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Full text of "Zur kritischen Grundlegung der Psychologie"

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Kritischen  Grundlegung  der  Psychol 


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in  2011  witii  funding  from 

Boston  Library  Consortium  IVIember  Libraries 


littp://www.arcliive.org/details/zurkritiscliengruOOblum 


PHILOSOPHISCHE   VORTRAGE   [^ 

VERÖFFENTLICHTVON  DER  KANT-GESELLSCHAFT. 

UNTER  MITWIRKUNG  VON  H.  VAIHINGER  UND  M.  FRISCHEISEN-KÖHLER 

HERAUSGEGEBEN  VON  ARTHUR  LIEBERT.  Nr.  25, 


Zur  kritischen  Grundlegung 
der  Psychologie 


von 


Dr.  Walter  Blutnenfeld 

Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule  in  Dresden 


Berlin 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1920 


Kant-Gesellschaft. 


Vorstand: 


Übrige 
Mitglieder 

des 

Ver- 
waltungs- 

Aus- 
schusses: 


Gottfried  Meyer,  Dr.  med.   (h.  c),  Geh.  Oberreg. -Rat, 

Kurator  der  Universität  Halle  a.  S.,  Reilstr.  53. 
Ernst  Cassirer,  Dr.,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität 

Hamburg,  Blumenstr.  26. 
Max  Frisdieisen- Köhler,    Dr.,  a.  o.  Professor  an  der 

Universität  Halle  a.  S.,  Mozartstr.  24. 
Karl  GerharÖ,  Dr.,  Geh.  Reg.-Rat,   Direktor  der  Univ.- 

Bibliothek  Halle  a.  S.,  Karlstr.  36. 
Heinridi  Lehmann,  Dr.  phil.  (h.  c),   Dr.  med.  (h.  c), 

Geheimer  Kommerzienrat,  Halle  a.  S.,  Burgstr.  46. 
Paul  Menzer,    Dr.,   o.  ö.  Professor  an   der  Universität 

Halle  a.  S.,  Fehrbellinstr.  2. 
Rudolf  Stammler,  Dr.  jur  et  phil.  (h.  c),  Geh.  Reg.-Rat, 

o.  ö.  Prof.  an  der  Universität   Berlin,  Charlottenburg, 

Knesebeckstr.  20-21. 
Theodor  Ziehen,  Dr.,  Geh.  Reg.-Rat,  o.  ö.  Professor  an 

der  Universität  Halle  a.  S.,  Ulestr.  1. 
Hans Vaihinger, Dr.,  Geh.  Reg.-Rat,  o.  ö.  Prof.  -j 

a.  d.  Universität  Halle  a.  S.,  Reichardtstr.  15.  I  Geschäfts- 
Arthur  Liebert,  Prof.  Dr.,  Doz.  a.  d.  Berl.  Han-  j     führen 

dels-Hochschule,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  48.  J 


Die  Kant -Gesellschaft  verfolgt  den  Zweck,  von  der  Grund- 
lage der  Kantischen  Philosophie  aus  die  Weiterentwicklung  der  Philo- 
sophie überhaupt  zu  fördern.  Ohne  ihre  Mitglieder  irdendwie  zur  Gefolg- 
schaft gegenüber  der  Kantischen  Philosophie  zu  verpflichten,  hat  die  Kant- 
Gesellschaft  keine  andere  Tendenz  als  die  von  Kant  selbst  ausgesprochene, 
durch  das  Studium  seiner  Philosophie   philosophieren   zu   lehren. 

Ihren  Zweck  sucht  die  Kant-Gesellschaft  in  erster  Linie  zu  ver- 
wirklichen durch  die  „Kant-Stuöien";  die  Mitglieder  der  Kant- 
Gesellschaft  erhalten  diese  Zeitschrift  (jährlich  4  Hefte  im  Umfang 
von  mindestens  30  Bogen)  unentgeltlich  zugesandt;  dasselbe  ist  der 
Fall  mit  den  „Ergänzungsheften"  der  „Kant-Studien",  welche  jedes- 
mal eine  größere  geschlossene  Abhandlung  enthalten  (gewöhnlich 
3 — 5  im  Jahre).  Außerdem  erhalten  die  Mitglieder  kostenlos  jährlich 
1 — 2  Bände  der  „Neudrucke  seltener  philosophischer  Werke  des  18. 
und  19.  Jahrb.",  sowie  die  von  der  Gesellschaft  veröffentlichten 
„Philosophischen  Vorträge",  ebenfalls  3—5  in  einem  Jahre. 

Das  Geschäftsjahr  der  Kant-Gesellschaft  ist  das  Kalenderjahr;  der 
Eintritt  kann  aber  jederzeit  erfolgen.  Die  bis  dahin  erschiene^ 
nen  Veröffentlichungen  des  betr.  Jahres  werden  den  Neueintreten- 
den  nachgeliefert.  Satzungen,  Mitgliederverzeichnis  usw.  sind  un- 
entgeltlich durch  den  stellv.  Geschäftsführer  Prof,  Dr.  Arthur  Liebert 
Berlin  W.  15,  Fasanenstraße  48,  zu  beziehen,  an  den  auch  die  Beitritts- 
erklärungen sowie  der  Jahresbeitrag  (Mark  20. — )  zu  richten  sind. 


PHILOSOPHISCHE   VORTRAGE   1^ 

VERÖFFENTLICHTVON  DER  KANT-GESELLSCHAFT. 

UNTER  MITWIRKUNG  VON  H.  VAIHINGER  UND  M,  FRISCHEISEN-KÖHLER 

HERAUSGEGEBEN  VON  ARTHUR  LIEBERT.  Nr.  25. 


Zur  kritischen  Grundlegung 
der  Psychologie 


von 


Dr.  Walter  Blumenfeld 

Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule  in  Dresden 


Berlin 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1920 


3/ 


KURT  STERNBERG 

in  Freundschaft 

gewidmet 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Inhaltsverzeichnis 

Seite 

1.  Abschnitt:    Die  Problemstellung.    §§1—4       1 

2.  Abschnitt:    Das  Kategorialsystem  der  Psychologie: 

I.  Kapitel:    Der  Gegenstand  der  Psychologie.     Die   Qualitäts- 
und Quantitätskategorien.    §§5  —  6 7 

II.  Kapitel:   Zeit  und  Raum.    §§  7-8 11 

III.  Kapitel:    Die  Relationskategorien: 

1.  Erhaltung  und  Abwandlung.    §§9-12      .    .    .  14 

2.  Verkettung  und  Gesetz.    §§13-14 21 

3.  System  und  Korrelation.     §§15-19.     .     .     .     .  29 

IV.  Kapitel:    Die  Modalitätskategorien: 

1.  Möglichkeit.    §§20-23 .    .  40 

2.  Wirklichkeit.    §  24   ... 55 

3.  Notwendigkeit.    §  25 59 

3.  -Abschnitt:    Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammen- 

fassung.   §§26-29 60 


Vorwort. 

Die  nachstehenden  Ausführungen  lagen  einem  Vortrag  zu- 
grunde, den  ich  am  30.  Oktober  1919  in  der  Berliner  Abteilung- 
der  Kant-Gesellschaft  gehalten  habe.  In  der  vorliegenden 
wesentlich  erweiterten  Form  dienten  sie  als  Habilitationsschrift 
an  der  Technischen  Hochschule  in  Dresden. 


1.  Abschnitt. 

Die  Problemstellung. 

§  1.  Die  Grundlegung  der  Einzelwissenschaften  ist  unstrittig 
eine  wesentliche  Aufgabe  der  Philosophie.  Ihre  Bedeutung  ist, 
seitdem  Kant  ihre  Lösung  für  die  Mathematik,  Physik  und  Bio- 
logie unternommen  hat,  —  von  Ethik  und  Ästhetik  dürfen  wir 
in  diesem  Zusammenhange  absehen  —  immer  klarer  und  ent- 
scheidender hervorgetreten.  Die  Verdienste  der  Neukantianer,  nicht 
in  letzter  Linie  der  »Marburger  Schule«,  um  die  Bearbeitung  dieser 
Probleme  sind  bekannt.  Bei  ihren  Untersuchungen,  die  sich  außer 
den  Naturwissenschaften  beispielsweise  auch  auf  Rechtswissenschaft, 
Geschichte  und  Pädagogik  erstreckten,  ist  eine  Fülle  wertvoller 
und  fruchtbarer  Gesichtspunkte  zutage  getreten ;  und  auch  in  den- 
jenigen Disziplinen,  in  denen  eine  systematische  Grundlegung  bis- 
her nicht  geleistet  worden  ist,  hat  die  Forderung  einer  solchen 
mindestens  in  dem  Sinne  klärend  gewirkt,  daß  die  Forscher,  die 
auf  ihren  Einzelgebieten  arbeiten,  sich  mit  dieser  Frage  irgend- 
wie auseinanderzusetzen  hatten.  Über  den  Gegenstand  und  den 
Geltungsbereich  der  Psychologie  aber  gehen  die  Ansichten  noch 
in  einem  Maße  auseinander,  wie  vielleicht  bezüglich  keiner  andern 
Wissenschaft.  Der  Kampf  um  sie  ist  auch  darum  besonders  heftig 
geworden,  weil  die  Psychologie  fast  allgemein  als  eine  Disziplin 
der  Philosophie  selbst  betrachtet  wird,  so  daß  die  meisten  Forscher 
auf  ihrem  Gebiete  sich  schon  aus  diesem  Grunde  zu  einer  ent- 
schiedenen Stellungnahme  veranlaßt  sehen  und  auch  ein  besonders 
tief  begründetes  Recht  darauf  besitzen. 

§  2.  Wenn  die  folgenden  Betrachtungen  einen  Beitrag  zur 
Grundlegung  der  Psychologie  geben  sollen,  so  ist  daher  zunächst 
zu  sagen,  in  welchem  Sinne  von  ihr  gesprochen  wird.  Es  handelt 
sich    hier  nicht  um   die  metaphysische,   spekulative,   sogenannte 

Blumenfeld,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  1 


öle  Problemstellung. 


»rationale«  Psychologie.  Ihre  Bedeutung  für  die  Metaphysik  soll 
unangetastet  bleiben;  es  mag  die  Annahme  einer  wesenhaften 
unsterblichen  Seele  aus  religiösem  Bedürfnis  heraus  unentbehr- 
lich sein:  seit  Kant  steht  fest  oder  sollte  feststehen,  daß  sie  kein 
Wissenschaftsbegriff  sein  kann.  Um  den-  Logos  der  Seele,  um 
die  Seelenlehre,  die  Psychologie  als  Wissenschaft  aber  ist  es 
hier  zu  tun. 

Auch  wird  diesen  Untersuchungen  nicht  der  Begriff  der 
Psychologie  zugrunde  gelegt  werden,  den  Cohen  in  die  Philo- 
sophie eingeführt  hat.  Wenn  dieser  ihr  als  höchster  philosophischer 
Disziplin  die  Bearbeitung  des  Problems  der  »Einheit  des  Kultur- 
bewußtseins« zuweist,  so  muß  das  Urteil  über  die  Berechtigung 
seiner  Forderung  so  lange  vertagt  werden,  bis  die  Disziplin  in  wissen- 
schaftlicher Bearbeitung  vorliegt.  Soweit  ich  sehe,  ist  das  bisher 
nicht  der  Fall.  Auch  Natorps  »Allgemeine  Psychologie«  postuliert 
einen  Wissenschaftsbegriff,  der,  wie  sich  später  zeigen  wird,  wenig- 
stens teilweise  mit  dem  Cohens  zusammenzustimmen  scheint  und 
der  mit  den  folgenden  Betrachtungen  nichts  zu  tun  hat.  Wie  es 
auch  mit  dieser  Disziplin  stehen  mag,  es  dürfte  in  hohem  Maße 
unzweckmäßig  sein,  ihr  die  Bezeichnung  Psychologie  zu  erteilen, 
die  seit  Aristoteles  für  ganz  andere  Forschungsbereiche  reser- 
viert war.  Diese  Benennung  kann  zu  folgenschweren  Irrtümern 
Anlaß  geben,  die  von  jeher  gerade  in  der  Philosophie  eine  ver- 
hängnisvolle Rolle  gespielt  haben. 

Maßgebend  war  für  Cohen  ver'mutlich  die  Absicht,  den 
Namen  Psychologie  einer  »echten«  Wissenschaft  in  seinem  Sinne 
vorzubehalten.  Dafür  aber  galt  ihm  die  empirische  Psychologie 
nicht,  in  der  er  nur  einen  Teil  der  Physiologie  sah,  dem  er  eine 
beträchtliche  Geringschätzung  entgegenbrachte.  Man  kann  diese 
negative  Bewertung  psychologisch  verstehen,  wenn  man  bedenkt, 
daß  der  große  Philosoph  seinen  härtesten  Kampf  gegen  den 
Psychologismus  geführt  hat,  diejenige  Weltanschauung  also, 
die  sich  bemüht,  der  Psychologie  das  Recht  auf  die  Grund- 
legung der  Wissenschaft  überhaupt  zu  vindizieren.  Auch  heute 
ist  dieser  Kampf  kaum  als  abgeschlossen  zu  betrachten,  da  nam- 
hafte Forscher  den  so  leidenschaftlich  umstrittenen  Anspruch  auf- 
recht zu  halten  versuchen.    Von  dem  hier  vertretenen  Standpunkt 


bie  Problemstellung.  ^ 


aus,  der  in  dieser  Hinsicht  dem  der  »Marburger«  nahesteht,  ist  das 
Urteil  im  Sinne  Cohens  zu  fällen.  Aber  gerade  in  der  von  ihm 
so  eindringlich  betonten  kritischen  Betrachtungsweise  findet,  wie 
mir  scheint,  seine  eigentümliche  Stellung  zur  empirischen  Psycho- 
logie keine  Stütze.  Die  kritische  Methode  besteht  ja  wesentlich 
darin,  von  der  bestehenden  Wissenschaft  auszugehen  und  auf- 
zuzeigen, wie,  d.  h.  unter  welchen  Voraussetzungen,  sie  »möglich« 
ist,  ihre  Urteile  Geltung  beanspruchen  dürfen.  Nachdem  Fechner, 
Wundt,  Ebbinghaus,  Hering  und  so  viele  andere  große 
Forscher  in  stetem  Fortschritte  an  dem  Bau  der  Psychologie 
gearbeitet  haben,  ist  an  der  Tatsache  einer  wissenschaftlichen 
Psychologie  nicht  wohl  zu  zweifeln.  Es  muß  daher  verlangt 
werden,  daß  diese  Disziplin,  deren  Forschungsergebnisse  in 
ungezählten  Aufsätzen  und  Lehrbüchern  niedergelegt  sind,  auf 
ihre  Fundamente  hin  untersucht  wird.  Erst  dann  kann  sich 
zeigen,  ob  sie  nur  als  Gehirnphysiologie  zu  betrachten  ist,  wie 
manche  meinen \  oder  ob  sie  ihr  eigenes  Problemgebiet,  ihren 
eigenen  Gegenstand  besitzt.  Voraussetzung  einer  solchen  kritischen 
Untersuchung  ist  offenbar  bereits  die  Ablehnung  des  »Psycho- 
logismus«. Wenn  die  Psychologie  als  Einzelwissenschaft  zum 
Problem  gemacht  wird,  kann  sie  nicht  selbst  als  Maßstab  zu 
dieser  Untersuchung  dienen. 

Ebenso  fallen  ganz  aus  dem  Bereich  der  folgenden  Unter- 
suchungen heraus  diejenigen  Arbeiten,  die  insbesondere  auf  die 
Bedeutung,  die  Sinnhaftigkeit,  die  Geltung  psychischen  Geschehens 
tendieren.  Hierzu  gehört  ein  großer  Teil  der  »phänomenologischen« 
Untersuchungen  Husserls  und  seines  Kreises  sowie  Meinongs. 
Wird  Psychologie,  wie  in  den  folgenden  Betrachtungen,  als  Natur- 
wissenschaft angesehen,  so  hat  sie  es  wesentlich  mit  Vorgängen 
und  ihren  Gesetzen  zu  tun.  Die  Phänomenologie,  wie  sie  etwa 
Husserl  vorschwebt,  muß  sich  ebensowohl  auf  Physik  und  alle 
anderen  Wissenschaften  wie  auf  die  Seelenlehre  beziehen,  kann 
also  nicht  selbst  ein  Teil  der  Psychologie  sein.  Schließlich  ge- 
hören nach  der  hier  vertretenen  Auffassung  auch  die  »Gebilde« 
im  Sinne  Stumpfs  (»Erscheinungen  und  psychische  Funktionen <, 

1  Paul  Natorp,  Allgemeine  Psychologie  nach  kritischer  Methode. 
Tüb.  1912,    S.  173  und  187. 


Die  ProbiemsteÜung. 


S.  28)  nur  sehr  bedingt  in  den  Bereich  unserer  Betrachtungen. 
Inbegriffe,  Sachverhalte,  Werte  können  hiernach  nur  insofern  eine 
Rolle  spielen,  als  ihre  Bildungsgesetze  festgestellt  werden,  und  die 
Art  ihrer  Repräsentation  im  Bewußtsein  betrachtet  wird.  Damit 
aber  werden  nicht  sie,  sondern  die  > Funktionen <  untersucht,  deren 
:*  Korrelate«  sie  darstellen. 

§  3.  Es  dürfte  sich  aus  dem  Resultat  der  folgenden  Über- 
legungen ein  Urteil  über  die  oft  gehörte  Behauptung  ergeben,  daß 
die  in  der  empirischen  Psychologie  angewandte  Methode  falsch 
sei.  Man  habe  sklavisch  das  experimentelle  Vorgehen  der  exakten 
Naturwissenschaften  übernommen,  so  wird  argumentiert,  und  müsse 
dies  nun  durch  minimale  Erfolge  trotz  intensivster  Bemühungen 
bedeutender  Forscher  büßen.  Es  fehle  eben  an  der  zu  frucht- 
barer Arbeit  unumgänglichen  Entwicklung  einer  eigenen  Methode. 
Man  darf  demgegenüber  schon  an  dieser  Stelle  darauf  hinweisen, 
daß  für  die  Wissenschaft  nichts  geleistet  wird,  wenn  das  Prinzip 
nicht  angegeben  werden  kann,  aus  dem  die  Falschheit  der  in  der 
Psychologie  verwendeten  Methode  folgt.  Es  ist  auch  zu  erwägen, 
daß  diese  identisch  ist  mit  dem  zuerst  in  der  Mathematik  und 
den  exakten  Naturwissenschaften  angewandten  Verfahren,  das  sich 
mit  immer  wachsender  Kraft  durchgesetzt  und  den  Fortgang  aller 
mit  ihr  arbeitenden  Disziplinen  entscheidend  gefördert  hat.  Ist 
doch  gerade  die  Methode  dasjenige  Moment,  das  die  verschiedenen 
Wissenschaften  eint,  wie  Riehl  es  kurz  und  klar  ausdrückt^: 
*Die  Wissenschaften,  geschieden  durch  ihre  Gegenstände,  sind 
durch  die  Methode  zur  Einheit  des  Wissens  verbunden.«  Es  ist 
in  der  Tat  kein  einziger  Grund  einzusehen,  weshalb  dies  Verfahren 
gerade  für  die  Psychologie  nicht  in  Betracht  kommen  sollte.  Das 
Gegenteil  ist  nachweisbar;  denn  alle  gesicherten  Ergebnisse 
dieser  Wissenschaft  sind  so  gewonnen  worden,  etwa  abgesehen 
von  denen  der  Völkerpsychologie,  sofern  diese  wesentlich  mit 
historischen  Mitteln,  also  nicht  experimentell,  arbeitet.  Rückhaltlos 
muß  zugestanden  werden,  daß  Zahl  und  Bedeutung  der  Resultate 
nicht  an  die  der  Physik  und  Chemie  heranreichen;  aber  diese 
Tatsache  ist  durch   die  größere  Komplikation   der  Probleme  er- 

^  Alois  Riehl,  Logik  und  Erkenntnistheorie  in  Hinneberge  »Kultur 
der  Gegenwart«  I,  Abs.  6.     Berlin  und  Leipzig  1907.    S.  86. 


Die  Problemstelluns: 


klärlich.  Übrigens  werden  die  Tragweite  und  der  Umfang  der 
Ergebnisse  der  Psychologie,  die  in  sehr  zahlreichen  Monographien, 
Handbüchern  und  Zeitschriften  niedergelegt  sind,  doch  vielfach 
weit  unterschätzt.  Die  jüngsten,  viel  versprechenden  Anwendungen 
in  Medizin,  Pädagogik,  Industrie  und  Wirtschaftsleben  weisen  auch 
die  vom  pragmatistischen  Standpunkte  aus  erhobenen  Anschuldi- 
gungen in  ihre  Grenzen  zurück. 

Kaum  wird  es  nötig  sein,  noch  auf  die  wohlgemeinten  Rat- 
schläge einzugehen,  die  dahin  gehen,  der  Psychologe  solle  sich 
statt  an  die  verfehlten  naturwissenschaftlichen  Methoden  an  die 
Untersuchung  der  großen  Kunstwerke  halten.  Shakespeare, 
Goethe,  Dostojewski  hätten  in  ihren  Werken  mehr  Psychologie 
niedergelegt,  als  aus  allen  Lehrbüchern  der  Psychologie  heraus- 
zuholen sei.  Schon  Dilthey^  hat  gegen  diese  »bis  zum  Über- 
druß« gehörten  Vorschläge  entschieden  Stellung  genommen: 
»Möchten  doch  diese  Fanatiker  der  Kunst,«  so  sagt  er,  »die  in 
solchen  Werken  eingewickelte  Psychologie  uns  einmal  enthüllen. 
Versteht  man  unter  Psychologie  eine  Darstellung  des  regelmäßigen 
Zusammenhangs  des  Seelenlebens,  so  enthalten  die  Werke  der 
Dichter  gar  keine  Psychologie;  es  steckt  auch  gar  keine  unter 
irgend  einer  Hülle  darin,  und  durch  keinen  Kunstgriff  kann 
ihnen  eine  solche  Lehre  von  den  Gleichförmigkeiten  der  seelischen 
Prozesse  entlockt  werden.  Wohl  aber  liegt  nun  in  der  Art,  wie 
die  großen  Schriftsteller  und  Dichter  über  das  Menschenleben 
handeln,  für  die  Psychologie  eine  Aufgabe  und  ein  Stoff.« 

Daß  große  Künstler  eine  erstaunliche  Kenntnis  der  zartesten 
und  verwickeltsten  Vorgänge  des  Seelenlebens  zeigen,  die  sich  der 
Analyse  der  Psychologie  noch  völlig  entziehen,  will  natürlich 
Dilthey  mit  diesen  Worten  nicht  bestreiten.  Aber  zu  einer 
Formulierung  sind  ihre  Schöpfungen  schon  deswegen  nicht  zu 
verwerten,  weil  die  Geltung  derartiger  Urteile  nicht  nachprüfbar 
wäre.  Wer  möchte  im  Ernst  empfehlen,  Anatomie  am  Hermes 
des  Praxiteles  zu  studieren?  In  der  Psychologie  aber  hält  man 
noch  heute  manchmal  das  analoge  Verfahren  für  angebracht,  das 
den  Autoritätsglauben  zur  wissenschaftlichen  Voraussetzung  machen 

1  Dilthey,  Ideen  über  eine  beschreibende  und  zergliedernde  Psycho- 
logie. Sitzungsber.  der  Königl.  Preuß.  Akad.d,  Wissenschaften  1894,  S.  1323. 


Die  Probleinslellung. 


würde.  Es  wird  in  der  Tat  methodisch  richtiger  sein,  die  natur- 
wissenschaftHche  Wahrheit  der  Kunstwerke  an  der  Wissenschaft 
zu  messen  als  umgekehrt. 

§  4.  Ich  spreche  also  von  der  empirischen  naturwissen- 
schaftlichen Psychologie,  deren  Möglichkeit  Kant ^  in  den  bekann- 
ten Worten  vorahnend  bezeichnete:  »Würden  wir  die  Beobach- 
tungen über  das  Spiel  unserer  Gedanken  und  die  daraus  zu  schöpfen- 
den Naturgesetze  des  denkenden  Selbst  auch  zu  Hilfe  nehmen:  so 
würde  eine  empirische  Psychologie  entspringen,  welche  eine  Art 
der  Physiologie  des  inneren  Sinnes  sein  würde  und  vielleicht 
die  Erscheinungen  desselben  zu  erklären  .  .  .  dienen  könnte.  <- 
Diese  Wissenschaft  erschien  ihm  als  die  einzig  mögliche  im 
Gegensatz  zu  der  > rationalen«  Psychologie,  wenn  er  an  anderer 
Stelle^  sagt:  »Es  bleibt  uns  nichts  übrig,  als  unsere  Seele  an  dem 
Leitfaden  der  Erfahrung  zu  studieren  und  uns  in  den  Schranken 
der  Fragen  zu  halten,  die  nicht  weiter  gehen,  als  mögliche  innere 
Erfahrung  ihren  Inhalt  darlegen  kann.« 

Überblicken  wir  nun  das  Problemgebiet  der  Psychologie,  so 
läßt  sich  zunächst  die  »reine«  von  der  »angewandten«  Seelenlehre 
unterscheiden.  Die  reine  Psychologie  umfaßt  die  Normal-  und 
die  Pathopsychologie;  sie  erstreckt  sich  auf  Menschen  und  Tiere 
(anthropologische  und  Tierpsychologie);  geht  auf  die  Formen  des 
Seelenlebens  der  Menschen  als  Individuen  und  seine  Abhängig- 
keit vom  gesellschaftlichen  Zusammenhang  (Individual-  und  Massen- 
psychologie); betrachtet  die  psychischen  Differenzen  von  Individuum 
zu  Individuum  (differentielle  Psychologie)  und  die  Entwicklung 
des  Seelenlebens  bei  Einzelnen  und  Völkern  (Kinder-,  Völker-, 
Entwicklungspsychologie).  Je  nach  der  Art  der  Behandlung  aber 
dürfen  wir  gemäß  dem  üblichen  Vorgang  zwischen  beschreibender 
und  erklärender  Psychologie  unterscheiden. 

Der  »darstellenden  Psychologie«  im  Sinne  Baades^  wird  man  kaum 

1  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Red.-Aug.,  2.  Aufl.,  S.  297. 

2  A.  a.  O.  S.  322. 

3  W.  Baade,  Aufgabe  und  Begriff  einer  darstellenden  Psychologie, 
Ztschr.  f.  Ps.,  Bd.  71,  S.  364  ff. 

Derselbe,  Experimentelle  Untersuchungen  zur  darstellenden  Psycho- 
logie des  Wahrnehmungsprozesses.    A.  a.  O.,  Bd.  79,  S.  97  ff. 


Die  Quali'täts-  und  Quantitäts- Kategorien. 


eine  ebenso  fundamentale  Bedeutung  zuerkennen  können:  soweit  ihr  die 
Aufgabe  zufällt,  die  Phänomene  herbeizuführen  und  deutlich  zu  machen, 
an  denen  sich  Beschreibung  und  Erklärung  zu  betätigen  haben,  steht  sie 
im  Dienste  beider.  Insofern  sie  die  Gesetze  voraussetzt,  die  die  Ent- 
stehung der  Phänomene  beherrschen,  gehört  sie  der  erklärenden  Psycho- 
logie an.  Stets  ist  aber  zu  berücksichtigen,  daß  Erklärung  das  letzte  Ziel 
auch  der  beschreibenden  Psychologie  bleibt. 

Es  sollen  nun  aus  dem  weitgespannten  Kreise  der  Aufgaben, 
die  hierdurch  gekennzeichnet  sind,  diejenigen  ausscheiden,  die  die 
angewandte  Psychologie  behandelt,  weil  diese  im  Dienst  anderer 
Wissenschaften  (z.  B.  Medizin,  Pädagogik,  Nationalökonomie)  steht, 
wodurch  ihr  Begriffssystem  in  eigenartiger  Weise  abgewandelt 
wird.  Eine  weitere  Einschränkung  nehme  ich  vor  durch  Aus- 
schluß der  Entwicklungs-  und  Völkerpsychologie,  die  bezw.  sofern 
sie  wesentlich  auf  historische  Methoden  angewiesen  sind.  In  dem 
gesamten  übrigen  Bereich  ist  das  Verfahren  der  Psychologie,  wie 
es  sich  im  heutigen  Wissenschaftsbetriebe  darstellt,  als  naturwissen- 
schaftlich anzusprechen. 

Bei  dem  Versuch  einer  Grundlegung  dieser  so  aufgefaßten 
Disziplin  bleibe  ich  mir  bewußt,  nur  einige  Beiträge  zu  liefern, 
ohne  auch  nur  entfernt  alle  Schwierigkeiten  berühren  zu  können, 
die  gerade  auf  dem  Boden  der  Psychologie  üppiger  wachsen,  als 
vielleicht  auf  irgend  einem  andern  Wissenschaftsgebiet. 


2.  Abschnitt. 
Das  Kategorialsystem  der  Psychologie. 

I.  Kapitel: 

Der  Gegenstand  der  Psychologie. 

Die  Qualitäts-  und  Quantitäts- Kategorien. 

§  5.  Werfen  wir  zunächst  einen  orientierenden  Blick  auf  die 
Einteilung  des  »Stoffes«  in  den  üblichen  Lehrbüchern  der  Psycho- 
logie, ohne  übrigens  zu  den  mannigfachen  Streitfragen  Stellung 
zu  nehmen,  die  schon  darin  zum  Ausdruck  kommen.  Da  handelt 
es  sich,  abgesehen  von  methodischen  Untersuchungen,  um  Emp- 
findungen, Wahrnehmungen,  Vorstellungen,   Affekte,  Willensvor- 


8  Der  Gegenstand  der  Psychologie. 

gänge,  Gedanken  —  kurz,  um  Erlebnisse.  Alle  psychischen 
Phänomene  werden  als  Erlebnisse,  als  Lebensvorgänge  aufgefaßt. 
Als  solche  aber,  wenn  sie  auch  offenbar  eigentümlicher  Art  sind, 
müssen  sie  unzweifelhaft  derjenigen  Wissenschaft  eingegliedert 
werden,  die  alle  Lebenserscheinungen  überhaupt  bearbeitet,  d.  h.  der 
allgemeinen  Biologie.  Und  damit  erhalten  wir  die  Grund- 
position, die  für  unsere  Auffassung  der  Psychologie  entscheidend 
ist.  Die  Biologie  im  üblichen  Sinne  wird  daher  in  den  folgen- 
den Ausführungen  als  ein  Teil  der  allgemeinen  Biologie  an- 
gesehen, welche  sich  von  ihr  eben  dadurch  unterscheidet,  daß 
sie  auch  die  Psychologie  in  sich  begreift.  In  eigenartiger  Weise 
wird  damit  die  Aristotelische  Anschauung  abgewandelt,  bei 
der  umgekehrt  alle  Leistungen  des  Organismus  als  psychische 
angesehen  wurden.  Die  Psychologie  war  für  Aristoteles  dem- 
nach mit  der  allgemeinen  Biologie  in  unserer  Ausdrucksweise 
identisch.  Für  uns  steht  also  die  Psychologie  zunächst  in 
engster  Verwandtschaft  mit  der  Zoologie  und  Botanik;  und 
wie  bei  diesen  je  nach  der  Art  der  Behandlung  der  Erschei- 
nungen zwischen  Morphologie  und  Physiologie,  so  wird  bei 
ihr  zwischen  beschreibender  und  erklärender  Psychologie  zu 
unterscheiden  sein. 

