М. беже 73 | 1. XL os 3 Far Св ÜBER DIR BERECHTIGUNG EA, У DARWIN’SCHEN THEORIE. EIN AKADEMISCHER VORTRAG анатты; АМ 8. JULI 1868 IN DER AULA DER UNIVERSITÄT ZU FREIBURG IM BREISGAU De. AUGUST WEISMANN, PROFESSOR DE R ZOOLOGIE. с LEIPZIG, VERLAG VON WILHELM ENGELMANN. 1868. ылалооу WALYƏAT | А “Wan OR > % кү 00 А 5 БУРУ FRANCISCVS DARWIN > || 2 Г “4; «|| а 4 (о) 25 М 5 < ! 9 ЮХ < 5 ÜBER DIE BERECHTIGUNG DER DARWIN’SCHEN THEORIE, EIN AKADEMISCHER V ORTRAG GEHALTEN AM 8. JULI 1868 IN DER AULA DER UNIVERSITÄT ZU FREIBURG IM BREISGAU VON Р". AUGUST WEISMANN, PROFESSOR DER ZOOLOGIE. | LEIPZIG, VERLAG VON WILHELM ENGELMANN. 1868. Vorwort. Soll ich die Veröffentlichung des nachstehenden Vortrags motivi- ren, so glaube ich, dass kein Wort zu viel ist, welches irgendwie auch nur ein Kleines beitragen kann zur Klärung oder zur Weiter- entwickelung einer so überaus mächtigen und fruchtbaren Idee, wie’ es die Transmutationslehre ist. Vor Allem war es mir darum zu thun, ein für alle Mal jene un- nützen Discussionen abzuschneiden, welche niemals vorwärts kom- men, weil sie nicht von dem einmal gewonnenen Boden ausgehen, sondern stets wieder von vorn anfangen; ich wollte feststellen, dass ganz abgesehen von dem Werth oder Unwerth der Darwıw’schen Theorie, ihre Grundlage, die Transmutationshypothese, die einzige, heutzutage berechtigte wissenschaftliche Annahme über die Ent- stehung der organischen Formen ist, dass demnach wissenschaft- liche Discussionen es nur noch mit der Darwın’schen Theorie selbst zu thun haben können, nicht aber mit deren Grundlage. Ich habe den Vortrag völlig unverändert abdrucken lassen und die unumgänglich nothwendigen Zusätze in Anmerkungen verwiesen. Der- selbe war bereits vollständig ausgearbeitet, als die Schrift von Мовтт? WAGNER erschien: »die Darwın’sche Theorie und das Migrations- gesetz der Organismen.« Da der Verfasser hierin den eigentlichen ДЖ IV Kern der Darwın’schen Lehre »die natürliche Züchtung« auf einen sehr geringen Werth herabzudrücken sucht, so konnte seine Ansicht nicht unbesprochen bleiben und ich lasse deshalb dem Vortrag einen Anhang folgen, der die Wirkung der von Wacxer hervorgehobenen Momente auf die Artbildung behandelt. Freiburgi. Br., den 2. August 1868, August Weismann. W enn immer in der Geschichte menschlichen Erkennens neue Gesichtspunkte auftauchen, welche bekannte Thatsachen in neuem Lichte erscheinen lassen und ganze Wissenschaftsgruppen umzuge- stalten und in eine neue Bahn hineinzulenken versuchen , tritt an den Einzelnen die Forderung heran , solchen reformatorischen Ideen gegen- über seine Stellung zu nehmen, und dies um so mehr , wenn er berufen ist б eine der betroffenen Wissenschaften öffentlich zu lehren. | Dies ist das eine Motiv, welches mich bestimmt, Ihnen heute meine Ansichten über eine Theorie vorzutragen,, welche, erst vor zehn Jahren aufgestellt, doch heute schon den mächtigsten Einfluss auf alle Wissenschaften vom organischen Leben ausübt: die Darwın’sche Theorie von der Entstehung der Arten. Dazu kommt aber noch ein zweites Motiv. In dem Jahrzehnd, welches seit dem Erscheinen des Darwın’schen Buchs verflossen ist, sind alle von ihm berührten Punkte einer lebhaften Discussion unter- worfen worden, alle Thatsachen , welche man für oder wider vor- gebracht hat, sind nach dem Standpunkt unserer Kenntnisse auf ihren eigentlichen Werth zurückgeführt worden, und es muss deshalb als zeitgemäss erscheinen, das gesichtete Material in seiner Gesammtheit an die Beurtheilung der ganzen Frage heranzubringen. Es fehlt aller- dings nicht an Kritiken , allein besonders die verwerfenden und auch nicht selten die zustimmenden leiden an einer gewissen fundamentalen Unklarheit, die zu einem bestimmten, festen Resultat der Unter- suchung nicht gelangen lässt. Diese muss ich zuerst kurz beleuchten. Sie rührt von der Vermengung zweier Fragen her, die getrennt behandelt werden müssen, will man zur Klarheit durchdringen. Es muss streng unterschieden werden zwischen der Transmutations- hypothese und der Darwın’schen Theorie, Erstere ist freilich un- 6 ї trennbar von der zweiten , insofern sie die unerlässliche Voraussetzung derselben ist, aber die zweite folgt nicht nothwendig aus der ersten. Die Ansicht, welche die organische Welt von wenigen einfachen Formen der Urzeit unserer Erde ableitet, ist an und für sich noch keine Theorie, sie ist eine Hypothese, auf welcher sich dann erst eine Theorie aufbaut, wenn es versucht wird, die Ursachen zu ermitteln, durch welche die Transmutation einer Form in die andere vor sich geht. Bekanntlich hat Lamarcx zuerst die Descendenz- oder Trans- mutationshypothese aufgestellt, die Ursachen der Descendenz aber anderswo gesucht, als Darwın, indem er die äusseren Lebensbe- dingungen als direct verändernde Ursache апваһ, ebenso GEOFFROY und Окех. Alle fussen auf derselben Hypothese der T ransmutation, aber ihre Erklärung derselben , somit ihre Lehre oder Theorie ist eine andere. Es ist somit auch bei der Darwın’schen Theorie scharf zu schei- den zwischen der ihr zu Grund liegenden Hypothese und dem Erklärungsversuch. Einwürfe, die gegen den letzteren gerichtet sind, brauchen die erstere nicht im geringsten zu erschüttern ; diese muss überhaupt mit einem ganz andern Massstab gemessen werden, als jener. Eine solche Scheidung muss sehr wichtig erscheinen , sobald man sich das Wesen und die Bedeutung einer wissenschaftlichen Hypothese klar macht. Es liegt offenbar im Begriff derselben die Unmöglichkeit eines Beweises. Sie tritt überall da berechtigt auf, wo direkte B eob- achtung nicht mehr ausreicht, um eine Anzahl von Erscheinungen von sie dies leistet, um so sicherer dürfen wir auf ihr fussen; "d.h. ‚ von ћу aws gemeinsamem Gesichtspunkt aus zu begreifen. Je vollständiger gehend, neue Fragen stellen. So ist das Weltsystem , welches wir heute als sicher begründet betrachten: das Copernicanische „auch nur eine Hypothese, zu welcher der grosse Entdecker, wie er selbst sagt, durch die Ueberzeugung getrieben wurde, dass die bisher zu Grunde liegende Annahme, die geocentrische Hypothese, durch- aus nicht ausreiche zur Erklärung der himmlischen Bewegungen. Er sagt: »Ich fing an darüber nachzudenken, ob man nicht bessere Т Erklärungen auffinden könne durch die Annahme einer bewegten Erde und fand, wenn die Bewegungen der anderen Planeten mit denen der Erde verglichen werden, dass nicht nur die Erscheinungen derselben vollständig erklärt werden, sondern auch, dass die verschie- denen Bahnen derselben Planeten und dass überhaupt das ganze grosse System derselben in Beziehung auf Ordnung und Grösse so wohl ver- bunden sind, dass man keinen Theil des Systems ändern kann, ohne . dadurch das Ganze zu stören und das gesammte Weltall in Unordnung zu bringen.« бо war die heliocentrische Hypothese damals schon voll- kommen berechtigt: sie erklärte die grosse Masse der Er- scheinungen, und stand mit keiner derselben in Wider- spruch, das heisst: sie leistete, was eine wissenschaftliche . Hypothese leisten muss. Wie der heliocentrischen Hypothese zur Zeit des Copernicus die geocentrische entgegenstand, so steht jetzt der Transmutationshypothese die Hypothese von der unabhängigen und gleichzeitigen Erschaffung der Arten gegenüber, die wir kurz als die alte Schöpfungshypo- these bezeichnen wollen. Vergleichen wir nun Beide in Bezug auf ihre wissenschaftliche Berechtigung, prüfen wir ihre Grundlagen, · sowie ihre Leistungen und sehen wir zu, ob eine von ihnen sich in entschiedenem Widerspruch mit den Thatsachen befindet. Die Charakterisirung beider Hypothesen lässt sich kurz geben. Die alte Schöpfungshypothese nimmt an, dass gleichzeitig sämmtliche Arten unabhängig voneinander zu irgend einer weit zurückliegenden Zeit erschaffen worden seien, und sich seitdem in unveränderter Form fortgepflanzt hätten; die Transmutationshypothese dagegen nimmt nur · wenige allereinfachste Organismenarten als gegeben an und leitet von diesem Anfang des organischen Lebens auf der Erde die ganze un- endlich reiche Lebewelt der vergangenen und der gegenwärtigen Pe- riode ab, indem sie sich vorstellt, dass durch allmälige Umwandlung der Form aus den ersten Arten neue Arten hervorgegangen seien, diese wieder neue Arten hervorgebracht hätten u. s. w. Es ist klar, dass die Grundlagen beider Anschauungen so verschieden sind , wie sie selbst; ‚die Erste gründet sich auf die Unveränderlichkeit der einmal 8 erschaffenen Arten, während die Andere gerade die Veränderlich- keit derselben verlangt, die Erste muss die Art als etwas Absolutes betrachten, die Letztere dagegen kann ihr nur einen relativen Werth zugestehen und fasst sie nur als ziemlich unbestimmt begrenzte Gruppen ähnlicher Individuen. Die Debatten über diese Grundlagen der beiden Hypothesen kön- nen füglich als beendet angesehen werden und ich darf mich daher kurz fassen. . CUVIER suchte bekanntlich die Unveränderlichkeit der Art durch die Untersuchung der ägyptischen Ibismumien zu beweisen, welche vollkommene Uebereinstimmung mit dem Bau des heute an den Ufern des Nils noch lebenden Ibis zeigten. Es beweist diese Beobach- tung indessen Nichts weiter, als dass diese specielle Art sich im Laufe einiger Jahrtausende nicht erheblich verändert hat, Sie mag entweder eine grössere Constanz besessen , oder ‚keine Veranlassung zum Variiren gehabt haben und man hat nicht einmal nöthig, darauf hinzuweisen, wie unendlich kurz solche übersehbare Zeiträume sind gegenüber den unfassbar grossen Zeiträumen der Erdgeschichte. Die ‚Unveränderlichkeit der Species wird dadurch nicht bewiesen, dass einzelne Arten sich gelegentlich lange Zeit hindurch unverändert erhal- ten haben, so lange die Veränderlichkeit der grossen