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Zur Vorgeschichte
des
KRITICISIllIS m.D IDEALISMIIS.
1 M ü ü' Q ü' R A 1, -- ]P r S S E R T A T I @ M
der
hohen philosophischen Facultät
der Universität FreihuiR
Erlangung der philosophischen Doktorwürde
vorgelegt von
Benno Rüttenauer,
aus Oberwittstadt.
FIR.EIBTJE,C3- I- B.
^ U CH D R U C IC E R E I VON ^HR. ^ T R ö C K E I^
188S.
ä<
Mit grosser Genugthuung benutze ich diese Grelegenheit^
meinem verehrten Lehrer in der Philosophie
Herrn Hofrat Prof. Dr. Windelband
für dessen mehrjährige, so liebenswürdige und anregende
Leitung meiner Studien
meinen tiefgefühlten Dank
öffentlicli auszusprechen.
Der Verfasser,
In dem Fortgang der Entwicklung des Geistes und des Gre-
dankens sind, wie im Leben der Natur, grosse sich wiederholende
Kreisläufe nicht zu verkennen.
In der griechischen Philosophie waren auf die in ihrer Art
grossartigen Versuche einer Weltproblemlösung dialektische Spiele-
reien, waren auf die jonischen Physiker mit ihrer elementaren,
naiven Fragestellung, auf die Pythagoräer mit ihren tiefgehenden
ethisch-religiösen Problemen, auf die Eleaten, die schon die subtilsten
Schwierigkeiten aller Problemlösung berührt hatten, waren auf
Empedokles, Anaxagoras und die Atomistiker die Sophisten ge-
folgt und hatten durch ihre Art zu philosophieren äusserHch eine
l)isher ungeahnte Verbreitung und Popularisierung der Philosophie
und neben diesem äusserlichen Wuchern und pilzartigen Umsich-
greifen des Philosophierens zugleich einen innerlichen Verfall der
wahren Wissenschaft herbeigeführt, einen Indifferentismus für alle
ernsteren Fragen der Philosophie und einen immer mehr um sich
greifenden Zweifel an ihrer Zulänglichkeit.
Aehnlich, wenn auch natürlich nicht ganz zutreffend, lagen die
Verhältnisse zu Ausgang des Mittelalters. Für beide parallele Ent-
wicklungsreihen gilt das Wort unsers Kant, dass „Verdruss und
gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der
Nacht in Wissenschaften, doch zugleich der Ursprung, wenig-
stens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung
derselben ist."
Bei den Gfriechen ist es Sokrates mit seinem charakteristischen
„Ich weiss, dass ich nicht weiss", der durch sein Streben nach voll-
ständiger Klärung und Fixierung der Begriffe, die elementarsten und
alltäglichsten nicht ausgenommen, über den negativen Stand des
Alles-in-Fragestellens , über das blosse, wenn auch vielleicht sehr
geistreiche Spiel sophistischer Dialektik hinaus auf die positive
Grundlage gesichteter und darum gesicherter Begriffe gelangte.
Er wurde dadm'ch der Begründer einer neuen Ära der Philosophie.
Dass beim Beginn der neuen Bewegung im 16. Jahrhundert
■ein sokratischer Geist in der Philosophie spuckte, geht äusserlich
j6^
schon daraus hervor, dass Sokrates, der mit den Schulphilosophen
der vorausgegangenen Zeit wenig gemein hatte, in den bewegenden
Werken dieser Zeit überall in den Vordergrund gestellt und wieder-
holt als der grösste philosophische Geist aller Zeiten proklamiert
wird. Es war ein ähnlicher Geist des Misstrauens gegen alle seit-
herigen Voraussetzungen der Philosophie, ein Bewusstsein der Not-
wendigkeit, neue Begriffe und Grundlagen der Erkenntnis zu ge-
winnen , ein Geist des Kriticismus , wie wir heute sagen , der die
Philosophie jener Übergangszeit beherrschte. Natürlich ging im
16. Jahrhundert die Entwicklung, entsprechend den viel compli-
cierteren Verhältnissen, langsamer als in der sokratisch-platonischen
Zeit vor sich und war mit wiederholten Rückfällen verbunden.
Aber wenn auch erst im letzten Stadium der Entwicklung die
grosse erkenntnistheoretische Aufgabe der modernen Philosophie
gelöst wurde, so hatte sich doch jene Zeit schon diese Aufgabe
gestellt; wenn auch erst Kant sie in einer für ewige Zeiten im-
ponierenden Weise gelöst hat, die ersten Lösungsversuche derselben
linden sich schon im Anfang der neuen Ära. Mag man immerhin
und mit vollem Recht die ganze Reihe der vorkant'schen Philosophen
als Dogmatiker bezeichnen, so ist es dagegen nicht weniger ange-
messen, die Entwicklung aller jener dogmatischen Systeme aus
kritischen Bestrebungen, und die ganze moderne Philosophie vor
Kant als die Genesis des Kriticismus zu erklären, und deren Ge-
schichte als die Geschichte der Möglichkeitsbedingungen seiner Thar.
Dies zu zeigen, sei die Aufgabe dieser Zeilen.
Im Hinblick auf die griechische Philosophie könnte man den
Ausspruch Kuno Fischer's, dass alle Philosophie mit dem Zweifel
anfange, zu bezweifeln geneigt sein. Für die Geschichte der mo-
dernen Philosophie gilt er in vollem Sinne. Nicht nur die eigent-
lichen Skeptiker Montaigne, Charron, Sanchez, auch Bruno, Cam-
panella, Descartes, Bacon, alle erheben die Forderung des Zweifels
und zwar des ausgedehntesten Zweifels, als erste Bedingung wahrer
Philosophie: „Dubitemus," ruft Bruno aus (op. I. p. 16), „dubitemus
Interim, quoad liberius atque sincerius causam agere liceat."
Descartes, mit dem man die Geschichte der moderneu Philo-
Sophie anzufangen pflegt, ist also nicht der erste, der aus dem vor-
gefundenen Dogmatismus zu Zweifeln und, trotz allem Naivismus
und Dogmatismus, in den seine Philosophie auslief, zu einem An-
fang von kritischem Denken gelangt war. Wenigstens war er auf
dem besten Wege dazu gewesen. Zum Kriticismus? Kuno Fischer
sagt vom Kriticismus, dass er zur dogmatischen Philosophie nicht
im Verhältnis eines Gegensatzes stehe, sondern in dem einer Wissen-
schaft zu ihrem Object. In diesem Verhältnis aber stand das
Denken Deskartes', stand auch besonders das der Skeptiker und
mit besonders hervorgehobenem Nachdrucke das von Ramus, Bruno,
und Campanella zu dem Aristotelismus des Mittelalters. Die Hin-
weisung auf die Verkehrtheit, Hohlheit und Dünkelhaftigkeit jener
Philosophie, die, mit ewig deduktivem Vorgehen auf dem sterilen
Wege rein logischen Folgerns, von Syllogismus zu Syllogismus, zur
Beantwortung der höclisten und letzten Fragen des Menschengeistes
fortschreiten zu können glaubte, ohne jede Prüfung der Grundlagen
ilirer Erkenntnisse oder ihrer Möglichkeit überhaupt, ist einer der
hervorstechendsten Züge in den Werken der genannten Philosophen.
Kritische Versuche vor Kant nachweisen, heisst auch gar nicht Kants
eminente Bedeutung im geringsten verringern wollen. Eine Aufgabe,
an der Jahrhunderte in ungeschickten Versuchen wie blind herum-
getappt haben, mit vollem Bewusstsein, mit aller Besonnenheit und
Klarheit, deren nur ein Genie fähig ist, erfasst und in der über-
raschendsten und grossartigsten Weise .gelöst zu haben: darin liegt die
Grösse und Bedeutung Kants, nicht darin, dass seine Aufgabe absolut
neu war. Nach Kant besteht die Aufgabe der Kritik der Vernunft
in dem schwierigen Geschäft ihrer Selbsterkenntnis, wodurch sie
ihre gerechten Ansprüche sichern und dagegen grundlose Anmass-
ungen nach ihren ewigen und umwandelbaren Gesetzen abfertigen
könne. (Kehrb. p. 5.) Gewiss sind in Deskartes die ersten An-
fänge zu diesem Geschäfte unverkennbar. Er sucht nach einem
ersten und obersten Princip der Erkenntnis, vor dem der Zweifel,
der alles wanken gemacht hatte , stille halten müsse , ein Princip
also, das, gefeit gegen jeden, auch den radikalsten und verwegensten
(aber noch vernünftigen) Zweifel, in sich selber die Möglichkeit
einer Erkenntniss tatsächlich darthue und von dem aus man, wenn
man nur nicht gegen die Formen des Denkens Verstösse, also keine
logischen Fehler mache, zu andern sichern und gewissen Erkennt-
nissen müsse fortschreiten können. In ihrem Grnndgedanken ent-
hält diese Aufgabe schon den kritischen Keim, in ihrem letzten
Punkt aber auch wieder eine rein dogmatische Wendung. Dass
Deskartes' Denken, so weit es als kritisches Denken in Betracht
kommt, an dieser Aufgabe scheiterte und auf dem festen aber un-
fruchtbaren Felsen des Dogmatismus sitzen blieb, ist bekannt.
Es wundert uns weniger, dass Deskartes die komplicierte und
äusserst schwierige Xatur des Selbstbewusstseins , in dem er das
von ilim gesuchte Prinzip gefunden zu haben glaubte, nicht ahnte,
als vielmehr das grosse Yertrauen, das er in die Zuläuglichkeit und
Unfehlbarkeit des deductiven Geistesvermögens setzte. Und doch
war gerade in diesem Punkte schon vorgearbeitet gewesen. Ich
denke an die sogenannten französischen Skeyjtiker.
Gerade das Misstrauen in die menschlichen Yerstandesfunctionen,
namentlich in alles discursive Denken ist der Hauptzug in der Ge-
dankenrichtung der Skeptiker, Nirgendwo mehr als bei ihnen ist
die Cardinalfrage des Kriticismus, ob Erkenntnis überhaupt möglich
sei, betont worden, Nur eine positive Lösung wussten sie nicht zu
finden. In ihrer Verneinung glaubten sie, die richtige Lösung ge-
funden zu haben. Und weil diese Yern einung nicht aus guten
Gründen hervorgegangen, sondern nur die Folge war eines ent-
mutigten Zurückschreckens vor unüberwindlich scheinenden Hinder-
nissen oder auch wohl eines frivolen Überdrusses au weiterem
Suchen , so war sie dogmatisch , so waren die Skeptiker von dem
allerkritischsten Ausgangspunkt ausgehend ebenfalls wieder, so sonder-
bar das klingt, dogmatisch geworden.
Es dürfte nicht uninteressant sein, zwisclien Deskartes und
den Skeptikern eine Vergleichung zu ziehen. Man würde daraus
sehen, wie vieles der Philosoph des cogito ergo sum mit jenen des
scio, quod nihil scio gemein hat und wie er vielleicht zum Teil ge-
rade von ihnen angeregt wurde. Besonders dürfte es aus dieser ver-
gleichenden Betrachtung, bei Heranziehung noch einiger anderen
Philosophen vor Deskartes, klar werden, dass nicht mit Bacon und.
Deskartes erst das moderne Denken anhebt, Deskartes gewaltiger
Einfluss auf Zeitgenossen und Nachfolger, wodurch er seine Vor-
gänger tief in den Schatten stellte, mag weniger auf der Originalität
seiner Methode und der Neuheit seiner Gedanken beruhen, als in
der mit imponierender Consequenz und einer durch fortwährende
9 _
Beschäftigung mit Mathematik erworbenen streng systematisch-
wissenschaftlichen Durchfährung seiner Philosophie und besonders
auch auf seiner lichtvollen, knappen und abgerundeten Darstellung
derselben.
Wenn wir die Skeptiker würdigen wollen, ist zunächst nicht
aus den Augen zu verlieren, dass sie vorherrschend keine Männer
der Schule und der Schulwissenschaft waren, sondern der Wissen-
schaft als solcher verhältnismässig fern stunden. Von allen Skep-
tikern ist bekanntlich Montaigne am berühmtesten geworden. Er
wird noch gelesen und wird hauptsächlich zur Charakteristik der
Skepsis genannt und citiert. Hier kann er uns nicht in erster
Linie interessieren, ebensowenig wie sein frommer Landsmann
Charron. Unser Hauptinteresse fällt vielmehr auf den dritten der
drei berühmten Franzosen, auf Sanchez. Während die beiden ersten
specifiscli wissenschaftliche Fragen nur hin und wieder berühren,
und melir die ein grösseres Publikum interessierenden, allgemeinen
und praktischen Fragen des Lebens in der Sprache des Volkes
behandelten, schrieb Sanchez mit der klar zu Tage liegenden Tendenz
rein wissenschaftlicher Zwecke' in der Sprache der Gelehrten für
Gelehrte. Jene, der eine ein Weltmann, der andere ein Prediger
und Priester, wollen mit ihren Untersuchungen die Erreichung der
irdischen oder der jenseitigen himmlischen Glückseligkeit befördern;
sie wollen praktische Philosophie. Sanchez kultiviert das Wissen
um des Wissens willen. Die Theorie , das Erkennen , ist ihm
Selbstzweck.
