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ABHANDLUNGEN

DER

KÖNIGLICHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu BERLIN.

1896.

ABHANDLUNGEN

DER

KÖNIGLICHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu BERLIN.

1896.

ABHANDLUNGEN

DER

KONIGUCHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu BERLIN.

AUS DEM JAHRE

1896.

MIT 16 TAFELN.

BERLIN.

VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

1896. IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.

^ SöC/ IJIh.f

Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.

Inhalt

öffentliche Sitzungen S. vii viii.

Ver/eichnifs der im Jahre 1896 gelesenen Abhandinngen S. viii xvi.

Bericht Aber den Erfolg der Freisaussch reihungen für 1896 und neue

Preisausschreihungen S. xvii xx.

Verzeichnifs der im Jahre 1896 erfolgten Geldbewilligungen aus aka- demischen Mitteln zur Ausftlhrung wissenschafUicher Unter- nehmungen S. XX XXIII.

Verzeichniis der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage oder mit Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen

Werke S. xxiii xxv.

Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des Jahres 1896 S. xxv xxvii.

Verzeichnifs der Mitglieder der Akademie am Schlufs des Jahres 1896 S. xxviii xxxv.

Schmolle r: Ged&chtnifsrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich

von Treitschke Ged. Red. I. S. 1—43.

DU Bois-Rbymond: Ged&chtnifsrede auf Hermann von Helmholtz »IL S. 1 50.

Abhandlungen.

Physikalisch -mathematische Classe.

Physikalische Abhandlungen. Enoler: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver-

hältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.). . Abb. I. S. 1 28. Eng leb: Ober die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im

Verh&ltnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.) . » 11. S. 1 36.

Philosophisch - historische Classe.

Weinbold: Zur Geschichte des heidnischen Ritus Abb. 1. S. 1 50.

Kr man: Gespräcb eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy- rus 3024 der Königlichen Museen lierausgegeben. (Mit 10 Tafeln.) II. S. 1 77. Stumpf: Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik .... » 111. S. 1 85.

r": 'r;£*f Gelehrter

. . Abh. 1. S. 1— 66.

Jahr 1896.

Offentfiehe SitEniifciL

Siizunz am 23. Januar zum G^:5::::rJ.'- Fr.^:rIcL\IL 'ir.l zur Feier de> Ge' "irt>taz'^> S^inrr r*!k>-:i5: Ir^ Ka.-rr^

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VI

Anhang.

Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter.

Physikalische Abhandlungen. Heymons: Ginindzü«>;e der Entwickeliing und des Körperbaues von

Odonaten und Ephemeriden. (Mit 2 Tafeln.) Abh. 1. S. 1— 66.

Jahr 1896.

öffentliche Sitzungen.

Sitzung am 23. Januar zum Gedächtnifs Friedrich's IL und zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers

und Königs.

Der an diesem Tage Vorsitzende Secretar Hr. Diels eröffnete die Sitzung mit dem Glückwunsch der Akademie zum Gebuitsfest Seiner Majestät des regierenden Kaisers und Königs und mit Woiten der Erinneiiing an Friedrich den Grofsen. Dann legte er in einem Rückblick auf die letzten 25 Jahre die Veränderungen dar, wie sie sich fiir die Wissenschaft innerhalb und aufserhalb der Akademie seit der Wiederaufiichtung des Deutschen Reiches entwickelt haben.

Alsdann wurden die Berichte erstattet: über die »Politische Correspondenz Friedrich's des Grofsen« über die »Acta Borussica«

über die »Sammlung der griechischen Inschriften« über die »Sammlung der lateinischen Inschriften« über die »Prosopo- graphie der römischen Kaiserzeit« über das » Corpus nummorum«

über die » Aristoteles -Commentare« über die »Ausgabe der griechischen Kbchenväter« über den »Thesaurus linguae latinae«

über die »Humboldt«-, »Savigny«-, »Bopp«-, »Eduard Gerhard «- und »Hermann und Elise geb. Heckmann Wentzel« -Stiftungen, femer über das »Historische Institut in Rom« und über die »Kant- Ausgabe«.

VIII

Sitzung am 2. Juli zur Feier des Leibniz'schen Jahrestages.

Hr. Wald ey er, als Vorsitzender Secretar, eröffnete die Sitzung mit einer Ansprache, welche den Leibniz-Tag unter dem Gesichts- punkt der Erinnerungsfeieni des 250jährigen Gebui-tstages Leib- nizens und der 25. Wiederkehr der grofsen Gedenktage von 1870 und 1871 nach verschiedenen Richtungen beleuchtete. Dabei wurde der im Jahre 1896 begangenen Bisaecularfeier der Akademie der Künste gedacht und mit einer Kundgebung von Wünschen, welche die bevorstehende gleiche Feier der Akademie der Wissenschaften nahe legt, geschlossen.

Die neu eingetretenen Mitglieder der physikahsch- mathemati- schen Classe, HH. Kohlrausch, Warburg und van't Hoff hielten ihre Antrittsreden, welche von Hrn. Auwers als Classensecretar beantwortet wurden.

Hr. Schmoller hielt eine Gedächtnifsrede auf die seit dem letzten Leibniz-Tage verstorbenen Mitglieder Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke.

Schüefslich erfolgten die Preiszuerkenmmgen aus der Charlotten- Stiftung, aus der Graf Loubat- Stiftung und aus der Diez- Stiftung, ferner wurde die Preisaufgabe der Cothenius- Stiftung und ein Be- schluss der Commission fiir die Eduard Gerhard -Stiftung mitgetheilt.

Verzeichnifs der im Jahre 1896 gelesenen Abhandlungen. Physikalisch - mathematische Classe.

Physik und Chemie.

Biltz, Dr. H., über die Bestimmung der Moleculargröfse einiger an- organischen Substanzen. Vorgelegt von Fischer. (G.S. 9.Jan.; S.B. 80. Jan.)

Fischer und W. Niebel, über das Verhalten der Polysaccharide j gögen einige thierische Secrete und Organe. (G.S. 30. Jan.;

S.B.) Planck, über elektrische Schwingungen, welche durch Resonanz er- regt und durch Strahlung gedämpft werden. (Cl. 20. Febr.; S.B.) ' Holborn, Dr. L., über den zeitlichen Verlauf der magnetischen In-

duction. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 27.Febr.; *S. ß.) Warburg, über die Wirkung des Lichts auf die Funkenentladung. (Cl. 5.März;ÄÄ)

I Fischer, Configuration der Weinsäure. (G.S. 12.März; .S.Ä)

, Duane, W., über eine dämpfende Wirkung des magnetischen Feldes

auf roth-ende Isolatoren. Vorgelegt von Warburg. (Cl. 2 3. April; S.B.)

Brandes, Dr. G., über die Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen. Vor- gelegt von Schulze. (Cl. 7 Mai; S.B.)

Kayser, Prof H., über die Spectren des Argon. Vorgelegt von Warburg. (Cl. 7. Mai; AB.)

Landolt, über das Verhalten circularpolarisirender Krystalle im ge- pulverten Zustand. (G.S. ll.Juni;Äß. 9. Juli.)

Gold stein, Prof E., über Aufnahmen mit Röntgenstrahlen. Vor- gelegt von Möbius. (Cl. 18. Juni; S.B.)

Holborn, Dr. L. und Dr. W.Wien, über die Messung tiefer Tem- peraturen. Vorgelegt von Kohlrausch. (Cl. 18. Juni; «8. Ä)

Duane, W., über elektrolytische Thermoketten. Vorgelegt von van't Hoff. (Cl. 23. Juli; S.B. 30. Juli.)

König, Prof A., über qualitative Bestimmungen an complemen- tären Spectralfarben. Vorgelegt von du Bois-Reymond. (G.S. 30. Juli; S.B.)

Nichols, E. F., über das Verhalten des Quarzes gegen langwellige Strahlung, untersucht nach der radiometi'ischen Methode. Vorgelegt von Warburg. (Cl. 22.0ct.; S.B. 5. Nov.)

Kohlrausch, über elektrolytische Verschiebungen in Lösungen und Lösungs- Gemischen. (CI. 19. Nov.; *S. ß.)

Rubens, Prof. H. und E. F. Nichols, Beobachtung elektrischer Re- sonanz an Wärmestrahlen von grofser Wellenlänge. Vorge- legt von Planck. (Cl. IT.Dec; *S\i^.)

Mineralogie, Geologie und Palaeontologie.

Wulff, Dr. L., zur Moi-phologie des Natronsalpeters. Zweite Mit- theilung. Vorgelegt von Klein. (G.S. IS.Febr.; *S. J^.)

Wulff, Dr. L., zur Morphologie des Natronsalpeters. Dritte Mit- theilung. (Cl. 23.JuU;N.i^.)

Klein, über Leucit und Analcim und ihre Beziehungen zu einander. (Cl. 22.0ct.;.S.ß. 1897.)

