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Full text of "Zur Vorgeschichte des Kriticismus und Idealismus"

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Zur  Vorgeschichte 


des 


KRITICISIllIS  m.D  IDEALISMIIS. 


1 M  ü  ü'  Q  ü'  R  A  1,  --  ]P  r  S  S  E  R  T  A  T  I  @  M 


der 


hohen  philosophischen  Facultät 
der  Universität  FreihuiR 


Erlangung  der  philosophischen  Doktorwürde 

vorgelegt  von 

Benno  Rüttenauer, 

aus  Oberwittstadt. 


FIR.EIBTJE,C3-  I-  B. 

^  U  CH  D  R  U  C  IC  E  R  E  I      VON     ^HR.     ^  T  R  ö  C  K  E  I^ 

188S. 


ä< 


Mit  grosser  Genugthuung  benutze  ich  diese  Grelegenheit^ 
meinem  verehrten  Lehrer  in  der  Philosophie 

Herrn  Hofrat  Prof.  Dr.  Windelband 


für  dessen  mehrjährige,  so  liebenswürdige  und  anregende 
Leitung  meiner  Studien 


meinen  tiefgefühlten  Dank 

öffentlicli  auszusprechen. 
Der  Verfasser, 


In  dem  Fortgang  der  Entwicklung  des  Geistes  und  des  Gre- 
dankens  sind,  wie  im  Leben  der  Natur,  grosse  sich  wiederholende 
Kreisläufe  nicht  zu  verkennen. 

In  der  griechischen  Philosophie  waren  auf  die  in  ihrer  Art 
grossartigen  Versuche  einer  Weltproblemlösung  dialektische  Spiele- 
reien, waren  auf  die  jonischen  Physiker  mit  ihrer  elementaren, 
naiven  Fragestellung,  auf  die  Pythagoräer  mit  ihren  tiefgehenden 
ethisch-religiösen  Problemen,  auf  die  Eleaten,  die  schon  die  subtilsten 
Schwierigkeiten  aller  Problemlösung  berührt  hatten,  waren  auf 
Empedokles,  Anaxagoras  und  die  Atomistiker  die  Sophisten  ge- 
folgt und  hatten  durch  ihre  Art  zu  philosophieren  äusserHch  eine 
l)isher  ungeahnte  Verbreitung  und  Popularisierung  der  Philosophie 
und  neben  diesem  äusserlichen  Wuchern  und  pilzartigen  Umsich- 
greifen des  Philosophierens  zugleich  einen  innerlichen  Verfall  der 
wahren  Wissenschaft  herbeigeführt,  einen  Indifferentismus  für  alle 
ernsteren  Fragen  der  Philosophie  und  einen  immer  mehr  um  sich 
greifenden  Zweifel  an  ihrer  Zulänglichkeit. 

Aehnlich,  wenn  auch  natürlich  nicht  ganz  zutreffend,  lagen  die 
Verhältnisse  zu  Ausgang  des  Mittelalters.  Für  beide  parallele  Ent- 
wicklungsreihen gilt  das  Wort  unsers  Kant,  dass  „Verdruss  und 
gänzlicher  Indifferentismus,  die  Mutter  des  Chaos  und  der 
Nacht  in  Wissenschaften,  doch  zugleich  der  Ursprung,  wenig- 
stens das  Vorspiel  einer  nahen  Umschaffung  und  Aufklärung 
derselben  ist." 

Bei  den  Gfriechen  ist  es  Sokrates  mit  seinem  charakteristischen 
„Ich  weiss,  dass  ich  nicht  weiss",  der  durch  sein  Streben  nach  voll- 
ständiger Klärung  und  Fixierung  der  Begriffe,  die  elementarsten  und 
alltäglichsten  nicht  ausgenommen,  über  den  negativen  Stand  des 
Alles-in-Fragestellens ,  über  das  blosse,  wenn  auch  vielleicht  sehr 
geistreiche  Spiel  sophistischer  Dialektik  hinaus  auf  die  positive 
Grundlage  gesichteter  und  darum  gesicherter  Begriffe  gelangte. 
Er  wurde  dadm'ch  der  Begründer  einer  neuen  Ära  der  Philosophie. 

Dass  beim  Beginn  der  neuen  Bewegung  im  16.  Jahrhundert 
■ein   sokratischer   Geist   in   der  Philosophie  spuckte,   geht  äusserlich 


j6^ 

schon  daraus  hervor,  dass  Sokrates,  der  mit  den  Schulphilosophen 
der  vorausgegangenen  Zeit  wenig  gemein  hatte,  in  den  bewegenden 
Werken  dieser  Zeit  überall  in  den  Vordergrund  gestellt  und  wieder- 
holt als  der  grösste  philosophische  Geist  aller  Zeiten  proklamiert 
wird.  Es  war  ein  ähnlicher  Geist  des  Misstrauens  gegen  alle  seit- 
herigen Voraussetzungen  der  Philosophie,  ein  Bewusstsein  der  Not- 
wendigkeit, neue  Begriffe  und  Grundlagen  der  Erkenntnis  zu  ge- 
winnen ,  ein  Geist  des  Kriticismus ,  wie  wir  heute  sagen ,  der  die 
Philosophie  jener  Übergangszeit  beherrschte.  Natürlich  ging  im 
16.  Jahrhundert  die  Entwicklung,  entsprechend  den  viel  compli- 
cierteren  Verhältnissen,  langsamer  als  in  der  sokratisch-platonischen 
Zeit  vor  sich  und  war  mit  wiederholten  Rückfällen  verbunden. 
Aber  wenn  auch  erst  im  letzten  Stadium  der  Entwicklung  die 
grosse  erkenntnistheoretische  Aufgabe  der  modernen  Philosophie 
gelöst  wurde,  so  hatte  sich  doch  jene  Zeit  schon  diese  Aufgabe 
gestellt;  wenn  auch  erst  Kant  sie  in  einer  für  ewige  Zeiten  im- 
ponierenden Weise  gelöst  hat,  die  ersten  Lösungsversuche  derselben 
linden  sich  schon  im  Anfang  der  neuen  Ära.  Mag  man  immerhin 
und  mit  vollem  Recht  die  ganze  Reihe  der  vorkant'schen  Philosophen 
als  Dogmatiker  bezeichnen,  so  ist  es  dagegen  nicht  weniger  ange- 
messen, die  Entwicklung  aller  jener  dogmatischen  Systeme  aus 
kritischen  Bestrebungen,  und  die  ganze  moderne  Philosophie  vor 
Kant  als  die  Genesis  des  Kriticismus  zu  erklären,  und  deren  Ge- 
schichte als  die  Geschichte  der  Möglichkeitsbedingungen  seiner  Thar. 
Dies  zu  zeigen,  sei  die  Aufgabe  dieser  Zeilen. 


Im  Hinblick  auf  die  griechische  Philosophie  könnte  man  den 
Ausspruch  Kuno  Fischer's,  dass  alle  Philosophie  mit  dem  Zweifel 
anfange,  zu  bezweifeln  geneigt  sein.  Für  die  Geschichte  der  mo- 
dernen Philosophie  gilt  er  in  vollem  Sinne.  Nicht  nur  die  eigent- 
lichen Skeptiker  Montaigne,  Charron,  Sanchez,  auch  Bruno,  Cam- 
panella, Descartes,  Bacon,  alle  erheben  die  Forderung  des  Zweifels 
und  zwar  des  ausgedehntesten  Zweifels,  als  erste  Bedingung  wahrer 
Philosophie:  „Dubitemus,"  ruft  Bruno  aus  (op.  I.  p.  16),  „dubitemus 
Interim,  quoad  liberius  atque  sincerius  causam  agere  liceat." 

Descartes,    mit  dem  man  die  Geschichte  der  moderneu  Philo- 


Sophie  anzufangen  pflegt,  ist  also  nicht  der  erste,  der  aus  dem  vor- 
gefundenen Dogmatismus  zu  Zweifeln  und,  trotz  allem  Naivismus 
und  Dogmatismus,  in  den  seine  Philosophie  auslief,  zu  einem  An- 
fang von  kritischem  Denken  gelangt  war.  Wenigstens  war  er  auf 
dem  besten  Wege  dazu  gewesen.  Zum  Kriticismus?  Kuno  Fischer 
sagt  vom  Kriticismus,  dass  er  zur  dogmatischen  Philosophie  nicht 
im  Verhältnis  eines  Gegensatzes  stehe,  sondern  in  dem  einer  Wissen- 
schaft zu  ihrem  Object.  In  diesem  Verhältnis  aber  stand  das 
Denken  Deskartes',  stand  auch  besonders  das  der  Skeptiker  und 
mit  besonders  hervorgehobenem  Nachdrucke  das  von  Ramus,  Bruno, 
und  Campanella  zu  dem  Aristotelismus  des  Mittelalters.  Die  Hin- 
weisung auf  die  Verkehrtheit,  Hohlheit  und  Dünkelhaftigkeit  jener 
Philosophie,  die,  mit  ewig  deduktivem  Vorgehen  auf  dem  sterilen 
Wege  rein  logischen  Folgerns,  von  Syllogismus  zu  Syllogismus,  zur 
Beantwortung  der  höclisten  und  letzten  Fragen  des  Menschengeistes 
fortschreiten  zu  können  glaubte,  ohne  jede  Prüfung  der  Grundlagen 
ilirer  Erkenntnisse  oder  ihrer  Möglichkeit  überhaupt,  ist  einer  der 
hervorstechendsten  Züge  in  den  Werken  der  genannten  Philosophen. 
Kritische  Versuche  vor  Kant  nachweisen,  heisst  auch  gar  nicht  Kants 
eminente  Bedeutung  im  geringsten  verringern  wollen.  Eine  Aufgabe, 
an  der  Jahrhunderte  in  ungeschickten  Versuchen  wie  blind  herum- 
getappt haben,  mit  vollem  Bewusstsein,  mit  aller  Besonnenheit  und 
Klarheit,  deren  nur  ein  Genie  fähig  ist,  erfasst  und  in  der  über- 
raschendsten und  grossartigsten  Weise  .gelöst  zu  haben:  darin  liegt  die 
Grösse  und  Bedeutung  Kants,  nicht  darin,  dass  seine  Aufgabe  absolut 
neu  war.  Nach  Kant  besteht  die  Aufgabe  der  Kritik  der  Vernunft 
in  dem  schwierigen  Geschäft  ihrer  Selbsterkenntnis,  wodurch  sie 
ihre  gerechten  Ansprüche  sichern  und  dagegen  grundlose  Anmass- 
ungen  nach  ihren  ewigen  und  umwandelbaren  Gesetzen  abfertigen 
könne.  (Kehrb.  p.  5.)  Gewiss  sind  in  Deskartes  die  ersten  An- 
fänge zu  diesem  Geschäfte  unverkennbar.  Er  sucht  nach  einem 
ersten  und  obersten  Princip  der  Erkenntnis,  vor  dem  der  Zweifel, 
der  alles  wanken  gemacht  hatte ,  stille  halten  müsse ,  ein  Princip 
also,  das,  gefeit  gegen  jeden,  auch  den  radikalsten  und  verwegensten 
(aber  noch  vernünftigen)  Zweifel,  in  sich  selber  die  Möglichkeit 
einer  Erkenntniss  tatsächlich  darthue  und  von  dem  aus  man,  wenn 
man  nur  nicht  gegen  die  Formen  des  Denkens  Verstösse,  also  keine 
logischen  Fehler  mache,    zu  andern  sichern  und  gewissen  Erkennt- 


nissen  müsse  fortschreiten  können.  In  ihrem  Grnndgedanken  ent- 
hält diese  Aufgabe  schon  den  kritischen  Keim,  in  ihrem  letzten 
Punkt  aber  auch  wieder  eine  rein  dogmatische  Wendung.  Dass 
Deskartes'  Denken,  so  weit  es  als  kritisches  Denken  in  Betracht 
kommt,  an  dieser  Aufgabe  scheiterte  und  auf  dem  festen  aber  un- 
fruchtbaren Felsen  des  Dogmatismus  sitzen  blieb,  ist  bekannt. 

Es  wundert  uns  weniger,  dass  Deskartes  die  komplicierte  und 
äusserst  schwierige  Xatur  des  Selbstbewusstseins ,  in  dem  er  das 
von  ilim  gesuchte  Prinzip  gefunden  zu  haben  glaubte,  nicht  ahnte, 
als  vielmehr  das  grosse  Yertrauen,  das  er  in  die  Zuläuglichkeit  und 
Unfehlbarkeit  des  deductiven  Geistesvermögens  setzte.  Und  doch 
war  gerade  in  diesem  Punkte  schon  vorgearbeitet  gewesen.  Ich 
denke  an  die  sogenannten  französischen  Skeyjtiker. 

Gerade  das  Misstrauen  in  die  menschlichen  Yerstandesfunctionen, 
namentlich  in  alles  discursive  Denken  ist  der  Hauptzug  in  der  Ge- 
dankenrichtung der  Skeptiker,  Nirgendwo  mehr  als  bei  ihnen  ist 
die  Cardinalfrage  des  Kriticismus,  ob  Erkenntnis  überhaupt  möglich 
sei,  betont  worden,  Nur  eine  positive  Lösung  wussten  sie  nicht  zu 
finden.  In  ihrer  Verneinung  glaubten  sie,  die  richtige  Lösung  ge- 
funden zu  haben.  Und  weil  diese  Yern einung  nicht  aus  guten 
Gründen  hervorgegangen,  sondern  nur  die  Folge  war  eines  ent- 
mutigten Zurückschreckens  vor  unüberwindlich  scheinenden  Hinder- 
nissen oder  auch  wohl  eines  frivolen  Überdrusses  au  weiterem 
Suchen ,  so  war  sie  dogmatisch ,  so  waren  die  Skeptiker  von  dem 
allerkritischsten  Ausgangspunkt  ausgehend  ebenfalls  wieder,  so  sonder- 
bar das  klingt,  dogmatisch  geworden. 

Es  dürfte  nicht  uninteressant  sein,  zwisclien  Deskartes  und 
den  Skeptikern  eine  Vergleichung  zu  ziehen.  Man  würde  daraus 
sehen,  wie  vieles  der  Philosoph  des  cogito  ergo  sum  mit  jenen  des 
scio,  quod  nihil  scio  gemein  hat  und  wie  er  vielleicht  zum  Teil  ge- 
rade von  ihnen  angeregt  wurde.  Besonders  dürfte  es  aus  dieser  ver- 
gleichenden Betrachtung,  bei  Heranziehung  noch  einiger  anderen 
Philosophen  vor  Deskartes,  klar  werden,  dass  nicht  mit  Bacon  und. 
Deskartes  erst  das  moderne  Denken  anhebt,  Deskartes  gewaltiger 
Einfluss  auf  Zeitgenossen  und  Nachfolger,  wodurch  er  seine  Vor- 
gänger tief  in  den  Schatten  stellte,  mag  weniger  auf  der  Originalität 
seiner  Methode  und  der  Neuheit  seiner  Gedanken  beruhen,  als  in 
der   mit   imponierender    Consequenz    und   einer   durch  fortwährende 


9  _ 

Beschäftigung  mit  Mathematik  erworbenen  streng  systematisch- 
wissenschaftlichen  Durchfährung  seiner  Philosophie  und  besonders 
auch  auf  seiner  lichtvollen,  knappen  und  abgerundeten  Darstellung 
derselben. 

Wenn  wir  die  Skeptiker  würdigen  wollen,  ist  zunächst  nicht 
aus  den  Augen  zu  verlieren,  dass  sie  vorherrschend  keine  Männer 
der  Schule  und  der  Schulwissenschaft  waren,  sondern  der  Wissen- 
schaft als  solcher  verhältnismässig  fern  stunden.  Von  allen  Skep- 
tikern ist  bekanntlich  Montaigne  am  berühmtesten  geworden.  Er 
wird  noch  gelesen  und  wird  hauptsächlich  zur  Charakteristik  der 
Skepsis  genannt  und  citiert.  Hier  kann  er  uns  nicht  in  erster 
Linie  interessieren,  ebensowenig  wie  sein  frommer  Landsmann 
Charron.  Unser  Hauptinteresse  fällt  vielmehr  auf  den  dritten  der 
drei  berühmten  Franzosen,  auf  Sanchez.  Während  die  beiden  ersten 
specifiscli  wissenschaftliche  Fragen  nur  hin  und  wieder  berühren, 
und  melir  die  ein  grösseres  Publikum  interessierenden,  allgemeinen 
und  praktischen  Fragen  des  Lebens  in  der  Sprache  des  Volkes 
behandelten,  schrieb  Sanchez  mit  der  klar  zu  Tage  liegenden  Tendenz 
rein  wissenschaftlicher  Zwecke'  in  der  Sprache  der  Gelehrten  für 
Gelehrte.  Jene,  der  eine  ein  Weltmann,  der  andere  ein  Prediger 
und  Priester,  wollen  mit  ihren  Untersuchungen  die  Erreichung  der 
irdischen  oder  der  jenseitigen  himmlischen  Glückseligkeit  befördern; 
sie  wollen  praktische  Philosophie.  Sanchez  kultiviert  das  Wissen 
um  des  Wissens  willen.  Die  Theorie ,  das  Erkennen ,  ist  ihm 
Selbstzweck. 