Was  aber  ist  nun  der  Gegenstand  der  Psychologie?  Es 
kann  sich  hier  nicht  darum  handeln,  die  große  Zahl  der  ver- 
schiedenen Antworten  auf  diese  Frage  kritisch  zu  beleuchten.  Ich 
werde  mich  darauf  beschränken,  meine  Auffassung  zu  entwickeln 
und  an  wenigen  Beispielen  zu  zeigen,  worin  andere  mir  fehl- 
zugehen scheinen.  Diesem  Zwecke  diene  ein  einfacher,  beliebig 
herausgegriffener  psychologischer  Versuch.  Ich  blicke  auf  ein 
rotes  Papierblatt  mittlerer  Größe,  indem  ich  einen  Punkt  der 
Fläche  fixiere.  Nun  drehe  ich  das  Auge  soweit,  daß  der  Fixa- 
tionspunkt  außerhalb  des  Blattes  rückt.  Dabei  bemerke  ich,  daß 
allmählich  die  Farbe  weniger  ausgeprägt  und  matter  wird.  Bei 
noch  weiterer  Drehung  verliert  das  Papier  seine  Farbigkeit  völlig, 
es  bleibt  nur  eine  gewisse  verwaschene  Helligkeit  übrig.  Was  ist 
der  Sinn  dieses  Versuches?  Wollte  ich  die  Farbe  des  Papiers 
objektiv  feststellen,  so  wäre  mein  Verfahren  ganz  unzweckmäßig; 
denn  nur  bei    scharfer  Fixation    habe    ich   die  deutlichste  Wahr- 


Die  Qualitäts-  und  Quantitäts-Kategorien.  Q 

nehmung.  Auch  die  würde  mir  aber  für  diesen  Zweck  nicht 
genügen;  es  wäre  erforderHch,  ein  Spektroskop  zu  Hilfe  zu 
nehmen,  um  die  Wellenlänge  der  reflektierten  Lichtstrahlen  zu 
messen  etc.  Darauf  also  kann  der  psychologische  Versuch  nicht 
tendieren.  Es  kam  offenbar  gar  nicht  auf  die  Bestimmung  der 
objektiven  Farbe  des  Papiers  an ;  es  war  auch  gleichgültig,  daß 
ich  gerade  ein  Papierblatt  nahm ;  die  Absicht  des  Versuches  ging 
ausschließlich  auf  meine  Wahrnehmung  der  Farbe  und  ihre 
Abhängigkeit  vom  peripheren  Sehen.  Sie  als  Äußerung  meines 
psychischen  Lebens,  als  Erlebnis,  war  Gegenstand  meiner  Unter- 
suchung, und  die  allseitige  objektive  Bestimmung  eben 
dieses  psychischen  Lebens,  dieser  Psyche  ist  Aufgabe 
der   Psychologie. 

Es  ist  hiernach  nicht  ganz  zutreffend,  wenn  Wundt  den 
Unterschied  gegenüber  den  anderen  Naturwissenschaften  so  faßt: 
Die  Naturwissenschaft  betrachtet  die  Objekte  der  Erfahrung  in 
ihrer  vom  Subjekt  unabhängig  gedachten  Beschaffenheit,  die 
Psychologie  in  ihren  Beziehungen  zum  Subjekt.  —  Der  Irrtum 
wird  sofort  deutlich,  wenn  man  an  die  Affekte  denkt.  Bei  diesen 
Objekten  der  Erfahrung  kann  ja  gar  nicht  die  Rede  davon  sein, 
daß  sie  als  vom  Subjekt  unabhängig  gedacht  werden;  der  Unter- 
schied liegt  bei  ihnen,  aber  auch  bei  allen  anderen  Objekten,  nicht 
in  der  Betrachtungsweise,  sondern  ausschließlich  im  Gegenstände 
selbst.  Gegenstand  der  Psychologie  ist  das  seelische  Leben,  das 
freilich  die  Beziehung  zu  den  Gegenständen  äußerer  Erfahrung 
nicht  entbehren  kann.  Der  Gegenstand  der  anderen  Naturwissen- 
schaften wird  dagegen  als  von  dem  Erlebtwerden  unabhängig 
gedacht. 

Ebenso  wird  man  die  Definition  Münsterbergs  nicht  an- 
erkennen können,  der  als  psychisch  dasjenige  bezeichnet,  »was 
nur  einem  Subjekt  erfahrbar  ist«,  während  physisch  dasjenige  sei, 
»was  mehreren  Subjekten  gemeinsam  erfahrbar  gedacht  werden 
kann«.  Wenn  das  Wort  »erfahrbar«  beide  Male  im  gleichen 
Sinne  wie  bei  dieser  Definition  des  »Psychischen«  gebraucht 
wird,  so  gibt  es  nichts,  was  mehreren  Subjekten  gemeinsam  er- 
fahrbar wäre.  Ein  Mineral  etwa  oder  ein  Baum  ist  dann  nämlich 
insofern  erfahrbar,  als  seine  Gestalt,  seine  Farbe,  seine  Größe  etc. 


1 0  Der  Gegenstand  der  Psychologie. 


wahrgenommen  werden.  Diese  Wahrnehmung  ist  dem  Individuum 
völlig  eigentümlich;  jede  Kontrolle  über  die  Gleichartigkeit  mit 
anderen  ist  grundsätzlich  ausgeschlossen,  weil  auch  von  den  Ver- 
gleichsobjekten wieder  dasselbe  gelten  müßte.  Beide  werden  viel- 
mehr nur  dadurch  Gegenstände  der  Mineralogie  bezw.  Botanik, 
daß  die  Geltung  gewisser  Gesetzmäßigkeiten  von  ihnen  ausgesagt 
wird,  die  nun  als  von  jeder  Wahrnehmung  unabhängig  gedacht 
werden.  Auf  der  anderen  Seite  sind  die  psychologischen  Gesetze, 
durch  welche  der  Gegenstand  der  Psychologie  fundiert  wird,  eben- 
falls als  unabhängig  vom  Individuum  anzunehmen.  Dieselben 
Wahrnehmungen,  die  nach  dem  eben  Gesagten  nur  einem  Einzigen 
erfahrbar  sind,  unterstehen  der  allgemeinen  Gesetzlichkeit  der 
Psychologie,  sofern  sie  Wahrnehmungen  sind,  und  sind  insofern 
mehreren  > erfahrbar«,  weil  ihre  Gesetze  von  jeder  individuellen 
Wahrnehmung  gelten.  Es  ist  also  ersichtlich,  daß  das  Wort 
»erfahrbar«  in  beiden  Fällen  in  verschiedenem  Sinne  gebraucht 
wird:  Im  ersten  bezieht  es  sich  auf  die  individuelle  Wahrnehmung, 
im  zweiten  auf  die  wissenschaftliche  Erkenntnis. 

Nach  dieser  vorläufigen  Orientierung  über  den  Gegenstand 
der  Psychologie  wenden  wir  uns  nun  zu  der  eigentlichen  Be- 
arbeitung unserer  Aufgabe,  die  darin  besteht,  das  Kategorial- 
system  der  Psychologie  in  seinen  großen  Umrissen  zu  ent- 
werfen. Das  aber  ist  Aufgabe  der  Logik,  die  den  Aufbau  des 
Wissenschaftssystems  zu  leisten  hat  und  bei  der  Erfüllung  dieser 
Aufgabe  sich  »zu  den  mannigfachen  Logiken  der  mannigfaltigen 
Einzel  Wissenschaften  spezialisiert«,  wie  Sternberg^  es  in  sprach- 
lich etwas  kühner  Form  ausdrückt.  So  gewiß  es  aber  nur  eine 
Vernunft  gibt,  so  gewiß  alle  Wissenschaften  ein  System  bilden,  so 
gewiß  stehen  auch  ihre  Kategorien  in  durchgängigem  systemati- 
schem Zusammenhange  miteinander.  Ist  die  Psychologie  ein  Teil 
der  allgemeinen  Biologie,  so  sind  deren  Kategorien  auch  ihre 
Grundbegriffe.  Aber  gerade  wegen  dieses  engen  systematischen 
Konnexes  wird  es  unvermeidlich  sein,  ständig  auf  Mathematik, 
Physik  und  Chemie  zurückzugreifen,  die  bei  aller  Selbständigkeit 
doch  die  unentbehrliche  Voraussetzung  für  Biologie  und  Psycho- 

'  K.  Sternberg,  Einführung  in  die  Philosophie  vom  Standpunkte  des 
Kritizismus,  S.  60. 


Zeit  und  Raum.  1 1 


logie  bilden,  obwohl  sich  erhebliche  Abwandlungen  ihrer  Kate- 
gorien im  Laufe  der  Untersuchungen  herausstellen  werden.  Da- 
durch mag  sich  die  Bezugnahme  auf  diese  Wissenschaften  recht- 
fertigen lassen,  wenn  sie  auch  manchmal  einer  Abschweifung  vom 
Thema  wegen  ihres  Umfanges  ähnlich  sehen  sollte.  Nur  im  Hin- 
blick auf  die  Entfaltung  der  Kategorien  im  Wissenschaftssystem 
erhält  auch  das  Kategorialsystem  der  Psychologie  seine  richtige 
Beleuchtung.  ' 

§  6.  Cohens  >Urteile  der  Denkgesetze<  sind  Voraussetzungen 
aller  Wissenschaft  überhaupt.  Ohne  die  qualitativen  Grund- 
begriffe der  Identität,  des  Widerspruches,  der  Kontinuität  ist  über- 
haupt kein  Urteil  möglich;  sie  geben  dem  Urteil  erst  die  Gewähr 
seiner  Geltung,  ja  die  Möglichkeit  seiner  logischen  Erzeugung. 
So  wäre  auch  für  die  Psychologie  nichts  Belangreiches  hinsicht- 
lich ihrer  zu  sagen,  hnmerhin  sei  schon  an  dieser  Stelle  auf  den 
charakteristischen  Begriff  des  Unbewußten  hingewiesen,  weil  er 
eine  interessante  Anwendung  des  > unendlichen  <  Urteils  darstellt. 
Er  wird  später  noch  näher  zu  untersuchen  sein. 

Ebenso  zweifellos  sind  die  Quantitäts- Kategorien  der  Ein- 
heit, Mehrheit  und  Allheit  konstitutiv  für  die  Psychologie.  Auch 
psychische  Erlebnisse  bedürfen  prinzipiell  mindestens  der  Zahl  zu 
ihrer  Bearbeitung.  Daraus  folgt,  daß  die  Zahl,  und  wenn  man 
für  sie  den  Reihenbegriff  als  grundlegend  ansieht,  dieser  für  die 
Psychologie  die  Bedeutung  einer  Kategorie  besitzt, 

IL  Kapitel: 

Zeit  und  Raum. 

§  7.  Die  ersten  Schwierigkeiten  tauchen  bei  der  Frage  nach 
der  Bedeutung  von  Raum  und  Zeit  für  die  Psychologie  auf.  Es 
bleibe  das  große  Problem  unerörtert,  ob  Kants  transzendentale 
Ästhetik  recht  behält,  die  beide  als  Formen  der  Anschauung  be- 
trachtet, oder  ob  die  imponierende  Konzeption  Cohens  Geltung 
hat,  die  sie  als  Denkgesetze  aus  den  Quantitätskategorien  herleitet. 
Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  ist  von  vornherein  zu  betonen, 
daß  es  sich  nicht  etwa  um  die  empirische  Raum-  oder  die  Zeit- 
anschauung bezw.  -Vorstellung  handelt.    Diese  beiden  sind  vielmehr 


12  Zeit  und  Raum. 


als  Anschauung  bezw.  Vorstellung  offenbar  Lebensvorgänge.  Alle 
Lebenserscheinungen  aber  und  damit  eben  auch  alle  psychischen 
Phänomene  sind  als  Vorgänge  nur  in  der  objektiven  Zeit  zu 
begreifen.  Sie  setzen  also  die  Zeit  in  kategorialem  Sinne  not- 
wendig voraus  und  sind  daher  nicht  selbst  Grundbegriffe.  Wohl 
aber  ist  der  objektive  Zeitbegriff  aus  dem  gleichen  Grunde 
apriorisch. 

Bezüglich  des  Raumes  ist  die  Entscheidung  weniger  ein- 
fach. Zunächst  gibt  es  zweifellos  psychische  Erscheinungen,  die 
keine  direkten  räumlichen  Beziehungen  aufweisen,  z.  B.  Affekte 
oder  etwa  eine  Geruchsvorstellung.  Wenn  sich  also  psychisches 
Leben  wissenschaftlich  erfassen  ließe,  das  sich  ausschließlich  aus 
solchen  Vorgängen  aufbaute,  wäre  anscheinend  der  Raumbegriff 
nicht  konstitutiv  für  die  Psychologie.  Man  könnte  noch  weiter 
gehen  und  auch  diejenigen  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen 
in  diesen  Bereich  einbeziehen,  die  scheinbar  in  engster  Verknüpfung 
mit  dem  Räume  stehen,  wie  die  Gesichts-  und  Tastwahrnehmungen 
und  -Vorstellungen.  Sofern  es  sich  eben  um  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen  handelt,  sind  sie  nicht  selbst  räumlicher  Art. 
Es  ist  offenbar  etwas  anderes,  räumliche  psychische  Phäno- 
mene zum  Gegenstand  der  Untersuchung  zu  machen,  etwas  an- 
deres, den  Raumbegriff  als  notwendige  Voraussetzung  der  Psycho- 
logie zu  fordern.  Das  Erlebnis  ist  nicht  räumlich,  die  Psyche 
nicht  durch  Koordinaten  bestimmbar.  Insofern  müßte  man  also 
Kant  zustimmen,  der  den  Raum  als  die  Form  aller  Erscheinungen , 
äußerer  Sinne,  d.  i.  die  subjektive  Bedingung  der  Sinnlichkeit, 
bezeichnet,  unter  der  allein  äußere  Erfahrung  möglich  ist,  im 
Gegensatz  zu  der  Zeit  als  Form  der  inneren  Anschauung.  Selbst- 
verständlich wäre  übrigens  auch  in  dieser  Betrachtung  der  trans- 
szendentale  Gesichtspunkt  streng  zu  wahren,  um  die  aus  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  zur  Genüge  bekannten  ontologistischen 
Grenzüberschreitungen  zu  vermeiden.  Es  hat  keinen  wissenschaft- 
lichen Sinn,  aus  der  Unräumlichkeit  der  psychischen  Erscheinungen 
positive  Bestimmungen  eines  metaphysisch  gefaßten  Seelenwesens 
abzuleiten. 

Aber  auch  diese  Position  ist  nicht  gegen  jeden  Angriff  ge- 
sichert.    Schon   bei  Kant  finden  sich  Hinweise  darauf,  daß  die 


^eit  und  Rautli.  13 


Zeit,  »eben  weil  sie  nichts  Beharrliches  enthalte,   auf  die  Raum- 
vorstellung zwingend  hingewiesen  sei,  um  selbst  überhaupt  vor- 
gestellt zu  werden«^.     Man   kann   dagegen  geltend  machen,  daß 
nach  Cohen  vielmehr,  der  Raumbegriff  logisch  die  Zeit  zur  Vor- 
aussetzung habe,    ebenso  wie  die  Kategorie  der  Allheit  die  der 
Mehrheit   voraussetzt,   und  daß  auch  bei  Kant  Belege  für  diese 
Anschauung  zu  finden  sind.     Aber  selbst,  wenn   man  an  dieser 
Schwierigkeit  vorbeigleitet,  wird  man  von  ganz  anderen  Gesichts- 
punkten aus   die  Frage  einer   nochmaligen   Prüfung   unterziehen 
müssen,    ob    die  Psychologie   des   Raumbegriffes   entraten   kann. 
Wenn   man   nämlich   den   Betrieb  der  Wissenschaft  selbst  heran- 
zieht, so  findet  man,  daß  sie  bei  aller  Erklärung  irgend  welcher 
Wahrnehmungen  notwendig  auf  die  Reize  reflektiert.     Auch  bei 
der  Geruchsvorstellung  bleibt  nichts  übrig,  als  auf  eine  frühere 
Geruchswahrnehmung  zurückzugehen,  die  wiederum  nur  Gegen- 
stand einer  Untersuchung  werden  kann,  wenn  sie  in  Beziehung 
zu  chemischen  Agentien  gebracht  wird.     Und  so   ist  jeder  Reiz 
als  Gegenstand  der  Außenwelt  physikalisch,  chemisch  oder  phy- 
siologisch definiert.    Damit  hat  die  Bestimmung  des  Reizes  aber 
den   Raumbegriff    zur  Voraussetzung.      Analoges    gilt    von  Vor- 
stellungen.    Auch  sie  können  für  die  Erklärung,  für  die  gene- 
tischen  Beziehungen    auf  den   Zusammenhang  mit  Reizen  nicht 
verzichten,    die  selbstverständlich  auch  als  innere  Reize,  ja  sogar 
als  psychische  Erscheinungen,  z.  B.  Vorstellungen,  in  letzter  Linie 
wiederum  auf  räumliche  Ursachen  zurückgeführt  werden  müssen. 
Natürlich  kann  eine  wissenschaftliche  Behandlung  auch  der  Raum- 
vorstellung nicht  ohne  Bezugnahme  auf  den  Begriff  des  »objektiven« 
Raumes,  so  wenig  wie  eine  solche  der  Zeitvorstellung  ohne  den 
Zeitbegriff    erfolgen.     Qeht  man  aber  auf  die  große  Klasse  der 
»psychischen  Funktionen«  über,  so  finden  wir  auch  bei  ihnen,  daß  sie 
ein  Material  der  Erscheinungswelt  letzten  Endes  voraussetzen.    Ver- 
gleichen, abstrahieren,  bemerken  usw.  erfolgt  immer  direkt  oder 
indirekt  an  »Erscheinungen«  im  Sinne  Stumpfs:  Auch  wenn  man 
diesem  Forscher  zugeben  wollte,  daß  Funktionen  ohne  Erscheinungen 
widerspruchslos  denkbar  sind,  so  sind  sie  doch  zweifelsohne  nicht 
wissenschaftlicher  Untersuchung  ohne  sie  fähig.     Und  so  werden 


P.  Natorp,  Allgemeine  Psychologie,  S.  149, 


14  t)ie  l^elationskategorietl. 


wir  denn  trotz  der  Tatsache,  daß  psychische  Erscheinungen  und 
Funktionen  nicht  selbst  räumHch  sind,  zu  der  Stellungnahme  ge- 
zwungen, daß  die  Psychologie  als  Wissenschaft  den  Raum- 
begriff nicht  entbehren  kann. 

§  8.  Schon  daraus,  daß  Erlebnisse  gezählt  werden  können, 
und  auf  die  objektive  Zeit  bezogen  sind,  geht  die  Anwendbarkeit 
der  Mathematik  auf  die  Psychologie  hervor.  Denn  alle  alge- 
braischen Operationen  sind  bereits  hierdurch  gerechtfertigt.  Ebenso 
folgt  daraus  sofort,  daß  auch  die  analytische  Geometrie  zur  Be- 
arbeitung psychologischer  Probleme  herangezogen  werden  kann. 
Nehmen  wir  als  Beispiel  die  Übung  und  Erlernung  irgend  einer 
Leistung,  etwa  des  Addierens  bei  Kindern.  Die  Zeit,  die  zur 
Lösung  gleichartiger  Aufgaben  benötigt  wird,  wird  mit  der 
Zahl  der  Wiederholungen  allmählich  abnehmen  und  kann  nun  in 
Abhängigkeit  von  ihr  durch  eine  mathematische  Funktion  aus- 
gedrückt, in  einer  Kurve  aufgetragen  werden.  Die  Ergebnisse 
einer  dahingehenden  Untersuchung  an  vielen  Individuen  können 
offenbar  auch  statistisch  verarbeitet  werden.  Ja  sogar  die  Geo- 
metrie ist  von  der  Psychologie  nicht  auszuschließen.  Es  ist  nicht 
sinnlos,  die  »scheinbare  Gestalt«  eines  räumlichen  Profils,  die 
sich  unter  ganz  bestimmten  psychologischen  Bedingungen  ergibt, 
zu  der  objektiven  räumlichen  Gestalt  in  Beziehung  zu  setzen. 
Eines  der  bekanntesten  Beispiele  hierfür  bildet  die  Untersuchung 
der  ^geometrisch-optischen  Täuschungen«,  bei  denen  nicht  nur 
die  Qualität,  sondern  auch  das  Ausmaß  der  Abweichung  für 
die  Psychologie  von  Interesse  ist. 

in.  Kapitel: 
Die  Relationskategorien. 

1.  Erhaltung  und  Abwandlung. 
§  9.  Insofern  die  psychischen  Phänomene  nicht  direkt  räum- 
lichen Charakter  haben,  tritt  an  dieser  Stelle  zum  ersten  Male 
eine  gewisse  Selbständigkeit  gegenüber  den  andern  Wissenschaften 
auf,  die  bei  den  andern  bisher  betrachteten  Grundbegriffen  nicht 
festzustellen  ist.  Eine  durchgreifende  Änderung  macht  sich  bei 
den  Kategorien  der  Relation  geltend,  denen  wir  uns  nun  zuwenden. 


t)ie  Relationskategorien.  1§ 

Wir  sahen  schon,  daß  die  Psychologie  es  mit  Erlebnissen,  mit 
Lebensvorgängen  zu  tun  hat,  Vorgänge  aber  setzen  den  Begriff  der 
Veränderung  voraus,  und  Veränderungen  können  begrifflich  nur 
an  etwas  relativ  Konstantem  erfolgen,  von  einem  Beharrlichen  ge- 
dacht werden,  ebenso  wie  Konstanz  nur  Sinn  hat  im  Hinblick  auf 
ein  Veränderliches.  Beide  Begriffe  sind  logisch  korrelativ.  Wir 
haben  also  zu  untersuchen,  wie  das  Moment  der  Beharrlichkeit, 
die  Kategorie  der  Substanz,  in  der  Psychologie  in  die  Erschei- 
nung tritt.  Was  bleibt  bei  allen  psychischen  Vorgängen  erhalten? 
Wahrnehmungen,  Vorstellungen,  Affekte  tauchen  auf,  verändern 
sich  und  verschwinden  unausgesetzt.  An  was  gehen  diese  Wand- 
lungen vor  sich?  Was  beharrt  relativ  zu  ihnen?  Die  Antwort 
lautet:  Das  Psychische  selbst,  die  Seele,  die  Psyche.  Erhalten 
bleibt  das  Moment,  daß  es  Veränderungen  meiner  Psyche,  meiner 
Seele  sind,  die  sich  in  ihnen  entwickelt,  deren  Leben  ebenso  in 
ihnen  besteht,  wie  das  Leben  der  Pflanze  in  ihren  organischen 
Veränderungen. 

Daß  sich  viele  Bedenken  gegen  diese  Auffassung  erheben, 
daran  kann  kein  Zweifel  bestehen.  Wenn  man  an  die  Ausprägung 
des  Substanzbegriffes  in  den  exakten  Wissenschaften  denkt,  so 
schreibt  man  ihm  das  Kennzeichen  strenger  quantitativer  Kon- 
stanz und  Unzerstörbarkeit  zu.  In  diesem  Sinne  spricht  die  Physik 
von  der  Erhaltung  der  Energie,  die  Chemie  von  der  des  Stoffes. 
Schon  die  Physiologie  aber  kennt  kein  solches  Gesetz.  Zwar 
stellt  auch  die  Pflanze  oder  die  Zelle  einen  Atomkomplex  mit  ganz 
bestimmtem  Energieinhalt  dar,  der  auch  bei  ihrer  Zerstörung,  etwa 
durch  Verbrennung,  erhalten  bleibt.  Aber  nach  der  Verbrennung 
ist  der  Rest  alles  andere,  nur  nicht  mehr  ein  Gegenständ  der 
Biologie.  »Befrage  den  Organismus  mit  physikalisch-chemischen 
Methoden,  und  er  wird  dir  nie  eine  andere  als  eine  physikalisch- 
chemische Antwort  geben,  also  nie  als  Organismus  antworten«^ 
Es  hat  also  bei' der  speziellen  Biologie  keinen  Sinn  mehr,  einen 
Substanzbegriff  wie  den  der  Energie  zugrunde  zu  legen.  Nur 
um  die  Erhaltung  bei  biologischen  Vorgängen  kann  es  sich 
handeln.  Und  hier  sehen  wir  schon  eine  recht  enge  Beziehung 
zur  Psychologie.     Denn   was  bleibt  bei   allen   biologischen  Vor- 

'  Croner,  Zweck  und  Gesetz  in  der  Biologie,  Tübingen  1913. 


16  Die  Reiationskategoriett. 


gangen  als  substantielles  Moment  bestehen?  Der  Botaniker  spricht 
davon,  daß  sich  die  Pflanze  aus  der  Zelle  entwickelt,  er  bezieht 
Wachstum,  Stoffwechsel,  Fortpflanzung,  Absterben  auf  die  Pflanze. 
Sie  ist  also  das  Beharrliche,  ihr  Organismus  das  Substantielle,  auf 
das  Gestalts-,  Gewichts-  und  sonstige  Veränderungen  bezogen 
werden.  Die  gleiche  Betrachtung  gilt  mutatis  mutandis  für  Tiere 
und  Menschen.  Der  lebende  Organismus  ist  der  gesuchte 
Substanzbegriff  der  Biologie.  Von  diesem  Standpunkte  aus  wird 
es  einleuchtender,  wenn  wir  den  psychischen  Organismus,  die 
Psyche  als  substantielles  Moment  der  Psyche  aufstellen.  Schon 
in  Piatons  Symposion  (26.  D.)  wird  diese  Erhaltung  des  Indi- 
viduums gegenüber  all  seinen  Wandlungen  betont:  »Denn  man 
sagt  ja  auch,  daß  jedes  einzelne  der  Lebewesen  lebe  und  dasselbe 
bleibe,  wie  einer  auch  von  Kindheit  an  derselbe  genannt  wird, 
bis  er  alt  geworden  ist,  und  wird  gleichwohl  immer  derselbe  ge- 
nannt, da  er  doch  niemals  dasselbe  in  sich  enthält,  sondern  immer 
neu  wird  und  das  andere  verliert,  an  Haaren  und  Fleisch,  Knochen 
und  Blut  und  am  gesamten  Körper,  und  das  nicht  nur  am  Leibe, 
sondern  auch  an  der  Seele:  die  Denkweise,  die  Sitten,  Meinungen, 
Begierden,  Lüste,  Schmerzen,  Ängste,  dies  alles  bleibt  in  keinem 
jemals  dasselbe,  sondern  das  eine  entsteht,  das  andere  verschwindet.« 
(Übersetzung  von  Kurt  Hildebrandt,  Verlag  Meiner,  1912.) 

§  10.  Und  doch  wird  der  Seelenbegriff  damit  noch  nicht 
gegen  jeden  Angriff  gesichert  sein.  Nach  der  ganzen  Richtung 
dieser  Untersuchungen  sollte  freilich  das  Mißverständnis  nicht  zu 
befürchten  sein,  daß  ontologistische  Tendenzen  bei  seiner  Auf- 
stellung mitgewirkt  haben.  Nicht  ein  Gespenst  gilt  es  zu  neuem 
Scheinleben  heraufzubeschwören,  nicht  einem  unsterblichen  un- 
körperlichen Wesen  wird  eine  eigentümliche  Existenz  zugesprochen. 
Es  handelt  sich  ausschließlich  um  die  logische  Kategorie,  die 
keinen  anderen  Wert  hat,  als  den,  daß  sie  »den  Grund  legt  zur 
Relationsbestimmung  auf  dem  Gebiet  des  Seelischen,  daß  allein 
mit  ihrer  Hilfe  der  Wechsel  der  Bewußtseinserscheinungen  als 
Veränderung  eines  und  desselben  Bewußtseins  verstanden  werden 
kann^<      Gerade  wegen  dieser  rein    logischen  Geltung  darf  der 

1  K.  Sternberg,  Einführung  in  die  Philosophie  vom  Standpunkt 
des  Kritizismus.    Leipzig  1919,  S.  141. 


Die  Relationskategorien.  17 

Seelenbegriff  nur  auf  den  Gegenstand  der  allgemeinen  Biologie 
angewendet  werden.  Wie  der  absterbende  Baum  in  dem  Augen- 
blick seines  Absterbens  dem  Wissenschaftsbereich  der  Botanik 
entrückt  wird  und  dem  der  Chemie  verfällt,  so  gelten  psycho- 
logische Gesetze  nur  vom  lebenden  Organismus.  Das  Fortleben 
nach  dem  Tode,  die  Allbeseelung  der  Materie  sind  Probleme 
der  ontologistischen  Metaphysik,  die  der  psychologischen  Forschung- 
grundsätzlich  transzendent  bleiben  müssen.  Höchstens  insofern 
könnte  der  Gedanke  der  Allbeseelung  einen  methodisch  be- 
rechtigten Kern  besitzen,  als  er  aus  der  Forderung  der  Geltung 
des  Kontinuitätsprinzips  hypothetisch  abgeleitet  wird. 

