht gerechtfertigt erscheinen, wenn
Ansichten, wie diejenigen, die man ihm in der Regel zu-
schreibt: dass »die beschleunigte Bewegung ganz allein durch
eine stete Einwirkung der bewegenden Kraft erfolge, also
der beschleunigte Fall der Körper ganz allein durch eine
stete Einwirkung der Schwerkräfte, »der fallende Körper
♦) Opere XI, 74—75; XIU, 154-155.
408 Emil WohlwiU,
wie der zurückgelegte Weg; hier folgt natürlich auf ein
wohlwollend entschuldigendes Wort über den Irrtum eine
gründliche Widerlegung. Wesentlich anders steht es bei
der Stelle, die zu dieser Abschweifung die Veranlassung ge-
geben hat*). Es ist unmittelbar zuvor aus der Definition
die Betrachtung abgeleitet und gründlich durchgeführt, dass
der fallende Körper von der Ruhelage an alle Grade der
Geschwindigkeit' durchlaufen muss und dabei zur weiteren
Erläuterung darauf hingewiesen, dass die Gewinnung der
Geschwindigkeitsgrade beim fallenden Stein offenbar in der-
selben Ordnung stattfinden könne, wie die Abnahme und
das Verlieren derselben Grade, wenn der Stein durch eine
treibende Kraft zur selben Höhe aufwärts geworfen würde,
im letzteren Falle aber könne man ja nicht zweifeln, dass
bei der Abnahme der Geschwindigkeit bis zur Vernichtung
der Zustand der Ruhe nicht erreicht werden könne, ehe
sämmtliche Grade der Langsamkeit durchlaufen seien**).
Dieser Erörterung Salviatis glaubt Sagredo eine völlig an-
gemessene Antwort auf die von den Philosophen erörterte
Frage nach der Ursache der Beschleunigung der fallenden
Körper entnehmen zu können, und diese Antwort ist eben
jene alte vom Jahre 1590. Auf Sagredos Ausführung er-
wiedert Salviati ausweichend. »Es scheint mir nicht der
passende Zeitpunkte, sagt er, »jetzt auf die Untersuchung über
die Ursache der Fallbeschleunigung einzugehen, über die
von verschiedenen Philosophen verschiedene Ansichten vor-
gebracht worden sind Für jetzt genügt es anserm Autor,
dass er uns einige Eigenschaften einer Bewegung erforschen
und beweisen will, die (was immer die Ursache der Beschleuni-
gung sei) in der Weise beschleunigt ist, dass in gleichen
Zeiten die Geschwindigkeitszunahmen gleiche sind u. s. w.c***)
In diesen Erörterungen ist fast gleich wichtig, was Galilei
*) Diese Stelle scheint bisher von denjenigen, die sich die Aufgabe
gestellt haben, 6.s Gredankengang zu reproduciren, unbeachtet geblieben
zu sein.
♦♦) Opere XIII, 158.
♦*♦) Opere XIH. 160.
Die Entdeckung des ßehamingsgeeetzes. 409
sagt und was er nicht sagt. Er sagt auch jetzt — in dem
letzten Stadium seiner Forschung — nicht, dass die Vor-
stellung, in der er in Jugendjahren die wahre Ursache der
Fallbeschleunigung gefunden hat, unhaltbar ist und ihrem
Zwecke nicht entspricht; dass er sie nicht ifTgleicher Weise,
wie früher, als Wahrheit betrachtet, ist fast nur daraus zu
schließen, dass ein Wort der Billigung in Salviatis Munde
fehlt. Dagegen fallt ins Gewicht, dass der immer als scharf-
blickend geschilderte Sagredo diese das Beharren der mit-
geteilten Bewegung ausschließende Ansicht als durchaus dem
Grundgesetz der gleichförmig beschleunigten Bewegung ent-
sprechend zur Sprache bringt und dass ihr kein anderer
Erklärungsversuch als der besser berechtigte gegenübergestellt
wird. Den haltlosen Phantasieen gegenüber, die G. nicht
der Erörterung wert findet, bietet das ganze Werk der Dis-
corsi außer dem Wort Sagredos kein anderes über die
Ursache der Beschleunigung. Darf man trotzdem in diesem
Wort nicht G.s Ueberzeugung zur Zeit der Abfassung der
Discorsi lesen, so wird man um so mehr in der ausführlichen
Reproduction der überwundenen Vorstellung eine Art von
Lückenbüßer an Stelle des geforderten, aber in befriedigen-
der Weise nicht zu gebenden Aufschlusses über die Ursache
der Beschleunigung sehen müssen. Wir sind durch die an
Galilei sich anschließende geschichtliche Entwicklung so sehr
gewöhnt, die Beschleunigung als notwendiges Ergebnis der
summirten Eraftimpulse anzusehen, dass wir die Forschung
über das Gesetz der Beschleunigung selbst da an die Ein-
sicht in diesen Zusammenhang gebunden glauben, wo uns
der Widerspruch in so schroffer Form entgegentritt, wie in
der Erklärung Salviatis: dass die Erörterung über die Gesetze
der gleichförmig beschleunigten Bewegung nicht die passende
Gelegenheit sei, um über die Ursache der Beschleunigung
zu reden. Unmöglich könnte dieses Wort ein Forscher ge-
schrieben haben, der im Sinne der herschenden Auffassung
des geschichtlichen Verlaufs die Bewegungsgeselze aus einer
klaren Vorstellung über die Wirkung der beschleunigenden
Kräfte abgeleitet hätte. Die unzweideutige Aeußerung be-
410 Smil Wohlwill, Die Entdeckung des Bebarrangsgesetzes.
stätigt implicite und namentlich unter Berücksichtigung der
überraschenden Reproduction des Gedankens von 1590, dass
die Entdeckung des Beharrungsgesetzes nicht auf dem Wege
liegt, auf dem man sie gewöhnlich gesucht hat.
(Schluss folgt.)
lieber
den Begriff und besondere Bedentangen
des Plnrals bei Substantiven.
Von Prof. L, Tobler.
Der Begriff des Plurals ist so wenig etwas Selbrtver-
ständliches, wie der des Singulars; beide Formen können
sich nur aus einer für diesen Unterschied noch indiflTerenten
Einheit entwickelt haben, wie Nomen und Verbum und
andere Kategorien der ausgebildeten Sprache.
Wenn wir uns jedes Substantiv bei seiner Bildung un-
willkürlich als Singular denken, so ist dieses eben damit
nicht zugleich im Gegensatz zum Plural gedacht und es er-
gibt sich zunächst nur, dass der in diesem Namen aus-
gedrückte Gegensatz nicht ursprünglich und wesentlich,
überdies der Name Singularis nicht glucklich gewählt ist.
Die sprachliche Vorstellung eines Dinges ist aus einer Mehr-
heit noch unsprachlicher Anschauungen von Ganzen und
Teilen oder von Exemplaren einer Gattung erwachsen. Sie
ist concreter als jene Anschauungen, insofern die sonst zer-
fließende Vielheit und Buntheit der letztem durch Auffassung
und Festhaltung eines Hauptmerkmals in em verkürztes
Bild zusammengezogen ist; sie ist dagegen abstracter, insofern
dem Wort als geistigem Repräsentanten einer Mehrheit von
Dingen nie die anschauliche Fülle der wargenc»nmenen
Wirklichkeit innewohnen kann, sondern diese durch wieder-
holte Acte des Denkens und Gedächtnisses immer erst wieder
aufgefrischt werden muss. Die einmal geschaffene Vorstellung
L. Tobler, lieber den Begriff und bes. Bedeutungen des Plurals etc. 41 1
wird als Einheit gedacht, aber Singular bedeutet nicht Ein-
heit sondern Einzelheit, und wir dürfen zunächst noch nicht
an den concreten Singular der spätem Sprache denken, der
den Plui*al als Ergänzung oder Gegensatz neben sich hat,
sondern nur an den abstrakten, den wir noch immer ge-
brauchen, wenn wir, mit Vorsetzung des bestimmten Artikels,
sagen: der Mensch, der Vogel, der Baum u. s. w. und damit
von allen Menschen, Bäumen u. s. w. etwas aussage wollen.
Kurz: der sog. Singular ist ursprünglich Einheit des Be-
griffs, nicht der Zahl, und kann darum den Plural bereits
implizirt enthalten, wie wir auch aus Gompositen wie »Vogel-
sang, Baumschlag« u. dgl. sehen, womit doch der Gesang
aller Singvögel, das Ast- und Laubwerk verschiedener Baum-
arten gemeint ist, während in »HörnerschalU der Plural
des ersten Wortes auch in der Form ausgedrückt ist und in
Bildungen wioPferdezuchtc wenigstens nach heutigem Sprach-
gefühl derselbe gedacht wird. Erst nachdem in dem ursprüng-
lichen abstracten Singular Einzelheit und Vielheit noch unge-
schieden beisammen gelten haben, entsteht ein concreter
Singular, der dann auch als Einheit beim wirklichen Zählen vor-
ausgesetzt wird, und ihm gegenüber ein Plural, beide in Sprach-
formen ausgedrückt und unterschieden, aber in der gramma-
tischen Terminologie unpassender Weise selbst )>Zahlen«
genannt, da es sich, wie wir sehen werden, auch beim
Plural nicht blofi um Quantität, sondern teilweise zu-
gleich um qualitative Begriffsunterschiede handelt. Was
übrigens das Zählen betrifft, so ist bekannt, dass die Sprachen
es damit sehr ungleich weit gebracht haben und dass wirk-
liche Zahlwörter über 5 hinaus manchen Sprachen fehlen,
überdies schon die einfachen Grundzahlen ziemlich künstliche
Erfindungen sind, statt deren anfanglich deutende Pronomina
gedient haben werden, wie dieser in schweizerischer Volks-
sprache auch der andere bedeutet, also Zweiheit setzt oder
voraussetzt. Wir dürfen also den Grundbegriff des Plurals
nicht erst aus Vorstellungen ableiten, welche wirkliche Zahl-
wörter voraussetzen; denn wo solche ausdrücklich zum
Plural hinzutreten, sind sie, die Zahlen selbst als solche.
412 L. Tobler,
die eigentlich bedeutsamen Coefficienten der gezahlten Größe,
er nur ein blasser Exponent. Darum steht denn auch,
eigentlich ganz richtig, in vielen sprachen gerade bei
Zahlwörtern das Substantiv im Singular*) und die
Pluralform desselben ist ein Pleonasmus, wie ihn die Porm-
sprachen auch sonst zur Bezeichnung der Gongruenz lieben.
Wir haben also einen wirklichen Plural in der Sprache an-
zuerkennen, sobald nur irgend ein Unterschied von der
Einzelheit gedacht und an dem betreffenden Worte bezeichnet
wird**). Die in vielen alten Sprachen vorhandene Kategorie
und Form eines Dualis, in einigen auch die eines Trialis,
zeigt, dass concrete Vorstellungen von Zahlverhältnissen auch
ohne Zahlwörter oder noch neben diesen möglich waren;
doch'-müssen jene beiden Formen wegen ihrer Besonderheit
und Beschränkung auf verhältnismäßig wenige Fälle vom
allgemeinen Pluralbegriflf unterschieden werden***).
Statt uns in Vermutungen über die ursprängliche Auf-
fassung des Plurals zu verlieren, würden wir lieber bestimmte
Kunde davon aus sprachlichen Formen selbst schöpfen, so-
*) S. Pott, Doppelung S. 165—167. Dass im Deutschen WOrter fOr
Maße wie Pfund, Fass, Glas, StQck, Buch (als Papiermaß) nach
Zahlen im Sing, stehen, ist nur Schein; jene Formen sind vielmehr
alte Plurale der Neutra ohne Endung, ebenso Mann bei Zählung von
Soldaten der alte Plural dieses Wortes. Fuß ist in die Analogie der
Neutra herübergezogen worden. Feminina wie Elle zeigen den deut-
lichen Plural.
**) Ein Wort für die Vorstellung eins wird dabei allerdings vor*
ausgesetzt, aber di^es braucht nicht eine längere Reihe von Zahl-
wörtern hinter sich zu haben und auch selbst noch nicht eigentliches
Zahlwort zu sein, sondern eben nur Pronomen, wie schon oben ange-
deutet wurde. Darum ist unser ein auch unbest. Artikel und unbest.
Pron. und ist davon (begrifflich scheinbar widersprechend) abgeleitet
einige; im Span, werden in diesem Sinn geradezu die Plur.-Formen
uno8f unaa gebraucht; im Engl, in gewissen Verbindungen ones.
***) Nach Humboldt hat das Arabische 1. einen Dual, 2. einen be-
schränkten Plural, für 3—9, 3. einen Vielheitsplural, 4. einen Plural
vom Plural einiger Wörter neugebildet, für 10 und mehr oder unbe-
stimmt, 5. einen Plural für collective Begriffe, die auch im Singular
eine besondere Form haben. (Sämmtl. Werke Bd. VI, S. 583.)
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 413
weit diese irgend welchen Aufschluss geben können. Aber
wenn es schwer hält, die innere Sprachform des Materiellen
der Wörter ausfindig zu machen und daraus die ursprung-
liche Anschauungsweise des betreffenden Gegenstandes zu
erraten, so ist die innere Sprachform grammatischer
Formen noch schwerer zu ergrunden und sie kann, auch
wenn sie erkennbar ist, wenig Aufschluss gewähren, da
alles Formelle in der Sprache noch mehr als das Materielle
nur ganz partielle zufällige Anschauungen und nur not-
dürftige Andeutungen des wirklich Gedachten enthalten kann.
Immerhin därfen wir diesen Weg der Erkenntnis nicht ganz
bei Seite lassen, aber darauf verzichten, eine Uebersicht der
verschiedenen von einzelnen Sprachen versuchten Arten der
Bezeichnung des Plurals zu geben, soweit sie nur morpho-
logisches Interesse haben und nicht zugleich einen Einblick
in die psychologische Seite der Sache gewähren.
Wo der Plural materiell durch Beisetzung beson-
derer Wörter von der Bedeutung >viel, Menge« bezeichnet
wird, wie z. B. im Japanesischen, kann von Begriff und
Form desselben eigentlich noch gar nicht die Rede sein.
Die Unvollkommenheit solcher Bezeichnungsweise ergibt sich
aus Vergleichung unserer Ausdrücke: viele Menschen, eine
Menge Menschen, wo neben jenen Zusatzwörtem der
Pluralbegriff erst noch durch Endungen bezeichnet und
innerhalb der allgemeinen Vorstellung der Mehrheit ein
besonderes Mafi derselben eben durch jene Wörter ange-
geben wird. Ebenso mangelhaft ist der Ersatz des Plurals,
wenn z. B. in den malayischen Sprachen zu jenem Zwecke das
Wort »alle gebraucht wird, womit wieder der wichtige Unter-
schied zwischen »Menschent und »alle Menschenc unmöglich
wird (wenn er nicht, wie auch im vorigen Fall, etwa durch
veränderte Stellung oder Betonung des »all, viel« herge-
stellt werden kann). Wo der Plural durch Wiederholung
des Wortes ausgedrückt wird, ist zwar ein Fortschritt zu
erkennen, indem die Kategorie am Worte selbst oder
wenigstens durch dasselbe b^eichnet ist, aber die Art der
Bezeichnung ist doch nur ein unbeholfener symbolischer
Z«itsohr. mr VOULOrpsycb. imd Spiaohw. Bd. UV. 4. 2g
4U ^ '^^^^*
Ausdruck eiwr Itajiftmi Addttkm'''). Geistiger iak die BednctiflB
der Verdoppelung dea Genzea Mf einen Teil, den Anluik
des Wortes (Reduplicatjoiit u e« &X ein MUMt^ daa andl die
höheren Sprachen verwet^denf «her nicht zw Beeeiehrnnf
des Pliurajls, sondern zm Andeutung- ma Modyficetionen. de»
Verbalbegriffis od^ zur Wortbildung mit nuiterieller Be-
deutung. Eine afrikania^e Sprachig das; iVfmoIi» heiäduul
den Plur. der Pvon. pers. durch eiui Suffix^ wekhe» »mibt
bedeutet; eine andere, das i^, dwA Yerwaaidliing der anr
lautenden Gonsonaotw^ infolge d^ dea sSdefrikanjscbeD)
Sprachen überhaupt eigwen Unteracheidung der Sobstanlir-*
b^riffe durch PrSfixe« Alle solche Versuche, enekhea nodi
keinen eigentliichen. Pluralbegnff und verrateni andi keh»
Berührung desselben mit andbm Kategorie^ des SdMtankm^
etwa mit dem Collectivbegriffi oder mX dem GeseUedbtt
welches letztere (als grammatbches>ftieiüdi atidideiiweiiigiteni
Sprachen bekannt ist; Wenn im ^fiNdbua. (fdeo attan Sprache
von Peru) Wiederholung einee Substantitsiein Goüecüv ergibt^
z, B. M&nner-Mfini^i* « Volk, so> kami diea blofliev Ziifadi
sein ; in hohem Sprachen flndm wir umgekehrb BaBeüahnang»
des Plurals durch ein SufOx« welohes sonst Abstraota, darunter
auch Collectivai bildet. Der Plucal wirdt hier nicht mehr als.
Hajufe von Einzeldingen, sondern als Abstractum d6»Singiilam
aufgefasst, und da das Abstraetum teils alsFeminmmn au^
geCasst, teils, wo neben dem natürlichen Ges(^echt ein>
Neutrum geschaffen ist, diesem zugeteilt wird, so fiodem
wir Berührung oder Zusammentreffen d^ Pluralform mit
der des Femin. od^ Neutr. Sing.'*'^) So bildet; das Koptisdie'
mit der Endung -i teils Feminina, teil»Plurale, so daas da»*
selbe Wort z. B. >Freund-ini;i« und »Freundre«. bezeiduien
*) Die mit Ablaut verbundene Wiederholmig einer Stammailbe
wie im Deutschen Wirrwarr« Singsang u, dgl« beidohnet nkht
Mehtheit eines bestimmten Gegenstandes, sondern dinen Gtssan^ntein«-
druck von Buntheit mehrerer ungefähr gleichartig^er.
**) Dass zur Bildung von Abstracten das weibl. Geschlecht gewählt
wird, wird seinen Grund darin haben» dass 1) innerhaUi des weibl. Ge-
schlechts die Individualität weniger ausgebildet ist, S) dass das weib-
liehe Wesen als umfassend« Keime von Einaelwesen enlbaUend auf^
Ueber dea Begriff und besoA^lere Bedeutungen des Plurals etc. HS
Kann, <s/ä&t »Hamdelstufec ttnd »KaiMiede«*). Ein Plural wie
dtis kopt. Wort tat ttremdet bezeiehhet offenbar eigenflich
aueb tikht eine M ehrzaM maimlletii&r Perdonen^, söndlem eben
das Absti*. i^Freunddchaftc, welches" aueh in der deutschen
VolbBpradie, z. B. der Sehweite coi«ci<ef fär die Gtesammtheit
dev »»FMifufac d. h. Verwanten gebraucht wird; wie das
sohriftdeutsohe ^^YerwaiitschiEift« ; manfvergl. auch: Christen-
heit ^ Ae- gesamiMen Christen.
Auch das ^abische setzt in vielen FäSen Femin. und
Plnrat formeli und sytrfaktisch einander gleich d. h; auch
seine' Ploraiforttien dnd sl lt. aftstracte weibl. Singulare*
undi werden In der Gongruenz als solche behandelt. Man
hat femer Ungst bemerkt, dass^ dta indogermanische SufOx
de» Plw. m. -tw in seinem Ursprung wahrschemlich mit
dem N€Ritra bildenden -as leusammenftllt. Diesem Stamm-
bildttngBdement entspricht das althochdeutsche -tr, welches
urspf. coUeotivö Bedieut^ng gehabt haben muss, dann Plural-
endong 0Br Neütk« wie im mhd. L&mm-er, Hähn-er;
Hflusei^, Tücher, zuletzt sogar fQr Hasculina wie Mähn-er,
Geist -er geworden ist**). NachBbller (die Deklinat d. finn.
Spmdi; S. 7 ff.) ist das s jener indog. Neutralendung ab^
geschwächt aus dem t oder ä des Neutr. Sing, der Pron. und
Adj« und entspricht vielleicht dem -4, welches in den ftnni-
geCasst wird. Aus der natfirlicfaen Neigung des Neutr. su ooUediver
Bedeutung erklärt sich die syntaktische Erscheinung, dass im Griech.
das Neutr. Plur. mit Prädikat im Sing, verbunden wird, neben der um-
gekehrten auch im Lateinischen und Deutschen bekannten, dass zu
coUeotiTem Sing, das Verbum im Plur. eonstniirt werden kann.
*} Das letztere Beispiel erinnert ans, dass das deutsche Wort
Stute urspr. Herde, dann erst das einzelne weibl. Tier bedeutet, aus
welchem die Herde entspringt oder nch vermehrt.
**) Dass die Endung -tr, -er ursprgl. dem Sing, oder vielmehr dem
Stamm angeUMe, zeigt die in einer Schweiz. Mundart erhaltene Form
das Bier, deren Plur; dann nur Bi lautet, also gerade umgekehrt' wie
in der Schriftsprache. Es mag hier beigefOgt werden, dass in Schweiz.
Mundarten Nüss aneh für »NQsse«, Brbs auch fllr »Erbsen«, Geiss
auch' ffir »Geissen« vorkommt. Brbs konnte als alter Plur. Neutr. er-
kllrt werden; aber die beidenwdbl.WOrtershid offenbar als collect! ve
Sing, gedacht.
416 ^ Tobler,
sehen Sprachen den Plural bildet, in den semitischen und
im Aegyptischen das Fem. Sing., das in diesen Sprachen in
Ermanglung eines Neutrums auch dieses (bei substantivisch
gebrauchten Adj. und abstracten Subst.) vertreten muss.
