Skip to main content

Full text of "Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart; acht Vorträge"

See other formats


0 


Presented  to  the 
LIBRARY  of  the 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

by 

PROFESSOR  R.   ?•  McRAE 


T) 


o| 


^^-'^^ 


ZUR  EINFÜHRUNG 

IN   DIE  PHILOSOPHIE 

DER  GEGENWART 


ACHT  VORTRÄGE  VON 


ALOIS  RIEHL 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 

1903 


Druck  von  Theodor  Hofmann  in  Gera. 


DEM  ANDENKEN  AN 
MEINE  SCHWIEGERELTERN 

ALEXANDER  UND  SOFIE 
REYER 


;x.  -^ 


VORWORT. 


Von  den  üblichen  Einleitungen  in  die  Philosophie 
unterscheidet  sich  die  vorliegende  Schrift  durch  ihre 
Form.  Sie  ist  aus  freien  Vorträgen  entstanden,  die  der 
Verfasser  im  Herbst  1900  in  Hamburg  gehalten  hat, 
und  sucht,  wo  der  Gegenstand  es  gestattete,  den  Ton 
der  Rede  festzuhalten.  Der  Verfasser  denkt  sich  auch 
den  Leser  als  Hörer,  seine  Vorträge  sollen  mehr  an- 
regen als  belehren;  sie  sollen  der  Philosophie  unter 
den  wissenschaftlich  Gebildeten  neue  Freunde  gewinnen 
und  zum  Verständnis  der  philosophischen  Bestrebungen 
der  Gegenwart  beitragen.  Der  Weg  zu  ihrem  Ver- 
ständnis führt  durch  die  Geschichte.  Denn  die  Philo- 
sophie ist  ihrem  Wesen  nach  überall  eine  und  dieselbe, 
wie  der  menschliche  Geist,  aus  dem  sie  entspringt,  alle- 
zeit einer  und  derselbe  ist.  Die  großen  Gestalten  der 
Vergangenheit,  Systeme  und  Persönlichkeiten,  waren  da- 
her vorzuführen ;  der  Werdegang  der  Philosophie  mußte 
von  ihrer  Entstehung  bis  zu  ihrer  Gegenwart  durch  die 
entscheidenden  Wendepunkte  hindurch  verfolgt  werden. 

Bei  der  Darstellung  von  Robert  Mayers  philo- 
sophischer Bedeutung  (V.  Vortrag)  konnte  sich  der  Ver- 
fasser auf  seine  frühere  Veröffentlichung  über  „die  Ent- 
deckung und  den  Beweis  des  Energieprinzip  es"  stützen, 
und  in  den  Abschnitten  über  Nietzsche  (VII.  und 
VIII.  Vortrag)  mußte  er  sich  selber  wiederholen,  da  die 
inzwischen  erschienenen  Fragmente  des  Hauptwerkes: 
„der  Wille  zur  Macht"  an  seiner  Gesamtauffassung 
Nietzsches  nichts  geändert  haben. 

Halle,  im  November  1902. 

Der  Verfasser. 


INHALTS-ÜBERSICHT. 

Seite 

ERSTER  VORTRAG. 
Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  —  Die  Philosophie  im 

Altertume i 

ZWEITER  VORTRAG. 
Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  ■ —  Ihr  Verhältnis   zu  den 

exakten  Wissenschaften 25 

DRITTER  VORTRAG. 
Die  kritische  Philosophie 52 

VIERTER  VORTRAG. 
Die  Grundlagen  der  Erkenntnis 86 

FÜNFTER  VORTRAG. 
Der  naturwissenschaftliche  und  der  philosophische  Monismus    .    128 

SECHSTER  VORTRAG. 
Probleme  der  Lebensanschauung 169 

SIEBENTER  VORTRAG. 
Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus  .    .   200 

ACHTER  VORTRAG. 
Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie 236 


Berichtigungen. 
Es  ist  zu  lesen: 

S.  16,  Z.  9  V.  o.  unsichtbar  (statt  unscheinbar) 

S.  64,  Z.   1 1  und  13  V.  u.  es  (statt  er) 

S.   105,  Z.   16  V.  u.  individuellen 

S.  107,  Z.  II  V.  u.  das  Gegebensein 

S.  171,  Z.  2  V.  u.  den  Gesichtspunkt 


ERSTER  VORTRAG. 


WESEN  UND  ENTWICKLUNG  DER  PHILOSOPHIE.  — 
DIE  PHILOSOPHIE  IM  ALTERTUME. 

Wer  sich  etwa  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts die  Aufgabe  gestellt  hätte,  öffentlich  über  Philo- 
sophie zu  reden,  würde  mit  seinem  Vorhaben  gewiß 
gescheitert  sein.  Auch  unter  den  Höchstgebildeten 
seiner  Zeitgenossen  würde  er  die  Hörer  für  seine  Rede 
nicht  gefunden  und  sich  überdies  dem  Verdachte  aus- 
gesetzt haben,  im  Zeitalter  der  Naturwissenschaften  etwas 
wie  Alchemie  anpreisen  zu  wollen. 

Aber  niemand  hätte  sich  damals  diese  Aufgabe  ge- 
stellt, niemand  sie  sich  stellen  können.  Nach  der  all- 
gemein herrschenden  Überzeugung  der  Wissenschaft  jener 
Zeit  hatte  sich  die  Philosophie  überlebt.  Sie  erschien 
wie  eine  ausgestorbene  Lebeform,  die  einer  früheren 
Epoche  der  geistigen  Entwicklung  angehörte,  und  höch- 
stens als  Sache  bloßer  Gelehrsamkeit,  als  Angelegenheit 
historischer  Erinnerung  und  Forschung  ließ  man  sie 
gelten.  Damals  auch  konnte  das  Wort  fallen:  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  sei  eben  selbst  die  Wissenschaft 
der  Philosophie,  —  ein  Wort,  das  wohl  jener  augen- 
blicklichen Lage  der  Philosophie  angemessen  war,  ihr 
aber  im  Grunde  Leben  und  Zukunft  abspricht. 

Die  Beschäftigung  mit  den  allgemeinen  Fragen  der 
Erkenntnis  und  Weltanschauung  galt  nicht  mehr  für 
wissenschaftlich  vollwertig,  und  jeder  Spezialist  in  einem 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  I 


2  Erster  Vortrag. 

Zweige  oder  Zweiglein  der  exakten  Forschung,  der 
Philologie  und  Geschichte  glaubte  mit  Geringschätzung 
auf  die  Wissenschaft  Piatos  und  Kants  blicken  zu  dürfen. 
Umsonst,  daß  aus  der  Mitte  der  Naturforschung  selbst 
vereinzelte  Stimmen  laut  wurden,  welche  vor  der  Ver- 
wechslung der  Philosophie  mit  den  damals  jüngsten 
Systemen  metaphysischer  Spekulation  warnten  und  ver- 
langten, man  solle  über  der  Zurückweisung  der  unbe- 
rechtigten Ansprüche  der  Philosophie  nicht  auch  ihre 
berechtigten  verkennen.  Sie  blieben  verkannt,  nicht  zum 
Heile  der  Wissenschaft  selbst.  Diese,  aus  Furcht,  sich 
von  neuem  in  naturphilosophische  Abenteuer  verstrickt 
zu  sehen,  verbot  sich  das  Denken.  Es  gibt  dafür  ein 
klassisches  Beispiel,  oder,  wie  ein  Mediziner  sagen 
würde,  einen  „schönen  Fall".  Robert  Mayer,  der  erste 
Entdecker  des  Satzes  der  Erhaltung  der  Energie,  — 
der  Kraft,  wie  man  damals  sagte,  wurde  des  Liebäugeins 
mit  der  Metaphysik  beschuldigt,  bloß  aus  dem  Grunde, 
weil  er  sich  für  den  Beweis  seines  Satzes  außer  auf 
die  Erfahrung  und  das  Experiment  auch  auf  die  Denk- 
gesetze berief. 

Zwar,  man  hatte  eine  Philosophie,  redete  aber  von 
ihr  nicht  als  einer  solchen,  denn  man  hielt  sie  gar  nicht 
für  Philosophie.  Und  doch  war  jene  dualistische,  zu 
deutsch  zwiespältige  Lehre  von  „Stoff  und  Kraft",  als 
den  Wirklichkeiten  an  sich,  so  gut  Metaphysik,  vielmehr 
sie  war  schlechtere  Metaphysik  als  irgend  eine  von  der 
philosophischen  Spekulation  zu  einem  Systeme  ausge- 
sponnene. 

Seither  hat  sich  die  Lage  völlig  geändert.  In  weiten 
Kreisen  ist  wieder  die  Teilnahme  und  das  Verständnis 
für  philosophische  Fragen  und  Untersuchungen  erwacht, 
nicht  zuletzt  im  Kreise  der  Naturwissenschaft  selbst. 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  « 

Was  noch  kurz  zuvor  unerhört  gewesen  wäre,  ließ 
sich  jetzt  vernehmen:  ein  hervorragender  Physiologe 
redete  von  „Grenzen  des  Naturerkennens"  und  sogar 
das  verpönte  und  in  der  Tat  leicht  mißzuverstehende 
Wort  a metaphysisch*  taucht  in  dem  Werke  eines  Phy- 
sikers auf.  Heinrich  Hertz,  dem  wir  die  experimentelle 
Begründung  der  elektromagnetischen  Lichttheorie,  den 
Nachweis  der  Gleichheit  der  elektrischen  Strahlen  und 
der  Lichtwellen  verdanken,  äußert  in  seiner  Mechanik: 
„kein  Bedenken,  welches  überhaupt  Eindruck  auf  unseren 
Geist  macht,  kann  dadurch  erledigt  werden,  daß  es  als 
metaphysich  bezeichnet  wird;  jeder  denkende  Geist  hat 
als  solcher  Bedürfnisse,  welche  der  Naturforscher  meta- 
physisch zu  nennen  gewohnt  ist." 

Im  Fortschritt  des  Naturerkennens  sind  von  selbst 
auch  die  alten  Fragen  der  Philosophie,  die  höchsten 
und  umfassendsten  Fragen  des  menschlichen  Denkens, 
wieder  in  Sicht  gekommen  und  fordern  zu  erneuter 
Untersuchung  heraus.  Und  so  mußte  es  sein.  Je  mehr 
die  wissenschaftliche  Erkenntnis,  gleichviel  von  welchem 
Gebiete  aus,  ihrem  Ziele  sich  nähert,  in  eben  dem  Maße 
wird  sie  philosophisch.  Ein  Zeitalter  der  Wissenschaft, 
das  mit  dem  Prinzip  der  Unzerstörlichkeit  der  Energie 
ein  sämtliche  Vorgänge  in  der  äußeren  Natur  beherr- 
schendes und  verbindendes  Gesetz  entdeckt  und  mit  der 
Lehre  der  Abstammung  und  Entwicklung  der  Arten  die 
philosophische  Idee  der  Einheit  des  organischen  Lebens 
in  die  biologische  Wissenschaft  hineingetragen  hat,  ein 
solches  Zeitalter  der  Synthese  ist,  man  mag  dies  Wort 
haben,  oder  nicht,  ein  philosophisches  Zeitalter.  Wissen- 
schaft und  Philosophie  sind  heute  nicht  mehr  zu  trennen. 

Die  Bewegung  der  Gegenwart  zur  Philosophie  zu- 
rück hat  noch  eine  andere  Quelle.    Lange  Zeit  hat  man 


A  Erster  Vortrag. 

sich  an  den  erstaunlichen  Erfolgen  der  Naturwissenschaften 
begeistert,  vielleicht  dürfen  wir  sagen  berauscht.  Die 
technischen  Erfindungen,  ein  Ruhmestitel  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  haben  das  materielle  Leben  umgestaltet, 
—  das  geistige  in  ähnlicher  Weise  umzugestalten  und 
weiter  zu  entwickeln  vermochten  sie  nicht.  Immer  deut- 
licher empfinden  wir  vielmehr  die  Lücke,  die  durch  An- 
häufung von  Reichtum  und  Macht  nicht  auszufüllen  ist; 
zum  Beweis,  daß  alle  äußeren  Mittel  der  Civilisation 
nicht  ausreichend  sind,  wahre  Kultur  zu  schaffen  und  den 
Menschen  seiner  ganzen  Bestimmung  näher  zu  führen. 
Aus  der  großen  Zeit  des  Krieges,  der  uns  die  Ein- 
heit des  Vaterlandes  brachte,  ist  ein  Geschlecht  hervor- 
gegangen, gährend  wie  es  die  Art  der  Jugend  ist  und 
nach  Neuem  verlangend.  Im  Drang  nach  anderen  Zielen, 
nach  einem  neuen  geistigen  Gehalt  für  sein  Dasein  sah 
es  sich  vor  die  wesentlichen  Fragen  des  Lebens  gestellt, 
mit  denen  unter  anderen,  mit  denen  vor  allem  die  Philo- 
sophie sich  beschäftigt.  Daher  die  plötzliche  und  aus- 
gebreitete Erregung,  die  von  den  Schriften  Fr.  Nietzsches 
ausging.  Wie  ein  Gewittersturm  brausten  die  Aphorismen 
des  tragischen  Denkers  aus  dem  letzten  Drittel  des  ver- 
gangenen Jahrhunderts  über  die  Zeit  hinweg,  und  rüttelten 
an  den  Grundfesten  unserer  ganzen  bisherigen  Kultur. 
Sie  sollten  aber  nicht  bloß  zerstören  und  die  alten 
Werte  zerbrechen,  sondern  neue  Werte  schaffen  und 
eben  in  dem,  was  Nietzsche  verkündete,  in  den  Idealen, 
wahren  oder  falschen,  die  er  aufrichtete,  lag  das  Ge- 
heimnis seines  Erfolges.  Nietzsche  glaubte  der  Seher 
einer  übermenschlichen  Zukunft  des  Menschen  zu  sein; 
in  Wahrheit  war  er  „die  Stimme  eines  Rufenden  in 
der  Wüste",  und  die  Sehnsucht  der  Zeit  nach  Kultur- 
emeuerung  horchte  auf  diese  Stimme. 


Wesen  und  Entwicklung-  der  Philosophie.  c 

In  diesem,  den  philosophischen  Bestrebungen  von 
allen  Seiten  günstigen  Augenblicke,  in  einer  Zeit,  nach 
philosophischer  Aufklärung  suchend  und  fragend  wie 
keine,  darf  ich  zu  Ihnen  reden.  Ich  empfinde  ganz  die 
Gunst  dieser  Lage,  aber  auch  die  mit  ihr  verbundene 
Verantwortung. 

Die  Zeit  ist  eine  andere  geworden,  und  auch  die 
Philosophie  ist  eine  andere  geworden.  Sie  hat  umge- 
lernt, oder  wird,  wo  sie  es  noch  nicht  getan,  umlernen 
müssen,  Sie  hat  für  immer  dem  Wahne  zu  entsagen, 
als  könne  es  ihre  Aufgabe  sein,  ,  Welträtsel "  zu  lösen 
und  dies  noch  dazu  auf  dem  mühelosen  Wege  der  Phan- 
tasie. Statt  Erkenntnissen,  die  den  Geist  nähren  und 
unseren  Willen  stählen,  darf  sie  nicht  wieder  nur  Opiate 
darbieten  und  den  Verstand  mit  der  Einbildung  einer 
überschwänglichen  Einsicht  betäuben.  Mit  einem  Worte, 
sie  hat  es  aufzugeben,  metaphysisch  zu  sein  und  hinter 
den  Dingen  Dinge  zu  suchen.  Um  aber  der  Verlockung 
dazu  künftighin  widerstehen  zu  können,  mufs  sie  sich 
vor  allem  ein  deutliches  Bewußtsein  von  ihrer  wahren 
Bestimmung  bilden.  Das  erste  philosophische  Problem 
ist  heute  die  Philosophie  selbst  als  Problem.  Was  will 
und  soll,  —  was  war  und  ist  sie? 

Um  die  Beantwortung  dieser  Fragen  dürfen  wir  uns 
nicht  an  irgend  welche  Äußerung  irgend  eines  Philo- 
sophen wenden;  wir  würden  so  nur  eine  vielstimmige 
Auskunft  erhalten,  deren  Zusammenklang  zu  vernehmen, 
den  Begriff  der  Philosophie  schon  voraussetzte.  Sondern, 
—  es  ist  augenscheinlich,  welchen  Weg  wir  zu  nehmen 
haben:  nur  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  läßt  sich 
erkennen,  was  sie  selbst  sei  und  bedeute.  Hier  liegen 
die  großen  Aufgaben  und  Verdienste  des  Historikers 
der  Philosophie.    Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  die 


6  Erster  Vortrag.  ^ 

Geschichte  der  Entwicklung  und  der  Verwandlung  des 
Begriffs  der  Philosophie. 

Ich  versuche  daher,  das  Verständnis  für  die  Auf- 
gaben der  Philosophie  durch  eine  im  wesentlichen  ge- 
schichtliche Betrachtung  zu  vermitteln;  um  aber  selbst 
verstanden  werden  zu  können,  muß  ich  die  hauptsäch- 
lichen Ergebnisse  dieser  Betrachtung  vorausschicken, 
nicht  als  Sätze,  woran  Sie  glauben  sollen,  sondern 
als  Zielpunkte,  wohin  meine  Untersuchung  Sie  führen 
möchte. 

Name  und  Sache  der  Philosophie  sind,  schon  das 
Wort  verrät  es,  eine  Schöpfung  des  griechischen  Geistes, 
Es  gab  ursprünglich  nur  eine  griechische  Philosophie, 
das  Werk  eines  noch  mehr  künstlerisch  als  wissenschaft- 
lich veranlagten  Volkes.  Darauf  müßte  sich  berufen, 
wer  die  Philosophie  überhaupt  für  etwas  rein  Historisches 
halten  wollte,  für  etwas,  das  abgetan  ist.  Denn  jene 
Philosophie,  die  Philosophie  „an  sich"  ist  wirklich  zur 
Geschichte  geworden,  und  wir  können  sie  daher  als  ein 
Ganzes  überschauen,  als  abgeschlossenen  Tatbestand 
untersuchen  und  zum  Verständnis  bringen.  Unsere  all- 
gemeine Frage  nach  dem  Wesen  der  Philosophie  hat 
sich  damit  zunächst  in  die  besondere  nach  dem  Wesen 
der  griechischen  Philosophie  verwandelt.  Was  war, 
so  fragen  wir  jetzt,  was  bedeutete  die  Philosophie  in 
dem  klassischen  Zeitalter  ihrer  Entstehung,  ihrer  ersten 
Blüte  und  Frucht. 

Die  Antwort,  die  die  Geschichte  auf  diese  Frage 
erteilt,  ist  so  einfach  und  bestimmt,  daß  es  unmöglich 
erscheint,  sie  nicht  richtig  zu  vernehmen.  Philosophie, 
lautet  ihre  Antwort,  war  im  Altertume  eines  und  das- 
selbe wie  Wissenschaft.  Es  gab  im  Altertume  bis 
zur  alexandrinischen  Zeit  keine  Wissenschaft  außer  oder 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  n 

neben  der  Philosophie.  Die  Philosophie  ist  der  gemein- 
schaftliche Urgrund  und  Mutterschooß,  woraus  im  Laufe 
der  Zeit  alle  Einzelwissenschaften  hervorgegangen  sind; 
und  vielleicht  ist  sie  auch  das  höchste  Ziel,  worauf  diese 
hinweisen,  zu  dem  sie  alle  bei  ihrer  Vollendung  wieder 
zurückfuhren;  vielleicht  ist  sie  das  antecipierte  System 
der  Wissenschaften. 

Daß  es  im  Altertume  aufser  der  Philosophie  keine 
Wissenschaft  gab,  ist  aus  dem  Verfahren  und  aus  dem 
Zeugnis  der  alten  Denker  leicht  zu  erweisen.  Nicht 
einmal  die  Mathematik  galt  als  selbständige  Disziplin; 
Plato  machte  sie  zur  Vorstufe,  ja  zu  einem  Teile  der 
Philosophie.  Und  an  der  nämlichen  Gleichsetzung  von 
Philosophie  und  Wissenschaft  hielt  auch  der  Denker  fest, 
in  dessen  Werken  sich,  vermöge  des  Reichtums  seiner 
empirischen  Kenntnisse,  die  Grundwissenschaft  oder  Philo- 
sophie zuerst  in  einzelne  Disziplinen  zu  gliedern  begann. 
Aristoteles  hat  unter  Philosophie  nie  etwas  anderes  ver- 
standen, als  was  wir  unter  Wissenschaft  verstehen.  Er 
bediente  sich  sogar  des  Ausdruckes  Philosophie  nicht 
selten  in  der  Mehrzahl;  „Philosophien",  das  bedeutete  für 
ihn  so  viel  als  Wissenschaften.  Die  antike  Philosophie, 
so  weit  sie  rein  theoretische  Zwecke  verfolgte,  ist  die 
antike  Wissenschaft;  sie  ist  die  Wissenschaft  selbst  in 
ihrem  griechischen  Zeitalter.  Also,  könnten  wir  weiter 
folgern,  wird  auch  die  neuere  Philosophie  nicht  anderswo 
zu  suchen  sein,  als  in  der  neueren  Wissenschaft,  diese 
als  Ganzes  genommen,  und  die  für  das  Altertum  giltige 
Gleichung  von  Philosophie  und  Wissenschaft  muß  auch 
für  unsere  Zeit  giltig  geblieben  sein.  Und  so  hätte  sich 
einfach  die  antike  Philosophie  in  die  moderne  Wissen- 
schaft umgewandelt,  wie  sich  eine  ältere  weniger  ent- 
wickelte Form  in  eine  jüngere,  reicher  entwickelte  ver- 


8  Erster  Vortrag. 

wandelt.  Wir  empfinden  sogleich,  daß  damit  der  Philo- 
sophie die  Existenzfrage  gestellt  ist. 

Niemals  aber  hat  es  der  Philosophie  genügt,  blose 
Wissenschaft  zu  sein.  Nicht  nur  der  Kosmos  —  so,  von 
der  schönen  in  ihr  waltenden  Ordnung  nannte  der 
ästhetische  Sinn  der  Griechen  die  Welt,  —  nicht  der  sicht- 
bare Kosmos  allein  in  dem  Schmuck  seiner  Erscheinungen, 
auch  das  Innere  des  Geistes  war  schon  im  Altertume 
Gegenstand  der  philosophischen  Betrachtung.  „Im  Inneren 
ist  ein  Universum  auch"  und  dieses  Universum  hat  zuerst 
Sokrates  der  Philosophie  erschlossen.  Ein  neuer  Begriff 
der  Philosophie  war  damit  gefunden,  ihr  platonischer 
Begriff,  wie  wir  ihn  nach  dem  großen  Nachfolger  des 
Sokrates  nennen  wollen,  die  Philosophie  der  geistigen 
Dinge.  Diese  würde  ihr  Wesen  mißverstehen  und  sich 
um  ihre  eigentiiche  Wirkung  bringen,  wollte  sie  sich 
selbst  wieder  als  Wissenschaft  ausgeben. 

Man  kann  den  menschlichen  Geist  nicht  wie  ein 
beliebiges  anderes  Objekt  betrachten.  Wenn  die  Psy- 
chologie in  Verbindung  mit  der  Physiologie  seine  Fähig- 
keiten und  die  Bedingungen  ihrer  Äußerung  analysiert 
und  die  Gesetze  seiner  Entwicklung,  der  individuellen 
wie  der  sozialen,  erforscht,  so  stellt  sie  ihm  gegenüber 
lediglich  theoretische  Fragen.  Diesen  aber  ist  es  eigen- 
tümlich, daß  sie  gerade  das  Wesentliche  des  Geistes 
nicht  berühren.  Die  Wissenschaft  als  solche  kennt  den 
Begriff  des  Wertes  nicht.  Sie  erkennt,  aber  sie  be- 
urteilt nicht.  Wie  für  den  Pathologen  Gesundheit  und 
Krankheit  physiologische  Vorgänge  von  der  gleichen 
Gesetzlichkeit  sind,  so  unterscheiden  sich  wahre  oder 
falsche  Urteile,  gute  und  schlechte  Handlungen,  als  Ob- 
jekte einer  rein  psychologischen  Untersuchung,  nur  in 
ihren  Bedingungen  und  ihren  Folgen.    Es  gibt  aber  noch 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  q 

einen  anderen  als  den  rein  wissenschaftlichen  Blick  auf 
das  geistige  Leben,  und  erst  dieser  zweite  Blick,  der  die 
Werte  entdeckt,  dringt  in  die  eigentliche  Welt  des  Geistes 
ein,  Werte  entdecken  heißt  aber  zugleich  Werte  er- 
leben, Werte  in  sich  neu  erschaffen.  Und  darum  ist 
die  Philosophie,  die  von  den  Werten  ausgeht,  nicht  reine 
Wissenschaft;  sie  ist,  wenn  wir  ein  Urteil  aussprechen 
wollen,  mehr  als  Wissenschaft  sein  kann,  oder,  um  es 
ohne  Urteil  zu  sagen,  etwas  anderes  als  Wissenschaft: 
die  Kunst  der  Geistesführung.  Als  eine  „Form  des 
Lebens*  bezeichnete  Plato  die  Philosophie. 

Wir  verstehen  nun,  warum  in  dem  Werke  der  Philo- 
sophie die  Persönlichkeit  des  Philosophen  von  so  ent- 
scheidender Bedeutung  ist  und  so  lebendig  hervortritt, 
gleichsam  aus  dem  Mittelpunkt  der  Lehre  heraus  ge- 
staltend und  aus  ihr  redend.  Zur  Geistesführung  gehören 
führende  Geister,  die  den  Weg  vorangehen,  den  sie 
weisen.  Wohl  ist  auch  in  dem  Werke  der  Wissenschaft 
der  persönliche  Anteil  des  Forschers,  des  großen  Forschers, 
nicht  gering  zu  achten;  er  tritt  aber  doch  völlig  hinter 
die  Sache  zurück;  und  wenn  wir  von  Galileis  Fallge- 
setzen,  von  Newtons  Gravitationsgesetz  reden  und  Natur- 
gesetze und  Theorien  über  die  Natur  nach  den  Namen 
ihrer  Entdecker  und  Urheber  benennen,  so  wollen  wir 
mehr  uns  dankbar  gegenwärtig  halten,  wer  zuerst  den 
klaren  und  tiefen,  den  poetischen  Blick  in  die  Natur 
getan,  der  erforderlich  war,  um  aus  ihr  ein  neues  Ge- 
setz herauszuschauen,  als  daß  wir  dabei  an  eine  persön- 
liche Fortwirkung  jener  Forscher  dächten.  In  jeder 
Philosophie  dagegen,  die  noch  etwas  anderes  als  Wissen- 
schaft ist,  lebt  ihr  Schöpfer  in  gewisser  Weise  fort.  Wer 
nur  den  wissenschaftlichen  Begriff  der  Philosophie  kennt, 
kennt  nicht   ihr   ganzes  Wesen   und   mag  daher  leicht 


10  Erster  Vortrag. 

dazu  kommen,  sie  zu  unterschätzen  und  in  ihrer  Ge- 
schichte nur  eine  Reihe  vergeblicher  Versuche  zu  sehen. 
Er  vergißt,  daß  die  philosophischen  Persönlichkeiten 
nicht  aus  der  Geschichte  zu  streichen  sind,  jene  mächtigen 
Persönlichkeiten,  deren  Wirkung  mit  dem  Einfluß  auf 
ihre  Zeit  nicht  erloschen  ist,  wie  Sokrates  und  Plato  im 
Altertume  und  in  der  neueren  Zeit  Kant  mit  seiner 
Lehre  von  der  Autonomie  des  Willens,  der  Freiheit 
und  Selbstgesetzgebung  der  Vernunft,  dieser  wahren 
„Herrenmoral".  In  der  Tat  ist  die  Persönlichkeit  die 
eigentlich  schöpferische  Macht  in  der  Philosophie,  und 
es  ist  dies  jedesmal  eine  Persönlichkeit  von  allgemein- 
menschlicher Bedeutung,  erfüllt  von  allgemein-mensch- 
lichen Zwecken;  sie  kann  daher  auch  allgemein  ver- 
standen werden  und  so  die  Führung  der  Geister  an 
sich  nehmen. 

Zwei  Begriffe  also  sind  von  Alters  her,  ohne  daß 
man  dies  deutlich  erkannt  hat,  mit  dem  Namen  Philo- 
sophie verbunden  gewesen  und  es  entsteht  die  Aufgabe, 
die  Einheit  ihrer  Verbindung  zu  zeigen.  Für's  erste 
jedoch  müssen  wir  die  wissenschaftliche  Aufgabe  der 
Philosophie  für  sich  und  ohne  Beziehung  auf  ihren  nicht- 
wissenschaftlichen Beruf  betrachten.  Denn  so  bringt  es 
die  Natur  eines  jeden  Vortrages  mit  sich,  daß  dieser 
trennen  mufs,  was  in  der  Wirklichkeit  des  Lebens  und 
der  Geschichte  verbunden  ist,  und  nur  im  Nacheinander 
vorführen  kann,  was  ineinander  wirkt. 

Unterschätzen  wir  die  alte  Wissenschaft,  die  alte 
Philosophie  nicht.  Es  wäre  ungerecht,  ihr  Werk  nach 
dem  Maße  der  erweiterten,  und  um  so  vieles  genaueren 
Kenntnisse  zu  beurteilen,  die  wir  hauptsächlich  der  Ver- 
besserung der  wissenschaftlichen  Methoden  verdanken. 
Wohl  mag  der  Satz,  mit  welchem  jener  jonische  Denker 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  1 1 

über  die  Natur,  der  Ahnherr  unserer  Naturforscher,  die 
Philosophie  begonnen  hat,  auf  den  ersten  Blick  wie  ein 
ungereimter  Einfall  erscheinen,  oder  doch  als  die  Äußerung 
eines  noch  unbeholfenen  Denkens,  bei  dem  es  sich  nicht 
lohne  zu  verweilen.  Geschichtlich  erwogen  aber  bedeutet 
der  Satz  des  Thaies  von  der  Entstehung  des  All  aus  dem 
Wasser  nichts  Geringeres  als  den  vollzogenen  Bruch  mit 
der  vorangegangenen,  rein  mythologischen  und  alle- 
gorischen Naturbetrachtung,  nichts  Geringeres  also  als 
den  Beginn  eines  sich  auf  sich  selber  stellenden  Denkens. 
Der  Mensch  will  sich  nicht  länger  Geschichten  erzählen, 
wie  Götter  und  Welt  und  alle  Dinge  erzeugt  wurden. 
Theogonien  und  Kosmogonien  verschwinden  vom  Plan 
und  machen  der  Wissenschaft  Platz.  Statt  auf  einen 
von  der  Phantasie  ersonnenen  —  werden  die  Bildungen 
in  der  Natur  auf  einen  den  Sinnen  gegebenen  und  er- 
forschbaren Grund,  einen  Grundstoff,  zurückgeführt.  Der 
rein  theoretische  Trieb  des  Geistes  ist  erwacht.  Nicht 
um  eines  anderweitigen  Nutzens,  um  ihrer  selbst  willen, 
erklärt  Aristoteles^  suchten  Thaies  und  die  ihm  Folgen- 
den die  Wissenschaft.  Darum  sei  auch  diese  Wissen- 
schaft allein  unter  allen  frei  und  mit  Recht  möchte  man 
ihre  Erwerbung  für  übermenschlich  halten  und  sie  gött- 
lich nennen,  weil  sie  unnütz  ist. 

Wie  es  dem  Jugendalter  der  Wissenschaft  entsprach, 
erfaßte  Thaies  ihre  Aufgabe  noch  als  ein  ungeteiltes 
Ganzes.  Die  Notwendigkeit,  die  Gesamtaufgabe  der 
Forschung  in  einzelne  Fragen  zu  zerlegen,  jede  von 
diesen  für  sich  zu  bearbeiten  und  die  Ergebnisse  ihrer 
Bearbeitung  zu  verbinden,  konnte  erst  einer  viel  späteren 
Zeit  bewußt  werden.  Bei  seinem  ersten  Aufschwünge 
richtete  sich  das  Denken  sogleich  auf  das  Ganze  der 
Dinge,  das  Sein  und  das  All,  und:  —  alle  Dinge  sind  dem 


12  Erster  Vortrag. 

Ursprung  und  Grundstoffe  nach  Eins,  lautete  seine  erste, 
verheißungsvolle  Botschaft.  —  Dabei  ist  jedoch  ein 
Wesentliches  nicht  zu  übersehen.  Das  Problem,  von 
welchem  die  früheste  Wissenschaft  ausging,  war  dieser 
in  den  Mythen  des  vorwissenschaftlichen  Denkens  über- 
liefert; sie  nahm  es  aus  den  Fabeleien  darüber,  wer  das 
All  gemacht  habe:  Erebos,  des  Chaos  Sohn,  Zeus,  der 
sich  in  den  Eros  verwandelt,  die  Welt  zu  bilden,  oder 
Okeanos  und  Thetis,  die  „Eltern  des  Werdens".  Nicht 
also  das  Problem  als  solches,  die  Antwort,  die  Thaies 
auf  die  überlieferte  Frage  gab,  ist  das  Neue  und  Be- 
deutsame in  seiner  Anschauung.  Okeanos  und  Thetis 
wurden  der  Persönlichkeit  entkleidet;  Thaies  vertauschte 
das  Symbol  mit  der  Sache  und  damit  stellte  er  sich  an 
die  Spitze  der  Philosophen  und  Naturforscher,  während 
er,  wie  Nietzsche  bemerkte,  mit  der  Fragestellung  selbst 
noch  in  der  Gemeinschaft  mit  den  Mythologen  blieb. 
Daher  erweiterte  sich  ihm  seine  neue  Erkenntnis  gleich 
in  die  Gesamterkenntnis  der  Dinge,  und  die  Philo- 
sophie, die  am  Anfang  der  Wissenschaft  stand,  glaubte 
schon  am  Ende  derselben  zu  stehen. 

Alle  geschichtlichen  Anfänge  sind  anziehend  und 
reizvoll  gleich  den  Erinnerungen  aus  der  Kindheit  und 
selbst  das  Unzulängliche,  das  ihnen  anhaftet,  empfinden 
wir  mit  Rührung  und  Sympathie.  Auch  die  ersten 
Schritte  und  Fortschritte  des  philosophischen  Denkens 
gewinnen  für  uns  eine  ganz  andere  Bedeutung,  wenn 
wir  sie  eben  als  Anfänge  betrachten,  als  die  Anfänge 
der  heutigen  Wissenschaft.  Nicht  leicht  ist  es  dem 
Menschen  geworden,  sein  Denken  aus  der  ursprünglichen 
mythologischen  Hülle  zu  befreien;  immer  wieder  fallen 
die  alten  „Physiologen",  die  Vorgänger  unserer  Natur- 
forscher,   in    die    Sprache    des    Mythos     zurück.      So 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  i« 

gleich  der  gewaltigste  unter  ihnen,  der  durch  Ab- 
stammung und  Gesinnung  vornehme  Denker,  den  das 
Altertum  um  seiner  Gleichnisreden  und  Rätselsprüche 
willen  den  „Dunkeln"  nannte,  Heraklit  von  Ephesus. 

Was  er  erschaute,  ist  das  Gesetz  im  Werden,  die 
Notwendigkeit  und  das  Maß  im  Geschehen.  Mit  dem 
Blicke  seines  Geistes  erfaßte  Heraklit  durch  das  schein- 
bare Beharren  der  Dinge  hindurch  den  beständigen  Fluß 
des  Werdens:  „alles  fließt,  nichts  bleibt  stehen".  Zwar 
redete  Heraklit  auch  vom  Feuer,  durch  dessen  Wand- 
lungen das  Werden  sich  vollziehe,  aber  dieses  Feuer  ist 
selbst  wesentlich  Bewegung  und  Energie.  An  die  Stelle 
der  Beharrlichkeit  eines  Stoffes  tritt  die  Beharrlichkeit 
des  Gesetzes.  Das  Gesetz  ist  der  Logos,  das  „Wort, 
nach  dem  alles  geschieht,  das  allem  gemeinsam  ist": 
sein  Vollzug  ist  das  Recht,  „die  Dike,  der  die  Erinnyen 
als  Helferinnen  zur  Seite  stehen,  jede  Überschreitung 
der  Mafse  zu  richten".  Wir  verstehen  den  nicht- 
mythischen Sinn  dieser  mythischen  Rede.  Was  Heraklit 
mit  seinen  Aphorismen  über  das  Werden  und  dessen 
beständig  gleiche  Bahnen  meinte,  trifft  der  Sache  nach 
mit  dem,  was  Schopenhauer  lehrte,  zusammen:  „das 
Sein  der  Materie  ist  ihr  Wirken,  nur  als  wirkend  füllt 
sie  den  Raum,  füllt  sie  die  Zeit".  Es  trifft  auch  zu- 
sammen mit  einer  neuesten  Strömung  in  der  Physik, 
dem  Versuch,  die  Materie  in  eine  Verbindung  von 
Energieformen  aufzulösen.  Einer  der  denkendsten  Natur- 
forscher unserer  Zeit  hat  am  Abend  seines  Lebens  ein 
Wort  geäußert,  das  selbst  wie  ein  Heraklitisches  Rätsel 
lautet.  „Dauernde  Bewegungsformen  und  scheinbare 
Substanzen"  sollte  ein  Vortrag  heißen,  den  Helmholtz 
kurz  vor  seinem  Tode  angekündigt  hatte.  So  ist  es 
wirklich  nach  der  Anschauung  des  alten  jonischen  Natur- 


jj.  Erster  Vortrag. 

Philosophen:  der  Schein  beharrlicher  Dinge  entsteht  nur 
dadurch,  daß  einander  entgegenstrebende  Kräfte  sich 
vorübergehend  ins  Gleichgewicht  setzen;  verborgene  Be- 
wegungstendenzen werden  so  zu  scheinbaren  Substanzen. 
Das  Naturgesetz  ist  das  Weltgesetz.  Auch  die  Ge- 
setze der  menschlichen  Vereinigung,  die  ethisch-poli- 
tischen Gesetze  sind  nach  Heraklit  eine  Verzweigung 
des  allgemeinen  Naturgesetzes.  „Nähren  sich  doch  alle 
menschlichen  Gesetze  von  dem  einen  göttlichen."  Der 
Mensch  mit  seinem  Willen  und  den  Schöpfungen  seines 
Willens  in  Staat  und  Recht  unterbricht  nicht  die  Ver- 
kettung und  Notwendigkeit  des  Naturzusammenhanges; 
er  ist  mitsamt  seinem  Willen  in  diese  Verkettung  ein- 
geschlossen. —  Tiefsinnig  fürwahr  und  einheitlich  zu- 
gleich ist  diese  früheste  Erfassung  der  Naturgesetzlich- 
keit mit  ihren  beständig  gleichen  Maßen,  dem  „Logos" 
im  Werden. 

Und  nun  das  Historische,  das  Persönliche  in  der 
Philosophie  Heraklits.  Nur  ein  Grieche,  der  die  kultur- 
schaffende  Bedeutung  des  „Agon",  des  Wettkampfes 
lebendig  vor  Augen  hatte,  konnte  einen  Gedanken  wie 
diesen  finden:  Grund  aller  Dinge  ist  der  Streit  des  Ent- 
gegengesetzten; der  Krieg  ist  aller  Dinge  Vater  und 
König;  nur  ein  Grieche  diesen  Gedanken  zum  Aus- 
gangspunkte einer  Rechtfertigung  der  Weltordnung,  zur 
Grundlage  einer  „Kosmodicee",  machen.  Auch  wir  reden 
vom  „Kampf  ums  Dasein"  und  kennen  und  schätzen  die 
edlere  Form  des  Kampfes,  den  Wetteifer  um  das  Gute 
und  Hohe.  Aber,  der  Agon  als  Prinzip  der  Dinge,  als 
Grundform  des  Geschehens  —  das  ist  das  Geschicht- 
liche, das  national  Bedingte  bei  Heraklit  und  gehört  der 
Vergangenheit  an,  die  wir  begreifen  können,  nicht  dem 
Leben,  das  wir  mitleben. 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  ig 

Ich  wiederhole:  unterschätzen  wir  die  alte  Wissen- 
schaft oder  Philosophie  nicht.  —  Mit  Staunen  treffen 
wir  bei  Anaxagoras  auf  den  Satz:  „die  Gesamtheit  der 
Dinge  kann  nicht  vermehrt  oder  vermindert  werden, 
immer  ist  ihre  Größe  die  gleiche".  Die  Unveränder- 
lichkeit  des  Gegebenen  seiner  Größe  nach,  die  dieser 
Satz  behauptet,  gilt  uns  als  die  allgemeine  Prämisse,  als 
die  Gedankenform  für  das  umfassendste  Naturgesetz,  das 
Prinzip  der  Erhaltung  von  Materie  und  Energie.  Ein 
Wesentlicher  Teil  des  Prinzipes,  der  flir  den  vollständigen 
Beweis  desselben  nicht  zu  entbehren  ist,  war  also  schon 
den  Alten  bekannt.  Nach  dem  Zeugnis  des  Aristoteles 
teilten  die  Naturphilosophen  oder  „Physiologen"  der  vor- 
sokratischen  Zeit  die  Überzeugung,  „daß  nichts  aus 
nichts  entstehe,  nichts  in  nichts  vergehe",  wie  Demokrit 
den  Satz  des  Anaxagoras  ausdrückte.  Die  Naturforschung 
ferner  geht  an  die  Gegenstände  ihrer  Untersuchung 
mit  einer  Voraussetzung  heran,  die  durch  die  Erschei- 
nungen fortv/ährend  bestätigt  wird,  aber  durch  keine 
entgegenstehende  Tatsache  widerlegt  werden  könnte, 
weil  jeder  anscheinende  Widerspruch  gegen  sie  für  den 
Forscher  nur  ein  Antrieb,  ein  Stachel  mehr  wäre,  den 
Widerspruch  zu  heben.  Es  ist  dies  die  Voraussetzung 
oder  das  Gesetz  der  notwendigen  Verknüpfung  der  Ver- 
änderungen, das  uns  anweist,  Ursachen  in  der  Natur 
zu  suchen.  Der  Erste  aber,  so  viel  wir  wissen,  der 
dieses  Gesetz  mit  klaren  Worten  ausgesprochen  hat,  ist 
Demokrit:  „nichts  geschieht  von  ungefähr,  sondern  Alles 
aus  einem  Grunde  und  durch  Notwendigkeit"  Wie  die 
Voranstellung  des  Wortes  Grund  beweist,  bedeutet  hier 
Notwendigkeit  nicht  einen  den  Dingen  auferlegten 
Zwang;  es  bedeutet  im  Sinne  Demokrits,  der  auch  der 
Sinn   unserer  Naturwissenschaft  ist,  daß  das  Geschehen 


i6  Erster  Vortrag. 

gesetzlich  und  darum  begreiflich  ist,  weil  seine  Form 
der  Form  des  Denkens  entspricht.  Diese  geläutertste 
Idee  von  Notwendigkeit  tauchte  also  bereits  in  dem 
Bewußtsein  des  alten  Philosophen,  eines  Zeitgenossen 
des  Sokrates,  auf.  Von  Leukipp  übernahm  Demokrit 
eine  Hypothese  über  den  Aufbau  der  Materie,  die  auch 
uns  noch  für  die  beste  „Arbeitshypothese"  gilt,  das  beste, 
weil  anschaulichste  Modell,  die  Zusammenhänge  im  un- 
scheinbar Kleinen  für  den  Geist  sichtbar  und  für  die 
Mathematik  darstellbar  zu  machen:  die  Hypothese  der 
Atome.  Freilich  wußte  Demokrit  nicht,  was  auch 
mancher  Naturforscher  der  Gegenwart  noch  nicht  zu 
wissen  scheint,  daß  er  es  nur  mit  einer  Hypothese  zu 
tun  habe;  er  hielt  vielmehr  seine  Annahme  für  eine 
ausgemachte  Sache  und  das  Abbild  der  Dinge  selbst. 
Man  kann  kühn  behaupten,  wie  weit  das  Denken 
für  sich  allein  in  der  Erkenntnis  der  Dinge  reicht,  so 
weit  hat  das  Denken  der  Griechen  tatsächlich  gereicht, 
und  was  das  Denken  ohne  Hilfe  des  Experimentes  zu 
ergreifen,  was  es  aus  sich  selbst  zu  entwickeln  vermag, 
das  haben  schon  die  Griechen  ergriffen  und  aus  ihm 
entwickelt,  nämlich  die  Form  für  alle  Erfahrung,  wenn 
sie  es  auch  nicht  unter  diesem  Namen  kannten,  wenn 
sie  es  auch  in  seiner  wahren  Bedeutung  verkannten. 
Das  Denken  verwechselte  sich  noch  mit  den  Dingen, 
es  nahm  seine  Gesetze,  ohne  Einschränkung,  für  die 
Gesetze  der  Dinge  selbst;  es  war,  so  können  wir  dies 
mit  einem  Worte  sagen,  noch  nicht  kritisch  geworden, 
das  heißt,  es  hatte  sich  noch  nicht  auf  sich  selbst  be- 
sonnen und  gelernt,  sich  als  das  Instrument  der  Forschung 
von  dem  Inhalt  der  Forschung  zu  unterscheiden.  Aber,  es 
wäre  unbillig,  einem  so  altertümlichen,  das  ist  in  Wahrheit 
so  jugendlichen  Denken  daraus  einen  Vorwurf  zu  machen. 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  17 

Mit  der  Aufstellung  des  Rahmens  für  die  künftige, 
exakte  Naturerkenntnis,  mit  der  Entdeckung  der  Grund- 
begriffe für  diese  Erkenntnis,  ist  das  Werk  der  alten 
Philosophie,  soweit  sie  Wissenschaft  war,  im  wesent- 
lichen abgeschlossen.  Wohl  lagen  in  der  Methode  Piatos 
und  den  mathematischen  Tendenzen  seiner  Philosophie 
Keime  zu  einer  weiteren  Entwicklung  der  Wissenschaft 
vorgebildet;  Aristoteles  hat  sie  aber  nicht  zur  Entfaltung 
gebracht.  Seine  Naturphilosophie  steht  vielmehr,  dies 
dürfen  wir  mit  Sicherheit  sagen,  im  Prinzip  hinter  derjenigen 
Demokrits  und  Piatos  zurück.  Daß  damit  die  Wissen 
Schaft  auch  im  Altertum  nicht  erloschen  war,  ist  bekannt 
und  wird  jedem  zugerufen  durch  den  Namen  Archimedes. 
Dies  ist  aber  schon  Wissenschaft  in  unserm  Sinne  und  fällt 
überdies  aus  dem  Rahmen  der  alten  Philosophie  heraus. 

Durch  das  Verfahren  allein,  nicht  in  ihren  Gegen- 
ständen, unterscheiden  sich  alte  und  neue  Wissenschaft, 
oder,  was  für  uns  zunächst  dasselbe  ist,  alte  und  neue 
Philosophie.  Zwar  wurde  schon  im  Altertume  von  ärzt- 
licher Seite,  von  der  Schule  des  Hippokrates,  der  Ver- 
such gemacht,  der  Methode  der  Begriffe  eine  Methode 
der  Forschung  gegenüberzustellen,  welche  die  Begriffe 
aus  den  Erscheinungen  herleitet  und  durch  diese  beweist; 
dieser  Versuch  scheiterte  aber  an  der  besonderen  Aus- 
stattung des  griechischen  Geistes,  seiner  vorwiegend 
künstlerischen  Natur  und  Denkart. 

Der  griechische  Denker  überträgt  die  Ideen  des 
Geistes  unmittelbar  auf  die  Anschauungen  der  Sinne. 
Er  verhält  sich  zu  den  Dingen  spekulativ  und  gleicht 
wirklich  einem  Spiegel,  dessen  Glanz  sich  mit  dem  Lichte 
der  Dinge  vermischt.  Wie  er  die  den  Zahlen  und  Raum- 
verhältnissen innewohnende  Gesetzlichkeit  als  etwas 
seinem   künstlerischen   Sinn  Verwandtes    empfindet,    so 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  2 


l8  Erster  Vortrag. 

scheint  ihm  die  Welt  draußen  in  der  Harmonie  ihrer 
Verhältnisse,  der  Schönheit  ihrer  Maße  jene  innere  Ge- 
setzlichkeit wiederzuspiegeln,  und  mit  einer  ihm  eigen- 
tümlichen Kunst,  einer  Architektonik  der  Begriffe,  sucht 
er  ihren  Bau  nachzuschaffen,  Bilder  der  Welt  zu  gestalten. 
Für  ihn  ist  das  Erste  die  Synthese. 

Anders  unsere  Wissenschaft.  Sie  geht  dem  Probleme 
der  Naturerkenntnis  nicht  gleich  in  dessen  höchster 
Allgemeinheit  zu  Leibe.  Sie  sucht  die  Erscheinungen 
im  Einzelnen  zu  begreifen  und  bevorzugt  dabei  gerade 
die  unscheinbaren,  alltäglichen  Vorgänge  in  der  Natur, 
die  sich  immer  wieder  in  gleicher  Weise  vor  unseren 
Augen  abspielen.  Hier,  wenn  irgendwo,  ist  sie  über- 
zeugt, müssen  die  fundamentalen  Gesetze  der  Natur  zu 
finden  sein.  Aber  nur  methodisch  lassen  sie  sich  finden 
und  aus  der  konkreten  Erscheinung,  in  der  sie,  mit  den 
Wirkungen  anderer  Gesetze  verwickelt,  enthalten  sind, 
herausstellen.  Die  Wissenschaft  sucht  daher  die  Er- 
scheinungen zunächst  zu  analysieren,  das.  heißt,  sie  in 
Gedanken  zu  vereinfachen,  sie  entwickelt  sodann  die 
Folgen  dieses  vereinfachten  Bildes,  um  schließlich, 
lieh,  wie  Hertz  es  ausdrückt,  nachzusehen,  ob  die  denk- 
notwendigen Folgen  des  Bildes  auch  die  Bilder  der 
naturnotwendigen  Folgen  der  Gegenstände  selbst  seien. 
Wo  es  irgend  angeht,  werden  diese  Folgen  nach  Maß- 
gabe der  theoretischen  Annahme  willkürlich  hervorge- 
rufen und  die  in  Betracht  kommenden  Größen  gemessen. 

Diese  Analyse  der  Erscheinungen,  Entwicklung  der 
daraus  hergeleiteten  Begriffe  und  Prüfung  der  Begriffe 
durch  Beobachtung  oder  Versuch  bezeichnen  wir  als 
experimentelles  Verfahren.  Mit  seiner  Entdeckung  erst 
Ist  eine  Wissenschaft  in  unserem  Sinne  möglich  geworden. 
Seine  Einführung  aber  mußte  zugleich  die  Auflösung 
der  ursprünglich   einheitlichen  Gesamtwissenschaft  oder 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  jg 

Philosophie  in  eine  immer  mehr  wachsende  Anzahl 
spezieller  oder  positiver  Wissenschaften  mit  sich  bringen. 

Es  war  von  ganz  entscheidender  Bedeutung  für 
die  weitere  Entwicklung  der  Philosophie,  daß  diese  seit 
dem  17.  Jahrhundert  eine  Wissenschaft  außer  sich,  eine 
Wissenschaft  sich  gegenüber  hatte.  Denn  erst  nachdem 
sie  aufgehört  hatte,  die  Alleinwissenschaft  zu  sein,  konnte 
ihr  Verhältnis  zur  Wissenschaft  in  Frage  kommen. 

Unmittelbar  nach  der  Schöpfung  der  modernen 
Wissenschaft  schien  sich  dieses  Verhältnis  sehr  einfach 
zu  gestalten.  Die  neue  Wissenschaft  betrachtete  sich 
selbst  als  Fortsetzung,  als  Ersatz  der  alten  Philosophie. 
Die  griechische  Wissenschaft  erschien  als  die  Vorstufe 
der  modernen,  jene  als  die  Verheißung,  diese  als  die 
Erfüllung.  Und  auf  den  ersten  Blick  scheint  es  gar 
nicht  möglich  zu  sein,  dieser  Auffassung  zu  wider- 
sprechen. Was  Gegenstand  der  alten  Philosophie  war, 
ist  zum  Gegenstand  der  modernen  Wissenschaft  ge- 
worden; was  jene  erstrebte,  die  Erkenntnis  der  Außen- 
welt, die  Erkenntnis  des  Geistes,  hat  diese  erreicht,  oder 
sie  befindet  sich  doch  auf  dem  Wege,  es  zu  erreichen. 
Die  Naturphilosophie  der  Alten  ist  wirklich,  wer  könnte 
dies  bestreiten,  von  der  Naturwissenschaft  der  Neuern, 
ihrer  Physik,  Chemie,  Biologie  abgelöst  worden;  die 
Psychologie  des  Aristoteles  erfährt  ihre  Fortsetzung  in 
der  physiologischen  Psychologie  der  Gegenwart.  Die 
neue  Wissenschaft,  in  ihrer  Gesamtheit  genommen,  muß 
die  alte  Philosophie,  wie  es  scheint,  völlig  ersetzt  haben, 
so  gewiß  es  über  die  nämlichen  Gegenstände  nicht  zwei 
Wissenschaften,  nicht  zwei  Wahrheiten  geben  kann.  — 
Also,  hätten  diejenigen  Recht  —  ich  selbst  habe  eben 
für  sie  geredet  — ,  welche  behaupten,  daß  die  Philo- 
sophie sich  überlebt,  richtiger,  daß  sie  sich  in  die  moderne 


20  Erster  Vortrag. 

Wissenschaft  umgewandelt  habe.  Wozu  sie  also  noch 
suchen?  Haben  wir  sie  doch  in  den  Hörsälen  unserer 
Hochschulen  und  den  Arbeitsräumen  unserer  Natur- 
forscher; die  Philosophie  Demokrits,  Piatos,  Aristoteles 
ist  heute  in  unsere  Physik-  und  Chemiepaläste  ein- 
gezogen und  herrscht  hier  in  moderner  Gestalt. 

Die  Möglichkeit  und  das  Recht  der  Philosophie,  als 
Wissenschaft  weiter  zu  bestehen,  ist  somit  fraglich  ge- 
worden. Von  der  Philosophie  als  Geistesführung  sehen 
wir  vorläufig  ab;  wir  haben  uns  diese  Abstraktion  er- 
laubt und  mußten  sie  uns  zum  Zwecke  der  Deutlich- 
keit erlauben.  Unsere  Frage  lautet  demnach:  gibt  es 
noch  neben  den  positiven  Wissenschaften  und  verschieden 
von  diesen  eine  wissenschaftliche  Philosophie?  —  Soll 
es  eine  solche  geben,  so  darf  sie  nicht  weniger  bestimmt, 
nicht  minder  exakt  sein  als  irgend  eine  andere  wissen- 
schaftliche Disciplin;  sie  darf  nicht  hinter  dem  Maße, 
das  wir  seit  Galilei  an  wissenschaftliche  Erkenntnis  an- 
zulegen gelernt  haben,  zurückbleiben.  Legen  wir  aber 
an  sie  diesen  strengen  Maßstab  an,  so  wird  die  Frage, 
was  sie  nun  noch  sei  und  bedeute,  nur  umso  dringender. 
Die  Philosophie  müßte  Einzelwissenschaft  sein,  sie  stünde 
sonst  an  Strenge  hinter  den  übrigen  Wissenschaften 
zurück,  und  sie  müßte  zugleich  Allgemeinwissenschaft 
sein  können,  sonst  wäre  sie  nicht  —  Philosophie. 

Wollten  wir  gleich  die  Gesamtheit  oder  das  System 
der  positiven  Wissenschaften  Philosophie  nennen,  und 
wirklich  ist  dies  ihr  Begriff  in  seinem  weitesten  Sinne 
verstanden,  so  kämen  wir  zu  dem  wunderlichen  Resultate, 
daß  es  zwar  eine  Philosophie  gibt,  aber  keinen  Philo- 
sophen geben  kann.  Denn  es  liegt  nicht  in  dem  Ver- 
mögen irgend  eines  Menschen,  sämtliche  Wissenschaften 
zu  umfassen.    Auch  würde  ein  bloßes  Aneinanderreihen 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  21 

und  Verknüpfen  der  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  noch 
immer  erst  ein  encyklopädisches  Wissen  von  dem  augen- 
blicklichen Stande  dieser  Erkenntnisse  geben,  nicht  viel 
anders  als  ein  solches  auch  in  einem  Wörterbuche  auf- 
gespeichert werden  kann.  Der  Versuch  aber,  die  Wissen- 
schaften dadurch  zur  Einheit  zu  bringen,  sie  „eins  zu 
machen",  wie  Herbert  Spencer  sagen  würde,  daß  nur 
das  Allgemeinste  von  ihnen  auf  eine  Formel  gebracht 
wird,  führt,  wie  eben  das  Beispiel  der  „Synthetischen 
Philosophie"  Spencers  zeigt,  nur  zu  ganz  oberflächlichen 
Analogien  oder  Gleichnissen,  nicht  aber  zu  strengen 
Gleichheitsbegriffen, 

Die  Geschichte  selbst  hat  die  Antwort  auf  unsere 
Frage  erteilt.  Im  Fortgang  und  in  Folge  der  Entwicklung 
der  positiven  Wissenschaften  selbst  ist  aus  diesen  ein 
Problem  hervorgegangen,  das  zwar  auch  dem  Altertume 
nicht  gänzlich  unbekannt  war,  aber  in  seiner  ganzen 
Bedeutung  erst  in  der  neueren  Zeit  erkannt  werden 
konnte:  das  Problem  der  Wissenschaft  als  solcher,  die 
Frage  nach  ihren  Voraussetzungen  und  ihren  Grenzen. 
Was  Wissenschaft  sei  und  wie  weit  sie  reiche,  ist  die 
philosophische  Grundfrage,  ist  der  Gegenstand  der  theo- 
retischen Philosophie.  Mit  dieser  Frage  tritt  die  Philo- 
sophie in  Zusammenhang  mit  allen  übrigen  Wissenschaften 
und  braucht  sich  doch  nicht  in  das  Geschäft  einer  einzigen 
unter  ihnen  zu  mengen.  Während  die  positiven  Wissen- 
schaften sich  in  die  Gegenstände  der  Erfahrung  teilen, 
—  die  eine,  indem  sie  aus  den  allgemeinen  Gesetzen 
der  Bewegung  die  physikalischen  Vorgänge  erklärt,  eine 
zweite,  indem  sie  die  von  der  besonderen  Natur  der 
Elemente  abhängigen  Wirkungen  erforscht,  die  dritte, 
indem  sie  die  Prozesse  des  Lebens  auf  ihre  physikalischen 
und  chemischen  Ursachen  zurückführt,   —  während  sie 


22  Erster  Vortrag^. 

also  Erfahrungen  zur  Grundlage  haben  und  Erfahrungen 
machen,  ist  die  Erfahrung  selbst  und  als  solche  der 
Gegenstand  der  wissenschaftlichen  Philosophie. 


Neben  der  forschenden  Wissenschaft  gibt  es  eine 
kritische,  welche  die  Quellen  des  Wissens  prüft  und 
seinen  Umfang  bestimmt.  Und  daß  dies  eine  Aufgabe 
von  der  höchsten  wissenschaftlichen  und  praktischen 
Bedeutung  sei,  haben  Forscher,  die  zugleich  philo- 
sophische Denker  waren,  stets  und  ausdrücklich  aner- 
kannt. Helmholtz  nennt  die  Kritik  der  Erkenntnisquellen 
„das  Geschäft,  welches  immer  der  Philosophie  verbleiben 
wird  und  dem  sich  kein  Zeitalter  wird  ungestraft  ent- 
ziehen können."  Ohne  den  Kompaß  der  Kritik  geraten 
die  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  leicht  über  ihr  Ziel 
hinaus.  Ohne  ihn  zu  Rate  zu  ziehen,  wird  man  immer 
wieder  versucht  sein,  aus  der  Wissenschaft  allein  eine 
Weltanschauung  zu  gestalten,  als  ob  der  Mensch  nichts 
als  reiner  Verstand  wäre  und  hätte  seine  Bestimmung  im 
bloßen  Erkennen  und  nicht  zugleich,  ja  vor  allem  im 
Fühlen  und  Handeln.  Weil  der  Wissenschaft  die  Kritik 
fehlte,  das  ist  die  Selbsterkenntnis,  konnte  es  im  Zeit- 
alter der  Alleinherrschaft  der  Naturwissenschaften  dahin 
kommen,  daß  der  Mensch  vor  lauter  Dingen  sich  selbst 
nicht  sah  und  sich  vergaß,  indem  er  sich  gewöhnte, 
sich  als  ein  Stück  abstrakter  Materie,  ein  Spiel  mathe- 
matischer Kräfte  zu  betrachten.  Ein  Teil  der  Erkennt- 
nis gab  sich  für  das  Ganze  aus  und  so  war  es  möglich, 
daß  die  Naturwissenschaft  zeitweilig  einer  materialistischen 
Metaphysik  Vorschub  zu  leisten  schien. 

Es  ist  eines  der  wichtigsten,  für  die  Weltanschauung 
des  Menschen  bedeutsamsten  Ergebnisse  der  Kritik  der 


Wesen  und  Entwicklung  der  Philosophie.  23 

Erkenntnis,  daß  die  Sinnenwelt,  so  wie  sie  zur  An- 
schauung kommt,  keine  unbedingte,  sondern  eine  be- 
dingte Existenz  hat,  daß  sie  ein  Inbegriff  von  Erscheinungen 
ist  und  in  der  Art  und  Form  des  Erscheinens  abhängig 
von  der  Empfindungsweise  der  Sinne  und  den  Formen 
des  Anschauens.  Nicht  hinter  den  Erscheinungen  oder 
jenseits  derselben,  wo  sie  der  Metaphysiker  sucht:  in. 
uns  selbst  ist  noch  eine  andere  Welt  gegeben  als  die 
physische,  die  Welt  geistiger  Werte. 

Die  kritische  Philosophie  bereitet  der  Philosophie 
als  Geistesführung  die  Wege;  sie  schafft  Raum  und  Recht 
für  die  idealen  Mächte  in  unserem  Leben,  die  uns,  ich 
sage  nicht:  in's  Übersinnliche,  sondern  ins  Nichtsinnliche 
erheben.  Ohne  sie  wäre  es  möglich,  daß  wir  von  dem 
Dasein  der  Werte,  dem  Wert  der  Werte  nichts  wüßten, 
oder  den  Glauben  daran  verlören  und  zugleich  damit 
den  Trieb  zu  einer  fortschreitenden  geistigen  Kultur. 

Sehr  wesentlich  ist  der  doppelte  und  dennoch  ein- 
heitlich verbundene  Beruf  der  Philosophie.  Sie  sucht 
dem  Menschen  eine  lebensvolle  Weltanschauung  zu 
geben,  die  sich  an  alle  Seiten  seiner  Natur  wendet.  Dies 
ist  nicht  ihr  Gegenstand,  wohl  aber  ihr  Ziel,  dem  sie 
sich  im  Bunde  mit  der  Wissenschaft  nähert,"  indem  sie 
zugleich  den  Forderungen  des  Gemütes  Rechnung  trägt. 
Sie  befaßt  sich  mit  den  höchsten  Interessen  des  Geistes 
und  ist  die  wahre  Wissenschaft  und  Weisheit  des  Menschen. 
Sie  entdeckt  dem  Menschen  seine  wahren  Ziele  und 
weist  ihn  an,  den  Willen  nach  ihnen  zu  steuern  und 
zu  richten.  Alle  großen  Philosophien  bisher,  und  das 
sind  die  Philosophien  der  großen  Denker,  haben  an  den 
Idealen  der  Menschheit  mitgeschaffen. 

Auch  Kant  unterscheidet  einen  doppelten  Begriff 
der  Philosphie.     In   seiner  etwas  veralteten  Ausdrucks- 


24  Erster  Vortrag. 

weise  nennt  er  den  einen  ihren  „Schulbegriff'.  Darnach 
ist  Philosophie  die  Idee  von  einem  System  der  Erkennt- 
nis und  hat  die  Einheit  des  Wissens  zum  Zwecke;  sie 
ist  insbesondere  die  Wissenschaft,  welche  die  Grundlagen 
der  Erkenntnis  untersucht  und  zur  Beurteilung  aller  Ver- 
suche zu  erkennen  und  zu  philosophieren  dient.  Über 
diesen  Begriff  hinaus,  aber  im  Anschluß  an  ihn,  erhebt 
sich  der  „Weltbegriff"  der  Philosophie,  wie  Kant  ihn 
nennt.  In  dieser  Absicht  ist  Philosophie  die  Beziehung 
aller  Erkenntnis  auf  die  wesentlichen  Zwecke  der  Ver- 
nunft und  ein  Philosoph  in  diesem  Sinne  „der  Gesetz- 
geber der  Vernunft  und  ein  Lehrer  im  Ideal."  —  Aber 
die  Größe  dieser  Aufgabe  fordert  zugleich  zur  Bescheiden- 
heit auf.  „Es  wäre  sehr  ruhmredig,  meinen  wir  mit 
Kant,  sich  selbst  einen  Philosophen  in  solcher  Bedeutung 
zu  nennen  und  sich  anzumaßen,  dem  Urbilde,  das  nur 
in  der  Idee  liegt,  gleich  gekommen  zu  sein".  Sondern, 
Kenner  der  Philosophie  wollen  wir  uns  nennen.  Strebende 
nach  ihrem  Ziele  sein;  und  wir  werden  es  in  dem  Maße 
zu  sein  vermögen,  in  welchem  wir  befähigt  sind,  in  der 
eigenen  Person  die  Selbstgesetzgebung  der  Vernunft  zu 
verwirklichen  und  uns  zu  Herren  zu  machen  über  uns 
und  unser  Geschick. 

Damit  ist  das  Thema  angegeben,  das  die  folgenden 
Vorträge  aufzunehmen  und  zu  entwickeln  haben.  Ihr 
Gang  führt  uns  zunächst  durch  das  Gebiet  theoretischer 
Erwägungen:  diese  durch  Anknüpfung  an  die  Persönlich- 
keiten ihrer  Urheber  so  anschaulich  wie  möglich  zu 
machen,  soll  mein  Bestreben  sein. 


ZWEITER  VORTRAG. 


DIE   PHILOSOPHIE    IN    DER    NEUEREN   ZEIT.  —  IHR 
VERHÄLTNIS  ZU  DEN  EXAKTEN  WISSENSCHAFTEN. 

Im  Jahre  1543,  dem  Todesjahre  des  Nikolaus 
Kopernikus,  erschien  dessen  Werk:  „de  revolutioni- 
bus",  von  den  Umwälzungen,  —  „orbium  coelestium": 
der  Himmelskreise,  fügte  der  Herausgeber  von  sich  aus 
hinzu.  Eine  neue  Epoche  der  menschlichen  Erkenntnis 
war  damit  eröffnet  und  man  sollte  in  der  Geschichte 
der  Wissenschaft  nur  mit  einer  vorkopemikanischen  und 
einer  kopernikanischen  Aera  rechnen. 

Die  Beobachtung  der  Regelmäßigkeit,  womit  sich 
die  Himmelskörper  bewegen,  hat  ohne  Zweifel  die  ersten 
Regungen  des  wissenschaftlichen  Denkens  wachgerufen; 
an  dieser  Beobachtung  zuerst  hat  sich  der  Begriff  der 
Naturgesetzlichkeit  entwickelt.  Auch  die  Wissenschaft 
der  Zahl  knüpfte  an  das  natürliche  Zeitmaß  in  dem 
Kreislauf  von  Sonne  und  Mond  an.  Wir  begreifen,  wie 
gerade  jene  antike  Naturphilosophie,  die  an  dem  Beispiel 
der  musikalischen  Intervalle  die  Abhängigkeit  der  Be- 
schaffenheit der  Sinneseindrücke  von  Zahlen  und  Größen 
erkannte  und  mit  dieser  Entdeckung  den  ersten  Schritt 
zur  quantitativen  Erforschung  der  Natur  zurücklegte, 
—  wir  begreifen,  wie  die  pythagoreische  Philosophie 
an  der  Ausbildung  der  Theorie  über  die  Bewegungen 
der  Himmelskörper  mit  Erfolg  arbeiten  konnte.  Aristarch 
von  Samos,   ein  pythagoreischer  Philosoph  des  zweiten 


26  Zweiter  Vortrag. 

Jahrhunderts  vor  unserer  Zeitrechnung,  erfaßte  sogar 
den  Gedanken  der  Erdbewegung  um  die  Sonne;  er 
lehrte  das  heliocentrische  System.  Aber,  wie  alle  wissen- 
schaftlichen Gedanken,  die  zu  früh  geboren  werden,  blieb 
auch  dieser  kühne  Gedanke  nicht  am  Leben.  Erst  der 
deutsche  Domherr  aus  Thorn  mußte  ihn  wieder  erneuern, 
er  tat  es  mit  bewußter  Anlehnung  an  seine  antiken 
Vorgänger.  Kopernikus  wollte  nur  die  pythagoreische 
Philosophie,  wie  man  bis  zu  Keplers  Zeit  die  Astronomie 
nannte,  wieder  in's  Leben  gerufen  haben. 

Was  war  geschehen?  —  Die  neue  Lehre,  die  all- 
mählich zum  Siege  geführt  wurde,  mit  den  edelsten 
Opfern,  an  die  wir  noch  zu  erinnern  haben,  —  bedeutete 
sie  nichts  weiteres  als  ein  Mittel,  die  astronomischen 
Gleichungen  bequemer  anzuordnen,  als  es  nach  dem 
verwickelten  ptolomäischen  Systeme  geschehen  konnte? 
Gewiß,  dies  war  ihre  nächste  und  bei  dem  damaligen 
Stande  des  Wissens  vielleicht  auch  ihre  einzige  sichere 
Folge.  Aber  damit  kann  ihre  universelle  Bedeutung 
nicht  erklärt,  nicht  erschöpft  sein.  Der  heliocentrische 
Gedanke  trägt  unendlich  weiter  als  alle  seine  rein  astro- 
nomischen Konsequenzen. 

Was  war  geschehen?  —  Die  naive  Anschauung 
der  Sinne  ist  von  der  Wissenschaft  berichtigt,  ja  wider- 
legt worden;  das  Denken  feierte  den  ersten  stolzen  Tri- 
umph über  die  bloßen  Tatsachen.  Mehr  noch:  die 
Erde  war  aus  ihrer  centralen  Stellung  in  der  Welt  heraus- 
genommen, Menschenart  und  Menschenschicksal  hatten 
mit  einem  Male  die  ungeheuere  Wichtigkeit  eingebüßt, 
die  sie  aus  nächster  Nähe  gesehen  und  für  den  Menschen 
selbst  zu  haben  scheinen.  Und  doch:  alle  Philosophien, 
alle  Religionen  der  Welt  bisher  waren  auf  die  einzig- 
artige, bevorzugte  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  27 

eingerichtet,  auf  sie  als  ihren  Grundton  gestimmt.  Gleich- 
wie das  Festeste  von  allem,  ja  das  Urbild  des  Festen, 
die  Erde  plötzlich  unter  den  Füßen  zu  wanken  und 
fortzufliegen  begann,  so  schienen  auch  alle  menschlichen 
Werte  schwankend  und  relativ  geworden  zu  sein:  — 
nur  menschliche  Werte.  Die  neue  Lehre  hat  zunächst 
etwas  an  sich,  das  den  Menschen,  die  Geschichte  des 
Menschen  und  die  Schaubühne  seiner  Geschichte  un- 
endlich herabzudrücken  scheint  und  den  Menschen  de- 
mütigt. 

Aber,  man  kann  es  auch  anders  sehen.  Koperni- 
kus  hat  einen  neuen  Stern  entdeckt;  er  hat  die  Erde 
in  den  Himmel  versetzt.  Der  alte,  von  Aristoteles  ge- 
lehrte, vom  Mittelalter  geglaubte  Gegensatz  zwischen 
Himmel  und  Erde,  himmlischer  und  irdischer  Physik,  ist 
mit  Eins  verschwunden.  „Wie  der  Mond  zum  Himmel 
der  Erde  gehört,  so,  nicht  anders  gehört  die  Erde  zum 
Himmel  des  Mondes;  wie  wir  zum  Monde  emporblicken, 
blicken  die  Bewohner  des  Mondes  zur  Erde  empor." 
Die  Einheit  der  Sinnenwelt  ist  vor  dem  geistigen  Auge 
des  Menschen  aufgegangen;  der  erste  wissenschaftliche 
Beweis  für  ihre  Einheit  erbracht  worden.  Und  selbst 
diese  theoretischen  Folgen  erschöpfen  noch  nicht  die 
ganze  Bedeutung  der  neuen  Anschauung.  Zugleich  mit 
der  einheitlichen  Betrachtung  der  Welt  muß  von  innen 
her,  im  Menschen,  die  Teilnahme  an  allem  Sein  erwachen. 

„Dies  ist  die  Philosophie,  welche  die  Sinne  auftut, 
den  Geist  befriedigt,  den  Verstand  verherrlicht  und  den 
Menschen  auf  die  wahre  Glückseligkeit,  die  er  als  Mensch 
erreichen  kann,  hinweist,  indem  sie  ihn  von  der  mühe- 
vollen Sorge  um  Vergnügungen  und  der  blinden  Furcht 
vor  Schmerzen  befreit." 

Es   sind  Worte  Giordano  Brunos,   die   ich  ent- 


28  Zweiter  Vortrag. 

lehnt  habe.     So  hat  Bruno  die  neue  Lehre  erfaßt;    so 
wurde  Bruno  von  ihr  erfaßt.    Dieser  Märtyrer  der  neuen 
Weltanschauung  steht   am  Eingang  der  neueren  Philo- 
sophie als   Prophet  der  modernen  Wissenschaft.     Zwar 
in    seinen   philosophischen  Spekulationen   zeigt    er   sich 
noch   abhängig  von  der  Renaissance,   oder   bestimmter, 
abhängig   von    den    Ideen    des    Neuplatonismus,    dieser 
eigentlichen  Philosophie  der  Renaissance;  auch  teilte  er 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Neigung  seines  Zeitalters 
zu     abergläubischen,     okkultistischen    „Wissenschaften". 
In    seinen    kosmologischen   Anschauungen    dagegen    ist 
er    durchaus   originell   und   sein  eigener  Gewährsmann; 
hier  leitet  ihn  ein  angeborener  Sinn  für  das  Wirkliche 
und  Wahre,    Er  verallgemeinert  die  kopernikanische  An- 
schauung.    Im   unermeßlichen  Räume   sieht   er  zahllose 
Sonnen  leuchten,  jede  von  Planeten,   oder  wie  er  ein- 
drucksvoller sagt:    von  „Erden"  umkreist,    die  nur  des- 
halb für  uns  nicht  sichtbar  seien,  weil  ihre  Entfernung 
zu    groß  und   ihr  Körper   zu    klein  ist.     Gibt    es    doch 
auch,    so   erklärt  er,    in  unserem  Sonnensysteme    mehr 
Planeten,  als  die,  welche  bisher  sichtbar  geworden  sind. 
Was   aber   heute   für   die  Meisten   nur   ein  Objekt  des 
Wissens  ist,    war  für  Bruno  Gegenstand  eines  feurigen 
Affektes,    einer   religiösen  Stimmung  und  Ergriffenheit. 
Bruno  ist  der  Philosoph  der  Astronomie  und  wollen  wir 
sehen,    wie    eine    wissenschaftliche  Wahrheit    zu    einer 
philosophischen    wird,   —  dies   große  Beispiel  kann  es 
uns  zeigen:    dadurch,  daß  sie  unser  ganzes  Wesen  an- 
spricht und  erfüllt,  daß  sie  sich  nicht  blos  an  den  Ver- 
stand wendet,  sondern  mit  dem  ganzen  Leben  des  Ge- 
müts erfaßt  wird. 

Schon   im  Kloster  (das  Kloster   war  damals  noch 
die  Hauptstätte  für  wissenschaftliche  Bildung),  als  Novize 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  20 

des  Dominikaner-Ordens  wurde  Bruno,  als  Jüngling,  mit 
der  Lehre  des  Kopernikus  bekannt.  Sogleich  fühlte 
sich  sein  Geist  wie  von  Fesseln  entledigt  und  befreit 
aus  jenen  erdichteten  Sphären,  die  gleich  Kerkermauern 
die  Welt  des  Mittelalters  umschlossen  hielten.  Die 
kristallnen  Schalen,  die  Wölbungen  droben,  schwanden 
in  ihr  Nichts,  —  und  „hell  aufglänzte  ihm  nun  die  Schön- 
heit der  Welt".  So  lautet  ein  an  Kopernikus  gerichteter 
Vers,  Und  noch  zu  einer  w^eiteren  und  kühneren 
Verallgemeinerung  dringt  Brunos  Denken  vor.  Wenn 
überall  im  Universium  die  nämliche  stoffliche  Natur  vor- 
handen, überall  dieselbe  Kraft  am  Werke  ist,  muß  dann 
nicht  auch  überall  organisches  Leben  zur  Entwicklung 
gelangen,  zur  Entwicklung  gelangt  sein?  Schaue  hinauf 
zu  den  Sternen,  —  nein!  Welten,  und  wisse,  daß  jede 
von  ihnen  Formen  des  Lebens  trägt,  ähnlich  den  irdischen 
und  auch  höher  als  diese,  übermenschhche  Formen,  ja, 
daß  jede  als  Ganzes  selbst  ein  Lebewesen,  ein  erhabener 
Organismus  ist. 

Es  ist  die  Lehre  von  den  unzähligen  bewohnten 
Welten,  die  Bruno  verkündet.  Sie  erst  bedeutete  den 
Zusammenbruch  der  mittelalterlichen  Weltanschauung, 
welche  in  Trümmer  fällt  vor  der  Wirklichkeit,  ja  schon 
der  Möglichkeit  außerirdischen,  organischen  Lebens. 
Ließ  sich  mit  der  Theorie  der  Erdbewegung  um  die 
Sonne  das  offizielle,  katholische  Glaubenssystem  zur 
Not  noch  vereinbaren,  so  gab  und  gibt  es  mit  der  Lehre 
von  der  Mehrheit  der  bewohnten  Welten  für  das  wört- 
lich verstandene  Christentum  überhaupt  keine  Aus- 
gleichung, keine  Aussöhnung:  daher  die  Tragik  im 
Leben  Brunos. 

Nicht  nur  die  physische,  auch  die  moralische  Welt 
beruht    auf    gleichen    Elementen    und    Gesetzen.     Wie 


20  Zweiter  Vortrag, 

die  Entwicklung  in  der  gesamten  Natur  als  wesent- 
lich gleichartig  vorauszusetzen  ist  und  das  organische 
Leben,  wo  immer  es  erscheinen  mag,  als  von  gleichen 
oder  ähnlichen  Gesetzen  beherrscht,  so  müssen  auch  die 
Gesetze  des  geistigen  Lebens  überall  von  gleicher  oder 
ähnlicher  Art  sein;  sind  sie  doch  der  Sache  nach  von 
den  Gesetzen  des  organischen  nicht  zu  trennen.  In 
Brunos  Philosophie  nimmt  auch  die  Betrachtung  des 
sittlichen  Lebens  die  Wendung  auf  das  Kosmische,  Uni- 
verselle. So  ist  seine  großartige  Allegorie:  „die  Reform 
des  Himmels  durch  die  „Austreibung  der  triumphierenden 
Bestie"  zu  deuten.  Die  sittlichen  Gesetze  sind  allgemein 
geistige  Naturgesetze,  nicht  Willkürsatzungen  des 
Menschen,  die  sittlichen  Werte  allgemeingiltige,  nicht 
rein  menschliche  Werte.  Mit  dieser  Anschauung  durch- 
bricht Bruno  die  anthropologischen  Schranken  der  Ethik. 
Und  dies  ist  der  Art  der  Begründung  nach  etwas  Neues 
und  auch  der  Sache  nach  bis  dahin  kaum  Erhörtes. 
Nur  Plato  hat  sich  zu  gleicher  Höhe  der  Betrachtung 
erhoben  und  erst  in  Kant's  Moral  der  reinen  Vernunft 
treffen  wir  wieder  auf  Ansätze  zur  nämlichen  großen 
Verallgemeinerung. 

Kopernikus  verlegte  den  Mittelpunkt  der  Welt  und 
nicht  bloß  des  Planetensystems  in  die  Sonne,  seine  Lehre 
ist  ganz  eigentlich  heliocentrisch.  Bruno  erkannte,  daß 
es  eine  absolute  Ortsbestimmung  im  Universum  nicht 
geben  kann,  jedes  Gestirn  also  Mittelpunkt  der  Welt  ist; 
seine  Lehre  ist  kosmocentrisch,  —  und  mehr  als  dies: 
sie  ist  theocentrisch.  „Wir  sind  im  Himmel  und  der  Himmel 
ist  in  uns!"  ruft  er  aus:  wo  immer  wir  sein  mögen, 
überall  sind  wir  unserem  wahren  Mittelpunkt,  der  Gott- 
heit gleich  nahe;  ja,  diese  ist  uns  innerlicher  gegen- 
wärtig,   als    wir   uns   selbst   innerlich    gegenwärtig  sind. 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  5  I 

Gott  ist  die  Wesenheit  in  allem  Sein,  die  Natur  an  sich; 
die  schaffende  Natur  ist  Gott  in  den  Dingen.  „Natura 
est  deus  in  rebus."  In  Worten,  die  einen  Hymnus  gleichen, 
feiert  Bruno  die  Einheit  von  Gott  und  Natur: 

„Wir  suchen  Gott  in  dem  unveränderlichen,  unbeug- 
„samen  Naturgesetze,  in  der  ehrfurchtsvollen  Stimmung 
„eines  nach  diesem  Gesetze  sich  richtenden  Gemütes; 
„wir  suchen  ihn  im  Glanz  der  Sonne,  in  der  Schön- 
„heit  der  Dinge,  die  aus  dem  Schöße  dieser  unsrer 
„Mutter  Erde  hervorbrechen,  in  dem  wahren  Abglanz 
„seines  Wesens:  dem  Anblick  unzähliger  Gestirne,  die 
„an  dem  unermeßlichen  Saume  des  einen  Himmels 
„leuchten,  leben,  fühlen,  denken  und  dem  All-Gütigen, 
„AU-Einen  und  Höchsten  lobsingen." 

Gedanken,  wie  diese,  Empfindungen  gleich  diesen 
nennt  man  pantheistisch;  es  sind  die  Empfindungen 
und  Gedanken,  die  viele  der  erleuchtetsten  Geister  teilen. 
Auch  Goethe  bekannte  sich  zum  Glauben  Bruno's  an 
„Gott-Natur". 

„Verehrer  des  Unendlichen",  so  hat  Bruno  sich  selbst 
genannt.  Die  Unendlichkeit  der  Welt  ist  die  Grundan- 
schauung, die  leitende  Idee  seiner  Philosophie.  Eine 
endliche  Welt  könnte  Gottes  Geschöpf  sein,  zu  der  un- 
endlichen Welt  kann  sich  Gott  nur  verhalten  wie  die 
Ursache  zu  ihrer  Wirkung.  Und  wie  Ursache  und 
Wirkung  Eines  sind,  soferne  sich  die  Ursache  in  der 
Wirkung  erhält,  so  sind  Gott  und  Welt  Eines,  so  ist 
Gott  das  innerlich  wirkende  und  in  der  Wirkung  be- 
harrende Prinzip  von  Welt  und  Natur.  Das  Universum 
in  seiner  äußeren,  räumlichen  und  zeitlichen  Grenzen- 
losigkeit erscheint  so  als  das  Abbild,  das  Ebenbild  der 
inneren  Unendlichkeit  einer  in  ihm  waltenden,  schöpfe- 
rischen Kraft,    der  wirkenden  Kraft  Gottes.     Die  Welt 


32 


Zweiter  Vortra?. 


ist  Gottes  Offenbarung  und  von  seinem  Wesen  nicht 
zu  trennen. 