Masse der Arten klar vor Aller Augen liegt. Dass die Arten variiren istsicher geläugnet, was heisst dies aber anders, als dass sie nicht unveränderlich sind? und wird von Niemand Auch die Frage nach dem Wesen der Art ist nicht zu Gunsten der alten Schöpfungshypothese entschieden worden. Die absolute Natur lässt sich in keiner hat sich gezeigt, dass nicht einmal eine Definition der Art gegeben werden kann eine morphologische, noch eine physiologische , Scharfbegrenztes ist, der Species, welche diese nothwendig verlangt, Weise als wirklich vorhanden nachweisen. Es » weder dass die Art nichts sondern dass die Arten durch unzählige Zwi- schenformen sehr häufig ineinander übergehen » dass somit die Art ein künstlich begrenzter Begriff ist. Aus dem Gesagten geht hervor, dass nach dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse die neue Hypothese eine solidere Grundlage be- ч sitzt, als die alte. Da indessen gerade bei den hier in Frage kommen- den Punkten Vieles der individuellen Auffassung überlassen bleibt und wenigstens für den einen derselben, nämlich für die Veränderlichkeit oder Unveränderlichkeit der Art vorläufig wenigstens ein faktischer Beweis nicht geführt werden kann, so lassen Sie uns ganz von dem gewonnenen Resultat absehen, lassen Sie uns beide Hypothesen als gleich gut fundirt betrachten, und schreiten wir zur Untersuchung ihrer Leistungen. . Die Transmutationshypothese nimmt an, dass die wun- derbaren Aehnlichkeiten der Arten unter sich, welche metaphorisch bisher als Verwandtschaften bezeichnet wurden und zur Aufstel- lüng von Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und Kreisen, kurz zur Aufstellung eines sogenannten natürlichen 5 ystems Veranlassung gaben, auf wirklicher Blutsverwandtschaft beruhen, dass verwandte Thierarten von gemeinsamer Urart ab- stammen. Es ist die Lösung des von GöTHE poetisch formulirten Räthsels gefunden: »Alle Gestalten sind ähnlich, doch keine gleichet der andern, und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz.« Wenn wir sehen, dass bei einem Fisch die Axe des Körpers von einer festen Säule gebildet wird, der Wirbelsäule, auf welcher die Centraltheile des Nervensystems, unter welcher die vegetativen Or- сапе der Ernährung und Fortpflanzung liegen, beide umschlossen von bogenförmigen Fortsätzen dieser Wirbelsäule, und wenn wir ganz die- selbe Anordnung bei Amphibien und Reptilien, bei Vögeln und Säuge- “thieren finden , während sich bei einer Masse von andern Thieren eine ganz andere Gruppirung der Theile zeigt, so fragen wir wohl mit Recht nach den Gründen einer so auffallenden Uebereinstimmung. Die Transmutationshypothese gibt uns die Antwort, indem sie alle Wir- belthiere von einer einzigen Urwirbelthierart ableitet. Vergeblich hoffen wir auf ein Verständniss dieser Thatsachen mit Hülfe der alten Doctrin. Sie spricht zwar von einem Plan des Schöpfers, aber was ist dies anders als die Anerkennung einesinnern Zusammenhangs der Organismenwelt mit ” оној ii иа бо Коа 10 gleichzeitigem Verzichtauf ein Verständniss desselben. - Es ist eine Umschreibung der Thatsachen und noch dazu eine unge- schickte. Jedenfalls wäre dieser Plan nämlich in sehr ungleicher und unvollkommener Weise zur Ausführung gekommen » da bekanntlich die einzelnen gleichwerthigen Gruppen, z. В. des Wirbelthierkreises, manchmal durch sehr viele Familien und Ordnungen, in andern Fäl- len nur durch wenige Gattungen oder gar, wie beim Amphioxus, nur durch eine einzige Art vertreten sind; und was sollen nun gar jene Arten bedeuten, welche gradezu als Uebergangsformen zwischen zwei solchen Hauptgruppen zu betrachten sind? Die Doctrin bleibt uns jede Antwort schuldig, während die Transmutationshypothese durch solche Formen nur gestützt wird und ihre Erklärung sich von selbst ergibt. Ebenso steht es mit allen jenen unzähligen Thatsachen , welche die vergleichende Anatomie über den Bau der Thiere zusam- mengetragen hat. Nehmen wir nur die Bildung der Extremitäten bei den Wirbelthieren, so findet sich bei aller Verschiedenheit die wun- derbarste Uebereinstimmung. Ueberall im wesentlichen dieselben Knochenstücke, bald vollkommen entwickelt als Arm und Bein der höchsten Säugethiere, bald theilweise verkümmert oder verschmolzen oder theilweise oder ganz fehlend , bald in die Länge gestreckt und mit Hufen versehen, geschickt zum Laufen » bald kurz mit bekrallten Zehen, geeignet zum Klettern, Graben oder Festhalten der Beute, bald zur Flosse umgewandelt, wie bei Fischen und Cetaceen, bald zum Flugorgan in dieser oder jener Weise gebildet, wie bei Vögeln, Fle- dermäusen und Flugfischen! Kein vergleichender Anatom wird läug- nen können, dass der Bau dieser Thiere zueinander sich ganz so verhält, als ob sie von gemeinsamen 8 tammältern herkämen. Betrachten wir die Entwickelungsgeschichte, so stossen wir ebenfalls auf eine unendliche Anzahl von Thatsachen , die sich nur von der Transmutationshypothese aus begreifen lassen. Ich erinnere zuerst an die auffallende Aehnlichkeit, welche die erste Embryonal- anlage sämmtlicher Wirbelthiere zeigt, obgleich doch so sehr verschie- 11 den gestaltete Thiere in diesen Kreis fallen. Ebenso ist die nach- embryonale Entwickelung reich an solchen Thatsachen. So geht im Laufe der Entwickelung bei Rankenfüssern und parasitischen Krebsen der Typus der Klasse fast oder. ganz verloren und nicht eher wurde ihre Orustasgenhätur erkannt, als bis man ihre Jugendformen kennen lernte. Seit dem Wiederaufleben der Transmutationslehre hat sich die Forschung mit doppelter Aufmerksamkeit der Entwickelungsgeschichte а zugewandt, und dass dies nicht ohne Erfolg geschehen, beweisen am besten die vortrefflichen Untersuchungen Е. MüLter’s über die Crusta- ceen. Es gelang diesem ausgezeichneten Forscher, die ersten Grund- züge einer Entwickelungsgeschichte dieser Klasse zu entwerfen. Er zeigte, dass die niedersten Ordnungen der Crustaceen als sogenannte Naupliuslarven das Ei verlassen und dann durch verschiedenartige Metamorphose die Körperform der Cirripedien und Entomostracen er- _ langen, dass bei der höchsten Ordnung entweder keine Verwandlung vorkommt, und das junge Thier in vollkommen entwickelter Gestalt das Ei verlässt, oder aber als sogenannte Zoea, eine viel höher ent- wickelte Larvenform als der Nauplius, aus dem Ei kommt, dass aber bei einzelnen Arten die Naupliuslarve sich vorfindet, die sich dann erst in die Zoeaform umwandelt und darauf dieselbe weitere Meta- morphose durchmacht, wie die übrigen Malacostracen. Solchen Thatsachen gegenüber muss die alte Doctrin verstummen, sie hat kein Verständniss für dieselben und kann sie nur einfach hin- nehmen. Wenn gefragt wird, weshalb Peneus das Ei in derselben Form eines Nauplius verlässt, wie die kleinsten Entomostracen , wie die Cirripedien und Wurzelkrebse, während doch die meisten seiner nächsten Verwandten in dem höheren Larvenstadium einer Zoea das Ei verlassen, so kann sie darauf höchstens eine teleologische Antwort versuchen , die ihr indessen schwer genug werden möchte. Ein wahres ` Verständniss aber eröffnet nur die Transmutationslehre, welche in der Entwickelungsgeschichte desIndividuums das mehr oder minder vollständig erhaltene Bild der Entwicke- lung der Art sieht. Nur von diesem Gesichtspunkt aus begreift es sich auch, dass Larven verwandter Arten, z. B. der Insekten , sich 12 ebenso ähnlich sind, als die entwickelten Zustände dieser Arten , nicht nur in wesentlichen Punkten des Baues, bei denen an eine Ueber- tragung auf die späteren Entwickelungszustände gedacht werden kann, sondern in allen kleinsten Eigenthümlichkeiten. Warum besitzen z.B. die Raupen der Sphingidengattung Chaerocampa alle auf den Thoracal- segmenten augenartige Flecke, so Ch. nerii, Celerio, Elpenor und Porcellus? Die Flecke gehen nicht auf den Schmetterling über, stehen überhaupt in keiner direkten Beziehung zu ihm, so wenig als die gab- ligen Hörner, welche die Raupen verwandter Papilio- Arten (P. ma- chaon und podalirius) aus dem Nacken ausstülpen können. Auch in die paläontologischen Daten bringt allein die Trans- mutationslehre Verständniss. Durch Tausende von Beobachtungen steht es fest, dass die untergegangenen Arten früherer Erdperioden eine gewisse Gesetzmässigkeit in ihrem Auftreten erkennen lassen. Wir sehen grössere Thiergruppen immer zuerst in wenigen Arten auftreten, allmälig an Zahl derselben vielleicht bis zu einem unglaublichen Reich- thum zunehmen, um in späterer Periode wieder auf eine geringere Art- anzahl zurückzusinken und noch später ganz zu verschwinden. So haben in der ganzen ungeheuer langen paläolithischen oder Primär- periode nur spärliche Arten von Ammoniten gelebt, erst in der Secun- därperiode, nämlich im Jura , erreichen sie eine sehr starke und in der Kreidezeit die stärkste Entwicklung, worauf sie in der Anteoeänzeit völlig aussterben, also in der ganzen Tertiär- und Quaternärperiode fehlen. Niemals kommt es vor, dass solche Thiergruppen in einer Schichte auftreten , in allen folgenden fehlen , um in einer viel späteren wieder- zuerscheinen, und doch könnte ein solcher Befund nicht überraschen, wenn man von der alten Schöpfungshypothese ausgeht. Ist sie doch nicht im Stande, das Auftreten neuer Thierformen in späteren Ab- lagerungen anders zu erklären, als durch eine Wiederholung des Schöpfungsactes; und es lässt sich kein Grund dafür anführen, dass nicht bei einem solchen Act längst ausgestorbene Thierarten wieder neu hätten ins Leben gerufen werden können. Könnte jemals nachgewiesen werden, dass eine Thiergruppe zur 13 Silurzeit gelebt habe, später untergegangen und noch viel später, etwa zur Tertiärzeit wieder aufgetaucht sei, so würde dies der Transmuta- tionslehre einen