Abstracte Substantive haben im Hebräischen oft die
Endung -fm, welche offenbar erst von jenem Gebrauch aus
reguläre Endung des Plur. Masc. geworden ist, also ganz
ähnlich wie das indogerm. -as. Ursprünglich galt -fm für
beide Geschlechter, daher z. B. gerade nosch-hn^ Weiber,
woneben allerdings auch älhdt^ Väter, mit der sonst weibL
Flur. Endung -^^, manche Wörter haben beide Endungen,
was eben nur beweist, dass beide urspr. abstracte Bedeutung
haben wie das neben -St stehende -ti< und -U. Dass -M
urspr. nicht concrete Vielheit, sondern etwas Umfassendes,
unbestimmt Allgemeines, einen Gesammteindruck bezeichnet,
zeigen Beispiele wie p^anim Angesicht (was allerdings >Ge-
sichtszügec erklärt werden kann), ckayltn Leben (Lebens-
kräfte?) dohlm Gottheit (»himmlische Mächtec? im Gegen-
satz zu dem spätem streng monotheistischen Jahveh, Jehova).
Solche Fälle müssen, auch wenn sie auf die in Klammer an-
gedeutete Weise zu erklären sind, von dem unten zu be-
sprechenden Gebrauch des Flur, für einzelne Arten von
Aeußerung einer Kraft, oder bei Stoffwörtern zur Bezeichnung
einzelner Stücke von einer Masse, unterschieden werden*).
— Die Bezeichnung des Flur, durch Bildung eines Collectlv-
ums oder sonstigen Abstractums ist ein Fortschritt gegenüber
der Setzung besonderer Wörter, indem jenes Verfahren
immerhin eine Begriffsbildung ist und am Wort selber voll-
zogen wird; aber sie ist doch nur das andere Extrem und
involvirt eine Vermischung von Wortbildung und Flexion;
das indog. -os, einmal als Plur.-Endung für Masculina ge-
braucht, ist von dem Stammbildungselement der Neutra
dadurch unterschieden, dass es hinter den schon ander-
*) Daher hebr. iMnXm nicht bloß »Herrenc sondern auch »Herr<
d. h. vielmehr »Herrschaft« oder Inbegriff der Herrschaftsrechte, aber
als verkörpert in einer Person gedacht, wie ital. podestä (paUaias)
richterliche Gewalt, dann auch: Richter.
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 417
weitig geformten Stamm tritt. — Da nun dieser auch in den
Casusformen dem Singular näher steht und in einzelnen
(wenigstens später) mit demselben zusammentrifft, so musste
im Laufe der Zeit die Vorstellung entstehen, der Plural
werde aus dem Singular gebildet, setze also diesen vor-
aus, was dem im Anfang dieser Abhandlung ausgesprochenen
Gedanken widerspricht, aber vom Standpunkt der spätem
Sprache aus zu begreifen ist. Dann kann es freilich auf-
fallen, dass noch in spätem Perioden unserer Sprachen im
Gegenteil Singulare aus Pluralen gebildet werden.
Begriflflich hätte dies keine Schwierigkeit, wenn der neu-
gebildete Singular ein C!ollectiv wäre, da ja ein solcher Be-
griff durch Zusammenfassung eines concreten Plurals ebenso
gut entstehen kann wie umgekehrt concrete Plurale aus
einem Gollectivbegriff (s. oben). In der Tat sind die Fälle
zum Teil von jener Art und die übrigen könnten aus Ana-
logie der erstgebildeten erklärt werden. Aber der ganze
Vorgang ist nicht von begrifflicher Art und scheint auf dem
äufiern Zufall zu bemhen, dass gewisse Pluralformen laut-
lich factisch mit Singularformen äbereinstimmen , also in
Singulare umgedeutet und umgeprägt werden konnten. Der
Plural des altdeutschen Masc. trcÄan : iraham^ später trähene,
konnte der Lautform nach ein Fem. Sing, sein und wurde
im Neuhochdeutschen so aufgefaßt, was dann einen neuen
Plural Trän-en ergab, wie zum Präsens gewordene alte
Perfecta ein neues Präteritum nach schwacher Form bilden.
Zu bemerken ist dabei nur noch, dass die Umbildung der
Form von einer Aenderung des Begriffs begleitet war, indem
die allgemeine Bedeutung von trahen^ Tropfen, in Träne
auf das Nass der Augen eingeschränkt wurde. Von dieser
Art sind im Neuhochd. noch das synonyme Zähre, femer
Röhre, Binse, Esche, Schläfe, Gräte, Lefze und mit
geistiger Bedeutung, Sitte, Tacke, alle diese aus alten
Masc.; weniger sicher aus alten Neutren auf -e (früher -{),
welcher Laut aber ebenfalls pluralisch aufgefasst werden
konnte: Beere, Mähre (Erzählung), Wette. Bei Aehre
(aus altem eher^ dkir n.^ dessen Endung das oben besprochene
1^18 U ToWer,
-4r von urspn collectiürem Sing, ^eia kwa) scbeiot dje nentnde
Plur.-Form eAer als VerkOnaing ei^ ^. j^ (skere ai^b^msI
worden zu sein. Aus 4er sdiweiz. Volk^^racbe sind »och
beizufügen 0eine Korb, aus ffem sa. Zweig, und das ^^uür.
^ür Spreu» zusammengiezQgen ws ahd» J^ri^^; nocbmiüs
mit singularisch coIlecUvem -iir. Nor jsebeinbar ms Pkuralm
sind entstanden Wolke iwd Waffe, iaus d^a Sing. da§
wolkm, dae wdfw, dere^ -^ p]wa)iscb g^eitfßt w^dw
konnte* — Im llnglisch^ gibt e$ Wörter, die mait UFspr.»
Puralform einen singularen, pd^erdings meist wieder coUectiven
Begriff verbinden und daber fauch als Singulare oonstrairt
werden: pax^ Pocken, oääSy Ungleicbb^it, Vorteil, maoM,
Vermögen (frz. nwyms, Mittel), nwß» 2!eitwg, IhüIcw^ Blas-
balg (eig. Bälge). Nene Plurglform tentwieb^n gßUoM,
Galgen: gaUowse^ und sexpßni^ (jS-» Pfennigstück, i^ig. m?
pennies^ lautjjißb wie cnce aus (meß)\ eexpmces.
Besonders häufig sind iu den romaiuschea Spracben
Beispiele des Uebeigapgs von Neütr- Plur. nuf -a in i^mdi
epdende Fem. Sing.: U^t. anm, frw^ wm^f Ptor. a/rfm$;
animalicHMimaifle, comucHiome, foUa-femlk, ga^diß^me, graauh
graine (neben granum-grain) labrfk^vrß (vgl. obon ]^efze)>
operoroeiwrß (daneben das )at. fm* nv^a, Mube, ausgestorben,
aber viel), selbst s<^on ein Beispiel d^9elbw Voigangs)
insignia-enseigne, temp(ar)(htempß (Sobläfp), wHa^mU u^ s. w.,
dazu wobl auch Obstnau^ßn wiß pomim-poimm^t cemmm^
cerm^ pirumrpoire, u, s.Wm s^Diep, (Sraium. II*, $3—24. In
einem Teil dieser Fälle mag die Neubildung niebt ganz nur
auf formeller Umdeutuug eines Pluri^ls in einen weiblioheii
Sing, beruhen, sondern ^ können noch landere Motive mit-
gespielt haben, z, B. bei den Namw von Baumfrüchten
geradezu Vertauscbung des Geschlechtes, schon wal die
roman. Sprachen da^s Neutrum (beim Subst.) öbfarbaupt auf«
gegeben haben und weil die einzelne Frucht ate lebendiger
Mutterscboß der Samenkerue i^u^efasst werden konnte. —
Jedenfalls bleibt für die spätere Sprache noch mehr als für
die ältere die Bildung d^ Plurals au9 dem Singular als
Regel besteben; nur darf ni^bt übersehe werdep« dftss der
Ueber den Begriff und besoodeN Bedeutungen des Plurals etc. >4ld
Plaml JD;aeiMr Bedeutu&g iHcU«uf quaiAitative Mehrhdt
eines Sing, beeehränkt, sondern auch qualitative Unter-
sdüeden entwidcekiiiDd für diese sogar verschiedene Formen
attninehnieii fähig ist. Dunit sind aatäriich nicht F&Ile ge-
iMin^ m> ein Wort schon im Sing, verschiedene Bedeat\ingen
hait die sich dann auch im Plural am^rSgen wie hei das
Band Plur. Bande und Bänder (woneben noch der Band
PL Bindte und di« Ba&de PL Banden besteht) sondern
F&lle wito Mann (bei Zahlung von Soldaten & o.) Mannen
und Männer., Lande und Lander, Wörter und Worte«
während swisdien T&ler und Tale der Unterschied kein
kgiflcker, aondem nur ein asthetisch^stilistisoher ist Und
zwischeu Male und Maler (letzteres fast nur in Gompo-
siten) gar keiner besteht im Französischen ist ebenfiüls,
schcm aus der Schttigrammatik, bdcannt der Unterschied von
dds, Bettfaimniel und: Luft in Gemälden, gegenäber dmz
(lat. €Oehm PL eadi und coda ohne Unterschied der Be-
deutung, der dagegen zwischen laei und loca besteht); oeilB,
runde Körper: pmu^, leibL Augen; oSmfo, Grofiväter: aSmx
Ahnen. Italianisch: iegm Holz: hgni Holzarten od. -stäcke, legna
od. kgne, Brennfaoh, ftuth, Fhicht, PL frutH, Früchte, frutta,
Obst. Andere Wörter auf ^ haben iti dieser Sprache eben*
falle doM^lten Plur. auf -4 und *«> ohne begrifflichen Unter-
schied, aber sd dass die Formen auf -<i Artikel und Adjediv
in weiblicher Form (statt der neutralai) zu sich nehmen.
Abgesehen von sicher doppelter Form soll im folgenden
nur die Rede sein von einer Bedeutung des Plurals, die
zwar aus der des Sing, (sei diese eine einzelne oder die
einzige) abzuleiten, aber doch von derselben auch quali«
tatfv verschieden ist; sodann von Plural», denen gar kein
Singular gegenübersteht (HuraUa tanbum).
Alles was in diesen bdden Beziehungen Faktisches an-
gefahrt werden wird, ist längst bekannt und in den Spezial-
grammatiken verzeichneti auf die denn auch für Vollständig-
keit der AufiAhlung verwiesen werden muss; hier handelt es
sieh darum, das zerstreute Bekannte unter allgemeinen Ge<-
sichtepunkten zusammenzufassen und dadurch in neues Licht zu
420 L. ToWer,
setzen. Vorauszuschicken ist der ganzen folgenden Darstellung
nur noch das Bedenken, dass das unvermeidliche Verfahren,
verschiedene Sprachen an einer einzelnen zu messen, resp.
Ausdrucksweisen jener übersetzend oder erklärend mit Hilfe
deutscher wiederzugeben, natürlich immer Gefahr läuft, die
objective Wahrheit durch subjective Auffassungen zu ent-
stellen.
Bei dem Nachweis eigentumlicher Bedeutung des Plurals
gegenüber dem Singular können wir die zwei Fälle zu
unterscheiden suchen, dass solcher Gebrauch des Plur. ent-
weder nur gelegentlich, frei wechselnd, besonders in
poetischem und rhetorischem Ausdruck eintritt, oder dass er
eine relativ feststehende neue Bedeutung ausmacht. In-
dessen ist dieser Unterschied nicht streng festzuhalten.
Der erste Fall findet zunächst beiCollectiven statt,
die als solche keinen Plural zulassen, aber diese Form den-
noch bilden, nämlich zur Bezeichnung einzelner Teile oder
Arten eines Stoffes, oder künstlicher Produkte aus dem-
selben. Dahingehören Fälle wie: Lat. armM Sandkörner,
(ebenso griech. tpdgAad^ot), mt^es^ Schneeflocken, -gestöber,
cineres Ueberreste, ignes Funken od. Flammen, soles Sonnen-
blicke od. -gluten (ebenso griech. ^iUo«); aera Geräte od.
Statuen aus Erz, cerae Wachstafeln od. -masken, ligfM Holz-
stücke od. Hölzer (verschieden von Holze: Hohsarten, wie
Gläser von Glase, Tücher von Tuche, so dass im
Deutschen für diesen Unterschied noch verschiedene Form des
Plurals hinzukommt, s. o.). Griech. Movia* Staub, daneben
aber eigentümlich umgekehrt: äXsg Salz, Sing. Salzkorn,
l^vXa Holz, x^to, aa^Msg Fleisch, von einer Masse, während
der Sing, ein einzelnes Stück bedeutet; affMita^ id^StsQ
(Tropfen od. Ströme v. Blut u. Schweiß) rdiaMte^ (Milch-
speisen od. Milch V. verschied. Tieren), nvQoij nqt&ai (ver-
schied. Arten von Weizen und Gerste od. die Körner
dieser Feldfrüchte (vgl. noch lat. frummta, Feigenkömer).
Auch von einer Zeit große: n/jrr«(, die Stunden der Nacht,
fkiiSa^ vvMvs^j Mittemacht. — Hebr. ^eg Holz, PI. Holzstücke,
dam Blut, PI. Spuren od. Tropfen, vergossenes Blut. —
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. ^21
Im Polnischen bezeichnet der Name des Getreides im Sing,
dasselbe als eingesammelte Frucht, im PL die noch auf dem
Felde stehenden Saaten; groch Erbse u. Erbsen, Plur. grochff
Erbsenfelder und -arten; toocfy Gesundbrunnen, Heilquelle,
PL V. tooda Wasser, ist viell. Uebersetzung von aquae, aber
irdnra, silberne Geräte, entspricht keinem lat. argenta. Span.
cames, der bloße Leib, franz. viandes Fleischspeisen, grands
lies Korn und Weizen, petUs hUs Hafer und Gerste. Eng-
lisch: sanda Sandhaufen, Wüste, süka Seidenstoffe, wods
Wollstoffe (neben dem a^jectivischen wociens) cappers Kupfer-
gefasse, irons Fesseln (wie frz. fers). Abstracter, von Wieder-
holung od. verschiedenen Graden von Naturerscheinungen:
engl, heats; lat. curdores, heiße Zone; griech. tpvxij nai ^alnii.
Daran schließen sich Fälle wie tat munmira, sUentia, welche,
wie auch mehrere vorher angeführte, nur bei Dichtem vor-
kommen. Aber auch die Sprache der Poesie darf ja nicht
als eine Sammlung willkürlicher Ausnahmen betrachtet
werden und muss ihre vemfinfligen Gründe haben, auch wo
sie über das Gebiet von Stoffbegriffen hinausgehend den
Namen eines geformten Körpers oder eines lebendigen
Körperteils in den Plural setzt, was allerdings nur bei
antiken Dichtern vorzukommen scheint. So griechisch:
imf$ata, fASyaga, Xixrga, dQftata, til^a, ötif^fiata, wo an
Teile des betreffenden Raumes oder Gerätes gedacht werden
kann. Auch bei yr^o^w/ra, xaq^va, ^%^9^, fistAipqBva und
den entsprechenden lat. i>ra, pectora, carda (alle von einem
einzelnen Menschen gesagt) kann Anschauung der Teile,
Seiten (z. B. des Antlitzes, der Brust) anzunehmen sein, aber
man wird sich hüten müssen, diese Deutung durchweg an-
zuwenden, was bei Fällen wie MtQa (Lösegeld) und Sdga,
iqya (als Apposition zu einem Gegenstand) ohnehin nicht
wohl angeht.
Bei geistigen Begriffen kann der Plural nur ver-
schiedene Arten der Erscheinung oder wiederholte
Akte der Aeußerung einer Kraft bezeichnen. Das hebr.
**Aafrfffi, Liebschaften, Buhlerei, ist wohl nicht als Plur. des
Fem. Sing, ^dh^boh^ Liebe, zu betrachten, sondern als ein
(22 ^ IbUMT,
Beiq)iel der oben besproobenen uiq^rfingUchen Bädmig nm
Abstracten mit jener Endung, inaofem abo verschieden von
den sonst synonymen ktt amaw, franz. a$mmr$; ebemo
'ämfinfipi» ZnrerlisBi^Deit, neben ^ämOMh; daeegen g^dagfll
(einzelne wiederholte) Erweise von Gereditigkeit (s^dogok).
Häufig sind soldie Phirale im Lateinischen: Mirte, Tode»-
arten, /brmtdiiieSr Schreckbilder, tree cmstmMiß, drü Axien
der camtantia, omnes wMrMsie, jegliche Aei]Bennigs<ifdfle von
Geiz, gruÜM (neben ^oto) Dank(bezeugungen), ebenso
engl. OmH». Griechisch: lO&s (rühmliche Taten) £Um
(Fälle, Kundgebungen von Mitleid) dtirvmiM9i9a% Miss-
verständnisse, nüftug (glaubwürdige Zeugnisse) fpeftos
tf99t§g (Regungen, Anwandlungen von Furcht ondLiebe)
aiffadUu Torheiten, ^poso^ Todesaiten^ fMxrSüu (Anfälle
oder Ausbruche von Wahnsinn) sfinj^ GUcksfllUe, it^^m
Feindschaften, in^iffim Vmbchtsgrände, MOfta^ Sdiwierig-
keiten, o/xat^riTMc freundschaftliche VerhäUnisse, dvuywu
Naturgesetze, at&pUa$ Bescliimpfungen, Bvvtm Geschenke. —
Französisch: lomanges (Lobeserhebungen, Lobspruche),
honnemrs (Ehrenbezeugungen), »gl. hmoms auch: Ehren-
stellen, /«ars (Befürchtungen), UiNifieMes Artigkeiten, qiirifs
(Lebensgeister, eines Einzelnen), re^fects, höfliche Gräfle,
Empfehlungen. Deutsch: Reize auch geradezu: gewisse
Teile des weiblichen Körpers. Unsere un^rönglich Abslracta
bezeichnenden Bildungen auf -tum, heit, -schaftsmd durch-
weg auch des Plurals fthig und haben dann oft ganz ccm*
crete Bedeutungen, z. B. Reichtumer, Heiligtämer, Kostbar-
keiten, VertraulichlLeiten, Errungenscliaften, Liebschaften«
Wo der Plural eine (im allgemeinen Gebrauch, also
auch in gewcHinlicher Prosa) feststehende neue Bedeutung
zeigt, kann diese eine singularische oder pluralische sein.
Ein neuer Singularbegriff entspringt in Fällen wie die be-
kannten lateinischen: aedes^ Haus (Sing. Zimmer mit Herd,
Altar, daher auch: Tempel), oasbra, Lager, (Sing. Festung),
Uänäae, Rechnungsbuch, Dokument, codiäUif Schreibtafel,
Billet, lUterae^ Brief (ygl. Schweiz, »ein paar Buchstabenc
n» etwas Schriftliches, Verschreibung), camiUa Volksversamm-
lieber den Begriff und besondeie Bpdeutungm des Plurals etc. g23
luog ißmg^ Verswimkingsort), Jwii I^mtlhaiis (eig. Garten*
wlagisi), mj^edimenla^ Gepäck « mare^^ Cbsurakter (der sieh
ia wied^piten Handlungsweisen offeoliart), cpes Machi,
Reichtum (Mittel zu allerlei Hilfsleistungen « opem ferre)^
partes, Bolle; Partei. Griacb. j/^^fkosa Vermögen, Geld (Sing,
hraocbbare Sache)» Zvyd Wagie, tiifttsc Liebesgenuß. Hobt.
^iUUt Nachlese (Siipg. Nachkomme, Kind). Deutsch: Masern,
filatiem <die Krankheit von ihren aufiem Symptomen be*
nannt; ebenso engl, vives (Speicheldrüsen) eme P&rdekrank-
beit, ahmgles Rotblauf ; adj. wkites weiss» Fluss. Femer engl.
slairs Treppe (Stufen), leodb Bleidach, eokwrs Fahne, Flagge,
riocks Fufifessel, cka/pi Maul (Eie£em), Uimäs Jalousie (Blen-
den), sUuf^ Schnfirleib (Stützen), leads Rosenkranz (Perlen),
mies Wagß (Sdiaalen), spectades Brille (Gttser), mippers
Zange (Zähne), tables Damenbrett, draugUs Brettspiel (Zuge),
soundings Anfc^rgrund, mnings eingedeichtes Land, sweepings
Kehricht. Französisch: aides Steuer, gages Besoldung, gräces
Anmut, (unepcäre de) dseaux Scheere (Sing. Meißel), lunettes
Brille. Spanisch: tNoJeyem Gesträuch (Sing. Bosheit). Polnisch:
wideüßi Gabel (Zinken), ufsckod^ Treppe (Sing. Aufgang).
Neuen Pluralb^iff zeigen: Lat earceres Schranken
(naiurlich nicht vom Sing, in der Bedeutung »Kerkere,
sondern von dem gemansamen Grundbegriff »Umhegung,
Verschlag»), copiae Truppen, auxüia Hil&truppen, forkmae
Glucksguter. Französisch: äbais letzte Atemzuge eines
Sterbenden (Sing. Gebell), appas Reize (Sing, appät Lock-
speise), aiewp Ahnra (aieuls Großväter), neveux Nachkommen
(aber auch: Neffen), vactmces Ferien (Sing, erledigte Stelle)
moyene geistige Fähigkeiten und Geldmittel. Englisch: attacks
Lau^räben, parts Fähigkeiten, vapours Blähungen, grains
Treber, graunds Hefen, breenites Hosen (Sing. Steiß), drawers
Unterhosen (Sing. Schublade). Spanisch: oortes die Reichs-
stände (urspr. Gerichtshöfe der Provinzen), düäplinas Geisel-
hiebe« Der Unterschied zwischen neuem Singular- und Plural-
begriff ist zum Teil fließend, da der erstere in mehrern Fällen
einen GoUectivbegriff darstellt, den man von Seite der Be-
standteile, also pluralisch auffassen kann. Uebrigens gibt
424 L- Tobler,
es auch Pluralformen, welche mit Singular • und Plural*
bedeutung ohne qualitativen Unterschied gebraucht werden,
z. B. lat. aUaria Altar und Altäre, neben dem Sing. aUar
und altare. Wichtiger ist die aus vielen Beispielen der
zweiten Gruppe von selbst entspringende Bemerkung, dass
der neue Pluralbegriff nicht aus dem (zum Teil in Klammer
beigefügten) Singularbegriff, (der auch gar nicht immer der
einzige oder ursprüngliche ist), sondern nur aus einem ge-
meinsamen Grundbegriff abzuleiten ist. Umgekehrt versteht
sich, dass der Plural auch der Bedeutung des Singulars ent-
sprechen kann. Endlich ist nicht zu übersehen, dass der
Unterschied der Bedeutungen zum Teil nicht auf dem des
Numerus als solchen, sondern auf tropischen Auffassungen
und Anwendungen beruht, die sich im Sing, oder Plural
einstellen können.