Mit  solchen  Gedanken  und  dem  Feuer,  womit  er 
sie  verkündet,  hat  Bruno  der  ihm  folgenden  meta- 
physischen Spekulation  vorangeleuchtet.  Wir  begegnen 
ihnen  namentlich  bei  Spinoza  wieder,  nur  abstrakter  in 
der  Form  des  Ausdrucks.  Bruno  redet  die  Sprache  der 
Empfindung  und  Poesie,  Spinoza  sucht  für  philosophische 
Glaubenssätze  „geometrische"  Beweise.  Auch  läßt  Bruno 
das  individuelle  Sein  nicht  untergehen  in  die  Einheit 
des  Allgemeinen.  Die  Eine  schaffende  Kraft,  die  ihre 
Wesensfülle  in  Welten  ohne  Zahl  zur  Erscheinung  bringt, 
ist  auch  in  jedem  Individuum  der  Quellpunkt  einer  in's 
Unendliche  gehenden  Entwicklung.  So  aufgefaßt,  heißt 
sie  die  Monade.  —  „Nichts  wird  zu  nichts;  Alles  wird  zu 
Allem.  Wir  selbst  und  die  Dinge,  die  wir  unser  nennen, 
kommen  und  schwinden  und  kehren  wieder,  und  es  ist 
kein  Ding,  das  uns  nicht  fremd  wird,  kein  fremdes,  das 
nicht  unser  eigen  wird,"  Die  Einheit  im  Sein  und  Wesen 
schließt  Vielheit  und  Entwicklung  nicht  von  sich  aus. 

Bruno's  Kosmologie,  das  Bild  der  Welt,  das  sein 
Geist  zuerst  erschaute,  wurde  von  der  Wissenschaft  bei- 
nahe Zug  für  Zug  bestätigt;  Bruno's  Philosophie  ist  gleich- 
sam das  innere  Leben,  von  dem  sich  alle  weitere,  dog- 
matische Philosophie  der  neueren  Zeit,  bewußt  oder 
unbewußt,  nährte.  Die  geistige  Größe  dieses  Sehers 
einer  neuen  Welt  und  Apostels  einer  neuen  Zeit  ist 
selbst  damit  noch  nicht  erschöpft.  Die  Erinnerung  an 
jenen  am  17.  Februar  1600  auf  dem  Campo  di  Fiore 
in  Rom  entflammten  Scheiterhaufen  wird  in  der  Ge- 
schichte fortleuchten,  als  Mahnung  und  Vorbild,  als  un- 
übertroffenes Zeugnis  einer  den  Tod  nicht  achtenden 
Liebe  zur  Wahrheit. 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  ■2'^ 

Das  Problem  des  wahren  Weltsystemes  stand  im 
Mittelpunkt  der  weiteren  Entwicklung  der  modernen 
Wissenschaft,  eine  Zeit  lang  galt  dieses  Problem  gerade- 
zu als  die  Frage  der  Wissenschaft  überhaupt.  Kopemi- 
kus  verbieten,  schrieb  Galilei,  heißt  die  Wissenschaft 
selbst  verbieten. 

Auch  Galilei  hat  für  die  neue  Wahrheit  gelitten, 
Verfolgung  und  Gefangenschaft  um  ihretwillen  erduldet. 
Wir  sollten  nie  vergessen,  daß  jede  wissenschaftliche 
Wahrheit  von  allgemeiner,  philosophischer  Bedeutung 
bisher  sich  nur  im  Kampfe  durchzusetzen  vermochte, 
daß  sie  Opfer  erheischte,  aber  auch  jede  Aufopferung 
verdiente;  und  vielleicht  war  dies  notwendig,  um  uns 
ihren  ganzen  Wert  eindringlich  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 
Wir  feiern  Galilei  als  den  eigentlichen  Schöpfer  der 
Naturwissenschaft,  denn  er  hat  dieser  ihre  Methode  ge- 
geben; wir  feiern  ihn  als  den  Entdecker  der  Fallgesetze, 
der  mit  dieser  Entdeckung  die  Dynamik,  die  Wissen- 
schaft der  Bewegung  begründet  und  so  „die  erste  Pforte 
zur  gesamten  Physik  aufgetan"  hat;  mit  Bewunderung 
denken  wir  an  seine  astronomischen  Beobachtungen, 
vor  allem  die  Auffindung  der  Jupiters-Trabanten,  der 
„mediceischen"  Sterne,  dieser  kopernikanischen  Welt  im 
Kleinen:  er  selbst  lebte  und  litt  für  die  Lehre  des  Ko- 
pemikus,  für  die  Erkenntnis  der  wahren  Verfassung  der 
Welt.  „Denn  es  gibt  eine  solche  Verfassung,  erklärt 
er,  und  es  gibt  sie  auf  eine  einzige,  wahre  und  so  not- 
wendige Art,  daß  sie  nicht  anders  sein  kann  als  sie  ist." 
Galileis  Kampf  für  die  neue  Weltanschauung,  seine 
äußere  Niederlage,  der  innere  Sieg  sind  für  die  Ge- 
schichte der  Befreiung  des  menschlichen  Geistes  in  mehr 
als  einer  Hinsicht  von  größter  Bedeutung  und  denk- 
würdig für  alle  Zeiten.   Diesmal  war  es  kein  dem  Kloster 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  2 


24  Zweiter  Vortrag. 

entwichener  Mönch,  an  welchem  Rom  sich  vergriflf, 
sondern  eine  erlauchte  Persönlichkeit,  ein  Fürst  der 
Wissenschaft,  von  der  Welt  geehrt,  von  dem  Hofe  mit 
den  höchsten  Auszeichnungen  bedacht,  ehrwürdig  durch 
sein  Alter,  wehrlos  durch  seine  Krankheit,  von  dessen 
körperlicher  Schwäche  Rom  schließlich  den  Widerruf 
erzwang.  Aber  ganz  unbezwinglich  ist  die  Wahrheit 
und  ihrer  Macht  bleibt  der  Sieg.  Es  besteht,  äußerte 
Galilei,  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen  jenen  dok- 
trinären, blos  wahrscheinlichen  Disziplinen,  in  denen 
Rhetorik  und  Überredungskunst  am  Platze  sein  mögen, 
und  den  exakten,  völlig  genauen  und  sicheren  Wissen- 
schaften, deren  Lehrsätze  dem  Beweise  zugänglich  sind 
und  worüber  man  die  Meinungen  nicht  nach  Belieben 
oder  auf  Befehl  ändern  kann.  „Denn  es  steht  nicht  in 
der  Macht  irgend  eines  Menschen  oder  einer  mensch- 
lichen Institution,  zu  bewirken,  daß  sie  wahr  oder  falsch 
werden,  oder  anders,  als  sie  von  Natur  und  de  facto 
sind."  Nie  ist  ein  stolzeres,  nie  ein  berechtigteres  Wort 
über  die  wissenschaftliche  Wahrheit  und  ihre  Würde  ge- 
sprochen worden. 

Die  Methode  Galileis:  die  experimentelle  Methode, 
welche  Induktion  und  Deduktion,  Erfahrung  und  Denken 
vereinigt,  bedeutet,  wie  dies  namentlich  Kant  betont 
hat,  eine  Revolution  der  wissenschaftlichen  Denkart. 
Sie  hat  die  antike  Naturphilosophie  für  immer  durch 
die  moderne,  die  Naturwissenschaft  ersetzt.  Der  ganze 
Gegensatz  zwischen  der  alten  und  der  neuen  Wissen- 
schaft, die  Weite  des  Fortschrittes  von  jener  zu  dieser 
lassen  sich  an  einem  einzigen  kleinen  Worte  ermessen. 
Statt  zu  fragen:  warum  fallen  die  Körper,  von  welcher 
Art  inneren  Antriebes  getrieben,  aus  welcher  geheimen 
Ursache  fragt  Galilei:   wie  fallen  sie,  in  welcher  Form, 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  2C 

nach  welchem  Gesetze?  Diese  anscheinend  so  gering- 
fügige Änderung  in  der  wissenschaftlichen  Fragestellung 
scheidet  in  Wahrheit  zwei  Zeitalter  des  menschlichen 
Erkennens.  Sie.  setzte  an  die  Stelle  der  vergeblichen 
und  trügerischen  Nachforschung  nach  dem  Wesen  der 
Ursachen  die  allein  lösbare  Aufgabe  der  Nachforschung 
und  Ermittlung  der  Gesetze  der  Ursachen.  Nicht  aus 
Resignation,  aus  Einsicht  in  die  Natur  des  Wissens  haben 
wir  auf  den  Traum  verzichten  gelernt,  es  liege  im  Ver- 
mögen unseres  Geistes,  in  das  Wesen  der  „Dinge  an 
sich"  einzudringen.  Sind  wir  doch  selbst  von  diesem 
Wesen  getragen,  ist  doch  dieses  Wesen  unserer  eigenen 
Existenz  vorausgesetzt;  wie  also  sollten  wir  es  mit 
unserem  Denken  erfassen,  wie  es  in  den  Bezirk  unserer 
Begriffe  gleichsam  einfangen  können?  Als  Gipfel  der 
Vermessenheit  erschien  Galilei,  die  menschliche  Fassungs- 
kraft zum  Maße  dessen  zu  machen,  was  die  Natur  in's 
Werk  zu  setzen  vermag.  Denn  es  gebe  keine  einzige 
Wirkung  in  ihr,  sie  sei  so  unscheinbar  als  man  will,  die 
vollständig  zu  erkennen,  nicht  das  Vermögen,  auch  des 
erleuchtetsten  Geistes  überstiege.  Innerhalb  der  Grenzen 
aber,  die  der  Wissenschaft  gesetzt  sind,  die  die  Wissen- 
schaft sich  selbst  setzt,  wenn  sie  sich  selbst  begreift, 
ist  das  Wissen  absolut  oder  vollkommen,  nicht  relativ; 
es  gelangt  zur  Einsicht  in  die  Notwendigkeit,  und  darüber 
hinaus  ist  nichts  mehr  zu  erkennen,  darüber  hinaus  ver- 
liert jede  weitere  Nachfrage  einen  angebbaren  Sinn. 
Durch  die  Kenntnis  der  Gesetze  der  Ursachen  be- 
herrschen wir  die  Wirkungen  und  machen  uns  theoretisch 
wie  praktisch  zu  Herren  über  die  Kräfte  der  Natur. 

Eine  einzige  ununterbrochene  Entwicklung  führt  von 
Galilei  zu  Newton;  die  Stetigkeit  der  wissenschaftlichen 
Forschung,    nachdem    einmal    ihr   Weg    gefunden    war. 


36  Zweiter  Vortrag. 

kommt  dadurch  unmittelbar  zur  Anschauung.  Dasselbe 
Jahrhundert,  in  dessen  Anfang  mit  den  Untersuchungen 
und  Berechnungen  Keplers  über  die  Planetenbahnen  der 
Abschluß  der  mathematischen  Astronomie  fällt,  sah  an 
seinem  Ende  noch  den  Ausbau  der  physischen,  das 
Werk  Newtons.  Um  aber  diesen  Ausbau  zu  ermöglichen, 
mußte  inzwischen  Galilei  die  Wissenschaft  der  Bewegung 
geschaffen  und  Huyghens,  der  würdige  Nachfolger  Gali- 
leis, dessen  Werk  fortgesetzt  haben.  Erst  mußten  die 
Gesetze  des  Fallens  der  irdischen  Körper  ermittelt  sein, 
ehe  das  Fallen  der  himmlischen  dem  Gesetz  der  allge- 
meinen Schwere  untergeordnet  werden  konnte.  Nichts 
anderes  nämlich  als  die  Interpretation  der  Keplerschen 
Regeln  der  Planetenbahnen  mit  Hilfe  der  Fallgesetze 
Galileis  und  Huyghens  Gesetze  der  Kreisbewegung  ist 
die  Gravitationstheorie  Newtons.  Der  früheste  Glaube 
der  Wissenschaft:  die  Gesetzlichkeit  des  Kosmos  war 
jetzt  zur  Anschauung  geworden,  das  Problem,  um  das 
sich  die  Philosophie  des  Altertums  unablässig  bemüht 
hatte,  gelöst  und  zwar  in  der  erhabensten  Gestalt;  denn 
alles  Erhabene  ist  einfach.  Ein  einziges  Gesetz  von 
einfacher  mathematischer  Form  verbindet  die  Massen 
zur  Einheit  der  Welt  und  beherrscht  zugleich  die  Be- 
wegungen aller  Himmelskörper,  aus  diesem  einzigen  Ge- 
setze sind  alle  ihre  vergangenen  und  künftigen  Stellungen 
im  Weltraum  zu  berechnen. 

Wir  wissen,  welche  Bedeutung  für  die  Philosophie 
die  Schöpfung  einer  selbständigen,  positiven  Wissenschaft 
hatte.  Das  Verhältnis  zur  Wissenschaft  bestimmt  fortan 
den  Charakter  der  Philosophie;  nach  diesem  Verhältnis 
allein  gliedern  sich  sachgemäß  die  Perioden  ihrer  neueren 
Geschichte. 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  iy 

In  der  ersten  Zeit  steht  die  Philosophie  in  Abhängig- 
keit von  der  Wissenschaft;  sie  indentifiziert  sich  mit 
dieser  und  will  nur  ihr  Werk  fortführen  und  vollenden. 
Noch  ergreift  sie  keine  neue  Aufgabe,  sie  verallgemeinert 
nur  die  Aufgabe  der  Wissenschaft,  indem  sie  deren  neue, 
mathematisch-mechanische  Denkart  auf  alle  Probleme 
des  Erkennens  auszudehnen  sucht.  Sie  ist  daher  selbst 
universelle  Mechanik,  Mechanik  als  Universalwissenschaft. 
Es  ist  die  Zeit  der  großen  Systeme  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts; typisch  für  diese  Zeit  ist  Descartes.  In  ihrer 
zweiten  Epoche  dagegen,  die  mit  Locke  beginnt,  entdeckt 
die  Philosophie  das  ihr  eigentümliche  Untersuchungsge- 
biet. Sie  erfaßt  den  Gegenstand,  dessen  Natur  sie  be- 
fähigt, Einzelwissenschaft  zu  werden  und  die  Strenge  und 
Genauigkeit  einer  solchen  zu  befolgen  und  zugleich  die 
Allgemeinwissenschaft  zu  bleiben,  sofern  sich  ihr  Gegen- 
stand auf  alle  Wissenschaften  in  gleicher  Weise  bezieht 
und  durch  jede  von  ihnen  gegeben  wird.  Sie  wissen 
es  bereits,  dieses  Untersuchungsgebiet  der  Philosophie 
ist  die  Erkenntnis  selbst,  ihr  Gegenstand  der  Begriff  des 
Wissens:  die  Erfahrung,  nicht  die  Erfahrungen.  Die 
Philosophie,  soweit  sie  Wissenschaft  ist,  ist  Wissenschafts- 
lehre, die  Prüfung  des  Wissens,  die  Selbsterkenntnis 
der  Vernunft.  Sie  handelt  von  der  Wahrheit  unserer 
Vorstellungen  der  Dinge,  nicht  von  dem  Wesen  der 
Dinge  und  setzt  die  Wissenschaft,  die  ihr  Objekt  ist, 
voraus.     Wie  also  sollte  sie  diese  ersetzen  wollen? 

Was  sich  zwischen  diese  endgiltige  Epoche  der 
Philosophie  und  ihre  Wiedererneuerung  in  den  sechziger 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  eingeschoben  hat,  be- 
deutet, von  rein  wissenschaftlichem  Standpunkt  aus  be- 
urteilt, keinen  Fortschritt,  sondern  viel  eher  eine  Hemmung 
der  Entwicklung.   Der  deutsche,  sogenannte  „Idealismus" 


qg  Zweiter  Vortrag, 

setzte  die  Spekulation  wieder  an  die  Stelle  von  Forschung 
und  Kritik  und  meinte,  die  Wissenschaft  nicht  etwai  bloß 
meistern  zu  können,  sondern  sie  ersetzen  zu  müssen. 
Es  war  dies  eine  Philosophie,  die  sich  rühmte,  die  Er- 
fahrung nicht  zu  brauchen :  der  Philosoph,  erklärt  Fichte, 
bedarf  zu  seinem  Geschäfte  durchaus  keiner  Erfahrung, 
er  treibt  es  ohne  Rücksicht  auf  irgend  eine  Erfahrung 
und  schlechthin  a  priori.  Und  wenn  dieser  Verzicht 
auf  die  Erfahrung  bei  der  praktischen  Bestimmung  der 
Lehre  Fichtes  noch  eine  gewisse  Berechtigung  haben 
mochte,  für  die  theoretische  Forschung  bedeutet  er  die 
Verleitung  zu  Irrtum  und  Phantasterei.  Schelling  fand 
die  Naturwissenschaft  Newtons  „ideenlos";  die  Wissen- 
schaft fand  dafür  Schellings  ideenreiche  Naturphilosophie 
sinnlos.  Man  konnte  sich  auf  beiden  Seiten  mcht  ver- 
stehen; denn  während  man  auf  der  einen  nach  „Ideen", 
das  heißt  Wertbegriffen  dort  suchte,  wo  sie  nicht  hin- 
gehören, war  man  auf  der  anderen  nur  zu  gerne  geneigt, 
den  Wert  der  Ideen  überhaupt  zu  verneinen.  Und  so 
stellt  sich  uns  jene  ganze  Philosophie,  soferne  sie  sich 
als  Wissenschaft  ausgab,  als  ein  einziges  großes  Miß- 
verständnis heraus.  Sie  ist  damit  von  ihrer  ursprüng- 
ichen,  der  ethisch  schöpferischem  Richtung  abgekommen, 
die  ihr  Fichte,  einer  der  Erzieher  unseres  Volkes,  geben, 
wollte. 

Wie  sich  in  der  ersten  Periode  ihrer  neueren  Ent- 
wicklung die  Philosophie  mit  der  Wissenschaft  verbunden 
hat,  zeigt  die  Geschichte  der  großen  Systeme  jener  Zeit. 

Hobbes,  ein  Zeitgenosse  und  Rivale  Descartes,  der 
erste  exakte  Denker  über  politische  Dinge,  läßt  die 
neue  Philiosophie  mit  Kopernikus  beginnen  und  zählt 
Galilei  und  Harvey,  den  Entdecker  des  Kreislaufes  des 
Blutes,  zu  ihren  Begründern;  er  verstand  also  unter  der 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  2^ 

neuen  Philosophie  die  neue  Naturwissenschaft.  Und  eben 
dies  ergibt  sich  auch  aus  seiner  Erklärung:  Philosophie 
sei  die  gewisse  Erkenntnis  der  Wirkungen  oder  Phänomene 
aus  den  bekannten  Ursachen  oder  Erzeugnisweisen  und 
die  wahrscheinliche  Erkenntnis  der  Ursachen  aus  den  be- 
kannten Wirkungen.  Der  erste  Teil  dieser  Erklärung,  die 
den  doppelten  Weg  der  wissenschaftlichen  Forschung  an- 
gibt, bezieht  sich  auf  die  Mathematik,  deren  Prinzipien 
durch  innere  Anschauung  gegeben  werden,  während  der 
zweite  die  Gesamtheit  der  empirischen  Wissenschaften 
umfaßt,  für  welche  die  Erscheinungen  gegeben  und  die 
Prinzipien  oder  Ursachen  zu  suchen  sind.  Mathematik 
und  Naturwissenschaft  machen  demnach  für  Hobbes  die 
Philosophie  aus,  Gegenstand  der  Philosophie,  sagt 
Hobbes,  ist  jeder  Körper;  das  Wort  Körper  wird  hier 
in  einem  sehr  allgemeinen  Sinn  genommen:  es  steht 
für  alles,  was  zusammengesetzt  ist  und  eine  Entstehung 
hat,  vornehmlich  für  das,  was  wir  selbst  zusammen- 
setzen, nach  Prinzipien,  die  aus  uns  stammen,  wie  den 
geometrischen  Körper,  und  den  politischen  „Körper", 
den  Staat,  sofern  dieser  durch  den  Willen  des  Menschen 
geschaffen  und  aus  Verträgen  und  Gesetzen  erzeugt 
wird.  So  ordnet  Hobbes  die  Lehre  vom  Staate  der 
deduktiven  oder  mathematischen  Betrachtung  unter,  um 
das  was  vom  Staate  a  priori  zu  erkennen  ist  von  dem 
Historischen  abzusondern,  und  indem  er  die  Philosophie 
als  Körperlehre  auffaßt,  macht  er  sie  zu  einer  universellen, 
alle  Erkenntnisprobleme  umfassenden  Naturwissenschaft. 
Doch  finden  sich  auch  Gedanken  bei  ihm,  die  bereits 
Keime  der  Kritik  der  Erkenntnis  enthalten;  und  in  der 
Lehre  vom  Räume  ist  Hobbes  ein  Vorgänger  Kants. 

Unter  der  Philosophie  Descartes'  hat  man  im  acht- 
zehnten Jahrhundert   bei   Anhängern   wie   Gegnern   nie 


40  Zweiter  Vortrag. 

etwas  anderes  verstanden  als  die  Physik  Descartes',  insbe- 
sondere die  berühmte  Wirbel-Hypothese,  die  der  Lehre 
Newtons  weichen  mußte,  weil  die  astronomischen  Be- 
obachtungen gegen  sie  entschieden,  aber  als  Versuch  die 
Schwere  physikalisch  zu  erklären,  geschichtlich  überaus 
merkwürdig  ist.  Und  auch  Descartes  selbst  schätzte  nicht 
seine  metaphysischen  Betrachtungen,  die  man  gewöhn- 
lich allein  unter  seiner  Philosophie  versteht,  am  höchsten, 
sondern  seine  physikalischen  Forschungen.  Nur  für 
diese  nahm  er  objektive  Giltigkeit  in  Anspruch.  Von 
jenen  Spekulationen  dagegen  meinte  er,  sie  gefielen  ihm 
zwar  ganz  wohl,  doch  andere  hätten  auch  welche,  und 
diese  gefielen  ihnen  vielleicht  noch  besser.  Als  er  aber 
zu  einigen  allgemeinen  Begriffen  in  der  Physik  gelangt 
war,  glaubte  er  nicht  länger  im  Verborgenen  bleiben 
zu  dürfen.  Denn  sie  hätten  ihm  die  Möglichkeit  zu 
Ansichten  gezeigt,  die  für  das  Leben  fruchtbar  und  ge- 
eignet seien  statt  der  theoretischen  Schulphilosophie  eine 
praktische  Philosophie  zu  gewinnen,  die  uns  zu  Herren 
und  Eigentümern  der  Natur  mache.  Descartes  denkt 
an  die  Anwendung  der  Prinzipien  der  Mechanik  auf  alle 
Vorgänge  in  der  äußeren  Natur;  er  denkt,  um  Einzelnes 
hervorzuheben,  an  die  Entdeckung  und  physikalische 
Erklärung  des  Brechungsgesetzes  des  Lichtes,  an  die 
Ableitung  der  Schwere  aus  der  Fliehkraft  und  dem 
Drucke  der  Wirbel,  und  vor  allem  an  die  seiner  Zeit 
vorauseilenden  Vorstellungen  von  der  mechanischen 
Natur  der  Prozesse  des  Lebens.  Descartes  hat  eine 
Revolution  ebenso  in  der  Physiologie  und  Medizin  her- 
vorgebracht wie  in  der  Physik  und  Metaphysik.  Er 
ward  zum  Haupte  einer  medizinischen  Schule,  die  sich 
die  iatromechanische  nannte,  weil  sie  aus  dem  Studium 
der  Lebensvorgänge  nach  mechanischen  Gesichtspunkten 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  ai 

Mittel  zur  Heilung  der  Krankheiten  gewinnen  wollte. 
Die  physiologischen  Kenntnisse,  über  welche  er  ver- 
fugte, sind  für  seine  Zeit  von  überraschender  Genauig- 
keit. Er  machte  anatomische  Beobachtungen,  —  ein 
zerlegtes  Tier  nannte  er  gelegentlich  seine  Bibliothek 
— ,  er  stellte  Tierversuche  an  und  studierte  die  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Organismen.  Er  beschreibt  die 
Reflexbewegung  an  Menschen  und  Tieren  und  weiß, 
daß  die  Wärme  die  einzige  Quelle  der  tierischen  Be- 
wegung ist.  Auf  diese  physiologischen  Forschungen 
legte  er  selbst  das  Hauptgewicht;  sie  in  ihrer  Anwendung 
auf  die  Medizin  erschienen  ihm  als  das  eigentliche  Ziel 
seiner  „Philosophie".  Er  habe  beschlossen,  schrieb  er 
1637,  seine  ganze  noch  übrige  Lebenszeit  dem  Studium 
der  Natur  in  der  von  ihm  gefundenen  Methode  zu  weihen, 
um  dadurch  zu  sichereren  Regeln  für  die  Medizin  zu  ge- 
langen, als  es  die  bisherigen  sind. 

Wer  es  nicht  wüßte,  dafs  Descartes  in  erster  Reihe 
Naturforscher  war,  könnte  sich  allein  schon  durch  eine 
Übersicht  des  Inhalts  seiner  Werke  davon  überzeugen 
Die  Schrift  über  die  Methode,  keine  Abhandlung,  eine 
„Unterredung",  von  der  Kuno  Fischer  sagt,  man  erwarte 
einen  Wegweiser  und  lerne  einen  Menschen  kennen,  bildet 
die  Einleitung  zu  einer  Reihe  von  Arbeiten  physikalischen 
und  mathematischen  Inhalts,  die  unter  dem  gemeinsamen 
Titel  „philosophische  Versuche"  erschienen.  Es  sind  dies 
die  Dioptrik,  die  Lehre  von  den  Meteoren,  die  Geometrie 
—  und  alle  diese  Arbeiten  nennt  Descartes  ohne  Unter- 
schied: philosophische.  Eines  weiteren  Beweises,  daß 
für  ihn  forschende  Wissenschaft  und  theoretische  Philo- 
sophie ein  und  dasselbe  bedeuteten,  daß  er,  wie  seine 
ganze  Zeit,  beides  völlig  gleich  setzte,  bedarf  es  nicht. 
.    Und    was    schon    die    „philosophischen    Versuche" 


42  Zweiter  Vortrag. 

zeigten:  das  Übergewicht  der  physikalischen  und  mathe- 
matischen Forschungen  Descartes  über  seine  im  engeren 
Sinne  des  Worts  philosophischen  bestätigen  die  „Prinzipien 
der  Philosophie".  Dieses  Hauptwerk  Descartes'  ist  die 
Ausführung  eines  älteren,  unter  dem  Eindruck  von 
Galileis  Verurteilung  zurückgelegten  Werkes  und  sollte 
den  Titel:  „die  Welt"  führen.  Von  den  vier  Büchern 
desselben  beschäftigen  sich  drei  mit  naturwissenschaft- 
lichen Fragen.  Descartes  gibt  darin  eine  Gesamtdar- 
stellung, das  System  seiner  Physik.  Der  leitende  Ge- 
danke ist  die  mechanische  Entwicklung  der  Körperwelt. 
„Mit  Hilfe  der  Gesetze  der  Bewegung  muß  die  Materie 
alle  Gestalten,  deren  sie  fähig  ist,  nach  und  nach  an- 
nehmen und  wenn  wir  diese  Gestalten  der  Reihe  nach 
betrachten,  werden  wir  endlich  zu  derjenigen  gelangen) 
welche  die  der  gegenwärtigen  Welt  ist."  Die  Vorgänge 
in  der  Natur  erscheinen  sonach  als  eine  geschlossene 
Kette  von  Bewegungen,  dabei  wird  die  Summe  der  Be- 
wegung im  Ganzen  als  unveränderlich  vorausgesetzt;  es 
ist  der  erste,  wenngleich  noch  unvollkommene  Ausdruck 
des  Prinzipes  der  Erhaltung  der  Energie.  Und  indem 
Descartes  den  Begriff  der  Kraft  mit  der  Annahme  ver- 
borgener Massen  und  Bewegungen  umgeht,  betritt  schon 
er  den  Weg,  den  in  unseren  Tagen  H.  Hertz  wieder 
eingeschlagen  hat.  Auch  die  Hypothese  der  Wirbel,  der 
kyklischen  Bewegungen  lebt  in  der  Physik  der  Gegenwart 
wieder  auf 

Descartes'  Geist  durchschweift  die  Welt  in  den 
„Prinzipien".  Von  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Be- 
wegung erhebt  sich  seine  Betrachtung  zur  Physik  des 
Himmels,  sie  steigt  von  da  zur  Physik  der  Erde  herab 
und  dringt  zu  den  Bewegungen  in  Nerv  und  Hirn  vor, 
die    die   Empfindung   begleiten.     Hier  aber   macht   sie 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  a^ 

Halt;  ihr  ableitendes  Verfahren  muß  hier  enden,  da  sie 
unvermerkt  an  den  Ausgangspunkt  aller  Erfahrung  zu- 
rückgelangt ist.  Die  Empfindung  ist  der  unaufgeklärte 
Rest  für  Descartes,  —  für  Du  Bois  Reymond,  für  jede 
Naturauffassung,  die  aus  der  mechanischen  Erscheinungs- 
seite der  Dinge  das  Wesen  der  Dinge  macht.  Es  ist 
lehrreich  zu  sehen,  wie  Descartes  mit  der  Empfindung 
verfährt,  mit  ihr  verfahren  muß.  Sie,  das  Element  des 
für  uns  Wirklichen,  sollte  eigentlich  nach  den  Grund- 
sätzen seiner  Philosophie  gar  nicht  existieren.  Denn 
weder  aus  der  Seele,  deren  Wesen  im  reinen  Denken 
bestehen  soll,  läßt  sie  sich  herleiten,  noch  ist  sie  aus 
dem  Körper  zu  begreifen,  dem  keine  anderen  Wesens- 
bestimmungen zugeschrieben  werden  als  Ausdehnung 
und  Bewegung.  Descartes  will  sie  daher  aus  der  Ver- 
einigung von  Körper  und  Seele  ableiten;  es  bleibt  aber 
völlig  unverständlich,  wie  aus  der  Verbindung  von  Fak- 
toren ein  Produkt  hervorgehen  soll,  das  in  keinem  ent- 
halten, ja  aus  jedem,  für  sich  genommen,  als  seinem 
Wesen  wiedersprechend  ausgeschlossen  ist. 

Mit  den  physikalischen  Forschungen  Descartes' 
stehen  auch  seine  grundlegenden  Betrachtungen  zur  Meta- 
physik und  Erkenntnislehre  in  unlösbarem  Zusammen- 
hange und  erhalten  erst  in  diesem  Zusammenhange 
ihren  eigentlichen  authentischen  Sinn.  So  vor  allem 
das  berühmte,  nicht  ebenso  oft  richtig  verstandene  als 
nachgesprochene:  cogito,  ergo  sum,  ich  denke,  also 
bin  ich.  Descartes  will  mit  diesem  Satze  zu  der  Voraus- 
setzung aller,  auch  der  naturwissenschaftlichen  Erkennt- 
nis: dem  denkenden  Subjekte  zurückgreifen,  um  von  da 
aus  in  methodischem  Fortschritte  und  auf  dem  Wege 
einer  lückenlosen  Deduktion  zu  den  Grundbegriffen  des 
Wissens    und    den   Elementen   des   Seins    zu   gelangen. 


jjA.  Zweiter  Vortrag. 

Das  Sein  des  Denkens  erscheint  nach  seiner  Lehre 
allein  von  unmittelbarer  Gewißheit:  cogitatio  est.  Hier 
sollen  wir  den  archimedischen  Punkt  haben,  von  dem 
aus  auch  das  Wissen  von  den  Objekten  in  Bewegung 
zu  versetzen  ist;  hier  das  Prinzip,  in  welchem  Wahrheit 
und  Wirklichkeit  zusammentreffen,  sofern  es  Existenz 
in  sich  einschließt  und  zugleich  begreiflich,  ja  das  Be- 
greifen selbst  ist.  „Das  Denken  ist  die  Regel  der  Wahr- 
heit der  Dinge."  Ein  Maßstab  soll  uns  damit  gegeben 
werden  für  jegliche  Erkenntnis,  die  zugleich  wahr  und 
wirklich  ist;  insbesondere  aber  die  Naturerkenntnis  er- 
hält von  da  aus  ihre  Beglaubigung.  Es  ist  der  ausge- 
sprochene und  alleinige  Zweck,  den  Descartes  mit  seinen 
metaphysischen  Erwägungen  verfolgt :  die  Realität  der  Be- 
griffe zu  beweisen,  aus  denen  die  Physik  ihre  Hypothesen 
bildet.  Nur  was  begreiflich  ist,  argumentiert  Descartes, 
ist  wirklich,  nur  das  Mathematische  ist  von  der  äußeren 
Natur  begreiflich;  also  ist  auch  nur  das  Mathematische 
in  ihr  an  sich  wirklich.  Die  Natur  handelt  mathe- 
matisch, daher  ist  sie  gesetzmäßig,  also  klar  und  deut- 
lich erkennbar  und  darum  wirklich.  Leicht  erkennen 
wir  in  dieser  Schlußweise  einen  Überrest  des  mittel- 
alterlichen (und  antiken)  „Realismus"  der  Begriffe,  von 
dem  sich  auch  Descartes'  freier  Geist  nicht  völlig  frei 
zu  machen  vermochte.  Statt  wie  es  in  der  Ordnung 
gewesen  wäre,  die  Begreiflichkeit  zum  Maße  der  Er- 
kenntnis der  Dinge  zu  machen,  machte  sie  Descartes 
zum  Maße  ihrer  Wirklichkeit.  Nur  das  Rationelle  ist 
ihm  auch  das  Reelle;  die  Dinge  sollen  nur  so  weit 
reell  sein,  als  sie  zugleich  rationell  sind.  Und  so  ver- 
wandelte sich  in  seinem  Geiste  diese  sinnenfällige  Welt 
mit  ihrem  unendlichen  Reichtum  an  Qualitäten  und 
Stufen    von    Qualitäten    in    ein    bares    mathematisches 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  4  c 

Objekt.  Er  sah  nicht,  daß  dieses  Objekt  nichts  als  den 
Niederschlag  seiner  eigenen  Abstraktion  darstellte  und 
daß  nur  als  Abstraktion  genommen  sein  Verfahren  be- 
rechtigt war.  Statt  bloß  die  Begriffe  zu  unterscheiden, 
trennte  er  die  Dinge  und  kam  so  zu  der  Entgegen- 
setzung seiner  beiden  „Substanzen",  einer  rein  denkenden 
und  einer  nur  ausgedehnten,  zwischen  welchen  Ab- 
straktionen die  ganze  konkrete  Natur  zu  Boden  fällt. 
Aber  selbst  dieser  „Dualismus"  des  Philosophen  zeigt 
sich  noch  beherrscht  von  Gesichtspunkten  der  exakten 
Forschung  und  durchdrungen  von  dem  Geiste  der  reinen 
Naturwissenschaft,  welche  Descartes  gleichsam  mit  ent- 
deckt hat.  Doch  ist  sein  Gegensatz  zu  Galilei  nicht  zu 
übersehen.  Während  Galilei  nach  den  mathematischen 
Gesetzen  der  Naturvorgänge  forschte,  entwirft  Descartes 
Bilder  oder  Modelle,  welche  die  Vorgänge  anschaulich 
machen  sollen.  Er  besaß  daher  für  Galileis  anders  ge- 
richtetes Verfahren  kein  rechtes  Verständnis  und  tadelt 
sogar,  daß  dieser  Gesetze  der  Schwere  aufstellte,  ehe 
er  das  Wesen  der  Schwere  bestimmt,  das  ist  eine 
rein  physikalische  Theorie  derselben  gegeben  habe. 
Wenn  daher  Descartes  von  seinen  Landsleuten  als  der 
„Vater  der  Physik"  gefeiert  wird,  so  gebührt  dieser  Ehren- 
name Galilei  mit  weit  größerem  Rechte  und  sicher  in 
anderer  Bedeutung.  Schuf  Galilei  die  Physik  der  Ge- 
setze, so  gab  Descartes  das  erste,  moderne  Beispiel 
einer  Physik  der  Hypothesen. 

Der  Metaphysiker  in  der  Reihe  der  großen  Systems- 
philosophen des  17.  Jahrhunderts  ist  Spinoza.  Liegt 
nicht,  wie  schon  die  Form  der  Einkleidung  seiner  Ge- 
danken, die  „geometrische  Ordnung"  der  Beweise  zeigt, 
auch  auf  seinem  Systeme  der  Reflex  der  mathematisch- 
mechanischen   Wissenschaft    seiner    Zeit?     Es    ist    die 


^6  Zweiter  Vortrag. 

Stellung  Spinozas  in  der  Geschichte  der  Philosophie, 
daß  er  mit  der  neu  gewonnenen  Einsicht  in  die  Not- 
wendigkeit alles  Geschehens  die  höchsten  Forderungen 
und  Aspirationen  des  menschlichen  Gemütes  nicht  bloß 
verbindet  und  versöhnt,  sondern  eben  jene  Einsicht  selbst 
zur  Grundlage  der  wahren  Gotteserkenntnis  und  Quelle 
des  Seelenfriedens  macht.  Man  weiß  wie  entschieden 
Spinozas  Geist  auf  Goethe  wirkte,  welchen  Einfluß  er 
auf  Goethes  ganze  Denkweise  nahm.  Heine  fand  dafür 
das  anmutige  Wort:  „die  Lehre  Spinozas  hat  sich  aus 
ihrer  mathematischen  Hülle  entpuppt  und  umflattert  uns 
als  Goethe'sches  Lied".  Eine  Friedensluft  schien  Goethe 
aus  der  Ethik  des  lange  verkannten  Denkers  entgegen- 
zuwehen, hier  fand  er  eine  Beruhigung  seiner  Leiden- 
schaften; eine  große  und  freie  Aussicht  über  die  sinn- 
liche und  sittliche  Welt  schien  sich  ihm  aufzutun. 

Wir  zählen  die  Lehre  Spinozas  zu  den  Grundge- 
stalten der  philosophischen  Weltanschauung  und  wie 
wir  von  Piatonismus  reden  als  einer  typischen  Art,  Welt 
und  Leben  zu  betrachten,  die  in  ihrer  Bedeutung  über 
die  historische  Ausprägung  im  Systeme  Piatos  hinaus- 
reicht, ebenso  reden  wir  auch  von  Spinozismus,  gleich 
unpersönlich  und  das  Wesentliche  über  das  Geschicht- 
liche stellend.  Und  wir  haben  dazu  noch  ein  besonderes 
Recht.  Die  Selbstlosigkeit  des  Philosophen,  die  „grenzen- 
lose Uneigennützigkeit",  die  Goethe  besonders  an  ihn 
fesselte,  wollte  nicht  zugeben,  daß  die  Lehre,  die  er 
hinterließ,  von  ihm  den  Namen  führe.  Nicht  er,  war 
seine  Meinung,  Gottes  Denkkraft  in  ihm,  durch  ihn  habe 
sein  Werk  geschaffen.  Nur  mit  den  Initialen  seines 
Namens,  und  auch  dies  nicht  mit  seinem  Willen,  erschien 
posthum  die  Ethik, 

Der  leitende  Begriff  bei  Spinoza  ist  der  Begriff"  des 
Naturgesetzes,     Nach    der  Analogie   mit   der   Naturge- 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  47 

setzlichkeit  denkt  sich  Spinoza  die  Abhängigkeit  der 
Einzeldinge  von  dem  unendlichen  göttlichen  Sein.  „Gott 
handelt  nach  den  Gesetzen  seiner  Natur".  Und  da 
Gott  allein  an  sich  wirklich  ist,  und  es  außer  ihm  keine 
„Substanz"  gibt  noch  eine  solche  begriffen  werden  kann, 
so  sind  die  Gesetze  der  Natur  Gottes,  die  Gesetze  der 
Natur  überhaupt.  Gott  ist  die  Natur  an  sich  (deus  sive 
natura).  Er  offenbart  sich  daher  in  den  Naturgesetzen. 
Diese  sind  eine  Form,  Gottes  Wesen  zu  erkennen.  Denn 
sie  erstrecken  sich  auf  Unendliches,  nämlich  alle  die 
zahllosen  Fälle,  in  denen  sie  gelten,  gegolten  haben, 
gelten  werden,  auch  werden  sie  von  uns  „unter  einer 
gewissen  Form  der  Ewigkeit"  gedacht,  soferne  sie  das 
Unveränderliche  und  von  aller  Zeit  Unabhängige  im 
Veränderlichen  ausdrücken  und  heute  nicht  anders  sind, 
als  sie  von  je  gewesen  sind  und  immer  sein  werden; 
und  „so  zeigen  sie  selbst  uns  auf  gewisse  Weise  die 
Unendlichkeit,  Ewigkeit  und  Unveränderlichkeit  Gottes 
an".  Zwar  kennt  Spinoza  noch  eine  höhere  Stufe  der 
Erkenntnis.  Hier  aber  wird  er  zum  Mystiker.  Er  denkt 
an  eine  Vernunftanschauung,  ein  unmittelbares  Bewußt- 
werden des  Menschen  mitsamt  allen  Dingen  ewig  in 
Gottes  Wesen  enthalten  und  gegründet  zu  sein.  Das 
ist  jene  von  ihm  so  hoch  gepriesene,  aber  niemals  klar 
gemachte,  noch  klar  zu  machende  „dritte  Erkenntnisart", 
die  er  die  intuitive  nennt.  Wo  er  als  Philosoph  redet 
und  nur  der  Denker,  nicht  der  Mystiker  in  ihm  zu  Worte 
kommt,  da  kann  es  seiner  ausdrücklichen  Erklärung 
nach  „nur  eine  Weise  geben,  die  Natur  irgend  welcher 
Dinge  zu  erkennen,  nämlich  durch  die  allgemeinen  Ge- 
setze und  Regeln  der  Natur".  „Denn  die  Natur  ist 
immer  dieselbe  und  ihre  Kraft  und  Macht  zu  wirken 
überall  eine  und  dieselbe,  d.  i.  die  Gesetze  und  Regeln 
der  Natur,  denen  gemäß  alle  Dinge  geschehen  und  aus 


^8  Zweiter  Vortrag. 

den  einen  Formen  in  die  anderen  verwandelt  werden, 
sind  überall  und  immer  die  nämlichen."  Diese  Erkennt- 
nisart durch  die  Naturgesetze  heißt  bei  Spinoza  ratio, 
und  dies  bedeutet  in  seiner  Zeit  so  viel  als  Erkennen 
nach  dem  Muster  der  Mathematik,  in  der  Weise  der 
mathematischen,  daher  „rationellen"  Naturwissenschaft. 
„Wie  aus  dem  Begrifif  des  Dreiecks  von  Ewigkeit  zu 
Ewigkeit  folgt,  daß  die  drei  Winkel  des  Dreiecks  gleich 
sind  zwei  rechten,  so  folgt  aus  der  unendlichen  Natur 
Gottes  unendlich  Vieles,  in  unendlich  vielen  Weisen, 
nämlich  Alles",  nämlich  die  Gesamtheit  der  Dinge,  die 
nichts  sind,  als  die  Besonderungen  oder  Afifektionen  des 
einen  und  höchsten  Seins.  Dieses  unendliche,  durchaus 
tätige  Wesen,  die  „actuosa  essentia"  Gottes  ist  ununter- 
brochen schaffend  am  Werke  und  die  Ordnung  seines 
Schaffens  ist  fest  und  unabänderlich.  Nichts  kann  zu  den 
Naturgesetzen  hinzugefügt,  nichts  von  ihnen  genommen 
werden.  „Die  Dinge  konnten  auf  keine  andere  Weise,  in 
keiner  anderen  Ordnung  von  Gott  hervorgebracht  werden. 
als  sie  von  ihm  hervorgebracht  worden  sind."  Sollte  die 
Naturordnung  eine  andere  sein  können,  als  sie  ist,  so 
müßte  Gott  ein  anderer  sein  können,  als  er  ist:  eine 
andere  Natur  —  ein  anderer  Gott.  Annehmen,  daß 
eine  zweite  Ordnung  der  Natur  außer  der  tatsächlich 
gegebenen  möglich  sei,  hieße  Gottes  Wesen  verdoppeln, 
hieße  an  zwei  Götter  glauben;  jene  Annahme  ist  daher 
an  sich  widersinnig  und  bedeutet  überdies  einen  Abfall 
von  dem  wahren  Glauben  an  das  alleinige  göttliche 
Wesen  und  Sein.  So  folgt  für  Spinoza  aus  der  Einheit 
und  Einzigkeit  Gottes  die  Einheit  und  Einzigkeit  der 
Natur.  Die  mathematische  Notwendigkeit,  mit  der  die 
Naturgesetze  gelten,  schließt  Zweck  und  Zufall  von  dem 
Wesen  der  Dinge  aus.  Die  Natur  hat  keinen  ihr  vor- 
gesteckten Zweck,   noch  handelt   sie  um  eines  inneren 


Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit,  aq 

Zweckes  willen.  Die  Zweckbetrachtung  reicht  nicht  bis 
zu  dem  Grunde  der  Naturvorgänge  hinab;  sie  ist  eine 
oberflächliche  und  relative,  eine  rein  menschliche  Be- 
trachtungsweise, ein  Geschöpf  der  Einbildungskraft  des 
Menschen,  der  damit  eine  Folge  seiner  Natur,  seine 
Triebe  und  sein  Verlangen,  zur  Ursache  der  Natur  macht. 
„Gott  regiert  die  Natur  wie  es  deren  allgemeine  Gesetze, 
nicht  wie  es  die  besonderen  Gesetze  der  menschlichen 
Natur  erfordern."  Zufall  aber  bedeutet  nichts  als  einen 
Mangel  unserer  Erkenntnis ;  zufällig  erscheinen  uns  Dinge, 
deren  Ursachen  wir  nicht  kennen,  aus  demselben  Grunde 
erscheint  uns  unser  Wille  frei.  „In  der  Natur  der  Dinge 
selbst  gibt  es  nichts  Zufälliges  (in  rerum  natura  nullum 
datur  contingens) ;  alles  vielmehr  ist  aus  der  Notwendig- 
keit der  göttlichen  Natur  bestimmt,  auf  gewisse  Weise 
zu  sein  und  zu  wirken."  Kein  Ding,  das  nicht  von 
Gott  bestimmt  ist,  etwas  zu  wirken,  kann  sich  selbst 
zum  Wirken  bestimmen;  keines,  das  von  Gott  dazu  be- 
stimmt ist,  sich  selbst  unbestimmt  machen. 

Diese  Lehre  nun  hat  bei  Spinoza  einen  anderen 
als  rein  wissenschaftlichen  „Zweck",  so  wollen  wir  sagen, 
einen  anderen,  zur  Lebensführung  gehörenden  Sinn.  Sie 
soll  die  Anleitung  zur  Seelenstärke  sein,  zur  Macht  des 
Menschen  über  sich  und  die  Dinge.  Sie  ist  eine  Frei- 
heitslehre, sie  weist  den  Menschen  auf  den  Weg  zu  seiner 
wahren  Freiheit,  welche  die  innere  Notwendigkeit  des 
Handelns  nicht  aufhebt,  sondern  voraussetzt  Sie  ist  die 
Lehre  vom  höchsten  Gut  und  darum  heißt  sie  auch  nicht 
Physik  oder  Metaphysik,    sondern  Ethik. 

„Alles,  wovon  der  Mensch  selbst  die  wirkende  Ur- 
sache ist,  das  ist  alles,  was  durch  die  bloßen  Gesetze 
seiner  eigenen  Natur  begriffen  werden  kann,  ist  not- 
wendig  gut,    und   es   kann    dem   Menschen   kein   Übel 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  4 


50  Zweiter  Vortrag. 

widerfahren  als  nur  von  äußeren  Ursachen,  sofern  er 
nämlich  ein  Teil  der  ganzen  Natur  ist,  deren  Gesetzen 
die  menschliche  Natur  zu  gehorchen  und  der  sich  der 
Mensch  auf  fast  unendliche  Weisen  anzupassen  genötigt 
ist"  Böse  kann  nur  die  Überwältigung  des  mensch- 
lichen Geistes  durch  Affekte  genannt  werden,  welche 
Leidenschaften  (passiones)  sind  und  die  tätigen  Affekte 
des  Menschen,  seine  Handlungen,  beschränken.  Wäre 
der  Mensch  frei  geboren,  könnte  er  von  Anbeginn  an 
kraft  seines  eigenen  Wesens  handeln,  ohne  von  Leiden- 
schaften getrieben  zu  werden,  so  würde  er  keinen  Begriff 
von  gut  oder  böse  bilden;  er  wäre  in  gewissem  Sinne 
„jenseits  von  Gut  und  Böse".  Notwendig  gut  ist  also  das 
absolut  Machtvolle.  Tugend  und  Macht  sind  ein  und  das- 
selbe, —  dasselbe  ist:  vollständig  aus  eigener  Tatkraft 
handeln  und  gut  handeln.  Die  Glückseligkeit  ist  daher 
nicht  der  Lohn  der  Tugend,  sondern  die  Kraft  der  Tugend 
selbst.  Also  lehrte  Spinoza.  Seine  Lehre  weist  uns  an, 
das  doppelte  Antlitz  des  Schicksals,  Gutes  und  Schlimmes, 
mit  Gleichmut  zu  ertragen  und  nicht  etwa  nur  resignierend 
zu  ertragen,  sondern  ja  sagend  dazu,  übereinstimmend 
damit;  denn  überall  ist  die  nämliche  Macht  und  Kraft 
Gottes  im  Werke.  Wir  handeln  nur  auf  den  Wink  des 
höchsten,  allwirksamen  Seins,  in  ihm  leben,  weben  und 
sind  wir:  —  dies  die  Essenz  der  Lebensweisheit  Spinozas. 
Daß  dieses  vollkommenste  Muster  irgend  welcher 
dogmatischen  Philosophie,  die  wir  kennen,  daß  Spinozas 
Ethik,  so  lange  man  noch  keine  kritische  Philosophie  be- 
saß und  nachdem  man  sie  wieder  vergessen  hatte,  den 
mächtigsten  Einfluß  ausüben  mußte,  kann  uns  nicht 
auffallend  erscheinen.  Und  nicht  Kant,  sondern  Spinoza 
ist,  wie  die  Geschichte  bezeugt,  der  Vater  der  deutschen 
idealistischen  Spekulation,  deren  wesentlichste  Ideen  eine 


^  Die  Philosophie  in  der  neueren  Zeit.  ci 

Nachbildung,   öfter   auch  eine  Abschwächung  Spinozis- 
tischer  Gedanken  sind. 

Am  Schlüsse  dieser  Betrachtung  ist  wohl  die  Frage 
nach  dem  wahren  Werte  der  großen  philosophischen 
Systeme  des  siebzehnten  Jahrhunderts  (zu  denen  auch 
dasjenige  von  Leibniz  gehört)  dem  Werte  der  philoso- 
phischen Systembildung  überhaupt  am  Platze.  Hätten 
diese  Schöpfungen  großer  Denker  auch  nichts  weiteres 
bewirkt,  als  das  Bewußtsein  vom  Endziele,  nach  welchem 
die  Wege  der  Forschung  weisen  und  wohin  ihre  Linien 
sich  neigen,  wach  erhalten  oder  erneuert  zu  haben;  ihr 
Verdienst  wäre  auch  dann  nicht  gering,  und,  was  sie 
damit  geleistet,  durch  positive  Forschung  allein  nicht  zu 
ersetzen.  Die  Wissenschaften  insgesamt,  sagt  Descartes, 
sind  nichts  anders  als  die  menschliche  Erkenntnis  und 
diese  ist  immer  eine  und  dieselbe,  auf  wie  verschiedene 
Gegenstände  sie  auch  angewandt  werden  mag;  so  bleibt 
das  Licht  der  Sonne  immer  eines,  wie  verschieden  auch 
die  Dinge  sind,  die  es  erleuchtet.  Was  uns  aber  in  jenen 
von  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  ausgehenden,  aber 
deren  Grenzen  überschreitenden  Versuchen  als  das  Wert- 
vollste erscheint,  was  im  Wechsel  der  philosophischen 
Systeme,  dem  Wandel  ihrer  Lehren,  der  Entwicklung  ihrer 
Anschauungen  das  Bleibende  darstellt,  ist  nicht  das  Finden 
oder  das  angebliche  Gefundenhaben  des  Systems,  sondern 
das  Suchen  selbst:  das  Streben  nach  einer  Gesamtauf- 
fassung der  Dinge  und  des  Lebens,  weit  genug,  um  uns 
unsere  Stellung  in  der  Welt  überblicken  zu  lassen,  tief 
und  lebendig  genug,  um  unser  ganzes  Wesen  zu  ergreifen, 
unsere  Gesinnung  zu  veredeln  und  unser  Handeln  zu 
leiten,  —  das  Streben,  um  es  zusammenfassend  zu  sagen, 
nach  einer  Erkenntnis,  die  sich  in  Weisheit  verwandeln 
kann,  wovon  eben  die  Philosophie  ihren  Namen  führt. 


DRITTER  VORTRAG. 


DIE  KRITISCHE  PHILOSOPHIE. 

Weniger  glanzvoll  als  die  moderne  Wissenschaft 
und  die  ihrer  Bahn  folgenden  philosophischen  Systeme 
hat  sich  die  kritische  Philosophie,  wie  wir  sie  nach  dem 
Vorgange  Kants  nennen,  in  die  Geschichte  eingeführt. 
Ihre  Fragen  sind  nicht  geeignet,  Sinn  und  Einbildungs- 
kraft gefangen  zu  nehmen;  sie  erscheinen  wie  dem  Leben 
abgewandt  und  der  Wirklichkeit  fremd.  Diese  Philo- 
sophie verheißt  uns  weder,  uns  in  die  Weiten  kosmischer 
Räume  zu  fuhren,  noch  uns  einen  Einblick  in  das  Wesen 
der  Natur  zu  eröffnen.  Sie  richtet  die  Betrachtung  auf 
das  erkennende  Subjekt,  und  indem  sie  es  der  Wissen- 
schaft überläßt,  die  Dinge  zu  erforschen,  untersucht  sie 
den  Verstand,  der  die  Dinge  begreifen  will.  Sie  be- 
reichert nicht  den  Inhalt  unserer  Kenntnisse,  sie  sucht 
Form  und  Wert  der  Erkenntnis  als  solcher  zu  bestimmen. 
Darum  ist  sie  auch  nicht  eigentlich  forschend,  sondern 
beurteilend,  das  heißt  eben  kritisch.  Die  sokratische 
Weisheit  des  Nichtwissens,  in  Fragen  die  den  Umkreis  der 
Erfahrung  überschreiten,  ist  ihre  Maxime.  Sie  will  das 
Wissen  von  der  Beimischung  metaphysischer  Konzeptionen 
reinigen,  von  seinem  Bereich  diese  überschwänglichen 
Begriffe  ausschließen.  Und  wie  die  Einsicht  in  das 
Nichtwissen  nach  Sokrates  den  ersten  Schritt  zur  Selbst- 
erkenntnis für  den  Einzelnen  bedeutet,  so  bedeutet  die 
kritische    Philosophie    den    ersten    und    entscheidenden 


Die  kritische  Philosophie.  c« 

Schritt  zur  Selbsterkenntnis  für  die  Vernunft  im  All- 
gemeinen. 

Das  Erkennen  erkennen  wollen  1  Ist  dies  nicht  wider- 
sinnig, widerspricht  dieses  Vorhaben  nicht  sich  selbst? 
Es  scheint,  wir  müßten  einen  anderen,  höheren  Verstand 
voraussetzen,  um  unseren  Verstand  untersuchen  zu  können. 
Oder,  soll  der  Verstand  in  seiner  eigenen  Sache  Richter 
und  Partei  zugleich  sein?  Der  Verstand,  sagt  Locke, 
gleicht  dem  Auge,  das  während  es  alle  anderen  Dinge 
für  uns  sichtbar  macht,  sich  selbst  nicht  sieht;  daher  er- 
fordere es  eine  besondere  Kunst  und  Mühe,  ihn  sich 
selbst  gleichsam  gegenüberzustellen  und  zum  Objekt 
seiner  Untersuchung  zu  machen.  Auch  das  Auge  sieht 
sich  selbst,  wenn  es  sein  Bild  im  Spiegel  betrachtet. 
Der  Spiegel  des  Verstandes  aber  ist  das  Werk  des  Ver- 
standes: die  menschliche  Erkenntnis  und  Wissenschaft. 
Hier  wird  der  Verstand,  ein  inneres  Vermögen,  offenbar 
und  in  dem  was  er  bewirkt,  lassen  sich  seine  Fähig- 
keiten erkennen.  Doch  einem  begründeten  Bedenken 
ist  nicht  mit  einem  Gleichnis  zu  begegnen;  an  dem 
Werke  der  Kritik  der  Erkenntnis  selbst  soll  gezeigt 
werden,  wie  diese  Kritik  möglich  ist,  was  sie  soll  und 
was  sie  vermag. 

Wir  gehen  dabei  von  der  gewöhnlichen  Anschauung 
aus,  die  uns  allen  natürlich  ist:  dem  Bewußtsein  der  un- 
mittelbaren Gegenwart  des  Objektes  in  der  Wahrnehmung 
der  Sinne.  Dieses  sinnliche  Bewußtsein,  mit  dem  die 
Erfahrung  beginnt,  kennt  keinen  Unterschied  zwischen 
Wahrnehmung  und  Gegenstand;  es  weiß  nur  vom  Gegen- 
stand und  nichts  von  seiner  Wahrnehmung.  Die  An- 
schauung der  Sinne  ist  nach  außen,  nicht  auf  sich  selbst 
gerichtet.  Wie  wir  die  Sonne  auf-  und  untergehen  sehen, 
die  Bewegung  der  Erde  aber  nicht  fühlen,  weil  wir  uns 


54  Dritter  Vortrag. 

mit  ihr  bewegen;  so  erscheinen  uns,  solange  wir  wahr- 
nehmen, unsere  Wahrnehmungen  selbst  als  die  Dinge 
und  wir  werden  uns  der  Tätigkeit  unseres  Wahrnehmens 
nicht  bewußt.  So  natürlich  uns  jene  erste  Auffassung 
ist,  die  von  der  Bewegung  der  Sonne,  welche  die  Wissen- 
schaft berichtigt  hat,  so  zwingend  und  natürlich  erscheint 
uns  die  zweite,  die  wir  nun  zu  prüfen  haben. 

Es  bedarf  nicht  vieler  Vorbereitungen  dazu;  schon 
die  alltägliche  Beobachtung  überzeugt  uns,  daß  die  Gleich- 
heit von  Wahrnehmung  und  Wahrnehmungsgegenstand 
nicht  richtig  sein  kann.  Mag  in  der  einzelnen  Wahr- 
nehmung der  Gegenstand  noch  so  leibhaftig  enthalten, 
ja  mit  ihr  eins  zu  sein  scheinen,  —  die  Wahrnehmung 
ändert  sich,  auch  wenn  wir  nur  unsere  Lage  zum  Gegen- 
stand, oder  die  Entfernung  von  ihm  ändern.  Wir  er- 
langen dann  neue  Wahrnehmungen,  die  von  der  früheren 
mehr  oder  minder  verschieden  sind.  Und  doch  sagen 
wir  in  diesem  Falle  nicht:  der  Gegenstand  hat  sich  ge- 
ändert oder  er  ist  aus  Einem  Vieles  geworden,  weil  die 
Wahrnehmung  sich  geändert  und  vervielfacht  hat,  — 
was  wir  sagen  müßten,  wenn  Wahrnehmung  und  Gegen- 
ständ wirklich  ein  und  dasselbe  wären.  Wir  beginnen 
vielmehr,  die  erste  Wahrnehmung  durch  die  folgende 
zu  berichtigen  und  zu  ergänzen,  und  endlich  erklären 
wir,  der  Gegenstand  ist  nicht  gleich  dieser  oder  irgend 
einer  einzelnen  Wahrnehmung,  er  ist  auch  nicht  gleich 
der  Summe  der  Wahrnehmungen,  die  wir  von  ihm  er- 
langen: richtiger  auf  ihn  beziehen;  er  ist  die  gemein- 
schaftliche Ursache,  der  Grund  aller  durch  ihn  gegebenen 
und  möglichen  Wahrnehmungen,  oder  von  uns  aus  be- 
trachtet, die  Regel,  aus  welcher  sie  sich  alle  mit  an- 
schaulicher Folgerichtigkeit  entwickeln  lassen.  Ich  wähle 
ein   Beispiel,    wo    dies    besonders    deutlich    wird.      Wir 


Die  kritische  Philospohie.  ti 

sprechen  von  der  wahren  Gestalt,  der  wahren  Größe 
der  Sonne  und  wissen,  daß  diese  Gestalt  und  Größe 
nie  zur  Wahrnehmung  kommen,  daß  kein  Auge  sie  sieht 
oder  je  sehen  könnte;  wir  wissen,  daß  ihre  Kenntnis 
durch  Vorstellungsprozesse  vermittelt  wird,  durch  Be- 
rechnung und  Schlußfolgerung,  und  sie  selbst  bleiben 
für  uns  Vorstellungen.  Wir  nennen  sie  aber  die  wahre 
Gestalt  und  Größe  der  Sonne,  weil  mit  ihrer  Annahme 
allein  alle  unsere  Erfahrungen  über  die  Sonne,  die  sinn- 
lichen wie  die  daraus  hergeleiteten  wissenschaftlichen, 
übereinstimmen.  Was  in  diesem  Beispiel  offenkundig 
ist,  gilt  in  ähnlicher  Weise  von  jedem  beliebigen  Gegen- 
stand unserer  Anschauung.  Der  Tisch  vor  uns,  —  was 
unserer  Anschauung  wirklich  von  ihm  gegeben  wird,  ist 
eine  Reihe  je  nach  unserem  Standpunkt  unterschiedener 
perspektivischer  Bilder,  deren  genauere  Beschaffenheit 
in  Farbe  und  Modellierung  überdies  abhängig  ist  von 
der  Umgebung  des  Tisches  und  den  wechselnden  Ver- 
hältnissen seiner  Beleuchtung.  Diese  Bilder  fassen  wir 
durch  ein  unwillkürliches,  der  bewußten  Verallgemeinerung 
und  Begriffsbildung  verwandtes  Verfahren  unseres  Geistes 
zur  Vorstellung  der  Gestalt  des  Tisches  zusammen. 
Jeder  Mensch  hat  in  seiner  sinnlichen  Erscheinung  eigent- 
lich unzählige  Gesichter,  unzählige  Nasen;  der  Künstler, 
der  ein  Porträt  machen  will,  hebt  durch  eine  Art  von 
Abstraktion  aus  dieser  unbestimmbaren  Mannigfaltigkeit 
die  eindrucksvollste  Erscheinungsform  hervor,  die  als 
solche  das  Gesetzliche  sämtlicher  Wahrnehmungsbilder 
enthält,  und  eben  daher  in  keiner  einzelnen  Wahrnehmung 
gegeben  ist,  und  seine  Darstellung  erscheint  umso  wahrer, 
je  voUkommner  sie  das  Abbild  der  Vorstellung  der  Form 
ist,  im  Unterschied  von  ihrer  bloßen  Wahrnehmung. 
Dieses   künstlerische  Verfahren   der  Auslese   und  Kon- 


c6  Dritter  Vortrag. 

centration  auf  das  Wesentliche  ist  nur  die  Weiterbildung 
der  natürlichen  Vorstellungstätigkeit,  die  wir  jedem 
Komplexe  von  Wahrnehmungen  gegenüber  absichtslos 
ausüben.  Stets  entwickeln  wir  durch  Verschmelzung 
und  Zusammenfassung  der  Wahrnehmungen  die  Vor- 
stellung des  Gegenstandes  und  diese  Vorstellung  selbst 
ist  nicht  mehr  rein  anschaulicher  Natur.  Sie  ist  nach 
der  richtigen  Bezeichnung  von  Helmholtz  ein  Begriff, 
denn  sie  umfaßt  alle  möglichen  einzelnen  Wahr- 
nehmungen, die  das  Objekt  in  uns  hervorrufen  kann. 
So  hat  sich  der  Gegenstand  immer  weiter  von  dem 
sinnlichen  Bewußtsein  entfernt,  mit  welchem  er  anfäng- 
lich verflochten  zu  sein  schien;  aus  einer  Wahrnehmung 
ist  er  zur  Vorstellung  geworden,  zum  Begriff,  der  als 
Regel  dient,  die  einander  folgenden  Wahrnehmungen  zu- 
sammenzuhalten und  einheitlich  zu  verknüpfen.  Dies 
soll  aber  nicht  heißen:  der  Gegenstand  selbst  ist  ein 
bloßer  Begriff;  es  bedeutet  nur:  ein  Begriff  vertritt  für 
unser  Bewußtsein  die  Stelle  des  Gegenstandes. 

Kehren  wir  zur  Wahrnehmung  zurück,  um  sie  noch 
in  anderer  Hinsicht  zu  betrachten.  —  Die  Wahrnehmung 
ist  zusammengesetzt  und  wie  sie  als  Ganzes  für  das 
sinnliche  Bewußtsein  den  Gegenstand  bildet,  so  erscheinen 
diesem  Bewußtsein  ihre  Bestandteile  als  Teile  und  Eigen- 
schaften des  Gegenstandes.  Blätter  und  Blüten  einer 
Pflanze  z.  B.  nennen  wir  Teile  der  Pflanze,  während 
das  Grün  der  Blätter,  das  Rot  der  Blüten  zu  ihren 
Eigenschaften  gehören.  Nun  entdecken  wir  bald  einen 
Unterschied  unter  den  Eigenschaften  eines  Objektes, 
wonach  einige  unmittelbarer  und  beständiger  dem  Ob- 
jekte anzuhaften  scheinen,  als  andere,  die  wir  daher  auch 
statt  als  Eigenschaften  lieber  als  Wirkungen  des  Objektes 
bezeichnen.     Das   Rot   scheint   uns   der  Rose   viel   un- 


Die  kritische  Philosophie.  57 

mittelbarer  eigen  zu  sein,  als  ihr  Duft;  wir  sagen  daher 
activ:  die  Rose  duftet,  sie  verbreitet  Wohlgeruch,  nicht 
sie  ist  Duft,  wie  wir  sagen,  sie  ist  rot.  Bei  tieferer  Be- 
trachtung sehen  wir  freilich  diesen  Unterschied  ver- 
schwinden. Wie  der  Duft  der  Rose  in  der  Fähigkeit 
der  Rose  besteht,  gewisse  Riechstoffe  zu  entsenden,  so 
besteht  ihre  Farbe  in  der  Fähigkeit,  bestimmte  Licht- 
strahlen zu  reflektieren.  Und  wie  der  Duft  der  Rose 
entsteht,  nicht  an  sich  besteht,  so  wird  auch  ihr  Rot 
unter  gewissen  Bedingungen  nur  beständig  wiedererzeugt. 
Alle  Eigenschaften  eines  Objekts  erscheinen  uns  jetzt 
als  Wirkungen,  und  das  worauf  gewirkt  wird,  ist  jedes- 
mal das  Sinnesorgan  eines  empfindenden  Wesens.  Was 
wir  laut  dem  Zeugnis  der  Wahrnehmung  Eigenschaften 
des  Objektes  nennen,  sind  zunächst  Empfindungen  von 
Sinneseindrücken,  die  durch  das  Objekt  erregt  werden. 
Von  dieser  wahren  Natur  ihrer  Bestandteile  verrät  uns 
die  bloße  Wahrnehmung  nichts,  und  auch  nachdem  wir 
sie  entdeckt  haben,  fahren  wir  fort,  unsere  Empfindungen 
als  Eigenschaften  der  Dinge  selbst  anzuschauen.  Auch 
würden  wir  bei  der  Unmöglichkeit,  die  Empfindungen  in 
uns  von  der  Eigenschaften  der  Objekte  außer  uns  wirk- 
lich zu  trennen,  nie  dazu  gelangt  sein,  beides  zu  unter- 
scheiden, hätten  wir  nicht  eine  Mehrheit  von  Sinnen. 
Dadurch  sind  wir  in  den  Stand  gesetzt,  dasselbe  Objekt 
auf  mehrfache  Weise  zu  untersuchen  und  die  Aussage 
eines  Sinnes  an  der  Aussage  eines  anderen  zu  prüfen. 
Wir  können  einen  Gegenstand  betasten,  ohne  ihn  zu 
sehen,  oder  ihn  sehen,  ohne  ihn  zugleich  zu  betasten. 
Wenden  wir  das  Auge  von  ihm  ab,  so  verschwinden 
seine  optischen  Eigenschaften:  Farbe  und  sichtbare  Ge- 
stalt, ziehen  wir  die  Hand  zurück,  so  verschwinden 
wieder   die  Beschaffenheiten  seiner  Oberfläche  aus  der 


58  Dritter  Vortrag. 

Empfindung  und  der  Widerstand,  den  er  dem  Druck 
der  Hand  entgegensetzt.  Indem  wir  so  mit  unseren 
Wahrnehmungen  experimentieren,  erproben  wir  die  Ab- 
hängigkeit der  Eigenschaften  des  Objektes,  so  wie  wir 
sie  wahrnehmen,  von  der  Empfindungsweise  unserer 
Sinne ;  wir  erkennen,  daß  zu  ihrer  Verwirklichung  wesent- 
lich die  Tätigkeit  der  Sinne  gehört.  Was  ist  das  Rot, 
ehe  es  durch  ein  Auge  gesehen  wird  und  nachdem  es 
aufgehört  hat  gesehen  zu  werden?  Ätherwellen  von 
bestimmter  Länge  und  Schwingungszahl  mögen  fort- 
fahren, vom  Gegenstand  zurückgeworfen  zu  werden; 
erst  ihre  Wirkung  auf  das  Auge  ist  Licht  und  Farbe. 
Eine  Empfindung  kann  sich  ändern,  auch  wenn  sich 
nichts  im  Objekte  selbst  geändert  hat;  dasselbe  Licht, 
das  auf  die  Netzhautgrube  fallend  farbig  empfunden 
wird,  erscheint  farblos,  wenn  es  auf  den  Rand  der  Netz- 
haut fällt. 

Schon  allein  die  Tatsache,  daß  zwischen  den  Dingen 
und  der  Empfindung  und  Wahrnehmung  der  Dinge  die 
Sinneswerkzeuge  und  Centralorgane  eines  empfindenden 
Wesens  eingeschaltet  sind,  macht  es  unmöglich,  in  den 
Empfindungen  etwas  anderes  zu  sehen,  als  Wirkungen 
der  Dinge.  Diese  nächstliegende  Betrachtung  genügt 
bereits,  den  naiven  Glauben  an  die  unmittelbare  Wirk- 
lichkeit der  Elemente  unserer  Wahrnehmung  zu  zerstören. 
Wir  bleiben  dabei  auf  dem  Standpunkt  des  common 
sense,  der  gemeinen  naturwüchsigen  Anschauung 
stehen  — ,  und  es  ist  immer  mißlich,  sich  zu  weit  von 
diesem  Standpunkt  zu  entfernen.  Diese  Dinge  vor  uns, 
die  den  Raum  erfüllen  und  im  Räume  ihre  Bewegung 
verbreiten,  sollen  die  wahren  Dinge  sein,  die  Dinge 
selbst;  gewiß  aber  ist,  daß  zwischen  ihnen  und  uns,  ehe 
wir  zu  ihrer  Wahrnehmung  gelangen,  ein  sehr  verwickelter 


Die  kritische  Philosophie.  to 

Prozeß  sich  abspielt,  dessen  Hauptstadien  und  Stufen 
die  Physiologie  beschreibt.  Das  Erste  sind  Bewegungen 
von  bestimmter  Form  und  Beschaffenheit,  Schallwellen, 
Lichtwellen  u.  dgl.,  die  vom  Objekte  ausgehen,  wir 
nennen  sie  Reize,  —  die  dadurch  ausgelösten  Ver- 
änderungen in  den  peripherischen  Sinnesorganen,  z.  B. 
der  Ausbreitung  des  Sehnerven  auf  der  Netzhaut,  sind 
das  Zweite;  diese  Veränderungen,  die  bei  einigen  Sinnen 
sicher,  und  wahrscheinlich  bei  allen,  chemischer  Natur 
sind,  werden  durch  die  Sinnesnerven  zu  den  primären 
Sinnescentren  (in  den  subcortikalen  Ganglien)  geleitet 
und  von  da  zu  den  Endstätten  in  der  Großhirnrinde, 
mit  deren  Erregung  erst  bewußte  Empfindung  und  Wahr- 
nehmung verknüpft  sind.  Muß  nicht  auf  diesem  weiten 
und  verschlungenen  Wege  die  Beschaffenheit  der  Ursache, 
mit  der  der  Vorgang  beginnt,  eine  tief  greifende  Um- 
wandlung erfahren?  Allgemein  hängt  die  Beschaffenheit 
einer  Wirkung  nicht  von  der  Natur  des  einwirkenden 
Faktors  allein  ab,  sie  wird  immer  zugleich  durch  die 
Natur  des  Gegenstandes  mitbestimmt,  auf  welchen  ge- 
wirkt wird.  Mit  Helmholtz  werden  wir  daher  sagen,  die 
Sinneseindrücke  und  Empfindungen  sind  nicht  Bilder 
der  Objekte,  sondern  Zeichen  derselben;  mit  Spinoza 
erklären:  die  Vorstellungen,  die  wir  von  äußeren  Körpern 
haben,  zeigen  mehr  die  Konstitution  unseres  Körpers 
an,  als  die  Natur  der  äußeren  Körper  selbst. 

Aber  wir  dürfen  hierbei  nicht  stehen  bleiben.  Von 
einer  Anzahl  von  Bestandteilen  der  Wahrnehmung  läßt 
sich  ein  Dasein  außer  der  Empfindung  nicht  vorstellen; 
so  völlig  scheint  ihr  Sein  mit  ihrem  Erlebtwerden  zu- 
sammenzufallen. Der  Ton  z.  B.,  der  so  eindringUch 
subjektiv  ist,  kann  in  der  Qualität,  in  der  wir  ihn  em- 
pfinden,  nicht   auch   in  der  objektiven  Welt  bestehend 


60  Dritter  Vortrag. 

gedacht  werden;  er  ist  ganz  offenbar  ein  Vorgang,  der 
erst  im  Hören  aktuell  wird.  Schallwellen,  seine  physi- 
kalische Bedingung,  gehören  gewissermaßen  einer  anderen 
Ordnung  der  Dinge  an;  sie  sind  mit  der  Tonempfindung 
als  solcher  unvergleichbar,  der  ganzen  Gattung  nach 
von  dieser  verschieden.  Und  ähnliches  gilt  von  der 
Farbe,  wenn  wir  von  ihrer  Ausdehnung  absehen,  von 
der  Wärme  und  Kälte,  dem  Geschmack  und  Geruch, 
Eindrücken,  die  so  entschieden  auf  das  Gefühl  des  Sub- 
jektes wirken,  und  so  wenig  von  dem  Objekte  zu  er- 
kennen geben;  es  gilt  mit  einem  Worte  von  allen 
spezifischen  Empfindungen,  die  des  Tastsinnes  nicht 
ausgenommen.  Bei  ihnen  allen  wird  schon  durch  ihre 
Natur  die  Annahme  einer  Doppelexistenz  in  und  außer 
der  Empfindung  ausgeschlossen.  Anders  dagegen  bei 
den  folgenden  Bestandteilen  der  Wahrnehmung.  Die 
Gestalt  eines  Körpers,  von  der  wir  träumen  oder  deren 
Bild  wir  in  der  Phantasie  erzeugen,  kann  so,  wie  wir 
von  ihr  träumen  oder  sie  uns  einbilden,  auch  außer  uns 
in  der  Wirklichkeit  gegeben  sein.  Wir  können  sie  vor- 
stellen und  zugleich  als  außer  unserer  Vorstellung  exi- 
stierend denken;  hier  also  könnte  die  Vorstellung  das 
Bild  der  Sache  selbst  sein.  Und  gleiches  wie  von  der 
Wahrnehmung  der  räumlichen  Eigenschaften  der  Ob- 
jekte, gilt  auch  von  der  Wahrnehmung  ihrer  zeitlichen 
Verhältnisse,  ihrer  Bewegung,  ihrer  Menge  oder  Zahl. 
Alle  diese  Bestimmungen  unserer  Wahrnehmung  lassen 
sich  zugleich  als  Bestimmungen  der  Gegenstände  selbst 
denken,  und  wir  sind  gewohnt,  sie  so  zu  denken.  Freilich 
sind  dies  nicht  mehr  reine  Empfindungen,  sondern  An- 
schauungen von  Verhältnissen  der  Dinge  und  von  Formen 
der  Verknüpfung  ihrer  Teile,  und  in  Bezug  auf  diese 
Formen  und  Verhältnisse  nehmen  wir  an,  daß  sich  bei 


Die  kritische  Philosophie.  6l 

ihnen  Wahrnehmung  und  Gegenstand  völlig  decken; 
mit  anderen  Worten:  wir  schreiben  ihnen  eine  doppelte 
Existenz  zu,  in  und  außer  unserer  Wahrnehmung. 

Auf  diesen  Unterschied  unter  den  Bestandteilen, 
der  Wahrnehmung  gründete  schon  Demokrit  den  Gegen- 
satz seiner  beiden  Erkenntnisarten,  der  echten,  die  die 
wahre  Natur  der  Körper  erfaßt,  und  der  unechten  oder 
scheinbaren  ihrer  sinnlichen  Eigenschaften,  die  nur  nach 
menschlicher  Meinung  und  Feststellung  als  solche  gelten 
sollen.  Diese  demokritische  Auffassung  ist,  seit  Galilei 
sie  erneuert  hat,  in  der  Naturwissenschaft  herrschend 
geblieben.  Auch  die  Naturwissenschaft  gewinnt  somit 
ihre  Gegenstände  durch  eine  Kritik  der  sinnlichen  Er- 
kenntnis. Sie  betrachtet  die  objektive  Welt  als  ein 
System  bewegter  Massenteile,  das  heißt:  sie  benützt  zu 
dem  Aufbau  ihres  Weltbildes  nur  die  formalen  Bestand- 
teile der  Wahrnehmung  —  und  macht  die  Empfindungen 
zu  spezifischen  Energien  der  Sinnesnerven,  indem  sie 
den  Ursprung  dieser  Energien  ausschließlich  in  die 
Sinnesapparate  des  Menschen  und  der  Tiere  verlegt. 

Nehmen  wir  Augen,  Ohren  und  Nase  weg,  so  sind 
zugleich  Farben,  Töne,  Gerüche  vernichtet,  erklärt  Galilei, 
und  ebenso  hat  die  Empfindung  von  Wärme  oder  Kälte 
ihren  Sitz  nur  im  Temperatursinne,  wie  auch  Härte  oder 
Weichheit  eines  Körpers  verschwinden  müßten,  wenn  der 
Tastsinn  weggedacht  wird;  übrig  bleiben  allein  Raum- 
erfüllung, Zahl,  Bewegung  und  Ruhe  der  Körper.  Diese 
„ersten  Accidentien"  müssen  wir  denken,  so  oft  wir 
Materie  vorstellen.  Und  so  wie  Galilei  dachte,  denkt 
noch  heute  die  Mehrzahl  der  Physiologen.  Johannes 
Müllers  Lehre  von  den  spezifischen  Energien,  diese  in's 
Physiologische  übersetzte  Unterscheidung  zwischen  „pri- 
mären und  sekundären  Qualitäten"  hat  für  sie  fast  die 


62  Dritter  Vortrag. 

Geltung  eines  Glaubenssatzes  erlangt.  Und  doch  hat 
Helmholtz,  der  diese  Lehre  in  unübertrefflich  klarer  Form 
darstellte  und  weiter  entwickelte,  bereits  auch  die  Richtung 
angedeutet,  in  welcher  sie  modifiziert  werden  muß.  Helm- 
holtz bezeichnet  den  tiefer  greifenden  Unterschied  zwischen 
den  Empfindungen  verschiedener  Sinne,  z.  B.  zwischen 
Farbe  und  Geschmack,  als  den  Unterschied  in  der  Mo- 
dalität einer  Empfindung,  während  er  den  weniger 
tief  greifenden  zwischen  den  Empfindungen  desselben 
Sinnes,  z.  B.  zwischen  Rot  und  Blau,  den  Unterschied 
der  Qualität  nennt;  er  behauptet  nun,  daß  die  Mo- 
dalität ganz  und  gar  durch  den  Sinnesnerv  bestimmt 
wird,  das  Hören  durch  den  Hörnerv,  das  Sehen  durch 
den  Sehnerv,  wogegen  die  Qualität,  also  ein  Ton  von 
bestimmter  Höhe,  eine  Farbe  von  bestimmter  Stufe, 
durch  den  äußeren  Reiz  mitbestimmt  wird.  Das  letztere 
lehrten  ihn  seine  klassischen  Untersuchungen  über  die 
Tonempfindungen.  Das  die  Reize  perzipierende  Organ 
des  Ohres,  die  Grundmembran,  ist  in  den  einzelnen 
Teilen  auf  Töne  von  verschiedener  Höhe,  d.  i.  auf  ein- 
fache Tonwellen  von  verschiedenen  Schwingungszahlen 
abgestimmt  gleich  den  Saiten  eines  Klaviers.  Den  spe- 
zifischen Qualitäten,  den  Unterschieden  der  Tonhöhe, 
entsprechen  also  beim  Ohr  spezifische  Reize.  Ist  aber 
nicht  auch  der  peripherische  Sinnesapparat  im  Ganzen 
seinem  normalen  oder  adäquaten  Reize  angepaßt,  für 
seine  Aufnahme  eingerichtet?  muß  also  nicht  auch  von 
der  Modalität  seines  Empfindens  gelten,  daß  sie  in  ge- 
setzlicher Weise  zusammenhängt  oder  abhängig  ist  von 
einer  bestimmten  Reizgattung?  Das  Ohr  ist  gegen  andere 
Reize  geschützt  und  wesentlich  nur  für  Schallwellen  zu- 
gänglich, das  Auge  nur  den  Lichtwellen  geöffnet.  Was 
Helmholtz  dennoch  bestimmte,  für  die  Modalität,  und  nur 


Die  kritische  Philosophie.  63 

für  diese,  an  dem  Satze  Johannes  Müllers  von  der  Gleich- 
giltigkeit  der  Natur  der  Reize  für  den  Erfolg  in  der 
Empfindung  festzuhalten,  war  das  zu  große  Gewicht, 
das  er  auf  die  Tatsache  einer  anomalen  oder  inadä- 
quaten Reizung  legte.  Der  Sehnerv  z.  B.  kann  außer 
durch  Licht,  auch  durch  den  galvanischen  Strom,  durch 
mechanische  Erschütterung,  durch  Zerren  erregt  werden 
und  beantwortet  jede  Erregung  in  der  ihm  eigentüm- 
lichen Modalität  von  Licht  und  Farbe.  Dieser  Tat- 
sachenbeweis kann  jedoch  nicht  als  völlig  triftig  erachtet 
werden;  denn  augenscheinlich  soll  hier  die  Regel:  die 
adäquate,  durch  die  Ausnahme:  die  anomale  Reizung, 
umgestoßen  werden,  während  es  eine  Maxime  der  Methode 
ist,  die  Ausnahme  vielmehr  aus  ihren  besonderen  Um- 
ständen zu  erklären.  Ist  es  wirklich  so  verwunderlich, 
daß  ein  Organ  auf  ungewöhnliche  Reize  hin  in  der  ge- 
wohnten und  durch  seine  ganze  Entwicklungsgeschichte 
befestigten  Weise  reagiert,  das  Auge  z.  B.  auf  einen 
Schlag  mit  Licht  und  Farbe.  Eine  anomal  erregte  Em- 
pfindung ist  auch  für  das  Bewußtsein  keineswegs  völlig 
gleich  einer  normal  erregten;  wir  empfinden  deutlich, 
daß  sie  erzwungen  ist.  Man  vergleiche  nur  die  ruhige, 
so  erfreuliche  Tätigkeit  des  Auges  in  seinem  Zusammen- 
wirken mit  dem  objektiven  Licht  mit  der  brüsken,  un- 
gewohnten Erscheinung  einer  Druckfigur.  Nicht  bloß 
der  Schlag  auf  das  Auge  ist  schmerzlich,  auch  das 
Blendungsbild,  das  dadurch  erweckt  wird,  ist  peinlich. 
Und  ähnliches  gilt  von  dem  galvanisch  erregten  Ton, 
der  ganz  richtig  ins  Innere  des  Gehörorganes  verlegt 
wird  und  mit  einem  adäquat  erregten  nicht  verwechselt 
werden  kann.  Er  gleicht  in  seiner  Klangfarbe  einem  sehr 
hohen  durch  das  Zupfen  einer  Metallsaite  erzeugten  Ton 
und  hat  entschieden  etwas  Unangenehmes.     Sehr  mög- 


64  Dritter  Vortrag. 

lieh  ferner,  daß  es  dem  Anscheine  zuwider  überhaupt 
nur  eine  adäquate  Erregung  der  Sinne  gibt.  Die  Reizung 
des  Sehnerven  durch  den  galvanischen  Strom  wird  man 
heute  kaum  noch  für  eine  inadäquate  gelten  lassen  können, 
seit  die  Gleichartigkeit  der  elektrischen,  und  der  Licht- 
wellen erkannt  ist;  ein  Schlag  auf  das  Auge  aber  kann 
ganz  wohl  die  Sehsinnsubstanz  zu  chemischer  Dissimila- 
tion anregen,  in  welch  letzterer  wir  den  adäquaten 
Reiz  für  das  Sehen  zu  erblicken  haben.  Aus  der  stets 
zusammengesetzten  Ursache,  die  wir  als  Reiz  Vorgang 
bezeichnen,  mag  der  Sinn  vermöge  seiner  Adaptation 
an  spezifisch  bestimmte  Reize  denjenigen  Teil  auswählen, 
der  seinen  adäquaten  Reiz  enthält.  Endlich  ist  noch 
auf  ein  prinzipielles  Bedenken  aufmerksam  zu  machen, 
das  der  Annahme  des  ausschließlichen  Ursprungs  der 
Modalitäten  aus  den  Sinnesnerven,  d.  i.  der  Lehre  der 
spezifischen  Energien  im  Wege  steht.  Der  Sinnesapparat 
ist  nämlich  selbst  ein  Teil  der  objektiven  Welt,  und 
wenn  diese  wirklich  an  sich  nur  aus  Masse  und  Bewegung 
bestehen  soll,  so  kann  auch  das  Sinnesorgan  nur  der 
Träger  und  Vermittler  von  Bewegungen  sein;  er  kann 
nicht  außerdem  noch  spezifische  Wirkungen  hervor- 
bringen, er  müßte  sie  denn  aus  nichts  erzeugen.  Auch 
die  Seele  oder  das  Bewußtsein  schafft  die  Empfindungen 
nicht,  sie  wird  sich  nur  ihrer  als  ihr  gegeben  bewußt; 
nicht  das  Sehen  selbst  ist  blau  oder  rot,  der  gesehene 
Gegenstand  erscheint  in  dieser  oder  jener  Farbe, 
nicht  das  Hören  ist  laut  oder  still,  es  empfindet  den 
Lärm  oder  die  Stille.  Wir  sind  also  genötigt,  die  An- 
nahme, von  welcher  die  Naturwissenschaft  für  ihre  Be- 
rechnungen ausgehen  muß,  zu  ergänzen.  Statt  in  dem 
Mechanismus  der  Massenteile  das  vollständige  Bild  der 
Welt  zu  erblicken,   sehen  wir  in  ihm  nur  das  Bild  der 


Die  kritische  Philosophie.  65 

Umrisse  der  Welt.  Außer  quantitativen  oder  meßbaren 
Wirkungen  müssen  die  Dinge  auch  qualitative  Wirkungen 
austauschen,  so  gewiß  es  spezifische  Empfindungen 
gibt;  und  die  Empfindung  stellt  sich  uns  als  die  voll- 
endete Entwicklung  der  Beschaffenheit  der  Reize  dar; 
sie  ist  durch  die  Beschaffenheit  der  Sinne  mitbestimmt 
aber  nicht  durch  diese  allein  erzeugt.  Doch  liegt  diese 
ganze  Betrachtung,  die  nur  die  Richtung  zeigen  sollte, 
in  der  die  Lösung  des  Problemes  zu  suchen  sein  dürfte, 
außerhalb  unseres  Weges  und  wir  kehren  zu  unserer 
Aufgabe  zurück,  indem  wir  versuchen,  die  Kritik  der 
sinnlichen  Erkenntnis  weiterzuführen. 

