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Midiigm
Jlkiries.
1817
ARTES SCIENTIA VERITAS
\
s
ZUR KRITIK DER ZEIT
VON
WALTHER RATHENAU
1912
S. FISCHER /VERLAG/BERLIN
OB
. K-; '"
Achte Auflage
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 19 12 S. Fischer, Verlag, Berlin
\)\recX
AN GERHART HAUPTMANN
Deinen Namen schreibe ich auf die erste Seite
dieses Buches. Du weißt, ich habe gezögert, es
zu veröffentlichen, weil zweierlei mir fehlt: die
Ausführlichkeit, die der Leser von Betrachtungen
verlangt, und die Überredungskunst des dialek-
tischen Beweises, die ich nicht respektiere. Ich
glaube, daß jeder klare Gedanke den Stempel der
Wahrheit oder des Irrtums auf der Stirn trägt.
Dir, Gerhart, habe ich stets geglaubt, ohne Be-
weis und ohne Umschweif. Nimm dies Buch als
Zeichen der Dankbarkeit, die ich als Deutscher
dem Dichter unseres Zeitalters schulde, und als
Gabe herzlicher Freundschaft.
INHALT
ZUR KRITIK DER ZEIT
Das Problem 13
Versuchte Lösungen 21
Geschichtete Völker 25
Die Aufzehrung der Oberschicht .... 32
Die Mechanisierung der Welt. I
Aufgabe, Begriff und Mittel 45
Die Mechanisierung der Welt. II
Mechanisierung der Produktion 57
Die Mechanisierung der Welt. III
Mechanisierung und Organisation .... 65
Die Mechanisierung der Welt. IV
Mechanisierung und Gesellschaft .... 75
Die Mechanisierung der Welt. V
Mechanisierung und Leben ....... 86
Der Mensch im 2^italter der Mechanisie-
rung und Entgermanisierung .... 95
ANHANG. Zeitfragen und Antworten
Massengüterbahnen 161
Bemerkungen über Englands gegenwärtige
Situation 177
Politik, Humor und Abrüstung .... 195
Geschäftlicher Nachwuchs 206
Staat und Judentum 219
Promemoria betreffend die Begründung
einer Königlich Preußischen Gesellschaft 244
Physiologisches Theorem 256
ZUR KRITIK DER ZEIT
DAS PROBLEM
Durch die Mitte des vergangenen Jahrhunderts
geht ein Schnitt. Jenseits liegt alte 2^it, alt-
modische Kultur, geschichtliche Vergangen-
heit, diesseits sind unsere Väter und wir, Neuzeit,
Gegenwart. Das ist nicht etwa eine optische
Täuschung des rückwärts gewandten Blickes, nicht
eine Erscheinung, die jeder sich besinnenden Ge-
neration begegnet: denn wir können die Zeit-
punkte bestimmen, wo das neue Wesen sich vom
alten sondert. Freilich nicht auf ein Jahr oder
ein Jahrzehnt genau; denn wie sollte eine Kul-
turgrenze sich als scharfkantige Bruchfläche dar-
stellen? Vielmehr weist sie, aus geringer Entfer-
nung betrachtet, ein System von Splitterungen
auf, die jede einzelne Faser des Gesamtlebens je
an anderer Stelle treffen. So können wir sagen,
wann man begonnen hat, ein neues Deutsch,
2^itungsdeutsch, Abhandlungsdeutsch, Geschäfts-
deutsch zu reden und zu schreiben, wann die
humanistische Bildung von der historisch-prag-
matischen abgelöst wurde, wann die geschäftliche
Staatenpolitik begann, wann die Weltstadtphäno-
mene sich erhoben, wann die konkreten Ideale
dem Sehnen unserer Zeit gewichen sind.
Vollends erkennen wir diesseits der Epochen-
grenze, etwa seit Beginn der fünfziger Jahre, die
nicht mehr unterbrochene Gleichförmigkeit eines
Zeitalters, das bis zu diesem Augenblick nur quan-
titative Steigerungen und technische Verschie-
bungen erlebt hat. Vor allem aber sind alle dies-
seitigen Menschen uns als Zeitgenossen ohne Er-
13
läuterung verständlich, indem wir ihre Sprache,
Lebensauffassung, Wünsche und Denkweise bis
in die jüngste Generation unserer Stadtbürger
hinein erhalten und wiederholt finden. Unstet
und gesellig, sprunghaft, gedankenbegierig und
sehnsüchtig, interessiert, kritisch, strebend und
hastend ist die Stimmung nun schon des dritten
Geschlechtes westlicher Menschen.
Jenseits des Zeitalters jedoch, bis in die An-
fänge des abgelaufenen Jahrhunderts, erblicken
wir die Ausläufer des älteren Geschlechtes: seß-
hafte Menschen, die auf Ererbtem beruhen, von
handgefertigten Werken umgeben, im Wechsel-
kreis der Tradition ihr Leben erfüllend. Wollte
man meinen, der Gegensatz sei durch den Ab-
stand vergrößert, so genügt es, das flache Land
oder die Städte an der nördlichen und südlichen
Grenze unseres Sprachgebiets aufzusuchen um
wahrzunehmen, daß trotz Zeitung, Eisenbahn,
Industrie und Politik ein altes, dem Großstädter
unendlich fernes Deutschland dort sich erhält
und verteidigt. So wird man in den alten Ort-
schaften Holsteins oder der Nordschweiz den
Unterschied der Stände, die Gegensätze der Be-
rufe, in Sprache, Gebaren und Gesichtszügen aus-
geprägt finden; Beschaulichkeit der Denkweise,
Handlichkeit des Ausdruckes, Festigkeit der Über-
lieferung nicht vermissen. Wie denn überhaupt in
wundervollem Erhaltungstriebe die Erde abseitig
und oft in Schlupfwinkeln alles scheinbar Ver-
gangene, selbst das Entfernteste, uns aufbewahrt
hat, so daß alle zentrische Bildung von heute
zur peripherischen von morgen wird, und jeder
14
Schritt abseits vom Wege auch einen Schritt ab-
seits von der 2^it bedeutet.
Betrachtet man aber die zentrischen Gebilde
unserer Zeit, so ist es zum zweiten Male merk-
würdig und fast erschreckend zu bemerken, wie
sehr diese Wesen trotz aller Verschiedenheit des
Himmelsstrichs, der Herkunft und Vergangenheit,
einander gleichen.
In ihrer Struktur und Mechanik sind alle größe-
ren Städte der weißen Welt identisch. Im Mittel-
punkt eines Spinnwebes von Schienen gelagert,
schießen sie ihre versteinernden Straßenfäden
über das Land. Sichtbare und unsichtbare Netze
rollenden Verkehres durchziehen und unterwühlen
die Schluchten und pumpen zweimal täglich
Menschenkörper von den Gliedern zum Herzen.
Ein zweites, drittes, viertes Netz verteilt Feuchtig-
, keit, Wärme und Kraft, ein elektrisches Nerven-
system trägt die Schwingungen des Geistes. Nah-
rungs- und Reizstoffe gleiten auf Schienen und
Wasserflächen herbei, verbrauchte Materie ent-
strömt durch Kanäle. So ist denn das steinerne
Bild, auch im Schnitt betrachtet, allenthalben das
gleiche: Wabenzellen, mit subtilen Substanzen,
Papier, Holz, Leder, Geweben, staffiert, ordnen
sich reihenweise; nach außen gestützt durch
Eisen, Stein, Glas und Zement. Ein wenig höher
oder ein wenig flacher getürmt, die Öffnungen
etwas dichter oder etwas weiter gestellt, durch senk-
rechte oder wagerechte Ritzungen und Schnörkel
gegliedert, zeigen die Straßenwände in allen Län-
dern den gleichen Ausdruck. Nur im alten Inneren
der Städte, wo in Kirchen und Staatshäusern jahr-
^5
hundertelang Seele und Geist der Gemeinschaft
wohnten, erhalten sich noch Reste phy$iogno-
mischer Sonderheiten als fast erstorbene Kurio-
sitäten, während im Umkreis, gleichviel ob in der
Richtung der Werkstätten, der Wohnstätten oder
der Ruhestätten das internationale Weltlager sich
ausdehnt.
Nicht mindere Einförmigkeit begegnet im Gei-
stigen. Im täglichen und nächtlichen Spiel wer-
fen die Städte der Welt einander ihre Bälle zu:
ihre Launen, Moden, Leidenschaften, Lieblinge,
ihre Vergnügungen, Freuden und Künste, ihre
Wissenschaften und Werke tauschen sie aus und
finden am Wechsel Gefallen. Das gleiche The-
aterstück wird in Berlin und Paris gespielt, die
gleiche Ladenauslage prangt in London und New
York, das gleiche wissenschaftliche Problem hält
sie in Atem, der gleiche Skandal macht sie lachen,
die gleiche Küche ernährt sie, der gleiche Kom-
fort umgibt siel Nie waren im Mittelalter zwei
benachbarte Städte eines Landes: Nürnberg und
Köln, Genua und Venedig, einander im wesent-
lichen so ähnlich, wie heute London und Paris,
New York und Berlin.
So kommt es, daß die städtischen Zeitgenossen
dieses Kulturkreises in unerhörter Weise sich ver-
stehen, ja zuletzt gar einander gleichen; so daß
mancher Reisende, der in einem Nachtschlaf Berlin
mit Paris vertauscht, sich eigentlich nur darüber
wundert, daß er beim Aussteigen andere Sprach-
laute vernimmt als beim Abschied.
Wer dürfte aber leugnen, daß die Städte sich
des wirkenden Geistes unserer Zeit bemächtigt
i6
haben ? Wenn auch nicht das Treiben der Straße
und des Marktes das Wesen der Länder verkörpert,
so ist doch das wirkende und das sichtbare Leben
zuletzt eines; was in der Seele keimt, das spiegelt
sich im Auge, und was im Auge leuchtet, das
zuckt in den Händen.
Die Betrachtung aber bestätigt: in verschiede-
nen Zungen sprechen die Gedanken aller Länder
die gleiche Sprache. Hier gibt es kein Land mehr
des vorwiegend imperialen Denkens, keines mehr
des künstlerischen oder religiösen oder merkan-
tilen Geistes. Rom, Athen, Jerusalem und Kar-
thago sind verschmolzen, alle denken und trachten
Alles, und alle das Gleiche in gleicher Weise.
So haben wir zeitlichen Stillstand und örtliche
Einform als Wesen dieser bewegtesten und mannig-
faltigsten aller Zeiten, die sich stündlich mit
Neuigkeiten sättigt und keinen Gedanken so feier-
lich betont wie den der lokalen, nationalen und
persönlichen Individualität.
Und nun den Blick in die früheren Jahrhunderte
unserer Zeitrechnung zurückgewendet ! Lassen
wir die Wandlungen des technischen Habitus un-
beachtet; halten wir uns an menschliche, phy-
sische, ethische, transzendente Qualitäten: und
wir müssen eingestehen, daß eine ähnliche Wand-
lung des Leibes und der Seele bei konstantem
Volkskörper in aller bekannten Geschichtsentwick-
lung uns nicht begegnet. Wir kennen Völker mit
tausendjähriger Geschichte; wir ahnen, daß Ägyp-
ten, Persien, Rom und China gewaltige Wandlungen
der Menschen und ihrer Sitten zwischen Anfang und
* Ende ihres Völkerlaufes erblickt haben. Aber Wand-
^1
lungen germanischer Krieger in deutsche Gelehrte,
preußische Beamte, berliner Hausbesitzer, sächsi-
sche Industriearbeiter, Wandlungen franko-galli-
scher Abenteurer in französische Bourgeois, pariser
Journalisten undCoulissiers — Wandlungen des Blu-
tes und Geistes von solch erstaunlicher Verwegen-
heit kennen die uns erschlossenen Historien nicht.
Immer wieder fühlt man sich versucht, die
taziteischen Schilderungen als Fabeleien eines
nordlandsüchtigen Italieners zu verwerfen; allein
die Geschichte des Mittelalters und die Werke
dieser großen Zeit lassen uns Menschen empfin-
den, die der römischen Zeichnung gleichen. Vor
den deutschen Domen und ihren Steinbildern,
aus den Gesängen Walters, Gottfrieds und
Wolframs blickt uns die Gewißheit entgegen, daß
Völker dieses Schlages gelebt haben: Menschen
von demutsvollem Stolz, von kluger Treue, von
furchtlosem Glauben, von kraftvoller Zartheit.
Suchen wir nach den Gestalten dieser Menschen,
so brauchen wir nur unsere Museen zu betreten:
das ganze Mittelalter hindurch, teilweise bis in
die ersten Jahrhunderte der neueren 2^it, zeigen
die Bilder von Menschen und Gottheiten das
deutsche Antlitz. Bis tief nach Italien und Spa-
nien hinein, wo heute kein Tropfen dieses Blutes
mehr sichtbar ist, tragen die Idealgestalten die
gleichen Züge. Wo dunklere Gestalten erschei-
nen, dienen sie zur Kennzeichnung der Niedrig-
geborenen, der Fremden und Bösen. Selbst die
Bildnisdarstellungen der beginnenden Neuzeit
zeigen in Deutschland, den Niederlanden, Frank-
reich überwiegend, in Italien häufig, die Gestalten,
i8
die bei uns so selten geworden sind. Man möchte
sagen, daß das moderne Porträt vom alten mehr
durch den Unterschied der Dargestellten als durch
Verschiedenheit der Gewandung und der Mal-
weise sich unterscheidet.
In den Straßen der Großstädte treffen wir die
Menschen dieser Bildnisse sehr selten. Es könnte
jemand tagelang Unter den Linden auf und ab
spazieren, ohne auch nur einen einzigen Menschen
vom alten Schlage zu erblicken: und träfe er ihn,
so würde in den meisten Fällen eine kurze Unter-
haltung offenbaren, daß die Seele eines Hohen-
staufen in diesem bevorzugten Körper nicht
wohnt. Entfernt man sich jedoch von den städ-
tischen Zentren nach jenen abgelegenen Gauen
hin, etwa nach Friesland, Jütland und dem süd-
lichen Schweden zu, so finden sich heute noch
Menschen, ja Stämme, welche die antiken Schilde-
rungen rechtfertigen und retten. Freilich tragen
auch sie nicht Schild und Brünne; auch sie sind
Kaufleute, Rechtsanwälte, Techniker, Ärzte ; aber
seltsam ist zunächst das eine, wie starr sie an alten
Berufen, des Ackerbauers, Züchters, Fischers,
Jägers, Schiffers festhalten. Und da, wo sie in
neuzeitlichen Berufen stehen, bemerkt man bald
eine seltsame, losgelöste, dingliche und kühne
Auffassung, die auf den Kern der Sache geht,
nicht auf die Zwecke, und die daher, wie Glück
und Umstände es wollen, das einemal zu unge-
wöhnlichen Erfolgen, das anderemal zum gänz-
lichen Mißlingen führt.
Das seltsamste aber ist dies : wo wir Menschen
des früheren Schlages treffen, da erkennen und
•• IS
verstellen wir auch den Geist alter Zeiten. Die
ruhige, treu zuversichtliche und vornehm freie Art
des Betragens, die karge, zur Untertreibung nei-
gende Sprache, die des Rühmens bare Freude an
Kraft und Mut, die leise Verspottung allzu klugen
Wesens, die Heimatliebe, Geistigkeit und immate-
rielle Frömmigkeit, diese Wesenszüge erinnern zu-
gleich an die höchsten Erscheinungen unserer eige-
nen Zeit und führen wiederum hinauf zu den
Liedern des Vogelweider«, zu Fischarts Schwänken
und zu Eckards Mystik.
Was ist nun im Laufe dieser Jahrhunderte ge-
schehen? Was hat die Menschen, ihre Leiber,
ihre Seelen so gewandelt? Was hat ihren Geist
ergriffen, um durch ihn die Welt so gänzlich
umzugestalten und diese umgestaltete Welt rück-
gewandt auf Geister und Seelen wirken zu lassen ?
Gibt es ein Zentralphänomen als Ursprung und
Achse dieser neuen Zeit und Welt, die, was man
auch von Wiederkehr der Dinge sagen mag,
schlechthin ohne Vorbild und Gleichung uns um-
gibt und beherrscht ? Die Erkenntnis dieser Ur-
kraft und ihres Wirkens würde uns Wesen und
Zusammenhang der Moderne, von scheinbarer
Selbstverständlichkeit losgelöst, objektiv fühlbar
machen, aus dem Übermaß der Erscheinungen das
Notwendige vom Zufälligen sondern und am
Ende gar eine Vorstellung von der Richtung der
Entwicklung gewähren. Und selbst ein Irrtum im
Zielen auf die Grunderscheinungen wird nicht un-
ter allen Umständen wertlos sein, wie denn ein
erster Schuß, auch wenn er fehlt, dem Geschütz-
führer Anhalt für Richtung und Distanz vermittelt.
20
VERSUCHTE LÖSUNGEN
Wer sich in eine kontinuierliche Erscheinung
vertieft in dem Bestreben, ihre Variationen
;j:auf irgendeine Gesetzmäßigkeit aufzureihen, das
iieißt, sie als Funktion einer einfacheren oder be-
'|"iinnteren zeitlichen Erscheinung festzulegen, der
|;^:ommt leicht in Gefahr, Kontinuität und Kausa-
ität zu verwechseln, indem die einzelnen Phasen
eils ihrer mählichen Übergänge wegen, teils in-
folge eines Kontrastes sich wechselseitig zu er-
^f engen scheinen, während sie in Wahrheit der
||Centralbewegung einer unbekannten dritten Kraft
;i|Dlgen. Ein banales Beispiel mag diese Erwägung
it is zu einem gewissen Punkt erläutern. Hat der
i-||Vind eine Zeitlang von Süden her geblasen, dann
II on Südwesten und jetzt von Westen, so werden
iSaanche sagen: Dies war vorauszusehen; es liegt
tl'ben eine nach Westen drehende Tendenz des
riSVindes vor. Ist er statt dessen von Süden nach
p^Iordosten gegangen, so wird man hören, dies
)^n die Folge eines notwendigen und üblichen Kon-
;äirastbestrebens. In beiden Fällen bleibt unbeach-
■1«-:. ".
>f et: warum hat die westdrehende Tendenz nicht
> .■ ? *
schließlich nach Nordwesten, Norden oder weiter
;eführt?, warum hat die Kontrasttendenz nicht
fe tatt nach Nordosten nach Nordwesten gezeigt ?,
chließlich : warum ist überhaupt, und gerade jetzt,
S jine Änderung vorgegangen ? Die Wahrheit ist, daß
; aicht in irgendeiner Tendenz der Windrichtung,
, sondern in dem Spiel der meteorischen Kräfte der
Urgrund dieser wechselnden Erscheinung, dem
registrierenden Gefühl unerkennbar, ruht.
^1
'■'>,i
Mit einer Verwechslung von Kontinuität mit
Kausalität wird häufig die Frage nach der Her-
kunft der Neuen Zeit beantwortet. Ihre Ur-
sache, so heißt es meistens, liegt im Verkehr.
Und woher kommt der Verkehr? Von der Ma-
schine. Und die Maschine? Von der Entwicke-
lung der Technik. Woher stammt die Technik?
Sie ist angewandte Wissenschaft. Wieso kam die
okzidentale Wissenschaft empor? Sie war das
revolutionierende Produkt der Scholastik. Und
so fort bis zu Adam und Eva.
Gewiß ist es verlockend, die tausendjährige
Entwickelung an die Kette der Geistesevolution
zu reihen, deren Glieder uns als lückenlose, un-
zerreißbare kausale Folge erscheinen. Aber wie
bedenklich wäre es, auch nur die Geschichte eines
menschlichen Lebenstages oder eines ganzen Le-
benslaufes an die Kette einer Gedankenfolge
reihen zu wollen! Noch schwerer wäre die innere
Kausalität dieser Gedankenfolge selbst glaubhaft
zu machen, und es würde für die Haltbarkeit der
Reihe wenig gewonnen, wenn man sich auf den
allgemeinen Ursprung als Emanation einer Per-
sönlichkeit beschränkte.
Gewiß ist es eine schöne Aufgabe, darzustellen,
wie ein jugendliches Heidentum in gläubige My-
stik, in dürre Scholastik sich verwandelt; wie aus
dem sterbenden Reis die Forschung, das freie
Denken und die Wissenschaft hervorsprießt; wie
diese in zweckhafter Verzweigung die Technik
abspaltet — ; gewiß mußte es so sein, denn es
ist; aber warum mußte es gerade so sein und nicht
anders ? Die Griechen hatten Mystik, aber keine
22
Scholastik; sie hatten Wissenschaft, aber keine
Technik; die Juden hatten Scholastik, aber keine
Forschung; die Römer hatten freies Denken,
Technik, aber keine Wissenschaft; die Ägypter
und Chinesen hatten Technik, aber weder freies
Denken noch Forschung noch innerliche Mystik.
Somit sind Geistesevolutionen denkbar, die von
verschiedenartigen Ausgängen zu gleichen Ergeb-
nissen, und wiederum solche, die zu verschieden-
artigen Ergebnissen bei gleichem Ausgang ge-
langen, und deshalb bietet die scheinbar so feste
Kette keinen genügenden Halt, um den eisernen
Weg der Völkerentwickelung zu tragen.
Glücklicher scheint der Versuch, den Neuere
gemacht haben: die Wandlung Germaniens in
ein prussianisiertes Weltreich — und gleich-
zeitig die Parallelgestaltungen aller westlichen
Länder — als Funktion wirtschaftlicher Vorgänge
aufzufassen, und zwar sie an den Übergang von
der Individualwirtschaft zur Universalwirtschaft
die man Kapitalismus nennt, zu ketten. Nur selt-
sam, daß sie es sich nicht angelegen sein ließen,
das letzte Agens, das die Wirtschaftsverschiebung
verschuldet, ans Licht zu ziehen, obwohl es mit
Händen zu greifen war: die Volksvermehrung;
die ungeheuerste, proportional und absolut ge-
waltigste Volksvermehrung seit Anbeginn men-
schenkundiger Zeiten. Man zog es vor, zu eigen-
artigen Hypothesen Zuflucht zu nehmen; so
schuf man ein besonderes Naturgesetz, wonach
die Menschheit das Bestreben habe, zwischen Be-
gierde und Genuß möglichst viele Stadien zu
schalten: nicht sehr überzeugend zwar, doch gut
23
zu paß; wie es denn von alters her stets ein Vor-
recht der Erklärer war, ein factum durch eine
facultas zu erleuchten.
Wie eng die wirtschaftliche Evolution mit der
Volksvermehrung sich verknüpft, ist evident. Ein-
zelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nach-
barlosigkeit. Gesamtwirtschaft bedeutet enge
Berührung, Zusammenschluß. Einzelwirtschaft
kann nur aus dem vollen schöpfen, ohne Rück-
sicht, wie viel, wie wenig übrig bleibt. Gesamt-
wirtschaft lebt von Ersparnis; Ersparnis an Zeit,
Kraft, Material, Lagerverlust, Reibungsverlust.
Gesamtwirtschaft ist noch heute ebenso undenk-
bar bei spärlicher Bevölkerung, wie Einzelwirt-
schaft bei großer Dichte. Gesamtwirtschaft muß
daher mit Naturnotwendigkeit eintreten, sobald
eine gewisse Verdichtung stattgefunden hat.
Wenn trotz dieses offensichtlichen Zusammen-
hangs die Vertreter der wirtschaftlichen Auffassung
nicht gewagt haben, die Volkszunahme schlecht-
hin als Evolvente zu wählen, so läßt sich eine Er-
wägung anführen, die dies Zögern zu rechtfer-
tigen scheint.
Denn immer wieder tritt bei Aufgaben, die
sich auf Massenphänomene beziehen — mögen
nun Flüssigkeitsbewegungen, oder thermische Er-
scheinungen oder lebendige Komplexe der Be-
trachtung dienen — die Erfahrung hervor, daß
jede kleinste Verschiebung durch die benachbarte
bedingt und modifiziert ist; keine Kraft wirkt
losgelöst und ungehindert; daher denn auch im
vorliegenden Fall nicht bestritten werden kann,
daß rückwirkend bis zu einem gewissen Grade die
wirtschaftliche Entwicklung und der ihr folgende
Wohlstand auf die Volksvermehrung habe ein-
wirken können. Es konnte am Ende gar der Zwei-
fel entstehen : ob nicht überhaupt das Phänomen
umgekehrt aufgebaut sei: zuerst Wirtschaftsum-
schwung, dann Volksverdichtung. Dies wäre frei-
lich nicht viel anders, als wenn jemand den Satz
„Volksansammlungen veranlassen Verkehrsstö-
rungen" grundsätzlich umkehren wollte, weil un-
bestreitbar Verkehrsstörungen auch schon manch-
mal Aufläufe hervorgerufen haben.
Mit besserem Recht könnte man geltend machen,
hier werde nur ein Rätsel durch ein anderes ver-
drängt: denn wie in aller Welt sei eine Volks-
verdichtung erklärlich, die allen Seuchen und
Kriegen des Mittelalters und der neueren Zeit
standgehalten, und von der Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts an die gewaltigsten Menschenkon-
zentrationen erzeugt habe, die je von europäischem
Boden ertragen wurden?
Um dieser seltsamen Frage zu begegnen, wird
es nötig sein, nochmals einige Schritte zurück-
zutreten und von neuem auszuholen.
GESCHICHTETE VÖLKER
In seltsamem Doppelsinn deutet das Wort „Ge-
schichte" — das von geschehen kommt —
auf das Geheimnis, daß nur geschichtete Völker
Historie machen und erleben. Einschichtige Völ-
ker, das heißt solche, die aus einheitlich ent-
stammten oder gut zusammengekochten Rasse-
^5
dementen bestehen, zeigen, von den Ägyptern
bis zu den Chinesen, im Stande der Zivilisation
das gleiche Bild: Abgeschlossenheit und Konser-
vatismus, lange Dynastienreihen von wesentlich
identischer Physiognomie, langsam-stetige tech-
nische Entwickelung, die aber keinen Aufstieg zu
einer idealen Kultur bedeutet, vielmehr in Geist
und Kunst eine allmähliche Verflachung und Ver-
nüchterung erlebt, indem die lebendige Kraft des
einstmaligen, vorzeitlichen Impulses sich nach und
nach aufbraucht.
Eine Geschichte hingegen, das Werden und Ver-
gehen politischer Formen, geistiger Ziele^ Erleb-
nisse und Träume, Wechsel von leidenschaft-
lichen, friedlichen und tätigen Epochen, Aufstieg,
Expansion und Niedergang, kurz Das, was im Le-
ben des Einzelnen dem freien, heroischen und tra-
gischen Schicksal entspricht: eine Geschichte ist
nur denjenigen Gemeinwesen beschieden worden,
die von einer Oberschicht beherrscht, von einer
stammverschiedenen Unterschicht getragen wa-
ren. Solche Zweischichtigkeit prägt sich mit Ent-
schiedenheit aus im Bestehen von Aristokratien;
daß alle Kultur dieser Erde von aristokratischen
Organisationen ausgegangen ist, bezeugen Indien,
Griechenland und Rom, Florenz und Venedig,
England und die Niederlande, Frankreich und
Deutschland. Selbst im fernen Osten muß den
Japanern die Führung und Verantwortung zu-
fallen, weil ihr Feudalsystem die Reste alter
Zweischichtigkeit am Leben erhält.
Diese Schöpferkraft des Zwiespalts entspricht
einem einfachen Gesetze. Wir können uns keiner
26
Vorstellung bewußt werden, als durch den Gegen-
satz, die Polarität. Wer die See kennt, begreift
das Binnenland, wer die Fremde kennt, begreift
die Heimat, wer seinen Nächsten kennt, begreift
sich selbst, soweit denn ein Begreifen uns beschie-
den ist. Ein rechtes Volk aber erblickt in seinen
Nachbarn den Spiegel nicht; sie sind ihm zu
fem, zu fremd und zu verhaßt. Den Spiegel er-
blickt es im fremden Landesgenossen, und bei
diesem Anblick wird es sich seiner selbst bewußt.
Es beginnt die feinere Scheidung und Erkenntnis
der physischen, sittlichen und geistigen Gegen-
sätze, eine Selbsterkenntnis, Kritik und Wertung
tritt ein, und mit diesen ersteht ein Ideal. Zu-
gleich brechen die schönsten Kräfte menschlicher
Gegensätze und Pflichten hervor: der Obere
herrscht, leitet, verantwortet und schützt, der
Untere gehorcht, leistet, dient und strebt. Der
Obere erzieht sich zur Gesinnung und Freiheit,
der Untere zur Ausdauer und Fertigkeit. Daß
solche Arbeitsteilung Großes hervorzubringen be-
stimmt ist, zeigt jede bewußte Organisation bis in
die jüngste Zeit.
Nun ereignet sich aber in diesen zweischich-
tigen Volks wesen jeweils etwas Wunderbares, in
einem jeden zu seiner 2^it und ein einziges Mal:
die beiden Schichten, einst wie Ol und Wasser ge-
trennt, beginnen sich zu lösen, die Kontraste ver-
fließen (die Unteren sagen: die Vorurteile), ein
näheres Erkennen, ein engeres Zusammenwirken
tritt ein. Noch hat die Oberschicht soviel Recht
und Geltung, daß ihre reineren und freieren Ide-
ale den Geist der Gesamtheit beherrschen, noch
27
hat die Unterschicht soviel Glauben und Respekt,
daß sie ihr Können, ihr traditionelles Handwerk,
ihre Kunstfertigkeit in den Dienst dieser Ideale
stellt. Die Kunstwerke solcher Epochen sind die
edelsten Zeugnisse des irdischen Geistes ; vor Zei-
ten nannte man sie hohen Stils, heute werden sie
als archaisch oder primitiv verehrt.
Sodann beschleunigt sich der Vorgang, dem
Phänomen vergleichbar, wenn zwei Flüssigkeiten
hoher chemischer Affinität durch Mischung in
Reaktion treten. Es lösen sich die lang verhaltenen
Energien in einer Epoche heißen Aufschäumens
und leidenschaftlicher Lebenssteigerung. Jetzt
steigen die Befähigten der Oberschicht aus der
Herrschersphäre hinab in die Schar der Ausüben-
den; jetzt steigen die Bedeutenden der Unter-
schicht auf in die Zahl der Bestimmenden; ihre
innersten Geheimnisse rufen die beiden Stämme
freudig und rückhaltlos einander zu ; jede Wahr-
heit hat Geltung, jeder Gedanke findet Hörer, man
erlebt das Ungeheure und erwartet das Un-
mögliche. In solchen Zeiten ersteht der Kunst
aus der Mischung der Freiheit und des Ausdrucks
die Blüte, die wir aus der 2^it des Phidias und des
Lionardo kennen.
Noch lange bleiben die Elemente in Bewegung,
aber das Phänomen ist vollbracht, die Mischung
ist geschehen. Die Unteren waren die Zahlreiche-
ren, und so trägt das Magma ihre Färbung. Meist
haben sie der Staatsform ihren Stempel aufge-
drückt, zum mindesten herrschen sie faktisch.
Die transzendenten Ideale der alten Führer sind
gefallen, an ihre Stelle tritt die freie Konkurrenz
2S
um den Geschmack der Menge. Dieser Geschmack
aber ist geistig Skeptizismus, Negation, Aberglaube
und Rationalismus, künstlerisch Materialismus,
Deklamation und Ekstase. Einer Epoche dieser
Art hat man die Bezeichnung des „Barock" ge-
geben, ein Name, den man füglich auf die Parallel-
epochen anwenden könnte, so daß bei allen Kul-
turzeitaltern von einer archaischen, einer kul-
minierenden und einer Barockperiode kurz und
verständlich gesprochen werden könnte.
Mit dem Abschluß dieser dritten Etappe tritt
die Beruhigung ein, und zwar für immer, sofern
nicht neue Eroberer neue Oberschichten schaffen
und den Kreisprozeß von neuem vorbereiten. Ge-
schieht dies nicht, so bleiben die Affinitäten ge-
sättigt, die freien Energien sind verpufft, und die
ausgebrannten Völker bleiben wie tote Schlacken
am Wege liegen. So sind aus Dorern und Attikern
innerhalb weniger Generationen die Graeculi der
Römer geworden, so aus den Römern selbst
römische Italiener.
Im Gegensatz zu diesen Erscheinungen der Ver-
mischung bleiben einschichtige Völker sich selbst
ihr Leben lang gleich, wie die Nationen Asiens
beweisen. Technische Erfindungen mögen ihr
äußeres Dasein bewegen; ihr Geist, ihr Wille
und ihre Seele bleiben, wie sie waren, und kaum
merklich ändern sich die Exponenten des inneren
Lebens : Religion und Kunst, Schrift und Sprache.
Hier sei eine Anmerkung gestattet:
Bei der großen Aufmerksamkeit, die unsere Zeit
dem Wesen, der Geschichte und dem Austausch
der Sprachen zuwendet, scheint es seltsam,
29
daß man sich um das eigentlich Physiologische
ihrer Entwicklung wenig kümmert. Daß und
wie die Sprachen sich umgestalten, wissen wir;
aber wie kommt es, daß die eine sich jahrhun-
dertelanger Ruhe erfreut, die andere in stetem
Wechsel sich bewegt, die dritte im Laufe knapper
Jahrhunderte von Grund auf sich erneut? Be-
trachtet man die Sprache als einen Teil der gei-
stigen und körperhchen Physiognomie, so hegt die
Erklärung nahe. Nur gleichbleibende Individuen
können gleichbleibend sprechen. Veränderte Denk-
weise und veränderte Muskulatur muß veränderten
Sprachausdruck schaffen ; wie denn ein Jeder beim
Erlernen bemerkt, daß es einer zwangsweisen körper-
lichen und geistigen Nachahmung bedarf, um neuer
Rede sich anzupassen. Starke Persönlichkeiten
sind nur in früher Jugend biegsam genug, dieser
doppelten Schauspielerei sich zu bequemen ; über-
triebene polyglotte Befähigung hat bei Älteren
etwas Prostitutionsmäßiges. Sollen ganze Völker
ihre Sprache ändern, so muß in ihrer physischen
Beschaffenheit eine Änderung vorgegangen sein;
und es wird vielleicht einstmals in der beschleu-
nigten Variation der Sprache das feinste und zu-
verlässigste Reagens auf den Zutritt neuen Blutes
gefunden werden.
Damit die Doppelschichtung eines Volkes ihre
natürliche Wirkung ausübe, ist keineswegs er-
forderlich, daß eine äußerHch erkennbare Tren-
nungsfläche die entgegengesetzten Massen schei-
det, noch gar, daß jeder Volksgenosse sich seiner
Rolle als oberes oder unteres Glied klar be-
wußt sei. Voraussetzung ist lediglich, daß die
30
Oberen den Geist und Willen der Gesamtheit be-
stimmen und leiten; so wie etwa zur republika-
nischen 2^it die Römer echten Blutes das intellek-
tuelle Leben der anonymen Italiker und Einge-
wanderten derart beherrschten, daß die winzige
Zahl der Herren einem Weltreich und einer Welt-
epoche Stimmung und Namen aufzwingen konnte.
Ebensowenig darf man verlangen, daß der attische
Plebeier, der das Handwerk des Steinmetzen übte,
bei jedem Meißelschlag zu jenem blonden Patri-
ziersohn aufblickte, der ihm sein Götterbild be-
stellte. Es genügte, daß Geist und Geschmack des
Adels das Zeitalter erfüllte und den Bildner zwang,
die menschliche Gestalt unter der Form des gött-
lichen Ideals zu erblicken; denselben Bildner,
dessen Vorfahren und Nachkommen, von der Kon-
trolle befreit, weit lieber Monstren, Süßlichkeiten
und Karikaturen schufen.
Umgekehrt wird man sich hüten müssen, in
unklarer Verallgemeinerung eine historisch wirk-
same Schichtung überall da zu erblicken^ wo eine
Abstufung auftritt. Dann freilich gibt es in jeder
Volksgemeinschaft Starke und Schwache, Reiche
und Arme, Geschützte und Hilflose. Aber diese
Gruppen stehen einander nicht als Rassen und
Völker gegenüber; indem sie auf- und nieder-
tauchen wie die Flüssigkeitsteile eines Wellen-
zuges, können sie wohl im Zustande der Erhebung
eine etwas veränderte geistige Temperatur oder
Färbung gewinnen und den Tiefen mitteilen;
Wechselwirkung und Austausch spezifischer Eigen-
schaften und Kräfte zu vermitteln, vermögen sie
nicht.
Si
DIE AUFZEHRUNG DER OBERSCHICHT
Noch heute sind die Länder des mittleren
Europa nicht von durchweg einschichtigen
Völkern bewohnt. Die Herrscherhäuser deutscher
Zunge und ihre Gefolgschaften entstammen einer
Oberschicht, die sich bei Strafe des Verlustes edels-
ter Rechte mit fremdem Blute niemals mischen
darf. Die Heere als Träger und Garanten der Nati-
onalmacht nach außen, der Herrschermacht nach
innen, gehorchen adligen Führern. Die Geschäfts-
führung deutscher Staaten* und ihre Repräsentanz
geschieht durch Zugehörige der oberen Schicht,
nicht minder die höchste Leitung der Regierung
und der größere Teil ihrer Exekutive. Ja selbst
die Gesetzgebung kann der Sanktion und des
Vetos einer Herrenkurie nicht entbehren. Der
Geschichtschreiber später Zeiten wird vor einem
Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwär-
tigen sucht, wie unsere Zeit mit den äußeren
Organen ihres Geistes demokratisch zu fühlen
glaubte, während das Wollen ihrer inneren Seele
den Aristokratismus noch immer duldete und zu
erhalten strebte.
Freilich ist seit den letzten Jahrhunderten Adel
nicht mehr reines Abzeichen edleren Blutes ; den-
noch zieht er seine stärksten Kräfte aus dem Stamm-
haften: Gesinnung und Physis. Wer ein preußi-
sches Regiment defilieren sah, und die Gestalten
der Truppe mit denen der Führer verglich, der
hat, wenn anders sein Auge für Betrachtung or-
ganischer Wesen geschärft ist, den Gegensatz
zweier Rassen erkannt: gleichzeitig aber hat er
32
ein sichtbares Symbol und Abbild der Gliederung
unseres Volkes erblickt.
Weist somit unsere Zeit, bei allem offenkundigen
Hang zum Demokratischen, noch immer sicht-
bare Spuren der Doppelschichtung auf, so können
wir uns den Beginn unserer Geschichte nicht anders
als im Charakter ausgesprochener Zweiheit der
Bevölkerung denken.
Vom ganzen ostelbischen Deutschland wissen*
wir, daß es zu geschichtlich bekannten Zeiten
durch Eroberung und Kolonisation als doppel-
schichtiges Volksgebilde entstand. * Die Sieger
waren Germanen, die Besiegten Slawen, das Er-
eignis geschah vom zwölften bis ins vierzehnte
Jahrhundert. Auf welchen Unterschichten be-
siegter Urbevölkerungen das übrige Deutschland
ruhte, als es mit seiner aristokratischen Gliede-
rung von Freien, Halbfreien und Hörigen in
die Geschichte eintrat, ist unbekannt; doch
ahnen wir aus frühen Sagen und späteren Dar-
stellungen manches vom Wesen der Unterwor-
fenen. Dunkelhaarig war der Knechtsbruder des
freigeborenen Knaben. Handfertigkeit, schlaue
Künste und feiger Sinn ist das Erbteil der Dunkel-
wesen. Sie sind klein von Gestalt; ihr Haar ist
kurz und kraus; deshalb muß der Freie in al-
len Ländern das blonde Haupthaar lang und
schlicht um den Scheitel wallen lassen. Bis in die
neuere Zeit hinein zeigen die älteren bildlichen
Darstellungen von Bauern, Hörigen und Verbre-
chern die gleichen Züge: runde Schädel, breite
Gesichter, kurzaufgestülpte Nasen, kurze, ge-
drungene Glieder. Daß hier nicht Merkmale des
s 33
Berufes, sondern des Stammes dargestellt werden
sollten, beweisen die germanischen Gebiete des
Nordens, wo Jahrhunderte bäuerlicher Arbeit den
feingegliederten, schlanken und edlen Schlag nicht
verwandeln konnten.
Indem nun jeder der südwestlich gerichteten
Germanenströme die dunkleren Urvölker über-
deckte, und zwar mit einer Schicht, die um
80 schwächer, je weiter sie von der Einbruchs-
region entfernt war, so mußte denn auch die Auf-
zehrung in verschiedener Geschwindigkeit und
verschiedener Vollkommenheit erfolgen : die süd-
westlichen Halbinseln Europas, verglichen mit der
nordöstlichen, zeigen heute die entschiedenen
Kontraste dunkler und heller Bevölkerung.
Versucht man, sich die Bilanz der Kräfte
zu vergegenwärtigen, denen im Laufe der euro-
päischen Geschichte die beiden Elemente des
Volkes, vornehmlich in Deutschland, ausgesetzt
waren, so treten folgende Tendenzen hervor:
I. Bezüglich der Herrschaft. Sie war von den
Eroberern mit Gewalt gewonnen und wurde zu-
nächst mit Gewalt behauptet; solange, bis sie ver-
fassungsmäßige, soziale oder plutokratische Gel-
tung erlangt hatte. Dann aber mußte die Erhal-
tung der Herrschaft den Mächten der Ordnung
anheimgegeben werden; Gewaltakte waren nur
noch statthaft bei der Bekämpfung Aufständischer
und Ungläubiger, denn die beiden großen Erb-
teile des Ostens, Kaisertum und Kirche, wirkten
im Sinne der Zivilisation. So blieb das Herr-
schaftsverhältnis im Innersten ungefestigt und
unverteidigt, mußte zerbröckeln wie jeder Bau,
54
den man nicht pflegt und erneuert, sondern seiner
eigenen Festigkeit überlassen zu können glaubt.
2. Bezüglich der Herrschenden. Aus Waldland
waren sie hervorgetreten, jagd- und waffengeübt,
unbekannt mit verfeinerten Bedürfnissen, unge-
wohnt der Arbeit und des Zusammenlebens. In
nicht unähnlicher Lage, wenn auch um vieles
tiefer stehend, erblickte man vor einem Menschen-
alter die edleren Stämme des mittleren Afrika, die
seither ihrer Natur entrissen, zum Teil vernichtet
sind.
In wenigen Jahrhunderten lichtet sich das Land.
Die Jagdgründe wichen zurück, der Zwang des
Glaubens, des Lernens, des Erwerbes, des häus-
lichen und gedrängten Lebens trat heran. Die
Frage war : wie wird dies Waldvolk bestehen und
gedeihen in steinernen Häusern, bei fremdartiger
Nahrung, tagsüber dicht bekleidet, des Nachts in
heißen Betten, im Leben von neuen Bildern, Ge-
danken und Pflichten umgeben und beherrscht?
Die Sehnsucht des Mittelalters blieb der schwin-
dende Wald. Und wenn die heitere Schwermut
dieser Zeit zu maniakalischen Ausbrüchen der
Schwärmerei, zu Vorstellungen des Verfolgungs-
wahns sich verdüsterte, so wurden die Wirr-
nisse einer Volksseele offenbar, die ihre Heimat
verloren hatte. Kriegszüge und Fehden hielten
ununterbrochen ihre Auslese der Vernichtung
unter den Besten, indes der Leib des Volkes
von periodischen Seuchen erschüttert wurde,
deren Verheerungen nicht ihresgleichen gefunden
haben. So wirkten veränderte Bedingungen des
Bodens und IQimas, neubegründete Lebens-
s^ 35
weise, Krieg und Pestilenz auf das doppel-
schichtige Volksgebilde ein; symmetrisch, Gleich-
gewicht erhaltend zwischen beiden so verschieden
gearteten Organismen, konnten diese Kräfte sich
nicht erzeigen: und wenn die eine Schale sinken,
die andere steigen mußte, so war der herrschende
Stamm, der reicher, feiner organisierte, kriege-
rische und abenteuerUche, bestimmt, schwerer
unter den neuen Lebensformen zu leiden, die
seiner Natur feindseUger waren, als der Natur
seiner Knechte. Auch darf hier nicht unter-
schätzt werden, daß eine Religion des Friedens,
der Feindesliebe, der Demut, mit instinktiver
Abneigung begrüßt, mit Gewalt aufgezwungen,
zwar zur Milderung der Sitten führen, gleich-
zeitig aber die Niederen erhöhen, die Hohen
erniedern mußte.
3. Bezüglich der Beherrschten. Ihr sklavisches
Schicksal konnte sich nur mildern; die Stärken
der Knechtschaft blieben ihnen erhalten. Zähig-
keit und Anpassung, Schlauheit und Voraus-
sicht sind die Eigenschaften aller Schwachen,
Unterdrückbaren und Unterdrückten; tritt Be-
sitz hinzu oder ein anderer Hebel der Macht, so
materialisieren sich diese Eigenschaften zu ge-
waltigen Kräften. Fruchtbarkeit und Vermeh-
rung, bei hochstehenden Stämmen sich selbst das
Maß setzend, finden hier Beschränkung nur durch
Not und SterbUchkeit, so daß sie, wie gespannter
Kesseldampf sich schrankenlos ergießen, sobald
das hemmende Gewicht beseitigt ist. So sehen
wir heute im preußischen Osten das Bild einer
Unterschicht, die ihr Gegengewicht überwunden
36
hat und nun in rastloser Ausdehnung den Raum
des Landes zu erfüllen trachtet.
Dem Wachstum kommt die Bildsamkeit und Ak-
kommodation zustatten, die abhängigen Menschen-
schlägen eigen ist. Denn da sie ihre Lebens-
bedingungen nicht selbst schaffen, vielmehr von
Anderen empfangen, so ist ihre Natur, einmal
elastisch gemacht, allen späteren Änderungen der
leiblichen und geistigen Umwelt widerstehend.
Das Beispiel der Juden bestätigt dies, und noch
ein weiteres: daß die Gewohnheit rastloser und
zwangläufiger Arbeit allmählich den Arbeitsdrang
als neue Notwendigkeit schafft, und um ihn zu
rechtfertigen, Zwecke hinzuerfindet; ähnlich wie
der Traum des Erwachenden nachträglich ein
Erlebnis erdichtet, um das erweckende Geräusch
sinnmäßig zu assimilieren. Arbeitstrieb, Fertig-
keit und die ängstliche Vorsicht bedrückter Men-
schen gehen aber eine Verbindung ein, die als
Vorläufer des Erwerbs- und Geschäftssinns auf
eine der stärksten Waffen im Rassenkampf hinaus-
läuft.
Auch die gewaltigen Landerschließungen des
Mittelalters durch Roden und Urbarmachen konn-
ten, so seltsam es scheint, nur die Unterschicht
der Bevölkerung stärken und erweitern. Denn
die Territorialbesitzer, die von jeher in ihrer Sub-
sistenz gesichert und daher in ihrer Expansion
ungehindert sich fühlten, konnten durch die Er-
schließung ihrer Besitztümer höchstens bereichert
werden; für die Unterworfenen aber wurde Raum,
Nahrung, Tätigkeit und damit die Möglichkeit
der Ausbreitung gewonnen. Begann erst einmal
37
die Unterschicht, von ihrem gesindeartigen Zu-
stand befreit, sich Raum und Lebensmöglichkeiten
selbst zu schaffen, so mußte durch immer inten-
sivere Bearbeitung der Erdgüter die arme Natur
zu einer reichen, die dürftige Bevölkerung zu einer
behäbigen, die spärliche zu einer dichteren sich
entwickeln. Die Herren aber konnten die gleiten-
den Zügel nicht länger halten; zu Fürsten des
Landes konnten sie aufsteigen, Besitzer des Landes
und seiner Menschen höchstens dem Namen nach
bleiben. Die Bewohner des Landes indessen waren
ein neues Volk, das sich allmählich mit den Söhnen
und Töchtern seiner Herren vermischte.
So neigt sich die Kräftebilanz nach der Seite
der Unterdrückten, bei einer Betrachtungsweise,
die keinerlei Entwicklungsphasen und akziden-
telle Ereignisse vorausnimmt, die sich hütet,
geistige und technische Errungenschaften als
Ursachen anzusprechen, da sie ja ebensogut
Wirkungen und Mittel eines unbewußt wollen-
den Massengeistes sein könnten, die vielmehr
lediglich von eingeborenen und uranfänglichen
Prämissen auszugehen sich bestrebt.
Entschließt man sich nach diesen Erwägungen
zu der Annahme : in einem zweischichtigen Volke,
das durch fremde Kolonisation und Erschließung
des Landes in veränderte Lebensweise geraten war,
habe die Unterschicht von den Umwälzungen den
größeren Nutzen gezogen, sich rascher vermehrt
und allmählich einen großen Teil der Oberschicht
absorbiert, so verschmilzt diese Hypothese mit
der vorhin berührten Frage nach den Ursachen
der nachmittelalterlichen Volkszunahme zu einem
38
einheitlichen Theorem; und es wird evident, daß
das Gesamtphänomen nicht als eine sekundäre
Erscheinung, sondern als die dem ganzen neuzeit-
lichen Erscheinungskomplex zugrunde liegende
Ursache betrachtet werden muß. Tiefere Ur-
sachen können alsdann nur noch in den physisch-
psychischen Elementen gesucht werden, die als
ein Gegebenes gelten müssen. Dagegen werden
alle äußeren, also zeitgeschichtlichen Einwir-
kungen nur als beschleunigende oder verzögernde
Momente, alle inneren Einzelevolutionen — und
unter ihnen die Reihenfolge der Geistesrichtungen,
der vsdssenschaftlichen und technischen Errungen-
schaften — nur als Willensakte und Hilfsoperatio-
nen eines in bestimmter Richtung strebenden Ge-
samtorganismus zu betrachten sein. Und da in
letzter Linie Wille, Geist und Seele des Gesamt-
organismus erkennbar den Weg entscheiden,
unerkennbar zum Ziele treiben, so darf diese
Betrachtungsweise, obschon sie auf zählbar-sicht-
bare Elemente sich stützt, den Vorwurf materieller
Einseitigkeit ablehnen.
Aufgabe weiterer Erwägungen wird es sein,
nach Erledigung einiger Nebenfragen zu prüfen,
wieweit die neuzeitliche Weltgestaltung aus dem
geschilderten Phänomen: Verdichtung und Um-
lagerung, sich ableiten läßt.
Es soll jedoch schon jetzt ausgesprochen werden,
daß nach der hier vertretenen Auffassung die
Doppelerscheinung der Ursachen durch eine Dop-
pelerscheinung der Wirkung unserer Zeit den
Stempel aufprägt: die Verdichtung schafft sich
in der sichtbaren Welt ihre Kompensation, die
39
ich Mechanisierung nennen will, und die darauf
hinzielt, einem übervölkerten Planeten die Mög-
lichkeit der Subsistenz und Existenz ungeahnter
Menschenschwärme abzuzwingen; die Umlage-
rung spricht sich in der geistigen Verfassung un-
serer Völker als Entgermanisierung aus, die ein
neues, für die Aufgaben der Mechanisierung selt-
sam geeignetes Menschenmaterial erschaffen hat.
Indem nun der veränderte Volkskörper dem
Mechanisierungsdrang sein Bestes liefert: neu-
gierig forschende Geschlechter mit leidenschaft-
lichem Interesse für Tatsachen, Zusammenhänge
und Anwendungen; indem wiederum die Me-
chanisierung diesen Menschenschlag fördert durch
Assoziation, Organisation und Werkzeug, ver-
zweigen und verweben die Wirkungskomplexe sich so
mannigfach, daß man einer einheitlichen Erschei-
nung gegenüberzustehen glaubt, die gerade des-
wegen einzigartig und unerklärlich wirkt. Immer-
hin lassen sich die Geäste sondern, wenn man den
Zivilisationsstand der Mechanisierung und die
Geistesverfassung der Entgermanisierung losgelöst
voneinander betrachtet.
I. Anmerkung. Naturvorgang und Geschichte
Die geschichtlichen Evolutionen und Einzel-
leistungen verlieren nichts von ihrer Größe
und Schönheit, wenn sie im Rahmen dieser an-
scheinend physikalisch-geometrischen Entwicklung
betrachtet werden. Denn die Einreihung in ein
größeres und einfacheres Gesetz streift zwar von
heroischen Ereignissen einen Teil des Zufälligen
und Willkürlich-Freien ab, sie läßt es aber um
40
so mehr als ein Notwendiges und Zuverlässig-
Sicheres erkennen und stärkt unsere Zuversicht,
daß die Kraft der göttlich-menschlichen Natur
noch jederzeit ausreicht, um veränderten Bedin-
gungen zu entsprechen, notwendige Heilkräfte
zu produzieren und aus Bedrängnissen Mög-
lichkeiten höherer Entwickelung zu gewinnen.
