Skip to main content

Full text of "Zur kritik der zeit"

See other formats


Google 



This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct 

to make the world's books discoverablc online. 

It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 

to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 

are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover. 

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the 

publisher to a library and finally to you. 

Usage guidelines 

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to 
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying. 
We also ask that you: 

+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 

+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc 
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 

+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of 
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe. 

Äbout Google Book Search 

Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs 
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web 

at |http : //books . google . com/| 



Google 



IJber dieses Buch 

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 

Nu tzungsrichtlinien 

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 

+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 

Über Google Buchsuche 

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .corül durchsuchen. 



Midiigm 



Jlkiries. 




1817 



ARTES SCIENTIA VERITAS 



\ 



s 



ZUR KRITIK DER ZEIT 



VON 



WALTHER RATHENAU 



1912 
S. FISCHER /VERLAG/BERLIN 



OB 



. K-; '" 



Achte Auflage 

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten 
Copyright 19 12 S. Fischer, Verlag, Berlin 



\)\recX 



AN GERHART HAUPTMANN 

Deinen Namen schreibe ich auf die erste Seite 
dieses Buches. Du weißt, ich habe gezögert, es 
zu veröffentlichen, weil zweierlei mir fehlt: die 
Ausführlichkeit, die der Leser von Betrachtungen 
verlangt, und die Überredungskunst des dialek- 
tischen Beweises, die ich nicht respektiere. Ich 
glaube, daß jeder klare Gedanke den Stempel der 
Wahrheit oder des Irrtums auf der Stirn trägt. 
Dir, Gerhart, habe ich stets geglaubt, ohne Be- 
weis und ohne Umschweif. Nimm dies Buch als 
Zeichen der Dankbarkeit, die ich als Deutscher 
dem Dichter unseres Zeitalters schulde, und als 
Gabe herzlicher Freundschaft. 



INHALT 

ZUR KRITIK DER ZEIT 

Das Problem 13 

Versuchte Lösungen 21 

Geschichtete Völker 25 

Die Aufzehrung der Oberschicht .... 32 

Die Mechanisierung der Welt. I 

Aufgabe, Begriff und Mittel 45 

Die Mechanisierung der Welt. II 

Mechanisierung der Produktion 57 

Die Mechanisierung der Welt. III 

Mechanisierung und Organisation .... 65 

Die Mechanisierung der Welt. IV 

Mechanisierung und Gesellschaft .... 75 

Die Mechanisierung der Welt. V 

Mechanisierung und Leben ....... 86 

Der Mensch im 2^italter der Mechanisie- 
rung und Entgermanisierung .... 95 

ANHANG. Zeitfragen und Antworten 

Massengüterbahnen 161 

Bemerkungen über Englands gegenwärtige 

Situation 177 

Politik, Humor und Abrüstung .... 195 

Geschäftlicher Nachwuchs 206 

Staat und Judentum 219 

Promemoria betreffend die Begründung 

einer Königlich Preußischen Gesellschaft 244 

Physiologisches Theorem 256 



ZUR KRITIK DER ZEIT 



DAS PROBLEM 

Durch die Mitte des vergangenen Jahrhunderts 
geht ein Schnitt. Jenseits liegt alte 2^it, alt- 
modische Kultur, geschichtliche Vergangen- 
heit, diesseits sind unsere Väter und wir, Neuzeit, 
Gegenwart. Das ist nicht etwa eine optische 
Täuschung des rückwärts gewandten Blickes, nicht 
eine Erscheinung, die jeder sich besinnenden Ge- 
neration begegnet: denn wir können die Zeit- 
punkte bestimmen, wo das neue Wesen sich vom 
alten sondert. Freilich nicht auf ein Jahr oder 
ein Jahrzehnt genau; denn wie sollte eine Kul- 
turgrenze sich als scharfkantige Bruchfläche dar- 
stellen? Vielmehr weist sie, aus geringer Entfer- 
nung betrachtet, ein System von Splitterungen 
auf, die jede einzelne Faser des Gesamtlebens je 
an anderer Stelle treffen. So können wir sagen, 
wann man begonnen hat, ein neues Deutsch, 
2^itungsdeutsch, Abhandlungsdeutsch, Geschäfts- 
deutsch zu reden und zu schreiben, wann die 
humanistische Bildung von der historisch-prag- 
matischen abgelöst wurde, wann die geschäftliche 
Staatenpolitik begann, wann die Weltstadtphäno- 
mene sich erhoben, wann die konkreten Ideale 
dem Sehnen unserer Zeit gewichen sind. 

Vollends erkennen wir diesseits der Epochen- 
grenze, etwa seit Beginn der fünfziger Jahre, die 
nicht mehr unterbrochene Gleichförmigkeit eines 
Zeitalters, das bis zu diesem Augenblick nur quan- 
titative Steigerungen und technische Verschie- 
bungen erlebt hat. Vor allem aber sind alle dies- 
seitigen Menschen uns als Zeitgenossen ohne Er- 

13 



läuterung verständlich, indem wir ihre Sprache, 
Lebensauffassung, Wünsche und Denkweise bis 
in die jüngste Generation unserer Stadtbürger 
hinein erhalten und wiederholt finden. Unstet 
und gesellig, sprunghaft, gedankenbegierig und 
sehnsüchtig, interessiert, kritisch, strebend und 
hastend ist die Stimmung nun schon des dritten 
Geschlechtes westlicher Menschen. 

Jenseits des Zeitalters jedoch, bis in die An- 
fänge des abgelaufenen Jahrhunderts, erblicken 
wir die Ausläufer des älteren Geschlechtes: seß- 
hafte Menschen, die auf Ererbtem beruhen, von 
handgefertigten Werken umgeben, im Wechsel- 
kreis der Tradition ihr Leben erfüllend. Wollte 
man meinen, der Gegensatz sei durch den Ab- 
stand vergrößert, so genügt es, das flache Land 
oder die Städte an der nördlichen und südlichen 
Grenze unseres Sprachgebiets aufzusuchen um 
wahrzunehmen, daß trotz Zeitung, Eisenbahn, 
Industrie und Politik ein altes, dem Großstädter 
unendlich fernes Deutschland dort sich erhält 
und verteidigt. So wird man in den alten Ort- 
schaften Holsteins oder der Nordschweiz den 
Unterschied der Stände, die Gegensätze der Be- 
rufe, in Sprache, Gebaren und Gesichtszügen aus- 
geprägt finden; Beschaulichkeit der Denkweise, 
Handlichkeit des Ausdruckes, Festigkeit der Über- 
lieferung nicht vermissen. Wie denn überhaupt in 
wundervollem Erhaltungstriebe die Erde abseitig 
und oft in Schlupfwinkeln alles scheinbar Ver- 
gangene, selbst das Entfernteste, uns aufbewahrt 
hat, so daß alle zentrische Bildung von heute 
zur peripherischen von morgen wird, und jeder 

14 



Schritt abseits vom Wege auch einen Schritt ab- 
seits von der 2^it bedeutet. 

Betrachtet man aber die zentrischen Gebilde 
unserer Zeit, so ist es zum zweiten Male merk- 
würdig und fast erschreckend zu bemerken, wie 
sehr diese Wesen trotz aller Verschiedenheit des 
Himmelsstrichs, der Herkunft und Vergangenheit, 
einander gleichen. 

In ihrer Struktur und Mechanik sind alle größe- 
ren Städte der weißen Welt identisch. Im Mittel- 
punkt eines Spinnwebes von Schienen gelagert, 
schießen sie ihre versteinernden Straßenfäden 
über das Land. Sichtbare und unsichtbare Netze 
rollenden Verkehres durchziehen und unterwühlen 
die Schluchten und pumpen zweimal täglich 
Menschenkörper von den Gliedern zum Herzen. 
Ein zweites, drittes, viertes Netz verteilt Feuchtig- 
, keit, Wärme und Kraft, ein elektrisches Nerven- 
system trägt die Schwingungen des Geistes. Nah- 
rungs- und Reizstoffe gleiten auf Schienen und 
Wasserflächen herbei, verbrauchte Materie ent- 
strömt durch Kanäle. So ist denn das steinerne 
Bild, auch im Schnitt betrachtet, allenthalben das 
gleiche: Wabenzellen, mit subtilen Substanzen, 
Papier, Holz, Leder, Geweben, staffiert, ordnen 
sich reihenweise; nach außen gestützt durch 
Eisen, Stein, Glas und Zement. Ein wenig höher 
oder ein wenig flacher getürmt, die Öffnungen 
etwas dichter oder etwas weiter gestellt, durch senk- 
rechte oder wagerechte Ritzungen und Schnörkel 
gegliedert, zeigen die Straßenwände in allen Län- 
dern den gleichen Ausdruck. Nur im alten Inneren 
der Städte, wo in Kirchen und Staatshäusern jahr- 

^5 



hundertelang Seele und Geist der Gemeinschaft 
wohnten, erhalten sich noch Reste phy$iogno- 
mischer Sonderheiten als fast erstorbene Kurio- 
sitäten, während im Umkreis, gleichviel ob in der 
Richtung der Werkstätten, der Wohnstätten oder 
der Ruhestätten das internationale Weltlager sich 
ausdehnt. 

Nicht mindere Einförmigkeit begegnet im Gei- 
stigen. Im täglichen und nächtlichen Spiel wer- 
fen die Städte der Welt einander ihre Bälle zu: 
ihre Launen, Moden, Leidenschaften, Lieblinge, 
ihre Vergnügungen, Freuden und Künste, ihre 
Wissenschaften und Werke tauschen sie aus und 
finden am Wechsel Gefallen. Das gleiche The- 
aterstück wird in Berlin und Paris gespielt, die 
gleiche Ladenauslage prangt in London und New 
York, das gleiche wissenschaftliche Problem hält 
sie in Atem, der gleiche Skandal macht sie lachen, 
die gleiche Küche ernährt sie, der gleiche Kom- 
fort umgibt siel Nie waren im Mittelalter zwei 
benachbarte Städte eines Landes: Nürnberg und 
Köln, Genua und Venedig, einander im wesent- 
lichen so ähnlich, wie heute London und Paris, 
New York und Berlin. 

So kommt es, daß die städtischen Zeitgenossen 
dieses Kulturkreises in unerhörter Weise sich ver- 
stehen, ja zuletzt gar einander gleichen; so daß 
mancher Reisende, der in einem Nachtschlaf Berlin 
mit Paris vertauscht, sich eigentlich nur darüber 
wundert, daß er beim Aussteigen andere Sprach- 
laute vernimmt als beim Abschied. 

Wer dürfte aber leugnen, daß die Städte sich 
des wirkenden Geistes unserer Zeit bemächtigt 

i6 



haben ? Wenn auch nicht das Treiben der Straße 
und des Marktes das Wesen der Länder verkörpert, 
so ist doch das wirkende und das sichtbare Leben 
zuletzt eines; was in der Seele keimt, das spiegelt 
sich im Auge, und was im Auge leuchtet, das 
zuckt in den Händen. 

Die Betrachtung aber bestätigt: in verschiede- 
nen Zungen sprechen die Gedanken aller Länder 
die gleiche Sprache. Hier gibt es kein Land mehr 
des vorwiegend imperialen Denkens, keines mehr 
des künstlerischen oder religiösen oder merkan- 
tilen Geistes. Rom, Athen, Jerusalem und Kar- 
thago sind verschmolzen, alle denken und trachten 
Alles, und alle das Gleiche in gleicher Weise. 

So haben wir zeitlichen Stillstand und örtliche 
Einform als Wesen dieser bewegtesten und mannig- 
faltigsten aller Zeiten, die sich stündlich mit 
Neuigkeiten sättigt und keinen Gedanken so feier- 
lich betont wie den der lokalen, nationalen und 
persönlichen Individualität. 

Und nun den Blick in die früheren Jahrhunderte 
unserer Zeitrechnung zurückgewendet ! Lassen 
wir die Wandlungen des technischen Habitus un- 
beachtet; halten wir uns an menschliche, phy- 
sische, ethische, transzendente Qualitäten: und 
wir müssen eingestehen, daß eine ähnliche Wand- 
lung des Leibes und der Seele bei konstantem 
Volkskörper in aller bekannten Geschichtsentwick- 
lung uns nicht begegnet. Wir kennen Völker mit 
tausendjähriger Geschichte; wir ahnen, daß Ägyp- 
ten, Persien, Rom und China gewaltige Wandlungen 
der Menschen und ihrer Sitten zwischen Anfang und 
* Ende ihres Völkerlaufes erblickt haben. Aber Wand- 



^1 



lungen germanischer Krieger in deutsche Gelehrte, 
preußische Beamte, berliner Hausbesitzer, sächsi- 
sche Industriearbeiter, Wandlungen franko-galli- 
scher Abenteurer in französische Bourgeois, pariser 
Journalisten undCoulissiers — Wandlungen des Blu- 
tes und Geistes von solch erstaunlicher Verwegen- 
heit kennen die uns erschlossenen Historien nicht. 

Immer wieder fühlt man sich versucht, die 
taziteischen Schilderungen als Fabeleien eines 
nordlandsüchtigen Italieners zu verwerfen; allein 
die Geschichte des Mittelalters und die Werke 
dieser großen Zeit lassen uns Menschen empfin- 
den, die der römischen Zeichnung gleichen. Vor 
den deutschen Domen und ihren Steinbildern, 
aus den Gesängen Walters, Gottfrieds und 
Wolframs blickt uns die Gewißheit entgegen, daß 
Völker dieses Schlages gelebt haben: Menschen 
von demutsvollem Stolz, von kluger Treue, von 
furchtlosem Glauben, von kraftvoller Zartheit. 

Suchen wir nach den Gestalten dieser Menschen, 
so brauchen wir nur unsere Museen zu betreten: 
das ganze Mittelalter hindurch, teilweise bis in 
die ersten Jahrhunderte der neueren 2^it, zeigen 
die Bilder von Menschen und Gottheiten das 
deutsche Antlitz. Bis tief nach Italien und Spa- 
nien hinein, wo heute kein Tropfen dieses Blutes 
mehr sichtbar ist, tragen die Idealgestalten die 
gleichen Züge. Wo dunklere Gestalten erschei- 
nen, dienen sie zur Kennzeichnung der Niedrig- 
geborenen, der Fremden und Bösen. Selbst die 
Bildnisdarstellungen der beginnenden Neuzeit 
zeigen in Deutschland, den Niederlanden, Frank- 
reich überwiegend, in Italien häufig, die Gestalten, 

i8 



die bei uns so selten geworden sind. Man möchte 
sagen, daß das moderne Porträt vom alten mehr 
durch den Unterschied der Dargestellten als durch 
Verschiedenheit der Gewandung und der Mal- 
weise sich unterscheidet. 

In den Straßen der Großstädte treffen wir die 
Menschen dieser Bildnisse sehr selten. Es könnte 
jemand tagelang Unter den Linden auf und ab 
spazieren, ohne auch nur einen einzigen Menschen 
vom alten Schlage zu erblicken: und träfe er ihn, 
so würde in den meisten Fällen eine kurze Unter- 
haltung offenbaren, daß die Seele eines Hohen- 
staufen in diesem bevorzugten Körper nicht 
wohnt. Entfernt man sich jedoch von den städ- 
tischen Zentren nach jenen abgelegenen Gauen 
hin, etwa nach Friesland, Jütland und dem süd- 
lichen Schweden zu, so finden sich heute noch 
Menschen, ja Stämme, welche die antiken Schilde- 
rungen rechtfertigen und retten. Freilich tragen 
auch sie nicht Schild und Brünne; auch sie sind 
Kaufleute, Rechtsanwälte, Techniker, Ärzte ; aber 
seltsam ist zunächst das eine, wie starr sie an alten 
Berufen, des Ackerbauers, Züchters, Fischers, 
Jägers, Schiffers festhalten. Und da, wo sie in 
neuzeitlichen Berufen stehen, bemerkt man bald 
eine seltsame, losgelöste, dingliche und kühne 
Auffassung, die auf den Kern der Sache geht, 
nicht auf die Zwecke, und die daher, wie Glück 
und Umstände es wollen, das einemal zu unge- 
wöhnlichen Erfolgen, das anderemal zum gänz- 
lichen Mißlingen führt. 

Das seltsamste aber ist dies : wo wir Menschen 
des früheren Schlages treffen, da erkennen und 

•• IS 



verstellen wir auch den Geist alter Zeiten. Die 
ruhige, treu zuversichtliche und vornehm freie Art 
des Betragens, die karge, zur Untertreibung nei- 
gende Sprache, die des Rühmens bare Freude an 
Kraft und Mut, die leise Verspottung allzu klugen 
Wesens, die Heimatliebe, Geistigkeit und immate- 
rielle Frömmigkeit, diese Wesenszüge erinnern zu- 
gleich an die höchsten Erscheinungen unserer eige- 
nen Zeit und führen wiederum hinauf zu den 
Liedern des Vogelweider«, zu Fischarts Schwänken 
und zu Eckards Mystik. 

Was ist nun im Laufe dieser Jahrhunderte ge- 
schehen? Was hat die Menschen, ihre Leiber, 
ihre Seelen so gewandelt? Was hat ihren Geist 
ergriffen, um durch ihn die Welt so gänzlich 
umzugestalten und diese umgestaltete Welt rück- 
gewandt auf Geister und Seelen wirken zu lassen ? 
Gibt es ein Zentralphänomen als Ursprung und 
Achse dieser neuen Zeit und Welt, die, was man 
auch von Wiederkehr der Dinge sagen mag, 
schlechthin ohne Vorbild und Gleichung uns um- 
gibt und beherrscht ? Die Erkenntnis dieser Ur- 
kraft und ihres Wirkens würde uns Wesen und 
Zusammenhang der Moderne, von scheinbarer 
Selbstverständlichkeit losgelöst, objektiv fühlbar 
machen, aus dem Übermaß der Erscheinungen das 
Notwendige vom Zufälligen sondern und am 
Ende gar eine Vorstellung von der Richtung der 
Entwicklung gewähren. Und selbst ein Irrtum im 
Zielen auf die Grunderscheinungen wird nicht un- 
ter allen Umständen wertlos sein, wie denn ein 
erster Schuß, auch wenn er fehlt, dem Geschütz- 
führer Anhalt für Richtung und Distanz vermittelt. 



20 






VERSUCHTE LÖSUNGEN 

Wer sich in eine kontinuierliche Erscheinung 
vertieft in dem Bestreben, ihre Variationen 
;j:auf irgendeine Gesetzmäßigkeit aufzureihen, das 
iieißt, sie als Funktion einer einfacheren oder be- 
'|"iinnteren zeitlichen Erscheinung festzulegen, der 
|;^:ommt leicht in Gefahr, Kontinuität und Kausa- 
ität zu verwechseln, indem die einzelnen Phasen 
eils ihrer mählichen Übergänge wegen, teils in- 
folge eines Kontrastes sich wechselseitig zu er- 
^f engen scheinen, während sie in Wahrheit der 
||Centralbewegung einer unbekannten dritten Kraft 
;i|Dlgen. Ein banales Beispiel mag diese Erwägung 
it is zu einem gewissen Punkt erläutern. Hat der 
i-||Vind eine Zeitlang von Süden her geblasen, dann 
II on Südwesten und jetzt von Westen, so werden 
iSaanche sagen: Dies war vorauszusehen; es liegt 
tl'ben eine nach Westen drehende Tendenz des 
riSVindes vor. Ist er statt dessen von Süden nach 
p^Iordosten gegangen, so wird man hören, dies 
)^n die Folge eines notwendigen und üblichen Kon- 
;äirastbestrebens. In beiden Fällen bleibt unbeach- 

■1«-:. ". 

>f et: warum hat die westdrehende Tendenz nicht 

> .■ ? * 

schließlich nach Nordwesten, Norden oder weiter 
;eführt?, warum hat die Kontrasttendenz nicht 
fe tatt nach Nordosten nach Nordwesten gezeigt ?, 
chließlich : warum ist überhaupt, und gerade jetzt, 
S jine Änderung vorgegangen ? Die Wahrheit ist, daß 
; aicht in irgendeiner Tendenz der Windrichtung, 
, sondern in dem Spiel der meteorischen Kräfte der 
Urgrund dieser wechselnden Erscheinung, dem 
registrierenden Gefühl unerkennbar, ruht. 

^1 






'■'>,i 



Mit einer Verwechslung von Kontinuität mit 
Kausalität wird häufig die Frage nach der Her- 
kunft der Neuen Zeit beantwortet. Ihre Ur- 
sache, so heißt es meistens, liegt im Verkehr. 
Und woher kommt der Verkehr? Von der Ma- 
schine. Und die Maschine? Von der Entwicke- 
lung der Technik. Woher stammt die Technik? 
Sie ist angewandte Wissenschaft. Wieso kam die 
okzidentale Wissenschaft empor? Sie war das 
revolutionierende Produkt der Scholastik. Und 
so fort bis zu Adam und Eva. 

Gewiß ist es verlockend, die tausendjährige 
Entwickelung an die Kette der Geistesevolution 
zu reihen, deren Glieder uns als lückenlose, un- 
zerreißbare kausale Folge erscheinen. Aber wie 
bedenklich wäre es, auch nur die Geschichte eines 
menschlichen Lebenstages oder eines ganzen Le- 
benslaufes an die Kette einer Gedankenfolge 
reihen zu wollen! Noch schwerer wäre die innere 
Kausalität dieser Gedankenfolge selbst glaubhaft 
zu machen, und es würde für die Haltbarkeit der 
Reihe wenig gewonnen, wenn man sich auf den 
allgemeinen Ursprung als Emanation einer Per- 
sönlichkeit beschränkte. 

Gewiß ist es eine schöne Aufgabe, darzustellen, 
wie ein jugendliches Heidentum in gläubige My- 
stik, in dürre Scholastik sich verwandelt; wie aus 
dem sterbenden Reis die Forschung, das freie 
Denken und die Wissenschaft hervorsprießt; wie 
diese in zweckhafter Verzweigung die Technik 
abspaltet — ; gewiß mußte es so sein, denn es 
ist; aber warum mußte es gerade so sein und nicht 
anders ? Die Griechen hatten Mystik, aber keine 



22 



Scholastik; sie hatten Wissenschaft, aber keine 
Technik; die Juden hatten Scholastik, aber keine 
Forschung; die Römer hatten freies Denken, 
Technik, aber keine Wissenschaft; die Ägypter 
und Chinesen hatten Technik, aber weder freies 
Denken noch Forschung noch innerliche Mystik. 
Somit sind Geistesevolutionen denkbar, die von 
verschiedenartigen Ausgängen zu gleichen Ergeb- 
nissen, und wiederum solche, die zu verschieden- 
artigen Ergebnissen bei gleichem Ausgang ge- 
langen, und deshalb bietet die scheinbar so feste 
Kette keinen genügenden Halt, um den eisernen 
Weg der Völkerentwickelung zu tragen. 

Glücklicher scheint der Versuch, den Neuere 
gemacht haben: die Wandlung Germaniens in 
ein prussianisiertes Weltreich — und gleich- 
zeitig die Parallelgestaltungen aller westlichen 
Länder — als Funktion wirtschaftlicher Vorgänge 
aufzufassen, und zwar sie an den Übergang von 
der Individualwirtschaft zur Universalwirtschaft 
die man Kapitalismus nennt, zu ketten. Nur selt- 
sam, daß sie es sich nicht angelegen sein ließen, 
das letzte Agens, das die Wirtschaftsverschiebung 
verschuldet, ans Licht zu ziehen, obwohl es mit 
Händen zu greifen war: die Volksvermehrung; 
die ungeheuerste, proportional und absolut ge- 
waltigste Volksvermehrung seit Anbeginn men- 
schenkundiger Zeiten. Man zog es vor, zu eigen- 
artigen Hypothesen Zuflucht zu nehmen; so 
schuf man ein besonderes Naturgesetz, wonach 
die Menschheit das Bestreben habe, zwischen Be- 
gierde und Genuß möglichst viele Stadien zu 
schalten: nicht sehr überzeugend zwar, doch gut 

23 



zu paß; wie es denn von alters her stets ein Vor- 
recht der Erklärer war, ein factum durch eine 
facultas zu erleuchten. 

Wie eng die wirtschaftliche Evolution mit der 
Volksvermehrung sich verknüpft, ist evident. Ein- 
zelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nach- 
barlosigkeit. Gesamtwirtschaft bedeutet enge 
Berührung, Zusammenschluß. Einzelwirtschaft 
kann nur aus dem vollen schöpfen, ohne Rück- 
sicht, wie viel, wie wenig übrig bleibt. Gesamt- 
wirtschaft lebt von Ersparnis; Ersparnis an Zeit, 
Kraft, Material, Lagerverlust, Reibungsverlust. 
Gesamtwirtschaft ist noch heute ebenso undenk- 
bar bei spärlicher Bevölkerung, wie Einzelwirt- 
schaft bei großer Dichte. Gesamtwirtschaft muß 
daher mit Naturnotwendigkeit eintreten, sobald 
eine gewisse Verdichtung stattgefunden hat. 

Wenn trotz dieses offensichtlichen Zusammen- 
hangs die Vertreter der wirtschaftlichen Auffassung 
nicht gewagt haben, die Volkszunahme schlecht- 
hin als Evolvente zu wählen, so läßt sich eine Er- 
wägung anführen, die dies Zögern zu rechtfer- 
tigen scheint. 

Denn immer wieder tritt bei Aufgaben, die 
sich auf Massenphänomene beziehen — mögen 
nun Flüssigkeitsbewegungen, oder thermische Er- 
scheinungen oder lebendige Komplexe der Be- 
trachtung dienen — die Erfahrung hervor, daß 
jede kleinste Verschiebung durch die benachbarte 
bedingt und modifiziert ist; keine Kraft wirkt 
losgelöst und ungehindert; daher denn auch im 
vorliegenden Fall nicht bestritten werden kann, 
daß rückwirkend bis zu einem gewissen Grade die 



wirtschaftliche Entwicklung und der ihr folgende 
Wohlstand auf die Volksvermehrung habe ein- 
wirken können. Es konnte am Ende gar der Zwei- 
fel entstehen : ob nicht überhaupt das Phänomen 
umgekehrt aufgebaut sei: zuerst Wirtschaftsum- 
schwung, dann Volksverdichtung. Dies wäre frei- 
lich nicht viel anders, als wenn jemand den Satz 
„Volksansammlungen veranlassen Verkehrsstö- 
rungen" grundsätzlich umkehren wollte, weil un- 
bestreitbar Verkehrsstörungen auch schon manch- 
mal Aufläufe hervorgerufen haben. 

Mit besserem Recht könnte man geltend machen, 
hier werde nur ein Rätsel durch ein anderes ver- 
drängt: denn wie in aller Welt sei eine Volks- 
verdichtung erklärlich, die allen Seuchen und 
Kriegen des Mittelalters und der neueren Zeit 
standgehalten, und von der Mitte des achtzehnten 
Jahrhunderts an die gewaltigsten Menschenkon- 
zentrationen erzeugt habe, die je von europäischem 
Boden ertragen wurden? 

Um dieser seltsamen Frage zu begegnen, wird 
es nötig sein, nochmals einige Schritte zurück- 
zutreten und von neuem auszuholen. 



GESCHICHTETE VÖLKER 

In seltsamem Doppelsinn deutet das Wort „Ge- 
schichte" — das von geschehen kommt — 
auf das Geheimnis, daß nur geschichtete Völker 
Historie machen und erleben. Einschichtige Völ- 
ker, das heißt solche, die aus einheitlich ent- 
stammten oder gut zusammengekochten Rasse- 

^5 



dementen bestehen, zeigen, von den Ägyptern 
bis zu den Chinesen, im Stande der Zivilisation 
das gleiche Bild: Abgeschlossenheit und Konser- 
vatismus, lange Dynastienreihen von wesentlich 
identischer Physiognomie, langsam-stetige tech- 
nische Entwickelung, die aber keinen Aufstieg zu 
einer idealen Kultur bedeutet, vielmehr in Geist 
und Kunst eine allmähliche Verflachung und Ver- 
nüchterung erlebt, indem die lebendige Kraft des 
einstmaligen, vorzeitlichen Impulses sich nach und 
nach aufbraucht. 

Eine Geschichte hingegen, das Werden und Ver- 
gehen politischer Formen, geistiger Ziele^ Erleb- 
nisse und Träume, Wechsel von leidenschaft- 
lichen, friedlichen und tätigen Epochen, Aufstieg, 
Expansion und Niedergang, kurz Das, was im Le- 
ben des Einzelnen dem freien, heroischen und tra- 
gischen Schicksal entspricht: eine Geschichte ist 
nur denjenigen Gemeinwesen beschieden worden, 
die von einer Oberschicht beherrscht, von einer 
stammverschiedenen Unterschicht getragen wa- 
ren. Solche Zweischichtigkeit prägt sich mit Ent- 
schiedenheit aus im Bestehen von Aristokratien; 
daß alle Kultur dieser Erde von aristokratischen 
Organisationen ausgegangen ist, bezeugen Indien, 
Griechenland und Rom, Florenz und Venedig, 
England und die Niederlande, Frankreich und 
Deutschland. Selbst im fernen Osten muß den 
Japanern die Führung und Verantwortung zu- 
fallen, weil ihr Feudalsystem die Reste alter 
Zweischichtigkeit am Leben erhält. 

Diese Schöpferkraft des Zwiespalts entspricht 
einem einfachen Gesetze. Wir können uns keiner 

26 



Vorstellung bewußt werden, als durch den Gegen- 
satz, die Polarität. Wer die See kennt, begreift 
das Binnenland, wer die Fremde kennt, begreift 
die Heimat, wer seinen Nächsten kennt, begreift 
sich selbst, soweit denn ein Begreifen uns beschie- 
den ist. Ein rechtes Volk aber erblickt in seinen 
Nachbarn den Spiegel nicht; sie sind ihm zu 
fem, zu fremd und zu verhaßt. Den Spiegel er- 
blickt es im fremden Landesgenossen, und bei 
diesem Anblick wird es sich seiner selbst bewußt. 
Es beginnt die feinere Scheidung und Erkenntnis 
der physischen, sittlichen und geistigen Gegen- 
sätze, eine Selbsterkenntnis, Kritik und Wertung 
tritt ein, und mit diesen ersteht ein Ideal. Zu- 
gleich brechen die schönsten Kräfte menschlicher 
Gegensätze und Pflichten hervor: der Obere 
herrscht, leitet, verantwortet und schützt, der 
Untere gehorcht, leistet, dient und strebt. Der 
Obere erzieht sich zur Gesinnung und Freiheit, 
der Untere zur Ausdauer und Fertigkeit. Daß 
solche Arbeitsteilung Großes hervorzubringen be- 
stimmt ist, zeigt jede bewußte Organisation bis in 
die jüngste Zeit. 

Nun ereignet sich aber in diesen zweischich- 
tigen Volks wesen jeweils etwas Wunderbares, in 
einem jeden zu seiner 2^it und ein einziges Mal: 
die beiden Schichten, einst wie Ol und Wasser ge- 
trennt, beginnen sich zu lösen, die Kontraste ver- 
fließen (die Unteren sagen: die Vorurteile), ein 
näheres Erkennen, ein engeres Zusammenwirken 
tritt ein. Noch hat die Oberschicht soviel Recht 
und Geltung, daß ihre reineren und freieren Ide- 
ale den Geist der Gesamtheit beherrschen, noch 



27 



hat die Unterschicht soviel Glauben und Respekt, 
daß sie ihr Können, ihr traditionelles Handwerk, 
ihre Kunstfertigkeit in den Dienst dieser Ideale 
stellt. Die Kunstwerke solcher Epochen sind die 
edelsten Zeugnisse des irdischen Geistes ; vor Zei- 
ten nannte man sie hohen Stils, heute werden sie 
als archaisch oder primitiv verehrt. 

Sodann beschleunigt sich der Vorgang, dem 
Phänomen vergleichbar, wenn zwei Flüssigkeiten 
hoher chemischer Affinität durch Mischung in 
Reaktion treten. Es lösen sich die lang verhaltenen 
Energien in einer Epoche heißen Aufschäumens 
und leidenschaftlicher Lebenssteigerung. Jetzt 
steigen die Befähigten der Oberschicht aus der 
Herrschersphäre hinab in die Schar der Ausüben- 
den; jetzt steigen die Bedeutenden der Unter- 
schicht auf in die Zahl der Bestimmenden; ihre 
innersten Geheimnisse rufen die beiden Stämme 
freudig und rückhaltlos einander zu ; jede Wahr- 
heit hat Geltung, jeder Gedanke findet Hörer, man 
erlebt das Ungeheure und erwartet das Un- 
mögliche. In solchen Zeiten ersteht der Kunst 
aus der Mischung der Freiheit und des Ausdrucks 
die Blüte, die wir aus der 2^it des Phidias und des 
Lionardo kennen. 

Noch lange bleiben die Elemente in Bewegung, 
aber das Phänomen ist vollbracht, die Mischung 
ist geschehen. Die Unteren waren die Zahlreiche- 
ren, und so trägt das Magma ihre Färbung. Meist 
haben sie der Staatsform ihren Stempel aufge- 
drückt, zum mindesten herrschen sie faktisch. 
Die transzendenten Ideale der alten Führer sind 
gefallen, an ihre Stelle tritt die freie Konkurrenz 

2S 



um den Geschmack der Menge. Dieser Geschmack 
aber ist geistig Skeptizismus, Negation, Aberglaube 
und Rationalismus, künstlerisch Materialismus, 
Deklamation und Ekstase. Einer Epoche dieser 
Art hat man die Bezeichnung des „Barock" ge- 
geben, ein Name, den man füglich auf die Parallel- 
epochen anwenden könnte, so daß bei allen Kul- 
turzeitaltern von einer archaischen, einer kul- 
minierenden und einer Barockperiode kurz und 
verständlich gesprochen werden könnte. 

Mit dem Abschluß dieser dritten Etappe tritt 
die Beruhigung ein, und zwar für immer, sofern 
nicht neue Eroberer neue Oberschichten schaffen 
und den Kreisprozeß von neuem vorbereiten. Ge- 
schieht dies nicht, so bleiben die Affinitäten ge- 
sättigt, die freien Energien sind verpufft, und die 
ausgebrannten Völker bleiben wie tote Schlacken 
am Wege liegen. So sind aus Dorern und Attikern 
innerhalb weniger Generationen die Graeculi der 
Römer geworden, so aus den Römern selbst 
römische Italiener. 

Im Gegensatz zu diesen Erscheinungen der Ver- 
mischung bleiben einschichtige Völker sich selbst 
ihr Leben lang gleich, wie die Nationen Asiens 
beweisen. Technische Erfindungen mögen ihr 
äußeres Dasein bewegen; ihr Geist, ihr Wille 
und ihre Seele bleiben, wie sie waren, und kaum 
merklich ändern sich die Exponenten des inneren 
Lebens : Religion und Kunst, Schrift und Sprache. 

Hier sei eine Anmerkung gestattet: 

Bei der großen Aufmerksamkeit, die unsere Zeit 
dem Wesen, der Geschichte und dem Austausch 
der Sprachen zuwendet, scheint es seltsam, 

29 



daß man sich um das eigentlich Physiologische 
ihrer Entwicklung wenig kümmert. Daß und 
wie die Sprachen sich umgestalten, wissen wir; 
aber wie kommt es, daß die eine sich jahrhun- 
dertelanger Ruhe erfreut, die andere in stetem 
Wechsel sich bewegt, die dritte im Laufe knapper 
Jahrhunderte von Grund auf sich erneut? Be- 
trachtet man die Sprache als einen Teil der gei- 
stigen und körperhchen Physiognomie, so hegt die 
Erklärung nahe. Nur gleichbleibende Individuen 
können gleichbleibend sprechen. Veränderte Denk- 
weise und veränderte Muskulatur muß veränderten 
Sprachausdruck schaffen ; wie denn ein Jeder beim 
Erlernen bemerkt, daß es einer zwangsweisen körper- 
lichen und geistigen Nachahmung bedarf, um neuer 
Rede sich anzupassen. Starke Persönlichkeiten 
sind nur in früher Jugend biegsam genug, dieser 
doppelten Schauspielerei sich zu bequemen ; über- 
triebene polyglotte Befähigung hat bei Älteren 
etwas Prostitutionsmäßiges. Sollen ganze Völker 
ihre Sprache ändern, so muß in ihrer physischen 
Beschaffenheit eine Änderung vorgegangen sein; 
und es wird vielleicht einstmals in der beschleu- 
nigten Variation der Sprache das feinste und zu- 
verlässigste Reagens auf den Zutritt neuen Blutes 
gefunden werden. 

Damit die Doppelschichtung eines Volkes ihre 
natürliche Wirkung ausübe, ist keineswegs er- 
forderlich, daß eine äußerHch erkennbare Tren- 
nungsfläche die entgegengesetzten Massen schei- 
det, noch gar, daß jeder Volksgenosse sich seiner 
Rolle als oberes oder unteres Glied klar be- 
wußt sei. Voraussetzung ist lediglich, daß die 

30 



Oberen den Geist und Willen der Gesamtheit be- 
stimmen und leiten; so wie etwa zur republika- 
nischen 2^it die Römer echten Blutes das intellek- 
tuelle Leben der anonymen Italiker und Einge- 
wanderten derart beherrschten, daß die winzige 
Zahl der Herren einem Weltreich und einer Welt- 
epoche Stimmung und Namen aufzwingen konnte. 
Ebensowenig darf man verlangen, daß der attische 
Plebeier, der das Handwerk des Steinmetzen übte, 
bei jedem Meißelschlag zu jenem blonden Patri- 
ziersohn aufblickte, der ihm sein Götterbild be- 
stellte. Es genügte, daß Geist und Geschmack des 
Adels das Zeitalter erfüllte und den Bildner zwang, 
die menschliche Gestalt unter der Form des gött- 
lichen Ideals zu erblicken; denselben Bildner, 
dessen Vorfahren und Nachkommen, von der Kon- 
trolle befreit, weit lieber Monstren, Süßlichkeiten 
und Karikaturen schufen. 

Umgekehrt wird man sich hüten müssen, in 
unklarer Verallgemeinerung eine historisch wirk- 
same Schichtung überall da zu erblicken^ wo eine 
Abstufung auftritt. Dann freilich gibt es in jeder 
Volksgemeinschaft Starke und Schwache, Reiche 
und Arme, Geschützte und Hilflose. Aber diese 
Gruppen stehen einander nicht als Rassen und 
Völker gegenüber; indem sie auf- und nieder- 
tauchen wie die Flüssigkeitsteile eines Wellen- 
zuges, können sie wohl im Zustande der Erhebung 
eine etwas veränderte geistige Temperatur oder 
Färbung gewinnen und den Tiefen mitteilen; 
Wechselwirkung und Austausch spezifischer Eigen- 
schaften und Kräfte zu vermitteln, vermögen sie 
nicht. 



Si 



DIE AUFZEHRUNG DER OBERSCHICHT 

Noch heute sind die Länder des mittleren 
Europa nicht von durchweg einschichtigen 
Völkern bewohnt. Die Herrscherhäuser deutscher 
Zunge und ihre Gefolgschaften entstammen einer 
Oberschicht, die sich bei Strafe des Verlustes edels- 
ter Rechte mit fremdem Blute niemals mischen 
darf. Die Heere als Träger und Garanten der Nati- 
onalmacht nach außen, der Herrschermacht nach 
innen, gehorchen adligen Führern. Die Geschäfts- 
führung deutscher Staaten* und ihre Repräsentanz 
geschieht durch Zugehörige der oberen Schicht, 
nicht minder die höchste Leitung der Regierung 
und der größere Teil ihrer Exekutive. Ja selbst 
die Gesetzgebung kann der Sanktion und des 
Vetos einer Herrenkurie nicht entbehren. Der 
Geschichtschreiber später Zeiten wird vor einem 
Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwär- 
tigen sucht, wie unsere Zeit mit den äußeren 
Organen ihres Geistes demokratisch zu fühlen 
glaubte, während das Wollen ihrer inneren Seele 
den Aristokratismus noch immer duldete und zu 
erhalten strebte. 

Freilich ist seit den letzten Jahrhunderten Adel 
nicht mehr reines Abzeichen edleren Blutes ; den- 
noch zieht er seine stärksten Kräfte aus dem Stamm- 
haften: Gesinnung und Physis. Wer ein preußi- 
sches Regiment defilieren sah, und die Gestalten 
der Truppe mit denen der Führer verglich, der 
hat, wenn anders sein Auge für Betrachtung or- 
ganischer Wesen geschärft ist, den Gegensatz 
zweier Rassen erkannt: gleichzeitig aber hat er 

32 



ein sichtbares Symbol und Abbild der Gliederung 
unseres Volkes erblickt. 

Weist somit unsere Zeit, bei allem offenkundigen 
Hang zum Demokratischen, noch immer sicht- 
bare Spuren der Doppelschichtung auf, so können 
wir uns den Beginn unserer Geschichte nicht anders 
als im Charakter ausgesprochener Zweiheit der 
Bevölkerung denken. 

Vom ganzen ostelbischen Deutschland wissen* 
wir, daß es zu geschichtlich bekannten Zeiten 
durch Eroberung und Kolonisation als doppel- 
schichtiges Volksgebilde entstand. * Die Sieger 
waren Germanen, die Besiegten Slawen, das Er- 
eignis geschah vom zwölften bis ins vierzehnte 
Jahrhundert. Auf welchen Unterschichten be- 
siegter Urbevölkerungen das übrige Deutschland 
ruhte, als es mit seiner aristokratischen Gliede- 
rung von Freien, Halbfreien und Hörigen in 
die Geschichte eintrat, ist unbekannt; doch 
ahnen wir aus frühen Sagen und späteren Dar- 
stellungen manches vom Wesen der Unterwor- 
fenen. Dunkelhaarig war der Knechtsbruder des 
freigeborenen Knaben. Handfertigkeit, schlaue 
Künste und feiger Sinn ist das Erbteil der Dunkel- 
wesen. Sie sind klein von Gestalt; ihr Haar ist 
kurz und kraus; deshalb muß der Freie in al- 
len Ländern das blonde Haupthaar lang und 
schlicht um den Scheitel wallen lassen. Bis in die 
neuere Zeit hinein zeigen die älteren bildlichen 
Darstellungen von Bauern, Hörigen und Verbre- 
chern die gleichen Züge: runde Schädel, breite 
Gesichter, kurzaufgestülpte Nasen, kurze, ge- 
drungene Glieder. Daß hier nicht Merkmale des 

s 33 




Berufes, sondern des Stammes dargestellt werden 
sollten, beweisen die germanischen Gebiete des 
Nordens, wo Jahrhunderte bäuerlicher Arbeit den 
feingegliederten, schlanken und edlen Schlag nicht 
verwandeln konnten. 

Indem nun jeder der südwestlich gerichteten 
Germanenströme die dunkleren Urvölker über- 
deckte, und zwar mit einer Schicht, die um 
80 schwächer, je weiter sie von der Einbruchs- 
region entfernt war, so mußte denn auch die Auf- 
zehrung in verschiedener Geschwindigkeit und 
verschiedener Vollkommenheit erfolgen : die süd- 
westlichen Halbinseln Europas, verglichen mit der 
nordöstlichen, zeigen heute die entschiedenen 
Kontraste dunkler und heller Bevölkerung. 

Versucht man, sich die Bilanz der Kräfte 
zu vergegenwärtigen, denen im Laufe der euro- 
päischen Geschichte die beiden Elemente des 
Volkes, vornehmlich in Deutschland, ausgesetzt 
waren, so treten folgende Tendenzen hervor: 

I. Bezüglich der Herrschaft. Sie war von den 
Eroberern mit Gewalt gewonnen und wurde zu- 
nächst mit Gewalt behauptet; solange, bis sie ver- 
fassungsmäßige, soziale oder plutokratische Gel- 
tung erlangt hatte. Dann aber mußte die Erhal- 
tung der Herrschaft den Mächten der Ordnung 
anheimgegeben werden; Gewaltakte waren nur 
noch statthaft bei der Bekämpfung Aufständischer 
und Ungläubiger, denn die beiden großen Erb- 
teile des Ostens, Kaisertum und Kirche, wirkten 
im Sinne der Zivilisation. So blieb das Herr- 
schaftsverhältnis im Innersten ungefestigt und 
unverteidigt, mußte zerbröckeln wie jeder Bau, 

54 



den man nicht pflegt und erneuert, sondern seiner 
eigenen Festigkeit überlassen zu können glaubt. 

2. Bezüglich der Herrschenden. Aus Waldland 
waren sie hervorgetreten, jagd- und waffengeübt, 
unbekannt mit verfeinerten Bedürfnissen, unge- 
wohnt der Arbeit und des Zusammenlebens. In 
nicht unähnlicher Lage, wenn auch um vieles 
tiefer stehend, erblickte man vor einem Menschen- 
alter die edleren Stämme des mittleren Afrika, die 
seither ihrer Natur entrissen, zum Teil vernichtet 
sind. 

In wenigen Jahrhunderten lichtet sich das Land. 
Die Jagdgründe wichen zurück, der Zwang des 
Glaubens, des Lernens, des Erwerbes, des häus- 
lichen und gedrängten Lebens trat heran. Die 
Frage war : wie wird dies Waldvolk bestehen und 
gedeihen in steinernen Häusern, bei fremdartiger 
Nahrung, tagsüber dicht bekleidet, des Nachts in 
heißen Betten, im Leben von neuen Bildern, Ge- 
danken und Pflichten umgeben und beherrscht? 
Die Sehnsucht des Mittelalters blieb der schwin- 
dende Wald. Und wenn die heitere Schwermut 
dieser Zeit zu maniakalischen Ausbrüchen der 
Schwärmerei, zu Vorstellungen des Verfolgungs- 
wahns sich verdüsterte, so wurden die Wirr- 
nisse einer Volksseele offenbar, die ihre Heimat 
verloren hatte. Kriegszüge und Fehden hielten 
ununterbrochen ihre Auslese der Vernichtung 
unter den Besten, indes der Leib des Volkes 
von periodischen Seuchen erschüttert wurde, 
deren Verheerungen nicht ihresgleichen gefunden 
haben. So wirkten veränderte Bedingungen des 
Bodens und IQimas, neubegründete Lebens- 

s^ 35 



weise, Krieg und Pestilenz auf das doppel- 
schichtige Volksgebilde ein; symmetrisch, Gleich- 
gewicht erhaltend zwischen beiden so verschieden 
gearteten Organismen, konnten diese Kräfte sich 
nicht erzeigen: und wenn die eine Schale sinken, 
die andere steigen mußte, so war der herrschende 
Stamm, der reicher, feiner organisierte, kriege- 
rische und abenteuerUche, bestimmt, schwerer 
unter den neuen Lebensformen zu leiden, die 
seiner Natur feindseUger waren, als der Natur 
seiner Knechte. Auch darf hier nicht unter- 
schätzt werden, daß eine Religion des Friedens, 
der Feindesliebe, der Demut, mit instinktiver 
Abneigung begrüßt, mit Gewalt aufgezwungen, 
zwar zur Milderung der Sitten führen, gleich- 
zeitig aber die Niederen erhöhen, die Hohen 
erniedern mußte. 

3. Bezüglich der Beherrschten. Ihr sklavisches 
Schicksal konnte sich nur mildern; die Stärken 
der Knechtschaft blieben ihnen erhalten. Zähig- 
keit und Anpassung, Schlauheit und Voraus- 
sicht sind die Eigenschaften aller Schwachen, 
Unterdrückbaren und Unterdrückten; tritt Be- 
sitz hinzu oder ein anderer Hebel der Macht, so 
materialisieren sich diese Eigenschaften zu ge- 
waltigen Kräften. Fruchtbarkeit und Vermeh- 
rung, bei hochstehenden Stämmen sich selbst das 
Maß setzend, finden hier Beschränkung nur durch 
Not und SterbUchkeit, so daß sie, wie gespannter 
Kesseldampf sich schrankenlos ergießen, sobald 
das hemmende Gewicht beseitigt ist. So sehen 
wir heute im preußischen Osten das Bild einer 
Unterschicht, die ihr Gegengewicht überwunden 

36 




hat und nun in rastloser Ausdehnung den Raum 
des Landes zu erfüllen trachtet. 

Dem Wachstum kommt die Bildsamkeit und Ak- 
kommodation zustatten, die abhängigen Menschen- 
schlägen eigen ist. Denn da sie ihre Lebens- 
bedingungen nicht selbst schaffen, vielmehr von 
Anderen empfangen, so ist ihre Natur, einmal 
elastisch gemacht, allen späteren Änderungen der 
leiblichen und geistigen Umwelt widerstehend. 
Das Beispiel der Juden bestätigt dies, und noch 
ein weiteres: daß die Gewohnheit rastloser und 
zwangläufiger Arbeit allmählich den Arbeitsdrang 
als neue Notwendigkeit schafft, und um ihn zu 
rechtfertigen, Zwecke hinzuerfindet; ähnlich wie 
der Traum des Erwachenden nachträglich ein 
Erlebnis erdichtet, um das erweckende Geräusch 
sinnmäßig zu assimilieren. Arbeitstrieb, Fertig- 
keit und die ängstliche Vorsicht bedrückter Men- 
schen gehen aber eine Verbindung ein, die als 
Vorläufer des Erwerbs- und Geschäftssinns auf 
eine der stärksten Waffen im Rassenkampf hinaus- 
läuft. 

Auch die gewaltigen Landerschließungen des 
Mittelalters durch Roden und Urbarmachen konn- 
ten, so seltsam es scheint, nur die Unterschicht 
der Bevölkerung stärken und erweitern. Denn 
die Territorialbesitzer, die von jeher in ihrer Sub- 
sistenz gesichert und daher in ihrer Expansion 
ungehindert sich fühlten, konnten durch die Er- 
schließung ihrer Besitztümer höchstens bereichert 
werden; für die Unterworfenen aber wurde Raum, 
Nahrung, Tätigkeit und damit die Möglichkeit 
der Ausbreitung gewonnen. Begann erst einmal 

37 



die Unterschicht, von ihrem gesindeartigen Zu- 
stand befreit, sich Raum und Lebensmöglichkeiten 
selbst zu schaffen, so mußte durch immer inten- 
sivere Bearbeitung der Erdgüter die arme Natur 
zu einer reichen, die dürftige Bevölkerung zu einer 
behäbigen, die spärliche zu einer dichteren sich 
entwickeln. Die Herren aber konnten die gleiten- 
den Zügel nicht länger halten; zu Fürsten des 
Landes konnten sie aufsteigen, Besitzer des Landes 
und seiner Menschen höchstens dem Namen nach 
bleiben. Die Bewohner des Landes indessen waren 
ein neues Volk, das sich allmählich mit den Söhnen 
und Töchtern seiner Herren vermischte. 

So neigt sich die Kräftebilanz nach der Seite 
der Unterdrückten, bei einer Betrachtungsweise, 
die keinerlei Entwicklungsphasen und akziden- 
telle Ereignisse vorausnimmt, die sich hütet, 
geistige und technische Errungenschaften als 
Ursachen anzusprechen, da sie ja ebensogut 
Wirkungen und Mittel eines unbewußt wollen- 
den Massengeistes sein könnten, die vielmehr 
lediglich von eingeborenen und uranfänglichen 
Prämissen auszugehen sich bestrebt. 

Entschließt man sich nach diesen Erwägungen 
zu der Annahme : in einem zweischichtigen Volke, 
das durch fremde Kolonisation und Erschließung 
des Landes in veränderte Lebensweise geraten war, 
habe die Unterschicht von den Umwälzungen den 
größeren Nutzen gezogen, sich rascher vermehrt 
und allmählich einen großen Teil der Oberschicht 
absorbiert, so verschmilzt diese Hypothese mit 
der vorhin berührten Frage nach den Ursachen 
der nachmittelalterlichen Volkszunahme zu einem 

38 



einheitlichen Theorem; und es wird evident, daß 
das Gesamtphänomen nicht als eine sekundäre 
Erscheinung, sondern als die dem ganzen neuzeit- 
lichen Erscheinungskomplex zugrunde liegende 
Ursache betrachtet werden muß. Tiefere Ur- 
sachen können alsdann nur noch in den physisch- 
psychischen Elementen gesucht werden, die als 
ein Gegebenes gelten müssen. Dagegen werden 
alle äußeren, also zeitgeschichtlichen Einwir- 
kungen nur als beschleunigende oder verzögernde 
Momente, alle inneren Einzelevolutionen — und 
unter ihnen die Reihenfolge der Geistesrichtungen, 
der vsdssenschaftlichen und technischen Errungen- 
schaften — nur als Willensakte und Hilfsoperatio- 
nen eines in bestimmter Richtung strebenden Ge- 
samtorganismus zu betrachten sein. Und da in 
letzter Linie Wille, Geist und Seele des Gesamt- 
organismus erkennbar den Weg entscheiden, 
unerkennbar zum Ziele treiben, so darf diese 
Betrachtungsweise, obschon sie auf zählbar-sicht- 
bare Elemente sich stützt, den Vorwurf materieller 
Einseitigkeit ablehnen. 

Aufgabe weiterer Erwägungen wird es sein, 
nach Erledigung einiger Nebenfragen zu prüfen, 
wieweit die neuzeitliche Weltgestaltung aus dem 
geschilderten Phänomen: Verdichtung und Um- 
lagerung, sich ableiten läßt. 

Es soll jedoch schon jetzt ausgesprochen werden, 
daß nach der hier vertretenen Auffassung die 
Doppelerscheinung der Ursachen durch eine Dop- 
pelerscheinung der Wirkung unserer Zeit den 
Stempel aufprägt: die Verdichtung schafft sich 
in der sichtbaren Welt ihre Kompensation, die 

39 



ich Mechanisierung nennen will, und die darauf 
hinzielt, einem übervölkerten Planeten die Mög- 
lichkeit der Subsistenz und Existenz ungeahnter 
Menschenschwärme abzuzwingen; die Umlage- 
rung spricht sich in der geistigen Verfassung un- 
serer Völker als Entgermanisierung aus, die ein 
neues, für die Aufgaben der Mechanisierung selt- 
sam geeignetes Menschenmaterial erschaffen hat. 
Indem nun der veränderte Volkskörper dem 
Mechanisierungsdrang sein Bestes liefert: neu- 
gierig forschende Geschlechter mit leidenschaft- 
lichem Interesse für Tatsachen, Zusammenhänge 
und Anwendungen; indem wiederum die Me- 
chanisierung diesen Menschenschlag fördert durch 
Assoziation, Organisation und Werkzeug, ver- 
zweigen und verweben die Wirkungskomplexe sich so 
mannigfach, daß man einer einheitlichen Erschei- 
nung gegenüberzustehen glaubt, die gerade des- 
wegen einzigartig und unerklärlich wirkt. Immer- 
hin lassen sich die Geäste sondern, wenn man den 
Zivilisationsstand der Mechanisierung und die 
Geistesverfassung der Entgermanisierung losgelöst 
voneinander betrachtet. 

