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RELIGIONSSTREIT IN DEUTSCHLAND |

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POLITISCH-PSYCHOLOGISCHE SCHRIFTENREIHE DER SEX-POL.

NR. 3

KARL TESCHITZ

RELIGION, KIRCHE,

RELIGIONSSTREIT IN DEUTSCHLAND

1.9.3.5

SEXPOL-VERLAG, KOPENHAGEN, POSTBOX 827

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I. Einleitung

Das politische Interesse der Welt ist auf den Krieg in Äthiopien konzentriert. Ein an sich so bedeutsamer Vorgang wie die religiösen Auseinandersetzungen in Deutschland, ist etwas in den Hintergrund getreten.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Krieg zu einer revolutio- ' nären Umgestaltung der Gesellschaft in ein oder dem andern Land führt. Eine solche wird aber die Arbeiterbewegung erneut vor das Problem der Kirche und Religion stellen. Ein Beitrag dazu hofft diese, in einer andern weltpolitischen Situation begonnene Arbeit zu sein. Ihr Zweck ist die Schaffung grösserer Klarheit über die gesell- schaftlichen und psychologischen Vorgänge, die den gegenwärtigen Religionskämpfen in Deutschland, aber darüber hinaus der Religion überhaupt zu Grunde liegen. Aus dieser Klarheit sollen Waffen ge- wonnen werden im Kampf gegen den Faschismus, der im grossen gesehn auch stets ein Kampf gegen die Religion sein wird.

Als Leser sind darum vor allem antifaschistische Kämpfer, Funk- tionäre der Arbeiterbewegung ausserhalb und innerhalb Deutschlands gedacht: darüber hinaus aber die grosse Menge der »allgemein In- teressierten«, die auf die Fragen, die der deutsche Kirchenstreit: auf- wirft, Antwort haben möchten. Ihre Zahl ist bemerkenswerter Weise ebenso gross, wenn nicht grösser als die Zahl derjenigen, die die im engern Sinn politischen Vorgänge mit Aufmerksamkeit verfolgen. Man vergleiche den Raum, den ein gewisser Teil der bürgerlichen Tagespresse dem Kirchenstreit einräumt mit dem Raum, der der Handelspolitik Deutschlands oder selbst seiner Aufrüstung gewid- met ist.

Die marxistischen Staats- und Wirtschaftspolitiker mögen dieses Interesse für unberechtigt halten. Aber selbst wenn dies nun wirklich der Fall sein sollte, dann ist die Frage nach der Herkunft dieses »unberechtigten« Interesses politisch umso berechtigter. Besonders, wenn man sich über die ideologische Wirkung des Nationalsozialismus in den ausserdeutschen Ländern klar werden will; wenn man sich nicht damit zufrieden geben will, die Beantwortung der Fragen, die

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seine Kulturpolitik aufwirft, allein der bürgerlichen Tagespresse zu überlassen.

Aber hat die Arbeiterpresse etwa nicht zum Kirchenkonflikt Stel- lung genommen? Gewiss. Aber ihre Stellung leidet an einer Schwäche, die bisher nahezu unserer gesamten Religionsauffassung eigen war.-

Wir sehen die objektive Funktion der Religion in der kapitalisti- schen Gesellschaft. Wir wissen um die Millionen, die der Staat jedes Jahr der Kirche zuwendet, die Hilfe, die er ihr bei der Zwangsein- treibung ihrer Steuern angedeihen lässt, etc.. Auf der andern seite sehen wir, wie sich die Kirche dafür erkenntlich zeigt: Durch Ver- ‚hinderung wissenschaftlicher Aufklärung über die Fragen des gesell- schaftlichen Lebens, durch die Predigt von Moral, Demut und Gehor- sam gegen die Obrigkeit, durch Propaganda für Geburtenvermehrung und gegen die Sowjetunion.

Die Naturwissenschaft hat zwar die Autorität der Religion er- schüttert, die Aufklärung ihrer eben genannten gesellschaftlichen Funktion hat sie weiter untergraben. Doch die Deutungskünste der "Theologen haben die naturwissenschaftliche Propaganda gegen die Religion z.:T. unschädlich gemacht. Auch auf politischem und so- zialem Gebiet tritt die antireligiöse Propaganda keinem unvorbereite- ten Gegner gegenüber; die katholische und protestantische Kirche sind dabei der russischen weit überlegen. Aber zu dieser Verteidigung der Religion mit den scheinwissenschaftlichen Mitteln der Theologie tritt die tiefe gefühlsmässige Bindung ihrer Anhänger, die meist stärker ist als alle verstandesmässigen Erwägungen. So reden wir mit un- serer antireligiösen Aufklärung vielfach über die Köpfe der noch religiösen Massen hinweg. Sie werden mit dem Schlagwort »Moses ‘oder Darwin«, mit dem Nachweis, wieviel Geld die Pfaffen jedes Jahr vom Staat erhalten, kaum aufzuklären sein.

Was hemmt sie aber, trotz Naturwissenschaft, trotz Klassenunter- drückung, zur Einsicht in das wahre Wesen der Religion zu gelangen’? Wurden sie doch von unserer Propaganda gegen die Religion ganz im Gegenteil oft so sehr abgestossen, dass die einsetzende Gegenpropa- ganda gegen Gottlosigkeit und Kulturbolschewismus zu einem wirk- samen Mittel wurde, um die Massen desto fester an Kirche und Faschismus zu binden! Wie war das möglich? Was treibt auf der andern Seite so viele Menschen in und ausserhalb Deutschlands, dem Kirchen- und Religionsstreit ein so brennendes Interesse zuzuwenden? Handelt es sich hier um Energien, die zum politischen Kampfwillen gegen den Faschismus entwickelt werden können?

All diese Fragen sind bisher von der marxistischen Theorie unge- nügend beantwortet worden. Die Antwort, die für gewöhnlich ge- geben wird: Eben die durch die Klassenunterdrückung hervorgerufene Zurückgebliebenheit, Stumpfheit der Massen ist es, die die Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge verhindert, ist zwar im Ganzen ge-

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sehen richtig, aber ungenau, erklärt nicht das ungeheure poOsıuıve Interesse an der Religion. Wir werden um so besser gegen diese »Zu-

rückgebliebenheit«, »Stumpfheit« kämpfen können, je genauer wir

wissen, worin sie eigentlich besteht. Doch die Frage: Was bindet die Werktätigen entgegen ihrem Interesse an die religiöse Ideologie? ist

nur eine Teilfrage. Allgemein gefasst lautet das Problem: Was stimmt

im ausgebeuteten, unterdrückten Menschen überhaupt seiner Aus- beutung, Unterdrückung und religiösen Mystifizierung zu und ver- hindert ihn, dagegen zu rebellieren? Was kommt in ihm selbst der bürgerlichen bzw. faschistischen Ideologie entgegen? Diese Frage ist von der gesamten Theorie der Arbeiterbewegung vernachlässigt wor- den, sofern sie für deren Politik in den letzten Jahren entscheidend war (vgl. »Massenpsychologie des Faschismus« von Wilh. Reich).

Wir sagen: »Die Wissenschaft wird das Proletariat freimachen.« Gewiss! Aber nicht nur etwa Chemie, Biologie, Ökonomie, welche die

_ Natur- und Wirtschaftsgesetze erforschen, sind Wissenschaften. Wir

müssen auch die Wissenschaft in unser Denken einbeziehen, die sich die Erforschung des seelischen Geschehens und seiner Widersprüche zur Aufgabe macht. Dies ist die dialektisch-materialistische Psy- chologie.

Bei vielen Genossen scheint aber fast eine Scheu vorzuliegen, über psychologische Probleme einmal ruhig und sachlich nachzudenken. Manchmal nennen sie dgl. »Irrationalismus« (Hang, die Vernunft auszuschalten). Doch sie verwechseln dabei den Gegenstand der For- schung psychische Vorgänge, die häufig ohne Mitwirkung der Ver- nunft vor sich gehen mit ihrer Methode, die in unserer Psychologie stets den Gesetzen der Vernunft gehorchen muss.

Vor allem höhere Funktionäre und Intellektuelle sind befremdet

von Fragestellungen wie: »Warum geht das kleine Ladenmädel X.

lieber ins Kino als zur Gewerkschaftsversammlung?« »Warum liest Herr Hansen oder Jensen lieber von den wackern Pfarrern, die den Reichsbischof Müller und Ministerialdirektor Jäger als Kreaturen des Satans bezeichnen, als vom letzten Lohnabbau in Hitlerdeutschland?« Sie ahnen nicht, was .eine wirklich gründliche Beantwortung solcher Fragen, die sich nicht mit Gemeinplätzen begnügt, für die revolutio- näre Politik und Propaganda bedeuten würde.

Dass Funktionäre den Kontakt mit dem Alltagsleben der breiten Massen so oft verlieren, hängt wohl z. T. mit ihrer gesellschaftlichen

' Stellung zusammen: Sie sind Triebräder eines »Apparats«, der weniger mit Menschen als mit »der Organisation« als Ganzes rechnen. lässt. Doch diese Einstellung würde vielleicht leichter zu durch-.

brechen sein, brauchte nicht in so hohem Masse auch die Apparate der marxistischen Arbeiterorganisationen zu ergreifen, wenn die bürgerliche Erziehung nicht immer wieder Menschen produzierte, die eine Hemmung haben, sich in ihre Mitmenschen lebendig und unmittelbar einzufühlen.

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Was heisst aber »dialektisch-materialistische Psychologie«? Nichts anderes als: Dialektischer Materialismus, angewandt auf die Tat- sachen des psychischen Geschehens. Die Tatsachen dieses Geschehens die Art, wie der christliche Kleinbürger Schulze, der Hitlerjunge Müller und nicht zuletzt der sozialdemokratische Arbeiter Krause denkt und fühlt müssen wir verstehen, seine inneren Widersprüche entwickeln, zeigen, wie Kirche, Kirchenopposition, Neuheidentum und Nationalsozialismus sich diese Widersprüche zu Nutze machen. Dabei wird sich zeigen, dass diese psychologischen Tatsachen durchaus nicht in der Luft schweben. Wenn wir die Triebkräfte aufdecken, die ihnen zu Grunde liegen, wird sich zeigen, dass sie sich zu einem wesentlichen Teil aus der Erziehung innerhalb der bürgerlichen Familie erklären lassen. Und der Bestand dieser Familie ist letzten Endes durch die Produktionsverhältnisse bestimmt.

Wenn wir uns dabei psychoanalytische Erkenntnisse zu Nutze machen werden, dann darum, weil die Psychoanalyse in der natur- wissenschaftlichen Erforschung psychischen Geschehens bisher von allen psychologischen Schulen am weitesten gekommen ist. Die Psychoanalyse hat die überragende Bedeutung unbewusster seelischer Vorgänge für das Denken und Handeln der Menschen entdeckt, sie hat die entscheidende Rolle der Energie des Geschlechtstriebes für den ge- samten Lebensprozess dargestellt. Deren Bedeutung, auch schon für die früheste kindliche Entwicklung, ist uns bisher entgangen, weil die bürgerliche Moral den Menschen zwingt , einen grossen Teil seiner Triebregungen aus dem Bewusstsein ins Unbewusste zu verdrängen. Die Psychoanalyse ist allerdings in ihrer späteren Entwicklung an vielen, besonders an für die Beurteilung sozialer Zusammenhänge wichtigen Stellen ihren eigenen revolutionären Grundsätzen untreu geworden und verbürgerlicht.

Erst die Arbeiten von Wilh. Reich haben uns den Zugang zu diesen Grundsätzen wieder erschlossen. Reichs Arbeit besteht im wesentlichen: 1) In einer dialektisch-materialistischen Kritik gewisser psychoanalytischer Theorien. 2) In einer Erweiterung ihrer natur- wissenschaftlich-biologischen Grundlagen: Entdeckung der ent- scheidenden Rolle des Orgasmus (Höhepunkt des sexuellen Erlebens, volkstüml. »Auslösung«) und seines ungestörten Verlaufs iur uen gesamten Triebhaushalt. 3) In der konsequenten Anwendung psycho- logischer Erkenntnisse in der Gesellschaftswissenschaft, insbesondere 4) In dem Nachweis, dass die materiellen Bedingungen der bürger- lichen Gesellschaft vor allem durch die Vermittlung der Familien- _ erziehung bestimmte psychische Strukturen schaffen (psychische Struktur = seelischer Aufbau, seelische Gliederung). Diese erweisen sich als widerstandsfähiger als die Bedingungen selbst, denen sie ihre Entstehung verdanken.

Die so entstandene Betrachtungsweise, auf deren Boden sich die vorliegende Untersuchung stellt, nennt Reich »Sexualökonomie«. Sie

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ist, wie die obige Übersicht zeigt, keine einfache Kombination von Marxismus und Psychoanalyse, sie hat nichts gemein mit rein theo- retischen Versuchen, Freud und Marx auf einen Nenner zu bringen (sog. Freudomarxismus). Die aus ihr sich ergebende massenpsycho- logische und sexualpolitische Praxis ringt noch um ihre Anerkennung innerhalb der Arbeiterbewegung. Von der offiziellen Psychoanalyse wird die Sexualökonomie abgelehnt. Aber keine Betrachtungsweise, die mit vielen liebgewordenen Denkgewohnheiten bricht, wird sich von heute auf morgen durchsetzen können.

Doch denjenigen revolutionären Leser, der die Wichtigkeit der

Fragestellung anerkennt, bitten wir, in die manchmal ungewöhnliche

Art der Beantwortung einzudringen, selbst wenn sie ihm zunächst einige Schwierigkeiten machen wird. Ich habe mich bemüht, die Darstellung so zu halten, dass sie auch ohne Vorschulung von jedem, der eine gewisse Einfühlungsgabe besitzt, verstanden werden kann.!)

Eine andere Schwierigkeit, die vorliegende Analyse zu einer stets unmittelbar brauchbaren Waffe im antifaschistischen Kampf zu machen, entspringt nicht so sehr der Neuheit der Betrachtungsweise als den Bedingungen der Emigration, unter denen diese Arbeit ent- standen ist. So wird vieles in ihr nur Anregung sein, ohne im Ein- zelnen zeigen zu können, wie praktisch-politische Arbeit unter reli- giösen Menschen geleistet werden soll. Aber Voraussetzung solcher Arbeit ist doch: Wirkliches Verständnis dessen, was im religiösen Menschen vorgeht.

Allerdings, und dies bildet die dritte Schwierigkeit bei der Ab- fassung dieser Schrift: Wir wissen einfach vieles noch nicht. Wir stehen nach 90 Jahren Marxismus und 40 Jahren Psychoanalyse erst am Beginn einer wirklich materialistischen Religionsforschung.

Aus all diesen Gründen wäre mir nichts lieber, als aus den Kreisen derer, die mitten in der praktischen antifaschistischen oder anti- religiösen Arbeit stehen, Kritik und Anregungen zu Verbesserungen zu erhalten.

Endlich noch ein Wort an zwei besondere Kategorien von Lesern. Unter jenen »allgemein Interessierten«, die meine Schrift in die Hand bekommen, werden sich vielleicht auch religiöse Menschen finden. Sie werden sich durch sie wahrscheinlich im Tiefsten gekränkt und abgestossen fühlen. Ihnen möchte ich nur sagen, dass ich die tiefe Verwurzelung religiöser Vorstellungen, das persönliche Glücks- und Sicherheitsgefühl, das aus ihnen entspringt, durchaus zu würdigen weiss; und dass ich nicht so denken und schreiben würde, wüsste ich nicht, dass jenes Stück persönlichen Trostes, das die wenigen wirklich Gläubigen bei ihrem Gott finden, mit daran schuld ist, dass ein Sy- stem, das Millionen ausbeutet, unterdrückt und in den Krieg treibt, . noch nicht durch ein besseres ersetzt ist.

1) Eine Schwierigkeit, in die sexualökonomische Betrachtungsweise einzudringen, besteht u. a. in dem Mangel einer einführenden Literatur für den Ungeschulten, dem jedoch mit der Zeit abgeholfen werden soll.

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Und endlich ein Wort an den »unpolitischen« Wissenschaftler (Psychoanalytiker, Religionshistoriker etc.). Er wird manches finden,

was ihm aus anderen Zusammenhängen bekannt ist, vielleicht auch

einiges »rein wissenschaftlich«x Neue. Er wird die Schrift hoffent- lich mit einigem Interesse lesen, aber den politischen Zusammen- hang, in den alles gebracht ist, zum Teufel wünschen.

Ihm sei gesagt, dass gerade sein Unpolitisch-sein mit Schuld daran war, dass z. B. in Deutschland in aller Ruhe hinter seınem Rücken das Fundament untergraben wurde, auf dem er sich friedlich

theoretisierend sicher wähnte. Im dritten Reich wird er, der immer

unpolitische Wissenschaft machen wollte, gezwungen, entweder politische Unwissenschaft zu machen oder in die vom Naziregime immer enger gesteckte Grenze völliger Lebensferne zu flüchten. Wie lange wird es noch dauern, bis man auch klassische Philologie oder Ägyptologie nur mehr nach rassischen Gesichtspunkten wird treiben dürfen? Endlich bleibt unserm Wissenschaftler die Möglichkeit, zu schweigen bzw. zu emigrieren. Der Kampf der politisch aktiven wissenschaftlichen Forscher wird auch für ihn gekämpft; sofern er auf logische Konsequenz und Sauberkeit im Denken hält. Und diese werden ihn oft aus der wissenschaftlichen Problematik seines Fachs selbst heraus an den Rand revolutionären Denkens bringen. Er kann dann der Arbeiterbewegung grosse Dienste leisten, auch wenn ihn seine psychische Struktur daran an, aktiv am politischen Kampf teilzunehmen.

Im Oktober 1935. Karl Teschitz.

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Il. Stellung der Arbeiterpresse im Kirchenstreit Bis Ende 1934.

Fassen wir das Gesagte zusammen: Unser bisheriges Wissen über das Wesen der Religion ist ungenügend. Wir haben zwar die Funk- tion der Kirche in der kapitalistischen Gesellschaft klargestellt. Aber eine Kirche besteht aus Menschen. Diese Menschen glauben jeder für sich an Gott in der Form, die ihnen die Kirche übermittelt. Nun gehören zwar die Fragen des Glaubens nach bürgerlicher Ansicht zu den »intimsten« Angelegenheiten, die »jeder mit sich selbst ab- zumachen hat«. »Religion ist Privatsache« ist der Leitsatz der Sozial- demokraten. Aber es zeigt sich, dass diese Einzelnen, von denen jeder »mit seinem Gott allein sein« will, einander ähnlicher sehen, als sie selbst es meinen. Und sofern sie infolge gleicher Beeinflussung einander ähnlich sind, m. a. W. sofern ihre psychische Struktur typisch ist, können sie Gegenstand einer massenpsychologischen Untersuchung werden.)

Die Funktion der Kirche in der kapitalistischen Gesellschaft

‘nennen wir die objektive Funktion der Religion. Die typische Art

und Weise, wie der durchschnittliche Gläubige zu seinem Gott .steht, wie er an religiöse Vorstellungen und Lehren gebunden ist, nennen wir die subjektive Funktion der Religion. Über sie haben wir bisher zu wenig gewusst. Die Praxis unserer antireligiösen Arbeit, besonders. aber auch die Klarheit unserer Analyse des deutschen Kirchenkon- flıkts hat darunter gelitten. /

1) Darum ist es falsch zu sagen, die Massenpsychologie wolle die »kolleruvi- stischex Betrachtungsweise des Marxismus durch eine »sindividualistische< er-.

setzen. Wer das sagt ist, ohne es zu wissen, dem Kleinbürger hereingefallen, der behauptet, seine Seele wäre etwas ganz Einzigartiges. Natürlich ist trotz typischer Gemeinsamkeiten jeder vom andern durch unzählige Züge unter- schieden. Nur ist die Gemeinsamkeit grösser, als man im allgemeinen ver- mutet. Zudem findet eine dialektische Umkehrung statt: Gerade wo sich der Individualist »ganz besonders« fühlt, ist er typisch: »Die grosse Liebe«, »Das

Gotteserlebnis«, »der grosse Verlust, der nur mir widerfahren ist« etc., be-

sonders deutlich, wenn solche Menschen Gedichte oder Romane schreiben. Ich verdanke die Anregung zu dieser Abschweifung einer Arbeit von Hartmann. (Zeitschrift für polit. Psychologie und Sexualökonomie 1935/1.)

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Dies zeigt sich besonders bei einer genaueren Betrachtung dessen, was die Arbeiterpresse zum Kirchenkonflikt geschrieben hat. Diese Pressestimmen entsprechen wahrscheinlich nicht genau dem Ver- halten der in Deutschland kämpfenden Revolutionäre. Trotzdem kann man sich aus ihnen auch über die Art, wie sie denken, ein gewisses Bild machen, ein Bild, das natürlich stets durch neue und genauere Berichte ergänzt werden kann.

Wie sieht die Analyse der sozialistischen Presse aus? Kurz zu- sammengefasst folgendermassen: Die Massenbeteiligung am Kirchen- kampf ist Ausdruck einer wachsenden antifaschistischen Stimmung besonders bei kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen. Diese Stimmung verdankt ihr Entstehen wesentlich ökonomischen Ur- sachen, sie kann bloss den einzig sinnvollen politischen Ausdruck nicht finden. Trotzdem sind die Führer im Kirchenstreit Pastoren, Bischöfe, hohe Beamte keine Antifaschisten.*!)

Ihr Streit mit der staatlichen Kirchenpolitik ist bloss Ausdruck wachsender Gegensätze im eigenen Lager der herrschenden Klasse. Die antifaschistischen Kämpfer müssen sich diese Gegensätze zu Nutze machen.?) Sie müssen den Massen bewusst machen, dass nur der politische Kampf gegen den Faschismus das erreichen kann, was sie im Kirchenkampf unklar anstreben. Auch die religiöse Freiheit kann nur in Sowjetdeutschland verwirklicht werden.?)

So gibt die sozialistische Presse einige Haupttatsachen richtig wieder, enthält aber ebensoviel Falsches und lässt eine Anzahl Fragen überhaupt ungelöst.

1) Warum stellen sich die angeblich antifaschistischen kirchlich interessierten Massen überhaupt unter die Führung von Pastoren, hohen Beamten etc.? Dass in dieser Tatsache ein Problem steckt, ist fast völlig übersehen worden. »Die neue Front« (Organ der sozialistischen Arbeiterpartei) gibt zwar (Nr. 20, Nov. 1934) eine Erklärung: Die Massen folgen den Pfarrern »nicht um des Glaubens willen, sondern weil sie darin eine Spur von Widerstand gegen den

verhassten und gefürchteten Faschismus sehen.« Ähnlich schreibt

auch »Unser Weg« (Organ der internationalen Kommunisten Deutsch- lands, Nr. 3, 1934). Das ist sicher teilweise richtig. Aber gesetzt, das politische Moment wäre allein entscheidend, dann muss man doch sogleich weiter fragen: Warum findet die angeblich im Kern po- litische Opposition so leicht gerade diesen religiösen Ausdruck?

Wieso führt sie z. B. dazu, vor dem Fenster des in Hausarrest be-

1) Die sozialdemokratische Presse ist allerdings erst nach verschiedenen Schwankungen zu dieser Auffassung gelangt; vgl. Neuer Vorwärts 20-22 (1933), 44 (1934), Zeitschrift für Sozialismus (Juni 1934).

2) Die reformistische »Zeitschrift für Sozialismus« (Juni 1934) drückt es zag-

hafter so aus, der Kirchenstreit gäbe den Antifaschisten gewisse Chancen. Der kommunistische Kulturpolitiker Maslowski betont mit Recht die Not-

wendigkeit kämpferischer Aktivität (Neue Weltbühne 16/1934). Nur sagt er leider nicht, worin sie bestehen soll.

3) So wiederholt Rundschau. Vgl. Nr. 6, 60 (1934). 10

findlichen Bischofs Wurm Choräle zu singen? Die Oppositionen, die den Kirchenkonflikt tragen, enstehen ja in ganz verschiedenen Ge- sellschaftsklassen: Auf der einen Seite innerhalb der Bourgeoisie selbst, auf der andern innerhalb der kleinbürgerlichen aber auch der proletarischen Massen. Wie finden diese beiden Oppositionen so leicht zusammen, so dass die eine zur Massenbasis der andern wird? Die Erklärung der Neuen Front erscheint ungenügend, wenn man sich diese Oppositionen unmittelbar ökonomisch bedingt vorstellt.

Hingegen wird uns vielleicht eine andere Erwägung weiterhelfen. Württemberg und Westfalen beides Zentren der kirchlichen Op- position waren vor dem Hitlerumsturz Zentren der religiös- sozialistischen Bewegung, zu tausenden wurde das von Pfarrer Eckert herausgegebene »Sonntagsblatt des arbeitenden Volks« gelesen. Diese Massen waren subjektiv ehrlich sozialistisch eingestellt, doch zugleich stark religiös gebunden. Sie waren Sozialdemokraten und folgten Eckert nicht zur KPD. Es sind sicherlich z. T. die gleichen Massen, die heute hinter den oppositionellen Pfarrern stehen. Sie sind gegen Hitler, folgen aber den Pfarrern entgegen der Behauptung der Neuen Front auch um des Glaubens willen.

Hier liegt ein Widerspruch in der psychischen Struktur der durch- :schnittlichen Mitglieder der Masse vor. Doch wir deuten die Lösung des Problems hier nur an, sparen uns seine ausführliche Darle- gung auf.

2) Wie sehen die Widersprüche im Lager der Bourgeoisie, die ‚(dem Kirchenkonflikt zu Grunde liegen, wirklich aus?

a) Ökonomische Gründe.

Handelt es sich bei der Kirchenopposition etwa um die alten Deutschnationalen, um die Garde Hugenbergs, die mit dem hinter Hitler stehenden Finanzkapital um die Profite rauft? ana behauptet z. B. die Rundschau.!)

Sehen wir uns aber die ökonomischen Widersprüche an, mit denen die herrschende Klasse heute in Deutschland wirklich zu kämpfen hat. Dann können wir vielleicht einen Gegensatz zwischen Export- und Rüstungs- bzw. Agrarkapital feststellen. Der Hugen- bergkreis setzte sich im wesentlichen aus diesen letzteren zusammen. Aber der Kurs der Regierung geht durchaus in seinem Sinn, von einem Gegensatz kann keine Rede sein. Doch wir haben diesen Abstecher in die Ökonomie nur unternommen, um zu zeigen, wie an den Haaren herbeigezogene ökonomische »Erklärungen« sogar in Widerspruch zu der nüchternen ökonomischen Betrachtung selbst geraten; von einer wirklichen ENDE. kann erst recht nicht die: Rede sein.

1) Vgl. die Nr. vom 20. Juni 1933. Vorsichtiger auch‘ 60 (15./XI. 1934): »Zum andern stehen die meisten Kirchenoberen dem Hugenbergkreis nahe, der mit der NSDAP-Führung rivalisiert.«

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Ein anderer Versuch, Hitlers Kirchenpolitik unmittelbar öko-

nomisch zu erklären, findet sich in Rundschau Nr. 60/1934:

»Hitler will eine solche faschistische Nationalkirche schaffen, um sie im

Interesse des Monopolkapitals als reibungslos funktionierendes Instrument für

die Ausbeutung und Niederhaltung der Werktätigen, für die Erleichterung des Terrors und vor allem der Kriegsabenteuer, für Kräftigung der braunen Diktatur zu verwenden.«

Aber warum duldet ja stützt das Monopolkapital dann auch die Kirchenopposition ?

b) Staatspolitische Erklärungen. Auf der einen Seite steht die Tendenz der Gleichschaltung. Vgl. dazu das obige Rundschauzitat aber auch Neue Front (Nr. 20, 1934):

»Da ist zunächst auf der Seite des faschistischen Regimes die unbedingte Notwendigkeit der Gleichschaltung aller Organisationen, die in irgend einer Form Sammelpunkte oppositioneller Kräfte werden könnten. Die Gleichschaltung auch

der kirchlichen Organisationen ist für den deutschen Faschismus angesichts der’

konfessionellen Spaltung Deutschlands weit notwendiger als z. B. für den italieni- schen Faschismus.«

Die politische Gleichschaltung aller Wirtschafts- und Kulturorga- nisationen ist ein Grundprinzip sowohl des italienischen als des deut- schen Faschismus. Gegen sie hätte sich die protestantische Kirche nie gewehrt. Gerade die Kirchenopposition hat stets ihre politische Loyali-

\ tät betont, viele Nazipfarrer gehören ihr an, die sich nicht erst seit

März 1933 zu Hitler bekennen. Wir werden weiter unten zeigen, dass-

es sich hier um viel mehr handelt als die Gleichschaltung irgend einer ‚andern Kulturorganisation. Die »Gleichschaltung«, die die deutschen "Christen mit der Kirche vorhaben, bedeutet nämlich tatsächlich ihre "Vernichtung; genau so, wie man die freien Gewerkschaften nicht

‚gleichschalten konnte, sondern in etwas ganz anderes, nämlich die Arbeitsfront verwandeln musste. Die Erklärung aus irgend einer all--

gemeinen Gleichschaltungsnotwendigkeit ist darum oberflächlich, be- sagt im Grunde gar nichts. .

Auf der andern Seite kommt die sozialistische Presse zu sehr richtigen Feststellungen über die Gründe für die Unterstützung, die

die, Kirchenopposition durch die Bourgeoisie erhält. Rundschau 60

schreibt:

»Sie (die Kirchenführer) sind gegen eine übersteigerte, zu offen staatspoliti-

sche Verwendung der Kirche, wie sie Hitler wünscht, weil sie davon gerade eine: Verringerung des Einflusses der Kirche auf die Werktätigen befürchten.«

Die Bourgeoisie schreibt die Neue Front in der angeführten Nummer —-- »will ein zweites Eisen im Feuer haben, und denkt nicht daran, alles auf die

Karte des Nationalsozialismus zu setzen«.

»Die Bourgeoisie«x schreibt »Unser Weg«, shat kein unbegrenztes Interesse am Faschismus. Wichtig sind für sie die Bütteldienste, durch die er die Arbeiter- bewegung zerschlägt. Weniger wichtig ist für sie die Ideologie, durch die er gross.

\ wurde. Der Junker insbesondere hat nichts übrig für die Ideologie des stolzen. Germanentums. Er hält ... auf die Erziehung seiner Knechte im Geiste christ-- licher Demut und Unterwürfigkeit.«

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Doch wenn man sich diesen Argumenten anschliesst, dann ver- steht man nicht, wieso Hitler und seine engern Berater sich überhaupt auf das Abenteuer des Kirchenstreits oder gar die Schaffung einer neuen Religion einzulassen brauchten.

c) Ideologische Begründung.

»Der Kirchenstreit entzündet sich«, schreibt »Unser Weg«, an der Unverein- barkeit beider Ideologien. ‘Der universalistische Wesenszug des Christentums widerspricht der Nazirassenideologie, das faschistische Führerprinzip den demo- kratischen Formen des Protestantismus.«

»Es ist ein Kampf, der sich an Ideologien entzündet hat«, schreibt die Neue Front.

Dies ist gewiss der richtige Ausgangspunkt! Doch wir dürfen als Marxisten nicht dabei stehen bleiben. Wir müssen die ideologischen Tatbestände genau beschreiben, ihre innere Widersprüchlichkeit ent- hüllen und sie dann schrittweise über die verschiedenen Zwischen- glieder bis zu den Produktionsverhältnissen verfolgen, die sie letzten Endes bedingen. Doch diese Methode haben die meisten Marxisten in der Praxis nicht zu üben gelernt. Sie bleiben beim Ansatz stecken, führen die ideologischen, ökonomischen und staatspolitischen Begrün- dungen nebeneinander an, ohne die notwendige Verbindung her- zustellen.

3) Und nun zu den praktischen Folgerungen für die proletarische Politik. Die reformistische Presse stellt diese Frage überhaupt nicht klar, die revolutionäre betont wohl die Notwendigkeit, den Kirchen- streit für den antifaschistischen Kampf auszunützen. Aber wie soll das geschehen? Unser Weg schreibt:

»Wir müssen den Kleinbürgern klar zu machen versuchen, dass ihre Oppo- sition falsche Bahnen geht, wenn sie sich im Kirchenstreit erschöpft. Wir müssen sie von der Illusion befreien, als wäre diese lutherische Glaubensfreiheit von irgend einem Wert für sie. Wir müssen ihnen sagen: Was ist schon erreicht? Dürft ihr heute Eure Gedanken frei aussprechen ........ und drehen sich nicht alle diese Gedanken im Grunde darum, dass sich in dieser wachsenden Not und Unter- drückung ...... nicht mehr leben lässt?«

Ähnlich äussert sich die Neue Front. Doch der am Kirchenstreit interessierte Kleinbürger wird wahrscheinlich antworten: »Meine Ge- danken drehen sich gar nicht bloss um die wachsende Not und Unter- drückung. Gewiss, es geht mir schlecht, aber nicht schlechter als ge- gebenenfalls unter dem Bolschewismus. Aber dass man unsern Herrn Pastor, der auch in der schwersten Zeit immer so tröstende und herz- liche Worte gefunden hat, durch irgend einen gleichgeschalteten Schreihals ersetzen will dagegen protestiere ich.« Die religiöse Bindung ist eben nicht ein gewöhnlicher »Irrtum«, der durch eine Lektion marxistischer Ökonomie zu beseitigen ist.

Dieser rein negativen Stellungnahme sind die Parolen der KPD

vorzuziehen.

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Wir müssen »diesen (den kirchlich oppositionellen) Massen zum Bewusstseim bringen, dass auch ihre Ziele im Kampf gegen die faschistische Gewissensdiktatur nur im revolutionären Sturz des Faschismus, nur im Sozialismus, der die Tren- nung von Kirche und Staat fordert, verwirklicht werden können.x (Rundschau 27, 1934.)

Hier wird das revolutionäre Element, das in der kirchlich opposi- tionellen Bewegung enthalten sein kann der Kampf nicht nur um Religions- sondern um Gewissens- und Meinungsfreiheit überhaupt richtig hervorgehoben.

»Die Kommunisten zeigen den christlichen Werktätigen den Ausweg: Das. sozialistische Deutschland, in dem es vollste Glaubens- und Religionsfreiheit, in dem es Brot, Arbeit und Wohlstand für alle Schaffenden geben wird.« (Rund- schau 60/1934.)

Allerdings besteht die Gefahr, dass diese Haltung in Opportunismus

umschlägt. So wenn Rundschau 6/1934 schreibt, der Kirchenstreit sei

»Ausdruck des gesteigerten sozialen Drucks der unteren Volksmassen, mit denen besonders die unteren Geistlichen fester verbunden sind, als die Emporkömm- linge des Hitlerregimes ....... Wir Kommunisten vertreten daher in der Roten Hilfe den Standpunkt, dass jedem eingekerkerten antifaschistischen Pfarrer ebenso unsere Hilfe zu Teil werden. muss, wie allen andern Antifaschisten. Wir werden jede Pfarrei in ihrem Kampf unterstützen, wenn sie sich dagegen wehrt, dass ihr Zwangsgebete, religiöse kirchliche Handlungen von der faschistischen Diktatur aufgezwungen werden.«

Hier wird zu Unrecht die Tatsache verschwiegen, dass nur ein ganz geringer Teil der Pfarrer Antifaschisten sind. Doch ausserdem besteht die Gefahr, dass eine allzu intensive Beteiligung der Kommunisten am Kirchenstreit überhaupt verwirrend wirkt. Ähnliches ist nämlich bei der Saarabstimmung anlässlich des Auftretens der katholisch-soziali- stischen Einheitsfront beobachtet worden. Ein bürgerlicher Berichter- statter schreibt (Dagbladet, Oslo, 15./I. 1935):

»Fürchterlich sind die Nazidrohungen, aber noch fürchterlicher ist der un- beherrschte Flirt der Kommunisten mit der katholischen Kirche ....... Es ist un- heimlich, überzeugte Kommunisten zur Jungfrau Maria und zum heiligen Geist schwören zu sehn. Es ist Schwindel, wenn dem Katholizismus Fortschritt und Glück an der Saar garantiert wird. Und es ist wahr, dass die ganze Idee des Kommunismus davon ausgeht, alle Religion und besonders die katholische aus der Gesellschaft zu beseitigen. Es ist wahr, dass die Roten in der SU Kirchen gestürmt haben etc.«

Einem Kleinbürger, der von der antisowjetistischen Greuelpropa- ganda überzeugt ist, kann ein religionsfreundliches Verhalten der Kommunisten nicht bloss sympathisch sondern auch unter Umständen unheimlich erscheinen. |

Im Jahr 1935 (bis Oktober).

Was das Jahr 1935 betrifft, so hat sich an der Haltung der kom- munistischen Partei und ihrer Auffassung des Kirchenstreits nichts geändert. Die Kirchenopposition ist, soweit es sich um die Massen handelt, nichts als der Ausdruck der politischen Opposition gegen die nationalsozialistische Staats-, Wirtschafts- und Kriegspolitik. So ist z. B. der Widerstand der katholischen Jugendlichen ohne Vorbehalt 14

»ein Bestandteil des Kampfes der antifaschistischen Volksfront im Kampf um Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, gegen die faschistische Totalität. 2000 Jungkatholiken haben zu Ostern ihre Wallfahrt nach Rom zu einer eindeutig antifaschistischen Demonstration gestaltet. Viele von ihnen sind nach ihrer Rück- kehr von der Gestapo verhaftet und aufs schwerste misshandelt worden.« (Rund- schau 1935/22.) ,

Hier möchte einen der gleiche Ekel vor den weihrauchwedeln- den Kommunisten ergreifen, wie den kleinbürgerlichen Berichterstat- ter des »Dagbladet«. Statt in diese Anbiederungen an die katholische Kirche zu verfallen, müssen die Kommunisten sich lieber ernsthaft fragen, wieso es zu diesem Zusammenstoss zweier reaktionärer Mächte kommt. Gewiss sind in der katholischen Jugend und ihrem Kampf besonders in der letzten Zeit auch antifaschistische politische Tenden- zen vorhanden. Aber wir dürfen niemals die reaktionären Bindungen vergessen, die gleichzeitig in jedem einzelnen Jugendlichen wirksam sind und die bei einer Wallfahrt nach Rom gewiss ausschlaggebend waren. Nicht die Walfahrt ist eine antifaschistische Demonstration, aber ihre polizeiliche Bestrafung kann vielleicht aus einzelnen Ju- gendlichen wirkliche Antifaschisten machen.

Ebensowenig, wie die katholische Kirchenopposition kann man die evangelische, soweit sie die Massen betrifft, einfach erklären aus der politischen

»Unzufriedenheit des Kleinbürgertums in Deutschland, welches noch nicht, wie das Proletariat auf die Ebene des illegalen Kamps gegen die faschistische Diktatur steigt und ....... kein anderes Ventil findet.< (Rundschau 1935/21.)

Wenn man von dieser falschen Einschätzung der Massen ausgeht, dann ist es verständlich, dass man auf Seiten des nationalsozialisti- schen Staates nichts anderes vermutet, als den Wunsch, den »Totali- tätskurs im Interesse des Monopolkapitals, dessen Ausbeutung und Kriegspolitik fortzusetzen« (Rundschau 1935/8). Gewiss, letzten En- des werden alle Massnahmen des faschistischen Regimes von diesen Interessen diktiert. Aber wenn man sie als »Erklärung« für jede ein- zelne oft in sich widerspruchvolle Massnahme des Regimes anführt, erklärt man gar nichts und schafft bloss eine Nacht, in der alle Katzen grau werden. In der gleichen Richtung liegt auch die Erklärung:

»Hitler sieht vor allem in der Gleichschaltung der Kirchen ....... ein wichtiges. Mittel zur höchstmöglichen Einspannung der Werktätigen für die Kriegspolitik. und die Kriegsabenteuer des faschistischen Regimes.<« (Rundschau 1935, H. 15.)

Hier wird das notwendige Resultat einer gesellschaftlichen Ent- wicklung (Faschismus bedeutet Krieg!) unmittelbar als Ursache für eine dazu noch in sich widerspruchsvolle Einzelmassnahme ausge- geben. Widerspruchsvoll: Denn noch nie (wenigstens seit dem 3ten christlichen Jahrhundert) hat die Friedensbotschaft des Christentums die Kirche daran gehindert, die Soldaten »moralisch zu stärken«. Wenn Rundschau 21 von der Friedfertigkeitslehre des Christentums spricht, die der faschistischen Kriegsideologie hindernd im Wege stehe, so setzt sie sich damit in Widerspruch zur gesamten geschichtlichen Erfahrung.

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Auch die Beurteilung der Bischöfe und Pastoren, die nach Meinung ‚der Rundschau einmal vom Kirchenvolk zur Opposition gedrängt wer- den, dann wieder als Repräsentanten einer konservativen Opposition gegen Hitler erscheinen und endlich auch wieder als loyale Hitler- ‚anhänger, ist widerspruchsvoll und verworren. D? h. der gesellschaft- liche Zustand, der ihr Verhalten bedingt, wird nicht in seinem Gesamt- zusammenhang erkannt und die Widersprüche dieses Verhaltens aus ihm entwickelt, sondern diese Widersprüche werden zusammenhangs- los neben einander gestellt.

Was die Literatur der 2ten Internationale im Jahr 1935 betrifft, so war sie mir leider zum grossen Teil nicht zugänglich. Nur einen Aufsatz von Aufhäuser im »Neuen Vorwärts« vom 8. September 1935 konnte ich lesen. Auch er schätzt die Rolle des Katholizismus auf eine durchaus opportunistische Weise ein. Das Verbot der Doppel- mitgliedschaft in Arbeitsfront und konfessionellen Standesvereinen wird damit erklärt, dass diese Standesvereine nach Aussage der Nazis ‚selbst gewerkschaftsähnlichen Charakter gehabt hätten und dass der. Nazistaat mit dem Verbot seine Angst vor der gewerkschaftlichen Or- ‚ganisierung der Arbeiter zum Ausdruck bringe. Jeder unvoreingenom- mene Leser wird fühlen, wie sehr diese Begründung an den Haaren ‚herbeigezogen ist. Denn im selben Artikel von Aufhäuser lesen wir, dass diese katholischen Standesvereine »die Widerlegung der libe- ralistischen, kommunistischen und marxistischen Irrlehren« ebenso auf ihrem Programm hatten wie »Pflege des Gemüts durch arbeiter- tümliche Feste, Förderung des deutschen Volksliedes, Laienbühnen- spiel, Zusammenfassung der Jungarbeitergruppen zur Ertüchtigung ihrer Mitglieder etc.«< Also eher ein Programm der Entpolitisierung unter der Maske der Gewerkschaftsähnlichkeit. Und der faschistische Staat hätte andere Möglichkeiten gehabt, eine Entwicklung in uner- "wünschter d. h. gewerkschaftlicher Richtung zu verhindern, als das Verbot der Doppelmitgliedschaft, wenn nicht die Gegensätze zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus, die auf andern Gebieten be- stehn, sich immer mehr vertieft hätten und darum die katholischen

Arbeiter und vor allem den Klerus mit wachsendem Misstrauen er- füllt hätten.

Ebensowenig existieren auch die Verbindungslinien zwischen kirchlicher und sozialistischer Ideologie, die Aufhäuser sehen will. Wenn einmal ein Zentrumsabgeordneter von den abgehetzten Men- schen spricht, die abgehetzte Seelen haben und vom Typus des ver- ‚zweifelten Arbeiters redet, der an eine Wendung des Schicksals nicht mehr glauben kann, so beweist das, wie geschickt die Kirche in der Seelenbeherrschung und -führung ist. Denn sie gebraucht das Ver- trauen der Arbeiter, das sie sick durch solches Reden vielleicht er- wirbt, nicht, um sie zum Sozialismus zu führen. Alle Versuche auch die von Aufhäuser zitierten von Hohoff die Lehren der Kirche und etwa auch bloss die ökonomischen Lehren des Marxismus zu ver-

söhnen, sind seit der päpstlichen Eneyclica »quadragesimo anno« vom

Jahre 1931 erledigt. Hier wird jeder »religiöse Sozialismus« vom.