Man  kann  fragen,  wie  diese  Männer  zur  Skepsis  gekommen 
sind.  Waren  sie  mit  den  antiken  Skeptikern  bekannt?  Montaigne 
und  Sanchez  jedenfalls.  Ersterer  spricht  in  Bezug  auf  skeptische 
Anschauungen  von  den  Pyrrhoniens  und  den  Academiciens  als  mit 
seinen  Ansichten  übereinstimmend.  Er  meint  mit  den  letzteren 
jedenfalls  die  sehr  stark  skeptisch  versetzte  mittlere  Akademie.  Noch 
häufiger  beruft  sich  Sanchez,  ohne  gerade  zu  eitleren,  auf  das  Zeug- 
nis der  Alten.  Seine  Gewährsmänner  sind  Sextus  Empirikus  und  Dio- 
genes, der  Laertier,  aus  denen  er  die  Doktrinen  Pyrrho's  und  ande- 
rer kennen  gelernt  hat.  Man  braucht  aber  trotzdem  nicht  anzunehmen, 
dass  diese  Männer  durch  die  Alten  zu  ihrer  Skepsis  veranlasst 
worden  sind,  so  sehr  es  ihnen  bei  der  Ausbildung  und  Darstellung 
ihrer  Lehre  willkommen  sein  mochte,  sich  auf  griechische  Autoritäten 


10 

berufen  zu  können.  Die  Grenannten  sehen  gar  nicht  darnach  aus^ 
als  ob  sie  Nachbeter  fremder  Gedanken  seien.  Auch  brauchte  es 
in  jenem  Jahrhundert  wahrlich  keiner  philologischen  Veranlassung 
zur  Skepsis.  Die  Zeit  war,  wie  schon  betont  wurde,  ganz  darnach 
angethan,  dass  der  Skepticismus  mit  Naturnotwendigkeit  daraus 
hervorwachsen  musste.  Es  war  ein  entschieden  revolutionärer  Geist, 
der  durch  die  Zeit  wehte,  und  der  das  Zeitalter  der  Renaissance 
charakterisiert,  ein  Geist  der  Auflehnung  gegen  die  kirchliche 
Autorität,  ein  Geist  im  Anfang  mehr  des  Umsturzes  als  des  Auf- 
baues: es  war  der  Geist,  der  verneint.  Aus  diesem  Charakter  der 
Zeit  heraus  erklärt  sich  leicht  die  allenthalben  hervortretende  po- 
pulärskeptische Denkrichtung.  Der  wissenschaftliche,  in  seinen 
AVirkungen  bedeutende  und  für  die  Fortentwicklung  der  Philosophie 
erfolgreiche  Skepticismus  hat  tiefere  Gründe.  Er  scheint  das  Kind 
zu  sein  einer  Berührung  des  Neuplatonismus  mit  dem  erwachenden 
Sensualismus. 

Diese  beiden  die  Zeit  charakterisierenden  Richtungen  treten  — 
beide  im  scharf  ausgesprochenen  und  immer  feindlicher  sich  ge- 
staltenden Gegensatz  gegen  den  mittelalterlichen  vermeintlichen  Ari- 
stotelismus  —  gleich  energisch  und  gleich  kühn  auf.  Die  platoni- 
sierende  Richtung  ist  die  ältere.  Sie  hatte  in  der  Florentinischen 
Akademie  ihren  höchsten  Aufschwung,  in  Marsilio  Ficino  (f  1499) 
und  in  Pico  von  Mirandola,  welcher  letztere  die  Verschmelzung  mit 
der  verwandten  cabbalistischen  Richtung  vollzog,  ihre  talentvollsten 
und  begeistertsten  Anhänger  gefunden.  Für  italienische  Philosophen 
war  diese  Richtung  von  nun  an  im  allgemeinen  massgebend.  Aber 
ihr  Einfluss  erstreckte  sich  über  die  Grenzen  Italiens  hinaus,  und 
bald  sehen  wir  sie  in  Frankreich  sowohl  als  auch  in  England  mit 
grösserer  oder  geringerer  Lebhaftigkeit  vertreten.  Es  war  als  ob  man 
sich  seit  Augustinus  zum  erstenmal  wieder  bewusst  geworden  sei,  dass 
das  Christentum  nicht  in  Aristoteles,  sondern  in  Plato  seine  ver- 
wandtesten Seiten  habe,  und  die  ganze  Bewegung  wird  um  so  wirk- 
samer, als  die  einzelnen  Vertreter  derselben,  so  sehr  sie  auch  in  ihren 
letzten  Absichten  und  besonders  in  ihrem  Verhältnis  zu  Christentum 
und  Kirche  sich  selber  diametral  gegenüberstehen  mochten,  doch  alle 
in  einem  Punkte  übereinstimmten,  in  ihrer  Feindschaft  und  in 
ihrem  Kampf  gegen  Scholastik  und  Aristotelismus,  die  sie  meistens 
identificierten.      Das   war   die    spiritualistische    Seite    der   Zeit,   und 


11 

nach  dieser  Richtung  wollte  es  fast  scheinen  als  ob  der  Spiritualis- 
mus, der,  pracktisch  noch  mehr  als  theoretisch,  in  der  mittelalter- 
lichen "Weltanschauung  als  das  hervorragendste  Charakteristikum 
aufgetreten  war,  noch  einmal  aus  neu  entdeckten  reichen  Quellen 
fliessen  und  aus  lauge  im  Schutt  vergrabenen  Ruinen  in  kräftiger 
Verjüngung  aufs  Neue  emporblühen  sollte.  "Was  war  nun  eigent- 
lich der  erste  Anstoss  zu  dieser  Strömung?  Doch  nichts  anders  als 
die  schon  im  Nominalismus,  und  besonders  in  Occam  sich  geltend 
machende  Reaktion  gegen  den  Formalismus,  genannt  Realismus,  der 
mittelalterlichen  Philosophie.  Diese  Thatsache  ist  bemerkenswert. 
Die  gleiche  reaktionäre  Strömung,  konnte  sie  nicht  auch  zu  einem 
ganz  entgegengesetzten  Resultat  führen?  Nehmen  wir  an,  dass  sich 
dieser  Zug  bei  Männern  geltend  machte,  die,  wie  etwa  Arzte,  durch 
ihre  Berufsstudien  weniger  auf  die  Spekulation  als  auf  die  Beob- 
achtung und  den  intimen  Yerkehr  mit  der  Natur  angewiesen  waren, 
so  mussten  diese,  da  die  Platonische  Philosophie  und  Denkweise 
überhaupt  nicht  jedermanns  Sache  ist,  einen  andern  Ausweg  finden 
aus  der  grossen  "Wüste  der  Scholastik,  die  immer  mehr  zu  versanden 
drohte  und  in  der  die  starren  Riesenpyramiden  eines  Thomas  und 
Skotus  längst  nicht  mehr  mit  der  ursprünglichen  imponierenden  Ge- 
walt neben  der  mystischen  Sphinx  emporragten.  Den  einen  Aus- 
weg schien  am  Himmel  die  leuchtende  "Wolke  des  Piatonismus 
zu  zeigen.  Es  musste  auch  einen  andern  geben.  "Welcher  dies  sein 
mochte,  liegt  nahe.  Man  hatte  —  wie  das  wohl  zu  Zeiten  kommen 
mag  —  an  dem  himmlischen  Manna  den  Geschmack  verloren  und 
sehnte  sich  mit  fleischlichen  Gelüsten  nach  irdischer  Nahrung;  man 
hielt  sie  für  nahrhafter,  für  gesunder  und  zu  allerletzt  auch  für  — 
pikanter.  Der  Drang  nach  Erkenntnis  der  Natur  und  ihrer  geheim- 
sten Kräfte  und  Lebensquellen,  und  zwar  nicht  blos  theoretisch  ein- 
seitig ,  sondern  mit  dem  Charakter  eines  ungestümen  Verlangens 
nacli  Durclidringung  der  Naturgeheimnisse,  nach  Beherrschung  und 
völliger  Aneignung  aller  Kräfte,  aller  Genuss-,  Lebens-  und  Macht- 
quellen der  Natur,  brach  jetzt  um  so  gewaltiger,  um  so  üppiger 
und  ausschweifender  hervor,  als  er  so  lange  mit  Gewalt  niederge- 
drückt worden  war.  Es  ist  das  Zeitalter  Fausts.  Die  Naturphilo- 
sophie feierte  jetzt  überall  ihre  Orgien.  Eine  allgemeine  gewaltige 
Naturschnsucht  hatte  sich  aller  Gemüther  bemächtigt.  In  den  Dar- 
stellungen  der    grossen   Epoche    der   Renaissance   (dieses   Wort   in 


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seiner  weitesten  Bedeutung)  ist  ein  Gresichtspimkt  noch  wenig  oder 
vielmehr  noch  gar  nie  in  das  rechte  Licht  gerückt  worden,  der 
nämlich,  welcher  in  dem  Gedanken  liegt,  dass  mehr  als  das  Zurück- 
gehen auf  die  Alten,  das  Zurücksehnen  zu  der  Xatur  (und  beides  ist 
durchaus  nicht  dasselbe)  den  eigentlichen  Grehalt  jener  Kulturepoche 
liedingte. 

Das  ist  die  zweite  Seite  jener  zwiespältigen  Zeit,  die  sensua- 
listische  oder  naturalistische.  Das  ist  der  gewaltige  Widerspruch, 
der  die  Zeit  charakterisiert,  und  der  im  Mittelalter,  im  Nominalismus 
und  Realismus  nur  eine  sehr  schwache  Parallele  gehabt  hatte. 
Gerade  in  diesem  Widerspruch  aber  liegt  die  treibende  Kraft  der 
beginnenden  Entwicklung. 

Zuerst  treten  die  sich  widersprechenden  Richtungen  in  geson- 
derten Erscheinungen  auf.  Die  italienischen  Akademiker  sind  in 
ihrer  Innern  Einheit  und  Widerspruchslosigkeit  die  vollen  und  ganzen 
Apostel  Piatons  oder  vielmehr  Plotin's.  Die  Cardamus  Telesius, 
Caesalpinus,  Parazelsus  sind  die  Propheten  und  Yorläufer  Balcons, 
wenn  auch  nicht  ganz  in  dieser  Innern  Einheit  wie  jene;  denn  die 
christlich  platonische  Weltanschauung,  die  mehr  oder  weniger  unbe- 
wusst  in  ihnen  wirkte,  machte  diese  Männer  noch  zu  halben  Mystikern, 
manchmal  freilich  auch  wieder  mehr  zu  halben  Magiern.  Allein  es 
konnte  auch  so  kommen,  dass  beide  Richtungen  als  bewusste  wissen- 
schaftliche Tendenzen  nebeneinander  in  einem  Denken  auftreten, 
eine  Zwiespältigkeit,  die  in  den  naturalistisch  gehaltenen  geradezu 
kecken  Randzeichnungen  der  frommen  Gebetbücher  jener  Tage 
treffend  illustriert  ist.  Dies  ist  aber  ganz  der  Charakter  Campanellas, 
und  in  fast  gleichem  Masse  der  der  (ausdrücklich  so  genannten) 
Skeptiker.  Der  Sensualismus  tritt  offen  zu  Tage,  bei  Campanella 
so  gut  wie  bei  den  Franzosen.  Überhaupt  waren  alle  jene  ersten 
schwachen  Versuche  einer  mehr  oder  weniger  noch  psychologisch 
und  methodologisch  gehaltenen  Erkenntnistheorie  sensualistisch  an- 
gehaucht. Wie  auf  dem  praktischen  Gebiete  der  einseitige  Spiri- 
tualismus überwunden  wurde  und  das  Recht  der  Natur  und  der 
Sinne  wieder  neben  dem  Geiste  zur  Anerkennung  kam,  woraus  der 
grossartige  Aufschwung  der  Künste  in  der  Renaissance  sich  her- 
schreibt, so  musste  zu  gleicher  Zeit  auch  auf  theoretischem  Felde 
der  scholastisch-aristotelisierende  Formalismus  dem  theoretischen  Sen- 
sualismus einen  Teil  seiner  Domäne   einräumen.     Nun   musste   sich 


13 

natürlich  diese  Tendenz  mit  dem  zu  gleicher  Zeit,  ebenfalls  in  Oppo- 
sition gegen  mittelalterlichen  Aristotelismus ,  stark  sich  geltend- 
machenden Xeuplatonismus  schlecht  vertragen.  Dieser  aber  ist  in 
Campanella  und  Sanchez  wiederholt  und  aufs  nachdrücklichste  aus- 
gesprochen, und  bei  den  andern  Skeptikern  ebenfalls  leicht  nachzu- 
weisen. Campanella  ist  geradezu  ein  ausgesprochener  Neuplatoniker. 
Und  nehmen  wir  Q.  Bruno.  In  seinem  fieberhaften,  ja  oft  bis  zum 
WahuAvitz  gesteigerten  Streben  nach  ^S^aturerkenntnis,  nach  der  Er.- 
kenntnis  „aller  Wirkungskraft  und  Samen"  und  „was  die  Welt  im 
Innersten  zusammenhält"  steuerte  er,  stürmischer  als  einer,  auf  den 
Sensualismus  los;  aber  in  seiner  Annahme  einer  über  alle  Sinnen- 
erkenntnis hinhausgehenden  Unendlichkeit  der  Welt  entfernte  er 
sich  zugleich  himmelweit  von  dem  Sensualismus  gemeinen  Schlags. 
Und  ein  Coperuicus,  ein  Telesius,  ein  Gralilei,  kamen  nicht  gerade 
sie  in  ihren,  in  der  empiristischen  Richtung  (Welterkenntnis  durch 
^aturbeobachtung)  gelegenen  Forschungen  zu  Resultaten,  welche 
die  fortwährende  Sinnestäuschung  als  klarliegendes  Faktum  erscheinen 
Hessen,  so  dass  selbst  in  Forschungsrichtungen,  wo  man  es  am  aller- 
wenigsten gesucht  hätte.  Keime  einer  phänomenalistischen  AVeltauf- 
fassung  lagen.  Bekannt  ist  wie  Kant  am  liebsten  die  Copernikani- 
sche  Weltanschauung  als  Parallele  seines  transscendentalen  Idealis- 
mus anführt. 

Da  hätten  wir  nun  also  nebeneinander  in  einem  Denken  die 
sich  widersprechendsten  Tendenzen  mit  deutlichem  Bewusstsein  ver- 
einigt. Was  musste  die  Wirkung  davon  sein?  Wenn  man  einerseits 
mit  Plato  der  vollen  Überzeugung  zu  sein  schien,  dass  uns  durch 
die  Sinne  nie  eine  wahre  Erkenntnis  der  Dinge  vermittelt  werden 
könne,  und  auf  der  andern  Seite  nicht  abgeneigt  war,  der  immer 
mehr  umsichgreifendeii  Ansicht  beizustimmen,  dass  alle  Erkenntnis 
überhaupt  von  den  Sinnen  ausgehen  müsse,  so  hatte  man  nicht  mehr 
weit  mitten  in  den  radicalsten  Skepticismus. 

Auf  der  einen  Seite  der  Glaube  an  eine  höhere  übersinnlich« 
Welt  und  die  erhabene  Aufgabe  ihrer  Erkenntnis;  auf  der  andern 
Seite  die  Überzeugung,  dass  nur  die  Sinne  uns  Weg  und  Mittel  der 
Erkenntnis  sind.  Welcher  Widerspruch  zwischen  dieser  Aufgabe 
unserer  Erkenntnisthätigkeit  und  ihren  Mitteln!  Es  ist  das  so  etwas 
wie  eine  Paralelle  zu  Kants  transscendentaler  Dialektik,  wo  dieser 
den  nämlichen  Widerspruch  darlegt,    indem  er  zeigt,    wie  die  Auf- 


14 

gäbe  unsers  Verstandes,  deren  Bewusstsein  in  unserer  Vernunft  lebt 
und  in  der  Gestalt  der  transscendentalen  Ideen  vorgestellt  wird,  vom, 
Verstand  selber  nie  gelöst  werden  kann.  Was  in  Kant  uns  als. 
gründlichste  und  klarste,  als  grossartigste  Lösung  des  erkenntnis- 
theoretischen Problems  d.  h.  als  eigentlichster  Kriticismus  entgegen- 
tritt, das  musste  in  jenen  Männern,  die  dieses  Problem  nur  erst  zu 
inaugurieren  im  Begriffe  sind,  Skepticismus  sein. 

Mcht  darin  bestund  das  Wesen  jenes  Skepticismus,  dass 
seine  Vertreter,  wie  Bacon  ihnen  vorwirft,  nihil  sciri  posse,  simpliciter 
asserunt,  wie  es  ja  wohl  scheinen  kann,  wenn  man  ihre  Ausdrucks- 
weisen wörtlich  versteht,  und  wie  es  deshalb  auch  sonst  die  all- 
gemeine Meinung  sein  mag;  was  diese  Skeptiker  charakterisiert 
und  ihr  Wesen  als  Skeptiker  ausmacht,  ist  vielmehr  das,  dass  sie 
jene  von  ihnen  geglaubte  Welt  von  Dingen,  die  hinter  den  blossen 
Schatten  der  Sinnendinge  liegt  und  zu  deren  Erkenntnis  ein  innerer, 
notwendiger  Drang  uns  forwährend  antreibt,  für  uns  sinnlich  er- 
kennende Wesen  für  immer  und  ewig  unerkennbar  halten  mussten 
während  sie  auf  der  andern  Seite,  ganz  ihrer  Platonischen  Denk- 
weise gemäss ,  die  andere  Welt ,  die  wir  durch  unsere  Sinne  recht 
gut  erkennen  mögen,  für  nichts,  für  eitel  Rauch  und  Schatten 
achteten.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet  muss  auch  der 
dem  Skepticismus  so  oft  imputierte  Vorwurf  der  Frivolität  bedeutend 
an  Gewicht  verlieren.  Jedenfalls  kann  man  den  tiefen  Skepticismus , 
eines  Sanchez,  Bruno  und  Campanella,  dem  zugleich  der  tiefste 
Ernst  zur  Seite  steht,  gar  nicht  verstehen,  ohne  dass  man  ihn 
aus  dem  Grundprinzip  des  Piatonismus  zu  erklären  sucht.  Sensua- 
listisches  Denken  an  sich  hat  niemals  Skeptiker  erzeugt;  aber 
sensualistisches  Denken  bei  platonischer  Weltauffassung  musste 
sie  erzeugen.  Der  nämliche  Prozess,  der  im  Altertum  (in  der 
sogenannten  zweiten  und  dritten  Akademie)  die  Philosophie  auflöst,, 
bildet  —  merkwürdig  genug  —  in  der  Entwicklung  der  modernen 
Philosophie  den  ersten  Anfang. 