Gestalten  sind  nur  im  Räume  möglich,  Bewegungen 
nur  im  Räume  und  in  der  Zeit;  folglich  hängt  die  Art 
der  Wirklichkeit  der  Gestalten  und  Bewegungen  von  der 
Art  der  Wirklichkeit  des  Raumes  und  der  Zeit  über- 
haupt ab;  sollen  also  jene  an  sich  selbst  wirklich  sein, 
so  müssen  es  umso  gewisser  diese  sein.  Wie,  wenn 
nun  schon  die  Grenzenlosigkeit,  die  wir  dem  Räume 
und  der  Zeit  notwendig  zuschreiben  müssen  und  die 
doch  in  keiner  Erfahrung  gegeben  sein  kann,  es  unmög- 
lich machte,  jene  selbst  für  etwas  absolut  Gegebenes  und 
für  sich  Bestehendes  zu  denken;  wenn  also  Kant  im  Rechte 
wäre  mit  der  Lehre,  daß  Raum  und  Zeit  überhaupt,  (nicht 
die  in  ihnen  wahrgenommenen  oder  wahrnehmbaren 
Dinge,  sondern  die  allgemeinen  Formen,  in  denen  Dinge 
wahrgenommen  werden).  Formen  des  Anschauens  sind, 
Gesetze  der  anschauenden  Tätigkeit  eines  Sinnenwesens, 
z.  B.  des  Menschen?  Ist  dies  richtig,  dann  hat  die  Welt 
für  uns  mit  einem  Male  eine  völlig  andere  Bedeutung 
bekommen;  dann  zeigt  sich  die  Sinnenwelt  noch  einmal 
und  in  tieferer  Weise  abhängig,  nämlich  außer  von  der 
Empfindungsweise  der  Sinne,  die  zur  vollen  Entwicklung 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  5 


65  Dritter  Vortrag. 

ihrer  Beschaffenheiten  gehört,  auch  von  den  Gesetzen 
der  Anschauung,  die  die  Form  ihres  Seins  für  uns  be- 
stimmen. Dies  ist  die  Lehre  von  der  Sinnenwelt  als 
einem  Inbegriff  von  Erscheinungen  für  ein  empfindendes 
und  anschauendes  Wesen,  ein  Sinnenwesen;  die  große 
Lehre  von  der  bedingten  Existenz  der  Welt  unserer 
Anschauung  und  Erfahrung.  Sie  sehen  sogleich  und 
ich  habe  schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  diese 
Lehre,  ihre  Richtigkeit  vorausgesetzt,  einen  wesentlichen 
Bestandteil  der  wissenschaftlichen  Weltanschauung  bildet. 
Wir  sind  von  verhältnismäßig  einfachen  Erwägungen 
ausgegangen,  um  Sinn  und  Berechtigung  des  kritischen 
Nachdenkens  über  die  Erkenntnis  anschaulich  zu  machen; 
den  tieferen  Fragen  müssen  wir  uns  erst  noch  zuwenden. 
Da  ist  es  nun  eine  Tatsache  unseres  Denkens,  daß  wir  einen 
weit  größeren  Zusammenhang  unter  den  Gegenständen 
der  Wahrnehmung  annehmen,  als  es  durch  die  Wahr- 
nehmungen selbst  gerechtfertigt  erscheint.  Wir  nehmen 
an,  daß  es  in  den  Dingen  etwas  schlechthin  und  durch 
alle  Zeit  Beharrliches  gebe,  oder  in  der  Sprache  der 
Philosophie:  daß  ihre  Eigenschaften  und  Zustände  in 
der  Einheit  der  Substanz  zusammenhängen.  Wir  setzen 
ferner  voraus,  daß  die  Veränderungen  der  Dinge  in 
notwendiger  Abhängigkeit  von  einander  stehen,  wir 
sagen,  daß  sie  einen  Zusammenhang  durch  Kausalität 
besitzen.  Wird  auch  der  erste  Ausdruck  wenig  in  der 
positiven  Wissenschaft  gebraucht,  die  statt  von  Substanz 
von  Materie  redet,  so  ist  der  zweite:  Kausalität  auch 
in  ihr  allgemein  üblich.  Kausalität,  oder  was  dasselbe 
bedeutet,  ein  zureichender  Grund  der  Veränderung  ist 
ein  Postulat  der  Wissenschaft,  eine  Forderung,  welche 
die  Forschung  an  die  Vorgänge  in  der  Natur  stellt  und 
stellen   muß,    um  Forschung   zu   sein.     Mit  beiden  An- 


Die  kritische  Philosophie.  ^n 

nahmen,  die  sich  nur  in  der  Anwendung  nicht  im  Wesen 
unterscheiden,  geht  das  Denken  ohne  Zweifel  über  die 
in  der  Wahrnehmung  gegebenen  Tatsachen  hinaus.  Eine 
„Substanz"  kann  nicht  gesehen  werden;  auch  die  Materie, 
die  Substanz  des  Physikers,  wird  nicht  gesehen,  sondern 
gedacht.  Was  die  Beobachtung  allein  zeigen  kann,  ist 
die  Wiederkehr  einer  gleichen  Erscheinung,  der  Raum- 
erfüllung, oder  einer  gleichen  Größe,  der  Masse,  nicht 
die  Erhaltung  desselben  Dinges,  oder  ein  und  derselben 
Größe.  Und  ebenso  wenig  läßt  sich  Kausalität  sinnlich 
wahrnehmen;  die  Ursächlichkeit  als  solche  ist  weder  in 
dem  Vorgang  der  vorangeht,  noch  in  dem,  welcher 
nachfolgt,  noch  endlich  in  dem  Folgen  selbst  den  Sinnen 
gegeben.  Und  doch  sind  diese  Annahmen  nicht  bloß, 
wie  es  sich  beinahe  von  selbst  versteht,  Grundbegriffe 
der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  schon  die  gewöhnliche 
Erfahrung  richtet  sich  nach  ihnen.  Wir  können  dies 
leicht  an  dem  Begriffe  der  Substanz  zeigen. 

So  oft  wir  etwas  als  Gegenstand  der  Wahrnehmung 
auffassen,  glauben  wir,  so  wollen  wir  uns  bescheiden 
zu  sagen,  daß  der  Gegenstand  nicht  erst  durch  die 
Wahrnehmung  entsteht,  oder  mit  ihr  vergeht  und  von 
neuem  geschaffen  wird,  wenn  die  Wahrnehmung  sich 
erneuert.  Wir  glauben  an  die  Unabhängigkeit  des 
Gegenstandes  von  der  Wahrnehmung  und  sein  unver- 
ändertes Fortbestehen  nach  derselben,  wenn  er  nicht 
durch  äußere  Ursachen  verändert  wird;  und  wir  glauben 
dies  nicht  bloß  oder  hauptsächlich  aus  dem  Grunde,  weil 
er  fortfährt,  den  Sinnen  anderer  Menschen  gegenwärtig 
zu  bleiben  und  wir  uns  durch  Befragen  derselben 
davon  überzeugen  können.  Die  Objekte  in  der  Um- 
gebung des  Nordpols  hat  noch  kein  menschliches 
Auge  erblickt;  niemand  aber  zweifelt  an  ihrer  Existenz. 

5* 


^$  Dritter  Vortrag. 

Dieser  Glaube  an  die  Unabhängigkeit  der  Objekte  von 
ihrem  Wahrgenommenwerden  und  an  ihre  Beständigkeit 
ungeachtet  des  Wechsels  der  Wahrnehmungen  ist  der 
Glaube,  den  wir  mit  dem  Begriffe  der  Substanz  aus- 
drücken. Ohne  diesen  Glauben  —  keine  Erfahrung, 
denn  ohne  ihn  würde  das  Objekt  fehlen,  von  dem  irgend 
etwas  ausgesagt  werden  könnte,  das  Objekt  für  ein 
Urteil  über  die  Wahrnehmung;  und  weil  keine  Erfahrung 
auch  keine  Wissenschaft,  keine  Möglichkeit  der  Über- 
einstimmung der  Urteile  Aller  in  Bezug  auf  ein  und 
dasselbe  Objekt.  Kein  Chemiker,  der  eine  bestimmte 
Menge  Wasser  in  Wasserstoff  und  Sauerstoff  von  be- 
stimmten Gewichtsverhältnissen  zerlegt  und  durch  Wieder- 
vereinigung dieser  Elemente  eine  gleiche  Menge  Wasser 
erhält,  zweifelt  im  geringsten,  daß  es  dieselben  Elemente 
sind,  die  er  erst  im  verbundenen  dann  in  getrenntem 
Zustande  vor  sich  hatte.  Wollte  er  seine  Überzeugung 
lediglich  auf  Beobachtung  stützen,  so  wäre  sie  nicht  zu 
begründen;  denn  seine  Wahrnehmungen  sind  zeitlich 
getrennt  und  verschieden  und  sie  können  ihm  immer 
nur  gleiche  d.  i.  in  ihren  Eigenschaften  übereinkommende 
Objekte  zeigen;  gleiche  Objekte  aber  sind  nicht  die- 
selben Objekte.  Dennoch  bleibt  er  bei  seinem  Glauben 
an  das  Fortbestehen  derselben  Elemente,  oder  um 
es  ohne  atomistische  Hypothese  zu  sagen,  das  Fortbe- 
stehen von  Etwas,  das  diesen  Elementen  entspricht;  und 
er  muß  an  diesem  Glauben  festhalten,  weil  allein  durch 
ihn  seine  Beobachtungen  mit  dem  Gegenstande  und 
dadurch  auch  untereinander  verknüpft  werden  können. 
—  Eine  rein  „phänomenologische"  Physik  oder  Chemie, 
an  die  man  etwa  denken  könnte,  müßte  für  ihre  „Be- 
schreibungen" der  Tatsachen  mindestens  Allgemeingiltig- 
keit  in  Anspruch  nehmen,   das  heißt  sie  müßte  fordern, 


Die  kritische  Philosophie.  6q 

daß  ihre  Beschreibungen  von  einem  uns  und  dem  Forscher 
gemeinschaftlichen  Objekte  gelten  sollen. 

So  können  wir  das  Denken  nicht  entbehren,  auch 
nicht  bei  unseren  alltäglichen  Erfahrungen.  Das  Denken 
ergänzt  die  Wahrnehmung.  Immer  wieder  setzen  wir 
einen  weit  größeren  Zusammenhang  voraus,  als  in  den 
bloßen  Tatsachen  gegeben  ist.  Nennen  wir  den  Inbegriff 
der  Tatsachen  in  der  Wahrnehmung:  reine  Erfahrung, 
so  kommen  wir  schon  hier  zum  Schlüsse,  daß  reine 
Erfahrung  keine  Wissenschaft  begründen  kann,  daß  sie 
ungeeignet  ist,  Erkenntnis  eines  Objektes  zu  werden. 
Schon  hieraus  erhellt  die  Notwendigkeit  einer  Kritik 
der  Erfahrung,  der  Prüfung  und  des  Beweises  der 
Annahmen,  von  denen,  wie  wir  gezeigt  haben,  Erfahrung 
und  Wissenschaft  tatsächlich  ausgehen. 

In  weniger  abstrakter  Weise  läßt  sich  diese  Not- 
wendigkeit durch  ein  Gleichnis  anschaulich  machen. 
Was  für  den  Physiker  die  genaue  Kenntnis  seines  In- 
strumentes bedeutet,  mit  welchem  er  messen  und  ex- 
perimentieren will,  bedeutet  für  die  Forschung  überhaupt 
die  Kritik  der  Erkenntnis.  Das  Instrument  aller  Erfahrung 
ist  der  menschliche  Geist  selber,  und  wer  den  mensch- 
lichen Geist  nicht  kennt,  kennt  sein  Produkt:  die  Er- 
fahrung nicht;  er  weiß  nicht  was  dazu  die  Wahrnehmung 
hergibt  und  was  dafür  der  Verstand  zu  leisten  hat.  Den 
Verstand,  das  Instrument  der  Instrumente,  wie  Descartes 
hn  genannt  hat,  kennen  zu  lernen  und  so  der  Wissen- 
schaft den  Maßstab  ihrer  Forschung  zu  geben,  ist  die 
Aufgabe  der  kritischen  Philosophie,  Die  Gewißheit  der 
Dinge  kann  nie  größer  sein,  als  die  Gewißheit  der  Er- 
kenntnis. 


70  Dritter  Vortrag. 

Die  kritische  Philosophie  ist  eine  Schöpfung  der 
Aufklärungszeit.  Indem  sie  deren  Tendenzen  auf  klare 
und  bestimmte  Begriffe  brachte,  wurde  sie  selbst  zur 
wesentlichsten  geistigen  Macht  jener  Zeit.  Das  „Zeitalter 
der  Vernunft,  das  philosophische  Zeitalter",  so  bezeichnete 
Voltaire  die  Epoche  der  Aufklärung.  Es  ist  die  Zeit  „des 
Ausgangs  des  Menschen  aus  seiner  selbstverschuldeten 
Unmündigkeit",  der  Befreiung  seines  Denkens  von  dem 
Druck  der  Gewohnheit  und  aus  den  Fesseln  der  Über- 
lieferung: das  „sapere  aude!"  —  wage  zu  denken!  — 
ist  nach  Kant  ihre  Maxime.  Erst  durch  uns  selbst  ge- 
prüfte Erkenntnis  ist  lebendige  Erkenntnis,  sie  erst  kann 
mit  unserem  ganzen  Wesen  Eins  werden;  auch  geistiges 
Erbe  müssen  wir  erwerben,  um  es  zu  besitzen.  Wir 
sind  heute  gewohnt,  über  die  Aufklärung  etwas  vornehm 
zu  denken.  Wir  sehen  ihren  Mangel  an  historischem 
Sinn.  Zwar  kannte  die  Aufklärungszeit  die  Geschichte, 
sie  begann  sie  sogar  in  großem  Stile  darzustellen;  aber 
sie  abstrahierte  von  ihr;  sie  wollte  die  Geschichte  durch 
Vernunft  ersetzen,  die  Geschichte  „neu  anfangen".  Im 
Grunde  widerspricht  diese  geringe  Bewertung  des 
Historischen  in  Staat  und  Gesellschaft,  die  zu  hohe  der 
individuellen  Vernunft  dem  Prinzipe  der  Aufklärung 
selbst.  Es  liegt  oft  mehr  Kritik  und  aufl<lärende  Kraft 
im  Gang  der  geschichtlichen  Tatsachen,  als  in  den  Be- 
griffen des  Rationalismus,  vorausgesetzt,  daß  die  Ge- 
schichte mit  freiem  Geiste  betrachtet  wird.  Wie  jede 
Kulturepoche  ist  auch  die  Aufklärungszeit  ein  Moment 
in  der  Erziehung  des  Menschengeschlechtes,  und  eben 
darum  auch  in  der  Erziehung  des  Einzelnen.  Einmal 
im  Leben  muß  jeder  eine  Zeit  der  Aufklärung  erfahren, 
einmal  im  Leben  die  überkommenen  Anschauungen  in 
Frage  stellen.     Er  wird  sonst  nicht  wahrhaft  zum  Ver- 


Die  kritische  Philosophie.  71 

nunftwesen,  sondern  bleibt  ein  Automat  der  Erziehung 
und  der  ihn  in  Bewegung  setzenden  autoritativen 
Meinungen  anderer.  Freilich,  die  Aufklärung  ist  kein 
Standpunkt,  sie  ist  ein  Durchgangspunkt,  ihre  Bestimmung 
ist,  den  Menschen  zur  Selbstgesetzgebung,  zur  Selbsttätig- 
keit und  Selbständigkeit  zu  führen,  worauf  die  Würde 
seiner  Natur  beruht. 

Locke,  der  erste  kritische  Philosoph,  stellt  in  seiner 
Person  auf  das  Schlichteste  und  wie  wir  sagen  können 
als  etwas  Selbstverständliches  den  Geist  der  Aufklärung 
dar.  Wie  seine  Freunde  von  ihm  berichten,  ließ  er  sich 
ebenso  in  allen  Angelegenheiten  des  Lebens  wie  in 
seinen  wissenschaftlichen  Ansichten  allein  von  der  Ver- 
nunft leiten  und  war  beständig  willig  und  fähig,  ihren 
Ratschlägen  zu  folgen.  Das  Recht  der  freien  Prüfung 
zunächst  religiöser,  dann  aber  auch  der  wissenschaftlichen 
Anschauungen,  wie  er  es  für  sich  selbst  in  Anspruch 
nimmt,  gesteht  er  auch  jedem  Anderen  zu  und  wie  er 
ein  Selbstdenker  ist,  so  wünscht  und  fordert  er,  daß 
auch  die  anderen,  auch  die  Leser  seiner  Schriften  selbst 
denken  sollen.  In  Dingen,  worüber  allein  der  eigenen 
Vernunft  die  Entscheidung  zusteht,  sich  an  anderer 
Meinungen  halten,  hieß  ihm  so  viel  als  mit  dem  Ver- 
stände anderer  denken  zu  wollen,  was  nicht  weniger 
töricht  sei,  als  zu  meinen,  man  könne  mit  den  Augen 
eines  Anderen  sehen.  Ein  sokratischer  Zug  geht  durch 
Lockes  ganze  Philosophie  und  Persönlichkeit.  „Unsere 
Aufgabe  erklärt  er,  ist  nicht,  alle  Dinge  zu  kennen, 
sondern  die,  welche  unser  Handeln  angehen.  Wir 
brauchen,  um  die  Zwecke  unseres  Lebens  zu  erreichen, 
keine  andere  Erkenntnis  als  die  der  natürlichen,  er- 
fahrungsgemäßen Wirkungsweise  der  Dinge  und  die  Er- 
kenntnis unserer  Pflicht;  jene  in  Bezug  auf  unser  Ver- 


72  Dritter  Vortrag. 

hältnis  zu  den  Dingen,  diese  für  unsere  Handlungen". 
Wir  wundern  uns  nicht,  daß  dieser  klare,  maßvolle  Denker, 
bei  dem  der  Verstand  zum  Charakter  geworden,  alle 
Aufklärungs-Ideen  bereits  ausgesprochen  hat.  Seine 
Schriften:  außer  dem  Essay  über  den  menschlichen  Ver- 
stand, besonders  die  Toleranzbriefe,  die  Schrift  über  die 
Vernünftigkeit  des  Christentums,  die  beiden  Abhandlungen 
über  die  Regierung,  die  Gedanken  über  die  Erziehung 
geben  das  vollständige  Programm  der  Philosophie  der 
Aufklärung.  Sie  enthalten  alle  wesentlichen  Gedanken, 
die  durch  die  großen  französischen  Schriftsteller  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  Voltaire  an  der  Spitze,  als 
kurante  Münze  durch  die  Welt  verbreitet  wurden.  — 
Voltaire  brachte  zugleich  mit  der  Philosophie  Newtons 
die  Philosophie  Lockes  nach  Frankreich.  J.  J.  Rousseau 
nahm  in  seinen  „Emile"  Locke'sche  Erziehungsgedanken 
herüber. 

Es  ist  nun  gewiß  sehr  bezeichnend  und  merkwürdig, 
daß  der  Denker,  der  zuerst  die  leitenden  Ideen  der  Auf- 
klärung gefunden  und  damit  so  wirksamen  Anteil  an  der 
Entwicklung  jener  Epoche  genommen  hat,  der  Sache 
nach  zugleich  der  Urheber  der  kritischen  Philosophie 
ist,  wenn  er  sie  auch  nicht  so  nannte  sondern  unter  dem 
bescheidenen  Namen  eines  „Versuches  über  den 
menschlichen  Verstand"  einführte.  Und  nicht  minder 
charakteristisch  ist  der  unmittelbare  Anlaß  der  dieser 
Philosophie  die  Entstehung  gab.  Locke  liebte  es,  von 
Zeit  zu  Zeit  einige  seiner  Freunde  bei  sich  zu  sehen, 
und  sich  mit  ihnen  über  wissenschaftliche  Dinge  zu  unter, 
halten.  Eines  dieser  Gespräche  nun  blieb  trotz  aller 
aufgewandten  Bemühung  und  obgleich  die  Unterredner 
zu  den  gebildetsten  und  kenntnisreichsten  Männern  ihres 
Landes  zählten,  deren  Namen  zum  Teil  die  Geschichte 


Die  kritische  Philosophie.  yi 

aufbewahrt  hat,  ohne  jedes  Ergebnis.  Es  soll  sich  dabei, 
nach  dem  späteren  Zeugnis  eines  Teilnehmers  an  jener 
Unterhaltung  um  Fragen  der  natürlichen  Religion  und 
Moral  gehandelt  haben,  von  denen  wir  wenigstens  die 
ersteren  zu  den  metaphysischen  zählen.  Als  die 
Schwierigkeiten  und  Zweifel  sich  nur  immer  mehr  häuften 
und  die  Lösung  ferner  rückte,  kam  Locke  plötzlich 
auf  den  Gedanken,  daß  man  einen  falschen  Weg  ein- 
geschlagen und  die  Sache  am  unrechten  Ende  angefaßt 
habe:  denn,  ehe  man  sich  auf  Fragen  solcher  Art  ein- 
lasse, müsse  man  zuvor  die  Fähigkeiten  des  menschlichen 
Verstandes  prüfen,  um  zu  erkennen,  ob  dieser  für  so 
entlegene  Dinge  auch  eingerichtet  sei.  Damit  war  die 
Untersuchung  des  Verstandes  als  eines  Erkenntnisver- 
mögens, eines  Vermögens  Wahrheit  und  Wirklichkeit 
zu  erkennen,  im  Prinzipe  an  die  Spitze  aller  philo- 
sophischen Untersuchungen  gestellt,  —  die  Frage  nach 
dem  Erkenntniswert  der  Wissenschaft  aufgeworfen  und 
in  ihrer  maßgebenden  Bedeutung  erfaßt. 

Locke  hatte  von  der  Neuheit  und  Tragweite  seiner 
Aufgabe,  der  Aufgabe  der  theoretischen  Philosophie  als 
solcher,  das  deutlichste  Bewußtsein.  „Wird  das  Ver- 
mögen unseres  Verstandes  richtig  geschätzt,  schreibt  er 
in  der  Einleitung  zum  „Essay",  ist  der  Umfang  unseres 
Erkennens  einmal  entdeckt  und  die  Gesichtslinie  be- 
stimmt, die  den  erleuchteten  Teil  der  Dinge  von  dem 
dunkeln  scheidet,  so  wird  der  Mensch  sich  vielleicht  mit 
weniger  Bedenken  bei  der  eingesehenen  Unwissenheit 
hinsichtlich  des  einen  Teiles  beruhigen  und  seine  Nach- 
forschungen mit  umso  größerem  Gewinn  auf  den  anderen 
Teil  richten."  Auch  nach  Locke  hat  die  kritische  Philo- 
sophie die  rechte  Mitte  zu  treffen  „zwischen  der  Ein- 
bildung   eines   alles    umfassenden  Wissens   und  der  aus 


74  Dritter  Vortrag. 

Enttäuschung  entspringenden  Verzweiflung,  irgend  etwas 
wissen  zu  können",  —  die  rechte  Mitte,  wie  dies  Kant 
ausdrückte:  zwischen  Dogmatismus  und  Skeptizismus. 
Sie  hat  „den  beständigen  Streitigkeiten  über  Dinge,  die 
unsre  Fähigkeiten  übersteigen  ein  Ende  zu  machen",  da- 
durch, daß  sie  die  Grenze  zieht  zwischen  Wissen  und 
Meinen.  Die  Absicht  Lockes  mit  seiner  Kritik  des  Ver- 
standes ist  keine  andere  als  die  Absicht  Kants  mit  der 
Kritik  der  Vernunft. 

Die  Gewißheit  und  den  Umfang  der  Erkenntnis  zu 
bestimmen  ist  das  Ziel  der  Untersuchung  Lockes;  den 
Weg  dazu  schien  ihm  die  Erforschung  des  Ursprungs 
und  der  Entwicklung  des  Erkennens  zu  eröffnen.  Hier 
trifft  er  nun  auf  die  Annahme  angeborener  Begriffe  und 
Grundsätze,  und  wenn  er  diese  Annahme  in  jeder  Form, 
in  der  sie  in  der  Philosophie  aufgetreten  ist,  bekämpft 
und  widerlegt,  so  treibt  ihn  dazu  nicht  lediglich  und 
auch  nicht  vorzugsweise  ein  rein  wissenschaftlicher  Be- 
weggrund. Der  Glaube  an  angeborene  Ideen  beschränkt 
und  unterdrückt  das  Selbstdenken  des  Menschen.  An- 
geborene Ideen  wären  unveränderliche  Ideen.  Sie  würden 
den  Geist  fesseln  und  knechtisch  machen;  und  es  war 
„kein  geringer  Vorteil  für  alle  die,  welche  sich  zu  Meistern 
und  Lehrern  aufwarfen,  es  zum  Grundsatz  der  Grund- 
sätze zu  machen,  daß  Grundsätze  nicht  in  Frage  gezogen 
werden  dürfen".  Vorstellungen  scheinen  angeboren  zu 
sein,  nur  weil  wir  ihren  Ursprung  nicht  kennen,  nur  weil 
unsere  Erinnerung  nicht  in  die  Zeit  zurückreicht,  in 
welcher  sie  uns  eingeprägt  wurden.  „Nichts  ist  gewöhn- 
licher, als  daß  Kinder  Vorstellungen  und  Lehren,  ins- 
besondere in  religiösen  Dingen,  von  ihren  Eltern,  Wärte- 
rinnen und  Lehrern  in  ihren  Geist  aufnehmen,"  so  daß 
die  Quelle  dieser  vermeintlich  angeborenen  und  dadurch 


Die  kritische  Philosophie.  75 

sanktionierten  Vorstellungen  in  vielen  Fällen  der  Aber- 
glaube einer  Amme  oder  das  hohle  Geschwätz  eines 
Schulmeisters  ist."  Locke  verneint  das  Angeborensein 
irgend  welcher  Vorstellungen  und  Grundsätze,  weil  er 
das  Recht  der  Prüfung  aller  bejaht;  auch  hier  redet 
der  Geist  des  Selbstdenkers  aus  ihm.  —  Vielleicht 
findet  mancher  diese  Verwerfung  des  Angeborenen  zu 
radikal.  Ist  nicht  das  Angeborene  das  Historische, 
durch  Vererbung  auf  das  Individuum  Übertragene,  — 
seine  Verwerfung  durch  Locke  also  eine  Unterschätzung 
des  Historischen  in  der  Art  der  Aufklärung?  Es  war 
keineswegs  die  Meinung  Lockes,  alles  Angeborene  des 
Geistes  zu  leugnen,  als  er  und  gewiß  mit  Recht  das 
Angeborensein  von  Vorstellungen  leugnete.  Fähigkeiten 
oder  Kräfte  des  Geistes  lassen  sich  im  Gegensatze  zu 
angebornen  Ideen  entwickeln  und  steigern,  sie  sind  der 
Bildung  zugänglich  und  durch  Erfahrung  zu  verändern; 
sie  also  können  auch  im  Sinne  Lockes  angeboren 
oder  dem  Geiste  natürlich  sein,  ohne  dessen  Selb- 
ständigkeit zu  hemmen  und  daß  sie  es  sind  ist  die  aus- 
drückliche Lehre  Lockes.  Er  selbst  zählt  zu  diesen 
angeborenen  Fähigkeiten  und  Operationen  des  Geistes 
das  Bemerken  und  Behalten,  Unterscheiden  und  Ver- 
gleichen, das  Abstrahieren;  aber  eben  nur  die  Fähigkeit 
des  Percipierens,  nicht  Wahrnehmungen,  die  Fähigkeit 
des  Abstrahierens,  nicht  Begriffe,  geschweige  denn  Grund- 
sätze, theoretische  oder  praktische,  sind  angeboren.  Auch 
nach  Locke  ist  der  Geist  in  gewißem  Sinne  sich  selbst 
angeboren  und  mit  Unrecht  zitiert  man  immer  wieder 
jenen  „intellectus  ipse",  den  „Verstand  selbst",  um  da- 
mit den  Gegensatz  zwischen  Leibniz  und  Locke  zu 
kennzeichnen.  Leibniz  selbst  wußte  dies  besser  und 
erklärte  ausdrücklich,  der  Satz:  „nichts  sei  im  Verstände, 


7Ö  Dritter  Vortrag. 

was  nicht  zuvor  in  den  Sinnen  war,  außer  der  Verstand 
selbst"  sei  vollständig  auch  im  Sinne  Lockes,  der  ja  die 
eine  der  beiden  Quellen  der  Ideen  in  der  Wahrnehmung 
der  Operationen  des  Geistes  finde.  Seit  Lockes  Angriff 
ist  die  Theorie  der  angebornen  Vorstellungen  aus  der 
Philosophie  verbannt;  kein  Denker  hätte  sie  auch  er- 
neuern können,  so  gründlich  und  entscheidend  war  jener 
Angriff.  Auch  die  Kategorien  oder  die  „reinen  Ver- 
standesbegriffe" Kants  sind  keine  angeborenen  Begriffe. 
Wer  sie  dafür  nehmen  wollte,  versteht  eben  Kant  nicht, 
der  es  Locke  zu  besonderem  Verdienste  rechnete,  daß 
dieser  auch  die  „intellectualia",  die  reinen  Begriffe  des 
Verstandes  nicht  für  angeboren  hielt,  sondern  nach 
ihrem  Ursprung  suchte.  Der  Zeit  Lockes  erschien  die 
Bestreitung  der  angebornen  Ideen  wie  ein  Umsturz  der 
Philosophie.  Die  Gegner  griffen  den  „Essay"  an  diesem 
Punkte  an;  vielmehr  sie  verdammten  das  Buch  um  dieses 
Punktes  willen,  noch  ehe  sie  es  gelesen  hatten.  Hat 
die  Seele  keine  angebornen  Ideen,  so  scheint  ihr  Be- 
griff völlig  leer  und  sie  selbst  ohne  Wesen  zu  sein;  sie 
scheint  beinahe  nichts  zu  sein,  wie  leicht  also  ist  es 
dann  zu  behaupten,  daß  sie  nicht  sei.  Wir  urteilen 
heute  anders.  Eine  falsche  Theorie  ist  beseitigt  und  ihre 
Wertlosigkeit  für  die  Frage  nach  der  Gewißheit  der  Er- 
kenntnis dargetan,  das  genügt  uns  und  wir  halten  uns 
dabei  nicht  länger  auf.  Für  uns,  wie  für  Locke  selbst, 
liegt  das  Schwergewicht  seiner  Untersuchung  nicht  in 
dem  ersten  Buche  des  Essay  gegen  die  angebornen  Ideen 
und  Grundsätze,  sondern  im  zweiten,  das  von  dem  Ur- 
sprung der  Ideen  handelt  und  im  vierten,  das  den 
Begriff  der  Erkenntnis  entwickelt  und  ihre  Grenzen  be- 
stimmt. 

Was   immer  Inhalt   oder   Gegenstand   des  Bewußt- 


Die  kritische  Philosophie.  77 

seins  ist  oder  sein  kann,  alles,  womit  der  Geist  sich  be- 
schäftigt wenn  er  wahrnimmt  und  denkt,  nennt  Locke: 
Idee.  Dieser  Ausdruck  kann  also  ebensogut  die  bloße 
Empfindung  eines  Sinneseindruckes  bedeuten,  wie  den 
abstraktesten  Gedanken  und  man  muß  sich  dies  gegen- 
wärtig halten,  um  Lockes  Lehre  vom  Ursprung  der 
Ideen  richtig  zu  erfassen.  Nur  von  den  „einfachen  Ideen", 
den  Elementen  der  zusammengesetzten,  gilt  sein  Satz 
von  ihrem  Ursprung  aus  der  doppelseitigen  Erfahrung, 
aus  Sensation  und  Reflexion,  oder  äußerem  und 
innerem  Sinn.  Nur  auf  den  Inhalt,  das  Material  unseres 
Denkens  bezieht  sich  das  Prinzip  des  Empirismus, 
das  Locke  mit  den  Worten  ausspricht:  auf  Erfahrung 
ist  alle  unsere  Erkenntnis  gegründet,  und  von  ihr  im 
letzten  Grunde  herzuleiten.  Locke  weiß  und  er  selber 
lehrt  es,  daß  alle  zusammengesetzten  „Ideen"  durch  die 
Operationen  des  Geistes,  die  dieser  an  den  Sinnesein- 
drücken oder  den  einfachen  Ideen  vornimmt,  entstehen 
oder  doch  durch  sie  entdeckt  werden.  Sind  die  Sinne 
die  Quelle  der  einfachen  Ideen,  so  sind  die  Tätigkeits- 
weisen des  Geistes  die  Quelle  der  zusammengesetzten; 
aus  dieser  Quelle  stammen  jene  unendlich  vielen,  aus 
Modifikationen  der  einfachen  Ideen  von  Ausdehnung, 
Dauer,  Einheit  entspringenden  mathematischen  An- 
schauungen und  Begriffe,  aus  ihr  die  Vorstellungen  der 
Verhältnisse  und  alle  abstrakten  oder  allgemeinen  Ideen, 
einschließlich  des  allgemeinen  Begriffs  der  Substanz. 
Was  also  Locke  über  den  Ursprung  der  Erkenntnis 
wirklich  lehrte,  ist  nur  dies:  äußere  und  innere  Wahr- 
nehmung liefern  den  Stoff  zu  allen  Ideen,  auch  zu  jenen, 
die  der  Geist  selbst  bildet,  wie  sie  auch  die  Veranlassung 
zu  ihrer  Entwicklung  geben.  Wir  müssen  diese  Lehre 
als  Voraussetzung  nehmen,   um  die  wichtigste  Leistung 


78  Dritter  Vortrag. 

der  Verstandeskritik  Lockes  in  seinem  Sinne  zu  .ver- 
stehen. Dies  aber  ist  seine  Kritik  eines  Hauptbegrififes 
aller  metaphysischen  Philosophie,  —  ich  habe  ihn  schon 
genannt:  des  Begriffes  der  Substanz. 

Die  Frage  nach  der  „Substanz"  der  Dinge  ist  die 
Grundfrage  der  philosophischen  Systeme  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts;  an  dieser  Frage  entwickelte,  mit 
ihr  befaßt  sich  der  ganze  spekulative  Teil  jener  Systeme. 
Diese  Frage  in  ihrer  metaphysischen  Gestalt  hat  Locke 
aus  der  Wissenschaft  verbannt,  diesen  Begriff  kritisch 
zerlegt,  man  möchte  sagen,  ihn  so  zersetzt,  daß  gerade 
dadurch  erst  seine  wahre  Bedeutung  und  das  wirklich 
mit  ihm  verbundene  Problem  hervortreten  konnten.  Wir 
zählen  seit  Lockes  Kritik  die  Substanz  nicht  mehr  zu 
den  inhaltlichen  Begriffen  unseres  Erkennens;  die  Be- 
seitigung ihrer  materialen  Auffassung,  das  Werk  Lockes, 
hat  unmittelbar  ihre  formale  vorbereitet. 

Der  gewöhnlichen  Anschauung  nach  unterscheiden 
wir  körperliche  und  geistige  Dinge  als  die  beiden  Arten 
von  Substanzen,  von  denen  wir  glauben,  Erfahrung  zu 
haben.  An  diese  Unterscheidung  knüpft  Locke  an  und 
zeigt,  daß  weder  das  allgemeine  Wesen  einer  Substanz 
zu  erkennen  ist,  noch  die  besondere  Natur  ihrer  Arten, 
des  Körpers  und  des  Geistes.  Die  Substanz  im  allge- 
meinen, der  Begriff  der  den  körperlichen  und  geistigen 
Dingen  gemeinsam  ist,  sofern  sie  als  Substanz  gedacht 
werden,  ist  leer  an  Inhalt,  eine  Idee,  und  zwar  nach 
Locke  die  einzige,  welche  weder  aus  der  äußeren  noch 
aus  der  inneren  Wahrnehmung  stammt,  also  nicht  gleich 
den  übrigen  Ideen  auf  einem  dieser  Wege  in  unseren  Geist 
gelangt  sein  kann.  Sie  muß  also  ihren  Ursprung  in 
einer  gewissen  Auffassung  des  durch  Erfahrung  Gegebenen 
haben.     Dies   ist   auch  die  Meinung   Lockes,   da  er  sie 


Die  kritische  Philosophie.  70 

aus  einer  gewohnheitsmäßigen  Beurteilung  der  Eindrücke 
der  Sinne  hervorgehen  läßt.  „Weil  wir  keine  Vorstellung 
davon  haben,  erklärt  er,  wie  diese  einfachen  Ideen  an 
sich  selbst  bestehen  können,  gewöhnen  wir  uns,  ihnen 
irgend  etwas  unterzulegen,  in  welchem  und  durch  welches 
sie  bestehen  und  dies  nennen  wir  dann  ihre  Substanz." 
So  ist  die  Substanz  nichts  als  eine  unbestimmte  An- 
nahme von  etwas,  wovon  wir  nicht  wissen,  was  es  sei; 
von  etwas,  wovon  wir  keine  besondere,  bestimmte  und 
positive  Vorstellung  haben,  die  uns  zeigte,  was  es  ist, 
sondern  nur  eine  dunkle  von  dem,  was  es  zu  leisten  hat: 
nämlich  Träger  der  sinnlichen  Erscheinungen  zu  sein, 
die  dadurch  zu  seinen  Eigenschaften  oder  Accidentien 
werden.  Oder,  wie  dies  Locke  durch  ein  Gleichnis  dar- 
stellt, das  mehr  als  ein  Scherz  sein  sollte.  Jener  arme 
indische  Philosoph,  der  die  Erde  von  einem  Elefanten 
und  den  Elefanten  von  einer  Schildkröte  getragen  sein 
ließ,  wußte,  durch  die  weitere  Frage  nach  dem  Träger 
der  Schildkröte  in  Verlegenheit  gebracht,  nur  zu  er- 
widern: irgend  etwas,  er  wisse  aber  nicht,  was  es  sei. 
Ein  europäischer  Metaphysiker  hätte  dies  ohne  verlegen 
zu  werden  und  bequemer  mit  einem  einzigen  Worte  aus- 
gedrückt: die  Substanz.  „Denn  eben,  wo  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein"  —  und  be- 
sonders, wenn  es  ein  gelehrtes  Wort  ist,  ein  Wort  von 
vornehmem  Klange,  gilt  es  ohne  weiteres  für  eine  echte 
Münze  und  von  gediegenem  Gehalte.  Der  allgemeine 
Begriff  der  Substanz  ist  überall  derselbe,  mag  er  auf  den 
Körper  oder  auf  den  Geist  angewandt  werden.  Die 
Vorstellung  der  Substanz  des  Körpers  ist  daher  um 
nichts  klarer  als  die  der  Substanz  des  Geistes;  beide 
sind  gleich  klar,  das  heißt  gleich  dunkel  und  ebenso 
weit  von  allem,  was  wir  begreifen,  entfernt. 


8o  Dritter  Vortrag-, 

Und  wie  die  allgemeine  Natur  der  Substanz,  ist 
auch  die  spezifische  der  Substanzen  oder  der  Dinge  der 
Erfahrung  der  Erkenntnis  entzogen.  Gegeben  von  diesen 
Dingen  ist  nur  das  erfahrungsgemäße  Zusammenbestehen, 
die  Coexistenz  von  Teilen  und  Eigenschaften;  das  Band, 
das  die  Teile  zur  Einheit  eines  Dinges  verknüpft,  wird 
hinzugedacht.  Wir  nennen  Wasser  eine  Substanz,  weil 
wir  beständig  eine  gleiche  Gruppe  sinnlicher  Eigen- 
schaften vorfinden,  oder  durch  Versuche  entdecken:  ein 
bestimmtes  spezifisches  Gewicht,  flüssigen  Aggregat- 
zustand innerhalb  gewisser  Grenzen  der  Temperatur, 
Farblosigkeit,  Durchsichtigkeit,  größte  Dichte  bei  4  Grad 
des  hundertteiligen  Thermometers,  Verwandlung  in  einen 
festen  Körper  beim  Nullpunkt  der  Wärmeskala  u.  s.  w. 
Alle  diese  Eigenschaften  treten  mit  einander  auf,  so  daß 
es  möglich  ist,  aus  der  einen  die  andere  zu  folgern;  wir 
bezeichnen  daher  ihre  Gruppe  mit  einem  und  demselben 
Namen:  Wasser.  1  Vergebens  aber  würden  wir  die  Natur 
der  Verbindung  der  Eigenschaften  dieser  oder  irgend 
einer  anderen  körperlichen  Substanz  über  den  erfahrungs- 
gemäßen Zusammenhang  hinaus  zu  erforschen  suchen; 
ist  doch  auch  der  Zusammenhang  der  Tätigkeiten  unseres 
Geistes  nur  durch  innere  Wahrnehmung  gegeben  und 
das  Wesen  der  Seele,  und  wie  sie  denkt  und  will,  un- 
bekannt. So  sind  unsere  Vorstellungen  von  Substanzen 
nichts  als  Vorstellungen  einer  bestimmten  Verbindung 
einfacher  Ideen,  die  wir  von  den  Dingen  erlangen  und. 
welche  nur  dadurch  die  Einheit  eines  Gegenstandes  aus- 
machen, daß  sie  mit  einander  existieren;  und  diese 
Coexistenz  selbst  wird  nicht  weiter  erkannt,  als  sie  wahr- 
genommen wird.  Die  Substanz  ist  nicht  die  Vorstellung 
des  Wesens  eines  Dinges,  sondern  der  Beständigkeit  eines 
Dinges  und  des  Zusammenseins  seiner  Eigenschaften,  die 


Die  kritische  Philosophie.  8 1 

Vorstellung  der  Beständigkeit  eines  Verhältnisses.  Selbst 
die  Kohäsion  der  Teile  eines  Körpers  entzieht  sich  dem 
genaueren  Verständnis.  Zwar  sollen  wir,  wie  Locke  mit 
der  Wissenschaft  seiner  Zeit  annimmt,  die  allgemeinen 
Eigenschaften  der  Körper:  Lage,  Gestalt,  Bewegung,  auf 
adäquate  Weise  erkennen,  das  heißt  so,  wie  sie  im 
Körper  selbst  sind;  damit  ist  aber  nicht  auch  schon  die 
Erkenntnis  ihres  Zusammenhanges  im  Körper  als  Körper 
gegeben.  Ein  Körper  nimmt  einen  bestimmten  Raum 
ein,  und  kann  in  Teile  zerlegt,  in  Einheiten  gespalten 
werden:  in  physikalische  oder  Moleküle,  in  chemische 
oder  Atome.  Wie  aber  werden  die  Teile  zusammen- 
gehalten, was  ist  der  Kitt,  fragt  Locke,  der  sie  an- 
einander heftet.  Antworten  wir:  der  Druck  des  um- 
gebenden Mediums  oder  Stoffes,  so  entsteht  nur  die 
neue  Frage,  was  die  Teile  dieses  Mediums  zusammen- 
drückt, und  abermals  die  Teile  des  nächsten  Mediums 
und  so  immer  weiter,  ins  Unendliche.  Durch  diese  An- 
nahme, könnte  man  meinen,  ließe  sich  die  Kohäsion 
der  Teile  erklären;  wäre  nicht  die  Ausflucht  ins  Un- 
endliche die  Ausflucht  zu  dem,  was  wir  nicht  erfassen, 
nicht  einheitlich  zusammenfassen  können.  Sprechen  wir 
aber  von  anziehenden  Kräften  zwischen  den  Molekülen, 
so  bleiben  wir  so  klug  wie  zuvor;  wir  machen  es  wie 
Molieres  Gelehrter,  der  die  einschläfernde  Wirkung  des 
Opiums  aus  der  einschläfernden  Kraft  dieser  Substanz 
erklären  wollte.  Wir  möchten  den  Zusammenhang  der 
Teile  erklären,  und  führen  ihn  auf  anziehende,  das  heißt 
den  Zusammenhang  bewirkende  Kräfte  zurück.  Zwischen 
den  mechanischen  Eigenschaften  der  Teile  eines  Körpers 
und  der  Körper  unter  sich  und  ihren  Wirkungen  ist  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  ein  Zusammenhang  noch  er- 
kennbar.     Daß    Lage,    Gestalt    und    Bewegung    eines 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  6 


32  Dritter  Vortrag. 

Körpers  eine  Veränderung  in  Lage,  Gestalt  und  Be- 
wegung eines  anderen  bewirken,  scheint  nicht  über  unser 
Verständnis  zu  gehen.  Ursache  und  Wirkung  sind  hier 
gleicher  Art  und  dies  ist  auch  der  Grund,  weshalb  wir 
der  Erklärung  der  Naturvorgänge  aus  mechanisch  wirken- 
den Ursachen  den  Vorzug  vor  jeder  anderen  Erklärungs- 
art einräumen.  Völlig  begreiflich  ist  uns  freilich  auch 
das  Wesen  des  mechanischen  Wirkens  nicht.  „Die  Be- 
wegung bewegt",  wodurch  sie  aber  bewegt,  durch  Stoß, 
Femwirkung,  oder  aus  irgend  einer  Ursache  sonst, 
warum  sie  hier  aufhört,  dort  erscheint,  für  dieses  innere 
Prinzip  haben  wir  zwar  ein  Wort:  Mitteilung  der  Be- 
wegung; die  Sache  selbst  ist  aber  dadurch  nicht  einge- 
sehen. Unsere  Hoffnung,  das  Verständnis  der  natürlichen 
Verknüpfung  der  Dinge  noch  weiter  auszudehnen,  ver- 
schwindet jedoch  gänzlich,  wenn  wir  von  dem  Verhältnis 
der  mechanischen  Affektionen  unter  einander  zu  ihrem 
Verhältnis  zu  den  spezifischen  Eigenschaften  der  Sinnes- 
eindrücke, zu  Lockes  „sekundären  Qualitäten"  übergehen, 
„Unser  Geist  ist  nicht  fähig,  irgend  einen  begreiflichen 
Zusammenhang  zu  entdecken  zwischen  den  primären 
Qualitäten  der  körperlichen  Dinge  und  den  Empfindungen, 
welche  durch  sie  in  uns  hervorgerufen  werden;  auf  keine 
Weise  läßt  es  sich  verstehen,  wie  irgend  eine  Lage,  Ge- 
stalt oder  Bewegung  irgend  welcher  Partikeln  der  Materie 
in  uns  die  Empfindung  einer  Farbe,  eines  Geschmackes, 
eines  Tons  erzeugen  kann;  es  besteht  keinerlei  Ver- 
wandtschaft zwischen  jenen  mechanischen  Vorgängen 
und  irgend  einer  dieser  Vorstellungen  in  uns."  Diese 
Grenze  des  Naturerkennens  hätte  Du  Bois  Reymond 
nicht  zu  entdecken  gebraucht;  bei  Locke  konnte  er  sie 
finden.  Da  wir  sonach  zwischen  den  Empfindungen 
und   den  vorauszusetzenden  Eigenschaften   der   äußeren 


Die  kritische  Philosophie.  ga 

Dinge  selbst  eine  Übereinstimmung,  die  uns  ihr  Ver- 
hältnis begreiflich  machte,  nicht  aufzufinden  vermögen, 
werden  wir  dann  zweifeln  können,  daß  die  Wechsel- 
wirkung zwischen  Körper  und  Geist  noch  um  vieles  un- 
begreiflicher sein  muß.  „Wie  ein  Gedanke  den  Körper 
bewegen  soll,  liegt  dem  Vermögen  unseres  Begreifens 
so  ferne,  wie,  daß  irgend  eine  Bewegung  des  Körpers 
im  Geiste  einen  Gedanken  erzeugen  soll.*'  Die  Be- 
trachtung der  Ideen  selbst  von  Körper  und  Geist  würde 
uns  dies  niemals  zeigen  können,  nur  die  Erfahrung  über- 
führt uns  davon,  daß  es  so  ist,  meint  Locke.  —  Die 
Beseitigung  des  hier  vorliegenden  Problems  durch  Spinoza 
war  ihm  entweder  nicht  bekannt,  oder  sie  erschien  ihm 
zu  metaphysisch. 

In  zwei  Hauptsätze  ist  das  Ergebnis  der  Lockeschen 
Kritik  des  Substanzbegrififes  zusammenzufassen.  Das 
Wesen  der  Substanz  als  solcher  ist  unbekannt,  denn  die 
Substanz  ist  die  Annahme  von  etwas  Unbekanntem. 
Das  Wesen  des  Zusammenhanges  der  Eigenschaften  in 
einer  Substanz  ist  nicht  zu  verstehen,  denn  die  Er- 
fahrung gibt  uns  nur  Zusammenbestehen  nicht  Ab- 
hängigkeit oder  notwendige  Verknüpfung  der  Eigen- 
schaften zu  erkennen.  Aber  trotz  ihrer  Unerkennbarkeit 
ist  die  Voraussetzung  einer  Substanz  für  die  Erfahrung 
nicht  zu  entbehren.  Das  Problem,  das  damit  gestellt 
wird,  hat  erst  Kant  gelöst. 

Wie  für  das  Zusammensein  oder  die  Coexistenz  der 
Eigenschaften,  fehlt  auch  für  die  Aufeinanderfolge  der 
Wirkungen  der  Dinge  die  Einsicht  in  die  Notwendigkeit 
der  Verknüpfung.  Auch  das  Problem  der  ursächlichen 
Verknüpfung,  das  Problem  Humes,  hat  bereits  Locke 
berührt.  Die  Erfahrung,  erklärt  er,  zeigt  in  dem  ge- 
wöhnlichen Verlauf  der  Dinge   zwar  Beständigkeit   und 


84  Dritter  Vortrag. 

Regelmäßigkeit  der  Folge;  aus  den  Vorstellungen  der 
Dinge,  die  sich  folgen,  läßt  sich  aber  die  Notwendigkeit 
der  Folge  nicht  herleiten.  Finden  wir,  daß  Dinge,  so 
weit  unsere  Beobachtung  reicht,  beständig  einander 
folgen,  so  mögen  wir  schließen,  daß  sie  nach  einem 
Gesetze  wirken,  nach  einem  Gesetze  aber,  das  wir  nicht 
kennen. 

Ziehen  wir  die  Summe.  Ohne  einfache  Ideen,  die 
durch  die  Einlaßpforten  der  Sinne  in  den  Geist  gebracht 
werden,  keine  zusammengesetzten  Ideen;  ohne  Erfahrung 
der  Übereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung  der 
Ideen  keine  Erkenntnis.  Der  Umfang  der  Erkenntnis 
kann  also  sicher  nicht  weiter  sein,  als  der  Umfang  der 
Ideen;  er  muß  sogar  enger  sein  als  dieser,  denn  Er- 
kenntnis beruht  auf  Vergleichung  und  Verbindung  der 
Ideen.  Wo  die  Übereinstimmung  der  Ideen  nicht  un- 
mittelbar oder  intuitiv  zu  erkennen  ist,  muß  sie,  falls 
Erkenntnis  möglich  sein  soU^  mittelbar  oder  demonstrativ 
erkannt  Werden.  Fehlt  es  also  an  vermittelnden  Ideen, 
so  fehlt  es  an  Beweisgründen.  Bei  der  Verknüpfung  der 
sinnlichen  Eigenschaften  und  der  Wirkungen  der  Dinge 
fehlt  es  aber  an  vermittelnden  Ideen;  also,  erklärte 
Locke,  kann  die  Naturwissenschaft  keine  demonstrierte 
Wissenschaft  sein.  Sie  ist  auf  beständig  erneute  Er- 
fahrung angewiesen  und  Sache  der  Induktion  und  daraus 
zu  gewinnender  praktischer  Beurteilung.  Gewißheit  und 
Beweis  darf  sie  für  ihre  Gegenstände  nicht  beanspruchen. 
Nicht  bloß  die  Metaphysik,  von  der  sich  dies  von  selbst 
versteht,  da  ihre  Objekte,  wenn  sie  existieren,  den 
Sinnen  nicht  gegeben  sind,  auch  die  Physik  ist  nach 
Locke  keine  Wissenschaft  im  strengen  Sinne  des  Wortes. 

Doch  enthält  diese  Behauptung  des  „Essay"  einen 
ungeprüften  Punkt.   Von  der  einzigen  Methode,  den  Zu- 


Die  kritische  Philosophie.  3 5 

sammenhang  der  Erscheinungen  über  die  Grenzen  der 
reinen  Erfahrung  hinaus  zu  verfolgen,  der  Methode 
Galileis  und  Newtons,  durch  mathematische  Analyse  der 
Erscheinungen  sichere  und  gewisse  Gesetze  der  Natur 
abzuleiten,  hatte  Locke,  als  er  den  Essay  schrieb,  keine 
ausreichende  Kenntnis.  Er  war  zu  wenig  mit  der  Mathe- 
matik vertraut,  um  Newtons  Werk  eher  zu  verstehen, 
als  bis  ihm  dieser  einen  Auszug  daraus  angefertigt  hatte; 
sein  „Versuch  über  den  menschlichen  Verstand"  war 
aber  lange  vollendet,  als  er  so  von  Newton  in  die  wahre 
Methode  des  Naturerkennens  eingeführt  wurde.  Jetzt 
sah  er,  daß  es  noch  andere  Erklärungsgründe  der  phy- 
sischen Vorgänge  geben  könne,  als  Stoß  und  Bewegung 
durch  Stoß,  die  einzigen,  die  er  früher  bei  der  „Schwäche 
unseres  Verstandes"  für  begreiflich  gehalten  hatte.  Jetzt 
erkannte  er,  daß  durch  die  Anwendung  der  Mathematik 
auf  die  Naturerscheinungen  die  Grenzen  des  Natur- 
erkennens doch  viel  weiter  vorgeschoben  werden  können, 
als  es  der  bloßen  Empirie  für  möglich  erscheint.  Er 
wollte  den  Essay  in  diesem  Punkte  verbessern,  konnte 
aber  diese  Absicht  nicht  mehr  ausführen. 

Ich  erwähne  dies,  um  schon  hier  auf  die  so  viel 
tiefere  Kritik  Kants  hinzuweisen,  die  auf  vollständiger 
Kenntnis  und  Durchdringung  der  Wissenschaft  Newtons 
aufgebaut  ist.  —  Der  Weg  aber  von  Locke  zu  Kant 
führt  uns  vorerst  zu  Hume. 


VIERTER  VORTRAG. 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  ERKENNTNIS. 

Wer  von  den  Grundlagen  der  Erkenntnis  nach  dem 
gegenwärtigen  Stand  dieser  Frage  reden  will,  findet  sich 
ganz  von  selbst  den  Lehren  Hu  m es  und  Kants  gegen- 
übergestellt. Die  Anschauungen  der  beiden  größten 
kritischen  Denker  sind  noch  nicht  geschichtlich  geworden, 
sie  gehören  noch  nicht  der  Vergangenheit  an,  leben  viel- 
mehr in  der  Philosophie  der  Gegenwart  fort  und  be- 
stimmen zwei  entgegengesetzte  Denkrichtungen  in  der 
Wissenschaft  unserer  Zeit. 

In  dem  Satze  Lockes  von  der  Abstammung  aller 
Erkenntnis  aus  der  Erfahrung  sollte  der  Ursprung  aus 
Erfahrung  den  Beweis  der  Giltigkeit  der  Erkenntnis  be- 
deuten. Die  Erfahrung  erschien  hier  wie  selbstverständ- 
lich als  die  sichere  Basis  und  die  echte  Beglaubigung 
des  Wissens,  und  wer  im  Sinne  Lockes  und  des  Em- 
pirismus Erfahrung  sagte,  glaubte  damit  auch  Wahrheit 
gesagt  zu  haben,  nicht  anders,  als  wer  im  Sinne  Des- 
cartes  von  angebornen  Begriffen  redete.  Es  bedeutet 
daher  den  wesentlichsten  Fortschritt  über  Locke  hinaus 
und  ist  ein  Beweis  ungemeinen  Scharfsinns,  daß  Hume 
in  der  Erfahrung  ein  Problem  sah,  nicht  eine  Lösung. 
Die  Erfahrung,  wenn  darunter  mehr  verstanden  wird, 
als  die  blosen  Sinneseindrücke,  ist  nichts,  was  sich  von 
selbst  versteht,  oder  worauf  man  sich  ohne  weiteres  be- 
rufen kann.     Auf  den  Boden  der  Erfahrungsphilosophie 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  87 

selbst  das  Problem  der  Erfahrung  gestellt  zu  haben,  ist 
das  Verdienst  Humes  und  bezeichnet  seinen  Platz  in 
der  Geschichte  der  Philosophie.  Die  Prüfung  der  Er- 
fahrung, soferne  für  sie  der  Anspruch  erhoben  wird, 
Erkenntnis  zu  sein:  genau  dies  ist  die  Aufgabe  Humes; 
was  ist  die  Grundlage  aller  Schlüsse  aus  Erfahrung,  was 
also  die  Grundlage  der  Erfahrung  selber?  lautet  die 
Frage,  von  der  er  wußte,  daß  sie  vor  ihm  Niemand  ge- 
stellt habe. 

Das  Problem  der  Erfahrung  kann  von  zwei  Seiten  in 
Angriff  genommen,  seine  Lösung  auf  zwei  Wegen  gesucht 
werden.  Der  eine  führt  durch  die  Entwicklungsgeschichte 
der  Erfahrung;  wir  suchen  die  Frage  zu  beantworten: 
wie  wir  zur  Erfahrung  gelangen.  Offenbar  kann  dieser 
psychologisch-genetische  Weg  nicht  zum  Ziele  führen; 
der  Erkenntniswert  der  Erfahrung  läßt  sich  dadurch  nicht 
bestimmen.  Etwas  anderes  ist,  die  Erfahrung  beurteilen, 
etwaä  anderes  ihre  Entstehung  erklären.  Auch  können 
wir  ihrer  Entstehung  nicht  nachgehen,  ohne  zu  wissen, 
was  Erfahrung  sei.  Unsere  Erinnerung  reicht  zu  den  An- 
fängen unserer  Erfahrung  nicht  zurück;  wir  müssen  daher 
den  Gang  ihrer  Entwicklung  durch  Hypothesen  nach- 
schaffen, woher  anders  aber  sollten  wir  diese  Hypothesen 
nehmen,  als  aus  dem  Begriff  der  Erfahrung  selbst. 

Es  gibt  also  noch  einen  zweiten  Zugang  zu  unserem 
Probleme;  es  ist  der  Weg,  den  schon  Locke  angedeutet, 
aber  erst  Hume  mit  dem  vollen  Bewußtsein  seiner 
Richtigkeit  betreten  hat.  Die  Untersuchung  richtet  sich 
auf  diesem  Wege  statt  auf  den  Ursprung  auf  den  Ge- 
halt der  Erfahrung;  sie  fragt,  woraus  die  Erfahrung  be- 
steht, nicht  wie  sie  entsteht  und  ordnet  diese  zweite 
Frage  der  ersten  unter.  Sie  sucht  die  Bedingungen  der 
objektiven  Giltigkeit  der  Begriffe  zu  ermitteln,  und  schließt 


38;  Vierter  Vortrag. 

erst  daraus  auf  die  Abstammung  der  Begriffe  zurück. 
Die  ganze  Kritik  der  Erfahrung  bei  Hume  nimmt  diese 
Wendung  auf  die  Erforschung  der  Bedeutung  der  Be- 
griffe und  den  Inhalt  der  Erfahrung.  Und  Kant  ist 
hierin  Hume  gefolgt.  Auch  bei  ihm  ist  nicht  die  Rede 
davon  wie  die  Erfahrung  entstanden  sein  mag,  sondern 
allein  die  Rede  von  dem,  was  die  Erfahrung  enthält. 
Gegenstand  seiner  Untersuchung  ist  die  „Möglichkeit", 
das  heißt  der  Begriff  der  Erfahrung,  nicht  das  Vermögen 
zur  Erfahrung. 

Nun  gelangen  aber  beide  Denker  zu  entgegenge- 
setzten Ergebnissen.  Muß  dies  nicht  an  der  Richtigkeit 
des  Weges,  den  sie  eingeschlagen,  zweifelhaft  machen? 
—  Wir  bemerken  indeß  leicht,  daß  nur  in  der  allge- 
meinen Richtung  ihre  Wege  übereinstimmen,  der  Richtung 
auf  den  Begriff  der  Erfahrung.  Der  Ausgangspunkt  Kants 
liegt  viel  höher  und  ist  demjenigen  Humes  überlegen. 
Dieser  kam  ganz  anders  vorbereitet  und  mit  entschiedenen 
Neigungen  für  Literatur  und  Geschichte,  die  ihn  zum 
hervorragenden  Schriftsteller  machten,  zur  Philosophie; 
die  exakten  Wissenschaften  kannte  er  kaum  aus  eigener 
Anschauung  und  die  zu  geringe  Würdigung  ihres  ex- 
perimentellen Verfahrens  ließ  ihn  die  Aktivität  des 
Geistes  überhaupt  unterschätzen.  Kant  dagegen,  der 
Schüler  Newtons,  hat  sich  mit  eigenen  Forschungen  am 
Werke  der  Naturwissenschaft  beteiligt;  und  diese  Ver- 
schiedenheit in  den  Ausgangspunkten  beider  Denker 
reicht  völlig  aus,  die  Verschiedenheit  in  ihren  Ergeb- 
nissen zu  erklären.  Ich  stelle  diese  Ergebnisse  zunächst 
in  ihrem  schroffen  Gegensatze  einander  gegenüber. 

Nach  Hume  beruht  die  Erfahrung  auf  Gewohnheit 
in  Folge  der  "Anpassung  des  Ablaufes  unserer  Vor- 
stellungen  an   den   Verlauf  der   Wahrnehmungen   oder 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  gn 

Sinneseindrücke;  sie  ist  daher  eine  Art  des  Instinktes 
oder  natürlichen  Triebes  und  ihr  Prinzip  ein  Glaube, 
der  durch  Vernunft  nicht  zu  begründen  ist.  Nach  Kant 
beruht  die  Erfahrung  auf  Grundsätzen,  sie  ist  daher 
keine  Sache  bloßer  Gewöhnung  und  daraus  folgender 
Erwartung,  sondern  Objekt  des  Verstandes  und  der  Ein- 
sicht. Sie  ist  Erkenntnis,  weil  ihre  Grundlagen  oder 
Voraussetzungen  Erkenntnisprinzipien  und  Gesetze  des 
Denkens  sind.  Die  Dinge  der  Erfahrung,  das  was  wir 
die  Wirklichkeit  nennen,  sind  nach  Hume  an  sich  ge- 
trennte und  verschiedene  Wahrnehmungen,  d.  i.  Kom- 
plexe von  Sinneseindrücken,  die  nur  durch  die  Ein- 
bildungskraft zu  größerer  Einheit  verbunden  werden,  als 
dies  durch  die  Tatsachen  selbst  zu  rechtfertigen  ist. 
Auch  Kant  kennt  die  Rolle  der  Einbildungskraft,  schon 
bei  dem  Zustandekommen  einer  Wahrnehmung;  er 
ordnet  sie  aber  den  Gesetzen  des  Denkens  unter,  der 
Einheit  des  denkenden  Bewußtseins,  und  darum  ist  sie 
nach  ihm  keine  blinde,  sondern  eine  sehende  Funktion« 
Das  an  sich  Wirkliche  erscheint  daher  in  der  Erfahrung 
notwendig  als  Natur,  d.  i.  als  gesetzlich  geordnetes 
Dasein  der  Dinge,  weil  schon  die  Anschauung  der  Dinge 
unter  den  Gesetzen  des  Denkens  steht. 

Um  Humes  Theorie  der  Erfahrung  zu  verstehen, 
müssen  wir  zuvor  wissen  und  feststellen,  was  in  ihr  als 
Erfahrung  bezeichnet  wird.  Eine  unseren  Sinnen  gegen- 
wärtige Wahrnehmung,  oder  eine  in  der  Erinnerung  an- 
wesende Vorstellung  sind  für  sich  genommen  keine  Er- 
fahrungen; sie  werden  unmittelbar  erfaßt  und  verbürgen 
sich  gleichsam  selbst  durch  ihr  Dasein  und  dazu  brauchen 
wir  keine  Erfahrung.  —  Erfahrung  ist  ein  Vorgang  in 
unserem  Geiste,  durch  welchen  wir  über  die  unmittel- 
baren Eindrücke  der  Sinne  und  Vorstellungen  des  Ge- 


gO  Vierter  Vortrag. 

dächtnisses  hinausgeführt  werden  zu  Vorstellungen,  die 
den  Sinnen  nicht  gegenwärtig  sind;  sie  ist  eine  Folgerung 
auf  Tatsachen.  Immer  dann,  und  nur  dann,  wenn  wir 
von  einer  dem  Bewußtsein  gegebenen  Wahrnehmung 
durch  Schlußfolgerung  zur  Vorstellung  einer  nicht  ge- 
gebenen übergehen,  haben  oder  machen  wir  Erfahrung. 
Um  aber  eine  gegenwärtige  Wahrnehmung  mit  einer 
abwesenden  zu  verbinden,  und  diese  aus  jener  zu  folgern, 
bedürfen  wir  eines  Bandes,  das  beide  verknüpft,  eines 
Prinzipes,  das  unsere  Folgerung  vermittelt.  Dieses 
Prinzip  nun  ist  in  allen  Fällen  eines  Schlusses  auf  Tat- 
sachen ein  und  dasselbe:  die  Annahme  eines  ursächlichen 
Zusammenhanges  zwischen  dem  Gegebenen  und  dem 
Gefolgerten,  oder  das  Prinzip  der  Kausalität.  Die 
Erfahrung  prüfen  heißt  mithin  die  Kausalität  prüfen:  das 
Prinzip  aller  unserer  Erfahrungen  oder  Folgerungen  auf 
Tatsachen.  Aus  diesem  Grunde  steht  die  Prüfung  des 
Verhältnisses  von  Ursache  und  Wirkung  im  Mittelpunkt 
der  Hume'schen  Kritik  der  Erfahrung. 

Wir  wollen  zunächst  an  Beispielen  zeigen,  daß  die 
Beziehung  von  Ursache  und  Wirkung  in  der  Tat,  wie 
Hume  lehrt,  der  allgemeine  Leitfaden  ist,  der  uns  über 
einen  wahrgenommenen  Tatbestand  hinausführt  zu  dem, 
welcher  ihm  voranging,  oder  dem,  der  ihm  folgt,  daß  also 
alle  unsere  Erfahrungsschlüsse  kausale  Schlüsse  sind.  Wir 
finden  eine  menschliche  Spur,  etwa  den  Abdruck  eines 
Fußes  in  dem  Sande  einer  einsamen  Insel,  sogleich  ver- 
gegenwärtigt sich  unserem  Geiste  die  Vorstellung  von 
der  früheren  Anwesenheit  eines  Menschen,  aus  keinem 
anderen  Grunde,  als  weil  wir  den  gegenwärtigen  Ein- 
druck als  Wirkung  aufTassen  und  auf  ihre  vergangene 
Ursache  schließen.  Selbst  das  Verhältnis  der  Ähnlich- 
keit   schließt,    wenn    es    nicht    unmittelbar    durch   Ver- 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  gi 

gleichung  gegenwärtiger  Wahrnehmungen  erfaßt,  sondern 
gefolgert  wird,  das  der  Ursächlichkeit  ein.  Ein  Porträt 
erinnert  uns  durch  seine  Ähnlichkeit  an  einen  abwesenden 
Freund;  gewiß  hängt  hier  die  Vorstellung  der  Ähnlich- 
keit von  der  Vorstellung  ihrer  Verursachung,  der  Por- 
trätierung des  Freundes,  ab.  Und  so  läßt  sich  überhaupt 
zeigen,  daß  unser  Denken  nur  vermittelst  der  Beziehung 
von  Ursache  und  Wirkung  über  das  unmittelbare  Zeug- 
nis der  Sinne  hinausgelangt;  diese  Beziehung  verknüpft 
die  Gegenwart  mit  der  Vergangenheit  und  Zukunft  zur 
Einheit  der  Erfahrung. 

Aber  diese  Beziehung  selbst!  Woher  stammt  sie? 
Ist  sie  durch  Erfahrung  gegeben  oder  durch  Denken  zu 
begründen?  Die  Wirkung,  so  glauben  wir,  folgt  nicht 
bloß  auf  ihre  Ursache,  sie  ist  abhängig  von  ihr,  mit  ihr 
notwendig  verknüpft.  Kausale  Folge  ist  notwendige 
Folge;  ist  diese  Notwendigkeit  zu  beweisen? 

Wir  wollen  den  Sinn  dieser  Fragen  uns  erst  an 
einem  einzelnen  Falle  anschaulich  machen.  —  Wir  ver- 
setzen durch  die  Bewegung  unseres  Arms  einen  Hammer 
in  Schwung  und  lassen  ihn  auf  den  Amboß  fallen,  die 
Bewegung  hört  auf  und  wir  vernehmen  einen  Ton.  Die 
Momente  dieses  Vorganges  erscheinen  uns  untereinander 
ursächlich  verknüpft;  wir  erklären  den  Willen  als  die 
Ursache  der  Bewegung  des  Arms  und  des  Hammers 
und  glauben  den  Aufwand  der  Muskelkraft  zur  Hervor- 
bringung der  Bewegung  zu  fühlen,  desgleichen  be- 
zeichnen wir  das  Auffallen  des  Hammers,  genauer  die 
dadurch  erzeugten  vibrierenden  Bewegungen  als  Ursache 
der  Tonempfindung.  Es  scheint  uns  ganz  unzweifelhaft, 
ja  selbstverständlich  zu  sein,  daß  jeder  frühere  Teil  des 
Vorganges  den  nächstfolgenden  hervorgebracht  habe. 
Was   ist  hier  durch  die  Tatsachen  selbst  gegeben,  was 


Q2  Vierter  Vortrag. 

in  sie  hineingelegt,  hinzugedacht?  Wir  haben  gewiß 
nicht  wahrgenommen,  wie  oder  wodurch  der  Wille  den 
Arm  bewegt,  oder  wodurch  es  geschieht,  daß  sich  eine 
einheitliche  Massenbewegung,  wie  die  des  Hammers,  in 
schwingende  Bewegungen  der  Teile  zerplittert,  geschweige 
wie  aus  diesen  Bewegungen  die  Empfindung  des  Tones 
hervorgeht.  Die  Wissenschaft  mag  die  Wahrnehmung 
durch  Beobachtung  ergänzen,  die  Armbewegung  in  ihre 
einzelnen  Momente  (Innervation  und  Formveränderung 
des  Muskels,  Mitziehen  des  Gliedes  durch  die  an  den 
Muskel  gehefteten  Bänder)  zerlegen  und  außer  Ton- 
schwingungen auch  Wärme  infolge  des  Auffallens  des 
Hammers  nachweisen:  das  Wie  des  Vorganges,  seine 
in  die  Sinne  fallende  Erscheinung,  wird  uns  dadurch  ge- 
nauer bekannt,  dem  Warum  desselben  kommen  wir 
nicht  näher.  Auch  nicht  durch  Hypothesen  über  mole- 
kulare Bewegungen.  Durch  solche  Hypothesen  könnte 
der  Vorgang  immer  nur  genauer  beschrieben  werden, 
gleichsam  für  schärfere  Sinne  als  die  unseren;  eine  Er- 
klärung wäre  auch  damit  nicht  gegeben.  Aber  trotz 
dieser  Unkenntnis  des  Wesens  der  Verursachung  fahren 
wir  ohne  Bedenken  fort,  Verursachung  zu  behaupten. 
Den  Grund  dieser  Behauptung  wollen  wir  wissen;  ist 
sie  grundlos,  wie  kommen  wir  dann  dazu?  Stützt  sie 
sich  auf  unsere  bisherige  Erfahrung,  wie  soll  dann  die 
Zuversicht  und  Gewißheit  erklärt  werden,  mit  der  wir  sie 
auf  die  künftige  anwenden?  Es  sind  die  Fragen  Humes, 
auf  die  uns  die  Analyse  unseres  Beispiels  geführt  hat. 
Es  ist  das  Eigentümliche  des  Verfahrens  Humes  bei 
der  Lösung  dieser  Fragen,  daß  er  die  Kausalität,  die 
Grundlage  der  Erkenntnis  aus  Erfahrung,  an  der  reinen 
Erfahrung  prüft,  nachdem  er  sich  zuvor  überzeugt  hatte, 
daß    ihre  Annahme  durch  Vernunft   nicht   zu   beweisen 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  gj 

ist.  Sein  erster  Satz  ist  daher  ein  negativer:  die  not- 
wendige Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  ist  in 
keinem  einzigen  Falle  aus  bloßen  Begriffen,  oder  wie 
schon  Hume  es  ausdrückt:  a  priori  zu  erkennen.  Ur- 
sache und  Wirkung  sind  verschieden,  zum  mindesten 
zeitlich  verschieden;  also  sind  ihre  Vorstellungen  trenn- 
bar, oder,  was  dasselbe  ist,  nicht  notwendig  verbunden, 
also  enthält  die  Vorstellung,  daß  Ursache  und  Wirkung 
selbst  getrennt  existieren  könnten,  keinen  Widerspruch. 
Es  ist  aber  das  Kennzeichen  aller  rein  begrifflichen 
Wahrheiten,  der  Wahrheiten  a  priori,  daß  ihr  Gegenteil 
unvorstellbar  ist.  Die  Verknüpfung  irgend  einer  Ursache 
mit  ihrer  Wirkung  ist  nicht  a  priori  zu  erkennen,  weil 
die  NichtVerknüpfung  vorstellbar  ist.  Die  Vorstellung, 
daß,  populär  geredet,  morgen  die  Sonne  nicht  mehr 
aufgehen  werde,  enthält  keinen  Widerspruch,  wie  un- 
wahrscheinlich, weil  aller  bisherigen  Erfahrung  wider- 
streitend, sie  auch  erscheinen  mag.  Muß  ein  elastischer 
Ball,  der  mit  centralem  Stoße  auf  einen  zweiten  gleich 
großen  und  elastischen  trifft,  diesem  seine  ganze  Be- 
wegung mitteilen;  sehen  wir  die  Notwendigkeit  davon 
durch  bloße  Betrachtung  der  Erscheinung  ein?  Könnte 
nicht  der  Ball  bei  der  Berührung  zurück-  oder  seitlich 
ausweichen,  oder  über  den  zweiten  Ball  hinwegsetzen? 
In  allen  Fällen,  wo  wir  nicht  aus  früherer  Erfahrung 
wissen,  was  unter  bestimmten  Umständen  geschieht, 
müssen  wir  abwarten,  was  geschehen  wird.  Aus  bloßer 
Vernunft  läßt  sich  nicht  beweisen,  „daß,  wenn  etwas 
gesetzt  ist,  dadurch  auch  etwas  anderes  notwendig  ge- 
setzt werden  müsse",  formuliert  Kant  den  Satz  Humes. 
Die  notwendige  Verbindung  verschiedener  Begriffe  ist 
nicht  aus  Begriffen  zu  erkennen;  sie  ist  keine  Erkenntnis 
aus  reiner  Vernunft. 


Q4  Vierter  Vortrag. 

Also,  weil  nicht  aus  Vernunft,  so  aus  Erfahrung, 
da  es  ein  Drittes  nicht  gibt,  folgert  der  Empirismus. 
Locke  hielt  es  für  tatsächlich,  daß  wir  die  ,.Kraft"  in 
der  Ursache,  das  Vermögen  der  Ursache  zu  wirken, 
beobachten,  und  dies  entspricht  auch  völlig  unserer  ge- 
wohntesten Überzeugung.  —  Zu  sehen,  was,  weil  es  zu 
nahe  liegt,  von  allen  übersehen  wird,  ist  nur  einem  vor- 
urteilsfreien und  subtilen  Geiste  gegeben.  Hume  zwingt 
uns,  den  gemeinen  Glauben  an  die  Wahrnehmung  von 
Kraft,  Hervorbringung,  Erzeugung,  den  Glauben  an  die 
Wahrnehmung  des  Umstandes,  wodurch  eine  Ursache 
wirkt,  fahren  zu  lassen.  Er  zeigte  unwidersprechlich, 
daß  es  für  den  vermeintlichen  Begriff,  den  wir  mit  diesen 
oder  ähnlichen  Worten  bezeichnen,  an  einer  „Impression" 
oder,  was  für  ihn  dasselbe  bedeutete,  an  einem  Objekte 
fehle,  und  in  diesem  Nachweis  liegt  das  größte  und 
bleibende  Verdienst  seiner  Kausalitätstheorie.  Hier  er- 
weist er  sich,  ich  wiederhole  es,  als  Kritiker  der  Er- 
fahrung durch  die  reine  Erfahrung.  Auch  nachdem 
die  Erfahrung  uns  gezeigt  hat,  welche  Wirkung  auf  eine 
bestimmte  Ursache  folgt,  läßt  sie  uns  in  völliger  Un- 
wissenheit über  die  „Kraft",  oder  das  innere  Prinzip, 
durch  welches  die  Ursache  ihre  Wirkung  herbeiführt. 
Dies  Prinzip  bleibt  uns  in  allen  möglichen  Fällen,  allen 
Arten  ursächlicher  Verbindung,  verborgen.  „Gesicht 
und  Gefühl  liefern  uns  eine  Vorstellung  von  der  tat- 
sächlichen Bewegung  der  Körper,  von  der  wunder- 
baren Kraft  oder  Macht  aber,  die  einen  in  Bewegung 
begriffenen  Körper  in  beständiger  Veränderung  des  Orts 
erhält  und  die  er  nur  verliert,  um  sie  an  andere  Körper 
mitzuteilen,  können  wir  uns  nicht  den  entferntesten  Be- 
griff bilden."  Wir  verstehen  nicht,  wodurch  Bewegung 
bewegt.     Wir  verstehen  auch  nicht,  wodurch  der  Wille 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  nC 

bewegt;  ist  uns  doch  selbst  der  Einfluß,  den  er  auf  den 
Verlauf  unserer  Vorstellungen  ausübt,  seiner  inneren 
Natur  nach  unerkennbar.  Gewiß  ist  es  die  Erfahrung 
der  willkürlichen  Bewegung  unserer  Glieder,  von  der 
ursprünglich  der  Begrifif  der  Kraft  ausgegangen  ist,  und 
nicht  erst  in  der  Philosophie  Schopenhauers,  schon  in 
der  Philosophie  des  Fetisch- Gläubigen  ist  alle  Kraft 
„willensartig".  Innere  und  äußere  Erfahrung  erscheinen 
hier  durch  ein  Prinzip  verknüpft,  das  wir,  wenn  irgend 
eines,  unmittelbar  zu  erfassen  meinen;  hier  scheinen  wir 
die  Kausalität  an  ihrem  Werke  zu  sehen,  die  „Kausalität 
von  innen"  zu  sehen,  gleichviel,  ob  wir  mit  Schopen- 
hauer die  Bewegung  als  Erscheinung  des  Willensaktes 
oder  nach  der  populären  Meinung  als  dessen  Wirkung 
betrachten.  Auch  die  Sonne  scheint  vor  unseren  Augen 
auf-  und  unterzugehen,  und  wir  wissen  doch,  daß  sie  im 
Verhältnis  zur  Erde  ruht.  Wir  wissen  so  wenig,  wie 
der  Wille  den  Arm  oder  einen  Finger  der  Hand  bewegt, 
daß  wir  nicht  einmal  sehen,  was  er  bewegt;  denn  nicht 
mehr  als  die  Ursache  der  Veränderung  der  Innervation 
des  Muskels  und  der  Richtung  der  Bewegung  könnte  er 
sein.  Und  wenn  wir  auch  nicht  zweifeln  können,  daß 
der  Wille  Einfluß  auf  den  Verlauf  und  die  Ordnung 
unserer  Gedanken  nimmt,  so  verhält  er  sich  auch  hier 
nur  als  auslösende  Bedingung;  der  Gang  der  Gedanken 
im  einzelnen  bleibt  dabei  dem  „Mechanismus"  der  Vor- 
stellungen überlassen.  Auch  kommen  die  Gedanken, 
oder  bleiben  aus ,  sehr  häufig  wider  unseren  Willen. 
Sie  kommen  nicht,  wenn  wir  wollen,  sondern,  wenn  sie 
wollen  und  nicht  wir  geben  den  Gedanken  Audienz, 
die  Gedanken  geben  uns  Audienz. 

Die  Induktion  Humes  ist  vollständig  und  ein  Zweifel 
an    der   Richtigkeit     ihres    Ergebnisses    nicht    möglich. 


96 


vierter  Vortrae. 


Weder  der  Zusammenhang  physischer  Ursachen  mit 
ihren  physischen  Wirkungen,  noch  der  Zusammenhang 
einer  psychischen  Ursache  mit  ihrer  tatsächlichen  oder 
scheinbaren  physischen  Wirkung  und  umgekehrt,  noch 
endlich  das  innere  Band,  das  physische  Ursachen  mit 
psychischen  Wirkungen  verknüpft,  ist  in  seiner  Notwendig- 
keit zu  begreifen.  Wir  haben  also  schlechterdings  keinen 
positiven  oder  inhaltlichen  Begriff  von  „Kraft";  dieser 
Punkt  ist  durch  Hume  ein  für  alle  Male  erledigt. 