Frech, Prof. F., über den Gebii'gsbau der Radstädter Tauern. Vor- gelegt von Dames. (Cl. 22.0ct.; S.B. 19. Nov.)

Salomon, Dr. W., geologisch -petrographische Studien im Adamello- Gebiet. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.0ct; S.B.)

Moericke, Dr. W., geologisch -petrographische Studien in den chi- lenischen Anden. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.0ct.; S.B. 5. Nov.)

Dames, Beiträge zur Geotektonik Helgolands. (Cl. 5. Nov.; S.B.)

Botanik und Zoologie.

Engler, über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver-

hältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Cl. 16. Jan.; Abh.) Schaudinn, Dr. F., über den Zeugungskreis von Paramoeba eilhardi

n. g. n. sp. Vorgelegt von Schulze. (CL 16. Jan.; S.B.) Dahl, Prof. F., vergleichende Untersuchungen über die Lebensweise

wirbelloser Aasfresser. Vorgelegt von Möbius. (Cl. 16. Jan.;

S.B.)

XI

Schaudinn, Dr. F., über die Copulation von Actino'phrys sol Ehrbg. Vorgelegt von Schulze. (G.S. 30. Jan.; .S.Ä)

Selenka, Prof. E., die Rassen und der Zahnwechsel des Orang- Utan. Vorgelegt von Schulze. (Cl. S.März; S.B. 19. März.)

Sclivvendener, das Wassergewebe im Gelenkpolster der Maranta- ceen. (Cl. 7. Mai; S.B.)

Dahl, Prof. F., die Verbreitung der Thiere auf hoher See. Vor- gelegt von Möbius. (GS. 25. Juni; S.B.)

Schulze, über diplodale Spongienkammem. (G.S. SO.Juü; S.B.)

von Leyden, Prof. E. und Dr. F. Schaudinn, Leydenia gemmipara Schaudinn, ein neuer in der Ascites -Flüssigkeit des lebenden Menschen gefundener amoebenähnlicher Rliizopode. (G.S. 30.Juü; S.B.)

Heymons, Dr. R., Grundzüge der Entwicklung und des Körper- baues von Odonaten und Ephemeriden. Vorgelegt von Schulze. (Cl. 22.0ct.;^6Ä.)

Möbius, über die aesthetischen Eigenschaften der Foraminiferen, Radiolarien und Spongien. (G.S. 29.()ct.)

Engler, über die geogi*aphische Verbreitung der Zygophyllaceen im Verhältnifs zu ihrer systematischen Ghederung. (G.S. 26. Nov.; Äbh.)

Heymons, Dr. R., ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der In- secta apterygota. (G.S. lO.Dec; S.B.)

Anatomie und Physiologie.

Hertwig, über den Einllufs verschiedener Temperatui-en auf die Ent Wickelung der Froscheier. (Cl. ß.Febr.; iS.Ä)

Kos sei, Prof A., über die basischen Stoffe des Zellkerns. Vor- gelegt von du Bois-Reymond. (Cl. 9. April; S.B.)

Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. (CL 4.Juni; «S.ii. 5. Nov.)

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Waldeyer, die Caudalanhänge des Menschen. (CI. 18.Juni;*S.Ä

Q.Juli.) Cohnstein, Dr. W. und Dr. H. Michaelis, über die Veränderung

der Chylusfette im Blute. Vorgelegt von Munk. (Cl. 9,Juh; ^S.Ä) Schulze, über die Verbindung der Epithelzellen unter einander.

(G.S. le.JuU; X5. 30.JuU.) Gerota, Dr. D., über Lymphscheiden des Auerbach'schen Plexus

myentericus der Darmwand. Vorgelegt von Waldeyer. (Cl.

23.JuU;S.Ä) Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. Weitere Mit- theilung. (Cl. 5. Nov.; S.B.) Verworn, Prof. M., zellphysiologische Studien am Rotlien Meer.

Vorgelegt von Munk. (Cl. 19.Nov.; S.B.)

Anthropologie. F ritsch, Prof. G., über die Ausbildung der Rassenmerkmale des

menschlichen Haupthaars. Vorgelegt von du Bois-Reymond.

(Cl. 19.Mäi-z; S.B. 23. April.) Virchow^, Anlage und Variation. (G.S. 30. April; S.B.)

Astronomie und Geophysik.

Vogel, über das Spectrum von Mira Ceti. (G.S. 26.März; S.B.)

Helmert, Prof. F. R., Ergebnisse von Messungen der Intensität der Schwerkraft auf der Luiie Colberg- Schneekoppe. Vorgelegt von Dames. (Cl. Q.April; S. B.)

Auv^ers, über die mittleren Eigenbewegungen in den drei ersten Gröfsenclassen der teleskopischen Fixsterne. (Cl. 23. April.)

von Bezold, über die Theorie des Erdmagnetismus. (Cl. 23. Juli; S.B. 1897.)

Eschenhagen, Prof. M., über die Aufzeichnung sehr kleiner Va- riationen des Erdmagnetismus. Vorgelegt von v. Bezold. (G.S. '60.3u\i;S.B.)

x!in

Vogel, die Lichtabsoi-ption als mafsgebender Factor bei der Wahl der Dimension des Objectivs für den grofsen Refractor des Potsdamer Observatoriums. (Cl. 19. Nov.; S.B.)

Richarz, Prof. F. und Krigar-Menzel, Dr.O., Gravitationsconstante und mittlere Dichtigkeit der Erde, bestimmt durch Wägun- gen. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 26.Nov.;&Ä)

Mathematik.

Frobenius, über die cogi-edienten Transformationen der biUnearen Formen. (Q. 1 6. Jan.; S. B.)

Hertens, Prof F., über die Gaussischen Summen. Vorgelegt von Schwarz. (G.S. 30. Jan.; S.B. 27.Febr.)

Schwarz, über einen von Weierstrafs hen*ührenden geometrischen Beweis des Fundamentalsatzes der projectivischen Geometrie. (CL 9.Apiil.)

Busse, Stud. math. F., über diejenige punktweise eindeutige Be- ziehung zweier Flächenstücke auf einander, bei welcher jeder geodaetischen Linie des einen eine Linie constanter geodaeti- scher Krümmung des andern entspricht. Vorgelegt von Schwarz. (G.S. 30. April; S.B. IL Juni.)

Frobenius, ü ber vertauschbare Matrizen. (G. S. 2 1. Mai ; .S. B.)

Frobenius, über Beziehungen zwischen den Primidealen eines alge- braischen Körpers und den Substitutionen seiner Gruppe. (G.S. 25. Juni; .S. 5.)

Fuchs, über eine Classe linearer homogener Differentialgleichungen. (Cl. 9.JuU;N.f?.)

Frobenius, über Gmppencharaktere. (G.S. 16. Juli; S.B. 30. Juli.)

Jahnke, Dr. E., über ein allgemeines aus Thetafunctionen von zwei Argumenten gebildetes Orthogonalsystem und seine Verwen- dung in der Mechanik. Vorgelegt von Fuchs. (G.S. 16. Juli; S.B. 3ü.Juü.)

XIV

Koenigsberger, über die Principien der Mechanik. (G.S. 30. Juli;

S.B.) Koenigsberger, über die Principien der Mechanik. Nachtrag. (Cl.

22.0ct.; S.B. 5.Nov.) Frobenius, über die Primfactoren der Gmppendetenninante. (Cl.

3.Dec.;ÄÄ) Schwarz, zur Theorie der Minimalflächcn, deren Begrenzung ein von

/^ geradlinigen Strecken gebildetes w-Seit ist. (Cl. IT.Dec.)

Philosophisch-historische Classe.

Philosophie. Dilthey, über Hermeneutik. (G.S. 25. Juni.)

Geschichte. Harnack, das Zeugnifs des Ignatius über das Ansehen der römischen

Gemeinde. (CL 6. Febr. ; S. B.) Curtius, die Schatzhäuser von Olympia. (Cl. 5. März; S.B.) Wattenbach, über Widukind von Corvey und die Erzbischöfc von

Mainz. (G.S. 12.Mäi-z; S.B.) Köhler, über die floXiTeia AcuceSaifAoviwv Xenophon's. (Cl. 19. März;

S.B.) Hirschfeld, Aquitanien in der Römerzeit. (G.S. 16. April; S.B.) Harnack, die pseudojustinische »Rede an die Griechen«. (Cl. 4. Juni;

S.B.) Hirschfeld, zu TibuUus I, 7,11. (Ergänzung zum Vortrag über

Aquitanien.) (G.S. 25. Juni; S.B.) Schmidt, Dr. Karl, ein vorirenäisches gnostisches Originalwerk in

koptischer Sprache. Vorgelegt von Harnack. (Cl. 9.JuU;*S.Ä

le.Juü.)