Man kann fragen, wie diese Männer zur Skepsis gekommen
sind. Waren sie mit den antiken Skeptikern bekannt? Montaigne
und Sanchez jedenfalls. Ersterer spricht in Bezug auf skeptische
Anschauungen von den Pyrrhoniens und den Academiciens als mit
seinen Ansichten übereinstimmend. Er meint mit den letzteren
jedenfalls die sehr stark skeptisch versetzte mittlere Akademie. Noch
häufiger beruft sich Sanchez, ohne gerade zu eitleren, auf das Zeug-
nis der Alten. Seine Gewährsmänner sind Sextus Empirikus und Dio-
genes, der Laertier, aus denen er die Doktrinen Pyrrho's und ande-
rer kennen gelernt hat. Man braucht aber trotzdem nicht anzunehmen,
dass diese Männer durch die Alten zu ihrer Skepsis veranlasst
worden sind, so sehr es ihnen bei der Ausbildung und Darstellung
ihrer Lehre willkommen sein mochte, sich auf griechische Autoritäten
10
berufen zu können. Die Grenannten sehen gar nicht darnach aus^
als ob sie Nachbeter fremder Gedanken seien. Auch brauchte es
in jenem Jahrhundert wahrlich keiner philologischen Veranlassung
zur Skepsis. Die Zeit war, wie schon betont wurde, ganz darnach
angethan, dass der Skepticismus mit Naturnotwendigkeit daraus
hervorwachsen musste. Es war ein entschieden revolutionärer Geist,
der durch die Zeit wehte, und der das Zeitalter der Renaissance
charakterisiert, ein Geist der Auflehnung gegen die kirchliche
Autorität, ein Geist im Anfang mehr des Umsturzes als des Auf-
baues: es war der Geist, der verneint. Aus diesem Charakter der
Zeit heraus erklärt sich leicht die allenthalben hervortretende po-
pulärskeptische Denkrichtung. Der wissenschaftliche, in seinen
AVirkungen bedeutende und für die Fortentwicklung der Philosophie
erfolgreiche Skepticismus hat tiefere Gründe. Er scheint das Kind
zu sein einer Berührung des Neuplatonismus mit dem erwachenden
Sensualismus.
Diese beiden die Zeit charakterisierenden Richtungen treten —
beide im scharf ausgesprochenen und immer feindlicher sich ge-
staltenden Gegensatz gegen den mittelalterlichen vermeintlichen Ari-
stotelismus — gleich energisch und gleich kühn auf. Die platoni-
sierende Richtung ist die ältere. Sie hatte in der Florentinischen
Akademie ihren höchsten Aufschwung, in Marsilio Ficino (f 1499)
und in Pico von Mirandola, welcher letztere die Verschmelzung mit
der verwandten cabbalistischen Richtung vollzog, ihre talentvollsten
und begeistertsten Anhänger gefunden. Für italienische Philosophen
war diese Richtung von nun an im allgemeinen massgebend. Aber
ihr Einfluss erstreckte sich über die Grenzen Italiens hinaus, und
bald sehen wir sie in Frankreich sowohl als auch in England mit
grösserer oder geringerer Lebhaftigkeit vertreten. Es war als ob man
sich seit Augustinus zum erstenmal wieder bewusst geworden sei, dass
das Christentum nicht in Aristoteles, sondern in Plato seine ver-
wandtesten Seiten habe, und die ganze Bewegung wird um so wirk-
samer, als die einzelnen Vertreter derselben, so sehr sie auch in ihren
letzten Absichten und besonders in ihrem Verhältnis zu Christentum
und Kirche sich selber diametral gegenüberstehen mochten, doch alle
in einem Punkte übereinstimmten, in ihrer Feindschaft und in
ihrem Kampf gegen Scholastik und Aristotelismus, die sie meistens
identificierten. Das war die spiritualistische Seite der Zeit, und
11
nach dieser Richtung wollte es fast scheinen als ob der Spiritualis-
mus, der, pracktisch noch mehr als theoretisch, in der mittelalter-
lichen "Weltanschauung als das hervorragendste Charakteristikum
aufgetreten war, noch einmal aus neu entdeckten reichen Quellen
fliessen und aus lauge im Schutt vergrabenen Ruinen in kräftiger
Verjüngung aufs Neue emporblühen sollte. "Was war nun eigent-
lich der erste Anstoss zu dieser Strömung? Doch nichts anders als
die schon im Nominalismus, und besonders in Occam sich geltend
machende Reaktion gegen den Formalismus, genannt Realismus, der
mittelalterlichen Philosophie. Diese Thatsache ist bemerkenswert.
Die gleiche reaktionäre Strömung, konnte sie nicht auch zu einem
ganz entgegengesetzten Resultat führen? Nehmen wir an, dass sich
dieser Zug bei Männern geltend machte, die, wie etwa Arzte, durch
ihre Berufsstudien weniger auf die Spekulation als auf die Beob-
achtung und den intimen Yerkehr mit der Natur angewiesen waren,
so mussten diese, da die Platonische Philosophie und Denkweise
überhaupt nicht jedermanns Sache ist, einen andern Ausweg finden
aus der grossen "Wüste der Scholastik, die immer mehr zu versanden
drohte und in der die starren Riesenpyramiden eines Thomas und
Skotus längst nicht mehr mit der ursprünglichen imponierenden Ge-
walt neben der mystischen Sphinx emporragten. Den einen Aus-
weg schien am Himmel die leuchtende "Wolke des Piatonismus
zu zeigen. Es musste auch einen andern geben. "Welcher dies sein
mochte, liegt nahe. Man hatte — wie das wohl zu Zeiten kommen
mag — an dem himmlischen Manna den Geschmack verloren und
sehnte sich mit fleischlichen Gelüsten nach irdischer Nahrung; man
hielt sie für nahrhafter, für gesunder und zu allerletzt auch für —
pikanter. Der Drang nach Erkenntnis der Natur und ihrer geheim-
sten Kräfte und Lebensquellen, und zwar nicht blos theoretisch ein-
seitig , sondern mit dem Charakter eines ungestümen Verlangens
nacli Durclidringung der Naturgeheimnisse, nach Beherrschung und
völliger Aneignung aller Kräfte, aller Genuss-, Lebens- und Macht-
quellen der Natur, brach jetzt um so gewaltiger, um so üppiger
und ausschweifender hervor, als er so lange mit Gewalt niederge-
drückt worden war. Es ist das Zeitalter Fausts. Die Naturphilo-
sophie feierte jetzt überall ihre Orgien. Eine allgemeine gewaltige
Naturschnsucht hatte sich aller Gemüther bemächtigt. In den Dar-
stellungen der grossen Epoche der Renaissance (dieses Wort in
J12
seiner weitesten Bedeutung) ist ein Gresichtspimkt noch wenig oder
vielmehr noch gar nie in das rechte Licht gerückt worden, der
nämlich, welcher in dem Gedanken liegt, dass mehr als das Zurück-
gehen auf die Alten, das Zurücksehnen zu der Xatur (und beides ist
durchaus nicht dasselbe) den eigentlichen Grehalt jener Kulturepoche
liedingte.
Das ist die zweite Seite jener zwiespältigen Zeit, die sensua-
listische oder naturalistische. Das ist der gewaltige Widerspruch,
der die Zeit charakterisiert, und der im Mittelalter, im Nominalismus
und Realismus nur eine sehr schwache Parallele gehabt hatte.
Gerade in diesem Widerspruch aber liegt die treibende Kraft der
beginnenden Entwicklung.
Zuerst treten die sich widersprechenden Richtungen in geson-
derten Erscheinungen auf. Die italienischen Akademiker sind in
ihrer Innern Einheit und Widerspruchslosigkeit die vollen und ganzen
Apostel Piatons oder vielmehr Plotin's. Die Cardamus Telesius,
Caesalpinus, Parazelsus sind die Propheten und Yorläufer Balcons,
wenn auch nicht ganz in dieser Innern Einheit wie jene; denn die
christlich platonische Weltanschauung, die mehr oder weniger unbe-
wusst in ihnen wirkte, machte diese Männer noch zu halben Mystikern,
manchmal freilich auch wieder mehr zu halben Magiern. Allein es
konnte auch so kommen, dass beide Richtungen als bewusste wissen-
schaftliche Tendenzen nebeneinander in einem Denken auftreten,
eine Zwiespältigkeit, die in den naturalistisch gehaltenen geradezu
kecken Randzeichnungen der frommen Gebetbücher jener Tage
treffend illustriert ist. Dies ist aber ganz der Charakter Campanellas,
und in fast gleichem Masse der der (ausdrücklich so genannten)
Skeptiker. Der Sensualismus tritt offen zu Tage, bei Campanella
so gut wie bei den Franzosen. Überhaupt waren alle jene ersten
schwachen Versuche einer mehr oder weniger noch psychologisch
und methodologisch gehaltenen Erkenntnistheorie sensualistisch an-
gehaucht. Wie auf dem praktischen Gebiete der einseitige Spiri-
tualismus überwunden wurde und das Recht der Natur und der
Sinne wieder neben dem Geiste zur Anerkennung kam, woraus der
grossartige Aufschwung der Künste in der Renaissance sich her-
schreibt, so musste zu gleicher Zeit auch auf theoretischem Felde
der scholastisch-aristotelisierende Formalismus dem theoretischen Sen-
sualismus einen Teil seiner Domäne einräumen. Nun musste sich
13
natürlich diese Tendenz mit dem zu gleicher Zeit, ebenfalls in Oppo-
sition gegen mittelalterlichen Aristotelismus , stark sich geltend-
machenden Xeuplatonismus schlecht vertragen. Dieser aber ist in
Campanella und Sanchez wiederholt und aufs nachdrücklichste aus-
gesprochen, und bei den andern Skeptikern ebenfalls leicht nachzu-
weisen. Campanella ist geradezu ein ausgesprochener Neuplatoniker.
Und nehmen wir Q. Bruno. In seinem fieberhaften, ja oft bis zum
WahuAvitz gesteigerten Streben nach ^S^aturerkenntnis, nach der Er.-
kenntnis „aller Wirkungskraft und Samen" und „was die Welt im
Innersten zusammenhält" steuerte er, stürmischer als einer, auf den
Sensualismus los; aber in seiner Annahme einer über alle Sinnen-
erkenntnis hinhausgehenden Unendlichkeit der Welt entfernte er
sich zugleich himmelweit von dem Sensualismus gemeinen Schlags.
Und ein Coperuicus, ein Telesius, ein Gralilei, kamen nicht gerade
sie in ihren, in der empiristischen Richtung (Welterkenntnis durch
^aturbeobachtung) gelegenen Forschungen zu Resultaten, welche
die fortwährende Sinnestäuschung als klarliegendes Faktum erscheinen
Hessen, so dass selbst in Forschungsrichtungen, wo man es am aller-
wenigsten gesucht hätte. Keime einer phänomenalistischen AVeltauf-
fassung lagen. Bekannt ist wie Kant am liebsten die Copernikani-
sche Weltanschauung als Parallele seines transscendentalen Idealis-
mus anführt.
Da hätten wir nun also nebeneinander in einem Denken die
sich widersprechendsten Tendenzen mit deutlichem Bewusstsein ver-
einigt. Was musste die Wirkung davon sein? Wenn man einerseits
mit Plato der vollen Überzeugung zu sein schien, dass uns durch
die Sinne nie eine wahre Erkenntnis der Dinge vermittelt werden
könne, und auf der andern Seite nicht abgeneigt war, der immer
mehr umsichgreifendeii Ansicht beizustimmen, dass alle Erkenntnis
überhaupt von den Sinnen ausgehen müsse, so hatte man nicht mehr
weit mitten in den radicalsten Skepticismus.
Auf der einen Seite der Glaube an eine höhere übersinnlich«
Welt und die erhabene Aufgabe ihrer Erkenntnis; auf der andern
Seite die Überzeugung, dass nur die Sinne uns Weg und Mittel der
Erkenntnis sind. Welcher Widerspruch zwischen dieser Aufgabe
unserer Erkenntnisthätigkeit und ihren Mitteln! Es ist das so etwas
wie eine Paralelle zu Kants transscendentaler Dialektik, wo dieser
den nämlichen Widerspruch darlegt, indem er zeigt, wie die Auf-
14
gäbe unsers Verstandes, deren Bewusstsein in unserer Vernunft lebt
und in der Gestalt der transscendentalen Ideen vorgestellt wird, vom,
Verstand selber nie gelöst werden kann. Was in Kant uns als.
gründlichste und klarste, als grossartigste Lösung des erkenntnis-
theoretischen Problems d. h. als eigentlichster Kriticismus entgegen-
tritt, das musste in jenen Männern, die dieses Problem nur erst zu
inaugurieren im Begriffe sind, Skepticismus sein.
Mcht darin bestund das Wesen jenes Skepticismus, dass
seine Vertreter, wie Bacon ihnen vorwirft, nihil sciri posse, simpliciter
asserunt, wie es ja wohl scheinen kann, wenn man ihre Ausdrucks-
weisen wörtlich versteht, und wie es deshalb auch sonst die all-
gemeine Meinung sein mag; was diese Skeptiker charakterisiert
und ihr Wesen als Skeptiker ausmacht, ist vielmehr das, dass sie
jene von ihnen geglaubte Welt von Dingen, die hinter den blossen
Schatten der Sinnendinge liegt und zu deren Erkenntnis ein innerer,
notwendiger Drang uns forwährend antreibt, für uns sinnlich er-
kennende Wesen für immer und ewig unerkennbar halten mussten
während sie auf der andern Seite, ganz ihrer Platonischen Denk-
weise gemäss , die andere Welt , die wir durch unsere Sinne recht
gut erkennen mögen, für nichts, für eitel Rauch und Schatten
achteten. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet muss auch der
dem Skepticismus so oft imputierte Vorwurf der Frivolität bedeutend
an Gewicht verlieren. Jedenfalls kann man den tiefen Skepticismus ,
eines Sanchez, Bruno und Campanella, dem zugleich der tiefste
Ernst zur Seite steht, gar nicht verstehen, ohne dass man ihn
aus dem Grundprinzip des Piatonismus zu erklären sucht. Sensua-
listisches Denken an sich hat niemals Skeptiker erzeugt; aber
sensualistisches Denken bei platonischer Weltauffassung musste
sie erzeugen. Der nämliche Prozess, der im Altertum (in der
sogenannten zweiten und dritten Akademie) die Philosophie auflöst,,
bildet — merkwürdig genug — in der Entwicklung der modernen
Philosophie den ersten Anfang.