Tatsächlich beherrscht den ganzen Kreis des uns
bekannten Lebens ein Gesetz, das sich in gleicher
Umfassung im Vegetabilischen wie im Anima-
lischen offenbart: das Gesetz der Ausnutzung
jeder gegebenen Lebensbedingung und der Er-
füllung jedes gegebenen Lebensraumes. So wie
ein Wasserstrom zerklüftetes Gestein durchdringt,
derart, daß jede Spalte und Ader sich mit Flüssig-
keit erfüllt, gleichviel, welchen verworrenen, kaum
auffindbaren Weg ein jeder Teil des Elements zu
nehmen hatte, so ergießt sich das Leben, immer-
fort verwandelt und umgestaltet, unerschöpflich
an Erfindungskraft, in jede Existenzmöglichkeit,
in jeden durch noch so komplexe Bedingungen
beschränkten Hohlraum. Dies schöpferische Ge-
setz wirkt früher als das der Selektion: denn um
unter geschaffenen Lebensorganisationen auszu-
wählen, müssen Lebensorganisationen geschaffen
sein; und die stündlich erneute Anpassungsarbeit
jedes fertigen Organismus zeigt, daß nicht Zufall,
noch das Gesetz großer Zahlen die Entwicklungs-
arbeit der Kreatur bestimmt, sondern ein erfinde-
rischer Lebenswille. Was nun, uns unbekannt, etwa
in den Geweben eines Pflanzenkörpers, sich voll-
zieht, der sich veränderter Bestrahlung, Tempe-
ratur, Nahrung oder Lebensgemeinschaft anzu-
41
passen gezwungen ist, das erblicken wir sinnlichen
und geistigen Auges, bis in die feinsten Einzel-
regungen zergliedert, in einer Volksgemeinschaft,
deren Anfangszustand gegeben, deren Endzustand
bestimmt ist. Sollte dieser Endzustand bezeichnet
sein durch den komplexen Begriff, den wir Me-
chanisierung genannt haben, so wird der Weg des
Geistes von der Naturbetrachtung zur Naturbe-
rechnung führen, der Weg der Wirtschaft vom Ein-
zelbetrieb zur Organisation, der Weg der Arbeit
vom Handwerk zur Technik, der Weg der Politik
vom Territorialbesitz zum Nationalstaat; und die
geschichtliche Betrachtung wird staunend ver-
zeichnen, wie an jeder Wegkreuzung, von den
tiefsten Mächten emporgesandt, ein genialer Geist
ersteht, um der Menge die Richtung ihres un-
bewußten Willens zu weisen, der sie zürnend fol-
gen muß.
Wird dies anerkannt, so bedarf es nicht mehr der
Frage, ob und wieweit die Forschung in den letz-
ten Jahrhunderten den Geist der Neuzeit be-
stimmt habe : wenn Kepler und Newton Himmels-
gesetze niederschrieben, so waren sie in sich nicht
minder frei und vom Genius getragen, indem sie
doch dem Willen zu neuen Produktions- und
Lebensgesetzen gehorchen mußten, der, um Tat-,
sächlichstes zu erzeugen, der Tatsache und ihrem
Gesetz neuartigen Wert verlieh.
2. Anmerkung. Der Anbruch der neuen Zeit
Versucht man, den Vorgang der Umlagerung
sich zu vergegenwärtigen, an den unsere Ge-
schichte sich aufreiht, so muß man auf die Vor-
42
Stellung verzichten, es könne der Rassenkampf im
wesentlichen unter dem sinnfälligen Bilde von
Aufständen, Revolutionen oder Verschwörungen
erblickt werden. Denn nicht einmal die Kämpfen-
den selbst waren sich des Kampfes bewußt. Die
einen verteidigten als Erben Rechte, Vorteile,
Ehren und Besitztümer, nach denen die anderen
als Erblose die Hände ausstreckten ; und da weder
Kämpfer noch Bekämpfte ihre, unseren Augen
doch so sichtbaren Rassenmerkmale deuteten,
vielmehr beide eines Landes, einer Sprache und
eines Glaubens waren, so erblickten sie ihre bald
ruhende, bald erwachende Feindschaft unter dem
Licht gegnerischer Interessen, ständischer Gegen-
sätze und erblicher Mißbräuche. Überdies sind
innere Rassenkämpfe reich an friedlichen Erobe-
rungen; denn das Ziel ist nicht Vernichtung,
sondern Assimilation und Vermischung. Jede
Mißehe, jede Deklassierung, jede Rangeserhöhung
ist ein Sieg und eine Niederlage.
Dennoch sind große Episoden des Gesamt-
kampfes auch der chronistischen Geschichtsbe-
trachtung erkennbar : das Ringen um freien Grund-
besitz, Vormacht der Kirche, Feudalrechte des
Adels, Herrschaft der Zünfte, evangelische Frei-
heit, Leibeigenschaft, Ablösung der Lasten, Ge-
werbefreiheit, Freizügigkeit; ja selbst die ersten
Kämpfe um die erbliche Macht des Kapitals sind
sichtbare Einzelkampagnen, zum Teil Nachge-
fechte des großen Rassenkrieges, dessen letzte
Entscheidung erst um die Wende des XVHI. Jahr-
hunderts fiel.
In dem Zeitalter, das etwa mit dem Leben
43
Goethes zusammenfällt, liegt die Schilderhebung
der Unterschicht des deutschen Volkes beschlossen.
Man vergleiche, was der Frankfurter Bürgersohn
im Werther und im ersten Teil des Meister über
die Beschränkung des Bürgerstandes schrieb, mit
dem, was sechzehn Jahre nach seinem Tode in
der Paulskirche seiner Vaterstadt gesprochen wurde :
zwischen diesen Zeitgrenzen liegt Deutschlands
Umschwung.
So konnte denn auch nach dem Gesetz der
Energiebefreiung, das zu Eingang beschrieben
wurde, dieser Zeitlauf eine Kulturepoche empor-
tragen, wie sie nie zuvor der Erde beschieden
war, und deren Glanz erst späte Geschlechter voll
erfassen werden. Sie offenbart, wie wenig die
Naturvorgänge des Völkerlebens von Konstella-
tionen der Zeitgeschichte sich meistern oder
unterdrücken lassen. Denn aus einer Periode
tiefsten politischen Niederganges bricht sie her-
vor — für rein historische Betrachtung ein un-
lösbares Rätsel — und schwindet mit dem Er-
starken des Wohlstandes, der Freiheit und der
Macht. Mit ihrem Höhepunkte können nur zwei
frühere Kulturepochen sich messen, die im Auf-
stieg der bildenden Künste sie übertreffen, in der
Vertiefung der Dichtkunst, der Musik, der wissen-
schaftlichen und philosophischen Forschung und
der politischen Einsicht sie nicht von fern er-
reichen: das Perikleische und das Leoninische
Zeitalter.
Sicher aber ist zu keiner früheren Zeit eine so
gewaltige Zahl ungewöhnlicher Menschen auf
engem Bezirk hervorgetreten , wie damals in
44
Deutschland und — auf anderen Gebieten, ent-
sprechend dem politisch gefärbten Umschwung —
in Frankreich. Die übrigen großen Kulturländer
hatten die Vollendung ihrer Umschichtungen weit
früher erlebt: Italien im XV. und XVI., Eng-
land und die Niederlande im XVI. und XVII.
Jahrhundert.
Seit jener großen Epoche aber, die als eine
gewaltige Morgendämmerung die Neue Zeit
emporführte, sind, wie das Gesetz es will, neue
geistige Faktoren in das Leben der Nation nicht
mehr eingetreten. Sprache, Gedanken, Politik
und Kunst haben nur noch im internationalen
Austausch wirkliche Bereicherung erfahren; im
übrigen sind sie trotz mancher Exzentrizitäten
einheitlicher, ja einförmiger in Rhythmus und
Kinetik geworden und haben sich damit den
Anforderungen der Neuen Zeit, ihren unauf-
hörlich wechselnden und dennoch innerlich
gleichbleibenden Aufgaben und Gegenständen
vollkommen angepaßt.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. I
Aufgabe, Begriff und Mittel
Gegeben ist die Quantität der menschlichen
Einzelleistung, gegeben die bewohnbare Erd-
oberfläche, gegeben, aber praktisch fast unerschöpf-
lich und nur an den menschlichen Arbeitseffekt
gebunden, ist die Menge der greifbaren Roh-
produkte, praktisch unermeßlich sind die ver-
45
wertbaren Naturkräfte. Aufgabe ist es nun, für
die zehnfach, hundertfach sich vermehrende weiße
Bevölkerung Nahrung und Gebrauchsgüter zu
schaffen.
Die Alten, in engerer Begrenzung und weiterer
Welt lebend, wußten sich leichten Rat : sie
sandten Kolonen in ein Nachbarland und schufen
sich Duplikate ihrer Vaterländlein. Auch in un-
serer Zeit sind Auswanderer zu Millionen aus
ihrer Heimat gedrängt worden; sie haben die
Bevölkerungsdichte fast aller für Weiße bewohn-
baren Länder auf ein nahezu europäisches Maß
gebracht, ohne daß die Volksvermehrung der alten
Welt um ein merkliches gehemmt worden wäre.
Anderen Rat , vielleicht den verruchtesten, der
je der Menschheit zugerufen wurde, gab Malthus :
die natürlichen Quellen des Lebens zu hemmen
und die Nachkommenschaft widernatürlich zu be-
schränken. Das einzige Land, das diesen Weg be-
schritten hat, Frankreich, ist im Begriffe, daran
zugrunde zu gehen.
So blieb den alten Völkern nur eines übrig: zu
gänzlich neuen Gewohnheiten und Gesetzen des
Lebens und Schaffens überzugehen, zu dem
Zweck, die irdische Produktion auf das gewaltigste
zu vermehren und sie der Milliardenzahl der
Menschheit anzupassen.
Dies war nur auf einem Wege möglich: wenn
der Effekt der menschlichen Arbeit um ein viel-
faches gesteigert und gleichzeitig ihr Emanat,
das produzierte Gut, auf das vollkommenste aus-
genutzt werden konnte. Erhöhung der Produk-
tion unter Ersparnis an Arbeit und Material ist
46
die Formel, die der Mechanisierung der Welt
zugrunde liegt.
Um die Steigerung des Arbeitseffektes zu wür-
digen, wolle man erwägen, daß alles zweck-
bestimmte Handeln und Geschehen nur zu einem
Teil dem Zwecke dient. Ein anderer Teil — in
der Regel weitaus der größere — , sei er vorberei-
tender, begleitender, schützender oder unge-
wollter Art, dient dem Zweck nur mittelbar oder
überhaupt nicht, und schädigt so den Effekt.
Ein Analoges gilt von den Beimengungen, Spal-
tungsprodukten, Abgängen der Materie. Nun ist
es einleuchtend, daß viele dieser Effektverluste
nur von der Handlung selbst, nicht von ihrem
Umfange abhängen, daher mit wachsender Lei-
stung an Bedeutung verlieren. Wenn ich einen
Brief zur Post trage, kostet dieser Brief mich fünf
Arbeitsminuten ; trage ich sechzig Briefe auf ein-
mal zur Post, so kostet mich jeder fünf Arbeits-
sekunden. Ja, ich kann es ermöglichen, den ge-
samten Briefverkehr einer Kleinstadt zu bewäl-
tigen, wenn ich mich als Briefträger den ganzen
Tag über ausschließlich dieser Aufgabe widme.
Verbrauche ich einen Zentner Kohlen, um einen
Dampfkessel anzuheizen, so bleibt der Verlust
der gleiche, ob ich nun den Kessel fünf oder zehn
Stunden im Betrieb halte ; bei ununterbrochenem
Betriebe aber würde der Anheizverlust jede Be-
deutung verlieren.
Es besteht also die Möglichkeit, den Effekt von
Vorgängen und die Ausnutzung von Materialien
erheblich zu verbessern, indem man Gelegenheit
für möglichst große Mengen gleichartiger und ein-
47
fachet Nutzhandlungen sammelt, um dieselben kon-
tinuierlich auszuüben — dies ist die Arbeitsteilung,
auf der die alte Methode der Manufaktur beruht — ,
oder indem man den Einzelvorgang in seinem Kraf t-
und Massenumf ang steigert, ein Verfahren, das man
Arbeitshäufung nennen und als die Grundlage der
modernen Fabrikation ansprechen könnte.
Die Hilfsmittel dieser doppelten Praxis der
Effektsteigerung sind Organisation und Technik.
Organisation, indem sie Produktion und Ver-
brauch durch Unterteilung, Vereinigung und Ver-
zweigung in die gewollten mechanischen Bahnen
lenkt, Technik, indem sie die Naturkräfte bän-
digt und sie bald in gewaltigen Massenbewegungen,
bald in chemischen Attacken, bald in elektrischen
Vibrationen, bald in mechanisch kunstfertigen
Handgriffen den neuen Produktions- und Ver-
kehrsorganisationen ausliefert.
Daß somit nicht die Technik oder der Verkehr
Ursache der Mechanisierung und somit der neu-
zeitlichen Lebensverfassung sein konnte, viel-
mehr die Volksverdichtung zur Mechanisierung
drängte, die ihrerseits neue Hilfsmittel verlangte
und schuf, darf in Parenthese nochmals ausge-
sprochen werden. Diesen Zusammenhang ver-
kennen hieße nichts anderes, als etwa behaupten:
die Eisenbahn habe den Großverkehr oder das
Zündnadelgewehr habe den Massenkrieg geschaf-
fen. In Wirklichkeit schafft der Wille zum Ver-
kehr sich seinen Weg, der Wille zum Massenkrieg
sich sein Geschütz; das Werkzeug ermöglicht das
Werk, doch bleibt es selbst ein Geschöpf des
auf das Werk gerichteten Willens.
48
Den Ursprung der Mechanisierung aus der
Verdichtung, ihre Anfänge, ihren Verlauf und
ihre Welteroberung historisch zu schildern, ist
Aufgabe späterer Geschichtschreibung. Hier seien
in kürzesten Zügen nur einige Etappen verzeich-
net; denn die Absicht dieser Darstellung richtet
sich dahin, nicht sowohl den Vorgang als die Wir-
kungen der Verdichtung und Umschichtung, der
Mechanisierung und Entgermanisierung auf die
Welt, die Menschen und das Leben unserer Zeit
zu erörtern.
Mit dem ersten Tausch, der auf Erden statt-
fand, war die Einzelwirtschaft durchbrochen und
zwei neue Begriffe geschaffen: des Tauschvor-
rates und der Spezialisierung. Je dichter nun
die angehenden Spezialisten aneinander heran-
rückten, je häufiger sie sich begegneten, desto
mehr konnten sie sich auf die wechselseitigen Vor-
räte verlassen. Zuletzt konnte der eine die Er-
zeugung dessen einstellen, was der andere be-
saß : er konnte Korn gegen Vieh, Vieh gegen Erz
tauschen. Verdichtete sich die Bevölkerung aber-
mals, so lernte man neue Gegenstände kennen;
es lohnte sich, reich zu sein : aus dem Vorrat wurde
Kapital. Der Spezialist wurde gesucht, er fand
Aufträge; aus Anlage und Kenntnis entstand der
Beruf.
Nun war man aufeinander angewiesen; die
Begehrlichkeit der Weiber, die Freigebigkeit der
Männer mag das ihre beigetragen haben: man
tauschte und handelte, betrieb Wirtschaft und
Handwerk; die Anfänge der reziproken Güter-
erzeugung waren gegeben. Aber noch konnte ein
4 ¥i
Mürrischer oder Selbstzufriedener, ein Gegner des
Neuen, sich abseits halten. Verzichtete er auf
kunstvolle Güter, auf mannigfaches Werkzeug, so
mochte er mit Pfeil und Speer, mit Pflug und
Hacke ins Weite ziehen und sich von der Gesamt-
wirtschaft befreien. Mit zunehmender Dichte
wird auch diese Freiheit benommen. Jetzt be-
darf ein jeder des Schutzes; er muß Mitglied
einer Gemeinschaft sein. Der Sitte kann er sich
nicht entziehen, sie verlangt Kleidung und Be-
hausung und manches andere. Land zu erschließen
ist ihm versagt; er muß Eigentum respektieren,
auf dem Seinen haushalten, somit intensiver wirt-
schaften, mit Geräten und Werkzeugen, die be-
schafft sein wollen. Doch schon ist die Ver-
dichtung vorgeschritten, die Scholle beschränkter,
die Wirtschaft schwieriger und einseitiger. Um
den ganzen Bedarf an Lebensgütern zu erlan-
gen, muß verkauft, muß Absatz gesucht werden.
Die Wirtschaft wird zum Unternehmen, zum
Geschäft. Der Absatz stellt sich ein, und mit
ihm die Konkurrenz. Eine Zeitlang können
Zunftbestimmungen und mangelhafte Verkehrs-
wege den Handwerker und Landwirt vor der
Geißel des Wettbewerbs schützen. Unter der
ständigen Verdichtung der Produktion macht sie
sich denn doch fühlbar. Und trotz der gleich-
zeitigen Konzentration des Konsums kann keiner
froh werden : denn die Erzeugungsmethoden sind
noch immer primitiv, sie nötigen der Erde nicht
genügend Stoffe ab, um die Gesamtheit zu be-
friedigen, die Arbeit wird hart, man leidet Not.
Doch eben hat ein erfinderischer Kopf ein Werk-
zeug erfunden, ein Produkt verbessert, ein Ver-
fahren vereinfacht. Der Teufelskerl wird reich,
die andern Sehens und empfinden ihre Not ver-
doppelt. Nun sind sie alle dem Wettlauf der Kon-
kurrenz verfallen, der technischen, der kommer-
ziellen, der kapitalistischen Konkurrenz. Nun
werden alle Künste und Wissenschaften herbei-
gerufen; die Erfindungsreichen, Kühnen, Vor-
urteilsfreien, die Habsüchtigen, die Ehrgeizigen,
die Handfesten eilen voran; die Schwachen blei-
ben am Wege liegen, sie werden eingefangen und
als Troß mitgezogen. Und unter den Tritten
dieses Reigens schwitzt die Erde aus allen Poren
und läßt an Gütern den zehnfach vermehrten
Enkeln das Hundertfache dessen emporströmen,
was sie den Ahnen kärglich gewährte, sich zu
nähren, zu wärmen, zu schmücken und zu be-
rauschen.
Wenn somit die Mechanisierung ursprünglich
in der Gütererzeugung wurzelt, so blieb sie nicht
lange auf dies Gebiet beschränkt. Freilich be-
deutet dieses noch heute den Stammbezirk
ihrer Verzweigung und Überschattung; denn die
Gütererzeugung bleibt das zentrische Gebiet des
materiellen Lebens, dasjenige, mit dem sich
alle übrigen in mindestens einem Punkt berühren.
Mechanisierung aber erblicken wir, wohin wir
auch über die Provinzen menschlichen Han-
delns das Auge schweifen lassen; allerdings treten
ihre Formen derartig komplex und vielgestaltig
auf, daß es vermessen dünkt, den ganzen Um-
riß des ruhelos bewegten Bildes zu umfassen.
Dem wirtschaftlich Betrachtenden erscheint sie
51
als Massenerzeugung und Güterausgleich; dem
gewerblich Betrachtenden als Arbeitsteilung,
Arbeitshäufung und Fabrikation; dem geo-
graphisch Betrachtenden als Transport- und
Verkehrsentwicklung und Kolonisation; dem
technisch Betrachtenden als Bewältigung der
Naturkräfte; dem wissenschaftlich Betrachtenden
als Anwendung der Forschungsergebnisse; dem
sozial Betrachtenden als Organisation der Ar-
beitskräfte; dem geschäftlich Betrachtenden als
Unternehmertum und KapitaHsmus; dem poli-
tisch Betrachtenden als real- und wirtschafts-
politische Staatspraxis.
Gemeinsam ist aber allen diesen Erscheinungs-
formen ein Geist, der sie seltsam und entschieden
von den Lebensformen früherer Jahrhunderte
unterscheidet: ein Zug von Spezialisierung und
Abstraktion, von gewollter Zwangsläufigkeit, von
zweckhaftem, rezeptmäßigem Denken, ohne Über-
raschung und ohne Humor, von kompUzierter
Gleichförmigkeit: ein Geist, der die Wahl des
Namens Mechanisierung auch im Sinne des Ge-
fühlsmäßigen zu rechtfertigen scheint.
3. Anmerkung. Scheinbares Paradoxon
Warum haben ältere Verdichtungsprozesse, deren
die Geschichte eine Anzahl kennt, niemals zu
einer ausgesprochenen, der unseren vergleichbaren
Mechanisierung geführt ? Sagt man doch, daß die
Menschheit jeden uns denkbaren Gedanken schon
einmal gedacht habe : warum hat sie dies Gedan-
kenphänomen unserer, im übrigen keineswegs so
bevorzugten Epoche aufgespart?
5^
Hier ist zunächst zu erinnern, daß keine der
alten Volksverdichtungen, relativ und absolut ge-
messen, sich mit neuzeitlich okzidentalen Verhält-
nissen vergleichen läßt. Ägypten und Mesopo-
tamien waren nicht übervölkert, Griechenland
und Italien nach unseren Begriffen arm an Ein-
wohnerzahl.
Vor allem aber wirkt das Mittelmeerklima in
einem Sinne retardierend auf die Zivilisation,
indem es die menschlichen Bedürfnisse an Nah-
rung, Obdach und Kleidung gleichzeitig mäßigt
und leicht befriedigt. Selbst in den heutigen
trocken und unfruchtbar gewordenen Ländern
dieser Zone bleibt der Lebenskampf vergleichs-
weise harmlos und spielend, weil Ertrag und
Bedarf noch immer in glücklicherem Verhält-
nis sich die Wage halten. So stehen selbst in
unseren Tagen die Mittelmeervölker mit einer
mehr kindlichen als nothaften Begehrlichkeit dem
Ansturm unserer Warenmassen gegenüber; ihre
Produktionsmethoden sind, wenn man vom
nördlichen und mittleren Italien absieht, nur in
bescheidenem Umfang mechanisiert, und den
übrigen Mechanisierungsformen haben sie halb
widerwillig nachahmend Aufnahme gewährt.
Süditalien und Griechenland stehen noch heute
trotz Eisenbahnen und Telegraphen dem antiken
Leben näher als dem modernen.
Dennoch zeigte das Rom der späten Republik und
der Kaiserzeit deutliche Anfänge der Mechanisie-
rung, und es ist lehrreich, zu prüfen, weshalb diese
Lebensform in ihrem Vordringen gehemmt wurde.
Großbetriebe waren vorhanden, ja ein Welt-
53
handel und eine kapitalistische Ordnung des Be-
sitzes aufgekommen. Zur Fortentwicklung des
mechanistischen Prinzips hätte es nun vornehm-
lich dreier Dinge bedurft: einer Vervollkomm-
nung der metallurgischen Technik, insbesondere
der Eisen- und Stahlerzeugung, einer Weiterbil-
dung der Präzisionsmechanik, und der Konstruk-
tion einer Kraftmaschine. Diese Aufgaben waren
nur zu lösen auf Grundlage messender Natur-
erforschung. Der Römergeist, der mit empi-
rischer Technik ungeheure architektonische Auf-
gaben zu lösen gewohnt war, hätte den subtilen
Anforderungen dieser Disziplinen genügt, ob-
wohl ihm pragmatisches Denken vertrauter war
als stilles Beobachten. Schwieriger wäre es in
jener Epoche gewesen, die Hunderte von for-
schenden und entdeckenden Geistern, deren die
Ausbildung dieses Wissenszweiges bedurfte, unter
der kleinen Zahl von bildungsliebenden ItaHkern
aufzutreiben. Sollte diese Abkehr des Römertums
vom Markt, Tribunal und Heerlager zur Gelehrten-
stube und zum Laboratorium erzwungen werden,
so bedurfte es einer Not. Diese Not aber war nicht
vorhanden. Denn Rom war gewohnt, die Völker
des Erdkreises für seine Erhaltung sorgen zu lassen ;
wo ein Prokonsul genügte, um Attalidenschätze
nach der Hauptstadt zu leiten, bedurfte es keiner
Exportfabrikationen. Die an sich nicht beträcht-
liche Nahrungsbeschränkung durch Bevölkerungs-
verdichtung war mehr als ausgeglichen durch eine
Suprematie, welche die Gesamtheit des herrschen-
den Volkes zum Souverän erhob und mit aus-
kömmlichen Zivillisten dotierte.
S4
Wenden wir den Blick außereuropäischen Ver-
dichtungszentren zu, so scheinen in China die gün-
stigsten Voraussetzungen für mechanisierte Wirt-
schaft gegeben zu sein: große Masse und Dichte
einer Bevölkerung, die ausreichende bürgerliche
Freiheiten genießt und von der Natur des Lan-
des nicht allzuleichtfertig über den Lebenskampf
hinweggehoben wird. Und wirklich geben die
Tatsachen den Voraussetzungen recht : außerhalb
der kaukasischen Rassenzone umschließt China mit
seinem kulturellen Tochterlande Japan das einzige
Gebiet der Erde, auf dem eine eigene großan-
gelegte Technik erwuchs, ja eine Technik, die ganz
besonders die uns vertrauten verkehrhaften Züge
aufweist. Als ein Geschenk Chinas ist vor wenig
mehr als hundert Jahren die vergessene Kunst
des Heerstraßenbaus uns neu beschieden worden.
Bis in die Mitte des XVIIL Jahrhunderts war
China an technischen und organisatorischen Er-
fahrungen dem Durchschnitt Europas ebenbürtig ;
aber die Keime überflügelnder Entwicklung lagen
im westlichen Boden. Daß den klügsten und tä-
tigsten Orientalen so wenig wie den Römern das
Geheimnis der messenden und rechnenden Wissen-
schaft sich erschloß, befremdet nicht, wenn man
erwägt, welche seltenen, ja widersprechenden
Geistesstimmungen zusammentreffen müssen, da-
mit sjrstematische und exakte Forschung möglich
sei. Ein ideal gerichteter, dem Gesetzmäßigen
offener Sinn muß transzendenter Betrachtung ent-
sagen, sich mit Liebe dem Tatsächlichen, ja dem
scheinbar Nebensächlichen zuwenden, um in
lebenslanger Arbeit, Korn für Korn, das Bleibende
55
vom Zufälligen zu sondern, ohne Hoffnung, selbst
jemals des Weltsymbols teilhaftig zu werden, das
aus der reinen Saat erblühen soll. Umgekehrt
bedarf es, damit die Forschung sich in Technik
verkörpere, praktischster Geister, die dennoch zu
den abstraktesten Gebieten der Wissenschaft sich
erheben, um mit prometheischem Griff das dem
irdischen Bedarf Bestimmte herabzuholen. Dem
Verlauf der Darstellung vorgreifend sei hier be-
merkt, daß in einer Zivilisation, die der Mischung
aus germanischer Idealität mit vorgermanischer
Zähigkeit und Handfertigkeit entsprang, diese
seltenen, vielleicht nicht wiederkehrenden Vor-
aussetzungen einer Wissenschaft und wissenschaft-
lichen Technik gegeben waren. Daß die man-
dschurisch-mongolische Zivilisation die gleichen
Vorbedingungen nicht erfüllte, entschied die
Frage der technischen Welthegemonie zugunsten
des westlichen Dichtigkeitszentrums. In gleichem
Sinne wird sich dereinst die Frage der politischen
Hegemonie entscheiden, der man die kindlich ge-
hässige Bezeichnung einer gelben Gefahr gegeben
hat. Erweist sich der Westen auch in Zukunft
stärker ideenbildend als der ferne Osten, der in
geschichtlichen Zeiten diese höchste Kraft nicht
mehr besessen hat, so wird er auch weiterhin die
Verantwortung der Weltentwicklung tragen.
Zusammenfassend dürfen wir die Zwischen-
frage: warum Mechanisierung bisher auf Erden
nirgend anders als im germanischen Zentrum
aufgetreten sei, folgendermaßen beantworten. Er-
forderlich war das Zusammentreffen stärkster
Volksverdichtung mit zwei auslösenden Faktoren :
56
gemäßigten physikalischen Bedingungen, welche
bei zunehmender Dichte die Sorge um den Unter-
halt empfindlich machten, sodann spezifischen
sittlich-geistigen Werten, welche imstande waren,
technisch -methodische Hilfsmittel zu schaffen.
Die alten Mittelmeerkulturen scheiden aus, denn
es fehlte ihnen fast durchweg an der Hauptbe-
dingung, ausnahmslos am ersten der beiden aus-
lösenden Faktoren. China konnte eine gewisse
Mechanisierungsarbeit leisten, bis im entscheiden-
den Moment der intellektuale Faktor versagte.
Der zentraleuropäischen Kultur war es vorbe-
halten, alle Bedingungen zu erfüllen und die
Mechanisierung bis in die letzten uns bekannten
Konsequenzen durchzuführen.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. II
Mechanisierung der Produktion
Von allen Teilen der Erdoberfläche strömen die
Urprodukte mineralischer und organischer Ab-
kunft auf eisernen oder wässernen Wegen in die
Sammelbecken der Städte und Häfen. Von dort
verzweigen sie sich nach den Verarbeitungs-
stätten, wo sie in vorbestimmter Mischung ein-
treffen, um chemisch oder mechanisch umgestaltet
als Halbprodukte einen zweiten Kreislauf zu be-
ginnen. Von neuem getrennt und abermals ver-
mischt und bearbeitet erscheinen sie als Ver-
brauchsgüter, die zum drittenmal geordnet in den
Lagern der Großhändler sich vereinigen, bevor sie
57
die fein verzweigten Wege zum Detaillisten und
endlich zum Verbraucher finden, der sie in Ab-
fallstoffe verwandelt und in den Gestaltungsprozeß
zurücksendet. Dem Blutumlauf vergleichbar er-
gießt sich der Güterstrom durch das Netz seiner
Arterien und Adern. In jedem Augenblick des
Tages und der Nacht donnern die Schienen,
rauschen die Schiffsschrauben, sausen die Schwung-
räder und dampfen die Retorten, um die Last
dieses Umlaufs zu erneuern und zu bewegen.
Und was ist das Geschick der Materien in den
Magen der Verarbeitung? Sie werden von Me-
chanismen ergriffen, gelöst, erhitzt, zerstampft
oder gepreßt, zerschnitten, gehämmert, gezogen
oder gewalzt, gesponnen, gezwirnt, verwoben
oder getränkt ; ein zweiter, ein dritter Maschinen-
prozeß schließt sich an, und der Mensch überblickt
ordnend, beschleunigend, messend sein Werk, das
Werk nicht mehr seiner Hände, sondern seiner
Mechanismen. Ist eine Formung durch Handfer-
tigkeit noch vonnöten, so ist das Gesetz der Pro-
duktion unvollkommen erfüllt. Dies Gesetz lautet :
Beschleunigung, Exaktheit, Verminderung der Rei-
bung, Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen,
Ersparnis an Arbeit, Verminderung und Rück-
gewinnung des Abfalls. Da, wo ein Teil der Pro-
zesse den Schöpfungsakten der Natur überlassen
werden muß, fühlt man sich berechtigt, von ihr
die gleiche Beschleunigung und Akkuratesse, die
gleiche Reaktionsfähigkeit auf Reize und Diszi-
plin zu verlangen, wie von leblosen Mechanismen
\ind Prozessen.
Und die Natur gehorcht. Sie, die Erzeugerin
58
der Urmaterien, ist sich des Ernstes und Umfanges
ihrer Aufgaben bewußt geworden. Nicht mehr
lächehid und spielend wie ehedem, sondern ernst
und geschäftig läßt sie ihre Felder das zehn-
fache Maß tragen, läßt sie ihren Flanken das
Tausendfache an mineralischen Werten entströ-
men. Ja, sie gibt zu erkennen, daß sie es nur der
menschlichen Arbeit und BegehrUchkeit anheim-
stellt, die lebenden und toten Ernten nochmals zu
vervielfachen. Keines der heute geschätzten Güter
scheint vorerst auf die Neige zu gehen; allent-
halben winkt und blinkt es noch von ungeho-
benen Schätzen an Materie und Kraft.
Die Menschheit hat es begriffen und eilt ihrem
Produktionsideal entgegen. Dies Ideal ist er-
reicht, wenn von den jeweils günstigsten Ge-
winnungsstätten die Produkte auf kürzestem Wege
und mit größter Eile zu der bestgelegenen Ver-
arbeitungsstätte gelangen, um in einem einzigen
Prozeß umgestaltet sofort einem Vertriebssystem
übergeben zu werden, das sie in die Vorratsräume,
Küchen und Werkstätten der Verbraucher leitet.
Zuweilen scheint es, als beginne die Güterpro-
duktion, über ihr Ziel hinausschießend, über-
flüssige, nicht mehr konsumierbare Mengen zu
fördern. Ständig wachsende Masse an Rohstoffen
und Fabrikaten schleudern die Länder im Wech-
selspiel einander zu. Hier Erze gegen Kohlen,
Baumwolle gegen Getreide, Vieh gegen Eisen,
Holz gegen Zucker; und dennoch wird dies ge-
waltige Werben und Spenden nicht nachlassen,
denn immer noch wächst die Zahl der Erdenbe-
wohner, und immer noch sind MiUionen von
59
Händen nicht nachhaltig genug in den Schaffens-
prozeß verstrickt, um ihr Teil am Begehrten zu
erraffen.
Wohin ergießt sich nun diese Güterflut? Wir
finden sie in den Docks der Häfen, in den Vorrats-
räumen der Fabriken und Handlungen, wir fin-
den sie in Läden und Kaufhäusern. Das Berlin
von 1811 besaß im Umkreise seiner Mauern nicht
so viel an Ladengütern, wie ein einziges Häuser-
viereck des Berlins von 191 1. Aus den Magazinen
fließt der Strom in die Behausungen der Men-
schen. Ungezählte Substanzen, die man ehedem
nicht kannte, Metalle, Gläser, Hölzer, Tonwaren,
Papiere, Leder, Bein, Gewebe, alles bedeckt mit
farbigen Schichten, Polituren und Ornamenten,
füllen die Gemächer; Seifen, Essenzen, Chemika-
lien sind vorrätig, Nahrungs- und Genußmittel
aus allen Erdteilen werden gespeichert; selbst in
den Wohnungen der Schwachbemittelten, ja der
Armen finden sich Menge und Mannigfaltigkeit
der Gerätschaften und Verbrauchsgüter seit den
letzten drei Generationen um ein Vielfaches er-
weitert. Fast möchte man meinen, die Mensch-
heit sei von einer Manie des Warenbesitzes, von
einer Gerätetollheit befallen, die man in früheren
Zeiten vielleicht gewissenlosen Spekulanten oder
auf Ablenkung bedachten Regierungen zur Last
gelegt hätte. Und noch immer ist Begehr und
Lust nach käuflichen Dingen im Steigen, zumal
bei Frauen.
Ihr passiver Anteil am Produktionswachstum ist
nicht unbeträchtlich. Denn ihre naivere Freude
am feilen Besitz und am Vergleich des Besitzes
60
setzt zahllose Gewerbe in Bewegung, und ihr ge-
ringeres Interesse für Struktur und Konstruktion
kommt der eigenartigen Qualitätsverschiebung
des modernen Produkts in erstaunlicher Weise
entgegen. Mit dieser Verschiebung aber hat es
folgende Bewandtnis.
Jeder, der ein Erzeugnis des alten Handwerks in
Händen hält, etwa ein Buch, eine Kassette, einen
Schlüssel, empfindet an diesen Gegenständen etwas
Organisches, wie es den Schöpfungen der Natur
eignet. Das Werk ist genau gearbeitet, aber nicht
mathematisch. Der Naturstoff, dem es ent-
stammt, ist geformt, aber nicht verwandelt. Es be-
sitzt eine innere Festigkeit, die den Einwirkungen
des Gebrauchs und der Zeit widersteht, und ihnen
doch einen seltsam verschönernden Einfluß ge-
stattet. Es ist selbst im größten Reichtum spar-
sam, denn es ist ein durchdachtes, für sich allein
stehendes Werk, ein Stück Menschennatur.
Die Maschine kann dergleichen nicht schaffen.
Sie erzeugt mathematische, schnurgerade, kreis-
runde, spitze, scharfe, polierte Dinge, die sich
nicht abschleifen, sondern schartig werden. Sie
spart am Material, aber sie knausert nicht mit
Ornament, denn dies macht ihr keine Arbeit.
Auch überträgt sie gern praktisch erwiesene Kunst-
griffe von einer Materie, von einer Form auf die
andere. Sie formt mit gleicher Neutralität ein
Gebetbuch und eine physikalische Wage. Vor
allem aber setzt sie an die Stelle der Dauerhaftig-
keit die bequeme Erneuerung. Hausgesponnenes
Linnen und Papierservietten sind Sinnbilder dieser
Polarität.
6i
An die Stelle des Anschaffungswertes setzt die
Mechanisierung den Verbrauchswert, an Stelle
des Zinsverlustes die Neubeschaffung. Der Luxus
unserer Zeit ist nicht Kapitalsaufwand, sondern
Rentenaufwand.
Durchaus verständlich! Denn die Mechani-
sierung will produzieren. Reparaturwerkstätten
sind ihr kostspieliger als Fabriken, anstatt zu
flicken schmilzt sie um. Hier kommt ihr ein psy-
chologischer Kreislauf zunutze; die Möglichkeit
des Wechsels erzeugt den Wunsch nach Wechsel,
dieser Wunsch wiederum unterstützt das Erneue-
rungsprinzip.
Ein Weiteres tritt hinzu. Die alten Stoffe
waren nicht abstrakt rein. Die Erze, die Gewürze,
die Farben, die Keramiken enthielten Beimen-
gungen, deren Störendes kunstreich überwun-
den war, und die nun dem Gefühl, dem Blick,
dem Geruch und Geschmack etwas Getöntes,
Nuanciertes, Anheimelndes gaben. Die mechani-
sierte Produktion nennt diese Zutaten Verun-
reinigung und hat nicht viel Mühe, sie auszu-
scheiden. Sie hält uns das duftende Prinzip des
Veilchens kristallisiert unter die Nase und läßt
keine Einwendung zu. Sie schafft Extrakte, Rein-
kulturen, Normative. Aber solche Produkte ohne
eigenes Leben, ohne Milderung überreizen und
ermüden. So führen sie abermals zum Wechsel,
und nebenher, da sie nun einmal ihre Seele ver-
loren haben, zum Surrogat.
Zeigen nun diese Künstlichkeiten, teils überrein,
teils flüchtig naturalisiert, teils nachgeahmt, teils
appretiert, eine Beaute du diable, im Schimmer
62
der Neuheit, in dem, was ein Geschäftswort die
Aufmachung nennt, und in einer gewissen Keck-
heit der rasch erdachten Form, so blüht diese
Frische schnell dahin; und alsbald klopft das
mechanisierte Schicksal, die Mode, an die Tür
und weist das früh gealterte Geschöpf in den Vor-
stadtwinkel, in die Provinz, nach Chile und zu-
letzt nach Afrika, um der Produktion neue Arbeit
zuzuweisen.
So schafft die Mechanisierung sich selbst un-
geheuerste Hilfskräfte in dem Warenhunger der
Menschen, in der Irrealität, Leblosigkeit und
Schattenhaftigkeit ihrer Produkte, und in der
Mode.
Doch was ist dieser ephemere Umlauf der
Gebrauchsgüter im Vergleich zu jenefti zweiten,
akkumulierenden, den die Mechanisierung zeitigt !
Denn die Menschheit verbraucht nicht alles, was
sie schafft; einen großen Teil ihrer Güter
speichert sie auf. In welcher Form? Sie baut.
Sie baut Häuser, Paläste und Städte; sie baut
Fabriken und Magazine. Sie baut Landstraßen,
Brücken, Eisenbahnen, Trambahnen, Schiffe
und Kanäle; Wasser-, Gas- und Elektrizitäts-
werke , Telegraphenlinien , Starkstromleitungen
und Kabel; Maschinen und Feuerungsanlagen.
Sie melioriert Ländereien, entwässert, reguliert
und deicht.
Es ist schwerer, eine sinnliche als eine zahlen-
mäßige Vorstellung vom Umfange dieser Bauten
sich zu machen, die sich für Deutschland jährlich
auf mehrere Milliarden belaufen. Schätzungs-
weise könnte man annehmen, daß die alljährlichen
63
Erweiterungen Berlins etwa der Wertbewegung
gleichkommen, die zum Bau des Perikleischen
Athen erforderlich waren. Die Investitionen der
deutschen Städte dürften etwa alle fünf Jahre einen
Wert erreichen, der an mechanischem Aufwand
dem Bauwert des Kaiserlichen Rom gleichkäme.
Wozu dienen nun diese unerhörten Bauten?
Zum großen Teile dienen sie direkt der Produk-
tion. Zum Teil dienen sie dem Verkehr und Han-
del, somit indirekt der Produktion. Zum Teil
dienen sie der Verwaltung, der Wohnung, der Hy-
giene, somit vorwiegend der Produktion. Zum
Teil dienen sie der Wissenschaft, der Kunst, der
Technik, dem Unterricht, der Erholung, somit
indirekt, und mit einiger Einschränkung, noch
immer der Produktion.
Das ist das Saatgut, das die Mechanisierung all-
jährlich dem Boden anvertraut, und das auf lange
Zeiten ihr vielfache Ernte tragen wird. Es ist
gleichzeitig der materielle Lohn der Welt für die
unsägliche Anstrengung im Joche der Mechani-
sierung: denn diese Schätze aus Erde, Stein und
Metall bedeuten die Zunahme der National-
vermögen, deren unvorstellbare Zahlen hier
auszusprechen nicht verlohnt.
Fassen wir die Reihe dieser Vorstellungen zu-
sammen, so muß uns die Erde als eine einzige, un-
trennbare Wirtschaftsgemeinschaft erscheinen. Das
Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure
Rad in Schwingung versetzt; nun kreist es, in-
dem es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse
und Geschwindigkeit vermehrt. Über das Ziel
des Schutzes und der Nahrung hinausstrebend
64
schafft die mechanisierte Produktion dauernd neue
Begierden. Schon hat sie die materiellen Lebens-
bedingungen bedeutend gehoben; sie wird und
muß dazu führen, jedes absolute Elend des
Besitzes aus der Welt zu schaffen; gleichzeitig
saugt ein immer wachsender Warenhunger die
gewaltiger sich ergießenden Ströme auf.
Auch in früheren Jahrhunderten war Produk-
tion eine Hauptaufgabe menschlicher Tätigkeit,
doch ihre Mittel waren beschränkt und gaben kei-
ner weiteren Hoffnung Raum als der, das Nötigste
zu erschwingen und für himmlische und irdische
Herren etwas zu erübrigen. Die Entfesselung der
Mechanik hat jede Schranke niedergeworfen.
Der Teil der menschlichen Tätigkeit in zivilisier-
ten Ländern, der weder direkt noch indirekt der
Produktion und ihrem Schutze dient, ist klein ge-
worden. Die mechanisierte Produktion hat sich
zum Selbstzweck erhoben.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. III
Mechanisierung und Organisation
Wir haben die Mechanisierung der Güterpro-
duktion betrachtet und uns vergegenwärtigt,
wie dieser vielfältige, alles materielle Handeln um-
schließende Aufbau mit Notwendigkeit aus dem
Fundament derVolksverdichtung erwachsen mußte.
Damit nun der zum sichtbaren Gesamtgeschöpf
erhobene wirtschaftliche Bienenstaat Existenz und
Leben gewinnen konnte, mußte ein System un-
65
sichtbarer Verständigungen, Bindungen und Be-
ziehungen gegeben sein, das die menschlichen Ele-
mente des Organismus zusammenhielt, Beruf und
Arbeit verteilte, und gleichzeitig die zu bear-
beitende tote Substanz an diese lebenden Ele-
mente kettete. Es mußte für das notwendige
Drama der mechanisierten Produktion Textbuch,
Inszenierung und Rollenverteilung geschaffen wer-
den.
Den Kern dieser unsichtbaren Ordnung der
wirtschaftlichen Welt bildet die Institution des
Besitzes, und zwar in der auf das strengste an
die Person gebundenen Form des erblichen Be-
sitzes.
Damit nun diese höchst persönliche Institution
den mannigfachen Bildungen und Bewegungen
der mechanisierten Produktionsform sich anschmie-
gen konnte, mußte sie in analoger Weise wandel-
bar und unpersönlich werden. Der Besitz mußte
bis ins Kleinste teilbar, bis zum Größten anhäuf-
bar, er mußte beweglich, austauschbar, fungibel,
seine Erträge mußten vom Stamme trennbar und
für sich verwertbar sein. Kurz, der Besitz mußte
im Abbilde den Aufgaben der mechanisierten
Wirklichkeit, der Arbeitsteilung, Arbeitshäufung,
Organisation und Massenwirkung entsprechen ler-
nen, er mußte mechanisiert werden.
Den mechanisierten Besitz nennen wir Kapital.
Der Vorgang, der von außen und physikalisch be-
trachtet als mechanisierte Gütererzeugung er-
scheint, dieser Vorgang stellt sich von innen,
menschlich und organisatorisch betrachtet, als
Kapitalismus dar.
66
Daher wird der Kapitalismus andauern, solange
das mechanisierte Produktionssystem Bestand hat;
er wird andauern, gleichviel ob alles Kapital der
Welt in den Händen einer Person oder eines Ge-
meinschaftskörpers vereinigt wird, und somit das,
was man heute Transaktion nennt, zur bloßen
Buchung herabsinkt. Man kann daher von dem
Aufhören der privatkapitalistischen Gesellschaft
reden, vorläufig aber nicht von dem Aufhören der
kapitalistischen Produktionsweise.
Schon jetzt ist die Mechanisierung des Besitzes
so weit vorgeschritten, daß das Kapital in seiner
atomistischen Teilbarkeit, Beweglichkeit und Ko-
häsion auffallende Analogien mit dem Aggregat-
zustand der Flüssigkeiten aufweist und daher
innerhalb gewisser Grenzen den Gesetzen der
Hydrostatik und Hydrodynamik folgt. Diese
Verflüssigung ist geschaffen worden durch eigen-
artige Zirkulationsformen, die, von verschie-
denster Herkunft und Geschichte, sich allmählich
sozusagen zu Münzsorten des Kapitalverkehrs aus-
gebildet haben. Als Zirkulationsform des Grund-
besitzes kann man die Hypothek, den Pfandbrief
und die Obhgation bezeichnen, als Zirkulations-
form der Waren den Wechsel, als Zirkulationsform
des Arbeitswertes die Aktie, als Zirkulations-
form der Gesamtwirtschaft die öffentliche An-
leihe, als Zirkulationsform des unspezialisierten
Vermögensanspruchs das Bankguthaben und die
Banknote. Im Maße wie die Weltwirtschaft
sich ausdehnt, erhöhen sich die Beträge dieser
fünf Kategorien, im Maße wie die Wirtschaft
dem einen oder anderen Schaffensgebiet sich
5* 67
zuwendet, variiert die Relation ihrer Wertbe-
messungen.
In Gestalt der Zirkulationsformen häufen sich
die Vermögensbestände in zentralen Behältern,
aus denen sie gesammelt oder verteilt den Be-
stimmungen zugeführt werden. In Argentinien
ist der Bau einer Hafenanlage erforderhch. Ein
Ventil wird geöffnet: deutsche, französische und
englische Bankguthaben und Wechsel werden gegen
argentinische Anleihe eingetauscht. Ein zweites
Ventil: der argentinische Staat verfügt über sein
Guthaben. Und gleichzeitig wird der lebende Vor-
gang sichtbar, dessen finanzielles Abbild soeben
gebucht wurde : aus allen Häfen setzen sich Dam-
pfer nach der Baustelle hin in Bewegung; sie tra-
gen Säcke Zement, eiserne Schienen, Maschinen-
teile, Kessel, Kleider, Lebensmittel und Menschen.
Werkstätten werden errichtet, Erdmengen be-
wegt, Krane montiert, Löhne ausbezahlt. Mini-
sterreden gehalten, und die vereinigte Weltwirt-
schaft hat sich längst wieder anderen Aufgaben
zugewendet.
In gewissem Sinne läßt sich behaupten, die Me-
chanisierung des Besitzes sei der Mechanisierung
der Produktion bereits vorausgeeilt. Denn indem
das Kapital in seinem hydraulischen Zustande
jeden Hohlraum des ökonomischen Bedürfnisses
auszugleichen, von jeder Anhäufung überflüssiger
Produktionseinrichtung abzuströmen strebt, treibt
es einerseites zu Neugründungen, andererseits
aber auch zu Verschmelzungen und Aufsaugungen.
So kann es kommen, daß ein Industrieller in sich
selbst die Doppelnatur der Produktionsseite und
68
der Kapitalsseite seines Unternehmens erlebt: als
selbständiger, auf Tradition und patriarchalische
Unabhängigkeit gestützter Fabrikant wünscht er
die Isolation, als Verwalter eines Kapitals sieht
er sich zur Vereinigung mit anderen gedrängt.
Der anonymen, selbsttätig wirkenden und ra-
tionalen Organisation des Besitzes steht, nicht min-
der mächtig, wechselseitig sie stützend und von ihr
gestützt, eine zweite Organisation gegenüber, die
auf Tradition, Anerkennung, Gewalt und Sank-
tion sich aufbaut, die Organisation des Staates.
In ihr kämpft seit unvordenklichen Zeiten das
mystische mit dem mechanischen Prinzip, das
erste berufen. Herkommen und Ziele zu festigen,
das zweite von den wachsenden Aufgaben und
Sorgen des Augenblicks emporgetragen. Die my-
stische Stärke des Staates lag in seiner uralten Ver-
bindung mit Religion und Kult. Von dem Zeit-
punkt an, wo eine veränderte Wirtschaft, eine
steigende Bedeutung der Bevölkerungsmenge, ein
verstärkter Reibungskoeffizient in der Außenbe-
wegung den Staat veranlaßte, Toleranz zu üben,
das Verbrechen der Nebenreligion zu ignorieren,
fremdreligiöse Nachbargebiete anzuerkennen, war
der Stützpunkt vom Unbedingten, Überirdischen
ins Bedingte, Utilitarische verlegt; der religiöse
Staat war ein Sakrament, der Verwaltungsstaat
ist eine Institution. Das römische Imperium suchte
vergeblich nach einem Ankergrund im Absoluten,
Unantastbaren; es mußte sich schUeßlich mit
orientalischem Leibgardendespotismus abfinden
und ging zugrunde. Der mittelalterliche Staat
trug zwar nicht mehr in sich das Licht der Re-
69
ligion, doch reflektierte er die Strahlen der Kirche ;
und als die Gewalten sich entzweit hatten, er-
wies sich die germanische Gefolgeschaftstreue von
ausreichender Idealität, um den Monarchen
sakrosankt und den mit ihm verketteten Staat
intangibel zu machen.
Das erschütterndste Umsturzwort, das je aus
königlichem Munde kam, sprach Friedrich der
Große, indem er den Herrscher als Staatsdiener
definierte. Nicht in der Offenbarung preußi-
scher Sachlichkeit und Pflichtbewußtheit lag das
Entscheidende dieses Wortes, sondern vielmehr
darin, daß das Königtum vom Mysterium, der
Staat vom mystischen Königtum losgebunden
wurde, und daß nunmehr der Staat nach Auffas-
sung des königlichen Freigeistes zwar als höchste
Einrichtung, immerhin aber nur als Einrichtung
der Nützlichkeit und Wohlfahrt und als Menschen-
werk dastand.
Dies hindert nicht, daß gerade unsere Zeit,
und zwar nicht bloß im feierlichen und festlichen
Verkehr, die mystische Seite des Staates und der
Staatsautorität zu betrachten liebt. Auch wäre
es durchaus verkehrt, den Staat als eine Über-
gangsform anzusprechen, die geradeswegs zur Ak-
tiengesellschaft höherer Ordnung führt. Noch
immer schöpft er seine stärkste Lebenskraft aus
absoluten Werten und Notwendigkeiten. Er
bleibt der Garant der Nationalität, des Rechtes
und der Ordnung; das Jahrhundert der Ratio-
nalisierung hat ihm überdies als Ersatz der schwin-
denden Mystik den Schutz der Religionen, der
Erziehung, der Wissenschaft und Kunst übertragen,
70
Sucht man nun bilanzmäßig zu ermitteln, wie
weit der heutige Staat dem Prinzip der Mechani-
sierung unterliegt und dient, so handelt es sich
darum, festzustellen, welche Funktionen ihm ak-
zidentell, welche Funktionen ihm notwendig zu-
fallen; sodann abzuschätzen, wie weit diese not-
wendigen Funktionen mechanistischer Richtung
folgen. Unberücksichtigt, doch nicht unbeachtet
mag bleiben, daß der Staat in seinem Aufbau das
Vorbild aller mechanistischen Organisationen ge-
worden ist, und daß er an keinem Tage seines auf-
wandreichen Lebens die gemünzten Hilfsmittel
mechanisierter Wirtschaft entbehren kann.
Von der Kirche sind die westlicheren Staats-
gebilde in ihrer überwiegenden Mehrzahl los-
gelöst, ohne daß man sagen könnte, sie hätten
hierdurch ihren Staatscharakter eingebüßt.
Das eigentliche Regierungswesen, die Aufsicht
über örtliche und departementale Verwaltungen,
ist in den angelsächsischen Ländern bis auf eine
leichte finanzielle Kontrolle unbekannt, und es
denkt niemand daran, im Interesse der Staats-
vervollständigung diese Institution einzuführen,
ebensowenig, wie man etwa in Frankreich oder in
Preußen daran denkt, sie abzuschaffen. Auch sie
darf daher nicht als ein notwendiges Organ des
Staatskörpers gelten.
Die Aufsicht über das Erziehungswesen ist den
Obliegenheiten des Staates erst in jüngster Zeit
hinzugefügt worden. Sie zu beseitigen wäre viel-
leicht kein Fortschritt, doch eine Maßnahme, die
dem Staatsleben nichts von seinem inneren Wesen
rauben könnte; um so weniger als ein anerkanntes
71
Erziehungsideal in Ländern starker Interessen-
gegensätze nicht existiert.
Staatliche Unternehmungen des Verkehrs, der
Industrie und des Handels, mögen sie als notwen-
dige Funktionen angesehen werden oder nicht,
entspringen und dienen der Mechanisierung.
Der Wissenschaftsbetrieb auf Grundlage pri-
vater Universitäten und Forschungsinstitute hat
in den Vereinigten Staaten sich durchaus eben-
bürtig den Staatsbetrieben anderer Länder er-
wiesen und somit den Begriff der immanenten
Notwendigkeit dieser Ressorts erschüttert. Auf
dem Gebiet der Kunst ist die Betätigung des
lehrenden, bestellenden und bestimmenden Staates
in den meisten Kulturländern unbedeutend, wo
nicht schädlich.
