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Kritischen Grundlegung der Psychol
3 T153 0G7b7ÖHT S
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PHILOSOPHISCHE VORTRAGE [^
VERÖFFENTLICHTVON DER KANT-GESELLSCHAFT.
UNTER MITWIRKUNG VON H. VAIHINGER UND M. FRISCHEISEN-KÖHLER
HERAUSGEGEBEN VON ARTHUR LIEBERT. Nr. 25,
Zur kritischen Grundlegung
der Psychologie
von
Dr. Walter Blutnenfeld
Privatdozent an der Technischen Hochschule in Dresden
Berlin
Verlag von Reuther & Reichard
1920
Kant-Gesellschaft.
Vorstand:
Übrige
Mitglieder
des
Ver-
waltungs-
Aus-
schusses:
Gottfried Meyer, Dr. med. (h. c), Geh. Oberreg. -Rat,
Kurator der Universität Halle a. S., Reilstr. 53.
Ernst Cassirer, Dr., o. ö. Professor an der Universität
Hamburg, Blumenstr. 26.
Max Frisdieisen- Köhler, Dr., a. o. Professor an der
Universität Halle a. S., Mozartstr. 24.
Karl GerharÖ, Dr., Geh. Reg.-Rat, Direktor der Univ.-
Bibliothek Halle a. S., Karlstr. 36.
Heinridi Lehmann, Dr. phil. (h. c), Dr. med. (h. c),
Geheimer Kommerzienrat, Halle a. S., Burgstr. 46.
Paul Menzer, Dr., o. ö. Professor an der Universität
Halle a. S., Fehrbellinstr. 2.
Rudolf Stammler, Dr. jur et phil. (h. c), Geh. Reg.-Rat,
o. ö. Prof. an der Universität Berlin, Charlottenburg,
Knesebeckstr. 20-21.
Theodor Ziehen, Dr., Geh. Reg.-Rat, o. ö. Professor an
der Universität Halle a. S., Ulestr. 1.
Hans Vaihinger, Dr., Geh. Reg.-Rat, o. ö. Prof. -j
a. d. Universität Halle a. S., Reichardtstr. 15. I Geschäfts-
Arthur Liebert, Prof. Dr., Doz. a. d. Berl. Han- j führen
dels-Hochschule, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48. J
Die Kant -Gesellschaft verfolgt den Zweck, von der Grund-
lage der Kantischen Philosophie aus die Weiterentwicklung der Philo-
sophie überhaupt zu fördern. Ohne ihre Mitglieder irdendwie zur Gefolg-
schaft gegenüber der Kantischen Philosophie zu verpflichten, hat die Kant-
Gesellschaft keine andere Tendenz als die von Kant selbst ausgesprochene,
durch das Studium seiner Philosophie philosophieren zu lehren.
Ihren Zweck sucht die Kant-Gesellschaft in erster Linie zu ver-
wirklichen durch die „Kant-Stuöien"; die Mitglieder der Kant-
Gesellschaft erhalten diese Zeitschrift (jährlich 4 Hefte im Umfang
von mindestens 30 Bogen) unentgeltlich zugesandt; dasselbe ist der
Fall mit den „Ergänzungsheften" der „Kant-Studien", welche jedes-
mal eine größere geschlossene Abhandlung enthalten (gewöhnlich
3 — 5 im Jahre). Außerdem erhalten die Mitglieder kostenlos jährlich
1 — 2 Bände der „Neudrucke seltener philosophischer Werke des 18.
und 19. Jahrb.", sowie die von der Gesellschaft veröffentlichten
„Philosophischen Vorträge", ebenfalls 3—5 in einem Jahre.
Das Geschäftsjahr der Kant-Gesellschaft ist das Kalenderjahr; der
Eintritt kann aber jederzeit erfolgen. Die bis dahin erschiene^
nen Veröffentlichungen des betr. Jahres werden den Neueintreten-
den nachgeliefert. Satzungen, Mitgliederverzeichnis usw. sind un-
entgeltlich durch den stellv. Geschäftsführer Prof, Dr. Arthur Liebert
Berlin W. 15, Fasanenstraße 48, zu beziehen, an den auch die Beitritts-
erklärungen sowie der Jahresbeitrag (Mark 20. — ) zu richten sind.
PHILOSOPHISCHE VORTRAGE 1^
VERÖFFENTLICHTVON DER KANT-GESELLSCHAFT.
UNTER MITWIRKUNG VON H. VAIHINGER UND M, FRISCHEISEN-KÖHLER
HERAUSGEGEBEN VON ARTHUR LIEBERT. Nr. 25.
Zur kritischen Grundlegung
der Psychologie
von
Dr. Walter Blumenfeld
Privatdozent an der Technischen Hochschule in Dresden
Berlin
Verlag von Reuther & Reichard
1920
3/
KURT STERNBERG
in Freundschaft
gewidmet
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Abschnitt: Die Problemstellung. §§1—4 1
2. Abschnitt: Das Kategorialsystem der Psychologie:
I. Kapitel: Der Gegenstand der Psychologie. Die Qualitäts-
und Quantitätskategorien. §§5 — 6 7
II. Kapitel: Zeit und Raum. §§ 7-8 11
III. Kapitel: Die Relationskategorien:
1. Erhaltung und Abwandlung. §§9-12 . . . 14
2. Verkettung und Gesetz. §§13-14 21
3. System und Korrelation. §§15-19. . . . . 29
IV. Kapitel: Die Modalitätskategorien:
1. Möglichkeit. §§20-23 . . 40
2. Wirklichkeit. § 24 ... 55
3. Notwendigkeit. § 25 59
3. -Abschnitt: Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammen-
fassung. §§26-29 60
Vorwort.
Die nachstehenden Ausführungen lagen einem Vortrag zu-
grunde, den ich am 30. Oktober 1919 in der Berliner Abteilung-
der Kant-Gesellschaft gehalten habe. In der vorliegenden
wesentlich erweiterten Form dienten sie als Habilitationsschrift
an der Technischen Hochschule in Dresden.
1. Abschnitt.
Die Problemstellung.
§ 1. Die Grundlegung der Einzelwissenschaften ist unstrittig
eine wesentliche Aufgabe der Philosophie. Ihre Bedeutung ist,
seitdem Kant ihre Lösung für die Mathematik, Physik und Bio-
logie unternommen hat, — von Ethik und Ästhetik dürfen wir
in diesem Zusammenhange absehen — immer klarer und ent-
scheidender hervorgetreten. Die Verdienste der Neukantianer, nicht
in letzter Linie der »Marburger Schule«, um die Bearbeitung dieser
Probleme sind bekannt. Bei ihren Untersuchungen, die sich außer
den Naturwissenschaften beispielsweise auch auf Rechtswissenschaft,
Geschichte und Pädagogik erstreckten, ist eine Fülle wertvoller
und fruchtbarer Gesichtspunkte zutage getreten ; und auch in den-
jenigen Disziplinen, in denen eine systematische Grundlegung bis-
her nicht geleistet worden ist, hat die Forderung einer solchen
mindestens in dem Sinne klärend gewirkt, daß die Forscher, die
auf ihren Einzelgebieten arbeiten, sich mit dieser Frage irgend-
wie auseinanderzusetzen hatten. Über den Gegenstand und den
Geltungsbereich der Psychologie aber gehen die Ansichten noch
in einem Maße auseinander, wie vielleicht bezüglich keiner andern
Wissenschaft. Der Kampf um sie ist auch darum besonders heftig
geworden, weil die Psychologie fast allgemein als eine Disziplin
der Philosophie selbst betrachtet wird, so daß die meisten Forscher
auf ihrem Gebiete sich schon aus diesem Grunde zu einer ent-
schiedenen Stellungnahme veranlaßt sehen und auch ein besonders
tief begründetes Recht darauf besitzen.
§ 2. Wenn die folgenden Betrachtungen einen Beitrag zur
Grundlegung der Psychologie geben sollen, so ist daher zunächst
zu sagen, in welchem Sinne von ihr gesprochen wird. Es handelt
sich hier nicht um die metaphysische, spekulative, sogenannte
Blumenfeld, Zur Grundlegung der Psychologie 1
öle Problemstellung.
»rationale« Psychologie. Ihre Bedeutung für die Metaphysik soll
unangetastet bleiben; es mag die Annahme einer wesenhaften
unsterblichen Seele aus religiösem Bedürfnis heraus unentbehr-
lich sein: seit Kant steht fest oder sollte feststehen, daß sie kein
Wissenschaftsbegriff sein kann. Um den- Logos der Seele, um
die Seelenlehre, die Psychologie als Wissenschaft aber ist es
hier zu tun.
Auch wird diesen Untersuchungen nicht der Begriff der
Psychologie zugrunde gelegt werden, den Cohen in die Philo-
sophie eingeführt hat. Wenn dieser ihr als höchster philosophischer
Disziplin die Bearbeitung des Problems der »Einheit des Kultur-
bewußtseins« zuweist, so muß das Urteil über die Berechtigung
seiner Forderung so lange vertagt werden, bis die Disziplin in wissen-
schaftlicher Bearbeitung vorliegt. Soweit ich sehe, ist das bisher
nicht der Fall. Auch Natorps »Allgemeine Psychologie« postuliert
einen Wissenschaftsbegriff, der, wie sich später zeigen wird, wenig-
stens teilweise mit dem Cohens zusammenzustimmen scheint und
der mit den folgenden Betrachtungen nichts zu tun hat. Wie es
auch mit dieser Disziplin stehen mag, es dürfte in hohem Maße
unzweckmäßig sein, ihr die Bezeichnung Psychologie zu erteilen,
die seit Aristoteles für ganz andere Forschungsbereiche reser-
viert war. Diese Benennung kann zu folgenschweren Irrtümern
Anlaß geben, die von jeher gerade in der Philosophie eine ver-
hängnisvolle Rolle gespielt haben.
Maßgebend war für Cohen ver'mutlich die Absicht, den
Namen Psychologie einer »echten« Wissenschaft in seinem Sinne
vorzubehalten. Dafür aber galt ihm die empirische Psychologie
nicht, in der er nur einen Teil der Physiologie sah, dem er eine
beträchtliche Geringschätzung entgegenbrachte. Man kann diese
negative Bewertung psychologisch verstehen, wenn man bedenkt,
daß der große Philosoph seinen härtesten Kampf gegen den
Psychologismus geführt hat, diejenige Weltanschauung also,
die sich bemüht, der Psychologie das Recht auf die Grund-
legung der Wissenschaft überhaupt zu vindizieren. Auch heute
ist dieser Kampf kaum als abgeschlossen zu betrachten, da nam-
hafte Forscher den so leidenschaftlich umstrittenen Anspruch auf-
recht zu halten versuchen. Von dem hier vertretenen Standpunkt
bie Problemstellung. ^
aus, der in dieser Hinsicht dem der »Marburger« nahesteht, ist das
Urteil im Sinne Cohens zu fällen. Aber gerade in der von ihm
so eindringlich betonten kritischen Betrachtungsweise findet, wie
mir scheint, seine eigentümliche Stellung zur empirischen Psycho-
logie keine Stütze. Die kritische Methode besteht ja wesentlich
darin, von der bestehenden Wissenschaft auszugehen und auf-
zuzeigen, wie, d. h. unter welchen Voraussetzungen, sie »möglich«
ist, ihre Urteile Geltung beanspruchen dürfen. Nachdem Fechner,
Wundt, Ebbinghaus, Hering und so viele andere große
Forscher in stetem Fortschritte an dem Bau der Psychologie
gearbeitet haben, ist an der Tatsache einer wissenschaftlichen
Psychologie nicht wohl zu zweifeln. Es muß daher verlangt
werden, daß diese Disziplin, deren Forschungsergebnisse in
ungezählten Aufsätzen und Lehrbüchern niedergelegt sind, auf
ihre Fundamente hin untersucht wird. Erst dann kann sich
zeigen, ob sie nur als Gehirnphysiologie zu betrachten ist, wie
manche meinen \ oder ob sie ihr eigenes Problemgebiet, ihren
eigenen Gegenstand besitzt. Voraussetzung einer solchen kritischen
Untersuchung ist offenbar bereits die Ablehnung des »Psycho-
logismus«. Wenn die Psychologie als Einzelwissenschaft zum
Problem gemacht wird, kann sie nicht selbst als Maßstab zu
dieser Untersuchung dienen.
Ebenso fallen ganz aus dem Bereich der folgenden Unter-
suchungen heraus diejenigen Arbeiten, die insbesondere auf die
Bedeutung, die Sinnhaftigkeit, die Geltung psychischen Geschehens
tendieren. Hierzu gehört ein großer Teil der »phänomenologischen«
Untersuchungen Husserls und seines Kreises sowie Meinongs.
Wird Psychologie, wie in den folgenden Betrachtungen, als Natur-
wissenschaft angesehen, so hat sie es wesentlich mit Vorgängen
und ihren Gesetzen zu tun. Die Phänomenologie, wie sie etwa
Husserl vorschwebt, muß sich ebensowohl auf Physik und alle
anderen Wissenschaften wie auf die Seelenlehre beziehen, kann
also nicht selbst ein Teil der Psychologie sein. Schließlich ge-
hören nach der hier vertretenen Auffassung auch die »Gebilde«
im Sinne Stumpfs (»Erscheinungen und psychische Funktionen <,
1 Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode.
Tüb. 1912, S. 173 und 187.
Die ProbiemsteÜung.
S. 28) nur sehr bedingt in den Bereich unserer Betrachtungen.
Inbegriffe, Sachverhalte, Werte können hiernach nur insofern eine
Rolle spielen, als ihre Bildungsgesetze festgestellt werden, und die
Art ihrer Repräsentation im Bewußtsein betrachtet wird. Damit
aber werden nicht sie, sondern die > Funktionen < untersucht, deren
:* Korrelate« sie darstellen.
§ 3. Es dürfte sich aus dem Resultat der folgenden Über-
legungen ein Urteil über die oft gehörte Behauptung ergeben, daß
die in der empirischen Psychologie angewandte Methode falsch
sei. Man habe sklavisch das experimentelle Vorgehen der exakten
Naturwissenschaften übernommen, so wird argumentiert, und müsse
dies nun durch minimale Erfolge trotz intensivster Bemühungen
bedeutender Forscher büßen. Es fehle eben an der zu frucht-
barer Arbeit unumgänglichen Entwicklung einer eigenen Methode.
Man darf demgegenüber schon an dieser Stelle darauf hinweisen,
daß für die Wissenschaft nichts geleistet wird, wenn das Prinzip
nicht angegeben werden kann, aus dem die Falschheit der in der
Psychologie verwendeten Methode folgt. Es ist auch zu erwägen,
daß diese identisch ist mit dem zuerst in der Mathematik und
den exakten Naturwissenschaften angewandten Verfahren, das sich
mit immer wachsender Kraft durchgesetzt und den Fortgang aller
mit ihr arbeitenden Disziplinen entscheidend gefördert hat. Ist
doch gerade die Methode dasjenige Moment, das die verschiedenen
Wissenschaften eint, wie Riehl es kurz und klar ausdrückt^:
*Die Wissenschaften, geschieden durch ihre Gegenstände, sind
durch die Methode zur Einheit des Wissens verbunden.« Es ist
in der Tat kein einziger Grund einzusehen, weshalb dies Verfahren
gerade für die Psychologie nicht in Betracht kommen sollte. Das
Gegenteil ist nachweisbar; denn alle gesicherten Ergebnisse
dieser Wissenschaft sind so gewonnen worden, etwa abgesehen
von denen der Völkerpsychologie, sofern diese wesentlich mit
historischen Mitteln, also nicht experimentell, arbeitet. Rückhaltlos
muß zugestanden werden, daß Zahl und Bedeutung der Resultate
nicht an die der Physik und Chemie heranreichen; aber diese
Tatsache ist durch die größere Komplikation der Probleme er-
^ Alois Riehl, Logik und Erkenntnistheorie in Hinneberge »Kultur
der Gegenwart« I, Abs. 6. Berlin und Leipzig 1907. S. 86.
Die Problemstelluns:
klärlich. Übrigens werden die Tragweite und der Umfang der
Ergebnisse der Psychologie, die in sehr zahlreichen Monographien,
Handbüchern und Zeitschriften niedergelegt sind, doch vielfach
weit unterschätzt. Die jüngsten, viel versprechenden Anwendungen
in Medizin, Pädagogik, Industrie und Wirtschaftsleben weisen auch
die vom pragmatistischen Standpunkte aus erhobenen Anschuldi-
gungen in ihre Grenzen zurück.
Kaum wird es nötig sein, noch auf die wohlgemeinten Rat-
schläge einzugehen, die dahin gehen, der Psychologe solle sich
statt an die verfehlten naturwissenschaftlichen Methoden an die
Untersuchung der großen Kunstwerke halten. Shakespeare,
Goethe, Dostojewski hätten in ihren Werken mehr Psychologie
niedergelegt, als aus allen Lehrbüchern der Psychologie heraus-
zuholen sei. Schon Dilthey^ hat gegen diese »bis zum Über-
druß« gehörten Vorschläge entschieden Stellung genommen:
»Möchten doch diese Fanatiker der Kunst,« so sagt er, »die in
solchen Werken eingewickelte Psychologie uns einmal enthüllen.
Versteht man unter Psychologie eine Darstellung des regelmäßigen
Zusammenhangs des Seelenlebens, so enthalten die Werke der
Dichter gar keine Psychologie; es steckt auch gar keine unter
irgend einer Hülle darin, und durch keinen Kunstgriff kann
ihnen eine solche Lehre von den Gleichförmigkeiten der seelischen
Prozesse entlockt werden. Wohl aber liegt nun in der Art, wie
die großen Schriftsteller und Dichter über das Menschenleben
handeln, für die Psychologie eine Aufgabe und ein Stoff.«
Daß große Künstler eine erstaunliche Kenntnis der zartesten
und verwickeltsten Vorgänge des Seelenlebens zeigen, die sich der
Analyse der Psychologie noch völlig entziehen, will natürlich
Dilthey mit diesen Worten nicht bestreiten. Aber zu einer
Formulierung sind ihre Schöpfungen schon deswegen nicht zu
verwerten, weil die Geltung derartiger Urteile nicht nachprüfbar
wäre. Wer möchte im Ernst empfehlen, Anatomie am Hermes
des Praxiteles zu studieren? In der Psychologie aber hält man
noch heute manchmal das analoge Verfahren für angebracht, das
den Autoritätsglauben zur wissenschaftlichen Voraussetzung machen
1 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycho-
logie. Sitzungsber. der Königl. Preuß. Akad.d, Wissenschaften 1894, S. 1323.
Die Probleinslellung.
würde. Es wird in der Tat methodisch richtiger sein, die natur-
wissenschaftHche Wahrheit der Kunstwerke an der Wissenschaft
zu messen als umgekehrt.
§ 4. Ich spreche also von der empirischen naturwissen-
schaftlichen Psychologie, deren Möglichkeit Kant ^ in den bekann-
ten Worten vorahnend bezeichnete: »Würden wir die Beobach-
tungen über das Spiel unserer Gedanken und die daraus zu schöpfen-
den Naturgesetze des denkenden Selbst auch zu Hilfe nehmen: so
würde eine empirische Psychologie entspringen, welche eine Art
der Physiologie des inneren Sinnes sein würde und vielleicht
die Erscheinungen desselben zu erklären . . . dienen könnte. <-
Diese Wissenschaft erschien ihm als die einzig mögliche im
Gegensatz zu der > rationalen« Psychologie, wenn er an anderer
Stelle^ sagt: »Es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem
Leitfaden der Erfahrung zu studieren und uns in den Schranken
der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere
Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann.«
Überblicken wir nun das Problemgebiet der Psychologie, so
läßt sich zunächst die »reine« von der »angewandten« Seelenlehre
unterscheiden. Die reine Psychologie umfaßt die Normal- und
die Pathopsychologie; sie erstreckt sich auf Menschen und Tiere
(anthropologische und Tierpsychologie); geht auf die Formen des
Seelenlebens der Menschen als Individuen und seine Abhängig-
keit vom gesellschaftlichen Zusammenhang (Individual- und Massen-
psychologie); betrachtet die psychischen Differenzen von Individuum
zu Individuum (differentielle Psychologie) und die Entwicklung
des Seelenlebens bei Einzelnen und Völkern (Kinder-, Völker-,
Entwicklungspsychologie). Je nach der Art der Behandlung aber
dürfen wir gemäß dem üblichen Vorgang zwischen beschreibender
und erklärender Psychologie unterscheiden.
Der »darstellenden Psychologie« im Sinne Baades^ wird man kaum
1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Red.-Aug., 2. Aufl., S. 297.
2 A. a. O. S. 322.
3 W. Baade, Aufgabe und Begriff einer darstellenden Psychologie,
Ztschr. f. Ps., Bd. 71, S. 364 ff.
Derselbe, Experimentelle Untersuchungen zur darstellenden Psycho-
logie des Wahrnehmungsprozesses. A. a. O., Bd. 79, S. 97 ff.
Die Quali'täts- und Quantitäts- Kategorien.
eine ebenso fundamentale Bedeutung zuerkennen können: soweit ihr die
Aufgabe zufällt, die Phänomene herbeizuführen und deutlich zu machen,
an denen sich Beschreibung und Erklärung zu betätigen haben, steht sie
im Dienste beider. Insofern sie die Gesetze voraussetzt, die die Ent-
stehung der Phänomene beherrschen, gehört sie der erklärenden Psycho-
logie an. Stets ist aber zu berücksichtigen, daß Erklärung das letzte Ziel
auch der beschreibenden Psychologie bleibt.
Es sollen nun aus dem weitgespannten Kreise der Aufgaben,
die hierdurch gekennzeichnet sind, diejenigen ausscheiden, die die
angewandte Psychologie behandelt, weil diese im Dienst anderer
Wissenschaften (z. B. Medizin, Pädagogik, Nationalökonomie) steht,
wodurch ihr Begriffssystem in eigenartiger Weise abgewandelt
wird. Eine weitere Einschränkung nehme ich vor durch Aus-
schluß der Entwicklungs- und Völkerpsychologie, die bezw. sofern
sie wesentlich auf historische Methoden angewiesen sind. In dem
gesamten übrigen Bereich ist das Verfahren der Psychologie, wie
es sich im heutigen Wissenschaftsbetriebe darstellt, als naturwissen-
schaftlich anzusprechen.
Bei dem Versuch einer Grundlegung dieser so aufgefaßten
Disziplin bleibe ich mir bewußt, nur einige Beiträge zu liefern,
ohne auch nur entfernt alle Schwierigkeiten berühren zu können,
die gerade auf dem Boden der Psychologie üppiger wachsen, als
vielleicht auf irgend einem andern Wissenschaftsgebiet.
2. Abschnitt.
Das Kategorialsystem der Psychologie.
I. Kapitel:
Der Gegenstand der Psychologie.
Die Qualitäts- und Quantitäts- Kategorien.
§ 5. Werfen wir zunächst einen orientierenden Blick auf die
Einteilung des »Stoffes« in den üblichen Lehrbüchern der Psycho-
logie, ohne übrigens zu den mannigfachen Streitfragen Stellung
zu nehmen, die schon darin zum Ausdruck kommen. Da handelt
es sich, abgesehen von methodischen Untersuchungen, um Emp-
findungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Affekte, Willensvor-
8 Der Gegenstand der Psychologie.
gänge, Gedanken — kurz, um Erlebnisse. Alle psychischen
Phänomene werden als Erlebnisse, als Lebensvorgänge aufgefaßt.
Als solche aber, wenn sie auch offenbar eigentümlicher Art sind,
müssen sie unzweifelhaft derjenigen Wissenschaft eingegliedert
werden, die alle Lebenserscheinungen überhaupt bearbeitet, d. h. der
allgemeinen Biologie. Und damit erhalten wir die Grund-
position, die für unsere Auffassung der Psychologie entscheidend
ist. Die Biologie im üblichen Sinne wird daher in den folgen-
den Ausführungen als ein Teil der allgemeinen Biologie an-
gesehen, welche sich von ihr eben dadurch unterscheidet, daß
sie auch die Psychologie in sich begreift. In eigenartiger Weise
wird damit die Aristotelische Anschauung abgewandelt, bei
der umgekehrt alle Leistungen des Organismus als psychische
angesehen wurden. Die Psychologie war für Aristoteles dem-
nach mit der allgemeinen Biologie in unserer Ausdrucksweise
identisch. Für uns steht also die Psychologie zunächst in
engster Verwandtschaft mit der Zoologie und Botanik; und
wie bei diesen je nach der Art der Behandlung der Erschei-
nungen zwischen Morphologie und Physiologie, so wird bei
ihr zwischen beschreibender und erklärender Psychologie zu
unterscheiden sein.