Plurale, denen gar kein Singular zur Seite steht,
hat die ältere Schulgrammatik mit dem Namen Pluralia
tan tum bezeichnet, nach ihrer Weise einfach diese Talsache
registrirend, ohne sich vom Sinn und Grund derselben nähere
Rechenschaft zu geben. Uns drängt sich dabei sofort die
Frage auf: Ist vielleicht der Singular dieser Wörter, wenig-
stens eines Teiles derselben, nur zufallig aus älterem Ge-
brauch verschwunden und in den spätem Sprachdenkmälern
nicht mehr bezeugt? oder hat er nie bestanden, kann er
sogar nicht wohl bestanden haben und sind also diese
Wörter sogleich und einzig als Plurale geschaffen worden?
Dass bloßer Zufall eine beträchtliche Anzahl von Singularen
in verschiedenen Sprachen habe untergehen lassen, ist un-
wahrscheinlich; wir werden also eher zur Annahme des
zweiten Falles geneigt sein. Doch spricht dafür nicht etwa
die Tatsache, dass es ja umgekehrt auch Substantive gibt,
die nur im Singular vorkommen und nicht wobl anders
vorkommen können, nämlich besonders Collectiva und Ab-
stracta; denn wir haben ja oben gesehen, dass auch Wörter
dieser Art, denen man einen Plural kaum zutrauen möchte,
dennoch desselben gelegentlich fähig sind, wenn schon nur
in eingeschränkter, qualitativ modifizirter Bedeutung. Ueber-
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 425
haupt aber kann von dem Singular nicht ohne weiteres ein
Räckschloss auf den Plural gemacht werden, weil jener in
der geschichtlich bestehenden Sprache nun einmal eine be-
griffliche Priorität, eine bevorzugte Stellung und Geltung
besitzt, vermöge welcher er etwa auch den Plural mit um-
fassen oder vertreten kann, während dieser jenen voraussetzt
und nur insofern auch involvirt, aber ihn nicht ersetzen
kann. Indessen ist eben jene Voraussetzung nunmehr wenig-
st^is für einzelne Fälle in Frage gestellt und es können aller-
dings gewisse Begriffe ihrer Natur nach den Singular aus-
schließen; es ist also nur die Frage zu beantworten, wann
die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit eines Singulars statt-
finde und wie man sich dann die ursprfingliche Schöpfung
und ausschließliche Geltung des Plurals zu erklären habe.
Von der Lösung dieser Fragen ist zwar keineswegs die Ent-
hüllung wichtiger Geheimnisse des Sprachgeistes zu erwarten;
aber einer Untersuchung würdig und bedürftig ist der Gegen-
stand immerhin, und von vornherein ist nur so viel klar,
dass die Tatsache eines noch in der spätem Sprache vor-
liegenden ausschließlichen Pluralgebrauches unserm in der
Einleitung ausgesprochenen Gedanken ursprünglicher Coor-
dinirtheit beider Numeri, also relativer Selbständigkeit des
Plurals, zur Stütze gereicht. Den Dualis haben wir auch
hier bei Seite zu lassen; denn es wird zwar, auch wo er
nicht sprachlich ausgeprägt ist, in einzelnen oben angeführten
Beispielen des Plurals mit abweichender Bedeutung eine
Zweiheit vorgestellt, aber nicht als wesentlich, und auch wo
er als Sprachform existirt, ist er eher der Einheit als der
Mehrheit verwant, und es ist weder faktisch bezeugt noch
begrifflich denkbar, dass er jemals ohne den entsprechenden
Singular existirt, also dass es etwa Dualia tantum gegeben
habe. Gewisse Gegenstände, wie besonders einige Teile des
tierischen Körpers, kommen zwar nur paarweise vor und
diese Beschaffenheit ist ihnen wesentlich, aber der Begriff
des Paares setzt den der Einheit viel dringender voraus als
der der Mehrheit, welche ja auch unbestimmte Vielheit, ohne
vorgestellte Zahlunterschiede sein kann.
426 h, Tobier,
Der Betrachtung der MdgÜchkeit von PluraRd tanfem
schicken wir eine allgemeine Bemerkung Türaus, welche, m-
nftohst auf die Wortbildung bezüglich, auch auf die Flexion
Anwendung findet. Vf&r das Gebiet der Wortbildung, zu-
nächst in einer einzelnen Sprache, dann in mehrem äb^-
schaut, begegnet auf Schritt und Tritt der Beobachtung, (foss
dfe Bildung von Ableitungen und Zusammensetzungen zwar
im Allgemeinen bestimmte, von Einfachheit zu mannigfachen
Gombinattonen fortschreitende Stufen durchläuft, aber im
Einzelnen des faktischen Wculbestandes nichü so regehnäBfg*,
dass man die Ansätze und Absätze des successiven Verfahrens
mil; Sicherheit feststellen könnte, schon weil ja die historische
Ueberlieferung auch für dieses Gebiet nur lückenhaft ist.
Zwischen einer Stammform und einer Erweiterung derselben
durch mehrfache Ableitung oder Zusammensetzung, auch
durch' beide Mittel zugleich, liegt eine Mehrheit von Mittel-
gliedem, innerhalb derer die Succession mehrfache Wege
einschlagen konnte. Nachdem im Verlauf längerer Entwick-
lung der Sprache die verschiedenen Möglichkeiten der
Biidungsweise neben einander versucht und verwirklicht
worden sind, so dass eine gewisse Geläufigkeit im Gebrauch
der Mittel und eine gewisse Uebersicht der überhaupt er-
reichbaren Manigfaltigkeit von Bildungen gewonnen ist, be-
gfinnt das Verfahren sich zu vereinfachen; es werden zur
Herstellung eines beabsichtigten Produktes nicht mehr alle
Zwischenstufen durchlaufen, durch welche einst die ersten
Exemplare der betreffenden Art erzeugt wurden; die Wort-
schöpfung bewegt sich nicht mehr immer in geraden Linien
der Längerichtung nach fortschreitend, sondern sie springt
kreuzweise zwischen parallelen Bahnen von einer auf die
andere über. Es ist die Macht der Analogie, und zwar oft
einer nur äußern, scheinbaren, welche den BildungstHeb
leitet und beflügelt, so dass er einzelne Stationen dte regel-
mäftigen Weges überspringt oder gleichsam nur im' Flüge
berührt; ein flüchtiger Seitenblick auf bereits vorhandene
Bildungen ähnlicher Art bewegt und bef&higt ihn, sich der-
selben als Stützpunkte zu bedienen, um in raschem Schwünge
Ueber den Begriff und besondort Bedeutungen des Plurals etc. 4S7
Ziel zu efveiehen.. Bi gibt atao im Reiehe dar Wort-
bildung eine Mass« wa Fonnen, decea regdreekte Vocatiife»
weder nadoiiweiaen smd, noeb für aich lieatandHi halben
müssen, ja mni Teil ans aBdarweiUgmi besondem Grandm
sogar nacbl teabHiden haben könneiii ako nar tbesreüask
oder UeeU voraiiflsasetzen sind. Ualer diesen Gesichtepunkt
kau nuD! auek, im Gebiete der Wovtbieguikg, die Bildung
eines Phusah ohne die Grundbrm des SinguIaiB gestellt
werdoi^ ea krantra alse PlotaUoinna!! aueh ofaiie TorhaBdesen
Singulftr aufkommen, direkte neu gebildet naeh dem Muster
tegitifflidi und fermetl aSehst Yerwanler Plur^ und nach
dec in der brache längst eingelehten Eategeria des Piural-
begriflbs. überhaupt Zunfichst wäce jedoch inuner noch zu
untersuch»^ ob zu den sog. Phiralia tantum nicht einzelne,
finUiM üblich gewesene und sp&ter selten gewoodene Singulare
sieh QBfihweisai lassen^ wenigstens bei Wörtern, die begriff-
lieh eines Sbigulars, allerdingsk wohl nur mit irgendwie ab^
weiehendec Bedeutung, fähig wven.
Im Lateinischen, wo am meisten Pluralia tantum an*
geführt w^en, kommt von aolchen Wörtenit in fräherer
odst ssgSAetm Zeit, doch auch der Singular vor. So neben
dem vocberschandeni. ursprünglich wohl nur für eine Flügel*
tfire üblichen fares (und dem adverbial gewordmen Ace.
Plur. faras, nach auflen, hinaus) ein Sing, faris, entsprechend
dem ahd, tmri; ebmao mina Drohung, mame Mauer; neben
grates (Dank) kann, ein gratis nach Analogie von gratia be-
alanden haben und ebenso ein Sing, zu dmtiia nach Ana-
logie der übrigen^ mdst nur ängulacisohen Abatracta auf
-itia. und des deutschen Reichtum, Neben orgMa findet
sich Später) auch argutia und neben, ddicioi auch ddicia
f. und.dßZMtM», n,„aimbagu auch als Sing, wie das entepcechende
Umschweif. Beispiele von seltenen Singularen mit con-
cr.atem Begriff sind famp Schlund,, üe Darm, rien^ (neben
rme») Niere, fiaris. (neben dem gewöhnlichai natea Nasen-
flügel, -löcher.), ^spoliii» (abgezogene oder abgelegte Haut
eines. Tieres), fnscus (Eingeweide, wo ge- pluralisch oolleo-
tive Bedeutung ergibt,, aber doch wieder pluraliachai Ge-
428 L. Tobler,
brauch zulässt); artus (Glied) wird auch durch das Diminutiv
artictdus bezeugt. Nicht auf gleicher Linie stehen sub-
stantivisch gebrauchte Adjectiv formen wie primäres (Vor-
kämpfer, Häupter), liberi (Kinder), mtyares Vorfahren (neben
nuyar natu, vgl. Eltern neben älter), intesHna G^iftrme
(übrigens auch intestimim Darm, aber dieses vielleicht erst
aus dem Plural rückwärts gebildet, was für sej^tenirio Nord,
aus SeptenUrianes Siebengestim, offenbar anzunehmen ist),
utensüia {utensüiB zur Wirthschaft gehörig, bei Varro) und
andere, bei denen ein bestimmtes Substantiv zu ei^änzen
ist, wie annaies (libri)^ parmkdia. (sacra)^ cani (eapiUi).
Griechisch: it^iSlat {ävsfAO^) Passatwinde; 2/«ovif<r«a, OXif^nta
(Spiele). Bei diesen und ähnlichen Wörtern ist zunächst
eben der Uebergang von Adjectiven in substantivischen Ge-
brauch zu bemerken, erst in zweiter Linie der vorhersehende
oder ausschließliche Plural. Auch für die Plur. tant. der
romanischen und anderer neuerer Sprachen sind einzelne
Singulare nachzuweisen. Spanisch gilt tijera und meras
Scheere, tenaza und tenaeas Zange. Engl, shear und shears;
seltene Singulare sind hier auch inward Eingeweide, foetä
Kleid, arm Waffe. Das franz. ancitres (Vorfahren) setzt
schon durch seine Form den lat. Nomin. Sing, anteeesscr
voraus, da es sonst ancesseurs lauten müsste. Im Altfranz,
wird gent (lat. gens) zwar auch schon im Sinn von »Leutec,
aber noch als Fem. Sg. gebraucht, und unser Leute selbst
beruht auf dem altdeutschen Sing, limit, n, Volk, dessen
Gollectivbegriff in persönlichen überging, wie Schweiz. Fofeft
in den Gompos. Mannev^^ Wibervcich eine einzelne Person
des Geschlechts bezeichnen kann. Für Kosten ist mittel-
hochd. noch koste, m. und f. üblich; zu Trümmer findet
sich noch Schweiz, trum, n. Endstück, zu Trester Schweiz.
iräsch (trest) u. s. w.
Trotz diesen Nachweisungen werden wir an der zum
voraus begründeten Annahme nicht bloß Merklicher, aus-
schließlicher, sondern auch ursprünglicher, reiner d. h. nicht
erst aus Singularen, sondern direkte aus dem allgemein
lebendigen Begriff des Plurals gebildeter Pluralia festzu-
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 429
halten, dabei aber verschiedene Classen oder Stufen zu unter-
scheiden haben. Auf Bildungen wie die in der Einleitung
besprochenen hebräischen wollen wir nicht mehr zurück-
greifen , weil nicht zu entscheiden ist, ob die Endung der-
selben wirklich schon als Zeichen des concreten Plurals oder
noch als Wortbildungsmittel überhaupt gefühlt wurde; sonst
könnten einige der dort angeführten Wörter als Beispiele
von Plur. tant geltend gemacht werden. Wir setzen also
den begrifflichen und formellen Unterschied von Singular
und Plural nach indogermanischer Weise voraus und erheben
die Frage: Unter welchen Bedingungen konnte auf diesem
Standpunkt ein Plural ohne Singular geschaffen werden?
Wir werden FäUe anzuerkennen haben, wo jene Bildung fast
notwendig war und andere, wo sie wenigstens sehr nahe
lag; dieser Unterschied wird sich mit dem zwischen mehr
oder weniger concreten und abstracten Begriffen berühren
und zum Teil decken; beide aber werden so wenig wie die
oben aufgestellten streng festzuhalten, dagegen mit dem
dort auch schon angewanten Unterschied zwischen wirklichem
Plural- und neuem Singularbegriff zu combiniren sein.
Concrete Begriffe, zunächst von persönlichen Wesen,
die nur in Mehrzahl gedacht werden, sind: Lat. inferi, penates,
manes (dieses auch von den geisterhaften Resten oder Kund-
gebungen eines einzelnen verstorbenen Menschen). Deutsch:
Die Alten i. S. v. die Menschen des Altertums als abgeschlosse-
ner Geschichtsperiode, ebenso franz. anciens, engl, ancients; die
Eltern (lat. parens franz. engl, parmt auch im Sing.), engl.
cammons das Unterhaus im Parlament. Die meisten dieser
Wörter sind wieder urspr. Adjectiva. Von Substantiven
können noch Namen persönlich gedachter Stemgruppen wie
die Plejaden hierher gezogen werden. Concrete Sach-
begriffe, die nur pluralisch vorgestellt und benannt werden,
sind: Lat. arma die gesammten Stücke der Rüstung (franz.
arme auch Sing.), exta die (edleren) Eingeweide, primiU€e Erst-
linge, rdiquuß Ueberreste. Franz. amuriries Wappen(stücke),
bestiaux (mit der singularischen Scheideform bitaä)^ etUräves
Fesseln, hardes Kleidungsstücke, alentaurs, envirans Um-
ZeitBohr. fOr Völkerpeych. and Spiachw. Bd. XIV. 4. 29
430 L. Tobtor,
gebung(en) (singularisch: Umgegend), pleitrs Thrftnen, tfivres
Lebensmittel, efUraüles Eingeweide. Englisch: eakMes
Speisen, drinkables Getränke, movaUes Geräte (deutsch
Möbel als Sing, erst aus dem Plural) vUais (edle Tdle des
menschl. Körpers), genitals (Geschlechtsteile), greens Gemüse,
cambustiUesBrennsloSe, ddicates Leckereien, — alle diese («nd
wohl auch romanische, wie span. ruines Barthaare) urspr.
Adjectiva. Bowels Eingeweide (von dem synonymen guis
bedeutet der Sing. »Darme, im Angelsächsischen kommt nur
der Plural vor), ahitterlmgs Kutteln, Kaidaunen, Wurste. —
weeds Trauerkleider einer Wittwe. Deutsch: Einkünfte (dessm
ungebräuchlicher Sing, abstrakte Bedeutung haben würde),
Habseligkeiten (ebenso). Auch das Fremdwort Effekten
kann nicht als Plural von Effekt, (dessen Plural Effekte
lautet) betrachtet werden.
Abstrakte Sachbegriffe mit wirklichem Pluralbegriff
sind ziemlich selten. Lat. munia Geschäfte. Ital. lai Weh-
klagen, andifivieni Irrgänge, Umschweife. Franz. moemrs
Sitten, frais, dSpms Kosten. Englisch tidmgs hat Sing, und
Plur. Bedeutung: Botschaft, Nachrichten. Eigmtfimlich ist
im Englischen der Plural zur Bezeichnung von Wistspenschaftra,
wobei weniger an systematische Einheit als an Vielheit von
Lehrsätzen und Kenntnissen gedacht sein kann: efhies, opHes,
poliUcs, metaphifsics {tä futd %d gwif$iid Aristoteles), maikB'
moHcs; so auch französisch: nuUhimatigites; griech. loy$af»0i
Arithmetik.
Den Uebergang zu Sing.-Begriff machen zunächst
Collect! va, Benennungen einer ungeformten Masse. Engl.
ashes, mbers Asche (angelsächs. tßmjffje Sing., ebenso alt-
nord. eimjffja, ahd. eimurra nhd. Ammer), raments Scbabsel,
dreggs, lees Hefe(n), hards oder hurds W^rg, lesaes Auswurf
des Wildes. Spanisch: pucto, gackas Brei, pturriUas Rost.
Franz. dicombres Schutt, brausMüks Gesträuch. Deutsch:
Treber (urspr. Sing., daher im Plur. auch T rebern).
Eine andere Richtung auf Sing.-B^^iff finden wir, wo
die Mehrzahl, auf Zweiheit reducirt, den Bestand eines
Körperteils oder Gerätes aus zwei gleichförmigen Hälften
Ueber den Begri£f und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 431
bezeichnet. Hierher gehört die in den meisten Sprachen
vorwiegend pluralische Benennung des Atmungsorgans
(Lunge, -en) und des Absonderungsorgans (Niere, -en), wobei
natürlich für besondere Fälle der Sing, zu ausdrücklicher
Unterscheidung . der einen Hälfte des Organs vorbehalten
bleibt Auch der Backen- und Schnurrbart wird im Eng-
lischen meistens pluralisch benannt: whidcers, mustaehes.
Ital. bt^ Schnurrbart — vanni Fittige (tat vannus, deutsch
Wanne, Futterschwinge; ahd. toannaweho Weih)*).
Hieran schliefien sich die Namen für verschiedene Arten
od. Formen der Beinbekleidung, besonders im Englischen,
während franz. pantahn und deutsch Hose auch im Sing,
vorkommen. Von Geräten ist es besonders die Zange und
die Scheere (inbegriffen die Lichtputze, franz. mauehettes),
welche ausschließlich oder vorwiegend pluralisch benannt
wfard; englisch auch der Nussknacker: nülerackers.
Wirkliche Einheit eines concreten Gegenstandes Icann
aber noch eher zu Stande kommen, wenn er nicht gerade
aus zwei deutlich erkennbaren Hälften, deren jede für sich
ein relatives Ganzes ist, sondern aus einer gröfiem Zahl
von sonst unselbständigen oder unbrauchbaren Bestandteilen
zusammengesetzt ist, vorausgesetzt dass unter dieser Mehr-
heit die Einheit des^Zweckes nicht verborgen bleibt Lat.
*) Kluge (Beiträge z. Gesch. d. deutsch. Spr. u. Litt v. Paul u.
Braune Bd. 8, 509—513) hat Spuren alter Duale in germanischen Sub-
stantiven nachzuweisen gesucht; so bei den Wörtern Nase, Brust,
Tfir. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass Brust im Gotischen und
AltsächfflBchen, Tür im Altnordischen nur als Plural vorkommt und
die Pluralform von Nase und Brust auch im Sinn des Sing. Der im
Angelsächsischen und Altdeutschen vorkommende Gebrauch des Plur.
von Haupt in der adverbialen Verbindung »zu Häuptenc, womit der
auf der Seite des Kopfes einer Person befindliche Teil eines Gerätes
(Bett, Sarg) angegeben wird, kann zwar aus bloßer Analogie der ent-
sprechenden Verbindung »zu Füfienc erklärt werden, ähnlich wie nach
dem adverbialen Genetiv Tags i. S. v. »bei Tage« das Gegenteil Nachts
gebildet worden ist Doch konnte ja auch an die beiden Seiten des
Kopfes gedacht werden, und es ist merkwürdig, dass auch im Armeni-
schen das Wort für Kopf im Plur. das Kopfende eines Gegenstandes
bedeutet. .
432 L. Tobler,
fides wird gewöhnlich übersetzt »Lautec oder »Leiere, eigent-
lich aber bedeutet es doch nur »Saitenc und zwar Darm*
saiten (vgl. griech. ^9x^17, Darm), und der Gebrauch des
Wortes weicht von dem Deutschen in Redensarten wie:
»Die Saiten rühren, in die Saiten greifenc, nicht viel ab;
fauces^ das wir mit »Schlünde oder »Engpässe übersetzen,
bezeichnet natürlich einzelne, vordere und hintere Teile.
Für cuna Wiege mag sich die ursprüngliche Anschauung
nicht mehr nachweisen lassen, dag^en bezeichnet crqntMdia
Klapper deutlich die zusammenschlagenden Teile. Wir
zählen femer hieher: Engl, trappings^ Pferdegeschirr. Span.
andas, angariUas, Tragbahre, mantdes Tischtuch, fudles,
Blasbalg (eig. mehrere zusammengenähte Bälge), trebedes,
Dreifuß, alfarjas, Ranzen, Quersack. Ital. birüli Kegelspiel.
Weniger einleuchtend und abstrakter sind: Spanisch ol&rieja^
Botenbrot, parias Tribut. Engl ixuUs Trinkgeld, wages
Sold, Dienstlohn; doch wu*d hier die Vorstellung zeitweise
regelmäßig wiederkehrender oder ratenweiser Ausrichtung
gewaltet haben.