Omnis a sensu cognitio est. Nachdem man Jahrhunderte
lang die höchste wissenschaftliche Forschung in rein formalen
Denkfunktionen , in syllogistischen Operationen gesehen hatte , war
es kein Wunder, wenn jetzt dieser Satz, der auf einmal wie in
'der Luft lag, die Geister ein wenig verblüffte.
15
2.
Es sind deshalb hauptsächlich zwei Richtung-en, die in deu
massgebenden philosophisclien Erscheinungen der Zeit charakteri-
siere»d hervortreten. Die eine besteht in der deutlich ausge-
sprochenen, meistens sogar sehr heftigen Opposition gegen deu Ari-
stotelismus, wie man den mittelalterlichen Denkformalismus immer
bezeichnete; die andere ist ein mehr oder weniger skeptisches, mehr
oder weniger kritisches, zu mehr negativen oder mehr positiven Re-
sultaten fortschreitendes Vorgehen in den Untersuchungen über
Sinneswahrnehmungen, physiologische, psychologische und methodo-
logische Forschungen. Beide Richtungen sind kritischer Natur;
beide sind in den Skeptikern, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit
besonders in Sanchez, vertreten. Auf ihn kommen wir somit
speciell zurück. Wenn wir von wissenschaftlicher Gründlichkeit
reden, so ist einleuchtend, dass diese nicht in dem heutigen Sinne
des Wortes zu verstehen ist. Sie war aber in Sanchez vorhanden,
soweit sie zu seiner Zeit auf den ' bezeichneten Gebieten für ihn
möglich war. Diese Möglichkeit war allerdings nicht gross, und
es mag uns deshalb seine Methode , namentlich auf dem Gebiete
physikalischer und physiologischer Untersuchungen, als ein blindes
Herumtappen nur ein mitleidiges Lächeln abnötigen. Allein, wenn
wir nicht zu jenen gehören, die da finden
„ es sei ein gross Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeit zu versetzen.
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht.
Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht,''
so werden wir die Unzugänglichkeiten der Zeit nicht dem Einzelnen
in die Schuhe schieben v/ollen; wir werden es begreiflich finden,
dass das Gebiet der Sinnesempfindungen, das fortwährend zu physi-
kalischen Untersuchungen nötigte, für jenes Jahrhundert eine schlüpf-
rige Bahn war, auf der es gar nicht leicht sein konnte, sich aus
dem bodenlosen Moor (um nicht zu sagen Sumpf) des Skepticismus
herauszuretten.
Am wenigsten ist Sanchez Skepticismus ein frivoler. Er meint
es ernst mit der Wahrheit. In dem Streben nach ihr sieht er die
Würde und den A^orzug des Menschen bedingt. Gerade weil er es
16
ernster nahm als andere, weil er weit entfernt war von jener Flach-
heit, die Würterkram für Wissenschaft nimmt und spitzfindige Denk-
formeln für Erkenntnisse ausgiebt und. den Schein von Dingen für
Dinge,
„Die immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt.
Und froh ist, wenn sie Regenwürmer findet,"
gerade darum war er Skeptiker.
„0, glücklich! wer noch hoffen kann.
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen."
Sanchez hatte diese Hoffnung nicht; aber er rang dennoch —
ein tragisches Loos! Aber hat nicht Kant, mit höherer Einsicht und
begrifflich klar, gezeigt, dass dies das Loos der menschlichen Er-
keuntnisthätigkeit, so weit sie theoretisch ist, überhaupt sei! Daraus
erhellt wohl der wahre Sinn des von Schopenhauer so gern citierten
Bruno'schen Wortes: „omnes veros philosophos melancholicos esse."
„Qui studet," sagt Sanchez schon vor ihm, „melancholicus tan-
dem fit." In dieser Richtung ■ dürfte etwa Montaigne von Sanchez,
mit dem er in der Geschichte der Philosophie den gleichen Titel
führt, weit abliegen.
Gehen wir etwas näher auf Sanchez ein. Seine nächste Aufgabe
war, wie schon angedeutet wurde, zu zeigen, wie das, was das
Mittelalter für Aristotelische Logik ausgab, wie diese im kahlen
Syllogismus aufgellende Methode des Philosophierens , die in ihrer
Selbstüberschätzung sich als ein Organen der ^Yissenschaft gab, in
der That ein sehr schlechtes "Werkzeug sei. Er hebt hervor, wie
in dem berühmten Syllogismus nur eine Analyse, resp. Exemplifi-
zierung eines gegebenen Begriffs, aber niemals eine, zu einer neuen
Erkenntnis fortschreitende Synthese enthalten sei, und es mit dem
„Erschliessen" der AVahrheit also nicht weit her sei. Man bewege
sich immer im Zirkel, und wer das nicht erkenne, betrüge andere
und sich selbst: „Circulum comissisti, meque proinde et te decepisti"
(Qu. nih. sc. p. 7.). „Syllogismus nulla acquisita scientia," ist der
Satz, auf den er immer wieder zurückkommt, und den er in seiner
Schrift „Quod nihil scitur" (1581) unter den mannigfaltigsten Wen-
dungen bringt. Die „futilis Syllogismorum scientia" , die „futiles
disputationes Logicorum", die „Dialecticorum falacio", die „frivolae
Logicorum quaestiones", die „definitionominalis", die „Syllogismorum
17
düctrina scieutiis poraiciosa" kann er nicht genug blossstellen
(a. a. 0. p. 1, 5, 6, 7, 9, 86) und kann nicht witzige Wendungen
genug finden, die „Dialectica altera Ciroe" und die ^Dialectici
similes Aeneae" mit seinem Spotte zu geissein, lächerlich zu machen
und der Verachtung preiszugeben. „Apud hos syllogisantes" sagt
er, „iile doctior est, qui melius garrit" (a. a. 0. p. 86).
Wenn man bedenkt, dass noch Kant gegen die falsche Spirz-
findigkeit der vier Formen des Syllogismus schrieb, dass man erst
nach Kant sicli von dem Despotismus der alten Logik nach und
nach befreite, und dass sicli selbst ein Kant, zu seinem Nachteil, in
einzelnen Punkten noch sßhr von ihr imponieren Hess, so wird man,
denke ich, Sanchez' kritisches Vorgehen nicht zu gering anschlagen.
Auffallend ist, wie Sanchez' Polemik gegeü das logische Formel-
wesen, das man Philosophie nannte, nun bald in den Hauptver-
tretern der Philosophie, jedenfalls durch Sanchez mit veranlasst, zum
charakteristischen Ton wird. Bei Bacon und Deskartes sind An-
klänge an Sanchez unverkennbar. So lesen wir im Xovum Organum
(1620): „Logiea inutilis est ad inveutionem scientiarum'' (aph. 11).
„Logica quae in abusu est, ad errores stabilendos valet potius quam
ad inquisitionem veritatis, ut magis damnosa sit, quam utilis" (aph. 12).
I'nd ähnlich in aph. 13 u. 14. Es ist ganz das Gleiche, was schon San-
chez sagte: „Der Syllogismus, das Verfahren der Logiker, ist für die
Erkenntnis nicht nur von keinem Nutzen, sonderit sogar hinderlich,
verderblich und deshalb verwerflich." Auch bei Bacon ist es haupt-
sächlich Aristoteles, der angegriffen wird, der für alle Sünden der Scho-
lastik büssen muss : „Primi generis (Sophisticae) exemplum in Aristotele
maxime conspicuum est, qui philosophiam naturalem dialectica sua cor-
rupit. . ." (aph. 63). Von den zahlreichen Stellen aus Deskartes' „Regulae
ad directionem ingenii" (Oev. ed. p. Cousin XI p. 207, 255, 279 f. 288 f.
295), seiner am meisten polemischen Schrift (Amst. 1701), möge hier
nur die folgende angeführt werden : „ Or pour se convaincre plus com-
pletement que cet art syllogistique ne sert en rien ä la decouverte de
la verite, il faut remarquer que les dialecticiens ne peuvent former
aucun syllogisme qui conclue le vrai, sans en avoir eu avant la matiere,
c*est-ä-dire sans avoir eonnu d'avance la verite que ce syllogisme
developpe. De la il suit que cette forme ne leur donne rien de
nouveau; qu'ainsi la dialectique vulgaire est completement inutile ä
celui qui veut decouvrir la verite, mais que seulement eile peut servir
3
18
äexposer plus facilement aux autves les vevites deja connues" (p. 256).
Diese Stelle ist gewiss interessant. Xicht nur sagt Sanchez in ver-
schiedenen Wendungen wiederholt dasselbe ; das darin Gesagte deckt
sich auch, und zwar bis auf den letzten Rest, mit Kants Ausfüh-
rungen über das analytische Urteil.
In seiner Geringschätzung alles diskursiven Denkens begegnet
sich Sanchez auch mit seinen beiden Landsleuten. Nur im Ausdruck
sind diese weniger präcis. Yom Raisonnement oder „Discours", wie
er es nennt, redend, sagt Montaigne: „C'est le soulier de Therasa-
menes, bon ä tous pieds." ÄhnlicJi Charron. (De la Sagesse I. 15.)
Unerlässlich erscheint Sanchez die Forderung einer neuen De-
finition der Erkenntnis und eine Klarstellung ihrer Grenzen. Hier
ist der Punkt, wo Sanchez sich zuerst in seiner positiven Richtung
mit Deskartes berührt. Um einen sichern Auknüpfungs- und ersten
Ausgangspunkt, ein in sich festes Prinzip der Erkenntnis zu finden,
entschhesst er sich, wie Deskartes, so lange alles in Zweifel zu ziehen,
bis er auf den zu suchenden zweifellosen Punkt stossen würde. „Ad
me proinde raemetipsum retuli omniaque in dubium revocans,' ac si
a quopiam nil unquam dictum, res ipsas examinare coepi : qui verus
est sciendi modus. Resolvebam usque ad extrema." (Qu. n. sc. p. 77.)
Die Übereinstimmung dieser Stelle mit den betreffenden Geständ-
nissen Dekartes' im Discours de la Methode (Op. II. p. 10 ff.) und
in den Meditationen, besonders in der ersten und zweiten, ist zu auf-
fallend. Freilich macht Sanchez den specifisch skeptischen Beisatz
„Inde initium contemplationis faciens, quo magis cogito, raagis dubito
nil perfecte complecti possum", und an einer andern Stelle (a. a. 0. 132)
„Quoque magis rem contemplor magis dubito." Das ist deutlich und
lässt nicht verkennen, wie doch auch wieder ein grosser Unterschied
ist zwischen Sanchez und Deskartes. Bei letzterem tritt doch gleich
von vornherein die Betonung der nur interimistischen Geltung seiner
Zweifel deutlich hervor. Dasselbe gilt von Bruno (dubitemus inte-
rira). Bacon hat diesen Unterschied besonders herausgehoben und zu
einer Polemik gegen die Skeptiker verwendet (nov. org. I. aph. 37).
Trotzdem entfernen sich Sanchez und Deskartes nicht so weit von
einander, als es auf den ersten Anblick scheinea könnte. Jedenfalls
stimmen sie im Princip ihrer Methode überein. Aber diese Über-
einstimmung geht noch weiter. Sie erstreckt sich bis auf den Gang
der Untersuclmngen im Einzelnen. Und das Resultat beider? Des-
19
kartes findet, dass im Bewusstsein seiner selbst die einzige unmittel-
bare und uuanzweilfelbare Gewissheit liegt, das ^Yissen vom Sein.
Sanchez kommt ihm hierin nahe. Er sagt: „Certior cnim sum, nie
et appetitum habere et voluntatem: et nunc hoc cogitare, modo illud
fugere, detestare, quam templum autSoratum videre." (Qu.u. sc. p. 58.)
Und vorher sagt er: „Certus quidera sum, me nunc haec, quae scribo,
cogitare, velle scribere, et optare, ut vera sint." Mau sieht, dass es
sich hier genau um dieselben Überlegungen handelt, die Deskartes
zu seinem strikten „cogito, ergo sum" geführt haben. Indessen
schaut bei Sanchez auch hier wieder der ausgemachte Skeptiker
heraus, wenn er fortfährt: „Sed cum considerare uitor, quid sit, haec
cogitatio, hoc velle, hoc optare, . . . saue deficit cogitatio, frustratur
voluntas, increscit desiderium ..." (p. 57). Sanchez' Denkweise ist
zu sensualistisch , sein Misstrauen gegen alles diskursive Denken zu
gross, als dass er, wie Deskartes, von der wahrgenommenen unmit-
telbaren Innern Gewissheit des eigenen Seins, deduktiv weiter gehend,
zu einem, von ihm selbst unbezweifelten, positiven System des Wissens
hätte fortschreiten mögen. Er schlägt diese unmittelbare Gewissheit
von unserer Innern Funktion, obgleich sie auch nach ihm die ein-
zige unzweifelhafte Gewissheit ist, die wir überhaupt haben können,
trotzdem sehr gering an. Sanchez ist niclit nur zu sehr Skeptiker,
sondern auch zu sehr Sensualist. Sein Dogma ist ja: „Omnis a sensu
cognitio est" (Qu. n. sc. 40). Und: „Cognitio omnis a sensu trahitur.
Ultra haec omnia confusio, dubitatio." Es ist ihm also Bedürfnis,
in die Prüfung der Sinne und der Sinneserkenntnis näher einzutreten.
