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Presented to the
LIBRARY of the
UNIVERSITY OF TORONTO
by
PROFESSOR R. ?• McRAE
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ZUR EINFÜHRUNG
IN DIE PHILOSOPHIE
DER GEGENWART
ACHT VORTRÄGE VON
ALOIS RIEHL
LEIPZIG
VERLAG VON B. G. TEUBNER
1903
Druck von Theodor Hofmann in Gera.
DEM ANDENKEN AN
MEINE SCHWIEGERELTERN
ALEXANDER UND SOFIE
REYER
;x. -^
VORWORT.
Von den üblichen Einleitungen in die Philosophie
unterscheidet sich die vorliegende Schrift durch ihre
Form. Sie ist aus freien Vorträgen entstanden, die der
Verfasser im Herbst 1900 in Hamburg gehalten hat,
und sucht, wo der Gegenstand es gestattete, den Ton
der Rede festzuhalten. Der Verfasser denkt sich auch
den Leser als Hörer, seine Vorträge sollen mehr an-
regen als belehren; sie sollen der Philosophie unter
den wissenschaftlich Gebildeten neue Freunde gewinnen
und zum Verständnis der philosophischen Bestrebungen
der Gegenwart beitragen. Der Weg zu ihrem Ver-
ständnis führt durch die Geschichte. Denn die Philo-
sophie ist ihrem Wesen nach überall eine und dieselbe,
wie der menschliche Geist, aus dem sie entspringt, alle-
zeit einer und derselbe ist. Die großen Gestalten der
Vergangenheit, Systeme und Persönlichkeiten, waren da-
her vorzuführen ; der Werdegang der Philosophie mußte
von ihrer Entstehung bis zu ihrer Gegenwart durch die
entscheidenden Wendepunkte hindurch verfolgt werden.
Bei der Darstellung von Robert Mayers philo-
sophischer Bedeutung (V. Vortrag) konnte sich der Ver-
fasser auf seine frühere Veröffentlichung über „die Ent-
deckung und den Beweis des Energieprinzip es" stützen,
und in den Abschnitten über Nietzsche (VII. und
VIII. Vortrag) mußte er sich selber wiederholen, da die
inzwischen erschienenen Fragmente des Hauptwerkes:
„der Wille zur Macht" an seiner Gesamtauffassung
Nietzsches nichts geändert haben.
Halle, im November 1902.
Der Verfasser.
INHALTS-ÜBERSICHT.
Seite
ERSTER VORTRAG.
Wesen und Entwicklung der Philosophie. — Die Philosophie im
Altertume i
ZWEITER VORTRAG.
Die Philosophie in der neueren Zeit. ■ — Ihr Verhältnis zu den
exakten Wissenschaften 25
DRITTER VORTRAG.
Die kritische Philosophie 52
VIERTER VORTRAG.
Die Grundlagen der Erkenntnis 86
FÜNFTER VORTRAG.
Der naturwissenschaftliche und der philosophische Monismus . 128
SECHSTER VORTRAG.
Probleme der Lebensanschauung 169
SIEBENTER VORTRAG.
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus . . 200
ACHTER VORTRAG.
Gegenwart und Zukunft der Philosophie 236
Berichtigungen.
Es ist zu lesen:
S. 16, Z. 9 V. o. unsichtbar (statt unscheinbar)
S. 64, Z. 1 1 und 13 V. u. es (statt er)
S. 105, Z. 16 V. u. individuellen
S. 107, Z. II V. u. das Gegebensein
S. 171, Z. 2 V. u. den Gesichtspunkt
ERSTER VORTRAG.
WESEN UND ENTWICKLUNG DER PHILOSOPHIE. —
DIE PHILOSOPHIE IM ALTERTUME.
Wer sich etwa um die Mitte des vorigen Jahr-
hunderts die Aufgabe gestellt hätte, öffentlich über Philo-
sophie zu reden, würde mit seinem Vorhaben gewiß
gescheitert sein. Auch unter den Höchstgebildeten
seiner Zeitgenossen würde er die Hörer für seine Rede
nicht gefunden und sich überdies dem Verdachte aus-
gesetzt haben, im Zeitalter der Naturwissenschaften etwas
wie Alchemie anpreisen zu wollen.
Aber niemand hätte sich damals diese Aufgabe ge-
stellt, niemand sie sich stellen können. Nach der all-
gemein herrschenden Überzeugung der Wissenschaft jener
Zeit hatte sich die Philosophie überlebt. Sie erschien
wie eine ausgestorbene Lebeform, die einer früheren
Epoche der geistigen Entwicklung angehörte, und höch-
stens als Sache bloßer Gelehrsamkeit, als Angelegenheit
historischer Erinnerung und Forschung ließ man sie
gelten. Damals auch konnte das Wort fallen: die Ge-
schichte der Philosophie sei eben selbst die Wissenschaft
der Philosophie, — ein Wort, das wohl jener augen-
blicklichen Lage der Philosophie angemessen war, ihr
aber im Grunde Leben und Zukunft abspricht.
Die Beschäftigung mit den allgemeinen Fragen der
Erkenntnis und Weltanschauung galt nicht mehr für
wissenschaftlich vollwertig, und jeder Spezialist in einem
Riehl, Philosophie der Gegenwart. I
2 Erster Vortrag.
Zweige oder Zweiglein der exakten Forschung, der
Philologie und Geschichte glaubte mit Geringschätzung
auf die Wissenschaft Piatos und Kants blicken zu dürfen.
Umsonst, daß aus der Mitte der Naturforschung selbst
vereinzelte Stimmen laut wurden, welche vor der Ver-
wechslung der Philosophie mit den damals jüngsten
Systemen metaphysischer Spekulation warnten und ver-
langten, man solle über der Zurückweisung der unbe-
rechtigten Ansprüche der Philosophie nicht auch ihre
berechtigten verkennen. Sie blieben verkannt, nicht zum
Heile der Wissenschaft selbst. Diese, aus Furcht, sich
von neuem in naturphilosophische Abenteuer verstrickt
zu sehen, verbot sich das Denken. Es gibt dafür ein
klassisches Beispiel, oder, wie ein Mediziner sagen
würde, einen „schönen Fall". Robert Mayer, der erste
Entdecker des Satzes der Erhaltung der Energie, —
der Kraft, wie man damals sagte, wurde des Liebäugeins
mit der Metaphysik beschuldigt, bloß aus dem Grunde,
weil er sich für den Beweis seines Satzes außer auf
die Erfahrung und das Experiment auch auf die Denk-
gesetze berief.
Zwar, man hatte eine Philosophie, redete aber von
ihr nicht als einer solchen, denn man hielt sie gar nicht
für Philosophie. Und doch war jene dualistische, zu
deutsch zwiespältige Lehre von „Stoff und Kraft", als
den Wirklichkeiten an sich, so gut Metaphysik, vielmehr
sie war schlechtere Metaphysik als irgend eine von der
philosophischen Spekulation zu einem Systeme ausge-
sponnene.
Seither hat sich die Lage völlig geändert. In weiten
Kreisen ist wieder die Teilnahme und das Verständnis
für philosophische Fragen und Untersuchungen erwacht,
nicht zuletzt im Kreise der Naturwissenschaft selbst.
Wesen und Entwicklung der Philosophie. «
Was noch kurz zuvor unerhört gewesen wäre, ließ
sich jetzt vernehmen: ein hervorragender Physiologe
redete von „Grenzen des Naturerkennens" und sogar
das verpönte und in der Tat leicht mißzuverstehende
Wort a metaphysisch* taucht in dem Werke eines Phy-
sikers auf. Heinrich Hertz, dem wir die experimentelle
Begründung der elektromagnetischen Lichttheorie, den
Nachweis der Gleichheit der elektrischen Strahlen und
der Lichtwellen verdanken, äußert in seiner Mechanik:
„kein Bedenken, welches überhaupt Eindruck auf unseren
Geist macht, kann dadurch erledigt werden, daß es als
metaphysich bezeichnet wird; jeder denkende Geist hat
als solcher Bedürfnisse, welche der Naturforscher meta-
physisch zu nennen gewohnt ist."
Im Fortschritt des Naturerkennens sind von selbst
auch die alten Fragen der Philosophie, die höchsten
und umfassendsten Fragen des menschlichen Denkens,
wieder in Sicht gekommen und fordern zu erneuter
Untersuchung heraus. Und so mußte es sein. Je mehr
die wissenschaftliche Erkenntnis, gleichviel von welchem
Gebiete aus, ihrem Ziele sich nähert, in eben dem Maße
wird sie philosophisch. Ein Zeitalter der Wissenschaft,
das mit dem Prinzip der Unzerstörlichkeit der Energie
ein sämtliche Vorgänge in der äußeren Natur beherr-
schendes und verbindendes Gesetz entdeckt und mit der
Lehre der Abstammung und Entwicklung der Arten die
philosophische Idee der Einheit des organischen Lebens
in die biologische Wissenschaft hineingetragen hat, ein
solches Zeitalter der Synthese ist, man mag dies Wort
haben, oder nicht, ein philosophisches Zeitalter. Wissen-
schaft und Philosophie sind heute nicht mehr zu trennen.
Die Bewegung der Gegenwart zur Philosophie zu-
rück hat noch eine andere Quelle. Lange Zeit hat man
A Erster Vortrag.
sich an den erstaunlichen Erfolgen der Naturwissenschaften
begeistert, vielleicht dürfen wir sagen berauscht. Die
technischen Erfindungen, ein Ruhmestitel des neunzehnten
Jahrhunderts, haben das materielle Leben umgestaltet,
— das geistige in ähnlicher Weise umzugestalten und
weiter zu entwickeln vermochten sie nicht. Immer deut-
licher empfinden wir vielmehr die Lücke, die durch An-
häufung von Reichtum und Macht nicht auszufüllen ist;
zum Beweis, daß alle äußeren Mittel der Civilisation
nicht ausreichend sind, wahre Kultur zu schaffen und den
Menschen seiner ganzen Bestimmung näher zu führen.
Aus der großen Zeit des Krieges, der uns die Ein-
heit des Vaterlandes brachte, ist ein Geschlecht hervor-
gegangen, gährend wie es die Art der Jugend ist und
nach Neuem verlangend. Im Drang nach anderen Zielen,
nach einem neuen geistigen Gehalt für sein Dasein sah
es sich vor die wesentlichen Fragen des Lebens gestellt,
mit denen unter anderen, mit denen vor allem die Philo-
sophie sich beschäftigt. Daher die plötzliche und aus-
gebreitete Erregung, die von den Schriften Fr. Nietzsches
ausging. Wie ein Gewittersturm brausten die Aphorismen
des tragischen Denkers aus dem letzten Drittel des ver-
gangenen Jahrhunderts über die Zeit hinweg, und rüttelten
an den Grundfesten unserer ganzen bisherigen Kultur.
Sie sollten aber nicht bloß zerstören und die alten
Werte zerbrechen, sondern neue Werte schaffen und
eben in dem, was Nietzsche verkündete, in den Idealen,
wahren oder falschen, die er aufrichtete, lag das Ge-
heimnis seines Erfolges. Nietzsche glaubte der Seher
einer übermenschlichen Zukunft des Menschen zu sein;
in Wahrheit war er „die Stimme eines Rufenden in
der Wüste", und die Sehnsucht der Zeit nach Kultur-
emeuerung horchte auf diese Stimme.
Wesen und Entwicklung- der Philosophie. c
In diesem, den philosophischen Bestrebungen von
allen Seiten günstigen Augenblicke, in einer Zeit, nach
philosophischer Aufklärung suchend und fragend wie
keine, darf ich zu Ihnen reden. Ich empfinde ganz die
Gunst dieser Lage, aber auch die mit ihr verbundene
Verantwortung.
Die Zeit ist eine andere geworden, und auch die
Philosophie ist eine andere geworden. Sie hat umge-
lernt, oder wird, wo sie es noch nicht getan, umlernen
müssen, Sie hat für immer dem Wahne zu entsagen,
als könne es ihre Aufgabe sein, , Welträtsel " zu lösen
und dies noch dazu auf dem mühelosen Wege der Phan-
tasie. Statt Erkenntnissen, die den Geist nähren und
unseren Willen stählen, darf sie nicht wieder nur Opiate
darbieten und den Verstand mit der Einbildung einer
überschwänglichen Einsicht betäuben. Mit einem Worte,
sie hat es aufzugeben, metaphysisch zu sein und hinter
den Dingen Dinge zu suchen. Um aber der Verlockung
dazu künftighin widerstehen zu können, mufs sie sich
vor allem ein deutliches Bewußtsein von ihrer wahren
Bestimmung bilden. Das erste philosophische Problem
ist heute die Philosophie selbst als Problem. Was will
und soll, — was war und ist sie?
Um die Beantwortung dieser Fragen dürfen wir uns
nicht an irgend welche Äußerung irgend eines Philo-
sophen wenden; wir würden so nur eine vielstimmige
Auskunft erhalten, deren Zusammenklang zu vernehmen,
den Begriff der Philosophie schon voraussetzte. Sondern,
— es ist augenscheinlich, welchen Weg wir zu nehmen
haben: nur aus der Geschichte der Philosophie läßt sich
erkennen, was sie selbst sei und bedeute. Hier liegen
die großen Aufgaben und Verdienste des Historikers
der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie ist die
6 Erster Vortrag. ^
Geschichte der Entwicklung und der Verwandlung des
Begriffs der Philosophie.
Ich versuche daher, das Verständnis für die Auf-
gaben der Philosophie durch eine im wesentlichen ge-
schichtliche Betrachtung zu vermitteln; um aber selbst
verstanden werden zu können, muß ich die hauptsäch-
lichen Ergebnisse dieser Betrachtung vorausschicken,
nicht als Sätze, woran Sie glauben sollen, sondern
als Zielpunkte, wohin meine Untersuchung Sie führen
möchte.
Name und Sache der Philosophie sind, schon das
Wort verrät es, eine Schöpfung des griechischen Geistes,
Es gab ursprünglich nur eine griechische Philosophie,
das Werk eines noch mehr künstlerisch als wissenschaft-
lich veranlagten Volkes. Darauf müßte sich berufen,
wer die Philosophie überhaupt für etwas rein Historisches
halten wollte, für etwas, das abgetan ist. Denn jene
Philosophie, die Philosophie „an sich" ist wirklich zur
Geschichte geworden, und wir können sie daher als ein
Ganzes überschauen, als abgeschlossenen Tatbestand
untersuchen und zum Verständnis bringen. Unsere all-
gemeine Frage nach dem Wesen der Philosophie hat
sich damit zunächst in die besondere nach dem Wesen
der griechischen Philosophie verwandelt. Was war,
so fragen wir jetzt, was bedeutete die Philosophie in
dem klassischen Zeitalter ihrer Entstehung, ihrer ersten
Blüte und Frucht.
Die Antwort, die die Geschichte auf diese Frage
erteilt, ist so einfach und bestimmt, daß es unmöglich
erscheint, sie nicht richtig zu vernehmen. Philosophie,
lautet ihre Antwort, war im Altertume eines und das-
selbe wie Wissenschaft. Es gab im Altertume bis
zur alexandrinischen Zeit keine Wissenschaft außer oder
Wesen und Entwicklung der Philosophie. n
neben der Philosophie. Die Philosophie ist der gemein-
schaftliche Urgrund und Mutterschooß, woraus im Laufe
der Zeit alle Einzelwissenschaften hervorgegangen sind;
und vielleicht ist sie auch das höchste Ziel, worauf diese
hinweisen, zu dem sie alle bei ihrer Vollendung wieder
zurückfuhren; vielleicht ist sie das antecipierte System
der Wissenschaften.
Daß es im Altertume aufser der Philosophie keine
Wissenschaft gab, ist aus dem Verfahren und aus dem
Zeugnis der alten Denker leicht zu erweisen. Nicht
einmal die Mathematik galt als selbständige Disziplin;
Plato machte sie zur Vorstufe, ja zu einem Teile der
Philosophie. Und an der nämlichen Gleichsetzung von
Philosophie und Wissenschaft hielt auch der Denker fest,
in dessen Werken sich, vermöge des Reichtums seiner
empirischen Kenntnisse, die Grundwissenschaft oder Philo-
sophie zuerst in einzelne Disziplinen zu gliedern begann.
Aristoteles hat unter Philosophie nie etwas anderes ver-
standen, als was wir unter Wissenschaft verstehen. Er
bediente sich sogar des Ausdruckes Philosophie nicht
selten in der Mehrzahl; „Philosophien", das bedeutete für
ihn so viel als Wissenschaften. Die antike Philosophie,
so weit sie rein theoretische Zwecke verfolgte, ist die
antike Wissenschaft; sie ist die Wissenschaft selbst in
ihrem griechischen Zeitalter. Also, könnten wir weiter
folgern, wird auch die neuere Philosophie nicht anderswo
zu suchen sein, als in der neueren Wissenschaft, diese
als Ganzes genommen, und die für das Altertum giltige
Gleichung von Philosophie und Wissenschaft muß auch
für unsere Zeit giltig geblieben sein. Und so hätte sich
einfach die antike Philosophie in die moderne Wissen-
schaft umgewandelt, wie sich eine ältere weniger ent-
wickelte Form in eine jüngere, reicher entwickelte ver-
8 Erster Vortrag.
wandelt. Wir empfinden sogleich, daß damit der Philo-
sophie die Existenzfrage gestellt ist.
Niemals aber hat es der Philosophie genügt, blose
Wissenschaft zu sein. Nicht nur der Kosmos — so, von
der schönen in ihr waltenden Ordnung nannte der
ästhetische Sinn der Griechen die Welt, — nicht der sicht-
bare Kosmos allein in dem Schmuck seiner Erscheinungen,
auch das Innere des Geistes war schon im Altertume
Gegenstand der philosophischen Betrachtung. „Im Inneren
ist ein Universum auch" und dieses Universum hat zuerst
Sokrates der Philosophie erschlossen. Ein neuer Begriff
der Philosophie war damit gefunden, ihr platonischer
Begriff, wie wir ihn nach dem großen Nachfolger des
Sokrates nennen wollen, die Philosophie der geistigen
Dinge. Diese würde ihr Wesen mißverstehen und sich
um ihre eigentiiche Wirkung bringen, wollte sie sich
selbst wieder als Wissenschaft ausgeben.
Man kann den menschlichen Geist nicht wie ein
beliebiges anderes Objekt betrachten. Wenn die Psy-
chologie in Verbindung mit der Physiologie seine Fähig-
keiten und die Bedingungen ihrer Äußerung analysiert
und die Gesetze seiner Entwicklung, der individuellen
wie der sozialen, erforscht, so stellt sie ihm gegenüber
lediglich theoretische Fragen. Diesen aber ist es eigen-
tümlich, daß sie gerade das Wesentliche des Geistes
nicht berühren. Die Wissenschaft als solche kennt den
Begriff des Wertes nicht. Sie erkennt, aber sie be-
urteilt nicht. Wie für den Pathologen Gesundheit und
Krankheit physiologische Vorgänge von der gleichen
Gesetzlichkeit sind, so unterscheiden sich wahre oder
falsche Urteile, gute und schlechte Handlungen, als Ob-
jekte einer rein psychologischen Untersuchung, nur in
ihren Bedingungen und ihren Folgen. Es gibt aber noch
Wesen und Entwicklung der Philosophie. q
einen anderen als den rein wissenschaftlichen Blick auf
das geistige Leben, und erst dieser zweite Blick, der die
Werte entdeckt, dringt in die eigentliche Welt des Geistes
ein, Werte entdecken heißt aber zugleich Werte er-
leben, Werte in sich neu erschaffen. Und darum ist
die Philosophie, die von den Werten ausgeht, nicht reine
Wissenschaft; sie ist, wenn wir ein Urteil aussprechen
wollen, mehr als Wissenschaft sein kann, oder, um es
ohne Urteil zu sagen, etwas anderes als Wissenschaft:
die Kunst der Geistesführung. Als eine „Form des
Lebens* bezeichnete Plato die Philosophie.
Wir verstehen nun, warum in dem Werke der Philo-
sophie die Persönlichkeit des Philosophen von so ent-
scheidender Bedeutung ist und so lebendig hervortritt,
gleichsam aus dem Mittelpunkt der Lehre heraus ge-
staltend und aus ihr redend. Zur Geistesführung gehören
führende Geister, die den Weg vorangehen, den sie
weisen. Wohl ist auch in dem Werke der Wissenschaft
der persönliche Anteil des Forschers, des großen Forschers,
nicht gering zu achten; er tritt aber doch völlig hinter
die Sache zurück; und wenn wir von Galileis Fallge-
setzen, von Newtons Gravitationsgesetz reden und Natur-
gesetze und Theorien über die Natur nach den Namen
ihrer Entdecker und Urheber benennen, so wollen wir
mehr uns dankbar gegenwärtig halten, wer zuerst den
klaren und tiefen, den poetischen Blick in die Natur
getan, der erforderlich war, um aus ihr ein neues Ge-
setz herauszuschauen, als daß wir dabei an eine persön-
liche Fortwirkung jener Forscher dächten. In jeder
Philosophie dagegen, die noch etwas anderes als Wissen-
schaft ist, lebt ihr Schöpfer in gewisser Weise fort. Wer
nur den wissenschaftlichen Begriff der Philosophie kennt,
kennt nicht ihr ganzes Wesen und mag daher leicht
10 Erster Vortrag.
dazu kommen, sie zu unterschätzen und in ihrer Ge-
schichte nur eine Reihe vergeblicher Versuche zu sehen.
Er vergißt, daß die philosophischen Persönlichkeiten
nicht aus der Geschichte zu streichen sind, jene mächtigen
Persönlichkeiten, deren Wirkung mit dem Einfluß auf
ihre Zeit nicht erloschen ist, wie Sokrates und Plato im
Altertume und in der neueren Zeit Kant mit seiner
Lehre von der Autonomie des Willens, der Freiheit
und Selbstgesetzgebung der Vernunft, dieser wahren
„Herrenmoral". In der Tat ist die Persönlichkeit die
eigentlich schöpferische Macht in der Philosophie, und
es ist dies jedesmal eine Persönlichkeit von allgemein-
menschlicher Bedeutung, erfüllt von allgemein-mensch-
lichen Zwecken; sie kann daher auch allgemein ver-
standen werden und so die Führung der Geister an
sich nehmen.
Zwei Begriffe also sind von Alters her, ohne daß
man dies deutlich erkannt hat, mit dem Namen Philo-
sophie verbunden gewesen und es entsteht die Aufgabe,
die Einheit ihrer Verbindung zu zeigen. Für's erste
jedoch müssen wir die wissenschaftliche Aufgabe der
Philosophie für sich und ohne Beziehung auf ihren nicht-
wissenschaftlichen Beruf betrachten. Denn so bringt es
die Natur eines jeden Vortrages mit sich, daß dieser
trennen mufs, was in der Wirklichkeit des Lebens und
der Geschichte verbunden ist, und nur im Nacheinander
vorführen kann, was ineinander wirkt.
Unterschätzen wir die alte Wissenschaft, die alte
Philosophie nicht. Es wäre ungerecht, ihr Werk nach
dem Maße der erweiterten, und um so vieles genaueren
Kenntnisse zu beurteilen, die wir hauptsächlich der Ver-
besserung der wissenschaftlichen Methoden verdanken.
Wohl mag der Satz, mit welchem jener jonische Denker
Wesen und Entwicklung der Philosophie. 1 1
über die Natur, der Ahnherr unserer Naturforscher, die
Philosophie begonnen hat, auf den ersten Blick wie ein
ungereimter Einfall erscheinen, oder doch als die Äußerung
eines noch unbeholfenen Denkens, bei dem es sich nicht
lohne zu verweilen. Geschichtlich erwogen aber bedeutet
der Satz des Thaies von der Entstehung des All aus dem
Wasser nichts Geringeres als den vollzogenen Bruch mit
der vorangegangenen, rein mythologischen und alle-
gorischen Naturbetrachtung, nichts Geringeres also als
den Beginn eines sich auf sich selber stellenden Denkens.
Der Mensch will sich nicht länger Geschichten erzählen,
wie Götter und Welt und alle Dinge erzeugt wurden.
Theogonien und Kosmogonien verschwinden vom Plan
und machen der Wissenschaft Platz. Statt auf einen
von der Phantasie ersonnenen — werden die Bildungen
in der Natur auf einen den Sinnen gegebenen und er-
forschbaren Grund, einen Grundstoff, zurückgeführt. Der
rein theoretische Trieb des Geistes ist erwacht. Nicht
um eines anderweitigen Nutzens, um ihrer selbst willen,
erklärt Aristoteles^ suchten Thaies und die ihm Folgen-
den die Wissenschaft. Darum sei auch diese Wissen-
schaft allein unter allen frei und mit Recht möchte man
ihre Erwerbung für übermenschlich halten und sie gött-
lich nennen, weil sie unnütz ist.
Wie es dem Jugendalter der Wissenschaft entsprach,
erfaßte Thaies ihre Aufgabe noch als ein ungeteiltes
Ganzes. Die Notwendigkeit, die Gesamtaufgabe der
Forschung in einzelne Fragen zu zerlegen, jede von
diesen für sich zu bearbeiten und die Ergebnisse ihrer
Bearbeitung zu verbinden, konnte erst einer viel späteren
Zeit bewußt werden. Bei seinem ersten Aufschwünge
richtete sich das Denken sogleich auf das Ganze der
Dinge, das Sein und das All, und: — alle Dinge sind dem
12 Erster Vortrag.
Ursprung und Grundstoffe nach Eins, lautete seine erste,
verheißungsvolle Botschaft. — Dabei ist jedoch ein
Wesentliches nicht zu übersehen. Das Problem, von
welchem die früheste Wissenschaft ausging, war dieser
in den Mythen des vorwissenschaftlichen Denkens über-
liefert; sie nahm es aus den Fabeleien darüber, wer das
All gemacht habe: Erebos, des Chaos Sohn, Zeus, der
sich in den Eros verwandelt, die Welt zu bilden, oder
Okeanos und Thetis, die „Eltern des Werdens". Nicht
also das Problem als solches, die Antwort, die Thaies
auf die überlieferte Frage gab, ist das Neue und Be-
deutsame in seiner Anschauung. Okeanos und Thetis
wurden der Persönlichkeit entkleidet; Thaies vertauschte
das Symbol mit der Sache und damit stellte er sich an
die Spitze der Philosophen und Naturforscher, während
er, wie Nietzsche bemerkte, mit der Fragestellung selbst
noch in der Gemeinschaft mit den Mythologen blieb.
Daher erweiterte sich ihm seine neue Erkenntnis gleich
in die Gesamterkenntnis der Dinge, und die Philo-
sophie, die am Anfang der Wissenschaft stand, glaubte
schon am Ende derselben zu stehen.
Alle geschichtlichen Anfänge sind anziehend und
reizvoll gleich den Erinnerungen aus der Kindheit und
selbst das Unzulängliche, das ihnen anhaftet, empfinden
wir mit Rührung und Sympathie. Auch die ersten
Schritte und Fortschritte des philosophischen Denkens
gewinnen für uns eine ganz andere Bedeutung, wenn
wir sie eben als Anfänge betrachten, als die Anfänge
der heutigen Wissenschaft. Nicht leicht ist es dem
Menschen geworden, sein Denken aus der ursprünglichen
mythologischen Hülle zu befreien; immer wieder fallen
die alten „Physiologen", die Vorgänger unserer Natur-
forscher, in die Sprache des Mythos zurück. So
Wesen und Entwicklung der Philosophie. i«
gleich der gewaltigste unter ihnen, der durch Ab-
stammung und Gesinnung vornehme Denker, den das
Altertum um seiner Gleichnisreden und Rätselsprüche
willen den „Dunkeln" nannte, Heraklit von Ephesus.
Was er erschaute, ist das Gesetz im Werden, die
Notwendigkeit und das Maß im Geschehen. Mit dem
Blicke seines Geistes erfaßte Heraklit durch das schein-
bare Beharren der Dinge hindurch den beständigen Fluß
des Werdens: „alles fließt, nichts bleibt stehen". Zwar
redete Heraklit auch vom Feuer, durch dessen Wand-
lungen das Werden sich vollziehe, aber dieses Feuer ist
selbst wesentlich Bewegung und Energie. An die Stelle
der Beharrlichkeit eines Stoffes tritt die Beharrlichkeit
des Gesetzes. Das Gesetz ist der Logos, das „Wort,
nach dem alles geschieht, das allem gemeinsam ist":
sein Vollzug ist das Recht, „die Dike, der die Erinnyen
als Helferinnen zur Seite stehen, jede Überschreitung
der Mafse zu richten". Wir verstehen den nicht-
mythischen Sinn dieser mythischen Rede. Was Heraklit
mit seinen Aphorismen über das Werden und dessen
beständig gleiche Bahnen meinte, trifft der Sache nach
mit dem, was Schopenhauer lehrte, zusammen: „das
Sein der Materie ist ihr Wirken, nur als wirkend füllt
sie den Raum, füllt sie die Zeit". Es trifft auch zu-
sammen mit einer neuesten Strömung in der Physik,
dem Versuch, die Materie in eine Verbindung von
Energieformen aufzulösen. Einer der denkendsten Natur-
forscher unserer Zeit hat am Abend seines Lebens ein
Wort geäußert, das selbst wie ein Heraklitisches Rätsel
lautet. „Dauernde Bewegungsformen und scheinbare
Substanzen" sollte ein Vortrag heißen, den Helmholtz
kurz vor seinem Tode angekündigt hatte. So ist es
wirklich nach der Anschauung des alten jonischen Natur-
jj. Erster Vortrag.
Philosophen: der Schein beharrlicher Dinge entsteht nur
dadurch, daß einander entgegenstrebende Kräfte sich
vorübergehend ins Gleichgewicht setzen; verborgene Be-
wegungstendenzen werden so zu scheinbaren Substanzen.
Das Naturgesetz ist das Weltgesetz. Auch die Ge-
setze der menschlichen Vereinigung, die ethisch-poli-
tischen Gesetze sind nach Heraklit eine Verzweigung
des allgemeinen Naturgesetzes. „Nähren sich doch alle
menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen." Der
Mensch mit seinem Willen und den Schöpfungen seines
Willens in Staat und Recht unterbricht nicht die Ver-
kettung und Notwendigkeit des Naturzusammenhanges;
er ist mitsamt seinem Willen in diese Verkettung ein-
geschlossen. — Tiefsinnig fürwahr und einheitlich zu-
gleich ist diese früheste Erfassung der Naturgesetzlich-
keit mit ihren beständig gleichen Maßen, dem „Logos"
im Werden.
Und nun das Historische, das Persönliche in der
Philosophie Heraklits. Nur ein Grieche, der die kultur-
schaffende Bedeutung des „Agon", des Wettkampfes
lebendig vor Augen hatte, konnte einen Gedanken wie
diesen finden: Grund aller Dinge ist der Streit des Ent-
gegengesetzten; der Krieg ist aller Dinge Vater und
König; nur ein Grieche diesen Gedanken zum Aus-
gangspunkte einer Rechtfertigung der Weltordnung, zur
Grundlage einer „Kosmodicee", machen. Auch wir reden
vom „Kampf ums Dasein" und kennen und schätzen die
edlere Form des Kampfes, den Wetteifer um das Gute
und Hohe. Aber, der Agon als Prinzip der Dinge, als
Grundform des Geschehens — das ist das Geschicht-
liche, das national Bedingte bei Heraklit und gehört der
Vergangenheit an, die wir begreifen können, nicht dem
Leben, das wir mitleben.
Wesen und Entwicklung der Philosophie. ig
Ich wiederhole: unterschätzen wir die alte Wissen-
schaft oder Philosophie nicht. — Mit Staunen treffen
wir bei Anaxagoras auf den Satz: „die Gesamtheit der
Dinge kann nicht vermehrt oder vermindert werden,
immer ist ihre Größe die gleiche". Die Unveränder-
lichkeit des Gegebenen seiner Größe nach, die dieser
Satz behauptet, gilt uns als die allgemeine Prämisse, als
die Gedankenform für das umfassendste Naturgesetz, das
Prinzip der Erhaltung von Materie und Energie. Ein
Wesentlicher Teil des Prinzipes, der flir den vollständigen
Beweis desselben nicht zu entbehren ist, war also schon
den Alten bekannt. Nach dem Zeugnis des Aristoteles
teilten die Naturphilosophen oder „Physiologen" der vor-
sokratischen Zeit die Überzeugung, „daß nichts aus
nichts entstehe, nichts in nichts vergehe", wie Demokrit
den Satz des Anaxagoras ausdrückte. Die Naturforschung
ferner geht an die Gegenstände ihrer Untersuchung
mit einer Voraussetzung heran, die durch die Erschei-
nungen fortv/ährend bestätigt wird, aber durch keine
entgegenstehende Tatsache widerlegt werden könnte,
weil jeder anscheinende Widerspruch gegen sie für den
Forscher nur ein Antrieb, ein Stachel mehr wäre, den
Widerspruch zu heben. Es ist dies die Voraussetzung
oder das Gesetz der notwendigen Verknüpfung der Ver-
änderungen, das uns anweist, Ursachen in der Natur
zu suchen. Der Erste aber, so viel wir wissen, der
dieses Gesetz mit klaren Worten ausgesprochen hat, ist
Demokrit: „nichts geschieht von ungefähr, sondern Alles
aus einem Grunde und durch Notwendigkeit" Wie die
Voranstellung des Wortes Grund beweist, bedeutet hier
Notwendigkeit nicht einen den Dingen auferlegten
Zwang; es bedeutet im Sinne Demokrits, der auch der
Sinn unserer Naturwissenschaft ist, daß das Geschehen
i6 Erster Vortrag.
gesetzlich und darum begreiflich ist, weil seine Form
der Form des Denkens entspricht. Diese geläutertste
Idee von Notwendigkeit tauchte also bereits in dem
Bewußtsein des alten Philosophen, eines Zeitgenossen
des Sokrates, auf. Von Leukipp übernahm Demokrit
eine Hypothese über den Aufbau der Materie, die auch
uns noch für die beste „Arbeitshypothese" gilt, das beste,
weil anschaulichste Modell, die Zusammenhänge im un-
scheinbar Kleinen für den Geist sichtbar und für die
Mathematik darstellbar zu machen: die Hypothese der
Atome. Freilich wußte Demokrit nicht, was auch
mancher Naturforscher der Gegenwart noch nicht zu
wissen scheint, daß er es nur mit einer Hypothese zu
tun habe; er hielt vielmehr seine Annahme für eine
ausgemachte Sache und das Abbild der Dinge selbst.
Man kann kühn behaupten, wie weit das Denken
für sich allein in der Erkenntnis der Dinge reicht, so
weit hat das Denken der Griechen tatsächlich gereicht,
und was das Denken ohne Hilfe des Experimentes zu
ergreifen, was es aus sich selbst zu entwickeln vermag,
das haben schon die Griechen ergriffen und aus ihm
entwickelt, nämlich die Form für alle Erfahrung, wenn
sie es auch nicht unter diesem Namen kannten, wenn
sie es auch in seiner wahren Bedeutung verkannten.
Das Denken verwechselte sich noch mit den Dingen,
es nahm seine Gesetze, ohne Einschränkung, für die
Gesetze der Dinge selbst; es war, so können wir dies
mit einem Worte sagen, noch nicht kritisch geworden,
das heißt, es hatte sich noch nicht auf sich selbst be-
sonnen und gelernt, sich als das Instrument der Forschung
von dem Inhalt der Forschung zu unterscheiden. Aber, es
wäre unbillig, einem so altertümlichen, das ist in Wahrheit
so jugendlichen Denken daraus einen Vorwurf zu machen.
Wesen und Entwicklung der Philosophie. 17
Mit der Aufstellung des Rahmens für die künftige,
exakte Naturerkenntnis, mit der Entdeckung der Grund-
begriffe für diese Erkenntnis, ist das Werk der alten
Philosophie, soweit sie Wissenschaft war, im wesent-
lichen abgeschlossen. Wohl lagen in der Methode Piatos
und den mathematischen Tendenzen seiner Philosophie
Keime zu einer weiteren Entwicklung der Wissenschaft
vorgebildet; Aristoteles hat sie aber nicht zur Entfaltung
gebracht. Seine Naturphilosophie steht vielmehr, dies
dürfen wir mit Sicherheit sagen, im Prinzip hinter derjenigen
Demokrits und Piatos zurück. Daß damit die Wissen
Schaft auch im Altertum nicht erloschen war, ist bekannt
und wird jedem zugerufen durch den Namen Archimedes.
Dies ist aber schon Wissenschaft in unserm Sinne und fällt
überdies aus dem Rahmen der alten Philosophie heraus.
Durch das Verfahren allein, nicht in ihren Gegen-
ständen, unterscheiden sich alte und neue Wissenschaft,
oder, was für uns zunächst dasselbe ist, alte und neue
Philosophie. Zwar wurde schon im Altertume von ärzt-
licher Seite, von der Schule des Hippokrates, der Ver-
such gemacht, der Methode der Begriffe eine Methode
der Forschung gegenüberzustellen, welche die Begriffe
aus den Erscheinungen herleitet und durch diese beweist;
dieser Versuch scheiterte aber an der besonderen Aus-
stattung des griechischen Geistes, seiner vorwiegend
künstlerischen Natur und Denkart.
Der griechische Denker überträgt die Ideen des
Geistes unmittelbar auf die Anschauungen der Sinne.
Er verhält sich zu den Dingen spekulativ und gleicht
wirklich einem Spiegel, dessen Glanz sich mit dem Lichte
der Dinge vermischt. Wie er die den Zahlen und Raum-
verhältnissen innewohnende Gesetzlichkeit als etwas
seinem künstlerischen Sinn Verwandtes empfindet, so
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 2
l8 Erster Vortrag.
scheint ihm die Welt draußen in der Harmonie ihrer
Verhältnisse, der Schönheit ihrer Maße jene innere Ge-
setzlichkeit wiederzuspiegeln, und mit einer ihm eigen-
tümlichen Kunst, einer Architektonik der Begriffe, sucht
er ihren Bau nachzuschaffen, Bilder der Welt zu gestalten.
Für ihn ist das Erste die Synthese.
Anders unsere Wissenschaft. Sie geht dem Probleme
der Naturerkenntnis nicht gleich in dessen höchster
Allgemeinheit zu Leibe. Sie sucht die Erscheinungen
im Einzelnen zu begreifen und bevorzugt dabei gerade
die unscheinbaren, alltäglichen Vorgänge in der Natur,
die sich immer wieder in gleicher Weise vor unseren
Augen abspielen. Hier, wenn irgendwo, ist sie über-
zeugt, müssen die fundamentalen Gesetze der Natur zu
finden sein. Aber nur methodisch lassen sie sich finden
und aus der konkreten Erscheinung, in der sie, mit den
Wirkungen anderer Gesetze verwickelt, enthalten sind,
herausstellen. Die Wissenschaft sucht daher die Er-
scheinungen zunächst zu analysieren, das. heißt, sie in
Gedanken zu vereinfachen, sie entwickelt sodann die
Folgen dieses vereinfachten Bildes, um schließlich,
lieh, wie Hertz es ausdrückt, nachzusehen, ob die denk-
notwendigen Folgen des Bildes auch die Bilder der
naturnotwendigen Folgen der Gegenstände selbst seien.
Wo es irgend angeht, werden diese Folgen nach Maß-
gabe der theoretischen Annahme willkürlich hervorge-
rufen und die in Betracht kommenden Größen gemessen.
Diese Analyse der Erscheinungen, Entwicklung der
daraus hergeleiteten Begriffe und Prüfung der Begriffe
durch Beobachtung oder Versuch bezeichnen wir als
experimentelles Verfahren. Mit seiner Entdeckung erst
Ist eine Wissenschaft in unserem Sinne möglich geworden.
Seine Einführung aber mußte zugleich die Auflösung
der ursprünglich einheitlichen Gesamtwissenschaft oder
Wesen und Entwicklung der Philosophie. jg
Philosophie in eine immer mehr wachsende Anzahl
spezieller oder positiver Wissenschaften mit sich bringen.
Es war von ganz entscheidender Bedeutung für
die weitere Entwicklung der Philosophie, daß diese seit
dem 17. Jahrhundert eine Wissenschaft außer sich, eine
Wissenschaft sich gegenüber hatte. Denn erst nachdem
sie aufgehört hatte, die Alleinwissenschaft zu sein, konnte
ihr Verhältnis zur Wissenschaft in Frage kommen.
Unmittelbar nach der Schöpfung der modernen
Wissenschaft schien sich dieses Verhältnis sehr einfach
zu gestalten. Die neue Wissenschaft betrachtete sich
selbst als Fortsetzung, als Ersatz der alten Philosophie.
Die griechische Wissenschaft erschien als die Vorstufe
der modernen, jene als die Verheißung, diese als die
Erfüllung. Und auf den ersten Blick scheint es gar
nicht möglich zu sein, dieser Auffassung zu wider-
sprechen. Was Gegenstand der alten Philosophie war,
ist zum Gegenstand der modernen Wissenschaft ge-
worden; was jene erstrebte, die Erkenntnis der Außen-
welt, die Erkenntnis des Geistes, hat diese erreicht, oder
sie befindet sich doch auf dem Wege, es zu erreichen.
Die Naturphilosophie der Alten ist wirklich, wer könnte
dies bestreiten, von der Naturwissenschaft der Neuern,
ihrer Physik, Chemie, Biologie abgelöst worden; die
Psychologie des Aristoteles erfährt ihre Fortsetzung in
der physiologischen Psychologie der Gegenwart. Die
neue Wissenschaft, in ihrer Gesamtheit genommen, muß
die alte Philosophie, wie es scheint, völlig ersetzt haben,
so gewiß es über die nämlichen Gegenstände nicht zwei
Wissenschaften, nicht zwei Wahrheiten geben kann. —
Also, hätten diejenigen Recht — ich selbst habe eben
für sie geredet — , welche behaupten, daß die Philo-
sophie sich überlebt, richtiger, daß sie sich in die moderne
20 Erster Vortrag.
Wissenschaft umgewandelt habe. Wozu sie also noch
suchen? Haben wir sie doch in den Hörsälen unserer
Hochschulen und den Arbeitsräumen unserer Natur-
forscher; die Philosophie Demokrits, Piatos, Aristoteles
ist heute in unsere Physik- und Chemiepaläste ein-
gezogen und herrscht hier in moderner Gestalt.
Die Möglichkeit und das Recht der Philosophie, als
Wissenschaft weiter zu bestehen, ist somit fraglich ge-
worden. Von der Philosophie als Geistesführung sehen
wir vorläufig ab; wir haben uns diese Abstraktion er-
laubt und mußten sie uns zum Zwecke der Deutlich-
keit erlauben. Unsere Frage lautet demnach: gibt es
noch neben den positiven Wissenschaften und verschieden
von diesen eine wissenschaftliche Philosophie? — Soll
es eine solche geben, so darf sie nicht weniger bestimmt,
nicht minder exakt sein als irgend eine andere wissen-
schaftliche Disciplin; sie darf nicht hinter dem Maße,
das wir seit Galilei an wissenschaftliche Erkenntnis an-
zulegen gelernt haben, zurückbleiben. Legen wir aber
an sie diesen strengen Maßstab an, so wird die Frage,
was sie nun noch sei und bedeute, nur umso dringender.
Die Philosophie müßte Einzelwissenschaft sein, sie stünde
sonst an Strenge hinter den übrigen Wissenschaften
zurück, und sie müßte zugleich Allgemeinwissenschaft
sein können, sonst wäre sie nicht — Philosophie.
Wollten wir gleich die Gesamtheit oder das System
der positiven Wissenschaften Philosophie nennen, und
wirklich ist dies ihr Begriff in seinem weitesten Sinne
verstanden, so kämen wir zu dem wunderlichen Resultate,
daß es zwar eine Philosophie gibt, aber keinen Philo-
sophen geben kann. Denn es liegt nicht in dem Ver-
mögen irgend eines Menschen, sämtliche Wissenschaften
zu umfassen. Auch würde ein bloßes Aneinanderreihen
Wesen und Entwicklung der Philosophie. 21
und Verknüpfen der wissenschaftlichen Erkenntnisse noch
immer erst ein encyklopädisches Wissen von dem augen-
blicklichen Stande dieser Erkenntnisse geben, nicht viel
anders als ein solches auch in einem Wörterbuche auf-
gespeichert werden kann. Der Versuch aber, die Wissen-
schaften dadurch zur Einheit zu bringen, sie „eins zu
machen", wie Herbert Spencer sagen würde, daß nur
das Allgemeinste von ihnen auf eine Formel gebracht
wird, führt, wie eben das Beispiel der „Synthetischen
Philosophie" Spencers zeigt, nur zu ganz oberflächlichen
Analogien oder Gleichnissen, nicht aber zu strengen
Gleichheitsbegriffen,
Die Geschichte selbst hat die Antwort auf unsere
Frage erteilt. Im Fortgang und in Folge der Entwicklung
der positiven Wissenschaften selbst ist aus diesen ein
Problem hervorgegangen, das zwar auch dem Altertume
nicht gänzlich unbekannt war, aber in seiner ganzen
Bedeutung erst in der neueren Zeit erkannt werden
konnte: das Problem der Wissenschaft als solcher, die
Frage nach ihren Voraussetzungen und ihren Grenzen.
Was Wissenschaft sei und wie weit sie reiche, ist die
philosophische Grundfrage, ist der Gegenstand der theo-
retischen Philosophie. Mit dieser Frage tritt die Philo-
sophie in Zusammenhang mit allen übrigen Wissenschaften
und braucht sich doch nicht in das Geschäft einer einzigen
unter ihnen zu mengen. Während die positiven Wissen-
schaften sich in die Gegenstände der Erfahrung teilen,
— die eine, indem sie aus den allgemeinen Gesetzen
der Bewegung die physikalischen Vorgänge erklärt, eine
zweite, indem sie die von der besonderen Natur der
Elemente abhängigen Wirkungen erforscht, die dritte,
indem sie die Prozesse des Lebens auf ihre physikalischen
und chemischen Ursachen zurückführt, — während sie
22 Erster Vortrag^.
also Erfahrungen zur Grundlage haben und Erfahrungen
machen, ist die Erfahrung selbst und als solche der
Gegenstand der wissenschaftlichen Philosophie.
Neben der forschenden Wissenschaft gibt es eine
kritische, welche die Quellen des Wissens prüft und
seinen Umfang bestimmt. Und daß dies eine Aufgabe
von der höchsten wissenschaftlichen und praktischen
Bedeutung sei, haben Forscher, die zugleich philo-
sophische Denker waren, stets und ausdrücklich aner-
kannt. Helmholtz nennt die Kritik der Erkenntnisquellen
„das Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben
wird und dem sich kein Zeitalter wird ungestraft ent-
ziehen können." Ohne den Kompaß der Kritik geraten
die wissenschaftlichen Erkenntnisse leicht über ihr Ziel
hinaus. Ohne ihn zu Rate zu ziehen, wird man immer
wieder versucht sein, aus der Wissenschaft allein eine
Weltanschauung zu gestalten, als ob der Mensch nichts
als reiner Verstand wäre und hätte seine Bestimmung im
bloßen Erkennen und nicht zugleich, ja vor allem im
Fühlen und Handeln. Weil der Wissenschaft die Kritik
fehlte, das ist die Selbsterkenntnis, konnte es im Zeit-
alter der Alleinherrschaft der Naturwissenschaften dahin
kommen, daß der Mensch vor lauter Dingen sich selbst
nicht sah und sich vergaß, indem er sich gewöhnte,
sich als ein Stück abstrakter Materie, ein Spiel mathe-
matischer Kräfte zu betrachten. Ein Teil der Erkennt-
nis gab sich für das Ganze aus und so war es möglich,
daß die Naturwissenschaft zeitweilig einer materialistischen
Metaphysik Vorschub zu leisten schien.
Es ist eines der wichtigsten, für die Weltanschauung
des Menschen bedeutsamsten Ergebnisse der Kritik der
Wesen und Entwicklung der Philosophie. 23
Erkenntnis, daß die Sinnenwelt, so wie sie zur An-
schauung kommt, keine unbedingte, sondern eine be-
dingte Existenz hat, daß sie ein Inbegriff von Erscheinungen
ist und in der Art und Form des Erscheinens abhängig
von der Empfindungsweise der Sinne und den Formen
des Anschauens. Nicht hinter den Erscheinungen oder
jenseits derselben, wo sie der Metaphysiker sucht: in.
uns selbst ist noch eine andere Welt gegeben als die
physische, die Welt geistiger Werte.
Die kritische Philosophie bereitet der Philosophie
als Geistesführung die Wege; sie schafft Raum und Recht
für die idealen Mächte in unserem Leben, die uns, ich
sage nicht: in's Übersinnliche, sondern ins Nichtsinnliche
erheben. Ohne sie wäre es möglich, daß wir von dem
Dasein der Werte, dem Wert der Werte nichts wüßten,
oder den Glauben daran verlören und zugleich damit
den Trieb zu einer fortschreitenden geistigen Kultur.
Sehr wesentlich ist der doppelte und dennoch ein-
heitlich verbundene Beruf der Philosophie. Sie sucht
dem Menschen eine lebensvolle Weltanschauung zu
geben, die sich an alle Seiten seiner Natur wendet. Dies
ist nicht ihr Gegenstand, wohl aber ihr Ziel, dem sie
sich im Bunde mit der Wissenschaft nähert," indem sie
zugleich den Forderungen des Gemütes Rechnung trägt.
Sie befaßt sich mit den höchsten Interessen des Geistes
und ist die wahre Wissenschaft und Weisheit des Menschen.
Sie entdeckt dem Menschen seine wahren Ziele und
weist ihn an, den Willen nach ihnen zu steuern und
zu richten. Alle großen Philosophien bisher, und das
sind die Philosophien der großen Denker, haben an den
Idealen der Menschheit mitgeschaffen.
Auch Kant unterscheidet einen doppelten Begriff
der Philosphie. In seiner etwas veralteten Ausdrucks-
24 Erster Vortrag.
weise nennt er den einen ihren „Schulbegriff'. Darnach
ist Philosophie die Idee von einem System der Erkennt-
nis und hat die Einheit des Wissens zum Zwecke; sie
ist insbesondere die Wissenschaft, welche die Grundlagen
der Erkenntnis untersucht und zur Beurteilung aller Ver-
suche zu erkennen und zu philosophieren dient. Über
diesen Begriff hinaus, aber im Anschluß an ihn, erhebt
sich der „Weltbegriff" der Philosophie, wie Kant ihn
nennt. In dieser Absicht ist Philosophie die Beziehung
aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der Ver-
nunft und ein Philosoph in diesem Sinne „der Gesetz-
geber der Vernunft und ein Lehrer im Ideal." — Aber
die Größe dieser Aufgabe fordert zugleich zur Bescheiden-
heit auf. „Es wäre sehr ruhmredig, meinen wir mit
Kant, sich selbst einen Philosophen in solcher Bedeutung
zu nennen und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur
in der Idee liegt, gleich gekommen zu sein". Sondern,
Kenner der Philosophie wollen wir uns nennen. Strebende
nach ihrem Ziele sein; und wir werden es in dem Maße
zu sein vermögen, in welchem wir befähigt sind, in der
eigenen Person die Selbstgesetzgebung der Vernunft zu
verwirklichen und uns zu Herren zu machen über uns
und unser Geschick.
Damit ist das Thema angegeben, das die folgenden
Vorträge aufzunehmen und zu entwickeln haben. Ihr
Gang führt uns zunächst durch das Gebiet theoretischer
Erwägungen: diese durch Anknüpfung an die Persönlich-
keiten ihrer Urheber so anschaulich wie möglich zu
machen, soll mein Bestreben sein.
ZWEITER VORTRAG.
DIE PHILOSOPHIE IN DER NEUEREN ZEIT. — IHR
VERHÄLTNIS ZU DEN EXAKTEN WISSENSCHAFTEN.
Im Jahre 1543, dem Todesjahre des Nikolaus
Kopernikus, erschien dessen Werk: „de revolutioni-
bus", von den Umwälzungen, — „orbium coelestium":
der Himmelskreise, fügte der Herausgeber von sich aus
hinzu. Eine neue Epoche der menschlichen Erkenntnis
war damit eröffnet und man sollte in der Geschichte
der Wissenschaft nur mit einer vorkopemikanischen und
einer kopernikanischen Aera rechnen.
Die Beobachtung der Regelmäßigkeit, womit sich
die Himmelskörper bewegen, hat ohne Zweifel die ersten
Regungen des wissenschaftlichen Denkens wachgerufen;
an dieser Beobachtung zuerst hat sich der Begriff der
Naturgesetzlichkeit entwickelt. Auch die Wissenschaft
der Zahl knüpfte an das natürliche Zeitmaß in dem
Kreislauf von Sonne und Mond an. Wir begreifen, wie
gerade jene antike Naturphilosophie, die an dem Beispiel
der musikalischen Intervalle die Abhängigkeit der Be-
schaffenheit der Sinneseindrücke von Zahlen und Größen
erkannte und mit dieser Entdeckung den ersten Schritt
zur quantitativen Erforschung der Natur zurücklegte,
— wir begreifen, wie die pythagoreische Philosophie
an der Ausbildung der Theorie über die Bewegungen
der Himmelskörper mit Erfolg arbeiten konnte. Aristarch
von Samos, ein pythagoreischer Philosoph des zweiten
26 Zweiter Vortrag.
Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, erfaßte sogar
den Gedanken der Erdbewegung um die Sonne; er
lehrte das heliocentrische System. Aber, wie alle wissen-
schaftlichen Gedanken, die zu früh geboren werden, blieb
auch dieser kühne Gedanke nicht am Leben. Erst der
deutsche Domherr aus Thorn mußte ihn wieder erneuern,
er tat es mit bewußter Anlehnung an seine antiken
Vorgänger. Kopernikus wollte nur die pythagoreische
Philosophie, wie man bis zu Keplers Zeit die Astronomie
nannte, wieder in's Leben gerufen haben.
Was war geschehen? — Die neue Lehre, die all-
mählich zum Siege geführt wurde, mit den edelsten
Opfern, an die wir noch zu erinnern haben, — bedeutete
sie nichts weiteres als ein Mittel, die astronomischen
Gleichungen bequemer anzuordnen, als es nach dem
verwickelten ptolomäischen Systeme geschehen konnte?
Gewiß, dies war ihre nächste und bei dem damaligen
Stande des Wissens vielleicht auch ihre einzige sichere
Folge. Aber damit kann ihre universelle Bedeutung
nicht erklärt, nicht erschöpft sein. Der heliocentrische
Gedanke trägt unendlich weiter als alle seine rein astro-
nomischen Konsequenzen.
Was war geschehen? — Die naive Anschauung
der Sinne ist von der Wissenschaft berichtigt, ja wider-
legt worden; das Denken feierte den ersten stolzen Tri-
umph über die bloßen Tatsachen. Mehr noch: die
Erde war aus ihrer centralen Stellung in der Welt heraus-
genommen, Menschenart und Menschenschicksal hatten
mit einem Male die ungeheuere Wichtigkeit eingebüßt,
die sie aus nächster Nähe gesehen und für den Menschen
selbst zu haben scheinen. Und doch: alle Philosophien,
alle Religionen der Welt bisher waren auf die einzig-
artige, bevorzugte Stellung des Menschen in der Natur
Die Philosophie in der neueren Zeit. 27
eingerichtet, auf sie als ihren Grundton gestimmt. Gleich-
wie das Festeste von allem, ja das Urbild des Festen,
die Erde plötzlich unter den Füßen zu wanken und
fortzufliegen begann, so schienen auch alle menschlichen
Werte schwankend und relativ geworden zu sein: —
nur menschliche Werte. Die neue Lehre hat zunächst
etwas an sich, das den Menschen, die Geschichte des
Menschen und die Schaubühne seiner Geschichte un-
endlich herabzudrücken scheint und den Menschen de-
mütigt.
Aber, man kann es auch anders sehen. Koperni-
kus hat einen neuen Stern entdeckt; er hat die Erde
in den Himmel versetzt. Der alte, von Aristoteles ge-
lehrte, vom Mittelalter geglaubte Gegensatz zwischen
Himmel und Erde, himmlischer und irdischer Physik, ist
mit Eins verschwunden. „Wie der Mond zum Himmel
der Erde gehört, so, nicht anders gehört die Erde zum
Himmel des Mondes; wie wir zum Monde emporblicken,
blicken die Bewohner des Mondes zur Erde empor."
Die Einheit der Sinnenwelt ist vor dem geistigen Auge
des Menschen aufgegangen; der erste wissenschaftliche
Beweis für ihre Einheit erbracht worden. Und selbst
diese theoretischen Folgen erschöpfen noch nicht die
ganze Bedeutung der neuen Anschauung. Zugleich mit
der einheitlichen Betrachtung der Welt muß von innen
her, im Menschen, die Teilnahme an allem Sein erwachen.
„Dies ist die Philosophie, welche die Sinne auftut,
den Geist befriedigt, den Verstand verherrlicht und den
Menschen auf die wahre Glückseligkeit, die er als Mensch
erreichen kann, hinweist, indem sie ihn von der mühe-
vollen Sorge um Vergnügungen und der blinden Furcht
vor Schmerzen befreit."
Es sind Worte Giordano Brunos, die ich ent-
28 Zweiter Vortrag.
lehnt habe. So hat Bruno die neue Lehre erfaßt; so
wurde Bruno von ihr erfaßt. Dieser Märtyrer der neuen
Weltanschauung steht am Eingang der neueren Philo-
sophie als Prophet der modernen Wissenschaft. Zwar
in seinen philosophischen Spekulationen zeigt er sich
noch abhängig von der Renaissance, oder bestimmter,
abhängig von den Ideen des Neuplatonismus, dieser
eigentlichen Philosophie der Renaissance; auch teilte er
bis zu einem gewissen Grade die Neigung seines Zeitalters
zu abergläubischen, okkultistischen „Wissenschaften".
In seinen kosmologischen Anschauungen dagegen ist
er durchaus originell und sein eigener Gewährsmann;
hier leitet ihn ein angeborener Sinn für das Wirkliche
und Wahre, Er verallgemeinert die kopernikanische An-
schauung. Im unermeßlichen Räume sieht er zahllose
Sonnen leuchten, jede von Planeten, oder wie er ein-
drucksvoller sagt: von „Erden" umkreist, die nur des-
halb für uns nicht sichtbar seien, weil ihre Entfernung
zu groß und ihr Körper zu klein ist. Gibt es doch
auch, so erklärt er, in unserem Sonnensysteme mehr
Planeten, als die, welche bisher sichtbar geworden sind.
Was aber heute für die Meisten nur ein Objekt des
Wissens ist, war für Bruno Gegenstand eines feurigen
Affektes, einer religiösen Stimmung und Ergriffenheit.
Bruno ist der Philosoph der Astronomie und wollen wir
sehen, wie eine wissenschaftliche Wahrheit zu einer
philosophischen wird, — dies große Beispiel kann es
uns zeigen: dadurch, daß sie unser ganzes Wesen an-
spricht und erfüllt, daß sie sich nicht blos an den Ver-
stand wendet, sondern mit dem ganzen Leben des Ge-
müts erfaßt wird.
Schon im Kloster (das Kloster war damals noch
die Hauptstätte für wissenschaftliche Bildung), als Novize
Die Philosophie in der neueren Zeit. 20
des Dominikaner-Ordens wurde Bruno, als Jüngling, mit
der Lehre des Kopernikus bekannt. Sogleich fühlte
sich sein Geist wie von Fesseln entledigt und befreit
aus jenen erdichteten Sphären, die gleich Kerkermauern
die Welt des Mittelalters umschlossen hielten. Die
kristallnen Schalen, die Wölbungen droben, schwanden
in ihr Nichts, — und „hell aufglänzte ihm nun die Schön-
heit der Welt". So lautet ein an Kopernikus gerichteter
Vers, Und noch zu einer w^eiteren und kühneren
Verallgemeinerung dringt Brunos Denken vor. Wenn
überall im Universium die nämliche stoffliche Natur vor-
handen, überall dieselbe Kraft am Werke ist, muß dann
nicht auch überall organisches Leben zur Entwicklung
gelangen, zur Entwicklung gelangt sein? Schaue hinauf
zu den Sternen, — nein! Welten, und wisse, daß jede
von ihnen Formen des Lebens trägt, ähnlich den irdischen
und auch höher als diese, übermenschhche Formen, ja,
daß jede als Ganzes selbst ein Lebewesen, ein erhabener
Organismus ist.
Es ist die Lehre von den unzähligen bewohnten
Welten, die Bruno verkündet. Sie erst bedeutete den
Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung,
welche in Trümmer fällt vor der Wirklichkeit, ja schon
der Möglichkeit außerirdischen, organischen Lebens.
Ließ sich mit der Theorie der Erdbewegung um die
Sonne das offizielle, katholische Glaubenssystem zur
Not noch vereinbaren, so gab und gibt es mit der Lehre
von der Mehrheit der bewohnten Welten für das wört-
lich verstandene Christentum überhaupt keine Aus-
gleichung, keine Aussöhnung: daher die Tragik im
Leben Brunos.
Nicht nur die physische, auch die moralische Welt
beruht auf gleichen Elementen und Gesetzen. Wie
20 Zweiter Vortrag,
die Entwicklung in der gesamten Natur als wesent-
lich gleichartig vorauszusetzen ist und das organische
Leben, wo immer es erscheinen mag, als von gleichen
oder ähnlichen Gesetzen beherrscht, so müssen auch die
Gesetze des geistigen Lebens überall von gleicher oder
ähnlicher Art sein; sind sie doch der Sache nach von
den Gesetzen des organischen nicht zu trennen. In
Brunos Philosophie nimmt auch die Betrachtung des
sittlichen Lebens die Wendung auf das Kosmische, Uni-
verselle. So ist seine großartige Allegorie: „die Reform
des Himmels durch die „Austreibung der triumphierenden
Bestie" zu deuten. Die sittlichen Gesetze sind allgemein
geistige Naturgesetze, nicht Willkürsatzungen des
Menschen, die sittlichen Werte allgemeingiltige, nicht
rein menschliche Werte. Mit dieser Anschauung durch-
bricht Bruno die anthropologischen Schranken der Ethik.
Und dies ist der Art der Begründung nach etwas Neues
und auch der Sache nach bis dahin kaum Erhörtes.
Nur Plato hat sich zu gleicher Höhe der Betrachtung
erhoben und erst in Kant's Moral der reinen Vernunft
treffen wir wieder auf Ansätze zur nämlichen großen
Verallgemeinerung.
Kopernikus verlegte den Mittelpunkt der Welt und
nicht bloß des Planetensystems in die Sonne, seine Lehre
ist ganz eigentlich heliocentrisch. Bruno erkannte, daß
es eine absolute Ortsbestimmung im Universum nicht
geben kann, jedes Gestirn also Mittelpunkt der Welt ist;
seine Lehre ist kosmocentrisch, — und mehr als dies:
sie ist theocentrisch. „Wir sind im Himmel und der Himmel
ist in uns!" ruft er aus: wo immer wir sein mögen,
überall sind wir unserem wahren Mittelpunkt, der Gott-
heit gleich nahe; ja, diese ist uns innerlicher gegen-
wärtig, als wir uns selbst innerlich gegenwärtig sind.
Die Philosophie in der neueren Zeit. 5 I
Gott ist die Wesenheit in allem Sein, die Natur an sich;
die schaffende Natur ist Gott in den Dingen. „Natura
est deus in rebus." In Worten, die einen Hymnus gleichen,
feiert Bruno die Einheit von Gott und Natur:
„Wir suchen Gott in dem unveränderlichen, unbeug-
„samen Naturgesetze, in der ehrfurchtsvollen Stimmung
„eines nach diesem Gesetze sich richtenden Gemütes;
„wir suchen ihn im Glanz der Sonne, in der Schön-
„heit der Dinge, die aus dem Schöße dieser unsrer
„Mutter Erde hervorbrechen, in dem wahren Abglanz
„seines Wesens: dem Anblick unzähliger Gestirne, die
„an dem unermeßlichen Saume des einen Himmels
„leuchten, leben, fühlen, denken und dem All-Gütigen,
„AU-Einen und Höchsten lobsingen."
Gedanken, wie diese, Empfindungen gleich diesen
nennt man pantheistisch; es sind die Empfindungen
und Gedanken, die viele der erleuchtetsten Geister teilen.
Auch Goethe bekannte sich zum Glauben Bruno's an
„Gott-Natur".