XV

Köhler, zur Geschichte des athenischen Münzvvesens. (Cl. 22,Oct.;

S.B.) Schürer, der Kalender und die Aera von Gaza. (Cl. 22.0ct.; S.B.) Watten bach, über die Legende von den heiligen Vier Gekrönten

(CL 5.Nov.;.S.Ä 19.Nov.) Hirschfeld, über Clodius Albinus. (Cl. IT.Dec.)

Staats- und Rechtswissenschaft.

Brunn er, über die uneheliche Vaterschaft in den älteren germani- schen Rechten. (G.S. 9.Jan.)

Schmoller, über die historische Entwickelung der Verfassung und der PoUtik des Getreidehandels. (Cl. 2b.Febr.)

Li eher mann, Prof F., Kesselfang bei den Westsachsen im sieben- ten Jahrhundert. Vorgelegt von Brunner. (Cl. 18. Juni; S.B. 9. Juli.)

Pernice, über wirthschaftliche Voraussetzungen römischer Rechts- sätze. (Cl. 19. Nov.)

Brunner, der rechtliche Antheil des Todten am eigenen Nachlafs in germanischen Rechten. (CL 3.Dec.)

Allgemeine, deutsche und andere neuere Philologie.

Weinhold, zur Geschichte des heidnischen Ritus. (Cl. 9.April; Abh.) Schmidt, E., Faust und Luther. (Cl. 7. Mai; S.B.) Tobler, Etymologisches. (CL 23. Juli; S.B.)

Classische Philologie.

Diels, zum delphischen Paian des Philodamos. (G.S. 16. April;

S.B.) Stumpf, über die musikalische Section der Aristotelischen Probleme.

(CL 23.April; Ahh.) Vahlen, über Ennius und Lucretius. ((t.S. 25. Juni; S.B.)

XVI

Vahlen, über einige Anspielungen in den Hymnen des Callimachus. IL (GL 9.Juli;S.Ä)

Diels, über die poetischen Vorbilder des Parmenides. (G.S. 12. Nov.)

Förster, Prof. R., über einen Palimpsesten des Libanius in Jeru- salem. Vorgelegt von Diels. (Gl. 3.Dec.; S.B.)

Schmidt, J., über /lia 7a und über lateinische Nominative Singu- laris auf -5 aus -tos. (G.S. lO.Dec.)

Archaeologie.

Borchardt, L., Bericht über den baulichen Zustand der Tempel- bauten auf Philae. Vorgelegt von Erman. (G.S. 3 O.April; S.B. 12. Nov.)

Gonze, über den Ursprung der bildenden Kunst. (G.S. 3 O.Juli.)

Orientalische Philologie. Weber, Vedische Beiträge IV (Schlufs). (Gl. 16. Jan.; S.B. 5.März) Sachau, über die Poesie in der Volkssprache der Nestorianer. (G.S.

13.Febr.;S.Ä 27.Febr.) Reisner, Dr. G., Altbabylonische Mafse und Gewichte. Vorgelegt

von Erman und Sachau. (Gl. 19.März; ^S. Ä 9. April.) Lyons, G. H. und L. Borchardt, eine trilingue Inschrift von Philae.

Vorgelegt von Ei-man. (G.S. 26.Mäi-z; S.A. 16.April.) Spiegelberg, Dr.W., die erste Erwähnung Israels in einem aegyp-

tischen Texte. Vorgelegt von Erman. {CL 7 Mal; S.B.) Erman, über die Reden eines Lebensmüden und seiner Seele (Be- arbeitung des Papyrus P. 3024 der Königl. Sammlung). (G.S.

21. Mai; Abh.) Weber, Vedische Beiträge V., ein indischer Zauberspruch. (Gl.

18.Juni;.S.Ä) Weber, Nachtrag zu Vedische Beiträge V. (Gl. 23. Juli; S.B.) Sachau, Aramäische Inschriften. (GL 22.0ct.; S.B.)

xvn

Bericht über den Erfolg der Preisausschreibimgen fiir 1896 und neue Preisausschreibimgen am Leibniz-Tage 1896.

Ertheihmg des Preises der CTiarfotfen' Stiftung.

Die Akademie hat im vorigen Jahre folgende Preisaufgabe der Charlotten -Stiftung fiir Philologie gestellt:

»Cicero's Timaeus soll auf Grund des veröffentlichten Materials in neuer textkritischer Bearbeitung vorgelegt und knapp gehaltene Prolegomena über die Recensio, die Authentie der Übersetzung und die (.'omposition des beabsichtigten Dialogs vorausgeschickt w^erden.«

Es sind rechtzeitig zwei Bewerbungsarbeiten der Akademie ein- geliefert worden, die eine mit dem Euripideischen Motto: oXßios otrris Trjs ia-ropias u. s. w., die zweite mit dem Horazischen: Eist quadarn prodire tenus u. s. w.

Beide Bearbeiter haben eigene Collationen angefertigt, was nicht verlangt werden konnte, und auch sonst dem Thema Sorgfalt und Fleifs angedeihen lassen. Leider haben sie beide die Recension nicht so sicher begi-ündet als es möglich gewesen wäre, wenn die Hdss. auch durch die übrigen Schriften des Coi-pus genau verfolgt und die neuere Litteratur hierüber sorgfältiger benutzt worden wäre. Abgesehen von diesem Mangel, der beide Arbeiten ziemlich gleich- mäfsig trifft, zeigt sich hi ihrer ganzen Anlage und Methode ein deutlicher Unterschied. Die erste Bearbeitung, welche das Euri- pideische Motto trägt, hat allen Anforderungen zu genügen gesucht und einzelne Abschnitte, wie den über die Authentie der Über- setzung, recht befriedigend behandelt. Auch verfugt ihr Verfasser über eine gute Kenntnifs der neueren Litteratur sowohl nach der sprachhchen wie nach der realen Seite hin. Aber in der Haupt- sache, der kritischen und exegetischen Behandlung des Textes,

xvm

stellt sich seine Leistung doch gegen die zweite gehalten als rain- derwerthig dar.

Zwar hat der Verfasser dieser zweiten, mit dem Horazischen Spruche versehenen Arbeit das Thema (durch Krankheit verhindert, wie er angiebt) nicht hi seinem vollen Umfange behandelt, und seine ganze Richtung zeigt ihn mehr nach der gi-ammatischen als nach der realen Seite hin mit dem Gegenstande vertraut. Aber seine Kenntnils des classischen Lateins und seine Sicherheit in kritisch -exegetischen Fragen verräth eine ausgesprochen philolo- gische Begabung, die ihn für die in Aussicht genommene w^eitere Aufgabe, eine Neuausgabe des philosophischen Corpus Cicero's, in erster Linie geeignet erscheinen läfst. Die Akademie trägt daher kein Bedenken, dem Verfasser dieser zweiten Bewerbungsschrift den Preis, bestehend in einem Stipendhim von jährlich 1200 Mark auf 4 Jahre zu ertheilen, dagegen dem Verfasser der ersten, mit dem Euripideischen Motto bezeichneten Arbeit als Anerkermung einen Nebenpreis von 1000 Mark zuzuerkennen.

Die Eröffnung des versiegelten Umschlages mit dem Motto: Est qaadam prodire tevtis u. s. w ergab als Verfasser

Hrn. Dr. Otto Piasberg zu Berlin,

der also das Stipendium erhalten wird.

Als Verfasser der mit dem Nebenpreis gekrönten Arbeit, welche das Kennwort oKßios 6<ms rijs iaroplas u. s. w. trägt, ergab sich Hr. Dr. Karl Fries zu Berlin.

Zugleich ergab sich aus den beiden Umschlägen beigefügten Nachweisen, dafs die in § 8 des Stiftungsstatuts bestimmten Vor- aussetzungen bei den Beweri)ern zutreffen.

Erthe'thinfi des Preises der draf LoNh(d'SfiJhfVf/. Die Akademie* hat auf Vorschlag der Commission für die Graf Loubat-Stiftung beschlossen, dem Dr. Eduard Seier, Privatdocen-

XLS

ten an der Universität und Directorial- Assistenten am Museum fiir Völkerkunde in Berlin, fiii' die von ihm eingereichte Arbeit »>Die mexikanischen Bilderhandschriften Alexander von Humboldt's in der Königlichen BibUothek zu Berlin <s Berlin 1893, den Preis von 3000 Mark zuzuerkennen.

Ertheilung des Preises der Diez-Süftang.

Der Vorstand der Diez-Stiftiuig hat, gemäfs der in der Plenar- sitzung der Akademie am 11. Juni gemachten Mittheilung, be- schlossen, den aus der Stiftung im Jahre 1896 zu vergebenden Preis im Betrage von 2000 Mark dem Dr. Wilhelm Meyer- Lübke, ordentlichen Professor der romanischen Sprachen an der Universität Wien, fth' seine »Romanische Formenlehre«, Leipzig 1894, zuzu- sprechen.

Neue Preisaufgabe dei^ (htheviuS' Stiftung.