Gilt  es  so,  Mißverständnisse  über  die  Bedeutung  des  Seelen- 
begriffs abzuwehren,  so  wird  ihm  andererseits  von  der  sensua- 
listischen  Richtung  der  Philosophie  und  mit  ihr  von  vielen  Psycho- 
logen überhaupt  jede  Berechtigung  abgesprochen.  Es  handele 
sich  um  eine  ganz  willkürliche,  unzweckmäßige  Fiktion,  so  wird 
von  dieser  Seite  argumentiert;  das  Leben  der  Seele  bestehe  nur 
in  der  Summe  der  Vorgänge  des  Bewußtseins,  in  dem  »Bündel 
von  Vorstellungen«;  die  Psyche  sei  erlebnismäßig  in  keiner  Weise 
festzustellen.  Was  den  ersten  dieser  beiden  Gedanken  betrifft,  so 
stellt  er  eine  unrichtige  Deutung  des  Vorganges  der  Forschung 
dar.  Alle  einzelnen  Bewußtseinserscheinungen  werden  doch  auch 
von  den  betreffenden  Forschern,  selbst  bei  dem  pathologischen 
Phänomen  der  »Spaltung  des  Bewußtseins«,  als  die  eines 
bestimmten  Organismus  gedacht;  sie  werden  als  seine  Lebens- 
äußerungen verstanden  und  also  auf  seine  Seek  als  gemeinsame, 
relativ  beharrliche  Einheit  bezogen,  die  damit  eben  als  die  sub- 
stantielle Voraussetzung  angesetzt  wird.  Gerade  als  logische  Vor- 
aussetzung aber  der  Psychologie  ist  die  Psyche  ganz  selbstverständlich 
nicht  erlebbar,  nicht  selbst  Erlebnis.  Die  Richtigkeit  des  zweiten 
Gedankens  ist  also  zuzugeben.  Sie  hat  aber  nicht  die  voraus- 
gesetzten Folgen.  Hierin  wird  man  Natorp^  zustimmen,  wenn 
er  sagt:  »Man  sucht  als  Faktum  in  der  Erscheinung,  was  als 
Grund  alles  Faktums  und  alles  Erscheinens  selbst  nicht  Faktum, 
nicht  Erscheinune;  sein  kann.« 


1  Natorp,  a.a.O.,  S.  36. 
Blumenfeld,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie. 


18  Die  ßelationskategorjen. 


§11.  Wie  der  Substanzbegriff,  so  tritt  auch  der  korrelative 
Begriff  der  Veränderung  in  der  speziellen  Biologie  in  beson- 
derer Ausprägung  auf.  Nicht  die  physikalische  Veränderung  ist 
es,  auf  die  es  in  der  Biologie  ankommt.  Die  Bewegungen  sind 
nicht  mehr  allein  nach  Gesetzen  der  Mechanik  zu  verstehen. 
Dem  Botaniker  würde  es  nicht  genügen,  das  Wachstum  der  Pflanzen 
mathematisch  nach  Art  der  Wurfbewegung  zu  formulieren.  Die 
Erscheinungen  des  Stoffwechsels  sind  nicht  ausreichend  als  che- 
mische Reaktionen  darzustellen.  Auch  der  Begriff  der  Verwand- 
lung, wie  ihn  die  Physik  für  die  Energieumsetzung  geschaffen 
hat,  entspricht  nicht  der  Ausprägung,  die  dem  Begriff  der  Ver- 
änderung in  der  speziellen  Biologie  zukommt.  Selbst  da,  wo 
das  gleiche  Wort  gebraucht  wird,  wie  bei  der  Metamorphose 
der  Raupe  in  Puppe  und  Schmetterling,  besteht  nur  äußerlich 
eine  Ähnlichkeit.  So  unentbehrlich  im  Einzelfall  eine  energetische 
Betrachtung  auch  für  die  Physiologie  ist,  das  entscheidende  phy- 
siologische Moment  muß  jeder  ausschließlich  energetischen 
Betrachtung  zwischen  den  Fingern  entgleiten.  Es  liegt  bei  den 
biologischen  Veränderungen  eine  Art  innerer  Bewegung  vor,  eine 
qualitative  Abwandlung,  für  die  m.  W.  ein  besonderer  Name  nicht 
existiert.  Denn  der  Begriff  der  Entwicklung,  der  noch  am  be- 
zeichnendsten erscheint,  umfaßt  i.a.  nicht  die  rückläufigen  Bewegun- 
gen, die  beim  Absterben  der  Organismen  auftreten.  Auch  wäre  er 
nicht  ohne  Zwang  auf  die  normalen  Assimilations-  und  Dissimi- 
lationsvorgänge, auf  Atmung  etc.  anwendbar.  Die  Aristotelische 
»Entelechie*  aber  empfiehlt  sich  nicht  wegen  der  metaphysischen 
Verbindungen,  die  sie  schlägt.  Ich  werde,  um  das  innere  Ge- 
staltungsprinzip zum  Ausdruck  zu  bringen,'  und  den  Unterschied 
gegenüber  der  Kategorie  der  Physik  hervorzuheben,  einen  be- 
sonderen Terminus  »Formung«  für  diesen  Grundbegriff  ein- 
führen. Er  soll  dann  auch  die  psychischen  Veränderungen  in 
sich  begreifen,  und -zwar  sowohl  die  Schwankungen  innerhalb 
eines  einzelnen  Erlebniskomplexes  (Aufmerksamkeitsfluktuationen, 
Auftauchen  und  Verschwinden  von  Vorstellungen),  wie  die  Ent- 
wicklung von  psychischen  Funktionen  im  Laufe  des  individuellen 
Lebens.  Daß  wir  es  bei  der  Formung  mit  einer  Kategorie  zu 
tun  haben,  bedarf  keines  ausführlichen  Beweises;  die  Korrelation 
zum  Substanzbegriff  verbürgt  ihr  diesen  Charakter. 


Die  Relationskategörieii.  19 

§  12.  Es  sei  an  dieser  Stelle  zur  größeren  Klärung  der 
logischen  Beziehungen  gestattet,  auf  die  interessante  Abwandlung 
hinzuweisen,  welche  die  Begriffe  der  Substanz  und  der  Ver- 
änderung innerhalb  der  verschiedenen  Naturwissenschaften  er- 
fahren. So  hoffe  ich  gleichzeitig  zu  rechtfertigen,  daß  ich  für 
die  biologische  Kategorie  der  Veränderung  eine  besondere  Be- 
zeichnung vorschlage.  Auch  mag  vielleicht  dadurch  ein  neues  Licht 
auf  den  eigenartigen  Heg  eischen  Ausdruck  der  »Bewegung  der 
Begriffe«  fallen,  wenn  man  ihn  in  rein  logischer  Bedeutung 
faßt.  Daß  Hegel  selbst  eine  ähnliche  Ausdeutung  irgendwie  im 
Sinne  gehabt  habe,  soll  selbstverständlich  nicht  behauptet  werden. 

In  seiner  allgemeinsten  logischen  Form  wird  man  den 
Substanzbegriff  aufzufassen  haben  als  das  sich  erhaltende  Bezugs- 
prinzip, auf  das  alle  Abwandlungen  sich  beziehen.  So  erhält 
sich  im  Urteil  der  Begriff,  im  Schluß  das  Urteil.  In  Korrelation 
aber  zu  dieser  Erhaltung  hätte  man,  der  Veränderung  entsprechend, 
die  logische  Operation  überhaupt  anzusetzen. 

In  der  Mathematik  wird  der  Sinn  der  Fragestellung  am 
leichtesten  klar,  wenn  man  von  der  Funktion  als  dem  spezifisch- 
mathematischen Gegenstand  ausgeht.  Alle  Funktionen  stellen  sich 
als  Gleichungen  dar;  bei  beliebiger  Variation  der  Werte  der 
Variablen  bleibt  die  Form  der  Gleichung  erhalten.  Wir  werden 
daher  in  der  Gleichheit  das  substantielle  Moment,  in  der  Va- 
riation aber  ihr  Korrelat  zu  sehen  haben.  Es  ist  also  die  Quan- 
tität selbst,  die  sich  erhält,  sofern  die  mathematische  Gleichheit 
rein  quantitativ  verstanden  werden  muß.  Auch  auf  die  korrelativen 
Begriffe  der  Konstanten  und  Variablen  darf  man  in  diesem  Zu- 
sammenhange hinweisen.  Es  gilt  nicht  nur  von  der  Geometrie, 
wenn  Cassirer^  sagt:  »Die  unveränderlichen  geometrischen  Eigen- 
schaften sind  dies  nicht  an  und  für  sich,  sondern  immer  nur  mit 
Bezug  auf  einen  Inbegriff  möglicher  Transformationen,  den  wir 
implizit  voraussetzen.  Konstanz  und  Veränderlichkeit  erscheinen 
•<  daher  hier  als  durchaus  korrelative  Momente;  nur  durch  und  mit- 
einander sind  beide  definierbar.« 

Der  bekannteste  Substanzbegriff  der  exakten  Naturwissen- 


1  E.  Cassirer,  Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff,  Berlin.    S.  119. 

2* 


20  Die  Relationskategorien. 

Schäften  ist  die  Energie,  der  ihr  entsprechende  Begriff  die  Ver- 
wandlung. Daß  gerade  die  Energie,  d.  h.  ein  ganz  bestimmter 
physikahscher  Begriff,  diese  Konstanz  zeigt,  ist  dabei  logisch 
offenbar  unerhebhch.  Und  die  Plancksche  Quantentheorie  läßt 
in  der  Tat  schon  mit  der  Möglichkeit  einer  gewissen  Ein- 
schränkung der  Geltung  des  Energiegesetzes  rechnen.  Damit 
wäre  aber  die  Frage  nach  »den  unveränderlichen  Bausteinen,  aus 
denen  das  physikalische  Weltgebäude  zusammengefügt  ist«,  nur 
weiter  zurückgeschoben.  Planck  selbst  sieht  sie  in  den  »so- 
genannten universellen  Konstanten«,  zu  denen  er  vor  allem  die 
Lichtgeschwindigkeit  im  Vakuum  rechnet.  Wesentlich  ist  also  nur 
der  Begriff  der  auf  quantitative  Konstanten  reduzierten  Elemente, 
an  denen  die  physikalischen  oder  chemischen  Veränderungen  vor 
sich  gehen.  Diese  Begriffe  aber  stehen  insofern  mit  dem  Zeit- 
begriff in  Verbindung,  als  das  Energiequantum  bezw.  die  auf  die 
Konstanten  reduzierten  Elemente  als  unabhängig  von  jeder  Zeit 
und  Art  der  Veränderung,  als  beharrlich  gedacht  werden,  während 
die  Veränderungen  eben  in  der  Zeit  erfolgen,  indem  »je  ein  Punkt 
des  Raumes  zu  einer  Zeit  zugeordnet^«  wird.  Auf  den  chemischen 
Begriff  des  Elements  und  seine  Modifikation  durch  die  Ruther- 
fordsche  Theorie  ebenso  wie  auf  den  des  Elementarquantums 
in  der  Physik  und  physikalischen  Chemie  brauche  ich  nur  an- 
deutend hinzuweisen. 

Von  dem  Organismus  und  den  Formungsprozessen 
ist  der  Zeitbegriff  in  keiner  Weise  auszuschließen,  und  genau  das 
Gleiche  gilt  offenbar  auch  von  der  Psyche.  Sie  sind  in  der  Zeit 
und  an  sie  gebunden.  Aber  es  ist  wohl  zu  beachten,  daß  der  Orga- 
nismus nur  eben  deswegen  das  substantielle  Moment  darstellt, 
•weil  er  im  Hinblick  auf  die  Formungsprozesse  beharrt.  Daß 
die  Organismen  selbst  zeitbedingt  sind,  d.  h.  eine  bestimmte 
Lebensdauer  haben,  ist  eine  lediglich  empirische  Tatsache,  die 
in  logischem  Betracht  gleichgültig  bleibt.  Wesentlich  ist  dagegen, 
daß  sich  von  einer  irgendwie  gearteten  quantitativen  Konstanz 
von  Elementen  in  mathematischer  Formulierung  bei  biologischer 


1  P.  Natorp,  Die  logischen  Grundlagen  der  exakten  Wissenschaften, 
Leipzig,  1910.     S.  368. 


p 


Die  Relationskategorien,  21 


Betrachtungsweise  nicht  mehr  sprechen  läßt.  Immerhin  ist  die 
vom  Substanzgedanken  ausgehende  Tendenz  auf  etwas  schlecht- 
hin Unzerstörbares  auch  in  der  Biologie  deutlich  erkennbar;  die 
so  zäh  verteidigte  Behauptung  der  Unveränderlichkeit  der  Arten 
zeugt  davon.  Auch  in  der  modernen,  auf  den  Mendel  sehen 
Gesetzen  ruhenden  Vererbungstheorie  scheint  sich  ein  Prinzip  von 
der  Erhaltung  der  ^ Anlagen <  durchzusetzen,  derart,  daß  alle 
Dispositionen,  die  in  einem  Individuum  manifest  werden  oder  latent 
bleiben,^  in  irgend  einem  Vorfahr  - —  nur  in  anderer  Kom.bination  — 
nachweisbar  sind.  Vielleicht  kann  der  Gedanke  der  Erhaltung 
unabhängig  von  der  Zeit  in  aller  Strenge  auf  einen  Begriff  in 
der  Tat  angewendet  werden,  nämlich  auf  den  des  Lebens  selbst 
als  logische  Voraussetzung  der  allgemeinen  Biologie. 

Wenn  man  von  hier  aus  rückwärts  blickend  die  »Bewegung 
der  Begriffe«  kategorial  betrachtet,  —  eine  Betrachtung,  die  selbst 
offenbar  der  Logik  angehört  — ,  so  sieht  man,  daß  sich  in  stetiger 
Determinierung  in  ihr  selbst  die  beiden  Kategorien  der  Erhaltung 
und  Abwandlung  durchsetzen,  die  damit  als  Kategorien  der 
Wissenschaftstheorie  angesprochen  werden  dürfen.  Es  wird 
sich  zeigen,  daß  entsprechende  Gedankengänge  auch  bei  den 
übrigen  Relationsbegriffen  fruchtbar  werden.  So  ergibt  sich  aus 
dieser  systematischen  Verankerung  ein  neues  starkes  Motiv  für  die 
Stellung,  die  wir  der  Psychologie  zuweisen  zu  müssen  glauben^. 

2.  Verkettung  und  Gesetz. 

§  1 3.  Der  Substanzbegriff  ist  zwar  selbst  keine  Relation,  aber  die 
Grundlage  von  Relationen-.  Auch  die  Veränderung  ist  noch  keine 
Bestimmung.  Es  wird  sich  daher  darum  handeln,  die  Formungs- 
vorgänge miteinander  fest  zu  verknüpfen,   sie   in    einen  gesetz- 


1  Es  könnte  die  Frage  nach  dem  Prinzip  aufgeworfen  werden,  das 
für  die  Determination  der  Kategorien  in  den  verschiedenen  Wissenschaften 
maßgebend  ist.  Gewisse  Fingerzeige  sind  in  den  vorhergehenden  und 
nachfolgenden  Erörterungen  zu  finden.  Es  darf  auch  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  diese  Determination  durchaus  qualitativer,  nicht  quantitativer 
Natur  ist.  Immerhin  bin  ich  in  dieser  Frage,  die  mich  selbst  lebhaft 
beschäftigt,  bisher  zu  keinem  abschließenden  Urteil  gelangt. 

2  Cohen,  Logik  der  reinen  Erkenntnis.    2.  A.     1914.    S.  240. 


22        ,  Die  Relationskategorien. 


mäßigen,  notwendigen  Zusammenhang  zu  bringen  und  so  zu 
ordnen,  daß  jedem  Glied  der  Veränderungsreihe  ein  bestimmter, 
ihm  eigentümHcher  Stellenwert  erteilt  wird.  Es  läßt  sich  nach 
dem  oben  Gesagten  erwarten,  daß  die  in  Betracht  kommende 
Kategorie  ebenfalls  eine  fortschreitende  Determinierung  im  System 
der  Wissenschaften  zeigen  wird.  Alle  Abwandlungen  gehen  an 
dem  Beharrlichen,  sich  Erhaltenden  vor  sich;  wenn  die  Kategorien 
der  Abwandlung  und  Erhaltung  nun  in  jeder  Wissenschaft  ver- 
schiedene Ausprägung  haben,  so  muß  in  ihnen  auch  die  Ver- 
knüpfung der  Veränderungen  etc.  eine  spezifische  Gestalt  annehmen. 
Die  Kategorie,  die  diesen  geordneten  Zusammenhang  in  allgemeinster 
Form  zum  Ausdruck  bringt,  wollen  wir  mit  dem  Namen  »Ver- 
kettung« bezeichnend  Sie  kommt  in  der  Logik  als  Prinzip  des 
Grundes,  der  Grundlegung  zur  Erscheinung,  nach  dem  die 
logischen  Operationen  miteinander  verkettet  sind.  So  beansprucht 
das  Urteil  Geltung,  insofern  es  durch  Begründung  gesichert  ist. 
Und  im  Urteil  findet  der  Begründungszusammenhang  seinen  logisch- 
wissenschaftlichen Ausdruck.  Das  Schema  lautet:  Wenn  A,  so  B. 
Es  ist  also  das  hypothetische  Urteil,  das  diesen  Verkettungs- 
gedanken ausspricht. 

In  der  Mathematik  nimmt  das  hypothetische  Urteil  die 
Form  der  Gleichung  an.  In  der  Gleichung  werden  (mindestens) 
zwei  Veränderliche  y  und  x  verknüpft  und  erhalten  so  eine  be- 
stimmte Zuordnung.  Dadurch  wird  y  zu  einer  »Funktion«  von 
X,  d.  h.  es  wird  eine  Abhängigkeit  statuiert  derart,  daß  jeder  Ver- 
änderung von  X  eine  ganz  bestimmte  von  y  entspricht.  Eine  der 
Variablen  wird  als  die  unabhängige,  die  andere  als  abhängige 
gedacht.  Welche  der  beiden  diese  Rolle  spielt,  ist  logisch  gleich- 
gültig; aber  in  jeder  mathematischen  Ausdeutung  wird  immer 
eine  solche  der  Richtung  nach  bestimmte  Zuordnung  zugrunde 
gelegt,  auch  wenn  bei  impliziten  Funktionen  die  Form  der  Glei- 
chung darüber  nichts  aussagt.    In  diesem  Sinne  sehen  wir  in  der 


1  Der  Terminus  »Verkettung«  erscheint  mir  glücklicher  als  der  ge- 
bräuchlichere der  »Verknüpfung«,  1.  weil  er  weniger  abgenutzt  ist,  2,  weil 
in  ihm  die  »lineare«  Struktur  der  Abhängigkeit,  auf  die  es  hier  gegenüber 
der  auch  im  Systemverbande  vorliegenden  Verknüpfung  ankommt,  und 
die  Festigkeit  der  Verbindung  gleichzeitig  prägnanteren  Ausdruck  gewinnt. 


Die  Relationskategorien.  23 

Funktionalität«  die  Verkettungskategorie  der  Mathematik.  Auch 
bei  Funktionen  mit  n  Variablen  ist  die  Form  des  Urteils,  die  für 
diese  Kategorie  entscheidend  ist,  immer  folgende:  Wenn  x,  z,  u, 
V,  w  diese  bestimmten  Werte  durchlaufen,  durchläuft  y  jene.  Die 
besondere  Art  der  Zuordnung  im  einzelnen  Falle  ist  dabei  un- 
erheblich: Sie  umfaßt  >  jede  mögliche  Form  gesetzlicher  Abhängig- 
keit von  Größen  überhaupt.  Der  Zahlbegriff  erfüllt  und  durch- 
dringt sich  mit  dem  Funktionsbegriff« ^.  In  der  Beziehung  auf 
Größen  liegt  also  auch  hier  das  Neue,  das  bei  der  Kategorie 
der  Funktionalität  unterscheidend  gegenüber  dem  Grundbegriff 
der  Logik  hinzutritt  und  die  Determination  bedingt.  Dagegen 
kann  es  fraglich  erscheinen,  ob  die  Richtung  des  Fortschritts  von 
Belang  ist.  Freilich  wird  jedem  Elemente  >  kraft  der  Differential- 
gleichung eine  bestimmte  Richtung  des  Fortschritts  zugeordnet^«. 
Diese  Richtung,  die  durch  den  Differentialquotienten  bestimmt 
wird,  ist  für  den  Fortgang  mit  wachsenden  und  abnehmenden 
Variablen  die  gleiche.  Das  Motiv  aber,  das  für  die  Kategorie 
der  Funktionalität  entscheidend  ist,  ist  gerade  in  der  Einseitigkeit, 
in  ihrem  »linearen«  Charakter  zu  erblicken. 

Wie  die  zeitlose  Erzeugung  der  mathematischen  Kurve  zu 
dem  zeitbedingten  Durchlaufen  einer  Bahn,  zur  räumzeitlichen 
Veränderung  wird,  die  einem  physikalischen  Körper  zugesprochen 
wird,  so  geht  der  Begriff  der  Funktionalität  in  den  exakten  Natur- 
wissenschaften in  den  der  Kausalität,  der  der  Gleichung  in 
den  des  Naturgesetzes  über.  Die  Form  der  Gleichung  wird 
charakteristischerweise  beibehalten ;  eben  durch  diese  mathematische 
Formulierung  erhält  das  Gesetz  seine  Reinheit,  wie  ja  auch  der 
Gleichung  die  ihrige  von  der  Logik  (dem  Urteil)  gewährleistet 
wird.  Es  liegt  bereits  darin,  daß  die  Kausalgesetzlichkeit  in 
Gleichungen  ausdrückbar  ist,  ausgesprochen,  was  nach  Cassirer" 
den  Kern  des  Kausalgesetzes  ausmacht,  daß  nämlich,  wenn  die 
Ursachen  sich  voneinander  bloß  hinsichtlich  des  absoluten 
Raumes  und  der  absoluten  Zeit  unterscheiden,  dasselbe  für  die 
Wirkungen  gilt.  Denn  die  absolute  Zeit  und  der  absolute  Raum 
gehen  in  die  Gleichungen  überhaupt  nicht  ein.    Das  Gesetz  gilt 

1  E.  Cassirer,  Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff.  S.  96,  ^  Derselbe 
a.  a.  O.,  S.  97.    3  Derselbe  a,  a.  O.,  S,  330, 


I 


24  Die  Relationskategorien. 

zu  jeder  Zeit  und  an  jeder  Stelle  des  Raumes.  Darin  weist  also 
die  Kausalität  nicht  über  den  Rahmen  der  Funktionalität  hinaus. 
Das  geschieht  erst  durch  die  Bedeutung  der  Gleichung  für  den 
Naturvorgang  als  Vorgang.  So  ist  zwar  der  Formel  des  Gay 
Lussacschen  Gesetzes  p.  v  =  R.  T  die  Art  des  Ablaufes  der 
Veränderungen  nicht  anzusehen.  Aber  bei  jeder  physikalischen 
Interpretation  tritt  dieser  Charakter  des  Prozesses  sofort  hervor. 
Wir  wählen  eine  beliebige  Formulierung:  »Wenn  bei  konstantem 
Volumen  eines  abgeschlossenen  Gasquantums  sich  die  absolute 
Temperatur  ändert,  so  ändert  sich  der  Druck  in  gleichem  Sinn 
und  Verhältnis«.  In  diesem  Falle  wird  also  die  Temperatur- 
änderung als  das  primäre  Moment,  als  die  Ursache,  die  Druck- 
änderung als  die  Wirkung  angesehen.  Es  besagt  nichts  gegen 
den  zeitlichen  Charakter  des  Vorganges,  daß  er  reversibel  ist,  d.  h. 
daß  auch  durch  Druckänderung  eine  Temperaturänderung  möglich 
ist.  Trotz  der  gleichen  mathematischen  Formulierung  ist  dann 
der  physikalische  Vorgang  ein  völlig  anderer.  Das  Kausalprinzip 
in  dem  hier  verstandenen  Sinne  besagt  also:  Jedes  Geschehen 
ist  durch  zeitlich  vorangehende  äquivalente  Verände- 
rungen notwendig  bedingt.  In  der  Festlegung  der  Richtung 
des  Geschehens  als  eines  notwendigen  zeitlichen  liegt  das  neue 
Recht  für  die  Kategorie  der  physikalischen  Kausalität,  die  durch 
die  Konstanz  der  Energie  in  quantitativer  Beziehung  eine  bereits 
beim  Substanzbegriff  erwähnte  Auszeichnung  erfährt. 

Den  Übergang  zur  speziellen  Biologie  bildet  der  Begriff  der 
»Auslösung«  von  Mechanismen.  Auch  an  die  katalytischen 
Erscheinungen  in  der  Chemie  darf  man  in  diesem  Zusammen- 
hange erinnern.  In  der  Biologie  bleibt  die  allgemeine  Form  der 
notwendigen  Verknüpfung  erhalten,  auch  die  zeitliche  Bedingtheit 
wird  übernommen,  aber  die  quantitative  Konstanz  tritt  zurück. 
Nehmen  wir  als  Beispiel  irgend  eine  Reflexbewegung,  so  ist  die 
Art  und  Abstufung  des  Reizes  in  weiten  Grenzen  variabel,  ohne 
daß  sich  die  Reaktion  zu  ändern  braucht.  Bleibt  die  Energie 
des  Reizes  unterhalb  einer  bestimmten  Grenze,  so  tritt  überhaupt 
keine  biologische  Reaktion  ein.  Auch  von  einer  Umkehrbarkeit 
der  Prozesse  ist  im  allgemeinen  keine  Rede.  Selbstverständlich 
soll  damit  nicht  behauptet  werden,  daß  die  Geltung  des  Energie- 


Die  Relationskategorien.  25 

gesetzes  durchbrochen  wäre;  im  Gegenteil,  es  müßte  bei  jeder 
dahingehenden  Untersuchung  geradezu  vorausgesetzt  werden. 
Aber  wiederum  wäre  eben  diese  Untersuchung  nicht  mehr  eine 
spezifisch  biologische,  Physik  und  Chemie  sind  zwar  notwendige 
Voraussetzung  der  speziellen  Biologie,  reichen  aber  zur  Bearbei- 
tung ihrer  Probleme  nicht  hin^.  Damit  stimmt  denn  auch  die 
Terminologie  überein,  die  von  Reiz  und  Reaktion  statt  von 
Ursache  und  Wirkung  spricht.  Es  bleibt  von  der  kausalen  Ver- 
knüpfung nur  noch  die  Notwendigkeit  der  Beziehung  und  ihres 
zeitlichen  Ablaufes  erhalten.  Zur  Bezeichnung  dieser  Ausprägung 
der  Verkettungskategorie  empfiehlt  sich  der  Begriff  der  >  I  rr  i  tati  o  n  < . 
Ihr  Gesetz  würde  lauten:  »Alle  Formungsprozesse  werden 
durch  Reize  hervorgerufen«.  Unnötig  zu  bemerken,  daß 
die  Reize  auch  in  Lebensvorgängen  des  Organismus  selbst  be- 
stehen, also  innerer  Natur  sein  können.  Damit  untersteht  diesem 
Gesetz  jede  physiologische  Lebensäußerung  überhaupt.  Die  Tat- 
sache, daß  im  Bereich  der  Biologie  gerade  die  quantitative 
Äquivalenz  aufhört,  eine  entscheidende  Rolle  zu  spielen,  macht 
sich  äußerlich  dadurch  bemerkbar,  daß  die  biologischen  Gesetze 
im  allgemeinen  einer  mathematischen  Formulierung  nicht  fähig* 
sind. 

In  der  Psychologie  wird  die  Irritationskategorie  beibehalten. 
Dabei  ist  jedoch  zu  beachten,  daß  in  ihr  entweder  Reiz  oder 
Reaktion  oder  beide  psychischer  Natur  sein  müssen.  Im  ersten 
Falle  haben  wir  es  vorwiegend  mit  motorischen  Vorgängen 
oder  Willenshandlungen,  im  zweiten  mit  Empfindungen  und 
Wahrnehmungen,  im  letzten  mit  Vorstellungen  und  ihren  Ver- 
bindungen, Gedanken  und  Gefühlen  zu  tun.  Ein  Zusammen- 
wirken verschiedener  Reize,  teils  äußerer,  teils  innerer,  physiolo- 
gischer und  psychischer  soll  durch  diese  bewußt  simplifizierende 
Darstellung  keinesfalls  ausgeschlossen  werden.  Dem  eigenartigen 
Wissenschaftsobjekt  entsprechend  sind  hier  die  quantitativen  Be- 
ziehungen noch  unwesentlicher  geworden.  Im  extremen  Falle, 
wo  Reiz  und  Reaktion  psychisch  sind,  ist  jede  streng  quantitative 
Verknüpfung  sogar  grundsätzlich  unmöglich.    Trotzdem  wird  aber 


1  Sternberg,  a.  a.  O.,  S.  214. 


26  Die  Relationskategorien. 


in  allen  Fällen  ein  irgendwie  geartetes  Abhängigkeitsverhältnis  als 
notwendig  vorausgesetzt,  indem  die  psychische  Verhaltungs- 
weise als  Faktor  in  die  Reihe  der  Bedingungen  aufgenommen 
wird.  So  wird  z.  B.  eine  Anzahl  von  psychischen  Phänomenen 
als  von  der  Art  der  Aufmerksamkeitsverteilung  abhängig  gedacht. 

Bezüglich  der  sogenannten  »Gestaltsqualitäten«  könnte  man 
vielleicht  einen  Augenblick  zu  Zweifeln  neigen.  Werden  diese  doch 
vielfach  (Stumpf,  Gelb)  als  Relationserlebnisse  aufgefaßt.  Rela- 
tionen sind  Beziehungen  zwischen  Reizinhalten  oder  Reizen,  aber 
nicht  selbst  Reize.  So  ist  ein  Tonintervall  die  Beziehung  zwischen 
zwei  Tönen.  Aber  in  Wahrheit  wird  dadurch  die  logische  Position 
nicht  berührt.  Auch  die  Relation  zwischen  den  'Tönen  hat  die 
Töne,  d.  h.  letzten  Endes  die  Reize  zur  Voraussetzung,  und  so  ist 
der  psychische  Formungsprozess  auch  in  diesem  Falle  —  nur  auf 
etwas  längerem  Wege  —  durch   Reize  bedingt. 

Bühl  er  ^  hat  ganz  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  es  falsch 
sei  zu  behaupten,  »wenn  zwei  Reize  auf  ein  Sinnesorgan  wirken, 
dann  könne  nicht  anderes  bewußt  werden,  als  zwei  Empfindungen 
(und  zwar  jene  zwei,  die  auch  durch  die  isolierten  Reize  hervor- 
gerufen werden)  und  eine  Anzahl  Relationen  zwischen  ihnen  <. 
Das  Sehen  der  Bewegungen  und  der  sinnliche  Tiefeneindruck 
beweisen  das  Gegenteil.  Die  Annahme,  zu  der  Bühl  er  geführt 
wird,  um  diese  Erscheinungen  zu  erklären,  daß  nämlich  »sich  an 
die  physiologischen  Prozesse,  mit  denen  unsere  Empfindungen 
verknüpft  sind,  eine  Reihe  anderer  Vorgänge  anschließen,  die  die 
Grundlage  der  Gestaltungsprozesse  bilden«-,  besagt  doch  wohl, 
daß  außer  den  physiologischen  noch  psychologische  Momente  in 
das  Bedingungssystem  eingehen.  Wir  haben  dann  den  Fall,  der 
bereits  erwähnt  wurde,  daß  die  Reize  selbst  mindestens  zum  Teil 
psychischer  Natur  sind. 

Ein  besonderer  Name  für  die  Irritationskategorie  in  der 
Psychologie  existiert  nicht.  Nur  für  die  Anwendung  auf  Willens- 
handlungen, also  einen  speziellen  Fall,  findet  sich  der  Ausdruck 
der  > Motivation«.  Nachdem  wir  bereits  die  Kategorie  der  Formung 


1   K.  Bühler,    Die  Gestaltwahrnehmungen,  Stuttgart,   1913,  S.  12. 
2  A.  a.  O.,  S.  30. 


Die  Relationskategorien.  27 


auch  für  die  Psychologie  übernommen  haben,  dürfte  es  nicht 
erforderlich    sein,   hierfür   eine   eigene    Bezeichnung  zu   schaffen. 

Trotz  der  verhältnismäßig  einfachen  Form,  in  der  sich  die  Ver- 
kettungskategorie in  der  Psychologie  darstellt,  war  es  notwendig, 
ihre  Abwandlung  gegenüber  den  anderen  Wissenschaften  so  weit 
ausholend  darzustellen.  Denn  auch  diese  sind  für  die  Psychologie 
nicht  entbehrlich;  schon  der  Begriff  des  Reizes,  ohne  den  sie  nicht 
auskommen  kann,  verlangt  zu  seiner  Bestimmung  je  nach  seiner 
Art  die  Begriffssysteme  der  Physik,  Chemie  oder  Physiologie. 
Damit  aber  ist  die  Tatsache  verständlich,  daß  in  der  Psychologie 
auch  die  Verkettungskategorien  dieser  Wissenschaften  neben  der 
ihr  eigenen  der  Irritation,  nur  methodisch  an  verschiedener  Stelle, 
auftreten. 