harten Stoss versetzen. Da wir aber gerade das Gegentheil finden, da untergegangene Gattungen niemals später wieder auftauchen, vielmehr überall ein continuirlicher Zusammen- hang verwandter Arten stattfindet, ja, da wir sogar mit Zahlen nach- weisen können, wie Gattungen, Familien, Ordnungen etc. entstehen, aufblühen und wieder untergehen , ganz ebenso wie das Individuum, so wird der obige Satz berechtigt erscheinen, dass nur die Transmuta- tionslehre Sinn und Verstand in die Ergebnisse der Paläontologie bringt. Aber auch die Wissenschaft von der Verbreitung der Organismen im Raume liefert viele Daten, welche die alte Schöpfungshypothese unerklärt lassen muss. Wir finden die Arten in sehr eigenthümlicher Weise über die Erdoberfläche vertheilt, so zwar, dass es sofort in die Augen springt, wie die äussern Lebensbedingungen,, also Klima, Boden-, Ernährungsverhältnisse nur von secundärem Einfluss auf das Vorhandensein dieser oder jener 'Thierart sind. Obgleich sich , um mit Darwin zu reden, Landesstriche in Südamerika finden von ganz ähn- lichem Klima etc. wie solche im südlichen Asien, so bewohnen jene doch andere Thierarten, als diese. Aus allen bekannten Thatsachen geht hervor, dass die Arten an einem Punkt entstanden und von da aus nach allen Richtungen sich verbreitet haben, nach welchen sich ihren Wanderungen keine unübersteiglichen Hindernisse in den Weg stellten, wie solche für Landthiere 2. В. in grossen Meeren, für Meer- thiere z. В. in Landbarren zu sehen sind. So 186 es zu erklären , dass Flüsse nicht selten die Grenze fürgdie Verbreitung einer flügellosen Käferart bilden ; so kommt es, dass an der atlantischen Küste von Mittel- amerika ganz andere Arten von Seeschnecken, Krebsen und Muscheln leben, als an der stellenweise nur wenige Meilen entfernten, aber durch keinen Seearm verbundenen Westküste. Soweit würden die Thatsachen sich allenfalls noch mit der alten Schöpfungstheorie vertragen! Wenn wir aber sehen , dass zwischen den im Raum bei einander lebenden 'Thierarten ganz ebenso auffallende verwandtschaftliche Be- 14 ziehungen stattfinden , wie unter den in der Zeit aufeinander folgen- den Organismen successiver Erdschichten , so vermag пиг Фе Trans- mutationshypothese eine Erklärung zu geben. Nur wenn wir auf der Voraussetzung einer allmäligen Umwandlung der Arten fussen , ver- mögen wir zu verstehen, warum die Arten einer grössern Gruppe, 27. В. der Ordnung der Affen auf ein und demselben Continent, 2. В. іп Amerika, alle näher mit einander verwandt sind, als mit irgend einer der Affenarten von Asien oder Afrika, oder warum die Thierarten einer Insel immer denen des zunächst gelegenen Continents am nächsten stehen, wenn sie auch keineswegs identisch mit ihnen sind; nur von diesem Standpunkt aus lässt es sich begreifen , warum auf den Inseln des stillen Oceans die höchstentwiekelten Formen thierischen Lebens, die Säugethiere, gänzlich fehlen , mit einziger Ausnahme derjenigen Säuger, welche durch ihr Flugvermögen von den Continenten aus dort- hin auswandern konnten: den Fledermäusen. Und es sind nicht etwa die gleichen Arten , wie sie auf den Continenten vorkommen „ sondern beinahe jede Insel besitzt eine oder mehrere , ihr ganz allein zukom- mende Fledermausarten ! Welche Antwort vermöchte die alte Schöpfungshypothese zu geben, wenn gefragt würde, warum nicht auch andere Säugethiere für diese Inseln erschaffen wurden, die doch jetzt, nachdem sie durch die Euro- päer dort eingeführt sind, so vortrefflich gedeihen, dass sie sogar wieder verwildern? Es bleibt ihr Nichts übrig, als zu behaupten, eine solche Frage überschreite den Horizont menschlichen Erkennens, eine Antwort , die nichts Anderes ist, als eine Selbstverurtheilung. Es geht ihr hier, wie an zahllosen andern Punkten : sie steht vor einem Räthsel, ohne im Stande zu sein, auch nur den Versuch einer Lösung zu wagen. Aus alle dem bisher Gesagten geht demnach hervor, dass die Transmutationshypothese der andern an Leistungsfähigkeit unendlich überlegen ist. Es bleibt aber, um zu einem Endresultat über den Werth beider Hypothesen zu kommen, noch ein Punkt zu besprechen übrig. Wie wir vorhin sahen, lässt sich eine wissenschaftliche Hypothese zwar niemals erweisen, wohl aber, wenn sie falsch ist , widerlegen, und es 15 fragt sich deshalb, ob nicht Thatsachen beigebracht werden können, welche mit einer der beiden Hypothesen in unauflöslichem Widerspruch stehen und somit dieselbe zu Fall bringen. Beginnen wir mit der Transmutationshypothese, so müssen die Geg- ner derselben zugestehen, dass es ihnen nicht gelungen ist, in dem Jahr- zehend , welches seit dem Wiederaufleben dieser Hypothese beinahe schon verflossen ist, eine einzige solche widersprechende Thatsache aufzufinden. Zwar fehlt es nicht an Einwürfen aller Art, aber die meisten derselben sind in Wahrheit gar nicht gegen die Transmutations- hypothese selbst gerichtet, sondern nur gegen den sich darauf auf- bauenden Darwinismus, eine Unklarheit, die nicht genug gerügt wer- den kann. Solche Einwürfe aber, welche sich direkt auf die Hypothese selbst beziehen, brachten niemals widerlegende Thatsachen bei, son- dern begnügten sich mit einem auf die Unbeweisbarkeit der Hypothese gestützten Protest. Dass ein solcher Protest nichts Anderes ist, als ein logischer Fehler, liegt 7 wie bereits angedeutet wurde, im Begriff einer Hypothese ! | | Ebenso unzulässig sind negative Widerlegungen, wie man sie z. В. aus der Paläontologie herzunehmen versuchte. Dahin gehört die Be- hauptung, dass sich im Fall der Richtigkeit der Umwandlungshypo- these die Uebergangsformen vorfinden müssten, welche die in den ver- schiedenen Schichten vorkommenden Arten mit einander verbinden und zwar in dem doppelten Sinn von Uebergangsformen zwischen zwei nahestehenden Arten und von Uebergangsformen zwischen grösseren Thiergruppen, Ordnungen oder Klassen. Das Postulat ist ganz rich- tig: nach der Transmutationshypothese müssen diese Uebergangsfor- men massenweise existirt haben, und es muss a priori als wahrschein- lich gelten, dass einige derselben in fossilen Resten uns erhalten worden sind. Darwin hat bereits gezeigt, wie relativ spärlich die Ueberreste sind, welche uns die überaus reiche Thierwelt früherer Erdperioden hinterlassen hat, und wie wir durchaus nicht berechtigt sind , negative | Schlüsse aus der Paläontologie zu ziehen, d. h. aus dem Nichtvorhan- densein von Resten auf die Nichtexistenz der postulirten Thierformen 16 zu schliessen. Obgleich offenbar nur ein kleiner Bruchtheil der unter- gegangenen Thierwelt in fossilem Zustand sich erhalten konnte, und obgleich wiederum von diesem Bruchtheil nur ein ganz kleiner Theil der Beobachtung offen steht, da man erst einen kleinen Theil des Fest- landes und noch gar nichts vom Meeresgrund auf fossile Reste unter- sucht hat, so ist es dennoch jetzt bereits möglich, Uebergangsformen in beiderlei Sinn nachzuweisen, und die Behauptung, dass dieselben fehlten , muss aufgegeben werden. Was Uebergangsformen zwischen verwandten Species betrifft, so wird es Paläontologen,, denen ein sehr reiches Material zu Gebote steht, gewiss nicht schwer sein , solche in Menge aufzufinden. Eine speciell auf diesen Punkt gerichtete Arbeit ist neuerdings bekannt geworden. Sie bezieht sich auf eine im Steinheimer Süsswasserkalk zu Millionen vorkommende Schnecke der Gattung Planorbis. HiınaEn- DORF”) unterscheidet von derselben 19 Varietäten, welche so wesent- lich von einander verschieden sind, dass man sie für Arten halten würde, hätte man sie einzeln vor sich, ohne die verbindenden Ueber- gänge. Nun findet sich eine jede Varietät nur in einer ganz bestimmten Zone der Ablagerung und zwar liegen sie nach ihrer Verwandtschhaft. geordnet übereinander, und die Hauptformen sind durch Uebergänge verknüpft, die wiederum nur in den Grenzschichten der Zonen vor- kommen. Wir haben also hier die Entwickelungsgeschichte einer Art vor uns, die Umwandlung, die sie im Laufe vieler Jahrhunderte durch- gemacht hat. So sind also die gewünschten Uebergangsformen zwischen Arten vorhanden, wenn man sich nur die Mühe nehmen will, sie auf- zusuchen. Aber auch Uebergangsformen zwischen den grossen Gruppen des Thierreichs sind bereits aufgefunden. In einem einzigen Exemplar einer Platte aus Solenhofen ist uns der Abdruck eines Thiers erhalten, welches die heute so streng abgeschlossene У) HILGENDORF, »Ueber Planorbis multiformis im Steinheimer Süsswasserkalk«. Monatsber. 4. Berl. Akad. 1866. 5. 