Eine ähnliche Erklärung wu:d auf die letzte noch an-
zuführende Gruppe, je nach den einzelnen Fällen modifizirt,
anzuwenden sem. Lat. excubi€B (Wache), wird sich urspr. auf
die wechselnden Lagerstätten oder die Ablösungen der Wacht*
posten bezogen haben. An die regelmäßige Wiederholung wird
auch bei nundirue (Markt) und den calendarischen Termini der
Römer zu denken sein. Dieselbe zeitliche (verbunden mit räum*
lieber) Anschauung scheint beim griech. övafAai (Sonnenunter-
gang, Westen) gewaltet zu haben, da diese Erscheinung sich
sogar täglich wiederholt, wie die alten Inder von immer neuen
Morgenröten sprechen. Insidim kann einen mehrfachen
Hinterhalt bezeichnet haben. Dag^en werden Plurale wie
nu^itß^ exsequiiß (verschieden von den bloß poetischen ^a/*o*,
tatpai und ähnlichen, s. oben) sich auf die einzelnen die
Gesammtfeier ausmachenden Akte oder Geremonien I>eziehen.
So franz. fiangaiües Verlöbnis, funiraüles Leichenbegängnis,
und die entsprechenden aus dem Latein entlehnten Ausdrücke
der andern neuern Sprachen. Franz. vipres (Vesper) kann
Ueber den Begriff und besondere Bedeutungen des Plurals etc. 433
verschiedene Akte gottesdienstlicher Verrichtungen am Abend
bedeuten. Dass die Namen der drei hohen Kirchenfeste im
Deutschen und zum Teil auch in den andern Sprachen
Mehrzahlform haben (Weihnacht allerdings auch Sing.)
hat nicht bei allen denselben Grund, aber ohne Zweifel
dachte man an eine Mehrheit von Tagen, auf welche sich
die Feier erstreckt, und an eine Vielheit von Gebräuchen,
mit denen sie begangen wurde oder verbunden war. — Aus-
nahmsweise und nicht ausschließlich gilt persönliche Be-
deutung in lat. ddicuB Liebling, griech. na$d$Mä (adjectivisch).
Zum Schluss ergibt sich, dass die Zahl der Plur. tant.
bei genauerer Zahlung geringer ist als man gewöhnlich an-
nimmt oder angegeben findet. Auffallend ist, dass einzelne
Sprachen ihrer beträchtlich mehr aufweisen als andere, z. B.
das Latein und die romanischen Sprachen im Vergleich mit
Griechisch und Deutsch; aber daraus Schlüsse auf tiefer
liegende Eigentümlichkeiten der Sprachen zu ziehen wäre
kaum statthaft. Beachtenswert ist die in manchen Fällen
nahe liegende Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, dass
Singulare erst aus Pluralen abstrahirt, also nicht in gewöhn-
licher Weise der Plural erst aus dem Sing, gebildet wurde.
Dass der Plural, auch wo er einen Singular neben sich hat,
mehr zu concreter Bedeutung neigt, scheint ein bemerkens-
wertes Ergebnis unserer ganzen Untersuchung, übrigens
psychologisch leicht erklärlich. Mehr die Logik als die
Sprachwissenschaft mag die Frage angehen, ob und wie Be-
griffsbildung auf Grundlage einer Pluralvorstellung möglich
sei. Für das von uns angenommene freiere, auch mit quali-
tativer Verschiedenheit verbundene oder wenigstens verein-
bare Verhältnis zwischen Sing, und Plural spricht auch die
Tatsache, dass für einzelne Begriffe im Plural ganz andere
Wörter gebraucht werden als im Singular. Pott (Doppelung
S. 183) führt ein Beispiel davon aus dem Mexikanischen an,
worauf wir nicht viel Gewicht legen, weil ja in vielen
Sprachen von Naturvölkern infolge eigentümlicher conventio-
neller Motive gewisse Wörter zeitweise ganz aus dem Ge-
brauch einzelner Stände verbannt sind. Eher ist daran zu
434 L* Tobler, Ueber d. Begriff u. besond. Bedeatungen d. Plur. etc.
erinnern, dass gerade in den hochstehenden indogormaniscben
Sprachen Temporalformen gewisser Verba und Gomparations-
formen gewisser Adjectiva von ganz verschiedenen Stämmen
gebildet werden. Ich habe von den Gründen dieser Er-
scheinung, die zum Teil nur äußere (lautlich formelle) sind,
in der Zeitschrift f. vergleich. Sprachf. (Bd. VIII) gehandelt
Hier will ich nur noch erwähnen, dass im Deutschen der
Plural von Mann in gewissen Compositen nicht Männer,
sondern Leute ist z. B. Kauf*, Kriegsleute, und dass der
Plural von Weib im edlem Sinn meistens durch den von
Frau ersetzt wird, wahrscheinlich weil die Endung -er etwas
Unweibliches hat, vielleicht aber noch aus tiefem Gründen.
Vergl. meine Abhandlung »Aesthetisches und Ethisches im
Sprachgebrauchc in der Zeitschr. f. Völkerpsych. u. Sprachw.
Bd. VI S. 393.
Zürich, im April 1883.
L. Tobler.
Beurteilnngen.
1. Muhammed in Medina. Das ist Vakidi's Kitab al Maghazi
in verkürzter deutscher Wiedergabe herausgegeben von
J. Wellhsnsen. Berlin, G. Reimer, 1882. 472 pp. &
2. Het Mekkaansche Feest. Academisch proefschrifl, ter
verkrijging van den graad van Doctor in de Semitische
Letterkunde, aan de Rijksuniversiteit te Leiden, op
gezag van den Rector-Magnificus Dr. T. Zaayer, Hoog-
leeraar in de Faculteit der Geneeskunde, voor de Facul-
teit te verdedtgen, op Woensdag den 24. November 1880,
des namiddags te 3 uren, door ChiisÜBan Sneick
Har^roBJe, geboren te Oosterhout. Leiden, E. J. ft-ill,
1880. 191 pp. 8.
A. Maller, Beurteilungen. 435
3. Proverbes et dicloDs du peuple arabe. Matäriaux pour
servir ä la connaissance des dialectes yulgaires recueillis,
traduits et annotäi par Carlo Landber^. Volume I.
[A. u. d. T.] Proverbes et dictons de la provinee de
Syrie Section de 9ayd& par Carle Landber^. Leyde,
E. J. Brill, 1883. LI, 458 pp. und 6 pp. mit Titel und
Vorrede in arabischer Sprache. 8.
»Les ArabeSi en d^pit d'un prejuge accredite, n'ont que
fort peu d'imagination« (Dozy, Histoire des Musulmans
d'Espagne. T. I. Leyde 1861 p. 12). >I1 [l'Arabe] n'a
guere d'imagination« (Dozy, Essai sur I'histoire de Tlslamisme
trad. p. Chauvin. Leyde et Paris 1879 p. 15). »Ebenso
phantasiereich, aber mannigfaltiger in der schöpferischen
geistigen Kraft [als die Hebräer sind die Araber]« (v. Kreroer,
Gulturgeschichte des Orients unter den Chalifen. Zweiter
Band. Wien 1877 p. 226). »Das eräte und merkwürdigste
Wahrzeichen, welches den Araber von den stammverwandten
Völkern unterscheidet, ist seine au3gesprochen idealistische
Richtung, das Ueberwiegen der Phantasie über die Reflexion,
der Leidenschaft über die ruhige Ueberlegung« (ebd. p. 227).
»G'est un homme pratique, positif; qui s'en tient aux realites«
(Dozy, Essai p. 16). ». ... der Phantasie, welche beim
Araber selten das Uebergewicht über die Urteilskraft ge*
winnt« (Sprenger, Leben und Lehre des Mohammad. I.
Berlin 1861 p. 446). »Noch weniger aber ist er [der Araber]
im Stande lebenswahre Persönlichkeiten zu schaffen und in
Handlung vorzufuhren. Es liegt dies nicht in einem Mangel
an Einbildungdcraft, sondern an der ihm fehlenden Einsicht
in das Geistesleben des Menschen« (Ahlwardt, Ueber Poesie
und Poetik der Araber. Gotha 1856 p. 27). »Der objective
semitische Geist« (Sprenger a. a. 0. p. 17). »M. Lassen
voit avec raison, dans la sutdecUmte^ le trait fondamental
du caracttee s^mitiqne.« (Renan, Histoire des langues semiti-
ques. Paris 1855 p. 4.)
Obige kleine Sammlung von Stellen, die ausschliefilich
den Schriften der vorzuglichsten Kenner semitischer , ins-
besondere arabischer Geschichte und Litteratur entnommen
436 A. Malier,
sind^ wird mich rechtfertigen, wenn ich behaupte, dass wir
über das eigentliche Wesen des arabischen Volkstunies bisher
uns noch gänzlich im Unklaren befinden. Ich übersehe nicht,
dass Fhantasie, imagifkxtion, in verschiedenem Sinne gebraucht
werden kann (so darf Vischer, Aesthetik II 430 von »unzu-
länglicher Phantasiec bei den Orientalen, ebd. 494 von der
»brennenden Phantasie« der Araber sprechen); und dass
der »gebildeten Vorstellung«, hegelisch zu reden, die gefahr-
lichen Begriffe objektiv und subjektiv von jeher zum Fallstrick
geworden sind, ist bekannt. Trotzdem wird niemand be-
streiten, dass selbst nach den weitgehendsten Abzügen, die
in diesem Sinne gemacht werden können, die Ansichten der
ersten Autoritäten über das Wesen des semitischen, des
arabischen Geistes in contradictorischem Widerspruche
stehen. Der Fachgelehrte, welcher es liebt festen Boden
unter den Füßen zu haben, könnte hieraus den Schluss ziehen,
dass mit allgemeinen Erörterungen über »Volkscharakter«
u. dergl. überhaupt kein Hund vom Ofen zu locken sei. Ich
hoffe nachzuweisen, dass auch der am positivsten denkende,
ausschließlich mit den Tatsachen rechnende Forscher auf
dem Gebiete der altarabischen Geschichte, einschließlich der
Entstehung des Islams, ohne eine allgemeine Ansicht von
dem Wesen des arabischen Volkstums nicht auskommen
kann. Gleichzeitig denke ich aber einige Punkte weniger
neu zu formuliren als in Erinnerung zu brmgen, die man
allerdings nicht außer Acht lassen darf, will man auf diesem
dunklen Gebiete nicht pfadlos umherirren; und im Anschluss
daran gewinnen wir dann vielleicht einen Ausblick in noch
weiter entlegene Gebiete des Altertums.
Dunkel nenne ich das Gebiet, obwohl man behauptet hat,
gerade die Entstehung des Islam werde im Gegensatze zu der
aller übrigen Weltreligionen von dem vollen Lichte geschicht-
licher Erkenntnis bestrahlt. Aber Wellhausen bemerkt mit
Recht »wir kennen die Araber nur durch den Islam .... Auch
wer Sitte und Art der alten heidnischen Araber . . erforschen
will, wird am besten bei dem Gegensatz, in welchem [sie]
der Islam dazu tritt, einsetzen.« Und wie wenig stichhaltig
Beurteilungen. 437
die Nachrichten arabischer Schriftsteller aber vorislamische
Zustande auch da sind, wo sie auf den ersten Blick unan-
slöOig erscheinen, hat Snouck scharfsinnig und unwider-
leglich nachgewiesen. So ist es kein Wunder, wenn die
maßgebenden Historiker auch in ihren Anschauungen über
das Verhältnis Mohammeds zu seinen Volksgenossen, des
Idams zum Heidentum einander wiederum diametral gegen-
überstehen. Nach Sprenger ist die Persönlichkeit Mohammeds
für die Entstehung der neuen Religion von untergeordnetem
Belang, sie ist aus den Bedurfnissen der Zeit entsprungen;
Dozys Ansicht lässt sich dahin zusammenfassen, dass sie
eine dem arabischen Volksgeiste gänzlich widerstrebende
Weltanschauung darstellt, welche Muhammed und eine winzige
Minderheit von Fanatikern der unbeholfenen Mehrheit auf-
zudrängen verstanden. Man sage aber nicht, es sei schließ-
lich fär die Geschichte des Mittelalters von keinem Belang,
welcher von diesen beiden Auffassungen wir uns anschließen.
Vielmehr erscheint eine ganze Anzahl der bedeutendsten
Ereignisse in einem gänzlich verschiedenen Lichte, je nach-
dem wir von Sprenger oder von Dozy ausgehen. Fdr die
Besiegung der zwei trotz innerer Verderbnis noch eine ganz
t)edeutende äußere Machtentwicklung darstellenden Groß-
mächte Byzanz und Persien durch ein an Zahl, Organisation
und Kriegsmitteln so unverhältnismäßig zurückstehendes
Barbarenvolk (eine Tatsache, die Nöldeke mir neulich als
bei fortgesetzter Vertiefung in das Quellenmaterial ihm immer
unbegreiflicher werdend bezeichnete) muss eine ganz andere
Erklärung gesucht werden, wenn die muslimischen Truppen
auch nur der Mehrzahl nach von bloßer Beutesucht, als
wenn sie von blindem Fanatismus getrieben worden sind,
und es liegt auf der Hand , wie die von der merkwürdigen
Tatsache auf die Zustände beider Weltreiche zu ziehenden
Rückschlüsse ebenfalls davon abhängig sind, welcher von
beiden Anschauungen der Historiker sich zuwendet. Wie
es möglich war, dass die muhammedanische Theologie unter
den ungünstigsten äußeren Umständen während der Her-
schaft der Omaijaden und der ersten Abbasiden sich all-
438 A. Mflller,
mählich so des Volksgeistes bemächtigte, dass die Chalifen, um
ihren Thron zu retten, sich ihr unterwerfen raussten — eine
Wendung, die über die ganze geistige Entwicklung des Orients
entschieden hat — das begreift sich in ganz anderem Sinne,
wenn der Islam von Anfang an dem arabischen Geiste inner-
lich verwant war, als wenn die allerdings mit bewunderungs*
würdiger Treue nach den schwersten Heimsuchungen, ja nach
ihrer scheinbar endgUtigen Vernichtung sich immer von neuem
zusammenschließende Gemeinde der paar Altgläubigen von
Medina durch eine stille, aber fortgesetzte Miasionstätigkeit
eine so weitgreifende Wirkung erzielt hab^i sollte.
Müssen wir also auch für die einfache pragmatische
Geschichtschreibung einai möglichst klaren Begriff von alt-
arabischem Volkstum als Ausgangspunkt fordern, so ist nun
die Frage, wie ein solcher gewonnen werden kann. Die an
die Spitze unserer Betrachtung gestellten Widersprüche
zwischen den berühmtesten Kmnem des semitischen Orients
belehren uns, dass man aphoristischer Reflexion und philo«
sophischen Kunstwörtern dabei möglichst fem bleibai muss.
Erforderlich ist dagegen eine umfassende, kritische Samm-
lung wohlbezeugter Tatsachen, die geeignet sind, l)estimmte
Seiten des arabischen Volksgeistes deutlich zur Erkenntnis
zu bringen. Ob der Araber einen objectiven oder subjecUven
Geist hat, kann uns für unsere Angabe gleidigiltig sein
— am l>esten überlassen wir das wie auch die Frage nach
den verschiedenen Sorten Phantasie wohl den Philosophen
von Fach — aber inwieweit z. B. die emen bei ihm un*
streitig stark hervorstechenden Charakterzug bildende Hab-
sucht und Lügenhaftigkeit durch ganz bestimmte Ehr*
begriffe eingeschränkt wird, in welchem Verhältnis seine im
Augenblick von den meisten behauptete religiöse Indifferenz
zu dem stark conservativ^n Zuge in seinem Wesen steht
(Snouck — Nr. 2 — p. 3—4), das sind concrete Fragen,
welche für den philologisch arbeitenden Historiker fassbur
und durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu lösen sein
dürften. Durch eine Zusammenfassung einer möglichst voll-
ständigen fleihe solcher Einzelmerkmale allein darf man
BeurteilciDgen. 439
hoffen zu einer Anschauung dessen zu kommen, was man
als »arabischen Volksgeistt bezeichnen kann.
Liegt nun die Wahrscheinlichkeit oder doch Möglichkeit
vor — und letztere wenigstens kann unter keinen Umständen
bestritten werden — dass der Islam vermöge der in ihm
enthaltenen fremden (insbesondere jüdischen) Vorstellungen
die ursprüngliche Art des Arabers zu denken und zu empfin-
den verändert hat, so ist das Material für die geforderte
Arbeit natürlich lediglich der vorislamischen Zeit zu ent-
nehmen. Hier aber stofien wir uns wieder an der bereits
oben hervorgehobenen Tatsache, dass die Nachrichten über
die vormuhammedanische Zeit fast ausschließlich von mus-
limisch denkenden Schriftstellern uns überliefert sind. Freilich,
wollen wir den letzteren Glauben schenken, so besitzen wir
durch ihre Vermittlung nicht nur authentische Nachrichten
über das Leben der alten Araber, sondern auch einen reichen
Schatz von Aeußerungen ihres geistigen Lebens in Poesie
und Sprichwörtern. Nun steht aber fest, dass diese mus-
limischen Schriftsteller einmal für ihre historischen Nach-
richten, abgesehen von einigen ganz unsicheren mündlichen
Ueberlieferungett, kaum weiteres Material besessen haben
als wir selbst, nämlich eben jene alten Lieder und Sprich-
wörter, aus deren Wcnllaut sie nach Scholiastenart häufig
ziemlich unglückliche Rückschlüsse machten; andererseits
aber ist die Authentie der vorislamischen Gedichte und Sprich-
wörter in neuerer Zeit stark verdächtigt worden. Der fein-
fühligste Kenner der altarabischen Poesie, Ahlwardt, kommt
(Bemerkungen über die Aechtheit der alten arabischen Ge-
dichte. Greifswald 1872 p. 26) zu dem Schlüsse, dass es
um die Aechtheit der alten Gedichte überhaupt sehr missHch
stehe, findet sich jedoch in einer Anzahl von Fällen zu einem
bestimmten Urteil berechtigt; verallgemeinem wir seine Er-
gebnisse, so kommen wir zu dem Satze, dass in den über-
lieferten Gedichtsammlungen ein ächter Kern steckt, der
indess unter einer meist sehr schwer und fast nie ganz
reinlich abzulösenden Hülle späterer Zusätze verborgen liegt,
oft auch durch positive Veränderungen angegriffen worden
440 ^' Malier,
ist. Ählwardts genaue Analysen und die Eindrücke^ welche
er aus seiner einzigen Kenntnis dieser Litteratur gewonnen
hat, durften nun auch den richtigen Maßstab zur Beurteilung
desjenigen liefern, was Landberg in der Einleitung zu seinem
oben unter Nr. 3 genannten Werke S. X ff. gegen die
Authentie der überlieferten altarabischen Sprichwörter und
Redensarten einwendet. Landberg vereinigt mit einer durch
jahrelanges Leben im Orient und mit den Orientalen er-
worbenen vertrauten Kenntnis des Vulgärarabischen und des
morgenländischen Volkstums eine gründliche Wissenschaft*
liehe Bildung auf dem Gebiete der classischen arabischen
Sprache und Litteratur, wie sie (ausgenommen natürlich
Spitta) seit Wetzstein keiner von denen besessen, die im
Osten eine zweite Heimat gesucht haben. Aber wie der
letztgenannte ausgezeichnete Gelehrte scheint auch Landberg
eben durch sein nahes Verhältnis zum modernen Arabertum
allzusehr geneigt, das letztere mit dem alten Arabien fast
vollkommen zu identificieren. So sind in der R^el alle
diejenigen Itacisten, die viel mit Neugriechen verkehrt oder
längere Zeit in Griechenland gelebt haben. Was in ähn-
licher Weise, zum Teil nach Wetzsteins Vorgange, über das
Verhältnis der modernen Sprache zum Altarabfschen von
Landberg vorgetragen wird — es ist gewiss auch Einiges
Richtige darin — kann hier nicht besprochen werden; ent-
schieden zu weit geht er aber jedenfalls mit der Meinung,
dass die von Meidän! u. a. überlieferten Sprichwörter nie
im Volke lebendig gewesen, sondern von den Gelehrten aus
Lesefrüchten verschiedenen Ursprungs zusammengetragen
oder gar direkt erfunden seien, im G^ensatz zu den wirk-
lich volksmäßigen, die bis heute jedermann im Munde führt.
Ich kann ihn aus eigene Kenntnis versichern, dass z. B.
Sammlungen von Weisheitssprüchen u. dergl., die aus den
»livres de Philosophie« entnommen sind, einen ganz unver-
kennbar von Meidani und Zamachschari verschiedenen Ein-
druck machen. Zugeben kann man ihm, dass manche »Sprich-
wörter« dieser Sammler aus Gedichten und andern Ueber-
lieferungen erschlossen oder zur Erklärung dunkler Stellen in
Beurteilungen. 441
denselben zurechtgemacht worden sein mögen; aber wer
überlegt, wie die arabischen Philologen sich z. B. mit den
sprichwörtlichen »Schuhen des Honeint u. dergl. abgeplagt
haben, ohne eine befriedigende Erklärung solcher Redens-
arten zu finden, wird diese nicht als Hirngespinste derselben
Philologen ansehen können. Und soll man z. B. die alt-
griechischen Redensarten Diogenians u. A. für schlechte Er-
findungen halten, wenn sich ergibt, dass die meisten der-
selben von den Neugriechen nicht mehr gebraucht werden?
Wie viele sind von den alten deutschen Redensarten, Spruchen
und Priameln aus dem 14. Jahrhundert; heute noch im wirk-
lich volksmaßigen Gebrauch? Man darf nicht einwenden, der
Orient sei eben conservativer als das Abendland, das ist in
solchem Zusammenhang eme petitio principii; und selbst
diesen Satz in seiner Allgemeinheit zugegeben — sind denn
die Araber Syriens, Aegyptens und selbst Arabiens die Araber
des Altertums? den letzteren entsprechen doch höchstens
die Beduinen des Ne^d, und auch im Ne^d leben heute ganz
andere Stämme als in der Zeit vor Muhammed. Dass die
Form und größtenteils auch der Inhalt des Lebens dieselben
bleiben, ist ja in der Natur des Landes begrändet, daraus
folgt aber noch nicht die Gontinuität der individuellen Er-
scheinungen. Wir geben also Landberg nur eine gewisse
Wahrscheinlichkeit zu, dass die Sammler der alten Sprich-
wörter mit denselben ähnlich umgegangen sem mögen, als
die Ueberlieferer von Gedichten mit diesen; es bleibt die
Aufgabe Kriterien zu finden, die uns, wie es Afalwardt bei
den Liedern vermochte, den ächten Kern von der späteren
Umhällung scheiden lehren.