Papst mit grösster Schärfe zurückgewiesen, das Ideal eines Stände- staats als das katholische hingestellt, der deutlich Züge des italieni- schen Faschismus trägt ‘und der heute in Österreich unter direkter Berufung auf die kirchlichen Lehren annähernd verwirklicht ist. Also wozu diese Anbiederungen?

Die weitaus beste Analyse des Kirchenstreits, die ich bisher in der marxistischen Literatur gefunden habe, findet sich in der Zeitschrift »Neue Front« (SAP), H. 18—20 (1935). Klar wird darin gezeigt, dass die politische Unzufriedenheit die Kirchenopposition zwar auf der einen Seite gewaltig anschwellen lässt, dass es aber bei der Kirchen- opposition im Kern »die alte Reaktion« ist, »die kleinbürgerliche und die grossbürgerliche, die hier ihr Wesen treibt und die das Nazitum nicht mit revolutionärer sondern mit konservativer Zielsetzung an- greift.«x (H. 19.) Die innere Zwiespältigkeit aller im Kirchenstreit Be- teiligten wird richtig charakterisiert (H. 20):

»Im Kirchenkampf stehen sich zwei Gruppen gegenüber, welche beide Glieder der kapitalistischen Welt sind und daher beide gleichermassen der Feind der Ar- beiterklasse. Beide sind aber zwiespältig, wie wir sahen, weder prinzipielle Gegner des Regimes, noch aber auch reibungslos eimgegliedert in das heutige Sy- stem. Die oppositionellen Christen greifen zwar wie wir den Nationalsozialismus an, aber nicht wie wir von dem revolutionären, sondern von einem reaktionären Standpunkt aus. Die Neuheiden treten zwar im Namen des Regimes auf, aber sie unterwühlen zugleich das gesamte System der bürgerlichen Ideologie, welche der sozialistischen unvereinbar und feindlich gegenüber steht. Die Arbeiterklasse kann daher mit keiner der beiden Gruppen etwa ein Bündnis eingehen, wie das die KPD und der sozialdemokratische Parteivorstand gerne möchten. Sie kann aber wohl die einzelnen Aktionen der Bekenntniskirchen unterstützen, sie ermun- tern und fördern bei der Bildung oppositioneller Zentren; und sie wird auf der anderen Seite die Erschütterung der feindlichen Ideologien ausnützen, die Risse und Sprünge darin erweitern und vertiefen.«

Wie wir sehen, wird hier die richtige Folgerung für das praktische Verhalten der Arbeiterklasse gezogen.

Die Schwäche des Artikels besteht allerdings darin, dass die Zwie- spältigkeit der verschiedenen Gruppen zu wenig konkret herausgear- beitet wird.

»Scheinbar geht es im Kirchenstreit um rein ideologische Dinge: Rassen- prinzip gegen christliche Sakramente, faschistischer gegen kirchlicher Totalitäts- anspruch, Führerprinzip gegen evangelische Gemeinde-»Demokratiex usw. und für viele erschöpft sich darin das Wesen des Kirchenstreits. In Wahrheit sind diese religiösen Auseinandersetzungen nichts anderes als ideologische Verkleidun- gen sozialer und politischer Kämpfe.<« (H. 19.)

Hier wird nicht die Ideologie des Kirchenstreits eingehend analysiert

und gezeigt, wie diese Ideologie nicht bloss Schein ist, sondern ganz

konkret mit der Art und Weise zusammenhängt, wie sich die in den zitierten Artikeln der NF im ganzen richtig aufgezeigten gesellschaft- lichen Widersprüche in den Massenindividuen verkörpern. Nein, diese Ideologien werden aufgefasst als »nichts anderes als ideologische

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Verkleidungen.« Dadurch wird aber der Weg zu einem wirklich massenpsychologischen Verständnis verbaut. Und dieses ist Voraus- setzung aller revolutionären Kulturpolitik. Der Mangel eines solchen Verständnisses war daran Schuld, dass »die Arbeiterklasse auf kul- turpolitischem Gebiet in früherer Zeit manches versäumt« hat, wie der Verfasser der Artikel mit Recht feststellt.

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Ill. Der Protestantismus

1. Motive der „Teilnahme“ am Kirchenstreit und ihre politische Bedeutung

a) Zwei Berichte.

»Im März wurde der Pfarrer der Pauluskirche, Dr. von Rabenau, einer der heftigsten Gegner des Reichsbischofs Müller und seines Systems, von seinem Amt suspendiert. Der Reichsbischof setzte an seiner Stelle den deutschchristlichen Pastor Rotenberg ein, der sich jedoch vorige Woche zurückzog und das Amt von neuem Dr. von Rabenau übergab, indem er behauptete, dass ein langes Zusammen- arbeiten mit den deutschen Christen ihn davon überzeugt habe, dass es für diese Kirchenbewegung nicht möglich sein würde, die evangelische Kirche zu rekon- struieren. Dr. von Rabenau sollte gestern seine erste Predigt nach der langen Abwesenheit halten und seine Gemeinde war in einer Anzahl von etwa 1500-2000 erschienen, um ihn zu begrüssen.

Gerade als der Gottesdienst beginnen sollte, ereignete sich inzwischen eine unerwartete Unterbrechung. Der dritte Pfarrer der Pauluskirche, der deutsch- christliche Dr. Peter hielt seinen Einzug an der Spitze von etwa einem halben hundert Gesinnungsgenossen. Sie sperrten die Tür zur Sakristei ab und Dr. Peter trat vor den Altar, ‘wo er begann, eine Erklärung des Reichsbischofs Müller zu verlesen. Dr. von Rabenau, Dr. Rotenberg und der Vizepfarrer Kube kamen auf einem andern Weg zur Kirche herein und Dr. von Rabenau forderte Dr. Peter auf, den Gottesdienst seinen Gang gehen zu lassen. Da Dr. Peter sich. weigerte, den Altar zu verlassen, bestieg Dr. von Rabenau den Predigtstuhl und fragte die Gemeinde, wen sie zu hören wünschte. Die Antwort war tausendstimmig: »Wir wollen Dr. von Rabenau hören«, und da auch nicht diese deutliche Kundgebung Dr. Peter veranlassen konnte, den Altar zu verlassen, begann Dr. von Rabenau unangefochten seine Predigt.

Es entwickelte sich nun ein skandalöser Kampf zwischen den beiden Pfarrern. Sooft Dr. von Rabenau zu reden begann, liess der Organist, der den deutschen Christen angehörte, die Orgel durch den Raum brausen und sooft Dr. Peter am Altar zu beten begann, wurde er von der Gemeinde übertäubt, die Choräle sang und Sprechchöre mit dem Text bildete: »Du sollst den Namen Gottes, Deines Herrn, nicht eitel nennen«. Um die Verwirrung komplett zu machen, begannen nun die Kirchenglocken zu läuten ohne dass es jedoch möglich war aufzuklären, auf welcher Seite der Läuter stand und eine ungeheure Menschenmenge sammelte sich vor der Kirche.

Nach 2 Stunden gelang es Dr. von Rabenau, seiner Gemeinde verständlich zu machen, dass er wünschte, sie sollte die Kirche verlassen. Mit dem Pfarrer an der Spitze zog sie darauf singend aus der Pauluskirche hinaus und horchte in andächtiger Stille Dr. von Rabenaus Predigt auf dem Kirchplatz. Nur 60 Men- schen blieben in der Kirche, um Dr. Peter zu hören.« (Politiken, 4./XII. 1934.)

»Im Hessen-Kasseler Landeskirchentag trat eine Gruppe auf, die sich als nationalsozialistische Fraktion innerhalb des Hessen-Kasseler Landeskirchentags

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bezeichnete. Die Äusserungen ihres Fraktionsführers bei den Verhandlungen wur- den durch kräftiges Pfeifen und Schreien von der Galerie her unterstützt; dieses wurde vom Fraktionsführer unten im Saal dirigiert. - Zuverlässige Beobachter auf der Galerie haben festgestellt, dass es sich hierbei grösstenteils um SA-Leute han- delte, die ohne Uniform und Abzeichen erschienen waren. Zwischendurch konnte man Zurufe hören wie: »Na, haben wir für die 60 Pfennig noch nicht genug geschrieen?« (aus einem illegalen Flugblatt der Bekenntniskirche, aus dem Ge- dächtnis zitiert).

b) Das Interesse am Kirchenstreit.

Was fesselt an diesen Berichten? Warum möchte man gern da- bei gewesen sein, selbst wenn einen der liebe Gott eben so kühl lässt wie der Nationalsozialismus?

Zunächst einfach die Freude an der Sensation! Wie bei jedem grossen Boxkampf und Skandalprozess. Diese hat unmittelbar weder mit Religion noch mit Politik etwas zu tun. Dennoch hat der Sensa- tionshunger der Massen gesellschaftliche Ursachen. Der moderne Kapitalismus hindert die freien Lebensäusserungen auf den ver- schiedensten Gebieten (vgl. dazu Kap. 5). Im Faschismus, der Not und Hoffnungslosigkeit weiter steigert, Theater, Kino, Bücher für viele durch Gleichschaltung verekelt, muss das Bedürfnis nach einem ersatzweisen »Sich ausleben« noch mehr zunehmen. Die faschisti- schen Machthaber kamen diesem Bedürfnis in sehr geschickter Weise durch Veranstaltung immer neuer Aufmärsche, Feste, Feuerwerke etc. nach. Aber mit der Zeit stumpfen alle diese Sensationen ab. Trotz- dem: Wenn Göring und Göbbels persönlich mit der Sammelbüchse unter den Linden promenieren, reisst ihnen das Volk fast die Kleider vom Leibe. Diese Sensationslust trägt bestimmt viel zum Interesse am Kirchenstreit bei.

Doch im Interesse am Kirchenstreit kann sich noch etwas anderes verbergen. Den zankenden Pastoren steht nicht mehr das feierliche Pathos zur Verfügung, mit dem die Päpste des Mittelalters einander gegenseitig mit dem Bann belegten. Zumindest: Es ist ihnen trotz aller Bemühungen nicht mehr recht glaubhaft. Der Zank der ehr- würdigen Gottesdiener in der Pauluskirche wirkt wie eine unfrei- willige Gotteslästerung. Im Interesse an einem solchen Bericht kann sich die Freude verstecken, dass sich eine so alte und unbestrittene Autorität wie die Kirche so unsterblich blamiert. In dieser Empfin- dung der Kirche als einer lächerlichen Institution steckt mehr als in der blossen Sensationslust ein Stück subjektiv revolutionärer Ge- sinnung. Aber von dieser passiven Freude am Schaden des Gegners bis zum eigenen aktiven Einsatz ist noch ein weiter Wege.

Endlich kann sich im Interesse am Kirchenkampf, in der Unter- stützung der Bekenntniskirche (abgekürzt BK) auch ein Stück poli- tischer Opposition gegen den Faschismus verbergen. Sehen wir uns solche Fälle näher an!

Ich sprach einmal mit einer kleinbürgerlichen Dame über die BK. Sie ist immer gegen die »Parteipolitik« gewesen, dafür aber für Hu- manität und Kultur. Da die Nazis ihrer Meinung nach keines von

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beiden haben, ist sie eine entschiedene Gegnerin der Hitlerherrschaft. »Also muss man ihr bewusst machen«, wird mancher unserer unent- wegten Antifaschisten sagen, »dass nur der revolutionäre Kampf.. Aber so einfach ist das nicht. »Ich war immer gegen den Kommunis- mus«, sagte sie, »weil ich glaube, der Wunsch nach Privateigentum gehört zur menschlichen Natur. Auch der russische Bauer will seine Privatkuh und sein Privatschwein und ist deshalb gegen die Kollek- tivisierung. Ausserdem sind die meisten Kommunisten hier in Deutsch- land so unvorsichtig, dass ihr Verhalten an Selbstmord grenzt. Aber in der BK arbeite ich jetzt aktiv mit.< »Glauben Sie damit die Nazis wirklich zu bekämpfen?« »Die Regierung sitzt viel zu fest, als dass ich mir in absehbarer Zeit von einem solchen Kampf etwas ver- spreche. Aber ich will wenigstens im Kampf gegen den allgemeinen Verfall geistiger Werte auf meinem Platz sein« (Nebenbei bemerkt: Die Frau ist bis 1934 niemals in die Kirche gegangen).

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Einen sozialdemokratischen Funktionär. Er ist niemals kirchenfromm gewesen und steht gefühls- mässig auch heute gegen die Nazis. Seine Kinder hat er aber stets in den Religionsunterricht geschickt. Die Konfirmation sollte ihnen -eine schöne »Erinnerung fürs Leben« sein; besonders, da der Herr Pfarrer auch für den Fortschritt war und so schön vom »Höheren im Menschen« reden konnte, das ja auch irgendwie mit dem Sozialis- mus zusammenhängt. Und dieses »Höhere«, dessen Ausdruck ule Kirche ist, soll nun von diesen verfluchten Nazis auch noch gleich- geschaltet werden? Nein! Darum hinein in die Bekenntnisfront! Mit den Kommunisten fängt man sich lieber nichts an, sonst riskiert man sein Leben und noch dazu als Familienvater. (Es ist gewiss kein Zufall, dass Hauptstützpunkte der BK in Württemberg und West- falen seinerzeit Hauptverbreitungsgebiete der sozialdemokratischen religiös-sozialistischen Bewegung waren).

»Oppositionellex Menschen gibt es nun allerdings heute in Deutsch- land unzählige; käme es nur auf ihre Zahl an wir sähen die Hitler- herrschaft längst gestürzt. In zufälligen Gesprächen mit ganz Frem- den bekommt man oft Dinge zu hören besonders als Ausländer die dem Betreffenden, brächte er sie an »geeigneter« Stelle vor, ein paar Wochen Konzentrationslager einbringen würden wenn nicht mehr. Aber neben der Opposition steht bei den meisten die alles be-

herrschende Angst, vielfach auch das Misstrauen gegen die revolutlo- '

näre Bewegung, ein Misstrauen, das nach den begangenen Fehlern gar nicht unverständlich ist. Doch soweit diese Menschen gerade den Kirchenstreit als Auspuff für ihre Misstimmung wählen, scheint ihre Abneigung vor politischer Aktivität unserer Erfahrung nach nicht kleiner sondern eher grösser zu sein als die des Durchschnitts. Aktivist im Kirchenstreit wird man ja stets nur dann, wenn man neben aller eventueller politischer Oppositionseinstellung ein Stück religiöser Struktur in sich trägt, das durch die besondere Situation

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allerdings oft erst aktivisiert wird.) Doch unsere Untersuchung wird in der Folge zeigen, dass dieser Struktur politisch nicht eine revolu- tionäre sondern eine konservative Grundhaltung entspricht; aus ihr heraus beteiligt man sich wohl an einer Oppositionsbewegung, die für ihre Mitglieder das möge man nie vergessen im Vergleich zur politischen Opposition mit wenig persönlichen Gefahren verbunden ist. Aber man setzt mit ihr nicht sein Leben im illegalen Kampf aufs Spiel.

Zusammenfassend können wir sagen: Das Masseninteresse für den Kirchenstreit ist wohl vielfach der Ausdruck politischer Unzufrieden- heit, Opposition gegen die faschistische Unterdrückung besonders auch auf dem Gebiet der Kulturpolitik. Doch es ist keine Unzufrieden- heit, von der sich für die revolutionäre Arbeit unmittelbar etwas erhof- fen liesse. Dies wird noch klarer werden, wenn wir die Ziele und Paro-

len derjenigen untersuchen, die die eigentlich treibenden Kräfte im.

Kirchenstreit darstellen: Das sind die Menschen, die subjektiv über- zeugt aus religiösen Motiven handeln. Diese Motive müssen wir erst anhören und verstehen lernen, ehe wir daran gehen können, sie auf

irgend eine Art materialistisch zu erklären.

2. Der religiöse Konflikt

a) historische Übersicht, 1. Teil.

In der Entwicklung des Konflikts der protestantischen Gläubigen mit dem Nationalsozialismus können wir 2 Perioden unterscheiden: Die -erste ist gekennzeichnet durch die Rolle der Glaubensbewegung deutscher Christen (abgek. DChr). Diese von den Nationalsozialisten zum Kampf um die evangelische Kirche aufgezogene Gruppe erlangte bei den Kirchenwahlen Sommer 1933 mit Unterstützung des NS-Partei- apparats eine überwältigende Mehrheit in den kirchlichen Vertretungs- körperschaften (Synoden) und erzwang gegen den Willen der kirch- lich traditionellen Gruppen die Einsetzung Pfarrer Müllers, eines per- sönlichen Freundes von Hitler, zum Reichsbischof. Die Opposition schloss sich zum Pfarrernotbund zusammen, der aber auch bei den Gemeindemitgliedern starke Unterstützung fand. Er nahm den Kampf gegen die Zwangsmassnahmen des Reichsbischofs (Pfarrerabsetzungen, zwangsweise Einsetzung DChr-Pfarrer, Zwangseingliederung der evan- gelischen Landeskirchen in die von Müller beabsichtigte Reichskirche

.etc.) auf und führte ihn mit Berufung auf die Bibel und das aus der

Reformationszeit überkommene Glaubensbekenntnis. Im Reichsmass- stab tagte er zum ersten Mal Mai 1934 (Barmer Synode) und trat (Oktober 1934) als Bekenntniskirche der Reichskirche als geschlossene Organisation gegenüber (Dahlemer Synode, Oktober 1934). Dabei

1) Diese religiöse Struktur lässt sich nicht einfach nach dem Vorgang des Vul- särmarxismus aus politisch-ökonomischen Tatsachen unmittelbar serklären«.

2 Sara liegen ihr bloss indirekt zu Grunde. Näheres darüber in ap. 5.

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wurde die Reichskirchenregierung (RKR) als ungesetzlich erklärt, ein kirchliches Notrecht verkündet, eigene Seminare und Priesterordina- tionen eingerichtet und endlich in der Folge eine sogenannte Treu- handstelle geschaffen, an die die Bekenntnisgemeinden finanzielle Bei- träge abzuführen hatten. Die Landeskirchen von Bayern, Württemberg und Hannover traten dabei geschlossen zur BK, Mahrarens, der Landesbischof von Hannover, wurde Führer der Gesamt-BK. In ihrem Kampf wurde die BK von den Gerichten unterstützt, die zahl- reiche Massnahmen der RKR für ungesetzlich erklärten, Zwangs- beurlaubungen und Gehaltssperren aufhoben etc. Dem Druck der BK

: weichend zog der Staat auch Oktober 1934 den in die RKR entsandten

Kirchenkommissar Jäger zurück, der sich durch seine Verachtung der traditionellen Einstellung und durch seine Zwangsmassnahmen (Ab- setzung der bayrischen und württembergischen Bischöfe) besonders unbeliebt gemacht hatte; die BK hat sich nicht gescheut, ihn als Werkzeug des Satans zu bezeichnen. Dabei mögen aussenpolitische Rücksichten, vielleicht auch der Einfluss der Reichswehr mitgespielt haben; auch die der BK freundliche Resolution der Weltkirchenkonfe- renz auf der dänischen Insel Fanö (Sept. 1934) dürfte Eindruck gemacht haben.

Doch der BK gelang es nicht, Müller zu stürzen, obwohl fast alle deutschen Theologieprofessoren seinen Rücktritt forderten.

Während dieser ganzen Zeit stützte sich die RKR stark auf die Bewegung der DChr. Doch als diese sich immer mehr zersplitterten und an Bedeutung verloren und damit kommen wir zur zweiten Periode trat der Staat immer stärker als Gegenspieler in ‘den Vordergrund (seit Anf. 1935). Wir setzen unsere Chronik später, bei der Darlegung der Rolle des Staates fort.

Die Auseinandersetzungen zwischen BK und DChr und die zwischen BK und Staat bzw. nationalsozialistischer Bewegung haben aber viel Gemeinsames. Wir gehen darum aus vom Gegensatz BK DChr.

b) BK gegen DChr.

Deutsche Christen. 1) Erneuerung der Kirche von der

: völkischen Ideologie bzw. von der Wirk-

lichkeit der nationalsozialistischen Be- wegung her.

»Evangelischer Glaube schliesst in sich die Bereitschaft, immer wieder in die geschichtliche Wirklichkeit von Staat und Volk hineinzulauschen. ... Wir sehen in den Männern der nationalsozialisti- schen Bewegung und des nationalso- zialistischen Staats Gottes Werkzeuge (aus einem DChr-Bekenntnis zitiert in der Zeitschrift-der opp. Theologen »Junge Kirchex (JK), 1934, H. 1, S. 30).

»Die sGlaubensbewegung deutsche Chri- sten, die vom Nationalsozialismus her innerhalb der volksfremd gewordenen Kirche zum Leben erweckt worden ist...

Bekenntniskirche.

1) Erneuerung der Kirche allein von der heiligen Schrift und vom Glaubens- bekenntnis her.

»In der Kirche ist man sich einig darüber, dass es in der ganzen Welt keinen dringlicheren Anspruch gibt als den, den das Wort Gottes darauf hat, verkündet und gehört zu werden; diesem Anspruch muss Genüge getan werden, koste es, was es wolle und werde aus der Welt und aus der Kirche selbst, was da aus ihnen werden möge. In der Kirche ist man sich einig darüber, dass das Wort Gottes alles und jedes aus dem Felde schlägt, was ihm wider- stehen mag, dass es darum über uns und über alle seine Feinde siegen wird, weil es »gekreuzigt gestorben, be-

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(Reichsleiter Kinder im »Evangelium im dritten Reich« 31./XII. 1933).

»Drinnen im Hörsaal wird von Wun- der geredet und draussen auf der Strasse geschieht es. Drinnen sinnen wir über Glauben nach, ohne dass mehr gewendet wird, als der Deckel eines Buchs, und draussen versetzt der Glauben Berge.

Drinnen spinnt man über den Nikode-

mus bei Nacht. Seine Gedanken und die zukünftige Lehre der Wiedergeburt ma- len sich aus und draussen vollzieht sich die Wiedergeburt eines ganzen Volks aus Nacht und Not und Hoff- nungsleere. ... Kirche ist der geformte Rettungswille eines ganzen Volkes« (Aus »Unmögliche Existenz«, ein Wort wider Karl Barth von Fr. Tügel, Ham- burg, Agentur des Rauhen Hauses, S. 14 26). 2) Demnach: Rückhaltlose Bejahung

‘der Aktivität im kirchlichen wie im

politischen Leben. Jesus als Held, als erster Nationalsozialist, dem wir nach- eifern sollen. Nationalsozialismus ist Fleisch gewordenes Christentum.

3) Dementsprechend: Weltlichkeit. Übertragung der völkischen Ordnung der Welt auf die Kirche: Arierpara- graph, Führerprinzip.

4) Ablehnung der kirchlichen Sün- denlehre.

»Einer neuen gründlichen Eindeut- schung bedürfen vor allen die theologi- schen Grundbegriffe wie “Sünde, Erb- sünde, Busse, Gnade, Glaube, Erlösung, Rechtfertigung, Demut.« (Bischof Hos- senfelder in einer amtlichen Verlaut- barung der Kirchenregierung vom 10/XI. 1933).

Da es sich bei den meisten dieser Begriffe um gute deutsche Worte han- delt, muss es mit der »Eindeutschung« wohl so seine eigene Bewandtnis haben.

Klarer hat sich der frühere Berliner Leiter der DChr Krause in seiner be- rühmten Sportpalastrede 13./XI. 1933 ausgedrückt: Der Sündenbegriff sei in Wirklichkeit nichts anderes, als ein Minderwertigkeitskomplex (wobei der

Germane Krause, ohne es selbst zu be-

merken, einen Begriff der jüdischen Individualpsychologie verwendet). Nie- mand von den anwesenden Reichs-Kir- chenfunktionären protestierte. Dennoch musste Krause daraufhin zurücktreten. Er hatte zu deutlich gesprochen.

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graben, am dritten Tag wieder auf- erstanden, sitzend zur Rechten Gottes, des Vaters«e schon ein für allemal über und für uns und alle seine andern Feinde gesiegt hat.« (Karl Barth »Theo- logische Existenz heute« S. 4).

Man beachte den Unterschied schon

bloss im Tonfall, in der Melodie der

Sprache im Barth- und Tügelzitat.

2) Demnach: Wohl Verantwortung ge- genüber dem politischen Geschehn. Be- jahung des nationalsozialistischen Staats als Retter vor dem Bolschewismus. Dennoch ist die Aktivität, die daraus entspringt, nichts Absolutes. Passive Hingabe an Gottes Botschaft: Das Evan- gelium ist auch zum Nationalsozialis- mus gesandt, nicht etwa umgekehrt.

3) Dementsprechend: Betonung des Überweltlichen, Transzendenten. Ab- lehnung des Arierparagraphen für die Ordnung des kirchlichen Lebens. Beto- nung der Freiheit der Schriftdeutung gegenüber dem Führerprinzip in der Kirehe. Die Kirche ist nicht = Staat.

4) Sündenlehre bleibt Kernstück. Auch Abstammung aus edelstem ari- schen Geblüt schützt vor Sünde nicht.

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5) Dementsprechend: Abkehr von der überkommenen Dogmatik. Jäger (Ministerialdirektor im Reichskultus- ministerium) erklärt am 11./VIII. 1934 in Stuttgart: »Das Bekenntnis solle nicht über das Evangelium gestellt wer- den. Bekenntnisse sind wandlungsfähig. Am Ende der Entwicklung sähe er eine Nationalkirche stehen.«

5) Diese Gesamthaltung findet die BK zusammengefasst in den Glaubens- bekenntnissen der Reformationszeit. Diese früher oft halb vergessene dogma- tische Grundlage des Protestantismus- wird zur Fahne, um die die BK sich sammelt. Bei allen theologischen Spitz- findigkeiten, mit denen der Kampf um seine Reinhaltung geführt wird, darf

bruchs, der politischen Diffamierung im

man die Wirklichkeit der psychologi- schen Grundlage nicht vergessen, für die das Bekenntnis nur Ausdruck ist. Betonung der im Bekenntnis gegebenen histor. Verschiedenheiten schliesst na- türlich eine süberkonfessionelle« Reichs- kirche aus. 6) Methode der Gewalt, des Rechts- 6) Betonung des in der Kirchenver- fassung vom Sommer 1933 gegebenen Rechtsstandpunktes. Gegenüber den Gewaltmethoden des Gegners Betonung der christlichen Liebe und der Notwen- digkeit, mit der Kraft des Wortes allein | zu kämpfen.

7) Kein Widerstand gegen die Ein- 7) Bedenken dagegen. Doch klagt der gliederung der kirchlichen Jugendver- Theologe, der in der JK dazu Stellung bände in die Hitlerjugend. nimmt, nicht nur über die Gefahr der Entkirchlichung der Jugend. Er stellt viel mehr auch fest, es »würde diese Regelung eine fast völlige Fernhaltung der Jugend vom Elternhaus bedeuten. Dieses würde sich mit Recht dagegen . zur Wehr setzen. Ausserdem entspricht

es nicht der Auffassung evangelischer Jugendarbeit, Elternhaus und Familie für das Leben der Jungen und Mädchen immer mehr auszuschalten. Vielmehr sehen wir ihre Aufgabe in der Stärkung ihres Einflusses auf die ganze Erzie- hungsarbeit.«

Kirchenkampf.

ce) Soziale Zuordnung.

Diese Übersicht zeigt, wie sehr die Parolen der Bekenntnisfront der Einstellung des unpolitischen Kleinbürgers entsprechen müssen. Sie sind politisch gesehn nichts als die höhere Weihe der kleinbürger- lichen Vorliebe für ein ehrbares und anständiges, vom politischen Dreck ab und den überkommenen »höheren« Werten’ zugewandtes Privatleben.

»Anständigkeit«, die zwar politische Arbeit aus »Verantwortung« einschliesst, nicht aber aus leidenschaftlicher Hingabe (vgl. 2), die Gewalt und Rechtsbruch auf jeden Fall ablehnt (6). Abwendung von der politischen Hingabe (vgl. 2) bedeutet in der Folge z. B. regel- mässige Bibellektüre nach ganz bestimmten Plänen, wie sie in JK Nr. 1 (1935) entwickelt werden; auch die ganze scholastische Form der Diskussion in einer Zeitschrift wie der JK mit nicht weniger als 22.000 Abonnenten deutet auf ein Massenbedürfnis nach Weltabge- wandtheit hin. Die überkommenen idealen Werte kann man im

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Gottesglauben (vgl. 1) ebenso finden, wie in der überkommenen Dog- matik (5), die das schlechte Gewissen des Durchschnittsmenschen, seine Auffassung, die Sexualität sei etwas Schmutziges, mit dem ge- heimnisvollen Glanz der Erbsündenlehre vergoldet (4). Und das so eingerichtete Privatleben führt man vor allem im Schosse der Familie, gegen deren Zerstörung durch Dienst in der Hitlerjugend man sich zur Wehr setzen muss (7).

Die Bedeutung, die die Familie und ihre Tradition nun wieder umgekehrt für die Kirche haben, hat einer der führenden Männer

der BK, der frühere U-Bootkapitän und jetzige Pfarrer Niemöller so beschrieben:

»Wenn heute diese ereignisreichen und entscheidungsvollen Jahre meines Lebens von neuem vor mir stehen, taucht wohl die Frage auf, ob der Weg wirk- lich zur Kanzel gehen musste, oder ob nicht die Tradition des Elternhauses den eigentlichen Ausschlag dabei gegeben haben möchte. Ich fühle mich verpflichtet, es hier auszusprechen, dass ich anders den Weg in der Tat wohl kaum gefunden haben würde: man kann über die Möglichkeit einer christlichen Erziehung denken wie man will; man wird mit gutem Recht bezweifeln, dass einer christlichen Erziehung die überragende Bedeutung zukommt, die ihr gern beigelegt wird. Aber dass der Geist eines frommen Elternhauses mit zu den entscheidenden Kräften eines Menschenlebens gehören kann, duldet für mich nach meiner eigenen Lebenserfahrung keinen Zweifel.« (Niemöller »Vom U-Boot zur Kanzel«, JK 1934, S. 801).

Und den Wert, den diese kleinbürgerliche Bindung an Familie und Kirche für die herrschende Grossbourgeoisie hat, enthüllt nie-

mand besser, als der Jurist der BK, Reichsgerichtsrat Flor (JK 1934, 0);

»Die Kirche hat ihre besondere Aufgabe. Sie stützt den Staat dadurch, dass sie die Seele des Volks zu Gott führt und damit die Grundlage schaffen hilft für den Aufbau eines innerlich gesunden Staates. Diesen Dienst kann aber nur eine selbständige Kirche dem Staat leisten; denn die Arbeit der Kirche wird für den Staat nahezu wertlos, wenn die Kirche völlig von ihm abhängig ist und ihre Organe in Weltanschauungsfragen nicht mehr frei sind. Dann ist in den Augen des Volkes (vom Ref. hervorgehoben) die Arbeit der Kirche kaum noch etwas anderes als eine Äusserung des Staates selbst, der besondere Bedeutung nicht mehr beigemessen wird. Also der Staat kann eine an seine politische: Auffassung gebundene Kirche nicht wünschen. Diesen Standpunkt vertritt offenbar auch die Reichsregierung selbst, hat doch der Kanzler der Kirche die Erhaltung ihrer Selbständigkeit zugesichert.«

Die Kirche muss zwar den Staat unterstützen, aber »das Volk« d. i. die Masse der Unterdrückten, darf es nicht zu deutlich merken, denn sonst ist in seinen Augen »die Arbeit der Kirche kaum noch etwas anderes als eine Äusserung des Staates selbst, der besondere Bedeutung nicht mehr beigemessen wird.«

Dem entspricht auch die Äusserung eines Mitgliedes der BK in Berlin, die uns in einem Bericht mitgeteilt wird:

Dieser Mann hat am meisten Angst vor dem Kommunismus (Unterdrückung der Kirche in Russland) und sieht daher die Zustände hier als weitaus kleineres Übel an. Dies ist wohl charakteristisch für den ganzen Kirchenstreit. Auch die meisten Bekenntniskirchenmitglieder wären ganz gern Nationalsozialisten oder sind es schon, sie wünschen nur ihre Kirche von politischen Dingen frei und selbständig zu erhalten. Es mag allerdings Ausnahmen geben, die im Kirchen-

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streit einen getarnten politischen Streit sehen, sie sind aber sicher in der ‚Minderheit.

Wenn wir dieser Haltung jedoch die Ideologie der deutschen Christen gegenüberstellen, entdecken wir etwas Merkwürdiges. Welt- zugewandtheit, politische Aktivität bis zur Anwendung von Gewalt und bis zur Sprengung des bürgerlichen Rechtsbegriffs; und all das nicht durch irgend.eine moralische Verantwortung begründet, sondern aus dem Mitschwingen des Einzelnen mit dem Volksganzen: Das ist nicht mehr die Einstellung des altmodischen kleinen Mannes, dem Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. Hier kommen Empfindungen zu Wort, die viel mehr Ähnlichkeit mit denjenigen der revolutionären Kämpfer haben. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Wir

sprechen von Empfindungen, Gefühlseinstellungen, nicht von Zielen!

Doch die Ähnlichkeit geht noch weiter! In der Ablehnung der Erbsündenlehre wird sich der Revolutionär mit dem deutschen

Christen ebenso einig sein (allerdings nicht in der dafür gegebenen

Begründung!) wie in der Feststellung, dass die Auflösung der Fa-

milienerziehung nicht eine Gefahr sondern einen Fortschritt bedeutet.

Doch wäre es einseitig, im Gegensatz zwischen DChr und BK nur den Gegensatz »Subjektiv revolutionär reaktionär« zu sehn. Gleich- zeitig existiert nämlich auch der gerade umgekehrte Gegensatz. zwi-

schen ihnen. So vertritt die BK in der Ablehnung des Arierparagra- phen für die Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten ein fort- schrittliches Element gegenüber den DChr wenn auch ihr Mut zu einer Kritik der Anwendung dieses Paragraphen ausserhalb der Kirche nicht ausreicht. Fortschrittlich gegenüber den DChr und den Nazis im Ganzen gesehn ist die BK auch in der Ablehnung des Führerglaubens, des Glaubens an die Unbedingtheit einer staatlichen Autorität. |

Aber an der Tatsache, dass die BK ja statt dessen eine andere absolute Autorität anerkennt, nämlich die der göttlichen Offenbarung, kann man sehen, dass diese Seite des Gegensatzes von weniger grosser Bedeutung ist. Sie lässt sich verstehn im Zusammenhang mit der Zwiespältigkeit in den christlichen . Lehren selbst, auf die wir in Kap. 5 näher eingehn werden. |

d) Ökonomische Erklärungsversuche.

Gibt es für diese beiden Einstellungen eine aus der ökonomischen Lage entspringende Begründung? Gewiss. Anhänger der BK sind die-

jenigen Schichten des Kleinbürgertums, denen es verhältnismässig gut geht oder die wenigstens durch ihre Tradition »Bildung und Besitz« re-

präsentieren: Die Pfarrer selbst, Beamte, theologische Universitäts- professoren, Mitglieder kirchlicher Vereine und seit jeher aktive Kirchengemeindemitglieder, die erfahrungsgemäss dem gut situierten Kleinbürgertum entstammen.

Dazu kommen wohl auch gewisse Teile der Grossbourgeoisie—

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Militär, Grossgrundbesitz dessen Auffassungen wohl am besten das oben zitierte Gutachten von Flor wiedergibt. Bei den deutschen Christen (und der deutschen Glaubensbewegung, die jetzt vielfach ihre Nachfolgerschaft angetreten hat), spielt die SA mit ihrer prole-

tarisierten Anhängerschaft eine wesentliche Rolle, während in der

BK nach verschiedenen Berichten proletarische Anhängerschaft fast fehlt.

Was nun die Grossbourgeoisie betrifft, so hat es von jeher in ihrem Interesse gelegen, ihre Klasseninteressen nicht nur auf direkt politischem sondern auch auf indirektem, nach aussenhin unpeoliti- schem Weg zu sichern: Etwa durch den Einfluss der Banken, der »unpolitischen« Presse und nicht zuletzt der Kirche. Sie wird zur Unterstützung der BK durch die Einsicht getrieben, dass mit der Entkirchlichung .ein gefährliches Moment in das öffentlichen Leben tritt. Die Kirche hat eine ältere Erfahrung in der Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung als der Nationalsozialismus, auf dessen eine Karte man nicht alles setzen will.

Bei den kleinbürgerlichen Anhängern der BK mögen weniger bewusst ähnliche Motive vorliegen. Hier lässt sich der Wunsch nach dem »Unpolitisch-sein« nicht mehr so leicht direkt aus der Klassenlage erklären. Hingegen wird seine Wurzel uns klar, wenn wir an die starke familiäre Bindung in diesen Schichten denken und an die damit verbundene individualistische Enge der gesamten Lebensauffassung. So wird bei diesen Anhängern der BK die Re- bellion gegen die staatliche Kirchenpolitik zur Rebellion des un- politischen Menschen gegen die ihm unheimlich und gefährlich er- scheinende Politisierung des gesamten Lebens, die auch vor den

bisher »unantastbaren Werten des Privatlebens« nicht halt macht

(z. B. Recht der Eltern auf die Kindererziehung).

Vollends versagt die unmittelbar ökonomische Erklärung bei der Frage, warum die Jugend fast aller Schichten gegen das traditionelle Kirchentum steht. Doch auch hier gibt die Besinnung auf die fami- liäre Situation eine Lösung: Die Familietradition, in der die Älteren noch stehen, ist heute aus den verschiedensten Gründen in Auflösung begriffen, was eine Erschütterung der traditionellen sexualverneinen- den Moral bei der Jugend zur Folge hat. Die amoralische Ideologie der leidenschaftlichen Hingabe, die Ablehnung der Sündenlehre, der ganzen dogmatischen Enge der Kirchen ist es, die die Jugend ins. Lager zuerst der DChr und dann weiter ins antikirchliche Lager hin- überzog: Es ist eine Ideologie dort vorhanden, die ihrer unklaren Sehnsucht nach Sexualbejahung entgegenkam, ohne natürlich im Rahmen des Faschismus etwas anderes bewirken zu können, als dass

die Jugend duch die Bejahung ihrer verhüllten (und in der Folge .

verbogenen) Sehnsucht um deren wirkliche Erfüllung betrogen wird.!)

1) Die direkt ökonomische Erklärung kann auch niemals etwas darüber sagen, warum diese ganzen Auseinandersetzungen gerade die religiöse Form an- nehmen. Eine Erklärung dafür versuchen wir in Kap. 5 zu geben.

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Endlich sagt uns die direkt ökonomische Erklärung auch nichts über die Ursache, wieso diese subjektiv revolutionär eingestellten Nationalsozialisten sich auf Hitlers Seite geschlagen haben und den Weg nicht zur wirklich revolutionären Front fanden. Überhaupt höre ich manchen Leser verwundert fragen: »Wie? Die Nazichristen, die antikirchlichen Nationalsozialisten sind die Revolutionäre, die tapferen Kirchenleute, die wir schon fast für Bundesgenossen im anti- faschistischen Kampf hielten, sind die Reaktionäre? Das ist doch ein Widerspruch

e) ein Paradox wird aufgelöst.

Dass es im Nationalsozialismus Tendenzen gibt, die mit denen der revolutionären Bewegung grosse Ähnlichkeit haben, ja aus den glei- chen psychologischen Motiven entspringen, wird für manche Leser etwas Neues sein. Die Beschreibung und Aufklärung dieser Tatsache verdanken wir Reichs »Massenpsychologie des Faschismus«. Er zeigt dort, wie die Unterdrückung wichtiger Lebensbedürfnisse die klein- bürgerlichen Menschen zwar zur revolutionären Auflehnung gegen den Kapitalismus treibt, wie aber in den selben Menschen gleichzeitig durch die sexualunterdrückende Erziehung in der bürgerlichen Fa- milie eine psychische Struktur begründet wurde, die zu Autoritäts- bindung und zu nationalistischem bzw. religiösem Mystizismus treibt (vgl. dazu auch Kap. 5). In der Seele der kleinbürgerlichen Frau und des sozialdemokratischen Arbeiters, die wir oben als Beispiel anführ- ten, liegt genau wie in der des »revolutionären« SA-Mannes ein solcher Widerspruch. Nur sind die Akzente in beiden Fällen verschieden ver- teilt. Bei dem scheinbar »antifaschstischen« Kirchenkämpfer kann man an jenes Radieschen denken, mit dem ein witziges Gedicht von Tucholsky einst einen sozialdemokratischen Minister verglich: Aussen rot und innen weiss. Bei ihren Gegnern ist das Verhältnis umgekenrt: Oberflächlich gesehn sind es bloss treue Nationalsozialisten, die auf den Führer, die nordische Rasse, auf nationale Ehre und Wehrfähig- keit schwören. Aber in der Tiefe haben sie eine Einstellung, die der der wirklich revolutionären Kämpfer nicht so unähnlich ist. Zu ihnen gehören die SA-Männer, die Hitler für den deutschen Lenin hielten, die hinter Röhm standen, als man sie um den: erhofften Sozialismus betrog. Und zu ihnen gehören die deutschen Christen, die die Kirche vom Leben her in einer Weise reformieren wollten —- dass sie aller- dings dadurch aufhören würde, Kirche zu sein. Was mit dieser psychologischen Erkenntnis gewonnen sei, wird jetzt vielleicht man- cher politische Praktiker uns fragen. Worauf zu antworten wäre:

Die Theorie von der Zwiespältigkeit der psychischen Struktur, die wir

hier gaben, kann natürlich nur ein Hinweis, eine Anleitung sein, die Wirklichkeit genauer zu beobachten, in jeder Situation die besondere Form und Färbung zu entdecken, die dieser Widerspruch annimmt. Und ihn dann den Massen, die man beeinflussen will, so ohne alle

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Theorie, so unintellektuell und einfach klar zu machen, dass sie sich mehr als bisher verstanden fühlen und zur revolutionären Führung Vertrauen gewinnen.

3. Stellung des Staates im Kirchenstreit

a) 2 Tendenzen.

Der zwiespältigen psychischen Struktur des nationalsozialistischen Massenanhangs entsprechen 2 widersprechende Tendenzen in der staatlichen Kirchenpolitik selbst. Die eine will die Kirche in ihrer bisherigen unabhängigen Form schützen, in der sie von jeher eine Stütze der Gesellschaft war. Da man die BK nicht ausdrücklich gegen die Angriffe der NS-Bewegung in Schutz nehmen konnte, bedeutete dies praktische Nichteinmischung in den kirchenpolitischen Streit, Rechtsschutz der BK, soweit die DChr und die RKR bestehendes Recht brachen.

Die andere Tendenz entspricht den »revolutionären« Wünschen der NS-Massen nach Umgestaltung der Kirche in eine NS-Kultur- organisation. Dabei ist im Grunde nur ein kleiner Teil dieser Massen | im engeren Sinn religiös interessiert. Auch das Neuheidentum kann | nicht als Religion des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Baldur | von Schirach verbietet christliche wie heidnische Propaganda in der HJ, andere Erlasse von HJ-Unterführern bezeichnen die neuheidni- sche Bewegung verächtlich als Hauerbewegung. Diese Nationalsoziali- sten halten mit Rosenberg die Zeit für eine neue Religion noch nicht

für gekommen und ersetzen bis dahin den jenseitigen religiösen My- stizismus entschlossen durch einen diesseitigen politischen. Und das »positive Christentum«? Der Nationalsozialismus ist seiner Meinung. nach selbst das positive Christentum, auf dessen Boden er sich nach $ 24 seines Parteiprogramms stellt. Mit diesem Gemeinplatz hat er | die christlichen Theologen aller Richtungen hineingelegt, die im drit- 3 ten Reich auf eine besonders schöne Blüte ihres Weizens hofften. |

-

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b) Historische Übersicht 2. Teil.