Die Akademie schreibt ftir die Cothenius- Preisstiftung auf Vor- schlag der physikahsch- mathematischen Classe folgende Preisauf- gabe aus: »Die Königliche Akademie der Wissenschaften wünscht eine auf eigenen Versuclien und Beobaclitungen beruhende Abhand- lung über die Entstehung und das Verhalten neuer Getreidevarietäten im Laufe der letzten 20 Jahre.«

Bevverbungsschriften sind spätestens am 31. December 1898 im Bureau der Akademie, Berlin NW. Universitätsstrafse 8, einzu- reichen. Dieselben können in deutscher, lateinischer, französischer, englischer oder itaUänischer Sprache abgefaist sein.

Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruchvvort zu bezeich- nen, welches auf einem beizufügenden versiegelten, innerüch den Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äufser- lich wiederholt ist. Schriften, welche den Namen des Verfassers nennen oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausge-

XX

schlössen. Ebenso können Schriften, welche in störender Weise unleserlich geschrieben sind, durch Beschlufs der Classe von der Bewerbung ausgeschlossen werden.

Die Verkündung des Urtheils erfolgt in der Leibniz-Sitaung des Jahres 1899.

Der ausgesetzte Preis beträgt Zweitausend Mark. Aufserdem übernimmt die Akademie, wenn der Preis ertheilt wird und der Verfasser die gekrönte Preisschrift in Dmck zu geben beabsichtigt, die Drucklegung oder die Kosten derselben in der nach ihrem Er- messen geeigneten Form.

Sämmtliche Bewerbungsschriften nebst den zugehörigen Zetteln werden ein Jahr lang vom Tage der Urtheilsverkündung ab fiir den Verfasser aufbewahrt, und einem jeden Verfasser, w^elcher sich als solcher nach dem ürtheil des Vorsitzenden Secretars genügend legiti- mirt, die seinige gegen Empfangsbescheinigung ausgehändigt. Ist die Arbeit als preisfähig anerkannt, aber nicht prämiirt, so kann der Verfasser innerhalb dieser Frist verlangen, dafs sein Name durch die Schriften der Akademie zur öffentlichen Kenntnifs gebracht werde. Nach Ablauf der bezeichneten Frist steht es der Akademie frei die nicht abgeforderten Schriften und Zettel zu vernichten.

Verzeichnifs der im Jahre 1896 erfolgten Greldbewilligungen aus akademischen Mittehi zur Ausfuhrung wissenschaftlicher

Unternehmungen.

Es wurden im Laufe des Jahres 1896 bewilligt: 4000 Mark dem Mitgliede der Akademie Hm. Kirchhoff zur Fort- setzung der Arbeiten ftir Sammlung der griechischen Inschriften.

XXI

7200 Mark dem Mitgliede der Akademie Hm. Diel s zur Fortsetzung der Arbeiten Ar' die Herausgabe der gi-iechischen Com- mentatoren des Aristoteles.

7000 » dem Mitgliede der Akademie Hrn. Schmoller zur Fort- führung der Arbeiten für Herausgabe der politischen Correspondenz König Friedrich's II.

3900 » dem Mitgliede der Akademie Hm. Dilthey zur Heraus- gabe der Werke Kant's.

2000 » dem Mitgüede der Akademie Hm. Weierstrafs zur Fort- setzung der Herausgabe seiner gesammelten Werke. 118 » 75 Pf. dem Mitgliede der Akademie Hrn. Klein zu Re- paraturen an Apparaten zu kiystallogi-aphischen Unter- suchungen. 720 » dem Mitgliede der Akademie Hm.Weber zur Herausgabe des 18. Bandes seiner »Indischen Studien«.

1000 » dem Mitgliede der Akademie Hrn. Conze zum Zwecke einer erneuten Untersuchung der in Pergamon entdeck- ten Druckwasserleitung. 100 » dem Mitgliede der Akademie Hm. Sachau zur Her- stellung einer Copie der altaramäischen Bauinschrift des Königs Panamü.

1000 » dem correspondirenden Mitgliede Hm. Imhoof-Blumer für die Fortführung seiner Bearbeitung der Sammlung der nordgriechischen Münzen.

3000 » Hm. Dr. 0. Bürger in Göttingen zur Ausfuhrung einer zoologischen Forschungsreise in den Anden von Co- lumbia.

1500 » Hm. Dr. Ludwig Wulff zu Schwerin i. M. zur Fort- setzung seiner Versuche über Krystallzüchtung.

1200 » Hm. Dr. Paul Kuckuck auf Helgoland zur Fortsetzung seiner Untersuchung der dortigen Algenflora.

xxn

1000 Mark Hm. Prof. K. Futterer in Karlsruhe zur Fortsetzung seiner geologischen Studien in den Südost- Alpen.

2000 » Hrn. Prof. Dr. Wem icke in Breslau zur Herstellung eines photogi'aphischen Atlas von Schnitten durch das Gehirn.

2500 » Hrn. Oberbibliothekar Dr. Valentin in Berlin zur Fort- setzung seiner Arbeiten f vir eine allgemeine mathematische Bibliogi'aphie. 600 » Hrn. Dr. K.Verhoeff in Bonn zur Fortsetzung seiner Studien über Myriopoden, Isopoden und Opilioninen.

1500 » Hrn. Dr. A. Tornquist in Strafsburg zu einer geologi- schen Erforschung der Gebirge von Recoaro und Rhio in der Provinz Vicenza. 500 » Hm. Dr. A. Bethe in Heidelberg zu einer Reise nach Neapel behufs Fortsetzung seiner physiologischen Unter- suchung des Centralnei-vensystems von Carcinus maenas.

1000 » Hrn. Prof Dr. Maximilian Curtze in Thom zu Vorarbei- ten fiir eine Geschichte der Geometrie des Mittelalters. 900 » Hrn. Dr. Karl Kamillo Schneider zu Heidelberg zu Untersuchungen über Hydroidpolypen auf der zoologi- schen Station in Rovigno. 600 » Hrn. Prof Dr. H. Ziegler in Freiburg i. B. zur Fortsetzung seiner Untersuchungen über Ktenophoren- und Echino- dermen-Eier.

1500 » Hm. Prof Dr. Arthur Milchhoefer in Kiel zu einer topographischen Untersuchung von Attika.

1500 » Hm. Dr.W. Judeich in Marburg zu einer archaeologi- schen Reise nach Kleinasien. 600 » Hm. Dr. Hermann Schöne in Köln zur Herausgabe seiner Bearbeitung der Schrift des Apollonius von Kitium Tzepi apdptav.

XXIII

1200 Mark Hrn. Dr. Josef Paczkowski in Berlin zu agrarhistori- schen Untersuchungen.

550 » Hrn. Geh. Heg.-Rath W. Schmitz m Köln zur Heraus- gabe eines in tironischen Noten geschriebenen Ab- schnittes des Cod. Vatic. Christinae 846 saec. IX.

600 » Hm. Dr. Georg Steinhausen in Jena zur Herausgabe von Privat briefen des 14. und 15. Jahrhunderts.

600 » Hm. Dr. Bruno Gebhardt in Berlin zu archivalischen Studien behufs Fortführung seines Werkes über Wil- helm von Humboldt. 2500 » Hm. Dr. C. Pauli zur Herausgabe des Corpus inscriptio- num Etruscarum.

600 » Hm. Dr. Paul Wendland in Charlottenburg zur Vollen- dung der von der Akademie angeregten Pliiloausgabe.

1 80 » der G. Reim er'schen Buchhandlung in Berlin zur Heraus- gabe von Gerhard »Etruskische Spiegel« Bd.V H.H.

850 » dem Oberlehrer Hrn. Dr. Heinrich Winkler in Breslau zur Fortsetzung sehier altaischen Sprachstudien.

600 » Hrn. Prof. Dr. E r d m a n n in Halle zur Fortsetzung psycho- physischer Untersuchungen über den Vorgang des Lesens.

250 » Hrn. Geh. Sanitätsrath Dr. Laehr in Zehlendorf zur Her- ausgabe seines Werkes über die Litteratur der Psychiatrie, Neurologie und Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert.

Verzeichnifs der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage

oder mit Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder

herausgegebenen Werke.

Acta Borussica. Denkmäler der Preussischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Herausgegeben von der K. Akademie der Wissenschaften. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung-

XXIV

Getreidehandelspolitik. Bd. I. Die Getreidehandelspolitik der Europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Darstellung von W. Naude. Berlin 1896.

Politische Correspondenz Friedrich's des Grofsen. Bd. 22. 23. Berlin 1895. 1896.

Commentaria in Aristotelem Graeca edita consilio et auctoritate Academiae litterarum Reg. Borussicae. Vol. XXI. p. II. : Ano- nymi et Stephani in artem rhetoricam commentaria ed. Hugo Rabe. Beroüni 1896.

Coi-pus inscriptionum Etruscarum administrante Danielsson ed. Carolus Pauli. [Fasc.V. VLJ Lipsiae. (1896). 4.