Die staatliche Finanzwirtschaft beruht, soweit
sie Einnahmen schafft, auf mechanisierter Wirt-
schaft und schließt sich ihr aufs engste an. So-
weit sie Ausgaben begleicht, trägt sie die Fär-
bung des Gesamtkörpers, dem sie dienstbar ist,
und verhält sich somit im Sinne der gestellten
Frage neutral.
Es bleiben, wenn man von allgemeiner Reprä-
sentanz absieht, die integrierenden Funktionen
des Staates: äußere Politik und Landesverteidi-
gung, Gesetzgebung und Rechtsschutz.
Entschieden ist die Verteidigung der Natio-
nalität beim heutigen Stande der Zivilisation eine
notwendige, ja eine absolute Aufgabe. Indessen
wird erhaltende und werbende Politik, verteidi-
gende und angreifende Kriegführung weitaus
überwiegend, vielleicht dauernd in den Dienst
72
sogenannter Lebensfragen gestellt bleiben, die,
solange nicht abenteuernde Menschen oder
Nationen die Stetigkeit des Geschichtsganges
unterbrechen, sich in Fragen der wirtschaft-
lichen Existenz auflösen lassen. Tatsächlich
und normalerweise gelten neun Zehntel der poli-
tischen Tätigkeit den wirtschaftlichen Aufgaben
des Augenblicks, der Rest den wirtschaftlichen
Aufgaben der Zukunft.
Mit Ausnahme gewisser seelenpathologisch, re-
ligiös, historisch oder philosophisch gestimmter
Gebiete der Kriminalistik, die außerhalb dieser
Betrachtung stehen, dient die Justiz der Sicher-
heit und dem Schutz der wirtschaftenden Person
und Gesellschaft auf der Grundlage der bestehen-
den Besitz- und Mechanisierungsordnung.
Die Gesetzgebung wiederum, die alle Gebiete
des öffentlichen und privaten Lebens auf Grund
der herrschenden Zeitanschauung regelt und aus-
gleicht, fügt ebensowenig wie die Säckelmeisterei
dem Gesamtbilde eine neue Farbe zu.
So darf man zusammenfassend sagen, daß der
heutige Staat trotz der Zuflüsse an absoluten Auf-
gaben, die ihm im Laufe der letzten beiden Jahr-
hunderte beschieden waren, in seinem innersten
Wesen den Gesetzen und Evolutionen der Me-
chanisierung gefolgt ist.
Ihn als eine bewaffnete Produktionsvereinigung
auf nationaler Grundlage hinzustellen, wäre viel-
leicht verfrüht; ihn als eine mystische Institution
oberhalb der mechanisierten Wirtschaft und Ge-
sellschaft zu betrachten, sicherlich verspätet.
Selbst solche Lebensgebiete, die von materiellen
73
Zielen und Einwirkungen losgelöst erscheinen,
wie Religion und Wissenschaft, haben sich me-
chanistische Umformungen gefallen lassen müssen.
Es ist hier nicht der Ort, zu entwickeln, wie die
in Kirchen verkörperten Religionen mit wachsen-
der Gebietsausdehnung und Bekennerzahl sich zu
Betrieben ausgestalteten, wie sie lernten, durch
stillschweigende wechselseitige Duldung ihrem
innersten Wesen das schwere Opfer der Arbeitstei-
lung zuzumuten, wie sie hierarchisch, finanziell,
bureaukratisch und geschäftlich ihre Verwaltungs-
körper auszubauen gezwungen waren, wie sie
propagandistisch konkurrieren, ja selbst mit Geg-
nern über Teilung der Gebiete, man möchte sa-
gen : des Absatzes, sich verständigen mußten, wie
sie unter Ausnutzung jeder aktuellen Verschie-
bung der Lage poHtische, wirtschaftliche und so-
ziale Mächte in den Dienst ihrer Interessen zu
ziehen hatten.
Der Weltbetrieb der Wissenschaften, neben dem
Kapitalismus die großartigste der anonymen und
internationalen Organisationen, mit seinen pein-
lich respektierten Gebietsabgrenzungen, seinem
hochentwickelten Informationswesen, seinem groß-
industriell angelegten Laboratoriumsbetrieb, seiner
Wechselbeziehung zur Technik, seinen Verbänden
und Kongressen ist genügend gekannt und ge-
rühmt, um eine Vertiefung in seine Mechanisie-
rungsform entbehrlich zu machen.
74
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. IV
Mechanisierung und Gesellschaft
So spannen mechanisierte Organisationen ihre
vielfachen unsichtbaren Netze über jeden Fuß-
breit Erde. Hier und da wird eine Masche sicht-
bar : Absperrungen, Verbote, Aufforderungen,
Warnungen, Drohungen säumen unsere Wege.
Aber diese armseligen Verkehrsmaschen be-
deuten wenig, verglichen mit jenen zahllosen Bin-
dungen, die mit Ausnahme der Gestirne fast jeden
sichtbaren Gegenstand an Personen knüpfen, die
jede Tätigkeit an Rechte und Pflichten ketten, die
alle Einzelmenschen zu den seltsamsten und man-
nigfachsten Gemeinschaften vereinigen. Ein er-
wachsener Deutscher, der vermögenslos aus Ame-
rika heimkehrt, hat, sofern er sich nicht um Wohl-
tätigkeit bewirbt, nur das Recht, sich mit normaler
Geschwindigkeit auf öffentlichen Straßen zu be-
wegen und seine Stimme für die Reichstagswahl
abzugeben. Kein komplizierterer und schwieri-
gerer Beruf läßt sich in zivihsierten Ländern
erdenken als der des Einsiedlers.
Konnte vorzeiten ein Deutscher sich rühmen,
Christ, Untertan, Bürger, Familienvater und
Zunftgenosse zu sein, so ist er heute Subjekt und
Objekt zahlloser Gemeinschaften. Er ist Bürger
des Reichs, des Staates und der Stadt, Eingesessener
des Klreises und der Provinz und Mitglied der
Kirchengemeinde; er ist Soldat, Wähler, Steuer-
zahler, Inhaber von Ehrenämtern; er ist Berufs-
genosse, Arbeitgeber oder -nehmer, Mieter oder
75
Grundbesitzer, Kunde oder Lieferant ; er ist Ver-
sicherungsnehmer, Mitglied gewerblicher, wissen-
schaftlicher, unterhaltender Vereinigungen ; er ist
Kunde einer Bank, Aktionär, Staatsgläubiger,
Sparkontenbesitzer, Hypothekengläubiger oder
Schuldner; er ist Mitglied einer politischen Partei ;
er ist Abonnent einer Zeitung, des Telephons,
des Postscheckkontos, der Trambahn, der Aus-
kunftei ; er ist Kontrahent von Verträgen, münd-
lichen und schriftlichen Verpflichtungen; er ist
Sportsmann, Sammler, Kunstliebhaber, Dilettant,
Reisender, Bücherleser, Schüler, Akademiker, In-
haber von Zeugnissen, Legitimationen, Diplomen
und Titeln ; er ist Korrespondent, Firma, Referenz,
Adresse, Konkurrent, er ist Sachverständiger,
Vertrauensmann, Schiedsrichter, Zeuge, Schöffe,
Geschworener; er ist Erbe, Erblasser, Gatte,
Verwandter, Freund.
Diese Bindungen bedeuten die Verzweigungen
der Nervenfasern im bloßgelegten Inneren der
mechanistischen Wirtschaft. Um aber das Gewebe
der Gesellschaft, der belebten Trägerin der Me-
chanisierung, vollkommener zu überblicken, muß
das Auge auch auf den Einschlag dieser lebendigen
Kette gerichtet werden: den Beruf.
Aus diesen beiden Elementen: Bindung und
Beruf, entwickelt sich die entscheidende Eigen-
schaft der mechanisierten Gesellschaft, ihre
Homogenität.
Schon apriorisch leuchtet es ein, daß eine le-
bende Maschinerie, um den Produktionsprozeß
der Erde zu tragen, aus gleichmäßigem, normalem
und festen Material bestehen muß, daß ihre Teile
1^
massenhaft produzierbar und auswechselbar, fest
ineinandergefügt und reibungslos, geschwindester
und gleichförmigster Bewegung fähig sein müssen.
Die Bindungen tragen zur Homogenisierung bei,
indem sie bewirken, daß Jeder mit Jedem sich
berührt, reibt und schleift, daß eine große Zahl
gemeinsamer Kenntnisse, Verwaltungs- und Ver-
kehrsmethoden zum Gemeingut wird, daß der
Einzelne lernt, sich zurechtzufinden, anzupassen,
umzugehen, und sich von der Abgrenzung der
Interessengebiete, der Beschränkung der Willkür
und der Zusammenwirkung des Ganzen eine Vor-
stellung zu bilden. Jedes der mechanisierten Gesell-
schaftselemente ist ein wenig alles in allem: Po-
litiker, Geschäftsmann, Unterhändler, Redner,
Disponent und Organisator; ein jeder ist Träger
von Verantwortung, welche füglich als Mechani-
sierungsform der Pflicht und, bei ihrem merkHch
materiell und militärisch gefärbten Charakter,
schlechtweg als die ethische Kategorie der Me-
chanisierung angesehen werden kann. Erfreulich
tritt der Ausgleich der Qualitäten zutage in der
schnell erworbenen und bewährten Fähigkeit
unserer Arbeiter, zu urteilen, zu handeln und
zu disponieren.
Selbst die scheinbar trennende Spezialisierung
des Berufes muß zur Homogenität führen. Denn
eine reichhche Ansammlung in letzter Linie ähn-
licher Vorkommnisse erzeugt analoge Geistesdis-
positionen; die Anwendung gleichartiger Denk-
und Arbeitsformen wirkt entscheidender als die
Ungleichartigkeit der Anwendungs- und Arbeits-
gebiete ; die Gleichförmigkeit der Arbeitszeit und
77
Erholungsdauer entscheidender als die Verschieden-
heit der Arbeitsstelle; die Gleichwertigkeit der
Einkommen entscheidender als die Ungleichheit
der Quellen, aus denen sie fließen.
Ein Rechtsanwalt von heute ähnelt seinem me-
dizinischen Stammtischgenossen weit mehr, als ein
Leinenweber einem Tuchmacher von ehedem. Und
mehr noch ähneln sich ihre Häuslichkeiten, ihre
Lebensgewohnheiten, ihre Kleidungen, ihre Denk-
weisen und ihre Wünsche.
Vor allem aber trägt die zunehmende Intellek-
tualisierung der Berufe dazu bei, gleichartige Men-
schen zu schaffen. Die alte Güterproduktion ver-
langte vom Einzelnen einen periodischen Kreislauf
bereitender,schaf f ender,f ertigender und verwerten-
der Tätigkeit, denn das Werk eines jeden Menschen
war ein Ganzes. Deshalb mußte viel Manuelles und
viel Ungeistiges, viel Abwarten und viel Umstand
in Kauf genommen werden. Heute ist alle Arbeit
unterteilt und daher konzentriert; die Phasen
sind beseitigt, und der arbeitende Mechanismus
erfordert mehr denkende Überwachung als hand-
festes Zugreifen. Im Gegensatz zu den alten Auf-
gaben, die sich periodisch wiederholten und daher
denWert der Erfahrung aufs höchste schätzen ließen,
die aber in ihrer Wiederholung der Phantasie und
der Erkenntnis unmerklich wachsenden Spielraum
gestatteten, steht der Schaffende und Überwachende
unserer Zeit beständig vor scheinbar neuen Pro-
blemen, die sich aber alle mit gleichen Denk-
formen bewältigen lassen und daher die Gleich-
förmigkeit des Handelns vermehren: so etwa,
wie in einem Buch mit Regeldetrieaufgaben das
78
hochgemute Auftreten von Wasserstrahlen, Schnell-
läufern und Handelsleuten nur eine wechselnde
Umschreibung der nämlichen einfachen Glei-
chungsformel bedeutet.
Fügt man dem physischen und intellektuellen
Ausgleich der Lebensbedingungen die Wirkungen
eines beständig wachsenden Volkswohlstandes hinzu ,
so erhält man die Grundbedingungen der Mittel-
standstendenz, die für die mechanisierte Gesell-
schaft bezeichnend ist.
Die bürgerhche Gesellschaft Deutschlands ist
weit jünger als die englische und französische.
Von ihrer Entstehung an, die in die Mitte des
XVIII. Jahrhunderts fällt, war sie hundert Jahre
lang arm, und diese Armut, verbunden mit einer
edlen Stärke der Entsagung, trug reiche geistige
Frucht, die zur Ernte der romantischen Periode
und des Konstitutionskampfes reifte. Der Mer-
kantihsmus der Mechanisierungszeit brachte ihr
unerhörten Zuwachs an Wohlstand und raubte ihr
dafür einen Teil ihrer geistigen Werte. Im letzten
Menschenalter allein hat sich die Zahl der Ein-
kommen, die selbständigen kommerziellen Ver-
antwortungen entsprechen, zum mindesten ver-
hundertfacht und Raum geschaffen für eine Breite
des bürgerlichen Behagens und Luxus, wie sie
nur in England bekannt war. Behausung, Klei-
dung, Bedienung und Unterhaltung zeigen die
Merkmale dieser Steigerung, die vielleicht von
allen Entwickelungsformen der neuen Zeit die
beispielloseste ist. Denn die Geschichte bietet
uns zwar Vorgänge von maßlosem Reichtum und
Prunk einzelner Personen und Kliquen: die Exi-
79
stenz von Hunderttausenden begüterter, ja nach
früheren Begriffen reicher Menschen in einem
Lande ist aber gänzlich ohne Präzedenz und führt
zu unabsehbaren Folgen, die man als Grund-
erscheinung der neuzeitlichen Umgestaltungen
anzusehen sich versucht fühlen könnte, wenn es
nicht klar zutage läge, daß sie als Sekundärerschei-
nungen von der Verdichtung und Mechanisierung
abhängen.
Zunächst aber hat dieser Reichtum eine Ver-
armung herbeigeführt; nicht an Vorstellungen
und Kenntnissen, sondern an Wertungen, nicht
an Wünschen und Zwecken, sondern an Idealen.
Dieser homogenisierten Gemeinschaft sind ge-
meinschaftliche Urteile und Ziele noch nicht er-
wachsen, es sei denn solche von handgreiflicher
Utilität; es ist, als sei dem Gesamtkörper ein
Innenleben noch nicht erwacht, oder als seien
seine ersten Regungen vom Lärm der Interessen
übertäubt. Noch mehr: eine unbewußte Reak-
tionsbewegung der Elemente gegen ihre Homoge-
nisierung zwingt sie, noch einmal jedes erschwing-
liche Quantum von Individualität nach außen zu
kehren und zur Wahrung vermeintlicher Originali-
tät sich jeder offenkundigen Gemeinschaf tstendenz
zu entziehen. So wurde in Deutschland nicht ein-
mal für die Freude am Vaterland ein kulturell
gültiger Ausdruck gefunden: der unterwürfigen
Devotion und dem aggressiven Gebaren des
Vereins- und Geschäftspatriotismus wurde eine
selbstvertrauende Heldenverehrung, ein sicheres
Nationalbewußtsein, wie es die Kraft der Eng-
länder ausmacht, nicht entgegengesetzt.
80
Von der ideenbildenden Fähigkeit des deut-
schen bürgerlichen Intellektualismus aber hängt
es ab, ob und wann er berufen ist, die Verantwor-
tung für das kulturelle und politische Leben zu
übernehmen, die ihm nach dem Lauf der mecha-
nischen Entwicklung beschieden ist. Heute trägt
er in Deutschland von dieser Verantwortung nur
einen kleinen Teil, obwohl die bedeutendsten ma-
teriellen Aufgaben: die Versorgung des Volks-
zuwachses und die Bewältigung der Staatslasten,
auf seinen Schultern ruhen.
Denn nach zwei Seiten hin findet in Deutsch-
land die Homogenisierung wo nicht Grenzen, so
doch Hemmungen, die zwar in manchem Sinne
überschreitbar und überschritten, für die heutige
Kräfteverteilung jedoch von entscheidender Be-
deutung sind. Es wird späteren deutschen Ge-
schichtschreibern schwer verständlich sein, wie
in unserer Zeit zwei Schichtungssysteme sich
wechselseitig durchdringen konnten : das erste ein
Überrest der alten Feudalordnung, das zweite,
das Kapitalistische, eine Nebenerscheinung der
Mechanisierung selbst. Noch seltsamer aber muß
es berühren, daß die neuentstandene kapitalistische
Ordnung zunächst dazu beitragen mußte, den
Bestand der Feudalordnung zu stützen.
Tatsächlich herrscht heute in den entscheidenden
deutschen Staaten politisch und militärisch der-
jenige Rest der früheren Oberschicht, der sich in
der Form eingesessenen Adels erhalten hat. Aus
zwei Gründen konnte er seine Macht bewahren : ein-
mal, weil sein gesunder Instinkt ihn an die Land-
wirtschaft fesselte, die unter der Betriebsform des
6 8i
Großgrundbesitzes im verflossenen Jahrhundert
einen bedeutenden mechanistischen Aufschwung
erlebte, und die noch heute eine starke Kontrolle
der Landbevölkerung ermöglicht ; sodann, weil eine
Anzahl europäischer Dynastien, durch die kapitali-
stische Ordnung bedenklich gemacht, um so enger
mit denjenigen Mächten verbündet zu bleiben
wünschten, die durch Tradition ihren Häusern
nahestanden, und die bei einem Umsturz am mei-
sten zu verlieren hatten. Freilich wurden diese
Erwägungen zumeist verlassen, sobald die Ver-
hältnisse zu einer gewissen Reife gediehen waren:
wie ein Kapitän beim Sturm sein Schiff lieber auf
hoher See als verankert sieht, so wurde in solchen
Fällen die Monarchie der Tragkraft der gesamten
Nation anvertraut. So bestehen denn feudal ver-
ankerte Dynastien nur noch in Mitteleuropa.
Daß die zweite der bestehenden Schichtungen,
die kapitalistische, und mit ihr die gewaltigste
der einheitlichen Bewegungen unserer Zeit, der
sozialistischen, nicht in den Mittelpunkt dieser
Gesellschaftsbetrachtung gerückt ist, mag be-
fremden und bedarf der Rechtfertigung.
Zweifellos ist es der schwerste Vorwurf, wel-
cher der Zivihsation unserer Zeit gemacht wer-
den kann, daß sie die Beschränkung eines
Proletariats zuläßt, wenn unter einem solchen
eine Bevölkerungsklasse verstanden wird, deren
Angehörige unter normalen Verhältnissen zu
selbständiger Verantwortung und unabhängiger
Lebensführung nicht vordringen können. Die
schärfste Zuspitzung dieses Vorwurfs : daß nämlich
innerhalb dieser Klasse zeit- und stellenweise Not
82
und Elend haust, wird als berechtigte Ellage durch-
weg anerkannt und Abstellung der Übel mit Ernst
und nicht ohne Erfolg angestrebt; so daß die
Frage des Notstandes hier ausgeschieden werden
darf.
Erstrebt nun der Sozialismus die Beseitigung
wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, die Hebung oder
Umschmelzung des Proletariats, so muß diese
Weltaufgabe mit hohem Respekt betrachtet und
jeder Schritt zu ihrer Förderung als ZiviUsations-
etappe begrüßt werden. Doch darf man vom
Standpunkt einer über den Augenblick hinaus-
gehenden Betrachtung nicht übersehen, daß es
sich hier um Remeduren, und zwar materielle
Remeduren, nicht um absolute Schöpfung und
Ideen handelt. Deshalb ist es dem SoziaUsmus
nicht gelungen, eine Weltanschauung zu schaffen;
was er über das materiell praktische Erstreben
hinausgreifend zustande gebracht hat, ist stark an-
fechtbares popularphilosophisches Erzeugnis. So-
zialismus bleibt 2^itaufgabe, solange er sich nicht
zur Transzendenz zu erheben und neue Ideale für
die gesamte Menschheit und ihren geistigen Be-
sitz aufzustellen vermag. Dann aber würde sein
innerstes Wesen sich wandeln und ein großer Teil
des materiellen Rüstzeugs abgestreift werden
müssen.
Aber auch innerhalb der Grenzen der Zeitauf-
gabe besitzt der Sozialismus nicht die Stärke der
Konsequenz und Unausweichlichkeit, die ihn zum
Pol der gesellschaftlichen Entwicklung machen
könnte, denn er verkennt den Dualismus der Ar-
beit. Erfindung und Ausführung, Anordnung und
#• 83
Leistung werden sich niemals dauernd und grund-
sätzlich vereinigen lassen, am wenigsten in einer
mechanistischen und arbeitsteilenden Gemein-
schaft. Immer werden die intuitiv, phantastisch,
künstlerisch und organisatorisch Veranlagten den
handgreiflich, praktisch, suggestiv Veranlagten
gegenüberstehen. Eine Arbeitsverschmelzung der
beiden Kategorien ist innerhalb der uns bekannten
menschlichen Eigenschaftszonen nicht denkbar,
vielleicht nicht einmal wünschbar.
Befreit man somit das Problem von der nüch-
ternen Phantastik mechanisch konstruierter Para-
diese, so bleibt als Kern die große und ernste Auf-
gabe einer Reform des Proletariats. Ihre Lösung
muß einsetzen an dem Punkte der höchsten Un-
gerechtigkeit : bei der lebenslänglichen, ja erb-
lichen Unentrinnbarkeit des Proletarierschicksals.
Die Lösung ist möglich, wenn sie darauf abzielt,
die Einsperrung der Vermögen, ihre allzustarre
Kettung an Personen, Familien, Genossenschaften
zu sprengen, eine gerechtere Bindung des Wohl-
standes an wirtschaftliches und geistiges Verdienst
zu sichern und jedem die geistigen Werkzeuge
erschwinglich zu machen, die zum Wettkampf
befähigen. Diese Gesamttendenz habe ich vor
Jahren mit dem Namen Euplutismus bezeichnet;
ihre Mittel bestehen vornehmHch in der Beseiti-
gung aller Rechte, die den Charakter von Privat-
monopolen tragen, in der Beschränkung des Erb-
rechts, in einer gegen mühelos und ungerechte
Bereicherung gerichteten Gesetzgebung, in der
Ausgestaltung der Volkserziehung.
Sicherlich wird die Durchführung dieser Grund-
Sätze Menschenalter erfordern, aber ebenso sicher-
lich wird sie erfolgen, und ihre Ergebnisse werden
den Beweis erbringen, daß es zur Abstellung einer
wirtschaftlichen Ungerechtigkeit keines Welt-
brandes bedarf. Noch vor dieser Erfüllung aber
wird das soziale Problem eine Umgestaltung
erfahren, und zwar in dem Sinne, daß die
Homogenisierung, weit über die Grenzen der
bürgerlichen Gesellschaft hinausgreifend, einen
bedeutenden und zwar den wertvollsten Teil des
Proletariats assimiliert haben wird.
Denn schon heute erreichen, dem ehernen Lohn-
gesetz zum Trotz, das seinen Trugschluß an die
stillschweigende Voraussetzung unbeschränkten Ar-
beitsangebotes knüpft, die Einkünfte geschulter
Qualitätsarbeiter ein höheres Niveau als das des
bürgerlichen Durchschnitts, und gleichzeitig hier-
mit werden bürgerliche besitzschützende Inter-
essen rege. Die mechanistische Produktion aber
muß die ihr vorgeschriebene Richtung verfolgen
und beständig darnach trachten, mechanische Ar-
beit durch Überwachungsarbeit, ungeschulte durch
Qualitätsarbeit zu ersetzen, die sie nicht nur höher
bezahlen kann, sondern vielmehr so reichlich be-
zahlen muß, daß Aufmerksamkeit und Stimmung
des Arbeiters ihren Zwecken erhalten bleiben.
Wollte man dieser Bewegung vorwerfen, daß sie
nach Auswahl der Qualifizierten ersten, zweiten
und dritten Grades schließlich ein doppelt ver-
elendetes Proletariat Unqualifizierter, Arbeits-
unwilliger und Arbeitsunfähiger zurückläßt, so
wäre zu erwidern, daß ein Idealzustand auf Erden
freilich die Abschaffung aller wirtschaftlichen Be-
85
schränkung erfordern, daß dieser Idealzustand aber
gleichzeitig die ausschließliche Existenz brauch-
barer Menschen beanspruchen würde. Solange
dies Ideal nicht erfüllt ist, wird es des Kontrastes
zwischen beschränkter und reichlicher Lebens-
führung bedürfen, um Regungen der Indolenz
zu überwinden, die der Gemeinschaft schaden.
Freilich wird es um so dringender die Aufgabe der
Gesellschaft sein, dafür zu sorgen, daß jeder
Willige durch eigene Kraft dem Zustande der
Beschränkung sich entwinden kann.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. V
Mechanisierung und Leben
Die umgestaltete Produktionsform, die um-
gestaltete Gesellschaft und Welt wirken auf das
Einzelleben zurück; sie schaffen ihm neue Vor-
stellungen, Aufgaben, Sorgen und Freuden und
formen die PersöiJichkeit derart, wie die Maschine
beim Einlaufen ihren Teilen die rechte Gefügig-
keit gibt, daß die Elemente mit geringster Reibung,
mit Ausnutzung aller vorhandenen Kräfte, unter
Ersparnis an Zeit und Material willig, nachhaltig
und rückhaltlos in den Massenprozeß sich ein-
fügen und seinem rastlosen Anwachsen dienstbar
werden.
Der Mensch früherer Zeiten kannte den Kreis-
lauf der Natur, die ihn umgab; er kannte die
Wiesen, Felder, Wälder und Hügel seiner Gegend ;
die Straßen und Gebäude seines Ortes, die nicht
86
gerade zahlreichen Waren und Gerätschaften, die
man dort feilhielt und die Heiligenbilder der
Kirchen; er hatte etwas Lesen, vielleicht auch
Schreiben und Rechnen gelernt, wußte manches
aus den Heiligen Schriften und verstand sein Hand-
werk- Vielleicht war er als Geselle gewandert,
vielleicht hatte er große Herren vorüberziehen,
Kirchenfeste sich entfalten sehen ; dann und wann
vernahm er von fernen Erdbeben, Kriegen und
Seuchen, erblickte eine Feuersbrunst, ein Meer-
wunder, ein afrikanisches Tier ; im übrigen waren
die Ereignisse seines Lebens die natürlichen, von
Geburt und Tod umschlossenen. Das Alltägliche
war wunderbar, das Wunderbare alltäglich, alles
stimmte zum Betrachten und zum Vertiefen,
nichts zum Urteilen. Die seltenen Ereignisse er-
schüttern; sie hinterließen lange Erinnerungen,
die sich mit langen, zuversichtlichen Hoffnungen
zu einem ruhigen Fluß des Erlebens vereinigten.
Vor wenigen Jahrzehnten waren Lebenskreise
ähnlicher Geschlossenheit und Rundung etwa noch
in den Alpentälern von Tirol oder auf friesischen
Insehi zu finden; heute würde es nicht genügen,
bis in die Kleinstädte von Mittelrußland vorzu-
dringen, um ihre Spuren aufzusuchen. Welche
Änderung des Horizontes hat unterdessen etwa
der mittlere Bürger des neuen Deutschen Reiches
erfahren !
Er verläßt die Schule mit einer Übersicht der
vergangenen und der gegenwärtigen Welt, mit
einer skizzierten Kenntnis mehrerer Sprachen,
verschiedener Rechnungsmethoden; er hat einen
Begriff von der Mannigfaltigkeit der Lebensein-
87
richtungen, von der Schematisierung der Natur-
erscheinungen. In millionenfachen Reproduk-
tionen sind Kunstwerke aller Zeiten, Baustile,
Landschaften, Völkerschaften an ihm vorüber-
gezogen. Der Weg durch eine städtische Straße
hat ihm mehr Gattungen von Waren, Gerätschaf-
ten, Apparaten und Mechanismen vor Augen ge-
führt, als Babylon, Bagdad, Rom und Konstan-
tinopel kannten. Das Arbeiten der Maschinen,
der Verkehrsmittel, der Fabrikationen ist ihm all-
täglich, der Anblick von Menschen aller Profes-
sionen und Länder, von Tieren und Pflanzen aller
Zonen nicht überraschend. Er kennt Ausflüge, ja
Reisen über meilenweite Gebiete ; Feste, Aufzüge,
Vorführungen, Unglücksfälle, Kriegsübungen sind
ihm geläufig. Er ist gewohnt, Bücher zu lesen,
hunderte von Gegenständen zu benutzen, teil-
weise zu besitzen; er ist gewohnt, Speisen und
Vergnügungen aus aller Herren Länder zu ge-
nießen, sich zu unterhalten und unterhalten zu
lassen. Die Erlernung des Berufes bringt weitere
Kenntnis von Methoden und Hilfsmitteln, seine
Ausübungen an wechselnden Stellen und Orten
neue Erfahrung von Lebensverhältnissen, Umgang
und Organisation.
Aber mit der Lehrzeit und Berufseinrichtung
läßt der Strom der zudringenden Notionen nicht
nach. TägUch mindestens einmal öffnet das Welt-
theater seinen Vorhang, und der Abonnent des
Zeitungsblatts erblickt Mord und Gewalttat,
Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferde-
rennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expedi-
tionen, Liebesverhältnisse, Bauten, Unfälle, Büh-
88
nenaufführungen, Spekulationsgeschäfte und Na-
turerscheinungen ; an einem Morgen während des
Frühkaffees mehr Seltsamkeiten, als seinem Ahn-
herrn während eines Menschenlebens beschieden
waren. Und zu dieser freiwilligen Aufnahme an
Information gesellt sich die berufliche : die Korre-
spondenz des Kaufmanns, das Kundengeschäft,
der Verkehr mit Angestellten und Vorgesetzten,
mit Behörden und Geschäftsleuten bringt vom
Morgen bis zum Abend soviel an Tatsachen-
material, das gemerkt und verarbeitet werden
muß, daß hunderte von Papierfabriken ganze
Waldungen in weiße Bänder verwandeln müssen,
um die Erinnerungszeichen an einen kleinen Teil
dieser Neuigkeiten aufzunehmen,
Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Ge-
schwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Berg-
leute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein
Kind mißhandelt: kurze Entrüstung. Das Luft-
schiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit.
Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im
Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, An-
fragen, Übersichten. Für die Erwägung, das Er-
innern, das Nachklingen bleibt keine Zeit.
Wie entledigt sich nun der Geist überflüssiger
Notionen ? Durch Urteil. Die Erscheinung wird
besiegelt, etikettiert und eingereiht; so ist sie er-
ledigt, indem sie sich scheinbar in einen Zuwachs
an Erfahrung, vielfach nur in einen Zuwachs an
Vorurteil verwandelt hat. Aber selbst das Vor-
urteil scheint erträglicher als die Urteillosigkeit,
eben deshalb, weil es Vorstellungen verdauen hilft
und in Zweckdienlichkeiten verwandelt. So wird
89
'X
geurteilt von früh bis spät: dies ist gut, dies ist
nützlich, dies ist ungerecht, dies ist töricht. Selbst
die Unterhaltung wird zu einem Dialog von Ur-
teilen, die leicht, verantwortungslos, unsachlich
und schematisch vorgebracht werden. Im Hagel
der Tatsachen erstirbt die Verwunderung, der
Respekt vor dem Ereignis, die EmpfängHchkeit,
und gleichzeitig erhöht sich die Begierde nach
neuen Tatsachen, nach Steigerungen. Wird die
Begierde nicht gesättigt, so tritt eine verzweifelte
Erschöpfung ein, die dem Menschen seine eigene
Lebenszeit hassenswert erscheinen läßt und daher
Langeweile genannt wird.
Mechanistisch betrachtet ist die Langeweile das
Wamungssignal, das dem Menschen in die Ohren
bläst: er sei zeitweilig ausgeschaltet aus dem all-
gemeinen Werben und Walten, und ihn zum
Zwang der Arbeit oder des Genusses antreibt.
Die Arbeit selbst aber ist nicht mehr eine Funk-
tion des Lebens, nicht mehr eine Anpassung des
Leibes und der Seele an die Naturkräfte, sondern
weitaus eine fremde Funktion zum Zweck des
Lebens, eine Anpassung des Leibes und der
Seele an den Mechanismus. Denn mit Aus-
nahme der wenigen freien Berufe, deren Wesen
ungeteilt und Selbstzweck ist, der künstle-
rischen, wissenschaftlichen und sonsthin schöpfe-
risch gestaltenden Arbeit, ist der mechanisierte
Beruf Teilwerk. Er sieht keinen Anfang und kein
Ende, er steht keiner vollendeten Schöpfung gegen-
über ; denn er schafft Zwischenprodukte und durch-
läuft Zwischenstadien. Auch er kann angepaßten
Naturen eine absolut erscheinende Befriedigung
90
gewähren, insbesondere da, wo er mit Privilegien
und Befugnissen operiert; im allgemeinen aber
trägt er seine Belohnung nicht in sich, sondern
hinter sich, er verlangt nicht sowohl Liebe als
Interesse.
Mit der Abkehr des Berufes von der Natur zur
Mechanisierung haben sich weitere Änderungen
seines Wesens vollzogen.
Zum ersten : der alte Beruf war gegründet auf
Erfahrung und Erlernung. Der Sohn vollbrachte
im Kreislauf des Jahres, was der Vater im Kreis-
lauf des Jahres vollbracht hatte. Der Alte hatte
die längere Übung, er hatte mehr Zwischenfälle
erlebt: so war er geschulter und weiser. Zu ihm
blickte man auf, er war Autorität. Was das junge
Geschlecht zum Ererbten hinzufügte, war frei-
wiUiger Tribut an die langsam sich ändernde
Meinung der Zeit, nicht Not und Zwang.
Wollte heute einer sein Land bestellen, seine
Schuhe fertigen, seine Schnittware verkaufen, wie
es ihn seine Vorfahren gelehrt, er wäre bald mit
seiner Weisheit am Ende; könnte er sie bei sei-
nen wechselnden Zwischenfällen um Rat fragen,
er erhielte falsche Auskunft. Er muß wie ein
Fechter der launischen Mechanisierung ins Auge
schauen, ihre Finten parieren, ihren Stößen zu-
vorkommen. Er muß planen, erfinden, nachah-
men, ausprobieren, um sich zu erhalten. Den
Begriff der Autorität versteht er nicht mehr, und
Respekt hat er nur da, wo er Erfolg sieht.
Zum Zweiten. Der Nachbar von ehedem ist
der Konkurrent von heute. Selbst die Landwirt-
schaft unterliegt der Konkurrenz, obwohl der
91
Feind jenseits der Grenzen, ja des Meeres wohnt.
Die Arbeit ist nicht mehr allein ein Ringen mit
der Natur, sie ist ein Kampf mit Menschen. Der
Kampf aber ist ein Kampf privater Politik; das
intrikateste Geschäft, das vor weniger als zwei
Jahrhunderten von einer Handvoll Staatsmännern
geübt und gehütet wurde, die Kunst, fremde Inter-
essen zu erraten und den eigenen dienstbar zu
machen. Gesamtlagen zu überschauen, den Willen
der Zeit zu deuten, zu verhandeln, zu verbünden,
zu isolieren und zu schlagen: diese Kunst ist
heute nicht dem Finanzmann allein, sondern in
gewahrtem Verhältnis dem Krämer unentbehr-
lich. Der mechanisierte Beruf erzieht zum Poli-
tiker.
Deshalb hält der Berufsmensch sich für befähigt,
nicht nur die eigenen, sondern auch die Ange-
legenheiten der Gemeinschaft zu beurteilen, zu
beraten und notfalls zu verwalten. Er findet sich
nicht mehr in den Gedanken einer über ihm
schwebenden, von der Gottheit inspirierten und
ihr allein verantwortlichen Erb Weisheit; patriar-
chalische Fürsorge empfindet er nicht wohltuend,
sondern kränkend.
Zum Dritten. Der Beruf ist ernst und lehrt
Sorgen. Niemand nimmt sich des Irrenden, des
Fallenden an; der Mann trägt in seiner Hand
sein bürgerliches Schicksal und das der Seinen.
Eine Verkennung der Zeit, ein Nachlassen der
Kräfte, ein unheilbarer Mangel der Ausbildung,
eine Handlung der Leidenschaft : und das Gebäude
langer Arbeits jähre stürzt ins Nichts. Deshalb
empfindet der Mensch seine eigene Verantwor-
92
tung, aber auch die seines Nächsten. Er steht der
Allgemeinheit mit einem starken Anspruch an
Recht gegenüber und mit einer entschiedenen
Meinung des für ihn Wünschenswerten. Er ist
schwer zu behandeln, schwer zu überzeugen, denn
er fühlt sich in allen Dingen, die ihn von fern oder
nah angehen, als neue Kategorie: als Interessent.
So wird in der Schule des Berufes der Mensch
seltsam gemodelt. Mag ihm die Arbeit eine Freude
sein, so ist sie nicht mehr die Freude des Schaffens,
sondern des Erledigens. Eine Aufgabe ist gelöst,
eine Gefahr ist beseitigt, eine Etappe gewonnen:
nun zur nächsten und zur folgenden. Die Zeit
eilt, die Konkurrenz treibt, die Ansprüche wachsen,
da bleibt nicht viel zu sinnen, sich des Erschaffe-
nen zu freuen, es mit Liebe zu betrachten und zu
verschönern; genug, wenn es strengen, allgemein
formulierten Ansprüchen genügt. Der Erfolg
liegt nicht in der Vollendung, sondern in der Er-
weiterung; zehnmal, hundertmal das gleiche Pro-
dukt wiederholen, in kürzester Zeit, mit möglich-
ster Ersparnis, das bringt Nutzen. Die Arbeit wird
extensiv, wie die Produktion es geworden ist; die
glückbringende Arbeit ist die, welche sich verviel-
fältigt.
Die Arbeit aber wird mehr und mehr vergei-
stigt. Kaum daß sich die Hand bewegt, eine
Zahlenreihe zu schreiben, eine Schraube zu ver-
stellen; je apathischer die Gliedmaßen ruhen,
desto erregter arbeitet das Gehirn. Und doch ist
es mit ruhigem Nachdenken nicht getan; Angst,
Begierde, Leidenschaft müssen wirken, damit nichts
vergessen, nichts versäumt, nichts verloren werde.
93
Diese Spannung erträgt der Mensch, dessen
Großvater Hans Sachs oder der Müller von Sans-
souci oder der Pastor Schmidt von Werneuchen
gewesen ist. Von der Flut zusammenhangloser
Eindrücke bestürmt, zwischen Langeweile und
Interesse eingespannt, eilig, rastlos, sorgenvoll
und überbürdet, leidenschaftlich aber lieblos wir-
kend, zehrt er von Geist und Seele, um einen Tag
zu leben ; und ist der Tag verlebt und verbracht,
so verfällt er der Erschöpfung, die nicht Ruhe,
sondern Genüsse verlangt.
Die Genüsse des Berufsmenschen sind ebenso
extensiv wie seine Arbeit. Der Geist, nachzitternd
von den Erregungen des Tages, verlangt in Be-
wegung zu verharren und einen neuen Wettlauf
der Eindrücke zu erleben, nur daß diese Eindrücke
brennender und ätzender sein sollen als die über-
standenen. In Worte und Töne sich zu versenken,
ist ihm unmöglich, weil die Gedankenflucht des
Schlaflosen ihn durchfiebert. Gleichzeitig pochen
die gequälten, unterdrückten Sinne an ihre Tore
und verlangen Berauschung. So werden die
Freuden der Natur und Kunst mit Hohn ausge-
schlagen, und es entstehen Vergnügungen sen-
sationeller Art, hastig, banal, prunkhaft, unwahr
und vergiftet. Diese Freuden grenzen an Ver-
zweiflung, sie erinnern an die Freier Homers, die
beim Herannahen des Schicksals blutiges Fleisch
lachend verzehren, während die Tränen ihnen über
die Wangen laufen. Ein Sinnbild entarteter Natur-
betrachtung ist die Kalometer jagd des Automobils,
ein Sinnbild derins Gegenteil verkehrten Kunstemp-
findung das Verbrecherstück des Kinematographen.
94
Aber selbst in diesen Tollheiten und Über-
reizungen liegt etwas Maschinelles. Der Mensch,
im Gesamtmechanismus Maschinenführer und
Maschine zugleich, hat unter wachsender Span-
nung und Erhitzung sein Energiequantum an das
Schwungrad des Weltbetriebes abgegeben. Ein
rauchender Motor ist kein beschauliches Arbeits-
tier, das sich unter freiem Himmel weiden läßt,
man schmirgelt ihn ab, schmiert ihn, feuert den
Kessel, und schon stampft der eiserne Fuß mit
neuen Kräften seinen Zyklopentakt.
DER MENSCH IM ZEITALTER DER MECHANI-
SIERUNG UND ENTGERMANISIERUNG
Das Blut
Wollen wir uns die Wandlungen vergegenwär-
tigen, die dem Naturell des westlichen
Menschen in den letzten Jahrhunderten beschie-
den waren, und die noch erstaunlicher sind
als die Veränderungen seiner Umwelt und seines
Lebens, so müssen wir uns daran erinnern, daß
ein Rassenwechsel, die Aufzehrung einer Ober-
schicht mit dem Verdichtungs- und Mechanisie-
rungsprozeß Hand in Hand ging- Ja, es bestand
zwischen diesen Erscheinungen eine doppelte,
zum Kreislauf geschlossene Kausalverbindung :
die Verdichtung brachte den Rassenwechsel
hervor, und der Rassenwechsel allein konnte
die Voraussetzungen der entfesselt fortschrei-
tenden Verdichtung schaffen, die Mechanisie-
95
rung der Produktion, der Gesellschaft und des
Lebens.
Denn die germanischen Herren des Abendlandes
waren unfähig, diesen Prozeß heraufzuführen, un-
fähig selbst, ihn zu erleiden. Der Strenge und
Schönheit nördlichen Waldlandes wo nicht ent-
stammend, so doch durch Jahrtausende verbunden,
von der Seligkeit des Kampfes mit Natur und Ge-
schöpfen erfüllt, froh in der Kraft und Freiheit
des Leibes, nichts verehrend als das Mutvolle,
das Unberührte und Überirdische, ein Volk von
heiterem Ernst, von kindlicher Männlichkeit,
unschlauer Klugheit, träumender Wahrheitsliebe,
der Tat geneigt, dem Tun abhold, so traten sie
auf die Bühne der Welt, als Schicksal der Antike
und als Herren einer neuen Zeit.
Als Herren und Freie blieben sie Krieger und
Landleute, und wo wir heute noch ihre Über-
lebenden erblicken, da sind sie ihrem alten Wesen
treu geblieben, der Mechanisierung nicht oder
widerstrebend gefolgt, nirgends ihre Förderer ge-
wesen. Selbst da, wo sie unentrinnbar in neu-
zeitliches Getriebe verstrickt wurden, haben sie
den Mechanismus in eine stillere Sphäre einge-
schlossen; ein holsteinischer Kramladen wird
sachlicher, zweckfreier und ungeschäftlicher ge-
leitet als eine amerikanische Kirche.
Denn einer reinen furchtlosen Natur ist das
Zweckhafte fremd. Die Furcht erspäht hinter den
Dingen Gefahren und Hoffnungen, sie flüchtet
in die Zukunft, indem sie die Gegenwart vernich-
tet. Der Muthafte läßt sich die sinnliche und über-
sinnliche Gegenwart genügen, er respektiert die
96
Dinge, liebt sie um ihrer selbst willen und benutzt
keine Kreatur als Mittel. Die Mechanisierung
aber ist auf Zweckhaftigkeit aufgebaut- Ihr ist
keine Handlung und kein Gegenstand Selbstzweck;
jedes Organ dient dem Gesamtprozeß, und der
Gesamtprozeß dient dazu, neue Organe zu schaffen.
Jeder Moment ist, für sich genommen, wertlos,
aber von der heißen Arbeit erfüllt, die Reihe der
wertlosen Momente zur Ewigkeit auszudehnen.
Das mechanistische System konnte nicht von
diesen Menschen aufgebracht werden, die in ihrer
Unmittelbarkeit es kaum erfaßten, die es ungern
erlitten und in ihm die höchste Gefährdung ihrer
Herrschaft, ja ihrer Existenz gar bald erblickten.
So haben sie dieses System bis auf den heutigen
Tag bekämpft; gegen Städte, Stände, Konsti-
tutionen, Demokratien, Verkehr, Handel und In-
dustrie haben sie sich mannhaft gewehrt, und noch
jetzt bedeuten alle konservativen Programme
nichts weiter als Umschreibungsformeln des un-
bewußten Willens gegen die Mechanisierung.
Um diese emporzutreiben bedurfte es Menschen
geringeren Schlages, Unterdrückte und Emanzi-
pierte. Sie mußten aus der Knechtschaft die Ge-
wohnheit der Arbeit mitbringen und das Stigma
der Geduld, das unentbehrlich ist für jeden, der
durch Lernen intellektuelle Schätze sammeln soll.
Handfertigkeiten besaßen sie von Ursprung an,
denn die Schwächeren waren von je auf Werk-
künste angewiesen; grüblerisch und erfindungs-
reich wurden sie, weil Furcht ihre Stärke aus der
Überlegung sammelt. Auch hatten sie gelernt,
seßhaft und in umfriedeten Räumen ihr Wesen zu
97
treiben, das späterhin zur Stubenarbeit wurde,
Arbeitsteilung kannten sie, Reden, Verständigen,
Überzeugen waren ihre Gegenmittel gegen Ge-
walt gewesen, Neugierde, Wissensdurst, geistige
Beweglichkeit hatte ihnen beständig genützt,
Wahrheitsliebe nicht immer; die Zähigkeit des
Willens und die Lust am Besitz war gestählt durch
die Unablässigkeit der Gegenkräfte, die harte
Gleichförmigkeit des Druckes, In Lebensan-
sprüchen gemäßigt, in Genüssen nicht wählerisch,
ohne Transzendenz, in Leidenschaften heiß, nicht
tief, ohne Bösartigkeit, aber rachsüchtig und des
Hasses kundig: so trugen sie den Marschallstab
des mechanistischen Menschen im Tornister.
Daß ungermanischer Geist für die Gestaltung
der Moderne verantwortlich ist, hat mancher un-
willige Denker dem Volksgewissen ins Ohr ge-
raunt, doch stets in der Meinung, zu entarteten
Germanen zu sprechen. So suchte man nach einem
Ferment und entdeckte es im Judentum. Der
Antisemitismus ist die falsche Schlußfolgerung aus
einer höchst wahrhaften Prämisse: der europä-
ischen Entgermanisierung; und somit kann der-
jenige Teil der Bewegung, der Rückkehr zum
Germanentum wünscht, sehr wohl respektiert
und verstanden werden, wenn er auch die prak-
tische Unmöglichkeit einer Volksentmischung
postuliert.
Die Lehre von der semitischen Gärung hat
jüngst ein geistvoller Nationalökonom in anzie-
hender Weise mit einer Art verdrießlicher Be-
wunderung des schuldigen Teils entwickelt, indem
er das Neuzeitwesen auf den KapitaHsmus, den
98
KapitaKsmus auf das Judentum zurückführt. Er
denkt also im Ernst daran, dem kleinen Volks-
stamm, dem die Welt die Hälfte ihres Gesamtbe-
sitzes an religiöser Transzendenz schuldet, nun
auch die Summe der materiellen Lebensordnung
gutzuschreiben. Der Irrtum liegt in der Ver-
kennung der Tatsache, daß Kapitalismus, so gut
wie Technik, Wissenschaft, Verkehr, Kolonisation,
Städteentwicklung oder Weltpolitik, nur Einzel-
erscheinungen der Grundfunktion bedeuten, die
in der Verdichtung und ihrer Selbstbehauptung,
der Mechanisierung, liegt. Die Betrachtung der
Einzelfunktionen mag entwickelungsgeschichtlich
Bedeutendes zutage fördern; den inneren Zu-
sammenhang enthüllt sie nicht. Wählt man ein-
seitig eine der Einzelerscheinungen als Grund-
variable, so laufen die übrigen als glückliche Zu-
fallsergänzungen nebenher, und man muß es als
eine Art prästabilierter Harmonie betrachten, daß
die Geschichte der Erkenntnis, der Wissenschaft,
der Entdeckungen jedesmal rechtzeitig die Er-
rungenschaften lieferte, deren der Kapitalismus
bedurfte. Am schwersten aber wird der Gärungs-
theorie der Nachweis fallen, daß durch bloße Ein-
wirkung eines Fermentes aus taciteischen und
karolingischen Germanen preußische Kaufleute,
Fabrikarbeiter, Gelehrte und Beamte werden
konnten. Die Gesamtheit der neuzeitlichen Um-
wälzung fordert zu ihrer Erklärung neben der
Verdichtungswirkung den Rassenwechsel.
Wäre der Wechsel jedoch unvermittelt und von
Grund auf erfolgt, so hätte er die mechanistische
Zivilisation nicht gezeitigt. Das Volk bedurfte
r* 99
noch lange germanischer Geistesleitung und be-
darf noch heute germanischen Einschlages- Dieser
Beschränkung verdankt das geistige Leben West-
europas, insbesondere Deutschlands, die Erhaltung
seines transzendenten Inhalts, verdankt Kunst und
Geisteswissenschaft ihre Freiheit und ihre Inner-
lichkeit, verdankt die Forschung ihre Aufopferung
und Wahrheitsliebe, verdankt das Erwerbsleben
seine Weitherzigkeit, das öffentliche Leben In-
tegrität, Hingebung, Mut und Treue, Genau in
der Abstufung, in der vom Norden nach dem Sü-
den, Südwesten und Südosten hin der germanische
Einschlag sich abschwächt, verdunkeln sich die
Eigenschaften, die er den Völkern einprägte. Skan-
dinavien, England, Deutschland, Holland, das
zisleithanische Österreich und die Schweiz bilden
noch heute das Weltzentrum und die Schule der
Kulturqualitäten, welche die gräkoromanischen
Länder großenteils verloren, die übrigen niemals
besessen haben. Den Vereinigten Staaten, die
hinsichtKch ihrer Einschlagsverhältnisse dem euro-
päischen Durchschnitt entsprechen, fehlt die Vor-
schule germanischer Oberherrschaft und Leitung;
sie konnten daher zwar die mechanistische Zivi-
lisation auf den höchsten Gipfel treiben, kultur-
bildende Kräfte sind ihnen nicht entstanden, wenn
man auch in einer Nation von achtzig Millionen
eine leidhche Anzahl kultivierter Menschen auf-
treiben mag. Die übrigen europäischen und euro-
päisierten Länder haben sich den Mechanisie-
rungsformen passiv, zumteil verständnislos ange-
paßt, ohne Neues hinzuzufügen. Die Kultur
Japans ist eine orientalische ; was an ihr europäisch
lOO
erscheint, ihr IdeaKsmus des Dienstes, ihre Natur-
liebe und Muthaftigkeit, entstammt der Herr-
schaft einer kriegerischen Oberschicht unbekannter
Herkunft.
Die treibenden Kräfte
Unter dem Bilde des Interesses haben wir die
Willensform erblickt, die den mechanistischen
Menschen durch das Gewirr der Bindungen hin-
durch von Mittel zu Mittel zu den Zielen leitet,
die zu erstreben er sich berechtigt und befähigt
glaubt. Freilich weicht die Fata Morgana vor
seinem Nahen unablässig zurück, denn sein inneres
Leben ist von Strebungen so durchsetzt, daß der
Wille unbewußt zum Selbstzweck geworden ist.
Dies drückt sich von innen, aus der Seele des
Menschen betrachtet, so aus, daß das jeweils Er-
reichte nach dem Bismarckischen Worte „auch
nichts ist". Denn in der mechanistischen Welt
darf kein Ziel erreichbar sein; sie bedarf aller
Kräfte bis zum letzten Atemzuge, um ihren
Wirbel zu beschleunigen, und straft den ent-
sprungenen Sklaven mit Not, Vergessenheit,
Langeweile oder vorschnellem Altern.
Damit nun die Besessenheit des Strebens im
Menschen nicht erlahme, bedarf es unerschöpf-
licher Triebkräfte. Die materiellen Appetite,
Hunger und Liebe, reichen nicht aus, denn auch
die weitesten Ansprüche ihrer Üppigkeiten sind
zu sättigen. Die ideellen Motoren, Pflicht, Schaf-
fensfreude, Wissensdrang, Vervollkommnung, Aus-
flüsse der transzendenten Liebe, lassen sich nicht
lOI
wissentlich in den Dienst einer materiellen Welt-
ordnung stellen. So mußte die banalste und rät-
selhafteste aller Leidenschaften, der Ehrgeiz, zur
Verstärkung der bewegenden Mechanisierungs-
kräfte ins Ungemessene gesteigert werden.
Banal ist diese Leidenschaft, wenn man in ihr
nur den Inbegriff . der am Durchschnitt sich mes-
senden und darüber hinausstrebenden Appetite
erblickt; rätselhaft wird sie, wenn man alle ma-
teriellen Begierden abspaltet und erkennt, daß
dennoch etwas übrig bleibt, das sie alle an Heiß-
hunger und Nachhaltigkeit übertrifft. Dies Etwas
ist das Streben nach Geltung, und zwar ohne Hin-
blick auf die indirekten Vorteile, die aus ihr er-
wachsen können, sondern lediglich nach Geltung
selbst, nach Anerkennung, Bewunderung, Benei-
dung. Dies Streben darf nicht verwechselt werden
mit dem wesentlich seltneren, dem Schaffensdrang
verwandten Willen zur Verantwortung und somit
zur Herrschaft. So war Napoleon in diesem eitlen
Sinne nicht ehrgeizig, wenn auch höchst herrsch-
süchtig; am Urteil der Menschen lag ihm nur da,
wo er ihrer bedurfte ; Gesetze und Organisationen
ihnen vorzuschreiben war ihm wichtig. Die Krö-
nung in Notre Dame, der erhabenste Traum des
Histrionen, war ihm ein lästiges Theaterspiel, die
Ausarbeitung des Code Civil ein hohes Glück.