Was  die  Erfahrung  wirklich  lehrt,  ist  die  beständige 
Verbindung  gleicher  Dinge.  Auf  gleiche  vorangehende 
Erscheinungen  sehen  wir  beständig  Folgeerscheinungen 
eintreten,  die  den  früheren  gleich  sind,  und  diese  Be- 
ständigkeit ist  nach  Hume  der  einzige  Umstand,  der 
auf  der  Seite  der  Objekte  ursächliche  Folge  von  bloßer 
Folge  unterscheidet.  Aber,  nur  so  weit  als  sie  selber 
reicht,  kann  Erfahrung  diese  Gleichförmigkeit  in  der 
Natur  beweisen,  also  immer  nur  bis  zum  gegenwärtigen 
Augenblick;  für  die  vergangene  Erfahrung  mögen  wir  sie 
zugeben,  für  die  künftige  müssen  wir  sie  voraussetzen. 
Und  wir  tun  dies  auch  jeder  Zeit  ohne  Zögern  oder 
Bedenken.  Weil  ein  bestimmtes  Objekt  bisher  beständig 
diese  oder  jene  Wirkungen  mit  sich  brachte,  so  werde, 
behaupten  wir,  auch  jedes  ihm  gleiche  Objekt  immer 
wieder  mit  eben  solchen  Wirkungen  verbunden  sein. 
Beide  Sätze  sagen  offenbar  verschiedenes  aus ;  der  zweite 
ist  in  dem  ersten  nicht  enthalten,  er  wird  aus  ihm  ge- 
folgert. Wie  aber  ist  diese  Folgerung  zu  begründen?  — 
ist  sie  zu  begründen?  An  einen  Beweis  aus  reiner 
Vernunft  ist  von  vornherein  nicht  zu  denken.  Was  in 
einem  erstmaligen  Falle  unverständlich  ist:  die  Not- 
wendigkeit in  der  Verbindung  verschiedener  Dinge  kann 
durch  die  Wiederholung  noch  so  vieler  Fälle  der  gleichen 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  07 

Art  um  nichts  verständlicher  werden;  die  Vernunft 
schließt  aus  einem  Fall  auf  alle,  oder  es  ist  nicht  die 
Vernunft,  welche  schließt.  Ebenso  wenig  läßt  sich  der 
Satz:  die  Natur  müsse  gleichförmig  bleiben,  weil  sie 
gleichförmig  war,  durch  Erfahrung  beweisen;  jeder  Ver- 
such, ihn  auf  diesem  Wege  beweisen  zu  wollen,  müßte 
sich  im  Zirkel  bewegen.  „Kein  Beweisgrund,  der  aus 
der  Erfahrung  stammte,  kann  die  Gleichheit  des  Künftigen 
mit  dem  Vergangenen  beweisen;  denn  alle  Beweise 
aus  Erfahrung  stützen  sich  auf  die  Annahme 
dieser  Gleichheit."  Das  heißt:  die  Erfahrung  hängt 
von  dem  allgemeinen  Kausalsatze  ab,  nicht  dieser  Satz 
von  der  Erfahrung.  —  Wir  müssen  uns  hier  immer  gegen- 
wärtig halten,  daß  Erfahrung  bei  Hume  nicht  bloße 
Wahrnehmung,  oder  reine  Erfahrung  bedeutet,  sondern 
Erweiterung  der  Wahrnehmung  durch  Folgerung  auf  eine 
mit  ihr  verknüpfte,  aber  nicht  wahrgenommene  Tat- 
sache; das  Prinzip  dieser  Folgerung  und  eben  damit 
der  .„Erfahrung"  ist  die  Kausalität. 

Auch  Hume  betrachtete  somit  die  Kausalität  als 
Grundlage  der  Erfahrung,  und  einen  Beweis  der  All- 
gemeinheit dieses  Prinzipes  durch  Erfahrung  oder  In- 
duktion hielt  auch  er  für  ausgeschlossen.  Mit  diesen 
Gedanken  greift  er  bereits  der  Anschauung  Kants  vor, 
wenn  auch  ihre  weitere  Entwicklung  bei  ihm  ganz  anders 
gerichtet  ist.  In  gewissem  Sinne  nämlich  gründet  er  das 
Prinzip  doch  auf  die  vergangene  Erfahrung,  —  nicht 
um  es  aus  ihr,  was  er  selbst  als  unmöglich  und  wider- 
sprechend gezeigt  hatte,  als  Folgesatz  abzuleiten,  sondern, 
indem  er  sich  auf  eine  mit  ihr  verbundene  Tatsache  der 
inneren  Erfahrung  beruft,  die  den  Mangel  eines  eigent- 
lichen Beweises  des  Prinzipes  ersetzen  soll.  Durch  die 
beständige  Wiederholung  gleicher  Fälle  hat  sich  zwar  in 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart,  7 


q8  Vierter  Vortrag. 

den  Objekten  nichts  geändert,  was  zur  intimeren  Er- 
kenntnis ihrer  Verknüpfung  beitragen  könnte,  aber  im 
Subjekte  und  in  seiner  Auffassung  hat  sich  etwas  ge- 
ändert. Die  Wiederholung  hatte  eine  Gewöhnung,  eine 
Anpassung  des  Verlaufs  unserer  Gedanken  an  den  Ver- 
lauf der  Dinge  zur  Folge.  An  die  Stelle  der  fehlenden 
Einsicht  in  den  Grund  einer  ursächlichen  Verbindung 
tritt  die  Gewohnheit,  an  die  Stelle  der  objektiven  Not- 
wendigkeit, welche  unerkannt  bleibt,  die  subjektive  eines 
Vorstellungstriebes.  Wie  Gewohnheit  entsteht,  wissen 
wir  nicht  und  ihre  letzte  Ursache  brauchen  wir  nicht 
zu  kennen;  daß  sie  infolge  der  Wiederholung  entsteht, 
erfahren  wir.  Und  ebenso  erfahren  wir  auch  ihre 
Wirkungen.  Von  ihr  rührt  die  Neigung,  die  Leichtigkeit 
her,  mit  der  wir  von  einer  Wahrnehmung  sogleich  zur 
Vorstellung,  es  sei  der  Ursache  oder  der  Wirkung,  über- 
gehen; aus  ihr  ist  der  „Glaube"  an  die  Tatsächlichkeit 
der  gefolgerten  Ursache  oder  Wirkung  herzuleiten.  Denn 
etwas  von  der  Eindrucksstärke,  Lebendigkeit  und  Festig- 
keit, mit  der  wir  die  Wirklichkeit  einer  Wahrnehmung 
erleben,  muß  sich  von  dieser  auf  die  durch  Gewohnheit 
mit  ihr  verknüpfte  Vorstellung  übertragen.  Endlich  werden 
wir  den  Zwang  oder  die  Notwendigkeit,  die  durch  Ge- 
wohnheit entsteht,  fühlen,  so  oft  wir  das  Gegenteil  einer 
gewohnten  Verbindung  unserer  Vorstellungen  zu  denken 
versuchen;  das  Gegenteil  einer  solchen  Verbindung  er- 
scheint uns  dann  als  unvorstellbar  oder  unmöglich,  ob- 
gleich seine  Vorstellung  keinerlei  Widerspruch  in  sich 
einschließt. 

Unser  Begriff  von  Notwendigkeit  und  Verursachung 
entspringt  demnach  lediglich  aus  der  wahrgenommenen 
Gleichförmigkeit  in  der  Natur,  wodurch  der  Verstand 
durch  Gewohnheit  bestimmt  wird,  von  dem  einen  Dinge  auf 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  qq 

das  andere  zu  schließen.  Außer  der  beständigen  Ver- 
bindung gleicher  Dinge  und  der  Folgerung  des  einen 
aus  dem  andern  haben  wir  keinen  Begriff  von  Notwendig- 
keit und  Verknüpfung.  Die  Verschiedenheit  der  Ursache 
und  Wirkung,  die  Beständigkeit  ihrer  Folge  und  die  sich 
daran  knüpfende  Gewohnheit  des  Geistes,  von  der  einen 
zu  der  anderen  überzugehen,  diese  drei  Punkte  machen 
das  Wesentliche  in  der  Kausalitäts-Theorie  Humes  aus. 
—  Und  so  beruht  nach  dieser  Theorie  alle  Natur- 
erkenntnis im  letzten  Grunde  auf  einer  unbeweisbaren 
und  niemals  von  vorne  herein  sicheren  Annahme,  da 
das  Prinzip  der  Erfahrung  selbst  kein  Grundsatz  des  Er- 
kennens  ist,  sondern  die  Folge  einer  bloßen  Ideen- 
association  durch  Gewohnheit? 

Es  war  nicht  die  Absicht  Humes,  die  Schlüsse  aus 
Erfahrung  und  somit  die  Erkenntnis  von  Tatsachen  da- 
durch unsicher  oder  zweifelhaft  erscheinen  zu  lassen, 
daß  er  sie  auf  die  Gewohnheit  zurückführte,  nachdem 
er  Vernunftgründe  für  sie  nicht  auffinden  konnte.  „Ist 
der  Geist  nicht  durch  einen  Grund  bestimmt,  diese 
Folgerung  (auf  Tatsachen)  zu  ziehen,  so  muß  er  dazu 
durch  ein  Prinzip  von  gleichem  Gewicht  und  gleicher 
Autorität  bestimmt  sein."  „Die  Natur  hat  uns  mit  einer 
absoluten,  durch  keinen  Zweifel  zu  beirrenden  Not- 
wendigkeit ebenso  zum  Urteilen  bestimmt,  wie  zum 
Atmen  und  Empfinden."  Es  war  dies  für  sie,  mensch- 
lich zu  reden,  eine  zu  wichtige  Sache,  denn  die  Er- 
haltung unserer  Existenz  hängt  davon  ab,  um  sie  der 
Vernunft  und  ihren  weitläufigen  und  trügerischen  Argu- 
menten zu  überlassen,  die  dafür  auch  immer  zu  spät 
kommen  würden;  sie  benützte  dazu  die  mechanische 
Tendenz  eines  Instinktes.  Die  Gewohnheit,  diese  zweite 
Natur,  wirkt  mit  der  Regelmäßigkeit  und  Zuverlässigkeit 

7* 


100  Vierter  Vortrag. 

eines  Instinktes  oder  natürlichen  Triebes,  ja  man  kann 
sie  selbst  als  einen  erworbenen  Instinkt  bezeichnen.  Die 
Erfahrungsschlüsse  auf  die  Gewohnheit  gründen  heißt 
daher  im  Sinne  Humes,  sie  sicherer  begründen,  als  es 
durch  die  Vernunft  geschehen  könnte.  Die  Folgerungen 
aus  Vernunft  und  die  Folgerungen  aus  Erfahrung  sind 
zwar  nach  Wesen  und  Ursprung  verschieden,  aber  ihre 
Gewißheit  ist  die  gleiche,  sie  ist  nur  von  anderer  Art. 
Durch  eine  Folgerung  der  ersten  Art  wird  eine  Be- 
ziehung von  Ideen  auf  Grund  der  Übereinstimmung 
oder  Nichtübereinstimmung  ihres  Inhaltes  erkannt;  bei 
einer  Folgerung  der  zweiten  wird  eine  Tatsache  mit 
einer  Idee  verknüpft  und  die  Existenz  oder  Wirklichkeit 
des  Objektes  der  Idee  erschlossen  ohne  das  Dazwischen- 
treten eines  Grundes  und  allein  durch  die  Wirksamkeit 
eines  natürlichen  Prinzipes.  Die  Prinzipien  der  Wirklich- 
keit und  des  Lebens  sind  früher  als  alle  Grundsätze  der 
Vernunft,  sie  sind  da  und  wirken,  noch  ehe  diese  ihr 
Werk  beginnt;  und  unsere  Verwunderung  darüber,  daß 
die  Erkenntnis  von  Tatsachen  und  Existenz  auf  einen 
Instinkt,  wie  die  Gewohnheit,  gegründet  sein  soll,  wird 
aufhören,  wenn  wir  bemerken,  daß  die  Vernunft  selbst 
auf  einem  Instinkte  beruht.  Unsere  natürlichen  Über- 
zeugungen, die  uns  bei  der  Erkenntnis  der  Dinge  leiten» 
sind  eine  Wirkung  mehr  des  sinnlichen  als  des  ver- 
nünftigen Teiles  unserer  Natur,  erklärt  Hume;  sie  gehen 
allen  Reflexionen  voran  und  sind  daher  durch  Gründe 
der  Vernunft  weder  zu  beweisen,  noch  zu  widerlegen. 
Dies  gilt  vor  allem  von  der  ursprünglichsten  unter  ihnen, 
dem  Glauben  an  die  Existenz  von  Dingen  außer  uns. 
,,Wir  können  wohl  fragen:  welche  Gründe  bestimmen 
uns,  an  das  Dasein  von  Dingen  zu  glauben;  vergebens 
aber  würden  wir   fragen:    existieren  Dinge   oder  nicht? 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  lOl 

Dies  ist  ein  Punkt,  den  wir  bei  allen  unseren  Er- 
wägungen und  Zweifeln  für  ausgemacht  nehmen  müssen." 
Die  Natur  hat  die  Kraft  aller  skeptischen  Argumente 
dagegen  schon  gebrochen,  noch  ehe  sie  Einfluß  ge- 
winnen können.  Ist  die  Realität  der  Erkenntnis  logisch 
nicht  zu  begründen,  so  ist  sie  dafür  bereits  biologisch 
gegründet.  Eine  der  möglichen  Formen  das  Erkenntnis- 
problem zu  lösen,  hat  Hume  damit  entdeckt  und  in  ihre 
Konsequenzen  entwickelt;  Hume  ist  der  erste,  der  eine 
biologische  Erkenntnistheorie  begründet  hat,  indem 
er  noch  hinter  die  Vernunft  zurückgreift  auf  etwas,  woraus 
diese  selbst  entsteht,  wovon  sie  selbst  getragen  wird.  — 
Eine  in  letzter  Zeit  öfters  genannte  „Kritik  der  reinen 
Erfahrung'*  hat  diese  Anschauungen  Humes  in  origineller 
Weise  erneuert. 

Was  uns  abhält,  ihnen  zuzustimmen,  ist  nicht  bloß 
der  Dualismus  zwischen  Wirklichkeit  und  Vernunft,  der 
hier  noch  bestehen  bleibt,  sondern  ein  allgemeinerer 
Grund.  Die  Gewißheit,  die  natürlichen  Prinzipien  der 
Erfahrung  aufgefunden  zu  haben,  kann  nie  größer  sein, 
als  die  Gewißheit  der  Erfahrung  selbst,  denn  wir 
brauchen  Erfahrung,    um  jene  Prinzipien    zu  entdecken. 

Man  wird  gegen  Humes  Kausalitätslehre  sagen,  und 
ich  habe  es  bereits  gesagt,  sie  lasse  unseren  Geist  weit 
passiver  erscheinen,  als  er  in  Wirklichkeit  ist,  und  unter- 
schätze den  Anteil  seiner  Tätigkeit  bei  der  Erzeugung 
von  Erfahrung.  Wir  suchen  Ursachen  in  der  Natur, 
weil  wir  selbst  Ursachen  in  ihr  sind,  wenn  wir  auch 
nicht  wissen,  wie;  wir  erwarten  Wirkungen,  weil  wir 
selbst  Wirkungen  herbeiführen,  erkennen  wir  auch  nicht 
wodurch.  Die  Praxis  der  wissenschaftlichen  Forschung  bei 
ihrem  experimentellen  Verfahren  wartet  nicht  erst  ab,  ob 
sich  in  der  Natur  gleiche  Ursachen  wiederholen,  gleiche 


102  Vierter  Vortrag. 

Wirkungen  wieder  eintreten  werden;  sie  macht  die  Ur- 
sachen gleich  und  führt  gleiche  Wirkungen  herbei.  Sie 
antecipiert  die  Natur  durch  den  Geist  und  prüft  an  der 
Erfahrung,  die  sie  selbst  hervorruft,  die  Giltigkeit  dessen, 
was  sie  für  sie  vorausgesetzt  und  berechnet  hat.  Die 
Vorstellung  ungefährer  Gleichförmigkeit,  wie  sie  die 
Tatsachen  in  der  Wahrnehmung  allein  zu  erkennen 
geben,  wird  dadurch  zu  dem  Begriffe  strenger,  quantitativ 
bestimmter  Gesetzlichkeit  gesteigert.  Auch  zeigt  schon 
die  tatsächliche  Verknüpfung  mehr  und  wichtigeres,  als 
Hume  sie  zeigen  läßt.  Überall,  wo  Ursachen  und 
Wirkungen  meßbare  Objekte  sind,  auf  dem  gesamten 
Gebiete  der  äußeren  Naturvorgänge  also,  findet  Über- 
einstimmung der  Größe  der  Ursache  mit  der  Größe  der 
Wirkung  statt.  Hume  hat  diese  Tatsache  berührt,  da 
aber  der  Wissenschaft  seiner  Zeit  ihre  Allgemeinheit 
noch  nicht  bekannt  war,  vermochte  er  nicht,  ihre 
prinzipielle  Bedeutung  zu  erkennen.  Die  Gewöhnung 
an  den  Verlauf  der  Dinge  mag  erklären,  warum  wir  in 
einem  gegebenen  Falle  gerade  diese  bestimmte  Ursache 
voraussetzen,  oder  diese  bestimmte  Wirkung  erwarten; 
erklärt  sie  aber  auch  die  allgemeine  Voraussetzung  einer 
Ursache  für  alles  was  geschieht?  Ist  diese  Voraus- 
setzung wirklich  nur  die  Verallgemeinerung  der  Gewohn- 
heit („general  habit"),  kein  Prinzip,  das  einem  be- 
sonderen Gedanken  Ausdruck  gibt?  Warum  wenden 
wir  auf  eine  tatsächliche  Folge  gerade  den  Begriff  des 
Grundes  der  Folge  an,  und  nicht  den  der  Ähnlichkeit 
der  Folge,  oder  einfacher  noch  den  der  bloßen  Wieder- 
holung? Wir  sagen  nicht:  so  oft  eine  Ursache  A  ge- 
gegeben wird,  folgt  die  Wirkung  B,  wir  sagen:  weil  A 
ist,  folgt  B;  nach  Hume  bliebe  das  völlig  willkürlich. 
Richten  sich  diese  Bemerkungen  mehr  gegen  Kon- 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  103 

Sequenzen  der  Humeschen  Lehre,  so  hat  sich  die  folgende 
Betrachtung  gegen  ihre  Grundlagen  selbst  zu  wenden. 
Hume  setzt  überall  voraus,  daß  Sinneseindrücke 
oder  „Impressionen"  in  ihrer  gegebenen  Mannigfaltigkeit, 
z.  B.  diese  oder  jene  bestimmte  Verteilung  farbiger 
Punkte  im  Räume,  an  sich  selbst  Objekte  sind,  die 
Folge  unserer  Impressionen  und  Wahrnehmungen  mithin 
die  Folge  der  Objekte  selbst.  Darum  läßt  er  den 
objektiven  Teil  des  Kausalitätsgesetzes  mit  der  Folge 
der  Sinneseindrücke  zusammenfallen. —  Sind  Impressionen 
Objekte?  Gegeben  werden  sie  uns  als  Änderungen  des 
Zustandes  unserer  Sinnesnerven  und  wir  erleben  diese 
Änderungen  als  Empfindungen;  aber  wir  fassen  sie 
niemals  so  auf,  wie  sie  uns  gegeben  werden  und  erst 
durch  Reflexion  müssen  wir  uns  überzeugen,  daß  sie  an 
sich  nichts  als  Modifikationen  der  Erregung  und  Tätig- 
keit unserer  Sinne  sein  können.  Es  muß  also  zu  den 
Impressionen  eine  ursprüngliche  Art  ihrer  Auffassung, 
ihrer  Beurteilung  hinzukommen,  damit  es  möglich  wird, 
sie,  oder  richtiger  durch  sie  die  Objekte  vorzustellen. 
Impressionen  für  sich  genommen  sind  nicht  einmal  An- 
schauungen. Zu  Anschauungen  werden  sie  erst  dadurch, 
daß  sie  Raum  und  Zeit  bestimmen,  als  Teile  von  Raum 
und  Zeit  erscheinen.  Was  immer  nun  Raum  und  Zeit 
sein  mögen,  so  sind  sie  doch  jedenfalls  zu  dieser  Be- 
stimmung vorausgesetzt.  Wie  also  werden  aus 
Impressionen  Anschauungen,  wie  aus  Anschau- 
ungen Objekte?  Denn  auch  Anschauungen  sind  an 
sich  nicht  Objekte,  sie  werden  auf  Objekte  bezogen. 
Nennen  wir  die  Anschauungen  selbst  Objekte,  so  sind 
es  Objekte  nur  für  unser  individuelles  Bewußtsein  und  wir 
können  diese  von  den  Objekten  für  ein  Bewußtsein  über- 
haupt,   für   ein  Gemeinschaftsbewußtsein   unterscheiden. 


104  Vierter  Vortrag. 

Der  Tisch,  den  ich  wahrnehme,  ist  derselbe  Tisch,  den 
andere  wahrnehmen  können,  er  ist  das  gemeinschaftliche 
Objekt  unserer  Wahrnehmungen. 

Sinneseindrücke  mögen  sich  noch  so  oft  in  gleicher 
Weise  wiederholen,  die  Verbindungen,  in  denen  sie  ge- 
geben werden,  noch  so  regelmässig  wiederkehren,  sie 
allein  könnten  uns  niemals  aus  dem  Banne  unserer 
Subjektivität,  über  den  Kreis  unseres  individuellen  Be- 
wußtseins hinausführen;  denn  sie  sind  selbst  subjektiv 
und  individuell.  Und  mögen  sie  auch  durch  den  Zwang, 
mit  dem  sie  auftreten,  die  Ixbhaftigkeit  und  Stärke,  wo- 
mit sie  uns  affizieren,  noch  so  deutlich  von  bloßen  Vor- 
stellungen, ihren  Nachwirkungen  und  Kopien,  sich  unter- 
scheiden, —  ein  Zwang,  den  wir  fühlen,  ist  noch  keine 
Erkenntnis  eines  bestimmten,  um  so  weniger  die  Er- 
kenntnis eines  uns  und  anderen  Sinnenwesen  gemein- 
schaftlichen Objektes.  Um  zur  Vorstellung,  zum  Begriffe 
eines  solchen  Objektes  zu  gelangen,  müssen  wir  die 
Sinneseindrücke  benutzen,  sie  in  Beziehung  zu  etwas 
setzen,  wovon  sie  ausgehen  und  das,  wie  es  von  unserer 
Wahrnehmung  unabhängig  ist,  auch  von  der  Wahr- 
nehmung anderer  unabhängig  sein  muß.  Dazu  aber 
reicht  nicht,  wie  Hume  meinte,  die  bloße  Wahrnehmung 
und  ihre  Unterscheidung  von  einer  Vorstellung  aus. 
„Es  geht  ein  Urteil  voraus,  ehe  aus  Wahr- 
nehmung Erfahrung  werden  kann."  Mit  diesem 
Satz  geht  Kant  über  Hume  hinaus. 

Erfahrung  ist  beurteilte,  verstandene  Wahrnehmung; 
sie  ist  das  Produkt  des  Denkens  in  die  Anschauung,  die 
Einheit  von  Anschauung  und  Begriff,  also  nichts  Einfaches, 
das  schon  durch  die  bloße  Wahrnehmung  gegeben  sein 
könnte.  Das  Denken  ist  eine  Bedingung  der  Erfahrung, 
Erfahrung  nicht   ohne  Denken    möglich.  —  Wir  sagen: 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  IOC 

der  Stein  ist  hart,  das  Wachs  ist  weich;  das  heißt  wir 
machen  einen  Teil  des  Inhaltes  unserer  Wahrnehmung 
zum  Prädikate  der  übrigen,  durch  eben  diesen  Akt  des 
Prädicierens  einheitlich  verbundenen  Teile  und  dadurch 
erkennen  wir  etwas  vom  Gegenstande.  Alle  Wahr- 
nehmung steht  als  Erfahrung  unter  Regeln  oder  Formen 
der  Beurteilung.  Ein  Bewußtsein,  das  auf  Sinnesein- 
drücke und  deren  Perception  beschränkt  wäre,  (und 
wir  brauchen  nicht  zu  glauben,  daß  das  tierische  Be- 
wußtsein sich  viel  über  diese  Lage  erhebe,)  könnte  den 
Übergang  von  seiner  Wahrnehmung  zur  Vorstellung 
eines  von  der  Wahrnehmung  verschiedenen  und  unab- 
hängigen Gegenstandes  nicht  vollziehen.  Es  bliebe  in 
seine  Wahrnehmungen,  als  rein  individuelle  Erlebnisse, 
eingeschlossen.  Zwar  vermöchte  sich  der  Träger  dieses 
Bewußtseins  den  seinen  Sinnen  gegebenen  Eindrücken 
und  damit  dem  objektiven  Gang  der  Dinge  anzupassen; 
er  würde  dadurch  im  Laufe  seines  inviduellen  Lebens 
klüger  werden,  wie  wir  dies  ja  an  alten  Tieren  im 
Vergleich  mit  jungen  beobachten  können;  es  fehlte 
ihm  aber  an  der  Möglichkeit  über  diese  gleichsam 
praktische  Erfahrung  zu  einer  theoretischen  hinauszu- 
gehen, denn  es  fehlte  ihm  dazu  unserer  Annahme  nach 
das  Vermögen  des  eigentlichen,  reflexiven  Denkens,  der 
Quelle  der  AUgemeingiltigkeit  und  des  einzigen  Leit- 
fadens, der  über  das  individuelle  Bewußtsein  und  dessen 
Schranken  hinaus  zur  Erkenntnis  von  Objekten  der 
Wahrnehmung  fuhrt. 

Abermals  finden  wir  uns  einer  Aufgabe  gegenüber, 
die  sich  anscheinend  auf  doppeltem  Wege  lösen  läßt. 
Wir  sollen  die  Bedingungen  ermitteln,  unter  welchen 
Empfindungen  zu  Anschauungen,  Anschauungen  zu 
Vorstellungen   von  Objekten   werden,    und  der  nächste 


I06  Vierter  Vortrag. 

Weg  -dazu  scheint  der  empirische  der  psychologischen 
Beobachtung  zu  sein.  Genügt  es  nicht,  die  einzelnen 
Schritte  und  Stadien  zu  beschreiben,  die  ein  Individuum 
zurücklegen  muß,  um  von  seinen  Empfindungen  aus  zur 
Erfahrung  zu  gelangen?  Erfahrungen  sind  doch  unserem 
Geiste  nicht  angeboren,  sie  müssen  erworben  und  ent- 
wickelt werden.  Wir  sind  überzeugt,  daß  kein  Kind 
gleich  bei  der  Geburt  Erfahrungen  mit  in  die  Welt 
bringt.  Wir  sehen  ja,  wie  es  seine  Sinneseindrücke 
zu  verwerten,  sie  zu  vergleichen,  und  zu  kombinieren 
beginnt  und  allmählich  lernt,  durch  willkürliche  Ver- 
änderungen in  der  Umgebungswelt,  ein  Ding  von  neuen 
Seiten  zu  betrachten.  Wir  sehen  in  dem  zunehmenden 
Intelligent  werden  seines  Blickes,  der  immer  größer 
werdenden  Zweckmäßigkeit  seiner  Bewegungen  das 
Wachsen  seines  Objekt-Bewußtseins  und  gleichen  Schrittes 
damit  die  Steigerung  des  Bewußtseins  seiner  Selbst  sich 
gleichsam  spiegeln.  Aber  das  Verständnis  dieser  Tat- 
sachen hängt  von  Gesichtspunkten  ab,  die  allein  aus 
dem  Begriff  der  Erfahrung,  der  also  dafür  vorausgesetzt 
ist,  zu  gewinnen  sind.  Die  Psychologie  kann  ihr  Vor- 
haben, die  Erfahrung  zu  erklären  nur  unter  beständiger 
Kontrolle  durch  eine  Theorie  der  Erfahrung  ausfuhren. 
Und  gesetzt,  ihr  Ziel  wäre  erreicht  und  die  Entwicklung 
der  Erfahrung  dargelegt,  so  stünden  wir  noch  erst  vor 
der  entscheidenden  Frage:  der  kritischen  Frage  nach 
der  objektiven  Notwendigkeit  unserer  Erkenntnisse.  Die 
Organisation  unseres  Geistes  wäre  wohl  aufgedeckt,  das 
Spiel  seiner  Kräfte  gezeigt  und  der  Anteil  des  Subjektes 
an  der  Erwerbung  von  Erfahrung  bestimmt.  Wir  hätten 
die  subjektive  Notwendigkeit  kennen  gelernt,  unsere 
Vorstellungen  auf  gewisse  Art  zu  verknüpfen,  ein  Beweis 
für  die  objektive  Giltigkeit  der  Verknüpfung  aber  wäre 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  107 

damit  nicht  erbracht.  Im  Gegenteil:  wir  würden  z.  B. 
„nicht  sagen  können,  die  Wirkung  ist  mit  der  Ursache  im 
Objekte,  d.  i.  notwendig  verknüpft,  sondern:  ich  bin  nur 
so  eingerichtet,  daß  ich  diese  Vorstellungen  nicht  anders 
verknüpfen  kann".  Wenn  dies  ein  Grund  der  Wahrheit 
unserer  Vorstellungen,  ihrer  Übereinstimmung  mit  den 
Objekten  sein  soll,  so  müßte  „unser  Unvermögen,  uns 
eine  Sache  auf  eine  andere  Art  fasslich  zu  machen", 
eine  Quelle  der  Einsicht  sein. 

Die  Kritik  und  Theorie  der  Erkenntnis  hat  den 
Beweis  der  objektiven  Giltigkeit  unserer  Erkenntnisse 
ungeachtet  ihres  subjektiven  Ursprungs  zu  ihrem 
Gegenstande,  und  dazu  würde  uns  auch  die  vollständige 
Kenntnis  ihrer  Entstehung  nicht  helfen  können.  Nicht 
dies  ist  die  Entdeckung  Kants,  daß  es  in  unserer  Er- 
kenntnis Elemente  a  priori  gibt,  Elemente  von  nicht- 
empirischem Ursprung.  Dies  wußte  auch  Locke,  da  er  für 
die  mathematischen  (und  moralischen)  Begriffe  die  „Arche- 
typen" im  Geiste  erzeugt  werden  und  auch  den  allge- 
meinen Begriff  der  Substanz  nicht  von  der  sinnlichen 
Erfahrung  abstammen  ließ;  Hume  wußte  es,  weil  er 
für  den  allgemeinen  Begriff  des  ursächliche  Verhältnisses 
jede  Grundlage  in  der  reinen  Erfahrung,  des  Gegeben- 
sein irgend  einer  Impression  verneinte.  Es  ist  das  Werk 
Kants,  gezeigt  zu  haben,  wie  jene  Elemente  a  priori 
und  gleichwohl  objektiv  giltig  sein  können  und  müssen; 
gezeigt  zu  haben,  wodurch  und  wie  weit  wir  berechtigt 
sind,  sie  als  von  der  Natur  der  Dinge  selbst  geltend 
anzunehmen.  Seine  Frage  lautete:  wie  können  Erkennt- 
nisse und  Urteile  a  priori  und  doch  zugleich  syn- 
thetisch d.  i.  von  den  Objekten  giltig  sein? 

Wie  werden  aus  Impressionen  und  ihren  gegebenen 
Verhältnissen  Anschauungen,   oder,  um  anders,  nämlich 


108  Vierter  Vortrag. 

im  Sinne  der  Erkenntnistheorie  zu  fragen:  unter  welchen 
Voraussetzungen  ist  eine  Anschauung  von  Dingen 
möglich  ? 

Zu  den  Wahrheiten,  die,  nachdem  sie  einmal  ge- 
funden und  begründet  worden  sind,  der  Wissenschaft 
nicht  mehr  verloren  gehen  können,  ist  die  Lehre  Kants 
zu  zählen,  daß  Raum  und  Zeit  Formen  des  Anschauens 
sind  und  eben  darum  Formen  der  Dinge  selbst,  sofern 
diese  zur  Anschauung  gelangen:  die  Lehre  von  dem 
subjektiven  Ursprung  und  der  objektiven  Bedeutung  des 
Raumes  und  der  Zeit.  Kant  kam  zu  dieser  Lehre  nicht 
durch  Reflexion  auf  das  menschliche  Anschauungsver- 
mögen, sondern  durch  Untersuchung  der  Begriffe  von 
Raum  und  Zeit.  Als  Grundlage  für  diese  Betrachtung 
diente  ihm  die  Unterscheidung  Newtons  zwischen  dem 
mathematischen  oder  absoluten  Räume,  der  mathe- 
matischen oder  absoluten  Zeit  und  den  relativen  Räumen 
und  Zeiten,  welche  von  den  Dingen  erfüllt  werden.  Mit 
Newton  bejaht  Kant  die  Notwendigkeit,  Raum  und  Zeit 
im  absoluten  Sinne  vorauszusetzen;  denn  Lagen  und 
Gestalten  der  Dinge  sind  Bestimmungen  und  Teile  des 
Raumes,  wie  Dauer  und  Folge  der  Dinge  Teile  und  Be- 
stimmungen der  Zeit  sind.  Gegen  Newton  verneinte  er  die 
an  sich  gegebene  oder  absolute  Realität  des  allgemeinen 
Raumes,  der  reinen  Zeit.  Der  absolute  Raum  (und 
ebenso  die  absolute  Zeit)  ist  nicht  ein  Begriff  von  einem 
wirklichen  Objekte,  sondern  eine  Idee,  welche  zur  Regel 
dienen  soll,  alle  Bewegung  in  ihm  bloß  als  relativ  zu 
betrachten.  D.  h.  er  ist  notwendig,  um  relative  Räume 
vorstellen  zu  können.  Die  wesentlichen  Bestimmungen, 
die  wir  den  Begriffen  von  Raum  und  Zeit  mit  anschau- 
licher Gewißheit  zuschreiben  und  worauf  wir  die  von  der 
Erfahrung  unabhängigen  Wissenschaften  der  Geometrie 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  IO9 

und  Bewegungslehre  gründen,  sind  von  solcher  Be- 
schaffenheit, daß  sie  aus  sinnlicher  Erfahrung  nicht  be- 
kannt sein  können.  Wäre  der  absolute  Raum,  wie 
Newton  glaubte,  selbst  eine  Sache,  gehörte  er  zu  den 
Dingen  der  Welt  als  das  allumfassende  Ding,  woher 
könnten  wir  von  seiner  Unendlichkeit  wissen?  wir 
schließen  doch  nicht  induktiv:  weil  wir  bisher  auf  keine 
Grenzen  des  Raumes  gestoßen  sind,  werden  wir  auch 
künftig  nie  auf  solche  treffen.  Grenzen  der  Raumer- 
füllung sind  denkbar,  Grenzen  des  Raumes  nicht;  der 
Raum  ist  notwendig  als  grenzenlos,  er  ist  als  unendlich 
gegeben  zu  denken.  Nur  wenn  solche  Bestimmungen 
der  Begriffe  von  Raum  und  Zeit  wie  Unendlichkeit, 
Stetigkeit,  Einzigkeit  u.  s.  w.  aus  den  Gesetzen  oder 
Formen  unserer  anschauenden  Tätigkeit  hervorgehen 
und  aus  ihnen  abstrahiert  sind,  ist  es  zu  verstehen,  wie 
wir  zu  ihrer  Erkenntnis  gelangen  und  sie  zugleich  als 
notwendig  von  den  Dingen  unserer  Anschauung  geltend 
behaupten  können.  „Denn  man  kann  a  priori  wissen, 
wie  und  unter  welcher  Form  die  Gegenstände  der  Sinne 
werden  angeschaut  werden,  nämlich  so,  wie  es  die  sub- 
jektive Form  der  Sinnlichkeit,  das  ist  der  Empfänglich- 
keit des  Subjektes  für  die  Anschauung  jener  Objekte 
mit  sich  bringt".  Raum  und  Zeit  sind  also  nicht  Gegen- 
stände unserer  Anschauung;  ihre  wesentlichen  Eigen- 
schaften werden  unabhängig  von  den  Gegenständen 
erkannt,  auch  können  Raum  und  Zeit  selbst  nicht  an- 
geschaut werden;  sie  sind  Formen  des  Anschauens 
und  deshalb  notwendig  giltig  von  allen  angeschauten 
Dingen. 

Dies  ist  der  formale  Idealismus  Kants,  der  Idealis- 
mus der  allgemeinen  Formen  (und  nur  dieser),  der  An- 
schauung  oder  Erscheinung   der  Dinge    für  unser  'Ann- 


HO  Vierter  Vortrag. 

liches  Bewußtsein;  Kant  selbst  betrachtete  diese  seine 
Lehre  als  den  Gegensatz  und  die  Überwindung  des 
raaterialen  Idealismus,  des  Idealismus  der  Dinge  selbst, 
Kants  sogenannter  Idealismus,  der  ebenso  gut,  ja  noch 
besser  kritischer  Realismus  heissen  könnte,  begründet 
die  Realität  der  Erkenntnis:  Raum  und  Zeit  sind  Formen 
der  Erscheinung  der  Dinge;  weil  sie  Formen  unserer 
Anschauung  der  Dinge  sind;  der  eigentliche  Idealismus 
in  der  „rezipierten  Bedeutung  des  Wortes"  hebt  die 
Realität  der  Erkenntnis  auf;  er  erkennt  z.  B.  nur 
Impressionen  als  wirklich  an,  kein  Reales,  das  die  Im- 
pressionen gibt,  kein  Reales,  das  sie  durch  die  Afifektionen 
seiner  Sinne  empfängt.  „Die  Welt  als  Vorstellung"  wird 
dadurch  zu  einem  Traume  herabgewürdigt;  ja  sie  ist 
weniger  als  ein  Traum,  denn  selbst  zum  Träumen 
brauchen  wir  noch  einen  wirklichen  Körper,  und  von 
Wahrheit  der  Vorstellungen,  d.  i.  Übereinstimmung  mit 
Dingen  kann  dann  in  keinem  begreiflichen  Sinne  des 
Wortes  mehr  die  Rede  sein.  Nur  der  absolute  Raum, 
die  absolute  Zeit,  ich  muß  dies  wiederholen,  sind  nach 
der  Lehre  Kants,  für  sich  genommen  bloße  „Ideen", 
denen  als  solchen  kein  Gegenstand  entspricht,  nicht  die 
relativen  Räume,  die  relativen  Zeiten.  Für  diese  be- 
sonderen und  bestimmten  Formen  der  Dinge,  die  in  der 
empirischen  Anschauung  gegeben  werden,  also  die  Lage, 
Gestalt,  Ausdehnungsgröße,  die  bestimmte  und  bemessene 
Dauer  und  Folge  der  Dinge,  muß  es  nach  Kants  aus- 
drücklicher Lehre  in  den  Dingen  selbst  einen  Grund 
geben.  Denn  aus  der  allgemeinen  Form  ihrer  An- 
schauung, die  allein  aus  der  Vorstellungsart  des  Sub- 
jektes stammt,  sind  sie  nicht  herzuleiten.  Verhältnisse 
der  Dinge  selbst  entsprechen  den  Verhältnissen  in  der 
empirischen  Anschauung  oder  Wahrnehmung  der  Dinge 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  III 

und  erscheinen  in  dieser,  den  allgemeinen  Formen  unseres 
Anschauens  gemäß,  als  räumliche  und  zeitliche  Ver- 
hältnisse. „Dinge  als  Erscheinungen  bestimmen  den 
Raum,  d.  i.  unter  allen  möglichen  Prädikaten  desselben 
(Größe  und  Verhältnis)  machen  sie  es,  daß  diese  oder 
jene  zur  Wirklichkeit  gehören."  In  der  notwendigen  Be- 
ziehung der  allgemeinen  Formen  des  Anschauens  zu  den 
in  ihnen  (nicht  durch  sie)  gegebenen  empirischen  An- 
schauungen, welche  durch  die  Dinge  selbst  gegeben 
werden,  liegt  der  Beweis  für  die  Realität  jener  Formen, 
d.  i.  dafür,  daß  sie  Erkenntnis  von  Dingen  ermöglichen. 
Darum  sind  „die  mathematischen  Begriffe  für  sich  nicht 
Erkenntnisse,  außer  sofern  man  voraussetzt,  daß  es 
Dinge  gibt,  die  sich  nur  der  Form  jener  reinen  sinn- 
lichen Anschauung  gemäß  uns  darstellen  können".  Die 
Dinge  an  sich  mit  ihren  Verhältnissen,  die  in  den  be- 
sonderen Formen  der  Anschauung  und  den  empirischen 
Gesetzen  der  Natur  zum  Ausdruck  kommen,  sind  für 
Kant  eine  gleich  wesentliche  Voraussetzung  wie  es  für 
ihn  die  Elemente  a  priori  der  Erkenntnis  sind.  Die  not- 
wendige Verbindung  beider,  ihr  Zusammenschluß  in  der 
Erfahrung  ist  das  Resultat  seiner  Lehre.  Unsere  Erkenntnis 
ist  eine  mittelbare  Erkenntnis  der  Dinge  selbst  durch  die 
Erscheinungen  der  Dinge  für  unsere  Sinne.  —  Der  Aus- 
druck: „Dinge  an  sich"  (Kant  gebraucht  in  der  Regel 
die  Mehrzahl),  hinter  welchem  man  sich  allerlei  Mystisches 
oder  Transcendentes  zu  denken  gewöhnt  hat,  ist  die 
Übersetzung  von  Lockes  „things  themselves";  für  die 
kritische  Theorie  der  Erfahrung  bedeutet  er  nicht  höhere 
Wesenheiten  oder  übersinnliche  Dinge,  sondern  vorsinn- 
hche  Dinge,  die  Dinge  vor  und  außer  ihrer  Erscheinung 
für  ein  Sinnenwesen,  oder,  um  es  mit  den  Worten  Kants 
zu  sagen:  „ein  Ding,  das  auch  ohne  die  Beschaffenheit 


112  Vierter  Vortrag. 

unserer  Sinnlichkeit  etwas,  nämlich  ein  von  der  Sinnlich- 
keit unabhängiger  Gegenstand  ist." 

Anschauungen  und  Begriffe  müssen  bei  jeder  Er- 
fahrung zusammenwirken.  In  der  Erfahrung  wird  durch 
Wahrnehmung  ein  Objekt  bestimmt.  Schon  hieraus 
erhellt,  daß  zu  dieser  Bestimmung  und  damit  zur  Er- 
fahrung mehr  erfordert  ist,  als  bloße  Wahrnehmung: 
nämlich  der  Begriff  von  einem  Objekte  überhaupt,  nach 
welchem  Begriffe  jene  Bestimmung  der  Wahrnehmung 
allein  erfolgen  kann.  Das,  was  wir  wissen  müssen,  um 
etwas  als  Gegenstand  vorstellen  zu  können,  kann  nicht 
aus  der  Vorstellung  des  Gegenstandes,  die  dadurch  aller- 
erst zu  Stande  kommt,  abgeleitet  werden.  Gegenstände 
mögen  in  der  empirischen  Anschauung  gegeben  sein 
(und  gewiß  ist  in  ihr  der  Einfluß  der  Gegenstände  auf 
unsere  Sinne  gegeben),  aber  dadurch  allein  sind  sie  noch 
nicht  als  Gegenstände  erkannt.  Wie  werden  gegebene 
Gegenstände  zu  erkannten  Gegenständen? 

Es  gibt,  wie  die  Begriffe  von  Raum  und  Zeit,  als 
die  Begriffe  von  den  Formen  des  Anschauens  beweisen, 
ein  ursprüngliches  Anschauen,  und  die  Erscheinung  der 
Dinge  empfängt  von  ihm  das  Gesetz  ihrer  anschaulichen 
Form.  Es  muß  aber  ebenso  auch  ein  ursprüngliches 
Denken  geben,  von  welchem  die  intellektuelle  Form 
der  Erfahrung  der  Dinge  herrührt,  so  gewiß  Erfahrung 
und  bloße  Wahrnehmung  verschieden  sind.  Es  muß  Be- 
griffe geben,  die  zwar  nur  durch  Veranlassung  der  Wahr- 
nehmungen entwickelt  werden  und  ohne  sie  nicht  ent- 
stehen würden,  die  aber  jiicht  aus  den  Wahrnehmungen 
abstammen,  weil  sie  zur  Beurteilung  derselben  dienen, 
zur  Bestimmung  eines  Objektes,  daher  dieser  Bestimmung 
zum  Grunde  liegen  müssen.  Daß  es  solche  ursprünglich 
gedachte  Begriffe  geben  müsse,  läßt  sich  mithin  a  priori, 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  1 1  ^ 

aus  dem  Begriff  der  Erfahrung  erkennen;  welche  es 
seien,  kann  nur  aus  dem  ermittelt  werden,  was  sie  zu 
leisten  haben,  nämlich  die  Bedingungen  der  Vorstellung 
eines  Objektes  zu  sein.  Kant  bediente  sich  der  Logik 
der  Urteile  als  Leitfadens  zur  Auffindung  dieser  Begriffe, 
die  er  von  ihrem  Ursprung  aus  dem  Denken  „reine 
Verstandesbegriffe"  nannte;  er  legte  auf  die  systema- 
tische Vollständigkeit  ihrer  Aufzählung  Gewicht,  viel- 
leicht zu  großes  Gewicht.  Wir  brauchen  ihm  auf  diesem 
Wege  nicht  zu  folgen,  da  es  uns  wesentlich  um  den 
Beweisgrund  ihrer  Realität  oder  objektiven  Giltigkeit 
zu  tun  ist.  Auch  kennen  wir  bereits  die  wichtigsten 
von  diesen  Begriffen.  Eine  bestimmte  Wahrnehmung 
mag  uns  noch  so  regelmäßig  in  dem  Komplexe  von 
Sinneseindrücken,  aus  denen  sie  besteht,  neben  wechseln- 
den Bestandteilen  beharrliche  zeigen,  z.  B.  die  Raum- 
erfüllung oder  das  Gewicht  eines  Körpers;  daß  aber  dieses 
Beharrliche  das  Objekt  bedeute,  die  wechselnden  Be- 
standteile dagegen  Zustände  oder  Accidentien  des  Ob- 
jektes kann  keine  Wahrnehmung  uns  zeigen.  Auch 
Kausalität  kann  nicht  wahrgenommen  werden.  Hume 
zeigte,  daß  sie  in  keiner  Wahrnehmung  fiir  sich  ge- 
nommen, aber  auch  in  keiner,  noch  so  regelmäßigen 
Aufeinanderfolge  von  Wahrnehmungen  gegeben  ist. 
Zugleich  wußte  er,  daß  wir  den  allgemeinen  Kausalsatz 
bei  allen  Erfahrungen,  d.  i.  aller  Erkenntnis  von  Tat- 
sachen auf  Grund  von  Wahrnehmungen,  voraussetzen 
müssen;  da  er  aber  den  Grund  eines  solchen  die  Er- 
fahrung antecipierenden  Gesetzes  nicht  auffinden  konnte, 
setzte  er  die  Gewohnheit  an  die  Stelle  des  Grundes. 

Wie  können  und  müssen  sogar  die  Bedingungen 
unseres  Denkens  eines  Gegenstandes  Bedingungen  der 
Gegenstände  selbst  sein?  wie  läßt  sich  beweisen,  daß  es 

Riehl,  Philosophie  der  Gegeuwart.  8 


114  Vierter  Vortrag. 

Dinge  geben  müsse,  die  notwendig  mit  ihnen  überein- 
stimmen? So  lautet  unsere  Frage  in  Bezug  auf  diese 
Begriffe  und  die  Realität  ihrer  Verknüpfungen. 

Unmittelbar  oder  aus  ihnen  selbst  ist  diese  Realität 
nicht  zu  beweisen.  Könnten  sie  nicht  Einbildungen  sein, 
wie  Hume  meinte,  oder  Eingebungen,  wie  derjenige 
eigentlich  behaupten  müßte,  der  sie  für  angeboren  hält. 
Es  muß  ein  Drittes  geben,  das  tatsächlich  besteht^  aber 
nur  durch  sie  allein  möglich,  das  ist  als  bestehend  zu 
begreifen  ist;  nur  so  ist  ihre  objektive  Giltigkeit  zu 
verstehen.  Dieses  Dritte  ist  die  Erfahrung  oder  die 
empirische,  auf  Wahrnehmung  beruhende  Erkenntnis  der 
Dinge.  Wenn  wir  zeigen  können,  daß  die  reinen  Ver- 
standesbegriffe die  Bedingungen  einer  durch  sie  allein 
möglichen  Erfahrung  sind,  so  haben  wir  auch  schon  ge- 
zeigt, daß  sie  zugleich  die  Bedingungen  der  in  der  Er- 
fahrung möglichen  Gegenstände  sein  müssen;  denn  nur 
in  der  Erfahrung  werden  uns  Gegenstände  gegeben. 
„Dasjenige,  ohne  welches  die  Erfahrung  von  einem 
Gegenstande  nicht  möglich  ist,  ist  auch  notwendig  giltig 
von  den  Gegenständen  der  Erfahrung."  Daraus  und 
daraus  allein,  daß  sich  die  Erfahrung  der  Dinge  nach 
reinen  Verstandesbegriffen  richtet,  ist  es  zu  verstehen, 
daß  sich  auch  die  Dinge  der  Erfahrung  nach  diesen 
Begriffen  richten  müssen.  „Zu  aller  Erfahrung  und  deren 
Möglichkeit  gehört  Verstand,  und  das  erste,  was  er  dazu 
tut,  ist  nicht,  daß  er  die  Vorstellung  der  Gegenstände 
deutlich  macht,  sondern  daß  er  die  Vorstellung  eines 
Gegenstandes  überhaupt  möglich  macht."  Ohne  Ver- 
stand keine  Erfahrung,  kein  Objekt  der  Wahrnehmung, 
keine  Erkenntnis  eines  Objektes. 

Diesen  Beweis  der  objektiven  Gültigkeit  reiner  Be- 
griffe   und  ihrer  Verknüpfungen  a  priori,   welcher  zeigt 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  1 1 1 

daß  die  Erfahrung  selbst,  mithin  das  Objekt  der  Er- 
fahrung ohne  solche  Verknüpfungen  nicht  möglich  wäre, 
nennt  Kant  ihren  transcendentalen  Beweis.  —  Bei 
dem  Worte  transcendental  ist  nicht  an  ein  Überfliegen 
der  Grenzen  der  Erfahrung  zu  denken,  sondern  an  das 
Zurückgehen  auf  die  Grundlagen  der  Erfahrung.  Trans- 
cendental ist  die  Erklärung,  wie  sich  Begriffe  oder  Sätze 
a  priori  auf  Gegenstände  beziehen  können,  wie  sie 
a  priori  und  doch  von  Objekten  gelten  sollen.  Nicht 
die  Erkenntnis  a  priori  ist  transcendental,  nur  die  Recht- 
fertigung ihrer  objektiven  Gültigkeit  und  das  Verfahren 
dieser  Rechtfertigung  will  Kant  mit  diesem  Worte  be- 
zeichnet wissen.  Dasjenige,  was  nicht  aus  der  Erfahrung 
stammt,  f ü  r  die  Erfahrung  zu  beweisen  ist  die  Aufgabe 
der  transcendentalen  Methode.  Das  Wesen  dieser 
Methode  Kants  und  ihr  Unterschied  von  Humes 
Methode  der  reinen  Erfahrung  soll  zunächst  an  ihrer  An- 
wendung auf  das  Problem  der  Kausalität  gezeigt  werden. 
Hume  leitete  die  Regel  der  Kausalität  aus  der  ob- 
jektiven Folge  der  Impressionen  oder  Wahrnehmungen 
ab;  Kant  zeigt,  daß  erst  in  Rücksicht  auf  eine  Regel 
der  Kausalität  erkannt  werden  kann,  ob  eine  Folge  von 
Wahrnehmungen  eine  objektive  Folge  sei.  Es  ist  nicht 
dasselbe  zu  sagen,  etwas  folge  in  der  bloßen  Wahr- 
nehmung, und  zu  urteilen,  es  folge  im  Gegenstande 
selbst.  Wir  sehen  aus  der  Ferne  die  Bewegung  einer 
Truppe  und  hören  hierauf  das  Kommandowort  äes 
Offiziers.  Wir  wissen,  daß  die  Aufeinanderfolge  unserer 
Wahrnehmungen  in  diesem  Falle  die  umgekehrte  ist 
von  der  Aufeinanderfolge  der  objektiven  Vorgänge;  und 
wir  wissen  dies  in  Rücksicht  auf  eine  Regel  der  Er- 
fahrung, die  uns  belehrte,  um  wie  vieles  schneller  sich 
Lichtwellen    im    Räume    fortpflanzen    als    Schallwellen. 

8* 


Il6  Vierter  Vortrag. 

Und  was  in  diesem  Falle  gilt,  gilt  in  allen  Fällen. 
Überall  ist  es  die  Rücksicht  auf  irgend  eine  Regel, 
wodurch  wir  die  Aufeinanderfolge  unserer  Wahr- 
nehmungen von  der  Aufeinanderfolge  der  Objekte 
unterscheiden  und  beide  erst  in  richtigen  Zusammen- 
hang bringen.  Was  voran  geht,  zeigt  die  Erfahrung 
durch  Wahrnehmung,  daß  etwas  vorangehen  muß, 
wenn  die  Folge  eintreten  soll,  kann  die  Erfahrung 
nicht  lehren,  weil  erst  unter  dieser  Voraussetzung  die 
Wahrnehmung  der  Folge  zur  Erfahrung  der  Folge 
wird.  —  »Vor  einer  Begebenheit  kann  allerlei  vorher 
gehen,  eines  aber  ist  unter  diesem,  worauf  sie  jeder- 
zeit folgt.  Wenn  vorher  fest  gewesenes  Wachs  schmilzt, 
so  kann  ich  a  priori  erkennen,  daß  etwas  vorangegangen 
sein  müsse  (z.  B.  Sonnenwärme),  worauf  dieses  nach 
einem  beständigen  Gesetze  erfolgt  ist,  ob  ich  zwar 
aus  der  Wirkung  weder  die  Ursache,  noch  aus  der  Ur- 
sache die  Wirkung  a  priori  und  ohne  Belehrung  der  Er- 
fahrung bestimmt  erkennen  könnte.  Nur  auf  irgend 
eine  Bedingung  gibt  eine  Begebenheit  sichere  An- 
weisung und  dadurch  erkenne  ich  sie  als  Begebenheit." 
Darauf  allein  also,  daß  etwas  vorangegangen  sein  muß, 
worauf  die  eingetretene  Veränderung  nach  einer  be- 
ständigen Regel,  d.  i.  notwendig  folgt,  zielt  der  Beweis 
Kants.  Grundloses  Geschehen  wird  damit  aus  dem  Be- 
reiche der  möglichen  Erfahrung  ausgeschlossen;  mag 
ein  solches  Geschehen  denkbar  sein,  sicher  ist  es  nicht 
erfahrbar;  wenn  es  keinen  inneren  oder  unmittelbaren 
Widerspruch  einschließt,  so  widerspricht  es  doch  gewiß 
dem  Begriff  der  Erfahrung.  Nicht  die  Folge  der  Er- 
scheinungen wird  durch  den  Kausalsatz  erkannt,  ge- 
schweige erst  hervorgebracht,  sie  ist  in  der  empirischen 
Anschauung   durch   die  Erscheinungen  selbst   gegeben; 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  1 1 7 

die  Objektivität  der  Folge  wird  durch  jenen  Satz 
erkannt  und  nur  die  allgemeine  Form  des  Satzes  ist 
a  priori,  der  Fall  seiner  Anwendung  muß  gegeben  werden. 
Wo  nichts  geschieht,  nichts  sich  verändert,  hat  das  Prinzip 
keine  Anwendung. 

Kausalität  ist  Grund  einer  Veränderung.  Wir  denken 
uns  im  Vorhergehenden  den  Grund  für  das  Folgende, 
und  obgleich  wir  von  der  Ursache  selbst  und  wodurch 
sie  die  Wirkung  herbeifuhrt,  keine  Erfahrung  haben  und 
was  der  Erscheinung  einer  Veränderung  von  Seiten  der 
Dinge  selbst  entspricht,  nicht  kennen;  so  haben  wir 
doch  einen  Begriff  davon,  was  das  Gesetz  der  Ursäch- 
lichkeit für  unsere  Erfahrung  bedeutet.  Die  Veränderung 
ist  mit  ihrer  Ursache  notwendig  verknüpft;  denn  wir 
denken  uns  in  ihrer  Ursache  den  Grund  ihres  Eintretens 
und  wir  müssen  dies  denken,  so  gewiß  wir  allein  durch 
dieses  Denken  zur  Unterscheidung  der  subjektiven  Folge 
unserer  Wahrnehmungen  von  der  Folge  in  den  Gegen- 
ständen der  Erfahrung  gelangen  können. 

Diese  Kantischen  Gedanken  und  damit  das  Prinzip 
der  Kausalität  selbst  lassen  sich  noch  bestimmter  fassen; 
und  was  erst  zum  Gegenstande  unseres  folgenden  Vor- 
trages gehört,  darf  schon  in  dem  gegenwärtigen  Zu- 
sammenhange angedeutet  werden.  Wir  unterscheiden 
heute  zwei  Klassen  von  Ursachen  in  der  Natur:  Aus- 
lösungen und  Ursachen  im  engeren  Sinne.  Durch  die 
Bewegung  eines  Hebels  werde  eine  Maschine  in  Gang 
gebracht ;  die  Bewegung  ist  hier  die  auslösende  Ursache 
der  Arbeit  der  Maschine,  die  Form  der  Arbeit  hängt 
von  der  Konstruktion  der  Maschine,  der  Anordnung 
und  dem  Ineinandergreifen  ihrer  Teile  ab,  die  Größe 
der  Arbeit  oder  der  mechanische  Effekt  steht  in  Über- 
einstimmung   mit    der    Größe    der    Triebkraft,    die    die 


1 1 8  Vierter  Vortrag. 

Maschine  in  Gang  erhält,  z.  B.  der  Spannkraft  des 
Dampfes;  und  diese  Ursache  des  mechanischen  Effektes 
bezeichnen  wir  in  unserem  Falle  als  Ursache  im  engeren 
Sinne.  Das  allgemeine  Kausalgesetz  gilt  von  beiden 
Klassen  von  Ursachen.  Es  schließt  von  der  Natur  und 
Erfahrung  ebenso  die  Möglichkeit  aus,  daß  eine  „Aus- 
lösung" von  selbst  entstehe,  oder  daß  ein  körperliches 
System  von  selbst  aus  der  Ruhe  in  Bewegung  über- 
gehe, wie  es  ausschließt,  daß  etwas  in  der  Größe  der 
Wirkung  entsteht,  was  nicht  von  der  Größe  der  Ursache 
vergangen  ist,  oder  von  der  Größe  der  Ursache  vergeht» 
was  nicht  in  der  der  Wirkung  unvermindert  fortbesteht, 
kürzer:  daß  ein  Teil  der  Wirkung  aus  nichts  entsteht, 
ein  Teil  der  Ursache  in  nichts  vergeht.  Kant  hat  diese 
Unterscheidung  nicht  völlig  übersehen;  er  hat  für  den 
allgemeinen  Kausalsatz  die  Formel:  „alles,  was  geschieht, 
anhebt  zu  sein,  setzt  etwas  voraus,  worauf  es  nach  einer 
Regel  folgt"  und  knüpft  zugleich  die  Veränderung  an 
ein  beharrliches  Substrat  an  mit  der  Erklärung:  Ver- 
änderung ist  eine  Art  zu  existieren,  welche  auf  eine 
andere  Art  zu  existieren  eines  und  desselben  Objektes 
folgt;  und  ganz  deutlich  spricht  er  das  Gesetz  der  Er- 
haltung der  Ursachen  in  den  Wirkungen  in  einer  Auf- 
zeichnung aus:  „eine  jede  Veränderung  in  der  Welt  ist 
nur  eine  Fortsetzung  einer  schon  vorhandenen  Reihe  — 
und  es  hört  ebenso  viel  auf,  als  anfängt  zu  sein." 
Auch  nennt  Kant  in  demselben  Sinne  den  Begriff  der 
Substanz  den  „prinzipialen". 

Der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit  ist  allgemeiner 
als  das  Prinzip  der  Kausalität;  denn  Kausalität  schließt 
Beharrlichkeit  in  sich  ein.  Unsere  Betrachtung  führt  uns 
daher  zum  Substanzprinzipe  zurück,  —  und  vom  Ver- 
hältnis Kants  zu  Hume  zum  Verhältnis  Kants  zu  Locke. 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  11^ 

Es  ist  das  Verdienst  Lockes,  gezeigt  zu  haben,  daß 
das  „Wesen"  der  Substanz  unerkennbar  ist,  daß  es 
sich  nicht  verstehen  lasse,  wie  etwas  Substanz  sei. 
Es  fehlt  dafür  in  der  Erfahrung  an  jeder  „einfachen 
Idee",  jedem  inhaltlichen  Elemente;  der  Begriff  der  Sub- 
stanz stammt  nicht  von  dem  Inhalte  der  Erfahrung  ab. 
Damit  hat  Locke  die  formale  Auffassung  dieses  Begriffes 
vorbereitet;  damit  ist  aber  auch  sein  Anteil  an  der 
Theorie  desselben  erschöpft.  Die  Substanz  drückt  nicht 
das  „Wesen"  irgend  eines  Dinges  aus,  sondern  ein  all- 
gemeines Verhältnis  der  Dinge  zur  Erfahrung;  ihr  Be- 
griff gehört  zur  Form  der  Erfahrung. 

Locke  nahm  an  der  Vorstellung  einer  Entstehung 
von  Substanzen  keinen  Anstoß;  denn  er  redet  gelegent- 
lich von  der  Möglichkeit  ihrer  Vermehrung  in  der  Welt. 
Wenn  wir  diese  Annahme  unbedingt  von  der  Natur  und 
Wirklichkeit  ausschließen,  so  geschieht  es  nicht  deshalb, 
weil  die  Erfahrung  eine  solche  Vermehrung  bisher  nicht 
gezeigt  hat,  sondern,  weil  die  Vorstellung  davon  dem 
Begriff  der  Erfahrung  widerspricht.  Schon  im  frühesten 
Zeitalter  der  Wissenschaft  und  viele  Jahrhunderte  vor 
Beginn  der  exakten  Forschung  wurde  der  Satz:  daß 
nichts  aus  nichts  entstehe  und  nichts  in  nichts  vergehe, 
der  unmittelbare  Folgesatz  des  Satzes  der  Substanz,  als 
Axiom  des  Naturerkennens  aufgestellt.  Und  doch  waren 
die  alten  Denker,  die  zuerst  dieses  Axiom  aussprachen, 
für  ihre  Behauptung  desselben  nur  auf  das  logische 
Denken  angewiesen,  da  die  ungenauen  Wahrnehmungen 
der  Sinne  dafür  nicht  in  Betracht  kommen  konnten. 
Denn  diese  scheinen  viel  eher  das  Gegenteil  jenes 
Axioms  zu  lehren;  neben  relativer  Beharrlichkeit  zeigen 
sie  ebenso  häufig  scheinbares  Vergehen  und  Entstehen 
der  Dinge.   Wenn  also  die  alten  Philosophen  dem  Sinnen 


120  Vierter  Vortrag, 

scheine  zum  Trotze  die  Beharrlichkeit  und  quantitative 
Unzerstörlichkeit  des  Gegebenen  behaupteten  (Demonax 
leitete  sogar  schon  aus  dem  Prinzipe  der  Beharrlichkeit 
die  Konstanz  des  Gewichtes  der  Körper  ab),  so  mußten 
sie  sich  dabei  auf  eine  Denknotwendigkeit  stützen,  die 
zugleich  eine  Notwendigkeit  für  alle  Erfahrung  ist.  Auch 
die  Versuche  mit  der  Wage  können  das  Prinzip  der  Be- 
harrung nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  als  ein  induktiv 
allgemeines  nachweisen.  „Wenn  Gewichtsänderungen  bei 
chemischen  Vorgängen  eintreten  sollten,  müßten  sie 
weniger  als  ein  Milliontel  des  Gesamtgewichtes  aus- 
machen; bis  zu  dieser  Genauigkeit  kann  man  das  Gesetz 
der  Erhaltung  des  Gewichtes  als  bewiesen  ansehen." 
Jeder  derartige  „Beweis"  muß  sich  übrigens  außer  auf 
seine  induktive  Grundlage  auf  eine  hypothetische  Ver- 
allgemeinerung berufen.  Man  kann  nicht  alle  Materie 
wägen ;  fällt  ein  Tropfen  ins  Meer,  so  ist  es  nicht  mög- 
lich, sich  durch  den  Versuch  zu  überzeugen,  daß  die 
Menge  des  Wassers  des  Meeres  wirklich  um  diesen 
Tropfen  vermehrt  wurde.  Niemand  zweifelt  aber,  daß 
der  Tropfen  nicht  zu  nichts  geworden  ist,  auch  nicht 
wenn  er  verdampft,  oder  in  seine  Atome  gespalten 
wird.  „Man  kann,  sagt  Kant,  die  Materien  bei  allen 
ihren  Veränderungen  und  Auflösungen  nicht  so  weit 
verfolgen,  um  den  Stoff  immer  unvermindert  anzutreffen, 
und  ersetzte  daher  den  Mangel  eines  Beweises  (für  seine 
notwendige  Unzerstörlichkeit)  durch  ein  Postulat."  Ein 
Beweis  dieser  Unzerstörlichkeit  aus  Erfahrung  ist  in  der 
Tat  noch  nie  geliefert  worden  und  kann  auch  nie  ge- 
liefert werden.  Gesetzt,  die  dem  Gewichte  proportionale 
Masse  eines  Köpers  zeigte  sich  tatsächlich  veränderlich, 
so  würden  wir  nicht  schließen:  also  gibt  es  in  der 
Natur  nichts  absolut  Beharrliches,  wir  würden  schließen: 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  121 

also  ist  nicht  die  Masse  die  Substanz,  sondern  irgend 
etwas  anderes,  z.  B.  die  Raumerfüllung  durch  die  Materie. 
„Die  Beobachtung  muß  zeigen,  welches  die  Substanz  ist", 
daß  es  aber  in  jeder  Erscheinung  etwas  Beharrliches 
geben  müsse,  ist  dabei  immer  vorausgesetzt.  Oder,  es 
anders  zu  wenden,  daß  die  Masse  beharrt  ist  ein  durch 
Erfahrung  gefundener  und  dadurch  allein  niemals  absolut 
sicher  zu  stellender  Satz;  daß  die  Substanz  beharrt  d.i. 
in  aller  Erscheinung  irgend  etwas  Beharrliches  enthalten 
sein  muß,  —  ein  die  Erfahrung  ermöglichender  Satz. 

Das  Prinzip  der  Beharrlichkeit  ist  ein  Gesetz  des 
Daseins  der  Erscheinungen,  sofern  sie  Gegenstände  der 
Erfahrung  sind.  „Wir  können  nur  in  dem,  was  beharrt, 
das  Wechseln  bemerken;  wenn  alles  fließt,  so  kann  das 
Fließen  selbst  nicht  wahrgenommen  werden.  Die  Er- 
fahrung also  vom  Entstehen  und  Vergehen  ist  nur  durch 
das,  was  beharrt,  möglich;  also  ist  etwas  in  der  Natur, 
was  bleibt:  Substanz."  Kant  fugt  diesem  Beweis  die 
Erläuterung  hinzu:  das  Vergehen  schlechthin  und  ebenso 
das  Entstehen  aus  nichts,  ohne  daß  es  bloß  eine  Be- 
stimmung des  Beharrlichen  betreffe,  ist  darum  unerfahr- 
bar,  weil  eine  leere  Zeit  kein  Gegenstand  möglicher 
Wahrnehmung  sein  kann,  „Wird  aber  das  Entstehen 
an  Dinge  angeknüpft,  die  vorher  waren  und  bis  zu  dem, 
das  entsteht,  fortdauern,  so  war  das  letztere  nur  eine 
Bestimmung  des  ersteren,  als  des  Beharrlichen.  Ebenso 
ist  es  auch  mit  dem  Vergehen."  Alle  Vergangenheit 
und  alle  Zukunft,  die  sich  in  der  Gegenwart  berühren^ 
bilden  eine  einzige  Zeit.  Nun  ist  die  Zeit  die  Form 
oder  das  Gesetz  der  Erscheinungen  und  an  Erscheinungen 
allein  kann  sie  selber  wahrgenommen  werden  und  zu 
unserer  Erfahrung  gelangen.  Es  muß  also  in  den  Er- 
scheinungen selbst  etwas  gegeben  sein,  das  die  Einheit 


122  Vierter  Vortrag. 

und  den  durchgängigen  Zusammenhang  der  Zeit  selbst 
darstellt  und  Vergangenheit  und  Zukunft  verknüpft. 
„Dasjenige  aber,  woran  alles  Dasein  in  der  vergangenen, 
sowohl  als  der  künftigen  Zeit  einzig  und  allein  bestimmt 
werden  kann,  muß  ein  Dasein  zu  aller  Zeit  haben";  es 
muß  in  jeder  Zeit  anzutreffen,  mithin  beharrlich  und  sich 
selbst  gleich  sein,  während  seine  Zustände  sich  ändern 
und  unsre  Wahrnehmungen  wechseln.  Und  so  kann 
jeder  Anfang  eines  Zustandes  „immer  nur  ein  Übergang 
aus  einem  vorigen  sein,  denn  sonst  würden  wir  nicht 
erfahren,  daß  er  angefangen  habe;  daher  gilt  immer 
dasselbe  Objekt  von  dem  einen  Zustand  sowohl  als  dem 
anderen  und  auch  die  Grenze  beider  ist  gemeinsam".  „Die 
Einheit  der  Erfahrung  würde  nicht  möglich  sein,  (die 
Wahrnehmungen  hätten  kein  einheitliches  Objekt),  wenn 
wir  neue  Dinge  der  Substanz  nach  entstehen  lassen ;  denn 
alsdann  fiele  dasjenige  weg,  welches  die  Einheit  der 
Zeit  allein  vorstellen  kann,  nämlich  die  Identität  des 
Substrates,  woran  aller  Wechsel  allein  durchgängige 
Einheit  hat." 

Kant  leitete  also  das  beharrliche  Dasein  nicht  aus 
der  Erfahrung  ab,  die  es  auch  niemals  mit  Sicherheit 
zeigen  könnte;  er  leitet  die  Erfahrung  von  der  Voraus- 
setzung eines  beharrlichen  Daseins  ab.  Sein  Beweis  ist 
„transcendental" ;  er  wird  weder  aus  dem  bloßen  Begriff 
einer  Substanz  geführt,  noch  aus  der  Erfahrung,  sondern 
in  Beziehung  auf  Erfahrung  ihrer  Möglichkeit  nach,  so 
also,  daß  er  durch  die  Wirklichkeit  der  Erfahrung  be- 
stätigt wird.  So  gewiß  Erfahrung  besteht,  so  gewiß 
gelten  die  Voraussetzungen,  ohne  welche  sie  nicht  be- 
stehen würde. 

Man  konnte  in  dem  Beweis  der  allgemeinsten 
Naturgesetze,  zu  denen  die  Prinzipien  der  Erhaltung  der 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  I23 

Substanz  und  der  Kausalität  der  Veränderungen  gehören, 
niemals  weiter  kommen,  als  zu  zeigen,  daß,  ohne  diese 
Prinzipien  gelten  zu  lassen,  die  Naturerscheinungen  nicht 
begreiflich  wären.  Daß  es  Dinge  geben  müsse,  die  not- 
wendig mit  jenen  Gesetzen  übereinstimmen,  und  von 
welcher  Art  diese  Dinge  seien,  konnte  man  nicht  be- 
weisen. Man  begnügte  sich  daher,  jene  Prinzipien  als 
Postulate  des  Naturerkennens  aufzufassen,  von  denen  man 
aber  nicht  wie  von  Postulaten  der  Mathematik  zugleich  be- 
haupten konnte,  daß  sie  notwendig  durch  die  Objekte  er- 
füllt werden  müssen.  Durfte  man  sie  allenfalls  durch  die 
bisherige  Erfahrung,  so  weit  die  Kenntnis  davon  reicht  und 
innerhalb  der  Grenzen  der  Beobachtung,  als  tatsächlich 
bestätigt  ansehen;  der  Grund  dieses  glücklichen  Zu- 
sammentreffens der  Tatsachen  mit  Forderungen  unseres 
Denkens  blieb  ebenso  verborgen,  wie  das  Recht  un- 
erwiesen, sie  auf  alle  weitere  Erfahrung  anzuwenden. 
Kant  löste  diese  Bedenken  und  Fragen  durch  eine 
„Umänderung  der  Denkart",  die  er  mit  jener  des 
Kopernikus  verglich:  er  machte  jene  Prinzipien  zu 
Grundsätzen  der  Erfahrung.  Sie  drücken  nach  ihm  die 
Bedingungen  aus,  unter  denen  ein  Gegenstand  überhaupt 
stehen  muß,  um  zu  unserer  Erfahrung  zu  gelangen. 
Nicht  darum  also  gelten  sie,  weil  ohne  sie  Wissenschaft 
nicht  möglich  wäre,  denn  dies  versteht  sich  von  selbst, 
sondern  weil  ohne  sie  Erfahrung,  mithin  das  Objekt  der 
Wissenschaft  nicht  möglich  ist. 

„Es  sind  viele  Gesetze  der  Natur,  die  wir  nur  ver- 
mittelst der  Erfahrung  wissen  können,  aber  die  Gesetz- 
mäßigkeit in  Verknüpfung  der  Erscheinungen,  d.  i.  die 
Natur  überhaupt,  können  wir  durch  keine  Erfahrung 
kennen  lernen,  weil  Erfahrung  selbst  solcher  Gesetze 
bedarf,  die  ihrer  Möglichkeit  a  priori  zum  Grunde  liegen." 


124  Vierter  Vortrag. 

Die  obersten  Gesetze  der  Natur  sind  die  Gesetze  der 
Erfahrung  der  Natur,  und  in  Bezug  auf  sie  ist  Natur 
und  mögliche  Erfahrung  ein  und  dasselbe.  Wir  verstehen 
unter  Natur  „das  Dasein  der  Dinge,  sofern  es  nach  all- 
gemeinen Gesetzen  bestimmt  ist,"  oder,  da  uns  die 
Dinge  als  Erscheinungen  gegeben  sind,  die  allgemeine 
Gesetzmäßigkeit  der  Erscheinungen.  Dasselbe  aber  ver- 
stehen wir  unter  Erfahrung;  denn  nur  durch  allgemein 
giltige  Verknüpfung  der  Erscheinungen  besteht  Er- 
fahrung. Natur  überhaupt  und  mögliche  Erfahrung  sind 
mithin  Wechselbegriffe;  daher  Kant  sagen  konnte:  „die 
Sinnenwelt  ist  entweder  gar  kein  Gegenstand  der  Er- 
fahrung oder  eine  Natur".  Die  Gesetze  des  Denkens, 
die  in  Verbindung  mit  den  Gesetzen  unseres  An- 
schauens  Erfahrung  ihrer  allgemeinen  Form  nach  be- 
gründen, sind  zugleich  die  Gesetze,  die  das  Dasein  der 
Gegenstände  der  Erfahrung  auf  allgemeingiltige  Weise 
bestimmen,  und  folglich  die  Gesetze  der  Natur  über- 
haupt. So  ist  das  „anfangs  befremdliche"  Wort  zu  ver- 
stehen: „der  Verstand  schöpft  seine  Gesetze  (a  priori) 
nicht  aus  der  Natur,  sondern  schreibt  sie  dieser  vor". 
Er  ist  mit  seinen  nicht-empirischen  Begriffen  und  Grund- 
sätzen nur  der  Urheber  „der  allgemeinen  Ordnung 
der  Natur",  weil  er  Urheber  der  Erfahrung  ist;  die  be- 
sondere Ordnung,  die  empirische  Gesetzlichkeit  der 
Natur  ist  allein  aus  der  Erfahrung  zu  erkennen;  ihre 
Urheber  sind  die  Dinge  selbst  vermittelst  ihrer  Erschei- 
nungen für  unsere  Sinne.  „Die  Naturerscheinungen  sind 
Gegenstände,  die  uns  unabhängig  von  unseren  Begriffen 
gegeben  werden,  zu  denen  also  der  Schlüssel  nicht  in 
uns  und  unserem  reinen  Denken,  sondern  außer  uns 
liegt.  —  Fangen  wir  nicht  von  Erfahrung  an  oder 
gehen   wir   nicht   nach    Gesetzen    des    empirischen    Zu- 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  125 

sammenhanges  der  Erscheinungen  fort,  so  machen  wir 
uns  vergeblich  Staat,  das  Dasein  irgend  eines  Dinges 
erraten  oder  erforschen  zu  wollen." 

Die  obersten  formalen  Gesetze  der  Erfahrung  und 
dadurch  der  Natur  sind  als  Folge  eines  einzigen  Prinzipes 
zu  betrachten;  sie  drücken  die  Einheit  des  denkenden 
Bewußtseins  in  aller  Anschauung  und  Erfahrung  aus;  in 
diesem  Punkte  treffen  der  empirische  und  der  reine 
Faktor  des  Erkennens  zusammen. 

Erscheinungen  sind  Vorstellungen,  die  durch  Dinge 
gegeben  werden.  Als  Vorstellungen  stehen  sie  unter  der 
Bedingung,  je  zu  einem  einzigen,  numerisch  identischen 
Ich  zu  gehören,  d.  i.  möglicher  Inhalt  eines  Selbst- 
bewußtseins zu  sein.  Es  kann  keine  Einheit  des  Objektes 
es  kann  kein  Objekt  vorgestellt  werden,  ohne  absolute 
Einheit  des  vorstellenden  Subjektes.  „Das:  ich  denke 
muß  alle  meine  Vorstellungen  begleiten  können,  sonst 
wären  es  nicht  meine  Vorstellungen",  und  ich  könnte 
nichts  von  ihnen  wissen.  Durch  das  Ich  aber  als  ein- 
fache Vorstellung  ist  nichts  Mannigfaltiges  gegeben.  Aus 
dem  «Ich  gleich  Ich",  das  nur  die  Identität  des  vor- 
stellenden Subjektes  und  damit  die  Form  eines  Bewußt- 
seins überhaupt  ausdrückt,  läßt  sich  kein  Inhalt  hervor- 
zaubern, wie  dies  Fichte  wollte;  nur  in  der  Anschauung 
kann  ein  Inhalt,  ein  Mannigfaltiges  gegeben  werden. 
Also  ist  die  Einheit,  welche  die  Beziehung  auf  ein  Ich 
für  jede  seiner  Vorstellungen  notwendig  macht,  eine 
Einheit  durch  Verknüpfung,  eine  „synthetische"  Einheit. 
Die  Erscheinung  selbst  muß  daher  in  einer  Form  ge- 
geben werden,  vermöge  welcher  sie  verknüpf  bar  ist, 
d.  i.  Gegenstand  eines  Selbstbewußtseins  sein  kann.  „Die 
mannigfaltigen  Vorstellungen,  die  in  einer  Anschauung 
gegeben    werden,    müssen    der    Bedingung    notwendig 


126  Vierter  Vortrag. 

gemäß  sein,  unter  der  sie  allein  in  einem  möglichen  Selbst- 
bewußtsein zusammen  bestehen  können,  weil  sie  sonst 
nicht  durchgängig  mir  angehören  würden.  Synthetische 
Einheit  des  Mannigfaltigen  als  a  priori  gegeben,  ist  der 
Grund  der  Identität  der  Apperception  selbst  (d.  i.  des 
Selbstbewußtseins),  die  a  priori  allem  meinem  bestimmten 
Denken  zum  Grunde  liegt."  Die  allgemeine  Form  des 
Objektes  also  ist  aus  der  Beziehung  seiner  Vorstellung 
zu  einem  Ich-Bewußtsein  zu  erkennen.  Die  „Synthesis", 
oder  die  Verknüpfung  des  Gegebenen  zu  einem  einheit- 
lichen Bewußtsein  wird  zwar  nur  durch  das  Denken  voll- 
zogen; aber  in  dem  Gegebenen  selbst  sind  die  Be- 
dingungen für  die  Möglichkeit  dieser  einheitlichen  Ver- 
knüpfung vorauszusetzen.  In  diesem  Sinne  heißt  es:  „die 
synthetische  Einheit  des  Bewußtseins  ist  eine  objektive 
Bedingung  der  Erkenntnis,  nicht  deren  ich  bloß  selbst 
bedarf,  um  ein  Objekt  zu  erkennen,  sondern  unter  der 
jede  Anschauung  stehen  muß,  um  für  mich  Ob- 
jekt zu  werden."  Sehr  klar  und  faßlich  drückt  Kant 
diesen  tiefsten  Gedanken  seiner  theoretischen  Philosophie 
in  dem  ersten  Entwürfe  desselben  aus:  „die  Dinge,  die 
uns  a  posteriori  (d.  i.  durch  empirische  Anschauung) 
gegeben  werden  mögen,  müssen  ebenso  wohl  ein  Ver- 
hältnis zum  Verstände  haben,  d.  i.  eine  Art  der  Er- 
scheinung, dadurch  es  möglich  ist,  von  ihnen 
einen  Begriff  zu  bekommen,  als  ein  Verhältnis  zur 
Sinnlichkeit."  Die  Dinge  sind  daher  nicht  bloß  tat- 
sächlich „associabel",  d.  h.  es  lassen  sich  von  ihnen 
wirklich  empirische  Begriffe  bilden,  sie  sind  notwendig 
associabel,  sie  stehen  in  ursprünglicher  „Affinität"  oder 
Gemeinschaft  zu  einander;  ihre  Form  entspricht  der 
Form  des  Denkens.  Dinge,  die  mit  der  Einheitsform 
des  Denkens  nicht  übereinstimmen  würden,  könnten  auch 


Die  Grundlagen  der  Erkenntnis.  127 

keine  Gegenstände  für  ein  Bewußtsein  bilden;  sie  wären 
keine  Gegenstände  möglicher  Erfahrung.  Die  Form  des 
Bewußtseins  überhaupt  ist  auch  die  Form  eines  Gegen- 
standes überhaupt;  Subjekt-  und  Objekt  Bewußtsein 
stimmen  in  der  ihnen  wesentlichen  Form  der  Einheit 
überein.  So  notwendig  einheitlich  das  Denken,  so  not- 
wendig einheitlich  ist  der  Gegenstand  des  Denkens. 
Wenn  es  außer  der  zu  unserer  Erfahrung  gelangenden 
Wirklichkeit  noch  eine  chaotische  und  regellose  geben 
würde,  —  Gegenstand  des  Denkens  könnte  sie  niemals 
werden.  Soweit  die  Dinge  Gegenstände  des  Denkens 
sind,  oder  bildlich  gesprochen  nach  ihrer  uns  zuge- 
kehrten Seite  müssen  sie  ihrer  eigenen  Form  nach  denk- 
bare Dinge  sein;  soweit  sind  die  Gesetze  des  Denkens 
zugleich  die  Gesetze  der  Dinge  selbst.  Die  Dinge  in 
der  Erfahrung  stehen  unter  den  Denkgesetzen  und  darum 
ist  Erfahrung  Erkenntnis. 


FÜNFTER  VORTRAG. 


DER  NATURWISSENSCHAFTLICHE   UND   DER 
PHILOSOPHISCHE  MONISMUS. 