Etruskische Spiegel. Herausgegeben von Eduard Gerhard. Bd.V. Im Auftrage des Kais. Deutschen archaeologischen Instituts bearbei- tet von A. Klügmann und G. Körte. Heftl4. Berlinl896. 4.

Ergebnisse der Plankton -Expedition der Humboldt -Stiftung. Bd. II. E. b. Die Pyrosomen der Plankton -Expedition. Von Oswald Seeliger. Bd. IL F.e. Die Acephalen der Plank- ton-Expedition. Von Heinrich Simroth. Bd. II H. f. Die Polycladen der Plankton -Expedition. Von Marianne Plehn. Bd. IL E. c. Die Appendicularien der Plankton- Expedition. Von H. Lohmann. Kiel und Leipzig 1895/96. 4.

Altmann, Wilhelm, die Urkunden Kaiser Siegmunds (1410-1437). Lief. 1. Innsbruck 1896. 4.

ApoUonius von Kitium. Illustrierter Kommentar zu der Hippokra- teischen Schrifl Flepl apßpwv. Herausgegeben von Hermann Schone. Leipzig 1896. 4.

Ascherson, Paul, Synopsis der mitteleuropäischen Flora. Bd. I. Lief. 1. 2. Leipzig 1896.

Buchenau, Franz, Flora der ost friesischen Inseln. Leipzig 1896.

Chun, Carl, Atlantis. Biologische Studien über pelagische Or- ganismen. Bibliotheca zoologica. Original -Abhandlungen aus

XXV

dem Gesammtgebiete der Zoologie. Herausgegeben von R. Leuckart und C. Chun. Heft 19, Stuttgart 1896. 4.

Fausböll, V., the Jätakä together witli its commentary, being tales of the anterior births of Gotama Buddha. Vol. VI. London 1896.

Finke, Heinrich, Acta concilii Constanciensi«. Bd.I. Münster i.W. 1896.

Gebhardt, Bruno, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. Bd.I. Bis zum Ausgang des Prager Congresses. Stuttgart 1896.

Grube, Wilhelm, die Sprache und Schrift der Jucen. Leipzig 1896.

Schmitz, Wilhelm, Miscellanea Tironiana. Aus dem Codex Va- ticanus Latinus reginae Christinae 846 (Fol. 99-114) heraus- gegeben. Leipzig 1896. 4.

Wernicke, Carl, Atlas des Gehirns. Abth. I. Breslau 1897. 4.

Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des

Jahres 1896.

Zum Nachfolger des am 31. December 1895 von seinem Amte als Secretar zurückgetretenen Hrn. E. du Bois-Reymond wurde von der physikalisch -mathematischen Classe Hr. Walde y er gewählt und bestätigt durch K. Cabinetsordre vom 20. Januar 1896.

Zum ordentlichen Mitgliede der physikalisch -mathematischen Classe wurde gewählt: Hr. Jakob Heinrich van't Hoff am 30. Januar 1896, bestätigt durch K. Cabinetsordre vom 26. Februar 1896;

zu ordentlichen Mitgliedern der philosophisch-historischen Classe: Hr. Reinhold Koser am 18. Juni 1896, bestätigt durch K. Cabinets- ordre vom 12. JuU 1896,

d

XXVI

Ilr, Max Lenz am 26. November 1896, bestätigt dm'cli K. Cabinets- ordre vom 14. December 1896.

Zu correspondirenden Mitgliedern wurden gewählt: in der physikalisch -mathematischen Classe Hr. Ernst Abbe in Jena am 29. October 1896, » Rudolf Fittig in Stralsburg am 29. October 1896, » Karl Wilhelm von Kupffer in München am 30. April 1896, » Victor Meyer in Heidelberg am 12. März 1896, » Georg Neumayer in Hambm-g am 27. Februar 1896, » Max Noether in Erlangen am 30. Januar 1896, » Jules-Henri Poincare in Paris am 30. Januar 1896, » William Ramsay in London am 29. October 1896, Lord Rayleigh in London am 29. October 1896, Hr. Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg am 12. März 1896, » Heinrich Weber in Stralsburg am 30. Januar 1896, » Johannes Wislicenus in Leipzig am 29. October 1896;

in der philosophisch -historischen Classe Hr. Johann Ludwig Heiberg in Kopenhagen am 12. März 1896, » Otto Ribbeck in Leipzig am 16. Juli 1896, » Heinrich Weil in Paris am 12. März 1896.

Gestorben sind: die ordentlichen Mitgüeder der physikalisch -mathematischen Classe: Hr. Heinrich Ernst Beyrich am 9. JuU 1896, » Emil du Bois-Reymond am 26. December 1896;

die ordentlichen Mitglieder der philosophisch -historischen Classe: Hr. Heinrich von Treitschke am 28. April 1896, » Ernst Curtius am 11. Juli 1896;

xxvn

das aus wärtige Mitglied der physikalisch-mathematischen Classe: Hr. August Kekule von Stradonitz in Bonn am 13. Juli 1896;

die correspondirenden Mitglieder der physikalisch -mathema- tischen Classe:

Hr. Armand-Hippolyte-Louis Fizeau in Paris am 18. Septem- ber 1896, » Benjamin Apthorp Gould in Cambridge, Mass., ü. S. A., am

26. November 1896, » Adalbert Krueger in Kiel am 21. April 1896, » Philipp Ludw^ig von Seidel in München am 13. August 1896;

die correspondirenden Mitglieder der philosophisch -historischen Classe:

Hr. Giuseppe Fiorelli in Neapel am 30. Januar 1896, » Adolf Merkel in Strafsburg am 30. Mäi-z 1896, » Eugene de Roziere in Paris am 26. Juni 1896, » Louis Vivien de St. Martin in Paris am 26. December 1896.

Verzeichnifs

der

Mitglieder der Akademie der Wissenschaften.

Am Schlüsse des Jahres 1896.

I. Beständige Secretare.

Hr. Auwers . .

phyi

OmrtUt Ton der

s.-math. Classe ....

DataiD der KSnigl.

. 1878 April 10.

- ValUefi . . . . Diek . . .

'

phil phil,

.-bist. - .... .-bist. - ....

. 1893 April 5. . 1895 Nov. 27.

- Waldeyer . .

.

phy8.-math. - ....

. 1896 Jan. 20.

n.

Ordentliche Mitglieder

dar philoMpbiaob.bMtoritehen Clawe

Dstnm der KSniglieheD

Hr.

Heinrich Kiepert . . . ,

. 1853

Juli 25.

Hr. Karl Friedr, Ran

imelsberg

, 1855 . 1856 . 1857

Aug. 15. Nov. 19.

- Karl Weierstrafs

-

Albrecht Weber ....

Aug. 24.

-

17ieodor Mommsen . .

. 1858

April 27.

- Arthur Auwers

-

Adolf Kirchhoff. . . .

. 1860 . 1866

März 7. Aug. 18.

- Rudolf Virclww

, 1873 . 1874

Dec. 22.

_

Johannes Vahlen . . . .

Dec. 16.

-

Eberhard Schröder . . .

. 1875

Juni 14.

-

Alexander Conze . . .

. 1877

April 23.

Svnwn Schwenden*^ -

. 1879 . 1880 . 1881

Juli 13.

Hermann Munk

März 10.

-

Adolf Tobler

Aug. 15.

XXIX d«r ph7«ikali«eh-autheiaa«iMlMB CImm dw pUlowpbiieb-biirtoiiiebaD CUue Datuin^te^Kgiri^Blmi

BotlUguag

Hr. WUhehn WatUnbach . . . 1881 Aug. 15.

- Hermann Dida 1881 Aug. 15.

Hr. Hans Landau 1881 Aug. 15.

- WW^m Waldeyer 1884 Febr. 18.

- Alfred Pemiee ..... 1884 April 9.

- Heinrich Brunner .... 1884 April 9.

- Johannes Schmidt .... 1884 April 9.

- Lazarus Fuchs 1884 April 9.

- Franz Eiüiard Schutze 1884 Juni 21.

- Otto Hirschfeld 1885 März 9.

- Wilhehn von Bezold 1886 April 5.

- Eduard Sachau 1887 Jan. 24.

- GWtot) SehmoUer .... 1887 Jan. 24.

- Wilhelm DUthey .... 1887 Jan. 24.

- Karl Klein 1887 April 6.

- Karl August Möbius 1888 April 30.

- Ernst Dümmler .... 1888 Dec 19.

- Ulrich Koehler 1888 Dec. 19.

- Karl Weinltold 1889 Juli 25.

- Adolf Engler 1890 Jan. 29.

- Adolf Hamadc 1890 Febr. 10.

- Hermann Karl Vogel 1892 März 30.

- Wilhelm Dames 1892 März 30.

- Hermann Amandus Schwarz 1892 Dec. 19.

- Georg Frobenius 1893 Jan. 14.

- EmU Fischer 1893 Febr. 6.

- Oscar Hertwig 1893 April 17.

- Max Planck 1894 Juni 11.