Im ganzen und großen gilt nun fär die bisher be-
trachteten Quellen unserer Kenntnis altarabischen Lebens
noch ein allgemeiner und wichtiger Satz, daß nämlich die
späteren Zusätze und Veränderungen an Gedichten und Ueber-
lieferungen in der Regel ganz stilgerecht mit den echten
Bestandteilen in Einklang gebracht sind, so dass man, vor-
läufig wenigstens, einen in der Hauptsache richtigen B^riff
vom alten Arabertum aus dem Studium dieses Materiales
442 A. Mflller,
gewinnen kann. Leider aber ist grade das eine Gebiet, anf
das vor allem es uns hier ankommt, von dem Geltmigs-
bereich dieses Satzes auszuschließen. Alles was in Poesie
oder Sprichwort auf heidnische Anschauungen, ja heidnischen
Sprachgebrauch hinausläufti ist mit großer Consequenz islami-
siert worden (Nöldeke, Beiträge p. IX), und kaum je begegnen
wir einem Verse, aus welchem wir mit einiger Sicherheit
einen Schluss auf vorislamische religiöse Anschauungen oder
Gewohnheiten ziehen könnten. So heißt es denn grade auf
diesem schwierigsten und unkenntlichsten Teile des Weges
die Richtung von Führern zu erfragen, die jedes Interesse
haben, uns irrezuleiten — von den muhünmedanischra
Theologen, von Muhammed selbst Angaben und Nach-
richten haben die ersteren uns genug überliefert, und in
seinem Korane lässt der letztere uns wenigstens lesen, was
er von seiner Sache gehalten wissen will, und liefert uns
Material genug, um feststellen zu können, woher er seine
Lehre nimmt. Ueber das Heidentum aber, dem er sich ent-
gegenstellte, können wir leider aus dem Koran bei weiten
weniger erschließen als man vielleicht erwarten dürfte, und
das Wenige gehört wieder größtenteils dem Gebiete der
praktischen Moral an: das Verbot des Weins und des Hazard-
spieles bestätigt uns den aus der alten Poesie zu gewinnen-
den Eindruck, dass die Araber, wenigstens stellenweise,
trunk- und spielsüchtig waren; aber ob und wie weit sie
theoretisch religiös indifferent waren, oder wie ihr etwaiger
Glaube beschaffen war, darüber lässt sich fast nichts aus den
Sätzen entnehmen, in welchen in der Regel ledigHch ein
abstracter Monotheismus sich selbst postuliert. Ab und zu
findet sich ja eine Anspielung auf volksmäßigen Aberglauben,
den Muhammed nicht überwindet sondern islamisiert, aber
grade deswegen ist dann hier die Grenze zwischen Altem
und Neuem wieder ganz unsicher. Immerhin würde es viel-
leicht lohnen, den Koran einmal ausschließlich nach dies«*
Seite hin durchzuarbeiten.
Weit klarer und auch im einzelnen erkennbarer tritt der
Gegensatz Muhammeds gegen seine Umgebung in den ge-
Beurteilungen. 443
tehiMiicAm Ueberlieferungen zu Tage. Es ist nicht not-
wendig, hier auf die Technik der historisch- theologischen
Tradition des Islams einzugehen. Zwar hat Sprenger gegen
Muir den Satz aufgestellt, dass die Regeln, nach welchen die
muslimischen Theologen historische Kritik treiben, in den
Hauptzngen ganz vemänflig seien; weil wir nun keine anderen
als muslimische Quellen besitzen, mässen wir, meint er, ent-
weder wie die Muslime glauben oder sie auf ihrem eigenen
Terrain bekämpfen und mit ihren eigenen Waffen schlagen.
Ich brauche mich auf die, wie ich glaube, leichte Wider-
legung dieses allgemeinen Satzes nicht einzulassen: es genügt
festzustellen, dass nach jenen Regeln der muslimischen Theo-
logen die abgeschmacktesten Wundergeschichten als authen-
tische Berichte von Augenzeugen angesehen werden mflssten,
während es ein Ueberlieferer von dem Ansehen des Ihn
Hischäm für seine Pflicht hält, eine für uns sehr wichtige,
dem Ansehen des Propheten aber abträgliche Nachricht ein-
fach zu unterdrücken. Wir sind somit bei der Kritik der
Ueberlieferung in der Hauptsache auf innere Grande an-
gewiesen, müssen dabei aber natürlich die ältesten erhaltenen
Aufzeichnungen zu Grunde l^en, weil die Entstehung vieler
Erzählungen und Legenden nur durch Zurückgehen auf die
älteste Fassung klar wird und die Späteren immer neue Er-
findungen hinzufügen. Hier stehen uns nun drei Hauptquellen
zu Gebote. Die erste ist die Prophetenbiographie des Muham-
med Ibn Ishäk (f etwa 151 d. H. = 768 Chr.); sie ist uns
erhalten in der Bearbeitung des Abdelmelik Ibn Hischäm
(f 218 = 833, herausgegeben von Wüstenfeld, GSttingen
1858—60; übersetzt von 6. Weil, Stuttgart 1864) und in
dem umfangreichen Oeschichtswerke des Tabari, dessen auf
die Geschichte des Propheten bezuglicher Teil nach Loths
Materialim von de Jong herausgegeben werden wird. Etwas
nach Ibn hhäk fällt die TäÜgkeit des Wäkidt (f 213 = 828/9),
von dessen Arbeiten uns im Original nur das »Buch der Feld-
zfige des Gesandten Gottesc erhalten ist. Von diesem hat
etwa ein Drittel v. Kremer in der Bibliotheca Indica (Cal-
cutta 1866/6) herausgegeben, das ganze Werk wird uns jetzt
444 A. Malier,
nach einer später entdeckten Handschrift in Wellhaus^is
unter Nr. 1 bezeichneter verkürzter deutscher Wiedergabe
zugänglich. Umfasst dieses Buch nur den zweiten, allerdings
umfangreichsten und äußerlich wichtigsten Teil von Moham-
meds Prophetentätigkeit, und auch von diesem hauptsächlich
die kriegerisch-politische Seite, so ist Wäkidis UeberUef(»xüigs-
sammlung zu den übrigen Partien der Prophetenbiographie
in dem sog. Classenbuche seines Sekretärs Ibn Sa'd erhalten,
welches bis jetzt noch des Herausgebers harrt.
Von diesem Material sind Ibn Hischäm, ein Teil des
Wäkidi und das Buch des Sekretärs in den Biographien
Sprengers und Muirs benutzt worden, die größere Hälfte des
»Buches der Feldzugec kommt jetzt erst zu unserer Kenntnis.
Die Wichtigkeit dieser Publikation wird nicht wesentlich da-
durch verringert, dass Wellhausen unwiderleglich nachweist,
wie nicht der von Muir und Sprenger bevorzugte Wäkidi,
sondern Ibn Ishäk in den meisten Fällen das Ueberlieferungs-
material in der relativ ursprunglichsten Form darbietet.
Denn, wie W. sofort hinzufügt, Wälddi steht, was die Menge
der Nachrichte» und die Fülle des historischen Details an-
geht, durchaus an erster Stelle, und grade auf das Detail
kommt es uns vielfach in hohem Grade an.
Natürlich kann eine auf sicherer Grundlage ruhende Dar-
stellung der Geschichte des Propheten erst gegeben werden,
wenn die genannten Quellen sämmtlich im Text vorli^pen
und man, unter gleichzeitiger Heranziehung anderweit über-
lieferter Nachrichten, in Stand gesetzt wird, vermittelst Aus-
übung einer systematischen Kritik in jedem Falle die ver-
schiedenen Schichten der Tradition von einander abzulösen
und den ältesten Kern herauszuschälen. Man darf aber von
einer solchen, wie immer unerlässlichen, Arbeit nicht aUzu
erhebliche neue Resultate erwarten. Denn wenn auch ein
vergleichendes Studium der verschiedenen Versionen gewiss
einige neue Gesichtspunkte für die Beurteilung bestimmter
Nachrichten oder Arten von Nachrichten ergeben wird, so
wird die Hauptarbeit der Kritik doch immer mit Hilfe des
internal evidence gethan werden müssen. Eine Reihe der
Bearteihuigen. 445
hiefur maßgebenden Sätze bat Muir (Life of Mabomet.
Vol. I. London 1858. p. XLVIl— LXXXVII) in meisterhafler
Weise entwickelt, ein Musterbeispiel für derartige Arbeiten
Snouck in Nr. 2 geliefert ; wie speciell Wäkidi in der legendari-
schen Ausschmückung des Stoffes aber Ibn Ishä^ hinausgeht,
findet man bei Wellhausen S. 13 f. angedeutet. Ich will eine
Anzahl von Einzelheiten, die bei der Lectüre yon Nr. 1 meine
Aufmerksamkeit erregt haben, kurz berühren, um darzutun,
wie wir es den überlieferten Nachrichten in vielen» wenn
nicht den meisten Fällen fast auf den ersten Blick ansehen
kannen, ob Verlass auf sie ist oder nicht; dabei darf ich
mich an den Wäkidi allein halten, ohne die zum Teil ander-
weitig bereits veröffentlichten Parallelen heranzuziehen.
Dass viele Legenden aus misverstandenen oder k tout
prix einer individuellen Erklärung unterworfenen Koranstellen
entstanden sind, ist bekannt (vgl. auch Snouck p. 46); der
allergrößte Teil der Ueberlieferungen aus der Zeit vor der
Flucht löst sich in solche exegetische Träume auf. Aber auch
die Geschichte z. B. von dem durch göttliches Eingreifen ge-
hinderten Attentat auf Muhammed 99,27 ff. (ich eitlere Seite
und Zeile bei Wellh.) ist nichts als ein nachträglicher Beleg
zu der 100,8 citierten Offenbarung. Eine andere Art der
Mythenbildung zeigt 112,i8 : in der unglücklichen Schlacht
am Ohod stößt bei Muhammeds Verwundung ein entsetzter
Gläubiger den Ruf aus »Muhammed ist tot« I Da alles, was
den Erfolg der Muslime zu hindern geeignet ist, immer der
Teufel getan haben muss, so hat er auch in diesem Falle
die Gestalt jenes Mannes angenommen, für den nun seiner-
seits ein Alibi ausdrücklich von Augenzeugen nachgewiesen
wird. — Ein Verdachtszeichen ist in jedem Falle die Verviel-
fachung bestimmter Ereignisse oder Züge. »Wenn bei Wakidt«,
bemerkt Wellhausen, »Omar auftritt, so weiß man schon
Bescheid; er wird den Propheten um Erlaubnis bitten irgend
einem Unglücklichen den Kopf abschlagen zu dürfen,« So
ist regelmäßig die Trauer der Mütter und Gattinnen ge-
fallener Märtyrer dabin, sobald sie den Gesanten Gottes
unversehrt erblicken dürfen. Dass den Theologen wenigstens
ZeitMhr. nu V51keipsych. und Spnchw. Bd. XIV. 4. 30
446 A. Maller,
eine lebhafte Phantasie hier nicht nachgerühmt werden kann,
ergibt sich aus dem stereotypen Charakter der angewanten
Wundermaschinerie; nicht weniger als 11 Speisungs- und
3 Wasserwunder z. B. habe ich bei Wäkidt gezählt. Bei
bloßen Verdopplungen kann die Tatsache m einem Falle
wirklich vorgekommen sein; so z. B. das Eieswerfen gegen
die Feinde bei Bedr, welches sich nachher im Tale von Honem
wiederholt; die Erzählung 364 unten ist bis ins Einzelne d^
Hinrichtung des greisen Juden 219 nachgebildet, und ähnlich
wird 330,9 nichts sein, als die erbauliche Ausdeutung des
hfibschen und gewiss authentischen Zuges 397, 20. In beiden
Fällen verdächtig ist mir aber wieder der Perser Salman,
der 192,9 wie 370, 1 auftreten muss, um >unarabiBehe<
Kriegsmafiregeln zu decken; die Erzählungen von der Ge-
nauigkeit der Beuteteilung 281, so und 366,6 sind gleichmäfiig
in demselben Sinne und mit demselben Detail retouchiert
(s. insbesondere 282,» : 366,1»).
Eine bei weitem weniger harmlose Tendenz zeigt sich,
wo es darauf ankommt, Gegner zu verläumden oder ins
Unrecht zu setzen oder umgekehrt die eignen Verdienste des
Propheten und der Gläubigen zu äbertreiben, ihre Schwächen
zu bemänteln. Dass mit Rücksicht hierauf jede einzebie Ge-
schichte von vornherein als parteiisch dargestellt gelten moss,
hat Muir entwickelt. Sehr häufig haben wir aber auch be-
stimmte Indicien für den Einzelfall. Wer sich vergeg^en^
wärtigt, dass bis auf die Eroberung von Mekka Muhammeds
Autorität selbst über seine nächste Umgebung durchaus keine
unbedingte war (vgl. Hudeibi|ja 255; 209, 27 tt. u. A. m.),
wird es für eine unverschämte Erfindung halten müssen (die
übrigens Wäkid! auch selbst verwirft), dass Muhammed 187,s7
es hätte wagen dürfen, den ersten Mann Medinas geißeln m
lassen. Eben so leicht kenntlich sind die Umdeutungen oder
Verdrehungen misliebiger Geschichten (z. B. 138,u : 17;
183,13-26:27 ff.) und das Bestreben, compromittirenden
Aeußerungen durch hypothetische Einkleidung die Spitze ab-
zubrechen 105,28. Wie schön klingt der einem Gläubigen 158 l.Z.
in den Mund gelegte Satz >Wir halten in unserer Religion
Beurteütuigen. 447
den Verrat für nicht erlaubte; das kann aber kaum einer
von den Leuten gesagt haben, die aus den schnödesten Ver-
rälereien (vgl. Ibn Aschraf 96 f.) sich ein Verdienst vor Gott
machten und nicht oft genug wiederholen konnten, dass der
Islam alle Verträge aufgehoben. — Zur Diskreditirung der
später unter dem Chalifete Alis auftauchenden Secte der
Ghari^'ten ist, wie Wellhausen richtig herausgefunden hat,
eine raisbilligende Charakteristik ihrer Grundsätze dem
Propheten in den Mund gelegt 377,4 (u. N. 1 dazu).
Umgekehrt kann man natärlich allen Traditionen Glauben
schenken, die Mnhammed und dem Islam weniger Vorteil-
haftes oder den Gegnern Ehrenvolles nachsagen. So ist
ganz gewiss wahr die für die Entstehung des Korans wich-
tige Notiz 345,2s, nach welcher der mit Aufeeichnung der
Offenbarungen beauftragte Abdallah b. Sa*d sich beim Nach-
schreiben des Dictates Aenderungen herausgenommen hat,
ohne dass es Muhammed merkte (vgl. 5S,S5): wodurch der
Mann an seinem Glauben Schiffbruch litt. Ebenso wenig
lässt sich die Angabe 231,35 in Zweifel ziehen, dass Hassan
ibn Thäbit, Muhammeds Leibpoet, in einem zur Verher-
lichung eines kriegerischen Erfolges verfassten Gedichte statt
des Befehlshabers, welche das Unternehmen geleitet, einen
andern nannte »weil dessen Name ihm besser ins Versmafi
gepasst habet ; was von einem notorischen Schufte, der nur
dem Muhammed sehr nützlich war, auch weiter nicht Wunder
nehmen kann. Weniger gehört hieher die Geschichte 376,2i,
in welcher Muhammed einen für einen alten Araber un-
erhörten Mangel an Gefühl ffir poetischen Rhythmus an den
Tag legt: das fanden die nach des Propheten Vorgange den
Dichtem feindlichen Theologen sogar rühmenswert. Auch
die so häufig berichteten Aeufierungen des krassesten Fana-
tismus, der selbst vor dem Vatermorde nicht zurückschreckt
(54,20), können nicht ohne Weiteres unter diese R^el ge-
stellt werden: war es doch ein Verdienst vor Gott, im Dienste
des Islam jedes menschliche Gefühl zurückzudrängen — frei-
lich bezeugen andererseits sfchere Tatsachen, dass die ärgsten
Zeloten hinter solchem Ideal im besten Falle nicht weit zurück-
30»
448 A. MüUer,
geblieben sind. Wenn uns aber von Muhammeds Gegnern
Zage von Humanität und von Anhänglichkeit an die alten
Ehrbegriffe des Arabertums berichtet werden (49,7; 54,s8;
202,5 u. a. m.), so sind diese für zweifellos authentisch zu
halten : für Heiden blieben solche Rücksichten nach bekannten
Grundsätzen natürlich um so verbindlicher, je mehr der
Gläubige verpflichtet war sich über sie hinwegzusetzen; also
würde man sie bei jenen eher verschwiegen als erfunden haben.
Abgesehen nun von solchen bestimmten Kriterien findet
sich eine ganze Reihe von Einzelheiten, denen man die
Authentie, wie andern die Fälschung, auf den ersten Blick
ansieht. Grade weil die Ueberlieferung in der Erfindung und
Ausschmückung des Details so ungeschickt, platt und ge-
schmacklos verfahrt, heben sich von der breiten Fläche der
meist matten und eintönigen oder unmöglichen und albernen
Berichte um so deutlicher in die Augen springend nicht
selten Züge unverkennbar individuellen Lebens ab, die keines-
falls auf Erdichtung beruhen können und zur Charakteristik
von Personen und Verhältnissen vielfach wichtiger sind, als
die an Stelle der pragmatischen Maximen mit theologischer
Fälschung durchtränkten Haupt- und Staatsaktionen. Dahin
gehört das Aufwallen des alten Stamm- und Ehrgefühls in
des Propheten Gattin Sauda 72,95; das lebendige Detail aus
der Schlacht am Ohod lll,»; 113,$o; die Aeußerung Chalids
114,2 (dem der Chalife Omar bekanntlich abgeneigt war und
der daher ein begreifliches Vergnügen darin fand überall zu
erzählen, dass jener nur seiner Schonung das Leben ver-
danke — wodurch natürlich die Tatsache selbst noch lange
nicht feststeht) ; die für den Propheten nur zu charakteristische
Bemerkung der'Äischa 178,»; die echtarabische »Rempelei«
179,18, bei der das heidnische Blut einmal wieder sich gegen
die islamische Disciplin aufbäumt (vgl. auch 186,is); die
wundervolle höhnische Redensart des »Heuchlers« 198,5 ; das
Murillos würdige Gemälde 243,27 ; die Haremsgeschichte 292,8 ;
die macchiavellistische Instruction Muhammeds 309,8o; die
witzige Ausrede Amrs ihn el'ksi 316,21, dieses Schlauesten
der Schlauen vollkommen würdig. Für authentisch halte
Beurteilongen. 449
ich auch das Gespräch des frisch bekehrten Abu Sofjän mit
Muhammeds Oheim Abbäs 333,ii, das man nur von der
vorangehenden, übrigens ausnahmsweise gar nicht ohne
lebendige Wirkung erzählten Teichoskopie trennen muss.
Die letztere ist vermutlich nur eine Doublette zu der einen
viel zuverlässigeren Eindruck machenden des Abu Kohäfa334,i;
das Gespräch zwischen dem Obersten der Mekkaner, welcher
soeben die Capitulation Mekkas mit seinem Todfeinde ab-
geschlossen hat, und dem alten Zweiächsler, der im Grunde
so wenig vom ganzen Islam hielt wie jener selbst, kann ich
nur als Parodie auffassen: »Dein Herr Neffe ist ja ein recht
gewaltiger König geworden Ic »Mensch, red' didi nicht um
den Hals; ein Prophet ist er jalc »Mir auch recht.« Uebrigens
finde ich eine neue Bestätigung von Muirs Ansicht, dass die
ganze Capitulation der Schluss einer vorher zwischen Abu
Sofjän und Muhammed (natürlich eben unter Vermittlung
des Abbäs) abgekarteten Komödie gewesen, in den zweifellos
authentischen Berichten 324,22 und 333,28, aus denen hervor-
geht, dass nicht bloß viele Mekkaner, sondern seine eigne
Frau dem Vater Mo'äwijas derartiges wohl zutraute. Politischen
Verstand hatte der an Klugheit und Energie allein von allen
Mekkanern dem Stabe Muhammeds ebenbürtige Omaijade
genug, um die Aussichtslosigkeit weiteren Widerstandes ein-
zusehen; dass er nun die Sache möglichst zu seinem Privat-
vorteil zu wenden suchte, versteht sich von selbst — andere
Araber und auch manche Nichtaraber haben es unter solchen
Umständen ganz ebenso gemacht. — Hübsch ist auch Othman
als guter Geschäftsmann 221,io, und sehr interessant finde
ich die Notiz 281,2», nach welcher Muhammed den Juden von
Gheibar auf ihre Bitte die mit den übrigen Besitztümern
confiscirten Thorarollen zurückgegeben hat: bedürfte das
alte Märchen von der Verbrennung der alexandrinischen
Bibliothek noch weiterer Vt^iderlegung, so reichte diese einzige
Tatsache dazu aus.
Hieher gehören denn auch eine Reihe von Zügen, welche
teils an und für sich, teils durch den in ihnen hervortretenden
Gegensatz zwischen Islam und Heidentum in dem oben S. 438
460 A. Maller,
angedeuteten Sinne zur Charakteristik des arabischen Volks-
tums und zur Kenntnis der Einrichtungen und Gewohn-
heiten des arabischen Lebens vor Muhammed beitragen.