„Verehrer des Unendlichen", so hat Bruno sich selbst
genannt. Die Unendlichkeit der Welt ist die Grundan-
schauung, die leitende Idee seiner Philosophie. Eine
endliche Welt könnte Gottes Geschöpf sein, zu der un-
endlichen Welt kann sich Gott nur verhalten wie die
Ursache zu ihrer Wirkung. Und wie Ursache und
Wirkung Eines sind, soferne sich die Ursache in der
Wirkung erhält, so sind Gott und Welt Eines, so ist
Gott das innerlich wirkende und in der Wirkung be-
harrende Prinzip von Welt und Natur. Das Universum
in seiner äußeren, räumlichen und zeitlichen Grenzen-
losigkeit erscheint so als das Abbild, das Ebenbild der
inneren Unendlichkeit einer in ihm waltenden, schöpfe-
rischen Kraft, der wirkenden Kraft Gottes. Die Welt
32
Zweiter Vortra?.
ist Gottes Offenbarung und von seinem Wesen nicht
zu trennen.
Mit solchen Gedanken und dem Feuer, womit er
sie verkündet, hat Bruno der ihm folgenden meta-
physischen Spekulation vorangeleuchtet. Wir begegnen
ihnen namentlich bei Spinoza wieder, nur abstrakter in
der Form des Ausdrucks. Bruno redet die Sprache der
Empfindung und Poesie, Spinoza sucht für philosophische
Glaubenssätze „geometrische" Beweise. Auch läßt Bruno
das individuelle Sein nicht untergehen in die Einheit
des Allgemeinen. Die Eine schaffende Kraft, die ihre
Wesensfülle in Welten ohne Zahl zur Erscheinung bringt,
ist auch in jedem Individuum der Quellpunkt einer in's
Unendliche gehenden Entwicklung. So aufgefaßt, heißt
sie die Monade. — „Nichts wird zu nichts; Alles wird zu
Allem. Wir selbst und die Dinge, die wir unser nennen,
kommen und schwinden und kehren wieder, und es ist
kein Ding, das uns nicht fremd wird, kein fremdes, das
nicht unser eigen wird," Die Einheit im Sein und Wesen
schließt Vielheit und Entwicklung nicht von sich aus.
Bruno's Kosmologie, das Bild der Welt, das sein
Geist zuerst erschaute, wurde von der Wissenschaft bei-
nahe Zug für Zug bestätigt; Bruno's Philosophie ist gleich-
sam das innere Leben, von dem sich alle weitere, dog-
matische Philosophie der neueren Zeit, bewußt oder
unbewußt, nährte. Die geistige Größe dieses Sehers
einer neuen Welt und Apostels einer neuen Zeit ist
selbst damit noch nicht erschöpft. Die Erinnerung an
jenen am 17. Februar 1600 auf dem Campo di Fiore
in Rom entflammten Scheiterhaufen wird in der Ge-
schichte fortleuchten, als Mahnung und Vorbild, als un-
übertroffenes Zeugnis einer den Tod nicht achtenden
Liebe zur Wahrheit.
Die Philosophie in der neueren Zeit. ■2'^
Das Problem des wahren Weltsystemes stand im
Mittelpunkt der weiteren Entwicklung der modernen
Wissenschaft, eine Zeit lang galt dieses Problem gerade-
zu als die Frage der Wissenschaft überhaupt. Kopemi-
kus verbieten, schrieb Galilei, heißt die Wissenschaft
selbst verbieten.
Auch Galilei hat für die neue Wahrheit gelitten,
Verfolgung und Gefangenschaft um ihretwillen erduldet.
Wir sollten nie vergessen, daß jede wissenschaftliche
Wahrheit von allgemeiner, philosophischer Bedeutung
bisher sich nur im Kampfe durchzusetzen vermochte,
daß sie Opfer erheischte, aber auch jede Aufopferung
verdiente; und vielleicht war dies notwendig, um uns
ihren ganzen Wert eindringlich zum Bewußtsein zu bringen.
Wir feiern Galilei als den eigentlichen Schöpfer der
Naturwissenschaft, denn er hat dieser ihre Methode ge-
geben; wir feiern ihn als den Entdecker der Fallgesetze,
der mit dieser Entdeckung die Dynamik, die Wissen-
schaft der Bewegung begründet und so „die erste Pforte
zur gesamten Physik aufgetan" hat; mit Bewunderung
denken wir an seine astronomischen Beobachtungen,
vor allem die Auffindung der Jupiters-Trabanten, der
„mediceischen" Sterne, dieser kopernikanischen Welt im
Kleinen: er selbst lebte und litt für die Lehre des Ko-
pemikus, für die Erkenntnis der wahren Verfassung der
Welt. „Denn es gibt eine solche Verfassung, erklärt
er, und es gibt sie auf eine einzige, wahre und so not-
wendige Art, daß sie nicht anders sein kann als sie ist."
Galileis Kampf für die neue Weltanschauung, seine
äußere Niederlage, der innere Sieg sind für die Ge-
schichte der Befreiung des menschlichen Geistes in mehr
als einer Hinsicht von größter Bedeutung und denk-
würdig für alle Zeiten. Diesmal war es kein dem Kloster
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 2
24 Zweiter Vortrag.
entwichener Mönch, an welchem Rom sich vergriflf,
sondern eine erlauchte Persönlichkeit, ein Fürst der
Wissenschaft, von der Welt geehrt, von dem Hofe mit
den höchsten Auszeichnungen bedacht, ehrwürdig durch
sein Alter, wehrlos durch seine Krankheit, von dessen
körperlicher Schwäche Rom schließlich den Widerruf
erzwang. Aber ganz unbezwinglich ist die Wahrheit
und ihrer Macht bleibt der Sieg. Es besteht, äußerte
Galilei, ein gewaltiger Unterschied zwischen jenen dok-
trinären, blos wahrscheinlichen Disziplinen, in denen
Rhetorik und Überredungskunst am Platze sein mögen,
und den exakten, völlig genauen und sicheren Wissen-
schaften, deren Lehrsätze dem Beweise zugänglich sind
und worüber man die Meinungen nicht nach Belieben
oder auf Befehl ändern kann. „Denn es steht nicht in
der Macht irgend eines Menschen oder einer mensch-
lichen Institution, zu bewirken, daß sie wahr oder falsch
werden, oder anders, als sie von Natur und de facto
sind." Nie ist ein stolzeres, nie ein berechtigteres Wort
über die wissenschaftliche Wahrheit und ihre Würde ge-
sprochen worden.
Die Methode Galileis: die experimentelle Methode,
welche Induktion und Deduktion, Erfahrung und Denken
vereinigt, bedeutet, wie dies namentlich Kant betont
hat, eine Revolution der wissenschaftlichen Denkart.
Sie hat die antike Naturphilosophie für immer durch
die moderne, die Naturwissenschaft ersetzt. Der ganze
Gegensatz zwischen der alten und der neuen Wissen-
schaft, die Weite des Fortschrittes von jener zu dieser
lassen sich an einem einzigen kleinen Worte ermessen.
Statt zu fragen: warum fallen die Körper, von welcher
Art inneren Antriebes getrieben, aus welcher geheimen
Ursache fragt Galilei: wie fallen sie, in welcher Form,
Die Philosophie in der neueren Zeit. 2C
nach welchem Gesetze? Diese anscheinend so gering-
fügige Änderung in der wissenschaftlichen Fragestellung
scheidet in Wahrheit zwei Zeitalter des menschlichen
Erkennens. Sie. setzte an die Stelle der vergeblichen
und trügerischen Nachforschung nach dem Wesen der
Ursachen die allein lösbare Aufgabe der Nachforschung
und Ermittlung der Gesetze der Ursachen. Nicht aus
Resignation, aus Einsicht in die Natur des Wissens haben
wir auf den Traum verzichten gelernt, es liege im Ver-
mögen unseres Geistes, in das Wesen der „Dinge an
sich" einzudringen. Sind wir doch selbst von diesem
Wesen getragen, ist doch dieses Wesen unserer eigenen
Existenz vorausgesetzt; wie also sollten wir es mit
unserem Denken erfassen, wie es in den Bezirk unserer
Begriffe gleichsam einfangen können? Als Gipfel der
Vermessenheit erschien Galilei, die menschliche Fassungs-
kraft zum Maße dessen zu machen, was die Natur in's
Werk zu setzen vermag. Denn es gebe keine einzige
Wirkung in ihr, sie sei so unscheinbar als man will, die
vollständig zu erkennen, nicht das Vermögen, auch des
erleuchtetsten Geistes überstiege. Innerhalb der Grenzen
aber, die der Wissenschaft gesetzt sind, die die Wissen-
schaft sich selbst setzt, wenn sie sich selbst begreift,
ist das Wissen absolut oder vollkommen, nicht relativ;
es gelangt zur Einsicht in die Notwendigkeit, und darüber
hinaus ist nichts mehr zu erkennen, darüber hinaus ver-
liert jede weitere Nachfrage einen angebbaren Sinn.
Durch die Kenntnis der Gesetze der Ursachen be-
herrschen wir die Wirkungen und machen uns theoretisch
wie praktisch zu Herren über die Kräfte der Natur.
Eine einzige ununterbrochene Entwicklung führt von
Galilei zu Newton; die Stetigkeit der wissenschaftlichen
Forschung, nachdem einmal ihr Weg gefunden war.
36 Zweiter Vortrag.
kommt dadurch unmittelbar zur Anschauung. Dasselbe
Jahrhundert, in dessen Anfang mit den Untersuchungen
und Berechnungen Keplers über die Planetenbahnen der
Abschluß der mathematischen Astronomie fällt, sah an
seinem Ende noch den Ausbau der physischen, das
Werk Newtons. Um aber diesen Ausbau zu ermöglichen,
mußte inzwischen Galilei die Wissenschaft der Bewegung
geschaffen und Huyghens, der würdige Nachfolger Gali-
leis, dessen Werk fortgesetzt haben. Erst mußten die
Gesetze des Fallens der irdischen Körper ermittelt sein,
ehe das Fallen der himmlischen dem Gesetz der allge-
meinen Schwere untergeordnet werden konnte. Nichts
anderes nämlich als die Interpretation der Keplerschen
Regeln der Planetenbahnen mit Hilfe der Fallgesetze
Galileis und Huyghens Gesetze der Kreisbewegung ist
die Gravitationstheorie Newtons. Der früheste Glaube
der Wissenschaft: die Gesetzlichkeit des Kosmos war
jetzt zur Anschauung geworden, das Problem, um das
sich die Philosophie des Altertums unablässig bemüht
hatte, gelöst und zwar in der erhabensten Gestalt; denn
alles Erhabene ist einfach. Ein einziges Gesetz von
einfacher mathematischer Form verbindet die Massen
zur Einheit der Welt und beherrscht zugleich die Be-
wegungen aller Himmelskörper, aus diesem einzigen Ge-
setze sind alle ihre vergangenen und künftigen Stellungen
im Weltraum zu berechnen.
Wir wissen, welche Bedeutung für die Philosophie
die Schöpfung einer selbständigen, positiven Wissenschaft
hatte. Das Verhältnis zur Wissenschaft bestimmt fortan
den Charakter der Philosophie; nach diesem Verhältnis
allein gliedern sich sachgemäß die Perioden ihrer neueren
Geschichte.
Die Philosophie in der neueren Zeit. iy
In der ersten Zeit steht die Philosophie in Abhängig-
keit von der Wissenschaft; sie indentifiziert sich mit
dieser und will nur ihr Werk fortführen und vollenden.
Noch ergreift sie keine neue Aufgabe, sie verallgemeinert
nur die Aufgabe der Wissenschaft, indem sie deren neue,
mathematisch-mechanische Denkart auf alle Probleme
des Erkennens auszudehnen sucht. Sie ist daher selbst
universelle Mechanik, Mechanik als Universalwissenschaft.
Es ist die Zeit der großen Systeme des siebzehnten Jahr-
hunderts; typisch für diese Zeit ist Descartes. In ihrer
zweiten Epoche dagegen, die mit Locke beginnt, entdeckt
die Philosophie das ihr eigentümliche Untersuchungsge-
biet. Sie erfaßt den Gegenstand, dessen Natur sie be-
fähigt, Einzelwissenschaft zu werden und die Strenge und
Genauigkeit einer solchen zu befolgen und zugleich die
Allgemeinwissenschaft zu bleiben, sofern sich ihr Gegen-
stand auf alle Wissenschaften in gleicher Weise bezieht
und durch jede von ihnen gegeben wird. Sie wissen
es bereits, dieses Untersuchungsgebiet der Philosophie
ist die Erkenntnis selbst, ihr Gegenstand der Begriff des
Wissens: die Erfahrung, nicht die Erfahrungen. Die
Philosophie, soweit sie Wissenschaft ist, ist Wissenschafts-
lehre, die Prüfung des Wissens, die Selbsterkenntnis
der Vernunft. Sie handelt von der Wahrheit unserer
Vorstellungen der Dinge, nicht von dem Wesen der
Dinge und setzt die Wissenschaft, die ihr Objekt ist,
voraus. Wie also sollte sie diese ersetzen wollen?
Was sich zwischen diese endgiltige Epoche der
Philosophie und ihre Wiedererneuerung in den sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeschoben hat, be-
deutet, von rein wissenschaftlichem Standpunkt aus be-
urteilt, keinen Fortschritt, sondern viel eher eine Hemmung
der Entwicklung. Der deutsche, sogenannte „Idealismus"
qg Zweiter Vortrag,
setzte die Spekulation wieder an die Stelle von Forschung
und Kritik und meinte, die Wissenschaft nicht etwai bloß
meistern zu können, sondern sie ersetzen zu müssen.
Es war dies eine Philosophie, die sich rühmte, die Er-
fahrung nicht zu brauchen : der Philosoph, erklärt Fichte,
bedarf zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung,
er treibt es ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung
und schlechthin a priori. Und wenn dieser Verzicht
auf die Erfahrung bei der praktischen Bestimmung der
Lehre Fichtes noch eine gewisse Berechtigung haben
mochte, für die theoretische Forschung bedeutet er die
Verleitung zu Irrtum und Phantasterei. Schelling fand
die Naturwissenschaft Newtons „ideenlos"; die Wissen-
schaft fand dafür Schellings ideenreiche Naturphilosophie
sinnlos. Man konnte sich auf beiden Seiten mcht ver-
stehen; denn während man auf der einen nach „Ideen",
das heißt Wertbegriffen dort suchte, wo sie nicht hin-
gehören, war man auf der anderen nur zu gerne geneigt,
den Wert der Ideen überhaupt zu verneinen. Und so
stellt sich uns jene ganze Philosophie, soferne sie sich
als Wissenschaft ausgab, als ein einziges großes Miß-
verständnis heraus. Sie ist damit von ihrer ursprüng-
ichen, der ethisch schöpferischem Richtung abgekommen,
die ihr Fichte, einer der Erzieher unseres Volkes, geben,
wollte.
Wie sich in der ersten Periode ihrer neueren Ent-
wicklung die Philosophie mit der Wissenschaft verbunden
hat, zeigt die Geschichte der großen Systeme jener Zeit.
Hobbes, ein Zeitgenosse und Rivale Descartes, der
erste exakte Denker über politische Dinge, läßt die
neue Philiosophie mit Kopernikus beginnen und zählt
Galilei und Harvey, den Entdecker des Kreislaufes des
Blutes, zu ihren Begründern; er verstand also unter der
Die Philosophie in der neueren Zeit. 2^
neuen Philosophie die neue Naturwissenschaft. Und eben
dies ergibt sich auch aus seiner Erklärung: Philosophie
sei die gewisse Erkenntnis der Wirkungen oder Phänomene
aus den bekannten Ursachen oder Erzeugnisweisen und
die wahrscheinliche Erkenntnis der Ursachen aus den be-
kannten Wirkungen. Der erste Teil dieser Erklärung, die
den doppelten Weg der wissenschaftlichen Forschung an-
gibt, bezieht sich auf die Mathematik, deren Prinzipien
durch innere Anschauung gegeben werden, während der
zweite die Gesamtheit der empirischen Wissenschaften
umfaßt, für welche die Erscheinungen gegeben und die
Prinzipien oder Ursachen zu suchen sind. Mathematik
und Naturwissenschaft machen demnach für Hobbes die
Philosophie aus, Gegenstand der Philosophie, sagt
Hobbes, ist jeder Körper; das Wort Körper wird hier
in einem sehr allgemeinen Sinn genommen: es steht
für alles, was zusammengesetzt ist und eine Entstehung
hat, vornehmlich für das, was wir selbst zusammen-
setzen, nach Prinzipien, die aus uns stammen, wie den
geometrischen Körper, und den politischen „Körper",
den Staat, sofern dieser durch den Willen des Menschen
geschaffen und aus Verträgen und Gesetzen erzeugt
wird. So ordnet Hobbes die Lehre vom Staate der
deduktiven oder mathematischen Betrachtung unter, um
das was vom Staate a priori zu erkennen ist von dem
Historischen abzusondern, und indem er die Philosophie
als Körperlehre auffaßt, macht er sie zu einer universellen,
alle Erkenntnisprobleme umfassenden Naturwissenschaft.
Doch finden sich auch Gedanken bei ihm, die bereits
Keime der Kritik der Erkenntnis enthalten; und in der
Lehre vom Räume ist Hobbes ein Vorgänger Kants.
Unter der Philosophie Descartes' hat man im acht-
zehnten Jahrhundert bei Anhängern wie Gegnern nie
40 Zweiter Vortrag.
etwas anderes verstanden als die Physik Descartes', insbe-
sondere die berühmte Wirbel-Hypothese, die der Lehre
Newtons weichen mußte, weil die astronomischen Be-
obachtungen gegen sie entschieden, aber als Versuch die
Schwere physikalisch zu erklären, geschichtlich überaus
merkwürdig ist. Und auch Descartes selbst schätzte nicht
seine metaphysischen Betrachtungen, die man gewöhn-
lich allein unter seiner Philosophie versteht, am höchsten,
sondern seine physikalischen Forschungen. Nur für
diese nahm er objektive Giltigkeit in Anspruch. Von
jenen Spekulationen dagegen meinte er, sie gefielen ihm
zwar ganz wohl, doch andere hätten auch welche, und
diese gefielen ihnen vielleicht noch besser. Als er aber
zu einigen allgemeinen Begriffen in der Physik gelangt
war, glaubte er nicht länger im Verborgenen bleiben
zu dürfen. Denn sie hätten ihm die Möglichkeit zu
Ansichten gezeigt, die für das Leben fruchtbar und ge-
eignet seien statt der theoretischen Schulphilosophie eine
praktische Philosophie zu gewinnen, die uns zu Herren
und Eigentümern der Natur mache. Descartes denkt
an die Anwendung der Prinzipien der Mechanik auf alle
Vorgänge in der äußeren Natur; er denkt, um Einzelnes
hervorzuheben, an die Entdeckung und physikalische
Erklärung des Brechungsgesetzes des Lichtes, an die
Ableitung der Schwere aus der Fliehkraft und dem
Drucke der Wirbel, und vor allem an die seiner Zeit
vorauseilenden Vorstellungen von der mechanischen
Natur der Prozesse des Lebens. Descartes hat eine
Revolution ebenso in der Physiologie und Medizin her-
vorgebracht wie in der Physik und Metaphysik. Er
ward zum Haupte einer medizinischen Schule, die sich
die iatromechanische nannte, weil sie aus dem Studium
der Lebensvorgänge nach mechanischen Gesichtspunkten
Die Philosophie in der neueren Zeit. ai
Mittel zur Heilung der Krankheiten gewinnen wollte.
Die physiologischen Kenntnisse, über welche er ver-
fugte, sind für seine Zeit von überraschender Genauig-
keit. Er machte anatomische Beobachtungen, — ein
zerlegtes Tier nannte er gelegentlich seine Bibliothek
— , er stellte Tierversuche an und studierte die Ent-
wicklungsgeschichte der Organismen. Er beschreibt die
Reflexbewegung an Menschen und Tieren und weiß,
daß die Wärme die einzige Quelle der tierischen Be-
wegung ist. Auf diese physiologischen Forschungen
legte er selbst das Hauptgewicht; sie in ihrer Anwendung
auf die Medizin erschienen ihm als das eigentliche Ziel
seiner „Philosophie". Er habe beschlossen, schrieb er
1637, seine ganze noch übrige Lebenszeit dem Studium
der Natur in der von ihm gefundenen Methode zu weihen,
um dadurch zu sichereren Regeln für die Medizin zu ge-
langen, als es die bisherigen sind.
Wer es nicht wüßte, dafs Descartes in erster Reihe
Naturforscher war, könnte sich allein schon durch eine
Übersicht des Inhalts seiner Werke davon überzeugen
Die Schrift über die Methode, keine Abhandlung, eine
„Unterredung", von der Kuno Fischer sagt, man erwarte
einen Wegweiser und lerne einen Menschen kennen, bildet
die Einleitung zu einer Reihe von Arbeiten physikalischen
und mathematischen Inhalts, die unter dem gemeinsamen
Titel „philosophische Versuche" erschienen. Es sind dies
die Dioptrik, die Lehre von den Meteoren, die Geometrie
— und alle diese Arbeiten nennt Descartes ohne Unter-
schied: philosophische. Eines weiteren Beweises, daß
für ihn forschende Wissenschaft und theoretische Philo-
sophie ein und dasselbe bedeuteten, daß er, wie seine
ganze Zeit, beides völlig gleich setzte, bedarf es nicht.
. Und was schon die „philosophischen Versuche"
42 Zweiter Vortrag.
zeigten: das Übergewicht der physikalischen und mathe-
matischen Forschungen Descartes über seine im engeren
Sinne des Worts philosophischen bestätigen die „Prinzipien
der Philosophie". Dieses Hauptwerk Descartes' ist die
Ausführung eines älteren, unter dem Eindruck von
Galileis Verurteilung zurückgelegten Werkes und sollte
den Titel: „die Welt" führen. Von den vier Büchern
desselben beschäftigen sich drei mit naturwissenschaft-
lichen Fragen. Descartes gibt darin eine Gesamtdar-
stellung, das System seiner Physik. Der leitende Ge-
danke ist die mechanische Entwicklung der Körperwelt.
„Mit Hilfe der Gesetze der Bewegung muß die Materie
alle Gestalten, deren sie fähig ist, nach und nach an-
nehmen und wenn wir diese Gestalten der Reihe nach
betrachten, werden wir endlich zu derjenigen gelangen)
welche die der gegenwärtigen Welt ist." Die Vorgänge
in der Natur erscheinen sonach als eine geschlossene
Kette von Bewegungen, dabei wird die Summe der Be-
wegung im Ganzen als unveränderlich vorausgesetzt; es
ist der erste, wenngleich noch unvollkommene Ausdruck
des Prinzipes der Erhaltung der Energie. Und indem
Descartes den Begriff der Kraft mit der Annahme ver-
borgener Massen und Bewegungen umgeht, betritt schon
er den Weg, den in unseren Tagen H. Hertz wieder
eingeschlagen hat. Auch die Hypothese der Wirbel, der
kyklischen Bewegungen lebt in der Physik der Gegenwart
wieder auf
Descartes' Geist durchschweift die Welt in den
„Prinzipien". Von den allgemeinen Gesetzen der Be-
wegung erhebt sich seine Betrachtung zur Physik des
Himmels, sie steigt von da zur Physik der Erde herab
und dringt zu den Bewegungen in Nerv und Hirn vor,
die die Empfindung begleiten. Hier aber macht sie
Die Philosophie in der neueren Zeit. a^
Halt; ihr ableitendes Verfahren muß hier enden, da sie
unvermerkt an den Ausgangspunkt aller Erfahrung zu-
rückgelangt ist. Die Empfindung ist der unaufgeklärte
Rest für Descartes, — für Du Bois Reymond, für jede
Naturauffassung, die aus der mechanischen Erscheinungs-
seite der Dinge das Wesen der Dinge macht. Es ist
lehrreich zu sehen, wie Descartes mit der Empfindung
verfährt, mit ihr verfahren muß. Sie, das Element des
für uns Wirklichen, sollte eigentlich nach den Grund-
sätzen seiner Philosophie gar nicht existieren. Denn
weder aus der Seele, deren Wesen im reinen Denken
bestehen soll, läßt sie sich herleiten, noch ist sie aus
dem Körper zu begreifen, dem keine anderen Wesens-
bestimmungen zugeschrieben werden als Ausdehnung
und Bewegung. Descartes will sie daher aus der Ver-
einigung von Körper und Seele ableiten; es bleibt aber
völlig unverständlich, wie aus der Verbindung von Fak-
toren ein Produkt hervorgehen soll, das in keinem ent-
halten, ja aus jedem, für sich genommen, als seinem
Wesen wiedersprechend ausgeschlossen ist.
Mit den physikalischen Forschungen Descartes'
stehen auch seine grundlegenden Betrachtungen zur Meta-
physik und Erkenntnislehre in unlösbarem Zusammen-
hange und erhalten erst in diesem Zusammenhange
ihren eigentlichen authentischen Sinn. So vor allem
das berühmte, nicht ebenso oft richtig verstandene als
nachgesprochene: cogito, ergo sum, ich denke, also
bin ich. Descartes will mit diesem Satze zu der Voraus-
setzung aller, auch der naturwissenschaftlichen Erkennt-
nis: dem denkenden Subjekte zurückgreifen, um von da
aus in methodischem Fortschritte und auf dem Wege
einer lückenlosen Deduktion zu den Grundbegriffen des
Wissens und den Elementen des Seins zu gelangen.
jjA. Zweiter Vortrag.
Das Sein des Denkens erscheint nach seiner Lehre
allein von unmittelbarer Gewißheit: cogitatio est. Hier
sollen wir den archimedischen Punkt haben, von dem
aus auch das Wissen von den Objekten in Bewegung
zu versetzen ist; hier das Prinzip, in welchem Wahrheit
und Wirklichkeit zusammentreffen, sofern es Existenz
in sich einschließt und zugleich begreiflich, ja das Be-
greifen selbst ist. „Das Denken ist die Regel der Wahr-
heit der Dinge." Ein Maßstab soll uns damit gegeben
werden für jegliche Erkenntnis, die zugleich wahr und
wirklich ist; insbesondere aber die Naturerkenntnis er-
hält von da aus ihre Beglaubigung. Es ist der ausge-
sprochene und alleinige Zweck, den Descartes mit seinen
metaphysischen Erwägungen verfolgt : die Realität der Be-
griffe zu beweisen, aus denen die Physik ihre Hypothesen
bildet. Nur was begreiflich ist, argumentiert Descartes,
ist wirklich, nur das Mathematische ist von der äußeren
Natur begreiflich; also ist auch nur das Mathematische
in ihr an sich wirklich. Die Natur handelt mathe-
matisch, daher ist sie gesetzmäßig, also klar und deut-
lich erkennbar und darum wirklich. Leicht erkennen
wir in dieser Schlußweise einen Überrest des mittel-
alterlichen (und antiken) „Realismus" der Begriffe, von
dem sich auch Descartes' freier Geist nicht völlig frei
zu machen vermochte. Statt wie es in der Ordnung
gewesen wäre, die Begreiflichkeit zum Maße der Er-
kenntnis der Dinge zu machen, machte sie Descartes
zum Maße ihrer Wirklichkeit. Nur das Rationelle ist
ihm auch das Reelle; die Dinge sollen nur so weit
reell sein, als sie zugleich rationell sind. Und so ver-
wandelte sich in seinem Geiste diese sinnenfällige Welt
mit ihrem unendlichen Reichtum an Qualitäten und
Stufen von Qualitäten in ein bares mathematisches
Die Philosophie in der neueren Zeit. 4 c
Objekt. Er sah nicht, daß dieses Objekt nichts als den
Niederschlag seiner eigenen Abstraktion darstellte und
daß nur als Abstraktion genommen sein Verfahren be-
rechtigt war. Statt bloß die Begriffe zu unterscheiden,
trennte er die Dinge und kam so zu der Entgegen-
setzung seiner beiden „Substanzen", einer rein denkenden
und einer nur ausgedehnten, zwischen welchen Ab-
straktionen die ganze konkrete Natur zu Boden fällt.
Aber selbst dieser „Dualismus" des Philosophen zeigt
sich noch beherrscht von Gesichtspunkten der exakten
Forschung und durchdrungen von dem Geiste der reinen
Naturwissenschaft, welche Descartes gleichsam mit ent-
deckt hat. Doch ist sein Gegensatz zu Galilei nicht zu
übersehen. Während Galilei nach den mathematischen
Gesetzen der Naturvorgänge forschte, entwirft Descartes
Bilder oder Modelle, welche die Vorgänge anschaulich
machen sollen. Er besaß daher für Galileis anders ge-
richtetes Verfahren kein rechtes Verständnis und tadelt
sogar, daß dieser Gesetze der Schwere aufstellte, ehe
er das Wesen der Schwere bestimmt, das ist eine
rein physikalische Theorie derselben gegeben habe.
Wenn daher Descartes von seinen Landsleuten als der
„Vater der Physik" gefeiert wird, so gebührt dieser Ehren-
name Galilei mit weit größerem Rechte und sicher in
anderer Bedeutung. Schuf Galilei die Physik der Ge-
setze, so gab Descartes das erste, moderne Beispiel
einer Physik der Hypothesen.
Der Metaphysiker in der Reihe der großen Systems-
philosophen des 17. Jahrhunderts ist Spinoza. Liegt
nicht, wie schon die Form der Einkleidung seiner Ge-
danken, die „geometrische Ordnung" der Beweise zeigt,
auch auf seinem Systeme der Reflex der mathematisch-
mechanischen Wissenschaft seiner Zeit? Es ist die
^6 Zweiter Vortrag.
Stellung Spinozas in der Geschichte der Philosophie,
daß er mit der neu gewonnenen Einsicht in die Not-
wendigkeit alles Geschehens die höchsten Forderungen
und Aspirationen des menschlichen Gemütes nicht bloß
verbindet und versöhnt, sondern eben jene Einsicht selbst
zur Grundlage der wahren Gotteserkenntnis und Quelle
des Seelenfriedens macht. Man weiß wie entschieden
Spinozas Geist auf Goethe wirkte, welchen Einfluß er
auf Goethes ganze Denkweise nahm. Heine fand dafür
das anmutige Wort: „die Lehre Spinozas hat sich aus
ihrer mathematischen Hülle entpuppt und umflattert uns
als Goethe'sches Lied". Eine Friedensluft schien Goethe
aus der Ethik des lange verkannten Denkers entgegen-
zuwehen, hier fand er eine Beruhigung seiner Leiden-
schaften; eine große und freie Aussicht über die sinn-
liche und sittliche Welt schien sich ihm aufzutun.
Wir zählen die Lehre Spinozas zu den Grundge-
stalten der philosophischen Weltanschauung und wie
wir von Piatonismus reden als einer typischen Art, Welt
und Leben zu betrachten, die in ihrer Bedeutung über
die historische Ausprägung im Systeme Piatos hinaus-
reicht, ebenso reden wir auch von Spinozismus, gleich
unpersönlich und das Wesentliche über das Geschicht-
liche stellend. Und wir haben dazu noch ein besonderes
Recht. Die Selbstlosigkeit des Philosophen, die „grenzen-
lose Uneigennützigkeit", die Goethe besonders an ihn
fesselte, wollte nicht zugeben, daß die Lehre, die er
hinterließ, von ihm den Namen führe. Nicht er, war
seine Meinung, Gottes Denkkraft in ihm, durch ihn habe
sein Werk geschaffen. Nur mit den Initialen seines
Namens, und auch dies nicht mit seinem Willen, erschien
posthum die Ethik,
Der leitende Begriff bei Spinoza ist der Begriff" des
Naturgesetzes, Nach der Analogie mit der Naturge-
Die Philosophie in der neueren Zeit. 47
setzlichkeit denkt sich Spinoza die Abhängigkeit der
Einzeldinge von dem unendlichen göttlichen Sein. „Gott
handelt nach den Gesetzen seiner Natur". Und da
Gott allein an sich wirklich ist, und es außer ihm keine
„Substanz" gibt noch eine solche begriffen werden kann,
so sind die Gesetze der Natur Gottes, die Gesetze der
Natur überhaupt. Gott ist die Natur an sich (deus sive
natura). Er offenbart sich daher in den Naturgesetzen.
Diese sind eine Form, Gottes Wesen zu erkennen. Denn
sie erstrecken sich auf Unendliches, nämlich alle die
zahllosen Fälle, in denen sie gelten, gegolten haben,
gelten werden, auch werden sie von uns „unter einer
gewissen Form der Ewigkeit" gedacht, soferne sie das
Unveränderliche und von aller Zeit Unabhängige im
Veränderlichen ausdrücken und heute nicht anders sind,
als sie von je gewesen sind und immer sein werden;
und „so zeigen sie selbst uns auf gewisse Weise die
Unendlichkeit, Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes
an". Zwar kennt Spinoza noch eine höhere Stufe der
Erkenntnis. Hier aber wird er zum Mystiker. Er denkt
an eine Vernunftanschauung, ein unmittelbares Bewußt-
werden des Menschen mitsamt allen Dingen ewig in
Gottes Wesen enthalten und gegründet zu sein. Das
ist jene von ihm so hoch gepriesene, aber niemals klar
gemachte, noch klar zu machende „dritte Erkenntnisart",
die er die intuitive nennt. Wo er als Philosoph redet
und nur der Denker, nicht der Mystiker in ihm zu Worte
kommt, da kann es seiner ausdrücklichen Erklärung
nach „nur eine Weise geben, die Natur irgend welcher
Dinge zu erkennen, nämlich durch die allgemeinen Ge-
setze und Regeln der Natur". „Denn die Natur ist
immer dieselbe und ihre Kraft und Macht zu wirken
überall eine und dieselbe, d. i. die Gesetze und Regeln
der Natur, denen gemäß alle Dinge geschehen und aus
^8 Zweiter Vortrag.
den einen Formen in die anderen verwandelt werden,
sind überall und immer die nämlichen." Diese Erkennt-
nisart durch die Naturgesetze heißt bei Spinoza ratio,
und dies bedeutet in seiner Zeit so viel als Erkennen
nach dem Muster der Mathematik, in der Weise der
mathematischen, daher „rationellen" Naturwissenschaft.
„Wie aus dem Begrifif des Dreiecks von Ewigkeit zu
Ewigkeit folgt, daß die drei Winkel des Dreiecks gleich
sind zwei rechten, so folgt aus der unendlichen Natur
Gottes unendlich Vieles, in unendlich vielen Weisen,
nämlich Alles", nämlich die Gesamtheit der Dinge, die
nichts sind, als die Besonderungen oder Afifektionen des
einen und höchsten Seins. Dieses unendliche, durchaus
tätige Wesen, die „actuosa essentia" Gottes ist ununter-
brochen schaffend am Werke und die Ordnung seines
Schaffens ist fest und unabänderlich. Nichts kann zu den
Naturgesetzen hinzugefügt, nichts von ihnen genommen
werden. „Die Dinge konnten auf keine andere Weise, in
keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden.
als sie von ihm hervorgebracht worden sind." Sollte die
Naturordnung eine andere sein können, als sie ist, so
müßte Gott ein anderer sein können, als er ist: eine
andere Natur — ein anderer Gott. Annehmen, daß
eine zweite Ordnung der Natur außer der tatsächlich
gegebenen möglich sei, hieße Gottes Wesen verdoppeln,
hieße an zwei Götter glauben; jene Annahme ist daher
an sich widersinnig und bedeutet überdies einen Abfall
von dem wahren Glauben an das alleinige göttliche
Wesen und Sein. So folgt für Spinoza aus der Einheit
und Einzigkeit Gottes die Einheit und Einzigkeit der
Natur. Die mathematische Notwendigkeit, mit der die
Naturgesetze gelten, schließt Zweck und Zufall von dem
Wesen der Dinge aus. Die Natur hat keinen ihr vor-
gesteckten Zweck, noch handelt sie um eines inneren
Die Philosophie in der neueren Zeit, aq
Zweckes willen. Die Zweckbetrachtung reicht nicht bis
zu dem Grunde der Naturvorgänge hinab; sie ist eine
oberflächliche und relative, eine rein menschliche Be-
trachtungsweise, ein Geschöpf der Einbildungskraft des
Menschen, der damit eine Folge seiner Natur, seine
Triebe und sein Verlangen, zur Ursache der Natur macht.
„Gott regiert die Natur wie es deren allgemeine Gesetze,
nicht wie es die besonderen Gesetze der menschlichen
Natur erfordern." Zufall aber bedeutet nichts als einen
Mangel unserer Erkenntnis ; zufällig erscheinen uns Dinge,
deren Ursachen wir nicht kennen, aus demselben Grunde
erscheint uns unser Wille frei. „In der Natur der Dinge
selbst gibt es nichts Zufälliges (in rerum natura nullum
datur contingens) ; alles vielmehr ist aus der Notwendig-
keit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise
zu sein und zu wirken." Kein Ding, das nicht von
Gott bestimmt ist, etwas zu wirken, kann sich selbst
zum Wirken bestimmen; keines, das von Gott dazu be-
stimmt ist, sich selbst unbestimmt machen.
Diese Lehre nun hat bei Spinoza einen anderen
als rein wissenschaftlichen „Zweck", so wollen wir sagen,
einen anderen, zur Lebensführung gehörenden Sinn. Sie
soll die Anleitung zur Seelenstärke sein, zur Macht des
Menschen über sich und die Dinge. Sie ist eine Frei-
heitslehre, sie weist den Menschen auf den Weg zu seiner
wahren Freiheit, welche die innere Notwendigkeit des
Handelns nicht aufhebt, sondern voraussetzt Sie ist die
Lehre vom höchsten Gut und darum heißt sie auch nicht
Physik oder Metaphysik, sondern Ethik.
„Alles, wovon der Mensch selbst die wirkende Ur-
sache ist, das ist alles, was durch die bloßen Gesetze
seiner eigenen Natur begriffen werden kann, ist not-
wendig gut, und es kann dem Menschen kein Übel
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 4
50 Zweiter Vortrag.
widerfahren als nur von äußeren Ursachen, sofern er
nämlich ein Teil der ganzen Natur ist, deren Gesetzen
die menschliche Natur zu gehorchen und der sich der
Mensch auf fast unendliche Weisen anzupassen genötigt
ist" Böse kann nur die Überwältigung des mensch-
lichen Geistes durch Affekte genannt werden, welche
Leidenschaften (passiones) sind und die tätigen Affekte
des Menschen, seine Handlungen, beschränken. Wäre
der Mensch frei geboren, könnte er von Anbeginn an
kraft seines eigenen Wesens handeln, ohne von Leiden-
schaften getrieben zu werden, so würde er keinen Begriff
von gut oder böse bilden; er wäre in gewissem Sinne
„jenseits von Gut und Böse". Notwendig gut ist also das
absolut Machtvolle. Tugend und Macht sind ein und das-
selbe, — dasselbe ist: vollständig aus eigener Tatkraft
handeln und gut handeln. Die Glückseligkeit ist daher
nicht der Lohn der Tugend, sondern die Kraft der Tugend
selbst. Also lehrte Spinoza. Seine Lehre weist uns an,
das doppelte Antlitz des Schicksals, Gutes und Schlimmes,
mit Gleichmut zu ertragen und nicht etwa nur resignierend
zu ertragen, sondern ja sagend dazu, übereinstimmend
damit; denn überall ist die nämliche Macht und Kraft
Gottes im Werke. Wir handeln nur auf den Wink des
höchsten, allwirksamen Seins, in ihm leben, weben und
sind wir: — dies die Essenz der Lebensweisheit Spinozas.
Daß dieses vollkommenste Muster irgend welcher
dogmatischen Philosophie, die wir kennen, daß Spinozas
Ethik, so lange man noch keine kritische Philosophie be-
saß und nachdem man sie wieder vergessen hatte, den
mächtigsten Einfluß ausüben mußte, kann uns nicht
auffallend erscheinen. Und nicht Kant, sondern Spinoza
ist, wie die Geschichte bezeugt, der Vater der deutschen
idealistischen Spekulation, deren wesentlichste Ideen eine
^ Die Philosophie in der neueren Zeit. ci
Nachbildung, öfter auch eine Abschwächung Spinozis-
tischer Gedanken sind.
Am Schlüsse dieser Betrachtung ist wohl die Frage
nach dem wahren Werte der großen philosophischen
Systeme des siebzehnten Jahrhunderts (zu denen auch
dasjenige von Leibniz gehört) dem Werte der philoso-
phischen Systembildung überhaupt am Platze. Hätten
diese Schöpfungen großer Denker auch nichts weiteres
bewirkt, als das Bewußtsein vom Endziele, nach welchem
die Wege der Forschung weisen und wohin ihre Linien
sich neigen, wach erhalten oder erneuert zu haben; ihr
Verdienst wäre auch dann nicht gering, und, was sie
damit geleistet, durch positive Forschung allein nicht zu
ersetzen. Die Wissenschaften insgesamt, sagt Descartes,
sind nichts anders als die menschliche Erkenntnis und
diese ist immer eine und dieselbe, auf wie verschiedene
Gegenstände sie auch angewandt werden mag; so bleibt
das Licht der Sonne immer eines, wie verschieden auch
die Dinge sind, die es erleuchtet. Was uns aber in jenen
von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgehenden, aber
deren Grenzen überschreitenden Versuchen als das Wert-
vollste erscheint, was im Wechsel der philosophischen
Systeme, dem Wandel ihrer Lehren, der Entwicklung ihrer
Anschauungen das Bleibende darstellt, ist nicht das Finden
oder das angebliche Gefundenhaben des Systems, sondern
das Suchen selbst: das Streben nach einer Gesamtauf-
fassung der Dinge und des Lebens, weit genug, um uns
unsere Stellung in der Welt überblicken zu lassen, tief
und lebendig genug, um unser ganzes Wesen zu ergreifen,
unsere Gesinnung zu veredeln und unser Handeln zu
leiten, — das Streben, um es zusammenfassend zu sagen,
nach einer Erkenntnis, die sich in Weisheit verwandeln
kann, wovon eben die Philosophie ihren Namen führt.
DRITTER VORTRAG.
DIE KRITISCHE PHILOSOPHIE.
Weniger glanzvoll als die moderne Wissenschaft
und die ihrer Bahn folgenden philosophischen Systeme
hat sich die kritische Philosophie, wie wir sie nach dem
Vorgange Kants nennen, in die Geschichte eingeführt.
Ihre Fragen sind nicht geeignet, Sinn und Einbildungs-
kraft gefangen zu nehmen; sie erscheinen wie dem Leben
abgewandt und der Wirklichkeit fremd. Diese Philo-
sophie verheißt uns weder, uns in die Weiten kosmischer
Räume zu fuhren, noch uns einen Einblick in das Wesen
der Natur zu eröffnen. Sie richtet die Betrachtung auf
das erkennende Subjekt, und indem sie es der Wissen-
schaft überläßt, die Dinge zu erforschen, untersucht sie
den Verstand, der die Dinge begreifen will. Sie be-
reichert nicht den Inhalt unserer Kenntnisse, sie sucht
Form und Wert der Erkenntnis als solcher zu bestimmen.
Darum ist sie auch nicht eigentlich forschend, sondern
beurteilend, das heißt eben kritisch. Die sokratische
Weisheit des Nichtwissens, in Fragen die den Umkreis der
Erfahrung überschreiten, ist ihre Maxime. Sie will das
Wissen von der Beimischung metaphysischer Konzeptionen
reinigen, von seinem Bereich diese überschwänglichen
Begriffe ausschließen. Und wie die Einsicht in das
Nichtwissen nach Sokrates den ersten Schritt zur Selbst-
erkenntnis für den Einzelnen bedeutet, so bedeutet die
kritische Philosophie den ersten und entscheidenden
Die kritische Philosophie. c«
Schritt zur Selbsterkenntnis für die Vernunft im All-
gemeinen.
Das Erkennen erkennen wollen 1 Ist dies nicht wider-
sinnig, widerspricht dieses Vorhaben nicht sich selbst?
Es scheint, wir müßten einen anderen, höheren Verstand
voraussetzen, um unseren Verstand untersuchen zu können.
Oder, soll der Verstand in seiner eigenen Sache Richter
und Partei zugleich sein? Der Verstand, sagt Locke,
gleicht dem Auge, das während es alle anderen Dinge
für uns sichtbar macht, sich selbst nicht sieht; daher er-
fordere es eine besondere Kunst und Mühe, ihn sich
selbst gleichsam gegenüberzustellen und zum Objekt
seiner Untersuchung zu machen. Auch das Auge sieht
sich selbst, wenn es sein Bild im Spiegel betrachtet.
Der Spiegel des Verstandes aber ist das Werk des Ver-
standes: die menschliche Erkenntnis und Wissenschaft.
Hier wird der Verstand, ein inneres Vermögen, offenbar
und in dem was er bewirkt, lassen sich seine Fähig-
keiten erkennen. Doch einem begründeten Bedenken
ist nicht mit einem Gleichnis zu begegnen; an dem
Werke der Kritik der Erkenntnis selbst soll gezeigt
werden, wie diese Kritik möglich ist, was sie soll und
was sie vermag.
Wir gehen dabei von der gewöhnlichen Anschauung
aus, die uns allen natürlich ist: dem Bewußtsein der un-
mittelbaren Gegenwart des Objektes in der Wahrnehmung
der Sinne. Dieses sinnliche Bewußtsein, mit dem die
Erfahrung beginnt, kennt keinen Unterschied zwischen
Wahrnehmung und Gegenstand; es weiß nur vom Gegen-
stand und nichts von seiner Wahrnehmung. Die An-
schauung der Sinne ist nach außen, nicht auf sich selbst
gerichtet. Wie wir die Sonne auf- und untergehen sehen,
die Bewegung der Erde aber nicht fühlen, weil wir uns
54 Dritter Vortrag.
mit ihr bewegen; so erscheinen uns, solange wir wahr-
nehmen, unsere Wahrnehmungen selbst als die Dinge
und wir werden uns der Tätigkeit unseres Wahrnehmens
nicht bewußt. So natürlich uns jene erste Auffassung
ist, die von der Bewegung der Sonne, welche die Wissen-
schaft berichtigt hat, so zwingend und natürlich erscheint
uns die zweite, die wir nun zu prüfen haben.
Es bedarf nicht vieler Vorbereitungen dazu; schon
die alltägliche Beobachtung überzeugt uns, daß die Gleich-
heit von Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand
nicht richtig sein kann. Mag in der einzelnen Wahr-
nehmung der Gegenstand noch so leibhaftig enthalten,
ja mit ihr eins zu sein scheinen, — die Wahrnehmung
ändert sich, auch wenn wir nur unsere Lage zum Gegen-
stand, oder die Entfernung von ihm ändern. Wir er-
langen dann neue Wahrnehmungen, die von der früheren
mehr oder minder verschieden sind. Und doch sagen
wir in diesem Falle nicht: der Gegenstand hat sich ge-
ändert oder er ist aus Einem Vieles geworden, weil die
Wahrnehmung sich geändert und vervielfacht hat, —
was wir sagen müßten, wenn Wahrnehmung und Gegen-
ständ wirklich ein und dasselbe wären. Wir beginnen
vielmehr, die erste Wahrnehmung durch die folgende
zu berichtigen und zu ergänzen, und endlich erklären
wir, der Gegenstand ist nicht gleich dieser oder irgend
einer einzelnen Wahrnehmung, er ist auch nicht gleich
der Summe der Wahrnehmungen, die wir von ihm er-
langen: richtiger auf ihn beziehen; er ist die gemein-
schaftliche Ursache, der Grund aller durch ihn gegebenen
und möglichen Wahrnehmungen, oder von uns aus be-
trachtet, die Regel, aus welcher sie sich alle mit an-
schaulicher Folgerichtigkeit entwickeln lassen. Ich wähle
ein Beispiel, wo dies besonders deutlich wird. Wir
Die kritische Philospohie. ti
sprechen von der wahren Gestalt, der wahren Größe
der Sonne und wissen, daß diese Gestalt und Größe
nie zur Wahrnehmung kommen, daß kein Auge sie sieht
oder je sehen könnte; wir wissen, daß ihre Kenntnis
durch Vorstellungsprozesse vermittelt wird, durch Be-
rechnung und Schlußfolgerung, und sie selbst bleiben
für uns Vorstellungen. Wir nennen sie aber die wahre
Gestalt und Größe der Sonne, weil mit ihrer Annahme
allein alle unsere Erfahrungen über die Sonne, die sinn-
lichen wie die daraus hergeleiteten wissenschaftlichen,
übereinstimmen. Was in diesem Beispiel offenkundig
ist, gilt in ähnlicher Weise von jedem beliebigen Gegen-
stand unserer Anschauung. Der Tisch vor uns, — was
unserer Anschauung wirklich von ihm gegeben wird, ist
eine Reihe je nach unserem Standpunkt unterschiedener
perspektivischer Bilder, deren genauere Beschaffenheit
in Farbe und Modellierung überdies abhängig ist von
der Umgebung des Tisches und den wechselnden Ver-
hältnissen seiner Beleuchtung. Diese Bilder fassen wir
durch ein unwillkürliches, der bewußten Verallgemeinerung
und Begriffsbildung verwandtes Verfahren unseres Geistes
zur Vorstellung der Gestalt des Tisches zusammen.
Jeder Mensch hat in seiner sinnlichen Erscheinung eigent-
lich unzählige Gesichter, unzählige Nasen; der Künstler,
der ein Porträt machen will, hebt durch eine Art von
Abstraktion aus dieser unbestimmbaren Mannigfaltigkeit
die eindrucksvollste Erscheinungsform hervor, die als
solche das Gesetzliche sämtlicher Wahrnehmungsbilder
enthält, und eben daher in keiner einzelnen Wahrnehmung
gegeben ist, und seine Darstellung erscheint umso wahrer,
je voUkommner sie das Abbild der Vorstellung der Form
ist, im Unterschied von ihrer bloßen Wahrnehmung.
Dieses künstlerische Verfahren der Auslese und Kon-
c6 Dritter Vortrag.
centration auf das Wesentliche ist nur die Weiterbildung
der natürlichen Vorstellungstätigkeit, die wir jedem
Komplexe von Wahrnehmungen gegenüber absichtslos
ausüben. Stets entwickeln wir durch Verschmelzung
und Zusammenfassung der Wahrnehmungen die Vor-
stellung des Gegenstandes und diese Vorstellung selbst
ist nicht mehr rein anschaulicher Natur. Sie ist nach
der richtigen Bezeichnung von Helmholtz ein Begriff,
denn sie umfaßt alle möglichen einzelnen Wahr-
nehmungen, die das Objekt in uns hervorrufen kann.
So hat sich der Gegenstand immer weiter von dem
sinnlichen Bewußtsein entfernt, mit welchem er anfäng-
lich verflochten zu sein schien; aus einer Wahrnehmung
ist er zur Vorstellung geworden, zum Begriff, der als
Regel dient, die einander folgenden Wahrnehmungen zu-
sammenzuhalten und einheitlich zu verknüpfen. Dies
soll aber nicht heißen: der Gegenstand selbst ist ein
bloßer Begriff; es bedeutet nur: ein Begriff vertritt für
unser Bewußtsein die Stelle des Gegenstandes.
Kehren wir zur Wahrnehmung zurück, um sie noch
in anderer Hinsicht zu betrachten. — Die Wahrnehmung
ist zusammengesetzt und wie sie als Ganzes für das
sinnliche Bewußtsein den Gegenstand bildet, so erscheinen
diesem Bewußtsein ihre Bestandteile als Teile und Eigen-
schaften des Gegenstandes. Blätter und Blüten einer
Pflanze z. B. nennen wir Teile der Pflanze, während
das Grün der Blätter, das Rot der Blüten zu ihren
Eigenschaften gehören. Nun entdecken wir bald einen
Unterschied unter den Eigenschaften eines Objektes,
wonach einige unmittelbarer und beständiger dem Ob-
jekte anzuhaften scheinen, als andere, die wir daher auch
statt als Eigenschaften lieber als Wirkungen des Objektes
bezeichnen. Das Rot scheint uns der Rose viel un-
Die kritische Philosophie. 57
mittelbarer eigen zu sein, als ihr Duft; wir sagen daher
activ: die Rose duftet, sie verbreitet Wohlgeruch, nicht
sie ist Duft, wie wir sagen, sie ist rot. Bei tieferer Be-
trachtung sehen wir freilich diesen Unterschied ver-
schwinden. Wie der Duft der Rose in der Fähigkeit
der Rose besteht, gewisse Riechstoffe zu entsenden, so
besteht ihre Farbe in der Fähigkeit, bestimmte Licht-
strahlen zu reflektieren. Und wie der Duft der Rose
entsteht, nicht an sich besteht, so wird auch ihr Rot
unter gewissen Bedingungen nur beständig wiedererzeugt.
Alle Eigenschaften eines Objekts erscheinen uns jetzt
als Wirkungen, und das worauf gewirkt wird, ist jedes-
mal das Sinnesorgan eines empfindenden Wesens. Was
wir laut dem Zeugnis der Wahrnehmung Eigenschaften
des Objektes nennen, sind zunächst Empfindungen von
Sinneseindrücken, die durch das Objekt erregt werden.
Von dieser wahren Natur ihrer Bestandteile verrät uns
die bloße Wahrnehmung nichts, und auch nachdem wir
sie entdeckt haben, fahren wir fort, unsere Empfindungen
als Eigenschaften der Dinge selbst anzuschauen. Auch
würden wir bei der Unmöglichkeit, die Empfindungen in
uns von der Eigenschaften der Objekte außer uns wirk-
lich zu trennen, nie dazu gelangt sein, beides zu unter-
scheiden, hätten wir nicht eine Mehrheit von Sinnen.
Dadurch sind wir in den Stand gesetzt, dasselbe Objekt
auf mehrfache Weise zu untersuchen und die Aussage
eines Sinnes an der Aussage eines anderen zu prüfen.
Wir können einen Gegenstand betasten, ohne ihn zu
sehen, oder ihn sehen, ohne ihn zugleich zu betasten.
Wenden wir das Auge von ihm ab, so verschwinden
seine optischen Eigenschaften: Farbe und sichtbare Ge-
stalt, ziehen wir die Hand zurück, so verschwinden
wieder die Beschaffenheiten seiner Oberfläche aus der
58 Dritter Vortrag.
Empfindung und der Widerstand, den er dem Druck
der Hand entgegensetzt. Indem wir so mit unseren
Wahrnehmungen experimentieren, erproben wir die Ab-
hängigkeit der Eigenschaften des Objektes, so wie wir
sie wahrnehmen, von der Empfindungsweise unserer
Sinne ; wir erkennen, daß zu ihrer Verwirklichung wesent-
lich die Tätigkeit der Sinne gehört. Was ist das Rot,
ehe es durch ein Auge gesehen wird und nachdem es
aufgehört hat gesehen zu werden? Ätherwellen von
bestimmter Länge und Schwingungszahl mögen fort-
fahren, vom Gegenstand zurückgeworfen zu werden;
erst ihre Wirkung auf das Auge ist Licht und Farbe.
Eine Empfindung kann sich ändern, auch wenn sich
nichts im Objekte selbst geändert hat; dasselbe Licht,
das auf die Netzhautgrube fallend farbig empfunden
wird, erscheint farblos, wenn es auf den Rand der Netz-
haut fällt.
Schon allein die Tatsache, daß zwischen den Dingen
und der Empfindung und Wahrnehmung der Dinge die
Sinneswerkzeuge und Centralorgane eines empfindenden
Wesens eingeschaltet sind, macht es unmöglich, in den
Empfindungen etwas anderes zu sehen, als Wirkungen
der Dinge. Diese nächstliegende Betrachtung genügt
bereits, den naiven Glauben an die unmittelbare Wirk-
lichkeit der Elemente unserer Wahrnehmung zu zerstören.
Wir bleiben dabei auf dem Standpunkt des common
sense, der gemeinen naturwüchsigen Anschauung
stehen — , und es ist immer mißlich, sich zu weit von
diesem Standpunkt zu entfernen. Diese Dinge vor uns,
die den Raum erfüllen und im Räume ihre Bewegung
verbreiten, sollen die wahren Dinge sein, die Dinge
selbst; gewiß aber ist, daß zwischen ihnen und uns, ehe
wir zu ihrer Wahrnehmung gelangen, ein sehr verwickelter
Die kritische Philosophie. to
Prozeß sich abspielt, dessen Hauptstadien und Stufen
die Physiologie beschreibt. Das Erste sind Bewegungen
von bestimmter Form und Beschaffenheit, Schallwellen,
Lichtwellen u. dgl., die vom Objekte ausgehen, wir
nennen sie Reize, — die dadurch ausgelösten Ver-
änderungen in den peripherischen Sinnesorganen, z. B.
der Ausbreitung des Sehnerven auf der Netzhaut, sind
das Zweite; diese Veränderungen, die bei einigen Sinnen
sicher, und wahrscheinlich bei allen, chemischer Natur
sind, werden durch die Sinnesnerven zu den primären
Sinnescentren (in den subcortikalen Ganglien) geleitet
und von da zu den Endstätten in der Großhirnrinde,
mit deren Erregung erst bewußte Empfindung und Wahr-
nehmung verknüpft sind. Muß nicht auf diesem weiten
und verschlungenen Wege die Beschaffenheit der Ursache,
mit der der Vorgang beginnt, eine tief greifende Um-
wandlung erfahren? Allgemein hängt die Beschaffenheit
einer Wirkung nicht von der Natur des einwirkenden
Faktors allein ab, sie wird immer zugleich durch die
Natur des Gegenstandes mitbestimmt, auf welchen ge-
wirkt wird. Mit Helmholtz werden wir daher sagen, die
Sinneseindrücke und Empfindungen sind nicht Bilder
der Objekte, sondern Zeichen derselben; mit Spinoza
erklären: die Vorstellungen, die wir von äußeren Körpern
haben, zeigen mehr die Konstitution unseres Körpers
an, als die Natur der äußeren Körper selbst.
Aber wir dürfen hierbei nicht stehen bleiben. Von
einer Anzahl von Bestandteilen der Wahrnehmung läßt
sich ein Dasein außer der Empfindung nicht vorstellen;
so völlig scheint ihr Sein mit ihrem Erlebtwerden zu-
sammenzufallen. Der Ton z. B., der so eindringUch
subjektiv ist, kann in der Qualität, in der wir ihn em-
pfinden, nicht auch in der objektiven Welt bestehend
60 Dritter Vortrag.
gedacht werden; er ist ganz offenbar ein Vorgang, der
erst im Hören aktuell wird. Schallwellen, seine physi-
kalische Bedingung, gehören gewissermaßen einer anderen
Ordnung der Dinge an; sie sind mit der Tonempfindung
als solcher unvergleichbar, der ganzen Gattung nach
von dieser verschieden. Und ähnliches gilt von der
Farbe, wenn wir von ihrer Ausdehnung absehen, von
der Wärme und Kälte, dem Geschmack und Geruch,
Eindrücken, die so entschieden auf das Gefühl des Sub-
jektes wirken, und so wenig von dem Objekte zu er-
kennen geben; es gilt mit einem Worte von allen
spezifischen Empfindungen, die des Tastsinnes nicht
ausgenommen. Bei ihnen allen wird schon durch ihre
Natur die Annahme einer Doppelexistenz in und außer
der Empfindung ausgeschlossen. Anders dagegen bei
den folgenden Bestandteilen der Wahrnehmung. Die
Gestalt eines Körpers, von der wir träumen oder deren
Bild wir in der Phantasie erzeugen, kann so, wie wir
von ihr träumen oder sie uns einbilden, auch außer uns
in der Wirklichkeit gegeben sein. Wir können sie vor-
stellen und zugleich als außer unserer Vorstellung exi-
stierend denken; hier also könnte die Vorstellung das
Bild der Sache selbst sein. Und gleiches wie von der
Wahrnehmung der räumlichen Eigenschaften der Ob-
jekte, gilt auch von der Wahrnehmung ihrer zeitlichen
Verhältnisse, ihrer Bewegung, ihrer Menge oder Zahl.
Alle diese Bestimmungen unserer Wahrnehmung lassen
sich zugleich als Bestimmungen der Gegenstände selbst
denken, und wir sind gewohnt, sie so zu denken. Freilich
sind dies nicht mehr reine Empfindungen, sondern An-
schauungen von Verhältnissen der Dinge und von Formen
der Verknüpfung ihrer Teile, und in Bezug auf diese
Formen und Verhältnisse nehmen wir an, daß sich bei
Die kritische Philosophie. 6l
ihnen Wahrnehmung und Gegenstand völlig decken;
mit anderen Worten: wir schreiben ihnen eine doppelte
Existenz zu, in und außer unserer Wahrnehmung.
Auf diesen Unterschied unter den Bestandteilen,
der Wahrnehmung gründete schon Demokrit den Gegen-
satz seiner beiden Erkenntnisarten, der echten, die die
wahre Natur der Körper erfaßt, und der unechten oder
scheinbaren ihrer sinnlichen Eigenschaften, die nur nach
menschlicher Meinung und Feststellung als solche gelten
sollen. Diese demokritische Auffassung ist, seit Galilei
sie erneuert hat, in der Naturwissenschaft herrschend
geblieben. Auch die Naturwissenschaft gewinnt somit
ihre Gegenstände durch eine Kritik der sinnlichen Er-
kenntnis. Sie betrachtet die objektive Welt als ein
System bewegter Massenteile, das heißt: sie benützt zu
dem Aufbau ihres Weltbildes nur die formalen Bestand-
teile der Wahrnehmung — und macht die Empfindungen
zu spezifischen Energien der Sinnesnerven, indem sie
den Ursprung dieser Energien ausschließlich in die
Sinnesapparate des Menschen und der Tiere verlegt.
Nehmen wir Augen, Ohren und Nase weg, so sind
zugleich Farben, Töne, Gerüche vernichtet, erklärt Galilei,
und ebenso hat die Empfindung von Wärme oder Kälte
ihren Sitz nur im Temperatursinne, wie auch Härte oder
Weichheit eines Körpers verschwinden müßten, wenn der
Tastsinn weggedacht wird; übrig bleiben allein Raum-
erfüllung, Zahl, Bewegung und Ruhe der Körper. Diese
„ersten Accidentien" müssen wir denken, so oft wir
Materie vorstellen. Und so wie Galilei dachte, denkt
noch heute die Mehrzahl der Physiologen. Johannes
Müllers Lehre von den spezifischen Energien, diese in's
Physiologische übersetzte Unterscheidung zwischen „pri-
mären und sekundären Qualitäten" hat für sie fast die
62 Dritter Vortrag.
Geltung eines Glaubenssatzes erlangt. Und doch hat
Helmholtz, der diese Lehre in unübertrefflich klarer Form
darstellte und weiter entwickelte, bereits auch die Richtung
angedeutet, in welcher sie modifiziert werden muß. Helm-
holtz bezeichnet den tiefer greifenden Unterschied zwischen
den Empfindungen verschiedener Sinne, z. B. zwischen
Farbe und Geschmack, als den Unterschied in der Mo-
dalität einer Empfindung, während er den weniger
tief greifenden zwischen den Empfindungen desselben
Sinnes, z. B. zwischen Rot und Blau, den Unterschied
der Qualität nennt; er behauptet nun, daß die Mo-
dalität ganz und gar durch den Sinnesnerv bestimmt
wird, das Hören durch den Hörnerv, das Sehen durch
den Sehnerv, wogegen die Qualität, also ein Ton von
bestimmter Höhe, eine Farbe von bestimmter Stufe,
durch den äußeren Reiz mitbestimmt wird. Das letztere
lehrten ihn seine klassischen Untersuchungen über die
Tonempfindungen. Das die Reize perzipierende Organ
des Ohres, die Grundmembran, ist in den einzelnen
Teilen auf Töne von verschiedener Höhe, d. i. auf ein-
fache Tonwellen von verschiedenen Schwingungszahlen
abgestimmt gleich den Saiten eines Klaviers. Den spe-
zifischen Qualitäten, den Unterschieden der Tonhöhe,
entsprechen also beim Ohr spezifische Reize. Ist aber
nicht auch der peripherische Sinnesapparat im Ganzen
seinem normalen oder adäquaten Reize angepaßt, für
seine Aufnahme eingerichtet? muß also nicht auch von
der Modalität seines Empfindens gelten, daß sie in ge-
setzlicher Weise zusammenhängt oder abhängig ist von
einer bestimmten Reizgattung? Das Ohr ist gegen andere
Reize geschützt und wesentlich nur für Schallwellen zu-
gänglich, das Auge nur den Lichtwellen geöffnet. Was
Helmholtz dennoch bestimmte, für die Modalität, und nur
Die kritische Philosophie. 63
für diese, an dem Satze Johannes Müllers von der Gleich-
giltigkeit der Natur der Reize für den Erfolg in der
Empfindung festzuhalten, war das zu große Gewicht,
das er auf die Tatsache einer anomalen oder inadä-
quaten Reizung legte. Der Sehnerv z. B. kann außer
durch Licht, auch durch den galvanischen Strom, durch
mechanische Erschütterung, durch Zerren erregt werden
und beantwortet jede Erregung in der ihm eigentüm-
lichen Modalität von Licht und Farbe. Dieser Tat-
sachenbeweis kann jedoch nicht als völlig triftig erachtet
werden; denn augenscheinlich soll hier die Regel: die
adäquate, durch die Ausnahme: die anomale Reizung,
umgestoßen werden, während es eine Maxime der Methode
ist, die Ausnahme vielmehr aus ihren besonderen Um-
ständen zu erklären. Ist es wirklich so verwunderlich,
daß ein Organ auf ungewöhnliche Reize hin in der ge-
wohnten und durch seine ganze Entwicklungsgeschichte
befestigten Weise reagiert, das Auge z. B. auf einen
Schlag mit Licht und Farbe. Eine anomal erregte Em-
pfindung ist auch für das Bewußtsein keineswegs völlig
gleich einer normal erregten; wir empfinden deutlich,
daß sie erzwungen ist. Man vergleiche nur die ruhige,
so erfreuliche Tätigkeit des Auges in seinem Zusammen-
wirken mit dem objektiven Licht mit der brüsken, un-
gewohnten Erscheinung einer Druckfigur. Nicht bloß
der Schlag auf das Auge ist schmerzlich, auch das
Blendungsbild, das dadurch erweckt wird, ist peinlich.