474, 17 Klasse der Vögel mit der der Reptilien verbindet. Der berühmte Archaeopteryx kann weder ein Reptil noch ein Vogel genannt werden, da er Charaktere von beiden Klassen an sich trägt: den einfachen Tar_ sus, den Fuss, die Federn der Vögel, das Becken und die lange 'Schwanzwirbelsäule der Reptilien. Noch kurz vor der Entdeckung dieses merkwürdigen Fossils sprach einer der einseitigsten Anhänger der Schöpfungshypothese, ANDREAS WAGNER, sich folgendermassen aus: »ein Reptil mit den Flügeln eines Vogels wäre ein Monstrum, was wohl in der Phantasie, nicht aber in der Natur der Existenzen sich vorstellig macht«e. Wenige Monate darauf musste er selbst den Archaeopteryx in derMünchener Akademie vorbringen, und wie sehr er fühlte, dass dieser Fund zu seinen Ansichten nicht passe, sieht man leicht aus dem heftigen Protest gegen eine Verwerthung desselben im Darwın’schen Sinn. Hat ja doch sogar GIEBEL sich nicht anders gegen den Archaeopteryx zu helfen gewusst, als indem er ihn für ein Artefact, für einen Betrug erklärte. Steht demnach fest, dass bis jetzt keine Thatsachen vorliegen, welche mit der Transmutationshypothese in entschiedenem Wider- spruch stünden, so lässt sich für die alte Schöpfungstheorie keineswegs das Gleiche behaupten. Widersprechende und also widerlegende That- ‚ sachen finden sich hier in grosser Zahl. | Dahin rechne ich vor allem gewisse embryologische Daten, so die bekannten embryonalen Zahnkeime der Cetaceen. Unmöglich kann die Schöpfungstheorie dem Schöpfer eine Unzweck- mässigkeit aufbürden wollen, sie ist durch und durch teleologisch und muss es sein; alles, was ist, muss einen Zweck erfüllen und muss die- sem Zweck aufs vollkommenste entsprechen. Was sollen aber Zahn- keime für einen Zweck bei Walfischen erfüllen, bei denen sie doch niemals zu Zähnen werden? Ich weiss wohl, dass man geantwortet hat, diese Zahnkeime gehören mit in den Plan, nach welchem die Säuge- thiere gebaut seien , aber das ist keine Lösung des Widerspruchs. In dieselbe Kategorie von Thatsachen gehören die schon lange be- ; kannten blattartigen Anhänge des embryonalen Asellus a uaticus, die, \ о 5 2 2 | wie die Zahnkeime der Walfischembryonen auf Abstammung von be- 2 р ннн Па и ЕМ 18 zahnten Säugern, so auf Abstammung von einer mit blattartigen An- hängen versehenen Art hindeuten. Beim Asellus stehen sie keiner Funktion vor*), sind aber auch durchaus nicht zum Typus des Thieres gehörig, und lassen sich daher nicht durch die Redeweise vom Plan erklären. Ebensowenig lässt sich diese anwenden auf die merkwür- dige, im Ei schon abgestreifte Larvenhaut von Mysis und Lygia, die weder irgend eine funktionelle Bedeutung hat, noch den Bauplan des Thieres vervollständigt und ebensowenig auf den sogenannten Mikropylapparat der Amphipoden. Alle diese Bildungen sind einfach als historische Dokumente aufzufassen, die uns die Ent- stehungsgeschichte einer Art mehr oder minder deutlich mittheilen. Auch die spätere Entwickelungsgeschichte liefert solche widerlegende Daten. Dahin gehört die sogenannte rückschreitende Metamorphose sehr vieler Schmarotzer, dahin die von F. MÜLLER mitgetheilte interessante Entstehungsgeschichte des Deckels einer Ser- рша”, Beispiele, auf die ich nur hindeuten will, ohne näher darauf einzugehen. Ohne Zweifel steht aber auch eine ganze Reihe sehr bekannter anatomischer Daten in grellem Widerspruch mit der Schöpfungs- | hypothese. Dahin gehört der rudimentäre Schultergürtel der Blind- schleichen und anderer Eidechsen, und ebenso die rudimentären Beckenknochen der Walfische. Niemand wird behaupten wollen, dass diese Theile ihrem Organismus in irgend einer Weise nützlich wären; sie sind blos, wie man sich ausdrückt, der Analogie zu lieb da, d.h. also, um den sogenannten Bauplan gehörig hervortreten zu lassen. Warum aber fehlen dann bei den Schlangen Schulter- und Becken- | | gürtel vollständig, bei denen doch derselbe Bauplan zu Grunde liegt, | \wie bei den nahe verwandten Eidechsen? РА $ Die Antwort, dass Extremitäten dem speciellen Bauplan der 5 Schlangen nicht angehörten, ist unzulässig, da eine kleine Gruppe unter | | ihnen, die Riesenschlangen, Rudimente hinterer Extremitäten besitzen./ | %) Siehe: Anton онем, Entwicklungsgeschichte des Asellus aquaticus ih ‚Zeitschr. f. wiss. Zool. Ва. XVII. ж Siehe: FRITZ MÜLLER, »Ейт DARWIN«, 19 Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die alte Schöpfungs- hypothese nicht leistet, was eine wissenschaftliche Hypothese leisten soll und dass sie im vollen Widerspruch mit Thatsachen steht. Dem- nach hat sie keine wissenschaftliche Berechtigung mehr und es kann fernerhin von ihr abgesehen werden. Wir kommen zum zweiten Theil dieser Untersuchung, zu der Theo- rie, welche Darwın auf der Transmutationshypothese errichtet hat dadurch, dass er die physischen Gründe für die Transmutation aufsuchte. Es ist klar, wenn es gelingen sollte, Kräfte zu entdecken, welche mit Nothwendigkeit einen steten Wechsel der Arten bewirken müssen, 80 wird dies auf diese Hypothese zurückwirken , indem es dieselbe zu einem Grade der Wahrscheinlichkeit erhebt, welcher unmittelbar an die Gewissheit grenzt und praktisch sogar mit ihr zusammenfällt. Es fragt sich also, ob die von Darwın vorgebrachten physischen Ursachen für die Transmutation wirklich vorhanden sind ‚und ob sie, wenn dies der Fall, wirklich mit Nothwendigkeit solche Wirkungen hervor- bringen müssen, wie wir sie in der Transmutationshypothese als existi- rend voraussetzten. Darwin leitet die Entstehung neuer Arten aus bereits vorhandenen von sehr unscheinbaren Ursachen ab, nämlich von den kleinen Verschie- denheiten , durch welche sich ein Individuum von dem Andern unter- scheidet. Er fusst auf dem Experiment, welches lehrt, dass diese in- _ dividuellen Eigenthümlichkeiten fortgepflanzt und gehäuft werden können, so dass Racen entstehen, die von der Stammart oft ungemein stark abweichen. Die Häufung geschieht durch sogenannte künstliche Züchtung, indem der Mensch nur solche Individuen zur Nachzucht benutzt, welche die gerade gewünschten Eigenthümlichkeiten besitzen. Es ist nachgewiesen, dass ein grosser Theil jener seltsam gestalteten Tauben-, Hühner-, Schafe- und Schweineracen, welche heute, be- sonders in England, zu finden sind, diesem Process der künstlichen Züchtung ihr Dasein verdanken. Darwin zeigt nun, dass in der freien Natur ein ganz ähnlicher | Process vor sich gehen muss, indem die Rolle des Menschen dort von den äussern Lebensbedingungen übernommen wird. Er bezeichnet 9% 20 deshalb die hier stattfindende, zu Racenbildung führende Häufung individueller Eigenheiten als natürliche Z üchtung, und leitet dieselbe davon ab, dass alle Organismen einen Kampf um ihr Dasein bestehen müssen, bei welchem alle nützlichen individuellen Eigenthüm- lichkeiten erhalten’ und durch Vererbung gehäuft werden, während schädliche Abänderungen verloren gehen. Die natürliche Züchtung unterscheidet sich also wesentlich dadurch von der künstlichen, dass nur solche Charaktere erhalten und verstärkt werden können, welche in irgend einer Weise dem Individuum im Kampf ums Dasein von Nutzen sind. Daher die Bezeichnung der Darwin’schen Theorie als Nützlichkeitstheorie. Es ist also die Ein- wirkung des Kampfes ums Dasein auf die Variabilität der Arten, welche die natürliche Züchtung , die Entstehung neuer Racen hervorruft. So weit erscheint selbst Gegnern, wie z. В. Втвсноғе, der DAR- wın’sche Gedankengang unbestreitbar. *) Die Variabilität der Arten steht fest, und die Existenz des Naturgesetzes, welches Darwın unter dem Schlagwort des Kampfes ums Dasein zusammengefasst hat, kann eben- falls von keinem Denkenden geläugnet werden. Sobald man aber diese beiden Faktoren zugibt, folgt mit Nothwendigkeit daraus die natür- liche Züchtung, d. h. die Entstehung von neuen Racen. Die direkte Beobachtung reicht nur bis zur Bildung von Racen; es liegt indessen kein Grund zu der Annahme vor, dass die Wirkung des Naturgesetzes bei der Racenbildung stehen bleibe; im Gegentheil ist anzunehmen ‚ die Bewegung werde andauern, die neugebildete Race werde sich immer weiter von der Stammart entfernen und schliesslich zu einer selbstständigen Art werden. Denken wir uns mit Darwin den Anfang des organischen Lebens auf der Erde in einigen einfachen Organismen gegeben , so lässt sich *) »Die Lehren von: der natürlichen Züchtung und von dem Kampfe ums Dasein machen das eigentlichste und unsterbliche Verdienst DARWIN’s aus«... »Ich bin überzeugt , dass diese beiden Erkenntnisssätze nie wieder aus jeder Unter- suchung über die Entstehung und Entwicklung der Organismen verschwinden wer- 0 den, und erkläre mich für ihren überzeugten und begeisterten Anhänger.« So BiscHorr in seiner Schrift »Ueber die Verschiedenheit in der Schädel- bildungdesGorilla, ChimpanseundOrang-Utang.« München 1867, 5. 86 21 aus ihnen auf die angedeutete Weise die ganze frühere und jetzige Lebewelt ableiten. Es ist der Darwıv’schen Theorie eingeworfen worden , ihre Prin- cipien könnten zwar wohl die Bildung zahlloser Varietäten, die alle ineinander zusammenflössen, nicht aber die Entstehung der Arten, wie wir sie heute beobachten, als relativ scharf umgrenzte Gruppen ähn- ‚lich gestalteter Individuen erklären; es ist gesagt worden, die Dar- “хур веце Theorie »führe zu einem Formenchaos«, welches in Wahrheit nicht vorhanden sei. Ich glaube zeigen zu können, dass dem nicht so ist. Dies würde nämlich nur dann der Fall sein, wenn die Anpassung einer Art an neue Lebensverhältnisse durch natürliche Züchtung viel schneller vor sich ginge als es in Wirklichkeit geschieht. Nehmen wir z. B. an, die Anpassung gehe im Lauf einer Gene- ration vor sich, halte also gleichen Schritt mit der Fortpflanzung , so würde bei einem Thier, welches jährlich zehn Nachkommen erzeugt, unter stetem Wechsel der Lebensbedingungen in jedem Jahr eine neue Varietät gebildet werden, die nur durch zehn Individuen vertreten wäre. Schon nach fünf Jahren würden elfhundert Varietäten, jede zu zehn Individuen gebildet, sein, und wollten wir gar annehmen, ein jeder der zehn jährlichen Nachkommen vermöge sich zu einer beson- dern Varietät zu gestalten , so würde die Zahl der Varietäten gleich der der Individuen sein. In beiden Fällen hätten wir dann in der That ein Formenchaos, wie es keineswegs existirt. Aber unsere Annahme ist durchaus falsch, die Anpassung hält nicht gleichen Schritt mit der Fortpflanzung, sondern sie schreitet unendlich viel langsamer vorwärts als diese. Auch die variabelsten Thierformen können gewiss erst im Lauf von Tausenden von Generationen eine neue Anpassung erwerben, es werden also, lange bevor neue Anpassungen gebildet werden können, Millionen oder Myriaden von Individuen ähnlichen Baues gleichzeitig leben müssen, und eine neue Anpassung wird niemals ein oder wenige Individuen allein betreffen können, da sie sich nicht plötzlich, sondern erst im Laufe zahlreicher Generationen