Mechanistische  Anschauungen  —  man  nennt  sie 
gewöhnlich  materialistische  —  treffen  heute  im  Kreise 
der  Naturforschung  selbst  auf  Widerspruch,  oder  man 
begegnet  ihnen  doch  mit  einer  Zurückhaltung,  die  sehr 
verschieden  ist  von  der  Zuversicht,  mit  der  sie  noch 
bis  vor  kurzem  behauptet  wurden.  Es  waren  nicht,  wie 
man  wohl  denken  könnte,  erkenntnistheoretische  Er- 
wägungen, die  zu  dem  Zweifel  führten:  ob  in  den  Be- 
griffen von  Masse  und  Kraft  oder  Masse  und  Bewegung 
wirklich  die  ausreichenden  Darstellungsformen  für  die 
Vorgänge  in  der  Natur  gegeben  seien;  obschon  auch 
Erwägungen  dieser  Art  in  der  Wissenschaft  unserer  Zeit 
immer  mehr  Gewicht  und  Einfluß  gewinnen.  Insbesondere 
handelte  es  sich,  um  gleich  den  wichtigsten  Gegenstand 
zu  nennen,  nicht  um  die  Frage  nach  der  Entstehung 
von  Bewußtsein,  eine  Frage,  die  für  eine  rein  mecha- 
nistische Naturanschauung,  wie  es  sich  von  selbst  ver- 
steht, transcendent  bleiben  muß,  und  auf  welche  daher 
ein  Wortführer  dieser  Anschauung  ganz  folgerichtig  sein: 
ignorabimus  zur  Antwort  gab.  Die  Kritik  des  mecha- 
nischen Weltbildes  ist  vielmehr  zu  einer  inneren  Ange- 
legenheit der  Naturwissenschaft  selbst  geworden.  Dieses 
Bild,    übertragen    von   den   sichtbaren  Bewegungen  der 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus,        129 

Massen,  vor  allem  der  kosmischen,  auf  die  unsichtbaren 
von  Massenelementen,  die  zum  Teil  erst  um  des  Bildes 
willen  angenommen  werden,  erweist  sich  schon  als  un- 
geeignet oder  doch  unbequem,  wenn  es  physikalische 
Vorgänge  darstellen  soll,  die  wie  die  thermischen  und 
die  elektrischen  nicht  unmittelbar  mechanischer  Be- 
schaffenheit sind,  in  die  Sprache  der  Mechanik  also  erst 
übersetzt  werden  müssen.  Wohl  wird  die  Einbildungs- 
kraft des  Naturforschers  für  solche  Vorgänge  mechanische 
Modelle  ersinnen  können  —  und  wer  wollte  ihr  dies 
verwehren?  — ,  mehr  aber  an  empirischem  Gehalt  kann  sie 
in  ihre  Symbole  nicht  aufnehmen,  als  schon  ohne  sie 
durch  die  Tatsachen  gegeben  wird.  Im  Gegenteil,  vieles 
von  der  Eigenart  der  Erscheinungen  muß  fallen  gelassen 
werden,  wenn  sich  die  Zeichnung  auf  die  äußeren  Um- 
risse des  Geschehens  beschränkt.  Dies  soll  uns  jedoch 
nicht  abhalten,  den  Wert  solcher  Mittel  der  Veranschau- 
lichung anzuerkennen,  und  an  dem  Bildersturm,  den  ein 
namhafter  Naturforscher  jüngst  erregt  hat,  brauchen  wir 
uns  nicht  zu  beteiligen.  Mit  der  nämlichen  Notwendig- 
keit, mit  welcher  unser  Geist  Begriffe  abstrahiert,  schafft 
er  auch  Bilder  für  seine  Begriffe.  Und  so  werden  wir 
fortfahren,  in  der  mechanischen  Symbolik  ein  „universelles 
Abbildungs verfahren"  zu  sehen,  da  ja  jeder  physikalische 
Vorgang  in  der  Tat  eine  mechanische  Seite  hat^  wenn 
wir  auch  von  ihr  nicht  länger  ein  „vollständiges  Weltbild" 
erwarten. 

Der  Anstoß  zu  der  antimechanistischen  Bewegung 
in  der  theoretischen  Naturwissenschaft  ging  von  der 
größten  wissenschaftlichen  Entdeckung  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  aus,  von  der  Entdeckung  der  Erhaltung 
der  Energie.     Hier  war  ein  Prinzip  gefunden,  zu  dessen 

* 

i\,uffindung  und  Beweis  die  Mechanik  nichts  wesentliches 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  g 


I  00  Fünfter  Vortrag. 

beigetragen  hat  und  das  durch  die  nachträgliche  mecha- 
nische Deutung  an  Sicherheit  nichts  gewinnen  konnte, 
an  Allgemeinheit  dagegen  verlieren  mußte.  Zu  der  von 
Lavoisier  nachgewiesenen  Unveränderlichkeit  der  Masse 
war  jetzt  eine  zweite  Invariante,  eine  zweite  unveränder- 
liche Größe  in  der  Natur  hinzugekommen,  die  man 
anfangs  „Kraft"  nannte,  die  wir  heute  nach  dem  Vor- 
gang von  William  Thomson  als  Energie  bezeichnen. 
Was  lag  nun  näher,  als  zu  versuchen,  statt  mit  zwei 
Größen  mit  Einer  auszulangen  und  als  diese  Eine  Größe 
die  Energie  zu  betrachten;  entspricht  doch  dieser  Ver- 
such dem  Streben  des  Denkens  nach  möglichster  Ver- 
einfachung und  Einheit.  Und  so  ist  heute  zu  dem 
mechanischen  Weltbilde  in  seinen  beiden  Formen,  dem 
System  der  Beschleunigungen  und  dem  System  starrer 
Massenverbindungen,  ein  weiteres:  das  energetische  hin- 
zugetreten, das  als  seinen  Vorzug  rühmt,  alles  Hypo- 
thetische auszuschließen  und  sich  auf  die  meßbaren 
Erscheinungen  zu  beschränken,  aber  freilich  dafür  auf 
Anschaulichkeit  im  einzelnen  verzichten  muß.  Dieses 
energetische  Weltbild  ist  der  naturwissenschaftliche 
Monismus. 

Es  gibt  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  viel- 
leicht kein  zweites  Beispiel,  bei  welchem  der  Erfolg  des 
Zusammenwirkens  von  Erfahrung  und  Denken  so  un- 
mittelbar und  augenfällig  hervortritt,  wie  bei  der  Auf- 
findung und  dem  Beweis  des  Energieprinzipes  und  darum 
soll  hier  auf  die  erste  Entdeckung  dieses  Prinzipes 
näher  eingegangen  werden. 

Im  Jahre  1842  erschien  im  Maiheft  von  Liebigs 
Annalen  der  Chemie  ein  kleiner  Aufsatz  unter  der  Über- 
schrift: Bemerkungen  über  die  Kräfte  der  unbe- 
lebten Natur.     Der  Autor  war  ein  damals  noch  unbe- 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus,        131 

kannter  Arzt  in  Heilbronn,  Julius  Robert  Mayer.  Die 
Schrift  führte  sich  selbst  als  eine  solche  ein,  die  sich 
mit  ihren  Gedanken  an  „Freunde  klarer  hypothesen- 
freier Naturanschauung"  wenden  will  und  ihr  Zweck 
war  anscheinend  nur,  die  herkömmlichen,  mit  dem 
Worte  Kraft  verknüpften  Begriffe  zu  berichtigen  und 
durch  Beseitigung  alles  „Unbekannten,  Unerforschlichen 
und  Hypothetischen"  aus  dieser  Benennung  den  Begriff 
der  Kraft  so  präzis  aufzufassen,  wie  den  der  Materie. 
Nur  als  eine  praktische  Folgerung  und  gleichsam  als 
Resume  erscheint  zum  Schlüsse  die  erste  Berechnung 
des  mechanischen  Äquivalentes,  oder  des  Arbeitswertes 
der  Wärme.  Was  die  kleine  Abhandlung,  mit  deren 
Veröffentlichung  ihr  Verfasser  sich  nur  die  Priorität 
seiner  Entdeckung  sichern  wollte,  an  grundlegenden 
Gedanken  sonst  noch  enthielt,  so  den  Begriff  der 
Distanzenergie,  die  hier  unter  dem  Namen  „Fallkraft" 
zum  ersten  Male  erscheint,  konnte  erst  von  einer 
späteren  Zeit  zum  Verständnis  gebracht  werden.  Mayer 
hatte  bei  seiner  Rückkehr  aus  Ostindien,  wohin  er  als 
Schiffsarzt  in  hoUändichen  Diensten  gekommen  war,  ein 
neues  „System  der  Physik"  mitgebracht,  von  dem  er 
wußte  und  voraussagte,  daß  es,  wenn  es  sich  bewahr- 
heiten lasse,  eine  Umwälzung  und  Neugestaltung  dieser 
Wissenschaft  herbeiführen  müsse.  Und  die  Zeit  hat 
seine  Voraussage  erfüllt.  Den  Grundgedanken  der  neuen 
Physik  sprach  Mayer  sogleich  in  klarer  Fassung  in  einem 
Artikel  aus,  der  aber  in  der  Zeitschrift,  für  die  er  be- 
stimmt war,  nicht  zum  Abdruck  gelangte.  „Bewegung, 
Wärme,  Elektrizität  sind  Erscheinungen,  welche  auf  eine 
Kraft  zurückgeführt  werden  können,  einander  messen 
und  nach  bestimmten  Gesetzen  ineinander  übergehen. 
Bewegung  geht  in  Wärme  über  dadurch,  daß  sie  durch 

9* 


132 


Fünfter  Vortra?. 


eine  entgegengesetzte  Bewegung  oder  durch  einen  festen 
Punkt  neutralisiert  wird,  die  entstandene  Wärme  ist 
der  verschwundenen  Bewegung  proportional  Die  Wärme 
andererseits  geht  in  Bewegung  dadurch  über,  daß  sie  die 
Körper  ausdehnt."  Wir  sind  in  den  Stand  gesetzt,  die 
Entwickelung  dieses  Gedankens  von  seinem  ersten  Keime 
bis  zu  seiner  Vollendung  zu  verfolgen,  so  schlicht  und 
unmittelbar,  schmucklos  und  aufrichtig  sind  Mayers 
briefliche  Mitteilungen  darüber  und  sein  Bericht  in  den 
, Bemerkungen  über  das  mechanische  Äquivalent  der 
Wärme"  aus  dem  Jahre  185 1.  Danach  kann  es  nicht 
länger  einem  Zweifel  unterliegen,  daß  Mayer  bei  seiner 
Entdeckung  den  nämlichen  Weg  eingeschlagen  hat,  der 
bei  einer  naturwissenschaftlichen  Entdeckung  noch  jedes- 
mal eingeschlagen  wurde:  den  Weg  denkender  Be- 
obachtung, unterstützt  durch  das  Experiment.  Eine  ihm 
auffällige  Beobachtung,  oder  wie  Mayer  es  bescheiden 
ausdrückt:  ein  Zufall,  brachte  seine  Gedanken  auf  die 
neue  Bahn.  Bei  Aderlässen,  die  er  nach  der  Therapie 
der  damaligen  Zeit  auf  Java  an  eben  angekommenen 
Europäern  vorzunehmen  hatte,  überraschte  ihn  die  hell- 
rote Farbe  des  Venenblutes.  Er  deutete  sich  die  Er- 
scheinung, die  sogleich  seine  volle  Aufmerksamkeit 
fesselte,  nach  der  Theorie  Lavoisiers,  der  zufolge  die 
animale  Wärme  das  Ergebnis  des  am  Blute  stattfindenden 
Verbrennungsprozesses  ist.  Der  Größe  des  Farben- 
unterschiedes zwischen  den  beiden  Blutsorten  entspricht 
die  Stärke  der  an  dem  Blute  vorgegangenen  Ver- 
brennung; bei  dem  viel  geringeren  Wärmebedarf  in  den 
Tropen  muß  aber  ein  entsprechend  geringerer  Oxydations- 
vorgang eintreten:  daher  die  hellrote  Färbung  des  venösen 
Blutes.  An  diese  schöne  Bestätigung  der  Theorie  La- 
voisiers   knüpfte   sich   für   Mayer   sogleich    eine  weitere 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       iß? 

Frage  an.  Der  Tierkörper  vermag  auf  zwei  Wegen 
Wärme  zu  erzeugen:  unmittelbar  in  seinem  Inneren 
durch  Oxydation  der  dem  Blute  zugefiihrten  Nahrungs- 
mittel und  mittelbar  an  andern  Körpern  durch  mecha- 
nische Arbeit,  wie  Stoß,  Reibung,  Kompression  der  Luft. 
„Nun  ist  zu  wissen  nötig:  ob  die  direkt  entwickelte 
Wärme  allein,  oder  ob  die  Summe  der  auf  direktem 
und  indirektem  Wege  entwickelten  Wärmemengen  auf 
Rechnung  des  Verbrennungsprozesses  zu  bringen  ist?" 
d.  h.,  wir  wollen  wissen:  ob  sich  bei  gleichbleibendem 
Materialverbrauche  die  unmittelbar  entwickelte  Wärme- 
menge um  den  Betrag  der  mittelbar  entwickelten  ver- 
mindere, oder  ob  diese  als  Mehr  zu  jener  hinzukomme. 
Schon  aus  der  Stellung  dieser  Frage,  die,  wie  man 
leicht  sieht,  die  mechanische  Wärmetheorie  im  Keime 
enthält,  gibt  sich  die  große  Originalität  Mayers  zu 
erkennen:  war  es  doch  von  jeher  das  Vorrecht  des 
geborenen  Forschers,  des  Forschers  von  Gnaden  der 
Natur,  an  die  Natur  mit  richtigen  und  bestimmten 
Fragen  herantreten  zu  können.  Mayer  findet  die  Ant- 
wort auf  seine  Frage  bereits  in  dem  Hauptsatz  der 
physiologischen  Verbrennungstheorie  gegeben.  Nach 
diesem  Satze  ist  die  Wärmemenge,  welche  bei  der 
Oxydation  einer  gegebenen  Menge  von  Material  ent- 
steht, eine  unveränderliche,  von  den  Umständen  der 
Verbrennung  unabhängige  Größe.  Sie  kann  also  auch 
durch  den  Lebensprozeß  keine  Größenveränderung  er- 
leiden, d.  i.  der  lebende  Organismus  vermag  nicht 
Wärme  aus  Nichts  zu  erzeugen;  es  bleibt  also  nur  die 
Annahme  zulässig,  daß  die  gesamte,  teils  unmittelbar, 
teils  auf  mechanischem  Wege  vom  Tierkörper  ent- 
wickelte Wärme  dem  Verbrennungseffekte  quantitativ 
gleich    ist.     Dann   muß  aber   auch   „die  vom  lebenden 


l^A  Fünfter  Vortrag. 

Körper  erzeugte  mechanische  Wärme  mit  der  dazu  ver- 
brauchten Arbeit  in  einem  unveränderlichen  Größen- 
verhältnis stehen.  Denn,  könnten  durch  die  nämliche 
Arbeit  und  bei  gleichbleibendem  organischen  Ver- 
brennungsprozesse verschieden  große  Wärmemengen  er- 
zielt werden,  so  würde  ja  die  produzierte  Wärme  bei 
einem  und  demselben  Materialverbrauche  bald  kleiner, 
bald  größer  ausfallen  können,  was  gegen  die  Annahme 
ist."  Und  da  endlich  zwischen  der  mechanischen  Leistung 
der  Tierkörper  und  anderen  anorganischen  Arbeitsarten 
kein  wesentlicher  Unterschied  besteht,  so  ist  „eine  un- 
veränderliche Größenbeziehung  zwischen  Wärme  und 
Arbeit  ein  Postulat  der  physiologischen  Verbrennungs- 
theorie".  Gedanken  wie  diese  erfüllten  Mayer  bei  seiner 
Rückfahrt  aus  Java;  das  Ganze  seiner  Lehre  stand  in 
hellstem  Lichte  vor  seinem  Geiste  und  er  hatte  Stunden, 
in  denen  er  sich  gleichsam  inspiriert  fühlte.  Von  der 
Physiologie  sah  er  sich  zur  Chemie,  von  dieser  auf  die 
Physik  verwiesen  und  vor  eine  physikalische  Aufgabe 
von  prinzipieller  Bedeutung  gestellt:  die  Aufgabe,  die 
vorausgesetzte  Gleichung  zwischen  Arbeitsverbrauch  und 
Wärmeerzeugung  aufzulösen,  d.  h.  die  in  Betracht 
kommenden  Größen  zu  bestimmen.  In  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  sah  er  eine  „Lebensfrage"  für  seine 
Theorie,  so  wenig  genügte  ihm  für  sie  ein  Beweis 
a  priori,  mochte  sich  ein  solcher  auch  mit  „mathe- 
matischer Gewißheit"  führen  lassen.  Er  forderte  viel- 
mehr vor  allem  die  Bestätigung  durch  den  Versuch; 
seine  Theorie,  erklärt  er,  wäre  widerlegt,  wenn  die  Er- 
fahrung Gegenteiliges  lehren  würde.  Auf  höchst  sinn- 
reiche und,  wie  heute  nicht  mehr  bestritten  wird,  völlig 
einwandfreie  Weise  löste  Mayer  seine  Aufgabe.  Er 
ging  von  den  Untersuchungen  über  die  Wärmeverhältnisse 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.      125 

der  Gase  bei  constantem  Druck  und  bei  constantem 
Volum  aus  und  nahm  so  den  einzigen  Weg,  der  ohne 
neue  Experimente  zum  Ziele  führte,  und  zwar  mit  klarem 
Bewußtsein  von  der  Richtigkeit  dieses  Weges.  Die  Ver- 
suche von  Gay  Lussac  hatten  gezeigt,  daß  die  spezifische 
Wärme  eines  Gases  keine  merkliche  Veränderung  er- 
fährt, wenn  das  Gas  in  einen  luftleeren  Raum  strömt, 
daß  also  zur  Ausdehnung  eines  Gases  an  und  für  sich 
ein  Wärmeaufwand  nicht  erforderlich  ist.  Mit  Berufung 
auf  diese  Versuche  und  auf  die  Tatsache,  daß  ein  Gas, 
das  sich  unter  einem  Drucke  ausdehnt,  eine  Temperatur- 
verminderung erleidet,  setzte  Mayer  die  bei  dem  Zu- 
sammendrücken eines  Gases  verbrauchte  Arbeit  der  bei 
der  Kompression  des  Gases  entbundenen  Wärme  gleich 
und  berechnete^  so  zum  ersten  Male  den  Arbeitswert 
der  Wärme. 

Diese  naturwissenschaftliche  Gedankenreihe  ist  bei 
Mayer  getragen  und  verknüpft  durch  allgemein-wissen- 
schaftliche oder  philosophische  Anschauungen,  deren 
Richtigkeit  nicht  erst  durch  den  Erfolg  erwiesen  zu 
werden  braucht,  die  vielmehr  die  Gewähr  für  ihre  Wahr- 
heit in  sich  selber  haben. 

Arbeit  und  Wärme  lassen  sich  unmittelbar  nicht 
vergleichen;  es  gibt  kein  für  beide  gemeinschaftliches 
Maß.  Sie  können  also  nur  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen gleich  gesetzt  werden.  Der  Versuch  kann 
niemals  mehr  zeigen  als  Proportionalität,  d.  i.  ein  direktes 
und  bestimmtes  Verhältnis  ihrer  Größen:  einem  be- 
stimmten Betrage  von  Arbeitsverbrauch  entspricht  jedes- 
mal ein  gleichfalls  bestimmter  Betrag  von  Wärmegewinn 
und  umgekehrt  muß  eine  bestimmte  Menge  von  Wärme 
verbraucht  werden,  um  ein  bestimmtes  Maß  von  Arbeit 
zu  leisten.     Mayer  schließt  aber  aus  der  Proportionalität 


I^ö  Fünfter  Vortrag. 

nicht  bloß  auf  Äquivalenz  oder  Gleichwertigkeit,  er 
schließt  auf  Gleichheit  der  Größen,  —  genauer  auf 
Identität  der  Größe.  Es  sind  nicht  zwei  Größen  da,  es 
ist  nur  eine  Größe  da,  nur  erscheint  sie  in  zwei  Formen 
und  muß  daher  nach  verschiedenem  Maße  geraessen 
werden.  „Was  in  einem  Augenblick  Wärme  ist,  ist  im 
nächsten  Bewegung  —  und  dasselbe  gilt  auch  umge- 
kehrt." Hier  nun  greifen  die  allgemein-wissenschaftlichen 
Anschauungen  ein,  die  sich  Mayer  von  der  Form  des 
ursächlichen  Zusammenhanges  gebildet  hatte  und  welche 
für  seine  Theorie  nicht  minder  wesentlich  sind  als  Be- 
obachtung und  Experiment.  Jedes  richtig  gedachte 
Kausalverhältnis  muß  eine  Gleichung  enthalten;  denn 
Kausalität  beruht  auf  dem  Fortbestehen  der  Größe  der 
Ursache  als  Größe  der  Wirkung;  so  gewiß  ein  Entstehen 
aus  Nichts  und  ein  Vergehen  in  Nichts  ausgeschlossen 
ist  von  allem  Denken  und  aller  Erfahrung.  „Ursache 
und  Wirkung  bezeichnen  nichts  als  verschiedene  Er- 
scheinungsformen eines  und  desselben  Objektes."  Die 
Anwendung  dieses  Satzes  auf  das  meßbare  Objekt, 
das  wir  nach  Mayer  „Kraft"  zu  nennen  haben,  ist  der 
allgemeine  Satz  der  Erhaltung  der  Kraft  oder  der  Energie. 
Ein  direkter  Beweis  ist  so  wenig  von  diesem  Satze 
möglich,  wie  von  dem  parallelen  der  Erhaltung  der 
Materie;  ohne  die  Voraussetzung  des  Satzes  aber  wäre 
die  Beobachtung  richtungslos  und  der  Beweis  durch  das 
Experiment  unvollständig.  Die  Unzerstörlichkeit  der 
„Kraft"  mußte  in  Gedanken  festgestellt  sein,  um  auch 
nur  die  Frage  aufwerfen  zu  können,  was  aus  der  ver- 
schwundenen Bewegung  geworden  sei  und  woher  die 
entstandene  Bewegung  stamme.  Ohne  das  Prinzip  der 
Beharrlichkeit  im  voraus  anzunehmen,  kann  der  em- 
pirische Beweis  desselben  nicht  begonnen  werden,  ohne 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.      i^T" 

dieses  Prinzip  ist  er  aber  auch  nicht  zu  vollenden.  Es 
gibt  Grenzen  der  messenden  Beobachtung,  ein  voll- 
ständiger Beweis  der  quantitativen  Unveränderlichkeit 
es  sei  der  Energie,  oder  der  Materie,  läßt  sich  daher 
durch  Beobachtung  allein  nicht  liefern.  Warum  sollte 
nicht  die  Äquivalenzzahl  bei  irgend  einer  Umwandlung 
von  Energie  um  äußerst  weniges  kleiner  sein  können 
als  bei  der  Verwandlung  in  umgekehrter  Richtung.  Und 
gesetzt,  wir  lassen  unsere  Messungen  für  absolut  genau 
gelten,  warum  sollte  nicht  die  verschwundene  Bewegung 
tatsächlich  vernichtet,  die  entstandene  Wärme  aus  nichts 
geschaffen  sein,  stünde  nicht  von  vorne  herein  fest,  daß 
nichts  aus  nichts  entstehen,  nichts  in  nichts  vergehen 
kann?  Ohne  diesen  verbindenden  Gedanken  fielen  die 
Glieder  unseres  Beweises  auseinander,  der  Faden  würde 
reißen,  der  die  auf  einanderfolgenden  Erscheinungen 
einheitlich  verknüpft.  Das  Denken  ergänzt  die  reine 
Erfahrung. 

In  wahrhaft  mustergiltiger  Weise  wirken  bei  Mayers 
Entdeckung  Erfahrung  und  Denken  zusammen;  der  An- 
teil der  Tatsachen  und  die  Bedeutung  ihrer  begrifflichen 
Erfassung  zur  Herbeiführung  des  Schlußergebnisses  treten 
auf  das  Klarste  hervor.  „Wir  sehen  in  unzähligen  Fällen 
eine  Bewegung  aufhören,  ohne  daß  sie  eine  andere  Be- 
wegung oder  eine  Gewichtserhebung  hervorgebracht 
hätte;  eine  einmal  gegebene  Kraft  kann  aber  nicht  zu 
Null  werden,  sondern  nur  in  eine  andere  Form  übergehen 
und  es  fragt  sich  somit,  welche  weitere  Form  die  Kraft,, 
die  wir  als  Fallkraft  und  Bewegung  kennen  gelernt,  an- 
zunehmen fähig  sei?  Nur  die  Erfahrung  kann  uns 
darüber  Aufschluß  geben."  Das  allgemeine  Prinzip  der 
Größenunveränderlichkeit  der  Energie  gibt  uns  die  An- 
weisung, nach  der  besonderen  Erscheinungsform  für  die 


1^8  Fünfter  Vortrag. 

verschwundene  Bewegung  zu  suchen;  die  Erfahrung 
zeigt  uns,  was  für  eine  Erscheinungsform  es  sei.  Sie 
zeigt  uns,  daß  in  vielen  Fällen  an  Stelle  der  aufhörenden 
Bewegung  nichts  anderes  gefunden  werden  kann  als  die 
Wärme.  Und  „so  ziehen  wir  die  Annahme,  Wärme 
entsteht  aus  Bewegung,  der  Annahme  einer  Wirkung 
ohne  Ursache  und  einer  Ursache  ohne  Wirkung  vor, 
wie  der  Chemiker  statt  H  und  O  ohne  Nachfrage  ver- 
schwinden und  Wasser  auf  unerklärte  Weise  entstehen 
zu  lassen,  einen  Zusammenhang  zwischen  H  und  O 
einer-  und  Wasser  andererseits  statuiert."  Das  Gefüge 
dieses  Schlusses  würde  sich  lösen,  wollten  wir  den  einen 
oder  den  anderen  der  beiden  Pfeiler,  die  ihn  tragen, 
herausnehmen;  ohne  Erfahrung  bliebe  das  allgemeine 
Prinzip  der  Beharrlichkeit  eine  bloße  Denkform  für 
mögliche  Dinge,  ohne  das  Prinzip  käme  es  zu  keinem 
Verständnis  der  Erfahrung. 

Enthielt  Mayers  erste  Veröffentlichung,  wie  es  ihrem 
Zwecke  entsprach,  außer  der  Angabe  des  mechanischen 
Wärmeäquivalentes  nur  einige  Grundsätze  der  neuen 
Lehre,  so  bringt  schon  die  zweite,  1845  erschienene 
Schrift:  die  organische  Bewegung  in  ihrem  Zu- 
sammenhange mit  dem  Stoffwechsel  die  Aus- 
führung der  Lehre  selbst.  Dieses  Hauptwerk  Mayers 
ist  zum  Programme  der  heutigen  Physik  geworden.  Der 
Titel  —  Mayer  selbst  hat  dies  später  empfunden  —  ist 
nicht  gut  gewählt;  er  lenkt  die  Aufmerksamkeit  von 
der  Hauptsache,  dem  Physikalischen,  auf  das  diesem 
Untergeordnete,  das  Physiologische,  ab.  Wenn  gegen- 
wärtig die  Physik  als  die  Lehre  von  den  Erscheinungen 
und  insbesondere  den  Formänderungen  der  Energie 
aufgefaßt  wird,  so  ist  Mayer  es  gewesen,  der  ihr  zuerst 
diese  Aufgabe   gestellt   hat.     „Was   die  Chemie   in  Be- 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       139 

Ziehung  auf  Materie,  das  hat  die  Physik  in  Beziehung 
auf  Kraft  zu  leisten.  Die  Kraft  in  ihren  verschiedenen 
Formen  kennen  zu  lernen,  die  Bedingungen  ihrer 
Metamorphosen  zu  erforschen,  dies  ist  die  einzige 
Aufgabe  der  Physik.  Es  gibt  in  Wahrheit  nur  eine 
einzige  Kraft.  In  ewigem  Wechsel  kreist  dieselbe  in 
der  toten  wie  in  der  lebenden  Natur;  dort  und  hier  kein 
Vorgang  ohne  Formänderung  der  Kraft."  Sie  erinnern 
sich,  daß  Mayer  mit  dem  Worte  Kraft  dasselbe  be- 
zeichnet, was  wir  heute  Energie  nennen.  Als  Haupt- 
formen der  Kraft  oder  Energie  zählt  Mayer  auf:  Fall- 
kraft oder  Distanzenergie,  Bewegung,  Wärme,  Magnetis- 
mus und  Elektrizität,  chemische  Differenz.  Die  Ver- 
wandlungen dieser  Energieformen  ineinander  werden 
übersichtlich  angegeben  und  an  Experimenten  erläutert. 
Es  war  dies  keine  „bloße  Zusammenstellung  bekannter 
Fakta",  wie  der  Berichterstatter  über  die  Mayersche 
Schrift  in  den  Berliner  „Fortschritten  der  Physik"  noch 
1850  behauptete,  sondern  eine  völlig  neue  Verbindung 
bekannter  und  die  Mitteilung  wichtiger,  für  die  damalige 
Wissenschaft  neuer  Tatsachen,  so  des  Wärmekonsums  bei 
der  Arbeit  einer  Dampfmaschine,  des  Aufwandes  von 
mechanischem  Effekt  bei  der  Erzeugung  einer  elek- 
trischen und  einer  magnetischen  Spannung.  Die  Methode 
der  Berechnung  des  mechanischen  Äquivalentes  der 
Wärme  wird  gezeigt  und  begründet,  das  Energieprinzip 
in  seiner  größten  Verallgemeinerung  dargestellt.  Der 
weite  Blick  des  Forschers  umspannt  die  Erscheinungen 
der  Natur  von  dem  Licht  der  Sonne,  das  in  Wärme 
verwandelt  zur  Quelle  der  Bewegung  und  des  Lebens 
auf  der  Erde  wird,  bis  zu  den  Vorgängen  in  den  pflanz- 
lichen und  tierischen  Leibern;  aus  der  Physik  des  Labora- 
toriums werden  wir  in  die  Physik  der  freien  Natur  geführt. 


140  Fünfter  Vortrag. 

Man  hat  Mayer  mit  Galilei  verglichen  und  wirklich 
war  er  gleich  diesem  Schöpfer  der  modernen  Wissen- 
schaft „eine  von  den  Einflüssen  der  Schule  freie  Natur". 
Aber  seine  Entdeckung  war  —  er  selbst  hat  dies  immer 
anerkannt  —  weit  mehr  vorbereitet,  als  die  Entdeckung 
Galileis,  auch  erforderte  sie  nicht  wie  diese  eine  besondere 
mathematische  Erfindungsgabe.  Ein  oberstes  Denkgesetz 
ließ  sich  unmittelbar  auf  die  Tatsachen  anwenden  und 
die  Anwendung  durch  den  Versuch  bestätigen.  Wohl  aber 
befolgte  Mayer  das  von  Galilei  eingeführte  analytische, 
oder  induktiv-deduktive  Verfahren.  Auch  er  ging  zu- 
nächst von  einer  Beobachtung  aus  und  leitete  aus  ihr 
eine  theoretische  Annahme  her,  die  er  in  ihre  Kon- 
sequenzen entwickelte;  diese  Konsequenzen  aus  seiner 
Annahme  prüfte  er  sodann  an  der  Erfahrung  und  be- 
stimmte schließlich  auf  Grund  eines  Experimentes  die 
in  der  Natur  gegebene  Konstante:  den  Arbeitswert  der 
Wärme.  In  dieser  Größenbestimmung  sah  er  das  Wesent- 
liche seiner  Entdeckung;  flir  sie  vor  allem  nahm  er  das 
Recht  der  Priorität  in  Anspruch.  „Was  Kraft,  was 
Wärme  ist,  brauchen  wir  nicht  zu  wissen,  —  aber  das 
müssen  wir  wissen,  wie  man  die  Kraft  oder  Arbeit  nach 
unveränderlichen  Einheiten  zählt  und  daß  und  welche 
unveränderliche  Größenbeziehung  zwischen  dem  Meter- 
Kilogramm  und  der  Wärmeeinheit  stattfindet.  Dieses 
Wissen  ist  es,  welches  die  Grundlage  einer  neuen  Wissen- 
schaft bildet  und  welches  eine  Neugestaltung  der  Natur- 
wissenschaften hervorruft."  „Zahlen  sind  die  Fundamente 
einer  exakten  Naturforschung."  Gegen  „alles  Hypo- 
thetisierte  und  eitel  Spekulative"  empfand  Mayer,  den 
seine  Gegner  zu  einem  Metaphysiker  machen  wollten, 
die  entschiedenste  Abneigung.  Auch  hierin  hielt  er  sich 
genau  auf  der  Linie,  die  Galilei  der  Naturforschung  vor- 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       141 

gezeichnet  hatte;  seine  Physik  ist  gleich  derjenigen 
Galileis  eine  Physik  der  Tatsachen  und  der  Gesetze,  nicht 
der  Hypothesen,  wie  es  die  Physik  Descartes*  war.  „In 
den  exakten  Wissenschaften  hat  man  es  mit  den  Er- 
scheinungen selbst,  mit  meßbaren  Größen  zu  tun.  —  Ist 
einmal  eine  Tatsache  nach  allen  ihren  Seiten  bekannt, 
so  ist  sie  auch  erklärt  und  die  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft ist  beendigt."  Aus  diesen  Sätzen  Mayers  redet 
der  Geist  der  Methode  unserer  heutigen  Naturforschung. 
Als  Hypothese  betrachtet  Mayer  alles,  „was  sich 
weder  beweisen,  noch  widerlegen  läßt".  Ausdrücklich 
erklärte  er  sich  daher  auch  gegen  die  „nahe  gelegte, 
aber  unerwiesene  und  zu  weit  gehende  Folgerung,  als 
ob  die  Wärmeerscheinungen  schlechthin  als  Bewegungs- 
erscheinung aufzufassen  seien".  Ihm  schien  vielmehr  das 
Gegenteil  gefolgert  werden  zu  müssen:  „daß  um  zu 
Wärme  werden  zu  können  die  Bewegung  —  sei  sie  die 
einfache  oder  eine  vibrierende  —  aufhören  müsse,  Be- 
wegung zu  sein".  Er  lehnt  es  ab,  den  Vorgang  der 
Verwandlung  selbst  zu  erklären:  „wie  aus  der  ver- 
schwindenden Bewegung  Wärme  entstehe,  oder  wie  die 
Bewegung  in  Wärme  übergehe,  darüber  Aufschluß  zu 
verlangen,  wäre  von  den  menschlichen  Geist  zu  viel 
verlangt."  Das  Wort:  umwandeln  bedeutet  ihm  nie 
etwas  anders  als  eine  „konstante  numerische  Beziehung." 
,,In  unzähligen  Fällen,  schreibt  er  in  der  ,organischen 
Bewegung,'  gehen  die  Umwandlungen  der  Materien  und 
der  Kräfte  auf  anorganischen  und  organischen  Wegen 
vor  unseren  Augen  vor,  und  doch  enthält  jeder  dieser 
Prozesse  ein  für  das  menschliche  Erkenntnisvermögen 
undurchdringliches  Mysterium.  Die  scharfe  Bezeichnung 
der  natürlichen  Grenzen  menschlicher  Forschung  ist  für 
die  Wissenschaft  eine  Aufgabe  von  praktischem  Werte, 


142  Fünfter  Vortrag, 

während  die  Versuche  in  die  Tiefen  der  Weltordnung 
durch  Hypothesen  einzudringen,  ein  Seitenstück  bilden 
zu  dem  Streben  des  Adepten".  Deutlicher  gegen  alle 
metaphysische  Spekulation  und  zugleich  gegen  einen 
dogmatischen  Positivismus  kann  man  sich  nicht  erklären. 

Mayer  kam  von  der  Chemie  her  zur  Physik  und 
statt  mit  Galilei  muß  man  ihn  mit  Lavoisier  vergleichen. 
Was  dieser  für  die  Chemie,  hat  Mayer  für  die  Physik 
getan.  Er  hat  den  in  der  Chemie  seit  Lavoisier  be- 
währten Grundsatz  der  Unzerstörlichkeit  der  Substanz 
auf  die  Physik  übertragen;  daher  sein  Axiom:  „eine  Kraft 
ist  nicht  weniger  unzerstörlich  als  eine  Substanz".  Diese 
Übertragung  mußte  ihm  durch  die  Beobachtung,  daß 
die  animale  Wärme  an  einen  Stofifverbrauch  gebunden 
ist,  besonders  nahe  gelegt  worden  sein;  auch  fand  er 
eine  Anknüpfung  fiir  sie  in  dem  wissenschaftlichen  Sprach- 
gebrauch seiner  Zeit,  welchem  gemäß  Wärme,  elektrische 
und  magnetische  Energie  als  Imponderabilien,  als  un- 
wägbare Substanzen  bezeichnet  wurden.  Daher  die 
zunächst  etwas  befremdlich  erscheinende  Begriffsbe- 
stimmung: „Kräfte  sind  unzerstörliche,  wandelbare,  im- 
ponderable  Objekte". 

Auch  die  substantielle  Auffassung  der  Kausalität, 
Mayers  Verdienst  um  die  erkenntnistheoretische  Forschung, 
hat  in  dieser  Verallgemeinerung  der  chemischen  Gesichts- 
punkte ihre  Quelle  und  nicht  in  einer  bloßen  Spekulation. 
Mayer  denkt  sich  den  Vorgang  einer  Verursachung  in 
zwei  Bestandteile  zerlegt:  der  eine  gehorcht  dem  Sub- 
stanz- oder  Beharrungsgesetze,  von  ihm  gilt  daher  der 
Grundsatz  der  Größenübereinstimmung,  genauer  der 
Konstanz  der  Größe  von  Ursache  und  Wirkung  (causa 
sequat  effectum),  er  allein  soll  auch  unter  dem  Aus- 
druck Ursache  zu  verstehen  sein;   der  zweite,   Mayer 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       14^ 

nennt  ihn  Auslösung,  hat  kein  quantitativ  bestimmtes 
Verhältnis  zur  Wirkung  und  geht  auch  nicht  in  diese 
über.  Für  die  Größe  des  mechanischen  Effektes  einer 
Explosion  z.  B.  ist  es  gleichgiltig,  ob  die  Pulvermenge 
durch  einen  Funken  oder  mit  einer  Fackel  entzündet 
wird;  der  Funke  verwandelt  sich  auch  nicht  in  Explosion. 
Wie  man  sieht,  handelt  es  sich  um  eine  völlig  sachge- 
mäße Unterscheidung  und  die  Forderung  Mayers,  zwei 
so  gänzlich  verschiedene  Beziehungen  wie  Veranlassung 
und  Ursache  eines  Vorganges  nicht  mit  einem  und 
demselben  Namen  zu  bezeichnen,  erscheint  durchaus 
berechtigt.  Welche  der  beiden  Beziehungen  wir  als 
Ursache  bezeichnen  wollen  ist  gleichgiltig,  wenn  wir 
nur  konsequent  verfahren;  auch,  was  die  Ursachenfrage 
angeht,  können  wir  das  Wort  Mayers  über  die  „Kräfte- 
frage" benützend  sagen,  so  handelt  es  sich  nicht  darum, 
was  Ursache  für  ein  Ding  ist,  sondern  darum,  welches 
Ding  wir  Ursache  nennen  wollen.  In  der  lebenden  Natur 
gewinnen  die  „Auslösungen"  gegenüber  den  „Ursachen" 
mehr  und  mehr  an  Bedeutung  und  vollends  im  Be- 
reiche der  menschlichen  Geschichte  hat  sich  ihr  gegen- 
seitiges Wertverhältnis  umgekehrt.  Hier,  wo  wir  vor 
allem  nach  der  Qualität  der  Vorgänge  fragen,  erscheinen 
uns  die  Auslösungen  als  das  Wichtigste;  sie  allein  schreiben 
wir  dem  Willen  des  Menschen  zu  und  für  sie  allein  machen 
wir  die  Menschen  verantwortlich.  Diese  völlig  andere 
Bedeutung  der  Auslösungen  bildet  vielleicht  die  wesent- 
lichste Differenz  der  Geschichte  von  den  Naturwissen- 
schaften und  man  könnte  versucht  sein,  die  Auslösungen 
als  die  historischen  Ursachen  zu  bezeichnen  und  sie  so  von 
den  physikalischen  zu  unterscheiden.  Für  die  letzteren 
zunächst,  die  ihrer  Form  nach  quantitativ  sind,  gilt  die 
Auffassung  Mayers.     Ursache   und  Wirkung  erscheinen 


T/j/j  Fünfter  Vortrag. 

in  dieser  Auffassung  durch  den  Substanzbegriff  zur  Ein- 
heit verbunden.  Im  Kausalgesetz  ist  das  Substanzgesetz 
enthalten;  die  Identität  der  Größe  ist  das  Band  der  ur- 
sächlichen Verknüpfung.  Diese  Anschauung  war  in  der 
präzisen  Form,  in  die  Mayer  sie  gebracht,  der  Wissen- 
schaft vor  ihm  verborgen  geblieben,  wie  nahe  ihr  auch 
Kant  gekommen  war.  Humes  Problem  ist  erst  damit 
gelöst.  Ursächliche  Abfolge  unterscheidet  sich  von  zeit- 
licher Folge,  auch  wenn  diese  eine  vollkommen  regel- 
mäßige ist,  durch  die  Konstanz  der  Größe,  die  das 
Vorangehende  mit  dem  Folgenden  einheitlich  verbindet; 
und  da  diese  Verbindung  der  Form  alles  Begreifens,  dem 
Satze  des  logischen  Grundes,  d.  i.  der  Identität  des 
Grundes  in  der  Folge  entspricht,  macht  sie  zugleich  die 
Notwendigkeit  im  ursächlichen  Verhältnis  begreiflich. 
Zwischen  den  Denkgesetzen  und  der  objektiven  Welt 
besteht  eine  allgemeine  Harmonie  und  diese  nachzu- 
weisen ist,  wie  unser  Forscher  erklärt:  „die  interessanteste, 
aber  auch  die  umfassendste  Aufgabe,  die  sich  finden  läßt." 
Die  Versuche,  die  Lehre  von  der  Energie  zu  einer 
energetischen  Naturphilosophie  auszubauen,  gehen  über 
Mayers  eigene  Anschauungen  hinaus.  Zwar  hatte  Mayer 
nachgewiesen,  daß  ein  oberstes  Naturgesetz:  die  quanti- 
tative Unveränderlichkeit  des  Gegebenen  sich  auf  gleiche 
Weise  über  „Kraft"  und  Materie  erstreckt;  wie  nahe 
aber  auch  damit  die  beiden  Begriffe  gerückt  werden 
mögen,  ein  wesentlicher  Unterschied,  worauf  ihre  Dualität 
beruht,  das  ist,  daß  es  zwei  Begriffe  sind,  nicht  einer, 
bleibt  bestehen.  Es  ist  der  Unterschied  zwischen  den 
Eigenschaften  eines  physischen  Körpers,  welche  nicht 
ineinander  übergehen,  also  kein  Ausgleichungsbestreben 
zeigen,  —  schon  Mayer  nannte  sie  Kapazitäten,  und 
solchen  Bestimmungen,  welche  allen  Körpern  zukommen 


Nahirwissenschaftlicher  und  pMlosophischer  Monismus.       iac 

und  wieder  allen  fehlen  können.  Eine  Last  kann  ge- 
hoben sein,  sie  hat  in  diesem  Falle  Distanzenergie  oder 
„Fallkraft",  deren  Größe  gleich  ist  der  zur  Erhebung  der 
Last  verbrauchten  Arbeit;  oder  sie  kann  auf  dem  Boden 
ruhen,  ihre  Energie  ist  dann  gleich  Null,  ihre  Masse  da- 
gegen, das  ist,  wie  Mayer  sie  auffaßt,  ihre  „Bewegungs- 
kapazität" ist  in  beiden  Fällen  die  nämliche.  „Wärme- 
kapazität und  Wärme,  Schwere  und  Fallkraft,  chemische 
Affinität  und  chemische  Differenz  sind,  wie  Präparieren 
und  Operieren,  ( —  sagt  der  Arzt)  ganz  verschiedene 
Dinge."  „Zwei  Abteilungen  von  Ursachen  finden  sich 
in  der  Natur  vor,  zwischen  denen  erfahrungsmäßig  keine 
Übergänge  stattfinden,  —  Materien  (Stoffe)  und  Kräfte 
(Energieformen).  Auch  hier  also  hält  sich  Mayer  streng 
innerhalb  der  Grenzen  der  Erfahrung  und  für  die  Gegen- 
ständlichkeit seines  Denkens  liefern  diese  Aussprüche  nur 
einen  weiteren  Beleg. 

Seither  kann  der  Philosoph  wieder  ihm  wohlver- 
traute Worte  vernehmen;  diesmal  aber  aus  dem  Munde  des 
Naturforschers.  „Das  Wesen  der  Substanz  besteht  in 
der  Kraft,"  lehrte  Leibniz.  „Was  wir  von  der  Materie 
wissen,  ist  schon  in  dem  Begriffe  der  Energie  enthalten, 
—  die  Materie  ist  nichts  als  eine  räumUch  zusammen- 
geordnete Gruppe  von  Energien,"  lautet  das  Bekenntnis 
des  eifrigsten  Anwaltes  des  energetischen  Einheits- 
gedankens. Und  wenn  Kant  die  Körper,  populär  ge- 
redet, als  krafterfüllte  Räume  betrachtet,  sofern  sich 
nach  ihm  die  Materie  als  das  Produkt  von  Anziehung 
und  Abstoßung  ergibt,  die  sich  bei  der  Raumerfüllung 
im  Gleichgewichte  befinden,  kleidet  die  moderne  Energetik 
den  nämlichen  Gedanken  in  die  Worte:  „nur  solche 
Energien  können  sich  als  räumlich  gesonderte  Er- 
scheinungen   erhalten,    welche    durch  Verknüpfung    mit 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  lO 


1^6  Fünfter  Vortrag. 

anderen  ein  zusammengesetztes  Gleichgewicht  ergeben". 
Der  Unterschied  der  beiden  sachlich  übereinkommenden 
Äußerungen  liegt  nur  darin,  daß  Kant  das  Gleichge- 
wicht durch  seine  dynamische  Konstruktion  der  Materie 
erklären  will,  während  der  energetische  Naturphilosoph 
bei  der  Tatsache  räumlich  koexistenter  oder  ver- 
bundener Energien  stehen  bleibt.  —  In  der  Materie 
sind  Energien  dauernd  kompensiert,  ihre  algebraische 
Summe  ist  gleich  Null;  die  Bedingung  des  Geschehens 
oder  der  Entwicklung  dagegen  liegt  in  nicht  kom- 
pensierbaren Intensitätsunterschieden  der  Energien,  oder, 
wie  schon  Mayer  sagte,  in  dem  Fortbestand  der 
Differenzen. 

Diese  Anschauungen  sollen  die  Überwindung 
des  wissenschaftlichen  Materialismus  herbeiführen, 
—  herbeigeführt  haben,  welche  Wilhelm  Ostwald, 
dem  wir  sie  entlehnten,  1895  auf  der  Naturforscher- 
Versammlung  zu  Lübeck  so  nachdrücklich  verkündet 
hat.  Ich  darf  Ostwalds  Rede  als  bekannt  voraussetzen 
und  brauche  nur  an  die  darin  entwickelten  Grundge- 
danken zu  erinnern. 

Alles,  was  wir  von  der  Außenwelt  wissen,  besteht 
in  der  Kenntnis  der  Energieverhältnisse.  Was  wir 
„Materie"  nennen,  gibt  sich  uns  nur  in  Wirkungen  zu 
erkennen,  also  in  Formen  der  Energie.  Messen  wir  die 
Menge  der  körperlichen  Substanz  oder  die  Masse  durch 
das  Gewicht,  so  messen  wir  sie  durch  eine  Energie. 
In  dem  Begriff  der  „Materie"  steckt  erstens  die  Maße, 
d.  h.  die  Kapazität  für  Bewegungsenergie,  ferner  die 
Raumerfüllung,  oder  die  Volumenergie,  weiter  das  Ge- 
wicht, oder  die  in  der  allgemeinen  Schwere  zu  Tage 
tretende,  besondere  Art  von  Energie  der  Lage  und  endlich 
die    chemischen    Eigenschaften,    d.    h.     die    chemische 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.      147 

Energie.  Sagt  man:  aber  die  Energie  muß  doch  einen 
„Träger"  haben,  denn  sie  ist  doch  nur  etwas  Gedachtes, 
während  die  Materie  das  Wirkliche  ist,  so  erwidert  Ost- 
wald: umgekehrt  die  Materie  ist  ein  Gedankending,  das 
wir  uns  konstruiert  haben,  um  das  Dauernde  im  Wechsel 
der  Erscheinungen  darzustellen.  Die  Erscheinungen  sind 
uns  in  Gestalt  von  Empfindungen  gegeben;  denn  offen- 
bar erfahren  wir  von  der  physischen  Welt  nur  das,  was 
uns  unsere  Sinneswerkzeuge  davon  zukommen  lassen. 
Als  gemeinsame  Bedingung  aber,  damit  eines  dieser 
W^erkzeuge  sich  betätigt,  lasse  sich  nur  diese  finden: 
„die  Sinneswerkzeuge  reagieren  auf  Energieunterschiede 
zwischen  ihnen  und  der  Umgebung."  Nur  Unterschiede 
der  Temperatur  der  Umgebung  von  der  Eigentemperatur 
unseres  Körpers  empfinden  wir  als  Wärme  oder  Kälte; 
„in  einer  Welt,  deren  Temperatur  überall  die  unseres 
Körpers  wäre,  würden  wir  auf  keine  Weise  etwas  von 
der  Wärme  erfahren  können."  Und  ebenso  haben  wir 
von  dem  konstanten  Atmosphärendrucke,  unter  dem  wir 
leben,  keinerlei  Empfindung;  erst  wenn  wir  uns  bewegen, 
oder  wenn  sonst  aus  irgendwelcher  Ursache  Änderungen 
dieses  Druckes  entstehen,  gelangen  wir  zu  seiner  Kennt- 
nis. „W^as  wir  empfinden,  sind  Unterschiede  der  Energie- 
zustände gegen  unsere  Sinnesapparate".  Dies  soll  aber 
nicht  heißen:  wir  empfinden  diese  Unterschiede  als 
solche;  die  Empfindungen  selbst  sind  uns  stets  als  etwas 
Elementares,  inhaltlich  Einfaches  gegeben,  mag  auch  die 
Bedingung  ihres  Eintretens  in  Energiedifferenzen  zu 
suchen  sein.  Das  Wirkliche,  folgert  Ostwald,  d.  h. 
das,  was  auf  uns  wirkt,  ist  nur  die  Energie,  ihr  allein 
kann  das  Prädikat  der  Realität  zugesprochen  werden. 
Sie  ist  neben  den  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit, 
„die  einzige  Größe,  welche  den  verschiedenen  Gebieten 


1^8  Fünfter  Vortrag. 

der  Erscheinungen,  und  zwar  allen  ohne  Ausnahme,  ge- 
meinsam ist;  man  kann  also  zwischen  verschiedenen 
Gebieten  überhaupt  nichts  anderes  einander  gleichsetzen, 
als  die  in  Frage  kommenden  Energieformen.  „Wir 
fragen  nicht  mehr  nach  Kräften,  die  wir  nicht  nach- 
weisen können,  zwischen  Atomen,  die  wir  nicht  be- 
obachten können,  sondern  wir  fragen,  wenn  wir  einen 
Vorgang  beurteilen  wollen,  nach  Art  und  Menge  der 
aus-  und  eintretenden  Energien." 

Ob  die  Energetik,  wie  es  in  diesen  Worten  gefordert 
wird,  bestimmt  sei,  an  Stelle  der  Mechanik  zur  Grund- 
lage der  Physik  zu  werden,  kann  nur  der  Erfolg  lehren. 
Heinrich  Hertz  gab  diesen  Weg  einer  Umgestaltung  der 
mechanischen  Prinzipien,  nachdem  er  ihn  eine  Zeit  lang 
verfolgt  hatte,  wieder  auf.  Unabhängig  von  der  Frage 
nach  dieser  wissenschaftlichen,  ist  die  Frage  nach  der 
philosophischen  Bedeutung  der  Energetik.  Hat  diese 
den  Dualismus  der  Grundbegriffe  des  Naturerkennens 
wirklich  überwunden,  d.  i,  den  Begriff  der  Materie  neben 
dem  der  Energie  entbehrlich  gemacht? 

Es  muß  als  irreführend  bezeichnet  werden,  wenn 
von  der  Energie  als  einer  einzigen  Größe  neben  Raum 
und  Zeit  geredet  wird,  da  jede  Energieform  sich  viel- 
mehr als  das  Produkt  zweier  Größen  darstellt:  eines 
Kapazitäts-  und  eines  Intensitätsfaktors,  die  beide  reelle 
Größen  sind.  Kapazität  bedeutet  Aufnahmefähigkeit  für 
Energie  und  ist  sicher  von  dieser  begrifflich  verschieden, 
wenn  auch  sachlich  mit  ihr  verbunden.  In  den  Kapa- 
zitäten aber,  der  Masse  z.  B.  bei  der  kinetischen  Energie, 
steckt  der  empirische  Begriff  der  Materie,  und  statt  diesen 
Begriff  wirklich  eliminieren  zu  können,  hat  die  Energetik 
ihn  nur  anders  benannt.  Mag  die  Materie  immerhin  ein 
Abstraktum   sein,    darum   ist   sie  noch  kein  bloßes  Ge- 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       iaq 

dankending;  sie  ist  überhaupt  kein  Ding,  sondern  die 
Vorstellungsart  von  Dingen  durch  die  äußeren  Sinne. 
Auch  die  Energie  ist  ein  Abstraktum;  konkret  sind  die 
Formen  der  Energie,  so  wie  sie  sich  der  sinnlichen  An- 
schauung an  räumliche  Dinge  gebunden  zu  erkennen 
geben.  Gehen  wir  nur  dem  Leitfaden  der  Erfahrung 
nach  —  und  von  ihm  darf  am  wenigsten  eine  „hypo- 
thesenfreie" Naturwissenschaft  abgehen  wollen  — ,  so 
treffen  wir  in  jedem  physikalischen  Erscheinungsgebiete, 
z.  B.  dem  der  Elektrizität,  auf  besondere  Größen,  die  wir 
von  den  Energiegrößen  in  den  betreffenden  Gebieten 
unterscheiden  müssen  und  uns  naturgemäß  nur  unter  dem 
Bilde  der  Materie  vorstellen  können.  Zwischen  beiden 
Arten  von  Größen  kann  so  wenig  ein  Übergang  statt- 
finden, wie  zwischen  Raum  und  Zeit.  Wir  werden  die 
Materie  nicht  los,  wie  wir  den  Raum  nicht  los  werden, 
wie  wir  den  Raum  nicht  in  die  Zeit  verwandeln  können; 
so  real  also,  wie  der  Unterschied  von  Raum  und  Zeit,  so 
real  ist  auch  der  Unterschied  von  Materie  und  Energie, 
beide  aber:  Raum  und  Zeit  mit  ihrer  Verschiedenheit 
haben  empirische  Realität,  Wirklichkeit  in  der  Erfahrung, 
die  in  diesen  beiden  Formen  des  Anschauens  gegeben  ist. 
Wenn  also  Ostwald  der  Materie  die  Realität  abspricht,  so 
kann  er  unter  Realität  nicht  die  empirische  verstehen, 
denn  diese  kommt  der  Materie  in  gleicher  Weise  zu  wie 
der  Energie;  und  wenn  er  die  Energie  zu  dem  Allein-Wirk- 
lichen  macht,  so  muß  er  mit  dem  Worte  Energie  noch 
einen  anderen  Begriff  verbinden,  als  den  erfahrungs- 
mäßigen der  Arbeit  und  der  Arbeitsäquivalente.  Der 
empirische  Begriff  Energie  hat  sich  ihm  in  einen  meta- 
physischen, der  Größenbegriff  in  einen  Wesensbegriff 
umgewandelt.  Ist  die  Materie  „Erscheinung"  der  Energie 
so  muß  die  Energie  „das  Ding  an  sich"  der  Materie  sein. 


I^O  Fünfter  Vortrag. 

Von  den  Dingen  an  sich  aber  denken  wir  mit  Kant: 
wir  wissen  nicht,  was  sie  sind,  und  brauchen  es  nicht  zu 
wissen,  weil  uns  doch  niemals  ein  Ding  anders  vor- 
kommen kann  als  in  der  Erscheinung. 

Es  gibt  einen  ursprünglicheren  Dualismus  als  den 
naturwissenschaftlichen  von  Materie  und  Energie  und  an 
ihn  denken  wir  zunächst,  wenn  von  Dualismus  die  Rede 
ist.  Seine  Aufhebung,  die  mit  der  Überwindung  des 
naturwissenschaftlichen  Dualismus  keineswegs  schon  ge- 
geben ist,  erscheint  uns  als  ein  wichtigeres  Problem,  das 
unmittelbar  unsere  geistigen  Interessen  berührt  und  den 
Charakter  unserer  Weltanschauung  bestimmt.  Es  ist 
der  Dualismus  von  Leib  und  Seele,  den  wir  meinen, 
und  das  Problem,  das  sich  daran  knüpft,  der  Zusammen- 
hang des  Physischen  und  des  Psychischen.  Die  Frage 
nach  der  Natur  dieses  Zusammenhanges  hat  von  je  das 
Nachdenken  des  Menschen  beschäftigt. 

Eindrucksvolle  Erlebnisse,  Schlaf  und  Tod,  Visi- 
onen Abgeschiedener  im  Traume  haben  den  Menschen 
wohl  zuerst  auf  den  Gedanken  einer  Verdoppelung 
seines  Wesens  gebracht,  auf  die  Annahme  eines  ,, anderen 
Ich",  aus  solchem  Zeug  gewebt,  wie  dem  zu  Träumen, 
Aus  primitiven  Anschauungen  dieser  Art  ging  der  Dua- 
lismus hervor:  die  Trennung  einer  geistigen  Substanz 
von  der  körperlichen,  der  Glaube  an  eine  wesenhafte 
Verschiedenheit  beider.  Auch  wir  verstehen  noch  diesen 
Glauben,  nicht  bloß  deshalb,  weil  er  uns  in  unserer 
Kindheit  eingeprägt  wurde,  sondern  weil  wir  ihn  selbst 
zu  erleben  meinen:  —  immer  dann,  wenn  wir  unseren 
Geist  frei  und  unabhängig  fühlen,  wenn  unsere  Gedanken 
willig  strömen,  unsere  Handlungen  mit  unseren  Be- 
strebungen übereinstimmen;  —   daß   immer  dann  auch 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.        j  c  i 

die  organischen  Prozesse  unseres  Leibes  ungestört  ab- 
laufen, bemerken  wir  nicht.  Wir  unterscheiden  uns  als 
denkende  Wesen  von  den  Dingen  außer  uns  und  zählen 
auch  unseren  Leib  zu  diesen  äußeren  Dingen,  nicht  zu 
unserem  wahren  Wesen,  unserem  eigentlichen  Innern. 
Diesem  Innern,  der  geistigen  Natur  in  uns,  schreiben 
wir  eine  fast  unbegrenzte  Macht  und  Herrschaft  über 
den  Körper  zu.  Wir  sehen  die  Bewegung  unserer 
Glieder,  den  Lauf  und  die  Richtung  unserer  Gedanken 
dem  Geheiß  unseres  Willens  folgen,  und  selbst  die  Stim- 
mung unseres  Leibes  scheint  uns  in  hohem  Grade  von 
unserem  Willen  abhängig  zu  sein;  —  wovon  der  Wille 
selbst  abhängt,  daran  denken  wir  nicht.  Freilich,  ebenso 
oft  müssen  wir  auch  das  Gegenteil  erfahren.  Stim- 
mungen des  Körpers  färben  unsere  Gedanken,  hemmen 
oder  verändern  unsere  Entschließungen  und  wir  ent- 
decken, daß  nichts  so  wenig  in  unserem  freien  Belieben 
steht,  wie  unser  Wollen.  Und  so  gleicht  unser  Inneres 
dem  Schauplatz  eines  beständigen  Kampfes,  in  welchem 
bald  der  Geist  über  den  Körper,  bald  der  Körper  über 
den  Geist  den  Sieg  behält.  Die  Tatsachen  selbst  also, 
unsere  Erlebnisse,  scheinen  wie  von  der  Verschiedenheit, 
so  auch  der  Wechselwirkung  des  seelischen  und  des 
körperlichen  Prinzips  Zeugnis  zu  geben. 

Für  eine  rein  mechanische  Naturanschauung  ist  der 
Dualismus  unvermeidlich;  —  schon  durch  die  bloße 
Existenz  von  Bewußtsein  in  einer  Natur,  wie  diese  An- 
schauung sie  voraussetzt,  müßten  wir  ihn  für  erwiesen 
halten.  Ist  nichts  in  der  Außenwelt  an  sich  gegeben 
als  bewegte  Masse,  so  kommt  mit  der  Innenwelt  ein 
zweites,  völlig  anderartiges  Prinzip  hinzu.  Es  kann  da- 
her nur  einen  Mangel  an  Konsequenz  bedeuten,  wenn 
ein  überzeugter  Materialist  im  Sinne  dieser  Anschauung 


1^2  Fünfter  Vortrag. 

nicht  zugleich  dualistisch  denkt.  Wie  es  aber  bei  einer 
jeden  falschen  Hypothese  geschieht,  daß  sie  fortzeugend 
immer  neue  Hypothesen  gebiert,  so  geschah  es  auch 
mit  der  Hypothese  des  Dualismus.  Was  für  Annahmen 
sind  nicht  von  der  philosophischen  Spekulation  versucht 
worden,  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  aufzuklären, 
seit  Descartes  den  Dualismus  dogmatisiert  hatte!  — 
von  dem  „physischen  Einfluß",  wobei  sich  die  Seele 
jedesmal  „materialisieren"  müßte,  wie  die  Spiritisten 
sagen,  so  oft  sie  Eindrücke  vom  Körper  empfängt,  oder 
den  Körper  bewegt,  bis  zu  der  verzweifelten  Ausflucht 
zur  Assistenz  Gottes  und  der  „prästabilierten  Harmonie". 
Und  endlich  tauchte  die  Frage,  nachdem  ihr  längst  durch 
Kant  in  der  Philosophie  der  Boden  entzogen  war,  sehr 
verspätet  also,  in  einer  berühmt  gewordenen  Rede  eines 
Physiologen  wieder  auf. 

Es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  die  Frage,  welche  Du 
Bois  Reymond  aufwarf,  verkehrt  gestellt  ist;  und  ihre 
Richtigstellung  allein  genügt  schon,  um  jedes  Rätsel  aus 
ihr  verschwinden  zu  machen.  Wie  aus  irgend  einer 
Verbindung  oder  Bewegung  von  Atomen  Empfindung 
hervorgehen  soll,  kürzer:  wie  Atome  sollen  empfinden 
können,  läßt  sich  gar  nicht  begreifen,  wohl  aber  er- 
kennen, daß  hier  ein  wirkliches  Problem  gar  nicht  vor- 
liegt und  die  Frage  in  dieser  Form  keinen  Sinn  hat. 
Nicht  Atome  sind  uns  gegeben,  sondern  die  Empfin- 
dungen und  statt  von  den  Atomen  zu  Empfindungen, 
natürlich  vergeblich,  einen  Weg  zu  suchen,  hat  unsere 
Frage  vielmehr  diese  zu  sein:  wie  kommen  wir  von  den 
Empfindungen  aus  zu  der  Annahme  von  Atomen?  Und 
in  dieser  Form  ist  die  Frage  beinahe  so  schnell  gelöst, 
wie  gestellt.  Der  Begriff  der  Atome  ist  ein  Erzeugnis 
der  Methode.     Die   exakte  Wissenschaft   sucht  die   Er- 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       152 

scheinungen  zu  messen  und  darum  läßt  sie  alles  Spezi- 
fische und  Qualitative  in  ihnen  unberücksichtigt  und 
beschränkt  sich  auf  räumliche  Größe  und  Bewegung;  sie 
sucht  die  Erscheinungen  zu  berechnen  und  ersetzt  sie 
daher  —  durch  Rechenpfennige.  Atome  sind  Begriffe 
von  den  Elementen  der  räumlichen  Dinge  nach  Ab- 
straktion von  den  Empfindungen  der  Dinge.  Daß  aber 
ein  Begriff,  ein  Gedankensymbol  für  Empfindungen  und 
das,  was  diesen  zu  Grunde  liegt,  nicht  selbst  empfinden 
kann,  ist  alles  eher  als  rätselhaft.  Die  Atomistik  ist 
eine  Zeichensprache  für  Dinge,  die  für  die  Unterscheidung 
und  Individualisierung  der  Erscheinungen  Stützpunkte, 
für  die  Rechnung  Ansatzpunkte  liefert  und  einen  abge- 
kürzten Ausdruck  für  bestimmte  Seiten  der  äußeren 
Erfahrungen,  insbesondere  der  chemischen,  gibt.  Zeichen 
aber  bleiben  Zeichen.  Was  die  Differentiale,  die  un- 
endlich kleinen  Größen  in  der  Mathematik,  sind  in  der 
Physik  und  Chemie  die  Atome;  sie  gehören  der  näm- 
lichen Klasse  und  Ordnung  von  Hilfsbegriffen  an  und 
sind,  wie  Mayer  forderte,  gleich  den  Differentialen  stets 
nur  als  relativ  aufzufassen  und  in  Beziehung  zu  einem 
bestimmten  Prozesse  zu  denken.  Nur  die  beständige 
Gewohnheit  des  Naturforschers,  in  seinen  Gedanken  mit 
diesen  Zeichen  für  Dinge  zu  verkehren,  konnte  über- 
haupt den  Glauben  erzeugen,  die  Atome  selbst  seien 
die  Dinge,  die  Empfindungen  dagegen  eine  mysteriöse 
Zugabe  zu  den  Atomen. 

Vielleicht  aber  hatte  Du  Bois  Reymond  ein  anderes 
Problem  im  Sinne  und  seine  Frage  zielte  eigentlich  nicht 
auf  die  Empfindung  als  solche,  sondern  auf  die  Tat- 
sache des  Subjektes.  Dann  aber  müßte  es  uns  erst 
recht  seltsam  berühren,  wenn  von  einem  „Tgnorabimus" 
geredet    wird,    wo    es    sich   nicht   um   ein  Nichtwissen- 


154  Fünfter  Vortrag. 

werden  oder  -können  handelt,  sondern  um  die  Voraus- 
setzung alles  Wissens:  die  Beziehung  von  Subjekt  und 
Objekt. 

Alle  Schwierigkeiten,  erklärt  Kant,  die  man  in  der 
Verbindung  der  denkenden  Natur  mit  der  Materie  an- 
zutreffen glaubt,  sind  selbstgemachte  und  beruhen 
auf  einem  bloßen  „Blendwerke".  Sie  entspringen  ohne 
Ausnahme  lediglich  aus  „jener  erschlichenen  dualistischen 
Vorstellung,  daß  Materie  als  solche  nicht  Erscheinung 
sei,  der  ein  unbekannter  Gegenstand  entspricht,  sondern 
der  Gegenstand  selbst,  so  wie  er  außer  uns  und  unab- 
hängig von  aller  Sinnlichkeit  existiert".  „So  lange  wir 
nur  innere  und  äußere  Erscheinungen  als  Vorstellungen 
in  der  Erfahrung  mit  einander  zusammenhalten,  finden 
wir  nichts  Widersinniges  und  nichts,  was  die  Gemein- 
schaft beider  Art  Sinne  befremdlich  machte.  Sobald 
wir  aber  die  äußeren  Erscheinungen  nicht  mehr  als 
Vorstellungen,  sondern  in  derselben  Qualität,  wie 
sie  in  uns  sind,  auch  als  außer  uns  für  sich  be- 
stehende Dinge  ansehen,  haben  wir  einen  Charakter 
der  wirkenden  Ursachen  außer  uns,  der  sich  mit  ihren 
Wirkungen  in  uns  nicht  zusammenreimen  will",  —  dort 
Bewegungen,  hier  Vorstellungen.  „Aber  wir  sollten  be- 
denken, daß  die  Körper  nicht  Gegenstände  an  sich  sind, 
sondern  eine  bloße  Erscheinung,  wer  weiß  welches  un- 
bekannten Gegenstandes;  daß  die  Bewegung  nicht  die 
Wirkung  dieser  unbekannten  Ursache^  sondern  bloß  die 
Erscheinung  ihres  Einflusses  auf  unsere  Sinne  sei,  daß 
mithin  nicht  die  Bewegung  der  Materie  in  uns  Vor- 
stellungen wirke,  sondern  daß  sie  selbst  (mithin  auch 
die  Bewegung,  die  sich  dadurch  kennbar  macht,)  bloße 
Vorstellung  sei."  Und  so  läuft  endlich  die  ganze  „be- 
rüchtigte" Frage   darauf  hinaus:  wie  und  durch  welche 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       155 

Ursache  die  Vorstellungen  unserer  Sinnlichkeit  so  unter- 
einander in  Verbindung  stehen,  daß  diejenigen,  die  wir 
äußere  Anschauungen  nennen,  nach  empirischen 
Gesetzen  als  Gegenstände  außer  uns  vorgestellt  wer- 
den können"  —  eine  Frage,  welche  „ganz  und  gar 
nicht  die  vermeinte  Schwierigkeit  enthält,  den  Ursprung 
der  Vorstellungen  von  außer  uns  befindlichen,  ganz 
fremdartig  wirkenden  Ursachen  zu  erklären,  indem  wir 
die  Erscheinung  einer  unbekannten  Ursache  außer 
uns  für  die  Ursache  selbst  nehmen."  Was  hier  gegen 
die  Verdinglichung  der  äußeren  Erscheinungen  gesagt 
wird,  gilt  mit  gleichem  Recht  und  aus  demselben 
Grunde  auch  gegen  die  Verdinglichung  der  inneren. 
In  beiden  Fällen  hält  man  „die  Verschiedenheit  der 
Vorstellungsart  von  Gegenständen,  die  uns  nach  dem, 
was  sie  an  sich  sind,  unbekannt  bleiben,  für  die  Ver- 
schiedenheit dieser  Dinge  selbst."  „Das  transcenden- 
tale  Objekt  (das  Reale),  welches  den  äußeren  Er- 
scheinungen, ingleichen  das,  was  der  inneren  Anschau- 
ung zum  Grunde  liegt,  ist  an  sich  selbst  weder 
Materie  noch  ein  denkendes  Wesen,  sondern  ein 
uns  unbekannter  Grund  der  Erscheinungen,  die  den 
empirischen  Begriff  von  der  ersten  sowohl  als  zweiten 
Art  (Dinge)  an  die  Hand  geben". 

Damit  ist  die  Grundlosigkeit  des  Dualismus  gezeigt 
und  die  Frage,  die  uns  beschäftigt,  auf  den  Boden  ver- 
pflanzt, wo  sie  allein  hingehört,  den  Boden  der  Er- 
fahrung. Wir  fragen  nicht  länger,  in  welcher  Art  Ge- 
meinschaft Leib  und  Seele,  als  zwei  heterogene  „Sub- 
stanzen" stehen  mögen,  wir  fragen,  welche  funktionelle 
Beziehung  oder  Abhängigkeit  zwischen  den  physischen 
Vorgängen  und  den  psychischen  Tätigkeiten  tatsächlich 
stattfindet  und  welche  Schlüsse   aus  ihrem   empirischen 


1^6  Fünfter  Vortrag. 

Verhältnis  zu  ziehen  sind.  Und  die  Antwort  auf  diese 
Frage  muß  heute  bestimmter  lauten,  als  es  zur  Zeit 
Kants  noch  möglich  gewesen  wäre. 

Aus  dem  Energieprinzipe  folgt,  daß  der  Verlauf  der 
Vorgänge  in  der  äußeren  Natur  ein  in  sich  geschlossener 
ist.  Jede  physische  Wirkung  ist  nach  diesem  Prinzipe 
durch  ihre  physische  Ursache  völlig  bestimmt,  jede 
physische  Ursache  erschöpft  sich  durch  ihre  physische 
Wirkung.  Unter  physischer  Ursache  oder  Wirkung  ist 
einfach  eine  solche  zu  verstehen,  welche  meßbar  ist; 
eine  weitere  Voraussetzung  über  ihre  Beschaffenheit, 
z.  B.  ihre  Bewegungsnatur,  brauchen  wir  nicht  zu  machen. 
In  diesen  geschlossenen  Naturverlauf  nun  kann  eine 
nicht-physische  Ursache  nicht  eingreifen,  denn  sie  hätte 
nichts  mehr  zu  bewirken,  aus  ihm  eine  nicht-physische 
Wirkung  nicht  hervorgehen,  denn  jede  Wirkung  ist  be- 
reits völlig  bestimmt.  Psychische  Funktionen  also  können 
in  diesen  Prozeß  weder  als  Ursachen  noch  als  Wirkungen 
eingeschaltet  sein.  Jede  Vorstellung,  die  man  sich  da- 
von bilden  könnte,  erweist  sich  näher  betrachtet  als 
unzulässig.  Man  denkt  vielleicht  an  die  Auslösung,  die 
jede  Umwandlung  von  Energie  einleiten  muß.  Aber 
auch  die  Auslösung  ist  eine  physische  Ursache;  sie  leistet 
Arbeit,  indem  sie  das  Gleichgewicht  zwischen  Energien 
aufhebt  und  kein  noch  so  vollkommener  Auslösungs- 
apparat kann  in  Bewegung  versetzt  werden,  ohne  daß 
an  ihm  Arbeit  geleistet  wird.  Wenn  man  meint:  der 
Wille  brauche  die  Bewegung  bloß  zu  lenken,  aber  nicht 
zu  erzeugen,  so  muß  erwidert  werden,  daß  auch  das 
Lenken  von  Bewegung  Bewegung  ist.  Die  Chemie 
kennt  Reaktionsvorgänge,  bei  welchen  die  Gegenwart 
einer  Substanz  anscheinend  nur  den  zeitlichen  Verlauf 
der  Reaktion  beeinflußt,  diese  einleitet  oder  beschleunigt. 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       157 

ohne  daß  dabei  die  Substanz  selbst  endgiltig  verändert 
wird.  Könnte  nicht  der  Einfluß  von  Wille  und  Bewußt- 
sein ein  solcher  Kontaktvorgang  sein,  ein  katalytischer 
Prozeß,  wie  die  Chemie  ihn  nennt?  Mayer  scheint  daran 
gedacht  zu  haben.  Aber,  fürs  Erste  ist  es  keineswegs 
erwiesen,  daß  die  katalysierende  Substanz  wirklich  an  dem 
Prozeß  selbst  nicht  beteiligt  ist,  wenn  sie  auch  zum  Schlüsse 
desselben  in  ihrem  ursprünglichen  Betrage  wiederer- 
scheint. Und  fürs  Zweite  ist  Bewußtsein  keine  Substanz. 
Es  bliebe  also  nur  übrig,  das  Psychische  als  eine 
besondere  Form  der  Energie  in  die  Kette  ihrer  übrigen 
Formen  eingereiht  zu  denken,  und  da  wir  nicht  anzu- 
nehmen brauchen,  daß  alle  Energieformen  von  derselben 
Art  sein  müssen,  nämlich  mechanische  Energie,  so  scheint 
einen  Augenblick  dieser  Ausweg  in  der  Tat  offen  zu 
stehen.  Daß  wir  auch  damit  der  Eigenart  des  Psychischen 
nicht  um  den  kleinsten  Schritt  näher  kommen  würden, 
wenn  wir  die  Reihe  der  bekannten  Energieformen  um 
eine  Anzahl  neuer  und  ad  hoc  eingeführter,  wie  Nerven- 
energie, geistige  Energie  vermehren  wollten,  ist  leicht 
zu  zeigen.  Unser  Verfahren  gliche  nur  allzusehr  dem 
Bemühen  jenes  klugen  Philosophen,  welcher  meinte,  er 
brauche  sich  den  Stoff  nur  immer  feiner  und  feiner  zu 
denken:  endlich  müsse  doch  ein  Geist  daraus  werden. 
Energien  gehören  der  Außenwelt  an,  der  Welt  der  Ob- 
jekte. Wie  soll  es  also  zu  verstehen  sein,  daß  irgend 
eine  von  ihnen  sich  selber  subjektiv  wird?  Zwischen 
und  inmitten  jener  objektiven  Größen,  die  Energien 
heißen  und  welche,  sofern  sie  erscheinen,  für  das 
Subjekt  da  sind,  kann  doch  das  Subjekt  selbst  nicht 
Platz  nehmen.  Doch  lassen  wir  dieses  Bedenken,  das 
man  vielleicht  für  metaphysisch  hält,  obschon  es  nur 
erkenntnistheoretisch   ist,    auf  sich   beruhen.     Das   Be- 


ic8  Fünfter  Vortrag. 

wußtsein  ist  tatsächlich  keine  Energie;  denn  es  gibt  kein 
Äquivalent  des  Bewußtseins.  Wäre  das  Psychische  eine 
Energieform,  so  müßte,  so  oft  es  hervortritt  oder  sich 
betätigt,  ein  bestimmter  Betrag  einer  anderen  Energie- 
form verschwinden,  so  oft  es  latent  wird,  Energie  von 
anderer  Art  entstehen.  Nichts  davon  lehrt  die  Er- 
fahrung; sie  lehrt  vielmehr  das  Gegenteil.  Die  Energie 
des  chemischen  Umsatzes  im  Gehirn  wird  nicht  ver- 
mindert, sie  wird,  wie  Mosso  dies  sogar  experimentell 
zeigen  konnte,  gesteigert,  wenn  wir  geistig  tätig  sind, 
herabgesetzt,  wenn  wir  geistig  ruhen.  Es  verschwindet 
also  nicht  Energie,  wenn  Bewußtsein  entsteht,  es  ent- 
steht nicht  Energie,  wenn  Bewußtsein  verschwindet;  der 
chemische  Prozeß  im  Gehirn  und  die  psychische  Tätig- 
keit verwandeln  sich  nicht  ineinander,  sie  gehen  mit- 
einander. Was  energetisch  sein  soll,  muß  eine  meßbare 
Größe  haben.  Das  Psychische  als  solches  hat  keine 
Größe;  es  ist  der  Art  nach  verschieden  von  allen  meß- 
baren Objekten,  es  ist  gewichtlos,  raumlos,  die  ihm 
wesentliche  Einheitlichkeit  läßt  sich  nicht  in  Teile  zer- 
legen, nicht  aus  Teilen  zusammensetzen.  Auch  der 
Wille,  den  man  gewohnt  ist  als  den  Typus  für  alle  Kraft 
zu  betrachten,  ist  keine  Energie  in  der  physikalischen 
Bedeutung  dieses  Wortes.  Zwischen  Wille  und  Be- 
wegung findet,  wie  schon  Spinoza  sagt,  kein  Verhältnis 
statt;  daher  „findet  auch  keine  Vergleichung  statt, 
zwischen  den  Kräften  des  Geistes  und  denen  des  Kör- 
pers" und  die  einen  sind  nicht  durch  die  andern  zu  be- 
stimmen. Das  psychische  Geschehen  ist  das  nicht- 
energetische Geschehen  in  der  Natur. 

Auf  diesem  Wege  kommen  wir  also  nicht  weiter. 
Wir  können  auf  demselben  nur  die  Ungleichartigkeit 
des  Psychischen  und  desPhysischen  genauer  erkennen,  nicht 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.        159 

aber  auch  die  Art  und  Notwendigkeit  ihrer  Verbindung 
sehen.  Dagegen  geben  uns  gewisse  biologische  Tat- 
sachen Anhaltspunkte,  das  Problem  von  einer  anderen 
Seite  anzufassen. 

Wenn  wir  auch  nicht  wissen,  wo  zuerst  in  der  or- 
ganischen Natur,  auf  welcher  Stufe  ihrer  Entwickelung, 
Bewußtsein  entsteht ,  so  sehen  wir  doch  das  deutliche 
Hervortreten,  die  Steigerung  und  Zusammenfassung 
seelischer  Fähigkeiten  an  die  Ausbildung  von  Central- 
organen  gebunden  und  an  deren  immer  reichere  Gliede- 
rung in  zusammenwirkende  Mechanismen.  Psychische 
Entwicklung  und  Entwicklung  des  Nervensystems  halten 
gleichen  Schritt.  Nicht  irgend  einer  einzelnen  Energie- 
form also  entspricht  das  Bewußtsein;  sein  objektives 
Gegenstück  ist  eine  Struktur,  der  Bau  des  Nervensystemes, 
genauer,  die  durch  diese  Struktur  ermöglichte,  durch 
sie  geleitete  Zusammenordnung  von  Energien.  Auch 
hieraus  erhellt,  daß  es  nicht  zulässig  ist,  von  einer  geistigen 
Energie  in  demselben  Sinne  zu  reden  wie  beispielsweise  von 
der  chemischen.  Es  ergibt  sich  ferner  daraus,  daß  der  Be- 
griff eines  „Atombewußtseins"  ein  sich  selbst  wider- 
sprechender Begriff  ist.  Denn  nur  der  Zusammenhang 
des  Lebens  trägt  und  erhält  das  Bewußtsein,  welches 
selbst  wesentlich  Zusammenhang  ist,  Einheit  des  Mannig- 
faltigen. 

Wenn  zwei  Vorgänge,  einander  entsprechen  und 
stets  zugleich,  also  nicht  in  kausaler  Folge  eintreten,  so 
können  wir  sagen:  sie  verlaufen  parallel.  Und  so  ist  es 
üblich  geworden,  das  Verhältnis  des  Psychischen  zu 
seiner  physischen  Grundlage,  d.  i.  zu  bestimmten  Nerven- 
prozessen als  psycho-physischen  Parallelismus  zu 
bezeichnen.  Dieser  Ausdruck  sollte  immer  nur  als 
methodische  Regel  verstanden  werden,  die  uns  anweist. 


l6o  Fünfter  Vortrag. 

die  psychologische  Analyse  der  Bewußtseinserscheinungen 
als  solcher  mit  der  physiologischen  ihrer  körperlichen 
Begleiterscheinungen  zu  verbinden  und  so  zu  einer  beider- 
seitigen Betrachtung  derselben  zu  gelangen.  Gibt  man 
ihm  dagegen,  wie  es  meistens  geschieht,  die  Bedeutung 
einer  Theorie,  so  kann  er  leicht  irreführend  werden. 
Von  zwei  parallelen  Linien  wissen  wir,  daß  in  ihrem 
ganzen  Verlauf  jedem  Punkt  der  einen  ein  Punkt  gleichen 
Abstandes  der  anderen  entsprechen  muß.  Die  Tatsachen 
geben  uns  keinen  Grund  zur  Annahme,  daß  in  analoger 
Weise  auch  die  physischen  und  die  psychischen  Prozesse 
verlaufen.  Wir  wissen  vielmehr,  daß  sich  beständig  Vor- 
gänge nicht  bloß  in  anderen  Organen  unseres  Körpers, 
sondern  in  unserem  Nervensysteme  selbst  abspielen,  die 
nicht  in  unsere  innere  Wahrnehmung  fallen  und  nur  mittel- 
bar, durch  äußere  Erfahrung  zu  unserer  Kenntnis  gelangen. 
Unser  bewußtes  Leben  ist  nur  ein  kleiner  Ausschnitt 
unseres  Lebens;  aus  der  breiten  und  tiefen  Unter- 
strömung desselben  heben  sich  nur  einzelne  wenige 
Wellen  empor  und  werden  vom  Lichte  getroffen.  Der 
psycho  -  physische  Parallelismus ,  besser  :  die  Korre- 
spondenz des  Psychischen  und  des  Physischen  ist 
ausschließlich  auf  jene  Vorgänge  in  der  Großhirnrinde 
zu  beziehen,  mit  welchen,  wenn  sie  gegeben  sind,  Be- 
wußtseinsphänomene wie  Gefühl,  Vorstellung,  Wille  mit- 
gegeben sind.  Von  ihnen  allein  gilt  der  Satz,  daß  sie 
und  die  gleichzeitigen  Bewußtseinsvorgänge  zusammen 
bestehen  und  nur  der  Erscheinung  nach  von  einander 
zu  unterscheiden,  in  Wirklichkeit  aber  nicht  zu  trennen 
sind.  Ein  so  oder  so  beschaffener,  so  oder  so  weit  aus- 
gebreiteter Erregungszustand  des  Großhirns  und  ein  so 
oder  so  bestimmter  Gedanke  gehören  derart  zusammen, 
sie  sind  so  weit  eines,    daß   der  Gedanke   nicht    fehlen 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       i6l 

oder  anders  sein  kann,  ohne  daß  zugleich  jener  Gehirn- 
prozeß fehlt  oder  anders  wird.  Dies  meint  der  psycho - 
physische  Parallelismus. 