Und ähnliches gilt von dem galvanisch erregten Ton,
der ganz richtig ins Innere des Gehörorganes verlegt
wird und mit einem adäquat erregten nicht verwechselt
werden kann. Er gleicht in seiner Klangfarbe einem sehr
hohen durch das Zupfen einer Metallsaite erzeugten Ton
und hat entschieden etwas Unangenehmes. Sehr mög-
64 Dritter Vortrag.
lieh ferner, daß es dem Anscheine zuwider überhaupt
nur eine adäquate Erregung der Sinne gibt. Die Reizung
des Sehnerven durch den galvanischen Strom wird man
heute kaum noch für eine inadäquate gelten lassen können,
seit die Gleichartigkeit der elektrischen, und der Licht-
wellen erkannt ist; ein Schlag auf das Auge aber kann
ganz wohl die Sehsinnsubstanz zu chemischer Dissimila-
tion anregen, in welch letzterer wir den adäquaten
Reiz für das Sehen zu erblicken haben. Aus der stets
zusammengesetzten Ursache, die wir als Reiz Vorgang
bezeichnen, mag der Sinn vermöge seiner Adaptation
an spezifisch bestimmte Reize denjenigen Teil auswählen,
der seinen adäquaten Reiz enthält. Endlich ist noch
auf ein prinzipielles Bedenken aufmerksam zu machen,
das der Annahme des ausschließlichen Ursprungs der
Modalitäten aus den Sinnesnerven, d. i. der Lehre der
spezifischen Energien im Wege steht. Der Sinnesapparat
ist nämlich selbst ein Teil der objektiven Welt, und
wenn diese wirklich an sich nur aus Masse und Bewegung
bestehen soll, so kann auch das Sinnesorgan nur der
Träger und Vermittler von Bewegungen sein; er kann
nicht außerdem noch spezifische Wirkungen hervor-
bringen, er müßte sie denn aus nichts erzeugen. Auch
die Seele oder das Bewußtsein schafft die Empfindungen
nicht, sie wird sich nur ihrer als ihr gegeben bewußt;
nicht das Sehen selbst ist blau oder rot, der gesehene
Gegenstand erscheint in dieser oder jener Farbe,
nicht das Hören ist laut oder still, es empfindet den
Lärm oder die Stille. Wir sind also genötigt, die An-
nahme, von welcher die Naturwissenschaft für ihre Be-
rechnungen ausgehen muß, zu ergänzen. Statt in dem
Mechanismus der Massenteile das vollständige Bild der
Welt zu erblicken, sehen wir in ihm nur das Bild der
Die kritische Philosophie. 65
Umrisse der Welt. Außer quantitativen oder meßbaren
Wirkungen müssen die Dinge auch qualitative Wirkungen
austauschen, so gewiß es spezifische Empfindungen
gibt; und die Empfindung stellt sich uns als die voll-
endete Entwicklung der Beschaffenheit der Reize dar;
sie ist durch die Beschaffenheit der Sinne mitbestimmt
aber nicht durch diese allein erzeugt. Doch liegt diese
ganze Betrachtung, die nur die Richtung zeigen sollte,
in der die Lösung des Problemes zu suchen sein dürfte,
außerhalb unseres Weges und wir kehren zu unserer
Aufgabe zurück, indem wir versuchen, die Kritik der
sinnlichen Erkenntnis weiterzuführen.
Gestalten sind nur im Räume möglich, Bewegungen
nur im Räume und in der Zeit; folglich hängt die Art
der Wirklichkeit der Gestalten und Bewegungen von der
Art der Wirklichkeit des Raumes und der Zeit über-
haupt ab; sollen also jene an sich selbst wirklich sein,
so müssen es umso gewisser diese sein. Wie, wenn
nun schon die Grenzenlosigkeit, die wir dem Räume
und der Zeit notwendig zuschreiben müssen und die
doch in keiner Erfahrung gegeben sein kann, es unmög-
lich machte, jene selbst für etwas absolut Gegebenes und
für sich Bestehendes zu denken; wenn also Kant im Rechte
wäre mit der Lehre, daß Raum und Zeit überhaupt, (nicht
die in ihnen wahrgenommenen oder wahrnehmbaren
Dinge, sondern die allgemeinen Formen, in denen Dinge
wahrgenommen werden). Formen des Anschauens sind,
Gesetze der anschauenden Tätigkeit eines Sinnenwesens,
z. B. des Menschen? Ist dies richtig, dann hat die Welt
für uns mit einem Male eine völlig andere Bedeutung
bekommen; dann zeigt sich die Sinnenwelt noch einmal
und in tieferer Weise abhängig, nämlich außer von der
Empfindungsweise der Sinne, die zur vollen Entwicklung
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 5
65 Dritter Vortrag.
ihrer Beschaffenheiten gehört, auch von den Gesetzen
der Anschauung, die die Form ihres Seins für uns be-
stimmen. Dies ist die Lehre von der Sinnenwelt als
einem Inbegriff von Erscheinungen für ein empfindendes
und anschauendes Wesen, ein Sinnenwesen; die große
Lehre von der bedingten Existenz der Welt unserer
Anschauung und Erfahrung. Sie sehen sogleich und
ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß diese
Lehre, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, einen wesentlichen
Bestandteil der wissenschaftlichen Weltanschauung bildet.
Wir sind von verhältnismäßig einfachen Erwägungen
ausgegangen, um Sinn und Berechtigung des kritischen
Nachdenkens über die Erkenntnis anschaulich zu machen;
den tieferen Fragen müssen wir uns erst noch zuwenden.
Da ist es nun eine Tatsache unseres Denkens, daß wir einen
weit größeren Zusammenhang unter den Gegenständen
der Wahrnehmung annehmen, als es durch die Wahr-
nehmungen selbst gerechtfertigt erscheint. Wir nehmen
an, daß es in den Dingen etwas schlechthin und durch
alle Zeit Beharrliches gebe, oder in der Sprache der
Philosophie: daß ihre Eigenschaften und Zustände in
der Einheit der Substanz zusammenhängen. Wir setzen
ferner voraus, daß die Veränderungen der Dinge in
notwendiger Abhängigkeit von einander stehen, wir
sagen, daß sie einen Zusammenhang durch Kausalität
besitzen. Wird auch der erste Ausdruck wenig in der
positiven Wissenschaft gebraucht, die statt von Substanz
von Materie redet, so ist der zweite: Kausalität auch
in ihr allgemein üblich. Kausalität, oder was dasselbe
bedeutet, ein zureichender Grund der Veränderung ist
ein Postulat der Wissenschaft, eine Forderung, welche
die Forschung an die Vorgänge in der Natur stellt und
stellen muß, um Forschung zu sein. Mit beiden An-
Die kritische Philosophie. ^n
nahmen, die sich nur in der Anwendung nicht im Wesen
unterscheiden, geht das Denken ohne Zweifel über die
in der Wahrnehmung gegebenen Tatsachen hinaus. Eine
„Substanz" kann nicht gesehen werden; auch die Materie,
die Substanz des Physikers, wird nicht gesehen, sondern
gedacht. Was die Beobachtung allein zeigen kann, ist
die Wiederkehr einer gleichen Erscheinung, der Raum-
erfüllung, oder einer gleichen Größe, der Masse, nicht
die Erhaltung desselben Dinges, oder ein und derselben
Größe. Und ebenso wenig läßt sich Kausalität sinnlich
wahrnehmen; die Ursächlichkeit als solche ist weder in
dem Vorgang der vorangeht, noch in dem, welcher
nachfolgt, noch endlich in dem Folgen selbst den Sinnen
gegeben. Und doch sind diese Annahmen nicht bloß,
wie es sich beinahe von selbst versteht, Grundbegriffe
der wissenschaftlichen Erkenntnis, schon die gewöhnliche
Erfahrung richtet sich nach ihnen. Wir können dies
leicht an dem Begriffe der Substanz zeigen.
So oft wir etwas als Gegenstand der Wahrnehmung
auffassen, glauben wir, so wollen wir uns bescheiden
zu sagen, daß der Gegenstand nicht erst durch die
Wahrnehmung entsteht, oder mit ihr vergeht und von
neuem geschaffen wird, wenn die Wahrnehmung sich
erneuert. Wir glauben an die Unabhängigkeit des
Gegenstandes von der Wahrnehmung und sein unver-
ändertes Fortbestehen nach derselben, wenn er nicht
durch äußere Ursachen verändert wird; und wir glauben
dies nicht bloß oder hauptsächlich aus dem Grunde, weil
er fortfährt, den Sinnen anderer Menschen gegenwärtig
zu bleiben und wir uns durch Befragen derselben
davon überzeugen können. Die Objekte in der Um-
gebung des Nordpols hat noch kein menschliches
Auge erblickt; niemand aber zweifelt an ihrer Existenz.
5*
^$ Dritter Vortrag.
Dieser Glaube an die Unabhängigkeit der Objekte von
ihrem Wahrgenommenwerden und an ihre Beständigkeit
ungeachtet des Wechsels der Wahrnehmungen ist der
Glaube, den wir mit dem Begriffe der Substanz aus-
drücken. Ohne diesen Glauben — keine Erfahrung,
denn ohne ihn würde das Objekt fehlen, von dem irgend
etwas ausgesagt werden könnte, das Objekt für ein
Urteil über die Wahrnehmung; und weil keine Erfahrung
auch keine Wissenschaft, keine Möglichkeit der Über-
einstimmung der Urteile Aller in Bezug auf ein und
dasselbe Objekt. Kein Chemiker, der eine bestimmte
Menge Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff von be-
stimmten Gewichtsverhältnissen zerlegt und durch Wieder-
vereinigung dieser Elemente eine gleiche Menge Wasser
erhält, zweifelt im geringsten, daß es dieselben Elemente
sind, die er erst im verbundenen dann in getrenntem
Zustande vor sich hatte. Wollte er seine Überzeugung
lediglich auf Beobachtung stützen, so wäre sie nicht zu
begründen; denn seine Wahrnehmungen sind zeitlich
getrennt und verschieden und sie können ihm immer
nur gleiche d. i. in ihren Eigenschaften übereinkommende
Objekte zeigen; gleiche Objekte aber sind nicht die-
selben Objekte. Dennoch bleibt er bei seinem Glauben
an das Fortbestehen derselben Elemente, oder um
es ohne atomistische Hypothese zu sagen, das Fortbe-
stehen von Etwas, das diesen Elementen entspricht; und
er muß an diesem Glauben festhalten, weil allein durch
ihn seine Beobachtungen mit dem Gegenstande und
dadurch auch untereinander verknüpft werden können.
— Eine rein „phänomenologische" Physik oder Chemie,
an die man etwa denken könnte, müßte für ihre „Be-
schreibungen" der Tatsachen mindestens Allgemeingiltig-
keit in Anspruch nehmen, das heißt sie müßte fordern,
Die kritische Philosophie. 6q
daß ihre Beschreibungen von einem uns und dem Forscher
gemeinschaftlichen Objekte gelten sollen.
So können wir das Denken nicht entbehren, auch
nicht bei unseren alltäglichen Erfahrungen. Das Denken
ergänzt die Wahrnehmung. Immer wieder setzen wir
einen weit größeren Zusammenhang voraus, als in den
bloßen Tatsachen gegeben ist. Nennen wir den Inbegriff
der Tatsachen in der Wahrnehmung: reine Erfahrung,
so kommen wir schon hier zum Schlüsse, daß reine
Erfahrung keine Wissenschaft begründen kann, daß sie
ungeeignet ist, Erkenntnis eines Objektes zu werden.
Schon hieraus erhellt die Notwendigkeit einer Kritik
der Erfahrung, der Prüfung und des Beweises der
Annahmen, von denen, wie wir gezeigt haben, Erfahrung
und Wissenschaft tatsächlich ausgehen.
In weniger abstrakter Weise läßt sich diese Not-
wendigkeit durch ein Gleichnis anschaulich machen.
Was für den Physiker die genaue Kenntnis seines In-
strumentes bedeutet, mit welchem er messen und ex-
perimentieren will, bedeutet für die Forschung überhaupt
die Kritik der Erkenntnis. Das Instrument aller Erfahrung
ist der menschliche Geist selber, und wer den mensch-
lichen Geist nicht kennt, kennt sein Produkt: die Er-
fahrung nicht; er weiß nicht was dazu die Wahrnehmung
hergibt und was dafür der Verstand zu leisten hat. Den
Verstand, das Instrument der Instrumente, wie Descartes
hn genannt hat, kennen zu lernen und so der Wissen-
schaft den Maßstab ihrer Forschung zu geben, ist die
Aufgabe der kritischen Philosophie, Die Gewißheit der
Dinge kann nie größer sein, als die Gewißheit der Er-
kenntnis.
70 Dritter Vortrag.
Die kritische Philosophie ist eine Schöpfung der
Aufklärungszeit. Indem sie deren Tendenzen auf klare
und bestimmte Begriffe brachte, wurde sie selbst zur
wesentlichsten geistigen Macht jener Zeit. Das „Zeitalter
der Vernunft, das philosophische Zeitalter", so bezeichnete
Voltaire die Epoche der Aufklärung. Es ist die Zeit „des
Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit", der Befreiung seines Denkens von dem
Druck der Gewohnheit und aus den Fesseln der Über-
lieferung: das „sapere aude!" — wage zu denken! —
ist nach Kant ihre Maxime. Erst durch uns selbst ge-
prüfte Erkenntnis ist lebendige Erkenntnis, sie erst kann
mit unserem ganzen Wesen Eins werden; auch geistiges
Erbe müssen wir erwerben, um es zu besitzen. Wir
sind heute gewohnt, über die Aufklärung etwas vornehm
zu denken. Wir sehen ihren Mangel an historischem
Sinn. Zwar kannte die Aufklärungszeit die Geschichte,
sie begann sie sogar in großem Stile darzustellen; aber
sie abstrahierte von ihr; sie wollte die Geschichte durch
Vernunft ersetzen, die Geschichte „neu anfangen". Im
Grunde widerspricht diese geringe Bewertung des
Historischen in Staat und Gesellschaft, die zu hohe der
individuellen Vernunft dem Prinzipe der Aufklärung
selbst. Es liegt oft mehr Kritik und aufl<lärende Kraft
im Gang der geschichtlichen Tatsachen, als in den Be-
griffen des Rationalismus, vorausgesetzt, daß die Ge-
schichte mit freiem Geiste betrachtet wird. Wie jede
Kulturepoche ist auch die Aufklärungszeit ein Moment
in der Erziehung des Menschengeschlechtes, und eben
darum auch in der Erziehung des Einzelnen. Einmal
im Leben muß jeder eine Zeit der Aufklärung erfahren,
einmal im Leben die überkommenen Anschauungen in
Frage stellen. Er wird sonst nicht wahrhaft zum Ver-
Die kritische Philosophie. 71
nunftwesen, sondern bleibt ein Automat der Erziehung
und der ihn in Bewegung setzenden autoritativen
Meinungen anderer. Freilich, die Aufklärung ist kein
Standpunkt, sie ist ein Durchgangspunkt, ihre Bestimmung
ist, den Menschen zur Selbstgesetzgebung, zur Selbsttätig-
keit und Selbständigkeit zu führen, worauf die Würde
seiner Natur beruht.
Locke, der erste kritische Philosoph, stellt in seiner
Person auf das Schlichteste und wie wir sagen können
als etwas Selbstverständliches den Geist der Aufklärung
dar. Wie seine Freunde von ihm berichten, ließ er sich
ebenso in allen Angelegenheiten des Lebens wie in
seinen wissenschaftlichen Ansichten allein von der Ver-
nunft leiten und war beständig willig und fähig, ihren
Ratschlägen zu folgen. Das Recht der freien Prüfung
zunächst religiöser, dann aber auch der wissenschaftlichen
Anschauungen, wie er es für sich selbst in Anspruch
nimmt, gesteht er auch jedem Anderen zu und wie er
ein Selbstdenker ist, so wünscht und fordert er, daß
auch die anderen, auch die Leser seiner Schriften selbst
denken sollen. In Dingen, worüber allein der eigenen
Vernunft die Entscheidung zusteht, sich an anderer
Meinungen halten, hieß ihm so viel als mit dem Ver-
stände anderer denken zu wollen, was nicht weniger
töricht sei, als zu meinen, man könne mit den Augen
eines Anderen sehen. Ein sokratischer Zug geht durch
Lockes ganze Philosophie und Persönlichkeit. „Unsere
Aufgabe erklärt er, ist nicht, alle Dinge zu kennen,
sondern die, welche unser Handeln angehen. Wir
brauchen, um die Zwecke unseres Lebens zu erreichen,
keine andere Erkenntnis als die der natürlichen, er-
fahrungsgemäßen Wirkungsweise der Dinge und die Er-
kenntnis unserer Pflicht; jene in Bezug auf unser Ver-
72 Dritter Vortrag.
hältnis zu den Dingen, diese für unsere Handlungen".
Wir wundern uns nicht, daß dieser klare, maßvolle Denker,
bei dem der Verstand zum Charakter geworden, alle
Aufklärungs-Ideen bereits ausgesprochen hat. Seine
Schriften: außer dem Essay über den menschlichen Ver-
stand, besonders die Toleranzbriefe, die Schrift über die
Vernünftigkeit des Christentums, die beiden Abhandlungen
über die Regierung, die Gedanken über die Erziehung
geben das vollständige Programm der Philosophie der
Aufklärung. Sie enthalten alle wesentlichen Gedanken,
die durch die großen französischen Schriftsteller des
achtzehnten Jahrhunderts, Voltaire an der Spitze, als
kurante Münze durch die Welt verbreitet wurden. —
Voltaire brachte zugleich mit der Philosophie Newtons
die Philosophie Lockes nach Frankreich. J. J. Rousseau
nahm in seinen „Emile" Locke'sche Erziehungsgedanken
herüber.
Es ist nun gewiß sehr bezeichnend und merkwürdig,
daß der Denker, der zuerst die leitenden Ideen der Auf-
klärung gefunden und damit so wirksamen Anteil an der
Entwicklung jener Epoche genommen hat, der Sache
nach zugleich der Urheber der kritischen Philosophie
ist, wenn er sie auch nicht so nannte sondern unter dem
bescheidenen Namen eines „Versuches über den
menschlichen Verstand" einführte. Und nicht minder
charakteristisch ist der unmittelbare Anlaß der dieser
Philosophie die Entstehung gab. Locke liebte es, von
Zeit zu Zeit einige seiner Freunde bei sich zu sehen,
und sich mit ihnen über wissenschaftliche Dinge zu unter,
halten. Eines dieser Gespräche nun blieb trotz aller
aufgewandten Bemühung und obgleich die Unterredner
zu den gebildetsten und kenntnisreichsten Männern ihres
Landes zählten, deren Namen zum Teil die Geschichte
Die kritische Philosophie. yi
aufbewahrt hat, ohne jedes Ergebnis. Es soll sich dabei,
nach dem späteren Zeugnis eines Teilnehmers an jener
Unterhaltung um Fragen der natürlichen Religion und
Moral gehandelt haben, von denen wir wenigstens die
ersteren zu den metaphysischen zählen. Als die
Schwierigkeiten und Zweifel sich nur immer mehr häuften
und die Lösung ferner rückte, kam Locke plötzlich
auf den Gedanken, daß man einen falschen Weg ein-
geschlagen und die Sache am unrechten Ende angefaßt
habe: denn, ehe man sich auf Fragen solcher Art ein-
lasse, müsse man zuvor die Fähigkeiten des menschlichen
Verstandes prüfen, um zu erkennen, ob dieser für so
entlegene Dinge auch eingerichtet sei. Damit war die
Untersuchung des Verstandes als eines Erkenntnisver-
mögens, eines Vermögens Wahrheit und Wirklichkeit
zu erkennen, im Prinzipe an die Spitze aller philo-
sophischen Untersuchungen gestellt, — die Frage nach
dem Erkenntniswert der Wissenschaft aufgeworfen und
in ihrer maßgebenden Bedeutung erfaßt.
Locke hatte von der Neuheit und Tragweite seiner
Aufgabe, der Aufgabe der theoretischen Philosophie als
solcher, das deutlichste Bewußtsein. „Wird das Ver-
mögen unseres Verstandes richtig geschätzt, schreibt er
in der Einleitung zum „Essay", ist der Umfang unseres
Erkennens einmal entdeckt und die Gesichtslinie be-
stimmt, die den erleuchteten Teil der Dinge von dem
dunkeln scheidet, so wird der Mensch sich vielleicht mit
weniger Bedenken bei der eingesehenen Unwissenheit
hinsichtlich des einen Teiles beruhigen und seine Nach-
forschungen mit umso größerem Gewinn auf den anderen
Teil richten." Auch nach Locke hat die kritische Philo-
sophie die rechte Mitte zu treffen „zwischen der Ein-
bildung eines alles umfassenden Wissens und der aus
74 Dritter Vortrag.
Enttäuschung entspringenden Verzweiflung, irgend etwas
wissen zu können", — die rechte Mitte, wie dies Kant
ausdrückte: zwischen Dogmatismus und Skeptizismus.
Sie hat „den beständigen Streitigkeiten über Dinge, die
unsre Fähigkeiten übersteigen ein Ende zu machen", da-
durch, daß sie die Grenze zieht zwischen Wissen und
Meinen. Die Absicht Lockes mit seiner Kritik des Ver-
standes ist keine andere als die Absicht Kants mit der
Kritik der Vernunft.
Die Gewißheit und den Umfang der Erkenntnis zu
bestimmen ist das Ziel der Untersuchung Lockes; den
Weg dazu schien ihm die Erforschung des Ursprungs
und der Entwicklung des Erkennens zu eröffnen. Hier
trifft er nun auf die Annahme angeborener Begriffe und
Grundsätze, und wenn er diese Annahme in jeder Form,
in der sie in der Philosophie aufgetreten ist, bekämpft
und widerlegt, so treibt ihn dazu nicht lediglich und
auch nicht vorzugsweise ein rein wissenschaftlicher Be-
weggrund. Der Glaube an angeborene Ideen beschränkt
und unterdrückt das Selbstdenken des Menschen. An-
geborene Ideen wären unveränderliche Ideen. Sie würden
den Geist fesseln und knechtisch machen; und es war
„kein geringer Vorteil für alle die, welche sich zu Meistern
und Lehrern aufwarfen, es zum Grundsatz der Grund-
sätze zu machen, daß Grundsätze nicht in Frage gezogen
werden dürfen". Vorstellungen scheinen angeboren zu
sein, nur weil wir ihren Ursprung nicht kennen, nur weil
unsere Erinnerung nicht in die Zeit zurückreicht, in
welcher sie uns eingeprägt wurden. „Nichts ist gewöhn-
licher, als daß Kinder Vorstellungen und Lehren, ins-
besondere in religiösen Dingen, von ihren Eltern, Wärte-
rinnen und Lehrern in ihren Geist aufnehmen," so daß
die Quelle dieser vermeintlich angeborenen und dadurch
Die kritische Philosophie. 75
sanktionierten Vorstellungen in vielen Fällen der Aber-
glaube einer Amme oder das hohle Geschwätz eines
Schulmeisters ist." Locke verneint das Angeborensein
irgend welcher Vorstellungen und Grundsätze, weil er
das Recht der Prüfung aller bejaht; auch hier redet
der Geist des Selbstdenkers aus ihm. — Vielleicht
findet mancher diese Verwerfung des Angeborenen zu
radikal. Ist nicht das Angeborene das Historische,
durch Vererbung auf das Individuum Übertragene, —
seine Verwerfung durch Locke also eine Unterschätzung
des Historischen in der Art der Aufklärung? Es war
keineswegs die Meinung Lockes, alles Angeborene des
Geistes zu leugnen, als er und gewiß mit Recht das
Angeborensein von Vorstellungen leugnete. Fähigkeiten
oder Kräfte des Geistes lassen sich im Gegensatze zu
angebornen Ideen entwickeln und steigern, sie sind der
Bildung zugänglich und durch Erfahrung zu verändern;
sie also können auch im Sinne Lockes angeboren
oder dem Geiste natürlich sein, ohne dessen Selb-
ständigkeit zu hemmen und daß sie es sind ist die aus-
drückliche Lehre Lockes. Er selbst zählt zu diesen
angeborenen Fähigkeiten und Operationen des Geistes
das Bemerken und Behalten, Unterscheiden und Ver-
gleichen, das Abstrahieren; aber eben nur die Fähigkeit
des Percipierens, nicht Wahrnehmungen, die Fähigkeit
des Abstrahierens, nicht Begriffe, geschweige denn Grund-
sätze, theoretische oder praktische, sind angeboren. Auch
nach Locke ist der Geist in gewißem Sinne sich selbst
angeboren und mit Unrecht zitiert man immer wieder
jenen „intellectus ipse", den „Verstand selbst", um da-
mit den Gegensatz zwischen Leibniz und Locke zu
kennzeichnen. Leibniz selbst wußte dies besser und
erklärte ausdrücklich, der Satz: „nichts sei im Verstände,
7Ö Dritter Vortrag.
was nicht zuvor in den Sinnen war, außer der Verstand
selbst" sei vollständig auch im Sinne Lockes, der ja die
eine der beiden Quellen der Ideen in der Wahrnehmung
der Operationen des Geistes finde. Seit Lockes Angriff
ist die Theorie der angebornen Vorstellungen aus der
Philosophie verbannt; kein Denker hätte sie auch er-
neuern können, so gründlich und entscheidend war jener
Angriff. Auch die Kategorien oder die „reinen Ver-
standesbegriffe" Kants sind keine angeborenen Begriffe.
Wer sie dafür nehmen wollte, versteht eben Kant nicht,
der es Locke zu besonderem Verdienste rechnete, daß
dieser auch die „intellectualia", die reinen Begriffe des
Verstandes nicht für angeboren hielt, sondern nach
ihrem Ursprung suchte. Der Zeit Lockes erschien die
Bestreitung der angebornen Ideen wie ein Umsturz der
Philosophie. Die Gegner griffen den „Essay" an diesem
Punkte an; vielmehr sie verdammten das Buch um dieses
Punktes willen, noch ehe sie es gelesen hatten. Hat
die Seele keine angebornen Ideen, so scheint ihr Be-
griff völlig leer und sie selbst ohne Wesen zu sein; sie
scheint beinahe nichts zu sein, wie leicht also ist es
dann zu behaupten, daß sie nicht sei. Wir urteilen
heute anders. Eine falsche Theorie ist beseitigt und ihre
Wertlosigkeit für die Frage nach der Gewißheit der Er-
kenntnis dargetan, das genügt uns und wir halten uns
dabei nicht länger auf. Für uns, wie für Locke selbst,
liegt das Schwergewicht seiner Untersuchung nicht in
dem ersten Buche des Essay gegen die angebornen Ideen
und Grundsätze, sondern im zweiten, das von dem Ur-
sprung der Ideen handelt und im vierten, das den
Begriff der Erkenntnis entwickelt und ihre Grenzen be-
stimmt.
Was immer Inhalt oder Gegenstand des Bewußt-
Die kritische Philosophie. 77
seins ist oder sein kann, alles, womit der Geist sich be-
schäftigt wenn er wahrnimmt und denkt, nennt Locke:
Idee. Dieser Ausdruck kann also ebensogut die bloße
Empfindung eines Sinneseindruckes bedeuten, wie den
abstraktesten Gedanken und man muß sich dies gegen-
wärtig halten, um Lockes Lehre vom Ursprung der
Ideen richtig zu erfassen. Nur von den „einfachen Ideen",
den Elementen der zusammengesetzten, gilt sein Satz
von ihrem Ursprung aus der doppelseitigen Erfahrung,
aus Sensation und Reflexion, oder äußerem und
innerem Sinn. Nur auf den Inhalt, das Material unseres
Denkens bezieht sich das Prinzip des Empirismus,
das Locke mit den Worten ausspricht: auf Erfahrung
ist alle unsere Erkenntnis gegründet, und von ihr im
letzten Grunde herzuleiten. Locke weiß und er selber
lehrt es, daß alle zusammengesetzten „Ideen" durch die
Operationen des Geistes, die dieser an den Sinnesein-
drücken oder den einfachen Ideen vornimmt, entstehen
oder doch durch sie entdeckt werden. Sind die Sinne
die Quelle der einfachen Ideen, so sind die Tätigkeits-
weisen des Geistes die Quelle der zusammengesetzten;
aus dieser Quelle stammen jene unendlich vielen, aus
Modifikationen der einfachen Ideen von Ausdehnung,
Dauer, Einheit entspringenden mathematischen An-
schauungen und Begriffe, aus ihr die Vorstellungen der
Verhältnisse und alle abstrakten oder allgemeinen Ideen,
einschließlich des allgemeinen Begriffs der Substanz.
Was also Locke über den Ursprung der Erkenntnis
wirklich lehrte, ist nur dies: äußere und innere Wahr-
nehmung liefern den Stoff zu allen Ideen, auch zu jenen,
die der Geist selbst bildet, wie sie auch die Veranlassung
zu ihrer Entwicklung geben. Wir müssen diese Lehre
als Voraussetzung nehmen, um die wichtigste Leistung
78 Dritter Vortrag.
der Verstandeskritik Lockes in seinem Sinne zu .ver-
stehen. Dies aber ist seine Kritik eines Hauptbegrififes
aller metaphysischen Philosophie, — ich habe ihn schon
genannt: des Begriffes der Substanz.
Die Frage nach der „Substanz" der Dinge ist die
Grundfrage der philosophischen Systeme des sieb-
zehnten Jahrhunderts; an dieser Frage entwickelte, mit
ihr befaßt sich der ganze spekulative Teil jener Systeme.
Diese Frage in ihrer metaphysischen Gestalt hat Locke
aus der Wissenschaft verbannt, diesen Begriff kritisch
zerlegt, man möchte sagen, ihn so zersetzt, daß gerade
dadurch erst seine wahre Bedeutung und das wirklich
mit ihm verbundene Problem hervortreten konnten. Wir
zählen seit Lockes Kritik die Substanz nicht mehr zu
den inhaltlichen Begriffen unseres Erkennens; die Be-
seitigung ihrer materialen Auffassung, das Werk Lockes,
hat unmittelbar ihre formale vorbereitet.
Der gewöhnlichen Anschauung nach unterscheiden
wir körperliche und geistige Dinge als die beiden Arten
von Substanzen, von denen wir glauben, Erfahrung zu
haben. An diese Unterscheidung knüpft Locke an und
zeigt, daß weder das allgemeine Wesen einer Substanz
zu erkennen ist, noch die besondere Natur ihrer Arten,
des Körpers und des Geistes. Die Substanz im allge-
meinen, der Begriff der den körperlichen und geistigen
Dingen gemeinsam ist, sofern sie als Substanz gedacht
werden, ist leer an Inhalt, eine Idee, und zwar nach
Locke die einzige, welche weder aus der äußeren noch
aus der inneren Wahrnehmung stammt, also nicht gleich
den übrigen Ideen auf einem dieser Wege in unseren Geist
gelangt sein kann. Sie muß also ihren Ursprung in
einer gewissen Auffassung des durch Erfahrung Gegebenen
haben. Dies ist auch die Meinung Lockes, da er sie
Die kritische Philosophie. 70
aus einer gewohnheitsmäßigen Beurteilung der Eindrücke
der Sinne hervorgehen läßt. „Weil wir keine Vorstellung
davon haben, erklärt er, wie diese einfachen Ideen an
sich selbst bestehen können, gewöhnen wir uns, ihnen
irgend etwas unterzulegen, in welchem und durch welches
sie bestehen und dies nennen wir dann ihre Substanz."
So ist die Substanz nichts als eine unbestimmte An-
nahme von etwas, wovon wir nicht wissen, was es sei;
von etwas, wovon wir keine besondere, bestimmte und
positive Vorstellung haben, die uns zeigte, was es ist,
sondern nur eine dunkle von dem, was es zu leisten hat:
nämlich Träger der sinnlichen Erscheinungen zu sein,
die dadurch zu seinen Eigenschaften oder Accidentien
werden. Oder, wie dies Locke durch ein Gleichnis dar-
stellt, das mehr als ein Scherz sein sollte. Jener arme
indische Philosoph, der die Erde von einem Elefanten
und den Elefanten von einer Schildkröte getragen sein
ließ, wußte, durch die weitere Frage nach dem Träger
der Schildkröte in Verlegenheit gebracht, nur zu er-
widern: irgend etwas, er wisse aber nicht, was es sei.
Ein europäischer Metaphysiker hätte dies ohne verlegen
zu werden und bequemer mit einem einzigen Worte aus-
gedrückt: die Substanz. „Denn eben, wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" — und be-
sonders, wenn es ein gelehrtes Wort ist, ein Wort von
vornehmem Klange, gilt es ohne weiteres für eine echte
Münze und von gediegenem Gehalte. Der allgemeine
Begriff der Substanz ist überall derselbe, mag er auf den
Körper oder auf den Geist angewandt werden. Die
Vorstellung der Substanz des Körpers ist daher um
nichts klarer als die der Substanz des Geistes; beide
sind gleich klar, das heißt gleich dunkel und ebenso
weit von allem, was wir begreifen, entfernt.
8o Dritter Vortrag-,
Und wie die allgemeine Natur der Substanz, ist
auch die spezifische der Substanzen oder der Dinge der
Erfahrung der Erkenntnis entzogen. Gegeben von diesen
Dingen ist nur das erfahrungsgemäße Zusammenbestehen,
die Coexistenz von Teilen und Eigenschaften; das Band,
das die Teile zur Einheit eines Dinges verknüpft, wird
hinzugedacht. Wir nennen Wasser eine Substanz, weil
wir beständig eine gleiche Gruppe sinnlicher Eigen-
schaften vorfinden, oder durch Versuche entdecken: ein
bestimmtes spezifisches Gewicht, flüssigen Aggregat-
zustand innerhalb gewisser Grenzen der Temperatur,
Farblosigkeit, Durchsichtigkeit, größte Dichte bei 4 Grad
des hundertteiligen Thermometers, Verwandlung in einen
festen Körper beim Nullpunkt der Wärmeskala u. s. w.
Alle diese Eigenschaften treten mit einander auf, so daß
es möglich ist, aus der einen die andere zu folgern; wir
bezeichnen daher ihre Gruppe mit einem und demselben
Namen: Wasser. 1 Vergebens aber würden wir die Natur
der Verbindung der Eigenschaften dieser oder irgend
einer anderen körperlichen Substanz über den erfahrungs-
gemäßen Zusammenhang hinaus zu erforschen suchen;
ist doch auch der Zusammenhang der Tätigkeiten unseres
Geistes nur durch innere Wahrnehmung gegeben und
das Wesen der Seele, und wie sie denkt und will, un-
bekannt. So sind unsere Vorstellungen von Substanzen
nichts als Vorstellungen einer bestimmten Verbindung
einfacher Ideen, die wir von den Dingen erlangen und.
welche nur dadurch die Einheit eines Gegenstandes aus-
machen, daß sie mit einander existieren; und diese
Coexistenz selbst wird nicht weiter erkannt, als sie wahr-
genommen wird. Die Substanz ist nicht die Vorstellung
des Wesens eines Dinges, sondern der Beständigkeit eines
Dinges und des Zusammenseins seiner Eigenschaften, die
Die kritische Philosophie. 8 1
Vorstellung der Beständigkeit eines Verhältnisses. Selbst
die Kohäsion der Teile eines Körpers entzieht sich dem
genaueren Verständnis. Zwar sollen wir, wie Locke mit
der Wissenschaft seiner Zeit annimmt, die allgemeinen
Eigenschaften der Körper: Lage, Gestalt, Bewegung, auf
adäquate Weise erkennen, das heißt so, wie sie im
Körper selbst sind; damit ist aber nicht auch schon die
Erkenntnis ihres Zusammenhanges im Körper als Körper
gegeben. Ein Körper nimmt einen bestimmten Raum
ein, und kann in Teile zerlegt, in Einheiten gespalten
werden: in physikalische oder Moleküle, in chemische
oder Atome. Wie aber werden die Teile zusammen-
gehalten, was ist der Kitt, fragt Locke, der sie an-
einander heftet. Antworten wir: der Druck des um-
gebenden Mediums oder Stoffes, so entsteht nur die
neue Frage, was die Teile dieses Mediums zusammen-
drückt, und abermals die Teile des nächsten Mediums
und so immer weiter, ins Unendliche. Durch diese An-
nahme, könnte man meinen, ließe sich die Kohäsion
der Teile erklären; wäre nicht die Ausflucht ins Un-
endliche die Ausflucht zu dem, was wir nicht erfassen,
nicht einheitlich zusammenfassen können. Sprechen wir
aber von anziehenden Kräften zwischen den Molekülen,
so bleiben wir so klug wie zuvor; wir machen es wie
Molieres Gelehrter, der die einschläfernde Wirkung des
Opiums aus der einschläfernden Kraft dieser Substanz
erklären wollte. Wir möchten den Zusammenhang der
Teile erklären, und führen ihn auf anziehende, das heißt
den Zusammenhang bewirkende Kräfte zurück. Zwischen
den mechanischen Eigenschaften der Teile eines Körpers
und der Körper unter sich und ihren Wirkungen ist bis
zu einem gewissen Grade ein Zusammenhang noch er-
kennbar. Daß Lage, Gestalt und Bewegung eines
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 6
32 Dritter Vortrag.
Körpers eine Veränderung in Lage, Gestalt und Be-
wegung eines anderen bewirken, scheint nicht über unser
Verständnis zu gehen. Ursache und Wirkung sind hier
gleicher Art und dies ist auch der Grund, weshalb wir
der Erklärung der Naturvorgänge aus mechanisch wirken-
den Ursachen den Vorzug vor jeder anderen Erklärungs-
art einräumen. Völlig begreiflich ist uns freilich auch
das Wesen des mechanischen Wirkens nicht. „Die Be-
wegung bewegt", wodurch sie aber bewegt, durch Stoß,
Femwirkung, oder aus irgend einer Ursache sonst,
warum sie hier aufhört, dort erscheint, für dieses innere
Prinzip haben wir zwar ein Wort: Mitteilung der Be-
wegung; die Sache selbst ist aber dadurch nicht einge-
sehen. Unsere Hoffnung, das Verständnis der natürlichen
Verknüpfung der Dinge noch weiter auszudehnen, ver-
schwindet jedoch gänzlich, wenn wir von dem Verhältnis
der mechanischen Affektionen unter einander zu ihrem
Verhältnis zu den spezifischen Eigenschaften der Sinnes-
eindrücke, zu Lockes „sekundären Qualitäten" übergehen,
„Unser Geist ist nicht fähig, irgend einen begreiflichen
Zusammenhang zu entdecken zwischen den primären
Qualitäten der körperlichen Dinge und den Empfindungen,
welche durch sie in uns hervorgerufen werden; auf keine
Weise läßt es sich verstehen, wie irgend eine Lage, Ge-
stalt oder Bewegung irgend welcher Partikeln der Materie
in uns die Empfindung einer Farbe, eines Geschmackes,
eines Tons erzeugen kann; es besteht keinerlei Ver-
wandtschaft zwischen jenen mechanischen Vorgängen
und irgend einer dieser Vorstellungen in uns." Diese
Grenze des Naturerkennens hätte Du Bois Reymond
nicht zu entdecken gebraucht; bei Locke konnte er sie
finden. Da wir sonach zwischen den Empfindungen
und den vorauszusetzenden Eigenschaften der äußeren
Die kritische Philosophie. ga
Dinge selbst eine Übereinstimmung, die uns ihr Ver-
hältnis begreiflich machte, nicht aufzufinden vermögen,
werden wir dann zweifeln können, daß die Wechsel-
wirkung zwischen Körper und Geist noch um vieles un-
begreiflicher sein muß. „Wie ein Gedanke den Körper
bewegen soll, liegt dem Vermögen unseres Begreifens
so ferne, wie, daß irgend eine Bewegung des Körpers
im Geiste einen Gedanken erzeugen soll.*' Die Be-
trachtung der Ideen selbst von Körper und Geist würde
uns dies niemals zeigen können, nur die Erfahrung über-
führt uns davon, daß es so ist, meint Locke. — Die
Beseitigung des hier vorliegenden Problems durch Spinoza
war ihm entweder nicht bekannt, oder sie erschien ihm
zu metaphysisch.
In zwei Hauptsätze ist das Ergebnis der Lockeschen
Kritik des Substanzbegrififes zusammenzufassen. Das
Wesen der Substanz als solcher ist unbekannt, denn die
Substanz ist die Annahme von etwas Unbekanntem.
Das Wesen des Zusammenhanges der Eigenschaften in
einer Substanz ist nicht zu verstehen, denn die Er-
fahrung gibt uns nur Zusammenbestehen nicht Ab-
hängigkeit oder notwendige Verknüpfung der Eigen-
schaften zu erkennen. Aber trotz ihrer Unerkennbarkeit
ist die Voraussetzung einer Substanz für die Erfahrung
nicht zu entbehren. Das Problem, das damit gestellt
wird, hat erst Kant gelöst.
Wie für das Zusammensein oder die Coexistenz der
Eigenschaften, fehlt auch für die Aufeinanderfolge der
Wirkungen der Dinge die Einsicht in die Notwendigkeit
der Verknüpfung. Auch das Problem der ursächlichen
Verknüpfung, das Problem Humes, hat bereits Locke
berührt. Die Erfahrung, erklärt er, zeigt in dem ge-
wöhnlichen Verlauf der Dinge zwar Beständigkeit und
84 Dritter Vortrag.
Regelmäßigkeit der Folge; aus den Vorstellungen der
Dinge, die sich folgen, läßt sich aber die Notwendigkeit
der Folge nicht herleiten. Finden wir, daß Dinge, so
weit unsere Beobachtung reicht, beständig einander
folgen, so mögen wir schließen, daß sie nach einem
Gesetze wirken, nach einem Gesetze aber, das wir nicht
kennen.
Ziehen wir die Summe. Ohne einfache Ideen, die
durch die Einlaßpforten der Sinne in den Geist gebracht
werden, keine zusammengesetzten Ideen; ohne Erfahrung
der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der
Ideen keine Erkenntnis. Der Umfang der Erkenntnis
kann also sicher nicht weiter sein, als der Umfang der
Ideen; er muß sogar enger sein als dieser, denn Er-
kenntnis beruht auf Vergleichung und Verbindung der
Ideen. Wo die Übereinstimmung der Ideen nicht un-
mittelbar oder intuitiv zu erkennen ist, muß sie, falls
Erkenntnis möglich sein soU^ mittelbar oder demonstrativ
erkannt Werden. Fehlt es also an vermittelnden Ideen,
so fehlt es an Beweisgründen. Bei der Verknüpfung der
sinnlichen Eigenschaften und der Wirkungen der Dinge
fehlt es aber an vermittelnden Ideen; also, erklärte
Locke, kann die Naturwissenschaft keine demonstrierte
Wissenschaft sein. Sie ist auf beständig erneute Er-
fahrung angewiesen und Sache der Induktion und daraus
zu gewinnender praktischer Beurteilung. Gewißheit und
Beweis darf sie für ihre Gegenstände nicht beanspruchen.
Nicht bloß die Metaphysik, von der sich dies von selbst
versteht, da ihre Objekte, wenn sie existieren, den
Sinnen nicht gegeben sind, auch die Physik ist nach
Locke keine Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes.
Doch enthält diese Behauptung des „Essay" einen
ungeprüften Punkt. Von der einzigen Methode, den Zu-
Die kritische Philosophie. 3 5
sammenhang der Erscheinungen über die Grenzen der
reinen Erfahrung hinaus zu verfolgen, der Methode
Galileis und Newtons, durch mathematische Analyse der
Erscheinungen sichere und gewisse Gesetze der Natur
abzuleiten, hatte Locke, als er den Essay schrieb, keine
ausreichende Kenntnis. Er war zu wenig mit der Mathe-
matik vertraut, um Newtons Werk eher zu verstehen,
als bis ihm dieser einen Auszug daraus angefertigt hatte;
sein „Versuch über den menschlichen Verstand" war
aber lange vollendet, als er so von Newton in die wahre
Methode des Naturerkennens eingeführt wurde. Jetzt
sah er, daß es noch andere Erklärungsgründe der phy-
sischen Vorgänge geben könne, als Stoß und Bewegung
durch Stoß, die einzigen, die er früher bei der „Schwäche
unseres Verstandes" für begreiflich gehalten hatte. Jetzt
erkannte er, daß durch die Anwendung der Mathematik
auf die Naturerscheinungen die Grenzen des Natur-
erkennens doch viel weiter vorgeschoben werden können,
als es der bloßen Empirie für möglich erscheint. Er
wollte den Essay in diesem Punkte verbessern, konnte
aber diese Absicht nicht mehr ausführen.
Ich erwähne dies, um schon hier auf die so viel
tiefere Kritik Kants hinzuweisen, die auf vollständiger
Kenntnis und Durchdringung der Wissenschaft Newtons
aufgebaut ist. — Der Weg aber von Locke zu Kant
führt uns vorerst zu Hume.
VIERTER VORTRAG.
DIE GRUNDLAGEN DER ERKENNTNIS.
Wer von den Grundlagen der Erkenntnis nach dem
gegenwärtigen Stand dieser Frage reden will, findet sich
ganz von selbst den Lehren Hu m es und Kants gegen-
übergestellt. Die Anschauungen der beiden größten
kritischen Denker sind noch nicht geschichtlich geworden,
sie gehören noch nicht der Vergangenheit an, leben viel-
mehr in der Philosophie der Gegenwart fort und be-
stimmen zwei entgegengesetzte Denkrichtungen in der
Wissenschaft unserer Zeit.
In dem Satze Lockes von der Abstammung aller
Erkenntnis aus der Erfahrung sollte der Ursprung aus
Erfahrung den Beweis der Giltigkeit der Erkenntnis be-
deuten. Die Erfahrung erschien hier wie selbstverständ-
lich als die sichere Basis und die echte Beglaubigung
des Wissens, und wer im Sinne Lockes und des Em-
pirismus Erfahrung sagte, glaubte damit auch Wahrheit
gesagt zu haben, nicht anders, als wer im Sinne Des-
cartes von angebornen Begriffen redete. Es bedeutet
daher den wesentlichsten Fortschritt über Locke hinaus
und ist ein Beweis ungemeinen Scharfsinns, daß Hume
in der Erfahrung ein Problem sah, nicht eine Lösung.
Die Erfahrung, wenn darunter mehr verstanden wird,
als die blosen Sinneseindrücke, ist nichts, was sich von
selbst versteht, oder worauf man sich ohne weiteres be-
rufen kann. Auf den Boden der Erfahrungsphilosophie
Die Grundlagen der Erkenntnis. 87
selbst das Problem der Erfahrung gestellt zu haben, ist
das Verdienst Humes und bezeichnet seinen Platz in
der Geschichte der Philosophie. Die Prüfung der Er-
fahrung, soferne für sie der Anspruch erhoben wird,
Erkenntnis zu sein: genau dies ist die Aufgabe Humes;
was ist die Grundlage aller Schlüsse aus Erfahrung, was
also die Grundlage der Erfahrung selber? lautet die
Frage, von der er wußte, daß sie vor ihm Niemand ge-
stellt habe.
Das Problem der Erfahrung kann von zwei Seiten in
Angriff genommen, seine Lösung auf zwei Wegen gesucht
werden. Der eine führt durch die Entwicklungsgeschichte
der Erfahrung; wir suchen die Frage zu beantworten:
wie wir zur Erfahrung gelangen. Offenbar kann dieser
psychologisch-genetische Weg nicht zum Ziele führen;
der Erkenntniswert der Erfahrung läßt sich dadurch nicht
bestimmen. Etwas anderes ist, die Erfahrung beurteilen,
etwaä anderes ihre Entstehung erklären. Auch können
wir ihrer Entstehung nicht nachgehen, ohne zu wissen,
was Erfahrung sei. Unsere Erinnerung reicht zu den An-
fängen unserer Erfahrung nicht zurück; wir müssen daher
den Gang ihrer Entwicklung durch Hypothesen nach-
schaffen, woher anders aber sollten wir diese Hypothesen
nehmen, als aus dem Begriff der Erfahrung selbst.
Es gibt also noch einen zweiten Zugang zu unserem
Probleme; es ist der Weg, den schon Locke angedeutet,
aber erst Hume mit dem vollen Bewußtsein seiner
Richtigkeit betreten hat. Die Untersuchung richtet sich
auf diesem Wege statt auf den Ursprung auf den Ge-
halt der Erfahrung; sie fragt, woraus die Erfahrung be-
steht, nicht wie sie entsteht und ordnet diese zweite
Frage der ersten unter. Sie sucht die Bedingungen der
objektiven Giltigkeit der Begriffe zu ermitteln, und schließt
38; Vierter Vortrag.
erst daraus auf die Abstammung der Begriffe zurück.
Die ganze Kritik der Erfahrung bei Hume nimmt diese
Wendung auf die Erforschung der Bedeutung der Be-
griffe und den Inhalt der Erfahrung. Und Kant ist
hierin Hume gefolgt. Auch bei ihm ist nicht die Rede
davon wie die Erfahrung entstanden sein mag, sondern
allein die Rede von dem, was die Erfahrung enthält.
Gegenstand seiner Untersuchung ist die „Möglichkeit",
das heißt der Begriff der Erfahrung, nicht das Vermögen
zur Erfahrung.
Nun gelangen aber beide Denker zu entgegenge-
setzten Ergebnissen. Muß dies nicht an der Richtigkeit
des Weges, den sie eingeschlagen, zweifelhaft machen?
— Wir bemerken indeß leicht, daß nur in der allge-
meinen Richtung ihre Wege übereinstimmen, der Richtung
auf den Begriff der Erfahrung. Der Ausgangspunkt Kants
liegt viel höher und ist demjenigen Humes überlegen.
Dieser kam ganz anders vorbereitet und mit entschiedenen
Neigungen für Literatur und Geschichte, die ihn zum
hervorragenden Schriftsteller machten, zur Philosophie;
die exakten Wissenschaften kannte er kaum aus eigener
Anschauung und die zu geringe Würdigung ihres ex-
perimentellen Verfahrens ließ ihn die Aktivität des
Geistes überhaupt unterschätzen. Kant dagegen, der
Schüler Newtons, hat sich mit eigenen Forschungen am
Werke der Naturwissenschaft beteiligt; und diese Ver-
schiedenheit in den Ausgangspunkten beider Denker
reicht völlig aus, die Verschiedenheit in ihren Ergeb-
nissen zu erklären. Ich stelle diese Ergebnisse zunächst
in ihrem schroffen Gegensatze einander gegenüber.
Nach Hume beruht die Erfahrung auf Gewohnheit
in Folge der "Anpassung des Ablaufes unserer Vor-
stellungen an den Verlauf der Wahrnehmungen oder
Die Grundlagen der Erkenntnis. gn
Sinneseindrücke; sie ist daher eine Art des Instinktes
oder natürlichen Triebes und ihr Prinzip ein Glaube,
der durch Vernunft nicht zu begründen ist. Nach Kant
beruht die Erfahrung auf Grundsätzen, sie ist daher
keine Sache bloßer Gewöhnung und daraus folgender
Erwartung, sondern Objekt des Verstandes und der Ein-
sicht. Sie ist Erkenntnis, weil ihre Grundlagen oder
Voraussetzungen Erkenntnisprinzipien und Gesetze des
Denkens sind. Die Dinge der Erfahrung, das was wir
die Wirklichkeit nennen, sind nach Hume an sich ge-
trennte und verschiedene Wahrnehmungen, d. i. Kom-
plexe von Sinneseindrücken, die nur durch die Ein-
bildungskraft zu größerer Einheit verbunden werden, als
dies durch die Tatsachen selbst zu rechtfertigen ist.
Auch Kant kennt die Rolle der Einbildungskraft, schon
bei dem Zustandekommen einer Wahrnehmung; er
ordnet sie aber den Gesetzen des Denkens unter, der
Einheit des denkenden Bewußtseins, und darum ist sie
nach ihm keine blinde, sondern eine sehende Funktion«
Das an sich Wirkliche erscheint daher in der Erfahrung
notwendig als Natur, d. i. als gesetzlich geordnetes
Dasein der Dinge, weil schon die Anschauung der Dinge
unter den Gesetzen des Denkens steht.
Um Humes Theorie der Erfahrung zu verstehen,
müssen wir zuvor wissen und feststellen, was in ihr als
Erfahrung bezeichnet wird. Eine unseren Sinnen gegen-
wärtige Wahrnehmung, oder eine in der Erinnerung an-
wesende Vorstellung sind für sich genommen keine Er-
fahrungen; sie werden unmittelbar erfaßt und verbürgen
sich gleichsam selbst durch ihr Dasein und dazu brauchen
wir keine Erfahrung. — Erfahrung ist ein Vorgang in
unserem Geiste, durch welchen wir über die unmittel-
baren Eindrücke der Sinne und Vorstellungen des Ge-
gO Vierter Vortrag.
dächtnisses hinausgeführt werden zu Vorstellungen, die
den Sinnen nicht gegenwärtig sind; sie ist eine Folgerung
auf Tatsachen. Immer dann, und nur dann, wenn wir
von einer dem Bewußtsein gegebenen Wahrnehmung
durch Schlußfolgerung zur Vorstellung einer nicht ge-
gebenen übergehen, haben oder machen wir Erfahrung.
Um aber eine gegenwärtige Wahrnehmung mit einer
abwesenden zu verbinden, und diese aus jener zu folgern,
bedürfen wir eines Bandes, das beide verknüpft, eines
Prinzipes, das unsere Folgerung vermittelt. Dieses
Prinzip nun ist in allen Fällen eines Schlusses auf Tat-
sachen ein und dasselbe: die Annahme eines ursächlichen
Zusammenhanges zwischen dem Gegebenen und dem
Gefolgerten, oder das Prinzip der Kausalität. Die
Erfahrung prüfen heißt mithin die Kausalität prüfen: das
Prinzip aller unserer Erfahrungen oder Folgerungen auf
Tatsachen. Aus diesem Grunde steht die Prüfung des
Verhältnisses von Ursache und Wirkung im Mittelpunkt
der Hume'schen Kritik der Erfahrung.
Wir wollen zunächst an Beispielen zeigen, daß die
Beziehung von Ursache und Wirkung in der Tat, wie
Hume lehrt, der allgemeine Leitfaden ist, der uns über
einen wahrgenommenen Tatbestand hinausführt zu dem,
welcher ihm voranging, oder dem, der ihm folgt, daß also
alle unsere Erfahrungsschlüsse kausale Schlüsse sind. Wir
finden eine menschliche Spur, etwa den Abdruck eines
Fußes in dem Sande einer einsamen Insel, sogleich ver-
gegenwärtigt sich unserem Geiste die Vorstellung von
der früheren Anwesenheit eines Menschen, aus keinem
anderen Grunde, als weil wir den gegenwärtigen Ein-
druck als Wirkung aufTassen und auf ihre vergangene
Ursache schließen. Selbst das Verhältnis der Ähnlich-
keit schließt, wenn es nicht unmittelbar durch Ver-
Die Grundlagen der Erkenntnis. gi
gleichung gegenwärtiger Wahrnehmungen erfaßt, sondern
gefolgert wird, das der Ursächlichkeit ein. Ein Porträt
erinnert uns durch seine Ähnlichkeit an einen abwesenden
Freund; gewiß hängt hier die Vorstellung der Ähnlich-
keit von der Vorstellung ihrer Verursachung, der Por-
trätierung des Freundes, ab. Und so läßt sich überhaupt
zeigen, daß unser Denken nur vermittelst der Beziehung
von Ursache und Wirkung über das unmittelbare Zeug-
nis der Sinne hinausgelangt; diese Beziehung verknüpft
die Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft zur
Einheit der Erfahrung.
Aber diese Beziehung selbst! Woher stammt sie?
Ist sie durch Erfahrung gegeben oder durch Denken zu
begründen? Die Wirkung, so glauben wir, folgt nicht
bloß auf ihre Ursache, sie ist abhängig von ihr, mit ihr
notwendig verknüpft. Kausale Folge ist notwendige
Folge; ist diese Notwendigkeit zu beweisen?
Wir wollen den Sinn dieser Fragen uns erst an
einem einzelnen Falle anschaulich machen. — Wir ver-
setzen durch die Bewegung unseres Arms einen Hammer
in Schwung und lassen ihn auf den Amboß fallen, die
Bewegung hört auf und wir vernehmen einen Ton. Die
Momente dieses Vorganges erscheinen uns untereinander
ursächlich verknüpft; wir erklären den Willen als die
Ursache der Bewegung des Arms und des Hammers
und glauben den Aufwand der Muskelkraft zur Hervor-
bringung der Bewegung zu fühlen, desgleichen be-
zeichnen wir das Auffallen des Hammers, genauer die
dadurch erzeugten vibrierenden Bewegungen als Ursache
der Tonempfindung. Es scheint uns ganz unzweifelhaft,
ja selbstverständlich zu sein, daß jeder frühere Teil des
Vorganges den nächstfolgenden hervorgebracht habe.
Was ist hier durch die Tatsachen selbst gegeben, was
Q2 Vierter Vortrag.
in sie hineingelegt, hinzugedacht? Wir haben gewiß
nicht wahrgenommen, wie oder wodurch der Wille den
Arm bewegt, oder wodurch es geschieht, daß sich eine
einheitliche Massenbewegung, wie die des Hammers, in
schwingende Bewegungen der Teile zerplittert, geschweige
wie aus diesen Bewegungen die Empfindung des Tones
hervorgeht. Die Wissenschaft mag die Wahrnehmung
durch Beobachtung ergänzen, die Armbewegung in ihre
einzelnen Momente (Innervation und Formveränderung
des Muskels, Mitziehen des Gliedes durch die an den
Muskel gehefteten Bänder) zerlegen und außer Ton-
schwingungen auch Wärme infolge des Auffallens des
Hammers nachweisen: das Wie des Vorganges, seine
in die Sinne fallende Erscheinung, wird uns dadurch ge-
nauer bekannt, dem Warum desselben kommen wir
nicht näher. Auch nicht durch Hypothesen über mole-
kulare Bewegungen. Durch solche Hypothesen könnte
der Vorgang immer nur genauer beschrieben werden,
gleichsam für schärfere Sinne als die unseren; eine Er-
klärung wäre auch damit nicht gegeben. Aber trotz
dieser Unkenntnis des Wesens der Verursachung fahren
wir ohne Bedenken fort, Verursachung zu behaupten.
Den Grund dieser Behauptung wollen wir wissen; ist
sie grundlos, wie kommen wir dann dazu? Stützt sie
sich auf unsere bisherige Erfahrung, wie soll dann die
Zuversicht und Gewißheit erklärt werden, mit der wir sie
auf die künftige anwenden? Es sind die Fragen Humes,
auf die uns die Analyse unseres Beispiels geführt hat.
Es ist das Eigentümliche des Verfahrens Humes bei
der Lösung dieser Fragen, daß er die Kausalität, die
Grundlage der Erkenntnis aus Erfahrung, an der reinen
Erfahrung prüft, nachdem er sich zuvor überzeugt hatte,
daß ihre Annahme durch Vernunft nicht zu beweisen
Die Grundlagen der Erkenntnis. gj
ist. Sein erster Satz ist daher ein negativer: die not-
wendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist in
keinem einzigen Falle aus bloßen Begriffen, oder wie
schon Hume es ausdrückt: a priori zu erkennen. Ur-
sache und Wirkung sind verschieden, zum mindesten
zeitlich verschieden; also sind ihre Vorstellungen trenn-
bar, oder, was dasselbe ist, nicht notwendig verbunden,
also enthält die Vorstellung, daß Ursache und Wirkung
selbst getrennt existieren könnten, keinen Widerspruch.
Es ist aber das Kennzeichen aller rein begrifflichen
Wahrheiten, der Wahrheiten a priori, daß ihr Gegenteil
unvorstellbar ist. Die Verknüpfung irgend einer Ursache
mit ihrer Wirkung ist nicht a priori zu erkennen, weil
die NichtVerknüpfung vorstellbar ist. Die Vorstellung,
daß, populär geredet, morgen die Sonne nicht mehr
aufgehen werde, enthält keinen Widerspruch, wie un-
wahrscheinlich, weil aller bisherigen Erfahrung wider-
streitend, sie auch erscheinen mag. Muß ein elastischer
Ball, der mit centralem Stoße auf einen zweiten gleich
großen und elastischen trifft, diesem seine ganze Be-
wegung mitteilen; sehen wir die Notwendigkeit davon
durch bloße Betrachtung der Erscheinung ein? Könnte
nicht der Ball bei der Berührung zurück- oder seitlich
ausweichen, oder über den zweiten Ball hinwegsetzen?
In allen Fällen, wo wir nicht aus früherer Erfahrung
wissen, was unter bestimmten Umständen geschieht,
müssen wir abwarten, was geschehen wird. Aus bloßer
Vernunft läßt sich nicht beweisen, „daß, wenn etwas
gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes notwendig ge-
setzt werden müsse", formuliert Kant den Satz Humes.
Die notwendige Verbindung verschiedener Begriffe ist
nicht aus Begriffen zu erkennen; sie ist keine Erkenntnis
aus reiner Vernunft.
Q4 Vierter Vortrag.
Also, weil nicht aus Vernunft, so aus Erfahrung,
da es ein Drittes nicht gibt, folgert der Empirismus.
Locke hielt es für tatsächlich, daß wir die ,.Kraft" in
der Ursache, das Vermögen der Ursache zu wirken,
beobachten, und dies entspricht auch völlig unserer ge-
wohntesten Überzeugung. — Zu sehen, was, weil es zu
nahe liegt, von allen übersehen wird, ist nur einem vor-
urteilsfreien und subtilen Geiste gegeben. Hume zwingt
uns, den gemeinen Glauben an die Wahrnehmung von
Kraft, Hervorbringung, Erzeugung, den Glauben an die
Wahrnehmung des Umstandes, wodurch eine Ursache
wirkt, fahren zu lassen. Er zeigte unwidersprechlich,
daß es für den vermeintlichen Begriff, den wir mit diesen
oder ähnlichen Worten bezeichnen, an einer „Impression"
oder, was für ihn dasselbe bedeutete, an einem Objekte
fehle, und in diesem Nachweis liegt das größte und
bleibende Verdienst seiner Kausalitätstheorie. Hier er-
weist er sich, ich wiederhole es, als Kritiker der Er-
fahrung durch die reine Erfahrung. Auch nachdem
die Erfahrung uns gezeigt hat, welche Wirkung auf eine
bestimmte Ursache folgt, läßt sie uns in völliger Un-
wissenheit über die „Kraft", oder das innere Prinzip,
durch welches die Ursache ihre Wirkung herbeiführt.