Was aber ist nun der Gegenstand der Psychologie? Es
kann sich hier nicht darum handeln, die große Zahl der ver-
schiedenen Antworten auf diese Frage kritisch zu beleuchten. Ich
werde mich darauf beschränken, meine Auffassung zu entwickeln
und an wenigen Beispielen zu zeigen, worin andere mir fehl-
zugehen scheinen. Diesem Zwecke diene ein einfacher, beliebig
herausgegriffener psychologischer Versuch. Ich blicke auf ein
rotes Papierblatt mittlerer Größe, indem ich einen Punkt der
Fläche fixiere. Nun drehe ich das Auge soweit, daß der Fixa-
tionspunkt außerhalb des Blattes rückt. Dabei bemerke ich, daß
allmählich die Farbe weniger ausgeprägt und matter wird. Bei
noch weiterer Drehung verliert das Papier seine Farbigkeit völlig,
es bleibt nur eine gewisse verwaschene Helligkeit übrig. Was ist
der Sinn dieses Versuches? Wollte ich die Farbe des Papiers
objektiv feststellen, so wäre mein Verfahren ganz unzweckmäßig;
denn nur bei scharfer Fixation habe ich die deutlichste Wahr-
Die Qualitäts- und Quantitäts-Kategorien. Q
nehmung. Auch die würde mir aber für diesen Zweck nicht
genügen; es wäre erforderHch, ein Spektroskop zu Hilfe zu
nehmen, um die Wellenlänge der reflektierten Lichtstrahlen zu
messen etc. Darauf also kann der psychologische Versuch nicht
tendieren. Es kam offenbar gar nicht auf die Bestimmung der
objektiven Farbe des Papiers an ; es war auch gleichgültig, daß
ich gerade ein Papierblatt nahm ; die Absicht des Versuches ging
ausschließlich auf meine Wahrnehmung der Farbe und ihre
Abhängigkeit vom peripheren Sehen. Sie als Äußerung meines
psychischen Lebens, als Erlebnis, war Gegenstand meiner Unter-
suchung, und die allseitige objektive Bestimmung eben
dieses psychischen Lebens, dieser Psyche ist Aufgabe
der Psychologie.
Es ist hiernach nicht ganz zutreffend, wenn Wundt den
Unterschied gegenüber den anderen Naturwissenschaften so faßt:
Die Naturwissenschaft betrachtet die Objekte der Erfahrung in
ihrer vom Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit, die
Psychologie in ihren Beziehungen zum Subjekt. — Der Irrtum
wird sofort deutlich, wenn man an die Affekte denkt. Bei diesen
Objekten der Erfahrung kann ja gar nicht die Rede davon sein,
daß sie als vom Subjekt unabhängig gedacht werden; der Unter-
schied liegt bei ihnen, aber auch bei allen anderen Objekten, nicht
in der Betrachtungsweise, sondern ausschließlich im Gegenstände
selbst. Gegenstand der Psychologie ist das seelische Leben, das
freilich die Beziehung zu den Gegenständen äußerer Erfahrung
nicht entbehren kann. Der Gegenstand der anderen Naturwissen-
schaften wird dagegen als von dem Erlebtwerden unabhängig
gedacht.
Ebenso wird man die Definition Münsterbergs nicht an-
erkennen können, der als psychisch dasjenige bezeichnet, »was
nur einem Subjekt erfahrbar ist«, während physisch dasjenige sei,
»was mehreren Subjekten gemeinsam erfahrbar gedacht werden
kann«. Wenn das Wort »erfahrbar« beide Male im gleichen
Sinne wie bei dieser Definition des »Psychischen« gebraucht
wird, so gibt es nichts, was mehreren Subjekten gemeinsam er-
fahrbar wäre. Ein Mineral etwa oder ein Baum ist dann nämlich
insofern erfahrbar, als seine Gestalt, seine Farbe, seine Größe etc.
1 0 Der Gegenstand der Psychologie.
wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung ist dem Individuum
völlig eigentümlich; jede Kontrolle über die Gleichartigkeit mit
anderen ist grundsätzlich ausgeschlossen, weil auch von den Ver-
gleichsobjekten wieder dasselbe gelten müßte. Beide werden viel-
mehr nur dadurch Gegenstände der Mineralogie bezw. Botanik,
daß die Geltung gewisser Gesetzmäßigkeiten von ihnen ausgesagt
wird, die nun als von jeder Wahrnehmung unabhängig gedacht
werden. Auf der anderen Seite sind die psychologischen Gesetze,
durch welche der Gegenstand der Psychologie fundiert wird, eben-
falls als unabhängig vom Individuum anzunehmen. Dieselben
Wahrnehmungen, die nach dem eben Gesagten nur einem Einzigen
erfahrbar sind, unterstehen der allgemeinen Gesetzlichkeit der
Psychologie, sofern sie Wahrnehmungen sind, und sind insofern
mehreren > erfahrbar«, weil ihre Gesetze von jeder individuellen
Wahrnehmung gelten. Es ist also ersichtlich, daß das Wort
»erfahrbar« in beiden Fällen in verschiedenem Sinne gebraucht
wird: Im ersten bezieht es sich auf die individuelle Wahrnehmung,
im zweiten auf die wissenschaftliche Erkenntnis.
Nach dieser vorläufigen Orientierung über den Gegenstand
der Psychologie wenden wir uns nun zu der eigentlichen Be-
arbeitung unserer Aufgabe, die darin besteht, das Kategorial-
system der Psychologie in seinen großen Umrissen zu ent-
werfen. Das aber ist Aufgabe der Logik, die den Aufbau des
Wissenschaftssystems zu leisten hat und bei der Erfüllung dieser
Aufgabe sich »zu den mannigfachen Logiken der mannigfaltigen
Einzel Wissenschaften spezialisiert«, wie Sternberg^ es in sprach-
lich etwas kühner Form ausdrückt. So gewiß es aber nur eine
Vernunft gibt, so gewiß alle Wissenschaften ein System bilden, so
gewiß stehen auch ihre Kategorien in durchgängigem systemati-
schem Zusammenhange miteinander. Ist die Psychologie ein Teil
der allgemeinen Biologie, so sind deren Kategorien auch ihre
Grundbegriffe. Aber gerade wegen dieses engen systematischen
Konnexes wird es unvermeidlich sein, ständig auf Mathematik,
Physik und Chemie zurückzugreifen, die bei aller Selbständigkeit
doch die unentbehrliche Voraussetzung für Biologie und Psycho-
' K. Sternberg, Einführung in die Philosophie vom Standpunkte des
Kritizismus, S. 60.
Zeit und Raum. 1 1
logie bilden, obwohl sich erhebliche Abwandlungen ihrer Kate-
gorien im Laufe der Untersuchungen herausstellen werden. Da-
durch mag sich die Bezugnahme auf diese Wissenschaften recht-
fertigen lassen, wenn sie auch manchmal einer Abschweifung vom
Thema wegen ihres Umfanges ähnlich sehen sollte. Nur im Hin-
blick auf die Entfaltung der Kategorien im Wissenschaftssystem
erhält auch das Kategorialsystem der Psychologie seine richtige
Beleuchtung. '
§ 6. Cohens >Urteile der Denkgesetze< sind Voraussetzungen
aller Wissenschaft überhaupt. Ohne die qualitativen Grund-
begriffe der Identität, des Widerspruches, der Kontinuität ist über-
haupt kein Urteil möglich; sie geben dem Urteil erst die Gewähr
seiner Geltung, ja die Möglichkeit seiner logischen Erzeugung.
So wäre auch für die Psychologie nichts Belangreiches hinsicht-
lich ihrer zu sagen, hnmerhin sei schon an dieser Stelle auf den
charakteristischen Begriff des Unbewußten hingewiesen, weil er
eine interessante Anwendung des > unendlichen < Urteils darstellt.
Er wird später noch näher zu untersuchen sein.
Ebenso zweifellos sind die Quantitäts- Kategorien der Ein-
heit, Mehrheit und Allheit konstitutiv für die Psychologie. Auch
psychische Erlebnisse bedürfen prinzipiell mindestens der Zahl zu
ihrer Bearbeitung. Daraus folgt, daß die Zahl, und wenn man
für sie den Reihenbegriff als grundlegend ansieht, dieser für die
Psychologie die Bedeutung einer Kategorie besitzt,
IL Kapitel:
Zeit und Raum.
§ 7. Die ersten Schwierigkeiten tauchen bei der Frage nach
der Bedeutung von Raum und Zeit für die Psychologie auf. Es
bleibe das große Problem unerörtert, ob Kants transzendentale
Ästhetik recht behält, die beide als Formen der Anschauung be-
trachtet, oder ob die imponierende Konzeption Cohens Geltung
hat, die sie als Denkgesetze aus den Quantitätskategorien herleitet.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, ist von vornherein zu betonen,
daß es sich nicht etwa um die empirische Raum- oder die Zeit-
anschauung bezw. -Vorstellung handelt. Diese beiden sind vielmehr
12 Zeit und Raum.
als Anschauung bezw. Vorstellung offenbar Lebensvorgänge. Alle
Lebenserscheinungen aber und damit eben auch alle psychischen
Phänomene sind als Vorgänge nur in der objektiven Zeit zu
begreifen. Sie setzen also die Zeit in kategorialem Sinne not-
wendig voraus und sind daher nicht selbst Grundbegriffe. Wohl
aber ist der objektive Zeitbegriff aus dem gleichen Grunde
apriorisch.
Bezüglich des Raumes ist die Entscheidung weniger ein-
fach. Zunächst gibt es zweifellos psychische Erscheinungen, die
keine direkten räumlichen Beziehungen aufweisen, z. B. Affekte
oder etwa eine Geruchsvorstellung. Wenn sich also psychisches
Leben wissenschaftlich erfassen ließe, das sich ausschließlich aus
solchen Vorgängen aufbaute, wäre anscheinend der Raumbegriff
nicht konstitutiv für die Psychologie. Man könnte noch weiter
gehen und auch diejenigen Wahrnehmungen und Vorstellungen
in diesen Bereich einbeziehen, die scheinbar in engster Verknüpfung
mit dem Räume stehen, wie die Gesichts- und Tastwahrnehmungen
und -Vorstellungen. Sofern es sich eben um Wahrnehmungen
und Vorstellungen handelt, sind sie nicht selbst räumlicher Art.
Es ist offenbar etwas anderes, räumliche psychische Phäno-
mene zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, etwas an-
deres, den Raumbegriff als notwendige Voraussetzung der Psycho-
logie zu fordern. Das Erlebnis ist nicht räumlich, die Psyche
nicht durch Koordinaten bestimmbar. Insofern müßte man also
Kant zustimmen, der den Raum als die Form aller Erscheinungen ,
äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit,
bezeichnet, unter der allein äußere Erfahrung möglich ist, im
Gegensatz zu der Zeit als Form der inneren Anschauung. Selbst-
verständlich wäre übrigens auch in dieser Betrachtung der trans-
szendentale Gesichtspunkt streng zu wahren, um die aus der Ge-
schichte der Philosophie zur Genüge bekannten ontologistischen
Grenzüberschreitungen zu vermeiden. Es hat keinen wissenschaft-
lichen Sinn, aus der Unräumlichkeit der psychischen Erscheinungen
positive Bestimmungen eines metaphysisch gefaßten Seelenwesens
abzuleiten.
Aber auch diese Position ist nicht gegen jeden Angriff ge-
sichert. Schon bei Kant finden sich Hinweise darauf, daß die
^eit und Rautli. 13
Zeit, »eben weil sie nichts Beharrliches enthalte, auf die Raum-
vorstellung zwingend hingewiesen sei, um selbst überhaupt vor-
gestellt zu werden«^. Man kann dagegen geltend machen, daß
nach Cohen vielmehr, der Raumbegriff logisch die Zeit zur Vor-
aussetzung habe, ebenso wie die Kategorie der Allheit die der
Mehrheit voraussetzt, und daß auch bei Kant Belege für diese
Anschauung zu finden sind. Aber selbst, wenn man an dieser
Schwierigkeit vorbeigleitet, wird man von ganz anderen Gesichts-
punkten aus die Frage einer nochmaligen Prüfung unterziehen
müssen, ob die Psychologie des Raumbegriffes entraten kann.
Wenn man nämlich den Betrieb der Wissenschaft selbst heran-
zieht, so findet man, daß sie bei aller Erklärung irgend welcher
Wahrnehmungen notwendig auf die Reize reflektiert. Auch bei
der Geruchsvorstellung bleibt nichts übrig, als auf eine frühere
Geruchswahrnehmung zurückzugehen, die wiederum nur Gegen-
stand einer Untersuchung werden kann, wenn sie in Beziehung
zu chemischen Agentien gebracht wird. Und so ist jeder Reiz
als Gegenstand der Außenwelt physikalisch, chemisch oder phy-
siologisch definiert. Damit hat die Bestimmung des Reizes aber
den Raumbegriff zur Voraussetzung. Analoges gilt von Vor-
stellungen. Auch sie können für die Erklärung, für die gene-
tischen Beziehungen auf den Zusammenhang mit Reizen nicht
verzichten, die selbstverständlich auch als innere Reize, ja sogar
als psychische Erscheinungen, z. B. Vorstellungen, in letzter Linie
wiederum auf räumliche Ursachen zurückgeführt werden müssen.
Natürlich kann eine wissenschaftliche Behandlung auch der Raum-
vorstellung nicht ohne Bezugnahme auf den Begriff des »objektiven«
Raumes, so wenig wie eine solche der Zeitvorstellung ohne den
Zeitbegriff erfolgen. Qeht man aber auf die große Klasse der
»psychischen Funktionen« über, so finden wir auch bei ihnen, daß sie
ein Material der Erscheinungswelt letzten Endes voraussetzen. Ver-
gleichen, abstrahieren, bemerken usw. erfolgt immer direkt oder
indirekt an »Erscheinungen« im Sinne Stumpfs: Auch wenn man
diesem Forscher zugeben wollte, daß Funktionen ohne Erscheinungen
widerspruchslos denkbar sind, so sind sie doch zweifelsohne nicht
wissenschaftlicher Untersuchung ohne sie fähig. Und so werden
P. Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 149,
14 t)ie l^elationskategorietl.
wir denn trotz der Tatsache, daß psychische Erscheinungen und
Funktionen nicht selbst räumHch sind, zu der Stellungnahme ge-
zwungen, daß die Psychologie als Wissenschaft den Raum-
begriff nicht entbehren kann.
§ 8. Schon daraus, daß Erlebnisse gezählt werden können,
und auf die objektive Zeit bezogen sind, geht die Anwendbarkeit
der Mathematik auf die Psychologie hervor. Denn alle alge-
braischen Operationen sind bereits hierdurch gerechtfertigt. Ebenso
folgt daraus sofort, daß auch die analytische Geometrie zur Be-
arbeitung psychologischer Probleme herangezogen werden kann.
Nehmen wir als Beispiel die Übung und Erlernung irgend einer
Leistung, etwa des Addierens bei Kindern. Die Zeit, die zur
Lösung gleichartiger Aufgaben benötigt wird, wird mit der
Zahl der Wiederholungen allmählich abnehmen und kann nun in
Abhängigkeit von ihr durch eine mathematische Funktion aus-
gedrückt, in einer Kurve aufgetragen werden. Die Ergebnisse
einer dahingehenden Untersuchung an vielen Individuen können
offenbar auch statistisch verarbeitet werden. Ja sogar die Geo-
metrie ist von der Psychologie nicht auszuschließen. Es ist nicht
sinnlos, die »scheinbare Gestalt« eines räumlichen Profils, die
sich unter ganz bestimmten psychologischen Bedingungen ergibt,
zu der objektiven räumlichen Gestalt in Beziehung zu setzen.
Eines der bekanntesten Beispiele hierfür bildet die Untersuchung
der ^geometrisch-optischen Täuschungen«, bei denen nicht nur
die Qualität, sondern auch das Ausmaß der Abweichung für
die Psychologie von Interesse ist.
in. Kapitel:
Die Relationskategorien.
1. Erhaltung und Abwandlung.
§ 9. Insofern die psychischen Phänomene nicht direkt räum-
lichen Charakter haben, tritt an dieser Stelle zum ersten Male
eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den andern Wissenschaften
auf, die bei den andern bisher betrachteten Grundbegriffen nicht
festzustellen ist. Eine durchgreifende Änderung macht sich bei
den Kategorien der Relation geltend, denen wir uns nun zuwenden.
t)ie Relationskategorien. 1§
Wir sahen schon, daß die Psychologie es mit Erlebnissen, mit
Lebensvorgängen zu tun hat, Vorgänge aber setzen den Begriff der
Veränderung voraus, und Veränderungen können begrifflich nur
an etwas relativ Konstantem erfolgen, von einem Beharrlichen ge-
dacht werden, ebenso wie Konstanz nur Sinn hat im Hinblick auf
ein Veränderliches. Beide Begriffe sind logisch korrelativ. Wir
haben also zu untersuchen, wie das Moment der Beharrlichkeit,
die Kategorie der Substanz, in der Psychologie in die Erschei-
nung tritt. Was bleibt bei allen psychischen Vorgängen erhalten?
Wahrnehmungen, Vorstellungen, Affekte tauchen auf, verändern
sich und verschwinden unausgesetzt. An was gehen diese Wand-
lungen vor sich? Was beharrt relativ zu ihnen? Die Antwort
lautet: Das Psychische selbst, die Seele, die Psyche. Erhalten
bleibt das Moment, daß es Veränderungen meiner Psyche, meiner
Seele sind, die sich in ihnen entwickelt, deren Leben ebenso in
ihnen besteht, wie das Leben der Pflanze in ihren organischen
Veränderungen.
Daß sich viele Bedenken gegen diese Auffassung erheben,
daran kann kein Zweifel bestehen. Wenn man an die Ausprägung
des Substanzbegriffes in den exakten Wissenschaften denkt, so
schreibt man ihm das Kennzeichen strenger quantitativer Kon-
stanz und Unzerstörbarkeit zu. In diesem Sinne spricht die Physik
von der Erhaltung der Energie, die Chemie von der des Stoffes.
Schon die Physiologie aber kennt kein solches Gesetz. Zwar
stellt auch die Pflanze oder die Zelle einen Atomkomplex mit ganz
bestimmtem Energieinhalt dar, der auch bei ihrer Zerstörung, etwa
durch Verbrennung, erhalten bleibt. Aber nach der Verbrennung
ist der Rest alles andere, nur nicht mehr ein Gegenständ der
Biologie. »Befrage den Organismus mit physikalisch-chemischen
Methoden, und er wird dir nie eine andere als eine physikalisch-
chemische Antwort geben, also nie als Organismus antworten«^
Es hat also bei' der speziellen Biologie keinen Sinn mehr, einen
Substanzbegriff wie den der Energie zugrunde zu legen. Nur
um die Erhaltung bei biologischen Vorgängen kann es sich
handeln. Und hier sehen wir schon eine recht enge Beziehung
zur Psychologie. Denn was bleibt bei allen biologischen Vor-
' Croner, Zweck und Gesetz in der Biologie, Tübingen 1913.
16 Die Reiationskategoriett.
gangen als substantielles Moment bestehen? Der Botaniker spricht
davon, daß sich die Pflanze aus der Zelle entwickelt, er bezieht
Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Absterben auf die Pflanze.
Sie ist also das Beharrliche, ihr Organismus das Substantielle, auf
das Gestalts-, Gewichts- und sonstige Veränderungen bezogen
werden. Die gleiche Betrachtung gilt mutatis mutandis für Tiere
und Menschen. Der lebende Organismus ist der gesuchte
Substanzbegriff der Biologie. Von diesem Standpunkte aus wird
es einleuchtender, wenn wir den psychischen Organismus, die
Psyche als substantielles Moment der Psyche aufstellen. Schon
in Piatons Symposion (26. D.) wird diese Erhaltung des Indi-
viduums gegenüber all seinen Wandlungen betont: »Denn man
sagt ja auch, daß jedes einzelne der Lebewesen lebe und dasselbe
bleibe, wie einer auch von Kindheit an derselbe genannt wird,
bis er alt geworden ist, und wird gleichwohl immer derselbe ge-
nannt, da er doch niemals dasselbe in sich enthält, sondern immer
neu wird und das andere verliert, an Haaren und Fleisch, Knochen
und Blut und am gesamten Körper, und das nicht nur am Leibe,
sondern auch an der Seele: die Denkweise, die Sitten, Meinungen,
Begierden, Lüste, Schmerzen, Ängste, dies alles bleibt in keinem
jemals dasselbe, sondern das eine entsteht, das andere verschwindet.«
(Übersetzung von Kurt Hildebrandt, Verlag Meiner, 1912.)
§ 10. Und doch wird der Seelenbegriff damit noch nicht
gegen jeden Angriff gesichert sein. Nach der ganzen Richtung
dieser Untersuchungen sollte freilich das Mißverständnis nicht zu
befürchten sein, daß ontologistische Tendenzen bei seiner Auf-
stellung mitgewirkt haben. Nicht ein Gespenst gilt es zu neuem
Scheinleben heraufzubeschwören, nicht einem unsterblichen un-
körperlichen Wesen wird eine eigentümliche Existenz zugesprochen.
Es handelt sich ausschließlich um die logische Kategorie, die
keinen anderen Wert hat, als den, daß sie »den Grund legt zur
Relationsbestimmung auf dem Gebiet des Seelischen, daß allein
mit ihrer Hilfe der Wechsel der Bewußtseinserscheinungen als
Veränderung eines und desselben Bewußtseins verstanden werden
kann^< Gerade wegen dieser rein logischen Geltung darf der
1 K. Sternberg, Einführung in die Philosophie vom Standpunkt
des Kritizismus. Leipzig 1919, S. 141.
Die Relationskategorien. 17
Seelenbegriff nur auf den Gegenstand der allgemeinen Biologie
angewendet werden. Wie der absterbende Baum in dem Augen-
blick seines Absterbens dem Wissenschaftsbereich der Botanik
entrückt wird und dem der Chemie verfällt, so gelten psycho-
logische Gesetze nur vom lebenden Organismus. Das Fortleben
nach dem Tode, die Allbeseelung der Materie sind Probleme
der ontologistischen Metaphysik, die der psychologischen Forschung-
grundsätzlich transzendent bleiben müssen. Höchstens insofern
könnte der Gedanke der Allbeseelung einen methodisch be-
rechtigten Kern besitzen, als er aus der Forderung der Geltung
des Kontinuitätsprinzips hypothetisch abgeleitet wird.
Gilt es so, Mißverständnisse über die Bedeutung des Seelen-
begriffs abzuwehren, so wird ihm andererseits von der sensua-
listischen Richtung der Philosophie und mit ihr von vielen Psycho-
logen überhaupt jede Berechtigung abgesprochen. Es handele
sich um eine ganz willkürliche, unzweckmäßige Fiktion, so wird
von dieser Seite argumentiert; das Leben der Seele bestehe nur
in der Summe der Vorgänge des Bewußtseins, in dem »Bündel
von Vorstellungen«; die Psyche sei erlebnismäßig in keiner Weise
festzustellen. Was den ersten dieser beiden Gedanken betrifft, so
stellt er eine unrichtige Deutung des Vorganges der Forschung
dar. Alle einzelnen Bewußtseinserscheinungen werden doch auch
von den betreffenden Forschern, selbst bei dem pathologischen
Phänomen der »Spaltung des Bewußtseins«, als die eines
bestimmten Organismus gedacht; sie werden als seine Lebens-
äußerungen verstanden und also auf seine Seek als gemeinsame,
relativ beharrliche Einheit bezogen, die damit eben als die sub-
stantielle Voraussetzung angesetzt wird. Gerade als logische Vor-
aussetzung aber der Psychologie ist die Psyche ganz selbstverständlich
nicht erlebbar, nicht selbst Erlebnis. Die Richtigkeit des zweiten
Gedankens ist also zuzugeben. Sie hat aber nicht die voraus-
gesetzten Folgen. Hierin wird man Natorp^ zustimmen, wenn
er sagt: »Man sucht als Faktum in der Erscheinung, was als
Grund alles Faktums und alles Erscheinens selbst nicht Faktum,
nicht Erscheinune; sein kann.«
1 Natorp, a.a.O., S. 36.
Blumenfeld, Zur Grundlegung der Psychologie.