I. Anmerkung. Naturvorgang und Geschichte 

Die geschichtlichen Evolutionen und Einzel- 
leistungen verlieren nichts von ihrer Größe 
und Schönheit, wenn sie im Rahmen dieser an- 
scheinend physikalisch-geometrischen Entwicklung 
betrachtet werden. Denn die Einreihung in ein 
größeres und einfacheres Gesetz streift zwar von 
heroischen Ereignissen einen Teil des Zufälligen 
und Willkürlich-Freien ab, sie läßt es aber um 



40 



so mehr als ein Notwendiges und Zuverlässig- 
Sicheres erkennen und stärkt unsere Zuversicht, 
daß die Kraft der göttlich-menschlichen Natur 
noch jederzeit ausreicht, um veränderten Bedin- 
gungen zu entsprechen, notwendige Heilkräfte 
zu produzieren und aus Bedrängnissen Mög- 
lichkeiten höherer Entwickelung zu gewinnen. 
Tatsächlich beherrscht den ganzen Kreis des uns 
bekannten Lebens ein Gesetz, das sich in gleicher 
Umfassung im Vegetabilischen wie im Anima- 
lischen offenbart: das Gesetz der Ausnutzung 
jeder gegebenen Lebensbedingung und der Er- 
füllung jedes gegebenen Lebensraumes. So wie 
ein Wasserstrom zerklüftetes Gestein durchdringt, 
derart, daß jede Spalte und Ader sich mit Flüssig- 
keit erfüllt, gleichviel, welchen verworrenen, kaum 
auffindbaren Weg ein jeder Teil des Elements zu 
nehmen hatte, so ergießt sich das Leben, immer- 
fort verwandelt und umgestaltet, unerschöpflich 
an Erfindungskraft, in jede Existenzmöglichkeit, 
in jeden durch noch so komplexe Bedingungen 
beschränkten Hohlraum. Dies schöpferische Ge- 
setz wirkt früher als das der Selektion: denn um 
unter geschaffenen Lebensorganisationen auszu- 
wählen, müssen Lebensorganisationen geschaffen 
sein; und die stündlich erneute Anpassungsarbeit 
jedes fertigen Organismus zeigt, daß nicht Zufall, 
noch das Gesetz großer Zahlen die Entwicklungs- 
arbeit der Kreatur bestimmt, sondern ein erfinde- 
rischer Lebenswille. Was nun, uns unbekannt, etwa 
in den Geweben eines Pflanzenkörpers, sich voll- 
zieht, der sich veränderter Bestrahlung, Tempe- 
ratur, Nahrung oder Lebensgemeinschaft anzu- 

41 




passen gezwungen ist, das erblicken wir sinnlichen 
und geistigen Auges, bis in die feinsten Einzel- 
regungen zergliedert, in einer Volksgemeinschaft, 
deren Anfangszustand gegeben, deren Endzustand 
bestimmt ist. Sollte dieser Endzustand bezeichnet 
sein durch den komplexen Begriff, den wir Me- 
chanisierung genannt haben, so wird der Weg des 
Geistes von der Naturbetrachtung zur Naturbe- 
rechnung führen, der Weg der Wirtschaft vom Ein- 
zelbetrieb zur Organisation, der Weg der Arbeit 
vom Handwerk zur Technik, der Weg der Politik 
vom Territorialbesitz zum Nationalstaat; und die 
geschichtliche Betrachtung wird staunend ver- 
zeichnen, wie an jeder Wegkreuzung, von den 
tiefsten Mächten emporgesandt, ein genialer Geist 
ersteht, um der Menge die Richtung ihres un- 
bewußten Willens zu weisen, der sie zürnend fol- 
gen muß. 

Wird dies anerkannt, so bedarf es nicht mehr der 
Frage, ob und wieweit die Forschung in den letz- 
ten Jahrhunderten den Geist der Neuzeit be- 
stimmt habe : wenn Kepler und Newton Himmels- 
gesetze niederschrieben, so waren sie in sich nicht 
minder frei und vom Genius getragen, indem sie 
doch dem Willen zu neuen Produktions- und 
Lebensgesetzen gehorchen mußten, der, um Tat-, 
sächlichstes zu erzeugen, der Tatsache und ihrem 
Gesetz neuartigen Wert verlieh. 

2. Anmerkung. Der Anbruch der neuen Zeit 

Versucht man, den Vorgang der Umlagerung 
sich zu vergegenwärtigen, an den unsere Ge- 
schichte sich aufreiht, so muß man auf die Vor- 



42 



Stellung verzichten, es könne der Rassenkampf im 
wesentlichen unter dem sinnfälligen Bilde von 
Aufständen, Revolutionen oder Verschwörungen 
erblickt werden. Denn nicht einmal die Kämpfen- 
den selbst waren sich des Kampfes bewußt. Die 
einen verteidigten als Erben Rechte, Vorteile, 
Ehren und Besitztümer, nach denen die anderen 
als Erblose die Hände ausstreckten ; und da weder 
Kämpfer noch Bekämpfte ihre, unseren Augen 
doch so sichtbaren Rassenmerkmale deuteten, 
vielmehr beide eines Landes, einer Sprache und 
eines Glaubens waren, so erblickten sie ihre bald 
ruhende, bald erwachende Feindschaft unter dem 
Licht gegnerischer Interessen, ständischer Gegen- 
sätze und erblicher Mißbräuche. Überdies sind 
innere Rassenkämpfe reich an friedlichen Erobe- 
rungen; denn das Ziel ist nicht Vernichtung, 
sondern Assimilation und Vermischung. Jede 
Mißehe, jede Deklassierung, jede Rangeserhöhung 
ist ein Sieg und eine Niederlage. 

Dennoch sind große Episoden des Gesamt- 
kampfes auch der chronistischen Geschichtsbe- 
trachtung erkennbar : das Ringen um freien Grund- 
besitz, Vormacht der Kirche, Feudalrechte des 
Adels, Herrschaft der Zünfte, evangelische Frei- 
heit, Leibeigenschaft, Ablösung der Lasten, Ge- 
werbefreiheit, Freizügigkeit; ja selbst die ersten 
Kämpfe um die erbliche Macht des Kapitals sind 
sichtbare Einzelkampagnen, zum Teil Nachge- 
fechte des großen Rassenkrieges, dessen letzte 
Entscheidung erst um die Wende des XVHI. Jahr- 
hunderts fiel. 

In dem Zeitalter, das etwa mit dem Leben 



43 



Goethes zusammenfällt, liegt die Schilderhebung 
der Unterschicht des deutschen Volkes beschlossen. 
Man vergleiche, was der Frankfurter Bürgersohn 
im Werther und im ersten Teil des Meister über 
die Beschränkung des Bürgerstandes schrieb, mit 
dem, was sechzehn Jahre nach seinem Tode in 
der Paulskirche seiner Vaterstadt gesprochen wurde : 
zwischen diesen Zeitgrenzen liegt Deutschlands 
Umschwung. 

So konnte denn auch nach dem Gesetz der 
Energiebefreiung, das zu Eingang beschrieben 
wurde, dieser Zeitlauf eine Kulturepoche empor- 
tragen, wie sie nie zuvor der Erde beschieden 
war, und deren Glanz erst späte Geschlechter voll 
erfassen werden. Sie offenbart, wie wenig die 
Naturvorgänge des Völkerlebens von Konstella- 
tionen der Zeitgeschichte sich meistern oder 
unterdrücken lassen. Denn aus einer Periode 
tiefsten politischen Niederganges bricht sie her- 
vor — für rein historische Betrachtung ein un- 
lösbares Rätsel — und schwindet mit dem Er- 
starken des Wohlstandes, der Freiheit und der 
Macht. Mit ihrem Höhepunkte können nur zwei 
frühere Kulturepochen sich messen, die im Auf- 
stieg der bildenden Künste sie übertreffen, in der 
Vertiefung der Dichtkunst, der Musik, der wissen- 
schaftlichen und philosophischen Forschung und 
der politischen Einsicht sie nicht von fern er- 
reichen: das Perikleische und das Leoninische 
Zeitalter. 

Sicher aber ist zu keiner früheren Zeit eine so 
gewaltige Zahl ungewöhnlicher Menschen auf 
engem Bezirk hervorgetreten , wie damals in 

44 



Deutschland und — auf anderen Gebieten, ent- 
sprechend dem politisch gefärbten Umschwung — 
in Frankreich. Die übrigen großen Kulturländer 
hatten die Vollendung ihrer Umschichtungen weit 
früher erlebt: Italien im XV. und XVI., Eng- 
land und die Niederlande im XVI. und XVII. 
Jahrhundert. 

Seit jener großen Epoche aber, die als eine 
gewaltige Morgendämmerung die Neue Zeit 
emporführte, sind, wie das Gesetz es will, neue 
geistige Faktoren in das Leben der Nation nicht 
mehr eingetreten. Sprache, Gedanken, Politik 
und Kunst haben nur noch im internationalen 
Austausch wirkliche Bereicherung erfahren; im 
übrigen sind sie trotz mancher Exzentrizitäten 
einheitlicher, ja einförmiger in Rhythmus und 
Kinetik geworden und haben sich damit den 
Anforderungen der Neuen Zeit, ihren unauf- 
hörlich wechselnden und dennoch innerlich 
gleichbleibenden Aufgaben und Gegenständen 
vollkommen angepaßt. 



DIE MECHANISIERUNG DER WELT. I 

Aufgabe, Begriff und Mittel 

Gegeben ist die Quantität der menschlichen 
Einzelleistung, gegeben die bewohnbare Erd- 
oberfläche, gegeben, aber praktisch fast unerschöpf- 
lich und nur an den menschlichen Arbeitseffekt 
gebunden, ist die Menge der greifbaren Roh- 
produkte, praktisch unermeßlich sind die ver- 

45 



wertbaren Naturkräfte. Aufgabe ist es nun, für 
die zehnfach, hundertfach sich vermehrende weiße 
Bevölkerung Nahrung und Gebrauchsgüter zu 
schaffen. 

Die Alten, in engerer Begrenzung und weiterer 
Welt lebend, wußten sich leichten Rat : sie 
sandten Kolonen in ein Nachbarland und schufen 
sich Duplikate ihrer Vaterländlein. Auch in un- 
serer Zeit sind Auswanderer zu Millionen aus 
ihrer Heimat gedrängt worden; sie haben die 
Bevölkerungsdichte fast aller für Weiße bewohn- 
baren Länder auf ein nahezu europäisches Maß 
gebracht, ohne daß die Volksvermehrung der alten 
Welt um ein merkliches gehemmt worden wäre. 

Anderen Rat , vielleicht den verruchtesten, der 
je der Menschheit zugerufen wurde, gab Malthus : 
die natürlichen Quellen des Lebens zu hemmen 
und die Nachkommenschaft widernatürlich zu be- 
schränken. Das einzige Land, das diesen Weg be- 
schritten hat, Frankreich, ist im Begriffe, daran 
zugrunde zu gehen. 

So blieb den alten Völkern nur eines übrig: zu 
gänzlich neuen Gewohnheiten und Gesetzen des 
Lebens und Schaffens überzugehen, zu dem 
Zweck, die irdische Produktion auf das gewaltigste 
zu vermehren und sie der Milliardenzahl der 
Menschheit anzupassen. 

Dies war nur auf einem Wege möglich: wenn 
der Effekt der menschlichen Arbeit um ein viel- 
faches gesteigert und gleichzeitig ihr Emanat, 
das produzierte Gut, auf das vollkommenste aus- 
genutzt werden konnte. Erhöhung der Produk- 
tion unter Ersparnis an Arbeit und Material ist 

46 



die Formel, die der Mechanisierung der Welt 
zugrunde liegt. 

Um die Steigerung des Arbeitseffektes zu wür- 
digen, wolle man erwägen, daß alles zweck- 
bestimmte Handeln und Geschehen nur zu einem 
Teil dem Zwecke dient. Ein anderer Teil — in 
der Regel weitaus der größere — , sei er vorberei- 
tender, begleitender, schützender oder unge- 
wollter Art, dient dem Zweck nur mittelbar oder 
überhaupt nicht, und schädigt so den Effekt. 
Ein Analoges gilt von den Beimengungen, Spal- 
tungsprodukten, Abgängen der Materie. Nun ist 
es einleuchtend, daß viele dieser Effektverluste 
nur von der Handlung selbst, nicht von ihrem 
Umfange abhängen, daher mit wachsender Lei- 
stung an Bedeutung verlieren. Wenn ich einen 
Brief zur Post trage, kostet dieser Brief mich fünf 
Arbeitsminuten ; trage ich sechzig Briefe auf ein- 
mal zur Post, so kostet mich jeder fünf Arbeits- 
sekunden. Ja, ich kann es ermöglichen, den ge- 
samten Briefverkehr einer Kleinstadt zu bewäl- 
tigen, wenn ich mich als Briefträger den ganzen 
Tag über ausschließlich dieser Aufgabe widme. 
Verbrauche ich einen Zentner Kohlen, um einen 
Dampfkessel anzuheizen, so bleibt der Verlust 
der gleiche, ob ich nun den Kessel fünf oder zehn 
Stunden im Betrieb halte ; bei ununterbrochenem 
Betriebe aber würde der Anheizverlust jede Be- 
deutung verlieren. 

Es besteht also die Möglichkeit, den Effekt von 
Vorgängen und die Ausnutzung von Materialien 
erheblich zu verbessern, indem man Gelegenheit 
für möglichst große Mengen gleichartiger und ein- 

47 



fachet Nutzhandlungen sammelt, um dieselben kon- 
tinuierlich auszuüben — dies ist die Arbeitsteilung, 
auf der die alte Methode der Manufaktur beruht — , 
oder indem man den Einzelvorgang in seinem Kraf t- 
und Massenumf ang steigert, ein Verfahren, das man 
Arbeitshäufung nennen und als die Grundlage der 
modernen Fabrikation ansprechen könnte. 

Die Hilfsmittel dieser doppelten Praxis der 
Effektsteigerung sind Organisation und Technik. 
Organisation, indem sie Produktion und Ver- 
brauch durch Unterteilung, Vereinigung und Ver- 
zweigung in die gewollten mechanischen Bahnen 
lenkt, Technik, indem sie die Naturkräfte bän- 
digt und sie bald in gewaltigen Massenbewegungen, 
bald in chemischen Attacken, bald in elektrischen 
Vibrationen, bald in mechanisch kunstfertigen 
Handgriffen den neuen Produktions- und Ver- 
kehrsorganisationen ausliefert. 

Daß somit nicht die Technik oder der Verkehr 
Ursache der Mechanisierung und somit der neu- 
zeitlichen Lebensverfassung sein konnte, viel- 
mehr die Volksverdichtung zur Mechanisierung 
drängte, die ihrerseits neue Hilfsmittel verlangte 
und schuf, darf in Parenthese nochmals ausge- 
sprochen werden. Diesen Zusammenhang ver- 
kennen hieße nichts anderes, als etwa behaupten: 
die Eisenbahn habe den Großverkehr oder das 
Zündnadelgewehr habe den Massenkrieg geschaf- 
fen. In Wirklichkeit schafft der Wille zum Ver- 
kehr sich seinen Weg, der Wille zum Massenkrieg 
sich sein Geschütz; das Werkzeug ermöglicht das 
Werk, doch bleibt es selbst ein Geschöpf des 
auf das Werk gerichteten Willens. 

48 



Den Ursprung der Mechanisierung aus der 
Verdichtung, ihre Anfänge, ihren Verlauf und 
ihre Welteroberung historisch zu schildern, ist 
Aufgabe späterer Geschichtschreibung. Hier seien 
in kürzesten Zügen nur einige Etappen verzeich- 
net; denn die Absicht dieser Darstellung richtet 
sich dahin, nicht sowohl den Vorgang als die Wir- 
kungen der Verdichtung und Umschichtung, der 
Mechanisierung und Entgermanisierung auf die 
Welt, die Menschen und das Leben unserer Zeit 
zu erörtern. 

Mit dem ersten Tausch, der auf Erden statt- 
fand, war die Einzelwirtschaft durchbrochen und 
zwei neue Begriffe geschaffen: des Tauschvor- 
rates und der Spezialisierung. Je dichter nun 
die angehenden Spezialisten aneinander heran- 
rückten, je häufiger sie sich begegneten, desto 
mehr konnten sie sich auf die wechselseitigen Vor- 
räte verlassen. Zuletzt konnte der eine die Er- 
zeugung dessen einstellen, was der andere be- 
saß : er konnte Korn gegen Vieh, Vieh gegen Erz 
tauschen. Verdichtete sich die Bevölkerung aber- 
mals, so lernte man neue Gegenstände kennen; 
es lohnte sich, reich zu sein : aus dem Vorrat wurde 
Kapital. Der Spezialist wurde gesucht, er fand 
Aufträge; aus Anlage und Kenntnis entstand der 
Beruf. 

Nun war man aufeinander angewiesen; die 
Begehrlichkeit der Weiber, die Freigebigkeit der 
Männer mag das ihre beigetragen haben: man 
tauschte und handelte, betrieb Wirtschaft und 
Handwerk; die Anfänge der reziproken Güter- 
erzeugung waren gegeben. Aber noch konnte ein 

4 ¥i 



Mürrischer oder Selbstzufriedener, ein Gegner des 
Neuen, sich abseits halten. Verzichtete er auf 
kunstvolle Güter, auf mannigfaches Werkzeug, so 
mochte er mit Pfeil und Speer, mit Pflug und 
Hacke ins Weite ziehen und sich von der Gesamt- 
wirtschaft befreien. Mit zunehmender Dichte 
wird auch diese Freiheit benommen. Jetzt be- 
darf ein jeder des Schutzes; er muß Mitglied 
einer Gemeinschaft sein. Der Sitte kann er sich 
nicht entziehen, sie verlangt Kleidung und Be- 
hausung und manches andere. Land zu erschließen 
ist ihm versagt; er muß Eigentum respektieren, 
auf dem Seinen haushalten, somit intensiver wirt- 
schaften, mit Geräten und Werkzeugen, die be- 
schafft sein wollen. Doch schon ist die Ver- 
dichtung vorgeschritten, die Scholle beschränkter, 
die Wirtschaft schwieriger und einseitiger. Um 
den ganzen Bedarf an Lebensgütern zu erlan- 
gen, muß verkauft, muß Absatz gesucht werden. 
Die Wirtschaft wird zum Unternehmen, zum 
Geschäft. Der Absatz stellt sich ein, und mit 
ihm die Konkurrenz. Eine Zeitlang können 
Zunftbestimmungen und mangelhafte Verkehrs- 
wege den Handwerker und Landwirt vor der 
Geißel des Wettbewerbs schützen. Unter der 
ständigen Verdichtung der Produktion macht sie 
sich denn doch fühlbar. Und trotz der gleich- 
zeitigen Konzentration des Konsums kann keiner 
froh werden : denn die Erzeugungsmethoden sind 
noch immer primitiv, sie nötigen der Erde nicht 
genügend Stoffe ab, um die Gesamtheit zu be- 
friedigen, die Arbeit wird hart, man leidet Not. 
Doch eben hat ein erfinderischer Kopf ein Werk- 



zeug erfunden, ein Produkt verbessert, ein Ver- 
fahren vereinfacht. Der Teufelskerl wird reich, 
die andern Sehens und empfinden ihre Not ver- 
doppelt. Nun sind sie alle dem Wettlauf der Kon- 
kurrenz verfallen, der technischen, der kommer- 
ziellen, der kapitalistischen Konkurrenz. Nun 
werden alle Künste und Wissenschaften herbei- 
gerufen; die Erfindungsreichen, Kühnen, Vor- 
urteilsfreien, die Habsüchtigen, die Ehrgeizigen, 
die Handfesten eilen voran; die Schwachen blei- 
ben am Wege liegen, sie werden eingefangen und 
als Troß mitgezogen. Und unter den Tritten 
dieses Reigens schwitzt die Erde aus allen Poren 
und läßt an Gütern den zehnfach vermehrten 
Enkeln das Hundertfache dessen emporströmen, 
was sie den Ahnen kärglich gewährte, sich zu 
nähren, zu wärmen, zu schmücken und zu be- 
rauschen. 

Wenn somit die Mechanisierung ursprünglich 
in der Gütererzeugung wurzelt, so blieb sie nicht 
lange auf dies Gebiet beschränkt. Freilich be- 
deutet dieses noch heute den Stammbezirk 
ihrer Verzweigung und Überschattung; denn die 
Gütererzeugung bleibt das zentrische Gebiet des 
materiellen Lebens, dasjenige, mit dem sich 
alle übrigen in mindestens einem Punkt berühren. 

Mechanisierung aber erblicken wir, wohin wir 
auch über die Provinzen menschlichen Han- 
delns das Auge schweifen lassen; allerdings treten 
ihre Formen derartig komplex und vielgestaltig 
auf, daß es vermessen dünkt, den ganzen Um- 
riß des ruhelos bewegten Bildes zu umfassen. 
Dem wirtschaftlich Betrachtenden erscheint sie 



51 



als Massenerzeugung und Güterausgleich; dem 
gewerblich Betrachtenden als Arbeitsteilung, 
Arbeitshäufung und Fabrikation; dem geo- 
graphisch Betrachtenden als Transport- und 
Verkehrsentwicklung und Kolonisation; dem 
technisch Betrachtenden als Bewältigung der 
Naturkräfte; dem wissenschaftlich Betrachtenden 
als Anwendung der Forschungsergebnisse; dem 
sozial Betrachtenden als Organisation der Ar- 
beitskräfte; dem geschäftlich Betrachtenden als 
Unternehmertum und KapitaHsmus; dem poli- 
tisch Betrachtenden als real- und wirtschafts- 
politische Staatspraxis. 

Gemeinsam ist aber allen diesen Erscheinungs- 
formen ein Geist, der sie seltsam und entschieden 
von den Lebensformen früherer Jahrhunderte 
unterscheidet: ein Zug von Spezialisierung und 
Abstraktion, von gewollter Zwangsläufigkeit, von 
zweckhaftem, rezeptmäßigem Denken, ohne Über- 
raschung und ohne Humor, von kompUzierter 
Gleichförmigkeit: ein Geist, der die Wahl des 
Namens Mechanisierung auch im Sinne des Ge- 
fühlsmäßigen zu rechtfertigen scheint. 

3. Anmerkung. Scheinbares Paradoxon 

Warum haben ältere Verdichtungsprozesse, deren 
die Geschichte eine Anzahl kennt, niemals zu 
einer ausgesprochenen, der unseren vergleichbaren 
Mechanisierung geführt ? Sagt man doch, daß die 
Menschheit jeden uns denkbaren Gedanken schon 
einmal gedacht habe : warum hat sie dies Gedan- 
kenphänomen unserer, im übrigen keineswegs so 
bevorzugten Epoche aufgespart? 

5^ 



Hier ist zunächst zu erinnern, daß keine der 
alten Volksverdichtungen, relativ und absolut ge- 
messen, sich mit neuzeitlich okzidentalen Verhält- 
nissen vergleichen läßt. Ägypten und Mesopo- 
tamien waren nicht übervölkert, Griechenland 
und Italien nach unseren Begriffen arm an Ein- 
wohnerzahl. 

Vor allem aber wirkt das Mittelmeerklima in 
einem Sinne retardierend auf die Zivilisation, 
indem es die menschlichen Bedürfnisse an Nah- 
rung, Obdach und Kleidung gleichzeitig mäßigt 
und leicht befriedigt. Selbst in den heutigen 
trocken und unfruchtbar gewordenen Ländern 
dieser Zone bleibt der Lebenskampf vergleichs- 
weise harmlos und spielend, weil Ertrag und 
Bedarf noch immer in glücklicherem Verhält- 
nis sich die Wage halten. So stehen selbst in 
unseren Tagen die Mittelmeervölker mit einer 
mehr kindlichen als nothaften Begehrlichkeit dem 
Ansturm unserer Warenmassen gegenüber; ihre 
Produktionsmethoden sind, wenn man vom 
nördlichen und mittleren Italien absieht, nur in 
bescheidenem Umfang mechanisiert, und den 
übrigen Mechanisierungsformen haben sie halb 
widerwillig nachahmend Aufnahme gewährt. 
Süditalien und Griechenland stehen noch heute 
trotz Eisenbahnen und Telegraphen dem antiken 
Leben näher als dem modernen. 

Dennoch zeigte das Rom der späten Republik und 
der Kaiserzeit deutliche Anfänge der Mechanisie- 
rung, und es ist lehrreich, zu prüfen, weshalb diese 
Lebensform in ihrem Vordringen gehemmt wurde. 

Großbetriebe waren vorhanden, ja ein Welt- 

53 



handel und eine kapitalistische Ordnung des Be- 
sitzes aufgekommen. Zur Fortentwicklung des 
mechanistischen Prinzips hätte es nun vornehm- 
lich dreier Dinge bedurft: einer Vervollkomm- 
nung der metallurgischen Technik, insbesondere 
der Eisen- und Stahlerzeugung, einer Weiterbil- 
dung der Präzisionsmechanik, und der Konstruk- 
tion einer Kraftmaschine. Diese Aufgaben waren 
nur zu lösen auf Grundlage messender Natur- 
erforschung. Der Römergeist, der mit empi- 
rischer Technik ungeheure architektonische Auf- 
gaben zu lösen gewohnt war, hätte den subtilen 
Anforderungen dieser Disziplinen genügt, ob- 
wohl ihm pragmatisches Denken vertrauter war 
als stilles Beobachten. Schwieriger wäre es in 
jener Epoche gewesen, die Hunderte von for- 
schenden und entdeckenden Geistern, deren die 
Ausbildung dieses Wissenszweiges bedurfte, unter 
der kleinen Zahl von bildungsliebenden ItaHkern 
aufzutreiben. Sollte diese Abkehr des Römertums 
vom Markt, Tribunal und Heerlager zur Gelehrten- 
stube und zum Laboratorium erzwungen werden, 
so bedurfte es einer Not. Diese Not aber war nicht 
vorhanden. Denn Rom war gewohnt, die Völker 
des Erdkreises für seine Erhaltung sorgen zu lassen ; 
wo ein Prokonsul genügte, um Attalidenschätze 
nach der Hauptstadt zu leiten, bedurfte es keiner 
Exportfabrikationen. Die an sich nicht beträcht- 
liche Nahrungsbeschränkung durch Bevölkerungs- 
verdichtung war mehr als ausgeglichen durch eine 
Suprematie, welche die Gesamtheit des herrschen- 
den Volkes zum Souverän erhob und mit aus- 
kömmlichen Zivillisten dotierte. 



S4 



Wenden wir den Blick außereuropäischen Ver- 
dichtungszentren zu, so scheinen in China die gün- 
stigsten Voraussetzungen für mechanisierte Wirt- 
schaft gegeben zu sein: große Masse und Dichte 
einer Bevölkerung, die ausreichende bürgerliche 
Freiheiten genießt und von der Natur des Lan- 
des nicht allzuleichtfertig über den Lebenskampf 
hinweggehoben wird. Und wirklich geben die 
Tatsachen den Voraussetzungen recht : außerhalb 
der kaukasischen Rassenzone umschließt China mit 
seinem kulturellen Tochterlande Japan das einzige 
Gebiet der Erde, auf dem eine eigene großan- 
gelegte Technik erwuchs, ja eine Technik, die ganz 
besonders die uns vertrauten verkehrhaften Züge 
aufweist. Als ein Geschenk Chinas ist vor wenig 
mehr als hundert Jahren die vergessene Kunst 
des Heerstraßenbaus uns neu beschieden worden. 

Bis in die Mitte des XVIIL Jahrhunderts war 
China an technischen und organisatorischen Er- 
fahrungen dem Durchschnitt Europas ebenbürtig ; 
aber die Keime überflügelnder Entwicklung lagen 
im westlichen Boden. Daß den klügsten und tä- 
tigsten Orientalen so wenig wie den Römern das 
Geheimnis der messenden und rechnenden Wissen- 
schaft sich erschloß, befremdet nicht, wenn man 
erwägt, welche seltenen, ja widersprechenden 
Geistesstimmungen zusammentreffen müssen, da- 
mit sjrstematische und exakte Forschung möglich 
sei. Ein ideal gerichteter, dem Gesetzmäßigen 
offener Sinn muß transzendenter Betrachtung ent- 
sagen, sich mit Liebe dem Tatsächlichen, ja dem 
scheinbar Nebensächlichen zuwenden, um in 
lebenslanger Arbeit, Korn für Korn, das Bleibende 

55 



vom Zufälligen zu sondern, ohne Hoffnung, selbst 
jemals des Weltsymbols teilhaftig zu werden, das 
aus der reinen Saat erblühen soll. Umgekehrt 
bedarf es, damit die Forschung sich in Technik 
verkörpere, praktischster Geister, die dennoch zu 
den abstraktesten Gebieten der Wissenschaft sich 
erheben, um mit prometheischem Griff das dem 
irdischen Bedarf Bestimmte herabzuholen. Dem 
Verlauf der Darstellung vorgreifend sei hier be- 
merkt, daß in einer Zivilisation, die der Mischung 
aus germanischer Idealität mit vorgermanischer 
Zähigkeit und Handfertigkeit entsprang, diese 
seltenen, vielleicht nicht wiederkehrenden Vor- 
aussetzungen einer Wissenschaft und wissenschaft- 
lichen Technik gegeben waren. Daß die man- 
dschurisch-mongolische Zivilisation die gleichen 
Vorbedingungen nicht erfüllte, entschied die 
Frage der technischen Welthegemonie zugunsten 
des westlichen Dichtigkeitszentrums. In gleichem 
Sinne wird sich dereinst die Frage der politischen 
Hegemonie entscheiden, der man die kindlich ge- 
hässige Bezeichnung einer gelben Gefahr gegeben 
hat. Erweist sich der Westen auch in Zukunft 
stärker ideenbildend als der ferne Osten, der in 
geschichtlichen Zeiten diese höchste Kraft nicht 
mehr besessen hat, so wird er auch weiterhin die 
Verantwortung der Weltentwicklung tragen. 

Zusammenfassend dürfen wir die Zwischen- 
frage: warum Mechanisierung bisher auf Erden 
nirgend anders als im germanischen Zentrum 
aufgetreten sei, folgendermaßen beantworten. Er- 
forderlich war das Zusammentreffen stärkster 
Volksverdichtung mit zwei auslösenden Faktoren : 

56 



gemäßigten physikalischen Bedingungen, welche 
bei zunehmender Dichte die Sorge um den Unter- 
halt empfindlich machten, sodann spezifischen 
sittlich-geistigen Werten, welche imstande waren, 
technisch -methodische Hilfsmittel zu schaffen. 
Die alten Mittelmeerkulturen scheiden aus, denn 
es fehlte ihnen fast durchweg an der Hauptbe- 
dingung, ausnahmslos am ersten der beiden aus- 
lösenden Faktoren. China konnte eine gewisse 
Mechanisierungsarbeit leisten, bis im entscheiden- 
den Moment der intellektuale Faktor versagte. 
Der zentraleuropäischen Kultur war es vorbe- 
halten, alle Bedingungen zu erfüllen und die 
Mechanisierung bis in die letzten uns bekannten 
Konsequenzen durchzuführen. 



DIE MECHANISIERUNG DER WELT. II 

Mechanisierung der Produktion 

Von allen Teilen der Erdoberfläche strömen die 
Urprodukte mineralischer und organischer Ab- 
kunft auf eisernen oder wässernen Wegen in die 
Sammelbecken der Städte und Häfen. Von dort 
verzweigen sie sich nach den Verarbeitungs- 
stätten, wo sie in vorbestimmter Mischung ein- 
treffen, um chemisch oder mechanisch umgestaltet 
als Halbprodukte einen zweiten Kreislauf zu be- 
ginnen. Von neuem getrennt und abermals ver- 
mischt und bearbeitet erscheinen sie als Ver- 
brauchsgüter, die zum drittenmal geordnet in den 
Lagern der Großhändler sich vereinigen, bevor sie 

57 



die fein verzweigten Wege zum Detaillisten und 
endlich zum Verbraucher finden, der sie in Ab- 
fallstoffe verwandelt und in den Gestaltungsprozeß 
zurücksendet. Dem Blutumlauf vergleichbar er- 
gießt sich der Güterstrom durch das Netz seiner 
Arterien und Adern. In jedem Augenblick des 
Tages und der Nacht donnern die Schienen, 
rauschen die Schiffsschrauben, sausen die Schwung- 
räder und dampfen die Retorten, um die Last 
dieses Umlaufs zu erneuern und zu bewegen. 

Und was ist das Geschick der Materien in den 
Magen der Verarbeitung? Sie werden von Me- 
chanismen ergriffen, gelöst, erhitzt, zerstampft 
oder gepreßt, zerschnitten, gehämmert, gezogen 
oder gewalzt, gesponnen, gezwirnt, verwoben 
oder getränkt ; ein zweiter, ein dritter Maschinen- 
prozeß schließt sich an, und der Mensch überblickt 
ordnend, beschleunigend, messend sein Werk, das 
Werk nicht mehr seiner Hände, sondern seiner 
Mechanismen. Ist eine Formung durch Handfer- 
tigkeit noch vonnöten, so ist das Gesetz der Pro- 
duktion unvollkommen erfüllt. Dies Gesetz lautet : 
Beschleunigung, Exaktheit, Verminderung der Rei- 
bung, Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen, 
Ersparnis an Arbeit, Verminderung und Rück- 
gewinnung des Abfalls. Da, wo ein Teil der Pro- 
zesse den Schöpfungsakten der Natur überlassen 
werden muß, fühlt man sich berechtigt, von ihr 
die gleiche Beschleunigung und Akkuratesse, die 
gleiche Reaktionsfähigkeit auf Reize und Diszi- 
plin zu verlangen, wie von leblosen Mechanismen 
\ind Prozessen. 

Und die Natur gehorcht. Sie, die Erzeugerin 

58 



der Urmaterien, ist sich des Ernstes und Umfanges 
ihrer Aufgaben bewußt geworden. Nicht mehr 
lächehid und spielend wie ehedem, sondern ernst 
und geschäftig läßt sie ihre Felder das zehn- 
fache Maß tragen, läßt sie ihren Flanken das 
Tausendfache an mineralischen Werten entströ- 
men. Ja, sie gibt zu erkennen, daß sie es nur der 
menschlichen Arbeit und BegehrUchkeit anheim- 
stellt, die lebenden und toten Ernten nochmals zu 
vervielfachen. Keines der heute geschätzten Güter 
scheint vorerst auf die Neige zu gehen; allent- 
halben winkt und blinkt es noch von ungeho- 
benen Schätzen an Materie und Kraft. 

Die Menschheit hat es begriffen und eilt ihrem 
Produktionsideal entgegen. Dies Ideal ist er- 
reicht, wenn von den jeweils günstigsten Ge- 
winnungsstätten die Produkte auf kürzestem Wege 
und mit größter Eile zu der bestgelegenen Ver- 
arbeitungsstätte gelangen, um in einem einzigen 
Prozeß umgestaltet sofort einem Vertriebssystem 
übergeben zu werden, das sie in die Vorratsräume, 
Küchen und Werkstätten der Verbraucher leitet. 

Zuweilen scheint es, als beginne die Güterpro- 
duktion, über ihr Ziel hinausschießend, über- 
flüssige, nicht mehr konsumierbare Mengen zu 
fördern. Ständig wachsende Masse an Rohstoffen 
und Fabrikaten schleudern die Länder im Wech- 
selspiel einander zu. Hier Erze gegen Kohlen, 
Baumwolle gegen Getreide, Vieh gegen Eisen, 
Holz gegen Zucker; und dennoch wird dies ge- 
waltige Werben und Spenden nicht nachlassen, 
denn immer noch wächst die Zahl der Erdenbe- 
wohner, und immer noch sind MiUionen von 

59 



Händen nicht nachhaltig genug in den Schaffens- 
prozeß verstrickt, um ihr Teil am Begehrten zu 
erraffen. 

Wohin ergießt sich nun diese Güterflut? Wir 
finden sie in den Docks der Häfen, in den Vorrats- 
räumen der Fabriken und Handlungen, wir fin- 
den sie in Läden und Kaufhäusern. Das Berlin 
von 1811 besaß im Umkreise seiner Mauern nicht 
so viel an Ladengütern, wie ein einziges Häuser- 
viereck des Berlins von 191 1. Aus den Magazinen 
fließt der Strom in die Behausungen der Men- 
schen. Ungezählte Substanzen, die man ehedem 
nicht kannte, Metalle, Gläser, Hölzer, Tonwaren, 
Papiere, Leder, Bein, Gewebe, alles bedeckt mit 
farbigen Schichten, Polituren und Ornamenten, 
füllen die Gemächer; Seifen, Essenzen, Chemika- 
lien sind vorrätig, Nahrungs- und Genußmittel 
aus allen Erdteilen werden gespeichert; selbst in 
den Wohnungen der Schwachbemittelten, ja der 
Armen finden sich Menge und Mannigfaltigkeit 
der Gerätschaften und Verbrauchsgüter seit den 
letzten drei Generationen um ein Vielfaches er- 
weitert. Fast möchte man meinen, die Mensch- 
heit sei von einer Manie des Warenbesitzes, von 
einer Gerätetollheit befallen, die man in früheren 
Zeiten vielleicht gewissenlosen Spekulanten oder 
auf Ablenkung bedachten Regierungen zur Last 
gelegt hätte. Und noch immer ist Begehr und 
Lust nach käuflichen Dingen im Steigen, zumal 
bei Frauen. 

Ihr passiver Anteil am Produktionswachstum ist 
nicht unbeträchtlich. Denn ihre naivere Freude 
am feilen Besitz und am Vergleich des Besitzes 

60 



setzt zahllose Gewerbe in Bewegung, und ihr ge- 
ringeres Interesse für Struktur und Konstruktion 
kommt der eigenartigen Qualitätsverschiebung 
des modernen Produkts in erstaunlicher Weise 
entgegen. Mit dieser Verschiebung aber hat es 
folgende Bewandtnis. 

Jeder, der ein Erzeugnis des alten Handwerks in 
Händen hält, etwa ein Buch, eine Kassette, einen 
Schlüssel, empfindet an diesen Gegenständen etwas 
Organisches, wie es den Schöpfungen der Natur 
eignet. Das Werk ist genau gearbeitet, aber nicht 
mathematisch. Der Naturstoff, dem es ent- 
stammt, ist geformt, aber nicht verwandelt. Es be- 
sitzt eine innere Festigkeit, die den Einwirkungen 
des Gebrauchs und der Zeit widersteht, und ihnen 
doch einen seltsam verschönernden Einfluß ge- 
stattet. Es ist selbst im größten Reichtum spar- 
sam, denn es ist ein durchdachtes, für sich allein 
stehendes Werk, ein Stück Menschennatur. 

Die Maschine kann dergleichen nicht schaffen. 
Sie erzeugt mathematische, schnurgerade, kreis- 
runde, spitze, scharfe, polierte Dinge, die sich 
nicht abschleifen, sondern schartig werden. Sie 
spart am Material, aber sie knausert nicht mit 
Ornament, denn dies macht ihr keine Arbeit. 
Auch überträgt sie gern praktisch erwiesene Kunst- 
griffe von einer Materie, von einer Form auf die 
andere. Sie formt mit gleicher Neutralität ein 
Gebetbuch und eine physikalische Wage. Vor 
allem aber setzt sie an die Stelle der Dauerhaftig- 
keit die bequeme Erneuerung. Hausgesponnenes 
Linnen und Papierservietten sind Sinnbilder dieser 
Polarität. 

6i 




An die Stelle des Anschaffungswertes setzt die 
Mechanisierung den Verbrauchswert, an Stelle 
des Zinsverlustes die Neubeschaffung. Der Luxus 
unserer Zeit ist nicht Kapitalsaufwand, sondern 
Rentenaufwand. 

Durchaus verständlich! Denn die Mechani- 
sierung will produzieren. Reparaturwerkstätten 
sind ihr kostspieliger als Fabriken, anstatt zu 
flicken schmilzt sie um. Hier kommt ihr ein psy- 
chologischer Kreislauf zunutze; die Möglichkeit 
des Wechsels erzeugt den Wunsch nach Wechsel, 
dieser Wunsch wiederum unterstützt das Erneue- 
rungsprinzip. 

Ein Weiteres tritt hinzu. Die alten Stoffe 
waren nicht abstrakt rein. Die Erze, die Gewürze, 
die Farben, die Keramiken enthielten Beimen- 
gungen, deren Störendes kunstreich überwun- 
den war, und die nun dem Gefühl, dem Blick, 
dem Geruch und Geschmack etwas Getöntes, 
Nuanciertes, Anheimelndes gaben. Die mechani- 
sierte Produktion nennt diese Zutaten Verun- 
reinigung und hat nicht viel Mühe, sie auszu- 
scheiden. Sie hält uns das duftende Prinzip des 
Veilchens kristallisiert unter die Nase und läßt 
keine Einwendung zu. Sie schafft Extrakte, Rein- 
kulturen, Normative. Aber solche Produkte ohne 
eigenes Leben, ohne Milderung überreizen und 
ermüden. So führen sie abermals zum Wechsel, 
und nebenher, da sie nun einmal ihre Seele ver- 
loren haben, zum Surrogat. 

Zeigen nun diese Künstlichkeiten, teils überrein, 
teils flüchtig naturalisiert, teils nachgeahmt, teils 
appretiert, eine Beaute du diable, im Schimmer 

62 



der Neuheit, in dem, was ein Geschäftswort die 
Aufmachung nennt, und in einer gewissen Keck- 
heit der rasch erdachten Form, so blüht diese 
Frische schnell dahin; und alsbald klopft das 
mechanisierte Schicksal, die Mode, an die Tür 
und weist das früh gealterte Geschöpf in den Vor- 
stadtwinkel, in die Provinz, nach Chile und zu- 
letzt nach Afrika, um der Produktion neue Arbeit 
zuzuweisen. 

So schafft die Mechanisierung sich selbst un- 
geheuerste Hilfskräfte in dem Warenhunger der 
Menschen, in der Irrealität, Leblosigkeit und 
Schattenhaftigkeit ihrer Produkte, und in der 
Mode. 

Doch was ist dieser ephemere Umlauf der 
Gebrauchsgüter im Vergleich zu jenefti zweiten, 
akkumulierenden, den die Mechanisierung zeitigt ! 
Denn die Menschheit verbraucht nicht alles, was 
sie schafft; einen großen Teil ihrer Güter 
speichert sie auf. In welcher Form? Sie baut. 

Sie baut Häuser, Paläste und Städte; sie baut 
Fabriken und Magazine. Sie baut Landstraßen, 
Brücken, Eisenbahnen, Trambahnen, Schiffe 
und Kanäle; Wasser-, Gas- und Elektrizitäts- 
werke , Telegraphenlinien , Starkstromleitungen 
und Kabel; Maschinen und Feuerungsanlagen. 
Sie melioriert Ländereien, entwässert, reguliert 
und deicht. 

Es ist schwerer, eine sinnliche als eine zahlen- 
mäßige Vorstellung vom Umfange dieser Bauten 
sich zu machen, die sich für Deutschland jährlich 
auf mehrere Milliarden belaufen. Schätzungs- 
weise könnte man annehmen, daß die alljährlichen 

63 




Erweiterungen Berlins etwa der Wertbewegung 
gleichkommen, die zum Bau des Perikleischen 
Athen erforderlich waren. Die Investitionen der 
deutschen Städte dürften etwa alle fünf Jahre einen 
Wert erreichen, der an mechanischem Aufwand 
dem Bauwert des Kaiserlichen Rom gleichkäme. 

Wozu dienen nun diese unerhörten Bauten? 

Zum großen Teile dienen sie direkt der Produk- 
tion. Zum Teil dienen sie dem Verkehr und Han- 
del, somit indirekt der Produktion. Zum Teil 
dienen sie der Verwaltung, der Wohnung, der Hy- 
giene, somit vorwiegend der Produktion. Zum 
Teil dienen sie der Wissenschaft, der Kunst, der 
Technik, dem Unterricht, der Erholung, somit 
indirekt, und mit einiger Einschränkung, noch 
immer der Produktion. 

Das ist das Saatgut, das die Mechanisierung all- 
jährlich dem Boden anvertraut, und das auf lange 
Zeiten ihr vielfache Ernte tragen wird. Es ist 
gleichzeitig der materielle Lohn der Welt für die 
unsägliche Anstrengung im Joche der Mechani- 
sierung: denn diese Schätze aus Erde, Stein und 
Metall bedeuten die Zunahme der National- 
vermögen, deren unvorstellbare Zahlen hier 
auszusprechen nicht verlohnt. 

Fassen wir die Reihe dieser Vorstellungen zu- 
sammen, so muß uns die Erde als eine einzige, un- 
trennbare Wirtschaftsgemeinschaft erscheinen. Das 
Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure 
Rad in Schwingung versetzt; nun kreist es, in- 
dem es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse 
und Geschwindigkeit vermehrt. Über das Ziel 
des Schutzes und der Nahrung hinausstrebend 

64 



schafft die mechanisierte Produktion dauernd neue 
Begierden. Schon hat sie die materiellen Lebens- 
bedingungen bedeutend gehoben; sie wird und 
muß dazu führen, jedes absolute Elend des 
Besitzes aus der Welt zu schaffen; gleichzeitig 
saugt ein immer wachsender Warenhunger die 
gewaltiger sich ergießenden Ströme auf. 

Auch in früheren Jahrhunderten war Produk- 
tion eine Hauptaufgabe menschlicher Tätigkeit, 
doch ihre Mittel waren beschränkt und gaben kei- 
ner weiteren Hoffnung Raum als der, das Nötigste 
zu erschwingen und für himmlische und irdische 
Herren etwas zu erübrigen. Die Entfesselung der 
Mechanik hat jede Schranke niedergeworfen. 
Der Teil der menschlichen Tätigkeit in zivilisier- 
ten Ländern, der weder direkt noch indirekt der 
Produktion und ihrem Schutze dient, ist klein ge- 
worden. Die mechanisierte Produktion hat sich 
zum Selbstzweck erhoben. 



DIE MECHANISIERUNG DER WELT. III 

Mechanisierung und Organisation 

Wir haben die Mechanisierung der Güterpro- 
duktion betrachtet und uns vergegenwärtigt, 
wie dieser vielfältige, alles materielle Handeln um- 
schließende Aufbau mit Notwendigkeit aus dem 
Fundament derVolksverdichtung erwachsen mußte. 
Damit nun der zum sichtbaren Gesamtgeschöpf 
erhobene wirtschaftliche Bienenstaat Existenz und 
Leben gewinnen konnte, mußte ein System un- 

65 



sichtbarer Verständigungen, Bindungen und Be- 
ziehungen gegeben sein, das die menschlichen Ele- 
mente des Organismus zusammenhielt, Beruf und 
Arbeit verteilte, und gleichzeitig die zu bear- 
beitende tote Substanz an diese lebenden Ele- 
mente kettete. Es mußte für das notwendige 
Drama der mechanisierten Produktion Textbuch, 
Inszenierung und Rollenverteilung geschaffen wer- 
den. 

Den Kern dieser unsichtbaren Ordnung der 
wirtschaftlichen Welt bildet die Institution des 
Besitzes, und zwar in der auf das strengste an 
die Person gebundenen Form des erblichen Be- 
sitzes. 

Damit nun diese höchst persönliche Institution 
den mannigfachen Bildungen und Bewegungen 
der mechanisierten Produktionsform sich anschmie- 
gen konnte, mußte sie in analoger Weise wandel- 
bar und unpersönlich werden. Der Besitz mußte 
bis ins Kleinste teilbar, bis zum Größten anhäuf- 
bar, er mußte beweglich, austauschbar, fungibel, 
seine Erträge mußten vom Stamme trennbar und 
für sich verwertbar sein. Kurz, der Besitz mußte 
im Abbilde den Aufgaben der mechanisierten 
Wirklichkeit, der Arbeitsteilung, Arbeitshäufung, 
Organisation und Massenwirkung entsprechen ler- 
nen, er mußte mechanisiert werden. 

Den mechanisierten Besitz nennen wir Kapital. 
Der Vorgang, der von außen und physikalisch be- 
trachtet als mechanisierte Gütererzeugung er- 
scheint, dieser Vorgang stellt sich von innen, 
menschlich und organisatorisch betrachtet, als 
Kapitalismus dar. 

66 



Daher wird der Kapitalismus andauern, solange 
das mechanisierte Produktionssystem Bestand hat; 
er wird andauern, gleichviel ob alles Kapital der 
Welt in den Händen einer Person oder eines Ge- 
meinschaftskörpers vereinigt wird, und somit das, 
was man heute Transaktion nennt, zur bloßen 
Buchung herabsinkt. Man kann daher von dem 
Aufhören der privatkapitalistischen Gesellschaft 
reden, vorläufig aber nicht von dem Aufhören der 
kapitalistischen Produktionsweise. 

Schon jetzt ist die Mechanisierung des Besitzes 
so weit vorgeschritten, daß das Kapital in seiner 
atomistischen Teilbarkeit, Beweglichkeit und Ko- 
häsion auffallende Analogien mit dem Aggregat- 
zustand der Flüssigkeiten aufweist und daher 
innerhalb gewisser Grenzen den Gesetzen der 
Hydrostatik und Hydrodynamik folgt. Diese 
Verflüssigung ist geschaffen worden durch eigen- 
artige Zirkulationsformen, die, von verschie- 
denster Herkunft und Geschichte, sich allmählich 
sozusagen zu Münzsorten des Kapitalverkehrs aus- 
gebildet haben. Als Zirkulationsform des Grund- 
besitzes kann man die Hypothek, den Pfandbrief 
und die Obhgation bezeichnen, als Zirkulations- 
form der Waren den Wechsel, als Zirkulationsform 
des Arbeitswertes die Aktie, als Zirkulations- 
form der Gesamtwirtschaft die öffentliche An- 
leihe, als Zirkulationsform des unspezialisierten 
Vermögensanspruchs das Bankguthaben und die 
Banknote. Im Maße wie die Weltwirtschaft 
sich ausdehnt, erhöhen sich die Beträge dieser 
fünf Kategorien, im Maße wie die Wirtschaft 
dem einen oder anderen Schaffensgebiet sich 

5* 67 



zuwendet, variiert die Relation ihrer Wertbe- 
messungen. 

In Gestalt der Zirkulationsformen häufen sich 
die Vermögensbestände in zentralen Behältern, 
aus denen sie gesammelt oder verteilt den Be- 
stimmungen zugeführt werden. In Argentinien 
ist der Bau einer Hafenanlage erforderhch. Ein 
Ventil wird geöffnet: deutsche, französische und 
englische Bankguthaben und Wechsel werden gegen 
argentinische Anleihe eingetauscht. Ein zweites 
Ventil: der argentinische Staat verfügt über sein 
Guthaben. Und gleichzeitig wird der lebende Vor- 
gang sichtbar, dessen finanzielles Abbild soeben 
gebucht wurde : aus allen Häfen setzen sich Dam- 
pfer nach der Baustelle hin in Bewegung; sie tra- 
gen Säcke Zement, eiserne Schienen, Maschinen- 
teile, Kessel, Kleider, Lebensmittel und Menschen. 
Werkstätten werden errichtet, Erdmengen be- 
wegt, Krane montiert, Löhne ausbezahlt. Mini- 
sterreden gehalten, und die vereinigte Weltwirt- 
schaft hat sich längst wieder anderen Aufgaben 
zugewendet. 

In gewissem Sinne läßt sich behaupten, die Me- 
chanisierung des Besitzes sei der Mechanisierung 
der Produktion bereits vorausgeeilt. Denn indem 
das Kapital in seinem hydraulischen Zustande 
jeden Hohlraum des ökonomischen Bedürfnisses 
auszugleichen, von jeder Anhäufung überflüssiger 
Produktionseinrichtung abzuströmen strebt, treibt 
es einerseites zu Neugründungen, andererseits 
aber auch zu Verschmelzungen und Aufsaugungen. 
So kann es kommen, daß ein Industrieller in sich 
selbst die Doppelnatur der Produktionsseite und 

68 



der Kapitalsseite seines Unternehmens erlebt: als 
selbständiger, auf Tradition und patriarchalische 
Unabhängigkeit gestützter Fabrikant wünscht er 
die Isolation, als Verwalter eines Kapitals sieht 
er sich zur Vereinigung mit anderen gedrängt. 
Der anonymen, selbsttätig wirkenden und ra- 
tionalen Organisation des Besitzes steht, nicht min- 
der mächtig, wechselseitig sie stützend und von ihr 
gestützt, eine zweite Organisation gegenüber, die 
auf Tradition, Anerkennung, Gewalt und Sank- 
tion sich aufbaut, die Organisation des Staates. 
In ihr kämpft seit unvordenklichen Zeiten das 
mystische mit dem mechanischen Prinzip, das 
erste berufen. Herkommen und Ziele zu festigen, 
das zweite von den wachsenden Aufgaben und 
Sorgen des Augenblicks emporgetragen. Die my- 
stische Stärke des Staates lag in seiner uralten Ver- 
bindung mit Religion und Kult. Von dem Zeit- 
punkt an, wo eine veränderte Wirtschaft, eine 
steigende Bedeutung der Bevölkerungsmenge, ein 
verstärkter Reibungskoeffizient in der Außenbe- 
wegung den Staat veranlaßte, Toleranz zu üben, 
das Verbrechen der Nebenreligion zu ignorieren, 
fremdreligiöse Nachbargebiete anzuerkennen, war 
der Stützpunkt vom Unbedingten, Überirdischen 
ins Bedingte, Utilitarische verlegt; der religiöse 
Staat war ein Sakrament, der Verwaltungsstaat 
ist eine Institution. Das römische Imperium suchte 
vergeblich nach einem Ankergrund im Absoluten, 
Unantastbaren; es mußte sich schUeßlich mit 
orientalischem Leibgardendespotismus abfinden 
und ging zugrunde. Der mittelalterliche Staat 
trug zwar nicht mehr in sich das Licht der Re- 

69 



ligion, doch reflektierte er die Strahlen der Kirche ; 
und als die Gewalten sich entzweit hatten, er- 
wies sich die germanische Gefolgeschaftstreue von 
ausreichender Idealität, um den Monarchen 
sakrosankt und den mit ihm verketteten Staat 
intangibel zu machen. 

Das erschütterndste Umsturzwort, das je aus 
königlichem Munde kam, sprach Friedrich der 
Große, indem er den Herrscher als Staatsdiener 
definierte. Nicht in der Offenbarung preußi- 
scher Sachlichkeit und Pflichtbewußtheit lag das 
Entscheidende dieses Wortes, sondern vielmehr 
darin, daß das Königtum vom Mysterium, der 
Staat vom mystischen Königtum losgebunden 
wurde, und daß nunmehr der Staat nach Auffas- 
sung des königlichen Freigeistes zwar als höchste 
Einrichtung, immerhin aber nur als Einrichtung 
der Nützlichkeit und Wohlfahrt und als Menschen- 
werk dastand. 

Dies hindert nicht, daß gerade unsere Zeit, 
und zwar nicht bloß im feierlichen und festlichen 
Verkehr, die mystische Seite des Staates und der 
Staatsautorität zu betrachten liebt. Auch wäre 
es durchaus verkehrt, den Staat als eine Über- 
gangsform anzusprechen, die geradeswegs zur Ak- 
tiengesellschaft höherer Ordnung führt. Noch 
immer schöpft er seine stärkste Lebenskraft aus 
absoluten Werten und Notwendigkeiten. Er 
bleibt der Garant der Nationalität, des Rechtes 
und der Ordnung; das Jahrhundert der Ratio- 
nalisierung hat ihm überdies als Ersatz der schwin- 
denden Mystik den Schutz der Religionen, der 
Erziehung, der Wissenschaft und Kunst übertragen, 

70 



Sucht man nun bilanzmäßig zu ermitteln, wie 
weit der heutige Staat dem Prinzip der Mechani- 
sierung unterliegt und dient, so handelt es sich 
darum, festzustellen, welche Funktionen ihm ak- 
zidentell, welche Funktionen ihm notwendig zu- 
fallen; sodann abzuschätzen, wie weit diese not- 
wendigen Funktionen mechanistischer Richtung 
folgen. Unberücksichtigt, doch nicht unbeachtet 
mag bleiben, daß der Staat in seinem Aufbau das 
Vorbild aller mechanistischen Organisationen ge- 
worden ist, und daß er an keinem Tage seines auf- 
wandreichen Lebens die gemünzten Hilfsmittel 
mechanisierter Wirtschaft entbehren kann. 

Von der Kirche sind die westlicheren Staats- 
gebilde in ihrer überwiegenden Mehrzahl los- 
gelöst, ohne daß man sagen könnte, sie hätten 
hierdurch ihren Staatscharakter eingebüßt. 

Das eigentliche Regierungswesen, die Aufsicht 
über örtliche und departementale Verwaltungen, 
ist in den angelsächsischen Ländern bis auf eine 
leichte finanzielle Kontrolle unbekannt, und es 
denkt niemand daran, im Interesse der Staats- 
vervollständigung diese Institution einzuführen, 
ebensowenig, wie man etwa in Frankreich oder in 
Preußen daran denkt, sie abzuschaffen. Auch sie 
darf daher nicht als ein notwendiges Organ des 
Staatskörpers gelten. 

Die Aufsicht über das Erziehungswesen ist den 
Obliegenheiten des Staates erst in jüngster Zeit 
hinzugefügt worden. Sie zu beseitigen wäre viel- 
leicht kein Fortschritt, doch eine Maßnahme, die 
dem Staatsleben nichts von seinem inneren Wesen 
rauben könnte; um so weniger als ein anerkanntes 

71 



Erziehungsideal in Ländern starker Interessen- 
gegensätze nicht existiert. 