Dies Prinzip bleibt uns in allen möglichen Fällen, allen
Arten ursächlicher Verbindung, verborgen. „Gesicht
und Gefühl liefern uns eine Vorstellung von der tat-
sächlichen Bewegung der Körper, von der wunder-
baren Kraft oder Macht aber, die einen in Bewegung
begriffenen Körper in beständiger Veränderung des Orts
erhält und die er nur verliert, um sie an andere Körper
mitzuteilen, können wir uns nicht den entferntesten Be-
griff bilden." Wir verstehen nicht, wodurch Bewegung
bewegt. Wir verstehen auch nicht, wodurch der Wille
Die Grundlagen der Erkenntnis. nC
bewegt; ist uns doch selbst der Einfluß, den er auf den
Verlauf unserer Vorstellungen ausübt, seiner inneren
Natur nach unerkennbar. Gewiß ist es die Erfahrung
der willkürlichen Bewegung unserer Glieder, von der
ursprünglich der Begrifif der Kraft ausgegangen ist, und
nicht erst in der Philosophie Schopenhauers, schon in
der Philosophie des Fetisch- Gläubigen ist alle Kraft
„willensartig". Innere und äußere Erfahrung erscheinen
hier durch ein Prinzip verknüpft, das wir, wenn irgend
eines, unmittelbar zu erfassen meinen; hier scheinen wir
die Kausalität an ihrem Werke zu sehen, die „Kausalität
von innen" zu sehen, gleichviel, ob wir mit Schopen-
hauer die Bewegung als Erscheinung des Willensaktes
oder nach der populären Meinung als dessen Wirkung
betrachten. Auch die Sonne scheint vor unseren Augen
auf- und unterzugehen, und wir wissen doch, daß sie im
Verhältnis zur Erde ruht. Wir wissen so wenig, wie
der Wille den Arm oder einen Finger der Hand bewegt,
daß wir nicht einmal sehen, was er bewegt; denn nicht
mehr als die Ursache der Veränderung der Innervation
des Muskels und der Richtung der Bewegung könnte er
sein. Und wenn wir auch nicht zweifeln können, daß
der Wille Einfluß auf den Verlauf und die Ordnung
unserer Gedanken nimmt, so verhält er sich auch hier
nur als auslösende Bedingung; der Gang der Gedanken
im einzelnen bleibt dabei dem „Mechanismus" der Vor-
stellungen überlassen. Auch kommen die Gedanken,
oder bleiben aus , sehr häufig wider unseren Willen.
Sie kommen nicht, wenn wir wollen, sondern, wenn sie
wollen und nicht wir geben den Gedanken Audienz,
die Gedanken geben uns Audienz.
Die Induktion Humes ist vollständig und ein Zweifel
an der Richtigkeit ihres Ergebnisses nicht möglich.
96
vierter Vortrae.
Weder der Zusammenhang physischer Ursachen mit
ihren physischen Wirkungen, noch der Zusammenhang
einer psychischen Ursache mit ihrer tatsächlichen oder
scheinbaren physischen Wirkung und umgekehrt, noch
endlich das innere Band, das physische Ursachen mit
psychischen Wirkungen verknüpft, ist in seiner Notwendig-
keit zu begreifen. Wir haben also schlechterdings keinen
positiven oder inhaltlichen Begriff von „Kraft"; dieser
Punkt ist durch Hume ein für alle Male erledigt.
Was die Erfahrung wirklich lehrt, ist die beständige
Verbindung gleicher Dinge. Auf gleiche vorangehende
Erscheinungen sehen wir beständig Folgeerscheinungen
eintreten, die den früheren gleich sind, und diese Be-
ständigkeit ist nach Hume der einzige Umstand, der
auf der Seite der Objekte ursächliche Folge von bloßer
Folge unterscheidet. Aber, nur so weit als sie selber
reicht, kann Erfahrung diese Gleichförmigkeit in der
Natur beweisen, also immer nur bis zum gegenwärtigen
Augenblick; für die vergangene Erfahrung mögen wir sie
zugeben, für die künftige müssen wir sie voraussetzen.
Und wir tun dies auch jeder Zeit ohne Zögern oder
Bedenken. Weil ein bestimmtes Objekt bisher beständig
diese oder jene Wirkungen mit sich brachte, so werde,
behaupten wir, auch jedes ihm gleiche Objekt immer
wieder mit eben solchen Wirkungen verbunden sein.
Beide Sätze sagen offenbar verschiedenes aus ; der zweite
ist in dem ersten nicht enthalten, er wird aus ihm ge-
folgert. Wie aber ist diese Folgerung zu begründen? —
ist sie zu begründen? An einen Beweis aus reiner
Vernunft ist von vornherein nicht zu denken. Was in
einem erstmaligen Falle unverständlich ist: die Not-
wendigkeit in der Verbindung verschiedener Dinge kann
durch die Wiederholung noch so vieler Fälle der gleichen
Die Grundlagen der Erkenntnis. 07
Art um nichts verständlicher werden; die Vernunft
schließt aus einem Fall auf alle, oder es ist nicht die
Vernunft, welche schließt. Ebenso wenig läßt sich der
Satz: die Natur müsse gleichförmig bleiben, weil sie
gleichförmig war, durch Erfahrung beweisen; jeder Ver-
such, ihn auf diesem Wege beweisen zu wollen, müßte
sich im Zirkel bewegen. „Kein Beweisgrund, der aus
der Erfahrung stammte, kann die Gleichheit des Künftigen
mit dem Vergangenen beweisen; denn alle Beweise
aus Erfahrung stützen sich auf die Annahme
dieser Gleichheit." Das heißt: die Erfahrung hängt
von dem allgemeinen Kausalsatze ab, nicht dieser Satz
von der Erfahrung. — Wir müssen uns hier immer gegen-
wärtig halten, daß Erfahrung bei Hume nicht bloße
Wahrnehmung, oder reine Erfahrung bedeutet, sondern
Erweiterung der Wahrnehmung durch Folgerung auf eine
mit ihr verknüpfte, aber nicht wahrgenommene Tat-
sache; das Prinzip dieser Folgerung und eben damit
der .„Erfahrung" ist die Kausalität.
Auch Hume betrachtete somit die Kausalität als
Grundlage der Erfahrung, und einen Beweis der All-
gemeinheit dieses Prinzipes durch Erfahrung oder In-
duktion hielt auch er für ausgeschlossen. Mit diesen
Gedanken greift er bereits der Anschauung Kants vor,
wenn auch ihre weitere Entwicklung bei ihm ganz anders
gerichtet ist. In gewissem Sinne nämlich gründet er das
Prinzip doch auf die vergangene Erfahrung, — nicht
um es aus ihr, was er selbst als unmöglich und wider-
sprechend gezeigt hatte, als Folgesatz abzuleiten, sondern,
indem er sich auf eine mit ihr verbundene Tatsache der
inneren Erfahrung beruft, die den Mangel eines eigent-
lichen Beweises des Prinzipes ersetzen soll. Durch die
beständige Wiederholung gleicher Fälle hat sich zwar in
Riehl, Philosophie der Gegenwart, 7
q8 Vierter Vortrag.
den Objekten nichts geändert, was zur intimeren Er-
kenntnis ihrer Verknüpfung beitragen könnte, aber im
Subjekte und in seiner Auffassung hat sich etwas ge-
ändert. Die Wiederholung hatte eine Gewöhnung, eine
Anpassung des Verlaufs unserer Gedanken an den Ver-
lauf der Dinge zur Folge. An die Stelle der fehlenden
Einsicht in den Grund einer ursächlichen Verbindung
tritt die Gewohnheit, an die Stelle der objektiven Not-
wendigkeit, welche unerkannt bleibt, die subjektive eines
Vorstellungstriebes. Wie Gewohnheit entsteht, wissen
wir nicht und ihre letzte Ursache brauchen wir nicht
zu kennen; daß sie infolge der Wiederholung entsteht,
erfahren wir. Und ebenso erfahren wir auch ihre
Wirkungen. Von ihr rührt die Neigung, die Leichtigkeit
her, mit der wir von einer Wahrnehmung sogleich zur
Vorstellung, es sei der Ursache oder der Wirkung, über-
gehen; aus ihr ist der „Glaube" an die Tatsächlichkeit
der gefolgerten Ursache oder Wirkung herzuleiten. Denn
etwas von der Eindrucksstärke, Lebendigkeit und Festig-
keit, mit der wir die Wirklichkeit einer Wahrnehmung
erleben, muß sich von dieser auf die durch Gewohnheit
mit ihr verknüpfte Vorstellung übertragen. Endlich werden
wir den Zwang oder die Notwendigkeit, die durch Ge-
wohnheit entsteht, fühlen, so oft wir das Gegenteil einer
gewohnten Verbindung unserer Vorstellungen zu denken
versuchen; das Gegenteil einer solchen Verbindung er-
scheint uns dann als unvorstellbar oder unmöglich, ob-
gleich seine Vorstellung keinerlei Widerspruch in sich
einschließt.
Unser Begriff von Notwendigkeit und Verursachung
entspringt demnach lediglich aus der wahrgenommenen
Gleichförmigkeit in der Natur, wodurch der Verstand
durch Gewohnheit bestimmt wird, von dem einen Dinge auf
Die Grundlagen der Erkenntnis. qq
das andere zu schließen. Außer der beständigen Ver-
bindung gleicher Dinge und der Folgerung des einen
aus dem andern haben wir keinen Begriff von Notwendig-
keit und Verknüpfung. Die Verschiedenheit der Ursache
und Wirkung, die Beständigkeit ihrer Folge und die sich
daran knüpfende Gewohnheit des Geistes, von der einen
zu der anderen überzugehen, diese drei Punkte machen
das Wesentliche in der Kausalitäts-Theorie Humes aus.
— Und so beruht nach dieser Theorie alle Natur-
erkenntnis im letzten Grunde auf einer unbeweisbaren
und niemals von vorne herein sicheren Annahme, da
das Prinzip der Erfahrung selbst kein Grundsatz des Er-
kennens ist, sondern die Folge einer bloßen Ideen-
association durch Gewohnheit?
Es war nicht die Absicht Humes, die Schlüsse aus
Erfahrung und somit die Erkenntnis von Tatsachen da-
durch unsicher oder zweifelhaft erscheinen zu lassen,
daß er sie auf die Gewohnheit zurückführte, nachdem
er Vernunftgründe für sie nicht auffinden konnte. „Ist
der Geist nicht durch einen Grund bestimmt, diese
Folgerung (auf Tatsachen) zu ziehen, so muß er dazu
durch ein Prinzip von gleichem Gewicht und gleicher
Autorität bestimmt sein." „Die Natur hat uns mit einer
absoluten, durch keinen Zweifel zu beirrenden Not-
wendigkeit ebenso zum Urteilen bestimmt, wie zum
Atmen und Empfinden." Es war dies für sie, mensch-
lich zu reden, eine zu wichtige Sache, denn die Er-
haltung unserer Existenz hängt davon ab, um sie der
Vernunft und ihren weitläufigen und trügerischen Argu-
menten zu überlassen, die dafür auch immer zu spät
kommen würden; sie benützte dazu die mechanische
Tendenz eines Instinktes. Die Gewohnheit, diese zweite
Natur, wirkt mit der Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit
7*
100 Vierter Vortrag.
eines Instinktes oder natürlichen Triebes, ja man kann
sie selbst als einen erworbenen Instinkt bezeichnen. Die
Erfahrungsschlüsse auf die Gewohnheit gründen heißt
daher im Sinne Humes, sie sicherer begründen, als es
durch die Vernunft geschehen könnte. Die Folgerungen
aus Vernunft und die Folgerungen aus Erfahrung sind
zwar nach Wesen und Ursprung verschieden, aber ihre
Gewißheit ist die gleiche, sie ist nur von anderer Art.
Durch eine Folgerung der ersten Art wird eine Be-
ziehung von Ideen auf Grund der Übereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung ihres Inhaltes erkannt; bei
einer Folgerung der zweiten wird eine Tatsache mit
einer Idee verknüpft und die Existenz oder Wirklichkeit
des Objektes der Idee erschlossen ohne das Dazwischen-
treten eines Grundes und allein durch die Wirksamkeit
eines natürlichen Prinzipes. Die Prinzipien der Wirklich-
keit und des Lebens sind früher als alle Grundsätze der
Vernunft, sie sind da und wirken, noch ehe diese ihr
Werk beginnt; und unsere Verwunderung darüber, daß
die Erkenntnis von Tatsachen und Existenz auf einen
Instinkt, wie die Gewohnheit, gegründet sein soll, wird
aufhören, wenn wir bemerken, daß die Vernunft selbst
auf einem Instinkte beruht. Unsere natürlichen Über-
zeugungen, die uns bei der Erkenntnis der Dinge leiten»
sind eine Wirkung mehr des sinnlichen als des ver-
nünftigen Teiles unserer Natur, erklärt Hume; sie gehen
allen Reflexionen voran und sind daher durch Gründe
der Vernunft weder zu beweisen, noch zu widerlegen.
Dies gilt vor allem von der ursprünglichsten unter ihnen,
dem Glauben an die Existenz von Dingen außer uns.
,,Wir können wohl fragen: welche Gründe bestimmen
uns, an das Dasein von Dingen zu glauben; vergebens
aber würden wir fragen: existieren Dinge oder nicht?
Die Grundlagen der Erkenntnis. lOl
Dies ist ein Punkt, den wir bei allen unseren Er-
wägungen und Zweifeln für ausgemacht nehmen müssen."
Die Natur hat die Kraft aller skeptischen Argumente
dagegen schon gebrochen, noch ehe sie Einfluß ge-
winnen können. Ist die Realität der Erkenntnis logisch
nicht zu begründen, so ist sie dafür bereits biologisch
gegründet. Eine der möglichen Formen das Erkenntnis-
problem zu lösen, hat Hume damit entdeckt und in ihre
Konsequenzen entwickelt; Hume ist der erste, der eine
biologische Erkenntnistheorie begründet hat, indem
er noch hinter die Vernunft zurückgreift auf etwas, woraus
diese selbst entsteht, wovon sie selbst getragen wird. —
Eine in letzter Zeit öfters genannte „Kritik der reinen
Erfahrung'* hat diese Anschauungen Humes in origineller
Weise erneuert.
Was uns abhält, ihnen zuzustimmen, ist nicht bloß
der Dualismus zwischen Wirklichkeit und Vernunft, der
hier noch bestehen bleibt, sondern ein allgemeinerer
Grund. Die Gewißheit, die natürlichen Prinzipien der
Erfahrung aufgefunden zu haben, kann nie größer sein,
als die Gewißheit der Erfahrung selbst, denn wir
brauchen Erfahrung, um jene Prinzipien zu entdecken.
Man wird gegen Humes Kausalitätslehre sagen, und
ich habe es bereits gesagt, sie lasse unseren Geist weit
passiver erscheinen, als er in Wirklichkeit ist, und unter-
schätze den Anteil seiner Tätigkeit bei der Erzeugung
von Erfahrung. Wir suchen Ursachen in der Natur,
weil wir selbst Ursachen in ihr sind, wenn wir auch
nicht wissen, wie; wir erwarten Wirkungen, weil wir
selbst Wirkungen herbeiführen, erkennen wir auch nicht
wodurch. Die Praxis der wissenschaftlichen Forschung bei
ihrem experimentellen Verfahren wartet nicht erst ab, ob
sich in der Natur gleiche Ursachen wiederholen, gleiche
102 Vierter Vortrag.
Wirkungen wieder eintreten werden; sie macht die Ur-
sachen gleich und führt gleiche Wirkungen herbei. Sie
antecipiert die Natur durch den Geist und prüft an der
Erfahrung, die sie selbst hervorruft, die Giltigkeit dessen,
was sie für sie vorausgesetzt und berechnet hat. Die
Vorstellung ungefährer Gleichförmigkeit, wie sie die
Tatsachen in der Wahrnehmung allein zu erkennen
geben, wird dadurch zu dem Begriffe strenger, quantitativ
bestimmter Gesetzlichkeit gesteigert. Auch zeigt schon
die tatsächliche Verknüpfung mehr und wichtigeres, als
Hume sie zeigen läßt. Überall, wo Ursachen und
Wirkungen meßbare Objekte sind, auf dem gesamten
Gebiete der äußeren Naturvorgänge also, findet Über-
einstimmung der Größe der Ursache mit der Größe der
Wirkung statt. Hume hat diese Tatsache berührt, da
aber der Wissenschaft seiner Zeit ihre Allgemeinheit
noch nicht bekannt war, vermochte er nicht, ihre
prinzipielle Bedeutung zu erkennen. Die Gewöhnung
an den Verlauf der Dinge mag erklären, warum wir in
einem gegebenen Falle gerade diese bestimmte Ursache
voraussetzen, oder diese bestimmte Wirkung erwarten;
erklärt sie aber auch die allgemeine Voraussetzung einer
Ursache für alles was geschieht? Ist diese Voraus-
setzung wirklich nur die Verallgemeinerung der Gewohn-
heit („general habit"), kein Prinzip, das einem be-
sonderen Gedanken Ausdruck gibt? Warum wenden
wir auf eine tatsächliche Folge gerade den Begriff des
Grundes der Folge an, und nicht den der Ähnlichkeit
der Folge, oder einfacher noch den der bloßen Wieder-
holung? Wir sagen nicht: so oft eine Ursache A ge-
gegeben wird, folgt die Wirkung B, wir sagen: weil A
ist, folgt B; nach Hume bliebe das völlig willkürlich.
Richten sich diese Bemerkungen mehr gegen Kon-
Die Grundlagen der Erkenntnis. 103
Sequenzen der Humeschen Lehre, so hat sich die folgende
Betrachtung gegen ihre Grundlagen selbst zu wenden.
Hume setzt überall voraus, daß Sinneseindrücke
oder „Impressionen" in ihrer gegebenen Mannigfaltigkeit,
z. B. diese oder jene bestimmte Verteilung farbiger
Punkte im Räume, an sich selbst Objekte sind, die
Folge unserer Impressionen und Wahrnehmungen mithin
die Folge der Objekte selbst. Darum läßt er den
objektiven Teil des Kausalitätsgesetzes mit der Folge
der Sinneseindrücke zusammenfallen. — Sind Impressionen
Objekte? Gegeben werden sie uns als Änderungen des
Zustandes unserer Sinnesnerven und wir erleben diese
Änderungen als Empfindungen; aber wir fassen sie
niemals so auf, wie sie uns gegeben werden und erst
durch Reflexion müssen wir uns überzeugen, daß sie an
sich nichts als Modifikationen der Erregung und Tätig-
keit unserer Sinne sein können. Es muß also zu den
Impressionen eine ursprüngliche Art ihrer Auffassung,
ihrer Beurteilung hinzukommen, damit es möglich wird,
sie, oder richtiger durch sie die Objekte vorzustellen.
Impressionen für sich genommen sind nicht einmal An-
schauungen. Zu Anschauungen werden sie erst dadurch,
daß sie Raum und Zeit bestimmen, als Teile von Raum
und Zeit erscheinen. Was immer nun Raum und Zeit
sein mögen, so sind sie doch jedenfalls zu dieser Be-
stimmung vorausgesetzt. Wie also werden aus
Impressionen Anschauungen, wie aus Anschau-
ungen Objekte? Denn auch Anschauungen sind an
sich nicht Objekte, sie werden auf Objekte bezogen.
Nennen wir die Anschauungen selbst Objekte, so sind
es Objekte nur für unser individuelles Bewußtsein und wir
können diese von den Objekten für ein Bewußtsein über-
haupt, für ein Gemeinschaftsbewußtsein unterscheiden.
104 Vierter Vortrag.
Der Tisch, den ich wahrnehme, ist derselbe Tisch, den
andere wahrnehmen können, er ist das gemeinschaftliche
Objekt unserer Wahrnehmungen.
Sinneseindrücke mögen sich noch so oft in gleicher
Weise wiederholen, die Verbindungen, in denen sie ge-
geben werden, noch so regelmässig wiederkehren, sie
allein könnten uns niemals aus dem Banne unserer
Subjektivität, über den Kreis unseres individuellen Be-
wußtseins hinausführen; denn sie sind selbst subjektiv
und individuell. Und mögen sie auch durch den Zwang,
mit dem sie auftreten, die Ixbhaftigkeit und Stärke, wo-
mit sie uns affizieren, noch so deutlich von bloßen Vor-
stellungen, ihren Nachwirkungen und Kopien, sich unter-
scheiden, — ein Zwang, den wir fühlen, ist noch keine
Erkenntnis eines bestimmten, um so weniger die Er-
kenntnis eines uns und anderen Sinnenwesen gemein-
schaftlichen Objektes. Um zur Vorstellung, zum Begriffe
eines solchen Objektes zu gelangen, müssen wir die
Sinneseindrücke benutzen, sie in Beziehung zu etwas
setzen, wovon sie ausgehen und das, wie es von unserer
Wahrnehmung unabhängig ist, auch von der Wahr-
nehmung anderer unabhängig sein muß. Dazu aber
reicht nicht, wie Hume meinte, die bloße Wahrnehmung
und ihre Unterscheidung von einer Vorstellung aus.
„Es geht ein Urteil voraus, ehe aus Wahr-
nehmung Erfahrung werden kann." Mit diesem
Satz geht Kant über Hume hinaus.
Erfahrung ist beurteilte, verstandene Wahrnehmung;
sie ist das Produkt des Denkens in die Anschauung, die
Einheit von Anschauung und Begriff, also nichts Einfaches,
das schon durch die bloße Wahrnehmung gegeben sein
könnte. Das Denken ist eine Bedingung der Erfahrung,
Erfahrung nicht ohne Denken möglich. — Wir sagen:
Die Grundlagen der Erkenntnis. IOC
der Stein ist hart, das Wachs ist weich; das heißt wir
machen einen Teil des Inhaltes unserer Wahrnehmung
zum Prädikate der übrigen, durch eben diesen Akt des
Prädicierens einheitlich verbundenen Teile und dadurch
erkennen wir etwas vom Gegenstande. Alle Wahr-
nehmung steht als Erfahrung unter Regeln oder Formen
der Beurteilung. Ein Bewußtsein, das auf Sinnesein-
drücke und deren Perception beschränkt wäre, (und
wir brauchen nicht zu glauben, daß das tierische Be-
wußtsein sich viel über diese Lage erhebe,) könnte den
Übergang von seiner Wahrnehmung zur Vorstellung
eines von der Wahrnehmung verschiedenen und unab-
hängigen Gegenstandes nicht vollziehen. Es bliebe in
seine Wahrnehmungen, als rein individuelle Erlebnisse,
eingeschlossen. Zwar vermöchte sich der Träger dieses
Bewußtseins den seinen Sinnen gegebenen Eindrücken
und damit dem objektiven Gang der Dinge anzupassen;
er würde dadurch im Laufe seines inviduellen Lebens
klüger werden, wie wir dies ja an alten Tieren im
Vergleich mit jungen beobachten können; es fehlte
ihm aber an der Möglichkeit über diese gleichsam
praktische Erfahrung zu einer theoretischen hinauszu-
gehen, denn es fehlte ihm dazu unserer Annahme nach
das Vermögen des eigentlichen, reflexiven Denkens, der
Quelle der AUgemeingiltigkeit und des einzigen Leit-
fadens, der über das individuelle Bewußtsein und dessen
Schranken hinaus zur Erkenntnis von Objekten der
Wahrnehmung fuhrt.
Abermals finden wir uns einer Aufgabe gegenüber,
die sich anscheinend auf doppeltem Wege lösen läßt.
Wir sollen die Bedingungen ermitteln, unter welchen
Empfindungen zu Anschauungen, Anschauungen zu
Vorstellungen von Objekten werden, und der nächste
I06 Vierter Vortrag.
Weg -dazu scheint der empirische der psychologischen
Beobachtung zu sein. Genügt es nicht, die einzelnen
Schritte und Stadien zu beschreiben, die ein Individuum
zurücklegen muß, um von seinen Empfindungen aus zur
Erfahrung zu gelangen? Erfahrungen sind doch unserem
Geiste nicht angeboren, sie müssen erworben und ent-
wickelt werden. Wir sind überzeugt, daß kein Kind
gleich bei der Geburt Erfahrungen mit in die Welt
bringt. Wir sehen ja, wie es seine Sinneseindrücke
zu verwerten, sie zu vergleichen, und zu kombinieren
beginnt und allmählich lernt, durch willkürliche Ver-
änderungen in der Umgebungswelt, ein Ding von neuen
Seiten zu betrachten. Wir sehen in dem zunehmenden
Intelligent werden seines Blickes, der immer größer
werdenden Zweckmäßigkeit seiner Bewegungen das
Wachsen seines Objekt-Bewußtseins und gleichen Schrittes
damit die Steigerung des Bewußtseins seiner Selbst sich
gleichsam spiegeln. Aber das Verständnis dieser Tat-
sachen hängt von Gesichtspunkten ab, die allein aus
dem Begriff der Erfahrung, der also dafür vorausgesetzt
ist, zu gewinnen sind. Die Psychologie kann ihr Vor-
haben, die Erfahrung zu erklären nur unter beständiger
Kontrolle durch eine Theorie der Erfahrung ausfuhren.
Und gesetzt, ihr Ziel wäre erreicht und die Entwicklung
der Erfahrung dargelegt, so stünden wir noch erst vor
der entscheidenden Frage: der kritischen Frage nach
der objektiven Notwendigkeit unserer Erkenntnisse. Die
Organisation unseres Geistes wäre wohl aufgedeckt, das
Spiel seiner Kräfte gezeigt und der Anteil des Subjektes
an der Erwerbung von Erfahrung bestimmt. Wir hätten
die subjektive Notwendigkeit kennen gelernt, unsere
Vorstellungen auf gewisse Art zu verknüpfen, ein Beweis
für die objektive Giltigkeit der Verknüpfung aber wäre
Die Grundlagen der Erkenntnis. 107
damit nicht erbracht. Im Gegenteil: wir würden z. B.
„nicht sagen können, die Wirkung ist mit der Ursache im
Objekte, d. i. notwendig verknüpft, sondern: ich bin nur
so eingerichtet, daß ich diese Vorstellungen nicht anders
verknüpfen kann". Wenn dies ein Grund der Wahrheit
unserer Vorstellungen, ihrer Übereinstimmung mit den
Objekten sein soll, so müßte „unser Unvermögen, uns
eine Sache auf eine andere Art fasslich zu machen",
eine Quelle der Einsicht sein.
Die Kritik und Theorie der Erkenntnis hat den
Beweis der objektiven Giltigkeit unserer Erkenntnisse
ungeachtet ihres subjektiven Ursprungs zu ihrem
Gegenstande, und dazu würde uns auch die vollständige
Kenntnis ihrer Entstehung nicht helfen können. Nicht
dies ist die Entdeckung Kants, daß es in unserer Er-
kenntnis Elemente a priori gibt, Elemente von nicht-
empirischem Ursprung. Dies wußte auch Locke, da er für
die mathematischen (und moralischen) Begriffe die „Arche-
typen" im Geiste erzeugt werden und auch den allge-
meinen Begriff der Substanz nicht von der sinnlichen
Erfahrung abstammen ließ; Hume wußte es, weil er
für den allgemeinen Begriff des ursächliche Verhältnisses
jede Grundlage in der reinen Erfahrung, des Gegeben-
sein irgend einer Impression verneinte. Es ist das Werk
Kants, gezeigt zu haben, wie jene Elemente a priori
und gleichwohl objektiv giltig sein können und müssen;
gezeigt zu haben, wodurch und wie weit wir berechtigt
sind, sie als von der Natur der Dinge selbst geltend
anzunehmen. Seine Frage lautete: wie können Erkennt-
nisse und Urteile a priori und doch zugleich syn-
thetisch d. i. von den Objekten giltig sein?
Wie werden aus Impressionen und ihren gegebenen
Verhältnissen Anschauungen, oder, um anders, nämlich
108 Vierter Vortrag.
im Sinne der Erkenntnistheorie zu fragen: unter welchen
Voraussetzungen ist eine Anschauung von Dingen
möglich ?
Zu den Wahrheiten, die, nachdem sie einmal ge-
funden und begründet worden sind, der Wissenschaft
nicht mehr verloren gehen können, ist die Lehre Kants
zu zählen, daß Raum und Zeit Formen des Anschauens
sind und eben darum Formen der Dinge selbst, sofern
diese zur Anschauung gelangen: die Lehre von dem
subjektiven Ursprung und der objektiven Bedeutung des
Raumes und der Zeit. Kant kam zu dieser Lehre nicht
durch Reflexion auf das menschliche Anschauungsver-
mögen, sondern durch Untersuchung der Begriffe von
Raum und Zeit. Als Grundlage für diese Betrachtung
diente ihm die Unterscheidung Newtons zwischen dem
mathematischen oder absoluten Räume, der mathe-
matischen oder absoluten Zeit und den relativen Räumen
und Zeiten, welche von den Dingen erfüllt werden. Mit
Newton bejaht Kant die Notwendigkeit, Raum und Zeit
im absoluten Sinne vorauszusetzen; denn Lagen und
Gestalten der Dinge sind Bestimmungen und Teile des
Raumes, wie Dauer und Folge der Dinge Teile und Be-
stimmungen der Zeit sind. Gegen Newton verneinte er die
an sich gegebene oder absolute Realität des allgemeinen
Raumes, der reinen Zeit. Der absolute Raum (und
ebenso die absolute Zeit) ist nicht ein Begriff von einem
wirklichen Objekte, sondern eine Idee, welche zur Regel
dienen soll, alle Bewegung in ihm bloß als relativ zu
betrachten. D. h. er ist notwendig, um relative Räume
vorstellen zu können. Die wesentlichen Bestimmungen,
die wir den Begriffen von Raum und Zeit mit anschau-
licher Gewißheit zuschreiben und worauf wir die von der
Erfahrung unabhängigen Wissenschaften der Geometrie
Die Grundlagen der Erkenntnis. IO9
und Bewegungslehre gründen, sind von solcher Be-
schaffenheit, daß sie aus sinnlicher Erfahrung nicht be-
kannt sein können. Wäre der absolute Raum, wie
Newton glaubte, selbst eine Sache, gehörte er zu den
Dingen der Welt als das allumfassende Ding, woher
könnten wir von seiner Unendlichkeit wissen? wir
schließen doch nicht induktiv: weil wir bisher auf keine
Grenzen des Raumes gestoßen sind, werden wir auch
künftig nie auf solche treffen. Grenzen der Raumer-
füllung sind denkbar, Grenzen des Raumes nicht; der
Raum ist notwendig als grenzenlos, er ist als unendlich
gegeben zu denken. Nur wenn solche Bestimmungen
der Begriffe von Raum und Zeit wie Unendlichkeit,
Stetigkeit, Einzigkeit u. s. w. aus den Gesetzen oder
Formen unserer anschauenden Tätigkeit hervorgehen
und aus ihnen abstrahiert sind, ist es zu verstehen, wie
wir zu ihrer Erkenntnis gelangen und sie zugleich als
notwendig von den Dingen unserer Anschauung geltend
behaupten können. „Denn man kann a priori wissen,
wie und unter welcher Form die Gegenstände der Sinne
werden angeschaut werden, nämlich so, wie es die sub-
jektive Form der Sinnlichkeit, das ist der Empfänglich-
keit des Subjektes für die Anschauung jener Objekte
mit sich bringt". Raum und Zeit sind also nicht Gegen-
stände unserer Anschauung; ihre wesentlichen Eigen-
schaften werden unabhängig von den Gegenständen
erkannt, auch können Raum und Zeit selbst nicht an-
geschaut werden; sie sind Formen des Anschauens
und deshalb notwendig giltig von allen angeschauten
Dingen.
Dies ist der formale Idealismus Kants, der Idealis-
mus der allgemeinen Formen (und nur dieser), der An-
schauung oder Erscheinung der Dinge für unser 'Ann-
HO Vierter Vortrag.
liches Bewußtsein; Kant selbst betrachtete diese seine
Lehre als den Gegensatz und die Überwindung des
raaterialen Idealismus, des Idealismus der Dinge selbst,
Kants sogenannter Idealismus, der ebenso gut, ja noch
besser kritischer Realismus heissen könnte, begründet
die Realität der Erkenntnis: Raum und Zeit sind Formen
der Erscheinung der Dinge; weil sie Formen unserer
Anschauung der Dinge sind; der eigentliche Idealismus
in der „rezipierten Bedeutung des Wortes" hebt die
Realität der Erkenntnis auf; er erkennt z. B. nur
Impressionen als wirklich an, kein Reales, das die Im-
pressionen gibt, kein Reales, das sie durch die Afifektionen
seiner Sinne empfängt. „Die Welt als Vorstellung" wird
dadurch zu einem Traume herabgewürdigt; ja sie ist
weniger als ein Traum, denn selbst zum Träumen
brauchen wir noch einen wirklichen Körper, und von
Wahrheit der Vorstellungen, d. i. Übereinstimmung mit
Dingen kann dann in keinem begreiflichen Sinne des
Wortes mehr die Rede sein. Nur der absolute Raum,
die absolute Zeit, ich muß dies wiederholen, sind nach
der Lehre Kants, für sich genommen bloße „Ideen",
denen als solchen kein Gegenstand entspricht, nicht die
relativen Räume, die relativen Zeiten. Für diese be-
sonderen und bestimmten Formen der Dinge, die in der
empirischen Anschauung gegeben werden, also die Lage,
Gestalt, Ausdehnungsgröße, die bestimmte und bemessene
Dauer und Folge der Dinge, muß es nach Kants aus-
drücklicher Lehre in den Dingen selbst einen Grund
geben. Denn aus der allgemeinen Form ihrer An-
schauung, die allein aus der Vorstellungsart des Sub-
jektes stammt, sind sie nicht herzuleiten. Verhältnisse
der Dinge selbst entsprechen den Verhältnissen in der
empirischen Anschauung oder Wahrnehmung der Dinge
Die Grundlagen der Erkenntnis. III
und erscheinen in dieser, den allgemeinen Formen unseres
Anschauens gemäß, als räumliche und zeitliche Ver-
hältnisse. „Dinge als Erscheinungen bestimmen den
Raum, d. i. unter allen möglichen Prädikaten desselben
(Größe und Verhältnis) machen sie es, daß diese oder
jene zur Wirklichkeit gehören." In der notwendigen Be-
ziehung der allgemeinen Formen des Anschauens zu den
in ihnen (nicht durch sie) gegebenen empirischen An-
schauungen, welche durch die Dinge selbst gegeben
werden, liegt der Beweis für die Realität jener Formen,
d. i. dafür, daß sie Erkenntnis von Dingen ermöglichen.
Darum sind „die mathematischen Begriffe für sich nicht
Erkenntnisse, außer sofern man voraussetzt, daß es
Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinn-
lichen Anschauung gemäß uns darstellen können". Die
Dinge an sich mit ihren Verhältnissen, die in den be-
sonderen Formen der Anschauung und den empirischen
Gesetzen der Natur zum Ausdruck kommen, sind für
Kant eine gleich wesentliche Voraussetzung wie es für
ihn die Elemente a priori der Erkenntnis sind. Die not-
wendige Verbindung beider, ihr Zusammenschluß in der
Erfahrung ist das Resultat seiner Lehre. Unsere Erkenntnis
ist eine mittelbare Erkenntnis der Dinge selbst durch die
Erscheinungen der Dinge für unsere Sinne. — Der Aus-
druck: „Dinge an sich" (Kant gebraucht in der Regel
die Mehrzahl), hinter welchem man sich allerlei Mystisches
oder Transcendentes zu denken gewöhnt hat, ist die
Übersetzung von Lockes „things themselves"; für die
kritische Theorie der Erfahrung bedeutet er nicht höhere
Wesenheiten oder übersinnliche Dinge, sondern vorsinn-
hche Dinge, die Dinge vor und außer ihrer Erscheinung
für ein Sinnenwesen, oder, um es mit den Worten Kants
zu sagen: „ein Ding, das auch ohne die Beschaffenheit
112 Vierter Vortrag.
unserer Sinnlichkeit etwas, nämlich ein von der Sinnlich-
keit unabhängiger Gegenstand ist."
Anschauungen und Begriffe müssen bei jeder Er-
fahrung zusammenwirken. In der Erfahrung wird durch
Wahrnehmung ein Objekt bestimmt. Schon hieraus
erhellt, daß zu dieser Bestimmung und damit zur Er-
fahrung mehr erfordert ist, als bloße Wahrnehmung:
nämlich der Begriff von einem Objekte überhaupt, nach
welchem Begriffe jene Bestimmung der Wahrnehmung
allein erfolgen kann. Das, was wir wissen müssen, um
etwas als Gegenstand vorstellen zu können, kann nicht
aus der Vorstellung des Gegenstandes, die dadurch aller-
erst zu Stande kommt, abgeleitet werden. Gegenstände
mögen in der empirischen Anschauung gegeben sein
(und gewiß ist in ihr der Einfluß der Gegenstände auf
unsere Sinne gegeben), aber dadurch allein sind sie noch
nicht als Gegenstände erkannt. Wie werden gegebene
Gegenstände zu erkannten Gegenständen?
Es gibt, wie die Begriffe von Raum und Zeit, als
die Begriffe von den Formen des Anschauens beweisen,
ein ursprüngliches Anschauen, und die Erscheinung der
Dinge empfängt von ihm das Gesetz ihrer anschaulichen
Form. Es muß aber ebenso auch ein ursprüngliches
Denken geben, von welchem die intellektuelle Form
der Erfahrung der Dinge herrührt, so gewiß Erfahrung
und bloße Wahrnehmung verschieden sind. Es muß Be-
griffe geben, die zwar nur durch Veranlassung der Wahr-
nehmungen entwickelt werden und ohne sie nicht ent-
stehen würden, die aber jiicht aus den Wahrnehmungen
abstammen, weil sie zur Beurteilung derselben dienen,
zur Bestimmung eines Objektes, daher dieser Bestimmung
zum Grunde liegen müssen. Daß es solche ursprünglich
gedachte Begriffe geben müsse, läßt sich mithin a priori,
Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 ^
aus dem Begriff der Erfahrung erkennen; welche es
seien, kann nur aus dem ermittelt werden, was sie zu
leisten haben, nämlich die Bedingungen der Vorstellung
eines Objektes zu sein. Kant bediente sich der Logik
der Urteile als Leitfadens zur Auffindung dieser Begriffe,
die er von ihrem Ursprung aus dem Denken „reine
Verstandesbegriffe" nannte; er legte auf die systema-
tische Vollständigkeit ihrer Aufzählung Gewicht, viel-
leicht zu großes Gewicht. Wir brauchen ihm auf diesem
Wege nicht zu folgen, da es uns wesentlich um den
Beweisgrund ihrer Realität oder objektiven Giltigkeit
zu tun ist. Auch kennen wir bereits die wichtigsten
von diesen Begriffen. Eine bestimmte Wahrnehmung
mag uns noch so regelmäßig in dem Komplexe von
Sinneseindrücken, aus denen sie besteht, neben wechseln-
den Bestandteilen beharrliche zeigen, z. B. die Raum-
erfüllung oder das Gewicht eines Körpers; daß aber dieses
Beharrliche das Objekt bedeute, die wechselnden Be-
standteile dagegen Zustände oder Accidentien des Ob-
jektes kann keine Wahrnehmung uns zeigen. Auch
Kausalität kann nicht wahrgenommen werden. Hume
zeigte, daß sie in keiner Wahrnehmung fiir sich ge-
nommen, aber auch in keiner, noch so regelmäßigen
Aufeinanderfolge von Wahrnehmungen gegeben ist.
Zugleich wußte er, daß wir den allgemeinen Kausalsatz
bei allen Erfahrungen, d. i. aller Erkenntnis von Tat-
sachen auf Grund von Wahrnehmungen, voraussetzen
müssen; da er aber den Grund eines solchen die Er-
fahrung antecipierenden Gesetzes nicht auffinden konnte,
setzte er die Gewohnheit an die Stelle des Grundes.
Wie können und müssen sogar die Bedingungen
unseres Denkens eines Gegenstandes Bedingungen der
Gegenstände selbst sein? wie läßt sich beweisen, daß es
Riehl, Philosophie der Gegeuwart. 8
114 Vierter Vortrag.
Dinge geben müsse, die notwendig mit ihnen überein-
stimmen? So lautet unsere Frage in Bezug auf diese
Begriffe und die Realität ihrer Verknüpfungen.
Unmittelbar oder aus ihnen selbst ist diese Realität
nicht zu beweisen. Könnten sie nicht Einbildungen sein,
wie Hume meinte, oder Eingebungen, wie derjenige
eigentlich behaupten müßte, der sie für angeboren hält.
Es muß ein Drittes geben, das tatsächlich besteht^ aber
nur durch sie allein möglich, das ist als bestehend zu
begreifen ist; nur so ist ihre objektive Giltigkeit zu
verstehen. Dieses Dritte ist die Erfahrung oder die
empirische, auf Wahrnehmung beruhende Erkenntnis der
Dinge. Wenn wir zeigen können, daß die reinen Ver-
standesbegriffe die Bedingungen einer durch sie allein
möglichen Erfahrung sind, so haben wir auch schon ge-
zeigt, daß sie zugleich die Bedingungen der in der Er-
fahrung möglichen Gegenstände sein müssen; denn nur
in der Erfahrung werden uns Gegenstände gegeben.
„Dasjenige, ohne welches die Erfahrung von einem
Gegenstande nicht möglich ist, ist auch notwendig giltig
von den Gegenständen der Erfahrung." Daraus und
daraus allein, daß sich die Erfahrung der Dinge nach
reinen Verstandesbegriffen richtet, ist es zu verstehen,
daß sich auch die Dinge der Erfahrung nach diesen
Begriffen richten müssen. „Zu aller Erfahrung und deren
Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu
tut, ist nicht, daß er die Vorstellung der Gegenstände
deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines
Gegenstandes überhaupt möglich macht." Ohne Ver-
stand keine Erfahrung, kein Objekt der Wahrnehmung,
keine Erkenntnis eines Objektes.
Diesen Beweis der objektiven Gültigkeit reiner Be-
griffe und ihrer Verknüpfungen a priori, welcher zeigt
Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 1
daß die Erfahrung selbst, mithin das Objekt der Er-
fahrung ohne solche Verknüpfungen nicht möglich wäre,
nennt Kant ihren transcendentalen Beweis. — Bei
dem Worte transcendental ist nicht an ein Überfliegen
der Grenzen der Erfahrung zu denken, sondern an das
Zurückgehen auf die Grundlagen der Erfahrung. Trans-
cendental ist die Erklärung, wie sich Begriffe oder Sätze
a priori auf Gegenstände beziehen können, wie sie
a priori und doch von Objekten gelten sollen. Nicht
die Erkenntnis a priori ist transcendental, nur die Recht-
fertigung ihrer objektiven Gültigkeit und das Verfahren
dieser Rechtfertigung will Kant mit diesem Worte be-
zeichnet wissen. Dasjenige, was nicht aus der Erfahrung
stammt, f ü r die Erfahrung zu beweisen ist die Aufgabe
der transcendentalen Methode. Das Wesen dieser
Methode Kants und ihr Unterschied von Humes
Methode der reinen Erfahrung soll zunächst an ihrer An-
wendung auf das Problem der Kausalität gezeigt werden.
Hume leitete die Regel der Kausalität aus der ob-
jektiven Folge der Impressionen oder Wahrnehmungen
ab; Kant zeigt, daß erst in Rücksicht auf eine Regel
der Kausalität erkannt werden kann, ob eine Folge von
Wahrnehmungen eine objektive Folge sei. Es ist nicht
dasselbe zu sagen, etwas folge in der bloßen Wahr-
nehmung, und zu urteilen, es folge im Gegenstande
selbst. Wir sehen aus der Ferne die Bewegung einer
Truppe und hören hierauf das Kommandowort äes
Offiziers. Wir wissen, daß die Aufeinanderfolge unserer
Wahrnehmungen in diesem Falle die umgekehrte ist
von der Aufeinanderfolge der objektiven Vorgänge; und
wir wissen dies in Rücksicht auf eine Regel der Er-
fahrung, die uns belehrte, um wie vieles schneller sich
Lichtwellen im Räume fortpflanzen als Schallwellen.
8*
Il6 Vierter Vortrag.
Und was in diesem Falle gilt, gilt in allen Fällen.
Überall ist es die Rücksicht auf irgend eine Regel,
wodurch wir die Aufeinanderfolge unserer Wahr-
nehmungen von der Aufeinanderfolge der Objekte
unterscheiden und beide erst in richtigen Zusammen-
hang bringen. Was voran geht, zeigt die Erfahrung
durch Wahrnehmung, daß etwas vorangehen muß,
wenn die Folge eintreten soll, kann die Erfahrung
nicht lehren, weil erst unter dieser Voraussetzung die
Wahrnehmung der Folge zur Erfahrung der Folge
wird. — »Vor einer Begebenheit kann allerlei vorher
gehen, eines aber ist unter diesem, worauf sie jeder-
zeit folgt. Wenn vorher fest gewesenes Wachs schmilzt,
so kann ich a priori erkennen, daß etwas vorangegangen
sein müsse (z. B. Sonnenwärme), worauf dieses nach
einem beständigen Gesetze erfolgt ist, ob ich zwar
aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ur-
sache die Wirkung a priori und ohne Belehrung der Er-
fahrung bestimmt erkennen könnte. Nur auf irgend
eine Bedingung gibt eine Begebenheit sichere An-
weisung und dadurch erkenne ich sie als Begebenheit."
Darauf allein also, daß etwas vorangegangen sein muß,
worauf die eingetretene Veränderung nach einer be-
ständigen Regel, d. i. notwendig folgt, zielt der Beweis
Kants. Grundloses Geschehen wird damit aus dem Be-
reiche der möglichen Erfahrung ausgeschlossen; mag
ein solches Geschehen denkbar sein, sicher ist es nicht
erfahrbar; wenn es keinen inneren oder unmittelbaren
Widerspruch einschließt, so widerspricht es doch gewiß
dem Begriff der Erfahrung. Nicht die Folge der Er-
scheinungen wird durch den Kausalsatz erkannt, ge-
schweige erst hervorgebracht, sie ist in der empirischen
Anschauung durch die Erscheinungen selbst gegeben;
Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 7
die Objektivität der Folge wird durch jenen Satz
erkannt und nur die allgemeine Form des Satzes ist
a priori, der Fall seiner Anwendung muß gegeben werden.
Wo nichts geschieht, nichts sich verändert, hat das Prinzip
keine Anwendung.
Kausalität ist Grund einer Veränderung. Wir denken
uns im Vorhergehenden den Grund für das Folgende,
und obgleich wir von der Ursache selbst und wodurch
sie die Wirkung herbeifuhrt, keine Erfahrung haben und
was der Erscheinung einer Veränderung von Seiten der
Dinge selbst entspricht, nicht kennen; so haben wir
doch einen Begriff davon, was das Gesetz der Ursäch-
lichkeit für unsere Erfahrung bedeutet. Die Veränderung
ist mit ihrer Ursache notwendig verknüpft; denn wir
denken uns in ihrer Ursache den Grund ihres Eintretens
und wir müssen dies denken, so gewiß wir allein durch
dieses Denken zur Unterscheidung der subjektiven Folge
unserer Wahrnehmungen von der Folge in den Gegen-
ständen der Erfahrung gelangen können.
Diese Kantischen Gedanken und damit das Prinzip
der Kausalität selbst lassen sich noch bestimmter fassen;
und was erst zum Gegenstande unseres folgenden Vor-
trages gehört, darf schon in dem gegenwärtigen Zu-
sammenhange angedeutet werden. Wir unterscheiden
heute zwei Klassen von Ursachen in der Natur: Aus-
lösungen und Ursachen im engeren Sinne. Durch die
Bewegung eines Hebels werde eine Maschine in Gang
gebracht ; die Bewegung ist hier die auslösende Ursache
der Arbeit der Maschine, die Form der Arbeit hängt
von der Konstruktion der Maschine, der Anordnung
und dem Ineinandergreifen ihrer Teile ab, die Größe
der Arbeit oder der mechanische Effekt steht in Über-
einstimmung mit der Größe der Triebkraft, die die
1 1 8 Vierter Vortrag.
Maschine in Gang erhält, z. B. der Spannkraft des
Dampfes; und diese Ursache des mechanischen Effektes
bezeichnen wir in unserem Falle als Ursache im engeren
Sinne. Das allgemeine Kausalgesetz gilt von beiden
Klassen von Ursachen. Es schließt von der Natur und
Erfahrung ebenso die Möglichkeit aus, daß eine „Aus-
lösung" von selbst entstehe, oder daß ein körperliches
System von selbst aus der Ruhe in Bewegung über-
gehe, wie es ausschließt, daß etwas in der Größe der
Wirkung entsteht, was nicht von der Größe der Ursache
vergangen ist, oder von der Größe der Ursache vergeht»
was nicht in der der Wirkung unvermindert fortbesteht,
kürzer: daß ein Teil der Wirkung aus nichts entsteht,
ein Teil der Ursache in nichts vergeht. Kant hat diese
Unterscheidung nicht völlig übersehen; er hat für den
allgemeinen Kausalsatz die Formel: „alles, was geschieht,
anhebt zu sein, setzt etwas voraus, worauf es nach einer
Regel folgt" und knüpft zugleich die Veränderung an
ein beharrliches Substrat an mit der Erklärung: Ver-
änderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine
andere Art zu existieren eines und desselben Objektes
folgt; und ganz deutlich spricht er das Gesetz der Er-
haltung der Ursachen in den Wirkungen in einer Auf-
zeichnung aus: „eine jede Veränderung in der Welt ist
nur eine Fortsetzung einer schon vorhandenen Reihe —
und es hört ebenso viel auf, als anfängt zu sein."
Auch nennt Kant in demselben Sinne den Begriff der
Substanz den „prinzipialen".
Der Grundsatz der Beharrlichkeit ist allgemeiner
als das Prinzip der Kausalität; denn Kausalität schließt
Beharrlichkeit in sich ein. Unsere Betrachtung führt uns
daher zum Substanzprinzipe zurück, — und vom Ver-
hältnis Kants zu Hume zum Verhältnis Kants zu Locke.
Die Grundlagen der Erkenntnis. 11^
Es ist das Verdienst Lockes, gezeigt zu haben, daß
das „Wesen" der Substanz unerkennbar ist, daß es
sich nicht verstehen lasse, wie etwas Substanz sei.
Es fehlt dafür in der Erfahrung an jeder „einfachen
Idee", jedem inhaltlichen Elemente; der Begriff der Sub-
stanz stammt nicht von dem Inhalte der Erfahrung ab.
Damit hat Locke die formale Auffassung dieses Begriffes
vorbereitet; damit ist aber auch sein Anteil an der
Theorie desselben erschöpft. Die Substanz drückt nicht
das „Wesen" irgend eines Dinges aus, sondern ein all-
gemeines Verhältnis der Dinge zur Erfahrung; ihr Be-
griff gehört zur Form der Erfahrung.
Locke nahm an der Vorstellung einer Entstehung
von Substanzen keinen Anstoß; denn er redet gelegent-
lich von der Möglichkeit ihrer Vermehrung in der Welt.
Wenn wir diese Annahme unbedingt von der Natur und
Wirklichkeit ausschließen, so geschieht es nicht deshalb,
weil die Erfahrung eine solche Vermehrung bisher nicht
gezeigt hat, sondern, weil die Vorstellung davon dem
Begriff der Erfahrung widerspricht. Schon im frühesten
Zeitalter der Wissenschaft und viele Jahrhunderte vor
Beginn der exakten Forschung wurde der Satz: daß
nichts aus nichts entstehe und nichts in nichts vergehe,
der unmittelbare Folgesatz des Satzes der Substanz, als
Axiom des Naturerkennens aufgestellt. Und doch waren
die alten Denker, die zuerst dieses Axiom aussprachen,
für ihre Behauptung desselben nur auf das logische
Denken angewiesen, da die ungenauen Wahrnehmungen
der Sinne dafür nicht in Betracht kommen konnten.
Denn diese scheinen viel eher das Gegenteil jenes
Axioms zu lehren; neben relativer Beharrlichkeit zeigen
sie ebenso häufig scheinbares Vergehen und Entstehen
der Dinge. Wenn also die alten Philosophen dem Sinnen
120 Vierter Vortrag,
scheine zum Trotze die Beharrlichkeit und quantitative
Unzerstörlichkeit des Gegebenen behaupteten (Demonax
leitete sogar schon aus dem Prinzipe der Beharrlichkeit
die Konstanz des Gewichtes der Körper ab), so mußten
sie sich dabei auf eine Denknotwendigkeit stützen, die
zugleich eine Notwendigkeit für alle Erfahrung ist. Auch
die Versuche mit der Wage können das Prinzip der Be-
harrung nur innerhalb gewisser Grenzen als ein induktiv
allgemeines nachweisen. „Wenn Gewichtsänderungen bei
chemischen Vorgängen eintreten sollten, müßten sie
weniger als ein Milliontel des Gesamtgewichtes aus-
machen; bis zu dieser Genauigkeit kann man das Gesetz
der Erhaltung des Gewichtes als bewiesen ansehen."
Jeder derartige „Beweis" muß sich übrigens außer auf
seine induktive Grundlage auf eine hypothetische Ver-
allgemeinerung berufen. Man kann nicht alle Materie
wägen ; fällt ein Tropfen ins Meer, so ist es nicht mög-
lich, sich durch den Versuch zu überzeugen, daß die
Menge des Wassers des Meeres wirklich um diesen
Tropfen vermehrt wurde. Niemand zweifelt aber, daß
der Tropfen nicht zu nichts geworden ist, auch nicht
wenn er verdampft, oder in seine Atome gespalten
wird. „Man kann, sagt Kant, die Materien bei allen
ihren Veränderungen und Auflösungen nicht so weit
verfolgen, um den Stoff immer unvermindert anzutreffen,
und ersetzte daher den Mangel eines Beweises (für seine
notwendige Unzerstörlichkeit) durch ein Postulat." Ein
Beweis dieser Unzerstörlichkeit aus Erfahrung ist in der
Tat noch nie geliefert worden und kann auch nie ge-
liefert werden. Gesetzt, die dem Gewichte proportionale
Masse eines Köpers zeigte sich tatsächlich veränderlich,
so würden wir nicht schließen: also gibt es in der
Natur nichts absolut Beharrliches, wir würden schließen:
Die Grundlagen der Erkenntnis. 121
also ist nicht die Masse die Substanz, sondern irgend
etwas anderes, z. B. die Raumerfüllung durch die Materie.
„Die Beobachtung muß zeigen, welches die Substanz ist",
daß es aber in jeder Erscheinung etwas Beharrliches
geben müsse, ist dabei immer vorausgesetzt. Oder, es
anders zu wenden, daß die Masse beharrt ist ein durch
Erfahrung gefundener und dadurch allein niemals absolut
sicher zu stellender Satz; daß die Substanz beharrt d.i.
in aller Erscheinung irgend etwas Beharrliches enthalten
sein muß, — ein die Erfahrung ermöglichender Satz.
Das Prinzip der Beharrlichkeit ist ein Gesetz des
Daseins der Erscheinungen, sofern sie Gegenstände der
Erfahrung sind. „Wir können nur in dem, was beharrt,
das Wechseln bemerken; wenn alles fließt, so kann das
Fließen selbst nicht wahrgenommen werden. Die Er-
fahrung also vom Entstehen und Vergehen ist nur durch
das, was beharrt, möglich; also ist etwas in der Natur,
was bleibt: Substanz." Kant fugt diesem Beweis die
Erläuterung hinzu: das Vergehen schlechthin und ebenso
das Entstehen aus nichts, ohne daß es bloß eine Be-
stimmung des Beharrlichen betreffe, ist darum unerfahr-
bar, weil eine leere Zeit kein Gegenstand möglicher
Wahrnehmung sein kann, „Wird aber das Entstehen
an Dinge angeknüpft, die vorher waren und bis zu dem,
das entsteht, fortdauern, so war das letztere nur eine
Bestimmung des ersteren, als des Beharrlichen. Ebenso
ist es auch mit dem Vergehen." Alle Vergangenheit
und alle Zukunft, die sich in der Gegenwart berühren^
bilden eine einzige Zeit. Nun ist die Zeit die Form
oder das Gesetz der Erscheinungen und an Erscheinungen
allein kann sie selber wahrgenommen werden und zu
unserer Erfahrung gelangen. Es muß also in den Er-
scheinungen selbst etwas gegeben sein, das die Einheit
122 Vierter Vortrag.
und den durchgängigen Zusammenhang der Zeit selbst
darstellt und Vergangenheit und Zukunft verknüpft.
„Dasjenige aber, woran alles Dasein in der vergangenen,
sowohl als der künftigen Zeit einzig und allein bestimmt
werden kann, muß ein Dasein zu aller Zeit haben"; es
muß in jeder Zeit anzutreffen, mithin beharrlich und sich
selbst gleich sein, während seine Zustände sich ändern
und unsre Wahrnehmungen wechseln. Und so kann
jeder Anfang eines Zustandes „immer nur ein Übergang
aus einem vorigen sein, denn sonst würden wir nicht
erfahren, daß er angefangen habe; daher gilt immer
dasselbe Objekt von dem einen Zustand sowohl als dem
anderen und auch die Grenze beider ist gemeinsam". „Die
Einheit der Erfahrung würde nicht möglich sein, (die
Wahrnehmungen hätten kein einheitliches Objekt), wenn
wir neue Dinge der Substanz nach entstehen lassen ; denn
alsdann fiele dasjenige weg, welches die Einheit der
Zeit allein vorstellen kann, nämlich die Identität des
Substrates, woran aller Wechsel allein durchgängige
Einheit hat."
Kant leitete also das beharrliche Dasein nicht aus
der Erfahrung ab, die es auch niemals mit Sicherheit
zeigen könnte; er leitet die Erfahrung von der Voraus-
setzung eines beharrlichen Daseins ab. Sein Beweis ist
„transcendental" ; er wird weder aus dem bloßen Begriff
einer Substanz geführt, noch aus der Erfahrung, sondern
in Beziehung auf Erfahrung ihrer Möglichkeit nach, so
also, daß er durch die Wirklichkeit der Erfahrung be-
stätigt wird. So gewiß Erfahrung besteht, so gewiß
gelten die Voraussetzungen, ohne welche sie nicht be-
stehen würde.
Man konnte in dem Beweis der allgemeinsten
Naturgesetze, zu denen die Prinzipien der Erhaltung der
Die Grundlagen der Erkenntnis. I23
Substanz und der Kausalität der Veränderungen gehören,
niemals weiter kommen, als zu zeigen, daß, ohne diese
Prinzipien gelten zu lassen, die Naturerscheinungen nicht
begreiflich wären. Daß es Dinge geben müsse, die not-
wendig mit jenen Gesetzen übereinstimmen, und von
welcher Art diese Dinge seien, konnte man nicht be-
weisen. Man begnügte sich daher, jene Prinzipien als
Postulate des Naturerkennens aufzufassen, von denen man
aber nicht wie von Postulaten der Mathematik zugleich be-
haupten konnte, daß sie notwendig durch die Objekte er-
füllt werden müssen. Durfte man sie allenfalls durch die
bisherige Erfahrung, so weit die Kenntnis davon reicht und
innerhalb der Grenzen der Beobachtung, als tatsächlich
bestätigt ansehen; der Grund dieses glücklichen Zu-
sammentreffens der Tatsachen mit Forderungen unseres
Denkens blieb ebenso verborgen, wie das Recht un-
erwiesen, sie auf alle weitere Erfahrung anzuwenden.
Kant löste diese Bedenken und Fragen durch eine
„Umänderung der Denkart", die er mit jener des
Kopernikus verglich: er machte jene Prinzipien zu
Grundsätzen der Erfahrung. Sie drücken nach ihm die
Bedingungen aus, unter denen ein Gegenstand überhaupt
stehen muß, um zu unserer Erfahrung zu gelangen.
Nicht darum also gelten sie, weil ohne sie Wissenschaft
nicht möglich wäre, denn dies versteht sich von selbst,
sondern weil ohne sie Erfahrung, mithin das Objekt der
Wissenschaft nicht möglich ist.
„Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur ver-
mittelst der Erfahrung wissen können, aber die Gesetz-
mäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d. i. die
Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung
kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze
bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori zum Grunde liegen."
124 Vierter Vortrag.
Die obersten Gesetze der Natur sind die Gesetze der
Erfahrung der Natur, und in Bezug auf sie ist Natur
und mögliche Erfahrung ein und dasselbe. Wir verstehen
unter Natur „das Dasein der Dinge, sofern es nach all-
gemeinen Gesetzen bestimmt ist," oder, da uns die
Dinge als Erscheinungen gegeben sind, die allgemeine
Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen. Dasselbe aber ver-
stehen wir unter Erfahrung; denn nur durch allgemein
giltige Verknüpfung der Erscheinungen besteht Er-
fahrung. Natur überhaupt und mögliche Erfahrung sind
mithin Wechselbegriffe; daher Kant sagen konnte: „die
Sinnenwelt ist entweder gar kein Gegenstand der Er-
fahrung oder eine Natur". Die Gesetze des Denkens,
die in Verbindung mit den Gesetzen unseres An-
schauens Erfahrung ihrer allgemeinen Form nach be-
gründen, sind zugleich die Gesetze, die das Dasein der
Gegenstände der Erfahrung auf allgemeingiltige Weise
bestimmen, und folglich die Gesetze der Natur über-
haupt. So ist das „anfangs befremdliche" Wort zu ver-
stehen: „der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori)
nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor".
Er ist mit seinen nicht-empirischen Begriffen und Grund-
sätzen nur der Urheber „der allgemeinen Ordnung
der Natur", weil er Urheber der Erfahrung ist; die be-
sondere Ordnung, die empirische Gesetzlichkeit der
Natur ist allein aus der Erfahrung zu erkennen; ihre
Urheber sind die Dinge selbst vermittelst ihrer Erschei-
nungen für unsere Sinne. „Die Naturerscheinungen sind
Gegenstände, die uns unabhängig von unseren Begriffen
gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in
uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns
liegt. — Fangen wir nicht von Erfahrung an oder
gehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen Zu-
Die Grundlagen der Erkenntnis. 125
sammenhanges der Erscheinungen fort, so machen wir
uns vergeblich Staat, das Dasein irgend eines Dinges
erraten oder erforschen zu wollen."
Die obersten formalen Gesetze der Erfahrung und
dadurch der Natur sind als Folge eines einzigen Prinzipes
zu betrachten; sie drücken die Einheit des denkenden
Bewußtseins in aller Anschauung und Erfahrung aus; in
diesem Punkte treffen der empirische und der reine
Faktor des Erkennens zusammen.
Erscheinungen sind Vorstellungen, die durch Dinge
gegeben werden. Als Vorstellungen stehen sie unter der
Bedingung, je zu einem einzigen, numerisch identischen
Ich zu gehören, d. i. möglicher Inhalt eines Selbst-
bewußtseins zu sein. Es kann keine Einheit des Objektes
es kann kein Objekt vorgestellt werden, ohne absolute
Einheit des vorstellenden Subjektes. „Das: ich denke
muß alle meine Vorstellungen begleiten können, sonst
wären es nicht meine Vorstellungen", und ich könnte
nichts von ihnen wissen. Durch das Ich aber als ein-
fache Vorstellung ist nichts Mannigfaltiges gegeben. Aus
dem «Ich gleich Ich", das nur die Identität des vor-
stellenden Subjektes und damit die Form eines Bewußt-
seins überhaupt ausdrückt, läßt sich kein Inhalt hervor-
zaubern, wie dies Fichte wollte; nur in der Anschauung
kann ein Inhalt, ein Mannigfaltiges gegeben werden.
Also ist die Einheit, welche die Beziehung auf ein Ich
für jede seiner Vorstellungen notwendig macht, eine
Einheit durch Verknüpfung, eine „synthetische" Einheit.
Die Erscheinung selbst muß daher in einer Form ge-
geben werden, vermöge welcher sie verknüpf bar ist,
d. i. Gegenstand eines Selbstbewußtseins sein kann. „Die
mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer Anschauung
gegeben werden, müssen der Bedingung notwendig
126 Vierter Vortrag.
gemäß sein, unter der sie allein in einem möglichen Selbst-
bewußtsein zusammen bestehen können, weil sie sonst
nicht durchgängig mir angehören würden. Synthetische
Einheit des Mannigfaltigen als a priori gegeben, ist der
Grund der Identität der Apperception selbst (d. i. des
Selbstbewußtseins), die a priori allem meinem bestimmten
Denken zum Grunde liegt." Die allgemeine Form des
Objektes also ist aus der Beziehung seiner Vorstellung
zu einem Ich-Bewußtsein zu erkennen. Die „Synthesis",
oder die Verknüpfung des Gegebenen zu einem einheit-
lichen Bewußtsein wird zwar nur durch das Denken voll-
zogen; aber in dem Gegebenen selbst sind die Be-
dingungen für die Möglichkeit dieser einheitlichen Ver-
knüpfung vorauszusetzen. In diesem Sinne heißt es: „die
synthetische Einheit des Bewußtseins ist eine objektive
Bedingung der Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst
bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der
jede Anschauung stehen muß, um für mich Ob-
jekt zu werden." Sehr klar und faßlich drückt Kant
diesen tiefsten Gedanken seiner theoretischen Philosophie
in dem ersten Entwürfe desselben aus: „die Dinge, die
uns a posteriori (d. i. durch empirische Anschauung)
gegeben werden mögen, müssen ebenso wohl ein Ver-
hältnis zum Verstände haben, d. i. eine Art der Er-
scheinung, dadurch es möglich ist, von ihnen
einen Begriff zu bekommen, als ein Verhältnis zur
Sinnlichkeit." Die Dinge sind daher nicht bloß tat-
sächlich „associabel", d. h. es lassen sich von ihnen
wirklich empirische Begriffe bilden, sie sind notwendig
associabel, sie stehen in ursprünglicher „Affinität" oder
Gemeinschaft zu einander; ihre Form entspricht der
Form des Denkens. Dinge, die mit der Einheitsform
des Denkens nicht übereinstimmen würden, könnten auch
Die Grundlagen der Erkenntnis. 127
keine Gegenstände für ein Bewußtsein bilden; sie wären
keine Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Form des
Bewußtseins überhaupt ist auch die Form eines Gegen-
standes überhaupt; Subjekt- und Objekt Bewußtsein
stimmen in der ihnen wesentlichen Form der Einheit
überein. So notwendig einheitlich das Denken, so not-
wendig einheitlich ist der Gegenstand des Denkens.