Sanchez kann den Satz, dass alle Erkenntnis aus den Sinnen stamme,
nicht von sich weisen. Er erkennt ihn an. Aber trotzdem ist er sehr
weit von Bacons empiristiscliem Dogmatimus entfernt, der durch die
Sinne und ihre Erfahrung zur Wahrheit und Gewissheit über alle
Dinge gelangen zu können vermeint. Sanchez will zweifeln und
eingehend prüfen. Aber, unter dem Einfluss des Neuplatonismus
stehend, von vornherein überzeugt, dass Sinneäerkenntnis oder Er-
fahrung uns gar keine Erkenntnis vom Wesen der Dinge, von den
Dingen an sich, geben kann (Sensus solum exteriora videt, nee cog-
noscit) und ganz unzulänglich mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln
versehen, welche die vorgenommenen Untersuchungen erheischt
hätten , konnte er auch auf diesem Wege sich nicht über seinen
Skepticismus erheben. Trotzdem gelangte er, wenigstens annähernd,
20
zu Resultaten, die nicht nur der erste Hcliritt . waren, der zum theo-
ro tischen Idealismus fuhren sollte, sondern die uns sogar schon an die
exakten Bestimmungen der heutigen Wissenschaft erinnern können.
Unter den Sinnen interessiert Sanchez vor allen der Gresichts-
sinn, als der vollkommenste für die Auffassung der äussern Welt.
Sanchez findet, dass dieser oberste und höchste Sinn, der doch alle
andern an Genauigkeit und Fähigkeiten weit übertrifft, den grössten
und mannigfaltigsten Irrtümern unterworfen ist. Der Skeptiker
koiinnt nun auf eine ganze Reihe von physikalischen Beobachtungen
und selbst Experimenten zu sprechen, besonders auf dem Gebiet der
Strahlenbrechung durch Medien, wie auf den bekannten Fall mit
der Münze in der Schüssel, die aus der nämlichen Entfernung, wo
sie soeben nicht mehr gesehen werden konnte, wieder gesehen
werden kann, nachdem das Gefäss mit Wasser gefüllt wurde. Auf
dem Gebiet der Strahlenreflexion begegnet er ähnlichen Rätseln.
Er unterzieht die Natur der Spiegel seinen Untersuchungen und
seinem ernstesten Nachdenken. Noch andere optische Erscheinungen
frappieren ihn; er berührt die Thatsache, dass man von zwei hinter-
einander vor das Gesicht gehaltenen Fingern den zweiten doppelt
sieht, wenn man den ersten fixiert und umgekehrt; ferner, dass sich
Täuschungen ergeben bei schiefgedrückten Augen, bei rück- und
seifwärtsgebogener Rumpfhaltung u. s. w. Er kommt dann auf alle
die zahlreichen Erscheinungen zu sprechen, die ihm aufgefallen sind,
über Farbenspiegelung und Farbentäuschung, dass \\ir z. B. in einem
Glas Wasser, in das die Sonne scheint, Farben sehen, obwohl wir
überzeugt sind, dass nach unserer sonstigen Vorstellung von Farbe
in dem Glas jetzt gar keine Farbe enthalten ist. Er erinnert daran,
dass wir an dem Hals der Ringeltaube, je nachdem wir den Kopf
wenden, an der nämlichen Stelle jetzt diese, dann eine andere Farbe
sehen; dass uns ein und derselbe Gegenstand bei Nacht anders ge-
färbt erscheint als bei Tage. (Qu. n. sc. 60 ff.) Es ist sehr natürlich,
dass sich ihm hier die Frage aufdrängt, welche von den verschie-
denen Farben dem Körper nun wirklich innewohnt; oder ob ihm,
da wir ihn ja unter verschiedenen Farben wahrnehmen, überhaupt
eine davon w i r k 1 i c li angehöre, ob überhaupt eine ihm
t hat sächlich anhafte? Man sieht, Sanchez steht hier vor einem
der weittragendsten und folgenschwersten Probleme der modernen
Philosophie und Wissenschaft.
21
Mit seinen Betrachtungen über die Wärme gelit es ihm nicht
anders, als mit der Farbe. Er kann nach der Annahme, dass das-
selbe Wasser entweder kalt oder warm sei, d. h, dass nach dem
Satz des Widerspruchs nicht beides zugleich sein könne, nicht
begreifen, wie es nun doch für die eine Hand, die aus Eiswasser
kommt, warm, und für die andere, die aus heissem Wasser her-
kommt, zu gleicher Zeit kalt ist. „Quid ergo caliditas?" ruft er
aus. „Quid frigiditas?" Es macht einen eigentümlichen Eindruck,
wie Sanchez alle diese Erscheinungen fast mit einer Art Gespenster-
furcht vor den Richterstuhl seiner Vernunft citiert. Er weiss sie
nicht zu erklären. Er kommt auch nicht zu dem klar gedachten,
bewussten Gedanken, dass diese optischen und anderen Eigenschaften
gar nicht etwas den Körpern Eigentümliches sind, sondern nur
unsere eigenen Wahrnehmungsweisen. Er wäre sonst kein Skep-
tiker; er hätte sonst ein Resultat der Erkenntnis gewonnen gehabt,
das er selber als ein hochwichtiges hätte anerkennen müssen. Da
wäre sein Skepticismus überwunden gewesen. Also den letzten
Schritt hat Sanchez nicht gethan; die letzte Consequenz, die ein
posititves Resultat gewesen wäre, hat er nicht gezogen. Aber
durch seine klare Einsicht davon, dass die Eigenschaften, so wie
unsere Sinne sie wahrnehmen, nicht ein in den Dingen Seiendes
und die Dinge Bestimmendes sein könnten; durch diese Einsicht,
die platonisch aussieht und für Sanchez gar nicht neu zu sein
scheint, die aber bei ihm einen ganz andern Sinn hat, als bei den
Piatonikern, da Sanchez, im Gegensatz zu diesen, der Überzeu-
gung ist, dass die Dinge eben nur auf dem Wege durch die
Sinne zur menschlichen Erkenntnis kommen könnten (und nicht
durch angeborene Ideen derselben (p. 68): — durch diese Einsicht
hat Sanchez die Consequenz der Deskartes-Hobbes-Locke'schen Lehre
von der Subjectivität der sogenannten sinnlichen Qualitäten der Dinge
nahe gelegt. Das ist Sanchez' . Bedeutung. In diesem Sinne darf
er als der erste Anreger gelten nicht nur der idealistischen oder phä-
nomenalistischen Richtung, welche die tiefsten späteren Systeme
nach ihrer metaphysischen Seite hin charakterisiert, sondern auch
jener eigentümlichen Fassung und Ausbildung der von sinnenphysio-
logischen und psychologischen Betrachtungen ausgehenden, im Kanti-
schen Kriticismus kulminierenden Erkenntnislehre, die der Stolz und
die Stärke der modernen Philosophie ist.
22
Alle Elemente, aus denen heraus die moderne Philosophie sich
entwickelt hat, alle ihre Hauptrichtungen finden sich schon in San-
chez angedeutet. Er ist nicht nur, yne oben hervorgehoben wurde,
der Vorläufer Dekartes' mit Rücksicht auf dessen „cogito ergo sum"
und jener Philosophie, die die Welt der Erfahrung als objektiv real
leugnet; es ist fast evident, dass auch Bacon der Philosoph des
„spes una in inductione vera", der, wie aus seinen polemischen Äusse-
rungen hervorgeht, die Skeptiker genau kannte, nicht nur in seinen ne-
gativen Elementen, als Polemiker gegen syllogistisches Denken und
den vermeintlichen Aristoteles, sondern auch in der positiven Richtung,
die ihn zu seinem ausgeprägten Empirismus führte, bedeutend durch
Sanchez angeregt wurde. Denn das, was dem ]S^ovum Organum
als hauptsächlichstes positives Prinzip zu Grunde liegt, die Forderung
der Xaturbeobachtung , des Experiments und der Induktion, kann
man nirgends ausdrücklicher betont finden als bei Sanchez. „Qui recte
judicare vult, res contempletur (p. 88). Duo sunt inveniendae veri-
tatis media Ea vero sunt experimentum judiciumque , quorum
neutrum sine alio stare recte potest." Damit stimmt indes auch
Deskartes überein. Ja es scheint geradezu eine freie Übersetzung
des Satzes von Sanchez zu sein, wenn er in den „regulae", wovon
ich leider den lateinischen Urtext nicht vor mir habe, sagt, „qu'il
n'y a que deux voies ouvertes ä rhomme pour arriver ä une con-
naissance certaine de la verite, l'intuition evidente, et la deduction
necessaire" (p. 278). Im Princip sehen wir demnach Sanchez,
Bacon und Deskartes übereinstimmen. Aber sie gehen sehr aus-
einander in der Anwendung desselben. Sanchez findet beide Mittel
gleich unsicher, gleich unzulänglich, und hat nichts eiligeres zu
thun, als auch durch diese Überlegungen wieder auf sein Resultat,
quod nihil scitur zurückzukommen. Er bleibt deshalb auch hier
innerhalb der Grenze des Negativen stehen. Bacon und Deskartes
befinden sich in dem gemeinschaftlichen Gegensatz zu ihm, dass sie
zu den beiden konstatirten Erkenntniswegen Vertrauen haben.
Sie unterscheiden sich aber bekanntlich selber wieder von einander
dadurch, dass der erstere, ausdrücklich sowohl wie thatsächlich, auf
die Induktion (Experiment), der letztere aber auf die Deduktion in
Verbindung mit der Synthese auf Grund der Intuition (more geo-
metrico) das Hauptgewicht legt. Indessen lässt sich vielleicht nicht
nur auf Bacon und Deskartes, sondern sogar auf Locke ein un-
23
mittelbarer Einfluss Sanchez' naclnveiseu. Wenigstens ist eine
Stelle in Sanchez sehr frappant. Einen der Hauptzüge der Locke-
schen Psychologie , ja gewissermassen das Grrundprincip derselben
bildet dessen Dreiteilung der Vorstellungen, nicht jene in Yorstel-
lungen primärer, sekundärer und tertiärer Eigenschaften, sondern
jene in Vorstellungen, die wir erstens aus den äussern Sinnen
haben (sensation), zweitens solche, die wir gewinnen durch ein Auf-
merken auf innere Vorgänge in uns (reflection), und endlich in
solche, die aus beiden fliessen („Ideas of both Sensation and reflection").
„External objects furnish the mind with the ideas of sensible
qualities, which are all those different perceptions the produce
in us; and the mind furnishes the understanding with ideas of its
own Operations." Nun sagt Sanchez wörtlich: „Tria tamen sunt
quae a mente diversiraodo cognoscuntur. Alia omnino externa sunt,
absque omni mentis actione. Alia omnino interna quorum quaedam
sine mentis opera sunt, alia non omnino sine hac; alia partim externa
partim interna. Deinde illa se per sensus pruduunt; ista nullo modo
per hos, sed immediate per se; haec denique partim per hos, par-
tim per hos, partim per se" (a. a. 0. p. 56).
Sanchez Hauptwerk, „Quod nihil scitur" ist ein kleines Büch-
lein von kaum hundert grossgedruckten Oktavseiten und hat einen
fatalen Titel; aber es enthält, wie aus dieser Darstellung hervor-
gelien mag, trotz vieler voluminöser Folianten, an denen auch seine
Zeit nicht arm ist, ganze Nester fruchtbarer, entwicklungsfähiger
und, wie wir wissen, wirklich zur Entwicklung gelangter Gedanken-
keime. Es dürfte deshalb gerechtfertigt sein, w^enn wir uns bei
Sanchez, der im allgemeinen zu wenig berücksichtigt zu werden
scheint, etwas länger verweilt haben. Gerkrath hat in seinem Werk-
chen über Sanchez („Fr. Sanchez, Ein Beitrag zur Geschichte der
philosophischen Bewegungen im Anfang der neuern Zeit. Wien 1860")
eine ziemlich ausführliche Darstellung des Lebens, des Charakters
und der Lehre unsers Philosophen gegeben, die geeignet ist, die
wärmsten Sympathien für ihren Helden zu erwecken. Allein San-
chez' Stellung in der Geschichte der modernen Philosophie und sein
Verhältnis zu Bacon und Deskartes ist trotzdem niclit genug präci-
siert und seine Bedeutung für den ganzen Gang jener Entwicklung
nicht hinreichend gewürdigt. Besonders sind die beiden entscheiden-
den Richtungen seines Denkens, durch die er gerade Bedeutung
24
hat füi- die Geschichte der Philosophie, seine Ansichten von der
formal-logischen (syllogistischen) Methode und die Ergebnisse seiner
Reflexionen über Sinneserkenntnis, in dem breiten Gang der Ana-
lyse zu -wenig herTorgehoben , besonders die letztere. Yon einem
Zusammenhang Sanchez' im letzteren Punkte mit der für die ganze
moderne Weltanschauung entscheidend gewordenen Sinnen-Erkeunt-
nis-Theorie bei Deskartes, Hobbes, Locke findet sich noch nicht die
leiseste Andeutung.
3.
Zwei charakteristische uud für die Folgezeit wichtig gewordene
Lehren Deskartes', die von der ursprünghchsten Gewissheit im Selbst-
bewusstsein, und die von den Sinnesqualitäten sind es, die zuerst
von Sanchez berührt wurden. Aber Sanchez ist nicht der einziffe.
der liierin mit Deskartes in vergleichende Betrachtung gezogen zu
werden verdient. Es ist noch ein anderer, der diesen Problemen
nahe kommt und deshalb in der Entstehungsgeschichte dieser ganzen
Richtung eine nähere Berücksichtigung erheischt. Es ist dies der
Italiener Tommaso Camp an eil a (1568 — 1639). Auch von ihm
kann man sagen, dass er, wenigstens mit einem Fuss, bereits den
Boden def modernen Denkens betreten hat. Campanella kann nun
zvrar nicht als Vorgänger Deskartes' betrachtet werden. Seine Werke
erscheinen 1637; die hier hauptsächlich in Betracht kommende
Methaphysik erst 1638. Deskartes' Disc. d. 1. Meth. und Dioptrik,
die beiden Schriften , die schon jene gedachten Theorien enthalten,
erscheinen ebenfalls 1637. Aber auch umgekehrt konnte Deskartes
nicht von Campanella beeinflusst sein.