Dahin rechne ich die eigentumsrechtliche Notiz 41fts; das
drastische Mittel zur Anfeuerung eines kriegsunlustig^i
Mekkaners 43,s«; die paukenschlagenden und singenden
Weiber (44,.; 103,24; 109,f; 110,«; m^i vgl. ISam. 18,t),
deren Leistungen als Hyänen des Schlachtfeldes den großen
Fortschritt dartun helfen, den der Islam in civilisatorischer
Beziehung doch immer bewirkt hat (128,s4; 133,i8 ; interessant
vergleicht sich das Trinken aus der Hirnschale des Feindes
110,a«; 157,si mit der gleichen anmutigen Gewohnheit
unserer Altvordern aus den romantischen Zeiten Ingos und
Ingrabans); allerdings ergibt sich aus 137,s9, dass solches
zwar nicht ohne Beispiel, doch ungewöhnlich war. Voll aus
dem heidnischen Leben gegriffen ist die Figur des blinden
Greises, der sich auf die Nachricht von dem Tode seines
Sohnes, so lange die Totenklage in Mekka verboten war,
hinausfuhren ließ auf den Weg, den sein gefallener Sohn
gezogen, sich dort betrank und über ihn weinte und Erde
auf sein Haupt streute; nicht weniger aber der weibliche
Götz der Thakafiten 369,s4, die polnische Gastfreundschaft
140,59 d&s Rauberleben des Räft* 316,sst und leider auch die
(nicht vereinzelte) Scheuslicbkeit 179,i, an welcher übrigens
den Muhammed mindestens eine Mitschuld trifft. Für die
AufEftssung des Schutzverhaltnisses bezeichnend ist 52,i«; die
Veränderung desselben durch den Islam wird 324 N. 1 von
Wellhausen treffend gekennzeichnet. — Auch für Realien
findet sich natürlich nuincherlei; ich hebe die Zahlenangaben
üb^ das Verhältnis der damals in Arabien noch seltenen
Pferde zu Kamelen und waffentragender Mannschaft hervor
(39,21; 44,8 ; 102,ii; 168,m.ss; 191,i2; 220,a8; 226,is; 285,ii;
358,5; 395,8i; letztere Angabe*- 10000 Pferde: 30000 Mann —
ist freilich gewiss zu hoch, obwohl es sich von selbst ver-
steht, dass Muhammeds Leute mit wachsenden Beutegeldern
in die Lage kamen auch die Zahl ihrer Pferde zu vermehren).
Wie man im allgemeinen in Arabien Krieg führte, wird man
Beurtoitungen. 461
hauptsächlich an der Hallimg der Mekkaner und der Juden
ermessen können. Letzteren und den vermutlich schon nach
südambischem Muster verfahrenden Tälfiten sind übrigens
einige Besonderheiten eigen: die starke Entwicklung des
Burgenbaus und die damit in Verbindung stehende An-
wendung von Kriegsmaschinen, welche weder Mekkaner noch
Medinenser kennen; erst seit Gheibar wendet sie auch
Muhammed an (277,11; vorher weder gegen Na<Jir noch
Koreiza), jedenfalls da ihm bei der Einnahme dieses Burgen-
complexes einige in die Hände gefallen waren; nachher vor
Täif bezieht er sie aus Südarabien (370,4; 381,7). Die Be-
satzung einer Burg (d. h. eines Complexes 270 N. 1) beträgt
500 Mann 273,i. Der »unarabischec Graben dient als Schulz
ausschließlich gogen die BcUer (192,9; 199,26—200; 201,i6),
wohl weil der Kampf der Fußtruppen nur in Gestalt einer
durch die bekannten homerischen Zweikämpfe eingeleiteten
Feldschlacht üblich war.
Sehr schlüpfrig wird der Boden, auf dem wir uns be-
wegen, nach dem S. 442 Bemerkten, sobald wir uns Nach-
richten über heidnische Gebräuche gegenübersehen. Trotzdem
wird man mit einiger Vorsicht auch hier einige sichere und
wertvolle Tatsachen gewinnen können. Abgesehen von aller-
hand Vorbedeutungs-, Loos-, Gespenster- und sonstigem Aber-
glauben sind Notizen über Gebräuche wie das Schließen
eines Bundes durch Hineinstecken der Hände in eine Schaale
344 N. 1, eines Vertrages durch Berührung des Behanges
der Ka'ba 190,a5, das Aufhängen eines im Kampfe gewonnenen
Schwertes an der Ka'ba 43,a9> das Haarscheeren vor Hobal
138,as, die Form der Gelübde (deren größere Ursprunglich-
keit dem hebräischen Nasiräat gegenüber Wellh. scharf-
sichtig bemerkt 201 N. 2; 243 N. 3) unter allen Umstanden
für authentisch zu halten, wie sie auch zum Teil aus ander-
weitiger Ueberlieferung bekannt smd. Der schwierigste aller
in dieser Beziehung ins Auge fallenden Punkte, die vor-
muhammedanische Form der Verehrung des schwarzen
Steines und der Ka'ba sowie des festlichen Besuches be-
stimmter Oertlichkeiten in und um Mekka, ist in Snoucks
452 A. Maller,
oben Nr. 2 aufgeführter Schrift natürlich einer genauen Unter-
suchung unterzogen worden. Die Schwierigkeiten, welche
der zweifelhafte Charakter des Quellenmateriales diesem
Unternehmen in den Weg steüt, hat Snouck durch äußerste
Sorgfalt in Bezug auf die vollständige Heranziehung der ge-
sammten Traditionslitteratur und eindringliche Schärfe der
Kritik zu überwinden gesucht Er hat zunächst, was noch
verhältnismäßig leichter war, unwiderleglich nachgewiesen,
dass sämmtliche Mitteilungen der Theologen und Historiker
über die Abweichungen der im Heidentum üblichen Ge-
bräuche von den durch Muhammed festgestellten und nach-
her noch mehr im einzelnen geregelten Ceremonien auf mis-
verständlicher Interpretation von Koranstellen, tendenziöser
Schönfärberei, kurz auf den gewöhnlichen Motiven der theo-
logischen Mythenbildung beruhen; andererseits findet er, mir
wenigstens höchst wahrscheinlich, in einzekien »Misbräuchenc
und »Neuerungenc, gegen welche die Theologen eifern, Reste
heidnischer Sitte, welchen Muhammeds Tod ein vorläufiges
Weiterleben in gewisser Ausdehnung sicherte. Meisterhaft
ist die bei aller Kühnheit doch vorsichtige und sichere
Methode, mit welcher er die Entstehung mehrerer proble-
matischer und in sich widerspruchsvoller Vorschriften und
Deductionen in dem ofSciellen System aus der durch dog-
matische Rücksichten erforderten Harmonistik und aus dem
Bestreben erklärt, eine mehr als bedenkliche Handlungsweise
Muhammeds zu verschleiern, die senile Begehrlichkeit des
»Gesanten Gottesc unter dem Heuchelkleide religiösen Tief-
sinns zu verbergen. Zweck und Umfang meines Aufsatzes
verbieten mir, auf diese eben so sicheren als für die
Charakteristik Muhammeds und der Tradition bezeichnenden
Ergebnisse von Snoucks Untersuchungen näher einzugehen;
ich begnüge mich kurz anzudeuten, was nach unserem Ver-
fasser als der vormuhammedanische Bestand des »mekkani-
schen Festesc mit Wahrscheinlichkeit angesehen werden kann.
Danach kämen die in Mekka selbst vollzogenen Ceremonien,
zu welchen das Opferfest am 10. des Wallfahrtsmonats hin-
zugezogen werden kann, auf altgewohnte Umzüge um und
Bearteilungen. 453
Processionen nach heiligen Steinen, Bergen, Bäumen und
Quellen hinaus, an welche bei besonderen Veranlassungen
sich Opfermahlzeiten anschlössen (hier ergibt sich mancherlei,
was im II. Hefte Baudissins nachgetragen werden könnte);
der Besuch der außerhalb Mekkas gelegenen heiligen Orte
Arafat, Muzdalifa, Mina*) aber ist ganz sicher, wenn auch
zu Anfang auf ähnlichen religiösen Motiven wenigstens mit
beruhend, zur Zeit Muhammeds hauptsächlich der Abschluss
eines Cyclus von großen Messen gewesen, welche einmal im
Jahre die Stamme des Hi^fiz und Ne^d zum Austausch der
gegenseitigen Produkte vereinigten: auch diese endigten mit
einem »Anrufen des Namens Allahs < über dem im ver-
gangenen Jahre erzielten Viehbestande nebst Opferung eines
Teiles desselben. Es liegt nahe, letzteren Gebrauch tnit der
allgemeinen Sitte der Opferung der Erstlinge in Verbindung
zu bringen: und in Wellhausen's Sinne könnte man dieses
Schlussfest des Ha^^ geradezu mit dem Frühlingsfeste der
Juden, welches er bekanntlich im Passah nachgewiesen hat
(Gesch. Isr. 89 ff.) identiflciren (vgl. Snouck S. 46. 65). In der
Tat liegt der Parallelismus der von Snouck herausgeklaubten
ältesten Ceremonien mit alttestamentlichen oder gemein-
semitischen Einrichtungen und Anschauungen an vielen Stellen
klar zu Tage: möge es Wellhausen, der hiefür prädestinirt
sein dürfte, gefallen, dies im einzelnen durchzuführen. Die
Tatsachen werden da sein, aber nicht jeder hat Augen sie
zu sehen.
Wellhausen vrürde damit einen Teil der Aufgabe er-
füllen, welche er sich in den »Vorbemerkungenc zum Wäkidi
S. 5 folgendermaßen stellt: »Den Uebergang vom Alten
*) Dem »Steinchenwerfen« ist S. geneigt eine wahrsagerische Be-
deutung beizumessen. Ich kann dem nicht geradezu widersprechen,
möchte aber darauf hinweisen, dass Steinhaufen, auf welche jeder Vor-
übergehende einen weiteren Stein wirft, anderswo als Gedenkmaie eines
gewaltsamen Todesfalles u. Ae. Torkommen, z. B., wenn ich mich recht
entsinne, in den steirischen Alpen; jedenfalls (wie mir A. Bezzenberger
nachweist) bei den Ehsten, s. F. J. Wiedemann, Aus dem inneren und
äußeren Leben der Ehsten. St. Petersburg 1876. p. 409 f. [Vgl. diese
Zeitschr. XII. 289-309.]
454 A. HCOler»
Testament zu den Arabern habe ich gemacht in der Absicht,
den Wildling kennen zu lernen, auf dei) von Priestern und
Propheten das Reis der Thora Jahves gepfropft ist Denn
ich zweifle nicht daran, dass von dex ursprunglichen Aus-
stattung, mit der die Hebräer in die Geschichte getreten
sind, sich durch die Vergleicbung des arabischen Altertums
am ehesten eine Vorstellung gewinnen lässt.€ Hiebei würden
wir dann auch eine Wiederaufnahme des Problems erwarten
dürfen, welches einer der größten Historiker zuerst geahnt
und angestellt, freilich noch nicht gelöst bat. Der Grund-
gedanke von Dozys Israeliten zu Mekka (deutsche Ausgabe
Leipzig und Haartem 1864), dass die Gebräuche des mekkani-
schen Festes auf uralten israelitischen Einfluss zurückgehen,
— ein Gedanke, der durch Grafs scheinbar so vernichtende
Kritik ZDMG XIX, 330—351 gar nicht beseitigt worden ist —
wird von dieser Seite her vielleicht eine neue Beleuchtung,
vielleicht eine Umbildung erfahren, in jedem Falle zu seinem
Rechte kommen, jfedenfalls ist es jetzt bereits möglich auch
auf dieses Problem den Satz anzuwenden, mit dem ein be*
rühmter Kenner der indischen Litteratur sein grundlegendes
Werk einfuhrt »Nil defii>erandum — auch hier wird es
tagen !€ -- Teucro duce et auspice Teucro, erlaube ich mir
hinzuzufügen.
Es wird Zeit, diesen schon allzuiangen Aufsatz zu Ende
zu bringen. Nur ganz kurz will ich daher noch auf eine
andere Aufgabe hinweisen, deren Lösung für die richtige
Beurteilung des Verhältnisses zwischen Arabertum und
Muhanimedanismus mir wichtig erscheint : die Art und Stellung
der Juden in Arabien um die Zeit der Entstehung des Islfuns.
Es ist z. B. für die ganze Entwicklung Muhammeds von
Wichtigkeit zu wissen, inwieweit er sdion in Mekka mit
jüdischen Lehren und Legenden bekannt werden konnte.
Snouck weist S. 29 ff. aufierst plausibel nach, wie Muhammed
erst ganz allmählich dahinter kommt, dass isaak und Jakob
nicht Brüder sind, und für seine ganze Beweisführung i^ es
von großem Belange, dass diese Erkenntnis ihm erst in
Medina aufgeht Ist er nun in Mekka noch so ^venig mit
^ Beurteilungen. 455
Juden im Verkehr gewesen , so kann man z. B. auch un-
möglich die Josefssure für mekkanisch halten, wie noch
Nöldeke will (Gesch. d. Qor. 113 f.). Wie man nun diese
Möglichkeiten und Andres derart objectiv beurteilt, wird
ganz davon abhangen, wie man sich die Verbreitung und
Stellung der Juden in Mekka und Umgegend denkt. Auch
die Beurteilung der Rdbungen und Feindseligkeiten zwischen
Muhammed und den jüdischen Stammen von Medina,
Cheibar u. s. w. wird nur im Zusammenhange endgiltig sicher
gestellt werden können: freilich wird dabei wohl Sprenger
Recht behalten mit der Anschauung, die Schuld sei eigentlich
überall auf Seiten des ersteren zu suchen. In der Haupt-
sache scheinen diese Juden doch stark arabisirt gewesen zu
sein, wenn sie gleich unter sich ihr eignes Rotwelsch
»kaudertenc (170,i8); sie benehmen sich genau so unpolitisch,
thöricht und kurzsichtig, wie es von unzusammenhängenden,
durch arabische Stammesbegriffe zersplitterten Haufen von
Partikularisten erwartet werden kann (vgl. 269 N. 1). Sehr
sympathisch berühren sie im allgemeinen nicht; abgesehen
davon, dass sie nach wiederholten Vertreibungen sich immer
wieder herzudrängen (264,s3; 283,i7; 415,7), fühlen sie sich
nicht einmal genirt, den Muslimen die ihren eignen Glaubens-
genossen geraubten Beutestücke abzuschachern (275^i; 277,i8;
278,aa): aber Muhammed gegenüber werden sie sich kaum
viel anders benommen haben, als die » Heuchler c, die ja
auch mehr als gern schlechte Witze über den Propheten
und s^ne Bettelmekkaner machten. Höchstens die Eoreiza
scheinen sich während des Grabenkrieges zweideutig be-
nommen zu haben — denn es ist innerlich unwahrscheinlich,
dass Muhammed, während ihm das Messer an der Kehle
stand, ohne Not seinerseits ein Ränkespiel angefangen haben
sollte, welches ihm unter Umständen einen gefahrlichen Feind
mehr über den Hals hätte bringen können; nachher freilich
hat er es verstanden, den von den unglücklichen Juden be-
gangenen Fehler in einer Weise diplomatisch auszunutzen,
die einem bei aller Rücksichtslosigkeit doch anständigen
Menschen wie Omar durchaus zuwider war (207,27). Auf
456 A. Malier, ^
alle Fälle wäre eine Monographie über die Juden in Arabien
eine notwendige Ergänzung der im Obigen als wünschens-
wert bezeichneten Arbeiten.
Zum Schluss noch ein kurzes Referat über jedes einzelne
der drei angezogenen Werke. In Nr. 1 nehmen die »Vor-
bemerkungen« Wellhausens (S. 5—28) einen im Verhältnis
zu ihrer Wichtigkeit sehr geringen Raum ein. «Eine Ver-
arbeitung des seinem Texte entnommenen Materials konnte
er freilich nicht beabsichtigen, aber die für eine solche maß-
gebenden Gesichtspunkte werden mit einer energischen
Sicherheit hingestellt, die nicht nur seiner vollkommenen
Beherschung des Stoffes, sondern vor allem seiner aus der
»Geschichte Israels« bekannten Fähigkeit entspringt, überall
das historisch Wichtige, und dieses in der richtigen Ver-
bindung zu sehen. Er ist in dieser Beziehung seinem »un-
vergessnen Lehrer« Heinrich Ewald congenial ; letzterer mag
noch um einen Kopf größer gewesen sein, aber dafür ist es
dem Schüler gegeben, mit ruhigerer Kraft, maßvoller die
geistigen Glieder zu rühren. So werden denn — abgesehen
von der p. 8—10 aufgestellten Schreibweise der arabischen
Namen, die für den Arabisten befremdend, für den der
Sprache unkundigen Historiker aufs äußerste irreleitend ge-
nannt werden muss — die einzelnen Abschnitte dieser Ein-
leitung überall für die weitere Forschung maßgebend bleiben.
S. 5—8 handeln von der handschriftlichen Ueberlieferung,
S. 10 f. über die Einrichtung der »verkürzten deutschen
Wiedergabe«, S. 11—15 kehren das Verhältnis zwischen
Wäkidi und Ibn Ishäk nicht weniger definitiv um, als das
zwischen Q und JE im Pentateuch umgekehrt worden ist;
S. 15—20 weisen fast durchweg (vgl. Snouck p. 66; 179)
neue, jedenfalls nie mehr zu vernachlässigende chronologische
Tatsachen nach. S. 20—26 enthalten eine scharfe, doch ge-
rechte Kritik von Sprengers Art der Textbenutzung und
Geschichtschreibung; eine Kritik, welche durch das fort-
gesetzte Ausschreiben seines in so vielen Beziehungen hervor-
ragenden, darum von Unkundigen unterscheidungslos be-
wunderten Werkes von selten der Dilettanten und Blissionäre
Beurteilungen. 457
allmählich ein Bedärfhis geworden war. Uebelnehmen wird
man sie Wellhausen allerdings, selbst Nöldeke (Lit. Gbl. 1882,
Sp. 1485—88) findet sie zu hart; ich muss in dieser Be-
ziehung, wie auch in Betreff der öfter vorkommenden burschi-
kosen Wendungen, ohne Nöldekes Ansicht entgegentreten zu
wollen, sagen, dass gerade zu Wellhausen auch die frische,
rücksichtslose, manchmal fast mutwillige Ausdrucksweise mir
untrennbar zu gehören scheint. War' er besonnen, hieß er
nicht der Teil, und auf die mohammedanische Theologie
braucht er ja am Ende keine Räcksicht zu nehmen; Spr^ger
aber ist selbst so gradezu in seinen Ausdrücken, dass er
sich Aehnliches ruhig gefallen lassen kann. Unter allen
Umstanden trifft das Urteil Wellhausens als solches den
Nagel auf den Kopf. — Nach den »Vorbemerkungenc er-
halten wir eine »Uebersicht der Feldzugec; dann folgt die
auszugsweise Uebersetzung von Wäkidis Buche selbst, mit
kurzen, überall bedeutenden, oft höchst schlagenden Be-
merkungen, in denen der gründliche Kenner des Alten Testa-
ments häufig durch interessante Parallelen sich bekundet.
Was die philologische Seite angeht, so zeigt sich, dass der
bisher als hervorragender biblischer Philologe und Historiker
berühmte Gelehrte auch dem unbändigen Rosse der arabischen
Sprache fest im Sattel sitzt; ich verweise hiefür auf Nöldekes
eben citirte Beurteilung. Den Schluss bilden genaue Ver-
zeichnisse der Personennamen, der Ueberlieferer und der
Ortsnamen, nach dem arabischen Alphabet geordnet, also
freilich für den der Sprache Unkundigen schwer zu benutzen.
Ich schließe mein Referat mit einem ahlan wasahlan
wamarhaban an den unter uns Orientalisten gegangenen
Theologen: wir können ihn gebrauchen.
Snoucks Arbeit (Nr. 2) ist eine holländische Doctor-
dissertation. Man weiß, dass eine solche einer deutschen
Habilitationsschrift meist überwertig ist ; die vorliegende ent-
spricht durchaus diesem Maßstabe. Nach einer kurzen Ein-
leitung über die Aufnahme der altheidnischen Feste in den
Islam als Concession nicht an den Glauben, aber an den
Gonservatismus der Araber, sowie über die benutzten Quellen
458 A. Malier,
weist der Verfasser in dem ersten Abschnitt »Der Ha^ und
der Islam« nach, wie aus den muhammedanischen Berichten
die ursprängliche Natur des Ha^ nur ^ herausgefunden
werden kann, dass man die aus bestimmten GrOnden von
Muhammed vorgenommenen Veränderungen aufspürt und von
dem Gesammtbilde abzieht. Nachdem er die auf diesem
Wege zu erhaltenden Resultate in den Hauptzögen vorweg
skizzirt hat, kritisirt er die Angaben der muslimischen
Sdiriftsteller über die Art und über die dem Abraham zu-
geschriebene Einsetzung des mekkanischen Festes, die er als
Erfindungen Muhammeds und seiner Gläubigen nachweist,
indem er darlegt, wie der Prophet zur Prodamirung der
»Religion Abrahams« einer- und zur Empfehlung des Ha^
andererseits erst in Medina geschritten ist, als es galt, den
Islam dem Muhammeds Lockungen widerstehenden Judentum
selbständig gegenüberzustellen und die Aufsaugung des
heidnischen Arabertums durch Concessionen an die Gebräuche
desselben vorzubereiten. Die einzelnen Schritte des Propheten,
die ihn diesem Ziele näher brachten, der Vertrag von Hudeibija,
die vertragsmäßige Wallfahrt vom J. 7, die Einnahme Mekkas
vom J, 8 werden im einzelnen studirt, und mit Besprechung
der endlichen Ausschließung der Heiden von der weiter«! Mlt-
feier des alten Festes und einigen zum Teil mit Wellhauaen über-
einstimmenden Bemerkungen über den bei dieser Gelegenheit
abgeänderten Festkalender der Abschnitt beendet. Das eweite
Gapitel »Die Vorbereitung und die Geremonien zu Mekka« weist
nach, dass die Widersprüche und harmonistischen Eiertänze
der Theologen über die verschiedenen Arten, auf welche die
Pilgerfahrt einzuleiten dem Gläubigen gestattet ist, sich aus
dem Streben erklären, eine durch bedenkliche Beweggrunde
herbeigeführte Abweichung Muhammeds von der alten Sitte zu
bemänteln, und dass lediglich hiedurch der sogenannte »Be-
grüßungsbesuch« der Ka'ba als Vorbereitung zum eigentlichen
Ha^^ sich herausgebildet hat; dann folgt die Einzelunter^
suchung über die betreffenden Geremonien, deren Haupt-
resultat wir bereits kennen. Das dritte Gapitel »der Ha^«
löst die gleiche Aufgabe für den Besuch der außerhalb
Beurtalhingen. 4B9
Mekkas gelegenen heiligen Orte und den Schlussbesuch der
Ka'ba; der »Beschlüsse gibt eine Zusammenfassung und
Schätzung der gewonnenen Eifpebnisse nebst einigen damit
zusammenhängenden Bemerkungen. Im einzetoen ergibt sich
an zahfreichen Stellen wesentlicher Gewinn fBr Koranexegese,
Biographie Muhammeds u. A. m., worauf hier nicht näher
einzugehen ist.