Rätselhaft ist der abstrakte Ehrgeiz deshalb,
weil alle Bewunderung der Maske gilt, und von
der Maske zum Träger kein inneres Band der Iden-
tität führt. Die Huldigung bleibt die gleiche, auch
wenn sie den Wagenlenker für den Triumphator
hält, denn sie gilt einem beliebigen Leichnam.
102
Rätselhaft ist ferner der wahnsinnige Wille zur
Abhängigkeit, der Sturz in die Knechtschaft der
fremden Meinung. Diese Leidenschaft läßt sich
nur erklären aus atavistischen Gefühlsreihen von
Zurücksetzung, die ihre Umkehrung auszulösen
streben, und aus der ererbten Furcht vor Menschen,
die sich ihres Gegenstandes zu entledigen, wo-
möglich zu bemächtigen sucht, nun aber, da sie
sich ihrer selbst nicht entledigen kann, als Furcht
vor Meinungen endet, da sie zuvor Furcht vor
Handlungen gewesen war.
Diese krankhafte Psychologie unterdrückter Ge-
nerationen, die den Schwerpunkt außerhalb der
Persönlichkeit legt und das innere Gleichgewicht
des Menschen aufhebt, war dem germanisch freien
Stammeswesen unbekannt. Germanisches Selbst-
bewußtsein, Unabhängigkeitsgefühl und Herren-
tum ist uns überliefert, germanischer Ehrgeiz und
Eitelkeitshang ist undenkbar ; wie denn eine Reihe
von Merkmalen schlechthin als Indikatoreigen-
schaften der Urrassen angesehen werden können:
vor allem Unwahrhaftigkeit, Eitelkeit, Neugier
und Verkleinerungslust.
Im absoluten Ehrgeiz hat die auftauchende
Unterschicht sich ihre leitende Begierde ge-
schaffen. Daneben aber hat sie einem der ur-
sprünglichen Appetite eine veränderte, die
mechanistische Bewegung gewaltsam fördernde
Form gegeben.
Die Freude am überflüssigen Besitz ist alt und
allgemein menschlich, wenn sie gleich bei edleren
Rassen gemindert, bei edleren Individuen fast
verflüchtigt erscheint. In ihrer primitiven Form
103
verlangt sie nach Handgreiflichem, Glänzendem;
Dingen die zieren, schmücken, die anziehen oder
Neid erregen. In entwickelter Form nähert sie
sich der fanatischen Freude am Ordnen, Ver-
walten und Schaffen.
Die Mechanisierung mußte von der niederen
. Form der Besitzesfreude ausgehen, die zum gei-
stigen Inventar der Unterschicht gehörte; sie
trieb diese Leidenschaft empor, indem sie eine
nie geahnte Fülle von Produkten ihrer Begierde
entgegenhielt, und erzeugte so den beispiellosen
Warenhunger, der direkt oder indirekt mehr als
die Hälfte der Weltarbeit verbraucht. Das Kaufen
und Kaufenkönnen ist zumal das Glück der Frauen.
Und da Maschine und Manufaktur unabsehbare
Mengen von Surrogaten des Naturgenusses und
von Surrogaten dieser Surrogate liefern, nach
Herzenslust geschmückt und staffiert — denn den
Mechanismus kostet es nichts, mit einem Handgriff
alle Formen der belebten Welt auf das nüchterne
Material zu prägen — so ergänzt und erneuert
sich alljährlich das ungeheure Warenlager des
menschlichen Besitzes. Wie die Eroberer des
Pekinger Kaiserpalastes bis an die Knie in seide-
nen Stoffen wateten, so stampft der erwerbende
Mensch durch Ströme von Waren, mit denen ihn
keine eingewohnte Liebe zum Gerät verbindet,
und läßt Ströme von Abfällen hinter sich zurück.
Wir lesen vom Reichtum einer griechischen Stadt
und bedenken nicht, daß im Hause des Bürgers
nichts anderes zu finden war, als ein paar Tische
und Betten, ein Dutzend Tongefäße, Decken und
vielleicht ein kupferner Kessel. Die jährlichen
104
Abgänge einer unserer bürgerlichen Wohnungen
sind umfangreicher als dieser ganze klassische
Besitz.
Ehrgeiz und Warenhunger arbeiten sich in die
Hände. Der eine zwingt den Menschen, sich im-
mer fester in das Joch der Mechanisierung ein-
zupressen; er steigert seine Erfindungskraft, sei-
nen produktiven Willen. Der andere erhöht sein
Konsumbedürfnis und läßt ihn doch gleichzeitig
empfinden, daß nur ein emsig schaffendes Organ
die Lust des Kaufens dauernd genießen darf.
Die Summe der beiden Haupttriebkräfte aber
steigert sich zu einem Gesamtwillen, der ent-
schiedener als irgend eine andere Erscheinung die
Seele unserer Epoche kennzeichnet, indem er ihr
den Stempel des nach außen gerichteten Strebens
aufprägt. Diese Suprematie des substantiellen
Willens über die Seelenkräfte, dieses Zweck-
menschentum, das dem Wesen furchthafter Stämme
entspringt, setzt die okzidentale Rassenverschie-
bung in das hellste Licht psychologischer
Betrachtung.
Die Ideale
Einem Menschen kann man nicht tiefer ins
Herz blicken, als wenn man seine Träume
und Wünsche erforscht und deutet. Wollen
wir unser Bild vom Wesen dieser Epoche ver-
tiefen, so können wir nichts besseres tun, als den
Spuren ihrer Ideale nachzugehen; denn sie sind
nicht nur die bewußten und unbewußten Träume,
Ahnungen und Sehnsachten einer Gemeinschaft,
105
sondern zugleich verklärte Spiegelungen ihres eige-
nen Wesens. Ein Mensch kann vom andern träu-
men, sich mit ihm vergleichen, ihn bewundem,
sich nach ihm formen: die Gemeinschaft träumt
nur sich selbst; denn fremdes Wesen ist Kenntnis
des Einzelnen, der Gesamtheit ist es unwichtig
und unbekannt.
Nun folgt sofort ein Widerspruch: Damit das
Spiegelbild klar und rein erscheine, muß die pro-
jizierende Flamme gleichmäßig leuchten : nur ho-
mogene Gemeinschaften haben Ideale. Ein Eng-
länder, ein Franzose, ein Neger und ein Mongole,
die sich im Eisenbahnwagen unterhalten, können
sich vielleicht über letzte nebelhafte Ziele der
Menschlichkeit verständigen; ihre Begriffe von
dem, was schön, gut und wahr ist, werden weit
auseinandergehen. Nun ist aber die europäische
Gemeinschaft ein Verschmelzungsprodukt zweier
Schichten, die nicht durchweg und gleichmäßig
sich durchdrungen haben: von der Legierung bis
zur Mengung findet von Süd nach Nord ein mäh-
licher Übergang statt, überdies mit wechselnden
Massenverhältnissen der Komponenten. Ist dieses
Konglomerat genügend homogen, um Ideale zu
erzeugen ?
Sodann: die mechanistische Lebensform ist ein
Kreislauf ohne Ziel, eine sich selbst verstärkende
Maschinerie ohne Tendenz nach außen, in sich ge-
schlossen und ausschließlich: kann sie absolute
Ziele und Werte schaffen oder auch nur aner-
kennen oder selbst erhalten? Wird sie nicht am
Ende dahin neigen müssen, alles im Menschen zu
beschwichtigen, was an Fragen, Hoffnungen und
io6
Träumen in ihm auftaucht, weil diese immateri-
eUen Regungen ihn dem Arbeitsprozeß entziehen ?
Wird sie nicht immer wieder ihre handgreiflichen
Werte, ihre rechnerischen Denkformen, ihre tat-
sächlichen Forschungen emporheben, um ihre
Gefolgschaft zu blenden oder zum mindesten
durch Zwiespalt zu beherrschen?
Ein annähernd lückenloses Bild der zeitgenössi-
schen Ideale wird sich uns nicht entrollen. Wir
werden uns begnügen müssen, aus Fragmenten
halbzerstörter Untermalung und aus neu hervor-
tretenden Umrißlinien den Sinn der Zeichnung
zu erraten: Hier und da werden alte und neue
Formen sich durchkreuzen, hier und da werden
wir Gebilde unter dem Hauch der Mechanisierung
erloschen finden ; doch wird der Eindruck des Er-
kennbaren die Vermutung rechtfertigen, daß über-
all da, wo die fortschreitende Homogenisierung
bereits Grundzüge neuer Ideale festgelegt hat,
die alten merklich dem Verlöschen sich nähern.
Wie bisher wird die Darstellung die den west-
europäischen Ländern gemeinsamen Züge her-
vorzuheben suchen, und dort, wo Spezialisierung
erforderlich scheint, den deutschen Verhältnissen
sich zuwenden.
Das leibliche Ideal. Trotz der unendlichen
Mannigfaltigkeit des Materials können ihm einige
kennzeichnende Züge abgewonnen werden. Es
ist dem griechischen ähnlich, aber erhebUch schlan-
ker, weniger gerundet, straffer gemuskelt. Der
Kopf größer, aber immer noch klein im Ver-
hältnis zum Körper, der Hals dünner und länger.
Die Nase stärker gebogen als die griechische und
107
bedeutend schmaler, aber gleichfalls lang. Die
Lippen weniger voll, die Wangen weniger tief,
die Stirn flacher. Vor allem das Weib weniger
breitbrüstig und heroinenhaft, zarter und jung-
fräulicher. Alles in allem der Leib feiner und
rassiger, mehr den equestrischen als den gymnasti-
schen Übungen angepaßt. Zweifellos ist dieser
blonde und blauäugige Idealtypus den überleben-
den germanischen Naturen entlehnt: er tritt
überall da hervor, wo die Absorption noch nicht
vollendet ist, selbst in Frankreich. Spanien, das
Land der frühesten Vermischung, kennt ihn in
seiner neuzeitlichen Kunst nicht mehr; in Ita-
Ken herrschte er bis zum Ende der Frührenaissance ;
mit dem beginnenden Barock war er, wie zu er-
warten, verschwunden. Heute steht der spanische
Idealtypus dem arabischen, der italienische dem
gräkoromanischen näher , und südfranzösische
Künstler beginnen, die volleren Formen der
Frauen ihres Landesstriches zur Norm zu er-
heben.
Die Beibehaltung des germanischen Körper-
ideals zeigt, was auch ein Blick in neupreußische
Verwaltungs- und Militärverhältnisse bestätigt, daß
das Volk unbewußt das reinere Germanentum, so-
weit es ihm noch sichtbar vor Augen steht, als
das edlere Blut, sich selbst als Abkömmling unter-
drückter und unedler Geschlechter betrachtet.
Zu dieser Selbstlosigkeit stimmt die humorvolle
Bescheidenheit, in der ein Teil des deutschen Bür-
gertums sich mit FamiHennamen abfindet, die
bloße Gattungs- und Berufsbezeichnungen be-
deuten, und die zuweilen verderbt slavisch, un-
io8
verständlich, absurd oder vulgär klingen, während
der weniger entgermanisierte Nordseestrich, vor
allem aber Skandinavien, die Benennung nach
dem Vorfahren sich erhalten hat.
Das menschliche und das ethische Ideal
sind vereint zu betrachten, denn sie hängen durch
die Grundanschauungen des Zielbewußtseins
zusammen.
Im Menschlichen herrschen die alten germani-
schen Idealbegriffe des Mutes und der Großmut.
Der mutig Kraftvolle wird bewundert und ge-
liebt ; ihm ist alles erlaubt, was er durch souveräne
Gewalt durchsetzt, sofern er sich als ein großmüti-
ger, gerechter und milder Herr erweist, jedoch
mit der neuzeitlichen Einschränkung, daß nicht
etwa geschädigte oder erschreckte Individuen und
Gesellschaften sich entrüsten. Der Aufrührer, der
Revolutionär, der kirchliche Empörer, der Konquis-
tador werden gepriesen, verehrt und zuweilen staat-
lich anerkannt, wenn sie Erfolg haben. Verachtung
trifft, abgesehen vom vertierten Menschen, eigent-
lich nur den Feigling und seine heimlichen Taten.
Hinterlist, Betrug, Diebstahl, ja selbst Lüge, die
im außergermanischen Kreise als zulässige Di-
plomatie gilt, werden verabscheut und in neuzeit-
icher Abstufung nach Maßgabe der Vermögens-
gefährlichkeit bestraft. Den Taten der Leiden-
schaft und des Übermuts steht das Volksbewußt-
sein indifferent, ja mit einer Art von Wohlwollen
gegenüber, sie sind Gegenstand der Dichtung, und
der Kontrast zwischen menschlichem Verstehen
und sozialer Sühneforderung bildet tragische Kon-
flikte. Handlungen der Großmut und mutiger
ICQ
Aufopferung begeistern, Ausflüsse der Güte, der
Friedfertigkeit, des Erbarmens lassen kalt. Ein
feiger Mensch könnte, abgesehen von slavischer
Literatur, heute noch nicht Held europäischer
Gedichte sein, auch wenn er mit allen Tugenden
der Evangelien ausgestattet wäre.
Dagegen läßt sich eine gewisse Verschiebung
des Idealtypus in der Richtung der Energie und
des Intellekts feststellen. Amerikanische Menschen
des Erfolges beginnen den Massen zu imponieren;
mutige Erfinder und Entdecker werden höher ge-
feiert als vordem Kriegshelden; zum Lesebuch
des Volkes ist nach Ritter- und Indianergeschichten
der Detektivroman geworden. Ja es beginnt hier
bereits eine gewisse Verwirrung des bürgerlichen
Empfindens: in einer Zeit, die den Erfolg an die
Stelle des Sieges gesetzt hat, kann man nicht um-
hin sich einzugestehen, daß den Helden von ehe-
dem die Eigenschaften fehlen, welche die Mechani-
sierung verlangt. Man strebt, den Erfolgreichen
nachzuahmen, und kann somit nicht unterlassen,
sie zu bewundern, wo nicht gar zu lieben. Roose-
velt kämpft mit Blücher und gedenkt zu siegen.
Das germanische Ideal, das dem Ansturm des
Christentums durch ein Jahrtausend standhielt,
ist durch die Mechanisierung erschüttert.
Sichtbarer noch sind die Einwirkungen der neu-
gestalteten Zivilisation auf die Ethik der Gemein-
schaft, zumal auf die Schärfung des öffentlichen
Gewissens. Die christliche Kirche durfte alles
menschliche Elend als Prüfung bezeichnen und
auf das Jenseits verweisen ; die Reformation konnte
in großartiger Abnegation auf jegliches fromme
HO
Verdienst verzichten. So begnügte sich die ältere
Zeit hinsichtlich aller Wohlfahrtsbestrebungen
damit, Siechenhäuser, Irrenkerker und Kloster-
suppen zu stiften, und alles übrige der privaten
Barmherzigkeit anheimzustellen. Die mechani-
stische Epoche dagegen übernahm von ihren
Schöpfern, unterdrückten und furchthaften Stäm-
men das Mitleid, das nichts anderes als eine alt-
ruistische Furchtempfindung ist. In der Verherr-
lichung dieses Pathemas zum ethischen Ideal lag
zweifellos eine gewisse Diesseitigkeit der Anschau-
ung, ja ein ethischer Materialismus; doch ist
durch die gesetzgeberische und organisatorische
Ausgestaltung des Wohlfahrtswesens, vor allem
aber durch die Überzeugung des öffentlichen Ge-
wissens, daß alles menschUche Elend als Blut-
schuld der Gesellschaft zu erachten sei, ein Wert
von so gewaltiger Positivität entstanden, daß jede
künftige Einschätzung der Mechanisierung ihn
in Rechnung zu stellen haben wird.
Das religiöse Ideal. So mächtig die Kirche
das Leben der früheren Jahrhunderte durchdrang,
so gering war die Wirkung der in ihr verkörperten
reinen christlichen Ideen auf das Germanentum.
Widerwillig aufgenommen, durch Höllenzwang
gefestigt, konnte die Kirche den Abgrund, der
zwischen dem Worte Christi und ihren hier-
archisch-politischen Aufgaben lag, nicht über-
brücken. Mit dem Mutideal des Germanen, das
ihren Lehren der Demut widersprach, mußte sie
sich abfinden; die wenig evangelischen Sitten
abendländischer Lebensweise, Politik, Kriegsfüh-
rung mußte sie dulden, ja ihren irdischen Zielen
III
dienstbar machen. Den letzten transzendenten
Inhalt ihrer Verkündigung durfte sie den Massen
nicht übermitteln, um nicht die weltliche Ord-
nung zu stören oder aufzuheben. Die Lehre von
der Liebe, der Weltflucht, der Demut, der Kind-
lichkeit, der Zweckfreiheit, dem Gottesreich blieb
esoterisch, ein Besitz der Heiligen. Ins Volk drang
der Mariendienst, die Geschichte der Geburt und
der Leiden Jesu, der Olymp der Heiligen, der
Begriff der Sünde und der Gnade, Himmel und
Hölle. Diese Inhalte haben die Kunst aufs glück-
lichste befruchtet, sie haben manches fromme Ge-
müt mit göttlicher Ahnung erfüllt und starke
Gewissenspressionen auf die jungen Völker aus-
geübt; die Ideen Christi haben sie dem Abend-
lande nicht mitgeteilt. Man kann deshalb fast
durchweg in der vorreformatorischen Geschichts-
schreibung Europas den Begriff des Christentums
durch den der Earche ersetzen. Die Reformation
hat neben ihren großen dogmatischen und rituellen
Umgestaltungen die Evangelien literarisch er-
weckt und aus ihrem Inhalt soviel überströmen
lassen, daß den Schwachen Tröstung, den Mächti-
gen Erbauung gespendet wurde. Ein evange-
lisches Leben in Wahrheit zu verwirklichen, hat
auch sie nicht versucht, und ist somit Kirche ge-
blieben. Ja mehr noch : sie war Macht und diente
der Macht, so daß gelegentlich der naiv- verruchte
Gedanke aufkommen konnte: da nun einmal
Christus die Notleidenden tröstet, so möge ihnen
damit genug sein ; man gebe ihnen statt Brot stei-
nerne Kirchen, um sie desto besser in göttlicher
Furcht und menschlicher Abhängigkeit zu erhalten.
112
Die beginnende Mechanisierung fand sich so-
mit der Macht zweier Kirchen gegenüber und
wandte gegen sie das ganze Arsenal ihrer For-
schungsergebnisse und Verstandesmethoden; zum
Christentum selbst drang sie nicht vor. Selbst
der späte und reiche Geist Nietzsches wütete
gegen die Kirche, indem er glaubte, mit Christus
zu kämpfen.
Noch heute ist die mechanistische Epoche in
christlichem Sinne nicht weiter gekommen. Sie
hat den kirchlichen Liberalismus emporgebracht,
und ringt in materieller Auffassung um dogma-
tische Konzessionen. Populär-historische Fragen
werden mit Leidenschaft diskutiert, und ^als Ziel
erscheint eine dritte Kirche mit unpersönUchem
Dogma.
Auch da, wo die Zeitanschauung sich vom
Christentum löste, konnte sie ihr religiöses Emp-
finden vom terrestrischen Bande der Vernunft
nicht befreien, gleich als ob eine vielbeschäftigte
Zeit es für angemessen hielt, die göttUchen Dinge
mit der Geistesmechanik des Alltages zu erledigen,
um nicht allzuweit von ihren vermeintlich pro-
duktiveren Aufgaben hinweggerissen zu werden. So
griff sie denn immer wieder zu den plumpen He-
beln des Materialismus, ließ sie unüberzeugt fahren,
wenn angesehene Leute ihr ins Gesicht lachten,
und spähte beständig nach heimlicher Gelegenheit,
um zu ihrem Lieblingsspielzeug zurückzukehren.
Denn bei den edleren ungermanischen Rassen
mischt sich — wie bei den Juden ersichtlich — in
seltsamer Weise Aberglauben mit hoher Trans-
zendenz. Der abergläubische Teil sieht in der
I 113
Religion die Mirakelseite des Naturgeschehens.
Glaubt er sich von Mirakeln und Gebetwundern
unterstützt, so behält er eine gewisse dumpfe
Dämonologie bei, nicht ohne sich seiner Unauf-
geklärtheit ein wenig zu schämen. Hat er ent-
täuscht oder kämpfend dem Wunderwesen ein
Ende gemacht, so läßt er sich im Gefühl erledig-
ten Vorurteils mit einer entgötterten Welt oder
einem deistisch-pantheistisch verwalteten Natur-
theater genügen. Der Anspannung der Seelen-
kräfte, des reUgiösen Erlebens, der transzendenten
Intuition ist ein anderer Teil dieser Menschen von
jeher in hohem Maße fähig gewesen ; doch haben ihre
Stimmen in der mechanistischen Welt bisher wenig
Nachhall gefunden. Die Anschauung dieser Welt
geht eben dahin, alles Geschehene sei unerstaun-
lich, von ausschließlicher Realität, nicht ethischen,
sondern mechanischen Gesetzen unterworfen, ohne
absolute Werte, durch Vernunft erschöpfbar.
Diese Anschauung ist aber nichts anderes als die
Gefühlslokalisierung der Tatsache, daß der noch
junge mechanistische Prozeß die Seelenkräfte zu-
gunsten der Geisteskräfte unterdrückt. Sollte
dieser Zwangszustand nachlassen, so würde die
entgermanisierte Bevölkerung an transzendenten
Kräften sich reich genug erweisen, um ein von
Erdenfesseln freies religiöses Ideal emporzutragen :
Beweis ist die echte und große Sehnsucht edlerer
Naturen, die mit nicht geringerer Inbrunst als
vor zweitausend Jahren auf Erlösung wartet.
Das Ideal der Kunst. Die Kunst entstand
aus Schmuck und Spiel primitiver Völker. Die
erste Segnung wurde ihr zuteil, als sie im Stande
114
beginnender ZiviKsation als Handwerk gebunden
wurde. Kßeraus erwuchsen ihr die Vorteile der
technischen Bindungen an Materialien und Kräfte,
der traditionellen Summierung der Erfahrungen
durch Generationsreihen, der Breviloquenz und
Symbolik des Ornaments, der Vorräte an land-
läufigen Inhalten und Gegenständen, der Ge-
folgschaft einer im Mitempfinden und Verstehen
fortschreitenden Bevölkerung.
Eine zweite Steigerung geschah, als Könige,
Priester und Herren die Kunst ihren Hofhaltungen
dienstbar machten, denn es wuchs die Größe der
Aufgaben, es entstand, von reicheren Mitteln
gefördert und dem Alltäglichen überhoben, ein
Zusammenwirken der Kräfte zu vorbildlichem,
monumentalem Schaffen.
Die dritte und höchste Weihe wurde der Kunst
durch Eroberung aufgezwungen. Kunstfremde,
aber hochgeartete, dem Wesentlichen zugewandte
Kriegsstämme unterwarfen die kunstfertige Zivi-
lisationsmasse, die an die Grenze ihrer eigenen
Entwicklungsmöglichkeit gelangt war, und insti-
tuierten ein Adelsregiment, das wohlwollend und
aufs Große gerichtet die Kunst zu sich emporzog,
indem esihr den Inhalt des individuellen, des seelen-
haften, des gefühlstiefen Lebens verlieh. Bis in
die historische Zeit hinein können wir derartige
Vorgänge gewaltsamer Befruchtung verfolgen ;
Oberitalien, Nordfrankreich, Sizilien, Spanien be-
zeugen sie. Daß Hochkultur niemals anderen als
zweischichtigen, von kriegerischen Aristokraten be-
herrschten Nationen beschieden war, haben wir
uns vergegenwärtigt, wie auch ferner, daß erst
%•
"5
der Vermischungsprozeß die letzten und tiefsten
Kräfte entbinden konnte.
War die Mischung geschehen, die Masse ge-
flossen und beruhigt, so geschah in allen Jahrhun-
derten und in allen Nationen das Gleiche, in
Griechenland wie im Italien der Renaissance, in Hol-
land wie in Frankreich, in Italien wie in Deutsch-
land : die Kunst hatte ihren transzendenten, ihren
religiösen, ihren seelenhaften Inhalt verloren, sie
war wiederum zur rein sinnlichen Kunst ge-
worden.
Das Wort fordert eine Erläuterung. Freilich
muß alle Kunst vor allem anderen sinnlich sein,
denn durch die Sinne wird sie uns zuteil und wirkt
auf unser inneres Leben. Unter rein sinnlicher
Kunst aber soll diejenige verstanden sein, die auf
dem Wege der Sinne nur das sensitive, nervöse,
der Erde zugewandte und von ihr abhängige Leben
ergreift, während transzendente Kunst bis in das
Urgebiet der Seele, bis in die undifferenzierten
Regionen vorzudringen vermag, in denen jenseits
aller Wünsche und Begierden die ewige Einheit
und Harmonie ahnbar wird. Den Kontrast des
Sinnlichen und Transzendenten kann man nicht
deutlicher als in Beethovens Kunst erfassen, etwa
im Vergleiche des Septetts oder der Fidelioouver-
ture mit der Missa Solemnis. Im Sinne dieser
Unterscheidung beschränkt sich der Begriff der
sinnlichen Kunst durchaus nicht auf das Gebiet
niedriger Reizungen; auch Gebilde unvergäng-
licher Schönheit sind in diese Definition einge-
schlossen, wie die vom Pathos der Angst und der
Beschwörung durchtobten Psalmen der Hebräer.
ii6
Dies aber kennzeichnet die Künste der Ver-
schmelzungsepochen, daß sie immer wieder den
Weg eingeschlagen haben vom Religiösen zum
Ekstatischen und Deklamatorischen, vom orga-
nisch Struktiven zum stimmungsmäßig Kolo-
ristischen, vom Architektonischen zum Dekora-
tiven, vom Gemütvollen zum Sentimentalen, vom
Ergreifenden zum Sensationellen ; symbolisch
gesprochen: von der Linie zur Farbe und vom
Organismus zum Eindruck.
Während der früheren Perioden der Abstiege
wurde die Kunst aus ihren beiden ältesten Bin-
dungen, der handwerklichen und der höfischen,
nicht entlassen ; im Gegenteil, ihre äußeren Fesseln
verengerten sich. Der souveräne Auftraggeber
war anspruchsvoller, verwöhnter, eigensinniger
geworden und zwang das Metier zur äußersten
Anspannung seiner technischen Fertigkeiten, und
an die Stelle kontrollierenden aristokratischen Gei-
stes trat die geschulte Zunft der Kenner, die nicht
aus Reinheit des Empfindens, sondern nach be-
quem erlernbaren Regeln urteilte und Tradition
in Konvention verwandelte. Unter solchem Zwang
kamen seelenlose, aber meisterlich vollendete Werke
zustande, die durch die Jahrhunderte hindurch
immer wieder das Gefallen der Mächtigen erreg-
ten, und die von Einzelnen für unsere Zeit ersehnt
werden.
Freilich vergebens. Denn die mechanistische
Epoche hat längst diese beiden Bindungen der Kunst
gelöst. Die eine mußte fallen, weil bei erhöhtem
Volkswohlstand und doppelt erhöhter Kunstpro-
duktion nur noch die bürgerliche Gesellschaft als
117
Bestellerin auftreten konnte; die andere, weil
alles Handwerk erstarb und mit ihm der Stolz
der Geschicklichkeit, der Übung und der Über-
lieferung. So war die Kunst befreit durch den
Bruch der Kontrolle und den Bruch der Tradi-
tion; aus Hofkunst wurde Bürgerkunst, aus Hand-
werkskunst Talentkunst. Gleichzeitig aber war
eine dritte Dimension der Freiheit eröffnet; denn
durch Forschung, Verkehr und technische Mittel
erschlossen lag plötzlich alles vergangene, alles
fremdländische Kunstwesen handgreiflich vor aller
Augen. Man erkannte, daß, von wechselnden
Verhältnissen bedingt, jede Form, jede Rich-
tung, jeder Inhalt möglich, keine Bedingung
absolut, keine Lösung ewig war. Nun begann
ein Wühlen und Wählen, das nun schon drei
Generationen lang andauert, und dahin zu führen
scheint, daß man künstliche Bedingtheiten mög-
lichst nationaler Art erfindet, um nicht aus Reich-
tum zu verarmen und den beschämenden Weg der
karnevalistisch travestierenden Mode zu wandeln.
Muß man also von Schranken befreite Sinnes-
kunst als das Kunstideal der Mechanisierung be-
zeichnen, so darf daran erinnert werden, daß eine
Länder und Generationen überblickende Be-
trachtung ebensowenig zu Wertbemessungen wie
zu ausschließlichen Urteilen gelangen darf. Das
vorahnende Fühlen der Kunst, vielfach zusammen-
wirkend mit der Kontraimitation, die den rasch
abstumpfenden Geschmack dieser Zeit dem Kon-
trast entgegentreibt, hat zeitiger als auf anderen
Lebensgebieten Gegenströmungen in der Kunst
erweckt, die auf Beschränkung und Verinner-
Ii8
lichung hinstreben. Freilich haben solche Re-
gungen, die uns vornehmlich in der deutschen
Dichtung entgegentreten, einen doppelten Kampf
zu bestehen: mit den Schreibern, die Rückfällig-
keiten ahnden — denn im Kunstbetriebe verlangt
man nach mechanistischem Gesetz stets das
äußerlich Neue — und mit dem Publikum, das
seine sauer erworbene Revolutionsgesinnung noch
lange nach Friedensschluß zäh verteidigt.
Inzwischen spielen die Wirkungen der mecha-
nisierten Produktionsform unmittelbar in die
Werkstätten der Künste hinein. Die Erschwerung
des Existenzkampfs, die Konkurrenz, der massen-
hafte Bedarf und seine massenhafte Deckung, die
Publizistik, das Ausstellungswesen, die Aushilfs-
beschäftigungen treiben zu hastiger, skizzen-
hafter, äußerlich aufgereihter Produktion; die
Grenzgebiete zwischen Kunst und Geschäft ver-
zehren einen starken Teil der Arbeitskraft. Das
Spiel der Mode tritt hinzu, der Drang zum Neuen,
die Präponderanz des weiblichen und des gewerbs-
ästhetischen Urteils, zuletzt die geschäftliche oder
tendenziöse Begründung der Aufträge; so darf
es nicht wundernehmen, daß die bedächtigste
der Künste, die Architektur, unter der Mechani-
sierung ihrer vielgeschäftigen Betriebe zum kunst-
historischen Dekorationsgeschäft herabsank, und
daß die jüngste französische Malerei in Technik
und Inhalt ihrer Werke sich indianischen Darbie-
tungen nähert.
Das Ideal der Wissenschaft. Welch wun-
derbare Prädestination für Wissenschaftsbetrieb
den germanisch durchsetzten Völkermischungen
119
innewohnt, haben wir gesehen. Die Liebe zum
Tatsächlichen der Urvölker als Grundlage der
Forschung, die Idealität der Germanen als un-
beirrbare Instanz der Betrachtung mußten sich
verbinden, um das mechanistische Wunder der
Zeiten, die moderne Gesamtwissenschaft, möglich
zu machen. Die eigentümliche Richtung jedoch,
die den Wissenschaftsgeist zum mächtigsten Fak-
tor der Mechanisierung erhob, verdankt sie der
Zweckhaftigkeit der einstig Unterdrückten. Wenn
der phantastische Mensch sich mit der verein-
fachenden Erklärung begnügt und den Donner als
Gottesstimme, den Himmel als eherne Sphäre hin-
nimmt, so verlangt der Zweckhafte, die Erschei-
nung sich dienstbar zu machen, sie ganz zu be-
sitzen, wie er sagt : dahinter zu kommen. Er stellt
die sieben Fragen, wittert Widersprüche, verlangt
Beweise. Diese Beweise aber kann nur die Rech-
nung liefern, weil sie als unumstößlich gilt, und
so beginnt er zu zählen, zu messen, zu wägen, zu
rechnen. Es hat etwas Einleuchtendes, daß No-
maden, die ersten Besitzer zahlenmäßiger Güter,
Erfinder des rechnerischen Denkens auf Erden
gewesen sind; und somit wären die Patriarchen
der Hirtenvölker nicht nur die Väter des Kapi-
tals, sondern auch der exakten Wissenschaft.
Indem nun die Wissenschaft die rechnerische und
experimentelle Ermittelung des Gesetzmäßigen
zum höchsten Prinzip erhob, entäußerte sie sich
in einem Akt großartiger Selbstverleugnung für
immer der Spekulation und der Hoffnung auf
absolute Erkenntnis. Sie widmete ungezählte Ge-
schlechter der Lösung Spezialisiertester Aufgaben,
120
indem sie es sich genügen ließ, das ungemessen zu-
strömende Material des Tatsächlichen in das Netz-
werk der Gesetzmäßigkeiten zu verflechten und hier-
durch für die Menschheit erträglich zu machen.
Der Mechanisierung zugeführt, hat die Summe
der entdeckten und errechneten Tatsachen und
Zusammenhänge erstaunliche technische Ergeb-
nisse gezeitigt; im Sinne der Erkenntnis ge-
messen, hat sie das Gebiet des Unbegreiflichen
zwar mit neuen Fragestellungen bestürmt, jedoch
nicht verkleinert sondern vergrößert. Das Prin-
zip der mechanischen Gesetzmäßigkeit aber hat
sich derart als wissenschaftliche Denkform un-
serer Zeit festgesetzt, daß die erzählenden, schil-
dernden und urteilenden Wissenschaften nur so-
weit als reine Wissenschaften erscheinen, als sie
sich dieser Form bedienen können, im übrigen
als Verwandte der Technik und der kritischen
Kunst sich anlassen.
Der zweckhafte Einschlag, der die Wissenschaft
zur Exaktheit zwang und ihr Ideal zu einem im
höchsten Sinne geometrischen machte, durch-
dringt, wie den Betrieb, so die Menschen, die ihm
angehören, und unterscheidet sie auf das ent-
schiedenste von künstlerisch schaffenden.
In einer Zeit, die den gewaltigsten Besitz der
Urvölker, die ethische Produktivität, noch nicht
zutage gefördert hat, sind sie die höchsten Ver-
treter des Zweckmenschentums, und ihr geistiger
Schatz kann als der Idealismus der Materiellen
gelten.
Daß das politische Ideal unserer Zeit, so-
weit es auf die Verhältnisse der Völker zuein-
121
ander sich bezieht, im Nationalismus zu suchen
ist, mag auf den ersten Blick befremden. Denn
das Netz der Mechanisierung ist international:
niemals waren die Völker einander so nahe, nie-
mals haben sie der Wechselwirkung so sehr be-
durft, einander so viel besucht und so gut gekannt.
Da aber der Nationalismus als Zentralgedanke
sehr jung, kaum mehr als hundertjährig die Politik
beherrscht, da er, aus bewußtem Gegensatz zum
Kosmopolitismus des Aufklärungsalters entstanden,
gemeinschaftlich mit der Mechanisierung auf-
gewachsen ist, so muß sein Ursprung wo nicht
im Wesen, so doch in den Modalitäten der
Mechanisierung begriffen werden.
Indem wir nun das Paradox zu erklären suchen,
wie die fortschreitende Homogenisierung und An-
gleichung der Völker ihren Willensausdruck in die
Betonung der relativen Kontraste setzen konnte,
müssen wir uns erinnern, daß die Hochperiode
der Mechanisierung die europäische Welt in einem
Augenblick tiefster pohtischer Zerklüftung über-
rascht hat. Vereinigt standen zu Anfang des
letzten Jahrhunderts die leitenden Mächte Frank-
reich gegenüber, so wie sie in etwas veränderter Kon-
stellation seit Ende des Jahrhunderts Deutschland
gegenüberstehen. Das, was sich in der Zwischen-
zeit ereignet hat, ist seit Philipps und Alexanders
Tagen in der Weltgeschichte nicht erhört worden :
ein armes, mäßig bevölkertes, pohtisch verwahr-
lostes Land erhebt sich innerhalb dreier Gene-
rationen zum begütertsten, volksreichsten, kriege-
risch gefürchtetsten im Kreise der europäischen
Völker. Die Geschichte betrachtet noch immer.
122
obwohl sie es leugnet, die politischen Ereignisse
als die primären und erblickt in den drei preußi-
schen Kriegen das Moment der Erhebung. Es
tut der Größe der Menschen und ihrer Taten
keinen Abbruch, wenn erklärt wird, daß ohne die
Mechanisierung Deutschlands der Zuwachs an
Volk und Reichtum, ohne ihn die Erhebung nicht
möglich war, die ihrerseits dann abermals auf die
Mechanisierung mächtig rückgewirkt hat. Das
XIX. Jahrhundert gehört, trotz des Ausbaus der
englischen Kolonialmacht, den Deutschen und
Amerikanern, und beiden aus wirtschaftlichen Ur-
sachen: den Amerikanern, weil sie das reichste
Land der Erde erschlossen, den Deutschen, weil
sie der bürgerhchen Intelligenz ein adäquates
Arbeitsfeld gewannen.
Moderne Kriege sind im Völkerleben das gleiche,
was Examina im zivilen Leben sind, Befähigungs-
nachweise. Den Befähigungsnachweis als Groß-
macht hat Preußen mit deutscher Hilfe erbracht;
der Befähigungsnachweis als führende Wirtschafts-
macht Europas wird Deutschland über lang oder
kurz von den konkurrierenden Nationen aufge-
zwungen werden. Im Vorgefühl dieser Abrech-
nung ist nicht nur alles Kriegsspiel unserer Zeit,
sondern auch alles Wirtschaftsspiel Rüstung. Jede
neue Industrie und jede neue Handelsverbin-
dung ist ein Äquivalent von Bataillonen. Alle
Politik ist Wirtschaftspolitik, Kriegsbereitschaft.
Dies bedeutet der Nationalismus unserer Zeit,
der somit eine Reaktion auf die ungleichmäßige
Verteilung der mechanistischen Vorteile dar-
stellt.
123
Rekapitulieren wir kurz den Kreisprozeß: Im
Augenblick heftiger Disharmonie wird den Völ-
kern eine Wirtschaftsform aufgezwungen, die
eigentlich für geeinigte Völker bestimmt ist. Ge-
trennt bildet man sie aus ; es zeigt sich, daß eine be-
vorzugte Nation die unvergleichlich größten Vor-
teile zieht, weil sie die besten Voraussetzungen be-
saß. Diese' Nation erhebt sich aus politischer und
wirtschaftlicher NuUität zum bestimmenden Faktor
und besiegelt diese Stellung mit dem Schwertknauf.
Der Moment zur wirtschaftlichen Einigung ist ver-
paßt ; die friedliche Konkurrenz wird zur wirtschaft-
lichen Rüstung, und die Nationen stehen feind-
licher als zu Beginn der Episode einander gegenüber.
Der letzte Schritt, die Überleitung des natio-
nalistischen Empfindens aus dem politischen Be-
wußtsein in das bürgerliche, ging bewußt von
Deutschland aus, und zwar von der politisch
herrschenden Klasse, die ihre Interessen von der
Mechanisierung nicht genügend gefördert sah und
daher kein Bedenken trug, ihr den internationalen
Boden zu entziehen. Durch den deutschen Schutz-
zoll wurde der private ausländische Konkurrent
getroffen, und indem er sein eigenes Land zu Re-
pressaUen drängte, nährte er bei sich selbst und
seinen Landsleuten gleichzeitig das nationale Be-
wußtsein und die Abneigung gegen den Rivalen;
beides zuerst im wirtschaftlichen, dann überwie-
gend im politischen Sinne.
So will es scheinen, als sei der Nationalismus, in
seiner Eigenschaft als Brotfrage, für alle Zeiten
verankert. Er ist es nicht, denn das Widersinnige
ist nicht von Dauer,
124
Es braucht wohl nicht ausgesprochen zu werden,
daß der Name des Nationalismus hier nicht als
Synonym des Wortes Patriotismus genannt wird,
daß vielmehr unter jenem Begriff die Tendenz
verstanden ist, die Nationen in ihren Lebens-
funktionen abzusondern, ihre Vergesellschaftung
zu hindern. Auch in dieser Bedeutung bleibt der
Nationalismus in seiner Urform berechtigt: es
darf einer Nation nicht zugemutet werden, frem-
der Sprache, fremdem Glauben, fremder Kultur
und fremder Obrigkeit sich zu fügen; das Welt-
cäsarentum hat seine Berechtigung verloren, und
ein absoluter Kosmopolitismus wird als poli-
tisches Ideal schwerlich wiederkehren. Indessen
ist es durchaus denkbar, daß die staatlichen Or-
ganisationen über den Rahmen des Staates hinaus
einen unvergleichlich weiteren Ausbau erfahren,
als bisher durch völkerrechtliche, schiedsrichter-
liche und postalische Vereinbarungen geschehen.
Denn dies ist der Mechanisierung und der Natur
gemeinsam, daß ihre Organisationen nach dem
Großen wie nach dem Kleinen hin, nach innen wie
nach außen unendlich sind. So wie Zellen zum
Leibe, Individuen zu Landesverbänden, Landes-
verbände zu Reichen sich zusammenschließen, so
wird eine engere Vergesellschaftung der Reiche
unausbleiblich sein; und in dem Maße, wie sie
fortschreiten, wird es fraglich werden, was das
wünschenswertere ist: wenige große Komplexe
locker gefügt, oder viele kleine Komplexe fest
gefügt und eng vereinigt. In diesem Sinne ist
das Deutsche Reich ein glücklich gestalteter
Organismus, der um so dauerhafter sein wird,
125
je mehr er seinen Teilen größtmögliche Freiheit
individuellen Lebens erhält.
Die Entfesselung aus den Banden des Natio-
nalismus aber wird nicht sowohl durch Kongresse
und Schiedsverträge geschehen, als durch wirt-
schaftliche Verständigungen. Vielleicht werden
die ersten Schritte zu Zollvereinigungen führen,
und es wäre mehr gewonnen, als durch Bündnisse
sich erreichen läßt, wenn nach mehreren Seiten
hin die deutschen Zollgrenzen verschwänden.
Das Ideal des staatlichen Aufbaus im
Sinne der Mechanisierung ist der Verwaltungs-
staat. So sehr die Bezeichnungen des Regierens
und der Regierung uns vertraut sind, so kann doch
nicht geleugnet werden, daß die Zahl und Mannig-
faltigkeit der Interessen und Bedürfnisse innerhalb
einer mechanisierten Gemeinschaft den wahren
Begriff des Regierens, die Leitung einer Menge
durch überlegenen Willen und überlegene Ein-
sicht zu vorbestimmten Zielen, nahezu aufge-
hoben hat. Der Begriff der Verwaltung hingegen
kennzeichnet sich als Ausgleich berechtigter In-
teressen durch bestimmte Instanzen, wobei aller-
dings gewisse praktische und ideelle Endziele vor-
schweben können ; jedoch dürfen diese auf die Dauer
nicht außerhalb derLinieliegen,die derSchwerpunkt
der anerkannten Interessen ohnehin beschreibt.
Dem Einzelnen steht die Verwaltung tatsächlich,
der Gemeinschaft nur scheinbar als regierende Ob-
rigkeit gegenüber, und geographische Verschieden-
heiten finden nur insofern statt, als die Gesamt-
heit in einem Falle vorwiegend initiativ, im anderen
Falle vorwiegend prohibitiv ihren Willen zur Gel-
126
tung bringt. Freilich sind die sozialen Gruppen
mit verschiedener Stärke an der Instrumentation
des Gesamtwillens beteiligt, und man kann sagen,
daß in fast allen älteren Kulturstaaten die früheren
absoluten Gewalten, Adel und Klerus, eine ge-
wisse Präponderanz sich erhalten haben; so ist
Österreich ein ausgesprochen kirchlich, Preußen
ein ausgesprochen aristokratisch verwaltetes Land.
Auch die monarchischen Gewalten haben im
Verwaltungsstaat ihre Bedeutung behalten, zum
Teil erhöht. Der weitaus größte Teil der euro-
päischen Staaten besteht aus Monarchien, und es
darf behauptet werden, daß das republikanische
Ideal des XVIII. Jahrhunderts dahinschwindet.
Dies ist im Sinne der Mechanisierung durchaus
folgerichtig; denn es besteht ein berechenbarer
Vorteil darin, an der höchsten Spitze der Ver-
waltung, dort, wo die leiseste Willensregung im
Abstieg zur Peripherie die heftigsten Bewegungen
auslösen kann, Angehörige eines Hauses zu wissen,
das, allen bürgerlichen Interessen seit Menschen-
altern und für alle Zukunft enthoben, seine Exi-
stenz mit der des Staates zu identifizieren gelernt
hat. Aufgabe der Verfassung ist es dann, die noch
verbleibenden menschlichen Schwächen — von
denen eigentlich nur Eitelkeit zu fürchten ist —
soweit zu neutralisieren, daß eine Einseitigkeit
der Entscheidungsfunktionen vermieden wird.
Vorzüglich haben Greise und Frauen sich als
verwaltungsstaatliche Souveräne bewährt.
Falsch wäre es, zu folgern, daß im mechani-
sierten Staatswesen die persönliche Willenswirkung
des Monarchen sich verflüchtigt. Sie wird aber
127
um so machtvoller sein, je mehr er sich entschließt,
allen äußeren Interessen und Einflüssen fernzu-
stehen. Der Parteimonarch ist im modernen Staate
unmöglich; der Klassenmonarch setzt sich Rück-
schlägen aus und schädigt seine Autorität; der
gänzlich uninteressierte Monarch, der seine Existenz
auf die Gesamtheit der Nation stützt, wird dasjenige
Organ des Staatsgehirnes bedeuten, das in Analogie
der transzendenten Willensfreiheit des Individuums
den Zweifel beseitigt und den Charakter bestimmt.
Als Ausdruck dieser irdischen Uninteressiertheit
ist denn auch die Idee einer Gottesverantwortung
wohl verständlich, wobei freilich leicht eine Ver-
wechslung von persönlichen Wünschen mit gött-
lichen Inspirationen sich ereignen kann. So wäre
angesichts dieses mystisch klingenden Wortes die
Erinnerung an ein friederizianisches mit einer klei-
nen Variante statthaft : daß Gott im Kriege hinter
den stärkeren Bataillonen und im Frieden hinter
den wichtigeren Interessen steht.
Im Gegensatz zur monarchischen Autorität ist
die politische Vormacht des Adels im Absteigen,
denn sie findet in der mechanistischen Gesellschaft
keine reale Stütze, vielmehr konkurrierende Mächte.
Der preußisch-deutsche Aristokratismus, der un-
gebrochenste in Europa, ist aus Gründen, die wir
gestreift haben, durch preußische Verfassung und
Verwaltungstradition gewährleistet und somit auch
für die nähere Zukunft ausreichend verankert.
Preußen verdankt ihm viel, denn er hat einen Be-
amten- und Offizierskörper herangebildet, der an
praktischem Idealismus, Mut und Pflichttreue alle
Hierarchien des XIX. Jahrhunderts überstrahlt,
128
und von dem sinnlich schwer faßbaren Vorgang,
daß eine höher organisierte Oberschicht ein ganzes
Volksleben zu kontroUieren vermag, uns ein voll-
kommenes Bild gibt.
Obwohl der preußische Adel die Kraft besitzt,
aus kleiner Menschenzahl viele und bedeutende
Talente zu prägen, ist seine Veranlagung nicht
eigenthch intellektuell. Seine großen Vorzüge be-
ruhen auf einem unbeirrbaren Sinn für das Ehren-
hafte, einem schgrfen Blick für das Praktisch-nütz-
liche, auf Mut, Ausdauer und Genügsamkeit. Ehr-
geiz, Streben nach Verantwortung, Freiheit des
Gedankens, Erfindungskraft, Anpassungsfähigkeit
sind nur seinen größten Talenten eigen, dem
Durchschnitt fremd.
Solange daher unter einfacheren und langsamer
wechselnden Verhältnissen die Verwaltungstätig-
keit etwa nach Art der Gutswirtschaft erlernt und
auf traditioneller Grundlage patriarchalisch aus-
geübt werden konnte, blieb der preußische Regie-
rungsadel unübertroffen. Daß er neuen Gedanken-
formen und Arbeitsmethoden gegenüber teilnahm-
los auf der Tradition beharrte, war 1806 sein
Schaden, 1849 sein Vorteil. In dem Maße nun,
wie die mechanistische Weltwirtschaft ganze Ge-
biete der Staatsverwaltung in reine Geschäfts-
betriebe verwandelte, der Wechsel der Anschau-
ungen und Aufgaben ein tägliches Umlernen, ein
beständiges Erfinden forderte, zeigte es sich, daß
zwar die alten Eigenschaften noch immer höchst
schätzbar und unverkürzt vorhanden waren, daß ^j
aber der vorzüglichste Menschendurchschnitt nicht
immer ausreichen konnte zur Lösung präzedenz-
a 129
loser Aufgaben und zur Konkurrenz gegen die
stärksten Talente des Auslandes.
Denn inzwischen war im Auslande, insbeson-
dere in England und Frankreich, einigermaßen auch
in Osterreich, Rußland und Italien, bewußt oder
unbewußt die Erkenntnis durchgedrungen, daß
oberste Verantwortlichkeiten nur von entschie-
denen Talenten getragen werden dürfen, und daß
es für Millionenstaaten keine Entschuldigung gibt,
wenn diese Talente nicht aufgefunden werden. So
haben sich ohne Zutun der Gesetzgebung als Kon-
sequenz einer freieren Praxis in jenen Staaten au-
tomatisch wirkende Selektionsmethoden von größ-
ter Verschiedenheit herausgebildet, die aber alle
darin übereinstimmen, daß sie die Talente des
Landes aus den Millionen der Mindergeeigneten
aussieben, an die Oberfläche tragen und den Ver-
antwortungen zuführen, für die sie von Natur
bestimmt sind. Solche selbsttätige Selektions-
methoden zu erläutern ist hier nicht der Platz; es
genügt zu bemerken, daß Preußen sie nicht kennt,
und somit darauf angewiesen ist, aus hundertfach
kleinerem Material nach antiquierter Praxis die
Rekrutierung seiner ersten Geschäftsführer vor-
zunehmen. So fällt denn die doppelt erschwerte
Aufgabe der Entdeckung höchster Begabungen
drei Königlichen Kabinetten zu, und es kann kom-
men, daß bei gesteigerten Ansprüchen an Ver-
mögen, Herkunft, Repräsentation und Glanz der
Persönlichkeit die schwersten Verantwortungen in
Krieg und Frieden nicht immer auf den stärksten
Schultern ruhen. Es ist ein schönes Zeichen der
Festigkeit des preußischen Gefüges und der
130
Brauchbarkeit des aristokratischen Durchschnitts,
daß bisher erst auf zwei Gebieten vorwiegend ge-
schäftlicher Art, freilich auch bedeutender Wich-
tigkeit, die Mängel des Systems offenkundig ge-
worden sind: im Kolonialwesen und in der aus-
wärtigen Politik. Grundsätzliche Mängel eines
Aufbaues können auf die Dauer nicht ohne Ge-
fahren bleiben; es ist zu hoffen, daß es nicht
allzuschwerer Erschütterungen bedarf, um sie zu
beseitigen, und daß nicht eine allzuheftige Reak-
tion das Gute mit dem Fehlerhaften vernichtet
und uns in die Arme des Amerikanismus treibt.
Ein weiterer Mangel in der Anpassung des preu-
ßischen Verwaltungsstaates an die herrschende
Mechanisierung ist zu erwähnen. Mechanistische
Geschäfte erfordern zwar einen gewissen Oppor-
tunismus im Anschluß an den Wechsel der Erforder-
nisse und die Ansprüche des Tages, der Sieg aber
steht dem zu, der durch die Klippen des Augen-
blicks steuernd den Fernpunkt eines weit erspäh-
ten Zieles nicht aus dem Auge verliert. In par-
lamentarischen Staaten ist das Fernziel Erbteil
einer führenden Partei, somit eines Volksteiles.
Ministerien wechseln und sterben aus ; das Partei-
ziel bleibt erhalten, und der scheidende Politiker
ist zufrieden, wenn er auch nur einen Fuß breit
sich ihm nähern konnte, in dem Bewußtsein, daß
sein Genosse oder er selbst dereinst berufen sein
wird, die Arbeit fortzusetzen. In der Ruhezeit
verfolgt das Staatsschiff den Kurs der Gegenpartei
berührt andere Inseln, und bleibt doch bereit,
die unterbrochene Fahrt von neuem aufzunehmen.
So entsteht eine politische Tradition, eine Politik
9* 13^
der Diagonale, und die Möglichkeit Aufgaben zu
stellen und zu lösen, die Jahrzehnte erfordern.
In Preußen beschränkt sich die ministerielle
Lebensdauer auf wenige Jahre. Der Minister kann
keiner Partei angehören, denn er muß die Fiktion
vertreten, daß die vom Parlament unabhängige
Regierung sozusagen im Absoluten wurzelt; so-
mit kann er sich auf eine Parteitradition nicht
stützen. Hegt er dennoch weitausschauende Pläne,
so wird er doppelt Bedenken tragen, sich und sei-
nen Stab ihnen zu widmen: denn er selbst wird
die Verwirklichung nicht erleben, und sein Nach-
folger wird vielleicht damit beginnen, das müh-
sam gelegte Fundament so gründlich zu zerstören,
daß kein Späterer Lust findet, es zu erneuern.