Um so auffallender ist der nicht zu verkennende Parallelismus
in dem Gedankengang beider Philosophen. Diese Übereinstimmung
wird um so auffallender bei der Betrachtung der grossen Gegen-
sätze beider in Charakter und Schrift: dort der hochpoetische, feurige
Calabreser, in dessen mächtiger Phantasie die Gedanken zu über-
raschenden Bildergestalten werden, der, verwandt dem Geiste eines
Bernard von Clairvaux, seinen philosophischen Gedanken, neben der
systematischen Darstellung, in schwungvollen Hymnen und Cantaten
Ausdruck giebt; auf der andern Seite der ruhige, klare, besonnene
^[athematiker. Campanella ist in seinem Denken noch so schwär-
merisch ausschweifend, in seiner Auffassung der Welt und der Natur
25
noch so phantastisch, und in seiner Darstellung noch so unwissen-
schaftlich, poetisch überschwänglich und mit so viel scholastisch mittel-
alterlichem Ballast umgeben, dass der bestimmende Einfluss seiner
Gedanken dadurch sehr geschwächt wurde. Namentlich musste er
von Deskartes, der alle den Fehlern Campanella's entgegengesetzte
Tugenden besass, weit überholt werden. Sein Denken an und für
sich liegt so gut wie das des Deskartes in der modernen Richtung.
Dies zeigt sich schon darin, wie er mit Petrus Ramus, Sanchez u. a.
nicht nur gegen den mittelalterlich-scholastischen, sondern gegen
Aristoteles überhaupt in der energischsten Weise Front macht.
Zwei Momente sind es, die wie ein roter Faden das moderne
Denken durchziehen und sein eigentlichstes Wesen bestimmen, die
sich in Campanella schon deutlich zeigen und ihn zu einem Mo-
dernen stempeln. Das ist erstens der Zweifel an den Resultaten
einer fast ausschliesslich auf dem Wege rein formaler , rein logi-
scher Yerstandesfunktionen zu Stande gekommenen Philosophie
und an der Zulänglichkeit dieser Funktionen und der menschlichen
Vernunft überhaupt, verbunden mit der kritischen Forderung einer
strengen Prüfung des Geschäftes der Vernunft und der eines zweifel-
fi'eien (rationalistischen) Ausgangspunktes alles Denkens. Das zweite
ist ein Rekurrieren von der rein diskursiven Denkweise, von der
ausschliesslich deduktiven Methode des Philosophierens auf die Sinnes-
erkenntnis, auf die Erfahrung, an die sich gleichermassen wieder
der Zweifel heftete. Bacon gibt in der oben erwähnten Polemik
gegen die Skeptiker eine präcise Formulierung dieses Verhältnisses.
„Die Weise derer," sagt er, „welche den Zweifel festgehalten haben,
und unser Weg stimmen in ihren Anfängen gewissermassen überein ;
aber in dem Ausgange trennen sie sich sehr weit und gehen in ent-
gegengesetzter Richtung auseinander; jene sagen schlechtweg, dass nicht
gewusst werden könne ; wir, dass nicht viel auf dem bisher üblichen
Weg geAvusst werden könne; jene vernichten das Ansehen des Sinnes
und des Verstandes; wir sinnen auf Hilfsmittel für denselben" (a. a. O.).
In Deskartes und Bacon treten die beiden Richtungen schon
getrennt auf. In Campanella liegen sie, wiewohl weniger deutlich
entwickelt, oder vielleicht gerade desshalb, noch neben einander.
Dieser steht dem Skepticismus näher; jene sind bereits beim Dog-
matismus angelangt. Beide erwähnte Denkrichtungen, kritisch in
ihrer innersten Natur und gleichsam die ersten Wurzeln des späte-
4
26
ren eigentlichen Kriticismus , liegen zusammen schon der dogmati-
schen Philosophie schöpferisch zu Grunde, so dass die Behauptung
nicht allzugewagt erscheinen dürfte, dass sämmtliche dogmatische
Systeme der neuern Philosophie aus rein kritischen Bestrebungen
und Tendenzen hervorgewachsen sind. Diese Systeme waren
auch nur einzelne Haltstationen des aus leisen Anfängen sich heraus
entwackelnden und emporringenden Kriticismus. Einmal die For-
derung eines zweifelfreien ersten Erkenntnisprinzipes aufgestellt
konnte man wohl eine Zeit lang glauben, ein solches gefunden zu
haben. Wie aber, wenn man, was nicht ausbleiben konnte, an diesem
wieder zweifelte? Wo stand man dann? Antwort: Yor der Fra-e
nach der Möglichkeit einer jeden Erkenntnis überhaupt, d i Ad-
dern Kant'schen Kriticismus. Dass Campanella schon in dieser Ent-
wicklungsreihe des modernen Gedankens innen steht oder wenigstens
am Anfang derselben, zeigt ein Einblick in seine Werke.
Stärker als irgendwo tritt bei Campanella immer und immer
wieder die Forderung hervor eines einstweiligen radikalen Zweifels,
bis em Satz gefunden sei, von dem aus die ganze Philosophie neu
angefangen werden könne. MitDeskartes stimmt Campanella nicht nur
in der Aufstellung dieser Forderung, sondern auch in der Art ihrer
Lösung, bis auf den Satz, den er als sichern Ausgangspunkt gefunden
zu haben glaubte, überein. Es ist die Thatsache von der unmittelbaren
GexN^ssheit des SelbstbeuTisstseins. Auch für Campanella ist dieser
Gedanke nicht neu. Bekanntlich findet er sich schon bei Augustinus.
Campanella hat noch nach der Art der Scholastiker die Gepflogen-
heit, alle Welt zu citieren und erst alle möglichen Autoritäten für
und wider gegeneinander ins Feld zu führen, bevor er mit seinen
eigenen Gedanken herausrückt, eine Manie, die unmittelbar nach
ihm, im Bewusstsein einer von allem Autoritätsglauben sich losrin-
genden Zeit, in das gerade Gegentheil umschlug. Er führt Augu-
stinus wörtiich an. Und auch hier möge die Stelle folgen. Campa-
nella ist im Gegensatz zu den antiken Skeptikern (den Jüngern
Akademikern) überzeugt, dass die Zweifel zu überwinden sein müssen.
Er fahrt fort: „ contra Academicos convincit Augustinus in XI
de civ. Dei, c. 24, 25, 26, ubi certissima esse, inquit, haec tria nobis
videhcet, nos Esse, Scire et Yelle. IS^am, inquit, nos esse novimus
absque dubio et falsitate, ac nostrum esse diligimus ac nosse: et in
his tribus nulla nos falsitas verisimilis tiirbat, si quidem circa illa
27
objecta erramus, quorum notitiam habemus ex illorum speciebus
aut motibus illatis ab ipsis: qui cum similes sint aliis, possunt nos
decipere iit unum pro alio accipiamus, vel quia non totaliter reprae-
sentant, At nostri Esse, uostrique Scire, uostrique Velle, nulla est
species aut motio phantastica, sed praesentia perennis. Itaque circa
heac falli non possumus" (Met. 32). Es ist nicht unmöglich, dass auch
Deskartes durch Augustin zu seinem so viel genannten Satze geführt
worden ist. Die starke Verwandtschaft der ganzen Deskartes'schen
Denkrichtuug mit der Platonisch-Augustinischen lässt es sogar sehr
wahrscheinlich erscheinen. Aber die obige Stelle, die sehr interes-
sant ist, zeigt zugleich, welchen grossen Sclu-itt, oder besser, welchen
bedeutenden Gedankenfortschritt Deskartes machen musste, um zu
seiner Formulierung dieses Gredankens zu kommen.
Der entscheidende Fortschritt in der Deskartes'schen Formu-
lierung aber und ihr bedeutendster Unterschied von den vorherge-
henden besteht in der Betonung des „cogitare" gegenüber dem „velle,
nolle, optare, fugere" und den andern seelischen Funktionen. Wenn
es nun auch ganz unrichtig ist, das kartesianische „cogito" mit dem
engen „ich denke" zu übersetzen, indem Deskartes ausdrücklich
alle seelischen Funktionen darunter verstanden haben will (op. I. 10),
so ist doch auf der andern Seite nicht zu verkennen, dass das „cogi-
tare" bei ihm prävaliert, und das mit Recht; denn es muss, ausge-
sprochen oder unausgesprochen, bei jeder bewussten Funktion mit
dabei sein; denn es bedingt das Bewusstsein des Yorstellens im Ge-
gensatz zum Bewusstsein der Vorstellung; darum nicht „volo", nicht
„repugno", nicht „opto", nicht „puto", nicht „sentio", sondern
„cogito ergo sum". Dass übrigens Deskartes' Fassung des „cogitare"
keine ganz klare war, zeigt am besten Lockes Polemik gegen Des-
kartes' Auffassung von der immer denkenden Seele.
Die Verwertung dieses Satzes und der sich daran schliessende
Gedankengang ist indes ganz der gleiche bei Campanella wie bei
Deskartes. Aus der Gewissheit des Selbst schliesst Campanella auf
die Gewissheit der Existenz Gottes, dessen Idee, die wir in uns vor-
finden, nicht von uns selber, als von endlichen Wesen herrühren
kann, sondern von dem unendlichen Gott selbst in uns gelegt sein
muss. Ein Vergleich mit den Meditationen Deskartes', speciell mit
der dritten, zeigt, dass die Ähnlichkeit, man kann sagen Überein-
stimmung beider nicht grösser sein könnte.
28
Mit seinem (psychologischen) Gottesbeweis stellt sich Campanella
eigentlich auf den Standpunkt der Annahme von angeborenen Ideen.
Daneben steht nun ganz unvermittelt sein Sensualismus. Göttliche
Ideen sind uns angeboren: die weltlichen Dinge erfahren wir durch
unsere Sinne und nur durch diese. Die von den Philosophen eben
jener Periode häufig vertretene Lehre von einer zweifachen Wahr-
heit ist ge Wissermassen ein Analogen hierzu. „Neque propterea ne-
gamus ideas," sagt er und fährt dann fort: „Participationes autem
divinae entitatis sunt ideae, ut infra docebimus et scientia Angelorum
est per has ideas, sed non quasi formulas, domus, cytherae, anuli,
quae si sunt et in anima, profecto omnis cogitatio fiet per excita-
tionem a sensilibus in lumine divinitatis, cuius particeps anima cog-
nationem habet cum eis" (Met. p. 44). Campanella's Sensualismus
tritt in den betreffenden Partien seines Werkes so schroff auf als
irgendwo. An dieser Stelle indes scheint der Piatonismus bedeutend
zu prävalieren. Man darf nicht vergessen, dass sein Denken sich
streng an die religiöse Richtschnur hält. „Quopropter voluntas
veritatem agnoscere de humanis et divinis rebus ad doctorem con-
fugere oportet indubitata fide dignum, et non invenimus talem nisi
Deum." Indes kommt der Sensualismus dabei nicht zu kurz. Der
letztere Satz war, man sollte es kaum vermuten, sogar schon die
Wendung dazu. „Dens autem duobus ad nos loquitur viis, nempe
vel res ipsas producendo, vel revelando humano ..." (Met. p. 2).
Yon Antonius, Bernardus und Chrysostomus sagt er: „Mundum vo-
cant Dei codicem: et," fährt er fort, „profecto sie est, quoniam hie
Dens scribit omnes conceptus suos." Aus diesen Prämissen entwickelt
sich ihm von selbst seine Erkenntnislehre und Psychologie: „Hunc
autem," geht es nach einigen Sätzen weiter, „codicem legimus et
discimus per sensus exteriores, et ex sensationibus multis fit
memoria, quae anticipatarum sensationum est conservatio, ex me-
moriis experimentum." Das ist Sensualismus, ausgeprägter Sensua-
lismus. Man glaubt fast einen Condillac zu hören: und doch macht
Campanella gerade hier den Versuch, die beiden feindlichen Ele-
mente seines Denkens, Piatonismus und Sensualismus, mit einander
auszusöhnen, zu vereinigen. Aber wie in obiger Stelle der Schwer-
punkt im Piatonismus liegt, so hier im Sensualismus.
„Ecce enim S» Augustinus et Lactantius negant exstare anti-
podas et sunt sapientes et sancti. Christophorus Columbus navigans
29
in alterum hemisphaerium testatur, exstare antipodas, utri credendum
est? Profecto Columbo testi per sensum ex libro Dei, non Augustino
opinanti de schola humana" (Xet. p. 3). Würde man diese Stelle
nicht eher in Bacon suchen, als bei Campanella? Und erst, wenn
er sagt: „Propositiones universales a sensu accepimus per induc-
tionem" (a. a. 0.)! Oder von den „universalibus regulis, Xunquam
Veras (eas) dicimus, nisi fuerint a sensibus approbatae, et cum obli-
viscimur, aut dubitamus, denuo ad sensum recurremus, consoleutes
Codicem Dei".