18 Die ßelationskategorjen.
§11. Wie der Substanzbegriff, so tritt auch der korrelative
Begriff der Veränderung in der speziellen Biologie in beson-
derer Ausprägung auf. Nicht die physikalische Veränderung ist
es, auf die es in der Biologie ankommt. Die Bewegungen sind
nicht mehr allein nach Gesetzen der Mechanik zu verstehen.
Dem Botaniker würde es nicht genügen, das Wachstum der Pflanzen
mathematisch nach Art der Wurfbewegung zu formulieren. Die
Erscheinungen des Stoffwechsels sind nicht ausreichend als che-
mische Reaktionen darzustellen. Auch der Begriff der Verwand-
lung, wie ihn die Physik für die Energieumsetzung geschaffen
hat, entspricht nicht der Ausprägung, die dem Begriff der Ver-
änderung in der speziellen Biologie zukommt. Selbst da, wo
das gleiche Wort gebraucht wird, wie bei der Metamorphose
der Raupe in Puppe und Schmetterling, besteht nur äußerlich
eine Ähnlichkeit. So unentbehrlich im Einzelfall eine energetische
Betrachtung auch für die Physiologie ist, das entscheidende phy-
siologische Moment muß jeder ausschließlich energetischen
Betrachtung zwischen den Fingern entgleiten. Es liegt bei den
biologischen Veränderungen eine Art innerer Bewegung vor, eine
qualitative Abwandlung, für die m. W. ein besonderer Name nicht
existiert. Denn der Begriff der Entwicklung, der noch am be-
zeichnendsten erscheint, umfaßt i.a. nicht die rückläufigen Bewegun-
gen, die beim Absterben der Organismen auftreten. Auch wäre er
nicht ohne Zwang auf die normalen Assimilations- und Dissimi-
lationsvorgänge, auf Atmung etc. anwendbar. Die Aristotelische
»Entelechie* aber empfiehlt sich nicht wegen der metaphysischen
Verbindungen, die sie schlägt. Ich werde, um das innere Ge-
staltungsprinzip zum Ausdruck zu bringen,' und den Unterschied
gegenüber der Kategorie der Physik hervorzuheben, einen be-
sonderen Terminus »Formung« für diesen Grundbegriff ein-
führen. Er soll dann auch die psychischen Veränderungen in
sich begreifen, und -zwar sowohl die Schwankungen innerhalb
eines einzelnen Erlebniskomplexes (Aufmerksamkeitsfluktuationen,
Auftauchen und Verschwinden von Vorstellungen), wie die Ent-
wicklung von psychischen Funktionen im Laufe des individuellen
Lebens. Daß wir es bei der Formung mit einer Kategorie zu
tun haben, bedarf keines ausführlichen Beweises; die Korrelation
zum Substanzbegriff verbürgt ihr diesen Charakter.
Die Relationskategörieii. 19
§ 12. Es sei an dieser Stelle zur größeren Klärung der
logischen Beziehungen gestattet, auf die interessante Abwandlung
hinzuweisen, welche die Begriffe der Substanz und der Ver-
änderung innerhalb der verschiedenen Naturwissenschaften er-
fahren. So hoffe ich gleichzeitig zu rechtfertigen, daß ich für
die biologische Kategorie der Veränderung eine besondere Be-
zeichnung vorschlage. Auch mag vielleicht dadurch ein neues Licht
auf den eigenartigen Heg eischen Ausdruck der »Bewegung der
Begriffe« fallen, wenn man ihn in rein logischer Bedeutung
faßt. Daß Hegel selbst eine ähnliche Ausdeutung irgendwie im
Sinne gehabt habe, soll selbstverständlich nicht behauptet werden.
In seiner allgemeinsten logischen Form wird man den
Substanzbegriff aufzufassen haben als das sich erhaltende Bezugs-
prinzip, auf das alle Abwandlungen sich beziehen. So erhält
sich im Urteil der Begriff, im Schluß das Urteil. In Korrelation
aber zu dieser Erhaltung hätte man, der Veränderung entsprechend,
die logische Operation überhaupt anzusetzen.
In der Mathematik wird der Sinn der Fragestellung am
leichtesten klar, wenn man von der Funktion als dem spezifisch-
mathematischen Gegenstand ausgeht. Alle Funktionen stellen sich
als Gleichungen dar; bei beliebiger Variation der Werte der
Variablen bleibt die Form der Gleichung erhalten. Wir werden
daher in der Gleichheit das substantielle Moment, in der Va-
riation aber ihr Korrelat zu sehen haben. Es ist also die Quan-
tität selbst, die sich erhält, sofern die mathematische Gleichheit
rein quantitativ verstanden werden muß. Auch auf die korrelativen
Begriffe der Konstanten und Variablen darf man in diesem Zu-
sammenhange hinweisen. Es gilt nicht nur von der Geometrie,
wenn Cassirer^ sagt: »Die unveränderlichen geometrischen Eigen-
schaften sind dies nicht an und für sich, sondern immer nur mit
Bezug auf einen Inbegriff möglicher Transformationen, den wir
implizit voraussetzen. Konstanz und Veränderlichkeit erscheinen
•< daher hier als durchaus korrelative Momente; nur durch und mit-
einander sind beide definierbar.«
Der bekannteste Substanzbegriff der exakten Naturwissen-
1 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin. S. 119.
2*
20 Die Relationskategorien.
Schäften ist die Energie, der ihr entsprechende Begriff die Ver-
wandlung. Daß gerade die Energie, d. h. ein ganz bestimmter
physikahscher Begriff, diese Konstanz zeigt, ist dabei logisch
offenbar unerhebhch. Und die Plancksche Quantentheorie läßt
in der Tat schon mit der Möglichkeit einer gewissen Ein-
schränkung der Geltung des Energiegesetzes rechnen. Damit
wäre aber die Frage nach »den unveränderlichen Bausteinen, aus
denen das physikalische Weltgebäude zusammengefügt ist«, nur
weiter zurückgeschoben. Planck selbst sieht sie in den »so-
genannten universellen Konstanten«, zu denen er vor allem die
Lichtgeschwindigkeit im Vakuum rechnet. Wesentlich ist also nur
der Begriff der auf quantitative Konstanten reduzierten Elemente,
an denen die physikalischen oder chemischen Veränderungen vor
sich gehen. Diese Begriffe aber stehen insofern mit dem Zeit-
begriff in Verbindung, als das Energiequantum bezw. die auf die
Konstanten reduzierten Elemente als unabhängig von jeder Zeit
und Art der Veränderung, als beharrlich gedacht werden, während
die Veränderungen eben in der Zeit erfolgen, indem »je ein Punkt
des Raumes zu einer Zeit zugeordnet^« wird. Auf den chemischen
Begriff des Elements und seine Modifikation durch die Ruther-
fordsche Theorie ebenso wie auf den des Elementarquantums
in der Physik und physikalischen Chemie brauche ich nur an-
deutend hinzuweisen.
Von dem Organismus und den Formungsprozessen
ist der Zeitbegriff in keiner Weise auszuschließen, und genau das
Gleiche gilt offenbar auch von der Psyche. Sie sind in der Zeit
und an sie gebunden. Aber es ist wohl zu beachten, daß der Orga-
nismus nur eben deswegen das substantielle Moment darstellt,
•weil er im Hinblick auf die Formungsprozesse beharrt. Daß
die Organismen selbst zeitbedingt sind, d. h. eine bestimmte
Lebensdauer haben, ist eine lediglich empirische Tatsache, die
in logischem Betracht gleichgültig bleibt. Wesentlich ist dagegen,
daß sich von einer irgendwie gearteten quantitativen Konstanz
von Elementen in mathematischer Formulierung bei biologischer
1 P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften,
Leipzig, 1910. S. 368.
p
Die Relationskategorien, 21
Betrachtungsweise nicht mehr sprechen läßt. Immerhin ist die
vom Substanzgedanken ausgehende Tendenz auf etwas schlecht-
hin Unzerstörbares auch in der Biologie deutlich erkennbar; die
so zäh verteidigte Behauptung der Unveränderlichkeit der Arten
zeugt davon. Auch in der modernen, auf den Mendel sehen
Gesetzen ruhenden Vererbungstheorie scheint sich ein Prinzip von
der Erhaltung der ^ Anlagen < durchzusetzen, derart, daß alle
Dispositionen, die in einem Individuum manifest werden oder latent
bleiben,^ in irgend einem Vorfahr - — nur in anderer Kom.bination —
nachweisbar sind. Vielleicht kann der Gedanke der Erhaltung
unabhängig von der Zeit in aller Strenge auf einen Begriff in
der Tat angewendet werden, nämlich auf den des Lebens selbst
als logische Voraussetzung der allgemeinen Biologie.
Wenn man von hier aus rückwärts blickend die »Bewegung
der Begriffe« kategorial betrachtet, — eine Betrachtung, die selbst
offenbar der Logik angehört — , so sieht man, daß sich in stetiger
Determinierung in ihr selbst die beiden Kategorien der Erhaltung
und Abwandlung durchsetzen, die damit als Kategorien der
Wissenschaftstheorie angesprochen werden dürfen. Es wird
sich zeigen, daß entsprechende Gedankengänge auch bei den
übrigen Relationsbegriffen fruchtbar werden. So ergibt sich aus
dieser systematischen Verankerung ein neues starkes Motiv für die
Stellung, die wir der Psychologie zuweisen zu müssen glauben^.
2. Verkettung und Gesetz.
§ 1 3. Der Substanzbegriff ist zwar selbst keine Relation, aber die
Grundlage von Relationen-. Auch die Veränderung ist noch keine
Bestimmung. Es wird sich daher darum handeln, die Formungs-
vorgänge miteinander fest zu verknüpfen, sie in einen gesetz-
1 Es könnte die Frage nach dem Prinzip aufgeworfen werden, das
für die Determination der Kategorien in den verschiedenen Wissenschaften
maßgebend ist. Gewisse Fingerzeige sind in den vorhergehenden und
nachfolgenden Erörterungen zu finden. Es darf auch darauf hingewiesen
werden, daß diese Determination durchaus qualitativer, nicht quantitativer
Natur ist. Immerhin bin ich in dieser Frage, die mich selbst lebhaft
beschäftigt, bisher zu keinem abschließenden Urteil gelangt.
2 Cohen, Logik der reinen Erkenntnis. 2. A. 1914. S. 240.
22 , Die Relationskategorien.
mäßigen, notwendigen Zusammenhang zu bringen und so zu
ordnen, daß jedem Glied der Veränderungsreihe ein bestimmter,
ihm eigentümHcher Stellenwert erteilt wird. Es läßt sich nach
dem oben Gesagten erwarten, daß die in Betracht kommende
Kategorie ebenfalls eine fortschreitende Determinierung im System
der Wissenschaften zeigen wird. Alle Abwandlungen gehen an
dem Beharrlichen, sich Erhaltenden vor sich; wenn die Kategorien
der Abwandlung und Erhaltung nun in jeder Wissenschaft ver-
schiedene Ausprägung haben, so muß in ihnen auch die Ver-
knüpfung der Veränderungen etc. eine spezifische Gestalt annehmen.
Die Kategorie, die diesen geordneten Zusammenhang in allgemeinster
Form zum Ausdruck bringt, wollen wir mit dem Namen »Ver-
kettung« bezeichnend Sie kommt in der Logik als Prinzip des
Grundes, der Grundlegung zur Erscheinung, nach dem die
logischen Operationen miteinander verkettet sind. So beansprucht
das Urteil Geltung, insofern es durch Begründung gesichert ist.
Und im Urteil findet der Begründungszusammenhang seinen logisch-
wissenschaftlichen Ausdruck. Das Schema lautet: Wenn A, so B.
Es ist also das hypothetische Urteil, das diesen Verkettungs-
gedanken ausspricht.
In der Mathematik nimmt das hypothetische Urteil die
Form der Gleichung an. In der Gleichung werden (mindestens)
zwei Veränderliche y und x verknüpft und erhalten so eine be-
stimmte Zuordnung. Dadurch wird y zu einer »Funktion« von
X, d. h. es wird eine Abhängigkeit statuiert derart, daß jeder Ver-
änderung von X eine ganz bestimmte von y entspricht. Eine der
Variablen wird als die unabhängige, die andere als abhängige
gedacht. Welche der beiden diese Rolle spielt, ist logisch gleich-
gültig; aber in jeder mathematischen Ausdeutung wird immer
eine solche der Richtung nach bestimmte Zuordnung zugrunde
gelegt, auch wenn bei impliziten Funktionen die Form der Glei-
chung darüber nichts aussagt. In diesem Sinne sehen wir in der
1 Der Terminus »Verkettung« erscheint mir glücklicher als der ge-
bräuchlichere der »Verknüpfung«, 1. weil er weniger abgenutzt ist, 2, weil
in ihm die »lineare« Struktur der Abhängigkeit, auf die es hier gegenüber
der auch im Systemverbande vorliegenden Verknüpfung ankommt, und
die Festigkeit der Verbindung gleichzeitig prägnanteren Ausdruck gewinnt.
Die Relationskategorien. 23
Funktionalität« die Verkettungskategorie der Mathematik. Auch
bei Funktionen mit n Variablen ist die Form des Urteils, die für
diese Kategorie entscheidend ist, immer folgende: Wenn x, z, u,
V, w diese bestimmten Werte durchlaufen, durchläuft y jene. Die
besondere Art der Zuordnung im einzelnen Falle ist dabei un-
erheblich: Sie umfaßt > jede mögliche Form gesetzlicher Abhängig-
keit von Größen überhaupt. Der Zahlbegriff erfüllt und durch-
dringt sich mit dem Funktionsbegriff« ^. In der Beziehung auf
Größen liegt also auch hier das Neue, das bei der Kategorie
der Funktionalität unterscheidend gegenüber dem Grundbegriff
der Logik hinzutritt und die Determination bedingt. Dagegen
kann es fraglich erscheinen, ob die Richtung des Fortschritts von
Belang ist. Freilich wird jedem Elemente > kraft der Differential-
gleichung eine bestimmte Richtung des Fortschritts zugeordnet^«.
Diese Richtung, die durch den Differentialquotienten bestimmt
wird, ist für den Fortgang mit wachsenden und abnehmenden
Variablen die gleiche. Das Motiv aber, das für die Kategorie
der Funktionalität entscheidend ist, ist gerade in der Einseitigkeit,
in ihrem »linearen« Charakter zu erblicken.
Wie die zeitlose Erzeugung der mathematischen Kurve zu
dem zeitbedingten Durchlaufen einer Bahn, zur räumzeitlichen
Veränderung wird, die einem physikalischen Körper zugesprochen
wird, so geht der Begriff der Funktionalität in den exakten Natur-
wissenschaften in den der Kausalität, der der Gleichung in
den des Naturgesetzes über. Die Form der Gleichung wird
charakteristischerweise beibehalten ; eben durch diese mathematische
Formulierung erhält das Gesetz seine Reinheit, wie ja auch der
Gleichung die ihrige von der Logik (dem Urteil) gewährleistet
wird. Es liegt bereits darin, daß die Kausalgesetzlichkeit in
Gleichungen ausdrückbar ist, ausgesprochen, was nach Cassirer"
den Kern des Kausalgesetzes ausmacht, daß nämlich, wenn die
Ursachen sich voneinander bloß hinsichtlich des absoluten
Raumes und der absoluten Zeit unterscheiden, dasselbe für die
Wirkungen gilt. Denn die absolute Zeit und der absolute Raum
gehen in die Gleichungen überhaupt nicht ein. Das Gesetz gilt
1 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. S. 96, ^ Derselbe
a. a. O., S. 97. 3 Derselbe a, a. O., S, 330,
I
24 Die Relationskategorien.
zu jeder Zeit und an jeder Stelle des Raumes. Darin weist also
die Kausalität nicht über den Rahmen der Funktionalität hinaus.
Das geschieht erst durch die Bedeutung der Gleichung für den
Naturvorgang als Vorgang. So ist zwar der Formel des Gay
Lussacschen Gesetzes p. v = R. T die Art des Ablaufes der
Veränderungen nicht anzusehen. Aber bei jeder physikalischen
Interpretation tritt dieser Charakter des Prozesses sofort hervor.
Wir wählen eine beliebige Formulierung: »Wenn bei konstantem
Volumen eines abgeschlossenen Gasquantums sich die absolute
Temperatur ändert, so ändert sich der Druck in gleichem Sinn
und Verhältnis«. In diesem Falle wird also die Temperatur-
änderung als das primäre Moment, als die Ursache, die Druck-
änderung als die Wirkung angesehen. Es besagt nichts gegen
den zeitlichen Charakter des Vorganges, daß er reversibel ist, d. h.
daß auch durch Druckänderung eine Temperaturänderung möglich
ist. Trotz der gleichen mathematischen Formulierung ist dann
der physikalische Vorgang ein völlig anderer. Das Kausalprinzip
in dem hier verstandenen Sinne besagt also: Jedes Geschehen
ist durch zeitlich vorangehende äquivalente Verände-
rungen notwendig bedingt. In der Festlegung der Richtung
des Geschehens als eines notwendigen zeitlichen liegt das neue
Recht für die Kategorie der physikalischen Kausalität, die durch
die Konstanz der Energie in quantitativer Beziehung eine bereits
beim Substanzbegriff erwähnte Auszeichnung erfährt.
Den Übergang zur speziellen Biologie bildet der Begriff der
»Auslösung« von Mechanismen. Auch an die katalytischen
Erscheinungen in der Chemie darf man in diesem Zusammen-
hange erinnern. In der Biologie bleibt die allgemeine Form der
notwendigen Verknüpfung erhalten, auch die zeitliche Bedingtheit
wird übernommen, aber die quantitative Konstanz tritt zurück.
Nehmen wir als Beispiel irgend eine Reflexbewegung, so ist die
Art und Abstufung des Reizes in weiten Grenzen variabel, ohne
daß sich die Reaktion zu ändern braucht. Bleibt die Energie
des Reizes unterhalb einer bestimmten Grenze, so tritt überhaupt
keine biologische Reaktion ein. Auch von einer Umkehrbarkeit
der Prozesse ist im allgemeinen keine Rede. Selbstverständlich
soll damit nicht behauptet werden, daß die Geltung des Energie-
Die Relationskategorien. 25
gesetzes durchbrochen wäre; im Gegenteil, es müßte bei jeder
dahingehenden Untersuchung geradezu vorausgesetzt werden.
Aber wiederum wäre eben diese Untersuchung nicht mehr eine
spezifisch biologische, Physik und Chemie sind zwar notwendige
Voraussetzung der speziellen Biologie, reichen aber zur Bearbei-
tung ihrer Probleme nicht hin^. Damit stimmt denn auch die
Terminologie überein, die von Reiz und Reaktion statt von
Ursache und Wirkung spricht. Es bleibt von der kausalen Ver-
knüpfung nur noch die Notwendigkeit der Beziehung und ihres
zeitlichen Ablaufes erhalten. Zur Bezeichnung dieser Ausprägung
der Verkettungskategorie empfiehlt sich der Begriff der > I rr i tati o n < .
Ihr Gesetz würde lauten: »Alle Formungsprozesse werden
durch Reize hervorgerufen«. Unnötig zu bemerken, daß
die Reize auch in Lebensvorgängen des Organismus selbst be-
stehen, also innerer Natur sein können. Damit untersteht diesem
Gesetz jede physiologische Lebensäußerung überhaupt. Die Tat-
sache, daß im Bereich der Biologie gerade die quantitative
Äquivalenz aufhört, eine entscheidende Rolle zu spielen, macht
sich äußerlich dadurch bemerkbar, daß die biologischen Gesetze
im allgemeinen einer mathematischen Formulierung nicht fähig*
sind.
In der Psychologie wird die Irritationskategorie beibehalten.
Dabei ist jedoch zu beachten, daß in ihr entweder Reiz oder
Reaktion oder beide psychischer Natur sein müssen. Im ersten
Falle haben wir es vorwiegend mit motorischen Vorgängen
oder Willenshandlungen, im zweiten mit Empfindungen und
Wahrnehmungen, im letzten mit Vorstellungen und ihren Ver-
bindungen, Gedanken und Gefühlen zu tun. Ein Zusammen-
wirken verschiedener Reize, teils äußerer, teils innerer, physiolo-
gischer und psychischer soll durch diese bewußt simplifizierende
Darstellung keinesfalls ausgeschlossen werden. Dem eigenartigen
Wissenschaftsobjekt entsprechend sind hier die quantitativen Be-
ziehungen noch unwesentlicher geworden. Im extremen Falle,
wo Reiz und Reaktion psychisch sind, ist jede streng quantitative
Verknüpfung sogar grundsätzlich unmöglich. Trotzdem wird aber
1 Sternberg, a. a. O., S. 214.
26 Die Relationskategorien.
in allen Fällen ein irgendwie geartetes Abhängigkeitsverhältnis als
notwendig vorausgesetzt, indem die psychische Verhaltungs-
weise als Faktor in die Reihe der Bedingungen aufgenommen
wird. So wird z. B. eine Anzahl von psychischen Phänomenen
als von der Art der Aufmerksamkeitsverteilung abhängig gedacht.
Bezüglich der sogenannten »Gestaltsqualitäten« könnte man
vielleicht einen Augenblick zu Zweifeln neigen. Werden diese doch
vielfach (Stumpf, Gelb) als Relationserlebnisse aufgefaßt. Rela-
tionen sind Beziehungen zwischen Reizinhalten oder Reizen, aber
nicht selbst Reize. So ist ein Tonintervall die Beziehung zwischen
zwei Tönen. Aber in Wahrheit wird dadurch die logische Position
nicht berührt. Auch die Relation zwischen den 'Tönen hat die
Töne, d. h. letzten Endes die Reize zur Voraussetzung, und so ist
der psychische Formungsprozess auch in diesem Falle — nur auf
etwas längerem Wege — durch Reize bedingt.
Bühl er ^ hat ganz mit Recht darauf hingewiesen, daß es falsch
sei zu behaupten, »wenn zwei Reize auf ein Sinnesorgan wirken,
dann könne nicht anderes bewußt werden, als zwei Empfindungen
(und zwar jene zwei, die auch durch die isolierten Reize hervor-
gerufen werden) und eine Anzahl Relationen zwischen ihnen <.
Das Sehen der Bewegungen und der sinnliche Tiefeneindruck
beweisen das Gegenteil. Die Annahme, zu der Bühl er geführt
wird, um diese Erscheinungen zu erklären, daß nämlich »sich an
die physiologischen Prozesse, mit denen unsere Empfindungen
verknüpft sind, eine Reihe anderer Vorgänge anschließen, die die
Grundlage der Gestaltungsprozesse bilden«-, besagt doch wohl,
daß außer den physiologischen noch psychologische Momente in
das Bedingungssystem eingehen. Wir haben dann den Fall, der
bereits erwähnt wurde, daß die Reize selbst mindestens zum Teil
psychischer Natur sind.
Ein besonderer Name für die Irritationskategorie in der
Psychologie existiert nicht. Nur für die Anwendung auf Willens-
handlungen, also einen speziellen Fall, findet sich der Ausdruck
der > Motivation«. Nachdem wir bereits die Kategorie der Formung
1 K. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, Stuttgart, 1913, S. 12.
2 A. a. O., S. 30.
Die Relationskategorien. 27
auch für die Psychologie übernommen haben, dürfte es nicht
erforderlich sein, hierfür eine eigene Bezeichnung zu schaffen.