Omnis  a  sensu  cognitio  est.  Nachdem  man  Jahrhunderte 
lang  die  höchste  wissenschaftliche  Forschung  in  rein  formalen 
Denkfunktionen ,  in  syllogistischen  Operationen  gesehen  hatte ,  war 
es  kein  Wunder,  wenn  jetzt  dieser  Satz,  der  auf  einmal  wie  in 
'der  Luft  lag,  die  Geister  ein  wenig  verblüffte. 


15 


2. 


Es  sind  deshalb  hauptsächlich  zwei  Richtung-en,  die  in  deu 
massgebenden  philosophisclien  Erscheinungen  der  Zeit  charakteri- 
siere»d  hervortreten.  Die  eine  besteht  in  der  deutlich  ausge- 
sprochenen, meistens  sogar  sehr  heftigen  Opposition  gegen  deu  Ari- 
stotelismus,  wie  man  den  mittelalterlichen  Denkformalismus  immer 
bezeichnete;  die  andere  ist  ein  mehr  oder  weniger  skeptisches,  mehr 
oder  weniger  kritisches,  zu  mehr  negativen  oder  mehr  positiven  Re- 
sultaten fortschreitendes  Vorgehen  in  den  Untersuchungen  über 
Sinneswahrnehmungen,  physiologische,  psychologische  und  methodo- 
logische Forschungen.  Beide  Richtungen  sind  kritischer  Natur; 
beide  sind  in  den  Skeptikern,  mit  wissenschaftlicher  Gründlichkeit 
besonders  in  Sanchez,  vertreten.  Auf  ihn  kommen  wir  somit 
speciell  zurück.  Wenn  wir  von  wissenschaftlicher  Gründlichkeit 
reden,  so  ist  einleuchtend,  dass  diese  nicht  in  dem  heutigen  Sinne 
des  Wortes  zu  verstehen  ist.  Sie  war  aber  in  Sanchez  vorhanden, 
soweit  sie  zu  seiner  Zeit  auf  den  '  bezeichneten  Gebieten  für  ihn 
möglich  war.  Diese  Möglichkeit  war  allerdings  nicht  gross,  und 
es  mag  uns  deshalb  seine  Methode ,  namentlich  auf  dem  Gebiete 
physikalischer  und  physiologischer  Untersuchungen,  als  ein  blindes 
Herumtappen  nur  ein  mitleidiges  Lächeln  abnötigen.  Allein,  wenn 
wir  nicht  zu  jenen  gehören,    die  da  finden 

„ es  sei  ein  gross  Ergetzen, 

Sich  in  den  Geist  der  Zeit  zu  versetzen. 

Zu  schauen,  wie  vor  uns  ein  weiser  Mann  gedacht. 

Und  wie  wirs  dann  zuletzt  so  herrlich  weit  gebracht,'' 

so  werden  wir  die  Unzugänglichkeiten  der  Zeit  nicht  dem  Einzelnen 
in  die  Schuhe  schieben  v/ollen;  wir  werden  es  begreiflich  finden, 
dass  das  Gebiet  der  Sinnesempfindungen,  das  fortwährend  zu  physi- 
kalischen Untersuchungen  nötigte,  für  jenes  Jahrhundert  eine  schlüpf- 
rige Bahn  war,  auf  der  es  gar  nicht  leicht  sein  konnte,  sich  aus 
dem  bodenlosen  Moor  (um  nicht  zu  sagen  Sumpf)  des  Skepticismus 
herauszuretten. 

Am  wenigsten  ist  Sanchez  Skepticismus  ein  frivoler.  Er  meint 
es  ernst  mit  der  Wahrheit.  In  dem  Streben  nach  ihr  sieht  er  die 
Würde  und  den  A^orzug  des  Menschen  bedingt.     Gerade  weil  er  es 


16 

ernster  nahm  als  andere,  weil  er  weit  entfernt  war  von  jener  Flach- 
heit, die  Würterkram  für  Wissenschaft  nimmt  und  spitzfindige  Denk- 
formeln für  Erkenntnisse   ausgiebt   und. den  Schein  von  Dingen  für 

Dinge, 

„Die  immerfort  an  schalem  Zeuge  klebt, 
Mit  gieriger  Hand  nach  Schätzen  gräbt. 
Und  froh  ist,  wenn  sie  Regenwürmer  findet," 
gerade  darum  war  er  Skeptiker. 

„0,  glücklich!  wer  noch  hoffen  kann. 
Aus  diesem  Meer  des  Irrtums  aufzutauchen." 
Sanchez  hatte  diese  Hoffnung  nicht;  aber  er  rang  dennoch  — 
ein  tragisches  Loos!  Aber  hat  nicht  Kant,  mit  höherer  Einsicht  und 
begrifflich  klar,  gezeigt,  dass  dies  das  Loos  der  menschlichen  Er- 
keuntnisthätigkeit,  so  weit  sie  theoretisch  ist,  überhaupt  sei!  Daraus 
erhellt  wohl  der  wahre  Sinn  des  von  Schopenhauer  so  gern  citierten 
Bruno'schen  Wortes:  „omnes  veros  philosophos  melancholicos  esse." 
„Qui  studet,"  sagt  Sanchez  schon  vor  ihm,  „melancholicus  tan- 
dem  fit."  In  dieser  Richtung  ■  dürfte  etwa  Montaigne  von  Sanchez, 
mit  dem  er  in  der  Geschichte  der  Philosophie  den  gleichen  Titel 
führt,  weit  abliegen. 

Gehen  wir  etwas  näher  auf  Sanchez  ein.  Seine  nächste  Aufgabe 
war,  wie  schon  angedeutet  wurde,  zu  zeigen,  wie  das,  was  das 
Mittelalter  für  Aristotelische  Logik  ausgab,  wie  diese  im  kahlen 
Syllogismus  aufgellende  Methode  des  Philosophierens ,  die  in  ihrer 
Selbstüberschätzung  sich  als  ein  Organen  der  ^Yissenschaft  gab,  in 
der  That  ein  sehr  schlechtes  "Werkzeug  sei.  Er  hebt  hervor,  wie 
in  dem  berühmten  Syllogismus  nur  eine  Analyse,  resp.  Exemplifi- 
zierung eines  gegebenen  Begriffs,  aber  niemals  eine,  zu  einer  neuen 
Erkenntnis  fortschreitende  Synthese  enthalten  sei,  und  es  mit  dem 
„Erschliessen"  der  AVahrheit  also  nicht  weit  her  sei.  Man  bewege 
sich  immer  im  Zirkel,  und  wer  das  nicht  erkenne,  betrüge  andere 
und  sich  selbst:  „Circulum  comissisti,  meque  proinde  et  te  decepisti" 
(Qu.  nih.  sc.  p.  7.).  „Syllogismus  nulla  acquisita  scientia,"  ist  der 
Satz,  auf  den  er  immer  wieder  zurückkommt,  und  den  er  in  seiner 
Schrift  „Quod  nihil  scitur"  (1581)  unter  den  mannigfaltigsten  Wen- 
dungen bringt.  Die  „futilis  Syllogismorum  scientia" ,  die  „futiles 
disputationes  Logicorum",  die  „Dialecticorum  falacio",  die  „frivolae 
Logicorum  quaestiones",  die  „definitionominalis",  die  „Syllogismorum 


17 

düctrina  scieutiis  poraiciosa"  kann  er  nicht  genug  blossstellen 
(a.  a.  0.  p.  1,  5,  6,  7,  9,  86)  und  kann  nicht  witzige  Wendungen 
genug  finden,  die  „Dialectica  altera  Ciroe"  und  die  ^Dialectici 
similes  Aeneae"  mit  seinem  Spotte  zu  geissein,  lächerlich  zu  machen 
und  der  Verachtung  preiszugeben.  „Apud  hos  syllogisantes"  sagt 
er,  „iile  doctior  est,  qui  melius  garrit"  (a.  a.  0.  p.  86). 

Wenn  man  bedenkt,  dass  noch  Kant  gegen  die  falsche  Spirz- 
findigkeit  der  vier  Formen  des  Syllogismus  schrieb,  dass  man  erst 
nach  Kant  sicli  von  dem  Despotismus  der  alten  Logik  nach  und 
nach  befreite,  und  dass  sicli  selbst  ein  Kant,  zu  seinem  Nachteil,  in 
einzelnen  Punkten  noch  sßhr  von  ihr  imponieren  Hess,  so  wird  man, 
denke  ich,  Sanchez'  kritisches  Vorgehen  nicht  zu  gering  anschlagen. 
Auffallend  ist,  wie  Sanchez'  Polemik  gegeü  das  logische  Formel- 
wesen, das  man  Philosophie  nannte,  nun  bald  in  den  Hauptver- 
tretern der  Philosophie,  jedenfalls  durch  Sanchez  mit  veranlasst,  zum 
charakteristischen  Ton  wird.  Bei  Bacon  und  Deskartes  sind  An- 
klänge an  Sanchez  unverkennbar.  So  lesen  wir  im  Xovum  Organum 
(1620):  „Logiea  inutilis  est  ad  inveutionem  scientiarum''  (aph.  11). 
„Logica  quae  in  abusu  est,  ad  errores  stabilendos  valet  potius  quam 
ad  inquisitionem  veritatis,  ut  magis  damnosa  sit,  quam  utilis"  (aph.  12). 
I'nd  ähnlich  in  aph.  13  u.  14.  Es  ist  ganz  das  Gleiche,  was  schon  San- 
chez sagte:  „Der  Syllogismus,  das  Verfahren  der  Logiker,  ist  für  die 
Erkenntnis  nicht  nur  von  keinem  Nutzen,  sonderit  sogar  hinderlich, 
verderblich  und  deshalb  verwerflich."  Auch  bei  Bacon  ist  es  haupt- 
sächlich Aristoteles,  der  angegriffen  wird,  der  für  alle  Sünden  der  Scho- 
lastik büssen  muss :  „Primi  generis  (Sophisticae)  exemplum  in  Aristotele 
maxime  conspicuum  est,  qui  philosophiam  naturalem  dialectica  sua  cor- 
rupit. . ."  (aph.  63).  Von  den  zahlreichen  Stellen  aus  Deskartes'  „Regulae 
ad  directionem  ingenii"  (Oev.  ed.  p.  Cousin  XI  p.  207,  255,  279  f.  288  f. 
295),  seiner  am  meisten  polemischen  Schrift  (Amst.  1701),  möge  hier 
nur  die  folgende  angeführt  werden :  „  Or  pour  se  convaincre  plus  com- 
pletement  que  cet  art  syllogistique  ne  sert  en  rien  ä  la  decouverte  de 
la  verite,  il  faut  remarquer  que  les  dialecticiens  ne  peuvent  former 
aucun  syllogisme  qui  conclue  le  vrai,  sans  en  avoir  eu  avant  la  matiere, 
c*est-ä-dire  sans  avoir  eonnu  d'avance  la  verite  que  ce  syllogisme 
developpe.  De  la  il  suit  que  cette  forme  ne  leur  donne  rien  de 
nouveau;  qu'ainsi  la  dialectique  vulgaire  est  completement  inutile  ä 
celui  qui  veut  decouvrir  la  verite,  mais  que  seulement  eile  peut  servir 

3 


18 

äexposer  plus  facilement  aux  autves  les  vevites  deja  connues"  (p.  256). 
Diese  Stelle  ist  gewiss  interessant.  Xicht  nur  sagt  Sanchez  in  ver- 
schiedenen Wendungen  wiederholt  dasselbe ;  das  darin  Gesagte  deckt 
sich  auch,  und  zwar  bis  auf  den  letzten  Rest,  mit  Kants  Ausfüh- 
rungen über  das  analytische  Urteil. 

In  seiner  Geringschätzung  alles  diskursiven  Denkens  begegnet 
sich  Sanchez  auch  mit  seinen  beiden  Landsleuten.  Nur  im  Ausdruck 
sind  diese  weniger  präcis.  Yom  Raisonnement  oder  „Discours",  wie 
er  es  nennt,  redend,  sagt  Montaigne:  „C'est  le  soulier  de  Therasa- 
menes,  bon  ä  tous  pieds."    ÄhnlicJi  Charron.    (De  la  Sagesse  I.  15.) 

Unerlässlich  erscheint  Sanchez  die  Forderung  einer  neuen  De- 
finition der  Erkenntnis  und  eine  Klarstellung  ihrer  Grenzen.  Hier 
ist  der  Punkt,  wo  Sanchez  sich  zuerst  in  seiner  positiven  Richtung 
mit  Deskartes  berührt.  Um  einen  sichern  Auknüpfungs-  und  ersten 
Ausgangspunkt,  ein  in  sich  festes  Prinzip  der  Erkenntnis  zu  finden, 
entschhesst  er  sich,  wie  Deskartes,  so  lange  alles  in  Zweifel  zu  ziehen, 
bis  er  auf  den  zu  suchenden  zweifellosen  Punkt  stossen  würde.  „Ad 
me  proinde  raemetipsum  retuli  omniaque  in  dubium  revocans,'  ac  si 
a  quopiam  nil  unquam  dictum,  res  ipsas  examinare  coepi :  qui  verus 
est  sciendi  modus.  Resolvebam  usque  ad  extrema."  (Qu.  n.  sc.  p.  77.) 
Die  Übereinstimmung  dieser  Stelle  mit  den  betreffenden  Geständ- 
nissen Dekartes'  im  Discours  de  la  Methode  (Op.  II.  p.  10  ff.)  und 
in  den  Meditationen,  besonders  in  der  ersten  und  zweiten,  ist  zu  auf- 
fallend. Freilich  macht  Sanchez  den  specifisch  skeptischen  Beisatz 
„Inde  initium  contemplationis  faciens,  quo  magis  cogito,  raagis  dubito 
nil  perfecte  complecti  possum",  und  an  einer  andern  Stelle  (a.  a.  0. 132) 
„Quoque  magis  rem  contemplor  magis  dubito."  Das  ist  deutlich  und 
lässt  nicht  verkennen,  wie  doch  auch  wieder  ein  grosser  Unterschied 
ist  zwischen  Sanchez  und  Deskartes.  Bei  letzterem  tritt  doch  gleich 
von  vornherein  die  Betonung  der  nur  interimistischen  Geltung  seiner 
Zweifel  deutlich  hervor.  Dasselbe  gilt  von  Bruno  (dubitemus  inte- 
rira).  Bacon  hat  diesen  Unterschied  besonders  herausgehoben  und  zu 
einer  Polemik  gegen  die  Skeptiker  verwendet  (nov.  org.  I.  aph.  37). 
Trotzdem  entfernen  sich  Sanchez  und  Deskartes  nicht  so  weit  von 
einander,  als  es  auf  den  ersten  Anblick  scheinea  könnte.  Jedenfalls 
stimmen  sie  im  Princip  ihrer  Methode  überein.  Aber  diese  Über- 
einstimmung geht  noch  weiter.  Sie  erstreckt  sich  bis  auf  den  Gang 
der  Untersuclmngen  im  Einzelnen.    Und  das  Resultat  beider?  Des- 


19 

kartes  findet,  dass  im  Bewusstsein  seiner  selbst  die  einzige  unmittel- 
bare und  uuanzweilfelbare  Gewissheit  liegt,  das  ^Yissen  vom  Sein. 
Sanchez  kommt  ihm  hierin  nahe.  Er  sagt:  „Certior  cnim  sum,  nie 
et  appetitum  habere  et  voluntatem:  et  nunc  hoc  cogitare,  modo  illud 
fugere,  detestare,  quam  templum  autSoratum  videre."  (Qu.u.  sc.  p.  58.) 
Und  vorher  sagt  er:  „Certus  quidera  sum,  me  nunc  haec,  quae  scribo, 
cogitare,  velle  scribere,  et  optare,  ut  vera  sint."  Mau  sieht,  dass  es 
sich  hier  genau  um  dieselben  Überlegungen  handelt,  die  Deskartes 
zu  seinem  strikten  „cogito,  ergo  sum"  geführt  haben.  Indessen 
schaut  bei  Sanchez  auch  hier  wieder  der  ausgemachte  Skeptiker 
heraus,  wenn  er  fortfährt:  „Sed  cum  considerare  uitor,  quid  sit,  haec 
cogitatio,  hoc  velle,  hoc  optare,  .  .  .  saue  deficit  cogitatio,  frustratur 
voluntas,  increscit  desiderium  ..."  (p.  57).  Sanchez'  Denkweise  ist 
zu  sensualistisch ,  sein  Misstrauen  gegen  alles  diskursive  Denken  zu 
gross,  als  dass  er,  wie  Deskartes,  von  der  wahrgenommenen  unmit- 
telbaren Innern  Gewissheit  des  eigenen  Seins,  deduktiv  weiter  gehend, 
zu  einem,  von  ihm  selbst  unbezweifelten,  positiven  System  des  Wissens 
hätte  fortschreiten  mögen.  Er  schlägt  diese  unmittelbare  Gewissheit 
von  unserer  Innern  Funktion,  obgleich  sie  auch  nach  ihm  die  ein- 
zige unzweifelhafte  Gewissheit  ist,  die  wir  überhaupt  haben  können, 
trotzdem  sehr  gering  an.  Sanchez  ist  niclit  nur  zu  sehr  Skeptiker, 
sondern  auch  zu  sehr  Sensualist.  Sein  Dogma  ist  ja:  „Omnis  a  sensu 
cognitio  est"  (Qu.  n.  sc.  40).  Und:  „Cognitio  omnis  a  sensu  trahitur. 
Ultra  haec  omnia  confusio,  dubitatio."  Es  ist  ihm  also  Bedürfnis, 
in  die  Prüfung  der  Sinne  und  der  Sinneserkenntnis  näher  einzutreten. 
Sanchez  kann  den  Satz,  dass  alle  Erkenntnis  aus  den  Sinnen  stamme, 
nicht  von  sich  weisen.  Er  erkennt  ihn  an.  Aber  trotzdem  ist  er  sehr 
weit  von  Bacons  empiristiscliem  Dogmatimus  entfernt,  der  durch  die 
Sinne  und  ihre  Erfahrung  zur  Wahrheit  und  Gewissheit  über  alle 
Dinge  gelangen  zu  können  vermeint.  Sanchez  will  zweifeln  und 
eingehend  prüfen.  Aber,  unter  dem  Einfluss  des  Neuplatonismus 
stehend,  von  vornherein  überzeugt,  dass  Sinneäerkenntnis  oder  Er- 
fahrung uns  gar  keine  Erkenntnis  vom  Wesen  der  Dinge,  von  den 
Dingen  an  sich,  geben  kann  (Sensus  solum  exteriora  videt,  nee  cog- 
noscit)  und  ganz  unzulänglich  mit  den  wissenschaftlichen  Hilfsmitteln 
versehen,  welche  die  vorgenommenen  Untersuchungen  erheischt 
hätten ,  konnte  er  auch  auf  diesem  Wege  sich  nicht  über  seinen 
Skepticismus  erheben.    Trotzdem  gelangte  er,  wenigstens  annähernd, 