Wenn  man  auch  hier  die  Abwandlung  der  Grundbegriffe 
selbst  entsprechend  wie  bei  der  Substanzkategorie  kategorial  be- 
trachtet, so  kommt  man  zu  der  Verkettung  der  Kategorien,  die 
offenbar  in  dem  Begriff  der  Determination  ihren  Ausdruck 
findet.  Diese  ist  also  die  Verkettungskategorie  der  Wissenschafts- 
theorie in  dem  Sinne  unserer  obigen  Ausführungen.   (Vgl.  S.  21.) 

§  14.  Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  daß  die  Psychologie 
für  uns  eine  Gesetzeswissenschaft  darstellt,  wie  jede  andere 
Naturwissenschaft.  Ihre  Aufgabe  ist  die  Erklärung  der  psychischen 
Erscheinungen  und  Funktionen  im  Stumpfschen  Sinne,  das 
Verständnis  der  seelischen  Vorgänge  als  eines  notwendigen  Ge- 
schehens, als  bedingt  durch  irgend  welche  Vorgänge  gleicher 
oder  abweichender  Art.  Das  Motiv  Spinozas  wird  damit  in 
gewisser  Weise  von  der  Psychologie  aufgenommen,  das  er  in  den 
berühmten  Worten  aussprach:  »Humanas  actiones  atque  appetitus 
considerabo  perinde,  ac  si  quaestiö  de  lineis,  planis  aut  de  cor- 
poribus  esset<:,  nämlich  gemäß  den  leges  et  regulae  naturae 
universales  .  Aber  indem  so  alle  Vorstellungen,  Gefühle,  Ge- 
danken etc.  als  Geschehnisse  und  nur  als  solche  angesehen  werden, 
wird  offenbar  jede  Betrachtung  über  den  Gehalt,  den  Wert,  die 
Geltung  dieser  Vorstellungen  .und  Gedanken  dem  Bereiche  der 
Psychologie  entzogen.  Es  kann  also  nie  die  Wahrheit  eines  Ur- 
teils, dessen  Zustandekommen  untersucht  wird,  von  psychologi- 
schem Interesse  sein,  sondern  einzig  die  Art  seiner  Gegebenheit, 


Die  Relationskategorien. 


seine  Entstehung  in  ihrer  Bedingtheit  etwa  durch  Wahrnehmungen, 
Affei<te  u.  dgl.  Es  ist  daher  erforderhch,  im  Bereiche  der 
Psychologie  zu  unterscheiden  zwischen  dem  Objekt  der  Wissen- 
schaft, das  ebensogut  ein  Urteil  sein  kann  wie  eine  Wahrnehmung 
oder  Vorstellung,  nämlich  stets  ein  psychisches  Erlebnis,  und  dem 
wissenschaftlichen  Urteil,  das  sie  selbst  über  solche  Gegenstände 
und  ihre  Verknüpfungen  fällt.  Diese  letzteren  Urteile  erheben 
offenbar  Anspruch  auf  Geltung  (in  der  Psychologie  nämlich); 
sie  können  wahr  oder  falsch  sein,  und  ihre  Prüfung  erfolgt  nicht 
auf  Grund  ihrer  psychischen  Bedingtheit,  sondern  ihrer  Stellung 
im  Wissenschaftssystem.  — 

Nur  mit  wenigen  Worten  brauche  ich  auf  die  von  Wundt^ 
vertretene  Anschauung  einzugehen,  die  einen  wesentlichen  Unter- 
schied zwischen  »physischer«  und  »psychischer  Kausalität«  macht. 
Der  diesem  Forscher  vorschwebende  Begriff  der  Kausalität  weicht 
von  dem  hier  aufgestellten,  und  auch  dem  Kantschen,  völlig  ab. 
Das  geht  schon  aus  den  unterscheidenden  Merkmalen  hervor, 
die  nach  Wundt  zu  finden  sind  in  den  drei  Prinzipien:  »1.  der 
reinen  Aktualität  des  Geschehens,  2.  der  schöpferischen  Synthese, 
3.  der  beziehenden  Analyse«.  Die  reine  Aktualität  des  Geschehens 
sieht  er  in  dem  Fehlen  »konstanter  Objekte«  in  der  Seelenlehre, 
an  deren  Stelle  »reine  Ereignisse«  treten.  Daraus  ergibt  sich, 
daß  nicht  das  Kausalprinzip  —  oder,  wie  wir  sagen  würden, 
die  Geltung  der  Irritationskategorie  —  bestritten  wird,  sondern  nur 
die  Gegenstände,  auf  die  sie  sich  bezieht,  von  den  physischen 
unterschieden  werden.  Auch  die  von  W.  hervorgehobene  große 
Schwierigkeit  der  »psychischen  Kausalerklärung«  geht  nicht  auf  das 
Prinzip,  sondern  seine  praktische  Durchführung  (S.  104).  Und  wenn 
(S.  108)  die  Unmöglichkeit  der  » Kausalgleichungen«  betont  wird, 
so  trifft  das  zwar  mit  unserer  Stellungnahme  zusammen,  aber  die 
Begründung  durch  die  reine  Aktualität  des  Geschehens  erscheint 
anfechtbar.  Mit  dieser  Auffassung  kreuzt  sich  schließlich  bei 
Wundt  noch  eine  andere,  bei  der  der  logische  Kausalbegriff 
mit  der  Kausalitätsvorstellung    identifiziert  wird.     Nur  so  ist  es 


'  W.  Wundt,  Über  psychische  Kausalität  und  das  Prinzip  des  psy- 
chophysischen  Parallelismus.    Philosophische  Studien,  Bd.  X. 


bie  Rektionskategorieri.  29 


zu  verstehen,  daß  ihm  (S.  108)  »auf  psychischem  Gebiet  die 
kausale  Beziehung  selbst  in  der  inneren  Wahrnehmung  gegeben  < 
ist,  anschaulich  erscheint  (S.  109).  In  ähnlicher  Weise  ließe  sich 
leicht  zeigen,  daß  auch  die  übrigen  von  ihm  vorgenommenen 
Unterscheidungen  gegenüber  der  hier  vertretenen  Anschauung 
nicht  stichhaltig  sind,  weil  sie  an  der  transzendentalen  Frage- 
stellung irgendwie  vorübergehen. 

3.  System  und  Korrelation. 
§  15.  Es  könnte  einen  Augenblick  scheinen,  als  sei  durch 
die  bisher  erwähnten  Grundbegriffe  der  Gegenstand  der  Psycho- 
logie völlig  bestimmt,  da  nunmehr  alle  Veränderungen  der  Seele 
als  in  gesetzmäßiger  Abfolge  stehend  begriffen  werden.  Aber 
eine  neue  Überlegung  zeigt  sofort,  daß  in  der  Verkettungs- 
kategorie jeweils  nur  eine  Reihe  kausal  oder  irritativ  bedingter 
Vorgänge  erfaßt  wird.  Dieser  Grundbegriff  hat  gewissermaßen, 
wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  einen  linearen  Charakter:  Es 
werden  wohl  Ursache  und  Wirkung,  Reiz  und  Reaktion  gleich- 
sam als  Perlen  auf  einen  Faden  gezogen,  aber  die  verschiedenen 
Perlfäden  selbst  haben  zueinander  keine  Beziehung.  Nun  muß 
aber  der  Gegenstand  der  Wissenschaft  alle  Bedingungsreihen  in 
sich  zusammenschließen,  die  »Ketten«  müssen  durch  »Schußfäden« 
zum  einheitlichen  Gewebe  verbunden  werden.  Das  geschieht 
durch  die  letzte  übergreifende  der  Relationskategorien,  die  der 
Wechselbeziehung  oder  des  Systems.  In  ihr  »ruht  und  gipfelt 
die  logisch-theoretische  Geltungsordnung« ^.  Alle  Kategorien  unter- 
stehen dieser  Idee  des  Systems.  »Nur  diejenigen  Formen  der 
Erkenntnis  können  als  Kategorien  gelten,  die  die  Funktion  der 
Systematisierung  vollziehen,  und  die  also  a  priori  dem  Gesichts- 
punkt des  Systems  unterstellt  und  von  hier  aus  als  Kategorien 
ausgezeichnet  werden«^  Indem  alle  Begriffe,  Gesetze,  Verket- 
tungen etc.  dem  Systemgedanken  unterworfen  werden,  erhalten  sie 
ihre  Richtung  zur  Einheit.  Das,  was  in  korrelativer  Verknüpfung 
steht,  ist  es  stets  als  Glied  eines  Systems;  und  umgekehrt  beruht 


1  A.  Liebert,  Problem  der  Geltung,  Berlin  1914,  S.  115.  -  2  Der- 
selbe, a.a.O.,  S.  139. 


30  t)ie  Relationskategorieti. 

das  System  nur  auf  der  gegenseitigen  Bezogenheit  seiner  Glieder. 
Diese  wechselseitige  Bezogenheit  hat  man  auch  als  >Teleologie< , 
als  logische  Zweckmäßigkeit  bezeichnet,  ein  Ausdruck,  der  seinen 
problemgeschichtlichen  Ursprung  in  der  Biologie  findet,  wo  er 
denn  die  spezielle  Ausprägung  der  Korrelation  darstellt.  Auf  alle 
Fälle  aber  ist  von  vornherein  wieder  die  psychologistische  Deu- 
tung abzulehnen.  Nicht  um  ein  vorgestelltes,  angestrebtes  Ziel 
handelt  es  sich,  sondern  einzig  um  die  Einheitsbeziehung,  Zu- 
sammenhangsgesetzlichkeit. Mit  gutem  Recht  könnte  man  von 
diesem  Gedanken  ausgehend  den  Systembegriff  zum  Zentralgestirn 
der  Logik  überhaupt  machen  und  von  ihm  aus  die  Bedeutung 
aller  Probleme  beleuchten.  Alle  Urteile  der  einzelnen  Wissen- 
schaft erhalten  von  ihm  ihre  einheitliche  Beziehung,  nämlich  zur 
Theorie,  und  diese  untereinander  zu  dem  System  ihrer  Wissen- 
schaft. Darauf  beruht  ihre  Geltung;  und  so  entnehmen  auch  die 
einzelnen  Wissenschaften  diesem  Systembegriff  ihre  Stellung  im 
System  der  Wissenschaften  selbst. 

Aber  nicht  genug,  daß  die  Geltung  aller  wissenschaftlichen 
Urteile  auf  der  Stellung  im  System  beruht,  werden  wir  im  Be- 
griff selbst  seine  Verkörperung  zu  erblicken  haben.  Hat  doch 
Cohen,  von  dieser  Überlegung  ausgehend,  sogar  das  Urteil 
des  Systems  als  »Urteil  des  Begriffs«  bezeichnet.  Insofern  nun 
der  Begriff  die  Einheitsbeziehung  zum  Ausdruck  bringt,  sind 
offenbar  auch  alle  Kategorien  nur  eine  bestimmte  Ausprägung 
der  Systemkategorie,  und  so  wäre  also  von  diesem  Standpunkt  aus 
der  Fortgang  verbarrikadiert;  oder  richtiger  —  der  Weg  ist  nach 
allen  Seiten  offen;  jede  Richtung  ist  gleichwertig,  weil  alle  Be- 
griffe aller  Wissenschaften  den  Systemgedanken  bereits  verkörpern, 
und  es  kann  sich  also  wiederum  nur  darum  handeln,  wie  bei 
den  vorigen  Grundbegriffen  auch,  die  spezifische  Abwandlung 
innerhalb  jeder  Wissenschaft  aufzuzeigen. 

In  der  Mathematik  haben  alle  Gleichungen  ihre  Geltung- 
unter  Voraussetzung  eines  bestimmten  Bezugssystems  und  im 
.Hinblick  auf  ein  solches,  nämlich  das  Koordinatensystem.  Von 
dessen  Wahl  hängt  ihre  Form  ab.  Als  übergreifender  System- 
begriff aber  der  Mathematik  erweist  sich  der  n-dimensionale 
Raum,    der   das    reinste    und    höchste   aller  ihrer  Bezugssysteme 


Die  Relation s1{ategorien.  31 


darstellt.  Die  Beziehung  zur  Quantität  ist  auch  hier  deutlich 
erkennbar.  Wollte  man  für  die  Glieder  des  Systems,  die  Koor- 
dinaten, nach  dem  sie  verbindenden  Korrelationsbegriff  suchen, 
so  wäre  vielleicht  der  der  »Richtung«  oder  Dimension  in  Betracht 
zu  ziehen.  Denn  durch  diese  Kategorie  wird  die  Beziehung 
zwischen  den  Koordinaten  hergestellt. 

Insofern  der  Raum  nicht  Bezugssystem,  sondern  Bedingung 
des  Zugleichseins  aller  Substanzen  in  der  Erscheinung  ist,  wurde 
bekanntlich  die  objektive  Geltung  der  Wechselwirkung  von  Kant 
für  die  Physik  nachgewiesen.  Historisch  aber  tritt  die  Kategorie 
in  der  Physik  zum  ersten  Male,  wie  von  Cohen  und  Natorp 
betont  wurde,  im  dritten  Newtonschen  Gesetz  in  ihrer  charakte- 
ristischen Form  auf.  Wirkung  und  Gegenwirkung  sind  einander 
gleich.  Indem  der  wirkende  und  der  leidende  Körper  zu  einer 
Einheit  zusammengefaßt  werden,  wird  die  äußere  Kraft  zu  einer 
inneren.  So  konstituiert  sich  der  Grundbegriff  in  der  Physik 
als  »reaktives  System«.  So  wenig  die  Funktionalität  im 
Bezugssystem,  so  wenig  geht  die  Kausalität  im  reaktiven  System 
auf  oder  wird  dadurch  ersetzt.  Die  Gasexpansion,  die  das  Ge- 
schoß aus  dem  Lauf  und  gleichzeitig  das  Geschütz  rückwärts 
treibt,  bleibt  Ursache  für  beide  Bewegungen.  Das  Neue  liegt 
nur  darin,  daß  alle  drei:  Gas,  Kugel  und  Geschütz,  zu  einer 
Einheit  zusammengefaßt  und  verschmolzen  werden.  Aus  der 
gegenläufigen  Bewegung  der  Systemglieder  erzeugt  sich  im  System- 
begriff die  Ruhe  ihres  Schwerpunktes.  Unnötig  erscheint  es,  die 
fundamentale  Bedeutung  dieser  Ausprägung  der  Kategorie  durch 
viele  Beispiele  zu  belegen.  Das  d'Alembertsche  Prinzip  sei 
erwähnt  als  das  Mittel,  die  kausale  Betrachtung  in  die  dieser  Re- 
aktivität zu  überführen.  Das  Sonnensystem  zeigt  ihre  kosmische 
Bedeutung,  insofern  das  Zentralgestirn  mit  all  seinen  Planeten 
in  reaktivem  Verbände  steht.  Das  Band  zwischen  den  Gliedern 
des  Systems,  ihr  Korrelationsbegriff  also,  ist  die  Kraft. 

Von  der  Chemie  besonders  zu  sprechen,  lag  bisher  an- 
scheinend kaum  Veranlassung  vor,  da  ihre  Grundbegriffe  im 
wesentlichen  den  gleichen  Charakter  zu  tragen  schienen  wie  die 
der  Physik.  So  ist  denn  auch  der  Systembegriff  z.  B.  des  Atoms, 
das  ja  auch  ein  Planetensystem  von  Elektronen  darstellt,  gegenüber 


32  bie  Relationskategorien. 

dem  physikalischen  dem  ersten  Eindruck  nach  nicht  unterschieden. 
Wiederum  muß  man  aber  auf  die  Tendenz  der  Wissenschaft 
zurückgreifen,  um  den  Sinn  der  kategorialen  Abwandlung  zu 
erschauen.  Das  Elektronensystem  hat  die  ganz  spezifisch  chemische 
Bezogenheit  auf  die  »Struktur«.  Gerade  dadurch  unterscheidet 
sich  der  chemische  Körper  von  dem  physikalischen  System  der 
Massenpunkte,  daß  er  ein  strukturelles  System  bildet,  während 
dieses  ein  reaktives  System  darstellt.  Und  von  hier  aus  rück- 
wärts gesehen  erscheinen  —  wie  offenbar  auch  gefordert  werden 
muß  —  die  Kategorien  der  Substanz  und  Kausalität  auch  in  der 
Chemie  in  entsprechender^  leicht  abgewandelter  Bedeutung.  Die 
Erhaltungskategorie  wird  zur  Erhaltung  der  Struktureinheit  (Atome, 
Elektronen),  die  Veränderung  zur  Strukturänderung  und  auch  der 
Kausalnexus  erhält  seine  entsprechende  Färl;)ung,  trotz  der  engen 
Beziehung  zur  Physik.  Der  chemische  Körper  soll  als  Einheit 
von  Gesetzeszusammenhängen  gefaßt  werden.  Die  Korrelation 
zwischen  den  Systemgliedern  aber  drückt  sich  in  der  Valenz 
der  Atome  aus,  die  ihre  »Bindung«,  d.  h.  die  Verknüpfungsweise 
regelt  und  bestimmt,  welche  in  den  »Verbindungen«  zutage  tritt. 
Ein  Struktursystem  höherer  Ordnung  ist  das  der  Elemente,  das 
»periodische  System«,  das  auf  Grund  des  Reihenprinzips  aus  den 
Atomgewichten  abgeleitet  ist.  Die  Untersuchung  der  Reihe  nach 
bestimmter  Gesetzlichkeiten  zeigt,  daß  die  physikalischen  und 
chemischen  Eigenschaften  der  Elemente  periodische  Funktionen 
ihrer  Atomgewichte  sind.  Schon  Mendelejeff  kam  zu  dem 
Ergebnis,  daß  der  gesamte  Charakter  eines  Elements  bestimmt 
wird  durch  die  Stelle,  die  es  im  System  einnimmt.  Wie  stark 
dieser  vom  Systemgedanken  ausgehende  Zwang  ist,  erhellt  daraus, 
daß  die  Chemie  rein  auf  Grund  der  Geltung  dieser  Einheits- 
beziehung die  Existenz,  die  Auffindbarkeit  bestimmter  Stoffe 
fordert,  deren  Gesetze  sie  angeben  kann,  auch  wenn  sich  in  der 
Natur  bisher  keinerlei  Anzeichen  für  ihr  Dasein  aufzeigen  läßt. 
Beim  Germanium  ist  diese  Forderung  bekanntlich  in  glänzendster 
Weise  erfüllt  worden.  Das  von  Mendelejeff  postulierte  und 
vorausberechnete  Element  wurde  13  Jahre  später  von  Winkler 
entdeckt  und  zeigte  fast  genaue  Übereinstimmung  hinsichtlich 
aller  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften. 


bie  Reiatiönskategorieii.  33 

Im  periodischen  System  tritt  bereits  eine  Erscheinung  auf, 
die  sich  in  stärkstem  Maße  in  der  Biologie  geltend  macht,  nämlich 
die  Klassifizierung.  Sie  besteht  in  der  Zusammenfassung  be- 
stimmter Gruppen  nach  dem  Charakter  ihrer  chemischen  Gesetze. 
Dieselbe  Art  der  Einteilung  findet  sich  bei  den  Kristallen,  in  denen 
sich  ja  überhaupt  der  Systembegriff  des  chemischen  Körpers  be- 
sonders eigenartig  determiniert;  nur  daß  bei  diesen  als  Prinzip 
der  Einteilung  vorwiegend  nicht  chemische,  sondern  mathematisch- 
physikalische Gesichtspunkte  dienen,  wie  die  Zahl  der  Achsen, 
Symmetrie,  Doppelbrechung  etc.  Es  ist  vielleicht  nicht  zufällig, 
daß  bestimmte  Kristallbildungen  sich  den  organischen  Formen  in 
erstaunlichem  Maße  nähern.  Ihr  Systembegriff  selbst  bildet  in 
gewissem  Sinne  die  Verbindung  zwischen  dem  reinen  Struktur- 
und  dem  Organsystem. 

§  16.  Das  Organsystem  ist  die  Ausprägung  unserer  Kate- 
gorie im  Bereiche  der  speziellen  Biologie.  Es  ist  die  Einheit,  auf 
die  alle  Formungsvorgänge'  sich  beziehen,  in  Beziehung  auf  die 
sie  ihren  eigentümlichen  Sinn  erhalten.  Durch  das  Irritations- 
prinzip wird  nur  festgelegt,  daß  alle  Reaktionen  durch  Reize  be- 
dingt sind.  Darin  aber,  da;ß  der  Organismus  einen  Zusammenhang 
von  Organen  darstellt,  die  untereinander  in  fester  funktionaler 
Verknüpfung  stehen,  liegt  es  begründet,  daß  im  allgemeinen  die 
Reaktion  nicht  auf  das  direkt  vom  Reiz  betroffene  Glied  beschränkt 
bleibt,  sondern  daß  gewissermaßen  das  ganze  Individuum  darauf 
antwortet. 

Auch  bei  der  Erörterung  der  Substanzkategorie  war  uns  der 
Organismus  als  Grundbegriff  begegnet.  Er  war  aber  dort  be- 
zogen auf  die  Erhaltung  als  das  Konstanzprinzip  gegenüber  den 
Formungserscheinungen.  An  dieser  Stelle,  im  Bereich  des  System- 
begriffs, erhält  er  seine  Position  durch  den  Gedanken  der  Wechsel- 
beziehung der  Systemglieder  zum  Ganzen  und  untereinander. 
Wir  können  von  diesem  Standpunkte  aus  sagen,  daß  die  Substanz- 
kategorie sich  darstellt  als  das  Prinzip  der  Erhaltung  des  System- 
zusammenhangs. 

Aber  diese  Wechselbeziehung  der  Systemglieder  zueinander 
wird  nun  nicht  nur  so  betrachtet,  daß  gegenseitige  Beeinflussungen, 
Einwirkungen  und  Rückwirkungen  stattfinden,  es  bleibt  nicht  bei 

Blumenfeld,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  3 


34  Die  Reiationskategorien. 

der  Feststellung  der  Korrelation,  sondern  die  Veränderungen,  welche 
eintreten,  werden  beurteilt,  gedeutet  als  sinnvoll  für  das  Leben  des 
Individuums.  Die  irritativ  bedingte  Formung  gilt  als  für  das 
lebende  System  zweckmäßig.  Damit  kommt  das  von  Anaxa- 
goras  zuerst  hervorgehobene  Motiv  der  Teleologie  zum  entschei- 
denden Durchbruch.  Alle  Organe  sind  biologisch  definiert  durch 
ihre  Leistung,  ihre  Funktion  im  Sinne  der  Erhaltung  des  Orga- 
nismus, dessen  Wesen  wie  sein  Leben  auf  ihrem  zweckmäßigen 
Zusammenwirken  beruht,  ja  in  ihm  besteht.  Ein  Reflex  z.  B.  erhält 
seine  Deutung,  seine  Bedeutung  als  Schutzmaßnahme  gegenüber 
einer  Gefahr.  Bis  in  die  kleinsten  lebenden  Teile  hinein  herrscht 
das  Prinzip  der  Zweckhaftigkeit.  Alle  Lebensäußerungen  der  Zelle: 
Stoffwechsel,  Fortpflanzung,  Bewegung,  Selbstregulation  — ,  werden 
auf  die  Systemeinheit  im  Sinne  der  Teleologie  bezogen. 

Wie  aber  der  lebende  Organismus  ein  Zellensystem  darstellt, 
so  ist  er  selbst  eingegliedert  in  den  übergeordneten  Zusammen- 
hang der  Art  und  der  Gattung  und  findet  durch  seine  Stellung 
im  Gattungssystem  seine  logische  Position.  Es  wäre  daher  un- 
richtig, den  Klassenbegriff  als  eine  besondere  Form  des  Gesetzes- 
begriffs oder  als  ihm  logisch  äquivalent  zu  betrachten.  Während 
dieser,  wie  bemerkt,  in  Korrelation  zur  Verkettungskategorie  steht, 
ruht  der  Klassenbegriff  auf  der  Beziehung  zu  der  Kategorie  der 
Wechselwirkung,  die  den  Gesetzesbegriff  bereits  voraussetzt.  Wenn 
man  es  so  formulieren  darf,  drückt  er  in  ähnlichem  Sinne  die  Ein- 
heit der  die  Individuen,  Arten,  Gattungen  konstituierenden  Gesetze 
aus,  wie  die  physikalische  Theorie  die  der  einzelnen  physikalischen 
Gesetze.  Insofern  vertritt  er  bis  zu  einem  gewissen  Grade  — 
natürlich  mit  den  aus  der  Sache  folgenden  Vorbehalten  —  in  der 
Biologie  die  Rolle  der  Theorie.  Darum  glaubten  wir  ja  in  der 
Chemie  eben  im  Hinblick  auf  das  Auftreten  von  Klassenbegriffen 
die  Überleitung  zur  Biologie  sehen  zu  dürfen.  Während  aber 
dort  das  Prinzip  der  Klassifikation  in  physikalisch-chemischen  Ge- 
setzen begründet  ist,  beruht  es  hier  auf  denen  der  Formung,  nämlich 
der  Stammesverwandtschaft,  der  Abstammung,  der  Erzeugung.  In- 
dem die  Kategorie  der  Formung  auf  die  Individuen  und  Arten 
angewendet  wird,  entsteht  der  Begriff  der  Entwicklung.  Ihr 
teleologischer  Charakter  aber  wird  durch  das  Prinzip  der  An- 


Die  Relationsfcaiegoneri.  35 


passung  in  klares  Licht  gestellt,  das  gerade  die  Zweckmäßigkeit 
der  Veränderungsrichtung  im  Interesse  des  Individuums  und  seines 
Lebens,  der  Gattung  und  ihrer  Erhaltung  betont. 

§  17.  Die  spezifisch  psychologische  Determinierung  der 
Systemkategorie  ist  nun  leicht  zu  übersehen.  Wie  der  Organis- 
mus die  doppelte  Stellung  in  der  Substanzkategorie  und  in  der 
des  Systems  hat,  so  auch  die  Seele.  Sofern  sie  sich  erhält,  be- 
trachteten wir  sie  als  Voraussetzung  ihrer  Formungsprozesse, 
sofern  sie  die  übergreifende  Einheit  ihrer  Lebensäußerungen,  näm- 
lich der  Wahrnehmungen,  Vorstellungen  etc.  darstellt,  hat  sie  in 
dem  Systemgedanken  ihre  Stelle.  So  ist  also  auch  hier  die  Er- 
haltung nichts  als  die  Erhaltung  der  Systemeinheit.  Wenn  nach 
dem  Irritationsgesetz  jede  Reaktion  durch  einen  Reiz  bedingt  ist, 
so  wird  diese  Reaktion  nun  als  für  die  Seele  sinnvoll  und  zweck- 
mäßig beurteilt.  Das  Erlebnis  wird  teleologisch  gedeutet.  Die 
Gesichtswahrnehmung  ist  durch  die  auf  das  Auge  fallenden  Licht- 
strahlen mit  ihren  bestimmten  spektralen  und  energetischen  Ver- 
hältnissen, den  Bau  des  Auges,  des  Nervensystems  bedingt.  Sie 
ist  ferner  auch  von  dem  Zustande  der  gesamten  Psyche  abhängig, 
in  den  der  Reiz  eingreift.  Erst  dadurch  aber,  daß  die  Gesichts- 
wahrnehmung der  Psyche  zur  Orientierung  dient,  wird  der 
Zweckcharakter  hervorgehoben.  So  zeigen  denn  die  psychologi- 
schen Begriffe  der  Wahrnehmung,  Vorstellung,  Übung,  des  Ge- 
dächtnisses etc.  alle  diesen  teleologischen  Charakter.  Der  Begriff 
der  Anpassung  taucht  wiederum  unter  dem  Namen  »Einfluß  der 
Erfahrung«  auf.  Denn  dieser  Einfluß  wird  immer  als  sinnvoll 
in  bezug  auf  das  psychische  Leben  betrachtet.  Daß  wir  »durch 
Erfahrung  lernen«  heißt  eben  nur,  daß  wir  den  Anforderungen 
der  Umwelt  das  nächste  Mal  besser,  zweckmäßiger  entsprechen. 
Bereits  Dilthey^  hat  auf  die  übergreifende  Einheit  des  Seelen- 
lebens und  die  Unzulänglichkeit  der  bloßen  mechanischen  Kausal- 
bedingtheit nachdrücklich  hingewiesen.  Für  die  Empfindung  speziell 
ist  in  einer  der  modernsten  psychologischen  Theorien  ungefähr 
die  gleiche  Anschauung  stark  betont  worden.    J.  Pikler  stellt  in 


1  W.  Dilthey,    Ideen   über   eine   beschreibende   und   zergliedernde 
Psychologie,  S.  1381  ff. 

3* 


36  Die  Relationskätegoriett. 


seinen  »Sinnesphysiologischen  Untersuchungen«  die  Empfindung, 
die  ja  nur  in  wachem  Zustande  auftritt,  hin  als  eine  >ausgleichende, 
anpassende  Erhaltung  der  Organisation«,  als  die  Reaktion,  >die  der 
Wachtrieb  der  physischen  Einwirkung  des  Reizes  entgegenstellt, 
indem  er  ihr  ein  genaues  Gegengewicht  schafft<^,  mit  der  Be- 
stimmung, Schädigungen  des  Organismus  zu  verhüten.  Die  noch 
heftig  umstrittenen  Anschauungen  Freuds  sind  ganz  von  diesem 
Gesichtspunkt  beherrscht. 

Bei  kategorialer  Betrachtung  all  dieser  Grundbegriffe  werden 
wir  verlangen  müssen,  daß  auch  sie  im  Systemgedanken  verankert 
sind.  Wir  finden  dann,  daß  sie  auf  das  »Katego rialsystem« 
bezogen  sind,  welches  dementsprechend  die  Systemkategorie  der 
Wissenschaftstheorie  bildet. 

§  1 8.  Im  Laufe  der  ganzen  vorhergehenden  Untersuchungen  hat 
es  sich  gezeigt,  daß  die  Psychologie  auch  gegenüber  der  speziellen 
Biologie  ihr  eigenes  Reich  von  Grundbegriffen  besitzt,  das  ihr 
ihre  Selbständigkeit  als  Wissenschaft  sichert.  Andererseits  folgt 
aus  der  gemeinsamen  Unterordnung  unter  den  Begriff  der  all- 
gemeinen Biologie  wie  aus  den  bisherigen  Ergebnissen,  daß  beide 
besonders  enge  Beziehungen  zueinander  haben  müssen.  Schon 
äußerlich  hat  sich  dies  historisch  darin  ausgedrückt,  daß  Fechners 
grundlegende  Arbeit  den  Namen  »Psychophysik«,  Wundts  ver- 
dienstvollstes Werk  den  Titel  >  Grundzüge  der  physiologischen 
Psychologie«  führt.  Und  auch  heute  noch  finden  sich  in  fast 
allen  psychologischen  Lehrbüchern  Erörterungen  physiologischer, 
in  physiologischen  Kompendien  Untersuchungen  psychologischer 
Probleme.  In  dem  Jahrhunderte  hindurch  völlig  ungeschiedenen 
Komplex  tritt  erst  in  unseren  Tagen  eine  Sonderung  zwischen 
Physiologie  und  Psychologie  ein,  die  allmählich  fortschreitend 
bereits  eine  neue  Trennung  der  Psychologie  selbst  in  die  Psycho- 
physik  und  die  »reine«  oder  »autochthone«  (Ziehen)  Psychologie 
sichtbar  werden  läßt.  Auch  bei  dieser  dürfte  aber  die  Ähnlich- 
keit des  Kategorialsystems  mit  dem  der  Physiologie  unverkenn- 
bar bleiben. 