Staatliche Unternehmungen des Verkehrs, der 
Industrie und des Handels, mögen sie als notwen- 
dige Funktionen angesehen werden oder nicht, 
entspringen und dienen der Mechanisierung. 

Der Wissenschaftsbetrieb auf Grundlage pri- 
vater Universitäten und Forschungsinstitute hat 
in den Vereinigten Staaten sich durchaus eben- 
bürtig den Staatsbetrieben anderer Länder er- 
wiesen und somit den Begriff der immanenten 
Notwendigkeit dieser Ressorts erschüttert. Auf 
dem Gebiet der Kunst ist die Betätigung des 
lehrenden, bestellenden und bestimmenden Staates 
in den meisten Kulturländern unbedeutend, wo 
nicht schädlich. 

Die staatliche Finanzwirtschaft beruht, soweit 
sie Einnahmen schafft, auf mechanisierter Wirt- 
schaft und schließt sich ihr aufs engste an. So- 
weit sie Ausgaben begleicht, trägt sie die Fär- 
bung des Gesamtkörpers, dem sie dienstbar ist, 
und verhält sich somit im Sinne der gestellten 
Frage neutral. 

Es bleiben, wenn man von allgemeiner Reprä- 
sentanz absieht, die integrierenden Funktionen 
des Staates: äußere Politik und Landesverteidi- 
gung, Gesetzgebung und Rechtsschutz. 

Entschieden ist die Verteidigung der Natio- 
nalität beim heutigen Stande der Zivilisation eine 
notwendige, ja eine absolute Aufgabe. Indessen 
wird erhaltende und werbende Politik, verteidi- 
gende und angreifende Kriegführung weitaus 
überwiegend, vielleicht dauernd in den Dienst 

72 



sogenannter Lebensfragen gestellt bleiben, die, 
solange nicht abenteuernde Menschen oder 
Nationen die Stetigkeit des Geschichtsganges 
unterbrechen, sich in Fragen der wirtschaft- 
lichen Existenz auflösen lassen. Tatsächlich 
und normalerweise gelten neun Zehntel der poli- 
tischen Tätigkeit den wirtschaftlichen Aufgaben 
des Augenblicks, der Rest den wirtschaftlichen 
Aufgaben der Zukunft. 

Mit Ausnahme gewisser seelenpathologisch, re- 
ligiös, historisch oder philosophisch gestimmter 
Gebiete der Kriminalistik, die außerhalb dieser 
Betrachtung stehen, dient die Justiz der Sicher- 
heit und dem Schutz der wirtschaftenden Person 
und Gesellschaft auf der Grundlage der bestehen- 
den Besitz- und Mechanisierungsordnung. 

Die Gesetzgebung wiederum, die alle Gebiete 
des öffentlichen und privaten Lebens auf Grund 
der herrschenden Zeitanschauung regelt und aus- 
gleicht, fügt ebensowenig wie die Säckelmeisterei 
dem Gesamtbilde eine neue Farbe zu. 

So darf man zusammenfassend sagen, daß der 
heutige Staat trotz der Zuflüsse an absoluten Auf- 
gaben, die ihm im Laufe der letzten beiden Jahr- 
hunderte beschieden waren, in seinem innersten 
Wesen den Gesetzen und Evolutionen der Me- 
chanisierung gefolgt ist. 

Ihn als eine bewaffnete Produktionsvereinigung 
auf nationaler Grundlage hinzustellen, wäre viel- 
leicht verfrüht; ihn als eine mystische Institution 
oberhalb der mechanisierten Wirtschaft und Ge- 
sellschaft zu betrachten, sicherlich verspätet. 

Selbst solche Lebensgebiete, die von materiellen 

73 



Zielen und Einwirkungen losgelöst erscheinen, 
wie Religion und Wissenschaft, haben sich me- 
chanistische Umformungen gefallen lassen müssen. 
Es ist hier nicht der Ort, zu entwickeln, wie die 
in Kirchen verkörperten Religionen mit wachsen- 
der Gebietsausdehnung und Bekennerzahl sich zu 
Betrieben ausgestalteten, wie sie lernten, durch 
stillschweigende wechselseitige Duldung ihrem 
innersten Wesen das schwere Opfer der Arbeitstei- 
lung zuzumuten, wie sie hierarchisch, finanziell, 
bureaukratisch und geschäftlich ihre Verwaltungs- 
körper auszubauen gezwungen waren, wie sie 
propagandistisch konkurrieren, ja selbst mit Geg- 
nern über Teilung der Gebiete, man möchte sa- 
gen : des Absatzes, sich verständigen mußten, wie 
sie unter Ausnutzung jeder aktuellen Verschie- 
bung der Lage poHtische, wirtschaftliche und so- 
ziale Mächte in den Dienst ihrer Interessen zu 
ziehen hatten. 

Der Weltbetrieb der Wissenschaften, neben dem 
Kapitalismus die großartigste der anonymen und 
internationalen Organisationen, mit seinen pein- 
lich respektierten Gebietsabgrenzungen, seinem 
hochentwickelten Informationswesen, seinem groß- 
industriell angelegten Laboratoriumsbetrieb, seiner 
Wechselbeziehung zur Technik, seinen Verbänden 
und Kongressen ist genügend gekannt und ge- 
rühmt, um eine Vertiefung in seine Mechanisie- 
rungsform entbehrlich zu machen. 



74 



DIE MECHANISIERUNG DER WELT. IV 

Mechanisierung und Gesellschaft 

So spannen mechanisierte Organisationen ihre 
vielfachen unsichtbaren Netze über jeden Fuß- 
breit Erde. Hier und da wird eine Masche sicht- 
bar : Absperrungen, Verbote, Aufforderungen, 
Warnungen, Drohungen säumen unsere Wege. 

Aber diese armseligen Verkehrsmaschen be- 
deuten wenig, verglichen mit jenen zahllosen Bin- 
dungen, die mit Ausnahme der Gestirne fast jeden 
sichtbaren Gegenstand an Personen knüpfen, die 
jede Tätigkeit an Rechte und Pflichten ketten, die 
alle Einzelmenschen zu den seltsamsten und man- 
nigfachsten Gemeinschaften vereinigen. Ein er- 
wachsener Deutscher, der vermögenslos aus Ame- 
rika heimkehrt, hat, sofern er sich nicht um Wohl- 
tätigkeit bewirbt, nur das Recht, sich mit normaler 
Geschwindigkeit auf öffentlichen Straßen zu be- 
wegen und seine Stimme für die Reichstagswahl 
abzugeben. Kein komplizierterer und schwieri- 
gerer Beruf läßt sich in zivihsierten Ländern 
erdenken als der des Einsiedlers. 

Konnte vorzeiten ein Deutscher sich rühmen, 
Christ, Untertan, Bürger, Familienvater und 
Zunftgenosse zu sein, so ist er heute Subjekt und 
Objekt zahlloser Gemeinschaften. Er ist Bürger 
des Reichs, des Staates und der Stadt, Eingesessener 
des Klreises und der Provinz und Mitglied der 
Kirchengemeinde; er ist Soldat, Wähler, Steuer- 
zahler, Inhaber von Ehrenämtern; er ist Berufs- 
genosse, Arbeitgeber oder -nehmer, Mieter oder 

75 



Grundbesitzer, Kunde oder Lieferant ; er ist Ver- 
sicherungsnehmer, Mitglied gewerblicher, wissen- 
schaftlicher, unterhaltender Vereinigungen ; er ist 
Kunde einer Bank, Aktionär, Staatsgläubiger, 
Sparkontenbesitzer, Hypothekengläubiger oder 
Schuldner; er ist Mitglied einer politischen Partei ; 
er ist Abonnent einer Zeitung, des Telephons, 
des Postscheckkontos, der Trambahn, der Aus- 
kunftei ; er ist Kontrahent von Verträgen, münd- 
lichen und schriftlichen Verpflichtungen; er ist 
Sportsmann, Sammler, Kunstliebhaber, Dilettant, 
Reisender, Bücherleser, Schüler, Akademiker, In- 
haber von Zeugnissen, Legitimationen, Diplomen 
und Titeln ; er ist Korrespondent, Firma, Referenz, 
Adresse, Konkurrent, er ist Sachverständiger, 
Vertrauensmann, Schiedsrichter, Zeuge, Schöffe, 
Geschworener; er ist Erbe, Erblasser, Gatte, 
Verwandter, Freund. 

Diese Bindungen bedeuten die Verzweigungen 
der Nervenfasern im bloßgelegten Inneren der 
mechanistischen Wirtschaft. Um aber das Gewebe 
der Gesellschaft, der belebten Trägerin der Me- 
chanisierung, vollkommener zu überblicken, muß 
das Auge auch auf den Einschlag dieser lebendigen 
Kette gerichtet werden: den Beruf. 

Aus diesen beiden Elementen: Bindung und 
Beruf, entwickelt sich die entscheidende Eigen- 
schaft der mechanisierten Gesellschaft, ihre 
Homogenität. 

Schon apriorisch leuchtet es ein, daß eine le- 
bende Maschinerie, um den Produktionsprozeß 
der Erde zu tragen, aus gleichmäßigem, normalem 
und festen Material bestehen muß, daß ihre Teile 

1^ 



massenhaft produzierbar und auswechselbar, fest 
ineinandergefügt und reibungslos, geschwindester 
und gleichförmigster Bewegung fähig sein müssen. 

Die Bindungen tragen zur Homogenisierung bei, 
indem sie bewirken, daß Jeder mit Jedem sich 
berührt, reibt und schleift, daß eine große Zahl 
gemeinsamer Kenntnisse, Verwaltungs- und Ver- 
kehrsmethoden zum Gemeingut wird, daß der 
Einzelne lernt, sich zurechtzufinden, anzupassen, 
umzugehen, und sich von der Abgrenzung der 
Interessengebiete, der Beschränkung der Willkür 
und der Zusammenwirkung des Ganzen eine Vor- 
stellung zu bilden. Jedes der mechanisierten Gesell- 
schaftselemente ist ein wenig alles in allem: Po- 
litiker, Geschäftsmann, Unterhändler, Redner, 
Disponent und Organisator; ein jeder ist Träger 
von Verantwortung, welche füglich als Mechani- 
sierungsform der Pflicht und, bei ihrem merkHch 
materiell und militärisch gefärbten Charakter, 
schlechtweg als die ethische Kategorie der Me- 
chanisierung angesehen werden kann. Erfreulich 
tritt der Ausgleich der Qualitäten zutage in der 
schnell erworbenen und bewährten Fähigkeit 
unserer Arbeiter, zu urteilen, zu handeln und 
zu disponieren. 

Selbst die scheinbar trennende Spezialisierung 
des Berufes muß zur Homogenität führen. Denn 
eine reichhche Ansammlung in letzter Linie ähn- 
licher Vorkommnisse erzeugt analoge Geistesdis- 
positionen; die Anwendung gleichartiger Denk- 
und Arbeitsformen wirkt entscheidender als die 
Ungleichartigkeit der Anwendungs- und Arbeits- 
gebiete ; die Gleichförmigkeit der Arbeitszeit und 

77 



Erholungsdauer entscheidender als die Verschieden- 
heit der Arbeitsstelle; die Gleichwertigkeit der 
Einkommen entscheidender als die Ungleichheit 
der Quellen, aus denen sie fließen. 

Ein Rechtsanwalt von heute ähnelt seinem me- 
dizinischen Stammtischgenossen weit mehr, als ein 
Leinenweber einem Tuchmacher von ehedem. Und 
mehr noch ähneln sich ihre Häuslichkeiten, ihre 
Lebensgewohnheiten, ihre Kleidungen, ihre Denk- 
weisen und ihre Wünsche. 

Vor allem aber trägt die zunehmende Intellek- 
tualisierung der Berufe dazu bei, gleichartige Men- 
schen zu schaffen. Die alte Güterproduktion ver- 
langte vom Einzelnen einen periodischen Kreislauf 
bereitender,schaf f ender,f ertigender und verwerten- 
der Tätigkeit, denn das Werk eines jeden Menschen 
war ein Ganzes. Deshalb mußte viel Manuelles und 
viel Ungeistiges, viel Abwarten und viel Umstand 
in Kauf genommen werden. Heute ist alle Arbeit 
unterteilt und daher konzentriert; die Phasen 
sind beseitigt, und der arbeitende Mechanismus 
erfordert mehr denkende Überwachung als hand- 
festes Zugreifen. Im Gegensatz zu den alten Auf- 
gaben, die sich periodisch wiederholten und daher 
denWert der Erfahrung aufs höchste schätzen ließen, 
die aber in ihrer Wiederholung der Phantasie und 
der Erkenntnis unmerklich wachsenden Spielraum 
gestatteten, steht der Schaffende und Überwachende 
unserer Zeit beständig vor scheinbar neuen Pro- 
blemen, die sich aber alle mit gleichen Denk- 
formen bewältigen lassen und daher die Gleich- 
förmigkeit des Handelns vermehren: so etwa, 
wie in einem Buch mit Regeldetrieaufgaben das 

78 



hochgemute Auftreten von Wasserstrahlen, Schnell- 
läufern und Handelsleuten nur eine wechselnde 
Umschreibung der nämlichen einfachen Glei- 
chungsformel bedeutet. 

Fügt man dem physischen und intellektuellen 
Ausgleich der Lebensbedingungen die Wirkungen 
eines beständig wachsenden Volkswohlstandes hinzu , 
so erhält man die Grundbedingungen der Mittel- 
standstendenz, die für die mechanisierte Gesell- 
schaft bezeichnend ist. 

Die bürgerhche Gesellschaft Deutschlands ist 
weit jünger als die englische und französische. 
Von ihrer Entstehung an, die in die Mitte des 
XVIII. Jahrhunderts fällt, war sie hundert Jahre 
lang arm, und diese Armut, verbunden mit einer 
edlen Stärke der Entsagung, trug reiche geistige 
Frucht, die zur Ernte der romantischen Periode 
und des Konstitutionskampfes reifte. Der Mer- 
kantihsmus der Mechanisierungszeit brachte ihr 
unerhörten Zuwachs an Wohlstand und raubte ihr 
dafür einen Teil ihrer geistigen Werte. Im letzten 
Menschenalter allein hat sich die Zahl der Ein- 
kommen, die selbständigen kommerziellen Ver- 
antwortungen entsprechen, zum mindesten ver- 
hundertfacht und Raum geschaffen für eine Breite 
des bürgerlichen Behagens und Luxus, wie sie 
nur in England bekannt war. Behausung, Klei- 
dung, Bedienung und Unterhaltung zeigen die 
Merkmale dieser Steigerung, die vielleicht von 
allen Entwickelungsformen der neuen Zeit die 
beispielloseste ist. Denn die Geschichte bietet 
uns zwar Vorgänge von maßlosem Reichtum und 
Prunk einzelner Personen und Kliquen: die Exi- 

79 



stenz von Hunderttausenden begüterter, ja nach 
früheren Begriffen reicher Menschen in einem 
Lande ist aber gänzlich ohne Präzedenz und führt 
zu unabsehbaren Folgen, die man als Grund- 
erscheinung der neuzeitlichen Umgestaltungen 
anzusehen sich versucht fühlen könnte, wenn es 
nicht klar zutage läge, daß sie als Sekundärerschei- 
nungen von der Verdichtung und Mechanisierung 
abhängen. 

Zunächst aber hat dieser Reichtum eine Ver- 
armung herbeigeführt; nicht an Vorstellungen 
und Kenntnissen, sondern an Wertungen, nicht 
an Wünschen und Zwecken, sondern an Idealen. 
Dieser homogenisierten Gemeinschaft sind ge- 
meinschaftliche Urteile und Ziele noch nicht er- 
wachsen, es sei denn solche von handgreiflicher 
Utilität; es ist, als sei dem Gesamtkörper ein 
Innenleben noch nicht erwacht, oder als seien 
seine ersten Regungen vom Lärm der Interessen 
übertäubt. Noch mehr: eine unbewußte Reak- 
tionsbewegung der Elemente gegen ihre Homoge- 
nisierung zwingt sie, noch einmal jedes erschwing- 
liche Quantum von Individualität nach außen zu 
kehren und zur Wahrung vermeintlicher Originali- 
tät sich jeder offenkundigen Gemeinschaf tstendenz 
zu entziehen. So wurde in Deutschland nicht ein- 
mal für die Freude am Vaterland ein kulturell 
gültiger Ausdruck gefunden: der unterwürfigen 
Devotion und dem aggressiven Gebaren des 
Vereins- und Geschäftspatriotismus wurde eine 
selbstvertrauende Heldenverehrung, ein sicheres 
Nationalbewußtsein, wie es die Kraft der Eng- 
länder ausmacht, nicht entgegengesetzt. 

80 



Von der ideenbildenden Fähigkeit des deut- 
schen bürgerlichen Intellektualismus aber hängt 
es ab, ob und wann er berufen ist, die Verantwor- 
tung für das kulturelle und politische Leben zu 
übernehmen, die ihm nach dem Lauf der mecha- 
nischen Entwicklung beschieden ist. Heute trägt 
er in Deutschland von dieser Verantwortung nur 
einen kleinen Teil, obwohl die bedeutendsten ma- 
teriellen Aufgaben: die Versorgung des Volks- 
zuwachses und die Bewältigung der Staatslasten, 
auf seinen Schultern ruhen. 

Denn nach zwei Seiten hin findet in Deutsch- 
land die Homogenisierung wo nicht Grenzen, so 
doch Hemmungen, die zwar in manchem Sinne 
überschreitbar und überschritten, für die heutige 
Kräfteverteilung jedoch von entscheidender Be- 
deutung sind. Es wird späteren deutschen Ge- 
schichtschreibern schwer verständlich sein, wie 
in unserer Zeit zwei Schichtungssysteme sich 
wechselseitig durchdringen konnten : das erste ein 
Überrest der alten Feudalordnung, das zweite, 
das Kapitalistische, eine Nebenerscheinung der 
Mechanisierung selbst. Noch seltsamer aber muß 
es berühren, daß die neuentstandene kapitalistische 
Ordnung zunächst dazu beitragen mußte, den 
Bestand der Feudalordnung zu stützen. 

Tatsächlich herrscht heute in den entscheidenden 
deutschen Staaten politisch und militärisch der- 
jenige Rest der früheren Oberschicht, der sich in 
der Form eingesessenen Adels erhalten hat. Aus 
zwei Gründen konnte er seine Macht bewahren : ein- 
mal, weil sein gesunder Instinkt ihn an die Land- 
wirtschaft fesselte, die unter der Betriebsform des 

6 8i 



Großgrundbesitzes im verflossenen Jahrhundert 
einen bedeutenden mechanistischen Aufschwung 
erlebte, und die noch heute eine starke Kontrolle 
der Landbevölkerung ermöglicht ; sodann, weil eine 
Anzahl europäischer Dynastien, durch die kapitali- 
stische Ordnung bedenklich gemacht, um so enger 
mit denjenigen Mächten verbündet zu bleiben 
wünschten, die durch Tradition ihren Häusern 
nahestanden, und die bei einem Umsturz am mei- 
sten zu verlieren hatten. Freilich wurden diese 
Erwägungen zumeist verlassen, sobald die Ver- 
hältnisse zu einer gewissen Reife gediehen waren: 
wie ein Kapitän beim Sturm sein Schiff lieber auf 
hoher See als verankert sieht, so wurde in solchen 
Fällen die Monarchie der Tragkraft der gesamten 
Nation anvertraut. So bestehen denn feudal ver- 
ankerte Dynastien nur noch in Mitteleuropa. 

Daß die zweite der bestehenden Schichtungen, 
die kapitalistische, und mit ihr die gewaltigste 
der einheitlichen Bewegungen unserer Zeit, der 
sozialistischen, nicht in den Mittelpunkt dieser 
Gesellschaftsbetrachtung gerückt ist, mag be- 
fremden und bedarf der Rechtfertigung. 

Zweifellos ist es der schwerste Vorwurf, wel- 
cher der Zivihsation unserer Zeit gemacht wer- 
den kann, daß sie die Beschränkung eines 
Proletariats zuläßt, wenn unter einem solchen 
eine Bevölkerungsklasse verstanden wird, deren 
Angehörige unter normalen Verhältnissen zu 
selbständiger Verantwortung und unabhängiger 
Lebensführung nicht vordringen können. Die 
schärfste Zuspitzung dieses Vorwurfs : daß nämlich 
innerhalb dieser Klasse zeit- und stellenweise Not 



82 



und Elend haust, wird als berechtigte Ellage durch- 
weg anerkannt und Abstellung der Übel mit Ernst 
und nicht ohne Erfolg angestrebt; so daß die 
Frage des Notstandes hier ausgeschieden werden 
darf. 

Erstrebt nun der Sozialismus die Beseitigung 
wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, die Hebung oder 
Umschmelzung des Proletariats, so muß diese 
Weltaufgabe mit hohem Respekt betrachtet und 
jeder Schritt zu ihrer Förderung als ZiviUsations- 
etappe begrüßt werden. Doch darf man vom 
Standpunkt einer über den Augenblick hinaus- 
gehenden Betrachtung nicht übersehen, daß es 
sich hier um Remeduren, und zwar materielle 
Remeduren, nicht um absolute Schöpfung und 
Ideen handelt. Deshalb ist es dem SoziaUsmus 
nicht gelungen, eine Weltanschauung zu schaffen; 
was er über das materiell praktische Erstreben 
hinausgreifend zustande gebracht hat, ist stark an- 
fechtbares popularphilosophisches Erzeugnis. So- 
zialismus bleibt 2^itaufgabe, solange er sich nicht 
zur Transzendenz zu erheben und neue Ideale für 
die gesamte Menschheit und ihren geistigen Be- 
sitz aufzustellen vermag. Dann aber würde sein 
innerstes Wesen sich wandeln und ein großer Teil 
des materiellen Rüstzeugs abgestreift werden 
müssen. 

Aber auch innerhalb der Grenzen der Zeitauf- 
gabe besitzt der Sozialismus nicht die Stärke der 
Konsequenz und Unausweichlichkeit, die ihn zum 
Pol der gesellschaftlichen Entwicklung machen 
könnte, denn er verkennt den Dualismus der Ar- 
beit. Erfindung und Ausführung, Anordnung und 

#• 83 



Leistung werden sich niemals dauernd und grund- 
sätzlich vereinigen lassen, am wenigsten in einer 
mechanistischen und arbeitsteilenden Gemein- 
schaft. Immer werden die intuitiv, phantastisch, 
künstlerisch und organisatorisch Veranlagten den 
handgreiflich, praktisch, suggestiv Veranlagten 
gegenüberstehen. Eine Arbeitsverschmelzung der 
beiden Kategorien ist innerhalb der uns bekannten 
menschlichen Eigenschaftszonen nicht denkbar, 
vielleicht nicht einmal wünschbar. 

Befreit man somit das Problem von der nüch- 
ternen Phantastik mechanisch konstruierter Para- 
diese, so bleibt als Kern die große und ernste Auf- 
gabe einer Reform des Proletariats. Ihre Lösung 
muß einsetzen an dem Punkte der höchsten Un- 
gerechtigkeit : bei der lebenslänglichen, ja erb- 
lichen Unentrinnbarkeit des Proletarierschicksals. 
Die Lösung ist möglich, wenn sie darauf abzielt, 
die Einsperrung der Vermögen, ihre allzustarre 
Kettung an Personen, Familien, Genossenschaften 
zu sprengen, eine gerechtere Bindung des Wohl- 
standes an wirtschaftliches und geistiges Verdienst 
zu sichern und jedem die geistigen Werkzeuge 
erschwinglich zu machen, die zum Wettkampf 
befähigen. Diese Gesamttendenz habe ich vor 
Jahren mit dem Namen Euplutismus bezeichnet; 
ihre Mittel bestehen vornehmHch in der Beseiti- 
gung aller Rechte, die den Charakter von Privat- 
monopolen tragen, in der Beschränkung des Erb- 
rechts, in einer gegen mühelos und ungerechte 
Bereicherung gerichteten Gesetzgebung, in der 
Ausgestaltung der Volkserziehung. 

Sicherlich wird die Durchführung dieser Grund- 




Sätze Menschenalter erfordern, aber ebenso sicher- 
lich wird sie erfolgen, und ihre Ergebnisse werden 
den Beweis erbringen, daß es zur Abstellung einer 
wirtschaftlichen Ungerechtigkeit keines Welt- 
brandes bedarf. Noch vor dieser Erfüllung aber 
wird das soziale Problem eine Umgestaltung 
erfahren, und zwar in dem Sinne, daß die 
Homogenisierung, weit über die Grenzen der 
bürgerlichen Gesellschaft hinausgreifend, einen 
bedeutenden und zwar den wertvollsten Teil des 
Proletariats assimiliert haben wird. 

Denn schon heute erreichen, dem ehernen Lohn- 
gesetz zum Trotz, das seinen Trugschluß an die 
stillschweigende Voraussetzung unbeschränkten Ar- 
beitsangebotes knüpft, die Einkünfte geschulter 
Qualitätsarbeiter ein höheres Niveau als das des 
bürgerlichen Durchschnitts, und gleichzeitig hier- 
mit werden bürgerliche besitzschützende Inter- 
essen rege. Die mechanistische Produktion aber 
muß die ihr vorgeschriebene Richtung verfolgen 
und beständig darnach trachten, mechanische Ar- 
beit durch Überwachungsarbeit, ungeschulte durch 
Qualitätsarbeit zu ersetzen, die sie nicht nur höher 
bezahlen kann, sondern vielmehr so reichlich be- 
zahlen muß, daß Aufmerksamkeit und Stimmung 
des Arbeiters ihren Zwecken erhalten bleiben. 
Wollte man dieser Bewegung vorwerfen, daß sie 
nach Auswahl der Qualifizierten ersten, zweiten 
und dritten Grades schließlich ein doppelt ver- 
elendetes Proletariat Unqualifizierter, Arbeits- 
unwilliger und Arbeitsunfähiger zurückläßt, so 
wäre zu erwidern, daß ein Idealzustand auf Erden 
freilich die Abschaffung aller wirtschaftlichen Be- 

85 



schränkung erfordern, daß dieser Idealzustand aber 
gleichzeitig die ausschließliche Existenz brauch- 
barer Menschen beanspruchen würde. Solange 
dies Ideal nicht erfüllt ist, wird es des Kontrastes 
zwischen beschränkter und reichlicher Lebens- 
führung bedürfen, um Regungen der Indolenz 
zu überwinden, die der Gemeinschaft schaden. 
Freilich wird es um so dringender die Aufgabe der 
Gesellschaft sein, dafür zu sorgen, daß jeder 
Willige durch eigene Kraft dem Zustande der 
Beschränkung sich entwinden kann. 



DIE MECHANISIERUNG DER WELT. V 

Mechanisierung und Leben 

Die umgestaltete Produktionsform, die um- 
gestaltete Gesellschaft und Welt wirken auf das 
Einzelleben zurück; sie schaffen ihm neue Vor- 
stellungen, Aufgaben, Sorgen und Freuden und 
formen die PersöiJichkeit derart, wie die Maschine 
beim Einlaufen ihren Teilen die rechte Gefügig- 
keit gibt, daß die Elemente mit geringster Reibung, 
mit Ausnutzung aller vorhandenen Kräfte, unter 
Ersparnis an Zeit und Material willig, nachhaltig 
und rückhaltlos in den Massenprozeß sich ein- 
fügen und seinem rastlosen Anwachsen dienstbar 
werden. 

Der Mensch früherer Zeiten kannte den Kreis- 
lauf der Natur, die ihn umgab; er kannte die 
Wiesen, Felder, Wälder und Hügel seiner Gegend ; 
die Straßen und Gebäude seines Ortes, die nicht 

86 



gerade zahlreichen Waren und Gerätschaften, die 
man dort feilhielt und die Heiligenbilder der 
Kirchen; er hatte etwas Lesen, vielleicht auch 
Schreiben und Rechnen gelernt, wußte manches 
aus den Heiligen Schriften und verstand sein Hand- 
werk- Vielleicht war er als Geselle gewandert, 
vielleicht hatte er große Herren vorüberziehen, 
Kirchenfeste sich entfalten sehen ; dann und wann 
vernahm er von fernen Erdbeben, Kriegen und 
Seuchen, erblickte eine Feuersbrunst, ein Meer- 
wunder, ein afrikanisches Tier ; im übrigen waren 
die Ereignisse seines Lebens die natürlichen, von 
Geburt und Tod umschlossenen. Das Alltägliche 
war wunderbar, das Wunderbare alltäglich, alles 
stimmte zum Betrachten und zum Vertiefen, 
nichts zum Urteilen. Die seltenen Ereignisse er- 
schüttern; sie hinterließen lange Erinnerungen, 
die sich mit langen, zuversichtlichen Hoffnungen 
zu einem ruhigen Fluß des Erlebens vereinigten. 

Vor wenigen Jahrzehnten waren Lebenskreise 
ähnlicher Geschlossenheit und Rundung etwa noch 
in den Alpentälern von Tirol oder auf friesischen 
Insehi zu finden; heute würde es nicht genügen, 
bis in die Kleinstädte von Mittelrußland vorzu- 
dringen, um ihre Spuren aufzusuchen. Welche 
Änderung des Horizontes hat unterdessen etwa 
der mittlere Bürger des neuen Deutschen Reiches 
erfahren ! 

Er verläßt die Schule mit einer Übersicht der 
vergangenen und der gegenwärtigen Welt, mit 
einer skizzierten Kenntnis mehrerer Sprachen, 
verschiedener Rechnungsmethoden; er hat einen 
Begriff von der Mannigfaltigkeit der Lebensein- 

87 



richtungen, von der Schematisierung der Natur- 
erscheinungen. In millionenfachen Reproduk- 
tionen sind Kunstwerke aller Zeiten, Baustile, 
Landschaften, Völkerschaften an ihm vorüber- 
gezogen. Der Weg durch eine städtische Straße 
hat ihm mehr Gattungen von Waren, Gerätschaf- 
ten, Apparaten und Mechanismen vor Augen ge- 
führt, als Babylon, Bagdad, Rom und Konstan- 
tinopel kannten. Das Arbeiten der Maschinen, 
der Verkehrsmittel, der Fabrikationen ist ihm all- 
täglich, der Anblick von Menschen aller Profes- 
sionen und Länder, von Tieren und Pflanzen aller 
Zonen nicht überraschend. Er kennt Ausflüge, ja 
Reisen über meilenweite Gebiete ; Feste, Aufzüge, 
Vorführungen, Unglücksfälle, Kriegsübungen sind 
ihm geläufig. Er ist gewohnt, Bücher zu lesen, 
hunderte von Gegenständen zu benutzen, teil- 
weise zu besitzen; er ist gewohnt, Speisen und 
Vergnügungen aus aller Herren Länder zu ge- 
nießen, sich zu unterhalten und unterhalten zu 
lassen. Die Erlernung des Berufes bringt weitere 
Kenntnis von Methoden und Hilfsmitteln, seine 
Ausübungen an wechselnden Stellen und Orten 
neue Erfahrung von Lebensverhältnissen, Umgang 
und Organisation. 

Aber mit der Lehrzeit und Berufseinrichtung 
läßt der Strom der zudringenden Notionen nicht 
nach. TägUch mindestens einmal öffnet das Welt- 
theater seinen Vorhang, und der Abonnent des 
Zeitungsblatts erblickt Mord und Gewalttat, 
Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferde- 
rennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expedi- 
tionen, Liebesverhältnisse, Bauten, Unfälle, Büh- 

88 



nenaufführungen, Spekulationsgeschäfte und Na- 
turerscheinungen ; an einem Morgen während des 
Frühkaffees mehr Seltsamkeiten, als seinem Ahn- 
herrn während eines Menschenlebens beschieden 
waren. Und zu dieser freiwilligen Aufnahme an 
Information gesellt sich die berufliche : die Korre- 
spondenz des Kaufmanns, das Kundengeschäft, 
der Verkehr mit Angestellten und Vorgesetzten, 
mit Behörden und Geschäftsleuten bringt vom 
Morgen bis zum Abend soviel an Tatsachen- 
material, das gemerkt und verarbeitet werden 
muß, daß hunderte von Papierfabriken ganze 
Waldungen in weiße Bänder verwandeln müssen, 
um die Erinnerungszeichen an einen kleinen Teil 
dieser Neuigkeiten aufzunehmen, 

Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Ge- 
schwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Berg- 
leute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein 
Kind mißhandelt: kurze Entrüstung. Das Luft- 
schiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit. 
Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im 
Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, An- 
fragen, Übersichten. Für die Erwägung, das Er- 
innern, das Nachklingen bleibt keine Zeit. 

Wie entledigt sich nun der Geist überflüssiger 
Notionen ? Durch Urteil. Die Erscheinung wird 
besiegelt, etikettiert und eingereiht; so ist sie er- 
ledigt, indem sie sich scheinbar in einen Zuwachs 
an Erfahrung, vielfach nur in einen Zuwachs an 
Vorurteil verwandelt hat. Aber selbst das Vor- 
urteil scheint erträglicher als die Urteillosigkeit, 
eben deshalb, weil es Vorstellungen verdauen hilft 
und in Zweckdienlichkeiten verwandelt. So wird 

89 



'X 



geurteilt von früh bis spät: dies ist gut, dies ist 
nützlich, dies ist ungerecht, dies ist töricht. Selbst 
die Unterhaltung wird zu einem Dialog von Ur- 
teilen, die leicht, verantwortungslos, unsachlich 
und schematisch vorgebracht werden. Im Hagel 
der Tatsachen erstirbt die Verwunderung, der 
Respekt vor dem Ereignis, die EmpfängHchkeit, 
und gleichzeitig erhöht sich die Begierde nach 
neuen Tatsachen, nach Steigerungen. Wird die 
Begierde nicht gesättigt, so tritt eine verzweifelte 
Erschöpfung ein, die dem Menschen seine eigene 
Lebenszeit hassenswert erscheinen läßt und daher 
Langeweile genannt wird. 

Mechanistisch betrachtet ist die Langeweile das 
Wamungssignal, das dem Menschen in die Ohren 
bläst: er sei zeitweilig ausgeschaltet aus dem all- 
gemeinen Werben und Walten, und ihn zum 
Zwang der Arbeit oder des Genusses antreibt. 

Die Arbeit selbst aber ist nicht mehr eine Funk- 
tion des Lebens, nicht mehr eine Anpassung des 
Leibes und der Seele an die Naturkräfte, sondern 
weitaus eine fremde Funktion zum Zweck des 
Lebens, eine Anpassung des Leibes und der 
Seele an den Mechanismus. Denn mit Aus- 
nahme der wenigen freien Berufe, deren Wesen 
ungeteilt und Selbstzweck ist, der künstle- 
rischen, wissenschaftlichen und sonsthin schöpfe- 
risch gestaltenden Arbeit, ist der mechanisierte 
Beruf Teilwerk. Er sieht keinen Anfang und kein 
Ende, er steht keiner vollendeten Schöpfung gegen- 
über ; denn er schafft Zwischenprodukte und durch- 
läuft Zwischenstadien. Auch er kann angepaßten 
Naturen eine absolut erscheinende Befriedigung 

90 



gewähren, insbesondere da, wo er mit Privilegien 
und Befugnissen operiert; im allgemeinen aber 
trägt er seine Belohnung nicht in sich, sondern 
hinter sich, er verlangt nicht sowohl Liebe als 
Interesse. 

Mit der Abkehr des Berufes von der Natur zur 
Mechanisierung haben sich weitere Änderungen 
seines Wesens vollzogen. 

Zum ersten : der alte Beruf war gegründet auf 
Erfahrung und Erlernung. Der Sohn vollbrachte 
im Kreislauf des Jahres, was der Vater im Kreis- 
lauf des Jahres vollbracht hatte. Der Alte hatte 
die längere Übung, er hatte mehr Zwischenfälle 
erlebt: so war er geschulter und weiser. Zu ihm 
blickte man auf, er war Autorität. Was das junge 
Geschlecht zum Ererbten hinzufügte, war frei- 
wiUiger Tribut an die langsam sich ändernde 
Meinung der Zeit, nicht Not und Zwang. 

Wollte heute einer sein Land bestellen, seine 
Schuhe fertigen, seine Schnittware verkaufen, wie 
es ihn seine Vorfahren gelehrt, er wäre bald mit 
seiner Weisheit am Ende; könnte er sie bei sei- 
nen wechselnden Zwischenfällen um Rat fragen, 
er erhielte falsche Auskunft. Er muß wie ein 
Fechter der launischen Mechanisierung ins Auge 
schauen, ihre Finten parieren, ihren Stößen zu- 
vorkommen. Er muß planen, erfinden, nachah- 
men, ausprobieren, um sich zu erhalten. Den 
Begriff der Autorität versteht er nicht mehr, und 
Respekt hat er nur da, wo er Erfolg sieht. 

Zum Zweiten. Der Nachbar von ehedem ist 
der Konkurrent von heute. Selbst die Landwirt- 
schaft unterliegt der Konkurrenz, obwohl der 

91 



Feind jenseits der Grenzen, ja des Meeres wohnt. 
Die Arbeit ist nicht mehr allein ein Ringen mit 
der Natur, sie ist ein Kampf mit Menschen. Der 
Kampf aber ist ein Kampf privater Politik; das 
intrikateste Geschäft, das vor weniger als zwei 
Jahrhunderten von einer Handvoll Staatsmännern 
geübt und gehütet wurde, die Kunst, fremde Inter- 
essen zu erraten und den eigenen dienstbar zu 
machen. Gesamtlagen zu überschauen, den Willen 
der Zeit zu deuten, zu verhandeln, zu verbünden, 
zu isolieren und zu schlagen: diese Kunst ist 
heute nicht dem Finanzmann allein, sondern in 
gewahrtem Verhältnis dem Krämer unentbehr- 
lich. Der mechanisierte Beruf erzieht zum Poli- 
tiker. 

Deshalb hält der Berufsmensch sich für befähigt, 
nicht nur die eigenen, sondern auch die Ange- 
legenheiten der Gemeinschaft zu beurteilen, zu 
beraten und notfalls zu verwalten. Er findet sich 
nicht mehr in den Gedanken einer über ihm 
schwebenden, von der Gottheit inspirierten und 
ihr allein verantwortlichen Erb Weisheit; patriar- 
chalische Fürsorge empfindet er nicht wohltuend, 
sondern kränkend. 

Zum Dritten. Der Beruf ist ernst und lehrt 
Sorgen. Niemand nimmt sich des Irrenden, des 
Fallenden an; der Mann trägt in seiner Hand 
sein bürgerliches Schicksal und das der Seinen. 
Eine Verkennung der Zeit, ein Nachlassen der 
Kräfte, ein unheilbarer Mangel der Ausbildung, 
eine Handlung der Leidenschaft : und das Gebäude 
langer Arbeits jähre stürzt ins Nichts. Deshalb 
empfindet der Mensch seine eigene Verantwor- 

92 



tung, aber auch die seines Nächsten. Er steht der 
Allgemeinheit mit einem starken Anspruch an 
Recht gegenüber und mit einer entschiedenen 
Meinung des für ihn Wünschenswerten. Er ist 
schwer zu behandeln, schwer zu überzeugen, denn 
er fühlt sich in allen Dingen, die ihn von fern oder 
nah angehen, als neue Kategorie: als Interessent. 

So wird in der Schule des Berufes der Mensch 
seltsam gemodelt. Mag ihm die Arbeit eine Freude 
sein, so ist sie nicht mehr die Freude des Schaffens, 
sondern des Erledigens. Eine Aufgabe ist gelöst, 
eine Gefahr ist beseitigt, eine Etappe gewonnen: 
nun zur nächsten und zur folgenden. Die Zeit 
eilt, die Konkurrenz treibt, die Ansprüche wachsen, 
da bleibt nicht viel zu sinnen, sich des Erschaffe- 
nen zu freuen, es mit Liebe zu betrachten und zu 
verschönern; genug, wenn es strengen, allgemein 
formulierten Ansprüchen genügt. Der Erfolg 
liegt nicht in der Vollendung, sondern in der Er- 
weiterung; zehnmal, hundertmal das gleiche Pro- 
dukt wiederholen, in kürzester Zeit, mit möglich- 
ster Ersparnis, das bringt Nutzen. Die Arbeit wird 
extensiv, wie die Produktion es geworden ist; die 
glückbringende Arbeit ist die, welche sich verviel- 
fältigt. 

Die Arbeit aber wird mehr und mehr vergei- 
stigt. Kaum daß sich die Hand bewegt, eine 
Zahlenreihe zu schreiben, eine Schraube zu ver- 
stellen; je apathischer die Gliedmaßen ruhen, 
desto erregter arbeitet das Gehirn. Und doch ist 
es mit ruhigem Nachdenken nicht getan; Angst, 
Begierde, Leidenschaft müssen wirken, damit nichts 
vergessen, nichts versäumt, nichts verloren werde. 

93 




Diese Spannung erträgt der Mensch, dessen 
Großvater Hans Sachs oder der Müller von Sans- 
souci oder der Pastor Schmidt von Werneuchen 
gewesen ist. Von der Flut zusammenhangloser 
Eindrücke bestürmt, zwischen Langeweile und 
Interesse eingespannt, eilig, rastlos, sorgenvoll 
und überbürdet, leidenschaftlich aber lieblos wir- 
kend, zehrt er von Geist und Seele, um einen Tag 
zu leben ; und ist der Tag verlebt und verbracht, 
so verfällt er der Erschöpfung, die nicht Ruhe, 
sondern Genüsse verlangt. 

Die Genüsse des Berufsmenschen sind ebenso 
extensiv wie seine Arbeit. Der Geist, nachzitternd 
von den Erregungen des Tages, verlangt in Be- 
wegung zu verharren und einen neuen Wettlauf 
der Eindrücke zu erleben, nur daß diese Eindrücke 
brennender und ätzender sein sollen als die über- 
standenen. In Worte und Töne sich zu versenken, 
ist ihm unmöglich, weil die Gedankenflucht des 
Schlaflosen ihn durchfiebert. Gleichzeitig pochen 
die gequälten, unterdrückten Sinne an ihre Tore 
und verlangen Berauschung. So werden die 
Freuden der Natur und Kunst mit Hohn ausge- 
schlagen, und es entstehen Vergnügungen sen- 
sationeller Art, hastig, banal, prunkhaft, unwahr 
und vergiftet. Diese Freuden grenzen an Ver- 
zweiflung, sie erinnern an die Freier Homers, die 
beim Herannahen des Schicksals blutiges Fleisch 
lachend verzehren, während die Tränen ihnen über 
die Wangen laufen. Ein Sinnbild entarteter Natur- 
betrachtung ist die Kalometer jagd des Automobils, 
ein Sinnbild derins Gegenteil verkehrten Kunstemp- 
findung das Verbrecherstück des Kinematographen. 

94 



Aber selbst in diesen Tollheiten und Über- 
reizungen liegt etwas Maschinelles. Der Mensch, 
im Gesamtmechanismus Maschinenführer und 
Maschine zugleich, hat unter wachsender Span- 
nung und Erhitzung sein Energiequantum an das 
Schwungrad des Weltbetriebes abgegeben. Ein 
rauchender Motor ist kein beschauliches Arbeits- 
tier, das sich unter freiem Himmel weiden läßt, 
man schmirgelt ihn ab, schmiert ihn, feuert den 
Kessel, und schon stampft der eiserne Fuß mit 
neuen Kräften seinen Zyklopentakt. 



DER MENSCH IM ZEITALTER DER MECHANI- 
SIERUNG UND ENTGERMANISIERUNG 

Das Blut 

Wollen wir uns die Wandlungen vergegenwär- 
tigen, die dem Naturell des westlichen 
Menschen in den letzten Jahrhunderten beschie- 
den waren, und die noch erstaunlicher sind 
als die Veränderungen seiner Umwelt und seines 
Lebens, so müssen wir uns daran erinnern, daß 
ein Rassenwechsel, die Aufzehrung einer Ober- 
schicht mit dem Verdichtungs- und Mechanisie- 
rungsprozeß Hand in Hand ging- Ja, es bestand 
zwischen diesen Erscheinungen eine doppelte, 
zum Kreislauf geschlossene Kausalverbindung : 
die Verdichtung brachte den Rassenwechsel 
hervor, und der Rassenwechsel allein konnte 
die Voraussetzungen der entfesselt fortschrei- 
tenden Verdichtung schaffen, die Mechanisie- 

95 




rung der Produktion, der Gesellschaft und des 
Lebens. 

Denn die germanischen Herren des Abendlandes 
waren unfähig, diesen Prozeß heraufzuführen, un- 
fähig selbst, ihn zu erleiden. Der Strenge und 
Schönheit nördlichen Waldlandes wo nicht ent- 
stammend, so doch durch Jahrtausende verbunden, 
von der Seligkeit des Kampfes mit Natur und Ge- 
schöpfen erfüllt, froh in der Kraft und Freiheit 
des Leibes, nichts verehrend als das Mutvolle, 
das Unberührte und Überirdische, ein Volk von 
heiterem Ernst, von kindlicher Männlichkeit, 
unschlauer Klugheit, träumender Wahrheitsliebe, 
der Tat geneigt, dem Tun abhold, so traten sie 
auf die Bühne der Welt, als Schicksal der Antike 
und als Herren einer neuen Zeit. 

Als Herren und Freie blieben sie Krieger und 
Landleute, und wo wir heute noch ihre Über- 
lebenden erblicken, da sind sie ihrem alten Wesen 
treu geblieben, der Mechanisierung nicht oder 
widerstrebend gefolgt, nirgends ihre Förderer ge- 
wesen. Selbst da, wo sie unentrinnbar in neu- 
zeitliches Getriebe verstrickt wurden, haben sie 
den Mechanismus in eine stillere Sphäre einge- 
schlossen; ein holsteinischer Kramladen wird 
sachlicher, zweckfreier und ungeschäftlicher ge- 
leitet als eine amerikanische Kirche. 

Denn einer reinen furchtlosen Natur ist das 
Zweckhafte fremd. Die Furcht erspäht hinter den 
Dingen Gefahren und Hoffnungen, sie flüchtet 
in die Zukunft, indem sie die Gegenwart vernich- 
tet. Der Muthafte läßt sich die sinnliche und über- 
sinnliche Gegenwart genügen, er respektiert die 

96 



Dinge, liebt sie um ihrer selbst willen und benutzt 
keine Kreatur als Mittel. Die Mechanisierung 
aber ist auf Zweckhaftigkeit aufgebaut- Ihr ist 
keine Handlung und kein Gegenstand Selbstzweck; 
jedes Organ dient dem Gesamtprozeß, und der 
Gesamtprozeß dient dazu, neue Organe zu schaffen. 
Jeder Moment ist, für sich genommen, wertlos, 
aber von der heißen Arbeit erfüllt, die Reihe der 
wertlosen Momente zur Ewigkeit auszudehnen. 

Das mechanistische System konnte nicht von 
diesen Menschen aufgebracht werden, die in ihrer 
Unmittelbarkeit es kaum erfaßten, die es ungern 
erlitten und in ihm die höchste Gefährdung ihrer 
Herrschaft, ja ihrer Existenz gar bald erblickten. 
So haben sie dieses System bis auf den heutigen 
Tag bekämpft; gegen Städte, Stände, Konsti- 
tutionen, Demokratien, Verkehr, Handel und In- 
dustrie haben sie sich mannhaft gewehrt, und noch 
jetzt bedeuten alle konservativen Programme 
nichts weiter als Umschreibungsformeln des un- 
bewußten Willens gegen die Mechanisierung. 

Um diese emporzutreiben bedurfte es Menschen 
geringeren Schlages, Unterdrückte und Emanzi- 
pierte. Sie mußten aus der Knechtschaft die Ge- 
wohnheit der Arbeit mitbringen und das Stigma 
der Geduld, das unentbehrlich ist für jeden, der 
durch Lernen intellektuelle Schätze sammeln soll. 
Handfertigkeiten besaßen sie von Ursprung an, 
denn die Schwächeren waren von je auf Werk- 
künste angewiesen; grüblerisch und erfindungs- 
reich wurden sie, weil Furcht ihre Stärke aus der 
Überlegung sammelt. Auch hatten sie gelernt, 
seßhaft und in umfriedeten Räumen ihr Wesen zu 



97 



treiben, das späterhin zur Stubenarbeit wurde, 
Arbeitsteilung kannten sie, Reden, Verständigen, 
Überzeugen waren ihre Gegenmittel gegen Ge- 
walt gewesen, Neugierde, Wissensdurst, geistige 
Beweglichkeit hatte ihnen beständig genützt, 
Wahrheitsliebe nicht immer; die Zähigkeit des 
Willens und die Lust am Besitz war gestählt durch 
die Unablässigkeit der Gegenkräfte, die harte 
Gleichförmigkeit des Druckes, In Lebensan- 
sprüchen gemäßigt, in Genüssen nicht wählerisch, 
ohne Transzendenz, in Leidenschaften heiß, nicht 
tief, ohne Bösartigkeit, aber rachsüchtig und des 
Hasses kundig: so trugen sie den Marschallstab 
des mechanistischen Menschen im Tornister. 

Daß ungermanischer Geist für die Gestaltung 
der Moderne verantwortlich ist, hat mancher un- 
willige Denker dem Volksgewissen ins Ohr ge- 
raunt, doch stets in der Meinung, zu entarteten 
Germanen zu sprechen. So suchte man nach einem 
Ferment und entdeckte es im Judentum. Der 
Antisemitismus ist die falsche Schlußfolgerung aus 
einer höchst wahrhaften Prämisse: der europä- 
ischen Entgermanisierung; und somit kann der- 
jenige Teil der Bewegung, der Rückkehr zum 
Germanentum wünscht, sehr wohl respektiert 
und verstanden werden, wenn er auch die prak- 
tische Unmöglichkeit einer Volksentmischung 
postuliert. 

Die Lehre von der semitischen Gärung hat 
jüngst ein geistvoller Nationalökonom in anzie- 
hender Weise mit einer Art verdrießlicher Be- 
wunderung des schuldigen Teils entwickelt, indem 
er das Neuzeitwesen auf den KapitaHsmus, den 

98 



KapitaKsmus auf das Judentum zurückführt. Er 
denkt also im Ernst daran, dem kleinen Volks- 
stamm, dem die Welt die Hälfte ihres Gesamtbe- 
sitzes an religiöser Transzendenz schuldet, nun 
auch die Summe der materiellen Lebensordnung 
gutzuschreiben. Der Irrtum liegt in der Ver- 
kennung der Tatsache, daß Kapitalismus, so gut 
wie Technik, Wissenschaft, Verkehr, Kolonisation, 
Städteentwicklung oder Weltpolitik, nur Einzel- 
erscheinungen der Grundfunktion bedeuten, die 
in der Verdichtung und ihrer Selbstbehauptung, 
der Mechanisierung, liegt. Die Betrachtung der 
Einzelfunktionen mag entwickelungsgeschichtlich 
Bedeutendes zutage fördern; den inneren Zu- 
sammenhang enthüllt sie nicht. Wählt man ein- 
seitig eine der Einzelerscheinungen als Grund- 
variable, so laufen die übrigen als glückliche Zu- 
fallsergänzungen nebenher, und man muß es als 
eine Art prästabilierter Harmonie betrachten, daß 
die Geschichte der Erkenntnis, der Wissenschaft, 
der Entdeckungen jedesmal rechtzeitig die Er- 
rungenschaften lieferte, deren der Kapitalismus 
bedurfte. Am schwersten aber wird der Gärungs- 
theorie der Nachweis fallen, daß durch bloße Ein- 
wirkung eines Fermentes aus taciteischen und 
karolingischen Germanen preußische Kaufleute, 
Fabrikarbeiter, Gelehrte und Beamte werden 
konnten. Die Gesamtheit der neuzeitlichen Um- 
wälzung fordert zu ihrer Erklärung neben der 
Verdichtungswirkung den Rassenwechsel. 

Wäre der Wechsel jedoch unvermittelt und von 
Grund auf erfolgt, so hätte er die mechanistische 
Zivilisation nicht gezeitigt. Das Volk bedurfte 

r* 99 



noch lange germanischer Geistesleitung und be- 
darf noch heute germanischen Einschlages- Dieser 
Beschränkung verdankt das geistige Leben West- 
europas, insbesondere Deutschlands, die Erhaltung 
seines transzendenten Inhalts, verdankt Kunst und 
Geisteswissenschaft ihre Freiheit und ihre Inner- 
lichkeit, verdankt die Forschung ihre Aufopferung 
und Wahrheitsliebe, verdankt das Erwerbsleben 
seine Weitherzigkeit, das öffentliche Leben In- 
tegrität, Hingebung, Mut und Treue, Genau in 
der Abstufung, in der vom Norden nach dem Sü- 
den, Südwesten und Südosten hin der germanische 
Einschlag sich abschwächt, verdunkeln sich die 
Eigenschaften, die er den Völkern einprägte. Skan- 
dinavien, England, Deutschland, Holland, das 
zisleithanische Österreich und die Schweiz bilden 
noch heute das Weltzentrum und die Schule der 
Kulturqualitäten, welche die gräkoromanischen 
Länder großenteils verloren, die übrigen niemals 
besessen haben. Den Vereinigten Staaten, die 
hinsichtKch ihrer Einschlagsverhältnisse dem euro- 
päischen Durchschnitt entsprechen, fehlt die Vor- 
schule germanischer Oberherrschaft und Leitung; 
sie konnten daher zwar die mechanistische Zivi- 
lisation auf den höchsten Gipfel treiben, kultur- 
bildende Kräfte sind ihnen nicht entstanden, wenn 
man auch in einer Nation von achtzig Millionen 
eine leidhche Anzahl kultivierter Menschen auf- 
treiben mag. Die übrigen europäischen und euro- 
päisierten Länder haben sich den Mechanisie- 
rungsformen passiv, zumteil verständnislos ange- 
paßt, ohne Neues hinzuzufügen. Die Kultur 
Japans ist eine orientalische ; was an ihr europäisch 



lOO 



erscheint, ihr IdeaKsmus des Dienstes, ihre Natur- 
liebe und Muthaftigkeit, entstammt der Herr- 
schaft einer kriegerischen Oberschicht unbekannter 
Herkunft. 

Die treibenden Kräfte 

Unter dem Bilde des Interesses haben wir die 
Willensform erblickt, die den mechanistischen 
Menschen durch das Gewirr der Bindungen hin- 
durch von Mittel zu Mittel zu den Zielen leitet, 
die zu erstreben er sich berechtigt und befähigt 
glaubt. Freilich weicht die Fata Morgana vor 
seinem Nahen unablässig zurück, denn sein inneres 
Leben ist von Strebungen so durchsetzt, daß der 
Wille unbewußt zum Selbstzweck geworden ist. 
Dies drückt sich von innen, aus der Seele des 
Menschen betrachtet, so aus, daß das jeweils Er- 
reichte nach dem Bismarckischen Worte „auch 
nichts ist". Denn in der mechanistischen Welt 
darf kein Ziel erreichbar sein; sie bedarf aller 
Kräfte bis zum letzten Atemzuge, um ihren 
Wirbel zu beschleunigen, und straft den ent- 
sprungenen Sklaven mit Not, Vergessenheit, 
Langeweile oder vorschnellem Altern. 

Damit nun die Besessenheit des Strebens im 
Menschen nicht erlahme, bedarf es unerschöpf- 
licher Triebkräfte. Die materiellen Appetite, 
Hunger und Liebe, reichen nicht aus, denn auch 
die weitesten Ansprüche ihrer Üppigkeiten sind 
zu sättigen. Die ideellen Motoren, Pflicht, Schaf- 
fensfreude, Wissensdrang, Vervollkommnung, Aus- 
flüsse der transzendenten Liebe, lassen sich nicht 



lOI 



wissentlich in den Dienst einer materiellen Welt- 
ordnung stellen. So mußte die banalste und rät- 
selhafteste aller Leidenschaften, der Ehrgeiz, zur 
Verstärkung der bewegenden Mechanisierungs- 
kräfte ins Ungemessene gesteigert werden. 