20 

zu  Resultaten,  die  nicht  nur  der  erste  Hcliritt .  waren,  der  zum  theo- 
ro tischen  Idealismus  fuhren  sollte,  sondern  die  uns  sogar  schon  an  die 
exakten  Bestimmungen  der  heutigen  Wissenschaft  erinnern  können. 
Unter  den  Sinnen  interessiert  Sanchez  vor  allen  der  Gresichts- 
sinn,  als  der  vollkommenste  für  die  Auffassung  der  äussern  Welt. 
Sanchez  findet,  dass  dieser  oberste  und  höchste  Sinn,  der  doch  alle 
andern  an  Genauigkeit  und  Fähigkeiten  weit  übertrifft,  den  grössten 
und  mannigfaltigsten  Irrtümern  unterworfen  ist.  Der  Skeptiker 
koiinnt  nun  auf  eine  ganze  Reihe  von  physikalischen  Beobachtungen 
und  selbst  Experimenten  zu  sprechen,  besonders  auf  dem  Gebiet  der 
Strahlenbrechung  durch  Medien,  wie  auf  den  bekannten  Fall  mit 
der  Münze  in  der  Schüssel,  die  aus  der  nämlichen  Entfernung,  wo 
sie  soeben  nicht  mehr  gesehen  werden  konnte,  wieder  gesehen 
werden  kann,  nachdem  das  Gefäss  mit  Wasser  gefüllt  wurde.  Auf 
dem  Gebiet  der  Strahlenreflexion  begegnet  er  ähnlichen  Rätseln. 
Er  unterzieht  die  Natur  der  Spiegel  seinen  Untersuchungen  und 
seinem  ernstesten  Nachdenken.  Noch  andere  optische  Erscheinungen 
frappieren  ihn;  er  berührt  die  Thatsache,  dass  man  von  zwei  hinter- 
einander vor  das  Gesicht  gehaltenen  Fingern  den  zweiten  doppelt 
sieht,  wenn  man  den  ersten  fixiert  und  umgekehrt;  ferner,  dass  sich 
Täuschungen  ergeben  bei  schiefgedrückten  Augen,  bei  rück-  und 
seifwärtsgebogener  Rumpfhaltung  u.  s.  w.  Er  kommt  dann  auf  alle 
die  zahlreichen  Erscheinungen  zu  sprechen,  die  ihm  aufgefallen  sind, 
über  Farbenspiegelung  und  Farbentäuschung,  dass  \\ir  z.  B.  in  einem 
Glas  Wasser,  in  das  die  Sonne  scheint,  Farben  sehen,  obwohl  wir 
überzeugt  sind,  dass  nach  unserer  sonstigen  Vorstellung  von  Farbe 
in  dem  Glas  jetzt  gar  keine  Farbe  enthalten  ist.  Er  erinnert  daran, 
dass  wir  an  dem  Hals  der  Ringeltaube,  je  nachdem  wir  den  Kopf 
wenden,  an  der  nämlichen  Stelle  jetzt  diese,  dann  eine  andere  Farbe 
sehen;  dass  uns  ein  und  derselbe  Gegenstand  bei  Nacht  anders  ge- 
färbt erscheint  als  bei  Tage.  (Qu.  n.  sc.  60  ff.)  Es  ist  sehr  natürlich, 
dass  sich  ihm  hier  die  Frage  aufdrängt,  welche  von  den  verschie- 
denen Farben  dem  Körper  nun  wirklich  innewohnt;  oder  ob  ihm, 
da  wir  ihn  ja  unter  verschiedenen  Farben  wahrnehmen,  überhaupt 
eine  davon  w i r k  1  i c li  angehöre,  ob  überhaupt  eine  ihm 
t  hat  sächlich  anhafte?  Man  sieht,  Sanchez  steht  hier  vor  einem 
der  weittragendsten  und  folgenschwersten  Probleme  der  modernen 
Philosophie  und  Wissenschaft. 


21 

Mit  seinen  Betrachtungen  über  die  Wärme  gelit  es  ihm  nicht 
anders,  als  mit  der  Farbe.  Er  kann  nach  der  Annahme,  dass  das- 
selbe Wasser  entweder  kalt  oder  warm  sei,  d.  h,  dass  nach  dem 
Satz  des  Widerspruchs  nicht  beides  zugleich  sein  könne,  nicht 
begreifen,  wie  es  nun  doch  für  die  eine  Hand,  die  aus  Eiswasser 
kommt,  warm,  und  für  die  andere,  die  aus  heissem  Wasser  her- 
kommt, zu  gleicher  Zeit  kalt  ist.  „Quid  ergo  caliditas?"  ruft  er 
aus.  „Quid  frigiditas?"  Es  macht  einen  eigentümlichen  Eindruck, 
wie  Sanchez  alle  diese  Erscheinungen  fast  mit  einer  Art  Gespenster- 
furcht vor  den  Richterstuhl  seiner  Vernunft  citiert.  Er  weiss  sie 
nicht  zu  erklären.  Er  kommt  auch  nicht  zu  dem  klar  gedachten, 
bewussten  Gedanken,  dass  diese  optischen  und  anderen  Eigenschaften 
gar  nicht  etwas  den  Körpern  Eigentümliches  sind,  sondern  nur 
unsere  eigenen  Wahrnehmungsweisen.  Er  wäre  sonst  kein  Skep- 
tiker; er  hätte  sonst  ein  Resultat  der  Erkenntnis  gewonnen  gehabt, 
das  er  selber  als  ein  hochwichtiges  hätte  anerkennen  müssen.  Da 
wäre  sein  Skepticismus  überwunden  gewesen.  Also  den  letzten 
Schritt  hat  Sanchez  nicht  gethan;  die  letzte  Consequenz,  die  ein 
posititves  Resultat  gewesen  wäre,  hat  er  nicht  gezogen.  Aber 
durch  seine  klare  Einsicht  davon,  dass  die  Eigenschaften,  so  wie 
unsere  Sinne  sie  wahrnehmen,  nicht  ein  in  den  Dingen  Seiendes 
und  die  Dinge  Bestimmendes  sein  könnten;  durch  diese  Einsicht, 
die  platonisch  aussieht  und  für  Sanchez  gar  nicht  neu  zu  sein 
scheint,  die  aber  bei  ihm  einen  ganz  andern  Sinn  hat,  als  bei  den 
Piatonikern,  da  Sanchez,  im  Gegensatz  zu  diesen,  der  Überzeu- 
gung ist,  dass  die  Dinge  eben  nur  auf  dem  Wege  durch  die 
Sinne  zur  menschlichen  Erkenntnis  kommen  könnten  (und  nicht 
durch  angeborene  Ideen  derselben  (p.  68):  —  durch  diese  Einsicht 
hat  Sanchez  die  Consequenz  der  Deskartes-Hobbes-Locke'schen  Lehre 
von  der  Subjectivität  der  sogenannten  sinnlichen  Qualitäten  der  Dinge 
nahe  gelegt.  Das  ist  Sanchez' .  Bedeutung.  In  diesem  Sinne  darf 
er  als  der  erste  Anreger  gelten  nicht  nur  der  idealistischen  oder  phä- 
nomenalistischen  Richtung,  welche  die  tiefsten  späteren  Systeme 
nach  ihrer  metaphysischen  Seite  hin  charakterisiert,  sondern  auch 
jener  eigentümlichen  Fassung  und  Ausbildung  der  von  sinnenphysio- 
logischen und  psychologischen  Betrachtungen  ausgehenden,  im  Kanti- 
schen Kriticismus  kulminierenden  Erkenntnislehre,  die  der  Stolz  und 
die  Stärke  der  modernen  Philosophie  ist. 


22 

Alle  Elemente,  aus  denen  heraus  die  moderne  Philosophie  sich 
entwickelt  hat,  alle  ihre  Hauptrichtungen  finden  sich  schon  in  San- 
chez  angedeutet.  Er  ist  nicht  nur,  yne  oben  hervorgehoben  wurde, 
der  Vorläufer  Dekartes'  mit  Rücksicht  auf  dessen  „cogito  ergo  sum" 
und  jener  Philosophie,  die  die  Welt  der  Erfahrung  als  objektiv  real 
leugnet;  es  ist  fast  evident,  dass  auch  Bacon  der  Philosoph  des 
„spes  una  in  inductione  vera",  der,  wie  aus  seinen  polemischen  Äusse- 
rungen hervorgeht,  die  Skeptiker  genau  kannte,  nicht  nur  in  seinen  ne- 
gativen Elementen,  als  Polemiker  gegen  syllogistisches  Denken  und 
den  vermeintlichen  Aristoteles,  sondern  auch  in  der  positiven  Richtung, 
die  ihn  zu  seinem  ausgeprägten  Empirismus  führte,  bedeutend  durch 
Sanchez  angeregt  wurde.  Denn  das,  was  dem  ]S^ovum  Organum 
als  hauptsächlichstes  positives  Prinzip  zu  Grunde  liegt,  die  Forderung 
der  Xaturbeobachtung ,  des  Experiments  und  der  Induktion,  kann 
man  nirgends  ausdrücklicher  betont  finden  als  bei  Sanchez.  „Qui  recte 
judicare  vult,  res  contempletur  (p.  88).    Duo  sunt  inveniendae  veri- 

tatis  media Ea  vero  sunt  experimentum  judiciumque ,    quorum 

neutrum  sine  alio  stare  recte  potest."  Damit  stimmt  indes  auch 
Deskartes  überein.  Ja  es  scheint  geradezu  eine  freie  Übersetzung 
des  Satzes  von  Sanchez  zu  sein,  wenn  er  in  den  „regulae",  wovon 
ich  leider  den  lateinischen  Urtext  nicht  vor  mir  habe,  sagt,  „qu'il 
n'y  a  que  deux  voies  ouvertes  ä  rhomme  pour  arriver  ä  une  con- 
naissance  certaine  de  la  verite,  l'intuition  evidente,  et  la  deduction 
necessaire"  (p.  278).  Im  Princip  sehen  wir  demnach  Sanchez, 
Bacon  und  Deskartes  übereinstimmen.  Aber  sie  gehen  sehr  aus- 
einander in  der  Anwendung  desselben.  Sanchez  findet  beide  Mittel 
gleich  unsicher,  gleich  unzulänglich,  und  hat  nichts  eiligeres  zu 
thun,  als  auch  durch  diese  Überlegungen  wieder  auf  sein  Resultat, 
quod  nihil  scitur  zurückzukommen.  Er  bleibt  deshalb  auch  hier 
innerhalb  der  Grenze  des  Negativen  stehen.  Bacon  und  Deskartes 
befinden  sich  in  dem  gemeinschaftlichen  Gegensatz  zu  ihm,  dass  sie 
zu  den  beiden  konstatirten  Erkenntniswegen  Vertrauen  haben. 
Sie  unterscheiden  sich  aber  bekanntlich  selber  wieder  von  einander 
dadurch,  dass  der  erstere,  ausdrücklich  sowohl  wie  thatsächlich,  auf 
die  Induktion  (Experiment),  der  letztere  aber  auf  die  Deduktion  in 
Verbindung  mit  der  Synthese  auf  Grund  der  Intuition  (more  geo- 
metrico)  das  Hauptgewicht  legt.  Indessen  lässt  sich  vielleicht  nicht 
nur   auf   Bacon   und   Deskartes,    sondern   sogar   auf  Locke   ein  un- 


23 

mittelbarer  Einfluss  Sanchez'  naclnveiseu.  Wenigstens  ist  eine 
Stelle  in  Sanchez  sehr  frappant.  Einen  der  Hauptzüge  der  Locke- 
schen Psychologie ,  ja  gewissermassen  das  Grrundprincip  derselben 
bildet  dessen  Dreiteilung  der  Vorstellungen,  nicht  jene  in  Yorstel- 
lungen  primärer,  sekundärer  und  tertiärer  Eigenschaften,  sondern 
jene  in  Vorstellungen,  die  wir  erstens  aus  den  äussern  Sinnen 
haben  (sensation),  zweitens  solche,  die  wir  gewinnen  durch  ein  Auf- 
merken auf  innere  Vorgänge  in  uns  (reflection),  und  endlich  in 
solche,  die  aus  beiden  fliessen  („Ideas  of  both  Sensation  and  reflection"). 

„External  objects  furnish  the  mind  with  the  ideas  of  sensible 
qualities,  which  are  all  those  different  perceptions  the  produce 
in  us;  and  the  mind  furnishes  the  understanding  with  ideas  of  its 
own  Operations."  Nun  sagt  Sanchez  wörtlich:  „Tria  tamen  sunt 
quae  a  mente  diversiraodo  cognoscuntur.  Alia  omnino  externa  sunt, 
absque  omni  mentis  actione.  Alia  omnino  interna  quorum  quaedam 
sine  mentis  opera  sunt,  alia  non  omnino  sine  hac;  alia  partim  externa 
partim  interna.  Deinde  illa  se  per  sensus  pruduunt;  ista  nullo  modo 
per  hos,  sed  immediate  per  se;  haec  denique  partim  per  hos,  par- 
tim per  hos,  partim  per  se"  (a.  a.  0.  p.  56). 

Sanchez  Hauptwerk,  „Quod  nihil  scitur"  ist  ein  kleines  Büch- 
lein von  kaum  hundert  grossgedruckten  Oktavseiten  und  hat  einen 
fatalen  Titel;  aber  es  enthält,  wie  aus  dieser  Darstellung  hervor- 
gelien  mag,  trotz  vieler  voluminöser  Folianten,  an  denen  auch  seine 
Zeit  nicht  arm  ist,  ganze  Nester  fruchtbarer,  entwicklungsfähiger 
und,  wie  wir  wissen,  wirklich  zur  Entwicklung  gelangter  Gedanken- 
keime. Es  dürfte  deshalb  gerechtfertigt  sein,  w^enn  wir  uns  bei 
Sanchez,  der  im  allgemeinen  zu  wenig  berücksichtigt  zu  werden 
scheint,  etwas  länger  verweilt  haben.  Gerkrath  hat  in  seinem  Werk- 
chen über  Sanchez  („Fr.  Sanchez,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
philosophischen  Bewegungen  im  Anfang  der  neuern  Zeit.  Wien  1860") 
eine  ziemlich  ausführliche  Darstellung  des  Lebens,  des  Charakters 
und  der  Lehre  unsers  Philosophen  gegeben,  die  geeignet  ist,  die 
wärmsten  Sympathien  für  ihren  Helden  zu  erwecken.  Allein  San- 
chez' Stellung  in  der  Geschichte  der  modernen  Philosophie  und  sein 
Verhältnis  zu  Bacon  und  Deskartes  ist  trotzdem  niclit  genug  präci- 
siert  und  seine  Bedeutung  für  den  ganzen  Gang  jener  Entwicklung 
nicht  hinreichend  gewürdigt.  Besonders  sind  die  beiden  entscheiden- 
den Richtungen   seines  Denkens,    durch    die    er   gerade   Bedeutung 


24 

hat  füi-  die  Geschichte  der  Philosophie,  seine  Ansichten  von  der 
formal-logischen  (syllogistischen)  Methode  und  die  Ergebnisse  seiner 
Reflexionen  über  Sinneserkenntnis,  in  dem  breiten  Gang  der  Ana- 
lyse zu  -wenig  herTorgehoben ,  besonders  die  letztere.  Yon  einem 
Zusammenhang  Sanchez'  im  letzteren  Punkte  mit  der  für  die  ganze 
moderne  Weltanschauung  entscheidend  gewordenen  Sinnen-Erkeunt- 
nis-Theorie  bei  Deskartes,  Hobbes,  Locke  findet  sich  noch  nicht  die 
leiseste  Andeutung. 

3. 

Zwei  charakteristische  uud  für  die  Folgezeit  wichtig  gewordene 
Lehren  Deskartes',  die  von  der  ursprünghchsten  Gewissheit  im  Selbst- 
bewusstsein,  und  die  von  den  Sinnesqualitäten  sind  es,  die  zuerst 
von  Sanchez  berührt  wurden.  Aber  Sanchez  ist  nicht  der  einziffe. 
der  liierin  mit  Deskartes  in  vergleichende  Betrachtung  gezogen  zu 
werden  verdient.  Es  ist  noch  ein  anderer,  der  diesen  Problemen 
nahe  kommt  und  deshalb  in  der  Entstehungsgeschichte  dieser  ganzen 
Richtung  eine  nähere  Berücksichtigung  erheischt.  Es  ist  dies  der 
Italiener  Tommaso  Camp  an  eil  a  (1568 — 1639).  Auch  von  ihm 
kann  man  sagen,  dass  er,  wenigstens  mit  einem  Fuss,  bereits  den 
Boden  def  modernen  Denkens  betreten  hat.  Campanella  kann  nun 
zvrar  nicht  als  Vorgänger  Deskartes'  betrachtet  werden.  Seine  Werke 
erscheinen  1637;  die  hier  hauptsächlich  in  Betracht  kommende 
Methaphysik  erst  1638.  Deskartes'  Disc.  d.  1.  Meth.  und  Dioptrik, 
die  beiden  Schriften ,  die  schon  jene  gedachten  Theorien  enthalten, 
erscheinen  ebenfalls  1637.  Aber  auch  umgekehrt  konnte  Deskartes 
nicht  von  Campanella  beeinflusst  sein. 