Gerade  aus  dem  innigen  Zusammenhange  beider  Wissen- 
schaften entstehen  nun  neue  Schwierigkeiten.     Wenn   die  Wahr- 

>  A.  a.  O.,  S.  76. 


Die  Relationskategorien.  37 

nehmungen  durch  den  Bau  des  Sinnesorganes  und  des  Nerven- 
systems mitbedingt  sind,  welcher  Art  ist  dann  das  Verhältnis  dieser 
physiologischen  Vorgänge  zu  den  psychischen?  Wiederum  rühren 
wir  an  ein  uraltes  metaphysisches  Problem:  Die  Frage  nach  dem 
»Zusammenhang  von  Leib  und  Seele«  taucht  auf,  die  auch  heute 
noch  in  der  Wissenschaft  nicht  zur  Ruhe  gekommen  ist  und  die 
Kontroversen  über  > Wechselwirkung <  und  »psychophysischen 
Parallelismus < ,  Materialismus  und  psychischen  Monismus  be- 
herrscht. Ich  bin  nicht  vermessen  genug  zu  glauben,  auf  diese 
Sphinxfrage  könnte  ich  die  richtige  Antwort  erteilen.  Aber  dem 
Versuch  einer  Stellungnahme  darf  man  sich  nicht  entziehen.  Um 
zu  ihr  den  Weg  zu  bahnen,  müssen  wir  uns  erinnern,  daß  Leib 
und  Seele  für  uns  und  in  diesem  Zusammenhang  nichts  anderes 
bedeuten,  als  die  Gegenstände  der  speziellen  Biologie  und  der 
Psychologie,  der  Leib  den  Gegenstand  der  »äußeren«,  die  Seele 
den  der  > inneren«  Erfahrung.  Von  einem  Identitätsverhältnis 
zwischen  Gegenständen  verschiedener  Wissenschaften  zu  sprechen, 
deren  Verschiedenheit  durch  die  Eigenart  ihrer  Kategorialsysteme 
dargetan  sein  dürfte,  hat  aber  keinen  Sinn.  Damit  scheiden  die 
beiden  monistischen  Standpunkte  aus.  Wie  steht  es  mit  der 
Theorie  der  Wechselwirkung?  Der  Begriff  ist  mehrerer  Deutungen 
fähig.  Wenn  damit  nur  ein  systematischer  Zusammenhang  der 
Wissenschaftsobjekte  betont  werden  soll,  der  in  gegenseitiger 
Korrelation  und  teleologischer  Bezogenheit  auf  das  Individuum 
besteht,  so  entspricht  diese  Ansicht  offenbar  der  Folgerung  aus 
den  hier  vertretenen  Anschauungen.  Soll  jedoch  ein  gegenseitiges 
Kausal  Verhältnis  zwischen  dem  irgendwie  als  ^wirklich«  in  onto- 
logistischem  Sinne  angenommenen  Leib  und  der  Seele  damit 
gesetzt  werden,  so  erscheint  auch  diese  Verknüpfung  unzulässig, 
eben  weil  es  sich  für  uns  nur  um  logische  Beziehungen  zwischen 
Wissenschaftsobjekten  handelt.  Logische  Beziehungen  aber  müssen 
nach  dem  oben  Gesagten  vorausgesetzt  werden,  weil  Physiologie 
und  Psychologie  dem  gleichen  höheren  Systembegriff  der  all- 
gemeinen Biologie  angehören.  Beide  Disziplinen  bestimmen  in 
ihrem  Verbände  den  »psychophysischen  Organismus«,  das 
beseelte  Individuum,  sei  es  Tier  oder  Mensch.  Welcher  Art  je- 
doch  die  Entsprechungen   zwischen  körperlichen  und   seelischen 


38  Die  Relationskategorien. 


Vorgängen  sind,  ob  sie  vor  allem  in  eindeutiger  gegenseitiger 
Zuordnung  vorliegen,  wie  es  der  psychophysische  Parallelismus 
im  strengen  Sinne  fordert,  —  das  bleibt  Sache  der  Forschung. 
Das  Prinzip  einer  genauen  Entsprechung  kann  allerdings  heuri- 
stisch in  hohem  Maße  wertvoll  sein,  nämlich  im  Sinne  einer 
Arbeitshypothese. 

Dagegen  erscheint  es  anfechtbar,  wenn  Cassirer^  die  An- 
sicht ausspricht:  »Seele  und  Körper  bedürfen  keiner  Vereinigung, 
keines  »substantiellen  Bandes«,  das  sie  zusammenhielte,  —  da  der 
Begriff  des  Körpers  nicht  anders  als  in  immanenter  Beziehung 
auf  ein  denkendes  Bewußtsein  zu  fassen  und  zu  verstehen  ist.« 
Man  kann  ihm  nämlich  entgegenhalten,  daß  das  Gleiche  auch 
für  den  Begriff  der  Seele  gilt;  es  dürfte  hier  eine  jener  Ver- 
wechselungen zwischen  dem  »diskursiven«  und  »intuitiven«  Be- 
wußtsein der  Kantischen  Terminologie  vorliegen,  die  zu  so 
vielen  Fehlschlüssen  geführt  hat  (vergl.  u.  S.  68).  Daß .  damit 
nichts  gegen  die  These  Cassirers,  nämlich  die  Leugnung  des 
»substantiellen  Bandes«  gesagt  wird,  liegt  nach  den  früheren 
Ausführungen  auf  der  Hand. 

Der  eigentliche  Betrieb  der  Psychologie  wird  von  dieser  rein 
philosophischen  Frage  nicht  berührt.     Mit  Recht  hebt  Bühler- 

das  hervor:  »Zum  mindesten  ist  die  Lehre  von  den  Elementen 

dem  Streit  über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  soweit  ent- 
rückt, daß  das  meiste  für  die  Parallelismus-  und  die  Wechsel- 
wirkungstheorie gleichmäßig  gültig  bleibt.«  Wenn  dies  für  die 
Elemente  gilt,  unter  denen  B.  ja  gerade  die  Sinnesempfindungen 
und  Vorstellungen  wesentlich  versteht,  so  müßte  es  u.  E.  erst 
recht  von  den  »höheren«  Funktionen  gelten. 

§  19.  Das  logische  Verhältnis  zwischen  spezieller  Biologie 
und  Psychologie  wollen  wir  nun  im  Einklang  mit  den  früheren 
Erörterungen  noch  etwas  eingehender  festlegen.  Wir  verwenden 
wieder  das  anfangs  herangezogene  Beispiel.     Es  handelte  sich 


*  E.  Cassirer,   Einleitung   zu    »Q.  W.  Leibniz    Hauptschriften  zur 
Grundlegung  der  Philosophie«.    Leipzig.    Bd.  2,  S.  86. 

2  Vorwort   zu   Ebbinghaus- Bühler,    Grundzüge   der   Psychologie. 
Leipzig  1919.    Bd.  1,  S.  11. 

3  Vgl.  S.  8.      ■ 


Die  Relationskategorien,  39 


um   die  Farbwahrnehmung  bei   indirektem   Sehen.     Der  Psycho- 
loge müßte  bei   der  Untersuchung  des  eigenartigen  Phänomens 
so   vorgehen,   daß   er  zunächst  auf  die  physikalisch -chemischen 
Erscheinungen    eingeht;    es   wäre    etwa  nachzuweisen,    daß    die 
subjektive  Farbänderung  nicht  auf  eine  Veränderung  des  reflek- 
tierten Lichtes  zurückgeht,   sei  es  infolge  von  Vorgängen  an  der 
Lichtquelle,  sei  es  solchen  an  dem  Papierblatt.    Dazu  treten  dann 
innerhalb   der  anschließenden   physiologischen  Erörterung  noch- 
mals physikalisch-chemische  Elemente,   z.  B.  die  Brechbarkeit  der 
Augenmedien  (Linse,  Glaskörper,  Hornhaut  etc.)  und  chemische 
Vorgänge   in   der   Netzhaut.     Reichen    diese   zur   Erklärung   der 
Erscheinung   nicht   aus,   so   sind   die   eigentlich   physiologischen 
Faktoren  zu  untersuchen,   z.  B.  die  Adaptation,  Akkommodation, 
Innervation,  Verteilung  der  Stäbchen  und  Zapfen.     Nur  für  die- 
jenigen Erscheinungen  aber,  die  auch  so  nicht  verstanden  werden 
können,    dürfen   spezifisch -psychische  Momente  in   Betracht  ge- 
zogen werden.     Die  Psychologie  verfolgt  also  für  ihre  eigenen 
Gegenstände   das    Prinzip,    in    der   Zurückführung   der    Erschei- 
nungen   auf   ihre   Ursachen    schrittweise   vorzugehen.     Nur   was 
nicht    restlos    physikalisch -chemisch    erklärt   werden    kann,    darf 
physiologisch,    nur    was    auch    nach    physiologischen    Gesetzen 
nicht    verständlich    wird,   psychologisch    im    engeren    Sinne    ge- 
deutet   werden.      Dieser    Gang    der    Forschung    ist    nicht    zu- 
fällig,  sondern    in    ihm   spricht   sich   ein  wichtiges  methodisches 
Prinzip  aus,   das   jeder   psychologischen   Untersuchung   a   priori 
zugrunde  liegt  und  sich   in   aller  Strenge  durchsetzt.     Man  wird 
in  ihm  eine  besondere  Ausprägung  des     Prinzips  der  Deter- 
mination <    zu  erblicken  haben.    Es  steht  in  enger  Beziehung  zu 
dem    von    Leibniz   und    schärfer   von    Kant    hervorgehobenen 
Gedanken,    daß   auch   in   der   Biologie  das   Prinzip   der  mecha- 
nischen Kausalität  nicht  aufgegeben  werden  darf,  aber  doch  der 
Ergänzung  durch   die  Teleologie  bedarf.     Unzweifelhaft   hat   es 
eine  auch  über  die  Psychologie  noch  hinausreichende  Bedeutung 
für  die  Wissenschaftslehre.     Vom  Standpunkte  der  Einzelwissen- 
schaft aus  ist  es  nicht  ableitbar,  es  hat  also  keinesfalls  empirischen 
Charakter,  vielmehr  ist  es  transzendentaler  Natur,  Voraussetzung 
der  Möglichkeit   aller   einzelwissenschaftlichen    Erfahrung.     Ver- 


40  Die  Modalitäts'kategorien. 


ständlich  wird  es  nur  von  dem  Gedanken  her,  daß  es  die  Deter- 
minierung der  Reihe  der  Wissenschaften  in  ihrer  logischen  Be- 
ziehung zueinander  bezeichnet.  Das  Verhältnis  der  Psychologie 
zur  Physiologie  ist  danach  das  einer  Determination  in  dem  gleichen 
Sinne,  wie  diese  eine  solche  der  Chemie  ist.  Damit  bestätigt 
sich  die  Reihenfolge  der  Abwandlung  der  Kategorien,  die  wir 
in  den  obigen  Ausführungen  verfolgten^ 

Wiederum  muß  vor  einer  Mißdeutung  gewarnt  werden. 
Keinesfalls  ist  die  Meinung  die,  daß  seelisches  Leben  in  der 
Entwicklung  der  Organismen  oder  des  Kosmos  zeitlich  später 
einsetze,  als  Lebens  Vorgänge  überhaupt,  oder  daß  organisches 
Leben  entwicklungsgeschichtlich  später  entstanden  sei  als  unorga- 
nische Stoffe.  Diese  Fragen  s[nd  für  uns  an  dieser  Stelle  gleich- 
gültig, auch  wenn  man  zugibt,  daß  von  Psychologie  erst  da  mit 
Recht  gesprochen  werden  kann,  wo  Organismen  eines  gewissen 
Entwicklungsstadiums  vorliegen.  Es  hat  kaum  wissenschaftlichen 
Sinn,  von  der  Seele  eines  Schachtelhalms  zu  sprechen.  Von 
welchem  Stadium  an  die  Erklärung  bestimmter  Vorgänge  durch 
die  Annahme  psychischen  Lebens  zu  erfolgen  hat,  ist  hinwieder- 
um einzig  und  allein  eine  Frage  des  wissenschaftlichen  System- 
zusammenhangs. Man  wird  zu  ihr  schreiten  müssen,  wenn 
Tatsachen  auftreten,  die  zu  ihrem  Verständnis  die  Voraussetzung 
psychischer  Vorgänge  erfordern.  Sicherlich  ist  es  naturwissen- 
schaftlich gar  nicht  zu  vertreten,  hochstehenden  Tieren,  wie  Affen, 
Pferden,    Hunden,   Wahrnehmungen    und  Affekte    abzusprechen. 

Kapitel  IV. 
Die  Modalitätskategorien. 

1.  Möglichkeit. 
§  20.  Den  bisher  besprochenen  Kategorien,  die  den  Gegen- 
stand der  Wissenschaft  von  der  Seele  bestimmen,  stehen  als  den 
von  Cohen  sogenannten  »naiven«  die  »kritisierenden«  oder 
»modalen«  gegenüber,  die  das  Verhältnis  zur  Forschung,  zum 
Fortgange  der  methodischen  Arbeit  angehen.  Ihre  Reihe  beginnt 
mit   der   Möglichkeit.     »Möglich    ist,    was    neue  Erkenntnisse 

1  Man  vgl.  hiermit  Natorp,  Allgemeine  Psychologie,  S.  216  ff. 


Die  Modalitätskategorien.  41 

ermöglicht^«,  was  also  der  Fortentwicklung,  der  Vorwärtsentwick- 
lung der  Wissenschaft  dient,  was  die  Ermittlung  und  Bestimmung 
neuer  Zusammenhänge,  neuer  Gegenstände  fördert.  Darum  zeigt 
sich  die  Kraft  und  der  Sinn  dieses  Grundbegriffs  vor  allem  in 
der  Hypothese,  die  als  »Ansatz«  für  die  Erklärung  fungiert. 
Der  logische  Wert  der  Hypothese  beruht  demnach  auf  ihrer 
Fruchtbarkeit  für  die  Einreihung  wissenschaftlicher  Tatsachen  in 
den  Systemzusammenhang  der  Disziplin.  Die  Hypothesen  stellen 
gleichsam  Revolutionen  in  der  Wissenschaft  dar,  indem  sie  alte 
Gedankengänge  verwerfen,  neue  Verbindungen  schlagen,  bestehende 
scheinbare  Gegensätze  ausgleichen;  auch  darin  den  Revolutionen 
ähnlich,  daß  sie,  leidenschaftlich  umstritten,  sich  nur  im  Kampf 
durchsetzen,^  der  ihnen  von  den  Vertretern  der  hergebrachten  An- 
schauungen geliefert  wird.  So  ging  es  der  imaginären  Zahl 
und  den  Metageometrien;  so  Faradays  Hypothesen  und  der 
Einsteinschen  Theorie  in  der  Physik;  so  der  Rutherfordschen 
Hypothese  vom  Zerfall  der  Elemente  und  der  Annahme  flüssiger 
Kristalle  in  der  Chemie;  so  Darwins  Hypothesen  in  der  Bio- 
logie. Es  ist  der  Platonische  Gedanke  der  Hypothesis,  der  hier 
nochmals  in  bezug  auf  den  Prozeß  der  Forschung  seine  metho- 
dische Position  findet,  nachdem  er  bereits  bei  der  Verkettungs- 
kategorie grundlegend  aufgetreten  ist.  Er  ist  ja  der  notwendige 
Ausgangspunkt  jeder  wissenschaftlichen  Untersuchung,  vor  allem 
des  Experiments. 

In  der  Psychologie  erscheint  an  dieser  Stelle  mit  besonderer 
Eindringlichkeit  das  Problem  der  *  unbewußten  psychischen  Vor- 
gänge«, auf  das  oben  schon  einmal  andeutend  hingewiesen  wurde". 
Seltsam  in  der  Tat  geht  es  dieser  Wissenschaft:  Es  ist,  als  ob  in 
ihr  sich  die  schwierigsten  Fragen  in  einer  Fülle  drängten,  gegen 
die  alle  übrigen  Disziplinen  fast  harmlos,  einfach  und  durchsich- 
tig erscheinen.  So  ist  auch  der  Begriff  des  »Unbewußten«  von 
allen  Schleiern  der  Mystik  verhängt,  von  allen  Verdikten  dogma- 
tischer Denkart  getroffen,  von  kritischen  Forschern,  darunter 
namhaften  Psychologen,  angefochten.     Um   nur  einige  Beispiele 


1  Cohen,  Logik  der  reinen  Erkenntnis,  S.  432. 

2  Vgl.  oben  S.  11. 


42  Die  Modalilätskategorien. 

anzuführen,  nenne  ich  zuerst  die  entschiedene  Ablehnung  Wundts^: 
»Für  die  Psychologie  ist  das  Unbewußte  ein  Transzendentes,  mit 
dem  sie  sich  niemals  zu  beschäftigen  Anlaß  haben  kann,  da  der 
Gegenstand  ihrer  Untersuchung  schlechterdings  nur  die  unmittel- 
bare psychische  Erfahrung  ist.<-  Demgegenüber  steht  die  Stellung- 
nahme Stumpfs-:  »Ja,  wir  behaupten,  daß  sogar  bei  höchster 
und  einer  Erscheinung  direkt  zugewandter  Aufmerksamkeit  unbe- 
merkt bleibende  Veränderungen  in  den  Erscheinungen  vorkommen 
können;  m.  a.  W.:  daß  es  nicht  nur  unbemerkte,  sondern  auch 
unmerkliche  Erscheinungsänderungen  geben  könne.«  Hierbei 
muß  beachtet  werden,  daß  Stumpf  unter  Erscheinungen  wesent- 
lich Inhalte  von  Sinnesempfindungen  und  die  »gleichnamigen 
Gedächtnisbilder«  versteht.  Die  unmerklichen  Erscheinungsände- 
rungen, deren  Möglichkeit  er  betont,  sind  also  mindestens  zum 
Teil  unbewußte  psychische  Phänomene.  Und  noch  bestimmter 
lautet  es  bei  Ebbinghaus-Bühler°:  »Unbewußte  Vorstellungen 
sind  zwar  nicht  den  bewußten  und  uns  bekannten  Vorstellungen 
direkt  ähnlich,  aber  sie  sind  trotzdem  als  etwas  Psychisches  irgend 
welcher  Art  anzuerkennen«  und  nach  Stern^  sind  »oft  gerade  die 
wichtigsten  und  wirksamsten  Bestandteile  eines  psychischen  Pro- 
zesses unbewußt«.  Welchen  Sinn  hat  es,  in  die  Lehre  von  der 
Seele  unbewußte  Vorgänge  einzuführen?  Wenn  man  sie  als 
Lehre  von  dem  Bewußtsein,  von  den  bewußten  Erlebnissen  de- 
finiert, so  ist  freilich  damit  durch  einen  Ukas  das  Unbewußte 
von  ihr  abgeriegelt.  Das  aber  kann  nicht  entscheidend  sein.  Es 
wäre  ein  ähnliches  Verfahren,  wenn  man  die  Physik  als  Wissen- 
schaft von  den  Veränderungen  der  ponderablen  Materie  abgrenzen 
und  damit  elektrische  Schwingungen  und  magnetische  Kraftfelder 
ausschalten  wollte.  Und  doch  haben  auch  diese  nur  den  hypo- 
thetischen Sinn,  Veränderungen  ponderabler  Materie  begreiflich  zu 
machen,  d.  h.  sie  in  einen  systematischen  Zusammenhang  einzu- 
gliedern.   Wenn  das  durch  die  Annahme  von  magnetischen  Kraft- 

~       1  W.  Wundt,  Über  psychische  Kausalität  etc.    Philos.  Stud.  X,  S.  42. 

2  C.  Stumpf,  Erscheinungen  und  psychische  Funktionen.    Abh.  d. 
Preuß.  Akad.  d.  Wiss.   1906.   S.  34. 

3  A.  a.  O.,  S.  60. 

4  W.Stern,  D.  differentielle  Psych,  in  ihren  methodischen  Grundlagen. 
1911.    S.  40. 


Die  Modalitätskategorien.  43 

feldern  erreicht  wird,  so  ist  die  Hypothese  gerechtfertigt.  Gleich- 
artiges muß  also  auch  die  Annahme  der  unbewußten  psychischen 
Vorgänge  leisten,  wenn  sie  sich  behaupten  will.  Es  ist  ein- 
leuchtend, daß  es  unzulässig  wäre,  »Nichtbewußtes«  und  »Un- 
bewußtes« gleichzusetzen,  wenn  man  der  Hypothese  der  un- 
bewußten Erscheinungen  nicht  Unrecht  tun  will,  wie  es  Herbertz 
(Bewußtsein  und  Unbewußtes,  1908)  hervorgehoben  und  in  seiner 
Kritik  Windelbands  (Die  Hypothese  d.  Unbewußten,  Festrede, 
Heidelberg  1917)  durchgeführt  hat.  Von  einer  »Gleichsetzung 
der  Gegensatzpaare  einerseits  des  Bewußten  und  des  Unbewußten, 
und  andererseits  des  Seelischen  und  des  Körperlichen«  kann  in 
der  wissenschaftlichen  Psychologie  nicht  die  Rede  sein.  (Z.  f.  Ps., 
Bd.  72,  S.  395.)  Man  sieht  an  dieser  Stelle  die  Bedeutung  des 
»unendlichen«  Urteils  besonders  deutlich. 

Es  kann  nicht  die  Aufgabe  dieser  Ausführungen  sein,  eine 
Entscheidung  in  dem  einen  oder  andern  Sinne  zu  fällen;  das 
bleibt  letzten  Endes  der  Psychologie  selbst  überlassen,  in  der  die 
Frage  bekanntlich  noch  heftig  umstritten  ist^.  Hier  genügt  es 
zu  zeigen,  daß  Erscheinungen  vorliegen,  die  zu  einer  solchen 
Fragestellung  führen.  Nehmen  wir  als  ein  ganz  einfaches  Beispiel 
die  Tatsache  des  Gedächtnisses.  Ein  Stoff,  der  durch  eine  be- 
stimmte Zahl  von  Wiederholungen  nur  so  fest  eingeprägt  ist,  daß 
er  eben  fehlerlos  reproduziert  werden  kann,  ist  einige  Zeit  danach 
im  allgemeinen  nicht  mehr  im  Bewußtsein  feststellbar,  also  ver- 
gessen. Läßt  man  aber  nun  denselben  Stoff  wieder  erlernen,  so 
ergibt  die  Beobachtung,  daß  er  mehr  oder  minder  bekannt  er- 
scheint, und  daß  die  Erlernung  in  kürzerer  Zeit  und  mit  weniger 
Wiederholungen  vor  sich  geht.  Nun  gibt  es  Forscher,  die  diesen 
Tatsachenkomplex   durch   eine   physiologische  Hypothese   er- 

1  Wenn  W.  Köhler  (»Über  unbemerkte  Empfindungen  und  Urteils- 
täuschungen«, Z.  f.  Ps,,  Bd.  66,  S.  78 ff.)  die  »Hilfsannahmen«  der  un- 
bemerkten Empfindungen  und  Urteilstäuschungen  in  den  Wahrnehmungs- 
prozessen als  zwar  unwiderlegbar,  aber  gegen  wissenschaftstheoretische 
Interessen  verstoßend  ablehnt  und  dafür  »eine  Reihe  anderer  Faktoren, 
vor  allem  zentraler  Natur«,  einführen  will,  so  wäre  dagegen  prinzipiell 
auch  dann  nach  dem  oben  Gesagten  nichts  einzuwenden,  wenn  diese 
zentralen  Faktoren  teilweise  selbst  »unbemerkt«  oder  unbemerkbar  sein 
sollten. 


44  Die  Modalitätskategorien. 

klären,  indem  sie  Veränderungen  in  den  Nervenleitungen  und 
Gehirnzellen  als  »Spuren«  der  ersten  Einprägung  ansetzen,  die 
die  zweite  Erlernung  leichter  machen.  Andere  sehen  eine  dahin- 
gehende Erklärung,  deren  Berechtigung  bisher  durch  mikroskopi- 
sche Beobachtung  nicht  nachweisbar  ist,  aber  in  den  Ausfalls- 
erscheinungen bei  Gehirndefekten  eine  Stütze  findet,  als  für  die 
Psychologie  belanglos  an.  Sie  glauben  sich,  ausgehend  von  der 
Kontinuitätsforderung  ihrer  Wissenschaft,  gezwungen,  eine  Beein- 
flussung, eine  Strukturveränderung  des  seelischen  Lebenszusammen- 
hanges selbst  anzunehmen,  die  eben  nur  in  *den  Erscheinungen 
bei  der  erneuten  Einprägung  zum  Ausdruck  kommen  kann,  ohne 
sich  dem  Bewußtsein  aufzudrängen.  Die  Möglichkeit  physiologi- 
scher Veränderungen  können  sie  dabei  zugeben,  auch  gänzlich 
davon  absehen,  anzugeben,  wie  etwa  die  unbewußten  psychischen 
Erscheinungen  vorzustellen  seien.  Diese  haben  vielmehr  nur  den 
hypothetischen  Wert,  Einheit  in  den  Erklärungszusammenhang 
der  bewußten  Phänomene  zu  bringen.  Eine  Frage  nach  der  Vor- 
stellbarkeit  des  Unbewußten  brauchte  ihnen  daher  nicht  mehr 
Schwierigkeiten  zu  bereiten  —  freilich  auch  nicht  weniger  —  als 
dem  Physiker  der  Begriff  der  ^^ potentiellen  Energie«.  Schöpft 
doch  auch  dieser  Terminus,  dem  die  Kategorie  der  Möglichkeit 
unverkennbar  ihren  Stempel  aufgedrückt  hat,  seine  Berechtigung 
nur  aus  der  Forderung  der  durchgängigen  Geltung  des  Energie- 
gesetzes. Die  psychologischen  Begriffe  der  »Bereitschaft«,  der 
»Einstellung«  u.a.  sind  übrigens  dem  der  unbewußten  Vorgänge 
ebenfalls  unterzuordnen. 

Derartige  Überlegungen,  die  sich  bekanntlich  auch  aus  ande- 
ren Tatsachen  der  Psychologie  herleiten  lassen,  veranlaßten  schon 
Leibniz  zur  Aufstellung  seines  Begriffs  der  »petite  perception«, 
mit  dem  er  das  Unbewußte  m.  W.  in  die  Philosophie  einführte, 
wie  ja  übrigens  bemerkenswerterweise  seine  »prästabilierte  Har- 
monie« als  der  Vorläufer  des  psychophysischen  Parallelismus  an- 
gesehen werden  muß,  dem  freilich  schon  Spinoza  zeitweilig  nahe 
kam^     Er  folgert  geradezu   aus  dem  Kontinuitätsprinzip,    »daß 

1  Vgl.  Freudenthal,  Über  die  Entwicklung  der  Lehre  vom  psycho- 
physischen Parallelismus  bei  Spinoza.  Arch.  f.  d.  ges.  Psycho!.  1907. 
S.  74  ff. 


!'•' 


Die  Modalitätskaiegorleri.  45 


die  bemerkbaren  Wahrnehmungen  stufenweise  aus  denjenigen 
entstehen,  welche  zu  schwach  sind,  um  bemerkt  zu  werden <^ 
Aber  nicht  genug,  daß  sie  die  Wahrnehmung  erst  mögHch  machen, 
es  wird  durch  sie  erst  die  Identität  des  Individuums  gewährleistet, 
die  andererseits  bereits  durch  den  Schlaf  gefährdet  wäre^.  So- 
erhalten  sie  für  ihn  »ebenso  großes  Gewicht  wie  die  kleinsten 
Körper  in  der  Physik« '\ 

Es  will  mir  übrigens  scheinen,  daß  auch  die  Biologie  einen 
Begriff  des  »unmerklichen  Lebensc  oder  dergleichen  benötigt. 
Der  Begriff  des  »Scheintodes«  dürfte  sonst  wissenschaftlich  nicht 
zu  fassen  sein.  Wenn  in  dem  bekannten  Pflügerschen  Experi- 
ment ein  Frosch  nach  19  stündiger  Sauerstoffentziehung  keine 
Spur  von  Atmung  und  Reflexen  mehr  zeigt  und  trotzdem  wieder 
zu  sich  kommt,  so  wird  man  hypothetisch  die  Kontinuität  des 
Lebens  unter  allen  Umständen  wissenschaftlich  aufrecht  erhalten 
müssen. 

§  21.  Mit  dem  Begriff  der  ipetite  perception«  steht  der  der 
»Schwelle«  in  enger  Beziehung.  Dieser  Begriff,  den  Leibniz 
bereits  in  voller  Klarheit  erfaßte,  wird  von  dem  Begründer  der 
Psychophysik  Fe  ebner  zu  einem  Versuche  benutzt,  ein  Maß- 
system für  die  Psychologie  zu  schaffen.  Bevor  wir  uns  dieser 
speziellen  Frage  zuwenden,  wollen  wir  versuchen,  uns  über  die 
logische  Stellung  des  Maßbegriffs  überhaupt  ein  Urteil  zu 
bilden.  Was  bedeutet  es,  wenn  ich  einen  Gegenstand  messe? 
Eine  bestimmte  Größe  wird  mit  einer  andern,  als  Einheit  aus- 
gezeichneten Größe  verglichen  und  durch  die  Anzahl  dieser  Ein- 
heiten bestimmt.  Hiernach  scheint  der  Maßbegriff  den  der  Größe 
vorauszusetzen,  da  ja  der  Maßstab  selbst  eine  Größe  besitzt,  die 
zugrunde  gelegt  wird.  Aber  die  Fragestellung  muß  doch  noch 
schärfer  beleuchtet  werden.  Wir  stehen  im  Herrschaftsgebiet  der 
modalen  Kategorien.  Ein  einzelnes  Individuelles  wird  als  wirk- 
lich bestimmt  durch  seine  Größe.  Es  kann  daher  keinem  Zweifel 
unterliegen,  daß  die  Kategorie  der  Größe  ini  Urteil  der  Wirk- 
lichkeit verankert  ist.    Um  aber  diese  einzelne  Größe  zu  einer 


^   Vorrede   zu    den    »Neuen    Abhandlungen«,    Philos.   Bibliothek, 
S.  14.  -  2  A.  a.  O.,  Vorrede,  S.  12  und  2.  Buch,  S.  82.  -  3  A.  a.  O.,  S.  13. 


46  Die  Modalitätskategorieti. 

bestimmten  zu  stempeln,  dazu  dient  das  Maß.  Und  es  ermög- 
licht diese  Bestimmung  nur  gerade  deshalb,  weil  es  selbst  den 
Charakter  der  Größe  besitzt.  Dadurch  aber,  daß  es  seinen  Sinn 
nur  bezeugt,  wenn  es  Voraussetzung  von  Messungen,  d.  h, 
Größenbestimmungen  wird,  reiht  es  sich  zweifellos  dem  Urteil 
der  Möglichkeit  ein.  Es  stellt  also  wie  die  Hypothese  einen 
Ansatz  zur  Festlegung  des  Wirklichen  dar. 