Trotz der verhältnismäßig einfachen Form, in der sich die Ver-
kettungskategorie in der Psychologie darstellt, war es notwendig,
ihre Abwandlung gegenüber den anderen Wissenschaften so weit
ausholend darzustellen. Denn auch diese sind für die Psychologie
nicht entbehrlich; schon der Begriff des Reizes, ohne den sie nicht
auskommen kann, verlangt zu seiner Bestimmung je nach seiner
Art die Begriffssysteme der Physik, Chemie oder Physiologie.
Damit aber ist die Tatsache verständlich, daß in der Psychologie
auch die Verkettungskategorien dieser Wissenschaften neben der
ihr eigenen der Irritation, nur methodisch an verschiedener Stelle,
auftreten.
Wenn man auch hier die Abwandlung der Grundbegriffe
selbst entsprechend wie bei der Substanzkategorie kategorial be-
trachtet, so kommt man zu der Verkettung der Kategorien, die
offenbar in dem Begriff der Determination ihren Ausdruck
findet. Diese ist also die Verkettungskategorie der Wissenschafts-
theorie in dem Sinne unserer obigen Ausführungen. (Vgl. S. 21.)
§ 14. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Psychologie
für uns eine Gesetzeswissenschaft darstellt, wie jede andere
Naturwissenschaft. Ihre Aufgabe ist die Erklärung der psychischen
Erscheinungen und Funktionen im Stumpfschen Sinne, das
Verständnis der seelischen Vorgänge als eines notwendigen Ge-
schehens, als bedingt durch irgend welche Vorgänge gleicher
oder abweichender Art. Das Motiv Spinozas wird damit in
gewisser Weise von der Psychologie aufgenommen, das er in den
berühmten Worten aussprach: »Humanas actiones atque appetitus
considerabo perinde, ac si quaestiö de lineis, planis aut de cor-
poribus esset<:, nämlich gemäß den leges et regulae naturae
universales . Aber indem so alle Vorstellungen, Gefühle, Ge-
danken etc. als Geschehnisse und nur als solche angesehen werden,
wird offenbar jede Betrachtung über den Gehalt, den Wert, die
Geltung dieser Vorstellungen .und Gedanken dem Bereiche der
Psychologie entzogen. Es kann also nie die Wahrheit eines Ur-
teils, dessen Zustandekommen untersucht wird, von psychologi-
schem Interesse sein, sondern einzig die Art seiner Gegebenheit,
Die Relationskategorien.
seine Entstehung in ihrer Bedingtheit etwa durch Wahrnehmungen,
Affei<te u. dgl. Es ist daher erforderhch, im Bereiche der
Psychologie zu unterscheiden zwischen dem Objekt der Wissen-
schaft, das ebensogut ein Urteil sein kann wie eine Wahrnehmung
oder Vorstellung, nämlich stets ein psychisches Erlebnis, und dem
wissenschaftlichen Urteil, das sie selbst über solche Gegenstände
und ihre Verknüpfungen fällt. Diese letzteren Urteile erheben
offenbar Anspruch auf Geltung (in der Psychologie nämlich);
sie können wahr oder falsch sein, und ihre Prüfung erfolgt nicht
auf Grund ihrer psychischen Bedingtheit, sondern ihrer Stellung
im Wissenschaftssystem. —
Nur mit wenigen Worten brauche ich auf die von Wundt^
vertretene Anschauung einzugehen, die einen wesentlichen Unter-
schied zwischen »physischer« und »psychischer Kausalität« macht.
Der diesem Forscher vorschwebende Begriff der Kausalität weicht
von dem hier aufgestellten, und auch dem Kantschen, völlig ab.
Das geht schon aus den unterscheidenden Merkmalen hervor,
die nach Wundt zu finden sind in den drei Prinzipien: »1. der
reinen Aktualität des Geschehens, 2. der schöpferischen Synthese,
3. der beziehenden Analyse«. Die reine Aktualität des Geschehens
sieht er in dem Fehlen »konstanter Objekte« in der Seelenlehre,
an deren Stelle »reine Ereignisse« treten. Daraus ergibt sich,
daß nicht das Kausalprinzip — oder, wie wir sagen würden,
die Geltung der Irritationskategorie — bestritten wird, sondern nur
die Gegenstände, auf die sie sich bezieht, von den physischen
unterschieden werden. Auch die von W. hervorgehobene große
Schwierigkeit der »psychischen Kausalerklärung« geht nicht auf das
Prinzip, sondern seine praktische Durchführung (S. 104). Und wenn
(S. 108) die Unmöglichkeit der » Kausalgleichungen« betont wird,
so trifft das zwar mit unserer Stellungnahme zusammen, aber die
Begründung durch die reine Aktualität des Geschehens erscheint
anfechtbar. Mit dieser Auffassung kreuzt sich schließlich bei
Wundt noch eine andere, bei der der logische Kausalbegriff
mit der Kausalitätsvorstellung identifiziert wird. Nur so ist es
' W. Wundt, Über psychische Kausalität und das Prinzip des psy-
chophysischen Parallelismus. Philosophische Studien, Bd. X.
bie Rektionskategorieri. 29
zu verstehen, daß ihm (S. 108) »auf psychischem Gebiet die
kausale Beziehung selbst in der inneren Wahrnehmung gegeben <
ist, anschaulich erscheint (S. 109). In ähnlicher Weise ließe sich
leicht zeigen, daß auch die übrigen von ihm vorgenommenen
Unterscheidungen gegenüber der hier vertretenen Anschauung
nicht stichhaltig sind, weil sie an der transzendentalen Frage-
stellung irgendwie vorübergehen.
3. System und Korrelation.
§ 15. Es könnte einen Augenblick scheinen, als sei durch
die bisher erwähnten Grundbegriffe der Gegenstand der Psycho-
logie völlig bestimmt, da nunmehr alle Veränderungen der Seele
als in gesetzmäßiger Abfolge stehend begriffen werden. Aber
eine neue Überlegung zeigt sofort, daß in der Verkettungs-
kategorie jeweils nur eine Reihe kausal oder irritativ bedingter
Vorgänge erfaßt wird. Dieser Grundbegriff hat gewissermaßen,
wie schon oben bemerkt wurde, einen linearen Charakter: Es
werden wohl Ursache und Wirkung, Reiz und Reaktion gleich-
sam als Perlen auf einen Faden gezogen, aber die verschiedenen
Perlfäden selbst haben zueinander keine Beziehung. Nun muß
aber der Gegenstand der Wissenschaft alle Bedingungsreihen in
sich zusammenschließen, die »Ketten« müssen durch »Schußfäden«
zum einheitlichen Gewebe verbunden werden. Das geschieht
durch die letzte übergreifende der Relationskategorien, die der
Wechselbeziehung oder des Systems. In ihr »ruht und gipfelt
die logisch-theoretische Geltungsordnung« ^. Alle Kategorien unter-
stehen dieser Idee des Systems. »Nur diejenigen Formen der
Erkenntnis können als Kategorien gelten, die die Funktion der
Systematisierung vollziehen, und die also a priori dem Gesichts-
punkt des Systems unterstellt und von hier aus als Kategorien
ausgezeichnet werden«^ Indem alle Begriffe, Gesetze, Verket-
tungen etc. dem Systemgedanken unterworfen werden, erhalten sie
ihre Richtung zur Einheit. Das, was in korrelativer Verknüpfung
steht, ist es stets als Glied eines Systems; und umgekehrt beruht
1 A. Liebert, Problem der Geltung, Berlin 1914, S. 115. - 2 Der-
selbe, a.a.O., S. 139.
30 t)ie Relationskategorieti.
das System nur auf der gegenseitigen Bezogenheit seiner Glieder.
Diese wechselseitige Bezogenheit hat man auch als >Teleologie< ,
als logische Zweckmäßigkeit bezeichnet, ein Ausdruck, der seinen
problemgeschichtlichen Ursprung in der Biologie findet, wo er
denn die spezielle Ausprägung der Korrelation darstellt. Auf alle
Fälle aber ist von vornherein wieder die psychologistische Deu-
tung abzulehnen. Nicht um ein vorgestelltes, angestrebtes Ziel
handelt es sich, sondern einzig um die Einheitsbeziehung, Zu-
sammenhangsgesetzlichkeit. Mit gutem Recht könnte man von
diesem Gedanken ausgehend den Systembegriff zum Zentralgestirn
der Logik überhaupt machen und von ihm aus die Bedeutung
aller Probleme beleuchten. Alle Urteile der einzelnen Wissen-
schaft erhalten von ihm ihre einheitliche Beziehung, nämlich zur
Theorie, und diese untereinander zu dem System ihrer Wissen-
schaft. Darauf beruht ihre Geltung; und so entnehmen auch die
einzelnen Wissenschaften diesem Systembegriff ihre Stellung im
System der Wissenschaften selbst.
Aber nicht genug, daß die Geltung aller wissenschaftlichen
Urteile auf der Stellung im System beruht, werden wir im Be-
griff selbst seine Verkörperung zu erblicken haben. Hat doch
Cohen, von dieser Überlegung ausgehend, sogar das Urteil
des Systems als »Urteil des Begriffs« bezeichnet. Insofern nun
der Begriff die Einheitsbeziehung zum Ausdruck bringt, sind
offenbar auch alle Kategorien nur eine bestimmte Ausprägung
der Systemkategorie, und so wäre also von diesem Standpunkt aus
der Fortgang verbarrikadiert; oder richtiger — der Weg ist nach
allen Seiten offen; jede Richtung ist gleichwertig, weil alle Be-
griffe aller Wissenschaften den Systemgedanken bereits verkörpern,
und es kann sich also wiederum nur darum handeln, wie bei
den vorigen Grundbegriffen auch, die spezifische Abwandlung
innerhalb jeder Wissenschaft aufzuzeigen.
In der Mathematik haben alle Gleichungen ihre Geltung-
unter Voraussetzung eines bestimmten Bezugssystems und im
.Hinblick auf ein solches, nämlich das Koordinatensystem. Von
dessen Wahl hängt ihre Form ab. Als übergreifender System-
begriff aber der Mathematik erweist sich der n-dimensionale
Raum, der das reinste und höchste aller ihrer Bezugssysteme
Die Relation s1{ategorien. 31
darstellt. Die Beziehung zur Quantität ist auch hier deutlich
erkennbar. Wollte man für die Glieder des Systems, die Koor-
dinaten, nach dem sie verbindenden Korrelationsbegriff suchen,
so wäre vielleicht der der »Richtung« oder Dimension in Betracht
zu ziehen. Denn durch diese Kategorie wird die Beziehung
zwischen den Koordinaten hergestellt.
Insofern der Raum nicht Bezugssystem, sondern Bedingung
des Zugleichseins aller Substanzen in der Erscheinung ist, wurde
bekanntlich die objektive Geltung der Wechselwirkung von Kant
für die Physik nachgewiesen. Historisch aber tritt die Kategorie
in der Physik zum ersten Male, wie von Cohen und Natorp
betont wurde, im dritten Newtonschen Gesetz in ihrer charakte-
ristischen Form auf. Wirkung und Gegenwirkung sind einander
gleich. Indem der wirkende und der leidende Körper zu einer
Einheit zusammengefaßt werden, wird die äußere Kraft zu einer
inneren. So konstituiert sich der Grundbegriff in der Physik
als »reaktives System«. So wenig die Funktionalität im
Bezugssystem, so wenig geht die Kausalität im reaktiven System
auf oder wird dadurch ersetzt. Die Gasexpansion, die das Ge-
schoß aus dem Lauf und gleichzeitig das Geschütz rückwärts
treibt, bleibt Ursache für beide Bewegungen. Das Neue liegt
nur darin, daß alle drei: Gas, Kugel und Geschütz, zu einer
Einheit zusammengefaßt und verschmolzen werden. Aus der
gegenläufigen Bewegung der Systemglieder erzeugt sich im System-
begriff die Ruhe ihres Schwerpunktes. Unnötig erscheint es, die
fundamentale Bedeutung dieser Ausprägung der Kategorie durch
viele Beispiele zu belegen. Das d'Alembertsche Prinzip sei
erwähnt als das Mittel, die kausale Betrachtung in die dieser Re-
aktivität zu überführen. Das Sonnensystem zeigt ihre kosmische
Bedeutung, insofern das Zentralgestirn mit all seinen Planeten
in reaktivem Verbände steht. Das Band zwischen den Gliedern
des Systems, ihr Korrelationsbegriff also, ist die Kraft.
Von der Chemie besonders zu sprechen, lag bisher an-
scheinend kaum Veranlassung vor, da ihre Grundbegriffe im
wesentlichen den gleichen Charakter zu tragen schienen wie die
der Physik. So ist denn auch der Systembegriff z. B. des Atoms,
das ja auch ein Planetensystem von Elektronen darstellt, gegenüber
32 bie Relationskategorien.
dem physikalischen dem ersten Eindruck nach nicht unterschieden.
Wiederum muß man aber auf die Tendenz der Wissenschaft
zurückgreifen, um den Sinn der kategorialen Abwandlung zu
erschauen. Das Elektronensystem hat die ganz spezifisch chemische
Bezogenheit auf die »Struktur«. Gerade dadurch unterscheidet
sich der chemische Körper von dem physikalischen System der
Massenpunkte, daß er ein strukturelles System bildet, während
dieses ein reaktives System darstellt. Und von hier aus rück-
wärts gesehen erscheinen — wie offenbar auch gefordert werden
muß — die Kategorien der Substanz und Kausalität auch in der
Chemie in entsprechender^ leicht abgewandelter Bedeutung. Die
Erhaltungskategorie wird zur Erhaltung der Struktureinheit (Atome,
Elektronen), die Veränderung zur Strukturänderung und auch der
Kausalnexus erhält seine entsprechende Färl;)ung, trotz der engen
Beziehung zur Physik. Der chemische Körper soll als Einheit
von Gesetzeszusammenhängen gefaßt werden. Die Korrelation
zwischen den Systemgliedern aber drückt sich in der Valenz
der Atome aus, die ihre »Bindung«, d. h. die Verknüpfungsweise
regelt und bestimmt, welche in den »Verbindungen« zutage tritt.
Ein Struktursystem höherer Ordnung ist das der Elemente, das
»periodische System«, das auf Grund des Reihenprinzips aus den
Atomgewichten abgeleitet ist. Die Untersuchung der Reihe nach
bestimmter Gesetzlichkeiten zeigt, daß die physikalischen und
chemischen Eigenschaften der Elemente periodische Funktionen
ihrer Atomgewichte sind. Schon Mendelejeff kam zu dem
Ergebnis, daß der gesamte Charakter eines Elements bestimmt
wird durch die Stelle, die es im System einnimmt. Wie stark
dieser vom Systemgedanken ausgehende Zwang ist, erhellt daraus,
daß die Chemie rein auf Grund der Geltung dieser Einheits-
beziehung die Existenz, die Auffindbarkeit bestimmter Stoffe
fordert, deren Gesetze sie angeben kann, auch wenn sich in der
Natur bisher keinerlei Anzeichen für ihr Dasein aufzeigen läßt.
Beim Germanium ist diese Forderung bekanntlich in glänzendster
Weise erfüllt worden. Das von Mendelejeff postulierte und
vorausberechnete Element wurde 13 Jahre später von Winkler
entdeckt und zeigte fast genaue Übereinstimmung hinsichtlich
aller physikalischen und chemischen Eigenschaften.
bie Reiatiönskategorieii. 33
Im periodischen System tritt bereits eine Erscheinung auf,
die sich in stärkstem Maße in der Biologie geltend macht, nämlich
die Klassifizierung. Sie besteht in der Zusammenfassung be-
stimmter Gruppen nach dem Charakter ihrer chemischen Gesetze.
Dieselbe Art der Einteilung findet sich bei den Kristallen, in denen
sich ja überhaupt der Systembegriff des chemischen Körpers be-
sonders eigenartig determiniert; nur daß bei diesen als Prinzip
der Einteilung vorwiegend nicht chemische, sondern mathematisch-
physikalische Gesichtspunkte dienen, wie die Zahl der Achsen,
Symmetrie, Doppelbrechung etc. Es ist vielleicht nicht zufällig,
daß bestimmte Kristallbildungen sich den organischen Formen in
erstaunlichem Maße nähern. Ihr Systembegriff selbst bildet in
gewissem Sinne die Verbindung zwischen dem reinen Struktur-
und dem Organsystem.
§ 16. Das Organsystem ist die Ausprägung unserer Kate-
gorie im Bereiche der speziellen Biologie. Es ist die Einheit, auf
die alle Formungsvorgänge' sich beziehen, in Beziehung auf die
sie ihren eigentümlichen Sinn erhalten. Durch das Irritations-
prinzip wird nur festgelegt, daß alle Reaktionen durch Reize be-
dingt sind. Darin aber, da;ß der Organismus einen Zusammenhang
von Organen darstellt, die untereinander in fester funktionaler
Verknüpfung stehen, liegt es begründet, daß im allgemeinen die
Reaktion nicht auf das direkt vom Reiz betroffene Glied beschränkt
bleibt, sondern daß gewissermaßen das ganze Individuum darauf
antwortet.
Auch bei der Erörterung der Substanzkategorie war uns der
Organismus als Grundbegriff begegnet. Er war aber dort be-
zogen auf die Erhaltung als das Konstanzprinzip gegenüber den
Formungserscheinungen. An dieser Stelle, im Bereich des System-
begriffs, erhält er seine Position durch den Gedanken der Wechsel-
beziehung der Systemglieder zum Ganzen und untereinander.
Wir können von diesem Standpunkte aus sagen, daß die Substanz-
kategorie sich darstellt als das Prinzip der Erhaltung des System-
zusammenhangs.
Aber diese Wechselbeziehung der Systemglieder zueinander
wird nun nicht nur so betrachtet, daß gegenseitige Beeinflussungen,
Einwirkungen und Rückwirkungen stattfinden, es bleibt nicht bei
Blumenfeld, Zur Grundlegung der Psychologie 3
34 Die Reiationskategorien.
der Feststellung der Korrelation, sondern die Veränderungen, welche
eintreten, werden beurteilt, gedeutet als sinnvoll für das Leben des
Individuums. Die irritativ bedingte Formung gilt als für das
lebende System zweckmäßig. Damit kommt das von Anaxa-
goras zuerst hervorgehobene Motiv der Teleologie zum entschei-
denden Durchbruch. Alle Organe sind biologisch definiert durch
ihre Leistung, ihre Funktion im Sinne der Erhaltung des Orga-
nismus, dessen Wesen wie sein Leben auf ihrem zweckmäßigen
Zusammenwirken beruht, ja in ihm besteht. Ein Reflex z. B. erhält
seine Deutung, seine Bedeutung als Schutzmaßnahme gegenüber
einer Gefahr. Bis in die kleinsten lebenden Teile hinein herrscht
das Prinzip der Zweckhaftigkeit. Alle Lebensäußerungen der Zelle:
Stoffwechsel, Fortpflanzung, Bewegung, Selbstregulation — , werden
auf die Systemeinheit im Sinne der Teleologie bezogen.
Wie aber der lebende Organismus ein Zellensystem darstellt,
so ist er selbst eingegliedert in den übergeordneten Zusammen-
hang der Art und der Gattung und findet durch seine Stellung
im Gattungssystem seine logische Position. Es wäre daher un-
richtig, den Klassenbegriff als eine besondere Form des Gesetzes-
begriffs oder als ihm logisch äquivalent zu betrachten. Während
dieser, wie bemerkt, in Korrelation zur Verkettungskategorie steht,
ruht der Klassenbegriff auf der Beziehung zu der Kategorie der
Wechselwirkung, die den Gesetzesbegriff bereits voraussetzt. Wenn
man es so formulieren darf, drückt er in ähnlichem Sinne die Ein-
heit der die Individuen, Arten, Gattungen konstituierenden Gesetze
aus, wie die physikalische Theorie die der einzelnen physikalischen
Gesetze. Insofern vertritt er bis zu einem gewissen Grade —
natürlich mit den aus der Sache folgenden Vorbehalten — in der
Biologie die Rolle der Theorie. Darum glaubten wir ja in der
Chemie eben im Hinblick auf das Auftreten von Klassenbegriffen
die Überleitung zur Biologie sehen zu dürfen. Während aber
dort das Prinzip der Klassifikation in physikalisch-chemischen Ge-
setzen begründet ist, beruht es hier auf denen der Formung, nämlich
der Stammesverwandtschaft, der Abstammung, der Erzeugung. In-
dem die Kategorie der Formung auf die Individuen und Arten
angewendet wird, entsteht der Begriff der Entwicklung. Ihr
teleologischer Charakter aber wird durch das Prinzip der An-
Die Relationsfcaiegoneri. 35
passung in klares Licht gestellt, das gerade die Zweckmäßigkeit
der Veränderungsrichtung im Interesse des Individuums und seines
Lebens, der Gattung und ihrer Erhaltung betont.
§ 17. Die spezifisch psychologische Determinierung der
Systemkategorie ist nun leicht zu übersehen. Wie der Organis-
mus die doppelte Stellung in der Substanzkategorie und in der
des Systems hat, so auch die Seele. Sofern sie sich erhält, be-
trachteten wir sie als Voraussetzung ihrer Formungsprozesse,
sofern sie die übergreifende Einheit ihrer Lebensäußerungen, näm-
lich der Wahrnehmungen, Vorstellungen etc. darstellt, hat sie in
dem Systemgedanken ihre Stelle. So ist also auch hier die Er-
haltung nichts als die Erhaltung der Systemeinheit. Wenn nach
dem Irritationsgesetz jede Reaktion durch einen Reiz bedingt ist,
so wird diese Reaktion nun als für die Seele sinnvoll und zweck-
mäßig beurteilt. Das Erlebnis wird teleologisch gedeutet. Die
Gesichtswahrnehmung ist durch die auf das Auge fallenden Licht-
strahlen mit ihren bestimmten spektralen und energetischen Ver-
hältnissen, den Bau des Auges, des Nervensystems bedingt. Sie
ist ferner auch von dem Zustande der gesamten Psyche abhängig,
in den der Reiz eingreift. Erst dadurch aber, daß die Gesichts-
wahrnehmung der Psyche zur Orientierung dient, wird der
Zweckcharakter hervorgehoben. So zeigen denn die psychologi-
schen Begriffe der Wahrnehmung, Vorstellung, Übung, des Ge-
dächtnisses etc. alle diesen teleologischen Charakter. Der Begriff
der Anpassung taucht wiederum unter dem Namen »Einfluß der
Erfahrung« auf. Denn dieser Einfluß wird immer als sinnvoll
in bezug auf das psychische Leben betrachtet. Daß wir »durch
Erfahrung lernen« heißt eben nur, daß wir den Anforderungen
der Umwelt das nächste Mal besser, zweckmäßiger entsprechen.
Bereits Dilthey^ hat auf die übergreifende Einheit des Seelen-
lebens und die Unzulänglichkeit der bloßen mechanischen Kausal-
bedingtheit nachdrücklich hingewiesen. Für die Empfindung speziell
ist in einer der modernsten psychologischen Theorien ungefähr
die gleiche Anschauung stark betont worden. J. Pikler stellt in
1 W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde
Psychologie, S. 1381 ff.
3*
36 Die Relationskätegoriett.
seinen »Sinnesphysiologischen Untersuchungen« die Empfindung,
die ja nur in wachem Zustande auftritt, hin als eine >ausgleichende,
anpassende Erhaltung der Organisation«, als die Reaktion, >die der
Wachtrieb der physischen Einwirkung des Reizes entgegenstellt,
indem er ihr ein genaues Gegengewicht schafft<^, mit der Be-
stimmung, Schädigungen des Organismus zu verhüten. Die noch
heftig umstrittenen Anschauungen Freuds sind ganz von diesem
Gesichtspunkt beherrscht.
Bei kategorialer Betrachtung all dieser Grundbegriffe werden
wir verlangen müssen, daß auch sie im Systemgedanken verankert
sind. Wir finden dann, daß sie auf das »Katego rialsystem«
bezogen sind, welches dementsprechend die Systemkategorie der
Wissenschaftstheorie bildet.