In den ersten anderthalb Jahren des Kirchenstreits wechseln die beiden Tendenzen miteinander ab. Ein in der revolutionären Linie liegender Eingriff waren die Kirchenwahlen Sommer 1933, wo der Staats- und Parteiapparat für die DChr eingesetzt wurde, die in der Folge mit den Stimmen kirchlich ganz uninteressierter Menschen ihren Sieg errangen.

Ein ähnlicher Eingriff war die Eingliederung des evangelischen Jugendwerks in die HJ durch Vertrag zwischen RKR und HJ-Leitung | vom 19/XII. 1933 besonders wenn man sich die praktische Aus- : wirkung der Sache ansieht. Vgl. den Briefwechsel zwischen dem Reichsjugendpfarrer und dem Reichsjungendführer Baldur von Schi-

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rach vom Nov. 1934 (aus »Der deutsche Weg« 1935 H. 5). Der Reichs- jugendpfarrer bittet um eine persönliche Rücksprache mit Balaur ...

»Meine Mitarbeiter im Lande fragen mich: Hat der Reichsjugendführer keine Autorität mehr bei seiner HJ? Oder hat er die Kirche mit dem Abkommen vom 19./XII. 1933 hinters Licht führen wollen? «Nur das harmlose Gemüt eines ev. Reichsjugendpfarrers kann sich so etwas nicht vorstellen.)

Anlass zu dieser Frage ist die nicht mehr abzustreitende Tatsache, dass die in der HJ befindliche evangelische Jugend an der Teilnahme an evangelischen Veranstaltungen versteckt oder offen allerorts gehindert wird. Wehrt sie sich gegen derartige unzulässige oder taktlose Behinderung seitens der HJführer, so wird sie entweder disziplinarisch bedroht oder zu Kameraden zweiter Klasse de- zrädiert ....: Spricht der Reichsjugendführer nicht in kürzester Frist ...... ein deutliches Befehlswort ...... so kann ich die Verantwortung für das Verbleiben von Kindern evangelischer Eltern, der Konfirmanden und der von mir eingeglieder- ten Jugend nicht mehr tragen.«

Der Reichsjugendpfarrer fordert nun: Dienste müssen so angesetzt werden, dass Zeit für Kirchenbesuch und religiöse Betreuung bleibt, Befreiung volksmis- sionarischer Kurse und Lager von der Kontrolle der HJführer, Verbot von Ein- sriffen in Konfirmandenunterricht und Kirchenbesuch der Konfirmanden etc.

Baldur antwortet am 24./XI. durch seinen Stellvertreter: Der Reichsjugend- führer sieht sich ausserstande »Ihr Schreiben zu beantworten, weil seine Form den im Verkehr mit Dienststellen des Reichs üblichen Gepflogenheiten nicht nur widerspricht, sondern sogar als ungehörig bezeichnet werden muss.

In den Unterlagen für eine Rücksprache des Reichsjugendpfarrers mit dem Reichsjugendführer vom 14./XI. 1934 wird von Ihnen darüber hinaus eine Drohung ausgesprochen, in der der Reichsjugendführer einen Angriff auf die Einheit des nationalsozialistischen Staats erblickt ...... « u.s.w. in diesem Ton. »Schliesslich hat der RJF oft genug erklärt, dass er an konfessionellen Fragen desinteressiert ist. Er hat auf sehr vielen Führertagungen der Jugend Werbung für die gegen- christliche Bewegung streng verboten. _...... In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache Erwähnung, dass Herr Hauer dem RJF persönlich unbekannt ist...«

Also Fusstritte nach allen Seiten, vor allem aber gegen den Reichs- jugendpfarrer; wäre er Katholik, brauchte er sich eine so erbärmliche Behandlung nicht gefallen zu lassen.

In der Folge kam es zu Verhaftungen von Pfarrern meist in der milden Form des Hausarrests, im grössern Masstab wohl zum ersten Mal bei den Auseinandersetzungen der RKR mit der bayrischen und württembergischen Kirche im Oktober 1934; zum Verbot, kirchliche Versammlungen ausserhalb der Kirche abzuhalten (in verschiedenen deutschen Ländern, vor allem Preussen nicht ganz gleichmässig seit Ende 1934), welches die aus ihren Kirchen ausgewiesenen BK-Pfarrer:

besonders schwer trifft; zum Verbot, über den Kirchenstreit andere

als die Berichte der RKR und der offiziellen Nachrichtenstellen zu bringen (seit November 1934, in der Folge etwas gemildert) ; endlich gehört hierhin die Duldung aller Übergriffe der DChr bzw. der SA gegen die BK (Störung von Gottesdiensten, Zerstörung von religiösen Versammlungsräumen ausserhalb der Kirche etc.).

Doch daneben war auch die andere Tendenz wirksam. Man liess. die BK in ihrer Organisationsarbeit im ganzen ungeschoren (trotz scharfer Beobachtung und Überwachung), die Gerichte gaben ihr in Prozessen gegen ungesetzliche Massnahmen der RKR Recht, die Trennung von Kirche und Staat, die die Einstellung der staatlichen

Kirchenzuschüsse bedeutet hätte, wurde zwar angedroht aber eben so:

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wenig durchgeführt, wie die Verstaatlichung der Kirche, die die DChr forderten. Vgl. auch das Zurückweichen in der Jäger-Frage.

Seit Anfang 1935 ist aber ein schärferer Wind in der Haltung des Staates gegenüber der BK zu spüren. Dies hängt wohl einerseits damit zusammen, dass auf die DChr als Massenbewegung bei der gewünsch- ten Umgestaltung der Kirche im völkischen Sinne kaum mehr zu rech- nen war. Durch immer neue Abspaltungen an die BK und noch völki- scheren Richtungen hin geschwächt haben sie sich Mitte März von der RKR und ihrem Kampf gegen die BK ganz distanziert und wollen ihre Kräfte von nun ab weniger im Kirchenstreit als in der NS-Be- wegung einsetzen.

Auf der andern Seite sind durch den für Deutschland günstigen Ausgang der Saarabstimmung die aussenpolitischen Hemmungen für einen stärkern Druck von Seiten der Staatsmacht weggefallen, was neben der BK vor allem die Katholische Kirche zu spüren bekommen sollte.

Aber auch in der BK-Front war das Selbstvertrauen gestiegen auf Grund der ausserordentlichen organisatorischen Erfolge: Abgesehn von Bayern, Württemberg und Hannover unterstellten sich auch Braunschweig und Schaumburg-Lippe dem »Rat der Deutschen evangelischen Kirche«, aber auch aus andern Gebieten schlossen sich mehr und mehr Pastoren ihm an. Die DChr stellten keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr dar. So konnte die BK es sich leisten, den Kampf mit der Position aufzunehmen, der die DChr nur wie ein Geröll- haufen einem grossen Gebirge vorgelagert waren: Mit dem subjektiv revolutionären Flügel der NS-Bewegung selbst, mit dem Geist des »Mythus«.

Die neue Phase wurde durch das »Wort an die Gemeinden« ein- geleitet, das die BK-Synode der altpreussischen Union auf ihrer Tagung in Dahlem Anfang März 1935 beschloss. Es heisst darin:

»Wir sehen unser Volk von einer tötlichen Gefahr bedroht. Die Gefahr be- steht in einer neuen Religion ...

Dieser Wahnglaube macht sich seinen Gott nach des Menschen Bild und Wesen. In ihm ehrt, rechtfertigt und erlöst der Mensch sich selbst. Solche Ab- götterei hat mit positivem Christentum nichts zu tun. Sie ist Antichristentum....

Wer Blut, Rasse und Volkstum anstelle Gottes zum Schöpfer und Herrn der

staatlichen Autorität macht, untergräbt den Staat ...

Das irdische Recht verkennt seinen himmlischen Richter und Hüter, und der Staat selbst verliert seine Vollmacht, wenn er sich mit der Würde eines ewigen Reiches bekleiden lässt und seine Autorität zu der obersten und letzten auf allen ‘Gebieten des Lebens macht ...

Darum darf sie (die Kirche) sich nicht dem die Gewissen bindenden Totali- tätsanspruch beugen, den die neue Religion dem Staate zuschreibt ...

Sie muss ihre auf den Namen des dreieinigen Gottes getauften Glieder vor einem Weltanschauungs- und Religionsunterricht bewahren, der unter Ver- stümmelung und Beiseiteschiebung der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testa- mentes zum Glauben an den neuen Mythus erzieht.«

Zum ersten Mal wendet sich die BK in feierlicher Weise nicht mehr gegen DChr oder RKR sondern gegen Grundauffassungen des

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NS selbst. Zugleich wird hier in grossartiger Weise die Zwiespältig- keit des Gegensatzes BK-NS klar. Die Ablehnung der Selbsterlösung, die Besorgnis, dass die Staatsvergötterung die staatliche Autorität untergräbt, die ganze Betonung der Jenseitigkeit und ihrer Verwurze- lung in der Offenbarung sind Proteste der Reaktion gegen eine fort- schrittliche, subjektiv revolutionäre Einstellung (Gegensatz A). Im Protest jedoch gegen die alleinige Anerkennung von Blut und Rasse als »Schöpfer und Herrn staatlicher Autorität«, gegen den Totalitäts- anspruch des Staates überhaupt klingt die subjektiv. revolutionäre Seite des Christentums gegen die reaktionäre Seite des NS an (Gegen- satz B). Doch der Leser wird selbst das Empfinden haben, dass der Ton auf A liegt, B nur eine Begleitstimme. dazu darstellt.

Nun aber ging der Sturm los. Pfarrer, besonders solche, die die Dahlemer Botschaft verlesen hatten, wurden massenweise verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht, es hagelte Strafversetzungen, polizeiliche Redeverbote und Ausweisungen von Pfarrern aus ihren Gemeinden.

All das sind Methoden, die deshalb besonders infam wirken, aa es sich um Polizeimassnahmen handelt, die dem Angegriffenen keine Möglichkeit geben, sich gegen offen vorgebrachte Anschuldigungen offen zu verteidigen. Man hatte auf Seiten der BK den Eindruck, dass hier systematisch ein Gefühl der Rechtlosigkeit und Verbitterung er- zeugt werden sollte, um im Falle, dass sich dieses Luft machte, noch schärfer einzugreifen. Tatsächlich sind auch mehrere Pfarrer, die das Winterhilfswerk oder die HJ kritisierten, zu Gefängnisstrafen verur- teilt worden. In diesem Zusammenhang könnte man sich auch fragen, ob das sture Festhalten an einer so ungeeigneten Persönlichkeit wie Müller als Reichsbischof nicht im Geheimen dem Wunsch dient, auf diesem indirekten Weg die Kirche zu diskreditieren und kaputt zu machen. Wobei wir nicht die antikirchliche Gesinnung als solche kri- tisieren, sondern die Feigheit, Hinterhältigkeit, persönliche Rück- sichtslosigkeit und unnütze Grausamkeit, mit der sie sich im Faschis- mus Ausdruck gibt und infolge der bremsenden konservativen Ten- denz geben muss: So sieht die viel berufene »deutsche Ehre« in der Praxis aus. |

Trotz alledem nahm die. Anfang Juni 1935 in Augsburg tagende BK-Synode dem Staat gegenüber wiederum eine versöhnlichere Hal- tung ein, was zwar keinen revolutionären Mut aber taktische Klugheit beweist. Sie bestätigte das in Dahlem im Oktober beschlossene Kir- chenregiment, aber billigte auch den Vertrag der RKR über Eingliede- rung des evangelischen Jugendwerks in die HJ trotz seiner für die Kirche verderblichen Auswirkungen. n

Doch dies Entgegenkommen half im Grunde wenig. Frick betonte in mehreren Reden und Interviews, es handle sich im Kirchenstreit bloss um persönliche Differenzen, ferner aber auch um das Treiben von Staatsfeinden -— womit er entweder abgrundtiefe Ahnungslosig-

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keit oder was das Wahrscheinlichere ist, die raffinierte Absicht be- weist, durch politische Diffamierung sich dem Versprechen zu ent- ziehen, die Kirchen zu schützen, das Hitler bei seinem Regierungs- antritt gab. |

Ende Juni wird beim Innenministerium eine Beschlusstelle für kirchliche Streitigkeiten errichtet, soweit sie die Rechtlichkeit der Verfügungen der RKR betreffen: Was der BK den Schutz der Gerichte entziehen sollte, den sie bisher genoss. Ende Juli 1935 wird der frühere preussische Justizminister Kerrl zum Reichskirchenminister ernannt; er wählte sich radikale Mitarbeiter aus dem Kreis des berüchtigten Ministerialdirektors Jäger.

Gleichzeitig wird der Einfluss der Kirche in der Schule weiter zurückgedrängt, man bestimmt im August, dass nur mehr von der RKR ordinierte Pfarrer Gehälter ausgezahlt erhalten dürfen, man denkt daran, dass auch die Treuhandkasse der BK, mit Hilfe derer gewisse Kirchengelder den aus ihren Ämtern vertriebenen BK-Pfarrern zugänglich gemacht wurden, aufzuheben. Zunächst wurde durch Verordnung Kerrls bestimmt, dass Gemeinden, die Gelder an die Treu- handkasse abführen, keine Staatszuschüsse mehr erhalten. In Hannover, wo der Führer der BK Landesbischof war, wird von Kerrl ein Kommissar eingesetzt (August). Ende September erhält Kerrl durch ein Reichsgesetz die Vollmacht zu »rechtsverbindlichen ver- ordnungen zur Sicherung des Bestandes der deutschen evangelischen Kirche und zur Wiederherstellung geordneter Zustände in ihr und den Landeskirchen«. Am 5. Oktober bildet er einen Kirchenausschuss, der die Leitung der Kirche übernimmt, auch in finanzieller Hinsicht. Müller ist damit kaltgestellt. Aber niemand weiss, wen Kerrl zu sei- nem Ausschuss beiziehn und wie derselbe arbeiten wird.

Von einer einseitigen Berücksichtigung der BK wird dabei gewiss keine Rede sein. Sollte sie zu Kompromissen nicht bereit sein, so wird man sie weiter mit finanziellem Ruin, Polizeischikanen und politischer Diffamierung bedrohen.

Dabei scheint sich in der letzten Zeit folgende Entwicklung anzu- bahnen: Die Regierenden können um der kirchenfeindlich eingestell- ten, subjektiv revolutionären Nazimassen willen die Kirche nicht schützen, sind vielmehr gezwungen, den Kampf gegen sie, wenn auch nicht mit vollem Einsatz der staatlichen Machtmittel, zu unterstützen. In der Folge steigt aber bei den Kirchenleuten die Erbitterung die Kirche wird sekundär tatsächlich eine Sammelstätte politisch Unzu- friedener. Dies kann aber das Regime, das auch jeden Schein unkon- trollierter politischer Willensbildung fürchten muss, nicht dulden. Ist doch das Monopol der Meinungs- und Willensbildung ein Stück des Terrors, mit Hilfe dessen es sich allein am Ruder erhält. Selbst wenn das, was sich. in den Kirchen an politischem Wollen kristalisiert, an und für sich für die Naziherrschaft gar nicht gefährlich ist: Gefähr- lich wäre die Durchbrechung eben jenes Monopols, das ein grosses

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Stück jenes Nimbus ausmacht, auf dem die Stärke dieser Herrschaft beruht: Wenn man sich von den Kirchen zu viel bieten lässt, so könnte ja morgen dieser und jener kommen und eine eigene Meinung haben: wollen, und dann brauchte sich ja kein Mensch mehr vor uns, den Führern der Nation, zu fürchten.

Darum werden die immer schärferen, auf »Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens« (wie das Schlagwort lautet) abzielenden Massregeln begreiflich.

Die Perspektive dieses Kampfes: Er wird wohl so lange unent- schieden weiter gehn, als die Widersprüche, die ihm zu Grunde liegen, politische Kraft haben: Also wohl so lange, wie der deutsche Faschis- mus selbst existiert. Unsere Aufgabe: Die Infamie des Regimes ent- hüllen, ohne sich damit zum Anwalt der BK zu machen. Die anti- kirchlichen Tendenzen der revolutionären Nationalsozialisten ent- wickeln, ohne sich damit zum Anwalt des Regimes zu machen.

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IV. Der Katholizismus

Die innere Geschlossenheit des Katholizismus machte es der na- tionalsozialistischen Ideologie und Politik unmöglich, ihn wie die protestantische Kirche von innen her zu spalten. Nicht gegen eine Fraktion, wie die DChr., die Apparat und materielle Mittel der Kirche usurpierte, wehren sich die glaubenstreuen Katholiken. Sondern es kommt von allem Anfang an zu einem unmittelbaren Zusammenstoss zwischen Katholischer Kirche (KK) und Staat bzw. nationalsoziali- stischen Organisationen. Genauer gesagt, es handelt sich bei den Gegnern der KK um eben jene Mehrzahl proletarisierter, subjektiv revolutionärer Nazianhänger, von denen wir oben sprachen, und um denjenigen Teil der Naziführer, der sie vertritt: Etwa Hitler selbst, Göbbels, Göring, Rosenberg, Baldur von Schirach. Während die Naziführer, die mehr als Bürokraten oder als Repräsentanten der Wirtschaft in führende Stellungen kamen die eigentlichen Nazi- bourgeois eine vermittelnde, beruhigende Stellung einzunehmen scheinen: Frick, Schacht etc.

Vor der Machtergreifung hatte die KK anders als die protestan- tische den Nationalsozialismus entschieden abgelehnt. Eintritt in die NSDAP wurde von den kirchlichen Behörden widerraten oder auch ausdrücklich unter Androhung des Entzugs der Sakramente verboten.!)

Besser als die protestantische Kirche hat die KK schon vor 1933 die ihr gefährliche, subjektiv revolutionäre Seite des NS erkannt: Ablehnung der Absolutheit des Christentums, unbeschränkte Gewalt- anwendung, Jugenderziehung durch den Staat, unbeschränkte Be- jahung der Fortpflanzung (vgl. Nötzel).

Eine Lockerung dieser Auffassung trat erst vor den Wahlen vom 9. März 1933 ein. Die Bischöfe schärften das Verbot gegen den NS nicht erneut ein, gaben es aber durchaus nicht auf, sondern empfah-

1) Vgl. Dazu Nötzel SJ »Christentum und Nationalsozialismus«, Kath. Tatverlag Köln 1932. Zusammenstellung auch in »Ecclesiastica«, Archiv für Zeitgenös- sische Kirchengeschichte, KIPA-Verlag, Freiburg (Schweiz), 1933/Nr. 6 Die Stellung des deutschen Episkopats war nicht ganz einheitlich.

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len z.T. ausdrücklich, für das Zentrum zu stimmen. Die Wahl zeigte, dass dem Nationalsozialismus zwar nicht ein Einbruch in die bisherigen Zentrumswähler, wohl aber in die katholischen Nicht- wählerschichten gelang (bayrische Wahlstatistik!); was wiederum beweist, wie die faschistische Propaganda besonders stark auf den unter gewöhnlichen Verhältnissen unpolitischen Menschen wirkt.

Dieses Wahlergebnis zusammen mit dem Terror gegen alles Nicht- nationalsozialistische zwang die Kirche zu einer Schwenkung. Hitlers Regierungserklärung vom 23. März 1933, die die Unantastbarkeit der Rechte der christlichen Konfessionen zusagte, bot willkommenen Anlass dazu. Die Fuldaer Bischofskonferenz, die alle deutschen Bischöfe zusammenfasst, hob mit Hinweis"’auf diese Regierungserklä- rung am 28. März das Verbot gegen den Nationalsozialismus auf, wo- bei sie aber gleichzeitig betonte, von der früher erfolgten Verurteilung gewisser nationalsozialistischer Lehren nichts zurückzunehmen: Ein abstossendes Spiel der Taktik auf beiden Seiten. Denn Hitler dachte ebensowenig ernsthaft daran, seinen Kampf gegen den kirchlichen Einfluss aufzugeben, wie die, ‚Bischöfe ihm diese Absicht etwa wirklich seglaubt hätten.

Im Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem deutschen Reich vom 20. Juli 1933 wurden die Rechte der Kirche nochmals in feierlicher Form festgelegt. Neben allgemeinen Bestimmungen über ihren Schutz sind in ihm wichtig vor allem: Sicherung der katholi- schen Bekenntnisschulen, der kirchlichen Vereine und Jugendorgani- sationen und der Seelsorge in den staatlichen Jugendorganisationen und im Heer. Die KK machte dafür die Konzession, dass sie Geist- lichen Mitgliedschaft in politischen Parteien verbot und in den Ab- schnitt über den Religionsunterricht in den Schulen folgende Be- stimmung aufnahm:

»Im Religionsunterricht wird die Erziehung zum vaterländischen, staatsbür- gerlichen und sozialen Pflichtbewusstsein aus dem Geiste des christlichen Glau-

bens- und Sittengesetzes mit besonderem Nachdruck gepflegt werden, ebenso wie es im gesamten übrigen Unterricht geschieht.« (S$ 21). 2

Mit dem Konkordat sind die Einflussphären von Kirche und Staat scheinbar abgegrenzt, der Friede scheinbar hergestellt. Doch so ein- fach ging die Sache nicht. Es gibt nämlich »rein religiöse«x Fragen (z. B. Gestaltung des Gottesdienstes), in die der Staat der Kirche ge- wiss nichts dreinredet; auf der anderen Seite »rein politische« Fragen, in denen die Kirche dem Staat nichts vorschreiben wird (z. B. Aussen- handelspolitik). Doch dazwischen liegt das weite Gebiet der Kultur- politik (z. B. Jugenderziehung, Familien- und Schulgesetzgebung, öffentliche Meinungsbildung). Während die protestantische Kirche mangels einer klaren Theorie und einer einheitlichen Organisation auf diesem Gebiet gegenüber dem NS völlig versagt oder sich eine Behandlung en canaille gefallen lassen muss, sagt die katholische Kirche, die über eine ausgearbeitete Staats- und Gesellschaftslehre

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und eine geschlossene Organisation verfügt: Wo die Grenzen auf den »Zwischengebieten« liegen, bestimme ich! Da aber der NS genau das gleiche sagt, konnten schwere Zerwürfnisse nicht ausbleiben. Dabei zeigt sich die gleiche Schichtung der Gegensätze wie zwischen NS und BK: Die revolutionären Tendenzen im NS stehen in Widerspruch zu den konservativen der KK. Daneben gibt es weniger bedeutsame gesellschaftlich fortschrittliche Tendenzen in der KK, die in Wider- spruch zu reaktionären Auffassungen im NS geraten.

1. Gottesglaube gegen „Mythus”

Die KK kann nur die in’den ihrer Auffassung nach heiligen Schrif- ten verkündete, in der’ kirchlichen Dogmatik entfaltete christliche Offenbarung als Wahrheit anerkennen. Der radikale Teil des Natio- nalsozialismus setzt dagegen Blut und Rasse als Quelle der Welt- anschauung absolut. Gehen wir vorläufig nicht auf den Inhalt der beiden Auffassungen ein (wir tun dies weiter unten) sondern bloss

auf die Form. Im Mittelpunkt der kirchlichen Verkündigung steht

der strenge jenseitige göttliche Vater, dessen Willen die Kirche in unveränderliche Dogmen gefasst hat, die Glauben, Moral, Familien- und Staatsleben betreffen. Mit der Gewissenhaftigkeit eines kleinen, moralschnüffelnden Beamten wacht die Kirche über die Durchsetzung all ihrer Grundsätze im Öffentlichen Leben (wenn sie die Mittel dazu hat): Ob die katholischen Eltern auch alle ihre Kinder in die Kon- fessionsschule schicken, ob genügend katholische Postbeamten und Kassenärzte angestellt wurden, ob die Bekleidung im Strandbad sitt- lich genug ist, ob der Spielplan des Theaters nicht katholische »Be- lange« verletzt etc.

Schon in der Form, in der die »Mythuslehre< auftritt, liegt dem- gegenüber etwas freieres, gelösteres. Nicht einer fernen, vor 2000 Jahren verkündeten Offenbarung soll man sich unterwerfen. »Mensch- heit, All-Kirche und das von den Blutzusammenhängen gelöste, selbst- herrliche Ich sind uns keine absoluten Werte mehr sondern ver- zweifelte ...... Abstraktionen«, schreibt Rosenberg (Mythus des 20ten „Jahrhunderts, S. 7). »Von ‚der im .All verschwimmenden Christlich- keit....... missachtet wurde der Strom blutigroten wirklichen Lebens, der das Geäder aller echten Volksart und Kultur durchrauscht.«

Den autoritär verkündeten Dogmen wird das begeisterte gefühls- mässige Mitschwingen gegenübergestellt, dem jenseitigen Gott das wirkliche Leben, dem eifrig auf seine Sonderrechte wachenden Kon- fessionsbeamten die Gemeinschaft aller. Wir sehen hier deutlich, dass das subjektiv revolutionäre Empfinden auf Seiten der National- sozialisten stehen muss, natürlich nur, wenn man die Form und nicht den Inhalt berücksichtigt, der freilich beim Rassenmythus_ letzten Endes genau so reaktionär ist, wie bei der katholischen Dogmatik. Aber wie viele Menschen lassen sich durch die Form, durch die »Mu-

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sik«, durch die Bejahung eines bestimmten Gefühlsinhalts zu politi- schen Anschauungen verführen, die im Widerspruch zu ihren wirk- lichen Interessen stehen! |

Und wir sehn, dass der Nationalsozialismus sich bei seinem Kampf gegen die KK nicht auf naturwissenschaftliche Beweise über die Un- möglichkeit eines »gasförmigen Säugetiers« einlässt, wie Haekel einst spöttisch Gott nannte, sondern seinen Kampf mit der viel populäreren Parole gegen Dogmengezänk und Konfessionenstreit führt. Der Kampf begann schon 1934:

Göbbels (30./I. 1934 im Berliner Sportpalast): »Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Kirchen in einer solchen Notzeit, wie der heutigen, ihre Kraft in - orthodoxen Streitigkeiten vergeuden, statt sozial und charitativ zu tun, was ihr göttlichen Lehrer ihnen aufgetragen hat.«

Göring in Köln 27. Juni 1934: »Wenn die Kirche meint, zuerst kommite sie und dann das Volk, so muss ich sagen: In dem Augenblick ist auch die Konfession ein Spaltpilz. Nur dann, wenn ich jedem einzelnen die Freiheit seines Willens lasse, wenn jeder weiss, ich kann zu meinem Gott sprechen, wie ich will, dann erst habe ich die wahre Achtung vor Gott. Gott hat uns kein katholisches oder evangelisches Blut gegeben, sondern er hat uns bewusst denselben deutschen Körper mit demselben deutschen Blut geschenkt. Damit hat er eher bestimmt: Du bist Deutscher und sonst nichts.« Der bayrische Kultusminister Schemm im pädagogischen Funk des Deutschlandsenders: »Wir stellen unsere Schule auf

christliche Grundlage, wobei uns die Unterschiede in den christlichen Konfes- sionen ohne jede Bedeutung sind.« (Zitiert nach Eccl. 1934/40).

Zu diesen Parolen trat in der letzten Zeit die gegen den politischen Katholizismus. Ohne die Frage entscheiden zu wollen, wie weit po- litische Katholiken heute wirklich in Deutschland illegal arbeiten, können wir sagen: Diese Parole trifft die ganze 'hinterlistige, sich hinter alle möglichen Mittelsmänner, Darlehnskassen, »rein religiöse« Vereine etc. versteckende, typisch reaktionäre Art der KK, sich Ein- fluss im öffentlichen Leben zu verschaffen. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie gross im Deutschland der Weimarer Republik die Erbitterung gegen diese Seite der KK gewesen ist, besonders bei so- zialdemokratischen Arbeitern und dass manche von ihnen z. B. in Hessen schon 1930 nationalsozialistisch wählten, weil sie sahen, dass die SPD infolge ihrer Koalitionspolitik dagegen nicht auftreten konnte.

Der Kampf, der an diesem Gegensatz entbrannte, ging besonders um Rosenbergs »Mythus«: Von der Regierung allen Schulbibliotheken zur Anschaffung empfohlen, von der NS-Bewegung in hunderten Tages- und Fachzeitungen (etwa für Lehrer) .propagiert, vom Papst auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, von den Bischöfen in dutzenden von Hirtenbriefen als verderblich und gefährlich hingestellt.

2. Faschistischer Aktivismus gegen christliche Moral

»Ehre der Nation«, »Wehrfähigkeits, »körperliche Ertüchtigung«e: In diesen Parolen in Verbindung mit der Anwendung auch brutalster Mittel zur Durchsetzung des eigenen politischen Willens steckt eine

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Selbst- und Lebensbejahung, die der kirchlichen Liebes-, Demuts- und Gehorsamspredigt durchaus entgegengesetzt ist. Eine verkrampfte, häufig sadistisch gefärbte Lebensbejahung, gewiss! Aber trotzdem steht sie der Haltung des revolutionären Kämpfers näher, als die des Kirchenchristen, der alles, was die Gott gewollte Obrigkeit tut, wie ein Fatum (höheres Schicksal) hinnimmt, dessen Aggressivität (An- griffslust) völlig zerbrochen ist.

Dabei müssen wir wiederum Form und Inhalt unterscheiden. In ihrem Inhalt sind diese Parolen und die Massnahmen, die ihnen ent- sprechen, durchaus reaktionär. Ihnen entspricht die imperialistische Aussenpolitik des Faschismus, seine Kriegsvorbereitungen, seine

Unterdrückung aller freien Lebensäusserungen anders Denkender,

seine Judenverfolgungen. Und soweit die Kirche gegen den Inhalt dieser Massnahmen protestiert, kommt jene fortschrittliche, soziali- stische Sehnsucht in der Illusion bejahende Seite des Christentums in Widerspruch zur faschistischen Reaktion.

- Im Gegensatz zur protestantischen Kirche hat die KK zur Ver- letzung des christlichen Liebesgebots im öffentlichen Leben nicht ge- schwiegen. Als die NS die gesetzlichen Bestimmungen gegen die studentische Mensur aufhoben, schärfte die KK bei dieser Gelegen- heit in aller Öffentlichkeit das kirchliche Mensurverbot ein. Die Nazis erliessen das berühmte Berufsbeamtengesetz, das alle wegen Rasse, Vorbildung oder politischer Gesinnung missliebigen Beamten entfernt. Die Bischöfe der Kölner und Paderborner Kirchenprovinz äusserten sich dazu 10./IV. 1933:

»Erfüllt von heissester Liebe zu ihrem Vaterland, dessen nationalen Aufstieg sie stets mit allen Kräften fördern (das ist die Verzuckerungspille; doch sie schmeckt dem richtigen Nazi gewiss etwas bitter, da er die »Förderung des na- tionalen Aufstiegs« ja erst mit der »nationalen Revolution« beginnen lässt), sehen die Bischöfe mit tiefster Kümmernis und Sorge, wie die Tage der nationalen Erhebung für viele treue Staatsbürger darunter auch gewissenhafte Beamte un- verdientermassen Tage des schwersten und bittersten Leides geworden sind.« (Eccl. 1933/50).

Die Nazis organisierten den Judenboykott. Erzbischof Gröber »bedauerte« darauf hin

»alles, was das Ansehn unseres Volkes und Vaterlandes vermindert, und bei den benachbarten Völkern den Schein der Härte und Ungerechtigkeit erweckt, wie es bei der der sich leider mehrenden Beseitigung treuer Staatsbürger und verdienter arbeitswilliger Männer aus ihren bisherigen Ämtern der Fall ist.« (Auf- ruf vom 16./IV. 1933, unmittelbar nach dem Boykotttag am 1./IV.).

Die Nazis stellten die Theorie von den Novemberverbrechern SUL, die 14 Jahre Schmach und Unehre über Deutschland gebracht hätten. Die Bischöfe hingegen stellten fest:

»Es wäre nicht deutsche und christliche Art, unritterlich zu sein gegen den unterlegenen Gegner und ungerecht gegen Männer, deren Arbeit und Erfolg mangel- haft bleiben musste, weil die Verhältnisse stärker waren, als der gute Wille.«

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Die Nazis schalteten überall gleich; kein Geflügelzüchterverein ohne Naziführer. Die bayrischen Bischöfe »hoffteng,

»dass die Reichsregierung nicht die Bestrebungen und das Vorgehn jener billigt, die grundsätzlich einen verschiedenen Rechtsmasstab anlegen.«

Ähnliche Worte finden sich gegen den Führerkult, gegen die Ra-

che- und Revanchepolitik, gegen den Presseterror (vgl. Ecel. 1933, »0—92). Die Bischöfe erlauben sich hier wie auch sonst (z. B. in der Kritik des Sterilisationsgesetzes, des Bauernkalenders etc.) eine of- fenere, scheinbar »mutigere« Sprache als sich sonst irgend jemand im dritten Reich erlauben darf. Ich sage »scheinbar mutiger«, denn wer nicht, wie die kämpfenden Revolutionäre an Leib und Leben bedroht ist, wessen Äusserungen zudem durch einen internationalen Vertrag (Konkordat) vor Verbot geschützt sind, den kann man nicht schlechthin »mutig« nennen.

Doch was die sozialistische Seite des Christentums betrifft, hat es die KK bei diesen Ansätzen bewenden lassen. Es ist ihr nicht ein- gefallen, einen konsequenten Kampf gegen Kriegsbegeisterung, »Schein der Härte und Ungerechtigkeit gegen treue Staatsbürger«, »Unritter- lichkeit gegen den unterlegenen Gegner« etc. zu führen, zu dem die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und die neuste deut- sche Judengesetzgebung so schönen Anlass geben würden; der neuste Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz (vom Anf. September 1935) enthält jedenfalls nichts davon. Er hat Sorgen, die der auf Erhaltung ihres gesellschaftlichen Einflusses bedachten Kirche näher liegen, als dgl. humanitäre Angelegenheiten: Nämlich Erhaltung der christlichen Moral, der katholischen Bekenntnisschulen und Jugend-

vereine und last not least nur keine Gleichstellung der uneheli- chen mit den ehelichen Kindern. In der Form um auf sie wieder zurück zu kommen in der

der Nationalsozialismus seine reaktionären Massnahmen durchführt, steckt viel revolutionärer Elan. Vgl. den Grundsatz: Gut ist, was dem deutschen Volk nützt, schlecht ist, was ihm schadet. Also: Handeln aus der unmittelbaren Erkenntnis des Zweckmässigen heraus. Hat nicht Lenin zur Frage der proletarischen Moral etwas Ähnliches ge- sagt: »Moralisch ist, was der Revolution nützt, unmoralisch, was ihr schadet«. Die Nazis haben auch hier den revolutionären Impuls »Nieder mit der Moral, Handeln aus der Notwendigkeit des Lebens heraus!« aufgefangen und den Zwecken der politischen Reaktion dienstbar gemacht.

Doch die KK kann ohne Moral, ohne ein System, das a Men- schen von aussen die Gesetze seines Handelns aufzwingt, nicht sein. Ganz anders als Jesus, der an die Stelle der Autorität, der Justiz, des »Gesetzes« die Liebe setzen wollte; und nur darum scheitern musste, da er von der Notwendigkeit der Umstrukturierung des Menschen ebensowenig wusste wie die meisten Kommunisten und darum sogar

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den Grundsatz der Liebe nicht anders ausdrücken konnte denn als

Gebot: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!« was eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Die KK kennt darum nur politisches Handeln aus dem Sitten-

gesetz, spricht von der »wohlgeordneten Vaterlandsliebe der alten

Propheten«, spricht von der Ehrfurcht vor dem staatlichen Gesetz und vor der Obrigkeit. Allerdings: Unter Umständen darf man dieses Ge- setz sogar brechen: Aber nicht etwa aus einer Lebensnotwendigkeit heraus, sondern bloss »wenn die Gesetze des Staates mit dem Natur- recht und den Geboten Gottes in Widerspruch geraten« (Fuldaer Hirtenbrief Sept. 1935), m.a.W. wenn die Gesetze der KK verletzt werden; so sieht ihr »Antifaschismus« aus.

3. Rassenlehre gegen Verachtung des „Fleisches”

Die KK erkennt natürlich auch Rassenunterschiede an. Doch für sie ist Rasse nur ein Glied in der natürlichen Ordnung, die in der Ewigkeit gipfelt. Der NS setzt Rasse absolut, versucht alle Geschichte, Philosophie, Soziologie auf den Rassenunterschied zurückzuführen. Dass dies wissenschaftlich gesehn ein Nonsens ist, interessiert uns hier nicht weiter. Wir fragen nach der gesellschaftlichen Funktion der Rassenlehre.

Die objektive gesellschaftliche Funktion der Rassenlehre, beson- ders der Auffassung von der Höherwertigkeit der nordischen Rasse —— über die übrigens niemand mehr den Kopf schüttelt, als die Skandi- navier, die ja doch am meisten nordisches Blut in sich haben müssten —- ist ziemlich klar: Sie gibt der unterdrückten Klasse eine ideologi- sche Kompensation ihres Selbstgefühls (es geht uns zwar dreckig, aber wir sind von edler Rasse!) und hält sie so vom Kampf gegen das Kapital ab, das ja nach der Rassenlehre hauptsächlich nur in der Hand der »jüdischen Wucherer« ist. Verwirklichung des »nationalen« Sozialismus ist also von dieser Seite her gesehn vor allem Judenver- folgung, in der Folge aber auch imperialistischer Krieg gegen die »Minderrassigen«. Doch auch rein subjektiv, vom Einzelnen her ge- sehn trägt die Rassenlehre ein sexualfeindliches und darum reaktio- näres Gepräge (der Jude als der Bewegliche, Ungehemmte, Schmut- zige, Sexuelle, auf den die eigene Sexualscheu projiziert wird, val. auch Kap. 6, S. 92).

Soweit die KK die Rassenlehre nicht anerkennt, Faüulhaber in

‘seinen berühmten Predigten das Alte Testament verherrlicht u. s. w.,

liegt hierin ein Stück gesellschaftlich fortschrittlicher Gesinnung, das zur faschistischen Unterdrückung in Widerspruch gerät: an sich keine grosse Sache, denn die Kirche tut im Prinzip nichts anderes wie die liberale Bourgeoisie, aber sie tut es auch im Faschismus mit Mut und Konsequenz.

Doch die Judenverfolgung ist nur die eine Seite der Rassenlehre,

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die negative, möchte man sagen. Ihr tritt als positive die Bejahung des eigenen Körpers gegenüber, die verschiedene subjektiv revolutio- näre Elemente enthält, die mit den reaktionären Auffassungen der Kirche auf den betreffenden Gebieten zusammenstossen.

a) Einheit von Körper/Seele.

»Man forschte nach den leiblichen Gesetzen und den seelischen Geboten dieser Gemeinschaften und da fand man, dass man Geist und Leib nicht von einander {rennen konnte, dass die Gesetze der leiblichen Vererbung unmittelbaren Wider- schein hatten in der seelischen Haltung.« (Rosenbergs Rede »Der Kampf um die Weltanschauung«, :Völk. Beob. 23./II. 1934).

Die KK protestiert gegen solche Äusserungen. Denn sie arbeitet

wie auch alle idealistische Philosophie die scharfe Trennung von Körper und Geist, von Natur und »Übernatur<, von Sünde und Gnade heraus. In der Erkenntnis der »Einheit von Körper und Geist« liegt die revolutionäre Vereinung dieser Jahrtausende alten Zwei- teilung. Doch sogleich wird diese revolutionäre Erkenntnis von Ro- senberg im weitern Verlauf seiner Rede ins Reaktionäre abgebogen durch die Gleichsetzung von Körper =Erbmasse; wobei man den Nazi Rosenberg damit entschuldigen könnte, dass er nicht viel reak- tionärer ist als die Psychiater fast aller demokratischen Länder, die das gleiche tun. Die Gleichsetzung Körper = Erbmasse lässt nämlich vergessen, dass es eine soziale Umwelt und eine durch sie bedingte Triebentwicklung und Charakterstruktur gibt.

| b) Eugenik. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 ermöglicht die Unfruchtbarmachung von Erbkranken, ev. zwangsweise.

»Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krank- heiten leidet: 1. angebornem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (ma- nisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem - Veitstanz (Huntingtonscher Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung. Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet« (aus $ 1).

Das Gesetz fusst auf dem vollkommen unwissenschaftlichen Erb-

lichkeitsbegriff, den die nationalsozialistische Rassenlehre mit einem

grossen Teil der bürgerlichen Psychiatrie gemeinsam hat. In Wirk- lichkeit müssen wir nämlich bei der Verursachung von seelischen Erkrankungen und Geisteskrankheiten nicht eine (Erblichkeit) son- dern drei Gruppen von Ursachen unterscheiden: 1) Die im eigent- lichen Sinn erbliche Konstitution. Sie ist z.B. bei Veitstanz, manchen schweren Missbildungen allein ausschlaggebend, spielt aber im übri- gen allein lange nicht die entscheidende Rolle, die man ihr für ge- wöhnlich zuschreibt. 2) Die in der frühen Kindheit erworbene Veran- lagung. Es gibt Konstitutionen, die auf gewisse Schädigungen in der frühen Kindheit besonders empfindlich sind und dann bestimmte

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Veranlagungen ausbilden. Dies ist wahrscheinlich der Fall bei der Veranlagung zu schizophrener und manisch-depressiver Erkrankung. Es kann also durch richtige Erziehung verhindert werden, dass die Veranlagung tatsächlich erworben wird. Aber selbst wenn dies schon geschehen ist, kann in günstigen Fällen und bei frühzeitigem Ein- griff die krankhafte Veranlagung z.B. durch charakteranalytische Behandlung zersetzt werden. Sterilisierung der Kranken ist also nicht zu rechtfertigen. 3) Die aktuelle Veranlassung (z. B. Tod des Ehe- gatten). Sie ist bei vielen seelischen Erkrankungen von nebensäch- licher Bedeutung. Doch bei der Verursachung der Trunksucht spielt sie neben der obengenannten erworbenen Veranlagung oft eine ent- scheidende Rolle. Sterilisation von Trinkern bedeutet also nichts anderes, als dass sich der faschistische Staat die Ausgaben für eine verbesserte soziale Bekämpfung der’ Trunksucht ersparen will; dass er den Alkoholkapitalisten nicht durch erhöhte Alkoholbesteuerung die Profite schmälern will, ganz abgesehen davon, dass in einer Sso- zialistischen Gesellschaft bei richtiger Erziehung die Trunksucht auch bei niedrigen Alkoholpreisen unmöglich wäre.

Zudem ist zu erwarten, dass die Sterilisation, wie sie von den Nazis geübt wird (Durchschneidung des Samenstrangs beim Manne) die sexuelle Genussfähigkeit schwer schädigt, zumindest beim Mann. Exakte Untersuchungen liegen, soviel ich weiss, noch nicht vor.

Zusammenfassend können wir sagen: Das Sterilisationsgesetz steht nicht auf der Höhe unserer wissenschaftlichen Erkenntnis und Heilungsmöglichkeit, hier war der Wunsch, das »kranke« deutsche Volk mit dem Messer des Chirurgen zu kurieren, Vater einer Ver- gewaltigung klaren Denkens.

Dennoch steckt in dem Gesetz eine Tendenz, die wir als Sozialisten bejahen müssen: Es ist die Tendenz, wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt zur Regelung der Fortpflanzung heranzuziehen, diese Fortpflanzung durch den Willen der Gesellschaft zu beeinflussen.