Nach  diesen  grundsätzlichen  Erörterungen  gehen  wir  zur 
Ausprägung  des  Maßbegriffes  in  den  Wissenschaften  über.  In 
der  Physik  und  Chemie  wird  fast  ausschließlich  die  räumliche 
Ausdehnung  zum  Prinzip  der  Messung  verwertet.  Das  gilt  nicht 
nur  von  der  Längen-,  Flächen-  und  Körpermessung,  sondern 
auch  von  der  Zeitmessung,  die  auf  dem  Gesetz  der  Pendel- 
schwingungen beruht,  und  von  Temperaturmessungen,  die  auf 
die  Ausdehnung  von  Gasen  zurückgeführt  werden.  Es  gilt  von 
Massen  und  Kräften,  die  im  einfachsten  Falle  etwa  durch  die 
Ausdehnung  einer  Feder,  oder  bei  der  Wage  durch  Beschleuni- 
gung, also  Raum-  und  Zeitgrößen  festgesteHt  werden.  Ebenso 
sind  auch  die  elektrischen  und  magnetischen  Erscheinungen  auf 
dasselbe  Maßsystem  bezogen.  Fast  ohne  Abwandlung  stellt  sich  die 
Chemie  in  dieselbe  Reihe.  Bei  der  Biologie  dagegen  und  be- 
sonders der  Psychologie  treten  Schwierigkeiten  auf;  und  hier 
scheint  nun  die  Psychophysik  in  die  Bresche  zu  treten.  Der 
Seh  wellen  begriff  soll  zur  Entwicklung  eines  eigenen  Maßsystems 
dienen.  Die  Grundlage  dafür  bietet  das  Weber- Fechnersche 
Gesetz.  Versuche  in  verschiedenen  Sinnesgebieten  zeigten,  daß 
in  gewissen  Grenzen  die  Reizänderungen,  die  eben  merkliche 
Unterschiede  der  Empfindung  hervorrufen,  der  Reizintensität 
selbst  angenähert  proportional  sein  müssen.  Hierauf  gründet  sich 
die  Definition  der  »absoluten«  und  der  »relativen«  Unterschieds- 
empfindlichkeit, die  in  G.  E.  Müllers^  Formulierung  lautet:  »Wir 
setzen  die  Unterschiedsempfindlichkeit  allgemein  der  Größe  des 
eben -merklichen  Reizunterschiedes,  welcher  von  dem  eben-un- 
merklichen Unterschiede  nur  um  ein  Unendlichkleines  verschie- 
den erscheint,  reziprok;  und  zwar  unterscheiden  wir  eine  absolute 
und  eine  relative  Unterschiedsempfindlichkeit,  je  nachdem  dieselbe 

1  G.  E.  Müller,  Zur  Grundlegung  der  Psychophysik.  Berlin  1878.  S.  2. 


Die  Modalitätskategonert.  4? 

der  absoluten  oder  relativen,  d.  i.  durch  die  geringere  der  beiden  ge- 
gebenen Reizstärken  dividierten  Werte  des  eben-merklichen  Reiz- 
unterschiedes reziprok  genommen  wird.«  Das  Webersche  Ge- 
setz lautet  dann:  »Die  relative  Unterschiedsempfindlichkeit  ist 
unabhängig  von  der  absoluten  Reizstärke«  ^. 

Die  Deutung  des  Gesetzes  ist  bekanntlich  sehr  umstritten. 
Nur  wenn  man  der  Fechn ersehen  Grundanschauung  folgt,  kann 
es  dazu  dienen,  ein  Maß  für  die  Empfindung  abzugeben,  Berech- 
nung von  Empfindungen  aus  Reizen  zu  ermöglichen.  Tatsächlich 
hat  die  psychologische  Forschung  niemals  dies  Maßsystem  ernstlich 
verwendet.  Man  definiert  auch  nicht  die  empfundene  Lautstärke 
eines  Tones,  die  physikalisch  etwa  durch  seine  Energie  gegeben 
ist,  psychologisch  durch  die  Anzahl  der  Unterschiedsschwellenwerte. 
Ja,  Wundt^  bestreitet,  daß  eine  solche  Berechnung  »ein  jemals 
praktisch  werdendes  Problem  ist«.  Die  Tatsache,  daß  sich  im 
Bereich  der  Pflanzenphysiologie  weitgehende  Analogien  mit  dem 
»psychologischen  Grundgesetz«  finden,  hat  nicht  einmal  dort  zu 
einem  physiologischen  Maßsystem  geführt^.  Die  physiologischen 
Erscheinungen  werden  vielmehr  in  einem  interessanten  Aufsatz  von 
H.  Schjelderup*  in  enge  Beziehung  zu  chemischen  Vorgängen 
entsprechend  dem  chemischen  Massengesetz  gerückt. 

Aber  sehen  wir  einmal  von  diesen  Einwänden  und  von  der 
wirklich  geübten  Praxis  ab.  Was  kann  denn  der  Sinn  solcher 
Versuche  sein,  wenn  sie  in  die  Psychologie  Eingang  finden 
sollten?  Er  kann  doch  immer  nur  darin  gesucht  werden,  die 
Empfindung  oder  besser  die  Unterschiede  der  Empfindungen 
auf  irgend  welche  —  psychologischen,  physiologischen,  chemischen, 
physikalischen  —  Einheiten  zu  beziehen.  Wenn  ein  solches 
Maßsystem  ihr  zu  diesem  Zwecke  tauglich  erschiene,  hätte  die 
Wissenschaft  das  Recht  und  die  Pflicht  es  einzuführen;  und  über 
diese  Tauglichkeit  hat  nur  sie  selbst  die  Entscheidung  zu  treffen* 

Dies  muß  man  sich  gegenwärtig  halten,  wenn  man  die  rich- 


»  A.  a.  O.,  S.  3.  -  2  w.  Wundt,  Physiol.  Psychol.,  6.  Aufl.,  Bd.  1, 
S.  641.  -  3  Vgl.  O.  Hertwig,  Allg.  Biol.,  3.  A.,  S.  184;  ferner  H.  Kniep, 
Botanische  Analogien  zur  Psychophysik  in  Marbes,  Fortschritte  der  Psy- 
chologie, Bd.  4,  1917.  -  *  H.  Schjelderup,  Über  die  Abhängigkeit 
zwischen  Empfindung  und  Reiz,  Ztschr.  f.  Psych.,  Bd.  80,  S.  226. 


48  t)ie  Modalitätskaiegöriert. 


tige  Stellung  zu  den  schweren  Angriffen  einnehmen  will,  die  vor 
allem  von  Cohen  gegen  die  Psychophysik  gerichtet  worden  sind. 
Die  scharfe  Lauge  seines  Spottes  wird  ausgegossen  über  den  Ver- 
such, »die  Wage  auf  die  Empfindung  rückwärts  zu  übertragen«. 
»Das  Bewußtsein  soll  ein  Maß  abgeben;  eine  ,psychische  Elle' 
wird  als  Möglichkeit  aufgestellt.  So  ist  das  Problem  der  Psycho- 
physik entstanden  an  der  Grenze  der  Psychologie  und  der  Logik^.« 
Hier  wird  demnach  vorausgesetzt,  daß  die  Psychophysik  die  Ten- 
denz habe,  physikalische  Gegenstände  durch  die  Empfindung  zu 
messen,  also  etwa  Tonhöhen  oder  Lautstärken  auf  psychische 
Schwellenwerte  zurückzuführen.  In  Wirklichkeit  kann  nur  die  um- 
gekehrte Aufgabe  in  Betracht  kommen,  Empfindungen  durch  Reize 
oder  Unterschiedsschwellen  vermittels  des  Web  ersehen  Gesetzes 
festzulegen.  Die  Psychophysik  versucht  also  nicht,  die  Methoden 
der  Physik  zu  ersetzen;  sie  werden  vielmehr  vorausgesetzt.  Nicht 
um  die  »psychische  Elle«  handelt  es  sich,  sondern  um  die  »Elle 
für  das  Psychische«,  wenn  man  den  unschönen  Ausdruck  durchaus 
verwenden  will.  Das  Psychische  ist  Gegenstand,  d.  h.  Objekt, 
d.h.  Problem  der  Psychologie,  also  eben  nicht  das  Gegebene; 
nicht  der  Maßstab,  sondern  das  zu  Messende;  nicht  das  an  sich 
selbst  Gewisse,  sondern  das  zu  Bestimmende,  das  eben  durch  die 
wissenschaftliche  Bearbeitung,  durch  das  Denken,  unter  Zugrunde- 
legung spezifischer  Kategorien  in  seiner  eigentümlichen  Ausprägung 
erfaßt  werden  soll. 

Mit  Recht  behauptet  Stumpft  von  der  Psychologie  ganz 
allgemein,  sie  handle  ȟberhaupt  nicht  von  individuellen  Tatsachen, 
sondern  von  gesetzlichen  Beziehungen,  und  solche  sind  niemals 
unmittelbar  gegeben.  Das  unmittelbar  Gegebene  ist  nur  Ausgangs- 
punkt der  Forschung  und  Material  für  die  Begriffsbildung.  Diese 
Bedeutung  hat  es  aber  nicht  nur  für  den  Psychologen,  sondern 
auch  für  den  Physiker.«  Und  in  Übereinstimmung  damit  steht 
die  Äußerung  Cassirers'':  »Die  Empfindung  ist  keine  empirische 
Wirklichkeit  .  .  .,  sondern  lediglich  das  Ergebnis  einer  Abstraktion, 
die  auf  sehr  komplexen  logischen  Bedingungen  beruht.« 

1  H.  Cohen,  Logik  der  reinen  Erkenntnis,  S.  448. 

2  C,  Stumpf,  Zur  Einteilung  der  Wissenschaften,  S.  5. 

3  E.  Cassirer,  Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff,  S,  38L 


bie  Modalitälskategorieri.  49 


§  22.  Der  Anspruch  der  Psychophysik  ist  so  zwar  in  ge- 
wisser Weise  gesichert.  Nicht  aber  ist  damit  die  Frage  nach  dem 
Maßsystem  der  Psychologie  selbst  geklärt.  Auch  wenn  man  an- 
nimmt, daß  die  Fechn ersehe  Deutung  des  Gesetzes  zutrifft,  was 
nach  dem  Obigen  keineswegs  feststeht,  vielleicht  sogar  unwahr- 
scheinlich ist,  auch  dann  bliebe  ein  so  gegründetes  Maßsystem 
nur  auf  Empfindungen  anwendbar.  Zur  Messung  von  Vorstel- 
lungen, Affekten  etc.  ist  dieser  Weg  nicht  gangbar.  Nun  kann 
aber  keine  Naturwissenschaft  den  Begriff  des  Maßes  entbehren; 
denn  stets  muß  das  zu  bestimmende  Individuelle  in  seiner  Größe 
irgendwie  festlegbar  sein.  Die  Psychologie  wird  durch  eine  dahin- 
gehende Forderung  anscheinend  noch  einmal  in  ihrem  Kerne 
bedroht.  Denn  wie  soll  man  hoffen,  Gefühle  oder  Vorstellungen 
zu  messen,  mit  irgend  etwas  in  dem  Sinne  zu  vergleichen,  wie 
eine  Strecke  mit  einem  Metermaßstab?  Jeder  Rückgang  auf 
die  Reize  versagt  bei  den  psychischen  Reizen,  da  diese  nicht 
quantitativ  erfaßbar  sind.  Es  bleibt  daher  nur  möglich,  psy- 
chische Vorgänge  durch  gleichartige  Vorgänge  zu  bestimmen, 
die  als  Normen  ausgezeichnet  werden.  Und  entsprechend  dem 
Vorgange  bei  den  früher  erwähnten  Kategorien  werden  wir  auf 
quantitative  Vergleichbarkeit  von  vornherein  verzichten  müssen. 
Es  wird  genügen,  einen  Bezugspunkt  aufzufinden,  von  dem  aus 
die  Richtung  festgelegt  werden  kann.  Der  Stammbegriff,  der 
hier  mit  entscheidender  Kraft  und  Bedeutung  auftritt,  ist  der  des 
»Normalen«. 

Dieser  Begriff  erscheint  freilich  nicht  in  der  Psychologie  als 
ihr  eigentümlich  zum  ersten  Male.  Zu  seinem  Verständnis  wer- 
den wir  vielmehr  auf  die  Physik  zurückgreifen  müssen.  (In  der 
reinen  Mathematik  hat  er  keine  Stelle,  da  dort  die  Genauigkeit 
jeder  Größenbestimmung  theoretisch  beliebig  weit  getrieben 
werden  kann.)  Wir  betrachten  etwa  das  Problem  der  Längenmes- 
sung, die  bekanntlich  sehr  genau  möglich  ist,  wenn  man  metallene 
—  als  richtig  vorausgesetzte  —  Maßstäbe,  Mikroskop,  Nonius  etc. 
verwendet,  die  Temperatur  berücksichtigt  und  alle  möglichen 
sonstigen  Vorsichtsmaßregeln  beobachtet.  Trotzdem  werden  die 
Ergebnisse  mehrerer  solcher  Messungen  keine  absolute  Überein- 
stimmung zeigen,  weil  stets  eine  Reihe  teils  subjektiver,  teils  ob- 

Blumenfeld,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie.  4 


50  Die  Modalitätskategorien. 


jektiver  Umstände  in  ungleichem  Maße  hineinspielt.  Es  kommt 
gar  nicht  darauf  an,  daß  die  Fehler  klein  sind;  deren  Größe 
wird  je  nach  dem  Gegenstande  und  der  Methode  der  Messung 
variieren.  Aber  sie  treten  in  irgend  einer  Dezimale  unter 
allen  Umständen  prinzipiell  auf,  weil  die  Gesamtheit  der 
Bedingungen  nie  streng  zu  beherrschen  ist.  Daraus  folgt  die 
Streuung  der  Werte  über  einen  gewissen  Bereich  hinweg.  An- 
dererseits ist  es  aber  erforderlich,  einen  Wert  als  das  Ergebnis  der 
Messung  auszuzeichnen.  Es  ist  also  nach  dem  treffenden  Urteil 
Reichenbachs^  wesentlich  für  physikalische  Untersuchungen, 
daß  »über  Einwirkungen,  deren  Zahlenwert  und  Gesetz  man 
nicht  kennt,  Aussagen  gemacht  werden«.  Die  Bearbeitung  dieses 
Problems  ist  Aufgabe  der  »Wahrscheinlichkeitstheorie«, 
einer  mathematischen  Disziplin.  Sie  entwickelt  die  Methoden 
zur  Bestimmung  des  »richtigen«,  d.  h.  des  wahrscheinlichsten, 
d.  h.  eines  »Normal wertes«,  gegenüber  dem  die  einzelnen  Er- 
gebnisse entsprechende  Abweichungen  oder  »Fehler«  zeigen. 
Der  Normalwert  wird  damit  also  schon  in  der  Physik  zur  Be- 
urteilung der  einzelnen  Messung  verwertet.  Die  Voraussetzungen 
der  Wahrscheinlichkeitstheorie  sind  in  der  Reich enbachschen 
Arbeit  klar  hervorgehoben.  Sie  bestehen  wesentlich  in  der  Geltung 
des  Prinzips  der  »gesetzmäßigen  Verteilung«  der  Werte.  Die 
Genauigkeit  der  Ergebnisse  wird  durch  das  Gesetz  der  großen 
Zahl  bestimmt. 

Die  Bedeutung  der  Wahrscheinlichkeitstheorie  für  die  Physik 
ist  nicht  zu  unterschätzen.  Nicht  nur  die  Fehlerbestimmung,  son- 
dern vor  allem  auch  die  Behandlung  ungeordneter  Bewegungen 
aller  Art,  der  »Kollektivgegenstände«  verdankt  ihr  die  einzig  taug- 
lichen Werkzeuge.  Nach  einem  charakteristischen  Wort  ist  es  un- 
möglich, »Ordnung  in  das  Unendlichkleine  zu  bringen«.  Gerade 
dies  leistet  aber  die  auf  der  Wahrscheinlichkeitslehre  aufgebaute 
Disziplin  der  Statistik.  Die  kinetische  Gastheorie,  die  Boltz- 
mannsche  Ableitung  des  Entropieprinzips,  das  chemische  Massen- 
gesetz, die  elektrolytische  Theorie  der  Lösungen  erbringen  den 
Beweis  für  ihren  Wert  in  den  exakten  Naturwissenschaften. 


1  H.  Reichenbach,  Der  Begriff  der  Wahrscheinlichkeit  für  die  mathe- 
matische Behandlung  der  Wirklichkeit,  Lpz.  1916. 


Die  Modalifätskategorieii.  51 

In  der  Biologie  nun  erhält  der  Normalbegriff  eine  erhöhte 
Bedeutung.  Wegen  der  engeren  systematischen  Verknüpfung  ist 
die  Gesamtheit  der  Bedingungen  noch  unendlich  viel  schwerer 
zu  verfolgen  als  in  den  exakten  Naturwissenschaften.  Das  gilt 
schon  für  das  Verhalten  desselben  Organismus;  bei  einer  größeren 
Zahl  von  Individuen  aber  kommt  auch  deren  Ungleichförmigkeit 
noch  zur  Geltung.  Die  Zahl  der  Pulsschläge  eines  und  des- 
selben Menschen  zum  Beispiel  wechselt  je  nach  dem  Alter, 
der  Tageszeit,  der  physiologischen  und  psychischen  Konstel- 
lation. Es  ergibt  sich  selbst  unter  scheinbar  gleichartigen  Ver- 
hältnissen eine  gewisse  Streuung,  ein  als  »normal«  anzusprechen- 
der Bereich.  Gerade  darum  muß  aber  innerhalb  des  Bereichs 
ein  Wert  gefordert  werden,  der  für  ihn  charakteristisch  ist, 
an  dem  also  die  einzelnen  Werte  gemessen,  beurteilt  werden. 
Ferner  muß  diese  Zahl  selbst  wieder  in  Beziehung  zu  einem  für 
die  Gesamtheit  der  Menschen  geltenden  Mittelwert  gebracht  werden, 
der  damit  eine  Norm  höherer  Ordnung  darstellt. 

Stern ^  hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  Normalität  kein 
Punkt,  sondern  ein  Bereich,  eine  Strecke  sei;  auch  sei  die 
Häufigkeit  des  Vorkommens  »als  primäres  Merkmal  der  Normalität 
nicht  ausreichend«;  es  müsse  die  teleologische  Bedeutung  betont 
werden.  Wesentlich  sei  die  Anpassung  einer  Funktion  an  den 
»SpezialZweck,  den  sie  innerhalb  des  Gesamtorganismus  zu  er- 
füllen« habe.  Diese  Gedanken  stehen  nur  scheinbar  im  Wider- 
spruch mit  den  obigen  Ausführungen.  Auf  den  Streijungsbereich 
wurde  schon  hingewiesen;  er  bedeutet  selbst  eine  normale  Er- 
scheinung. Nichts  verbietet  aber  innerhalb  dieser  normalen  Strecke 
noch  einen  Wert  als  Zentralwert  auszuzeichnen,  und  tatsächlich 
geschieht  das  fast  durchgängig.  Das,  was  mit  ihm  zusammenfällt, 
ist  also  »normal«  in  einem  engeren  Sinne  als  dasjenige,  was  inner- 
halb der  normalen  Verteilungskurve  liegt.  Die  teleologische  Be- 
deutung soll  keineswegs  abgelehnt  werden,  sie  entspricht  durch- 
aus den  hier  vertretenen  Anschauungen,  aber  sie  steht  nicht  im 
Gegensatz  zu  der  quantitativen  statistischen  Darstellung,  sondern 
ist  ihre  notwendige  Ergänzung.  Das  Beispiel  Sterns  von  der 
Masseninfektion  einer  Großstadt  spricht  nicht  dagegen.    Wer  eine 

» W. Stern, D.diff.Ps. in  ihren  method. Grundlagen.  Lpz.1911.  S.156ff. 


52  Die  Modalitätskategorien. 


solche  verseuchte  Großstadt  untersuchte,  würde  vielleicht  genötigt 
sein,  einen  objektiv  schlechten  durchschnittlichen  Gesundheitsbefund 
auf  Grund  seiner  Untersuchungen  als  für  diese  Zeit  und  für 
diesen  Ort  normal  zu  bezeichnen.  Es  steht  aber  nichts  im  Wege 
und  ist  sogar  erforderlich,  ihn  wieder  zu  messen  an  dem  Durch- 
schnitt des  Landes  oder  der  Welt  zur  gleichen  Zeit  und  über  be- 
liebig weit  gespannte  andere  Zeiträume  hin.  Und  da  wird  er 
offenbar  zu  einem  anderen  Urteil  kommen,  weil  er  einen  wegen 
der  größeren  Zahl  genaueren  Normalbegriff  verwendet.  Je  größere 
Bereiche  er  aber  in  Betracht  zieht,  um  so  genauer  müssen  quan- 
titativ statistischer  und  teleologischer  Standpunkt  zu  gleichem  Ende 
führen. 

Die  Anwendung  auf  die  Psychologie  liegt  nun  auf  der  Hand. 
Alle  psychologischen  Gesetze  genau  wie  die  der  Physiologie  setzen 
den  Begriff  des  »Normalen«  als  Kategorie  voraus.  Die  Bezie- 
hung auf  die  Quantität,  die  im  allgemeinen  und  vielfach  auch 
noch  in  der  Physiologie  mit  dem  Maßbegriff  verbunden  ist,  wird 
in  der  Psychologie  entsprechend  der  Determination  in  den  Relations- 
kategorien aufgehoben;  der  »Normalbereich«  oder  »Normalpunkt« 
wird  zu  einem  bloßen  Bezugswert.  Völlig  entsprechend  haben 
wir  dagegen  in  Physiologie  und  Psychologie  den  Begriff  des  für 
das  Individuum  geltenden  intraindividuellen  Mittelwertes  von  dem- 
jenigen zu  unterscheiden,  der  »interindividuell«  gilt,  also  in  der 
»differentiellen  Psychologie«  in  die  Erscheinung  tritt.  Erst  von 
diesem  Standpunkt  aus  erhalten  wir  Klarheit  über  den  biologisch- 
psychologischen Terminus  des  »Typus«  entsprechend  dem  rein 
biologischen  der  »Varietät«.  Er  bezeichnet  in  der  Psychologie 
die  relative  Gleichförmigkeit  gewisser  Verhaltungsweisen  bei  ver- 
schiedenen Individuen.  Schließlich  wird  erst  von  hier  aus  der 
Begriff  des  »Pathologischen«  verständlich.  In  ihm  spricht 
sich  in  erster  Linie  aus,  daß  ein  individuelles  Phänomen  nicht 
nur  eine  Abweichung  vom  Normalwert  im  strengen  Sinne  hat  ^- 
das  ist  vielmehr  nach  dem  oben  Gesagten  selbst  eine  ganz  nor- 
male Erscheinung  — ,  sondern  daß  diese  Abweichung  abnorm 
groß  ist,  der  Wert  also  außerhalb  des  normalen  Bereichs  der 
Verteilungskurve  fällt.  Es  wird  aber  zweitens  durch  diesen  Begriff 
bezeichnet,  daß  hierbei  eine  Beeinträchtigung  der  Systembedingungen 


i 


Die  Modalitätskategorien.  53 

stattfindet,  so  daß  das  Leben  des  Organismus  gesciiädigt  wird. 
Darin  erst  kommt  der  spezifisch-teleologische  Charakter  zu  deut- 
licher Ausprägung^. 

§  23.  Noch  immer  sind  indessen  nicht  alle  Schwierigkeiten 
behoben.  Der  Maßbegriff  fordert  ja  die  Reproduzierbarkeit 
des  Maßes;  es  hat  keinen  Sinn,  eine  Größe  als  Maßstab  anzusetzen, 
wenn  dieser  nicht  (gegebenenfalls  im  Versuche)  aufgezeigt,  wieder- 
hergestellt werden  kann.  Und  nun  fragt  es  sich,  wie  denn  über- 
haupt in  der  Psychologie  ein  Versuch  wiederholbar  ist. 

Das  Bedenken,  dessen  Erheblichkeit  gar  nicht  zu  verkennen 
ist,  trifft  indessen  bereits  die  exakten  Naturwissenschaften.  Streng 
genommen  ist  auch  kein  physikalisches  oder  chemisches  Experiment 
wiederholbar,  weil  das  gesamte  System  der  Versuchsbedingungen, 
selbst  wenn  man  von  dem  reinen  Unterschiede  der  Raum-  urid 
Zeitstelle  absieht,  nicht  reproduzierbar  ist.  In  einzelnen  Fällen 
liegt  die  Feststellung  dieser  Tatsache  durchaus  innerhalb  der  Grenzen 
der  Meßbarkeit.  Man  denke  etwa  an  die  Veränderung  der  magne- 
tischen Eigenschaften  des  Eisens  durch  sein  »Altern«  oder  der 
elastischen  Eigenschaften  durch  jede  Beanspruchung.  Immerhin 
werden  diese  Vei-änderungen  erst  in  langen  Zeiten  merklich.  Aber 
der  Aluminiumstab  z.  B.,  der  bei  einem  Versuch  mechanisch  oder 
chemisch  »zerstört«  ist,  läßt  sich  keinesfalls  in  genau  gleicherweise 
wiederherstellen. 

Noch  schärfer  treten  diese  Verhältnisse  in  der  speziellen  Bio- 
logie hervor.  Es  gibt  grundsätzlich  überhaupt  keine  reversible 
Veränderung  eines  Organismus,  auch  wenn  man  von  dem  äußeren 
System  der  Bedingungen  der  Natur  ganz  absieht.  Denn  jeder 
Reiz  bewirkt  eine  Formung,  die  in  dem  Organismus  Spuren  hinter- 

1  Gerade  von  dem  hier  vertretenen  Standpunkt  aus  erscheint  übrigens 
die  Existenz  von  Krankheiten  der  Psyche  als  durchaus  verständlich.  So 
richtig  es  auch  methodisch  ist,  wenn  der  Psychiater  in  jedem  Falle  nach 
körperlichen  Ursachen  bezw.  Parallelerscheinungen  einer  manifesten  see- 
lischen Krankheit  sucht,  eine  Notwendigkeit  ihres  Vorhandenseins  ist  im 
Sinne  unserer  Ausführungen  keineswegs  gegeben.  Nur  wenn  der  psycho- 
physische  Parallelismus  strenge  Geltung  beanspruchen  dürfte,  wäre  sie 
zu  fordern.  Es  ist  also  keinesfalls  auszuschließen,  daß  für  die  sogen, 
funktionellen  Psychosen,  wie  Hysterie  und  Neurasthenie,  keinerlei  physio- 
logische Unterlagen  gefunden  werden. 


54  Die  Modalitätskategorien. 

läßt.  Trotzdem  läßt  sich  wegen  der  vielfach  relativ  langsamen  Ver- 
änderungen die  Wiederholbarkeit  mit  gewissen  Einschränkungen 
erreichen.  Bei  genügenden  Vorsichtsmaßregeln  bleibt  z.  B.  die 
Pulszahl  eines  Menschen  auch  in  langen  Zeiträumen  hinreichend 
konstant. 

Bei  der  Psychologie  aber  ist  allerdings  die  Flüchtigkeit  der 
Erscheinungen  bis  ins  Extrem  getrieben.  Wenn  Heraklit  den 
Satz  aufstellte,  daß  der  Mensch  nicht  zweimal  in  denselben  Fluß 
steigen  könne,  so  hatte  er  dabei  vermutlich  nicht  nur  den  Fluß, 
sondern  auch  den  Menschen  im  Auge.  Trotzdem  gibt  es  sehr 
viele  Vorgänge,  bei  denen  mittels  entsprechender  Versuchsanord- 
nung, z.  B.  durch  Übung,  völlig  ausreichende  Gleichförmigkeit 
erreichbar  ist.  Wenn  aber  doch  Störungen  auftreten,  so  machen 
sie  sich  im  allgemeinen  in  der  Selbstwahrnehmung  bemerkbar 
und  können  dadurch  berücksichtigt  werden.  In  solchen  Fällen 
jedoch,  wo  gerade  die  individuellen  Formungsvorgänge  verfolgt 
werden  sollen,  etwa  der  charakteristische  Verlauf  der  ÜbungSr 
kurve  selbst  festzustellen  ist,  läßt  sich  der  Vorgang  zwar  an  dem 
betreffenden  Individuum  nicht  wiederholen,  aber  durch  Heran- 
ziehung anderer  > Versuchspersonen«  von  typisch  gleichartigem 
Verhalten  kann  man  doch  das  Gesetz  in  seiner  allgemeinen  Form 
prüfen  und  daraus  dann  die  individuellen  »Konstanten«  bestimmen. 
Der  Begriff  des  Normalen  bleibt  auch  in  diesem'  Fall  als  Maß- 
begriff erhalten;  er  bezieht  sich  dann  auf  die  Form  des  Gesetzes, 
genau  wie  bei  dem  Aluminiumstab,  der  durch  einen  Festigkeits- 
versuch zerstört  ist.  Dieser  wird  als  ein  Exemplar  mit  typischen 
Eigenschaften  angesehen,  das  innerhalb  der  normalen  Abweichungen 
durch  ein  anderes  ersetzt  werden  kann. 

Aus  diesen  Ausführungen  folgt,  daß  in  den  Grenzen  der 
Naturwissenschaft  überhaupt  nur  von  einer  graduell  verschiedenen 
Wiederholbarkeit  der  Versuche  und  damit  auch  der  Mittelwerte 
gesprochen  werden  kann.  Der  graduelle  Unterschied  aber  ist 
logisch  unerheblich,  ist  kein  Einwand  gegen  die  Wissenschaftlich- 
keit der  Psychologie,  sondern  gibt  nur  einen  Hinweis  auf  die 
methodischen  Schwierigkeiten  bei  der  empirischen  wissenschaft- 
lichen Arbeit. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  es  vielleicht  gegen  die  Eigenschaft 


Die  Modalitätskategorien.  55 

der  Psychologie  als  Naturwissenschaft,  nicht  aber  als  Wissenschaft 
überhaupt  sprechen  würde,  wenn  der  Maßbegriff  keinerlei  An- 
wendung in  ihr  fände,  und  wenn  von  einer  Wiederholbarkeit 
auch  nicht  einmal  unter  annähernd  gleichen  Bedingungen  die 
Rede  sein  könnte,  so  daß  also  jeder  »Versuch«  grundsätzlich  aus- 
geschlossen wäre.  Alle  Gründe,  die  etwa  in  diesem  Sinne  geltend 
gemacht  werden  könnten,  müßten  mindestens  in  noch  viel  ein- 
schneidenderer Weise  die  Auffassung  der  Geschichtswissenschaft 
beeinflussen,  in  der  die  Einmaligkeit  aller  Vorgänge  mit  besonderer 
Deutlichkeit  hervortritt.  Die  Ausführungen  Sternbergs ^  zu 
diesen  Fragen  erscheinen  völlig  zwingend.  Wenn  aber  in  einem 
so  extrem  liegenden  Falle  die  Unmöglichkeit  der  Verifikation  nicht 
den  Wissenschaftscharakter  tangiert,  so  muß  das  Gleiche  erst  recht 
von  der  empirischen  Psychologie  gelten,  bei  der  man  höchstens 
eine  gewisse  Einschränkung  einer  solchen  Möglichkeit  anzuerkennen 
haben  wird.  Insbesondere  wird  aber  durch  diese  Argumentation 
die  Geltung  der  Völker-  und  der  Entwicklungspsychologie  ge- 
sichert, die  ja  vorwiegend  historisch  orientiert  sind. 