§ 1 8. Im Laufe der ganzen vorhergehenden Untersuchungen hat
es sich gezeigt, daß die Psychologie auch gegenüber der speziellen
Biologie ihr eigenes Reich von Grundbegriffen besitzt, das ihr
ihre Selbständigkeit als Wissenschaft sichert. Andererseits folgt
aus der gemeinsamen Unterordnung unter den Begriff der all-
gemeinen Biologie wie aus den bisherigen Ergebnissen, daß beide
besonders enge Beziehungen zueinander haben müssen. Schon
äußerlich hat sich dies historisch darin ausgedrückt, daß Fechners
grundlegende Arbeit den Namen »Psychophysik«, Wundts ver-
dienstvollstes Werk den Titel > Grundzüge der physiologischen
Psychologie« führt. Und auch heute noch finden sich in fast
allen psychologischen Lehrbüchern Erörterungen physiologischer,
in physiologischen Kompendien Untersuchungen psychologischer
Probleme. In dem Jahrhunderte hindurch völlig ungeschiedenen
Komplex tritt erst in unseren Tagen eine Sonderung zwischen
Physiologie und Psychologie ein, die allmählich fortschreitend
bereits eine neue Trennung der Psychologie selbst in die Psycho-
physik und die »reine« oder »autochthone« (Ziehen) Psychologie
sichtbar werden läßt. Auch bei dieser dürfte aber die Ähnlich-
keit des Kategorialsystems mit dem der Physiologie unverkenn-
bar bleiben.
Gerade aus dem innigen Zusammenhange beider Wissen-
schaften entstehen nun neue Schwierigkeiten. Wenn die Wahr-
> A. a. O., S. 76.
Die Relationskategorien. 37
nehmungen durch den Bau des Sinnesorganes und des Nerven-
systems mitbedingt sind, welcher Art ist dann das Verhältnis dieser
physiologischen Vorgänge zu den psychischen? Wiederum rühren
wir an ein uraltes metaphysisches Problem: Die Frage nach dem
»Zusammenhang von Leib und Seele« taucht auf, die auch heute
noch in der Wissenschaft nicht zur Ruhe gekommen ist und die
Kontroversen über > Wechselwirkung < und »psychophysischen
Parallelismus < , Materialismus und psychischen Monismus be-
herrscht. Ich bin nicht vermessen genug zu glauben, auf diese
Sphinxfrage könnte ich die richtige Antwort erteilen. Aber dem
Versuch einer Stellungnahme darf man sich nicht entziehen. Um
zu ihr den Weg zu bahnen, müssen wir uns erinnern, daß Leib
und Seele für uns und in diesem Zusammenhang nichts anderes
bedeuten, als die Gegenstände der speziellen Biologie und der
Psychologie, der Leib den Gegenstand der »äußeren«, die Seele
den der > inneren« Erfahrung. Von einem Identitätsverhältnis
zwischen Gegenständen verschiedener Wissenschaften zu sprechen,
deren Verschiedenheit durch die Eigenart ihrer Kategorialsysteme
dargetan sein dürfte, hat aber keinen Sinn. Damit scheiden die
beiden monistischen Standpunkte aus. Wie steht es mit der
Theorie der Wechselwirkung? Der Begriff ist mehrerer Deutungen
fähig. Wenn damit nur ein systematischer Zusammenhang der
Wissenschaftsobjekte betont werden soll, der in gegenseitiger
Korrelation und teleologischer Bezogenheit auf das Individuum
besteht, so entspricht diese Ansicht offenbar der Folgerung aus
den hier vertretenen Anschauungen. Soll jedoch ein gegenseitiges
Kausal Verhältnis zwischen dem irgendwie als ^wirklich« in onto-
logistischem Sinne angenommenen Leib und der Seele damit
gesetzt werden, so erscheint auch diese Verknüpfung unzulässig,
eben weil es sich für uns nur um logische Beziehungen zwischen
Wissenschaftsobjekten handelt. Logische Beziehungen aber müssen
nach dem oben Gesagten vorausgesetzt werden, weil Physiologie
und Psychologie dem gleichen höheren Systembegriff der all-
gemeinen Biologie angehören. Beide Disziplinen bestimmen in
ihrem Verbände den »psychophysischen Organismus«, das
beseelte Individuum, sei es Tier oder Mensch. Welcher Art je-
doch die Entsprechungen zwischen körperlichen und seelischen
38 Die Relationskategorien.
Vorgängen sind, ob sie vor allem in eindeutiger gegenseitiger
Zuordnung vorliegen, wie es der psychophysische Parallelismus
im strengen Sinne fordert, — das bleibt Sache der Forschung.
Das Prinzip einer genauen Entsprechung kann allerdings heuri-
stisch in hohem Maße wertvoll sein, nämlich im Sinne einer
Arbeitshypothese.
Dagegen erscheint es anfechtbar, wenn Cassirer^ die An-
sicht ausspricht: »Seele und Körper bedürfen keiner Vereinigung,
keines »substantiellen Bandes«, das sie zusammenhielte, — da der
Begriff des Körpers nicht anders als in immanenter Beziehung
auf ein denkendes Bewußtsein zu fassen und zu verstehen ist.«
Man kann ihm nämlich entgegenhalten, daß das Gleiche auch
für den Begriff der Seele gilt; es dürfte hier eine jener Ver-
wechselungen zwischen dem »diskursiven« und »intuitiven« Be-
wußtsein der Kantischen Terminologie vorliegen, die zu so
vielen Fehlschlüssen geführt hat (vergl. u. S. 68). Daß . damit
nichts gegen die These Cassirers, nämlich die Leugnung des
»substantiellen Bandes« gesagt wird, liegt nach den früheren
Ausführungen auf der Hand.
Der eigentliche Betrieb der Psychologie wird von dieser rein
philosophischen Frage nicht berührt. Mit Recht hebt Bühler-
das hervor: »Zum mindesten ist die Lehre von den Elementen
dem Streit über das Verhältnis von Leib und Seele soweit ent-
rückt, daß das meiste für die Parallelismus- und die Wechsel-
wirkungstheorie gleichmäßig gültig bleibt.« Wenn dies für die
Elemente gilt, unter denen B. ja gerade die Sinnesempfindungen
und Vorstellungen wesentlich versteht, so müßte es u. E. erst
recht von den »höheren« Funktionen gelten.
§ 19. Das logische Verhältnis zwischen spezieller Biologie
und Psychologie wollen wir nun im Einklang mit den früheren
Erörterungen noch etwas eingehender festlegen. Wir verwenden
wieder das anfangs herangezogene Beispiel. Es handelte sich
* E. Cassirer, Einleitung zu »Q. W. Leibniz Hauptschriften zur
Grundlegung der Philosophie«. Leipzig. Bd. 2, S. 86.
2 Vorwort zu Ebbinghaus- Bühler, Grundzüge der Psychologie.
Leipzig 1919. Bd. 1, S. 11.
3 Vgl. S. 8. ■
Die Relationskategorien, 39
um die Farbwahrnehmung bei indirektem Sehen. Der Psycho-
loge müßte bei der Untersuchung des eigenartigen Phänomens
so vorgehen, daß er zunächst auf die physikalisch -chemischen
Erscheinungen eingeht; es wäre etwa nachzuweisen, daß die
subjektive Farbänderung nicht auf eine Veränderung des reflek-
tierten Lichtes zurückgeht, sei es infolge von Vorgängen an der
Lichtquelle, sei es solchen an dem Papierblatt. Dazu treten dann
innerhalb der anschließenden physiologischen Erörterung noch-
mals physikalisch-chemische Elemente, z. B. die Brechbarkeit der
Augenmedien (Linse, Glaskörper, Hornhaut etc.) und chemische
Vorgänge in der Netzhaut. Reichen diese zur Erklärung der
Erscheinung nicht aus, so sind die eigentlich physiologischen
Faktoren zu untersuchen, z. B. die Adaptation, Akkommodation,
Innervation, Verteilung der Stäbchen und Zapfen. Nur für die-
jenigen Erscheinungen aber, die auch so nicht verstanden werden
können, dürfen spezifisch -psychische Momente in Betracht ge-
zogen werden. Die Psychologie verfolgt also für ihre eigenen
Gegenstände das Prinzip, in der Zurückführung der Erschei-
nungen auf ihre Ursachen schrittweise vorzugehen. Nur was
nicht restlos physikalisch -chemisch erklärt werden kann, darf
physiologisch, nur was auch nach physiologischen Gesetzen
nicht verständlich wird, psychologisch im engeren Sinne ge-
deutet werden. Dieser Gang der Forschung ist nicht zu-
fällig, sondern in ihm spricht sich ein wichtiges methodisches
Prinzip aus, das jeder psychologischen Untersuchung a priori
zugrunde liegt und sich in aller Strenge durchsetzt. Man wird
in ihm eine besondere Ausprägung des Prinzips der Deter-
mination < zu erblicken haben. Es steht in enger Beziehung zu
dem von Leibniz und schärfer von Kant hervorgehobenen
Gedanken, daß auch in der Biologie das Prinzip der mecha-
nischen Kausalität nicht aufgegeben werden darf, aber doch der
Ergänzung durch die Teleologie bedarf. Unzweifelhaft hat es
eine auch über die Psychologie noch hinausreichende Bedeutung
für die Wissenschaftslehre. Vom Standpunkte der Einzelwissen-
schaft aus ist es nicht ableitbar, es hat also keinesfalls empirischen
Charakter, vielmehr ist es transzendentaler Natur, Voraussetzung
der Möglichkeit aller einzelwissenschaftlichen Erfahrung. Ver-
40 Die Modalitäts'kategorien.
ständlich wird es nur von dem Gedanken her, daß es die Deter-
minierung der Reihe der Wissenschaften in ihrer logischen Be-
ziehung zueinander bezeichnet. Das Verhältnis der Psychologie
zur Physiologie ist danach das einer Determination in dem gleichen
Sinne, wie diese eine solche der Chemie ist. Damit bestätigt
sich die Reihenfolge der Abwandlung der Kategorien, die wir
in den obigen Ausführungen verfolgten^
Wiederum muß vor einer Mißdeutung gewarnt werden.
Keinesfalls ist die Meinung die, daß seelisches Leben in der
Entwicklung der Organismen oder des Kosmos zeitlich später
einsetze, als Lebens Vorgänge überhaupt, oder daß organisches
Leben entwicklungsgeschichtlich später entstanden sei als unorga-
nische Stoffe. Diese Fragen s[nd für uns an dieser Stelle gleich-
gültig, auch wenn man zugibt, daß von Psychologie erst da mit
Recht gesprochen werden kann, wo Organismen eines gewissen
Entwicklungsstadiums vorliegen. Es hat kaum wissenschaftlichen
Sinn, von der Seele eines Schachtelhalms zu sprechen. Von
welchem Stadium an die Erklärung bestimmter Vorgänge durch
die Annahme psychischen Lebens zu erfolgen hat, ist hinwieder-
um einzig und allein eine Frage des wissenschaftlichen System-
zusammenhangs. Man wird zu ihr schreiten müssen, wenn
Tatsachen auftreten, die zu ihrem Verständnis die Voraussetzung
psychischer Vorgänge erfordern. Sicherlich ist es naturwissen-
schaftlich gar nicht zu vertreten, hochstehenden Tieren, wie Affen,
Pferden, Hunden, Wahrnehmungen und Affekte abzusprechen.
Kapitel IV.
Die Modalitätskategorien.
1. Möglichkeit.
§ 20. Den bisher besprochenen Kategorien, die den Gegen-
stand der Wissenschaft von der Seele bestimmen, stehen als den
von Cohen sogenannten »naiven« die »kritisierenden« oder
»modalen« gegenüber, die das Verhältnis zur Forschung, zum
Fortgange der methodischen Arbeit angehen. Ihre Reihe beginnt
mit der Möglichkeit. »Möglich ist, was neue Erkenntnisse
1 Man vgl. hiermit Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 216 ff.
Die Modalitätskategorien. 41
ermöglicht^«, was also der Fortentwicklung, der Vorwärtsentwick-
lung der Wissenschaft dient, was die Ermittlung und Bestimmung
neuer Zusammenhänge, neuer Gegenstände fördert. Darum zeigt
sich die Kraft und der Sinn dieses Grundbegriffs vor allem in
der Hypothese, die als »Ansatz« für die Erklärung fungiert.
Der logische Wert der Hypothese beruht demnach auf ihrer
Fruchtbarkeit für die Einreihung wissenschaftlicher Tatsachen in
den Systemzusammenhang der Disziplin. Die Hypothesen stellen
gleichsam Revolutionen in der Wissenschaft dar, indem sie alte
Gedankengänge verwerfen, neue Verbindungen schlagen, bestehende
scheinbare Gegensätze ausgleichen; auch darin den Revolutionen
ähnlich, daß sie, leidenschaftlich umstritten, sich nur im Kampf
durchsetzen,^ der ihnen von den Vertretern der hergebrachten An-
schauungen geliefert wird. So ging es der imaginären Zahl
und den Metageometrien; so Faradays Hypothesen und der
Einsteinschen Theorie in der Physik; so der Rutherfordschen
Hypothese vom Zerfall der Elemente und der Annahme flüssiger
Kristalle in der Chemie; so Darwins Hypothesen in der Bio-
logie. Es ist der Platonische Gedanke der Hypothesis, der hier
nochmals in bezug auf den Prozeß der Forschung seine metho-
dische Position findet, nachdem er bereits bei der Verkettungs-
kategorie grundlegend aufgetreten ist. Er ist ja der notwendige
Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Untersuchung, vor allem
des Experiments.
In der Psychologie erscheint an dieser Stelle mit besonderer
Eindringlichkeit das Problem der * unbewußten psychischen Vor-
gänge«, auf das oben schon einmal andeutend hingewiesen wurde".
Seltsam in der Tat geht es dieser Wissenschaft: Es ist, als ob in
ihr sich die schwierigsten Fragen in einer Fülle drängten, gegen
die alle übrigen Disziplinen fast harmlos, einfach und durchsich-
tig erscheinen. So ist auch der Begriff des »Unbewußten« von
allen Schleiern der Mystik verhängt, von allen Verdikten dogma-
tischer Denkart getroffen, von kritischen Forschern, darunter
namhaften Psychologen, angefochten. Um nur einige Beispiele
1 Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 432.
2 Vgl. oben S. 11.
42 Die Modalilätskategorien.
anzuführen, nenne ich zuerst die entschiedene Ablehnung Wundts^:
»Für die Psychologie ist das Unbewußte ein Transzendentes, mit
dem sie sich niemals zu beschäftigen Anlaß haben kann, da der
Gegenstand ihrer Untersuchung schlechterdings nur die unmittel-
bare psychische Erfahrung ist.<- Demgegenüber steht die Stellung-
nahme Stumpfs-: »Ja, wir behaupten, daß sogar bei höchster
und einer Erscheinung direkt zugewandter Aufmerksamkeit unbe-
merkt bleibende Veränderungen in den Erscheinungen vorkommen
können; m. a. W.: daß es nicht nur unbemerkte, sondern auch
unmerkliche Erscheinungsänderungen geben könne.« Hierbei
muß beachtet werden, daß Stumpf unter Erscheinungen wesent-
lich Inhalte von Sinnesempfindungen und die »gleichnamigen
Gedächtnisbilder« versteht. Die unmerklichen Erscheinungsände-
rungen, deren Möglichkeit er betont, sind also mindestens zum
Teil unbewußte psychische Phänomene. Und noch bestimmter
lautet es bei Ebbinghaus-Bühler°: »Unbewußte Vorstellungen
sind zwar nicht den bewußten und uns bekannten Vorstellungen
direkt ähnlich, aber sie sind trotzdem als etwas Psychisches irgend
welcher Art anzuerkennen« und nach Stern^ sind »oft gerade die
wichtigsten und wirksamsten Bestandteile eines psychischen Pro-
zesses unbewußt«. Welchen Sinn hat es, in die Lehre von der
Seele unbewußte Vorgänge einzuführen? Wenn man sie als
Lehre von dem Bewußtsein, von den bewußten Erlebnissen de-
finiert, so ist freilich damit durch einen Ukas das Unbewußte
von ihr abgeriegelt. Das aber kann nicht entscheidend sein. Es
wäre ein ähnliches Verfahren, wenn man die Physik als Wissen-
schaft von den Veränderungen der ponderablen Materie abgrenzen
und damit elektrische Schwingungen und magnetische Kraftfelder
ausschalten wollte. Und doch haben auch diese nur den hypo-
thetischen Sinn, Veränderungen ponderabler Materie begreiflich zu
machen, d. h. sie in einen systematischen Zusammenhang einzu-
gliedern. Wenn das durch die Annahme von magnetischen Kraft-
~ 1 W. Wundt, Über psychische Kausalität etc. Philos. Stud. X, S. 42.
2 C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. Abh. d.
Preuß. Akad. d. Wiss. 1906. S. 34.
3 A. a. O., S. 60.
4 W.Stern, D. differentielle Psych, in ihren methodischen Grundlagen.
1911. S. 40.
Die Modalitätskategorien. 43
feldern erreicht wird, so ist die Hypothese gerechtfertigt. Gleich-
artiges muß also auch die Annahme der unbewußten psychischen
Vorgänge leisten, wenn sie sich behaupten will. Es ist ein-
leuchtend, daß es unzulässig wäre, »Nichtbewußtes« und »Un-
bewußtes« gleichzusetzen, wenn man der Hypothese der un-
bewußten Erscheinungen nicht Unrecht tun will, wie es Herbertz
(Bewußtsein und Unbewußtes, 1908) hervorgehoben und in seiner
Kritik Windelbands (Die Hypothese d. Unbewußten, Festrede,
Heidelberg 1917) durchgeführt hat. Von einer »Gleichsetzung
der Gegensatzpaare einerseits des Bewußten und des Unbewußten,
und andererseits des Seelischen und des Körperlichen« kann in
der wissenschaftlichen Psychologie nicht die Rede sein. (Z. f. Ps.,
Bd. 72, S. 395.) Man sieht an dieser Stelle die Bedeutung des
»unendlichen« Urteils besonders deutlich.
Es kann nicht die Aufgabe dieser Ausführungen sein, eine
Entscheidung in dem einen oder andern Sinne zu fällen; das
bleibt letzten Endes der Psychologie selbst überlassen, in der die
Frage bekanntlich noch heftig umstritten ist^. Hier genügt es
zu zeigen, daß Erscheinungen vorliegen, die zu einer solchen
Fragestellung führen. Nehmen wir als ein ganz einfaches Beispiel
die Tatsache des Gedächtnisses. Ein Stoff, der durch eine be-
stimmte Zahl von Wiederholungen nur so fest eingeprägt ist, daß
er eben fehlerlos reproduziert werden kann, ist einige Zeit danach
im allgemeinen nicht mehr im Bewußtsein feststellbar, also ver-
gessen. Läßt man aber nun denselben Stoff wieder erlernen, so
ergibt die Beobachtung, daß er mehr oder minder bekannt er-
scheint, und daß die Erlernung in kürzerer Zeit und mit weniger
Wiederholungen vor sich geht. Nun gibt es Forscher, die diesen
Tatsachenkomplex durch eine physiologische Hypothese er-
1 Wenn W. Köhler (»Über unbemerkte Empfindungen und Urteils-
täuschungen«, Z. f. Ps,, Bd. 66, S. 78 ff.) die »Hilfsannahmen« der un-
bemerkten Empfindungen und Urteilstäuschungen in den Wahrnehmungs-
prozessen als zwar unwiderlegbar, aber gegen wissenschaftstheoretische
Interessen verstoßend ablehnt und dafür »eine Reihe anderer Faktoren,
vor allem zentraler Natur«, einführen will, so wäre dagegen prinzipiell
auch dann nach dem oben Gesagten nichts einzuwenden, wenn diese
zentralen Faktoren teilweise selbst »unbemerkt« oder unbemerkbar sein
sollten.
44 Die Modalitätskategorien.
klären, indem sie Veränderungen in den Nervenleitungen und
Gehirnzellen als »Spuren« der ersten Einprägung ansetzen, die
die zweite Erlernung leichter machen. Andere sehen eine dahin-
gehende Erklärung, deren Berechtigung bisher durch mikroskopi-
sche Beobachtung nicht nachweisbar ist, aber in den Ausfalls-
erscheinungen bei Gehirndefekten eine Stütze findet, als für die
Psychologie belanglos an. Sie glauben sich, ausgehend von der
Kontinuitätsforderung ihrer Wissenschaft, gezwungen, eine Beein-
flussung, eine Strukturveränderung des seelischen Lebenszusammen-
hanges selbst anzunehmen, die eben nur in *den Erscheinungen
bei der erneuten Einprägung zum Ausdruck kommen kann, ohne
sich dem Bewußtsein aufzudrängen. Die Möglichkeit physiologi-
scher Veränderungen können sie dabei zugeben, auch gänzlich
davon absehen, anzugeben, wie etwa die unbewußten psychischen
Erscheinungen vorzustellen seien. Diese haben vielmehr nur den
hypothetischen Wert, Einheit in den Erklärungszusammenhang
der bewußten Phänomene zu bringen. Eine Frage nach der Vor-
stellbarkeit des Unbewußten brauchte ihnen daher nicht mehr
Schwierigkeiten zu bereiten — freilich auch nicht weniger — als
dem Physiker der Begriff der ^^ potentiellen Energie«. Schöpft
doch auch dieser Terminus, dem die Kategorie der Möglichkeit
unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt hat, seine Berechtigung
nur aus der Forderung der durchgängigen Geltung des Energie-
gesetzes. Die psychologischen Begriffe der »Bereitschaft«, der
»Einstellung« u.a. sind übrigens dem der unbewußten Vorgänge
ebenfalls unterzuordnen.
Derartige Überlegungen, die sich bekanntlich auch aus ande-
ren Tatsachen der Psychologie herleiten lassen, veranlaßten schon
Leibniz zur Aufstellung seines Begriffs der »petite perception«,
mit dem er das Unbewußte m. W. in die Philosophie einführte,
wie ja übrigens bemerkenswerterweise seine »prästabilierte Har-
monie« als der Vorläufer des psychophysischen Parallelismus an-
gesehen werden muß, dem freilich schon Spinoza zeitweilig nahe
kam^ Er folgert geradezu aus dem Kontinuitätsprinzip, »daß
1 Vgl. Freudenthal, Über die Entwicklung der Lehre vom psycho-
physischen Parallelismus bei Spinoza. Arch. f. d. ges. Psycho!. 1907.
S. 74 ff.
!'•'
Die Modalitätskaiegorleri. 45
die bemerkbaren Wahrnehmungen stufenweise aus denjenigen
entstehen, welche zu schwach sind, um bemerkt zu werden <^
Aber nicht genug, daß sie die Wahrnehmung erst mögHch machen,
es wird durch sie erst die Identität des Individuums gewährleistet,
die andererseits bereits durch den Schlaf gefährdet wäre^. So-
erhalten sie für ihn »ebenso großes Gewicht wie die kleinsten
Körper in der Physik« '\
Es will mir übrigens scheinen, daß auch die Biologie einen
Begriff des »unmerklichen Lebensc oder dergleichen benötigt.
Der Begriff des »Scheintodes« dürfte sonst wissenschaftlich nicht
zu fassen sein. Wenn in dem bekannten Pflügerschen Experi-
ment ein Frosch nach 19 stündiger Sauerstoffentziehung keine
Spur von Atmung und Reflexen mehr zeigt und trotzdem wieder
zu sich kommt, so wird man hypothetisch die Kontinuität des
Lebens unter allen Umständen wissenschaftlich aufrecht erhalten
müssen.
§ 21. Mit dem Begriff der ipetite perception« steht der der
»Schwelle« in enger Beziehung. Dieser Begriff, den Leibniz
bereits in voller Klarheit erfaßte, wird von dem Begründer der
Psychophysik Fe ebner zu einem Versuche benutzt, ein Maß-
system für die Psychologie zu schaffen. Bevor wir uns dieser
speziellen Frage zuwenden, wollen wir versuchen, uns über die
logische Stellung des Maßbegriffs überhaupt ein Urteil zu
bilden. Was bedeutet es, wenn ich einen Gegenstand messe?