- Karl Stumpf 1895 Febr. 18.

Erich Schmidt 1895 Febr. 18.

- Adolf Erman 1895 Febr. 18.

- Friedrich Kohlraasch 1895 Aug. 13.

- Emü Warbwg 1895 Aug. 13.

- Jakob Heinrich vant Hoff 1896 Febr. 26.

- Reinhold Koser 1896 Juli 12.

- Max Lenz 1896 Dec. 14.

XXX

IIL Auswärtige Mitglieder

der phji&aliaob.oMiheiQAtiaelien Cluae der pMlosophiseh-hUtorischen CImm ^^^**'"BMtI^!mg'°^^

Hr. Robert Wülielm Bunsen in

Heidelberg 1862 März 3.

- Charles Uennüe in Paris 1884 Jan. 2.

Hr. Oiio von BoehÜingk in

Leipzig ...... 1885 Nov. 30.

- Albert von KöUiker in Wiirz-

burg 1892 März 16.

- Eduard Zeller in Stuttgart 1895 Jan. 14.

IV. Ehren-MitgUeder.

Dfttam dar Königlichen Besfcltigaiig

Earl of G'aw/ard and Bakarres in Dunecht, Aberdeen .... 1883 Juli 30.

Hr. Max Le/tmann in Göttingen 1887 Jan. 24.

- Ludwig Boltzinann in Wien 1888 Juni 29.

XXXI

V. Correspondirende Mitglieder.

Physikalisch -mathematische Glasse.

Datnm der Wahl

Ur. Erfist Abbe in 3ms^ 1896 Oct. 29.

- Alexander Agassiz in Cambridge, Mass 1895 Juli 18.

- Adolf von Baej/er in München 1884 Jan. 17.

- Friedrich Beilstein in St. Petersburg 1888 Dec. 6.

- Eugenio Beltrami in Rom 1881 Jan. 6.

- Eduard van Beneden in Lütticli 1887 Nov. 3.

- Francesco Brioschi in Mailand 1881 Jan. 6.

- Stanislao Cannizzaro in Rom 1888 Dec. 6.

- Elüin Bruno Christoffel in Strafsburg 1868 April 2.

- Ferdinand Colin in Breslau 1889 Dec. 19.

- Alfonso Cossa in Turin 1895 Juni 13.

- Luigi Creinona in Rom 1886 Juli 15.

- Ricliard Dedekind in Braunschweig 1880 März 11.

- Alfred' Louis 'Olivier Des Cloize<Mtx in Paris 1895 Juni 27.

- Rudolf FUtig in Strafsburg 1896 Oct. 29.

- Watter Flefnwing in Kiel 1893 Juni 1.

- Edward Frankland in London 1875 Nov. 18.

- Remighis Fresenius in Wiesbaden 1888 Dec. 6.

- Carl Gegenbaur in Heidelberg 1884 Jan. 17.

- Archibald Geikie in Ix)ndon 1889 Febr. 21.

- Wolcoit Gibbs in Newport, R. 1 1885 Jan. 29.

- David Gilly Königl. Sternwarte am (^a|) der (Tuten Hoffnung 1890 Juni 5.

- Karl Wilhelm von Gihnbel in München 1895 Juni 13.

- Julius Hann in Wien 1889 Febr. 21.

- Franz von Hauer in Wien 1881 März 3.

- Rudolf Heidenlunn in Breslau 1884 Jan. 17.

- WUhelm His in Leipzig 1893 Juni 1.

- Johann Wilhelm Hitt(yrf in Münster 1884 Juli 31.

Sir Joseph üalion Hooker in Kew 1854 Juni 1.

Hr. William Huggins in London 1895 Dec. 12.

Lord Kelvin in Glasgow 1871 Juli 13.

Hr. I^iCO Koenigsberger in Heidelberg 1893 Mai 4.

- Carl Wilhelm von Kupffer m Uxmche^n 1896 April 30..

- Rudolf Leuckart in Leipzig 1887 Jan. 20.

- Franz von Leydig in Würzburg 1887 Jan. 20.

- Rudolf Lipschitz in Bonn 1872 April 18.

- Moritz Loewy in Paris 1895 Dec. 12.

- Eleuthere-Elie- Nicolas Mascart in Paris 1895 Juli 18.

XXXII

Datum der Wahl

Hr. Victor Meyer in Heidelberg 1896 März 12.

- Karl Neumann in Leipzig 1893 Mai 4.

- Georg Neumayer in Hamburg . . . . 1896 Febr. 27.

- Simon Newcomb in Wasbington 1883 Juni 7.

- Max Noetlier in Erlangen 1896 Jan. 30.

. WUlielm Pfeffer in Leipzig 1889 Dec. 19.

- Eduard PflOger in Bonn 1873 April 3.

- Henri PoincarS in Paris 1896 Jan. 30.

- Georg Quincke in Heidelberg 1879 März 13.

- WiUiam Ramsay in London 1896 Oct. 29.

Lord Rayleigh in Witham, Essex 1896 Oct. 29.

Hr. Friedrich von Recklinghausen in Strafsburg 1885 Febr. 26.

- Gustav Retzius in Stockholm 1893 Juni 1.

- Ferdinand von RiclUliofen in Berlin 1881 März 3.

- Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg 1896 März 12.

- Heinrich Rosenbusch in Heidelberg 1887 Oct. 20.

- George Salmon in Dublin 1873 Juni 12.

- Blrnst Christian Julius Schering in Göttingen 1875 Juli 8.

- Giovanni Virginia SchiaparelU in Mailand 1879 Oct. 23.

- Albrechi Sc/irauf in Wien 1895 Juni 13.

- Japetus Steenstrup in Kopenhagen 1859 Juli 21.

Sir Gabriel Stokes in Cambridge 1859 April 7.

Hr. Edtiard Strasburger in Bonn 1889 De«;. 19.

- Otto von Struve in Karlsruhe 1868 April 2.

- James Joseph Sylvester in London 1866 Juli 26.

- Atigust Töpler in Dresden 1879 März 13.

- Gustav Tschermak in Wien 1881 März 3.

- Heinrich Weber in Strafsburg 1896 Jan. 30.

- Gustav Wiedemann in Leipzig 1879 März 13.

. Heinrich WHd in Zürich 1881 Jan. 6.

- Alexander William Williamson in High Pitfold, Haslemere . 1875 Nov. 18.

- August Winnecke in Strafsburg 1879 Oct. 23.

- Johannes Wislicenus in Leipzig 1896 Oct. 29.

- Adolf Wällner in Aachen 1889 März 7.

- Ferdinand Zirkel in Leipzig 1887 Oct. 20.

- Karl Alfred von Ziäel in München 1895 Juni 13.

Philosophisch -historische C lasse.

Hr. WWielm Christian Ahlwardt in Greifswald 1888 Febr. 2.

- Graziadio Isaia Ascoli in Mailand 1887 März 10.

Theodor Aufrecht in Heidelberg 1864 Febr. 11.

TcicynT

Dfttum der Wahl

Hr. Otto Benndorf in Wien 1893 Nov. 30.

- Franz Bücheier in Bonn 1882 Juni 15.

- Georg Bühler in Wien 1878 April 11.

- Ingram Bytoater in London 1887 Nov. 17.

- Antonio Maria Ceriani in Mailand 1869 Nov. 4.

- Edward ByUs CoweU in London 1893 April 20.

- Uopold'Victor Delisle in Paris 1867 April 11.

- Heinridi Den^ in Rom 1890 Dec. 18.

. Wilhelm Dittenberger in Halle 1882 Juni 15.

- Louis ' Marie- OHiner Dtichesne in Rom 1893 Juli 20.

- JtJius Ficker in Innsbruck 1893 Juli 20.

- Kuno Fischer in Heidelberg 1885 Jan. 29.

- Paid'Frangois Foticor^ in Paris 1884 Juli 17.

- Karl Immanuel Gerhardt in Graudenz 1861 Jan. 31.

. Theodor Gomperz in Wien 1893 Oct. 19.

. mUielm vm Hartel in Wien 1893 Oct. 19.

- Friedrich Wilhelm Karl Hegel in Eriangen 1876 April 6.

- Jolumn Ludwig Heiberg in Kopenhagen 1896 März 12.

- Antoine-Marie- Albert Hiron de Villefosse in Paris 1893 Febr. 2.

- Hermann von Holst in Chicago 1889 Juli 25.

- Jean- Thhphile HomoUe in Athen 1887 Nov. 17.

- Fn^e/ncA /wAoo/- ß/um^ in Winterthur 1879 Juni 19.

- Vratoskio Jagii in Wien 1880 Dec. 16.

. Karl Justi in Bonn 1893 Nov. 30.

- Panagioüs Kabbadias in Athen 1887 Nov. 17.

- Georg Kaibel in Stral'sburg 1891 Juni 4.

- Franz KieUiom in Göttingen 1880 Dec. 16.

- Georg Friedrich Knapp in Strafsburg 1893 Dec. 14.