heranbildet. Wir werden also durch strenge Verfolgung der Darwıw’schen 22 Prineipien mit Nothwendigkeit gerade auf eine solche Gestaltung der Lebewelt geleitet, wie wir sie in Wirklichkeit beobachten. Es müssen nothwendig durch die Darwınw’schen Naturgesetze Varietäten und Arten gebildet werden, etwa in der Weise*), wie wir sie wirklich vor uns sehen. Die Arten müssen bald mehr, bald weniger scharf von einan- der abgegrenzt sein, je nachdem Uebergangsformen sich im Kampf ums Dasein erhalten haben oder nicht, und eine Art muss bald eine grössere, bald eine kleinere Anzahl von Varietäten in sich einschliessen, je nach dem Grade ihrer Variabilität und nach der grössern oder ge- zingern Сопситтепя, die ihr von andern Arten im Kampf ums Dasein gemacht wird. Auch die Bildung von Artengruppen, d. h. von Gat- tungen, kann nicht ausbleiben, da alle die Arten, welche von gemein- samer Stammart herkommen, näher mit einander verwandt sind als mit irgend einer andern Art; aus demselben Grund müssen auch Gattungs- gruppen, d. h. Familien, und Familiengruppen, d. h. Ordnungen, sich bilden, kurz wir lernen die eigenthümlichen Verwandtschaftsver- hältnisse der organischen Reiche, wie sie die Wissenschaft in dem na- türlichen System auszudrücken versucht, als eine Nothwendigkeit begreifen. Wir werden aber noch weiter geführt; denn die Darwıv’sche Lehre gibt uns zugleich Aufschluss, warum in früheren Erdperioden eine andere Organismenwelt gelebt hat, sie zeigt uns, dass ein steter Wechsel der Arten unmittelbar aus ihren Principien folgt und gibt uns einen klaren Einblick in die Ursachen des Untergangs der Arten. Eine Art kann nicht unbegrenzte Lebensdauer besitzen, weil fort- dauernd neue Racen und Arten, also neue Mitbewerber um die Exi- stenz entstehen und dadurch allein schon die Lebensverhältnisse in steter Wandlung begriffen sind. Entweder wird die Art den neuen *) Dass es mir nicht einfällt, zu behaupten, man könne jetzt schon das ganze Detail der Artbildung entwickeln, geht am besten aus dem weiteren Verlauf des Vortrags hervor. Unter der Firma »natürliche Züchtung« verbergen sich noch | eine Masse unbekannter Theilhaber, sie ist ein Gewirr von ausserordentlich vielen Componenten, welche erst allmälig durch allseitige Ueberlegung und Forschung blosgelegt werden können. Dies verhindert indessen nicht, die Wirkung des Na- turgesetzes im grossen und ganzen zu beurtheilen. 23 Lebensbedingungen sich fügen durch Anpassung, und dann verwandelt sie sich in eine neue Art, oder sie ist dazu nicht im Stande und dann stirbt sie einfach aus. In beiden Fällen verschwindet die Art als solche aus der Reihe der Lebendigen. Sie sehen, dass die Darwın’schen Naturgesetze vom Kampf ums Dasein und der natürlichen Züchtung dasselbe für die Transmutations- hypothese leisten, was die von Newron gefundene allgemeine Gravi- tation für die heliocentrische Hypothese. Unter gewissen Voraus- setzungen führt die Existenz einer Gravitationskraft nothwendig zu den Bewegungen der Himmelskörper, wie sie COPERNICUS und KEPLER annahmen, und diese Annahme wird hierdurch zu einem der Gewiss- heit sehr nahen Grad von Wahrscheinlichkeit gebracht. Ebenso führt die Existenz der Darwın’schen Naturkräfte zu solchen Bewegungen der Lebeformen , wie че GOETHE und LAMARCK , OKEN und GEOFFROY annehmen zu müssen glaubten, und auch diese Annahme wird zu dem- selben hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gesteigert werden. Aber in beiden Fällen wirken die erforschten Naturkräfte nur unter gewissen Voraussetzungen, die letzten Gründe der Erscheinungen werden mit ihrer Entdeckung noch nicht blosgelegt. Wie die Bewegung der Himmelskörper nicht lediglich von der. Gravitation abhängt, sondern ein primitiver Anstoss vorausgesetzt werden muss, der ihnen eine tangentiale Bewegung mittheilte, so ist bei der Bewegung der Lebewelt, wie sie durch Entstehen und Ver- gehen der Arten sich uns kundgibt, die unerlässliche Voraussetzung: die Variabilität der Organismen, oder genauer: Vererbungs- fähigkeit und Variabilität. Erstere ist es, welche den Bau der Aeltern auf die Nachkommen überträgt, Letztere bedingt die Ab- weichungen von demselben, ohne welche eine allmälige Umwand- lung einer Art in neue Arten gar nicht denkbar wäre. Die Variabilität liefert gewissermassen das Material für die Thätigkeit der natürlichen Züchtung, sie bringt eine grosse Menge kleiner Abweichungen hervor, unter welchen die natürliche Züchtung die nützlichen gewissermassen aussucht, 24 Die natürliche Züchtung allein würde so wenig die Bildung neuer Arten zu Stande bringen, als die Schwerkraft allein im Stande wäre, der Erde eine elliptische Bahn um die Sonne anzuweisen; wie hier der tangentiale Anstoss, so muss dort die Variabilität hinzukommen. 5 Bei ferneren Untersuchungen über Entstehung der Arten wird daher vor Allem die Frage zu lösen sein: was ist Variabilität? Versuchen wir der Natur dieser Lebensthätigkeit der Organismen auf die Spur zu kommen , so ist vor allem klar , dass sie aufs genaueste mit der Vererbungsfähigkeit zusammenhängt. ; Man definirt gewöhnlich diese letztere als die Fähigkeit der Or- ganismen , ihre Eigenschaften auf die Nachkommen zu übertragen. Es scheint mir jedoch diese Fähigkeit nur so gedacht werden zu können, dass dem Keim des Organismus durch die Mischung seiner Bestand- theile*) eine ganz bestimmte Entwi eklungsrichtung mitgetheilt wird, dieselbe Entwicklungsrichtung , wie sie der älterliche Organis- mus zu Anfang besessen hat**), so dass also unter absolut gleichen äusseren Einflüssen auch absolut gleiche Entwicklungsstadien vom kindlichen wie vom älterlichen Organismus durchlaufen werden müssen. ши”) Зођаја man die Vererbungsfähigkeit als die Uebertragung einer Entwicklungsrichtung ansieht, kann die Erklärung der Variabilität nicht schwer fallen. Es ist klar, dass die äussern Einflüsse bei der Entwicklung zweier Individuen niemals absolut gleich sind; schon von der ersten Bildung des Eies an werden verschiedene Einflüsse die durch Vererbung übertragene Entwickelungsrichtung bald hierhin, bald dorthin ein wenig ablenken , und es kann demnach auch das Ent- Ж) Darunter verstehe ich die chemisch-physikalische Zusammensetzung in Ver- bindung mit der Molekularstructur. **) Die Frage nach den Ursachen der Gleichartigkeit in der Entwicklungsrich- tung des kindlichen und älterlichen Organismus kommt hier nicht in Betracht, sie liegen, wie HÄckEL (Generelle Morphologie, Bd. II, 5. 174) sehr scharf und klar hervorgehoben hat, in der überall stattfindenden materiellen Continuität zwischen beiden. Noch weniger ist hier der Ort, darauf einzugehen, auf welche Weise man sich die Uebertragung der Entwicklungs- oder Bildungsrichtung durch die Materie zu denken habe, wie dies DARWIN neuerdings in seiner jedenfalls geistreichen Hypo- ‚these der Pangenesis zu thun versucht hat (»Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication« ‚Bd. 2, 6. 470.) 25 wickelungsresultat nicht absolut dasselbe sein, sondern der Bau von Kind und Aeltern wird sich in jedem Lebensstadium durch kleine Ab- weichungen unterscheiden. Die Variabilität ist nach dieser Auffassung nichts Anderes, als die Resultante aus der ererbten Entwickelungsriehtung und den äussern Einflüssen, und die letzten Triebfedern der Artbil- dung müssen in der Erblichkeit und in den äussern Einflüssen gesehen werden; letztere wirken dabei in zweifachem Sinn, einmal als eine die Vererbung modificirende, individuelle Eigenthümlichkeiten hervorbringende Kraft, und dann gewissermassen als Regulator der entstandenen Variationen, als natürliche Züchtung. ‚Wenn es aber auch sicher scheint, dass die für jedes Individuum verschiedenen äussern Einflüsse die ererbte Entwicklungsriehtung etwas ablenken und zu individuellen Unterschieden den Anstoss geben müssen, so ist damit doch keineswegs bewiesen, dass es ausser dieser die Entwicklungsrichtung der Vorfahren modifieirenden Kraft nicht etwa noch innere Ursachen dafür gäbe! Darwin selbst erkennt diese Möglichkeit алі, wenn er sagt, »dass die individuellen Differenzen wahrscheinlich die einzigen seien, welche bei der Erzeugung neuer Species von Wirksamkeit sind «. Es wäre denkbar, dass den Organismen eine Kraft innewohne, mittelst welcher sie im Laufe zahlreicher Generationen ihre Gestalt än- derten und sich zu einer neuen Art umwandelten. Es müsste dann mit Nothwendigkeit aus einer bestimmten Art nach Ablauf einer ge- wissen Zeit eine oder mehrere neue, ebenfalls ganz fest bestimmte Arten hervorgehen, und das gesammte Thier- und Pflanzenreich müsste mit Nothwendigkeit sich gerade zu der Gestalt aus den nie- dersten Organismen entwickelt haben, in welcher es uns faktisch ent- gegentritt; die Organismenwelt hätte so wenig anders ausfallen kön- пеп, als aus dem Ei einer Taube etwas anderes kommen kann als eine Taube! Eine solche Vorstellung ist unstatthaft, da sie im Widerspruch mit Thatsachen steht. Der Mensch vermag nach seiner Willkür durch künstliche Züchtung neue Racen hervorzubringen, mit andern Wor- 26 ten: er vermag die Organismenwelt umzugestalten, wenn auch nur innerhalb enger Grenzen; dies könnte aber nicht der Fall sein, wenn nur diese organische Welt möglich gewesen wäre, die wir thatsächlich beobachten! Ohnehin ist es nicht erlaubt, eine un- bekannte Kraft anzunehmen , wo wir mit den bekannten Kräften zur Erklärung der Erscheinungen ausreichen oder doch hoffen dürfen, nach weiteren Forschungen einst auszureichen. | _ Gerade aus diesem Grunde kann ich auch nicht einem Vervoll- kommnungsprineip *), in dem Sinn, in welchem es ХХскы auf- gestellt hat, beistimmen. Zur Erklärung der allmälig zunehmenden Complication des Baues von den niedersten bis zu den