Um  so  auffallender  ist  der  nicht  zu  verkennende  Parallelismus 
in  dem  Gedankengang  beider  Philosophen.  Diese  Übereinstimmung 
wird  um  so  auffallender  bei  der  Betrachtung  der  grossen  Gegen- 
sätze beider  in  Charakter  und  Schrift:  dort  der  hochpoetische,  feurige 
Calabreser,  in  dessen  mächtiger  Phantasie  die  Gedanken  zu  über- 
raschenden Bildergestalten  werden,  der,  verwandt  dem  Geiste  eines 
Bernard  von  Clairvaux,  seinen  philosophischen  Gedanken,  neben  der 
systematischen  Darstellung,  in  schwungvollen  Hymnen  und  Cantaten 
Ausdruck  giebt;  auf  der  andern  Seite  der  ruhige,  klare,  besonnene 
^[athematiker.  Campanella  ist  in  seinem  Denken  noch  so  schwär- 
merisch ausschweifend,  in  seiner  Auffassung  der  Welt  und  der  Natur 


25 

noch  so  phantastisch,  und  in  seiner  Darstellung  noch  so  unwissen- 
schaftlich, poetisch  überschwänglich  und  mit  so  viel  scholastisch  mittel- 
alterlichem Ballast  umgeben,  dass  der  bestimmende  Einfluss  seiner 
Gedanken  dadurch  sehr  geschwächt  wurde.  Namentlich  musste  er 
von  Deskartes,  der  alle  den  Fehlern  Campanella's  entgegengesetzte 
Tugenden  besass,  weit  überholt  werden.  Sein  Denken  an  und  für 
sich  liegt  so  gut  wie  das  des  Deskartes  in  der  modernen  Richtung. 
Dies  zeigt  sich  schon  darin,  wie  er  mit  Petrus  Ramus,  Sanchez  u.  a. 
nicht  nur  gegen  den  mittelalterlich-scholastischen,  sondern  gegen 
Aristoteles  überhaupt  in  der  energischsten  Weise  Front  macht. 

Zwei  Momente  sind  es,  die  wie  ein  roter  Faden  das  moderne 
Denken  durchziehen  und  sein  eigentlichstes  Wesen  bestimmen,  die 
sich  in  Campanella  schon  deutlich  zeigen  und  ihn  zu  einem  Mo- 
dernen stempeln.  Das  ist  erstens  der  Zweifel  an  den  Resultaten 
einer  fast  ausschliesslich  auf  dem  Wege  rein  formaler ,  rein  logi- 
scher Yerstandesfunktionen  zu  Stande  gekommenen  Philosophie 
und  an  der  Zulänglichkeit  dieser  Funktionen  und  der  menschlichen 
Vernunft  überhaupt,  verbunden  mit  der  kritischen  Forderung  einer 
strengen  Prüfung  des  Geschäftes  der  Vernunft  und  der  eines  zweifel- 
fi'eien  (rationalistischen)  Ausgangspunktes  alles  Denkens.  Das  zweite 
ist  ein  Rekurrieren  von  der  rein  diskursiven  Denkweise,  von  der 
ausschliesslich  deduktiven  Methode  des  Philosophierens  auf  die  Sinnes- 
erkenntnis, auf  die  Erfahrung,  an  die  sich  gleichermassen  wieder 
der  Zweifel  heftete.  Bacon  gibt  in  der  oben  erwähnten  Polemik 
gegen  die  Skeptiker  eine  präcise  Formulierung  dieses  Verhältnisses. 
„Die  Weise  derer,"  sagt  er,  „welche  den  Zweifel  festgehalten  haben, 
und  unser  Weg  stimmen  in  ihren  Anfängen  gewissermassen  überein ; 
aber  in  dem  Ausgange  trennen  sie  sich  sehr  weit  und  gehen  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  auseinander;  jene  sagen  schlechtweg,  dass  nicht 
gewusst  werden  könne ;  wir,  dass  nicht  viel  auf  dem  bisher  üblichen 
Weg  geAvusst  werden  könne;  jene  vernichten  das  Ansehen  des  Sinnes 
und  des  Verstandes;  wir  sinnen  auf  Hilfsmittel  für  denselben"  (a.  a.  O.). 

In  Deskartes  und  Bacon  treten  die  beiden  Richtungen  schon 
getrennt  auf.  In  Campanella  liegen  sie,  wiewohl  weniger  deutlich 
entwickelt,  oder  vielleicht  gerade  desshalb,  noch  neben  einander. 
Dieser  steht  dem  Skepticismus  näher;  jene  sind  bereits  beim  Dog- 
matismus angelangt.  Beide  erwähnte  Denkrichtungen,  kritisch  in 
ihrer  innersten  Natur  und  gleichsam  die  ersten  Wurzeln  des  späte- 

4 


26 


ren  eigentlichen  Kriticismus ,   liegen  zusammen   schon  der   dogmati- 
schen Philosophie  schöpferisch  zu  Grunde,   so  dass  die  Behauptung 
nicht   allzugewagt   erscheinen   dürfte,    dass  sämmtliche   dogmatische 
Systeme  der  neuern  Philosophie  aus  rein  kritischen  Bestrebungen 
und    Tendenzen    hervorgewachsen    sind.      Diese   Systeme   waren 
auch  nur  einzelne  Haltstationen  des  aus  leisen  Anfängen  sich  heraus 
entwackelnden   und   emporringenden  Kriticismus.     Einmal   die   For- 
derung   eines    zweifelfreien    ersten   Erkenntnisprinzipes    aufgestellt 
konnte  man  wohl   eine  Zeit  lang  glauben,    ein  solches  gefunden  zu 
haben.  Wie  aber,  wenn  man,  was  nicht  ausbleiben  konnte,  an  diesem 
wieder  zweifelte?    Wo  stand  man  dann?    Antwort:    Yor  der  Fra-e 
nach   der  Möglichkeit   einer  jeden  Erkenntnis    überhaupt,    d    i    Ad- 
dern Kant'schen  Kriticismus.     Dass  Campanella  schon  in  dieser  Ent- 
wicklungsreihe des  modernen  Gedankens  innen  steht  oder  wenigstens 
am  Anfang  derselben,  zeigt  ein  Einblick  in  seine  Werke. 

Stärker  als   irgendwo   tritt  bei  Campanella  immer  und  immer 
wieder  die  Forderung  hervor  eines  einstweiligen  radikalen  Zweifels, 
bis  em  Satz  gefunden  sei,    von  dem  aus  die  ganze  Philosophie  neu 
angefangen  werden  könne.  MitDeskartes  stimmt  Campanella  nicht  nur 
in  der  Aufstellung  dieser  Forderung,  sondern  auch  in  der  Art  ihrer 
Lösung,  bis  auf  den  Satz,  den  er  als  sichern  Ausgangspunkt  gefunden 
zu  haben  glaubte,  überein.  Es  ist  die  Thatsache  von  der  unmittelbaren 
GexN^ssheit  des  SelbstbeuTisstseins.     Auch  für  Campanella  ist  dieser 
Gedanke  nicht  neu.    Bekanntlich  findet  er  sich  schon  bei  Augustinus. 
Campanella  hat  noch  nach  der  Art  der  Scholastiker  die  Gepflogen- 
heit, alle  Welt  zu  citieren   und  erst  alle  möglichen  Autoritäten  für 
und  wider  gegeneinander   ins  Feld  zu   führen,   bevor  er  mit  seinen 
eigenen  Gedanken   herausrückt,    eine  Manie,    die   unmittelbar  nach 
ihm,  im  Bewusstsein  einer  von  allem  Autoritätsglauben   sich  losrin- 
genden Zeit,   in  das  gerade  Gegentheil  umschlug.     Er  führt  Augu- 
stinus wörtiich  an.    Und  auch  hier  möge  die  Stelle  folgen.    Campa- 
nella  ist   im   Gegensatz   zu    den   antiken   Skeptikern    (den  Jüngern 
Akademikern)  überzeugt,  dass  die  Zweifel  zu  überwinden  sein  müssen. 

Er  fahrt  fort:  „ contra  Academicos  convincit  Augustinus  in  XI 

de  civ.  Dei,  c.  24,  25,  26,  ubi  certissima  esse,  inquit,  haec  tria  nobis 
videhcet,  nos  Esse,  Scire  et  Yelle.  IS^am,  inquit,  nos  esse  novimus 
absque  dubio  et  falsitate,  ac  nostrum  esse  diligimus  ac  nosse:  et  in 
his   tribus   nulla  nos  falsitas  verisimilis  tiirbat,   si  quidem   circa  illa 


27 

objecta  erramus,  quorum  notitiam  habemus  ex  illorum  speciebus 
aut  motibus  illatis  ab  ipsis:  qui  cum  similes  sint  aliis,  possunt  nos 
decipere  iit  unum  pro  alio  accipiamus,  vel  quia  non  totaliter  reprae- 
sentant,  At  nostri  Esse,  uostrique  Scire,  uostrique  Velle,  nulla  est 
species  aut  motio  phantastica,  sed  praesentia  perennis.  Itaque  circa 
heac  falli  non  possumus"  (Met.  32).  Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  auch 
Deskartes  durch  Augustin  zu  seinem  so  viel  genannten  Satze  geführt 
worden  ist.  Die  starke  Verwandtschaft  der  ganzen  Deskartes'schen 
Denkrichtuug  mit  der  Platonisch-Augustinischen  lässt  es  sogar  sehr 
wahrscheinlich  erscheinen.  Aber  die  obige  Stelle,  die  sehr  interes- 
sant ist,  zeigt  zugleich,  welchen  grossen  Sclu-itt,  oder  besser,  welchen 
bedeutenden  Gedankenfortschritt  Deskartes  machen  musste,  um  zu 
seiner  Formulierung  dieses  Gredankens  zu  kommen. 

Der  entscheidende  Fortschritt  in  der  Deskartes'schen  Formu- 
lierung aber  und  ihr  bedeutendster  Unterschied  von  den  vorherge- 
henden besteht  in  der  Betonung  des  „cogitare"  gegenüber  dem  „velle, 
nolle,  optare,  fugere"  und  den  andern  seelischen  Funktionen.  Wenn 
es  nun  auch  ganz  unrichtig  ist,  das  kartesianische  „cogito"  mit  dem 
engen  „ich  denke"  zu  übersetzen,  indem  Deskartes  ausdrücklich 
alle  seelischen  Funktionen  darunter  verstanden  haben  will  (op.  I.  10), 
so  ist  doch  auf  der  andern  Seite  nicht  zu  verkennen,  dass  das  „cogi- 
tare"  bei  ihm  prävaliert,  und  das  mit  Recht;  denn  es  muss,  ausge- 
sprochen oder  unausgesprochen,  bei  jeder  bewussten  Funktion  mit 
dabei  sein;  denn  es  bedingt  das  Bewusstsein  des  Yorstellens  im  Ge- 
gensatz zum  Bewusstsein  der  Vorstellung;  darum  nicht  „volo",  nicht 
„repugno",  nicht  „opto",  nicht  „puto",  nicht  „sentio",  sondern 
„cogito  ergo  sum".  Dass  übrigens  Deskartes'  Fassung  des  „cogitare" 
keine  ganz  klare  war,  zeigt  am  besten  Lockes  Polemik  gegen  Des- 
kartes' Auffassung  von  der  immer  denkenden  Seele. 

Die  Verwertung  dieses  Satzes  und  der  sich  daran  schliessende 
Gedankengang  ist  indes  ganz  der  gleiche  bei  Campanella  wie  bei 
Deskartes.  Aus  der  Gewissheit  des  Selbst  schliesst  Campanella  auf 
die  Gewissheit  der  Existenz  Gottes,  dessen  Idee,  die  wir  in  uns  vor- 
finden, nicht  von  uns  selber,  als  von  endlichen  Wesen  herrühren 
kann,  sondern  von  dem  unendlichen  Gott  selbst  in  uns  gelegt  sein 
muss.  Ein  Vergleich  mit  den  Meditationen  Deskartes',  speciell  mit 
der  dritten,  zeigt,  dass  die  Ähnlichkeit,  man  kann  sagen  Überein- 
stimmung beider  nicht  grösser  sein  könnte. 


28 

Mit  seinem  (psychologischen)  Gottesbeweis  stellt  sich  Campanella 
eigentlich  auf  den  Standpunkt  der  Annahme  von  angeborenen  Ideen. 
Daneben  steht  nun  ganz  unvermittelt  sein  Sensualismus.  Göttliche 
Ideen  sind  uns  angeboren:  die  weltlichen  Dinge  erfahren  wir  durch 
unsere  Sinne  und  nur  durch  diese.  Die  von  den  Philosophen  eben 
jener  Periode  häufig  vertretene  Lehre  von  einer  zweifachen  Wahr- 
heit ist  ge Wissermassen  ein  Analogen  hierzu.  „Neque  propterea  ne- 
gamus  ideas,"  sagt  er  und  fährt  dann  fort:  „Participationes  autem 
divinae  entitatis  sunt  ideae,  ut  infra  docebimus  et  scientia  Angelorum 
est  per  has  ideas,  sed  non  quasi  formulas,  domus,  cytherae,  anuli, 
quae  si  sunt  et  in  anima,  profecto  omnis  cogitatio  fiet  per  excita- 
tionem  a  sensilibus  in  lumine  divinitatis,  cuius  particeps  anima  cog- 
nationem  habet  cum  eis"  (Met.  p.  44).  Campanella's  Sensualismus 
tritt  in  den  betreffenden  Partien  seines  Werkes  so  schroff  auf  als 
irgendwo.  An  dieser  Stelle  indes  scheint  der  Piatonismus  bedeutend 
zu  prävalieren.  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  sein  Denken  sich 
streng  an  die  religiöse  Richtschnur  hält.  „Quopropter  voluntas 
veritatem  agnoscere  de  humanis  et  divinis  rebus  ad  doctorem  con- 
fugere  oportet  indubitata  fide  dignum,  et  non  invenimus  talem  nisi 
Deum."  Indes  kommt  der  Sensualismus  dabei  nicht  zu  kurz.  Der 
letztere  Satz  war,  man  sollte  es  kaum  vermuten,  sogar  schon  die 
Wendung  dazu.  „Dens  autem  duobus  ad  nos  loquitur  viis,  nempe 
vel  res  ipsas  producendo,  vel  revelando  humano  ..."  (Met.  p.  2). 
Yon  Antonius,  Bernardus  und  Chrysostomus  sagt  er:  „Mundum  vo- 
cant  Dei  codicem:  et,"  fährt  er  fort,  „profecto  sie  est,  quoniam  hie 
Dens  scribit  omnes  conceptus  suos."  Aus  diesen  Prämissen  entwickelt 
sich  ihm  von  selbst  seine  Erkenntnislehre  und  Psychologie:  „Hunc 
autem,"  geht  es  nach  einigen  Sätzen  weiter,  „codicem  legimus  et 
discimus  per  sensus  exteriores,  et  ex  sensationibus  multis  fit 
memoria,  quae  anticipatarum  sensationum  est  conservatio,  ex  me- 
moriis  experimentum."  Das  ist  Sensualismus,  ausgeprägter  Sensua- 
lismus. Man  glaubt  fast  einen  Condillac  zu  hören:  und  doch  macht 
Campanella  gerade  hier  den  Versuch,  die  beiden  feindlichen  Ele- 
mente seines  Denkens,  Piatonismus  und  Sensualismus,  mit  einander 
auszusöhnen,  zu  vereinigen.  Aber  wie  in  obiger  Stelle  der  Schwer- 
punkt im  Piatonismus  liegt,  so  hier  im  Sensualismus. 

„Ecce  enim  S»  Augustinus  et  Lactantius  negant  exstare  anti- 
podas  et  sunt  sapientes  et  sancti.    Christophorus  Columbus  navigans 


29 

in  alterum  hemisphaerium  testatur,  exstare  antipodas,  utri  credendum 
est?  Profecto  Columbo  testi  per  sensum  ex  libro  Dei,  non  Augustino 
opinanti  de  schola  humana"  (Xet.  p.  3).  Würde  man  diese  Stelle 
nicht  eher  in  Bacon  suchen,  als  bei  Campanella?  Und  erst,  wenn 
er  sagt:  „Propositiones  universales  a  sensu  accepimus  per  induc- 
tionem"  (a.  a.  0.)!  Oder  von  den  „universalibus  regulis,  Xunquam 
Veras  (eas)  dicimus,  nisi  fuerint  a  sensibus  approbatae,  et  cum  obli- 
viscimur,  aut  dubitamus,  denuo  ad  sensum  recurremus,  consoleutes 
Codicem  Dei". 