- Sigismund Wilhelm Koelle in London 1855 Mai 10.

- Stephanos Kumanudes in Athen 1870 Nov. 3.

- Basil Latyschew in St. Petersburg 1891 Juni 4.

- Giacomo Lumbroso in Rom 1874 Nov. 12.

- Konrad Maurer in München 1889 JuH 25.

- Adolf Michaelis in Strafsburg 1888 Juni 21.

. Max Müller in Oxford 1865 Jan. 12.

- Theodor Nöldeke in Strafsburg 1878 Febr. 14.

- Jidius Oppert in Paris 1862 März 13.

- Gastofi Paris in Paris 1882 April 20.

- Georges Perrot in Paris 1884 Juli 17.

- Wilhelm Pertsch in Gotha 1888 Febr. 2.

- Wilhelm Radioff in St. Petersburg 1895 Jan. 10.

e

XXXIV

Datum der Wahl

Hr. FSlix Ravaüsan in Paris 1847 Juni 10.

- Otto Ribbeck in Leipzig 1896 Juli 16.

- Emil Schürer in Göttingen 1893 Juli 20.

Theodor von Sichel in Rom 1876 April 6.

- Clvristoph Sigwart in Tübingen 1885 Jan. 29.

- Friedrich Spiegel in München 1862 März 13.

- WiUiam Stubbs in Oxford 1882 März 30.

- Edward Maunde T/imnpson in London 1895 Mai 2.

- Hermann Usener in Bonn 1891 Juni 4.

- Cko't Wachsmuth in Leipzig 1891 Juni 4.

- Heinrich WeU in Paris 1896 März 12.

Ulrich von Wilamotüilz-Möllendorff in Göttingen 1891 Juni 4.

- Ludtvig Wimmer in Kopenhagen 1891 Juni 4.

- Ferdinand WüMenfeld in Göttingen 1879 Febr. 27.

- Karl Zangemeister in Heidelberg 1887 Febr. 10.

Wohnungen der ordentlichen Mitglieder,

Hr. Dr. AuwerSj Prof., Geh. Re^ierungs-Rath, Lindenstr. 91. SW.

- von Bezold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lützowstr. 72. W.

- Brunner j Prof., Geh. Justiz -Rath, Lutherstr. 36. W.

- Conzej Professor, Charlottenburg, Fasanenstr. 14.

- DcmieSj Professor, Joachimsthalerstr. 11. W.

- Diels, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Magdeburgerstr. 20. W.

- Dilthey^ Prof., Geh. Regierungs-Rath, Burggrafenstr. 4. W.

- Dünimlerj Prof, Geh. Regierungs-Rath, Königin Augusta-Str. 53. W. - - Engler, Prof, Geh. Regierungs-Rath, Motzstr. 89. W.

- Ermanj Professor, Südende, Bahnstr. 21.

- Fischer j Professor, Dorotheenstr. 10. NW.

- FrobmiitSj Professor, Charlottenburg, Leibnizstr. 70.

- Fuc/iSj Professor, Charlottenburg, Rankestr. 14.

- Hamackj Professor, Fasanenstr. 43. W.

- Hertwigj Professor, Maafsenstr. 34. W.

- Hirschfeld j Professor, Charlottenburg, Carmerstr. 3.

- vanU Hoffj, Professor, Charlottenburg, Uhlandstr. 2.

- Kiepert, Professor , Lindenstr. 1 1 . S W.

XXXV

Hr. Dr. Kirchhoff, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 23. W.

- - Klein, Prof., Geh. Bergrath, Am Karlsbad 2. W.

- Koehler, Professor, Königin Augusta-Str. 42. W.

- Kohlrausch y Professor, Charlottenburg, Marchstr. 25^.

- Koser y Prof., Geh. Ober -Regierungs-Rath, Director der Königl.

Staatsarchive und des Geheimen Staatsarchivs, Charlottenburg, Hardenbergstr. 20.

- Ijondolt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Albrechtstr. 14. NW.

- Lenz, Professor, Augsburgerstr. 52. W.

- Möbins, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Sigismundstr. 8. W.

- Momnisen, Professor, Charlottenburg, Marchstr. 8.

- Mtmkj Professor, Matthäikirchstr. 4. W.

- Pernice, Prof., Geh. Justiz -Rath, Genthinerstr. 1 3 ^. W.

- Planck j Professor, Tauen tzienstr. 18*. W.

- Rarmnelsberg, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Grofs- Lichterfelde, Belle-

vuestr. 15.

- SachaUj Prof., Geh. Regierungs-Rath, Wormserstr. 12. W.

- Erich Schmidt, Professor, Matthäikirchstr. 8. W.

- Joh, Schmidt, Prof, Geh. Regierungs-Rath, Lützower Ufer 24. W.

- Schvioller, Pi-ofessor, Wormserstr. 13. W.

- Schrader, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Kronprinzen -Ufer 20. NW.

- Schulze, Prof, Geh. Rogierungs- Rath, Invalidenstr. 43. NW.

- Schwarz, Professor, Villen -Colonie Grunewald, Boothstr. 33.

- Schwendener, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 28. W.

- Stumpf, Professor, Nürnbergerstr. 14/15. W.

- Tobler, Professor, Kurfiirstendamm 25. W.

- Vahlen, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Genthinerstr. 22. W.

- Virchow, Prof., Geh. Medicinal- Rath, Schellingstr. 10. W.

- Vogel, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Potsdam, Astrophysikalisches

Observatorium.

- - Waldeyer, Prof., Geh. Medicinal -Rath, Lutherstr. 35. W.

- Warburg, Professor, Neue Willi elmstr. 16. NW.

- Wattenbach, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Corneliusstr. 5. W.

- - Weber, Professor, Ritterstr. 56. SW.

- Weinhold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, HohenzoUernstr. 10. W.

Gedächtnifsrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke.

Von

H" GUSTAV SCHMOIXER.

Gedächtni/ireden. 1896. I.

Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 2. Juli 1896

[Sitzungsberichte St. XXXIII. S. 747].

Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 10. Juli 1896.

Uie Leibniz-Tage sind för die Akademie Tage der Freude, sofern wir neue Genossen willkommen heifsen, Tage der Trauer, sofern wir dem Schmerze um Dahingeschiedene Ausdruck geben. Ich soll heute versuchen, uns nochmal klar zu machen, was uns, was der Nation und der Wissenschaft Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke waren. Jeder- mann weifs, dafs unter allen lebenden Deutschen, welche der neueren Geschichte ihre Kraft widmeten, keiner diesen beiden Männern gleichkommt, dafs ebenbürtig neben ihnen unter allen deutschen Historikern ijur noch zwei unserer ältesten Mitglieder genannt werden, um deren Erhaltung wir täglich das Geschick bitten.

Nur schweren Herzens habe ich den Auftrag übernommen, über die zwei Dahingegangenen zu reden. Aber da die Akademie im Augenblick keine vollen Vertreter der neueren Geschichte hat, so mufste ich eintreten, wenn auf die Akademie nicht der Makel fallen sollte, sie habe über zwei ihrer besten Glieder nichts zu sagen gewufst an dem Tage, welcher ihren grofsen Todten geweiht ist. Und ich kann wenigstens das fiir mich an- fuhren, dafs ich beiden in langjährigem Verkehr nahe stand und dafe manchmal unbefangener sieht und urtheilt, wer von einem nachbarlichen Gebiete aus beobachtet.

L

Ich möchte mit einem Worte persönlicher Erinnerung an die Tage beginnen, da ich beide zum erstenmal im Kreise der gesammten Berliner Historiker sah und kennen lernte.

Ich kam zu Anfang des Jahres 1864 zuerst hieher und habe dann in den folgenden 10-15 Jahren fast stets die Frühjahrsferien in Berlin zu-

4 6. Schmoller:

gebracht, um in den hiesigen Bibliotheken und Archiven zu arbeiten. Ich traf da meinen alten Lehrer Max Duncker, der mich in Tübingen in die historischen Studien eingeführt hatte , der mir stets nach Charakter und poli- tischem Urtheil ein verehrungs würdiges Vorbild blieb, dann J. 6. Droysen, dessen männliche charaktervolle Geschlossenheit ebenso auf mich wirkte, wie seine preufsischen Studien, die ich nach der Verwaltungsseite hin fortzufuhren unternahm. Bald liefs auch Ranke mich einmal zu sich rufen und ich könnte heute noch den Eindruck schildern, den diese erste Begegnung, der Tiefsinn der hingeworfenen Worte des gro&en Mannes mir machte. Auch Wilhelm Nitzsch sah ich in jenen Jahren zuerst, er zog mich als der Begründer der älteren deutschen Wirthschafls- geschichte doppelt an; seine stets geistreichen, wenn auch ofl gewagten Combinatiohen haben mir erst die filtere deutsche Geschichte verständlich gemacht, jedenfalls mehr als diefs die Urkundenforscher vermochten, als deren gröJfeter Vertreter ja dannWaitz nach Berlin kam, um neben Nitzsch hier in der Akademie zu sitzen. Wenn ich mich recht erinnere, war es in Gesellschaft von Waitz, Duncker und Droysen, dafe ich Heinrich von Sybel zum erstenmal sah. Er erschien damals vor Allem als der grofse vornehme Führer der Land tags -Opposition, als einer der wenigen, dem die ganze liberale Welt die Fähigkeit und die Krafl zu einem Minister- posten zutraute. Treitschke war in jenen Jahren meist zur selben Zeit wie ich in Berlin; wochenlang haben wir damals nach dem Archiv täglich im hintern Stübchen bei Lutter und Wegner zusammen gegessen; gar oft waren er, Baumgarten und ich das Kleeblatt, das sich zusammenfand; er war damals das Bild jugendlich männlicher Kraft und Lebendigkeit, un- erschöpflich im Discutiren und Erzählen; er war damals des Gehörs noch nicht ganz beraubt.