Deshalb fehlt es im preußischen Deutschland,
trotz aller Tradition der Verwaltung, seit Bis-
marcks Abgang an politischer Tradition, an poli-
tischen Ideen und an politischer Langatmigkeit.
Da auch dieser Fehler in der Konkurrenz der Staa-
ten sich geltend zu machen beginnt, zumal in
dem Sinne, daß unsere außenpolitischen Ziele
stark zusammengeschmolzen sind, so wird die Ab-
hilfe nicht mehr lange auf sich warten lassen.
So müssen wir am Schluß dieser Zwischenbe-
trachtung fast mit Erstaunen die paradoxe Tat-
sache feststellen, daß Preußen-Deutschland, das
führende Land der europäischen Mechanisierung,
das viel gefürchtete und viel bewunderte Land der
Technik, das stärkste Industrieland der alten Welt,
das Land der erfolgreichsten Geschäftsleute, sich
in seiner politischen Ordnung den einmal gegebe-
nen Verhältnissen der Mechanisierung so wenig
132
angepaßt hat, — und zwar ohne Überlegenes an ihre
Stelle zu setzen, — daß es weder seine öffentlichen
Geschäfte selbst verwaltet, noch eine ausreichende
Zahl von Talenten für entscheidende Verantwor-
tungen aufbringt, noch klare und bedeutende poli-
tische Ziele besitzt, noch auch — wie wir leider
hinzusetzen müssen — dem Auslande gegenüber
jederzeit das Arbitrium ausüben kann, das einem
Verteidigungsbudget von zwei Milliarden und
der stärksten Territorialarmee aller Länder und
Zeiten entspricht.
Dies Bild eines Staatswesens, das sich gegen das
mechanisierende Ideal zu wehren sucht, ist für
unsere Betrachtung doppelt lehrreich. Einmal,
weil es zeigt, welche gewaltigen Kräfte die Me-
chanisierung aufzubringen vermag, um Wider-
spenstige zu bändigen. Schon heute befindet sich
das altpreußische Herrschaftswesen in einem la-
bilen Gleichgewichtszustand ähnlich dem zu Be-
ginn des XIX. Jahrhunderts, und es ist nur eines
zu hoffen: daß der zögernde Abbau, der sich in
diesen Jahrzehnten vollzieht, nicht durch Kata-
strophen überstürzt wird.
Sodann ist es wichtig festzuhalten, daß der
gegenwärtige antimechanistische Verwaltungszu-
stand Preußens in letzter Linie einen Rest von
Abhängigkeitsbedürfnis der ehemals unterdrückten
Volksschicht seine Erhaltung verdankt. Dieses Ab-
hängigkeitsbedürfnis äußert sich in absolutem
Sinne in der Lust, durch Befehle, Verbote, An-
weisungen, Ermahnungen, Ausschließungen, Privi-
legien dauernd geleitet und beschränkt zu werden ;
es äußert sich in relativem Sinne in der Verehrung
133
^
und Bewunderung, die ohne bewußte Kenntnis
der Ursache dem anerkannt edleren Blute, dem
ausgesprochenen Herrentume gezollt wird.
Das Rudiment vormechanistischer Empfindungs-
weise, das hier zutage tritt, führt uns zurück zu
der Übersicht der zeitgenössischen Ideale, die wir
soeben beendet haben.
Die Mehrzahl dieser Bilder trägt noch die Züge,
die der älteren Empfindungswelt angehören; um
so ausgeprägter, je weiter wir uns aus dem Mittel-
gebiet des Mechanisierungskampfes nach un-
interessierten Regionen hin entfernen. Ausge-
sprochen altertümlich erscheint das körperliche
und das menschliche Ideal, ausgesprochen neu-
zeitlich das wissenschaftliche, politische und staat-
liche. Es gleicht auch hierin das Gesamtbewußt-
sein dem Bewußtsein des Einzelnen, daß abseits
der interessierten Geistessphären sich vorzeit-
liche Reste gemütlicher, harmloser, kindlicher und
abergläubischer Empfindungen erhalten, die auf-
gesogen werden, in dem Maße, wie das Interessen-
bewußtsein sich verdeutlicht und ausdehnt. Denn
ein der Menschheit nicht gerade schmeichelhaftes
Gesetz scheint zu bestimmen, daß die uninteres-
sierte Überzeugung sich allmählich der interes-
sierten Überzeugung anpaßt; mit anderen Wor-
ten, daß die Überzeugung nicht dauernd den In-
teressen widersprechen kann. Weshalb es denn
auch von jeher verdienstvoller und erfolgreicher
war, die Menschen von falschen Interessen zu
befreien, als von falschen Meinungen.
So kann es nicht befremden, in den Träumen
der Mechanisierung eine gemeinsame Tendenz zu
134
erblicken, die der philosophische Geist überwunden
wähnt : das Streben nach dem ausschließlich Ver-
nünftigen. Noch immer gehört unser waches Le-
ben der Aufklärung, dem Rationalismus: wie
könnte es anders sein in einer Zeit, die uns be-
weist, daß Furcht stärker ist als Mut, Fleiß stärker
als Kraft, Klugheit stärker als Träume? Einer
Zeit, die beständig das Wort im Munde führt:
daß sie weiß, was sie will, und den Erfolg als
Gesetz betrachtet?
Wir müssen anerkennen, daß niemals, so lange
die irdische Menschheit besteht, eine Weltstim-
mung so einheitlich einen so ungeheuren Kreis
von Wesen beherrscht hat, wie die mechanistische.
Ihre Macht scheint unentrinnbar, denn sie be-
herrscht die Produktionsquellen, die Produktions-
methoden, die Lebensmächte und die Lebens-
ziele: und diese Macht beruht auf Vernunft.
Von der Sehnsucht der Zeit
Trotzdem aber die Mechanisierung noch lange
nicht ihren Zenith erreicht hat, trotzdem sie
ihre Aufgabe, den Weltkreis zu europäisieren, erst
nach Generationen erfüllen und vielleicht auch dann
noch nicht kulminieren wird, trägt sie schon heute
den Tod im Herzen. Denn im Urgrund ihres
Bewußtseins graut dieser Welt vor ihr selbst; ihre
innersten Regungen klagen sie an und ringen nach
Befreiung aus den Ketten unablässiger Zweck-
gedanken.
Die Welt sagt, sie weiß was sie will. Sie weiß es
nicht, denn sie will Glück und sorgt um Materie.
135
Sie fühlt, daß die Materie sie nicht beglückt, und
ist verurteilt, sie immer von neuem zu begehren.
Sie gleicht Midas, der im Goldstrom verschmachtet.
Die Hoffnungen, die aus der Tiefe aufsteigen
und im Geiste Einzelner Bewußtsein erlangen,
sind widerspruchsvoll und daher dem Gemein-
geist unklar. Denn einem Geiste wird nur das
vernehmbar, was von gleichklingenden Elementen
harmonisch zum Akkorde verstärkt wird, das Wider-
strebende bleibt dumpfes Geräusch. Aus aller
Verworrenheit aber kKngt die Stimme der Sehn-
sucht doppelt ergreifend, weil sie, das selbstsichere
Wort der Bewußtseinswelt verleugnend, sich an-
klagt, was sie ersehne, das wisse sie nicht.
Wer lehrt den zweifelnden Menschen dieser Zeit,
was er schätzen, heben, begehren, erstreben darf ?
Er wendet sich zur Philosophie; sie antwortet
ihm: so mußte dieser, so mußte jener denken.
Umstände und Anlage führen zur einen oder zur
anderen Weltanschauung. Jede ist wahr, jede ist
falsch, je nach der Eröffnung steht das Spiel so
oder so. Das Ergebnis ist Kritik.
Er wendet sich zur Religion; sie zeigt ihm die
Entstehung und Entwicklung des reUgiösen Ge-
dankens, sie entwirft eine psychologische Analyse
des religiösen Empfindens, projiziert das Wandel-
bild der Glaubensformen und gibt eine Natur-
geschichte Gottes. Die Gottheit wird zur
Phantasmagorie.
Er wendet sich zum Menschen : der eine preist
die alten Tugenden, der andere die neuen. Sinnes-
lust und BeschauHchkeit, Naturgenuß und Erfolg,
Ehre und Freiheit, Pflicht und Reichtum: zu-
136
letzt wird alles der Individualität anheim-
gestellt.
Er befragt die Wissenschaft. Sie rät ihm, sich
zu spezialisieren.
Die Kunst eröffnet ihm den Bildersaal, der von
Memphis bis Paris, von Mexiko bis Peking alle Schön-
heit der Zeiten und Völker birgt. Sic verherrlicht
die eine, schmäht die andere Epoche mit dem
Hinweis, daß sie morgen umgekehrt verfahren wird.
Das Erwerbsleben lehrt, wie man Bedürfnisse
schafft und befriedigt, wie man organisiert und
verwaltet und die käuflichen Güter der Welt ver-
mehrt, damit neue Generationen Lebensunter-
halt, Arbeit und neue Zweifel finden.
Es ist, als sei die Welt flüssig geworden und zer-
rinne in den Händen. Alles ist möglich, alles ist
erlaubt, alles ist begehrenswert, alles ist gut. Zu-
letzt tut der Abgrund der Zeiten sich auf, und es
zeigt sich wie in Macbeths Spiegel jedes der Ge-
sichte zu schwankenden Generationsreihen er-
weitert ; jeder Mosaikstein des flimmemden Bildes
wird zum endlosen Bande, und in jedem Quer-
schnitt des Bündels erscheint ein n^ues Symbol
unsäglicher Relativitäten.
Der Mensch aber begehrt Glauben und Werte.
Er fühlt, daß er Unersetzliches besessen hat ; nun
trachtet er das Verlorene mit List wiederzu-
gewinnen und pflanzt kleine Heiligtümer in seine
mechanisierte Welt, wie man Dachgärten auf
Fabrikgebäuden anlegt. Aus dem Inventar der
Zeiten wird hier ein Naturkult hervorgesucht,
dort ein Aberglauben, ein Gemeinschaftsleben,
eine künstliche Naivität, eine falsche Heiterkeit,
137
k
ein Kraftideal, eine Zukunftskunst, ein gereinigtes
Qiristentum, eine Altertümelei, eine Stilisierung.
Halb gläubig, halb verlogen wird eine Zeitlang die
Andacht verrichtet, bis Mode und Langeweile den
Götzen töten.
Dennoch ist dieses Spiel nicht verächtlich, weil
es aus Sehnsucht stammt. Aber es bleibt hilflos
und kindisch, weil auf dem zitternden Boden der
Mechanisierung arkadische Haine nicht gedeihen.
Mancher wählt die Flufht; aber der Amerikaner,
der zwei Jahre lang in Wäldern haust, muß beim
Anblick des Gerätes, des Buches und Kleides, das
er mit sich führt, sich eingestehen, daß er von der
Mechanisierung der anderen lebt, daß seine Ein-
siedelei eine Sommerfrische auf Kosten der me-
chanisierten Gemeinschaft bedeutet. Mancher
wählt die Abgeschlossenheit, aber muß empfinden,
daß ein Glück, das sich nicht mitteilt, fehlerhaft ist.
Die Blume vor dem Fenster eines Bauernhauses^
das Lied auf der Landstraße, der Sonntagsausflug
der Stadtbewohner, das Buch in den Händen des
Arbeiters bezeugen, daß das Volk entschlossen ist,
nicht in mechanistischer Zweckhaftigkeit aufzu-
gehen; aber Lesehallen und Volkstheater, popu-
läre Wissenschaft, Gartenkolonien und halb wohl-
tätige Unterhaltungen sind bei aller Nützlichkeit
allzudürftige Mittel, um den Seelenfunken anzu-
fachen. Nicht mehr wäre dem Seelenleben ge-»
Wonnen, wenn nach dem Siege des sozialistischen
Prinzips um den Preis trübseliger Nivellierung ein
Zuwachs des Minimaleinkommens von 140 Ta-
lern erkauft würde. Mechanistische Mittel
werden die mechanistischen Übel nicht heilen.
138
Wenn es nicht allzu vermessen erscheint, die
Frage zu stellen : wo die Gegenkräfte der Mechani-
sierung zu finden sind, und wie sie ausgelöst wer-
den können, so muß der Versuch gewagt werden,
die Gesamtheit dieser Weltbewegung mit einem
Blick zu umfassen.
Was ist der Sinn der Mechanisierung, was ist
ihr Wesen und Ziel?
Betrachten wir zuerst ihre Entstehung. Vor
Anbruch der Geschichte waren Kraft und Mut
die höchsten Tugenden des Menschen. Heroische
Völker, gestählt im Kampf mit den Naturmächten,
traten aus ihren Wäldern hervor; sie unterjochten
die schwächeren, friedfertigeren Urbewohner. Der
Kluge war der Knecht des Starken; er diente
ihm mit Arbeit und Künsten und wurde dafür
geschützt und geleitet. Der Unterdrückte sam-
melte, der Herr verschwendete sein Erbteil;
Klugheit war zäher als Kraft ; und in dem tausend-
j ährigen Ringen um den Weltbesitz, das wir Ge-
schichte nennen, siegte nach Wechselfällen und
Rückschlägen erst hier dann dort, zuletzt überall,
Intellekt und Zahl über Gesinnung und Tradition.
Die Welt erhielt ihr Gepräge von den Rebellen;
an die Stelle der Kaste trat die Organisation, an
die Stelle des Frohns die Maschine. Die einstigen
Herren, soweit ihr Blut nicht in Mischung auf-
ging, waren gezwungen, sich der Mechanisation
anzupassen ; nur da, wo glückliche Umstände ihnen
unveräußerlichen Landbesitz erhielten, blieben sie
im Besitz von Privilegien. Naturgemäß waren die
mechanistischen Einrichtungen auf die Eigen-
schaften ihrer Schöpfer zugeschnitten; sie erfor-
139
derten Intelligenz, Zähigkeit, Beweglichkeit und
Erfindungsgabe. Innerhalb der geistigen Atmo-
sphäre der Mechanisierung, die wir zu schildern
unternahmen, kämpfen nun die Werte der alten
Gesinnungswelt mit den Werten der neuen In-
tellektualwelt. Zwar leben noch die einen in ge-
wissen Schätzungen des Volksbewußtseins fort;
doch für die anderen hat der praktische Erfolg
sich entschieden, und in der geistigen Verwirrung,
die der Kampf und das Einleben in veränderte
Ordnungen geschaffen hat, scheint der Augen-
blick gekommen, wo die neuen Werte in die Vestc
des Unbewußten, des Gefühls, überzutreten be-
ginnen, wo die einseitige, vernichtende Selektion
des Intellektualismus, die bisher vorzugsweise als
Ergebnis der Praxis geduldet wurde, jene Rudi-
mente älterer Wertungen, von denen wir gesprochen
haben, hinwegspült, und sich zum Wahrzeichen
der Zeit erhebt.
Hier ist der Punkt, wo zum ersten Male Er-
kenntnis einzugreifen hat. Sie muß zur Schätzung
dessen führen, was die Welt den ethischen und
geistigen Werten der einstigen Oberschicht ver-
dankt, und muß die Verantwortung erwecken für
die Gefahr der Verarmung, die aus ihrer Vernich-
tung erwächst.
Spätere Zeiten werden nicht begreifen^ mit
welchem Mangel an psychologischem Instinkt wir
den Gegensätzen menschlicher Geistesrichtung
gegenüberstanden, wie wir über Erscheinungen
und Zusammenhänge, die mit Händen zu greifen
waren, hinwegsahen, weil unsere Augen sich auf
die merkwürdigsten Züge unserer Epoche nicht
140
einstellen wollten. Ja, diese Metapher ist im wört-
lichsten Sinne wahr; es erfordert kaum mehr an
physiognomischer Apperzeption, um körperlich
die Grundkontraste zu empfinden, als normale
Kinder Fremden entgegenbringen.
Vor Jahren habe ich entwickelt, daß Furcht
und Zweckhaftigkeit auf der einen, Mut und
Zweckfreiheit auf der anderen Seite die Grund-
stimmungen des Menschengeistes ausdrücken. In-
dem der damals aufgestellte Begriff des Zweck-
menschen zum Gemeingut wurde, hat sich ein
Element der Beobachtungsreihe stabilisiert. All-
mählich aber wird in das Bewußtsein der Gemein-
schaft die Erkenntnis eindringen, daß gewisse, stets
verschwisterte Eigenschaften regelmäßig im Ge-
folge der einen, andere im Gefolge der anderen
Kategorie auftreten müssen. Solange Menschen,
welche die Merkmale der Eitelkeit, der Neugier,
des Betätigungsdranges, der Unwahrhaftigkeit,
der Kritiklust, der Unsachlichkeit, der Trübsal
tragen, mit den gleichen Blicken angeschaut wer-
den wie diejenigen, welche selbstbewußt, aben-
teuerlich, wahrhaft, phantasievoll, sachlich und
heiter sind, solange ist unsere Zeit gleichsam psy-
chologisch farbenblind. Die Kenntnis der gei-
stigen Eigenschaftsgruppen wird aber dereinst so
selbstverständUch erscheinen, wie heute etwa die
Unterscheidung der körperlichen Gruppenmerk-
male von Kaukasiern und Mongolen. Sie wird
nicht, wie angesichts der einseitigen Färbung
unserer sprachlichen Charakteristik angenommen
werden könnte, zur Verachtung der einen, zur
Verherrlichung der anderen Gruppe führen —
141
denn die Epitheta verdanken ihre extremen Wer-
tungen dem Anschauungskreis der doppelschich-
tigen Epoche — viehnehr werden zwei, wenn auch
scharf getrennte Idealtypen sich abstrahieren lassen.
Daß auch der zweckhafte Typ unserer westlichen
Anschauung ansprechende, ja sympathische Züge
entgegenbringen kann, zeigt das Bild der Erz-
väter, Sokrates', Epiktets, oder um von Neuzeit-
lichen zu reden, etwa Voltaires, Heines, Victor
Hugos, Tolstois.
So wird die Erkenntnis menschlicher Quali-
täten uns die Sicherheit der Wertung wiedergeben.
Vor allem aber wird sie verhindern, daß in ein-
seitiger Selektion die Mechanisierung fortfährt,
Gesinnung zugunsten von InteUigenz zu ver-
nichten; sie wird bewirken, daß ein Menschen-
schlag erhalten bleibt, dem die Welt ihre
Schönheit, ihre Phantastik und höhere Ordnung
verdankt.
Entspringt diese erste Forderung aus den Ent-
stehungsbedingungen der Mechanisierung, so müs-
sen die Wirkungsbedingungen dieser Kraft in ana-
loger Weise zu umspannen und auszudeuten sein.
Mechanisierung entspricht wirtschaftlicher Not-
wendigkeit: verzehnfachte Bevölkerung auf un-
veränderter Bodenfläche verlangt neue Wirt-
schaftsmethoden. Der Kern der Mechanisierung
ist der Produktionsprozeß. Er teilt mit anderen
undurchgeistigten oder irrationalen Prozessen ähn-
licher Art — wie zum Beispiel dem Prozeß der
persönlichen Bereicherung oder des Ausbaus von
Unternehmungen — die Tendenz, in unablässiger
Selbsterregung den Umtrieb zu steigern, und zwar
142
in doppelter Progression : einmal so, daß die Pro-
duktionssteigening die Bevölkerung verdichtet, und
gleichzeitig die Verdichtung wiederum die Pro-
duktion erhöht; sodann in dem Sinne, daß die
Menge der Verbrauchsgüter den Einzelverbrauch
anregt und wiederum der vermehrte Einzelver-
brauch neue Verbrauchsgüter verlangt.
Den ersten Kreislauf gemäß der Malthusdok-
trin zu durchschneiden, ist wider die Natur und
bleibt außer Betracht. Der zweite Kreislauf greift
in geheiligte Gesetze nicht ein, er ist im Sinne
der Natur willkürlich und daher auflösbar.
Mit dem Lächeln, das uns entlockt wird, wenn
wir von der Freude ostafrikanischer Neger an
preußischen Husaren jacken hören, werden un-
sere Nachkommen vernehmen, von welchem Wa-
renhunger wir besessen waren. Ein Dritteil, viel-
leicht die Hälfte der Weltarbeit geht auf, um
der Menschheit Reizungs- und Betäubungsmittel,
Schmuck, Spiel, Tand, Waffen, Vergnügungen
und Zerstreuungen zu schaffen, deren sie zur Er-
haltung des leiblichen, zur Beglückung des see-
lischen Lebens nicht bedarf, die vielmehr dazu
dienen, den Menschen dem Menschen und der
Natur zu entfremden. Dies vor Augen zu stellen,
genügt es, die Zahlen einer Produktionsstatistik
oder eines mittleren Haushaltsbudgets darauf zu
prüfen, wieviel zum Glück und Leben notwendige
Positionen es enthält, (wobei natürlich die Be-
lastungen aus dem Privatmonopol städtischen Bo-
dens als Geschäftskosten, nicht als notwendiger
Verbrauch zu rechnen sind) oder in den Fenster-
auslagen einer Hauptstraße die millionenfachen
H3
Nichtigkeiten zu betrachten, welche die Begierde
der Menschen erregen, und Tag für Tag mit
saurer Arbeit erkämpft werden.
Es wurde erwähnt, daß die Frauen, die nicht
bloß der Natur, sondern auch den Urvölkem nä-
her stehen als wir, sich bereitwilliger blenden lassen
vom Schimmer des mechanisierten Produkts, wo-
gegen der Mann sich maßloser dem Genuß der
Zivilisationsgifte hingibt.
Der primitive Irrtum, es sei zu befürchten, daß
bei Beschränkung der Weltarbeit auf notwendige
Produkte die Bevölkerung einen Teil ihres Lebens-
unterhalts verliere, kann hier unberücksichtigt
bleiben; er bedeutet eine Paraphrase des alten
Trugschlusses : Luxus sei notwendig, weil er Geld
unter die Leute bringe.
So trägt die Welt einen großen Teil ihrer Me-
chanisierungslast freiwillig; sie wird sich in dem
Maße entlasten, ihre Arbeitskraft und Muße be-
glückenderen Zielen zuwenden und die Zwangs-
gesetze der Mechanisierung durchbrechen, wie sie
auf Nichtigkeiten und SchädUchkeiten verzichtet.
Wer aber in diesen das erstrebenswerte Glück der
Völker erblickt, dem sei es gegönnt, sofern er seine
Torheit nicht andern zumutet.
Seltsam ist es, daß unsere so sehr zum Werten
und Umwerten geneigte Zeit, die heute das Tanzen
und morgen das Beten anpreist, heute das Trinken
und morgen den Sport verurteilt, daß diese Zeit
noch keine Regung des Gewissens verspürt hat
angesichts der ungeheuerlichen Verschwendung
an Arbeit, Geist und Rohstoff, deren der Einzelne
und die Gesamtheit sich schuldig macht. Asthe-
144
tisches Ärgernis an dem Produktenwust hat man-
cher genommen; nun steht die Zeit vor der Tür,
die in diesem Narrenkram das materielle Welt-
verbrechen erblicken und mit verständnislosem
Grauen die Spielzeuge des XX. Jahrhunderts
betrachten wird.
Es bleibt der dritte Versuch und die umfassendste
Frage : wie dürfen wir die mechanistische Epoche
bewerten, wenn wir sie im Bilde der Menschheits-
entwicklung betrachten.
Niemals, seit Erschaffung des Planeten, war ein
so großes Quantum irdischen Geistes in Bewe-
gung wie heute. Die Zahl der menschlichen Ge-
hirne steht im Maximum, und die Denkarbeit
geht an die Grenzen ihrer Kräfte. Vom Denken
werden alle Räder der Welt im Schwung erhalten,
und setzte der sorgende Erdengeist acht Tage lang
aus, so würde das rückwärts stürmende Getriebe
alles Menschenwerk zerschmettern.
Auch die Mechanik des Denkens ist höher ge-
steigert als zu irgend einer früheren 2^it. Denn
das materielle Wissen ist gewaltig, die Menge der
erkannten Zusammenhänge, der beobachteten
Tatsachen, der verfügbaren Analogien unermeß-
lich. Vor allem aber sind wirksame, der Mecha-
nisierung angepaßte Methoden und Formen des
Denkens verfügbar, die früheren Zeiten unbe-
kannt, heute von jedermann mühelos gehandhabt
werden, vom Politiker, Dichter, Reporter und
Landwirt. Beherrschend für unser Denkwesen
ist die Form geworden, die man als Fluxions-
methode bezeichnen könnte. Sie besteht darin,
daß die Erscheinung nicht mehr als ein fest Ge-
145
gebenes angesehen wird, sondern als kontinuier-
liche Funktion variabler Faktoren. Auf ihr be-
ruht die mathematische Analysis, die Entwick-
lungslehre, die historische Betrachtungsweise, das
naturwissenschaftliche Messen, die Statistik. In
Verbindung mit ihr haben mathematisch-phy-
sikalische, philosophisch - kritische, vergleichend
naturwissenschaftliche, mechanisch konstruktive,
praktisch organisatorische Methoden sich der Gei-
ster bemächtigt, und neue Begriffe, Verständi-
gungsmittel, Lehren und Sprachformen geschaffen.
Und wiederum die neuere Sprache selbst, mit
ihren zahllosen Formeln abstrakter Zusammen-
hänglichkeit, bildet ein kräftiges Vehikel des me-
chanistischen Denkens. Deshalb ist es ein frucht-
loses Beginnen, wenn Popularpropagandisten ihr
den Rückweg zum konkreten Ausdruck des Alter-
tums weisen wollen, indem sie nach feststehenden
Rezepten Wort für Wort des mechanistischen
Gefüges in falsche Bildlichkeiten umsetzen und
das journalistische Gerippe ihrer Darstellung mit
Theaterlappen behängen. Kraft der Sprache ist
nichts anderes als Kraft der Gedanken; wegge-
lassene Präpositionen ändern daran nichts.
Wenn so die Welt im Sinne des Denkens durch
und durch vergeistigt erscheint, so möchte man
glauben, daß ungeheure Erleuchtungen und Fem-
blicke, wahrhafte Seligkeiten des Geistes unserer
2^it beschieden sein müßten. Nichts dergleichen
ist der Fall; schon die grenzenlose Spezialisierung
macht es unmöglich. Denn wie in einem Bergwerk
die Förderung verarmt, wenn die Längen und
Verzweigungen der Stollen das Maß überschreiten^
146
so gehen die unermeßlichen Erlebnisse und Ent-
deckungen jedes Tages, in Winkeln gestaut, dem
Gesamtleben verloren. Gäbe es Geister, wie die
Humanistenzeit zum letzten Male sie kannte, die
den Inbegriff unseres Wissens zu umspannen ver-
möchten: sie würden die Geistesbrücken nieder-
brechen sehen unter der Last des Wissens, und
zuletzt sich bescheiden, alles registrierend hinzu-
nehmen, weil denn schließlich von einer jeden
Wahrheit auch das Gegenteil wahr und erwiesen
ist.
Aber die Natur sendet solche Geister nicht;
schon deshalb nicht, weil in den überreichen und
überfeinen Denkapparaten kein Organ sich findet,
das anders wirkt als analysierend, angleichend, ver-
wertend, kritisierend. Fast alles, was geschrieben
wird, kennen wir, bevor wir es gelesen haben; von
fast allem, was gedacht wird, wissen wir das Er-
gebnis, noch bevor es zu Ende gedacht ist. Es
geht uns wie geübten Kartenspielern, die, wenn die
ersten Blätter ausgespielt sind, voraussehen, wie
die Partie verläuft, welche Zwischenfälle eintreten,
ja welche Fehler gemacht werden. Niemals hat
man das Wort Synthese so häufig vernommen wie
in dieser Zeit; aber was sind diese Synthesen?
Ähnlichkeiten, Analogien, Bilder, Symbole, Zu-
sammenhänge; je fremdartiger, desto bekannter,
je verstiegener desto trivialer, nach stets den
gleichen Rezepten aufgestellt, erläutert, ver-
teidigt und bewiesen.
Hier liegt die tiefste Sehnsucht unserer Zeit,
die ihren Sinn sucht. Unbewußt fühlt sie sich
angewidert vom Denken, vom mechanistischen
^ 147
Denken; sie hat alles schon einmal gehabt und
durchgrübelt, alles durchgeschätzt, jedes Gefühl
sondiert und abgeleitet. Sie weiß, wie alle diese
Rätsellösungen schmecken und wie lange sie vor-
halten. Sie sehnt sich nach einem jenseits des
Beweisbaren stehenden Sinn, und schrickt davor
zurück, weil er ihr willkürlich scheint; und er ist
willkürlich, weil er nicht in ihrer Seele liegt. Des-
halb blickt sie auf zu den Geistern, die göttliche
Überzeugungen in ihren Seelen trugen, Plato,
Paulus, Franziskus, Eckhardt, und kann doch die
Überzeugungen nicht erwerben, weil sie diese See-
len nicht erwerben kann. Sie schafft sich Gemein-
den, Tempel und Altäre, und empfindet verzwei-
felnd, daß sie das Einzelne nicht glauben kann, weil
sie alles glaubt, daß sie alles glauben muß, weil sie
nichts glauben kann. Die Zeit sucht nicht ihren
Sinn und ihren Gott, sie sucht ihre Seele, die im
Gemenge des Blutes, im Gewühl des mechanisti-
schen Denkens und Begehrens sich verdüstert hat.
Sie sucht ihre Seele und wird sie finden; frei-
lich gegen den Willen der Mechanisierung. Dieser
Epoche lag nichts daran, das Seelenhafte im Men-
schen zu entfalten; sie ging darauf aus, die Welt
benutzbar, und somit rationell zu machen, die
Wundergrenze zu verschieben und das Jenseitige
zu verdecken. Dennoch sind wir wie je zuvor
vom Mysterium umgeben; unter jeder glatten
Gedankenfläche tritt es zutage, und von jedem all-
täglichen Erlebnis bedarf es eines einzigen Schrittes
bis zum Mittelpunkt der Welt. Die drei Emana-
tionen der Seele : die Liebe zur Kreatur, zur Na-
tur und zur Gottheit konnte die Mechanisierung
148
dem Einzelleben nicht rauben; für das Leben der
Gesamtheit wurden sie zur Bedeutungslosigkeit
verflüchtigt. Menschenliebe sank zum kalten Er-
barmen und zur Fürsorgepflicht herab, und be-
deutet dennoch den ethischen Gipfel der Gesamt-
epoche; Naturliebe wurde zum sentimentalen
Sonntagsvergnügen; Gottesliebe, überdeckt vom
Regiebetriebe mythologisch - dogmatischer Ritu-
aUen, trat in den Dienst diesseitiger und jensei-
tiger Interessen und wurde so nicht blos unedlen
Naturen verdächtigt.
Es gibt wohl keinen einzigen Weg, auf dem es
dem Menschen nicht möglich wäre, seine Seele
zu finden, und wenn es die Freude am Aeroplan
wäre. Aber die Menschheit wird keine Umwege
beschreiten. Es werden keine Propheten kommen
und keine Religionsstifter, denn diese übertäubte
Zeit läßt keine Einzelstimme mehr vernehmlich
werden : sonst könnte sie heute noch auf Christus
und Paulus hören. Es werden keine esoterischen
Gemeinden die Führung ergreifen, denn eine Ge-
heimlehre wird schon vom ersten Schüler miß-
verstanden, geschweige vom zweiten. Es wird keine
Einheitskunst der Welt ihre Seele bringen, denn
die Kunst ist ein Spiegel und ein Spiel der Seele,
nicht ihre Urheberin.
Das Größte und Wunderbarste ist das Ein-
fache. Es wird nichts geschehen, als daß die
Menschheit unter dem Druck und Drang der Me-
chanisierung, der Unfreiheit, des fruchtlosen
Kampfes, die Hemmnisse zur Seite schleudern
wird, die auf dem Wachstum ihrer Seele lasten.
Das wird geschehen nicht durch Grübeln und Den-
149
ken, sondern durch freies Begreifen und Erleben.
Was heute viele reden und einzelne begreifen, das
werden später viele und zuletzt alle begreifen:
daß gegen die Seele keine Macht der Erde stand-
hält.
Was rufen die Völker aller Zeiten einander zu ?
Erlebnisse ihrer Seelen. Was kümmern uns die
Salben der Ägypter, die Ritualien der Juden, die
Schlachtordnungen der Griechen, die Auspizien
der Römer, die Alchymistereien der Scholasten?
Was ihre Seelen gelitten und geschaffen haben,
ihre Gesänge und Bilder, Visionen und Ahnungen,
das besitzen wir als ein untrennbares Teil unser
selbst. Was wir im Leben genossen, wenn die
Seele unbeteiligt, was wir erduldeten, wenn die
Seele unverletzt blieb, bedeutet nur einen Reiz
und einen Schatten, zu flüchtig für die Erinne-
rung. Die Kunst, die unseren Nerven schmeichelt,
der Gedanke, der nicht in die Tiefe klingt, die
Handlung, die unsere äußere Erfahrung bereichert,
sind tote Dinge.
Gleichviel, wie wir das Herz der Welt zu er-
fassen suchen: immer wird uns die Seele, unsere
eigene Seele, entgegentreten. Nehmen wir das
Körperliche als real und primär, so müssen wir
aus Materie Geist, aus Geist Seele sich losringen
sehen : denn das Atom ballt sich zur Zelle und
aus dem Widerstreit sich aufhebender Sensibili-
tätskeime wird Empfindung erkennbar; die Zelle
vereinigt sich zum Menschen und aus der Sum-
mierung gleichgerichteter Empfindungselemente
wird Geist sichtbar; der Mensch verbindet sich
zur Gemeinschaft und aus der widerstrebenden
ISO
Mannigfalt der Geister tritt die Seele zutage,
die im Einzelmenschen wirkte, wie der Geist in
der Einzelzelle, wie die Empfindung im Atom,
unbefreit und dennoch lebendig. Nehmen wir
das Ich als real und primär, so löst sich aus der
Täuschung der Materie die bedingte Realität des
Geistes, aus dem Geist die volle Realität der Seele,
die sich aus der Trübung befreit, indem sie sich
ihrer selbst bewußt wird. Nehmen wir das Ich
und das Körperliche gleichzeitig als real und
identisch, so erleben wir an uns selbst, aus der
Erfahrung unseres Lebens, die Entwicklung vom
instinktiven Dasein der Kindheit zum geistigen
Dasein der Jugend und zum seelischen Dasein
der Reife.
Nichts anderes ist erforderlich als die Gewiß-
heit des Lebens und Wertes unserer Seele; denn
es handelt sich nicht darum, die Seele zu erzeugen,
sondern zu entfesseln, und durch diese Gewiß-
heit ist sie frei und des Aufstiegs fähig.
Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern sehr
alt; wie denn alle Worte, die außerhalb alltäg-
licher Not der Geist im Laufe der Jahrhunderte
der Menschheit zugerufen hat, stets das Gleiche
bedeuten, nämlich: achte auf deine Seele. Hier
bedürfen wir der Erinnerung deshalb, weil in
einer Zeit, die sich ihrer Entseelung bewußt
wird, solche Erfahrungen eine gewaltige Realität
erlangen, eine Realität, die unabhängig von
aller religiösen und philosophischen Vereinzelung
dasteht.
Nein, es wird und kann nichts weiter eintreten
als das Begreifen, daß die Seele wachsen kann, und
'S»
\
daß es wiederum Dinge gibt, die sie verkleinern
und vernichten können. Und dieses Begreifen
wird nicht in Dithyramben oder Bußpsalmen aus-
klingen, sondern in Selbstgewißheit und Schwei-
gen. Die heißen Wünsche der Menschen werden
schweigen lernen, die Wünsche nach käuflichen
Freuden, nach maßloser Bereicherung an äußeren
Eindrücken, nach Beschleunigung des Lebens-
tempos, nach Extensivwirtschaft und Raubbau
des Geistes. Nicht daß deshalb das Arbeitsleben
und der Produktionsprozeß stillstände; denn auch
wenn das Wertlose vom Wünschenswerten und
Nötigen gesondert wird, bleibt noch viel, noch
mehr als heute zu schaffen, um größere und gleich-
mäßigere Behaglichkeit der Lebensführung zu
sichern. Nicht ganz so leicht, und dennoch ge-
wiß, werden die Begierden schweigen lernen, die
den Menschen zum Sklaven der Meinung machen,
die Freude am Neid, am Beifall, an der Beachtung;
ohne daß es deshalb an Männern und Frauen feh-
len wird, die aus Lust am Schaffen, an Verant-
wortung und Initiative Führerschaft leisten und
erstreben. Schweigen lernen wird auch die Kunst;
wie denn von jeher unaufdringUch und schweigend,
und so der Natur vergleichbar, die großen Werke
durch die Zeiten geschritten sind.
Zieht man die Umwälzungsgeschwindigkeit in
Rechnung, an die uns das XIX. Jahrhundert ge-
wöhnt hat, so wird man die Erwartung des neuen
Zustandes der Menschheit, der sich von dem heu-
tigen nicht wesentlicher unterscheidet als etwa
der zeitgenössische haitianische vom zeitgenössi-
schen englischen, nicht als utopisch bezeichnen.
IS2
Freilich kann nicht zu gleicher Zeit die ganze be-
wohnte Welt ihn empfangen; vielleicht wird in
Zentralafrika noch immer die Glückseligkeit des
Warenhauses blühen, wenn in Deutschland das Ge-
schrei der Modeneuigkeiten längst verstummt ist.
Wohl aber wäre es utopistische Schwachheit, aus
eigener Unzulänglichkeit die Kräfte ermessen zu
wollen, die in der Menschheit das Reich der Seele
einstmals auslösen wird.
Die mechanistische Entwicklung können wir
ohne Staunen, ja ohne Geistesaufwand ein gutes
Stück zukunftwärts weiterdenken.. Ein hundert-
fach übervölkerter Erdball, die letzten asiatischen
Wüsten angebaut, ländergroße Städte, die Ent-
fernungen durch Geschwindigkeiten aufgehoben,
die Erde meilentief unterwühlt, alle Naturkräfte
angezapft, alle Produkte künstlich herstellbar, alle
körperliche Arbeit durch Maschinen und durch
Sport ersetzt, unerhörte BequemKchkeiten des
Lebens Allen zugänglich, Altersschwäche als allei-
nige Todesart, jeder Beruf Jedem eröffnet, ewiger
Friede, ein internationaler Staat der Staaten, all-
gemeine Gleichheit, die Kenntnisse des mecha-
nischen Naturgeschehens ins Unabsehbare er-
weitert, neue Stoffe, Organismen und Energien
in beliebiger Menge entdeckt, ja zu guterletzt
Verbindungen mit fernen Gestirnen hergestellt
und erhalten: im Sinne der Mechanisierung die
höchsten Aufgaben, alle lösenswert und vermutlich
dermaleinst gelöst — ; wem macht es Schwierig-
keit, dies Bild künftiger Bequemlichkeit und Ge-
lehrsamkeit beUebig auszumalen, und wen macht
es glücklich?
153
Im Seelischen auch nur einen Schritt über das
dem einzehien Menschen gestattete Maß vorzu-
dringen, ist unmöglich. Ein Grieche konnte sich
durchaus, und ohne Enthusiasmus, das Fliegen
der Menschen vorstellen, den Hamlet oder die
IX. Symphonie konnte er sich nicht vorstellen,
ebensowenig wie ein Mensch der Steinzeit sich
die Freude an einer Gebirgslandschaft oder einer
Brandung vorstellen konnte. Wir brauchen nicht
über das Alter des Menschengeschlechtes hinaus-
zugehen, um zu Zeiten zu gelangen, in denen die
Seelengewalten unseres eigensten Lebens, die
Liebe der Geschlechter, die Liebe zur Heimat,
zu Eltern und Kindern, zu Gott und Natur noch
nicht aus primitiven Instinkten hervorgetreten,
somit im eigentlichen Sinne nicht erfunden und
auch nicht vorstellbar waren.
Oft hat man die spielende Frage gestellt, was
wohl ein großer Geist des Altertums wiederkeh-
rend zu den Gestaltungen der neuen Zeit sagen
würde. Wählt man für diese Rolle einen aufs
Wesentliche gerichteten Geist wie den des Plato,
so dürfte man fabeln: die Früchte der Mecha-
nisierung würde er mit wechselndem Interesse
hinnehmen, die höchste Kunst Europas der seinen
verwandt empfinden, drei Dinge aber würde er
als Offenbarungen verehren : die Lehre . Christi,
die germanische Naturbetrachtung und die deut-
sche Musik.
Hier verläuft eben eine der Grenzlinien, die das
Gebiet des Geistes von freieren Gebieten sondern ;
sie ist zart, aber unüberschreitbar. Was vom
Heraufdämmern des Seelenreiches in Gedanken
154
und Worten materialisierbar ist, das haben wir
gestreift; Glaubhaftigkeit kann nur im Mit-
klingen tieferer Schwingungen gesucht und ge-
funden werden, didaktisch dialektische Beweise
sind Überredungsmittel. Wollte man versuchen,
eine alte, innere Überzeugung, eigentlich nega-
tiver Art, von Wesen dieses Reiches, gedanklich
zu übersetzen, so könnte man auf der Grundlage
realistischer Weltanschauung abermals davon aus-
gehen, daß von der Geisteseinheit des Atoms
zu derjenigen der Zelle, von der Geisteseinheit
der Zelle zu derjenigen des Menschen, von der
Geisteseinheit des Menschen zu derjenigen der
Gemeinschaft eine immer wachsende und immer
sich verengernde Agglomeration stattfindet. Wie
die Summierung zweier Geistesinhalte erfolgt,
wissen wir nicht, denn das, was man eigentUch
Mechanik des Geistes nennen müßte, ist uns voll-
kommen unbekannt. Wohl aber wissen wir, daß
die Summierung zu einer sehr engen Verbindung
führt, ja daß der unendlich summierte mensch-
liche Geist sich selbst als eine Einheit empfindet
und nur durch besondere Beobachtung seine
Vielfältigkeit entdeckt. Den nächsten Prozeß der
geistigen Summierung, den des Menschengeistes
zur geistigen Gemeinschaft, aber können wir
beobachten; wir können den Gemeinschaftsgeist
einer Ehe, einer Freundschaft, eines Stammes
und Volkes, ja selbst einer Versammlung oder Ge-
sellschaft entstehen sehen. Und hier entdecken
wir, daß das eigentlich summierende Moment
nicht in der ursprünglichen Gleichrichtung, son-
dern vielmehr in dem Streben nach Gleichrich-
ISS
tung, nach Zusammenhang und Verschmelzung,
in der Aufhebung der trennenden Faktoren, in
der Beseitigung des Individuellen liegt. Dies
summierende Moment wird uns objektiv hier-
durch nicht bekannter, aber wir nehmen wahr,
daß es von innen empfunden mit dem Mysterium
der Liebe identisch ist.
Folgen wir nun den Analogien mit der Annahme,
daß alle künftige Entwickelung abermals zur
Verengerung der geistigen Agglomeration führen
muß, so kehren wir von der Abstraktion zu der
Urwahrheit zurück, daß die Aufhebung der indi-
viduellen Willenstäuschung das Reich der Liebe
emporführt. Und dieses Reich der Seele und der
Liebe kann tatsächlich auch das Reich Gottes ge-
nannt werden, weil es seinen Schwerpunkt vom
geistig Individuellen in das seelisch Universelle
verlegt.
Wiederholen wir nach diesen Erwägungen die
Frage, welche Bedeutung der mechanistischen
Epoche in der Evolution der Menschheit zuzu-
sprechen sei, so bietet sich eine gesetzmäßige Ana-
logie. So wie in der belebten Natur jeder Aufstieg
vom niederen zum höher gearteten Organismus
durch große Not erschwerter Lebensbedingungen
erzwungen wurde, so glauben wir zu wissen, daß
die höchsten Menschenrassen ihren Aufstieg gleich-
viel welcher tausendjährigen Lebensschule ver-
danken. Die Natur aber gab sich mit der Bildung
einer Auslese nicht zufrieden. Die Auserwählten
mußten sich als Herrscher über die niederen Völ-
ker verbreiten, um sie zu führen, zu erziehen,
ihnen neue Kräfte einzuprägen, schlummernde zu
156
erwecken. Indem sie diese Aufgabe erfüllten,
lösten sie sich auf, dem Urgesetz gehorchend.
Die neue Not, die nun begann, die Not der
Verdichtung, der Mechanisierung und des In-
tellektualismus, trägt etwas Größeres, Endgülti-
geres, Feierlicheres in sich als ihre Vorläuferinnen.
Denn diese Not entspringt nicht physikalischen
und klimatischen Umwälzungen; sie ist von der
Menschheit selbst geschaffen, die nunmehr,
hinreichend entwickelt, ihrem eigenen Inneren
überlassen, mit den gleichen Mitteln sich Qualen
bereitet und Erlösung sucht.
Vielleicht wird sie gezwungen sein, noch mehr-
mals ähnliche Assimilationsprozesse zu vollziehen,
indem es ihr obliegt, zurückgebliebene Völker
emporzuheben; vielleicht soll ihre massenhafte
Vermehrung nebenher dazu dienen, die Kultur-
aufgaben, denen europäische Kolonialarbeit so
hilflos gegenübersteht, allmählich und ohne Ein-
buße eigenen Wesens durch Verschmelzung zu
lösen; gleichviel: die Not der Mechanisierung
hat ihre Gegenkräfte bereits erzeugt, und wir dür-
fen somit auch sie als eine der großen Schulungen
der Erdengeschlechter ansprechen in der Zu-
versicht, daß sie in ihrer Einzigart das Große em-
porführen wird, von dem wir gesprochen haben.
Ihr Beruf macht sie vergleichbar mit dem Leben
einzelner Menschen, die mit allen Kräften des
Geistes ausgestattet, suchend ins Weite streben
und schweigend heimkehren, weil sie ihre Seele
gefunden haben, durch Verzicht und Gewinn
doppelt bereichert.
^57
A
ANHANGT
ZEITFRAGEN UND ANTWORTEN
\
Die folgenden kleineren Aufsätze sind Gelegen-
heitsschriften. Sie wurden ausgewählt und bei-
gefügt, weil sie die Gedankenfäden der Haupt-
schrift in verschiedene Gebiete der Praxis hinüber-
spinnen. Der zeitHche Inhalt wird die akzidentelle
Fassung entschuldigen, die unverändert von den
ursprünglichen VeröffentUchungen übernommen
wurde.
MASSENGÜTERBAHNEN •)
Das Problem
Alle Erzeugung materieller Güter besteht in
planvoller, der Materie aufgezwungener Orts-
veränderung.
Gleichviel ob ein Eisenstück bearbeitet, eine
Maschine montiert, ein chemisches Produkt er-
zeugt oder eine Pflanze gezüchtet wird: allemal
handelt es sich um das Heranführen, Verteilen,
Trennen oder Vereinigen chemischer Substanz zu
gewollter Verbindung, Masse und Gestalt.
Richtet sich das Augenmerk auf den geregelten
Hergang der Trennung und Vereinigung, so spricht
man von Manufaktur und Fabrikation; betrach-
tet man die Überwindung der Entfernungen, so
ergibt sich der Begriff des Transports. Die In-
dustrie stellt sich die Aufgabe, beide Verrichtungs-
arten in immer weiterem Umfang zu mechani-
sieren: die Fabrikation durch Ausbildung des
Maschinenwesens, den Transport durch Vervoll-
kommnung der Verkehrsmittel.
Auf diesem Wege ist sie zur Massenerzeugung
gelangt. Sie will, daß jeder Produzent nicht mehr
nach Maßgabe seines Einzel- und Eigenbedarfs
an Gütern tätig sei, sondern nach Maßgabe des
Bedarfs aller Übrigen; es soll keiner für sich und
jeder für alle arbeiten. Wenn also im Stande der
älteren Güterproduktion jeder Haushalt sein eige-
nes Vieh schlachtete, seinen eigenen Flachs spann
*) Vorrede einer Denkschrift, die in Gencieinschaft mit Herrn
Geh. Baurat Prof. W. Cauer 1909 herausgegeben wurde.
XI
161
und webte, seine eigenen Kerzen zog und sein
eigenes Bier braute, so verlangt der Grundsatz der
Arbeitsteilung, daß aus zentralen Werkstätten bei
möglichst ausgedehnter und ökonomischer Pro-
duktion ganze Landesteile, ja Länder und Erd-
teile mit spezialisierten Waren versorgt werden.
Welche Grunderscheinungen, sei es Übervölke-
rung, sei es wachsender Einzelbedarf, die Welt
zur ökonomischen Uniformierung ihrer Produktion
zwingen, bei welcher alle Individualität der Er-
zeugung durch die Individualität der Auswahl nur
unvollkommen ersetzt wird, ist hier nicht zu er-
örtern. Dagegen ist zu betrachten, wie durch
diesen Prozeß alle Güter der Erde in enorme Be-
wegung geraten: denn von den entfernten Ge-
winnungsstätten strömen die Urstoffe zu den Zen-
tralstellen der Verarbeitung, von diesen, nach
mannigfachem Hin und Her durch die Werk-
stätten der Veredelung und Verfeinerung, ver-
zweigen sie sich nach den Orten der Hauptver-
teilung, um schließlich, in kleine Partikel aufge-
löst, nach den Einzelstellen des Verbrauchs zu
rinnen. Der Kreislauf des Wassers ist das natür-
liche Vorbild dieser Bewegungserscheinung, die
sich in dreifacher Progression steigert; indem sie
nämlich wächst mit der Zunahme des Konsums,
mit der Zunahme der Spezialisierung und der
Verarbeitungsstätten, und mit der Zunahme der
Zahl und Entfernung der Gewinnungsstellen.
So fordert die vorschreitende Industrialisierung
immer zahlreichere und weitergestreckte Trans-
porte, während zugleich jede neue Transport-
möglichkeit eine weitere Verzweigung, Unter-
162
teilung und Generalisierung der industriellen Ar-
beit herbeiführt. Der industrielle Gedanke kann
nicht ruhen, solange nicht alle auffindbaren Ge-
winnungsstellen der Erde nach dem Maße ihrer
Ergiebigkeit und ohne irgendwelche andere Rück-
sicht ihre Materialien liefern; solange nicht diese
Materialien an möglichst einer, und zwar der denk-
bar günstigsten Stätte verarbeitet werden, und
solange nicht jeder noch so entfernte oder unbe-
mittelte Reflektant zum Konsum herangezogen
ist. Diese Aufgabe macht den Industrialismus
zu einem Transportproblem.
Wie weit von diesem Endzustand die gegen-
wärtigen Gestaltungen entfernt sind, ergibt sich
aus der Betrachtung der Einzelprodukte. Die
bedeutendsten Rohmateriahen, Kohle, Eisenerz,
Kalk, Zement, Bausteine, Holz, Kochsalz, Schwe-
felsäure, können kaum einige hundert Kilometer
zurücklegen, ohne ihren Wert um ein so Beträcht-
liches zu erhöhen, daß ihre konkurrenzfähige Ver-
wendbarkeit aufhört. Der Radius, den das Pro-
dukt im Bahntransport nicht überschreiten kann,
ohne seinen Preis zu verdoppeln, beträgt für
Schwefelsäure 500 km, für Steinkohlen 300 km,
für Braunkohlen 44 km. Vereinigen sich Rohma-
terialien im Zustand hoher Verteuerung an Orten
noch so billiger Arbeitskraft, so ist die Entstehung
einer gesunden Industrie unmöghch. Tritt an die
Stelle dieses Mißverhältnisses ein anderes: die
übergroße Entfernung vom Zentrum des Ab-
satzes, so ist abermals jede industrielle Anstrengung
vergeblich. So ist Industrie in heutiger Zeit in
wahrem Sinne ein Bodenprodukt. Sie ist ge-
it'
163
zwungen, den wirtschaftlichen Schwerpunkt zu
suchen zwischen den Gewinnungsstellen ihrer ver-
schiedenen Rohstoffe, den Hauptstellen des Ab-
satzes, den Orten billiger Naturkräfte. Ist dieser
Schwerpunkt nicht benutzbar, sei es, weil es an
Arbeitskräften oder an Transportmitteln fehlt,
oder aus irgendeinem anderen Grunde, oder sind
die Stellen der Gewinnung zu entfernt, die Stellen
des Konsums zu wenig dicht, so sagt man, das
Land sei für die in Frage kommende Industrie nicht
geeignet. Anderseits kann die Entdeckung und
Ausnutzung eines ausgezeichneten industriellen
Schwerpunktes auf Jahrzehnte hinaus wahre Mo-
nopole schaffen. Dies ist vornehmlich der che-
mischen Industrie geschehen, die in einem ihrer
wichtigsten Zweige noch heute ausländischen
Unternehmern tributpflichtig ist, weil diese durch
ein unangreifbares Monopol der Lage die einge-
borene Konkurrenz beherrschen.
Der Angriffspunkt
Betrachtet man ganz allgemein den wirtschaft-
lichen Wettbewerb der Nationen, um sich zu
fragen, auf welchen Faktoren die Entwicklung aller
produzierenden Mächte und der Vorsprung der
einen gegenüber den anderen beruhe, so ergeben
sich folgende Kategorien:
I. Ideelle Werte. Diese bestehen in der Ar-
beitsamkeit, der Zuverlässigkeit, der Disziplin, der
Initiative, der Lernbegierde und der Ausbildung
der Volksgenossen. Diese ideellen Werte sind ein
für allemal gegebene Größen, auf dem Physikum
164
der Rasse und des Landes basierend, und nur lang-
samen, gelegentlich katastrophalen Änderungen
unterworfen. Einer Einwirkung durch unmittel-
bare Maßnahmen sind sie nicht zugänglich.