Sätze wie die folgenden: „Nee intellectus intelligit quidditatem, .
quae non sentitur, nihil est in intellectu, quod prius non fuerit in
sensu (Met. p. 7). Mhil enim seit (vid. mens) quod non senserit",
(Met, p. 57) sind deshalb für Campanella selbstverständlich. Soweit
indes Campanella von der dogmatischen Methode eines reinen Ra-
tionalisten wie Deskartes, mit dem er im Grundprinzip ja überein-
stimmt, sich entfernt hält, und vielmehr den Glauben an die Stelle
der höheren Yernunfterkenntnisse treten lässt, wenigstens diese Sätze,
wenn er sie auch Erkenntnisse nennt, als Glaubenssätze behandelt,
so entfernt bleibt er, gleich Sanchez, dem entwickelten empiristisch-
dogmatischen Denken. Der Satz „Sensus autem testatur de rebus
uti sunt" sieht sehr verdächtig aus. Allein er ist wohl in einem
sehr restriktiven Sinne zu nehmen. „Sensus autem testatur de rebus
uti sunt, imaginatio vero uti nos putamus esse; itaque autoritas
opinantium nulla est contra testes." In diesem Zusammenhang
klingt er schon anders, und aus weiterer Yergleichung wird es bis
zur Evidenz klar, dass wir auch hier nicht mehr und nichts weniger
haben, als die bei Sanchez, Bacon, Deskartes u. a. gleichmässig auf-
tretende Opposition gegen Autoritätsglauben und die falsche Schätzung
und Überschätzung der schliessenden Erkenntnisthätigkeit , gegen
den Syllogismus. Nur, „si utrique opinantes, credendum est sanc-
tiori, si tamen alter non meliores offert Syllogismus"
(a. a. 0.) Das also war des Pudels Kern!
Campanella verwahrt sich ausdrücklich gegen die Meinung, als
ob wir durch Sinneserfahrung vom Wesen der Dinge etwas erfahren
könnten. Wiederholt betont er in diesem! Sinne, dass wir nichts
wissen und nid ts wissen können. „Qui vero dicunt se scire hoc
quod nihil s.itur, rectus sapere" (Met. p. 30). Es ist deshalb
nicht zu verwi ndern, wenn er trotz seines Sensualismus Piaton bei-
30
stimmt, dass es durch die Sinne und von Sinnendingen keine Er-
kenntnis gebe, sondern nur Meinungen und Täuschungen: K'on esse
scientiam de sensibilibus sed opinionem, quoniam alliis aliter apparent,
et sapores, et odores, et colores, et pondera, et soni, et calor et
frigus. Immo aliter sensibus brutorum ac nostris, et aliter nostris
sanis quam aegris, et vigilantibus quam dormientibus (Phy. 3).
Also auch in Campanella dieses eigentümliche Zusammensein
von Sensualismus und Piatonismus. Aber Campanella wird kein
Skeptiker. Den Zweifel um seiner selbst willen verwirft er sogar
als etwas Unmoralisches. Campanella glaubt an die Mögüchkeit
menschlicher Erkenntnis. „Haec dubitatio imperfectionem scientiae
humanae ostendit, non autem nihilitatem." Er glaubte ja, wie wir
gesehen haben, im Satz vom Selbstbewusstsein bereits eine sichere
Gewissheit gefunden zu haben, nicht weniger in der sich ihm daraus
durch den psychologisch-ontologischen Schluss ergebenden Gewissheit
von der Existenz Gottes. Wie aber nun mit den Dingen der äussern
Welt? Campanella's sensualistischer Standpunkt ist der, dass wir
von diesen nur durch die Sinne wissen können: darum heissen sie
ja sinnliche Dinge. Nun ist sich Campanella allerdings noch nicht
wie Hobbes, Malebranche und Berkeley der Schwierigkeit jenes
Problems bewusst, wie der Geist als ein Denkendes die aus
gedehnten Körper fassen möge, indem ja eine ungeheure Kluft
beide zu trennen scheint; aber es ist ihm doch schon durch die
platonische Philosophie, die das Denken des Antiaristotelikers sehr
beherrscht, zur unzweifelhaften Gewissheit geworden, wie ja oben
gezeigt wurde, dass unsere Sinne nicht die Dinge an sich zu er-
kennen vermögen. Dass, wie Hobbes sich ausdrückt, „the indro-
duction of species visible and iutelligible passing to and fro from
the object, is worse than any paradox, as being a piain impossibility
(Hu. ^'■. p. 4), hatte schon Campanella klar erkannt.
Die Ansichten des in der Form der Darstellung seiner Ge-
danken noch sehr scholastischen Dominikaners über diesen Punkt
smd um so interessanter, als sie uns später zu einer Yergleichung
mit denen des viel moderneren Locke Yeranlassung geben werden.
Campanella prüft die verschiedenen Theorien, die über diesen Gegen-
stand aufgestellt worden sind. Zunächst will er die nicht mehr
naturgesetzlichen, zu einem unmittelbaren göttlichen Akte greifenden
Erklärungsweisen ganz ausgeschlossen haben. „IS^os quaerimus Physio-
31
logismum in quaestione natural!, non miraculum: quod in naturalibus
etiam sanctus Augustinus" — eine Autorität muss bei Campanella
immer noch herhalten — „quaeri non debere docet. Nee enim Deus
in singulis intellectionibus et sensationibus miraculizat supra naturae
vires inoperans." Die „species visibiles" des Aristoteles, gegen den
er immer in erster Linie und besonders eifrig polemisiert, ver-
werfend, bemerkt er, dass Aristoteles und seine Anhänger nicht er-
klären, „quomodo (sensus) afficiatur speciebus, et deferat eas?" „Qua-
propter," fährt er fort, „Galenus spiritum extra oculum educit, ut
videre possit: Sed imperite, ut in Phys. docuimus. Quis enim re-
tinebit eum, flaute vento? et ne per se evolet in caelum?" Das ist
ja prächtig. Hören wir weiter: „Democritus tandem simulacra de-
fluere a lapide, et in sensum agere putat, esseque corporeos atomos
in tali figura volantes. Sed cur, inquam, a ventis non impelluntur,
cum praeterfluunt ? et cur conspectus lapis non deficit, si tot spoliis
continuo privatur, ut ipse ponit? (Met. p. 43. Vgl. Phys. p. 460.)
Campanella's Einwände mögen hie und da etwas sonderbar
klingen ; das wird man zugeben, dass sie geeignet waren, mehr und
mehr in ihm die Überzeugung zu befestigen, dass es „impossibile
esse simulacra Corporea Democriti et incorporea Peripateticorum,
ex rebus educi et ad sensus deferri" (a. a. 0). Diese Überzeugung
musste in ihm den Widerspruch, die Dinge, wie sie an sich sind,
nach ihrer eigensten Wesenheit durch die Sinne erkennen zu wollen
(welches die einseitige Consequenz des Sensualismus ist), nur um so
greller zeigen. Die prästabilierteHarmonie war aber bekannt-
lich noch nicht erfunden.
Wir haben gesehen, wie Sanchez an diesem Punkt im Skep-
ticismus stecken geblieben ist, weil er aus diesen negativen Instanzen
die Consequenz, die ein positiver Anhaltspunkt gewesen wäre, nicht
zu ziehen vermocht hat. Campanella hat sie gezogen. Das Re-
sultat ist allerdings kaum etwas anders als eine bestimmtere, be-
grifflichere, oder besser begreiflichere Formulierung der Platonischen
Lehre von einem (.irj ov, von der Nichtigkeit und Schattenhaftigkeit
der Welt der Erscheinungen. Er drückt sich klar aus: „Nos autem
diximus modicam immutationem sufficere ad sensationem" (Met. p.
43). Und noch frappanter : „Nullus enim sensus sentit rem sicut est,
sed sicuti afficitur" (Met. pag. 11. Vgl. auch Met. p. 6 u. Phy. p,
460). Es Messe den Sinn eines Schriftstellers und die Gedanken
32
einer Zeit gänzlich verkennen, wollte man diese Sätze Campanella's,
wie auch ähnliche aus Sanchez (nihil sciri potest quin sit in nobis
(Qu. nih. sc. p. 2, oder: „Nee enim perfecte cognoscere potest quis,
quae non creavit" p. 53) in der nämlichen Bedeutung nehmen, wie
gewisse Sätze Kant's, mit denen sie dem Wortlaut nach ziemlich
übereinstimmen. So viel aber dürften die angeführten Stellen be-
weisen, dass mehr noch, als durch die Skeptiker, resp. Sanchez,
durch Campanella die Lehre von der Subjectivität der sinnlichen
Eigenschaften vorbereitet wurde.
4.
Mit vollem Bewusstsein und mit aller Klarheit hat dann, und zwar
zuerst, Deskartes diese Lehre dargestellt. Sanchez und Campanella
sind ihre ersten Yeranlasser; Deskartes ist ihr eigentlicher Urheber.
"Wenn behauptet wird (Lewes, Gesch. d. Ph. IL 241 u. Halam,
Lit. Europ. UI. 157), dass, wenn man Deskartes die Erfindung
nicht streitig machen wolle, es doch feststünde, dass Hobbes die-
selbe zuerst veröffentlicht habe, so ist kaum zu begreifen, wie eine
solche Behauptung bewiesen werden könnte. Deskartes' Dioptrik,
die hauptsächlich für die fragliche Lehre in Betracht kommt, er-
schien mit dem Disc. de la Met. im Jahr 1637 , die Meditationen
aber 1641, nachdem Hobbes sie schon 1640 zu Paris gelesen hatte.
Yor 1642 erschien überhaupt nichts von Hobbes. (Vgl. Natorp,
„Deskartes' Erkenntnistheorie" S. 188.) Also ist obige Behauptung
grundlos, auch wenn man, wie es dort zu sein scheint, nur auf die
Meditationen Rücksicht nimmt, während doch, wie gesagt, die Diop-
trik in dieser Frage weit entscheidender ist. (Diop. I. 4, 5 p. 42 ff.
u. lY. 6, 7 p. 56 ff.) Es ist demnach sogar äusserst wahi-scheinlich,
dass Deskartes gar nicht ohne Einfluss auf Hobbes war.
Durch diese Lehre wurde Deskartes, der als Begründer des
dogmatischen Rationalismus so gross ist, zugleich der Anreger von
Hobbes und Locke, den beiden berühmten Begründern des Sensua-
lismus, trotzdem man gewöhnlich annimmt, dass nur in Bacon die
Impulse und Möglichkeiten dieser Richtung lägen.
Bei Deskartes treten indes die einschlägigen Gedanken nur
mehr wie gelegentlich auf, obwohl sehr bestimmt und sehr nach-
drücklich: „Non necessarium esse supponere, materiale quidpiam ex
objectis ad oculos nostros manare, ut lumen et colores videamus:
33
neque quidqiiam in istis objectis esse, quod simile sit ideis quas de
iis mente formamiis." (Op. II. p. 43.) Hobbes, in dessen theoretischer
Philosophie die erkenntnis-theoretische Tendenz vorherrscht, behandelt
sie schon mehr ihrer selbst willen, und hebt das Entscheidende mehr
heraus. Er schrieb eben auch nach Deskartes. Interessant ist die
zweifache Begründung seiner Sätze. Zunächst sind es erkenntnis-
theoretische Überlegungen, die ihn darauf bringen. Er sagt so:
„Because the image in vision consisting of colour and shape is the
knowledge we have of the qualities of the object of that sense; it
is no hard matter for a man to fall into this opinion, that the same
colour and schape are the very qualities themselves." Wenn nun
aber, wie Hobbes in der schon weiter oben angeführten Stelle fort-
fährt , die Einführung sichtbarer und erkennbarer Wesenheiten
(species) — „wich is necessary for the maintenance of that opinion" — ,
die vom Object zum Subject gehen, schlimmer als Widersinn ist,
weil eine bare Unmöglichkeit, so folgen für Hobbes daraus folgende
vier, die ganze Lehre deutlich präcisierende Sätze:
„That the subject wherein colour and image are inherent, is
not the object or thing seen."
„That there is nothing withaut us (really), wich we call
an image or colour. "
„That the said image or colour is but an apparition into us
of the motion, agitation, or alteration, which the object worketh in
the brain, or spirits, or some internal substance of the head."
„That as in vision, so also in conception that arise from the
other senses, the subject of their inherence is not the object, but
the sentieut."
Die nämlichen Gedanken wiederholen sich im Wesentlichen
im Leviathan. (Tgl. c. I.)
Diese, auf dem Wege der angeführten Überlegungen gewon-
nenen Überzeugungen sollen nun auch induktiv bewiesen und an
der Hand der Erfahrung klargelegt werden. Es ist interessant, dass
Hobbes bei diesem Greschäft auf alle die Fälle (oft die nämlichen
Beispiele wählend, wie etwa das vom doppelten Objekt bei der
Spiegelung oder beim kranken Sehen) wieder zu sprechen kommt,
nur in weniger breiter Ausführung, welche auch von Sanchez, Campa-
nella und teilweise auch von Deskartes ins Feld geführt wurdeui
alle die Beobachtungen, welche Sanchez zuerst stutzig machten und
5
34
Campanella zu einer noch wenig hewussten, unklaren und halben
Erkenntnis führten, die dann in Deskartes mit vollem Bewusstsein,
verbunden mit der ganzen Klarheit der Begründung, auftritt, bis sie
in Hobbes endlich ihre glücklichste Formulierung und ihren er-
schöpfendsten Ausdruck fand. Mit Hobbes ist daher diese Theorie,
die "wir am besten als die Lehre von der Subjektivität der sinn-
lichen Eigenschaften bezeichnen, an sich vollständig ausgestaltet.
Es ist ein Schritt — nur ein Schritt — aber ein fertiger, ganzer,
eine erstiegene Stufe auf der Leiter der Erkenntnisse. Hobbes bildet
einen Abschluss in der Gedankenentwicklung, die in ihren Haupt-
zügen vielleicht mit einiger Deutlichkeit in diesen Ausführungen
dargelegt sein mag.
Die folgenden Zeilen mögen noch kurz andeuten, zu welchen
Resultaten die gewonnene Erkenntnis mehr oder Aveniger direkte
Veranlassung gab.
5.
Vorbereitet wurde eine neue Wendung derselben durch Locke.
Nicht, dass Locke ihr diese Wendung schon gab; er bot nur die
Veranlassung dazu.
Zunächst ist in Locke sogar ein Rückschritt zu konstatieren.