Nicht  aber  kann  es  seine  Meinung  sein,  daß  zu  jedem 
körperlichen  Vorgang,  ja  zu  jedem  körperlichen  Elemente 
in  der  Natur  ein  geistiger  Vorgang,  ein  geistiges  Ele- 
ment (eben  das  citierte  Atombewußtsein)  gehöre.  Dieser 
Panpsychismus,  der  seltsamer  Weise  noch  Liebhaber 
unter  uns  findet,  ist  eine  reine  Spekulation,  für  welche 
die  psycho-physischen  Tatsachen  keine  Handhabe  bieten. 
Alles  Psychische  ist  physisch  fundiert,  lautet  der  Satz 
des  Parallelismus;  alles  Physische  ist  zugleich  psychisch, 
es  ist  Gegenstand  seiner  eigenen  Anschauung,  oder 
erscheint  sich  selbst,  behauptet  der  Panpsychismus  — 
und  diese  Umkehrung  des  psychophysischen  Satzes 
müßte  bewiesen  werden.  An  unserem  eigenen  Körper 
erfahren  wir  nichts,  was  damit  übereinstimmte;  die 
menschlichen  Körper  wenigstens  müßten  daher  von 
der  Allbeseeltheit  der  körperlichen  Natur  eine  Aus- 
nahme bilden.  Oder,  man  wird  doch  nicht  im  Ernst 
zu  jedem  Stoffwechselprozesse  in  unserem  Leibe  ein 
Bewußtsein  des  Prozesses  von  sich  selbst,  von  dem 
wir  nichts  wissen,  hinzudenken  wollen.  Wer  sich  zur 
panpsychistischen  Lehre  bekennt,  muß  mehr  behaupten, 
als  er  wissen  kann;  er  muß  behaupten,  daß  das  Bewußt- 
sein nicht  entstanden  sein  kann,  auch  nicht  aus  dem, 
was  der  Erscheinung  der  materiellen  Dinge  zum  Grunde 
liegt  und  wovon  er  genau  so  wenig  weiß,  wie  sein 
Gegner.  Warum  sollte  das  Bewußtsein  nicht  entstanden 
sein  können?  entsteht  es  nicht  wirklich?  Ja  eigent- 
lich ist  es  in  jedem  Augenblicke  neu  entstehend,  es  ist 
ein  Prozeß,  eine  Aktivität,  kein  Sein.  Alles,  was  auf 
unsere  Sinne   wirkt    und   so   zu  unserer  äußeren  Wahr- 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  H 


l62  Fünfter  Vortrag. 

nehmung  gelangt,  muß,  so  werden  wir  mit  Recht  sagen, 
auch  für  sich  sein;  daraus  aber  folgt  noch  nicht,  daß 
es  auch  von  sich  wissen  muß.  Der  Dichter  mag  die 
Dinge  ringsum  beseelen;  als  Denker  aber  sollten  wir 
aufhören,  von  einem  Lieben  und  Hassen  der  Elemente 
und  von  Atomempfindungen  zu  träumen.  Auch  von 
einem  unbewußten  „Willen  in  der  Natur"  wollen  wir 
nicht  reden;  denn  wir  kennen  nur  bewußtes  Wollen. 

Der  Panspychismus  ist  die  Wiederbelebung  eines 
spinozistischen  Gedankens,  aber  losgelöst  vom  spino- 
zistischen  Systeme.  —  Spinoza  erklärte  das  Denken, 
weil  es  in  seiner  Art  unendlich  sei,  für  eines  der  „Attri- 
bute" der  göttlichen  Substanz,  oder  der  wirkenden  Natur 
und  machte  die  Ausdehnung,  das  Prinzip  der  körper- 
lichen Dinge,  zu  einem  zweiten  Attribute.  Beide  Attribute 
drücken  dieselbe  Natur  aus  und  sie  drücken  beide  die 
ganze  Natur  aus.  Die  Ordnung  und  die  Verknüpfung 
der  Ideen  und  der  Dinge  ist  daher  eine  einzige  Ord- 
nung, ein  einziger  Zusammenhang.  Aber  Spinoza  meinte 
dabei  ein  einheitliches  und  unendliches  Denken,  er  meinte 
die  Natur  der  Dinge  selbst  als  der  Gegenstände  dieses 
Denkens.  Unter  „Ideen"  versteht  er  die  „ewigen"  Ideen, 
unter  den  Dingen  die  Wesenheiten  der  Dinge,  nicht  die 
zeitlichen  Dinge  und  die  sinnlichen  oder  Einbildungs- 
vorstellungen der  Dinge.  Und  wenn  es  nach  ihm  für 
jedes  Ding  in  der  Natur  eine  Idee  im  göttlichen  Denken 
geben  muß,  so  ist  deshalb  noch  nicht  mit  jedem  Dinge 
auch  eine  „Idee  seiner  Idee",  d.  i.  ein  Akt  des  Selbst- 
bewußtseins, verbunden.  Hierin  liegt  die  stärkste  Ab- 
weichung seiner  Anschauung  von  der  panpsychistischen. 
Metaphysische  Hypothesen,  wie  die  Spinozas,  haben  das 
Anziehende,  daß  sie  Alles  zu  erklären,  Alles  zu  er- 
gründen scheinen;  sie  haben  aber  auch  das  Mißliche,  sich 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       ißß 

selbst  nicht  erklären,  sich  selbst  nicht  begründen  zu 
können.  Von  den  beiden  Attributen  Spinozas  ist  nur 
das  Attribut  der  körperlichen  Natur  ein  in  sich  voll- 
ständiger Ausdruck  der  Natur.  Nur  der  Kausalzusammen- 
hang auf  der  physischen  Seite  ist  als  ein  lückenlos  ge- 
gebener zu  betrachten,  den  auf  der  psychischen  Seite 
müßten  wir  hypothetisch,  durch  die  Einschaltung  „un- 
bewußter Vorstellungen"  lückenlos  machen.  Ein  Bewußt- 
seinsakt ist  keineswegs  in  der  Regel,  er  ist  viel  eher 
nur  ausnahmsweise  die  Wirkung  des  bewußten  Aktes, 
der  ihm  vorausging,  wogegen  jeder  körperliche  Vor- 
gang die  bestimmte  Folge  des  ihm  vorangegangenen 
ist.  Das  Bewußtsein  ist  diskontinuierlich,  es  erfährt 
Unterbrechungen,  während  die  physischen  Prozesse 
stetig  verlaufen;  schon  dieTatsache,  daß  es  eine  „Schwelle" 
des  Bewußtseins  gibt,  ist  ein  Beweis  gegen  jede  Vor- 
stellung von  Allbeseelung. 

Der  psycho-physische  Parallelismus  enthält  immer 
noch  eine  versteckte  dualistische  Vorstellung.  Zu 
jeder  „Begleitung"  gehören  zwei  Dinge.  Die  beiden 
Vorgänge  aber,  die  sich  nach  der  psycho-physischen  An- 
schauung begleiten  sollen,  kommen  niemals  zugleich  in 
der  Erfahrung  vor,  sie  gehören  nie  der  Erfahrung  eines 
und  desselben  Subjektes  an.  Vielmehr,  so  oft  der  eine 
erscheint,  d.  i.  in  der  Erfahrung  gegeben  ist,  tritt  der 
andere  in  die  Vorstellung  zurück.  Was  ich  als  mein 
Vorstellen  und  Wollen  erlebe,  kann  ich  zwar  als  cere- 
bralen Prozeß  denken,  es  kann  mir  aber  niemals  als 
cerebraler  Prozeß  erscheinen,  und  selbst  um  es  als 
solchen  Prozeß  vorstellen  zu  können,  muß  ich  in  Ge- 
danken erst  meinen  Standpunkt  vertauschen,  von  der 
inneren  Anschauung  zur  äußeren  übergehen.  Als  Ge- 
hirnprozeß   erscheint    meine  Vorstellungs-   und  Willens- 


l^A  Fünfter  Vortrag. 

tätigkeit  —  oder  sagen  wir  lieber:  so  könnte  sie  er- 
scheinen —  immer  nur  einem  außenstehenden  Beobachter, 
der,  was  ich  mit  meinem  inneren  Sinn  als  Vorstellen 
oder  Wollen  erfasse,  mit  seinen  äußeren  Sinnen  als  be- 
stimmten Bewegungsvorgang  anschaut.  Wir  schließen 
daraus,  daß  in  Wirklichkeit  nicht  zwei  Vorgänge,  ein 
psychischer  und  ein  physiologischer,  gegeben  sind,  son- 
dern nur  zwei  verschiedene  Betrachtungsweisen  eines 
einzigen  Vorganges,  welche  Betrachtungsweisen  auch 
jederzeit  auf  zwei  verschiedene  Subjekte  verteilt  sind. 
Wir  schließen  auf  die  Identität  des  realen  Vorganges, 
der  dieser  doppelseitigen  Erscheinung  zu  Grunde  liegt. 
Die  Welt  ist  nur  einmal  da;  aber  sie  ist  dem  objek- 
tiven, auf  die  äußeren  Dinge  bezogenen  Bewußtsein  als 
Zusammenhang  quantitativer  physischer  Vorgänge  und 
Dinge  gegeben,  während  ein  Teil  derselben  Welt  einem 
bestimmten  organischen  Individuum  als  seine  bewußten 
Funktionen  und  deren  Zusammenhang  gegeben  ist.  Diese 
Auffassung  des  Verhältnisses  des  Psychischen  und  des 
Physischen  nenne  ich  den  philosophischen  Mo- 
nismus. 

So  viel  ich  sehe,  stimmt  dieser  Monismus  auch 
mit  unseren  natürlichen  und  unverschulten  Überzeugungen 
überein.  Denn  es  ist  nach  ihm  ebenso  richtig  zu  sagen: 
der  Wille  bewegt  meinen  Arm,  als  zu  sagen,  die  centrale 
Innervation  mit  ihren  Folgeerscheinungen  setzt  ihn  in  Be- 
wegung. Kein  Zweifel  ferner,  daß  Bewußtsein  und  Wille 
wirklich  die  Beziehungen  unseres  Körpers  zu  den  Kör- 
pern der  Umgebung  regeln,  daß  Willensakte  die  Kom- 
bination jener  äußeren  Körper  unseren  Zwecken  ent- 
sprechend ändern:  dies  aber  leisten  Bewußtsein  und 
Wille  nicht,  sofern  sie  als  Objekte  der  inneren  Erfahrung 
betrachtet    werden,    sondern    sofern    sie    Objekte    der 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       165 

äußeren  sind.  Wir  werden  auch  nicht  sagen  können: 
also  könnten  Wille  und  Bewußtsein  fehlen,  da  ja  die 
körperlichen  Vorgänge  ohne  sie  ihr  Werk  verrichten. 
Ein  cerebraler  Vorgang,  bei  welchem  der  Wille  in  der 
eigenen  Erfahrung  des  Subjektes  fehlte,  wäre  nicht  der 
nämliche  Vorgang,  dessen  sich  das  Subjekt  als  seines 
Willens  bewußt  ist;  er  könnte  also  auch  nicht  dasselbe 
leisten. 

Endlich  werden  wir,  wie  es  auch  allein  der  unbe- 
fangenen Beobachtung  entspricht,  das  psychische  Leben 
als  Produkt  der  organischen  Entwicklung  ansehen 
können. 

Wäre  der  Mechanismus  der  vollständige  Ausdruck 
des  Geschehens  in  der  Natur,  so  könnte  sich  auch  die 
Entwicklung  in  ihr  nur  in  rein  quantitativen  Übergängen 
vollzogen  haben.  Wir  wissen  aber,  daß  er  nur  das 
Symbol  für  die  allgemeine  Gesetzlichkeit  des  Geschehens 
ist  und  daß  durch  ihn  allein  nicht  bestimmt  wird,  was 
geschieht.  Es  steht  also  nichts  im  Wege,  wenn  Tat- 
sachen uns  dahin  führen,  anzunehmen,  daß  den  quanti- 
tativen Übergängen  qualitative  Unterschiede  entsprechen 
und  der  Stetigkeit  auf  der  einen  Seite  Unstetigkeiten  auf 
der  anderen  zugeordnet  sind.  Denn  für  Größen  allein, 
nicht  für  Qualitäten  gilt  das  Gesetz  des  stetigen  Über- 
ganges. Nach  jenen  Tatsachen  nun  brauchen  wir  nicht 
weit  zu  suchen.  Wir  haben  sie  in  den  Modalitäten  unserer 
Empfindungen  vor  uns,  in  den  Unterschieden  von  Farbe 
und  Ton,  Geschmack  und  Temperatur  u.  s.  w.  Wollen 
wir  nicht  annehmen,  daß  die  Empfindungen  in  dieser 
Ungleichartigkeit,  ja  Unvergleichbarkeit  ihrer  Beschaffen- 
heiten von  allem  Anfange  an  und  schon  a]^  Elemente 
der  unbelebten  Natur  gegeben  sind,  —  und  von  ge- 
wissen Empfindungen,    den  Tönen  z.  B.  ist   dies  durch 


l66  Fünfter  Vortrag. 

ihre  Natur  ausgeschlossen;  so  bleibt  nur  übrig,  sie  aus 
einem  allgemeinen,  noch  undifferenzierten  Sinn,  der  Sensi- 
bilität der  Haut,  unter  dem  Einfluß  der  Reize  entstanden 
zu  denken.  Dann  aber  ist  ihre  Entwicklung  allein  schon 
ein  voUgiltiger  Beweis  für  Unstetigkeiten  im  Fortschritte 
des  Geschehens  in  der  Natur.  Man  müßte  denn  die 
Entstehung  jeder  Empfindungsqualität  für  naturwidrig 
halten,  bloß  weil  die  Vorstellung  davon  wider  die  mecha- 
nistische Auffassung  der  Natur  verstößt. 

An  diese  qualitative  Wirksamkeit  in  der  Natur,  die 
mit  dem  Hervortreten  der  Beschaffenheiten  der  Em- 
pfindungen zu  Neuem  fuhrt,  denken  wir  uns  auch  die  Ent- 
stehung der  psychischen  Affektionen  und  Tätigkeiten, 
des  Fühlens,  Vorstellens,  WoUens  geknüpft.  Wie  sie 
entstanden  sind  —  aus  dem,  was  dem  äußeren  Mecha- 
nismus der  Verhältnisse  der  Dinge  zum  Grunde  liegt, 
wissen  wir  nicht;  daß  sie  entstanden  sein  müssen 
schließen  wir  mit  Sicherheit  daraus,  daß  sie  an  bestimmte 
Organe  gebunden  sind,  mit  deren  Ausbildung  ihre  eigene 
Entwicklung  zusammengeht.  Wohl  bedeutet  die  erste 
Regung  von  Bewußtsein  einen  Sprung  in  dem  Gange  der 
Entwicklung  und  ein  stetiger  Übergang  von  dem  vor- 
bewußten zum  bewußtem  Sein  findet  nicht  statt;  aber 
auch  jede  Entstehung  einer  Qualität  ist  ein  Sprung. 

Ist  das  Bewußtsein  Entwicklung,  so  ist  auch  die 
Erscheinung  der  Welt,  die  nur  für  das  Bewußtsein  mög- 
lich ist,  Entwicklung  der  Welt,  und  das  Wertverhältnis 
zwischen  den  Erscheinungen  und  den  Dingen  kehrt  sich 
durch  diese  Auffassung  um.  Das  untermenschliche  und 
gar  das  untertierische  Sein  ist  nicht  mehr,  sondern  viel 
weniger,  ajs  was  sich  davon  dem  Bewußtsein  des  Men- 
schen darstellt,  zum  Bewußtsein  des  Menschen  erhöht 
und    vollendet   wird.     Mit    der   Beschaffenheit   und   der 


Naturwissenschaftlicher  und  philosophischer  Monismus.       167 

Entwicklung  der  Organe  des  Empfindens  und  des 
Denkens  muß  auch  das  Bild  der  Welt  inhaltsreicher, 
farbiger,  tiefer  geworden  sein.  Und  selbst  den  einzelnen 
Menschen  wird  sich  dieselbe  Welt,  was  die  Fülle  und  Klar- 
heit ihrer  Auffassung  betrifft,  verschieden  zeigen.  Könnte 
ein  Mensch  plötzlich  sein  Gehirn  mit  dem  eines  andern 
vertauschen,  so  würde  er  glauben,  die  Welt  müsse  sich 
in  irgend  einem  Grade  verändert  haben;  vielleicht  er- 
schiene sie  ihm  flacher,  unzusammenhängender  als  bisher, 
vielleicht  auch  wäre  ihm  zu  Mute,  als  sei  er  mit  einem 
Male  in  einen  weiten,  lichten  Raum  eingetreten,  und  er- 
blicke die  Dinge  in  höchster  Reinheit,  Deutlichkeit  und 
Tiefe:  er  hätte  durch  das  Gehirn  eines  Genies  gesehen. 
Nur  der  bloße  Gedanke  Ich,  des  Begriff  des  Subjekt- 
seins, ist  immer  und  überall  derselbe  Gedanke,  die  näm- 
liche Form  des  Bewußtseins  überhaupt;  das  empirische 
Selbstbewußtsein  aber,  das  konkrete  Ich,  ist  so  reich  und 
mannigfaltig,  so  verschieden  an  Ausdehnung  und  Gehalt, 
wie  es  die  individuellen  Unterschiede  der  Begabung  und 
der  Erlebnisse  mit  sich  bringen. 


Es  ist  dieselbe  Wirklichkeit,  aus  der  unsere  Sinne 
stammen  und  die  Dinge,  die  auf  unsere  Sinne  wirken. 
Die  nämliche  schaffende  Macht,  die  schon  in  den  ein- 
fachsten Dingen  am  Werke  ist,  setzt  ihr  Werk  in  uns, 
durch  uns  fort.  Sie  ist  die  gemeinsame  Quelle  von 
Natur  und  Verstand.  Sie  hat  den  Dingen  ihre  begreif- 
liche Form  gegeben  und  uns  das  Vermögen,  zu  be- 
greifen. So  stiftete  sie  zwischen  den  Natur-  und  Denk- 
gesetzen jene  Harmonie,  welche  im  Einzelnen  zu  ver- 
nehmen, Ziel  und  Lohn  aller  Forschung  ist.  Aber  nur 
bis  zur  Voraussetzung  dieser  Einheit  dringt  unser  Denken. 


l68  Fünfter  Vortrag. 

Sie  selbst  in  ihrem  Wesen  bleibt  transcendent.  Das 
Geheimnis  des  Daseins  ist  durch  das  Denken  nicht  zu 
ergründen;  das  Prinzip  des  Daseins  geht  dem  Denken 
voran:  erst  Sein,  dann  Denken.  Und  statt  unsere  Un- 
wissenheit mit  Worten  zu  verdecken,  sollten  wir  viel- 
mehr eingedenk  sein  des  weisen  Ausspruches  Goethes: 
„der  Mensch  ist  nicht  geboren,  die  Probleme  der  Welt  zu 
lösen,  wohl  aber  zu  suchen,  wo  das  Problem  angeht 
und  sich  sodann  in  der  Grenze  des  Begreiflichen  zu 
halten." 


SECHSTER  VORTRAG. 


PROBLEME  DER  LEBENSANSCHAUUNG. 

Die  Erscheinungen  der  Außen-  und  Innenwelt  zu 
begreifen  ist  Sache  der  Wissenschaft,  —  die  Voraus- 
setzungen für  ihre  Begreiflichkeit  festzustellen  und  zu 
prüfen  die  Aufgabe  der  Philosophie  der  Wissenschaft. 
Beide:  Wissenschaft  und  Wissenschaftslehre  haben  die 
Gewinnung  von  Allgemeinbegriffen  zu  ihrem  Ziele;  da- 
her erfassen  sie  auch  die  Objekte  von  vornherein  nach 
deren  allgemeiner  Seite.  Nicht  das  einzelne  Ding,  der 
einmalige  Vorgang  als  solcher  ist,  wenn  wir  von  der 
Geschichte  absehen,  ihr  Gegenstand,  sondern  das  Über- 
einstimmende der  Dinge,  das  Wiederkehrende  in  den 
Vorgängen:  die  Klasse,  das  Gesetz.  Unzähliche  Wärme- 
mengen werden  in  jedem  Augenblicke  in  der  Natur  hervor- 
gebracht und  lassen  sich  in  ihr  hervorbringen;  für  jede 
aber,  wie  groß  oder  wie  klein  sie  sein  mag,  gilt  das 
Gesetz  ihrer  Gleichwertigkeit  mit  einem  bestimmten 
Betrag  von  Arbeit  und  mit  dieser  gesetzlichen  Beziehung, 
nicht  mit  der  einzelnen  Wärmeerscheinung,  hat  es  die 
Mechanik  der  Wärme  zu  tun.  Die  zahllosen  Vorgänge 
des  freien  Falles  der  Körper  geschehen  alle  nach  dem- 
selben Gesetz  der  Geschwindigkeitszunahme  mit  der 
Zeit;  die  wirklichen  Größen  der  Geschwindigkeit  da- 
gegen können  je  nach  dem  Einfluß  des  Widerstandes 
der  Luft  sehr  verschieden  sein;   schwere  Körper  sehen 


1^0  Sechster  Vortrag. 

wir  daher  schneller  fallen  als  leichte,  leichte  unter  Um- 
ständen aufsteigen  statt  fallen.  Und  so  ist  es  überhaupt 
nicht  die  ganze  und  volle,  die  konkrete  Wirklichkeit, 
welche  den  unmittelbaren  Gegenstand  der  Wissenschaft 
bildet,  sondern  die  unter  abstrahierenden  Gesichts- 
punkten aufgefaßte,  daher  selbst  abstrakte  Wirklichkeit. 
Keine  Wissenschaft  macht  eine  Ausnahme  von 
diesem  Verfahren.  Die  Psychologie  z.  B.,  oder  wie  Kant 
sie  nennt:  die  Physiologie  des  inneren  Sinnes,  deren 
Objekten,  den  Bewußtseinsvorgängen,  es  eigentümlich 
ist,  nur  je  für  ein  Individuum  erfahrbar  zu  sein,  be- 
trachtet diese  Vorgänge  nicht,  soweit  sie  individuell, 
sondern  sofern  sie  allgemein  sind.  Sie  handelt  nicht 
von  diesem  oder  jenem  bestimmten  Willensakt,  diesem 
oder  jenem  besonderen  Vorstellungsverlauf;  sie  ermittelt 
die  überall  gleichartigen  Momente  des  Wollens,  die  Ge- 
setze des  Vorstellens.  Nur  die  historischen  Wissen- 
schaften im  weiteren  und  im  engeren  Sinne  des  Wortes: 
die  Geschichte  des  Sonnensystems  und  der  Erde,  die 
Geschichte  der  Staaten  und  Kulturen  scheinen  eine 
Sonderstellung  einzunehmen.  Ihr  Interesse  ruht  auf  dem 
Singulären  und  Einmaligen,  wofür  es  eine  Wiederholung 
in  gleicher  Weise  nicht  gibt.  Aber  auch  sie  können 
für  die  wissenschaftliche  Darstellung  ihrer  Objekte  der 
allgemeinen  Begriffe  nicht  entbehren;  nur  werden  ihr 
diese  von  anderen  Wissenschaften  geliefert.  Theoretische 
Wissenschaften  sind  die  Voraussetzung  der  historischen: 
Mechanik,  Physik,  Chemie  die  Voraussetzung  der  Ge- 
schichte der  Erde  und  des  Himmels,  Psychologie  und 
Anthropologie  die  Voraussetzung  der  Geschichte  der 
Menschheit  und  ihrer  Kulturentwickelung.  Und  obgleich 
nicht  aus  der  Geschichte  allgemeine  Gesetze  abzuleiten 
sind,   so  ist  doch  die  Geschichte  allgemeinen  Gesetzen 


Probleme  der  Lebensanschauung:, 


171 


unterworfen.  Die  historische  Forschung  geht  dem  kausal- 
genetischen Zusammenhang  des  Geschehens  nach;  sie 
sucht  das,  was  geschehen  ist,  aus  der  bestimmten  Kom- 
bination seiner  Ursachen  zu  erklären  und  muß  sie  auch 
dabei  mit  dem  Zufall  rechnen,  dem  rein  faktischen  Zu- 
sammentreffen gewisser  Ereignisse,  einer  Sonnenfinsternis 
z.  B.  und  einer  Schlacht,  —  die  geschichtliche  Wirkung 
auch  des  Zufalls  ist  notwendig.  Eine  Geschichte,  die 
sich  auf  die  bloße  Wiedergabe  der  Ereignisse  beschränkte, 
wäre  nicht  Wissenschaft,  sondern  Geschichtskunde. 

Es  gibt  keine  „ideographische",  das  Einzelne  als 
solches  nur  beschreibende  Wissenschaft. 

Außer  allgemeinen  Erkenntnisbegriffen  umfaßt  unser 
Bewußtsein  noch  andere  Inhalte  von  allgemein  giltiger 
Bedeutung.  Wir  wollen  sie  nach  dem  Vorgange  Piatos, 
obschon  nicht  ganz  in  seinem  Sinne,  als  Ideen  be- 
zeichnen, um  sie  durch  diese  Bezeichnung  von  den  Be- 
griffen zu  unterscheiden.  Werte  nennen  wir  sie,  sofern 
sie  Objekte  der  Beurteilung  durch  Gefühl  und  Willen 
sind,  und  zu  Zw^ ecken  werden  sie,  sobald  sich  unser 
Schaffen  und  Handeln  auf  sie  richtet. 

Der  Verstand  erschöpft  nicht  das  Wesen  des  Geistes 
und  die  Bestimmung  des  Menschen  geht  nicht  im  Er- 
kennen auf  Nicht  alles  ist,  nicht  alles  bedeutet  die  Er- 
kenntnis. Das  Wirkliche,  auf  uns  Wirkende  wird  nicht 
bloß  mit  dem  Verstände  erfaßt,  es  wird  auch  mit  dem 
Gemüte  erlebt,  durch  das  Gefühl  geschätzt,  von  dem 
Willen  erstrebt.  Solchergestalt  entspringen  Ideen  oder 
Werte,  und  wie  sie  nicht  aus  dem  reinen  Verstände 
hervorgehen,  so  sind  sie  auch  nicht  Gegenstände  nur 
des  Wissens.  Es  ist  uns  gar  nicht  möglich,  etwas  unter 
dem  Gesichtspunkte  eines  Wertes  zu  bringen,  etwas  in 
Beziehung  auf  einen  Wert  zu  denken,  ohne  es  dadurch 


1^2  Sechster  Vortrag. 

auch  schon  bewertet  zu  haben;  das  Urteil:  ein  Gegen- 
stand sei  ein  Wert,  er  habe  Wert  ist  niemals  und  kann 
niemals  ein  rein  theoretisches  Urteil  sein.  Was  wir  als 
schön,  ich  meine:  als  künstlerisch  wertvoll  erklären,  muß 
unser  Gefühl  an  sich  gezogen  haben,  —  eben  das  Er- 
lebnis, hingezogen  zu  sein,  ist  die  Voraussetzung,  der 
Kern  des  ästhetischen  Urteils.  Ein  solches  Urteil  reizt, 
es  treibt  zum  Schaffen,  mindestens  zum  Nachschaffen, 
und  kein  Genießen  eines  Kunstwerkes  kann  rein  receptiv 
sein,  ein  bloßes  Empfangen  ästhetischer  Eindrücke;  es 
ist  immer  eigene,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erregte 
künstlerische  Tätigkeit.  Den  Künstler  verstehen  heißt 
sein  Werk  im  Geiste  reproduzieren  —  und  auch  Re- 
produktion ist  Produktion,  für  welche  das  Werk  des 
Künstlers  nur  die  Motive  gibt.  Und  in  gleicher  Weise 
ist  das  Urteil:  etwas  sei  unserem  Willen  gemäß  selbst 
schon  ein  beginnendes  Wollen,  ein  Anfang  inneren 
Handelns:  daß  wir  nach  dem  Willensobjekte  hinstreben, 
oder  doch  wünschen,  es  zu  erreichen,  macht  das  Geltungs- 
bewußtsein dieses  Urteils  aus.  Gefühls-  und  Willens- 
urteile haben  nicht  bloß  praktische  Folgen,  sie  sind  an 
sich  selbst  praktisch,  nämlich  Weisen  der  Selbstbe- 
tätigung. 

Aus  Werten  erwächst,  auf  Werten  beruht  unser 
geistiges  Leben,  wie  wir  im  Unterschiede  nicht  nur 
vom  physischen,  sondern  selbst  vom  psychischen  sagen. 
Alle  Werte  sind  geistige  Werte.  Die  materielle  Wohl- 
fahrt ist  nicht  ein  Wert,  sie  hat  nicht  Wert,  sofern  sie 
materiell  ist,  sondern  sofern  sie  Wohlfahrt  ist  und  nur 
aus  Mißverständnis  redet  man  von  ökonomischem  Mate- 
rialismus. Jene  geschichtsphilosophische  Theorie ,  die 
nichts  als  Wirtschaft  kennt  und  Entwicklung  und  Fort- 
schritt in  der  Geschichte  von  der  Entwicklung  der  Wirt- 


Probleme  der  Lebensanschauung.  173 

Schaftsformen  abhängig  denkt,  ist  im  Grunde  ökono- 
mischer Idealismus,  —  ein  kurzsichtiger  und  beschränkter 
Idealismus  zwar,  der  die  geistigen  Mächte,  die  das  wirt- 
schaftliche Leben  selbst  beherrschen,  nicht  sehen  kann; 
doch  aber  Idealismus.  —  Werte  schaffen  Kultur;  aus 
Werten  ist  das  Reich  des  Menschen  mit  allen  seinen 
Institutionen  aufgebaut  auf  dem  Boden  der  Natur.  Sie 
sind  die  Prinzipien,  die  innere  gestaltende  Form  dessen, 
was  wir  als  Lebensanschauung  bezeichnen  und  von  der 
wissenschaftlichen  Weltbetrachtung  unterscheiden.  Die 
Probleme  der  Lebensanschauung  sind  Wert- 
probleme. 

Kein  Wertbegriff,  keine  Zweckvorstellung  darf  in 
das  Werk  der  wissenschaftlichen  Forschung  eingemengt 
werden,  deren  Maxime  vielmehr  die  Gleichwertigkeit 
der  Erscheinungen  ist.  Der  Zweck,  ohne  Frage  das 
Prinzip  des  Wollens  und  Handelns  selbstbewußter  Wesen, 
ist  kein  Prinzip  der  Erklärung  irgend  einer  Natur- 
erscheinung. Er  ist  ein  „Fremdling"  in  der  Natur- 
wissenschaft und  höchstens  uneigentlich  darf  er  in  ihr 
verwendet  werden:  als  Formel,  als  abgekürzter  Aus- 
druck für  die  Form  des  Zusammenwirkens  physischer 
Prozesse,  welche  das  Leben  bedingt.  Es  gibt  eine 
Wissenschaft  von  den  Formen  in  der  Natur,  es  kann 
aber  keine  Wissenschaft  von  Zwecken  in  der  Natur 
geben;  die  Teleologie  gehört  nicht  zur  Erkenntnis  der 
Natur,  sondern  zu  ihrer  Beurteilung,  —  und  selbst  in 
der  Geschichte  müssen  Forschung  und  Beurteilung  ge- 
trennt bleiben.  Wohl  aber  ordnet  sich  die  Wissenschaft 
als  Ganzes  dem  Gesichtspunkt  des  Wertes  unter.  Die 
Wissenschaft  ist  selbst  einer  der  Werte,  aus  denen 
Kultur  erwächst,  von  denen  Kultur  sich  nährt.  Man 
hat  den  Wert  der  Wissenschaft  darin  gefunden,  daß  sie 


174  Sechster  Vortrag. 

es  uns  ermögliche,  Erfahrungen  zu  ersparen.  Dies  ist 
ihr  ökonomischer  Wert,  nicht  der  einzige,  den  sie  be- 
sitzt, und  auch  nicht  ihr  höchster.  In  der  Erkenntnis 
befriedigt  sich  zugleich  der  Einheitstrieb  des  Denkens. 
Daher  bedeutet  uns  ein  Naturgesetz  immer  noch  mehr 
als  eine  Ableitungsformel  für  beliebig  viele  Erfahrungen, 
welche  wirklich  anzustellen  wir  uns  dank  des  Gesetzes 
erlassen  können.  Es  bedeutet  uns  einen  weiteren  Schritt 
zur  geistigen  Durchdringung  und  Aneignung  der  Tat- 
sachen. Das  Reelle  scheint  uns  wieder  um  einen  Grad 
rationeller  geworden  zu  sein;  vielmehr:  ,,die  Vernunft 
in  den  Dingen",  die  Gesetzlichkeit  der  Natur  hat 
sich  an  einem  weiteren  Punkte  unserem  Geiste  entdeckt. 
Die  Welt  der  Wissenschaft  ist  eine  ideale  Welt.  Ge- 
setze und  Tatsachen,  obschon  in  der  Wirklichkeit  ver 
bunden,  bleiben  dem  Begriffe  nach  verschieden  und  auch 
die  vollständige  Kenntnis  der  Tatsachen  würde  die  Er- 
kenntnis der  Gesetze  nicht  entwerten  können.  Der 
logische  Wert  der  Erkenntnis  erklärt  allein  die  Hingabe 
des  großen  Forschers  und  Denkers  an  sein  Werk  und 
warum  für  ihn  die  Wissenschaft  zum  beherrschenden 
Lebenszwecke  wird. 

Die  Kunst  schafft  Werte.  Durch  die  Schönheit  der 
Darstellung  (was  nicht  dasselbe  bedeutet  wie  Darstellung 
von  etwas  „Schönem")  erhöht  sie  den  Formenwert  der 
Erscheinungen.  Die  Kunst  ist  produktive  Tätigkeit, 
kein  Spiel;  auch  nicht  ein  Spielen  mit  sich  selbst  im 
Genuß  „bewußter  Selbsttäuschung".  Eine  Nebenwirkung 
des  künstlerischen  Schaffens  darf  nicht  zur  Hauptsache  ge- 
macht werden.  „Nicht  um  die  Täuschung  handelt  es  sich, 
daß  man  das  Bild  für  ein  Stück  Wirklichkeit  hält,  sondern 
um  die  Stärke  des  Anregungsgehaltes,  welcher  im  Bilde 
vereinigt  ist.    Durch  diese  Konzentration  und  Zusammen- 


Probleme  der  Lebensanschauung.  175 

fassung  im  Bilde  vermag  die  Kunst  die  zerstreuten  An- 
regungen der  Natur  zu  übertreffen."  Und  so  wie  Hilde- 
brand denkt,  dem  diese  Worte  angehören,  dachte  auch 
Goethe,  „Die  Kunst  übernimmt  nicht  mit  der  Natur 
in  ihrer  Breite  und  Tiefe  zu  wetteifern,  sie  hält  sich  an 
die  Oberfläche  der  natürlichen  Erscheinungen;  aber  sie 
hat  ihre  eigene  Tiefe,  ihre  eigene  Gewalt,  sie  fixiert  die 
höchsten  Momente  dieser  oberflächlichen  Erscheinungen, 
indem  sie  das  Gesetzliche  darin  anerkennt,  die  Voll- 
kommenheit der  zweckmäßigen  Proportion,  den  Gipfel 
der  Schönheit,  die  Würde  der  Bedeutung,  die  Höhe  der 
Leidenschaft,"  Wie  die  Erkenntnis  des  Gesetzes  mehr 
bedeutet  als  die  Kenntnis  des  isolierten  Faktums,  so 
bedeutet  die  künstlerisch  erfaßte  und  zur  Höhe  des 
Geistes  herangehobene  Erscheinung  mehr  als  die  natür- 
liche. Die  Kunst  ist  ein  Komplement  des  Lebens,  — 
„ohne  Kunst  kann  man  nicht  leben". 

Vor  allem  aber  ist  es  die  Ethik,  diese  eigenste 
Domäne  der  Philosophie  als  Lebensanschauung,  welche 
Werte  schafft.  Wir  müssen  Ethik  und  Moralwissenschaft 
unterscheiden.  Es  ist  der  gleiche  Unterschied  wie  der 
zwischen  Kunst  und  Kunstwissenschaft,  und  der  schöpfe- 
rische ethische  Philosoph  verhält  sich  zu  dem  wissen- 
schaftlichen Moralphilosophen  wie  der  Künstler  zu  dem 
Theoretiker  der  Kunst.  Auch  Ethik  und  Moral  be- 
deuten nicht  dasselbe.  Die  Ethik  gibt  der  Moral  die 
Ziele,  die  Moral  ist  ein  Weg  zu  diesen  Zielen.  Und 
vielleicht  ist  der  Weg  einer  bestimmten  Moral  ein  Irr- 
weg, oder  die  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  bringt 
eine  Erhöhung  der  Ziele  mit  sich  —  und  die  alte  Moral 
hört  auf,  ethisch  zu  sein.  Sie  wird  zu  einem  Hemmnis 
des  ethischen  Fortschrittes,  zu  einer  Schranke,  die  über- 
wunden  werden    muß.     Die    Geschichte  kennt  die  Bei- 


176  Sechster  Vortrag-. 

spiele  eines  solchen  Konfliktes  zwischen  Ethik  und 
Moral,  zwischen  den  Mächten  der  Lebenserneuerung 
und  der  Überlieferung;  das  größte  unter  diesen  Beispielen 
einer  „Umwertung  der  Werte"  ist  das  Christentum  selbst. 
Alles  Schaffen  ist  immer  zugleich  ein  Wegschaffen  und 
wer  neue  Tafeln  aufrichtet,  muß  die  alten  Tafeln  zer- 
brechen, können  wir  in  einem  Gleichnis  Nietzsches  sagen. 
Die  „Guten"  aber  heißen  den  Brecher  alter  Werte  — 
Verbrecher.  Nie  ist  es  in  der  Geschichte  anders  her- 
gegangen, als  daß  der,  welcher  neue  Ideale  schuf  und 
neue  Normen  geben  wollte,  die  Moral  des  Herkommens 
überschritt,  also  verletzte.  Es  ist  die  Tragik  im  Leben 
der  großen  Führer  und  Helden  des  Geistes,  daß  sie  mit 
den  geheiligten  Überzeugungen,  Glaube  und  Moral,  ihrer 
Zeit  in  innerlichen  Zwiespalt  geraten  müssen.  —  „Neues 
will  der  Edle  schaffen  und  eine  neue  Tugend,  —  Altes 
will  der  Gute,  und  daß  Altes  erhalten  bliebe." 

Werte  schaffen  heißt  nicht  Werte  erfinden,  oder 
beliebig  ersinnen.  Werte  werden  nicht  anders  geschaffen, 
als  wissenschaftliche  Erkenntnisse  geschaffen  werden; 
man  erfindet  sie  nicht,  sie  werden  entdeckt.  Wie  die 
Gestirne,  jene  fernen  Sonnen,  nacheinander  aufleuchten 
aus  dem  Dunkel  der  Nacht,  so  treten  die  Werte  nach 
und  nach  in  den  Gesichtskreis  des  Menschen,  und  wer 
sie  zuerst  sah,  zuerst  sie  erlebte  und  vorlebte,  der  ist 
ihr  Schöpfer,  Er  weist  die  Menschen  auf  eine  höhere 
Bahn,  er  offenbart  ihnen  eine  höhere  Form  des  Lebens 
und  gießt  neuen  Geist  in  die  alten  Wertbegriffe.  Denn 
um  wirken  zu  können,  muß  auch  er  das  Produktive  an 
das  Historische  anknüpfen. 

Ohne  Werte  wäre  unsere  Lebensfahrt  ohne  Kompaß 
und  auch  die  Sterne  fehlten,  um  darnach  zu  steuern. 
Es  ist  dem  Menschen  notwendig,  daß  all  seinem  Handeln 


Probleme  der  Lebensanschauung.  177 

und  Streben  ein  Bild  seines  Handelns,  ein  Ideal  seines 
Strebens  vorangeht;  nur  indem  er  emporblickt  und 
vorausschaut,  vermag  der  Mensch  im  geistigen  Sinne 
des  Wortes  aufrecht  zu  gehen  und  fortzuschreiten.  Er 
muß  Lebensanschauungen  gestalten,  um  sein  Leben 
menschlich,  geistig  führen  zu  können.  Lebensanschau- 
ungen aber  sind  immer  selbst  schon  in  gewissem  Grade 
Lebensführungen;  man  kann,  um  es  wiederholt  zu  sagen, 
Werte  nicht  als  solche  erkennen,  ohne  sie,  innerlich 
wenigstens,  zu  erleben. 

Die  Philosophen  der  Lebensanschauung  sind  daher 
zugleich  die  Philosophen  der  Geistesführung  und  Erzieher 
der  Menschheit. 

Die  Geschichte  lehrt,  daß  dieser  im  höheren  Sinne 
praktische  Beruf  ursprünglich  und  im  Altertume  auch 
vorwiegend  der  Beruf  des  Philosophen  war.  Thaies, 
den  Begründer  der  Naturphilosophie,  zählt  die  Legende 
zugleich  zu  den  „Sieben  Weisen",  Männern  der  ethischen 
Reflexion  und  politischen  Tätigkeit,  und  die  Geschichte 
weiß  von  ihm  zu  berichten,  daß  er  seinen  Landsleuten, 
den  Joniern  die  Bildung  eines  Föderativstaates  empfahl. 
Sein  Wahlspruch  soll  die  Maxime  der  Selbsterkenntnis 
gewesen  sein.  Parmenides,  der  Lehrer  des  intelligiblen 
Seins,  gab  seiner  Vaterstadt  Elea  Gesetze.  Und  es  ist 
bekannt,  daß  der  pythagoreische  Bund  nicht  in  erster 
Reihe  der  Pflege  der  Mathematik  und  Naturphilosophie 
gewidmet  war,  vielmehr  eine  ethisch-politische  Lebensge- 
meinschaft bildete,  auf  der  Grundlage  der  orphischen  Theo- 
logie. Pythagoras  selbst,  der  Stifter,  lebt  im  Gedächtnis 
der  Geschichte  vor  allem  als  Prophet  und  Reformator. 

Der  Weise  des  Altertums  aber,  an  den  jeder  zuerst 
denkt,  wo  immer  von  Lebensphilosophie  die  Rede  geht, 
ist  Sokrates.     Was    Geistesführung    bedeute    und    wie 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  12 


178  Sechster  Vortrag. 

ihre  Macht  über  die  Gemüter  der  Menschen  sich  un- 
vermindert durch  die  Jahrhunderte  erhält,  wird  an  der 
schlichten  Größe  dieses  Mannes  unmittelbar  anschaulich. 

Sokrates  ist  der  pädagogische  Genius  in  der  Philo- 
sophie; eine  unbegrenzte  ethische  Wirkung  geht  von 
ihm  aus.  Etwas  völlig  Neues  tritt  mit  ihm  in  die 
geistige  Geschichte  und  diese  hatte  seines  Gleichen  von 
Eigenart  und  ganz  persönlicher  Gestalt  nicht  mehr. 
Was  er  lehrte,  läßt  sich  nur  verstehen,  wenn  wir  be- 
trachten, was  er  lebte;  sein  Leben,  namentlich  aber  der 
höchste  Akt  seines  Lebens,  sein  Sterben  ist  der  Schlüssel 
zu  seiner  Lehre.  Im  übrigen  ist  diese  unsicher  über- 
liefert; Xenophon  bleibt  hinter  dem  Vorbilde,  das  er 
nachzeichnen  wollte,  zurück,  Plato  geht  über  dasselbe 
hinaus,  wenn  auch  im  tiefsten  Sinne  der  sokratischen 
Gedanken.  Darüber  aber,  was  und  wie  Sokrates  lebte, 
sind  wir  so  genau  unterrichtet,  daß  wir  mit  ihm  wie 
einem  Lebenden  zu  verkehren  glauben;  noch  heute 
stehen  wir  daher  unter  dem  Einfluß,  unter  dem  Zauber 
dieses  einzigen  Mannes. 

Seinen  Beruf  faßte  Sokrates  als  göttliche  Mission 
auf,  bestärkt  darin  durch  das  Orakel  von  Delphi,  das 
ihn  für  den  weisesten  der  Menschen  erklärt  hatte. 
Fortan  verbrachte  er  sein  Leben  ganz  öffentlich.  Tag 
für  Tag  konnte  man  ihn  auf  dem  Markte  treffen,  wenn 
dieser  am  belebtesten  war,  in  den  Gymnasien,  wenn 
sich  die  Jugend  dort  übte,  in  den  Werkstätten  der 
Künstler  und  Handwerker.  Mit  jedem,  der  ihn  hören 
wollte  und  an  jeden  Anlaß  wußte  er  eine  Unterredung  an- 
zuknüpfen und  diese  unvermerkt  von  den  gewöhnlichsten 
Dingen  aus  zu  den  höchsten  Fragen  des  Lebens  zu 
leiten.  Wer  sich  mit  ihm  einließ,  mußte  Rede  stehen 
über   sich   und    die  Art   des  Lebens,   das  er  führe,  und 


Probleme  der  Lebensanschauung.  170 

kam  nicht  eher  wieder  los,  als  bis  dies  alles  gut  und 
gründlich  untersucht  war.  Nicht  als  Lehrer  trat  er  auf» 
mit  dem  Ansprüche,  fertiges  Wissen  zu  besitzen;  er  ist 
der  Fragende,  der  Forschende,  der  auf  dem  Wege  ge- 
meinsamen Suchens  und  Prüfens  mit  anderen  das  Wissen 
finden  und  erzeugen  will.  Sein  Verfahren  dabei  ist  ihm 
ganz  eigentümlich,  höchst  populär,  dazu  in  Scherz  und 
Schelmerei  gekleidet.  Er  gibt  sich  die  Miene  des 
Lernenden,  als  erwarte  er  Aufklärung  und  Belehrung 
von  seinen  Mitunterrednern;  in  Wahrheit  deckt  er  durch 
seine  Kreuz-  und  Querfragen,  die  kein  ungeprüftes  Wort 
durchlassen,  deren  eigene  Unwissenheit  auf  und  schließ- 
lich stehen  die  vermeintlich  Wissenden  selbst  als  die 
Nichtwissenden  da.  Dies  ist  seine  viel  genannte  Ironie, 
nicht  eine  bloße  Gesprächsform,  die  er  beliebig  gewählt 
hatte,  sondern  in  seinem  ganzen  Wesen  gegründet  und 
Ausfluß  seines  hellen,  überlegenen  Geistes.  Ironisch  ist 
es  gemeint,  wenn  er  dem  Wissenskram  der  Sophisten 
sein  Nichtwissen  gegenüberstellt.  Wo  er  aber  auf  eine 
junge,  empfängliche  Seele  traf,  verhalf  er  mit  der  ihm 
eigenen  pädagogischen  Liebe  und  Kunst  ihren  Gedanken 
ans  Licht  und  zur  Klarheit  über  sich  selber.  Diese 
überführenden  Gespräche,  deren  Dialektik  kein  hohles 
Wissen  stand  hielt  und  die  keine  Berühmtheit  des  Tages 
verschonten,  mußten  viele  Empfindlichkeiten  verletzen 
und  wir  wundern  uns  nicht,  daß  Sokrates  alsbald  wie 
zu  den  populärsten,  so  auch  zu  den  am  meisten  ge- 
haßten Persönlichkeiten  des  damaligen  Athen,  des  Athen 
des  peleponesischen  Krieges,  gehörte.  Den  Aristo- 
kraten war  er  als  Neuerer  verdächtig,  die  Demokraten 
haßten  ihn  als  den  Kritiker  ihres  Staatswesens  und  weil 
zu  denen,  die  mit  ihm  verkehrten,  ein  großer  Teil  der 
Oligarchen,  darunter  Kritias,  gehört  hatte.    Die  Sophisten 


l8o  Sechster  Vortraf. 

waren  seine  Gegner,  die  Athener  aber  hielten  ihn  selbst 
für  den  größten  aller  Sophisten.  Den  Komödiendichtern 
diente  er  schon  um  seines  auffallenden  Äußeren  willen 
zur  Zielscheibe  ihres  Spottes.  Dieser  durch  Jahre  hin- 
durch angesammelte  Haß  hat  sich  nachmals  in  dem 
Prozesse  gegen  ihn  entladen. 

Die  Gespräche  des  Sokrates  bewegen  sich  ohne 
Ausnahme  um  ethische  Fragen;  von  diesen  allein  hielt 
er  ein  Wissen  möglich,  von  diesen  allein  das  Wissen 
notwendig.  Und  so  prüfte  er  unablässig:  was  Frömmig- 
keit und  Gottlosigkeit,  Schönheit  und  Häßlichkeit,  ge- 
recht und  ungerecht  in  Wahrheit  bedeuten,  worin  Be- 
sonnenheit und  Tapferkeit  bestehen,  was  ein  Staat,  ein 
Staatsmann  sei,  und  wer  der  zur  Herrschaft  Berufene. 
Welche  Begriffe  stehen  hinter  diesen  so  gewichtigen 
Worten?  Wir  sind  gewohnt,  sie  wie  konventionelle 
Zeichen  zu  gebrauchen,  ohne  uns  von  ihrer  Bedeutung 
Rechenschaft  zu  geben.  Eben  diese  Gewöhnung  an  ihre 
Autorität,  den  ungeprüften  Glauben  an  die  moralischen 
Werturteile  bekämpft  Sokrates;  er  sieht  darin  den  Feind 
alles  selbsttätigen  Wissens,  selbstbewußten  Wollens  ge- 
rade in  den  wesentlichsten  Fragen  des  Lebens.  Wir 
glauben  zu  wissen,  was  mit  jenen  moralischen  Werten 
und  Worten  gemeint  sei,  wüßten  wir  es  wirklich,  so 
müßten  wir  auch  einen  Begriff  davon  geben,  d.  i.  er. 
klären  können,  was  es  ist.  „Was  gut  und  böse  ist,  das 
weiß  noch  niemand,"  hätte  auch  Sokrates  sagen  können; 
denn  er  zuerst  hat  die  Moral  ernstlich  und  nicht  in  der 
Weise  der  Sophisten  zum  Probleme  gemacht.  Daß  es 
feste  Normen,  allgemeingiltige  Begriffe  für  die  sittlichen 
Urteile  gibt,  ist  seine  unerschütterliche  Überzeugung  und 
sein  Suchen  nach  ihnen  von  der  Gewißheit  beseelt,  daß 
sie    zu    finden  sein   müssen.     Sie   zu   finden   wendet  er 


Probleme  der  Lebensanschauung.  i8l 

sich  an  das  tiefste  Bewußtsein  des  Menschen;  er  er- 
forscht sich  selbst  und  andere  und  ein  Leben  ohne  Selbst- 
erforschung scheint  ihm  gar  nicht  zu  verdienen,  gelebt 
zu  werden. 

Die  Würde  des  Menschen  liegt  darin,  daß  er  nicht 
einer  Neigung  zu  folgen  braucht,  daß  die  Einsicht  ihn 
bestimmen  kann,  bestimmen  soll,  daß  er  die  Gesetze 
für  sein  Wollen  und  Handeln  sich  selbst  geben  kann 
und  soll.  Einsicht  ist  Macht  über  sich,  durch  sich  und 
solche  Macht  ist  Tugend.  Kein  Satz  des  Sokrates  ist 
so  gut  überliefert,  keiner  auch  durch  das  ganze  Leben 
des  Sokrates  so  sicher  zu  bestätigen  und  anschaulich 
zu  machen,  wie  der  Satz:  daß  Erkenntnis  und  Tugend 
eines  und  dasselbe  sind,  daß  Erkennen-  und  Sittlich-sein 
zusammenfallen.  Die  Erkenntnis  ist  nicht  ein  Weg  zur 
Tugend,  sie  ist  die  Tugend  selbst;  mit  der  Erkenntnis 
hat  der  Mensch  die  Tugend;  wer  das  Gute  erkennt, 
muß  auch  das  Gute  vollbringen.  Ist  dies  nicht  paradox? 
so  paradox,  daß  alle  Welt  von  dem  Gegenteil  überzeugt 
ist,  alle  Welt  mit  Aristoteles  den  Satz  des  Sokrates  als 
der  Erfahrung  widersprechend  erklärt.  Man  hält  also 
diesen  Satz  für  widerlegt.  Allein  das  Leben  des  Sokrates 
ist  ein  Beweis,  daß  es  möglich  ist,  auch  aus  Erkenntnis 
allein  das  Gute  zu  tun  und  nicht  aus  Instinkt,  auch  nicht 
aus  Pflicht;  ein  Beweis  für  die  mögliche  Einheit  von 
Erkenntnis  und  Tugend.  Das  Leben  des  Sokrates  ist 
die  Widerlegung  der  Widerleger  seines  Satzes.  Man 
kann  so  leben,  weil  Sokrates  so  lebte.  Verstehen  wir 
recht:  nicht  um  das  Moralische  im  gewöhnlichen  Sinne 
des  Wortes,  —  um  das  Ethische,  das  das  Moralische  in 
jenem  Sinne  bereits  voraussetzt,  handelt  es  sich  bei  der 
sokratischen  Unterweisung  und  Lebensführung.  Daß  die 
Triebe  geregelt,   die  Begierden  und  Leidenschaften  ge- 


l82  Sechster  Vortrag^. 

zügelt,  die  Lüste  gedämpft  sind,  oder  wie  der  Grieche 
diese  Gewalt  über  sich  mit  einem  einzigen  Worte  aus- 
drücken kann:  die  Enkratie  ist  die  Voraussetzung  von 
der  Sokrates  ausgeht,  von  der  aus  er  weiter  geht.  Das 
Moralische  in  diesem  Sinne  versteht  sich  für  ihn  von 
selbst.  Dann  aber  bleiben  nur  Wissen  und  Einsicht 
übrig,  das  Handeln  zu  leiten  und  nichts  kann  mehr 
Wille  und  Erkenntnis  scheiden,  oder  das  Wollen  von 
dem  als  richtig  erkannten  Ziele  ablenken. 

Nie  haben  sich  Leben  und  Lehre  eines  Philosophen 
vollständiger  gedeckt  als  bei  Sokrates.  Einen  „musi- 
kalischen" Mann  nennt  ihn  Plato  um  dieser  Harmonie 
willen:  er  habe  den  schönsten  Einklang  gestimmt,  sein 
eigenes  Leben  klinge  zusammen,  mit  den  Reden  die 
Taten,  echt  dorisch,  nach  der  wahren  hellenischen  Ton- 
art. Und  wie  Sokrates  von  der  Erkenntnis  dachte  im 
Gegensatze  zur  Menge,  wie  souverän  ihm  die  Macht  der 
Erkenntnis  erschien,  können  wir  gleichfalls  aus  Piatos 
Worten  —  oder  sind  es  Sokrates'  eigene  Worte?  — 
vernehmen.  „Die  Meisten  denken  von  der  Erkenntnis 
ungefähr  so,  daß  sie  nichts  Starkes,  Leitendes,  Be- 
herrschendes sei  und  achten  sie  gar  nicht  als  solches; 
sondern  meinen,  daß  gar  oft,  wenn  auch  Erkenntnis  im 
Menschen  ist,  sie  ihn  doch  nicht  beherrsche,  vielmehr 
irgend  sonst  etwas ,  bald  der  Zorn ,  bald  die  Unlust, 
manchmal  die  Liebe,  oft  auch  die  Furcht."  „Uns  aber 
erscheint  sie  als  etwas  Schönes,  das  wohl  den  Menschen 
regiert,  und  wenn  einer  Gutes  und  Böses  erkannt  hat, 
so  wird  er  von  nichts  mehr  gezwungen  werden,  etwas 
anderes  zu  tun,  als  was  seine  Erkenntnis  ihm  befiehlt 
sondern  die  richtige  Einsicht  ist  stark  genug,  den 
Menschen  zu  führen." 


Probleme  der  Lebensanschauung.  183 

Das  Wissen,  das  Sokrates  lehrte  und  übte,  ist  kein 
bloßes  Wissen;  es  ist  wesentlich  inneres  Handeln,  also 
schon  seinem  Ursprung  nach  praktisch;  denn  es  beruht 
auf  Einkehr  in  sich,  auf  Selbsterkenntnis,  Selbstüber- 
windung. Man  kann  dieses  Wissen  nicht  haben,  es  kann 
in  uns  nicht  wirklich  lebendig  sein,  ohne  daß  es  auch 
das  Wollen  nach  sich  zieht.  Vielmehr:  es  ist  zugleich 
Wollen,  die  Einheit  von  Vernunft  und  Wille.  Sokrates 
hat  die  praktische  Vernunft  entdeckt.  Er  hat  den 
Willen  entdeckt.  Die  tiefe  Unterscheidung  im  plato- 
nischen Gorgias  zwischen  dem,  was  einem  gefällt  und 
dem,  was  einer  wirklich  will,  geht  gewiß  auf  ihn  zurück. 
„In  Jedem  von  uns,"  heißt  es  in  demselben  Sinne  im 
Phaedrus,  „gibt  es  zwei  herrschende  und  führende  Triebe: 
die  eingebome  Begierde  nach  dem  Angenehmen  und 
die  erworbene  Gesinnung,  welche  nach  dem  Besseren 
strebt."  Und  daß  dies  in  der  Tat  die  Anschauung  des 
Sokrates  war,  erfahren  wir  aus  Xenophon,  der  gleich- 
falls und  wohl  in  den  Worten  des  Sokrates  selbst  von 
der  Gesinnung  redet,  die  uns  durch  Vernunft  zum  Besten 
führt.  Vernunft  ist  Wille  und  umgekehrt:  alles  wahrhafte 
Wollen  vernünftig.  So  aufgefaßt  verliert  der  Satz  von 
der  Identität  der  Erkenntnis  und  der  vollendeten  Tätig- 
keit alles  Paradoxe.  Und  auch  den  Philosophen  selber 
verstehen  wir  jetzt.  Denn  für  ihn,  der  von  sich  sagen 
konnte:  er  gehorche  immer  dem  Satze,  der  sich  ihm 
bei  der  Untersuchung  als  der  beste  zeigte,  war  diese 
Identität  kein  bloßer  Lehrsatz,  sondern  die  persönlichste 
Erfahrung.  Über  die  Vernunft  hinaus  gibt  es  keine 
Macht;  es  gibt  keine  Macht,  welche  die  Vernunft  be- 
herrschen könnte.  „Die  Gewalthaber  des  Staates,"  äußert 
Sokrates  zu  Krito,  „können  mir  weder  Gutes  noch  Übles 
zufügen;  denn  weder  vernünftig  können  sie  machen  noch 


184  Sechster  Vortrag. 

unvernünftig;  sie  tun  nur,  was  sich  eben  trifft."  Das 
heißt:  ein  wahres  Übel  vermögen  sie  nicht  zu  bewirken, 
denn  sie  können  den  Geist  nicht  treffen,  dieser  ist  un- 
verletzbar, unüberwindlich,  frei  in  sich  selber  beruhend 
und  gebietend.  Die  ganze  Folgezeit  hat  zu  diesen 
sokratischen  Gedanken  von  der  Autonomie  der  prak- 
tischen Vernunft  oder  des  Willens  nichts  wesentliches 
hinzugebracht;  sie  konnte  sie  nur  wieder  auffinden. 

Erkenntnis  ist  Herrschaft.  „Darüber,  wovon  wir 
uns  richtige  Einsichten  erworben  haben,  wird  jedermann 
uns  schalten  lassen;  niemand  kann  uns  daran  hindern, 
sondern  wir  werden  hierin  ganz  frei  sein  und  auch  ge- 
bietend über  andere."  In  der  Kunst  des  Wollespinnens 
herrschen  sogar  die  Frauen  über  die  Männer,  denn  sie 
verstehen  jene  Kunst,  die  Männer  aber  nicht.  Und  so 
ist  es,  oder  sollte  es  doch  sein  in  allen  Angelegenheiten 
und  Beschäftigungen  des  Lebens.  Überall  herrschen  die 
Wissenden,  die  Erkennenden;  ohne  Erkenntnis  keine 
Herrschaft,  kein  Recht  zur  Herrschaft.  Es  ist  leicht  zu 
sehen,  wie  einschneidend  dieser  Satz  die  demokratischen 
Einrichtungen  Athens,  mit  ihrer  Beamtenwahl  durch  das 
Los,  treffen  mußte. 

Die  Wirkung  der  Kritik,  welche  Sokrates  an  der 
ganzen  Anschauungsweise  seiner  Zeit  und  der  ihn  um- 
gebenden Welt  ausübte,  war  eine  ganz  außerordentliche 
und  sie  wurde  noch  gesteigert  durch  die  Wirkung  der 
Persönlichkeit  des  Philosophen.  Schon  das  unschöne 
Äussere,  die  ganze  satyrhafte  Erscheinung,  die  an  Bilder 
des  Marsyas  erinnern  konnte,  machte  auf  ihn  aufmerk- 
sam; man  empfand  den  Gegensatz  zu  der  apollinischen, 
weisheitsvollen  Seele.  Der  Eindruck  der  Gespräche  des 
Sokrates  mußte  je  nach  dem  Charakter  und  der  Em- 
pfänglichkeit der  Unterredner  und  Zuhörer  ein  sehr  ver- 


Probleme  der  Lebensanschauung.  igc 

schiedener  sein;  man  hielt  wohl  ihre  Absicht  zunächst 
für  eine  skeptische,  Sokrates  verwirrt  alle.  Sokrates 
bringt  alle  zum  Zweifeln.  Er  macht  erstarren  wie  die 
Berührung  eines  Zitterrochens.  Wer  aber  im  Umgange 
mit  ihm  beharrte,  wurde  im  Innersten  ergriffen  und  um- 
gewandelt. Es  mochte  ihm  ergehen  wie  es  den  am 
leichtesten  empfänglichen  unter  den  Gefährten  des 
Sokrates,  wie  es  Alkibiades  geschah,  bei  dem  sich 
freilich  in  den  reiferen  Jahren  die  Spuren  der  sokra- 
tischen  Erziehung  wieder  verwischen  sollten.  „Bei  dieses 
Mannes  Rede  pocht  mir  das  Herz,  Tränen  werden  mir 
ausgepresst;  ich  glaubte  es  lohne  sich  nicht  mehr  zu 
leben,  wenn  ich  so  bliebe  wie  ich  wäre.  Vor  diesem 
allein  schäme  ich  mich."  Und  im  Grunde  das  Gleiche, 
nur  höhnisch  im  Tone  besagen  die  Worte,  die  Plato 
den  Kallikles  an  Sokrates  richten  läßt:  „wenn  das  wahr 
ist,  was  du  sagst,  so  wäre  wohl  das  menschliche  Leben 
unter  uns  ganz  verkehrt  und  wir  täten  in  allen  Dingen 
das  gerade  Gegenteil  von  dem,  was  wir  sollten".  Man 
muß  sich,  um  das  Bild  des  Sokrates  zu  vervollständigen 
die  hohe  Männlichkeit  seines  Charakters  vergegen- 
wärtigen: wie  er  in  drei  Feldzügen  sich  durch  seine 
Tapferkeit  hervortut,  bei  Potidaea  dem  Alkibiades  das 
Leben  rettet  und  den  Kampfpreis  abtritt,  auf  der  Flucht 
bei  Delium  als  der  Letzte  das  Schlachtfeld  verläßt,  ganz 
ruhig  nach  dem  Feinde  sich  umsehend,  so  daß  keiner 
ihm  nahe  zu  kommen  wagt.  Wir  müssen  uns  ihn  vor- 
stellen, wie  er  als  Prytane  bei  dem  Prozeß  gegen  die 
Feldherren,  die  die  Seeschlacht  bei  den  Arginusen  ge- 
wonnen hatten,  der  tobenden  Menge  gegenüber  Einspruch 
erhebt  gegen  ein  gesetzwidriges  Verfahren;  oder  statt 
einen  ungerechten  Auftrag  der  Dreißig  auszuführen,  mit 
Gefahr  seines  Lebens  ruhig  nach  Hause  geht. 


l86  Sechster  Vortrag. 

Zu  weltgeschichtlicher  Größe  aber  erhebt  sich 
Sokrates  durch  sein  Verhalten  bei  seinem  Prozesse.  Es 
ist  die  Besiegelung,  der  Triumph  seiner  Lehre  und  ein 
Ausgang  aus  dem  Leben  wie  der  des  größten  Helden. 
Nie  kann  die  Wirkung  davon  erlöschen. 

Keine  Frage:  Sokrates  ist  Revolutionär,  nicht  der 
Tat  nach,  aber  doch  durch  seine  Lehre,  wenn  sich  auch 
seine  Ankläger  arg  vergriffen,  als  sie  ihn  der  nämlichen 
Tendenzen  wegen  vor  das  Gericht  forderten,  die  er  zeit- 
lebens auf  das  stärkste  bekämpft  hatte.  Aber  seine 
Kritik  richtete  sich  doch  grundsätzlich  gegen  das  Staats- 
wesen, dem  er  durch  Geburt  angehörte.  Seine  Forde- 
rung der  Herrschaft  der  Erkennenden,  sein  Staat  aus 
Vernunft  setzte  ihn  in  Widerspruch  zu  der  demokratischen 
Verfassung  Athens,  und  wenn  er  auch  die  Gesetze  seiner 
Vaterstadt  treulich  befolgte,  ihre  Institutionen  hat  er 
doch  unablässig  bestritten.  Vergebens  versuchten  seine 
Freunde,  den  Athenern  zu  beweisen,  er  sei  der  frömmste, 
gerechteste  und  gesetzlichste  der  Menschen  gewesen. 

Sokrates  ist  freiwillig  in  den  Tod  gegangen.  Sein 
Schicksal  war  in  seine  Hand  gegeben;  es  hing  von  der 
Art  seiner  Verteidigung  ab  und  eigentlich  hat  er  das 
Todesurteil  gegen  sich  herausgefordert  durch  seinen 
Gegenantrag  auf  Speisung  im  Prytaneion,  wie  er,  als  ein 
unvermögender  Wohltäter  der  Stadt,  sie  verdient  habe. 
Es  war  ihm  deutlich  geworden,  daß  der  rechte  Augen- 
blick zu  sterben  für  ihn  gekommen  sei.  Sein  Leben 
—  er  war  an  siebzig  Jahre  —  neigte  sich  dem  Ende 
zu  und  konnte  ihm  nur  eine  Abnahme  seiner  Geistes- 
kräfte bringen;  damit  aber  wäre  ihm  die  Möglichkeit 
genommen  gewesen,  wie  bisher  sich  und  andere  zu  er- 
forschen und  seinem  apostolischen  Berufe  gerecht  zu 
werden.     Nun  bieten  ihm  die  Athener  ohne  sein  Zutun 


Probleme  der  Lebensanschauung.  187 

die  Gelegenheit,  noch  einmal  und  eindringlicher  als  je 
zuvor  ihnen  eine  Lehre  zu  geben,  der  nachkommenden 
Welt  ein  Beispiel.  Und  so  beschließt  er,  in  seinem  Be- 
rufe zu  sterben,  auf  dem  Platze,  wo  Gott  ihn  hingestellt 
hatte.  Dies  ist  jene  große,  sittliche  Tat,  welche  in  ihrer 
Schlichtheit  und  erhabenen  Einfachheit  zu  begreifen  sich 
die  folgenden  Geschlechter  bemüht  haben.  Er  ver- 
teidigt sich  nicht  um  seiner  selbst  willen,  er  verteidigt 
sich  um  der  Athener  willen;  sie  sollen  nicht  an  sich 
selbst  sündigen  durch  seine  Verurteilung.  Und  was  er 
zu  den  Athenern  redet,  war  zugleich  vor  der  Nachwelt 
gesprochen.  Erst  wendet  er  sich  zu  den  Anklägern;  in 
seiner  gewohnten  Weise  und  als  handle  es  sich  um  eine 
Sache,  die  ihn  persönlich  nicht  berühre,  verstrickt  er 
sie  in  ein  Kreuzverhör,  bis  er  sie  ihres  „Nichtwissens" 
in  Bezug  auf  die  Punkte  ihrer  Anschuldigung  überführt 
und  das  Gewebe  der  Anklage  aufgelöst  hat.  Hierauf 
redet  er  zu  den  Richtern  die* Worte,  die  nie  verhallen 
werden:  „wolltet  ihr  mich  lossprechen  auf  die  Bedingung 
hin,  daß  ich  diese  Nachforschung  nicht  mehr  betriebe, 
so  würde  ich  euch  sagen:  ich  bin  euch  Athenern  zwar 
zugetan  und  Freund,  gehorchen  aber  werde  ich  dem 
Gott  mehr  als  euch.  Nicht  gut  spricht  der,  welcher 
glaubt,  Gefahr  um  Leben  oder  Tod  müsse  in  Anschlag 
bringen,  wer  auch  nur  ein  weniges  taugt,  und  nicht 
vielmehr  allein  darauf  sehen,  wenn  er  etwas  tut,  ob  es 
recht  getan  ist  oder  nicht.  Den  Tod  fürchten,  das  ist 
nichts  anderes,  als  sich  dünken,  man  wäre  weise  und 
es  doch  nicht  sein.  Denn  niemand  weiß^  was  der  Tod 
ist,  nicht  einmal  ob  er  nicht  für  den  Menschen  das 
größte  ist  unter  allen  Gütern.  Gesetzwidrig  handeln 
aber  und  dem  Besseren  ungehorsam  sein,  davon  weiß 
ich,    daß   es  übel  und  schändlich  sei."  —  „Doch  es  ist 


l88  Sechster  Vortrag. 

Zeit,  daß  wir  gehen,"  schließt  er  nach  der  Verurteilung 
die  Rede,  „ich  um  zu  sterben,  und  ihr  um  zu  leben. 
Wer  aber  von  uns  beiden  zu  dem  besseren  Geschäft 
hingehe,  das  ist  allen  verborgen  außer  nur  Gott." 

So  geht  Sokrates  in  den  Tod  in  voller  Glorie,  die 
Strahlen  dieses  Scheidens  aber,  wie  Plato  sie  gesammelt, 
leuchten  noch  immer  auf  unser  Leben. 

Man  kann  die  Lehre  des  Sokrates  nicht  verstehen, 
ohne  auf  diese  ihre  höchste  Bestätigung,  sein  Sterben 
zu  blicken.  Von  außen  gesehen  ist  sie  unscheinbar, 
nüchtern,  beinahe  pedantisch  —  und  birgt  im  Innern 
das  Bild  eines  Gottes.  Anscheinend  handelt  es  sich 
bei  ihr  nur  darum,  für  jeden  einzelnen  Fall  das  Richtige 
herauszufinden,  das  eben  jetzt  getan  werden  soll.  Und 
da  dies  ungemein  schwierig  ist,  sofern  unter  den  vielen 
möglichen  Handlungen  in  jedem  gegebenen  Fall  nur 
eine  einzige  die  richtige,  oder  beste  sein  kann,  so  ist, 
um  diese  herauszufinden,  Selbstprüfung,  Nachdenken  er- 
fordert, so  gehört  ein  Prozeß  des  Erkennens  dazu. 
Dann,  wenn  wir  weiter  gehen,  handelt  es  sich  etwa  noch 
darum,  die  einzelnen,  als  richtig  erkannten  Handlungen 
auf  Begriffe  zurückzuführen  und  diese  zu  leitenden  Regeln 
für  unser  Tun  zu  machen.  Dies  alles  aber  wäre  erst 
Verstandesmoral,  Nützlichkeitsmoral.  Ich  widerspreche 
der  Meinung,  daß  dies  die  Moral  sei,  die  Sokrates  lehrte, 
indem  ich  mich  auf  seinen  Tod  berufe.  Was  gut  ist, 
steht  an  sich  fest,  mag  es  auch  noch  so  schwierig  sein, 
es  zu  erkennen.  Es  wird  nicht  erst  durch  seine  Folgen 
zum  Guten  gemacht.  Nicht  also,  weil  es  nützlich  ist, 
ist  es  gut;  weil  es  das  Gute  ist,  muß  es  auch  nützlich 
sein,  sollte  es  dem  Anschein  nach  noch  so  schädlich 
sein,  sollte  es  selbst  über  unser  eigenes  Leben  hinweg- 
sehen,  hinweggehen.     Und  wenn    es  den  Tod  befiehlt. 


Probleme  der  Lebensanschauung^.  I8q 

—  gut  bleibt  gut.  Genau  dies  ist  die  Anschauung  des 
Sokrates,  der  der  Überzeugung  lebte,  „daß  es  für  den 
guten  Mann  kein  Übel  gibt  weder  im  Leben  noch  im 
Tode".  Erst  stellt  Sokrates  fest,  was  gut  ist,  dann  be- 
weist er,  daß  dieses  Gute  auch  nützlich  ist,  und  zwar 
nützlich  für  den  Handelnden  selbst,  mag  der  Anschein 
noch  so  laut  dagegen  sprechen.  Es  ist  die  gerade  Um- 
kehrung der  Nützlichkeitsmoral,  Das  hehrste  Beispiel 
wie  er  über  das  Verhältnis  von  gut  und  nützlich  dachte 
und  was  bei  ihm  Grund,  was  Folge  ist,  gibt  Sokrates 
im  Gefängnis.  Als  Krito  ihn  zur  Flucht  bewegen  will, 
zeigt  er  diesem  zunächst  das  Gesetzwidrige  einer  solchen 
Handlung:  der  Einzelne  schulde  den  Gesetzen  des 
Staates  Gehorsam,  ein  Staat  könne  nicht  bestehen,  in 
welchem  die  abgetanen  Rechtssachen  keine  Kraft  haben ; 

—  und  damit  ist  für  ihn  die  Hauptsache  entschieden. 
Dann  erst  macht  er  geltend,  gleichsam  durch  einen 
Beweis  a  posteriori,  daß  die  Flucht  ihm  selbst  keinen 
Gewinn,  seinen  Freunden  und  Angehörigen  dagegen 
Schaden  bringen  würde:  diese  würden  ihr  Vermögen 
einbüßen,  ihn  aber  würde  man  überall,  wohin  er  auch 
flüchten  möge,  scheel  ansehen,  auch  sei  es  lächerlich, 
wollte  er  als  alter  Mann  mit  solcher  Gier  am  Leben 
hangen,  —  er  macht  geltend,  daß  auch  diesmal  wie 
immer,  daß  das  zuvor  als  gut  erkannte  sich  hinterher 
auch  als  nützlich  bewähre. 

Jetzt  verstehen  wir  auch,  in  wie  weit  Plato  die 
Lehre  des  Sokrates  fortgebildet  hat,  und  sehen  zugleich, 
wo  er  von  ihr  abweicht,  wo  er  glaubte,  über  Sokrates 
hinausgehen  zu  müssen.  Feste  ethische  Begriffe  sind 
auch  für  ihn  die  Voraussetzung  des  sittlichen  Handelns 
und  ihre  lebendige  Erfassung  fällt  wie  bei  Sokrates  mit 
der  vollendeten  Tätigkeit,  die  Erkenntnis  mit  der  Tugend, 


igO  Sechster  Vortrag. 

zusammen.  Gewiß,  Plato  ist  der  echte  Erbe  des  Sokrates; 
von  allen,  die  mit  diesem  verkehrten  und  sich  seine 
Jünger  nannten,  hat  er  allein  den  Geist  des  Lehrers  er- 
gründet und  in  das  Innere  seiner  Philosophie  Einblick 
getan.  Aber  die  Entdeckung  der  ethischen  Begriffe 
hatte  für  ihn  etwas  durch  die  Neuheit  und  Vorzüglich- 
keit der  Sache  Überwältigendes.  Darum  erweiterte  er 
unter  dem  Namen  der  Ideen  den  Geltungsbereich  der 
Wertbegriffe;  alle  Begriffe  sind  eigentlich  bei  ihm  Wert- 
begriffe, alle  —  Normen  oder  Musterbegriffe.  Damit 
aber  wird  auch  das  Sein  und  Geschehen  in  der  Natur 
unter  den  Gesichtspunkt  des  Sollens  gerückt  und  sogleich 
erscheinen  die  sinnlichen  Dinge,  die  Objekte  der  Er- 
fahrung, als  unvollkommene  Dinge,  da  es  im  Wesen  der 
Werte  liegt,  daß  immer  nur  eine  Annäherung  nach  ihnen 
hin  stattfinden  kann.  Gibt  es  für  alle  Gattungen  der 
Dinge,  wie  Plato  annimmt,  Ideen  oder  Vorbilder,  so 
kann  jedes  wirkliche  Ding  nur  ein  Nachbild,  ein  Schatten 
seiner  Idee  sein.  Für's  zweite  schreibt  Plato  den  Ideen 
ein  Sein  außer  dem  Geiste  zu.  Er  machte  aus  Ideen 
Substanzen  und  verpflanzte  diese  in  eine  übersinnliche 
Welt.  Ohne  Zweifel  ist  dies  ein  unsokratischer  Gedanke 
Piatos  und  auf  das  engste  verbunden  mit  seinem  unter 
orphisch- pythagoreischen  Einflüssen  entstandenen,  oder 
doch  durch  diese  befestigten  Unsterblichkeitsglauben. 
Damit  kam  in  sein  System  ein  ungriechischer  Zug  hinein, 
ein  Zug  der  Feindseligkeit  gegen  die  Sinnenwelt. 
Sokrates  —  wir  wissen  dies  von  Plato  selbst  —  hat 
über  die  Unsterblichkeit  immer  skeptisch  gedacht;  der 
Glaube  daran  erschien  ihm  für  die  sittlichen  Zwecke 
des  Menschen  unwesentlich.  Gäbe  es  ein  Leben  nach 
dem  Tode,  nun  so  werde  er  eben  fortfahren,  auch  „dort" 
sich   und    andere   zu   erforschen   und    dort,    meinte    er, 


Probleme  der  Lebensanschauung.  IQI 

werden  sie  einen  um  deswillen  wohl  nicht  hinrichten. 
So  äußerte  sich  auch  dieser  Frage  gegenüber  seine  er- 
habene Ironie,  seine  Weisheit  des  Nichtwissens.  Wie 
vieles  ist,  was  wir  nicht  zu  wissen  brauchen.  —  Ideen 
sind  Aufgaben,  Willensaufgaben  und  allein  als  Ziele  des 
Schaffens  und  Handelns  müssen  sie  verstanden  werden. 
Sie  gelten,  aber  sie  sind  nicht;  nicht  irgend  ein  Sein 
oder  Geschehen  in  der  äußeren  Natur,  einzig  nur  das 
Streben  in  uns,  das  zu  einem  Wollen  werden  soll,  fällt 
in  ihren  Bereich. 

Ganz  im  Geiste  des  Sokrates  dagegen  denkt  Plato 
von  der  Bestimmung  der  Philosophie,  ihrem  Beruf  zu 
ethisch-politischer  Reform.  Die  Philosophie  ist  die  Kunst 
der  Könige:  der  Führer  der  Menschen,  und  vollendete 
Sittlichkeit  nur  in  einem  vollkommenen  Staate  möglich. 
Von  Hause  aus  —  und  es  ist  dies  wörtlich  zu  nehmen: 
von  seiner  Abstammung  und  den  Traditionen  seiner 
Familie  her  —  hatte  Plato  den  stärksten  Trieb  zu  poli- 
tischer Tätigkeit,  und  nur  weil  er  den  Staat  nicht 
regieren,  nicht  einrichten  konnte,  schrieb  er  über  den 
Staat.  Alles  bei  ihm  ist  wie  bei  Sokrates  auf  persön- 
liche Einwirkung  angelegt.  Seine  Schriften,  die  wir  zu 
dem  Höchsten  zählen,  was  die  Weltliteratur  besitzt, 
betrachtete  er  selbst  für  eine  Art  von  Notbehelf, 
höchstens  als  Mittel  der  Erinnerung  an  wirklich  ge- 
haltene Gespräche  mochten  sie  gelten.  Wir  müssen 
ihm  dies  glauben,  denn  die  ungemeine  künstlerische 
Sorgfalt,  die  er  auf  sie  verwendete,  ließe  viel  eher  das 
Gegenteil  vermuten.  Nur  aus  unmittelbarem  geistigen 
Verkehre,  aus  gemeinschaftlicher  Unterredung  gehe  die 
Erfassung  der  Idee  hervor.  Sie  komme  plötzlich  wie 
ein  Licht,  das  aus  einem  Funken  entsteht,  um  sich  dann 
von    sich   selber   zu    nähren.     Als    bloßes    Objekt    des 


IQ2  Sechster  Vortrag. 

Wissens  sei  sie  weder  auszusprechen,  noch  zu  überliefern; 
ist  sie  doch  wesentlich  ein  Erleben  des  Geistes,  die  Er- 
hebung und  Richtung  des  Gemütes  zu  seinen  Zielen 
hin.  Und  so  ist  es  auch  in  der  Tat:  Ideen  sind  Willens- 
begrifife,  nicht  Sachbegriffe. 

Dem  Wege  folgend,  den  Sokrates  gewiesen,  hat 
Plato  die  Welt  des  Seinsollenden  entdeckt.  Ein  Glanz 
unvergänglicher  Jugend  liegt  auf  seinem  Werke,  das  dem 
wesentlichen  Gehalte  nach  so  wenig  veralten  kann  wie 
ein  Werk  der  hohen  Kunst.  So  wie  Raffael  ihn  im 
Bilde  zeigte  auf  der  „Schule  von  Athen",  mit  der  nach 
oben  weisenden  Gebärde  lebt  Plato  im  Gedächtnis  der 
Menschheit. 


Wer  in  der  Geschichte  der  Philosophie  Zusammen- 
hang und  Folgerichtigkeit  vermißt,  weil  er  nur  auf  den 
Wandel  der  metaphysischen  Systeme  blickt,  der  den 
Wandel  der  wissenschaftlichen  Anschauungen  teils  wieder- 
spiegelt, teils  auch  ankündigt,  wird  durch  die  Fortwirkung 
des  Piatonismus  eines  Besseren  belehrt,  insbesondere, 
wenn  er  bemerkt,  wie  nahe  sich  die  Gedankenkreise 
Piatos  und  Kants  berühren.  Laas  hat  ganz  richtig  ge- 
sehen, wenn  er  allen  Idealismus  in  der  praktischen  Be- 
deutung des  Wortes  auf  Plato  zurückführt,  von  Plato 
ausgehen  läßt,  —  aber  unrichtig  daraus  gefolgert,  daß 
eben  deshalb  der  Idealismus  antiquiert  und  durch  den 
„Positivismus"  der  Wissenschaft  zu  ersetzen  sei.  Wir 
schließen  heute  anders.  In  der  wissenschaftlichen  For- 
schung ist  der  Positivismus,  der  Weg  der  Erfahrung, 
an  seinem  Platze;  wo  aber  die  Lebensweisheit,  welche 
nicht  Wissenschaft  ist,  sondern  Kunst,  dem  Willen  neue 
Ziele  entdeckt,  hat  alle  bisherige  Erfahrung  keine  ent- 


Probleme  der  Lebensanschauung.  1^2 

scheidende  Stimme.  Diese  Kunst  zeigt  Möglichkeiten, 
die  erst  zu  schaffen,  erst  zu  verwirklichen  sind.  Zwar 
geht  sie  aus  der  Natur  des  Menschen  hervor  und  auch 
die  Ziele,  die  sie  zeigt,  liegen  innerhalb  der  Grenzen  der 
Menschheit;  ihr  Glaube  aber  ist,  daß  diese  Grenzen  noch 
nicht  durchmessen,  jene  Möglichkeiten  nicht  erschöpft 
sind,  daß  die  menschliche  Natur  mit  einem  Worte  plastisch 
ist  und  darum  gestaltet  sie  an  dem  Bilde  des  Menschen 
weiter.  Auch  haben  wir  uns  überzeugt,  daß  reine  Wissen- 
schaft nicht  ausreichen  kann,  unser  Leben  zu  erfüllen. 
Das  Wissen  vermehren,  ohne  den  Willen  zu  bilden,  den 
Charakter  zu  erhöhen,  kann  sogar  nachteilig,  kann 
kulturwidrig  werden.  Wir  sind  heute  wieder  geneigt, 
auf  die  Stimme  der  führenden  Geister  aus  der  Ver- 
gangenheit zu  hören,  denn  wir  haben  die  Empfindung 
an  einem  Wendepunkte  der  Zeit  zu  stehen  und  sehen 
nach  dem  Wege  aus,  der  zur  Erneuerung  des  geistigen 
Lebens  führt. 