2. Kapitalkraft. Sie ergibt sich aus der Ver-
gangenheit des Landes, aus seiner geschichtlichen,
politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Ent-
wicklung. In ihr konzentrieren sich sämtliche
übrigen produzierenden Faktoren, soweit sie in
früheren Perioden zusammenwirken und sich un-
gestört summieren konnten. Die Kapitalkraft ist
eine stetig sich bewegende Größe, die abgesehen
von Krieg und höherer Gewalt ruckweisen Ände-
rungen nicht unterliegt.
3. Arbeitskräfte. Hier handelt es sich in
erster Linie um Reichhaltigkeit ; bei weitem nicht
so sehr, wie man annehmen möchte, um Wohl-
feilheit. UngewöhnHche Billigkeit der Arbeits-
löhne ist nicht das Symptom eines wohlhabenden,
sondern eines wirtschaftlich zurückgebliebenen
Landes. Immer wird bei entwickelten Arbeits-
methoden der gut bezahlte, gut ernährte und gut
ausgebildete Arbeiter mit dem billigen, notlei-
denden und abgestumpften Nebenbuhler erfolg-
reich konkurrieren — womit freilich nicht ge-
sagt ist, daß durch rapide Lohnerhöhung die
Qualität im Handumdrehen gehoben wird. Gut
belohnte Arbeit wird aber einen weiteren Faktor
von ausgezeichneter Bedeutung mit sich führen,
nämlich :
4. Konsu m. Da die handelspolitische Tendenz
unserer Zeit den Export erschwert und die Export-
ware zur wenig lohnenden Auffüllung der Werk-
165
Stätten verurteilt, so entscheidet der Umfang des
inländischen Verbrauchs über Größe und Zen-
tralisation, Spezialisierung und Arbeitsmethoden
der Industrie. Nordamerika, ein Land hoher Löhne
und großen Konsums, befindet sich in einer weit-
aus vorzüglicheren industriellen Lage als etwa
Deutschland mit seinen schlechter bezahlten und
weniger konsumfähigen, wenn auch durchaus in-
telligenten Arbeitskräften.
Daß auch diese beiden zusammengehörigen
Faktoren: Arbeitskräfte und Konsum, einer will-
kürlich korrigierenden Einwirkung nicht Raum
geben, bedarf keiner Erwähnung. Anders verhält
es sich mit dem letzten Kräftepaar:
5. Materialbeschaffung, Energiequellen
und
6. Transportverbindungen. Auf den ersten
Blick will es so scheinen, als sei keine Produktions-
bedingung so sehr mit den Fundamentaleigen-
schaften, dem wahrhaften Physikum des Landes
verwachsen, wie die Gewinnung des Rohmaterials,
denn dieses bildet einen materiellen Teil der Erd-
kruste oder ihrer Oberfläche. Indessen ist zu er-
wägen, daß gewisse Rohprodukte, und zwar höchst
wichtige, wie Kohle, Kalk, Sand, Salz, Ton, Holz,
Erze, Getreide, in nahezu allen großproduzieren-
den Ländern vorkommen, wenn auch nicht in
gleichem Reichtum und vor allem nicht immer an
den zur Bearbeitung geeignetsten Stellen; des
ferneren, daß fast alle diese Länder Seeküsten ha-
ben, und daß sie somit die ihnen fehlenden Stoffe
zum mindesten bis in ihre Häfen mit geringen
Frachtaufschlägen und zollfrei gelangen lassen
166
können, wobei die Weltkonkurrenz sie gegen Über-
teuerung schützt. So ist denn nicht die Beschaf-
fung der Materialien selbst der Gegenstand der
Sorge, sondern vielmehr die Schwierigkeit ihrer
Vereinigung. Gewaltig bevorzugt erscheinen da-
her diejenigen Länder, die durch natürliche
Verkehrsstraßen und enge Nachbarschaft der
Fundstätten ausgezeichnet sind.
Dennoch ist die Frage der Transporte, deren
Bedeutung für den industriellen Mechanismus wir
erkannt haben, selbst für frachtlich mittelmäßige
Länder durchaus keine solche, die sich grundsätz-
lich der Ausgestaltung, Förderung und Reform
durch bewußt-spontane menschliche Unterneh-
mung entzieht. Hier vielmehr ist der Punkt
gegeben, und zwar der einzige, von dem
aus das industrielle Gleichgewicht der
Welt organisatorisch bewegt werden kann;
sofern es nämlich gelingt, Transportmethoden zu
schaffen, die den heutigen ökonomisch überlegen
sind. Physikalisch betrachtet, bedeutet die Lösung
dieser Aufgabe die Verminderung des Reibungs-
verlustes bei der Güterzirkulation, somit eines
Faktors, der gegenwärtig einen bedeutenden Teil
der menschlichen Produktionskraft kompensations-
los zerstört. Keine Warengattung könnte sich der
Verbilligung entziehen, die aus solcher Wider-
standsverminderung hervorginge, ja es müßte eine
selbsterregende Steigerung der Wirkung insofern
entstehen, als der Konsumanteil des Einzelnen
sich unmittelbar erhöht fände und hierdurch
vermehrte Produktion und abermalige Verbilligung
erzielt würde.
167
Setzt man den Fall, daß Deutschland, trotz
schlechter Lage und mittelmäßigen Material-
reichtums ein Produktionsgebiet ersten Ranges, in
ost-westlicher oder nord-südlicher Richtung plötz-
lich in praktischem Sinne frachtfrei gemacht wer-
den könnte, so wäre die wirtschaftliche Wirkung
dieses Ereignisses nicht abzusehen. Nicht allein,
daß alle bestehenden Industrien sofort unter weit
verbesserten Bedingungen arbeiteten und ihren
Absatz auf ein Vielfaches des gegenwärtigen Areals
im In- und Auslande ausgebreitet sähen; daß so-
mit auch ihre Konkurrenzfähigkeit dem Welt-
markt gegenüber sich gewaltig, und auf den Pro-
duktionsumfang rückwirkend, steigerte: es wären
vielmehr auch die Existenzmöglichkeiten für zahl-
reiche neue Industrien gegeben, die jetzt aus
geographischen Gründen versagen; und gleich-
zeitig wäre die Industrialisierung derjenigen gut
bevölkerten Landesteile, wie etwa des preußischen
Ostens, gewonnen, die gegenwärtig aus Kargheit
der RohmateriaKen und des Konsums unterbleibt.
Es scheint phantastisch und ist dennoch nicht über-
trieben, wenn ernste Industrielle die Produktions-
fähigkeit in einem praktisch frachtfreien Lande
auf ein Vielfaches der gegenwärtigen veranschlagen.
Wollte man diesen Erwägungen die Besorgnis
entgegenstellen, daß eine so wichtige Einnahme
wie die Eisenbahntransporte auf den Hauptlinien
den Staaten ungeschmälert erhalten werden müsse,
so beträte man damit einen Standpunkt ähnlich
dem der Kellner in gewissen französischen Gast-
häusern : sie suchen im Frühjahr den Fremden zum
Konsum von Weintrauben zu bewegen, damit aus
i68
einer Schädigung des Gastes um zwanzig Franken
ein Gewinn von einem Franken in ihre Taschen
wandle. Beim Übergang zu bilKgeren Transport-
methoden könnte überdies den Staaten auf einigen
Hauptlinien wohl ein Bruttoausfall erwachsen (und
auch dieser würde durch steigende Frachtmengen
auf Haupt- und Nebenstrecken bald kompensiert
sein), schwerlich aber ein Gewinnausfall. Denn den
entgangenen Fiachtgewinn des Staates könnten,
selbst bei ungesteigerter Produktion, Industrie und
Handel leicht durch andere Abgaben aufbringen,
wenn die unfruchtbare Steigerung der Selbstkosten
durch teure Transporte ihnen erspart bliebe.
Das Mittel
Daß Schiffstransporte billiger sind als Land-
transporte, gilt als ein ausgemachter Grund-
satz, der durch unvordenkliche Erfahrung be-
stätigt scheint, und der durch die Einführung der
Eisenbahnen als Haupttransportmittel der Erde
nicht erschüttert wurde.
Wo daher im Binnenlande abseits von schiff-
baren Flüssen eine bevorzugte Verkehrsstraße für
massenhafte Güterbewegung eröffnet werden sollte,
da suchte man, wenn die geographischen Bedin-
gungen es gestatteten, Kanäle zu schaffen und
scheute weder die Höhe der Anlagekosten noch die
Langsamkeit der Transporte, noch die winter-
lichen Unterbrechungen des Verkehrs.
Sucht man nun sich zu vergegenwärtigen, worin
denn die grundsätzliche Überlegenheit der Kanäle,
etwa im Vergleich gegen Eisenbahnen, bestehe, so
169
N
ergibt sich zunächst, daß flüssige Bahnen die Fort-
bewegung mit gleitender Reibung gestatten,
während metallene Bahnen die Fortbewegung mit
rollender Reibung verlangen. Unzweifelhaft
erfordert die Überwindung der rollenden Reibung
den höheren Kraftaufwand und somit größere
Kosten. Aber bei näherer Prüfung ergibt sich, daß
selbst beim Eisenbahntransport die reinen Kosten
der Traktion, d. h. die Ausgaben für Kohle, Wasser,
Schmiermaterial, Lokomotivlöhne, nur einen sehr
kleinen Betrag des Gesamtaufwandes ausmachen,
und daß somit eine Ersparnis auf diesem Konto
so gut wie nichts bedeutet. In der Benutzung der
gleitenden Reibung kann also ein entscheidender
Vorzug der Kanäle nicht begründet sein. Liegt
dieser Vorteil nun etwa in der größeren Kapazität
der Transportgefäße? So scheint es, wenn man
den Laderaum eines Schiffes mit dem eines Güter-
wagens vergleicht. Aber abgesehen davon, daß
nichts die Eisenbahntechnik hindert, Wagen von
erheblich größerer Leistungsfähigkeit, als bisher
in Deutschland gebräuchlich, zu verwenden: es
trifft dieser Vergleich an sich nicht zu. Die Ein-
heit, die mit der Schiffseinheit in Vergleich treten
kann, ist nicht der Wagen, sondern der Zug. Und
hier will es wenig bedeuten, immerhin aber eher
zugunsten des rollenden Systems sprechen, daß
diese Einheit teilbar ist. Vor allem aber ist sie
vermöge ihrer größeren Geschwindigkeit weit grö-
ßerer Ausnutzung fähig und dabei nicht in dem
Maße komplizierter und kostbarer, daß ihre Anschaf-
fung und Unterhaltung den Kostenvergleich zu-
gunsten der teureren Wasserbauten verschöbe.
170
So bleibt als letzte Überlegenheit des Kanals
die Möglichkeit einer beträchtlichen Dichte des
Verkehrs, und es resultiert die einfache Frage:
gestatten rollende Transportsysteme, also etwa
Eisenbahnen, eine den Kanalsystemen adäquate
Frequenz oder nicht?
Daß die bestehenden Bahnsysteme, die gleich-
zeitig dem Personen- und Güterverkehr dienen
müssen, in ihrer Transportfähigkeit eng begrenzt
sind, da sie mit verschiedenartigen Geschwindig-
keiten, mit großen Zugabständen und unter ge-
nauer Einhaltung der Fahrpläne arbeiten müssen,
ist evident. Könnte man aus der Vogelperspektive
die ganze Länge eines stark befahrenen Eisenbahn-
gleises überblicken, so würde man auf der dunklen
Linie in großen Abständen die Züge als kleine
Punkte sich bewegen sehen. Auf der ungewöhn-
lich stark belasteten Strecke Berlin — Halle beträgt
in diesem Augenblick die Gesamtlänge aller sich
fortbewegenden Züge während der Zeit des stärk-
sten Verkehrs nur Vso der Länge der Bahn.
Nun wäre aber durchaus der entgegengesetzt
extreme Zustand denkbar, daß nämlich nach Art
eines Paternosterwerkes die ganze Linie von be-
wegten Transportgefäßen derart überdeckt wäre,
daß die Zwischenräume nahezu verschwänden.
Daß in diesem Grenzfall die Transportfähigkeit
einer Eisenbahn ins ungemessene wachsen müßte,
liegt auf der Hand; des ferneren, daß um sich
der Grenze anzunähern, die Personenbeförde-
rung ausgeschaltet, die Geschwindigkeit der Züge
normalisiert und die Folge beschleunigt werden
müßte.
171
Der Wunsch, diese Erwägung dem praktischen
Bedürfnis nutzbar zu machen, ergab zunächst den
Gedanken, Güterbahnen und Personenbahnen zu
trennen; sodann für einen Moment die phanta-
stische Vorstellung, ob es nicht möglich sei, auf
einer Güterbahn die Benutzung nach Art einer
Chaussee oder eines Kanals einzuführen, nämlich
in der Weise, daß jeder Interessent das Recht er-
hielte, gegen Erstattung einer Weggebühr die Bahn
mit eigenen Zügen zu befahren, wobei geeignetes
Zugpersonal, gleiche Fahrtrichtung, mäßige Ge-
schwindigkeit und gewissenhaftes Einhalten des
Abstandes ausbedungen würde.
Schon eine vorläufige Schätzung erwies, daß es
einer vom üblichen Bahnwesen abweichenden Be-
triebsweise nicht bedürfe, und daß, um eine der
Kanalfrequenz erheblich überlegene Verkehrsdich-
tigkeit zu erreichen, eine Bahnbelastung genügt,
die sich in durchaus praktischen Grenzen hält.
So war denn die Wahrscheinlichkeit gegeben,
daß ein Eisenbahnsystem sich den Kanälen als
ebenbürtig, vielleicht sogar durch Billigkeit der
Erstellung und des Betriebes und durch Lei-
stungsfähigkeit als überlegen erweisen könnte, so-
fern es folgenden Bedingungen genügte:
1 . Trennung des Gütertransports von der Per-
sonenbeförderung,
2. gleichmäßige Fahrgeschwindigkeit,
3. dichte Zugfolge,
4. Zugelemente und Züge von großem Fas-
sungsvermögen .
Wollte man über diese Wahrscheinlichkeit hin-
aus zu einer Vertiefung des Problems oder gar zum
172
Versuche eines Beweises gelangen, so reichte die
generelle Erwägung nicht mehr aus, und es schien
notwendig, an Hand eines der WirkHchkeit an-
gepaßten Vorprojektes der Aufgabe praktisch sich
zu nähern. Da nun der Gedanke mich nicht ver-
ließ, daß durch die Verfolgung und Diskussion
meiner Idee der Industrie, wenn auch nur in
späterer Zukunft, ein erheblicher Dienst geleistet
werden könnte, bewog ich im Jahre 1904 drei be-
freundete Gesellschaften: die Berliner Handels-
Gesellschaft, die Allgemeine Elektricitäts-Gesell-
schaft und die Firma Lenz & Co., ein Studien-
syndikat für die Bearbeitung des Güterbahnpro-
blems zu bilden. Herr Regierungsrat Kemmann
hatte die FreundUchkeit, sich für die Leitung
des Syndikats mir anzuschheßen und in sehr
dankenswerter Weise die Arbeiten fördern zu
helfen.
Es gelang uns, Herrn Professor Cauer für die
Fortführung der Untersuchung zu gewinnen. Sei-
ner Arbeit verdanken wir eine nachhaltig be-
gründete Beantwortung der Frage, ob technisch
oder ökonomisch die Möglichkeit besteht, die Ko-
sten der Gütertransporte weit unter das gegen-
wärtige Niveau herabzudrücken, ob ferner Kanäle
oder Eisenbahnen hierfür das geeignetere Mittel
bilden. Die Antwort lautet: die Tarife lassen
sich unter nüchternen Voraussetzungen
auf die Hälfte bis ein Viertel der billig-
sten bestehenden Sätze reduzieren, und
zwar durch denBau besonderer Güterbah-
nen, die billiger, leistungsfähiger und
rentabler sind als Kanäle.
173
Die Anwendung
Stellt man nun die Frage, welche praktischen
Ergebnisse von der hier unternommenen Ar-
beit erwartet werden dürfen, so ist zunächst zu
erwarten, daß von diesem Augenblick an eine Dis-
kussion beginnt, die, ausgehend von der elemen-
taren Wichtigkeit der Transportverbilligung und
von der unzweifelhaften Möglichkeit, sie durch
neue Mittel zu erreichen, das Problem aus der
Kompetenz einiger weniger Berufsarbeiter los-
löst und es in die Hände aller urteilsfähigen
Interessenten legt, die zur Erwägung und Mitarbeit
aufgerufen werden. Diese Diskussion darf nicht
aufhören, bevor auf dem einen oder anderen Wege
die Lösung herbeigeführt ist*).
Sodann sind zwei Möglichkeiten zu unterschei-
den. Entweder es gewinnt die Ansicht die Ober-
hand — gleichviel ob richtig oder falsch — , bei
geeignetem Betriebe oder bei korrekterem Aus-
gleich der Kalkulationen seien auch die bestehen-
den Eisenbahnen in der Lage, auf ihren Haupt-
linien mit ähnlichen Tarifen zu rechnen; es sei
somit die Errichtung besonderer Güterbahnen kein
wirtschaftlicher Fortschritt. Dieser Fall wäre,
so paradox es klingt, der erfreulichste, obwohl
er der vorliegenden Arbeit den Stempel des Miß-
lungenen oder Überflüssigen aufzudrücken schiene.
Denn es müßte über lang oder kurz eine erhebliche
*) Die Diskussion ist in vollem Gange; lebhafter freilich im Aus-
land, insbesondere Österreich, als in Deutschland. Im preußischen
Herrenhause stellte der Minister die Ergebnisse der Berechnungen
nicht in Abrede, sprach aber, wie zu erwarten, die Besorgnis aus,
es könnten die fisValischen Transportgewinne sich vermindern.
174
Herabminderung der Tarife auf den Hauptlinien
erfolgen, gleichviel ob hiermit ein vorübergehender
Gewinnausfall der Bahnen verbunden wäre. Mag
man noch so entschieden den Standpunkt ver-
treten, daß Staatsfrachten eine Besteuerung ent-
halten sollen: es kann weder diese Besteuerung
auf die Dauer ein Vielfaches des Wertes der Lei-
stung ausmachen, noch kann eine Steuer so falsch
lokalisiert bleiben, daß ihre Saugapparate um den
empfindlichsten Teil eines Wirtschaftskörpers sich
klammern und eine Entwicklung hindern, die frei
expandierend ein Vielfaches dieses Steuerbetrages
aufzubringen vermöchte.
Setzt man den zweiten Fall: daß die Meinung
Platz greift, die Güterbahnen bedeuten einen wirk-
lichen Fortschritt im wirtschaftlichen Leben, so
ist keine Macht imstande, den Bau solcher Bahnen
dauernd zu hindern. Während Kanalbauten größe-
ren Umfangs nur unter schweren Opfern des
Staates und der Provinzialverbände zustande ge-
bracht werden können, würde die Finanzierung
einer Güterbahn aus privaten Mitteln möglich
sein, denn sie bietet die WahrscheinUchkeit einer
gesicherten Rentabilität. So gering die Aussicht
sein mag, daß der Staat eine konkurrierende Pri-
vatunternehmung konzessioniert, so wahrschein-
lich ist es, daß er selbst zu einem gewissen Zeit-
punkt die Initiative ergreifen wird, um gleich-
zeitig eine rentable Unternehmung und ein volks-
wirtschaftlich notwendiges Werk zu schaffen.
Wann dieser Zeitpunkt eintreten könnte, läßt
sich zwar nicht ermessen, aber vermuten. Auch
unabhängig von der Frage der Güterbahnen be-
175
reitet die Teilung der gegenwärtigen Hauptbahn-
linien in Parallelsysteme sich vor: denn wie der
Güterverkehr nach erhöhter Frequenz verlangt,
so verlangt der Personenverkehr nach Beschleuni-
gung. In durchaus absehbarer Zeit wird die elek-
trische Fernbahn sich des Personenverkehrs be-
mächtigen und die zeitlichen Entfernungen hal-
bieren. Die elektrische Fernbahn aber erfordert
eigene Gleise ohne Kreuzungen sowie die Abson-
derung vom Güterverkehr, der sich somit eigene
Bahnen suchen muß.
So werden voraussichtlich die beiden größten
Umwälzungen, deren der Massenverkehr fähig ist,
in engster Verknüpfung und zu gleichem Zeit-
punkt erfolgen.
Daß das Prinzip der Staatsbahnen mit seinen
großen und anerkannten Vorzügen nicht die
Eigenschaften verbindet, die den frei konkurrieren-
den Industrien anerzogen sind: Lust zur Initia-
tive und automatische Anpassung an die Bedürf-
nisse der Gesamtheit, ist evident. Die Filtration
dieser Bedürfnisse durch das Ermessen einer Be-
hörde und durch das Verantwortlichkeitsgefühl
technischer Instanzen, die nicht unter der Pression
wirtschaftlicher Nötigung und spekulativen An-
triebes stehen, verlangsamt die Realisierung und
vermindert den Nutzeffekt.
Trotzdem kann ein grundsätzlicher Fortschritt
des Verkehrswesens dauernd nicht zurückgehalten
werden ; dafür sorgt die Konkurrenz der Nationen
und die erstarkende öffentliche Erkenntnis des
wirtschaftlich Notwendigen.
176
BEMERKUNGEN ÜBER ENGLANDS GEGEN-
WÄRTIGE SITUATION»)
Vorbemerkung
Gegenüber der Meinung derjenigen Deut-
schen, die in dem Vereinigten Königreich
einen mäßig bevölkerten Inselstaat und
einen gleichgearteten Komparenten des europä-
ischen Völkerkonzerns erblicken, ist es nützlich,
die präzipuale Bedeutung dieser Macht, die seit
den Zeiten des Römer- und des Frankenreiches
ihresgleichen nicht gehabt hat, zuweilen ins Ge-
dächtnis zu rufen. Der dritte Teil der bewohnten
Erde steht unter Englands Botmäßigkeit oder Ein-
fluß; Hunderte von Millionen Menschen reden
seine Sprache und bewahren seine Kultur. Seine
Flotte findet Stützpunkte an allen Küsten; ihre
Übermacht vermag jeden Gegner aus den Meeren
zu vertreiben. Englischen Gebieten entstammen
zwei Drittel der Goldproduktion der Erde; eng-
lische Städte sind die Handels- und Marktzentren
der Welt. Mit dem Kapitalreichtum des Landes
kann Deutschland, mit seiner Liquidität nur Frank-
reich sich messen, mit dem Umfang der auswärti-
gen tributären Unternehmungen kein anderes Volk.
Tradition, Homogenität der Rasse und Kultur
schaffen den einheitlichsten Volkswillen, den wir
kennen; die Alternation zweier patriotischer und
responsabler Regierungsparteien verleiht der Po-
litik die Stetigkeit eines arithmetischen Mittels.
*) Diese Arbeit wurde während eines längeren Aufenthalts in eng-
lischen Territorien im Sommer 1908 geschrieben.
xa
177
Ein zum Aristokratismus neigender, tätiger lind
wohlhabender Mittelstand von enormer Ausdeh-
nung übt Körper und Geist in harmonischem Aus-
gleich und liefert einen Nachwuchs von Menschen,
die Verantwortlichkeit erstreben und ertragen.
Hält man diese Verhältnisse vor Augen, so er-
geben sich diejenigen Einschränkungen, deren die
nachfolgenden Ausführungen bedürfen ; denn diese
beziehen sich auf Nachteile und Gefahren, denen
das britische Reich gegenwärtig standzuhalten hat.
Da nun die äußere Machtstellung des Landes
auf zwei Faktoren beruht : dem Erwerbsleben und
der Kolonialmacht, so sollen in gleicher Ordnung
die nachstehenden Beobachtungen vorgetragen
werden.
I. Wirtschaftliche Sorgen
Vom Handel, als der naturgemäßen, traditio-
nellen und von den gegenwärtigen Verhältnissen
weniger berührten Quelle englischen Erwerbes
braucht in diesem Zusammenhange nicht gespro-
chen zu werden.
Beachtenswerter ist die Lage der englischen
Industrie, deren relativen Rückgang ich in meinem
letzten Buche zu beleuchten versuchte. Die Haupt-
ursachen dieses Ermattens im internationalen
Wettbewerb sind folgende:
I. Lebensgewohnheit und Erziehung. Der
Engländer verlangt vom Leben ein höheres Maß
von Muße und Erholung, auch in der Jugend, als
der Deutsche. In der demütigen Tätigkeit des
Lernens überschreitet er daher nicht gern eine
178
gewisse Grenze und verschmäht die gleichzeitig
enzyklopädische und spezialisierte Ausbildung des
deutschen Studenten. Somit ist das technisch ge-
schulte Beamtenmaterial der Engländer dem un-
unseren nicht entfernt zu vergleichen, und keine
Vermehrung technischer Lehranstalten wird hieran
etwas ändern. Aber auch in der geschäftlichen
Tätigkeit ist der englische Beamte unterlegen,
denn er arbeitet zwei Stunden weniger als sein
deutscher Konkurrent; er verlangt mindestens
einen freien Nachmittag in der Woche, höhere
Bezahlung und ein klar definiertes, von ungewöhn-
lichen und komplizierten Akzidentien befreites
Arbeitsgebiet.
Nun beruhen aber die neueren, vorwiegend wis-
senschaftlich gearteten Industrien, wie etwa Ma-
schinenindustrie, chemische Industrie, Elektrizi-
tätsindustrie auf zwei Faktoren : Technik und Or-
ganisation, das heißt: auf der Tüchtigkeit des
technischen und kaufmännischen Beamten. Hier-
aus erhellt, warum England, bei aller seiner
Stärke in älteren Industriezweigen, insbesondere
in denjenigen, die detailfähige Gebrauchswaren
liefern, seine starke Position zunächst behauptet,
während die modernen Großindustrien, die vermöge
erweiterter Arbeitsteilung die fertigmachenden In-
dustrien mit Produktionsmitteln versorgen, hinter
dem Ausland zurückbleiben.
2. Ein zweites Hemmnis englischer Industrien
sind die Arbeiterorganisationen. Sie mußten die
ganze soziale Versicherungsarbeit übernehmen, die
durch unsere Sozialgesetzgebung fiskalisiert wurde,
und haben daher eine ungeheure Stärke gewonnen.
179
Diese Stärke, verbunden mit einem geschäftsmäßig
praktischen Sinn, der nicht von Zukunftsstaaten
träumt, sondern heutige Lebensbedingungen zu
beherrschen und zu akkomodieren trachtet — ,
diese Stärke hat den Trade Unions die Kontrolle
der englischen Industrie gesichert. Sie schreiben
vor, ob und zu welchen Bedingungen gearbeitet
werden darf, ob neue Maschinen eingestellt oder
Betriebe erweitert werden dürfen. Diese Ein-
wirkung hat den englischen Produktionsbedin-
gungen die Elastizität geraubt, die ausländischer
Wettbewerb erfordert. In Parenthese darf hier
bemerkt werden, daß aus dem Kontrast der Wert
unserer sozialen Gesetzgebung deutlich hervor-
tritt. Eine Sicherung des Arbeiters gegen Ge-
fahren und Alterssorgen wäre zwar sicherUch auch
ohne gesetzliches Zutun, auf Grundlage privater
Assoziationen zustande gekommen ; aber diese Asso-
ziationen hätten wahrscheinlich unsere Industrie
zugrunde gerichtet. Die Gesamtheit der Industri-
ellen hat daher keinen Anlaß, sich über die Be-
lastungen dieser Gesetzgebung zu beklagen.
3. Tradition und Konservativismus, zwei Fak-
toren höchster Stärke, wo es sich um Regierungs-
und Verwaltungsfragen handelt, sind der indu-
striellen Evolution entgegengesetzt. Vornehmlich
ist es die Fähigkeit der Amerikaner, in letzter Zeit
auch einigermaßen der Deutschen, erhebliche Ri-
siken und Investitionen auf sich zu nehmen, um
Betriebe zu verbessern, neue Arbeitsmethoden und
neue Produkte einzuführen, neue Unternehmungen
und Industriezweige zu schaffen. Der Engländer
hingegen hat jahrzehntelang mit seinen älteren
180
Industrien prosperiert, ja eine führende Stellung
behauptet, ohne sich Sorgen um Geldbeschaffung
oder wirtschaftliche Experimente machen zu
müssen; so steht er Neuerungen unwillig und
mißtrauisch gegenüber, beauftragt allenfalls einen
gewerbsmäßigen Experten — denn über eigene
autoritative Kräfte verfügt er nicht — , ihm Gut-
achten und Kalkulationen vorzulegen, und ent-
scheidet sich erst dann für die Reform, wenn die
Welt längst mit neuen Dingen beschäftigt ist.
Auch dies fördert den industriellen Konservati-
vismus, daß die Unternehmungen großenteils in
den Händen Privater liegen, die nach altem Her-
kommen nicht gern an die Grenze ihrer Mittel
herantreten, noch weniger aber Kredite zu bean-
spruchen wünschen, während unsere Aktienge-
sellschaften unter Mithilfe industriell veranlagter
Banken sich ohne Bedenken und Schwierigkeit An-
leihen oder Kapitaleinlagen beschaffen.
Versucht man, die drei Kategorien, die den ver-
zögerten Fortschritt oder relativen Rückgang
englischer Industrie verschulden, auf ein Grund-
prinzip zurückzuführen, so wäre man geneigt an-
zunehmen, daß alter Reichtum, alte Kultur und
alte Führerschaft England ungeeignet machen, die
unterwürfigen Qualitäten des übertriebenen Ler-
nens, der Vielgeschäftigkeit und der Konkurrenz-
gebarung anzunehmen, die modernes Erwerbs-
leben leider erfordert. England leidet unter seinen
besten Qualitäten.
Die Engländer selbst sind sich des Vorgangs
deutlich bewußt, seiner Ursachen unklar. In
erster Linie glauben sie, daß das System der tech-
i8i
nischen Erziehung reformiert werden müsse, wäh-
rend es sich in Wirklichkeit um Fragen der na-
tionalen Lebensweise handelt. In zweiter Linie
regt sich in allen Ecken des Landes die Tendenz
zu Schutzzöllen, denen ja vielfach die Kraft zu-
gesprochen wird, erschlaffende Industrien zu hal-
ten, während sie in Wirklichkeit nur imstande
sind, junge und aufstrebende Gewerbe in ihrer
ersten Entwickelungszeit zu schützen und erstarken
zu piachen.
Aus Besprechungen mit führenden Finanzleuten
ergab sich nun die seltsame Tatsache, daß der Ruf
nach Protektion einstweilen durchaus nicht vor-
wiegend von Industriellen oder Arbeitern aus-
geht. Diese beiden Berufsklassen vertreten viel-
mehr großenteils die nur innerhalb enger Grenzen
zutreffende Ansicht, daß Schutzzölle die Kon-
sumartikel des Landes verteuern, woraus die einen
schließen, daß die Löhne erheblich gesteigert wer-
den würden, während die anderen selbst bei ge-
steigerten Löhnen verschlechterte Lebensbedin-
gungen befürchten. Daneben macht sich wohl
auf Seiten der Händler und Cityleute die Erkennt-
nis geltend, daß ein schutzzöllnerisches England
auf die Dauer nicht den Großhandel und die
Hauptmärkte des Kontinents sich werde erhalten
können, daß vielmehr diese Hauptquellen des na-
tionalen Erwerbes vorwiegend von deutschen
Häfen und Handelsplätzen abgefangen werden
würden. Tatsächlich sieht England in dieser
wichtigsten aller gegenwärtigen Wirtschaftsfragen
sich vor das Dilemma gestellt : entweder in gleicher
Weise die fernere Entwicklung seiner Industrie
182
r
seinem Handel und seiner Weltstellung zu opfern,
wie es seine Landwirtschaft in der Mitte des
XIX, Jahrhunderts geopfert hat, oder mit dem
mangelhaften Hilfsmittel der Schutzzölle die In-
dustrie zu verteidigen, auf die Gefahr hin, daß
Handel und Handelsflotte, Warenverkehr, Geld-
verkehr und Märkte ernsthaft geschädigt werden.
In dieser schweren Besorgnis sind es, wie er-
wähnt, merkwürdigerweise nicht so sehr die
eigentlich betroffenen Industriellen, die Protek-
tionismus fordern, als eine andere Klasse von
Interessenten, die sich gleichfalls, aber auf gänz-
lich andersgeartetem Gebiete in Bedrängnis fühlen
— nämlich die Imperialisten.
II. Koloniale Sorgen
Es bezeichnet die seltsame Duplizität eng-
lischer Politik, die nicht wie die unsere durch
unüberbrückbare wirtschaftliche Kontraste in
Spannung gehalten wird, sondern nach Oppor-
tunitätsgründen bald hier bald dort ein altes Prin-
zip verläßt, ein neues aufnimmt — , es bezeichnet
diese Versatilität und Unbefangenheit, daß der
Mann, der seiner Königin die Kaiserkrone von
Indien aufs Haupt setzte, das Wort gesprochen
haben soll: die Kolonien seien der Mühlstein an
Englands Halse.
Die politischen Erben Disraelis, die heute im-
perialistische Ziele verfolgen, werden sich dieses
gewichtigen Bildes bewußt, deutlicher als es dem
kontinentalen Blick sich darstellt.
Denn wenn wir, von gewohnten Anschauungen
183
ausgehend, die englische Weltstellung auf See-
mannstüchtigkeit und Kolonialherrschaft zurück-
führen, so erblicken wir in der letzteren nicht nur
den Inbegriff maritimer Stützpunkte und über-
seeischer Bundesgenossenschaften, sondern vor
allem den Quell unversieglicher Schätze, die als
Kontributionen, Gehälter, Pensionen, Handels-
und Absatzgewinne dem Mutterlande zufließen.
Diese wirtschaftliche Seite des kolonialen Impe-
riums verdient indessen eine etwas nüchternere
Betrachtung.
Es wird kaum möglich sein, und wohl auch von
keiner Stelle der Verwaltung aus ernstlich ver-
sucht werden, die ökonomische Bilanz des kolo-
nialen Soll und Habens zahlenmäßig zu ziehen.
Sowohl unter den Aktiven wie unter den Passiven
würden Posten erscheinen, die sich jeder Berech-
nung entziehen : unter den ersteren der Wert des
Handelsverkehrs, unter den letzteren die Erfor-
dernisse für solche Investitionen, die sich spät,
indirekt oder nie bezahlt machen, sowie für mari-
timen Schutz und kriegerische Unternehmungen.
Indessen läßt sich aus einer Reihe übereinstimmen-
der Indizien schließen, daß diese wirtschaftliche
Bilanz heute in hohem Maße passiv ist. Was
zunächst zahlenmäßige Überweisungen aus den
Kolonien anlangt, so finden solche in irgendwie
beachtenswertem Maße überhaupt nicht statt.
Die Kolonien halten und bezahlen ihren eige-
nen Beamtenkörper, der aus einsässigen Persönlich-
keiten besteht; das Militär, soweit es überhaupt
von der Heimat gestellt wird, erhält und verzehrt
seine Löhnung in dem Lande, wo es stationiert
184
ist; Kontributionen werden an das Mutterland
nicht entrichtet. Dagegen verlangen viele Kolo-
nien erhebliche direkte Zuschüsse aus der Heimat ;
sie verlangen die Finanzierung ihrer Anleihen,
gleichviel ob diese zureichend, oder wie etwa die
von Kapland, sehr mäßig fundiert sind; sie ver-
langen endlich enorme Investitionen für Verkehrs-
anlagen, Bewässerung, Befestigung, Kriegfüh-
rung, die entweder vorschußweise oder ä fonds
perdu gewährt werden müssen. Daß der eng-
lische Handel aus den Kolonien erhebliche Vor-
teile zieht, ist unbestreitbar, und es fällt hiergegen
nur wenig ins Gewicht, daß beträchtliche Sub-
ventionen an Dampferlinien gezahlt werden müssen.
Auch englische Produktion findet in den Kolo-
nien Absatz: bis zu welchem Maße ist schwer zu
sagen, obgleich die Handelsstatistiken die Import-
ziffern mit über 50% der Importe nachweisen;
denn zweifellos finden viele deutsche und ameri-
kanische Produkte auf dem Umweg über England
dort — eine zweite Heimat. So viel aber ist sicher,
daß der koloniale Absatz keine Schätze abwirft;
denn trotz mannigfacher differentialer Behand-
lung wirkt die internationale Konkurrenz in den
Kolonialgebieten mit rücksichtsloser Schärfe.
Als wahrscheinlich darf angenommen werden,
daß die wirtschaftlichen Vorteile, die England aus
seinen Kolonien zieht, sich in einem Verhältnis
abstufen, das bei sehr zahlreicher und tätiger far-
biger Bevölkerung seinen günstigsten Grad erreicht,
während die überwiegend von europäischen Rassen
besiedelten Länder der Heimat mehr und mehr
national und wirtschaftlich verloren gehen; es
185
dürfte daher Indien noch immer Englands wert-
vollster Besitz sein.
Erscheinen somit die wirtschaftlichen Vorteile,
die England der kolonialen Expansion verdankt,
begrenzt, so muß aus der politischen Betrach-
tung sich ergeben, welches Maß von rationeller
Berechtigung, mithin von Stabilität dem Imperium
innewohnt. Auch hier ergibt sich eine ähnliche
Gesetzmäßigkeit insofern, als die Dichte und
Bedeutung der weißen Bevölkerung in einer
gewissen Proportionalität stehen zu den Sorgen,
die der Heimat erwachsen.
Abermals zeigen die Kolonien mit dichter und
relativ entwickelter farbiger Bevölkerung das
günstigste Bild. Sie erweisen sich als gesicher-
ter Staatsbesitz, dessen innere und äußere Ver-
teidigung zwar aufmerksame Überwachung er-
fordert, der auch gelegentlich bei Wirtschafts-
kalamitäten durch Aufstände gefährdet werden
kann, im allgemeinen aber, mit der Länge der
Zeit, mit dem Ausbau von Verkehrs- und Defensiv-
mitteln dem Stammland immer enger angekettet
wird.
Anders diejenigen Kolonien, die wie Südafrika
infolge der Spärlichkeit oder Passivität der ein-
geborenen Bevölkerung eine gleichzeitige Besiede-
lung durch farbige und weiße Elemente erfordern,
Prävaliert hier das dunkle Element, wie dies zu-
mal bei beginnender Kolonisation entschieden der
Fall sein muß, so entsteht innerhalb weniger Ge-
nerationen eine moralische, vielleicht auch phy-
sische Niederziehung des Europäertums. Das
beständige Beispiel des untätigen und amora-
i86
lischen Eingeborenen, die schwer zu ertragende
Gewöhnung an ein angeborenes Herrscherdasein,
die Erziehung der Kinder in der Umgebung und
Atmosphäre einer servilen Kaste — diese Fak-
toren sollen zu einer inneren Entartung beitragen,
die alsdann zu weitgreifender Vermischung und
Bastardisierung führen kann. So ist im Kapland
der Stamm der Capboys entstanden, einer Misch-
lingszucht von Holländern und Negern, die in
allen Abstufungen von Weiß zu Schwarz heute
einen wesentlichen Bestandteil der südafrika-
nischen Bevölkerung bildet. Schreitet nun die
Vermehrung der Eingeborenen und Mischlinge
rascher voran als die der Europäer, so entstehen
neue Wirrnisse. Denn auch die Farbigen haben
im Zusammenleben mit den Weißen sich so weit
modifiziert, daß sie gelernt haben, Ansprüche zu
erheben, zunächst auf Teilnahme an der Verwal-
tung. Dr. Jameson, der Führer jenes Jameson-
Raid gegen Johannesburg, der bis vor kurzem dem
Kapministerium angehörte, vertritt mit Ent-
schiedenheit die Berechtigung der Farbigen zur
Selbstverwaltung, indem er anführt, daß eine
scharfe Grenze zwischen ihnen und den Weißen
physisch überhaupt nicht mehr gezogen werden
könne. So besitzen denn im Kapland die Far-
bigen tatsächlich das parlamentarische Stimmrecht,
während andere Kolonien, wie z. B. Natal, wo das
weiße Element vorherrscht, auf diesen Verfassungs-
zustand des Nachbarlandes mit Abscheu herab-
sehen und vornehmlich um seinetwillen von der
Errichtung einer südafrikanischen Union nichts
wissen wollen.
187
Es ist bekannt, daß die Ambitionen der ober-
flächlich zivilisierten Eingeborenen sich noch wei-
ter erstrecken, und daß die äthiopische Bewegung,
durch schwarze Missionare geschürt, Anhänger
wirbt für die der Monroedoktrin nachgebildete
These: „Afrika den Afrikanern". So sind denn
heute ernste englische Beurteiler der Ansicht, daß
das Land in absehbarer Zukunft zu wählen haben
werde zwischen friedlicher Unterwerfung unter
teilweise afrikanische Kontrolle oder schweren in-
neren Kämpfen. Mag diese Perspektive zu dunkel
und zu phantastisch erscheinen : so viel ist gewiß,
daß nur eine Stärkung des hellen Elements, somit
eine energische Förderung der Immigration und
allmähliche Umwandlung der Länder in weiße
Kolonien die inneren Reibungen beseitigen und die
Verschmelzung der verschiedenartigen Verwal-
tungen zu einer einheitlichen südafrikanischen
Kolonialorganisation ermöglichen wird. In glei-
chem Maße aber werden diejenigen neuen An-
tagonismen dem Mutterlande gegenüber auftreten,
die von allen rein weißen und zu einer gewissen
Reife gelangten Kolonien gezeitigt werden, und
die eine wirkliche Gefahr für das koloniale Im-
perium bilden.
Betrachtet man vergleichend die Vereinigten
Staaten und Kanada, so erblickt man zwei Länder
von nahezu gleichaltriger Geschichte und ähnlicher
Flächenausdehnung, aber von sehr verschiedener
Bedeutung. Das eine, stark bevölkert, eine poli-
tisch prominente, wirtschaftlich unerreichte Macht
von enormem Wohlstand, das andere spärlich be-
wohnt, politisch ohne Existenz, verwaltungsmäßig
i88
abhängig, mit zunehmendem Wohlstand, aber
ohne überragende wirtschaftliche Bedeutung. So
kann es nicht wundernehmen, daß die Bewohner
es ablehnen, Klima und Boden allein für die retar-
dierte Entwicklung verantwortlich zu machen,
sondern vielmehr in der Abhängigkeit von einem
europäischen Lande den schwersten Nachteil er-
blicken. Diese Stimmungen finden offen Aus-
druck; eine peinliche Szene auf einem offiziellen
Bankett in Washington gab vor wenigen Wochen
die charakteristische Illustration kanadischer Un-
abhängigkeitsgelüste*) .
England ist sich dieser zentrifugalen Tendenzen
sehr wohl bewußt und bemüht sich, durch äußerste
Liberalität des Regimes, die fast an Schlaffheit
grenzt, ihnen zuvorzukommen. Man kann in der
Dezentralisation nicht weiter gehen, als hier ge-
schieht. Selbst halbentwickelte Kolonialgebilde
haben eigene Parlamente, eigene Gesetzgebung,
Wirtschaftspolitik, Beamtenkörper. England und
seinem Statthalter bleibt kaum etwas anderes als
Veto und Exekutive. Aber alle Liberalität kann
den Gedanken nicht zurückdrängen, der in allen
weißen Kolonien auftaucht und Boden gewinnt:
daß in sehr absehbarer Zeit an die Stelle des Vor-
mundschaftsverhältnisses eine Union zu treten habe,
die denn freilich in der Praxis andere Wege ein-
schlagen könnte, als es den Programmen entspricht.
Was England heute den loslösenden Bestre-
bungen allein entgegensetzen kann, ist seine
*) Die letzten kanadischen Wahlen haben eine Stärkung der Be-
ziehungen zum Mutterlande gebracht. Wie lange sie vorhalten wird,
bleibt abzuwarten. (191 1.)
189
Flotte. „Hier habt ihr einen Schutz," so sagt
Großbritannien, „den keiner von euch entbehren
und den kein anderes Land euch gewähren kann,
denn die britische Flotte ist ein imerreichbares,
jeder Rivalität enthobenes Unikat." Auf diesem
Nachsatz liegt das Gewicht. Denn er bezeichnet
den Untergrund der englischen Flottenempfind-
lichkeit: mit jedem Schiff, das Deutschland, baut,
lockert sich ein Stein des britischen Kolonial-
gebäudes.
So ist es begreiflich, daß die imperialistische
Partei sich nach neuen Mitteln umsieht, um die
überseeischen Besitzungen sich fester zu verbinden ;
und es trifft sich seltsam, daß abermals der Gedan-
danke des Schutzzollsystems sich darbietet. Hier
aber erscheint er, den veränderten Zielen ent-
sprechend, in neuem Kleide. Ein gemeinschaft-
licher Zollring, der nicht nur auf die Produkte der
Industrie, sondern auch der Landwirtschaft und
der kolonialen Wirtschaft sich erstreckt, soll das
gesamte britische Weltreich umschUeßen und eine
gewaltige Produktionseinheit schaffen. Unter sei-
nem Schutz sollen die Überseeländer das Heimat-
reich mit Rohstoffen, Nahrungs- und Genuß-
mitteln versorgen und im Austausch Industrie-
produkte erhalten.
Die Schwächen dieses grandiosen Gedankens
liegen offen zutage : er ist für beide Parteien un-
annehmbar. Abgesehen von der Frage, ob die Ge-
meinschaft in ihrer Produktion vielseitig und hin-
länglich genug sein würde, um sich von der
Umwelt genügend freizumachen: die Kolonien
würden es auf die Dauer nicht ertragen, englische
190
Industrieprodukte unter monopolistischen Be-
dingungen zu beziehen; und England, das keine
erhebhche Landwirtschaft betreibt und noch
heute sich vor ledigUch industriellen Zöllen fürch-
tet, weil sie die Lebensführung verteuern, würde
die Einbeziehung des Gesamtbereichs aller Kon-
summittel in das generelle Zollregime sich nicht
gefallen lassen. Die gewichtigen, im Vorange-
gangenen erwähnten Bedenken hinsichtlich Ge-
fährdung des Handels und der Märkte bleiben
überdies in verstärktem Maße geltend.
Von großer Bedeutung muß es aber erscheinen,
daß von zwei ganz verschiedenen Seiten aus auf
das gleiche Ziel hingearbeitet wird, wobei die
Kolonialpartei mit großen Mitteln der Agitation
und hohen Parolen bereits in Tätigkeit sich be-
findet, während die nach herkömmlichen ökono-
mischen Anschauungen vornehmUch interessierten
Gruppen, nämlich die der Industrie, einstweilen
noch zögern, aus der Deckung hervorzutreten und
sich den Bundesgenossen zu vereinigen.
Als außenstehende Beurteiler können wir die
englische Schutzzolltendenz nur als verkehrt be-
trachten, als industrielle Interessenten sie als
schädlich empfinden; es stehen uns aber keine
Mittel zu Gebote, sie abzulenken. Und wenn
man auch im allgemeinen die engUsche PoUtik
als vorbildlich insofern bezeichnen darf, als sie
stets^ gleichsam instinktiv, die wahren Bedürf-
nisse der Nation erfaßt und besorgt hat, so ist
der Fall doch nicht auszuschUeßen, daß in Zeiten
der Verlegenheit starke Konstellationen vermeint-
licher Interessen die Entschlüsse bestimmen.
191
Rückwirkungen
So sehen wir England heute von zwei schweren
Sorgen erfüllt: der wirtschaftlichen und der
kolonialen, denen zwei Mittel der Abhilfe gegen-
überstehen; das eine — Schutzzoll — grund-
sätzlich durchaus durchführbar, aber vermutlich
nicht heilsam; das andere — Flottenvermehrung
— zweckentsprechend und geeignet, vielleicht
aber nicht so bequem durchführbar, wie es auf
den ersten Blick erscheint. Zwar ist die englische
Flotte außerordentlich volkstümlich, der höchste
Stolz der Nation; ihre Besatzung findet in der
maritimen Bevölkerung reichlichen Nachwuchs;
der Schiffbau ist unübertroffen; die Mittel zur
Erhaltung und Verstärkung sind stets aufs frei-
gebigste vom Parlament bewilligt worden — aber
das Land ist heute nicht mehr so ausgabefroh wie
früher, und opferwillig ist es nie gewesen. Wenn
auch die Staatsbilanz mit einer Schuldentilgung
von i8 Millionen glänzend erscheint, so ist der
Überschuß doch nur eine Folge der Kriegssteuer,
die noch immer gezahlt und ungern gezahlt wird.
England könnte bei seinem großen nationalen
Wohlstand ein erheblich vergrößertes Budget er-
tragen ; es will aber nicht höher besteuert sein, eben-
sowenig wie es die Last einer allgemeinen Wehr-
pflicht zu tragen gewillt ist. Dies verwöhnte Land
macht seit Jahren schlechte Geschäfte und lebt
nach unseren Begriffen über seine Verhältnisse : da
sind neue Steuern die unliebsamste Ausgabe. So
mußte auch die Heeresreform ein Torso bleiben;
sowohl die Einrichtung der Territorialarmee als
ig2
die der Military Associations, die einen Teil der
Lasten zu freiwilligen machen sollen, scheinen
Mißerfolge. Wenn daher auch häufig das Wort
ertönt : „auf ein deutsches Schiff zwei englische",
so äußert sich darin mehr ein Wunsch als ein
Gelübde. Zweifellos kann England seine Flotte
verstärken, wird sie verstärken und muß sie
verstärken — aber das gegenwärtige exorbitante
Verhältnis der Übermacht kann auf die Dauer
nicht erhalten bleiben.
In hohem Maße beachtenswert ist es, daß beide
Sorgen, die industrielle und die koloniale, den
Blick der Nation nach Deutschland hinüberlenken.
Hier sitzt der Konkurrent und der Rivale. Aus
allen Unterhaltungen mit gebildeten Engländern
klingt es heraus, bald als Kompliment, bald als
Vorwurf, bald als Ironie: ihr werdet uns über-
flügeln, ihr habt uns überflügelt. Und ein drittes
gewichtiges Moment tritt hinzu, das wir uns in
der Heimat nicht immer vergegenwärtigen: die
Beurteilung Deutschlands, wie es sich dem Außen-
stehenden darstellt. Man blickt von außerhalb
in den Völkerkessel des Kontinents, und gewahrt,
von stagnierenden Nationen eingeschlossen, ein
Volk von rastloser Aktivität und enormer phy-
sischer Expansion. Achthunderttausend neue
Deutsche jährlich! Jedes Lustrum eine additio-
nelle Bevölkerung nahezu gleich der von Skandi-
navien oder der Schweiz ! Und man fragt sich, wie
lange das evakuierte Frankreich dem Atmo-
sphärendruck dieser Bevölkerung standhalten könne.
So substantiiert und lokalisiert sich jede eng-
lische Unzufriedenheit — und es gibt deren genug
»s 193
seit dem letzten Kriege — im Begriffe Deutsch-
lands. Und was bei den Gebildeten als moti-
vierte Überzeugung auftritt, das äußert sich
beim Volke, bei der Jugend, in der Provinz als
Vorurteil, als Haß und Phantasterei in einem Um-
fange, der weit über das Maß unserer journali-
stischen Apperzeption hinausgeht.
Es wäre schwächlich und oberflächlich, wollte
man glauben, daß kleine Freundlichkeiten, De-
putationsbesuche oder Preßmanöver Unzufrieden-
heiten stillen können, die aus so tiefen Quellen
fließen. Nur unsere Gesamtpolitik ist imstande,
England wenigstens diesen Eindruck zu verschaffen,
daß von Deutschlands Seite aus keine Verstim-
mung, keine Furcht, kein Expansionsbedürfnis und
keine Offensive besteht. Die Massen werden hier-
durch nicht überzeugt, wohl aber die Regierungen
im Bewußtsein ihrer Verantwortung erhalten
werden.
Ist es zutreffend, daß seit dem Aufhören der
Eroberungskriege es vorwiegend ratlose Verlegen-
heiten gewesen sind, die europäische Konflikte
veranlaßt haben, so ergibt sich von neuem der
Anlaß, nichts zu versäumen, was zur politischen
Beruhigung beitragen kann; in dem Bewußtsein,
daß mit jedem Jahr, das vergeht, das maritime
Machtverhältnis sich für uns günstiger gestaltet
und hierdurch eine allmähliche Konsolidierung des
Gleichgewichtes wiederum eintritt.
194
POLITIK, HUMOR UND ABRÜSTUNG«)
Manto
Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt.
I.
Im Schachspiel wird derjenige siegen, dem der
stärkste Gegenzug zur Verfügung steht. Der
stärkste Gegenzug aber ist dadurch gekenn-
zeichnet, daß er nicht nur die Absicht und Offensive
des Gegners durchkreuzt, sondern gleichzeitig dem
eigenen Spiel neue Aussichten und Stärken schafft.
Eine dauernd defensive Staats- oder Geschäfts-
politik muß Schaden leiden. Ein tüchtiger Ge-
schäftsmann weiß, daß jeder Tag neue Schwierig-
keiten und Mißhelligkeiten bringt, während un-
erwartete Glücksfälle selten eintreten. Die Wirr-
nisse zu ordnen, die Unbequemlichkeiten zu be-
seitigen, genügt nicht: es müssen beständig neue
Netze ausgeworfen werden, damit von hundert
Chancen eine eintrifft. Bei gleicher Einsicht und
gleichem Fleiß wird von zwei Geschäftsleuten der-
jenige der erfolgreichere sein, der die meisten Eisen
im Feuer hat. Wer sich darauf beschränkt, die
Widernisse des Tages auszugleichen und Welle
für Welle ruhig abzuwarten, den trifft zuletzt eine,
die ihn niederwirft.