Die Originalität Lockes in der Darstellung unserer Lehre besteht
bekanntlich in seiner L'^nterscheidung von „ersten" und „zweiten",
von ursprünglichen und abgeleiteten Eigenschaften. Nun soll durch-
aus nicht gesagt werden, dass diese Einteilung nicht Sinn und Be-
rechtigung habe. Aber die Art ihrer Fassung und besonders ihrer
Begründung bei Locke zeigt einen entschiedenen Rückschritt auf,
lässt Lockes Denken in diesem Punkt dem von Deskartes und Hobbes
nachstehend erscheinen. Ein Eingehen in den Lockeschen Gedanken-
gang soll dies zu zeigen versuchen.
Locke begründet seine Lehre von der Subjektivität der sekun-
dären Qualitäten durch dieselben Beobachtungen, die Sanchez,
C'ampanella und wohl schon manch Andere vorher auch zu Pro-
blemen aufgeworfen hatten. Derselbe Körper ist bei Nacht für uns
anders gefärbt als bei Tag. Daraus schliesst Locke, dass die Farbe,
sowohl die wir bei Tag, als die wir bei Nacht sehen, nicht etwas
dem Körper selbst Innewohnendes ist. So hatte auch Hobbes ge-
schlossen. Locke aber, der nun einmal auf eine Einteilung der
35
Eigenschaften hinaussteuert, ist der Meinung, dass analoge Fälle,
die analoge Schlüsse zulassen, nur für seine sekundären Eigenschaften
aufgezeigt werden könnten. Die heutige Nuturwissenschaft giebt
Locke Recht — und sie hat Grund dazu. Denn wenn die primären
Eigenschaften als objectiv reale Data bleiben, so kommt die Natur-
wissenschaft wegen der secundären Eigenschaften nicht in Yer-
legenheit. Sie erklärt sie einfach als Fui ktionen der erstem (als
Atom-Combinationen und Bewegungen). ^Ver nun aber auch die
erstem als phänomenal auffasst, der scheiiii den Naturwissenschaften
allen Grund und Boden zu entziehen. Diese haben sich deshalb
auch immer gegen eine solche Weltauffassung gesträubt. Ob mit
Recht oder Unrecht, ist hier nicht zu erörtern. Hier handelt es sich
nur um die historische Klarlegung der Consequenzen des Lockeschen
Denkens. Und dabei ist nicht zu verkennen, dass Locke die teil-
weise noch frappanteren Fälle, die seinen gleichen Schluss auch für
die primären Eigenschaften erheischt hätten, einfach übersieht. Ganz
abgesehen davon, was die spätere Wissenschaft bewiesen hat oder
nicht bewiesen hat, aus den Lockeschen Denk-Consequenzen ergiebt
sich für uns nur folgende Alternative: entweder ist sein Schluss
auf die Phänomenalität richtig — dann gilt er ebensowohl für die
primären als die secundären Eigenschaften; oder er ist ganz und
gar unrichtig, also auch in Bezug auf die secundären Eigenschaften.
Hobbes hatte dies eingesehen. Hobbes hatte constatiert, dass es
Fälle giebt, wo wir ein und denselben Gegenstand doppelt sehen,
und nun so geschlossen: derselbe Gegenstand kann unmöglich in
den beiden Vorstellungen sein. Keine der beiden Vorstellungen
prävaliert vor der andern. Also lassen sich Fälle nachweisen, dass
wir Vorstellungen haben, die sich von allen andern unsern Vor-
stellungen in keiner Weise unterscheiden, und die kein reales Ob-
ject haben können. Wenn die einen so möglich sind, warum
nicht alle? Deshalb hatte Hobbes der Gestalt gleicherweise wie
der Farbe subjektive Natur vindiziert.
Das that nun, wenn man der Sache genau nachsieht, eigent-
lich schon Deskartes.
Es ist am Ende wenig Gewicht darauf zu legen, dass Deskartes
in den Meditationen wiederholt hervorhebt, wie alle Dinge, die wir
als ausser uns vorstellen, leicht wohl nichts sein könnten als eben
nur Vorstellungen; und dass nur in der eigentümlichen Verbindung
36
mit dem Gottesbeweis die idealistische Denkrichtung, die in Deskartes
stark spuckte, so stark wie nie zuvor, nur hypothetisch verwendet
wurde und rasch eine realistische Wendung nahm. ^Yeit mehr in
die Wagschale fallend sind seine in den Betrachtungen über Wahr-
heit und Wesen der Geometrie dargestellten Ansichten über unsere
Raumvorstellungen. In Deskartes' Denken zeigt sich Eines sehr
wirksam: das ist die in allen seinen Ansichten sich stark geltend
machende, ich möchte sagen unbewusste Vorstellung jener Thatsache,
die Kant in seiner Lehre vom Raum als reine Anschauung,
als reine Form der Anschauung begrifflich klar formuliert hat.
Deskartes findet, dass wir in unsern (mathematischen) Raumvor-
stellungen vollständig frei, aber deswegen nicht mllkürlich ver-
fahren können, d. h. gehemmt durch nichts, das ausser unserem
Ich wäre oder nicht wäre, aber gebunden an ein uns innewohnendes
Gesetz und zwar mit derselben eisernen Notwendigkeit, wie ein
Körper in seinem "Verhalten an physikalische Gesetze gebunden ist.
Findet nun Deskartes, dass diese Yorstellungen, weil sie klar und
deutlich sind (nach der uralten, schon der Platonischen Philosophie zu
Grunde liegenden Voraussetzung, die auch Deskartes teilt, dass nämlich
alles was erkennbar ist, auch sei), dass sie nicht ein „Mchts", sondern
dass sie ein Etwas (res) sein müssten, so gründet er darauf, was hier
doch nach der Methode der ganzen alten Philosophie nahe gelegt
gewesen wäre, keineswegs den realistischen Beweis einer vom Ich ver-
schiedenen ausgedehnten Welt, sondern bleibt auch hier beim Phäno-
menalismus stehen. Mathematische Vorstellungen sind wahr, d. h.
sind nicht ein „Nichts"; aber sie brauchen deswegen nicht ausser dem
Ich, nicht ausser dem Denken und unabhängig von ihm zu sein. Das
gilt im übrigen, in hypothetischer Weise, wie oben hervorgehoben,
von allen unsern Vorstellungen. „Invenio apud me inummeras
ideas rerum, quae etiamsi extra me fortasse nullibi exi-
stant, non tamen dici possunt nihil esse." Ganz positiv sagt er
in der Dioptrik, dass die Bilder des Sehens nicht nur als von ihnen
entsprechenden Körpern ausgehend betrachtet werden könnten, son-
dern rein als Funktionen des (Innern) Auges; wornach doch also,
acht phänomenalistisch, unsere Vorstellungen die Welt wären, und
zwar nicht als ein Produkt, als Wirkungen aussersubjektiver Ur-
sachen, sondern als Produkt unserer eigenen Funktionen: „ita con-
cedendum est visus objecta posse percipi, non tantum modo actionis
37
vi, quae ex iis emanans ad oculos nostros diffuditur; sed etiani vi
illius, quae oculos inuata ad illa pergil" (Op. IL 40). Und uocli
bestimmter: „Obseivaudum praeterea, animam nullis imaginibus
ab objectis ad cerebrum missis egere ut aentiat, (contra quam com-
muniter Philosophi nostri statuunt)" (Op. II. 57). Selir interessant
sind die Gründe Deskartes' gegen die Annahme von „species"; doppelt
interessant in Yergleichuug mit denen Campanella's. Deskartes'
exaktes Denken tritt auch hierin zu Tage: „Cum enim circa eas
(imagines) nil considerent, praeter similitudinem earum cum objectis,
quae repraesentant, non possunt explicare, qua ratione ab objectis
formari queant, et recipi ab organis sensuum exteriorum, et demum
nervis ad cerebrum transvehi." etc. (p. 57). Das steht also fest,
„ideas quas sensus externi in phantasiam mittunt, non esse imagines
objectorum, saltem opus non esse ut eis similes sint" (a. a. 0.).
Hier ist demnach keine Rede von einer Bevorzugung der
einen Eigenschaften (als primärer) vor den andern (als secundären).
Ganz allgemein wird die Übereinstimmung von Vorstellungen (ideas)
mit objectiven Eigenschaften (räumlicher oder anderer) auf gute
Gründe hin geleugnet. Und doch hat die Lockesche Unterscheidung
zwischen primären und secundären Eigenschaften ihren Grund in der
Abhängigkeit Lockes von der Deskartes'schen Philosophie. Das wäre
aber, wie hier sofort erhellt, ohne ein grobes Missverständniss der Des-
kartes'schen Philosophie von Seiten Lockes oder einen "Widerspruch in
dieser Philosophie unmöglich. Dieser Widerspruch liegt nun wirklich
vor. Wenn wir auch nicht sagen wollen, dass Deskartes mit seinen Aus-
sprüchen die Idealität oder Phänomenalität der Aussenwelt positiv be-
hauptet habe, so liegt doch ein Widerspruch darin, alle Yorstelhmgen
(„ideas"), also auch die der Ausdehnung als nicht ähnlich den Eigen-
schaften der Dinge zu bezeichnen und nachher diese nämliche Vorstel-
lung, die doch so, wie sie ist, nur im Subject sein soll, zum ureigensten
Wesen der (aussersubjectiven) Dinge umzustempeln. Das ist ein
Widerspruch, der in der Deskartes'schen Philosophie nicht gelöst
ist. Deskartes' Naturphilosophie und Erkenntnistheorie beruhen auf
verscliiedenen, sich widersprechenden Grundanschauungen.
Und dass nun Deskartes gerade die Ausdehnung, das rein
Räumliche, das Formale an der Erscheinung, um mit Kant zu reden,
als das Wesen der nicht geistigen Substanz erklärt!
Mit dem Lichte der transscendentalen Ästhetik könnte man
38
eine eigentümliche Beleuchtung auf diese Lehre Deskartes, von der
Ausgedehutheit als dem einzigen absolut notM^endigen Merkmal
der Substanz der Körperwelt, gegenüber der denkenden, werfen
und sagen: was Kant in der Erfahrung (einer Körperwelt) als reine
Raumanschauung die apriorische Form nennt, die notwendige
Bedingung jeder empirischen Anschauung, das nenne Deskartes Sub-
stanz, und was bei Kant zufälliger empirischer Inhalt ist mit nur
aposteriorischem Wert, sei bei Deskartes Accidenz. Meiner Ansicht
nach hegt hier, ^ae oben schon leise angedeutet wurde, eine, wenn auch
nicht ausgesprochene, so doch tiefinnerliche Übereinstimmung Deskar-
tes'scher und Kant'scher Weltanschauung vor. Doch das nur nebenbei.
Locke hat nun diese Lehre Deskartes', die Identification von
Ausdehnung (Raum) und dem Innern Wesen der Körper bekämpft
und zu beweisen gesucht, dass „Extension and bodv nod the same«>
dennoch findet (und das ist das Eigentümliche) gerade seine be-
kannte Unterscheidung der Eigenschaften eine Erklärung nur in
der (unbewussten?) Abhängigkeit Lockes von dieser Lehre. Nur
unter dem Einfluss der Deskartes'schen Lehre von der ausgedehnten
Substanz erklärt Locke' die ursprünglichen Eigenschaften, wie er
sie nennt, die mit der Ausdehnung zusammenhängen, für objektiv,
für wirklich, in den Gegenständen existierend, und unsere Vorstel-
lungen davon für treue Abbilder derselben. In welche Widersprüche
er selber dadurch verwickelt wurde, werden wir später sehen. Zu-
nächst wird ihm folgender Umstand fatal. Um diese abbildenden
Yorstellungen und ihre Möglichkeit zu erklären, muss Locke wieder
auf die von Deskartes als ganz unnötig, als durchaus nichts erklärend,
ja als undenkbar hingestellte, von Hobbes für schhmmer als Wider-
sinn, für bare Unmöghchkeit erklärte und selbst von einem Cam-
pauella schon in ihrer ganzen Lächerlichkeit gezeigte mittelalterliche
Annahme von „species visible and intelligible", die vom Gegen-
stand aus in unser Auge gelangen sollen, zurückkommen. Locke
nennt sie „singly iinperceptible bodies", „insensible particles", „mi-
nute particles'-, „corpus clos of any other body^ - „And since the
extension, figure, number and motiou of bodies, of an observable
bigness, may be perceivedet a distance by the sight, it is evident
sorae smgly imperceptible bodies must come from them to the
eyes and thereby convey to the brain some motion, which produces
these ideas which we have of them in us« (Wo. L 113). Wie kommt
39
-es aber, dass diese rätselhaften Wesen, die sich Locke alle als „nii-
nute particles" denkt, in nns, um nur eines zu nennen, die wahre,
reale, so unendlich verschiedene Grösse der Körper gewissermassen
abbilden? Was Locke wohl geantwortet haben würde? Ebensowenig
ist begreiflich, was die Vorstellungen, von solchen corpuscles of an
-other body erzeugt, mit der wahren Gestalt jenes Körpers zu thun
habensollen, da Locke aus „the peculiar figures and bulks,
and the different degrees and modifications of their motions" dieser
„minute particles" nicht eben Grösse, Gestalt, Bewegung u. s. w. in
unseren Vorstellungen, mit denen Grösse, Gestalt und Bewegung
der Körper sich vollkommen decken sollen, erklärt, sondern daraus
nun Farbe, Wärme und die andern secundären Eigenschaften ab-
leitet (Ess. IL 8. § 9—22).
Die Deskartes-Hobbes'sche Lehre von den sinnlichen Eigen-
schaften wurde also von Locke auch trotz seiner bekannten weitern
LTnterscheidung einer dritten Art Eigenschaften keineswegs weiter
gefördert; sie wurde eher verwirrt. Wenn von Locke eine neue
Bewegung ausging , so musste sie von einem andern Punkt seine^^
Lehre ausgehen. Dieser Punkt liegt in seinen Überlegungen hin-
sichtlich des Begriffs der Substanz oder Materie.