Und nun sehen wir etwas sehr Charakteristisches: Alle schönen, »wissenschaftlichen« Argumente, die wir nannten, lässt die KK liegen und zieht gerade jene Seite der Sache heran, deren Tendenz (nicht Durchführung natürlich) in der Richtung des Revolutionären liegt.

»Der Einzelne aber« schreibt nämlich der Papst bereits 1930 in der »Encyclica casti connubii< (Rundschreiben von der keuschen Ehe), »hat über die Glieder seines Leibes kein anderes Verfügungs- recht, als dass er sie ihren natürlichen Zwecken entsprechend ge- brauchen kann« (Herdersche Ausg. $ 71). Und diese natürlichen Zwecke sind nach kirchlicher Auffassung bei den Geschlechtsorganen vor allem die Vermehrung. Die Lustfunktion, die »Regelung des natürlichen Verlangens«, die in der Ehe vor sich geht, ist sein Zweck zweiter Ordnung« (8 60). Die katholische Kirche sagt also:- Wenn man bei unerwünschter Fortpflanzung die Lustfunktion wenn auch nur bruchstückweise erhält nichts anderes bedeutet die Sterilisation

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dann bejaht man damit diese Lustfunktion, stellt sie über die Fortpflanzugsfunktion: Und das darf auf keinen Fall zugelassen wer- den. Darum wird gegen alle eugenischen Massnahmen der Bann ge- schleudert:

»Ja, sie gehen so weit, solche (von denen nach Mutmassung und Gesetzen der Eugenischen Wissenschaft infolge von Vererbung nur eine minderwertige Nachkommenschaft zu erwarten ist) von Gesetzes wegen auch gegen ihren Willen durch ärztlichen Eingriff jener natürlichen Fähigkeiten berauben zu lassen, und zwar nicht als Körperstrafe für begangene Verbrechen (dagegen hätte der Papst nämlich nicht einmal so viel!) ...... sondern indem sie gegen alles Recht und alle Gerechtigkeit für die weltliche Obrigkeit eine Gewalt in Anspruch nehmen, die sie nie gehabt hat und rechtmässiger Weise überhaupt nicht haben kann.« (Encyel. Casti connubii). Das Gleiche gilt aber auch für die aus freien Stücken er- folgende Sterilisierung auf eigenen Antrag vgl. oben.

Doch der Kirche geht es mit ihrem Kampf um Recht und Gerechtig- keit weniger um das Recht auf Bedürfnisbefriedigung, sondern wie aus dem ganzen Zusammenhang ihrer Lehren hervorgeht a) Um Schutz der Familie gegenüber Eingriffen von Seiten der Gesellschaft, die sie gefährden könnten. Denn das Leben der Kirche wird durch Eingriff in die Familie unmittelbarer bedroht, als das Leben selbst des bürgerlichen Staates (vgl. Kap. 5). b) Um Verhinderung. auch nur des leisesten Ansatzes einer Trennung von Sexualität und Fort- pflanzung.

So erhob sich bei der Verkündung des Sterilisationsgesetzes bei den Katholiken grosser Protest. Dieser hat sich allerdings etwas be- ruhigt, seitdem man entdeckt hat, dass man sich der Zwangssterili- sierung durch Übersiedlung in eine Anstalt entziehen kann. Dort ist Fortpflanzung ebenso ausgeschlossen wie ein Sexualleben überhaupt: Die Gesetze der Natur sind erfüllt. Die berühmte Humanität der KK hört aber eben da auf, wo es sich um die Durchsetzung derartiger »Naturgesetze« handelt.

c) Bewertung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs.

Gilt es wirklich, den Edelrassemenschen zu züchten, dann muss man vor allem dafür sorgen, dass der Bauernstand nicht ausstirbt. Darum findet eine offizielle schlesische Bauernzeitung es für richtig, dass ein Paar vor der Ehe »vertrauten Verkehr«< pflegt, sehe es vor Staat und Kirche ein Ehepaar wird. Stellt es sich heraus, dass der Verkehr keine Folgen hat, so wäre es zwecklos, also nach bäuerlichen Begriffen schädlich und unmoralisch, käme es zur Eheschliessunge. Also Bejahung des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs: Wenn auch nicht im Interesse der lustvollen Befriedigung eines natürlichen Be- dürfnisses was allein wirklich revolutionär wäre sondern im Interesse der Fortpflanzung was den Ansatz zur Rebellion sogleich wieder ins Reaktionäre abbiegt. Doch schon das ist der KK zu viel.

Wird nun aber dem vorehelichen Geschlechtsverkehr das Wort geredet, so wird die Sittenreinheit der Jugend untergraben. Mit dem Adel der Keuschheit

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schwindet auch das Glück des reinen Gewissens. Dann wird das Beispiel der Ehekandidaten verderblich sein für alle Kreise der Jugend und für das Familien- leben. Denn wer vor dem Hochzeitstage das Gebot Gottes nicht anerkennt, wird es im Ehestand schwerlich als Richtschnur anerkennen.« (Kardinal Bertram von Breslau in einem seelsorgerlichen Rundschreiben, zit. nach Ecel.)

Den vorehelichen Geschlechtsverkehr konnte die Kirche praktisch bei den Bauern nicht ausrotten. Doch wenn man schon »sündigte, dann wenigstens ohne »das Glück des reinen Gewissens«, das nicht deshalb gestört ist, weil die Bauernjungens und Mädels mit einander schlafen, sondern weil sie dabei zugleich Angst vor der Übertretung des kirchlichen Gebots haben. Aber wenn besagtem Verkehr nun gar von offizieller Seite »das Wort geredet« wird, dann könnte den ver- schiedenen Sündern und Sünderinnen das »Glück des reinen Gewis- sens« auch ohne Segen der Kirche zu Teil werden: Ganz abgesehn davon, ob die Rechtfertigung des unehelichen Geschlechtsverkehrs in genannter Bauernzeitung nun sexualökonomisch richtig oder falsch ist. Die KK vermutet mit Recht, dass die wahre Bedeutung und Wirkung solcher »Rechtfertigungen« nicht die Förderung der Ver- mehrung sondern die sexuelle Befreiung der Jugend ist.

d) Uneheliche Mutterschaft.

»Unter dem Titel »ein offenes Wort für die uneheliche Mutter« behauptet Der deutsche Textilarbeiter (Nr. 27 v. 6. Juli 1934), der Nationalsozialismus begrüsse jeden Versuch, durch gesunde arische Kinder die Rasse hochzuhalten und stosse sich deshalb nicht daran, ob das Kind einer legitimen Ehe entstamme oder nicht. »Es ist doch so, dass gerade diese Kinder in der Regel, weil sie Kinder der Liebe sind, und aus wirklicher Zuneigung der Partner erzeugt werden, rassisch hochwertiger sind.« ... Das gewollte Kind ist immer das rassisch hoch- wertigere, und jede Zeugung, die der Liebe entbehrt, ist ein Verbrechen an der arischen Rasse«. (Zit. nach Ecel. 1935/7.)

Hier sehen wir die richtige, bejahende Stellung zur Sexualität nahezu offen durchbrechen; wenngleich auch noch immer: verknüpft mit der reaktionären Vorstellung von der Höherzüchtung der Rasse. Wir finden sie charakteristischer Weise in einem für die proletari- schen Nazianhänger bestimmten Organ. Doch so etwas kann ein beamteter Bourgeoisnazi nicht unwidersprochen durchgehen lassen. In der amtlichen Deutschen Justiz 1934/51—52 erschien eine Zurück- weisung:

»Wer Ehe und Familie als rückständige Bestandteile einer liberalistischen Zeit hinstellt, hat entweder den nationalsozialistischen Rassegedanken nicht be- griffen, oder begeht bewussten Verrat an den heiligsten Gütern unseres Volkes.« Dennoch: »jede ledige Mutter, die gesund und rassisch wertvoll, aus freiem Entschluss ein Kind von einem ebensolchen Mann aufzieht, geniesst unsere unumschränkte Achtung.« Doch »da uneheliche Verbindungen in der Regel Ver- bindungen des Leichtsinns, uneheliche Kinder gewöhnlich rassisch nicht eben- bürtig und solche Verhältnisse für die Erhaltung und Höherzüchtung der deutschen Rasse deshalb nicht erwünscht sind« sollen uneheliche Kinder weiterhin rechtlich benachteiligt bleiben. (Zit. nach Ecel. 1935/7.)

Doch die Ideologie des »deutschen Textilarbeiters« steht nicht vereinzelt da. Schon Rosenberg sagt (Mythus S. 93 f.):

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»Gewiss ist die Einehe zu schützen und durchaus beizubehalten als organische

Zelle des Volkstums, aber schon Professor Wieth Knudsen hat mit Recht darauf

hingewiesen, dass ohne Vielweiberei nie der germanische Völkerstrom früherer - Jahrhunderte entstanden wäre. ... Es gab auch später Zeiten, da die Zahl der

Frauen diejenige der Männer bei weitem überwog. Heute ist dies wieder der Fall. Sollen diese Frauen mitleidig als Jungfrauen belächelt, ihres Lebensrechts beraubt durchs Dasein gehn? Soll eine heuchlerische, geschlechtsbefriedigte Ge- sellschaft über diese Frauen verächlich aburteilen dürfen? Ein kommendes Reich wird beides verneinen. Es wird bei Beibehaltung der Ehe den Müttern deutscher Kinder auch ausserhalb der Ehe die gleiche Achtung entgegenbringen ... (was in der »deutschen Justiz« im oben zitierten Artikel allerdings schon wieder abgelehnt wird!). Ein deutsches Reich der Zukunft wird gerade die kinderlose Frau gleich ob verheiratet oder nicht als ein nicht vollwertiges Glied der Volksgemeinschaft betrachten. ...... «

Der gleiche Ansatz zu (revolutionärer) Sexualbejahung auch ausserhalb der Ehe samt (reaktionärer) Umbiegung: Alles bloss im Dienste der Vermehrung.

Die KK ist natürlich über solche Auffassungen entsetzt. Denn sie fühlt ganz richtig, dass von der Bejahung der Fortpflanzung ausser- halb der Ehe zur Bejahung der Lust ausserhalb der Fortpflanzung nur mehr ein kleiner Schritt ist.

»Wir stellen ... fest, dass jeder, der die unbedingie Gleichstellung der uneheli- chen und ehelichen Mutter verlangt und sogar Staatsgesetze dafür fordert, die Ehe selbst entweiht und entwertet und die Schranken der Sittlichkeit zum Schaden des ganzen Volkes verletzt.« (Erzbischof Gröber von Freiburg in einem Hirten- brief über die christliche Familie vom 2./I. 1935 zit. nach Eccl. 1935/7.)

Jesus hat zwar in Hinblick auf eine »Sünderin< gesagt: »Wer sich frei weiss von Schuld, werfe den ersten Stein auf sie«. Er hatte offen- bar von den »Sittengesetzen« der KK noch keine Kenntnis.

Und die Praxis? Es wird von zuverlässigen Genossen berichtet. dass immer häufiger Hitlermädels schwanger werden. In Berlin- Lichtenberg soll ein eigenes Heim für solche Mädels eingerichtet worden sein. Die Mädels schämen sich ihrer Schwangerschaft nicht, zeigen im Gegenteil einen gewissen Stolz, kommen sich interessant vor und werden in der Mädelsgruppe nicht dafür verurteilt. Die Eltern sind es, die auf Beseitigung der »Schande« drängen und die Mädels nicht selten zu den Kommunisten schicken(!), die in solchen Dingen erfahren seien.

Ist das wirkliche sexuelle Befreiung? Gewiss nicht. Beweis: Die Kinder verdanken ihr Leben nicht einer bewusst aufgenommenen, innerlich bejahten Beziehung, sondern der Gelegenheit: Man schläft zusammen auf Gartenbänken, in Scheunen nach Tanzunterhaltungen, oft ohne den Namen des Jungen überhaupt zu kennen. Doch auch schon diese, durch die kollektive Jugendgruppe gestützte halbe Sexualbejahung tritt in Widerspruch zur Familie, zur Kirche.

e) Sündenlehre.

Was hilft es, wenn z. B. die Pfarrer jeden Sonntag gegen Entsittli- chung, Laster und Sünde donnern und in einem NS-Schulungskurs

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für Lehrer in Ketten (Ruhr) der Leiter der Landesführerschule Königswinter Friederichs folgendes sagt:

»Was die Erbsünde ist? Eine von Menschen erfundene und von der Kirche verbreitete Lehre, um Angst und Furcht der Menschen und ihre Minderwertigkeits- komplexe zu machtpolitischen Zwecken auszunutzen. Die Erbsünde ist eine gemeine Lehre.«

In höhnischer Weise spricht der Redner von der Segnung der Wöchnerinnen, die von einem Mann ausgeübt wird, der vom Sinn des Lebens nichts versteht. Dieser Mann ist nichts, als ein dürrer Ast am grünen Baum. In missverstandener Entsagung hält er sich von den Quellen des Lebens fern ... etc. (»Der deutsche Weg«, 1935 Nr. 5)

Dies grenzt allerdings bloss grenzt! —- bereits an bewusste sexualpolitische Bekämpfung der Kirche, wenn auch in einer un- zulässig-rohen Form. Hier wird gesundes erotisches Empfinden gegen religiösen Weihrauch mobilisiert. So treten die Nazis das Erbe der proletarisch-sexualpolitischen Verbände an, die gerade im Ruhrgebiet spontan ungeheuren Zulauf fanden. Unsere Freidenker, die sich mit Naturwissenschaft gepanzert haben, könnten von PG Friederichs lernen.

A. Der Kampf um die Jugend

a) Das Konkordat.

Schon bald nach Abschluss des Reichskonkordates entdeckten scharfsinnige Leute, dass der oben zitierte $ 21 zweideutig sei: Bedeutet er Einfügung, Unterordnung der nationalen unter die religiöse Erziehung oder umgekehrt? Optimistische Katholiken meinten das erste, die Nazis das zweite und führen es auch durch

b) Verdrängung der Kirche aus der Schule.

Dazu gehört die Propaganda von Rosenbergs Mythus in den Schulen, Lehrerkurse, wie der obenerwähnte etc. Man hebt zwar die Konfessionsschule nicht auf, betont aber bei jeder Gelegenheit, dass sie nicht wünschenswert sei. Z. B. der bayrische Kultusminister Schemm im NS-Lehrerbund (2./II. 1934).

»Der Weg zum Herrgott gehe über den Beweis der Liebe zu unsern Volks- genossen. Das gebe uns das Recht, den schwersten Kampf denjenigen anzusagen, die durch Erziehung zum konfessionellen Hass unser Volk erneut zu verderben suchen. ... Wir deutschen Erzieher stehen wie ein Mann auf und werden mit brutalsten Mitteln gegen diejenigen vorgehn, die es wagen sollten, aus der Schule heraus konfessionellen Hass in unser Volk zu tragen.«

Durch gewaltige Propaganda sucht man z.B. in Nürnberg, neuer- dings in München, die Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder in die katholische Konfessionsschule zu schicken (in München mit grossem Erfolg vgl. Ecel. 1935, 18). Und wenn die Propaganda bei den Eltern nichts nutzt, dann scheut sich der NS und das ist wieder ein subjektiv revolutionärer Zug nicht, die Kinder gegen den Willen der Elternschaft zu gewinnen; während in allen Hirtenbriefen der:

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KK immer wieder an die Eltern appelliert wird, ihre Kinder dem Katholizismus zu bewahren.

ce) Verdrängung aus den staatlichen Jugendorganisationen.

In der HJ ist jede konfessionelle Propaganda verboten. Auf Kirchgang etc. soll zwar Rücksicht genommen werden, doch müssen "wir für die Katholiken ähnliche Schikanen wie für die Evangelischen annehmen.

Für die Verschickung der Jugendlichen zum sogenannten Land- jahr wird konfessionelle Trennung abgelehnt, Zeit für religiöse Vor- träge während der Woche wird nicht frei gegeben, auf Verschickung in Gegenden mit gleicher Konfession wird keine Rücksicht genommen. (Erlass des preuss. Kultusministers vom 13,/VI. 1934 wie war das doch so ganz anders in der Weimarer Republik!)

d) Behinderung und Benachteiligung katholischer Jugendorganisationen.

Es wird immer wieder von Schikanen gegen katholische Jugend- organisationen berichtet, die bekanntlich der HJ nicht eingegliedert sind (Doppelmitgliedschaft verboten): Schlägereien mit der HJ, die zu Uniform- und Fahnenverbot gegen kathol. Jugendorganisationen führen (Z. B. Januar 1934 in Köln), Zurücksetzung in Schule und Berufsleben. Den HJ-Mitgliedern hingegen wird oft Schulgelder- mässigung gewährt, nach einem Rundschreiben des Gaus Westfalen der HJ vom Oktober 1934 sogar gratis Sportausrüstung zugesagt (Der deutsche Weg 1935/5). Die katholischen Studentenverbände mussten das Prinzip, nur Katholiken aufzunehmen, aufgeben.

5. Katholisches Vereinsleben, Presse etc.

Ein Schnellbrief Göring vom 7/XNH. 1934 verbietet sämtliche öffentliche Veranstaltungen und Kundgebungen kirchlichen Charak- ters. »Ausgenommen sind Veranstaltungen in der Kirche, alther- gebrachte Prozessionen und Wallfahrten, geschlossene Weihnachts- feiern und Krippenspiele«. Begründung: Beunruhigung der Sicherheit der Bevölkerung(!). Zudem seien religiöse Veranstaltungen in pro- fanen Räumen (Turn- und Festhallen) profanierend für die Religion (der besorgte Göring! welch bitterer Hohn liegt in dieser Begründung).

Die gleiche Nummer des Deutschen Wegs’ (1935/5), der wir diesen Runderlass entnehmen, bringt auch ein Beispiel, wie man den Ein- fluss der Kirche bei den Krankenpflegerinnen brechen will.

»Die Erziehung der Krankenpflegerinnen«, schreibt das NS-Krankenpfle- gerinnenorgan, »muss sich auf der nordischen Weltanschauung aufbauen, ohne himmlische Drohungen und Belohnungen«.

Endlich versuchen sich die Nazis Einblick in die Vermögensge- barung der kirchlichen Vereine zu verschaffen, ihre Funktionäre durch

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Korruptionsprozesse mit politischem Hintergrund unmöglich zu machen.

Die katholische Presse, die durch Verbote, politische Gleichschal- tung, Beseitigung missliebiger Redakteure ohnedies schon geschädigt ist, soll durch Drohungen gegen Annoncenaufgeber und Abonnenten noch mehr ruiniert werden.

All das geht meist vom NS Parteiapparat aus. Der Staat greift zwar ein, wenn Übertretungen gegen die Gesetze vorliegen, aber die Katholiken kommen dabei meist zu kurz. Wer weiss, wie die Macht der KK, viel mehr als die der protestantischen Kirche, in jenem Sy- stem von Vereinen, Stiftungen, Krankenhäusern, kathol. Hypotheken- banken und Zeitungskonzernen verankert war, der versteht, wie sehr dieser Angriff sie beunruhigen und bedrohen muss.

6. Folgen |

Diese gibt, wie uns scheint, ein Artikel im Deutschen Weg (12./. 1935) sehr gut wieder (abgekürztes Referat):

Es gäbe, schreibt der Vf., ein deutscher Katholik, eine opitimistische und eine pessimistische- Einschätzung der Lage unter den Katholiken. Der Grund zu dieser verschiedenartigen Beurteilung liegt abgesehn von subjektiven Momenten in dem eigenartigen Verhältnis, das zwischen der amtlichen Regierungspolitik und der NS-Bewegung obwaltet. Es skann heute kaum mehr zweifelhaft sein, dass sein (des NS) letztes Ziel im Hirn und Willen der überwiegenden Mehrzahl seiner Ober- und Unterführer auf religiösem Gebiete die Unterdrückung -jedes eigen- ständigen Lebens der Kirche ist, und dass sie im günstigsten Fall eine Form des Christentums anzuerkennen bereit ist, die sich rücksichtslos und in ausnahmslos allen Belangen dem Primat des Staats- und Rassegedankens unterwirft, mit an- deren Worten, ein Christentum, das sich selber aufgibt, wobei die angestrebte Endform mit einem alles beherrschenden Einschlag aus der germanischen Glau- bensbewegung zu denken wäre.« Die NS-Führer seien ohne Verbindung zu kirch- lichem Leben und religiöser Problematik. Frühere Katholiken sind dabei oft kleinlicher und gehässiger als Protestanten (woraus klar wird, wie sehr die na- tionalsozialistische Gesinnung oft aus Protest gegen die kirchliche Unterdrückung entstanden ist). Ziel ist: Erzwingung der Selbstaufgabe der Kirche auf kaltem Wege. Dies geschieht mit realpolitischer Raffiniertheit, die den Typ der nicht- asiatischen Christenverfolgung der Zukunft darstellt.

Grundlinien in diesem Kampf sind:

1.) Ausschaltung alles Kirchlichen aus dem Bewusstsein der Nation. Neu- tralisierung aller Parteiveranstaltungen in religiöser Hinsicht. Unterdrückung der religiösen Betätigung in allen Führer-, Jugend-, Arbeits- und Sportlagern. Parole: Gegen den Konfessionenstreit.

2.) Die Beeinflussungsmittel der Kirche werden kopiert und ihr entwunden: Vereinsleben, Wohlfahrtspflege, Predigt‘ (die NS Versammlungen müssen als Geisteserhebung genügen). Es wird ins Bewusstsein gehämmert, dass alles Leibliche und Geistige vom Staat kommt.

3.) Hemmungslose Kritik an der Kirche bis in die letzte Organisation des. Jungvolks hinein, Unterdrückung der Gegenkritik als Störung des inneren Friedens. Gröber muss eine sich darauf beziehende Stelle in einem Artikel streichen, die Gegenschrift der Bonner theologischen Fakultät »Studien zum Mythus des 20ten Jahrhunderts« darf in den Buchhandlungen nicht ausgelegt werden, während der 'Mythus als Lehrmittel in Schulen dient.

4.) Alle über die Kirchenmauern hinausreichenden Propagandamittel der Kirche werden abgeschnürt, während der Propagandaapparat der Regierung und der Partei der Entchristlichung zur Verfügung steht. Gegner der Entchristlichung werden moralisch diffamiert ohne. Möglichkeit einer öffentlichen Rechtfertigung.

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5.) Überwachung und Einschüchterung der kirchentreuen Katholiken. Prozes- - sionen werden photographiert, um »unzuverlässige Elemente« in der Beamten- schaft festzustellen. Exerzitien werden überwacht. Übergriffe der HJ gegen die katholische Jugend.

6.) Systematische Abriegelung der Kirche aus Jugend, Lehrerorganisation und Schule. Wir nehmen nicht dem Volk die Kirche, sondern der Kirche das Volk.« Fernziel: Entkräftung des Konkordats aus Mangel an Kirchenvolk.

7.) Bis dahin: Die Partei steht auf dem Standpunkt des positiven Christen- tums, hat Euch vor dem Bolschewismus gerettet, hält sich von religiöser Ein- . mischung fern. Bezweiflung dieses Scheins wird auf unblutigem Wege unter- drückt. Übergriffe werden als Einzelfälle hingestellt, der Schuldige zum Schein gemassregelt, während in Wirklichkeit alles beim alten bleibt.

Hier zeigt sich deutlich der Gegensatz von relativ konservativem Staatsapparat und subjektiv revolutionär vordrängender NS-Be- wegung. Dabei soll der Apparat der Kirche nicht von oben her zer- trümmert werden, sondern man wendet sich an die Massen: »Wir nehmen nicht dem Volk die Kirche sondern der Kirche das Volk!« Das könnte auch die Parole einer wirklich revolutionären Partei sein. (Zur Bedeutung des »Sich an die Masse wendens« für die revolutio- näre Politik vgl. Parell »Was ist Klassenbewusstsein?« Sex-Pol Verlag).

So hat der Osservatore Romano, dass offizielle Organ des Vatikans vielleicht doch nicht so ganz unrecht, wenn er einmal den National- sozialismus mit dem Bolschewismus vergleicht. Wer ihn aber vom bolschewistischen Standpunkt bekämpfen will, muss wissen, welche subjektiv-revolutionären Bestandteile er enthält. Nur dann wird es gelingen, zu verhindern, dass diese Massenregungen der schwärzesten Klassenunterdrückung, Reaktion und Barbarei dienstbar gemacht werden.

7. Entwicklung im Jahre 1935

Was geschichtlich im Jahre 1935 folgte, ist nur eine weitere Entfaltung der aufgezeigten Gegensätze. Nach dem für Deutschland günstigen Ausfall der Saarabstimmung, an der die Katholiken ein wesentliches »Verdienst« haben, begann «schlagartig«, wie die Nazi- presse schrieb, eine Aktion gegen verschiedene Klöster wegen Devisen- verschiebungen ins Ausland. Hunderte von Mönchen und Nonnen wurden zu hohen Zuchthaus- und Geldstrafen verurteilt. Als die katholischen Bischöfe die Verurteilten, wenn auch in sehr vorsichtiger Form in Schutz zu nehmen versuchten (»wir lehnen ihre Handlungs- weise ab, aber erst eine zukünftige Zeit wird das letzte Urteil sprechen«), antwortete die Nazipresse mit einer Riesenkampagne gegen den »politischen Katholizismus«, die Berichte über die Devisenpro- zesse erschienen gerade an Tagen gross aufgemacht, wo die Caritas einsammeln wollte und daneben ergoss sich wieder einmal ein »Ver- sammlungssturm« über Deutschland. |

Der katholische Frontkämpferbund wurde aufgelöst, die Bestim- mungen gegen die katholischen Jugendorganisationen verschärft. Die Jungen dürfen nicht mehr in einheitlicher Tracht und mit Wimpeln

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auf Fahrt gehen. Ausserdem sind ihre Veranstaltungen dem Terror der HJ preisgegeben, die selbst vor Störung von Gottesdiensten nicht zurückschreckt.

- Wie verschiedene Berichte zeigen, geben,die katholischen Arbeiter in den Betrieben bei den Diskussionen über die. Kirchenfrage auch ihrer politischen Unzufriedenheit Ausdruck. Jüngere, politisch aktive Katholiken bilden sogar illegale Zirkel, geben abgezogene Flugschriften mit verbotenen Reden kirchlicher Würdenträger heraus und treten an sozialistische Genossen mit der Bitte heran, ihre Erfahrungen bei der illegalen Arbeit auszutauschen.

Es kann wohl sein, dass auch die KK, nachdem sie zunächst als konservative Macht mit dem NS in Konflikt geriet, nun sekundär auch zu einem Sammelbecken unklar revolutionärer Kräfte wird. Doch auch hier ist vor Überschätzung zu warnen.

»Die Reden die der Papst in der letzten Zeit gehalten hats, schreibt ein Be- _ richterstatter, »und in denen deutliche Spitzen gegen das Regime enthalten waren, fanden starke Beachtung. Der Einfluss des Papstes, der Bischöfe und des Klerus überhaupt ist noch immer ungeheuer. Für Rom würden die Leute ganz Berlin in Brand stecken.«

Man wäre unter Umständen bereit, in Bayern einer separatistischen Parole zu folgen mit dem Ziel einer klerikal-faschistischen Monarchie nach österreichischem Muster. Die enge Verbindung des hohen Klerus mit den alten Fürstenhäusern geben Gerüchten über solche Pläne erhöhte Bedeutung. Und die katholischen Arbeiter würden kaum protestieren. Denn (um unserm Berichterstatter weiter zu folgen):

»was die Bishöfe sagen, macht das Volk. Auch die Jugend, soweit sie von den Jungmännervereinen erfasst ist, würde keine Ausnahme machen, eher schon das. Bürgertum.«

Die in kulturpolitischen Fragen scharfe Sprache der Bischöfe stärkt eben das Vertrauen politisch unklarer Katholiken zu ihnen, selbst wenn: der Inhalt dieser Sprache ein reaktionärer ist. Andere durchschauen allerdings das Spiel.

»Sie sagen«, schreibt unser Berichterstatter, »es sei nicht wahr, dass die Kirche sich ernsthaft auflehne. Man benehme sich geradezu würdelos (durch Veranstaltung von Gebeten für den Führer, der Ref.), längst seien die Kirchen- fürsten und die übrigen Geistlichen bis auf wenige Ausnahmen zahm.

Infolge dieser Entwicklung findet man bei ehemaligen eingeschworenen Kirchengegnern aus sozialistischen Kreisen Genugtuung darüber, dass jetzt die katholische Kirche das bekommt, was das Zentrum wegen seiner erpresserischen Politik von ehemals reichlich verdient hat. Die Reden in den Versammlungen der deutschen Glaubensbewegung wirken in manchen Kreisen der ehemaligen Freiden- ker so, dass sie meinen, sie seien in die Zeit vor 30 Jahren rückversetzt, wo der »Pfaffenspiegel« Aufsehen erregte.«

Diese Berichte, die aus zuverlässiger deutscher Quelle stammen, fordern uns auf, der deutschen Glaubenbewegung erhöhte Aufmerk- samkeit zu schenken. (Vgl. Kap. 6 und 7.)

Ebenso, wie die Kirche erst sekundär in grösserm Ausmass ein

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Sammelbecken politisch Unzufriedener wird, so wird sie erst sekundär zu einer politischen Gefahr, wobei man die oben erwähnte erhöhte Empfindlichkeit des Nazistaats für dgl. in Rechnung ziehen muss. Dabei dient die Verschärfung des Kampfes gegen die KK nicht zuletzt auch dazu, um mit populären Parolen (»gegen die Devisenschieber, politischen Giftmischer, Dunkelmänner« etc.) die Unzufriedenheit von den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken; genau wie die neue Terrorwelle gegen die Juden u. a. auch diesen Sinn hat.

Die KK antwortet mit einem gemeinsamen Hirtenbrief aller deut- schen Bischöfe, der auf der Fuldaer Bischafskonferenz August 1935 beschlossen, in der Presse jedoch nicht publiziert werden durfte. Er wurde aber am 1. September von allen Kanzeln verlesen. Er fasst in gemässigtem Ton die ganzen Gegensätze noch einmal zusammen und ist dabei ein Meisterstück konservativer Seelenführung. Man lese z. B. einen Satz wie diesen:

»Auch wäre es eine furchtbare Belastung der deutschen Ehre vor der ganzen Welt, wenn das Schlagwort des Kommunismus von der Gleichheit ehelicher und unehelicher Mutterschaft wieder aufgegriffen ....... würde.«

Hier schlägt man die revolutionäre Seite des NS mit seinen eigenen konservativen Waffen, geht aber auch sonst nirgends über die von uns aufgezeigte ‘konservative Opposition hinaus. Im übrigen pro- testierte der Berliner Nuntius mehrmals gegen die konkordatswidrige Beschlagnahme bishöflicher Hirtenbriefe, gegen das antikatholische Agitationsplakat »Deutsches Volk horch auf« und neuerdings (Ok- tober) gegen die im Zusammenhang mit den Devisenprozessen er- folgte Verhaftung des Bischofs von Meissen (ein Schritt, den meines Wissens selbst Bismarck nicht gewagt hat und der auf Katholiken als eine Ungeheuerlichkeit wirken muss): Bisher vergebens.

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V. Grundlagen der Religion

1. Zusammenfassung unserer bisherigen Untersuchung

Heben wir in dem buntbewegten Bild des deutschen Kirchen-

streits die Hauptlinien heraus! Dann zeigt sich:

Kirche und Staat bzw. nationalsozialistische Bewegung stehen im Kampf miteinander. Doch sind es nicht etwa vorwiegend die fortschrittlichen, subjektiv sozialistischen Elemente im Christentum, die in Widerspruch zur politischen Reaktion des Faschismus geraten. Nein, gerade umgekehrt: Es ist vorwiegend die reaktionäre Seite des Kirchenglaubens, die mit den subjektiv revolutionären Elementen im Faschismus zusammenstösst. Kleinbürgerlicher Individualismus, Familienerziehung, Sexualablehnung (Sündenlehre) auf Seiten der Kirche stehen gegen Kollektivismus (wenn auch in mystifizierter Form als »Volksgemeinschaft«), Erziehung durch die Gesellschaft und Bejahung des Körpers (wenn auch mystifiziert in der Ideologie von der Fortpflanzung und Veredlung der Rasse, in der aber oft subjektive und spontane Sexualbejahung versteckt durchbricht).

Daneben läuft allerdings noch eine andere Linie: Die subjektiv fortschrittlichen, sozialistischen Elemente im Christentum--Gleichbe- rechtigung aller Menschen, Friedenssehnsucht etc. treten in Gegen- sitz zur faschistischen Unterdrückung auf allen Gebieten, zu seiner Führermystik, zu seinem Antisemitismus und seiner Kriegsbegeiste- rung. Bei der allgemeinen Zwangsherrschaft auf allen Lebensgebie- ten, bei der brutalen Gleichschaltung vor allem auch des kulturellen Lebens, der Presse, Litteratur, Wissenschaft usw., kann jedoch bereits der Mut des Bekennens zu etwas, das im Widerspruch zur offiziellen Ideologie steht, revolutionär wirken. Wenn z. B. Pfarrer Niemöller dieser Opposition in der Weise Ausdruck gab, dass er seine Rede in einer der letzten Öffentlichen Versammlungen der Bekenntniskirche (im Zoo in Berlin) mit deutlicher Anspielung auf Hitler mit den Worten einleitete: »Mit 7 Mann haben wir unsere Bewegung begon- nen! Es waren auch nur 7 Mann...... « so wirkten diese Worte auch auf alle politisch oppositionellen Menschen, die anwesend waren, nach Berichten von Augenzeugen irgendwie ermutigend.

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Doch wenn wir diese Seite des Kirchenstreits bisher wenig, viel- leicht zu wenig hervorgehoben haben, dann aus zwei Gründen: Wir wollten der im Ausland fast allgemein verbreiteten Meinung entgegen-

treten, die die Kirchen in Deutschland, nur weil sie »irgendwies

‚oppositionell sind, bereits der antifaschistischen Front einordnet. Doch diese Meinung fragt weder: »Wer opponiert?« noch »Mit wel- chen Argumenten, in welcher Richtung wird opponiert?« Man kann das Wollen der Kirchenmänner noch nicht mit dem der Antifaschisten vergleichen, weil einige von ihnen die gleichen Leiden wie: sie zu erdulden haben.

Gewiss: Wenn die Pfarrer sich dagegen wehren, dass Hitlerbilder auf den Altar gestellt werden, wenn sie den Treueid auf den Führer nicht ohne Vorbehalt leisten wollen und Karl Barth deswegen seine Professur verliert, so bedeutet das einen Angriff auf den national- sozialistischen Führerglauben. Aber auf der andern Seite hat die Kirche niemals im Namen der christlichen Nächstenliebe gegen die Konzentrationslager protestiert, im Namen der christlichen Friedens- botschaft gegen die deutsche Aufrüstung und Wehrhaftigkeitsideo- logie. Die Kirchenopposition hat im wesentlichen nicht revolutionä- ren sondern konservativen Charakter. Trotzdem kann sie indirekt auch der Arbeit der Revolutionäre nützen, wie wir in einem späteren Kapitel zeigen werden.

Welches Interesse hat der faschistische Staat am Kampf gegen die Kirchen? Als Antwort wird in den demokratischen Zeitungen oft folgende Phrase serviert: Im Kirchenstreit träte die Absolutheitsfor- derung des Christentums in Gegensatz zur Absolutheitsforderung des Nationalsozialismus.

I Warum aber fordert dann der deutsche Faschismus von der Kir-

che eine Unterordnung, auf die sie nicht eingehen kann, während der österreichische Faschismus unmittelbar auf den kirchlichen Lehren baut, der italienische zumindest mit der Zeit sich gut mit ihnen ver- tragen gelernt hat?

Wir können darum keine aus irgend einem »Prinzip des Faschis- mus« folgende Absolutheitsforderung anerkennen, sondern den Kon- flikt des Nationalsozialismus mit den Kirchen nur aus den besondern Bedingungen des deutschen Faschismus erklären. Dann ergibt sich folgender Tatbestand: |

Da in Deutschland die Verwurzelung des Marxismus in den breiten Massen viel tiefer, die Arbeiterbewegung viel entwickelter war als z. B. in Italien, muss die Unterdrückung auch all derjenigen Bewe- gungen schärfer: sein, hinter denen sich die politische Opposition auch nur bloss verstecken könnte selbst wenn diese Bewegungen selbst ihrem Wesen und Ziel nach ganz ungefährlich sind (vgl. Ver- bot der ernsten Bibelforscher, einer kleinbürgerlichen religiösen Sekte in Deutschland). |

Eine grosse Zahl Nazis in führenden Stellungen ist infolge ihrer

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kleinbürgerlichen Herkunft und Beschränktheit überhaupt unfähig, ideologische Vorgänge zu beurteilen. Darum nähren sie Misstrauen gegen alles, was den geistigen Horizont der 25 Punkte des Nazipro- gramms irgendwie übersteigt.

Vor allem aber handelt es sich bei den Massen der Nazianhänger um einen wirklichen, subjektiv revolutionären Druck, die Fesseln der lebensverneinenden christlichen Religion abzuwerfen. (Anders in Österreich, wo der Faschismus keine revolutionäre Massenbasis besitzt, sondern aus der Spaltung der revolutionären Kräfte in So- zialisten und Nazis als lachender Dritter profitiert.)

Aber warum halten demgegenüber die Kirchenanhänger mit sol- cher Leidenschaft an der »Religion« fest, so wie sie sie nun einmal verstehen?

Unsere Analyse war zunächst eine soziale: Sie zeigte, wie die verschiedenen Gedanken und Strebungen im Kirchenstreit den Klas- sengegensätzen zuzuordnen sind. Dass die Kirchen heute die stärksten Stützen bürgerlich-konservativen Denkens und Fühlens darstellen, er- klärt schon allein, dass viele Menschen mit entsprechender Struktur heute mit ihnen sympathisieren, die vor der »nationalen Revolution« dem religiösen Leben ziemlich gleichgültig gegenüberstanden.

Aber die Kirchen sind mehr, als irgend ein bürgerlich-konserva- tiver Verein. Ein Etwas tritt bei ihnen dazu, das jene bürgerlich- konservative Haltung mit seinem »Heiligenschein« vergoldet, das eigentlich »Religiöse«, dasjenige, was die religiöse Ideologie von an- dern Ideologien gleichen oder ähnlichen politischen und sozialen In- halts unterscheidet und auf die Menschen nicht nur heute sondern von jeher einen ungeheuren Zauber ausgeübt hat. Wir müssen an- nehmen, dass dieses »Etwas« mit der Hartnäckigkeit zusammenhängt, mit der an Kirche und Religion festgehalten: wird.

Im folgenden Kapitel wollen wir die Frage nach dem Wesen dieses »Etwas« beantworten. Es wird uns dies das Verständnis der grossen antichristlichen Religionsbewegung in Deutschland, des national- sozialistischen Neuheidentums sehr erleichtern. Anderseits erscheint es aber notwendig, sich einmal grundsätzlich über das Wesen der Religion klarer zu werden, als bisher. Denn wenn wir unter religiö- sen Menschen politische Arbeit treiben wollen, so müssen wir sie zunächst einmal wirklich verstehen. Dieses Verständnis darf aber nicht nur gefühlsmässig sein, es muss durch klares Wissen unterbaut werden. Doch die Arbeiterbewegung besitzt ein solches Wissen heute nur sehr unvollständig. Sie weiss Bescheid über die objektive Funk- tion der Kirche in der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie ihren Ausdruck findet in der Vertröstung auf das bessere Jenseits, in der Lehre von der gottgewollten Obrigkeit und in dem Versuch eineı Korrektur der Klassenunterdrückung durch »schristliche Nächsten- liebe«x in Form von Almosen.

Doch wir können den Streit zwischen Kirche und Faschismus

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gar nicht verstehen, wenn wir bloss diese sozialen Lehren des Christen- tums vor Augen haben: Wir müssen hier zumindest die Sexualauf- fassung der Kirche mit in Betracht ziehen. Doch schon über diesen Punkt weiss die Arbeiterbewegung wenig, noch weniger über die Frage, wie sich die religiöse Ideologie von andern bürgerlichen Ideo- logien (Philosophie, Recht, Moral etc.) unterscheidet. Darum Un- klarheit in allen Analysen des Kirchenstreits (vgl. Kap. 2), Unsicher- heit bei aller praktischen antireligiösen Arbeit..

Wir meinen, dass sich diese Unvollständigkeit in der Erfassung der Religion bis auf Marx und Engels zurückverfolgen lässt. Eine ins einzelne gehende Kritik ihrer Religionsauffassung müsste das ganze Problem der Ideologie mit einbeziehen und würde hier zu weit führen. Die folgenden Darlegungen wollen darum nur vorläufig die Resultate zusammenfassen, die sich bei konsequenter Anwendung: der sexualökonomischen Grundprinzipien auf das religiöse Verhalten und seine Darstellung bei Marx und Engels ergeben. Dabei kommt man oft zu Resultaten, die von gewissen traditionellen Auffassungen des Marxismus überraschend weit abweichen. Doch zeigt eine nähere Überlegung, dass diese Abweichungen niemals die dialektisch-materia- listische Methode und ihren revolutionären Grundansatz selbst be- treffen, sondern nur gewisse Auffassungen, die aus einer ungenü- genden Anwendung dieser Methode selbst entstammen. Aber hier wie auf manchen andern Gebieten der Sexualökonomie ist noch vieles im Fluss und bleibt der Verbesserung durch die künftige Diskussion und praktische Erfahrung offen.

2. Marx und Engels über Religion: Religion als Ideologie

Gehen wir von einer Stelle im Antidühring aus, die die Religions- auffassung des Marxismus übersichtlich zusammenfasst:

»Nun ist alle Religion nichts anderes als die phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen, derjenigen äusseren Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren, und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Dieser erste Prozess ist wenigstens für die indoeuropäischen Völker durch die vergleichende Mythologie bis auf seinen Ur- sprung in den indischen Vedas zurückverfolgt und in seinem Fortgang bei Indern, Persern, Griechen, Römern und Germanen und, soweit das Material reicht, auch bei Celten, Litauern und Slaven im einzelnen nachgewiesen worden. Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehen, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen, wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesell- schaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte. Auf einer noch weiteren Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaft- lichen Attribute der vielen Götter auf einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Mono- theismus, der geschichtlich das letzte Produkt der späteren griechischen Vulgär- philosophie war und im jüdischen ausschliesslichen Nationalgott Jahve seine Ver- .

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körperung vorfand. In dieser bequemen, handlichen und allen anpassbaren Ge- stalt kann die Religion fortbestehen als unmittelbare, d. h. gefühlsmässige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehen. Wir haben aber mehrfach gesehen, dass in der heutigen bürger- iichen Gesellschaft die Menschen von den von ihnen selbst geschaffenen ökono- mischen Verhältnissen, von den von ihnen selbst produzierten Produktionsmitteln wie von einer fremden Macht beherrscht werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen Reflexaktion dauert also fort und mit ihr der religiöse Reflex selbst. Und wenn auch die bürgerliche Ökonomie eine gewisse Einsicht in den tatsäch- lichen Zusammenhang dieser Fremdherrschaft eröffnet, so ‘ändert dies der Sache nach nichts. Die bürgerliche Ökonomie kann weder die Krisen im Ganzen ver- hindern noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott, oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heisst noch immer: Der «Mensch denkt und Gott (d. h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die blosse Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer, als die bürgerliche Ökonomie, genügt nicht, um gesell- schaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen... wenn der Mensch also nicht mehr bloss denkt sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grund, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt.« 1).

Hier erheben sich sogleich folgende Fragen: 1) Wie sieht dieser »phantastische Reflex« im einzelnen aus? Wie kommt er im Kopfe des durchschnittlichen Gläubigen zustande?