Ideen  sind  nicht  Erkenntnisbegriffe,  sie  fallen  nicht 
in  das  Gebiet  der  theoretischen,  sie  gehören  zum  Bereich 
der  praktischen  Vernunft.  Dort,  wo  die  Erforschung 
von  Objekten,  die  in  der  Erfahrung  gegeben  sind,  unser 
Zweck  ist,  kann  ihre  Bedeutung  nur  eine  „regulative" 
sein,  sofern  sie  die  Bedingungen  oder  Regeln  angeben, 
unter  denen  Einheit  oder  systematische  Vollständigkeit 
des  Wissens  zu  erzielen  ist.  Für  die  praktische  Vernunft 
dagegen  sind  sie  „konstitutiv";  sie  selbst  konstituieren 
die  praktische  Vernunft,  sie  selbst  sind  die  Vernunft, 
die  zugleich  Wille  ist.  . —  Mit  diesem  Gedanken  hat 
Kant  den  Piatonismus  wiederbelebt  und  zugleich  auf 
das  Gebiet  beschränkt,  worüber  ihm  in  der  Tat  die 
Herrschaft  zusteht.  Doch  ist  sein  Verfahren  dabei  nicht 
völlig  konsequent.     Für  die  Glaubensobjekte  machte  er 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart,  12 


194 


Sechster  Vortra?. 


die  Ideen  doch  wieder  zu  Erkenntnisbegriffen,  und  da 
eine  Erkenntnis  aus  Ideen,  falls  eine  solche  möglich  ist, 
immer  nur  eine  geforderte  sein  könnte,  erklärte  er  die 
Glaubenssätze,  die  er  durch  sie  begründen  will,  nur  für 
Forderungen,  für  „Postulate"  der  praktischen  Vernunft. 
Ideen  sind  niemals  Realitäten,  wie  Plato  glaubte,  noch 
können  durch  sie  Realitäten  begründet  werden,  wie  Kant 
meinte.  Ihre  Bestimmung  ist  das  Schaffen  von  Reali- 
täten, die  noch  nicht  sind.  Auch  die  Freiheit,  die  Grund- 
lage der  Ethik  Kants,  ist  in  diesem  Sinne  eine  Idee; 
und  statt  mit  Kant  zu  sagen:  ein  Wesen  das  unter  der 
Idee  der  Freiheit  handelt,  ist  frei,  müssen  wir  vielmehr 
sagen :  es  wird  frei,  es  macht  sich  frei,  und  zwar  genau 
so  weit,  als  es  wirklich  nach  der  Idee  handelt.  Der 
Wille  geht  nicht  von  der  Freiheit,  als  einem  ursprüng- 
lichen Besitze,  aus,  er  führt  zur  Freiheit  hin,  er  befindet 
sich  zu  ihr,  mathematisch  geredet,  in  assymptotischer 
Annäherung.  Ideen  sind  Aufgaben,  die  ins  Unendliche 
weisen  und  eben  dadurch  machen  sie  das  Leben  des 
Geistes  aus. 

Wenn  von  der  Ethik  Kants  die  Rede  ist,  so  denkt 
man  gewiß  zuerst  an  den  „kategorischen  Imperativ", 
und  da  man  mit  diesem  beinahe  zu  einem  geflügelten 
Worte  gewordenen  Ausdruck  nicht  immer  einen  be- 
stimmten, aus  dem  Zusammenhang  der  Kantischen  Lehre 
geschöpften  Begriff  verbindet,  so  hält  man  sich  an  den 
Wortlaut  und  stellt  sich  darunter  etwas  Befehlshabe- 
risches vor,  das  sich  auf  Gründe  nicht  einläßt,  sondern 
schweigenden  Gehorsam  erheischt,  so  ungefähr  wie  das 
Kommando  eines  Unteroffiziers.  Das  Kategorische  aber 
soll  auch  als  Merkmal  des  Sittengesetzes  nichts  weiteres 
bedeuten,  als  es  in  der  Logik  als  Name  eines  Urteils 
bedeutet:   nämlich  den  Gegensatz  zum  Hypothetischen, 


Probleme  der  Lebensanschauung.  195 

etwas,  das  nicht  hypothetisch  ist,  nicht  unter  einer  Be- 
dingung steht,  sondern  schlechtweg  gilt,  einen  Satz  also 
ohne  ein  Wenn.  Der  kategorische  Imperativ  ist  übrigens 
nicht  das  Prinzip  der  Kantischen  Ethik,  er  ist  die 
Formel  der  Kantischen  Moral  und  trägt  wie  diese  selbst 
das  Gepräge  der  Aufklärungszeit  an  sich,  aus  der  er 
stammt.  Er  soll  das  Erkennungszeichen  für  unsere 
Pflichten  sein,  wir  sollen  nach  ihm  die  Probe  machen 
können,  ob  eine  Maxime  unseres  Handelns  sittlich  sei, 
dies  aber  bedeutet  in  der  Kantischen  Moral  ob  sie  all- 
gemeingiltig  sei,  ganz  so,  als  handelte  es  sich  um  einen 
rein  theoretischen  Satz.  Nun  werden  wir  zweifeln  können 
ob  es  überall  möglich,  und  noch  mehr,  ob  es  notwendig 
sei,  jede  Handlung  erst  auf  eine  Maxime  zurückzuführen, 
diese  sodann  auf  ihre  AUgemeingiltigkeit  hin  (ihre  Taug- 
lichkeit zu  einem  allgemeinen  Gesetze)  zu  prüfen,  um 
daraus  den  moralischen  Wert  der  Handlung  zu  erkennen. 
Für  die  Auffindung  des  „richtigen  Rechtes",  der  Rechts- 
pflichten, mag  die  Formel  Kants  ihre  guten  Dienste 
leisten;  ihre  Anwendbarkeit  darüber  hinaus  ist  zum 
mindesten  fraglich  und  eine  Notwendigkeit,  sie  allgemein 
anzuwenden,  läßt  sich  nicht  begründen.  Das  Handeln 
aus  Pflicht  —  und  nur  dieses  ist  unter  den  Gesichts- 
punkt eines  Imperativs  zu  bringen  —  ist  nicht  die  ein- 
zige, es  ist  auch  nicht  die  höchste  Form  des  sittlichen 
Handelns.  Eine  andere  Form  ist  das  Schön-  und  Gut- 
Handeln,  die  „Kalokagathie"  der  Athener.  So  handelte 
Sokrates.  Aber,  welche  Bedenken  immer  sich  gegen 
die  Formel  der  Moral  Kants  erheben  lassen  mögen 
unberührt  davon  bleibt  das  Prinzip  seiner  Ethik.  Es  ist 
aus  dem  Wesen  des  menschlichen  Bewußtseins,  ja  des 
vernünftigen  Bewußtseins  überhaupt  geschöpft.  „Die 
Autonomie  des  Willens  ist   das  alleinige  Prinzip  aller 

13* 


Iq6  Sechster  Vortrag. 

moralischen  Gesetze",  lautet  der  Satz  Kants.  Unter 
Willensautonomie  ist  negativ  die  Unabhängigkeit  des 
Wollens  von  dem  Objekte  des  Begehrens  zu  verstehen, 
seine  Unabhängigkeit  von  den  Objekten  überhaupt,  auf  die 
es  sich  bezieht.  Denn  jede  Beziehung  auf  Gegenstände, 
die  von  den  Gegenständen  abhängig  ist,  kann  nicht  reiner 
Wille  sein,  sie  muß  auf  Neigung  beruhen,  oder  sonst  einem 
sinnlichen  Antrieb  —  und  obwohl  dies  keinen  Tadel 
einzuschließen  braucht,  so  bedeutet  es  doch  jedenfalls 
einen  nicht  moralischen  Bestimmungsgrund.  „Neigungen 
wechseln,  wachsen  mit  der  Begünstigung,  die  man  ihnen 
widerfahren  läßt,  und  lassen  immer  ein  noch  größeres 
Leeres  übrig,  als  man  auszufüllen  gedacht  hat.  Neigung 
ist  blind  und  knechtisch,  sie  mag  nun  gutartig  sein  oder 
nicht,  und  die  Vernunft  muß,  wo  es  auf  Sittlichkeit  an- 
kommt, nicht  bloß  den  Vormund  derselben  vorstellen, 
sondern,  ohne  auf  sie  Rücksicht  zu  nehmen,  ihr  eigenes 
Interesse  ganz  allein  besorgen."  Solche  Worte  hätte 
auch  Sokrates  sprechen  können.  Autonomie  des  Willens 
bedeutet  positiv  —  und  dies  ist  ihr  lebensvoller  Begriff 
—  Selbstgesetzgebung.  Darauf  allein  beruht  die 
Würde  oder  der  innere  Wert  eines  vernünftigen  Wesens, 
daß  es  keinem  Gesetze  gehorcht,  als  dem,  das  es  zu- 
gleich selbst  gibt.  Autonomie  des  Willens,  das  ist  nichts 
anderes  als  ethische  Freiheit;  auf  Geistesherrschaft,  auf 
geistige  Freiheit  hat  Kant  die  Ethik  gegründet. 

Ethische  Freiheit  heißt  nicht  bloß  Macht  haben, 
Macht  vor  allem  über  sich  selbst.  Gewiß,  auch  dies 
gehört  zu  ihrem  Begriffe,  ist  aber  nicht  dessen  einziger, 
auch  nicht  dessen  wertvollster  Inhalt.  Autonomie  ist 
nicht  gleichbedeutend  mit  „Willen  zur  Macht",  den  unser 
modernster  Ethiker  zum  Prinzip e  der  Umschaffung  des 
Menschen    machen    wollte.      Autonomie    oder    ethische 


Probleme  der  Lebensanschauung.  igjr 

Freiheit  ist,  ich  erläutere  dies  aus  Kants  eigenen  Worten: 
Persönlichkeit,  Wille  zur  Persönlichkeit.  „Was  den 
Menschen  über  sich  selbst,  als  einen  Teil  der  Sinnenwelt 
erhebt,  ist  nichts  anderes  als  die  Persönlichkeit, 
d.  i.  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  von  dem  ganzen 
Mechanismus  der  Natur." 

Das  Sittengesetz  ist  das  Naturgesetz  des  vernünftigen 
Wesens  als  solchen;  nach  dem  Typus,  dem  Muster  der 
Naturgesetzlichkeit  haben  wir  die  Selbstgesetzgebung 
der  Vernunft  oder  des  Willens  aufzufassen.  Wie  zum 
Begriff,  hier  dürfen  wir  vielleicht  sogar  sagen:  wie  zur 
Idee  des  Naturgesetzes  die  Ausnahmslosigkeit  gehört, 
so  soll  auch  der  Wille  seiner  Form  nach  ein  im  Sinne 
dieser  Idee  naturgesetzlicher  sein,  und  zwar  unser  eigener 
Wille,  der  aus  uns  selbst  hervorgehende,  aus  unserer 
Vernunft  stammende,  mit  der  Betätigung  unserer  Ver- 
nunft identische  Wille.  Bei  allen  unseren  sittlichen  Ent- 
scheidungen haben  wir  uns  zu  fragen,  ob  wir  eine  Natur, 
zu  der  diese  Entscheidungen  gehören,  durch  uns  selbst 
hervorbringen  wollten.  Ethisch  ist  nur  d  i  e  Entscheidung, 
die  mit  unserem  ganzen  Willen  übereinstimmt;  sie  ist 
zugleich  die  Entscheidung,  die  jedes  vernünftige  Wesen 
in  gleicher  Weise  treffen  würde,  das  unter  den  nämlichen 
Umständen  zu  handeln  hätte.  Wenn  also  Kant  bei  der 
Begründung  der  Ethik  von  allem  nur  Anthropologischen 
absieht,  wenn  er  in  der  lesenswertesten  seiner  ethischen 
Schriften,  in  der  „Grundlegung  der  Metaphysik  der  Sitten"» 
geradezu  fordert,  den  Grund  der  Verbindlichkeit  für  die 
Sittengesetze  „nicht  in  der  Natur  des  Menschen  oder  den 
Umständen  in  der  Welt,  darin  er  gesetzt  ist"  zu  suchen, 
so  verstehen  wir  ihn  recht,  wenn  wir  ihn  so  verstehen: 
nicht  der  Mensch  sofern  er  Mensch,  sondern  sofern  er 
ein  Vemunftwesen  ist,  ist  das  Subjekt  und  zugleich  die 


<L. 


Iq8  Sechster  Vortrag. 

Quelle  des  ethischen  Handelns.  Hier  erst  sehen  wir  die 
Höhe  zu  der  sich  die  Kantische  Betrachtung  erhebt. 
Das  Sittengesetz,  das  Freiheitsgesetz  ist  das  universelle 
Gesetz  aller  vernünftigen  Naturen.  Es  hat  kosmische 
Tragweite.  Wie  verschieden  auch  die  äußeren  Formen 
des  Handelns  anderer  Vernunftwesen  sein  mögen,  je 
„nach  den  Umständen  in  der  Welt,  darin  sie  gesetzt" 
sind,  wie  verschieden  die  Objekte,  —  die  innere  Form, 
das  Prinzip  ihres  Handelns  kann  überall  in  der  Welt 
der  Vernunft  nur  ein  und  dasselbe  sein.  Und  wir  dürfen 
dies  mit  derselben  Sicherheit  behaupten,  mit  welcher 
wir  sagen:  kein  denkendes  Wesen  kann  von  sich  selbst 
zu  sich  selbst  in  einem  anderen  Sinne:  Ich  sagen,  als 
jeder  von  uns  von  sich  Ich  sagt.  Die  Quelle  des  Sitten- 
gesetzes ist  die  Apperzeption,  die  Tätigkeitsform  des 
Selbstbewußtseins,  das  Selbstbewußtsein  als  Wille. 

Es  ist  nicht  mögUch  den  Empfindungen,  die  uns 
bei  der  Vertiefung  in  diese  Gedanken  notwendig  ergreifen, 
vollständigen  Ausdruck  zu  geben.  Wenn  uns  die  Wissen- 
schaft zeigt,  daß  die  Natur  begreiflich,  daß  sie  unserem 
Verstände  zugänglich  und  offen  ist,  dann  erscheint  uns 
die  Ordnung  der  Dinge  nicht  mehr  fremd,  oder  wohl 
gar  feindlich,  wir  fühlen  uns  auch  innerlich  und  nicht 
bloß  tatsächlich  zu  ihr  gehörig,  und  wie  groß  auch  ihre 
Macht  gegen  uns  als  Einzelwesen  sein  mag,  diese  Macht, 
wenn  sie  selbst  unsere  liebsten  Wünsche  durchkreuzt, 
ja  uns  vernichtet,  erscheint  uns  doch  nicht  wie  ein  blindes 
Verhängnis,  wir  erkennen  sie  als  Ausfluß  der  nämlichen 
Ordnung,  die  auch  alles  für  uns  Heilsame  herbeiführt. 
Und  ebenso  wie  durch  den  Verstand  mit  der  Sinnen- 
welt, fühlen  wir  uns  durch  die  Vernunft  mit  einer 
geistigen  Welt  verbunden,  nachdem  wir  eingesehen 
haben,  daß  es  nur  Ein  Prinzip  des  Wollens  für  alle  ver- 


Probleme  der  Lebensanschauung.  ign 

nünftigen  Wesen  geben  kann,  daß  die  ethischen  Werte 
nicht  rein  menschliche  sondern  allgemein  geistige  Werte 
sind.  Die  Teilnahme  an  allem  Sein,  die  kosmische  Em- 
pfindung, wird  dadurch  gleichsam  zu  einer  doppelseitigen. 
Zwei  Dinge  sind  es,  sagen  wir  mit  Kant,  die  das  Gemüt 
mit  immer  neuer  und  zunehmender  Bewunderung  und 
Ehrfurcht  erfüllen,  je  öfter  und  anhaltender  sich  das 
Nachdenken  damit  beschäftigt:  der  bestirnte  Himmel 
über  uns  und  das  moralische  Gesetz  in  uns  — , 
zwei  Dinge:  die  Grenzenlosigkeit  der  Sinnenwelt  außer 
uns  und  die  Unendlichkeit  des  geistigen  Wesens  in  uns. 


SIEBENTER  VORTRAG. 


SCHOPENHAUER  UND  NIETZSCHE.  —  ZUR  FRAGE  DES 
PESSIMISMUS. 

Das  umfassendste  Wertproblem,  das  irgend  gestellt 
werden  kann,  die  Frage  nach  dem  Werte  des  Lebens, 
dem  Werte  des  Daseins  überhaupt  hat  Schopenhauer 
gestellt;  die  Verneinung  der  Frage :  hat  das  Dasein 
einen  Wert?  macht  ihn  zum  Philosophen  des  Pessimismus. 

Wir  wollen  uns  nicht  bei  der  Gegenfrage  aufhalten: 
Kann  man  so  fragen  ?  Kann  der  Wert  des  Daseins,  der 
Wert  der  Welt  abgeschätzt  werden?  Müßte  nicht  das 
Maß  für  seine  Schätzung  aus  eben  der  Welt,  eben  dem 
Leben  genommen  sein,  die  darnach  geschätzt  werden 
sollen?  Ein  Werturteil  setzt  die  Möglichkeit  einer  Ver- 
gleichung  voraus.  Womit  aber  könnte  das  Sein,  das 
alles  ist,  verglichen,  wie  sein  Wert  beurteilt  werden,  da 
es  selbst  jeden  Wert  und  jeden  Unwert  in  sich  ein- 
schließt und  aus  sich  hervorbringt?  Eines  ist  von  vorne- 
herein klar:  soll  das  Leben  als  Ganzes  geschätzt  und 
die  Summe  seines  Wertes  bestimmt  werden,  so  müßte 
das  Ganze  des  Lebens  gegeben  und  unveränderlich  sein» 
Geschichte  und  Entwicklung,  Werden  und  Schaffen 
machen  jede  feste  und  endgiltige  Wertbestimmung  des 
Lebens,  also  auch  die  pessimistische  unmöglich.  Mit 
einer  Geschichte,  die  zugleich  einen  Fortschritt  bedeutet, 
ist  der  Pessimismus  als  Theorie  nicht  zu  vereinen  und 
schon  durch  die  bloße  Möglichkeit  künftigen  Fortschrittes 
wird  er  aufgehoben. 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      201 

Um  den  Pessimismus  bejahen  zu  können,  muß 
Schopenhauer  die  Geschichte  verneinen.  Seine  Philo- 
sophie kennt  keine  Geschichte,  sie  erkennt  die  Ge- 
schichte nicht  an.  Diese  darf  kein  wirkliches  Ge- 
schehen bedeuten,  nichts  in  ihr  darf  sich  wahrhaft 
verändern,  sie  muß  ein  ewiges  Einerlei  sein,  nur  in 
immer  anderer  Verkleidung:  eadem  sed  aliter  —  so 
will  es  der  Pessimismus.  Die  Geschichtslosigkeit  des 
menschlichen  Wesens,  das  Fehlen  jeder  eigentlichen  Ent- 
wicklung im  Leben  der  Menschheit  ist  ebenso  ein  Postulat 
der  Philosophie  Schopenhauers,  wie  der  entgegengesetzte 
Glaube  an  beständigen  und  notwendigen  Fortschritt,  an 
ein  Gesetz  fortschreitender  Entwicklung  in  der  Geschichte, 
ein  Postulat  der  Philosophie  Hegels  ist.  Beides  ist,  so 
absolut  hingestellt,  gleich  einseitig  und  der  Erfahrung 
widersprechend.  Diese  weiß  von  keinem  Gesetz  des 
Fortschrittes,  sie  kennt  den  Fortschritt  nur  als  Resultat, 
das  je  nach  den  Bedingungen  eintreten  oder  ausbleiben 
kann.  Beharrung  und  Veränderung  zusammen  und  mit 
wechselseitiger  Einschränkung  bestimmen  den  Gang  des 
Geschehens  und  die  Zweifel  an  der  Wirklichkeit  eines 
Fortschrittes  in  einem  gegebenen  Falle  sind  berechtigt, 
sofern  jeder  Fortschritt  immer  nur  relativ  sein  kann, 
und  nützlich,  denn  sie  treiben  zum  Weiterstreben  und 
Handeln  an.  Hätte  also  Schopenhauer  nur  die  Selbst- 
zufriedenheit einer  jeden  „Jetztzeit"  stören  wollen,  den 
törichten  Glauben,  daß  gerade  sie,  daß  gerade  wir  es 
„so  herrlich  weit  gebracht",  —  wir  würden  ihm  nicht 
widersprechen  können.  Aber  er  leugnet  an  sich  und 
unbedingt  die  Möglichkeit  alles  Besserwerdens  und  darum 
ist  seine  Lehre  lebensfeindlich.  Sie  verneint  das  Leben, 
sie  will  es  verneinen  und  der  Glaube  an  sie  lähmt  das 
Handeln. 


202  Siebenter  Vortrag. 

Der  Pessimismus  ist  Schopenhauers  Apriori  und 
gleichsam  der  „angeborene  Begriff"  seiner  Philosophie. 
Die  pessimistische  Verurteilung  des  Lebens  —  wir  wissen 
dies  aus  den  frühesten  Aufzeichnungen  des  Philosophen 
selbst  —  stand  ihm  bereits  fest,  ehe  noch  ein  weiterer 
Bestandteil  seiner  Lehre  gefunden  war.  Mehr  noch: 
alle  anderen  Hauptgedanken  seiner  Philosophie  ent- 
wickeln sich  erst  aus  dem  Pessimismus  und  schon  ihre 
Auffindung,  ihre  Auswahl  steht  unter  der  Leitung  des 
pessimistischen  Grundmotives.  Weil  das  Leben  unselig 
ist,  das  Dasein  verkehrt  und  ohne  denkbares  Ziel,  des- 
halb muß  der  Grund  des  Lebens,  das  Princip  des 
Daseins  ein  blinder,  unaufhaltsamer  Drang  und  „Wille" 
sein.  Und  soll  es  dennoch  ein  Heil  geben  können,  eine 
Befreiung  von  der  Qual  des  Verlangens,  soll  die  Sehn- 
sucht des  Geistes  je  Erfüllung,  der  Wille  Befriedigung 
finden,  so  kann  das  Ziel  dieser  Erfüllung,  die  Stätte 
dieses  Friedens  nur  in  dem  zu  suchen  sein,  was  die 
Welt  nicht  ist,  in  einem  Jenseits  von  allen  Erscheinungen. 
Dann  aber  darf  diese  Welt,  in  der  wir  leben,  nicht  die 
einzige  Welt,  nicht  die  letzte  und  unauf hebbare  Wirk- 
lichkeit von  absoluter  Bedeutung  sein,  sie  muß  eine 
Scheinwelt  sein,  ein  bedrückender  Traum,  in  dem  das 
Weltwesen  befangen  ist  und  welcher  beim  Erwachen 
des  „besseren  Bewußtseins",  so  hieß  es  zuerst,  mit 
der  „Verneinung  des  Willens  zum  Leben",  heißt  es 
später,  von  selber  verschwindet.  Dies  wieder  setzt  vor- 
aus, daß  die  Vorstellungsformen,  in  denen  uns  die  Welt 
gegeben  ist,  nicht  Formen  der  Wahrheit  und  Erkenntnis 
sind,  sondern  Formen  des  Scheines  und  der  Täuschung. 
So  fordert  der  Pessimismus  Schopenhauers  die  Annahme 
eines  erkenntnislosen  Willens,  einer  finstern,  treibenden 
Macht  im  Wesen   der  Dinge,  so  fordert  er  die  Herab- 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      20"? 

Würdigung  der  Erscheinungswelt  zu  einer  scheinbaren 
Welt,  einem  bloßen  „Gehirnphänomen",  wie  Schopen- 
hauer sagt,  damit  die  Möglichkeit  einer  Erlösung  aus 
dem  Dasein  offen  bleibe;  er  fordert  endlich  die  Lehre 
dieser  Erlösung,  einer  zeitweiligen  durch  die  Kunst, 
der  definitiven  durch  Askese  und  Willensverneinung. 
Alles  bei  Schopenhauer:  die  Willensmetaphysik,  die 
nihilistische  Erkenntnislehre,  der  Zweck,  den  er  der 
Moral  gibt,  hängt  mit  dem  Pessimismus  zusammen,  vom 
Pessimismus  ab  und  selbst  die  Auffassung  der  Kunst 
wird  von  dem  düsteren  Geiste  getrübt,  der  durch  sein 
ganzes  System  geht. 

Nicht  dieses  System  selbst  und  wie  sich  in  ihm 
Aufklärung  und  Romantik  so  seltsam  kreuzen  und  ver- 
mischen, hat  uns  zu  beschäftigen;  wir  erinnern  nur  an 
die  leitenden  Grundsätze  des  Systems,  in  welche  der 
pessimistische  Denker  seine  Lehre  selbst  zusammen- 
faßte und  die  schon  die  Überschrift  seines  Hauptwerkes 
zum  Ausdruck  bringt. 

Die  Welt,  wie  sie  sich  unseren  Sinnen  zeigt,  mit 
allem,  was  sie  enthält:  der  Erde,  die  wir  bewohnen, 
der  Sonne,  die  wir  schauen,  den  Gestirnen,  die  über 
uns  leuchten,  ist  Vorstellung  des  vorstellenden  Subjektes: 
„die  Welt  ist  meine  Vorstellung,"  Vorstellung 
aber  bedeutet  für  Schopenhauer  soviel  als  Irrtum,  soviel 
als  Trug.  Sie  ist,  erklärt  er,  die  Maja,  von  der  die 
Weisheit  der  alten  Inder  redet,  der  Schleier  des  Truges, 
der  die  Augen  der  Sterblichen  umhüllt  und  sie  eine 
Welt  sehen  läßt,  von  der  man  weder  sagen  kann,  daß 
sie  sei,  noch  auch,  daß  sie  nicht  sei;  denn  sie  gleicht 
dem  Traume,  gleicht  dem  Sonnenglanz  auf  dem  Sande, 
welchen  der  Wanderer  von  ferne  für  ein  Wasser  hält.  — 
Das   sind    nicht,    wie  Schopenhauer   meinte,  Kantische 


204  Siebenter  Vortrag. 

Gedanken,  bildlich  ausgedrückt,  noch  richtige  Folgerungen 
aus  Gedanken  Kants.  Es  sind  nicht  einmal  Berkeleysche 
Gedanken;  denn  Berkeley  glaubte  wenigstens  an  die 
Realität  einer  Geisterwelt.  Die  Erscheinung,  bei  Kant 
der  Gegenstand  einer  empirischen  Erkenntnis,  wird  hier 
in  Schein  verwandelt,  zum  Scheine  verflüchtigt;  die 
Formen  des  Anschauens  und  die  Begriffe  des  Denkens, 
welche,  wie  Kant  zeigte,  durch  ihre  Beziehung  auf  die 
Dinge  selbst  Erfahrung  und  Wissenschaft  begründen, 
mithin  die  Quelle  der  Wahrheit  sind,  werden  von 
Schopenhauer  zur  Quelle  des  Irrtums  gemacht:  das 
Subjekt  soll  in  ihnen  befangen  sein,  sie  sollen  uns 
Dinge  vorspiegeln,  wo  keine  Dinge  sind.  Die  Welt  eine 
Sinnestäuschung,  für  Sinne,  die  selbst  nur  eine  Täuschung 
sind,  die  Welt  ein  Gehirnphänomen  für  ein  Gehirn,  das 
sein  eigenes  Phänomen  ist,  —  das  ist  nicht  Kriticismus, 
das  ist  Illusionismus,  ist  Nihilismus  der  Erkenntnis  und 
eine  völlige  Umbiegung  der  Kantischen  Lehre.  Und 
doch  verdeckt  Schopenhauers  falsche  Auffassung  Kants 
für  viele  noch  heute  den  wahren  Sinn  der  kritischen 
Philosophie.  Auch  in  der  Erkenntnistheorie  ist  Schopen- 
hauer Pessimist. 

Wie  nach  Schopenhauer  die  Welt  von  außen  be- 
trachtet, durch  und  durch  Vorstellung  ist  und  ein 
Sein  nur  in  ihrem  Vorgestelltwerden  hat,  so  soll  sie 
innerlich  erfaßt,  durch  und  durch  Wille  sein:  „die 
Welt  ist  mein  Wille."  Sie  ist  an  sich  eben  dasselbe, 
was,  wenn  es,  von  der  Erkenntnis  begleitet  ist,  Wille 
heißt.  Der  Wille,  lehrt  Schopenhauer,  ist  unser  Wesen, 
das  innere  Sein  unseres  Leibes  —  und  darum  auch 
das  innere  Sein,  das  eigene  Wesen  aller  anderen  Dinge, 
soweit  sie  nicht  in  die  Vorstellung  aufgehen,  soweit  sie 
darüber    hinaus   noch   etwas    für    sich    sind.      Als    das 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      205 

„Unmittelbarste"  unseres  Bewußtseins  soll  er  nicht  völlig 
in  die  Form  der  Vorstellung  eingegangen,  daher 
uns  intim  und  besser  als  alles  andere  bekannt 
sein.  Er  ist  frei  von  der  Form  des  Raumes  oder 
der  Vielheit  und  erscheint  nur  noch  in  der  Form 
der  Zeit  wie  in  einem  durchsichtigen  Schleier.  Die 
Kausalität  aber,  das  Wirkende  in  allen  Wirkungen,  ist 
er  selbst:  der  Wille  ist  „die  Kausalität  von  innen  ge- 
sehen". —  Ist  es  nötig,  diesen  Satz,  das  eigentliche 
Fundament  der  Naturphilosophie  Schopenhauers,  noch 
ausdrücklich  zu  widerlegen,  nachdem  ihn  Hume  schon 
im  voraus  widerlegt  hat?  Nicht  der  Wille  ist  uns  ge- 
geben, Wille  ist  ein  Abstraktum;  wir  kennen  nur 
Akte  unseres  Wollens  und  von  jedem  dieser  Akte  er- 
fahren wir,  daß  er  von  einer  Vorstellung  abhängig  ist, 
die  wir  als  sein  Motiv  bezeichnen.  Wie  oder  wodurch 
er  aber  von  seinem  Motive  abhängt,  das  ist  uns  genau 
so  bekannt  und  unbekannt,  als  es  uns  bekannt  und  zu- 
gleich unbekannt  ist,  wie  eine  Bewegung  von  einer 
anderen  Bewegung  abhängt.  Auch  die  „Motivation", 
der  Zusammenhang  von  Motiv  und  Willens entschluß 
lüftet  das  Geheimnis  nicht,  das  der  Metaphysiker  hinter 
der  Verursachung  sucht.  —  Was  aber  ist  Schopenhauers 
Wille  selbst  ?  was  das  Wesen  dessen,  was  der  Philosoph 
zum  Wesen  der  Dinge  macht?  Mit  Mißachtung  des 
Sinnes  und  Gebrauches  der  Sprache  des  Lebens  und 
der  Psychologie  nennt  Schopenhauer:  Wille,  was  vor 
ihm  und  außer  ihm  Niemand,  es  sei  denn  ein  Anhänger 
seiner  Lehre,  Wille  nannte  oder  nennen  wird:  den 
bloßen  Instinkt  oder  Trieb,  den  Drang  der  Begierde, 
den  Affekt  der  Leidenschaft,  —  alles  das  also  in  unserem 
Bewußtsein  und  gerade  das,  von  dessen  unmittelbarer 
Wirksamkeit  wir  uns  durch  das  Wollen  befreien,  worauf 


2o6  Siebenter  Vortrag. 

und  öfters  selbst  wogegen  der  wahre  und  echte  Wille 
wirkt,  worüber  er  Herr  wird.  Befragen  wir  nämlich 
Schopenhauer,  wo  sich  der  Wille  am  reinsten  manifestiere, 
am  offenkundigsten  in  die  Erscheinung  trete,  so  weist 
er  nicht  auf  Beispiele  aus  dem  Leben  der  Helden  und 
Staatsmänner,  der  Lenker  der  Menschheit,  —  er  weist 
auf  die  Raserei  eines  Tobenden  hin:  hier  zeige  der 
Wille,  was  er  los  geworden  von  der  Erkenntnis,  seiner 
eigenen  Natur  nach  sei,  hier  lasse  er  sich  in  seiner 
wahren  Gestalt  überraschen.  Wir  sagen  vielmehr  gegen 
Schopenhauer,  und  sagen  es  mit  Recht,  daß  eben  hier 
der  Wille  fehlt  und  nennen  den,  welcher  seiner  Triebe 
nicht  mächtig  ist,  den  geistig  Gestörten,  willenlos.  Der 
Metaphysiker  des  Willens  hat  den  Willen  mißverstanden; 
Schopenhauer  kannte  den  Willen  nicht,  er  verwechselte 
ihn  mit  der  Begierde.  Das  Wort,  dem  sich  wie  einem 
„Sesam  öffne  dich!"  das  Innere  der  Natur  auftun  soll, 
das  Wort  Wille,  statt  die  Rätsel  des  Daseins  lösen  zu 
können,  ist,  so  wie  Schopenhauer  es  gebraucht,  selbst 
zum  Rätsel  geworden.  Ein  Wille  ohne  Erkenntnis  ist 
nicht  der  Wille,  den  wir  allein  kennen  und  betätigen; 
aus  ihm  die  Welt  „erklären",  —  und  dies  soll  nach 
Schopenhauer  die  Aufgabe  der  Philosophie  sein,  — 
heißt  für  ein  Unbekanntes  ein  anderes  Unbekanntes 
setzen.  Höchstens  metaphorisch  mag  der  „universelle 
Drang  zum  Dasein",  welchen  Schopenhauer  in  die  Natur 
hineinlegt,  in  sie  „einfühlt",  ein  „Wille"  heißen  können. 
Der  „Wille  in  der  Natur*'  ist  eine  Metapher,  besten- 
falls eine  Analogie.  Wird  das  „Wesen"  der  Naturkräfte 
dem  Verständnis  wirklich  in  irgend  einem  Grade  näher 
gebracht,  wenn  wir  den  Begriff  der  Kraft  auf  den  des 
Willens  zurückführen,  die  Kräfte  als  Äußerungsformen 
eines    unbewußten   Willens    deuten?      Erst   müßten   wir 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.       207 

diesen  „Willen"  selbst  verstehen  können.  Schopenhauer 
freilich  meinte:  daß  das  Wesen  der  Kräfte  auch  in  der 
unorganischen  Natur  identisch  mit  dem  Willen  in  uns 
ist,  stelle  sich  Jedem,  der  ernstlich  nachdenkt,  mit 
völliger  Gewißheit  und  als  erwiesene  Wahrheit  dar;  er 
hielt  also  diesen  Satz  für  so  selbstverständlich  wie  ein 
Axiom.  Die  Gravitation,  um  eine  Probe  zu  wählen, 
soll  die  „aus  dem  eigenen  Innern  der  Körper  hervor- 
tretende Sehnsucht  derselben  nach  Vereinigung" 
sein;  —  „wie  sie  spielen  nach  den  lockenden  Zielen," 
sagt  auch  der  Dichter  vom  Tanz  der  Gestirne.  Ist  dies 
Erklärung?  Wo  bleibt  das  Gesetz,  nach  welchem  die 
Gravitation  wirkt?  Imaginiere  sich,  wer  kann,  eine 
quadratisch  mit  der  Entfernung  abnehmende  Sehnsucht.  — 
Wohl  ist  es  dem  Menschen  natürlich,  sein  Gemüt  und 
dessen  innere  Regungen  in  das  gleichsam  Innere  der 
Dinge  um  ihn  her  hineinzutragen,  sich  in  die  Dinge 
einzufühlen;  wir  nennen  aber  nicht  Erklärung,  was  eine 
Deutung,  eine  Vermenschlichung  der  Natur  ist,  die 
Quelle  ihrer  mythischen  Auffassung.  Der  „Wille  in  der 
Natur"  ist  ein  philosophischer  Mythos. 

An  sich  brauchte  eine  Willensmetaphysik,  gleich 
derjenigen  Schopenhauers,  nicht  pessimistisch  zu  sein; 
ein  erkenntnisloser  Wille  müßte  nicht  notwendig  das- 
selbe bedeuten  wie  ein  vernunftwidriger  Wille.  Schopen- 
hauers pessimistische  Charakteristik  des  Willens  muß 
daher  andere  Gründe  haben  als  die  Trennung  des 
Willens  von  der  Erkenntnis,  und  abermals  zeigt  sich 
uns,  daß  der  Pessimismus  das  unabhängige  Element  und 
der  ursprüngliche  Bestandteil  seiner  Philosophie  ist. 
Nehmen  wir  aus  dieser  den  Pessimismus  weg,  —  und 
es  bleibt  ein  naturphilosophischer  Versuch  zurück,  geist- 
voller als  andere  Versuche  der  gleichen  Art  und  durch 


2o8  Siebenter  Vortrag. 

schriftstellerische  Vorzüge  ausgezeichnet,  doch  aber  nur 
einer  der  Versuche,  das  Unerforschliche  zu  erforschen, 
eines  der  Systeme,  die  es  erforscht  zu  haben  glauben, 
wenn  sie  die  Welt  nach  einer  ihrer  Erscheinungen  aus- 
legen. —  Unter  allen  Philosophen,  die  ein  geistiges 
Prinzip  im  Wesen  der  Dinge  annehmen,  ist  Schopen- 
hauer der  einzige,  der  dieses  Prinzip  nicht  in  einer 
„Idee",  nicht  in  Verstand  oder  Vernunft,  sondern  im 
Leben  der  Triebe  und  Affekte  sucht.  Er  faßt  die  Grund- 
lage dieses  Lebens  in  eine  Einheit  zusammen  und  nennt 
diese  Einheit:  Wille.  Hierin,  in  dem  Willensmonismus 
beruht  das  Eigentümliche  seiner  Naturphilosophie,  die 
wir  dem  modernen  Bewußtsein  näher  bringen,  wenn 
wir  an  die  Anschauungen  der  Wissenschaft  von  der 
Einen  Kraft  oder  Energie  denken,  welche  sich  einem 
Proteus  gleich,  wie  Helmholtz  von  ihr  sagte,  in  immer 
neue  Formen  kleidet.  Die  metaphysische  Hypothese 
Schopenhauers  will  das  innere  Wesen  der  Energie,  die 
nur  als  unzerstörliche  Größe  bekannt  und  nachweisbar 
ist,  erfassen;  sie  macht  aus  der  Energie  einen  Allwillen 
in  der  Natur.  —  Wie  aber  ordnet  Schopenhauer  diese 
naturphilosophische  Hypothese  seinem  pessimistischen 
Glauben  unter,  wie  rechtfertigt  er  den  Pessimismus,  der 
durch  die  Willenslehre  allein  nicht  zu  rechtfertigen  wäre? 
So  weit  er  empirisch  verfährt,  hat  er  anscheinend 
leichtes  Spiel.  Wer  könnte  sich  auch  der  Erfahrung 
verschließen,  daß  die  Welt  nach  menschlichem  Maße 
gemessen,  voll  Unheil  ist;  wer  wüßte  nichts  von  tragischen 
Schicksalen  im  Leben  anderer  und  hätte  nicht  in  seinem 
eigenen  Leben,  wenn  er  nur  alt  genug  geworden  ist, 
ähnliche  Schicksale  erfahren?  Und  wird  das  Bild  des 
Lebens  so  einseitig  gezeichnet,  wie  es  von  Schopenhauer 
geschieht,  der  die  Motive  dazu  von  Schlachtfeldern  und 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      209 

Gerichtsstätten  holt,  uns  durch  chirurgische  „Marter- 
kammern" und  in  „Sklavenställe"  führt,  so  muß  wohl 
das  Leben  in  die  nächtliche  Farbe  des  Pessimismus 
getaucht  erscheinen.  Schopenhauer  sammelt  die  Stimmen 
der  Dichter,  voran  der  griechischen,  zum  Zeugnis  gegen 
das  Leben  und  über  das  „beste  Los,  nicht  geboren  zu 
sein,  nie  den  Tag  erblickt  zu  haben  und  sein  flammen- 
sprühendes Gestirn";  gegen  die  Aussprüche  der  Lebens- 
bejahung, Lebensfreudigkeit  ist  er  taub.  Keiner  aber 
hat  eindrucksvoller  und  mit  einer  solchen  Mannigfaltig- 
keit von  Wendungen  und  Gleichnissen  von  der  Nichtigkeit 
und  den  Leiden  des  Lebens  geredet;  keiner,  auch 
Leopardi  nicht,  von  dem  er  rühmt,  —  und  es  ist  dies 
höchst  bezeichnend  für  ihn  selbst,  —  daß  er  dabei 
durchweg  erregend  und  unterhaltend  wirke.  Wir 
meinen  ordentlich  die  Freude  zu  sehen,  die  er  über  die 
spannende  Behandlung  seines  dunklen  Gegenstandes 
empfindet,  die  Freude,  nicht  des  bloßen  Zuschauers,  der 
von  bequemem  Platze  aus  ein  Trauerspiel  ansieht, 
sondern  des  tragischen  Künstlers  selbst,  der  sich  vom 
Furchtbaren  befreit,  indem  er  ein  Bild  des  Furchtbaren 
schafft.  Schaffen,  Darstellen  heißt  Sich-Befreien.  Und 
so  ist  es  verständlich,  wie  Schopenhauer  vermochte,  das 
Leben  zu  ertragen  und  dazu  noch  ein  Pessimist  zu  sein, 
der  „die  Flöte  spielte".  Beweise  wird  man  in  seinen 
Klagen  und  Anklagen  gegen  das  Leben  nicht  finden 
können;  sind  sie  doch,  wie  er  selbst  sagt,  überall  leicht 
zu  haben.  Es  ist  kein  Beweis,  wenn  er  bemerkt:  Dante 
habe  den  Stoff  zu  seiner  Hölle  aus  dieser  unserer  wirk- 
lichen Welt  genommen  und  es  sei  eine  recht  ordentliche 
Hölle  geworden,  für  das  Paradies  aber,  zu  welchem  die 
Welt  gar  keine  Materialien  darbiete,  sei  ihm  nichts  übrig 
geblieben  als  Belehrung  durch  Beatrice  und  verschiedene 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  14 


2IO  Siebenter  Vortrag. 

Heilige,  das  heißt  nichts  als  Langeweile  und  scholastische 
Theologie. 

Aber  Schopenhauer  will  zum  Pessimismus  nicht 
bloß  überreden;  er  will  ihn  beweisen,  sogar  aus  Gründen 
a  priori  beweisen.  Die  Nichtigkeit  der  Zeit,  der  all- 
gemeinen Form  des  Daseins,  ist  das  erste,  was  gegen 
das  Leben  sprechen  soll.  Jeder  Augenblick  ist  nur  da- 
durch da,  daß  er  den  vorhergehenden  vertilgt,  um  als- 
bald selbst  von  dem  folgenden  vertilgt  zu  werden.  Und 
so  scheint  das  Leben  nur  in  einer  beständig  hinstürzenden 
Gegenwart  enthalten  zu  sein,  in  einem  ausdehnungslosen 
Punkte,  der  die  nach  beiden  Seiten  unendliche  Zeit 
schneidet.  Die  Gegenwart  aber  sei  stets  unbefriedigend. 
Das  Glück  liege  in  der  Zukunft,  oder  auch  in  der  Ver- 
gangenheit, während  die  Gegenwart  einer  kleinen  Wolke 
zu  vergleichen  sei,  welche  über  die  besonnte  Fläche 
treibt:  vor  ihr  und  hinter  ihr  ist  alles  hell,  nur  sie  selbst 
wirft  einen  Schatten.  Gehört  nicht  auch  die  Erinnerung, 
werden  wir  dem  entgegenhalten,  zu  unserem  gegen- 
wärtigen Leben,  und  wird  die  Gegenwart  nicht  ebenso 
durch  Voraussicht  und  Erwartung  erweitert?  Unaus- 
gedehnte Zeitpunkte  gibt  es  nur  für  das  mathematische 
Denken,  die  anschauliche  Zeit  und  jeder  Teil  in  ihr  ist, 
oder  hat  Dauer.  Selbst  für  den  einfachsten  psychischen 
Akt  ist  die  „Präsenzzeit",  wie  der  Psychologe  sie  nennt, 
immer  noch  ausgedehnt.  Aus  dem  beständigen  Hin- 
schwinden der  Zeit  läßt  sich  daher  die  Nichtigkeit  ihres 
Inhaltes  nicht  folgern,  und  statt  zu  sagen:  nichts  beharrt, 
alles  ist  ohne  Dauer,  müssen  wir  vielmehr  sagen:  nichts 
ist  völlig  vergänglich.  Das  Vergangene  ist  in  seinen  Wir- 
kungen, das  Künftige  in  seiner  Ursache  da  und  das  zurück- 
und  vorgreifende  Bewußtsein  verbindet  Succession  und 
Beharren.  —  Das  zweite,  was  a  priori  für  den  Pessimismus 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      2 1 1 

entscheiden  soll,  ist  die  angebliche  Negativität  der  Lust, 
die  Nichtigkeit  der  Gefühle  der  Befriedigung,  der  Freude. 
Nur  die  Unlust  soll  ein  positives  Gefühl  sein,  alle  Lust 
dagegen  nichts  als  ein  augenblickliches  Stillestehen  des 
Willensdranges  und  Begehrens.  Je  stärker  der  Drang, 
je  stürmischer  das  Begehren,  um  so  größer  erscheine 
dann  im  Kontraste  damit  die  nachfolgende  Lust;  diese 
entstehe  erst  aus  einem  solchen  Kontraste  und  sei  selbst 
nichts  Ursprüngliches  und  Positives.  „Nur  Schmerz  und 
Mangel  können  positiv  empfunden  werden;  das  Wohl- 
sein hingegen  ist  bloß  negativ."  Die  unmittelbarste 
innere  Erfahrung  widerspricht  dieser  Behauptung  Schopen- 
hauers. Lust  ist  nicht  dasselbe  wie  Schmerzlosigkeit 
und  nicht  jede  Lust  Folge  einer  aufgehobenen  Unlust, 
eines  gestillten  Verlangens.  Niemand  hat  je  im  Ernste 
bezweifelt,  daß  die  Beseligung  im  Betrachten,  d.  i.  Nach- 
schaffen eines  edlen  Kunstwerkes  ein  Zustand  hohen, 
positiven  Glückes  ist;  —  Niemand,  auch  Schopenhauer 
nicht,  obschon  er  es,  nur  um  den  Pessimismus  nicht 
preiszugeben,  in  der  Theorie  fertig  brachte,  auch  die 
Befriedigung  durch  die  Kunst  für  eine  negative  zu 
erklären. 

Diese  Erwägungen  allgemeiner  Art,  die  den  Pessi- 
mismus nicht  beweisen,  weil  sie  selbst  der  Prüfung  nicht 
Stand  halten,  sollen  eine  empirische  Bestätigung  im 
Großen  erfahren  durch  jeden  Blick  auf  die  organische 
Natur  und  den  in  ihr  herrschenden  Kampf  um  Leben 
und  Tod.  Im  „Kampf  ums  Dasein",  den  eine  moderne 
Schule  der  Biologie  als  ein  Prinzip  der  Entwicklung  des 
Lebens  betrachtet,  sah  Schopenhauer  ein  Argument 
gegen  das  Leben.  Er  fand  darin,  vom  Standpunkte  seines 
abstrakten  Monismus  aus,  der  aus  einem  Begriff  ein 
Wesen    machte,   den    Beweis    für   die   Entzweiung    des 

14* 


212  Siebenter  Vortrag. 

„Willens"  mit  sich  selbst.  Ja,  schon  in  der  unorganischen 
Natur,  einer  Druse  z.  B.,  in  der  sich  die  anschießen- 
den Krystalle  durchkreuzten,  erblickte  er  die  Anzeichen 
und  Abbilder  dieses  inneren  Streites.  Der  Wille  zehrt 
an  sich  selber.  „Alles  drängt  und  treibt  zum  Dasein, 
womöglich  zum  organischen,  d.  i.  dem  Leben  und  da- 
nach zur  möglichsten  Steigerung  desselben."  Jedes 
Wesen  nährt  sich  von  einem  anderen;  jedes  sucht  dem 
anderen  die  „Materie"  zu  entreißen,  denn  es  kann  sein 
Dasein  nur  durch  die  Aufhebung  eines  fremden  erhalten. 
Überall  treffen  wir  so  in  der  Natur  auf  Kampf  und 
wechselnden  Sieg.  Nur  durch  Überwältigung  der  niederen 
Erscheinungsformen  steigt  der  „Wille"  zu  den  höheren 
Stufen  des  Daseins,  der  ,,Objektivation",  auf;  seine  Be- 
dürfnisse wachsen,  seine  Organisation  wird  komplizierter, 
bis  er  sich  endlich  geistig  und  historisch  im  Menschen- 
geschlechte  auslebt  und  in  dessen  Geschichte:  dem 
ewigen  Einerlei,  wir  wissen  es  schon,  unter  immer 
neuen  Masken.  So  lautet  Schopenhauers  pessimistische 
Deutung  des  Entwicklungsganges  in  der  organischen 
Natur,  die  Legende  von  dem  mit  sich  entzweiten  „Willen 
zum  Leben".  —  Um  von  einer  Entzweiung  im  Wesen 
der  Dinge  reden  zu  können,  muß  man  den  Dingen  erst 
ein  einziges  Subjekt  zu  Grunde  gelegt  haben,  und  nicht 
Streit  und  Vernichtung  allein  herrschen  in  der  belebten 
Natur,  sondern,  um  in  dieser  halb  mythischen  Redeweise 
fortzufahren,  auch  Eintracht  und  Sympathie. 

Aus  dem  unseligen  Drängen  und  Treiben  der 
Dinge,  dem  Tumult  des  Lebens  und  seiner  Angst  und 
Wirrsal  gibt  es  Befreiung,  muß  es  Befreiung,  Erlösung 
geben.  Vorübergehend  und  auf  Augenblicke  befreit 
uns  die  Kunst  von  dem  Drange  und  der  Not  des 
Willens;    vollständig    und   für   immer    können    wir   uns 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      2 1 3 

selbst  von  der  Welt  befreien,  aus  ihr  retten,  durch  Um- 
kehrung unseres  Wesens,  durch  Abtötung  des  Willens. 
Die  Kunst   eine  Erlösung   und  damit  zugleich  eine 
Rechtfertigung     des    Lebens!     die    Kunst     eine     meta- 
physische Tätigkeit!    Diese  Sätze  haben  sich  dem  jungen 
Nietzsche   eingeprägt,  den  Geist,  der  aus  diesen  Sätzen 
redet,  hat  Nietzsche  nie  völlig  überwunden.    Das  künstle- 
rische Anschauen  ist  willenloses  Anschauen;  beim  Ein- 
treten   der    ästhetischen   Auffassung    verschwindet    der 
Wille   ganz    aus    dem  Bewußtsein,   lehrt  Schopenhauer. 
Dieses  Verschwinden  geschieht  plötzlich  und  wie  durch 
ein  Wunder.   Wenn  in  außerordentlichen  Momenten  der 
Intellekt,  das   Geschöpf  des    Willens    und    ursprünglich 
diesem    dienstbar,    gehoben    durch    seine    eigene  Kraft, 
sich  von  dem  Dienste   des  Willens   losreißt,    sich   vom 
Willen  isoliert  und  die  gewöhnliche  Betrachtungsart  der 
Dinge  fahren  läßt,  dennoch  aber  energisch  tätig  bleibt, 
und  sich  ganz    der  Anschauung  hingibt,    sich   ganz   in 
diese   versenkt   und   verliert:    dann   hat  sich  mit  einem 
Schlage  das  erkennende  Subjekt  in  uns  verwandelt  und 
damit  hat  sich  zugleich  die  Welt,  sein  Objekt  verwandelt. 
Das  Subjekt  ist  herausgehoben  aus  seinen  individuellen 
Beziehungen  zu  den  Dingen;  es  will  nicht  mehr,  begehrt 
nicht  mehr,   es   ist  zeitlos   geworden;    denn  nur  in  der 
Zeit  lebt  die  Begierde.     Und    auch   was   es   in   solcher 
Contemplation,  als  klares   ruhiges  Sonnenauge,    schaut, 
schaut  es    nicht   mehr    in    endlichen   Beziehungen    und 
Verhältnissen,     den    Beziehungen     zu    seinem     eigenen 
Leibe     oder    Willen,     den    Verhältnissen     zu     anderen 
Dingen;     es     schaut     das     reine    Was     des     Dinges, 
uicht     dessen    Wo,     Wann    oder    Warum.       Die     Er- 
scheinung  tritt    ihm   jetzt    völlig    anders    entgegen    als 
in  der  Welt  der  Vorstellung  „nach   dem  Leitfaden  des 


214  Siebenter  Vortrag. 

Satzes  vom  Grunde."  Das  Wesen  der  Dinge  offenbart 
sich  der  „willenlosen,  anteilslosen  und  dadurch  rein 
objektiven  Anschauung"  des  künstlerischen  Genius;  was 
dieser  erfaßt,  in  jedem  Dinge  erfaßt,  ist  wie  sein  An- 
schauen selbst  nichts  Individuelles  mehr,  sondern  ein 
Ewiges,  Zeitloses:  die  Idee  des  Dinges,  Die  Kunst 
schaut  die  Ideen.  Das  soll  nicht  heißen:  Gedanken 
sind  ihre  Objekte,  es  soll  heißen:  der  reine  anschau- 
liche Gehalt  der  Dinge  ist  ihr  Gegenstand.  Von 
der  Form  der  künstlerischen  Darstellung  spricht 
Schopenhauer,  dessen  Betrachtungen  über  die  Kunst 
im  einzelnen  sehr  oft  tiefgehend  und  aus  Sachkennt- 
nis geschöpft  sind,  auffallend  wenig.  Ihn  beschäf- 
tigt mehr  das  wunderlich  verkehrt  gestellte  Problem, 
—  er  nennt  es  „das  eigentliche  Problem  der  Meta- 
physik des  Schönen"  — :  wie  ist  Wohlgefallen  und 
Freude  an  einem  Gegenstande  möglich  ohne  irgend 
eine  Beziehung  desselben  auf  den  Willen?  Daß 
dies  nicht  möglich  ist,  wenn  man  wie  Schopenhauer 
auch  die  Gefühle  zum  Willen  zählt,  die  Gefühle  aus 
dem  Willen  hervorgehen  läßt,  leuchtet  ein.  Schopen- 
hauer will  auch  die  Kunst  dem  Pessimismus  dienstbar 
machen;  ihm  liegt  daher  alles  daran,  ihre  Verwandt- 
schaft mit  der  Willensverneinung  zu  zeigen,  —  zu 
zeigen,  daß  die  Kunst  ein  Weg  der  Erlösung  sei.  Eine 
pessimistische  Kunst  aber  ist  ein  unmöglicher  Begriff, 
ein  Widerspruch  in  sich  selber;  alle  Kunst,  auch  die 
tragische,  bejaht  das  Leben. 

Der  Genius  ist  nur  einer  der  „Erlöser",  er  bringt 
Trost  ins  Leben,  erlöst  im  Leben;  der  andere  ist  der 
, Heilige"  und  dieser  erst  zeigt  den  Weg  aus  dem 
Leben,  —  Wir  nennen  gut,  erklärt  Schopenhauer,  den 
Menschen,    welcher    zwischen    sich    und    anderen    den 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      21  5 

wenigsten  Unterschied  macht.  Die  Teilnahme  an  dem 
Sein  des  Anderen  ist  die  Quelle  der  moralischen  Güte. 
In  einer  Welt  aber,  die  durch  und  durch  leidend  ist, 
deren  Freuden  nur  negativ  sind,  kann  es  keine  andere 
Teilnahme  geben,  als  die  Teilnahme  am  Leiden,  das 
Mitleiden.  Das  Mitleid  ist  daher  das  Fundament 
der  Moral;  auf  Mitleiden  und  Erbarmen  beruht  alle 
moralische  Gesinnung.  Eine  wahre  Hospitaismoral! 
Damit  sind  wir  wieder  zur  vorkantischen  Gefühlsmoral 
zurückgelangt,  der  Moral  des  weichen,  empfindsamen 
Herzens;  der  Unterschied  ist  nur,  daß  Schopenhauer 
aus  einem  psychologischen  Instinkt:  der  Sympathie 
einen  metaphysischen  macht.  Das  Mitleid  durchbricht 
die  Schranken  der  Individualität,  es  hebt  die  Vielheit 
auf  und  ist  praktischer  Monismus.  Der  einzige  Grund- 
satz dieser  Moral,  ihr  oberster  Pflichtsatz  ist :  niemanden 
zu  verletzen,  jedem  vielmehr  nach  Kräften  zu  helfen,  — 
das  heißt  doch  zu  helfen,  im  Leben,  also  im  Leiden  zu 
beharren.  Daß  dieser  Grundsatz,  wenn  wir  ihn  zur 
einzigen  Richtschnur  unseres  Handelns  machen  wollten, 
dem  Leben  widerspricht,  das  Leben  aufheben  müßte, 
weiß  Schopenhauer,  und  er  will  es  so.  Die  Mitleids- 
moral verneint  das  Leben  und  darum  ist  sie  für 
Schopenhauer  Moral;  denn  das  Leben  soll  vereint 
werden.  Die  Tugend  ist  der  Übergang  zur  Askesis, 
zur  Willensverneinung.  „In  den  aufopfernden  Tugenden 
der  Gerechtigkeit  und  Liebe  schlägt  gleichsam  der 
Wille  bereits  die  Flügel,  um  davon  zu  fliegen."  Und 
wer  so  empfindet  und  denkt,  daß  ihm  kein  Leid  fremd, 
jedes  gleich  nahe  ist  wie  seine  eigene  Person,  wessen 
Herz  erfüllt  ist  von  dem  Gefühle,  eins  zu  sein  mit  allem, 
was  lebt,  also  leidet,  kann  nicht  weiter  leben  wollen. 
Sein  Wille  wendet  sich  vom  Leben  ab,   ihn  schaudert 


2l6  Siebenter  Vortrag. 

vor  dessen  Genüssen,  in  denen  er  die  Bejahung  des- 
selben sieht  und  von  welchen  tausend  nicht  Eine  Qual 
aufwiegen;  die  Erkenntnis  des  Leidens,  das  Mitgefühl 
mit  dem  Leiden  der  Welt  wird  ihm  zum  Quietiv  seines 
Wollens,  zur  Ursache  des  Nicht- mehr- wollens;  er  gibt 
es  auf,  zu  wollen,  verneint  in  seiner  Person  den  „Willen 
zum  Leben".  —  Auch  das  Quietiv,  von  dem  hier  die 
Rede  geht,  ist  ein  Motiv,  nur  unter  anderem  Namen, 
auch  das  Nichtwollen  —  ein  Wollen.  Hier,  wo  gezeigt 
werden  soll,  wie  sich  der  „Wille  zum  Leben"  selbst 
aufhebt,  erscheint  sogar  zum  ersten  Male  bei  Schopen- 
hauer ein  wirklicher  Wille:  die  Herrschaft  über  die 
Triebe,  das  Nein-sagen-können  selbst  zu  den  mächtigsten 
Instinkten.  Doch  wird,  was  nur  der  Anfang  alles  echten 
Wollens  ist,  zum  Ende,  ein  Moment  des  Willens  zum 
Ganzen  gemacht;  und  statt  die  Triebe  bloß  zu  regeln, 
bis  sie  mit  Erfahrung  und  Vernunft  in  Übereinstimmung 
gebracht  sind,  vergreift  sich  der  Schopenhauerische 
Wille  an  den  Trieben  und  zerstört  damit  seine  eigene 
Voraussetzung,  sein  Material. 

Diese  Moral  ist  eine  Lehre  des  Nichthandeins,  diese 
Philosophie  der  Askese  eine  Philosophie  des  Todes. 
Der  freie  Mensch  aber,  sagt  ein  weises  Wort  Spinozas, 
denkt  an  nichts  so  wenig  wie  an  den  Tod  und  seine 
Philosophie  ist  nicht  eine  Betrachtung  des  Todes,  sondern 
das  Studium  des  Lebens. 

Wie  kommt  aber,  werden  Sie  fragen,  Schopenhauer 
dazu,  das  Sein  überhaupt,  das  Leben  als  solches  unter 
moralische  Gesichtspunkte  zu  stellen?  Gegenstand  einer 
moralischen  Beurteilung  ist  doch  nur  der  individuelle 
Wille,  in  Schopenhauers  Sprache:  eine  Erscheinung  des 
„Willens" ;  moralisch  oder  unmoralisch  können  nur 
Gesinnungen    und    Handlungen   im   Leben    heißen,    die 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     217 

Arten  und  Weisen,  wie  wir  das  Leben  gebrauchen,  das 
Leben  selbst  und  als  solches  moralisch  oder  unmoralisch 
zu  nennen  hat  dagegen  keinen  verständlichen  Sinn. 
Die  Gegensatzbegrifife  gut  und  böse  lassen  sich  ebenso 
wenig  auf  das  Sein  überhaupt  anwenden,  als  es  im 
Universum  der  Sinnenwelt  ein  oben  oder  unten  geben 
kann.  Die  Eine  wirkende  Macht,  die  alles  ist  und  be- 
gründet, alles,  was  wir  auf  ein  , Exemplar"  des  Menschen 
bezogen  gut  und  alles,  was  wir  in  solcher  Hinsicht  böse 
nennen,  muß  selber,  auch  dies  hat  schon  Spinoza  ge- 
sehen, erhaben  über  gut  und  böse  sein.  Auch  die 
pessimistische  Charakteristik  dieser  Macht,  wenn  sie 
selbst  richtig  wäre,  würde  noch  immer  nicht  ihre  „Ver- 
werflichkeit" begründen  können.  Das  Leben  könnte 
aus  einem  blinden  Willensdrange  hervorgehen,  der 
Lebenswille  könnte  unheilvoll  sein  und  stetes  Leiden 
mit  sich  bringen,  ohne  eine  endgiltige  Befriedigung  zu 
erreichen,  —  müßte  er  deshalb  , verwerflich*  sein?  Mit 
welchem  Rechte,  von  welcher  Autorität  aus  ergeht  an 
ihn,  der  alles  ist,  ein  Sollen,  das  in  diesem  Falle  ein 
Nicht-SoUen  ist?  Denn  der  Unwert  des  Daseins  ist  im 
Grunde  das  einzige  Werturteil,  daß  die  Welt  nicht  sein 
soll,  der  einzige  Imperativ  der  Moral  Schopenhauers. 
Ein  Recht  zu  diesem  Imperativ,  einen  Grund  für  ihn 
kann  es  nicht  geben.  Mit  ihm  kommt  ein  mystischer 
Zug  in  das  Denken  Schopenhauers;  er  entstammt  und 
entspricht  einer  Neigung  des  Philosophen  zum  Mysticis- 
mus.  In  seiner  Jugend  von  Schwermut  ergriffen  und, 
wie  es  nicht  selten  gerade  der  edlen  Jugend  widerfährt, 
durch  eine  Periode  des  Weltschmerzes  hindurchgehend, 
sehnte  sich  Schopenhauer  nach  einem  höheren,  reineren 
vollendeteren  Dasein  und  alle  Hoffnungen  darauf  faßte 
er   in   den  Begriff  des    „besseren  Bewußtseins"   zu- 


2i8  Siebenter  Vortrag. 

sammen.  In  diesem  Bewußtsein  glaubte  er  eine  Stimme 
von  oben,  eine  Stimme  von  jenseitigem  Ursprung  und 
zeitloser  Bedeutung  zu  vernehmen;  in  ihm  fand  er 
die  Gewähr  für  die  Wirklichkeit  eines  übersinnlichen, 
überzeitlichen  Seins.  Als  er  dann  Philosoph  geworden 
war,  konnte  und  wollte  er  dieses  Sein  nicht  näher 
kennzeichnen:  er  liebt  von  nun  an,  es  mit  dem 
buddhistischen  Worte  Nirväna  zu  benennen.  Noch 
immer  aber  wirken  in  ihm  jene  früheren  Gedanken  fort ; 
noch  immer  ist  jene  Nicht- Welt,  welche  Nirvana  heißt, 
mehr  wert  als  diese  wirkliche  Welt.  Wohl  ist  das 
Nirväna  das  Nicht-Sein;  aber  „es  ist  nur  für  uns  nichts, 
denen  noch  dieses  Dasein  alles  ist,  welches  hinwiederum 
auf  jenes  bezogen  nichts  ist."  Hinter  dem  zweideutigen, 
„relativen"  Nichts  steckt  ein  zweites  Sein  und  erst  dieses 
ist  das  wahre  Sein.  Die  Welt,  in  der  wir  leben,  so 
wurde  uns  ja  gesagt,  ist  Schein,  muß  also  nicht,  was 
die  Welt  nicht  ist,  Wahrheit  sein?  Schopenhauer  hat 
uns  übrigens  seine  eigentliche  Meinung  auch  mit  aus- 
drücklichen Worten  verraten.  In  dieser  unserer  Welt 
ist  Diversität,  Getrenntsein,  Streit,  —  Identität  nur  in 
jener,  zu  welcher  die  Verneinung  des  Willens  den  Zu- 
gang erschließt.  Und  so  endet  diese  Philosophie  in 
einer  „Epiphilosophie";  sie  hat  noch  eine  Nachschrift 
von  mystischem  Inhalt. 

Schopenhauers  Pessimismus  ist  im  Grunde  hedo- 
nistisch, ein  Pessimismus  aus  Verzweiflung  an  der  Mög- 
lichkeit des  Genusses  und  darum  ein  genußsüchtiger 
Pessimismus.  Weil  das  Leben  kein  „Geschenk  zum 
Genuß"  ist,  deshalb  soll  es  gleich  verwerflich  und  objektiv 
betrachtet  in  einem  „Wahn  begriffen"  sein.  Weil  die 
Bilanz  bei  der  „Lust-  und  Leidrechnung "  nicht  heraus- 
kommt,   muß   die  Welt  an  allen  Stellen  bankerott  sein 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     219 

und  das  Leben  „ein  Geschäft,  das  seine  Kosten  nicht 
deckt."  Wir  ziehen  daraus  ein  anderes  Facit:  nicht, 
daß  das  Leben  nichts  wert,  sondern  daß  nach  der  Lust 
nicht  der  Wert  des  Lebens  zu  bestimmen  ist.  Wie  der 
einzige  pessimistische  Philosoph  des  Altertums,  Hegesias, 
der  „zum  Sterben  Überredende"  aus  der  Schule  des 
Hedonismus  hervorging,  so  wurde  in  der  neueren  Zeit 
Schopenhauer,  weil  er  die  Lust  suchte  und  nicht  fand, 
zum  Pessimismus  geführt.  Ein  glückliches  Leben,  erklärt 
Schopenhauer  ist  unmöglich,  das  Höchste  was  der  Mensch 
erlangen  kann  ist  ein  heroischer  Lebenslauf,  —  und 
dies,  dächte  ich,  wäre  genug.  Gegen  das  Große  im 
Leben  verhält  sich  Schopenhauer  kleinlich,  gegen  das 
Starke  darin  schwächlich,  gegen  das  Harte  weichlich; 
schon  jeder  Wunsch  erscheint  ihm  an  sich  als  Schmerz, 
Wohlgeratenheit,  ein  glücklicher  Zustand  als  ein  Vor- 
wurf. Die  Basis  alles  WoUens  ist  nach  ihm  Bedürftigkeit. 
Bedarf  es  noch  eines  weiteren  Beweises,  daß  er  den 
Willen  mißverstanden  hat.  Er  weiß  nichts  von  der 
Fülle  der  aufgespeicherten  Energie,  die  zum  Handeln 
drängt  und  sich  entladen  will  und  daß  dieser  Drang 
nicht  Unlust  ist,  sondern  Reiz  des  Schaffens.  Er  kennt 
nur  „erzwungene  Tätigkeit",  er  „liebt  sich  gleich  die 
unbedingte  Ruh'"  und  sieht  in  Willenslosigkeit,  Taten- 
losigkeit den  idealen  Zustand,  Sogar  die  Kunst  soll 
interesselos,  anteilslos  sein.  Noch  einmal:  er  lehrt  die 
Philosophie  des  Todes;  und  wie  er  sie  lehrt  mit  der 
erleuchtenden  Kraft  des  Ausdrucks,  der  spannenden 
Darstellung,  dem  Reichtum  der  Bilder  —  darin  liegt 
ihre  Gefahr,  —  Betrachtungen  wie  diese  haben  Nietzsche 
über  Schopenhauer  hinausgeführt;  mit  Betrachtungen 
ähnlich  diesen  hat  Nietzsche  den  Pessimismus  über- 
wunden. 


220  Siebenter  Vortrag. 

Ich  erzähle  nicht  die  Leidensgeschichte  Nietzsches 
und  wie  Krankheit  und  ein  Übermaß  von  Produktion 
seinen  Geist  verzehrten,  die  angeborene  Leidenschaftlich- 
keit seiner  Natur  zur  Maßlosigkeit  fortreißend  und  nach 
und  nach  sein  Denken  überschattend.  Auch  betrachte 
ich  es  nicht  als  meine  Aufgabe,  vor  Mißverständnissen 
zu  warnen,  denen  die  Schriften  des  aphoristischen 
Denkers  nur  zu  leicht  ausgesetzt  sind.  Wir  wissen  heute 
das  Gesunde  in  seinen  Aussprüchen  von  dem  Patho- 
logischen zu  scheiden,  —  erklären  das  zweite  und  halten 
uns  an  das  erste.  Im  gegenwärtigen  Zusammenhange 
soll  indes  wesentlich  nur  von  der  Stellung  Nietzsches 
zum  Pessimismus  die  Rede  sein. 

Nietzsche  ist  das  gerade  Widerspiel  von  Schopen- 
hauer, diesem  zugleich  verwandt  und  entgegengesetzt, 
darum  erst  sein  Jünger  und  ganz  unter  seinem  Banne 
stehend,  dann  sein  Gegner.  Alle  ihm  eigentümlichsten 
Gedanken  gewinnen  erst  im  Gegensatz  zu  Gedanken 
Schopenhauers  Gestalt  und  sind  nur  aus  diesem  Gegen- 
satze heraus  richtig  zu  verstehen,  gerecht  zu  beurteilen. 
Gegen  Schopenhauer  ergreift  er  die  Partei  des  Lebens; 
ergreift  er  Partei  gegen  alles,  was  das  Leben  verkleinert, 
es  schwächt  und  untergräbt,  gegen  alle  Decadence 
oder  Entartung,  die  in  ihm  selber  nicht  ausgenommen. 
Er  ist  der  zum  Leben  überredende  Philosoph.  Leiden- 
schaftliche, grenzenlose  Liebe  des  Lebens  bildet  das 
eigentliche  Thema,  den  Grundton  seiner  Philosophie; 
seine  Sentenzen  erscheinen  öfters  wie  in  die  Farbe  des 
Lebens  selbst  getaucht.  Nietzsche  verherrlicht  das  Leben 
und  was  in  ihm  groß,  mächtig  und  aufsteigend  ist,  — 
das  Leben  wie  es  war,  wie  es  ist,  vor  allem  aber,  wie 
es  werden  kann,  werden  soll,  durch  uns  werden  soll. 
Eine  vornehme  Rede  Zarathustras  sagt:    »was   uns  das 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     221 

Leben  verspricht,  das  wollen  wir  dem  Leben  halten." 
Nichts  vom  Leben  soll  abzurechnen,  nichts  in  ihm  ent- 
behrlich sein;  am  wenigsten  das  große  Schicksal,  das 
große  Leiden.  „Die  Zucht  des  Leidens,  des  großen 
Leidens  —  wißt  ihr  nicht,"  ruft  Nietzsche  aus,  „daß  nur 
diese  Zucht  alle  Erhöhungen  des  Menschen  bisher  ge- 
schaffen hat!  Es  bestimmt  beinahe  die  Rangordnung, 
wie  tief  einer  leiden  kann."  Der  tapfere,  stolze  Mut, 
womit  Nietzsche  sein  eigenes  Leiden  ertrug  und  bezwang, 
beweist,  daß  es  ihm  ernst  war  mit  dieser  Wertschätzung 
des  Leidens  in  der  Gesamtschätzung  des  Lebens.  Amor 
fati:  das  Notwendige  nicht  bloß  zu  ertragen,  noch  weniger 
zu  verhehlen,  sondern  es  zu  lieben,  ist  seine  Maxime; 
„alles  Notwendige  ist  aus  der  Höhe  gesehen  und  im  Sinne 
einer  großen  Ökonomie  auch  das  Nützliche."  Nietzsche 
bejahte  das  Leben  und  zugleich  den  pessimistischen 
Charakter  desselben,  wenn  es  nur  nach  der  Lust  ge- 
schätzt wird;  er  bejaht  das  Leben  um  der  Gründe  willen, 
auf  welche  hin  der  Pessimismus  es  verneint:  dies  ist  die 
kürzeste  Formel  seiner  Philosophie  und  sie  rührt  von 
ihm  selber  her.  Er  gibt  dem  Pessimismus  die  Tatsachen, 
worauf  dieser  sich  beruft,  zu,  zieht  aber  daraus  die  ent- 
gegengesetzten Konsequenzen  für  den  Wert  des  Lebens. 
Gerade  in  den  pessimistisch  gedeuteten,  schlimmen 
Seiten  des  Daseins  sieht  er  die  stärksten  Anreize,  das 
Leben  zu  bejahen,  tiefer  zu  erfassen,  umfänglicher  zu 
gestalten,  und  kehrt  so  den  Pessimismus  der  Lebens- 
verneinung in  den  Heroismus  der  Lebensbejahung  um. 
Darum  ist  er  das  äußerste  Gegenteil  eines  pessimistischen 
Philosophen.  Man  verstehe  recht,  nicht  von  Optimismus 
ist  die  Rede  im  Sinne  eines  Übergewichts  von  Lust; 
„Lust  ist  nicht  Ziel  des  Handelns."  Die  Freude,  die 
„Zarathustra"  auf  Erden  pflanzen  will,  ist  nicht  die  Freude 


222  Siebenter  Vortrag. 

des  Genießenden,  sondern  des  Schaffenden,  die  Freude 
des  Furchtlosen  und  Siegreichen,  der  das  Leben  dann 
am  höchsten  ehrt,  wenn  es  ihm  den  größten  Widerstand 
entgegensetzt.  Trachten  nach  Behagen,  Sucht  nach 
Genuß,  Hedonismus  jeder  Gestalt  Hegen  dieser  Lebens -- 
auffassung  völlig  ferne,  wie  sie  auch  der  Person  Nietzsches 
fremd  waren. 

Als  Grundtrieb  des  Lebens  gilt  Nietzsche  der  Trieb 
zur  Macht;  Leben  ist  ein  Prozeß  des  beständig  sich 
Steigerns ,  Überwindens ,  des  Aufsteigens  und  der  Er- 
höhung, oder,  wie  es  im  „Zarathustra"  heißt:  „in  die 
Höhe  will  es  sich  bauen  mit  Pfeilern  und  Stufen  das 
Leben  selber,  in  weite  Ferne  will  es  blicken  und  hinaus 
nach  seligen  Schönheiten,  —  darum  braucht  es  Höhe. 
Und  weil  es  Höhe  braucht,  braucht  es  Stufen  und  den 
Widerspruch  der  Stufen  und  Steigenden.  Steigen  will 
das  Leben  und  steigend  sich  überwinden."  Nur  der 
große  Mensch  vermag  das  große  Leben  zu  ertragen, 
vermag  sein  Leben  groß  zu  fiihren.  Und  soll  das  Leben 
gesteigert  werden,  so  ist  die  höchste  Entfaltung  des 
Individuums  die  Vorbedingung  dazu.  So  erklärt  sich 
die  aristokratische  Tendenz  der  Lebensphilosophie 
Nietzsches.  Die  Natur  selbst  ist  aristokratisch.  Sie 
bringt  die  Vielheit  der  Typen  hervor,  die  Ungleichheit, 
den  Unterschied  des  Ranges.  Nicht  ums  Dasein,  nicht 
um  Wohlsein;  um  Macht  und  Rang  werde  der  Kampf 
des  Lebens  gekämpft.  Das  „Problem  des  Ranges"  er* 
schien  Nietzsche  eine  Zeitlang  als  das  wichtigste  Problem» 
als  das  Problem  des  Lebens  selbst.  Er  \till  der  „Lehrer 
der  Rangordnung"  sein.  Man  soll  den  Willen  haben» 
„selbst  zu  sein,  sich  abzuheben";  man  soll  das  „Pathos 
der  Distanz  haben".  Nietzsche  betont  aber  nicht  bloß 
die  Unterschiede    der  Rangordnung   und   fordert  sie  zu 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     223 

steigern,  die  Kluft  zu  erweitern;  er  übertreibt  sie  und 
verhält  sich  unduldsam  gegenüber  den  niederem  Typen. 
„Frohe  Adelsmenschen"  will  Johannes  Rosmer  bei  Ibsen 
„rund  um  sich  her  schaffen";  zur  gleichen  Zeit  verkündet 
auch  Nietzsche  im  Zarathustra  das  Heraufkommen  eines 
neuen  Adels,  nicht  des  Standes,  noch  weniger  des  Be- 
sitzes, sondern  des  Geistes  und  des  Charakters.  „Das 
Beste  soll  herrschen,  das  Beste  will  auch  herrschen! 
Und  wo  die  Lehre  anders  lautet,  da  fehlt  es  am 
Besten,"  sagt  im  Zusammenhange  damit  „Zarathustra". 
Wir  verstehen  die  Todfeindschaft  Nietzsches  gegen  die 
demokratische  Nivellierung;  er  sieht  darin  das  Zeichen 
des  Niedergangs,  des  Verfalls,  nicht  bloß  des  Staates, 
sondern  des  Menschen.  Es  heißt  das  Niveau  des 
Menschen  selbst  beschränken,  wenn  man  das  Große  er- 
niedrigt, das  Große  dem  Kleinen  gleich  schätzt,  oder 
wohl  gar  versucht,  dem  Kleinen  gleich  zu  machen.  Und 
da  nun  Nietzsche  der  Meinung  war,  daß  die  Grundsätze 
der  herrschenden  Moral  die  demokratische  Bewegung 
fördern  und  sanktionieren,  so  bekämpft  und  verneint  er 
diese  Moral.  Auch  sein  Kampf  gegen  die  Moral  ent- 
springt aus  seiner  Liebe  zum  Leben.  Die  Moral  „ver- 
neint das  Leben",  so  glaubt  er,  und  damit  ist  für  ihn 
die  Moral  gerichtet.  Er  sah  in  den  moralischen  Wert- 
urteilen nur  Verurteilungen,  Verneinungen,  die  „Urteile 
Erschöpfter"  und  indem  er,  was  nur  von  der  Moral 
Schopenhauers  gelten  kann,  verallgemeinert,  erklärt  er 
die  Moral  als  die  Abkehr  vom  Willen  zum  Dasein.  Der 
Glaube  an  die  Wertlosigkeit  des  Daseins  ist  ihm  die 
Folge  der  moralischen  Wertschätzung. 

In  keinem  Punkte  ist  Nietzsche  so  mißverstanden 
worden,  in  keinem  so  leicht  falsch  zu  verstehen,  wie  in 
seinem    „Immoralismus".     Seine    Ausfälle    geraten    auch 


224  Siebenter  Vortrag. 

wirklich  über  das  Ziel  und  sind,  namentlich  die  aus  der 
späteren  Zeit,  verletzend  und  der  ursprünglichen  Vor- 
nehmheit seiner  Natur  unwürdig.  Die  Absicht  dabei  ist 
aber  doch  völlig  klar.  Nietzsche  will  die  Moral  nicht 
einfach  nur  verneinen,  er  will  sie  überbieten,  durch  eine, 
wie  er  dafürhält,  höhere  Lebensordnung  ersetzen.  Es 
war  nicht  die  Meinung  des  aristokratischen  Denkers» 
der  die  Autorität  zur  guten  Sitte  zählt  und  erklärte: 
jede  Sitte  sei  besser  als  keine  Sitte,  den  Menschen  von 
Zucht  und  Autorität  loszubinden,  Sitte  und  Sittlichkeit 
überhaupt  abzuschaffen.  Nicht  hinter  die  Moral  zurück, 
—  über  die  bisherige  Moral  hinauf  will  sein  Weg  weisen. 
Zügellosigkeit  und  ungebundenes  Leben  können  sich 
nicht  mit  Recht  auf  ihn  berufen.  „Dem  wird  befohlen", 
heißt  es  in  Zarathustra,  „der  sich  nicht  selbst  gehorchen 
kann.  Bist  du  ein  Solcher,  der  einem  Joche  entrinnen 
durfte?  Es  gibt  Manchen,  der  seinen  letzten  Wert 
wegwarf,  als  er  seine  Dienstbarkeit  wegwarf."  Nietzsche 
will  den  Menschen  groß  und  selbständig  machen;  er 
will  die  Tugend  ins  Vornehme  übersetzen.  Sein  Ideal 
ist  der  vornehme  Mensch,  mit  dem  Willen  zur  Selbst- 
verantwortlichkeit, der  Härte  gegen  sich,  der  Ehrfurcht 
vor  sich,  der  Macht  über  sich  und  sein  Geschick  —  ein 
Bild  wie  aus  Plutarch.  Die  beinahe  sprüchwörtlich  ge- 
wordene „blonde  Bestie"  dagegen  ist  nur  sein  Symbol 
für  den  Menschen  vor  der  Kultur,  den  Menschen  der 
Natur;  das  Symbol  für  eine  prähistorische,  prämoralische 
Tatsache,  und  was  ihm  daran  so  anziehend  war,  ist  die 
noch  ungebrochene  Kraft  der  Natur,  nicht  das  Bestia- 
lische dieser  Natur.  Wenn  auch  er,  ein  zweiter  J.  J. 
Rousseau  und  zugleich  dessen  Antipode,  sein:  zurück 
zur  Natur!  ruft,  so  bedeutet  dies  Wort  in  seinem  Munde 
und  Sinne:   hinauf  zur  Natur!     Was  in  ihr  noch  stark 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      225 

und  mächtig  geblieben,  soll  nicht  ausgerottet,  es  soll 
umgeprägt,  sublimiert,  vergeistigt  werden.  Die  mäch- 
tigsten Affekte  betrachtet  Nietzsche  nur  deshalb  zu- 
gleich für  die  wertvollsten,  weil  sie  die  größten  Kraft- 
quellen sind;  er  ordnet  die  Werte  nach  der  Maßskala 
der  Kraft.  Jede  Stärke  hatte  schon  an  sich  etwas 
Labendes,  Beseligendes  für  seinen  Blick  und  so  verstieg 
er  sich  bis  zum  Preise  der  Grausamkeit;  er  meinte 
freilich  die  vergeistigte  Grausamkeit.  Alle  seine  Ge- 
danken zielen  auf  die  Erhöhung  des  Menschen  und 
die  Wertbestimmung  der  verschiedenen  Typen  des 
Menschen;  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  bekämpft  er, 
was  er  unter  Moral  verstand.  Er  fühlt  sich  im  Gegen- 
satz zu  der  Moral  der  Gleichheit,  weil  er  in  dem 
Glauben  an  die  allgemeine  Gleichheit,  dem  Handeln 
nach  diesem  Glauben  ein  Unrecht  gegen  die  Ungleichen 
erkennt.  Dieser  Moral  der  Gleichheit,  der  Sklaven- 
moral,  wie  er  sie  taufte,  stellt  er  seine  Herrenmoral 
der  Ungleichheit  gegenüber  und  diese  Moral  der 
„Rasse  und  des  Privilegiums"  wendet  sich  nicht  an  die 
Menge,  sondern  an  die  Wenigen  und  Auserwählten,  die 
sich  von  der  Menge  abheben,  sich  über  sie  erheben. 
Die  Moral  des  Christentums  hat  er,  wie  Schopenhauer 
stets  nur  durch  buddhistische  Nebel  und  Schleier  ge- 
sehen; er  meinte,  sie  verneine  das  Leben  ohne  Rück- 
sicht, ohne  Absicht,  nur  um  des  Verneinens  willen,  und 
wußte  nichts  von  dem  Worte,  welches  befiehlt  und  ver- 
heißt, sein  Leben  zu  verlieren,  um  es  zu  gewinnen.  Er 
kannte  überhaupt  nur  die  Mitleidsmoral,  die  das  Leben 
schwächt,  und  den  Utilitarismus,  der  es  verflacht;  daß 
die  wahre  Herrenmoral  des  autonomen  Willens  schon 
gefunden  war,  als  er  sie  noch  suchte,  ist  ihm  entgangen. 
Zu   dieser  Moral  der  Selbstgesetzgebung  aber  ist  jedes 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  IC 


226  Siebenter  Vortrag. 

Vernunftwesen  als  solches  berufen,  wenn  es  auch  erst 
durch  seine  Handlungen  beweisen  muß,  daß  es  auch  für 
sie  auserwählt  sei. 