Banal ist diese Leidenschaft, wenn man in ihr 
nur den Inbegriff . der am Durchschnitt sich mes- 
senden und darüber hinausstrebenden Appetite 
erblickt; rätselhaft wird sie, wenn man alle ma- 
teriellen Begierden abspaltet und erkennt, daß 
dennoch etwas übrig bleibt, das sie alle an Heiß- 
hunger und Nachhaltigkeit übertrifft. Dies Etwas 
ist das Streben nach Geltung, und zwar ohne Hin- 
blick auf die indirekten Vorteile, die aus ihr er- 
wachsen können, sondern lediglich nach Geltung 
selbst, nach Anerkennung, Bewunderung, Benei- 
dung. Dies Streben darf nicht verwechselt werden 
mit dem wesentlich seltneren, dem Schaffensdrang 
verwandten Willen zur Verantwortung und somit 
zur Herrschaft. So war Napoleon in diesem eitlen 
Sinne nicht ehrgeizig, wenn auch höchst herrsch- 
süchtig; am Urteil der Menschen lag ihm nur da, 
wo er ihrer bedurfte ; Gesetze und Organisationen 
ihnen vorzuschreiben war ihm wichtig. Die Krö- 
nung in Notre Dame, der erhabenste Traum des 
Histrionen, war ihm ein lästiges Theaterspiel, die 
Ausarbeitung des Code Civil ein hohes Glück. 

Rätselhaft ist der abstrakte Ehrgeiz deshalb, 
weil alle Bewunderung der Maske gilt, und von 
der Maske zum Träger kein inneres Band der Iden- 
tität führt. Die Huldigung bleibt die gleiche, auch 
wenn sie den Wagenlenker für den Triumphator 
hält, denn sie gilt einem beliebigen Leichnam. 



102 



Rätselhaft ist ferner der wahnsinnige Wille zur 
Abhängigkeit, der Sturz in die Knechtschaft der 
fremden Meinung. Diese Leidenschaft läßt sich 
nur erklären aus atavistischen Gefühlsreihen von 
Zurücksetzung, die ihre Umkehrung auszulösen 
streben, und aus der ererbten Furcht vor Menschen, 
die sich ihres Gegenstandes zu entledigen, wo- 
möglich zu bemächtigen sucht, nun aber, da sie 
sich ihrer selbst nicht entledigen kann, als Furcht 
vor Meinungen endet, da sie zuvor Furcht vor 
Handlungen gewesen war. 

Diese krankhafte Psychologie unterdrückter Ge- 
nerationen, die den Schwerpunkt außerhalb der 
Persönlichkeit legt und das innere Gleichgewicht 
des Menschen aufhebt, war dem germanisch freien 
Stammeswesen unbekannt. Germanisches Selbst- 
bewußtsein, Unabhängigkeitsgefühl und Herren- 
tum ist uns überliefert, germanischer Ehrgeiz und 
Eitelkeitshang ist undenkbar ; wie denn eine Reihe 
von Merkmalen schlechthin als Indikatoreigen- 
schaften der Urrassen angesehen werden können: 
vor allem Unwahrhaftigkeit, Eitelkeit, Neugier 
und Verkleinerungslust. 

Im absoluten Ehrgeiz hat die auftauchende 
Unterschicht sich ihre leitende Begierde ge- 
schaffen. Daneben aber hat sie einem der ur- 
sprünglichen Appetite eine veränderte, die 
mechanistische Bewegung gewaltsam fördernde 
Form gegeben. 

Die Freude am überflüssigen Besitz ist alt und 
allgemein menschlich, wenn sie gleich bei edleren 
Rassen gemindert, bei edleren Individuen fast 
verflüchtigt erscheint. In ihrer primitiven Form 

103 



verlangt sie nach Handgreiflichem, Glänzendem; 
Dingen die zieren, schmücken, die anziehen oder 
Neid erregen. In entwickelter Form nähert sie 
sich der fanatischen Freude am Ordnen, Ver- 
walten und Schaffen. 

Die Mechanisierung mußte von der niederen 
. Form der Besitzesfreude ausgehen, die zum gei- 
stigen Inventar der Unterschicht gehörte; sie 
trieb diese Leidenschaft empor, indem sie eine 
nie geahnte Fülle von Produkten ihrer Begierde 
entgegenhielt, und erzeugte so den beispiellosen 
Warenhunger, der direkt oder indirekt mehr als 
die Hälfte der Weltarbeit verbraucht. Das Kaufen 
und Kaufenkönnen ist zumal das Glück der Frauen. 
Und da Maschine und Manufaktur unabsehbare 
Mengen von Surrogaten des Naturgenusses und 
von Surrogaten dieser Surrogate liefern, nach 
Herzenslust geschmückt und staffiert — denn den 
Mechanismus kostet es nichts, mit einem Handgriff 
alle Formen der belebten Welt auf das nüchterne 
Material zu prägen — so ergänzt und erneuert 
sich alljährlich das ungeheure Warenlager des 
menschlichen Besitzes. Wie die Eroberer des 
Pekinger Kaiserpalastes bis an die Knie in seide- 
nen Stoffen wateten, so stampft der erwerbende 
Mensch durch Ströme von Waren, mit denen ihn 
keine eingewohnte Liebe zum Gerät verbindet, 
und läßt Ströme von Abfällen hinter sich zurück. 
Wir lesen vom Reichtum einer griechischen Stadt 
und bedenken nicht, daß im Hause des Bürgers 
nichts anderes zu finden war, als ein paar Tische 
und Betten, ein Dutzend Tongefäße, Decken und 
vielleicht ein kupferner Kessel. Die jährlichen 

104 



Abgänge einer unserer bürgerlichen Wohnungen 
sind umfangreicher als dieser ganze klassische 
Besitz. 

Ehrgeiz und Warenhunger arbeiten sich in die 
Hände. Der eine zwingt den Menschen, sich im- 
mer fester in das Joch der Mechanisierung ein- 
zupressen; er steigert seine Erfindungskraft, sei- 
nen produktiven Willen. Der andere erhöht sein 
Konsumbedürfnis und läßt ihn doch gleichzeitig 
empfinden, daß nur ein emsig schaffendes Organ 
die Lust des Kaufens dauernd genießen darf. 

Die Summe der beiden Haupttriebkräfte aber 
steigert sich zu einem Gesamtwillen, der ent- 
schiedener als irgend eine andere Erscheinung die 
Seele unserer Epoche kennzeichnet, indem er ihr 
den Stempel des nach außen gerichteten Strebens 
aufprägt. Diese Suprematie des substantiellen 
Willens über die Seelenkräfte, dieses Zweck- 
menschentum, das dem Wesen furchthafter Stämme 
entspringt, setzt die okzidentale Rassenverschie- 
bung in das hellste Licht psychologischer 
Betrachtung. 

Die Ideale 

Einem Menschen kann man nicht tiefer ins 
Herz blicken, als wenn man seine Träume 
und Wünsche erforscht und deutet. Wollen 
wir unser Bild vom Wesen dieser Epoche ver- 
tiefen, so können wir nichts besseres tun, als den 
Spuren ihrer Ideale nachzugehen; denn sie sind 
nicht nur die bewußten und unbewußten Träume, 
Ahnungen und Sehnsachten einer Gemeinschaft, 

105 



sondern zugleich verklärte Spiegelungen ihres eige- 
nen Wesens. Ein Mensch kann vom andern träu- 
men, sich mit ihm vergleichen, ihn bewundem, 
sich nach ihm formen: die Gemeinschaft träumt 
nur sich selbst; denn fremdes Wesen ist Kenntnis 
des Einzelnen, der Gesamtheit ist es unwichtig 
und unbekannt. 

Nun folgt sofort ein Widerspruch: Damit das 
Spiegelbild klar und rein erscheine, muß die pro- 
jizierende Flamme gleichmäßig leuchten : nur ho- 
mogene Gemeinschaften haben Ideale. Ein Eng- 
länder, ein Franzose, ein Neger und ein Mongole, 
die sich im Eisenbahnwagen unterhalten, können 
sich vielleicht über letzte nebelhafte Ziele der 
Menschlichkeit verständigen; ihre Begriffe von 
dem, was schön, gut und wahr ist, werden weit 
auseinandergehen. Nun ist aber die europäische 
Gemeinschaft ein Verschmelzungsprodukt zweier 
Schichten, die nicht durchweg und gleichmäßig 
sich durchdrungen haben: von der Legierung bis 
zur Mengung findet von Süd nach Nord ein mäh- 
licher Übergang statt, überdies mit wechselnden 
Massenverhältnissen der Komponenten. Ist dieses 
Konglomerat genügend homogen, um Ideale zu 
erzeugen ? 

Sodann: die mechanistische Lebensform ist ein 
Kreislauf ohne Ziel, eine sich selbst verstärkende 
Maschinerie ohne Tendenz nach außen, in sich ge- 
schlossen und ausschließlich: kann sie absolute 
Ziele und Werte schaffen oder auch nur aner- 
kennen oder selbst erhalten? Wird sie nicht am 
Ende dahin neigen müssen, alles im Menschen zu 
beschwichtigen, was an Fragen, Hoffnungen und 

io6 



Träumen in ihm auftaucht, weil diese immateri- 
eUen Regungen ihn dem Arbeitsprozeß entziehen ? 
Wird sie nicht immer wieder ihre handgreiflichen 
Werte, ihre rechnerischen Denkformen, ihre tat- 
sächlichen Forschungen emporheben, um ihre 
Gefolgschaft zu blenden oder zum mindesten 
durch Zwiespalt zu beherrschen? 

Ein annähernd lückenloses Bild der zeitgenössi- 
schen Ideale wird sich uns nicht entrollen. Wir 
werden uns begnügen müssen, aus Fragmenten 
halbzerstörter Untermalung und aus neu hervor- 
tretenden Umrißlinien den Sinn der Zeichnung 
zu erraten: Hier und da werden alte und neue 
Formen sich durchkreuzen, hier und da werden 
wir Gebilde unter dem Hauch der Mechanisierung 
erloschen finden ; doch wird der Eindruck des Er- 
kennbaren die Vermutung rechtfertigen, daß über- 
all da, wo die fortschreitende Homogenisierung 
bereits Grundzüge neuer Ideale festgelegt hat, 
die alten merklich dem Verlöschen sich nähern. 
Wie bisher wird die Darstellung die den west- 
europäischen Ländern gemeinsamen Züge her- 
vorzuheben suchen, und dort, wo Spezialisierung 
erforderlich scheint, den deutschen Verhältnissen 
sich zuwenden. 

Das leibliche Ideal. Trotz der unendlichen 
Mannigfaltigkeit des Materials können ihm einige 
kennzeichnende Züge abgewonnen werden. Es 
ist dem griechischen ähnlich, aber erhebUch schlan- 
ker, weniger gerundet, straffer gemuskelt. Der 
Kopf größer, aber immer noch klein im Ver- 
hältnis zum Körper, der Hals dünner und länger. 
Die Nase stärker gebogen als die griechische und 

107 



bedeutend schmaler, aber gleichfalls lang. Die 
Lippen weniger voll, die Wangen weniger tief, 
die Stirn flacher. Vor allem das Weib weniger 
breitbrüstig und heroinenhaft, zarter und jung- 
fräulicher. Alles in allem der Leib feiner und 
rassiger, mehr den equestrischen als den gymnasti- 
schen Übungen angepaßt. Zweifellos ist dieser 
blonde und blauäugige Idealtypus den überleben- 
den germanischen Naturen entlehnt: er tritt 
überall da hervor, wo die Absorption noch nicht 
vollendet ist, selbst in Frankreich. Spanien, das 
Land der frühesten Vermischung, kennt ihn in 
seiner neuzeitlichen Kunst nicht mehr; in Ita- 
Ken herrschte er bis zum Ende der Frührenaissance ; 
mit dem beginnenden Barock war er, wie zu er- 
warten, verschwunden. Heute steht der spanische 
Idealtypus dem arabischen, der italienische dem 
gräkoromanischen näher , und südfranzösische 
Künstler beginnen, die volleren Formen der 
Frauen ihres Landesstriches zur Norm zu er- 
heben. 

Die Beibehaltung des germanischen Körper- 
ideals zeigt, was auch ein Blick in neupreußische 
Verwaltungs- und Militärverhältnisse bestätigt, daß 
das Volk unbewußt das reinere Germanentum, so- 
weit es ihm noch sichtbar vor Augen steht, als 
das edlere Blut, sich selbst als Abkömmling unter- 
drückter und unedler Geschlechter betrachtet. 
Zu dieser Selbstlosigkeit stimmt die humorvolle 
Bescheidenheit, in der ein Teil des deutschen Bür- 
gertums sich mit FamiHennamen abfindet, die 
bloße Gattungs- und Berufsbezeichnungen be- 
deuten, und die zuweilen verderbt slavisch, un- 

io8 



verständlich, absurd oder vulgär klingen, während 
der weniger entgermanisierte Nordseestrich, vor 
allem aber Skandinavien, die Benennung nach 
dem Vorfahren sich erhalten hat. 

Das menschliche und das ethische Ideal 
sind vereint zu betrachten, denn sie hängen durch 
die Grundanschauungen des Zielbewußtseins 
zusammen. 

Im Menschlichen herrschen die alten germani- 
schen Idealbegriffe des Mutes und der Großmut. 
Der mutig Kraftvolle wird bewundert und ge- 
liebt ; ihm ist alles erlaubt, was er durch souveräne 
Gewalt durchsetzt, sofern er sich als ein großmüti- 
ger, gerechter und milder Herr erweist, jedoch 
mit der neuzeitlichen Einschränkung, daß nicht 
etwa geschädigte oder erschreckte Individuen und 
Gesellschaften sich entrüsten. Der Aufrührer, der 
Revolutionär, der kirchliche Empörer, der Konquis- 
tador werden gepriesen, verehrt und zuweilen staat- 
lich anerkannt, wenn sie Erfolg haben. Verachtung 
trifft, abgesehen vom vertierten Menschen, eigent- 
lich nur den Feigling und seine heimlichen Taten. 
Hinterlist, Betrug, Diebstahl, ja selbst Lüge, die 
im außergermanischen Kreise als zulässige Di- 
plomatie gilt, werden verabscheut und in neuzeit- 
icher Abstufung nach Maßgabe der Vermögens- 
gefährlichkeit bestraft. Den Taten der Leiden- 
schaft und des Übermuts steht das Volksbewußt- 
sein indifferent, ja mit einer Art von Wohlwollen 
gegenüber, sie sind Gegenstand der Dichtung, und 
der Kontrast zwischen menschlichem Verstehen 
und sozialer Sühneforderung bildet tragische Kon- 
flikte. Handlungen der Großmut und mutiger 

ICQ 



Aufopferung begeistern, Ausflüsse der Güte, der 
Friedfertigkeit, des Erbarmens lassen kalt. Ein 
feiger Mensch könnte, abgesehen von slavischer 
Literatur, heute noch nicht Held europäischer 
Gedichte sein, auch wenn er mit allen Tugenden 
der Evangelien ausgestattet wäre. 

Dagegen läßt sich eine gewisse Verschiebung 
des Idealtypus in der Richtung der Energie und 
des Intellekts feststellen. Amerikanische Menschen 
des Erfolges beginnen den Massen zu imponieren; 
mutige Erfinder und Entdecker werden höher ge- 
feiert als vordem Kriegshelden; zum Lesebuch 
des Volkes ist nach Ritter- und Indianergeschichten 
der Detektivroman geworden. Ja es beginnt hier 
bereits eine gewisse Verwirrung des bürgerlichen 
Empfindens: in einer Zeit, die den Erfolg an die 
Stelle des Sieges gesetzt hat, kann man nicht um- 
hin sich einzugestehen, daß den Helden von ehe- 
dem die Eigenschaften fehlen, welche die Mechani- 
sierung verlangt. Man strebt, den Erfolgreichen 
nachzuahmen, und kann somit nicht unterlassen, 
sie zu bewundern, wo nicht gar zu lieben. Roose- 
velt kämpft mit Blücher und gedenkt zu siegen. 
Das germanische Ideal, das dem Ansturm des 
Christentums durch ein Jahrtausend standhielt, 
ist durch die Mechanisierung erschüttert. 

Sichtbarer noch sind die Einwirkungen der neu- 
gestalteten Zivilisation auf die Ethik der Gemein- 
schaft, zumal auf die Schärfung des öffentlichen 
Gewissens. Die christliche Kirche durfte alles 
menschliche Elend als Prüfung bezeichnen und 
auf das Jenseits verweisen ; die Reformation konnte 
in großartiger Abnegation auf jegliches fromme 



HO 



Verdienst verzichten. So begnügte sich die ältere 
Zeit hinsichtlich aller Wohlfahrtsbestrebungen 
damit, Siechenhäuser, Irrenkerker und Kloster- 
suppen zu stiften, und alles übrige der privaten 
Barmherzigkeit anheimzustellen. Die mechani- 
stische Epoche dagegen übernahm von ihren 
Schöpfern, unterdrückten und furchthaften Stäm- 
men das Mitleid, das nichts anderes als eine alt- 
ruistische Furchtempfindung ist. In der Verherr- 
lichung dieses Pathemas zum ethischen Ideal lag 
zweifellos eine gewisse Diesseitigkeit der Anschau- 
ung, ja ein ethischer Materialismus; doch ist 
durch die gesetzgeberische und organisatorische 
Ausgestaltung des Wohlfahrtswesens, vor allem 
aber durch die Überzeugung des öffentlichen Ge- 
wissens, daß alles menschUche Elend als Blut- 
schuld der Gesellschaft zu erachten sei, ein Wert 
von so gewaltiger Positivität entstanden, daß jede 
künftige Einschätzung der Mechanisierung ihn 
in Rechnung zu stellen haben wird. 

Das religiöse Ideal. So mächtig die Kirche 
das Leben der früheren Jahrhunderte durchdrang, 
so gering war die Wirkung der in ihr verkörperten 
reinen christlichen Ideen auf das Germanentum. 
Widerwillig aufgenommen, durch Höllenzwang 
gefestigt, konnte die Kirche den Abgrund, der 
zwischen dem Worte Christi und ihren hier- 
archisch-politischen Aufgaben lag, nicht über- 
brücken. Mit dem Mutideal des Germanen, das 
ihren Lehren der Demut widersprach, mußte sie 
sich abfinden; die wenig evangelischen Sitten 
abendländischer Lebensweise, Politik, Kriegsfüh- 
rung mußte sie dulden, ja ihren irdischen Zielen 



III 



dienstbar machen. Den letzten transzendenten 
Inhalt ihrer Verkündigung durfte sie den Massen 
nicht übermitteln, um nicht die weltliche Ord- 
nung zu stören oder aufzuheben. Die Lehre von 
der Liebe, der Weltflucht, der Demut, der Kind- 
lichkeit, der Zweckfreiheit, dem Gottesreich blieb 
esoterisch, ein Besitz der Heiligen. Ins Volk drang 
der Mariendienst, die Geschichte der Geburt und 
der Leiden Jesu, der Olymp der Heiligen, der 
Begriff der Sünde und der Gnade, Himmel und 
Hölle. Diese Inhalte haben die Kunst aufs glück- 
lichste befruchtet, sie haben manches fromme Ge- 
müt mit göttlicher Ahnung erfüllt und starke 
Gewissenspressionen auf die jungen Völker aus- 
geübt; die Ideen Christi haben sie dem Abend- 
lande nicht mitgeteilt. Man kann deshalb fast 
durchweg in der vorreformatorischen Geschichts- 
schreibung Europas den Begriff des Christentums 
durch den der Earche ersetzen. Die Reformation 
hat neben ihren großen dogmatischen und rituellen 
Umgestaltungen die Evangelien literarisch er- 
weckt und aus ihrem Inhalt soviel überströmen 
lassen, daß den Schwachen Tröstung, den Mächti- 
gen Erbauung gespendet wurde. Ein evange- 
lisches Leben in Wahrheit zu verwirklichen, hat 
auch sie nicht versucht, und ist somit Kirche ge- 
blieben. Ja mehr noch : sie war Macht und diente 
der Macht, so daß gelegentlich der naiv- verruchte 
Gedanke aufkommen konnte: da nun einmal 
Christus die Notleidenden tröstet, so möge ihnen 
damit genug sein ; man gebe ihnen statt Brot stei- 
nerne Kirchen, um sie desto besser in göttlicher 
Furcht und menschlicher Abhängigkeit zu erhalten. 



112 



Die beginnende Mechanisierung fand sich so- 
mit der Macht zweier Kirchen gegenüber und 
wandte gegen sie das ganze Arsenal ihrer For- 
schungsergebnisse und Verstandesmethoden; zum 
Christentum selbst drang sie nicht vor. Selbst 
der späte und reiche Geist Nietzsches wütete 
gegen die Kirche, indem er glaubte, mit Christus 
zu kämpfen. 

Noch heute ist die mechanistische Epoche in 
christlichem Sinne nicht weiter gekommen. Sie 
hat den kirchlichen Liberalismus emporgebracht, 
und ringt in materieller Auffassung um dogma- 
tische Konzessionen. Populär-historische Fragen 
werden mit Leidenschaft diskutiert, und ^als Ziel 
erscheint eine dritte Kirche mit unpersönUchem 
Dogma. 

Auch da, wo die Zeitanschauung sich vom 
Christentum löste, konnte sie ihr religiöses Emp- 
finden vom terrestrischen Bande der Vernunft 
nicht befreien, gleich als ob eine vielbeschäftigte 
Zeit es für angemessen hielt, die göttUchen Dinge 
mit der Geistesmechanik des Alltages zu erledigen, 
um nicht allzuweit von ihren vermeintlich pro- 
duktiveren Aufgaben hinweggerissen zu werden. So 
griff sie denn immer wieder zu den plumpen He- 
beln des Materialismus, ließ sie unüberzeugt fahren, 
wenn angesehene Leute ihr ins Gesicht lachten, 
und spähte beständig nach heimlicher Gelegenheit, 
um zu ihrem Lieblingsspielzeug zurückzukehren. 

Denn bei den edleren ungermanischen Rassen 
mischt sich — wie bei den Juden ersichtlich — in 
seltsamer Weise Aberglauben mit hoher Trans- 
zendenz. Der abergläubische Teil sieht in der 

I 113 



Religion die Mirakelseite des Naturgeschehens. 
Glaubt er sich von Mirakeln und Gebetwundern 
unterstützt, so behält er eine gewisse dumpfe 
Dämonologie bei, nicht ohne sich seiner Unauf- 
geklärtheit ein wenig zu schämen. Hat er ent- 
täuscht oder kämpfend dem Wunderwesen ein 
Ende gemacht, so läßt er sich im Gefühl erledig- 
ten Vorurteils mit einer entgötterten Welt oder 
einem deistisch-pantheistisch verwalteten Natur- 
theater genügen. Der Anspannung der Seelen- 
kräfte, des reUgiösen Erlebens, der transzendenten 
Intuition ist ein anderer Teil dieser Menschen von 
jeher in hohem Maße fähig gewesen ; doch haben ihre 
Stimmen in der mechanistischen Welt bisher wenig 
Nachhall gefunden. Die Anschauung dieser Welt 
geht eben dahin, alles Geschehene sei unerstaun- 
lich, von ausschließlicher Realität, nicht ethischen, 
sondern mechanischen Gesetzen unterworfen, ohne 
absolute Werte, durch Vernunft erschöpfbar. 
Diese Anschauung ist aber nichts anderes als die 
Gefühlslokalisierung der Tatsache, daß der noch 
junge mechanistische Prozeß die Seelenkräfte zu- 
gunsten der Geisteskräfte unterdrückt. Sollte 
dieser Zwangszustand nachlassen, so würde die 
entgermanisierte Bevölkerung an transzendenten 
Kräften sich reich genug erweisen, um ein von 
Erdenfesseln freies religiöses Ideal emporzutragen : 
Beweis ist die echte und große Sehnsucht edlerer 
Naturen, die mit nicht geringerer Inbrunst als 
vor zweitausend Jahren auf Erlösung wartet. 

Das Ideal der Kunst. Die Kunst entstand 
aus Schmuck und Spiel primitiver Völker. Die 
erste Segnung wurde ihr zuteil, als sie im Stande 

114 



beginnender ZiviKsation als Handwerk gebunden 
wurde. Kßeraus erwuchsen ihr die Vorteile der 
technischen Bindungen an Materialien und Kräfte, 
der traditionellen Summierung der Erfahrungen 
durch Generationsreihen, der Breviloquenz und 
Symbolik des Ornaments, der Vorräte an land- 
läufigen Inhalten und Gegenständen, der Ge- 
folgschaft einer im Mitempfinden und Verstehen 
fortschreitenden Bevölkerung. 

Eine zweite Steigerung geschah, als Könige, 
Priester und Herren die Kunst ihren Hofhaltungen 
dienstbar machten, denn es wuchs die Größe der 
Aufgaben, es entstand, von reicheren Mitteln 
gefördert und dem Alltäglichen überhoben, ein 
Zusammenwirken der Kräfte zu vorbildlichem, 
monumentalem Schaffen. 

Die dritte und höchste Weihe wurde der Kunst 
durch Eroberung aufgezwungen. Kunstfremde, 
aber hochgeartete, dem Wesentlichen zugewandte 
Kriegsstämme unterwarfen die kunstfertige Zivi- 
lisationsmasse, die an die Grenze ihrer eigenen 
Entwicklungsmöglichkeit gelangt war, und insti- 
tuierten ein Adelsregiment, das wohlwollend und 
aufs Große gerichtet die Kunst zu sich emporzog, 
indem esihr den Inhalt des individuellen, des seelen- 
haften, des gefühlstiefen Lebens verlieh. Bis in 
die historische Zeit hinein können wir derartige 
Vorgänge gewaltsamer Befruchtung verfolgen ; 
Oberitalien, Nordfrankreich, Sizilien, Spanien be- 
zeugen sie. Daß Hochkultur niemals anderen als 
zweischichtigen, von kriegerischen Aristokraten be- 
herrschten Nationen beschieden war, haben wir 
uns vergegenwärtigt, wie auch ferner, daß erst 



%• 



"5 



der Vermischungsprozeß die letzten und tiefsten 
Kräfte entbinden konnte. 

War die Mischung geschehen, die Masse ge- 
flossen und beruhigt, so geschah in allen Jahrhun- 
derten und in allen Nationen das Gleiche, in 
Griechenland wie im Italien der Renaissance, in Hol- 
land wie in Frankreich, in Italien wie in Deutsch- 
land : die Kunst hatte ihren transzendenten, ihren 
religiösen, ihren seelenhaften Inhalt verloren, sie 
war wiederum zur rein sinnlichen Kunst ge- 
worden. 

Das Wort fordert eine Erläuterung. Freilich 
muß alle Kunst vor allem anderen sinnlich sein, 
denn durch die Sinne wird sie uns zuteil und wirkt 
auf unser inneres Leben. Unter rein sinnlicher 
Kunst aber soll diejenige verstanden sein, die auf 
dem Wege der Sinne nur das sensitive, nervöse, 
der Erde zugewandte und von ihr abhängige Leben 
ergreift, während transzendente Kunst bis in das 
Urgebiet der Seele, bis in die undifferenzierten 
Regionen vorzudringen vermag, in denen jenseits 
aller Wünsche und Begierden die ewige Einheit 
und Harmonie ahnbar wird. Den Kontrast des 
Sinnlichen und Transzendenten kann man nicht 
deutlicher als in Beethovens Kunst erfassen, etwa 
im Vergleiche des Septetts oder der Fidelioouver- 
ture mit der Missa Solemnis. Im Sinne dieser 
Unterscheidung beschränkt sich der Begriff der 
sinnlichen Kunst durchaus nicht auf das Gebiet 
niedriger Reizungen; auch Gebilde unvergäng- 
licher Schönheit sind in diese Definition einge- 
schlossen, wie die vom Pathos der Angst und der 
Beschwörung durchtobten Psalmen der Hebräer. 

ii6 



Dies aber kennzeichnet die Künste der Ver- 
schmelzungsepochen, daß sie immer wieder den 
Weg eingeschlagen haben vom Religiösen zum 
Ekstatischen und Deklamatorischen, vom orga- 
nisch Struktiven zum stimmungsmäßig Kolo- 
ristischen, vom Architektonischen zum Dekora- 
tiven, vom Gemütvollen zum Sentimentalen, vom 
Ergreifenden zum Sensationellen ; symbolisch 
gesprochen: von der Linie zur Farbe und vom 
Organismus zum Eindruck. 

Während der früheren Perioden der Abstiege 
wurde die Kunst aus ihren beiden ältesten Bin- 
dungen, der handwerklichen und der höfischen, 
nicht entlassen ; im Gegenteil, ihre äußeren Fesseln 
verengerten sich. Der souveräne Auftraggeber 
war anspruchsvoller, verwöhnter, eigensinniger 
geworden und zwang das Metier zur äußersten 
Anspannung seiner technischen Fertigkeiten, und 
an die Stelle kontrollierenden aristokratischen Gei- 
stes trat die geschulte Zunft der Kenner, die nicht 
aus Reinheit des Empfindens, sondern nach be- 
quem erlernbaren Regeln urteilte und Tradition 
in Konvention verwandelte. Unter solchem Zwang 
kamen seelenlose, aber meisterlich vollendete Werke 
zustande, die durch die Jahrhunderte hindurch 
immer wieder das Gefallen der Mächtigen erreg- 
ten, und die von Einzelnen für unsere Zeit ersehnt 
werden. 

Freilich vergebens. Denn die mechanistische 
Epoche hat längst diese beiden Bindungen der Kunst 
gelöst. Die eine mußte fallen, weil bei erhöhtem 
Volkswohlstand und doppelt erhöhter Kunstpro- 
duktion nur noch die bürgerliche Gesellschaft als 

117 




Bestellerin auftreten konnte; die andere, weil 
alles Handwerk erstarb und mit ihm der Stolz 
der Geschicklichkeit, der Übung und der Über- 
lieferung. So war die Kunst befreit durch den 
Bruch der Kontrolle und den Bruch der Tradi- 
tion; aus Hofkunst wurde Bürgerkunst, aus Hand- 
werkskunst Talentkunst. Gleichzeitig aber war 
eine dritte Dimension der Freiheit eröffnet; denn 
durch Forschung, Verkehr und technische Mittel 
erschlossen lag plötzlich alles vergangene, alles 
fremdländische Kunstwesen handgreiflich vor aller 
Augen. Man erkannte, daß, von wechselnden 
Verhältnissen bedingt, jede Form, jede Rich- 
tung, jeder Inhalt möglich, keine Bedingung 
absolut, keine Lösung ewig war. Nun begann 
ein Wühlen und Wählen, das nun schon drei 
Generationen lang andauert, und dahin zu führen 
scheint, daß man künstliche Bedingtheiten mög- 
lichst nationaler Art erfindet, um nicht aus Reich- 
tum zu verarmen und den beschämenden Weg der 
karnevalistisch travestierenden Mode zu wandeln. 
Muß man also von Schranken befreite Sinnes- 
kunst als das Kunstideal der Mechanisierung be- 
zeichnen, so darf daran erinnert werden, daß eine 
Länder und Generationen überblickende Be- 
trachtung ebensowenig zu Wertbemessungen wie 
zu ausschließlichen Urteilen gelangen darf. Das 
vorahnende Fühlen der Kunst, vielfach zusammen- 
wirkend mit der Kontraimitation, die den rasch 
abstumpfenden Geschmack dieser Zeit dem Kon- 
trast entgegentreibt, hat zeitiger als auf anderen 
Lebensgebieten Gegenströmungen in der Kunst 
erweckt, die auf Beschränkung und Verinner- 

Ii8 



lichung hinstreben. Freilich haben solche Re- 
gungen, die uns vornehmlich in der deutschen 
Dichtung entgegentreten, einen doppelten Kampf 
zu bestehen: mit den Schreibern, die Rückfällig- 
keiten ahnden — denn im Kunstbetriebe verlangt 
man nach mechanistischem Gesetz stets das 
äußerlich Neue — und mit dem Publikum, das 
seine sauer erworbene Revolutionsgesinnung noch 
lange nach Friedensschluß zäh verteidigt. 

Inzwischen spielen die Wirkungen der mecha- 
nisierten Produktionsform unmittelbar in die 
Werkstätten der Künste hinein. Die Erschwerung 
des Existenzkampfs, die Konkurrenz, der massen- 
hafte Bedarf und seine massenhafte Deckung, die 
Publizistik, das Ausstellungswesen, die Aushilfs- 
beschäftigungen treiben zu hastiger, skizzen- 
hafter, äußerlich aufgereihter Produktion; die 
Grenzgebiete zwischen Kunst und Geschäft ver- 
zehren einen starken Teil der Arbeitskraft. Das 
Spiel der Mode tritt hinzu, der Drang zum Neuen, 
die Präponderanz des weiblichen und des gewerbs- 
ästhetischen Urteils, zuletzt die geschäftliche oder 
tendenziöse Begründung der Aufträge; so darf 
es nicht wundernehmen, daß die bedächtigste 
der Künste, die Architektur, unter der Mechani- 
sierung ihrer vielgeschäftigen Betriebe zum kunst- 
historischen Dekorationsgeschäft herabsank, und 
daß die jüngste französische Malerei in Technik 
und Inhalt ihrer Werke sich indianischen Darbie- 
tungen nähert. 

Das Ideal der Wissenschaft. Welch wun- 
derbare Prädestination für Wissenschaftsbetrieb 
den germanisch durchsetzten Völkermischungen 

119 



innewohnt, haben wir gesehen. Die Liebe zum 
Tatsächlichen der Urvölker als Grundlage der 
Forschung, die Idealität der Germanen als un- 
beirrbare Instanz der Betrachtung mußten sich 
verbinden, um das mechanistische Wunder der 
Zeiten, die moderne Gesamtwissenschaft, möglich 
zu machen. Die eigentümliche Richtung jedoch, 
die den Wissenschaftsgeist zum mächtigsten Fak- 
tor der Mechanisierung erhob, verdankt sie der 
Zweckhaftigkeit der einstig Unterdrückten. Wenn 
der phantastische Mensch sich mit der verein- 
fachenden Erklärung begnügt und den Donner als 
Gottesstimme, den Himmel als eherne Sphäre hin- 
nimmt, so verlangt der Zweckhafte, die Erschei- 
nung sich dienstbar zu machen, sie ganz zu be- 
sitzen, wie er sagt : dahinter zu kommen. Er stellt 
die sieben Fragen, wittert Widersprüche, verlangt 
Beweise. Diese Beweise aber kann nur die Rech- 
nung liefern, weil sie als unumstößlich gilt, und 
so beginnt er zu zählen, zu messen, zu wägen, zu 
rechnen. Es hat etwas Einleuchtendes, daß No- 
maden, die ersten Besitzer zahlenmäßiger Güter, 
Erfinder des rechnerischen Denkens auf Erden 
gewesen sind; und somit wären die Patriarchen 
der Hirtenvölker nicht nur die Väter des Kapi- 
tals, sondern auch der exakten Wissenschaft. 
Indem nun die Wissenschaft die rechnerische und 
experimentelle Ermittelung des Gesetzmäßigen 
zum höchsten Prinzip erhob, entäußerte sie sich 
in einem Akt großartiger Selbstverleugnung für 
immer der Spekulation und der Hoffnung auf 
absolute Erkenntnis. Sie widmete ungezählte Ge- 
schlechter der Lösung Spezialisiertester Aufgaben, 



120 




indem sie es sich genügen ließ, das ungemessen zu- 
strömende Material des Tatsächlichen in das Netz- 
werk der Gesetzmäßigkeiten zu verflechten und hier- 
durch für die Menschheit erträglich zu machen. 
Der Mechanisierung zugeführt, hat die Summe 
der entdeckten und errechneten Tatsachen und 
Zusammenhänge erstaunliche technische Ergeb- 
nisse gezeitigt; im Sinne der Erkenntnis ge- 
messen, hat sie das Gebiet des Unbegreiflichen 
zwar mit neuen Fragestellungen bestürmt, jedoch 
nicht verkleinert sondern vergrößert. Das Prin- 
zip der mechanischen Gesetzmäßigkeit aber hat 
sich derart als wissenschaftliche Denkform un- 
serer Zeit festgesetzt, daß die erzählenden, schil- 
dernden und urteilenden Wissenschaften nur so- 
weit als reine Wissenschaften erscheinen, als sie 
sich dieser Form bedienen können, im übrigen 
als Verwandte der Technik und der kritischen 
Kunst sich anlassen. 

Der zweckhafte Einschlag, der die Wissenschaft 
zur Exaktheit zwang und ihr Ideal zu einem im 
höchsten Sinne geometrischen machte, durch- 
dringt, wie den Betrieb, so die Menschen, die ihm 
angehören, und unterscheidet sie auf das ent- 
schiedenste von künstlerisch schaffenden. 

In einer Zeit, die den gewaltigsten Besitz der 
Urvölker, die ethische Produktivität, noch nicht 
zutage gefördert hat, sind sie die höchsten Ver- 
treter des Zweckmenschentums, und ihr geistiger 
Schatz kann als der Idealismus der Materiellen 
gelten. 

Daß das politische Ideal unserer Zeit, so- 
weit es auf die Verhältnisse der Völker zuein- 



121 



ander sich bezieht, im Nationalismus zu suchen 
ist, mag auf den ersten Blick befremden. Denn 
das Netz der Mechanisierung ist international: 
niemals waren die Völker einander so nahe, nie- 
mals haben sie der Wechselwirkung so sehr be- 
durft, einander so viel besucht und so gut gekannt. 
Da aber der Nationalismus als Zentralgedanke 
sehr jung, kaum mehr als hundertjährig die Politik 
beherrscht, da er, aus bewußtem Gegensatz zum 
Kosmopolitismus des Aufklärungsalters entstanden, 
gemeinschaftlich mit der Mechanisierung auf- 
gewachsen ist, so muß sein Ursprung wo nicht 
im Wesen, so doch in den Modalitäten der 
Mechanisierung begriffen werden. 

Indem wir nun das Paradox zu erklären suchen, 
wie die fortschreitende Homogenisierung und An- 
gleichung der Völker ihren Willensausdruck in die 
Betonung der relativen Kontraste setzen konnte, 
müssen wir uns erinnern, daß die Hochperiode 
der Mechanisierung die europäische Welt in einem 
Augenblick tiefster pohtischer Zerklüftung über- 
rascht hat. Vereinigt standen zu Anfang des 
letzten Jahrhunderts die leitenden Mächte Frank- 
reich gegenüber, so wie sie in etwas veränderter Kon- 
stellation seit Ende des Jahrhunderts Deutschland 
gegenüberstehen. Das, was sich in der Zwischen- 
zeit ereignet hat, ist seit Philipps und Alexanders 
Tagen in der Weltgeschichte nicht erhört worden : 
ein armes, mäßig bevölkertes, pohtisch verwahr- 
lostes Land erhebt sich innerhalb dreier Gene- 
rationen zum begütertsten, volksreichsten, kriege- 
risch gefürchtetsten im Kreise der europäischen 
Völker. Die Geschichte betrachtet noch immer. 



122 



obwohl sie es leugnet, die politischen Ereignisse 
als die primären und erblickt in den drei preußi- 
schen Kriegen das Moment der Erhebung. Es 
tut der Größe der Menschen und ihrer Taten 
keinen Abbruch, wenn erklärt wird, daß ohne die 
Mechanisierung Deutschlands der Zuwachs an 
Volk und Reichtum, ohne ihn die Erhebung nicht 
möglich war, die ihrerseits dann abermals auf die 
Mechanisierung mächtig rückgewirkt hat. Das 
XIX. Jahrhundert gehört, trotz des Ausbaus der 
englischen Kolonialmacht, den Deutschen und 
Amerikanern, und beiden aus wirtschaftlichen Ur- 
sachen: den Amerikanern, weil sie das reichste 
Land der Erde erschlossen, den Deutschen, weil 
sie der bürgerhchen Intelligenz ein adäquates 
Arbeitsfeld gewannen. 

Moderne Kriege sind im Völkerleben das gleiche, 
was Examina im zivilen Leben sind, Befähigungs- 
nachweise. Den Befähigungsnachweis als Groß- 
macht hat Preußen mit deutscher Hilfe erbracht; 
der Befähigungsnachweis als führende Wirtschafts- 
macht Europas wird Deutschland über lang oder 
kurz von den konkurrierenden Nationen aufge- 
zwungen werden. Im Vorgefühl dieser Abrech- 
nung ist nicht nur alles Kriegsspiel unserer Zeit, 
sondern auch alles Wirtschaftsspiel Rüstung. Jede 
neue Industrie und jede neue Handelsverbin- 
dung ist ein Äquivalent von Bataillonen. Alle 
Politik ist Wirtschaftspolitik, Kriegsbereitschaft. 

Dies bedeutet der Nationalismus unserer Zeit, 
der somit eine Reaktion auf die ungleichmäßige 
Verteilung der mechanistischen Vorteile dar- 
stellt. 



123 



Rekapitulieren wir kurz den Kreisprozeß: Im 
Augenblick heftiger Disharmonie wird den Völ- 
kern eine Wirtschaftsform aufgezwungen, die 
eigentlich für geeinigte Völker bestimmt ist. Ge- 
trennt bildet man sie aus ; es zeigt sich, daß eine be- 
vorzugte Nation die unvergleichlich größten Vor- 
teile zieht, weil sie die besten Voraussetzungen be- 
saß. Diese' Nation erhebt sich aus politischer und 
wirtschaftlicher NuUität zum bestimmenden Faktor 
und besiegelt diese Stellung mit dem Schwertknauf. 
Der Moment zur wirtschaftlichen Einigung ist ver- 
paßt ; die friedliche Konkurrenz wird zur wirtschaft- 
lichen Rüstung, und die Nationen stehen feind- 
licher als zu Beginn der Episode einander gegenüber. 

Der letzte Schritt, die Überleitung des natio- 
nalistischen Empfindens aus dem politischen Be- 
wußtsein in das bürgerliche, ging bewußt von 
Deutschland aus, und zwar von der politisch 
herrschenden Klasse, die ihre Interessen von der 
Mechanisierung nicht genügend gefördert sah und 
daher kein Bedenken trug, ihr den internationalen 
Boden zu entziehen. Durch den deutschen Schutz- 
zoll wurde der private ausländische Konkurrent 
getroffen, und indem er sein eigenes Land zu Re- 
pressaUen drängte, nährte er bei sich selbst und 
seinen Landsleuten gleichzeitig das nationale Be- 
wußtsein und die Abneigung gegen den Rivalen; 
beides zuerst im wirtschaftlichen, dann überwie- 
gend im politischen Sinne. 

So will es scheinen, als sei der Nationalismus, in 
seiner Eigenschaft als Brotfrage, für alle Zeiten 
verankert. Er ist es nicht, denn das Widersinnige 
ist nicht von Dauer, 



124 



Es braucht wohl nicht ausgesprochen zu werden, 
daß der Name des Nationalismus hier nicht als 
Synonym des Wortes Patriotismus genannt wird, 
daß vielmehr unter jenem Begriff die Tendenz 
verstanden ist, die Nationen in ihren Lebens- 
funktionen abzusondern, ihre Vergesellschaftung 
zu hindern. Auch in dieser Bedeutung bleibt der 
Nationalismus in seiner Urform berechtigt: es 
darf einer Nation nicht zugemutet werden, frem- 
der Sprache, fremdem Glauben, fremder Kultur 
und fremder Obrigkeit sich zu fügen; das Welt- 
cäsarentum hat seine Berechtigung verloren, und 
ein absoluter Kosmopolitismus wird als poli- 
tisches Ideal schwerlich wiederkehren. Indessen 
ist es durchaus denkbar, daß die staatlichen Or- 
ganisationen über den Rahmen des Staates hinaus 
einen unvergleichlich weiteren Ausbau erfahren, 
als bisher durch völkerrechtliche, schiedsrichter- 
liche und postalische Vereinbarungen geschehen. 
Denn dies ist der Mechanisierung und der Natur 
gemeinsam, daß ihre Organisationen nach dem 
Großen wie nach dem Kleinen hin, nach innen wie 
nach außen unendlich sind. So wie Zellen zum 
Leibe, Individuen zu Landesverbänden, Landes- 
verbände zu Reichen sich zusammenschließen, so 
wird eine engere Vergesellschaftung der Reiche 
unausbleiblich sein; und in dem Maße, wie sie 
fortschreiten, wird es fraglich werden, was das 
wünschenswertere ist: wenige große Komplexe 
locker gefügt, oder viele kleine Komplexe fest 
gefügt und eng vereinigt. In diesem Sinne ist 
das Deutsche Reich ein glücklich gestalteter 
Organismus, der um so dauerhafter sein wird, 

125 



je mehr er seinen Teilen größtmögliche Freiheit 
individuellen Lebens erhält. 

Die Entfesselung aus den Banden des Natio- 
nalismus aber wird nicht sowohl durch Kongresse 
und Schiedsverträge geschehen, als durch wirt- 
schaftliche Verständigungen. Vielleicht werden 
die ersten Schritte zu Zollvereinigungen führen, 
und es wäre mehr gewonnen, als durch Bündnisse 
sich erreichen läßt, wenn nach mehreren Seiten 
hin die deutschen Zollgrenzen verschwänden. 

Das Ideal des staatlichen Aufbaus im 
Sinne der Mechanisierung ist der Verwaltungs- 
staat. So sehr die Bezeichnungen des Regierens 
und der Regierung uns vertraut sind, so kann doch 
nicht geleugnet werden, daß die Zahl und Mannig- 
faltigkeit der Interessen und Bedürfnisse innerhalb 
einer mechanisierten Gemeinschaft den wahren 
Begriff des Regierens, die Leitung einer Menge 
durch überlegenen Willen und überlegene Ein- 
sicht zu vorbestimmten Zielen, nahezu aufge- 
hoben hat. Der Begriff der Verwaltung hingegen 
kennzeichnet sich als Ausgleich berechtigter In- 
teressen durch bestimmte Instanzen, wobei aller- 
dings gewisse praktische und ideelle Endziele vor- 
schweben können ; jedoch dürfen diese auf die Dauer 
nicht außerhalb derLinieliegen,die derSchwerpunkt 
der anerkannten Interessen ohnehin beschreibt. 
Dem Einzelnen steht die Verwaltung tatsächlich, 
der Gemeinschaft nur scheinbar als regierende Ob- 
rigkeit gegenüber, und geographische Verschieden- 
heiten finden nur insofern statt, als die Gesamt- 
heit in einem Falle vorwiegend initiativ, im anderen 
Falle vorwiegend prohibitiv ihren Willen zur Gel- 

126 



tung bringt. Freilich sind die sozialen Gruppen 
mit verschiedener Stärke an der Instrumentation 
des Gesamtwillens beteiligt, und man kann sagen, 
daß in fast allen älteren Kulturstaaten die früheren 
absoluten Gewalten, Adel und Klerus, eine ge- 
wisse Präponderanz sich erhalten haben; so ist 
Österreich ein ausgesprochen kirchlich, Preußen 
ein ausgesprochen aristokratisch verwaltetes Land. 

Auch die monarchischen Gewalten haben im 
Verwaltungsstaat ihre Bedeutung behalten, zum 
Teil erhöht. Der weitaus größte Teil der euro- 
päischen Staaten besteht aus Monarchien, und es 
darf behauptet werden, daß das republikanische 
Ideal des XVIII. Jahrhunderts dahinschwindet. 
Dies ist im Sinne der Mechanisierung durchaus 
folgerichtig; denn es besteht ein berechenbarer 
Vorteil darin, an der höchsten Spitze der Ver- 
waltung, dort, wo die leiseste Willensregung im 
Abstieg zur Peripherie die heftigsten Bewegungen 
auslösen kann, Angehörige eines Hauses zu wissen, 
das, allen bürgerlichen Interessen seit Menschen- 
altern und für alle Zukunft enthoben, seine Exi- 
stenz mit der des Staates zu identifizieren gelernt 
hat. Aufgabe der Verfassung ist es dann, die noch 
verbleibenden menschlichen Schwächen — von 
denen eigentlich nur Eitelkeit zu fürchten ist — 
soweit zu neutralisieren, daß eine Einseitigkeit 
der Entscheidungsfunktionen vermieden wird. 
Vorzüglich haben Greise und Frauen sich als 
verwaltungsstaatliche Souveräne bewährt. 

Falsch wäre es, zu folgern, daß im mechani- 
sierten Staatswesen die persönliche Willenswirkung 
des Monarchen sich verflüchtigt. Sie wird aber 

127 




um so machtvoller sein, je mehr er sich entschließt, 
allen äußeren Interessen und Einflüssen fernzu- 
stehen. Der Parteimonarch ist im modernen Staate 
unmöglich; der Klassenmonarch setzt sich Rück- 
schlägen aus und schädigt seine Autorität; der 
gänzlich uninteressierte Monarch, der seine Existenz 
auf die Gesamtheit der Nation stützt, wird dasjenige 
Organ des Staatsgehirnes bedeuten, das in Analogie 
der transzendenten Willensfreiheit des Individuums 
den Zweifel beseitigt und den Charakter bestimmt. 
Als Ausdruck dieser irdischen Uninteressiertheit 
ist denn auch die Idee einer Gottesverantwortung 
wohl verständlich, wobei freilich leicht eine Ver- 
wechslung von persönlichen Wünschen mit gött- 
lichen Inspirationen sich ereignen kann. So wäre 
angesichts dieses mystisch klingenden Wortes die 
Erinnerung an ein friederizianisches mit einer klei- 
nen Variante statthaft : daß Gott im Kriege hinter 
den stärkeren Bataillonen und im Frieden hinter 
den wichtigeren Interessen steht. 

Im Gegensatz zur monarchischen Autorität ist 
die politische Vormacht des Adels im Absteigen, 
denn sie findet in der mechanistischen Gesellschaft 
keine reale Stütze, vielmehr konkurrierende Mächte. 
Der preußisch-deutsche Aristokratismus, der un- 
gebrochenste in Europa, ist aus Gründen, die wir 
gestreift haben, durch preußische Verfassung und 
Verwaltungstradition gewährleistet und somit auch 
für die nähere Zukunft ausreichend verankert. 
Preußen verdankt ihm viel, denn er hat einen Be- 
amten- und Offizierskörper herangebildet, der an 
praktischem Idealismus, Mut und Pflichttreue alle 
Hierarchien des XIX. Jahrhunderts überstrahlt, 

128 



und von dem sinnlich schwer faßbaren Vorgang, 
daß eine höher organisierte Oberschicht ein ganzes 
Volksleben zu kontroUieren vermag, uns ein voll- 
kommenes Bild gibt. 

Obwohl der preußische Adel die Kraft besitzt, 
aus kleiner Menschenzahl viele und bedeutende 
Talente zu prägen, ist seine Veranlagung nicht 
eigenthch intellektuell. Seine großen Vorzüge be- 
ruhen auf einem unbeirrbaren Sinn für das Ehren- 
hafte, einem schgrfen Blick für das Praktisch-nütz- 
liche, auf Mut, Ausdauer und Genügsamkeit. Ehr- 
geiz, Streben nach Verantwortung, Freiheit des 
Gedankens, Erfindungskraft, Anpassungsfähigkeit 
sind nur seinen größten Talenten eigen, dem 
Durchschnitt fremd. 

Solange daher unter einfacheren und langsamer 
wechselnden Verhältnissen die Verwaltungstätig- 
keit etwa nach Art der Gutswirtschaft erlernt und 
auf traditioneller Grundlage patriarchalisch aus- 
geübt werden konnte, blieb der preußische Regie- 
rungsadel unübertroffen. Daß er neuen Gedanken- 
formen und Arbeitsmethoden gegenüber teilnahm- 
los auf der Tradition beharrte, war 1806 sein 
Schaden, 1849 sein Vorteil. In dem Maße nun, 
wie die mechanistische Weltwirtschaft ganze Ge- 
biete der Staatsverwaltung in reine Geschäfts- 
betriebe verwandelte, der Wechsel der Anschau- 
ungen und Aufgaben ein tägliches Umlernen, ein 
beständiges Erfinden forderte, zeigte es sich, daß 
zwar die alten Eigenschaften noch immer höchst 
schätzbar und unverkürzt vorhanden waren, daß ^j 

aber der vorzüglichste Menschendurchschnitt nicht 
immer ausreichen konnte zur Lösung präzedenz- 

a 129 



loser Aufgaben und zur Konkurrenz gegen die 
stärksten Talente des Auslandes. 

Denn inzwischen war im Auslande, insbeson- 
dere in England und Frankreich, einigermaßen auch 
in Osterreich, Rußland und Italien, bewußt oder 
unbewußt die Erkenntnis durchgedrungen, daß 
oberste Verantwortlichkeiten nur von entschie- 
denen Talenten getragen werden dürfen, und daß 
es für Millionenstaaten keine Entschuldigung gibt, 
wenn diese Talente nicht aufgefunden werden. So 
haben sich ohne Zutun der Gesetzgebung als Kon- 
sequenz einer freieren Praxis in jenen Staaten au- 
tomatisch wirkende Selektionsmethoden von größ- 
ter Verschiedenheit herausgebildet, die aber alle 
darin übereinstimmen, daß sie die Talente des 
Landes aus den Millionen der Mindergeeigneten 
aussieben, an die Oberfläche tragen und den Ver- 
antwortungen zuführen, für die sie von Natur 
bestimmt sind. Solche selbsttätige Selektions- 
methoden zu erläutern ist hier nicht der Platz; es 
genügt zu bemerken, daß Preußen sie nicht kennt, 
und somit darauf angewiesen ist, aus hundertfach 
kleinerem Material nach antiquierter Praxis die 
Rekrutierung seiner ersten Geschäftsführer vor- 
zunehmen. So fällt denn die doppelt erschwerte 
Aufgabe der Entdeckung höchster Begabungen 
drei Königlichen Kabinetten zu, und es kann kom- 
men, daß bei gesteigerten Ansprüchen an Ver- 
mögen, Herkunft, Repräsentation und Glanz der 
Persönlichkeit die schwersten Verantwortungen in 
Krieg und Frieden nicht immer auf den stärksten 
Schultern ruhen. Es ist ein schönes Zeichen der 
Festigkeit des preußischen Gefüges und der 

130 



Brauchbarkeit des aristokratischen Durchschnitts, 
daß bisher erst auf zwei Gebieten vorwiegend ge- 
schäftlicher Art, freilich auch bedeutender Wich- 
tigkeit, die Mängel des Systems offenkundig ge- 
worden sind: im Kolonialwesen und in der aus- 
wärtigen Politik. Grundsätzliche Mängel eines 
Aufbaues können auf die Dauer nicht ohne Ge- 
fahren bleiben; es ist zu hoffen, daß es nicht 
allzuschwerer Erschütterungen bedarf, um sie zu 
beseitigen, und daß nicht eine allzuheftige Reak- 
tion das Gute mit dem Fehlerhaften vernichtet 
und uns in die Arme des Amerikanismus treibt. 
Ein weiterer Mangel in der Anpassung des preu- 
ßischen Verwaltungsstaates an die herrschende 
Mechanisierung ist zu erwähnen. Mechanistische 
Geschäfte erfordern zwar einen gewissen Oppor- 
tunismus im Anschluß an den Wechsel der Erforder- 
nisse und die Ansprüche des Tages, der Sieg aber 
steht dem zu, der durch die Klippen des Augen- 
blicks steuernd den Fernpunkt eines weit erspäh- 
ten Zieles nicht aus dem Auge verliert. In par- 
lamentarischen Staaten ist das Fernziel Erbteil 
einer führenden Partei, somit eines Volksteiles. 
Ministerien wechseln und sterben aus ; das Partei- 
ziel bleibt erhalten, und der scheidende Politiker 
ist zufrieden, wenn er auch nur einen Fuß breit 
sich ihm nähern konnte, in dem Bewußtsein, daß 
sein Genosse oder er selbst dereinst berufen sein 
wird, die Arbeit fortzusetzen. In der Ruhezeit 
verfolgt das Staatsschiff den Kurs der Gegenpartei 
berührt andere Inseln, und bleibt doch bereit, 
die unterbrochene Fahrt von neuem aufzunehmen. 
So entsteht eine politische Tradition, eine Politik 

9* 13^ 



der Diagonale, und die Möglichkeit Aufgaben zu 
stellen und zu lösen, die Jahrzehnte erfordern. 