Wie verbindet er sich mit gefühlsmässigen Einstellungen? »Die Re-

ligion kann fortbestehen als unmittelbare d. h. gefühlsmässige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden natürlichen und gesellschaftlichen Mächten.« (Engels, Antidühring) M. a. W.: Wie verankert sich die Religion psychologisch?

Die folgende Untersuchung wird zeigen, dass die Religion zwar ein »gefühlsmässiges« Verhalten ist, doch durchaus kein »unmiittel- bares«.

2) Wie unterscheidet sie sich als »phantastischer« Reflex von an- dern Formen der Ideologie Recht, Philosophie, Moral die ja auch Reflexe der wirklichen Verhältnisse, wenngleich minder »phan- tastische« sind? M. a. W.: Was ist das spezifisch Religiöse in der re- ligiösen Ideologie?

8) Wie kann dieser »Reflex« schon vor der Veränderung der wirk- lichen Verhältnisse bei einem möglichst grossen Teil der Unterdrück- ten aufgehoben, wie kann dieser Prozess beschleunigt und erleichtert werden? Denn die Befreiung von diesen und andern »Ideologien« schon vor der »Veränderung der Verhältnisse« ist ja Vorbedingung für diese Veränderung selbst. Zeigt unsere Untersuchung Wege, diese

1) Vgl. dazu Engels: Antidühring, 5. Aufl. S. 342--44, dem auch dieses: Zitat entnommen ist. Ferner von Engels: »Feuerbach« 3. Kap., Brief an Conrad Schmidt aus dem Jahr 1890. Marx: »Zur Judenfrage«, »Rundschreiben gegen Hermann Kriege«, »Der Kommunismus des Rheinischen Beobachters«, »Deut- sche Ideologiex 1. Theil (Feuerbach), »Das Kapital« Bd. 1,. S.: 85. : Gute Sammlung der Stellen in A. Lukatschewski: Marx und Engels über Religion,

Ogis-Antireligiöser Staatsverlag, Moskau. Zitate im folgenden nach der Marx- . Engels-Gesamtausgabe (MEG).

..“

Befreiung zu erleichtern, m. a. W. liefert sie Waffen für den proleta- rischen Klassenkampf?

Diese Fragen haben Marx und Engels nicht beantwortet und man setzt sich nicht in Widerspruch zu ihnen, wenn män das offen aus- spricht. Im Gegenteil: Engels hat sehr gut gewusst, dass diese und andere Probleme bei ihm und Marx ungelöst geblieben sind. Am 14. VI. 1893 schrieb er in einem Brief an Sorge:

BEbses Sonst fehlt uns nur noch ein Punkt, der aber in den Sachen von Marx und mir regelmässig nicht genug hervorgehoben ist.

Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch

diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtat-

sachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über

‚der inhaltlichen vernachlässigt: Die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc.

zustande kommen. Das hat dann den Gegnern willkommenen Anlass zu Miss- verständnissen gegeben......

Diese Seite der Sache, die ich hier nur andenten kann, haben wir, glaube ich, alle mehr vernachlässigt, als sie verdient. Es ist die alte Geschichte: Im Anfang wird immer die Form über dem Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich

habe das ebenfalls getan, und der Fehler ist mir immer erst post festum aufge-

stossen. Ich bin also nicht nur weit entfernt davon, Ihnen irgend einen Vorwurf

daraus zu machen, dazu bin ich als älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im Gegenteil aber ich möchte Sie doch für die Zukunft auf diesen Punkt auf- merksam machen.« (Hervorhebungen vom Ref.)

Reich hat versucht, mit dieser Anregung Ernst zu machen und

die Lücke in der marxistischen Soziologie auszufüllen, die sich daraus ‚ergibt, dass der subjektive Faktor in der Geschichte von den grossen

Strategen des Klassenkampfs zwar praktisch berücksichtigt, aber nicht genügend theoretisch erfasst wurde.

»Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopf

in Ideelles (in Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens, wie das geschieht, was dabei »im Menschenkopfe«

vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt.

Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im

menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist

und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.« (Massenpsychologie ...S. 29.)

Mit diesen Sätzen ist die Aufgabe abgesteckt, die sich aus der na- turwissenschaftlichen Anwendung der Psychoanalyse in der Gesell- schaftslehre ergibt. Doch die konsequente Weiterbildung der psycho-

‚analytischen Erklärung der Ideologien zur " sexualökonomischen

Strukturlehre, die sich seit Erscheinen der Massenpsychologie vollzog, hat zu Konsequenzen geführt, die weiter reichen, als Reich selbst zunächst dachte. Es handelt sich m. E. nicht mehr bloss um Aus- füllung einer Lücke. Die innere Logik der Sexualökonomie treibt vielmehr zur Kritik und Neuformulierung gewisser Sätze des dialek- tischen Materialismus selbst, die bisher mit Unrecht als unver- rückbare Grundsätze angesehen wurden. :

Die marxistische Gesellschaftslehre fasst, wie wir gesehen haben, ‚die Religion als »phantastischen Reflex« der Wirklichkeit im Men-

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schenkopfe. Sie ist ebenso wie die anderen Ideologien Recht, Phi- losophie, Moral vor allem ein Bewusstseinsphänomen. Bewusst- sein wird hier jedoch vor allem gefasst als bewusstes Sein, Gedanken, Theorie. Vgl. besonders »Deutsche Ideologiex (MEG I. B. 5) S. 15: Moral, Religion, Metaphysik: sind »Ideen, Vorstellungen«, es sind (S. 16) »Nebelbildungen im Gehirn«, Theologie, Philosophie, Moral sind (8. 21) »reine Theorien«e. Die wirkliche Befangenheit der Men- schen (der antiken Gesellschaft) innerhalb ihres materiellen Lebens- erzeugungsprozesses »spiegelt sich ideell wieder in den alten Natur- und Volksreligionen« (Kapital, Ausg. des Marx-Engels-Lenininstituts 5. 85).

Wir sehen: Marx und Engels hatten hier vorwiegend die bewusste, intellektuelle Seite der Religion im Auge. Den gleichen Eindruck ge- winnt man aber auch, wenn man das vergleicht, was Marx und En- gels über bestimmte religiöse Erscheinungen gesagt haben. Z. B. über Naturreligion (»Deutsche Ideologie«x S. 20, ähnlich im »Feuerbache):

»Das Bewusstsein ist natürlich zuerst bloss Bewusstsein über die nächste sinnliche Umgebung und Bewusstsein des bornierten Zusammenhanges mit an- deren Personen und Dingen ausser dem sich bewusst werdenden Individuum; es ist zu gleicher Zeit Bewusstsein der Natur, die den Menschen anfangs als eine durchaus fremde, allmächtige und unangreifbare Macht gegenübertrat und zu der- sich die Menschen rein tierisch verhalten, von der sie sich imponieren lassen, wie das Vieh; und also ein rein tierisches Bewusstsein der Natur (Naturreligion). Man sieht hier sogleich: Diese Naturreligion oder dies bestimmte Verhalten zur Natur ist bedingt durch die Gesellschaftsform und umgekehrt...<.

Der Jenseitsglaube des Christentums hat in der modernen Zeit seinen »menschlichen Grund« darin, das sich der Mensch »zu dem seiner wirklichen Individualität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält« (»Zur Judenfragex MEG I. S. 590). In der Antike war er Ausdruck für die reale Unmöglichkeit, das Los der Unterdrückten im Diesseits durch Übergang zu einer höhern Produk- tionsweise zu verbessern wegen ungenügender technischer Entwick- lung und Ungleichartigkeit der Interessen bei den verschiedenen Tei- len der Unterdrückten (vgl. Engels »Zur Geschichte des Urchristen- tum«, Neue Zeit 1893—-94). Ähnliche Parallelen zwischen Ökonomie und religiöser Ideologie weist Engels für die neuere englische Ge- schichte auf (»Über histor. Materialismus«, Neue Zeit 1893). Hier gibt Engels eine Erklärung für die calvinistische Lehre von der Gna- denwahl, nach der nicht »das Drängen und Laufen« des Menschen sondern allein Gottes vorherbestimmter Wille entscheiden; sie ent- spricht der Übermacht, mit der die neuentstandene kapitalistische Produktionsweise im 16ten und 17ten Jahrhundert dem Einzelnen gegenübertrat. Der abstrakte Gott des Christentums entspricht der abstrakten Gleichheit aller Menschen in der warenproduzierenden Gesellschaft (Kapital S. 85 vgl. auch Theorien über den Mehrwert 11178; 519);

Hier könnte man einwenden: »Die angeführten Beispiele bewei-

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sen, dass du Marx und Engels Unrecht tust. Denn sie erfassen ja nicht nur die intellektuelle Seite der Religion, sondern sie sehen sie stets im Zusammenhang mit den realen Verhältnissen der Situa- tion .des Menschen in der auf Sklaverei fussenden Gesellschaft oder im Kapitalismus —, die natürlich auch eine gefühlsmässige Einstel- lung, etwa das Gefühl der Hilflosigkeit bedingen.

Richtig! Doch das Gefühl der Hilflosigkeit wird bei ihnen stets nur berücksichtigt, soweit es unmittelbar aus den realen Verhältnis- sen d. h. letzten Endes den Produktionsverhältnissen entspringt. Die religiöse Seite der Sache erscheint selbst wenn dies nicht theore- tisch so formuliert wird nur als eine Begleiterscheinung (über die Theorie von der Rückwirkung vgl. weiter unten). Sie wird vorwie- gend erfasst als Lehre (z. B. von der Vergeltung im Jenseits), als Gedankensystem (etwa von der Gnadenwahl, vom Wesen Gottes), das dem Gehirn der Theologen oder auch der griechisehen Popular- philosophen entspringt. Kritik der religiösen Beziehung zur Wirk- lichkeit ist Kritik der theologischen Auffassung der Wirklichkeit (»Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung« MEG BAER:

Dass Marx und Engels nicht nur die Religion sondern auch die andern Formen der Ideologie zu eng, nämlich einseitig intellektuell, als Erzeugnisse »geistiger Arbeit« verstanden, zeigt auch sehr schön ihre historische Erklärung für die Entstehung des falschen Bewusst- seins: Nämlich aus der Teilung der geistigen und körperlichen Ar- beit im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktiv- kräfte. Diese isoliert die Ideologieproduzenten vom Produktionspro- zess und sie geraten in der Folge in Abhängigkeit von der herrschen- den Klasse (vgl. »Deutsche Ideologie« S. 21):

»Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass

ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.«

Nun haben Marx und Engels gewiss insofern recht, als die intel- lektuelle Oberfläche der psychischen Struktur, die »Ideologie«, der unmittelbaren Beeinflussung durch die Ideologieproduzenten der herrschenden Klasse (»die Lakaien des Kapitals«, wie Marx sie an anderer Stelle nennt), direkt zugänglich ist: Schule, Kirche, Univer- sitätswissenschaft, Presse etc.

Und sie ist dieser Beeinflussung zugänglich; denn einerseits sind die Massen der Unterdrückten real und intellektuell hilflos, ander- seits ist die Ideologie der herrschenden Klasse der ökonomischen und politischen Situation dieser Massen durchaus angepasst, gibt nur eine falsche, allein in ihrem Interesse liegende Erklärung dafür.

Es ist das bleibende Verdienst von Marx und Engels, diese sehr wichtige Seite der Produktion und Reproduktion der Ideologie auf- gedeckt und in den verschiedensten Zusammenhängen dargestellt zu

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haben. Ihre Resultate sind für alle spätere Forschung auch für die Religionsforschung grundlegend. Doch betreffen sie nur die ob- jektiv-gesellschaftliche Funktion der Ideologie: Ideologie geschaf- fen im Interesse der herrschenden Klasse und angepasst der Öökono- misch-politischen Situation der Unterdrückten. Doch die Gesetze der subjektiven Aneignung der Ideologie, ihrer Rückwirkung auf die ma- terielle Basis mussten im unklaren bleiben, da hier nicht nur jene in- tellektuelle Oberfläche sondern tiefere Schichten der psychischen Struktur eine entscheidende Rolle spielen.

Engels hat in seinen 4 berühmten Briefen aus den 90er Jahren wohl die Auffassung von der Trägheit der Ideologie entwickelt, ihr eine Rückwirkung auf die Produktionsverhältnisse zugestanden, die nur »letzten Endes« entscheidend seien. Doch diese Auffassung lässt sich mit der Theorie von der Ideologie als Reflex in keinen rechten Zusammenhang bringen. Sie wird nicht nur in den Analysen be- stimmter religiöser Verhältnisse, die ich gefunden habe, nirgends an- gewendet. Ihre Unklarheit zeigt sich auch darin, dass kein Buch von Marx und Engels so viele unfruchtbare Diskussionen hervorge- rufen hat, wie diese beiden unscheinbaren Worte »letzten Endes«!).

Doch die zu enge Auffassung von Religion, Moral etc. bei Marx und Engels wird begreiflich, wenn wir ihre ursprüngliche Ansicht vom Wesen des Menschen näher beleuchten. Nehmen wir einen charak- teristischen Abschnitt aus der »Deutschen Ideologie«, der diese An- sicht zusammenfasst:

»Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher. Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso aus ihrem histori- schen Lebensprozess hervor, wie das Umdrehen der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.«

Dem wirklichen Lebensprozess materielle Produktion steht also: das Bewusstsein (als Ideologie) gegenüber. Während in der idealisti- schen Philosophie das Bewusstsein das Sein bestimmt (ja sogar schafft), Marx das gesellschaftliche Sein. das Bewusstsein.

Dieser Satz stellt zwar die philosophische Auffassung vom Kopf auf die Beine. Indem dem abstrakten Denken bei Marx nicht nach

Feuerbachscher Art die abstrakte Sinnlichkeit gegenübergestellt wird.

1) Es geht demnach nicht an, die einseitige Charakteristik Hitlers als »Lakaien des Finanzkapitals«, oder Naziideologie als »Vernebelung« den Ökonomisten in die Schuhe zu schieben. Die »Ökonomisten« haben hier nur als Schüler: von Marx und Engels gehandelt, allerdings als unbegabte Schüler, die die, wie sich zeigen wird, unverschuldeten Schwächen ihrer Meister noch ins. Groteske verzerrten. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Engelsbrief, den wir oben zitierten und der diese Schwächen zugibt, in der letzten Auswahl des Marx-Engels-Lenininstituts (Karl Marx ausgewählte Schriften, 1934) einfach fehlt, während die andern Briefe von Engels aus der gleichen Zeit abgedruckt sind.

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sondern die Sinnlichkeit als »praktisch sinnliche menschliche Tätig- keit« (öte These über Feuerbach), wird der Dialektik der Weg frei- gemacht nicht nur zur Erfassung der wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse sondern auch zur revolutionären Tat.

Aber trotzdem trägt dieser Ansatz aus dem Jahr 1843 die Eier- schalen seiner Entstehung aus der Opposition gegen die idealistische Philosophie in sich: Wir meinen die Spaltung des Menschen über- haupt in einen denkenden und einen seienden (d. h. materiell pro- duzierenden) Teil. Ist das Verhältnis zwischen den beiden auch srundsätzlich richtig gefasst: In der Schärfe der Gegenüberstellung selbst wird unbesehn die ganze idealistische Verwirrung mitgeschleppt, die aus der Theologie überkommene Gegenübersetzung von »Geist und Fleisch«, »Höherem und Niedrigem«, »Denken und Sein«. Und an jenem Gegensatz halten Marx und Engels grundsätzlich fest, selbst wenn sie ihn bei Gelegenheit einschränken: Denken selbst als Element der Produktivkräfte, Lehre von der Rückwirkung der Ideologie!).

Aber in Wirklichkeit kann der Mensch nicht »eingeteilt« werden in Denken und Produzieren, sondern er hat zunächst ein biologisch bestimmtes Trieb- und Affektleben, däs bestimmten Gesetzen gehorcht und das zum Motor sowohl des Denken als der materiellen Produktion wird, umgekehrt aber auch von den selbstgeschaffenen. Verhältnissen beeinflusst und geformt wird.

Geben wir ein Beispiel! Moral erschöpft sich nicht in theoretischen Sätzen wie: »Widersetzlichkeit gegen Staatsorgane ist unerlaubts, »Geschlechtsverkehr ausserhalb der Ehe ist verboten«. Der »wirk-

liche sinnliche« Kleinbürger, der nach seiner »Moral« gefragt wird,

wird in den meisten Fällen auf diese Frage keine Antwort wissen. Aber er wird ganz gefühlsmässig moralisch handeln: Vor jedem Polizeimann, der ihn anschreit, werden ihm die Knie zittern, kein Verhütungsmittel wird ihm sicher genug sein, um die unerwünschten Folgen ausserehelichen. Geschlechtsverkehrs zu verhüten. Bekommen wir ihn in Analyse, so zeigt sich, wie die Eindrücke seiner frühen Jugend, der strenge Vater, die fürsorgliche, überängstliche Mutter,

1) Gewiss haben Marx und Engels die Ideologie, das Bewusstsein an einigen Stellen weiter gefasst, als bloss als intellektuelle Spiegelung. Man denke an

den berühmten Satz aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Ein-

leitung) »:.. die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Ge- walt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«

Doch hier ist Theorie nur verstanden als revolutionäre Theorie, die ein den realen Verhältnissen entsprechendes, unmittelbar aus ihnen entspringen- des Handeln ermöglicht. Also ist es hier doch wieder weniger die Theorie als eben jene Verhältnisse, die die materielle Gewalt aus sich erzeugen. Nir- sends wird die reaktionäre »Theorie« in gleicher Weise als materielle Gewalt gefasst. Diese ist vielmehr in den Machtverhältnissen lokalisiert, die diese reaktionäre Theorie bedingen. x

Der schwankenden Bedeutung des Marxschen Ideologie- und .Bewusst- seinsbegriffs wäre nur durch eine ausführliche Untersuchung beizukommen. Für unsere Zwecke hoffen wir genügend klar gezeigt zu haben, dass im Ganzen die intellektualistische Auffassung überwiegt.

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die ihn von den »bösen Folgen« der Onanie warnte, diese Struktur in ihm erzeugt haben.

Ä Doch ohne das besondere Verfahren der Analyse kann er sich das weder bewusst machen noch die gefühlsmässigen Reaktionen ändern, die die Folge davon sind. Die durchschnittliche Triebstruktur der Eltern, die ganze Institution der bürgerlichen Familie, die diese Erziehung bedingt, sind genau so ‚wie die Gesetze des kapitalistischen

Markts Verhältnisse, die von den "Menschen selbst unter be-

stimmten Bedingungen erzeugt!) sich ihnen als fremde Mächte gegenüberstellen, und so ihr Leben bestimmen.

Also: Der wirkliche sinnliche Mensch ist nicht nur der materiell produzierende Mensch, der ausserdem auch Bewusstsein hat, sondern der Mensch mit einer bestimmten Trieb- und Bedürfnisstruktur. Er ist gezwungen, Voraussetzungen für die Befriedigung seiner Be- dürfnisse zu schaffen: Zunächst für die Befriedigung seiner ma- teriellen Bedürfnisse (Wohnungs-Nahrungsbedürfnisse etc.) durch materielle Produktion die darum tatsächlich »letzten Endes« entscheidet; dann aber vor allem für die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und endlich für +all die Bedürfnisse, die sich aus einer Kombination, Umsetzung, Verfeinerung dieser beiden Grund- bedürfnisse ableiten lassen. Die Verhältnisse, die er dabei eingeht, verselbständigen sich und nehmen die Form von fremden Mächten an, die eigenen Gesetzen gehorchen: Eigentum, Klassenteilung, Fa- milie, Kirche, Staat, bürgerliche Moral. Sie wirken gleichzeitig auf Trieb- und Bedürfnisstrukturen zurück: Direkt durch Einsatz be- stimmter Machtmittel und durch Produktion bestimmter Ideologien, indirekt durch die Erziehung, in der die EOIeNIFECEEe der Sexualität eine entscheidende Rolle spielt.

Es ist interessant, dass Marx und Engels eine richtige npEindung für diese Zusammenhänge gehabt haben müssen, selbst wenn sie mangels einer naturwissenschaftlichen Psychologie keinen theoreti- schen Ausdruck dafür finden konnten. Vgl. im Rundschreiben gegen Hermann Kriege aus dem Jahr 1846 (MEG I, Bd. 6, S. 18):

»Die Kriegesche Religion kehrt ihre schlagende Pointe hervor in folgendem Passus: »Wir haben noch etwas mehr zu tun als für unser lumpiges Selbst zu sorgen, wir gehören der Menschheit.« Mit diesem infamen und ekelhaften Servilismus gegen eine von dem Selbst getrennte und unterschiedene »Mensch-., heit«, die also eine metaphysische und bei ihm sogar religiöse Fiktion ist, mit dieser allerdings höchst »lumpigen« Sklavendemütigung endigt diese Religion wie jede andere. Eine solche Lehre, welche die Wollust der Kriecherei und der Selbstverachtung predigt, ist ganz geeignet für tapfere Mönche, aber nimmer für energische Männer, und gar in einer Zeit des Kampfes. Es fehlt nur, dass diese tapferen Mönche ihr »lumpiges Selbst« kastrieren und dadurch ihr Ver- trauen auf die Fähigkeit der »Menschheit«, sich selbst zu erzeugen, genügend beweisen! ...... «

An anderer Stelle (»Die heilige Familie«e MEG I Bd. 3 S. 191) erklärt Marx gegen Hr. Edgar:

1) Nämlich beim Übergang von der mutterrechtlichen zur vaterrechtlichen Gesell- schaft. Vgl. dazu Reich »Der Einbruch der Sexualmorale«. 64

»Wie sollte die absolute Subjektivität ...... nicht in der Liebe ihre böte noire, den leibhaftigen Satan erblicken, in der Liebe, die den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt ausser ihm glauben lehrt ....... Die Liebe ist ein unkritischer, unchristlicher Materialist.«< (Aus dem Zusammenhang geht eindeu- tig hervor, dass Marx die sinnliche, sexuelle Liebe meint).

Doch diese richtige Einsicht in die Strukturfrage, in den Zusam- menhang Religion Sexualverneinung, Atheismus Sexualbejahung schwebt ohne materialistische Trieb- und Sexualtheorie in der Luft, kann dem Zusammenhang der materialistischen Gesellschaftslehre nicht eingegliedert werden und ist darum auch geschichtlich wirkungslos geblieben.

An dieser theoretischen Schwäche tragen natürlich Marx und Engels keine Schuld, sondern die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis Mitte des vorigen Jahrhunderts, die ihnen keine Voraus- setzungen in die Hand gab, eine solche Trieb- und Sexualtheorie auszuarbeiten.

Aber noch mehr: Der Ideologiebegriff, die schärfste Waffe des

Marxismus im Kampf gegen die herrschende Klasse, wandelt selbst _

seine Bedeutung. War im Anfang die »Entlarvung« von Recht, Moral, Religion als Werkzeuge der Unterdrückung ein Hebel des revolutio- nären Fortschritts, so wird heute die intellektualistische Einengung, die für die meisten Marxisten mit diesem Begriff historisch untrennbar verbunden ist, zu einem Hemmschuh für die lebendige Weiter- entwicklung der revolutionären Theorie und Praxis.

Die Marxschen Lehren von Klassenteilung und Staat, vom Mehr- wert, von der Entfremdung und Gegenüberstellung selbstgeschaffener Verhältnisse bleiben auch weiterhin die Grundlage aller revolutionären Arbeit: Doch das meiste, was an konkreter Ideologieanalyse bisher vom Marxismus geleistet wurde, muss neu gemacht werden, wobei die Angst vor Irrtümern und Unvollkommenheiten einen nicht von der Arbeit abschrecken darf.

Ein Problem, wo die Schwäche der Marx-Engelsschen Religions- auffassung besonders deutlich wird, ist das der Naturreligion. Hier ist alles Konstruktion, die Formel »tierisches Bewusstsein der Natur« ist von der neueren ethnologischen Forschung durch konkretes Wissen ersetzt worden, wie es bei der Entstehung primitiver Religion zugeht: Extatische Rauschzustände, die durch asketische Prozeduren her- beigeführt werden, spielen dabei eine Hauptrolle. Hier hat die künftige Forschung noch viel zu leisten, besonders wenn wir be- denken, wie sehr Vorstellungen und Gefühlseinstellungen aus der 'primitiven Religion auch in den sogenannten »höheren Religionen« eine Rolle spielen. |

Doch die Arbeit wird sich dabei nicht die Äusserungen von Engels in einem Brief an Conrad Schmidt (27./X. 1890) zum Leitfaden machen können:

»Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete an- seht, Religion, Philosophie u. s. w., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von

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der geschichtlichen Periode vorgefundenen und übernommenen Bestand von was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiedenen falschen Vor- stellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften u. s. w. liegt meist nur negativ ökonomisches zu Grunde; die niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur Ergänzung aber stellenweise auch zur Bedingung und selbst Ursache die falschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürfnis die Haupttriebfeder der Naturerkenntnis war und immer mehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzuständlichen Blödsinn ökono- mische: Ursachen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blödinns ....... «&

»Blasphemie«, wie sie Marx und Engels nicht nur hier lieben, ist zwar unter Atheisten ein amüsantes Gesellschaftsspiel. Doch wenn man bestimmte religiöse Vorstellungen wie etwa den Geisterglauben, der doch im katholischen Heiligenglauben fortlebt und gesellschaft- liche Macht besitzt, als Blödsinn verspottet, versperrt man sich den Weg zur Untersuchung und Bewältigung der Schwierigkeiten, vor die die Religion die revolutionäre Arbeiterbewegung stellt.

Mit Hinblick auf unsere oben formulierten Fragen können wir also zusammenfassend sagen: Da Marx und Engels die subjektive Aneignung und Verankerung von bestimmten psychischen Haltungen nicht sehen konnten Haltungen, die sie zu eng als blosse »Ideologie« auffassten waren ihnen auch die Gesetze der »Rückwirkung auf die Basis« verschlossen, bloss die Tatsache dieser Rückwirkung haben sie festgestellt. Sie fassten darum auch den Kampf gegen diese »Ideologien« zu einseitig als Propaganda der revolutionären Theorie, während sich aus dem Wissen ihrer Verankerung in bestimmten psychischen Strukturen auch bestimmte neue Kampfformen ergeben, auf die wir im letzten Kapitel eingehen werden. Im folgenden Ab- schnitt geben wir bloss eine Darstellung dieser Verankerung selbst.

3. Religion als psychische Struktur

Die Fassung der Religion als Ideologie gibt keine Möglichkeit, ihre Verwurzelung in der psychischen Struktur, im Gefühls- und Triebleben des durchschnittlichen Massenindividuums wirklich zu er- fassen. Dazu ist es notwendig, nicht von den religiösen Dogmen sondern vom religiösen Leben, nicht von der Theologie sondern von der Religion als massenpsychologischer Erscheinung auszugehn.

Nehmen wir unsere Beispiele aus dem bereits gesammelten Material. Dann fällt auf:

a) Der Zusammenhang zwischen Religion und Familienerziehung: Die Familienerziehung muss nach Auffassung der protestantischen Theologen geschützt werden gegen ihre Auflösung durch Erziehung in den nationalsozialistischen Verbänden. Die Familie ist bedroht durch die Duldung des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs und der unehelichen Mutterschaft, sagen die katholischen Bischöfe.

b) Der Zusammenhang zwischen Religion und Sexualunter-

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drückung: Vgl. neben den zitierten Marxstellen die gesamte Erbsünden- lehre, die Lehre von der Sündigkeit des Fleisches, die in Widerstreit zur nationalsozialistischen Auffassung von der Rolle des Körpers kommt, den Kampf der katholischen Kirche gegen das Sterilisations- gesetz.

Welches Interesse die Kirche an der sexuellen Enthaltsamkeit, besonders der Jugend haben muss, zeigt die hinterlistige Art, wie sie ihr die Freude an gesunder, natürlicher Sexualität, an erotisch be- tontem Schmuck und Spiel zu verekeln sucht. Folgendes Flugblatt bekam der Verfasser im Winter 1931 um 11 Uhr nachts am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin in die Hand gedrückt:

Wilhelm Dornemann, Hagen i. W. Entmannte Männlichkeit.

Vor kurzem hat ein Volkskenner über unsere Zeit etwa so geurteilt: Das moderne Weibliche siegt immer mehr über das Männliche, der Genuss über die Sittlichkeit, die Weichlichkeit über den Heldengeist. Hat dieser Mann nicht recht? Wir haben heute in der Tat weithin eine entmannte Männlichkeit mit allen ihren Auswirkungen.

Wo wir hinschauen, sehen wir das Vordringen eines modernen Dirnengeistes: Sinnlich, eitel, anmassend und aufdringlich .........

Diese lüsternen Mädels, die auf den Strassen umherschwänzeln und -tänzeln, rechnen offenbar mit der inneren Schlaffheit der jungen Männer. Denn sie würden gewiss nicht immer ihre Beine zur Schau bringen, sich nicht beständig an ihrem Bubikopf zu schaffen machen und nicht dauernd ihre begehrlichen Augen umherwandern lassen, wenn sie nicht wüssten, dass solches Gebahren auf die jungen Männer Eindruck macht ..........

Aber gibt es denn keine harmlose Freundschaft zwischen einem Jüngling und einem Mädel? Die »Freundschaften«e, die so »harmlos« beginnen, werden gar sehr schnell zu schwärmerischen Liebschaften. Und diese frühen Liebschaften zerstören viel Gutes und Edles im Seelenleben tausender junger Menschen, weil sie für eine gottgewollte echte Liebe noch nicht reif sind .......

Diese törichten Liebeleien, die häufig den Grund für soviel Unglück im späteren Leben legen, wären nicht möglich, wenn wir ein straffes, reines, ritter- liches Jungmannesgeschlecht hätten.

ET Tausende von jungen Männern, die sich in unseren christlichen Jung- männervereinen im Deutschen Sittlichkeitsbunde vom Weissen Kreuz (Sitz No- wawes bei Potsdam, Heinestrasse 1) zur gegenseitigen Stärkung und zum Kampf für ihre Altersgenossen zusammengeschlossen haben, stehen in diesem Erleben.

Sie haben ihre Reinheit, Kraft und Mannhaftigkeit von Jesus Christus, dem sgekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heiland. Er will auch Dir Deine Schuld vergeben, wenn Du aufrichtig zu ihm kommst. Er will auch in Dir die Macht der Sünde brechen, wenn Du ihm aufrichtig nachfolgst .......

Doch die Kirche wäre die raffinierte Institution nicht, die sie ist, würde sie sich auf eine derart unverblümte Propaganda der Sexual- unterdrückung beschränken. Sie verfährt viel geschickter, trifft zu- gleich viel mehr Fliegen auf einen Schlag mit ihrer Sündenlehre. Um ihr Wesen zu erfassen, tun wir gut, von einem Zitat aus dem 7ten Kapitel des Römerbriefs des Apostel Paulus auszugehen:

»Die Sünde erkannte ich nicht, ausser durch das Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Begierde, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: Du sollst nicht be- sehren. Da ergriff aber die Sünde die Gelegenheit des Gebots und erregte in mir alle Begierde. Ausserhalb des Gesetzes ist die Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne das Gesetz. Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde wieder auf ......... |

ae Das Gesetz ist ja heilig und das Gebot ist heilig, recht und gut ..........

ei Wir wissen, dass das Gesetz geistig ist. Ich bin aber fleischlich und unter das Gesetz der Sünde verkauft. Was ich tue, weiss ich nicht. Nicht das tue ich nämlich, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich das tue, was ich nicht will, so gebe ich doch zu, dass das Gesetz gut ist. Nun nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde .........

Ich weiss nämlich, dass nicht in mir, das heisst in meinem Fleisch das Gute wohnt. Das Wollen steht nämlich zu meiner Verfügung, das Vollbringen des Guten aber nicht. Nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, tue nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde ......... er Ich freue mich also an Gottes Gesetz dem inneren Menschen nach, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz in meinem Verstand widerstreitet und mich gefangen nimmt im Gesetz der Sünde in meinen Gliedern.

Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem Todesleib herausreissen? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.«

Diese berühmte Paulusstelle gibt wahrheitsgetreuer als manche philosophische Abhandlung die psychische Situation des Menschen ın der auf Triebunterdrückung gegründeten Klassengesellschaft wieder. Die Einschränkung der sexuellen und aggressiven Regungen (das Gesetz) kommt von aussen, ist gesellschaftlich bedingt. Paulus sagt an einer andern Stelle (im Galaterbrief), das Gesetz sei zwischen- durch u. zw. seit Moses hereingekommen und meint damit ganz richtig, dass es nicht ewig sondern historischen Ursprungs sei.

Erst die Einschränkung aber erzeugt, sobald sie verinnerlicht wird (das Gesetz in meinem Verstand), Angst und böses Gewissen: Denn einerseits nehmen die unterdrückten Triebe infolge der Auf- stauung der vegetativen Energie nun einen sadistischen und perversen Charakter an, den sie ursprünglich gar nicht besassen: Der ent- haltsame Jüngling z. B. phantasiert davon, alle Mädchen zu ver- gewaltigen, eine Phantasie, die sich dem sexuell befriedigten Menschen gar nicht aufdrängt. Diesen künstlich entstellten, von Reich so- genannten sekundären Trieben!) nachzugeben, erscheint aber in der Folge doppelt gefährlich. Und das umso mehr, wenn der ursprüng- liche Anlass der Triebeinschränkung nicht mehr erinnert werden kann, nach einem von der Psychoanalyse aufgedeckten Gesetz der Verdrängung verfällt und nur mehr als geheimnisvolle »Stimme des Gewissens« im Innern wirkt. »Die Sünde« ist nichts anderes, als der entstellte, mit schlechtem Gewissen belastete Triebanspruch in uns selbst. Doch diese Sünde ist unvermeidlich: Der aus biologisch be- dingter Energie gespeiste Triebanspruch (das Gesetz in meinen Gliedern) setzt sich immer wieder und wenn auch in noch so verstellter Form —- gegen das Gesetz im Verstand durch. Und erst die Vorstellung von der Gnade Christi, die die Kirche verkündigt, schafft dem bedrängten Gewissen wenigstens auf eine Zeit lang Ruhe.

Aber fragt man die Kirche nach einer genauen inhaltlichen Be- stimmung dessen, was Sünde ist, so wird man keine klare Antwort

1) vgl. Zeitschr. für polit. Psychol. u. Sexualök. 1935/3(7).

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erhalten.!) Die geläufige Antwort nämlich: »Verstoss gegen den in der heiligen Schrift geoffenbarten Willen Gottes« liefert uns völlig der Interpretation aus, die die IE, dieser sehr vieldeutigen Offenbarung jeweils geben.

Sehen wir uns diese Interpretation etwas näher an. Da steht auf der einen Seite die Aufgabe, das Evangelium der jeweiligen Klassen- moral anzupassen. Der Werktätige, der hungert und sich unterdrückt fühlt, soll auf politischen Kampf verzichten, gehorsam dem Wort: Seid untertan der Obrigkeit. Aus diesem Gehorsam heraus muss er im Fall eines Krieges auch zu den Waffen greifen; aber nicht nur aus Gehorsam sondern auch aus Liebe zu seinen Nächsten, die er mit der Waffe in der Hand gegen den bösen Feind beschützen muss (gilt natürlich nicht für den Klassenkampf!). Von hier aus rechtfertigt die Kirche auch. den Nationalismus, bejaht die. nationalen Werte« der Familie, der Heimat, des Volkstums. Und demjenigen, der sich in der so bestimmten Ordnung der Welt nicht zufrieden fühlt, ver- spricht sie das Gottesreich, das nicht von dieser Welt sei. In dieser Welt nämlich zieme dem Menschen Demut aber vor allem auch Keuschheit! Ausserehelicher Geschlechtsverkehr ist als »Hurerei« ebenso verpönt wie Onanie und wie im Bereich der katholischen Kirche Ehescheidung. Doch diesen Katechismus der bürgerlichen Moral versüsst das Christentum mit illusionärer Bejahung sozialisti- scher Wünsche und Sehnsüchte: Politischer Kampf ist zwar verboten aber es heisst trotzdem: »Wehe den Reichen«, »ein Kamel geht leichter durch ein Nadelöhr als ein Reicher durch die Pforte des Him- melreichs eingehe«. Der tatsächlichen Unterstützung aller Kriegsvorbe- reitung man denke nur an die aktive Rolle der Priesterschaft bei der Mobilisierung Abessiniens, um ein aktuelles Beispiel zu geben steht die Friedensbotschaft des Christentums gegenüber: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden«. Die Friedensschalmei bläst die Kirche immer dann sehr geschickt, wenn es nicht gefährlich ist. Trotzdem weiss sie der Massensehnsucht nach _ internationaler Verbrüderung entgegenzukommen: »Gehet hin und prediget allen Völkern« heisst es im Mathäusevangelium. Nur in den Fragen der Sexualethik hat die Kirche der Klassenmoral, die sie predigt, nichts entgegenzustellen, was wenigstens in der Illusion die Sexualität bejahen würde. Die Kirche kann niemals die Sexualität bejahen, sondern nur die Fortpflanzung.

Das Christentum, wie es die Kirche predigt, hat auf diese Weise eine ähnlich widerspruchsvolle Struktur wie der Nationalsozialismus. Die Durchsetzung der bürgerlichen Wirklichkeit wird erleichtert

1) Ein scharfsinniger Theologe (Bultmann in der Zeitschrift für neutestament- liche Wissenschaft, 1924) hat das Bestehen einer besonderen christlichen Ethik zum Schrecken weniger scharfsinniger Berufskollegen überhaupt geleugnet. Für den Christen bestehen keine andern ethischen Forderungen als für den Nichtchristen, nur stellt der Christ sie »unter Gottes Gehorsam, d. h. er fasst sie als Gottes Forderungen auf.

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durch Bejahung der sozialistischen Illusion. Und diese Bejahung ermöglicht der Kirche ein ungeheuer geschmeidiges Lavieren, sie vermag sich auf diese Weise bei einiger Geschicklichkeit stets als Anwalt der jeweiligen Massensehnsucht hinzustellen.

Doch kehren wir zu unserm Ausgangspunkt, der Sündenlehre zurück! Man könnte vielleicht meinen, die Verschwommenheit und innere Widersprüchlichkeit dessen, was »Sünde« inhaltlich sei, würde ihre Wirkungskraft beeinträchtigen! Aber gerade umgekehrt! Gerade diese Verschwommenheit bedingt die massenpsychologische Wirkungs- kraft des Sündenbegriffs. Von tausenden Kanzeln werden die Gläubigen jeden Sonntag angedonnert: »Die menschliche Natur ist von Geburt an verworfen und böse, ihr seid sündig!« Jeder kleine Mann kann sich zu dieser Melodie seinen eigenen Text machen: Denn sollte er sich etwa zufällig von »Sündex« frei fühlen, so wird ihm gesagt, dies sei ein Zeichen besondern Hochmüts, besonderer Verstocktheit. So wird er getrieben, in seinem Gewissen zu bohren und zu forschen, die an sich harmloseste Handlung, den von jeder Realisierbarkeit weit ent- fernten Tagtraum unter die Lupe zu nehmen: Schuldig ist ja bereits, wer die Frau des andern bloss mit begehrlichen Augen ansieht. Denn nicht nur das Tun, sondern auch schon das Wünschen ist verdam-

menswert, wenn es gegen das jeweils gesellschaftlich herrschende Gesetz verstösst. Und dieses Gesetz Paulus sagt es selbst ist in Wirklichkeit

undurchführbar. Zunächst ist es die Sünde der »sexuellen Begehrlich- keit«, mit der die Menschheit nicht fertig werden kann, der sich der biologisch bedingte Triebauspruch niemals völlig unterdrücken lässt. Haben aber die Christen ihre sexuellen Wünsche mit Unter- stützung der Kirche brav aus ihrem Bewusstsein verdrängt'), dann schwellen zum Ersatz andere Triebe mächtig an: Selbstsucht (»Nar- zissmus« um hier den Fachausdruck der Analyse zu nennen, der sich mit dem theologischen Begriff natürlich nicht ganz deckt), Angriffs- und Rauflust (vgl. eingesperrte Tiere), Sadismus. Aber sogleich ist die Kirche da und wettert gegen die Bösartigkeit und Eigenwilligkeit des Menschen: Und diesmal nicht ganz mit Unrecht. Nur erwähnt sie dabei nicht, dass es sich nun um Triebstrukturen handelt, die erst durch die Versagung künstlich geschaffen wurden. | Politisch wird damit wiederum erreicht, dass mit den irrationalen, in der Tat praktisch unbrauchbaren Regungen der Aggression und

1) »Die menschliche Selbstbeherrschung, ich spreche von der gemäss den grie- chischen Philosophen, fordert dazu auf, gegen die Begehrlichkeit zu kämpfen und ihr nicht hinsichtlich der Werke nachzugeben; unsere Selbstbeherrschung aber verlangt, überhaupt nicht zu begehren: Nicht dass jemand, der schon begehrt, standhaft sei, sondern dass man über das Begehren selbst Herr werde. Diese Enthaltsamkeit kann man auf keine andere Weise erhalten, als durch die Gnade Gottes.« (Clemens Alexandrinus, Stromateis, Buch II. Cap. 7). Diese Kirchenvaterstelle vom Ende des 2. Jahrhunderts zeigt sehr schön den Fortschritt von der äusserlichen Versagung zur Verdrängung, die die Klassen- gesellschaft historisch gesehn dem Christentum verdankt.

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des Selbstgefühls zusammen auch rational berechtigte Regungen der Kritik gegen die herrschende Gesellschaftsordnung der Verdammung durch. das mobilisierte böse Gewissen ausgeliefert werden. Für die Kirche aber wird damit erreicht, dass die Gläubigen von der unerfüll- baren Forderung ständig in Spannung gehalten werden. Immer wieder müssen sie letzten Endes bei der Kirche, bei der durch ihre Autorität verkündeten, in Christus geoffenbarten Sündenvergebung Trost und Beruhigung suchen: Was die Bindung an die Kirche stets wach erhält.

So werden die Kirchenfrommen zu treusten Befolgern der bürger- lichen Moral. Ihrem Respekt vor der Autorität, der kirchlichen wie der staatlichen, ihrer Gleichgültigkeit gegen das Fortbestehn sozialer Unterdrückung, ihrer feindlichen Einstellung gegen das kämpfende Proletariat entspricht subjektiv: Sexualscheu, durch ständige Übung im Sich-selbst-beherrschen entstandene Gehemmtheit, Angst vor dem »Chaos« der Revolution, die nichts anderes ist, als die Angst vor den »chaotischen Trieben« in ihnen selbst, die sie ständig niederhalten müssen.

Wo aber wird der letzte Grund zu dieser Haltung gelegt? Religions- unterricht und Sündenpredigt allein können nicht ausschlaggebend sein. Denn das Kind, das ihrer Einwirkung unterliegt, muss ein Stück Schuldgefühl und Angst vor den eigenen Trieben bereits vorher in sich tragen andernfalls wird ihm die ganze Religion mit ihrer Sünden- und Gnadenlehre fremd bleiben.

Bei der Beantwortung dieser Frage ergibt sich allerdings fol- gende Schwierigkeit: Während wir uns bisher auf Erfahrungen und Beobachtungen berufen haben, die die meisten Leser selbst machen können und z. T. auch gemacht haben, so müssen wir jetzt Beobach- tungen und Tatsachen heranziehen, die den meisten neu und fremd- artig erscheinen werden. Sie wurden an gesunden und kranken Men- schen gemacht, die wir in Analyse bekommen und wo durch ein besonderes Verfahren die Erinnerungssperre aufgehoben wird, die uns die Erlebnisse unserer frühen Kindheit verhüllt. Diese Beobach- tungen an erwachsenen Menschen sind in der Folge durch direkte Kinderbeobachtungen bestätigt worden.