Sätze  wie  die  folgenden:  „Nee  intellectus  intelligit  quidditatem,  . 
quae  non  sentitur,  nihil  est  in  intellectu,  quod  prius  non  fuerit  in 
sensu  (Met.  p.  7).  Mhil  enim  seit  (vid.  mens)  quod  non  senserit", 
(Met,  p.  57)  sind  deshalb  für  Campanella  selbstverständlich.  Soweit 
indes  Campanella  von  der  dogmatischen  Methode  eines  reinen  Ra- 
tionalisten wie  Deskartes,  mit  dem  er  im  Grundprinzip  ja  überein- 
stimmt, sich  entfernt  hält,  und  vielmehr  den  Glauben  an  die  Stelle 
der  höheren  Yernunfterkenntnisse  treten  lässt,  wenigstens  diese  Sätze, 
wenn  er  sie  auch  Erkenntnisse  nennt,  als  Glaubenssätze  behandelt, 
so  entfernt  bleibt  er,  gleich  Sanchez,  dem  entwickelten  empiristisch- 
dogmatischen  Denken.  Der  Satz  „Sensus  autem  testatur  de  rebus 
uti  sunt"  sieht  sehr  verdächtig  aus.  Allein  er  ist  wohl  in  einem 
sehr  restriktiven  Sinne  zu  nehmen.  „Sensus  autem  testatur  de  rebus 
uti  sunt,  imaginatio  vero  uti  nos  putamus  esse;  itaque  autoritas 
opinantium  nulla  est  contra  testes."  In  diesem  Zusammenhang 
klingt  er  schon  anders,  und  aus  weiterer  Yergleichung  wird  es  bis 
zur  Evidenz  klar,  dass  wir  auch  hier  nicht  mehr  und  nichts  weniger 
haben,  als  die  bei  Sanchez,  Bacon,  Deskartes  u.  a.  gleichmässig  auf- 
tretende Opposition  gegen  Autoritätsglauben  und  die  falsche  Schätzung 
und  Überschätzung  der  schliessenden  Erkenntnisthätigkeit ,  gegen 
den  Syllogismus.  Nur,  „si  utrique  opinantes,  credendum  est  sanc- 
tiori,  si  tamen  alter  non  meliores  offert  Syllogismus" 
(a.  a.  0.)     Das  also  war  des  Pudels  Kern! 

Campanella  verwahrt  sich  ausdrücklich  gegen  die  Meinung,  als 
ob  wir  durch  Sinneserfahrung  vom  Wesen  der  Dinge  etwas  erfahren 
könnten.  Wiederholt  betont  er  in  diesem!  Sinne,  dass  wir  nichts 
wissen  und  nid  ts  wissen  können.  „Qui  vero  dicunt  se  scire  hoc 
quod  nihil  s.itur,  rectus  sapere"  (Met.  p.  30).  Es  ist  deshalb 
nicht  zu  verwi  ndern,  wenn  er  trotz  seines  Sensualismus  Piaton  bei- 


30 

stimmt,  dass  es  durch  die  Sinne  und  von  Sinnendingen  keine  Er- 
kenntnis gebe,  sondern  nur  Meinungen  und  Täuschungen:  K'on  esse 
scientiam  de  sensibilibus  sed  opinionem,  quoniam  alliis  aliter  apparent, 
et  sapores,  et  odores,  et  colores,  et  pondera,  et  soni,  et  calor  et 
frigus.  Immo  aliter  sensibus  brutorum  ac  nostris,  et  aliter  nostris 
sanis  quam  aegris,  et  vigilantibus  quam  dormientibus  (Phy.  3). 

Also  auch   in  Campanella  dieses   eigentümliche  Zusammensein 
von   Sensualismus   und   Piatonismus.     Aber    Campanella    wird   kein 
Skeptiker.     Den   Zweifel  um   seiner  selbst  willen   verwirft  er  sogar 
als   etwas    Unmoralisches.     Campanella   glaubt   an    die    Mögüchkeit 
menschlicher  Erkenntnis.     „Haec  dubitatio  imperfectionem  scientiae 
humanae  ostendit,  non  autem  nihilitatem."     Er  glaubte  ja,  wie  wir 
gesehen  haben,   im  Satz  vom  Selbstbewusstsein  bereits  eine  sichere 
Gewissheit  gefunden  zu  haben,  nicht  weniger  in  der  sich  ihm  daraus 
durch  den  psychologisch-ontologischen  Schluss  ergebenden  Gewissheit 
von  der  Existenz  Gottes.     Wie  aber  nun  mit  den  Dingen  der  äussern 
Welt?     Campanella's   sensualistischer   Standpunkt  ist  der,   dass  wir 
von  diesen   nur  durch  die  Sinne  wissen  können:    darum  heissen  sie 
ja  sinnliche  Dinge.     Nun  ist   sich  Campanella  allerdings  noch  nicht 
wie   Hobbes,    Malebranche   und   Berkeley    der   Schwierigkeit  jenes 
Problems   bewusst,   wie   der  Geist   als   ein   Denkendes   die    aus 
gedehnten   Körper   fassen  möge,   indem  ja  eine  ungeheure  Kluft 
beide   zu   trennen   scheint;    aber   es   ist   ihm   doch  schon   durch  die 
platonische  Philosophie,   die  das  Denken  des  Antiaristotelikers  sehr 
beherrscht,   zur   unzweifelhaften  Gewissheit  geworden,  wie  ja  oben 
gezeigt   wurde,    dass   unsere   Sinne   nicht   die  Dinge  an  sich  zu  er- 
kennen  vermögen.     Dass,    wie  Hobbes  sich  ausdrückt,    „the  indro- 
duction   of  species    visible   and   iutelligible  passing  to  and  fro  from 
the  object,  is  worse  than  any  paradox,  as  being  a  piain  impossibility 
(Hu.  ^'■.  p.  4),  hatte  schon  Campanella  klar  erkannt. 

Die  Ansichten  des  in  der  Form  der  Darstellung  seiner  Ge- 
danken noch  sehr  scholastischen  Dominikaners  über  diesen  Punkt 
smd  um  so  interessanter,  als  sie  uns  später  zu  einer  Yergleichung 
mit  denen  des  viel  moderneren  Locke  Yeranlassung  geben  werden. 
Campanella  prüft  die  verschiedenen  Theorien,  die  über  diesen  Gegen- 
stand aufgestellt  worden  sind.  Zunächst  will  er  die  nicht  mehr 
naturgesetzlichen,  zu  einem  unmittelbaren  göttlichen  Akte  greifenden 
Erklärungsweisen  ganz  ausgeschlossen  haben.  „IS^os  quaerimus  Physio- 


31 

logismum  in  quaestione  natural!,  non  miraculum:  quod  in  naturalibus 
etiam  sanctus  Augustinus"  —  eine  Autorität  muss  bei  Campanella 
immer  noch  herhalten  —  „quaeri  non  debere  docet.  Nee  enim  Deus 
in  singulis  intellectionibus  et  sensationibus  miraculizat  supra  naturae 
vires  inoperans."  Die  „species  visibiles"  des  Aristoteles,  gegen  den 
er  immer  in  erster  Linie  und  besonders  eifrig  polemisiert,  ver- 
werfend, bemerkt  er,  dass  Aristoteles  und  seine  Anhänger  nicht  er- 
klären, „quomodo  (sensus)  afficiatur  speciebus,  et  deferat  eas?"  „Qua- 
propter,"  fährt  er  fort,  „Galenus  spiritum  extra  oculum  educit,  ut 
videre  possit:  Sed  imperite,  ut  in  Phys.  docuimus.  Quis  enim  re- 
tinebit  eum,  flaute  vento?  et  ne  per  se  evolet  in  caelum?"  Das  ist 
ja  prächtig.  Hören  wir  weiter:  „Democritus  tandem  simulacra  de- 
fluere  a  lapide,  et  in  sensum  agere  putat,  esseque  corporeos  atomos 
in  tali  figura  volantes.  Sed  cur,  inquam,  a  ventis  non  impelluntur, 
cum  praeterfluunt  ?  et  cur  conspectus  lapis  non  deficit,  si  tot  spoliis 
continuo   privatur,   ut  ipse  ponit?   (Met.  p.  43.  Vgl.  Phys.  p.  460.) 

Campanella's  Einwände  mögen  hie  und  da  etwas  sonderbar 
klingen ;  das  wird  man  zugeben,  dass  sie  geeignet  waren,  mehr  und 
mehr  in  ihm  die  Überzeugung  zu  befestigen,  dass  es  „impossibile 
esse  simulacra  Corporea  Democriti  et  incorporea  Peripateticorum, 
ex  rebus  educi  et  ad  sensus  deferri"  (a.  a.  0).  Diese  Überzeugung 
musste  in  ihm  den  Widerspruch,  die  Dinge,  wie  sie  an  sich  sind, 
nach  ihrer  eigensten  Wesenheit  durch  die  Sinne  erkennen  zu  wollen 
(welches  die  einseitige  Consequenz  des  Sensualismus  ist),  nur  um  so 
greller  zeigen.  Die  prästabilierteHarmonie  war  aber  bekannt- 
lich noch  nicht  erfunden. 

Wir  haben  gesehen,  wie  Sanchez  an  diesem  Punkt  im  Skep- 
ticismus  stecken  geblieben  ist,  weil  er  aus  diesen  negativen  Instanzen 
die  Consequenz,  die  ein  positiver  Anhaltspunkt  gewesen  wäre,  nicht 
zu  ziehen  vermocht  hat.  Campanella  hat  sie  gezogen.  Das  Re- 
sultat ist  allerdings  kaum  etwas  anders  als  eine  bestimmtere,  be- 
grifflichere, oder  besser  begreiflichere  Formulierung  der  Platonischen 
Lehre  von  einem  (.irj  ov,  von  der  Nichtigkeit  und  Schattenhaftigkeit 
der  Welt  der  Erscheinungen.  Er  drückt  sich  klar  aus:  „Nos  autem 
diximus  modicam  immutationem  sufficere  ad  sensationem"  (Met.  p. 
43).  Und  noch  frappanter :  „Nullus  enim  sensus  sentit  rem  sicut  est, 
sed  sicuti  afficitur"  (Met.  pag.  11.  Vgl.  auch  Met.  p.  6  u.  Phy.  p, 
460).     Es   Messe   den  Sinn   eines  Schriftstellers   und   die  Gedanken 


32 

einer  Zeit  gänzlich  verkennen,  wollte  man  diese  Sätze  Campanella's, 
wie  auch  ähnliche  aus  Sanchez  (nihil  sciri  potest  quin  sit  in  nobis 
(Qu.  nih.  sc.  p.  2,  oder:  „Nee  enim  perfecte  cognoscere  potest  quis, 
quae  non  creavit"  p.  53)  in  der  nämlichen  Bedeutung  nehmen,  wie 
gewisse  Sätze  Kant's,  mit  denen  sie  dem  Wortlaut  nach  ziemlich 
übereinstimmen.  So  viel  aber  dürften  die  angeführten  Stellen  be- 
weisen, dass  mehr  noch,  als  durch  die  Skeptiker,  resp.  Sanchez, 
durch  Campanella  die  Lehre  von  der  Subjectivität  der  sinnlichen 
Eigenschaften  vorbereitet  wurde. 

4. 

Mit  vollem  Bewusstsein  und  mit  aller  Klarheit  hat  dann,  und  zwar 
zuerst,  Deskartes  diese  Lehre  dargestellt.  Sanchez  und  Campanella 
sind  ihre  ersten  Yeranlasser;  Deskartes  ist  ihr  eigentlicher  Urheber. 
"Wenn  behauptet  wird  (Lewes,  Gesch.  d.  Ph.  IL  241  u.  Halam, 
Lit.  Europ.  UI.  157),  dass,  wenn  man  Deskartes  die  Erfindung 
nicht  streitig  machen  wolle,  es  doch  feststünde,  dass  Hobbes  die- 
selbe zuerst  veröffentlicht  habe,  so  ist  kaum  zu  begreifen,  wie  eine 
solche  Behauptung  bewiesen  werden  könnte.  Deskartes'  Dioptrik, 
die  hauptsächlich  für  die  fragliche  Lehre  in  Betracht  kommt,  er- 
schien mit  dem  Disc.  de  la  Met.  im  Jahr  1637  ,  die  Meditationen 
aber  1641,  nachdem  Hobbes  sie  schon  1640  zu  Paris  gelesen  hatte. 
Yor  1642  erschien  überhaupt  nichts  von  Hobbes.  (Vgl.  Natorp, 
„Deskartes'  Erkenntnistheorie"  S.  188.)  Also  ist  obige  Behauptung 
grundlos,  auch  wenn  man,  wie  es  dort  zu  sein  scheint,  nur  auf  die 
Meditationen  Rücksicht  nimmt,  während  doch,  wie  gesagt,  die  Diop- 
trik in  dieser  Frage  weit  entscheidender  ist.  (Diop.  I.  4,  5  p.  42  ff. 
u.  lY.  6,  7  p.  56  ff.)  Es  ist  demnach  sogar  äusserst  wahi-scheinlich, 
dass  Deskartes  gar  nicht  ohne  Einfluss  auf  Hobbes  war. 

Durch  diese  Lehre  wurde  Deskartes,  der  als  Begründer  des 
dogmatischen  Rationalismus  so  gross  ist,  zugleich  der  Anreger  von 
Hobbes  und  Locke,  den  beiden  berühmten  Begründern  des  Sensua- 
lismus, trotzdem  man  gewöhnlich  annimmt,  dass  nur  in  Bacon  die 
Impulse  und  Möglichkeiten  dieser  Richtung  lägen. 

Bei  Deskartes  treten  indes  die  einschlägigen  Gedanken  nur 
mehr  wie  gelegentlich  auf,  obwohl  sehr  bestimmt  und  sehr  nach- 
drücklich: „Non  necessarium  esse  supponere,  materiale  quidpiam  ex 
objectis   ad   oculos   nostros   manare,   ut  lumen   et  colores  videamus: 


33 

neque  quidqiiam  in  istis  objectis  esse,  quod  simile  sit  ideis  quas  de 
iis  mente  formamiis."  (Op.  II.  p.  43.)  Hobbes,  in  dessen  theoretischer 
Philosophie  die  erkenntnis-theoretische  Tendenz  vorherrscht,  behandelt 
sie  schon  mehr  ihrer  selbst  willen,  und  hebt  das  Entscheidende  mehr 
heraus.  Er  schrieb  eben  auch  nach  Deskartes.  Interessant  ist  die 
zweifache  Begründung  seiner  Sätze.  Zunächst  sind  es  erkenntnis- 
theoretische Überlegungen,  die  ihn  darauf  bringen.  Er  sagt  so: 
„Because  the  image  in  vision  consisting  of  colour  and  shape  is  the 
knowledge  we  have  of  the  qualities  of  the  object  of  that  sense;  it 
is  no  hard  matter  for  a  man  to  fall  into  this  opinion,  that  the  same 
colour  and  schape  are  the  very  qualities  themselves."  Wenn  nun 
aber,  wie  Hobbes  in  der  schon  weiter  oben  angeführten  Stelle  fort- 
fährt ,  die  Einführung  sichtbarer  und  erkennbarer  Wesenheiten 
(species)  —  „wich  is  necessary  for  the  maintenance  of  that  opinion"  — , 
die  vom  Object  zum  Subject  gehen,  schlimmer  als  Widersinn  ist, 
weil  eine  bare  Unmöglichkeit,  so  folgen  für  Hobbes  daraus  folgende 
vier,  die  ganze  Lehre  deutlich  präcisierende  Sätze: 

„That  the  subject  wherein  colour  and  image  are  inherent,  is 
not  the  object  or  thing  seen." 

„That  there  is  nothing  withaut  us  (really),  wich  we  call 
an  image  or  colour. " 

„That  the  said  image  or  colour  is  but  an  apparition  into  us 
of  the  motion,  agitation,  or  alteration,  which  the  object  worketh  in 
the  brain,  or  spirits,  or  some  internal  substance  of  the  head." 

„That  as  in  vision,  so  also  in  conception  that  arise  from  the 
other  senses,  the  subject  of  their  inherence  is  not  the  object,  but 
the  sentieut." 

Die  nämlichen  Gedanken  wiederholen  sich  im  Wesentlichen 
im  Leviathan.    (Tgl.  c.  I.) 

Diese,  auf  dem  Wege  der  angeführten  Überlegungen  gewon- 
nenen Überzeugungen  sollen  nun  auch  induktiv  bewiesen  und  an 
der  Hand  der  Erfahrung  klargelegt  werden.  Es  ist  interessant,  dass 
Hobbes  bei  diesem  Greschäft  auf  alle  die  Fälle  (oft  die  nämlichen 
Beispiele  wählend,  wie  etwa  das  vom  doppelten  Objekt  bei  der 
Spiegelung  oder  beim  kranken  Sehen)  wieder  zu  sprechen  kommt, 
nur  in  weniger  breiter  Ausführung,  welche  auch  von  Sanchez,  Campa- 
nella und  teilweise  auch  von  Deskartes  ins  Feld  geführt  wurdeui 
alle  die  Beobachtungen,  welche  Sanchez  zuerst  stutzig  machten  und 

5 


34 

Campanella  zu  einer  noch  wenig  hewussten,  unklaren  und  halben 
Erkenntnis  führten,  die  dann  in  Deskartes  mit  vollem  Bewusstsein, 
verbunden  mit  der  ganzen  Klarheit  der  Begründung,  auftritt,  bis  sie 
in  Hobbes  endlich  ihre  glücklichste  Formulierung  und  ihren  er- 
schöpfendsten Ausdruck  fand.  Mit  Hobbes  ist  daher  diese  Theorie, 
die  "wir  am  besten  als  die  Lehre  von  der  Subjektivität  der  sinn- 
lichen Eigenschaften  bezeichnen,  an  sich  vollständig  ausgestaltet. 
Es  ist  ein  Schritt  —  nur  ein  Schritt  —  aber  ein  fertiger,  ganzer, 
eine  erstiegene  Stufe  auf  der  Leiter  der  Erkenntnisse.  Hobbes  bildet 
einen  Abschluss  in  der  Gedankenentwicklung,  die  in  ihren  Haupt- 
zügen vielleicht  mit  einiger  Deutlichkeit  in  diesen  Ausführungen 
dargelegt  sein  mag. 

Die  folgenden  Zeilen  mögen  noch  kurz  andeuten,  zu  welchen 
Resultaten  die  gewonnene  Erkenntnis  mehr  oder  Aveniger  direkte 
Veranlassung  gab. 

5. 

Vorbereitet  wurde  eine  neue  Wendung  derselben  durch  Locke. 
Nicht,  dass  Locke  ihr  diese  Wendung  schon  gab;  er  bot  nur  die 
Veranlassung  dazu. 