In Preußen beschränkt sich die ministerielle 
Lebensdauer auf wenige Jahre. Der Minister kann 
keiner Partei angehören, denn er muß die Fiktion 
vertreten, daß die vom Parlament unabhängige 
Regierung sozusagen im Absoluten wurzelt; so- 
mit kann er sich auf eine Parteitradition nicht 
stützen. Hegt er dennoch weitausschauende Pläne, 
so wird er doppelt Bedenken tragen, sich und sei- 
nen Stab ihnen zu widmen: denn er selbst wird 
die Verwirklichung nicht erleben, und sein Nach- 
folger wird vielleicht damit beginnen, das müh- 
sam gelegte Fundament so gründlich zu zerstören, 
daß kein Späterer Lust findet, es zu erneuern. 

Deshalb fehlt es im preußischen Deutschland, 
trotz aller Tradition der Verwaltung, seit Bis- 
marcks Abgang an politischer Tradition, an poli- 
tischen Ideen und an politischer Langatmigkeit. 
Da auch dieser Fehler in der Konkurrenz der Staa- 
ten sich geltend zu machen beginnt, zumal in 
dem Sinne, daß unsere außenpolitischen Ziele 
stark zusammengeschmolzen sind, so wird die Ab- 
hilfe nicht mehr lange auf sich warten lassen. 

So müssen wir am Schluß dieser Zwischenbe- 
trachtung fast mit Erstaunen die paradoxe Tat- 
sache feststellen, daß Preußen-Deutschland, das 
führende Land der europäischen Mechanisierung, 
das viel gefürchtete und viel bewunderte Land der 
Technik, das stärkste Industrieland der alten Welt, 
das Land der erfolgreichsten Geschäftsleute, sich 
in seiner politischen Ordnung den einmal gegebe- 
nen Verhältnissen der Mechanisierung so wenig 

132 



angepaßt hat, — und zwar ohne Überlegenes an ihre 
Stelle zu setzen, — daß es weder seine öffentlichen 
Geschäfte selbst verwaltet, noch eine ausreichende 
Zahl von Talenten für entscheidende Verantwor- 
tungen aufbringt, noch klare und bedeutende poli- 
tische Ziele besitzt, noch auch — wie wir leider 
hinzusetzen müssen — dem Auslande gegenüber 
jederzeit das Arbitrium ausüben kann, das einem 
Verteidigungsbudget von zwei Milliarden und 
der stärksten Territorialarmee aller Länder und 
Zeiten entspricht. 

Dies Bild eines Staatswesens, das sich gegen das 
mechanisierende Ideal zu wehren sucht, ist für 
unsere Betrachtung doppelt lehrreich. Einmal, 
weil es zeigt, welche gewaltigen Kräfte die Me- 
chanisierung aufzubringen vermag, um Wider- 
spenstige zu bändigen. Schon heute befindet sich 
das altpreußische Herrschaftswesen in einem la- 
bilen Gleichgewichtszustand ähnlich dem zu Be- 
ginn des XIX. Jahrhunderts, und es ist nur eines 
zu hoffen: daß der zögernde Abbau, der sich in 
diesen Jahrzehnten vollzieht, nicht durch Kata- 
strophen überstürzt wird. 

Sodann ist es wichtig festzuhalten, daß der 
gegenwärtige antimechanistische Verwaltungszu- 
stand Preußens in letzter Linie einen Rest von 
Abhängigkeitsbedürfnis der ehemals unterdrückten 
Volksschicht seine Erhaltung verdankt. Dieses Ab- 
hängigkeitsbedürfnis äußert sich in absolutem 
Sinne in der Lust, durch Befehle, Verbote, An- 
weisungen, Ermahnungen, Ausschließungen, Privi- 
legien dauernd geleitet und beschränkt zu werden ; 
es äußert sich in relativem Sinne in der Verehrung 



133 



^ 



und Bewunderung, die ohne bewußte Kenntnis 
der Ursache dem anerkannt edleren Blute, dem 
ausgesprochenen Herrentume gezollt wird. 

Das Rudiment vormechanistischer Empfindungs- 
weise, das hier zutage tritt, führt uns zurück zu 
der Übersicht der zeitgenössischen Ideale, die wir 
soeben beendet haben. 

Die Mehrzahl dieser Bilder trägt noch die Züge, 
die der älteren Empfindungswelt angehören; um 
so ausgeprägter, je weiter wir uns aus dem Mittel- 
gebiet des Mechanisierungskampfes nach un- 
interessierten Regionen hin entfernen. Ausge- 
sprochen altertümlich erscheint das körperliche 
und das menschliche Ideal, ausgesprochen neu- 
zeitlich das wissenschaftliche, politische und staat- 
liche. Es gleicht auch hierin das Gesamtbewußt- 
sein dem Bewußtsein des Einzelnen, daß abseits 
der interessierten Geistessphären sich vorzeit- 
liche Reste gemütlicher, harmloser, kindlicher und 
abergläubischer Empfindungen erhalten, die auf- 
gesogen werden, in dem Maße, wie das Interessen- 
bewußtsein sich verdeutlicht und ausdehnt. Denn 
ein der Menschheit nicht gerade schmeichelhaftes 
Gesetz scheint zu bestimmen, daß die uninteres- 
sierte Überzeugung sich allmählich der interes- 
sierten Überzeugung anpaßt; mit anderen Wor- 
ten, daß die Überzeugung nicht dauernd den In- 
teressen widersprechen kann. Weshalb es denn 
auch von jeher verdienstvoller und erfolgreicher 
war, die Menschen von falschen Interessen zu 
befreien, als von falschen Meinungen. 

So kann es nicht befremden, in den Träumen 
der Mechanisierung eine gemeinsame Tendenz zu 

134 



erblicken, die der philosophische Geist überwunden 
wähnt : das Streben nach dem ausschließlich Ver- 
nünftigen. Noch immer gehört unser waches Le- 
ben der Aufklärung, dem Rationalismus: wie 
könnte es anders sein in einer Zeit, die uns be- 
weist, daß Furcht stärker ist als Mut, Fleiß stärker 
als Kraft, Klugheit stärker als Träume? Einer 
Zeit, die beständig das Wort im Munde führt: 
daß sie weiß, was sie will, und den Erfolg als 
Gesetz betrachtet? 

Wir müssen anerkennen, daß niemals, so lange 
die irdische Menschheit besteht, eine Weltstim- 
mung so einheitlich einen so ungeheuren Kreis 
von Wesen beherrscht hat, wie die mechanistische. 
Ihre Macht scheint unentrinnbar, denn sie be- 
herrscht die Produktionsquellen, die Produktions- 
methoden, die Lebensmächte und die Lebens- 
ziele: und diese Macht beruht auf Vernunft. 

Von der Sehnsucht der Zeit 

Trotzdem aber die Mechanisierung noch lange 
nicht ihren Zenith erreicht hat, trotzdem sie 
ihre Aufgabe, den Weltkreis zu europäisieren, erst 
nach Generationen erfüllen und vielleicht auch dann 
noch nicht kulminieren wird, trägt sie schon heute 
den Tod im Herzen. Denn im Urgrund ihres 
Bewußtseins graut dieser Welt vor ihr selbst; ihre 
innersten Regungen klagen sie an und ringen nach 
Befreiung aus den Ketten unablässiger Zweck- 
gedanken. 

Die Welt sagt, sie weiß was sie will. Sie weiß es 
nicht, denn sie will Glück und sorgt um Materie. 

135 



Sie fühlt, daß die Materie sie nicht beglückt, und 
ist verurteilt, sie immer von neuem zu begehren. 
Sie gleicht Midas, der im Goldstrom verschmachtet. 

Die Hoffnungen, die aus der Tiefe aufsteigen 
und im Geiste Einzelner Bewußtsein erlangen, 
sind widerspruchsvoll und daher dem Gemein- 
geist unklar. Denn einem Geiste wird nur das 
vernehmbar, was von gleichklingenden Elementen 
harmonisch zum Akkorde verstärkt wird, das Wider- 
strebende bleibt dumpfes Geräusch. Aus aller 
Verworrenheit aber kKngt die Stimme der Sehn- 
sucht doppelt ergreifend, weil sie, das selbstsichere 
Wort der Bewußtseinswelt verleugnend, sich an- 
klagt, was sie ersehne, das wisse sie nicht. 

Wer lehrt den zweifelnden Menschen dieser Zeit, 
was er schätzen, heben, begehren, erstreben darf ? 

Er wendet sich zur Philosophie; sie antwortet 
ihm: so mußte dieser, so mußte jener denken. 
Umstände und Anlage führen zur einen oder zur 
anderen Weltanschauung. Jede ist wahr, jede ist 
falsch, je nach der Eröffnung steht das Spiel so 
oder so. Das Ergebnis ist Kritik. 

Er wendet sich zur Religion; sie zeigt ihm die 
Entstehung und Entwicklung des reUgiösen Ge- 
dankens, sie entwirft eine psychologische Analyse 
des religiösen Empfindens, projiziert das Wandel- 
bild der Glaubensformen und gibt eine Natur- 
geschichte Gottes. Die Gottheit wird zur 
Phantasmagorie. 

Er wendet sich zum Menschen : der eine preist 
die alten Tugenden, der andere die neuen. Sinnes- 
lust und BeschauHchkeit, Naturgenuß und Erfolg, 
Ehre und Freiheit, Pflicht und Reichtum: zu- 

136 



letzt wird alles der Individualität anheim- 
gestellt. 

Er befragt die Wissenschaft. Sie rät ihm, sich 
zu spezialisieren. 

Die Kunst eröffnet ihm den Bildersaal, der von 
Memphis bis Paris, von Mexiko bis Peking alle Schön- 
heit der Zeiten und Völker birgt. Sic verherrlicht 
die eine, schmäht die andere Epoche mit dem 
Hinweis, daß sie morgen umgekehrt verfahren wird. 

Das Erwerbsleben lehrt, wie man Bedürfnisse 
schafft und befriedigt, wie man organisiert und 
verwaltet und die käuflichen Güter der Welt ver- 
mehrt, damit neue Generationen Lebensunter- 
halt, Arbeit und neue Zweifel finden. 

Es ist, als sei die Welt flüssig geworden und zer- 
rinne in den Händen. Alles ist möglich, alles ist 
erlaubt, alles ist begehrenswert, alles ist gut. Zu- 
letzt tut der Abgrund der Zeiten sich auf, und es 
zeigt sich wie in Macbeths Spiegel jedes der Ge- 
sichte zu schwankenden Generationsreihen er- 
weitert ; jeder Mosaikstein des flimmemden Bildes 
wird zum endlosen Bande, und in jedem Quer- 
schnitt des Bündels erscheint ein n^ues Symbol 
unsäglicher Relativitäten. 

Der Mensch aber begehrt Glauben und Werte. 
Er fühlt, daß er Unersetzliches besessen hat ; nun 
trachtet er das Verlorene mit List wiederzu- 
gewinnen und pflanzt kleine Heiligtümer in seine 
mechanisierte Welt, wie man Dachgärten auf 
Fabrikgebäuden anlegt. Aus dem Inventar der 
Zeiten wird hier ein Naturkult hervorgesucht, 
dort ein Aberglauben, ein Gemeinschaftsleben, 
eine künstliche Naivität, eine falsche Heiterkeit, 



137 



k 



ein Kraftideal, eine Zukunftskunst, ein gereinigtes 
Qiristentum, eine Altertümelei, eine Stilisierung. 
Halb gläubig, halb verlogen wird eine Zeitlang die 
Andacht verrichtet, bis Mode und Langeweile den 
Götzen töten. 

Dennoch ist dieses Spiel nicht verächtlich, weil 
es aus Sehnsucht stammt. Aber es bleibt hilflos 
und kindisch, weil auf dem zitternden Boden der 
Mechanisierung arkadische Haine nicht gedeihen. 
Mancher wählt die Flufht; aber der Amerikaner, 
der zwei Jahre lang in Wäldern haust, muß beim 
Anblick des Gerätes, des Buches und Kleides, das 
er mit sich führt, sich eingestehen, daß er von der 
Mechanisierung der anderen lebt, daß seine Ein- 
siedelei eine Sommerfrische auf Kosten der me- 
chanisierten Gemeinschaft bedeutet. Mancher 
wählt die Abgeschlossenheit, aber muß empfinden, 
daß ein Glück, das sich nicht mitteilt, fehlerhaft ist. 

Die Blume vor dem Fenster eines Bauernhauses^ 
das Lied auf der Landstraße, der Sonntagsausflug 
der Stadtbewohner, das Buch in den Händen des 
Arbeiters bezeugen, daß das Volk entschlossen ist, 
nicht in mechanistischer Zweckhaftigkeit aufzu- 
gehen; aber Lesehallen und Volkstheater, popu- 
läre Wissenschaft, Gartenkolonien und halb wohl- 
tätige Unterhaltungen sind bei aller Nützlichkeit 
allzudürftige Mittel, um den Seelenfunken anzu- 
fachen. Nicht mehr wäre dem Seelenleben ge-» 
Wonnen, wenn nach dem Siege des sozialistischen 
Prinzips um den Preis trübseliger Nivellierung ein 
Zuwachs des Minimaleinkommens von 140 Ta- 
lern erkauft würde. Mechanistische Mittel 
werden die mechanistischen Übel nicht heilen. 

138 



Wenn es nicht allzu vermessen erscheint, die 
Frage zu stellen : wo die Gegenkräfte der Mechani- 
sierung zu finden sind, und wie sie ausgelöst wer- 
den können, so muß der Versuch gewagt werden, 
die Gesamtheit dieser Weltbewegung mit einem 
Blick zu umfassen. 

Was ist der Sinn der Mechanisierung, was ist 
ihr Wesen und Ziel? 

Betrachten wir zuerst ihre Entstehung. Vor 
Anbruch der Geschichte waren Kraft und Mut 
die höchsten Tugenden des Menschen. Heroische 
Völker, gestählt im Kampf mit den Naturmächten, 
traten aus ihren Wäldern hervor; sie unterjochten 
die schwächeren, friedfertigeren Urbewohner. Der 
Kluge war der Knecht des Starken; er diente 
ihm mit Arbeit und Künsten und wurde dafür 
geschützt und geleitet. Der Unterdrückte sam- 
melte, der Herr verschwendete sein Erbteil; 
Klugheit war zäher als Kraft ; und in dem tausend- 
j ährigen Ringen um den Weltbesitz, das wir Ge- 
schichte nennen, siegte nach Wechselfällen und 
Rückschlägen erst hier dann dort, zuletzt überall, 
Intellekt und Zahl über Gesinnung und Tradition. 
Die Welt erhielt ihr Gepräge von den Rebellen; 
an die Stelle der Kaste trat die Organisation, an 
die Stelle des Frohns die Maschine. Die einstigen 
Herren, soweit ihr Blut nicht in Mischung auf- 
ging, waren gezwungen, sich der Mechanisation 
anzupassen ; nur da, wo glückliche Umstände ihnen 
unveräußerlichen Landbesitz erhielten, blieben sie 
im Besitz von Privilegien. Naturgemäß waren die 
mechanistischen Einrichtungen auf die Eigen- 
schaften ihrer Schöpfer zugeschnitten; sie erfor- 

139 



derten Intelligenz, Zähigkeit, Beweglichkeit und 
Erfindungsgabe. Innerhalb der geistigen Atmo- 
sphäre der Mechanisierung, die wir zu schildern 
unternahmen, kämpfen nun die Werte der alten 
Gesinnungswelt mit den Werten der neuen In- 
tellektualwelt. Zwar leben noch die einen in ge- 
wissen Schätzungen des Volksbewußtseins fort; 
doch für die anderen hat der praktische Erfolg 
sich entschieden, und in der geistigen Verwirrung, 
die der Kampf und das Einleben in veränderte 
Ordnungen geschaffen hat, scheint der Augen- 
blick gekommen, wo die neuen Werte in die Vestc 
des Unbewußten, des Gefühls, überzutreten be- 
ginnen, wo die einseitige, vernichtende Selektion 
des Intellektualismus, die bisher vorzugsweise als 
Ergebnis der Praxis geduldet wurde, jene Rudi- 
mente älterer Wertungen, von denen wir gesprochen 
haben, hinwegspült, und sich zum Wahrzeichen 
der Zeit erhebt. 

Hier ist der Punkt, wo zum ersten Male Er- 
kenntnis einzugreifen hat. Sie muß zur Schätzung 
dessen führen, was die Welt den ethischen und 
geistigen Werten der einstigen Oberschicht ver- 
dankt, und muß die Verantwortung erwecken für 
die Gefahr der Verarmung, die aus ihrer Vernich- 
tung erwächst. 

Spätere Zeiten werden nicht begreifen^ mit 
welchem Mangel an psychologischem Instinkt wir 
den Gegensätzen menschlicher Geistesrichtung 
gegenüberstanden, wie wir über Erscheinungen 
und Zusammenhänge, die mit Händen zu greifen 
waren, hinwegsahen, weil unsere Augen sich auf 
die merkwürdigsten Züge unserer Epoche nicht 

140 



einstellen wollten. Ja, diese Metapher ist im wört- 
lichsten Sinne wahr; es erfordert kaum mehr an 
physiognomischer Apperzeption, um körperlich 
die Grundkontraste zu empfinden, als normale 
Kinder Fremden entgegenbringen. 

Vor Jahren habe ich entwickelt, daß Furcht 
und Zweckhaftigkeit auf der einen, Mut und 
Zweckfreiheit auf der anderen Seite die Grund- 
stimmungen des Menschengeistes ausdrücken. In- 
dem der damals aufgestellte Begriff des Zweck- 
menschen zum Gemeingut wurde, hat sich ein 
Element der Beobachtungsreihe stabilisiert. All- 
mählich aber wird in das Bewußtsein der Gemein- 
schaft die Erkenntnis eindringen, daß gewisse, stets 
verschwisterte Eigenschaften regelmäßig im Ge- 
folge der einen, andere im Gefolge der anderen 
Kategorie auftreten müssen. Solange Menschen, 
welche die Merkmale der Eitelkeit, der Neugier, 
des Betätigungsdranges, der Unwahrhaftigkeit, 
der Kritiklust, der Unsachlichkeit, der Trübsal 
tragen, mit den gleichen Blicken angeschaut wer- 
den wie diejenigen, welche selbstbewußt, aben- 
teuerlich, wahrhaft, phantasievoll, sachlich und 
heiter sind, solange ist unsere Zeit gleichsam psy- 
chologisch farbenblind. Die Kenntnis der gei- 
stigen Eigenschaftsgruppen wird aber dereinst so 
selbstverständUch erscheinen, wie heute etwa die 
Unterscheidung der körperlichen Gruppenmerk- 
male von Kaukasiern und Mongolen. Sie wird 
nicht, wie angesichts der einseitigen Färbung 
unserer sprachlichen Charakteristik angenommen 
werden könnte, zur Verachtung der einen, zur 
Verherrlichung der anderen Gruppe führen — 

141 



denn die Epitheta verdanken ihre extremen Wer- 
tungen dem Anschauungskreis der doppelschich- 
tigen Epoche — viehnehr werden zwei, wenn auch 
scharf getrennte Idealtypen sich abstrahieren lassen. 
Daß auch der zweckhafte Typ unserer westlichen 
Anschauung ansprechende, ja sympathische Züge 
entgegenbringen kann, zeigt das Bild der Erz- 
väter, Sokrates', Epiktets, oder um von Neuzeit- 
lichen zu reden, etwa Voltaires, Heines, Victor 
Hugos, Tolstois. 

So wird die Erkenntnis menschlicher Quali- 
täten uns die Sicherheit der Wertung wiedergeben. 
Vor allem aber wird sie verhindern, daß in ein- 
seitiger Selektion die Mechanisierung fortfährt, 
Gesinnung zugunsten von InteUigenz zu ver- 
nichten; sie wird bewirken, daß ein Menschen- 
schlag erhalten bleibt, dem die Welt ihre 
Schönheit, ihre Phantastik und höhere Ordnung 
verdankt. 

Entspringt diese erste Forderung aus den Ent- 
stehungsbedingungen der Mechanisierung, so müs- 
sen die Wirkungsbedingungen dieser Kraft in ana- 
loger Weise zu umspannen und auszudeuten sein. 

Mechanisierung entspricht wirtschaftlicher Not- 
wendigkeit: verzehnfachte Bevölkerung auf un- 
veränderter Bodenfläche verlangt neue Wirt- 
schaftsmethoden. Der Kern der Mechanisierung 
ist der Produktionsprozeß. Er teilt mit anderen 
undurchgeistigten oder irrationalen Prozessen ähn- 
licher Art — wie zum Beispiel dem Prozeß der 
persönlichen Bereicherung oder des Ausbaus von 
Unternehmungen — die Tendenz, in unablässiger 
Selbsterregung den Umtrieb zu steigern, und zwar 

142 



in doppelter Progression : einmal so, daß die Pro- 
duktionssteigening die Bevölkerung verdichtet, und 
gleichzeitig die Verdichtung wiederum die Pro- 
duktion erhöht; sodann in dem Sinne, daß die 
Menge der Verbrauchsgüter den Einzelverbrauch 
anregt und wiederum der vermehrte Einzelver- 
brauch neue Verbrauchsgüter verlangt. 

Den ersten Kreislauf gemäß der Malthusdok- 
trin zu durchschneiden, ist wider die Natur und 
bleibt außer Betracht. Der zweite Kreislauf greift 
in geheiligte Gesetze nicht ein, er ist im Sinne 
der Natur willkürlich und daher auflösbar. 

Mit dem Lächeln, das uns entlockt wird, wenn 
wir von der Freude ostafrikanischer Neger an 
preußischen Husaren jacken hören, werden un- 
sere Nachkommen vernehmen, von welchem Wa- 
renhunger wir besessen waren. Ein Dritteil, viel- 
leicht die Hälfte der Weltarbeit geht auf, um 
der Menschheit Reizungs- und Betäubungsmittel, 
Schmuck, Spiel, Tand, Waffen, Vergnügungen 
und Zerstreuungen zu schaffen, deren sie zur Er- 
haltung des leiblichen, zur Beglückung des see- 
lischen Lebens nicht bedarf, die vielmehr dazu 
dienen, den Menschen dem Menschen und der 
Natur zu entfremden. Dies vor Augen zu stellen, 
genügt es, die Zahlen einer Produktionsstatistik 
oder eines mittleren Haushaltsbudgets darauf zu 
prüfen, wieviel zum Glück und Leben notwendige 
Positionen es enthält, (wobei natürlich die Be- 
lastungen aus dem Privatmonopol städtischen Bo- 
dens als Geschäftskosten, nicht als notwendiger 
Verbrauch zu rechnen sind) oder in den Fenster- 
auslagen einer Hauptstraße die millionenfachen 

H3 



Nichtigkeiten zu betrachten, welche die Begierde 
der Menschen erregen, und Tag für Tag mit 
saurer Arbeit erkämpft werden. 

Es wurde erwähnt, daß die Frauen, die nicht 
bloß der Natur, sondern auch den Urvölkem nä- 
her stehen als wir, sich bereitwilliger blenden lassen 
vom Schimmer des mechanisierten Produkts, wo- 
gegen der Mann sich maßloser dem Genuß der 
Zivilisationsgifte hingibt. 

Der primitive Irrtum, es sei zu befürchten, daß 
bei Beschränkung der Weltarbeit auf notwendige 
Produkte die Bevölkerung einen Teil ihres Lebens- 
unterhalts verliere, kann hier unberücksichtigt 
bleiben; er bedeutet eine Paraphrase des alten 
Trugschlusses : Luxus sei notwendig, weil er Geld 
unter die Leute bringe. 

So trägt die Welt einen großen Teil ihrer Me- 
chanisierungslast freiwillig; sie wird sich in dem 
Maße entlasten, ihre Arbeitskraft und Muße be- 
glückenderen Zielen zuwenden und die Zwangs- 
gesetze der Mechanisierung durchbrechen, wie sie 
auf Nichtigkeiten und SchädUchkeiten verzichtet. 
Wer aber in diesen das erstrebenswerte Glück der 
Völker erblickt, dem sei es gegönnt, sofern er seine 
Torheit nicht andern zumutet. 

Seltsam ist es, daß unsere so sehr zum Werten 
und Umwerten geneigte Zeit, die heute das Tanzen 
und morgen das Beten anpreist, heute das Trinken 
und morgen den Sport verurteilt, daß diese Zeit 
noch keine Regung des Gewissens verspürt hat 
angesichts der ungeheuerlichen Verschwendung 
an Arbeit, Geist und Rohstoff, deren der Einzelne 
und die Gesamtheit sich schuldig macht. Asthe- 

144 



tisches Ärgernis an dem Produktenwust hat man- 
cher genommen; nun steht die Zeit vor der Tür, 
die in diesem Narrenkram das materielle Welt- 
verbrechen erblicken und mit verständnislosem 
Grauen die Spielzeuge des XX. Jahrhunderts 
betrachten wird. 

Es bleibt der dritte Versuch und die umfassendste 
Frage : wie dürfen wir die mechanistische Epoche 
bewerten, wenn wir sie im Bilde der Menschheits- 
entwicklung betrachten. 

Niemals, seit Erschaffung des Planeten, war ein 
so großes Quantum irdischen Geistes in Bewe- 
gung wie heute. Die Zahl der menschlichen Ge- 
hirne steht im Maximum, und die Denkarbeit 
geht an die Grenzen ihrer Kräfte. Vom Denken 
werden alle Räder der Welt im Schwung erhalten, 
und setzte der sorgende Erdengeist acht Tage lang 
aus, so würde das rückwärts stürmende Getriebe 
alles Menschenwerk zerschmettern. 

Auch die Mechanik des Denkens ist höher ge- 
steigert als zu irgend einer früheren 2^it. Denn 
das materielle Wissen ist gewaltig, die Menge der 
erkannten Zusammenhänge, der beobachteten 
Tatsachen, der verfügbaren Analogien unermeß- 
lich. Vor allem aber sind wirksame, der Mecha- 
nisierung angepaßte Methoden und Formen des 
Denkens verfügbar, die früheren Zeiten unbe- 
kannt, heute von jedermann mühelos gehandhabt 
werden, vom Politiker, Dichter, Reporter und 
Landwirt. Beherrschend für unser Denkwesen 
ist die Form geworden, die man als Fluxions- 
methode bezeichnen könnte. Sie besteht darin, 
daß die Erscheinung nicht mehr als ein fest Ge- 

145 



gebenes angesehen wird, sondern als kontinuier- 
liche Funktion variabler Faktoren. Auf ihr be- 
ruht die mathematische Analysis, die Entwick- 
lungslehre, die historische Betrachtungsweise, das 
naturwissenschaftliche Messen, die Statistik. In 
Verbindung mit ihr haben mathematisch-phy- 
sikalische, philosophisch - kritische, vergleichend 
naturwissenschaftliche, mechanisch konstruktive, 
praktisch organisatorische Methoden sich der Gei- 
ster bemächtigt, und neue Begriffe, Verständi- 
gungsmittel, Lehren und Sprachformen geschaffen. 
Und wiederum die neuere Sprache selbst, mit 
ihren zahllosen Formeln abstrakter Zusammen- 
hänglichkeit, bildet ein kräftiges Vehikel des me- 
chanistischen Denkens. Deshalb ist es ein frucht- 
loses Beginnen, wenn Popularpropagandisten ihr 
den Rückweg zum konkreten Ausdruck des Alter- 
tums weisen wollen, indem sie nach feststehenden 
Rezepten Wort für Wort des mechanistischen 
Gefüges in falsche Bildlichkeiten umsetzen und 
das journalistische Gerippe ihrer Darstellung mit 
Theaterlappen behängen. Kraft der Sprache ist 
nichts anderes als Kraft der Gedanken; wegge- 
lassene Präpositionen ändern daran nichts. 

Wenn so die Welt im Sinne des Denkens durch 
und durch vergeistigt erscheint, so möchte man 
glauben, daß ungeheure Erleuchtungen und Fem- 
blicke, wahrhafte Seligkeiten des Geistes unserer 
2^it beschieden sein müßten. Nichts dergleichen 
ist der Fall; schon die grenzenlose Spezialisierung 
macht es unmöglich. Denn wie in einem Bergwerk 
die Förderung verarmt, wenn die Längen und 
Verzweigungen der Stollen das Maß überschreiten^ 

146 



so gehen die unermeßlichen Erlebnisse und Ent- 
deckungen jedes Tages, in Winkeln gestaut, dem 
Gesamtleben verloren. Gäbe es Geister, wie die 
Humanistenzeit zum letzten Male sie kannte, die 
den Inbegriff unseres Wissens zu umspannen ver- 
möchten: sie würden die Geistesbrücken nieder- 
brechen sehen unter der Last des Wissens, und 
zuletzt sich bescheiden, alles registrierend hinzu- 
nehmen, weil denn schließlich von einer jeden 
Wahrheit auch das Gegenteil wahr und erwiesen 
ist. 

Aber die Natur sendet solche Geister nicht; 
schon deshalb nicht, weil in den überreichen und 
überfeinen Denkapparaten kein Organ sich findet, 
das anders wirkt als analysierend, angleichend, ver- 
wertend, kritisierend. Fast alles, was geschrieben 
wird, kennen wir, bevor wir es gelesen haben; von 
fast allem, was gedacht wird, wissen wir das Er- 
gebnis, noch bevor es zu Ende gedacht ist. Es 
geht uns wie geübten Kartenspielern, die, wenn die 
ersten Blätter ausgespielt sind, voraussehen, wie 
die Partie verläuft, welche Zwischenfälle eintreten, 
ja welche Fehler gemacht werden. Niemals hat 
man das Wort Synthese so häufig vernommen wie 
in dieser Zeit; aber was sind diese Synthesen? 
Ähnlichkeiten, Analogien, Bilder, Symbole, Zu- 
sammenhänge; je fremdartiger, desto bekannter, 
je verstiegener desto trivialer, nach stets den 
gleichen Rezepten aufgestellt, erläutert, ver- 
teidigt und bewiesen. 

Hier liegt die tiefste Sehnsucht unserer Zeit, 
die ihren Sinn sucht. Unbewußt fühlt sie sich 
angewidert vom Denken, vom mechanistischen 

^ 147 



Denken; sie hat alles schon einmal gehabt und 
durchgrübelt, alles durchgeschätzt, jedes Gefühl 
sondiert und abgeleitet. Sie weiß, wie alle diese 
Rätsellösungen schmecken und wie lange sie vor- 
halten. Sie sehnt sich nach einem jenseits des 
Beweisbaren stehenden Sinn, und schrickt davor 
zurück, weil er ihr willkürlich scheint; und er ist 
willkürlich, weil er nicht in ihrer Seele liegt. Des- 
halb blickt sie auf zu den Geistern, die göttliche 
Überzeugungen in ihren Seelen trugen, Plato, 
Paulus, Franziskus, Eckhardt, und kann doch die 
Überzeugungen nicht erwerben, weil sie diese See- 
len nicht erwerben kann. Sie schafft sich Gemein- 
den, Tempel und Altäre, und empfindet verzwei- 
felnd, daß sie das Einzelne nicht glauben kann, weil 
sie alles glaubt, daß sie alles glauben muß, weil sie 
nichts glauben kann. Die Zeit sucht nicht ihren 
Sinn und ihren Gott, sie sucht ihre Seele, die im 
Gemenge des Blutes, im Gewühl des mechanisti- 
schen Denkens und Begehrens sich verdüstert hat. 
Sie sucht ihre Seele und wird sie finden; frei- 
lich gegen den Willen der Mechanisierung. Dieser 
Epoche lag nichts daran, das Seelenhafte im Men- 
schen zu entfalten; sie ging darauf aus, die Welt 
benutzbar, und somit rationell zu machen, die 
Wundergrenze zu verschieben und das Jenseitige 
zu verdecken. Dennoch sind wir wie je zuvor 
vom Mysterium umgeben; unter jeder glatten 
Gedankenfläche tritt es zutage, und von jedem all- 
täglichen Erlebnis bedarf es eines einzigen Schrittes 
bis zum Mittelpunkt der Welt. Die drei Emana- 
tionen der Seele : die Liebe zur Kreatur, zur Na- 
tur und zur Gottheit konnte die Mechanisierung 

148 



dem Einzelleben nicht rauben; für das Leben der 
Gesamtheit wurden sie zur Bedeutungslosigkeit 
verflüchtigt. Menschenliebe sank zum kalten Er- 
barmen und zur Fürsorgepflicht herab, und be- 
deutet dennoch den ethischen Gipfel der Gesamt- 
epoche; Naturliebe wurde zum sentimentalen 
Sonntagsvergnügen; Gottesliebe, überdeckt vom 
Regiebetriebe mythologisch - dogmatischer Ritu- 
aUen, trat in den Dienst diesseitiger und jensei- 
tiger Interessen und wurde so nicht blos unedlen 
Naturen verdächtigt. 

Es gibt wohl keinen einzigen Weg, auf dem es 
dem Menschen nicht möglich wäre, seine Seele 
zu finden, und wenn es die Freude am Aeroplan 
wäre. Aber die Menschheit wird keine Umwege 
beschreiten. Es werden keine Propheten kommen 
und keine Religionsstifter, denn diese übertäubte 
Zeit läßt keine Einzelstimme mehr vernehmlich 
werden : sonst könnte sie heute noch auf Christus 
und Paulus hören. Es werden keine esoterischen 
Gemeinden die Führung ergreifen, denn eine Ge- 
heimlehre wird schon vom ersten Schüler miß- 
verstanden, geschweige vom zweiten. Es wird keine 
Einheitskunst der Welt ihre Seele bringen, denn 
die Kunst ist ein Spiegel und ein Spiel der Seele, 
nicht ihre Urheberin. 

Das Größte und Wunderbarste ist das Ein- 
fache. Es wird nichts geschehen, als daß die 
Menschheit unter dem Druck und Drang der Me- 
chanisierung, der Unfreiheit, des fruchtlosen 
Kampfes, die Hemmnisse zur Seite schleudern 
wird, die auf dem Wachstum ihrer Seele lasten. 
Das wird geschehen nicht durch Grübeln und Den- 

149 



ken, sondern durch freies Begreifen und Erleben. 
Was heute viele reden und einzelne begreifen, das 
werden später viele und zuletzt alle begreifen: 
daß gegen die Seele keine Macht der Erde stand- 
hält. 

Was rufen die Völker aller Zeiten einander zu ? 
Erlebnisse ihrer Seelen. Was kümmern uns die 
Salben der Ägypter, die Ritualien der Juden, die 
Schlachtordnungen der Griechen, die Auspizien 
der Römer, die Alchymistereien der Scholasten? 
Was ihre Seelen gelitten und geschaffen haben, 
ihre Gesänge und Bilder, Visionen und Ahnungen, 
das besitzen wir als ein untrennbares Teil unser 
selbst. Was wir im Leben genossen, wenn die 
Seele unbeteiligt, was wir erduldeten, wenn die 
Seele unverletzt blieb, bedeutet nur einen Reiz 
und einen Schatten, zu flüchtig für die Erinne- 
rung. Die Kunst, die unseren Nerven schmeichelt, 
der Gedanke, der nicht in die Tiefe klingt, die 
Handlung, die unsere äußere Erfahrung bereichert, 
sind tote Dinge. 

Gleichviel, wie wir das Herz der Welt zu er- 
fassen suchen: immer wird uns die Seele, unsere 
eigene Seele, entgegentreten. Nehmen wir das 
Körperliche als real und primär, so müssen wir 
aus Materie Geist, aus Geist Seele sich losringen 
sehen : denn das Atom ballt sich zur Zelle und 
aus dem Widerstreit sich aufhebender Sensibili- 
tätskeime wird Empfindung erkennbar; die Zelle 
vereinigt sich zum Menschen und aus der Sum- 
mierung gleichgerichteter Empfindungselemente 
wird Geist sichtbar; der Mensch verbindet sich 
zur Gemeinschaft und aus der widerstrebenden 



ISO 



Mannigfalt der Geister tritt die Seele zutage, 
die im Einzelmenschen wirkte, wie der Geist in 
der Einzelzelle, wie die Empfindung im Atom, 
unbefreit und dennoch lebendig. Nehmen wir 
das Ich als real und primär, so löst sich aus der 
Täuschung der Materie die bedingte Realität des 
Geistes, aus dem Geist die volle Realität der Seele, 
die sich aus der Trübung befreit, indem sie sich 
ihrer selbst bewußt wird. Nehmen wir das Ich 
und das Körperliche gleichzeitig als real und 
identisch, so erleben wir an uns selbst, aus der 
Erfahrung unseres Lebens, die Entwicklung vom 
instinktiven Dasein der Kindheit zum geistigen 
Dasein der Jugend und zum seelischen Dasein 
der Reife. 

Nichts anderes ist erforderlich als die Gewiß- 
heit des Lebens und Wertes unserer Seele; denn 
es handelt sich nicht darum, die Seele zu erzeugen, 
sondern zu entfesseln, und durch diese Gewiß- 
heit ist sie frei und des Aufstiegs fähig. 

Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern sehr 
alt; wie denn alle Worte, die außerhalb alltäg- 
licher Not der Geist im Laufe der Jahrhunderte 
der Menschheit zugerufen hat, stets das Gleiche 
bedeuten, nämlich: achte auf deine Seele. Hier 
bedürfen wir der Erinnerung deshalb, weil in 
einer Zeit, die sich ihrer Entseelung bewußt 
wird, solche Erfahrungen eine gewaltige Realität 
erlangen, eine Realität, die unabhängig von 
aller religiösen und philosophischen Vereinzelung 
dasteht. 

Nein, es wird und kann nichts weiter eintreten 
als das Begreifen, daß die Seele wachsen kann, und 

'S» 



\ 



daß es wiederum Dinge gibt, die sie verkleinern 
und vernichten können. Und dieses Begreifen 
wird nicht in Dithyramben oder Bußpsalmen aus- 
klingen, sondern in Selbstgewißheit und Schwei- 
gen. Die heißen Wünsche der Menschen werden 
schweigen lernen, die Wünsche nach käuflichen 
Freuden, nach maßloser Bereicherung an äußeren 
Eindrücken, nach Beschleunigung des Lebens- 
tempos, nach Extensivwirtschaft und Raubbau 
des Geistes. Nicht daß deshalb das Arbeitsleben 
und der Produktionsprozeß stillstände; denn auch 
wenn das Wertlose vom Wünschenswerten und 
Nötigen gesondert wird, bleibt noch viel, noch 
mehr als heute zu schaffen, um größere und gleich- 
mäßigere Behaglichkeit der Lebensführung zu 
sichern. Nicht ganz so leicht, und dennoch ge- 
wiß, werden die Begierden schweigen lernen, die 
den Menschen zum Sklaven der Meinung machen, 
die Freude am Neid, am Beifall, an der Beachtung; 
ohne daß es deshalb an Männern und Frauen feh- 
len wird, die aus Lust am Schaffen, an Verant- 
wortung und Initiative Führerschaft leisten und 
erstreben. Schweigen lernen wird auch die Kunst; 
wie denn von jeher unaufdringUch und schweigend, 
und so der Natur vergleichbar, die großen Werke 
durch die Zeiten geschritten sind. 

Zieht man die Umwälzungsgeschwindigkeit in 
Rechnung, an die uns das XIX. Jahrhundert ge- 
wöhnt hat, so wird man die Erwartung des neuen 
Zustandes der Menschheit, der sich von dem heu- 
tigen nicht wesentlicher unterscheidet als etwa 
der zeitgenössische haitianische vom zeitgenössi- 
schen englischen, nicht als utopisch bezeichnen. 

IS2 



Freilich kann nicht zu gleicher Zeit die ganze be- 
wohnte Welt ihn empfangen; vielleicht wird in 
Zentralafrika noch immer die Glückseligkeit des 
Warenhauses blühen, wenn in Deutschland das Ge- 
schrei der Modeneuigkeiten längst verstummt ist. 

Wohl aber wäre es utopistische Schwachheit, aus 
eigener Unzulänglichkeit die Kräfte ermessen zu 
wollen, die in der Menschheit das Reich der Seele 
einstmals auslösen wird. 

Die mechanistische Entwicklung können wir 
ohne Staunen, ja ohne Geistesaufwand ein gutes 
Stück zukunftwärts weiterdenken.. Ein hundert- 
fach übervölkerter Erdball, die letzten asiatischen 
Wüsten angebaut, ländergroße Städte, die Ent- 
fernungen durch Geschwindigkeiten aufgehoben, 
die Erde meilentief unterwühlt, alle Naturkräfte 
angezapft, alle Produkte künstlich herstellbar, alle 
körperliche Arbeit durch Maschinen und durch 
Sport ersetzt, unerhörte BequemKchkeiten des 
Lebens Allen zugänglich, Altersschwäche als allei- 
nige Todesart, jeder Beruf Jedem eröffnet, ewiger 
Friede, ein internationaler Staat der Staaten, all- 
gemeine Gleichheit, die Kenntnisse des mecha- 
nischen Naturgeschehens ins Unabsehbare er- 
weitert, neue Stoffe, Organismen und Energien 
in beliebiger Menge entdeckt, ja zu guterletzt 
Verbindungen mit fernen Gestirnen hergestellt 
und erhalten: im Sinne der Mechanisierung die 
höchsten Aufgaben, alle lösenswert und vermutlich 
dermaleinst gelöst — ; wem macht es Schwierig- 
keit, dies Bild künftiger Bequemlichkeit und Ge- 
lehrsamkeit beUebig auszumalen, und wen macht 
es glücklich? 

153 




Im Seelischen auch nur einen Schritt über das 
dem einzehien Menschen gestattete Maß vorzu- 
dringen, ist unmöglich. Ein Grieche konnte sich 
durchaus, und ohne Enthusiasmus, das Fliegen 
der Menschen vorstellen, den Hamlet oder die 
IX. Symphonie konnte er sich nicht vorstellen, 
ebensowenig wie ein Mensch der Steinzeit sich 
die Freude an einer Gebirgslandschaft oder einer 
Brandung vorstellen konnte. Wir brauchen nicht 
über das Alter des Menschengeschlechtes hinaus- 
zugehen, um zu Zeiten zu gelangen, in denen die 
Seelengewalten unseres eigensten Lebens, die 
Liebe der Geschlechter, die Liebe zur Heimat, 
zu Eltern und Kindern, zu Gott und Natur noch 
nicht aus primitiven Instinkten hervorgetreten, 
somit im eigentlichen Sinne nicht erfunden und 
auch nicht vorstellbar waren. 

Oft hat man die spielende Frage gestellt, was 
wohl ein großer Geist des Altertums wiederkeh- 
rend zu den Gestaltungen der neuen Zeit sagen 
würde. Wählt man für diese Rolle einen aufs 
Wesentliche gerichteten Geist wie den des Plato, 
so dürfte man fabeln: die Früchte der Mecha- 
nisierung würde er mit wechselndem Interesse 
hinnehmen, die höchste Kunst Europas der seinen 
verwandt empfinden, drei Dinge aber würde er 
als Offenbarungen verehren : die Lehre . Christi, 
die germanische Naturbetrachtung und die deut- 
sche Musik. 

Hier verläuft eben eine der Grenzlinien, die das 
Gebiet des Geistes von freieren Gebieten sondern ; 
sie ist zart, aber unüberschreitbar. Was vom 
Heraufdämmern des Seelenreiches in Gedanken 



154 



und Worten materialisierbar ist, das haben wir 
gestreift; Glaubhaftigkeit kann nur im Mit- 
klingen tieferer Schwingungen gesucht und ge- 
funden werden, didaktisch dialektische Beweise 
sind Überredungsmittel. Wollte man versuchen, 
eine alte, innere Überzeugung, eigentlich nega- 
tiver Art, von Wesen dieses Reiches, gedanklich 
zu übersetzen, so könnte man auf der Grundlage 
realistischer Weltanschauung abermals davon aus- 
gehen, daß von der Geisteseinheit des Atoms 
zu derjenigen der Zelle, von der Geisteseinheit 
der Zelle zu derjenigen des Menschen, von der 
Geisteseinheit des Menschen zu derjenigen der 
Gemeinschaft eine immer wachsende und immer 
sich verengernde Agglomeration stattfindet. Wie 
die Summierung zweier Geistesinhalte erfolgt, 
wissen wir nicht, denn das, was man eigentUch 
Mechanik des Geistes nennen müßte, ist uns voll- 
kommen unbekannt. Wohl aber wissen wir, daß 
die Summierung zu einer sehr engen Verbindung 
führt, ja daß der unendlich summierte mensch- 
liche Geist sich selbst als eine Einheit empfindet 
und nur durch besondere Beobachtung seine 
Vielfältigkeit entdeckt. Den nächsten Prozeß der 
geistigen Summierung, den des Menschengeistes 
zur geistigen Gemeinschaft, aber können wir 
beobachten; wir können den Gemeinschaftsgeist 
einer Ehe, einer Freundschaft, eines Stammes 
und Volkes, ja selbst einer Versammlung oder Ge- 
sellschaft entstehen sehen. Und hier entdecken 
wir, daß das eigentlich summierende Moment 
nicht in der ursprünglichen Gleichrichtung, son- 
dern vielmehr in dem Streben nach Gleichrich- 



ISS 




tung, nach Zusammenhang und Verschmelzung, 
in der Aufhebung der trennenden Faktoren, in 
der Beseitigung des Individuellen liegt. Dies 
summierende Moment wird uns objektiv hier- 
durch nicht bekannter, aber wir nehmen wahr, 
daß es von innen empfunden mit dem Mysterium 
der Liebe identisch ist. 

Folgen wir nun den Analogien mit der Annahme, 
daß alle künftige Entwickelung abermals zur 
Verengerung der geistigen Agglomeration führen 
muß, so kehren wir von der Abstraktion zu der 
Urwahrheit zurück, daß die Aufhebung der indi- 
viduellen Willenstäuschung das Reich der Liebe 
emporführt. Und dieses Reich der Seele und der 
Liebe kann tatsächlich auch das Reich Gottes ge- 
nannt werden, weil es seinen Schwerpunkt vom 
geistig Individuellen in das seelisch Universelle 
verlegt. 

Wiederholen wir nach diesen Erwägungen die 
Frage, welche Bedeutung der mechanistischen 
Epoche in der Evolution der Menschheit zuzu- 
sprechen sei, so bietet sich eine gesetzmäßige Ana- 
logie. So wie in der belebten Natur jeder Aufstieg 
vom niederen zum höher gearteten Organismus 
durch große Not erschwerter Lebensbedingungen 
erzwungen wurde, so glauben wir zu wissen, daß 
die höchsten Menschenrassen ihren Aufstieg gleich- 
viel welcher tausendjährigen Lebensschule ver- 
danken. Die Natur aber gab sich mit der Bildung 
einer Auslese nicht zufrieden. Die Auserwählten 
mußten sich als Herrscher über die niederen Völ- 
ker verbreiten, um sie zu führen, zu erziehen, 
ihnen neue Kräfte einzuprägen, schlummernde zu 

156 



erwecken. Indem sie diese Aufgabe erfüllten, 
lösten sie sich auf, dem Urgesetz gehorchend. 

Die neue Not, die nun begann, die Not der 
Verdichtung, der Mechanisierung und des In- 
tellektualismus, trägt etwas Größeres, Endgülti- 
geres, Feierlicheres in sich als ihre Vorläuferinnen. 
Denn diese Not entspringt nicht physikalischen 
und klimatischen Umwälzungen; sie ist von der 
Menschheit selbst geschaffen, die nunmehr, 
hinreichend entwickelt, ihrem eigenen Inneren 
überlassen, mit den gleichen Mitteln sich Qualen 
bereitet und Erlösung sucht. 

Vielleicht wird sie gezwungen sein, noch mehr- 
mals ähnliche Assimilationsprozesse zu vollziehen, 
indem es ihr obliegt, zurückgebliebene Völker 
emporzuheben; vielleicht soll ihre massenhafte 
Vermehrung nebenher dazu dienen, die Kultur- 
aufgaben, denen europäische Kolonialarbeit so 
hilflos gegenübersteht, allmählich und ohne Ein- 
buße eigenen Wesens durch Verschmelzung zu 
lösen; gleichviel: die Not der Mechanisierung 
hat ihre Gegenkräfte bereits erzeugt, und wir dür- 
fen somit auch sie als eine der großen Schulungen 
der Erdengeschlechter ansprechen in der Zu- 
versicht, daß sie in ihrer Einzigart das Große em- 
porführen wird, von dem wir gesprochen haben. 
Ihr Beruf macht sie vergleichbar mit dem Leben 
einzelner Menschen, die mit allen Kräften des 
Geistes ausgestattet, suchend ins Weite streben 
und schweigend heimkehren, weil sie ihre Seele 
gefunden haben, durch Verzicht und Gewinn 
doppelt bereichert. 



^57 



A 



ANHANGT 



ZEITFRAGEN UND ANTWORTEN 



\ 



Die folgenden kleineren Aufsätze sind Gelegen- 
heitsschriften. Sie wurden ausgewählt und bei- 
gefügt, weil sie die Gedankenfäden der Haupt- 
schrift in verschiedene Gebiete der Praxis hinüber- 
spinnen. Der zeitHche Inhalt wird die akzidentelle 
Fassung entschuldigen, die unverändert von den 
ursprünglichen VeröffentUchungen übernommen 
wurde. 



MASSENGÜTERBAHNEN •) 

Das Problem 

Alle Erzeugung materieller Güter besteht in 
planvoller, der Materie aufgezwungener Orts- 
veränderung. 

Gleichviel ob ein Eisenstück bearbeitet, eine 
Maschine montiert, ein chemisches Produkt er- 
zeugt oder eine Pflanze gezüchtet wird: allemal 
handelt es sich um das Heranführen, Verteilen, 
Trennen oder Vereinigen chemischer Substanz zu 
gewollter Verbindung, Masse und Gestalt. 

Richtet sich das Augenmerk auf den geregelten 
Hergang der Trennung und Vereinigung, so spricht 
man von Manufaktur und Fabrikation; betrach- 
tet man die Überwindung der Entfernungen, so 
ergibt sich der Begriff des Transports. Die In- 
dustrie stellt sich die Aufgabe, beide Verrichtungs- 
arten in immer weiterem Umfang zu mechani- 
sieren: die Fabrikation durch Ausbildung des 
Maschinenwesens, den Transport durch Vervoll- 
kommnung der Verkehrsmittel. 

Auf diesem Wege ist sie zur Massenerzeugung 
gelangt. Sie will, daß jeder Produzent nicht mehr 
nach Maßgabe seines Einzel- und Eigenbedarfs 
an Gütern tätig sei, sondern nach Maßgabe des 
Bedarfs aller Übrigen; es soll keiner für sich und 
jeder für alle arbeiten. Wenn also im Stande der 
älteren Güterproduktion jeder Haushalt sein eige- 
nes Vieh schlachtete, seinen eigenen Flachs spann 

*) Vorrede einer Denkschrift, die in Gencieinschaft mit Herrn 
Geh. Baurat Prof. W. Cauer 1909 herausgegeben wurde. 



XI 



161 



und webte, seine eigenen Kerzen zog und sein 
eigenes Bier braute, so verlangt der Grundsatz der 
Arbeitsteilung, daß aus zentralen Werkstätten bei 
möglichst ausgedehnter und ökonomischer Pro- 
duktion ganze Landesteile, ja Länder und Erd- 
teile mit spezialisierten Waren versorgt werden. 

Welche Grunderscheinungen, sei es Übervölke- 
rung, sei es wachsender Einzelbedarf, die Welt 
zur ökonomischen Uniformierung ihrer Produktion 
zwingen, bei welcher alle Individualität der Er- 
zeugung durch die Individualität der Auswahl nur 
unvollkommen ersetzt wird, ist hier nicht zu er- 
örtern. Dagegen ist zu betrachten, wie durch 
diesen Prozeß alle Güter der Erde in enorme Be- 
wegung geraten: denn von den entfernten Ge- 
winnungsstätten strömen die Urstoffe zu den Zen- 
tralstellen der Verarbeitung, von diesen, nach 
mannigfachem Hin und Her durch die Werk- 
stätten der Veredelung und Verfeinerung, ver- 
zweigen sie sich nach den Orten der Hauptver- 
teilung, um schließlich, in kleine Partikel aufge- 
löst, nach den Einzelstellen des Verbrauchs zu 
rinnen. Der Kreislauf des Wassers ist das natür- 
liche Vorbild dieser Bewegungserscheinung, die 
sich in dreifacher Progression steigert; indem sie 
nämlich wächst mit der Zunahme des Konsums, 
mit der Zunahme der Spezialisierung und der 
Verarbeitungsstätten, und mit der Zunahme der 
Zahl und Entfernung der Gewinnungsstellen. 

So fordert die vorschreitende Industrialisierung 
immer zahlreichere und weitergestreckte Trans- 
porte, während zugleich jede neue Transport- 
möglichkeit eine weitere Verzweigung, Unter- 

162 



teilung und Generalisierung der industriellen Ar- 
beit herbeiführt. Der industrielle Gedanke kann 
nicht ruhen, solange nicht alle auffindbaren Ge- 
winnungsstellen der Erde nach dem Maße ihrer 
Ergiebigkeit und ohne irgendwelche andere Rück- 
sicht ihre Materialien liefern; solange nicht diese 
Materialien an möglichst einer, und zwar der denk- 
bar günstigsten Stätte verarbeitet werden, und 
solange nicht jeder noch so entfernte oder unbe- 
mittelte Reflektant zum Konsum herangezogen 
ist. Diese Aufgabe macht den Industrialismus 
zu einem Transportproblem. 

Wie weit von diesem Endzustand die gegen- 
wärtigen Gestaltungen entfernt sind, ergibt sich 
aus der Betrachtung der Einzelprodukte. Die 
bedeutendsten Rohmateriahen, Kohle, Eisenerz, 
Kalk, Zement, Bausteine, Holz, Kochsalz, Schwe- 
felsäure, können kaum einige hundert Kilometer 
zurücklegen, ohne ihren Wert um ein so Beträcht- 
liches zu erhöhen, daß ihre konkurrenzfähige Ver- 
wendbarkeit aufhört. Der Radius, den das Pro- 
dukt im Bahntransport nicht überschreiten kann, 
ohne seinen Preis zu verdoppeln, beträgt für 
Schwefelsäure 500 km, für Steinkohlen 300 km, 
für Braunkohlen 44 km. Vereinigen sich Rohma- 
terialien im Zustand hoher Verteuerung an Orten 
noch so billiger Arbeitskraft, so ist die Entstehung 
einer gesunden Industrie unmöghch. Tritt an die 
Stelle dieses Mißverhältnisses ein anderes: die 
übergroße Entfernung vom Zentrum des Ab- 
satzes, so ist abermals jede industrielle Anstrengung 
vergeblich. So ist Industrie in heutiger Zeit in 
wahrem Sinne ein Bodenprodukt. Sie ist ge- 



it' 



163 



zwungen, den wirtschaftlichen Schwerpunkt zu 
suchen zwischen den Gewinnungsstellen ihrer ver- 
schiedenen Rohstoffe, den Hauptstellen des Ab- 
satzes, den Orten billiger Naturkräfte. Ist dieser 
Schwerpunkt nicht benutzbar, sei es, weil es an 
Arbeitskräften oder an Transportmitteln fehlt, 
oder aus irgendeinem anderen Grunde, oder sind 
die Stellen der Gewinnung zu entfernt, die Stellen 
des Konsums zu wenig dicht, so sagt man, das 
Land sei für die in Frage kommende Industrie nicht 
geeignet. Anderseits kann die Entdeckung und 
Ausnutzung eines ausgezeichneten industriellen 
Schwerpunktes auf Jahrzehnte hinaus wahre Mo- 
nopole schaffen. Dies ist vornehmlich der che- 
mischen Industrie geschehen, die in einem ihrer 
wichtigsten Zweige noch heute ausländischen 
Unternehmern tributpflichtig ist, weil diese durch 
ein unangreifbares Monopol der Lage die einge- 
borene Konkurrenz beherrschen. 

Der Angriffspunkt 

Betrachtet man ganz allgemein den wirtschaft- 
lichen Wettbewerb der Nationen, um sich zu 
fragen, auf welchen Faktoren die Entwicklung aller 
produzierenden Mächte und der Vorsprung der 
einen gegenüber den anderen beruhe, so ergeben 
sich folgende Kategorien: 

I. Ideelle Werte. Diese bestehen in der Ar- 
beitsamkeit, der Zuverlässigkeit, der Disziplin, der 
Initiative, der Lernbegierde und der Ausbildung 
der Volksgenossen. Diese ideellen Werte sind ein 
für allemal gegebene Größen, auf dem Physikum 

164 



der Rasse und des Landes basierend, und nur lang- 
samen, gelegentlich katastrophalen Änderungen 
unterworfen. Einer Einwirkung durch unmittel- 
bare Maßnahmen sind sie nicht zugänglich. 