Wenn es außer der zu unserer Erfahrung gelangenden
Wirklichkeit noch eine chaotische und regellose geben
würde, — Gegenstand des Denkens könnte sie niemals
werden. Soweit die Dinge Gegenstände des Denkens
sind, oder bildlich gesprochen nach ihrer uns zuge-
kehrten Seite müssen sie ihrer eigenen Form nach denk-
bare Dinge sein; soweit sind die Gesetze des Denkens
zugleich die Gesetze der Dinge selbst. Die Dinge in
der Erfahrung stehen unter den Denkgesetzen und darum
ist Erfahrung Erkenntnis.
FÜNFTER VORTRAG.
DER NATURWISSENSCHAFTLICHE UND DER
PHILOSOPHISCHE MONISMUS.
Mechanistische Anschauungen — man nennt sie
gewöhnlich materialistische — treffen heute im Kreise
der Naturforschung selbst auf Widerspruch, oder man
begegnet ihnen doch mit einer Zurückhaltung, die sehr
verschieden ist von der Zuversicht, mit der sie noch
bis vor kurzem behauptet wurden. Es waren nicht, wie
man wohl denken könnte, erkenntnistheoretische Er-
wägungen, die zu dem Zweifel führten: ob in den Be-
griffen von Masse und Kraft oder Masse und Bewegung
wirklich die ausreichenden Darstellungsformen für die
Vorgänge in der Natur gegeben seien; obschon auch
Erwägungen dieser Art in der Wissenschaft unserer Zeit
immer mehr Gewicht und Einfluß gewinnen. Insbesondere
handelte es sich, um gleich den wichtigsten Gegenstand
zu nennen, nicht um die Frage nach der Entstehung
von Bewußtsein, eine Frage, die für eine rein mecha-
nistische Naturanschauung, wie es sich von selbst ver-
steht, transcendent bleiben muß, und auf welche daher
ein Wortführer dieser Anschauung ganz folgerichtig sein:
ignorabimus zur Antwort gab. Die Kritik des mecha-
nischen Weltbildes ist vielmehr zu einer inneren Ange-
legenheit der Naturwissenschaft selbst geworden. Dieses
Bild, übertragen von den sichtbaren Bewegungen der
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, 129
Massen, vor allem der kosmischen, auf die unsichtbaren
von Massenelementen, die zum Teil erst um des Bildes
willen angenommen werden, erweist sich schon als un-
geeignet oder doch unbequem, wenn es physikalische
Vorgänge darstellen soll, die wie die thermischen und
die elektrischen nicht unmittelbar mechanischer Be-
schaffenheit sind, in die Sprache der Mechanik also erst
übersetzt werden müssen. Wohl wird die Einbildungs-
kraft des Naturforschers für solche Vorgänge mechanische
Modelle ersinnen können — und wer wollte ihr dies
verwehren? — , mehr aber an empirischem Gehalt kann sie
in ihre Symbole nicht aufnehmen, als schon ohne sie
durch die Tatsachen gegeben wird. Im Gegenteil, vieles
von der Eigenart der Erscheinungen muß fallen gelassen
werden, wenn sich die Zeichnung auf die äußeren Um-
risse des Geschehens beschränkt. Dies soll uns jedoch
nicht abhalten, den Wert solcher Mittel der Veranschau-
lichung anzuerkennen, und an dem Bildersturm, den ein
namhafter Naturforscher jüngst erregt hat, brauchen wir
uns nicht zu beteiligen. Mit der nämlichen Notwendig-
keit, mit welcher unser Geist Begriffe abstrahiert, schafft
er auch Bilder für seine Begriffe. Und so werden wir
fortfahren, in der mechanischen Symbolik ein „universelles
Abbildungs verfahren" zu sehen, da ja jeder physikalische
Vorgang in der Tat eine mechanische Seite hat^ wenn
wir auch von ihr nicht länger ein „vollständiges Weltbild"
erwarten.
Der Anstoß zu der antimechanistischen Bewegung
in der theoretischen Naturwissenschaft ging von der
größten wissenschaftlichen Entdeckung des neunzehnten
Jahrhunderts aus, von der Entdeckung der Erhaltung
der Energie. Hier war ein Prinzip gefunden, zu dessen
*
i\,uffindung und Beweis die Mechanik nichts wesentliches
Riehl, Philosophie der Gegenwart. g
I 00 Fünfter Vortrag.
beigetragen hat und das durch die nachträgliche mecha-
nische Deutung an Sicherheit nichts gewinnen konnte,
an Allgemeinheit dagegen verlieren mußte. Zu der von
Lavoisier nachgewiesenen Unveränderlichkeit der Masse
war jetzt eine zweite Invariante, eine zweite unveränder-
liche Größe in der Natur hinzugekommen, die man
anfangs „Kraft" nannte, die wir heute nach dem Vor-
gang von William Thomson als Energie bezeichnen.
Was lag nun näher, als zu versuchen, statt mit zwei
Größen mit Einer auszulangen und als diese Eine Größe
die Energie zu betrachten; entspricht doch dieser Ver-
such dem Streben des Denkens nach möglichster Ver-
einfachung und Einheit. Und so ist heute zu dem
mechanischen Weltbilde in seinen beiden Formen, dem
System der Beschleunigungen und dem System starrer
Massenverbindungen, ein weiteres: das energetische hin-
zugetreten, das als seinen Vorzug rühmt, alles Hypo-
thetische auszuschließen und sich auf die meßbaren
Erscheinungen zu beschränken, aber freilich dafür auf
Anschaulichkeit im einzelnen verzichten muß. Dieses
energetische Weltbild ist der naturwissenschaftliche
Monismus.
Es gibt in der Geschichte der Wissenschaft viel-
leicht kein zweites Beispiel, bei welchem der Erfolg des
Zusammenwirkens von Erfahrung und Denken so un-
mittelbar und augenfällig hervortritt, wie bei der Auf-
findung und dem Beweis des Energieprinzipes und darum
soll hier auf die erste Entdeckung dieses Prinzipes
näher eingegangen werden.
Im Jahre 1842 erschien im Maiheft von Liebigs
Annalen der Chemie ein kleiner Aufsatz unter der Über-
schrift: Bemerkungen über die Kräfte der unbe-
lebten Natur. Der Autor war ein damals noch unbe-
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, 131
kannter Arzt in Heilbronn, Julius Robert Mayer. Die
Schrift führte sich selbst als eine solche ein, die sich
mit ihren Gedanken an „Freunde klarer hypothesen-
freier Naturanschauung" wenden will und ihr Zweck
war anscheinend nur, die herkömmlichen, mit dem
Worte Kraft verknüpften Begriffe zu berichtigen und
durch Beseitigung alles „Unbekannten, Unerforschlichen
und Hypothetischen" aus dieser Benennung den Begriff
der Kraft so präzis aufzufassen, wie den der Materie.
Nur als eine praktische Folgerung und gleichsam als
Resume erscheint zum Schlüsse die erste Berechnung
des mechanischen Äquivalentes, oder des Arbeitswertes
der Wärme. Was die kleine Abhandlung, mit deren
Veröffentlichung ihr Verfasser sich nur die Priorität
seiner Entdeckung sichern wollte, an grundlegenden
Gedanken sonst noch enthielt, so den Begriff der
Distanzenergie, die hier unter dem Namen „Fallkraft"
zum ersten Male erscheint, konnte erst von einer
späteren Zeit zum Verständnis gebracht werden. Mayer
hatte bei seiner Rückkehr aus Ostindien, wohin er als
Schiffsarzt in hoUändichen Diensten gekommen war, ein
neues „System der Physik" mitgebracht, von dem er
wußte und voraussagte, daß es, wenn es sich bewahr-
heiten lasse, eine Umwälzung und Neugestaltung dieser
Wissenschaft herbeiführen müsse. Und die Zeit hat
seine Voraussage erfüllt. Den Grundgedanken der neuen
Physik sprach Mayer sogleich in klarer Fassung in einem
Artikel aus, der aber in der Zeitschrift, für die er be-
stimmt war, nicht zum Abdruck gelangte. „Bewegung,
Wärme, Elektrizität sind Erscheinungen, welche auf eine
Kraft zurückgeführt werden können, einander messen
und nach bestimmten Gesetzen ineinander übergehen.
Bewegung geht in Wärme über dadurch, daß sie durch
9*
132
Fünfter Vortra?.
eine entgegengesetzte Bewegung oder durch einen festen
Punkt neutralisiert wird, die entstandene Wärme ist
der verschwundenen Bewegung proportional Die Wärme
andererseits geht in Bewegung dadurch über, daß sie die
Körper ausdehnt." Wir sind in den Stand gesetzt, die
Entwickelung dieses Gedankens von seinem ersten Keime
bis zu seiner Vollendung zu verfolgen, so schlicht und
unmittelbar, schmucklos und aufrichtig sind Mayers
briefliche Mitteilungen darüber und sein Bericht in den
, Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der
Wärme" aus dem Jahre 185 1. Danach kann es nicht
länger einem Zweifel unterliegen, daß Mayer bei seiner
Entdeckung den nämlichen Weg eingeschlagen hat, der
bei einer naturwissenschaftlichen Entdeckung noch jedes-
mal eingeschlagen wurde: den Weg denkender Be-
obachtung, unterstützt durch das Experiment. Eine ihm
auffällige Beobachtung, oder wie Mayer es bescheiden
ausdrückt: ein Zufall, brachte seine Gedanken auf die
neue Bahn. Bei Aderlässen, die er nach der Therapie
der damaligen Zeit auf Java an eben angekommenen
Europäern vorzunehmen hatte, überraschte ihn die hell-
rote Farbe des Venenblutes. Er deutete sich die Er-
scheinung, die sogleich seine volle Aufmerksamkeit
fesselte, nach der Theorie Lavoisiers, der zufolge die
animale Wärme das Ergebnis des am Blute stattfindenden
Verbrennungsprozesses ist. Der Größe des Farben-
unterschiedes zwischen den beiden Blutsorten entspricht
die Stärke der an dem Blute vorgegangenen Ver-
brennung; bei dem viel geringeren Wärmebedarf in den
Tropen muß aber ein entsprechend geringerer Oxydations-
vorgang eintreten: daher die hellrote Färbung des venösen
Blutes. An diese schöne Bestätigung der Theorie La-
voisiers knüpfte sich für Mayer sogleich eine weitere
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. iß?
Frage an. Der Tierkörper vermag auf zwei Wegen
Wärme zu erzeugen: unmittelbar in seinem Inneren
durch Oxydation der dem Blute zugefiihrten Nahrungs-
mittel und mittelbar an andern Körpern durch mecha-
nische Arbeit, wie Stoß, Reibung, Kompression der Luft.
„Nun ist zu wissen nötig: ob die direkt entwickelte
Wärme allein, oder ob die Summe der auf direktem
und indirektem Wege entwickelten Wärmemengen auf
Rechnung des Verbrennungsprozesses zu bringen ist?"
d. h., wir wollen wissen: ob sich bei gleichbleibendem
Materialverbrauche die unmittelbar entwickelte Wärme-
menge um den Betrag der mittelbar entwickelten ver-
mindere, oder ob diese als Mehr zu jener hinzukomme.
Schon aus der Stellung dieser Frage, die, wie man
leicht sieht, die mechanische Wärmetheorie im Keime
enthält, gibt sich die große Originalität Mayers zu
erkennen: war es doch von jeher das Vorrecht des
geborenen Forschers, des Forschers von Gnaden der
Natur, an die Natur mit richtigen und bestimmten
Fragen herantreten zu können. Mayer findet die Ant-
wort auf seine Frage bereits in dem Hauptsatz der
physiologischen Verbrennungstheorie gegeben. Nach
diesem Satze ist die Wärmemenge, welche bei der
Oxydation einer gegebenen Menge von Material ent-
steht, eine unveränderliche, von den Umständen der
Verbrennung unabhängige Größe. Sie kann also auch
durch den Lebensprozeß keine Größenveränderung er-
leiden, d. i. der lebende Organismus vermag nicht
Wärme aus Nichts zu erzeugen; es bleibt also nur die
Annahme zulässig, daß die gesamte, teils unmittelbar,
teils auf mechanischem Wege vom Tierkörper ent-
wickelte Wärme dem Verbrennungseffekte quantitativ
gleich ist. Dann muß aber auch „die vom lebenden
l^A Fünfter Vortrag.
Körper erzeugte mechanische Wärme mit der dazu ver-
brauchten Arbeit in einem unveränderlichen Größen-
verhältnis stehen. Denn, könnten durch die nämliche
Arbeit und bei gleichbleibendem organischen Ver-
brennungsprozesse verschieden große Wärmemengen er-
zielt werden, so würde ja die produzierte Wärme bei
einem und demselben Materialverbrauche bald kleiner,
bald größer ausfallen können, was gegen die Annahme
ist." Und da endlich zwischen der mechanischen Leistung
der Tierkörper und anderen anorganischen Arbeitsarten
kein wesentlicher Unterschied besteht, so ist „eine un-
veränderliche Größenbeziehung zwischen Wärme und
Arbeit ein Postulat der physiologischen Verbrennungs-
theorie". Gedanken wie diese erfüllten Mayer bei seiner
Rückfahrt aus Java; das Ganze seiner Lehre stand in
hellstem Lichte vor seinem Geiste und er hatte Stunden,
in denen er sich gleichsam inspiriert fühlte. Von der
Physiologie sah er sich zur Chemie, von dieser auf die
Physik verwiesen und vor eine physikalische Aufgabe
von prinzipieller Bedeutung gestellt: die Aufgabe, die
vorausgesetzte Gleichung zwischen Arbeitsverbrauch und
Wärmeerzeugung aufzulösen, d. h. die in Betracht
kommenden Größen zu bestimmen. In der Lösung
dieser Aufgabe sah er eine „Lebensfrage" für seine
Theorie, so wenig genügte ihm für sie ein Beweis
a priori, mochte sich ein solcher auch mit „mathe-
matischer Gewißheit" führen lassen. Er forderte viel-
mehr vor allem die Bestätigung durch den Versuch;
seine Theorie, erklärt er, wäre widerlegt, wenn die Er-
fahrung Gegenteiliges lehren würde. Auf höchst sinn-
reiche und, wie heute nicht mehr bestritten wird, völlig
einwandfreie Weise löste Mayer seine Aufgabe. Er
ging von den Untersuchungen über die Wärmeverhältnisse
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 125
der Gase bei constantem Druck und bei constantem
Volum aus und nahm so den einzigen Weg, der ohne
neue Experimente zum Ziele führte, und zwar mit klarem
Bewußtsein von der Richtigkeit dieses Weges. Die Ver-
suche von Gay Lussac hatten gezeigt, daß die spezifische
Wärme eines Gases keine merkliche Veränderung er-
fährt, wenn das Gas in einen luftleeren Raum strömt,
daß also zur Ausdehnung eines Gases an und für sich
ein Wärmeaufwand nicht erforderlich ist. Mit Berufung
auf diese Versuche und auf die Tatsache, daß ein Gas,
das sich unter einem Drucke ausdehnt, eine Temperatur-
verminderung erleidet, setzte Mayer die bei dem Zu-
sammendrücken eines Gases verbrauchte Arbeit der bei
der Kompression des Gases entbundenen Wärme gleich
und berechnete^ so zum ersten Male den Arbeitswert
der Wärme.
Diese naturwissenschaftliche Gedankenreihe ist bei
Mayer getragen und verknüpft durch allgemein-wissen-
schaftliche oder philosophische Anschauungen, deren
Richtigkeit nicht erst durch den Erfolg erwiesen zu
werden braucht, die vielmehr die Gewähr für ihre Wahr-
heit in sich selber haben.
Arbeit und Wärme lassen sich unmittelbar nicht
vergleichen; es gibt kein für beide gemeinschaftliches
Maß. Sie können also nur unter gewissen Voraus-
setzungen gleich gesetzt werden. Der Versuch kann
niemals mehr zeigen als Proportionalität, d. i. ein direktes
und bestimmtes Verhältnis ihrer Größen: einem be-
stimmten Betrage von Arbeitsverbrauch entspricht jedes-
mal ein gleichfalls bestimmter Betrag von Wärmegewinn
und umgekehrt muß eine bestimmte Menge von Wärme
verbraucht werden, um ein bestimmtes Maß von Arbeit
zu leisten. Mayer schließt aber aus der Proportionalität
I^ö Fünfter Vortrag.
nicht bloß auf Äquivalenz oder Gleichwertigkeit, er
schließt auf Gleichheit der Größen, — genauer auf
Identität der Größe. Es sind nicht zwei Größen da, es
ist nur eine Größe da, nur erscheint sie in zwei Formen
und muß daher nach verschiedenem Maße geraessen
werden. „Was in einem Augenblick Wärme ist, ist im
nächsten Bewegung — und dasselbe gilt auch umge-
kehrt." Hier nun greifen die allgemein-wissenschaftlichen
Anschauungen ein, die sich Mayer von der Form des
ursächlichen Zusammenhanges gebildet hatte und welche
für seine Theorie nicht minder wesentlich sind als Be-
obachtung und Experiment. Jedes richtig gedachte
Kausalverhältnis muß eine Gleichung enthalten; denn
Kausalität beruht auf dem Fortbestehen der Größe der
Ursache als Größe der Wirkung; so gewiß ein Entstehen
aus Nichts und ein Vergehen in Nichts ausgeschlossen
ist von allem Denken und aller Erfahrung. „Ursache
und Wirkung bezeichnen nichts als verschiedene Er-
scheinungsformen eines und desselben Objektes." Die
Anwendung dieses Satzes auf das meßbare Objekt,
das wir nach Mayer „Kraft" zu nennen haben, ist der
allgemeine Satz der Erhaltung der Kraft oder der Energie.
Ein direkter Beweis ist so wenig von diesem Satze
möglich, wie von dem parallelen der Erhaltung der
Materie; ohne die Voraussetzung des Satzes aber wäre
die Beobachtung richtungslos und der Beweis durch das
Experiment unvollständig. Die Unzerstörlichkeit der
„Kraft" mußte in Gedanken festgestellt sein, um auch
nur die Frage aufwerfen zu können, was aus der ver-
schwundenen Bewegung geworden sei und woher die
entstandene Bewegung stamme. Ohne das Prinzip der
Beharrlichkeit im voraus anzunehmen, kann der em-
pirische Beweis desselben nicht begonnen werden, ohne
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. i^T"
dieses Prinzip ist er aber auch nicht zu vollenden. Es
gibt Grenzen der messenden Beobachtung, ein voll-
ständiger Beweis der quantitativen Unveränderlichkeit
es sei der Energie, oder der Materie, läßt sich daher
durch Beobachtung allein nicht liefern. Warum sollte
nicht die Äquivalenzzahl bei irgend einer Umwandlung
von Energie um äußerst weniges kleiner sein können
als bei der Verwandlung in umgekehrter Richtung. Und
gesetzt, wir lassen unsere Messungen für absolut genau
gelten, warum sollte nicht die verschwundene Bewegung
tatsächlich vernichtet, die entstandene Wärme aus nichts
geschaffen sein, stünde nicht von vorne herein fest, daß
nichts aus nichts entstehen, nichts in nichts vergehen
kann? Ohne diesen verbindenden Gedanken fielen die
Glieder unseres Beweises auseinander, der Faden würde
reißen, der die auf einanderfolgenden Erscheinungen
einheitlich verknüpft. Das Denken ergänzt die reine
Erfahrung.
In wahrhaft mustergiltiger Weise wirken bei Mayers
Entdeckung Erfahrung und Denken zusammen; der An-
teil der Tatsachen und die Bedeutung ihrer begrifflichen
Erfassung zur Herbeiführung des Schlußergebnisses treten
auf das Klarste hervor. „Wir sehen in unzähligen Fällen
eine Bewegung aufhören, ohne daß sie eine andere Be-
wegung oder eine Gewichtserhebung hervorgebracht
hätte; eine einmal gegebene Kraft kann aber nicht zu
Null werden, sondern nur in eine andere Form übergehen
und es fragt sich somit, welche weitere Form die Kraft,,
die wir als Fallkraft und Bewegung kennen gelernt, an-
zunehmen fähig sei? Nur die Erfahrung kann uns
darüber Aufschluß geben." Das allgemeine Prinzip der
Größenunveränderlichkeit der Energie gibt uns die An-
weisung, nach der besonderen Erscheinungsform für die
1^8 Fünfter Vortrag.
verschwundene Bewegung zu suchen; die Erfahrung
zeigt uns, was für eine Erscheinungsform es sei. Sie
zeigt uns, daß in vielen Fällen an Stelle der aufhörenden
Bewegung nichts anderes gefunden werden kann als die
Wärme. Und „so ziehen wir die Annahme, Wärme
entsteht aus Bewegung, der Annahme einer Wirkung
ohne Ursache und einer Ursache ohne Wirkung vor,
wie der Chemiker statt H und O ohne Nachfrage ver-
schwinden und Wasser auf unerklärte Weise entstehen
zu lassen, einen Zusammenhang zwischen H und O
einer- und Wasser andererseits statuiert." Das Gefüge
dieses Schlusses würde sich lösen, wollten wir den einen
oder den anderen der beiden Pfeiler, die ihn tragen,
herausnehmen; ohne Erfahrung bliebe das allgemeine
Prinzip der Beharrlichkeit eine bloße Denkform für
mögliche Dinge, ohne das Prinzip käme es zu keinem
Verständnis der Erfahrung.
Enthielt Mayers erste Veröffentlichung, wie es ihrem
Zwecke entsprach, außer der Angabe des mechanischen
Wärmeäquivalentes nur einige Grundsätze der neuen
Lehre, so bringt schon die zweite, 1845 erschienene
Schrift: die organische Bewegung in ihrem Zu-
sammenhange mit dem Stoffwechsel die Aus-
führung der Lehre selbst. Dieses Hauptwerk Mayers
ist zum Programme der heutigen Physik geworden. Der
Titel — Mayer selbst hat dies später empfunden — ist
nicht gut gewählt; er lenkt die Aufmerksamkeit von
der Hauptsache, dem Physikalischen, auf das diesem
Untergeordnete, das Physiologische, ab. Wenn gegen-
wärtig die Physik als die Lehre von den Erscheinungen
und insbesondere den Formänderungen der Energie
aufgefaßt wird, so ist Mayer es gewesen, der ihr zuerst
diese Aufgabe gestellt hat. „Was die Chemie in Be-
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 139
Ziehung auf Materie, das hat die Physik in Beziehung
auf Kraft zu leisten. Die Kraft in ihren verschiedenen
Formen kennen zu lernen, die Bedingungen ihrer
Metamorphosen zu erforschen, dies ist die einzige
Aufgabe der Physik. Es gibt in Wahrheit nur eine
einzige Kraft. In ewigem Wechsel kreist dieselbe in
der toten wie in der lebenden Natur; dort und hier kein
Vorgang ohne Formänderung der Kraft." Sie erinnern
sich, daß Mayer mit dem Worte Kraft dasselbe be-
zeichnet, was wir heute Energie nennen. Als Haupt-
formen der Kraft oder Energie zählt Mayer auf: Fall-
kraft oder Distanzenergie, Bewegung, Wärme, Magnetis-
mus und Elektrizität, chemische Differenz. Die Ver-
wandlungen dieser Energieformen ineinander werden
übersichtlich angegeben und an Experimenten erläutert.
Es war dies keine „bloße Zusammenstellung bekannter
Fakta", wie der Berichterstatter über die Mayersche
Schrift in den Berliner „Fortschritten der Physik" noch
1850 behauptete, sondern eine völlig neue Verbindung
bekannter und die Mitteilung wichtiger, für die damalige
Wissenschaft neuer Tatsachen, so des Wärmekonsums bei
der Arbeit einer Dampfmaschine, des Aufwandes von
mechanischem Effekt bei der Erzeugung einer elek-
trischen und einer magnetischen Spannung. Die Methode
der Berechnung des mechanischen Äquivalentes der
Wärme wird gezeigt und begründet, das Energieprinzip
in seiner größten Verallgemeinerung dargestellt. Der
weite Blick des Forschers umspannt die Erscheinungen
der Natur von dem Licht der Sonne, das in Wärme
verwandelt zur Quelle der Bewegung und des Lebens
auf der Erde wird, bis zu den Vorgängen in den pflanz-
lichen und tierischen Leibern; aus der Physik des Labora-
toriums werden wir in die Physik der freien Natur geführt.
140 Fünfter Vortrag.
Man hat Mayer mit Galilei verglichen und wirklich
war er gleich diesem Schöpfer der modernen Wissen-
schaft „eine von den Einflüssen der Schule freie Natur".
Aber seine Entdeckung war — er selbst hat dies immer
anerkannt — weit mehr vorbereitet, als die Entdeckung
Galileis, auch erforderte sie nicht wie diese eine besondere
mathematische Erfindungsgabe. Ein oberstes Denkgesetz
ließ sich unmittelbar auf die Tatsachen anwenden und
die Anwendung durch den Versuch bestätigen. Wohl aber
befolgte Mayer das von Galilei eingeführte analytische,
oder induktiv-deduktive Verfahren. Auch er ging zu-
nächst von einer Beobachtung aus und leitete aus ihr
eine theoretische Annahme her, die er in ihre Kon-
sequenzen entwickelte; diese Konsequenzen aus seiner
Annahme prüfte er sodann an der Erfahrung und be-
stimmte schließlich auf Grund eines Experimentes die
in der Natur gegebene Konstante: den Arbeitswert der
Wärme. In dieser Größenbestimmung sah er das Wesent-
liche seiner Entdeckung; flir sie vor allem nahm er das
Recht der Priorität in Anspruch. „Was Kraft, was
Wärme ist, brauchen wir nicht zu wissen, — aber das
müssen wir wissen, wie man die Kraft oder Arbeit nach
unveränderlichen Einheiten zählt und daß und welche
unveränderliche Größenbeziehung zwischen dem Meter-
Kilogramm und der Wärmeeinheit stattfindet. Dieses
Wissen ist es, welches die Grundlage einer neuen Wissen-
schaft bildet und welches eine Neugestaltung der Natur-
wissenschaften hervorruft." „Zahlen sind die Fundamente
einer exakten Naturforschung." Gegen „alles Hypo-
thetisierte und eitel Spekulative" empfand Mayer, den
seine Gegner zu einem Metaphysiker machen wollten,
die entschiedenste Abneigung. Auch hierin hielt er sich
genau auf der Linie, die Galilei der Naturforschung vor-
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 141
gezeichnet hatte; seine Physik ist gleich derjenigen
Galileis eine Physik der Tatsachen und der Gesetze, nicht
der Hypothesen, wie es die Physik Descartes* war. „In
den exakten Wissenschaften hat man es mit den Er-
scheinungen selbst, mit meßbaren Größen zu tun. — Ist
einmal eine Tatsache nach allen ihren Seiten bekannt,
so ist sie auch erklärt und die Aufgabe der Wissen-
schaft ist beendigt." Aus diesen Sätzen Mayers redet
der Geist der Methode unserer heutigen Naturforschung.
Als Hypothese betrachtet Mayer alles, „was sich
weder beweisen, noch widerlegen läßt". Ausdrücklich
erklärte er sich daher auch gegen die „nahe gelegte,
aber unerwiesene und zu weit gehende Folgerung, als
ob die Wärmeerscheinungen schlechthin als Bewegungs-
erscheinung aufzufassen seien". Ihm schien vielmehr das
Gegenteil gefolgert werden zu müssen: „daß um zu
Wärme werden zu können die Bewegung — sei sie die
einfache oder eine vibrierende — aufhören müsse, Be-
wegung zu sein". Er lehnt es ab, den Vorgang der
Verwandlung selbst zu erklären: „wie aus der ver-
schwindenden Bewegung Wärme entstehe, oder wie die
Bewegung in Wärme übergehe, darüber Aufschluß zu
verlangen, wäre von den menschlichen Geist zu viel
verlangt." Das Wort: umwandeln bedeutet ihm nie
etwas anders als eine „konstante numerische Beziehung."
,,In unzähligen Fällen, schreibt er in der ,organischen
Bewegung,' gehen die Umwandlungen der Materien und
der Kräfte auf anorganischen und organischen Wegen
vor unseren Augen vor, und doch enthält jeder dieser
Prozesse ein für das menschliche Erkenntnisvermögen
undurchdringliches Mysterium. Die scharfe Bezeichnung
der natürlichen Grenzen menschlicher Forschung ist für
die Wissenschaft eine Aufgabe von praktischem Werte,
142 Fünfter Vortrag,
während die Versuche in die Tiefen der Weltordnung
durch Hypothesen einzudringen, ein Seitenstück bilden
zu dem Streben des Adepten". Deutlicher gegen alle
metaphysische Spekulation und zugleich gegen einen
dogmatischen Positivismus kann man sich nicht erklären.
Mayer kam von der Chemie her zur Physik und
statt mit Galilei muß man ihn mit Lavoisier vergleichen.
Was dieser für die Chemie, hat Mayer für die Physik
getan. Er hat den in der Chemie seit Lavoisier be-
währten Grundsatz der Unzerstörlichkeit der Substanz
auf die Physik übertragen; daher sein Axiom: „eine Kraft
ist nicht weniger unzerstörlich als eine Substanz". Diese
Übertragung mußte ihm durch die Beobachtung, daß
die animale Wärme an einen Stofifverbrauch gebunden
ist, besonders nahe gelegt worden sein; auch fand er
eine Anknüpfung fiir sie in dem wissenschaftlichen Sprach-
gebrauch seiner Zeit, welchem gemäß Wärme, elektrische
und magnetische Energie als Imponderabilien, als un-
wägbare Substanzen bezeichnet wurden. Daher die
zunächst etwas befremdlich erscheinende Begriffsbe-
stimmung: „Kräfte sind unzerstörliche, wandelbare, im-
ponderable Objekte".
Auch die substantielle Auffassung der Kausalität,
Mayers Verdienst um die erkenntnistheoretische Forschung,
hat in dieser Verallgemeinerung der chemischen Gesichts-
punkte ihre Quelle und nicht in einer bloßen Spekulation.
Mayer denkt sich den Vorgang einer Verursachung in
zwei Bestandteile zerlegt: der eine gehorcht dem Sub-
stanz- oder Beharrungsgesetze, von ihm gilt daher der
Grundsatz der Größenübereinstimmung, genauer der
Konstanz der Größe von Ursache und Wirkung (causa
sequat effectum), er allein soll auch unter dem Aus-
druck Ursache zu verstehen sein; der zweite, Mayer
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 14^
nennt ihn Auslösung, hat kein quantitativ bestimmtes
Verhältnis zur Wirkung und geht auch nicht in diese
über. Für die Größe des mechanischen Effektes einer
Explosion z. B. ist es gleichgiltig, ob die Pulvermenge
durch einen Funken oder mit einer Fackel entzündet
wird; der Funke verwandelt sich auch nicht in Explosion.
Wie man sieht, handelt es sich um eine völlig sachge-
mäße Unterscheidung und die Forderung Mayers, zwei
so gänzlich verschiedene Beziehungen wie Veranlassung
und Ursache eines Vorganges nicht mit einem und
demselben Namen zu bezeichnen, erscheint durchaus
berechtigt. Welche der beiden Beziehungen wir als
Ursache bezeichnen wollen ist gleichgiltig, wenn wir
nur konsequent verfahren; auch, was die Ursachenfrage
angeht, können wir das Wort Mayers über die „Kräfte-
frage" benützend sagen, so handelt es sich nicht darum,
was Ursache für ein Ding ist, sondern darum, welches
Ding wir Ursache nennen wollen. In der lebenden Natur
gewinnen die „Auslösungen" gegenüber den „Ursachen"
mehr und mehr an Bedeutung und vollends im Be-
reiche der menschlichen Geschichte hat sich ihr gegen-
seitiges Wertverhältnis umgekehrt. Hier, wo wir vor
allem nach der Qualität der Vorgänge fragen, erscheinen
uns die Auslösungen als das Wichtigste; sie allein schreiben
wir dem Willen des Menschen zu und für sie allein machen
wir die Menschen verantwortlich. Diese völlig andere
Bedeutung der Auslösungen bildet vielleicht die wesent-
lichste Differenz der Geschichte von den Naturwissen-
schaften und man könnte versucht sein, die Auslösungen
als die historischen Ursachen zu bezeichnen und sie so von
den physikalischen zu unterscheiden. Für die letzteren
zunächst, die ihrer Form nach quantitativ sind, gilt die
Auffassung Mayers. Ursache und Wirkung erscheinen
T/j/j Fünfter Vortrag.
in dieser Auffassung durch den Substanzbegriff zur Ein-
heit verbunden. Im Kausalgesetz ist das Substanzgesetz
enthalten; die Identität der Größe ist das Band der ur-
sächlichen Verknüpfung. Diese Anschauung war in der
präzisen Form, in die Mayer sie gebracht, der Wissen-
schaft vor ihm verborgen geblieben, wie nahe ihr auch
Kant gekommen war. Humes Problem ist erst damit
gelöst. Ursächliche Abfolge unterscheidet sich von zeit-
licher Folge, auch wenn diese eine vollkommen regel-
mäßige ist, durch die Konstanz der Größe, die das
Vorangehende mit dem Folgenden einheitlich verbindet;
und da diese Verbindung der Form alles Begreifens, dem
Satze des logischen Grundes, d. i. der Identität des
Grundes in der Folge entspricht, macht sie zugleich die
Notwendigkeit im ursächlichen Verhältnis begreiflich.
Zwischen den Denkgesetzen und der objektiven Welt
besteht eine allgemeine Harmonie und diese nachzu-
weisen ist, wie unser Forscher erklärt: „die interessanteste,
aber auch die umfassendste Aufgabe, die sich finden läßt."
Die Versuche, die Lehre von der Energie zu einer
energetischen Naturphilosophie auszubauen, gehen über
Mayers eigene Anschauungen hinaus. Zwar hatte Mayer
nachgewiesen, daß ein oberstes Naturgesetz: die quanti-
tative Unveränderlichkeit des Gegebenen sich auf gleiche
Weise über „Kraft" und Materie erstreckt; wie nahe
aber auch damit die beiden Begriffe gerückt werden
mögen, ein wesentlicher Unterschied, worauf ihre Dualität
beruht, das ist, daß es zwei Begriffe sind, nicht einer,
bleibt bestehen. Es ist der Unterschied zwischen den
Eigenschaften eines physischen Körpers, welche nicht
ineinander übergehen, also kein Ausgleichungsbestreben
zeigen, — schon Mayer nannte sie Kapazitäten, und
solchen Bestimmungen, welche allen Körpern zukommen
Nahirwissenschaftlicher und pMlosophischer Monismus. iac
und wieder allen fehlen können. Eine Last kann ge-
hoben sein, sie hat in diesem Falle Distanzenergie oder
„Fallkraft", deren Größe gleich ist der zur Erhebung der
Last verbrauchten Arbeit; oder sie kann auf dem Boden
ruhen, ihre Energie ist dann gleich Null, ihre Masse da-
gegen, das ist, wie Mayer sie auffaßt, ihre „Bewegungs-
kapazität" ist in beiden Fällen die nämliche. „Wärme-
kapazität und Wärme, Schwere und Fallkraft, chemische
Affinität und chemische Differenz sind, wie Präparieren
und Operieren, ( — sagt der Arzt) ganz verschiedene
Dinge." „Zwei Abteilungen von Ursachen finden sich
in der Natur vor, zwischen denen erfahrungsmäßig keine
Übergänge stattfinden, — Materien (Stoffe) und Kräfte
(Energieformen). Auch hier also hält sich Mayer streng
innerhalb der Grenzen der Erfahrung und für die Gegen-
ständlichkeit seines Denkens liefern diese Aussprüche nur
einen weiteren Beleg.
Seither kann der Philosoph wieder ihm wohlver-
traute Worte vernehmen; diesmal aber aus dem Munde des
Naturforschers. „Das Wesen der Substanz besteht in
der Kraft," lehrte Leibniz. „Was wir von der Materie
wissen, ist schon in dem Begriffe der Energie enthalten,
— die Materie ist nichts als eine räumUch zusammen-
geordnete Gruppe von Energien," lautet das Bekenntnis
des eifrigsten Anwaltes des energetischen Einheits-
gedankens. Und wenn Kant die Körper, populär ge-
redet, als krafterfüllte Räume betrachtet, sofern sich
nach ihm die Materie als das Produkt von Anziehung
und Abstoßung ergibt, die sich bei der Raumerfüllung
im Gleichgewichte befinden, kleidet die moderne Energetik
den nämlichen Gedanken in die Worte: „nur solche
Energien können sich als räumlich gesonderte Er-
scheinungen erhalten, welche durch Verknüpfung mit
Riehl, Philosophie der Gegenwart. lO
1^6 Fünfter Vortrag.
anderen ein zusammengesetztes Gleichgewicht ergeben".
Der Unterschied der beiden sachlich übereinkommenden
Äußerungen liegt nur darin, daß Kant das Gleichge-
wicht durch seine dynamische Konstruktion der Materie
erklären will, während der energetische Naturphilosoph
bei der Tatsache räumlich koexistenter oder ver-
bundener Energien stehen bleibt. — In der Materie
sind Energien dauernd kompensiert, ihre algebraische
Summe ist gleich Null; die Bedingung des Geschehens
oder der Entwicklung dagegen liegt in nicht kom-
pensierbaren Intensitätsunterschieden der Energien, oder,
wie schon Mayer sagte, in dem Fortbestand der
Differenzen.
Diese Anschauungen sollen die Überwindung
des wissenschaftlichen Materialismus herbeiführen,
— herbeigeführt haben, welche Wilhelm Ostwald,
dem wir sie entlehnten, 1895 auf der Naturforscher-
Versammlung zu Lübeck so nachdrücklich verkündet
hat. Ich darf Ostwalds Rede als bekannt voraussetzen
und brauche nur an die darin entwickelten Grundge-
danken zu erinnern.
Alles, was wir von der Außenwelt wissen, besteht
in der Kenntnis der Energieverhältnisse. Was wir
„Materie" nennen, gibt sich uns nur in Wirkungen zu
erkennen, also in Formen der Energie. Messen wir die
Menge der körperlichen Substanz oder die Masse durch
das Gewicht, so messen wir sie durch eine Energie.
In dem Begriff der „Materie" steckt erstens die Maße,
d. h. die Kapazität für Bewegungsenergie, ferner die
Raumerfüllung, oder die Volumenergie, weiter das Ge-
wicht, oder die in der allgemeinen Schwere zu Tage
tretende, besondere Art von Energie der Lage und endlich
die chemischen Eigenschaften, d. h. die chemische
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 147
Energie. Sagt man: aber die Energie muß doch einen
„Träger" haben, denn sie ist doch nur etwas Gedachtes,
während die Materie das Wirkliche ist, so erwidert Ost-
wald: umgekehrt die Materie ist ein Gedankending, das
wir uns konstruiert haben, um das Dauernde im Wechsel
der Erscheinungen darzustellen. Die Erscheinungen sind
uns in Gestalt von Empfindungen gegeben; denn offen-
bar erfahren wir von der physischen Welt nur das, was
uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen.
Als gemeinsame Bedingung aber, damit eines dieser
W^erkzeuge sich betätigt, lasse sich nur diese finden:
„die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede
zwischen ihnen und der Umgebung." Nur Unterschiede
der Temperatur der Umgebung von der Eigentemperatur
unseres Körpers empfinden wir als Wärme oder Kälte;
„in einer Welt, deren Temperatur überall die unseres
Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von
der Wärme erfahren können." Und ebenso haben wir
von dem konstanten Atmosphärendrucke, unter dem wir
leben, keinerlei Empfindung; erst wenn wir uns bewegen,
oder wenn sonst aus irgendwelcher Ursache Änderungen
dieses Druckes entstehen, gelangen wir zu seiner Kennt-
nis. „W^as wir empfinden, sind Unterschiede der Energie-
zustände gegen unsere Sinnesapparate". Dies soll aber
nicht heißen: wir empfinden diese Unterschiede als
solche; die Empfindungen selbst sind uns stets als etwas
Elementares, inhaltlich Einfaches gegeben, mag auch die
Bedingung ihres Eintretens in Energiedifferenzen zu
suchen sein. Das Wirkliche, folgert Ostwald, d. h.
das, was auf uns wirkt, ist nur die Energie, ihr allein
kann das Prädikat der Realität zugesprochen werden.
Sie ist neben den Anschauungsformen Raum und Zeit,
„die einzige Größe, welche den verschiedenen Gebieten
1^8 Fünfter Vortrag.
der Erscheinungen, und zwar allen ohne Ausnahme, ge-
meinsam ist; man kann also zwischen verschiedenen
Gebieten überhaupt nichts anderes einander gleichsetzen,
als die in Frage kommenden Energieformen. „Wir
fragen nicht mehr nach Kräften, die wir nicht nach-
weisen können, zwischen Atomen, die wir nicht be-
obachten können, sondern wir fragen, wenn wir einen
Vorgang beurteilen wollen, nach Art und Menge der
aus- und eintretenden Energien."
Ob die Energetik, wie es in diesen Worten gefordert
wird, bestimmt sei, an Stelle der Mechanik zur Grund-
lage der Physik zu werden, kann nur der Erfolg lehren.
Heinrich Hertz gab diesen Weg einer Umgestaltung der
mechanischen Prinzipien, nachdem er ihn eine Zeit lang
verfolgt hatte, wieder auf. Unabhängig von der Frage
nach dieser wissenschaftlichen, ist die Frage nach der
philosophischen Bedeutung der Energetik. Hat diese
den Dualismus der Grundbegriffe des Naturerkennens
wirklich überwunden, d. i, den Begriff der Materie neben
dem der Energie entbehrlich gemacht?
Es muß als irreführend bezeichnet werden, wenn
von der Energie als einer einzigen Größe neben Raum
und Zeit geredet wird, da jede Energieform sich viel-
mehr als das Produkt zweier Größen darstellt: eines
Kapazitäts- und eines Intensitätsfaktors, die beide reelle
Größen sind. Kapazität bedeutet Aufnahmefähigkeit für
Energie und ist sicher von dieser begrifflich verschieden,
wenn auch sachlich mit ihr verbunden. In den Kapa-
zitäten aber, der Masse z. B. bei der kinetischen Energie,
steckt der empirische Begriff der Materie, und statt diesen
Begriff wirklich eliminieren zu können, hat die Energetik
ihn nur anders benannt. Mag die Materie immerhin ein
Abstraktum sein, darum ist sie noch kein bloßes Ge-
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. iaq
dankending; sie ist überhaupt kein Ding, sondern die
Vorstellungsart von Dingen durch die äußeren Sinne.
Auch die Energie ist ein Abstraktum; konkret sind die
Formen der Energie, so wie sie sich der sinnlichen An-
schauung an räumliche Dinge gebunden zu erkennen
geben. Gehen wir nur dem Leitfaden der Erfahrung
nach — und von ihm darf am wenigsten eine „hypo-
thesenfreie" Naturwissenschaft abgehen wollen — , so
treffen wir in jedem physikalischen Erscheinungsgebiete,
z. B. dem der Elektrizität, auf besondere Größen, die wir
von den Energiegrößen in den betreffenden Gebieten
unterscheiden müssen und uns naturgemäß nur unter dem
Bilde der Materie vorstellen können. Zwischen beiden
Arten von Größen kann so wenig ein Übergang statt-
finden, wie zwischen Raum und Zeit. Wir werden die
Materie nicht los, wie wir den Raum nicht los werden,
wie wir den Raum nicht in die Zeit verwandeln können;
so real also, wie der Unterschied von Raum und Zeit, so
real ist auch der Unterschied von Materie und Energie,
beide aber: Raum und Zeit mit ihrer Verschiedenheit
haben empirische Realität, Wirklichkeit in der Erfahrung,
die in diesen beiden Formen des Anschauens gegeben ist.
Wenn also Ostwald der Materie die Realität abspricht, so
kann er unter Realität nicht die empirische verstehen,
denn diese kommt der Materie in gleicher Weise zu wie
der Energie; und wenn er die Energie zu dem Allein-Wirk-
lichen macht, so muß er mit dem Worte Energie noch
einen anderen Begriff verbinden, als den erfahrungs-
mäßigen der Arbeit und der Arbeitsäquivalente. Der
empirische Begriff Energie hat sich ihm in einen meta-
physischen, der Größenbegriff in einen Wesensbegriff
umgewandelt. Ist die Materie „Erscheinung" der Energie
so muß die Energie „das Ding an sich" der Materie sein.
I^O Fünfter Vortrag.
Von den Dingen an sich aber denken wir mit Kant:
wir wissen nicht, was sie sind, und brauchen es nicht zu
wissen, weil uns doch niemals ein Ding anders vor-
kommen kann als in der Erscheinung.
Es gibt einen ursprünglicheren Dualismus als den
naturwissenschaftlichen von Materie und Energie und an
ihn denken wir zunächst, wenn von Dualismus die Rede
ist. Seine Aufhebung, die mit der Überwindung des
naturwissenschaftlichen Dualismus keineswegs schon ge-
geben ist, erscheint uns als ein wichtigeres Problem, das
unmittelbar unsere geistigen Interessen berührt und den
Charakter unserer Weltanschauung bestimmt. Es ist
der Dualismus von Leib und Seele, den wir meinen,
und das Problem, das sich daran knüpft, der Zusammen-
hang des Physischen und des Psychischen. Die Frage
nach der Natur dieses Zusammenhanges hat von je das
Nachdenken des Menschen beschäftigt.
Eindrucksvolle Erlebnisse, Schlaf und Tod, Visi-
onen Abgeschiedener im Traume haben den Menschen
wohl zuerst auf den Gedanken einer Verdoppelung
seines Wesens gebracht, auf die Annahme eines ,, anderen
Ich", aus solchem Zeug gewebt, wie dem zu Träumen,
Aus primitiven Anschauungen dieser Art ging der Dua-
lismus hervor: die Trennung einer geistigen Substanz
von der körperlichen, der Glaube an eine wesenhafte
Verschiedenheit beider. Auch wir verstehen noch diesen
Glauben, nicht bloß deshalb, weil er uns in unserer
Kindheit eingeprägt wurde, sondern weil wir ihn selbst
zu erleben meinen: — immer dann, wenn wir unseren
Geist frei und unabhängig fühlen, wenn unsere Gedanken
willig strömen, unsere Handlungen mit unseren Be-
strebungen übereinstimmen; — daß immer dann auch
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. j c i
die organischen Prozesse unseres Leibes ungestört ab-
laufen, bemerken wir nicht. Wir unterscheiden uns als
denkende Wesen von den Dingen außer uns und zählen
auch unseren Leib zu diesen äußeren Dingen, nicht zu
unserem wahren Wesen, unserem eigentlichen Innern.
Diesem Innern, der geistigen Natur in uns, schreiben
wir eine fast unbegrenzte Macht und Herrschaft über
den Körper zu. Wir sehen die Bewegung unserer
Glieder, den Lauf und die Richtung unserer Gedanken
dem Geheiß unseres Willens folgen, und selbst die Stim-
mung unseres Leibes scheint uns in hohem Grade von
unserem Willen abhängig zu sein; — wovon der Wille
selbst abhängt, daran denken wir nicht. Freilich, ebenso
oft müssen wir auch das Gegenteil erfahren. Stim-
mungen des Körpers färben unsere Gedanken, hemmen
oder verändern unsere Entschließungen und wir ent-
decken, daß nichts so wenig in unserem freien Belieben
steht, wie unser Wollen. Und so gleicht unser Inneres
dem Schauplatz eines beständigen Kampfes, in welchem
bald der Geist über den Körper, bald der Körper über
den Geist den Sieg behält. Die Tatsachen selbst also,
unsere Erlebnisse, scheinen wie von der Verschiedenheit,
so auch der Wechselwirkung des seelischen und des
körperlichen Prinzips Zeugnis zu geben.
Für eine rein mechanische Naturanschauung ist der
Dualismus unvermeidlich; — schon durch die bloße
Existenz von Bewußtsein in einer Natur, wie diese An-
schauung sie voraussetzt, müßten wir ihn für erwiesen
halten. Ist nichts in der Außenwelt an sich gegeben
als bewegte Masse, so kommt mit der Innenwelt ein
zweites, völlig anderartiges Prinzip hinzu. Es kann da-
her nur einen Mangel an Konsequenz bedeuten, wenn
ein überzeugter Materialist im Sinne dieser Anschauung
1^2 Fünfter Vortrag.
nicht zugleich dualistisch denkt. Wie es aber bei einer
jeden falschen Hypothese geschieht, daß sie fortzeugend
immer neue Hypothesen gebiert, so geschah es auch
mit der Hypothese des Dualismus. Was für Annahmen
sind nicht von der philosophischen Spekulation versucht
worden, das Verhältnis von Leib und Seele aufzuklären,
seit Descartes den Dualismus dogmatisiert hatte! —
von dem „physischen Einfluß", wobei sich die Seele
jedesmal „materialisieren" müßte, wie die Spiritisten
sagen, so oft sie Eindrücke vom Körper empfängt, oder
den Körper bewegt, bis zu der verzweifelten Ausflucht
zur Assistenz Gottes und der „prästabilierten Harmonie".
Und endlich tauchte die Frage, nachdem ihr längst durch
Kant in der Philosophie der Boden entzogen war, sehr
verspätet also, in einer berühmt gewordenen Rede eines
Physiologen wieder auf.
Es ist leicht zu sehen, daß die Frage, welche Du
Bois Reymond aufwarf, verkehrt gestellt ist; und ihre
Richtigstellung allein genügt schon, um jedes Rätsel aus
ihr verschwinden zu machen. Wie aus irgend einer
Verbindung oder Bewegung von Atomen Empfindung
hervorgehen soll, kürzer: wie Atome sollen empfinden
können, läßt sich gar nicht begreifen, wohl aber er-
kennen, daß hier ein wirkliches Problem gar nicht vor-
liegt und die Frage in dieser Form keinen Sinn hat.
Nicht Atome sind uns gegeben, sondern die Empfin-
dungen und statt von den Atomen zu Empfindungen,
natürlich vergeblich, einen Weg zu suchen, hat unsere
Frage vielmehr diese zu sein: wie kommen wir von den
Empfindungen aus zu der Annahme von Atomen? Und
in dieser Form ist die Frage beinahe so schnell gelöst,
wie gestellt. Der Begriff der Atome ist ein Erzeugnis
der Methode. Die exakte Wissenschaft sucht die Er-
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 152
scheinungen zu messen und darum läßt sie alles Spezi-
fische und Qualitative in ihnen unberücksichtigt und
beschränkt sich auf räumliche Größe und Bewegung; sie
sucht die Erscheinungen zu berechnen und ersetzt sie
daher — durch Rechenpfennige. Atome sind Begriffe
von den Elementen der räumlichen Dinge nach Ab-
straktion von den Empfindungen der Dinge. Daß aber
ein Begriff, ein Gedankensymbol für Empfindungen und
das, was diesen zu Grunde liegt, nicht selbst empfinden
kann, ist alles eher als rätselhaft. Die Atomistik ist
eine Zeichensprache für Dinge, die für die Unterscheidung
und Individualisierung der Erscheinungen Stützpunkte,
für die Rechnung Ansatzpunkte liefert und einen abge-
kürzten Ausdruck für bestimmte Seiten der äußeren
Erfahrungen, insbesondere der chemischen, gibt. Zeichen
aber bleiben Zeichen. Was die Differentiale, die un-
endlich kleinen Größen in der Mathematik, sind in der
Physik und Chemie die Atome; sie gehören der näm-
lichen Klasse und Ordnung von Hilfsbegriffen an und
sind, wie Mayer forderte, gleich den Differentialen stets
nur als relativ aufzufassen und in Beziehung zu einem
bestimmten Prozesse zu denken. Nur die beständige
Gewohnheit des Naturforschers, in seinen Gedanken mit
diesen Zeichen für Dinge zu verkehren, konnte über-
haupt den Glauben erzeugen, die Atome selbst seien
die Dinge, die Empfindungen dagegen eine mysteriöse
Zugabe zu den Atomen.
Vielleicht aber hatte Du Bois Reymond ein anderes
Problem im Sinne und seine Frage zielte eigentlich nicht
auf die Empfindung als solche, sondern auf die Tat-
sache des Subjektes. Dann aber müßte es uns erst
recht seltsam berühren, wenn von einem „Tgnorabimus"
geredet wird, wo es sich nicht um ein Nichtwissen-
154 Fünfter Vortrag.
werden oder -können handelt, sondern um die Voraus-
setzung alles Wissens: die Beziehung von Subjekt und
Objekt.
Alle Schwierigkeiten, erklärt Kant, die man in der
Verbindung der denkenden Natur mit der Materie an-
zutreffen glaubt, sind selbstgemachte und beruhen
auf einem bloßen „Blendwerke". Sie entspringen ohne
Ausnahme lediglich aus „jener erschlichenen dualistischen
Vorstellung, daß Materie als solche nicht Erscheinung
sei, der ein unbekannter Gegenstand entspricht, sondern
der Gegenstand selbst, so wie er außer uns und unab-
hängig von aller Sinnlichkeit existiert". „So lange wir
nur innere und äußere Erscheinungen als Vorstellungen
in der Erfahrung mit einander zusammenhalten, finden
wir nichts Widersinniges und nichts, was die Gemein-
schaft beider Art Sinne befremdlich machte. Sobald
wir aber die äußeren Erscheinungen nicht mehr als
Vorstellungen, sondern in derselben Qualität, wie
sie in uns sind, auch als außer uns für sich be-
stehende Dinge ansehen, haben wir einen Charakter
der wirkenden Ursachen außer uns, der sich mit ihren
Wirkungen in uns nicht zusammenreimen will", — dort
Bewegungen, hier Vorstellungen. „Aber wir sollten be-
denken, daß die Körper nicht Gegenstände an sich sind,
sondern eine bloße Erscheinung, wer weiß welches un-
bekannten Gegenstandes; daß die Bewegung nicht die
Wirkung dieser unbekannten Ursache^ sondern bloß die
Erscheinung ihres Einflusses auf unsere Sinne sei, daß
mithin nicht die Bewegung der Materie in uns Vor-
stellungen wirke, sondern daß sie selbst (mithin auch
die Bewegung, die sich dadurch kennbar macht,) bloße
Vorstellung sei." Und so läuft endlich die ganze „be-
rüchtigte" Frage darauf hinaus: wie und durch welche
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 155
Ursache die Vorstellungen unserer Sinnlichkeit so unter-
einander in Verbindung stehen, daß diejenigen, die wir
äußere Anschauungen nennen, nach empirischen
Gesetzen als Gegenstände außer uns vorgestellt wer-
den können" — eine Frage, welche „ganz und gar
nicht die vermeinte Schwierigkeit enthält, den Ursprung
der Vorstellungen von außer uns befindlichen, ganz
fremdartig wirkenden Ursachen zu erklären, indem wir
die Erscheinung einer unbekannten Ursache außer
uns für die Ursache selbst nehmen." Was hier gegen
die Verdinglichung der äußeren Erscheinungen gesagt
wird, gilt mit gleichem Recht und aus demselben
Grunde auch gegen die Verdinglichung der inneren.
In beiden Fällen hält man „die Verschiedenheit der
Vorstellungsart von Gegenständen, die uns nach dem,
was sie an sich sind, unbekannt bleiben, für die Ver-
schiedenheit dieser Dinge selbst." „Das transcenden-
tale Objekt (das Reale), welches den äußeren Er-
scheinungen, ingleichen das, was der inneren Anschau-
ung zum Grunde liegt, ist an sich selbst weder
Materie noch ein denkendes Wesen, sondern ein
uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den
empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweiten
Art (Dinge) an die Hand geben".
Damit ist die Grundlosigkeit des Dualismus gezeigt
und die Frage, die uns beschäftigt, auf den Boden ver-
pflanzt, wo sie allein hingehört, den Boden der Er-
fahrung. Wir fragen nicht länger, in welcher Art Ge-
meinschaft Leib und Seele, als zwei heterogene „Sub-
stanzen" stehen mögen, wir fragen, welche funktionelle
Beziehung oder Abhängigkeit zwischen den physischen
Vorgängen und den psychischen Tätigkeiten tatsächlich
stattfindet und welche Schlüsse aus ihrem empirischen
1^6 Fünfter Vortrag.
Verhältnis zu ziehen sind. Und die Antwort auf diese
Frage muß heute bestimmter lauten, als es zur Zeit
Kants noch möglich gewesen wäre.
Aus dem Energieprinzipe folgt, daß der Verlauf der
Vorgänge in der äußeren Natur ein in sich geschlossener
ist. Jede physische Wirkung ist nach diesem Prinzipe
durch ihre physische Ursache völlig bestimmt, jede
physische Ursache erschöpft sich durch ihre physische
Wirkung. Unter physischer Ursache oder Wirkung ist
einfach eine solche zu verstehen, welche meßbar ist;
eine weitere Voraussetzung über ihre Beschaffenheit,
z. B. ihre Bewegungsnatur, brauchen wir nicht zu machen.
In diesen geschlossenen Naturverlauf nun kann eine
nicht-physische Ursache nicht eingreifen, denn sie hätte
nichts mehr zu bewirken, aus ihm eine nicht-physische
Wirkung nicht hervorgehen, denn jede Wirkung ist be-
reits völlig bestimmt. Psychische Funktionen also können
in diesen Prozeß weder als Ursachen noch als Wirkungen
eingeschaltet sein. Jede Vorstellung, die man sich da-
von bilden könnte, erweist sich näher betrachtet als
unzulässig. Man denkt vielleicht an die Auslösung, die
jede Umwandlung von Energie einleiten muß. Aber
auch die Auslösung ist eine physische Ursache; sie leistet
Arbeit, indem sie das Gleichgewicht zwischen Energien
aufhebt und kein noch so vollkommener Auslösungs-
apparat kann in Bewegung versetzt werden, ohne daß
an ihm Arbeit geleistet wird. Wenn man meint: der
Wille brauche die Bewegung bloß zu lenken, aber nicht
zu erzeugen, so muß erwidert werden, daß auch das
Lenken von Bewegung Bewegung ist. Die Chemie
kennt Reaktionsvorgänge, bei welchen die Gegenwart
einer Substanz anscheinend nur den zeitlichen Verlauf
der Reaktion beeinflußt, diese einleitet oder beschleunigt.
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 157
ohne daß dabei die Substanz selbst endgiltig verändert
wird. Könnte nicht der Einfluß von Wille und Bewußt-
sein ein solcher Kontaktvorgang sein, ein katalytischer
Prozeß, wie die Chemie ihn nennt? Mayer scheint daran
gedacht zu haben. Aber, fürs Erste ist es keineswegs
erwiesen, daß die katalysierende Substanz wirklich an dem
Prozeß selbst nicht beteiligt ist, wenn sie auch zum Schlüsse
desselben in ihrem ursprünglichen Betrage wiederer-
scheint. Und fürs Zweite ist Bewußtsein keine Substanz.
Es bliebe also nur übrig, das Psychische als eine
besondere Form der Energie in die Kette ihrer übrigen
Formen eingereiht zu denken, und da wir nicht anzu-
nehmen brauchen, daß alle Energieformen von derselben
Art sein müssen, nämlich mechanische Energie, so scheint
einen Augenblick dieser Ausweg in der Tat offen zu
stehen. Daß wir auch damit der Eigenart des Psychischen
nicht um den kleinsten Schritt näher kommen würden,
wenn wir die Reihe der bekannten Energieformen um
eine Anzahl neuer und ad hoc eingeführter, wie Nerven-
energie, geistige Energie vermehren wollten, ist leicht
zu zeigen. Unser Verfahren gliche nur allzusehr dem
Bemühen jenes klugen Philosophen, welcher meinte, er
brauche sich den Stoff nur immer feiner und feiner zu
denken: endlich müsse doch ein Geist daraus werden.
Energien gehören der Außenwelt an, der Welt der Ob-
jekte. Wie soll es also zu verstehen sein, daß irgend
eine von ihnen sich selber subjektiv wird? Zwischen
und inmitten jener objektiven Größen, die Energien
heißen und welche, sofern sie erscheinen, für das
Subjekt da sind, kann doch das Subjekt selbst nicht
Platz nehmen. Doch lassen wir dieses Bedenken, das
man vielleicht für metaphysisch hält, obschon es nur
erkenntnistheoretisch ist, auf sich beruhen. Das Be-
ic8 Fünfter Vortrag.
wußtsein ist tatsächlich keine Energie; denn es gibt kein
Äquivalent des Bewußtseins. Wäre das Psychische eine
Energieform, so müßte, so oft es hervortritt oder sich
betätigt, ein bestimmter Betrag einer anderen Energie-
form verschwinden, so oft es latent wird, Energie von
anderer Art entstehen. Nichts davon lehrt die Er-
fahrung; sie lehrt vielmehr das Gegenteil. Die Energie
des chemischen Umsatzes im Gehirn wird nicht ver-
mindert, sie wird, wie Mosso dies sogar experimentell
zeigen konnte, gesteigert, wenn wir geistig tätig sind,
herabgesetzt, wenn wir geistig ruhen. Es verschwindet
also nicht Energie, wenn Bewußtsein entsteht, es ent-
steht nicht Energie, wenn Bewußtsein verschwindet; der
chemische Prozeß im Gehirn und die psychische Tätig-
keit verwandeln sich nicht ineinander, sie gehen mit-
einander. Was energetisch sein soll, muß eine meßbare
Größe haben. Das Psychische als solches hat keine
Größe; es ist der Art nach verschieden von allen meß-
baren Objekten, es ist gewichtlos, raumlos, die ihm
wesentliche Einheitlichkeit läßt sich nicht in Teile zer-
legen, nicht aus Teilen zusammensetzen. Auch der
Wille, den man gewohnt ist als den Typus für alle Kraft
zu betrachten, ist keine Energie in der physikalischen
Bedeutung dieses Wortes. Zwischen Wille und Be-
wegung findet, wie schon Spinoza sagt, kein Verhältnis
statt; daher „findet auch keine Vergleichung statt,
zwischen den Kräften des Geistes und denen des Kör-
pers" und die einen sind nicht durch die andern zu be-
stimmen. Das psychische Geschehen ist das nicht-
energetische Geschehen in der Natur.
Auf diesem Wege kommen wir also nicht weiter.
Wir können auf demselben nur die Ungleichartigkeit
des Psychischen und desPhysischen genauer erkennen, nicht
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 159
aber auch die Art und Notwendigkeit ihrer Verbindung
sehen. Dagegen geben uns gewisse biologische Tat-
sachen Anhaltspunkte, das Problem von einer anderen
Seite anzufassen.
Wenn wir auch nicht wissen, wo zuerst in der or-
ganischen Natur, auf welcher Stufe ihrer Entwickelung,
Bewußtsein entsteht , so sehen wir doch das deutliche
Hervortreten, die Steigerung und Zusammenfassung
seelischer Fähigkeiten an die Ausbildung von Central-
organen gebunden und an deren immer reichere Gliede-
rung in zusammenwirkende Mechanismen. Psychische
Entwicklung und Entwicklung des Nervensystems halten
gleichen Schritt. Nicht irgend einer einzelnen Energie-
form also entspricht das Bewußtsein; sein objektives
Gegenstück ist eine Struktur, der Bau des Nervensystemes,
genauer, die durch diese Struktur ermöglichte, durch
sie geleitete Zusammenordnung von Energien. Auch
hieraus erhellt, daß es nicht zulässig ist, von einer geistigen
Energie in demselben Sinne zu reden wie beispielsweise von
der chemischen. Es ergibt sich ferner daraus, daß der Be-
griff eines „Atombewußtseins" ein sich selbst wider-
sprechender Begriff ist. Denn nur der Zusammenhang
des Lebens trägt und erhält das Bewußtsein, welches
selbst wesentlich Zusammenhang ist, Einheit des Mannig-
faltigen.