Eine bestimmte Größe wird mit einer andern, als Einheit aus-
gezeichneten Größe verglichen und durch die Anzahl dieser Ein-
heiten bestimmt. Hiernach scheint der Maßbegriff den der Größe
vorauszusetzen, da ja der Maßstab selbst eine Größe besitzt, die
zugrunde gelegt wird. Aber die Fragestellung muß doch noch
schärfer beleuchtet werden. Wir stehen im Herrschaftsgebiet der
modalen Kategorien. Ein einzelnes Individuelles wird als wirk-
lich bestimmt durch seine Größe. Es kann daher keinem Zweifel
unterliegen, daß die Kategorie der Größe ini Urteil der Wirk-
lichkeit verankert ist. Um aber diese einzelne Größe zu einer
^ Vorrede zu den »Neuen Abhandlungen«, Philos. Bibliothek,
S. 14. - 2 A. a. O., Vorrede, S. 12 und 2. Buch, S. 82. - 3 A. a. O., S. 13.
46 Die Modalitätskategorieti.
bestimmten zu stempeln, dazu dient das Maß. Und es ermög-
licht diese Bestimmung nur gerade deshalb, weil es selbst den
Charakter der Größe besitzt. Dadurch aber, daß es seinen Sinn
nur bezeugt, wenn es Voraussetzung von Messungen, d. h,
Größenbestimmungen wird, reiht es sich zweifellos dem Urteil
der Möglichkeit ein. Es stellt also wie die Hypothese einen
Ansatz zur Festlegung des Wirklichen dar.
Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen gehen wir zur
Ausprägung des Maßbegriffes in den Wissenschaften über. In
der Physik und Chemie wird fast ausschließlich die räumliche
Ausdehnung zum Prinzip der Messung verwertet. Das gilt nicht
nur von der Längen-, Flächen- und Körpermessung, sondern
auch von der Zeitmessung, die auf dem Gesetz der Pendel-
schwingungen beruht, und von Temperaturmessungen, die auf
die Ausdehnung von Gasen zurückgeführt werden. Es gilt von
Massen und Kräften, die im einfachsten Falle etwa durch die
Ausdehnung einer Feder, oder bei der Wage durch Beschleuni-
gung, also Raum- und Zeitgrößen festgesteHt werden. Ebenso
sind auch die elektrischen und magnetischen Erscheinungen auf
dasselbe Maßsystem bezogen. Fast ohne Abwandlung stellt sich die
Chemie in dieselbe Reihe. Bei der Biologie dagegen und be-
sonders der Psychologie treten Schwierigkeiten auf; und hier
scheint nun die Psychophysik in die Bresche zu treten. Der
Seh wellen begriff soll zur Entwicklung eines eigenen Maßsystems
dienen. Die Grundlage dafür bietet das Weber- Fechnersche
Gesetz. Versuche in verschiedenen Sinnesgebieten zeigten, daß
in gewissen Grenzen die Reizänderungen, die eben merkliche
Unterschiede der Empfindung hervorrufen, der Reizintensität
selbst angenähert proportional sein müssen. Hierauf gründet sich
die Definition der »absoluten« und der »relativen« Unterschieds-
empfindlichkeit, die in G. E. Müllers^ Formulierung lautet: »Wir
setzen die Unterschiedsempfindlichkeit allgemein der Größe des
eben -merklichen Reizunterschiedes, welcher von dem eben-un-
merklichen Unterschiede nur um ein Unendlichkleines verschie-
den erscheint, reziprok; und zwar unterscheiden wir eine absolute
und eine relative Unterschiedsempfindlichkeit, je nachdem dieselbe
1 G. E. Müller, Zur Grundlegung der Psychophysik. Berlin 1878. S. 2.
Die Modalitätskategonert. 4?
der absoluten oder relativen, d. i. durch die geringere der beiden ge-
gebenen Reizstärken dividierten Werte des eben-merklichen Reiz-
unterschiedes reziprok genommen wird.« Das Webersche Ge-
setz lautet dann: »Die relative Unterschiedsempfindlichkeit ist
unabhängig von der absoluten Reizstärke« ^.
Die Deutung des Gesetzes ist bekanntlich sehr umstritten.
Nur wenn man der Fechn ersehen Grundanschauung folgt, kann
es dazu dienen, ein Maß für die Empfindung abzugeben, Berech-
nung von Empfindungen aus Reizen zu ermöglichen. Tatsächlich
hat die psychologische Forschung niemals dies Maßsystem ernstlich
verwendet. Man definiert auch nicht die empfundene Lautstärke
eines Tones, die physikalisch etwa durch seine Energie gegeben
ist, psychologisch durch die Anzahl der Unterschiedsschwellenwerte.
Ja, Wundt^ bestreitet, daß eine solche Berechnung »ein jemals
praktisch werdendes Problem ist«. Die Tatsache, daß sich im
Bereich der Pflanzenphysiologie weitgehende Analogien mit dem
»psychologischen Grundgesetz« finden, hat nicht einmal dort zu
einem physiologischen Maßsystem geführt^. Die physiologischen
Erscheinungen werden vielmehr in einem interessanten Aufsatz von
H. Schjelderup* in enge Beziehung zu chemischen Vorgängen
entsprechend dem chemischen Massengesetz gerückt.
Aber sehen wir einmal von diesen Einwänden und von der
wirklich geübten Praxis ab. Was kann denn der Sinn solcher
Versuche sein, wenn sie in die Psychologie Eingang finden
sollten? Er kann doch immer nur darin gesucht werden, die
Empfindung oder besser die Unterschiede der Empfindungen
auf irgend welche — psychologischen, physiologischen, chemischen,
physikalischen — Einheiten zu beziehen. Wenn ein solches
Maßsystem ihr zu diesem Zwecke tauglich erschiene, hätte die
Wissenschaft das Recht und die Pflicht es einzuführen; und über
diese Tauglichkeit hat nur sie selbst die Entscheidung zu treffen*
Dies muß man sich gegenwärtig halten, wenn man die rich-
» A. a. O., S. 3. - 2 w. Wundt, Physiol. Psychol., 6. Aufl., Bd. 1,
S. 641. - 3 Vgl. O. Hertwig, Allg. Biol., 3. A., S. 184; ferner H. Kniep,
Botanische Analogien zur Psychophysik in Marbes, Fortschritte der Psy-
chologie, Bd. 4, 1917. - * H. Schjelderup, Über die Abhängigkeit
zwischen Empfindung und Reiz, Ztschr. f. Psych., Bd. 80, S. 226.
48 t)ie Modalitätskaiegöriert.
tige Stellung zu den schweren Angriffen einnehmen will, die vor
allem von Cohen gegen die Psychophysik gerichtet worden sind.
Die scharfe Lauge seines Spottes wird ausgegossen über den Ver-
such, »die Wage auf die Empfindung rückwärts zu übertragen«.
»Das Bewußtsein soll ein Maß abgeben; eine ,psychische Elle'
wird als Möglichkeit aufgestellt. So ist das Problem der Psycho-
physik entstanden an der Grenze der Psychologie und der Logik^.«
Hier wird demnach vorausgesetzt, daß die Psychophysik die Ten-
denz habe, physikalische Gegenstände durch die Empfindung zu
messen, also etwa Tonhöhen oder Lautstärken auf psychische
Schwellenwerte zurückzuführen. In Wirklichkeit kann nur die um-
gekehrte Aufgabe in Betracht kommen, Empfindungen durch Reize
oder Unterschiedsschwellen vermittels des Web ersehen Gesetzes
festzulegen. Die Psychophysik versucht also nicht, die Methoden
der Physik zu ersetzen; sie werden vielmehr vorausgesetzt. Nicht
um die »psychische Elle« handelt es sich, sondern um die »Elle
für das Psychische«, wenn man den unschönen Ausdruck durchaus
verwenden will. Das Psychische ist Gegenstand, d. h. Objekt,
d.h. Problem der Psychologie, also eben nicht das Gegebene;
nicht der Maßstab, sondern das zu Messende; nicht das an sich
selbst Gewisse, sondern das zu Bestimmende, das eben durch die
wissenschaftliche Bearbeitung, durch das Denken, unter Zugrunde-
legung spezifischer Kategorien in seiner eigentümlichen Ausprägung
erfaßt werden soll.
Mit Recht behauptet Stumpft von der Psychologie ganz
allgemein, sie handle ȟberhaupt nicht von individuellen Tatsachen,
sondern von gesetzlichen Beziehungen, und solche sind niemals
unmittelbar gegeben. Das unmittelbar Gegebene ist nur Ausgangs-
punkt der Forschung und Material für die Begriffsbildung. Diese
Bedeutung hat es aber nicht nur für den Psychologen, sondern
auch für den Physiker.« Und in Übereinstimmung damit steht
die Äußerung Cassirers'': »Die Empfindung ist keine empirische
Wirklichkeit . . ., sondern lediglich das Ergebnis einer Abstraktion,
die auf sehr komplexen logischen Bedingungen beruht.«
1 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 448.
2 C, Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, S. 5.
3 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S, 38L
bie Modalitälskategorieri. 49
§ 22. Der Anspruch der Psychophysik ist so zwar in ge-
wisser Weise gesichert. Nicht aber ist damit die Frage nach dem
Maßsystem der Psychologie selbst geklärt. Auch wenn man an-
nimmt, daß die Fechn ersehe Deutung des Gesetzes zutrifft, was
nach dem Obigen keineswegs feststeht, vielleicht sogar unwahr-
scheinlich ist, auch dann bliebe ein so gegründetes Maßsystem
nur auf Empfindungen anwendbar. Zur Messung von Vorstel-
lungen, Affekten etc. ist dieser Weg nicht gangbar. Nun kann
aber keine Naturwissenschaft den Begriff des Maßes entbehren;
denn stets muß das zu bestimmende Individuelle in seiner Größe
irgendwie festlegbar sein. Die Psychologie wird durch eine dahin-
gehende Forderung anscheinend noch einmal in ihrem Kerne
bedroht. Denn wie soll man hoffen, Gefühle oder Vorstellungen
zu messen, mit irgend etwas in dem Sinne zu vergleichen, wie
eine Strecke mit einem Metermaßstab? Jeder Rückgang auf
die Reize versagt bei den psychischen Reizen, da diese nicht
quantitativ erfaßbar sind. Es bleibt daher nur möglich, psy-
chische Vorgänge durch gleichartige Vorgänge zu bestimmen,
die als Normen ausgezeichnet werden. Und entsprechend dem
Vorgange bei den früher erwähnten Kategorien werden wir auf
quantitative Vergleichbarkeit von vornherein verzichten müssen.
Es wird genügen, einen Bezugspunkt aufzufinden, von dem aus
die Richtung festgelegt werden kann. Der Stammbegriff, der
hier mit entscheidender Kraft und Bedeutung auftritt, ist der des
»Normalen«.
Dieser Begriff erscheint freilich nicht in der Psychologie als
ihr eigentümlich zum ersten Male. Zu seinem Verständnis wer-
den wir vielmehr auf die Physik zurückgreifen müssen. (In der
reinen Mathematik hat er keine Stelle, da dort die Genauigkeit
jeder Größenbestimmung theoretisch beliebig weit getrieben
werden kann.) Wir betrachten etwa das Problem der Längenmes-
sung, die bekanntlich sehr genau möglich ist, wenn man metallene
— als richtig vorausgesetzte — Maßstäbe, Mikroskop, Nonius etc.
verwendet, die Temperatur berücksichtigt und alle möglichen
sonstigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet. Trotzdem werden die
Ergebnisse mehrerer solcher Messungen keine absolute Überein-
stimmung zeigen, weil stets eine Reihe teils subjektiver, teils ob-
Blumenfeld, Zur Grundlegung der Psychologie. 4
50 Die Modalitätskategorien.
jektiver Umstände in ungleichem Maße hineinspielt. Es kommt
gar nicht darauf an, daß die Fehler klein sind; deren Größe
wird je nach dem Gegenstande und der Methode der Messung
variieren. Aber sie treten in irgend einer Dezimale unter
allen Umständen prinzipiell auf, weil die Gesamtheit der
Bedingungen nie streng zu beherrschen ist. Daraus folgt die
Streuung der Werte über einen gewissen Bereich hinweg. An-
dererseits ist es aber erforderlich, einen Wert als das Ergebnis der
Messung auszuzeichnen. Es ist also nach dem treffenden Urteil
Reichenbachs^ wesentlich für physikalische Untersuchungen,
daß »über Einwirkungen, deren Zahlenwert und Gesetz man
nicht kennt, Aussagen gemacht werden«. Die Bearbeitung dieses
Problems ist Aufgabe der »Wahrscheinlichkeitstheorie«,
einer mathematischen Disziplin. Sie entwickelt die Methoden
zur Bestimmung des »richtigen«, d. h. des wahrscheinlichsten,
d. h. eines »Normal wertes«, gegenüber dem die einzelnen Er-
gebnisse entsprechende Abweichungen oder »Fehler« zeigen.
Der Normalwert wird damit also schon in der Physik zur Be-
urteilung der einzelnen Messung verwertet. Die Voraussetzungen
der Wahrscheinlichkeitstheorie sind in der Reich enbachschen
Arbeit klar hervorgehoben. Sie bestehen wesentlich in der Geltung
des Prinzips der »gesetzmäßigen Verteilung« der Werte. Die
Genauigkeit der Ergebnisse wird durch das Gesetz der großen
Zahl bestimmt.
Die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Physik
ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur die Fehlerbestimmung, son-
dern vor allem auch die Behandlung ungeordneter Bewegungen
aller Art, der »Kollektivgegenstände« verdankt ihr die einzig taug-
lichen Werkzeuge. Nach einem charakteristischen Wort ist es un-
möglich, »Ordnung in das Unendlichkleine zu bringen«. Gerade
dies leistet aber die auf der Wahrscheinlichkeitslehre aufgebaute
Disziplin der Statistik. Die kinetische Gastheorie, die Boltz-
mannsche Ableitung des Entropieprinzips, das chemische Massen-
gesetz, die elektrolytische Theorie der Lösungen erbringen den
Beweis für ihren Wert in den exakten Naturwissenschaften.
1 H. Reichenbach, Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die mathe-
matische Behandlung der Wirklichkeit, Lpz. 1916.
Die Modalifätskategorieii. 51
In der Biologie nun erhält der Normalbegriff eine erhöhte
Bedeutung. Wegen der engeren systematischen Verknüpfung ist
die Gesamtheit der Bedingungen noch unendlich viel schwerer
zu verfolgen als in den exakten Naturwissenschaften. Das gilt
schon für das Verhalten desselben Organismus; bei einer größeren
Zahl von Individuen aber kommt auch deren Ungleichförmigkeit
noch zur Geltung. Die Zahl der Pulsschläge eines und des-
selben Menschen zum Beispiel wechselt je nach dem Alter,
der Tageszeit, der physiologischen und psychischen Konstel-
lation. Es ergibt sich selbst unter scheinbar gleichartigen Ver-
hältnissen eine gewisse Streuung, ein als »normal« anzusprechen-
der Bereich. Gerade darum muß aber innerhalb des Bereichs
ein Wert gefordert werden, der für ihn charakteristisch ist,
an dem also die einzelnen Werte gemessen, beurteilt werden.
Ferner muß diese Zahl selbst wieder in Beziehung zu einem für
die Gesamtheit der Menschen geltenden Mittelwert gebracht werden,
der damit eine Norm höherer Ordnung darstellt.
Stern ^ hat darauf hingewiesen, daß die Normalität kein
Punkt, sondern ein Bereich, eine Strecke sei; auch sei die
Häufigkeit des Vorkommens »als primäres Merkmal der Normalität
nicht ausreichend«; es müsse die teleologische Bedeutung betont
werden. Wesentlich sei die Anpassung einer Funktion an den
»SpezialZweck, den sie innerhalb des Gesamtorganismus zu er-
füllen« habe. Diese Gedanken stehen nur scheinbar im Wider-
spruch mit den obigen Ausführungen. Auf den Streijungsbereich
wurde schon hingewiesen; er bedeutet selbst eine normale Er-
scheinung. Nichts verbietet aber innerhalb dieser normalen Strecke
noch einen Wert als Zentralwert auszuzeichnen, und tatsächlich
geschieht das fast durchgängig. Das, was mit ihm zusammenfällt,
ist also »normal« in einem engeren Sinne als dasjenige, was inner-
halb der normalen Verteilungskurve liegt. Die teleologische Be-
deutung soll keineswegs abgelehnt werden, sie entspricht durch-
aus den hier vertretenen Anschauungen, aber sie steht nicht im
Gegensatz zu der quantitativen statistischen Darstellung, sondern
ist ihre notwendige Ergänzung. Das Beispiel Sterns von der
Masseninfektion einer Großstadt spricht nicht dagegen. Wer eine
» W. Stern, D.diff.Ps. in ihren method. Grundlagen. Lpz.1911. S.156ff.
52 Die Modalitätskategorien.
solche verseuchte Großstadt untersuchte, würde vielleicht genötigt
sein, einen objektiv schlechten durchschnittlichen Gesundheitsbefund
auf Grund seiner Untersuchungen als für diese Zeit und für
diesen Ort normal zu bezeichnen. Es steht aber nichts im Wege
und ist sogar erforderlich, ihn wieder zu messen an dem Durch-
schnitt des Landes oder der Welt zur gleichen Zeit und über be-
liebig weit gespannte andere Zeiträume hin. Und da wird er
offenbar zu einem anderen Urteil kommen, weil er einen wegen
der größeren Zahl genaueren Normalbegriff verwendet. Je größere
Bereiche er aber in Betracht zieht, um so genauer müssen quan-
titativ statistischer und teleologischer Standpunkt zu gleichem Ende
führen.
Die Anwendung auf die Psychologie liegt nun auf der Hand.
Alle psychologischen Gesetze genau wie die der Physiologie setzen
den Begriff des »Normalen« als Kategorie voraus. Die Bezie-
hung auf die Quantität, die im allgemeinen und vielfach auch
noch in der Physiologie mit dem Maßbegriff verbunden ist, wird
in der Psychologie entsprechend der Determination in den Relations-
kategorien aufgehoben; der »Normalbereich« oder »Normalpunkt«
wird zu einem bloßen Bezugswert. Völlig entsprechend haben
wir dagegen in Physiologie und Psychologie den Begriff des für
das Individuum geltenden intraindividuellen Mittelwertes von dem-
jenigen zu unterscheiden, der »interindividuell« gilt, also in der
»differentiellen Psychologie« in die Erscheinung tritt. Erst von
diesem Standpunkt aus erhalten wir Klarheit über den biologisch-
psychologischen Terminus des »Typus« entsprechend dem rein
biologischen der »Varietät«. Er bezeichnet in der Psychologie
die relative Gleichförmigkeit gewisser Verhaltungsweisen bei ver-
schiedenen Individuen. Schließlich wird erst von hier aus der
Begriff des »Pathologischen« verständlich. In ihm spricht
sich in erster Linie aus, daß ein individuelles Phänomen nicht
nur eine Abweichung vom Normalwert im strengen Sinne hat ^-
das ist vielmehr nach dem oben Gesagten selbst eine ganz nor-
male Erscheinung — , sondern daß diese Abweichung abnorm
groß ist, der Wert also außerhalb des normalen Bereichs der
Verteilungskurve fällt. Es wird aber zweitens durch diesen Begriff
bezeichnet, daß hierbei eine Beeinträchtigung der Systembedingungen
i
Die Modalitätskategorien. 53
stattfindet, so daß das Leben des Organismus gesciiädigt wird.
Darin erst kommt der spezifisch-teleologische Charakter zu deut-
licher Ausprägung^.
§ 23. Noch immer sind indessen nicht alle Schwierigkeiten
behoben. Der Maßbegriff fordert ja die Reproduzierbarkeit
des Maßes; es hat keinen Sinn, eine Größe als Maßstab anzusetzen,
wenn dieser nicht (gegebenenfalls im Versuche) aufgezeigt, wieder-
hergestellt werden kann. Und nun fragt es sich, wie denn über-
haupt in der Psychologie ein Versuch wiederholbar ist.
Das Bedenken, dessen Erheblichkeit gar nicht zu verkennen
ist, trifft indessen bereits die exakten Naturwissenschaften. Streng
genommen ist auch kein physikalisches oder chemisches Experiment
wiederholbar, weil das gesamte System der Versuchsbedingungen,
selbst wenn man von dem reinen Unterschiede der Raum- urid
Zeitstelle absieht, nicht reproduzierbar ist. In einzelnen Fällen
liegt die Feststellung dieser Tatsache durchaus innerhalb der Grenzen
der Meßbarkeit. Man denke etwa an die Veränderung der magne-
tischen Eigenschaften des Eisens durch sein »Altern« oder der
elastischen Eigenschaften durch jede Beanspruchung. Immerhin
werden diese Vei-änderungen erst in langen Zeiten merklich. Aber
der Aluminiumstab z. B., der bei einem Versuch mechanisch oder
chemisch »zerstört« ist, läßt sich keinesfalls in genau gleicherweise
wiederherstellen.
Noch schärfer treten diese Verhältnisse in der speziellen Bio-
logie hervor. Es gibt grundsätzlich überhaupt keine reversible
Veränderung eines Organismus, auch wenn man von dem äußeren
System der Bedingungen der Natur ganz absieht. Denn jeder
Reiz bewirkt eine Formung, die in dem Organismus Spuren hinter-
1 Gerade von dem hier vertretenen Standpunkt aus erscheint übrigens
die Existenz von Krankheiten der Psyche als durchaus verständlich. So
richtig es auch methodisch ist, wenn der Psychiater in jedem Falle nach
körperlichen Ursachen bezw. Parallelerscheinungen einer manifesten see-
lischen Krankheit sucht, eine Notwendigkeit ihres Vorhandenseins ist im
Sinne unserer Ausführungen keineswegs gegeben. Nur wenn der psycho-
physische Parallelismus strenge Geltung beanspruchen dürfte, wäre sie
zu fordern. Es ist also keinesfalls auszuschließen, daß für die sogen,
funktionellen Psychosen, wie Hysterie und Neurasthenie, keinerlei physio-
logische Unterlagen gefunden werden.
54 Die Modalitätskategorien.
läßt. Trotzdem läßt sich wegen der vielfach relativ langsamen Ver-
änderungen die Wiederholbarkeit mit gewissen Einschränkungen
erreichen. Bei genügenden Vorsichtsmaßregeln bleibt z. B. die
Pulszahl eines Menschen auch in langen Zeiträumen hinreichend
konstant.
Bei der Psychologie aber ist allerdings die Flüchtigkeit der
Erscheinungen bis ins Extrem getrieben. Wenn Heraklit den
Satz aufstellte, daß der Mensch nicht zweimal in denselben Fluß
steigen könne, so hatte er dabei vermutlich nicht nur den Fluß,
sondern auch den Menschen im Auge. Trotzdem gibt es sehr
viele Vorgänge, bei denen mittels entsprechender Versuchsanord-
nung, z. B. durch Übung, völlig ausreichende Gleichförmigkeit
erreichbar ist. Wenn aber doch Störungen auftreten, so machen
sie sich im allgemeinen in der Selbstwahrnehmung bemerkbar
und können dadurch berücksichtigt werden. In solchen Fällen
jedoch, wo gerade die individuellen Formungsvorgänge verfolgt
werden sollen, etwa der charakteristische Verlauf der ÜbungSr
kurve selbst festzustellen ist, läßt sich der Vorgang zwar an dem
betreffenden Individuum nicht wiederholen, aber durch Heran-
ziehung anderer > Versuchspersonen« von typisch gleichartigem
Verhalten kann man doch das Gesetz in seiner allgemeinen Form
prüfen und daraus dann die individuellen »Konstanten« bestimmen.
Der Begriff des Normalen bleibt auch in diesem' Fall als Maß-
begriff erhalten; er bezieht sich dann auf die Form des Gesetzes,
genau wie bei dem Aluminiumstab, der durch einen Festigkeits-
versuch zerstört ist. Dieser wird als ein Exemplar mit typischen
Eigenschaften angesehen, das innerhalb der normalen Abweichungen
durch ein anderes ersetzt werden kann.