2. Kapitalkraft. Sie ergibt sich aus der Ver- 
gangenheit des Landes, aus seiner geschichtlichen, 
politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Ent- 
wicklung. In ihr konzentrieren sich sämtliche 
übrigen produzierenden Faktoren, soweit sie in 
früheren Perioden zusammenwirken und sich un- 
gestört summieren konnten. Die Kapitalkraft ist 
eine stetig sich bewegende Größe, die abgesehen 
von Krieg und höherer Gewalt ruckweisen Ände- 
rungen nicht unterliegt. 

3. Arbeitskräfte. Hier handelt es sich in 
erster Linie um Reichhaltigkeit ; bei weitem nicht 
so sehr, wie man annehmen möchte, um Wohl- 
feilheit. UngewöhnHche Billigkeit der Arbeits- 
löhne ist nicht das Symptom eines wohlhabenden, 
sondern eines wirtschaftlich zurückgebliebenen 
Landes. Immer wird bei entwickelten Arbeits- 
methoden der gut bezahlte, gut ernährte und gut 
ausgebildete Arbeiter mit dem billigen, notlei- 
denden und abgestumpften Nebenbuhler erfolg- 
reich konkurrieren — womit freilich nicht ge- 
sagt ist, daß durch rapide Lohnerhöhung die 
Qualität im Handumdrehen gehoben wird. Gut 
belohnte Arbeit wird aber einen weiteren Faktor 
von ausgezeichneter Bedeutung mit sich führen, 
nämlich : 

4. Konsu m. Da die handelspolitische Tendenz 
unserer Zeit den Export erschwert und die Export- 
ware zur wenig lohnenden Auffüllung der Werk- 

165 



Stätten verurteilt, so entscheidet der Umfang des 
inländischen Verbrauchs über Größe und Zen- 
tralisation, Spezialisierung und Arbeitsmethoden 
der Industrie. Nordamerika, ein Land hoher Löhne 
und großen Konsums, befindet sich in einer weit- 
aus vorzüglicheren industriellen Lage als etwa 
Deutschland mit seinen schlechter bezahlten und 
weniger konsumfähigen, wenn auch durchaus in- 
telligenten Arbeitskräften. 

Daß auch diese beiden zusammengehörigen 
Faktoren: Arbeitskräfte und Konsum, einer will- 
kürlich korrigierenden Einwirkung nicht Raum 
geben, bedarf keiner Erwähnung. Anders verhält 
es sich mit dem letzten Kräftepaar: 

5. Materialbeschaffung, Energiequellen 
und 

6. Transportverbindungen. Auf den ersten 
Blick will es so scheinen, als sei keine Produktions- 
bedingung so sehr mit den Fundamentaleigen- 
schaften, dem wahrhaften Physikum des Landes 
verwachsen, wie die Gewinnung des Rohmaterials, 
denn dieses bildet einen materiellen Teil der Erd- 
kruste oder ihrer Oberfläche. Indessen ist zu er- 
wägen, daß gewisse Rohprodukte, und zwar höchst 
wichtige, wie Kohle, Kalk, Sand, Salz, Ton, Holz, 
Erze, Getreide, in nahezu allen großproduzieren- 
den Ländern vorkommen, wenn auch nicht in 
gleichem Reichtum und vor allem nicht immer an 
den zur Bearbeitung geeignetsten Stellen; des 
ferneren, daß fast alle diese Länder Seeküsten ha- 
ben, und daß sie somit die ihnen fehlenden Stoffe 
zum mindesten bis in ihre Häfen mit geringen 
Frachtaufschlägen und zollfrei gelangen lassen 

166 



können, wobei die Weltkonkurrenz sie gegen Über- 
teuerung schützt. So ist denn nicht die Beschaf- 
fung der Materialien selbst der Gegenstand der 
Sorge, sondern vielmehr die Schwierigkeit ihrer 
Vereinigung. Gewaltig bevorzugt erscheinen da- 
her diejenigen Länder, die durch natürliche 
Verkehrsstraßen und enge Nachbarschaft der 
Fundstätten ausgezeichnet sind. 

Dennoch ist die Frage der Transporte, deren 
Bedeutung für den industriellen Mechanismus wir 
erkannt haben, selbst für frachtlich mittelmäßige 
Länder durchaus keine solche, die sich grundsätz- 
lich der Ausgestaltung, Förderung und Reform 
durch bewußt-spontane menschliche Unterneh- 
mung entzieht. Hier vielmehr ist der Punkt 
gegeben, und zwar der einzige, von dem 
aus das industrielle Gleichgewicht der 
Welt organisatorisch bewegt werden kann; 
sofern es nämlich gelingt, Transportmethoden zu 
schaffen, die den heutigen ökonomisch überlegen 
sind. Physikalisch betrachtet, bedeutet die Lösung 
dieser Aufgabe die Verminderung des Reibungs- 
verlustes bei der Güterzirkulation, somit eines 
Faktors, der gegenwärtig einen bedeutenden Teil 
der menschlichen Produktionskraft kompensations- 
los zerstört. Keine Warengattung könnte sich der 
Verbilligung entziehen, die aus solcher Wider- 
standsverminderung hervorginge, ja es müßte eine 
selbsterregende Steigerung der Wirkung insofern 
entstehen, als der Konsumanteil des Einzelnen 
sich unmittelbar erhöht fände und hierdurch 
vermehrte Produktion und abermalige Verbilligung 
erzielt würde. 

167 



Setzt man den Fall, daß Deutschland, trotz 
schlechter Lage und mittelmäßigen Material- 
reichtums ein Produktionsgebiet ersten Ranges, in 
ost-westlicher oder nord-südlicher Richtung plötz- 
lich in praktischem Sinne frachtfrei gemacht wer- 
den könnte, so wäre die wirtschaftliche Wirkung 
dieses Ereignisses nicht abzusehen. Nicht allein, 
daß alle bestehenden Industrien sofort unter weit 
verbesserten Bedingungen arbeiteten und ihren 
Absatz auf ein Vielfaches des gegenwärtigen Areals 
im In- und Auslande ausgebreitet sähen; daß so- 
mit auch ihre Konkurrenzfähigkeit dem Welt- 
markt gegenüber sich gewaltig, und auf den Pro- 
duktionsumfang rückwirkend, steigerte: es wären 
vielmehr auch die Existenzmöglichkeiten für zahl- 
reiche neue Industrien gegeben, die jetzt aus 
geographischen Gründen versagen; und gleich- 
zeitig wäre die Industrialisierung derjenigen gut 
bevölkerten Landesteile, wie etwa des preußischen 
Ostens, gewonnen, die gegenwärtig aus Kargheit 
der RohmateriaKen und des Konsums unterbleibt. 
Es scheint phantastisch und ist dennoch nicht über- 
trieben, wenn ernste Industrielle die Produktions- 
fähigkeit in einem praktisch frachtfreien Lande 
auf ein Vielfaches der gegenwärtigen veranschlagen. 

Wollte man diesen Erwägungen die Besorgnis 
entgegenstellen, daß eine so wichtige Einnahme 
wie die Eisenbahntransporte auf den Hauptlinien 
den Staaten ungeschmälert erhalten werden müsse, 
so beträte man damit einen Standpunkt ähnlich 
dem der Kellner in gewissen französischen Gast- 
häusern : sie suchen im Frühjahr den Fremden zum 
Konsum von Weintrauben zu bewegen, damit aus 

i68 



einer Schädigung des Gastes um zwanzig Franken 
ein Gewinn von einem Franken in ihre Taschen 
wandle. Beim Übergang zu bilKgeren Transport- 
methoden könnte überdies den Staaten auf einigen 
Hauptlinien wohl ein Bruttoausfall erwachsen (und 
auch dieser würde durch steigende Frachtmengen 
auf Haupt- und Nebenstrecken bald kompensiert 
sein), schwerlich aber ein Gewinnausfall. Denn den 
entgangenen Fiachtgewinn des Staates könnten, 
selbst bei ungesteigerter Produktion, Industrie und 
Handel leicht durch andere Abgaben aufbringen, 
wenn die unfruchtbare Steigerung der Selbstkosten 
durch teure Transporte ihnen erspart bliebe. 

Das Mittel 

Daß Schiffstransporte billiger sind als Land- 
transporte, gilt als ein ausgemachter Grund- 
satz, der durch unvordenkliche Erfahrung be- 
stätigt scheint, und der durch die Einführung der 
Eisenbahnen als Haupttransportmittel der Erde 
nicht erschüttert wurde. 

Wo daher im Binnenlande abseits von schiff- 
baren Flüssen eine bevorzugte Verkehrsstraße für 
massenhafte Güterbewegung eröffnet werden sollte, 
da suchte man, wenn die geographischen Bedin- 
gungen es gestatteten, Kanäle zu schaffen und 
scheute weder die Höhe der Anlagekosten noch die 
Langsamkeit der Transporte, noch die winter- 
lichen Unterbrechungen des Verkehrs. 

Sucht man nun sich zu vergegenwärtigen, worin 
denn die grundsätzliche Überlegenheit der Kanäle, 
etwa im Vergleich gegen Eisenbahnen, bestehe, so 

169 



N 



ergibt sich zunächst, daß flüssige Bahnen die Fort- 
bewegung mit gleitender Reibung gestatten, 
während metallene Bahnen die Fortbewegung mit 
rollender Reibung verlangen. Unzweifelhaft 
erfordert die Überwindung der rollenden Reibung 
den höheren Kraftaufwand und somit größere 
Kosten. Aber bei näherer Prüfung ergibt sich, daß 
selbst beim Eisenbahntransport die reinen Kosten 
der Traktion, d. h. die Ausgaben für Kohle, Wasser, 
Schmiermaterial, Lokomotivlöhne, nur einen sehr 
kleinen Betrag des Gesamtaufwandes ausmachen, 
und daß somit eine Ersparnis auf diesem Konto 
so gut wie nichts bedeutet. In der Benutzung der 
gleitenden Reibung kann also ein entscheidender 
Vorzug der Kanäle nicht begründet sein. Liegt 
dieser Vorteil nun etwa in der größeren Kapazität 
der Transportgefäße? So scheint es, wenn man 
den Laderaum eines Schiffes mit dem eines Güter- 
wagens vergleicht. Aber abgesehen davon, daß 
nichts die Eisenbahntechnik hindert, Wagen von 
erheblich größerer Leistungsfähigkeit, als bisher 
in Deutschland gebräuchlich, zu verwenden: es 
trifft dieser Vergleich an sich nicht zu. Die Ein- 
heit, die mit der Schiffseinheit in Vergleich treten 
kann, ist nicht der Wagen, sondern der Zug. Und 
hier will es wenig bedeuten, immerhin aber eher 
zugunsten des rollenden Systems sprechen, daß 
diese Einheit teilbar ist. Vor allem aber ist sie 
vermöge ihrer größeren Geschwindigkeit weit grö- 
ßerer Ausnutzung fähig und dabei nicht in dem 
Maße komplizierter und kostbarer, daß ihre Anschaf- 
fung und Unterhaltung den Kostenvergleich zu- 
gunsten der teureren Wasserbauten verschöbe. 

170 



So bleibt als letzte Überlegenheit des Kanals 
die Möglichkeit einer beträchtlichen Dichte des 
Verkehrs, und es resultiert die einfache Frage: 
gestatten rollende Transportsysteme, also etwa 
Eisenbahnen, eine den Kanalsystemen adäquate 
Frequenz oder nicht? 

Daß die bestehenden Bahnsysteme, die gleich- 
zeitig dem Personen- und Güterverkehr dienen 
müssen, in ihrer Transportfähigkeit eng begrenzt 
sind, da sie mit verschiedenartigen Geschwindig- 
keiten, mit großen Zugabständen und unter ge- 
nauer Einhaltung der Fahrpläne arbeiten müssen, 
ist evident. Könnte man aus der Vogelperspektive 
die ganze Länge eines stark befahrenen Eisenbahn- 
gleises überblicken, so würde man auf der dunklen 
Linie in großen Abständen die Züge als kleine 
Punkte sich bewegen sehen. Auf der ungewöhn- 
lich stark belasteten Strecke Berlin — Halle beträgt 
in diesem Augenblick die Gesamtlänge aller sich 
fortbewegenden Züge während der Zeit des stärk- 
sten Verkehrs nur Vso der Länge der Bahn. 

Nun wäre aber durchaus der entgegengesetzt 
extreme Zustand denkbar, daß nämlich nach Art 
eines Paternosterwerkes die ganze Linie von be- 
wegten Transportgefäßen derart überdeckt wäre, 
daß die Zwischenräume nahezu verschwänden. 
Daß in diesem Grenzfall die Transportfähigkeit 
einer Eisenbahn ins ungemessene wachsen müßte, 
liegt auf der Hand; des ferneren, daß um sich 
der Grenze anzunähern, die Personenbeförde- 
rung ausgeschaltet, die Geschwindigkeit der Züge 
normalisiert und die Folge beschleunigt werden 
müßte. 



171 



Der Wunsch, diese Erwägung dem praktischen 
Bedürfnis nutzbar zu machen, ergab zunächst den 
Gedanken, Güterbahnen und Personenbahnen zu 
trennen; sodann für einen Moment die phanta- 
stische Vorstellung, ob es nicht möglich sei, auf 
einer Güterbahn die Benutzung nach Art einer 
Chaussee oder eines Kanals einzuführen, nämlich 
in der Weise, daß jeder Interessent das Recht er- 
hielte, gegen Erstattung einer Weggebühr die Bahn 
mit eigenen Zügen zu befahren, wobei geeignetes 
Zugpersonal, gleiche Fahrtrichtung, mäßige Ge- 
schwindigkeit und gewissenhaftes Einhalten des 
Abstandes ausbedungen würde. 

Schon eine vorläufige Schätzung erwies, daß es 
einer vom üblichen Bahnwesen abweichenden Be- 
triebsweise nicht bedürfe, und daß, um eine der 
Kanalfrequenz erheblich überlegene Verkehrsdich- 
tigkeit zu erreichen, eine Bahnbelastung genügt, 
die sich in durchaus praktischen Grenzen hält. 

So war denn die Wahrscheinlichkeit gegeben, 
daß ein Eisenbahnsystem sich den Kanälen als 
ebenbürtig, vielleicht sogar durch Billigkeit der 
Erstellung und des Betriebes und durch Lei- 
stungsfähigkeit als überlegen erweisen könnte, so- 
fern es folgenden Bedingungen genügte: 

1 . Trennung des Gütertransports von der Per- 
sonenbeförderung, 

2. gleichmäßige Fahrgeschwindigkeit, 

3. dichte Zugfolge, 

4. Zugelemente und Züge von großem Fas- 
sungsvermögen . 

Wollte man über diese Wahrscheinlichkeit hin- 
aus zu einer Vertiefung des Problems oder gar zum 

172 



Versuche eines Beweises gelangen, so reichte die 
generelle Erwägung nicht mehr aus, und es schien 
notwendig, an Hand eines der WirkHchkeit an- 
gepaßten Vorprojektes der Aufgabe praktisch sich 
zu nähern. Da nun der Gedanke mich nicht ver- 
ließ, daß durch die Verfolgung und Diskussion 
meiner Idee der Industrie, wenn auch nur in 
späterer Zukunft, ein erheblicher Dienst geleistet 
werden könnte, bewog ich im Jahre 1904 drei be- 
freundete Gesellschaften: die Berliner Handels- 
Gesellschaft, die Allgemeine Elektricitäts-Gesell- 
schaft und die Firma Lenz & Co., ein Studien- 
syndikat für die Bearbeitung des Güterbahnpro- 
blems zu bilden. Herr Regierungsrat Kemmann 
hatte die FreundUchkeit, sich für die Leitung 
des Syndikats mir anzuschheßen und in sehr 
dankenswerter Weise die Arbeiten fördern zu 
helfen. 

Es gelang uns, Herrn Professor Cauer für die 
Fortführung der Untersuchung zu gewinnen. Sei- 
ner Arbeit verdanken wir eine nachhaltig be- 
gründete Beantwortung der Frage, ob technisch 
oder ökonomisch die Möglichkeit besteht, die Ko- 
sten der Gütertransporte weit unter das gegen- 
wärtige Niveau herabzudrücken, ob ferner Kanäle 
oder Eisenbahnen hierfür das geeignetere Mittel 
bilden. Die Antwort lautet: die Tarife lassen 
sich unter nüchternen Voraussetzungen 
auf die Hälfte bis ein Viertel der billig- 
sten bestehenden Sätze reduzieren, und 
zwar durch denBau besonderer Güterbah- 
nen, die billiger, leistungsfähiger und 
rentabler sind als Kanäle. 



173 



Die Anwendung 

Stellt man nun die Frage, welche praktischen 
Ergebnisse von der hier unternommenen Ar- 
beit erwartet werden dürfen, so ist zunächst zu 
erwarten, daß von diesem Augenblick an eine Dis- 
kussion beginnt, die, ausgehend von der elemen- 
taren Wichtigkeit der Transportverbilligung und 
von der unzweifelhaften Möglichkeit, sie durch 
neue Mittel zu erreichen, das Problem aus der 
Kompetenz einiger weniger Berufsarbeiter los- 
löst und es in die Hände aller urteilsfähigen 
Interessenten legt, die zur Erwägung und Mitarbeit 
aufgerufen werden. Diese Diskussion darf nicht 
aufhören, bevor auf dem einen oder anderen Wege 
die Lösung herbeigeführt ist*). 

Sodann sind zwei Möglichkeiten zu unterschei- 
den. Entweder es gewinnt die Ansicht die Ober- 
hand — gleichviel ob richtig oder falsch — , bei 
geeignetem Betriebe oder bei korrekterem Aus- 
gleich der Kalkulationen seien auch die bestehen- 
den Eisenbahnen in der Lage, auf ihren Haupt- 
linien mit ähnlichen Tarifen zu rechnen; es sei 
somit die Errichtung besonderer Güterbahnen kein 
wirtschaftlicher Fortschritt. Dieser Fall wäre, 
so paradox es klingt, der erfreulichste, obwohl 
er der vorliegenden Arbeit den Stempel des Miß- 
lungenen oder Überflüssigen aufzudrücken schiene. 
Denn es müßte über lang oder kurz eine erhebliche 

*) Die Diskussion ist in vollem Gange; lebhafter freilich im Aus- 
land, insbesondere Österreich, als in Deutschland. Im preußischen 
Herrenhause stellte der Minister die Ergebnisse der Berechnungen 
nicht in Abrede, sprach aber, wie zu erwarten, die Besorgnis aus, 
es könnten die fisValischen Transportgewinne sich vermindern. 

174 



Herabminderung der Tarife auf den Hauptlinien 
erfolgen, gleichviel ob hiermit ein vorübergehender 
Gewinnausfall der Bahnen verbunden wäre. Mag 
man noch so entschieden den Standpunkt ver- 
treten, daß Staatsfrachten eine Besteuerung ent- 
halten sollen: es kann weder diese Besteuerung 
auf die Dauer ein Vielfaches des Wertes der Lei- 
stung ausmachen, noch kann eine Steuer so falsch 
lokalisiert bleiben, daß ihre Saugapparate um den 
empfindlichsten Teil eines Wirtschaftskörpers sich 
klammern und eine Entwicklung hindern, die frei 
expandierend ein Vielfaches dieses Steuerbetrages 
aufzubringen vermöchte. 

Setzt man den zweiten Fall: daß die Meinung 
Platz greift, die Güterbahnen bedeuten einen wirk- 
lichen Fortschritt im wirtschaftlichen Leben, so 
ist keine Macht imstande, den Bau solcher Bahnen 
dauernd zu hindern. Während Kanalbauten größe- 
ren Umfangs nur unter schweren Opfern des 
Staates und der Provinzialverbände zustande ge- 
bracht werden können, würde die Finanzierung 
einer Güterbahn aus privaten Mitteln möglich 
sein, denn sie bietet die WahrscheinUchkeit einer 
gesicherten Rentabilität. So gering die Aussicht 
sein mag, daß der Staat eine konkurrierende Pri- 
vatunternehmung konzessioniert, so wahrschein- 
lich ist es, daß er selbst zu einem gewissen Zeit- 
punkt die Initiative ergreifen wird, um gleich- 
zeitig eine rentable Unternehmung und ein volks- 
wirtschaftlich notwendiges Werk zu schaffen. 

Wann dieser Zeitpunkt eintreten könnte, läßt 
sich zwar nicht ermessen, aber vermuten. Auch 
unabhängig von der Frage der Güterbahnen be- 

175 



reitet die Teilung der gegenwärtigen Hauptbahn- 
linien in Parallelsysteme sich vor: denn wie der 
Güterverkehr nach erhöhter Frequenz verlangt, 
so verlangt der Personenverkehr nach Beschleuni- 
gung. In durchaus absehbarer Zeit wird die elek- 
trische Fernbahn sich des Personenverkehrs be- 
mächtigen und die zeitlichen Entfernungen hal- 
bieren. Die elektrische Fernbahn aber erfordert 
eigene Gleise ohne Kreuzungen sowie die Abson- 
derung vom Güterverkehr, der sich somit eigene 
Bahnen suchen muß. 

So werden voraussichtlich die beiden größten 
Umwälzungen, deren der Massenverkehr fähig ist, 
in engster Verknüpfung und zu gleichem Zeit- 
punkt erfolgen. 

Daß das Prinzip der Staatsbahnen mit seinen 
großen und anerkannten Vorzügen nicht die 
Eigenschaften verbindet, die den frei konkurrieren- 
den Industrien anerzogen sind: Lust zur Initia- 
tive und automatische Anpassung an die Bedürf- 
nisse der Gesamtheit, ist evident. Die Filtration 
dieser Bedürfnisse durch das Ermessen einer Be- 
hörde und durch das Verantwortlichkeitsgefühl 
technischer Instanzen, die nicht unter der Pression 
wirtschaftlicher Nötigung und spekulativen An- 
triebes stehen, verlangsamt die Realisierung und 
vermindert den Nutzeffekt. 

Trotzdem kann ein grundsätzlicher Fortschritt 
des Verkehrswesens dauernd nicht zurückgehalten 
werden ; dafür sorgt die Konkurrenz der Nationen 
und die erstarkende öffentliche Erkenntnis des 
wirtschaftlich Notwendigen. 



176 



BEMERKUNGEN ÜBER ENGLANDS GEGEN- 
WÄRTIGE SITUATION») 

Vorbemerkung 

Gegenüber der Meinung derjenigen Deut- 
schen, die in dem Vereinigten Königreich 
einen mäßig bevölkerten Inselstaat und 
einen gleichgearteten Komparenten des europä- 
ischen Völkerkonzerns erblicken, ist es nützlich, 
die präzipuale Bedeutung dieser Macht, die seit 
den Zeiten des Römer- und des Frankenreiches 
ihresgleichen nicht gehabt hat, zuweilen ins Ge- 
dächtnis zu rufen. Der dritte Teil der bewohnten 
Erde steht unter Englands Botmäßigkeit oder Ein- 
fluß; Hunderte von Millionen Menschen reden 
seine Sprache und bewahren seine Kultur. Seine 
Flotte findet Stützpunkte an allen Küsten; ihre 
Übermacht vermag jeden Gegner aus den Meeren 
zu vertreiben. Englischen Gebieten entstammen 
zwei Drittel der Goldproduktion der Erde; eng- 
lische Städte sind die Handels- und Marktzentren 
der Welt. Mit dem Kapitalreichtum des Landes 
kann Deutschland, mit seiner Liquidität nur Frank- 
reich sich messen, mit dem Umfang der auswärti- 
gen tributären Unternehmungen kein anderes Volk. 
Tradition, Homogenität der Rasse und Kultur 
schaffen den einheitlichsten Volkswillen, den wir 
kennen; die Alternation zweier patriotischer und 
responsabler Regierungsparteien verleiht der Po- 
litik die Stetigkeit eines arithmetischen Mittels. 

*) Diese Arbeit wurde während eines längeren Aufenthalts in eng- 
lischen Territorien im Sommer 1908 geschrieben. 



xa 



177 



Ein zum Aristokratismus neigender, tätiger lind 
wohlhabender Mittelstand von enormer Ausdeh- 
nung übt Körper und Geist in harmonischem Aus- 
gleich und liefert einen Nachwuchs von Menschen, 
die Verantwortlichkeit erstreben und ertragen. 

Hält man diese Verhältnisse vor Augen, so er- 
geben sich diejenigen Einschränkungen, deren die 
nachfolgenden Ausführungen bedürfen ; denn diese 
beziehen sich auf Nachteile und Gefahren, denen 
das britische Reich gegenwärtig standzuhalten hat. 

Da nun die äußere Machtstellung des Landes 
auf zwei Faktoren beruht : dem Erwerbsleben und 
der Kolonialmacht, so sollen in gleicher Ordnung 
die nachstehenden Beobachtungen vorgetragen 
werden. 

I. Wirtschaftliche Sorgen 

Vom Handel, als der naturgemäßen, traditio- 
nellen und von den gegenwärtigen Verhältnissen 
weniger berührten Quelle englischen Erwerbes 
braucht in diesem Zusammenhange nicht gespro- 
chen zu werden. 

Beachtenswerter ist die Lage der englischen 
Industrie, deren relativen Rückgang ich in meinem 
letzten Buche zu beleuchten versuchte. Die Haupt- 
ursachen dieses Ermattens im internationalen 
Wettbewerb sind folgende: 

I. Lebensgewohnheit und Erziehung. Der 
Engländer verlangt vom Leben ein höheres Maß 
von Muße und Erholung, auch in der Jugend, als 
der Deutsche. In der demütigen Tätigkeit des 
Lernens überschreitet er daher nicht gern eine 

178 



gewisse Grenze und verschmäht die gleichzeitig 
enzyklopädische und spezialisierte Ausbildung des 
deutschen Studenten. Somit ist das technisch ge- 
schulte Beamtenmaterial der Engländer dem un- 
unseren nicht entfernt zu vergleichen, und keine 
Vermehrung technischer Lehranstalten wird hieran 
etwas ändern. Aber auch in der geschäftlichen 
Tätigkeit ist der englische Beamte unterlegen, 
denn er arbeitet zwei Stunden weniger als sein 
deutscher Konkurrent; er verlangt mindestens 
einen freien Nachmittag in der Woche, höhere 
Bezahlung und ein klar definiertes, von ungewöhn- 
lichen und komplizierten Akzidentien befreites 
Arbeitsgebiet. 

Nun beruhen aber die neueren, vorwiegend wis- 
senschaftlich gearteten Industrien, wie etwa Ma- 
schinenindustrie, chemische Industrie, Elektrizi- 
tätsindustrie auf zwei Faktoren : Technik und Or- 
ganisation, das heißt: auf der Tüchtigkeit des 
technischen und kaufmännischen Beamten. Hier- 
aus erhellt, warum England, bei aller seiner 
Stärke in älteren Industriezweigen, insbesondere 
in denjenigen, die detailfähige Gebrauchswaren 
liefern, seine starke Position zunächst behauptet, 
während die modernen Großindustrien, die vermöge 
erweiterter Arbeitsteilung die fertigmachenden In- 
dustrien mit Produktionsmitteln versorgen, hinter 
dem Ausland zurückbleiben. 

2. Ein zweites Hemmnis englischer Industrien 
sind die Arbeiterorganisationen. Sie mußten die 
ganze soziale Versicherungsarbeit übernehmen, die 
durch unsere Sozialgesetzgebung fiskalisiert wurde, 
und haben daher eine ungeheure Stärke gewonnen. 

179 



Diese Stärke, verbunden mit einem geschäftsmäßig 
praktischen Sinn, der nicht von Zukunftsstaaten 
träumt, sondern heutige Lebensbedingungen zu 
beherrschen und zu akkomodieren trachtet — , 
diese Stärke hat den Trade Unions die Kontrolle 
der englischen Industrie gesichert. Sie schreiben 
vor, ob und zu welchen Bedingungen gearbeitet 
werden darf, ob neue Maschinen eingestellt oder 
Betriebe erweitert werden dürfen. Diese Ein- 
wirkung hat den englischen Produktionsbedin- 
gungen die Elastizität geraubt, die ausländischer 
Wettbewerb erfordert. In Parenthese darf hier 
bemerkt werden, daß aus dem Kontrast der Wert 
unserer sozialen Gesetzgebung deutlich hervor- 
tritt. Eine Sicherung des Arbeiters gegen Ge- 
fahren und Alterssorgen wäre zwar sicherUch auch 
ohne gesetzliches Zutun, auf Grundlage privater 
Assoziationen zustande gekommen ; aber diese Asso- 
ziationen hätten wahrscheinlich unsere Industrie 
zugrunde gerichtet. Die Gesamtheit der Industri- 
ellen hat daher keinen Anlaß, sich über die Be- 
lastungen dieser Gesetzgebung zu beklagen. 

3. Tradition und Konservativismus, zwei Fak- 
toren höchster Stärke, wo es sich um Regierungs- 
und Verwaltungsfragen handelt, sind der indu- 
striellen Evolution entgegengesetzt. Vornehmlich 
ist es die Fähigkeit der Amerikaner, in letzter Zeit 
auch einigermaßen der Deutschen, erhebliche Ri- 
siken und Investitionen auf sich zu nehmen, um 
Betriebe zu verbessern, neue Arbeitsmethoden und 
neue Produkte einzuführen, neue Unternehmungen 
und Industriezweige zu schaffen. Der Engländer 
hingegen hat jahrzehntelang mit seinen älteren 

180 



Industrien prosperiert, ja eine führende Stellung 
behauptet, ohne sich Sorgen um Geldbeschaffung 
oder wirtschaftliche Experimente machen zu 
müssen; so steht er Neuerungen unwillig und 
mißtrauisch gegenüber, beauftragt allenfalls einen 
gewerbsmäßigen Experten — denn über eigene 
autoritative Kräfte verfügt er nicht — , ihm Gut- 
achten und Kalkulationen vorzulegen, und ent- 
scheidet sich erst dann für die Reform, wenn die 
Welt längst mit neuen Dingen beschäftigt ist. 
Auch dies fördert den industriellen Konservati- 
vismus, daß die Unternehmungen großenteils in 
den Händen Privater liegen, die nach altem Her- 
kommen nicht gern an die Grenze ihrer Mittel 
herantreten, noch weniger aber Kredite zu bean- 
spruchen wünschen, während unsere Aktienge- 
sellschaften unter Mithilfe industriell veranlagter 
Banken sich ohne Bedenken und Schwierigkeit An- 
leihen oder Kapitaleinlagen beschaffen. 

Versucht man, die drei Kategorien, die den ver- 
zögerten Fortschritt oder relativen Rückgang 
englischer Industrie verschulden, auf ein Grund- 
prinzip zurückzuführen, so wäre man geneigt an- 
zunehmen, daß alter Reichtum, alte Kultur und 
alte Führerschaft England ungeeignet machen, die 
unterwürfigen Qualitäten des übertriebenen Ler- 
nens, der Vielgeschäftigkeit und der Konkurrenz- 
gebarung anzunehmen, die modernes Erwerbs- 
leben leider erfordert. England leidet unter seinen 
besten Qualitäten. 

Die Engländer selbst sind sich des Vorgangs 
deutlich bewußt, seiner Ursachen unklar. In 
erster Linie glauben sie, daß das System der tech- 

i8i 



nischen Erziehung reformiert werden müsse, wäh- 
rend es sich in Wirklichkeit um Fragen der na- 
tionalen Lebensweise handelt. In zweiter Linie 
regt sich in allen Ecken des Landes die Tendenz 
zu Schutzzöllen, denen ja vielfach die Kraft zu- 
gesprochen wird, erschlaffende Industrien zu hal- 
ten, während sie in Wirklichkeit nur imstande 
sind, junge und aufstrebende Gewerbe in ihrer 
ersten Entwickelungszeit zu schützen und erstarken 
zu piachen. 

Aus Besprechungen mit führenden Finanzleuten 
ergab sich nun die seltsame Tatsache, daß der Ruf 
nach Protektion einstweilen durchaus nicht vor- 
wiegend von Industriellen oder Arbeitern aus- 
geht. Diese beiden Berufsklassen vertreten viel- 
mehr großenteils die nur innerhalb enger Grenzen 
zutreffende Ansicht, daß Schutzzölle die Kon- 
sumartikel des Landes verteuern, woraus die einen 
schließen, daß die Löhne erheblich gesteigert wer- 
den würden, während die anderen selbst bei ge- 
steigerten Löhnen verschlechterte Lebensbedin- 
gungen befürchten. Daneben macht sich wohl 
auf Seiten der Händler und Cityleute die Erkennt- 
nis geltend, daß ein schutzzöllnerisches England 
auf die Dauer nicht den Großhandel und die 
Hauptmärkte des Kontinents sich werde erhalten 
können, daß vielmehr diese Hauptquellen des na- 
tionalen Erwerbes vorwiegend von deutschen 
Häfen und Handelsplätzen abgefangen werden 
würden. Tatsächlich sieht England in dieser 
wichtigsten aller gegenwärtigen Wirtschaftsfragen 
sich vor das Dilemma gestellt : entweder in gleicher 
Weise die fernere Entwicklung seiner Industrie 

182 



r 



seinem Handel und seiner Weltstellung zu opfern, 
wie es seine Landwirtschaft in der Mitte des 
XIX, Jahrhunderts geopfert hat, oder mit dem 
mangelhaften Hilfsmittel der Schutzzölle die In- 
dustrie zu verteidigen, auf die Gefahr hin, daß 
Handel und Handelsflotte, Warenverkehr, Geld- 
verkehr und Märkte ernsthaft geschädigt werden. 
In dieser schweren Besorgnis sind es, wie er- 
wähnt, merkwürdigerweise nicht so sehr die 
eigentlich betroffenen Industriellen, die Protek- 
tionismus fordern, als eine andere Klasse von 
Interessenten, die sich gleichfalls, aber auf gänz- 
lich andersgeartetem Gebiete in Bedrängnis fühlen 
— nämlich die Imperialisten. 

II. Koloniale Sorgen 

Es bezeichnet die seltsame Duplizität eng- 
lischer Politik, die nicht wie die unsere durch 
unüberbrückbare wirtschaftliche Kontraste in 
Spannung gehalten wird, sondern nach Oppor- 
tunitätsgründen bald hier bald dort ein altes Prin- 
zip verläßt, ein neues aufnimmt — , es bezeichnet 
diese Versatilität und Unbefangenheit, daß der 
Mann, der seiner Königin die Kaiserkrone von 
Indien aufs Haupt setzte, das Wort gesprochen 
haben soll: die Kolonien seien der Mühlstein an 
Englands Halse. 

Die politischen Erben Disraelis, die heute im- 
perialistische Ziele verfolgen, werden sich dieses 
gewichtigen Bildes bewußt, deutlicher als es dem 
kontinentalen Blick sich darstellt. 

Denn wenn wir, von gewohnten Anschauungen 

183 



ausgehend, die englische Weltstellung auf See- 
mannstüchtigkeit und Kolonialherrschaft zurück- 
führen, so erblicken wir in der letzteren nicht nur 
den Inbegriff maritimer Stützpunkte und über- 
seeischer Bundesgenossenschaften, sondern vor 
allem den Quell unversieglicher Schätze, die als 
Kontributionen, Gehälter, Pensionen, Handels- 
und Absatzgewinne dem Mutterlande zufließen. 
Diese wirtschaftliche Seite des kolonialen Impe- 
riums verdient indessen eine etwas nüchternere 
Betrachtung. 

Es wird kaum möglich sein, und wohl auch von 
keiner Stelle der Verwaltung aus ernstlich ver- 
sucht werden, die ökonomische Bilanz des kolo- 
nialen Soll und Habens zahlenmäßig zu ziehen. 
Sowohl unter den Aktiven wie unter den Passiven 
würden Posten erscheinen, die sich jeder Berech- 
nung entziehen : unter den ersteren der Wert des 
Handelsverkehrs, unter den letzteren die Erfor- 
dernisse für solche Investitionen, die sich spät, 
indirekt oder nie bezahlt machen, sowie für mari- 
timen Schutz und kriegerische Unternehmungen. 
Indessen läßt sich aus einer Reihe übereinstimmen- 
der Indizien schließen, daß diese wirtschaftliche 
Bilanz heute in hohem Maße passiv ist. Was 
zunächst zahlenmäßige Überweisungen aus den 
Kolonien anlangt, so finden solche in irgendwie 
beachtenswertem Maße überhaupt nicht statt. 

Die Kolonien halten und bezahlen ihren eige- 
nen Beamtenkörper, der aus einsässigen Persönlich- 
keiten besteht; das Militär, soweit es überhaupt 
von der Heimat gestellt wird, erhält und verzehrt 
seine Löhnung in dem Lande, wo es stationiert 

184 



ist; Kontributionen werden an das Mutterland 
nicht entrichtet. Dagegen verlangen viele Kolo- 
nien erhebliche direkte Zuschüsse aus der Heimat ; 
sie verlangen die Finanzierung ihrer Anleihen, 
gleichviel ob diese zureichend, oder wie etwa die 
von Kapland, sehr mäßig fundiert sind; sie ver- 
langen endlich enorme Investitionen für Verkehrs- 
anlagen, Bewässerung, Befestigung, Kriegfüh- 
rung, die entweder vorschußweise oder ä fonds 
perdu gewährt werden müssen. Daß der eng- 
lische Handel aus den Kolonien erhebliche Vor- 
teile zieht, ist unbestreitbar, und es fällt hiergegen 
nur wenig ins Gewicht, daß beträchtliche Sub- 
ventionen an Dampferlinien gezahlt werden müssen. 
Auch englische Produktion findet in den Kolo- 
nien Absatz: bis zu welchem Maße ist schwer zu 
sagen, obgleich die Handelsstatistiken die Import- 
ziffern mit über 50% der Importe nachweisen; 
denn zweifellos finden viele deutsche und ameri- 
kanische Produkte auf dem Umweg über England 
dort — eine zweite Heimat. So viel aber ist sicher, 
daß der koloniale Absatz keine Schätze abwirft; 
denn trotz mannigfacher differentialer Behand- 
lung wirkt die internationale Konkurrenz in den 
Kolonialgebieten mit rücksichtsloser Schärfe. 

Als wahrscheinlich darf angenommen werden, 
daß die wirtschaftlichen Vorteile, die England aus 
seinen Kolonien zieht, sich in einem Verhältnis 
abstufen, das bei sehr zahlreicher und tätiger far- 
biger Bevölkerung seinen günstigsten Grad erreicht, 
während die überwiegend von europäischen Rassen 
besiedelten Länder der Heimat mehr und mehr 
national und wirtschaftlich verloren gehen; es 

185 



dürfte daher Indien noch immer Englands wert- 
vollster Besitz sein. 

Erscheinen somit die wirtschaftlichen Vorteile, 
die England der kolonialen Expansion verdankt, 
begrenzt, so muß aus der politischen Betrach- 
tung sich ergeben, welches Maß von rationeller 
Berechtigung, mithin von Stabilität dem Imperium 
innewohnt. Auch hier ergibt sich eine ähnliche 
Gesetzmäßigkeit insofern, als die Dichte und 
Bedeutung der weißen Bevölkerung in einer 
gewissen Proportionalität stehen zu den Sorgen, 
die der Heimat erwachsen. 

Abermals zeigen die Kolonien mit dichter und 
relativ entwickelter farbiger Bevölkerung das 
günstigste Bild. Sie erweisen sich als gesicher- 
ter Staatsbesitz, dessen innere und äußere Ver- 
teidigung zwar aufmerksame Überwachung er- 
fordert, der auch gelegentlich bei Wirtschafts- 
kalamitäten durch Aufstände gefährdet werden 
kann, im allgemeinen aber, mit der Länge der 
Zeit, mit dem Ausbau von Verkehrs- und Defensiv- 
mitteln dem Stammland immer enger angekettet 
wird. 

Anders diejenigen Kolonien, die wie Südafrika 
infolge der Spärlichkeit oder Passivität der ein- 
geborenen Bevölkerung eine gleichzeitige Besiede- 
lung durch farbige und weiße Elemente erfordern, 
Prävaliert hier das dunkle Element, wie dies zu- 
mal bei beginnender Kolonisation entschieden der 
Fall sein muß, so entsteht innerhalb weniger Ge- 
nerationen eine moralische, vielleicht auch phy- 
sische Niederziehung des Europäertums. Das 
beständige Beispiel des untätigen und amora- 

i86 



lischen Eingeborenen, die schwer zu ertragende 
Gewöhnung an ein angeborenes Herrscherdasein, 
die Erziehung der Kinder in der Umgebung und 
Atmosphäre einer servilen Kaste — diese Fak- 
toren sollen zu einer inneren Entartung beitragen, 
die alsdann zu weitgreifender Vermischung und 
Bastardisierung führen kann. So ist im Kapland 
der Stamm der Capboys entstanden, einer Misch- 
lingszucht von Holländern und Negern, die in 
allen Abstufungen von Weiß zu Schwarz heute 
einen wesentlichen Bestandteil der südafrika- 
nischen Bevölkerung bildet. Schreitet nun die 
Vermehrung der Eingeborenen und Mischlinge 
rascher voran als die der Europäer, so entstehen 
neue Wirrnisse. Denn auch die Farbigen haben 
im Zusammenleben mit den Weißen sich so weit 
modifiziert, daß sie gelernt haben, Ansprüche zu 
erheben, zunächst auf Teilnahme an der Verwal- 
tung. Dr. Jameson, der Führer jenes Jameson- 
Raid gegen Johannesburg, der bis vor kurzem dem 
Kapministerium angehörte, vertritt mit Ent- 
schiedenheit die Berechtigung der Farbigen zur 
Selbstverwaltung, indem er anführt, daß eine 
scharfe Grenze zwischen ihnen und den Weißen 
physisch überhaupt nicht mehr gezogen werden 
könne. So besitzen denn im Kapland die Far- 
bigen tatsächlich das parlamentarische Stimmrecht, 
während andere Kolonien, wie z. B. Natal, wo das 
weiße Element vorherrscht, auf diesen Verfassungs- 
zustand des Nachbarlandes mit Abscheu herab- 
sehen und vornehmlich um seinetwillen von der 
Errichtung einer südafrikanischen Union nichts 
wissen wollen. 

187 




Es ist bekannt, daß die Ambitionen der ober- 
flächlich zivilisierten Eingeborenen sich noch wei- 
ter erstrecken, und daß die äthiopische Bewegung, 
durch schwarze Missionare geschürt, Anhänger 
wirbt für die der Monroedoktrin nachgebildete 
These: „Afrika den Afrikanern". So sind denn 
heute ernste englische Beurteiler der Ansicht, daß 
das Land in absehbarer Zukunft zu wählen haben 
werde zwischen friedlicher Unterwerfung unter 
teilweise afrikanische Kontrolle oder schweren in- 
neren Kämpfen. Mag diese Perspektive zu dunkel 
und zu phantastisch erscheinen : so viel ist gewiß, 
daß nur eine Stärkung des hellen Elements, somit 
eine energische Förderung der Immigration und 
allmähliche Umwandlung der Länder in weiße 
Kolonien die inneren Reibungen beseitigen und die 
Verschmelzung der verschiedenartigen Verwal- 
tungen zu einer einheitlichen südafrikanischen 
Kolonialorganisation ermöglichen wird. In glei- 
chem Maße aber werden diejenigen neuen An- 
tagonismen dem Mutterlande gegenüber auftreten, 
die von allen rein weißen und zu einer gewissen 
Reife gelangten Kolonien gezeitigt werden, und 
die eine wirkliche Gefahr für das koloniale Im- 
perium bilden. 

Betrachtet man vergleichend die Vereinigten 
Staaten und Kanada, so erblickt man zwei Länder 
von nahezu gleichaltriger Geschichte und ähnlicher 
Flächenausdehnung, aber von sehr verschiedener 
Bedeutung. Das eine, stark bevölkert, eine poli- 
tisch prominente, wirtschaftlich unerreichte Macht 
von enormem Wohlstand, das andere spärlich be- 
wohnt, politisch ohne Existenz, verwaltungsmäßig 

i88 



abhängig, mit zunehmendem Wohlstand, aber 
ohne überragende wirtschaftliche Bedeutung. So 
kann es nicht wundernehmen, daß die Bewohner 
es ablehnen, Klima und Boden allein für die retar- 
dierte Entwicklung verantwortlich zu machen, 
sondern vielmehr in der Abhängigkeit von einem 
europäischen Lande den schwersten Nachteil er- 
blicken. Diese Stimmungen finden offen Aus- 
druck; eine peinliche Szene auf einem offiziellen 
Bankett in Washington gab vor wenigen Wochen 
die charakteristische Illustration kanadischer Un- 
abhängigkeitsgelüste*) . 

England ist sich dieser zentrifugalen Tendenzen 
sehr wohl bewußt und bemüht sich, durch äußerste 
Liberalität des Regimes, die fast an Schlaffheit 
grenzt, ihnen zuvorzukommen. Man kann in der 
Dezentralisation nicht weiter gehen, als hier ge- 
schieht. Selbst halbentwickelte Kolonialgebilde 
haben eigene Parlamente, eigene Gesetzgebung, 
Wirtschaftspolitik, Beamtenkörper. England und 
seinem Statthalter bleibt kaum etwas anderes als 
Veto und Exekutive. Aber alle Liberalität kann 
den Gedanken nicht zurückdrängen, der in allen 
weißen Kolonien auftaucht und Boden gewinnt: 
daß in sehr absehbarer Zeit an die Stelle des Vor- 
mundschaftsverhältnisses eine Union zu treten habe, 
die denn freilich in der Praxis andere Wege ein- 
schlagen könnte, als es den Programmen entspricht. 

Was England heute den loslösenden Bestre- 
bungen allein entgegensetzen kann, ist seine 

*) Die letzten kanadischen Wahlen haben eine Stärkung der Be- 
ziehungen zum Mutterlande gebracht. Wie lange sie vorhalten wird, 
bleibt abzuwarten. (191 1.) 

189 



Flotte. „Hier habt ihr einen Schutz," so sagt 
Großbritannien, „den keiner von euch entbehren 
und den kein anderes Land euch gewähren kann, 
denn die britische Flotte ist ein imerreichbares, 
jeder Rivalität enthobenes Unikat." Auf diesem 
Nachsatz liegt das Gewicht. Denn er bezeichnet 
den Untergrund der englischen Flottenempfind- 
lichkeit: mit jedem Schiff, das Deutschland, baut, 
lockert sich ein Stein des britischen Kolonial- 
gebäudes. 

So ist es begreiflich, daß die imperialistische 
Partei sich nach neuen Mitteln umsieht, um die 
überseeischen Besitzungen sich fester zu verbinden ; 
und es trifft sich seltsam, daß abermals der Gedan- 
danke des Schutzzollsystems sich darbietet. Hier 
aber erscheint er, den veränderten Zielen ent- 
sprechend, in neuem Kleide. Ein gemeinschaft- 
licher Zollring, der nicht nur auf die Produkte der 
Industrie, sondern auch der Landwirtschaft und 
der kolonialen Wirtschaft sich erstreckt, soll das 
gesamte britische Weltreich umschUeßen und eine 
gewaltige Produktionseinheit schaffen. Unter sei- 
nem Schutz sollen die Überseeländer das Heimat- 
reich mit Rohstoffen, Nahrungs- und Genuß- 
mitteln versorgen und im Austausch Industrie- 
produkte erhalten. 

Die Schwächen dieses grandiosen Gedankens 
liegen offen zutage : er ist für beide Parteien un- 
annehmbar. Abgesehen von der Frage, ob die Ge- 
meinschaft in ihrer Produktion vielseitig und hin- 
länglich genug sein würde, um sich von der 
Umwelt genügend freizumachen: die Kolonien 
würden es auf die Dauer nicht ertragen, englische 

190 



Industrieprodukte unter monopolistischen Be- 
dingungen zu beziehen; und England, das keine 
erhebhche Landwirtschaft betreibt und noch 
heute sich vor ledigUch industriellen Zöllen fürch- 
tet, weil sie die Lebensführung verteuern, würde 
die Einbeziehung des Gesamtbereichs aller Kon- 
summittel in das generelle Zollregime sich nicht 
gefallen lassen. Die gewichtigen, im Vorange- 
gangenen erwähnten Bedenken hinsichtlich Ge- 
fährdung des Handels und der Märkte bleiben 
überdies in verstärktem Maße geltend. 

Von großer Bedeutung muß es aber erscheinen, 
daß von zwei ganz verschiedenen Seiten aus auf 
das gleiche Ziel hingearbeitet wird, wobei die 
Kolonialpartei mit großen Mitteln der Agitation 
und hohen Parolen bereits in Tätigkeit sich be- 
findet, während die nach herkömmlichen ökono- 
mischen Anschauungen vornehmUch interessierten 
Gruppen, nämlich die der Industrie, einstweilen 
noch zögern, aus der Deckung hervorzutreten und 
sich den Bundesgenossen zu vereinigen. 

Als außenstehende Beurteiler können wir die 
englische Schutzzolltendenz nur als verkehrt be- 
trachten, als industrielle Interessenten sie als 
schädlich empfinden; es stehen uns aber keine 
Mittel zu Gebote, sie abzulenken. Und wenn 
man auch im allgemeinen die engUsche PoUtik 
als vorbildlich insofern bezeichnen darf, als sie 
stets^ gleichsam instinktiv, die wahren Bedürf- 
nisse der Nation erfaßt und besorgt hat, so ist 
der Fall doch nicht auszuschUeßen, daß in Zeiten 
der Verlegenheit starke Konstellationen vermeint- 
licher Interessen die Entschlüsse bestimmen. 



191 



Rückwirkungen 

So sehen wir England heute von zwei schweren 
Sorgen erfüllt: der wirtschaftlichen und der 
kolonialen, denen zwei Mittel der Abhilfe gegen- 
überstehen; das eine — Schutzzoll — grund- 
sätzlich durchaus durchführbar, aber vermutlich 
nicht heilsam; das andere — Flottenvermehrung 
— zweckentsprechend und geeignet, vielleicht 
aber nicht so bequem durchführbar, wie es auf 
den ersten Blick erscheint. Zwar ist die englische 
Flotte außerordentlich volkstümlich, der höchste 
Stolz der Nation; ihre Besatzung findet in der 
maritimen Bevölkerung reichlichen Nachwuchs; 
der Schiffbau ist unübertroffen; die Mittel zur 
Erhaltung und Verstärkung sind stets aufs frei- 
gebigste vom Parlament bewilligt worden — aber 
das Land ist heute nicht mehr so ausgabefroh wie 
früher, und opferwillig ist es nie gewesen. Wenn 
auch die Staatsbilanz mit einer Schuldentilgung 
von i8 Millionen glänzend erscheint, so ist der 
Überschuß doch nur eine Folge der Kriegssteuer, 
die noch immer gezahlt und ungern gezahlt wird. 
England könnte bei seinem großen nationalen 
Wohlstand ein erheblich vergrößertes Budget er- 
tragen ; es will aber nicht höher besteuert sein, eben- 
sowenig wie es die Last einer allgemeinen Wehr- 
pflicht zu tragen gewillt ist. Dies verwöhnte Land 
macht seit Jahren schlechte Geschäfte und lebt 
nach unseren Begriffen über seine Verhältnisse : da 
sind neue Steuern die unliebsamste Ausgabe. So 
mußte auch die Heeresreform ein Torso bleiben; 
sowohl die Einrichtung der Territorialarmee als 



ig2 



die der Military Associations, die einen Teil der 
Lasten zu freiwilligen machen sollen, scheinen 
Mißerfolge. Wenn daher auch häufig das Wort 
ertönt : „auf ein deutsches Schiff zwei englische", 
so äußert sich darin mehr ein Wunsch als ein 
Gelübde. Zweifellos kann England seine Flotte 
verstärken, wird sie verstärken und muß sie 
verstärken — aber das gegenwärtige exorbitante 
Verhältnis der Übermacht kann auf die Dauer 
nicht erhalten bleiben. 

In hohem Maße beachtenswert ist es, daß beide 
Sorgen, die industrielle und die koloniale, den 
Blick der Nation nach Deutschland hinüberlenken. 
Hier sitzt der Konkurrent und der Rivale. Aus 
allen Unterhaltungen mit gebildeten Engländern 
klingt es heraus, bald als Kompliment, bald als 
Vorwurf, bald als Ironie: ihr werdet uns über- 
flügeln, ihr habt uns überflügelt. Und ein drittes 
gewichtiges Moment tritt hinzu, das wir uns in 
der Heimat nicht immer vergegenwärtigen: die 
Beurteilung Deutschlands, wie es sich dem Außen- 
stehenden darstellt. Man blickt von außerhalb 
in den Völkerkessel des Kontinents, und gewahrt, 
von stagnierenden Nationen eingeschlossen, ein 
Volk von rastloser Aktivität und enormer phy- 
sischer Expansion. Achthunderttausend neue 
Deutsche jährlich! Jedes Lustrum eine additio- 
nelle Bevölkerung nahezu gleich der von Skandi- 
navien oder der Schweiz ! Und man fragt sich, wie 
lange das evakuierte Frankreich dem Atmo- 
sphärendruck dieser Bevölkerung standhalten könne. 

So substantiiert und lokalisiert sich jede eng- 
lische Unzufriedenheit — und es gibt deren genug 

»s 193 



seit dem letzten Kriege — im Begriffe Deutsch- 
lands. Und was bei den Gebildeten als moti- 
vierte Überzeugung auftritt, das äußert sich 
beim Volke, bei der Jugend, in der Provinz als 
Vorurteil, als Haß und Phantasterei in einem Um- 
fange, der weit über das Maß unserer journali- 
stischen Apperzeption hinausgeht. 

Es wäre schwächlich und oberflächlich, wollte 
man glauben, daß kleine Freundlichkeiten, De- 
putationsbesuche oder Preßmanöver Unzufrieden- 
heiten stillen können, die aus so tiefen Quellen 
fließen. Nur unsere Gesamtpolitik ist imstande, 
England wenigstens diesen Eindruck zu verschaffen, 
daß von Deutschlands Seite aus keine Verstim- 
mung, keine Furcht, kein Expansionsbedürfnis und 
keine Offensive besteht. Die Massen werden hier- 
durch nicht überzeugt, wohl aber die Regierungen 
im Bewußtsein ihrer Verantwortung erhalten 
werden. 

Ist es zutreffend, daß seit dem Aufhören der 
Eroberungskriege es vorwiegend ratlose Verlegen- 
heiten gewesen sind, die europäische Konflikte 
veranlaßt haben, so ergibt sich von neuem der 
Anlaß, nichts zu versäumen, was zur politischen 
Beruhigung beitragen kann; in dem Bewußtsein, 
daß mit jedem Jahr, das vergeht, das maritime 
Machtverhältnis sich für uns günstiger gestaltet 
und hierdurch eine allmähliche Konsolidierung des 
Gleichgewichtes wiederum eintritt. 




194 



POLITIK, HUMOR UND ABRÜSTUNG«) 



Manto 
Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt. 



I. 



Im Schachspiel wird derjenige siegen, dem der 
stärkste Gegenzug zur Verfügung steht. Der 
stärkste Gegenzug aber ist dadurch gekenn- 
zeichnet, daß er nicht nur die Absicht und Offensive 
des Gegners durchkreuzt, sondern gleichzeitig dem 
eigenen Spiel neue Aussichten und Stärken schafft. 

Eine dauernd defensive Staats- oder Geschäfts- 
politik muß Schaden leiden. Ein tüchtiger Ge- 
schäftsmann weiß, daß jeder Tag neue Schwierig- 
keiten und Mißhelligkeiten bringt, während un- 
erwartete Glücksfälle selten eintreten. Die Wirr- 
nisse zu ordnen, die Unbequemlichkeiten zu be- 
seitigen, genügt nicht: es müssen beständig neue 
Netze ausgeworfen werden, damit von hundert 
Chancen eine eintrifft. Bei gleicher Einsicht und 
gleichem Fleiß wird von zwei Geschäftsleuten der- 
jenige der erfolgreichere sein, der die meisten Eisen 
im Feuer hat. Wer sich darauf beschränkt, die 
Widernisse des Tages auszugleichen und Welle 
für Welle ruhig abzuwarten, den trifft zuletzt eine, 
die ihn niederwirft. 