Hierin sind Staatsgeschäfte und Privatgeschäfte
gleichzusetzen. Der Kaufmann fragt sich, wenn
man ihm von Erfindungen oder Unfällen, von
Ernten oder Gesetzesvorlagen erzählt: was kann
*) Veröffentlicht in der Neuen Freien Presse, Ostersonntag 191 1
«3* 19s
ich daraufhin machen ? und kauft oder verkauft,
kündigt, leiht oder treibt ein, je nach seiner Mei-
nung. Als man Bismarck die Nachricht vom zwei-
ten Attentat brachte, fragte und klagte er nicht,
sondern sagte blos : jetzt haben wir sie ! und meinte
damit, über drei Gedankenschlüsse hinweg, den
Zusammenbruch des Liberalismus. Das war voll-
kommene Genialität und Realpolitik: Genialität,
weil im Handumdrehen ein furchtbares und wider-
wärtiges Ereignis in das stärkste Vehikel des ei-
genen Willens verwandelt wurde; Realpolitik
nicht nur im herkömmlichen Sinne der illusions-
freien Zweckfolge, sondern vor allem in dem Re-
spekt vor der Realität der entschiedenen Tatsache
und der gegebenen Situation. Jede neue Tatsache
macht in der Welt unzählige Chancen zunichte;
sie erweckt aber auch unzählige neue zum Leben •
Deshalb muß jede Tatsache in doppeltem Sinne
geprüft werden : wie weit sie sich mit den früheren
Absichten verträgt und wie weit sie neue Ab-
sichten zuläßt.
Was bedeutet überhaupt geschäftliche oder po-
litische Genialität? Mir scheint, nichts anderes,
als daß in der Camera obscura des Geistes sich ein
Mikrokosmos darstellt, der alle wesentlichen Zu-
sammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirk-
lichkeit bewußt oder unbewußt wiedergibt, und
der daher auch gewissermaßen experimentell sich
jederzeit verschieben läßt, so daß er innerhalb
menschlicher Grenzen sogar das Bild der Zukunft
aufweist. Dieser Vorgang der Weltbildung ist in-
tuitiv und daher mühelos ; er ist zwar an ein vor-
handenes Erfahrungsmaterial gegenwärtiger und
196
vergangener Tatsachen gebunden und läßt sich
durch Nachforschungen und Erhebungen ergänzen ;
aber er läßt sich nicht erzwingen. Nach außen wird
daher politische Genialität erkennbar sein einer-
seits als Kraftüberschuß, Freiheit und somit als
Humor im Sinne jener Bismarckschen Regung
(wenn unter dem Begriff des Humors die Souver-
änität gegenüber der Erscheinung verstanden wer-
den darf); anderseits als zukunftwärts gewandter
Blick, als Phantasie. Sicherlich muß hier Freiheit
nicht mit Frivolität, Phantasie nicht mit Phantastik
verwechselt werden ; Frivolität ist unsittlich, Phan-
tastik irreal.
Politische Genialität aber wird nicht nur im
Realen, sondern auch im letzten Sinne im Ethischen
wurzeln: denn ihr Weltbild wäre nicht vollkommen,
wenn es nicht auch den immanenten sittlichen Ge-
setzen Raum schaffte. Freilich wird diese Sitt-
lichkeit sich nicht darin äußern, daß man jeder
praktischen Frage gewaltsam eine moralische Seite
abzwingt, wodurch denn gemeinhin aus einem
Gebiete möglichen Irrens zwei gemacht werden.
Ein allzu sorgenvoller Kaufmann wird wenig
Kredit erhalten, denn er läßt befürchten, daß seine
Lebenskraft dem Gewichte der Widrigkeiten er-
liegt, und daß es ihm an Ressourcen fehlt. Wer
Schwierigkeiten sucht, der wird noch mehr fin-
den, als er erwartet. Wer in allen kleinen Dingen
eine ethische Seite sucht, setzt sich der Gefahr
aus, in großen Dingen unethisch zu handeln.
Wer jede neue Tatsache als einen Quell von Mühen
und Unzuträglichkeiten betrachtet, wird sich über
Mangel an Chancen beklagen.
197
Die beste Stimmung des Geschäftsmannes ist,
wenn er sich sagt: es gibt keine Not, aus der
sich nicht eine Tugend machen ließe.
IL
Die Bismarcksche Epoche hat uns in einem allzu
saturierten Zustand hinterlassen. Deutschland
glich einem Kaufmann, dem man für sein Geschäft
viel Geld herausgezahlt hat und den nun die Sorge,
nichts zu verlieren, von neuen Unternehmungen
abhält. Nachdem man bis 1870 ein ärmliches, etwas
abenteurerhaftes, aber hoffnungsvolles Leben ge-
führt hatte, erwachte man als wohlhabender, ge-
sättigter Bourgeois ; freilich in unbequeme Grenzen
eingeschlossen, die man vollkommen ausfüllte und
von nun an verteidigen sollte, und inmitten ähnlich
gefestigter Existenzen, die die ihrigen verteidigten.
Die Zeit der Expansion war vorüber, die geogra-
phische Lage eine höchst genierte. Nun beging
man einen unbegreiflichen Fehler, dessen Gleich-
nis zu suchen man weit in der Geschichte hinauf-
steigen müßte: man gestattete der Volksstimme
eines Nachbarn, in jeder unbeschäftigten Stunde
Racheschwüre auszustoßen, und gewöhnte sich in
mißverstandener Courtoisie daran, diesen merk-
würdigen Zustand einseitiger Bedrohung als eine
berechtigte Eigenart aufzufassen, bis er den
Charakter eines allgemein sanktionierten Ge-
wohnheitsrechtes erhielt, das heute als eine der
stärksten Realitäten der Weltpolitik einen Teil
unserer Aktionsfähigkeit lahmlegt.
Seit Bismarcks Abgang ist die deutsche Politik
198
defensiv geblieben. Wir haben nicht ein einziges
eigenes Aktivgeschäft abgeschlossen, und, was be-
denklicher ist, nicht einmal eine größere aktive
Aufgabe für unsere Politik gefunden. Den zahl-
losen Beteuerungen unserer Friedensliebe hätten
wir die beweiskräftige Formel hinzufügen können :
weil wir nicht wissen, was wir uns wünschen sollen.
Der größte Erfolg unserer neueren Politik war
dem letzten Amtsjahre des Fürsten Bülow be-
schieden : er bestand in der glänzenden Kampagne
für Österreich gegen Rußland und betraf unsere
Interessen somit nur indirekt. Inzwischen dient
uns die der Finanz, nicht der Politik entsprossene
Bagdadbahn in freudvollen und leidvollen Tagen als
fröhlicher, wenn auch einsamer Wetterfrosch.
Dankbar wuf de es begrüßt, daß der fünfte
Kanzler in seiner großen Rede über die Abrü-
stungsfrage das liberum arbitrium Deutschlands in
weltgeschichtHchen Dingen emporhob. Er ver-
schaffte dem unausgesprochenen Gedanken Gel-
tung, daß zu einer Zeit, in der das Gleichgewicht
der Nationen noch nicht endgültig stabilisiert sei,
Krieg und Frieden nicht in die Hände von Kom-
missionen gehöre.
Um so mehr wird der erste Teil der Rede, die
Behandlung der Abrüstungsfrage, die man besser
eine Kontingentierungsfrage nennen sollte, ge-
rade bei manchen aufrichtigen Verehrern des Kanz-
lers einige Enttäuschung erweckt haben, denn hier
konnte man glauben, die freudlose Ablehnung
einer unzeitigen Belästigung zu vernehmen, und
sich somit in eine mißgestimmte Defensive
zurückversetzt fühlen, wo vielleicht ein guter
199
Einfall oder wenigstens eine hoffnungsvolle Mit-
wirkung uns und der Welt einen Dienst erweisen
konnte.
Denn abgesehen davon, daß das ungewöhnliche
Interesse, das die Nationen der Frage entgegen-
bringen, ganz unabhängig von ihrem Inhalt, an
sich eine Realität bedeutet, die zugreifende Auf-
merksamkeit verdient: in der Kontingentierungs-
idee selbst liegt ein gesunder und keimkräftiger
Kern.
Der Umfang der Rolle, die ein Staat auf dem
Welttheater zu spielen berechtigt ist, bestimmt
sich zu jeder Zeit durch eine Reihe von Faktoren
geographischer, physischer und moralischer Kate-
gorie. Vorübergehend kann die tatsächliche Macht-
sphäre die Grenze der natürlichen Berechtigung
überschreiten oder unausgefüllt lassen: auf die
Dauer wird Macht und Machtberechtigung, Aus-
dehnung und Ausdehnungsberechtigung sich die
Wage halten. Mit 65 Millionen Einwohnern,
starkem Landheer, leidlicher Flotte, bedeutendem
Einkommen, hohem Stande der Zivilisation, des
technischen Könnens und der ethischen Werte
darf Deutschland territoriale und potentielle An-
sprüche gegebenen Umfangs stellen; mit jeder
Verschiebung eines dieser Faktoren ändert sich
das Maß der Berechtigung, wenn auch die
historische Gestaltung nur in Intervallen den
Änderungen zu folgen vermag.
Der Gesamtzustand der Wehrfähigkeit sollte,
wenn möglich, ein genaues Abbild des inneren
Machtkomplexes darstellen. Die numerischen
Stärken der Land- und Seeheere müssen zur Be-
Völkerungszahl, ihre Kampfmittel zum Volks-
wohlstand und zum Stande der Technik, ihre
Ausbildung und Tüchtigkeit zur ZiviUsation und
Ethik im Verhältnis des Abbildes zur Wirklichkeit
stehen. Freilich liegt in diesem Verhältnis ein sub-
jektiver Faktor, den ich den Anspannungsfaktor
nennen möchte; denn tatsächlich kann ein re-
lativ schwacher Staat seine Kräfte eine Zeitlang
über jedes verständige Maß hinaus anspannen und
sich einen Verteidigungszustand schaffen, der
seine Verhältnisse übersteigt, während ein starker
Staat, wie z. B. Nordamerika, im Vertrauen auf
seine geographische Lage seine Mittel in einer
für europäische Begriffe ungewöhnlichen Schonung
zu erhalten vermag.
Der Anspannungsfaktor kann somit an sich ver-
schieden sein; indessen ist es keine Frage, daß der
zügellose Wettbewerb der Nationen die Wirkung
haben muß, alle Anspannungsfaktoren dauernd zu
steigern und somit möglicherweise über lang oder
kurz sie für den einen, den anderen, oder alle un-
erträglich zu machen.
Es ist sicher schwierig, aber durchaus nicht hoff-
nungslos, Mittel zu finden, um auf dem Wege
der Kontingentierung die kriegerische Anspannung
auszugleichen und in erträglichen Grenzen zu
halten, und in diesem Sinne ist der Gedanke der
Abrüstung keine leere Utopie, sondern eine mo-
derne und brauchbare Idee von entschiedener
Tragweite. Gern gebe ich zu, daß möglicherweise
die englischen Anreger ihren Vorschlag anders
verstanden haben. Vielleicht wollten sie gar nicht
Wehrkraft und innere Macht in ein dauerndes ge-
20I
Sundes Verhältnis bringen, sondern im Gegenteil
die heutige internationale Kräfteverteilung äter-
nisieren und jedem einen Rock schneidern, der
mit der Zeit entweder zu eng oder zu weit wer-
den muß; sie haben sich ja nicht allzu deutlich
ausgesprochen. Gleichviel; in Geschäften muß
man auch mißverstehen können; dann wird mit-
unter aus einer törichten Idee eine verständige,
man findet für freundliche Mitwirkung Anerken-
nung und für gute Laune Belohnung.
HL
In seiner Rede hat der Kanzler auf das Bei-
spiel industrieller Syndikate hingewiesen und
somit an kaufmännisch geschultes Denken appel-
liert; es darf deshalb in einer Ausführung, der
ohnedies der Vorwurf theoretischer Betrachtung
schwerlich erspart bleibt, der Versuch gemacht
werden zu ermitteln, wie weit kommerzielle Denk-
formen sich auf das Abrüstungsproblem anwenden
lassen.
Zunächst würde man anstreben, das Problem
klar zu formulieren. Ist dies in dem Sinne ge-
schehen, wie oben ausgeführt, daß es sich nicht
um eine Rangordnung der Nationen handelt,
nicht um eine mechanische Reduktion der Kon-
tingente, sondern vielmehr um die Ermittlung
eines Anspannungsverhältnisses, um die An-
passung der Streitkräfte an die Leistungsfähig-
keit, so erkennt man sofort, daß die Aufgabe in
zwei Teile zerfällt: einmal die Bindung des
materiellen Aufwandes an das Vermögen, alsdann
202
um die Bindung des Menschenaufwandes an die
Bevölkerungszahl.
Sogleich erhebt sich eine Schwierigkeit. Denn
es fehlt uns an Methoden, das Vermögen, ja auch
nur das Einkommen eines Landes genau rechne-
risch zu ermitteln. Indessen ist uns eine Größe
bekannt, die in gewissem Sinne gleichzeitig ein
Abbild des Volksvermögens und des Zivilisa-
tionsstandes darstellt : die Summe der öffentlichen
Lasten, die sich aus allen direkten und indirekten
Abgaben zusammensetzt. Diese Größe ist zwar
nicht mit der Endsumme der Staatsbudgets iden-
tisch: einmal, weil in Deutschland zum Beispiel
gewisse Beträge in den Einzelbudgets verrechnet
werden, die im Reichsbudget wiederkehren, so-
dann weil von den Staatsmonopolen in den ver-
schiedenen Ländern nicht die Gesamtausgaben,
sondern nur die reinen Überschüsse einzusetzen
sind. Immerhin lassen sich ohne grundsätzliche
Schwierigkeit Verrechnungsweisen feststellen, aus
denen mit genügender Genauigkeit die Summe
der Staatsausgaben — natürlich mit Ausschaltung
des Schuldendienstes — hervorgeht.
Aufgabe nun wäre es, zu bestimmen, daß alle
jährlichen Ausgaben für Land-, See- und Luftheer
ein festes Verhältnis zur Gesamtausgabe des
Staates nicht überschreiten dürfen. Ein internatio-
naler Rechnungshof hätte die Abrechnungen zu
prüfen.
Nach kommerziellen Erfahrungen läßt sich die-
sem ersten Schritt ein zweiter anfügen : wenn man
nämlich berücksichtigt, daß im allgemeinen solche
Beschränkungen williger aufgenommen werden, die
203
man nicht für die Gegenwart, sondern für die Zu-
kunft und gewissermaßen auf Zuwachs bemißt.
Geht man davon aus, daß in jedem Staat die
Lasten für Heer und Flotte, auf den Kopf der
Bevölkerung berechnet, einen gewissen Satz aus-
machen, für den man etwa den in Deutschland
bestehenden als Norm ansehen könnte; bestimmt
man nun, daß der anderthalbfache oder doppelte
Betrag dieses Normalsatzes als Maximum zu gelten
habe, das in gewissen Etappen erreicht, aber nie-
mals überschritten werden dürfe — so wäre eine
Beschränkung geschaffen, die zwar für den Augen-
blick unwirksam bliebe, die vielleicht aber schon
nach einem Menschenalter den Druck der
Rüstungsopfer wesentlich erleichtern könnte.
Rechnerisch übersichtlicher als die Anpassung
des materiellen Aufwandes an den Volkswohlstand
erscheint die Anpassung des menschlichen Auf-
wandes an die Bevölkerungsgröße. Denn diese i^t
durchweg aufs genaueste feststellbar und zumeist
festgestellt, so daß es fast seltsam erscheinen
müßte, wenn niemals der internationale Vorschlag
gemacht worden sein sollte : ein Maximalverhält-
nis der jährlichen Aushebungen zur Bevölkerungs-
zahl zu normieren, für das etwa dasjenige Frank-
reichs, als ein besonders vorgeschrittenes, zu
wählen wäre.
Auch hier ließe sich die erste Beschränkung
durch eine zweite steigern, indem man dazu
schritte, sowohl eine maximale Dienstzeit für Heer
und Flotte, wie auch eine obere und untere Alters-
grenze des kriegstüchtigen Alters zu bestimmen.
Es kann nicht die Aufgabe dieser in vier Sätzen
204
skizzierten Umrißlinie sein, ein internationales Ab-
rüstungsprogramm einwandfrei und für alle Teile
gebrauchsfertig zu trassieren; es genügt, wenn
dargetan erscheint, daß gerechte und verständ-
liche Vorschläge sich finden lassen, die einer großen
und entwicklungsfähigen Macht keinen Abbruch
tun, die eine freundwillige Mitarbeit in humanen
Völkerfragen zu erkennen geben, und es anderen
überlassen, sich zu decouvrieren, sofern es diesen
nicht um die Sache selbst, sondern um Neben-
absichten zu tun war.
Gelingt es überdies, den Gedanken zu bekräf-
tigen, daß in der Welt keine Tatsache und Reali-
tät in die Erscheinung treten kann, die, sei sie
auch noch so verwirrend, sich nicht mit Lust
und Humor zum Guten wenden ließe, so ist
der Wunsch dieser friedfertigen Osterbetrachtung
erfüllt.
205
GESCHÄFTLICHER NACHWUCHS
I. Um wen handelt es sich?
Ich glaube, daß bei unveränderten physischen
Voraussetzungen die Summe der Talente und
Lebenskräfte einer Nation in jeder Generation
sich nahezu gleich bleibt. Könnten somit alle Nach-
wuchskräfte des Landes gleichmäßig zur Leistung
und Leitung aufgerufen werden, so wären wir der
Sorge enthoben.
Dies ist nicht so. Die Aufgaben der Führenden
und der Geführten sind verschieden und verlangen
verschiedene Schulung. Hervorragenden und
glückHchen Einzelnen mag es beschieden sein, die
Bahn vom Korporal zum Feldmarschall zu erfüllen ;
die große Mehrzahl, auch der Begabteren, altert
in der subalternen Karriere und verliert die Spann-
kraft, die erfordert wird, um in der zweiten Lebens-
hälfte neue Wege des Gedankens und der Arbeit
zu beschreiten.
Frühere Generationen, die Männer des indu-
striellen Aufschwunges, konnten sich selbst zu
Konquistadoren machen; in unserer Zeit der er-
starkenden Organisationen suchen sie selbst sich
Nachfolger zu sichern, die mit den geschaffenen
Methoden der Führung, der zur Praxis gewor-
denen Stabskunst, vertraut sind. Sie, die Ergeb-
nisse eines gefährUchen wirtschaftlichen Experi-
ments, einer selbstbetätigten Selektion, wollen das
Experiment mit anderen nicht wiederholen; sie
richten den Blick nicht auf den Nachwuchs
schlechthin, sondern auf den Nachwuchs ihrer
206
Nähe, ihres Kreises, ihrer Nachkommenschatt.
Auf dem unpersönlichsten, demokratischsten Ar-
beitsfelde, dem der wirtschaftlichen Führung, wo
jedes törichte Wort kompromittieren, jeder Miß-
erfolg stürzen kann, wo das souveräne Publikum
einer Aktionärversammlung satzungsgemäß über
Ernennung und Absetzung entscheidet, hat im
Laufe eines Menschenalters sich eine Oligarchie
gebildet, so geschlossen wie die des alten Venedig.
Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt,
leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents
und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung.
Die seltsamen Ursachen dieser seltsamen Erschei-
nung, die in das Dunkel der künftigen sozialen
Entwicklung einen Schimmer wirft, stehen hier
nicht zur Erwägung. Hier soll zunächst die Frage
beantwortet werden, um wen es sich handelt:
es handelt sich um den Nachwuchs städtischer
Herkunft, normaler Bildung, bürgerlichen Standes,
kurz, um die zweite oder dritte Generation der
Erwerbenden und Leitenden.
n. Die junge Generation
Die bürgerliche Gesellschaft entstand um 1800,
die groß wirtschaftliche Gesellschaft um 1 870,
gleichzeitig mit der deutschen Großstadt. Wie ein-
geschränkt dem Adel gegenüber ein junger Bürgers-
sohn des achtzehnten Jahrhunderts sich fühlte,
zeigt der schöne Brief im dritten Kapitel des fünften
Buches des Wilhelm Meister. „Wenn der Edel-
mann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt,
wenn man aus ihm Könige oder königähnliche
207
Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem
stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten ; er darf
überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger
nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl
der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht
fragen : Was bist du ? sondern nur : Was hast du ?
Welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähig-
keit, wieviel Vermögen ? Wenn der Edelmann durch
die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der
Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll
nichts geben. Jener darf und soll scheinen, dieser
soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächer-
lich und abgeschmackt. Jener soll tun und wirken,
dieser soll leisten und schaffen; er soU einzelne
Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden,
und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem
Wesen keine Harmonie sei und sein dürfe, weil er,
um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles
übrige vernachlässigen muß."
Diese Schranken sind gefallen; aber hundert
Jahre später, noch um 1880, wagte der werdende
Bürger nicht, sich menschlich frei und geistig
bewußt zu fühlen. Der Krieg hatte alle Kränze
dem Heere zugesprochen; Bismarck hatte den
bürgerlichen Liberalismus besiegt und den Be-
siegten verächtlich gemacht; eine junge Genera-
tion verließ die Schule entweder konservativ, mit
militärischen und gouvemementalen Aspiratianai,
oder von Phraseologien verärgert und sozial re-
bellisch. Das Zeitalter der Juristerei, der Roips-
und Reserveambition hat Deutschland eine Ge-
neration gebildeter Intelligenz gekostet. Im Wirt-
schaftsieben wurde der Ausfall nicht empfunden,
208
denn gerade zu dieser Epoche traten die Kon-
quistadoren des Aufschwunges auf die Bühne und
mit ihnen Menschen aus anderen Sphären; in
Politik und Verwaltung aber leiden wir heute aufs
bitterste an den Folgen dieser Mißernte. Die
Tradition des Wissens, der Hingabe und des
Idealismus ist hier durchbrochen, und eine ge-
wisse Bonhomie und VersatiHtät leistet uns keinen
Ersatz.
Schwerer als die Generation von 1880 hat die
heutige an ihrem Erbe zu tragen. Sie ist seit dem
Bestehen der Welt die erste, die im mechanisierten
Verkehrsgetriebe, im Getöse und Flimmer der
Großstadt ohne Erstaunen erwachte und aufwuchs.
Heute mag es schon Sprößlinge geben, die im
Schlafwagen gezeugt, in der Narkose geboren,
mit Sterilisatoren ernährt und in Automobilen
gewiegt in die Welt der elektrischen Leitungen
und Warenhäuser eintraten. Das Gesetz der Groß-
stadt, das die Erinnerungsbilder verjagt, die Sinne
blendet und betäubt und alles Erstaunen aus-
löscht, führt zum Skeptizismus, zur Müdigkeit und
Neurose, Das Gesetz des Kontrastes, das die Ge-
nerationen sondert, zwingt zur stillen und zähen
Opposition der Söhne gegen die Väter. Haben
diese den Geisteswert der Nation verachtet, eine
werdende Kunst verschmäht und den Blick auf
allzu nahe Höhen gerichtet, so rächen sich die
Jungen durch Talente und Sensibilitäten. Es gibt
heute im Berliner Tiergartenviertel kein Stock-
werk, wo nicht junge Begabungen für Neuroman-
tik, Innenkunst, latinisierendes Deutsch und kon-
trapunk tische Tierstimmenimitation ihr Wesen
14 209
treiben. Sie werden Kunstgeschichte studieren,
Antiken sammehi und Monographien schreiben,
sobald sie das sechzehnte Lebensjahr erreicht
haben.
Fin menschlich rührender Zug ist diesen Groß-
stadtkindern eigen, sobald sie ihren Seelenzustand
erkennen: eine Sehnsucht erwacht nach Natur,
Innerhchkeit und Einheit. Doch es erwächst aus
dieser Sehnsucht keine Gestaltung, weil Klarheit,
Kraft und Begeisterung mangeln. Aus der Ver-
neinung schlägt Rauch, aber keine Flamme.
So hat das tüchtige und warmblütige Geschlecht,
dem wir die Erneuerung deutscher Kunst ver-
danken, fast alle seine Kräfte aus dem Lande ge-
sogen, nicht aus den großen Städten. Zum Teil
sind es die Achtziger - Rebellen, zum Teil heim-
gekehrte Ausgewanderte, zum Teil junggebliebene
Alte. Was die neue Großstadt uns an Geisteswerten
geschenkt hat, ist Kritik und Dekoration.
Hat es somit den Anschein, als wolle die städtische
Jugend sich von den organisierenden Berufen ab-
wenden, um ein individualistisches Leben zu füh-
ren, so darf ein gegenwirkendes Moment nicht
verkannt werden. Seitdem sich gezeigt hat, wel-
cher Macht das Großgewerbe im kapitalistischen
Staate fähig ist; ja daß dieser mehr und mehr
seine Politik, Wehrkraft und Wirtschaft der In-
dustrie und dem Handel schuldig wird, seitdem hat
sich das Haupt des Kaufmannes mit einer Art ame-
rikanischer Aureole umkleidet. Konnte vorzeiten
der Beamte und Soldat durch ein leises Gefühl
geminderter Achtung sich gegen die Ausstrahlung
der Kaufmannsschätze panzern, so muß er heute
210
seiner Löhnung besseres Teil, das Vorrecht der
Auszeichnungen und Ehren, durch unzünftigen
Wettbewerb entwertet sehen. Seine Unzufrie-
denheit verleiht dem Reichtum neuen Glanz
und führt bisweilen zu einer Überschätzung des
Amerikanismus , der Geschäftskunst und ihrer
Praktiken,
Je weiter sich nun die neue Bewertung auf
alles Kaufmännische erstreckt, um desto williger
wird die Jugend die Vorurteile vergessen, die
hie und da der Wahl dieses Berufes entgegen-
standen. Die Zahl des Nachwuchses wird hie-
durch gehoben werden; ob auch die Güte, bleibt
abzuwarten.
III. Die Laufbahn
Man spricht viel von subalterner und höherer
Tätigkeit, doch macht nicht jeder sich klar,
was diese Begriffe bedeuten. Nehmen wir ein ein-
faches Beispiel: eine Maschinenfabrik, die eine
auswärtige Verkaufsorganisation besitzt. Ein Bu-
reauleiter sitzt seit fünf Jahren in Elberfeld. Er
besucht seine Kundschaft, verkauft seine Maschi-
nen und installiert sie, er kennt jeden Fabrikan-
ten seines Bezirkes und weiß, wann dessen Bedarf
eintritt, er schätzt die Kredite, die er geben kann,
beobachtet den Geschäftsgang seiner Nachbar-
schaft und berichtet regelmäßig an das Haupt-
bureau in Köln oder Düsseldorf, wo auch die übri-
gen Berichte seiner rheinischen Kollegen zusam-
menlaufen. Er hofft, mit der Zeit selbst das Düs-
seldorfer Hauptbureau zu erhalten, er wird es
14« 211
erhalten und damit einen größeren und besser be-
zahlten Tätigkeitskreis, der ihm die Übersicht
über das gesamte Geschäft des Rheinlandes, so-
weit es seine Firma betrifft, gestattet. Er wird
alsdann seine Berichte und Statistiken unmittel-
bar an die Zentrale, sagen wir in Leipzig, senden,
wird über die Ursachen der Aufstiege und Rück-
gänge in seiner Provinz sich äußern, gelegent-
lich auch ein Personalurteil über die ihm unter-
stellten Ressorts abgeben und Anträge stellen.
In Leipzig ist ein Mitglied der Direktion für die
Verkaufsorganisation verantwortlich. Dieser Mann
ist viel auf Reisen, denn er kann sich mit Berichten
und Statistiken nicht begnügen; er kontrolliert
nicht nur das deutsche Geschäft, sondern auch die
Niederlassungen in Wien, Petersburg, Rom und
Paris; er kennt die Gewohnheiten und Bedürf-
nisse dieser Länder, zum großen Teil ihre Sprache ;
er kennt seine Bureauchefs, ersetzt und ergänzt
sie nach dem Urteil seiner Erfahrung und Men-
schenkenntnis; er verfolgt die handelspolitischen
und wirtschaftlichen Vorgänge seiner Länder, sucht
neue Absatzgebiete, studiert die Geschäftsmittel
und Konstruktionen seiner Konkurrenten, schließt
Freundschaften und Bündnisse mit nachbarstaat-
lichen Industriellen und Finanzleuten und be-
richtet der Direktionskonferenz oder dem General-
direktor über die Ergebnisse seiner Tätigkeit und
wichtige Einzelfälle. Bei der Generaldirektion
laufen alle Nerven des Geschäfts in einem Punkt
zusammen. Neben der Verkaufsorganisation, von
der wir eben sprachen, mündet die Organisation
des Einkaufs. Weiterhin überblickt man die
212
Fabriken und die affiliierten Unternehmungen,
ferner die Geldwirtschaft des gesamten Geschäfts,
seine Beziehungen zu Banken und Behörden, seine
Gesamtpolitik hinsichtlich der Kartellierungen,
der Finanzierung, der Expansion. Die Sprache, die
im Elberfelder Bureau gesprochen wird, ist von
der des Leipziger Konferenzzimmers verschieden.
Dort handelt es sich um Liefertermine, Umdre-
hungszahlen, Montagekosten, fehlende Ventile,
lauter technische und schwer verständliche Dinge,
hier spricht man über die Fähigkeit der Menschen,
über politische Vorgänge, geschäftliche Lage, Neu-
bauten und Bilanzierungsfragen in leicht verständ-
licher, gelegentlich abgekürzter Sprache mit Er-
wägungen des gemeinen Menschenverstandes. Und
da es hier tatsächlich nur auf klares und richtiges
Denken ankommt, so wäre es an sich sehr wohl
möglich, daß ein Mann von großem Talent, der
allgemein zu disponieren verstände, auch ohne spe-
zielle Schulung geschäftliche Führerstellen er-
folgreich verwalten lernte, wie denn in parlamen-
tarischen Staaten die Kabinettsportefeuilles
wechselnden Politikern ohne eigentliche Ressort-
kenntnisse unbedenklich übertragen werden. Den-
noch hat in der geschäfthchen Praxis die Beru-
fung Außenstehender zur obersten Leitung fast
stets versagt. Denn die Fragen des Menschenver-
standes, um die es sich handelt, verlangen zur
Beantwortung nicht bloße Logik — über die jeder
verfügt — sondern vor allem Wissen, Kenntnis der
Personen, der Gegenstände, Vorgänge und Ana-
logien, kurz: Erfahrung. Geschäftliches Denken
ist deswegen schwierig, weil es in der Abwägung
213
disparater Faktoren besteht: PersonaKen gegen
Leistungen, Masseninstinkte gegen Warenquali-
täten, technische Probleme gegen geographische,
Markttendenzen gegen Kapitalinvestitionen müssen
hier verglichen und ins Gleichgewicht gesetzt
werden. Und wiederum der Erfahrenste und
Klügste wird zu kurz kommen, wenn er, auf die
allgemeine Betrachtung der Dinge sich verlassend,
seine Entscheidungen trifft, deren leichteste bis
in die Nervenspitzen seines Unternehmens vi-
briert, ohne daß er beständig durch Bericht und
Augenschein bald hier, bald da bis ins einzelste
das Funktionieren seiner Verwaltung verfolgt.
Wollte man nun den Elberfelder oder Düssel-
dorfer Bureauchef, einen fleißigen, tüchtigen, nicht
unbegabten Mann, schlankweg an den Leipziger
Direktionstisch versetzen, er müßte fast bei jeder
Frage versagen, die man ihm vorlegte. Hier wird
der Neubau einer Fabrik beantragt. Hier wird
eine Beteiligung an einem fremden Unternehmen
angeboten. Hier wird die Beschickung von drei
Ausstellungen verlangt. Hier ist ein Oberbeamter
zu ersetzen. Hier wird ein neues Verfahren ange-
boten. Hier wird der Mißerfolg eines Geschäfts-
zweiges statistisch erwiesen. Dies ist die Arbeit
eines Vormittags. Für Gutachten ist keine Zeit.
Entscheidungen werden verlangt. Jeder Fehler
führt zu ernsten Folgen. Was soll geschehen?
Ich habe versucht, einige Kontraste der sub-
alternen und der höheren Laufbahn aufzuzeigen.
Eines scheint daraus hervorzugehen: Der Sub-
alterne ist nicht leicht zu verpflanzen, zumal
wenn er sich den Vierzigern nähert, die Gewohn-
ai4
heiten eines Hausvaters angenommen hat und es
liebt, sich auf Routine zu stützen. Wenn nun aber
auch, wie es die Erfahrung zeigt, der Außenstehende,
der gewesene Ministerialbeamte oder Jurist, ver-
sagt — wie ist alsdann theoretisch überhaupt Nach-
wuchs möglich?
Er ist möglich, und zwar durch eine Selektions-
methode, eine neue Laufbahn nach Art der mili-
tärischen. Angenommen, ein industrieller Leiter
entschlösse sich, für ein bestimmtes schwieriges
Ressort der technischen oder kaufmännischen Ver-
waltung die Stellen ausnahmslos nach eigener, sorg-
fältiger Wahl zu besetzen, indem er sich die besten
Hochschüler, die tüchtigsten und bestempfohlenen
jungen Kaufleute zu sichern sucht. Er müßte
dann dies Musterpersonal dauernd Mann für
Mann im Auge behalten, auf die Entwicklung
eines jeden achten. Minderwertige rücksichtslos
beseitigen und durch Fähigere ersetzen. Bietet
sich nun eine bedeutendere Einzelaufgabe, so muß
der Leiter das Herz haben, sie dem tüchtigsten
dieser Leute, trotz seiner Jugend, anzuvertrauen.
Ist dies mit gesundem Urteil und Menschen-
kenntnis geschehen, so wird der Chef mit freu-
digem Erstaunen wahrnehmen, mit welcher Be-
geisterung die Aufgabe ergriffen, mit welchen
neuentwickelten Fähigkeiten sie über Erwarten
durchgeführt wird. Über Erwarten: denn bei
uns in Deutschland, im Lande der Dichter, wird
nichts so freventlich unterschätzt wie der Enthu-
siasmus und die Kraft der Jugend. Verglichen mit
Amerika, wird Deutschland von Greisen verwaltet
und regiert,
215
Hat nun der Junge seine Probe bestanden, so
ist ei Avantageur geworden. Er muß neue Res-
sorts durchlaufen, neue Aufgaben erfüllen und als
Assistent des Direktors zurückkehren. Alsbald
werden größere Missionen, ja die Besetzung selb-
ständiger Positionen notwendig werden, und nun
muß der Direktor zum zweitenmal zu schwerem
Entschluß sich ein Herz fassen : er muß den frisch
eingearbeiteten und doch schon liebgewordenen
Assistenten weggeben, um ihn als wirklichen Nach-
wuchs verantwortlicher Tätigkeit verfügbar zu
machen, und selbst das mühsame Spiel von neuem
beginnen.
Daß dieser Weg zum Ziele führt, kann ich und
manche meiner früheren Gehilfen mit mir, aus
Erfahrung behaupten. Denn wenn etwas aus
meiner industriellen Tätigkeit übrig Gebliebenes
mich befriedigen kann, so sind es die Karrieren, die
von meinen Bureaus und Werkstätten aus gemacht
worden sind.
So ist die Frage des Nachwuchses zum großen
Teil eine Frage der Verwaltung. Sie ist un-
lösbar, wenn ein Chef es liebt, sich mit lange
eingearbeiteten, stark abhängigen Personen zu
umgeben, wenn er nicht die ethischen Eigenschaf-
ten besitzt, um frische und lebendige Kräfte an
sich zu ketten, oder wenn er eine einseitige, öko-
nomisch überholte Geschäftskunst betreibt, für
deren Erlernung die Zeit keine Handhabe mehr
bietet.
Durchaus begreiflich muß jedoch der Wunsch
des Leitenden erscheinen, die Avantageurlauf-
bahn vorzugsweise den jüngeren Kräften seines
216
eigenen Kreises zu übertragen, und diese Erwä-
gung bestimmt mich, noch einmal zur Betrachtung
der neueren Generationen zurückzukehren.
IV. Beruf und Ideal
Wie in den Zeiten zünftigen Handwerks ist
noch heute in einigen Ländern der Er-
werbsberuf erblich, nämlich da, wo alte Privat-
industrie sich behaupten konnte, so in England,
Belgien und der Schweiz. Der erbliche Beruf war
von einer Idee getragen: Erhaltung väterlicher
Arbeit, Art, Würde und Gesinnung. Die Ent-
wicklung zum Großkapitalismus hat bei uns dies
Ideal zerbrochen: der Sohn des Aktiendirektors
weiß, daß ihm aus doppeltem Grunde der Eintritt
in das Konkurrenzgeschäft verschlossen ist, ohne
daß er dadurch den Eintritt in das väterliche Ge-
schäft gewinnt. Wendet er sich fremden Geschäfts-
zweigen zu, so geschieht es nicht aus Drang des
Herzens, sondern aus kühler Erwägung, sofern
nicht ein neues Ideal ihn ergreift.
Solcher Ideale aber, die auf organisierende Be-
rufe weisen, gibt es wenig, und so versteht es
sich, daß feinere Naturen von einer Lebensauf-
gabe sich abwenden, die ihnen und anderen nur
als Mittel zur Bereicherung erscheint. Diese ma-
terielle Auffassung herrscht vor; ja, es wurde bei
uns vor nicht langer Zeit in großer Öffentlich-
keit von einem smarten Praktiker das Wort ge-
sprochen : nur wem der Drang zum Geldverdienen
im Blute liegt, der taugt zum Kaufmann.
Dies schnöde Wort ist falsch. Ich behaupte,
217
daß noch niemals in der wirtschaftlichen Welt
wahrhaft Großes geleistet worden ist von einem
Menschen, dem der persönliche Erwerb wichtig
oder die Hauptsache war. Ein großer Geschäfts-
mann strebt nach Verwirklichung seiner Gedanken,
nach Macht und Verantwortung, und hierin liegt
ein Ideal, solange die Macht und Sicherheit eines
Landes, das sich auf Kapitalismus stützt, ein Ideal
genannt werden kann. Sinkt diese Zeitauffassung
einmal dahin, so sinkt auch das stärkste Ideal des
Kaufmannsstandes und der materiellen Berufe:
dann werden die Kräfte der Nationen, die heute
wirtschaftliche Pionierarbeit leisten, mit Recht
sich kontemplativerem Leben widmen dürfen.
Wenn aber heute die Ideale dieser Berufe ver-
dunkelt werden, so geschieht es zumeist durch
materielle Begehrlichkeit kleiner Geister, durch
schamlose Schaustellung des Reichtums und durch
die wirtschaftlichen Mängel eines 2^italters, das
leichten Erwerb nicht zu verhindern versteht und
durch mangelhafte Züchtung des Nachwuchses
die Überzahlung des Seltenheitswertes geeigneter
Kräfte erzwingt.
Ratschläge
1. Man züchte nicht Serien von Großstadt-
geschlechtern, sondern befördere den generations-
weisen Austausch von Stadt und Land.
2. Man beobachte die Methode der Selektion,
wie oben beschrieben.
3. Man lasse die Ideale des Wirtschaftslebens
nicht verkommen.
218
STAAT UND JUDENTUM
EINE ZEITUNGSPOLEMIK
I.
Erwiderung auf einen Artikel des Herrn
Geheimrat ***
Herr Geheimrat *** hat sich in freier und vor-
nehmer Art über die Judenfrage geäußert.
Er beginnt mit einer objektiven und weit-
gefaßten Analyse des jüdischen Geistes, kommt zu
dem Schluß, daß eine Verschmelzung jüdischen
Positivismus mit germanischer Transzendenz zu
erstreben sei, und geht über zu den Ursachen der
gegenwärtigen Absonderung.
Hier teilen sich unsere Wege zum ersten Male,
denn *** erblickt den Inbegriff der trennenden
Faktoren in der Synagoge.
Der heutige kultivierte Jude ist meines Er-
achtens weniger als irgend ein anderer zeitgenössi-
scher Kulturträger vom Dogmatisch-Religiösen
abhängig. Er betrachtet seinen Väterglauben —
vielleicht mit Unrecht — als einen abgeklärten
Deismus im Sinne der Philosophen des i8. Jahr-
hunderts, ist im mythologischen, historischen,
exegetischen, dogmatischen, ja selbst im ritu-
ellen Bereich der alten Nationalreligion wenig
bewandert, und tritt in der Regel nur anläß-
lich der sakramentalen Handlungen des Lebens
in Berührung mit der Religionsgemeinschaft.
Ein so lockeres Verhältnis schafft keine Ab-
sonderung; sonst müßte sie bei den weitaus
219
glaubenseifrigeren Katholiken fühlbarer sein als
bei den Juden.
Die wahre Ursache der Trennung liegt in einer
tiefen und alten Stammesabneigung.
Die Abneigung der Juden gegen die Germanen
war in der Zeit der materiellen Bedrückung leb-
haft, ja leidenschaftlich. Seit zwei bis drei Genera-
tionen — ich rede durchweg von kultivierten
Juden — stirbt sie ab und weicht be den jüngeren
Geschlechtern einer rückhaltlosen Anerkennung
der Nation, der sie den wertvollsten Teil ihrer
Kulturgüter verdanken.
Auf christlich-deutscher Seite ist die Abneigung
bis vor etwa zwei Jahrzehnten stark angewachsen,
und zwar in gleichem Maße wie die Zahl, der
Reichtum, der Einfluß, die Konkurrenz, das Selbst-
bewußtsein und die Schaustellung der Juden fühl-
bar wurde. Seit der letzten Antisemitenperiode
scheint der deutsche Antagonismus stabil geblie-
ben, vielleicht um eine Kleinigkeit rückgebildet
zu sein.
Auf ein Erlöschen dieser Abneigung ist kaum
zu hoffen, solange der Staat sie durch differen-
zierte Behandlung billigt, anpreist und rechtfertigt,
und solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten
den jüdischen Deutschen seinem christlichen Lands-
mann erkennbar und verdächtig machen.
Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch eine
energische Selbsterziehung, die schon seit einem
Jahrhundert von vielen geübt wird, alle korrigiblen
Seltsamkeiten zu beseitigen. Vor Jahren habe ich
dies ausgesprochen in der Meinung, daß so die
edelsten Gegenkräfte des Antisemitismus geweckt
220
und hiermit im eigentlichen Sinne Not zur
Tugend werde. Doch habe ich mir nicht ver-
hehlt, daß es hart ist, Opfer als Gegenleistung für
Bedrückung zu verlangen, und daß dieses Volks-
opfer lange Zeitläufte zu seiner Erfüllung braucht.
*** stellt ein solches Verlangen nicht; er
empfiehlt den Juden nichts weiter, als zum
christlichen Glauben überzutreten.
Trotz falscher Diagnose könnte das Heilmittel
nützen. Versuchen wir daher einmal, vorurteils-
frei festzustellen, was einem aufgeklärten Juden
unserer Zeit die Taufe bedeutet.
Ich glaube, daß die vier Evangelien dem ge-
bildeten Juden so vertraut sind wie dem gebildeten
Christen, und habe niemals einen Juden getroffen,
der die Ethik des Neuen Testaments abgelehnt
hätte. Einzelne glauben sie im Alten Testament
enthalten, andere erkennen rückhaltlos ihre Über-
legenheit über alle uns bekannten Sittenlehren an.
Die Transzendenz des Christentums: Erlösung
durch Liebe ist eine dem Judentum sehr naheliegende
Vorstellung, und die Göttlichkeit Christi im Sinne
liberaler evangelischer Kirchenlehrer wird unter
den Juden, die den Geist als Ausfluß der Gottheit
fühlen, Bekenner finden.
Anders liegt es mit dem Bekenntnis der Taufe, dem
Apostolikum. Ich weiß nicht, wie viele erwachsene
evangelische Christen im Schöße ihrer Kirche ver-
bleiben würden, wenn ihnen heute ein Moder-
nisteneid im Sinne unbedingter Anerkennung
des offiziellen Glaubensbekenntnisses zugeschoben
würde. Für den Juden liegt der Fall schwieriger:
je selbstverständlicher ihm die inneren Heilswahr-
221
heiten der christlichen Glaubenslehre erscheinen,
desto entschiedener sieht er sich auf das eigent-
lich Trennende des Bekenntnisses, auf die dogma-
tisch-mythologischen Bestandteile als die eigent-
liche, zu überschreitende Grenzlinie hingewiesen,
und es wird nicht leicht sein, seiner Empfindung
vernehmbar zu machen, weshalb diese überwiegend
nachevangelischen Sätze, wie die von der Himmel-
und Höllenfahrt Christi, über seine und seiner Kin-
der Lebenslage entscheiden sollen.
Dieser Konflikt wird von der staatlichen Kirche
empfunden und geflissentlich vertieft. Auf einer
früheren Synodalversammlung wurde bei der Be-
ratung der Bekenntnisfrage im Hinblick auf die
Judenbekehrung offen ausgesprochen: es sei an
der Zeit, die Türen zu schließen. Mit anderen
Worten: es sei angezeigt, die Gewissenszweifel
jüdischer Proselyten zu benutzen, um ihnen den
Zugang zur Kirche zu verstellen. Wieweit diese
Taktik mit dem Geist der Evangelien zu vereinen
ist, habe ich nicht zu beurteilen.
Wiederholt hört man sagen, es gäbe evangelische
Geistliche, die es mit dem Glaubensbekenntnis so
streng nicht nähmen. Insbesondere erklären ge-
taufte Judenchristen fast übereinstimmend, in
ihrem Falle sei es besonders milde hergegangen.
Auf diese Betrachtungsweise einzugehen, verlohnt
nicht. Sie steht auf der gleichen Stufe wie etwa
eine Entschuldigung wegen Zollschmuggels in
dem Sinne, daß der verantwortliche Beamte es
an Vorsicht habe fehlen lassen.
Bedeutsamer für das Verhältnis des zeitgenössi-
schen deutschen Juden zur Taufe als die Frage des
222
Bekenntnisses ist ein zweites Moment. Jeder
Staatsbürger weiß, daß mit der Zugehörigkeit
zum Judentume nur bürgerliche Nachteile, mit
Übertritt zum Christentume erhebliche Vorteile
verknüpft sind.
Den Juden trifft ein sozialer Makel. In die Ver-
einigungen und den Verkehr des besseren christ-
lichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen.
Zahlreiche Geschäf tsunterneh mungen schließen
ihn als Beamten aus. Die Universitätsprofessur
ist ihm durch stille Vereinbarung versperrt, die
Regierungs- und Militärlaufbahn, der höhere Rich-
terstand durch offizielle Maßnahmen. In den
Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt
es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich
zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male
voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse
in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtig-
keit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage be-
freien kann.
Gleichzeitig aber erfährt er, daß ein Glaubens-
akt, gleichviel ob innerlich gerechtfertigt oder
äußerlich herbeigeführt, seine Abstammung zu
verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürger-
lichen Nachteile zu beseitigen vermag.
Daß der generationsweise wiederkehrenden, täg-
lich erneuten Versuchung, die dieser eigenartige
Ausfluß unserer Staatsweisheit herbeiführt, ein
relativ kleiner Prozentsatz der deutschen Juden
erliegt, offenbart meines Erachtens die stärkste
Qualität des modernen Judentums. Ich weiß, daß
Menschen, die sich von ganzem Herzen zum
Christentume hingezogen fühlen, auf die äußere
223
Zugehörigkeit verzichten, weil sie mit Belohnung
verbunden ist. Diesem Verzicht liegt die Über-
zeugung zugrunde, daß ein ideeller Schritt seine
Reinheit verheren muß, wenn er zu materiellen
Vorteilen führt; eine Erwägung, die nicht ganz
zu der Vorstellung paßt, die man gemeinhin von
der kühlen Berechnung des jüdischen Geistes sich
bildet.
Die Forderung der Taufe enthält somit für den
gebildeten und gewissenhaften Juden eine doppelt
schwere Zumutung : sie legt ihm auf, ein altertüm-
lich-dogmatisch gefaßtes Glaubensbekenntnis ab-
zulegen, von dem er weiß, daß die Verlegenheiten,
die es bereitet, zu seiner Beibehaltung bei-
tragen ; sie legt ihm ferner auf, sich als einen Men-
schen zu empfinden, der von der Aufgebung seines
Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitiert;
und zu guter Letzt nötigt sie ihn, durch den Akt
löblicher Unterwerfung sich einverstanden zu er-
klären mit der preußischen Judenpolitik, die nicht
weniger bedeutet als die schwerste Kränkung, die
ein Staat einer Bevölkerungsgruppe zuzufügen ver-
mag. Denn man vergleiche alle Maßnahmen, die
von der preußisch-deutschen Politik gegen Volks-
gruppen selbst in der Gegenwehr oder im Zorn
ergriffen worden sind, gegen Polen, Weifen,
Dänen, Elsässer: niemals hat man gewagt, eine
dieser Gruppen in ausnahmsloser Gesamtheit
sozial zu disqualifizieren.
In diesem Zusammenhange darf und muß es
ausgesprochen werden : die der preußischen Juden-
politik zugrunde liegenden Vorstellungen sind rück-
ständig, falsch, unzweckmäßig und unmoralisch.
224
Rückständig: denn alle Nationen westlicher
Kultur haben diese Vorstellungen aufgegeben,
ohne Schaden zu erleiden.
Falsch: denn Maßnahmen, die gegen eine
Rasse gedacht sind, werden gegen eine Religions-
gemeinschaft gerichtet.
Unzweckmäßig: denn an die Stelle der offen-
kundigen Verjudung, die bekämpft werden soll,
tritt die latente, und zwar auf Grund einer üblen
Selektion; gleichzeitig wird eine große, konservativ
veranlagte Volksgruppe in die Opposition ge-
trieben.
Unmoralisch: denn es werden Prämien auf
Glaubenswechsel gesetzt und Konvertiten bevor-
zugt, während hunderttausend Staatsbürger, die
nichts anderes begangen haben, als ihrem Gewissen
und ihrer Überzeugung gefolgt zu sein, in un-
gesetzlicher Weise und durch kleine Mittel um
ihre edelsten Bürgerrechte verkürzt werden.
Ich wage fast zu hoffen, daß Geheimrat *** mir
hierin recht geben wird : wenn man die Wahl hat,
eine ungesunde und unhaltbare Staatsraison zu
beseitigen oder eine halbe Million Menschen zum
Glaubenswechsel zu bewegen, so sollte man es
zunächst einmal mit dem einfacheren Mittel
versuchen.
Die deutschen Juden tragen einen erheblichen
Teil unseres Wirtschaftslebens, einen unverhält-
nismäßigen Teil der Staatslasten und der frei-
willigen Wohlfahrts- und Wohltätigkeitsaufwen-
dungen auf ihren Schultern. Sie hätten die Mittel
in der Hand, um eine unvernünftige Staatsräson
in kürzester Zeit unmöglich zu machen. Daß
ij 225
sie in weit überwiegender Zahl staatsfördernd
gesinnt bleiben, beweist einen Gemütszug, der
praktischem Christentum nicht unähnlich sieht.
Wie dem auch sei: die preußische Judenpolitik
hat ihre Glanzzeit überschritten, die mit dem
Kampfe Bismarcks gegen den Liberalismus zu-
sammenfiel. Ein Industriestaat von der Bedeutung
unseres Reiches bedarf aller seiner Kräfte, der
geistigen und materiellen ; er kann auf einen Faktor
wie den des deutschen Judentums nicht verzichten.
Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte
Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein.
Man kann nicht sagen, daß die deutschen Juden
das erste Jahrhundert ihrer beginnenden Freiheit
schlecht angewendet haben. Kulturell und mate-
riell haben sie zum Wohl ihres Vaterlandes beige-
tragen. Ist der Makel sozialer Ungleichheit ge-
tilgt, so ist damit auch der offizielle Teil der
Volksabneigung gegen die jüdischen Deutschen
beseitigt und der Weg zum herzlichen Verständnis
gebahnt. Undankbarkeit und Herzlosigkeit sind
niemals Fehler der semitischen Rassen gewesen.
IL
Sendschreiben an Herrn von N.
Berlin, 28. Januar 1911
Sehr geehrter Herr!
Ihre Ausführungen haben mich deshalb interessiert
und angezogen, weil sie in knapper, klarer und
ehrlicher Sprache die normale Auffassung des preu-
226
ßischen Staatsbeamten, Offiziers und Standesherrn,
somit des herrschenden Preußentums, darlegen.
Dieses Preußentum liebe und bewundere ich als
Preuße und als Mensch ; das kann mich aber nicht
hindern, es mit offenen Augen anzuschauen und
rückhaltlos die Stimme zu erheben, wenn es mir
zu irren oder zu fehlen scheint. Hierbei darf ich
das Vorrecht ausreichender Unparteilichkeit, das
ich Ihnen gern zugestehe, auch für mich be-
anspruchen. Vor einigen zwanzig Jahren hätte es
mir Freude gemacht, Soldat bleiben zu dürfen;
heute ist mein Alter und mein Tätigkeitskreis nicht
mehr derart, daß der Wunsch nach staatlicher
Fürsorge mich beunruhigen könnte.
Ihre Darlegung steht und fällt mit der Behaup-
tung, daß der deutsche Jude anders geartet und
in entscheidenden Eigenschaften weniger wert sei
als sein autochthoner Landsmann, daß seine staats-
erhaltende Veranlagung und seine staatsfördernde
Befähigung nicht zureiche. Die weiteren Voraus-
setzungen: daß ein gesitteter Staat berechtigt sei,
ihm unbequem scheinende Elemente mit kleinen
und unverfassungsmäßigen Mitteln zu bekämpfen,
daß er „den Sack schlagen und den Esel meinen"
dürfe, das heißt, eine Religionsgemeinschaft ab-
wehren, um eine Blutsgemeinschaft fernzuhalten;
daß er Gewissenskonflikte seiner Bürger schüren
dürfe, indem er auf Glaubenswechsel Prämien
setzt; daß er überzeugungstreu Gebliebene be-
nachteiligen dürfe zugunsten mobilerer Elemente
— diese Voraussetzungen, die mir durchaus nicht
einwandsfrei erscheinen, treten gegen den ersten
Satz in den Hintergrund.