höchsten Or- ganısmen ist es sicherlich nicht nothwendig; hier reichen wir mit dem Nützlichkeitsprineip vollständig aus und schliessen uns noch dazu viel genauer den Thatsachen an, indem bekanntlich auch rückwärts laufende Reihen von complieirterem zu einfacherem Bau vorkommen, am auf- fallendsten bei den Schmarozerkrebsen. Wohl aber gibt es andere Erscheinungen, welche zeigen, dass wir allein mit dem Nützlichkeitsprineip nicht ausreichen. NÄGELI be- tont mit Recht, dass besonders im Gebiet der Botanik rein morpholo- gische Charaktere, z. B. die Blattstellung, meist eine grosse Constanz besitzen. Dies könnte nach dem N ützlichkeitsprineip nur bei nütz- lichen, d. h. physiologisch wichtigen Merkmalen der Fall sein. Auch im Thierreich lassen sich derartige Beispiele auffinden. - Ich rechne z. B. hieher die feinere Zeichnung auf den Flügeln der Schmet- terlinge, die häufig bis in die kleinsten Einzelheiten eine auffallende Constanz zeigt und doch schwerlich von irgend einem physiologischen Werth sein möchte; hierher gehören auch die Schilder auf dem Kopf der Schlangen , welche ebenfalls in Zahl und Stellung grosse Constanz bei den einzelnen Arten besitzen. Mir scheint, dass solche Thatsachen zeigen, wie man bisher zu ausschliesslich nur einen Factor der Artbildung ins Auge gefasst hat, *) NÄGELI, »Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art«, München 1865, 27 wie aber noch ein zweiter in Betracht kommt, der sich gewissermassen von selbst versteht und gerade deshalb wohl bisher vernachlässigt wurde. Ich glaube, dass dieser zweite Factor nichts Anderes ist, als die spe- cifische Natur der Organismen, die eigenthümliche, chemische und f physikalische Zusammensetzung ihres Körpers. Ein bestimmter Organismus besitzt bestimmte, nach Zahl und Qualität feststehende Eigenschaften, nicht aber alle denkbaren Ei- genschaften zu gleicher Zeit, und daraus folgt offenbar, dass derselbe die Fähigkeit abzuändern auch nur in begrenztem Sinn besitzen kann, dass er nur nach solchen Richtungen hin variiren kann , welche mit seiner chemischen und physikalischen Constitution vereinbar sind; er kann somit nicht alle denkbaren Abänderungen hervorbringen, son- .dern nur bestimmte, wenn auch noch so zahlreiche. Es beruht auf einseitiger Uebertreibung der Darwın’schen Lehre, wenn oft behauptet wird, die Organismen könnten nach allen mö g- lichen Richtungen hin variiren. Freilich nach allen möglichen, aber auch nur nach den möglichen, womit zugestanden wird, dass es auch unmögliche gibt! Sobald wir diesen zweiten Factor, die Natur der Organismen selbst, mit in Betracht ziehen, erklärt sich die Constanz rein morpho- logischer Charaktere von selbst. Individuelle Abweichungen entstehen durch Einwirkung äusserer Verhältnisse auf die ererbte Entwicklungs- richtung, sie sind nicht zufällig, sondern müssen so oder so ausfallen, je nach der Qualität der äussern Einflüsse und der Natur des Individuums. Es können nün sehr wohl dieselben Einflüsse zugleich nützliche , phy- siologisch wichtige und physiologisch indifferente, rein morphologische Abweichungen derart hervorrufen, dass die einen nicht ohne die an- dern entstehen können, dass beide zugleich die Reaction des Organis- mus auf den bestimmten äussern Einfluss sind; beide Abänderungen werden dann erhalten werden und beide, da sie innerlich verbunden, | die gleiche Constanz erlangen müssen. *) Ж) Es ist dies die «Correlation der Theile«, welche es mit sich bringt, dass kein Theil eines Organismus verändert werden kann, ohne dass zugleich Verände- rungen in andern Theilen einträten; siehe HÄCKEL, Generelle Morphologie, Bd. I, танини. ee nenn, 28 Wir begreifen dann auch die Schöpfung als eine N othwendig- keit und nicht als einen blossen Zuf all, wie sie vom Standpunkt des reinen Nützlichkeitsprineips erscheinen muss. Man hat der DAR- wın’schen Theorie oft vorgeworfen , sie lasse die Natur gewissermassen umhertappen nach neuen Lebensformen ; doch dieser Vorwurf muss fallen , sobald man sich bewusst wird, dass dieZahlund Artder möglichen Variationen durch die eigenthümliche Natur einer jeden Art fest bestimmt ist. Diese Variationsrichtungen werden bei jedem Individuum theils ererbte sein, theils erworbene, denn sie werden abhängen von der chemischen und physikalischen Zu- sammensetzung seines Körpers, und diese haben wir definirt als die Resultante aus der ererbten Entwicklungsriehtung und den äussern Einflüssen, welche diese Eintwicklungsrichtung in allen Momenten ihrer Dauer um ein Geringes ablenken können. N euen Arten muss deshalb auch eine neue, etwas modificirte Variationsfähigkeit zukommen, und je weitläufiger die Verwandtschaft zweier Arten ist, um so verschie- dener muss ihre Variationsfähigkeit sein, da ihre gemeinsamen Stamm- eltern um viele Generationsreihen hinter ihnen zurückliegen und die jenen eigene Variationsfähigkeit von den folgenden Generationen in verschiedener Weise abgeändert wurde. Es erscheint hiernach unum- stösslich nothwendig, dass eine Katze in anderer Weise variirt als ein Hund oder gar als ein Infusorium; es erklärt sich weiter, dass nicht von jedem Punkt der sich entwickelnden Schöpfung aus ein jeder an- dere erreicht werden kann, dass z. B. aus einem Affen niemals » auch nicht nach den ungeheuersten Zeiträumen und den günstigsten äussern Verhältnissen ein so heterogener Organismus wie der eines Eichbaums werden kann. Das scheint selbstverständlich,, ist es aber doch nur dann, wenn 5. 158, und DARWIN, » Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Dome- stication«. So sind die oben als Beispiel angeführten Schilder auf dem Kopf der Schlangen gewiss von keiner direkten Bedeutung für das Leben ihrer Träger; ob der hintere Augenrand von zwei, drei oder vier Schildern gebildet wird, kann schwerlich irgend eine Funktion des Thieres beeinflussen; allein es wäre sehr wohl möglich, dass die grössere oder geringere Zahl der Hautschilder an dieser Stelle mit dem Schädelwachsthum in Correlation steht, 29 man sich bewusst wird, dass nicht lediglich die natürliche Züchtung und der Kampf um’s Dasein die Qualität neu zu bildender Arten be- stimmen, sondern dass mindestens ebensoviel dabei von der Qualität des zu verändernden Organismus*) abhängt; dass die natürliche Züch- tung nur die Auswahl trifft unter den vielen möglichen Abänderungen der Individuen und dass die Arten die Resultanten sind aus der natürlichen Züchtung und der Variationsqualität ihrer Stammältern. - 2 Nach alle dem, was bisher gesagt wurde, möchte es jetzt von Nutzen sein, die Parallele zu wiederholen zwischen der Entwickelung des Individuums und der der gesammten organischen Schöpfung , aber in genauerer und richtigerer Weise, als sie vorhin angedeutet wurde. Aus dem Ei einer Taube entwickelt sich ein Vogel, den wir eben- falls als Taube bezeichnen, der sich aber durch tausend kleine Einzel- heiten von seinen Aeltern, wie von allen übrigen Tauben unterscheidet. Diese individuellen Eigenthümlichkeiten sind , wie wir gesehen haben, die Resultante aus der von den Aeltern ererbten Entwickelungsrichtung ` und den äussern Einflüssen. Nehmen wir erstere als einmal gegeben an, so hätten letztere auch andere sein können, und wir würden dann statt der Eigenthümlichkeiten а — z vielleicht die Eigenthümlichkeiten œ — о beobachten. 3ei der Entwickelung der organischen Schöpfung finden wir ganz ж) Obgleich ich dem Vervollkommnungsprineip NÄGELYs nicht zustimmen kann, so glaube ich mich doch mehr in formellem als in sachlichem Widerspruch mit den Ansichten dieses scharfsinnigen Forschers zu befinden. Das Vervollkomm- nungsprineip, welches er in die Organismen hineinlegt, kann im Grunde wohl kaum anders gedacht werden , denn als ein Theil ihrer specifischen Natur , als ein Ausfluss ihrer chemisch-physikalischen und molekularen Zusammensetzung; jedenfalls ver- steht es NÄGELI selbst in dieser Weise. Allein einestheils wissen wir noch so wenig von der Aufeinanderfolge der organischen Formen, so dass die Benennung »Ver- vollkommnungsprincip« etwas gewagt erscheint — es könnten Ja rückwärts laufende Artenreihen in grösserer Ausdehnung vorkommen, als es uns jetzt bekannt ist — und dann liegt wohl in der Aufstellung eines solchen Prineips, mag man es benennen wie man will, stets eine grosse Gefahr des Missverständnisses „ sobald man dasselbe als etwas ausserhalb und gewissermassen über der physischen Natur der Orga- nismen Stehendes auffasst, nicht als etwas in ihnen selbst Gelegenes, als einen Theil ihrer physischen Natur. 30 Aehnliches. Bei der Bildung einer neuen Art aus irgend einer Stammart ist es die Variationsqualität der Stammart einerseits, andererseits jene äusseren Einflüsse, welche Darwın als den Kampf um’s Dasein zusam- menfasst, welche die Qualitäten der neuzubildenden Art bestimmen. Auch hier findet eine Auswahl der möglichen neuen Charaktere durch die äusseren Verhältnisse statt, ganz wie bei der Entwickelung des In- dividuums. Auch hier würden aus der Stammart ganz andere Arten hervorgehen, sobald andere äussere Einflüsse wirkten. Was bei der Entwickelung des Individuums die ererbte Entwickelungsrichtung, das ist bei der Artbildung die Variationsqualität; auf beide wirken die äusseren Verhältnisse ein, indem sie aus den möglichen Charakteren diese oder jene auswählen. — Es folgt daraus, dass die gesammte organische Welt eine sehr andere hätte sein müssen, wenn die äusseren Einflüsse nicht genau die gewesen wären, welche ві гер; die Zahl der möglichen Schöpfungen lebender Wesen ist offenbar eine überaus grosse, unter den einmal ge- gebenen Verhältnissen aber konnte nur gerade diejenige entstehen, welche wirklich entstanden ist. Soll ich zum Schluss die Resultate unserer Untersuchung zusam- menfassen,, so hat sich zuerst gezeigt, dass die Transmutati ons- hypothese die einzige, wissenschaftlich berechtigte Vorstellung über die Entstehung der organischen Natur ist. Da weiter die Darwın’schenPrincipien vom Kampf um’s Dasein und der natürlichen Züchtung in Verbindung mit der allen Orga- nismen zukommenden Fähigkeit der Vererbung und Variabilität noth- wendig zur Bildung einer Lebewelt führen , wie sie die Transmutations- hypothese annahm , so wird 416 Wahrscheinlichkeit der Letz- tern dadurch bis nahe zur Gewissheit gesteigert, | Wenn ich mehrmals die Transmutationstheorie mit der Coperni- canischen Welttheorie verglich, so geschah dies nicht aus blos äusser- lichen Gründen, sondern weil ich der Ueberzeugung bin, dass in der That seit dem Durchdringen der Copernicanischen Theorie kein ebenbürtiger Fortschritt in der menschlichen Erkenntniss gethan wurde, als erst jetzt in der Darwın’schen Theorie. 