Hierin sind Staatsgeschäfte und Privatgeschäfte 
gleichzusetzen. Der Kaufmann fragt sich, wenn 
man ihm von Erfindungen oder Unfällen, von 
Ernten oder Gesetzesvorlagen erzählt: was kann 

*) Veröffentlicht in der Neuen Freien Presse, Ostersonntag 191 1 

«3* 19s 




ich daraufhin machen ? und kauft oder verkauft, 
kündigt, leiht oder treibt ein, je nach seiner Mei- 
nung. Als man Bismarck die Nachricht vom zwei- 
ten Attentat brachte, fragte und klagte er nicht, 
sondern sagte blos : jetzt haben wir sie ! und meinte 
damit, über drei Gedankenschlüsse hinweg, den 
Zusammenbruch des Liberalismus. Das war voll- 
kommene Genialität und Realpolitik: Genialität, 
weil im Handumdrehen ein furchtbares und wider- 
wärtiges Ereignis in das stärkste Vehikel des ei- 
genen Willens verwandelt wurde; Realpolitik 
nicht nur im herkömmlichen Sinne der illusions- 
freien Zweckfolge, sondern vor allem in dem Re- 
spekt vor der Realität der entschiedenen Tatsache 
und der gegebenen Situation. Jede neue Tatsache 
macht in der Welt unzählige Chancen zunichte; 
sie erweckt aber auch unzählige neue zum Leben • 
Deshalb muß jede Tatsache in doppeltem Sinne 
geprüft werden : wie weit sie sich mit den früheren 
Absichten verträgt und wie weit sie neue Ab- 
sichten zuläßt. 

Was bedeutet überhaupt geschäftliche oder po- 
litische Genialität? Mir scheint, nichts anderes, 
als daß in der Camera obscura des Geistes sich ein 
Mikrokosmos darstellt, der alle wesentlichen Zu- 
sammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirk- 
lichkeit bewußt oder unbewußt wiedergibt, und 
der daher auch gewissermaßen experimentell sich 
jederzeit verschieben läßt, so daß er innerhalb 
menschlicher Grenzen sogar das Bild der Zukunft 
aufweist. Dieser Vorgang der Weltbildung ist in- 
tuitiv und daher mühelos ; er ist zwar an ein vor- 
handenes Erfahrungsmaterial gegenwärtiger und 

196 



vergangener Tatsachen gebunden und läßt sich 
durch Nachforschungen und Erhebungen ergänzen ; 
aber er läßt sich nicht erzwingen. Nach außen wird 
daher politische Genialität erkennbar sein einer- 
seits als Kraftüberschuß, Freiheit und somit als 
Humor im Sinne jener Bismarckschen Regung 
(wenn unter dem Begriff des Humors die Souver- 
änität gegenüber der Erscheinung verstanden wer- 
den darf); anderseits als zukunftwärts gewandter 
Blick, als Phantasie. Sicherlich muß hier Freiheit 
nicht mit Frivolität, Phantasie nicht mit Phantastik 
verwechselt werden ; Frivolität ist unsittlich, Phan- 
tastik irreal. 

Politische Genialität aber wird nicht nur im 
Realen, sondern auch im letzten Sinne im Ethischen 
wurzeln: denn ihr Weltbild wäre nicht vollkommen, 
wenn es nicht auch den immanenten sittlichen Ge- 
setzen Raum schaffte. Freilich wird diese Sitt- 
lichkeit sich nicht darin äußern, daß man jeder 
praktischen Frage gewaltsam eine moralische Seite 
abzwingt, wodurch denn gemeinhin aus einem 
Gebiete möglichen Irrens zwei gemacht werden. 

Ein allzu sorgenvoller Kaufmann wird wenig 
Kredit erhalten, denn er läßt befürchten, daß seine 
Lebenskraft dem Gewichte der Widrigkeiten er- 
liegt, und daß es ihm an Ressourcen fehlt. Wer 
Schwierigkeiten sucht, der wird noch mehr fin- 
den, als er erwartet. Wer in allen kleinen Dingen 
eine ethische Seite sucht, setzt sich der Gefahr 
aus, in großen Dingen unethisch zu handeln. 
Wer jede neue Tatsache als einen Quell von Mühen 
und Unzuträglichkeiten betrachtet, wird sich über 
Mangel an Chancen beklagen. 

197 



Die beste Stimmung des Geschäftsmannes ist, 
wenn er sich sagt: es gibt keine Not, aus der 
sich nicht eine Tugend machen ließe. 

IL 

Die Bismarcksche Epoche hat uns in einem allzu 
saturierten Zustand hinterlassen. Deutschland 
glich einem Kaufmann, dem man für sein Geschäft 
viel Geld herausgezahlt hat und den nun die Sorge, 
nichts zu verlieren, von neuen Unternehmungen 
abhält. Nachdem man bis 1870 ein ärmliches, etwas 
abenteurerhaftes, aber hoffnungsvolles Leben ge- 
führt hatte, erwachte man als wohlhabender, ge- 
sättigter Bourgeois ; freilich in unbequeme Grenzen 
eingeschlossen, die man vollkommen ausfüllte und 
von nun an verteidigen sollte, und inmitten ähnlich 
gefestigter Existenzen, die die ihrigen verteidigten. 
Die Zeit der Expansion war vorüber, die geogra- 
phische Lage eine höchst genierte. Nun beging 
man einen unbegreiflichen Fehler, dessen Gleich- 
nis zu suchen man weit in der Geschichte hinauf- 
steigen müßte: man gestattete der Volksstimme 
eines Nachbarn, in jeder unbeschäftigten Stunde 
Racheschwüre auszustoßen, und gewöhnte sich in 
mißverstandener Courtoisie daran, diesen merk- 
würdigen Zustand einseitiger Bedrohung als eine 
berechtigte Eigenart aufzufassen, bis er den 
Charakter eines allgemein sanktionierten Ge- 
wohnheitsrechtes erhielt, das heute als eine der 
stärksten Realitäten der Weltpolitik einen Teil 
unserer Aktionsfähigkeit lahmlegt. 

Seit Bismarcks Abgang ist die deutsche Politik 

198 



defensiv geblieben. Wir haben nicht ein einziges 
eigenes Aktivgeschäft abgeschlossen, und, was be- 
denklicher ist, nicht einmal eine größere aktive 
Aufgabe für unsere Politik gefunden. Den zahl- 
losen Beteuerungen unserer Friedensliebe hätten 
wir die beweiskräftige Formel hinzufügen können : 
weil wir nicht wissen, was wir uns wünschen sollen. 
Der größte Erfolg unserer neueren Politik war 
dem letzten Amtsjahre des Fürsten Bülow be- 
schieden : er bestand in der glänzenden Kampagne 
für Österreich gegen Rußland und betraf unsere 
Interessen somit nur indirekt. Inzwischen dient 
uns die der Finanz, nicht der Politik entsprossene 
Bagdadbahn in freudvollen und leidvollen Tagen als 
fröhlicher, wenn auch einsamer Wetterfrosch. 

Dankbar wuf de es begrüßt, daß der fünfte 
Kanzler in seiner großen Rede über die Abrü- 
stungsfrage das liberum arbitrium Deutschlands in 
weltgeschichtHchen Dingen emporhob. Er ver- 
schaffte dem unausgesprochenen Gedanken Gel- 
tung, daß zu einer Zeit, in der das Gleichgewicht 
der Nationen noch nicht endgültig stabilisiert sei, 
Krieg und Frieden nicht in die Hände von Kom- 
missionen gehöre. 

Um so mehr wird der erste Teil der Rede, die 
Behandlung der Abrüstungsfrage, die man besser 
eine Kontingentierungsfrage nennen sollte, ge- 
rade bei manchen aufrichtigen Verehrern des Kanz- 
lers einige Enttäuschung erweckt haben, denn hier 
konnte man glauben, die freudlose Ablehnung 
einer unzeitigen Belästigung zu vernehmen, und 
sich somit in eine mißgestimmte Defensive 
zurückversetzt fühlen, wo vielleicht ein guter 

199 



Einfall oder wenigstens eine hoffnungsvolle Mit- 
wirkung uns und der Welt einen Dienst erweisen 
konnte. 

Denn abgesehen davon, daß das ungewöhnliche 
Interesse, das die Nationen der Frage entgegen- 
bringen, ganz unabhängig von ihrem Inhalt, an 
sich eine Realität bedeutet, die zugreifende Auf- 
merksamkeit verdient: in der Kontingentierungs- 
idee selbst liegt ein gesunder und keimkräftiger 
Kern. 

Der Umfang der Rolle, die ein Staat auf dem 
Welttheater zu spielen berechtigt ist, bestimmt 
sich zu jeder Zeit durch eine Reihe von Faktoren 
geographischer, physischer und moralischer Kate- 
gorie. Vorübergehend kann die tatsächliche Macht- 
sphäre die Grenze der natürlichen Berechtigung 
überschreiten oder unausgefüllt lassen: auf die 
Dauer wird Macht und Machtberechtigung, Aus- 
dehnung und Ausdehnungsberechtigung sich die 
Wage halten. Mit 65 Millionen Einwohnern, 
starkem Landheer, leidlicher Flotte, bedeutendem 
Einkommen, hohem Stande der Zivilisation, des 
technischen Könnens und der ethischen Werte 
darf Deutschland territoriale und potentielle An- 
sprüche gegebenen Umfangs stellen; mit jeder 
Verschiebung eines dieser Faktoren ändert sich 
das Maß der Berechtigung, wenn auch die 
historische Gestaltung nur in Intervallen den 
Änderungen zu folgen vermag. 

Der Gesamtzustand der Wehrfähigkeit sollte, 
wenn möglich, ein genaues Abbild des inneren 
Machtkomplexes darstellen. Die numerischen 
Stärken der Land- und Seeheere müssen zur Be- 




Völkerungszahl, ihre Kampfmittel zum Volks- 
wohlstand und zum Stande der Technik, ihre 
Ausbildung und Tüchtigkeit zur ZiviUsation und 
Ethik im Verhältnis des Abbildes zur Wirklichkeit 
stehen. Freilich liegt in diesem Verhältnis ein sub- 
jektiver Faktor, den ich den Anspannungsfaktor 
nennen möchte; denn tatsächlich kann ein re- 
lativ schwacher Staat seine Kräfte eine Zeitlang 
über jedes verständige Maß hinaus anspannen und 
sich einen Verteidigungszustand schaffen, der 
seine Verhältnisse übersteigt, während ein starker 
Staat, wie z. B. Nordamerika, im Vertrauen auf 
seine geographische Lage seine Mittel in einer 
für europäische Begriffe ungewöhnlichen Schonung 
zu erhalten vermag. 

Der Anspannungsfaktor kann somit an sich ver- 
schieden sein; indessen ist es keine Frage, daß der 
zügellose Wettbewerb der Nationen die Wirkung 
haben muß, alle Anspannungsfaktoren dauernd zu 
steigern und somit möglicherweise über lang oder 
kurz sie für den einen, den anderen, oder alle un- 
erträglich zu machen. 

Es ist sicher schwierig, aber durchaus nicht hoff- 
nungslos, Mittel zu finden, um auf dem Wege 
der Kontingentierung die kriegerische Anspannung 
auszugleichen und in erträglichen Grenzen zu 
halten, und in diesem Sinne ist der Gedanke der 
Abrüstung keine leere Utopie, sondern eine mo- 
derne und brauchbare Idee von entschiedener 
Tragweite. Gern gebe ich zu, daß möglicherweise 
die englischen Anreger ihren Vorschlag anders 
verstanden haben. Vielleicht wollten sie gar nicht 
Wehrkraft und innere Macht in ein dauerndes ge- 



20I 



Sundes Verhältnis bringen, sondern im Gegenteil 
die heutige internationale Kräfteverteilung äter- 
nisieren und jedem einen Rock schneidern, der 
mit der Zeit entweder zu eng oder zu weit wer- 
den muß; sie haben sich ja nicht allzu deutlich 
ausgesprochen. Gleichviel; in Geschäften muß 
man auch mißverstehen können; dann wird mit- 
unter aus einer törichten Idee eine verständige, 
man findet für freundliche Mitwirkung Anerken- 
nung und für gute Laune Belohnung. 

HL 

In seiner Rede hat der Kanzler auf das Bei- 
spiel industrieller Syndikate hingewiesen und 
somit an kaufmännisch geschultes Denken appel- 
liert; es darf deshalb in einer Ausführung, der 
ohnedies der Vorwurf theoretischer Betrachtung 
schwerlich erspart bleibt, der Versuch gemacht 
werden zu ermitteln, wie weit kommerzielle Denk- 
formen sich auf das Abrüstungsproblem anwenden 
lassen. 

Zunächst würde man anstreben, das Problem 
klar zu formulieren. Ist dies in dem Sinne ge- 
schehen, wie oben ausgeführt, daß es sich nicht 
um eine Rangordnung der Nationen handelt, 
nicht um eine mechanische Reduktion der Kon- 
tingente, sondern vielmehr um die Ermittlung 
eines Anspannungsverhältnisses, um die An- 
passung der Streitkräfte an die Leistungsfähig- 
keit, so erkennt man sofort, daß die Aufgabe in 
zwei Teile zerfällt: einmal die Bindung des 
materiellen Aufwandes an das Vermögen, alsdann 



202 




um die Bindung des Menschenaufwandes an die 
Bevölkerungszahl. 

Sogleich erhebt sich eine Schwierigkeit. Denn 
es fehlt uns an Methoden, das Vermögen, ja auch 
nur das Einkommen eines Landes genau rechne- 
risch zu ermitteln. Indessen ist uns eine Größe 
bekannt, die in gewissem Sinne gleichzeitig ein 
Abbild des Volksvermögens und des Zivilisa- 
tionsstandes darstellt : die Summe der öffentlichen 
Lasten, die sich aus allen direkten und indirekten 
Abgaben zusammensetzt. Diese Größe ist zwar 
nicht mit der Endsumme der Staatsbudgets iden- 
tisch: einmal, weil in Deutschland zum Beispiel 
gewisse Beträge in den Einzelbudgets verrechnet 
werden, die im Reichsbudget wiederkehren, so- 
dann weil von den Staatsmonopolen in den ver- 
schiedenen Ländern nicht die Gesamtausgaben, 
sondern nur die reinen Überschüsse einzusetzen 
sind. Immerhin lassen sich ohne grundsätzliche 
Schwierigkeit Verrechnungsweisen feststellen, aus 
denen mit genügender Genauigkeit die Summe 
der Staatsausgaben — natürlich mit Ausschaltung 
des Schuldendienstes — hervorgeht. 

Aufgabe nun wäre es, zu bestimmen, daß alle 
jährlichen Ausgaben für Land-, See- und Luftheer 
ein festes Verhältnis zur Gesamtausgabe des 
Staates nicht überschreiten dürfen. Ein internatio- 
naler Rechnungshof hätte die Abrechnungen zu 
prüfen. 

Nach kommerziellen Erfahrungen läßt sich die- 
sem ersten Schritt ein zweiter anfügen : wenn man 
nämlich berücksichtigt, daß im allgemeinen solche 
Beschränkungen williger aufgenommen werden, die 

203 



man nicht für die Gegenwart, sondern für die Zu- 
kunft und gewissermaßen auf Zuwachs bemißt. 

Geht man davon aus, daß in jedem Staat die 
Lasten für Heer und Flotte, auf den Kopf der 
Bevölkerung berechnet, einen gewissen Satz aus- 
machen, für den man etwa den in Deutschland 
bestehenden als Norm ansehen könnte; bestimmt 
man nun, daß der anderthalbfache oder doppelte 
Betrag dieses Normalsatzes als Maximum zu gelten 
habe, das in gewissen Etappen erreicht, aber nie- 
mals überschritten werden dürfe — so wäre eine 
Beschränkung geschaffen, die zwar für den Augen- 
blick unwirksam bliebe, die vielleicht aber schon 
nach einem Menschenalter den Druck der 
Rüstungsopfer wesentlich erleichtern könnte. 

Rechnerisch übersichtlicher als die Anpassung 
des materiellen Aufwandes an den Volkswohlstand 
erscheint die Anpassung des menschlichen Auf- 
wandes an die Bevölkerungsgröße. Denn diese i^t 
durchweg aufs genaueste feststellbar und zumeist 
festgestellt, so daß es fast seltsam erscheinen 
müßte, wenn niemals der internationale Vorschlag 
gemacht worden sein sollte : ein Maximalverhält- 
nis der jährlichen Aushebungen zur Bevölkerungs- 
zahl zu normieren, für das etwa dasjenige Frank- 
reichs, als ein besonders vorgeschrittenes, zu 
wählen wäre. 

Auch hier ließe sich die erste Beschränkung 
durch eine zweite steigern, indem man dazu 
schritte, sowohl eine maximale Dienstzeit für Heer 
und Flotte, wie auch eine obere und untere Alters- 
grenze des kriegstüchtigen Alters zu bestimmen. 

Es kann nicht die Aufgabe dieser in vier Sätzen 

204 



skizzierten Umrißlinie sein, ein internationales Ab- 
rüstungsprogramm einwandfrei und für alle Teile 
gebrauchsfertig zu trassieren; es genügt, wenn 
dargetan erscheint, daß gerechte und verständ- 
liche Vorschläge sich finden lassen, die einer großen 
und entwicklungsfähigen Macht keinen Abbruch 
tun, die eine freundwillige Mitarbeit in humanen 
Völkerfragen zu erkennen geben, und es anderen 
überlassen, sich zu decouvrieren, sofern es diesen 
nicht um die Sache selbst, sondern um Neben- 
absichten zu tun war. 

Gelingt es überdies, den Gedanken zu bekräf- 
tigen, daß in der Welt keine Tatsache und Reali- 
tät in die Erscheinung treten kann, die, sei sie 
auch noch so verwirrend, sich nicht mit Lust 
und Humor zum Guten wenden ließe, so ist 
der Wunsch dieser friedfertigen Osterbetrachtung 
erfüllt. 



205 



GESCHÄFTLICHER NACHWUCHS 



I. Um wen handelt es sich? 

Ich glaube, daß bei unveränderten physischen 
Voraussetzungen die Summe der Talente und 
Lebenskräfte einer Nation in jeder Generation 
sich nahezu gleich bleibt. Könnten somit alle Nach- 
wuchskräfte des Landes gleichmäßig zur Leistung 
und Leitung aufgerufen werden, so wären wir der 
Sorge enthoben. 

Dies ist nicht so. Die Aufgaben der Führenden 
und der Geführten sind verschieden und verlangen 
verschiedene Schulung. Hervorragenden und 
glückHchen Einzelnen mag es beschieden sein, die 
Bahn vom Korporal zum Feldmarschall zu erfüllen ; 
die große Mehrzahl, auch der Begabteren, altert 
in der subalternen Karriere und verliert die Spann- 
kraft, die erfordert wird, um in der zweiten Lebens- 
hälfte neue Wege des Gedankens und der Arbeit 
zu beschreiten. 

Frühere Generationen, die Männer des indu- 
striellen Aufschwunges, konnten sich selbst zu 
Konquistadoren machen; in unserer Zeit der er- 
starkenden Organisationen suchen sie selbst sich 
Nachfolger zu sichern, die mit den geschaffenen 
Methoden der Führung, der zur Praxis gewor- 
denen Stabskunst, vertraut sind. Sie, die Ergeb- 
nisse eines gefährUchen wirtschaftlichen Experi- 
ments, einer selbstbetätigten Selektion, wollen das 
Experiment mit anderen nicht wiederholen; sie 
richten den Blick nicht auf den Nachwuchs 
schlechthin, sondern auf den Nachwuchs ihrer 

206 



Nähe, ihres Kreises, ihrer Nachkommenschatt. 
Auf dem unpersönlichsten, demokratischsten Ar- 
beitsfelde, dem der wirtschaftlichen Führung, wo 
jedes törichte Wort kompromittieren, jeder Miß- 
erfolg stürzen kann, wo das souveräne Publikum 
einer Aktionärversammlung satzungsgemäß über 
Ernennung und Absetzung entscheidet, hat im 
Laufe eines Menschenalters sich eine Oligarchie 
gebildet, so geschlossen wie die des alten Venedig. 
Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, 
leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents 
und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung. 
Die seltsamen Ursachen dieser seltsamen Erschei- 
nung, die in das Dunkel der künftigen sozialen 
Entwicklung einen Schimmer wirft, stehen hier 
nicht zur Erwägung. Hier soll zunächst die Frage 
beantwortet werden, um wen es sich handelt: 
es handelt sich um den Nachwuchs städtischer 
Herkunft, normaler Bildung, bürgerlichen Standes, 
kurz, um die zweite oder dritte Generation der 
Erwerbenden und Leitenden. 

n. Die junge Generation 

Die bürgerliche Gesellschaft entstand um 1800, 
die groß wirtschaftliche Gesellschaft um 1 870, 
gleichzeitig mit der deutschen Großstadt. Wie ein- 
geschränkt dem Adel gegenüber ein junger Bürgers- 
sohn des achtzehnten Jahrhunderts sich fühlte, 
zeigt der schöne Brief im dritten Kapitel des fünften 
Buches des Wilhelm Meister. „Wenn der Edel- 
mann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, 
wenn man aus ihm Könige oder königähnliche 

207 



Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem 
stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten ; er darf 
überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger 
nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl 
der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht 
fragen : Was bist du ? sondern nur : Was hast du ? 
Welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähig- 
keit, wieviel Vermögen ? Wenn der Edelmann durch 
die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der 
Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll 
nichts geben. Jener darf und soll scheinen, dieser 
soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächer- 
lich und abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, 
dieser soll leisten und schaffen; er soU einzelne 
Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, 
und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem 
Wesen keine Harmonie sei und sein dürfe, weil er, 
um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles 
übrige vernachlässigen muß." 

Diese Schranken sind gefallen; aber hundert 
Jahre später, noch um 1880, wagte der werdende 
Bürger nicht, sich menschlich frei und geistig 
bewußt zu fühlen. Der Krieg hatte alle Kränze 
dem Heere zugesprochen; Bismarck hatte den 
bürgerlichen Liberalismus besiegt und den Be- 
siegten verächtlich gemacht; eine junge Genera- 
tion verließ die Schule entweder konservativ, mit 
militärischen und gouvemementalen Aspiratianai, 
oder von Phraseologien verärgert und sozial re- 
bellisch. Das Zeitalter der Juristerei, der Roips- 
und Reserveambition hat Deutschland eine Ge- 
neration gebildeter Intelligenz gekostet. Im Wirt- 
schaftsieben wurde der Ausfall nicht empfunden, 

208 



denn gerade zu dieser Epoche traten die Kon- 
quistadoren des Aufschwunges auf die Bühne und 
mit ihnen Menschen aus anderen Sphären; in 
Politik und Verwaltung aber leiden wir heute aufs 
bitterste an den Folgen dieser Mißernte. Die 
Tradition des Wissens, der Hingabe und des 
Idealismus ist hier durchbrochen, und eine ge- 
wisse Bonhomie und VersatiHtät leistet uns keinen 
Ersatz. 

Schwerer als die Generation von 1880 hat die 
heutige an ihrem Erbe zu tragen. Sie ist seit dem 
Bestehen der Welt die erste, die im mechanisierten 
Verkehrsgetriebe, im Getöse und Flimmer der 
Großstadt ohne Erstaunen erwachte und aufwuchs. 
Heute mag es schon Sprößlinge geben, die im 
Schlafwagen gezeugt, in der Narkose geboren, 
mit Sterilisatoren ernährt und in Automobilen 
gewiegt in die Welt der elektrischen Leitungen 
und Warenhäuser eintraten. Das Gesetz der Groß- 
stadt, das die Erinnerungsbilder verjagt, die Sinne 
blendet und betäubt und alles Erstaunen aus- 
löscht, führt zum Skeptizismus, zur Müdigkeit und 
Neurose, Das Gesetz des Kontrastes, das die Ge- 
nerationen sondert, zwingt zur stillen und zähen 
Opposition der Söhne gegen die Väter. Haben 
diese den Geisteswert der Nation verachtet, eine 
werdende Kunst verschmäht und den Blick auf 
allzu nahe Höhen gerichtet, so rächen sich die 
Jungen durch Talente und Sensibilitäten. Es gibt 
heute im Berliner Tiergartenviertel kein Stock- 
werk, wo nicht junge Begabungen für Neuroman- 
tik, Innenkunst, latinisierendes Deutsch und kon- 
trapunk tische Tierstimmenimitation ihr Wesen 

14 209 



treiben. Sie werden Kunstgeschichte studieren, 
Antiken sammehi und Monographien schreiben, 
sobald sie das sechzehnte Lebensjahr erreicht 
haben. 

Fin menschlich rührender Zug ist diesen Groß- 
stadtkindern eigen, sobald sie ihren Seelenzustand 
erkennen: eine Sehnsucht erwacht nach Natur, 
Innerhchkeit und Einheit. Doch es erwächst aus 
dieser Sehnsucht keine Gestaltung, weil Klarheit, 
Kraft und Begeisterung mangeln. Aus der Ver- 
neinung schlägt Rauch, aber keine Flamme. 

So hat das tüchtige und warmblütige Geschlecht, 
dem wir die Erneuerung deutscher Kunst ver- 
danken, fast alle seine Kräfte aus dem Lande ge- 
sogen, nicht aus den großen Städten. Zum Teil 
sind es die Achtziger - Rebellen, zum Teil heim- 
gekehrte Ausgewanderte, zum Teil junggebliebene 
Alte. Was die neue Großstadt uns an Geisteswerten 
geschenkt hat, ist Kritik und Dekoration. 

Hat es somit den Anschein, als wolle die städtische 
Jugend sich von den organisierenden Berufen ab- 
wenden, um ein individualistisches Leben zu füh- 
ren, so darf ein gegenwirkendes Moment nicht 
verkannt werden. Seitdem sich gezeigt hat, wel- 
cher Macht das Großgewerbe im kapitalistischen 
Staate fähig ist; ja daß dieser mehr und mehr 
seine Politik, Wehrkraft und Wirtschaft der In- 
dustrie und dem Handel schuldig wird, seitdem hat 
sich das Haupt des Kaufmannes mit einer Art ame- 
rikanischer Aureole umkleidet. Konnte vorzeiten 
der Beamte und Soldat durch ein leises Gefühl 
geminderter Achtung sich gegen die Ausstrahlung 
der Kaufmannsschätze panzern, so muß er heute 



210 



seiner Löhnung besseres Teil, das Vorrecht der 
Auszeichnungen und Ehren, durch unzünftigen 
Wettbewerb entwertet sehen. Seine Unzufrie- 
denheit verleiht dem Reichtum neuen Glanz 
und führt bisweilen zu einer Überschätzung des 
Amerikanismus , der Geschäftskunst und ihrer 
Praktiken, 

Je weiter sich nun die neue Bewertung auf 
alles Kaufmännische erstreckt, um desto williger 
wird die Jugend die Vorurteile vergessen, die 
hie und da der Wahl dieses Berufes entgegen- 
standen. Die Zahl des Nachwuchses wird hie- 
durch gehoben werden; ob auch die Güte, bleibt 
abzuwarten. 

III. Die Laufbahn 

Man spricht viel von subalterner und höherer 
Tätigkeit, doch macht nicht jeder sich klar, 
was diese Begriffe bedeuten. Nehmen wir ein ein- 
faches Beispiel: eine Maschinenfabrik, die eine 
auswärtige Verkaufsorganisation besitzt. Ein Bu- 
reauleiter sitzt seit fünf Jahren in Elberfeld. Er 
besucht seine Kundschaft, verkauft seine Maschi- 
nen und installiert sie, er kennt jeden Fabrikan- 
ten seines Bezirkes und weiß, wann dessen Bedarf 
eintritt, er schätzt die Kredite, die er geben kann, 
beobachtet den Geschäftsgang seiner Nachbar- 
schaft und berichtet regelmäßig an das Haupt- 
bureau in Köln oder Düsseldorf, wo auch die übri- 
gen Berichte seiner rheinischen Kollegen zusam- 
menlaufen. Er hofft, mit der Zeit selbst das Düs- 
seldorfer Hauptbureau zu erhalten, er wird es 

14« 211 



erhalten und damit einen größeren und besser be- 
zahlten Tätigkeitskreis, der ihm die Übersicht 
über das gesamte Geschäft des Rheinlandes, so- 
weit es seine Firma betrifft, gestattet. Er wird 
alsdann seine Berichte und Statistiken unmittel- 
bar an die Zentrale, sagen wir in Leipzig, senden, 
wird über die Ursachen der Aufstiege und Rück- 
gänge in seiner Provinz sich äußern, gelegent- 
lich auch ein Personalurteil über die ihm unter- 
stellten Ressorts abgeben und Anträge stellen. 
In Leipzig ist ein Mitglied der Direktion für die 
Verkaufsorganisation verantwortlich. Dieser Mann 
ist viel auf Reisen, denn er kann sich mit Berichten 
und Statistiken nicht begnügen; er kontrolliert 
nicht nur das deutsche Geschäft, sondern auch die 
Niederlassungen in Wien, Petersburg, Rom und 
Paris; er kennt die Gewohnheiten und Bedürf- 
nisse dieser Länder, zum großen Teil ihre Sprache ; 
er kennt seine Bureauchefs, ersetzt und ergänzt 
sie nach dem Urteil seiner Erfahrung und Men- 
schenkenntnis; er verfolgt die handelspolitischen 
und wirtschaftlichen Vorgänge seiner Länder, sucht 
neue Absatzgebiete, studiert die Geschäftsmittel 
und Konstruktionen seiner Konkurrenten, schließt 
Freundschaften und Bündnisse mit nachbarstaat- 
lichen Industriellen und Finanzleuten und be- 
richtet der Direktionskonferenz oder dem General- 
direktor über die Ergebnisse seiner Tätigkeit und 
wichtige Einzelfälle. Bei der Generaldirektion 
laufen alle Nerven des Geschäfts in einem Punkt 
zusammen. Neben der Verkaufsorganisation, von 
der wir eben sprachen, mündet die Organisation 
des Einkaufs. Weiterhin überblickt man die 



212 



Fabriken und die affiliierten Unternehmungen, 
ferner die Geldwirtschaft des gesamten Geschäfts, 
seine Beziehungen zu Banken und Behörden, seine 
Gesamtpolitik hinsichtlich der Kartellierungen, 
der Finanzierung, der Expansion. Die Sprache, die 
im Elberfelder Bureau gesprochen wird, ist von 
der des Leipziger Konferenzzimmers verschieden. 
Dort handelt es sich um Liefertermine, Umdre- 
hungszahlen, Montagekosten, fehlende Ventile, 
lauter technische und schwer verständliche Dinge, 
hier spricht man über die Fähigkeit der Menschen, 
über politische Vorgänge, geschäftliche Lage, Neu- 
bauten und Bilanzierungsfragen in leicht verständ- 
licher, gelegentlich abgekürzter Sprache mit Er- 
wägungen des gemeinen Menschenverstandes. Und 
da es hier tatsächlich nur auf klares und richtiges 
Denken ankommt, so wäre es an sich sehr wohl 
möglich, daß ein Mann von großem Talent, der 
allgemein zu disponieren verstände, auch ohne spe- 
zielle Schulung geschäftliche Führerstellen er- 
folgreich verwalten lernte, wie denn in parlamen- 
tarischen Staaten die Kabinettsportefeuilles 
wechselnden Politikern ohne eigentliche Ressort- 
kenntnisse unbedenklich übertragen werden. Den- 
noch hat in der geschäfthchen Praxis die Beru- 
fung Außenstehender zur obersten Leitung fast 
stets versagt. Denn die Fragen des Menschenver- 
standes, um die es sich handelt, verlangen zur 
Beantwortung nicht bloße Logik — über die jeder 
verfügt — sondern vor allem Wissen, Kenntnis der 
Personen, der Gegenstände, Vorgänge und Ana- 
logien, kurz: Erfahrung. Geschäftliches Denken 
ist deswegen schwierig, weil es in der Abwägung 

213 



disparater Faktoren besteht: PersonaKen gegen 
Leistungen, Masseninstinkte gegen Warenquali- 
täten, technische Probleme gegen geographische, 
Markttendenzen gegen Kapitalinvestitionen müssen 
hier verglichen und ins Gleichgewicht gesetzt 
werden. Und wiederum der Erfahrenste und 
Klügste wird zu kurz kommen, wenn er, auf die 
allgemeine Betrachtung der Dinge sich verlassend, 
seine Entscheidungen trifft, deren leichteste bis 
in die Nervenspitzen seines Unternehmens vi- 
briert, ohne daß er beständig durch Bericht und 
Augenschein bald hier, bald da bis ins einzelste 
das Funktionieren seiner Verwaltung verfolgt. 

Wollte man nun den Elberfelder oder Düssel- 
dorfer Bureauchef, einen fleißigen, tüchtigen, nicht 
unbegabten Mann, schlankweg an den Leipziger 
Direktionstisch versetzen, er müßte fast bei jeder 
Frage versagen, die man ihm vorlegte. Hier wird 
der Neubau einer Fabrik beantragt. Hier wird 
eine Beteiligung an einem fremden Unternehmen 
angeboten. Hier wird die Beschickung von drei 
Ausstellungen verlangt. Hier ist ein Oberbeamter 
zu ersetzen. Hier wird ein neues Verfahren ange- 
boten. Hier wird der Mißerfolg eines Geschäfts- 
zweiges statistisch erwiesen. Dies ist die Arbeit 
eines Vormittags. Für Gutachten ist keine Zeit. 
Entscheidungen werden verlangt. Jeder Fehler 
führt zu ernsten Folgen. Was soll geschehen? 

Ich habe versucht, einige Kontraste der sub- 
alternen und der höheren Laufbahn aufzuzeigen. 
Eines scheint daraus hervorzugehen: Der Sub- 
alterne ist nicht leicht zu verpflanzen, zumal 
wenn er sich den Vierzigern nähert, die Gewohn- 

ai4 



heiten eines Hausvaters angenommen hat und es 
liebt, sich auf Routine zu stützen. Wenn nun aber 
auch, wie es die Erfahrung zeigt, der Außenstehende, 
der gewesene Ministerialbeamte oder Jurist, ver- 
sagt — wie ist alsdann theoretisch überhaupt Nach- 
wuchs möglich? 

Er ist möglich, und zwar durch eine Selektions- 
methode, eine neue Laufbahn nach Art der mili- 
tärischen. Angenommen, ein industrieller Leiter 
entschlösse sich, für ein bestimmtes schwieriges 
Ressort der technischen oder kaufmännischen Ver- 
waltung die Stellen ausnahmslos nach eigener, sorg- 
fältiger Wahl zu besetzen, indem er sich die besten 
Hochschüler, die tüchtigsten und bestempfohlenen 
jungen Kaufleute zu sichern sucht. Er müßte 
dann dies Musterpersonal dauernd Mann für 
Mann im Auge behalten, auf die Entwicklung 
eines jeden achten. Minderwertige rücksichtslos 
beseitigen und durch Fähigere ersetzen. Bietet 
sich nun eine bedeutendere Einzelaufgabe, so muß 
der Leiter das Herz haben, sie dem tüchtigsten 
dieser Leute, trotz seiner Jugend, anzuvertrauen. 
Ist dies mit gesundem Urteil und Menschen- 
kenntnis geschehen, so wird der Chef mit freu- 
digem Erstaunen wahrnehmen, mit welcher Be- 
geisterung die Aufgabe ergriffen, mit welchen 
neuentwickelten Fähigkeiten sie über Erwarten 
durchgeführt wird. Über Erwarten: denn bei 
uns in Deutschland, im Lande der Dichter, wird 
nichts so freventlich unterschätzt wie der Enthu- 
siasmus und die Kraft der Jugend. Verglichen mit 
Amerika, wird Deutschland von Greisen verwaltet 
und regiert, 

215 



Hat nun der Junge seine Probe bestanden, so 
ist ei Avantageur geworden. Er muß neue Res- 
sorts durchlaufen, neue Aufgaben erfüllen und als 
Assistent des Direktors zurückkehren. Alsbald 
werden größere Missionen, ja die Besetzung selb- 
ständiger Positionen notwendig werden, und nun 
muß der Direktor zum zweitenmal zu schwerem 
Entschluß sich ein Herz fassen : er muß den frisch 
eingearbeiteten und doch schon liebgewordenen 
Assistenten weggeben, um ihn als wirklichen Nach- 
wuchs verantwortlicher Tätigkeit verfügbar zu 
machen, und selbst das mühsame Spiel von neuem 
beginnen. 

Daß dieser Weg zum Ziele führt, kann ich und 
manche meiner früheren Gehilfen mit mir, aus 
Erfahrung behaupten. Denn wenn etwas aus 
meiner industriellen Tätigkeit übrig Gebliebenes 
mich befriedigen kann, so sind es die Karrieren, die 
von meinen Bureaus und Werkstätten aus gemacht 
worden sind. 

So ist die Frage des Nachwuchses zum großen 
Teil eine Frage der Verwaltung. Sie ist un- 
lösbar, wenn ein Chef es liebt, sich mit lange 
eingearbeiteten, stark abhängigen Personen zu 
umgeben, wenn er nicht die ethischen Eigenschaf- 
ten besitzt, um frische und lebendige Kräfte an 
sich zu ketten, oder wenn er eine einseitige, öko- 
nomisch überholte Geschäftskunst betreibt, für 
deren Erlernung die Zeit keine Handhabe mehr 
bietet. 

Durchaus begreiflich muß jedoch der Wunsch 
des Leitenden erscheinen, die Avantageurlauf- 
bahn vorzugsweise den jüngeren Kräften seines 

216 



eigenen Kreises zu übertragen, und diese Erwä- 
gung bestimmt mich, noch einmal zur Betrachtung 
der neueren Generationen zurückzukehren. 



IV. Beruf und Ideal 

Wie in den Zeiten zünftigen Handwerks ist 
noch heute in einigen Ländern der Er- 
werbsberuf erblich, nämlich da, wo alte Privat- 
industrie sich behaupten konnte, so in England, 
Belgien und der Schweiz. Der erbliche Beruf war 
von einer Idee getragen: Erhaltung väterlicher 
Arbeit, Art, Würde und Gesinnung. Die Ent- 
wicklung zum Großkapitalismus hat bei uns dies 
Ideal zerbrochen: der Sohn des Aktiendirektors 
weiß, daß ihm aus doppeltem Grunde der Eintritt 
in das Konkurrenzgeschäft verschlossen ist, ohne 
daß er dadurch den Eintritt in das väterliche Ge- 
schäft gewinnt. Wendet er sich fremden Geschäfts- 
zweigen zu, so geschieht es nicht aus Drang des 
Herzens, sondern aus kühler Erwägung, sofern 
nicht ein neues Ideal ihn ergreift. 

Solcher Ideale aber, die auf organisierende Be- 
rufe weisen, gibt es wenig, und so versteht es 
sich, daß feinere Naturen von einer Lebensauf- 
gabe sich abwenden, die ihnen und anderen nur 
als Mittel zur Bereicherung erscheint. Diese ma- 
terielle Auffassung herrscht vor; ja, es wurde bei 
uns vor nicht langer Zeit in großer Öffentlich- 
keit von einem smarten Praktiker das Wort ge- 
sprochen : nur wem der Drang zum Geldverdienen 
im Blute liegt, der taugt zum Kaufmann. 

Dies schnöde Wort ist falsch. Ich behaupte, 

217 



daß noch niemals in der wirtschaftlichen Welt 
wahrhaft Großes geleistet worden ist von einem 
Menschen, dem der persönliche Erwerb wichtig 
oder die Hauptsache war. Ein großer Geschäfts- 
mann strebt nach Verwirklichung seiner Gedanken, 
nach Macht und Verantwortung, und hierin liegt 
ein Ideal, solange die Macht und Sicherheit eines 
Landes, das sich auf Kapitalismus stützt, ein Ideal 
genannt werden kann. Sinkt diese Zeitauffassung 
einmal dahin, so sinkt auch das stärkste Ideal des 
Kaufmannsstandes und der materiellen Berufe: 
dann werden die Kräfte der Nationen, die heute 
wirtschaftliche Pionierarbeit leisten, mit Recht 
sich kontemplativerem Leben widmen dürfen. 

Wenn aber heute die Ideale dieser Berufe ver- 
dunkelt werden, so geschieht es zumeist durch 
materielle Begehrlichkeit kleiner Geister, durch 
schamlose Schaustellung des Reichtums und durch 
die wirtschaftlichen Mängel eines 2^italters, das 
leichten Erwerb nicht zu verhindern versteht und 
durch mangelhafte Züchtung des Nachwuchses 
die Überzahlung des Seltenheitswertes geeigneter 
Kräfte erzwingt. 

Ratschläge 

1. Man züchte nicht Serien von Großstadt- 
geschlechtern, sondern befördere den generations- 
weisen Austausch von Stadt und Land. 

2. Man beobachte die Methode der Selektion, 
wie oben beschrieben. 

3. Man lasse die Ideale des Wirtschaftslebens 
nicht verkommen. 



218 



STAAT UND JUDENTUM 

EINE ZEITUNGSPOLEMIK 
I. 

Erwiderung auf einen Artikel des Herrn 

Geheimrat *** 

Herr Geheimrat *** hat sich in freier und vor- 
nehmer Art über die Judenfrage geäußert. 
Er beginnt mit einer objektiven und weit- 
gefaßten Analyse des jüdischen Geistes, kommt zu 
dem Schluß, daß eine Verschmelzung jüdischen 
Positivismus mit germanischer Transzendenz zu 
erstreben sei, und geht über zu den Ursachen der 
gegenwärtigen Absonderung. 

Hier teilen sich unsere Wege zum ersten Male, 
denn *** erblickt den Inbegriff der trennenden 
Faktoren in der Synagoge. 

Der heutige kultivierte Jude ist meines Er- 
achtens weniger als irgend ein anderer zeitgenössi- 
scher Kulturträger vom Dogmatisch-Religiösen 
abhängig. Er betrachtet seinen Väterglauben — 
vielleicht mit Unrecht — als einen abgeklärten 
Deismus im Sinne der Philosophen des i8. Jahr- 
hunderts, ist im mythologischen, historischen, 
exegetischen, dogmatischen, ja selbst im ritu- 
ellen Bereich der alten Nationalreligion wenig 
bewandert, und tritt in der Regel nur anläß- 
lich der sakramentalen Handlungen des Lebens 
in Berührung mit der Religionsgemeinschaft. 
Ein so lockeres Verhältnis schafft keine Ab- 
sonderung; sonst müßte sie bei den weitaus 

219 



glaubenseifrigeren Katholiken fühlbarer sein als 
bei den Juden. 

Die wahre Ursache der Trennung liegt in einer 
tiefen und alten Stammesabneigung. 

Die Abneigung der Juden gegen die Germanen 
war in der Zeit der materiellen Bedrückung leb- 
haft, ja leidenschaftlich. Seit zwei bis drei Genera- 
tionen — ich rede durchweg von kultivierten 
Juden — stirbt sie ab und weicht be den jüngeren 
Geschlechtern einer rückhaltlosen Anerkennung 
der Nation, der sie den wertvollsten Teil ihrer 
Kulturgüter verdanken. 

Auf christlich-deutscher Seite ist die Abneigung 
bis vor etwa zwei Jahrzehnten stark angewachsen, 
und zwar in gleichem Maße wie die Zahl, der 
Reichtum, der Einfluß, die Konkurrenz, das Selbst- 
bewußtsein und die Schaustellung der Juden fühl- 
bar wurde. Seit der letzten Antisemitenperiode 
scheint der deutsche Antagonismus stabil geblie- 
ben, vielleicht um eine Kleinigkeit rückgebildet 
zu sein. 

Auf ein Erlöschen dieser Abneigung ist kaum 
zu hoffen, solange der Staat sie durch differen- 
zierte Behandlung billigt, anpreist und rechtfertigt, 
und solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten 
den jüdischen Deutschen seinem christlichen Lands- 
mann erkennbar und verdächtig machen. 

Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch eine 
energische Selbsterziehung, die schon seit einem 
Jahrhundert von vielen geübt wird, alle korrigiblen 
Seltsamkeiten zu beseitigen. Vor Jahren habe ich 
dies ausgesprochen in der Meinung, daß so die 
edelsten Gegenkräfte des Antisemitismus geweckt 



220 



und hiermit im eigentlichen Sinne Not zur 
Tugend werde. Doch habe ich mir nicht ver- 
hehlt, daß es hart ist, Opfer als Gegenleistung für 
Bedrückung zu verlangen, und daß dieses Volks- 
opfer lange Zeitläufte zu seiner Erfüllung braucht. 

*** stellt ein solches Verlangen nicht; er 
empfiehlt den Juden nichts weiter, als zum 
christlichen Glauben überzutreten. 

Trotz falscher Diagnose könnte das Heilmittel 
nützen. Versuchen wir daher einmal, vorurteils- 
frei festzustellen, was einem aufgeklärten Juden 
unserer Zeit die Taufe bedeutet. 

Ich glaube, daß die vier Evangelien dem ge- 
bildeten Juden so vertraut sind wie dem gebildeten 
Christen, und habe niemals einen Juden getroffen, 
der die Ethik des Neuen Testaments abgelehnt 
hätte. Einzelne glauben sie im Alten Testament 
enthalten, andere erkennen rückhaltlos ihre Über- 
legenheit über alle uns bekannten Sittenlehren an. 
Die Transzendenz des Christentums: Erlösung 
durch Liebe ist eine dem Judentum sehr naheliegende 
Vorstellung, und die Göttlichkeit Christi im Sinne 
liberaler evangelischer Kirchenlehrer wird unter 
den Juden, die den Geist als Ausfluß der Gottheit 
fühlen, Bekenner finden. 

Anders liegt es mit dem Bekenntnis der Taufe, dem 
Apostolikum. Ich weiß nicht, wie viele erwachsene 
evangelische Christen im Schöße ihrer Kirche ver- 
bleiben würden, wenn ihnen heute ein Moder- 
nisteneid im Sinne unbedingter Anerkennung 
des offiziellen Glaubensbekenntnisses zugeschoben 
würde. Für den Juden liegt der Fall schwieriger: 
je selbstverständlicher ihm die inneren Heilswahr- 



221 



heiten der christlichen Glaubenslehre erscheinen, 
desto entschiedener sieht er sich auf das eigent- 
lich Trennende des Bekenntnisses, auf die dogma- 
tisch-mythologischen Bestandteile als die eigent- 
liche, zu überschreitende Grenzlinie hingewiesen, 
und es wird nicht leicht sein, seiner Empfindung 
vernehmbar zu machen, weshalb diese überwiegend 
nachevangelischen Sätze, wie die von der Himmel- 
und Höllenfahrt Christi, über seine und seiner Kin- 
der Lebenslage entscheiden sollen. 

Dieser Konflikt wird von der staatlichen Kirche 
empfunden und geflissentlich vertieft. Auf einer 
früheren Synodalversammlung wurde bei der Be- 
ratung der Bekenntnisfrage im Hinblick auf die 
Judenbekehrung offen ausgesprochen: es sei an 
der Zeit, die Türen zu schließen. Mit anderen 
Worten: es sei angezeigt, die Gewissenszweifel 
jüdischer Proselyten zu benutzen, um ihnen den 
Zugang zur Kirche zu verstellen. Wieweit diese 
Taktik mit dem Geist der Evangelien zu vereinen 
ist, habe ich nicht zu beurteilen. 

Wiederholt hört man sagen, es gäbe evangelische 
Geistliche, die es mit dem Glaubensbekenntnis so 
streng nicht nähmen. Insbesondere erklären ge- 
taufte Judenchristen fast übereinstimmend, in 
ihrem Falle sei es besonders milde hergegangen. 
Auf diese Betrachtungsweise einzugehen, verlohnt 
nicht. Sie steht auf der gleichen Stufe wie etwa 
eine Entschuldigung wegen Zollschmuggels in 
dem Sinne, daß der verantwortliche Beamte es 
an Vorsicht habe fehlen lassen. 

Bedeutsamer für das Verhältnis des zeitgenössi- 
schen deutschen Juden zur Taufe als die Frage des 



222 



Bekenntnisses ist ein zweites Moment. Jeder 
Staatsbürger weiß, daß mit der Zugehörigkeit 
zum Judentume nur bürgerliche Nachteile, mit 
Übertritt zum Christentume erhebliche Vorteile 
verknüpft sind. 

Den Juden trifft ein sozialer Makel. In die Ver- 
einigungen und den Verkehr des besseren christ- 
lichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen. 
Zahlreiche Geschäf tsunterneh mungen schließen 
ihn als Beamten aus. Die Universitätsprofessur 
ist ihm durch stille Vereinbarung versperrt, die 
Regierungs- und Militärlaufbahn, der höhere Rich- 
terstand durch offizielle Maßnahmen. In den 
Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt 
es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich 
zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male 
voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse 
in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtig- 
keit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage be- 
freien kann. 

Gleichzeitig aber erfährt er, daß ein Glaubens- 
akt, gleichviel ob innerlich gerechtfertigt oder 
äußerlich herbeigeführt, seine Abstammung zu 
verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürger- 
lichen Nachteile zu beseitigen vermag. 

Daß der generationsweise wiederkehrenden, täg- 
lich erneuten Versuchung, die dieser eigenartige 
Ausfluß unserer Staatsweisheit herbeiführt, ein 
relativ kleiner Prozentsatz der deutschen Juden 
erliegt, offenbart meines Erachtens die stärkste 
Qualität des modernen Judentums. Ich weiß, daß 
Menschen, die sich von ganzem Herzen zum 
Christentume hingezogen fühlen, auf die äußere 

223 



Zugehörigkeit verzichten, weil sie mit Belohnung 
verbunden ist. Diesem Verzicht liegt die Über- 
zeugung zugrunde, daß ein ideeller Schritt seine 
Reinheit verheren muß, wenn er zu materiellen 
Vorteilen führt; eine Erwägung, die nicht ganz 
zu der Vorstellung paßt, die man gemeinhin von 
der kühlen Berechnung des jüdischen Geistes sich 
bildet. 

Die Forderung der Taufe enthält somit für den 
gebildeten und gewissenhaften Juden eine doppelt 
schwere Zumutung : sie legt ihm auf, ein altertüm- 
lich-dogmatisch gefaßtes Glaubensbekenntnis ab- 
zulegen, von dem er weiß, daß die Verlegenheiten, 
die es bereitet, zu seiner Beibehaltung bei- 
tragen ; sie legt ihm ferner auf, sich als einen Men- 
schen zu empfinden, der von der Aufgebung seines 
Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitiert; 
und zu guter Letzt nötigt sie ihn, durch den Akt 
löblicher Unterwerfung sich einverstanden zu er- 
klären mit der preußischen Judenpolitik, die nicht 
weniger bedeutet als die schwerste Kränkung, die 
ein Staat einer Bevölkerungsgruppe zuzufügen ver- 
mag. Denn man vergleiche alle Maßnahmen, die 
von der preußisch-deutschen Politik gegen Volks- 
gruppen selbst in der Gegenwehr oder im Zorn 
ergriffen worden sind, gegen Polen, Weifen, 
Dänen, Elsässer: niemals hat man gewagt, eine 
dieser Gruppen in ausnahmsloser Gesamtheit 
sozial zu disqualifizieren. 

In diesem Zusammenhange darf und muß es 
ausgesprochen werden : die der preußischen Juden- 
politik zugrunde liegenden Vorstellungen sind rück- 
ständig, falsch, unzweckmäßig und unmoralisch. 

224 



Rückständig: denn alle Nationen westlicher 
Kultur haben diese Vorstellungen aufgegeben, 
ohne Schaden zu erleiden. 

Falsch: denn Maßnahmen, die gegen eine 
Rasse gedacht sind, werden gegen eine Religions- 
gemeinschaft gerichtet. 

Unzweckmäßig: denn an die Stelle der offen- 
kundigen Verjudung, die bekämpft werden soll, 
tritt die latente, und zwar auf Grund einer üblen 
Selektion; gleichzeitig wird eine große, konservativ 
veranlagte Volksgruppe in die Opposition ge- 
trieben. 

Unmoralisch: denn es werden Prämien auf 
Glaubenswechsel gesetzt und Konvertiten bevor- 
zugt, während hunderttausend Staatsbürger, die 
nichts anderes begangen haben, als ihrem Gewissen 
und ihrer Überzeugung gefolgt zu sein, in un- 
gesetzlicher Weise und durch kleine Mittel um 
ihre edelsten Bürgerrechte verkürzt werden. 

Ich wage fast zu hoffen, daß Geheimrat *** mir 
hierin recht geben wird : wenn man die Wahl hat, 
eine ungesunde und unhaltbare Staatsraison zu 
beseitigen oder eine halbe Million Menschen zum 
Glaubenswechsel zu bewegen, so sollte man es 
zunächst einmal mit dem einfacheren Mittel 
versuchen. 

Die deutschen Juden tragen einen erheblichen 
Teil unseres Wirtschaftslebens, einen unverhält- 
nismäßigen Teil der Staatslasten und der frei- 
willigen Wohlfahrts- und Wohltätigkeitsaufwen- 
dungen auf ihren Schultern. Sie hätten die Mittel 
in der Hand, um eine unvernünftige Staatsräson 
in kürzester Zeit unmöglich zu machen. Daß 

ij 225 




sie in weit überwiegender Zahl staatsfördernd 
gesinnt bleiben, beweist einen Gemütszug, der 
praktischem Christentum nicht unähnlich sieht. 

Wie dem auch sei: die preußische Judenpolitik 
hat ihre Glanzzeit überschritten, die mit dem 
Kampfe Bismarcks gegen den Liberalismus zu- 
sammenfiel. Ein Industriestaat von der Bedeutung 
unseres Reiches bedarf aller seiner Kräfte, der 
geistigen und materiellen ; er kann auf einen Faktor 
wie den des deutschen Judentums nicht verzichten. 
Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte 
Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein. 

Man kann nicht sagen, daß die deutschen Juden 
das erste Jahrhundert ihrer beginnenden Freiheit 
schlecht angewendet haben. Kulturell und mate- 
riell haben sie zum Wohl ihres Vaterlandes beige- 
tragen. Ist der Makel sozialer Ungleichheit ge- 
tilgt, so ist damit auch der offizielle Teil der 
Volksabneigung gegen die jüdischen Deutschen 
beseitigt und der Weg zum herzlichen Verständnis 
gebahnt. Undankbarkeit und Herzlosigkeit sind 
niemals Fehler der semitischen Rassen gewesen. 

IL 

Sendschreiben an Herrn von N. 

Berlin, 28. Januar 1911 

Sehr geehrter Herr! 

Ihre Ausführungen haben mich deshalb interessiert 
und angezogen, weil sie in knapper, klarer und 
ehrlicher Sprache die normale Auffassung des preu- 

226 



ßischen Staatsbeamten, Offiziers und Standesherrn, 
somit des herrschenden Preußentums, darlegen. 
Dieses Preußentum liebe und bewundere ich als 
Preuße und als Mensch ; das kann mich aber nicht 
hindern, es mit offenen Augen anzuschauen und 
rückhaltlos die Stimme zu erheben, wenn es mir 
zu irren oder zu fehlen scheint. Hierbei darf ich 
das Vorrecht ausreichender Unparteilichkeit, das 
ich Ihnen gern zugestehe, auch für mich be- 
anspruchen. Vor einigen zwanzig Jahren hätte es 
mir Freude gemacht, Soldat bleiben zu dürfen; 
heute ist mein Alter und mein Tätigkeitskreis nicht 
mehr derart, daß der Wunsch nach staatlicher 
Fürsorge mich beunruhigen könnte. 

Ihre Darlegung steht und fällt mit der Behaup- 
tung, daß der deutsche Jude anders geartet und 
in entscheidenden Eigenschaften weniger wert sei 
als sein autochthoner Landsmann, daß seine staats- 
erhaltende Veranlagung und seine staatsfördernde 
Befähigung nicht zureiche. Die weiteren Voraus- 
setzungen: daß ein gesitteter Staat berechtigt sei, 
ihm unbequem scheinende Elemente mit kleinen 
und unverfassungsmäßigen Mitteln zu bekämpfen, 
daß er „den Sack schlagen und den Esel meinen" 
dürfe, das heißt, eine Religionsgemeinschaft ab- 
wehren, um eine Blutsgemeinschaft fernzuhalten; 
daß er Gewissenskonflikte seiner Bürger schüren 
dürfe, indem er auf Glaubenswechsel Prämien 
setzt; daß er überzeugungstreu Gebliebene be- 
nachteiligen dürfe zugunsten mobilerer Elemente 
— diese Voraussetzungen, die mir durchaus nicht 
einwandsfrei erscheinen, treten gegen den ersten 
Satz in den Hintergrund. 