Locke, der den primären Eigenschaften, als Eigenschaften,
objektive Realität zuschrieb, leugnet nun den Träger derselben, die
Materie oder Substanz. Er erklärt diesen Begriff, wie er überhaupt
zum Nominalismus neigt, für ein absolut leeres Wort, für eine müssige
Erfindung müssiger Philosophen. Locke hatte nun objektiv reale
Eigenschaften ohne Träger, Eigenschaften, die sozusagen in der
Luft schwebten.
Den Begriff der Substanz, als den wirklich merkmallosen Be-
griff eines unbestimmbaren Etwas, konnte Locke verwerfen; aber
er konnte damit nicht die Thatsache aus der Welt schaffen , dass
wir das, was wir Eigenschaften nennen, nicht in gleichmässigen
lleihen gesonderter Einzelheiten nacheinander oder nebeneinander
auffassen, sondern immer in bestimmten und constanten Gruppie-
rungen, d. h. immer in dieser notwendigen Beziehung auf Dinge
als ihre Träger. Das ist eine Thatsache, und darum ist die An-
nahme von objektiv- realen Eigenschaften, ohne dahintorliegende
(ohne ihre Eigenschafton allerdings ganz unvorstellbare) Dinge (Sub-
stanzen) ein Widerspruch. Die Eigenschaften haben, als objektiv-
40
real gedacht, ja keinen Grund (und Boden) mehr; sie müssen in
nichts zusammenfallen, d. h. ihre objektive Eealität, die Locke doch
behauptet, muss von einem consequenten Denken aufgegeben wer-
den; sie müssen für subjektiv erklärt werden. Das ist die Conse-.
quenz aus Lockes Polemik gegen die Substanz. Und zwar ist es^
wie wir gesehen haben, bereits der zweite Punkt, an dem daa
Lockesche Denken zu dieser Consequenz hindrängt. Wir brauchen
für unsere ganze Vorstellungswelt nicht nur keine aussersubjektiven
Dinge, sondern auch gar keine aussersubjektiven Ursachen anzu-
nehmen. Berkeley hat diese Consequenz gezogen und war damit
beim absoluten Idealismus angelangt: „]^[othing properly but persons
or conscious things really exist. All other things are not so muche
existences, as manners of the existence (ideas) of persons."
6.
Implicite könnte man diese Lehre am Ende schon in Hobbes
nachweisen. Sie kam dort nur nicht zu diesem Ausdruck. Die
eigentümliche Weise, wie sie bei Hobbes in Materialismus umschlug,
ist sehr merkwürdig. Doch soll hier nicht darauf eingegangen wer-
den. Jedenfalls ist es sehr einleuchtend, die folgerichtige Entwick-
lung des Berkeleyschen Systems aus Hobbes und Locke zu erklären.
Aber es ist das bekanntlich nicht der einzige Weg zu diesem Re-
sultate. Der Gedankenfortschritt von Deskartes zu Malebranche
führt auch zu Berkeley. Das ist längst anerkannt. Malebranches
Lehre von der Unfassbarkeit und Unerkennbarkeit der ausgedehnten
Substanz durch die denkende, es sei denn durch schöpferische Akte,
die Lehre also, dass wir alle Dinge nur in Gott schauen, d. h. dass
Gott die Vorstellungen derselben bei jeder Gelegenheit neu in uns
schaffen muss, legt den Berkeleyismus schon sehr nahe. Wozu eine
körpeiliche Welt, die doch nur der denkenden Geister wegen da sein
könnte, wenn diese denkenden Wesen so beschaffen sind, dass sie
von dieser Welt gar nichts erfahren würden noch könnten, wenn
nicht Gott die Vorstellung davon fortwährend in ihnen erschüfe?
Ist diese Welt als eine realgeschaffene dann nicht ganz unnötig?
Berkeley hat verhältnismässig wenig Anhänger gefunden und
vielleicht von allen Philosophen den meisten Spott erfahren. Was
sollte man auch von einer Philosophie, die in ihren Grundsätzen,
wie es ja klar zu Tage lag, dem gesunden Menschenverstand zu-
41
widerlief und alles Urteil gesunder Sinne verwarf! So urteilten dio
Gegner. Und doch ziehen sich Berkeleys Grundgedanken in mehr
oder weniger scharfer Ausprägung durch die ganze Entwicklungs-
reihe des modernen Denkens hindurch und werden diesem, wenn
auch mit Betonung starker Unterschiede und wesentlichen Umbil-
dungen durch den grössten aller Philosophen, durch Kant, erst recht
als charakterisierender Stempel aufgedi'ückt.
Berkeleys Lehre soll jedem gesunden Menschenverstand und
dem Urteil der Sinne widersprechen. Merkwürdigere "ise beruft sich
Berkeley immer auf den gesunden Menschenverstand und die Sinne
und stellt sich in einen gewissen Gegensatz zu den Philosophen.
Kant hat ganz richtig bemerkt, dass nicht seine Lehre von den
Erscheinungen, sondern vielmehr die vulgäre Ansicht, die die Gegen-
stände der Erfahrung für Dinge an sich erklärt, die AVelt der
Wesenheiten zerstöre und alles in Schein auflöse (Kehrb. 74). Das ist
der eigentliche Fall Berkeleys. Seine Philosophie beruht ja auf wesent-
lich sensualistischen Grundlagen und auf der Überzeugung, dass wir
von den Gegenständen nur durch die Sinne etwas erfahren können.
Während man Berkeley vorgeworfen hat, dass er, widersprechend
dem gesunden Menschenverstand, das Zeugnis der gesunden Sinne
verwerfe, hebt er ausdrücklich hervor, dass er in die Sinne volles
Vertrauen setze. Er behauptet ja gerade, dass das, was wir durch
die Sinne wahrnehmen, die Dinge an sich sind, die Dinge in ihrer
eigensten Wesenheit, und dass die Philosophen Unrecht hätten, da-
hinter noch etwas anderes anzunehmen, wie die Substanz, die den
Sinnen doch unzugänglich ist und überhaupt nicht von uns vorge-
stellt werden kann. Das klingt ganz sensualistisch, ganz empiristisch.
Aber für Berkeley ist es, nach seinen psychologischen und erkenntnis-
theoretischen irberlegungen , ganz selbstverständlich, dass die Welt
der Objecte zwar reell ist, aber eben reell nur in unserer Vorstellung,
weil, möge auch existieren was wolle, wir uns nichts bewusst werden
können, als unserer Vorstellungen, also dass die Annahme von Dingen
ausser unserer Vorstellung mindestens als müssig erscheinen muss.
Die Beantwortung der Frage nach der Ursache unserer Vorstellungen
bot für Berkeley, dessen Denken trotz aller Energie und Consequenz
von religiösen Tendenzen nicht frei war, keine grosse Schwierigkeit
mehr und war überdies durch die Deskartes-Malebranche'sche Philo-
sophie selir nahe gelegt. Diese Beantwortung war zugleich der
42
einzige und einfachste Ausweg, jene Problemldippe zu umgehen,
an der immer alle Lösungsversuche gescheitert waren, das Problem
nämlich von der Möglichkeit einer Berührung zweier ihrer innersten
Natur nach so verschieden gedachter, gleichsam durch eine unge-
heure Kluft getrennter Welten wie der ausgedehnten und denkenden
Substanz und ihrer gegenseitigen Wirkung aufeinander.
So war von allen dogmatischen Systemen der Berkeleyismus
wohl das abgeschlossenste und konsequenteste. Ob dieses System
nun nur in der Richtung Bacon-Locke, oder nur in der von Des-
kartes-Malebranche, in der übrigens Locke schon teilweise steht
oder ob es in beiden Richtungen liegt, diese Frage kann füglich
dahingestellt bleiben, wenn man das Eine zugiebt, dass unter den
(:^rundlagen des Berkeley'schen Systems auch der Deskartes'sche
Satz „cogito ergo sum" angetroffen wird. Denn gerade dieser Satz
der Deskartes'sche Satz vom Selbstbewusstsein, war die AchillesfersJ
des Systems. Und wie sehr das ganze System auf diesem Satz ruhte,
zeigt sein späteres Schicksal. Man durfte nur an diesem Satz rüt-
teln, so wankte und fiel das ganze System.
7.
„Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los."
Auch an Berkeley und seinem System bewahrheitete sich dieses
Wort des Dichters.
Berkeley hatte die Materie aufgelöst in flüchtige Complexe
von Vorstellungen, als denknotwendige Produkte unseres Geistes.
Dieser letztere selber blieb dabei in seiner persönlichen Natur unan-
gezweifelt; denn „cogito ergo sum". War es aber nicht natürlich,
dass ein scharfer, durchdringender Geist mit ausgeprägt skeptischer
Richtung nun auf den Gedanken kam, dass ganz analog der nämliche
gedankliche Auf lösuiigsprozess , den man mit der Materie vollzogen
hatte, auch an unsere Idee vom Geist herangebracht werden könne
dass mit einem Wort der Geist sich erklären lasse als eine Reihe
M-echselnder Vorstellungen? Diese Annahme müsste allerdings jedes
positive Dogma als eine Unmöglichkeit erscheinen lassen; sie wäre
die vollendete Skepsis, und ihr Vertreter müsste nicht nur an Gott
und der Welt, er. müsste an sich selber, an seiner eigenen Existenz
/.weifeln. Die Constatierung de^ „cogito" war nicht mehr zugleich
43
die des persönlichen „esse". Der Deskartes'sche Satz war überwunden
und damit die dogmatische Philosophie in dieser Richtung. Wo
diese Richtung, in „Hume" wurzelnd, auslief, ist bekannt, nämlich
im französischen Materialismus. Les extremes se touchent.
Aber das war eben nur die eine Richtung. Schon bei Locke
hatte mit Leibniz das deutsche Denken in den Gang der Ent-
wicklung eingegriffen. Das war der Wendepunkt, von dem an die
moderne Philosophie deutsche Philosophie wurde und es, mehr oder
weniger ausschliesslich, bis auf die jüngste Zeit herunter auch blieb.
Leibnizens Bedeutung ist schon deshalb keine geringe.
Indem Leibniz die Substanz und in gewissem Sinne auch die
angebornen Ideen gegen Locke verteidigte, erfuhren diese Grrund-
anschauungen unter seinen Händen die wesentlichsten Umgestaltungen.
Die Substanz erscheint in der Monadenlehre als mit der Kraft in ge-
wissem Sinne identisch; die angebornen Ideen aber werden in Denk-
formen umgedeutet. Im letztern Punkte namentlich liegt der Keim
einer neuen fruchtbaren und grossartigen Gedankenreihe. An diesem
Punkte fiel auf den begrabenen Idealismus der erste Strahl jener
grossen herrlichen Sonne, durch deren energische Kraft er in ver-
jüngter Gestalt zu neuem Leben erweckt werden und den Triumph
einer glorreichen Auferstehung feiern sollte.
Der Ideahsmus hatte die Ursache und den Erklärungsgrund
unserer ganzen Yorstellungswelt in der gesetzmässigen Denknotwen-
digkeit des Subjektes gefunden. Nun ist klar, dass einer solchen
Lehre ein wahres Übergewicht und eine grössere und dauernde
Wirkung nur der verschaffen konnte,, der alle die einzelnen Not-
wendigkeitsbeziehungen deduzierte und zeigte, wie aus ihrem Wesen
und ihrer Funktion sich die Thatsache erklärt, dass wir unsern rein
subjektiv erzeugten Yorstellungen objektive Gültigkeit und Realität
zuschreiben. Das aber w^ar die grosse That Kants.
Ilu"e Darlegung fällt nicht mehr unter den Gesichtspunkt dieser
Aufgabe. Nur das sei noch erwähnt, dass auch der Satz vom Selbst-
bewusstsein, den wir durch die ganze Entwicklung der modernen
Philosophie neben dem phäuomenalistisclien Prinzip herlaufen sahen,
und der der Brennpunkt des modernen Denkens in seinen Anfängen
ist, in der Kant'schcn Philosophie noch einmal sein Haupt erhebt,
nur mit etwas verändertem Gesicht. Das theoretische „cogito, ergo
sum" wird von Kant auf's Schärfste widerlegt. Um aber seinen
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Idealismus, auf den er, ohne es zu beabsichtigen, durch seine er-
kenntnis-theoretischen Überlegungen gekommen war, nicht in den
ihm mehr als jedem andern ungeheuerlich erscheinenden absoluten
Idealismus oder gar theoretischen Egoismus umschlagen zu lassen,
brauchte Kant für den widerlegten Satz einen Ersatz und konstatierte
ihn in dem praktischen Analogen zu jenem, in der für Kant un-
endlich weiter tragenden, unbestreitbaren und unentfliehbaren That-
sache des sittlichen Bewusstseins. Das „ich weiss, dass ich
denke", wird zu dem ernsteren „ich weiss, dass ich soll". Wenn
ich aber überzeugt bin von meiner sittlichen Freiheit und Yerant-
wortlichkeit, so muss ich davon überzeugt sein, dass ich etwas Anderes
bin, als nur ein Glied in der Kette des kausalen Zusammenhangs
der Erscheinungen. „Ich denke, und so bin ich" hat keine Bedeu-
tung mehr; dafür heisst es: Ich soll, und so bin ich, bin ein Ding
an sich, ein intelligibler Charakter.
Das ist die Kant'sche Wendung des „cogito, ergo sum", des
Ausgangspunktes gewissermassen der ganzen modernen Gedanken-
bewegung. Das Deskartes'sche Erkenntnis-Prinzip wird ein
Prinzip der innern, notwendigen, weil vernünftigen Glaubens-
überzeugung. Es war seine letzte positive Wendung.
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Rüttenauer, Benno
Zur Vorgeschichte des
Kriticismus und Idealismus