31 Wie damals plötzlich neue Gebiete sich der Forschung öffneten, - von denen bis dahin Niemand eine Ahnung gehabt hatte, so zeigt sich auch jetzt wie nach dem Erklimmen eines Gebirgskammes ein weites neues Land, zu dessen Erforschung Tausende und Tausende von Men- schenkräften nicht ausreichen werden. Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang der Wissenschaft vom organischen Leben, das zeigt am deutlichsten Фе Darwın’sche Lehre: denn sie, wie alle grosse Entdeckungen wirkt weit in die Zukunft; sie gibt uns neue Einsicht, aber vor Allem eröffnet sie uns neue Aussichten. Anhang. Ueber den Binfluss der Wanderung und räumlichen Isolirung auf die Artbildung. Мовтт? WAGNER in seiner Schrift »Die Darwın’sche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen« hält die natür- liche Züchtung nicht für ausreichend zur Erklärung der Entstehung neuer Arten, er glaubt, dass die nothwendige Vorbedingung für die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung die W anderung der Or- ganismen und deren räumliche Abgrenzung und Isoli- rung sei. Offenbar kommt auch der Wanderung der Organismen ein sehr bedeutender Einfluss auf die Artbildung zu, wie dies aus den früheren Betrachtungen Darwın’s über die Faunen oceanischer Inseln und ebenso aus den schönen Beispielen hervorgeht, welche WAGNER neuerdings mittheilt. Trotzdem scheint mir WAGxer die Bedeutung seines Migrationsprineips doch zu hoch anzuschlagen , wenn er dasselbe für einen unentbehrlichen Factor der Artbildung hält. Der Grundgedanke der Wagner’schen Ansicht ist gewiss ganz richtig: Die Bildung einer Abart kann nur dann zu Stande kommen, wenn die stete Kreuzung mit der Stammart verhindert wird, oder ‘schärfer und richtiger, wenn die stete Kreuzung. mit einer Ueberzahlvon Individuen der Stammart verhindert wird. Eine absolute Abschliessung gegen die Stammart kommt auch durch isolirende Wanderung nicht zu Stande! Nehmen wir den gün- stigsten Fall, ein einziges Paar einer geschlechtlich sich fortpflanzen- den Thierart isolirt auf einer Insel, das eine Individuum besitze eine ‚ ungewöhnliche individuelle Eigenheit, so wird sich dieselbe zwar alle vererben. Die übrigen werden der Stammart gleichen und eine ` Kreuzung der abgeänderten Nachkommen mit nichtabgeänderten d. h. eine Kreuzung der beginnenden Varietät mit der Stamm- art ist unvermeidlich. Nach Wacner- könnte demnach keine neue Race oder Art sich bilden, da nach ihm Kreuzung mit der . Stammart ein absolutes Hinderniss dafür darstellt! In der That würde auch in dem angenommenen Fall keine neue Art zu Stande kommen, vorausgesetzt, dass beide Formen der Art, sowohl die abgeänderte als die ursprüngliche gleich günstig ausgestattet wäre für die neuen Le- bensbedingungen. Es wären dann zwei Fälle denkbar; einmal könn- ten beiderlei Individuen in beinahe gleichem Verhältniss neben einan- der leben, oder aber ihre Charaktere werden sich vermischen und es kommt schliesslich zur Entstehung einer Thierform, die sich von der Stammart durch ein unbedeutendes Merkmal unterscheidet. Eine Weiterentwickelung dieses Merkmals, eine Häufung oder Steigerung desselben, mithin die Bildung einer neuen Race und Art kann nur dann geschehen, wenn die betreffende individuelle Eigen- heit seinem Träger einen Vortheil im Kampf um’s Dasein gewährt, dessen die anderen Individuen entbehren. Sobald dies der Fall ist, _ werden die Träger der nützlichen Abänderung an Zahl relativ und absolut zunehmen , die andern Individuen abnehmen müssen und die nützlichen Charaktere werden sich häufen können, weil die Kreuzung mit nicht abgeänderten Individuen in dem Masse seltener wird, als diese selbst an Zahl abnehmen Di *) Das ist ja eben die so oft und wie mir scheint auch von WAGNER missver- standene Lehre von der natürlichen Züchtung (siehe z. B. bei WAGNER S. 54 , Zeile 3—7). Dass abgeänderte Individuen sich nur mit abgeänderten paarten, hat DARWIN nie behauptet, wenn er auch allerdings die geschlechtliche Auswahl für die Bildung neuer Arten verwerthet und gewiss mit vollem Recht. Wenn aber selbst Abweichungen, welche ihrem Träger grössere Aussicht verleihen, zum Akt der Fort- pflanzung zu gelangen, eine noch viel bedeutendere Rolle spielten, als wir bis jetzt anzunehmen berechtigt sind, so würden sie doch immer nur einen kleinen Theil der Erscheinungen bilden, welche als natürliche Züchtung bezeichnet werden, da sie sich nur auf einen einzelnen Lebensprocess, den Akt der Fortpflanzung beziehen, die natürliche Züchtung aber von jeder Function und jedem Organ ausgehen kann. 9 # wahrscheinlich auf einige seiner Nachkommen , gewiss aber nicht auf 34 Es wird demnach in diesem Fall durch die natürliche Züchtung, keineswegs aber durch die Isolirung die Kreu- zung mit einer Ueberzahl von Individuen der Stammart verhindert. Offenbar arbeitet die Isolirung der natürlichen Züchtung in die Hände und zwar um so mehr, je vollständiger sie ist und je geringer die Anzahl der Auswanderer ist, welche die neue Ansiedelung ur- sprünglich zusammensetzten. Es findet kein absoluter, sondern nur ein gradueller Unterschied statt für die Artbildung durch natürliche Züch- tung auf dem primären Wohnort und auf einer isolirten Wanderstation. Wie eben gezeigt wurde, ist auch unter den allergünstigsten Bedin- gungen der Isolirung vollständige Verhinderung einer Kreuzung mit der Stammart unmöglich. Einige Nachkommen des ersten Paars wer- den stets der Stammart nachschlagen und der Besonderheiten ihres einen Erzeugers entbehren. Je grösser die Anzahl der ursprünglichen Kolonisten, um so grösser gleich von vorn herein auch die Anzahl der nicht abgeänderten Individuen und um so langwieriger der Process der Aussonderung derselben durch natürliche Züchtung. Ob der mil- lionste Theil der Individuen einer Art eine Kolonie bildet, oder der hundertste, oder der zehnte > das kann diesen Process zwar wesentlich beschleunigen oder verlangsamen , nicht aber ihn umändern oder gar unmöglich machen, und wenn die eine Hälfte aller Individuen der Art auswandert und abändert, warum sollte die zurückbleibende Hälfte nicht auch abändern und neue Arten hervorbringen können, falls sie nur Veranlassung dazu hat? Dass WAGner entschieden irrt, wenn er die Isolirung durch Wanderung für die unerlässliche Voraussetzung der Artbildung erklärt, geht am einfachsten aus der oben angeführten, || äusserst sorgfältigen Untersuchung HILGENDORF’s hervor, nach wel- | | cher Planorbis multiformis oh пе zu wandern, in ein und demselben || Süsswassersee im Laufe der Zeit successiv, nicht etwa gleich- , zeitig neunzehn verschiedene Racenformen durchlaufen hat! Allein es gibt noch eine ganze Reihe von andern Thatsachen, welche gegen die Wacnzr’sche Ansicht sprechen. | Ich habe mir schon lange die Frage vorgelegt, ob es denkbar sei, 35 dass eine Art auf ein und demselben Wohnbezirk sich in zwei neue Arten spalten könne. A priori ist eine solche Spaltung vom Standpunkt des Nützlich- keitsprincips aus sehr wohl denkbar, da eine Thierform sich veränder- ten Lebensbedingungen in dieser oder jener Weise anpassen kann, und keineswegs behauptet werden darf, wie dies von NÄGELI geschehen ist, es gebe nur eine einzige, bestangepasste Form. Allein auch die Erfahrung spricht dafür. Einmal die Gr phische Verbreitung der Arten. Wir finden nahe verwandte Arten auf ein und demselben Raum beieinander, ohne dass man bere@htigt wäre, die eine von beiden als eingewandert zu betrachten, da beide ungefähr denselben Verbrei- | tungsbezirk besitzen. Ganz besonders auffallend ist dies bei Schmet- terlingen, wo häufig mehrere ganz nahe verwandte Arten einer Gat- tung denselben Verbreitungsbezirk besitzen; so Vanessa polychloros und V. urticae, Limenitis populi, L. Sibylla und L. Camilla, Apatura Tris und Ша, Satyrus Proserpina und Hermione, Pararga Maera und Megaera und viele andere. Die Naturbeobachtung des Volks hat einen Theil dieser Beziehungen sehr treffend ausgedrückt durch. die Bezeich- nung: der »grosse und der kleine« Fuchs, Eisvogel, Weinschwärmer etc. und es wäre nicht unmöglich, dass in der That grade die Verschiedenheit in der Grösse der Individuen bei einigen Arten zu einer Spaltung der Stammart die Veranlassung ge- gegeben hätte! Doch mag es wohl sein, dass grade bei den Schmet- terlingen, bei welchen Zeichnung und Färbung der Flugorgane fast allein nahe stehende Arten unterscheiden lassen, gewisse Farbenschat- tirungen die geschlechtliche Auswahl zur Paarung bestimmen, wie dies, wenn ich nicht irre , bereits von Darwın irgendwo angedeutet wurde. Aber es lassen sich noeh zweifellosere Beispiele anführen für die Spaltung einer Art auf ein und demselben Wohnplatz. Ich brauche nur an die doppelten Männchen von Tanais dubius zu erinnern , die Riecher und Packer