2.  Wirklichkeit. 

§  24.  Die  Kategorie  der  Möglichkeit  empfängt  ihre  Berech- 
tigung von  dem  Gedanken,  daß  sie  die  Wirklichkeit  begreiflich 
macht,  ermöglicht.  Die  Hypothese  sollte  den  Ansatz  für  die 
Aufstellung  des  die  Wirklichkeit  beherrschenden  Gesetzes  liefern. 
Die  individuelle  Größe  wird  gemessen  an  der  normalen.  Aber 
welcher  Art  ist  nun  die  Größe  der  psychischen  Erscheinungen, 
die,  wie  man  sieht,  entscheidend  wird  für  das  Urteil  der  Wirk- 
lichkeit? In  den  exakten  Naturwissenschaften  werden  alle  Größen, 
wie  wir  bei  der  Betrachtung  des  Maßbegriffes  sahen,  irgendwie 
auf  die  Ausdehnung,  auf  den  Raum  bezogen  \  Das  Gleiche  gilt 
auch  von  der  Biologie.  Wachstum,  Fortpflanzung,  alles  physio- 
logische Geschehen  läßt  sich  raum-zeitlich  darstellen.  Das  ist  bei 
Empfindungen   unmöglich,    noch    viel   mehr  bei   Vorstellungen, 


1  K.  Sternberg,  Zur  Logik  der  Geschichtswissenschaft,  Berlin  1914. 
S.  38  ff. 

2  S.  oben  S.  46. 


56  Die  Modalitätskategorien. 

Gefühlen  u.  dergl.  Und  doch  ergibt  sich  die  Notwendigkeit  der 
Größenbestimmtheit,  sonst  könnte  auch  kein  Maß  für  sie  angegeben 
werden.  Diese  Größe  kann  daher  nicht  extensiv,  sie  muß  in- 
tensiv sein. 

In  aller  Schärfe  hat  Cohen ^  diese  Möglichkeit  bestritten: 
»Es  gibt  keine  intensive  Größe;  es  darf  keine  geben,  denn  die 
Empfindung,  als  eine  Art  des  Bewußtseins,  hat  keine  Art  von 
Größe  .  .  .  Die  intensive  Größe  ist  beseitigt  durch  das  Äqui- 
valent.« Wie  der  Stellungnahme  gegenüber  der  Psychophysik 
liegt  auch  dieser  Argumentation  der  Gedanke  zugrunde,  daß  ein 
Gegenstand  durch  die  »Empfindung«  beglaubigt,  logisch  fundiert 
werden  soll.  In  der  Psychologie  besteht  diese  Absicht  keinesfalls; 
Empfindungen  wie  alle  andern  psychologischen  Phänomene  sollen 
ja  in  ihr  selbst  erst  als  Gegenstände  konstituiert  werden.  Der 
durch  die  »naiven«  Kategorien  fundierte  Gegenstand  soll,  wie  in 
allen  anderen  Wissenschaften,  auch  in  dieser  vom  Denken  aus 
seine  Größenbeslimmung  erhalten.  Das  Denken  muß  wie  den 
Grundstein  so  auch  den  Schlußstein  des  Baues  bilden. 

Mit  ganz  anderen  Beweisgründen  wird  die  Behauptung 
Cohens  von  selten  mancher  Psychologen  aufgenommen.  Nach 
ihrer  Ansicht  sind  Abstufungen  der  Empfindung  nicht  möglich. 
Eine  hellere  und  eine  dunklere  Farbe  lösen  verschiedene  unver- 
gleichbare Gesichtsempfindungen,  laute  und  leise  Töne  verschie- 
dene Gehörsempfindungen  aus,  aber  die  Empfindungen  selbst 
sind  eben  andere,  nicht  graduell  abgestufte.  Die  Abschattung 
trifft  vielmehr  nur  auf  die  objektiven  Reize  zu.  Dagegen  wird 
wohl  durchgängig  zugestanden,  daß  Unterschiede  von  Empfin- 
dungen miteinander  verglichen  werden  können.  Der  Abstand 
zwischen  zwei  Eindrücken  könne  größer  oder  kleiner  sein  als  der 
zwischen  zwei  anderen  derselben  Klasse.  Dies  Zugeständnis  ist 
notwendig,  da  sonst  im  letzten  Grunde  den  Reizreihen  ein  gänz- 
lich der  Ordnung  unfähiges  Chaos  von  Empfindungen  etc.  gegen- 
überstände. Aber  es  darf  bezweifelt  werden,  ob  die  ganze 
Position  in  aller  Strenge  haltbar  ist.  Gerade  aus  der  Möglichkeit, 
über  den  Unterschied  zweier  Empfindungen  überhaupt  zu  urteilen 
—  diese  Voraussetzung  liegt  aber  dem  Vergleich  von  Empfindungs- 

1  H.  Cohen,  Logik  der  reinen  Erkenntnis,  S.  294. 


Die  Modalitätskategorien.  57 

unterschieden  bereits  zugrunde  —  folgt  doch  wohl,  daß  die  Emp- 
findungen selbst  irgend  wie  bestimmt  sind.  In  welcher  Hinsicht 
aber  sollten  sie  wohl  bestimmt  sein,  wenn  nicht  bezüglich  ihrer 
Größe,  nämlich  ihrer  graduellen  Beziehung  zueinander?  Auch 
bei  Individuen,  die  über  die  objektiven  Ursachen  von  hell  und 
dunkel,  leise  und  laut  nichts  wissen,  ist  ein  Verständnis  dieser 
Abstufungen  als  solcher  im  allgemeinen  vorhanden  oder  erzielbar. 
Es  dürfte  sich  kaum  leugnen  lassen,  daß  zwei  objektiv  wenig 
verschiedene  Töne  eben  »wenig  verschiedene«  Empfindungen 
auslösen,  die  im  stetigen  Übergange  gleich ,  ununterscheidbar 
werden.  Von  einer  Reihe  von  Psychologen  wird  die  Berechtigung, 
die  Annahme  einer  »intensiven  Größe«  zwar  nicht  allgemein,  aber 
für  den  Bereich  der  Farbwahrnehmung  bestritten.  Intensität  sei 
deswegen  ausgeschlossen,  weil  eine  Verminderung  nach  Null 
nicht  vorkomme;  denn  sowohl  weiß  wie  schwarz  seien  »positive« 
Empfindungen.  Gegen  diese  Tatsachen  ist  natürlich  nichts  zu 
sagen.  Es  fragt  sich  nur,  ob  es  begrifflich  notwendig  ist,  daß 
die  Null  erreicht  wird.  Man  kann  ganz  wohl  behaupten,  daß  die 
Sättigung  einer  Farbe  wächst  oder  abnimmt  bei  bestimmten  Ver- 
änderungen; dasselbe  läßt  sich  von  ihrer  Helligkeit  und  ihrer  Ein- 
dringhchkeit  aussagen.  Die  Erreichbarkeit  der  Grenzen  ist  logisch 
irrelevant;  es  handelt  sich  stets  um  »graduelle«  Verschieden- 
heiten, und  mehr  soll  der  Begriff  der  »intensiven  Größe«  hier  nicht 
besagen.  Er  ist  also  von  dem  spezielleren  wohl  zu  unterscheiden, 
der  etwa  im  Tongebiet  bezüglich  der  Lautstärke  üblich  ist. 

Ernster  ist  dagegen  die  Stellungnahme  Stumpfs^  zu  nehmen, 
der  den  »psychischen  Funktionen«  Intensität  abspricht,  wenigstens 
in  demselben  Sinne,  wie  sie  den  Tönen  und  Gerüchen  zukomme. 
Aber  auch  hier  liegt  m.  E.  kein  wirklicher  Widerspruch  vor.  Es 
wird  für  die  rein  logische  Betrachtung,  mit  der  wir  hier  einzig 
und  allein  zu  tun  haben,  völlig  ausreichen,  wenn  bei  den  Funk- 
tionen ein  graduell  abstufbares  Element  überhaupt  nachweisbar 
ist,  das  für  das  Erlebnis  als  solches  charakteristisch  ist.  Die 
Deutlichkeit  der  Wahrnehmungen,  die  Erinnerungsgewißheit,  die 
Evidenz  der  Urteile,  die  Stärke  der  Affekte  sind  solche  Elemente, 
die  wenigstens  grundsätzlich  eine  Vergleichbarkeit  in  Hinsicht  auf 

1  C.  Stumpf,  Erscheinungen  und  psychische  Funktionen.    S.  11. 


58  Die  Modalitätskategorien. 

ihren  Grad  erlauben,  auch  wenn  die  psychische  Gegebenheit  eine 
ganz  andere  ist  als  die  der  »Erscheinungen«. 

Es  bleibe  dahingestellt,  ob  für  das  Reich  der  Empfindungen 
der  Versuch  der  Psychophysik  gelungen  ist  oder  auch  nur  ge- 
lingen kann,  die  graduelle  Verschiedenheit  von  Wahrnehmungs- 
inhalten quantitativ  zu  bestimmen.  Für  alle  sonstigen  psychischen 
Phänomene  ist  die  Forschung,  mindestens  nach  ihrem  bisherigen 
Stande,  auf  intensive  Größen  beschränkt.  Es  mag  eine  unvoll- 
kommene Bestimmung  einer  Vorstellung  bedeuten,  wenn  fest- 
gestellt wird,  daß  sie  lebhafter  als  eine  andere  und  weniger  leb- 
haft als  eine  dritte  ist.  Aber  eine  so  gegründete  Ordnung  ist 
wissenschaftlich  nicht  wertlos.  Sie  ermöglicht  die  Aufstellung 
einer  Reihe  stetig  aufeinanderfolgender  Glieder,  in  der  jedes  seinen 
bestimmten  Platz  einnimmt.  Gegenüber  Cohens  schneidender 
Ablehnung  müssen  wir  also  die  Position  Kants  wieder  herstellen 
und  ihren  Geltungsbereich  erweitern,  der  die  »Antizipation  der 
Wahrnehmung«  bekanntlich  so  formulierte:  »In  allen  Erscheinungen 
hat  das  Reale,  was  ein  Gegenstand  der  Empfindung  ist,  intensive 
Größe,  d.  i.  einen  Grad^.«  Damit  ist  auch  der  Maßbegriff  geklärt. 
Maß  der  einzelnen  Empfindung,  Vorstellung  usw.  ist  die  unter 
den  entsprechenden  psychophysischen  Bedingungen  normale 
Empfindung  usw.,  bezogen  zunächst  auf  das  Individuum,  das  aber 
selbst  wieder  an  dem  normalen  Individuum  gemessen  wird.  Aus 
dem  Begriff  der  intensiven  Größe  erklärt  sich  ohne  weiteres,  daß 
psychologische  Gesetze,  soweit  sie  nicht  statistische  Feststellungen 
sind,  oft  die  Form  des  »je  .  .  .  desto«  tragen.  In  ihnen  wird  wohl 
die  Zuordnung,  aber  keine  quantitative  Beziehung  festgelegt. 

Es  ist  also,  wie  von  dem  hier  vertretenen  Standpunkt  aus 
selbstverständlich,  eine  ganz  spezielle  Wirklichkeit,  die  dem  psy- 
chologischen Gegenstände  eigen  ist;  er  ist  das  Produkt  der  Be- 
arbeitung durch  die  Psychologie.  Wie  jede  Wissenschaft  erzeugt 
auch  sie  sich  ihren  eigenen  Gegenstand  in  ihrer  eigenen  Wirk- 
lichkeit. 


1  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Reclam- Ausgabe,  S.  162. 


Die  Modalitätskategorien.  59 


3.  Notwendigkeit. 

§  25.  Diejenige  Methode,  die  dazu  dient,  die  in  der  Hypo- 
these als  möglich  angesetzte  These  auf  ihre  Geltung  für  die  Wirk- 
lichkeit hin  zu  prüfen  und  sie  als  notwendig  zu  begründen,  ist 
das  kombinierte  Verfahren  der  Induktion  und  Deduktion,  wie  es 
Galilei  zuerst  in  die  Naturwissenschaft  mit  vollem  Bewußtsein 
eingeführt  hat.  Seine  logische  Bedeutung  ist  durch  die  Neu- 
kantianer, insbesondere  auch  Riehl,  so  klar  auseinandergesetzt 
worden,  daß  darüber  nichts  Neues  zu  sagen  sein  wird.  Die 
Hypothese  stellt  die  These  als  Ansatz  hin,  die  sich  in  ihren 
Konsequenzen  als  wirklich  bewähren  muß,  insofern  diese  mit 
Notwendigkeit  aus  ihr  ableitbar  sind.  Beide  Methoden  sind 
also  streng  korrelativ:  >Wer  induktiv  vorgeschritten  ist,  muß 
deduktiv  zurückschreiten  .  .  .  Stellt  der  Gewinn  eines  Gesetzes 
das  Ziel  der  Induktion  dar,  so  ist  eben  die  Deduktion  ihr  Ziel; 
denn  das  Gesetz  ist  nur  dazu  da,  damit  aus  ihm  deduziert  wird^« 

Beispielsweise  sei  etwa  das  Problem  der  Entstehung  des  Ein- 
druckes der  Geradheit  einer  Linie  behandelt-.  Es  wird  die  Tat- 
sache bemerkt,  daß  häufig  bei  Beurteilung  der  Geradlinigkeit  einer 
Strecke  Augenbewegungen  auftreten.  Induktiv  wird  daher  zu- 
nächst die  These  gewonnen  und  hypothetisch  festgesetzt,  daß 
die  Augenbewegungen  beim  Durchlaufen  der  Linie  für  die  Sicher- 
heit des  Urteils  maßgebend  sind.  Daraus  leitet  der  Forscher  de- 
duktiv ab,  daß  bei  Wegfall  der  Augenbewegungen  die  Genauig- 
keit der  Beurteilung  auf  Geradlinigkeit  hin  leiden  muß.  Der 
Versuch  wird  zum  Richter  angerufen.  Man  stellt  die  Geradheits- 
schwelle bei  bewegtem  und  ruhendem  Blick  fest.  Das  Ergebnis 
aber  zeigt  keinen  Unterschied  in  beiden  Fällen.  Damit  ist  die 
These  abgelehnt.  Und  das  —  vorläufig  noch  negative  —  Ge- 
setz, das  nun  Notwendigkeitscharakter  zeigt,  lautet:  für  die  Ge- 
nauigkeit des  Geradheitseindrucks  einer  Strecke  sind  Augenbewe- 
gungen nicht  entscheidend.  Eine  Ergänzung  im  positiven  Sinne 
ist  offenbar  erforderlich.  Aber  der  Gang  der  Forschung  ist  dann 
wieder   der  gleiche.     Aus  der  jeweils  hypothetisch  angesetzten. 


1  K.  Sternberg,  a.  a.  O.  S.  234. 

2  K.  Bühler,  Die  Gestaltwahmehmungen,  S.  84  ff. 


60  Die  Modalitälskategorien. 


im  Wege  der  Induktion  gefundenen  These  werden  deduktiv  die 
sich  notwendig  ergebenden  Folgerungen  abgeleitet  und  im  Ver- 
such geprüft. 

Ein  psychologistisches  Mißverständnis  kann  in  wenigen 
Worten  abgetan  werden.  Die  Notwendigkeit  ist  nicht  identisch 
mit  der  Evidenz.  Für  das  Einsehen  eines  Zusammenhanges 
als  Vorgang  sind  selbst  psychologische  Gesetze  grundlegend  und 
maßgebend.  Das  »Gefühl  der  Gewißheit«  ist  also  keinesfalls, 
wie  Sigwart^  meint,  »ein  Letztes,  über  das  nicht  zurückgegangen 
werden  kann«.  Es  ist  vielmehr  ein  erklärungsbedürftiges  Problem 
der  Seelenlehre.  Dies  geht  schon  daraus  hervor,  daß  es  abstuf- 
bar ist,  da  sich  Grade  der  Sicherheit  und  Ausgeprägtheit  dieses 
Gefühls  aufweisen  lassen.  G.  E.  Müller^  nennt  es  geradezu  »eine 
fundamentale  Tatsache«,  daß  »das  Richtigkeitsbewußtsein  einen 
Grad  besitzt«  und  Bühl  er"  sagt  ganz  richtig:  »Die  Erinnerungs- 
gewißheit ist  ein  Erlebnis,  dessen  Eintreten  in  jedem  einzelnen 
Fall  seine  Ursachen  haben  muß.«  Daraus  folgt  schon,  wie 
Liebert^  bemerkt,  daß  die  im  Systemgedanken  begründete  Au- 
tonomie der  Erkenntnis  vom  »Evidenzgefühl«  völlig  unabhängig 
sein  muß.  Dagegen  fällt  die  »absolute  Evidenz«  der  Husserlschen 
Terminologie,  soweit  ich  sehe,  mit  der  logischen  Notwendigkeit 
zusammen.     Auch  ihr  Grund  liegt  im  Systemgedanken^ 


3.  Abschnitt. 

Stellungnahme  zu  anderen  Theorien 
und  Zusammenfassung. 

§  26.  Es  war  die  Absicht  zu  zeigen,  daß  die  Psychologie 
eine  eigene  systematische  Einheit  darstellt,  deren  Kategorien  im 
engen  Zusammenhang  mit  denen   der  Biologie,   Chemie,   Physik 

1  Sigwart,  Logik  II,  3.  A.,  S.  756. 

2  G.  E.  Müller,  Zur  Analyse  der  Gedächtnistätigkeit  und  des  Vor- 
stellungsverlaufes, III.  Teil,  S.  265,  1913. 

3  K-  Bühler,  Die  geistige  Entwicklung  des  Kindes.   S.  246. 
^  A.  Liebert,  Das  Problem  der  Geltung.   S.  106. 

5  E.  Husserl,  Logische  Untersuchungen  I,  S.  185.  Vgl.  auch  Reimer, 
Der  phänomenologische  Evidenzbegriff.    Kantstudien,  Bd.  23,  S.  292. 


Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung.       61 

und  Mathematik  stehen.  Aus  diesen  gehen  sie  in  systematischer 
Abwandlung  hervor  vermöge  der  Kontinuität  der  »Bewegung 
der  Begriffe«,  die  wir  durchgängig  verfolgen  konnten.  So  wird 
die  Psychologie  in  gewissem  Sinne  zur  letzten,  zum.  Schlußstein 
der  eigentlichen  Naturwissenschaften,  verschwistert  mit  der  spe- 
ziellen Biologie,  auf  die  sie  sich  doch  auch  gründet.  Nun  sind 
aber  die  Gesetze  des  Seelenlebens,  die  sie  aufzeigt,  notwendige 
Voraussetzungen  anderer  Wissenschaften,  wie  der  Volkswirtschafts- 
lehre, der  Pädagogik,  der  Geschichte.  Es  ist  zuzugeben,  daß  für 
diese  Leistung  kaum  erst  die  primitivsten  Ansätze  sichtbar  sind, 
und  daß  all  diese  Wissenschaften  sich  noch  überwiegend  auf 
die  »Vulgärpsychologie«  und  auf  die  »Intuition«  stützen.  Aber 
der  Anspruch  der  Psychologie  wird  dadurch  nicht  berührt, 
daß  sie  zur  Erfüllung  bis  jetzt  erst  in  bescheidenem  Umfange 
befähigt  ist.  Auch  wird  er  von  Seiten  dieser  Disziplinen  prin- 
zipiell anerkannt^.  So  eröffnet  die  Psychologie  den  Reigen  einer 
neuen  Reihe  von  Wissenschaften,  indem  sie  den  Übergang  zu 
ihnen  herstellt  und  dadurch  die  Schärfe  eines  Sprunges  verhindert, 
der  auch  im  Wissenschaftssystem  durch  die  Kategorie  der  Kon- 
tinuität ausgeschlossen  sein  muß. 

Daß  auch  in  den  »Geisteswissenschaften«  der  »lineare« 
Fortgang  der  Determination  aufzeigbar  sein  müsse,  wie  wir  ihn 
in  den  Naturwissenschaften  zu  erblicken  glauben,  soll  keineswegs 
behauptet  werden.  Diese  Frage  dürfen  wir  hier  völlig  offen 
lassen.  Wesentlich  erscheint  nur,  daß  die  Psychologie  zwischen 
ihnen  und  den  Naturwissenschaften  das  Bindeglied  darstellt. 

Gerade  diese  Kontinuität  scheint  nun  in  gewissem  Sinne 
einen  Gegensatz  zu  den  von  Stumpf  entwickelten  Anschauungen 
zu  bedingen.  Danach  sind  als  »unmittelbar  gegeben«,  d.  h.  »als 
Tatsache  unmittelbar  einleuchtend«  Erscheinungen  und  psychische 
Funktionen  anzusehen,  die  In  hohem  Maße  voneinander  un- 
abhängig, obwohl  in  dem  »nämlichen  undefinierbaren  Bewußt- 
sein« gegeben  sind,  so  daß  der  Unterschied  zwischen  ihnen  der 
»schärfste,    den   wir   kennen«,   ist^     Während  die  Gegenstände 

1  W.  Dilthey,  Ideen  über  eine  zergliedernde  und  beschreibende 
Psychologie.   S.  1322. 

2  C.  Stumpf,  Erscheinungen  und  psychische  Funktionen.    S.  11, 


62       Stellungnahme  zu  anderen  Theorieh  und  Zusammenfassung. 

der  Naturwissenschaften  aus  den  Erscheinungen  nur  erschlossen 
sind,  liefern  die  psychischen  Funktionen  »ohne  weiteres  das  Mate- 
rial für  die  Gegenstände  der  Geisteswissenschaften«.  Die  Psycho- 
logie nun  handelt  von  den  »elementaren«  Funktionen,  während 
Soziologie,  Sprach-,  Religions-  und  Kunstwissenschaft  die  »kom- 
plexen« Funktionen  bearbeiten.  Aber  auch  Stumpf  verkennt 
nicht,  daß  »schon  beim  ersten  Schritt  jeder  [sc.  geisteswissen- 
schaftlichen] Untersuchung  physische  Gegenstände  miteinbezogen 
werden  müssen«,  und  daß  »Psychologie  und  Physiologie  in 
gewissen  Teilen  stark  ineinandergreifen«.  Und  mag  also  auch  in 
der  phänomenologischen  Betrachtung  der  Unterschied  zwischen 
Erscheinungen  und  psychischen  Funktionen  noch  so  groß  sein,  so 
wird  er  doch  anscheinend  von  Stumpf  nicht  als  ein  Schnitt  aufgefaßt, 
der  zwei  völlig  heterogene  Wissenschaftsbereiche  trennt.  Spielen 
doch  beide  in  der  Psychologie  eine  Rolle,  da  auch  nach  Stumpf 
Empfindungen  und  Vorstellungen  sicherlich  nicht  aus  ihr  entfernt 
werden  sollen.  Es  wird  also  in  dieser  Hinsicht  die  Ab- 
weichung seiner  Anschauungen  von  den  hier  vorgetragenen  nicht 
so  groß  sein,  wie  es  zunächst  scheinen  könnte.  Hinsichtlich 
mancher  anderen  Fragen,  so  z.  B.  der  Auffassung  des  logischen 
Charakters  der  Tatsachen,  dürften  freilich  grundsätzliche 
Differenzen  gegenüber  meinem  verehrten  Lehrer  vorhanden  sein. 

Ohne  auf  diese  einzugehen,  möchte  ich  am  Schlüsse  noch 
in  eine  Erörterung  mehrerer  entscheidend  abweichender  Stellung- 
nahmen anderer  Forscher  eintreten,  die  der  empirischen  Psycho- 
logie, von  der  wir  sprechen,  entweder  kein  oder  nur  ein  sehr 
eingeschränktes  Recht  zugestehen,  die  also  entweder  behaupten, 
daß  sie  überhaupt  auf  falschem  Wege  sei,  oder  aber  ihr  vorwerfen, 
daß  sie  gerade  die  entscheidenden  Gesichtspunkte  bisher  nicht  aus- 
reichend gewürdigt  habe. 

Noch  immer  wirken  die  Anschauungen  nach,  die  Dilthey 
entwickelt  hat.  Von  diesem  wird  ein  Gegensatz  zwischen  er- 
klärender und  beschreibender  Psychologie  statuiert,  der  zu  seiner 
Ablehnung  der  Erklärung  führt.  Dilthey  begründet  diese  Stellung- 
nahme damit,  daß  die  Psychologie  als  Geisteswissenschaft  »ihre 
Methoden  ihrem  Objekt  entsprechend  selbständig  zu  bestimmen 
habe«.     Während    in    den   Naturwissenschaften    »nur    durch    er- 


Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung.       63 

gänzende  Schlüsse  vermittels  einer  Verbindung  von  Hypothesen 
ein  Zusammenhang  der  Natur  gegeben  sei«,  liege  in  den  Geistes- 
wissenschaften »der  Zusammenhang  des  Seelenlebens  als  ein  ur- 
sprünglich gegebener  überall  zugrunde« ^  »Die  Natur  erklären 
wir,  das  Seelenleben  verstehen  wir  ^«  »Die  Hypothese  ist  nicht . . . 
unerläßliche  Grundlage«  der  Psychologie.  Auch  besitze  die 
Hypothese  in  ihr  »keineswegs  die  Leistungsfähigkeit,  welche  sie 
im  naturwissenschaftlichen  Erkennen  bewährt«  habe.  Vielmehr 
stehe  die  »Möglichkeit  ihrer  Erprobung  an  den  psychischen  Tat- 
sachen gar  nicht  in  Aussicht«^.  Durch  die  Rücksichtnahme  auf 
♦-idie  erklärende  Psychologie  aber,  die  zur  Lösung  solcher  Aufgaben 
nicht  in  der  Lage  sei,  entständen  für  die  Erkenntnistheorie  und 
die  Geisteswissenschaften,  die  von  der  Seelenlehre,  wenn  auch  in 
ungleichem  Maße  abhängig  seien,  höchst  nachteilige  Folgen*. 
Diese  würden  durch  Beschränkung  auf  Beschreibung  und  Zer- 
gliederung vermieden,  welche  sich  an  den  entwickelten  Menschen 
und  das  fertige  vollständige  Seelenleben  in  seiner  Totalität  zu 
halten  hätten.  Es  ergäben  sich  dann  als  Aufgaben  außer  der 
Terminologie  die  Heraushebung  der  Strukturgesetzlichkeit,  der 
Entwicklung  des  Seelenlebens  und  der  Einwirkung  des  erworbenen 
psychischen  Zusammenhanges  auf  jeden  einzelnen  Akt  des  Be- 
wußtseins ^ 

Man  wird  diesen  Ausführungen  in  mancher  Hinsicht  bei- 
pflichten müssen.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  psycho- 
logischen Hypothesen  selten  den  Grad  von  Sicherheit  erreichen 
wie  die  physikalischen  und  chemischen.  Andererseits  stehen  sie 
aber,  und  das  ist  wesentlich,  gegenüber  den  biologischen  keines- 
falls zurück.  Man  denke  etwa  an  die  physiologische  Theorie 
der  Determinanten  oder  der  Epigenesis.  Daß  der  Zusammenhang 
des  Seelenlebens  unmittelbar  gegeben  sei,  wird  man  nach  dem 
früher  Gesagten  als  unzutreffend  ablehnen  müssen,  ohne  daß 
sich  daraus  für  die  Grundposition  Diltheys  erhebliche  Konse- 
quenzen ergäben.  Zu  dieser  aber,  d.  h.  zu  der  Frage  der  Be- 
rechtigung einer  erklärenden  Psychologie  überhaupt,  werden  wir 


1  Dilthey,  a.  a.  O.   S.  314  und  1376.    -    2  A.  a.  O.  S.  1313/14. 
3  A.  a.  O.  S.  1312.  -  4  A.  a.  O.  S.  1316.  -  s  A.  a.  O.  S.  1346  ff. 


04       Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenkssuttg. 

Stellung  nehmen  müssen.  Der  Fortschritt  der  Wissenschaft  hat 
Dilthey  insofern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  recht  gegeben, 
als  eine  Vertiefung  und  stärkere  Betonung  der  Deskription  gegen- 
über der  Erklärung  von  vielen  Seiten  gefordert  und  auch  an- 
gebahnt v^^orden  ist.  Und  zweifellos  ist  die  Notwendigkeit  exakter 
Beschreibung  in  der  Seelenlehre  ebenso  wie  in  der  Biologie 
um  so  mehr  zu  betonen,  je  schwieriger  infolge  der  Kompliziert- 
heit der  Bedingungen  jeder  Erklärungsversuch  ist.  In  je  umfassen- 
derem Maße  die  Theorien  sich  durchsetzen,  desto  geringerer 
Raum  braucht  der  Deskription  überlassen  zu  werden.  Aber  es 
wäre  keinesfalls  richtig,  zwischen  ihr  und  der  Erklärung  einen 
Gegensatz  konstruieren  zu  wollen.  Natorp^  hat  hierin  durchaus 
recht:  »Tatsache  und  Gesetz,  Beschreibung  und  Erklärung  ge- 
hören unweigerlich  zusammen.  Die  Tatsache  ist  nicht  anders  zu 
sichern  als  im  Gesetz.  Und  Beschreibung  ist  Subsumption 
unter  Allgemeinbegriffe;  die  Allgemeinbegriffe,  durch  ..die  be- 
schrieben wird,  bedürfen  aber  der  Rechtfertigung,  und  sie  sind 
nicht  anders  zu  rechtfertigen  als  aus  gesetzlichem  Zusammen- 
hange. Ohnehin  hat  in  aller  Wissenschaft  die  Beschreibung  nur 
einen  vorbereitenden  Wert  eben  für  die  Gesetzeserkenntnis, 
welche  die  allein  zugängliche  Art,  der  allein  klar  verständliche  Sinn 
der  »Erklärung«  ist.«  Auch  die  beschreibende  Botanik  und  Zoo- 
logie bedürfen  der  Ergänzung  durch  die  Erklärung,  die  den 
Tatsachen  den  Charakter  des  Zufälligen  nimmt,  und  sie  zu  ».not- 
wendigen Wahrheiten«  stempelt.  Vielleicht  —  hier  freilich  ist 
alle  erdenkliche  Vorsicht  geboten  —  gilt  das  sogar  von  manchen 
»Strukturgesetzen«  der  Phänomenologie^.  Auch  die  Tatsache 
z.  B.,  daß  Violett  in  der  Farbenreihe  zwischen  Blau  und  Rot 
liegt,  könnte  trotz  ihrer  anscheinenden  »absoluten  Evidenz«  noch 
eine  Begründung  verlangen. 