Nr. 3 Iftsst auf die ihrem Hauptinhalt nach oben S. 440
charakterisirte »Introductionc eine Reihe von 200 Sprich-
wörtern und sprichwörtlichen Redensarten folgen. Bei jeder
Nummer findet man eine von dem jedesmaligen Gewährsmann
des Sammlers herrührende vulgärarabische Erläuterung, wie
beim Spruche selbst in genauer Transcription und Ueber-
Setzung, dann folgen ausfuhrliche Erläuterungen in französischer
Spl*ache, welche von den bereits hervorgehobenen Eigen-
schaften Landbergs Zeugnis ablegen und alles Wissenswerte
erschöpfen; den Schluss bilden umfangreiche Register und
ein fleißig gearbeitetes Glossar. Ehi gewisses in die Breite
gehen bei den Erläuterungen berührt nicht unangenehm;
Landberg hat viel gesehen, viel gehört und seine Mitleihmgen
sind immer dankenswert und interessant, auch wenn sie den
dfltmen Faden der Sprichwörter üppiger umranken, als zum
Verfolgen desselben unmittelbar notwendig ist. So werden
Freunde fremden Volkstums, auch wenn sie nicht Orientalisten
sind, mancherlei finden, was für die Anschauung orientalischen
Lebens von Wert ist, und auch in diesem Sinne kann ich
das Werk als die langsam an der Sonne des Ostens selbst
gereifte Frucht ehies seltenen und aufopfernden Strebens den
Lesern dieser Zeitschrift auf das Wärmste empfehlen; ebenso
wertvoll wird es sich aber auch als ein Beitrag zu besserer
Erkenntnis arabischer Denkweise und Sitte für die erweisen,
welche im Neuen das, wenn nicht immer, so doch oft genug
erhaltene Alte suchen. — Die Vermittlung zwischen dem von
ihm mit warmer Liebe umfassten und mit verständnisvollem
Bliclce angeschauten Orient der Jetztzeit und der abend-
ländischen Wissenschaft hat Landberg sich zur Lebensaufgabe
gesetzt: möge er in der Lösung derselben, zu der kaum
460 A. MQUer, Beurteilungen.
jemandem außer ihm ähnliche Mittel zu Gebote stehen, auch
ferner mit gleichem Eifer verfolgen und zunächst die weiteren
Teile seiner Sprichwörtersammlung in ununterbrochener Reihe
und mit möglichster Raschheit folgen lassoi; des Dankes der
fränkischen Ulema darf der wandernde Scheich im Lande
der Gläubigen gewiss sein.
Königsberg i. Pr., 27. April 1883.
A. Müller.
Victor EggtT^ la parole Interieure. Paris, libr. Germer Bailiidre
et Cie. 1881. 8. 327 S.
Parole Interieure, innere Rede nennt Victor Egger
(Sohn des ruhmlichst bekannten E. Egger, Mitglieds des In-
stituts) den Gegenstand seiner ausführlichen und interessanten
psychologischen Untersuchung. Der Ausdruck klingt fremd
und ungewohnt; ruft kaum sofort eine deutliche Vorstellung
hervor. Aeufiere und innere Sprachform sind Ausdrücke und
Begriffe, die von Humboldt gefunden, von Steinthal und
Lazarus fortgeführt, dem Leser dieser Zeitschrift nicht un-
bekannt sein dürften. Aber bei der Unterscheidung der
äußeren und inneren Rede handelt es sich nicht um den
Gegensatz des Lautes und der mit seiner Auswahl ver-
bundenen Rangerhöhung einer Teilvorstellung oder einer
Beziehung eines Dinges über die anderen im Namen des
Dinges, sondern um den Gegensatz der Lautempfindung und
Lautvorstellung. Sprachforscher und Philosophen haben den
Erdkreis durchmustert, die Sprachverwantschaft und Sprach-
verschiedenheit festgestellt, die Sprachen classificirt, und die
Sprachtypen erniittelt, aber auch bei dieser Arbeit konnte
man nicht auf die von Egger getroffene Grenzbestimmung
und Unterscheidung stoßen. Egger ist nicht ganz ohne Vor-
gänger, er nennt uns selbst namentlich Bonald, Cardarillac,
Bain, aber dass ihr Problem und ihre Forschungen in und
außer Deutschland allgemein bekannt geworden, aufge-
CL TlL ükhafiis» Beiirttthii«en. 461
nommm und fortgesetzt warod, lissl sich, wohl schw^Uch
behaupten. Und doch deckt sich die Unt^scheidung Eggers
unverkoonbar in gewissem Mafie mit einer ganz gewöhnlichad
in allen ^»rachai nnd wohl von all^D Menschen Yollzogenen
Unterscheidung. Egger zidit genau da die Grenzlinie, wo
die Sprache and der gewöhnliche Verstand sie zwischra
Reden und Schweiget hergestellt hat; aber er trifft jenseits
der Rede nicht nur das schattenhafte stumme SchweigeUi
auch nicht nur das körperlose rein geistige Denken, sondern
wiederum die lebendige bedeutungsvolle Rede, wenn auch
in anderer Gestalt an: »an Eastor angelehnt ein blühend
Polluxbildc. So ist die uralte Teilung doch eine neue
Teilung, so steht der äußeren Rede nicht das Schweigen,
sondern die innere Rede g^enüber, jene das Hauptwerkzeug
des geistigen Verkehrs der Menschen unter einander, eine
wichtige öffentliche Sache, diese der Haupthebel des Bewusst-
seins, ein Band der Einheit des Seelenlebens, eine gehdme
innere Angelegenheit. Es fallt durch diese Unterscheidung zu-
nächst ein neues Licht auf den oft philosophisch erörterten
Begriff des Schweigens. In der Tat, nur zunächst berufen,
die Verneinung der hörbaren Rede einer Person auszudrücken,
schließt er die verschiedensten, zu scheinbar tiefen und doch
nur lialbwahren Aussprüchen reizenden, Begriffe in sich: das
Hören, jede lautlose sinnliche Tätigkeit, das stille mit sich
selbst Reden, das Denken und Empfinden, das Leersein von
sinnlichem Reiz, das Leersein von allem geistigen Inhalte etc.
Dass auch der Schweigende reden kann, sehr oft redet, trotz-
dem niemand seine Worte vernimmt, kein äußeres Zeichen
sie verrät, sollte allerdings schon längst zu den allerbekannte-
sten Tatsachen gehören und ist doch weder allgemein bekannt,
noch oft klar und bestimmt angesprochen, ja möchte vielleicht
noch «jetzt bezweifelt, als spitzfindige Parodoxie bestritten
werden.
Aber die Tatsache liegt vor und es bedarf kaum großer
Anstrengung, um sich von derselben zu überzeugen. Ich
wenigstens sehe nicht, wie sie geleugnet werden könnte. Die
stille Rede bildet einen großen, bei weitem den größeren
ZelUchrlft Ittr Völkerptreh. ond SprMbw. Bd. ZIV. 4. 81
462 C. Th. HlchäftUd,
Teil unseres Bewüsölseins. Wir reden sHH, wenn wir für uns
lesen, wenn wir schreiben, wenn wir denken. Zu unserer
Qual rerlässt uns die stille Rede nicht, wenn wir uns nach
Schlaf sehnen und der Schlaf unsere müden Glieder flieht, weil
der Geist nicht zur Ruhe kommen kann. Selbst während wir
laut reden, fehlt das stille Wort nicht gänzlich. Es drangt
sich in die Pausen und Unterbrechungen der Rede ein, es
weist dem Redenden die Fährte des Gedankens, es sagt ihm
die nächsten Worte vor, und nur bei ganz glatter, mühelos
flieBender, nicht gerade gedankenschwerer Rede verschwhidet
es gänzlich. Es ist Überall da, wo kein Ton, kein äußeres
Geräusch, kein Wort die Seele zu beschäftigen im Stande ist
Die Seele will hören, bedarf des Lautes, und wo der äußere
Ton fehlt, oder zu schwach ist, oder nicht fesseln kann, er-
setzt ihn die Seele durch ein Bild, das ihm gleich ist, durch
das innere Wort, das sie erzeugt und vernimmt. Das sind
Tatsachen, die jeder an sich selbst beobachten kann,
psychische Tatsachen, die ebenso sicher festzustellen sind,
wie die physischen Vorgänge. Es bedarf nur der Ein-
schränkung, dass bei Taubstummen und in Fällen abnormer
Geistesstörung das Gesetz ungültig ist.
Aber ist denn jene stille Tätigkeit der Seele, die Egger
innere Rede nennt, etwas anderes als das Denken? Das
äußere gesprochene Wort, das physischen Gesetzen unter-
worfen ist, tmd der Gedanke, der dem Geiste gehorcht, sind
deutliche Gegensätze. Aber wenn der Gedanke, vom äußeren
sprachlichen Ausdruck noch hier und da einen Rest, eine
Erinnerung festhält, ist er darum wesentlich etwas anderes
als ein Gedanke? Giebt es wirklich ein Mittleres, zwischen
dem vernehmbaren Worte und dem lautlosen Gedanken?
Giebt man durch solche Annahme nicht dem Nebensächlichen
und Zufälligen den falschen Schein der Wichtigkeit und
Notwendigkeit? Diese Einwände wären berechtigt, wenn es
sich entweder um ein naturwissenschaftliches oder ein logi-
sches Problem handelte, wenn man den Laut als Laut, oder
den Gedanken als Gedanken rein und hüllenlos erfassen
wollte. Aber ein psychologisches Problem ist anderer Art.
Beurtotlanten. 468
Für das Seelenleben ist der sprachliche Ausdruck wie das
Gedankeneiement gleich wichtig, und jener der seinen eigenen
Gesetzen folgt, fast ein eigenes Le]>en zu haben scheint, hat
als eine der Zwischenstufen zwischen Außen* und Innenwelt,
eine bedeutende Macht, verdient die sorgsamste Beräck-
sichtigung. Giebt es also neben dem äußeren Wort ein
inneres, dem Gedanken noch näher stehendes Wort, so muss
die Psychologie es beobachten, seinen Einfluss und seine
Wirksamkeit feststellen. Und in der Tat, Gedanke und
imiMres Wort, so innig sie auch verbunden sind, sind doch
oft 80 verschieden, daas das eine dem andern feindlich und
schädlich Werden kann. In der Logik, wie iti der Natur-
wia^ensdiaft wertlos, verdient das innere Wort in der Psycho»
logie einen hervorragenden Platz.
Und wird denn eine Untersuchung der inneren Rede
irgend welche neue Ergebnisse versprechen können? Ist nicht
die innere Rede nur eine Wiederholung, ein Echo der äußeren
Rede, das ihr völlig ähnlich ist, und sich einzig darin von
ihr unt^wheidet, dass es an die Stelle der directen sinn-
lichen Empfindung die durch die Seele vermittelte Re-
production der Empfindung setzt P Steht das innere Wort
nicht mit allen Vorstellungen, die von der Seele gebildet
werden, mit allen Erinnerungsbildern auf derselben Rang-
stufe, kann die Psychologie ihm eine besondere Auszeichnung
zu Teil werden lassen? Ist nicht jede Lehre vom inneren
Worte nur ein Specialfall eines allgemeinen Reproductions-
gesetzes? Muss die Psychologie nicht also eine besondere
Berücksichtigung des inneren Wortes ablehnen, und hat Egger
nicht mit Unrecht eine Frage, die nur im Zusammenhang
mit anderen, allgemeineren Fragen gehörig gelöst werden
kann, flbrigens schon längst gelöst ist, isolirt und ihr da-
durch einen unechten Schein der Neuheit gegeben? In der
Tat, es giebt keine besondere innere Grammatik, es giebt
keine besonderen Reproductionsgesetze ffir das innere Wort.
So hängt vielmehr das innere Wort mit dem äußeren und
der Tonempflndung zusammen, wie die bloße Vorstellung
emes farbigen Bildes mit der wirklichen Anschauung desselben
31*
464 G. Th. Michaelis,
und der Farbenempfindung zusammenhängt. Ein Teil der
Untersuchung Eggers muss sich mit alten Untersuchungen
berühren; aber an Eggers Untersuchung ist aoch viel Neues,
doch seine Formulirung des Problems, doch die Abtrennung
der inneren Rede von den übrigen Vorstellungen gerecht-
fertigt Es ist ja unleugbar, dass wer das äußere Wort als
Ton oder Lautcomplex definirt, damit nur eine Seite des
Wortes, seine Erscheinungsform trifft, aber die Bedeutung
des äußeren Wortes nicht zur Hälfte erklärt. Und ebenso-
wenig lässt sich leugnen, dass das innere Wort mdir ist als
eine Vorstellung, sich unterscheidet von den Bildern, die die
Seele von den verschiedenen sinnlichen Anschauungen und
Empfindungen bewart, sich wesentlich unterscheidet durch
seine Function und Bedeutung, einen viel höheren Rang ein-
nimmt, als die übrigen Vorstellungen wenigstens gewöhnlich
einzunehmen pfl^en. Genau so ist das innere Wort von
den ihm der Entstehungsweise nach verwanten geistige
Bildern verschieden, wie das äußere von den übrigen sinn-
lich wahrnehmbaren Vorgängen verschieden ist, und wiederum
im Seelenleben ist die Bedeutung und Tätigkeit des äußeren
und inneren Wortes durchaus von verschiedener Wirkung
und Tragweite. Von jener befreienden, lösenden Kraft s. B.,
die das äussere Wort so oft besitzt, vermag ich wenigstens
beim inneren Wort nichts zu spüren; im Gegenteil statt die
Empfindungen zu entladen, erhöht es den Druck, und die
Spannung. Und andrerseits die Bestimmtheit, Folgerichtig-
keit und Eigenart des Denkens hängt vom inneren Worte
und seiner Tätigkeit fast allein, jedenfalls viel mehr als vom
äußeren Worte ab. Eine getrennte Untersuchung des inneren
Wortes rechtfertigt, ja empfiehlt sich also ohne aWea Zweifel.
Hätte Egger sein Problem erweitern wollen, so hätte er den
Titel: Les images-signes wählen müssen. Er hat mit
seiner Untersuchung eine Lücke ausgefüllt, die die englische
Associationspsychologie gelassen hat; er hat ein Forschungs-
gebiet geöffnet, das weitere Entdeckungen verspricht, sogar
vielfach das praktische Leben berührt und schon hier-
durch seine Fruchtbarkeit verrät. Die wichtigste Partie
BenrteihiDgeQ. 465
der Schrift fjggers finden wir in den Auseinandersetzungen
des VI. Gapitek.
Egger erörtert zuerst das Verhältnis der inneren zur
äußeren Rede. Es handelt sich hierbei noch nicht um eine
abgeschlossene Definition des inneren Wortes. Hierzu
müssten erst die Beziehungen des inneren Wortes zu andern
psychischen Erscheinungen ermittelt werden. Es handelt sich
vorerst nur um eine erste Beschränkung und Absonderung
des Untersuchungsobjectes;
»Die innere Rede ist eine Rede, ist der eigentlichen Rede
ähnlich, eine Nachahmung derselben, ein Echoe. »Das
innere Wort hat den Schein eines Tonesc. Das, warum es
Wort, Rede heißt, was an ihm Bede genannt wird, ist dieser
Ton und seine Eigenschaften. Die innere Rede besteht, wie
die äußere, aus articulirten Tönen, Vocalen, Gonsonanten,
Silben, Worten, Sätzen, hat bestimmte wechselnde Tonhöhe,
Tonstärke, Klangfarbe, ja die Eigentämlichkeiten der Aus-
sprache des Einzelnen wiederholen sich getreu in ihr. Die
innere Rede jedes Menschen ist die Nachahmung seiner eigenen
Weise zu reden. Man werfe hier Egger nicht ein, die Be-
griffe Echo, Nachahmung seien völlig unzureichend, — sie
sind es, — das Verhältnis der inneren zur äußeren Rede zu
bezeichnen; ebensowenig, Ton sei nur, was mit dem Gehör
recipirt wird. Alle diese Begriffe sind niu* vorläufige, und
müssen in der eigentlichen psychologischen Untersuchung
schärferen weichen. Man wird zugeben, dass im inneren
Worte etwas liegt, was mit dem Ton und allen Eigentämlich-
keiten der äußeren Rede übereinstimmt: »Die innere Rede ist
wie eine Rede, und meine innere Rede ist wie meine Redec
Aber die innere Rede unterscheidet sich trotz dieser
Uebereinstimmung von der äußeren Rede. Sie erscheint zu-
nächst der äußeren Rede unterlegen: Egger nennt die äußere
Rede einen starken, die innere einen schwachen Bewusst-
seinszustand. Er bedient sich dabei der Ausdrucksweise der
englischen Psychologie. Ich meinerseits kann mich nicht davon
überzeugen, dass diese vielfach angenommene Unterscheidung
richtig und von besonderen Nutzen ist Mir scheint Vor-
466 C. Th. MiehftMiB,
Stellung und Empfindung nicht der Intensität nach, sondern
der Art nach verschieden zu sein. Das reine innere Wort
schließt gar keine, auch nicht eine schwache Tonempfindung
in sich und der Maßstab, mit dem man die die Empfindung
begleitenden äußeren Vorgänge messen kann, passt eben nidit
für Vorstellungen. Aber unsere moderne Naturwissenschaft
und Philosophie hat dberbaupt den Shm und das Interesse
für Artunterschiede, für das Qualitative verloren und kennt
nur noch Zahl- und Größenbestimmungen, und ich wusste
hier, wo es sich nur um die logische Unterscheidung des
äußeren und inneren Wortes handelt, den factisch bestdienden
Unterschied nicht anders zu bezeichnen, trotzdem der Aus-
druck unzutreffend ist. Er kann auch nur als vorläufig gelten.
Die innere Rede übertrifft andrerseits die äußere Rede:
Sie fließt schneller bei Erinnerungsvorgängen^ langsam aller-
dings beim Denken und Suchen: im Durchschnitt ist ihre
Geschwindigkeit größer als die der äußeren Rede. Sie ist
keinen socialen und physischen Beschränkungen unterworfen.
Sie setzt kerne Rücksichtsnahme auf das Verständnis eines
Zweiten, kein Athemschöpfen voraus. Sie lässt Modificationen
der äußeren Rede, Abkürzungen, Monogramme, Sigel zu, die
nur dem Einzelnen, diesem aber vMlig verständlich sind. Sie
scheint mir in dieser Beziehung den sonderbaren Au&eichnungen
eines ungern schreibenden Gelehrten zu gleichen, die, aus einr
zelnen Worten, Zeichen, abgerissenen und unvollständigen
Sätzen bestehend, t&r diesen schon ein ganzes Werk be-
deuten, aber bei plötzlichem Tode des Gelehrten für die Welt
ein leeres Blatt, ein Nichts sind. — Ein weiterer Vorzug des
inneren Wortes ist, dass es trotz seiner bestimmten Färbung,
sich von der Individualität des Menschen doch auch frei-
machen kann. Wir können auch fremde Stimmen innerlich
nachmachen, Töne nachahmen, über die unser äußares
Sprachorgan nur wenig oder gar nicht gebietet. Egger nennt
das innere Wort, soweit es die Nachahmung fremder Rede
ist, das unpersönliche innere Wort, aber er bemerkt auch
mit Recht, dass das eigentliche innere Wort nur das persön-
liche ist. Das eigentliche innere Wort ahmt nur eine Stimme
nach, nämlich unsere. — Das innere Wort kann correcter
sein als das äußere; das Obr kann den Ton richtig aufge-
fasst haben, die Erinnerung ihn treu bewahren, die Sprach*-
werkzeuge aber noch nicht die Herrschaft über ihn besitzen.
Zweifellos verhält es sich oft, namentlich in der Kindheitt so.
Wenn aber Egger das innere Wort für eine einfache Vor-
stellung erklärt, so kann ich ihm nicht beistimmen, obgleich
es mir vorkommt, als ob ich mich doch nur sehr wenig
von seiner Ansicht entferne: Das äußere Wort, sobald es
gehört, nur gehört wird, ruft ohne Zweifel nur eme Ton-
empQndung hervor. Für den Redenden aber ist das äußere
Wort von einer doppelten Empfindung bq^leitet, einer Ton-
und einer Tastempfindung. Nach Eggers Auffassung ist das
innere Wort nun auch nur, analog dem gehörten äußeren
Wort, ein einfaches Tonbild. Mir scheint im Gegenteil auch
das innere Wort eine zusammengesetzte Vorstellung zu sein.