F. MüLLERS*) oder an die dreifachen , durch Fär- Ж) А, а. О. 8.13 zugleich die beste 'Widerlegung der Ansicht, als ob es für bestimmte Tebensbedingungen nur je eine bestangepasste Form gehen könne, аж 36 bung und Gestalt verschiedenen Weibchen von Papilio Memnon! Auch ‚der auf früheren Entwickelungsstadien vorkommende Dimorphismus | gehört hierher; so die bei zahlreichen Schmetterlingen vorkommenden | doppelten oder dreifachen Raupenformen,, eine äusserst merkwürdige, а | aber bisher noch wenig gewürdigte Erscheinung. Jedem Schmetter- " lingsammler ist es bekannt, dass die Raupen von Chaerocampa elpenor theils schwarz sind , theils braun , theils grün; alle drei Formen finden sich meist auf einem Fleck beisammen und stehen nicht in Beziehung zum Geschlecht. Aehnlich verhält es sich mit den Raupen des Olean- derschwärmers , Chaerocampa nerii, und zweierlei Raupenformen sind mir von Sphinx convolvuli, Smerinthus tiliae und Macroglossa stella- tarum bekannt. | | Es kann sich demnach eine Art sowohl nur für ein Geschlecht, als selbst nur für ein einzelnes Entwickelungsstadium in mehrere For- men spalten. Damit ist ein zweiter Beweis geliefert, dass eine Art neue Racen hervorbringen kann , ohne zu wandern. Umgekehrt lässt sich auch nachweisen , dass Wanderung, auch wenn sie eine vollständige Isolirung der Kolonie mit sich bringt , nicht ausreicht, um eine Art zum Abändern zu zwingen. Die kosmopoliti- ‚schen Schmetterlinge beweisen das vielleicht am schlagendsten. Vanessa cardui findet sich in allen Welttheilen und ebenso Vanessa atalanta. Die ‚Individuen , welche Amerika bewohnen sind gewiss vor Kreuzung mit den europäischen Individuen absolut geschützt und dennoch haben sie nicht abgeändert. Die Möglichkeit, dass gelegentlich einzelne Individuen mit Schiffen nach Amerika gebracht werden, ist zwar zuzugeben, allein schwerlich wird Jemand behaupten wollen, dass diese unendlich ge- ringe mögliche Kreuzung mit der Stammart ihr Abändern verhindere. Eine Kreuzung einzelner Europäer mit einer ungeheuern Ueberzahl von Amerikanern wird so wenig irgend welche dauernde Wirkung aus- üben, als nach WAGNER einzelne auserlesene Stiere oder Hengste im Stande sind das halbwilde Steppenvieh Südamerika’s zu veredeln Е одо 4. 08-6, 54; 37 Ich versuchte zu zeigen , dass weder die Wanderung noch die Iso- lirung einer Kolonie unerlässliche Vorbedingung für das Abändern einer Art sei und es muss demzufolge die Berechtigung eines sogenann- ten Migrationsgesetzes entschieden bestritten werden, wie dies auch von Darwin selbst in brieflicher Mittheilung an WAGNER *), wenn auch mehr sachlich als formell, geschehen ist. Wenn nun, wie wir gesehen haben, die Isolirung keineswegs im Stande ist, die Kreuzung mit der Stammart zu verhindern, indem stets ein Theil der isolirten Individuen und ein noch grösserer Theil ihrer Nachkommen dem unveränderten Typus der Stammart angehören muss, | so drängt sich die Frage auf, welche andere Ursachen die so auffallenden Wirkungen der Isolirung hervorbringen. Weshalb finden wir auf den oceanischen Inseln so eigenthümliche Faunen und so viele nur ihnen angehörige Arten, weshalb auf den isolirten Vulkanen Südamerika’s ganz ähnliche Verhältnisse? oder mit andern Worten, warum haben die Einwanderer auf solchen abgeschlossenen Gebieten sich meist in neue Arten umgewandelt? Eine Ursache dafür liegt wohl gewiss in den höchst eigenthüm- lichen Lebensbedingungen, denen die Auswanderer auf solchen Ge- bieten begegnen. Die Zusammensetzung der Thier- und Pflanzen- kolonie ist stets eine ganz besondere, wie sie nur dort und nirgends anders ganz ebenso vorkommt und der Kampf um’s Dasein gestaltet sich für jede weiterhin noch eindringende Art anders, als an irgend einem andern Ort. е In diesen Ursachen liegt, wie mir scheint, der Anstoss zum Abändern; es erklären sich daraus die vielen Localarten solcher Insulargebiete. Allein wir können weiter gehen und behaupten, dass der Process der natürlichen Züchtung wenn auch ‚nicht gradezu erst ermöglicht, doch sehr wesentlich begünstigt und beschleunigt wird durch räumliche Isolirung. Ев liesse sich das, wenn nöthig, mathema- tisch nachweisen und geht schon aus meinen obigen Betrachtungen über die Wirkung der Isolirung hervor. Wenn wir die Wirkung der ж) Siehe die Vorrede zu WAGNER’S Schrift. 38 natürlichen Züchtung darin finden, dass sie die stete Kreuzung der begünstigten Abart mit einer Ueberzahl von Individuen der Stammart verhindert, indem sie diese letzteren allmälig an Zahl abnehmen und schliesslich aussterben lässt, so leuchtet ein , dass sie dieses Ziel um so früher erreichen muss, je günstiger das Verhältniss der Individuenzahl der Abart zur Art von vornherein sich stellt. Wenn hundert Individuen auswandern und eine Kolonie gründen und nur ein einziges von ihnen eine für die neuen Lebensverhältnisse besonders günstige Abänderung besitzt, so wird die Bildung einer neuen Art durch die Nachkommen dieses einen Individuums jedenfalls sehr viel länger dauern, als wenn nur zwei Individuen die Kolonie gründeten, von denen das eine die günstige Eigenthümlichkeit besass. Es muss deshalb die Umwandelung einer Art auf isolirtem Gebiet um so rascher vor sich gehen, je geringer die Zahl der Einwanderer ist; am langsamsten wird sie da vorrücken , wo keine Isolirung statt- findet, und wo eine solche nur unvollkommen sich herstellt, wird sie fort und fort gestört und also ebenfalls bedeutend verlangsamt werden. Es werden sich in diesem letzten Fall vielleicht an den Berührungs- stellen der Kolonie mit dem ursprünglichen Artbezirk Vebergangsfor- men bilden, die man recht wohlals geographische Mittelformen bezeichnen kann. » Fassen wir das Resultat zusammen, so wirkt die räumliche Isoli- rung einmal dadurch, dass sie den Anstoss zur Abänderung gibt, dann aber begünstigt sie den einmal eingetretenen Abänderungsprocess und stellt das Endprodukt desselben, die neue Art scharf b egrenzt hin, indem sie die Bildung geographischer Mittelformen ausschliesst. Es wird von grossem Interesse sein, im einzelnen zu ergründen , in welcher Weise überhaupt eine Isolirung stattfinden kann , wie die ver- schiedenen Grade derselben auf die Gestalt der neuen Art, auf die Schärfe ihrer Abgrenzung gegen die Stammart und die mehr oder min- der vollständige Unterdrückung geographischer Mittelformen einwirkt. Die Mittel, dureh welche eine mehr oder minder vollständige Iso- lirung erreicht werden kann, sind gewiss sehr mannichfaltig. So be- dingt schon die schwerfällige Locomotion einer Thierart deren relative 39 Isolirung und schwerlich würden Schnecken- und Maulwurfarten so weite Verbreitungsbezirke haben, als sie in der That besitzen, wenn СЕДИ И nicht durch weithin ausgedehnte Gleichförmigkeit der Lebensbedin- gungen des Anstosses zur Abänderung entbehrten. | Auf einen Modus der Isolirung möchte ich hier noch aufmerksam machen, der mir im Laufe dieses Sommers durch lepidopterologische Studien nahe gelegt wurde. Es kann nämlich offenbar für alle an Pllan- zen gebundenen Thiere, wie vorzüglich für die Insekten räumliche Iso- lirung durch Ausdehnung, des Wohnbezirks auf verschiedene Meeres- | höhen bewirkt werden. Die Kreuzung mit einer Ueberzahl der Stammart | wird hier einfach dadurch verhindert, dass in grösserer Höhe die Nähr- | pflanze später aus der Winterruhe erwacht, das betreffende Insekt also | auch später seine Geschlechtsreife erlangt und zu einer Zeit sich fort- | pflanzt, wo die in der Ebene lebenden Individuen der gleichen Art die \ Fortpflanzung bereits vollzogen haben und abgestorben sind. Ich denke dabei hauptsächlich an gewisse Falter der Ebene, welche sehr nahe Verwandte im höheren Gebirge besitzen. So fliegt z. B. Erebia Medusa hier bei Freiburg im Mai und An- fang Juni in der Ebene und auf niederen Bergen, die sehr nahe ver- wandte Erebia Stygne aber einen Monat oder mehr später, wenn längst keine Medusa mehr zu sehen ist, hoch im Gebirge, in 1000 — 5000’ Meereshöhe. Allerdings greifen jetzt die beiden Arten an einzelnen Orten übereinander, aber darin liegt Nichts, was der Annahme gemein- samer Abstammung widerspräche, denn jede einmal scharf ausgeprägte Art strebt sich auszubreiten und kann mit ihren nächsten Verwandten. auf ein und demselben Raum zusammenstossen , ohne der Gefahr einer Verschmelzung mit ihr ausgesetzt zu sein. Dass aber grade bei Medusa und Stygne die Verbreitungsbezirke nur selten und stellenweise über- einander greifen , scheint darauf hinzudeuten, dass beide seit der Zeit ihrer Entstehung keine Wanderungen im grossen durchgemacht haben, mit andern Worten, dass sie sich erst nach der Eiszeit voneinander ge- schieden haben. ig. = L ~ ~ = - Ф за ~ Ко юм ян! = = = = са 2. о = Зэ Бен Ф ~ са а о > ~ v Е ~ == nn nn М < Bei Wilhelm Engelmann in Leipzig erschien ferner: FÜR РАВУТМ Von Fritz Müller. Mit 67 Figuren іп Holzschnitt. gr. 8. 1864. br. 1 Thlr. 71, = | , Uee die : Darwin’ sche Schöpfungstheorie. (ні am 13! Februar 1864 / n der physiol. med. Gesellschaft 4и Würzburg gehaltener Vortrag von « А, Kölliker, Professor der Anatomie und Physiologie an der Universität Würzburg. gr. 8. 1864. brosch.. 3 Хат. Die ‚Entwicklung der Pipteren. | Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Insecten, Von Dr. August Weismann, Privatdocent an der Universität Freiburg im Br. I. Die Entwicklung der proroga im Ei. — II. Die nachembryonale Entwicklung der Museiden. e Mit 14 Kupfertafeln. gr. 8. 1864. br. 3 ТИ. 20 Ngr. | Die Metamorphose .der Corethra plumicornis. Ein weiterer Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der Insecten. Von Dr. Aug. Weismann. Mit 5 Kupfertafeln. S. 1866. brosch. 1 Thlr. 10 Ngr. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.