Der beschriebenen Haltung des Erwachsenen liegt nach diesen Beobachtungen zu Grunde die Unterdrückung der freien und natür- lichen Lebensäusserungen des Kindes: Vor allem das Verbot der kindlichen Onanie und der gemeinsamen sexuellen Spiele der Kinder verbunden mit vorausgegangener zu strenger Reinlichkeits- und Ess- erziehung.

Das Önanieverbot kann in grober Form durchgeführt werden: Schläge, Festbinden der Hände, Drohung: Das Glied wird dir abge- schnitten. Oder in verhüllter Form: Spielen mit den Geschlechts- teilen, Schlafen mit den Händen unter der Bettdecke wird für unge- sund erklärt, es »schwächt«, Hände in die Hosentaschen stecken sieht nicht gut aus, ist ungezogen, etc.

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1. Ne zn . re b ey wen,

Das Verbot, das zunächst von aussen kam, wird in der Folge ver- innerlicht. Die Personen, Anlässe, bei denen es gegeben wurde, wer- den vergessen, aus dem Bewusstsein »verdrängt«, die meisten Erwach- senen können sich an die damit verbundenen Erlebnisse nicht oder bloss unvollkommen erinnern. Die Wirkung des Verbots aber bleibt als sexualablehnende Ideologie und als Sexualstörung bestehen.

Doch zusammen mit der Onanie werden auch eine Menge anderer natürlicher Lebensäusserungen der Kinder zerstört, die die Erziehung und Beaufsichtigung in dem Milieu der bürgerlichen Familie, so wie es nun einmal besteht, erschweren, die den Eltern Unbequemlichkei- ten machen würden. Ziel der Erziehung ist ja »das brave Kind«, das niemals in die Hosen macht, niemals nascht, aber auch niemals-etwas bei Tisch stehen lässt, das niemals ein unanständiges Wort sagt oder gar »so etwas« tut, das in Gegenwart Fremder nur spricht, wenn es gefragt wird, das mit andern Kindern nicht rauft, mit einem Wort: Den Eltern in allen Punkten gehorsam ist!).

Jede Unterdrückung einer freien Lebensäusserung erzeugt, wie die Erfahrung lehrt, Angst oder Wut bzw. oft eine gegen die eigene Person gekehrte Kombination von beiden, z. B. Verzweiflung. So ent- steht etwa aus dem Verbot der Onanie die Angst vor der Dunkelheit, die meist zur Onanie benutzt wurde, es kann sich auch eine allge- meine Ängstlichkeit entwickeln. Wut kommt zum Vorschein in Reiz- barkeit, Schreianfällen, Quälen von Tieren. Doch all diese Charakter- züge müssen dem Kind nun von neuem abgewöhnt werden.

Hier setzt nun die religiöse Erziehung ein. Dem von Änsgstlichkeit und Schuldgefühl gegen die Eltern erfüllten Kind erzählt man nun von einem besseren Vater, der zwar auch streng ist wie der Vater zuhause aber auch liebevoll was der Vater zuhause vielleicht nicht ist; der zwar alle Sünden sieht und niemand ist ohne Sün- den aber der zugleich seinen Sohn zur Vergebung der Sünden sendet: Und welchem Kind wird es nicht leicht fallen, zu diesem Sohn eine Beziehung zu finden (der ja auch seinerseits die Kinder lieb hat und zu sich kommen lässt) selbst wenn der Vater fern und unnahbar erscheint.

So führt die religiöse Erziehung das weiter, wozu schon vorher der Grund gelegt war. Sie erleichtert es dem Kinde, seine aggressiven Impulse im Sinne der christlichen Nächstenliebe durch Freundlich-

1) Freud erklärt in der »Zukunft einer Illusions die Religion folgendermassen (vgl. besonders S. 24 ff): Mit den Übermächten der Natur und des Schicksals wird der Mensch dadurch fertig, dass er auf eine ähnliche Situation in der Kindheit zurückgreift: Auf seine Hilflosigkeit den Eltern gegenüber. Aus der kindlichen Erinnerung an den Vater schafft er sich die Göttergestaiten, die er nicht nur fürchten muss, sondern an die er sich auch vertrauensvoll um Hilfe wenden kann. Freud fasst jedoch dabei eine Situation als absolut, die nur in der heutigen Gesellschaft besteht: Nur das »brave Kind« ist den Eltern gegenüber völlig hilflos, nur der sexuell gestörte, neurotische Erwach- sene, zu dem sich in der Folge das brave Kind entwickelt, flieht vor den Schlägen des Schicksals in die kindliche Situation den Eltern gegenüber zurück.

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keit und Dienstfertigkeit zu kompensieren, die von gesunden Menschen oft als süss und unecht empfunden wird; später wird ihm viel- leicht diese übergrosse Weichheit lästig. Vom jungen Mann verlangt man ein männliches Auftreten (vgl. das zu Beginn des Kapitels zi- tierte Flugblatt), mit dem nun die Weichheit künstlich überbaut wird u. s. w. So legt sich in der Entwicklung des Charakters Schicht auf Schicht: Bis wir den gehemmten, sexualscheuen jungen Mann aus dem christlichen Jünglingsverein vor uns haben, der in Hoch- achtung und Demut stirbt vor all den Personen, von denen die ent- scheidenden Versagungen und Verbote in seinem Leben ausgegangen sind: Er ehrt nicht nur Vater und Mutter, »auf dass er lang lebe und es ihm wohlergehe auf Erden«, sondern auch alle Personen, die ihre Stelle vertreten: Lehrer, staatliche Autoritäten, Gott.

Durch die Sexualablehnung, die ihm anerzogen ist, ist er vorbe- reitet zur Ablehnung alles Geschlechtsverkehrs, den diese Autoritäten nicht gut heissen. Er wird darum eine streng monogame Ehe eingehn und alle Kritik der Eheinstitution mit moralischer Entrüstung von sich weisen, bzw. den politischen Parteien seine Unterstützung geben, die diese Kritik unterdrücken. In seiner Ehe wird es ihm nicht so sehr auf die Befriedigung der von ihm sogenannten »tierischen Lust« als auf »seelische Kameradschaft« ankommen während der sexuell gesunde Mensch stets die Einheit von beidem erstrebt —, ferner auf Kinderzeugung. Und seine Kinder wird er nach denselben Prinzipien erziehen, nach denen er erzogen worden ist: Der Zirkel von Produk- tion und Reproduktion der bürgerlichen Struktur und Ideologie ist geschlossen.

Und zum Schluss noch als Entgegnung auf naheliegende Einwän- de: Wir wissen natürlich, dass unsere Darstellung der religiösen Entwicklung in keinem Punkt erschöpfend ist; dass je nach den individuellen Bedingungen auch Momente in der kindlichen Entwick- lung für die Bildung der religiösen Struktur wichtig werden, die wir nicht ausdrücklich genannt haben; dass andererseits gewisse Erschei- nungen des christlichen Lebens wie Demut, Askese, Liebe eine aus- führliche psychologische Analyse fordern, zu der auch schon zahl- reiche Arbeiten vorliegen. Eine solche Arbeit über die Religion würde aber ein eigenes Buch füllen. Wir haben uns darum begnügt, die wichtigsten Elemente der Verwurzelung der Religion an typischen Beispielen darzustellen: Sexualunterdrückung und Hemmung aller freien Lebensäusserungen, Schuldgefühl und Angst, »Ersatzvaterg, Beruhigung des Schuldgefühls durch die Sündenvergebung, charak- terliche Verarbeitung der gehemmten und umgeformten Triebimpulse. Doch noch bleibt eine wichtige Frage übrig: Die Religion legt dem Menschen eine grosse Menge Einschränkungen auf. Das tun aber in gleicher Weise, mit inhaltlich fast den gleichen Forderungen auch Moral, Recht, ferner bestimmte politische Bewegungen, wie der Faschismus. |

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Jedes menschliche Wesen strebt aber nach Angstvermeidung und nach Lusterhöhung. Es wird sich also diese Einschränkungen nicht gefallen lassen, wenn ihm dafür nicht etwas anderes als Ersatz ge- boten wird. Was ist aber dieses Andere und was bietet die Religion im besondern für Ersatzbefriedigungen? (ein nicht sehr glückliches Wort, da wirkliche Befriedigung, wie wir sehen werden, nicht erreicht wird.)

4. Religion als „Erlösung”

Moral, Recht, Faschismus, Religion regeln das Leben des Menschen autoritär, rechtfertigen politisch gesehn Ehe, Staat, überhaupt die bestehende Gesellschaft. Aber was bieten sie dem Menschen noch ausserdem? x |

Das Recht garantiert demjenigen, der die Gesetze befolgt, Straf- freiheit, Ungestörtheit durch den Eingriff der staatlichen Autorität. Die Moral bietet ihm »das gute Gewissen«, das »ein sanftes Ruhe- kissen ist«, den Lohn, den »die gute Tat in sich selbst trägt«; die kleinbürgerlich-banale Spruchweisheit, in die sich diese Moral fassen lässt, verweist unmittelbar auf die Schicht, in der sie am meisten verbreitet ist.

Der Faschismus gibt seinen Bansnoden Ehrgefühl, Rassen- und Nationalstolz, politische Macht und Achtung und vor allem Aner- kennung durch den Führer. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich, wie wenig die Definition, die Schleiermacher von der Religion gab (»schlechthinnige Abhängigkeit vom Absoluten«) für diese spezi- fisch ist, d. h. etwas trifft, das sie von andern Erscheinungen unter- scheidet. Denn auch der an einen Führer gebundene ist von ihm als von etwas Absolutem schlechthin abhängig. Ebenso ist Freuds Erklärung der Religion als wiederkehrende Vaterbindung (vgl. An- merkung S. 82) zwar an sich richtig aber nicht spezifisch. Denn auch der faschistische Führer spielt im Empfinden des an ihn Gebundenen Vaterrolle (vgl. dazu im einzelnen Reich, Massenpsychologie).

In der Religion erlebt jedoch der Gläubige die Bindung an Gott, den Lohn für seinen Gehorsam und sein Vertrauen auf eine ganz be- sondere Weise. Und diese besondere Form des Erlebens unterschei- det die Religion von verwandten Erscheinungen, gibt uns die natur- 'wissenschaftliche Formel für das eigentlich »Religiöse der Religion«.

Wir verdanken diese Formel dem norwegischen Religionspsycho- logen Ola Raknes, auf dessen Ausführungen wir uns im Folgenden weitgehend stützen. Sein ausgezeichnetes Buch »Mötet med det heilage« (Begegnung mit dem Heiligen) ist leider nur in norwegi- schem Landsmaal erschienen und darum dem nicht norwegischen Leser nur schwer zugänglich t).

Eine fremde, jenseitige Macht, Gott, bricht eleichaun in sein Be- 'wusstsein plötzlich ein. Er fühlt sich von ihr entweder bloss in un- bestimmter Weise gehoben und getragen, er fühlt ihre Macht im Sa-

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krament der Sündenvergebung, er hört als Prophet oder religiös Entrückter unmittelbar ihre Stimme, er erlebt als Mystiker unmittel- bar die Vereinigung mit ihr. So, wenn Paulus davon spricht, dass er in Christus und Christus in ihm sei, wenn katholische Nonnen sich als »Bräute Christi« bezeichnen.

Wir können auf Grund unserer Erfahrungen nicht an das wirk- liche Bestehen solcher überirdischer Mächte ausser uns glauben, können darum auch den Theologen nicht beistimmen, die von einem besonderen religiösen Sinn im Menschen reden, dessen Fehlen es unmöglich mache, über religiöse Dinge mitzureden. Wir müssen uns die Sache vielmehr folgendermassen erklären.

Im gewöhnlichen Leben werden in unserer Gesellschaft bestimmte Vorstellungen aus dem Bewusstsein verdrängt, die dazugehörige Ener- gie in krampfhaften Körper- und Charakterhaltungen gebunden. Im Zustand religiöser Erregung, »Erbauung« brechen diese Kräfte plötz- lich in unser Bewusstsein ein: Aber nicht so, dass sogleich eine dauernde organische Verschmelzung stattfände. Der Einbruch _ ge- schieht vielmehr bloss an einer Stelle, wie durch ein Loch, das sich nachher wieder schliesst. Und die Kräfte brechen endlich nicht als das ein, was sie wirklich sind, sondern sie werden in einer Form bewusst, auf die das Bewusstsein vorbereitet ist: So wie die hysteri- sche Frau im geheimnisvollen Knacken der Tür den Mann vermutet, der sie vergewaltigen will, der Geizhals den Dieb, der Liebende die Geliebte, der von Gläubigern verfolgte den Gerichtsvollzieher: So ge- winnen diese übermächtigen Kräfte für den Religiösen, der von ihrem Einbruch überwältigt wird, die Gestalt der Mächte, denen er als Kind ebenso hilflos gegenüberstand, bei denen er aber auch umgekehrt in den äusseren Nöten des Lebens Schutz finden konnte: Es sind das

die Eltern, insbesondere der Vater.

1) Raknes geht in seinem Buch von den geläufigen wissenschaftlichen Definitio- nen der Religion aus und zeigt, dass sie unspezifisch sind, d. h. auch andere Erscheinungen als die religiösen umfassen, während die theologische Auffas- sung der Religion als etwas ganz Besonderem, das dem areligiösen wissen- schaftlichen Denken unzugänglich sei, aufhöre, wissenschaftlich zu sein. Um aus dieser doppelten Schwierigkeit einen Ausweg zu finden, greift er auf die Entstehung der’ Religion in den uns bekannten primitiven Gesellschaften zurück und fragt: Was sind es für Erlebnisse, die ein profanes Ding, einen profanen Menschen in diesen Gesellschaften zu einem heiligen machen? Als typische Erlebnisse dieser Art findet er die extatischen Erlebnisse. Er geht nun unter Heranziehung eines reichen ethnologischen, religionsgeschichtlichen und psychopathologischen Materials der Frage nach, wie diese Extasen aus- sehen, findet dabei eine erstaunliche formale Ähnlichkeit trotz verschie- denster kultureller Bedingungen und Inhalte. Dabei zeigt sich, dass extatische Erlebnisse auch in den Religionen der sogenannten Kulturvölker in mehr oder minder ausgesprägter Form eine entscheidende Rolle spielen. Zum Schluss versucht Raknes im Anschluss an ethnologische Berichte eine Dar- stellung, wie im allgemeinen bei den*allerprimitivsten Völkern Extasen zu stande kommen; denn dies ist ja für das Zustandekommen aller religiösen »Tradition« von entscheidender Bedeutung. Er zeigt, wie die Vorstellungen, die dabei eine Rolle spielen (Totemtier, -pflanze) mit dem Kampf um aus- reichende Nahrungsversorgung zusammenhängen, geht aber auf die Trieb- dynamik, die dabei massgebend ist, nicht ein.

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Dieses plötzliche Einbrechen unbewusster Kräfte ins Bewusstsein: kennen wir in seiner ausgeprägtesten Form als Extase (Extasis griech. —= Ausser- sich- sein). Raknes hat in seinem Buch vor allem für die primitiven Gesellschaften gezeigt, wie am Ursprung der Religion stets extatische Erlebnisse stehen. Sie sind es, oder die ihnen sehr ver- wandten Träume die ein vorher gewöhnliches, profanes Tier oder auch ein Ding, einen Menschen zu einem heiligen machen. Das Tier wird zum Totemtier, der Stein, die Pflanze zur Totempflanze dessen, dem es in der Extase, im extatischen Traum als solches er- scheint, der Mensch wird durch die Entrückung zum Priester, zum Medizinmann.

Die Primitiven konnten sich solche Erlebnisse nur aus Einwir- kung höherer Mächte erklären, während wir neben dieser in der re- ligiösen Sphäre fortlebenden »Erklärung« auch über andere, natur- wissenschaftliche Erklärungen verfügen t).

Doch wir wollen uns hier nicht weiter mit der Extase bei den Primitiven befassen, so wichtig dies auch für die Erforschung des. Ursprungs der Religion sein mag, sondern uns an Beispiele halten, die dem religiösen Leben der Gegenwart näher liegen.

Die heilige Theresa, eine spanische Mystikerin des 16ten Jahrhun- derts, deren Schriften bis zum heutigen Tag grossen Einfluss auf die Gestaltung des religiösen Lebens in der katholischen Kirche ausüben, beschreibt ihre extatischen Erlebnisse folgendermassen (Oeuvres completes, trad. nouv., Paris 1907, I., S. 147 ff, zitiert nach Raknes >.122 23

»Theresa spricht in ihrer Selbstbiographie von 4 Graden der ÖOration (my- stische Vereinigung mit Gott) und vergleicht sie mit 4 Arten, einen Garten zu bewässern. »Zuerst kann man mit Mühe und Anstrengung Wasser aus einem. Brunnen schöpfen. Dann kann man eine Standpumpe mit Ausguss gebrauchen, die man mit einem Schwengel in Gang setzt und diese Methode habe ich selbst oft gebraucht: Sie ist minder anstrengend und man bekommt mehr Wasser. Wei- ter kann man Wasser aus einem Bach oder einem Teich hereinleiten; die Be- wässerung ist dann besser, die Erde wird bis in grössere Tiefe feucht, man muss: nicht so oft giessen und der Gärtner hat nicht annähernd so schwere Arbeit. mehr. Die vierte Art ist ein reichlicher Regen, und das ist die ohne Vergleich beste Art, denn dann ist es der Herr selbst, der wässert, ohne irgendwelche Arbeit von unserer Seite.«

Das »Pumpen« in den ersten Stadien geschieht durch Konzentra- tion der Aufmerksamkeit auf Jesus Christus und sein Leben.

1) Ohne Zweifel hängt die Vorstellung von einer höhern Kraft, die in der Extase in der Gestalt des Totems ins Bewusstsein einbricht, mit der Angst der Primitiven vor den unbewältigten Naturkräften, mit ihrer Angst vor Nah- rungssorgen zusammen; Totemtiere sind oft bevorzugte Nahrungstiere. Aber der Umstand, dass sich die Primitiven bei den festlichen Totemmahlzeiten manchmal die Hoden des Tiers zu den extatischen Tänzen umbinden, ihre Vorstellung, sich die Kraft des Tiers dabei einzuverleiben, endlich die Ver-

bindung dieser Feste mit Pubertätsriten, Beschneidung deutet so ergänzen wir Raknes daraufhin, dass unterdrückte sexuelle Kräfte bei der Entstehung der extatischen Riten eine wichtige Rolle spielen. Die genauere Erforschung der Bedingungen der Extase bei den Primitiven muss jedoch künftiger For- schung vorbehalten bleiben.

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»Wir kommen nun »zum rinnenden Wasser, oder Bach oder Quelle. Man ‚hat noch die volle Mühe, es zu leiten, doch die Wässerung ist viel weniger er- ‚müdend.« Dies dritte Stadium ist »ein Schlaf der Seelenkräfte, ein Zustand, da sie nicht völlig verschwunden sind, aber dennoch nicht wissen, wie sie wirken ... Man könnte es vergleichen mit jemand, der schon mit dem geweihten Wachslicht in der Hand jeden Augenblick den Tod erwartet, ihn erwartet mit brennender Sehnsucht. In diesen letzten Atemzügen ist die Seele überflutet von unsäglicher Freude. Nach meiner Meinung heisst das, fast ganz dieser Welt abzusterben und schon die Gemeinschaft mit Gott zu geniessen. Ich finde keine anderen Worte, um es zu sagen und ich weiss nicht, wie ich es anschaulich machen soll. Im übrigen weiss ja auch die Seele selbst nicht, was sie tun soll. Soll sie reden, soll sie weinen? Sie weiss es nicht. Es ist eine strahlende Wüste, ein himmli- sches Von- sich-sein, das einen das wahre Wissen lehrt. Es ist für die Seele ein unendlich seliges Geniessen... Die Seelenkräfte sind fast ganz vereinigt mit Gott, obwohl sie noch nicht so in ihn eingetaucht sind, dass sie nicht mehr arbeiten... Der Willen ist ganz damit einverstanden, dass die Gnade auf diese Weise über die Seele hereinströmt... In den verschiedenen Orationen, die aus dieser dritten Be- wässerungsart kommen —. und dies ist Quellwasser hat die Seele solches Glück und solchen Frieden, dass der Körper deutlich an ihrem Glück und ihrer Seligkeit teilnimmt.«

...Die vierte Stufe nennt Theresa »Vereinigungsoration«. In den früheren Zu- ständen wusste man noch von sich, aber hier »weiss man nichts mehr; man ge- niesst bloss ohne zu wissen, was man geniesst... Alle Sinne sind so aufgesogen in diesem Genuss, dass keiner von ihnen frei ist, sich mit etwas anderem abzu- geben, sei es nun das Äussere oder das Innere... Der Körper ist ohnmächtig und die Seele ist unfähig, das Glück vorauszusehn, das sie geniesst... Zu Beginn kam dieses Wasser vom Himmel fast immer nach einem innerlichen Gebet... Während ‚die Seele auf diese Weise ihren Gott sucht, fühlt sie mit starkem und süssem Empfinden, dass sie das Meiste nicht weiss. Der Atem steht stille, die Körper- kräfte versinken, so dass man nicht einmal die Hände ausstrecken kann, ohne dass

«es weh tut...... Nach meiner Meinung dauert es niemals lang, dass’ auf diese Weise alle

Seelenkräfte zugleich stille stehn... Ich sage es noch einmal: Dies, dass die Kräfte ganz untätig sind, dass auch die Phantasie nicht arbeitet denn meiner Meinung nach ist auch die Phantasie unwirksam das dauert niemals lange.

...Wir kommen nun zu den innersten Empfindungen der Seele in diesem "Zustand... Ich für meinen Teil halte es für unmöglich, etwas davon zu wissen oder gar, von ihnen zu sprechen. Da ich mich nun zum Schreiben setzte, fragte ich mich, was die Seele da macht; es war nach dem Altargang und ich kam eben. aus dem Orationszustand, von dem ich spreche. Da sagte mir Unser Herr ‚diese Worte: Du wirst aufgezehrt, meine Tochter, von einem Drang, tiefer in mich .einzudringen. Es ist nicht mehr länger sie, die lebt, ich bin es, der in ihr lebt.«

Aus der Analyse zahlreicher Extasen findet Raknes, dass typisch ‚dabei sind: Plötzlichkeit, Passivität, Erkenntnisgefühl verbunden mit Unaussprechlichkeit des Erkannten, gewisse Allgemeinempfindungen, kurze Dauer, Gefühl der Erleichterung, Bereicherung nachher. Wir können noch von uns aus hinzufügen: Bestimmte willkürliche Vorbe- reitungen, Übungen etc. die aber von einem bestimmten Augenblick ‚an anfangen, in einen unwilkürlichen Prozess überzugehen.

Nun erlebt ganz gewiss der Durchschnittschrist die Extase nicht in der gleichen Form und Stärke, wie der Mystiker und Heilige. Aber zu der Schilderung der heiligen Theresa gibt es Punkt für Punkt Pa- rallelen im Leben des frommen Menschen. »Andacht« wird durch

bestimmte äussere Veranstaltungen dunkler Kirchenraum, Hän- defalten, Musik bewusst gefördert, doch ohne dass in der Folge

‚die religiöse Ergriffenheit »über einen kommt«, ist alles äussere Tun

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leer und unbefriedigend. Doch wenn das geschieht, dann hat der Gläubige ein fast körperliches Glücksgefühl, das er aber ebensowenig, wie die heilige Theresa in Worte fassen kann. Die Unmöglichkeit, über dieses Innerste zu sprechen, macht ja auch so oft den Diskus- sionen zwischen Freidenkern und Religiösen ein Ende. Der Fromme

hat das Gefühl, etwas zu wissen, was der Andere nicht weiss, und doch

kann er es nicht aussprechen: »Den Weisen ist es ein Geheimnis, den Toren ist es offenbar geworden« (Paulus).

Was ist es aber, das in der »mystischen Erhebung« durchbricht? Das Gefühl der Vereinigung mit dem göttlichen Vater, sagt die heilige Theresa. Das übermächtige Gefühl von seiner Liebe und Gnade der Sündenvergebung sagen Luther und die frommen Protestanten !).

Woher aber bezieht dieser Durchbruch seine ungeheure gefühls- mässige Energie? Hier werden wir uns der Tatsache erinnern, dass. es sich bei allen Religiösen um sexualablehnende, bei den typischen Mystikern sogar um streng asketisch lebende Menschen handelt. _

Doch wenn wir nun mit unsern Darlegungen weiter fortfahren, so müssen wir uns wieder die Schwierigkeit klar machen, die der unvorbereitete Leser haben wird, ihnen zu folgen. Denn während die Tatsachen, auf die wir uns bisher berufen haben, jedermann zugäng- lich und verständlich sind, müssen wir in der Folge wiederum Er-

fahrungen heranziehen, die der charakteranalytischen Klinik ent-

stammen. Für die Leser, die diesen Erfahrungen kein Vertrauen schenken und das wird. gewiss die Mehrzahl sein können wir nur mittels der erstaunlichen Parallelen zwischen den religiösen und gewissen physiologischen Phänomenen einen Wahrscheinlichkeits- beweis liefern. Der Wert dieser Parallelen wird allerdings dadurch erhöht, dass Raknes seine Phänomenologie der Extase aufstellte, ehe er von Psychoanalyse, geschweige denn von der sexualökonomischen Orgasmuslehre die geringste Kenntnis hatte. | |

Dafür aber, dass es sich um sexuelle Energie handelt, die in der Extase allerdings in verhüllter Form durchbricht, dafür spricht die ungeheure Ähnlichkeit. der Extase mit dem Höhepunkt des sexuellen Erlebens, dem Orgasmus.

Hier wie dort gehen willkürliche Vorbereitungen, Muskelbewe- gungen in einem bestimmten Augenblick in unwillkürliche über, hier wie dort wird der entscheidende Höhepunkt plötzlich ansteigend und kurz dauernd in passiver Hingegebenheit erlebt. Hier wie dort ist er mit allgemeiner Erregung und mit bestimmten Körpersensationen verbunden (Gefühl des Strömens, Stocken des Atems), jede Ablen-

1) Harald und Christian Schjelderup haben in ihrem Buch Ȇber drei Haupt-

typen der religiösen Erlebnisfermen und ihre psychologische Grundlage .

(Berlin 1932) gezeigt, dass auch die Gestalt der Mutter, die Erinnerung an den Zustand phantasierter kindlicher Allmacht im religiösen Erleben die zentrale Rolle spielen können. Sie beschäftigen sich dabei jedoch nicht mit der extatischen Form des religiösen Erlebnisses. Eingehen auf die dort auf- geworfenen Probleme würde hier zu weit führen.

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kung durch äussere Vorgänge wird als störend und schmerzhaft emp- funden, hier wie dort stellt auch die Phantasie im Augenblick höch- ster Erregung ihre Tätigkeit ein, Phantasien während des Akts sind Zeichen einer Störung. Kurz vorher hat man das Gefühl des Eindrin- gens und Durchdrungenwerdens, während das Gefühl der eigenen Per- sönlichkeit sich auflöst (vgl. die letzten Sätze im Bericht der Hlg. Theresa). Im Akt selbst ist der Mensch ein Stück Natur geworden, die Empfindungen dabei sind darum nahezu unaussprechlich und es hat eingehender klinischer Beobachtung bedurft, um die Orgasmus- phänomenologie auch nur so weit auszuarbeiten, wie wir heute damit gekommen sind.

Doch die sexuelle Energie kann im sexualverneinenden religiösen Menschen nicht als solche durchbrechen, sie kann auch nicht in der einzig wirklich natürlichen Form als Erregung und Entspannung am Genitale abgeführt werden. An Stelle dessen tritt die phanta- sierte Vereinigung mit einem Bild des Vaters (oder der Mutter). Die Psychoanalyse hat entdeckt, dass der unbewusste Wunsch nach sexueller Vereinigung mit den Eltern u. zw. in heterosexueller und homosexueller Form bei fast allen Menschen unserer Kultur vorhan- den ist, die Sexualökonomie hat gezeigt, wie er durch die Hemmung der genitalen Befriedigung jedoch ungeheuer an Energie gewinnt.

Mit der phantasierten Vereinigung in der religiösen Extase müs- sen allerdings auch gewisse körperliche Vorgänge Hand in Hand gehen, die mit der körperlichen Erschütterung und Entlastung im sexuellen Orgasmus eine Ähnlichkeit haben: Denn in beiden Fällen berichten die Betreffenden von Körpersensationen, aber auch von dem Gefühl von Befreiung, Erleichterung, unaussprechlichen Glücks nachher). Doch wissen wir über die körperliche Grundlage der religiösen Extase noch weniger als über die des Orgasmus, nämlich gar nichts. Doch die Minderwertigkeit der »extatischen« Befriedigung gegenüber der orgastischen beweist die Angst, mit der diese Befriedigung selbst bei der heiligen Theresa verbunden ist und die beim orgastisch po- tenten gesunden Menschen natürlich fehlt?). Diese Angst spielt bei andern Mystikern und Propheten aber auch bei den gewöhnlichen Gläubigen eine entscheidende, oft das ganze Leben beherrschende und

wir können ruhig sagen vergiftende Rolle. Der religiöse »Orgasmus« -

ist darum teuer bezahlt. Er schwindet aber zusammen mit aller religiösen Bindung sogleich, wenn wir bei einem religiösen Men- schen in der Analyse die Fähigkeit zum wirklichen Orgasmus her- stellen: Und das selbst dann, wenn über Religion in der Analyse gar

1) Hier hat wohl auch »das ozeanische Gefühl« seinen Platz, das Romain Rol- land, unserer Meinung nach mit Recht, als ein Grundphänomen der Religion ansieht. Freud hat Rollands Auffassung im »Unbehagen in der Kultur« ab- gelehnt.

2) Während sie beim Neurotiker gerade im Zusammenhang mit dem Orgasmus auftritt, ebenso die Vorstellung vom Sterben (=sich im Orgasmus auflösen). Vgl. »Psychischer Kontakt und vegetative Strömung« von W. Reich.

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nicht gesprochen wurde. Dies ist ein weiterer klinischer Beweis für unsere Religionstheorie.

Zusammenfassend können wir sagen: Die Kraft, mit der die Men- schen an der Religion festhalten ganz abgesehen davon, dass die religiöse Ideologie von der herrschenden Klasse als gesellschaftlich herrschende Ideologie propagiert und durchgesetzt wird —- leitet sich aus zwei Quellen ab: Einerseits ist es die illusionäre Bejahung gewisser sozialistischer Ziele in der religiösen Moral doch diesen Zug teilt das Christentum mit andern Institutionen z. B. dem Faschismus. Weit wichtiger aber ist die Form des Gotteserlebnisses selbst, das den Menschen von gewissen quälenden Spannungen erlöst, die die Reli- gion »hinter seinem Rücken«, d. h. in diesem Fall durch die sexual- unterdrückende Erziehung selbst verursacht hat.

Dabei liefert die Sexualunterdrückung die Energie, die Bindung an den Vater (eventuell auch die Mutter) den Inhalt, der orgastische Erregungsablauf die Form des religiösen Erlebnisses.

So gleicht die Kirche auf sexualökonomischem Gebiet dem Kapi- talisten, der der Arbeiterklasse den Mehrwert, den er aus ihr gepresst hat, zum kleinen Teil in Form von Almosen wiedergibt. Wenn die Arbeiterklasse es gelernt haben wird, sich nicht mit Almosen zu be- gnügen, sondern aufs Ganze zu gehn, dann wird für den Kapitalisten ebensowenig Platz in der Gesellschaft sein wie für den Priester.

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VI. Die deutsche Glaubensbewegung

1. Der äussere Tatbestand

Die germanischen Religionsbewegungen sind in den letzten Jahren in Deutschland aus dem Boden geschossen, wie Pilze nach einem Regen. Von einem deutsch-arisch revidierten Christentum bis zur Erneuerung des Wotanskults sind alle Schattierungen vertreten. Einig sind sie, sich in der Ablehnung des Judentums und dementsprechend des alten Testaments. Um nur einige zu nennen: Von den deutschen Christen hat sich die »deutsche Glaubensfront« unter Krauses Führung abgespalten, die wiederum erbittert bekämpft wird von Arthur Dinters »deutscher Volkskirche«e. Rein heidnisch sind Ludendorffs Anhänger, die sich um seine Zeitschrift »Am heiligen Quell deutscher Kraft« sammeln, ferner die aus der deutschen Glaubensbewegung (DG) ab- gespaltene nordische Glaubensbewegung. Doch all diese Gruppen und Grüppcehen, die mit der Geste des Propheten gegeneinander losziehen, kommen nicht an Bedeutung der DG gleich; mit ihr allein werden wir uns darum im Folgenden beschäftigen.

Sie ist aus verschiedenen andern nordisch-religiösen Gruppeu ım Jahre 1933 hervorgegangen und steht unter der Führung des Tübinger Professors für Indologie und Religionsgeschichte Wilhelm Hauer, der bereits vor der »nationalen Revolution« als Führer des jugendbewegten Köngener Bundes und des inzwischen verbotenen Bundes freireligiöser Gemeinden eine bedeutende Rolle spielte; sein Stellvertreter ist der Herausgeber des »Reichswart«, Graf Reventlow. Die Bewegun;z ıst straff organisiert, hat ständig sich vermehrende Ortsgruppen über ganz Deutschland hin; genaue Mitgliederzahlen sind nicht zu erhalten, die ' Schätzungen schwanken zwischen mehreren Hunderttausend und 2 Millionen.

2. Verschiedene Auffassungen

Das Emporwachsen einer nichtchristlichen Religionsbewegung in Europa ruft bei vielen Menschen ein ungeheures Befremden hervor. Für die einen ist Religion so mit der Vorstellung »in grauer Vorzeit entstanden unter unfasslichen Bedingungen« verknüpft, dass sie

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nicht verstehen wollen, wie dgl. in unserer »aufgeklärten« Zeit mög- lich sei: Eine Einstellung, in der sich ebenso unbewusste Bindung an den christlichen Offenbarungsbegriff verbergen kann, wie mangeln- des Verständnis für die psychische Realität und Gegenwärtigkeit einer Religion.

Andere sehen mit Schrecken, dass sich mitten im christlichen Europa auf einmal eine heidnische Insel bildet. Doch diese Christen müssten sich von ihrem Standpunkt aus eigentlich auch darüber freuen können, dass damit die so unendlich oberflächliche und am äussern Schein haftende Vorstellung von der »christlich-abendländi- schen« Kultur als einem festen Besitz einen kräftigen Stoss erleidet; dass das Christentum damit aufhört, der »geographische Begriff« zu sein, über den schon Kierkegaard spottete und dass es mit der Existenz religiöser Nichtchristen zur Selbstbesinnung gerufen wird.

Andere endlich fassen das Neuheidentum als groteske Wotansan- beterei und stellen es in Parallele mit andern »Absonderlichkeiten« des Nationalsozialismus, wie der Judenfresserei und dem Führerkult. Aber nichts ist verkehrter und letzten Endes auch unmarxistischer, als die Einstellung des überlegenen Spötters gegenüber einer Be- wegung, die Millionen ergreift; das brächte übrigens eine blosse Wotansanbeterei auch niemals fertig. Unsere Aufgabe ist es, sie in ihrer materiellen Grundlage d. h. vom wirklichen Leben der wirk- lichen Menschen her zu verstehen. Dabei gehen wir in gewohnter Weise vom ersten, oberflächlichsten Eindruck aus, den wir von der Ideologie des Neuheidentums empfangen.

3. Die „oberste Schicht”: Wogende Pathetik

»Jetzt sind die heiligen Nächte. Draussen stehen die Bäume feierlich, schwei- gend. Der Mond ist unsichtbar hinter der grauen Wolkendecke; aber eine seltsame Helle liegt über der Landschaft. Man erkennt das Einzelne wohl, aber das nächt- liche Licht verbindet alles zu dem einen Ganzen. Man wird selbst ein Teil dieses Einen, fühlt sich in der Gemeinschaft geheimer Mächte, hört ein Raunen in der Seele, als ob die Ahnen wach geworden wären, uns uralte Kunde zu bringen zu neuem Glauben und Schaffen.

a (Das Volk) wartet des neuen Gottesjahres, in dem sein Seelentum sich entfaltet unter dem Einfluss einer anderen als der angestammten Glaubenswelt... Des Volkes Wille zum Reich findet Erfüllung und Begründung erst in einem neuen Glauben ...... Deutscher Glaube und heroische Haltung, für die Kampf und Tragik Selbstverständlichkeit ist, gehören eng zusammen ... Glaubenswelt aus indo- germanischem Blut und Geist ... Willensstarkes Jasagen zur letzten Wirklichkeit.

Meister Ekkehart ... seine Meinung zusammengefasst: »Ein guter Mensch soll seinen Willen so dem göttlichen Willen gleichbilden, dass er will, was Gott will. Wenn daher Gott will, dass ich irgendwie gesündigt habe, dürfte ich nicht wollen, die Sünde nicht begangen zu haben. Das ist wahre Busse« ...... Dieselbe Erkenntnis von dem Jenseits von Gut und Böse Gottes, wie in dem OBEN Werke Nietzsches ......

.Geht der deutsche Mensch , mit heimlich-glücklich leuchtenden Augen, geheimnisvolle Gedanken ...... eigen aus den dunklen Schächten seines Blutes ...... verborgener Grund alles Seins ...... stehen vor dem Unfassbaren ...... ewiger Rhyth- mus dieses Lebens, der auf- und abwogt in ewigkeitstiefen Schöpfungswellen. Urkraft schöpferischen Lebens ....... der Rasse des Blutes, des Bodens ....... aus Sinnen und Sehnen Gott fühlen ....... erzählt tausend Geheimnisse ern ein un-

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entrinnbares Auf und Ab, Auftauchen und Wiedersinken ...... ein Fluten ....... e eine Wellenbewegung. ...... « | (Aus DG1 1934, H. 1—3. Hervorhebungen vom Ref.)

Ungefähr die Hälfte der DG-Literatur ist in diesem Stil ge- schrieben. Würden wir im Leben einem Menschen begegnen, der so spricht und denkt, so würden wir sagen: »Ist der aber unecht, auf- geblasen, langweilig!« Wäre aber wirklich echte Leidenschaft hinter seinen Worten zu spüren, dann würden wir sagen, dass sich hinter diesem geschraubt vornehmen und grossartigem Ton etwas anderes verbergen muss: Neben der hohen Meinung von sich selbst vielleicht eine tiefe Unsicherheit, wohl auch der Wunsch etwas Echtes auszu- sprechen, das inmitten der Konventionalität des bürgerlichen Alltags, seiner maskenhaften Gefühllosigkeit ebensowenig Platz findet wie im konventionellen Religionsbetrieb der Kirchen. Etwas vom kleinen Mann liegt darin, der sich gern in vornehmen, »tiefsinnigen« Kate- gorien ausdrücken will, und darum tönende Worte ohne tiefen Sinn aneinanderreiht; aber auch etwas von echter Leidenschaft, die-hoch über der kalten Besserwisserei mancher Intellektueller steht.

Jene »Vornehmheit« kommt auch in der steten Betonung zum Aus- druck, die DG übe wie alle echt arische Religiosität Toleranz, achte die religiöse Überzeugung jedes Andersgläubigen. Man zitiert dazu ein vornehmer Mann hat vornehme Ahnen sowohl Aussprüche alt- indischer Kaiser wie Friedrichs des Grossen: »In meinem Land kann jeder nach seiner Fagon selig werden«. Ohne hier auf die geschicht- lichen Voraussetzungen der Toleranz einzugehn bei Friedrich dem _ Grossen hängt sie wohl weniger mit seiner arischen Abstammung als mit der im dritten Reich verpönten Aufklärung zusammen müssen wir sagen: »Die sogenannte Toleranz der DG ist einfach nicht echt«. Zwischenrufer in Hauerversammlungen werden genauso hinausge- prügelt wie in andern Naziversammlungen. Und neben der »vorneh- men« Zeitschrift »Deutscher Glaube« gibt es ein weniger vornehmes Kampfblatt »Der Blitz«, das gegen BK und KK noch schärfere Töne findet, als Göring und Frick. Als ein Beispiel der DG-Toleranz zitieren wir daraus das folgende Gedicht:

Trotz alledem!

Ob ihr mit Lügengiften Wir gehen unsre Wege

Uns meuchlings morden wollt, Mit deutschem Männerschritt Ob es von Priesterzorne Und nehmen Euch die Schäflein In allen Tempeln grollt, ° Aus Euren Tempeln mit!

Ihr könnt uns nicht besiegen Wer hemmet die Lawinen,

Mit Weihrauch und Geschrei. Wenn sie zu Tale ziehn?

Euch retten weder Sprüchlein, Wer kann die Blumen hindern, Noch Judenzauberei. In ihrer Art zu blühn?

Willi Schäfer.

4. Äggressivität

Schon im tiefsinnigen Reden verbirgt sich eine ungeheuer hohe

Selbsteinschätzung, hinter der »Toleranz« steht die wütendste Aggres-:

a RE a Een >

sion. Sie zeigt sich in der fieberhaften Organisations- und Versamm- lungstätigkeit (man lese bloss den Versammlungskalender im Reichs- wart) verbunden mit einer militärischen Disziplin. Man vergleiche folgende

»Anordnung der Führung:

1. Allen Gliederungen ist es untersagt, von sich aus Flugblätter im Namen der ADG zu veröffentlichen und zu vertreiben. Entwürfe sind zur Genehmigung bei dem Vorsitzenden der Geschäftsstelle vorzulegen.«

deren Sprache zur wogenden Pathetik der sonstigen Äusserungen in seltsamem Gegensatz steht.

Werin so aggressiver Weise das Geschrei von allen Dächern organi- siert, dass der christliche Nachbar in der Stadt nichts mehr zu suchen habe denn das ist doch der Sinn der Rede, das Christentum sei den Germanen nicht artgemäss kann nicht gut hingehn und sagen, dass er diesem Nachbarn im übrigen nicht zu nahe treten wolle, sondern seine Überzeugung durchaus achte.

Auch die Ideale, die die DG dabei als Vorbilder anführt, Ketzer und Rebellen aus 15 Jahrhunderten, zeugen von dieser Aggressivität: aber gerade in jener Heldenverehrung liegt wiederum etwas Unechtes

Be Krampfhaftes: Die meisten wirklichen Helden redeten wenig vom heldischen Gedanken, sondern traten in einer schwierigen, ja hoff- nungslosen Situation für die Sache ein, die sie als richtig erkannt hatten. Wenn die DG mit der Duldung, ja dem Wohlwollen des na- tionalsozialistischen Staats den Kampf gegen das Christentum auf- nimmt, so möge sie sich nicht auf Widukind oder Giordano Bruno berufen, die ihre Sache unter etwas schwierigeren Umständen ver- traten. Bruno endete auf ‘dem Scheiterhaufen, Graf Reventlow, dem einmal (im März 1934) in seinem Reichswart ein sozialistischer Ar- tikel durchrutschte, gab eine feige Loyalitätserklärung ab, während der Verfasser des Artikels ins Konzentrationslager kam. Das ist das Heldentum in der Theorie und in der Praxis.

5. Die zentrale Vorstellung der DG

Was ist nun der Inhalt des neuen Glaubens, der mit so viel unechtem -Pathos und echter Leidenschaft, solcher Geschäftigkeit und solchem Draufgängertum verkündet wird? Hauer formuliert ihn einmal (DGl 1934, 2) so:

»Ergriffenwerden von einer letzten Wirklichkeit, die alles trägt, das Hinein- bezogenwerden in die schaffende Gemeinschaft mit dem Ewigen und das tapfere und vertrauensvolle Jasagen zu seinen Forderungen an uns. Dies kann man von jedem echten Glauben sagen, aber jeder Glaube hat seine eigene Form. Diese entspringt aus einem bestimmten Seelentum, das seine Wurzeln in der rassischen Anlage hat.