Übrigens  darf  vielleicht  darauf  hingewiesen  werden,  daß 
Dilthey  selbst  sich  von  Erklärungsversuchen  keinesfalls  fernhält, 
Experimente  zur  Analyse  heranzieht^  und  von  Hypothesen  Ge- 
brauch macht.    Oder  wie  ließe  sich  beobachten,  daß  das  Interesse  die 

1  P.  Natorp,  Allgemeine  Psychologie.   S.  189. 

2  Vgl  dagegen  C.  Stumpf,  Zur  Einteilung  der  Wissenschaften.  S.  29. 

3  Dilthey,  a.  a.  O.  S.  1372/73. 


Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusainhienfassung.       65 

Richtung  von  Assoziationen  bestimmt?  Wie  könnte  auch  nur  der 
Begriff  der  Assoziation  ohne  Hypothese  gebildet  werden?  So 
ergibt  sich,  daß  Dilthey  seine  Ablehnung  und  Erklärung  nicht  gar 
zu  streng  gemeint  haben  kann,  zumal  er  selbst  bei  seiner  Be- 
schreibung und  Zergliederung  nicht  ohne  sie  auskommt.  Das 
folgt  schließlich  auch  aus  seinen  eigenen  Worten^:  »Die  be- 
schreibende und  zergliedernde  Psychologie  endigt  mit  Hypothesen, 
während  die  erklärende  mit  ihnen  beginnt.«  Damit  ist  die  genaue 
Zusammengehörigkeit  beider  deutlich  bezeichnete 

§  27.  Auf  Cohens  Stellungnahme  zur  empirischen  Psy- 
chologie brauche  ich  nicht  nochmals  einzugehen;  sie  ist  durch 
die  früheren  Darlegungen  bereits  klargestellt  und  kritisch  be- 
leuchtet. Die  von  ihm  postulierte  philosophische  Disziplin  geht 
nicht  von  dem  empirischen  Seelenleben  aus,  sondern  von  den 
höchsten  und  allgemeinsten  philosophischen  Wissenschaften  selbst, 
von  Logik,  Ethik  und  Ästhetik,  in  denen  die  »reine  Erkenntnis«, 
der  »reine  Wille«  und  das  »reine  Gefühl«  behandelt  werden. 
Es  leuchtet  ein,  daß  diese  Lehre  völlig  außerhalb  des  Kreises 
unserer  Überlegungen  steht,  durch  sie  nicht  berührt  wird,  sie  aber 
auch  nicht  berühren  kann. 

Eine  genauere  Erörterung  werden  wir  dagegen  Natorps 
»Allgemeiner  Psychologie«  widmen  müssen.  Dieser  Forscher 
lehnt  die  gesarate  bestehende  Seelenlehre  als  auf  Irrwegen  wan- 
delnd und  im  Kern  verfehlt  ab  und  stellt  als  ihre  eigentliche 
Aufgabe  die  »Konkretisierung«  hin.  Ihr  Ziel  ist  die  »Konkretion 
des  Vollerlebnisses«,  die  »Wiedereinstellung«  aller  Tatsachen  »in 
die  Totalität  des  Erlebniszusammenhanges^«.  Darin  besteht  im. 
Gegensatz  zu  allen  anderen  Wissenschaften  die  »Subjektivierung«. 
Diese  wird  erreicht  durch  die  »durchaus  spezifische,  von  der  der 
Naturwissenschaft  wie  aller  objektivierenden  Erkenntnis  überhaupt 
grundverschiedene  Methode  der  psychologischen  Forschung,  die 
»Rekonstruktion«  des  Unmittelbaren  im  Bewußtsein  aus  dem, 
was  daraus  gestaltet  worden:  aus  den  Objektivierungen,  wie  sie 


1  A.  a.  O.  S.  1345. 

2  Vgl.  übrigens  zu  diesen  Fragen  Stumpf,  Zur  Einteilung  der  Wissen- 
schaften, Kap.  6. 

3  A.  a.  O.  S.  220. 

Blumenfeld,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  5 


66     Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung. 

die  Wissenschaft  und  ...  die  alltägliche  Vorstellungsweise  der 
Dinge  vollzieht^.«  Diese  Objektivierung  soll  also  wieder  rückgängig 
gemacht  werden;  die  Seelenlehre  betrachtet  rückwärts  gewendet 
die  Stadien  des  Prozesses  der  Objektivierung,  die  selbst  kon- 
struktiv verfuhr.  Durch  diese  Richtung  der  Psychologie  recht- 
fertigt sich  eben  der  Ausdruck  der  Subjektivierung.  Sie  schreitet 
von  dem  geltenden  »objektiven«  Standpunkt  jeder  Wissenschaft 
zu  dem  eben  durch  sie  verworfenen,  vorher  geltenden,  relativ- 
subjektiven, >von  der  höheren  Gesetzlichkeit  zur  niederen,  daher 
dem  Konkreten  näher  liegenden«,  »von  den  physikalischen  Qua- 
litäten zu  den  unmittelbaren  Qualitäten  der  Empfindung:  Farben, 
Tönen,  usf.«  zurück ^  Ist  doch  jede  wissenschaftliche  Position 
vorläufig,  subjektiv  im  Hinblick  auf  den  unendlichen  Fortschritt 
der  Erkenntnis.  Dies  Subjektive  identifiziert  N.  mit  dem  Gegen- 
stand der  Psychologie.  Insofern  wird  ihm  das  Psychische  zur 
»Potenz  der  Bestimmung«^. 

Es  könnte  hiernach  leicht  der  Verdacht  entstehen,  als  sei  das 
Verfahren  der  Subjektivierung  nichts  anderes  als  der  Versuch,  »die 
Erkenntnis  wieder  in  Irrtum  oder  zumindest  in  weitgehende  Un- 
kenntnis zu  verwandeln^«.  Und  wirklich  spricht  manche  Formu- 
herung  für  eine  solche  Deutung,  insbesondere  auch  der  Passus: 
»Die  Konzentration  aber  . . .«  [nämlich  die  Aufgabe  der  Subjek- 
tivierung. Anm.  d.  V.]  »kann  jetzt  keine  bloß  begriffliche  mehr 
sein^«.  Damit  würde  in  der  Tat  die  Psychologie  als  Wissenschaft 
aufgehoben;  denn  die  Wissenschaft  ist  ohne  begriffliche  Fassung 
unmöglich.  Diese  Interpretation,  von  der  N.  zugibt,  daß  sie  durch 
»einige  weniger  behutsame  Wendungen  in  seinen  früheren  Dar- 
legungen« entstehen  konnte,  hat  er  aber  selbst  als  absurd  abge- 
lehnt*': >Die  Arbeit  der  Psychologie  gliche  dann  nur  zu  sehr  der 
negativen  Arbeit  der  Penelope,  die  nachts  das  Gewebe  wieder 


1  A.  a.  O.  S.  192.  -  2  A.  a.  O.  8.  232. 

3  A.  a.  0.  S.  82. 

*  K.  Lewin ,  Die  Verwechslung  von  Wissenschaftssubjekt  und  psy- 
chischem Bewußtsein  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Psychologie.  [Festschrift 
für  Alois  Riehl  von  Freunden  und  Schülern  zu  seinem  60.  Geburtstage. 
Halle  1914.]    S.  64. 

5  A.  a.  O.  S.  20.  -  6  A.  a.  O.  S.  80. 


Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung.       67 

auftrennte,  das  sie  tags  geschafft  hatte.«  Es  ergibt  sich  demnach 
die  Aufgabe,  festzustellen,  welcher  Art  die  Disziplin  ist,  die  Natorp 
im  Sinne  hat.  Subjektiv  ist  nach  den  obigen  Darlegungen  für 
ihn  ein  Urteil,  das  keine  objektive  v^^issenschaftliche,  sondern  nur 
eine  vorläufige  und  unverbindliche  Geltung  beansprucht.  So  vertritt 
man  etwa  einen  Standpunkt  mit  der  Einschränkung,  es  handle  sich 
»nur  um  eine  subjektive  Ansicht«.  Das  Urteil  wird  damit  als 
logisch  relativ  wertlos  gekennzeichnet.  Für  die  empirische 
Psychologie  kommt,  wie  bereits  hervorgehoben,  dieser  Geltungs- 
charakter gar  nicht  in  Betracht.  Hier  kann  das  logisch  wertlose 
Urteil  psychologisch  wertvoll  sein,  nicht  wegen  seines  Wahr- 
heitsgehaltes, sondern  als  Erlebnis,  in  seiner  ursächlichen  Be- 
dingtheit. Es  sind  also  logische  Gesichtspunkte,  die  N.  ver- 
anlassen, den  vorläufigen,  von  der  Wissenschaft  überholten 
Standpunkt  als  subjektiv  zu  bezeichnen. 

Ähnlich  liegt  der  Fall  bei  dem  noch  fundamentaleren  Begriff 
des  Bewußtseins.  Lewin  hat  gemeint,  daß  die  Verwechselung 
des  Wissenschaftssubjekts  mit  dem  empirischen  psychologischen 
Bewußtsein  an  der  Stellung  N.s  schuldig  sei.  Nur  so  sei  es  zu 
verstehen,  wenn  er  das  individuelle  Bewußtsein  nicht  zur  Natur 
rechnet,  sondern  es  als  dessen  Voraussetzung  ansieht,  die  also 
nicht  zeitlich  sei.  Wird  das  Psychische  als  etwas  Zeitliches 
angesehen,  so  »wird  es  unfehlbar  zu  einer  zweiten  Objektwelt, 
geradezu  einer  zweiten  »Natur«,  deren  Verhältnis  zur  eigentlich 
so  benannten,  nämlich  räumlichen  Natur  dann  ganz  unfaßbar 
wird«^  Zweifellos  können  diese  und  eine  ganze  Reihe  ähnlicher 
Stellen  den  Anschein  erwecken,  als  habe  N.  die  Differenz  zwischen 
dem  zeitbedingten  psychischen  Geschehen  und  der  logischen 
»transzendentalen  Apperzeption«  übersehen.  Und  trotzdern  wird 
man  bei  einem  Forscher  seines  Ranges  diese  Vermutung  zurück- 
weisen müssen.  Hat  doch  schon  Kant  allzu  deutlich  auf  die 
Gefahr  dieser  Konfundierung  hingewiesen.  Man  denke  an  die 
Stelle-:  »Weil  Erfahrung  empirisches  Erkenntnis  ist,  zum  Er- 
kenntnis aber,  (da  es  auf  Urteilen  beruht),  Überlegung  (reflexio), 
mithin  Bewußtsein,  d.  i.  Tätigkeit  in  Zusammenstellung  des 
Mannigfaltigen    der   Vorstellung    nach    einer   Regel   der    Einheit 

*  Natorp,  a.  a.  O.  S.  16.  -  2  Kant,  Anthropologie  I,  §  7. 

5* 


68      Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung. 

derselben,  d.  i.  Begriff  und  (vom  Anschauen  unterschiedenes) 
Denken  überhaupt  erfordert  wird:  so  wird  das  Bewußtsein  in 
das  diskursive  (welches  als  logisch,  weil  es  die  Regel  gibt, 
vorangehen  muß),  und  das  intuitive  Bewußtsein  eingeteilt 
werden;  das  erstere,  die  reine  Apperzeption  seiner  Gemütshand- 
lung, ist  einfach.  Das  Ich  der  Reflexion  hält  kein  Mannigfaltiges 
in  sich,  und  ist  in  allen  Urteilen  immer  ein  und  dasselbe,  weil 
es  bloß  dies  Förmliche  des  Bewußtseins,  dagegen  die  innere  Er- 
fahrung das  Materielle  desselben  .  .  .  enthält.«  Und  noch  deut- 
licher verweist  Kant  in  derselben  Schrift  kurz  danach  auf  die 
Verwechselung  von  Schein  und  Erscheinung  mit  den  Worten: 
»Daß  die  Wörter  innerer  Sinn  und  Apperzeption  von  den 
Seelenforschern  gemeinhin  für  gleichbedeutend  genommen  werden, 
ungeachtet  der  erstere  allein  ein  psychologisches  (angewandtes), 
die  zweite  aber  bloß  ein  logisches  (reines)  Bewußtsein  anzeigen 
soll,  ist  die  Ursache  dieser  Irrungen.« 

Es  ist  also  kaum  anzunehmen,  daß  N.  diesen  fundamentalen 
Unterschied  nicht  bemerkt  habe.  Dem  würde  es  auch  wider- 
sprechen, daß  er  das  Vorgehen  der  empirischen  Psychologie 
ganz  wohl  kennt  und  daß  auch  der  von  uns  vertretene  Standpunkt 
ihm  in  seinen  Grundzügen  nicht  fremd  ist,  wie  die  Darlegungen 
der  beiden  Einwände  (C  und  D)  beweisen^.  Wenn  er  trotzdem 
seine  Auffassung  aufrecht  erhält,  so  mag  daran  Unzufriedenheit 
mit  dem  Verfahren  der  empirischen  Psychologie  schuld  sein, 
die  er  nur  als  Gehirnphysiologie  gelten  lassen  wilP.  Beim 
Lesen  fast  aller  Bücher  über  Psychologie  werde  man  »einen 
Eindruck  nicht  los  wie  beim  Durchwandern  von  Seziersälen: 
man  sieht  Leiche  an  Leiche  .  .  .  Man  subsumiert  eben  nicht 
den  lebendigen  Organismus  der  Psyche,  sondern  subsumiert 
äie  ihm  entrissenen  toten  Einzelglieder  unter  vollends  tote, 
starre,  bewegungslose  Begriffet«  Weil  N.  andererseits  weiß, 
daß  alle  »objektivierende«  Wissenschaft  so  vorgeht,  lehnt  er 
mit  einem  salto  mortale  für  die  Psychologie  die  ganze  Methode 
der  Objektivierung  ab  und  schafft  den  Begriff  der  Subjektivierung, 
der  das  Leben  nicht  töten,   sondern  wiederherstellen  soll.     Aber 

>  A.  a.  O.  S.  214  ff.  -  2  A.  a.  O.  S.  173  und  187. 
3  A.  a.  O.  S.  191. 


Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung.       69 

es  ist  schon  aus  dem  Gesagten  klar,  daß  die  von  ihm  geforderte 
Seelenlehre  im  besten  Falle  als  eine  philosophisch  logische  Dis- 
ziplin auftreten  kann.  Damit  dürfte  sie  sich  dem  Ziele  Cohens 
nähern.  Welche  Bedeutung  im  systematischen  Sinne  freilich 
einer  Wissenschaft  zukommen  kann,  deren  Aufgabe  in  der  »Re- 
konstruktion«, d.  h.  in  der  logischen  Rückwärtsverfolgung  des 
Weges  besteht,  den  die  Wissenschaften  vorwärts  gerichtet  durch- 
laufen haben,  das  wird  sich  erst  entscheiden  lassen,  wenn  die 
bisher  nur  geforderte  Durchführung  im  einzelnen  vorliegt.  Ihre 
Ähnlichkeit  mit  einer  nicht  zeitlich,  sondern  gedanklich  orientierten, 
rückwärts  gewendeten  Problemgeschichte  erscheint  unabweisbar. 
Und  der  wissenschaftstheoretische  Vorteil  einer  solchen  gegen- 
über der  bestehenden  vorwärtsgerichteten  ist  mindestens  zweifel- 
haft. Keineswegs  aber  wird  sie  die  empirische  Psychologie 
ersetzen  können,  von  der  sie  sich  toto  coelo  unterscheidet.  Was 
endlich  die  Behauptung  betrifft,  daß  diese  mit  Gehirnphysiologie 
identisch  sei,  so  dürfte  sie  durch  die  vorhergehenden  Unter- 
suchungen als  widerlegt  gelten  können.  Wäre  noch  ein  weiterer 
Beweis  vonnöten,  so  läge  er  in  der  Anerkennung  von  Psy- 
chiatern, »daß  die  psychologischen  Formen  uns  besser  bekannt 
sind  als  die  Architektonik  des  Gehirns  und  daß  die  Psychologie 
eher  zum  Verständnis  der  letzteren  beitragen  könne,  als  die  Lehre 
vom  Hirnbau  zur  Kenntnis  der  psychologischen  Erscheinungen«^. 
§  28.  Es  ist  nicht  zu  erwarten,  daß  damit  alle  Einwände 
gegen  die  Psychologie  verstummen  werden,  die  von  ähnlichen 
logischen  Gedankengängen  ausgehen.  Eine  Tier  bekanntesten  For- 
mulierungen zwar  wird  in  dieser  Gestalt  nicht  mehr  aufrecht 
erhalten  werden  können,  nämlich  die,  daß  die  Seelenlehre  an 
einer  »immanenten  Antinomie«  leide,  insofern  ihr  das  Subjekt 
zum  Objekt  werde.  Es  ist  einleuchtend,  daß  keine  Schwierigkeit 
besteht,  wenn  man  auch  nur  das  Wort  Subjekt  durch  den  für 
die  empirische  Psychologie  gleichbedeutenden  Terminus  »innerer 
Sinn«  oder  »empirisches  Seelenleben«  ersetzt.  Indessen  die 
Tatsache,  daß  die  Selbstbeobachtung  in  ihrer  Forschungs- 
methode   eine    durchaus   eigenartige    entscheidende   Rolle  spielt, 

1  S.  Ramon-Cajal,  Histol.  du  syst,  nerveux,  II,  1910,  S.  869,  dt.  nach 
Pick,  Die  agrammatische  Sprachstörung  I,  1913,  S.  41. 


70       Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung. 

läßt  sich  nicht  übersehen.  Und  daher  lassen  sich  auch  die 
Schwierigkeiten  nicht  verhehlen,  die  mit  ihr  innerlichst  zu- 
sammenhängen. Die  psychologische  Forschung  hat  sie  denn 
auch  von  jeher  offen  anerkannt^.  Aber  gerade  die  Praxis  der 
Wissenschaft  zeigt  auch  die  Mittel,  dieser  Probleme  Herr  zu 
werden,  Kriterien  für  die  Richtigkeit  und  Zuverlässigkeit  der 
Selbstbeobachtung  aufzustellen  u.  dgl.  m.  Es  geht  daher  nicht 
an,  aus  einer  solchen  methodischen  Komplikation,  so  einzigartig 
sie  auch  gegenüber  den  andern  Naturwissenschaften  ist,  logische 
Konsequenzen  bezüglich  der  Möglichkeit  der  Wissenschaft  zu 
ziehen. 

War  es  für  die  Neukantianer  eine  dringende  Aufgabe,  die 
Logik  gegen  die  Ansprüche  des  Psychologismus  zu  wahren,  so 
darf  andererseits  der  Psychologie  das  Recht  nicht  verkümmert 
werden,  sich  vor  einer  über  ihre  Grenzen  hinausgehenden  Logik 
zu  schützen,  die  sich  nicht  mehr  darauf  beschränken  möchte, 
die  Fundamente  der  bestehenden  Wissenschaft  zu  prüfen  und 
ihre  Grenzen  abzustecken,  sondern  das  Vorgehen  der  Disziplin 
verwirft  und  dafür  andere,  noch  nicht  geborene  Wissenschaften 
fordert  und  konstruiert.  Der  »Logizismus«  ist  eine  mindestens 
so  große  Gefahr  für  die  Psychologie,  wie  der  Psychologismus 
für  die  Logik  und  Erkenntnistheorie.  Wie  weit  unser  Stand- 
punkt von  diesem  entfernt  ist,  dürfte  klar  geworden  sein.  Es 
ist  nicht  Aufgabe  der  Seelenlehre,  den  Wissenschaftsgegenstand 
auf  Empfindungen  zurückzuführen,  sondern  die  Empfindung 
wird  ihr  zum  Wissenschäftsgegenstand.  Nicht  darum  handelt  es 
sich,  den  Begriff  zur  Vorstellung  zu  erniedrigen,  sondern  die  Vor- 
stellung zum  Begriff  zu  erheben;  nicht  die  Kausalität  auf  Denk- 
gewohnheiten zu  gründen,  sondern  die  Denkgewohnheit  als  ge- 
setzmäßig, kausal  bedingt,  zu  verstehen;  nicht  die  Geltung  auf 
Evidenz  zu  reduzieren,  sondern  das  Evidenzbewußtsein  psycho- 
logisch zu  begreifen. 

Beide  Wissenschaften,  Logik  und  Psychologie,  haben  daher 
ein  gleich  lebhaftes  Interesse  an  der  Klärung  der  Grenzen.  Im  Be- 
wußtsein ihrer  Zuständigkeit  erst  werden  sie  auf  dem  so  gesicherten 

1  Vgl.  z.  B.  Ebbinghaus-Bühler,  a.  a.  O.  S.  66  ff.  und  W.  Stern,  Die 
differentielle  Psychologie  in  ihren  methodischen  Grundlagen,  1911,  S,  38  ff. 


Steiiungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung.       71 

und  befestigten  Boden  unangefochten  ihre  Systeme  errichten 
können.  Die  Philosophie  aber,  der  gerade  diese  Grenzreguhe- 
rung  zufällt,  fördert  damit  gleichzeitig  die  Einsicht  in  die  eigen- 
tümliche Gestaltung  des  Wissenschaftssystems  und  schreitet  so 
fort  in  der  Bearbeitung  ihrer  großen  Aufgabe,  der  Theorie  der 
Erkenntnis  überhaupt. 

Die  Anwendung  der  Kantischen,  von  Cohen  und  der 
»Marburger  Schule«  im  Sinne  höchster  Reinheit  durchdachten 
Methode  führt  hier  —  das  ist  das  paradoxe  Resultat  dieser 
Untersuchungen  —  der  Psychologie  gegenüber  zu  einem  von 
dem  ihrigen  völlig  abweichenden  Ergebnis. 

§  29.  Von  Beginn  der  Philosophiegeschichte  an  währt  der 
Kampf  gegen  die  Empfindung.  »Die  Sinne  sind  schlechte  Zeu- 
gen«, sagt  Heraklit.  Piatos  Lebenswerk  besteht,  wenn  man 
will,  zu  großem  Teil  in  der  Begründung  des  Anspruchs  der 
Wissenschaft  gegenüber  dem  Trug  und  Schein  der  sinnlichen 
Wahrnehmung.  Und  die  ganze  Entwicklung  der  Naturwissen- 
schaften zeigt  das  Streben  nach  Emanzipation  von  der  Qualität 
der  Sinneswahrnehmung.  Der  Gegenstand  der  Physik  und 
Chemie  soll  lediglich  durch  gesetzmäßige  Beziehungen,  durch 
das  Denken  festgelegt  werden.  Die  Farbempfindung  wurde 
durch  elektrische  Schwingungen  ersetzt,  der  Begriff  der  Wärme 
verwandelte  sich  in  den  der  Temperatur,  der  Druck  wurde 
meßbar  durch  die  Wage.  Ebenso  wurden  Geruch  und  Ge- 
schmack durch  den  Rückgang  auf  chemische  Gesetze  erklärt. 
Aber  die  Empfindungen  blieben  deswegen  noch  immer  etwas 
Reales.  Die  wissenschaftliche  Psychologie  sucht  auch  die  Sinnes- 
wahrnehmung selbst  und  das  psychische  Leben  auf  das  Denken 
zu  gründen.  Es  muß  auch  für  den  trügerischen  Schein  der  Sinne 
eine  Gesetzlichkeit  gefordert  werden.  »Ist  das  Gemeinte,  unter 
wissenschaftlichem  Gesichtspunkte  beurteilt,  Schein  und  Irrtum: 
gerade  als  Schein,  als  Irrtum,  ist  es  wahrlich  auch  etwas  Wirkliches, 
Vorhandenes,  vielleicht  das  reichlichst  Vorhandene,  das  untilgbar 
Wirklichste  von  allen.  Als  solches  interessiert  es  immerhin  die 
objektivierende  Wissenschaft«,  dürfen  wir  mit  Natorp^  sagen. 
So  ergab  sich  für  die  Psychologie  die  Notwendigkeit,  ein  eigenes 

1  A.  a.  O.  S.  102. 


72       Stellungnahme  zu  anderen  Theorien  und  Zusammenfassung. 

Begriffssystem  zu  bilden.  Der  Nullpunkt  der  Wärmewahrnehmung 
ist  psychologisch  etwa  definiert  als  der  der  minimalen  Merklich- 
keit. Kalt  und  heiß  sind  im  Gebiete  der  Psychologie  nicht 
quantitativ,  sondern  qualitativ  verschieden,  ja  sie  werden  sogar 
mit  verschiedenen  Sinneswerkzeugen  der  Haut  wahrgenommen. 
Schwarz  ist  in  der  Physik  ein  Körper,  der  keine  Lichtstrahlen 
aussendet  bezw.  reflektiert.  In  der  psychologischen  Terminologie 
dagegen  ist  schwarz  eine  »echte«  Empfindung,  so  gut  wie  weiß 
und  rot,  das  eine  Ende  der  Graureihe.  Kurz,  das  ganze  Begriffs- 
system ist  ein  anderes  als  das  der  exakten  Naturwissenschaften. 
Aber  die  Verschiedenheit  rechtfertigt  keine  Verchiedenheit  der  Be- 
wertung. Die  Psychologie  kann  für  ihre  Begriffe  das  gleiche 
Recht  geltend  machen  wie  jede  andere  Wissenschaft,  und  ihre 
Ziele  sind  keinesfalls  von  geringerer  Bedeutung. 

Von  diesen  Zielen  ist  die  Psychologie  noch  sehr  weit  entfernt. 
Es  ist  nicht  zu  bestreiten,  daß  viel  fehlt  an  der  Weite  der 
Gesichtspunkte,  an  der  Universalität,  die  etwa  das  physikalische 
Weltbild  heute  auszeichnet.  Das  ist  nicht  verwunderlich.  Ist  sie 
doch  diejenige  von  den  Naturwissenschaften,  die  sich  als  bisher 
letzte  dem  mütterlichen  Schöße  der  Philosophie  entwindet,  nicht 
ohne  Schmerzen  für  beide.  Aber  nachdem  sich  die  Psychologie 
auf  eigene  Füße  gestellt  hat,  wird  sie  zweifellos  ihren  Weg  weiter- 
gehen, unbekümmert  um  die  scheinbaren  Schwierigkeiten,  die 
ihr  von  Außenstehenden  vorgehalten  werden,  einzig  besorgt  um 
die  nicht  gering  zu  schätzenden  Hindernisse,  die  die  Bearbeitung 
ihres  spröden  Gegenstandes  selbst  bietet. 


iJruck  von  E.  K.  Herzog  in  Meerane  1  9i 


VERLAG  VON  REUTHER  &  REICHARD  IN  BERLIN  W  35 

Philosophische  Vorträge 

veröffentlicht  von  der  Kant -Gesellschaft. 


Bis  jetzt  sind  erschienen: 

Heft  1/2.  Das  Realitätsproblem  von  Dr.  Max  Frischeisen- Köhler, 
Prof.  a.  d,  Univ.  Halle  a.  S.  Mk,  2.—. 

„  3.  Denkmittel  der  Mathematik  im  Dienste  der  exakten  Dar' 
Stellung  erkenntniskritischer  Probleme  von  Dr.  Fr.  Kuntze, 
Priv.-Doz.  a.  d.  Univ.  Berlin.  Mk.  L — . 

„  4.  Einleitung  in  die  Grundfragen  der  Ästhetik  von  Ober- 
Generalarzt  Prof.  Dr.  Berth.  von  Kern.  Mk.  1.—. 

„  5.  Über  Piatos  Ideenlehre  von  Dr.  Paul  Natorp,  ord.  Prof. 
a.  d.  Univ.  Marburg.  Mk.  1. — . 

„  6.  Religion  und  Kulturwerte  von  Dr.  Jonas  Cohn,  Prof. 
a.  d.  Univ.  Freiburg  i.  Br.  Mk.  1. — . 

„  7.  Zur  Logik  der  Geschichtswissenschaft  von  Dr.  Kurt 
Sternberg.  Mk.  1.20. 

„  8.  Über  das  Eigentümliche  des  deutschen  Geistes  von  Dr. 
Hermann  Cohen,  weil.  ord.  Prof.  a.  d.  Univ.  Marburg.  2.  und 
3.  Auflage.  Mk.  —.80. 

„  9.  Die  religiöse  Erfahrung  als  philosophisches  Problem  von 
Dr.  Konstantin  Osterreich,  Prof.  a.  d.  Universität  Tü- 
bingen. Mk.  1.—. 

V  10.       Der  Geltungswert  der  Metaphysik  von  Dr.  Arthur  Liebert, 

stellv.  Geschäftsführer  d.  Kant-Gesellschaft.  Mk.  1.—. 

V  11.       Was  heißt  Hegelianismus?    Von  Georg  Lasson,  Pastor 

in  Berlin.  Mk.  —.80. 

,,     12.       Das  Problem  der  historischen  Zeit  von  Dr.  Georg  Simmel, 

weil.  Prof.  a.  d.  Univ.  Straßburg.  Mk.  —.80. 

„     13.       Machtverhältnis    und    Machtmoral    von    Dr.  phil.  Alfred 

Vierkanöt,  Prof.  a.  d.  Univ.  Berlin.  Mk.  L60. 

«     14.       Individualismus,  Universalismus,  Personalismus  von  Dr.  phil. 

Ottmar  Dittridi,  Prof.  a.  d.  Univ.  Leipzig.  Mk.  1.—. 

,,     15.       Wechselseitige  Erhellung  der  Künste  von  Dr.  Oskar  Walzel, 

Geh.  Hofrat,  Prof.  a.  d.  Technischen  Hochschule  in  Dresden. 

Mk.  2.40. 


VERLAG  VON  REUTHER  &  REICHARD  IN  BERLIN  W  3S 


Philosophische  Vorträge 

veröffentlicht  von  der  Kant  -  Gesellschaft. 

Ferner : 

Heft  16.  Das  Verhältnis  der  Logik  zur  Mengenlehre  von  Geh.  Medi- 
zinal-Rat  Prof.  Dr.  TheoÖor  Ziehen,  o.  ö.  Professor  a.  d. 
Universität  Halle.  Mk.  2.—. 

„  1 7,  Die  Gegenständlichkeit  des  Kunstwerks  von  Dr.  phil.  Emil 
Utitz,  Prof.  a.  d.  Univ.  Rostock.  Mk.  2.—. 

V  18.  Über  den  Zufall  von  D.  Dr.  Aöolf  Lassen,  weil.  Professor 
an  der  Universität  Berlin.  Mk.  2. — . 

;,  19.  Neubegründung  der  Ethik  aus  ihrem  Verhältnis  zu  den  beson- 
deren Gemeinschaftswissenschaften  von  Professor  Dr.  Albert 
Görland.  Mk.  2.—. 

,/  20.  Grundgedanken  der  personalistischen  Philosophie  von  Dr. 
William  Stern,    Prof.  an  der  Universität   in  Hamburg. 

Mk.  2.-. 

,;  21.  Hermann  Cohens  philosophische  Leistung  unter  dem  Gesichts- 
punkte des  Systems  von  Dr.  Paul  Natorp,  Professor  an 
der  Universität  Marburg.  Mk.  1.40. 

.;  22.  Heinrich  von  Kleist  und  die  Kantische  Philosophie  von  Ernst 
Cassirer,  Prof.  a.  d.  Universität  Berlin.  Mk.  2.—. 

»  23.  Die  Dynamik  der  Geschichte  nach  der  Geschichtsphilosophie  des 
Positivismus  von  Ernst  Troeltsch,  Prof.  a.  d.  Universität 
Berlin.  -  Mk.  3.60. 

;;  24.  Religionsphilosophie  der  Kultur.  Zwei  Entwürfe  von  Gustav 
Radbruch,  o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität  Kiel,  und  Paul 
Tillich,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Berlin.         Mk.  2.80. 

,;  25.  Zur  kritischen  Grundlegung  der  Psychologie  von  Dr.  Walter 
Dlumenfeld,  Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule 
in  Dresden.  Mk.  4.—  . 


Druok  Ton  E.  R  Herzog  in  Meerane  i  S. 


University  of 
Connecticut 

Libraries 


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