Zunächst  ist  in  Locke  sogar  ein  Rückschritt  zu  konstatieren. 
Die  Originalität  Lockes  in  der  Darstellung  unserer  Lehre  besteht 
bekanntlich  in  seiner  L'^nterscheidung  von  „ersten"  und  „zweiten", 
von  ursprünglichen  und  abgeleiteten  Eigenschaften.  Nun  soll  durch- 
aus nicht  gesagt  werden,  dass  diese  Einteilung  nicht  Sinn  und  Be- 
rechtigung habe.  Aber  die  Art  ihrer  Fassung  und  besonders  ihrer 
Begründung  bei  Locke  zeigt  einen  entschiedenen  Rückschritt  auf, 
lässt  Lockes  Denken  in  diesem  Punkt  dem  von  Deskartes  und  Hobbes 
nachstehend  erscheinen.  Ein  Eingehen  in  den  Lockeschen  Gedanken- 
gang soll  dies  zu  zeigen  versuchen. 

Locke  begründet  seine  Lehre  von  der  Subjektivität  der  sekun- 
dären Qualitäten  durch  dieselben  Beobachtungen,  die  Sanchez, 
C'ampanella  und  wohl  schon  manch  Andere  vorher  auch  zu  Pro- 
blemen aufgeworfen  hatten.  Derselbe  Körper  ist  bei  Nacht  für  uns 
anders  gefärbt  als  bei  Tag.  Daraus  schliesst  Locke,  dass  die  Farbe, 
sowohl  die  wir  bei  Tag,  als  die  wir  bei  Nacht  sehen,  nicht  etwas 
dem  Körper  selbst  Innewohnendes  ist.  So  hatte  auch  Hobbes  ge- 
schlossen.    Locke   aber,    der   nun   einmal   auf  eine   Einteilung    der 


35 

Eigenschaften  hinaussteuert,  ist  der  Meinung,  dass  analoge  Fälle, 
die  analoge  Schlüsse  zulassen,  nur  für  seine  sekundären  Eigenschaften 
aufgezeigt  werden  könnten.  Die  heutige  Nuturwissenschaft  giebt 
Locke  Recht  —  und  sie  hat  Grund  dazu.  Denn  wenn  die  primären 
Eigenschaften  als  objectiv  reale  Data  bleiben,  so  kommt  die  Natur- 
wissenschaft wegen  der  secundären  Eigenschaften  nicht  in  Yer- 
legenheit.  Sie  erklärt  sie  einfach  als  Fui  ktionen  der  erstem  (als 
Atom-Combinationen  und  Bewegungen).  ^Ver  nun  aber  auch  die 
erstem  als  phänomenal  auffasst,  der  scheiiii  den  Naturwissenschaften 
allen  Grund  und  Boden  zu  entziehen.  Diese  haben  sich  deshalb 
auch  immer  gegen  eine  solche  Weltauffassung  gesträubt.  Ob  mit 
Recht  oder  Unrecht,  ist  hier  nicht  zu  erörtern.  Hier  handelt  es  sich 
nur  um  die  historische  Klarlegung  der  Consequenzen  des  Lockeschen 
Denkens.  Und  dabei  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  Locke  die  teil- 
weise noch  frappanteren  Fälle,  die  seinen  gleichen  Schluss  auch  für 
die  primären  Eigenschaften  erheischt  hätten,  einfach  übersieht.  Ganz 
abgesehen  davon,  was  die  spätere  Wissenschaft  bewiesen  hat  oder 
nicht  bewiesen  hat,  aus  den  Lockeschen  Denk-Consequenzen  ergiebt 
sich  für  uns  nur  folgende  Alternative:  entweder  ist  sein  Schluss 
auf  die  Phänomenalität  richtig  —  dann  gilt  er  ebensowohl  für  die 
primären  als  die  secundären  Eigenschaften;  oder  er  ist  ganz  und 
gar  unrichtig,  also  auch  in  Bezug  auf  die  secundären  Eigenschaften. 
Hobbes  hatte  dies  eingesehen.  Hobbes  hatte  constatiert,  dass  es 
Fälle  giebt,  wo  wir  ein  und  denselben  Gegenstand  doppelt  sehen, 
und  nun  so  geschlossen:  derselbe  Gegenstand  kann  unmöglich  in 
den  beiden  Vorstellungen  sein.  Keine  der  beiden  Vorstellungen 
prävaliert  vor  der  andern.  Also  lassen  sich  Fälle  nachweisen,  dass 
wir  Vorstellungen  haben,  die  sich  von  allen  andern  unsern  Vor- 
stellungen in  keiner  Weise  unterscheiden,  und  die  kein  reales  Ob- 
ject  haben  können.  Wenn  die  einen  so  möglich  sind,  warum 
nicht  alle?  Deshalb  hatte  Hobbes  der  Gestalt  gleicherweise  wie 
der  Farbe  subjektive  Natur  vindiziert. 

Das  that  nun,  wenn  man  der  Sache  genau  nachsieht,  eigent- 
lich schon  Deskartes. 

Es  ist  am  Ende  wenig  Gewicht  darauf  zu  legen,  dass  Deskartes 
in  den  Meditationen  wiederholt  hervorhebt,  wie  alle  Dinge,  die  wir 
als  ausser  uns  vorstellen,  leicht  wohl  nichts  sein  könnten  als  eben 
nur  Vorstellungen;  und  dass  nur  in  der  eigentümlichen  Verbindung 


36 

mit  dem  Gottesbeweis  die  idealistische  Denkrichtung,  die  in  Deskartes 
stark  spuckte,  so  stark  wie  nie  zuvor,  nur  hypothetisch  verwendet 
wurde  und  rasch  eine  realistische  Wendung  nahm.  ^Yeit  mehr  in 
die  Wagschale  fallend  sind  seine  in  den  Betrachtungen  über  Wahr- 
heit und  Wesen  der  Geometrie  dargestellten  Ansichten  über  unsere 
Raumvorstellungen.  In  Deskartes'  Denken  zeigt  sich  Eines  sehr 
wirksam:  das  ist  die  in  allen  seinen  Ansichten  sich  stark  geltend 
machende,  ich  möchte  sagen  unbewusste  Vorstellung  jener  Thatsache, 
die  Kant  in  seiner  Lehre  vom  Raum  als  reine  Anschauung, 
als  reine  Form  der  Anschauung  begrifflich  klar  formuliert  hat. 
Deskartes  findet,  dass  wir  in  unsern  (mathematischen)  Raumvor- 
stellungen vollständig  frei,  aber  deswegen  nicht  mllkürlich  ver- 
fahren können,  d.  h.  gehemmt  durch  nichts,  das  ausser  unserem 
Ich  wäre  oder  nicht  wäre,  aber  gebunden  an  ein  uns  innewohnendes 
Gesetz  und  zwar  mit  derselben  eisernen  Notwendigkeit,  wie  ein 
Körper  in  seinem  "Verhalten  an  physikalische  Gesetze  gebunden  ist. 
Findet  nun  Deskartes,  dass  diese  Yorstellungen,  weil  sie  klar  und 
deutlich  sind  (nach  der  uralten,  schon  der  Platonischen  Philosophie  zu 
Grunde  liegenden  Voraussetzung,  die  auch  Deskartes  teilt,  dass  nämlich 
alles  was  erkennbar  ist,  auch  sei),  dass  sie  nicht  ein  „Mchts",  sondern 
dass  sie  ein  Etwas  (res)  sein  müssten,  so  gründet  er  darauf,  was  hier 
doch  nach  der  Methode  der  ganzen  alten  Philosophie  nahe  gelegt 
gewesen  wäre,  keineswegs  den  realistischen  Beweis  einer  vom  Ich  ver- 
schiedenen ausgedehnten  Welt,  sondern  bleibt  auch  hier  beim  Phäno- 
menalismus stehen.  Mathematische  Vorstellungen  sind  wahr,  d.  h. 
sind  nicht  ein  „Nichts";  aber  sie  brauchen  deswegen  nicht  ausser  dem 
Ich,  nicht  ausser  dem  Denken  und  unabhängig  von  ihm  zu  sein.  Das 
gilt  im  übrigen,  in  hypothetischer  Weise,  wie  oben  hervorgehoben, 
von  allen  unsern  Vorstellungen.  „Invenio  apud  me  inummeras 
ideas  rerum,  quae  etiamsi  extra  me  fortasse  nullibi  exi- 
stant,  non  tamen  dici  possunt  nihil  esse."  Ganz  positiv  sagt  er 
in  der  Dioptrik,  dass  die  Bilder  des  Sehens  nicht  nur  als  von  ihnen 
entsprechenden  Körpern  ausgehend  betrachtet  werden  könnten,  son- 
dern rein  als  Funktionen  des  (Innern)  Auges;  wornach  doch  also, 
acht  phänomenalistisch,  unsere  Vorstellungen  die  Welt  wären,  und 
zwar  nicht  als  ein  Produkt,  als  Wirkungen  aussersubjektiver  Ur- 
sachen, sondern  als  Produkt  unserer  eigenen  Funktionen:  „ita  con- 
cedendum  est  visus  objecta  posse  percipi,  non  tantum  modo  actionis 


37 

vi,  quae  ex  iis  emanans  ad  oculos  nostros  diffuditur;  sed  etiani  vi 
illius,  quae  oculos  inuata  ad  illa  pergil"  (Op.  IL  40).  Und  uocli 
bestimmter:  „Obseivaudum  praeterea,  animam  nullis  imaginibus 
ab  objectis  ad  cerebrum  missis  egere  ut  aentiat,  (contra  quam  com- 
muniter  Philosophi  nostri  statuunt)"  (Op.  II.  57).  Selir  interessant 
sind  die  Gründe  Deskartes'  gegen  die  Annahme  von  „species";  doppelt 
interessant  in  Yergleichuug  mit  denen  Campanella's.  Deskartes' 
exaktes  Denken  tritt  auch  hierin  zu  Tage:  „Cum  enim  circa  eas 
(imagines)  nil  considerent,  praeter  similitudinem  earum  cum  objectis, 
quae  repraesentant,  non  possunt  explicare,  qua  ratione  ab  objectis 
formari  queant,  et  recipi  ab  organis  sensuum  exteriorum,  et  demum 
nervis  ad  cerebrum  transvehi."  etc.  (p.  57).  Das  steht  also  fest, 
„ideas  quas  sensus  externi  in  phantasiam  mittunt,  non  esse  imagines 
objectorum,  saltem  opus  non  esse  ut  eis  similes  sint"  (a.  a.  0.). 

Hier  ist  demnach  keine  Rede  von  einer  Bevorzugung  der 
einen  Eigenschaften  (als  primärer)  vor  den  andern  (als  secundären). 
Ganz  allgemein  wird  die  Übereinstimmung  von  Vorstellungen  (ideas) 
mit  objectiven  Eigenschaften  (räumlicher  oder  anderer)  auf  gute 
Gründe  hin  geleugnet.  Und  doch  hat  die  Lockesche  Unterscheidung 
zwischen  primären  und  secundären  Eigenschaften  ihren  Grund  in  der 
Abhängigkeit  Lockes  von  der  Deskartes'schen  Philosophie.  Das  wäre 
aber,  wie  hier  sofort  erhellt,  ohne  ein  grobes  Missverständniss  der  Des- 
kartes'schen  Philosophie  von  Seiten  Lockes  oder  einen  "Widerspruch  in 
dieser  Philosophie  unmöglich.  Dieser  Widerspruch  liegt  nun  wirklich 
vor.  Wenn  wir  auch  nicht  sagen  wollen,  dass  Deskartes  mit  seinen  Aus- 
sprüchen die  Idealität  oder  Phänomenalität  der  Aussenwelt  positiv  be- 
hauptet habe,  so  liegt  doch  ein  Widerspruch  darin,  alle  Yorstelhmgen 
(„ideas"),  also  auch  die  der  Ausdehnung  als  nicht  ähnlich  den  Eigen- 
schaften der  Dinge  zu  bezeichnen  und  nachher  diese  nämliche  Vorstel- 
lung, die  doch  so,  wie  sie  ist,  nur  im  Subject  sein  soll,  zum  ureigensten 
Wesen  der  (aussersubjectiven)  Dinge  umzustempeln.  Das  ist  ein 
Widerspruch,  der  in  der  Deskartes'schen  Philosophie  nicht  gelöst 
ist.  Deskartes'  Naturphilosophie  und  Erkenntnistheorie  beruhen  auf 
verscliiedenen,  sich  widersprechenden  Grundanschauungen. 

Und  dass  nun  Deskartes  gerade  die  Ausdehnung,  das  rein 
Räumliche,  das  Formale  an  der  Erscheinung,  um  mit  Kant  zu  reden, 
als  das  Wesen  der  nicht  geistigen  Substanz  erklärt! 

Mit   dem   Lichte   der   transscendentalen   Ästhetik  könnte   man 


38 


eine  eigentümliche  Beleuchtung  auf  diese  Lehre  Deskartes,  von  der 
Ausgedehutheit    als    dem     einzigen    absolut    notM^endigen    Merkmal 
der   Substanz   der  Körperwelt,    gegenüber   der   denkenden,    werfen 
und  sagen:  was  Kant  in  der  Erfahrung  (einer  Körperwelt)  als  reine 
Raumanschauung   die  apriorische  Form  nennt,    die  notwendige 
Bedingung  jeder  empirischen  Anschauung,  das  nenne  Deskartes  Sub- 
stanz,  und  was   bei   Kant  zufälliger  empirischer  Inhalt  ist  mit  nur 
aposteriorischem  Wert,  sei  bei  Deskartes  Accidenz.    Meiner  Ansicht 
nach  hegt  hier,  ^ae  oben  schon  leise  angedeutet  wurde,  eine,  wenn  auch 
nicht  ausgesprochene,  so  doch  tiefinnerliche  Übereinstimmung  Deskar- 
tes'scher  und  Kant'scher  Weltanschauung  vor.  Doch  das  nur  nebenbei. 
Locke  hat  nun  diese  Lehre  Deskartes',    die  Identification  von 
Ausdehnung  (Raum)  und  dem  Innern  Wesen  der  Körper  bekämpft 
und  zu  beweisen  gesucht,  dass  „Extension  and  bodv  nod  the  same«> 
dennoch   findet   (und   das   ist   das   Eigentümliche)  gerade  seine  be- 
kannte  Unterscheidung   der   Eigenschaften    eine   Erklärung    nur  in 
der  (unbewussten?)   Abhängigkeit   Lockes   von    dieser   Lehre.     Nur 
unter  dem  Einfluss  der  Deskartes'schen  Lehre  von  der  ausgedehnten 
Substanz   erklärt   Locke' die   ursprünglichen   Eigenschaften,    wie   er 
sie  nennt,   die  mit  der  Ausdehnung  zusammenhängen,  für  objektiv, 
für  wirklich,  in  den  Gegenständen  existierend,  und  unsere  Vorstel- 
lungen davon  für  treue  Abbilder  derselben.    In  welche  Widersprüche 
er  selber  dadurch  verwickelt  wurde,  werden  wir  später  sehen.    Zu- 
nächst  wird   ihm  folgender  Umstand  fatal.     Um   diese   abbildenden 
Yorstellungen  und  ihre  Möglichkeit  zu  erklären,  muss  Locke  wieder 
auf  die  von  Deskartes  als  ganz  unnötig,  als  durchaus  nichts  erklärend, 
ja  als  undenkbar  hingestellte,  von  Hobbes  für  schhmmer  als  Wider- 
sinn,   für  bare   Unmöghchkeit   erklärte  und  selbst  von  einem  Cam- 
pauella  schon  in  ihrer  ganzen  Lächerlichkeit  gezeigte  mittelalterliche 
Annahme   von    „species   visible    and   intelligible",    die   vom  Gegen- 
stand aus  in   unser  Auge   gelangen  sollen,    zurückkommen.     Locke 
nennt  sie  „singly  iinperceptible  bodies",  „insensible  particles",  „mi- 
nute  particles'-,  „corpus  clos  of  any  other  body^  -  „And  since  the 
extension,   figure,   number  and  motiou  of  bodies,   of  an  observable 
bigness,  may  be  perceivedet  a  distance  by  the  sight,  it  is  evident 
sorae   smgly    imperceptible    bodies    must   come    from    them   to  the 
eyes  and  thereby  convey  to  the  brain  some  motion,  which  produces 
these  ideas  which  we  have  of  them  in  us«  (Wo.  L  113).    Wie  kommt 


39 

-es  aber,  dass  diese  rätselhaften  Wesen,  die  sich  Locke  alle  als  „nii- 
nute  particles"  denkt,  in  nns,  um  nur  eines  zu  nennen,  die  wahre, 
reale,  so  unendlich  verschiedene  Grösse  der  Körper  gewissermassen 
abbilden?  Was  Locke  wohl  geantwortet  haben  würde?  Ebensowenig 
ist  begreiflich,  was  die  Vorstellungen,  von  solchen  corpuscles  of  an 
-other  body  erzeugt,  mit  der  wahren  Gestalt  jenes  Körpers  zu  thun 
habensollen,  da  Locke  aus  „the  peculiar  figures  and  bulks, 
and  the  different  degrees  and  modifications  of  their  motions"  dieser 
„minute  particles"  nicht  eben  Grösse,  Gestalt,  Bewegung  u.  s.  w.  in 
unseren  Vorstellungen,  mit  denen  Grösse,  Gestalt  und  Bewegung 
der  Körper  sich  vollkommen  decken  sollen,  erklärt,  sondern  daraus 
nun  Farbe,  Wärme  und  die  andern  secundären  Eigenschaften  ab- 
leitet (Ess.  IL  8.  §  9—22). 

Die  Deskartes-Hobbes'sche  Lehre  von  den  sinnlichen  Eigen- 
schaften wurde  also  von  Locke  auch  trotz  seiner  bekannten  weitern 
LTnterscheidung  einer  dritten  Art  Eigenschaften  keineswegs  weiter 
gefördert;  sie  wurde  eher  verwirrt.  Wenn  von  Locke  eine  neue 
Bewegung  ausging ,  so  musste  sie  von  einem  andern  Punkt  seine^^ 
Lehre  ausgehen.  Dieser  Punkt  liegt  in  seinen  Überlegungen  hin- 
sichtlich des  Begriffs  der  Substanz  oder  Materie. 