Wenn zwei Vorgänge, einander entsprechen und
stets zugleich, also nicht in kausaler Folge eintreten, so
können wir sagen: sie verlaufen parallel. Und so ist es
üblich geworden, das Verhältnis des Psychischen zu
seiner physischen Grundlage, d. i. zu bestimmten Nerven-
prozessen als psycho-physischen Parallelismus zu
bezeichnen. Dieser Ausdruck sollte immer nur als
methodische Regel verstanden werden, die uns anweist.
l6o Fünfter Vortrag.
die psychologische Analyse der Bewußtseinserscheinungen
als solcher mit der physiologischen ihrer körperlichen
Begleiterscheinungen zu verbinden und so zu einer beider-
seitigen Betrachtung derselben zu gelangen. Gibt man
ihm dagegen, wie es meistens geschieht, die Bedeutung
einer Theorie, so kann er leicht irreführend werden.
Von zwei parallelen Linien wissen wir, daß in ihrem
ganzen Verlauf jedem Punkt der einen ein Punkt gleichen
Abstandes der anderen entsprechen muß. Die Tatsachen
geben uns keinen Grund zur Annahme, daß in analoger
Weise auch die physischen und die psychischen Prozesse
verlaufen. Wir wissen vielmehr, daß sich beständig Vor-
gänge nicht bloß in anderen Organen unseres Körpers,
sondern in unserem Nervensysteme selbst abspielen, die
nicht in unsere innere Wahrnehmung fallen und nur mittel-
bar, durch äußere Erfahrung zu unserer Kenntnis gelangen.
Unser bewußtes Leben ist nur ein kleiner Ausschnitt
unseres Lebens; aus der breiten und tiefen Unter-
strömung desselben heben sich nur einzelne wenige
Wellen empor und werden vom Lichte getroffen. Der
psycho - physische Parallelismus , besser : die Korre-
spondenz des Psychischen und des Physischen ist
ausschließlich auf jene Vorgänge in der Großhirnrinde
zu beziehen, mit welchen, wenn sie gegeben sind, Be-
wußtseinsphänomene wie Gefühl, Vorstellung, Wille mit-
gegeben sind. Von ihnen allein gilt der Satz, daß sie
und die gleichzeitigen Bewußtseinsvorgänge zusammen
bestehen und nur der Erscheinung nach von einander
zu unterscheiden, in Wirklichkeit aber nicht zu trennen
sind. Ein so oder so beschaffener, so oder so weit aus-
gebreiteter Erregungszustand des Großhirns und ein so
oder so bestimmter Gedanke gehören derart zusammen,
sie sind so weit eines, daß der Gedanke nicht fehlen
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. i6l
oder anders sein kann, ohne daß zugleich jener Gehirn-
prozeß fehlt oder anders wird. Dies meint der psycho -
physische Parallelismus.
Nicht aber kann es seine Meinung sein, daß zu jedem
körperlichen Vorgang, ja zu jedem körperlichen Elemente
in der Natur ein geistiger Vorgang, ein geistiges Ele-
ment (eben das citierte Atombewußtsein) gehöre. Dieser
Panpsychismus, der seltsamer Weise noch Liebhaber
unter uns findet, ist eine reine Spekulation, für welche
die psycho-physischen Tatsachen keine Handhabe bieten.
Alles Psychische ist physisch fundiert, lautet der Satz
des Parallelismus; alles Physische ist zugleich psychisch,
es ist Gegenstand seiner eigenen Anschauung, oder
erscheint sich selbst, behauptet der Panpsychismus —
und diese Umkehrung des psychophysischen Satzes
müßte bewiesen werden. An unserem eigenen Körper
erfahren wir nichts, was damit übereinstimmte; die
menschlichen Körper wenigstens müßten daher von
der Allbeseeltheit der körperlichen Natur eine Aus-
nahme bilden. Oder, man wird doch nicht im Ernst
zu jedem Stoffwechselprozesse in unserem Leibe ein
Bewußtsein des Prozesses von sich selbst, von dem
wir nichts wissen, hinzudenken wollen. Wer sich zur
panpsychistischen Lehre bekennt, muß mehr behaupten,
als er wissen kann; er muß behaupten, daß das Bewußt-
sein nicht entstanden sein kann, auch nicht aus dem,
was der Erscheinung der materiellen Dinge zum Grunde
liegt und wovon er genau so wenig weiß, wie sein
Gegner. Warum sollte das Bewußtsein nicht entstanden
sein können? entsteht es nicht wirklich? Ja eigent-
lich ist es in jedem Augenblicke neu entstehend, es ist
ein Prozeß, eine Aktivität, kein Sein. Alles, was auf
unsere Sinne wirkt und so zu unserer äußeren Wahr-
Riehl, Philosophie der Gegenwart. H
l62 Fünfter Vortrag.
nehmung gelangt, muß, so werden wir mit Recht sagen,
auch für sich sein; daraus aber folgt noch nicht, daß
es auch von sich wissen muß. Der Dichter mag die
Dinge ringsum beseelen; als Denker aber sollten wir
aufhören, von einem Lieben und Hassen der Elemente
und von Atomempfindungen zu träumen. Auch von
einem unbewußten „Willen in der Natur" wollen wir
nicht reden; denn wir kennen nur bewußtes Wollen.
Der Panspychismus ist die Wiederbelebung eines
spinozistischen Gedankens, aber losgelöst vom spino-
zistischen Systeme. — Spinoza erklärte das Denken,
weil es in seiner Art unendlich sei, für eines der „Attri-
bute" der göttlichen Substanz, oder der wirkenden Natur
und machte die Ausdehnung, das Prinzip der körper-
lichen Dinge, zu einem zweiten Attribute. Beide Attribute
drücken dieselbe Natur aus und sie drücken beide die
ganze Natur aus. Die Ordnung und die Verknüpfung
der Ideen und der Dinge ist daher eine einzige Ord-
nung, ein einziger Zusammenhang. Aber Spinoza meinte
dabei ein einheitliches und unendliches Denken, er meinte
die Natur der Dinge selbst als der Gegenstände dieses
Denkens. Unter „Ideen" versteht er die „ewigen" Ideen,
unter den Dingen die Wesenheiten der Dinge, nicht die
zeitlichen Dinge und die sinnlichen oder Einbildungs-
vorstellungen der Dinge. Und wenn es nach ihm für
jedes Ding in der Natur eine Idee im göttlichen Denken
geben muß, so ist deshalb noch nicht mit jedem Dinge
auch eine „Idee seiner Idee", d. i. ein Akt des Selbst-
bewußtseins, verbunden. Hierin liegt die stärkste Ab-
weichung seiner Anschauung von der panpsychistischen.
Metaphysische Hypothesen, wie die Spinozas, haben das
Anziehende, daß sie Alles zu erklären, Alles zu er-
gründen scheinen; sie haben aber auch das Mißliche, sich
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. ißß
selbst nicht erklären, sich selbst nicht begründen zu
können. Von den beiden Attributen Spinozas ist nur
das Attribut der körperlichen Natur ein in sich voll-
ständiger Ausdruck der Natur. Nur der Kausalzusammen-
hang auf der physischen Seite ist als ein lückenlos ge-
gebener zu betrachten, den auf der psychischen Seite
müßten wir hypothetisch, durch die Einschaltung „un-
bewußter Vorstellungen" lückenlos machen. Ein Bewußt-
seinsakt ist keineswegs in der Regel, er ist viel eher
nur ausnahmsweise die Wirkung des bewußten Aktes,
der ihm vorausging, wogegen jeder körperliche Vor-
gang die bestimmte Folge des ihm vorangegangenen
ist. Das Bewußtsein ist diskontinuierlich, es erfährt
Unterbrechungen, während die physischen Prozesse
stetig verlaufen; schon dieTatsache, daß es eine „Schwelle"
des Bewußtseins gibt, ist ein Beweis gegen jede Vor-
stellung von Allbeseelung.
Der psycho-physische Parallelismus enthält immer
noch eine versteckte dualistische Vorstellung. Zu
jeder „Begleitung" gehören zwei Dinge. Die beiden
Vorgänge aber, die sich nach der psycho-physischen An-
schauung begleiten sollen, kommen niemals zugleich in
der Erfahrung vor, sie gehören nie der Erfahrung eines
und desselben Subjektes an. Vielmehr, so oft der eine
erscheint, d. i. in der Erfahrung gegeben ist, tritt der
andere in die Vorstellung zurück. Was ich als mein
Vorstellen und Wollen erlebe, kann ich zwar als cere-
bralen Prozeß denken, es kann mir aber niemals als
cerebraler Prozeß erscheinen, und selbst um es als
solchen Prozeß vorstellen zu können, muß ich in Ge-
danken erst meinen Standpunkt vertauschen, von der
inneren Anschauung zur äußeren übergehen. Als Ge-
hirnprozeß erscheint meine Vorstellungs- und Willens-
l^A Fünfter Vortrag.
tätigkeit — oder sagen wir lieber: so könnte sie er-
scheinen — immer nur einem außenstehenden Beobachter,
der, was ich mit meinem inneren Sinn als Vorstellen
oder Wollen erfasse, mit seinen äußeren Sinnen als be-
stimmten Bewegungsvorgang anschaut. Wir schließen
daraus, daß in Wirklichkeit nicht zwei Vorgänge, ein
psychischer und ein physiologischer, gegeben sind, son-
dern nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines
einzigen Vorganges, welche Betrachtungsweisen auch
jederzeit auf zwei verschiedene Subjekte verteilt sind.
Wir schließen auf die Identität des realen Vorganges,
der dieser doppelseitigen Erscheinung zu Grunde liegt.
Die Welt ist nur einmal da; aber sie ist dem objek-
tiven, auf die äußeren Dinge bezogenen Bewußtsein als
Zusammenhang quantitativer physischer Vorgänge und
Dinge gegeben, während ein Teil derselben Welt einem
bestimmten organischen Individuum als seine bewußten
Funktionen und deren Zusammenhang gegeben ist. Diese
Auffassung des Verhältnisses des Psychischen und des
Physischen nenne ich den philosophischen Mo-
nismus.
So viel ich sehe, stimmt dieser Monismus auch
mit unseren natürlichen und unverschulten Überzeugungen
überein. Denn es ist nach ihm ebenso richtig zu sagen:
der Wille bewegt meinen Arm, als zu sagen, die centrale
Innervation mit ihren Folgeerscheinungen setzt ihn in Be-
wegung. Kein Zweifel ferner, daß Bewußtsein und Wille
wirklich die Beziehungen unseres Körpers zu den Kör-
pern der Umgebung regeln, daß Willensakte die Kom-
bination jener äußeren Körper unseren Zwecken ent-
sprechend ändern: dies aber leisten Bewußtsein und
Wille nicht, sofern sie als Objekte der inneren Erfahrung
betrachtet werden, sondern sofern sie Objekte der
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 165
äußeren sind. Wir werden auch nicht sagen können:
also könnten Wille und Bewußtsein fehlen, da ja die
körperlichen Vorgänge ohne sie ihr Werk verrichten.
Ein cerebraler Vorgang, bei welchem der Wille in der
eigenen Erfahrung des Subjektes fehlte, wäre nicht der
nämliche Vorgang, dessen sich das Subjekt als seines
Willens bewußt ist; er könnte also auch nicht dasselbe
leisten.
Endlich werden wir, wie es auch allein der unbe-
fangenen Beobachtung entspricht, das psychische Leben
als Produkt der organischen Entwicklung ansehen
können.
Wäre der Mechanismus der vollständige Ausdruck
des Geschehens in der Natur, so könnte sich auch die
Entwicklung in ihr nur in rein quantitativen Übergängen
vollzogen haben. Wir wissen aber, daß er nur das
Symbol für die allgemeine Gesetzlichkeit des Geschehens
ist und daß durch ihn allein nicht bestimmt wird, was
geschieht. Es steht also nichts im Wege, wenn Tat-
sachen uns dahin führen, anzunehmen, daß den quanti-
tativen Übergängen qualitative Unterschiede entsprechen
und der Stetigkeit auf der einen Seite Unstetigkeiten auf
der anderen zugeordnet sind. Denn für Größen allein,
nicht für Qualitäten gilt das Gesetz des stetigen Über-
ganges. Nach jenen Tatsachen nun brauchen wir nicht
weit zu suchen. Wir haben sie in den Modalitäten unserer
Empfindungen vor uns, in den Unterschieden von Farbe
und Ton, Geschmack und Temperatur u. s. w. Wollen
wir nicht annehmen, daß die Empfindungen in dieser
Ungleichartigkeit, ja Unvergleichbarkeit ihrer Beschaffen-
heiten von allem Anfange an und schon a]^ Elemente
der unbelebten Natur gegeben sind, — und von ge-
wissen Empfindungen, den Tönen z. B. ist dies durch
l66 Fünfter Vortrag.
ihre Natur ausgeschlossen; so bleibt nur übrig, sie aus
einem allgemeinen, noch undifferenzierten Sinn, der Sensi-
bilität der Haut, unter dem Einfluß der Reize entstanden
zu denken. Dann aber ist ihre Entwicklung allein schon
ein voUgiltiger Beweis für Unstetigkeiten im Fortschritte
des Geschehens in der Natur. Man müßte denn die
Entstehung jeder Empfindungsqualität für naturwidrig
halten, bloß weil die Vorstellung davon wider die mecha-
nistische Auffassung der Natur verstößt.
An diese qualitative Wirksamkeit in der Natur, die
mit dem Hervortreten der Beschaffenheiten der Em-
pfindungen zu Neuem fuhrt, denken wir uns auch die Ent-
stehung der psychischen Affektionen und Tätigkeiten,
des Fühlens, Vorstellens, WoUens geknüpft. Wie sie
entstanden sind — aus dem, was dem äußeren Mecha-
nismus der Verhältnisse der Dinge zum Grunde liegt,
wissen wir nicht; daß sie entstanden sein müssen
schließen wir mit Sicherheit daraus, daß sie an bestimmte
Organe gebunden sind, mit deren Ausbildung ihre eigene
Entwicklung zusammengeht. Wohl bedeutet die erste
Regung von Bewußtsein einen Sprung in dem Gange der
Entwicklung und ein stetiger Übergang von dem vor-
bewußten zum bewußtem Sein findet nicht statt; aber
auch jede Entstehung einer Qualität ist ein Sprung.
Ist das Bewußtsein Entwicklung, so ist auch die
Erscheinung der Welt, die nur für das Bewußtsein mög-
lich ist, Entwicklung der Welt, und das Wertverhältnis
zwischen den Erscheinungen und den Dingen kehrt sich
durch diese Auffassung um. Das untermenschliche und
gar das untertierische Sein ist nicht mehr, sondern viel
weniger, ajs was sich davon dem Bewußtsein des Men-
schen darstellt, zum Bewußtsein des Menschen erhöht
und vollendet wird. Mit der Beschaffenheit und der
Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 167
Entwicklung der Organe des Empfindens und des
Denkens muß auch das Bild der Welt inhaltsreicher,
farbiger, tiefer geworden sein. Und selbst den einzelnen
Menschen wird sich dieselbe Welt, was die Fülle und Klar-
heit ihrer Auffassung betrifft, verschieden zeigen. Könnte
ein Mensch plötzlich sein Gehirn mit dem eines andern
vertauschen, so würde er glauben, die Welt müsse sich
in irgend einem Grade verändert haben; vielleicht er-
schiene sie ihm flacher, unzusammenhängender als bisher,
vielleicht auch wäre ihm zu Mute, als sei er mit einem
Male in einen weiten, lichten Raum eingetreten, und er-
blicke die Dinge in höchster Reinheit, Deutlichkeit und
Tiefe: er hätte durch das Gehirn eines Genies gesehen.
Nur der bloße Gedanke Ich, des Begriff des Subjekt-
seins, ist immer und überall derselbe Gedanke, die näm-
liche Form des Bewußtseins überhaupt; das empirische
Selbstbewußtsein aber, das konkrete Ich, ist so reich und
mannigfaltig, so verschieden an Ausdehnung und Gehalt,
wie es die individuellen Unterschiede der Begabung und
der Erlebnisse mit sich bringen.
Es ist dieselbe Wirklichkeit, aus der unsere Sinne
stammen und die Dinge, die auf unsere Sinne wirken.
Die nämliche schaffende Macht, die schon in den ein-
fachsten Dingen am Werke ist, setzt ihr Werk in uns,
durch uns fort. Sie ist die gemeinsame Quelle von
Natur und Verstand. Sie hat den Dingen ihre begreif-
liche Form gegeben und uns das Vermögen, zu be-
greifen. So stiftete sie zwischen den Natur- und Denk-
gesetzen jene Harmonie, welche im Einzelnen zu ver-
nehmen, Ziel und Lohn aller Forschung ist. Aber nur
bis zur Voraussetzung dieser Einheit dringt unser Denken.
l68 Fünfter Vortrag.
Sie selbst in ihrem Wesen bleibt transcendent. Das
Geheimnis des Daseins ist durch das Denken nicht zu
ergründen; das Prinzip des Daseins geht dem Denken
voran: erst Sein, dann Denken. Und statt unsere Un-
wissenheit mit Worten zu verdecken, sollten wir viel-
mehr eingedenk sein des weisen Ausspruches Goethes:
„der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu
lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht
und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu
halten."
SECHSTER VORTRAG.
PROBLEME DER LEBENSANSCHAUUNG.
Die Erscheinungen der Außen- und Innenwelt zu
begreifen ist Sache der Wissenschaft, — die Voraus-
setzungen für ihre Begreiflichkeit festzustellen und zu
prüfen die Aufgabe der Philosophie der Wissenschaft.
Beide: Wissenschaft und Wissenschaftslehre haben die
Gewinnung von Allgemeinbegriffen zu ihrem Ziele; da-
her erfassen sie auch die Objekte von vornherein nach
deren allgemeiner Seite. Nicht das einzelne Ding, der
einmalige Vorgang als solcher ist, wenn wir von der
Geschichte absehen, ihr Gegenstand, sondern das Über-
einstimmende der Dinge, das Wiederkehrende in den
Vorgängen: die Klasse, das Gesetz. Unzähliche Wärme-
mengen werden in jedem Augenblicke in der Natur hervor-
gebracht und lassen sich in ihr hervorbringen; für jede
aber, wie groß oder wie klein sie sein mag, gilt das
Gesetz ihrer Gleichwertigkeit mit einem bestimmten
Betrag von Arbeit und mit dieser gesetzlichen Beziehung,
nicht mit der einzelnen Wärmeerscheinung, hat es die
Mechanik der Wärme zu tun. Die zahllosen Vorgänge
des freien Falles der Körper geschehen alle nach dem-
selben Gesetz der Geschwindigkeitszunahme mit der
Zeit; die wirklichen Größen der Geschwindigkeit da-
gegen können je nach dem Einfluß des Widerstandes
der Luft sehr verschieden sein; schwere Körper sehen
1^0 Sechster Vortrag.
wir daher schneller fallen als leichte, leichte unter Um-
ständen aufsteigen statt fallen. Und so ist es überhaupt
nicht die ganze und volle, die konkrete Wirklichkeit,
welche den unmittelbaren Gegenstand der Wissenschaft
bildet, sondern die unter abstrahierenden Gesichts-
punkten aufgefaßte, daher selbst abstrakte Wirklichkeit.
Keine Wissenschaft macht eine Ausnahme von
diesem Verfahren. Die Psychologie z. B., oder wie Kant
sie nennt: die Physiologie des inneren Sinnes, deren
Objekten, den Bewußtseinsvorgängen, es eigentümlich
ist, nur je für ein Individuum erfahrbar zu sein, be-
trachtet diese Vorgänge nicht, soweit sie individuell,
sondern sofern sie allgemein sind. Sie handelt nicht
von diesem oder jenem bestimmten Willensakt, diesem
oder jenem besonderen Vorstellungsverlauf; sie ermittelt
die überall gleichartigen Momente des Wollens, die Ge-
setze des Vorstellens. Nur die historischen Wissen-
schaften im weiteren und im engeren Sinne des Wortes:
die Geschichte des Sonnensystems und der Erde, die
Geschichte der Staaten und Kulturen scheinen eine
Sonderstellung einzunehmen. Ihr Interesse ruht auf dem
Singulären und Einmaligen, wofür es eine Wiederholung
in gleicher Weise nicht gibt. Aber auch sie können
für die wissenschaftliche Darstellung ihrer Objekte der
allgemeinen Begriffe nicht entbehren; nur werden ihr
diese von anderen Wissenschaften geliefert. Theoretische
Wissenschaften sind die Voraussetzung der historischen:
Mechanik, Physik, Chemie die Voraussetzung der Ge-
schichte der Erde und des Himmels, Psychologie und
Anthropologie die Voraussetzung der Geschichte der
Menschheit und ihrer Kulturentwickelung. Und obgleich
nicht aus der Geschichte allgemeine Gesetze abzuleiten
sind, so ist doch die Geschichte allgemeinen Gesetzen
Probleme der Lebensanschauung:,
171
unterworfen. Die historische Forschung geht dem kausal-
genetischen Zusammenhang des Geschehens nach; sie
sucht das, was geschehen ist, aus der bestimmten Kom-
bination seiner Ursachen zu erklären und muß sie auch
dabei mit dem Zufall rechnen, dem rein faktischen Zu-
sammentreffen gewisser Ereignisse, einer Sonnenfinsternis
z. B. und einer Schlacht, — die geschichtliche Wirkung
auch des Zufalls ist notwendig. Eine Geschichte, die
sich auf die bloße Wiedergabe der Ereignisse beschränkte,
wäre nicht Wissenschaft, sondern Geschichtskunde.
Es gibt keine „ideographische", das Einzelne als
solches nur beschreibende Wissenschaft.
Außer allgemeinen Erkenntnisbegriffen umfaßt unser
Bewußtsein noch andere Inhalte von allgemein giltiger
Bedeutung. Wir wollen sie nach dem Vorgange Piatos,
obschon nicht ganz in seinem Sinne, als Ideen be-
zeichnen, um sie durch diese Bezeichnung von den Be-
griffen zu unterscheiden. Werte nennen wir sie, sofern
sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen
sind, und zu Zw^ ecken werden sie, sobald sich unser
Schaffen und Handeln auf sie richtet.
Der Verstand erschöpft nicht das Wesen des Geistes
und die Bestimmung des Menschen geht nicht im Er-
kennen auf Nicht alles ist, nicht alles bedeutet die Er-
kenntnis. Das Wirkliche, auf uns Wirkende wird nicht
bloß mit dem Verstände erfaßt, es wird auch mit dem
Gemüte erlebt, durch das Gefühl geschätzt, von dem
Willen erstrebt. Solchergestalt entspringen Ideen oder
Werte, und wie sie nicht aus dem reinen Verstände
hervorgehen, so sind sie auch nicht Gegenstände nur
des Wissens. Es ist uns gar nicht möglich, etwas unter
dem Gesichtspunkte eines Wertes zu bringen, etwas in
Beziehung auf einen Wert zu denken, ohne es dadurch
1^2 Sechster Vortrag.
auch schon bewertet zu haben; das Urteil: ein Gegen-
stand sei ein Wert, er habe Wert ist niemals und kann
niemals ein rein theoretisches Urteil sein. Was wir als
schön, ich meine: als künstlerisch wertvoll erklären, muß
unser Gefühl an sich gezogen haben, — eben das Er-
lebnis, hingezogen zu sein, ist die Voraussetzung, der
Kern des ästhetischen Urteils. Ein solches Urteil reizt,
es treibt zum Schaffen, mindestens zum Nachschaffen,
und kein Genießen eines Kunstwerkes kann rein receptiv
sein, ein bloßes Empfangen ästhetischer Eindrücke; es
ist immer eigene, bis zu einem gewissen Grade erregte
künstlerische Tätigkeit. Den Künstler verstehen heißt
sein Werk im Geiste reproduzieren — und auch Re-
produktion ist Produktion, für welche das Werk des
Künstlers nur die Motive gibt. Und in gleicher Weise
ist das Urteil: etwas sei unserem Willen gemäß selbst
schon ein beginnendes Wollen, ein Anfang inneren
Handelns: daß wir nach dem Willensobjekte hinstreben,
oder doch wünschen, es zu erreichen, macht das Geltungs-
bewußtsein dieses Urteils aus. Gefühls- und Willens-
urteile haben nicht bloß praktische Folgen, sie sind an
sich selbst praktisch, nämlich Weisen der Selbstbe-
tätigung.
Aus Werten erwächst, auf Werten beruht unser
geistiges Leben, wie wir im Unterschiede nicht nur
vom physischen, sondern selbst vom psychischen sagen.
Alle Werte sind geistige Werte. Die materielle Wohl-
fahrt ist nicht ein Wert, sie hat nicht Wert, sofern sie
materiell ist, sondern sofern sie Wohlfahrt ist und nur
aus Mißverständnis redet man von ökonomischem Mate-
rialismus. Jene geschichtsphilosophische Theorie , die
nichts als Wirtschaft kennt und Entwicklung und Fort-
schritt in der Geschichte von der Entwicklung der Wirt-
Probleme der Lebensanschauung. 173
Schaftsformen abhängig denkt, ist im Grunde ökono-
mischer Idealismus, — ein kurzsichtiger und beschränkter
Idealismus zwar, der die geistigen Mächte, die das wirt-
schaftliche Leben selbst beherrschen, nicht sehen kann;
doch aber Idealismus. — Werte schaffen Kultur; aus
Werten ist das Reich des Menschen mit allen seinen
Institutionen aufgebaut auf dem Boden der Natur. Sie
sind die Prinzipien, die innere gestaltende Form dessen,
was wir als Lebensanschauung bezeichnen und von der
wissenschaftlichen Weltbetrachtung unterscheiden. Die
Probleme der Lebensanschauung sind Wert-
probleme.
Kein Wertbegriff, keine Zweckvorstellung darf in
das Werk der wissenschaftlichen Forschung eingemengt
werden, deren Maxime vielmehr die Gleichwertigkeit
der Erscheinungen ist. Der Zweck, ohne Frage das
Prinzip des Wollens und Handelns selbstbewußter Wesen,
ist kein Prinzip der Erklärung irgend einer Natur-
erscheinung. Er ist ein „Fremdling" in der Natur-
wissenschaft und höchstens uneigentlich darf er in ihr
verwendet werden: als Formel, als abgekürzter Aus-
druck für die Form des Zusammenwirkens physischer
Prozesse, welche das Leben bedingt. Es gibt eine
Wissenschaft von den Formen in der Natur, es kann
aber keine Wissenschaft von Zwecken in der Natur
geben; die Teleologie gehört nicht zur Erkenntnis der
Natur, sondern zu ihrer Beurteilung, — und selbst in
der Geschichte müssen Forschung und Beurteilung ge-
trennt bleiben. Wohl aber ordnet sich die Wissenschaft
als Ganzes dem Gesichtspunkt des Wertes unter. Die
Wissenschaft ist selbst einer der Werte, aus denen
Kultur erwächst, von denen Kultur sich nährt. Man
hat den Wert der Wissenschaft darin gefunden, daß sie
174 Sechster Vortrag.
es uns ermögliche, Erfahrungen zu ersparen. Dies ist
ihr ökonomischer Wert, nicht der einzige, den sie be-
sitzt, und auch nicht ihr höchster. In der Erkenntnis
befriedigt sich zugleich der Einheitstrieb des Denkens.
Daher bedeutet uns ein Naturgesetz immer noch mehr
als eine Ableitungsformel für beliebig viele Erfahrungen,
welche wirklich anzustellen wir uns dank des Gesetzes
erlassen können. Es bedeutet uns einen weiteren Schritt
zur geistigen Durchdringung und Aneignung der Tat-
sachen. Das Reelle scheint uns wieder um einen Grad
rationeller geworden zu sein; vielmehr: ,,die Vernunft
in den Dingen", die Gesetzlichkeit der Natur hat
sich an einem weiteren Punkte unserem Geiste entdeckt.
Die Welt der Wissenschaft ist eine ideale Welt. Ge-
setze und Tatsachen, obschon in der Wirklichkeit ver
bunden, bleiben dem Begriffe nach verschieden und auch
die vollständige Kenntnis der Tatsachen würde die Er-
kenntnis der Gesetze nicht entwerten können. Der
logische Wert der Erkenntnis erklärt allein die Hingabe
des großen Forschers und Denkers an sein Werk und
warum für ihn die Wissenschaft zum beherrschenden
Lebenszwecke wird.
Die Kunst schafft Werte. Durch die Schönheit der
Darstellung (was nicht dasselbe bedeutet wie Darstellung
von etwas „Schönem") erhöht sie den Formenwert der
Erscheinungen. Die Kunst ist produktive Tätigkeit,
kein Spiel; auch nicht ein Spielen mit sich selbst im
Genuß „bewußter Selbsttäuschung". Eine Nebenwirkung
des künstlerischen Schaffens darf nicht zur Hauptsache ge-
macht werden. „Nicht um die Täuschung handelt es sich,
daß man das Bild für ein Stück Wirklichkeit hält, sondern
um die Stärke des Anregungsgehaltes, welcher im Bilde
vereinigt ist. Durch diese Konzentration und Zusammen-
Probleme der Lebensanschauung. 175
fassung im Bilde vermag die Kunst die zerstreuten An-
regungen der Natur zu übertreffen." Und so wie Hilde-
brand denkt, dem diese Worte angehören, dachte auch
Goethe, „Die Kunst übernimmt nicht mit der Natur
in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern, sie hält sich an
die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie
hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt, sie fixiert die
höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen,
indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Voll-
kommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel
der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der
Leidenschaft," Wie die Erkenntnis des Gesetzes mehr
bedeutet als die Kenntnis des isolierten Faktums, so
bedeutet die künstlerisch erfaßte und zur Höhe des
Geistes herangehobene Erscheinung mehr als die natür-
liche. Die Kunst ist ein Komplement des Lebens, —
„ohne Kunst kann man nicht leben".
Vor allem aber ist es die Ethik, diese eigenste
Domäne der Philosophie als Lebensanschauung, welche
Werte schafft. Wir müssen Ethik und Moralwissenschaft
unterscheiden. Es ist der gleiche Unterschied wie der
zwischen Kunst und Kunstwissenschaft, und der schöpfe-
rische ethische Philosoph verhält sich zu dem wissen-
schaftlichen Moralphilosophen wie der Künstler zu dem
Theoretiker der Kunst. Auch Ethik und Moral be-
deuten nicht dasselbe. Die Ethik gibt der Moral die
Ziele, die Moral ist ein Weg zu diesen Zielen. Und
vielleicht ist der Weg einer bestimmten Moral ein Irr-
weg, oder die Entwicklung des geistigen Lebens bringt
eine Erhöhung der Ziele mit sich — und die alte Moral
hört auf, ethisch zu sein. Sie wird zu einem Hemmnis
des ethischen Fortschrittes, zu einer Schranke, die über-
wunden werden muß. Die Geschichte kennt die Bei-
176 Sechster Vortrag-.
spiele eines solchen Konfliktes zwischen Ethik und
Moral, zwischen den Mächten der Lebenserneuerung
und der Überlieferung; das größte unter diesen Beispielen
einer „Umwertung der Werte" ist das Christentum selbst.
Alles Schaffen ist immer zugleich ein Wegschaffen und
wer neue Tafeln aufrichtet, muß die alten Tafeln zer-
brechen, können wir in einem Gleichnis Nietzsches sagen.
Die „Guten" aber heißen den Brecher alter Werte —
Verbrecher. Nie ist es in der Geschichte anders her-
gegangen, als daß der, welcher neue Ideale schuf und
neue Normen geben wollte, die Moral des Herkommens
überschritt, also verletzte. Es ist die Tragik im Leben
der großen Führer und Helden des Geistes, daß sie mit
den geheiligten Überzeugungen, Glaube und Moral, ihrer
Zeit in innerlichen Zwiespalt geraten müssen. — „Neues
will der Edle schaffen und eine neue Tugend, — Altes
will der Gute, und daß Altes erhalten bliebe."
Werte schaffen heißt nicht Werte erfinden, oder
beliebig ersinnen. Werte werden nicht anders geschaffen,
als wissenschaftliche Erkenntnisse geschaffen werden;
man erfindet sie nicht, sie werden entdeckt. Wie die
Gestirne, jene fernen Sonnen, nacheinander aufleuchten
aus dem Dunkel der Nacht, so treten die Werte nach
und nach in den Gesichtskreis des Menschen, und wer
sie zuerst sah, zuerst sie erlebte und vorlebte, der ist
ihr Schöpfer, Er weist die Menschen auf eine höhere
Bahn, er offenbart ihnen eine höhere Form des Lebens
und gießt neuen Geist in die alten Wertbegriffe. Denn
um wirken zu können, muß auch er das Produktive an
das Historische anknüpfen.
Ohne Werte wäre unsere Lebensfahrt ohne Kompaß
und auch die Sterne fehlten, um darnach zu steuern.
Es ist dem Menschen notwendig, daß all seinem Handeln
Probleme der Lebensanschauung. 177
und Streben ein Bild seines Handelns, ein Ideal seines
Strebens vorangeht; nur indem er emporblickt und
vorausschaut, vermag der Mensch im geistigen Sinne
des Wortes aufrecht zu gehen und fortzuschreiten. Er
muß Lebensanschauungen gestalten, um sein Leben
menschlich, geistig führen zu können. Lebensanschau-
ungen aber sind immer selbst schon in gewissem Grade
Lebensführungen; man kann, um es wiederholt zu sagen,
Werte nicht als solche erkennen, ohne sie, innerlich
wenigstens, zu erleben.
Die Philosophen der Lebensanschauung sind daher
zugleich die Philosophen der Geistesführung und Erzieher
der Menschheit.
Die Geschichte lehrt, daß dieser im höheren Sinne
praktische Beruf ursprünglich und im Altertume auch
vorwiegend der Beruf des Philosophen war. Thaies,
den Begründer der Naturphilosophie, zählt die Legende
zugleich zu den „Sieben Weisen", Männern der ethischen
Reflexion und politischen Tätigkeit, und die Geschichte
weiß von ihm zu berichten, daß er seinen Landsleuten,
den Joniern die Bildung eines Föderativstaates empfahl.
Sein Wahlspruch soll die Maxime der Selbsterkenntnis
gewesen sein. Parmenides, der Lehrer des intelligiblen
Seins, gab seiner Vaterstadt Elea Gesetze. Und es ist
bekannt, daß der pythagoreische Bund nicht in erster
Reihe der Pflege der Mathematik und Naturphilosophie
gewidmet war, vielmehr eine ethisch-politische Lebensge-
meinschaft bildete, auf der Grundlage der orphischen Theo-
logie. Pythagoras selbst, der Stifter, lebt im Gedächtnis
der Geschichte vor allem als Prophet und Reformator.
Der Weise des Altertums aber, an den jeder zuerst
denkt, wo immer von Lebensphilosophie die Rede geht,
ist Sokrates. Was Geistesführung bedeute und wie
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 12
178 Sechster Vortrag.
ihre Macht über die Gemüter der Menschen sich un-
vermindert durch die Jahrhunderte erhält, wird an der
schlichten Größe dieses Mannes unmittelbar anschaulich.
Sokrates ist der pädagogische Genius in der Philo-
sophie; eine unbegrenzte ethische Wirkung geht von
ihm aus. Etwas völlig Neues tritt mit ihm in die
geistige Geschichte und diese hatte seines Gleichen von
Eigenart und ganz persönlicher Gestalt nicht mehr.
Was er lehrte, läßt sich nur verstehen, wenn wir be-
trachten, was er lebte; sein Leben, namentlich aber der
höchste Akt seines Lebens, sein Sterben ist der Schlüssel
zu seiner Lehre. Im übrigen ist diese unsicher über-
liefert; Xenophon bleibt hinter dem Vorbilde, das er
nachzeichnen wollte, zurück, Plato geht über dasselbe
hinaus, wenn auch im tiefsten Sinne der sokratischen
Gedanken. Darüber aber, was und wie Sokrates lebte,
sind wir so genau unterrichtet, daß wir mit ihm wie
einem Lebenden zu verkehren glauben; noch heute
stehen wir daher unter dem Einfluß, unter dem Zauber
dieses einzigen Mannes.
Seinen Beruf faßte Sokrates als göttliche Mission
auf, bestärkt darin durch das Orakel von Delphi, das
ihn für den weisesten der Menschen erklärt hatte.
Fortan verbrachte er sein Leben ganz öffentlich. Tag
für Tag konnte man ihn auf dem Markte treffen, wenn
dieser am belebtesten war, in den Gymnasien, wenn
sich die Jugend dort übte, in den Werkstätten der
Künstler und Handwerker. Mit jedem, der ihn hören
wollte und an jeden Anlaß wußte er eine Unterredung an-
zuknüpfen und diese unvermerkt von den gewöhnlichsten
Dingen aus zu den höchsten Fragen des Lebens zu
leiten. Wer sich mit ihm einließ, mußte Rede stehen
über sich und die Art des Lebens, das er führe, und
Probleme der Lebensanschauung. 170
kam nicht eher wieder los, als bis dies alles gut und
gründlich untersucht war. Nicht als Lehrer trat er auf»
mit dem Ansprüche, fertiges Wissen zu besitzen; er ist
der Fragende, der Forschende, der auf dem Wege ge-
meinsamen Suchens und Prüfens mit anderen das Wissen
finden und erzeugen will. Sein Verfahren dabei ist ihm
ganz eigentümlich, höchst populär, dazu in Scherz und
Schelmerei gekleidet. Er gibt sich die Miene des
Lernenden, als erwarte er Aufklärung und Belehrung
von seinen Mitunterrednern; in Wahrheit deckt er durch
seine Kreuz- und Querfragen, die kein ungeprüftes Wort
durchlassen, deren eigene Unwissenheit auf und schließ-
lich stehen die vermeintlich Wissenden selbst als die
Nichtwissenden da. Dies ist seine viel genannte Ironie,
nicht eine bloße Gesprächsform, die er beliebig gewählt
hatte, sondern in seinem ganzen Wesen gegründet und
Ausfluß seines hellen, überlegenen Geistes. Ironisch ist
es gemeint, wenn er dem Wissenskram der Sophisten
sein Nichtwissen gegenüberstellt. Wo er aber auf eine
junge, empfängliche Seele traf, verhalf er mit der ihm
eigenen pädagogischen Liebe und Kunst ihren Gedanken
ans Licht und zur Klarheit über sich selber. Diese
überführenden Gespräche, deren Dialektik kein hohles
Wissen stand hielt und die keine Berühmtheit des Tages
verschonten, mußten viele Empfindlichkeiten verletzen
und wir wundern uns nicht, daß Sokrates alsbald wie
zu den populärsten, so auch zu den am meisten ge-
haßten Persönlichkeiten des damaligen Athen, des Athen
des peleponesischen Krieges, gehörte. Den Aristo-
kraten war er als Neuerer verdächtig, die Demokraten
haßten ihn als den Kritiker ihres Staatswesens und weil
zu denen, die mit ihm verkehrten, ein großer Teil der
Oligarchen, darunter Kritias, gehört hatte. Die Sophisten
l8o Sechster Vortraf.
waren seine Gegner, die Athener aber hielten ihn selbst
für den größten aller Sophisten. Den Komödiendichtern
diente er schon um seines auffallenden Äußeren willen
zur Zielscheibe ihres Spottes. Dieser durch Jahre hin-
durch angesammelte Haß hat sich nachmals in dem
Prozesse gegen ihn entladen.
Die Gespräche des Sokrates bewegen sich ohne
Ausnahme um ethische Fragen; von diesen allein hielt
er ein Wissen möglich, von diesen allein das Wissen
notwendig. Und so prüfte er unablässig: was Frömmig-
keit und Gottlosigkeit, Schönheit und Häßlichkeit, ge-
recht und ungerecht in Wahrheit bedeuten, worin Be-
sonnenheit und Tapferkeit bestehen, was ein Staat, ein
Staatsmann sei, und wer der zur Herrschaft Berufene.
Welche Begriffe stehen hinter diesen so gewichtigen
Worten? Wir sind gewohnt, sie wie konventionelle
Zeichen zu gebrauchen, ohne uns von ihrer Bedeutung
Rechenschaft zu geben. Eben diese Gewöhnung an ihre
Autorität, den ungeprüften Glauben an die moralischen
Werturteile bekämpft Sokrates; er sieht darin den Feind
alles selbsttätigen Wissens, selbstbewußten Wollens ge-
rade in den wesentlichsten Fragen des Lebens. Wir
glauben zu wissen, was mit jenen moralischen Werten
und Worten gemeint sei, wüßten wir es wirklich, so
müßten wir auch einen Begriff davon geben, d. i. er.
klären können, was es ist. „Was gut und böse ist, das
weiß noch niemand," hätte auch Sokrates sagen können;
denn er zuerst hat die Moral ernstlich und nicht in der
Weise der Sophisten zum Probleme gemacht. Daß es
feste Normen, allgemeingiltige Begriffe für die sittlichen
Urteile gibt, ist seine unerschütterliche Überzeugung und
sein Suchen nach ihnen von der Gewißheit beseelt, daß
sie zu finden sein müssen. Sie zu finden wendet er
Probleme der Lebensanschauung. i8l
sich an das tiefste Bewußtsein des Menschen; er er-
forscht sich selbst und andere und ein Leben ohne Selbst-
erforschung scheint ihm gar nicht zu verdienen, gelebt
zu werden.
Die Würde des Menschen liegt darin, daß er nicht
einer Neigung zu folgen braucht, daß die Einsicht ihn
bestimmen kann, bestimmen soll, daß er die Gesetze
für sein Wollen und Handeln sich selbst geben kann
und soll. Einsicht ist Macht über sich, durch sich und
solche Macht ist Tugend. Kein Satz des Sokrates ist
so gut überliefert, keiner auch durch das ganze Leben
des Sokrates so sicher zu bestätigen und anschaulich
zu machen, wie der Satz: daß Erkenntnis und Tugend
eines und dasselbe sind, daß Erkennen- und Sittlich-sein
zusammenfallen. Die Erkenntnis ist nicht ein Weg zur
Tugend, sie ist die Tugend selbst; mit der Erkenntnis
hat der Mensch die Tugend; wer das Gute erkennt,
muß auch das Gute vollbringen. Ist dies nicht paradox?
so paradox, daß alle Welt von dem Gegenteil überzeugt
ist, alle Welt mit Aristoteles den Satz des Sokrates als
der Erfahrung widersprechend erklärt. Man hält also
diesen Satz für widerlegt. Allein das Leben des Sokrates
ist ein Beweis, daß es möglich ist, auch aus Erkenntnis
allein das Gute zu tun und nicht aus Instinkt, auch nicht
aus Pflicht; ein Beweis für die mögliche Einheit von
Erkenntnis und Tugend. Das Leben des Sokrates ist
die Widerlegung der Widerleger seines Satzes. Man
kann so leben, weil Sokrates so lebte. Verstehen wir
recht: nicht um das Moralische im gewöhnlichen Sinne
des Wortes, — um das Ethische, das das Moralische in
jenem Sinne bereits voraussetzt, handelt es sich bei der
sokratischen Unterweisung und Lebensführung. Daß die
Triebe geregelt, die Begierden und Leidenschaften ge-
l82 Sechster Vortrag^.
zügelt, die Lüste gedämpft sind, oder wie der Grieche
diese Gewalt über sich mit einem einzigen Worte aus-
drücken kann: die Enkratie ist die Voraussetzung von
der Sokrates ausgeht, von der aus er weiter geht. Das
Moralische in diesem Sinne versteht sich für ihn von
selbst. Dann aber bleiben nur Wissen und Einsicht
übrig, das Handeln zu leiten und nichts kann mehr
Wille und Erkenntnis scheiden, oder das Wollen von
dem als richtig erkannten Ziele ablenken.
Nie haben sich Leben und Lehre eines Philosophen
vollständiger gedeckt als bei Sokrates. Einen „musi-
kalischen" Mann nennt ihn Plato um dieser Harmonie
willen: er habe den schönsten Einklang gestimmt, sein
eigenes Leben klinge zusammen, mit den Reden die
Taten, echt dorisch, nach der wahren hellenischen Ton-
art. Und wie Sokrates von der Erkenntnis dachte im
Gegensatze zur Menge, wie souverän ihm die Macht der
Erkenntnis erschien, können wir gleichfalls aus Piatos
Worten — oder sind es Sokrates' eigene Worte? —
vernehmen. „Die Meisten denken von der Erkenntnis
ungefähr so, daß sie nichts Starkes, Leitendes, Be-
herrschendes sei und achten sie gar nicht als solches;
sondern meinen, daß gar oft, wenn auch Erkenntnis im
Menschen ist, sie ihn doch nicht beherrsche, vielmehr
irgend sonst etwas , bald der Zorn , bald die Unlust,
manchmal die Liebe, oft auch die Furcht." „Uns aber
erscheint sie als etwas Schönes, das wohl den Menschen
regiert, und wenn einer Gutes und Böses erkannt hat,
so wird er von nichts mehr gezwungen werden, etwas
anderes zu tun, als was seine Erkenntnis ihm befiehlt
sondern die richtige Einsicht ist stark genug, den
Menschen zu führen."
Probleme der Lebensanschauung. 183
Das Wissen, das Sokrates lehrte und übte, ist kein
bloßes Wissen; es ist wesentlich inneres Handeln, also
schon seinem Ursprung nach praktisch; denn es beruht
auf Einkehr in sich, auf Selbsterkenntnis, Selbstüber-
windung. Man kann dieses Wissen nicht haben, es kann
in uns nicht wirklich lebendig sein, ohne daß es auch
das Wollen nach sich zieht. Vielmehr: es ist zugleich
Wollen, die Einheit von Vernunft und Wille. Sokrates
hat die praktische Vernunft entdeckt. Er hat den
Willen entdeckt. Die tiefe Unterscheidung im plato-
nischen Gorgias zwischen dem, was einem gefällt und
dem, was einer wirklich will, geht gewiß auf ihn zurück.
„In Jedem von uns," heißt es in demselben Sinne im
Phaedrus, „gibt es zwei herrschende und führende Triebe:
die eingebome Begierde nach dem Angenehmen und
die erworbene Gesinnung, welche nach dem Besseren
strebt." Und daß dies in der Tat die Anschauung des
Sokrates war, erfahren wir aus Xenophon, der gleich-
falls und wohl in den Worten des Sokrates selbst von
der Gesinnung redet, die uns durch Vernunft zum Besten
führt. Vernunft ist Wille und umgekehrt: alles wahrhafte
Wollen vernünftig. So aufgefaßt verliert der Satz von
der Identität der Erkenntnis und der vollendeten Tätig-
keit alles Paradoxe. Und auch den Philosophen selber
verstehen wir jetzt. Denn für ihn, der von sich sagen
konnte: er gehorche immer dem Satze, der sich ihm
bei der Untersuchung als der beste zeigte, war diese
Identität kein bloßer Lehrsatz, sondern die persönlichste
Erfahrung. Über die Vernunft hinaus gibt es keine
Macht; es gibt keine Macht, welche die Vernunft be-
herrschen könnte. „Die Gewalthaber des Staates," äußert
Sokrates zu Krito, „können mir weder Gutes noch Übles
zufügen; denn weder vernünftig können sie machen noch
184 Sechster Vortrag.
unvernünftig; sie tun nur, was sich eben trifft." Das
heißt: ein wahres Übel vermögen sie nicht zu bewirken,
denn sie können den Geist nicht treffen, dieser ist un-
verletzbar, unüberwindlich, frei in sich selber beruhend
und gebietend. Die ganze Folgezeit hat zu diesen
sokratischen Gedanken von der Autonomie der prak-
tischen Vernunft oder des Willens nichts wesentliches
hinzugebracht; sie konnte sie nur wieder auffinden.
Erkenntnis ist Herrschaft. „Darüber, wovon wir
uns richtige Einsichten erworben haben, wird jedermann
uns schalten lassen; niemand kann uns daran hindern,
sondern wir werden hierin ganz frei sein und auch ge-
bietend über andere." In der Kunst des Wollespinnens
herrschen sogar die Frauen über die Männer, denn sie
verstehen jene Kunst, die Männer aber nicht. Und so
ist es, oder sollte es doch sein in allen Angelegenheiten
und Beschäftigungen des Lebens. Überall herrschen die
Wissenden, die Erkennenden; ohne Erkenntnis keine
Herrschaft, kein Recht zur Herrschaft. Es ist leicht zu
sehen, wie einschneidend dieser Satz die demokratischen
Einrichtungen Athens, mit ihrer Beamtenwahl durch das
Los, treffen mußte.
Die Wirkung der Kritik, welche Sokrates an der
ganzen Anschauungsweise seiner Zeit und der ihn um-
gebenden Welt ausübte, war eine ganz außerordentliche
und sie wurde noch gesteigert durch die Wirkung der
Persönlichkeit des Philosophen. Schon das unschöne
Äussere, die ganze satyrhafte Erscheinung, die an Bilder
des Marsyas erinnern konnte, machte auf ihn aufmerk-
sam; man empfand den Gegensatz zu der apollinischen,
weisheitsvollen Seele. Der Eindruck der Gespräche des
Sokrates mußte je nach dem Charakter und der Em-
pfänglichkeit der Unterredner und Zuhörer ein sehr ver-
Probleme der Lebensanschauung. igc
schiedener sein; man hielt wohl ihre Absicht zunächst
für eine skeptische, Sokrates verwirrt alle. Sokrates
bringt alle zum Zweifeln. Er macht erstarren wie die
Berührung eines Zitterrochens. Wer aber im Umgange
mit ihm beharrte, wurde im Innersten ergriffen und um-
gewandelt. Es mochte ihm ergehen wie es den am
leichtesten empfänglichen unter den Gefährten des
Sokrates, wie es Alkibiades geschah, bei dem sich
freilich in den reiferen Jahren die Spuren der sokra-
tischen Erziehung wieder verwischen sollten. „Bei dieses
Mannes Rede pocht mir das Herz, Tränen werden mir
ausgepresst; ich glaubte es lohne sich nicht mehr zu
leben, wenn ich so bliebe wie ich wäre. Vor diesem
allein schäme ich mich." Und im Grunde das Gleiche,
nur höhnisch im Tone besagen die Worte, die Plato
den Kallikles an Sokrates richten läßt: „wenn das wahr
ist, was du sagst, so wäre wohl das menschliche Leben
unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen
das gerade Gegenteil von dem, was wir sollten". Man
muß sich, um das Bild des Sokrates zu vervollständigen
die hohe Männlichkeit seines Charakters vergegen-
wärtigen: wie er in drei Feldzügen sich durch seine
Tapferkeit hervortut, bei Potidaea dem Alkibiades das
Leben rettet und den Kampfpreis abtritt, auf der Flucht
bei Delium als der Letzte das Schlachtfeld verläßt, ganz
ruhig nach dem Feinde sich umsehend, so daß keiner
ihm nahe zu kommen wagt. Wir müssen uns ihn vor-
stellen, wie er als Prytane bei dem Prozeß gegen die
Feldherren, die die Seeschlacht bei den Arginusen ge-
wonnen hatten, der tobenden Menge gegenüber Einspruch
erhebt gegen ein gesetzwidriges Verfahren; oder statt
einen ungerechten Auftrag der Dreißig auszuführen, mit
Gefahr seines Lebens ruhig nach Hause geht.
l86 Sechster Vortrag.
Zu weltgeschichtlicher Größe aber erhebt sich
Sokrates durch sein Verhalten bei seinem Prozesse. Es
ist die Besiegelung, der Triumph seiner Lehre und ein
Ausgang aus dem Leben wie der des größten Helden.
Nie kann die Wirkung davon erlöschen.
Keine Frage: Sokrates ist Revolutionär, nicht der
Tat nach, aber doch durch seine Lehre, wenn sich auch
seine Ankläger arg vergriffen, als sie ihn der nämlichen
Tendenzen wegen vor das Gericht forderten, die er zeit-
lebens auf das stärkste bekämpft hatte. Aber seine
Kritik richtete sich doch grundsätzlich gegen das Staats-
wesen, dem er durch Geburt angehörte. Seine Forde-
rung der Herrschaft der Erkennenden, sein Staat aus
Vernunft setzte ihn in Widerspruch zu der demokratischen
Verfassung Athens, und wenn er auch die Gesetze seiner
Vaterstadt treulich befolgte, ihre Institutionen hat er
doch unablässig bestritten. Vergebens versuchten seine
Freunde, den Athenern zu beweisen, er sei der frömmste,
gerechteste und gesetzlichste der Menschen gewesen.
Sokrates ist freiwillig in den Tod gegangen. Sein
Schicksal war in seine Hand gegeben; es hing von der
Art seiner Verteidigung ab und eigentlich hat er das
Todesurteil gegen sich herausgefordert durch seinen
Gegenantrag auf Speisung im Prytaneion, wie er, als ein
unvermögender Wohltäter der Stadt, sie verdient habe.
Es war ihm deutlich geworden, daß der rechte Augen-
blick zu sterben für ihn gekommen sei. Sein Leben
— er war an siebzig Jahre — neigte sich dem Ende
zu und konnte ihm nur eine Abnahme seiner Geistes-
kräfte bringen; damit aber wäre ihm die Möglichkeit
genommen gewesen, wie bisher sich und andere zu er-
forschen und seinem apostolischen Berufe gerecht zu
werden. Nun bieten ihm die Athener ohne sein Zutun
Probleme der Lebensanschauung. 187
die Gelegenheit, noch einmal und eindringlicher als je
zuvor ihnen eine Lehre zu geben, der nachkommenden
Welt ein Beispiel. Und so beschließt er, in seinem Be-
rufe zu sterben, auf dem Platze, wo Gott ihn hingestellt
hatte. Dies ist jene große, sittliche Tat, welche in ihrer
Schlichtheit und erhabenen Einfachheit zu begreifen sich
die folgenden Geschlechter bemüht haben. Er ver-
teidigt sich nicht um seiner selbst willen, er verteidigt
sich um der Athener willen; sie sollen nicht an sich
selbst sündigen durch seine Verurteilung. Und was er
zu den Athenern redet, war zugleich vor der Nachwelt
gesprochen. Erst wendet er sich zu den Anklägern; in
seiner gewohnten Weise und als handle es sich um eine
Sache, die ihn persönlich nicht berühre, verstrickt er
sie in ein Kreuzverhör, bis er sie ihres „Nichtwissens"
in Bezug auf die Punkte ihrer Anschuldigung überführt
und das Gewebe der Anklage aufgelöst hat. Hierauf
redet er zu den Richtern die* Worte, die nie verhallen
werden: „wolltet ihr mich lossprechen auf die Bedingung
hin, daß ich diese Nachforschung nicht mehr betriebe,
so würde ich euch sagen: ich bin euch Athenern zwar
zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem
Gott mehr als euch. Nicht gut spricht der, welcher
glaubt, Gefahr um Leben oder Tod müsse in Anschlag
bringen, wer auch nur ein weniges taugt, und nicht
vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es
recht getan ist oder nicht. Den Tod fürchten, das ist
nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise und
es doch nicht sein. Denn niemand weiß^ was der Tod
ist, nicht einmal ob er nicht für den Menschen das
größte ist unter allen Gütern. Gesetzwidrig handeln
aber und dem Besseren ungehorsam sein, davon weiß
ich, daß es übel und schändlich sei." — „Doch es ist
l88 Sechster Vortrag.
Zeit, daß wir gehen," schließt er nach der Verurteilung
die Rede, „ich um zu sterben, und ihr um zu leben.
Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft
hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott."
So geht Sokrates in den Tod in voller Glorie, die
Strahlen dieses Scheidens aber, wie Plato sie gesammelt,
leuchten noch immer auf unser Leben.
Man kann die Lehre des Sokrates nicht verstehen,
ohne auf diese ihre höchste Bestätigung, sein Sterben
zu blicken. Von außen gesehen ist sie unscheinbar,
nüchtern, beinahe pedantisch — und birgt im Innern
das Bild eines Gottes. Anscheinend handelt es sich
bei ihr nur darum, für jeden einzelnen Fall das Richtige
herauszufinden, das eben jetzt getan werden soll. Und
da dies ungemein schwierig ist, sofern unter den vielen
möglichen Handlungen in jedem gegebenen Fall nur
eine einzige die richtige, oder beste sein kann, so ist,
um diese herauszufinden, Selbstprüfung, Nachdenken er-
fordert, so gehört ein Prozeß des Erkennens dazu.
Dann, wenn wir weiter gehen, handelt es sich etwa noch
darum, die einzelnen, als richtig erkannten Handlungen
auf Begriffe zurückzuführen und diese zu leitenden Regeln
für unser Tun zu machen. Dies alles aber wäre erst
Verstandesmoral, Nützlichkeitsmoral. Ich widerspreche
der Meinung, daß dies die Moral sei, die Sokrates lehrte,
indem ich mich auf seinen Tod berufe. Was gut ist,
steht an sich fest, mag es auch noch so schwierig sein,
es zu erkennen. Es wird nicht erst durch seine Folgen
zum Guten gemacht. Nicht also, weil es nützlich ist,
ist es gut; weil es das Gute ist, muß es auch nützlich
sein, sollte es dem Anschein nach noch so schädlich
sein, sollte es selbst über unser eigenes Leben hinweg-
sehen, hinweggehen. Und wenn es den Tod befiehlt.
Probleme der Lebensanschauung^. I8q
— gut bleibt gut. Genau dies ist die Anschauung des
Sokrates, der der Überzeugung lebte, „daß es für den
guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im
Tode". Erst stellt Sokrates fest, was gut ist, dann be-
weist er, daß dieses Gute auch nützlich ist, und zwar
nützlich für den Handelnden selbst, mag der Anschein
noch so laut dagegen sprechen. Es ist die gerade Um-
kehrung der Nützlichkeitsmoral, Das hehrste Beispiel
wie er über das Verhältnis von gut und nützlich dachte
und was bei ihm Grund, was Folge ist, gibt Sokrates
im Gefängnis. Als Krito ihn zur Flucht bewegen will,
zeigt er diesem zunächst das Gesetzwidrige einer solchen
Handlung: der Einzelne schulde den Gesetzen des
Staates Gehorsam, ein Staat könne nicht bestehen, in
welchem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben ;
— und damit ist für ihn die Hauptsache entschieden.
Dann erst macht er geltend, gleichsam durch einen
Beweis a posteriori, daß die Flucht ihm selbst keinen
Gewinn, seinen Freunden und Angehörigen dagegen
Schaden bringen würde: diese würden ihr Vermögen
einbüßen, ihn aber würde man überall, wohin er auch
flüchten möge, scheel ansehen, auch sei es lächerlich,
wollte er als alter Mann mit solcher Gier am Leben
hangen, — er macht geltend, daß auch diesmal wie
immer, daß das zuvor als gut erkannte sich hinterher
auch als nützlich bewähre.
Jetzt verstehen wir auch, in wie weit Plato die
Lehre des Sokrates fortgebildet hat, und sehen zugleich,
wo er von ihr abweicht, wo er glaubte, über Sokrates
hinausgehen zu müssen. Feste ethische Begriffe sind
auch für ihn die Voraussetzung des sittlichen Handelns
und ihre lebendige Erfassung fällt wie bei Sokrates mit
der vollendeten Tätigkeit, die Erkenntnis mit der Tugend,
igO Sechster Vortrag.
zusammen. Gewiß, Plato ist der echte Erbe des Sokrates;
von allen, die mit diesem verkehrten und sich seine
Jünger nannten, hat er allein den Geist des Lehrers er-
gründet und in das Innere seiner Philosophie Einblick
getan. Aber die Entdeckung der ethischen Begriffe
hatte für ihn etwas durch die Neuheit und Vorzüglich-
keit der Sache Überwältigendes. Darum erweiterte er
unter dem Namen der Ideen den Geltungsbereich der
Wertbegriffe; alle Begriffe sind eigentlich bei ihm Wert-
begriffe, alle — Normen oder Musterbegriffe. Damit
aber wird auch das Sein und Geschehen in der Natur
unter den Gesichtspunkt des Sollens gerückt und sogleich
erscheinen die sinnlichen Dinge, die Objekte der Er-
fahrung, als unvollkommene Dinge, da es im Wesen der
Werte liegt, daß immer nur eine Annäherung nach ihnen
hin stattfinden kann. Gibt es für alle Gattungen der
Dinge, wie Plato annimmt, Ideen oder Vorbilder, so
kann jedes wirkliche Ding nur ein Nachbild, ein Schatten
seiner Idee sein. Für's zweite schreibt Plato den Ideen
ein Sein außer dem Geiste zu. Er machte aus Ideen
Substanzen und verpflanzte diese in eine übersinnliche
Welt. Ohne Zweifel ist dies ein unsokratischer Gedanke
Piatos und auf das engste verbunden mit seinem unter
orphisch- pythagoreischen Einflüssen entstandenen, oder
doch durch diese befestigten Unsterblichkeitsglauben.
Damit kam in sein System ein ungriechischer Zug hinein,
ein Zug der Feindseligkeit gegen die Sinnenwelt.
Sokrates — wir wissen dies von Plato selbst — hat
über die Unsterblichkeit immer skeptisch gedacht; der
Glaube daran erschien ihm für die sittlichen Zwecke
des Menschen unwesentlich. Gäbe es ein Leben nach
dem Tode, nun so werde er eben fortfahren, auch „dort"
sich und andere zu erforschen und dort, meinte er,
Probleme der Lebensanschauung. IQI
werden sie einen um deswillen wohl nicht hinrichten.
So äußerte sich auch dieser Frage gegenüber seine er-
habene Ironie, seine Weisheit des Nichtwissens. Wie
vieles ist, was wir nicht zu wissen brauchen. — Ideen
sind Aufgaben, Willensaufgaben und allein als Ziele des
Schaffens und Handelns müssen sie verstanden werden.
Sie gelten, aber sie sind nicht; nicht irgend ein Sein
oder Geschehen in der äußeren Natur, einzig nur das
Streben in uns, das zu einem Wollen werden soll, fällt
in ihren Bereich.
Ganz im Geiste des Sokrates dagegen denkt Plato
von der Bestimmung der Philosophie, ihrem Beruf zu
ethisch-politischer Reform. Die Philosophie ist die Kunst
der Könige: der Führer der Menschen, und vollendete
Sittlichkeit nur in einem vollkommenen Staate möglich.
Von Hause aus — und es ist dies wörtlich zu nehmen:
von seiner Abstammung und den Traditionen seiner
Familie her — hatte Plato den stärksten Trieb zu poli-
tischer Tätigkeit, und nur weil er den Staat nicht
regieren, nicht einrichten konnte, schrieb er über den
Staat. Alles bei ihm ist wie bei Sokrates auf persön-
liche Einwirkung angelegt. Seine Schriften, die wir zu
dem Höchsten zählen, was die Weltliteratur besitzt,
betrachtete er selbst für eine Art von Notbehelf,
höchstens als Mittel der Erinnerung an wirklich ge-
haltene Gespräche mochten sie gelten. Wir müssen
ihm dies glauben, denn die ungemeine künstlerische
Sorgfalt, die er auf sie verwendete, ließe viel eher das
Gegenteil vermuten. Nur aus unmittelbarem geistigen
Verkehre, aus gemeinschaftlicher Unterredung gehe die
Erfassung der Idee hervor. Sie komme plötzlich wie
ein Licht, das aus einem Funken entsteht, um sich dann
von sich selber zu nähren. Als bloßes Objekt des
IQ2 Sechster Vortrag.
Wissens sei sie weder auszusprechen, noch zu überliefern;
ist sie doch wesentlich ein Erleben des Geistes, die Er-
hebung und Richtung des Gemütes zu seinen Zielen
hin. Und so ist es auch in der Tat: Ideen sind Willens-
begrifife, nicht Sachbegriffe.
Dem Wege folgend, den Sokrates gewiesen, hat
Plato die Welt des Seinsollenden entdeckt. Ein Glanz
unvergänglicher Jugend liegt auf seinem Werke, das dem
wesentlichen Gehalte nach so wenig veralten kann wie
ein Werk der hohen Kunst. So wie Raffael ihn im
Bilde zeigte auf der „Schule von Athen", mit der nach
oben weisenden Gebärde lebt Plato im Gedächtnis der
Menschheit.