«3* 227
Ich müßte demnach wohl den Nachweis zu er-
bringen suchen, daß die deutschen Juden nicht
„in jeder Beziehung anders gestaltet", daß sie
nicht, praktisch betrachtet, menschlich und staat-
lich minderwertig sind.
Ich verzichte darauf, diesen Beweis anzutreten.
Nicht deshalb, weil es hart ist, daß jemand, dessen
Vorfahren, Familie und Person sich seit Menschen-
altern redlich bemüht haben, dem Lande zu nützen,
seinen Bürgern Arbeit zu schaffen und .seine Wirt-
schaft zu heben, sich gegen den Vorwurf wehren
muß, minderwertiger Insasse zu sein. Ich bin der
Kritik und Selbstkritik zugänglich und habe sie in
der von Ihnen erwähnten Schrift geübt, indem
ich den deutschen Juden minderer Kultur eine
Reihe von äußeren Schwächen und Mängeln vor-
hielt.
Ich verzichte deshalb, weil die Ablenkung auf
allgemeine Prinzipienfragen den Tod jeder real-
politischen Diskussion bedeutet.
Nur drei Bemerkungen zu der Minderwertig-
keitsfrage seien mir im Vorübergehen gestattet.
Erstens. Meines Erachtens sollte niemals ein
einzelner ein Verdammnisurteil über einen ganzen
Kulturstamm aussprechen. Wie oft ist von Fran-
zosen und Engländern über Deutsche, vom Deut-
schen über Franzosen und Engländer, über Polen,
Russen, Österreicher, Italiener der Stab gebrochen
worden. Solche allgemeinen Kritiken haben nicht
den Wert politischer Urteile, denn sie sind ge-
trübt durch die Begrenztheit der Erfahrung, durch
persönliche Vorliebe und Abneigung, und häufig
durch zufällige Erlebnisse. Den Juden gegenüber
228
wird das Urteil vorwiegend zum Identitätsurteil:
denn in der Regel wird nur der unkultivierte Jude
als Jude erkannt und getadelt.
Zweitens. Juden erscheinen als neuerungs-
liebend nur da, wo man sie schlecht behandelt,
und das ist menschlich. Das Gegenteil wäre
Charakterlosigkeit. In Ländern der Gleichberech-
tigung, in England, Frankreich, Italien, Amerika
gehören sie zu den staatlich positivsten Elementen.
Daß das Judentum überhaupt besteht, verdankt
es dem strengsten Konservativismus, den die
Geschichte kennt.
Drittens. Sie schätzen die Intelligenz der Juden.
Ich teile Ihre Ansicht, daß Intelligenz erst in Ver-
bindung mit ethischen Werten Bedeutung erhält.
Mangelt es den Juden nun in so hohem Maße an
ethischen Werten, daß sie deshalb zur Ausübung
jeglicher staatlichen Autorität unmöglich wären,
so müßte sich dies Manko wissenschaftlich, stati-
stisch, geschichtlich fassen lassen. Polen, Slowe-
nen, Rumänen, Serben, sie alle sind regierungs-
fähig: die Juden sind es nicht. Oder sind sie es
am Ende doch? Verdankt nicht England seine
Imperialpolitik einem Juden, dessen Standbild vor
der Westminsterkirche steht ? Haben nicht Frank-
reich, Italien, Rußland, Österreich und sogar
Preußen ein paar ganz tüchtige Minister jüdischen
Blutes gehabt ? Im westlichen Auslande sind weit
mehr Stammesdeutsche als Juden ansässig. Wie
wäre es, wenn am Ende gar die Statistik der
Regierenden zugunsten der Juden ausschlüge?
Aber genug hiervon. Ich weiß, daß Sätze von
einer gewissen Allgemeinheit nicht widerleglich
229
sind, und will deshalb getrost für den Augenblick
einmal annehmen, die Juden seien ethisch, poli-
tisch, sozial ein etwas minderwertiges Element,
somit erheblich tiefer stehend als etwa die öster-
reichischen Polen und Tschechen. Was bedeutet
dies — um Ihrer wissenschaftlichen Anschauungs-
weise zu folgen — wissenschaftlich?
Zur Bekleidung eines höheren militärischen,
richterlichen oder gouvernementalen Amtes in
Preußen sind gewisse Vorbedingungen der Er-
ziehung, der Bildung, des Charakters und des
Physischen entscheidend. Nicht alle Preußen er-
füllen diese Bedingungen. Nehmen wir also das
Verhältnis der Regierungsfähigen auf 20 Prozent
an, so können wir bei wissenschaftlicher Betrach-
tung nicht mehr tun, als das gleiche Verhältnis
bei den Juden auf die Hälfte, also auf etwa
IG Prozent zu normieren. Was bestimmt nun die
preußische Verwaltungspraxis dazu, diese 10 oder
x-Prozent einfach zu ignorieren?
Ihre Ausführungen zeigen genügend Geschmack
und Aufrichtigkeit, um zu erklären, weshalb Sie
das landläufige Argument verschmäht haben: der
jüdische Vorgesetzte hat keine Autorität. So viel
Autorität wie der getaufte Jude darf der unge-
taufte unter allen Umständen beanspruchen. Wäre
es anders, so hieße dies: der Untergebene treibt
Religionsverfolgung auf eigene Faust, und die
Remedur hätte bei ihm zu beginnen.
Ein anderer Einwand wäre plausibler: der Pro-
zentsatz der Verantwortungsfähigen unter den
Juden ist gleich Null oder verschwindend klein.
Hier kann ich mich auf kein besseres Gegenzeugnis
230
berufen als auf das der preußischen Regierung.
Sie bestellt und befördert jährlich Dutzende von
Juden, die durch die Taufe weder an Fähigkeit noch
an Zuverlässigkeit gewonnen haben. Sie bekleidet
diese Schützlinge «mit aller ihr zustehenden Autori-
tät, übernimmt die Verantwortung für ihre Amts-
handlungen — und fährt nicht einmal schlecht dabei.
- Dies führt mich zur Erledigung eines dritten
Einwandes, desjenigen, den Sie zu dem Ihren ge-
macht haben : das Eindringen des jüdischen Geistes
muß verhindert werden.
Gäbe es unter den kultivierten Juden einen sol-
chen jüdischen Geist, so hätte er den mit Juden
reichlich verschwägerten preußischen Adel und die
mit getauften Juden stark durchsetzte Staats-
beamtenschaft längst ergriffen. Sie werden ebenso-
wenig wie ich Klagen darüber gehört haben, daß
durch Männer wie Simson, Friedberg, Frieden-
thal, Moßner die preußische Justiz, Verwaltung
und Armee mit sogenanntem jüdischen Geist
infiziert worden sei.
Die Tatsachen liegen einfach und mit klaren
Worten gesagt wie folgt:
Die Regierung wehrt sich gegen das jüdische
Element und schützt Unbrauchbarkeit der Juden
vor. Die Religionsfrage spielt, wie sie selbst zu-
gesteht, keine Rolle.
Nun hat sie aber nicht die Courage oder nicht
die Findigkeit gehabt, sich der getauften Kate-
gorie zu erwehren, und die Brauchbarkeit dieser
Kategorie beweist a fortiori die Brauchbarkeit der
ungetauften und somit die Unwahrhaftigkeit des
Vorwandes.
231
In dem neulich veröffentlichten Aufsatz habe
ich es vermieden, die letzten Ursachen dieser hilf-
los-brutalen poHtischen Tendenz zu erörtern, denn
meine Ausführungen waren nicht gegen sie ge-
richtet, sondern gegen den etwas zu getierellen
Vorschlag des Herrn Geheimrats ***: alle Juden
möchten sich taufen. Da Sie, verehrter Herr v. N.,
den Regierungsmaßnahmen meines Erachtens un-
zutreffende, ideelle Motivierungen unterstellen,
so muß ich erwidern, daß die wahren Ursachen
lediglich in der Furcht der in Preußen herrschen-
den Klasse vor Konkurrenz zu finden sind.
Die Judenpolitik ist nichts weiter als der letzte
Ausdruck der gegen Unzünftige gerichteten In-
teressenpolitik der beiden dominierenden Kasten.
Sie selbst sagen mit dankenswerter Offenheit:
„Unsere Familien haben den preußischen Staat
geschaffen, wir arbeiten seit zweihundert Jahren
daran, wir sollen nun Ihnen eine führende Hand
an der Staatsmaschine lassen?"
Ich antworte Ihnen darauf offen und ohne eine
Spur von Ironie: Dies ist das einzige Argument,
das sich hören läßt, für das ich ein gutes Quantum
Sympathie hege, und das einer Verständigung zu-
grunde gelegt werden kann. Es ist richtig, daß
der preußische Adel das leider absterbende alte
Preußentum geschaffen hat, es ist richtig, daß er
einen prächtigen, zum Regieren im älteren Sinne
überaus geeigneten Stamm bildet, es ist hart, daß
er seine hundertjährigen Prärogativen, mit wem es
auch sei, teilen soll.
Begnügen Sie sich mit diesem starken Argument,
das zum Verständnis und zum Herzen spricht, und
232
bedecken Sie es nicht mit dem Mantel einer Stam-
meskritik, die bei Einzelnen auf Grund singulärer
Erlebnisse und begrenzter Erfahrung echt sein mag,
die aber im Angesicht von tausend persönlichen
Freundschaften und Ehebündnissen zerflattert.
Denn trotz mancher Schwächen, die Grand-
seigneurs und Parvenüs sich wechselweise vorzu-
werfen haben, vertragen Adel und Judenschaft
sich gar nicht so schlecht, und die Agis der Stam-
mesfeindschaft wird vorwiegend nur dann ge-
schüttelt, wenn Interessen aufeinanderplatzen.
Sagen Sie uns offen und ehrlich: wir fürchten
eure Konkurrenz; bekämpfen Sie uns, wenn Sie
wollen, aber mit ritterlichen Waffen. Beschimpfen
Sie uns nicht. Nicht Sie blicken in unsere Herzen,
und es ist das härteste, was der Mensch dem Men-
schen zurufen kann, wenn er sagt : Dein Blut, deine
Seele, deine Gesinnung hat keinen Teil an unserer
Gemeinschaft, du bist und bleibst anders geartet,
unedel, fremd.
Den Kampf aber werden Verhältnisse entschei-
den, nicht Menschen. Eine unaufrichtige und un-
sittliche Politik kann keinen Bestand haben, die
preußische Judenpolitik aber wird noch früher an
ihrer Unzweckmäßigkeit scheitern als an ihrer Un-
gerechtigkeit.
Hier muß ich nochmals auf Ihr Wort zurück-
greifen : „Unsere Familien haben den preußischen
Staat geschaffen."
Als Ihre Familien den Staat schufen, da trugen
sie ihn auch, denn der Staat war ein Agrarstaat,
und sie besaßen den Grund und Boden. Heute
tragen sie ihn nicht mehr, denn Preußen sowohl
233
wie das Reich sind Industriestaaten geworden ; die
Landwirtschaft kann die achtmalhunderttausend
Deutschen, die jährlich geboren werden, weder
beschäftigen noch ernähren. Noch weniger kann
sie die Lasten erschwingen, die Staat und Reich
zu ihrer Erhaltung und Verteidigung bedürfen.
Wert und Bedeutung der Landwirtschaft lasse
ich unangetastet. Sie aber werden nicht leugnen
können, daß Handel und Industrie, die entschei-
denden Faktoren unserer Wirtschaft, auf dem Bür-
gertum, und nicht zum mindesten dem jüdischen
Bürgertum beruhen. Und deshalb können Sie den
Elementen, die die Wirtschaft erhalten, auf die
Dauer nicht die Mitwirkung an der Verwaltung
versagen.
Regieren ist heute nicht mehr dasselbe, was es
vor hundert Jahren war. Es ist nicht mehr patriar-
chalisches Verwalten anvertrauter Menschen und
Dinge. Regieren heißt heute: führen und Initia-
tive ergreifen; diese Initiative muß ethisch und
ideell, sie muß aber auch geschäftlich sein.
Gleichzeitig ist die Kriegführung zur Technik
geworden. Sie beruht nicht mehr allein» auf
Mannszucht und Bravour; Erfindungsgabe und
Initiative geben den Siegen der neueren Zeit eine
intellektuelle Färbung.
Die bewährten Stärken unserer beiden regieren-
den Kasten, des erblichen Beamtentums und
des Adels, sind Treue, Disziplin und Tradition.
Ob diese Geschlechter auf der ganzen Linie
einzuschwenken und den neuen Aufgaben gegen-
über Front zu machen vermögen, ist mehr
als zweifelhaft, denn Tradition und Initiative
234
schließen bis zu einem gewissen Grade ein-
ander aus. Bei Aufgaben vorwiegend geschäft-
lichen Charakters, welche aus kolonialen, auswär-
tigen und finanziellen Problemen sich ergeben,
hat die preußische Verwaltungstradition schon
mehrfach versagt.
Ein Volk von fünfundsechzig Millionen Men-
schen kann verlangen, daß die führenden Stellen
im Staatswesen von allerersten Talenten, die ver-
antwortlichen Stellen von befähigten Spezialisten
besetzt werden.
Tausend herrschende Familien können selbst Jbei
hoher und spezialisierter Begabung weder zahlen-
mäßig noch qualitativ den gewaltig gesteigerten
Verbrauch an Verwaltungskräften decken. Kein
gerecht denkender Mensch wird diesen Familien
ihre Verdienste zu schmälern, ihre entschiedene
Mitwirkung bei den höchsten Staatsauf gaben zu
beseitigen wünschen. Wollen sie aber dauernd die
Staatsmaschine monopolisieren, so werden die Ver-
hältnisse sich stärker erweisen und diejenigen Re-
meduren eintreten lassen, die den allzu renitenten
Konservativismus Preußens schon mehrmals, wenn
auch in hartem Anstoß, zurechtgerückt haben, und
die man demgemäß sehr wohl als Fügungen be-
zeichnen durfte.
Deshalb bleibe ich bei meiner Überzeugung und
Zuversicht: der Staat kann auf keine seiner in-
tellektuellen und moralischen Kräfte verzichten;
er muß und wird dem Bürgertum im weitesten
Sinne, und somit auch den Juden, die Mitwirkung
an den gemeinsamen Arbeiten zugunsten des
Staatswohls gewähren, und dies in kürzerer Zeit,
235
als die BeteiKgten annehmen. Erkannte Not-
wendigkeiten schreiten rasch zur Erfüllung; jetzt
ist der Zeitpunkt, sie auszusprechen.
Mit vorzüglicher Hochachtung begrüße ich Sie
Ihr sehr ergebener
W. R.
III.
Erwiderung auf das Schreiben eines be-
freundeten Grundbesitzers
«■
Ich war etwas erstaunt, das populäre Argument
des „Staates im Staat" von meinem Freunde auf-
genommen zu sehen ; denn er selbst blickt auf seiner
und seiner Gemahlin Seite auf zwei stattliche
Reihen jüdischer Vorfahren zurück, deren natio-
nale Gesinnung bekannt ist. Gleichviel. Sehen
wir einmal zu, was die Lehre von der Interna tio-
naUtät der Juden bedeutet.
Schwerlich gibt es heute noch einen ernsten Be-
urteiler, der behauptet, im Kriegsfall möchten sich
die deutschen Juden auf die Seite des Feindes
stellen. Ebensowenig habe ich je den Vorwurf
gehört, sie hätten gelegentlich in Friedenszeiten
mit einer auswärtigen Macht zu liebäugeln oder
zu konspirieren gesucht, um Deutschlands Stellung
oder Politik zu erschüttern.
Die Sinnlosigkeit der antinationalen Unter-
stellung wird doppelt evident, wenn man die un-
vorsichtigen Vergleiche mit Polen, Elsässern und
Dänen prüft, denn diese Vergleiche enthüllen
sich als Gegenbeweise. Polen, Elsässer und
236
Dänen blicken auf außerdeutsche politische Zent-
ren; die Polen auf ihr altes autonomes König-
reich, die Elsässer auf Frankreich, die Dänen
auf Dänemark. Wollte man unter den Juden
selbst den kleinen Prozentsatz der Zionisten ernst-
haft politisch fassen, so könnte man nur sagen,
daß es sich um ein Auswanderungsideal handelt.
Eine Absplitterung deutscher Landesteile zugun-
sten eines jerusalemitischen Staates hat wohl noch
niemand befürwortet oder befürchtet. Es bleibt
also für die überwiegende Mehrzahl der Juden die
Tatsache notorisch, daß sie außerhalb des Reiches
kein politisches Zentrum oder Ideal kennen, wäh-
rend die deutschen Katholiken, deren Nationali-
tätsgefühl kaum angezweifelt werden dürfte, jen-
seits der Alpen ein anerkanntes religiöses Zentrum
verehren, das sich politisch durchaus nicht immer
indifferent verhält.
Während man nun ganz mit Recht Polen,
Elsässer und Dänen als gutgläubig national so
lange anerkennt, bis sie selbst den Gegenbeweis
erbringen, hat man sich in aller Ruhe daran ge-
wöhnt, die Juden ohne die Spur eines Anhalts
des Antinationalismus zu beschuldigen und ihnen
den Rechtfertigungsbeweis zuzuschieben; ja man
geht, wie die Ausführungen meines Freundes
zeigen, noch weiter und hält den durch bürger-
liche Minderung bestraften Unverdächtigen
drohend das Beispiel der verdächtigen und
unbestraften Fremdnationalen entgegen.
Der Jude soll durch die Taufe den Nachweis
der Loslösung erbringen ; Loslösung wovon ?
Von seiner Familie ? Seiner Religion ? Nein : von
seiner Nation. Wo liegt diese? Gewerbsmäßige
Antisemiten haben den Humor, zu antworten:
in der Alliance Israelite; indem sie nämlich eine
wenig bekannte internationale Wohltätigkeitsan-
stalt mit den Schrecken des Freimaurertums staf-
fieren. Was würden wohl die deutschen Katho-
liken antworten, wenn man von ihnen verlangte,
sie möchten durch Übertritt zur evangelischen
Kirche den Nachweis ihrer Loslösung von aus-
ländischen Religionsorganisationen erbringen?
Ich will meinen Widerpart nicht dialektisch
widerlegen, sondern mich mit ihm verständigen.
Deshalb komme ich ihm einen Schritt entgegen
und nehme an, er habe folgendes gemeint: die
Juden stellen die Einheit der Abkunft, die Ein-
heit der Religion und der Familie über die natio-
nale Einheit ; sie sind daher schlechte Staatsbürger.
Der erste Teil des Satzes, den ich auf Grund
meiner Erfahrung bei kultivierten Juden aufs ent-
schiedenste bestreite, läßt sich weder für diesen,
noch für irgendeinen anderen Volksteil beweisen
oder widerlegen, abgesehen davon, daß es eine un-
würdige Zwecklosigkeit ist, seinem Mitmenschen
in die tiefsten Falten seines Gewissens nachzu-
spüren. Politisch entscheidend ist der:Zweite Teil:
sind die Juden schlechte Staatsbürger, oder sind
sie es nicht?
Da ist zunächst daran zu erinnern, daß wir nicht
mehr im Zeitalter der Gefühlsbehauptungen, son-
dern in einer wissenschaftlich forschenden Epoche
leben. Die exaltierte Beschuldigung der Brunnen-
vergiftung und Hostienschändung führt heute
nicht mehr Tausende zur Folter und zum Tode.
238
Wir haben die Möglichkeit, Massenbeschuldigun-
gen experimentell zu prüfen. Wo ist nun das
Material politischer oder kriminaler Statistik, das
auch nur den Verdacht schlechter Staatsbürger-
schaft bei den Juden rechtfertigt ? Können fünf-
malhunderttausend leicht erkennbare, statistisch
kontrollierte, scharf beobachtete Menschen ein
nationales Delikt so heimlich verbergen, daß kein
Reagens sich trübt und kein Zeiger ausschlägt?
Und hat man das Recht, in einem wissenschaft-
lich genannten Zeitalter so unbewiesene, ja negativ
widerlegte Massenbehauptungen zur Grundlage
einer Politik zu machen?
Weiter. Die deutsche Judenschaft ist in Handel
und Wandel, in Besitz und Kultur so eng an das
Wohlergehen der deutschen Länder und des Deut-
schen Reichs geknüpft, daß kaum ein anderer Teil
des Volkes in gleichem Maße leiden würde, wenn
die politische Macht Deutschlands sich senkte.
Viele der kultivierten Länder bieten den Juden
bessere wirtschaftliche Aussichten als Deutsch-
land, fast alle bieten ihnen größere Rechte. Wenn
sie dennoch ihre wirtschaftliche und kulturelle
Existenz an das Land ihrer Heimat gekettet haben :
ist es dann wahrscheinlich, daß sie dem Geschick
dieses Landes gleichgültig oder übelwollend gegen-
überstehen ?
Aber genug der negativen Beweise. Was ist
denn eigentlich nationale Gesinnung und Betäti-
gung? Besteht sie lediglich in devoten Tiraden
oder aggressiven Liedern ? Dann gebe ich die der
Juden gerne preis. Oder besteht sie in liebevoller
und hingebender, aufopfernder und freier Kultur-
239
arbeit zu Ehren und zum Segen des angestammten
Landes ? Dann möge der aufstehen, der vor Gott
und Gewissen behaupten kann, daß die deutschen
Juden ihr Maß von Kulturarbeit nicht ehrlich
und reichlich erffillt haben, daß sie nicht mehr
zu Deutschlands Hoheit, Glück und Ehre beige-
tragen haben als alle berufsmäßigen Antisemiten
zusammengenommen. In diesem Zusammenhang
ziemt es kaum und beschämt es fast, vom Materiel-
len zu reden. Dennoch sei die Frage gestellt : was
geschähe wohl, wenn die armseUge halbe Million
deutscher Juden emmal zehn Jahre lang die Mittel,
die sie den Zwecken der allgemeinen Wohlfahrt,
den Aufgaben der Forschung und den Werken der
Kunst zuwenden, bis zum Eintritt besserer Zeiten
thesaurieren wollten? Manches wohltatige Werk
bliebe ungeschehen, manches Problem ungelöst —
und die deutsche Kunst, so sagen mir einige ihrer
hervorragenden Vertreter, könnte auswandern.
Soviel von nationaler Gesinnung. Doch da ich
im Zuge bin, möchte ich noch das Argument eines
von mir hochgeschätzten Staatsbeamten erwähnen,
das mir der Beachtung wert schien. Er sagte : „Ja,
wenn wir die Juden zulassen wo sollen wir
die Grenze finden?"
Das, meine Herren, ist Ihre Sache. Stellen Sie
hohe Anforderungen. Scheiden Sie unerbittlich
jeden aus, dessen Herkunft, Erziehung, Gesinnung,
Talent oder Charakter Ihnen den mindesten Zwei-
fel läßt. Überwachen Sie die Ausgewählten mit
doppelter Strenge. Und wenn das Material, das
Ihrer gewissenhaften Prüfung standhält, noch
immer Ihnen zu umfangreich erscheinen sollte : —
240
dann freilich haben Sie recht gehabt, wenn Sie
bei dem notorischen Überfluß an Talenten in allen
Verwaltungszweigen bisher eine so rigorose Ent-
haltsamkeit übten.
Zum Schluß möchte ich neben meinen Gegnern
und Fürsprechern auch der Zahl derer herzlich
danken, die mir versicherten, meinen Ausführun-
gen könne man wohl beistimmen, an eine Änderung
der bestehenden Dinge könne jedoch in absehbarer
Zeit nicht wohl gedacht werden. Gewiß, so
scheint es. Aber bedenken Sie wohl: wenn heute
im Land und Reich die Dinge anders lägen, die
Vollberechtigung der Juden durchgeführt wäre,
wie in England, Frankreich, Italien, wer würde
ihre Aufhebung beantragen? Wer würde von
solchem Antrag Erfolg erwarten?
Auf der Gewalt der Trägheit beruhen heute
diese Dinge, nicht auf Sinn und Recht, Not oder
Gesetz. Deshalb kann trotz Lauheit, Schwäche,
Indolenz und Übelwollen die Minderung des Rechts
und die Beugung des Gesetzes keinen Bestand
haben. Und wenn wohlwollende Anhänger der
Gewohnheit mich mit der Stabilität des Herkömm-
lichen vertrösten, so antworte ich ihnen im Ver-
trauen auf eine immanente Gerechtigkeit: Das
Herkömmliche an sich kann sich noch lange halten,
auch wenn es schon seinen Sinn verloren hat; je-
doch nicht mehr, wenn es zum Unrecht geworden
ist. Wer es als Unrecht erkannt hat und den-
noch stützt, der macht sich zum Mitschuldigen.
Von den Juden erhoffe ich, daß sie auch während
der Dauer ihres Minderrechts unablässig an ihrer
Selbsterziehung arbeiten, in allen guten Tugenden
1^ 241
mit ihren christlichen Landsleuten wetteifern und
in verdoppelter Liebe ihrem Lande dienen. Ihres
guten, wohlerworbenen und ungesetzlich ver-
kümmerten Rechtes mögen sie gedenken, nicht in
GroU, aber in Zuversicht. Gott wird's richten.
IV.
Schlußbemerkung
Eine unpolemische, aber persönUche Bemerkung
mag diese Kontroverse aufklärend beschließen.
Ich kämpfe nicht für den jüdischen Reserve-
leutnant.
Ich bedaure auch nicht den Juden, der sich
staatliche Verantwortung wünscht und sie nicht
erhält. Wer Verantwortung sucht, der hat sie;
vor sich, vor Menschen, vor Gott. Wer Einlaß
erbittend sich an Stellen begibt, wo man ihn nicht
haben will, tut mir leid; ich kann ihm nicht helfen.
Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in Deutsch-
land geschieht, denn ich sehe Schatten aufsteigen,
wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich
abends durch die gellenden Straßen von Berlin
gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig
gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die
Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme oder
von pseudogermanischer Exklusivität berichten
höre, die vor Zeitungsartikeln und Hofdamen-
apergus zusammenzuckt. Eine Zeit ist nicht des-
halb sorgenlos, weil der Leutnant strahlt und der
Attache voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat
Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als
242
diese; das stärkste aber, was in solchen Zeiten ge-
schehen kann, ist: das Unrecht abtun.
Das Unrecht, das gegen das deutsche Judentum
und teilweise gegen das deutsche Bürgertum ge-
schieht, ist nicht das größte, aber es ist auch eines.
Deshalb mußte es ausgesprochen werden. Das
beste aber wird sein, wenn jeder von uns in sein
menschliches, soziales und bürgerliches Gewissen
hinabsteigt und Unrecht abtut, wo er es findet.
!•• Z43
PROMEMORIA BETREFFEND DIE BEGRÜN-
DUNG EINER KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
GESELLSCHAFT*)
Überreicht am 14. März 1910
L
So berechtigt der Wunsch erscheinen mag, im
Staatswesen das Zentralorgan zu erblicken,
das dem gesamten Fühlen und Wollen des
Volkes Ausdruck und Verkörperung schafft, so darf
nicht verkannt werden, daß die konstitutionellen
Organisationen in ihrer heutigen Form wichtige
Teile dieser Aufgabe ungelöst lassen.
Die Werke, die uns vergangene Völker und Ge-
schlechter als sichtbare Manifestationen ihres gei-
stigen Lebens hinterlassen haben, die Bauten
Asiens und Ägyptens, die Tempel und Skulpturen
Griechenlands, die Monumente, Paläste und Kir-
chen Roms, die Staatsgebäude Venedigs, die Dome
und Schlösser Frankreichs und Deutschlands —
fast ausnahmslos verdanken sie ihre Existenz mo-
narchischem, aristokratischem und hierarchischem
Willen. Was konstitutionelle und repubUkanische
Gemeinschaften diesen Denkmälern zur Seite ge-
setzt haben, ist geringfügig und mehr auf dem
Boden der Nützlichkeit und des Bedürfnisses als
*) Ein Jahr vor der Überreichung des Promemoria waren die
leitenden Gedanken den maßgeblichen Persönlichkeiten mündlich
vorgetragen worden. Die Gesellschaft trat in weniger universeller
Form und leider mit wesentlicher Beschränkung des Umfanges und
Arbeitsgebietes ins Leben. Sie führt den Namen „Kaiser Wilhelm
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften^'.
244
der Idee erwachsen. Fast wird man geneigt zu
glauben, daß das geistige Leben unserer Zeit nur
noch in Einrichtungen des Verkehrs, der mechani-
schen Produktion, der Verteidigung und Verwal-
tung einen sichtbaren Ausdruck seiner gewaltigen
Aktivität sich zu schaffen vermöge.
Warum können die Staatswesen der Neuzeit den
Aufgaben der Verkörperung ideeller Mächte nicht
mehr voll genügen ? Das Wesen solcher Aufgaben
bringt es mit sich, daß sie überschwänglich und
enthusiastisch erscheinen, wo sie die Kunst be-
treffen, daß sie abstrakt und weltfremd bleiben,
wo sie der Wissenschaft angehören. Eine Mehrheit,
die über Mittel der Gemeinschaft verfügt, wird
auf dem Wege der geschäftsmäßigen Behandlung,
wenn sie wohlmeinend ist, sich einer wohlbegrün-
deten Nützlichkeit nicht verschließen; wohl aber
wird sie jeder ausgesprochenen Idealität und Ab-
straktion, jeder fernsichtigen Zukunftssorge, jeder
Überschreitung des notwendigen Maßes abhold
sein, und im allgemeinen schon durch den natür-
lichen Ausgleich der entgegengesetzten Meinun-
gen sich gezwungen sehen, den Weg des Mittels,
des Mittelmaßes, zuweilen wohl auch der Mittel-
mäßigkeit einzuschlagen. Ein Bau, wie der des
Kolosseums, der Peterskirche, ein Projekt wie das
der Nobelstiftung, des lenkbaren Luftschiffs, des
Bayreuther Festspielhauses, wäre von keiner Ver-
waltungsmehrheit gebilligt worden. WoUte man
einwenden, daß vom Standpunkt der mechanischen
Nützlichkeit ein Volk säkularer Werke nicht be-
darf, so könnte, falls diese enge Betrachtungsweise
überhaupt zugelassen werden soll, erwidert werden,
245
daß bei gegebenen physischen und ethischen
Vorbedingungen die wissenschaftliche Vertiefung
eines Volkes über seine politische Macht ent-
scheidet, und daß die sichtbaren Werke des höch-
sten Idealismus in gemeinstem Sinne als eine
Quelle des Reichtums angesehen werden können.
Paris wäre nicht die begehrteste Fremdenstadt der
Welt ohne seine Architekturen; und die bedeu-
tende Rente, die Italien von den Besuchern aller
Länder bezieht, wäre nicht möglich ohne die Auf-
wendungen des römischen Senats, der Päpste und
der fürstlichen Geschlechter der Renaissance.
Wendet sich nun angesichts dieser Unzuläng-
lichkeit der Blick erwartend zum Monarchen, so
wird es fühlbar, daß dieser über die Mittel des
Staates nicht mehr frei verfügt. Große Aufgaben
sind noch in unserer Zeit aus souveränen Ver-
mögen bestritten worden, doch gehen die Forde-
rungen eines ganzen Landes auch über königliches
Maß hinaus. In allen Fällen wird es einem Souve-
rän gelingen, für ein Werk, dem er seine eigene
hohe Sanktion verleiht, Opferwilligkeit im Volke
zu erwecken und so die Insuffizienz der öffent-
lichen Einrichtungen auszugleichen; doch nicht
ein jedes Werk, das vom Herrscher Hilfe zu er-
hoffen berechtigt ist, darf beanspruchen, daß er
sich dafür mit seiner Person einsetze.
An dieser Stelle darf eine nicht leicht zu be-
handelnde psychologische Frage nicht unerörtert
bleiben. Der Wert und das Wesen einer schönen
und opferwilligen Handlung liegt darin, daß sie
um ihrer selbst willen, nicht im Hinblick auf einen
außerhalb stehenden Zweck oder Erfolg geschieht.
246
Indessen wird der Kenner menschlicher Dinge
nicht hart darüber urteilen, wenn in Ländern, die
eine staatliche Anerkennung öffentlicher Verdien-
ste pflegen, eine nicht geringe Zahl sonst sachlich
empfindender Menschen sich bedrückt fühlt, wenn
eine Leistung, die als wünschenswert betrachtet
und von ihnen gern und freiwillig erfüllt wurde,
im Gegensatz zu pflichtmäßigen aber immateriel-
len Verdiensten, ohne äußeres Zeichen öffentlicher
Anerkennung von der Gemeinschaft hingenom-
men wird. So ist denn auch der Deutsche, in
seiner Neigung den eigenen Wert gering anzu-
schlagen, gern bereit, die offizielle Anerkennung
über sein eigenes Urteil zu stellen, woher denn
auch teilweise der oft verspottete Hang zu Titula-
turen und Distinktionen rühren mag. Diese offi-
zielle Anerkennung aber kann im eigentlichen
Sinne für materielle Leistungen nicht erfolgen;
denn unter allen Umständen müssen Ehrenzeichen
und Würden dem immateriellen, rein geistigen
und ethischen Verdienst vorbehalten bleiben, sonst
würden sie den Schein der Käuflichkeit auf sich
ziehen und rasch entwertet werden.
In diesem Sinne könnte man solche Länder
glücklicher gestellt nennen, in welchen staatliche
und fürstliche Anerkennungen nicht bestehen oder
auf seltenste Fälle beschränkt sind. Vor allem
dürfte man die Vereinigten Staaten als ein Land
der Bürgertugend preisen, und vielleicht nicht zum
wenigsten deswegen, weil dort die Opferwillig-
keit mit keinem andern Verdienst in der Öffent-
lichkeit konkurriert und daher sich selbst ihr Maß
und ihre Schätzung bestimmt. Tatsächlich stellen
247
!
amerikanische Schenkungen, Stiftungen und Ver-
mächtnisse weit über den Rahmen der Kapital-
ansammlungen des Landes hinaus alles in Schatten,
was die übrige Welt an Gemeinnützigkeit dieser
Art kennt. Aber auch England, Holland, die
Schweiz, selbst das moderne Griechenland sind
uns in bürgerlicher Betätigung des Gemeinsinns
überlegen.
II.
Diese allgemeinen Erwägungen müssen zu der
Frage führen, ob bei dem hohen Stande
intellektueller und ethischer Gesinnung, bei dem
unvergleichlich aufstrebenden Volkswohlstand und
Nationalvermögen, in Deutschland sich Institu-
tionen schaffen lassen, die, auf dem Boden der
Selbstverwaltung aufgebaut, bei der Erfüllung weit-
tragender Aufgaben in Wissenschaft und Kunst
dem Staate sich zur Seite stellen und dem Monar-
chen eine Handhabe zur Förderung des kulturellen
Lebens der Nation bieten.
Zur Schaffung eines Organs dieser Art bedarf
es nur des Willens des Monarchen; seine gegebene
Form ist die einer staatlich anerkannten Gesell-
schaft, für deren Aufbau, sofern sie den höchsten
Forderungen gerecht werden soll, folgende Grund-
sätze entscheidend sein dürften.
I. Die Ziele der Gesellschaft müssen sich
auf das gesamte Gebiet der Künste
und Wissenschaften erstrecken.
Nur auf einer so weiten Grundlage kann es ge-
lingen, einen großen Teil der verfügbaren wirt-
248
schaftlichen Kräfte der Nation zu einem gemein-
samen Werk zusammenzufassen. Die Gesell-
Schaft soll fördern und unterstützen, nicht
forschen, entwerfen und ausführen. Sie hat
die Aufgabe, die bestehenden und zu schaffenden
Institutionen der Kunst und Wissenschaft zu er-
gänzen, nicht mit ihnen in Konkurrenz zu treten.
Sie bleibt frei in der Verwendung ihrer Mittel
und frei in der Auswahl ihrer Aufgaben ; die Durch-
führung überläßt sie den berufenen Korporatio-
nen, Behörden, Künstlern und Gelehrten, wobei
es ihr unbenommen bleibt, notwendig erscheinende
Bedingungen an ihre Mitwirkung zu knüpfen.
Auch wird sie die Ergebnisse ihres Wirkens den
Mitgliedern und der Öffentlichkeit zugänglich
machen und so erneutes Interesse und gesteigerte
Anteilnahme erwecken.
2. Die Gesellschaft muß eine gegenüber
allen öffentlichen Vereinen weit exi-
mierte Stellung einnehmen.
Ja sie muß ein Mittelglied zwischen einer staat-
lichen Institution und einem Verein bilden. Diese
Stellung kann der Gesellschaft gesichert werden
durch die Protektion des Königs, die Mit-
gliedschaft der Ministerien, die Auswahl und
Rechte ihrer Mitglieder und Verwaltungsorgane,
durch ihre Verfassung und durch ihren Namen.
Dieser Name sollte durch Würde und Kürze bei
weiter Fassung des Sinnes Bedeutung erhalten ; auf
eine nähere Bezeichnung der Ziele könnte ver-
zichtet werden, da bei dieser vereinzelt dastehen-
den Institution die Kenntnis ihres Wirkens sich
in gleichem Maße verbreiten und einbürgern wird
249
wie etwa bei der Royal Society oder dem Institut
de France. So dürfte als geeignetster Name
vorgeschlagen werden: Königlich Preußische
Gesellschaft.
3. Von einerübermäßigenZentralisation
in der Wirkungsweise der Gesellschaft
ist abzuraten.
Wenn erhebliche Mittel aus allen Landesteilen
herbeigezogen werden sollen, wenn ein Teil der
Wohlhabenden des Landes der Gesellschaft die
Bestimmung über Einkünfte überträgt, die bis
dahin auch örtlichen Bedürfnissen zugute kamen,
so sollte nicht der Vorwurf erhoben werden dürfen,
man habe einzelne Distrikte zugunsten einer Zen-
tralstelle bestehender Hilfsquellen beraubt. Es
muß daher Sorge getragen werden, daß ein Teil
der Einnahmen der Königlich Preußischen Gesell-
schaft für örtliche Erfordernisse von vornherein
abgezweigt werde, wobei ein Einfluß auf die Ver-
wendung dieser Teilbeträge immerhin der Zentral-
behörde vorbehalten bleiben kann.
Im Sinne dieser Erwägung sollte davon abge-
sehen werden, von Anfang an die Königlich Preußi-
sche Gesellschaft zu einer Reichsinstitution auszu-
dehnen. Wenn auch zu hoffen und zu erwarten
steht, daß die Gesellschaft auch außerhalb des
Königreichs Zustimmung, Anhänger und Unter-
stützung findet, so sollte in erster Linie der Grund-
satz beachtet werden, daß die Pflege der Künste
und Wissenschaften zu den schönsten Prärogativen
des Landesfürsten gehört. Vor allem aber darf die
notwendige Forderung einer gewissen Dezentrali-
sation nicht zu weitgehenden Beschränkungen der
250
Verfügungsfreiheit der Zentralbehörde führen, wie
dies der Fall sein würde, wenn verschiedene Staaten
die Verwendung der Mittel zu kontrollieren be-
anspruchen.
4. Eine Institution, die große nationale
Aufgaben erfüllen soll, muß ihre
Wurzeln in die Tiefe der Nation
erstrecken.
Wenn auch begüterte Staatsbürger zum Aufbau
des Werkes berufen sind, so soll doch das
Unternehmen einen möglichst weiten
Kreis von Anhängern sich erwerben. Des-
halb sollte außerhalb des Kreises der Donatoren,
die durch erhebliche Zuwendungen für den Wirt-
schaftsbedarf der Gesellschaft aufkommen, einer
unbeschränkten Zahl von angesehenen und be-
mittelten Persönlichkeiten der Beitritt als ordent-
lichen und außerordentlichen Mitgliedern freige-
stellt werden. Es sollte ferner im gleichen Sinne
eines groß angelegten und nationalen Unterneh-
mens so weit als tunlich dem Grundsatz
der Selbstverwaltung Geltung verschafft wer-
den. Es können lokale Behörden der Gesellschaft
überwiegend aus Wahlen der Mitglieder hervor-
gehen; auch für einen Teil der Zentralbehörde
können Wahlen bestimmend sein. Um indessen
die Einheitlichkeit und Kontinuität der Füh-
rung zu wahren, sodann um das Ansehen der
Gesellschaft zu erhöhen, muß die Bestätigung
sämtlicher Mitglieder der Zentralbehörde, die
Berufung eines größeren Teiles derselben und die
Ernennung des Präsidiums Vorrecht des Königs
bleiben.
251
III.
Auf der Grundlage der soeben niedergelegten
Fundamentalsätze darf nunmehr der Aufbau
der Königlich Preußischen Gesellschaft
skizziert werden.
1. Die Mitglieder zerfallen in Ordentliche
und Außerordentliche. Sie sind zu Ortsgrup-
pen und Provinzverbänden vereinigt. Die Ordent-
lichen Mitglieder haben aktives und passives Wahl-
recht für Ortsausschuß und Provinzausschuß. Die
Ordentlichen Mitglieder verpflichten sich zu
einem Jahresbeitrag von loo M., die Außer-
ordentlichen zu einem solchen von 50 M. Die
ersteren erhalten das Recht, ein Abzeichen zu
tragen.
2. Die Orts- und Provinzausschüsse ver-
treten die örtlichen und provinziellen Interessen
der Gesellschaft; sie verwenden die ihnen über-
wiesenen Mittel und wählen aus ihrer Mitte einen
Teil der Mitglieder des Senats. Orts- und Pro-
vinzausschüsse tagen unter Vorsitz eines Regie-
rungsbeamten, sie können vom Senat durch Zu-
weisung von Mitgliedern ergänzt werden. Die
Mitglieder der Provinzausschüsse führen den Titel
Kurator der Königlich Preußischen Gesell-
schaft.
3. Der Senat besteht aus
a) den von den Orts- und Provinzausschüs-
sen erwählten und vom König bestätigten
Mitgliedern,
b) den von wissenschaftlichen und künstleri-
schen Korporationen, von Universitäten
252
und Akademien vorgeschlagenen und vom
König bestätigten Mitgliedern,
c) den vom König bestätigten Donatoren,
d) den vom König ernannten Mitgliedern.
Der Senat verkörpert die Gesellschaft. Er be-
schließt über die Verwendung der Mittel der Ge-
sellschaft, genehmigt die Rechnungslegung, er-
nennt eine wissenschaftliche, eine künstlerische
und eine technische Kommission und wählt aus
seiner Mitte die Hälfte der Mitglieder des Senats-
ausschusses. Die Mitglieder des Senats führen den
Titel Senator der Königlich Preußischen
Gesellschaft und erhalten Rang und Amts-
tracht.
4. Der Senatsausschuß besteht aus Senatoren,
die zur Hälfte vom König ernannt, zur Hälfte vom
Senat gewählt werden. Der Senatsausschuß führt
die Geschäfte der Gesellschaft, bereitet die an den
Senat gelangenden Anträge, sowie die Rechnungs-
legung vor und bedient sich der Mitwirkung der
drei Kommissionen.
5. Das Präsidium wird vom König er-
nannt. Es besteht aus einem Präsidenten und
fünf Präsidialmitgliedern, von denen je eines
als Vizepräsident, Wissenschaftlicher Dezernent,
Künstlerischer Dezernent, Geschäftsführer und
Schatzmeister designiert ist. Das Präsidium
leitet die Sitzungen des Senats, des Senatsaus-
schusses und der Kommissionen. Es ist berech-
tigt, einen besoldeten Geschäftsführer, der nicht
Mitglied der Gesellschaft zu sein braucht, zu
bestellen.
6. Das Protektorat übt der König aus,
253
dem neben den erwähnten Prärogativen die
Genehmigung aller größeren Zuwendungen sowie
die Ernennung der Ehrenmitglieder und Ehren-
präsidenten vorbehalten bleibt.
D
IV.
ie Einkünfte der Gesellschaft setzen sich
zusammen
a) aus den Beiträgen der Ordentlichen Mit-
glieder,
b) aus den Beiträgen der Außerordentlichen Mit-
glieder,
c) aus den Zuwendungen der Donatoren. Diese
bestehen entweder
in einem Jahresbeitrag von mindestens 3000M.
oder
in einem einmaligen Beitrag von mindestens
30 000 M.,
d) aus den Zuschüssen des Staates bzw. der
Ministerien,
e) aus Stiftungen, Vermächtnissen und Zinsen.
Die Verteilung der Einkünfte geschieht wie
folgt :
Aus den Einkünften unter a) und b) (Beiträge
der Ordentlichen und Außerordentlichen Mit-
glieder) dürfen zunächst Orts- und Provinzaus-
schüsse bis zu 5% für örtliche und provinzielle
Verwaltuiigskosten zurückbehalten. Der Über-
schuß wird an die Senatskasse abgeführt.
Alle übrigen Einkünfte gelangen unmittelbar in
die Kasse des Senats. Hier werden sie in der Weise
alljährlich verteilt, daß 60% zur Verfügung des
Senats verbleiben, während 20% an die Orts-
gruppen und 20% an die Provinzverbände über-
wiesen und im Verhältnis der Mitgliederzahlen
aufgeteilt werden. Stiftungen, Vermächtnisse und
Zinseingänge bleiben von dieser Verteilung aus-
geschlossen und zur Verfügung des Senats.
^55
PHYSIOLOGISCHES THEOREM
I.
Seit Jahren hat kein neueres Buch mich so er-
griffen und erfüllt, wie Frances botanisches
Werk: das Leben der Pflanze.
Einen katalogisierenden Wissenszweig, der trok-
ken und farblos, wie die armseUgen Mumien seiner
Herbarien, mir von der Schule her verleidet war,
sah ich verwandelt in eine blühende und phantasie-
volle Wissenschaft. Die Pflanzen hatten Leben
gewonnen; und nicht dies allein: sie gaben sich
selbst ihre Formen und Gesetze, sie paßten sich
an, schützten und verteidigten sich, wanderten,
kämpften mit Verfolgern und Konkurrenten,
schlössen Bündnisse mit Freunden und Feinden,
luden sich Gäste und Hausfreunde, traten in
Tausch- und Geschäftsbeziehungen. Aber noch
mehr: die ganze organische Welt schloß sich mit
ihren Arten und Formationen zu einer Einheit zu-
sammen, die aus äußeren und inneren Gesetzen
ein höchstes, alles beherrschendes Gleichgewicht
normierte. So war, wie im Zeichen des Erdgeistes
erschaut, aus organischem Leben das Kleid der
Gottheit gewoben.
Daß bei dieser Betrachtung die Gesetze der
Symbiose, der Assoziation der Organismen zu ge-
meinsamem Leben und wechselweiser Unter-
stützung den stärksten Eindruck machen mußten,
ist nicht verwunderlich. Er hat dazu geführt, daß
ich mich gezwungen sah, die symbiotische Vor-
stellung eine Zeitlang fortzuspinnen, und schließ-
256
lieh dazu kam, in jedem höheren Organismus einen
Vorgang dieser Art zu erblicken.
In diesem Zustande traf es sich, daß ich einem
unserer bedeutendsten Fachgelehrten meine
Zwangsvorstellung entwickeln konnte, daß man-
ches dieser bildlichen Denkweise mit seinen Er-
fahrungen zu stimmen schien, und daß er mich
bestärkte, den Gedankengang schriftlich festzu-
legen, was nicht ohne einige Beklommenheit ge-
schah.
Denn als geschulter Physiker bin ich zu einer
starken Abneigung gegen spekulative Hypothesen
erzogen, als Techniker gegen laienhafte Eingriffe
in wissenschaftliche Domänen stets bedenklich.
Vielleicht liegt die Möglichkeit einer Entschuldi-
gung im Begriffe des Theorems : indem ein solches
eine Anschauungsweise bedeutet, die ihrer Bild-
lichkeit zufolge prüfbare Schlüsse und Gedanken-
gänge herausfordert, welche vielleicht in ganz an-
derer Weise und an ganz anderer Stelle aus dem
Labyrinth des Irrtums zutage führen.
II.
Man hat von höheren Organismen als von
Zellenstaaten gesprochen, indem man, der
physikalischen Auffassung gemäß, die organische
Materie atomisierte, und jedem dieser untrenn-
baren Partikel ein Partialleben zuwies, aus deren
Summierung sich das Gesamtleben des Geschöpfes
ergab.
Auf der anderen Seite hat die bakteriologische
Wissenschaft die Kenntnis massenhaft auftreten-
«7 257
der einfacher aber selbständiger Organismen aufe
höchste gesteigert, deren Auftreten auf nichtleben-
den organischen Nährböden Spaltungen chemi-
scher und mechanischer Art, auf lebenden Nähr-
böden parasitäre, unter Umständen krankhafte
Prozesse hervorruft.
Das Theorem, von dem ich spreche, stellt sich
dar als eine Synthese dieser beiden Anschauungs-
weisen, von deren jeder es sich doch wesentlich
unterscheidet.
Es erscheint mir nämlich denkbar, jeden höheren
Organismus aufzufassen als eine Lebensgemein-
schaft verschiedenartiger, in gegebenen Proportio-
nen auftretender, selbständig lebender Organis-
men, die .sich wechselseitig unterstützen, unter
Umständen auch bekämpfen; die zum Teil an
diese Symbiose gebunden sind, zum Teil aber auch
unter anderen Assoziationen ein selbständiges
Leben führen können. Auch Bakterien werden
im Lebensverbande der Organismen wirksam sein
— die Wurzelbakterien der Leguminosen legen
hierfür Zeugnis ab — und somit nicht nur in-
differente und schädliche, sondern in hohem Maße
nützliche und notwendige Aufgaben erfüllen.
Aus den Einzel- und Gesamtinstinkten dieser
Elementarorganismen würden diejenigen Lebens-
vorgänge sich erklären lassen, die den Charakter
eines scheinbar sinn- und zweckbewußten Körper-
willens tragen: die Anpassungsfähigkeiten der Or-
ganismen an physikalische Bedingungen, ihr in-
dividuelles Wachstum in zweckentsprechender
Form und Richtung, die Überwindung von Stö-
rungen und Schädigungen, die Prozesse der Wund-
258
heilung; ja selbst gemeinhin die Vorgänge allge-
meinster physiologischer Art, Stoffwechsel und
Wachstum würden in neuem Lichte erscheinen.
Aus der Periodizität im Leben der Elementar-
organismen wären herzuleiten die Periodizitäten
des Pflanzen- und Tierlebens, wie man bereits
heute die Periodizitäten von Krankheitserschei-
nungen aus den Lebenskreisläufen der Erreger
herleitet. Auch die Gesetzmäßigkeiten in der
Begrenzung des Individuallebens dürften aus
der Summierung der Generationsfolgen im Ele-
mentarleben sich ergeben.
Endlich wäre die Lebenssymbiose als ein Gleich-
gewichtszustand teilweise entgegenstrebender Ele-
mente aufzufassen, die sich hierdurch wechsel-
seitig ihr Maß und ihre Begrenzung setzen. Die
Annahme solcher Gleichgewichtszustände ließe
hoffen, zum Verständnis der Frage zu gelangen,
weshalb die Dimensionierung der Individuen
verhältnismäßig konstant bleiben.
in.
Vergegenwärtigt man sich den Zustand der
Symbiose, oder bildlich gesprochen, des
Staates gemeinsam hausender selbständiger Indivi-
dualorganismen, im Hinblick auf die Störungen,
denen er unterworfen sein kann, so ergibt sich
zunächst, daß der Normalzustand durch ein ge-
gebenes Bevölkerungsverhältnis aller Bewohner-
elemente definiert sein muß. Abgesehen von all-
gemeiner Übervölkerung und allgemeinem Be-
völkerungsmangel — wie solche zum Beispiel bei
«?• 259
dauerndem Ernährungsmangel entstehen kann —
müssen daher zwei Kategorien von Störungen
typisch sein : einmal die Bevölkerungsverschiebung,
die durch Eindringen feindlicher, parasitärer Ele-
mente hervorgerufen wird, sodann die Verschie-
bung, die durch einseitige Vermehrung einer
einzelnen Bevölkerungsschicht aus inneren Grün-
den erfolgt : etwa weil die Gegenkräfte der übrigen
Elemente sich als unzulänglich erweisen.
Die erste Kategorie stellt sich uns unter dem
Bilde der Infektionskrankheiten dar; ihre wissen-
schaftliche Erforschung und Behandlung ist grund-
sätzlich bekannt.
Die zweite Kategorie wäre dadurch erkennbar,
daß sie jeder bakteriologischen Erforschung und
Behandlung widerstände, und nur dann eine Hei-
lung zuließe, wenn es gelänge, dem Organismus
solche Hemmungsbedingungen organischer oder
chemischer Natur zuzuführen, die das Über-
wuchern des stärkeren Elementarorganismus zum
Stillstand brächten.
Hier hätte die pathologische Erfahrung einzu-
setzen, und zwar mit der Beantwortung der Frage,
ob nach dem Stande der Wissenschaft auf die
Existenz von Prozessen der zweiten Kategorie ge-
schlossen werden kann. Ist dies der Fall, so wäre
die Möglichkeit gegeben, daß aus der Erhebung
des dargelegten Theorems zur Hypothese ein
Nutzen für die Auffindung weiterer Forschungs-
wege erwachsen könnte.
260
UMvenemr OF MCHNkAN
3 9015 02597 7193