Locke,  der  den  primären  Eigenschaften,  als  Eigenschaften, 
objektive  Realität  zuschrieb,  leugnet  nun  den  Träger  derselben,  die 
Materie  oder  Substanz.  Er  erklärt  diesen  Begriff,  wie  er  überhaupt 
zum  Nominalismus  neigt,  für  ein  absolut  leeres  Wort,  für  eine  müssige 
Erfindung  müssiger  Philosophen.  Locke  hatte  nun  objektiv  reale 
Eigenschaften  ohne  Träger,  Eigenschaften,  die  sozusagen  in  der 
Luft  schwebten. 

Den  Begriff  der  Substanz,  als  den  wirklich  merkmallosen  Be- 
griff eines  unbestimmbaren  Etwas,  konnte  Locke  verwerfen;  aber 
er  konnte  damit  nicht  die  Thatsache  aus  der  Welt  schaffen  ,  dass 
wir  das,  was  wir  Eigenschaften  nennen,  nicht  in  gleichmässigen 
lleihen  gesonderter  Einzelheiten  nacheinander  oder  nebeneinander 
auffassen,  sondern  immer  in  bestimmten  und  constanten  Gruppie- 
rungen, d.  h.  immer  in  dieser  notwendigen  Beziehung  auf  Dinge 
als  ihre  Träger.  Das  ist  eine  Thatsache,  und  darum  ist  die  An- 
nahme von  objektiv- realen  Eigenschaften,  ohne  dahintorliegende 
(ohne  ihre  Eigenschafton  allerdings  ganz  unvorstellbare)  Dinge  (Sub- 
stanzen) ein  Widerspruch.     Die  Eigenschaften  haben,   als    objektiv- 


40 

real  gedacht,  ja  keinen  Grund  (und  Boden)  mehr;  sie  müssen  in 
nichts  zusammenfallen,  d.  h.  ihre  objektive  Eealität,  die  Locke  doch 
behauptet,  muss  von  einem  consequenten  Denken  aufgegeben  wer- 
den; sie  müssen  für  subjektiv  erklärt  werden.  Das  ist  die  Conse-. 
quenz  aus  Lockes  Polemik  gegen  die  Substanz.  Und  zwar  ist  es^ 
wie  wir  gesehen  haben,  bereits  der  zweite  Punkt,  an  dem  daa 
Lockesche  Denken  zu  dieser  Consequenz  hindrängt.  Wir  brauchen 
für  unsere  ganze  Vorstellungswelt  nicht  nur  keine  aussersubjektiven 
Dinge,  sondern  auch  gar  keine  aussersubjektiven  Ursachen  anzu- 
nehmen. Berkeley  hat  diese  Consequenz  gezogen  und  war  damit 
beim  absoluten  Idealismus  angelangt:  „]^[othing  properly  but  persons 
or  conscious  things  really  exist.  All  other  things  are  not  so  muche 
existences,  as  manners  of  the  existence  (ideas)  of  persons." 

6. 

Implicite  könnte  man   diese  Lehre  am  Ende  schon  in  Hobbes 
nachweisen.      Sie   kam   dort   nur   nicht   zu   diesem  Ausdruck.      Die 
eigentümliche  Weise,  wie  sie  bei  Hobbes  in  Materialismus  umschlug, 
ist  sehr  merkwürdig.    Doch  soll  hier  nicht  darauf  eingegangen  wer- 
den.    Jedenfalls  ist  es  sehr  einleuchtend,  die  folgerichtige  Entwick- 
lung des  Berkeleyschen  Systems  aus  Hobbes  und  Locke  zu  erklären. 
Aber  es  ist  das  bekanntlich   nicht  der   einzige  Weg  zu   diesem  Re- 
sultate.     Der    Gedankenfortschritt   von    Deskartes    zu    Malebranche 
führt  auch  zu  Berkeley.     Das   ist   längst   anerkannt.     Malebranches 
Lehre  von  der  Unfassbarkeit  und  Unerkennbarkeit  der  ausgedehnten 
Substanz  durch  die  denkende,  es  sei  denn  durch  schöpferische  Akte, 
die  Lehre  also,  dass  wir  alle  Dinge  nur  in  Gott  schauen,  d.  h.  dass 
Gott  die  Vorstellungen  derselben  bei  jeder  Gelegenheit   neu  in  uns 
schaffen  muss,  legt  den  Berkeleyismus  schon  sehr  nahe.    Wozu  eine 
körpeiliche  Welt,  die  doch  nur  der  denkenden  Geister  wegen  da  sein 
könnte,    wenn  diese  denkenden  Wesen   so  beschaffen  sind,  dass  sie 
von  dieser  Welt   gar   nichts    erfahren  würden   noch  könnten,   wenn 
nicht   Gott   die  Vorstellung   davon   fortwährend   in   ihnen   erschüfe? 
Ist   diese  Welt   als   eine    realgeschaffene   dann   nicht  ganz  unnötig? 
Berkeley   hat  verhältnismässig  wenig  Anhänger  gefunden  und 
vielleicht  von  allen  Philosophen  den   meisten  Spott  erfahren.     Was 
sollte   man   auch   von  einer  Philosophie,    die  in    ihren  Grundsätzen, 
wie   es  ja   klar  zu  Tage  lag,    dem  gesunden  Menschenverstand  zu- 


41 

widerlief  und  alles  Urteil  gesunder  Sinne  verwarf!  So  urteilten  dio 
Gegner.  Und  doch  ziehen  sich  Berkeleys  Grundgedanken  in  mehr 
oder  weniger  scharfer  Ausprägung  durch  die  ganze  Entwicklungs- 
reihe des  modernen  Denkens  hindurch  und  werden  diesem,  wenn 
auch  mit  Betonung  starker  Unterschiede  und  wesentlichen  Umbil- 
dungen durch  den  grössten  aller  Philosophen,  durch  Kant,  erst  recht 
als  charakterisierender  Stempel  aufgedi'ückt. 

Berkeleys  Lehre  soll  jedem  gesunden  Menschenverstand  und 
dem  Urteil  der  Sinne  widersprechen.  Merkwürdigere  "ise  beruft  sich 
Berkeley  immer  auf  den  gesunden  Menschenverstand  und  die  Sinne 
und  stellt  sich  in  einen  gewissen  Gegensatz  zu  den  Philosophen. 
Kant  hat  ganz  richtig  bemerkt,  dass  nicht  seine  Lehre  von  den 
Erscheinungen,  sondern  vielmehr  die  vulgäre  Ansicht,  die  die  Gegen- 
stände der  Erfahrung  für  Dinge  an  sich  erklärt,  die  AVelt  der 
Wesenheiten  zerstöre  und  alles  in  Schein  auflöse  (Kehrb.  74).  Das  ist 
der  eigentliche  Fall  Berkeleys.  Seine  Philosophie  beruht  ja  auf  wesent- 
lich sensualistischen  Grundlagen  und  auf  der  Überzeugung,  dass  wir 
von  den  Gegenständen  nur  durch  die  Sinne  etwas  erfahren  können. 
Während  man  Berkeley  vorgeworfen  hat,  dass  er,  widersprechend 
dem  gesunden  Menschenverstand,  das  Zeugnis  der  gesunden  Sinne 
verwerfe,  hebt  er  ausdrücklich  hervor,  dass  er  in  die  Sinne  volles 
Vertrauen  setze.  Er  behauptet  ja  gerade,  dass  das,  was  wir  durch 
die  Sinne  wahrnehmen,  die  Dinge  an  sich  sind,  die  Dinge  in  ihrer 
eigensten  Wesenheit,  und  dass  die  Philosophen  Unrecht  hätten,  da- 
hinter noch  etwas  anderes  anzunehmen,  wie  die  Substanz,  die  den 
Sinnen  doch  unzugänglich  ist  und  überhaupt  nicht  von  uns  vorge- 
stellt werden  kann.  Das  klingt  ganz  sensualistisch,  ganz  empiristisch. 
Aber  für  Berkeley  ist  es,  nach  seinen  psychologischen  und  erkenntnis- 
theoretischen irberlegungen ,  ganz  selbstverständlich,  dass  die  Welt 
der  Objecte  zwar  reell  ist,  aber  eben  reell  nur  in  unserer  Vorstellung, 
weil,  möge  auch  existieren  was  wolle,  wir  uns  nichts  bewusst  werden 
können,  als  unserer  Vorstellungen,  also  dass  die  Annahme  von  Dingen 
ausser  unserer  Vorstellung  mindestens  als  müssig  erscheinen  muss. 
Die  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Ursache  unserer  Vorstellungen 
bot  für  Berkeley,  dessen  Denken  trotz  aller  Energie  und  Consequenz 
von  religiösen  Tendenzen  nicht  frei  war,  keine  grosse  Schwierigkeit 
mehr  und  war  überdies  durch  die  Deskartes-Malebranche'sche  Philo- 
sophie   selir    nahe   gelegt.     Diese   Beantwortung    war    zugleich   der 


42 


einzige  und  einfachste  Ausweg,  jene  Problemldippe  zu  umgehen, 
an  der  immer  alle  Lösungsversuche  gescheitert  waren,  das  Problem 
nämlich  von  der  Möglichkeit  einer  Berührung  zweier  ihrer  innersten 
Natur  nach  so  verschieden  gedachter,  gleichsam  durch  eine  unge- 
heure Kluft  getrennter  Welten  wie  der  ausgedehnten  und  denkenden 
Substanz  und  ihrer  gegenseitigen  Wirkung  aufeinander. 

So  war  von  allen  dogmatischen  Systemen  der  Berkeleyismus 
wohl  das  abgeschlossenste  und  konsequenteste.  Ob  dieses  System 
nun  nur  in  der  Richtung  Bacon-Locke,  oder  nur  in  der  von  Des- 
kartes-Malebranche,  in  der  übrigens  Locke  schon  teilweise  steht 
oder  ob  es  in  beiden  Richtungen  liegt,  diese  Frage  kann  füglich 
dahingestellt  bleiben,  wenn  man  das  Eine  zugiebt,  dass  unter  den 
(:^rundlagen  des  Berkeley'schen  Systems  auch  der  Deskartes'sche 
Satz  „cogito  ergo  sum"  angetroffen  wird.  Denn  gerade  dieser  Satz 
der  Deskartes'sche  Satz  vom  Selbstbewusstsein,  war  die  AchillesfersJ 
des  Systems.  Und  wie  sehr  das  ganze  System  auf  diesem  Satz  ruhte, 
zeigt  sein  späteres  Schicksal.  Man  durfte  nur  an  diesem  Satz  rüt- 
teln,  so  wankte  und  fiel  das  ganze  System. 

7. 

„Die  ich  rief,  die  Geister, 
Werd'  ich  nun  nicht  los." 

Auch  an  Berkeley  und  seinem  System  bewahrheitete  sich  dieses 
Wort  des  Dichters. 

Berkeley  hatte  die  Materie  aufgelöst  in  flüchtige  Complexe 
von  Vorstellungen,  als  denknotwendige  Produkte  unseres  Geistes. 
Dieser  letztere  selber  blieb  dabei  in  seiner  persönlichen  Natur  unan- 
gezweifelt;  denn  „cogito  ergo  sum".  War  es  aber  nicht  natürlich, 
dass  ein  scharfer,  durchdringender  Geist  mit  ausgeprägt  skeptischer 
Richtung  nun  auf  den  Gedanken  kam,  dass  ganz  analog  der  nämliche 
gedankliche  Auf lösuiigsprozess ,  den  man  mit  der  Materie  vollzogen 
hatte,  auch  an  unsere  Idee  vom  Geist  herangebracht  werden  könne 
dass  mit  einem  Wort  der  Geist  sich  erklären  lasse  als  eine  Reihe 
M-echselnder  Vorstellungen?  Diese  Annahme  müsste  allerdings  jedes 
positive  Dogma  als  eine  Unmöglichkeit  erscheinen  lassen;  sie  wäre 
die  vollendete  Skepsis,  und  ihr  Vertreter  müsste  nicht  nur  an  Gott 
und  der  Welt,  er. müsste  an  sich  selber,  an  seiner  eigenen  Existenz 
/.weifeln.     Die  Constatierung  de^  „cogito"  war  nicht  mehr   zugleich 


43 

die  des  persönlichen  „esse".  Der  Deskartes'sche  Satz  war  überwunden 
und  damit  die  dogmatische  Philosophie  in  dieser  Richtung.  Wo 
diese  Richtung,  in  „Hume"  wurzelnd,  auslief,  ist  bekannt,  nämlich 
im  französischen  Materialismus.     Les  extremes  se  touchent. 

Aber  das  war  eben  nur  die  eine  Richtung.  Schon  bei  Locke 
hatte  mit  Leibniz  das  deutsche  Denken  in  den  Gang  der  Ent- 
wicklung eingegriffen.  Das  war  der  Wendepunkt,  von  dem  an  die 
moderne  Philosophie  deutsche  Philosophie  wurde  und  es,  mehr  oder 
weniger  ausschliesslich,  bis  auf  die  jüngste  Zeit  herunter  auch  blieb. 
Leibnizens  Bedeutung  ist  schon  deshalb  keine  geringe. 

Indem  Leibniz  die  Substanz  und  in  gewissem  Sinne  auch  die 
angebornen  Ideen  gegen  Locke  verteidigte,  erfuhren  diese  Grrund- 
anschauungen  unter  seinen  Händen  die  wesentlichsten  Umgestaltungen. 
Die  Substanz  erscheint  in  der  Monadenlehre  als  mit  der  Kraft  in  ge- 
wissem Sinne  identisch;  die  angebornen  Ideen  aber  werden  in  Denk- 
formen umgedeutet.  Im  letztern  Punkte  namentlich  liegt  der  Keim 
einer  neuen  fruchtbaren  und  grossartigen  Gedankenreihe.  An  diesem 
Punkte  fiel  auf  den  begrabenen  Idealismus  der  erste  Strahl  jener 
grossen  herrlichen  Sonne,  durch  deren  energische  Kraft  er  in  ver- 
jüngter Gestalt  zu  neuem  Leben  erweckt  werden  und  den  Triumph 
einer  glorreichen  Auferstehung  feiern  sollte. 

Der  Ideahsmus  hatte  die  Ursache  und  den  Erklärungsgrund 
unserer  ganzen  Yorstellungswelt  in  der  gesetzmässigen  Denknotwen- 
digkeit des  Subjektes  gefunden.  Nun  ist  klar,  dass  einer  solchen 
Lehre  ein  wahres  Übergewicht  und  eine  grössere  und  dauernde 
Wirkung  nur  der  verschaffen  konnte,,  der  alle  die  einzelnen  Not- 
wendigkeitsbeziehungen deduzierte  und  zeigte,  wie  aus  ihrem  Wesen 
und  ihrer  Funktion  sich  die  Thatsache  erklärt,  dass  wir  unsern  rein 
subjektiv  erzeugten  Yorstellungen  objektive  Gültigkeit  und  Realität 
zuschreiben.     Das  aber  w^ar  die  grosse  That  Kants. 

Ilu"e  Darlegung  fällt  nicht  mehr  unter  den  Gesichtspunkt  dieser 
Aufgabe.  Nur  das  sei  noch  erwähnt,  dass  auch  der  Satz  vom  Selbst- 
bewusstsein,  den  wir  durch  die  ganze  Entwicklung  der  modernen 
Philosophie  neben  dem  phäuomenalistisclien  Prinzip  herlaufen  sahen, 
und  der  der  Brennpunkt  des  modernen  Denkens  in  seinen  Anfängen 
ist,  in  der  Kant'schcn  Philosophie  noch  einmal  sein  Haupt  erhebt, 
nur  mit  etwas  verändertem  Gesicht.  Das  theoretische  „cogito,  ergo 
sum"    wird  von  Kant   auf's  Schärfste    widerlegt.     Um   aber   seinen 


44 


Idealismus,  auf  den  er,  ohne  es  zu  beabsichtigen,  durch  seine  er- 
kenntnis-theoretischen  Überlegungen  gekommen  war,  nicht  in  den 
ihm  mehr  als  jedem  andern  ungeheuerlich  erscheinenden  absoluten 
Idealismus  oder  gar  theoretischen  Egoismus  umschlagen  zu  lassen, 
brauchte  Kant  für  den  widerlegten  Satz  einen  Ersatz  und  konstatierte 
ihn  in  dem  praktischen  Analogen  zu  jenem,  in  der  für  Kant  un- 
endlich weiter  tragenden,  unbestreitbaren  und  unentfliehbaren  That- 
sache  des  sittlichen  Bewusstseins.  Das  „ich  weiss,  dass  ich 
denke",  wird  zu  dem  ernsteren  „ich  weiss,  dass  ich  soll".  Wenn 
ich  aber  überzeugt  bin  von  meiner  sittlichen  Freiheit  und  Yerant- 
wortlichkeit,  so  muss  ich  davon  überzeugt  sein,  dass  ich  etwas  Anderes 
bin,  als  nur  ein  Glied  in  der  Kette  des  kausalen  Zusammenhangs 
der  Erscheinungen.  „Ich  denke,  und  so  bin  ich"  hat  keine  Bedeu- 
tung mehr;  dafür  heisst  es:  Ich  soll,  und  so  bin  ich,  bin  ein  Ding 
an  sich,  ein  intelligibler  Charakter. 

Das  ist  die  Kant'sche  Wendung  des  „cogito,  ergo  sum",  des 
Ausgangspunktes  gewissermassen  der  ganzen  modernen  Gedanken- 
bewegung. Das  Deskartes'sche  Erkenntnis-Prinzip  wird  ein 
Prinzip  der  innern,  notwendigen,  weil  vernünftigen  Glaubens- 
überzeugung.    Es  war  seine  letzte  positive  Wendung. 


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B 

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.3 
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Rüttenauer,  Benno 

Zur  Vorgeschichte  des 
Kriticismus  und  Idealismus