Auch die Tastempfindungen der Sprachorgane scheinen mir
eine Spur im inneren Wort, wenigstens häufig, zurückzulassen,
und die Spur scheint mir um so merklicher zu sein, je mehr
das innere Wort eine Nachahmung, um Eggers Ausdruck zu
gebrauchen! je weniger es ein Echo ist, jemehr der Mensch
bei der inneren Rede das Gefühl der Tätigkeit und nicht das
des Leidens hat, je mehr sein äußeres Wort das schon wirk-
lich ausgesprochen hat, was sein Ohr vernommen hat und
die innere Rede wiederholt loh gebe zu, dass selbst da,
wo die Erinnerung an die Tastempfindungen am größten ist,
sie immer noch der Stärke nach sehr viel geringer ist, als
die Vorstellung des Tones, ich gebe zu, dass sie so gering
sein kann, dass sie leicht vernachlässigt und übersehen
werden kann, aber, dass sie überhaupt fehlt, kann ich nicht
zugeben. Ich finde auch, dass Egger beim Versuche, seine
Ansicht zu verteidigen, dieselbe verändert. Dass eine Vor-
stellung von der Tastempfindung zurückbleibt, giebt er stellen-
weise zu, trotzdem er es anfangs leugnet, nur erklärt er sie
stets für unendlich klein. Man vergleiche seine Anfangs-
und Schlussthese auf S. 75 und S. 89. Jene lautet: »La
parole Interieure est une Image simple, une image purement
468 G. Th. Michaelis,
sonore«; diese dagegen: »La parole interieure est essentielle-
ment une image simple, une image sonorec ; der Zusatz des
Wortes essentiellement und die Streichung des Wortes pure-
ment roodificirt doch die These merkbar. Dem Endresultat
stimme ich bei, der ersten Behauptung nicht. Egger lässt
sich, wie es scheint, durch den Kampf gegen die in Bain
ihr Haupt findende »ecole du toucher«, »^ole du muscle«,
die überall die Spuren der Tastempfindung sucht, für einen
Moment zu leiser Uebertreibung fortreissen. Beim inneren
Sprechen bin ich ebensogut Sprechender wie Hörender,
oder kann es wenigstens sein. Soweit ich mich als Sprechen-
den fühle, habe ich eine schwache Erinnerung an die frühere
Empfindung in den Athem wegen und der Mundhöhle. Wenn
Egger dies auf Grund seiner persönlichen Erfahrung leugnet,
so weiß ich nicht, ob ein Zeugnis vom Gegenteil Wert hat,
das aus einer Aufmerksamkeit auf diesen Vorgang hervor-
geht, welche erst von der Leetüre von Eggers Buch her-
stammt. Egger behauptet, dass wenn man Bain zugiebt,
dass die Vorstellung einer Muskelempfindung im mneren
Wort liege, man nicht erklären könne, wie das innere Wort
den Schein des äußeren Wortes eines anderen Menschen an-
zunehmen im Stande sei. Unid es ist zuzugeben, dass so weit
das innere Wort Fremdes reproducirt, es die Erinnerung
an jene Empfindung nicht in sich schließt. Aber in diesem
Falle ist auch nur das Gehörte, ist nicht das Gesprochene
reproducirt, in diesem Falle ist das innere Wort nur Echo,
nicht Nachahmung, steht den anderen gewöhnlichen Re-
productionsvorgängen um etwas näher, als dies beim
persönlichen inneren Wort der Fall ist. Und Egger selbst
hat ja an anderer Stelle (S. 73) zugegeben, dass das un-
persönliche innere Wort nicht das wahre innere Wort
sei. Soweit sich das stille Sprechen als ein eigentümliches
auszuscheidendes Phaenomen darstellt, so weit scheint mir
die Annahme, dass in ihm zwei Vorstellungselemente von
verschiedener Intensität und verschiedener Herkunft ver-
bunden sind, die richtige zu sein. Eggers Annahme wird
dagegen von dem Einwurf getroffen, dass sie beim Process
Beurteilungen. 469
des inneren Sprechens, dem Sprechenden nur die Rolle des
Hörenden lässt. Egger giebt auch zu, dass in dem Augen-
blicke, wo er seine These verteidigt, er bei der Selbst-
beobachtung das Bild der Tastempfindung in seinem inneren
Worte vorfindet. Aber er will seine Beobachtung in diesem
Falle nicht gelten lassen. Er verlangt, dass man statt der
gegenwärtigen Bewusstseinszustände, die Erinnerungen an
dieselben analysire, eine Forderung, die man erst durch
seine spätere Behauptung corrigiren muss, nach der ein
gegenwärtiges Bewusstseinszustand gar nicht beobachtet
werden kann, sondern nur der vorangegangene, um auch
dann noch gegen sie Bedenken zu hegen. Die Erinnerungen
mussten doch mindestens ganz frische sein. Aber es handelt
sich in der Hauptsache eben nur um eine verhältnismäßig
geringe Differenz, um ein kleines streitiges Plus oder Minus.
Egger giebt zu, dass ein infinitesimaler Rest eines Tastbildes
im inneren Worte zu finden sei. Er giebt zu, dass in der
Kindheit und bei bestimmten Ständen der Rückstand der
Muskelempfindung in den Sprachorganen größer als im all-
gemeinen sei, er giebt zu, dass die abschwächende Gewohn-
heit erst das eine constitutive Element des uineren Wortes
verdrängt, er giebt auch zu, daß die größere Festigkeit der
Consonanten als der Vocale beim Lautwandel geradezu zu
dem Schlüsse nötigt, dass die Erinnerung an die Tast-
empfindung der inneren Rede immer positiv, stets größer
als Null sei; aber es macht der ganze Abschnitt VII des
n. Gapitels, in dem die Frage behandelt wird, den Eindruck,
als ob Egger nicht ganz mit sich einig geworden sei, um so
mehr, als er nachher bei der Untersuchung des Verhältnisses
von Gedanken und Wort gerade darauf darauf dringt, dass
das oft auch sehr kleine Gedankenelement doch stets vor-
handen, doch stets positiv sei. Vielleicht würde der Ver-
fasser selbst bei einer neuen Bearbeitung seines Werkes
diesen Abschnitt etwas verändern.
Die Unterscheidung des inneren und äußeren Wortes
ist aber mit diesen Bestimmungen noch nicht vollendet und
führt auf einen Punkt, wo die metaphysischen Streitfragen
470 G« Tfa^ Mieb««i8,
bq^mnen. Egger vermeidet jedoch zum Vorteile seiner Schrift,
soweit dies möglich ist, jede weitläufige und auf unsicherer
Grundlage beruhende Erörterung, sich nach Kräften im Ge-
biete der Psychologie haltend.
Das äußere Wort ist ein physisches Phaenomen, während
das innere Wort ein rein geistiger Vorgang, ein bloßer Be*
wusstseinszustand ist. Das wird niemand leugnen, soweit
es sich um Feststellung einer empirischen Talsache im ge-
wöhnlichen Ausdru^ handelt. Sucht man aber den tieferen
Sinn dieser Unterscheidung, so ist man im Gebiete der Meta-
physik. Was ist ein physischer, was ein psychischer Vor-
gang? Wie unterscheidet sich die Empfindung und ihre He-
production? Es ist bekannt, dass, indem dem einen Vorgang
Wirklichkeit) dem andern nur mentales Dasein sugesclurieben
wird, die Definition beider nicht erweitert, wohl aber eine
Grenzlinie zweier Welten, der Welt des Ichs und der realen
Welt gezogen wird. Worauf gründet sich die Berechtigung
dieser Unterscheidung? Hier kommt nun der Monismus und
und Dualisuius, der Idealismus und der Materialismus, der
Dogmatismus und Skepticismus etc. und jeder will Recht haben.
Egger hält sich vom Eingehen auf die Streitigkeiten dieser
Theorien fern. Er weist nur auf die Continuität und den
inneren Zusammenhang der schwachen Bewusstseinszustände,
auf das Unzusammenhängende und Unberechenbare der
starken Bewusstseinszustände, auf die Abhängigkeit der einen
und die Unabhängigkeit der anderen von unserm Willen hin.
Ein einziges Urteil bestimmt in letzter Linie den Unterschied:
»Wir urteilen, dass ein starker Bewusdtsqinazustand körper-
lich und äußerlich ist«. Hierdurch eben wird jene un-
genügende Unterscheidung der starken und schwachen Be-
wusstseinszustände vertieft und verbessert:
Der menschlichen Erkenntnis dienen als erste Gnmdlage
nicht äußere, von ihm unabhängige Objecte, sondern seine
eigenen Bewusstseinszustände. Die Bewusstseinszustände
folgen sich continuirlich. Ihre Gesanuntheit ist die Gesammt-
heit dessen, was uns überhaupt gegeben ist. Was nicht in
unserem Bewusstsein ist, existirt für uns nicht. Nicht eine
Beurtellangen« 471
doppelte, sondern eine einfache Welt, die unseres Bewusst-
seins, ist die Grundlage unsere Eiitenntnis. Aber das Be-
wusstsein gelangt dazu, die Gesammtheit der Pbaenomene
in zwei Teile zu zerschneiden und war vollzieht das Be-*
wusstsein diese Scheidung mit Hilfe eines einzigen Urteils.
Es scheidet dadurch von sich gewisse Zustände aus, ver-
leiht ihnen eigene Existenz, und behalt von seihst die
andere HAlfte als seine eigene Welt zurück« Das letzere, das
Zurfickbriialten der einen Hälfte erfolgt ohne besonderes
Princip. Was das Bewusstsein als Gegenstand des äußren
Sinnes bezeichneti das weist es der Außenwelt zu, aber das
Bewusstsein besitzt keinen besonderen inneren Sinn, mit
Hilfe dessen es die Innenwelt als seine Welt wahrnehmen
könnte. Und zwar erklärt das Bewusstsdn diejenigen Zu*
stände für Gegenstände des äußeren Shines und teilt sie der
Wirklichkeit zu, die unerwartet, zufällig, außer Zusammen-
hang mit anderen Bewusstseinsznständen, diese störend und
unterbrechend eintreten; das sind eben die stärkeren Be-
wusstseinszustände, und allen diesen Vorgängen teilt das Be-
wusstsein die Räumlichkeit zu. Für die innere Welt behält
das Bewusstsein die in ununterbrochener Reihe folgenden,
gewollten und erwarteten schwächer» Bewusstseinszustände
zurück. Eines besonderen Urteils, dass ein Bewusstseins-
zustand nur innerlich sei, bedarf es in der Regel nicht, wo
aber doch ein besonderer Act des Bewusstseins die Einreihung
vollzieht, da ist es kein Act innerer Wamehmung. Der äußeren
Wamehmung ist vielmehr parallel ein innerer Vorgang, den
Eigger reccmnaissance nennt, in dem sich die Reproduction
mit der Reoognition, die iSregenwart mit der Vergangenheit
verbindet. Diese so definirte Reoognitk>n ist die Bejahung
der eigenen Vergangenheit. Sowdt die Seele sich einen Vor-
gang nicht einfach negativ zuerteilt, hidem rie ihn für eine
sinnliche Erscheinung zu erklären unterlässt, soweit sie positiv
sich einen Bewusstseinszustand zuweist, ihn für subjectiv
erklärt, geschieht dies auf Grund dieses Wiedererkennens,
dieses Selbstbewusstseins. Frühere Bewusstseinszustände, die
schon neuen gewichen waren, erklärt die Seele meist auf
472 G. Th. Micha«li8,
Grund dieses positiven Actes sich zu, obwohl die Stärke des
Selbstbewusstseins mit der Häufigkeit der Wiederholung ab-
zunehmen pflegt; aber die Zustände der Vergangenheit, die
noch unvergessen, noch nicht durch andere ersetzt sind, und
die die gewöhnliche ungenaue Sprachweise gegenwärtige
nennt, werden nur negativ auf Grund der Abwesenheit der
äußeren Warnehmung fär subjective Bewusstseinszustände
erachtet. Was also die Seele der Aufienwelt zuschreibt,
das schreibt sie ihr auf Grund der sirailichen War-
nehmung zu, was die Seele der Außenwelt abspricht,
das spricht sie ihr ab und sich zu, entweder auf Grund des
Mangels einer sinnlichen Warnehmung oder auf Grund des
Bewusstseins der Seele von ihren vergangenen Zuständen.
Die Beurteilung, dass ein Wort ein äußeres Wort, ein physi-
scher Vorgang, beruht auf der Stärke des Tones, auf der
Analogie seines Tones mit andern Tönen, die zu den unge-
wollten unerwarteten Erscheinungen gehören, und auf seinem
Zusammenhang mit andern unerwarteten Bewusstseins*
zuständen. Das innere Wort dagegen wird meist nur auf
Grund der Abwesenheit einer äußeren Warnehmung dem
Bewusstsein zugeschrieben. Man könnte vielleicht meinen,
dass die Worte, die Elemente des Satzes, als vergangene und
wiederkehrende Bewusstseinszustände positiv wiedererkannt
würden, während die Sätze als Neubildungen uns in Er-
mangelung äußerer Warnehmung subjectiv erschienen; aber
hier tritt eben die Abschwächung des Bewusstseins durch
Wiederholung und Gewohnheit ein. Worte, die uns geläufig
sind, tauchen nicht als Elrinnerungen auf, sie verlieren sehr
bald allen Wert und allen Charakter als Erinnerungen. Wer
denkt daran, wie er sie erworben hat? Sie sind fortan nur
Mittel und Werkzeuge des Gedankens. Das uns geläufige
Wort hat keinen eigenen Wert, ist nur Teil und Träger der
Idee; als früherer Bewusstseinszustand ist es uns gleichgültig
geworden. Höchstens bei neugelemten, neugebildeten Worten
findet eine kurze Zeit lang eine wahre Recognition statt,
ebenso bei den halbgewussten Wörtern einer fremden
Sprache, die wir zu lernen anfangen, oder bei den
Beurtailangen. 473
Worten eines auswendig gelernten Gedichtes, das wir uns
aufsagen, ohne es schon zu beh^schen; aber alle diese
und ähnliche Fälle sind Ausnahmefalle. Gewöhnlich er-
scheint die Rede als innere Rede nur, weil ihr der Charakter
der äußeren Rede fehlt. So erklärt es sich auch, dass die
innere Rede leicht ganz übersehen und mit dem Gedanken
verwechselt wird. Das innere Wort ist eins der bescheiden
stilltäligen Wesen, die ihre Pflicht tun, ohne viel von sich
reden zu machen. (Schluss folgt.)
Berlin. G. Th. Michaelis.
Schlussbemerkung zu dem Aufsatz:
Kant lind der Endämonismns.
Nachdem ich die meinem Aufsatz über Kant und den
Eudämonismus von Prof. Steinthal angefügte Note gelesen,
glaube ich um so mehr Veranlassung zu haben ihm für die
Bereitwilligkeit, mit der er in der Zeitschrift für Völker-
psychologie einer gegnerischen Stimme Gelegenheit sich aus-
zusprechen gegönnt hat, aufrichtige Anerkennung zollen zu
sollen. Für ihn ist der Eudämonismus eine res judicata und
er hat dennoch in einer, sein Billigkeitsgefühl gewiss ehren-
voll belegenden Weise einen Verurteilten zu Wort gelassen.
Gestatte er mir denn nun auch noch eine kurze Abwehr
gegen verschiedene seiner Bemerkungen (S. 280—289) , die,
meine ich, weniger aus der Grundverschiedenheit unserer
Ansichten, die hier natürlich nicht zum Austrag zu bringen
ist und auf di^ ich mich daher an dieser Stelle nicht ein-
zulassen gedenke, als aus Misverstand meiner Worte und
der Tendenz meiner Arbeit entstanden sind. Wenn ich z. B.
von der Voraussetzung als von einer selbstverständlichen
ausgegangen bin, dass eine zu schaffende Ethik »mit den
Resultaten unserer Erkenntnis auf anderen Gebieten in lieber-
einstimmungc zu stehen habe, so liegt darin zunächst doch
474 Jcüfa» Duboe,
nichts weiter als eine einfache Anwendung vom Wesen der
Erkenntnis. Jede Erkenntnis eines Gegenstandes lehrt uns
denselben in seinem Zusammenhang betrachten, und so
kann auch die Qesammterkenntnis, d. h. die Weltanschauung,
nur auf dem Zusammenhang aller Einsei -Ektenntnisse be-
ruhen, aus welchem die Ethik, da sie mit jener in innerster
Congruenz bleiben muss, sich doch nicht k)sl08en, nidit
herausfallen darf. Diese därfen, wie L. Feuerbadi einmal
sagte^ »sich nicht wie Hund und Katze angrinsen, sondern
müssen in eine Flamme zusammenlodem«. Weiter sollte
damit nichts gesagt sein.
Hieß es dann — (übrigens in dem Artikel der »Gegen-
wartc, auf den Prof. Steinthal Bezug genommen, nicht in dem,
welchen ich im Grunde hier zunächst zu vertreten habe) — :
diese Erkenntnis auf anderen Gebieten entziehe uns in
steigendem Maße die Möglichkeit den Menschen aus der
Einheit der Lebewesen unseres Planeten loszulösen, so war
damit nicht gemeint und auch nicht gesagt, dass uns ein
Wolfs- oder ein Schafs- Gesetz binde. Denn erst die An-
wendung des als allgemein vorausgesetzten Gesetzes die
Lust zu suchen, den Schmerz zu flidien im Wolfe- oder im
Schafssinne würde aus demselben ein Wolfe- oder ein Schafe-
gesetz machen und dass eme gleichartige Anwendung
desselben für Mensch und Thier bestehe, habe ich ja nirgends
behauptet. Ich habe aber überhaupt auch das bloße Vor^
handensein des eudamonistischen Gesetzes für den Menschen
nicht etwa aus der Unmöglichkeit denselben aus der Einheit
der Lebewesen loszulösen deducirt, sondern demselben eine
ganz andere selbständige Beweisführung (269. 370) zu Grunde
gelegt, finde aber allerdings einen Vorteil darin, wenn man
auf diese Weise dazu gelangt in einer wichtigen grundgesetz-
lichen Beziehung eine g^neinsame Basis für Tier und Mensch
anzuerkennen« Denn mag man von der Descendenz-Theorie
so viel oder so wenig gelten lassen wie man will, so scheinen
mir doch genügende Anhaltspunkte gewonnen, um wenigstens
die Tendenz zu rechtfertigen dem Zusammenhang des
Menschen mit der Tierwelt im Sinne einor größeren Einheit-
Kant und der EadämoniimuB. 476
lichkeit tiaehzuforscheij. Eine tällg^meine Vermutung spricht
für dieselbe und spricht daher auch fär die Wahrscheinlichkeit
der Gültigkeit des eudämonistischen Grundg^etzes auch für den
Menschen. Wenn man freilich aus mfar unverständlichen Grün*
den die Gültigkeit dieses Gesetzes selbst fQr das Tier in Abrede
stellt (p. 282), so erleidet die Frage eine Verschiebung, der
Streitpunkt ist an eine ganz andere Stelle gerückt. Im übrigen
widersteht mir und widerstehe ich der rohen Anwendung
sogenannt darwinistischer Theorien auf das ethische Gebiet
so sehr, dass ich noch in meinem »Optimismus als Welt-
anschauung« (p. 361 (»die stetig vorschreitende Emancipation
von der Lebensr^el der Bestie« (mit einem Andruck von
G. Weiß) als die Aufgabe und Bedingung der menschheit-
lichen Entwickelung anerkannt habe. —
Die beiläufige Erwähnung eines Epikur angehörigen Aus-
spruchs, von dem ich sage, dass er im Eudämonismus als
Naturgesetz angeschaut wh'd, zieht mir die Bemerkung zu,
dass man auf diese Weise allerdings im Handumdrehen aus
jedem fliegenden Wort Naturgesetze machen könne. Ja,
citire ich den Ausspruch Epikurs denn als Fundament?
Gebe ich weiter keine Begründung, keine wissenschaftliche,
von Epikur unabhängige Deduction des eudämonistischen
Hauptlehrsatzes? Zwei Seiten später (286) greift mich mein
Gegner ja selbst wegen eben dieser Deduction an, insofern
ihr eine mangelhafte Theorie der GefQhle zu Grunde liege.
Also ist sie doch wenigstens vorhanden — um so unverständ-
licher erscheint mir dann aber, was mir in Betreff des Citats
aus Epikur Schuld gegeben wird. — Femer wirft mir Prof.
Steinthal vor, dass ich Kant statt ihn zu ergänzen widerlegen
wolle und das mit der Behauptung thue, dass bei ihm die
Unmoralität des Menschen unbegreiflich werde, was Kant
doch schon selbst zugestanden habe. Ich conslatire nach
Steinthal also nur eine Lücke und behaupte dann das gerade
Gegenteil. Das sei eben so leicht, als es sicher in Irrtümer
führe. Diese ganze Anschuldigung trifft mich meines Er-
achtens mit denkbar größtem Unrecht. Meine angebliche
Widerlegung Kants beruht doch darin, dass ich durch eine
476 Julius Duboc, Kant und der Eud&moiiisiiius.
genaue psycholc^fische Analyse des Gewissensvorganges zu
zeigen mich bemühe, daß dasjenige, was bisher außer allem
Zusammenhangs ja in directem Widerspruch mit der eudä-
monistischen Anschauung zu stehen schien, so dass die salto
mortale Annahme einer diese umstoßenden freien Willkür
im Eant'schen Sinne unausweichlich schien, sehr wohl mit
der eudämonistischen Anschauung, für die ich aus allge-
meinen, in meiner Abhandlung erörterten Gründen eintrete^
in Einklang zu setzen ist. Da mir die älteren Eudän^onisten
hierin nicht genug thun, namentlich den Eant'schen rocher
de bronce des Gewissens nicht zu bewältigen vermochten, so
dass im G^enteil Kant in meinem Augen ihnen gegenüber
im Rechte bleibt, so verstärke ich ihre Argumente. Ich er-
gänze sie, da ich von meinem Standpunkt aus Kant nicht
ergänzen kann, u. A. durch eine Vertiefung des ethischen
Momentes des Eudämonismus, die mir sehr wesentlicher
Natur zu sein scheint, da sie den Nachweis enthält, dass
der Gewissenhafte das Gesetz alles Seins, das Seins -Gesetz
als sein Gesetz ergriffen hat. Will man darin aber auch
keine Bedeutsamkeit anerkennen, so wird man doch zuge-
stehen müssen, dass hierin mehr enthalten ist als die bloße
Behauptung des Gegenteils einer von Kant bereits zugestan-
denen Lücke.
Hiermit schließe ich und will nur noch die Bemerkung
hinzufugen, dass sowenig ich von meinem Standpunkt aus
den auf S. 288 aufgestellten Thesen zuzustimmen vermag, ich
doch den Eudämonismus, wie ich ihn verstehe, nicht hin-
länglich als pythagoreischen Lehrsatz betrachte, um der Ethik
von Prof. Steinthal, welche die genauere Durchführung jener
Sätze bringen soll, nicht s. Z. die volle Aufmerksamkeit, die
ihr gewiss gebührt, zuzuwenden.
Dresden. Julius Duboc.
4
f% ^^ 1 50 Mo in Library —
OANPERIODI^ ^
1 DAY /^'y^J
i
rTstr^e
2 HOUR books may not be reneweq uy ^ r
hilF AS STAMPED BEIOW
y^lVERSITY OF CALIFORNIA, BERKEIEY
FORMNO. D017A, 15m,6'76 BERKELEY. CA 94720 ^^
■ *
>
■H!lf!|