Dies »Seelentum« wird etwas später (S. 55) gefasst als

»der religiöse Urwille des deutschen Volkes, der sich in den grossen Kündern und Gestaltern deutschen Wesens und Lebens geoffenbart hat ... Es gibt für uns

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keine höhere Offenbarung der ewigen Wirklichkeit, als die im deutschen Raum und aus der deutschen Seele.<

Wir sehen: Ein Etwas, das uns ergreift, das gleichsam aus einer andern Welt in uns einbricht; es das typisch. religiöse Erleben, wie wir es im vorigen Kapitel beschrieben. Und darum ist die DG eine wirklich religiöse Bewegung, trotz des Einspruchs mancher christ- licher Theologen. Ganz nach Art der. christlichen Mystiker suchen die DG-Leute für. dieses Etwas beständig nach Worten, ohne ihr Erleben jemals genau erfassen zu können. Allerdings läuft »das Unsagbare« Gefahr, sich aus dem Ausdruck für etwas Echtes in die Phrase gespielten Tiefsinns zu verwandeln. Die Formlosigkeit, die Ablehnung aller gedanklichen Fixierung wird teilweise aus dem Prötest gegen die kirchliche Dogmatik geboren selbst zu etwas Starrem, wenn sie Programm wird.

Endlich ist dies Unsagbare im Gegensatz zum Christengott etwas Unpersönliches: »Letzte Wirklichkeit«, »religiöser Urwilles, »Gott- heit« (nach einer Formulierung von Ekkehard im Gegensatz zum persönlichen Gott).

Doch ein starkes Empfinden knüpft sich nicht an leere Abstrak- tionen. »Das ewig Wirkliche kann gar nicht mit dem entweder-oder von bewusst oder unbewusst, persönlich oder unpersönlich be- schrieben werden, das sind Begriffe aus dem menschlichen Bereich. Göttliches Sein hat beides in sich und offenbart sich deshalb auf beiderlei Art.x (Hauer in DGI 1934, H. 10, S. 445).

Die religiöse Macht, die ins Bewusstsein einbricht, ist aber nicht nur als etwas Abstraktes, Jenseitiges, Überirdisches gesetzt, wie im Christentum, sondern zugleich als solches in der Diesseitigkeit, im Gefühl der Einheit von ich und Welt, ich und Natur, ich und Volk aufgehoben. Dieses von einem Gefühl des Strömens, der Hingabe begleitete Gefühl der Einheit ist etwas, das wir als Revolutionäre durchaus bejahen können. Es ist die Einstellung des innerlich ge- lösten, von Sexualhemmungen völlig befreiten, unmetaphysisehen und amoralischen Menschen, der sich jedoch gleichzeitig in die Gesell- schaft einzugliedern vermag, in die heutige Klassengesellschaft, die auf Triebunterdrückung aufgebaut ist, allerdings nur mit revolutio- närem Protest. Wir glauben nicht, dass die DG-Leute in Wirklich- keit zu solcher Lebenshaltung fähig sind, dass vielmehr Hauer bloss ihre Sehnsucht danach ausspricht. Und diese Sehnsucht äussert sich ja in der Ideologie der DG auch nicht rein sonst müsste sie sexual- bejahend sein, was sie nicht ist sondern in mystifizierter Weise.

Die Mystifikation liegt im Inhalt, mit dem diese Wirklichkeit erfüllt wird: Volk nicht als ein in Herrschende und Unterdrückte‘ gespaltenes, dessen »Gemeinschaft« nicht schon verwirklicht sondern durch die Aufhebung der Unterdrückung erst zu schaffen ist. Trieb- hafte, oder wie die Sexualökonomie sagt vegetative Sehnsucht nicht als Sehnsucht nach Sexualbefriedigung sondern als Rauschen des

arischen Blutes. | 85

Sie liegt in der Form, in der diese »Wirklichkeit« eben doch als fremde Macht erlebt und so aus einer wirklichen Wirklichkeit doch wieder zu einem »Mythus« entwürdigt wird. Es müssen also

Bindungen vorhanden sein, die ein wirkliches Strömen der vegeta-.

tiven Kräfte verhindern. Ein Aufsatz: »Treue als Kernpunkt deutscher Glaubensunter- weisung« von Friedrich Solger (DGl 1934, H. 12) führt uns weiter:

»Wo liegt im Kinde der Kern, den wir zum Wachsen zu bringen haben, damit es fähig werde, ein Leben starken und echten Glaubens zu führen?

Das Grunderlebnis nun nenne ich so: Das Kind fühlt, dass es in einer Welt der Treue lebt ....... Die Gegebenheit der Muttertreue entzündet das Glaubens- leben des Kindes ....... Das Wesen des Glaubens geht aus jener Urform des Glaubens im Kinde hervor ....... Im engsten Kreis, im Elternhause, mögen Liebe und Treue so eng miteinander verbunden sein, dass es zwecklos wäre, sie von einander sondern zu wollen ...... Treue bedeutet immer das Wahren einer Ver- bundenheit, die aus der Vergangenheit mit uns geht. Treue fordert immer letzthin Artverbundenheit.«

Hier enthüllt der göttliche Urgrund sein menschliches Geheimnis!

Es ist die Gestalt der Mutter, wie sie in der bürgerlichen Familie das Kind an sich bindet, wobei die Unterdrückung der genitalen Sexualität die Bindung verewigt und vor allem mit Schuldgefühl belastet (denn das Kind darf ja nicht, wie es gern möchte die Mutter sexuell be- gehren).‘) Und all die symbolisch-mystischen Ausdrucksformen die die DG für das Göttliche findet, erweisen sich durch die Bank als weibliche bzw. Muttersymbole: Ob es nun der unsichtbare Magnetberg ist, der das Schiff an sich zieht (Reventlow »Wo ist Gott?« S. 399), ob es der Urgrund alles Seienden ist, aus dessen »ewigem Grund ... die Welt und alles Lebendige als eine Formwerdung göttlicher Ge- staltungskräfte geboren ...« wird (Hauer, DGl 1934, 10), oder ob es die über allen griechischen Göttern waltende Ananke ist, in der Hauer nordischen Glauben verkörpert sieht: All das ist genau so Ausdruck für die Liebesbindung an die Mutter wie die Hingabe an die Natur, das romantische Naturgefühl, das die DG pflegt (vgl. dazu den ersten Teil des Zitats S. 82 er stammt von Hauer!) ?2) Und es passt gut zu diesem Bild, wenn Reventlow in seinem Buch ın der Kraft, die uns zu dieser verborgenen Mutter treibt, den platonischen Eros wiederfindet. Aber warum wird die Mutterbindung hinter diesen unpersönlichen Symbolen verborgen? Einerseits drücken sich die vegetativen Kräfte, die gehemmt sind, gern in Bildern von etwas 1) Den Beweis für diese Behauptungen kann meistens nicht die Selbstbeobachtung

liefern, da all diese Regungen später der Verdrängung verfallen, söndern nur die klinischen Beobachtungen der Analyse.

2) In diesem Zusammenhang scheint es nicht gleichgültig, dass Hauer Indologe ist, dass seine Bekehrung vom Christentum zur »arischen Religion« erfolgte, als er’in Indien als Missionar tätig war. Denn gerade in der indischen Religon ist die Mutterverehrung, die Anbetung der Göttin Kali, weit verbreitet.

Christian und Harald Schjelderup haben in ihrem oben erwähnten Buch die religiöse Mutterverehrung an klinischen Beispielen gezeigt, und daran auch den Zusammenhang der Schwärmerei für die »Mutter Natur« mit der Bindung an die wirkliche Mutter nachgewiesen. Als religonsgeschichtliches Beispiel dazu bringen sie die Geschichte des indischen Heiligen Ramakrischna.

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Grossem, Verschwommenem, Unerreichbarem aus. Das Gefühl der Ferne, Unerreichbarkeit, des Geheimnisvollen entspricht der unmit- telbaren Wahrnehmung, dass die vegetative Sehnsucht des sexuell gestörten Menschen nie wirklich befriedigt werden kann. Ferner spricht sich aber darin wohl ebenso die Skepsis des naturwissen- schaftlich gebildeten modernen Menschen aus, dem eine zu massive Gottesvorstellung unerträglich ist, wie der Stolz des patriarchalisch erzogenen Mannes, der sich wohl einem männlichen Gott unterwerfen kann, nicht aber einer Göttin.!)

6. Wie wirkt sich die religiöse Mutterbindung aus?

a) Sündenlehre und Moral.

Die aktive, »heldische« Lebenseinstellung, das Gefühl des Ge- borgenseins bei einer unpersönlichen Mutter führt zur schärfsten Ablehnung der christlichen Sündenlehre;?) diese ist ja, wie wir oben sahen, nur sinnvoll, wenn sexuelle und aggressive Regungen gleich- mässig gebrochen worden sind. Doch der aggressive »Held« kann sich nicht dauernd seiner Aggression schämen und sich zerschlagen und sündig fühlen. Er weiss zwar von Schuld, aber auch von ihrer Sühnung durch die Tat (um diesen banalen Tatbestand in der pathetischen Sprache der DG auszudrücken).

Der religiös stärker an die Mutter gebundene Mann kann auch nicht die Sehnsucht nach der Frau in gleichem Masse als gefährlich, erniedrigend, sündig ausehn, wie der von der Angst vor dem rächenden

Vater beherrschte Christ.?)

1) Bei dieser Gelegenheit können wir den Unterschied der sexualökonomischen und der ökonomistisch-marxistischen bzw. der psychanalytischen Betrach- tungsweise zeigen. Der ökonomistische Marxist würde sich damit begnügen, die Ideologie der DG als Mystifikation im Interesse der herrschenden Klasse zu entlarven, der Psychoanalytiker, sie als Mutterbindung symbolisch zu deuten und auf kindliche Erlebnisse (Ödipuskomplex) zurückzuführen. Die Sexualökonomie zeigt die Einheit von aktuellem, gegenwärtigem Triebimpuls und seiner Formung, Bestimmtheit durch Bindungen aus der Vergangenheit; sie zeigt die Einheit von Gesundem, Revolutionären und Krankem, Reaktio- närem. In dieser Einheit schlagen die Gegensätze ineinander um, sie ist eine

dialektische.

2) Wohl ist die Mutterbindung auch in die christliche Lehre einbezogen als Marienverehrung. Doch diese trägt im Gegensatz zur im ganzen weltzuge- wandt-aktiven Haltung der DG einen schwärmerischpassiven Charakter. Im Zusammenhang damit vergesse man auch nicht, dass die DG in protestanti- schen Gegenden, wo die Kirche der »Muttersehnsucht« keine Rechnung trägt, mehr Anhang findet, als in katholischen. Hauer ist nicht umsonst ursprüng- licher protestantischer Theologe.

3) Wenn wir die Sache aus der Perspektive des kleinen Jungen zu sehn ver- suchen, die ja der Erwachsene unbewusst mit sich trägt, so könnten wir uns die Sache so vorstellen: Der kleine Junge, der vor allem den Vater fürchtet und auch liebt, verletzt mit jeder Liebesregung der Mutter gegenüber in seiner Vorstellung die väterlichen Rechte. Der bloss bzw. stärker an die Mutter gebundene darf sich mehr erlauben: Natürlich keine genitalen Regungen. Auch historisch ist die Sündenlehre mit der Vorstellung von Gottes Zorn verknüpft: Man lese nur das erste und zweite Kapitel des Römerbriefs, dessen siebentes die oben zitierte klassische Formulierung der Sündenlehre enthält.

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In dieser Sehnsucht wird allerdings letzten Endes nur die Fort- pflanzung und liebende -Fürsorge bejaht (die Frau als Mutter), nicht die genitale Sexualität. Doch auch schon das ist mit der Vorstellung von der Sündigkeit des Fleisches unverträglich.

Was die Auffassung von der Moral betrifft, so ist das Kapitel über germanisch-deutsche Sittlichkeit in Hauers Buch »Deutsche Gottschau« lehrreich. Auf der einen Seite wird die landläufige bürger- liche Moral in nationalsozialistischer Prägung einfach übernommen: Eigentum, Staat, Krieg, Pflicht und Ehre werden mit Leidenschaft bejaht. In dieser Aufzählung fehlt die Ehe. Statt dessen heisst es:

»Die Zeugekraft ist heiliges Gut. Die Ehrfurcht vor ihr schützt den Menschen davor, sie nichtsnutzig zu gebrauchen und in seichter Lust auszuleben.«

Das ist im Vergleich zu den soliden Formulierungen der Kirche reichlich vieldeutig. Aber zudem möchte Hauer all diese Forderungen nicht nach Art eines »Moralsystems traditioneller Herkunft« durch- gesetzt haben. »Gut und böse kann nicht in Formeln für alle Zeit gefangen werden: es wird im ständigen Werden neu erspürt.« Also statt der moralischen Regulierung eine Art Selbstregulierung natürlich aus dem Bewusstsein der »Artung« heraus. Dabei ist dann zum Schluss

‚»Gut ..... das, was dem höchsten Wollen des Volkes entspricht, nicht gut, was diesem Wollen zuwiderläuft.«

Hier ahnt Hauer etwas, was allerdings erst der materiell und sexuell befreite Mensch in einer sozialistischen Gesellschaft wird ver- wirklichen können, der keine »sekundären Triebe«x mehr nieder- zuhalten braucht (zum Begriff vgl. oben S. 68): Nämlich die Ersetzung der moralischen Regelung menschlichen Lebens durch die Selbststeuerung.

b) Stellung zur Frau und zum Geschlechtsleben.

»Eine der schlimmsten Verfälschungen, die sich gerade auf dem Glaubens- gebiete verheerend ausgewirkt hat, ist die Vermorgenländerung der Frau im Nor- den. Während sie nordisch Kamerad und Gehilfe des Mannes ist und Mann und Weib erst durch das Beieinander und Miteinander eine Ganzheit bedeuten, von der jeder Teil trotz seiner Verschiedenheit vom anderen gleich wertvoll ist: ...... ist sie vorderasiatisch etwas Heiliges nur inbezug auf den Mann, dem sie gehört, im übrigen aber das »böse Fleisch«, das dem »guten Geist« des Mannes wider- streitet ...... Und wüstenländisch ist sie die »Ware«, für die es einen möglichst hohen Preis zu erzielen gilt ...... Nicht einen Wert an sich hat sie, sondern nur als Besitzstück des Mannes. Sie hat, wenn sie ausgewachsen ist und also ihren Wert als Ware ‚erreicht hat, keine Entfaltungsmöglichkeit, keine Möglichkeit, aus sich selbst heraus sich im Laufe des Lebens zu entwickeln.< (Friedrich Prinz zur Lippe: »Rasse und Glaube«, Vortrag, gehalten auf der Arbeitswoche der Deut- schen Glaubensbewegung in Scharzfeld am 20. Mai 1934, Seite 27.)

Diese Hochschätzung der Frau tritt allerdings in Widerspruch zu der vom Nationalsozialismus proklamierten gesteigerten Unter- drückung der Frau, zu seiner mehr oder minder offen ausgespro-

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chenen Parole: »Heraus mit der Frau aus dem Erwerbsleben, zurück hinter den Kochtopf !«,; zur Ausschaltung der Frau aus Berufsleben und Hochschulstudium, zu ihrer Degradierung zur Haushalts- und Gebärmaschine; denn das ist der wirkliche Sinn der Phrase, die Frau solle ihrem wahren Beruf als Hausfrau und Mutter wiedergegeben werden. Es ist kein Zufall, dass gerade die der heidnisch-religiösen Bewegung nahestehende Zeitschrift »Die deutsche Kämpferin« im Namen des nordischen Frauenideals scharf gegen diese »jüdisch- orientalische Erniedrigung der Frau« protestiert hat, dass sie die Ausschaltung der Frau aus dem Berufsleben ebenso angriff wie die Wiedereröffnung von _Bordellen in Hamburg und im Rheinland.

Dennoch ist die Hochschätzung der Frau in der DG nicht von Sexualbejahung bestimmt sondern bloss von der Bejahung der Frau als Mutter (was ja der religiösen Zentralvorstellung entspricht) und dementsprechend von einer Bejahung der Fortpflanzung. Allerdings einer so radikalen Bejahung der Fortpflanzung, dass man sich aabei sogar über die bürgerliche Ehe hinaussetzen kann. Dabei berührt sich die DG mit den Bestrebungen mancher nationalsozialistischer Staats- politiker,-die unehelichen Kinder den ehelichen gleichzustellen. Doch es scheint ein Gefühl dafür vorhanden zu sein, dass man auch hier noch nicht stehen bleiben kann, wenn man sich erst einmal auf dieses Gebiet eingelassen hat. Ein schönes Beispiel dafür ist Hauers Aufsatz über »Liebe und Ehe aus letzter Verantwortung« (abgedruckt in »Deutsche Gottschau« S. 258 ff.): er ist voll von Widersprüchen.

Die christliche Sexualideologie wird abgelehnt:

»In diese Weltzukehr aus Glauben gehört auch die Umwertung im Bereich der Liebe und Ehe. Der Makel des Sündhaften und Geistwidrigen, das dem

Geschlechtlichen seit dem Einbruch der christlichen Weit in unsern Bereich an- haftet, ist weggenommen.«

Aber sogleich bekommt der idealistische Kulturphilosoph Angst.

»Während aber eine bestimmte Geistesrichtung das Geschlechtliche seines Tabus beraubte, ohne desssen Tiefe zu erahnen und es so der lusttauben Profani- sierung preisgab, wodurch es zu einer Armseligkeit erniedrigt oder zu einem zer- störenden Fieber gesteigert wurde, haben wirklich Lebendige den heiligen, den Ewigkeitscharakter der irdischen Liebe in allen ihren Beziehungen erschaut.«

Würde Hauer damit bloss meinen, dass die blosse Bejahung der sinnlichen, körperlichen Geschlechtsbeziehung bei Unfähigkeit zur zärtlichen ebensowenig sexuell gesund sei wie die moralische Ge- hemmtheit, so könnten wir mit ihm einig sein. Aber er meint etwas anderes.

»Jeder Trieb trägt in sich das Muss zur Verantwortung. In ihm ruht ein

abgründiger Wille, so im Geschlechtstrieb der Wille zum Kind. Wer diesen Willen verneint, versündigt sich am Willen der Natur. Sie aber wird sich rächen.«

Hauer belastet hier den Trieb mit einer moralisch begründeten Zweckvorstellung. Interessant ist es, wie er diese moralische Ver- fälschung des: Triebbegriffs etwas später rationalisiert: |

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»Das tiefste Glück, die letzte Vollendung der Umarmung bleibt versagt, wenn die Hingabe nicht restlos, frei von Überlegung und Vorsichten geschehen darf.«

Richtig! Aber das ist, wenn man kein Kind wünscht, nur dann der Fall sobald man über die Technik der Empfängnisverhütung nicht genügend Bescheid weiss, was aber von einem Indologen auch nicht ohne weiteres zu erwarten ist.

Auf der andern Seite hat aber Hauer eine ganz richtige Auf- fassung vom Wesen der geschlechtlichen Vereinigung.

»Ich glaube nicht, dass man den Sinn der Liebe voll trifft, wenn man sagt, der Sinn der Vereinigung sei nur das Kind ....... Ist nicht vielmehr das Ver- schmelzen zweier Wesen, abgesehn vom Kinde, das entsteht, ein im höchsten Sinne schöpferischer Vorgang, der an und für sich gewertet werden darf? ....... Die Tiefe dieser Liebesvereinigung wird verhüllt, wenn man den Zweck zu ihrem Zentrum macht. Sie ist Sein und Geschehen im eigenen Rhythmus. Und wahrhaft Liebende geben sich absichtslos diesem Sein hin.«

Darum will Hauer auch die uneheliche Verbindung nicht nach Art der Kirche und der bürgerlichen Moral verbieten.

»An und für sich, von der Liebe aus gesehn, hat niemand ein Recht, Liebenden die Liebesvereinigung zu versagen. Eine schroffe und nach unserer Ansicht sehr äusserlich gefasste religiöse Ordnung bestimmt, dass Menschen, die nicht geehlicht sind, sich nicht körperlich vereinigen dürfen, auch wenn sie einander lieben, dass das unehliche Kind etwas Gottwidriges sei. Und die Öffentliche Meinung des anständigen Bürgers, ja auch weithin die Haltung des Staates, die sich in seinen Gesetzen ausdrückt, steht durchaus auf der Seite dieses Urteils. Dagegen müssen wir uns aus unserer Haltung wehren.«

Aber zugleich muss auch »ein starker Wille zur sittlichen Verant- wortung« vorhanden sein, es muss sich um »reife Menschen« handeln, und »wer die Vereinigung in der Liebe bejaht, der müsste reif sein für das Kind«e. Wozu von unserm Standpunkt zu sagen wäre: Auch

wir wissen, dass besonders bei der Auflösung der traditionellen Moral _ Roheiten und Rücksichtslosigkeiten in der Beziehung der Geschlechter vorkommen können. Aber wir suchen ihnen nicht mit der Moral- pauke, nicht mit Begriffen, wie Reife und Verantwortungsbewusst- sein beizukommen, sondern die psychologischen Ursachen, die Praxis der gesamten sexualverneinenden Erziehung zu erkennen, die solchem Verhalten zu Grunde liegen. Und was das Kinderzeugen betrifft, so meinen wir, dass gesunde Menschen eine natürliche Freude an Kindern haben und sich welche anschaffen werden, wenn sie öko- nomisch dazu in der Lage sind: Dass man aber keinen wie immer gearteten moralischen Druck in dieser Hinsicht ausüben darf, so wie Hauer es tut. |

Und die Ursachen der ganzen Misere? Richtig sieht Hauer, dass unsere Liebes- und Ehenot letzten 'Endes in der Liebesunfähigkeit wurzelt, in der Hemmung vieler Menschen, einander wirklich hin-

zugeben. Aber er erwartet Abhilfe von »einer völligen Erneuerung

‚aus tiefsten Kräften«, statt nach den gesellschaftlichen und psycho- logischen Ursachen dieser Liebsunfähigkeit zu suchen, und sie in

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einer Erziehung zu finden, die nicht nur das sexuelle Leben der Kinder unterdrückt (von dem Hauer natürlich nichts weiss), sondern das sexuelle Leben der Menschen überhaupt erst mit dem 20.923. Jahr beginnen lässt. Vorher sei der Mensch nämlich nicht reif. Da sei Enthaltsamkeit geboten und zwar schon aus physiologischen Gründen,

da die Kräfte des Zeugungsorgans nötig seien zum Aufbau des Körpers, und en für gewöhnlich dieser Prozess für den Mann nicht vor dem 23. und für das Mädchen nicht vor dem 18.—20. Jahr abgeschlossen sei. (Was natürlich rein medizinisch gesehn Unsinn ist. Gesund ist allein ein möglichst befriedigendes Ge- schlechtsleben von Kindheit an, mit voller geschlechtlicher Vereinigung vom zeugungsfähigen Alter angefangen, der Ref.)

Wir haben dieses Erziehungssystem mit Hauers eigenen Worten beschrieben, der es voll bejaht.

Doch die Massen strömen zur DG, weil sie dort etwas vermuten, was an ihre Sehnsucht nach Triebbejahung anklingt. Vgl. den Bericht über Hauers Sportpalastrede (nach »Basler Nachrichten« 27./28.

Mai 1935).

»Für die DG sei die Ehe der Ausdruck der heiligen Liebe zwischen Mann und

Weib, die nicht erst in eine besondere Heiligkeit hineingetaucht werden müsse. ‚Hier gab es besonders starken Beifall, denn das sind Dinge, die eine Zuhörerschaft im Sportpalast am leichtesten begreift.«

ce) Schicksalsglauben. | Der Ablehnung der Sündenlehre für das persönliche Leben ent-

spricht der Übergang von der Vorstellung eines göttlichen Weltregi-

ments zum Schicksalsglauben. In der Familie unserer Gesellschaft übt der Vater durch seine Be-

rufsarbeit und durch seine Anweisungen und Anschauungen einen

mehr bewussten Einfluss auf die Kinder aus, während die Mutter mehr unpersönlich, durch ihre gefühlsmässige Einstellung, durch ihr

ganzes Wesen, die »Atmosphäre«, die von ihr ausgeht, das Schicksal

der Kinder bestimmt (Ursache: Stärkere Unterdrückung der Frau, die die Entwicklung ihres Denkens und bewussten Wollens be-

hindert). Im Glauben, in der Hingabe an ein unpersönliches Schicksal

finden wir also die religiöse Mutterbindung wieder. Praktisch kann dieser Schicksalsglaube mancherlei bedeuten. Wir heben heraus: Amoralische Hingabe an den Drang in unserm Innern:

»Nur wer wirklich in seinem innersten Wesen flutet und bewegt wird, wer also aus dem Unbewussten heraus lebt, steht dem Schicksal nahe.« (DGl 1935,

3. 11.)

Oder auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die Aussenwelt,

bzw. die reaktionäre Herabsetzung der Tatsachen des gesellschaft-

lichen und wirtschaftlichen Lebens zu einer Wirklichkeit zweiten

‚Ranges:

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»Alles, was den Menschen nur in seiner äusseren Existenz betrifft, in seinem: materiellen Sein, was er also an den ausgesprochen mechanischen Funktionen und Verflechtungen des Gesellschaftsapparates tut, oder was diese an ihm tun, ist noch kein Schicksal, sondern bestenfalls Geschick, kein wirkliches Geschehn sondern nur ...... Ereignis.<« (DGl 1935, S. 11.)

Er kann ein »Gefühl unendlicher Geborgenheit in dem gewaltigen Getriebe des Daseins« (Hauer DGl 1935, 9) bedeuten, d. h. unmittel- barer Ausdruck der religiösen Mutterbindung sein. Er kann zur kritiklosen Bejahung der bestehenden Verhältnisse werden, was na- türlich Aktivität im Rahmen dieser Verhältnisse nicht aus sondern geradezu einschliesst. Das ist der politische Sinn, des von der DG gepredigten »Gläubigen Jasagens<«. »Wir stellen uns der Welt wie sie ist, nicht wie wir sie erträumen« umschreibt Hauer an anderer Stelle den Schicksalsglauben und meint mit Erträumen wohl nichts. Anderes, als das revolutionäre Verändern.

d) Blut- und Rassenlehre.

Reich hat in seiner Massenpsychologie gezeigt, was der national- sozialistischen Vorstellung von der Höherwertigkeit der nordischen und ihrer »Vergiftung« durch die minderwertige jüdische Rasse vor- wiegend zu Grunde liegt:

»Die Weltanschauung von der »Seelex und ihrer »Reinheit« ist die Welt- anschauung der Asexualität, der sexuellen Reinheit, also im Grunde eine Er- scheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft. bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu.«< (Massenpsychologie S. 129.)

Die historische Entwicklung, die mit dem scheinbar »rein ökono- misch« erklärbaren Boykott jüdischer Geschäfte begann und mit dem immer stärkeren Hervortreten der Streicherschen Pornographie und der Judengesetzgebung vom September 1935 vorläufig abgeschlossen ist, haben ihm gegenüber dem Ökonomismus in allen Punkten Recht gegeben.

In unserm Zusammenhang interessiert es uns, welche besondere: Rolle die Rassenlehre in der DG spielt. Es zeigt sich dabei, dass: weniger die Judenfresserei oder die Phantasie vom blondhaarigen, blauäugigen, langschädligen nordischen Edelmenschen im Vorder- srund steht, sondern mehr die Vorstellung der Artverbundenheit, der- rassischen Geprägtheit und Bedingtheit des »religiösen Urwillens«.!)

1) Wenn dazu das Goethewort von der »geprägten Form, die lebend sich ent-- wickelt und keine Zeit und keine Macht zerstückelt«, zitiert wird, so tut man damit Goethe, dem Kosmopoliten, sehr unrecht, der dabei nur an die yan-- geborne Kraft und Eigenheit« des Individuums dachte (wie er selbst sagt), dem aber der Gedanke an einen besondern Wert der rassischen Reinheit. ganz fern lag. Überhaupt fällt es der DG natürlich leicht, aus der deutschen und europäischen Geschichte Ahnen für ihre »heldische Haltung«e, für ihre- unpersönliche Gottesvorstellung und Protest gegen das kirchliche Christentum zu beschwören; es würde zu weit führen im einzelnen auf diese »Ahnen-- macherei« einzupehen! Denn »Ahnenmacherei« kann man es insofern nennen,, als das wesentlichste Stück, die Vorstellung von der rassischen Bedingtheit.. bei all diesen Vorläufern fehlt.

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Die Artverbundenheit ist die Heiligkeit des Blutes.

De in ihm rinnt das Wollen und Schaffen der Ahnen ....... heilige Schauer ergreifen uns bei dieser Betrachtung; eine tiefe Ehrfurcht zwingt uns, die Ahnen in uns zu ehren, sie die gegenwärtig sind, uns zu lenken und zu richten. Eine strenge Liebe bindet uns an jene lange Reihe derer, denen wir durch Blut ver- bunden sind ........ das Blut im tiefsten Sinn gefasst, die tragende Urgewalt des Lebens.« (Hauer, Deutsche Gottschau S. 45.)

Hier erweist sich die Rassenlehre als eine neue Seite der Mutter- bindung. Die Beziehung der »Artverbundenheit« zur Mutterbinuung haben wir schon oben festgestellt. In diesem Zusammenhang erin- nern wir uns auch der Göbbelsschen Sätze (zit. Massenpsychologie

5.98):

»Wenn jemand Deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt, sagst Du dann auch: »Danke schön! Er ist auch ein Mensch!?« Das ist kein Mensch, das ist ein Unmensch'! Wieviel schlimmeres hat der Jude unserer Mutter Deutschland angetan und tut es ihr heute noch an!«

Und die Behauptung, dass wohl. sdie Angehörigen eines rassischen Bereichs in der Gedankenwelt eines andern unterzutauchen ver- mögen«, dass dies aber »nicht ohne Gefahr und schwersten Schaden geschieht«x (Hauer, DGl. 1934, H. 9, S. 393) ist rational sinnlos, aber verständlich, wenn wir uns den kleinen Jungen’ vorstellen, der mit krankhafter Zärtlichkeit an seiner Mutter hängt und sich hinter ihre Schürze verkriecht, wenn ein Fremder in’s Zimmer kommt. Doch jene Zärtlichkeit des kleinen Jungen ist gemischt mit Schuldgefühl (das, wie wir aus den Analysen wissen, daraus stammt, das der Junge alle Hassregungen die er etwa gegen die Mutter hatte, unterdrücken musste). So wird aus der natürlichen Beziehung auf einmal eine pflichtbetonte, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, die an sich eine Naturgegebenheit ohne besondern Wertakzent ist, wird zur »heiligen Verpflichtung«. Auf den unterdrückt sexuellen Charakter dieser Bindung weist aber der Gebrauch des Blutsymbols hin. Das Gefühl des roten, heissen, strömenden Bluts klingt an orgastische Empfindungen an.

Hauer gibt, wenn auch verblümt, den irrationalen Charakter der ganzen Blut-Rassenlehre zu. Die Resultate der Rassenforschung beruhen »mehr auf einer intuitiven Zusammenschau, als auf blossen Schlussfolgerungen. Es gehört zu dieser Forschung eine innewoh- nende Urteilskraft, die mit dem Gegenstand eng verwandt ist.« (Gottschau S. 50) Ferner meint Hauer, dass in jedem Menschen »rassische Urelemente schlummern aus einer Zeit, als die Rasse, der er angehörte noch eingebettet war in die früheren Formen der Menschheit. Denn die Rasse ist nicht fertig aus dem Boden ge- sprungen oder vom Himmel gefallen. Sie ist geworden in Jahrtau- senden und Jahrzehntausenden.« |

Aus diesen Überresten aus einer rassischen Urzeit erklärt Hauer in der Folge den erstaunlichen Erfolg der Neger- und Jazzmusik kurz

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nach dem Krieg (!). Für die Möncherei des Mittelalters wird die vorgeschichtliche Verwandtschaft der dinarischen Rasse mit der vorderasiastischen, der ostischen mit der orientalischen verantwort- lich gemacht. Wenn man auf diesem Weg weitergeht, kann man mit Hilfe der Rassentheorie auch den Marxismus als eine urdeutsche Erscheinung erklären; denn zur Hälfte handle es sich um Gedanken des Ariers Hegel, in denen der Jude Marx »untergetaucht« sei, die andere Hälfte falle auf die vorgeschichtliche Verwandtschaft ete. Wir können an diesem Beispiel sehn, wie die Rassenlehre einem immerhin klugen Kopf, wie Hauer, zu einem »Geheim Verwickelten« wird (wie er sagf), um das sich primitivere Gemüter, wie Streicher, wenig scheren dürften. Sie lauft Gefahr, sich in ein Nichts aufzulösen, wenn man nicht, wie Hauer zum Schluss die Überlegenheit und Vorbildlichkeit der nordischen Rasse einfach dekretiert (Gottschau S. 52-53).

In der Rassenlehre liegt übrigens auch ein Quell für die un- bedingte Bejahung der Vermehrung der »Art«, mit der man »ver- bunden« ist selbst über die Schranken bürgerlicher Ehemoral hinaus.

7. Soziale Zuordnung

In der DG ist wie im Nationalsozialismus überhaupt subjektiv Revolutionäres und Reaktionäres 'gemischt: Revolutionär ist der Drang nach Echtheit des Empfindens, die von allen angelernten Glaubenssätzen und -phrasen wieder zu ursprünglichem Erleben drängt, ist die Sehnsucht nach amoralischer Hingabe an das Lebens- gefühl in uns, die Bemühung, sich in Widerspruch gegen alle Dog- matik auf den wirklichen Menschen zu besinnen; *!) -revolutionär ist die Bejahung der aktiven Lebenshaltung, die sich im Diesseits zu bewähren hat. Revolutionär ist der Protest gegen die bürgerlich- christliche Einschätzung der Frau, ja des Körpers überhaupt: Aber hier meldet sich bereits die reaktionäre Umbiegung all dieser Strebungen. Nicht die Frau als Mensch wird voll bejaht sondern nur die Frau als Mutter, nicht die sexuelle, genitale Liebe sondern nur die Fortpflanzung. Nicht der wirkliche Mensch in seiner materiellen und sexuellen Not wird anerkannt sondern nur der rassenbewusste: Arier. So echt die Sehnsucht und auch die Erlebnisse des rauschenden Blutes sein mögen: Sie finden keine Verbindung zur sozialen Wirk- lichkeit. So revolutionär der aktive Einsatz gemeint sein mag: Durch die Begriffe der Volksgemeinschaft, der Rasse, der Ehre verbaut er sich den Weg zu jener wirklichen revolutionären Aktivität, die der

1) Dabei fällt einem Feuerbach ein,- der mit ähnlich leidenschaftlichem Pathos: den wirklich sinnlichen Menschen in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte, wie die DG den für jeden spürbaren »religiösen Urwillen<e: Und dabei doch

wie Marx in seinen Thesen zeigte nicht soweit ging, die wirklich sinn-

‚liche Tätigkeit, d. h. die materielle Produktion aufzudecken, sondern in einer abstrakten Sinnlichkeit stehen blieb. Ein ähnliches Gefühl hat man, wenn die DG von »Wirklichkeit« und »Lebendigkeit« redet, ohne die konkretem Bedingungen dieser Lebendigkeit zu erwähnen.

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heutigen Gesellschaft gegenüber nicht anders als kritisch eingestellt sein kann. Übrigens fehlt in der Literatur der DG die Verherrlichung der Autorität, des blinden Gehorsams und des Führergedankens bei aller Loyalität für Hitler selbstverständlich. Dies scheint für das Vorwiegen der subjektiv revolutionären Tendenzen zu sprechen.

Doch aus alle diesen Gründen erklärt sich der scharfe Gegeusatz gegen Kirche und Christentum. Aus den verschiedensten Schichten der deutschgläubigen Struktur fliesst der Protest gegen das Christen- tum zusammen und fast immer sind es die subjektiv revolutionären Tendenzen in der DG, die gegen die reaktionären.der Kirche pro- testieren. Die Lebensferne des alten Testaments in Beziehung aut unsere Gesellschaft widerspricht dem Wunsch nach Echtheit und Ursprünglichkeit, die Verherrlichung des Leidens und Dienens der Aktivität, sein moralischer, handfester Gott-Vater dem Weltbild des modernen Menschen ebensosehr wie der Sehnsucht, im Strome des Naturgeschehens mitzuschwingen. Seine Auffassung der Frau, seine Verketzerung des Fleisches widerspricht dem natürlichern Emp- finden der DG-Leute wenn auch sie von bürgerlichen Vorurteilen auf diesem Gebiete nicht frei sind. |

Doch nun dreht sich die dialektische Schaukel um: All diese züge des Christentums werden unter dem Begriff des »Jüdisch-orientali- schen« zusammengefasst und ihm nun: vom reaktionären Rassen- standpunkt, von der engstirnigen »Deutschland, Deutschland über alles«-Ideologie aus der Krieg gemacht; man lasse sich da durch die vornehmen Formulierungen Hauers nicht täuschen, der ja auch sonst z.B. in seinen Anschauungen über Liebe und Ehe oder in seiner Interpretation der Rassenlehre den nationalsozialistischen Durch- schnitt weit überragt.

8. Materialistische Erklärung

Dem Überwiegen subjektiv-revolutionärer Elemente in der Ideo- logie der DG entspricht ihre Verbreitung innerhalb der SA und der Jugend überhaupt. Dass man aber darüber hinaus versucht, den Weg zu den ehemaligen marxistischen Freidenkern zu finden, zeigt der Kampf, den besonders Reventlow im »Reichswart« gegen allen Druck zu religiöser Betätigung oder Kircheneintritt führt. Einen solchen Druck hatte der reaktionäre Flügel der N.S.D.A.P. besonders am Anfang der Machtergreifung ausgeübt. Lehrer, Kommunalbeamte etc. | ® beeilten sich, den Verdacht des »Marxismus« abzuschütteln, der mit dem Kirchenaustritt verbunden war. Gegen diesen Druck wandte sich die DG und auf ihre Initiative erliess Hess im Oktober 1933 den bekannten Erlass, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert; praktisch kam dieser Erlass hauptsächlich der völkischreligiösen Be- wegung zu Gute, während man ihn, was die Kirchen betrifft, wie wir oben sahen, umgeht. Durch Veröffentlichung jedes einzelnen

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Be

Falles, wo in Hinblick auf Kirchenzugehörigkeit irgend ein Druck ausgeübt wurde, trat Reventlow für die Interessen der Nichtchristen ein. Allerdings natürlich nicht im atheistischen Sinne. Aber viele Freidenker sind ja niemals wirklich areligiös gewesen, sondern hatten den Gottesglauben auf dem Wege über die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft durch eine romantische Naturverehrung ersetzt, die in astronomischen oder biologischen Liebhaberstudien ihre Nahrung fand. An solche Naturverehrung fällt der DG mit ihrer Naturmystik die Anknüpfung leicht. Und sie versucht diesen, durch die nationale Revolution geistig heimatlos gewordenen Menschen be- wusst eine neue Heimat zu geben.

Und es ist gewiss kein Zufall, dass gerade Reventlow das Pech passierte, dass in seinen Reichswart März 1934 ein Artikel hinein- rutschte, der unter der Überschrift »Wir sind doch ganz allein« auf- zeigte, dass der nationalen Revolution noch eine Hauptaufgabe be- vorstehe: Nämlich die Enteignung der Bank- und Börsenfürsten. Der »Reichswart« wurde daraufhin verboten, doch Reventlow erkaufte sich

. die Erlaubnis zum Wiedererscheinen durch eine loyalitätstriefende Erklärung, wie wir bereits oben kurz erwähnt haben.

Doch der Hinweis, dass es sich bei der Mitgliedern der DG haupt- sächlich um proletarisierte Kleinbürger handelt, gibt bloss eine ganz allgemeine Erklärung dafür, dass sich in ihren Reihen so starke subjektiv-revolutionäre Tendenzen entwickeln konnten. Doch wir verstehen damit noch nicht die Form, die diese Ideologie in unserm besondern Fall annimmt und auch nicht, warum besonders die Jugend von dieser Form angezogen wird.

Das Folgende soll bloss der Versuch einer sexalökonomischen Erklärung sein, die auf diese Fragen Antwort gibt. Doch ein Versuch, selbst wenn er unvollkommen ist und Irrtümer enthält, kann vielleicht dem die Arbeit erleichtern, der unter besseren Bedingungen, als wir die Erforschung des Neuheidentums fortsetzt.

Denken wir an das Schema, das wir in Kap. 5 für die Entwicklung des christlich-bürgerlichen Menschen gaben. Die Vorstellung von einem strengen Vatergott und der eigenen Verworfenheit setzt nicht nur eine Unterdrückung der sexuellen sondern auch der aggressiven Regungen voraus. Dabei wird die Sexualität des erwachsenen Mannes —- und von ihm allein reden wir im Folgenden, da seine Ideologie gesellschaftlich ausschlaggebend ist gespalten: Ein Teil wendet sich nach aussen, der Frau zu: Aber er ist gebremst, mit Schuld- gefühl beladen, einem Schuldgefühl, das nur durch Eingehn einer von den Autoritäten gebilligten Ehe auf Lebenszeit beruhigt werden kann. Ein anderer bleibt in kindlicher Form gebunden; doch unter dem Einfluss des strengen Vaters nicht an die Gestalt der Mutter (was natürlich wäre) sondern an eine Vatergestalt (Gott, Christus).

Von 2 Seiten wird diese christlich-bürgerliche Struktur erschüt-

tert: Wirtschaftliche Not und Klassenkampf zwingen die Menschen,

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die Aggressionshemmung, das Unpolitisch-sein über Bord zu werfen: . Der wohlerzogene Student aus gutem Haus lernt genau so, uen Schlagring zu gebrauchen, wenn es gegen die »Untermenschen« geht, wie der geduckte Kontorist in SA-Stiefel gesteckt über seinen jüdi- schen Chef triumphiert, der ihn ausbeutet.

Auf der andern Seite führt die kollektive Arbeits- und Lebens- weise, besonders in den grossen Städten, zur Auflösung der traditio- nellen Sexualmoral besonders bei der Jugend, die »Versuchung« wird für den moralisch erzogenen Mann und das »anständigex Mädchen so gross, dass sie ihr nicht mehr widerstehen können.

Doch, die tiefen, in der Kindheit eingepflanzten Hemmungen sind nicht ohne weiteres aufzuheben. Es tritt nur eine teilweise Lösung bzw. Verschiebung ein. Vegetative Energie wird frei: Das hat das Gefühl des Wogens und Strömens zur Folge, das »ozeanische Gefühle, das die Schriften der DG nicht müde werden, in den verschiedensten Formen zu beschreiben (»Strömen des Bluts«, »vom Unbewussten ge- tragen werden« »mitschwingen im Rhythmus des Lebens«). Das Stehenbleiben bei dieser Form sich auszudrücken zeigt aber auch, dass eine wirkliche Befriedigung und Ordnung des Gefühlslebens nicht erreicht wird; so kommt es zur Unfähigkeit zu klarem, logischem Denken, zur Ausbildung von Ausdrucksformen, die an gehemmte Jugendbewegler im Alter von 16—19 Jahren erinnern. Die Beziehung Hauers und anderer DG-Leute zur Jugendbewegung ist gewiss kein Zufall.

Auf der andern Seite tritt eine Lockerung der Sexualverneinung ein. Der phantasierte Teil der vegetativen Kräfte geht von der homo- sexuellen Vater- zur natürlicheren Mutterbindung über. Der reale belastet sich nicht mehr mit der Vorstellung von der Sündigkeit des Fleisches, gelangt aber nicht zur Sexualbejahung sondern bloss zur Bejahung der Frau als Mutter, zur Bejahung der Fortpflanzung.