Indem  Nietzsche  die  Forderungen  des  Lebens  immer 
höher  trieb  und  den  Blick  auf  künftige  Möglichkeiten 
des  Lebens  hinaus  schweifen  ließ,  mußte  er  zuletzt  über 
die  Grenzen  der  Menschheit  selbst  hinausgeraten.  Der 
Philosoph  und  Moralist  wird  zum  Propheten.  Auch  der 
größte  Mensch  mußte  ihm  zu  klein  erscheinen,  jene  aufs 
Höchste  gespannten  Forderungen  zu  erfüllen,  den  Reich 
tum  jener  Möglichkeiten  auszuschöpfen.  Nur  ein  über- 
menschliches Wesen  vermöchte  über  alles  Leid,  alle 
Schwere  des  Lebens  zu  triumphieren  und,  was  „der 
ganzen  Menschheit  zugeteilt  ist",  in  seinem  Selbst  zu 
umfassen ,  ohne  zu  zerscheitern.  Der  „synthetische 
Mensch",  der  „Übermensch",  von  dem  Nietzsche 
träumte,  ist  das  Ideal  des  Menschen  und  nur  die  Kunst 
vermag  sein  Bild  zu  zeigen.  Dort,  von  der  Decke  der 
Kapelle  di  San  Sisto  schauen  sie  nieder,  die  Über- 
menschen und  Halbgötter,  alles  Große  des  Menschen 
erscheint  in  ihnen  vergrößert,  das  Hohe  gesteigert;  aber 
auch  sie  sinnen  dem  noch  Höheren,  dem  Göttlichen 
nach.  Nietzsche  aber  will  das  Ideal  in  Fleisch  und  Blut 
verwandeln,  er  will  den  Übermenschen  züchten.  Doch, 
wie  phantastisch  dieser  Gedanke  sein  mag,  auch  er 
stammt  aus  der  Lebensliebe  des  Philosophen.  Und  so 
entwickeln  in  der  Tat  die  wesentlichsten  Gedanken 
Nietzsches:  der  aristokratische  Individualismus,  die  neue 
Moral,  das  Übermenschentum,  alle  nur  das  eine  Grund- 
thenia  seiner  Philosophie:  die  Verklärung,  die  Vergött- 
lichung des  Lebens. 

Werte  entdecken   und    damit   an    den  Idealen  der 
Menschheit  mitzuschaffen,  ist  der  Beruf  jener  Philosophie, 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      227 

die  nicht  Wissenschaft  ist,  sondern  Lebensanschauung 
und  Geistesführung.  „Unsere  Wertschätzungen  be- 
stimmen unsere  Lebensweise."  Veränderung  der  Wert- 
schätzungen ist  Veränderung  der  Lebensweise,  der  Ge- 
fühlsweise, des  Willens  selbst.  Werte  „umwerten",  neue 
Werte  schaffen  —  heißt  die  Kultur  umschaffen,  neue 
Kultur  schaffen ;  denn  alle  Kultur  beruht  auf  einem  System 
von  Wertbegriffen.  Nietzsche  wurde  zum  Kritiker  der 
moralischen  Werte,  weil  er  der  Philosoph  der  Kultur 
sein  wollte.  Und  mehr  als  dies.  Er  wollte  der  Be- 
fehlende und  Gesetzgeber,  der  Schöpfer  einer  neuen 
Kultur  sein.  Da  er  mehr  Dichter  als  Philosoph  war, 
und  in  sich  den  Beruf  des  Propheten  spürte,  wollte  er 
die  Werte,  die  er  entdeckt  hatte,  entdeckt  zu  haben 
glaubte,  sogleich  „einverleiben";  er  wollte  sie  verkörpert 
vor  sich  sehen  und  ihr  verkörpertes  Bild  ist  eine  Zeit- 
lang für  ihn  der  „Übermensch".  Der  Name  mag  ihm 
aus  einer  verdunkelten  Erinnerung  an  Goethes  Gebrauch 
desselben  gekommen  sein;  Goethe  hat  freilich  zu  dem 
Namen  auch  die  Kritik  des  Begriffes  selbst  hinzugefügt : 
„wie  viel  bist  du  von  anderen  unterschieden?"  sagt  die 
Wahrheit  zum  Dichter,  der  sich  schon  Übermensch 
glaubte.  Eine  Art  Begründung  für  seine  Idee  findet 
Nietzsche,  wie  zur  selben  Zeit  für  einen  ähnlichen  Ge- 
danken Guyau,  im  populären  Darwinismus.  Warum 
sollte  die  Entwicklung  beim  Menschen  Halt  machen 
müssen?  „Alle  Wesen  bisher  schufen  etwas  über  sich 
hinaus:  und  ihr  wollt  die  Ebbe  dieser  Flut  sein?"  läßt 
Zarathustra  sich  vernehmen.  „Die  Entwickelung",  meint 
auch  Guyau,  „muß  das  Vermögen  haben,  Arten  und 
Typen  hervorzubringen,  höher,  als  es  der  Typus  Mensch 
ist.  Und  wer  weiß,  ob  sie  nicht  Wesen  schaffen  wird, 
oder   schon  geschaffen  hat,  die  den  Göttern  der  Alten 

15* 


228  Siebenter  Vortrag. 

entsprechen.  Solche  Wesen  verwirklichen  vielleicht  unser 
Ideal."  Der  Übermensch  ist  für  Nietzsche  zunächst 
die  Überart  des  Menschen,  die  aus  dem  Menschen  zu 
züchtende  Art:  das  Postulat  der  Zukunft  des  Menschen. 
Für  unseren  Philosophen  ist  aber  dieses  postulierte  Wesen 
vor  allem  auch  ein  religiöser  Wertbegriff.  Der  Glaube  an 
den  Übermenschen  hat  den  Glauben  an  Gott  zu  ersetzen. 
.JEinst  sagte  man  Gott,  wenn  man  auf  ferne  Meere 
blickte,  nun  aber  lehre  ich  euch  sagen:  Übermensch." 
Nietzsche  vermochte  die  „absolute  Physik"  nicht  zu  er- 
tragen —  wer  vermöchte  dies  auch?  —  und  darum 
baut  er  in  die  entgötterte  Wirklichkeit  das  Reich  seines 
Übermenschen.  „Gott  ist  tot",  der  Positivismus  der 
Wissenschaft  hat  ihn  getötet;  —  also  lasset  uns  an  seiner 
Stelle  den  Übermenschen  schaffen.  Ohne  den  Glauben 
an  ihn,  die  Hoffnung  auf  ihn  hätte  das  Leben,  hätte  die 
Erde  keinen  Sinn:  „der  Übermensch  ist  der  Sinn  der 
Erde." 

Nach  seiner  Loslösung  aus  der  Romantik  seiner 
Jugend,  der  Loslösung  von  Schopenhauer  und  Wagner, 
hatte  sich  Nietzsche  völlig  in  modern-positivistische,  ja 
skeptisch-nihilistische  Gedanken  verstrickt;  die  dadurch 
nur  zurückgedrängten  Grundtriebe  seines  Wesens  aber 
zogen  ihn  nach  der  entgegengesetzten  Seite,  bis  aus 
der  Vermischung  so  ungleichartiger  Elemente  eine  neue 
Art  von  Schwärmerei  und  Romantik  hervorging  und  das 
Bild  des  Übermenschen  erzeugte.  Doch  auch  diesen 
Götzen,  zu  seiner  Ehre  sei  es  gesagt,  hat  er  selbst  noch 
zertrümmert;  er  muß  eingesehen  haben,  wie  übereilt  und 
falsch  seine  Folgerung  aus  der  Darwinschen  Theorie  war. 
„Der  Mensch  ist  ein  Ende,"  heißt  es  im  Antichrist,  — 
„nicht  was  die  Menschheit  ablösen  soll  in  der  Reihen- 
folge der  Wesen,  ist  das  Problem."  —  An  die  Stelle  des 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     220 

Übermenschen  tritt  wieder  der  „stärkere  Typus"  Mensch ; 
an  die  Stelle  des  Göttlichen  aber  „Dionysos":  das  Sym- 
bol für  die  schaffende  Natur,  den  Willen  der  Macht. 

Die  Entwickelung  des  Menschen  zu  einem  höheren 
Typus  soll  durch  die  Kraft  eines  „großen  züchtenden 
Gedankens"  herbeigeführt  werden:  „Überwindung  der 
Menschheit  durch  Lehren,  an  denen  sie  zugrunde  geht, 
ausgenommen  die,  welche  sie  aushalten  können",  —  dies 
ist  Nietzsches  Weg  zum  Übermenschen,  Der  Gedanke 
aber,  der  die  Menschheit  überwinden  soll  und  den  Über- 
menschen züchten,  ist  der  Gedanke  der  ewigen  Wieder- 
kunft. In  der  unendlichen  Zeit  und  dem  Kreislauf  aller 
Dinge  kehrt  auch  dieses  unser  gegenwärtiges  Leben 
immer  wieder,  dieses  nämliche  Leben:  unser  Leben  — 
ein  ewiges  Leben.  Es  ist  Nietzsches  zweiter  Glaubens- 
satz, der  neue  Unsterblichkeitsglaube^  der  die  Zeit  zur 
Ewigkeit  macht.  Als  dieser  Gedanke  seinen  Geist,  wir 
müssen  sagen  in  einem  Augenblick  krankhafter  Über- 
reizung, wie  ein  Blitz  durchfuhr,  wie  eine  Eingebung  in 
ihm  aufleuchtete,  hatte  Nietzsche  seine  Quelle  vergessen. 
Er  hielt  sich  für  den  „Ersten,  der  diese  Lehre  lehren 
mußte,"  für  den  Urheber  des  „mächtigsten"  Gedankens. 
Seine  Philosophie  bringe  den  siegreichen  Gedanken,  an 
welchem  zuletzt  jede  andere  Denkweise  zugrunde  geht. 
Auch  in  der  Folge  erinnerte  er  sich  nie  mehr  daran, 
daß  er  selbst,  in  der  zweiten  „unzeitgemäßen  Betrach- 
tung", nicht  ohne  Spott  es  als  pythagoreisches  Schul- 
dogma angeführt  hatte:  bei  der  gleichen  Konstellation 
am  Himmel  müsse  auch  auf  Erden  das  Gleiche  und  zwar 
bis  ins  Einzelne  und  Kleinste  wiederkehren.  Wir  können 
den  Ursprung  der  Lehre  noch  weiter  zurückverfolgen, 
zu  den  Spekulationen  der  Chaldäer  über  das  „Weltjahr", 
das  „große  Jahr",    und  in  der  griechischen  Philosophie 


230  Siebenter  Vortrag. 

taucht  sie  seit  den  Pythagoreern  immer  wieder  auf; 
selbst  bei  Aristoteles  lassen  sich  Spuren  davon  finden. 
Noch  seltsamer  muß  uns  die  stürmische  Erregung 
erscheinen,  in  welche  Nietzsche  durch  den  Gedanken 
der  ewigen  Wiederkunft  versetzt  wird.  Erst  ist  er  im 
Tiefsten  erschüttert,  dann  bricht  er  in  höchstes  Ent- 
zücken aus ;  erst  ist  es  ein  Dämon,  der  so  zu  ihm  redet, 
dann  ein  Gott  und  nie  hörte  er  Göttlicheres.  Gewil^» 
hat  der  Gedanke  des  ewigen  Einerlei,  woraus  es  kein 
Entrinnen  gibt,  wenn  er  für  wahr  genommen  wird,  etwas 
Erdrückendes.  „Denken  wir  diesen  Gedanken  in  seiner 
furchtbarsten  Form:  das  Dasein,  so  wie  es  ist,  ohne 
Sinn  und  Ziel  —  aber  unveränderlich  wiederkehrend, 
ohne  ein  Finale  ins  Nichts:  die  ewige  Wiederkehr  — 
das  ist  die  extremste  Form  des  Nihilismus:  das  Nichts, 
das  Sinnlose  ewig!"  „Ach,  der  Mensch  kehrt  ewig 
wieder!"  —  klagt  „Zarathustra".  „Der  kleine  Mensch 
kehrt  ewig  wieder!  Allzuklein  auch  der  Größte!"  Um 
der  Last  dieses  Gedankens  nicht  zu  erliegen ,  bedurfte 
Nietzsche  des  Trostes  und  Gegengewichtes  einer  be- 
glückenden, ihn  erhebenden  Vorstellung;  er  schuf  sich, 
wie  nach  seiner  Theorie  der  tragische  Künstler,  einen 
Mythos,  eine  lustvolle  Vision;  die  Idee  des  Übermenschen 
hat  hier  ihren  Ursprung.  Und  ebenso  ist  als  Mittel, 
den  Gedanken  der  Wiederkehr  zu  ertragen,  die  „Um- 
wertung aller  Werte"  geplant.  —  Nietzsche  will  die  ewige 
Wiederkunft  beweisen,  durch  den  Satz  des  Bestehens 
der  Energie,  meint  er,  werde  sie  gefordert.  Denn  die 
Energie  sei  eine  endliche  Größe,  die  Zeit,  in  der  sie 
wirkt,  unendlich;  jede  Kombination  der  Energieformen 
müsse  also  schon  dagewesen  sein,  dann  aber  auch  die, 
welche  ihr  voranging  und  die,  welche  ihr  folgen  wird, 
alles   mithin   vom  Kleinsten  bis  zum  Größten  müsse  in 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     23 1 

genau  gleicher  Weise  schon  dagewesen,  unendliche  Male 
oft  dagewesen  sein  und  wieder  ins  Dasein  kommen. 
In  diesem  „Beweise"  wird  die  absolute  Realität  der  Zeit 
angenommen,  als  hätte  es  noch  keine  Kritik  der  Anti- 
nomien des  Unendlichen  gegeben;  die  Zeit,  die  unab- 
hängige Variable  in  der  Bewegung,  wird  zu  einer  un- 
abhängig Variablen  von  der  Bewegung  gemacht,  als 
sei  sie  selbst  etwas  für  sich  Bestehendes.  Auch  könnte 
eine  und  dieselbe  Kombination  von  Energieformen  auf 
unendlich  vielen  Wegen  erreicht  werden  und  unendlich 
verschiedene  Folgeerscheinungen  nach  sich  bringen.  — 
Gleichviel  aber,  die  ewige  Wiederkunft  sei  wahr  oder 
nur  wahrscheinlich,  sie  sei  zu  beweisen  oder  nicht:  „auch 
der  Gedanke  einer  Möglichkeit,"  erklärt  Nietzsche,  „kann 
uns  erschüttern  und  umgestalten."  Wer  sich  „den  Ge- 
danken der  Gedanken"  einverleibt  hat,  den  wird  er  ver- 
wandeln. Die  Frage  bei  allem,  was  wir  tun:  ist  es  so, 
daß  wir  es  unzählige  Male  tun  wollen?  ist  das  „größte 
Schwergewicht",  das  auf  unser  Handeln  gelegt  werden 
kann.  „So  leben,  daß  du  wünschen  mußt,  wieder  zu 
leben,  ist  die  Aufgabe.  So  leben,  daß  wir  nochmals 
leben  und  in  Ewigkeit  so  leben  wollen!  Unsere  Auf- 
gabe tritt  in  jedem  Augenblick  heran.  Drücken  wir  das 
Abbild  der  Ewigkeit  auf  unser  Lebenl  Dieser  Ge- 
danke enthält  mehr  als  alle  Religionen,  welche  nach  einem 
anderen  Leben  hinblicken  lehrten".  Die  Lehre  der  Wie- 
derkunft ist  „der  Wendepunkt  der  Geschichte,  —  die  Re- 
ligion der  Religionen".  Jedesmal,  wenn  in  dem  Ringe  des 
Menschendaseins  dieser  mächtigste  Gedanke  auftaucht 
„ist  für  die  Menschheit  die  Stunde  des  Mittags."  —  Wir 
wissen,  dieser  Gedanke  ist  wiederholt  aufgetaucht,  die 
Stunde  des  Mittags  für  die  gegenwärtige  Menschheit 
wiederholt  schon   angebrochen,    die    erwarteten  Folgen 


232  Siebenter  Vortrag, 

aber  sind  noch  immer  ausgeblieben,  —  Nietzsche  da- 
gegen sieht  schon  im  Geiste  durch  den  neuen  Glauben 
ein  stärkeres  Geschlecht  gezüchtet  werden  und  aus 
diesem  den  „Übermenschen"  hervorgehen,  „Wer  nicht 
daran  glaubt,  hat  ein  flüchtiges  Leben  in  seinem  Be- 
wußtsein"; —  die  nicht  daran  Glaubenden,  behauptet  er, 
müssen  ihrer  Natur  nach  endlich  aussterben.  Der 
Glaube  an  die  ewige  Wiederkunft  ist  die  Brücke  zum 
Übermenschen;  er  schafft  den  Willen  jedem  Augenblick 
des  Lebens  ewigen  Gehalt,  den  Wert  und  die  Wünsch- 
barkeit  ewiger  Wiederholung  zu  geben:  der  Glaube  an 
den  Übermenschen  hinwieder  macht  allein  den  Gedanken 
der  ewigen  Wiederkunft  erträglich.  So  hängen  bei 
Nietzsche  die  beiden  Glaubenssätze  zusammen. 

Man  wird  Nietzsche  schwerlich  zugeben,  daß  gerade 
die,  welche  das  Leben  so  ernst  nehmen,  daß  sie  an 
jeden  Augenblick  das  Schwergewicht  der  ewigen  Wieder- 
holbarkeit anhängen,  übrig  bleiben,  daß  sie  die  für  das 
Überleben  Auserwählten  sein  sollen  und  nicht  vielmehr 
umgekehrt  jene,  welche  rasch  zugreifen,  die  Leichtherzigen, 
Frohgemuten  und  schnell  Entschlossenen.  Und  wie  viel 
hängt  vom  Gang  der  Dinge  wirklich  von  unserem 
Willen  ab?  hängt  auch  nur  der  nächste  Augenblick 
unseres  Daseins  von  uns  ab?  An  die  Gebundenheit 
alles  menschlichen  Lebens  zu  denken,  scheint  der  Philo- 
soph vergessen  zu  haben.  ,.Das  Schicksal  ist  unerbitt- 
lich, und  der  Mensch  so  wenig",  klagte  einer  der 
„Mächtigsten  der  Erdensöhne",  von  dem  auch  das  Wort 
kam:  „mit  Göttern  soll  sich  nicht  messen  irgend  ein 
Mensch,"  Kann  femer  ein  Ziel  heißen ,  was  immer 
wieder  überschritten  werden  muß?  Auch  der  Über- 
mensch und  was  sonst  für  Götter  der  Erde  ihm  folgen 
mögen,   „kehrt   ewig   wieder,"    wie   der  Mensch  selbst  ;^ 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.     233 

der  Weg  nach  oben  und  der  Weg  nach  unten  ist  hier 
wie  bei  Heraklit  ein  und  derselbe  Weg.  Muß  endlich 
alles,  die  gesamte  Entwickelung  in  der  Natur  auf  den 
Menschen  bezogen  werden,  im  Menschen  den  Mittel- 
und  Zielpunkt  haben?  Nietzsches  Weltanschauung  ist 
anthropocentrisch  geraten  und  gehört  damit  eigentlich 
in  die  vorkopernikanische  Aera. 

Doch,  lassen  Sie  uns  nicht  vergessen :  es  sind  Visionen 
und  Verkündigungen  eines  rehgiösen  und  prophetischen 
Dichters  und  als  solche  mit  kritischem  Maßstabe  allein 
nicht  zu  messen.  Niemand  wird  sich  auch  der  religiösen 
Stimmung  versagen,  die  aus  einzelnen  Sätzen  des  „Zara- 
thustra"  und  dem  Geiste  der  ganzen  Dichtung  redet. 
Und  vielleicht  findet  man  selbst  in  diesen  über-  und 
gegenchristlichen  Aussprüchen  den  christlichen  nicht  all- 
zuferne Gedanken,  nur  in  positivistischer  Verkleidung.  Es 
ist  doch  wieder  von  Aufopferung  des  Menschen  für  ein 
höheres  Sein  die  Rede,  von  dem  Verlieren  des  Lebens 
um  es  zu  gewinnen.  Ein  Reich  des  Jenseits  wird  er- 
richtet, obschon  nur  eines  zeitlichen  Jenseits,  in  das  aber 
der  Mensch  nur  geistig,  nicht  leiblich  eingehen  kann. 
Denn  das  Übermenschentum  ist  für  uns  nie  erreichbar,' 
immer  wieder  werden  wir  dahin  sterben,  ohne  es  je  zu 
schauen.  —  Nietzsche  war  eben  von  Hause  aus,  d.  i. 
seinem  Wesen  nach  eine  religiös  gestimmte  Natur;  selbst 
sein  Atheismus  hat  religiöse  Farbe  und  Glut.  Er  leugnet 
Gott  als  Gott;  die  gewöhnliche  Gottesvorstellung  ge- 
nügt ihm  nicht,  in  seinem  „Übermenschen"  glaubt  er 
Besseres  und  Höheres  zu  besitzen.  „Ist  es  nicht  deine 
Frömmigkeit  selber,  die  dich  nicht  mehr  an  Gott  glauben 
läßt",  sagt  er  von  Zarathustra  und  meint  sich  selbst. 
Und  vor  allem,  er  kannte  Ehrfurcht  und  opferte  sich 
seinem  Werke. 


234  Siebenter  Vortrag. 

Es  ist  leicht,  einem  Denker,  der  sich  stets  zu  wan- 
deln liebte,  Widersprüche  nachzuweisen;  auch  muß  zu- 
gegeben werden,  zu  Nietzsches  Natur  gehörten  die 
Widersprüche,  Sein  Vorstellungsleben  ist  in  beständiger 
Dissociierung  begriffen  und  dies  ist  das  Pathologische 
bei  ihm.  Auch  auf  ihn  findet  das  Gleichnis  Anwendung 
von  einem  „von  der  Natur  schön  intentionierten  Körper, 
der  von  einer  unheilbaren  Krankheit  ergriffen  wäre,"  — 
und  es  ist  beinahe  mehr  als  ein  Gleichnis.  Noch  leichter 
ist  es,  sich  über  das  Radikale  seiner  Anschauungen,  die 
Schroffheit  und  das  Verletzende  in  seiner  Rede  ent- 
rüstet zu  zeigen.  Aber  er  redete  nur  so  laut,  weil  er 
von  nirgend  her  ein  Echo  vernahm,  nicht  einmal  Wider- 
spruch. Und  das  Krankhafte  und  Mißratene  in  seinem 
Werke  wird  doch  vom  Gesunden  und  Heilsamen  über- 
wogen. Wie  vieles  in  diesem  Werke  ist  nicht  in  der 
Tat  eine  „Gesundheitslehre  des  Lebens!"  Immer  mehr 
lernen  wir  ihn  in  seinen  Absichten  verstehen,  aus  dem 
Ganzen  der  Mission,  die  er  erfüllte,  beurteilen  als  den, 
welcher  seiner  Zeit  notwendig  war.  Ihren  Mängeln  stellte  er 
seine  Ideale  gegenüber.  Er  stellte  ihr  vor  allem  den 
Grundwert  der  starken,  selbsteigenen  Persönlichkeit 
gegenüber  und  widersprach  einer  mehr  konventionellen 
und  herumgegebenen,  als  innerlich  gefühlten  Humanität, 
die  Mensch  und  Mensch  für  gleich  nimmt  und  das  Große 
dem  Kleinen  gleich  machen  möchte.  Den  Gefahren 
dieses  Gleichschätzens ,  Gleichmachens  gegenüber  ist 
seine  zwar  einseitig  geratene  Lehre  der  Ungleich- 
heit und  des  Ranges  sicher  im  Rechte.  Es  ist  für  ihn 
die  höchste  Moral:  aus  sich  eine  Person  zu  machen. 
„Folge  mir  nicht  nach,  sondern  dir,  sondern  dir!  werde 
fort  und  fort  der,  der  du  bist,  der  Lehrer  und  Bildner 
deiner  selbst!"     Unsere  Zeit  krankt  an  ihrer  Unruhe  und 


Schopenhauer  und  Nietzsche.  —  Zur  Frage  des  Pessimismus.      235 

Hast,  ein  Nachlassen  der  Vitalität,  eine  große  Ermüd- 
barkeit sind  die  Symptome  ihrer  Krankheit;  lebensfeind- 
liche Lehren  finden,  wenn  auch  schon  seltener,  sogar  in 
der  Jugend  Anklang  und  Zustimmung.  Nietzsche,  der 
Leidende,  hat  uns  Liebe  zum  Leben  gelehrt,  zu  allem, 
was  darin  stark  und  groß  ist.  Und  nicht  Worte  hören 
wir  bloß,  flammende  Worte,  wir  sehen  die  Tat.  Die 
Tragik  seines  Schicksals  wird  überstrahlt  durch  seinen 
hochgesinnten  Willen.  Was  er  lebte  ist  uns  auch  von 
ihm  das  Bedeutungsvollste  in  seinem  Wirken.  All  das 
„Negative  und  Empörte"  in  ihm  schmolz  doch  in  seiner 
Liebe  des  Lebens:  „wirklich  den  Pessimismus  über- 
winden, ein  Goethescher  Blick  voll  Liebe  und  gutem 
Willen  als  Resultat",  —  diese  seine  Worte  erklären  den 
Sinn  seines  Streb  ens.  Aber  das  Leben  soll  nicht  nur 
bejaht,  es  soll  erhöht,  gesteigert  werden.  In  seiner 
„Argonautenfahrt"  nach  neuen  Idealen  ist  dieser  „Wage- 
und  Versuchergeist"  gewiß  oft  in  die  Irre  geraten.  Da- 
für hat  er  auch  Probleme  aufgeworfen,  aufgegraben,  wie 
die  von  Evolution  und  Entartung,  welche  die  Philosophie 
der  Kultur  und  Moral  noch  lange  beschäftigen  werden. 
Und  so  sind  Nietzsches  Schriften,  eben  durch  das  Apho- 
ristische und  Abgerissene,  das  Suchende  und  Fragende, 
das  aus  ihnen  redet,  den  Gegensatz  der  Stimmungen 
und  Weltanschauungen,  die  darin  ineinanderwogen  und 
ihre  Linien  kreuzen,  der  Spiegel  der  modernen  Seele. 
„Den  ganzen  Umkreis  der  modernen  Sele  umlaufen,  in 
jedem  ihrer  Winkel  gesessen  zu  haben'',  war,  —  er  hat 
es  selbst  gesagt  — ,  „sein  Ehrgeiz,  seine  Tortur  und 
sein  Glück".  Nietzsche  „resümiert  die  Modernität",  er 
hat  sie  zugleich  vollendet  und  überwunden. 


ACHTER  VORTRAG. 


GEGENWART  UND  ZUKUNFT  DER  PHILOSOPHIE. 

Mit  dem  Hinweis  auf  die  wiedererwachte  Teilnahme 
der  Zeit  an  philosophischen  Fragen  und  Untersuchungen 
konnte  ich  die  Reihe  dieser  Betrachtungen  beginnen; 
ich  kehre  nur  zu  ihrem  Ausgangspunkte  zurück,  wenn 
ich  am  Schlüsse  derselben  einen  Blick  auf  den  gegen- 
wärtigen Stand  jener  Fragen  richte  und  versuche,  An- 
schauungen über  die  Zukunft  der  Philosophie  zu  ent- 
wickeln. 

Wer  sich  allein  nach  den  Werken  der  Fachphilo- 
sophen ein  Bild  von  der  gegenwärtigen  Verfassung  der 
wissenschaftlichen  Philosophie  machen  wollte,  würde 
Mühe  haben,  seinem  Bilde  Einheit  und  Geschlossenheit 
zu  geben,  so  tiefgehend  ist  noch  immer  der  Streit  der 
Meinungen  in  der  Philosophie,  so  weit  gespannt  der 
Gegensatz  der  Richtungen  und  es  scheint,  als  solle  die 
Anarchie  auf  diesem  Gebiete  nicht  so  bald  enden- 
Eines  zwar  würde  ihm  sogleich  auffallen,  das  starke 
Hervortreten  der  Philosophie  -  geschichtlichen  Unter- 
suchungen vor  den  systematischen,  die  an  der  Fort- 
bildung der  Philosophie  selbst  arbeiten  wollen.  Sehen 
wir  von  der  Psychologie  ab,  die  sich  jedoch  immer  be- 
stimmter zu  einer  positiven  Wissenschaft  konstituiert,  so 
hat  die  reproduktive  Arbeit  in  der  Philosophie  auch 
heute     noch    das     Übergewicht    über    die    produktive. 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  237 

Freilich  sind  in  gewisser  Hinsicht  auch  jene  historisch- 
kritischen Untersuchungen  produktiv.  Sie  haben  aus 
der  Geschichte  der  Philosophie  eine  Wissenschaft  ge- 
macht und  Wesen  und  Aufgabe  der  Philosophie  aus 
dem  gesamten  Prozeß  ihrer  Entwickelung  bestimmt. 
Ihnen  verdanken  wir  auch,  daß  das  philosophische 
Denken  trotz  des  Nachlassens  des  philosophischen 
Schaffens  nicht  unterbrochen  wurde.  Sie  haben  an  dem 
Faden  weiter  gesponnen,  der  zeitweilig  abgerissen  schien, 
sei  es,  daß  sie  in  mehr  freier  und  gleichsam  künstle- 
rischer Form  die  großen  Gedankensysteme  der  Ver- 
gangenheit nachzuschaffen,  oder  in  strengerer  Methode 
den  Inhalt  jener  Systeme  im  Einzelnen  zu  erschöpfen 
suchten. 

Nicht  von  rein  historischer,  sondern  zugleich  un- 
mittelbar sachlicher  Bedeutung  ist  das  Studium  Kants. 
Es  beginnt  um  die  Mitte  der  sechziger  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts,  nachdem  früher  bereits  Helmholtz  auf 
Kant  aufmerksam  gemacht  hatte,  und  heute  gebührt 
ihm  eine  nach  Umfang  und  Vertiefung  entscheidende 
Stelle  in  der  Philosophie  der  Gegenwart. 

„Zurück  zu  Kant!"  lautete  die  Forderung  in  jenen 
Jahren  und  sie  war  vollkommen  berechtigt,  ging  sie  doch 
aus  einem  richtigen  Verständnis  der  Lage  der  Philo- 
sophie und  ihres  Verhältnisses  zur  Wissenschaft  hervor. 
Kant  war  der  letzte  unter  den  deutschen  Philosophen, 
der,  mit  der  positiven  Wissenschaft  völlig  vertraut, 
nicht  nur  deren  Ergebnisse  kannte,  sondern  sie  auch 
mit  seinen  eigenen  Forschungen  bereicherte.  Der 
Schöpfer  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ist  auch  der 
Verfasser  der  Naturgeschichte  des  Himmels.  Und  noch 
in  dem  Nachlasse  Kants  besitzen  wir  den  Entwurf  zu 
einem   Werke:   „Von    dem   Übergange   von   den   meta- 


238  Achter  Vortrag. 

physischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  zur 
Physik".  So  viel  lassen  die  daraus  veröffentlichten 
Proben  schon  jetzt  erkennen,  daß  es  sich  dabei  um  die 
Entwickelung  einer  Hypothese  handeln  sollte,  welche 
neuesten  Anschauungen  der  Wissenschaft  nicht  sehr 
ferne  steht.  Kant  sucht  darin  den  Mechanismus  in  der 
Natur  energetisch,  wie  wir  heute  sagen  würden,  zu  er- 
klären, ihn  aus  einem  beständig  wirksamen  Agens  ab- 
zuleiten. Aber  mehr  als  dieser  vermutliche  Inhalt  der 
Schrift,  die  Kant  zu  seinen  Hauptschriften  zählte,  erscheint 
uns  die  Tatsache  von  Wichtigkeit,  daß  der  kritische 
Philosoph  seine  Lehre  statt  nach  oben  in  das  Abstraktere 
nach  unten,  zu  dem  Konkreten  hin  auszubauen,  von  der 
Metaphysik  zur  Physik  überzugehen  dachte.  Zurück 
zu  Kant!  bedeutet  die  Wiederanknüpfung  der  Ver- 
bindung zwischen  Wissenschaft  und  Philosophie,  die,  zum 
Nachteil  beider,  längere  Zeit  hindurch  abgebrochen  war. 
Nicht  aber  darf  darunter  die  Forderung  verstanden 
werden,  bei  Kant  stehen  zu  bleiben.  Das  Werk  Kants 
ist  über  ein  Jahrhundert  alt,  und  die  Wissenschaft  seit- 
her nicht  stehen  geblieben,  und  so  darf  auch  die  Philo- 
sophie nicht  bei  Kant  stehen  bleiben. 

Außer  den  allgemeinen  logischen  und  mathema- 
tischen Grundlagen  der  Erfahrung,  die  für  alle  Zeiten 
feststehen,  weil  sie  die  Definition  der  Erkenntnis  selbst 
ausmachen,  d.  h.  ihren  Begriff  bestimmen,  sind  alle 
übrigen  Bestandteile  und  Aufgaben  der  Erkenntnislehre, 
oder  Philosophie  der  Wissenschaft  in  Fluß  und  fort- 
schreitender Entwickelung  begriffen.  Mit  der  Wissen- 
schaft ändert  sich  auch  ihre  Philosophie,  Die  besonderen 
Probleme  der  Erkenntnistheorie,  heute  z.  B.  die  Fragen 
nach  den  Prinzipien  der  Physik,  werden  der  Philosophie 
von    der   forschenden  Wissenschaft    selbst  geliefert,    sie 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  239 

gehen  aus  dem  Zusammenhange  und  dem  Betriebe  der 
wissenschaftlichen  Arbeit  hervor.  Zum  Beweis  dafür 
brauchen  wir  uns  nur  noch  einmal  an  den  Satz  der 
Erhaltung  der  Energie  und  sein«  Bedeutung  für  eine 
philosophische  Auffassung  der  Natur  zu  erinnern.  Wie 
der  verbindende  Gedanke,  den  dieser  Satz  zum  Aus- 
druck bringt,  aus  der  Physik  erst  ein  wirkliches  System 
gemacht,  ihre  zerstreuten  Erkenntnisse  einheitlich  wie 
zu  einem  einzigen  Ringe  zusammengeschlossen  hat,  so 
hatte  er  selbst  wieder  eine  veränderte,  völlig  praecise  Vor- 
stellung von  dem  ursächlichen  Zusammenhang  in  der 
äußeren  Natur  zur  Voraussetzung.  Der  Begriff  der 
Größenübereinstimmung  zwischen  Ursache  und  Wirkung, 
der  Konstanz  der  Größe  der  Ursache  in  der  Wirkung 
ist  die  neue  Anschauung  von  der  Kausalität,  welche 
alles,  was  der  früheren  Auffassung  dieses  Begriffs  an 
Hypothetischem,  Unbekanntem  und  Anthropomorphem 
anhaftete,  endgiltig  beseitigt  hat.  Sie  hat  die  beiden 
Grundsätze  der  Beharrlichkeit  und  der  Verursachung  der 
Veränderungen  in  ein  Prinzip  verschmolzen;  es  ist  der 
größte  Fortschritt  der  allgemeinen  Wissenschaftslehre  seit 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

Neben  den  Grundgedanken  der  kritischen  Philosopie 
sind  es  auch  Ideen  Fichtes  und  namentlich,  wenn  auch 
in  mehr  mittelbarer  Weise,  Hegels,  welche  in  der  gegen- 
wärtigen Philosophie  eine  Art  von  Renaissance  erleben. 
Ich  denke  dabei  nicht  an  die  Neu- Hegeische  Bewegung 
in  der  englischen  und  amerikanischen  Philosophie;  denn 
diese  verfolgt  rein  spekulative  Interessen.  Ich  denke  an 
die  innere  Verwandtschaft  der  modernen  Geschichts- 
wissenschaft mit  dem  Geiste,  mit  welchem  Hegel  die 
Geschichte  erfaßte.  Bekanntlich  ist  das  Gedankensystem 
Hegels  an   dem  Ansprüche  gescheitert,    die  ganze  Welt 


240  Achter  Vortrag-. 

und  nicht  bloß  die  im  engeren  Sinne  des  Worts  histo- 
rischen Erscheinungen  als  Entwickehing  des  absoluten 
Geistes  verstehen  zu  können.  Sie  ist  gescheitert,  wie 
jede  so  anspruchsvolle  Philosophie  immer  wieder  scheitern 
muß.  Die  Naturphilosophie  Hegels  ist  als  Irrweg  er- 
kannt und  niemand  wird  diesen  Weg  je  wieder  betreten; 
seine  Geschichtsphilosophie  dagegen,  wozu  auch  seine 
Betrachtungen  über  die  Entwickelung  der  Kunst  zu 
zählen  sind,  ist  auch  für  unsere  Zeit  noch  von  anregender 
Bedeutung.  Zwischen  dieser  Philosophie  und  unserer 
Kulturwissenschaft  besteht  sogar  ein  analoges  Verhältnis, 
wie  es  zwischen  Kant  und  unserer  Naturwissenschaft 
besteht;  und  eigentlich  hat  erst  die  Hegeische  Auf- 
fassung der  Geschichte  die  Möglichkeit  einer  Kultur- 
wissenschaft im  Unterschiede  von  der  Naturwissenschaft 
ersichtlich  gemacht.  Auch  hier  hat  die  Philosophie  der 
nachfolgenden  Wissenschaft  Aufgaben  gestellt,  auch  hier 
aber  ist  sie  in  den  nämlichen  Fehler  verfallen,  den  sie 
bisher  in  ihren  Systemen  immer  und  immer  wieder  beging: 
die  Aufgaben  für  die  Lösung  zu  halten,  den  allgemeinen 
Gesichtspunkt,  unter  den  sie  die  Probleme  brachte,  schon 
für  die  gewonnene  Einsicht  selbst  zu  nehmen.  Zwar 
folgt  die  moderne  Geschichtswissenschaft  nicht  bewußt 
den  Spuren  Hegels,  aber  sie  befindet  sich  doch  auf  dem 
Wege,  den  die  Gedanken  des  Philosophen  zeigten  und 
ungeduldig  ans  Ende  durchlaufen  wollten;  sie  ist  Geist 
von  seinem  Geiste.  Schon  allein  die  Kühnheit,  mit 
welcher  der  absolute  Philosoph  voraussetzte,  nichts  im 
Leben  des  Geistes  könne  sich  dem  eindringenden  Ver- 
ständnis versagen,  alles  müsse  sich  dem  Begriflfe  er- 
schließen, mußte  von  mächtig  erregender  Wirkung  sein. 
Hegel  erstrebte  dieselbe  Objektivität  dem  historischen 
Stoffe    gegenüber,    welche    der    Positivismus    den    Tat- 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  24 1 

Sachen  in  der  Natur  gegenüber  bewährt;  er  will  die  Ge- 
schichte begreifen,  nicht  sie  meistern  und  hierin  liegt 
ein  Punkt  der  Berührung  zwischen  seiner  Spekulation 
und  der  wissenschaftlichen  Forschung.  „Eine  Philosophie 
ist  ihre  Zeit  in  Gedanken  erfaßt",  die  Geschichte  der 
Philosophie  der  Prozeß,  worin  der  gedankliche  Gehalt 
des  menschlichen  Kulturlebens  zum  Ausdruck  gelangt, 
zum  deutenden  Worte,  —  ein  Satz  wie  dieser  wird  un- 
vergessen bleiben,  wenn  auch  nichts  sonst  von  dem 
Hegeischen  Systeme  übrig  sein  wird. 

Die  wissenschaftliche  Philosophie  der  Gegenwart  ist 
nur  zu  geringerem  Teile  in  den  Arbeiten  der  Fachphilo- 
sophen enthalten,  in  ihren  Schriften  niedergelegt.  Wir 
haben  sie  vornehmlich  auch  in  den  allgemein-wissen- 
schaftlichen Anschauungen  der  großen  Naturforscher 
unserer  Zeit  zu  suchen:  diese,  die  wahren  Nachfolger 
der  Naturphilosophen,  sind  unsere  Philosophen.  Und 
wer  der  Gegenwart  eine  maßgebende  Bedeutung  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  abspricht,  hat  die  Bäume 
gesehen  aber  nicht  den  Wald,  er  hat  nicht  gesehen^ 
wo  gegenwärtig  die  Philosophie  lebt,  Sie  lebt  in  den 
Werken  von  Robert  Mayer,  von  Helmholtz,  von  Heinrich 
Hertz.  Aus  der  kleinen,  aber  gedankenreichen  Schrift 
R.  Mayers:  „Bemerkungen  über  das  mechanische  Äqui- 
valent der  Wärme",  lassen  sich  die  ganze  Aufgabe  und 
das  ganze  Verfahren  des  Naturerkennens  entwickeln 
und  zugleich  die  Grenzen  dieses  Erkennens  bestimmen. 
Und  bis  in  die  letzte  Zeit  seines  umfassenden  wissen- 
schaftlichen Wirkens  hat  H.  Helmholtz  den  erkenntnis- 
theoretischen Fragen  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet. 
Er  trennte  die  Voraussetzungen  für  die  Begreiflichkeit 
der  Tatsachen  von  den  zu  begreifenden  Tatsachen  selbst 
und  suchte,  erst  auf  dem  Wege  Kants,  dann  von  diesem 

Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  l6 


242  Achter  Vortrag. 

sich  weiter  entfernend,  mit  kritischem  Verständnis,  die 
theoretischen  Grundlagen  der  Naturwissenschaft  zu  prüfen- 
Wir  müssen  ihn  daher  zugleich  zu  den  Philosophen 
zählen,  wie  er  einer  der  hervorragendsten  Forscher 
war.  Ein  mustergiltiges  Beispiel  aber  von  der  Art, 
wie  Philosophie  und  Wissenschaft  zusammenhängen 
und  wie  sie  zusammenwirken  sollen,  hat  H,  Hertz  in 
den  „Prinzipien  der  Mechanik"  aufgestellt,  schon  durch 
das  Verfahren,  das  er  in  diesem  Werke  einhält.  Er 
zerlegt  dasselbe  in  zwei  symmetrisch  aufgebaute  Teile. 
In  dem  ersten  entwickelt  er,  ganz  im  Sinne  Kants  und 
unter  ausdrücklicher  Berufung  auf  diesen,  alle  zur  Dar- 
stellung der  Tatsachen,  hier  der  Bewegungserscheinungen, 
erforderlichen  Begriffe,  welche,  wie  er  sagt,  schon  durch 
innere  Anschauung  gegeben  werden,  oder,  wie  Kant  es 
ausdrückt,  aus  reiner  Anschauung  hervorgehen.  Aus 
diesen  Begriffen  entsteht  ein  in  sich  geschlossenes,  rein 
logisch-mathematisches  Lehrgebäude,  an  dessen  Sicher- 
heit und  absoluter  Festigkeit  ein  Zweifel  nicht  möglich 
ist.  Im  zweiten  Teile  fiihrt  sodann  Hertz  eine  Hypothese 
ein,  welche  etwas  über  den  Inhalt  der  Erfahrung  aus- 
sagen soll,  daher  auch  allein  durch  die  Erfahrung  ge- 
prüft werden  kann  und  soll.  Indem  er  nun  diese  Hypo- 
these: sein  „Grundgesetz",  demzufolge  Jedes  freie  System 
in  seinem  Zustande  der  Ruhe  oder  der  gleichförmigen 
Bewegung  in  einer  geradesten  Bahn  beharrt",  mit  den 
zuvor  definierten  kinematischen  Begriffen  in  Verbindung 
bringt,  entsteht  das,  was  wir  Erklärung  nennen,  nämlich 
die  einfachste  und  vollständige  Beschreibung  der  Tat- 
sachen, welche  Beschreibung  zugleich  Einsicht  mit  sich 
bringt,  weil  der  notwendige  Zusammenhang  der  Elemente, 
deren  sie  sich  bedient,  evident,  d.  i.  von  anschaulicher 
Gewißheit     ist.        Dies     eben     heißt     wissenschaftliche 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  243 

Philosophie,    dies    ist  Philosophie   innerhalb  der  wissen- 
schaftlichen Forschung  selbst. 

Der  Weg  der  Mechanik  von  Hertz  ist  der  allge- 
meine Weg  der  theoretischen  Naturwissenschaft,  und 
Galilei  hat  ihn  dieser  eröffnet.  Er  hält  die  rechte  Mitte 
von  bloßer  Spekulation  und  reiner  Erfahrung.  Tatsachen 
in  der  Wahrnehmung  (sensate  esperienze)  genügen  nach 
Galilei  nicht,  um  Wissen  zu  erzeugen.  Sie  sind  nur 
die  eine  Quelle  des  Erkennens,  die  andere  nicht  minder 
ursprüngliche,  nicht  weniger  wesentliche  ist  „das  Wissen, 
das  der  Geist  von  sich  aus  hat",  das  logisch-mathe- 
matische Wissen.  Indem  beide  Quellen  zusammenfließen, 
die  Tatsachen  der  Sinne  durch  Induktion  und  Experi- 
ment unter  Begriffe  a  priori  gebracht  werden,  vereinigen 
sie  sich  zum  Strome  des  Erkennens.  Nicht  anders 
dachte  vom  Wesen  des  Erkennens  Mayer,  nicht  anders 
dachte  davon  Kirchhoff.  Wenn  Mayer  eine  Tatsache 
als  erklärt  betrachtet,  sobald  sie  „nach  allen  ihren 
Seiten  hin  bekannt  ist",  so  haben  wir  zu  bedenken, 
daß  diese  allseitige  Bekanntheit  einer  Tatsache  nach 
Mayer  die  Kenntnis  ihrer  konstanten  Größenbeziehungen 
zu  den  andern  Tatsachen  einschließt  und  damit  ist  in 
der  Tat  „die  Aufgabe  der  Wissenschaft  beendigt".  Und 
wenn  Kirchhoff  es  als  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft 
bezeichnet,  die  in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Be- 
wegungen „vollständig  und  auf  die  einfachste  Weise  zu 
beschreiben",  so  liegt  schon  in  der  Forderung  der 
Einfachheit,  der  Vereinfachung  der  Beschreibung  und 
zwar  ihrer  möglichsten  Vereinfachung,  das  begrifflich 
Verallgemeinernde  dieser  Aufgabe.  Auch  konnte  es 
nicht  die  Meinung  Kirchhoffs  sein,  jede  besondere  Be- 
wegung in  der  Natur  solle  für  sich  genommen  be- 
schrieben werden;  sie  sind  alle  mitbeschrieben,  wenn  die 


244  Achter  Vortrag. 

Gesetze  der  Bewegung  dargestellt,  d.  i.  mathematisch  ent- 
wickelt sind.  Eine  solche  Beschreibung  aber  mit  Hilfe 
mathematischer  Begriffe  ist  Erklärung,  und  Erklärung 
kann  nichts  anderes  sein  als  solche  Beschreibung. 

Aus  reiner  Erfahrung  kann  nie  Wissenschaft  ent- 
springen. Denn  reine  Erfahrung  ist  nichts  Gegebenes; 
sie  ist  ein  Produkt  der  Abstraktion,  ein  Edukt,  ein  Aus- 
zug aus  der  wirklich  gegebenen  Erfahrung.  Diese  aber 
ist  empfangen  in  den  Formen  des  Anschauens  und 
entwickelt  nach  den  Formen  des  Denkens.  Sich  auf 
reine  Erfahrung  zurückziehen  heißt  einfach  den  ver- 
bindenden Faden  aller  Tatsachen  durchschneiden;  übrig 
bleibt  ein  ungeordnetes  Gemenge,  ein  Aggregat  von 
Sinneseindrücken.  Denn  selbst  die  ihnen  eigenen  Ver- 
hältnisse, in  denen  die  Tatsachen  der  Wahrnehmung 
gegeben  werden,  müssen,  um  erkannt  zu  sein,  durch 
das  Denken  nachgeschaffen  werden.  Noch  einmal:  das 
Denken  ist  die  Voraussetzung  aller  Erfahrung;  eine  Er- 
fahrung ohne  Denken  ist  nicht  möglich.  Nehmen  wir 
an,  alle  überhaupt  vorkommenden  Tatsachen  seien  uns 
bekannt  und  werden  uns  immer  wieder  bekannt,  so- 
bald sie  sich  weiter  entwickeln,  in  der  Zeit  vorrücken: 
wäre  damit  allein  schon  Wissenschaft  gegeben,  wäre 
Wissenschaft  dadurch  entbehrlich  geworden?  Soll  die 
Aufgabe  der  Erkenntnis  wirklich  nur  darin  bestehen, 
die  Tatsachen,  die  wir  aus  Un Vollkommenheit  unserer 
Sinne  nicht  kennen,  mit  solchen  zu  verbinden,  die  wir 
kennen,  um  damit  die  Erfahrung  jener  zu  ersetzen, 
oder  weitere  Erfahrung  zu  ersparen?  Gewiß  sind 
„Gesetze"  der  Natur  auch  Ableitungsformeln  für  Tat- 
sachen; aber  sie  sind  dies  nicht  allein,  noch  ist  dies  ihre 
wichtigste,  ihre  wertvollste  Funktion.  Kenntnis  und  Er- 
kenntnis bleibt  zweierlei  und  wer  alle  Tatsachen  in  der 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  245 

Welt  kennte,  wüßte  dadurch  allein  noch  nichts  von  den 
Gesetzen  der  Tatsachen,  Das  Gesetz  der  Gravitation 
ist  mit  allen  Bewegungen  der  Himmelskörper  und 
irdischen  Fallerscheinungen  noch  nicht  gegeben,  ob- 
gleich es  in  jeder  Fallbewegung  enthalten  ist.  Kein 
Gesetz  kann  in  eine  Tatsache  rein  aufgehen,  keines  mit 
der  bloßen  Summe  von  Tatsachen  gegeben  sein,  ob- 
schon  es  von  allen  Tatsachen  gilt,  die  unter  ihm  stehen. 
Jedes  Gesetz  ist  ein  Satz  mit  einem  Wenn:  zwei  Massen- 
punkte würden  sich  genau  nach  dem  Gesetze  der  Gravi- 
tation annähern,  wenn  sie  allein  in  der  Welt  wären. 
Würden  also  auch  alle  Tatsachen  offen  daliegen,  unser 
Verstand  könnte,  um  ihre  allgemeingiltigen  Beziehungen 
oder  ihre  Gesetze  zu  ermitteln,  nicht  anders  verfahren, 
als  er  bei  seiner  unvollkommenen  Kenntnis  des  Tatsäch- 
lichen verfährt.  Wir  suchen  die  Tatsachen  der  reinen 
Erfahrung  durch  das  Denken  zu  ergänzen,  um  sie  zu 
verstehen,  wir  suchen  ihre  Beziehungen  mathematisch 
darzustellen,  um  Einsicht  in  die  Form  ihrer  Verhältnisse 
zu  gewinnen. 

Es  gibt  eine  Denkrichtung  in  der  Philosophie  der 
Gegenwart,  die  von  Hume  ausgeht  und  sich  ihres  Gegen- 
satzes zu  der  von  Kant  ausgehenden  bewußt  ist  und 
diese  bekämpft.  Sie  nennt  sich  den  „Positivismus",  sollte 
aber  eigentlich  „Impressionismus"  heißen,  denn  das  einzige 
Reale,  das  sie  gelten  läßt,  sind  die  Sinneseindrücke.  Ein 
merkwürdiges  Buch,  das  sich  selbst  als  „Kritik  der 
reinen  Erfahrung"  einführte,  in  Wahrheit  aber  die 
Vernunft  kritisiert,  nämlich  durch  die  reine  Erfahrung 
wegkritisieren  will,  ist  zu  der  nämlichen  Zeit  entstanden 
und  veröffentlicht  worden,  in  welcher  auch  in  der  Kunst 
eine  Richtung  vorübergehend  zur  Herrschaft  gelangt  war, 
die  analog  der  in  jenem  Buche  vertretenen  Wissenschaft- 


246  Achter  Vortrag. 

liehen  das  bloß  Tatsächliche  als  solches  wiedergeben  zu 
sollen  meinte.  Dem  künstlerischen  Impressionismus 
entspricht  auch  der  Zeit  nach  der  wissenschaftliche 
Impressionismus,  und  auch  unser  Urteil  über  beide 
hat  ein  entsprechendes  zu  sein.  So  unmöglich  es  ist, 
in  der  künstlerischen  Wiedergabe  der  Erscheinung  die 
reinen  Sinneseindrücke  zu  wiederholen  und  die  Vor- 
stellung, die  die  Eindrücke  ordnet,  auswählt  und  klärt, 
auszuschließen  und  doch  dabei  künstlerisch  zu  wirken; 
so  unmöglich  und  ohne  allen  Erkenntniswert  ist  es, 
von  der  wissenschaftlichen  Darstellung  der  Tatsachen 
die  Beherrschung  der  Tatsachen  durch  die  Einheit  des 
Denkens  auszuschließen. 

Überdenken  wir,  ohne  hier  auf  Einzelnes  eingehen 
zu  können,  die  Gesamtlage  der  Wissenschaft  unserer 
Zeit,  so  müssen  wir,  wie  paradox  dies  auch  klingen 
mag,  sagen:  nie  hat  es  ein  philosophischeres  Zeitalter 
in  der  Wissenschaft  gegeben,  als  das  gegenwärtige. 
Denn  es  ist  dies  das  Zeitalter  der  immer  weiter  fort- 
schreitenden wissenschaftlichen  Arbeits- Vereinigung,  des 
wahren  Endzweckes  und  der  Rechtfertigung  der  voraus- 
gegangenen unentbehrlichen  Arbeits-Teilung.  Es  ist  das 
Zeitalter  der  synthetischen  Wissenschaft,  und  synthetisch 
ist  nur  ein  anderes  Wort  für  philosophisch.  Die  Bei- 
spiele solcher  synthetischen  Wissenschaften  liegen  uns 
nahe.  Wir  brauchen  nur  an  die  physikalische  Chemie 
oder  die  physiologische  Psychologie  zu  denken,  zwei 
Schöpfungen  dieses  philosophischen  Geistes  der  Wissen- 
schaft der  Gegenwart. 

Nie  kann  es  wieder  eine  Zeit  geben,  in  welcher  die 
Wissenschaft  ihr  Ziel  erreicht  glaubte,  wenn  sie  nur  Tat- 
sachen über  Tatsachen  anhäufte,  nie  auch  eine  Zeit,  in 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  247 

welcher  die  Philosophie  auf  diese  notwendige  Vorarbeit 
zur  Wissenschaft  wieder  mit  Geringschätzung  herab- 
blicken wird.  Das  Formen  und  Herbeischaffen  der  Ziegel 
halten  wir  für  die  Herstellung  eines  Baues  gleich  wesentlich, 
wie  das  Werk  des  Architekten,  der  den  Plan  entwirft  und 
die  Ausführung  des  Baues  leitet.  Wie  es  der  Erkenntnis 
ohne  die  geduldige  und  entsagungsvolle  Arbeit  der  rein 
empirischen  Forschung  an  Material  gebrechen  würde, 
so  würde  es  ihrem  Bau  ohne  das  denkende  Durchdringen 
des  Tatsachenstoffes  am  Plane  fehlen.  Die  Wissenschaft 
braucht  die  Philosophie;  sie  schafft  sich  daher  eine,  wenn 
sie  keine  vorzufinden  glaubt.  Dabei  kann  es  ihr  ge- 
schehen, daß  sie  dort  Grenzen  des  Erkennens  sucht,  wo 
dessen  Voraussetzungen  liegen,  oder  Zeichen  für  Dinge 
mit  den  Dingen  selbst  verwechselt.  Und  ebenso  kann 
auch  die  Philosophie  die  Wissenschaft  nicht  entbehren, 
soll  sie  sich  nicht  entweder  in  leere  Spekulationen  ver- 
lieren, oder  auf  rein  formale  Erkenntnistheorie  beschränkt 
sehen,  die  den  Kern  des  Wissens,  die  in  der  Erfahrung 
gegebenen  Tatsachen,  nicht  zu  ergreifen  vermag.  Das 
beständige  Zusammenwirken  von  Forschung  und  Philo- 
sophie, ihre  wechselseitige  Ergänzung  ist  das  Eine,  das 
beiden  not  tut.  Über  dem  Hörsaale  Piatos  stand,  wie 
berichtet  wird,  zu  lesen:  Keiner,  der  nicht  Geometrie 
versteht,  oder,  was  für  jene  Zeit  dasselbe  bedeutete:  der 
nicht  exakte  Wissenschaft  getrieben  hat,  darf  eintreten. 
Die  analoge  Überschrift  über  dem  Eingang  in  unsere 
naturwissenschaftlichen  Hörsäle  und  Laboratorien  müßte 
lauten:  dem  ist  der  Eintritt  verwehrt,  der  nicht  Philo- 
sophie getrieben  hat.  Philosophische  Bildung  gehört  zur 
Fachbildung  jedes  Naturforschers;  sie  lehrt  ihn  das  In- 
strument seiner  Instrumente  verstehen  und  gibt  ihm  den 
Maßstab  für  seine  Forschung. 


248  Achter  Vortrag. 

Die  Zukunft  der  wissenschaftlichen  Philosophie  ist 
die  Erhebung  der  Wissenschaft  zur  Philosophie.  Wie 
die  Wissenschaften  aus  der  Philosophie,  ihrer  anfäng- 
lichen Einheit,  durch  Auseinanderlegung  derselben  her- 
vorgegangen sind,  so  sehen  wir  sie  auch  in  der  Spirale 
alles  geschichtlichen  Werdens  auf  einer  höheren  Stufe 
ihrer  Entwickelung  zur  Einheit  zurücklenken.  Sind  sie 
doch  nur  die  verschiedenen  Ströme  des  Wissens  und 
also  bestimmt,  in  die  Eine  Wissenschaft,  in  das  System 
der  menschlichen  Erkenntnis  zurückzufließen.  Die  Wissen- 
schaft, äußert  Van  t'Hoff,  ist  wie  die  Natur,  welche  sie 
abspiegelt,  ein  großes  Ganzes  und  alle  Einteilungs- 
prinzipien haben  im  Grunde  etwas  Willkürliches.  — 
Nicht,  daß  wir  glaubten,  jene  eine  Gesamtwissenschaft 
werde  an  einem  bestimmten  Tage  vollendet  sein.  Wir 
glauben  nur,  nie  werde  die  wissenschaftliche  Forschung 
die  Richtung  auf  dieses  Eine  und  höchste  Ziel  wieder 
verlieren,  vielmehr  mit  Bewußtsein  und  nicht  nur  wie 
zufällig  an  dem  werdenden  Systeme  des  Wissens  arbeiten,^ 
das  heißt  aber:  sie  werde  sich  mit  philosophischem 
Geiste  erfüllen.  Auch  dann  brauchen  wir  noch  „Spezia- 
listen des  Allgemeinen"  (so  ungefähr  nannte  A.  Comte 
die  Philosophen);  wir  werden  aber  keine  von  der  Wissen- 
schaft losgelöste  Philosophie  mehr  kennen,  keine  der 
Philosophie  entfremdete  Wissenschaft. 

Wird  jemals  ein  Weltbild  der  Wissenschaft  das- 
definitive  sein?  Wir  müssen  es  bezweifeln.  Darum  aber 
gleicht  das  Werk  der  Wissenschaft  noch  nicht  dem. 
„nächtlichen"  Werke  der  Penelope;  ihr  Gewebe  wird 
nicht  immer  wieder  aufgelöst,  ihre  Arbeit  nicht  immer 
wieder  zerstört.  Die  aufeinander  folgenden  Bilder  der 
Welt,  welche  von  der  Wissenschaft  entworfen  werden. 
folgen    auch    auseinander.      Kein   Schritt   in   der  Er- 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  2AQ 

kenntnis  der  Welt  braucht  wieder  zurückgetan  zu  werden. 
Keiner;  was  die  Wissenschaft  einmal  ermittelt  hat,  hat 
sie  für  immer  ermittelt;  es  ist  zu  einem  unveränderlichen 
Bestandteil  der  Wahrheit  geworden,  welche  selbst  un- 
veränderlich ist.  In  diesem  Sinne  ist  jedes  ihrer  Gesetze 
streng  allgemeingiltig;  keines  hat,  wie  wohl  behauptet 
wird,  nur  praesuraptive  Allgemeinheit.  Die  Ausnahms- 
losigkeit  gehört  zum  Begriff  eines  Naturgesetzes,  und 
nicht,  daß  solche  Gesetze  gegeben  sind,  kann  einem 
Zweifel  unterliegen,  sondern  nur,  ob  wir  in  einem  be- 
stimmten Falle  das  Gesetz  wirklich  erkannt  haben.  Nur 
wer  sein  Denken  vorzugsweise  an  Sprachen  erzogen  und 
an  die  Regeln  der  Grammatik  gewöhnt  hat,  mag  auch 
von  den  Regeln  des  Geschehens  in  der  Natur  Aus- 
nahmen für  möglich  halten,  oder  die  Naturgesetze  bloß 
als  Text-Interpretationen  der  Naturforscher  betrachten. 
Prüfen  wir  selbst  ein  Gesetz,  wie  das  der  Gravitation 
noch  an  der  Erfahrung,  so  wollen  wir  nur  wissen,  ob  es 
nicht  vielleicht  Teil  eines  noch  umfassenderen  Gesetzes 
sei  oder  seine  Wirkung  durch  andere  Gesetze  modi- 
fiziert werde,  das  heißt,  ob  nicht  eine  Erscheinung,  die 
darunter  fällt,  noch  anderen  Gesetzen  folge.  Ein  Natur- 
gesetz ist  immer  zugleich,  nämlich  seiner  Form  nach, 
eine  mathematische  Wahrheit.  Unser  Wissen  von  diesen 
Wahrheiten  aber  ist  Einsicht  in  ihre  Notwendigkeit  und 
eine  höhere  Stufe  der  Gewißheit,  als  diese  Einsicht,  kann 
es  nicht  geben,  erklärt  der  Schöpfer  unserer  Wissen- 
schaft. Hier  komme  sogar,  fährt  Galilei  fort,  die  mensch- 
liche Erkenntnis  der  göttlichen  gleich;  unser  Begreifen 
ist  hierin  vollkommen  und  so  unbedingt  gewiß,  wie  es 
nur  die  Natur  selbst  sein  kann. 

Das    künftige    System    des   Wissens    erwächst   aus 
Kritik  und  Forschung  zugleich;  es  sucht  daher  die  Wahr- 


250  Achter  Vortrag. 

heit  nicht  in  einem  inneren  Wesen  der  Welt,  es  findet 
sie  in  den  beharrlichen  Verhältnissen  der  Dinge,  den 
Gesetzen  ihrer  Erscheinung. 

Unsere  Ausführungen  haben  gezeigt,  daß  unter 
Philosophie  im  ganzen  Verlauf  ihrer  Geschichte  niemals 
nur  eine  Wissenschaft  allein  verstanden  worden  ist;  in- 
dem sich  die  Philosophie  von  ihrem  Beginne  an  an  das 
höchste  Bewußtsein  des  Menschen  wandte,  an  das  Ganze 
seines  Geistes,  konnte  sie  nicht  Wissenschaft  allein  sein. 
Auch  das  vollendet  gedachte  System  des  Wissens  würde 
nirgends  auf  die  „Werte"  des  geistigen  Lebens  treffen 
können;  die  Wissenschaft  schließt  schon  ihrem  Begriffe 
nach  jedes  Werturteil  als  solches  aus  ihrem  eigensten 
Bereiche  aus,  obschon  sie  als  Ganzes  betrachtet  selbst 
Gegenstand  der  Bewertung  ist,  ja  einen  der  höchsten 
geistigen  Werte  bildet.  Wissenschaft  und  wissenschaft- 
liche Philosophie  können  die  Kunst  nicht  ersetzen, 
auch  nicht  die  philosophische  Kunst  der  Geistesführung, 
welche  sich  mit  ihren  Lebensanschauungen  an  den 
Willen  wendet,  an  die  praktische  Vernunft,  nicht  an 
das  theoretische  Erkennen.  Fragen  wir  nun  nach  der 
Gegenwart  und  Zukunft  dieser  anderen  Philosophie, 
welche  nicht  selbst  Wissenschaft  ist,  obschon  sie  diese 
voraussetzt  und  zur  Basis  nimmt,  so  ist  die  Antwort 
auf  den  zweiten  Teil  unserer  Frage  nicht  zu  verfehlen. 
Hier,  wo  es  sich  um  Werte  und  Formen  des  Lebens 
handelt,  kommt  die  Persönlichkeit  des  Philosophen  ent- 
scheidend zur  Geltung;  seine  Gesinnung,  die  Größe  des 
Charakters,  das  Vorzügliche  seiner  Natur  leben  in  seinem 
Werke:  die  Zukunft  der  Philosophie  als  Geistesführung 
ist  der  große  Philosoph,  —  und  auf  sein  Kommen  müssen 
wir  warten. 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  25 1 

Einige  unserer  jüngeren  Zeitgenossen  glauben,  er 
sei  schon  erschienen,  sein  Geist  lebe  mitten  unter  uns,  in 
mächtiger  Gegenwart.  Was  uns  dagegen  verwehrt  in 
Friedrich  Nietzsche  einen  Geistesführer  zu  sehen,  ist  der 
jähe  Wandel  seiner  Anschauungen,  das  rastlose  Fort- 
getriebenwerden seines  Geistes,  die  unstäte  Folge  immer 
neuer  , Loslösungen ",  die  ihn  bei  keiner  Sache  verweilen, 
auf  keiner  fest  beruhen  ließen.  Man  kann  sich  den 
nicht  zum  Führer  wählen,  der  „stets  ein  andrer  ward, 
sich  selber  fremd"  und  „sich  selbst  entsprungen"  ist. 
Wer  ihm  folgen  will,  er  sagt  es  selbst,  muß  sich 
beständig  wandeln:  „nur  wer  sich  wandelt,  bleibt  mit 
mir  verwandt."  Nicht  dies  ist  sein  Mangel,  daß  es  seinem 
Denken  an  einem  „Systeme"  fehlt,  —  auch  Sokrates 
hatte  keines;  wohl  aber  vermissen  wir  die  sichere,  feste 
Position  seiner  Gedanken,  die  Folgerichtigkeit  in  seinem 
Empfinden.  Er  zerstörte,  was  er  eben  gebaut,  und 
lästerte,  wo  er  eben  noch  angebetet  hatte.  Seine  zwie- 
spältige Natur  neigte  zur  Verehrung  und  zwang  ihn  zu- 
gleich zu  zersetzender  Kritik.  Er  ist  der  beständig 
Suchende,  der  große  Fragende,  ein  Geschöpf  und  mehr 
noch:  das  Kompendium  der  Zeit,  die  selber  eine 
fragende  und  suchende  ist. 

Überaus  empfänglichen  Geistes  ließ  sich  Nietzsche 
von  allen  Strömungen,  jeder  Stimmung  der  Zeit  ergreifen. 
Er  hat  jede  durchlebt,  an  jeder  gelitten  und  sich  aus 
allen  „losgelöst".  Er  beginnt  mit  Schopenhauer  und 
sucht  in  der  Kunst  die  Rettung  vor  der  Verneinung  des 
Willens.  Gleich  darauf  schwärmt  er  für  Wagner  und 
sieht  schon  aus  der  Verbindung  der  Schopenhauerischen 
Philosophie  mit  dem  „Kunstwerke  der  Zukunft"  eine 
neue  Kultur  erstehen.  Von  dieser  „Romantik"  seiner 
Jugend  wendet  er  sich,   scheinbar  unvermittelt,    zu  der 


2C2  Achter  Vortrag. 

Aufklärung  und  dem  Intellektualismus  um;  es  war  nur 
eine  neue  Art  von  Schwärmerei.  „Der  Blick  durch  das 
Tor  der  Wissenschaft"  wirkte  auf  ihn  wie  der  „Zauber 
aller  Zauber"  und  er  wird  an  der  Wissenschaft  zum 
„Phantasten".  Auch  in  dieser  „wissenschaftlichen"  Periode 
blieb  er,  der  er  war,  der  trunkene,  „dionysische"  Dichter, 
und  Prophet.  Ihn  ziehen  nur  die  ästhetischen  Seiten 
des  Erkennens  an,  die  Strenge  der  Form,  das  Persönliche 
in  den  „freien  Geistern"  und  Denkern.  Nicht  lange  — 
und  er  empfindet,  wie  die  Zeit  selbst,  Ungenügen  am 
bloßen  Wissen,  am  „Glück  des  Erkennenden".  Er 
kommt  dahin  ^  den  Wert  der  Wahrheit  „umzuwerten", 
zu  verneinen  und  stürzt  sich  in  den  Abgrund  des 
Nihilismus.  Alle  bisherigen  Werte  schienen  ihm  ent- 
wertet zu  sein,  dem  Leben  jeder  Sinn,  jedes  Wozu  ge- 
nommen. Aber  die  Grundtriebe  seiner  Natur,  die  auf 
Bejahung  des  Lebens  gerichtet  waren,  wollen  auf  allen 
Wegen  ans  Licht.  Er  will  wieder  ein  Ziel,  ein  Warum, 
einen  Glauben  setzen:  eine  Gegenbewegung  gegen  den 
Nihilismus  sollte  der  „Wille  zur  Macht",  sollte  die  „Um- 
wertung aller  Werte"  zum  Ausdruck  bringen. 

Nietzsches  Entwicklung  ist  ohne  Abschluß;  wir  haben 
eigentlich  nicht  sein  Werk,  sondern  Ansätze,  Bruch- 
stücke seines  Werkes,  die  wie  Trümmer  eines  großen 
Geistes,  eines  großen  WoUens  vor  uns  liegen.  Auch 
diese  aphoristische  Form  seines  Schaffens,  zu  der  ihn 
die  Krankheit  zwang,  das  Abgerissene,  Blitzartige  der 
Gedanken,  ist  wie  ein  Symbol  der  Zeit,  ihrer  Unrast, 
ihres  Entbehrens  einer  einheitlichen,  geschlossenen  Lebens- 
anschauung. Nietzsches  Schriften  sind  Dokumente  ihres 
inneren  Lebens;  ihr  Führer,  ein  Führer  wollte  er  nicht 
sein.  Er  wollte  nur  den  „züchtenden"  Gedanken  aus- 
säen,   der  Lehrer    der   „ewigen  Wiederkunft"    sein  und 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  253 

die  Entwickelung  des  „höheren"  Menschen  dann  dem 
neuen  Glauben  überlassen.  Einst,  in  seiner  ersten  Zeit, 
hatte  auch  er  nach  Genossen  ausgeblickt  und  kein  junges 
Gemüt  kann,  ohne  sich  begeistert  zu  fühlen,  die  Worte 
hören:  „Ich  sehe  etwas  Höheres,  Menschlicheres  über  mir, 
als  ich  selber  bin,  helft  mir  alle,  es  zu  erreichen,  wie 
ich  jedem  helfen  will,  wer  Gleiches  erkennt  und  an 
Gleichem  leidet."  Dann  aber  wird  sein  Pfad  immer 
einsamer,  ferner  von  den  Zeitgenossen;  er  geht  nach 
„Abenteuern  der  Erkenntnis"  aus,  sucht  das  Abseits- 
Liegende  auf,  das  gerade  ihm  Wehetuende,  daher,  wie 
er  meint  Nötige;  er  hatte  den  Weg  zu  sich  selber  ge- 
funden und  gibt  es  auf,  Anhänger  zu  werben,  Proselyten 
zu  machen:  „das  ist  mein  Weg,  welches  ist  der  eure? 
Den  Weg  nämlich  gibt  es  nicht!" 

Viele  seiner  Aussprüche  im  Einzelnen  und  seine 
Tendenzen  im  Ganzen  haben  —  auch  dies  will  ich 
wiederholen  —  gerade  das,  was  der  Zeit  not  tut:  sein 
Ja-sagen  zu  allem,  „was  stärkt,  was  Kraft  aufspeichert, 
das  Gefühl  der  Kraft  rechtfertigt",  mit  einem  Worte 
sein  „corroberierendes  System"  mußte  auf  eine  willens- 
schwache Zeit  stählend  und  wie  ein  frischer  Zug  aus 
der  großen,  freien  Natur  wirken.  Alle  seine  Anschau- 
ungen aber  verraten  ein  Grundgebrechen:  den  Mangel 
an  historischem  Sinn.  Nietzsche  meinte,  man  könne, 
er  könne  Kultur  absichtlich  schaffen,  Kultur  gleichsam 
improvisieren;  man  könne  die  Geschichte  neu  machen, 
überhaupt  Geschichte  machen.  Daß  das  Produktive 
mit  dem  Historischen  verbunden  werden  müsse,  um 
wirklich  produktiv  zu  sein,  wie  Goethe  es  forderte, 
beachtete  er  nicht.  Neue  Lebensanschauungen  gehen 
hervor  aus  alten  Lebensanschauungen  und  sie  beseitigen 
diese  niemals  vollständig,  sie  entwickeln  sie  nur.    Darum 


254 


Achter  Vortrag;. 


ist  die  Aufgabe  alle  Werte  umzuwerten,  nicht  bloß  eine 
vermessene,  verstiegene,  sondern  eine  unmögliche  Auf- 
gabe; denn  sie  ist  durch  und  durch  unhistorisch.  In 
Wahrheit  hat  es  sich  auch  bei  Nietzsche  nicht  um  die 
Schöpfung  neuer,  sondern  um  eine  Neuordnung  der 
alten  Werte  gehandelt. 

Wozu  aber  auf  den  kommenden  großen  Philosophen 
warten?  bereiten  wir  ihm  die  Wege,  ihn  zu  em- 
pfangen, wenn  er  kommt.  Das  alte  Gute,  faß'  es  anl 
auch  das  neue  Gute  ist  nur  eine  Entwicklung  des 
alten. 

Kunstwerke  sind,  so  lange  sie  nur  der  Zeit  wider- 
stehen, also  für  sich  betrachtet,  für  immer  da.  Kein 
Fortschritt  der  bloßen  Technik  kann  sie  töten.  Sie  sind 
wie  lebende  Wesen  und  wie  alles  wahrhaft  Geschicht- 
liche, in  der  Geschichte  Wertvolle,  geschehen  sie  fort- 
während; sie  wirken  fort,  mit  jeder  neuen  Zeit  neue 
Verbindungen  eingehend.  Solchen  Werken  der  Kunst 
gleichen  die  Lebensanschauungen  der  großen  Denker; 
nie  kann,  so  lange  die  Menschheit  lebt  und  die  Er- 
innerung an  sie  bewahrt,  ihre  Wirkung  erlöschen. 
Sokrates  lebt  mit  seiner  Gesinnung  fort;  auch  wir  be- 
mühen uns  noch,  die  Tat  seines  Sterbens  zu  begreifen 
und  ihrer  Größe  würdig  zu  werden.  Der  Piatonismus, 
der  Spinozismus  sind  nicht  vergangen,  sie  gehören  dem 
Leben  an,  das  wir  leben.  Kants  Gedanke,  daß  das 
Sittengesetz  aus  der  vernünftigen  Natur  des  Menschen 
stammt,  nicht  aus  seiner  besonderen,  menschlichen  Natur, 
daß  das  Sittengesetz  das  Naturgesetz  vernünftiger  Wesen 
als  solcher  ist,  —  dieser  große  Gedanke  seiner  Ethik, 
der  erst  eine  sittliche  Weltanschauung  begründet  hat, 
ist  noch  nicht  ausgeschöpft,  kaum  erst  in  seiner  ganzen 
Höhe  verstanden.     Und  wer  nicht   wüßte,   wie   heilsam 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  255 

auch  der  strenge  Pflichtbegriff  der  Kantischen  Moral 
gewirkt,  kann  es  von  Goethe  erfahren.  „Die  Moral  war 
gegen  Ende  des  letzten  Jahrhunderts  schlaff  und  knech- 
tisch geworden,  als  man  sie  dem  schwankenden  Kalkül 
einer  bloßen  Glückseligkeitstheorie  unterwerfen  wollte; 
Kant  faßte  sie  zuerst  in  ihrer  übersinnlichen  Bedeutung 
auf,  und  wie  überstreng  er  sie  auch  in  seinem  kate- 
gorischen Imperativ  ausprägen  wollte,  so  hat  er  doch 
das  unsterbliche  Verdienst,  uns  von  jener  Weichlich- 
keit, in  die  wir  versunken  waren,  zurückgebracht  zu 
haben." 

Lebensweisheit  suchen  wir  nicht  bloß  bei  den  eigent- 
lichen Philosophen,  in  ihren  Lehren,  ihrem  Vorbilde;  wir 
finden  sie  auch  bei  den  großen  Dichtern,  bei  jedem  Er- 
zieher der  Menschheit.  Auch  sie  zählen  zu  den  Philo- 
sophen, wenn  wir  auch  nicht  gewohnt  sind,  sie  Philo- 
sophen zu  nennen.  Ein  solcher  Philosoph  und  Erzieher 
der  Menschheit  ist  Goethe,  —  der  Goethe  der  „Wander- 
jahre" und  des  zweiten  Teiles  Faust. 

„Sinn  und  Bedeutung  meiner  Schriften  und  meines 
Lebens  ist  der  Triumph  des  Reinmenschlichen,"  so  faßt 
Goethe  selbst  Geist  und  Ziel  seines  Schaffens  und 
Wirkens  zusammen.  „Ein  innerlich  bewahrtes,  nach 
außen  tätiges,  höheres  Menschentum"  war  sein  eigentliches 
Lebensgeheimnis,  Menschenbildung  seine  Lebenstendenz, 
Er  sinnt  beständig,  wie  man  „vorzügliche  Menschen  zu 
vollendeter  Bildung"  bringen  könne,  so  daß  sie  bis  ans 
Ende  eine  immer  höhere  und  reinere  Tätigkeit  entfalten. 
Die  Bestimmung  des  Menschen  ist  Handeln,  in  seinem 
Denken  dagegen  soll  er  sich  bescheiden,  „das  Erforsch- 
liche  erforscht  zu  haben  und  das  Unerforschliche  ruhig 
zu  verehren".  Denn  der  Mensch  ist  kein  lehrendes,  er 
ist  ein  lebendes  und  wirkendes  Wesen;  nur  in  Wirkung 


256  Achter  Vortrag. 

und  Gegenwirkung  erfreuen  wir  uns.  Das  erste  und 
letzte  am  Menschen  sei  Tätigkeit,  —  sein  Leben  sei 
Tat  um  Tat.  „Dieweil  ich  bin,  muß  ich  auch  tätig  sein." 
Handeln  aber  heißt:  „die  Mittel  der  äußeren  Welt  an 
sich  heranziehen  und  unseren  höheren  Zwecken  dienstbar 
machen".  ,Jedes  tüchtige  Bestreben  wendet  sich  aus 
dem  Innern  hinaus  auf  die  Welt;  wie  man  in  allen 
großen  Epochen  sieht,  die  wirklich  im  Streben  und  Vor- 
schreiten begriffen  und  alle  objektiver  Natur  waren". 
Es  sind  nach  Goethes  Bezeichnung  die  gläubigen 
Epochen.  Wer  handelt,  darf  nicht  zweifeln,  er  muß  vom 
Glauben  an  seine  Zwecke,  seine  Ideale  erfüllt  und  ge- 
trieben sein.  Glaube  ist  unentbehrlich  für  die  Zeiten 
wahrer  Kultur;  Glaube  schafft  selber  Kultur.  Diese 
Überzeugung  Goethes  ist  auch  die  Lehre  unserer  Ge- 
schichtsphilosophie, und  jeder  tiefere  Blick  in  die  Kultur- 
geschichte sieht  sie  überall  bestätigt. 

Den  Wert  der  Persönlichkeit  hat  keiner  höher  ge- 
schätzt, als  Goethe,  der  sie  als  das  höchste  Glück  der 
Erdenkinder  preist;  aber  er  kannte  und  verehrte  auch 
ein  Überpersönliches,  Übermenschliches  und  achtete  die 
Grenzen  der  Menschheit.  „Das  Wesen  der  Welt  läßt 
sich  nie  in  eine  Formel  fassen,  wohl  aber  stellt  es  sich 
in  großen  Persönlichkeiten  kräftig  und  deutlich  dar." 
,Gott  ist  fortwährend  in  höheren  Naturen  wirksam,  um 
die  geringeren  heranzuziehen".  ,,Es  ist  eigentlich  die 
große  Persönlichkeit,  welche  in  die  Kultur  ihres  Volkes 
übergeht."  Und  wie  Goethe  groß  dachte  von  der  großen 
Persönlichkeit,  so  wußte  er  zugleich,  daß  auch  der 
höchste  Mensch  nichts  durch  sich  selber  ist,  nicht  für 
sich  selbst  allein  lebt.  „Was  der  Mensch  auch  angreife 
und  handhabe,  der  Einzelne  ist  sich  nicht  hinreichend. 
Denn    im   Grunde    sind  wir  alle  kollektive  Wesen,  wir 


Gegenwart  und  Zukunft  der  Philosophie.  257 

mögen  uns  stellen,  wie  wir  wollen.  Wie  weniges  haben 
und  sind  wir,  das  wir  im  reinsten  Sinne  unser  Eigentum 
nennen.  Wir  müssen  alle  empfangen  und  lernen,  sowohl 
von  denen,  die  vor  uns  waren,  als  von  denen,  die  mit 
uns  sind.  —  Die  Hauptsache  ist,  daß  man  ein  großes 
Wollen  habe  und  Beharrlichkeit,  es  auszuführen."  „Mache 
aus  dir  ein  Organ!"  —  dies  Wort  gilt  allen,  auch  den 
höheren  Naturen.  ,,Es  ist  im  Menschen  auch  ein  Dienen- 
wollendes". Mag  auch  die  große  Persönlichkeit  alles, 
was  außer  ihr  ist,  zu  ihrer  Selbstbildung,  ihrer  Selbst- 
vollendung gebrauchen,  mögen  ihr  Gesellschaft,  Staat,  ja 
die  übrige  Menschheit  selbst  zu  Mitteln  und  Werkzeugen 
werden,  die  ihrem  höchsten  Wohle  dienen;  sie  kann 
nicht  anders,  als  die  „Seligkeit  ihrer  Natur  auch  auf 
andere"  ausgießen,  und  indem  sie  so  den  Reichtum 
ihres  Innern  erschließt,  wird  sie  selbst  zum  Organ  des 
Ganzen  und  wie  das  Ganze  in  ihr  lebt,  lebt  sie  selbst 
für  das  Ganze.  Zwischen  dem  aristokratischen  Indivi- 
dualismus, den  Nietzsche  lehrte,  und  dem  Kollektivismus, 
der  die  sozialen  Lehren  der  Gegenwart  beherrscht,  hat 
bereits  Goethe  die  reinste  Aussöhnung  gefunden,  die 
schönste  Verbindung  gestiftet 

Die  Zeit  ruft  alle  ihre  geistigen  Kräfte  auf,  um 
einen  neuen  inneren  Gehalt  des  Lebens  zu  erringen. 
In  diesem  Kampfe  um  einen  neuen  Lebensinhalt  muß 
sie  sich  mit  den  großen  Geistesführern  der  Vergangen- 
heit verbünden.  Und  ihre  Lebensanschauungen  zu  er- 
neuern, ihre  Gesinnung  lebendig  zu  erhalten,  ihr  Werk 
fortzuführen  ist  der  nächste  und  wesentlichste  Beruf  der 
Philosophie  als  Geistesführung,  —  ist  die  Gegenwart 
dieser  Philosophie. 


Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.  17 


258  Achter  Vortrag. 

Und  SO  ist  die  Philosophie  keine  Sache  bloß  der 
Schule,  sie  ist  eine  Angelegenheit  der  Menschheit  selbst 
und  darum  hat  sie  sich  nicht  überlebt  und  wird  sich 
nie  überleben.  Umsonst,  daß  der  Mensch  sich  gleich- 
giltig  verhalten  wollte  zu  den  Problemen  der  Philo- 
sophie; sind  es  doch  die  wahren  und  wesentlichen 
Probleme  seines  Wissens  und  seines  Lebens.  Stetig 
muß  die  Menschheit  fortschreiten  in  der  Selbsterkenntnis 
der  Vernunft  und  der  Erkenntnis  der  Welt,  im  Streben 
nach  einer  auf  dieser  doppelten  Erkenntnis  beruhenden 
Weisheit,  fortschreiten  in  philosophischer  Wissenschaft 
und  philosophischer  Gesinnung.  Neben  der  Forschung, 
welche  die  Gesetze  der  Erscheinungen  ermittelt,  neben 
der  Kunst,  welche  den  Wert  der  Erscheinungen  erhöht 
und  zu  anschauender  Empfindung  bringt,  ist  die  Philo- 
sophie eine  der  geistigen  Lebensmächte  der  Menschheit, 
eine  der  kulturschaffenden  Mächte. 


■-r-sT-n 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


B       Riehl,  Alois 

793        Zur  Einführung  in  die 

R55     Philosophie  der  Gegenwart