«3* 227 



Ich müßte demnach wohl den Nachweis zu er- 
bringen suchen, daß die deutschen Juden nicht 
„in jeder Beziehung anders gestaltet", daß sie 
nicht, praktisch betrachtet, menschlich und staat- 
lich minderwertig sind. 

Ich verzichte darauf, diesen Beweis anzutreten. 
Nicht deshalb, weil es hart ist, daß jemand, dessen 
Vorfahren, Familie und Person sich seit Menschen- 
altern redlich bemüht haben, dem Lande zu nützen, 
seinen Bürgern Arbeit zu schaffen und .seine Wirt- 
schaft zu heben, sich gegen den Vorwurf wehren 
muß, minderwertiger Insasse zu sein. Ich bin der 
Kritik und Selbstkritik zugänglich und habe sie in 
der von Ihnen erwähnten Schrift geübt, indem 
ich den deutschen Juden minderer Kultur eine 
Reihe von äußeren Schwächen und Mängeln vor- 
hielt. 

Ich verzichte deshalb, weil die Ablenkung auf 
allgemeine Prinzipienfragen den Tod jeder real- 
politischen Diskussion bedeutet. 

Nur drei Bemerkungen zu der Minderwertig- 
keitsfrage seien mir im Vorübergehen gestattet. 

Erstens. Meines Erachtens sollte niemals ein 
einzelner ein Verdammnisurteil über einen ganzen 
Kulturstamm aussprechen. Wie oft ist von Fran- 
zosen und Engländern über Deutsche, vom Deut- 
schen über Franzosen und Engländer, über Polen, 
Russen, Österreicher, Italiener der Stab gebrochen 
worden. Solche allgemeinen Kritiken haben nicht 
den Wert politischer Urteile, denn sie sind ge- 
trübt durch die Begrenztheit der Erfahrung, durch 
persönliche Vorliebe und Abneigung, und häufig 
durch zufällige Erlebnisse. Den Juden gegenüber 

228 



wird das Urteil vorwiegend zum Identitätsurteil: 
denn in der Regel wird nur der unkultivierte Jude 
als Jude erkannt und getadelt. 

Zweitens. Juden erscheinen als neuerungs- 
liebend nur da, wo man sie schlecht behandelt, 
und das ist menschlich. Das Gegenteil wäre 
Charakterlosigkeit. In Ländern der Gleichberech- 
tigung, in England, Frankreich, Italien, Amerika 
gehören sie zu den staatlich positivsten Elementen. 
Daß das Judentum überhaupt besteht, verdankt 
es dem strengsten Konservativismus, den die 
Geschichte kennt. 

Drittens. Sie schätzen die Intelligenz der Juden. 
Ich teile Ihre Ansicht, daß Intelligenz erst in Ver- 
bindung mit ethischen Werten Bedeutung erhält. 
Mangelt es den Juden nun in so hohem Maße an 
ethischen Werten, daß sie deshalb zur Ausübung 
jeglicher staatlichen Autorität unmöglich wären, 
so müßte sich dies Manko wissenschaftlich, stati- 
stisch, geschichtlich fassen lassen. Polen, Slowe- 
nen, Rumänen, Serben, sie alle sind regierungs- 
fähig: die Juden sind es nicht. Oder sind sie es 
am Ende doch? Verdankt nicht England seine 
Imperialpolitik einem Juden, dessen Standbild vor 
der Westminsterkirche steht ? Haben nicht Frank- 
reich, Italien, Rußland, Österreich und sogar 
Preußen ein paar ganz tüchtige Minister jüdischen 
Blutes gehabt ? Im westlichen Auslande sind weit 
mehr Stammesdeutsche als Juden ansässig. Wie 
wäre es, wenn am Ende gar die Statistik der 
Regierenden zugunsten der Juden ausschlüge? 

Aber genug hiervon. Ich weiß, daß Sätze von 
einer gewissen Allgemeinheit nicht widerleglich 

229 



sind, und will deshalb getrost für den Augenblick 
einmal annehmen, die Juden seien ethisch, poli- 
tisch, sozial ein etwas minderwertiges Element, 
somit erheblich tiefer stehend als etwa die öster- 
reichischen Polen und Tschechen. Was bedeutet 
dies — um Ihrer wissenschaftlichen Anschauungs- 
weise zu folgen — wissenschaftlich? 

Zur Bekleidung eines höheren militärischen, 
richterlichen oder gouvernementalen Amtes in 
Preußen sind gewisse Vorbedingungen der Er- 
ziehung, der Bildung, des Charakters und des 
Physischen entscheidend. Nicht alle Preußen er- 
füllen diese Bedingungen. Nehmen wir also das 
Verhältnis der Regierungsfähigen auf 20 Prozent 
an, so können wir bei wissenschaftlicher Betrach- 
tung nicht mehr tun, als das gleiche Verhältnis 
bei den Juden auf die Hälfte, also auf etwa 
IG Prozent zu normieren. Was bestimmt nun die 
preußische Verwaltungspraxis dazu, diese 10 oder 
x-Prozent einfach zu ignorieren? 

Ihre Ausführungen zeigen genügend Geschmack 
und Aufrichtigkeit, um zu erklären, weshalb Sie 
das landläufige Argument verschmäht haben: der 
jüdische Vorgesetzte hat keine Autorität. So viel 
Autorität wie der getaufte Jude darf der unge- 
taufte unter allen Umständen beanspruchen. Wäre 
es anders, so hieße dies: der Untergebene treibt 
Religionsverfolgung auf eigene Faust, und die 
Remedur hätte bei ihm zu beginnen. 

Ein anderer Einwand wäre plausibler: der Pro- 
zentsatz der Verantwortungsfähigen unter den 
Juden ist gleich Null oder verschwindend klein. 
Hier kann ich mich auf kein besseres Gegenzeugnis 

230 



berufen als auf das der preußischen Regierung. 
Sie bestellt und befördert jährlich Dutzende von 
Juden, die durch die Taufe weder an Fähigkeit noch 
an Zuverlässigkeit gewonnen haben. Sie bekleidet 
diese Schützlinge «mit aller ihr zustehenden Autori- 
tät, übernimmt die Verantwortung für ihre Amts- 
handlungen — und fährt nicht einmal schlecht dabei. 
- Dies führt mich zur Erledigung eines dritten 
Einwandes, desjenigen, den Sie zu dem Ihren ge- 
macht haben : das Eindringen des jüdischen Geistes 
muß verhindert werden. 

Gäbe es unter den kultivierten Juden einen sol- 
chen jüdischen Geist, so hätte er den mit Juden 
reichlich verschwägerten preußischen Adel und die 
mit getauften Juden stark durchsetzte Staats- 
beamtenschaft längst ergriffen. Sie werden ebenso- 
wenig wie ich Klagen darüber gehört haben, daß 
durch Männer wie Simson, Friedberg, Frieden- 
thal, Moßner die preußische Justiz, Verwaltung 
und Armee mit sogenanntem jüdischen Geist 
infiziert worden sei. 

Die Tatsachen liegen einfach und mit klaren 
Worten gesagt wie folgt: 

Die Regierung wehrt sich gegen das jüdische 
Element und schützt Unbrauchbarkeit der Juden 
vor. Die Religionsfrage spielt, wie sie selbst zu- 
gesteht, keine Rolle. 

Nun hat sie aber nicht die Courage oder nicht 
die Findigkeit gehabt, sich der getauften Kate- 
gorie zu erwehren, und die Brauchbarkeit dieser 
Kategorie beweist a fortiori die Brauchbarkeit der 
ungetauften und somit die Unwahrhaftigkeit des 
Vorwandes. 



231 



In dem neulich veröffentlichten Aufsatz habe 
ich es vermieden, die letzten Ursachen dieser hilf- 
los-brutalen poHtischen Tendenz zu erörtern, denn 
meine Ausführungen waren nicht gegen sie ge- 
richtet, sondern gegen den etwas zu getierellen 
Vorschlag des Herrn Geheimrats ***: alle Juden 
möchten sich taufen. Da Sie, verehrter Herr v. N., 
den Regierungsmaßnahmen meines Erachtens un- 
zutreffende, ideelle Motivierungen unterstellen, 
so muß ich erwidern, daß die wahren Ursachen 
lediglich in der Furcht der in Preußen herrschen- 
den Klasse vor Konkurrenz zu finden sind. 

Die Judenpolitik ist nichts weiter als der letzte 
Ausdruck der gegen Unzünftige gerichteten In- 
teressenpolitik der beiden dominierenden Kasten. 
Sie selbst sagen mit dankenswerter Offenheit: 
„Unsere Familien haben den preußischen Staat 
geschaffen, wir arbeiten seit zweihundert Jahren 
daran, wir sollen nun Ihnen eine führende Hand 
an der Staatsmaschine lassen?" 

Ich antworte Ihnen darauf offen und ohne eine 
Spur von Ironie: Dies ist das einzige Argument, 
das sich hören läßt, für das ich ein gutes Quantum 
Sympathie hege, und das einer Verständigung zu- 
grunde gelegt werden kann. Es ist richtig, daß 
der preußische Adel das leider absterbende alte 
Preußentum geschaffen hat, es ist richtig, daß er 
einen prächtigen, zum Regieren im älteren Sinne 
überaus geeigneten Stamm bildet, es ist hart, daß 
er seine hundertjährigen Prärogativen, mit wem es 
auch sei, teilen soll. 

Begnügen Sie sich mit diesem starken Argument, 
das zum Verständnis und zum Herzen spricht, und 

232 



bedecken Sie es nicht mit dem Mantel einer Stam- 
meskritik, die bei Einzelnen auf Grund singulärer 
Erlebnisse und begrenzter Erfahrung echt sein mag, 
die aber im Angesicht von tausend persönlichen 
Freundschaften und Ehebündnissen zerflattert. 
Denn trotz mancher Schwächen, die Grand- 
seigneurs und Parvenüs sich wechselweise vorzu- 
werfen haben, vertragen Adel und Judenschaft 
sich gar nicht so schlecht, und die Agis der Stam- 
mesfeindschaft wird vorwiegend nur dann ge- 
schüttelt, wenn Interessen aufeinanderplatzen. 

Sagen Sie uns offen und ehrlich: wir fürchten 
eure Konkurrenz; bekämpfen Sie uns, wenn Sie 
wollen, aber mit ritterlichen Waffen. Beschimpfen 
Sie uns nicht. Nicht Sie blicken in unsere Herzen, 
und es ist das härteste, was der Mensch dem Men- 
schen zurufen kann, wenn er sagt : Dein Blut, deine 
Seele, deine Gesinnung hat keinen Teil an unserer 
Gemeinschaft, du bist und bleibst anders geartet, 
unedel, fremd. 

Den Kampf aber werden Verhältnisse entschei- 
den, nicht Menschen. Eine unaufrichtige und un- 
sittliche Politik kann keinen Bestand haben, die 
preußische Judenpolitik aber wird noch früher an 
ihrer Unzweckmäßigkeit scheitern als an ihrer Un- 
gerechtigkeit. 

Hier muß ich nochmals auf Ihr Wort zurück- 
greifen : „Unsere Familien haben den preußischen 
Staat geschaffen." 

Als Ihre Familien den Staat schufen, da trugen 
sie ihn auch, denn der Staat war ein Agrarstaat, 
und sie besaßen den Grund und Boden. Heute 
tragen sie ihn nicht mehr, denn Preußen sowohl 

233 



wie das Reich sind Industriestaaten geworden ; die 
Landwirtschaft kann die achtmalhunderttausend 
Deutschen, die jährlich geboren werden, weder 
beschäftigen noch ernähren. Noch weniger kann 
sie die Lasten erschwingen, die Staat und Reich 
zu ihrer Erhaltung und Verteidigung bedürfen. 

Wert und Bedeutung der Landwirtschaft lasse 
ich unangetastet. Sie aber werden nicht leugnen 
können, daß Handel und Industrie, die entschei- 
denden Faktoren unserer Wirtschaft, auf dem Bür- 
gertum, und nicht zum mindesten dem jüdischen 
Bürgertum beruhen. Und deshalb können Sie den 
Elementen, die die Wirtschaft erhalten, auf die 
Dauer nicht die Mitwirkung an der Verwaltung 
versagen. 

Regieren ist heute nicht mehr dasselbe, was es 
vor hundert Jahren war. Es ist nicht mehr patriar- 
chalisches Verwalten anvertrauter Menschen und 
Dinge. Regieren heißt heute: führen und Initia- 
tive ergreifen; diese Initiative muß ethisch und 
ideell, sie muß aber auch geschäftlich sein. 

Gleichzeitig ist die Kriegführung zur Technik 
geworden. Sie beruht nicht mehr allein» auf 
Mannszucht und Bravour; Erfindungsgabe und 
Initiative geben den Siegen der neueren Zeit eine 
intellektuelle Färbung. 

Die bewährten Stärken unserer beiden regieren- 
den Kasten, des erblichen Beamtentums und 
des Adels, sind Treue, Disziplin und Tradition. 
Ob diese Geschlechter auf der ganzen Linie 
einzuschwenken und den neuen Aufgaben gegen- 
über Front zu machen vermögen, ist mehr 
als zweifelhaft, denn Tradition und Initiative 



234 



schließen bis zu einem gewissen Grade ein- 
ander aus. Bei Aufgaben vorwiegend geschäft- 
lichen Charakters, welche aus kolonialen, auswär- 
tigen und finanziellen Problemen sich ergeben, 
hat die preußische Verwaltungstradition schon 
mehrfach versagt. 

Ein Volk von fünfundsechzig Millionen Men- 
schen kann verlangen, daß die führenden Stellen 
im Staatswesen von allerersten Talenten, die ver- 
antwortlichen Stellen von befähigten Spezialisten 
besetzt werden. 

Tausend herrschende Familien können selbst Jbei 
hoher und spezialisierter Begabung weder zahlen- 
mäßig noch qualitativ den gewaltig gesteigerten 
Verbrauch an Verwaltungskräften decken. Kein 
gerecht denkender Mensch wird diesen Familien 
ihre Verdienste zu schmälern, ihre entschiedene 
Mitwirkung bei den höchsten Staatsauf gaben zu 
beseitigen wünschen. Wollen sie aber dauernd die 
Staatsmaschine monopolisieren, so werden die Ver- 
hältnisse sich stärker erweisen und diejenigen Re- 
meduren eintreten lassen, die den allzu renitenten 
Konservativismus Preußens schon mehrmals, wenn 
auch in hartem Anstoß, zurechtgerückt haben, und 
die man demgemäß sehr wohl als Fügungen be- 
zeichnen durfte. 

Deshalb bleibe ich bei meiner Überzeugung und 
Zuversicht: der Staat kann auf keine seiner in- 
tellektuellen und moralischen Kräfte verzichten; 
er muß und wird dem Bürgertum im weitesten 
Sinne, und somit auch den Juden, die Mitwirkung 
an den gemeinsamen Arbeiten zugunsten des 
Staatswohls gewähren, und dies in kürzerer Zeit, 

235 



als die BeteiKgten annehmen. Erkannte Not- 
wendigkeiten schreiten rasch zur Erfüllung; jetzt 
ist der Zeitpunkt, sie auszusprechen. 

Mit vorzüglicher Hochachtung begrüße ich Sie 

Ihr sehr ergebener 

W. R. 

III. 

Erwiderung auf das Schreiben eines be- 
freundeten Grundbesitzers 

«■ 

Ich war etwas erstaunt, das populäre Argument 
des „Staates im Staat" von meinem Freunde auf- 
genommen zu sehen ; denn er selbst blickt auf seiner 
und seiner Gemahlin Seite auf zwei stattliche 
Reihen jüdischer Vorfahren zurück, deren natio- 
nale Gesinnung bekannt ist. Gleichviel. Sehen 
wir einmal zu, was die Lehre von der Interna tio- 
naUtät der Juden bedeutet. 

Schwerlich gibt es heute noch einen ernsten Be- 
urteiler, der behauptet, im Kriegsfall möchten sich 
die deutschen Juden auf die Seite des Feindes 
stellen. Ebensowenig habe ich je den Vorwurf 
gehört, sie hätten gelegentlich in Friedenszeiten 
mit einer auswärtigen Macht zu liebäugeln oder 
zu konspirieren gesucht, um Deutschlands Stellung 
oder Politik zu erschüttern. 

Die Sinnlosigkeit der antinationalen Unter- 
stellung wird doppelt evident, wenn man die un- 
vorsichtigen Vergleiche mit Polen, Elsässern und 
Dänen prüft, denn diese Vergleiche enthüllen 
sich als Gegenbeweise. Polen, Elsässer und 

236 



Dänen blicken auf außerdeutsche politische Zent- 
ren; die Polen auf ihr altes autonomes König- 
reich, die Elsässer auf Frankreich, die Dänen 
auf Dänemark. Wollte man unter den Juden 
selbst den kleinen Prozentsatz der Zionisten ernst- 
haft politisch fassen, so könnte man nur sagen, 
daß es sich um ein Auswanderungsideal handelt. 
Eine Absplitterung deutscher Landesteile zugun- 
sten eines jerusalemitischen Staates hat wohl noch 
niemand befürwortet oder befürchtet. Es bleibt 
also für die überwiegende Mehrzahl der Juden die 
Tatsache notorisch, daß sie außerhalb des Reiches 
kein politisches Zentrum oder Ideal kennen, wäh- 
rend die deutschen Katholiken, deren Nationali- 
tätsgefühl kaum angezweifelt werden dürfte, jen- 
seits der Alpen ein anerkanntes religiöses Zentrum 
verehren, das sich politisch durchaus nicht immer 
indifferent verhält. 

Während man nun ganz mit Recht Polen, 
Elsässer und Dänen als gutgläubig national so 
lange anerkennt, bis sie selbst den Gegenbeweis 
erbringen, hat man sich in aller Ruhe daran ge- 
wöhnt, die Juden ohne die Spur eines Anhalts 
des Antinationalismus zu beschuldigen und ihnen 
den Rechtfertigungsbeweis zuzuschieben; ja man 
geht, wie die Ausführungen meines Freundes 
zeigen, noch weiter und hält den durch bürger- 
liche Minderung bestraften Unverdächtigen 
drohend das Beispiel der verdächtigen und 
unbestraften Fremdnationalen entgegen. 

Der Jude soll durch die Taufe den Nachweis 

der Loslösung erbringen ; Loslösung wovon ? 

Von seiner Familie ? Seiner Religion ? Nein : von 



seiner Nation. Wo liegt diese? Gewerbsmäßige 
Antisemiten haben den Humor, zu antworten: 
in der Alliance Israelite; indem sie nämlich eine 
wenig bekannte internationale Wohltätigkeitsan- 
stalt mit den Schrecken des Freimaurertums staf- 
fieren. Was würden wohl die deutschen Katho- 
liken antworten, wenn man von ihnen verlangte, 
sie möchten durch Übertritt zur evangelischen 
Kirche den Nachweis ihrer Loslösung von aus- 
ländischen Religionsorganisationen erbringen? 

Ich will meinen Widerpart nicht dialektisch 
widerlegen, sondern mich mit ihm verständigen. 
Deshalb komme ich ihm einen Schritt entgegen 
und nehme an, er habe folgendes gemeint: die 
Juden stellen die Einheit der Abkunft, die Ein- 
heit der Religion und der Familie über die natio- 
nale Einheit ; sie sind daher schlechte Staatsbürger. 

Der erste Teil des Satzes, den ich auf Grund 
meiner Erfahrung bei kultivierten Juden aufs ent- 
schiedenste bestreite, läßt sich weder für diesen, 
noch für irgendeinen anderen Volksteil beweisen 
oder widerlegen, abgesehen davon, daß es eine un- 
würdige Zwecklosigkeit ist, seinem Mitmenschen 
in die tiefsten Falten seines Gewissens nachzu- 
spüren. Politisch entscheidend ist der:Zweite Teil: 
sind die Juden schlechte Staatsbürger, oder sind 
sie es nicht? 

Da ist zunächst daran zu erinnern, daß wir nicht 
mehr im Zeitalter der Gefühlsbehauptungen, son- 
dern in einer wissenschaftlich forschenden Epoche 
leben. Die exaltierte Beschuldigung der Brunnen- 
vergiftung und Hostienschändung führt heute 
nicht mehr Tausende zur Folter und zum Tode. 

238 



Wir haben die Möglichkeit, Massenbeschuldigun- 
gen experimentell zu prüfen. Wo ist nun das 
Material politischer oder kriminaler Statistik, das 
auch nur den Verdacht schlechter Staatsbürger- 
schaft bei den Juden rechtfertigt ? Können fünf- 
malhunderttausend leicht erkennbare, statistisch 
kontrollierte, scharf beobachtete Menschen ein 
nationales Delikt so heimlich verbergen, daß kein 
Reagens sich trübt und kein Zeiger ausschlägt? 
Und hat man das Recht, in einem wissenschaft- 
lich genannten Zeitalter so unbewiesene, ja negativ 
widerlegte Massenbehauptungen zur Grundlage 
einer Politik zu machen? 

Weiter. Die deutsche Judenschaft ist in Handel 
und Wandel, in Besitz und Kultur so eng an das 
Wohlergehen der deutschen Länder und des Deut- 
schen Reichs geknüpft, daß kaum ein anderer Teil 
des Volkes in gleichem Maße leiden würde, wenn 
die politische Macht Deutschlands sich senkte. 
Viele der kultivierten Länder bieten den Juden 
bessere wirtschaftliche Aussichten als Deutsch- 
land, fast alle bieten ihnen größere Rechte. Wenn 
sie dennoch ihre wirtschaftliche und kulturelle 
Existenz an das Land ihrer Heimat gekettet haben : 
ist es dann wahrscheinlich, daß sie dem Geschick 
dieses Landes gleichgültig oder übelwollend gegen- 
überstehen ? 

Aber genug der negativen Beweise. Was ist 
denn eigentlich nationale Gesinnung und Betäti- 
gung? Besteht sie lediglich in devoten Tiraden 
oder aggressiven Liedern ? Dann gebe ich die der 
Juden gerne preis. Oder besteht sie in liebevoller 
und hingebender, aufopfernder und freier Kultur- 

239 



arbeit zu Ehren und zum Segen des angestammten 
Landes ? Dann möge der aufstehen, der vor Gott 
und Gewissen behaupten kann, daß die deutschen 
Juden ihr Maß von Kulturarbeit nicht ehrlich 
und reichlich erffillt haben, daß sie nicht mehr 
zu Deutschlands Hoheit, Glück und Ehre beige- 
tragen haben als alle berufsmäßigen Antisemiten 
zusammengenommen. In diesem Zusammenhang 
ziemt es kaum und beschämt es fast, vom Materiel- 
len zu reden. Dennoch sei die Frage gestellt : was 
geschähe wohl, wenn die armseUge halbe Million 
deutscher Juden emmal zehn Jahre lang die Mittel, 
die sie den Zwecken der allgemeinen Wohlfahrt, 
den Aufgaben der Forschung und den Werken der 
Kunst zuwenden, bis zum Eintritt besserer Zeiten 
thesaurieren wollten? Manches wohltatige Werk 
bliebe ungeschehen, manches Problem ungelöst — 
und die deutsche Kunst, so sagen mir einige ihrer 
hervorragenden Vertreter, könnte auswandern. 

Soviel von nationaler Gesinnung. Doch da ich 
im Zuge bin, möchte ich noch das Argument eines 
von mir hochgeschätzten Staatsbeamten erwähnen, 
das mir der Beachtung wert schien. Er sagte : „Ja, 

wenn wir die Juden zulassen wo sollen wir 

die Grenze finden?" 

Das, meine Herren, ist Ihre Sache. Stellen Sie 
hohe Anforderungen. Scheiden Sie unerbittlich 
jeden aus, dessen Herkunft, Erziehung, Gesinnung, 
Talent oder Charakter Ihnen den mindesten Zwei- 
fel läßt. Überwachen Sie die Ausgewählten mit 
doppelter Strenge. Und wenn das Material, das 
Ihrer gewissenhaften Prüfung standhält, noch 
immer Ihnen zu umfangreich erscheinen sollte : — 

240 



dann freilich haben Sie recht gehabt, wenn Sie 
bei dem notorischen Überfluß an Talenten in allen 
Verwaltungszweigen bisher eine so rigorose Ent- 
haltsamkeit übten. 

Zum Schluß möchte ich neben meinen Gegnern 
und Fürsprechern auch der Zahl derer herzlich 
danken, die mir versicherten, meinen Ausführun- 
gen könne man wohl beistimmen, an eine Änderung 
der bestehenden Dinge könne jedoch in absehbarer 
Zeit nicht wohl gedacht werden. Gewiß, so 
scheint es. Aber bedenken Sie wohl: wenn heute 
im Land und Reich die Dinge anders lägen, die 
Vollberechtigung der Juden durchgeführt wäre, 
wie in England, Frankreich, Italien, wer würde 
ihre Aufhebung beantragen? Wer würde von 
solchem Antrag Erfolg erwarten? 

Auf der Gewalt der Trägheit beruhen heute 
diese Dinge, nicht auf Sinn und Recht, Not oder 
Gesetz. Deshalb kann trotz Lauheit, Schwäche, 
Indolenz und Übelwollen die Minderung des Rechts 
und die Beugung des Gesetzes keinen Bestand 
haben. Und wenn wohlwollende Anhänger der 
Gewohnheit mich mit der Stabilität des Herkömm- 
lichen vertrösten, so antworte ich ihnen im Ver- 
trauen auf eine immanente Gerechtigkeit: Das 
Herkömmliche an sich kann sich noch lange halten, 
auch wenn es schon seinen Sinn verloren hat; je- 
doch nicht mehr, wenn es zum Unrecht geworden 
ist. Wer es als Unrecht erkannt hat und den- 
noch stützt, der macht sich zum Mitschuldigen. 

Von den Juden erhoffe ich, daß sie auch während 
der Dauer ihres Minderrechts unablässig an ihrer 
Selbsterziehung arbeiten, in allen guten Tugenden 

1^ 241 




mit ihren christlichen Landsleuten wetteifern und 
in verdoppelter Liebe ihrem Lande dienen. Ihres 
guten, wohlerworbenen und ungesetzlich ver- 
kümmerten Rechtes mögen sie gedenken, nicht in 
GroU, aber in Zuversicht. Gott wird's richten. 



IV. 

Schlußbemerkung 

Eine unpolemische, aber persönUche Bemerkung 
mag diese Kontroverse aufklärend beschließen. 

Ich kämpfe nicht für den jüdischen Reserve- 
leutnant. 

Ich bedaure auch nicht den Juden, der sich 
staatliche Verantwortung wünscht und sie nicht 
erhält. Wer Verantwortung sucht, der hat sie; 
vor sich, vor Menschen, vor Gott. Wer Einlaß 
erbittend sich an Stellen begibt, wo man ihn nicht 
haben will, tut mir leid; ich kann ihm nicht helfen. 

Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in Deutsch- 
land geschieht, denn ich sehe Schatten aufsteigen, 
wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich 
abends durch die gellenden Straßen von Berlin 
gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig 
gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die 
Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme oder 
von pseudogermanischer Exklusivität berichten 
höre, die vor Zeitungsartikeln und Hofdamen- 
apergus zusammenzuckt. Eine Zeit ist nicht des- 
halb sorgenlos, weil der Leutnant strahlt und der 
Attache voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat 
Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als 



242 



diese; das stärkste aber, was in solchen Zeiten ge- 
schehen kann, ist: das Unrecht abtun. 

Das Unrecht, das gegen das deutsche Judentum 
und teilweise gegen das deutsche Bürgertum ge- 
schieht, ist nicht das größte, aber es ist auch eines. 
Deshalb mußte es ausgesprochen werden. Das 
beste aber wird sein, wenn jeder von uns in sein 
menschliches, soziales und bürgerliches Gewissen 
hinabsteigt und Unrecht abtut, wo er es findet. 



!•• Z43 



PROMEMORIA BETREFFEND DIE BEGRÜN- 
DUNG EINER KÖNIGLICH PREUSSISCHEN 

GESELLSCHAFT*) 

Überreicht am 14. März 1910 



L 

So berechtigt der Wunsch erscheinen mag, im 
Staatswesen das Zentralorgan zu erblicken, 
das dem gesamten Fühlen und Wollen des 
Volkes Ausdruck und Verkörperung schafft, so darf 
nicht verkannt werden, daß die konstitutionellen 
Organisationen in ihrer heutigen Form wichtige 
Teile dieser Aufgabe ungelöst lassen. 

Die Werke, die uns vergangene Völker und Ge- 
schlechter als sichtbare Manifestationen ihres gei- 
stigen Lebens hinterlassen haben, die Bauten 
Asiens und Ägyptens, die Tempel und Skulpturen 
Griechenlands, die Monumente, Paläste und Kir- 
chen Roms, die Staatsgebäude Venedigs, die Dome 
und Schlösser Frankreichs und Deutschlands — 
fast ausnahmslos verdanken sie ihre Existenz mo- 
narchischem, aristokratischem und hierarchischem 
Willen. Was konstitutionelle und repubUkanische 
Gemeinschaften diesen Denkmälern zur Seite ge- 
setzt haben, ist geringfügig und mehr auf dem 
Boden der Nützlichkeit und des Bedürfnisses als 

*) Ein Jahr vor der Überreichung des Promemoria waren die 
leitenden Gedanken den maßgeblichen Persönlichkeiten mündlich 
vorgetragen worden. Die Gesellschaft trat in weniger universeller 
Form und leider mit wesentlicher Beschränkung des Umfanges und 
Arbeitsgebietes ins Leben. Sie führt den Namen „Kaiser Wilhelm 
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften^'. 

244 



der Idee erwachsen. Fast wird man geneigt zu 
glauben, daß das geistige Leben unserer Zeit nur 
noch in Einrichtungen des Verkehrs, der mechani- 
schen Produktion, der Verteidigung und Verwal- 
tung einen sichtbaren Ausdruck seiner gewaltigen 
Aktivität sich zu schaffen vermöge. 

Warum können die Staatswesen der Neuzeit den 
Aufgaben der Verkörperung ideeller Mächte nicht 
mehr voll genügen ? Das Wesen solcher Aufgaben 
bringt es mit sich, daß sie überschwänglich und 
enthusiastisch erscheinen, wo sie die Kunst be- 
treffen, daß sie abstrakt und weltfremd bleiben, 
wo sie der Wissenschaft angehören. Eine Mehrheit, 
die über Mittel der Gemeinschaft verfügt, wird 
auf dem Wege der geschäftsmäßigen Behandlung, 
wenn sie wohlmeinend ist, sich einer wohlbegrün- 
deten Nützlichkeit nicht verschließen; wohl aber 
wird sie jeder ausgesprochenen Idealität und Ab- 
straktion, jeder fernsichtigen Zukunftssorge, jeder 
Überschreitung des notwendigen Maßes abhold 
sein, und im allgemeinen schon durch den natür- 
lichen Ausgleich der entgegengesetzten Meinun- 
gen sich gezwungen sehen, den Weg des Mittels, 
des Mittelmaßes, zuweilen wohl auch der Mittel- 
mäßigkeit einzuschlagen. Ein Bau, wie der des 
Kolosseums, der Peterskirche, ein Projekt wie das 
der Nobelstiftung, des lenkbaren Luftschiffs, des 
Bayreuther Festspielhauses, wäre von keiner Ver- 
waltungsmehrheit gebilligt worden. WoUte man 
einwenden, daß vom Standpunkt der mechanischen 
Nützlichkeit ein Volk säkularer Werke nicht be- 
darf, so könnte, falls diese enge Betrachtungsweise 
überhaupt zugelassen werden soll, erwidert werden, 

245 




daß bei gegebenen physischen und ethischen 
Vorbedingungen die wissenschaftliche Vertiefung 
eines Volkes über seine politische Macht ent- 
scheidet, und daß die sichtbaren Werke des höch- 
sten Idealismus in gemeinstem Sinne als eine 
Quelle des Reichtums angesehen werden können. 
Paris wäre nicht die begehrteste Fremdenstadt der 
Welt ohne seine Architekturen; und die bedeu- 
tende Rente, die Italien von den Besuchern aller 
Länder bezieht, wäre nicht möglich ohne die Auf- 
wendungen des römischen Senats, der Päpste und 
der fürstlichen Geschlechter der Renaissance. 

Wendet sich nun angesichts dieser Unzuläng- 
lichkeit der Blick erwartend zum Monarchen, so 
wird es fühlbar, daß dieser über die Mittel des 
Staates nicht mehr frei verfügt. Große Aufgaben 
sind noch in unserer Zeit aus souveränen Ver- 
mögen bestritten worden, doch gehen die Forde- 
rungen eines ganzen Landes auch über königliches 
Maß hinaus. In allen Fällen wird es einem Souve- 
rän gelingen, für ein Werk, dem er seine eigene 
hohe Sanktion verleiht, Opferwilligkeit im Volke 
zu erwecken und so die Insuffizienz der öffent- 
lichen Einrichtungen auszugleichen; doch nicht 
ein jedes Werk, das vom Herrscher Hilfe zu er- 
hoffen berechtigt ist, darf beanspruchen, daß er 
sich dafür mit seiner Person einsetze. 

An dieser Stelle darf eine nicht leicht zu be- 
handelnde psychologische Frage nicht unerörtert 
bleiben. Der Wert und das Wesen einer schönen 
und opferwilligen Handlung liegt darin, daß sie 
um ihrer selbst willen, nicht im Hinblick auf einen 
außerhalb stehenden Zweck oder Erfolg geschieht. 

246 



Indessen wird der Kenner menschlicher Dinge 
nicht hart darüber urteilen, wenn in Ländern, die 
eine staatliche Anerkennung öffentlicher Verdien- 
ste pflegen, eine nicht geringe Zahl sonst sachlich 
empfindender Menschen sich bedrückt fühlt, wenn 
eine Leistung, die als wünschenswert betrachtet 
und von ihnen gern und freiwillig erfüllt wurde, 
im Gegensatz zu pflichtmäßigen aber immateriel- 
len Verdiensten, ohne äußeres Zeichen öffentlicher 
Anerkennung von der Gemeinschaft hingenom- 
men wird. So ist denn auch der Deutsche, in 
seiner Neigung den eigenen Wert gering anzu- 
schlagen, gern bereit, die offizielle Anerkennung 
über sein eigenes Urteil zu stellen, woher denn 
auch teilweise der oft verspottete Hang zu Titula- 
turen und Distinktionen rühren mag. Diese offi- 
zielle Anerkennung aber kann im eigentlichen 
Sinne für materielle Leistungen nicht erfolgen; 
denn unter allen Umständen müssen Ehrenzeichen 
und Würden dem immateriellen, rein geistigen 
und ethischen Verdienst vorbehalten bleiben, sonst 
würden sie den Schein der Käuflichkeit auf sich 
ziehen und rasch entwertet werden. 

In diesem Sinne könnte man solche Länder 
glücklicher gestellt nennen, in welchen staatliche 
und fürstliche Anerkennungen nicht bestehen oder 
auf seltenste Fälle beschränkt sind. Vor allem 
dürfte man die Vereinigten Staaten als ein Land 
der Bürgertugend preisen, und vielleicht nicht zum 
wenigsten deswegen, weil dort die Opferwillig- 
keit mit keinem andern Verdienst in der Öffent- 
lichkeit konkurriert und daher sich selbst ihr Maß 
und ihre Schätzung bestimmt. Tatsächlich stellen 

247 



! 



amerikanische Schenkungen, Stiftungen und Ver- 
mächtnisse weit über den Rahmen der Kapital- 
ansammlungen des Landes hinaus alles in Schatten, 
was die übrige Welt an Gemeinnützigkeit dieser 
Art kennt. Aber auch England, Holland, die 
Schweiz, selbst das moderne Griechenland sind 
uns in bürgerlicher Betätigung des Gemeinsinns 
überlegen. 

II. 

Diese allgemeinen Erwägungen müssen zu der 
Frage führen, ob bei dem hohen Stande 
intellektueller und ethischer Gesinnung, bei dem 
unvergleichlich aufstrebenden Volkswohlstand und 
Nationalvermögen, in Deutschland sich Institu- 
tionen schaffen lassen, die, auf dem Boden der 
Selbstverwaltung aufgebaut, bei der Erfüllung weit- 
tragender Aufgaben in Wissenschaft und Kunst 
dem Staate sich zur Seite stellen und dem Monar- 
chen eine Handhabe zur Förderung des kulturellen 
Lebens der Nation bieten. 

Zur Schaffung eines Organs dieser Art bedarf 
es nur des Willens des Monarchen; seine gegebene 
Form ist die einer staatlich anerkannten Gesell- 
schaft, für deren Aufbau, sofern sie den höchsten 
Forderungen gerecht werden soll, folgende Grund- 
sätze entscheidend sein dürften. 

I. Die Ziele der Gesellschaft müssen sich 
auf das gesamte Gebiet der Künste 
und Wissenschaften erstrecken. 

Nur auf einer so weiten Grundlage kann es ge- 
lingen, einen großen Teil der verfügbaren wirt- 

248 



schaftlichen Kräfte der Nation zu einem gemein- 
samen Werk zusammenzufassen. Die Gesell- 
Schaft soll fördern und unterstützen, nicht 
forschen, entwerfen und ausführen. Sie hat 
die Aufgabe, die bestehenden und zu schaffenden 
Institutionen der Kunst und Wissenschaft zu er- 
gänzen, nicht mit ihnen in Konkurrenz zu treten. 
Sie bleibt frei in der Verwendung ihrer Mittel 
und frei in der Auswahl ihrer Aufgaben ; die Durch- 
führung überläßt sie den berufenen Korporatio- 
nen, Behörden, Künstlern und Gelehrten, wobei 
es ihr unbenommen bleibt, notwendig erscheinende 
Bedingungen an ihre Mitwirkung zu knüpfen. 
Auch wird sie die Ergebnisse ihres Wirkens den 
Mitgliedern und der Öffentlichkeit zugänglich 
machen und so erneutes Interesse und gesteigerte 
Anteilnahme erwecken. 

2. Die Gesellschaft muß eine gegenüber 
allen öffentlichen Vereinen weit exi- 
mierte Stellung einnehmen. 
Ja sie muß ein Mittelglied zwischen einer staat- 
lichen Institution und einem Verein bilden. Diese 
Stellung kann der Gesellschaft gesichert werden 
durch die Protektion des Königs, die Mit- 
gliedschaft der Ministerien, die Auswahl und 
Rechte ihrer Mitglieder und Verwaltungsorgane, 
durch ihre Verfassung und durch ihren Namen. 
Dieser Name sollte durch Würde und Kürze bei 
weiter Fassung des Sinnes Bedeutung erhalten ; auf 
eine nähere Bezeichnung der Ziele könnte ver- 
zichtet werden, da bei dieser vereinzelt dastehen- 
den Institution die Kenntnis ihres Wirkens sich 
in gleichem Maße verbreiten und einbürgern wird 

249 



wie etwa bei der Royal Society oder dem Institut 
de France. So dürfte als geeignetster Name 
vorgeschlagen werden: Königlich Preußische 
Gesellschaft. 

3. Von einerübermäßigenZentralisation 
in der Wirkungsweise der Gesellschaft 
ist abzuraten. 

Wenn erhebliche Mittel aus allen Landesteilen 
herbeigezogen werden sollen, wenn ein Teil der 
Wohlhabenden des Landes der Gesellschaft die 
Bestimmung über Einkünfte überträgt, die bis 
dahin auch örtlichen Bedürfnissen zugute kamen, 
so sollte nicht der Vorwurf erhoben werden dürfen, 
man habe einzelne Distrikte zugunsten einer Zen- 
tralstelle bestehender Hilfsquellen beraubt. Es 
muß daher Sorge getragen werden, daß ein Teil 
der Einnahmen der Königlich Preußischen Gesell- 
schaft für örtliche Erfordernisse von vornherein 
abgezweigt werde, wobei ein Einfluß auf die Ver- 
wendung dieser Teilbeträge immerhin der Zentral- 
behörde vorbehalten bleiben kann. 

Im Sinne dieser Erwägung sollte davon abge- 
sehen werden, von Anfang an die Königlich Preußi- 
sche Gesellschaft zu einer Reichsinstitution auszu- 
dehnen. Wenn auch zu hoffen und zu erwarten 
steht, daß die Gesellschaft auch außerhalb des 
Königreichs Zustimmung, Anhänger und Unter- 
stützung findet, so sollte in erster Linie der Grund- 
satz beachtet werden, daß die Pflege der Künste 
und Wissenschaften zu den schönsten Prärogativen 
des Landesfürsten gehört. Vor allem aber darf die 
notwendige Forderung einer gewissen Dezentrali- 
sation nicht zu weitgehenden Beschränkungen der 

250 



Verfügungsfreiheit der Zentralbehörde führen, wie 
dies der Fall sein würde, wenn verschiedene Staaten 
die Verwendung der Mittel zu kontrollieren be- 
anspruchen. 

4. Eine Institution, die große nationale 
Aufgaben erfüllen soll, muß ihre 
Wurzeln in die Tiefe der Nation 
erstrecken. 
Wenn auch begüterte Staatsbürger zum Aufbau 
des Werkes berufen sind, so soll doch das 
Unternehmen einen möglichst weiten 
Kreis von Anhängern sich erwerben. Des- 
halb sollte außerhalb des Kreises der Donatoren, 
die durch erhebliche Zuwendungen für den Wirt- 
schaftsbedarf der Gesellschaft aufkommen, einer 
unbeschränkten Zahl von angesehenen und be- 
mittelten Persönlichkeiten der Beitritt als ordent- 
lichen und außerordentlichen Mitgliedern freige- 
stellt werden. Es sollte ferner im gleichen Sinne 
eines groß angelegten und nationalen Unterneh- 
mens so weit als tunlich dem Grundsatz 
der Selbstverwaltung Geltung verschafft wer- 
den. Es können lokale Behörden der Gesellschaft 
überwiegend aus Wahlen der Mitglieder hervor- 
gehen; auch für einen Teil der Zentralbehörde 
können Wahlen bestimmend sein. Um indessen 
die Einheitlichkeit und Kontinuität der Füh- 
rung zu wahren, sodann um das Ansehen der 
Gesellschaft zu erhöhen, muß die Bestätigung 
sämtlicher Mitglieder der Zentralbehörde, die 
Berufung eines größeren Teiles derselben und die 
Ernennung des Präsidiums Vorrecht des Königs 
bleiben. 



251 



III. 



Auf der Grundlage der soeben niedergelegten 
Fundamentalsätze darf nunmehr der Aufbau 
der Königlich Preußischen Gesellschaft 
skizziert werden. 

1. Die Mitglieder zerfallen in Ordentliche 
und Außerordentliche. Sie sind zu Ortsgrup- 
pen und Provinzverbänden vereinigt. Die Ordent- 
lichen Mitglieder haben aktives und passives Wahl- 
recht für Ortsausschuß und Provinzausschuß. Die 
Ordentlichen Mitglieder verpflichten sich zu 
einem Jahresbeitrag von loo M., die Außer- 
ordentlichen zu einem solchen von 50 M. Die 
ersteren erhalten das Recht, ein Abzeichen zu 
tragen. 

2. Die Orts- und Provinzausschüsse ver- 
treten die örtlichen und provinziellen Interessen 
der Gesellschaft; sie verwenden die ihnen über- 
wiesenen Mittel und wählen aus ihrer Mitte einen 
Teil der Mitglieder des Senats. Orts- und Pro- 
vinzausschüsse tagen unter Vorsitz eines Regie- 
rungsbeamten, sie können vom Senat durch Zu- 
weisung von Mitgliedern ergänzt werden. Die 
Mitglieder der Provinzausschüsse führen den Titel 
Kurator der Königlich Preußischen Gesell- 
schaft. 

3. Der Senat besteht aus 

a) den von den Orts- und Provinzausschüs- 
sen erwählten und vom König bestätigten 
Mitgliedern, 

b) den von wissenschaftlichen und künstleri- 
schen Korporationen, von Universitäten 

252 



und Akademien vorgeschlagenen und vom 
König bestätigten Mitgliedern, 

c) den vom König bestätigten Donatoren, 

d) den vom König ernannten Mitgliedern. 
Der Senat verkörpert die Gesellschaft. Er be- 
schließt über die Verwendung der Mittel der Ge- 
sellschaft, genehmigt die Rechnungslegung, er- 
nennt eine wissenschaftliche, eine künstlerische 
und eine technische Kommission und wählt aus 
seiner Mitte die Hälfte der Mitglieder des Senats- 
ausschusses. Die Mitglieder des Senats führen den 
Titel Senator der Königlich Preußischen 
Gesellschaft und erhalten Rang und Amts- 
tracht. 

4. Der Senatsausschuß besteht aus Senatoren, 
die zur Hälfte vom König ernannt, zur Hälfte vom 
Senat gewählt werden. Der Senatsausschuß führt 
die Geschäfte der Gesellschaft, bereitet die an den 
Senat gelangenden Anträge, sowie die Rechnungs- 
legung vor und bedient sich der Mitwirkung der 
drei Kommissionen. 

5. Das Präsidium wird vom König er- 
nannt. Es besteht aus einem Präsidenten und 
fünf Präsidialmitgliedern, von denen je eines 
als Vizepräsident, Wissenschaftlicher Dezernent, 
Künstlerischer Dezernent, Geschäftsführer und 
Schatzmeister designiert ist. Das Präsidium 
leitet die Sitzungen des Senats, des Senatsaus- 
schusses und der Kommissionen. Es ist berech- 
tigt, einen besoldeten Geschäftsführer, der nicht 
Mitglied der Gesellschaft zu sein braucht, zu 
bestellen. 

6. Das Protektorat übt der König aus, 

253 



dem neben den erwähnten Prärogativen die 
Genehmigung aller größeren Zuwendungen sowie 
die Ernennung der Ehrenmitglieder und Ehren- 
präsidenten vorbehalten bleibt. 



D 



IV. 

ie Einkünfte der Gesellschaft setzen sich 
zusammen 

a) aus den Beiträgen der Ordentlichen Mit- 
glieder, 

b) aus den Beiträgen der Außerordentlichen Mit- 
glieder, 

c) aus den Zuwendungen der Donatoren. Diese 
bestehen entweder 

in einem Jahresbeitrag von mindestens 3000M. 

oder 

in einem einmaligen Beitrag von mindestens 

30 000 M., 

d) aus den Zuschüssen des Staates bzw. der 
Ministerien, 

e) aus Stiftungen, Vermächtnissen und Zinsen. 
Die Verteilung der Einkünfte geschieht wie 

folgt : 

Aus den Einkünften unter a) und b) (Beiträge 
der Ordentlichen und Außerordentlichen Mit- 
glieder) dürfen zunächst Orts- und Provinzaus- 
schüsse bis zu 5% für örtliche und provinzielle 
Verwaltuiigskosten zurückbehalten. Der Über- 
schuß wird an die Senatskasse abgeführt. 

Alle übrigen Einkünfte gelangen unmittelbar in 
die Kasse des Senats. Hier werden sie in der Weise 
alljährlich verteilt, daß 60% zur Verfügung des 



Senats verbleiben, während 20% an die Orts- 
gruppen und 20% an die Provinzverbände über- 
wiesen und im Verhältnis der Mitgliederzahlen 
aufgeteilt werden. Stiftungen, Vermächtnisse und 
Zinseingänge bleiben von dieser Verteilung aus- 
geschlossen und zur Verfügung des Senats. 



^55 



PHYSIOLOGISCHES THEOREM 

I. 

Seit Jahren hat kein neueres Buch mich so er- 
griffen und erfüllt, wie Frances botanisches 
Werk: das Leben der Pflanze. 

Einen katalogisierenden Wissenszweig, der trok- 
ken und farblos, wie die armseUgen Mumien seiner 
Herbarien, mir von der Schule her verleidet war, 
sah ich verwandelt in eine blühende und phantasie- 
volle Wissenschaft. Die Pflanzen hatten Leben 
gewonnen; und nicht dies allein: sie gaben sich 
selbst ihre Formen und Gesetze, sie paßten sich 
an, schützten und verteidigten sich, wanderten, 
kämpften mit Verfolgern und Konkurrenten, 
schlössen Bündnisse mit Freunden und Feinden, 
luden sich Gäste und Hausfreunde, traten in 
Tausch- und Geschäftsbeziehungen. Aber noch 
mehr: die ganze organische Welt schloß sich mit 
ihren Arten und Formationen zu einer Einheit zu- 
sammen, die aus äußeren und inneren Gesetzen 
ein höchstes, alles beherrschendes Gleichgewicht 
normierte. So war, wie im Zeichen des Erdgeistes 
erschaut, aus organischem Leben das Kleid der 
Gottheit gewoben. 

Daß bei dieser Betrachtung die Gesetze der 
Symbiose, der Assoziation der Organismen zu ge- 
meinsamem Leben und wechselweiser Unter- 
stützung den stärksten Eindruck machen mußten, 
ist nicht verwunderlich. Er hat dazu geführt, daß 
ich mich gezwungen sah, die symbiotische Vor- 
stellung eine Zeitlang fortzuspinnen, und schließ- 

256 



lieh dazu kam, in jedem höheren Organismus einen 
Vorgang dieser Art zu erblicken. 

In diesem Zustande traf es sich, daß ich einem 
unserer bedeutendsten Fachgelehrten meine 
Zwangsvorstellung entwickeln konnte, daß man- 
ches dieser bildlichen Denkweise mit seinen Er- 
fahrungen zu stimmen schien, und daß er mich 
bestärkte, den Gedankengang schriftlich festzu- 
legen, was nicht ohne einige Beklommenheit ge- 
schah. 

Denn als geschulter Physiker bin ich zu einer 
starken Abneigung gegen spekulative Hypothesen 
erzogen, als Techniker gegen laienhafte Eingriffe 
in wissenschaftliche Domänen stets bedenklich. 
Vielleicht liegt die Möglichkeit einer Entschuldi- 
gung im Begriffe des Theorems : indem ein solches 
eine Anschauungsweise bedeutet, die ihrer Bild- 
lichkeit zufolge prüfbare Schlüsse und Gedanken- 
gänge herausfordert, welche vielleicht in ganz an- 
derer Weise und an ganz anderer Stelle aus dem 
Labyrinth des Irrtums zutage führen. 

II. 

Man hat von höheren Organismen als von 
Zellenstaaten gesprochen, indem man, der 
physikalischen Auffassung gemäß, die organische 
Materie atomisierte, und jedem dieser untrenn- 
baren Partikel ein Partialleben zuwies, aus deren 
Summierung sich das Gesamtleben des Geschöpfes 
ergab. 

Auf der anderen Seite hat die bakteriologische 
Wissenschaft die Kenntnis massenhaft auftreten- 

«7 257 



der einfacher aber selbständiger Organismen aufe 
höchste gesteigert, deren Auftreten auf nichtleben- 
den organischen Nährböden Spaltungen chemi- 
scher und mechanischer Art, auf lebenden Nähr- 
böden parasitäre, unter Umständen krankhafte 
Prozesse hervorruft. 

Das Theorem, von dem ich spreche, stellt sich 
dar als eine Synthese dieser beiden Anschauungs- 
weisen, von deren jeder es sich doch wesentlich 
unterscheidet. 

Es erscheint mir nämlich denkbar, jeden höheren 
Organismus aufzufassen als eine Lebensgemein- 
schaft verschiedenartiger, in gegebenen Proportio- 
nen auftretender, selbständig lebender Organis- 
men, die .sich wechselseitig unterstützen, unter 
Umständen auch bekämpfen; die zum Teil an 
diese Symbiose gebunden sind, zum Teil aber auch 
unter anderen Assoziationen ein selbständiges 
Leben führen können. Auch Bakterien werden 
im Lebensverbande der Organismen wirksam sein 
— die Wurzelbakterien der Leguminosen legen 
hierfür Zeugnis ab — und somit nicht nur in- 
differente und schädliche, sondern in hohem Maße 
nützliche und notwendige Aufgaben erfüllen. 

Aus den Einzel- und Gesamtinstinkten dieser 
Elementarorganismen würden diejenigen Lebens- 
vorgänge sich erklären lassen, die den Charakter 
eines scheinbar sinn- und zweckbewußten Körper- 
willens tragen: die Anpassungsfähigkeiten der Or- 
ganismen an physikalische Bedingungen, ihr in- 
dividuelles Wachstum in zweckentsprechender 
Form und Richtung, die Überwindung von Stö- 
rungen und Schädigungen, die Prozesse der Wund- 

258 



heilung; ja selbst gemeinhin die Vorgänge allge- 
meinster physiologischer Art, Stoffwechsel und 
Wachstum würden in neuem Lichte erscheinen. 

Aus der Periodizität im Leben der Elementar- 
organismen wären herzuleiten die Periodizitäten 
des Pflanzen- und Tierlebens, wie man bereits 
heute die Periodizitäten von Krankheitserschei- 
nungen aus den Lebenskreisläufen der Erreger 
herleitet. Auch die Gesetzmäßigkeiten in der 
Begrenzung des Individuallebens dürften aus 
der Summierung der Generationsfolgen im Ele- 
mentarleben sich ergeben. 

Endlich wäre die Lebenssymbiose als ein Gleich- 
gewichtszustand teilweise entgegenstrebender Ele- 
mente aufzufassen, die sich hierdurch wechsel- 
seitig ihr Maß und ihre Begrenzung setzen. Die 
Annahme solcher Gleichgewichtszustände ließe 
hoffen, zum Verständnis der Frage zu gelangen, 
weshalb die Dimensionierung der Individuen 
verhältnismäßig konstant bleiben. 

in. 

Vergegenwärtigt man sich den Zustand der 
Symbiose, oder bildlich gesprochen, des 
Staates gemeinsam hausender selbständiger Indivi- 
dualorganismen, im Hinblick auf die Störungen, 
denen er unterworfen sein kann, so ergibt sich 
zunächst, daß der Normalzustand durch ein ge- 
gebenes Bevölkerungsverhältnis aller Bewohner- 
elemente definiert sein muß. Abgesehen von all- 
gemeiner Übervölkerung und allgemeinem Be- 
völkerungsmangel — wie solche zum Beispiel bei 

«?• 259 



dauerndem Ernährungsmangel entstehen kann — 
müssen daher zwei Kategorien von Störungen 
typisch sein : einmal die Bevölkerungsverschiebung, 
die durch Eindringen feindlicher, parasitärer Ele- 
mente hervorgerufen wird, sodann die Verschie- 
bung, die durch einseitige Vermehrung einer 
einzelnen Bevölkerungsschicht aus inneren Grün- 
den erfolgt : etwa weil die Gegenkräfte der übrigen 
Elemente sich als unzulänglich erweisen. 

Die erste Kategorie stellt sich uns unter dem 
Bilde der Infektionskrankheiten dar; ihre wissen- 
schaftliche Erforschung und Behandlung ist grund- 
sätzlich bekannt. 

Die zweite Kategorie wäre dadurch erkennbar, 
daß sie jeder bakteriologischen Erforschung und 
Behandlung widerstände, und nur dann eine Hei- 
lung zuließe, wenn es gelänge, dem Organismus 
solche Hemmungsbedingungen organischer oder 
chemischer Natur zuzuführen, die das Über- 
wuchern des stärkeren Elementarorganismus zum 
Stillstand brächten. 

Hier hätte die pathologische Erfahrung einzu- 
setzen, und zwar mit der Beantwortung der Frage, 
ob nach dem Stande der Wissenschaft auf die 
Existenz von Prozessen der zweiten Kategorie ge- 
schlossen werden kann. Ist dies der Fall, so wäre 
die Möglichkeit gegeben, daß aus der Erhebung 
des dargelegten Theorems zur Hypothese ein 
Nutzen für die Auffindung weiterer Forschungs- 
wege erwachsen könnte. 



260 



UMvenemr OF MCHNkAN 





3 9015 02597 7193