Die ständige Störung des Trieblebens, seine ständige Belastung mit einem moralischen Anspruch, wie wir sie bei Hauer sahen, treibt in der Folge die ganze pathetische Symbolik hervor: Die Familienbin= dung, in der DG wesentlich Bindung an die Mutter, wandelt sich zur »Artverbundenheit« und zur Rassenlehre, die Sehnsucht nach der Mutter zur Sehnsucht nach dem »schöpferischen Urgrund alles Seins«. Damit soll nicht etwa gesagt sein, dass die Vaterbindung, die Bejahung der Autorität etc. damit aufgehoben sei. Sie tritt nur innerhalb der Ideologie der DG zurück; doch die meisten DG-Leute sind ja zugleich brave Parteimitlieder, allerdings nicht Hauer selbst, der den Eintritt in die N.S.D. A.P. mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Partei nach $ 24 ihres Programms für das positive Christentum eintrete; ‚also gerade der Punkt, der die Verbundenheit mit den traditionellen, autoritären Mächten besonders stark zum Ausdruck brachte; denn die sophistische Interpretation, die wir oben berichten, ist wohl erst neueren Datums.

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ar - us Ar

. Fassen wir unsern Eindruck zusammen! Dann können wir für

die dem Christentum entsprechende Struktur das Bild eines vielfach .

verzahnten Mauer- und Hebelwerks ‘gebrauchen, das über den aurch das Patriarchat unterdrückten vegetativen Kräften geschaffen wurde. Es dient dazu, diese Kräfte umzuformen und der herrschenden Ge- sellschaft dienstbar zu machen.

Die Verhältnisse haben einen Teil dieses Gebäudes abgetragen. Es ist einfacher geworden, lässt deutlicher die in der Tiefe wirkenden Kräfte erkennen; diesen geänderten Verhältnissen entspricht die Ideologie der DG. Statt der Sehnsucht nach der Erlösung durch Jesus Christus fühlen die Menschen nun »Sehnsucht nach Hingabe an den Lebensstrom des Unbewussten«. Doch indem dieser Lebensstrom als »rassisch bestimmter religiöser Urwille« gefasst wird, tritt jene Sehn- sucht doch wieder in den Dienst der alten Mächte.

Aber das alte erprobte Gebäude, die Kirche mit ihrer Jahrhunderte alten Tradition der Seelenbeherrschung ist verlassen und wir können darin vom revolutionären Standpunkt aus einen Fortschritt erblicken. Der neue Bau sieht zwar schön aus, aber er kann beim nächsten Wind- stoss zusammenbrechen. Doch die Menschen, die ihn heute noch be- wohnen, scheinen uns für eine zukünftige Veränderung der Verhält- nisse .wichtiger zu sein, als manche »Oppositionellen« in Kutte und Talar.

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‚VII. Einige praktische Folgerungen

Dass die aus unsern Auffassungen folgende Praxis nicht unmittel- bar in unsere Darstellung hineingearbeitet werden konnte, ist gewiss eine theoretische Schwäche dieser Arbeit, die unmittelbarer Ausdruck der organisatorischen Schwäche der Sex-Pol-Bewegung ist; diese muss ja, trotz des wachsenden Interesses, das man ihr in den verschieden- sten Ländern entgegenbringt, um ihre volle Anerkennung und Ein- ordnung in die Arbeiterbewegung noch kämpfen. Wir müssen uns darum damit begnügen, eine Anzahl Vorschläge und Richtlinien zu geben.

Dabei wird es von Bedeutung sein, ob wir uns die Schulung und Er- ziehung der bereits im sozialistischen Lager Stehenden als Aufgabe setzen oder die politische Arbeit und Propaganda unter den z. T. re- ligiös beeinflussten Schichten des Kleinbürger- und Bauerntums und der verkleinbürgerlichten Arbeiterschaft, die wir erst gewinnen wol- len; ferner, ob wir uns in einem demokratischen oder faschistischen Land befinden, in dem etwa die besondere Situation des deutschen Kirchenstreits vorliegt.

a) Arbeit unter den Genossen.

Die marxistische Arbeiterbewegung hat von jeher Kirche und Religion abgelehnt. Dabei haben sich Marx und Engels stets dagegen erklärt, den Kampf gegen die Religion in den Mittelpunkt der politi- schen Arbeit zu stellen. Die oben aus dem »Antidühring« von Engels zitierte Stelle ist geschrieben, um zu zeigen, wie sinnlos es wäre, nach Dührings Vorschlag die Religion in einem sozialistischen Staat ver- bieten zu wollen. Dadurch würde man bloss den streitbaren Klerikalis- mus stärken. In Wirklichkeit ist das Absterben der Religion ein Pro- zess, der sich mit der Veränderung der gesellschaftlichen Voraus- setzungen vollzieht, die ihr zu Grunde liegen. In diesem Punkt sind wir selbstverständlich mit Engels einig, obwohl wir glauben, dass die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft verwickelter ist, als er meinte. Der Sinn jenes Nachweises von Engels ist, »geduldig an der Organisierung und Aufklärung des Proletariats zu arbeiten, einer

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Sache, die zum Absterben der Religion führt und sich nicht in das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die Religion zu stürzen.« (Lenin »Über Religion« S. 21.) In der Folge zeigt Lenin, wie diese Taktik im Satz des Erfurter Programms (1891) »Erklärung der Re- ligion zur Privatsache« ihren Niederschlag fand. Gemeint war damit einerseits Kampf gegen alle polizeiliche Behinderung dieser oder jener Religion sogar einschliesslich der Jesuiten, anderseits aber Trennung von Kirche und Staat, Sperrung aller staatlichen Zuschüsse an die Kirche, Beseitigung der staatlichen Zwangseintreibung kirchlicher Steuern und endlich Freiheit für all die, welche sich zum Atheismus bekennen und ihre Kinder areligiös erziehen wollten.

Die Religion sollte also bloss im Bezug auf den Staat Privatsache sein, meinte damals Engels und schlug darum auch für das Erfurter Programm eine Formulierung vor, die das zum Ausdruck brachte und opportunistische Umdeutungen ausschloss, jedoch nicht angenommen wurde.

Denn der immer opportunistischer werdenden deutschen Sozial- demokratie war gerade die Vieldeutigkeit der Formulierung willkom- men. Aus einer Privatsache dem Staat gegenüber wurde die Religion immer mehr eine Privatsache der Partei gegenüber. Im Görlitzer Pro- gramm (1921) heisst es: »Religon ist Privatsache, Sache innerer Über- zeugung, nicht Parteisache, nicht Staatssache«. Aus lauter Angst, die religiösen Gefühle der kleinbürgerlichen Mitglieder zu verletzen, die Koalition mit dem Zentrum zu behindern, verzichtete man aur jede wirksame Agitation gegen die Einmischung der Kirche in Staat, Ver- waltung und Schule sowie im Grossen und Ganzen auch auf jede selb- ständige Kulturpolitik, die die Grenze des bürgerlich-liberalen über- schritten hätte.

In der kommunistischen Partei fiel man dagegen in den schon von Marx, Engels und Lenin überwundenen Fehler zurück, machte der Religion (nach einem Wort Lenins) den r-r-revolutionären Krieg und sründete nach dem Muster des russischen einen deutschen »Verband der kämpfenden Gottlosen«, zu dem es in der alten bolschewistischen Partei kein Gegenstück gegeben hatte. |

Diesen beiden falschen Einstellungen gegenüber wird es die Auf- gabe der bewusstesten Revolutionäre sein, wiederum die richtigen von Lenin in seiner oben genannten Schrift vertretenen Grundsätze inner- halb der Parteikader durchzusetzen (wobei wir uns einen solchen Kader auch als Gruppe, Fraktion innerhalb einer reformistischen Massenpartei denken können): Nämlich Klarheit über die eigene ablehnende Stellung zur Religion, aber auch darüber, dass der Kampf gegen sie nicht auf eine abstrakt ideologische Propaganda beschränkt werden darf, wie sie die Gottlosen so oft übten, »man darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, man muss den Kampf mit der konkreten Praxis der auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion gerichteten Klassenbewegung in Zusammenhang. bringen«

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(Lenin). Dieser Grundsatz gilt aber natürlich nicht nur für unsere Arbeit unter Aussenstehenden sondern gerade auch für die zu leistende Klärungsarbeit innerhalb der Arbeiterbewegung selbst.

Was können wir für diese Arbeit aus der sexualökonomischen Re- ligionstheorie lernen? Kann sie uns neue Wege zeigen, mit unsern Bemühungen Anschluss an die »konkrete Praxis der auf die Besei- tigung der sozialen Wurzeln der Religion gerichteten Klassenbe- wegung« zu finden? Wohlgemerkt: Wir sprechen jetzt von Arbeit unter Menschen, die sich bereits als Sozialisten fühlen, aber ihren Sozialismus vielleicht religiös begründen oder neben ihrem politi- schen ein religiöses Leben als »Privatsache« führen. Wir wissen: Diese Art von Genossen gibt in ruhigen Zeiten gewiss brav ihren Stimmzettel zu den Wahlen ab, zahlt auch regelmässig Gewerkschafts- beiträge. Aber ihre politische Überzeugung entspringt nicht dem un- mittelbaren Erleben der Unterdrückung sondern ist irgendwie mora- lisch begründet und wird in schwierigen Situationen, wo revolutio- näres Handeln aus der Klassenlage heraus geboten ist, Hemmungen unterworfen sein: Ihre religiöse Bindung wird mit einem Stück bürgerlicher, autoritärer, »staatstreuer«, vorsichtiger Haltung ver- bunden sein.

Aber wie an diese Einstellung herankommen? Auf keinen Fall durch »abstrakten Kampf«, durch landläufige »Entlarvung der Re- ligion«, selbst wenn diese Argumente aus der sexualökonomischen Theorie gebrauchen sollte. Vor einer direkten »Anwendung« der Ar- gumente aus dem fünften Kapitel in Form von »Aufklärung« kann nicht genug gewarnt werden. Sondern: Verbindung mit der konkreten Klassenbewegung; und zwar derjenigen, die die Voraussetzungen der religiösen Bindung aufhebt.

Die solidarische Zusammenarbeit mit areligiösen Genossen in allen wirtschaftlichen und staatspolitischen Fragen, die Erfahrungen der österreichischen und der spanischen Arbeiterbewegung in der Kirchen- und in der Gewaltfrage, die bei religiösen Sozialisten oft eine grosse Rolle spielt, werden seine Kirchenbindung vielleicht erschüt- tern. Aber daneben können wir vor allem an die Klassenbewegung anknüpfen, die diejenigen Voraussetzungen der Religion untergräbt, die in der Familie und Sexualunterdrückung liegen. Also: Der Protest der Jugend gegen die »moralischesx Einstellung des Elternhauses in sexuellen Dingen muss von uns bejaht werden, genau wie der sexuelle Wissens- und Betätigungsdrang der Kinder, die Opposition der Frauen gegen die Tyrannei kleinbürgerlich eingestellter Männer, ihr Wunsch im Gebrauch von Verhütungsmitteln unterrichtet zu werden. Eine andere Aufgabe ist z. B. die Aufklärung des Widerspruchs zwischen der Langweile, die in Jugendgruppen bei den meisten politischen Re- feraten herrscht (obwohl man eigentlich verpflichtet ist, sich dafür zu interessieren) und der Freude an den Tanzunterhaltungen (obwohl man ja eigentlich nicht nur deshalb in die Gruppe kommen sollte) ;

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das Geheimnis besteht hier darin, dass sich die meisten danach sehnen, etwas zu hören, was ihr persönliches Leben mehr angeht, als die meisten hochpolitischen Referate und: sich zugleich dieses persön- lichen Lebens, das zum grossen Teil aus Liebesgeschichten besteht, schämen. Eine andere Aufgabe ist die Schaffung einer Kunst (Theater, Kabarett), die der Sehnsucht des Arbeiters Rechnung trägt, etwas von »Liebe« zu hören (Beweis für dieses Interesse: Der Kino- besuch) ohne der reaktionären Verkitschung und Verbiegung der Liebessehnsucht der Massen Konzessionen zu machen. Mit einem Wort: Anzustreben ist die Schaffung einer sexualbejahenden prole- tarischen Kulturbewegung, deren Arbeitsmöglichkeiten wir hier nur andeuten konnten: näheres in der übrigen Sex-Pol-Literatur.

Eine solche Kulturbewegung hätte auch Grundsätze für eine so- zialistische Erziehung auszuarbeiten. Doch ohne den systematischen Beobachtungen und Erfahrungen vorzugreifen, die dazu heute bereits in sozialistisch geleiteten Schulen und Kindergärten gesammelt wer- den müssen, dürfen wir jetzt schon sagen: Religiöse Erziehung würden wir nicht vor allem deshalb ablehnen, weil sie »unproletarisch«, »un- wissenschaftlich«e, »verdummend« ist; sondern ganz einfach deshalb, weil sie gesundheitsschädlich ist. Eure Religion, würden wir sagen, kann ja für Euch Erwachsene etwas Wunderschönes sein, aber es hat sich eben leider gezeigt, dass ihre Angst- und Schuldvorstellungen, z. B. die Lehren von Hölle und Teufel an die übrigens die liberalen Theologen selbst nicht mehr glauben bei den Kindern häufig ner- vöse Erkrankungen auslösen. Jeder Kinderanalytiker kann diese Be- hauptung mit reichem Material belegen.

Eine Kulturbewegung, wie die hier angedeutete, würde im Rahmen einer auch in ökonomischen und staatspolitischen Fragen richtig ar- beitenden Partei Entscheidendes dazu beitragen, wenigstens die Ju- gend gegen bürgerliche und religiöse Einflüsse zu immunisieren und würde der allgemein politischen Arbeit einen mächtigen Auftrieb geben.

‘In dem kleinen Kreis derjenigen, die bereits in ihrer Entwicklung weit genug sind, muss man die sexualökonomische Theorie unter-

richten und popularisieren. Wir meinen, dass sie nicht nur die Zu-

sammenhänge zwischen Religion, Ideologie, materiellen Verhältnissen besser verstehen lehrt, was für den Revolutionär auf alle Fälle wert- voll ist, sondern zu immer neuen Ideen auf dem Gebiet der Kultur- politik anzuregen imstande ist.

b) Arbeit unter Kleinbürgern etc.

Denken wir zunächst an die Verhältnisse in demokratischen Län- dern. Die sozialistische Bewegung tritt in ihnen heute vielfach in der Form von »Anti«-bewegungen auf: Antifaschismus, Antikriegs, -alko- hol und -religionsbewegung. Das verdeckt häufig die Unfähigkeit, konkrete positive Ziele und Wege zu formulieren, an die Praxis der

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bestehenden Klassenbewegung wirklich anzuknüpfen. Dass dieses Verfahren bei der Religion das Gegenteil des Erstrebten bewirkt, näm- lich Stärkung des Klerikalismus, haben schon Engels und Lenin ge- sehn und unsere theoretischen Erwägungen liefern nur eine Bestäti- gung und noch genauere Erklärung dazu. Bei der abstrakten Propa- ganda der naturwissenschaftlichen Religionsauffassung bekommt der Gläubige das Gefühl, dass ihm etwas weggenommen werden soll, das ihm Ersatzbefriedigung gibt für etwas, das er unbewusst entbehren muss. Gegen die vermeintliche Öde und Lieblosigkeit einer Ordnung ohne Religion, wie sie ihm die Revolutionäre aufzwingen wollen, flüch- tet er in die Arme der Reaktion zurück, die dann mit dem Schlagwort vom Kulturbolschewismus gute Geschäfte macht. Nicht ganz mit Unrecht sagt Rosenberg darum (Mythus S. 7):

»Die Dinge liegen nun so, dass die römische Kirche vor Darwinismus und Liberalismus keine Furcht empfand, weil sie hier nur intellektualistische Versuche ohne gemeinschaftsbildende Kraft erblickte, die nationalistische Wiedergeburt des deutschen Menschen aber ...... erscheint deshalb so gefährlich, weil hier eine typenschaffende Macht zu erstehen droht,«

die, so fügen wir hinzu, nicht mit naturwissenschaftlichen Be- weisen die Bibel widerlegen will, sondern den ae Kern der Religion angreift und umgestaltet.

Die proletarische Freidenkerbewegung als besondere, neben der Partei arbeitende Gruppe wird stets Gefahr laufen, einen abstrakten Kampf gegen die Religion zu führen und der Reaktion Leute in die Arme zu treiben, die das sozialistische Wirtschaftsprogramm an sich

‚bejahen würden. Man wird Mittel und Wege finden müssen, dieser

Gefahr zu begegnen.

Wichtig bleibt demgegenüber: Anknüpfung an die konkrete Praxis der Klassenbewegung gegen die Religion. Gemeinsames Vorgehn mit religiösen Arbeitern bei politischen und ökonomischen Kämpfen in der von Lenin angegebenen Weise wird diese eher in Widerspruch zur Kirche bringen und ihre Ablösung von ihr befördern, als abstrakte antireligiöse Propaganda.

Doch ganz besonders wird zur Ablösung von der Kirche die Förde- rung und Entwicklung der Klassenbewegung beitragen, die aus der sexuellen Unterdrückung der Massen durch die Klassengesellschaft entspringt: Das Massenbedürfnis nach Anleitung im Gebrauch von Ver- hütungsmitteln, nach Beratung in seelischen Schwierigkeiten (Puber- tätsschwierigkeiten, Problem der Eifersucht und des Alkoholismus etc.) ist ungeheuer. Der Einwand mancher Genossen, dass in einer stark kirchlich beeinflussten Bevölkerung eher Misstrauen oder Ablehnung dagegen zu erwarten ist, dass man mit dgl. Arbeit ähnlich abstossend wirkt wie mit direkt antireligiöser Propaganda, ist durch die Praxis der deutschen Sex-Pol-Verbände widerlegt, die binnen ganz kurzer Zeit im katholischen Rheinland 40.000 Mitglieder sammelten, von denen ein grosser Teil vorher niemals politisch organisiert war;

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er ist auch durch die Erfahrung widerlegt, dass ein Pfarrer verhältnis- mässig leicht sogar bei seinen eigenen Anhängern durch sexual- politische Argumente geschlagen werden kann (vgl. Reich, Massen- psychologie S. 184). Natürlich ist auch hier Verständnis und Takt am Platze, man kann den unzufriedenen Frauen natürlich nicht den Rat an den Kopf werfen »such Dir halt einen Freund«, wir dürfen dem schüchternen Jugendlichen nicht ohne weiteres die Onanie als »Heilmittel«e empfehlen. Denn vergessen wir nicht: Unbefriedigtes Nahrungsbedürfnis kann niemals dazu führen, dass jemand als ideale moralische Forderung aufstellt, zu fasten, wer keine Kleider hat, sich im Winter warm anzuziehn, erklärt nicht das Frieren als »sittliche Tat«. Wenn aber die sexuellen Funktionen in der Kindheit mit schweren Angst- und Schuidgefühl belastet werden, bildet sich leicht eine asketische Einstellung heraus, die Auffassung, Sexualität sei etwas Minderwertiges, Unwichtiges, Zweitrangiges: Eine Einstellung, die wir bei unserer sexualpolitischen Arbeit in Rechung stellen müssen.

Dennoch sind die Schwierigkeiten so lehrt die Erfahrung geringer, als manche Arbeiterfunktionäre glauben, die selbst mo- ralisch gehemmt sind. Ist es aber erst einmal gelungen, das Bewusst- sein der Massen von ihrer sexuellen Unterdrückung zu heben, gehen die fortgeschrittensten Jugendlichen vielleicht daran, die ein ge- sundes sexuelles Leben hindernde, gesellschaftlich bedingte Woh- nungsnot schon heute durch Selbsthilfe zu korrigieren, Möglichkeiten kollektiv zu schaffen, dass ein Paar ungestört eine Nacht verbringen kann: Dann wird die Kirche kommen, und über »moralische Ver- derbnis« reden. Doch dann ist sie in der unangenehmen Rolle des Angreifers, dann muss sie das offen sagen, was sie bisher stets noch irgendwie versteckt predigen konnte: Und dann wird sie es sein, die sich bei allen nicht ganz verbauten und innerlich zerbrochenen Men- schen lächerlich macht. |

c) Im Faschismus.

Bei Entwicklung dieser Gedanken höre ich viele, besonders Emi- granten-Genossen einwenden: »Wie willst Du aber das alles für die Bekämpfung des Faschismus in Deutschland fruchtbar machen? Wie willst Du genügend Kräfte schulen, die die vorgeschlagene Praxis zur Anwendung bringen? Wo doch gründliche Schulung notwendig ist, damit man nicht durch Fehler mehr schadet als nützt. Ist es nicht heute überhaupt wichtiger, den ökonomisch-politischen Kampf gegen den Faschismus in den Vordergrund zu stellen, als sich mit diesen kulturpolitischen Fragen zu befassen, die demgegenüber ja doch erst in zweiter Linie kommen

Hier lassen sich 2 Fragen trennen: 1) Ist es wichtig? 2) Ist es möglich?

Zu Frage 1 ein kleiner Bericht, der aus einer zuverlässigen Quelle

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stammt. Ein Berliner Friseurgehilfe hat in seiner Eigenschaft als.

national-sozialistischer Blockwart die Pflicht, jeden Monat einen Bericht über die politische Stimmung der Kundschaft abzugeben. Auf den Bezirksversammlungen der politischen Leiter werden diese Berichte zusammengestellt, das, worin sie alle übereinstimmen, undiskutiert an eine höhere Parteistelle weitergegeben, die Ab- weichungen vom Durchschnitt werden diskutiert. |

Unser Friseurgehilfe berichtet für September 1935: Die Haupt- klage der Leute bezieht sich auf die steigenden Lebensmittelpreise und auf die Verwahrlosung der Jugend. Seine Frau ist entsetzt, erwartet, dass man ihn bald abholen und ins Konzentrationslager bringen wird. Doch es stellt sich heraus, dass sein Bericht gar nicht diskutiert wurde, ‘denn das waren Punkte, in denen alle Berichte übereinstimmten. Im Gegenteil: Der Bericht fand an höherer Stelle so viel Beifall, das man den Verfasser zu einer Reichskonferenz heranzog.

Also: Die Verwahrlosung der Jugend, eine Sache, die nicht bloss mit der Arbeitslosigkeit zusammenhängt, sondern vor allem auch mit sexuellen Schwierigkeiten, ist in Deutschland ein Tagesgespräch. Die Nazi bereiten sich bereits darauf vor, die Unzufriedenheit darüber in ihrem Sinne zu kanalisieren und wir ...... ? Können aus Mangel an

geschulten Kräften nichts tun, da unsere Genossen nun einmal auf

die steigenden Lebensmittelpreise allein spezialisiert sind.

Also: Wichtig wäre sexualpolitische Arbeit schon. Aber es er- scheint fast unmöglich, heute und sofort genügend Leute dafür zu schulen. Die deutsche Sex-Pol-Bewegung war zu jung, um mit wirk- lich durchgeschulten Kadern in die Illegalität zu gehn, die inter- nationale Sex-Pol ist heute organisatorisch noch zu schwach, um allein von aussenher helfen zu können, die bisherigen Arbeiterparteien sind noch zu misstrauisch, zu sehr in einem gewissen Ökonomismus befangen, um sich für sexualpolitisch geprägte Kulturarbeit ein- zusetzen. Sie werden erst durch praktische Erfolge in nichtfaschisti-

schen Ländern überzeugt werden können.

Und die reale Entwicklung gibt der Sex-Pol täglich in steigendem

Masse recht: Enthüllung der sexualökonomischen Grundlage des Anti- semitismus durch die Streicherpropaganda, zunehmende »Verwahr- losung« der deutschen Jugend, Anwachsen der sexualpolitischen

Verbände Lisa Jensens in Schweden, theoretisch unklare aber leiden--

schaftliche Diskussionen über »Ehereform«, »Sexualaufklärung in den Schulen« etc. in aller Welt.

d) -Unsere Haltung im Kirchenstreit. Die Tatsache des Religionsstreites erschüttert sowohl das Ansehn

der traditionellen Gottesvorstellung wie das des faschistischen Re- gimes. Von der Religion fällt der Nimbus des Unerschütterlichen,

Ehrwürdigen ab: vom Nationalsozialismus der Nimbus, dass er eine

105-

£" Dr} A R Em > ou RE

geschlossene, völlig einheitliche Kraft sei und dass es unmöglich sei, ihm offen und organisiert Widerstand zu leisten. Wir haben gezeigt dass all dies im Fall des Religionsstreites noch nicht eine unmittel- bare Stärkung der sozialistischen Front bedeutet. Doch schon das blosse klare Wissen um die Zusammenhänge, die Erkenntnis, dass man hier nicht alles auf eine Formel bringen kann, wird uns nützlich sein. |

Die Formel, die neuerdings die Rundschau vertritt: Die Unter- drückung der Kirchen soll die Schaffung einer braunen National- kirche vorbereiten, die als ein Werkzeug der ideologischen Kriegsvor- bereitung zu dienen hat, die Formel wirkt genau so lebensfern und unverständlich wie seinerzeit die Art und Weise, wie man jede Kapi- tulation der deutschen Sozialdemokratie als »Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion« hinstellte. Gewiss bereiten die Nazis ideolo- gisch den Krieg vor: Etwa durch die Luftschutzpropaganda oder durch die Hetze gegen Litauen. Gewiss dient auch der Kampf gegen die Kirchen der Stärkung ihrer Macht und so indirekt auch der Kriegsvorbereitung. Aber die Art, wie gewisse Teile der revolutio- nären Bewegung es sich angewöht haben, alle gesellschaftlichen Vorgänge, die sie nicht ganz verstehen, mit einer nur zum kleinen Teil richtigen abstrakten Formel zu erklären, muss ihnen das Ver- trauen all derer verscherzen, die gegen die Nazis eingestellt sind und dringend jemanden suchen, der ihnen Klarheit schafft über die merk- würdigen Dinge, die sich da unter der Einwirkung einer geheimnis- vollen »fremden Macht« (wie Engels die kapitalistischen Produk- tionsverhältnisse nannte) abspielen. Doch sie finden ihn in unsern Reihen meistens nicht.

Hier würde die Grundauffassung der Sex-Pol bestimmt ermögli- chen, die wirklichen Geschehnisse viel anschaulicher und verständ- licher zu ordnen und zu erklären. Halten wir uns stets vor Augen: Der durchschittliche Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft (nicht bloss die Gesellschaft) trägt einen Widerspruch in sich denn die wirklich klassenbewussten Proletarier ebenso wie die klassenbewussten Bourgeois sind in der Minderheit. Dieser Wider- spruch besteht zwischen seiner sozialistischen Sehnsucht, seinem Willen, eine Ordnung zu schaffen, in der für die offensichtlichen Schäden der heutigen Ordnung kein Platz ist und seiner gefühls- mässigen Bindung an das Bestehende, an Moral, Autorität, Familie. In Nazis, Neuheiden, Katholiken, Bekenntnischristen, Reformisten und unpolitischen Kleinbürgern ist dieser Widerspruch vorhanden: Nur in verschiedener Form und Ausprägung. Wenn wir versuchen,

diesen Widerspruch in den Menschen zu finden die vorliegende

Arbeit sucht dazu anzuleiten dann werden wir leichter den Weg zu einer Sprache finden, die auch, ja gerade denen verständlich ist, die noch nicht bei uns sind.

Dies gilt nicht nur für unsere Propaganda in Deutschland selbst

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sondern vor allem auch unserer antifaschistischen Propaganda im Ausland. Warum sich Herr Jensen und Hansen für die kultur- politischen Vorgänge in Deutschland oft mehr interessieren als für den Aussenhandel oder für die Befreiung Thälmanns, dürfte hoffentlich schon klar geworden sein. Er ist ja weder Kommunist noch Handels- politiker sondern begreift am besten den Geist, dem er gleicht (um ein Faustzitat zu variieren): D. h. interessiert sich für die Vorgänge am meisten, die sich in der gleichen Sphäre abspielen wie sein täg- liches Leben, in dem oft Religion und Kirche eine wichtige Rolle spielen. Aber er will, wenn er davon hört, nicht eine grossartige politische Deutung hören, denn er ist im allgemeinen nur zu ge- wissen Tagesstunden und zu Wahlzeiten politisch interessiert. Er will vor allem verstehen, was diese Leute treibt, so merkwürdige Sachen zu machen, will auch alles so hübsch im Detail und mit kleinen Geschichten und Beispielen lesen, wie einen Detektivroman. Wir werden ihn am besten erfassen, wenn wir in unserer Presse neben den politischen Berichten das täglichen Leben im Faschismus, die Vorgänge in Kunst, Sport, Theater und nicht zuletzt Kirche lebendig und anschaulich schildern und den politischen Sinn der Vorgänge aus den Schilderungen selbst heraus entwickeln und nicht gewaltsam in sie hineintragen. Doch hierbei kann uns die sexual- ökonomische Theorie gute Dienste leisten.

Aber wie sollen sich die Revolutionäre in Deutschland selbst zum Kirchenstreit verhalten? Wir haben bereits oben die Parole for- muliert, die wir vorschlagen: Die Infamie des Regimes enthüllen, ohne uns damit zum Anwalt der Kirche zu machen.

Wenn SA-Truppen Gottesdienste stören, alte wehrlose Pastoren in’s Konzentrationslager schleppen, wenn katholischen Jugendgrup- pen das gemeinsame auf Fahrt gehen verboten wird, wenn man katholischen Sportvereinen Spielplätze und Turnhallen wegnimmt, wenn man überhaupt die Gefühle religiöser Menschen nach Art des Stürmers in roher Weise verspottet, dann können wir zu den Be- troffenen hingehn (natürlich unter Wahrung der für illegale Arbeit nötigen Vorsichtsmassnahmen) und ihnen sagen: »Wir protestieren mit Euch gegen diese empörenden Unterdrückungsmassnahmen und Roheiten! Niemals wird dgl. in einem sozialistischen Deutschland möglich sein. Darum schliesst Euch mit uns zusammen zum Kampf gegen den Faschismus der Euch ja nicht nur auf religiösem sondern auch ökonomischem, kulturellem etc. Gebiet unterdrückt.«

Wir sind darum grundsätzlich einverstanden mit der Parole der KPD: Gemeinsamer Kampf für Glaubens- und Gewissensfreiheit. Allerdings müssen wir uns darüber klar sein, dass damit nur Kampf gegen die nationalsozialistischen Zwangs- und Terrormassnahmen gegen Kirche und kirchliche Organisationen gemeint sein kann, genau so, wie auch Lenin und die Bolschewiki gegen die polizeiliche Schi- kanierung der Sekten im zaristischen Russland auftraten. Nicht aber

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darf damit eine Bejahung von Kirche und Religion selbst verbunden werden. Wenn die »Junge Garde« (Organ des kommunistischen Ju- gendverbandes) in ihrer Septembernummer 1935 jedoch schreibt:

»Jawohl, mit ganzem Herzen sind wir an Seiten der katholischen Jugend, mit all unsern Kräften wollen wir unsere katholischen Kameraden im Kampf um die Freiheit ihres Glaubens und ihrer Organisationen, im Kampf gegen den Terror und mittelalterliche faschistische Barbarei beistehn.«

Dann geht die Stellungnahme von einer Abwehr der faschistischen Unterdrückung in eine Bejahung der Religion selbst über, der Religion, die im Grunde um nichts besser als diese Unterdrückung ist. Und es ist wenig angebracht, wenn die »Junge Garde« die Erlaubtheit des Widerstandes gegen die faschistische Staatsmacht ausgerechnet mit einem Zitat aus dem Fuldaer Hirtenbrief stützen will:

»Wenn die Gesetze des Staates mit dem Naturrecht und dem Gebote Gottes in Widerspruch stehen, gilt das Wort: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«

Denn jenes Naturrecht und göttliche Gebot steht der Sterilisation ebenso entgegen, wie der Ehescheidung, der Rassetheorie ebenso wie der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. In seinem Namen wurde und wird gegen die Sowjetunion gehetzt, wurden tausende österreichischer und spanischer Arbeiter hin- semordet.

Nein, statt die Worte der Bischöfe im Munde zu führen, sollte man den katholischen Jugentlichen lieber zeigen, dass die Bischöfe sie bei allen Lebensfragen, die über die religiösen »Bedürfnisse« hinaus- gehen, im Stiche lassen.

Wir müssen uns hüten, die revolutionären Kräfte zu überschätzen,, die aus dem Kirchenstreit entwickelt werden können.

Das katholische Volk steht, so zeigen uns verschiedene Berichte, trotz Widerstands gegen die Nazis, geschlossen hinter den Bischöfen. Und die Bischöfe stehn hinter Rom, das heute neben dem Faschismus. die stärkste reaktionäre Macht darstellt. Man kann nicht nach Art der Rundschau bereits jeden Widerstand katholischer Jugendgruppen als Teil des antifaschistischen Kampfs bezeichnen, die eingesperrten Pfarrer ohne weiters als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus. aufführen. Dies kann man erst tun, wenn der Widerstand und die Zusammenarbeit mit den Revolutionären sich auf Gebiete erstreckt, die nichts mehr unmittelbar mit Kirche und Religion zu tun haben.

Sollte einmal die Reichswehr zusammen mit den Kirchen die Bankrottmasse eines zusammenbrechenden Nationalsozialismus über- nehmen wenn es erlaubt ist, eine solche Möglichkeit heute schon auszudenken dann werden die Revolutionäre die betrogenen sein, die mit opportunistischen Parolen einen blossen Scheinkontakt zu den konfessionellen Gruppen hergestellt hatten. Diese Warnung scheint umso dringender, als die in der Jungen Garde vertretene Linie nicht

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nur theoretische Bedeutung hat, sondern wie wir erfahren, auch für die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Katholiken in der neu gegründeten »Weltjugendvereinigung« gegen Krieg und Faschis- mus massgebend sein soll.

Überhaupt erscheint der Übergang vom r-r-revolutionären Frei- denkerkrieg zum gemeinsamen »Glaubenskampf« zu plötzlich. Man kann hier so wenig wie in andern grundsätzlichen Fragen seine Haltung ändern, ohne darüber zu diskutieren und die in der Ver- gangenheit begangenen Fehler zuzugeben. Sonst wird Opportunismus und vor allem ein verwirrender Eindruck bei den Aussenstehenden unvermeidlich sein.

Man kann heute nicht zu Katholiken hingehn und sie zu gemein- samen Widerstand gegen kirchenstürmende SA auffordern ohne ihnen gleichzeitig zu sagen: Unsere Haltung in den Jahren der Wei- marer Republick war falsch. Niemals werden wir in Zukunft Eure Gefühle in roher Weise verletzen, niemals werden wir in einem sozialistischen Deutschland mit den Mitteln der Gewalt gegen Religion und Kirche vorgehn. Aber bei der nun einmal verfahrenen Situation ‘werden wir bei Zusammenarbeit mit religiösen Menschen stets auf srundsätzliche Diskussionen gefasst sein müssen. Wir werden uns bemühen müssen, solche grundsätzliche abstrakte Diskussionen zu vermeiden oder zumindest so zu führen, dass wir, ohne unsern Stand- punkt zu verstecken, dem andern das Gefühl geben, dass wir seine Überzeugung verstehen und achten wenngleich nicht teilen.

Eine allzu einseitige Stellungnahme für die Kirche würde ausser- _

‚dem den Kontakt mit den Neuheiden erschweren, den die revolutio- näre Bewegung stärker als bisher aufnehmen müsste. Erst neuerdings wird von dem wachsenden Interesse früherer Freidenker für die DG berichtet, die der KK die reaktionäre Rolle, die sie in der Weimarer Republik spielte, nicht verzeihen können und die sich darüber freuen, dass sie jetzt sozusagen den verdienten Lohn bekommt.

Bei den DG-Leuten handelt es sich zudem oft um junge Menschen, -die noch nicht auf den blinden Gehorsam so festgelegt sind, den der Faschismus von seinen Anhängern fordert, die noch mit Problemen ringen, die zum grossen Teil dem radikalen Flügel des NS angehören. Sie auf die Widersprüche ihrer Ideologie aufmerksam zu machen, ihre Diskussionen im revolutionären Sinne weiterzutreiben müsste nicht allzu schwer sein. Anleitung haben wir im Kapitel über die DG gegeben. Aber hier wie auf manchen andern Gebieten steht der Mangel an geschulten Genossen einer solchen Arbeit hindernd im Weg. Wer nur den Kampf gegen Hunger. und Arbeitslosigkeit sieht ‚ohne die damit verknüpften psychologischen Probleme, wird unfähig sein, sie zu leisten.

Dabei ist allerdings eines zu berücksichtigen: In Diskussionen mit Gegnern, besonders mit religiösen, niemals mit psychologischen "Tiefendeutungen and wissenschaftlichen Terminologien arbeiten!

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Dass der Sündenlehre der Onaniekonflikt zu Grunde liegt, dass es sich beim »Urgrund des Werdens« um das Gefühl der Einheit von

ich und Welt, ich und Natur handelt, das durch die Mutterbindung

mystifiziert ist, das ist Wissen für uns! Der andere kann uns nicht verstehen, wenn wir direkt auf sein Unbewusstes lossteuern und noch dazu in einer Terminologie, deren Sinn vielleicht dem Leser

dieses kleinen Buchs klar geworden ist, die aber auf einen Unvor-

bereiteten fremdartig, wenn nicht abstossend wirken muss. Die Widersprüche, die in der Heldenverehrung, im leeren Tiefsinn, in den Auffassungen von Liebe und Ehe liegen, können wir bewusst

machen. Dass, wer immer vom Heldischen redet, noch kein Held ist

(eher umgekehrt), dass eine Aneinanderreihung von tönenden Worten noch kein Tiefsinn ist sondern höchstens die Sehnsucht danach, dass die Frau nicht zugleich hinter den Herd gesetzt und an der Seite des Mannes kämpfende Germanin sein kann, dass man der sexuellen Vereinigung nicht unbedingten Eigenwert geben und sie dennoch mit der Pflicht zur Kinderzeugung belasten kann, besonders unter den heutigen Wirtschaftsverhältnissen: Darüber kann man mit jeder- mann reden.

Wenn aber unser Gegner vom Rassengefühl redet, das er in seinen

Adern rauschen fühlt, müssen wir wissen, dass er innerlich oder

um es wissenschaftlich genau zu fassen, vegetativ erregt ist und

ihm dabei zugleich unbewusst das Bild seiner Mutter vorschwebt. Und

wir werden Achtung davor haben ohne ihm von unserm Wissen

zu sagen. Aber wir können ihn vielleicht fragen, ob er nicht auch ein ähnliches Rauschen in den hohen Augenblicken seines Lebens spürte,

da er sich einer geliebten Frau nähert. Weiter will ich das phanta- sierte Zwiegespräch nicht ausspinnen, sonst wird ein Rezept daraus: Und Rezepte sind in unserm Fall sinnlos.

Was ich mit all dem sagen wollte, war vor allem, dass man bei der Arbeit unter religiösen Menschen auf die einfachen menschlichen

Dinge mehr Wert legen muss, als auf tönende Parolen. Darauf kann

eine Theorie nur hinweisen, sie kann den Verständigen anleiten aber

sie kann die verständnisvolle menschliche Einstellung nicht ersetzen.

- N .

Literaturnachweis

Da es sich in dieser Arbeit nicht um eine wissenschaftliche Aus- einandersetzung mit den Theorien der verschiedenen Gruppen handelt sondern um eine massenpsychologische Untersuchung, wurde vor- wiegend Material aus Zeitungen und Zeitschriften zu Grunde gelegt,

ferner verschiedene persönliche Berichte in Deutschland revolutionär arbeitender Genossen. Wir geben hier eine Übersicht über die benutzte

Zeitschriften- und Zeitungsliteratur:

Für die Bekenntniskirche und ihren Kampf mit den deutschen Christen: Die Zeitschrift »Junge Kirche« (Verlag der Jungen Kirche, Göttingen), abgekürzt JK. |

Für die katholische Kirche: die Wochenschrift »Ecclesiastica«, (KIPA-Verlag, Freiburg, Schweiz), die eine Zusammenstellung aller wichtigen kirchlichen Ereignisse, Konkordate, Hirtenschreiben auf der ganzen Welt bringt, abgk. Ecel. Ferner: »Der Deutsche Weg«, eine von katholischen Emigranten herausgegebene Wochenschrift mit viel interessantem Material (Oldenzaal,:-Postbus 18, Holland).

Für die deutsche Glaubenswegung: Die Monatsschrift »Deutscher Glaube« (Karl Gutbrodverlag, Stuttgart), abgk. DGl; ferner: »Reichs- wart«, die Wochenschrift Reventlows (Berlin). |

Ferner wurden die Nachrichten über den Kirchenstreit aus »Po- litiken« (Kopenhagen) und aus den »Basler Nachrichten« benutzt, die wohl innerhalb der internationalen Presse den ausführlichsten Nach- richtendienst über den Kirchenstreit haben.

Für die benutzte Buchliteratur verweise ich auf die einzelnen '

Anmerkungen.

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6

d Inhaltsverzeichnis Seite BSENDICHUNEG. 2. Saat ee a N Falke MÜEE ae SS Sa 3 1. Stellung. der Arbeiterpresse: im Kirchenstreit ... ..7 ar Dan ne man 9 bis -Ende-:1934 " '.;. a a el ee ri ee HT re E E 9 Im Jahr 1935 (bis Oktober) a ee III. Der Protestantismus ee Te a Ä 1. Motive der »Teilnahme« am Kirchenstreit ee een ee 2. Der religiöse Konflikt - a te en 3. Stellung des Staates im Kirchenstweit a ne Er RE ee u IV. Der Katholizismus _... a N a TR EL Ar 1. Gottesglaube gegen ae a TE 2. Faschistischer Aktivismus gegen hrssikche Marsl Ra 3. Rassenlehre gegen Verachtung des »Fleisches« ... ... ... ... ... 42 47. Der Kampf um. die’ Iugend ar ar ei a Fer RE 5", Katholisches; Vereinsleben; Presse et a2.) 07.7 2 te EEE 6. Folgen a a a en ee ee en N 7. Entwicklung im TaHse: 1935 N en a a SE V. Grundlagen der Religion ... ... ER A Re. ARE EEBE 1. Zusammenfassung der re: ebaie EEE u 2. Marx und Engels über Religion: Religion als Ideologie ... ... ... 57 87. ReligionTals. psychische „StTBRIUT "2. Da a TR Te RE TE RETITIOH: al SERIOSUNEL IR I Dre a a 3 Ra I ee VI. Die deutsche Glaubensbewegung ... ... ... Sr N A ee Tr... Der "äussere Tatbestand. Era rasen an ee re Re 2. Verschiedene Auffassungen 2 le ee ae EEE 3. Die »oberste Schicht«: Wogende Pathetik ST a ee ae EEE 4. Aggressivität ... . 2 N a a 5. Die zentrale Vorstciiing der DG TIERE De N re 6. Wie wirkt sich die Sn: Mutterbindung aus? RE E 7. Soziale Zuordnung 7 TE ee ea eat ae ne Pe PETER 8. Materialistische Erklärung N ET a LT LEE ei war Tune praktische Folgerungen Nr ee Ne nee a BEE hr \ e a) Arbeit unter Genossen 12 ENTER, er een ER RE N Er VE E \ Io b) Arbeit unter Kleinbürgern etc. a a Be Se ar EEE gr c) Im Faschismus _... ee See RI RER ER ME A Bi: d) Unsere Haltung im Eirkhensteit een aaa wahr lee Wr Ur ee GE en Literaturnachweis a a ae year ee ee ee DEREN

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Wir empfehlen der Beachtung unserer Leser:

W. REICH: MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS

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