Wer in der Geschichte der Philosophie Zusammen-
hang und Folgerichtigkeit vermißt, weil er nur auf den
Wandel der metaphysischen Systeme blickt, der den
Wandel der wissenschaftlichen Anschauungen teils wieder-
spiegelt, teils auch ankündigt, wird durch die Fortwirkung
des Piatonismus eines Besseren belehrt, insbesondere,
wenn er bemerkt, wie nahe sich die Gedankenkreise
Piatos und Kants berühren. Laas hat ganz richtig ge-
sehen, wenn er allen Idealismus in der praktischen Be-
deutung des Wortes auf Plato zurückführt, von Plato
ausgehen läßt, — aber unrichtig daraus gefolgert, daß
eben deshalb der Idealismus antiquiert und durch den
„Positivismus" der Wissenschaft zu ersetzen sei. Wir
schließen heute anders. In der wissenschaftlichen For-
schung ist der Positivismus, der Weg der Erfahrung,
an seinem Platze; wo aber die Lebensweisheit, welche
nicht Wissenschaft ist, sondern Kunst, dem Willen neue
Ziele entdeckt, hat alle bisherige Erfahrung keine ent-
Probleme der Lebensanschauung. 1^2
scheidende Stimme. Diese Kunst zeigt Möglichkeiten,
die erst zu schaffen, erst zu verwirklichen sind. Zwar
geht sie aus der Natur des Menschen hervor und auch
die Ziele, die sie zeigt, liegen innerhalb der Grenzen der
Menschheit; ihr Glaube aber ist, daß diese Grenzen noch
nicht durchmessen, jene Möglichkeiten nicht erschöpft
sind, daß die menschliche Natur mit einem Worte plastisch
ist und darum gestaltet sie an dem Bilde des Menschen
weiter. Auch haben wir uns überzeugt, daß reine Wissen-
schaft nicht ausreichen kann, unser Leben zu erfüllen.
Das Wissen vermehren, ohne den Willen zu bilden, den
Charakter zu erhöhen, kann sogar nachteilig, kann
kulturwidrig werden. Wir sind heute wieder geneigt,
auf die Stimme der führenden Geister aus der Ver-
gangenheit zu hören, denn wir haben die Empfindung
an einem Wendepunkte der Zeit zu stehen und sehen
nach dem Wege aus, der zur Erneuerung des geistigen
Lebens führt.
Ideen sind nicht Erkenntnisbegriffe, sie fallen nicht
in das Gebiet der theoretischen, sie gehören zum Bereich
der praktischen Vernunft. Dort, wo die Erforschung
von Objekten, die in der Erfahrung gegeben sind, unser
Zweck ist, kann ihre Bedeutung nur eine „regulative"
sein, sofern sie die Bedingungen oder Regeln angeben,
unter denen Einheit oder systematische Vollständigkeit
des Wissens zu erzielen ist. Für die praktische Vernunft
dagegen sind sie „konstitutiv"; sie selbst konstituieren
die praktische Vernunft, sie selbst sind die Vernunft,
die zugleich Wille ist. . — Mit diesem Gedanken hat
Kant den Piatonismus wiederbelebt und zugleich auf
das Gebiet beschränkt, worüber ihm in der Tat die
Herrschaft zusteht. Doch ist sein Verfahren dabei nicht
völlig konsequent. Für die Glaubensobjekte machte er
Riehl, Philosophie der Gegenwart, 12
194
Sechster Vortra?.
die Ideen doch wieder zu Erkenntnisbegriffen, und da
eine Erkenntnis aus Ideen, falls eine solche möglich ist,
immer nur eine geforderte sein könnte, erklärte er die
Glaubenssätze, die er durch sie begründen will, nur für
Forderungen, für „Postulate" der praktischen Vernunft.
Ideen sind niemals Realitäten, wie Plato glaubte, noch
können durch sie Realitäten begründet werden, wie Kant
meinte. Ihre Bestimmung ist das Schaffen von Reali-
täten, die noch nicht sind. Auch die Freiheit, die Grund-
lage der Ethik Kants, ist in diesem Sinne eine Idee;
und statt mit Kant zu sagen: ein Wesen das unter der
Idee der Freiheit handelt, ist frei, müssen wir vielmehr
sagen : es wird frei, es macht sich frei, und zwar genau
so weit, als es wirklich nach der Idee handelt. Der
Wille geht nicht von der Freiheit, als einem ursprüng-
lichen Besitze, aus, er führt zur Freiheit hin, er befindet
sich zu ihr, mathematisch geredet, in assymptotischer
Annäherung. Ideen sind Aufgaben, die ins Unendliche
weisen und eben dadurch machen sie das Leben des
Geistes aus.
Wenn von der Ethik Kants die Rede ist, so denkt
man gewiß zuerst an den „kategorischen Imperativ",
und da man mit diesem beinahe zu einem geflügelten
Worte gewordenen Ausdruck nicht immer einen be-
stimmten, aus dem Zusammenhang der Kantischen Lehre
geschöpften Begriff verbindet, so hält man sich an den
Wortlaut und stellt sich darunter etwas Befehlshabe-
risches vor, das sich auf Gründe nicht einläßt, sondern
schweigenden Gehorsam erheischt, so ungefähr wie das
Kommando eines Unteroffiziers. Das Kategorische aber
soll auch als Merkmal des Sittengesetzes nichts weiteres
bedeuten, als es in der Logik als Name eines Urteils
bedeutet: nämlich den Gegensatz zum Hypothetischen,
Probleme der Lebensanschauung. 195
etwas, das nicht hypothetisch ist, nicht unter einer Be-
dingung steht, sondern schlechtweg gilt, einen Satz also
ohne ein Wenn. Der kategorische Imperativ ist übrigens
nicht das Prinzip der Kantischen Ethik, er ist die
Formel der Kantischen Moral und trägt wie diese selbst
das Gepräge der Aufklärungszeit an sich, aus der er
stammt. Er soll das Erkennungszeichen für unsere
Pflichten sein, wir sollen nach ihm die Probe machen
können, ob eine Maxime unseres Handelns sittlich sei,
dies aber bedeutet in der Kantischen Moral ob sie all-
gemeingiltig sei, ganz so, als handelte es sich um einen
rein theoretischen Satz. Nun werden wir zweifeln können
ob es überall möglich, und noch mehr, ob es notwendig
sei, jede Handlung erst auf eine Maxime zurückzuführen,
diese sodann auf ihre AUgemeingiltigkeit hin (ihre Taug-
lichkeit zu einem allgemeinen Gesetze) zu prüfen, um
daraus den moralischen Wert der Handlung zu erkennen.
Für die Auffindung des „richtigen Rechtes", der Rechts-
pflichten, mag die Formel Kants ihre guten Dienste
leisten; ihre Anwendbarkeit darüber hinaus ist zum
mindesten fraglich und eine Notwendigkeit, sie allgemein
anzuwenden, läßt sich nicht begründen. Das Handeln
aus Pflicht — und nur dieses ist unter den Gesichts-
punkt eines Imperativs zu bringen — ist nicht die ein-
zige, es ist auch nicht die höchste Form des sittlichen
Handelns. Eine andere Form ist das Schön- und Gut-
Handeln, die „Kalokagathie" der Athener. So handelte
Sokrates. Aber, welche Bedenken immer sich gegen
die Formel der Moral Kants erheben lassen mögen
unberührt davon bleibt das Prinzip seiner Ethik. Es ist
aus dem Wesen des menschlichen Bewußtseins, ja des
vernünftigen Bewußtseins überhaupt geschöpft. „Die
Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller
13*
Iq6 Sechster Vortrag.
moralischen Gesetze", lautet der Satz Kants. Unter
Willensautonomie ist negativ die Unabhängigkeit des
Wollens von dem Objekte des Begehrens zu verstehen,
seine Unabhängigkeit von den Objekten überhaupt, auf die
es sich bezieht. Denn jede Beziehung auf Gegenstände,
die von den Gegenständen abhängig ist, kann nicht reiner
Wille sein, sie muß auf Neigung beruhen, oder sonst einem
sinnlichen Antrieb — und obwohl dies keinen Tadel
einzuschließen braucht, so bedeutet es doch jedenfalls
einen nicht moralischen Bestimmungsgrund. „Neigungen
wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen
widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres
Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Neigung
ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder
nicht, und die Vernunft muß, wo es auf Sittlichkeit an-
kommt, nicht bloß den Vormund derselben vorstellen,
sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, ihr eigenes
Interesse ganz allein besorgen." Solche Worte hätte
auch Sokrates sprechen können. Autonomie des Willens
bedeutet positiv — und dies ist ihr lebensvoller Begriff
— Selbstgesetzgebung. Darauf allein beruht die
Würde oder der innere Wert eines vernünftigen Wesens,
daß es keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zu-
gleich selbst gibt. Autonomie des Willens, das ist nichts
anderes als ethische Freiheit; auf Geistesherrschaft, auf
geistige Freiheit hat Kant die Ethik gegründet.
Ethische Freiheit heißt nicht bloß Macht haben,
Macht vor allem über sich selbst. Gewiß, auch dies
gehört zu ihrem Begriffe, ist aber nicht dessen einziger,
auch nicht dessen wertvollster Inhalt. Autonomie ist
nicht gleichbedeutend mit „Willen zur Macht", den unser
modernster Ethiker zum Prinzip e der Umschaffung des
Menschen machen wollte. Autonomie oder ethische
Probleme der Lebensanschauung. igjr
Freiheit ist, ich erläutere dies aus Kants eigenen Worten:
Persönlichkeit, Wille zur Persönlichkeit. „Was den
Menschen über sich selbst, als einen Teil der Sinnenwelt
erhebt, ist nichts anderes als die Persönlichkeit,
d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem ganzen
Mechanismus der Natur."
Das Sittengesetz ist das Naturgesetz des vernünftigen
Wesens als solchen; nach dem Typus, dem Muster der
Naturgesetzlichkeit haben wir die Selbstgesetzgebung
der Vernunft oder des Willens aufzufassen. Wie zum
Begriff, hier dürfen wir vielleicht sogar sagen: wie zur
Idee des Naturgesetzes die Ausnahmslosigkeit gehört,
so soll auch der Wille seiner Form nach ein im Sinne
dieser Idee naturgesetzlicher sein, und zwar unser eigener
Wille, der aus uns selbst hervorgehende, aus unserer
Vernunft stammende, mit der Betätigung unserer Ver-
nunft identische Wille. Bei allen unseren sittlichen Ent-
scheidungen haben wir uns zu fragen, ob wir eine Natur,
zu der diese Entscheidungen gehören, durch uns selbst
hervorbringen wollten. Ethisch ist nur d i e Entscheidung,
die mit unserem ganzen Willen übereinstimmt; sie ist
zugleich die Entscheidung, die jedes vernünftige Wesen
in gleicher Weise treffen würde, das unter den nämlichen
Umständen zu handeln hätte. Wenn also Kant bei der
Begründung der Ethik von allem nur Anthropologischen
absieht, wenn er in der lesenswertesten seiner ethischen
Schriften, in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten"»
geradezu fordert, den Grund der Verbindlichkeit für die
Sittengesetze „nicht in der Natur des Menschen oder den
Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist" zu suchen,
so verstehen wir ihn recht, wenn wir ihn so verstehen:
nicht der Mensch sofern er Mensch, sondern sofern er
ein Vemunftwesen ist, ist das Subjekt und zugleich die
<L.
Iq8 Sechster Vortrag.
Quelle des ethischen Handelns. Hier erst sehen wir die
Höhe zu der sich die Kantische Betrachtung erhebt.
Das Sittengesetz, das Freiheitsgesetz ist das universelle
Gesetz aller vernünftigen Naturen. Es hat kosmische
Tragweite. Wie verschieden auch die äußeren Formen
des Handelns anderer Vernunftwesen sein mögen, je
„nach den Umständen in der Welt, darin sie gesetzt"
sind, wie verschieden die Objekte, — die innere Form,
das Prinzip ihres Handelns kann überall in der Welt
der Vernunft nur ein und dasselbe sein. Und wir dürfen
dies mit derselben Sicherheit behaupten, mit welcher
wir sagen: kein denkendes Wesen kann von sich selbst
zu sich selbst in einem anderen Sinne: Ich sagen, als
jeder von uns von sich Ich sagt. Die Quelle des Sitten-
gesetzes ist die Apperzeption, die Tätigkeitsform des
Selbstbewußtseins, das Selbstbewußtsein als Wille.
Es ist nicht mögUch den Empfindungen, die uns
bei der Vertiefung in diese Gedanken notwendig ergreifen,
vollständigen Ausdruck zu geben. Wenn uns die Wissen-
schaft zeigt, daß die Natur begreiflich, daß sie unserem
Verstände zugänglich und offen ist, dann erscheint uns
die Ordnung der Dinge nicht mehr fremd, oder wohl
gar feindlich, wir fühlen uns auch innerlich und nicht
bloß tatsächlich zu ihr gehörig, und wie groß auch ihre
Macht gegen uns als Einzelwesen sein mag, diese Macht,
wenn sie selbst unsere liebsten Wünsche durchkreuzt,
ja uns vernichtet, erscheint uns doch nicht wie ein blindes
Verhängnis, wir erkennen sie als Ausfluß der nämlichen
Ordnung, die auch alles für uns Heilsame herbeiführt.
Und ebenso wie durch den Verstand mit der Sinnen-
welt, fühlen wir uns durch die Vernunft mit einer
geistigen Welt verbunden, nachdem wir eingesehen
haben, daß es nur Ein Prinzip des Wollens für alle ver-
Probleme der Lebensanschauung. ign
nünftigen Wesen geben kann, daß die ethischen Werte
nicht rein menschliche sondern allgemein geistige Werte
sind. Die Teilnahme an allem Sein, die kosmische Em-
pfindung, wird dadurch gleichsam zu einer doppelseitigen.
Zwei Dinge sind es, sagen wir mit Kant, die das Gemüt
mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und
Ehrfurcht erfüllen, je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel
über uns und das moralische Gesetz in uns — ,
zwei Dinge: die Grenzenlosigkeit der Sinnenwelt außer
uns und die Unendlichkeit des geistigen Wesens in uns.
SIEBENTER VORTRAG.
SCHOPENHAUER UND NIETZSCHE. — ZUR FRAGE DES
PESSIMISMUS.
Das umfassendste Wertproblem, das irgend gestellt
werden kann, die Frage nach dem Werte des Lebens,
dem Werte des Daseins überhaupt hat Schopenhauer
gestellt; die Verneinung der Frage : hat das Dasein
einen Wert? macht ihn zum Philosophen des Pessimismus.
Wir wollen uns nicht bei der Gegenfrage aufhalten:
Kann man so fragen ? Kann der Wert des Daseins, der
Wert der Welt abgeschätzt werden? Müßte nicht das
Maß für seine Schätzung aus eben der Welt, eben dem
Leben genommen sein, die darnach geschätzt werden
sollen? Ein Werturteil setzt die Möglichkeit einer Ver-
gleichung voraus. Womit aber könnte das Sein, das
alles ist, verglichen, wie sein Wert beurteilt werden, da
es selbst jeden Wert und jeden Unwert in sich ein-
schließt und aus sich hervorbringt? Eines ist von vorne-
herein klar: soll das Leben als Ganzes geschätzt und
die Summe seines Wertes bestimmt werden, so müßte
das Ganze des Lebens gegeben und unveränderlich sein»
Geschichte und Entwicklung, Werden und Schaffen
machen jede feste und endgiltige Wertbestimmung des
Lebens, also auch die pessimistische unmöglich. Mit
einer Geschichte, die zugleich einen Fortschritt bedeutet,
ist der Pessimismus als Theorie nicht zu vereinen und
schon durch die bloße Möglichkeit künftigen Fortschrittes
wird er aufgehoben.
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 201
Um den Pessimismus bejahen zu können, muß
Schopenhauer die Geschichte verneinen. Seine Philo-
sophie kennt keine Geschichte, sie erkennt die Ge-
schichte nicht an. Diese darf kein wirkliches Ge-
schehen bedeuten, nichts in ihr darf sich wahrhaft
verändern, sie muß ein ewiges Einerlei sein, nur in
immer anderer Verkleidung: eadem sed aliter — so
will es der Pessimismus. Die Geschichtslosigkeit des
menschlichen Wesens, das Fehlen jeder eigentlichen Ent-
wicklung im Leben der Menschheit ist ebenso ein Postulat
der Philosophie Schopenhauers, wie der entgegengesetzte
Glaube an beständigen und notwendigen Fortschritt, an
ein Gesetz fortschreitender Entwicklung in der Geschichte,
ein Postulat der Philosophie Hegels ist. Beides ist, so
absolut hingestellt, gleich einseitig und der Erfahrung
widersprechend. Diese weiß von keinem Gesetz des
Fortschrittes, sie kennt den Fortschritt nur als Resultat,
das je nach den Bedingungen eintreten oder ausbleiben
kann. Beharrung und Veränderung zusammen und mit
wechselseitiger Einschränkung bestimmen den Gang des
Geschehens und die Zweifel an der Wirklichkeit eines
Fortschrittes in einem gegebenen Falle sind berechtigt,
sofern jeder Fortschritt immer nur relativ sein kann,
und nützlich, denn sie treiben zum Weiterstreben und
Handeln an. Hätte also Schopenhauer nur die Selbst-
zufriedenheit einer jeden „Jetztzeit" stören wollen, den
törichten Glauben, daß gerade sie, daß gerade wir es
„so herrlich weit gebracht", — wir würden ihm nicht
widersprechen können. Aber er leugnet an sich und
unbedingt die Möglichkeit alles Besserwerdens und darum
ist seine Lehre lebensfeindlich. Sie verneint das Leben,
sie will es verneinen und der Glaube an sie lähmt das
Handeln.
202 Siebenter Vortrag.
Der Pessimismus ist Schopenhauers Apriori und
gleichsam der „angeborene Begriff" seiner Philosophie.
Die pessimistische Verurteilung des Lebens — wir wissen
dies aus den frühesten Aufzeichnungen des Philosophen
selbst — stand ihm bereits fest, ehe noch ein weiterer
Bestandteil seiner Lehre gefunden war. Mehr noch:
alle anderen Hauptgedanken seiner Philosophie ent-
wickeln sich erst aus dem Pessimismus und schon ihre
Auffindung, ihre Auswahl steht unter der Leitung des
pessimistischen Grundmotives. Weil das Leben unselig
ist, das Dasein verkehrt und ohne denkbares Ziel, des-
halb muß der Grund des Lebens, das Princip des
Daseins ein blinder, unaufhaltsamer Drang und „Wille"
sein. Und soll es dennoch ein Heil geben können, eine
Befreiung von der Qual des Verlangens, soll die Sehn-
sucht des Geistes je Erfüllung, der Wille Befriedigung
finden, so kann das Ziel dieser Erfüllung, die Stätte
dieses Friedens nur in dem zu suchen sein, was die
Welt nicht ist, in einem Jenseits von allen Erscheinungen.
Dann aber darf diese Welt, in der wir leben, nicht die
einzige Welt, nicht die letzte und unauf hebbare Wirk-
lichkeit von absoluter Bedeutung sein, sie muß eine
Scheinwelt sein, ein bedrückender Traum, in dem das
Weltwesen befangen ist und welcher beim Erwachen
des „besseren Bewußtseins", so hieß es zuerst, mit
der „Verneinung des Willens zum Leben", heißt es
später, von selber verschwindet. Dies wieder setzt vor-
aus, daß die Vorstellungsformen, in denen uns die Welt
gegeben ist, nicht Formen der Wahrheit und Erkenntnis
sind, sondern Formen des Scheines und der Täuschung.
So fordert der Pessimismus Schopenhauers die Annahme
eines erkenntnislosen Willens, einer finstern, treibenden
Macht im Wesen der Dinge, so fordert er die Herab-
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 20"?
Würdigung der Erscheinungswelt zu einer scheinbaren
Welt, einem bloßen „Gehirnphänomen", wie Schopen-
hauer sagt, damit die Möglichkeit einer Erlösung aus
dem Dasein offen bleibe; er fordert endlich die Lehre
dieser Erlösung, einer zeitweiligen durch die Kunst,
der definitiven durch Askese und Willensverneinung.
Alles bei Schopenhauer: die Willensmetaphysik, die
nihilistische Erkenntnislehre, der Zweck, den er der
Moral gibt, hängt mit dem Pessimismus zusammen, vom
Pessimismus ab und selbst die Auffassung der Kunst
wird von dem düsteren Geiste getrübt, der durch sein
ganzes System geht.
Nicht dieses System selbst und wie sich in ihm
Aufklärung und Romantik so seltsam kreuzen und ver-
mischen, hat uns zu beschäftigen; wir erinnern nur an
die leitenden Grundsätze des Systems, in welche der
pessimistische Denker seine Lehre selbst zusammen-
faßte und die schon die Überschrift seines Hauptwerkes
zum Ausdruck bringt.
Die Welt, wie sie sich unseren Sinnen zeigt, mit
allem, was sie enthält: der Erde, die wir bewohnen,
der Sonne, die wir schauen, den Gestirnen, die über
uns leuchten, ist Vorstellung des vorstellenden Subjektes:
„die Welt ist meine Vorstellung," Vorstellung
aber bedeutet für Schopenhauer soviel als Irrtum, soviel
als Trug. Sie ist, erklärt er, die Maja, von der die
Weisheit der alten Inder redet, der Schleier des Truges,
der die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine
Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß
sie sei, noch auch, daß sie nicht sei; denn sie gleicht
dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande,
welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält. —
Das sind nicht, wie Schopenhauer meinte, Kantische
204 Siebenter Vortrag.
Gedanken, bildlich ausgedrückt, noch richtige Folgerungen
aus Gedanken Kants. Es sind nicht einmal Berkeleysche
Gedanken; denn Berkeley glaubte wenigstens an die
Realität einer Geisterwelt. Die Erscheinung, bei Kant
der Gegenstand einer empirischen Erkenntnis, wird hier
in Schein verwandelt, zum Scheine verflüchtigt; die
Formen des Anschauens und die Begriffe des Denkens,
welche, wie Kant zeigte, durch ihre Beziehung auf die
Dinge selbst Erfahrung und Wissenschaft begründen,
mithin die Quelle der Wahrheit sind, werden von
Schopenhauer zur Quelle des Irrtums gemacht: das
Subjekt soll in ihnen befangen sein, sie sollen uns
Dinge vorspiegeln, wo keine Dinge sind. Die Welt eine
Sinnestäuschung, für Sinne, die selbst nur eine Täuschung
sind, die Welt ein Gehirnphänomen für ein Gehirn, das
sein eigenes Phänomen ist, — das ist nicht Kriticismus,
das ist Illusionismus, ist Nihilismus der Erkenntnis und
eine völlige Umbiegung der Kantischen Lehre. Und
doch verdeckt Schopenhauers falsche Auffassung Kants
für viele noch heute den wahren Sinn der kritischen
Philosophie. Auch in der Erkenntnistheorie ist Schopen-
hauer Pessimist.
Wie nach Schopenhauer die Welt von außen be-
trachtet, durch und durch Vorstellung ist und ein
Sein nur in ihrem Vorgestelltwerden hat, so soll sie
innerlich erfaßt, durch und durch Wille sein: „die
Welt ist mein Wille." Sie ist an sich eben dasselbe,
was, wenn es, von der Erkenntnis begleitet ist, Wille
heißt. Der Wille, lehrt Schopenhauer, ist unser Wesen,
das innere Sein unseres Leibes — und darum auch
das innere Sein, das eigene Wesen aller anderen Dinge,
soweit sie nicht in die Vorstellung aufgehen, soweit sie
darüber hinaus noch etwas für sich sind. Als das
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 205
„Unmittelbarste" unseres Bewußtseins soll er nicht völlig
in die Form der Vorstellung eingegangen, daher
uns intim und besser als alles andere bekannt
sein. Er ist frei von der Form des Raumes oder
der Vielheit und erscheint nur noch in der Form
der Zeit wie in einem durchsichtigen Schleier. Die
Kausalität aber, das Wirkende in allen Wirkungen, ist
er selbst: der Wille ist „die Kausalität von innen ge-
sehen". — Ist es nötig, diesen Satz, das eigentliche
Fundament der Naturphilosophie Schopenhauers, noch
ausdrücklich zu widerlegen, nachdem ihn Hume schon
im voraus widerlegt hat? Nicht der Wille ist uns ge-
geben, Wille ist ein Abstraktum; wir kennen nur
Akte unseres Wollens und von jedem dieser Akte er-
fahren wir, daß er von einer Vorstellung abhängig ist,
die wir als sein Motiv bezeichnen. Wie oder wodurch
er aber von seinem Motive abhängt, das ist uns genau
so bekannt und unbekannt, als es uns bekannt und zu-
gleich unbekannt ist, wie eine Bewegung von einer
anderen Bewegung abhängt. Auch die „Motivation",
der Zusammenhang von Motiv und Willens entschluß
lüftet das Geheimnis nicht, das der Metaphysiker hinter
der Verursachung sucht. — Was aber ist Schopenhauers
Wille selbst ? was das Wesen dessen, was der Philosoph
zum Wesen der Dinge macht? Mit Mißachtung des
Sinnes und Gebrauches der Sprache des Lebens und
der Psychologie nennt Schopenhauer: Wille, was vor
ihm und außer ihm Niemand, es sei denn ein Anhänger
seiner Lehre, Wille nannte oder nennen wird: den
bloßen Instinkt oder Trieb, den Drang der Begierde,
den Affekt der Leidenschaft, — alles das also in unserem
Bewußtsein und gerade das, von dessen unmittelbarer
Wirksamkeit wir uns durch das Wollen befreien, worauf
2o6 Siebenter Vortrag.
und öfters selbst wogegen der wahre und echte Wille
wirkt, worüber er Herr wird. Befragen wir nämlich
Schopenhauer, wo sich der Wille am reinsten manifestiere,
am offenkundigsten in die Erscheinung trete, so weist
er nicht auf Beispiele aus dem Leben der Helden und
Staatsmänner, der Lenker der Menschheit, — er weist
auf die Raserei eines Tobenden hin: hier zeige der
Wille, was er los geworden von der Erkenntnis, seiner
eigenen Natur nach sei, hier lasse er sich in seiner
wahren Gestalt überraschen. Wir sagen vielmehr gegen
Schopenhauer, und sagen es mit Recht, daß eben hier
der Wille fehlt und nennen den, welcher seiner Triebe
nicht mächtig ist, den geistig Gestörten, willenlos. Der
Metaphysiker des Willens hat den Willen mißverstanden;
Schopenhauer kannte den Willen nicht, er verwechselte
ihn mit der Begierde. Das Wort, dem sich wie einem
„Sesam öffne dich!" das Innere der Natur auftun soll,
das Wort Wille, statt die Rätsel des Daseins lösen zu
können, ist, so wie Schopenhauer es gebraucht, selbst
zum Rätsel geworden. Ein Wille ohne Erkenntnis ist
nicht der Wille, den wir allein kennen und betätigen;
aus ihm die Welt „erklären", — und dies soll nach
Schopenhauer die Aufgabe der Philosophie sein, —
heißt für ein Unbekanntes ein anderes Unbekanntes
setzen. Höchstens metaphorisch mag der „universelle
Drang zum Dasein", welchen Schopenhauer in die Natur
hineinlegt, in sie „einfühlt", ein „Wille" heißen können.
Der „Wille in der Natur*' ist eine Metapher, besten-
falls eine Analogie. Wird das „Wesen" der Naturkräfte
dem Verständnis wirklich in irgend einem Grade näher
gebracht, wenn wir den Begriff der Kraft auf den des
Willens zurückführen, die Kräfte als Äußerungsformen
eines unbewußten Willens deuten? Erst müßten wir
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 207
diesen „Willen" selbst verstehen können. Schopenhauer
freilich meinte: daß das Wesen der Kräfte auch in der
unorganischen Natur identisch mit dem Willen in uns
ist, stelle sich Jedem, der ernstlich nachdenkt, mit
völliger Gewißheit und als erwiesene Wahrheit dar; er
hielt also diesen Satz für so selbstverständlich wie ein
Axiom. Die Gravitation, um eine Probe zu wählen,
soll die „aus dem eigenen Innern der Körper hervor-
tretende Sehnsucht derselben nach Vereinigung"
sein; — „wie sie spielen nach den lockenden Zielen,"
sagt auch der Dichter vom Tanz der Gestirne. Ist dies
Erklärung? Wo bleibt das Gesetz, nach welchem die
Gravitation wirkt? Imaginiere sich, wer kann, eine
quadratisch mit der Entfernung abnehmende Sehnsucht. —
Wohl ist es dem Menschen natürlich, sein Gemüt und
dessen innere Regungen in das gleichsam Innere der
Dinge um ihn her hineinzutragen, sich in die Dinge
einzufühlen; wir nennen aber nicht Erklärung, was eine
Deutung, eine Vermenschlichung der Natur ist, die
Quelle ihrer mythischen Auffassung. Der „Wille in der
Natur" ist ein philosophischer Mythos.
An sich brauchte eine Willensmetaphysik, gleich
derjenigen Schopenhauers, nicht pessimistisch zu sein;
ein erkenntnisloser Wille müßte nicht notwendig das-
selbe bedeuten wie ein vernunftwidriger Wille. Schopen-
hauers pessimistische Charakteristik des Willens muß
daher andere Gründe haben als die Trennung des
Willens von der Erkenntnis, und abermals zeigt sich
uns, daß der Pessimismus das unabhängige Element und
der ursprüngliche Bestandteil seiner Philosophie ist.
Nehmen wir aus dieser den Pessimismus weg, — und
es bleibt ein naturphilosophischer Versuch zurück, geist-
voller als andere Versuche der gleichen Art und durch
2o8 Siebenter Vortrag.
schriftstellerische Vorzüge ausgezeichnet, doch aber nur
einer der Versuche, das Unerforschliche zu erforschen,
eines der Systeme, die es erforscht zu haben glauben,
wenn sie die Welt nach einer ihrer Erscheinungen aus-
legen. — Unter allen Philosophen, die ein geistiges
Prinzip im Wesen der Dinge annehmen, ist Schopen-
hauer der einzige, der dieses Prinzip nicht in einer
„Idee", nicht in Verstand oder Vernunft, sondern im
Leben der Triebe und Affekte sucht. Er faßt die Grund-
lage dieses Lebens in eine Einheit zusammen und nennt
diese Einheit: Wille. Hierin, in dem Willensmonismus
beruht das Eigentümliche seiner Naturphilosophie, die
wir dem modernen Bewußtsein näher bringen, wenn
wir an die Anschauungen der Wissenschaft von der
Einen Kraft oder Energie denken, welche sich einem
Proteus gleich, wie Helmholtz von ihr sagte, in immer
neue Formen kleidet. Die metaphysische Hypothese
Schopenhauers will das innere Wesen der Energie, die
nur als unzerstörliche Größe bekannt und nachweisbar
ist, erfassen; sie macht aus der Energie einen Allwillen
in der Natur. — Wie aber ordnet Schopenhauer diese
naturphilosophische Hypothese seinem pessimistischen
Glauben unter, wie rechtfertigt er den Pessimismus, der
durch die Willenslehre allein nicht zu rechtfertigen wäre?
So weit er empirisch verfährt, hat er anscheinend
leichtes Spiel. Wer könnte sich auch der Erfahrung
verschließen, daß die Welt nach menschlichem Maße
gemessen, voll Unheil ist; wer wüßte nichts von tragischen
Schicksalen im Leben anderer und hätte nicht in seinem
eigenen Leben, wenn er nur alt genug geworden ist,
ähnliche Schicksale erfahren? Und wird das Bild des
Lebens so einseitig gezeichnet, wie es von Schopenhauer
geschieht, der die Motive dazu von Schlachtfeldern und
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 209
Gerichtsstätten holt, uns durch chirurgische „Marter-
kammern" und in „Sklavenställe" führt, so muß wohl
das Leben in die nächtliche Farbe des Pessimismus
getaucht erscheinen. Schopenhauer sammelt die Stimmen
der Dichter, voran der griechischen, zum Zeugnis gegen
das Leben und über das „beste Los, nicht geboren zu
sein, nie den Tag erblickt zu haben und sein flammen-
sprühendes Gestirn"; gegen die Aussprüche der Lebens-
bejahung, Lebensfreudigkeit ist er taub. Keiner aber
hat eindrucksvoller und mit einer solchen Mannigfaltig-
keit von Wendungen und Gleichnissen von der Nichtigkeit
und den Leiden des Lebens geredet; keiner, auch
Leopardi nicht, von dem er rühmt, — und es ist dies
höchst bezeichnend für ihn selbst, — daß er dabei
durchweg erregend und unterhaltend wirke. Wir
meinen ordentlich die Freude zu sehen, die er über die
spannende Behandlung seines dunklen Gegenstandes
empfindet, die Freude, nicht des bloßen Zuschauers, der
von bequemem Platze aus ein Trauerspiel ansieht,
sondern des tragischen Künstlers selbst, der sich vom
Furchtbaren befreit, indem er ein Bild des Furchtbaren
schafft. Schaffen, Darstellen heißt Sich-Befreien. Und
so ist es verständlich, wie Schopenhauer vermochte, das
Leben zu ertragen und dazu noch ein Pessimist zu sein,
der „die Flöte spielte". Beweise wird man in seinen
Klagen und Anklagen gegen das Leben nicht finden
können; sind sie doch, wie er selbst sagt, überall leicht
zu haben. Es ist kein Beweis, wenn er bemerkt: Dante
habe den Stoff zu seiner Hölle aus dieser unserer wirk-
lichen Welt genommen und es sei eine recht ordentliche
Hölle geworden, für das Paradies aber, zu welchem die
Welt gar keine Materialien darbiete, sei ihm nichts übrig
geblieben als Belehrung durch Beatrice und verschiedene
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 14
2IO Siebenter Vortrag.
Heilige, das heißt nichts als Langeweile und scholastische
Theologie.
Aber Schopenhauer will zum Pessimismus nicht
bloß überreden; er will ihn beweisen, sogar aus Gründen
a priori beweisen. Die Nichtigkeit der Zeit, der all-
gemeinen Form des Daseins, ist das erste, was gegen
das Leben sprechen soll. Jeder Augenblick ist nur da-
durch da, daß er den vorhergehenden vertilgt, um als-
bald selbst von dem folgenden vertilgt zu werden. Und
so scheint das Leben nur in einer beständig hinstürzenden
Gegenwart enthalten zu sein, in einem ausdehnungslosen
Punkte, der die nach beiden Seiten unendliche Zeit
schneidet. Die Gegenwart aber sei stets unbefriedigend.
Das Glück liege in der Zukunft, oder auch in der Ver-
gangenheit, während die Gegenwart einer kleinen Wolke
zu vergleichen sei, welche über die besonnte Fläche
treibt: vor ihr und hinter ihr ist alles hell, nur sie selbst
wirft einen Schatten. Gehört nicht auch die Erinnerung,
werden wir dem entgegenhalten, zu unserem gegen-
wärtigen Leben, und wird die Gegenwart nicht ebenso
durch Voraussicht und Erwartung erweitert? Unaus-
gedehnte Zeitpunkte gibt es nur für das mathematische
Denken, die anschauliche Zeit und jeder Teil in ihr ist,
oder hat Dauer. Selbst für den einfachsten psychischen
Akt ist die „Präsenzzeit", wie der Psychologe sie nennt,
immer noch ausgedehnt. Aus dem beständigen Hin-
schwinden der Zeit läßt sich daher die Nichtigkeit ihres
Inhaltes nicht folgern, und statt zu sagen: nichts beharrt,
alles ist ohne Dauer, müssen wir vielmehr sagen: nichts
ist völlig vergänglich. Das Vergangene ist in seinen Wir-
kungen, das Künftige in seiner Ursache da und das zurück-
und vorgreifende Bewußtsein verbindet Succession und
Beharren. — Das zweite, was a priori für den Pessimismus
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 2 1 1
entscheiden soll, ist die angebliche Negativität der Lust,
die Nichtigkeit der Gefühle der Befriedigung, der Freude.
Nur die Unlust soll ein positives Gefühl sein, alle Lust
dagegen nichts als ein augenblickliches Stillestehen des
Willensdranges und Begehrens. Je stärker der Drang,
je stürmischer das Begehren, um so größer erscheine
dann im Kontraste damit die nachfolgende Lust; diese
entstehe erst aus einem solchen Kontraste und sei selbst
nichts Ursprüngliches und Positives. „Nur Schmerz und
Mangel können positiv empfunden werden; das Wohl-
sein hingegen ist bloß negativ." Die unmittelbarste
innere Erfahrung widerspricht dieser Behauptung Schopen-
hauers. Lust ist nicht dasselbe wie Schmerzlosigkeit
und nicht jede Lust Folge einer aufgehobenen Unlust,
eines gestillten Verlangens. Niemand hat je im Ernste
bezweifelt, daß die Beseligung im Betrachten, d. i. Nach-
schaffen eines edlen Kunstwerkes ein Zustand hohen,
positiven Glückes ist; — Niemand, auch Schopenhauer
nicht, obschon er es, nur um den Pessimismus nicht
preiszugeben, in der Theorie fertig brachte, auch die
Befriedigung durch die Kunst für eine negative zu
erklären.
Diese Erwägungen allgemeiner Art, die den Pessi-
mismus nicht beweisen, weil sie selbst der Prüfung nicht
Stand halten, sollen eine empirische Bestätigung im
Großen erfahren durch jeden Blick auf die organische
Natur und den in ihr herrschenden Kampf um Leben
und Tod. Im „Kampf ums Dasein", den eine moderne
Schule der Biologie als ein Prinzip der Entwicklung des
Lebens betrachtet, sah Schopenhauer ein Argument
gegen das Leben. Er fand darin, vom Standpunkte seines
abstrakten Monismus aus, der aus einem Begriff ein
Wesen machte, den Beweis für die Entzweiung des
14*
212 Siebenter Vortrag.
„Willens" mit sich selbst. Ja, schon in der unorganischen
Natur, einer Druse z. B., in der sich die anschießen-
den Krystalle durchkreuzten, erblickte er die Anzeichen
und Abbilder dieses inneren Streites. Der Wille zehrt
an sich selber. „Alles drängt und treibt zum Dasein,
womöglich zum organischen, d. i. dem Leben und da-
nach zur möglichsten Steigerung desselben." Jedes
Wesen nährt sich von einem anderen; jedes sucht dem
anderen die „Materie" zu entreißen, denn es kann sein
Dasein nur durch die Aufhebung eines fremden erhalten.
Überall treffen wir so in der Natur auf Kampf und
wechselnden Sieg. Nur durch Überwältigung der niederen
Erscheinungsformen steigt der „Wille" zu den höheren
Stufen des Daseins, der ,,Objektivation", auf; seine Be-
dürfnisse wachsen, seine Organisation wird komplizierter,
bis er sich endlich geistig und historisch im Menschen-
geschlechte auslebt und in dessen Geschichte: dem
ewigen Einerlei, wir wissen es schon, unter immer
neuen Masken. So lautet Schopenhauers pessimistische
Deutung des Entwicklungsganges in der organischen
Natur, die Legende von dem mit sich entzweiten „Willen
zum Leben". — Um von einer Entzweiung im Wesen
der Dinge reden zu können, muß man den Dingen erst
ein einziges Subjekt zu Grunde gelegt haben, und nicht
Streit und Vernichtung allein herrschen in der belebten
Natur, sondern, um in dieser halb mythischen Redeweise
fortzufahren, auch Eintracht und Sympathie.
Aus dem unseligen Drängen und Treiben der
Dinge, dem Tumult des Lebens und seiner Angst und
Wirrsal gibt es Befreiung, muß es Befreiung, Erlösung
geben. Vorübergehend und auf Augenblicke befreit
uns die Kunst von dem Drange und der Not des
Willens; vollständig und für immer können wir uns
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 2 1 3
selbst von der Welt befreien, aus ihr retten, durch Um-
kehrung unseres Wesens, durch Abtötung des Willens.
Die Kunst eine Erlösung und damit zugleich eine
Rechtfertigung des Lebens! die Kunst eine meta-
physische Tätigkeit! Diese Sätze haben sich dem jungen
Nietzsche eingeprägt, den Geist, der aus diesen Sätzen
redet, hat Nietzsche nie völlig überwunden. Das künstle-
rische Anschauen ist willenloses Anschauen; beim Ein-
treten der ästhetischen Auffassung verschwindet der
Wille ganz aus dem Bewußtsein, lehrt Schopenhauer.
Dieses Verschwinden geschieht plötzlich und wie durch
ein Wunder. Wenn in außerordentlichen Momenten der
Intellekt, das Geschöpf des Willens und ursprünglich
diesem dienstbar, gehoben durch seine eigene Kraft,
sich von dem Dienste des Willens losreißt, sich vom
Willen isoliert und die gewöhnliche Betrachtungsart der
Dinge fahren läßt, dennoch aber energisch tätig bleibt,
und sich ganz der Anschauung hingibt, sich ganz in
diese versenkt und verliert: dann hat sich mit einem
Schlage das erkennende Subjekt in uns verwandelt und
damit hat sich zugleich die Welt, sein Objekt verwandelt.
Das Subjekt ist herausgehoben aus seinen individuellen
Beziehungen zu den Dingen; es will nicht mehr, begehrt
nicht mehr, es ist zeitlos geworden; denn nur in der
Zeit lebt die Begierde. Und auch was es in solcher
Contemplation, als klares ruhiges Sonnenauge, schaut,
schaut es nicht mehr in endlichen Beziehungen und
Verhältnissen, den Beziehungen zu seinem eigenen
Leibe oder Willen, den Verhältnissen zu anderen
Dingen; es schaut das reine Was des Dinges,
uicht dessen Wo, Wann oder Warum. Die Er-
scheinung tritt ihm jetzt völlig anders entgegen als
in der Welt der Vorstellung „nach dem Leitfaden des
214 Siebenter Vortrag.
Satzes vom Grunde." Das Wesen der Dinge offenbart
sich der „willenlosen, anteilslosen und dadurch rein
objektiven Anschauung" des künstlerischen Genius; was
dieser erfaßt, in jedem Dinge erfaßt, ist wie sein An-
schauen selbst nichts Individuelles mehr, sondern ein
Ewiges, Zeitloses: die Idee des Dinges, Die Kunst
schaut die Ideen. Das soll nicht heißen: Gedanken
sind ihre Objekte, es soll heißen: der reine anschau-
liche Gehalt der Dinge ist ihr Gegenstand. Von
der Form der künstlerischen Darstellung spricht
Schopenhauer, dessen Betrachtungen über die Kunst
im einzelnen sehr oft tiefgehend und aus Sachkennt-
nis geschöpft sind, auffallend wenig. Ihn beschäf-
tigt mehr das wunderlich verkehrt gestellte Problem,
— er nennt es „das eigentliche Problem der Meta-
physik des Schönen" — : wie ist Wohlgefallen und
Freude an einem Gegenstande möglich ohne irgend
eine Beziehung desselben auf den Willen? Daß
dies nicht möglich ist, wenn man wie Schopenhauer
auch die Gefühle zum Willen zählt, die Gefühle aus
dem Willen hervorgehen läßt, leuchtet ein. Schopen-
hauer will auch die Kunst dem Pessimismus dienstbar
machen; ihm liegt daher alles daran, ihre Verwandt-
schaft mit der Willensverneinung zu zeigen, — zu
zeigen, daß die Kunst ein Weg der Erlösung sei. Eine
pessimistische Kunst aber ist ein unmöglicher Begriff,
ein Widerspruch in sich selber; alle Kunst, auch die
tragische, bejaht das Leben.
Der Genius ist nur einer der „Erlöser", er bringt
Trost ins Leben, erlöst im Leben; der andere ist der
, Heilige" und dieser erst zeigt den Weg aus dem
Leben, — Wir nennen gut, erklärt Schopenhauer, den
Menschen, welcher zwischen sich und anderen den
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 21 5
wenigsten Unterschied macht. Die Teilnahme an dem
Sein des Anderen ist die Quelle der moralischen Güte.
In einer Welt aber, die durch und durch leidend ist,
deren Freuden nur negativ sind, kann es keine andere
Teilnahme geben, als die Teilnahme am Leiden, das
Mitleiden. Das Mitleid ist daher das Fundament
der Moral; auf Mitleiden und Erbarmen beruht alle
moralische Gesinnung. Eine wahre Hospitaismoral!
Damit sind wir wieder zur vorkantischen Gefühlsmoral
zurückgelangt, der Moral des weichen, empfindsamen
Herzens; der Unterschied ist nur, daß Schopenhauer
aus einem psychologischen Instinkt: der Sympathie
einen metaphysischen macht. Das Mitleid durchbricht
die Schranken der Individualität, es hebt die Vielheit
auf und ist praktischer Monismus. Der einzige Grund-
satz dieser Moral, ihr oberster Pflichtsatz ist : niemanden
zu verletzen, jedem vielmehr nach Kräften zu helfen, —
das heißt doch zu helfen, im Leben, also im Leiden zu
beharren. Daß dieser Grundsatz, wenn wir ihn zur
einzigen Richtschnur unseres Handelns machen wollten,
dem Leben widerspricht, das Leben aufheben müßte,
weiß Schopenhauer, und er will es so. Die Mitleids-
moral verneint das Leben und darum ist sie für
Schopenhauer Moral; denn das Leben soll vereint
werden. Die Tugend ist der Übergang zur Askesis,
zur Willensverneinung. „In den aufopfernden Tugenden
der Gerechtigkeit und Liebe schlägt gleichsam der
Wille bereits die Flügel, um davon zu fliegen." Und
wer so empfindet und denkt, daß ihm kein Leid fremd,
jedes gleich nahe ist wie seine eigene Person, wessen
Herz erfüllt ist von dem Gefühle, eins zu sein mit allem,
was lebt, also leidet, kann nicht weiter leben wollen.
Sein Wille wendet sich vom Leben ab, ihn schaudert
2l6 Siebenter Vortrag.
vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung des-
selben sieht und von welchen tausend nicht Eine Qual
aufwiegen; die Erkenntnis des Leidens, das Mitgefühl
mit dem Leiden der Welt wird ihm zum Quietiv seines
Wollens, zur Ursache des Nicht- mehr- wollens; er gibt
es auf, zu wollen, verneint in seiner Person den „Willen
zum Leben". — Auch das Quietiv, von dem hier die
Rede geht, ist ein Motiv, nur unter anderem Namen,
auch das Nichtwollen — ein Wollen. Hier, wo gezeigt
werden soll, wie sich der „Wille zum Leben" selbst
aufhebt, erscheint sogar zum ersten Male bei Schopen-
hauer ein wirklicher Wille: die Herrschaft über die
Triebe, das Nein-sagen-können selbst zu den mächtigsten
Instinkten. Doch wird, was nur der Anfang alles echten
Wollens ist, zum Ende, ein Moment des Willens zum
Ganzen gemacht; und statt die Triebe bloß zu regeln,
bis sie mit Erfahrung und Vernunft in Übereinstimmung
gebracht sind, vergreift sich der Schopenhauerische
Wille an den Trieben und zerstört damit seine eigene
Voraussetzung, sein Material.
Diese Moral ist eine Lehre des Nichthandeins, diese
Philosophie der Askese eine Philosophie des Todes.
Der freie Mensch aber, sagt ein weises Wort Spinozas,
denkt an nichts so wenig wie an den Tod und seine
Philosophie ist nicht eine Betrachtung des Todes, sondern
das Studium des Lebens.
Wie kommt aber, werden Sie fragen, Schopenhauer
dazu, das Sein überhaupt, das Leben als solches unter
moralische Gesichtspunkte zu stellen? Gegenstand einer
moralischen Beurteilung ist doch nur der individuelle
Wille, in Schopenhauers Sprache: eine Erscheinung des
„Willens" ; moralisch oder unmoralisch können nur
Gesinnungen und Handlungen im Leben heißen, die
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 217
Arten und Weisen, wie wir das Leben gebrauchen, das
Leben selbst und als solches moralisch oder unmoralisch
zu nennen hat dagegen keinen verständlichen Sinn.
Die Gegensatzbegrifife gut und böse lassen sich ebenso
wenig auf das Sein überhaupt anwenden, als es im
Universum der Sinnenwelt ein oben oder unten geben
kann. Die Eine wirkende Macht, die alles ist und be-
gründet, alles, was wir auf ein , Exemplar" des Menschen
bezogen gut und alles, was wir in solcher Hinsicht böse
nennen, muß selber, auch dies hat schon Spinoza ge-
sehen, erhaben über gut und böse sein. Auch die
pessimistische Charakteristik dieser Macht, wenn sie
selbst richtig wäre, würde noch immer nicht ihre „Ver-
werflichkeit" begründen können. Das Leben könnte
aus einem blinden Willensdrange hervorgehen, der
Lebenswille könnte unheilvoll sein und stetes Leiden
mit sich bringen, ohne eine endgiltige Befriedigung zu
erreichen, — müßte er deshalb , verwerflich* sein? Mit
welchem Rechte, von welcher Autorität aus ergeht an
ihn, der alles ist, ein Sollen, das in diesem Falle ein
Nicht-SoUen ist? Denn der Unwert des Daseins ist im
Grunde das einzige Werturteil, daß die Welt nicht sein
soll, der einzige Imperativ der Moral Schopenhauers.
Ein Recht zu diesem Imperativ, einen Grund für ihn
kann es nicht geben. Mit ihm kommt ein mystischer
Zug in das Denken Schopenhauers; er entstammt und
entspricht einer Neigung des Philosophen zum Mysticis-
mus. In seiner Jugend von Schwermut ergriffen und,
wie es nicht selten gerade der edlen Jugend widerfährt,
durch eine Periode des Weltschmerzes hindurchgehend,
sehnte sich Schopenhauer nach einem höheren, reineren
vollendeteren Dasein und alle Hoffnungen darauf faßte
er in den Begriff des „besseren Bewußtseins" zu-
2i8 Siebenter Vortrag.
sammen. In diesem Bewußtsein glaubte er eine Stimme
von oben, eine Stimme von jenseitigem Ursprung und
zeitloser Bedeutung zu vernehmen; in ihm fand er
die Gewähr für die Wirklichkeit eines übersinnlichen,
überzeitlichen Seins. Als er dann Philosoph geworden
war, konnte und wollte er dieses Sein nicht näher
kennzeichnen: er liebt von nun an, es mit dem
buddhistischen Worte Nirväna zu benennen. Noch
immer aber wirken in ihm jene früheren Gedanken fort ;
noch immer ist jene Nicht- Welt, welche Nirvana heißt,
mehr wert als diese wirkliche Welt. Wohl ist das
Nirväna das Nicht-Sein; aber „es ist nur für uns nichts,
denen noch dieses Dasein alles ist, welches hinwiederum
auf jenes bezogen nichts ist." Hinter dem zweideutigen,
„relativen" Nichts steckt ein zweites Sein und erst dieses
ist das wahre Sein. Die Welt, in der wir leben, so
wurde uns ja gesagt, ist Schein, muß also nicht, was
die Welt nicht ist, Wahrheit sein? Schopenhauer hat
uns übrigens seine eigentliche Meinung auch mit aus-
drücklichen Worten verraten. In dieser unserer Welt
ist Diversität, Getrenntsein, Streit, — Identität nur in
jener, zu welcher die Verneinung des Willens den Zu-
gang erschließt. Und so endet diese Philosophie in
einer „Epiphilosophie"; sie hat noch eine Nachschrift
von mystischem Inhalt.
Schopenhauers Pessimismus ist im Grunde hedo-
nistisch, ein Pessimismus aus Verzweiflung an der Mög-
lichkeit des Genusses und darum ein genußsüchtiger
Pessimismus. Weil das Leben kein „Geschenk zum
Genuß" ist, deshalb soll es gleich verwerflich und objektiv
betrachtet in einem „Wahn begriffen" sein. Weil die
Bilanz bei der „Lust- und Leidrechnung " nicht heraus-
kommt, muß die Welt an allen Stellen bankerott sein
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 219
und das Leben „ein Geschäft, das seine Kosten nicht
deckt." Wir ziehen daraus ein anderes Facit: nicht,
daß das Leben nichts wert, sondern daß nach der Lust
nicht der Wert des Lebens zu bestimmen ist. Wie der
einzige pessimistische Philosoph des Altertums, Hegesias,
der „zum Sterben Überredende" aus der Schule des
Hedonismus hervorging, so wurde in der neueren Zeit
Schopenhauer, weil er die Lust suchte und nicht fand,
zum Pessimismus geführt. Ein glückliches Leben, erklärt
Schopenhauer ist unmöglich, das Höchste was der Mensch
erlangen kann ist ein heroischer Lebenslauf, — und
dies, dächte ich, wäre genug. Gegen das Große im
Leben verhält sich Schopenhauer kleinlich, gegen das
Starke darin schwächlich, gegen das Harte weichlich;
schon jeder Wunsch erscheint ihm an sich als Schmerz,
Wohlgeratenheit, ein glücklicher Zustand als ein Vor-
wurf. Die Basis alles WoUens ist nach ihm Bedürftigkeit.
Bedarf es noch eines weiteren Beweises, daß er den
Willen mißverstanden hat. Er weiß nichts von der
Fülle der aufgespeicherten Energie, die zum Handeln
drängt und sich entladen will und daß dieser Drang
nicht Unlust ist, sondern Reiz des Schaffens. Er kennt
nur „erzwungene Tätigkeit", er „liebt sich gleich die
unbedingte Ruh'" und sieht in Willenslosigkeit, Taten-
losigkeit den idealen Zustand, Sogar die Kunst soll
interesselos, anteilslos sein. Noch einmal: er lehrt die
Philosophie des Todes; und wie er sie lehrt mit der
erleuchtenden Kraft des Ausdrucks, der spannenden
Darstellung, dem Reichtum der Bilder — darin liegt
ihre Gefahr, — Betrachtungen wie diese haben Nietzsche
über Schopenhauer hinausgeführt; mit Betrachtungen
ähnlich diesen hat Nietzsche den Pessimismus über-
wunden.
220 Siebenter Vortrag.
Ich erzähle nicht die Leidensgeschichte Nietzsches
und wie Krankheit und ein Übermaß von Produktion
seinen Geist verzehrten, die angeborene Leidenschaftlich-
keit seiner Natur zur Maßlosigkeit fortreißend und nach
und nach sein Denken überschattend. Auch betrachte
ich es nicht als meine Aufgabe, vor Mißverständnissen
zu warnen, denen die Schriften des aphoristischen
Denkers nur zu leicht ausgesetzt sind. Wir wissen heute
das Gesunde in seinen Aussprüchen von dem Patho-
logischen zu scheiden, — erklären das zweite und halten
uns an das erste. Im gegenwärtigen Zusammenhange
soll indes wesentlich nur von der Stellung Nietzsches
zum Pessimismus die Rede sein.
Nietzsche ist das gerade Widerspiel von Schopen-
hauer, diesem zugleich verwandt und entgegengesetzt,
darum erst sein Jünger und ganz unter seinem Banne
stehend, dann sein Gegner. Alle ihm eigentümlichsten
Gedanken gewinnen erst im Gegensatz zu Gedanken
Schopenhauers Gestalt und sind nur aus diesem Gegen-
satze heraus richtig zu verstehen, gerecht zu beurteilen.
Gegen Schopenhauer ergreift er die Partei des Lebens;
ergreift er Partei gegen alles, was das Leben verkleinert,
es schwächt und untergräbt, gegen alle Decadence
oder Entartung, die in ihm selber nicht ausgenommen.
Er ist der zum Leben überredende Philosoph. Leiden-
schaftliche, grenzenlose Liebe des Lebens bildet das
eigentliche Thema, den Grundton seiner Philosophie;
seine Sentenzen erscheinen öfters wie in die Farbe des
Lebens selbst getaucht. Nietzsche verherrlicht das Leben
und was in ihm groß, mächtig und aufsteigend ist, —
das Leben wie es war, wie es ist, vor allem aber, wie
es werden kann, werden soll, durch uns werden soll.
Eine vornehme Rede Zarathustras sagt: »was uns das
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 221
Leben verspricht, das wollen wir dem Leben halten."
Nichts vom Leben soll abzurechnen, nichts in ihm ent-
behrlich sein; am wenigsten das große Schicksal, das
große Leiden. „Die Zucht des Leidens, des großen
Leidens — wißt ihr nicht," ruft Nietzsche aus, „daß nur
diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher ge-
schaffen hat! Es bestimmt beinahe die Rangordnung,
wie tief einer leiden kann." Der tapfere, stolze Mut,
womit Nietzsche sein eigenes Leiden ertrug und bezwang,
beweist, daß es ihm ernst war mit dieser Wertschätzung
des Leidens in der Gesamtschätzung des Lebens. Amor
fati: das Notwendige nicht bloß zu ertragen, noch weniger
zu verhehlen, sondern es zu lieben, ist seine Maxime;
„alles Notwendige ist aus der Höhe gesehen und im Sinne
einer großen Ökonomie auch das Nützliche." Nietzsche
bejahte das Leben und zugleich den pessimistischen
Charakter desselben, wenn es nur nach der Lust ge-
schätzt wird; er bejaht das Leben um der Gründe willen,
auf welche hin der Pessimismus es verneint: dies ist die
kürzeste Formel seiner Philosophie und sie rührt von
ihm selber her. Er gibt dem Pessimismus die Tatsachen,
worauf dieser sich beruft, zu, zieht aber daraus die ent-
gegengesetzten Konsequenzen für den Wert des Lebens.
Gerade in den pessimistisch gedeuteten, schlimmen
Seiten des Daseins sieht er die stärksten Anreize, das
Leben zu bejahen, tiefer zu erfassen, umfänglicher zu
gestalten, und kehrt so den Pessimismus der Lebens-
verneinung in den Heroismus der Lebensbejahung um.
Darum ist er das äußerste Gegenteil eines pessimistischen
Philosophen. Man verstehe recht, nicht von Optimismus
ist die Rede im Sinne eines Übergewichts von Lust;
„Lust ist nicht Ziel des Handelns." Die Freude, die
„Zarathustra" auf Erden pflanzen will, ist nicht die Freude
222 Siebenter Vortrag.
des Genießenden, sondern des Schaffenden, die Freude
des Furchtlosen und Siegreichen, der das Leben dann
am höchsten ehrt, wenn es ihm den größten Widerstand
entgegensetzt. Trachten nach Behagen, Sucht nach
Genuß, Hedonismus jeder Gestalt Hegen dieser Lebens --
auffassung völlig ferne, wie sie auch der Person Nietzsches
fremd waren.
Als Grundtrieb des Lebens gilt Nietzsche der Trieb
zur Macht; Leben ist ein Prozeß des beständig sich
Steigerns , Überwindens , des Aufsteigens und der Er-
höhung, oder, wie es im „Zarathustra" heißt: „in die
Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen das
Leben selber, in weite Ferne will es blicken und hinaus
nach seligen Schönheiten, — darum braucht es Höhe.
Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und den
Widerspruch der Stufen und Steigenden. Steigen will
das Leben und steigend sich überwinden." Nur der
große Mensch vermag das große Leben zu ertragen,
vermag sein Leben groß zu fiihren. Und soll das Leben
gesteigert werden, so ist die höchste Entfaltung des
Individuums die Vorbedingung dazu. So erklärt sich
die aristokratische Tendenz der Lebensphilosophie
Nietzsches. Die Natur selbst ist aristokratisch. Sie
bringt die Vielheit der Typen hervor, die Ungleichheit,
den Unterschied des Ranges. Nicht ums Dasein, nicht
um Wohlsein; um Macht und Rang werde der Kampf
des Lebens gekämpft. Das „Problem des Ranges" er*
schien Nietzsche eine Zeitlang als das wichtigste Problem»
als das Problem des Lebens selbst. Er \till der „Lehrer
der Rangordnung" sein. Man soll den Willen haben»
„selbst zu sein, sich abzuheben"; man soll das „Pathos
der Distanz haben". Nietzsche betont aber nicht bloß
die Unterschiede der Rangordnung und fordert sie zu
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 223
steigern, die Kluft zu erweitern; er übertreibt sie und
verhält sich unduldsam gegenüber den niederem Typen.
„Frohe Adelsmenschen" will Johannes Rosmer bei Ibsen
„rund um sich her schaffen"; zur gleichen Zeit verkündet
auch Nietzsche im Zarathustra das Heraufkommen eines
neuen Adels, nicht des Standes, noch weniger des Be-
sitzes, sondern des Geistes und des Charakters. „Das
Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen!
Und wo die Lehre anders lautet, da fehlt es am
Besten," sagt im Zusammenhange damit „Zarathustra".
Wir verstehen die Todfeindschaft Nietzsches gegen die
demokratische Nivellierung; er sieht darin das Zeichen
des Niedergangs, des Verfalls, nicht bloß des Staates,
sondern des Menschen. Es heißt das Niveau des
Menschen selbst beschränken, wenn man das Große er-
niedrigt, das Große dem Kleinen gleich schätzt, oder
wohl gar versucht, dem Kleinen gleich zu machen. Und
da nun Nietzsche der Meinung war, daß die Grundsätze
der herrschenden Moral die demokratische Bewegung
fördern und sanktionieren, so bekämpft und verneint er
diese Moral. Auch sein Kampf gegen die Moral ent-
springt aus seiner Liebe zum Leben. Die Moral „ver-
neint das Leben", so glaubt er, und damit ist für ihn
die Moral gerichtet. Er sah in den moralischen Wert-
urteilen nur Verurteilungen, Verneinungen, die „Urteile
Erschöpfter" und indem er, was nur von der Moral
Schopenhauers gelten kann, verallgemeinert, erklärt er
die Moral als die Abkehr vom Willen zum Dasein. Der
Glaube an die Wertlosigkeit des Daseins ist ihm die
Folge der moralischen Wertschätzung.
In keinem Punkte ist Nietzsche so mißverstanden
worden, in keinem so leicht falsch zu verstehen, wie in
seinem „Immoralismus". Seine Ausfälle geraten auch
224 Siebenter Vortrag.
wirklich über das Ziel und sind, namentlich die aus der
späteren Zeit, verletzend und der ursprünglichen Vor-
nehmheit seiner Natur unwürdig. Die Absicht dabei ist
aber doch völlig klar. Nietzsche will die Moral nicht
einfach nur verneinen, er will sie überbieten, durch eine,
wie er dafürhält, höhere Lebensordnung ersetzen. Es
war nicht die Meinung des aristokratischen Denkers»
der die Autorität zur guten Sitte zählt und erklärte:
jede Sitte sei besser als keine Sitte, den Menschen von
Zucht und Autorität loszubinden, Sitte und Sittlichkeit
überhaupt abzuschaffen. Nicht hinter die Moral zurück,
— über die bisherige Moral hinauf will sein Weg weisen.
Zügellosigkeit und ungebundenes Leben können sich
nicht mit Recht auf ihn berufen. „Dem wird befohlen",
heißt es in Zarathustra, „der sich nicht selbst gehorchen
kann. Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen
durfte? Es gibt Manchen, der seinen letzten Wert
wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf." Nietzsche
will den Menschen groß und selbständig machen; er
will die Tugend ins Vornehme übersetzen. Sein Ideal
ist der vornehme Mensch, mit dem Willen zur Selbst-
verantwortlichkeit, der Härte gegen sich, der Ehrfurcht
vor sich, der Macht über sich und sein Geschick — ein
Bild wie aus Plutarch. Die beinahe sprüchwörtlich ge-
wordene „blonde Bestie" dagegen ist nur sein Symbol
für den Menschen vor der Kultur, den Menschen der
Natur; das Symbol für eine prähistorische, prämoralische
Tatsache, und was ihm daran so anziehend war, ist die
noch ungebrochene Kraft der Natur, nicht das Bestia-
lische dieser Natur. Wenn auch er, ein zweiter J. J.
Rousseau und zugleich dessen Antipode, sein: zurück
zur Natur! ruft, so bedeutet dies Wort in seinem Munde
und Sinne: hinauf zur Natur! Was in ihr noch stark
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 225
und mächtig geblieben, soll nicht ausgerottet, es soll
umgeprägt, sublimiert, vergeistigt werden. Die mäch-
tigsten Affekte betrachtet Nietzsche nur deshalb zu-
gleich für die wertvollsten, weil sie die größten Kraft-
quellen sind; er ordnet die Werte nach der Maßskala
der Kraft. Jede Stärke hatte schon an sich etwas
Labendes, Beseligendes für seinen Blick und so verstieg
er sich bis zum Preise der Grausamkeit; er meinte
freilich die vergeistigte Grausamkeit. Alle seine Ge-
danken zielen auf die Erhöhung des Menschen und
die Wertbestimmung der verschiedenen Typen des
Menschen; von diesem Gesichtspunkte aus bekämpft er,
was er unter Moral verstand. Er fühlt sich im Gegen-
satz zu der Moral der Gleichheit, weil er in dem
Glauben an die allgemeine Gleichheit, dem Handeln
nach diesem Glauben ein Unrecht gegen die Ungleichen
erkennt. Dieser Moral der Gleichheit, der Sklaven-
moral, wie er sie taufte, stellt er seine Herrenmoral
der Ungleichheit gegenüber und diese Moral der
„Rasse und des Privilegiums" wendet sich nicht an die
Menge, sondern an die Wenigen und Auserwählten, die
sich von der Menge abheben, sich über sie erheben.