Aus diesen Ausführungen folgt, daß in den Grenzen der
Naturwissenschaft überhaupt nur von einer graduell verschiedenen
Wiederholbarkeit der Versuche und damit auch der Mittelwerte
gesprochen werden kann. Der graduelle Unterschied aber ist
logisch unerheblich, ist kein Einwand gegen die Wissenschaftlich-
keit der Psychologie, sondern gibt nur einen Hinweis auf die
methodischen Schwierigkeiten bei der empirischen wissenschaft-
lichen Arbeit.
Nebenbei sei bemerkt, daß es vielleicht gegen die Eigenschaft
Die Modalitätskategorien. 55
der Psychologie als Naturwissenschaft, nicht aber als Wissenschaft
überhaupt sprechen würde, wenn der Maßbegriff keinerlei An-
wendung in ihr fände, und wenn von einer Wiederholbarkeit
auch nicht einmal unter annähernd gleichen Bedingungen die
Rede sein könnte, so daß also jeder »Versuch« grundsätzlich aus-
geschlossen wäre. Alle Gründe, die etwa in diesem Sinne geltend
gemacht werden könnten, müßten mindestens in noch viel ein-
schneidenderer Weise die Auffassung der Geschichtswissenschaft
beeinflussen, in der die Einmaligkeit aller Vorgänge mit besonderer
Deutlichkeit hervortritt. Die Ausführungen Sternbergs ^ zu
diesen Fragen erscheinen völlig zwingend. Wenn aber in einem
so extrem liegenden Falle die Unmöglichkeit der Verifikation nicht
den Wissenschaftscharakter tangiert, so muß das Gleiche erst recht
von der empirischen Psychologie gelten, bei der man höchstens
eine gewisse Einschränkung einer solchen Möglichkeit anzuerkennen
haben wird. Insbesondere wird aber durch diese Argumentation
die Geltung der Völker- und der Entwicklungspsychologie ge-
sichert, die ja vorwiegend historisch orientiert sind.
2. Wirklichkeit.
§ 24. Die Kategorie der Möglichkeit empfängt ihre Berech-
tigung von dem Gedanken, daß sie die Wirklichkeit begreiflich
macht, ermöglicht. Die Hypothese sollte den Ansatz für die
Aufstellung des die Wirklichkeit beherrschenden Gesetzes liefern.
Die individuelle Größe wird gemessen an der normalen. Aber
welcher Art ist nun die Größe der psychischen Erscheinungen,
die, wie man sieht, entscheidend wird für das Urteil der Wirk-
lichkeit? In den exakten Naturwissenschaften werden alle Größen,
wie wir bei der Betrachtung des Maßbegriffes sahen, irgendwie
auf die Ausdehnung, auf den Raum bezogen \ Das Gleiche gilt
auch von der Biologie. Wachstum, Fortpflanzung, alles physio-
logische Geschehen läßt sich raum-zeitlich darstellen. Das ist bei
Empfindungen unmöglich, noch viel mehr bei Vorstellungen,
1 K. Sternberg, Zur Logik der Geschichtswissenschaft, Berlin 1914.
S. 38 ff.
2 S. oben S. 46.
56 Die Modalitätskategorien.
Gefühlen u. dergl. Und doch ergibt sich die Notwendigkeit der
Größenbestimmtheit, sonst könnte auch kein Maß für sie angegeben
werden. Diese Größe kann daher nicht extensiv, sie muß in-
tensiv sein.
In aller Schärfe hat Cohen ^ diese Möglichkeit bestritten:
»Es gibt keine intensive Größe; es darf keine geben, denn die
Empfindung, als eine Art des Bewußtseins, hat keine Art von
Größe . . . Die intensive Größe ist beseitigt durch das Äqui-
valent.« Wie der Stellungnahme gegenüber der Psychophysik
liegt auch dieser Argumentation der Gedanke zugrunde, daß ein
Gegenstand durch die »Empfindung« beglaubigt, logisch fundiert
werden soll. In der Psychologie besteht diese Absicht keinesfalls;
Empfindungen wie alle andern psychologischen Phänomene sollen
ja in ihr selbst erst als Gegenstände konstituiert werden. Der
durch die »naiven« Kategorien fundierte Gegenstand soll, wie in
allen anderen Wissenschaften, auch in dieser vom Denken aus
seine Größenbeslimmung erhalten. Das Denken muß wie den
Grundstein so auch den Schlußstein des Baues bilden.
Mit ganz anderen Beweisgründen wird die Behauptung
Cohens von selten mancher Psychologen aufgenommen. Nach
ihrer Ansicht sind Abstufungen der Empfindung nicht möglich.
Eine hellere und eine dunklere Farbe lösen verschiedene unver-
gleichbare Gesichtsempfindungen, laute und leise Töne verschie-
dene Gehörsempfindungen aus, aber die Empfindungen selbst
sind eben andere, nicht graduell abgestufte. Die Abschattung
trifft vielmehr nur auf die objektiven Reize zu. Dagegen wird
wohl durchgängig zugestanden, daß Unterschiede von Empfin-
dungen miteinander verglichen werden können. Der Abstand
zwischen zwei Eindrücken könne größer oder kleiner sein als der
zwischen zwei anderen derselben Klasse. Dies Zugeständnis ist
notwendig, da sonst im letzten Grunde den Reizreihen ein gänz-
lich der Ordnung unfähiges Chaos von Empfindungen etc. gegen-
überstände. Aber es darf bezweifelt werden, ob die ganze
Position in aller Strenge haltbar ist. Gerade aus der Möglichkeit,
über den Unterschied zweier Empfindungen überhaupt zu urteilen
— diese Voraussetzung liegt aber dem Vergleich von Empfindungs-
1 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 294.
Die Modalitätskategorien. 57
unterschieden bereits zugrunde — folgt doch wohl, daß die Emp-
findungen selbst irgend wie bestimmt sind. In welcher Hinsicht
aber sollten sie wohl bestimmt sein, wenn nicht bezüglich ihrer
Größe, nämlich ihrer graduellen Beziehung zueinander? Auch
bei Individuen, die über die objektiven Ursachen von hell und
dunkel, leise und laut nichts wissen, ist ein Verständnis dieser
Abstufungen als solcher im allgemeinen vorhanden oder erzielbar.
Es dürfte sich kaum leugnen lassen, daß zwei objektiv wenig
verschiedene Töne eben »wenig verschiedene« Empfindungen
auslösen, die im stetigen Übergange gleich , ununterscheidbar
werden. Von einer Reihe von Psychologen wird die Berechtigung,
die Annahme einer »intensiven Größe« zwar nicht allgemein, aber
für den Bereich der Farbwahrnehmung bestritten. Intensität sei
deswegen ausgeschlossen, weil eine Verminderung nach Null
nicht vorkomme; denn sowohl weiß wie schwarz seien »positive«
Empfindungen. Gegen diese Tatsachen ist natürlich nichts zu
sagen. Es fragt sich nur, ob es begrifflich notwendig ist, daß
die Null erreicht wird. Man kann ganz wohl behaupten, daß die
Sättigung einer Farbe wächst oder abnimmt bei bestimmten Ver-
änderungen; dasselbe läßt sich von ihrer Helligkeit und ihrer Ein-
dringhchkeit aussagen. Die Erreichbarkeit der Grenzen ist logisch
irrelevant; es handelt sich stets um »graduelle« Verschieden-
heiten, und mehr soll der Begriff der »intensiven Größe« hier nicht
besagen. Er ist also von dem spezielleren wohl zu unterscheiden,
der etwa im Tongebiet bezüglich der Lautstärke üblich ist.
Ernster ist dagegen die Stellungnahme Stumpfs^ zu nehmen,
der den »psychischen Funktionen« Intensität abspricht, wenigstens
in demselben Sinne, wie sie den Tönen und Gerüchen zukomme.
Aber auch hier liegt m. E. kein wirklicher Widerspruch vor. Es
wird für die rein logische Betrachtung, mit der wir hier einzig
und allein zu tun haben, völlig ausreichen, wenn bei den Funk-
tionen ein graduell abstufbares Element überhaupt nachweisbar
ist, das für das Erlebnis als solches charakteristisch ist. Die
Deutlichkeit der Wahrnehmungen, die Erinnerungsgewißheit, die
Evidenz der Urteile, die Stärke der Affekte sind solche Elemente,
die wenigstens grundsätzlich eine Vergleichbarkeit in Hinsicht auf
1 C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 11.
58 Die Modalitätskategorien.
ihren Grad erlauben, auch wenn die psychische Gegebenheit eine
ganz andere ist als die der »Erscheinungen«.
Es bleibe dahingestellt, ob für das Reich der Empfindungen
der Versuch der Psychophysik gelungen ist oder auch nur ge-
lingen kann, die graduelle Verschiedenheit von Wahrnehmungs-
inhalten quantitativ zu bestimmen. Für alle sonstigen psychischen
Phänomene ist die Forschung, mindestens nach ihrem bisherigen
Stande, auf intensive Größen beschränkt. Es mag eine unvoll-
kommene Bestimmung einer Vorstellung bedeuten, wenn fest-
gestellt wird, daß sie lebhafter als eine andere und weniger leb-
haft als eine dritte ist. Aber eine so gegründete Ordnung ist
wissenschaftlich nicht wertlos. Sie ermöglicht die Aufstellung
einer Reihe stetig aufeinanderfolgender Glieder, in der jedes seinen
bestimmten Platz einnimmt. Gegenüber Cohens schneidender
Ablehnung müssen wir also die Position Kants wieder herstellen
und ihren Geltungsbereich erweitern, der die »Antizipation der
Wahrnehmung« bekanntlich so formulierte: »In allen Erscheinungen
hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive
Größe, d. i. einen Grad^.« Damit ist auch der Maßbegriff geklärt.
Maß der einzelnen Empfindung, Vorstellung usw. ist die unter
den entsprechenden psychophysischen Bedingungen normale
Empfindung usw., bezogen zunächst auf das Individuum, das aber
selbst wieder an dem normalen Individuum gemessen wird. Aus
dem Begriff der intensiven Größe erklärt sich ohne weiteres, daß
psychologische Gesetze, soweit sie nicht statistische Feststellungen
sind, oft die Form des »je . . . desto« tragen. In ihnen wird wohl
die Zuordnung, aber keine quantitative Beziehung festgelegt.
Es ist also, wie von dem hier vertretenen Standpunkt aus
selbstverständlich, eine ganz spezielle Wirklichkeit, die dem psy-
chologischen Gegenstände eigen ist; er ist das Produkt der Be-
arbeitung durch die Psychologie. Wie jede Wissenschaft erzeugt
auch sie sich ihren eigenen Gegenstand in ihrer eigenen Wirk-
lichkeit.
1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Reclam- Ausgabe, S. 162.
Die Modalitätskategorien. 59
3. Notwendigkeit.
§ 25. Diejenige Methode, die dazu dient, die in der Hypo-
these als möglich angesetzte These auf ihre Geltung für die Wirk-
lichkeit hin zu prüfen und sie als notwendig zu begründen, ist
das kombinierte Verfahren der Induktion und Deduktion, wie es
Galilei zuerst in die Naturwissenschaft mit vollem Bewußtsein
eingeführt hat. Seine logische Bedeutung ist durch die Neu-
kantianer, insbesondere auch Riehl, so klar auseinandergesetzt
worden, daß darüber nichts Neues zu sagen sein wird. Die
Hypothese stellt die These als Ansatz hin, die sich in ihren
Konsequenzen als wirklich bewähren muß, insofern diese mit
Notwendigkeit aus ihr ableitbar sind. Beide Methoden sind
also streng korrelativ: >Wer induktiv vorgeschritten ist, muß
deduktiv zurückschreiten . . . Stellt der Gewinn eines Gesetzes
das Ziel der Induktion dar, so ist eben die Deduktion ihr Ziel;
denn das Gesetz ist nur dazu da, damit aus ihm deduziert wird^«
Beispielsweise sei etwa das Problem der Entstehung des Ein-
druckes der Geradheit einer Linie behandelt-. Es wird die Tat-
sache bemerkt, daß häufig bei Beurteilung der Geradlinigkeit einer
Strecke Augenbewegungen auftreten. Induktiv wird daher zu-
nächst die These gewonnen und hypothetisch festgesetzt, daß
die Augenbewegungen beim Durchlaufen der Linie für die Sicher-
heit des Urteils maßgebend sind. Daraus leitet der Forscher de-
duktiv ab, daß bei Wegfall der Augenbewegungen die Genauig-
keit der Beurteilung auf Geradlinigkeit hin leiden muß. Der
Versuch wird zum Richter angerufen. Man stellt die Geradheits-
schwelle bei bewegtem und ruhendem Blick fest. Das Ergebnis
aber zeigt keinen Unterschied in beiden Fällen. Damit ist die
These abgelehnt. Und das — vorläufig noch negative — Ge-
setz, das nun Notwendigkeitscharakter zeigt, lautet: für die Ge-
nauigkeit des Geradheitseindrucks einer Strecke sind Augenbewe-
gungen nicht entscheidend. Eine Ergänzung im positiven Sinne
ist offenbar erforderlich. Aber der Gang der Forschung ist dann
wieder der gleiche. Aus der jeweils hypothetisch angesetzten.
1 K. Sternberg, a. a. O. S. 234.
2 K. Bühler, Die Gestaltwahmehmungen, S. 84 ff.
60 Die Modalitälskategorien.
im Wege der Induktion gefundenen These werden deduktiv die
sich notwendig ergebenden Folgerungen abgeleitet und im Ver-
such geprüft.
Ein psychologistisches Mißverständnis kann in wenigen
Worten abgetan werden. Die Notwendigkeit ist nicht identisch
mit der Evidenz. Für das Einsehen eines Zusammenhanges
als Vorgang sind selbst psychologische Gesetze grundlegend und
maßgebend. Das »Gefühl der Gewißheit« ist also keinesfalls,
wie Sigwart^ meint, »ein Letztes, über das nicht zurückgegangen
werden kann«. Es ist vielmehr ein erklärungsbedürftiges Problem
der Seelenlehre. Dies geht schon daraus hervor, daß es abstuf-
bar ist, da sich Grade der Sicherheit und Ausgeprägtheit dieses
Gefühls aufweisen lassen. G. E. Müller^ nennt es geradezu »eine
fundamentale Tatsache«, daß »das Richtigkeitsbewußtsein einen
Grad besitzt« und Bühl er" sagt ganz richtig: »Die Erinnerungs-
gewißheit ist ein Erlebnis, dessen Eintreten in jedem einzelnen
Fall seine Ursachen haben muß.« Daraus folgt schon, wie
Liebert^ bemerkt, daß die im Systemgedanken begründete Au-
tonomie der Erkenntnis vom »Evidenzgefühl« völlig unabhängig
sein muß. Dagegen fällt die »absolute Evidenz« der Husserlschen
Terminologie, soweit ich sehe, mit der logischen Notwendigkeit
zusammen. Auch ihr Grund liegt im Systemgedanken^
3. Abschnitt.
Stellungnahme zu anderen Theorien
und Zusammenfassung.
§ 26. Es war die Absicht zu zeigen, daß die Psychologie
eine eigene systematische Einheit darstellt, deren Kategorien im
engen Zusammenhang mit denen der Biologie, Chemie, Physik
1 Sigwart, Logik II, 3. A., S. 756.
2 G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor-
stellungsverlaufes, III. Teil, S. 265, 1913.
3 K- Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. S. 246.
^ A. Liebert, Das Problem der Geltung. S. 106.
5 E. Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 185. Vgl. auch Reimer,
Der phänomenologische Evidenzbegriff. Kantstudien, Bd. 23, S. 292.
Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung. 61
und Mathematik stehen. Aus diesen gehen sie in systematischer
Abwandlung hervor vermöge der Kontinuität der »Bewegung
der Begriffe«, die wir durchgängig verfolgen konnten. So wird
die Psychologie in gewissem Sinne zur letzten, zum. Schlußstein
der eigentlichen Naturwissenschaften, verschwistert mit der spe-
ziellen Biologie, auf die sie sich doch auch gründet. Nun sind
aber die Gesetze des Seelenlebens, die sie aufzeigt, notwendige
Voraussetzungen anderer Wissenschaften, wie der Volkswirtschafts-
lehre, der Pädagogik, der Geschichte. Es ist zuzugeben, daß für
diese Leistung kaum erst die primitivsten Ansätze sichtbar sind,
und daß all diese Wissenschaften sich noch überwiegend auf
die »Vulgärpsychologie« und auf die »Intuition« stützen. Aber
der Anspruch der Psychologie wird dadurch nicht berührt,
daß sie zur Erfüllung bis jetzt erst in bescheidenem Umfange
befähigt ist. Auch wird er von Seiten dieser Disziplinen prin-
zipiell anerkannt^. So eröffnet die Psychologie den Reigen einer
neuen Reihe von Wissenschaften, indem sie den Übergang zu
ihnen herstellt und dadurch die Schärfe eines Sprunges verhindert,
der auch im Wissenschaftssystem durch die Kategorie der Kon-
tinuität ausgeschlossen sein muß.
Daß auch in den »Geisteswissenschaften« der »lineare«
Fortgang der Determination aufzeigbar sein müsse, wie wir ihn
in den Naturwissenschaften zu erblicken glauben, soll keineswegs
behauptet werden. Diese Frage dürfen wir hier völlig offen
lassen. Wesentlich erscheint nur, daß die Psychologie zwischen
ihnen und den Naturwissenschaften das Bindeglied darstellt.
Gerade diese Kontinuität scheint nun in gewissem Sinne
einen Gegensatz zu den von Stumpf entwickelten Anschauungen
zu bedingen. Danach sind als »unmittelbar gegeben«, d. h. »als
Tatsache unmittelbar einleuchtend« Erscheinungen und psychische
Funktionen anzusehen, die In hohem Maße voneinander un-
abhängig, obwohl in dem »nämlichen undefinierbaren Bewußt-
sein« gegeben sind, so daß der Unterschied zwischen ihnen der
»schärfste, den wir kennen«, ist^ Während die Gegenstände
1 W. Dilthey, Ideen über eine zergliedernde und beschreibende
Psychologie. S. 1322.
2 C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 11,
62 Stellungnahme zu anderen Theorieh und Zusammenfassung.
der Naturwissenschaften aus den Erscheinungen nur erschlossen
sind, liefern die psychischen Funktionen »ohne weiteres das Mate-
rial für die Gegenstände der Geisteswissenschaften«. Die Psycho-
logie nun handelt von den »elementaren« Funktionen, während
Soziologie, Sprach-, Religions- und Kunstwissenschaft die »kom-
plexen« Funktionen bearbeiten. Aber auch Stumpf verkennt
nicht, daß »schon beim ersten Schritt jeder [sc. geisteswissen-
schaftlichen] Untersuchung physische Gegenstände miteinbezogen
werden müssen«, und daß »Psychologie und Physiologie in
gewissen Teilen stark ineinandergreifen«. Und mag also auch in
der phänomenologischen Betrachtung der Unterschied zwischen
Erscheinungen und psychischen Funktionen noch so groß sein, so
wird er doch anscheinend von Stumpf nicht als ein Schnitt aufgefaßt,
der zwei völlig heterogene Wissenschaftsbereiche trennt. Spielen
doch beide in der Psychologie eine Rolle, da auch nach Stumpf
Empfindungen und Vorstellungen sicherlich nicht aus ihr entfernt
werden sollen. Es wird also in dieser Hinsicht die Ab-
weichung seiner Anschauungen von den hier vorgetragenen nicht
so groß sein, wie es zunächst scheinen könnte. Hinsichtlich
mancher anderen Fragen, so z. B. der Auffassung des logischen
Charakters der Tatsachen, dürften freilich grundsätzliche
Differenzen gegenüber meinem verehrten Lehrer vorhanden sein.
Ohne auf diese einzugehen, möchte ich am Schlüsse noch
in eine Erörterung mehrerer entscheidend abweichender Stellung-
nahmen anderer Forscher eintreten, die der empirischen Psycho-
logie, von der wir sprechen, entweder kein oder nur ein sehr
eingeschränktes Recht zugestehen, die also entweder behaupten,
daß sie überhaupt auf falschem Wege sei, oder aber ihr vorwerfen,
daß sie gerade die entscheidenden Gesichtspunkte bisher nicht aus-
reichend gewürdigt habe.
Noch immer wirken die Anschauungen nach, die Dilthey
entwickelt hat. Von diesem wird ein Gegensatz zwischen er-
klärender und beschreibender Psychologie statuiert, der zu seiner
Ablehnung der Erklärung führt. Dilthey begründet diese Stellung-
nahme damit, daß die Psychologie als Geisteswissenschaft »ihre
Methoden ihrem Objekt entsprechend selbständig zu bestimmen
habe«. Während in den Naturwissenschaften »nur durch er-
Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung. 63
gänzende Schlüsse vermittels einer Verbindung von Hypothesen
ein Zusammenhang der Natur gegeben sei«, liege in den Geistes-
wissenschaften »der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ur-
sprünglich gegebener überall zugrunde« ^ »Die Natur erklären
wir, das Seelenleben verstehen wir ^« »Die Hypothese ist nicht . . .
unerläßliche Grundlage« der Psychologie. Auch besitze die
Hypothese in ihr »keineswegs die Leistungsfähigkeit, welche sie
im naturwissenschaftlichen Erkennen bewährt« habe. Vielmehr
stehe die »Möglichkeit ihrer Erprobung an den psychischen Tat-
sachen gar nicht in Aussicht«^. Durch die Rücksichtnahme auf
♦-idie erklärende Psychologie aber, die zur Lösung solcher Aufgaben
nicht in der Lage sei, entständen für die Erkenntnistheorie und
die Geisteswissenschaften, die von der Seelenlehre, wenn auch in
ungleichem Maße abhängig seien, höchst nachteilige Folgen*.
Diese würden durch Beschränkung auf Beschreibung und Zer-
gliederung vermieden, welche sich an den entwickelten Menschen
und das fertige vollständige Seelenleben in seiner Totalität zu
halten hätten. Es ergäben sich dann als Aufgaben außer der
Terminologie die Heraushebung der Strukturgesetzlichkeit, der
Entwicklung des Seelenlebens und der Einwirkung des erworbenen
psychischen Zusammenhanges auf jeden einzelnen Akt des Be-
wußtseins ^
Man wird diesen Ausführungen in mancher Hinsicht bei-
pflichten müssen. Es ist nicht zu verkennen, daß die psycho-
logischen Hypothesen selten den Grad von Sicherheit erreichen
wie die physikalischen und chemischen. Andererseits stehen sie
aber, und das ist wesentlich, gegenüber den biologischen keines-
falls zurück. Man denke etwa an die physiologische Theorie
der Determinanten oder der Epigenesis. Daß der Zusammenhang
des Seelenlebens unmittelbar gegeben sei, wird man nach dem
früher Gesagten als unzutreffend ablehnen müssen, ohne daß
sich daraus für die Grundposition Diltheys erhebliche Konse-
quenzen ergäben. Zu dieser aber, d. h. zu der Frage der Be-
rechtigung einer erklärenden Psychologie überhaupt, werden wir
1 Dilthey, a. a. O. S. 314 und 1376. - 2 A. a. O. S. 1313/14.
3 A. a. O. S. 1312. - 4 A. a. O. S. 1316. - s A. a. O. S. 1346 ff.
04 Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenkssuttg.