Die Moral des Christentums hat er, wie Schopenhauer
stets nur durch buddhistische Nebel und Schleier ge-
sehen; er meinte, sie verneine das Leben ohne Rück-
sicht, ohne Absicht, nur um des Verneinens willen, und
wußte nichts von dem Worte, welches befiehlt und ver-
heißt, sein Leben zu verlieren, um es zu gewinnen. Er
kannte überhaupt nur die Mitleidsmoral, die das Leben
schwächt, und den Utilitarismus, der es verflacht; daß
die wahre Herrenmoral des autonomen Willens schon
gefunden war, als er sie noch suchte, ist ihm entgangen.
Zu dieser Moral der Selbstgesetzgebung aber ist jedes
Riehl, Philosophie der Gegenwart. IC
226 Siebenter Vortrag.
Vernunftwesen als solches berufen, wenn es auch erst
durch seine Handlungen beweisen muß, daß es auch für
sie auserwählt sei.
Indem Nietzsche die Forderungen des Lebens immer
höher trieb und den Blick auf künftige Möglichkeiten
des Lebens hinaus schweifen ließ, mußte er zuletzt über
die Grenzen der Menschheit selbst hinausgeraten. Der
Philosoph und Moralist wird zum Propheten. Auch der
größte Mensch mußte ihm zu klein erscheinen, jene aufs
Höchste gespannten Forderungen zu erfüllen, den Reich
tum jener Möglichkeiten auszuschöpfen. Nur ein über-
menschliches Wesen vermöchte über alles Leid, alle
Schwere des Lebens zu triumphieren und, was „der
ganzen Menschheit zugeteilt ist", in seinem Selbst zu
umfassen , ohne zu zerscheitern. Der „synthetische
Mensch", der „Übermensch", von dem Nietzsche
träumte, ist das Ideal des Menschen und nur die Kunst
vermag sein Bild zu zeigen. Dort, von der Decke der
Kapelle di San Sisto schauen sie nieder, die Über-
menschen und Halbgötter, alles Große des Menschen
erscheint in ihnen vergrößert, das Hohe gesteigert; aber
auch sie sinnen dem noch Höheren, dem Göttlichen
nach. Nietzsche aber will das Ideal in Fleisch und Blut
verwandeln, er will den Übermenschen züchten. Doch,
wie phantastisch dieser Gedanke sein mag, auch er
stammt aus der Lebensliebe des Philosophen. Und so
entwickeln in der Tat die wesentlichsten Gedanken
Nietzsches: der aristokratische Individualismus, die neue
Moral, das Übermenschentum, alle nur das eine Grund-
thenia seiner Philosophie: die Verklärung, die Vergött-
lichung des Lebens.
Werte entdecken und damit an den Idealen der
Menschheit mitzuschaffen, ist der Beruf jener Philosophie,
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 227
die nicht Wissenschaft ist, sondern Lebensanschauung
und Geistesführung. „Unsere Wertschätzungen be-
stimmen unsere Lebensweise." Veränderung der Wert-
schätzungen ist Veränderung der Lebensweise, der Ge-
fühlsweise, des Willens selbst. Werte „umwerten", neue
Werte schaffen — heißt die Kultur umschaffen, neue
Kultur schaffen ; denn alle Kultur beruht auf einem System
von Wertbegriffen. Nietzsche wurde zum Kritiker der
moralischen Werte, weil er der Philosoph der Kultur
sein wollte. Und mehr als dies. Er wollte der Be-
fehlende und Gesetzgeber, der Schöpfer einer neuen
Kultur sein. Da er mehr Dichter als Philosoph war,
und in sich den Beruf des Propheten spürte, wollte er
die Werte, die er entdeckt hatte, entdeckt zu haben
glaubte, sogleich „einverleiben"; er wollte sie verkörpert
vor sich sehen und ihr verkörpertes Bild ist eine Zeit-
lang für ihn der „Übermensch". Der Name mag ihm
aus einer verdunkelten Erinnerung an Goethes Gebrauch
desselben gekommen sein; Goethe hat freilich zu dem
Namen auch die Kritik des Begriffes selbst hinzugefügt :
„wie viel bist du von anderen unterschieden?" sagt die
Wahrheit zum Dichter, der sich schon Übermensch
glaubte. Eine Art Begründung für seine Idee findet
Nietzsche, wie zur selben Zeit für einen ähnlichen Ge-
danken Guyau, im populären Darwinismus. Warum
sollte die Entwicklung beim Menschen Halt machen
müssen? „Alle Wesen bisher schufen etwas über sich
hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser Flut sein?" läßt
Zarathustra sich vernehmen. „Die Entwickelung", meint
auch Guyau, „muß das Vermögen haben, Arten und
Typen hervorzubringen, höher, als es der Typus Mensch
ist. Und wer weiß, ob sie nicht Wesen schaffen wird,
oder schon geschaffen hat, die den Göttern der Alten
15*
228 Siebenter Vortrag.
entsprechen. Solche Wesen verwirklichen vielleicht unser
Ideal." Der Übermensch ist für Nietzsche zunächst
die Überart des Menschen, die aus dem Menschen zu
züchtende Art: das Postulat der Zukunft des Menschen.
Für unseren Philosophen ist aber dieses postulierte Wesen
vor allem auch ein religiöser Wertbegriff. Der Glaube an
den Übermenschen hat den Glauben an Gott zu ersetzen.
.JEinst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere
blickte, nun aber lehre ich euch sagen: Übermensch."
Nietzsche vermochte die „absolute Physik" nicht zu er-
tragen — wer vermöchte dies auch? — und darum
baut er in die entgötterte Wirklichkeit das Reich seines
Übermenschen. „Gott ist tot", der Positivismus der
Wissenschaft hat ihn getötet; — also lasset uns an seiner
Stelle den Übermenschen schaffen. Ohne den Glauben
an ihn, die Hoffnung auf ihn hätte das Leben, hätte die
Erde keinen Sinn: „der Übermensch ist der Sinn der
Erde."
Nach seiner Loslösung aus der Romantik seiner
Jugend, der Loslösung von Schopenhauer und Wagner,
hatte sich Nietzsche völlig in modern-positivistische, ja
skeptisch-nihilistische Gedanken verstrickt; die dadurch
nur zurückgedrängten Grundtriebe seines Wesens aber
zogen ihn nach der entgegengesetzten Seite, bis aus
der Vermischung so ungleichartiger Elemente eine neue
Art von Schwärmerei und Romantik hervorging und das
Bild des Übermenschen erzeugte. Doch auch diesen
Götzen, zu seiner Ehre sei es gesagt, hat er selbst noch
zertrümmert; er muß eingesehen haben, wie übereilt und
falsch seine Folgerung aus der Darwinschen Theorie war.
„Der Mensch ist ein Ende," heißt es im Antichrist, —
„nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihen-
folge der Wesen, ist das Problem." — An die Stelle des
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 220
Übermenschen tritt wieder der „stärkere Typus" Mensch ;
an die Stelle des Göttlichen aber „Dionysos": das Sym-
bol für die schaffende Natur, den Willen der Macht.
Die Entwickelung des Menschen zu einem höheren
Typus soll durch die Kraft eines „großen züchtenden
Gedankens" herbeigeführt werden: „Überwindung der
Menschheit durch Lehren, an denen sie zugrunde geht,
ausgenommen die, welche sie aushalten können", — dies
ist Nietzsches Weg zum Übermenschen, Der Gedanke
aber, der die Menschheit überwinden soll und den Über-
menschen züchten, ist der Gedanke der ewigen Wieder-
kunft. In der unendlichen Zeit und dem Kreislauf aller
Dinge kehrt auch dieses unser gegenwärtiges Leben
immer wieder, dieses nämliche Leben: unser Leben —
ein ewiges Leben. Es ist Nietzsches zweiter Glaubens-
satz, der neue Unsterblichkeitsglaube^ der die Zeit zur
Ewigkeit macht. Als dieser Gedanke seinen Geist, wir
müssen sagen in einem Augenblick krankhafter Über-
reizung, wie ein Blitz durchfuhr, wie eine Eingebung in
ihm aufleuchtete, hatte Nietzsche seine Quelle vergessen.
Er hielt sich für den „Ersten, der diese Lehre lehren
mußte," für den Urheber des „mächtigsten" Gedankens.
Seine Philosophie bringe den siegreichen Gedanken, an
welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht.
Auch in der Folge erinnerte er sich nie mehr daran,
daß er selbst, in der zweiten „unzeitgemäßen Betrach-
tung", nicht ohne Spott es als pythagoreisches Schul-
dogma angeführt hatte: bei der gleichen Konstellation
am Himmel müsse auch auf Erden das Gleiche und zwar
bis ins Einzelne und Kleinste wiederkehren. Wir können
den Ursprung der Lehre noch weiter zurückverfolgen,
zu den Spekulationen der Chaldäer über das „Weltjahr",
das „große Jahr", und in der griechischen Philosophie
230 Siebenter Vortrag.
taucht sie seit den Pythagoreern immer wieder auf;
selbst bei Aristoteles lassen sich Spuren davon finden.
Noch seltsamer muß uns die stürmische Erregung
erscheinen, in welche Nietzsche durch den Gedanken
der ewigen Wiederkunft versetzt wird. Erst ist er im
Tiefsten erschüttert, dann bricht er in höchstes Ent-
zücken aus ; erst ist es ein Dämon, der so zu ihm redet,
dann ein Gott und nie hörte er Göttlicheres. Gewil^»
hat der Gedanke des ewigen Einerlei, woraus es kein
Entrinnen gibt, wenn er für wahr genommen wird, etwas
Erdrückendes. „Denken wir diesen Gedanken in seiner
furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne
Sinn und Ziel — aber unveränderlich wiederkehrend,
ohne ein Finale ins Nichts: die ewige Wiederkehr —
das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts,
das Sinnlose ewig!" „Ach, der Mensch kehrt ewig
wieder!" — klagt „Zarathustra". „Der kleine Mensch
kehrt ewig wieder! Allzuklein auch der Größte!" Um
der Last dieses Gedankens nicht zu erliegen , bedurfte
Nietzsche des Trostes und Gegengewichtes einer be-
glückenden, ihn erhebenden Vorstellung; er schuf sich,
wie nach seiner Theorie der tragische Künstler, einen
Mythos, eine lustvolle Vision; die Idee des Übermenschen
hat hier ihren Ursprung. Und ebenso ist als Mittel,
den Gedanken der Wiederkehr zu ertragen, die „Um-
wertung aller Werte" geplant. — Nietzsche will die ewige
Wiederkunft beweisen, durch den Satz des Bestehens
der Energie, meint er, werde sie gefordert. Denn die
Energie sei eine endliche Größe, die Zeit, in der sie
wirkt, unendlich; jede Kombination der Energieformen
müsse also schon dagewesen sein, dann aber auch die,
welche ihr voranging und die, welche ihr folgen wird,
alles mithin vom Kleinsten bis zum Größten müsse in
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 23 1
genau gleicher Weise schon dagewesen, unendliche Male
oft dagewesen sein und wieder ins Dasein kommen.
In diesem „Beweise" wird die absolute Realität der Zeit
angenommen, als hätte es noch keine Kritik der Anti-
nomien des Unendlichen gegeben; die Zeit, die unab-
hängige Variable in der Bewegung, wird zu einer un-
abhängig Variablen von der Bewegung gemacht, als
sei sie selbst etwas für sich Bestehendes. Auch könnte
eine und dieselbe Kombination von Energieformen auf
unendlich vielen Wegen erreicht werden und unendlich
verschiedene Folgeerscheinungen nach sich bringen. —
Gleichviel aber, die ewige Wiederkunft sei wahr oder
nur wahrscheinlich, sie sei zu beweisen oder nicht: „auch
der Gedanke einer Möglichkeit," erklärt Nietzsche, „kann
uns erschüttern und umgestalten." Wer sich „den Ge-
danken der Gedanken" einverleibt hat, den wird er ver-
wandeln. Die Frage bei allem, was wir tun: ist es so,
daß wir es unzählige Male tun wollen? ist das „größte
Schwergewicht", das auf unser Handeln gelegt werden
kann. „So leben, daß du wünschen mußt, wieder zu
leben, ist die Aufgabe. So leben, daß wir nochmals
leben und in Ewigkeit so leben wollen! Unsere Auf-
gabe tritt in jedem Augenblick heran. Drücken wir das
Abbild der Ewigkeit auf unser Lebenl Dieser Ge-
danke enthält mehr als alle Religionen, welche nach einem
anderen Leben hinblicken lehrten". Die Lehre der Wie-
derkunft ist „der Wendepunkt der Geschichte, — die Re-
ligion der Religionen". Jedesmal, wenn in dem Ringe des
Menschendaseins dieser mächtigste Gedanke auftaucht
„ist für die Menschheit die Stunde des Mittags." — Wir
wissen, dieser Gedanke ist wiederholt aufgetaucht, die
Stunde des Mittags für die gegenwärtige Menschheit
wiederholt schon angebrochen, die erwarteten Folgen
232 Siebenter Vortrag,
aber sind noch immer ausgeblieben, — Nietzsche da-
gegen sieht schon im Geiste durch den neuen Glauben
ein stärkeres Geschlecht gezüchtet werden und aus
diesem den „Übermenschen" hervorgehen, „Wer nicht
daran glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Be-
wußtsein"; — die nicht daran Glaubenden, behauptet er,
müssen ihrer Natur nach endlich aussterben. Der
Glaube an die ewige Wiederkunft ist die Brücke zum
Übermenschen; er schafft den Willen jedem Augenblick
des Lebens ewigen Gehalt, den Wert und die Wünsch-
barkeit ewiger Wiederholung zu geben: der Glaube an
den Übermenschen hinwieder macht allein den Gedanken
der ewigen Wiederkunft erträglich. So hängen bei
Nietzsche die beiden Glaubenssätze zusammen.
Man wird Nietzsche schwerlich zugeben, daß gerade
die, welche das Leben so ernst nehmen, daß sie an
jeden Augenblick das Schwergewicht der ewigen Wieder-
holbarkeit anhängen, übrig bleiben, daß sie die für das
Überleben Auserwählten sein sollen und nicht vielmehr
umgekehrt jene, welche rasch zugreifen, die Leichtherzigen,
Frohgemuten und schnell Entschlossenen. Und wie viel
hängt vom Gang der Dinge wirklich von unserem
Willen ab? hängt auch nur der nächste Augenblick
unseres Daseins von uns ab? An die Gebundenheit
alles menschlichen Lebens zu denken, scheint der Philo-
soph vergessen zu haben. ,.Das Schicksal ist unerbitt-
lich, und der Mensch so wenig", klagte einer der
„Mächtigsten der Erdensöhne", von dem auch das Wort
kam: „mit Göttern soll sich nicht messen irgend ein
Mensch," Kann femer ein Ziel heißen , was immer
wieder überschritten werden muß? Auch der Über-
mensch und was sonst für Götter der Erde ihm folgen
mögen, „kehrt ewig wieder," wie der Mensch selbst ;^
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 233
der Weg nach oben und der Weg nach unten ist hier
wie bei Heraklit ein und derselbe Weg. Muß endlich
alles, die gesamte Entwickelung in der Natur auf den
Menschen bezogen werden, im Menschen den Mittel-
und Zielpunkt haben? Nietzsches Weltanschauung ist
anthropocentrisch geraten und gehört damit eigentlich
in die vorkopernikanische Aera.
Doch, lassen Sie uns nicht vergessen : es sind Visionen
und Verkündigungen eines rehgiösen und prophetischen
Dichters und als solche mit kritischem Maßstabe allein
nicht zu messen. Niemand wird sich auch der religiösen
Stimmung versagen, die aus einzelnen Sätzen des „Zara-
thustra" und dem Geiste der ganzen Dichtung redet.
Und vielleicht findet man selbst in diesen über- und
gegenchristlichen Aussprüchen den christlichen nicht all-
zuferne Gedanken, nur in positivistischer Verkleidung. Es
ist doch wieder von Aufopferung des Menschen für ein
höheres Sein die Rede, von dem Verlieren des Lebens
um es zu gewinnen. Ein Reich des Jenseits wird er-
richtet, obschon nur eines zeitlichen Jenseits, in das aber
der Mensch nur geistig, nicht leiblich eingehen kann.
Denn das Übermenschentum ist für uns nie erreichbar,'
immer wieder werden wir dahin sterben, ohne es je zu
schauen. — Nietzsche war eben von Hause aus, d. i.
seinem Wesen nach eine religiös gestimmte Natur; selbst
sein Atheismus hat religiöse Farbe und Glut. Er leugnet
Gott als Gott; die gewöhnliche Gottesvorstellung ge-
nügt ihm nicht, in seinem „Übermenschen" glaubt er
Besseres und Höheres zu besitzen. „Ist es nicht deine
Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an Gott glauben
läßt", sagt er von Zarathustra und meint sich selbst.
Und vor allem, er kannte Ehrfurcht und opferte sich
seinem Werke.
234 Siebenter Vortrag.
Es ist leicht, einem Denker, der sich stets zu wan-
deln liebte, Widersprüche nachzuweisen; auch muß zu-
gegeben werden, zu Nietzsches Natur gehörten die
Widersprüche, Sein Vorstellungsleben ist in beständiger
Dissociierung begriffen und dies ist das Pathologische
bei ihm. Auch auf ihn findet das Gleichnis Anwendung
von einem „von der Natur schön intentionierten Körper,
der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre," —
und es ist beinahe mehr als ein Gleichnis. Noch leichter
ist es, sich über das Radikale seiner Anschauungen, die
Schroffheit und das Verletzende in seiner Rede ent-
rüstet zu zeigen. Aber er redete nur so laut, weil er
von nirgend her ein Echo vernahm, nicht einmal Wider-
spruch. Und das Krankhafte und Mißratene in seinem
Werke wird doch vom Gesunden und Heilsamen über-
wogen. Wie vieles in diesem Werke ist nicht in der
Tat eine „Gesundheitslehre des Lebens!" Immer mehr
lernen wir ihn in seinen Absichten verstehen, aus dem
Ganzen der Mission, die er erfüllte, beurteilen als den,
welcher seiner Zeit notwendig war. Ihren Mängeln stellte er
seine Ideale gegenüber. Er stellte ihr vor allem den
Grundwert der starken, selbsteigenen Persönlichkeit
gegenüber und widersprach einer mehr konventionellen
und herumgegebenen, als innerlich gefühlten Humanität,
die Mensch und Mensch für gleich nimmt und das Große
dem Kleinen gleich machen möchte. Den Gefahren
dieses Gleichschätzens , Gleichmachens gegenüber ist
seine zwar einseitig geratene Lehre der Ungleich-
heit und des Ranges sicher im Rechte. Es ist für ihn
die höchste Moral: aus sich eine Person zu machen.
„Folge mir nicht nach, sondern dir, sondern dir! werde
fort und fort der, der du bist, der Lehrer und Bildner
deiner selbst!" Unsere Zeit krankt an ihrer Unruhe und
Schopenhauer und Nietzsche. — Zur Frage des Pessimismus. 235
Hast, ein Nachlassen der Vitalität, eine große Ermüd-
barkeit sind die Symptome ihrer Krankheit; lebensfeind-
liche Lehren finden, wenn auch schon seltener, sogar in
der Jugend Anklang und Zustimmung. Nietzsche, der
Leidende, hat uns Liebe zum Leben gelehrt, zu allem,
was darin stark und groß ist. Und nicht Worte hören
wir bloß, flammende Worte, wir sehen die Tat. Die
Tragik seines Schicksals wird überstrahlt durch seinen
hochgesinnten Willen. Was er lebte ist uns auch von
ihm das Bedeutungsvollste in seinem Wirken. All das
„Negative und Empörte" in ihm schmolz doch in seiner
Liebe des Lebens: „wirklich den Pessimismus über-
winden, ein Goethescher Blick voll Liebe und gutem
Willen als Resultat", — diese seine Worte erklären den
Sinn seines Streb ens. Aber das Leben soll nicht nur
bejaht, es soll erhöht, gesteigert werden. In seiner
„Argonautenfahrt" nach neuen Idealen ist dieser „Wage-
und Versuchergeist" gewiß oft in die Irre geraten. Da-
für hat er auch Probleme aufgeworfen, aufgegraben, wie
die von Evolution und Entartung, welche die Philosophie
der Kultur und Moral noch lange beschäftigen werden.
Und so sind Nietzsches Schriften, eben durch das Apho-
ristische und Abgerissene, das Suchende und Fragende,
das aus ihnen redet, den Gegensatz der Stimmungen
und Weltanschauungen, die darin ineinanderwogen und
ihre Linien kreuzen, der Spiegel der modernen Seele.
„Den ganzen Umkreis der modernen Sele umlaufen, in
jedem ihrer Winkel gesessen zu haben'', war, — er hat
es selbst gesagt — , „sein Ehrgeiz, seine Tortur und
sein Glück". Nietzsche „resümiert die Modernität", er
hat sie zugleich vollendet und überwunden.
ACHTER VORTRAG.
GEGENWART UND ZUKUNFT DER PHILOSOPHIE.
Mit dem Hinweis auf die wiedererwachte Teilnahme
der Zeit an philosophischen Fragen und Untersuchungen
konnte ich die Reihe dieser Betrachtungen beginnen;
ich kehre nur zu ihrem Ausgangspunkte zurück, wenn
ich am Schlüsse derselben einen Blick auf den gegen-
wärtigen Stand jener Fragen richte und versuche, An-
schauungen über die Zukunft der Philosophie zu ent-
wickeln.
Wer sich allein nach den Werken der Fachphilo-
sophen ein Bild von der gegenwärtigen Verfassung der
wissenschaftlichen Philosophie machen wollte, würde
Mühe haben, seinem Bilde Einheit und Geschlossenheit
zu geben, so tiefgehend ist noch immer der Streit der
Meinungen in der Philosophie, so weit gespannt der
Gegensatz der Richtungen und es scheint, als solle die
Anarchie auf diesem Gebiete nicht so bald enden-
Eines zwar würde ihm sogleich auffallen, das starke
Hervortreten der Philosophie - geschichtlichen Unter-
suchungen vor den systematischen, die an der Fort-
bildung der Philosophie selbst arbeiten wollen. Sehen
wir von der Psychologie ab, die sich jedoch immer be-
stimmter zu einer positiven Wissenschaft konstituiert, so
hat die reproduktive Arbeit in der Philosophie auch
heute noch das Übergewicht über die produktive.
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 237
Freilich sind in gewisser Hinsicht auch jene historisch-
kritischen Untersuchungen produktiv. Sie haben aus
der Geschichte der Philosophie eine Wissenschaft ge-
macht und Wesen und Aufgabe der Philosophie aus
dem gesamten Prozeß ihrer Entwickelung bestimmt.
Ihnen verdanken wir auch, daß das philosophische
Denken trotz des Nachlassens des philosophischen
Schaffens nicht unterbrochen wurde. Sie haben an dem
Faden weiter gesponnen, der zeitweilig abgerissen schien,
sei es, daß sie in mehr freier und gleichsam künstle-
rischer Form die großen Gedankensysteme der Ver-
gangenheit nachzuschaffen, oder in strengerer Methode
den Inhalt jener Systeme im Einzelnen zu erschöpfen
suchten.
Nicht von rein historischer, sondern zugleich un-
mittelbar sachlicher Bedeutung ist das Studium Kants.
Es beginnt um die Mitte der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, nachdem früher bereits Helmholtz auf
Kant aufmerksam gemacht hatte, und heute gebührt
ihm eine nach Umfang und Vertiefung entscheidende
Stelle in der Philosophie der Gegenwart.
„Zurück zu Kant!" lautete die Forderung in jenen
Jahren und sie war vollkommen berechtigt, ging sie doch
aus einem richtigen Verständnis der Lage der Philo-
sophie und ihres Verhältnisses zur Wissenschaft hervor.
Kant war der letzte unter den deutschen Philosophen,
der, mit der positiven Wissenschaft völlig vertraut,
nicht nur deren Ergebnisse kannte, sondern sie auch
mit seinen eigenen Forschungen bereicherte. Der
Schöpfer der Kritik der reinen Vernunft ist auch der
Verfasser der Naturgeschichte des Himmels. Und noch
in dem Nachlasse Kants besitzen wir den Entwurf zu
einem Werke: „Von dem Übergange von den meta-
238 Achter Vortrag.
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur
Physik". So viel lassen die daraus veröffentlichten
Proben schon jetzt erkennen, daß es sich dabei um die
Entwickelung einer Hypothese handeln sollte, welche
neuesten Anschauungen der Wissenschaft nicht sehr
ferne steht. Kant sucht darin den Mechanismus in der
Natur energetisch, wie wir heute sagen würden, zu er-
klären, ihn aus einem beständig wirksamen Agens ab-
zuleiten. Aber mehr als dieser vermutliche Inhalt der
Schrift, die Kant zu seinen Hauptschriften zählte, erscheint
uns die Tatsache von Wichtigkeit, daß der kritische
Philosoph seine Lehre statt nach oben in das Abstraktere
nach unten, zu dem Konkreten hin auszubauen, von der
Metaphysik zur Physik überzugehen dachte. Zurück
zu Kant! bedeutet die Wiederanknüpfung der Ver-
bindung zwischen Wissenschaft und Philosophie, die, zum
Nachteil beider, längere Zeit hindurch abgebrochen war.
Nicht aber darf darunter die Forderung verstanden
werden, bei Kant stehen zu bleiben. Das Werk Kants
ist über ein Jahrhundert alt, und die Wissenschaft seit-
her nicht stehen geblieben, und so darf auch die Philo-
sophie nicht bei Kant stehen bleiben.
Außer den allgemeinen logischen und mathema-
tischen Grundlagen der Erfahrung, die für alle Zeiten
feststehen, weil sie die Definition der Erkenntnis selbst
ausmachen, d. h. ihren Begriff bestimmen, sind alle
übrigen Bestandteile und Aufgaben der Erkenntnislehre,
oder Philosophie der Wissenschaft in Fluß und fort-
schreitender Entwickelung begriffen. Mit der Wissen-
schaft ändert sich auch ihre Philosophie, Die besonderen
Probleme der Erkenntnistheorie, heute z. B. die Fragen
nach den Prinzipien der Physik, werden der Philosophie
von der forschenden Wissenschaft selbst geliefert, sie
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 239
gehen aus dem Zusammenhange und dem Betriebe der
wissenschaftlichen Arbeit hervor. Zum Beweis dafür
brauchen wir uns nur noch einmal an den Satz der
Erhaltung der Energie und sein« Bedeutung für eine
philosophische Auffassung der Natur zu erinnern. Wie
der verbindende Gedanke, den dieser Satz zum Aus-
druck bringt, aus der Physik erst ein wirkliches System
gemacht, ihre zerstreuten Erkenntnisse einheitlich wie
zu einem einzigen Ringe zusammengeschlossen hat, so
hatte er selbst wieder eine veränderte, völlig praecise Vor-
stellung von dem ursächlichen Zusammenhang in der
äußeren Natur zur Voraussetzung. Der Begriff der
Größenübereinstimmung zwischen Ursache und Wirkung,
der Konstanz der Größe der Ursache in der Wirkung
ist die neue Anschauung von der Kausalität, welche
alles, was der früheren Auffassung dieses Begriffs an
Hypothetischem, Unbekanntem und Anthropomorphem
anhaftete, endgiltig beseitigt hat. Sie hat die beiden
Grundsätze der Beharrlichkeit und der Verursachung der
Veränderungen in ein Prinzip verschmolzen; es ist der
größte Fortschritt der allgemeinen Wissenschaftslehre seit
der Kritik der reinen Vernunft.
Neben den Grundgedanken der kritischen Philosopie
sind es auch Ideen Fichtes und namentlich, wenn auch
in mehr mittelbarer Weise, Hegels, welche in der gegen-
wärtigen Philosophie eine Art von Renaissance erleben.
Ich denke dabei nicht an die Neu- Hegeische Bewegung
in der englischen und amerikanischen Philosophie; denn
diese verfolgt rein spekulative Interessen. Ich denke an
die innere Verwandtschaft der modernen Geschichts-
wissenschaft mit dem Geiste, mit welchem Hegel die
Geschichte erfaßte. Bekanntlich ist das Gedankensystem
Hegels an dem Ansprüche gescheitert, die ganze Welt
240 Achter Vortrag-.
und nicht bloß die im engeren Sinne des Worts histo-
rischen Erscheinungen als Entwickehing des absoluten
Geistes verstehen zu können. Sie ist gescheitert, wie
jede so anspruchsvolle Philosophie immer wieder scheitern
muß. Die Naturphilosophie Hegels ist als Irrweg er-
kannt und niemand wird diesen Weg je wieder betreten;
seine Geschichtsphilosophie dagegen, wozu auch seine
Betrachtungen über die Entwickelung der Kunst zu
zählen sind, ist auch für unsere Zeit noch von anregender
Bedeutung. Zwischen dieser Philosophie und unserer
Kulturwissenschaft besteht sogar ein analoges Verhältnis,
wie es zwischen Kant und unserer Naturwissenschaft
besteht; und eigentlich hat erst die Hegeische Auf-
fassung der Geschichte die Möglichkeit einer Kultur-
wissenschaft im Unterschiede von der Naturwissenschaft
ersichtlich gemacht. Auch hier hat die Philosophie der
nachfolgenden Wissenschaft Aufgaben gestellt, auch hier
aber ist sie in den nämlichen Fehler verfallen, den sie
bisher in ihren Systemen immer und immer wieder beging:
die Aufgaben für die Lösung zu halten, den allgemeinen
Gesichtspunkt, unter den sie die Probleme brachte, schon
für die gewonnene Einsicht selbst zu nehmen. Zwar
folgt die moderne Geschichtswissenschaft nicht bewußt
den Spuren Hegels, aber sie befindet sich doch auf dem
Wege, den die Gedanken des Philosophen zeigten und
ungeduldig ans Ende durchlaufen wollten; sie ist Geist
von seinem Geiste. Schon allein die Kühnheit, mit
welcher der absolute Philosoph voraussetzte, nichts im
Leben des Geistes könne sich dem eindringenden Ver-
ständnis versagen, alles müsse sich dem Begriflfe er-
schließen, mußte von mächtig erregender Wirkung sein.
Hegel erstrebte dieselbe Objektivität dem historischen
Stoffe gegenüber, welche der Positivismus den Tat-
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 24 1
Sachen in der Natur gegenüber bewährt; er will die Ge-
schichte begreifen, nicht sie meistern und hierin liegt
ein Punkt der Berührung zwischen seiner Spekulation
und der wissenschaftlichen Forschung. „Eine Philosophie
ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt", die Geschichte der
Philosophie der Prozeß, worin der gedankliche Gehalt
des menschlichen Kulturlebens zum Ausdruck gelangt,
zum deutenden Worte, — ein Satz wie dieser wird un-
vergessen bleiben, wenn auch nichts sonst von dem
Hegeischen Systeme übrig sein wird.
Die wissenschaftliche Philosophie der Gegenwart ist
nur zu geringerem Teile in den Arbeiten der Fachphilo-
sophen enthalten, in ihren Schriften niedergelegt. Wir
haben sie vornehmlich auch in den allgemein-wissen-
schaftlichen Anschauungen der großen Naturforscher
unserer Zeit zu suchen: diese, die wahren Nachfolger
der Naturphilosophen, sind unsere Philosophen. Und
wer der Gegenwart eine maßgebende Bedeutung in der
Geschichte der Philosophie abspricht, hat die Bäume
gesehen aber nicht den Wald, er hat nicht gesehen^
wo gegenwärtig die Philosophie lebt, Sie lebt in den
Werken von Robert Mayer, von Helmholtz, von Heinrich
Hertz. Aus der kleinen, aber gedankenreichen Schrift
R. Mayers: „Bemerkungen über das mechanische Äqui-
valent der Wärme", lassen sich die ganze Aufgabe und
das ganze Verfahren des Naturerkennens entwickeln
und zugleich die Grenzen dieses Erkennens bestimmen.
Und bis in die letzte Zeit seines umfassenden wissen-
schaftlichen Wirkens hat H. Helmholtz den erkenntnis-
theoretischen Fragen seine Aufmerksamkeit zugewendet.
Er trennte die Voraussetzungen für die Begreiflichkeit
der Tatsachen von den zu begreifenden Tatsachen selbst
und suchte, erst auf dem Wege Kants, dann von diesem
Riehl, Philosophie der Gegenwart. l6
242 Achter Vortrag.
sich weiter entfernend, mit kritischem Verständnis, die
theoretischen Grundlagen der Naturwissenschaft zu prüfen-
Wir müssen ihn daher zugleich zu den Philosophen
zählen, wie er einer der hervorragendsten Forscher
war. Ein mustergiltiges Beispiel aber von der Art,
wie Philosophie und Wissenschaft zusammenhängen
und wie sie zusammenwirken sollen, hat H, Hertz in
den „Prinzipien der Mechanik" aufgestellt, schon durch
das Verfahren, das er in diesem Werke einhält. Er
zerlegt dasselbe in zwei symmetrisch aufgebaute Teile.
In dem ersten entwickelt er, ganz im Sinne Kants und
unter ausdrücklicher Berufung auf diesen, alle zur Dar-
stellung der Tatsachen, hier der Bewegungserscheinungen,
erforderlichen Begriffe, welche, wie er sagt, schon durch
innere Anschauung gegeben werden, oder, wie Kant es
ausdrückt, aus reiner Anschauung hervorgehen. Aus
diesen Begriffen entsteht ein in sich geschlossenes, rein
logisch-mathematisches Lehrgebäude, an dessen Sicher-
heit und absoluter Festigkeit ein Zweifel nicht möglich
ist. Im zweiten Teile fiihrt sodann Hertz eine Hypothese
ein, welche etwas über den Inhalt der Erfahrung aus-
sagen soll, daher auch allein durch die Erfahrung ge-
prüft werden kann und soll. Indem er nun diese Hypo-
these: sein „Grundgesetz", demzufolge Jedes freie System
in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen
Bewegung in einer geradesten Bahn beharrt", mit den
zuvor definierten kinematischen Begriffen in Verbindung
bringt, entsteht das, was wir Erklärung nennen, nämlich
die einfachste und vollständige Beschreibung der Tat-
sachen, welche Beschreibung zugleich Einsicht mit sich
bringt, weil der notwendige Zusammenhang der Elemente,
deren sie sich bedient, evident, d. i. von anschaulicher
Gewißheit ist. Dies eben heißt wissenschaftliche
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 243
Philosophie, dies ist Philosophie innerhalb der wissen-
schaftlichen Forschung selbst.
Der Weg der Mechanik von Hertz ist der allge-
meine Weg der theoretischen Naturwissenschaft, und
Galilei hat ihn dieser eröffnet. Er hält die rechte Mitte
von bloßer Spekulation und reiner Erfahrung. Tatsachen
in der Wahrnehmung (sensate esperienze) genügen nach
Galilei nicht, um Wissen zu erzeugen. Sie sind nur
die eine Quelle des Erkennens, die andere nicht minder
ursprüngliche, nicht weniger wesentliche ist „das Wissen,
das der Geist von sich aus hat", das logisch-mathe-
matische Wissen. Indem beide Quellen zusammenfließen,
die Tatsachen der Sinne durch Induktion und Experi-
ment unter Begriffe a priori gebracht werden, vereinigen
sie sich zum Strome des Erkennens. Nicht anders
dachte vom Wesen des Erkennens Mayer, nicht anders
dachte davon Kirchhoff. Wenn Mayer eine Tatsache
als erklärt betrachtet, sobald sie „nach allen ihren
Seiten hin bekannt ist", so haben wir zu bedenken,
daß diese allseitige Bekanntheit einer Tatsache nach
Mayer die Kenntnis ihrer konstanten Größenbeziehungen
zu den andern Tatsachen einschließt und damit ist in
der Tat „die Aufgabe der Wissenschaft beendigt". Und
wenn Kirchhoff es als die Aufgabe der Naturwissenschaft
bezeichnet, die in der Natur vor sich gehenden Be-
wegungen „vollständig und auf die einfachste Weise zu
beschreiben", so liegt schon in der Forderung der
Einfachheit, der Vereinfachung der Beschreibung und
zwar ihrer möglichsten Vereinfachung, das begrifflich
Verallgemeinernde dieser Aufgabe. Auch konnte es
nicht die Meinung Kirchhoffs sein, jede besondere Be-
wegung in der Natur solle für sich genommen be-
schrieben werden; sie sind alle mitbeschrieben, wenn die
244 Achter Vortrag.
Gesetze der Bewegung dargestellt, d. i. mathematisch ent-
wickelt sind. Eine solche Beschreibung aber mit Hilfe
mathematischer Begriffe ist Erklärung, und Erklärung
kann nichts anderes sein als solche Beschreibung.
Aus reiner Erfahrung kann nie Wissenschaft ent-
springen. Denn reine Erfahrung ist nichts Gegebenes;
sie ist ein Produkt der Abstraktion, ein Edukt, ein Aus-
zug aus der wirklich gegebenen Erfahrung. Diese aber
ist empfangen in den Formen des Anschauens und
entwickelt nach den Formen des Denkens. Sich auf
reine Erfahrung zurückziehen heißt einfach den ver-
bindenden Faden aller Tatsachen durchschneiden; übrig
bleibt ein ungeordnetes Gemenge, ein Aggregat von
Sinneseindrücken. Denn selbst die ihnen eigenen Ver-
hältnisse, in denen die Tatsachen der Wahrnehmung
gegeben werden, müssen, um erkannt zu sein, durch
das Denken nachgeschaffen werden. Noch einmal: das
Denken ist die Voraussetzung aller Erfahrung; eine Er-
fahrung ohne Denken ist nicht möglich. Nehmen wir
an, alle überhaupt vorkommenden Tatsachen seien uns
bekannt und werden uns immer wieder bekannt, so-
bald sie sich weiter entwickeln, in der Zeit vorrücken:
wäre damit allein schon Wissenschaft gegeben, wäre
Wissenschaft dadurch entbehrlich geworden? Soll die
Aufgabe der Erkenntnis wirklich nur darin bestehen,
die Tatsachen, die wir aus Un Vollkommenheit unserer
Sinne nicht kennen, mit solchen zu verbinden, die wir
kennen, um damit die Erfahrung jener zu ersetzen,
oder weitere Erfahrung zu ersparen? Gewiß sind
„Gesetze" der Natur auch Ableitungsformeln für Tat-
sachen; aber sie sind dies nicht allein, noch ist dies ihre
wichtigste, ihre wertvollste Funktion. Kenntnis und Er-
kenntnis bleibt zweierlei und wer alle Tatsachen in der
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 245
Welt kennte, wüßte dadurch allein noch nichts von den
Gesetzen der Tatsachen, Das Gesetz der Gravitation
ist mit allen Bewegungen der Himmelskörper und
irdischen Fallerscheinungen noch nicht gegeben, ob-
gleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein
Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit
der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, ob-
schon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen.
Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massen-
punkte würden sich genau nach dem Gesetze der Gravi-
tation annähern, wenn sie allein in der Welt wären.
Würden also auch alle Tatsachen offen daliegen, unser
Verstand könnte, um ihre allgemeingiltigen Beziehungen
oder ihre Gesetze zu ermitteln, nicht anders verfahren,
als er bei seiner unvollkommenen Kenntnis des Tatsäch-
lichen verfährt. Wir suchen die Tatsachen der reinen
Erfahrung durch das Denken zu ergänzen, um sie zu
verstehen, wir suchen ihre Beziehungen mathematisch
darzustellen, um Einsicht in die Form ihrer Verhältnisse
zu gewinnen.
Es gibt eine Denkrichtung in der Philosophie der
Gegenwart, die von Hume ausgeht und sich ihres Gegen-
satzes zu der von Kant ausgehenden bewußt ist und
diese bekämpft. Sie nennt sich den „Positivismus", sollte
aber eigentlich „Impressionismus" heißen, denn das einzige
Reale, das sie gelten läßt, sind die Sinneseindrücke. Ein
merkwürdiges Buch, das sich selbst als „Kritik der
reinen Erfahrung" einführte, in Wahrheit aber die
Vernunft kritisiert, nämlich durch die reine Erfahrung
wegkritisieren will, ist zu der nämlichen Zeit entstanden
und veröffentlicht worden, in welcher auch in der Kunst
eine Richtung vorübergehend zur Herrschaft gelangt war,
die analog der in jenem Buche vertretenen Wissenschaft-
246 Achter Vortrag.
liehen das bloß Tatsächliche als solches wiedergeben zu
sollen meinte. Dem künstlerischen Impressionismus
entspricht auch der Zeit nach der wissenschaftliche
Impressionismus, und auch unser Urteil über beide
hat ein entsprechendes zu sein. So unmöglich es ist,
in der künstlerischen Wiedergabe der Erscheinung die
reinen Sinneseindrücke zu wiederholen und die Vor-
stellung, die die Eindrücke ordnet, auswählt und klärt,
auszuschließen und doch dabei künstlerisch zu wirken;
so unmöglich und ohne allen Erkenntniswert ist es,
von der wissenschaftlichen Darstellung der Tatsachen
die Beherrschung der Tatsachen durch die Einheit des
Denkens auszuschließen.
Überdenken wir, ohne hier auf Einzelnes eingehen
zu können, die Gesamtlage der Wissenschaft unserer
Zeit, so müssen wir, wie paradox dies auch klingen
mag, sagen: nie hat es ein philosophischeres Zeitalter
in der Wissenschaft gegeben, als das gegenwärtige.
Denn es ist dies das Zeitalter der immer weiter fort-
schreitenden wissenschaftlichen Arbeits- Vereinigung, des
wahren Endzweckes und der Rechtfertigung der voraus-
gegangenen unentbehrlichen Arbeits-Teilung. Es ist das
Zeitalter der synthetischen Wissenschaft, und synthetisch
ist nur ein anderes Wort für philosophisch. Die Bei-
spiele solcher synthetischen Wissenschaften liegen uns
nahe. Wir brauchen nur an die physikalische Chemie
oder die physiologische Psychologie zu denken, zwei
Schöpfungen dieses philosophischen Geistes der Wissen-
schaft der Gegenwart.
Nie kann es wieder eine Zeit geben, in welcher die
Wissenschaft ihr Ziel erreicht glaubte, wenn sie nur Tat-
sachen über Tatsachen anhäufte, nie auch eine Zeit, in
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 247
welcher die Philosophie auf diese notwendige Vorarbeit
zur Wissenschaft wieder mit Geringschätzung herab-
blicken wird. Das Formen und Herbeischaffen der Ziegel
halten wir für die Herstellung eines Baues gleich wesentlich,
wie das Werk des Architekten, der den Plan entwirft und
die Ausführung des Baues leitet. Wie es der Erkenntnis
ohne die geduldige und entsagungsvolle Arbeit der rein
empirischen Forschung an Material gebrechen würde,
so würde es ihrem Bau ohne das denkende Durchdringen
des Tatsachenstoffes am Plane fehlen. Die Wissenschaft
braucht die Philosophie; sie schafft sich daher eine, wenn
sie keine vorzufinden glaubt. Dabei kann es ihr ge-
schehen, daß sie dort Grenzen des Erkennens sucht, wo
dessen Voraussetzungen liegen, oder Zeichen für Dinge
mit den Dingen selbst verwechselt. Und ebenso kann
auch die Philosophie die Wissenschaft nicht entbehren,
soll sie sich nicht entweder in leere Spekulationen ver-
lieren, oder auf rein formale Erkenntnistheorie beschränkt
sehen, die den Kern des Wissens, die in der Erfahrung
gegebenen Tatsachen, nicht zu ergreifen vermag. Das
beständige Zusammenwirken von Forschung und Philo-
sophie, ihre wechselseitige Ergänzung ist das Eine, das
beiden not tut. Über dem Hörsaale Piatos stand, wie
berichtet wird, zu lesen: Keiner, der nicht Geometrie
versteht, oder, was für jene Zeit dasselbe bedeutete: der
nicht exakte Wissenschaft getrieben hat, darf eintreten.
Die analoge Überschrift über dem Eingang in unsere
naturwissenschaftlichen Hörsäle und Laboratorien müßte
lauten: dem ist der Eintritt verwehrt, der nicht Philo-
sophie getrieben hat. Philosophische Bildung gehört zur
Fachbildung jedes Naturforschers; sie lehrt ihn das In-
strument seiner Instrumente verstehen und gibt ihm den
Maßstab für seine Forschung.
248 Achter Vortrag.
Die Zukunft der wissenschaftlichen Philosophie ist
die Erhebung der Wissenschaft zur Philosophie. Wie
die Wissenschaften aus der Philosophie, ihrer anfäng-
lichen Einheit, durch Auseinanderlegung derselben her-
vorgegangen sind, so sehen wir sie auch in der Spirale
alles geschichtlichen Werdens auf einer höheren Stufe
ihrer Entwickelung zur Einheit zurücklenken. Sind sie
doch nur die verschiedenen Ströme des Wissens und
also bestimmt, in die Eine Wissenschaft, in das System
der menschlichen Erkenntnis zurückzufließen. Die Wissen-
schaft, äußert Van t'Hoff, ist wie die Natur, welche sie
abspiegelt, ein großes Ganzes und alle Einteilungs-
prinzipien haben im Grunde etwas Willkürliches. —
Nicht, daß wir glaubten, jene eine Gesamtwissenschaft
werde an einem bestimmten Tage vollendet sein. Wir
glauben nur, nie werde die wissenschaftliche Forschung
die Richtung auf dieses Eine und höchste Ziel wieder
verlieren, vielmehr mit Bewußtsein und nicht nur wie
zufällig an dem werdenden Systeme des Wissens arbeiten,^
das heißt aber: sie werde sich mit philosophischem
Geiste erfüllen. Auch dann brauchen wir noch „Spezia-
listen des Allgemeinen" (so ungefähr nannte A. Comte
die Philosophen); wir werden aber keine von der Wissen-
schaft losgelöste Philosophie mehr kennen, keine der
Philosophie entfremdete Wissenschaft.
Wird jemals ein Weltbild der Wissenschaft das-
definitive sein? Wir müssen es bezweifeln. Darum aber
gleicht das Werk der Wissenschaft noch nicht dem.
„nächtlichen" Werke der Penelope; ihr Gewebe wird
nicht immer wieder aufgelöst, ihre Arbeit nicht immer
wieder zerstört. Die aufeinander folgenden Bilder der
Welt, welche von der Wissenschaft entworfen werden.
folgen auch auseinander. Kein Schritt in der Er-
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 2AQ
kenntnis der Welt braucht wieder zurückgetan zu werden.
Keiner; was die Wissenschaft einmal ermittelt hat, hat
sie für immer ermittelt; es ist zu einem unveränderlichen
Bestandteil der Wahrheit geworden, welche selbst un-
veränderlich ist. In diesem Sinne ist jedes ihrer Gesetze
streng allgemeingiltig; keines hat, wie wohl behauptet
wird, nur praesuraptive Allgemeinheit. Die Ausnahms-
losigkeit gehört zum Begriff eines Naturgesetzes, und
nicht, daß solche Gesetze gegeben sind, kann einem
Zweifel unterliegen, sondern nur, ob wir in einem be-
stimmten Falle das Gesetz wirklich erkannt haben. Nur
wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und
an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch
von den Regeln des Geschehens in der Natur Aus-
nahmen für möglich halten, oder die Naturgesetze bloß
als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten.
Prüfen wir selbst ein Gesetz, wie das der Gravitation
noch an der Erfahrung, so wollen wir nur wissen, ob es
nicht vielleicht Teil eines noch umfassenderen Gesetzes
sei oder seine Wirkung durch andere Gesetze modi-
fiziert werde, das heißt, ob nicht eine Erscheinung, die
darunter fällt, noch anderen Gesetzen folge. Ein Natur-
gesetz ist immer zugleich, nämlich seiner Form nach,
eine mathematische Wahrheit. Unser Wissen von diesen
Wahrheiten aber ist Einsicht in ihre Notwendigkeit und
eine höhere Stufe der Gewißheit, als diese Einsicht, kann
es nicht geben, erklärt der Schöpfer unserer Wissen-
schaft. Hier komme sogar, fährt Galilei fort, die mensch-
liche Erkenntnis der göttlichen gleich; unser Begreifen
ist hierin vollkommen und so unbedingt gewiß, wie es
nur die Natur selbst sein kann.
Das künftige System des Wissens erwächst aus
Kritik und Forschung zugleich; es sucht daher die Wahr-
250 Achter Vortrag.
heit nicht in einem inneren Wesen der Welt, es findet
sie in den beharrlichen Verhältnissen der Dinge, den
Gesetzen ihrer Erscheinung.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß unter
Philosophie im ganzen Verlauf ihrer Geschichte niemals
nur eine Wissenschaft allein verstanden worden ist; in-
dem sich die Philosophie von ihrem Beginne an an das
höchste Bewußtsein des Menschen wandte, an das Ganze
seines Geistes, konnte sie nicht Wissenschaft allein sein.
Auch das vollendet gedachte System des Wissens würde
nirgends auf die „Werte" des geistigen Lebens treffen
können; die Wissenschaft schließt schon ihrem Begriffe
nach jedes Werturteil als solches aus ihrem eigensten
Bereiche aus, obschon sie als Ganzes betrachtet selbst
Gegenstand der Bewertung ist, ja einen der höchsten
geistigen Werte bildet. Wissenschaft und wissenschaft-
liche Philosophie können die Kunst nicht ersetzen,
auch nicht die philosophische Kunst der Geistesführung,
welche sich mit ihren Lebensanschauungen an den
Willen wendet, an die praktische Vernunft, nicht an
das theoretische Erkennen. Fragen wir nun nach der
Gegenwart und Zukunft dieser anderen Philosophie,
welche nicht selbst Wissenschaft ist, obschon sie diese
voraussetzt und zur Basis nimmt, so ist die Antwort
auf den zweiten Teil unserer Frage nicht zu verfehlen.
Hier, wo es sich um Werte und Formen des Lebens
handelt, kommt die Persönlichkeit des Philosophen ent-
scheidend zur Geltung; seine Gesinnung, die Größe des
Charakters, das Vorzügliche seiner Natur leben in seinem
Werke: die Zukunft der Philosophie als Geistesführung
ist der große Philosoph, — und auf sein Kommen müssen
wir warten.
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 25 1
Einige unserer jüngeren Zeitgenossen glauben, er
sei schon erschienen, sein Geist lebe mitten unter uns, in
mächtiger Gegenwart. Was uns dagegen verwehrt in
Friedrich Nietzsche einen Geistesführer zu sehen, ist der
jähe Wandel seiner Anschauungen, das rastlose Fort-
getriebenwerden seines Geistes, die unstäte Folge immer
neuer , Loslösungen ", die ihn bei keiner Sache verweilen,
auf keiner fest beruhen ließen. Man kann sich den
nicht zum Führer wählen, der „stets ein andrer ward,
sich selber fremd" und „sich selbst entsprungen" ist.
Wer ihm folgen will, er sagt es selbst, muß sich
beständig wandeln: „nur wer sich wandelt, bleibt mit
mir verwandt." Nicht dies ist sein Mangel, daß es seinem
Denken an einem „Systeme" fehlt, — auch Sokrates
hatte keines; wohl aber vermissen wir die sichere, feste
Position seiner Gedanken, die Folgerichtigkeit in seinem
Empfinden. Er zerstörte, was er eben gebaut, und
lästerte, wo er eben noch angebetet hatte. Seine zwie-
spältige Natur neigte zur Verehrung und zwang ihn zu-
gleich zu zersetzender Kritik. Er ist der beständig
Suchende, der große Fragende, ein Geschöpf und mehr
noch: das Kompendium der Zeit, die selber eine
fragende und suchende ist.
Überaus empfänglichen Geistes ließ sich Nietzsche
von allen Strömungen, jeder Stimmung der Zeit ergreifen.
Er hat jede durchlebt, an jeder gelitten und sich aus
allen „losgelöst". Er beginnt mit Schopenhauer und
sucht in der Kunst die Rettung vor der Verneinung des
Willens. Gleich darauf schwärmt er für Wagner und
sieht schon aus der Verbindung der Schopenhauerischen
Philosophie mit dem „Kunstwerke der Zukunft" eine
neue Kultur erstehen. Von dieser „Romantik" seiner
Jugend wendet er sich, scheinbar unvermittelt, zu der
2C2 Achter Vortrag.
Aufklärung und dem Intellektualismus um; es war nur
eine neue Art von Schwärmerei. „Der Blick durch das
Tor der Wissenschaft" wirkte auf ihn wie der „Zauber
aller Zauber" und er wird an der Wissenschaft zum
„Phantasten". Auch in dieser „wissenschaftlichen" Periode
blieb er, der er war, der trunkene, „dionysische" Dichter,
und Prophet. Ihn ziehen nur die ästhetischen Seiten
des Erkennens an, die Strenge der Form, das Persönliche
in den „freien Geistern" und Denkern. Nicht lange —
und er empfindet, wie die Zeit selbst, Ungenügen am
bloßen Wissen, am „Glück des Erkennenden". Er
kommt dahin ^ den Wert der Wahrheit „umzuwerten",
zu verneinen und stürzt sich in den Abgrund des
Nihilismus. Alle bisherigen Werte schienen ihm ent-
wertet zu sein, dem Leben jeder Sinn, jedes Wozu ge-
nommen. Aber die Grundtriebe seiner Natur, die auf
Bejahung des Lebens gerichtet waren, wollen auf allen
Wegen ans Licht. Er will wieder ein Ziel, ein Warum,
einen Glauben setzen: eine Gegenbewegung gegen den
Nihilismus sollte der „Wille zur Macht", sollte die „Um-
wertung aller Werte" zum Ausdruck bringen.
Nietzsches Entwicklung ist ohne Abschluß; wir haben
eigentlich nicht sein Werk, sondern Ansätze, Bruch-
stücke seines Werkes, die wie Trümmer eines großen
Geistes, eines großen WoUens vor uns liegen. Auch
diese aphoristische Form seines Schaffens, zu der ihn
die Krankheit zwang, das Abgerissene, Blitzartige der
Gedanken, ist wie ein Symbol der Zeit, ihrer Unrast,
ihres Entbehrens einer einheitlichen, geschlossenen Lebens-
anschauung. Nietzsches Schriften sind Dokumente ihres
inneren Lebens; ihr Führer, ein Führer wollte er nicht
sein. Er wollte nur den „züchtenden" Gedanken aus-
säen, der Lehrer der „ewigen Wiederkunft" sein und
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 253
die Entwickelung des „höheren" Menschen dann dem
neuen Glauben überlassen. Einst, in seiner ersten Zeit,
hatte auch er nach Genossen ausgeblickt und kein junges
Gemüt kann, ohne sich begeistert zu fühlen, die Worte
hören: „Ich sehe etwas Höheres, Menschlicheres über mir,
als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie
ich jedem helfen will, wer Gleiches erkennt und an
Gleichem leidet." Dann aber wird sein Pfad immer
einsamer, ferner von den Zeitgenossen; er geht nach
„Abenteuern der Erkenntnis" aus, sucht das Abseits-
Liegende auf, das gerade ihm Wehetuende, daher, wie
er meint Nötige; er hatte den Weg zu sich selber ge-
funden und gibt es auf, Anhänger zu werben, Proselyten
zu machen: „das ist mein Weg, welches ist der eure?
Den Weg nämlich gibt es nicht!"
Viele seiner Aussprüche im Einzelnen und seine
Tendenzen im Ganzen haben — auch dies will ich
wiederholen — gerade das, was der Zeit not tut: sein
Ja-sagen zu allem, „was stärkt, was Kraft aufspeichert,
das Gefühl der Kraft rechtfertigt", mit einem Worte
sein „corroberierendes System" mußte auf eine willens-
schwache Zeit stählend und wie ein frischer Zug aus
der großen, freien Natur wirken. Alle seine Anschau-
ungen aber verraten ein Grundgebrechen: den Mangel
an historischem Sinn. Nietzsche meinte, man könne,
er könne Kultur absichtlich schaffen, Kultur gleichsam
improvisieren; man könne die Geschichte neu machen,
überhaupt Geschichte machen. Daß das Produktive
mit dem Historischen verbunden werden müsse, um
wirklich produktiv zu sein, wie Goethe es forderte,
beachtete er nicht. Neue Lebensanschauungen gehen
hervor aus alten Lebensanschauungen und sie beseitigen
diese niemals vollständig, sie entwickeln sie nur. Darum
254
Achter Vortrag;.
ist die Aufgabe alle Werte umzuwerten, nicht bloß eine
vermessene, verstiegene, sondern eine unmögliche Auf-
gabe; denn sie ist durch und durch unhistorisch. In
Wahrheit hat es sich auch bei Nietzsche nicht um die
Schöpfung neuer, sondern um eine Neuordnung der
alten Werte gehandelt.
Wozu aber auf den kommenden großen Philosophen
warten? bereiten wir ihm die Wege, ihn zu em-
pfangen, wenn er kommt. Das alte Gute, faß' es anl
auch das neue Gute ist nur eine Entwicklung des
alten.
Kunstwerke sind, so lange sie nur der Zeit wider-
stehen, also für sich betrachtet, für immer da. Kein
Fortschritt der bloßen Technik kann sie töten. Sie sind
wie lebende Wesen und wie alles wahrhaft Geschicht-
liche, in der Geschichte Wertvolle, geschehen sie fort-
während; sie wirken fort, mit jeder neuen Zeit neue
Verbindungen eingehend. Solchen Werken der Kunst
gleichen die Lebensanschauungen der großen Denker;
nie kann, so lange die Menschheit lebt und die Er-
innerung an sie bewahrt, ihre Wirkung erlöschen.
Sokrates lebt mit seiner Gesinnung fort; auch wir be-
mühen uns noch, die Tat seines Sterbens zu begreifen
und ihrer Größe würdig zu werden. Der Piatonismus,
der Spinozismus sind nicht vergangen, sie gehören dem
Leben an, das wir leben. Kants Gedanke, daß das
Sittengesetz aus der vernünftigen Natur des Menschen
stammt, nicht aus seiner besonderen, menschlichen Natur,
daß das Sittengesetz das Naturgesetz vernünftiger Wesen
als solcher ist, — dieser große Gedanke seiner Ethik,
der erst eine sittliche Weltanschauung begründet hat,
ist noch nicht ausgeschöpft, kaum erst in seiner ganzen
Höhe verstanden. Und wer nicht wüßte, wie heilsam
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 255
auch der strenge Pflichtbegriff der Kantischen Moral
gewirkt, kann es von Goethe erfahren. „Die Moral war
gegen Ende des letzten Jahrhunderts schlaff und knech-
tisch geworden, als man sie dem schwankenden Kalkül
einer bloßen Glückseligkeitstheorie unterwerfen wollte;
Kant faßte sie zuerst in ihrer übersinnlichen Bedeutung
auf, und wie überstreng er sie auch in seinem kate-
gorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch
das unsterbliche Verdienst, uns von jener Weichlich-
keit, in die wir versunken waren, zurückgebracht zu
haben."
Lebensweisheit suchen wir nicht bloß bei den eigent-
lichen Philosophen, in ihren Lehren, ihrem Vorbilde; wir
finden sie auch bei den großen Dichtern, bei jedem Er-
zieher der Menschheit. Auch sie zählen zu den Philo-
sophen, wenn wir auch nicht gewohnt sind, sie Philo-
sophen zu nennen. Ein solcher Philosoph und Erzieher
der Menschheit ist Goethe, — der Goethe der „Wander-
jahre" und des zweiten Teiles Faust.
„Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines
Lebens ist der Triumph des Reinmenschlichen," so faßt
Goethe selbst Geist und Ziel seines Schaffens und
Wirkens zusammen. „Ein innerlich bewahrtes, nach
außen tätiges, höheres Menschentum" war sein eigentliches
Lebensgeheimnis, Menschenbildung seine Lebenstendenz,
Er sinnt beständig, wie man „vorzügliche Menschen zu
vollendeter Bildung" bringen könne, so daß sie bis ans
Ende eine immer höhere und reinere Tätigkeit entfalten.
Die Bestimmung des Menschen ist Handeln, in seinem
Denken dagegen soll er sich bescheiden, „das Erforsch-
liche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig
zu verehren". Denn der Mensch ist kein lehrendes, er
ist ein lebendes und wirkendes Wesen; nur in Wirkung
256 Achter Vortrag.
und Gegenwirkung erfreuen wir uns. Das erste und
letzte am Menschen sei Tätigkeit, — sein Leben sei
Tat um Tat. „Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein."
Handeln aber heißt: „die Mittel der äußeren Welt an
sich heranziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar
machen". ,Jedes tüchtige Bestreben wendet sich aus
dem Innern hinaus auf die Welt; wie man in allen
großen Epochen sieht, die wirklich im Streben und Vor-
schreiten begriffen und alle objektiver Natur waren".
Es sind nach Goethes Bezeichnung die gläubigen
Epochen. Wer handelt, darf nicht zweifeln, er muß vom
Glauben an seine Zwecke, seine Ideale erfüllt und ge-
trieben sein. Glaube ist unentbehrlich für die Zeiten
wahrer Kultur; Glaube schafft selber Kultur. Diese
Überzeugung Goethes ist auch die Lehre unserer Ge-
schichtsphilosophie, und jeder tiefere Blick in die Kultur-
geschichte sieht sie überall bestätigt.
Den Wert der Persönlichkeit hat keiner höher ge-
schätzt, als Goethe, der sie als das höchste Glück der
Erdenkinder preist; aber er kannte und verehrte auch
ein Überpersönliches, Übermenschliches und achtete die
Grenzen der Menschheit. „Das Wesen der Welt läßt
sich nie in eine Formel fassen, wohl aber stellt es sich
in großen Persönlichkeiten kräftig und deutlich dar."
,Gott ist fortwährend in höheren Naturen wirksam, um
die geringeren heranzuziehen". ,,Es ist eigentlich die
große Persönlichkeit, welche in die Kultur ihres Volkes
übergeht." Und wie Goethe groß dachte von der großen
Persönlichkeit, so wußte er zugleich, daß auch der
höchste Mensch nichts durch sich selber ist, nicht für
sich selbst allein lebt. „Was der Mensch auch angreife
und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend.
Denn im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir
Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 257
mögen uns stellen, wie wir wollen. Wie weniges haben
und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum
nennen. Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl
von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit
uns sind. — Die Hauptsache ist, daß man ein großes
Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen." „Mache
aus dir ein Organ!" — dies Wort gilt allen, auch den
höheren Naturen. ,,Es ist im Menschen auch ein Dienen-
wollendes". Mag auch die große Persönlichkeit alles,
was außer ihr ist, zu ihrer Selbstbildung, ihrer Selbst-
vollendung gebrauchen, mögen ihr Gesellschaft, Staat, ja
die übrige Menschheit selbst zu Mitteln und Werkzeugen
werden, die ihrem höchsten Wohle dienen; sie kann
nicht anders, als die „Seligkeit ihrer Natur auch auf
andere" ausgießen, und indem sie so den Reichtum
ihres Innern erschließt, wird sie selbst zum Organ des
Ganzen und wie das Ganze in ihr lebt, lebt sie selbst
für das Ganze. Zwischen dem aristokratischen Indivi-
dualismus, den Nietzsche lehrte, und dem Kollektivismus,
der die sozialen Lehren der Gegenwart beherrscht, hat
bereits Goethe die reinste Aussöhnung gefunden, die
schönste Verbindung gestiftet
Die Zeit ruft alle ihre geistigen Kräfte auf, um
einen neuen inneren Gehalt des Lebens zu erringen.
In diesem Kampfe um einen neuen Lebensinhalt muß
sie sich mit den großen Geistesführern der Vergangen-
heit verbünden. Und ihre Lebensanschauungen zu er-
neuern, ihre Gesinnung lebendig zu erhalten, ihr Werk
fortzuführen ist der nächste und wesentlichste Beruf der
Philosophie als Geistesführung, — ist die Gegenwart
dieser Philosophie.
Riehl, Philosophie der Gegenwart. 17
258 Achter Vortrag.
Und SO ist die Philosophie keine Sache bloß der
Schule, sie ist eine Angelegenheit der Menschheit selbst
und darum hat sie sich nicht überlebt und wird sich
nie überleben. Umsonst, daß der Mensch sich gleich-
giltig verhalten wollte zu den Problemen der Philo-
sophie; sind es doch die wahren und wesentlichen
Probleme seines Wissens und seines Lebens. Stetig
muß die Menschheit fortschreiten in der Selbsterkenntnis
der Vernunft und der Erkenntnis der Welt, im Streben
nach einer auf dieser doppelten Erkenntnis beruhenden
Weisheit, fortschreiten in philosophischer Wissenschaft
und philosophischer Gesinnung. Neben der Forschung,
welche die Gesetze der Erscheinungen ermittelt, neben
der Kunst, welche den Wert der Erscheinungen erhöht
und zu anschauender Empfindung bringt, ist die Philo-
sophie eine der geistigen Lebensmächte der Menschheit,
eine der kulturschaffenden Mächte.
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B Riehl, Alois
793 Zur Einführung in die
R55 Philosophie der Gegenwart