Stellung nehmen müssen. Der Fortschritt der Wissenschaft hat
Dilthey insofern bis zu einem gewissen Grade recht gegeben,
als eine Vertiefung und stärkere Betonung der Deskription gegen-
über der Erklärung von vielen Seiten gefordert und auch an-
gebahnt v^^orden ist. Und zweifellos ist die Notwendigkeit exakter
Beschreibung in der Seelenlehre ebenso wie in der Biologie
um so mehr zu betonen, je schwieriger infolge der Kompliziert-
heit der Bedingungen jeder Erklärungsversuch ist. In je umfassen-
derem Maße die Theorien sich durchsetzen, desto geringerer
Raum braucht der Deskription überlassen zu werden. Aber es
wäre keinesfalls richtig, zwischen ihr und der Erklärung einen
Gegensatz konstruieren zu wollen. Natorp^ hat hierin durchaus
recht: »Tatsache und Gesetz, Beschreibung und Erklärung ge-
hören unweigerlich zusammen. Die Tatsache ist nicht anders zu
sichern als im Gesetz. Und Beschreibung ist Subsumption
unter Allgemeinbegriffe; die Allgemeinbegriffe, durch ..die be-
schrieben wird, bedürfen aber der Rechtfertigung, und sie sind
nicht anders zu rechtfertigen als aus gesetzlichem Zusammen-
hange. Ohnehin hat in aller Wissenschaft die Beschreibung nur
einen vorbereitenden Wert eben für die Gesetzeserkenntnis,
welche die allein zugängliche Art, der allein klar verständliche Sinn
der »Erklärung« ist.« Auch die beschreibende Botanik und Zoo-
logie bedürfen der Ergänzung durch die Erklärung, die den
Tatsachen den Charakter des Zufälligen nimmt, und sie zu ».not-
wendigen Wahrheiten« stempelt. Vielleicht — hier freilich ist
alle erdenkliche Vorsicht geboten — gilt das sogar von manchen
»Strukturgesetzen« der Phänomenologie^. Auch die Tatsache
z. B., daß Violett in der Farbenreihe zwischen Blau und Rot
liegt, könnte trotz ihrer anscheinenden »absoluten Evidenz« noch
eine Begründung verlangen.
Übrigens darf vielleicht darauf hingewiesen werden, daß
Dilthey selbst sich von Erklärungsversuchen keinesfalls fernhält,
Experimente zur Analyse heranzieht^ und von Hypothesen Ge-
brauch macht. Oder wie ließe sich beobachten, daß das Interesse die
1 P. Natorp, Allgemeine Psychologie. S. 189.
2 Vgl dagegen C. Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften. S. 29.
3 Dilthey, a. a. O. S. 1372/73.
Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusainhienfassung. 65
Richtung von Assoziationen bestimmt? Wie könnte auch nur der
Begriff der Assoziation ohne Hypothese gebildet werden? So
ergibt sich, daß Dilthey seine Ablehnung und Erklärung nicht gar
zu streng gemeint haben kann, zumal er selbst bei seiner Be-
schreibung und Zergliederung nicht ohne sie auskommt. Das
folgt schließlich auch aus seinen eigenen Worten^: »Die be-
schreibende und zergliedernde Psychologie endigt mit Hypothesen,
während die erklärende mit ihnen beginnt.« Damit ist die genaue
Zusammengehörigkeit beider deutlich bezeichnete
§ 27. Auf Cohens Stellungnahme zur empirischen Psy-
chologie brauche ich nicht nochmals einzugehen; sie ist durch
die früheren Darlegungen bereits klargestellt und kritisch be-
leuchtet. Die von ihm postulierte philosophische Disziplin geht
nicht von dem empirischen Seelenleben aus, sondern von den
höchsten und allgemeinsten philosophischen Wissenschaften selbst,
von Logik, Ethik und Ästhetik, in denen die »reine Erkenntnis«,
der »reine Wille« und das »reine Gefühl« behandelt werden.
Es leuchtet ein, daß diese Lehre völlig außerhalb des Kreises
unserer Überlegungen steht, durch sie nicht berührt wird, sie aber
auch nicht berühren kann.
Eine genauere Erörterung werden wir dagegen Natorps
»Allgemeiner Psychologie« widmen müssen. Dieser Forscher
lehnt die gesarate bestehende Seelenlehre als auf Irrwegen wan-
delnd und im Kern verfehlt ab und stellt als ihre eigentliche
Aufgabe die »Konkretisierung« hin. Ihr Ziel ist die »Konkretion
des Vollerlebnisses«, die »Wiedereinstellung« aller Tatsachen »in
die Totalität des Erlebniszusammenhanges^«. Darin besteht im.
Gegensatz zu allen anderen Wissenschaften die »Subjektivierung«.
Diese wird erreicht durch die »durchaus spezifische, von der der
Naturwissenschaft wie aller objektivierenden Erkenntnis überhaupt
grundverschiedene Methode der psychologischen Forschung, die
»Rekonstruktion« des Unmittelbaren im Bewußtsein aus dem,
was daraus gestaltet worden: aus den Objektivierungen, wie sie
1 A. a. O. S. 1345.
2 Vgl. übrigens zu diesen Fragen Stumpf, Zur Einteilung der Wissen-
schaften, Kap. 6.
3 A. a. O. S. 220.
Blumenfeld, Zur Grundlegung der Psychologie 5
66 Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung.
die Wissenschaft und ... die alltägliche Vorstellungsweise der
Dinge vollzieht^.« Diese Objektivierung soll also wieder rückgängig
gemacht werden; die Seelenlehre betrachtet rückwärts gewendet
die Stadien des Prozesses der Objektivierung, die selbst kon-
struktiv verfuhr. Durch diese Richtung der Psychologie recht-
fertigt sich eben der Ausdruck der Subjektivierung. Sie schreitet
von dem geltenden »objektiven« Standpunkt jeder Wissenschaft
zu dem eben durch sie verworfenen, vorher geltenden, relativ-
subjektiven, >von der höheren Gesetzlichkeit zur niederen, daher
dem Konkreten näher liegenden«, »von den physikalischen Qua-
litäten zu den unmittelbaren Qualitäten der Empfindung: Farben,
Tönen, usf.« zurück ^ Ist doch jede wissenschaftliche Position
vorläufig, subjektiv im Hinblick auf den unendlichen Fortschritt
der Erkenntnis. Dies Subjektive identifiziert N. mit dem Gegen-
stand der Psychologie. Insofern wird ihm das Psychische zur
»Potenz der Bestimmung«^.
Es könnte hiernach leicht der Verdacht entstehen, als sei das
Verfahren der Subjektivierung nichts anderes als der Versuch, »die
Erkenntnis wieder in Irrtum oder zumindest in weitgehende Un-
kenntnis zu verwandeln^«. Und wirklich spricht manche Formu-
herung für eine solche Deutung, insbesondere auch der Passus:
»Die Konzentration aber . . .« [nämlich die Aufgabe der Subjek-
tivierung. Anm. d. V.] »kann jetzt keine bloß begriffliche mehr
sein^«. Damit würde in der Tat die Psychologie als Wissenschaft
aufgehoben; denn die Wissenschaft ist ohne begriffliche Fassung
unmöglich. Diese Interpretation, von der N. zugibt, daß sie durch
»einige weniger behutsame Wendungen in seinen früheren Dar-
legungen« entstehen konnte, hat er aber selbst als absurd abge-
lehnt*': >Die Arbeit der Psychologie gliche dann nur zu sehr der
negativen Arbeit der Penelope, die nachts das Gewebe wieder
1 A. a. O. S. 192. - 2 A. a. O. 8. 232.
3 A. a. 0. S. 82.
* K. Lewin , Die Verwechslung von Wissenschaftssubjekt und psy-
chischem Bewußtsein in ihrer Bedeutung für die Psychologie. [Festschrift
für Alois Riehl von Freunden und Schülern zu seinem 60. Geburtstage.
Halle 1914.] S. 64.
5 A. a. O. S. 20. - 6 A. a. O. S. 80.
Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung. 67
auftrennte, das sie tags geschafft hatte.« Es ergibt sich demnach
die Aufgabe, festzustellen, welcher Art die Disziplin ist, die Natorp
im Sinne hat. Subjektiv ist nach den obigen Darlegungen für
ihn ein Urteil, das keine objektive v^^issenschaftliche, sondern nur
eine vorläufige und unverbindliche Geltung beansprucht. So vertritt
man etwa einen Standpunkt mit der Einschränkung, es handle sich
»nur um eine subjektive Ansicht«. Das Urteil wird damit als
logisch relativ wertlos gekennzeichnet. Für die empirische
Psychologie kommt, wie bereits hervorgehoben, dieser Geltungs-
charakter gar nicht in Betracht. Hier kann das logisch wertlose
Urteil psychologisch wertvoll sein, nicht wegen seines Wahr-
heitsgehaltes, sondern als Erlebnis, in seiner ursächlichen Be-
dingtheit. Es sind also logische Gesichtspunkte, die N. ver-
anlassen, den vorläufigen, von der Wissenschaft überholten
Standpunkt als subjektiv zu bezeichnen.
Ähnlich liegt der Fall bei dem noch fundamentaleren Begriff
des Bewußtseins. Lewin hat gemeint, daß die Verwechselung
des Wissenschaftssubjekts mit dem empirischen psychologischen
Bewußtsein an der Stellung N.s schuldig sei. Nur so sei es zu
verstehen, wenn er das individuelle Bewußtsein nicht zur Natur
rechnet, sondern es als dessen Voraussetzung ansieht, die also
nicht zeitlich sei. Wird das Psychische als etwas Zeitliches
angesehen, so »wird es unfehlbar zu einer zweiten Objektwelt,
geradezu einer zweiten »Natur«, deren Verhältnis zur eigentlich
so benannten, nämlich räumlichen Natur dann ganz unfaßbar
wird«^ Zweifellos können diese und eine ganze Reihe ähnlicher
Stellen den Anschein erwecken, als habe N. die Differenz zwischen
dem zeitbedingten psychischen Geschehen und der logischen
»transzendentalen Apperzeption« übersehen. Und trotzdern wird
man bei einem Forscher seines Ranges diese Vermutung zurück-
weisen müssen. Hat doch schon Kant allzu deutlich auf die
Gefahr dieser Konfundierung hingewiesen. Man denke an die
Stelle-: »Weil Erfahrung empirisches Erkenntnis ist, zum Er-
kenntnis aber, (da es auf Urteilen beruht), Überlegung (reflexio),
mithin Bewußtsein, d. i. Tätigkeit in Zusammenstellung des
Mannigfaltigen der Vorstellung nach einer Regel der Einheit
* Natorp, a. a. O. S. 16. - 2 Kant, Anthropologie I, § 7.
5*
68 Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung.
derselben, d. i. Begriff und (vom Anschauen unterschiedenes)
Denken überhaupt erfordert wird: so wird das Bewußtsein in
das diskursive (welches als logisch, weil es die Regel gibt,
vorangehen muß), und das intuitive Bewußtsein eingeteilt
werden; das erstere, die reine Apperzeption seiner Gemütshand-
lung, ist einfach. Das Ich der Reflexion hält kein Mannigfaltiges
in sich, und ist in allen Urteilen immer ein und dasselbe, weil
es bloß dies Förmliche des Bewußtseins, dagegen die innere Er-
fahrung das Materielle desselben . . . enthält.« Und noch deut-
licher verweist Kant in derselben Schrift kurz danach auf die
Verwechselung von Schein und Erscheinung mit den Worten:
»Daß die Wörter innerer Sinn und Apperzeption von den
Seelenforschern gemeinhin für gleichbedeutend genommen werden,
ungeachtet der erstere allein ein psychologisches (angewandtes),
die zweite aber bloß ein logisches (reines) Bewußtsein anzeigen
soll, ist die Ursache dieser Irrungen.«
Es ist also kaum anzunehmen, daß N. diesen fundamentalen
Unterschied nicht bemerkt habe. Dem würde es auch wider-
sprechen, daß er das Vorgehen der empirischen Psychologie
ganz wohl kennt und daß auch der von uns vertretene Standpunkt
ihm in seinen Grundzügen nicht fremd ist, wie die Darlegungen
der beiden Einwände (C und D) beweisen^. Wenn er trotzdem
seine Auffassung aufrecht erhält, so mag daran Unzufriedenheit
mit dem Verfahren der empirischen Psychologie schuld sein,
die er nur als Gehirnphysiologie gelten lassen wilP. Beim
Lesen fast aller Bücher über Psychologie werde man »einen
Eindruck nicht los wie beim Durchwandern von Seziersälen:
man sieht Leiche an Leiche . . . Man subsumiert eben nicht
den lebendigen Organismus der Psyche, sondern subsumiert
äie ihm entrissenen toten Einzelglieder unter vollends tote,
starre, bewegungslose Begriffet« Weil N. andererseits weiß,
daß alle »objektivierende« Wissenschaft so vorgeht, lehnt er
mit einem salto mortale für die Psychologie die ganze Methode
der Objektivierung ab und schafft den Begriff der Subjektivierung,
der das Leben nicht töten, sondern wiederherstellen soll. Aber
> A. a. O. S. 214 ff. - 2 A. a. O. S. 173 und 187.
3 A. a. O. S. 191.
Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung. 69
es ist schon aus dem Gesagten klar, daß die von ihm geforderte
Seelenlehre im besten Falle als eine philosophisch logische Dis-
ziplin auftreten kann. Damit dürfte sie sich dem Ziele Cohens
nähern. Welche Bedeutung im systematischen Sinne freilich
einer Wissenschaft zukommen kann, deren Aufgabe in der »Re-
konstruktion«, d. h. in der logischen Rückwärtsverfolgung des
Weges besteht, den die Wissenschaften vorwärts gerichtet durch-
laufen haben, das wird sich erst entscheiden lassen, wenn die
bisher nur geforderte Durchführung im einzelnen vorliegt. Ihre
Ähnlichkeit mit einer nicht zeitlich, sondern gedanklich orientierten,
rückwärts gewendeten Problemgeschichte erscheint unabweisbar.
Und der wissenschaftstheoretische Vorteil einer solchen gegen-
über der bestehenden vorwärtsgerichteten ist mindestens zweifel-
haft. Keineswegs aber wird sie die empirische Psychologie
ersetzen können, von der sie sich toto coelo unterscheidet. Was
endlich die Behauptung betrifft, daß diese mit Gehirnphysiologie
identisch sei, so dürfte sie durch die vorhergehenden Unter-
suchungen als widerlegt gelten können. Wäre noch ein weiterer
Beweis vonnöten, so läge er in der Anerkennung von Psy-
chiatern, »daß die psychologischen Formen uns besser bekannt
sind als die Architektonik des Gehirns und daß die Psychologie
eher zum Verständnis der letzteren beitragen könne, als die Lehre
vom Hirnbau zur Kenntnis der psychologischen Erscheinungen«^.
§ 28. Es ist nicht zu erwarten, daß damit alle Einwände
gegen die Psychologie verstummen werden, die von ähnlichen
logischen Gedankengängen ausgehen. Eine Tier bekanntesten For-
mulierungen zwar wird in dieser Gestalt nicht mehr aufrecht
erhalten werden können, nämlich die, daß die Seelenlehre an
einer »immanenten Antinomie« leide, insofern ihr das Subjekt
zum Objekt werde. Es ist einleuchtend, daß keine Schwierigkeit
besteht, wenn man auch nur das Wort Subjekt durch den für
die empirische Psychologie gleichbedeutenden Terminus »innerer
Sinn« oder »empirisches Seelenleben« ersetzt. Indessen die
Tatsache, daß die Selbstbeobachtung in ihrer Forschungs-
methode eine durchaus eigenartige entscheidende Rolle spielt,
1 S. Ramon-Cajal, Histol. du syst, nerveux, II, 1910, S. 869, dt. nach
Pick, Die agrammatische Sprachstörung I, 1913, S. 41.
70 Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung.
läßt sich nicht übersehen. Und daher lassen sich auch die
Schwierigkeiten nicht verhehlen, die mit ihr innerlichst zu-
sammenhängen. Die psychologische Forschung hat sie denn
auch von jeher offen anerkannt^. Aber gerade die Praxis der
Wissenschaft zeigt auch die Mittel, dieser Probleme Herr zu
werden, Kriterien für die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der
Selbstbeobachtung aufzustellen u. dgl. m. Es geht daher nicht
an, aus einer solchen methodischen Komplikation, so einzigartig
sie auch gegenüber den andern Naturwissenschaften ist, logische
Konsequenzen bezüglich der Möglichkeit der Wissenschaft zu
ziehen.
War es für die Neukantianer eine dringende Aufgabe, die
Logik gegen die Ansprüche des Psychologismus zu wahren, so
darf andererseits der Psychologie das Recht nicht verkümmert
werden, sich vor einer über ihre Grenzen hinausgehenden Logik
zu schützen, die sich nicht mehr darauf beschränken möchte,
die Fundamente der bestehenden Wissenschaft zu prüfen und
ihre Grenzen abzustecken, sondern das Vorgehen der Disziplin
verwirft und dafür andere, noch nicht geborene Wissenschaften
fordert und konstruiert. Der »Logizismus« ist eine mindestens
so große Gefahr für die Psychologie, wie der Psychologismus
für die Logik und Erkenntnistheorie. Wie weit unser Stand-
punkt von diesem entfernt ist, dürfte klar geworden sein. Es
ist nicht Aufgabe der Seelenlehre, den Wissenschaftsgegenstand
auf Empfindungen zurückzuführen, sondern die Empfindung
wird ihr zum Wissenschäftsgegenstand. Nicht darum handelt es
sich, den Begriff zur Vorstellung zu erniedrigen, sondern die Vor-
stellung zum Begriff zu erheben; nicht die Kausalität auf Denk-
gewohnheiten zu gründen, sondern die Denkgewohnheit als ge-
setzmäßig, kausal bedingt, zu verstehen; nicht die Geltung auf
Evidenz zu reduzieren, sondern das Evidenzbewußtsein psycho-
logisch zu begreifen.
Beide Wissenschaften, Logik und Psychologie, haben daher
ein gleich lebhaftes Interesse an der Klärung der Grenzen. Im Be-
wußtsein ihrer Zuständigkeit erst werden sie auf dem so gesicherten
1 Vgl. z. B. Ebbinghaus-Bühler, a. a. O. S. 66 ff. und W. Stern, Die
differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, 1911, S, 38 ff.
Steiiungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung. 71
und befestigten Boden unangefochten ihre Systeme errichten
können. Die Philosophie aber, der gerade diese Grenzreguhe-
rung zufällt, fördert damit gleichzeitig die Einsicht in die eigen-
tümliche Gestaltung des Wissenschaftssystems und schreitet so
fort in der Bearbeitung ihrer großen Aufgabe, der Theorie der
Erkenntnis überhaupt.
Die Anwendung der Kantischen, von Cohen und der
»Marburger Schule« im Sinne höchster Reinheit durchdachten
Methode führt hier — das ist das paradoxe Resultat dieser
Untersuchungen — der Psychologie gegenüber zu einem von
dem ihrigen völlig abweichenden Ergebnis.
§ 29. Von Beginn der Philosophiegeschichte an währt der
Kampf gegen die Empfindung. »Die Sinne sind schlechte Zeu-
gen«, sagt Heraklit. Piatos Lebenswerk besteht, wenn man
will, zu großem Teil in der Begründung des Anspruchs der
Wissenschaft gegenüber dem Trug und Schein der sinnlichen
Wahrnehmung. Und die ganze Entwicklung der Naturwissen-
schaften zeigt das Streben nach Emanzipation von der Qualität
der Sinneswahrnehmung. Der Gegenstand der Physik und
Chemie soll lediglich durch gesetzmäßige Beziehungen, durch
das Denken festgelegt werden. Die Farbempfindung wurde
durch elektrische Schwingungen ersetzt, der Begriff der Wärme
verwandelte sich in den der Temperatur, der Druck wurde
meßbar durch die Wage. Ebenso wurden Geruch und Ge-
schmack durch den Rückgang auf chemische Gesetze erklärt.
Aber die Empfindungen blieben deswegen noch immer etwas
Reales. Die wissenschaftliche Psychologie sucht auch die Sinnes-
wahrnehmung selbst und das psychische Leben auf das Denken
zu gründen. Es muß auch für den trügerischen Schein der Sinne
eine Gesetzlichkeit gefordert werden. »Ist das Gemeinte, unter
wissenschaftlichem Gesichtspunkte beurteilt, Schein und Irrtum:
gerade als Schein, als Irrtum, ist es wahrlich auch etwas Wirkliches,
Vorhandenes, vielleicht das reichlichst Vorhandene, das untilgbar
Wirklichste von allen. Als solches interessiert es immerhin die
objektivierende Wissenschaft«, dürfen wir mit Natorp^ sagen.
So ergab sich für die Psychologie die Notwendigkeit, ein eigenes
1 A. a. O. S. 102.
72 Stellungnahme zu anderen Theorien und Zusammenfassung.
Begriffssystem zu bilden. Der Nullpunkt der Wärmewahrnehmung
ist psychologisch etwa definiert als der der minimalen Merklich-
keit. Kalt und heiß sind im Gebiete der Psychologie nicht
quantitativ, sondern qualitativ verschieden, ja sie werden sogar
mit verschiedenen Sinneswerkzeugen der Haut wahrgenommen.
Schwarz ist in der Physik ein Körper, der keine Lichtstrahlen
aussendet bezw. reflektiert. In der psychologischen Terminologie
dagegen ist schwarz eine »echte« Empfindung, so gut wie weiß
und rot, das eine Ende der Graureihe. Kurz, das ganze Begriffs-
system ist ein anderes als das der exakten Naturwissenschaften.
Aber die Verschiedenheit rechtfertigt keine Verchiedenheit der Be-
wertung. Die Psychologie kann für ihre Begriffe das gleiche
Recht geltend machen wie jede andere Wissenschaft, und ihre
Ziele sind keinesfalls von geringerer Bedeutung.
Von diesen Zielen ist die Psychologie noch sehr weit entfernt.
Es ist nicht zu bestreiten, daß viel fehlt an der Weite der
Gesichtspunkte, an der Universalität, die etwa das physikalische
Weltbild heute auszeichnet. Das ist nicht verwunderlich. Ist sie
doch diejenige von den Naturwissenschaften, die sich als bisher
letzte dem mütterlichen Schöße der Philosophie entwindet, nicht
ohne Schmerzen für beide. Aber nachdem sich die Psychologie
auf eigene Füße gestellt hat, wird sie zweifellos ihren Weg weiter-
gehen, unbekümmert um die scheinbaren Schwierigkeiten, die
ihr von Außenstehenden vorgehalten werden, einzig besorgt um
die nicht gering zu schätzenden Hindernisse, die die Bearbeitung
ihres spröden Gegenstandes selbst bietet.
iJruck von E. K. Herzog in Meerane 1 9i
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Philosophische Vorträge
veröffentlicht von der Kant -Gesellschaft.
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Stellung erkenntniskritischer Probleme von Dr. Fr. Kuntze,
Priv.-Doz. a. d. Univ. Berlin. Mk. L — .
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Generalarzt Prof. Dr. Berth. von Kern. Mk. 1.—.
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„ 6. Religion und Kulturwerte von Dr. Jonas Cohn, Prof.
a. d. Univ. Freiburg i. Br. Mk. 1. — .
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Sternberg. Mk. 1.20.
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Hermann Cohen, weil. ord. Prof. a. d. Univ. Marburg. 2. und
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« 14. Individualismus, Universalismus, Personalismus von Dr. phil.
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Heft 16. Das Verhältnis der Logik zur Mengenlehre von Geh. Medi-
zinal-Rat Prof. Dr. TheoÖor Ziehen, o. ö. Professor a. d.
Universität Halle. Mk. 2.—.
„ 1 7, Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks von Dr. phil. Emil
Utitz, Prof. a. d. Univ. Rostock. Mk. 2.—.
V 18. Über den Zufall von D. Dr. Aöolf Lassen, weil. Professor
an der Universität Berlin. Mk. 2. — .
;, 19. Neubegründung der Ethik aus ihrem Verhältnis zu den beson-
deren Gemeinschaftswissenschaften von Professor Dr. Albert
Görland. Mk. 2.—.
,/ 20. Grundgedanken der personalistischen Philosophie von Dr.
William Stern, Prof. an der Universität in Hamburg.
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,; 21. Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichts-
punkte des Systems von Dr. Paul Natorp, Professor an
der Universität Marburg. Mk. 1.40.
.; 22. Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie von Ernst
Cassirer, Prof. a. d. Universität Berlin. Mk. 2.—.
» 23. Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des
Positivismus von Ernst Troeltsch, Prof. a. d. Universität
Berlin. - Mk. 3.60.
;; 24. Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe von Gustav
Radbruch, o. ö. Professor a. d. Universität Kiel, und Paul
Tillich, Privatdozent a. d. Universität Berlin. Mk. 2.80.
,; 25. Zur kritischen Grundlegung der Psychologie von Dr. Walter
Dlumenfeld, Privatdozent an der Technischen Hochschule
in Dresden. Mk. 4.— .
Druok Ton E. R Herzog in Meerane i S.
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Connecticut
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