Alle diese genannten Männer waren Zierden der deutschen Geschichts- wissenschaft, alle waren Mitglieder dieser Akademie ; trotz aller Verschieden- heit und Gegensätze waren sie in gewissen Hauptpunkten der Methode und in einer idealen Weltanschauung einig; sie bilden zusammen mit wenigen anderen Historikern den Kreis der Männer, welche die deutsche Geschichts- wissenschaft des 1 9. Jahrhunderts auf ihre Höhe gefiihrt haben. Ihre Geburts- jahre fallen in die Epoche von 1 795-1834, ihre Todesjahre in die kurze Spanne von 1 880-1 896. Sie alle deckt heute der grüne Rasen, fast alle lie- gen nachbarlich gebettet auf demselben Friedhof. Als wir von Sybel' s und

Gedächimfsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treiischke. 5

Treitschke's Begrabnifs heimkehrten, erfüllte mich vor Allem die Frage, haben wir hier nicht mehr, als zwei grofse Freunde , Genossen und Lehrer, haben wir hier nicht die grofse Blüthezeit deutscher Geschichtschreibung begraben? Ist sie mit ihnen wirklich dahin? sind wir in eine kleine Zeit der Epigonen eingetreten? Warum fassen wir die Zeit von Ranke bis Treitschke als den Höhepunkt deutscher Historie auf, was waren ihre Ursachen, wodurch unterscheiden sich die jüngeren und späteren Historiker von diesen Koryphäen? Haben wir das Wort Sybel's auf sie und ihre Nachfolger anzuwenden: nur eine grofee Zeit kann grofse Historiker haben?

Ich will noch nicht versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Nur darin möchte ich mich gleich Sybel anschÜefsen, dafs allerdings die grofsen Schicksale unseres Vaterlandes auch die letzte Ursache des wissen- schaftlichen Aufschwungs in den letzten hundert Jahren waren. Die Siege von Hohenfriedberg, Rofsbach und Leuthen, von Leipzig und Waterloo, von Königgrätz und Sedan waren die Vorbedingung fiir eine deutsche Geschichtswissenschaft grofsen Stils, oder vielmehr sie gingen aus derselben geistigen Spannkraft hervor, welche zur Blüthe unseres geistigen Lebens führte. Wie nach und während der Freiheitskriege Niebuhr auftrat und der Freiherr vom Stein die Monumenta Germaniae gründete, so hat die Welt- und Geistesstimmung von 1815-1840 Ranke, die von 1840-1880 die politischen Historiker erzeugt. Es war die allgemeine Lage der vater- ländischen Angelegenheiten, welche die besten und fähigsten Köpfe von 1800 an in den Dienst der Geschichtswissenschaft führte, sie zur Er- forschung der deutschen Vergangenheit, der grofsen Epochen unserer Ge- schichte, zur Untersuchung unserer Stellung im Zusammenhang der abend- ländischen Cultur trieb. Freilich kam Anderes hinzu. L es sing und Goethe hatten die deutsche Sprache auf die Höhe der westeuropäischen gehoben, das goldene Zeitalter der deutschen Poesie und der deutschen Philosophie hatte einen edlen Idealismus erzeugt, die Fortschritte des Naturerkennens und der Philologie hatten den Sinn för nüchterne Einzelforschung gestärkt. Das war der Moment, da Niebuhr und Ranke die deutsche Geschichts- forschung auf den Boden der kritischen Methode hinübei-fuhren und der deutschen Geschichfeschreibung zugleich jenen Adel idealen Geistesschwunges verleihen konnten, der erst weltbürgerlich und klassisch, dann national und politisch gefärbt die Resultate der Forschung zu unvergänglichen

6 6. Sghmoller:

Kunstwerken zu verwerthen und die Menschen, die historischen Verhält- nisse und Schicksale an den höchsten Mafsstäben des Werthes messend, diese Kunstwerke selbst zu grofsen Ereignissen und Ursachen der natio- nalen und geistigen Weiterentwickelung zu erheben vermochte.

Denn das ist ja das Eigenthümliche : die beste empirische Methode der Forschung macht noch keine grolsen Historiker. Sie kann Einzel- forscher, Editoren , Urkundensammler, Kritiker erzeugen. Wer aber die Schicksale der Völker erzählen, aus ihrer stets trümmerhaften Überlieferung ein Ganzes machen, wer, wie Savigny sagt, aus dem Mannigfaltigen, welches die Geschichte darbietet, die höhere Einheit, das Lebensprincip suchen will, woraus das Einzelne zu erklären ist, der mufs einmal ein Menschenkenner ersten Ranges sein, und aulserdem mit divinatori- schem Geist, mit universaler Bildung die Höhen und die Niederungen alles menschlichen Lebens überblicken und mit Scharfsinn durchdringen können. Alle historische Kritik wird ihm nur Anlafs zu neuem besserem Aufbau. Er mufs als grofser Künstler das unerschöpfliche Meer der Einzelthatsachen gleichsam comprimiren, die grofse weite Welt wie in einem verkleinern- den Hohlspiegel zusammenfassen und sie doch ganz in der Art des Zu- sammenhanges und unter Aufdeckung der Causalität darstellen können, welche die Wirklichkeit beherrschte. Und bei diesem Geschäft, wie bei seinem Urtheil über die Menschen und Ereignisse leitet ihn neben dem genialen Blick zuletzt vor Allem seine Weltanschauung, d. h. diejenige Gruppe centraler Vorstellimgen und Urtheile, in deren vollendeter Ein- heitlichkeit seine Individualität besteht, deren geschlossener Ring sein prak- tisches, wie sein theoretisches Handeln bestimmt. Alle grofsen Menschen, alle bedeutenden und eingreifenden Denker und Forscher müssen zu einer klären Einheit, zur Herrschaft bestimmter Vorstellungen in ihrem Geiste kommen; sie müssen das folgt aus dem unwiderstehlichen Einheitsdrang der menschlichen Vernunft zu einer einheitlichen Weltanschauung sich durchringen, welche Zweifel im Einzelnen so wenig ausschliefst, als die Einsicht, dafs diese Weltanschauung nicht ganz auf der Erfahrung ruht. Jede Weltanschauung geht über die ganz gesicherte empirische Erkennt* nifs hinaus; denn sie giebt Antwort auf die letzten grolsen Fragen der Menschheit. Es hat nie einen grofsen Historiker gegeben, der nicht über das Verliältnifs der Gottheit zur Menschengeschichte, über Ursprung und Ziel der historischen Entwickelung, über Fortschritt oder Rückschritt und

Gedächiriifsrede auf Heinrich t?. Sybel und HeinricJi v. TreitscJüce. 7

ihre Ursachen, über die gro&en Tendenzen in den inneren Veränderungen der Staaten, über ihre Wechselwirkung unter einander, über die letzten sittlichen und politischen Fragen eine feste Überzeugung gehabt hätte.

Ohne einen solchen festen Punkt müsste sein Gerede in eklektischem werthlosem Hin- und Herreden verlaufen. Die Überzeugung kann enger begränzt, auf bestimmte Zeiträume und partielle Theile der Entwicke- lung beschränkt oder weiter greifend universal sein; sie kann in mehr empirischem oder mehr philosophisch konstruktivem Gewand auftreten. Immer wird sie in ihrem fest begründeten Theil auf dem vorhandenen Bestände des empirisch gesicherten Wissens ruhen, aber darüber hinaus Hypothesen, Ahnungen, Wahrscheinlichkeiten enthalten und so subjectiv gefärbt sein. Sie wird um so werth voller sein, je umfangreicher das Wissen ist, aus dem sie entstanden, und je höher der ganze Standpunkt des Historikers gegriffen ist. Aber sie wird nie ausschliessen , dafs spätere Zeiten, andere Richtungen zu einer anderen Weltanschauung und damit zu einer anderen Art der Betrachtung der Erscheinimgen , zu einem anderen XJrtheil über das Wesentliche der Ursachen und über den Werth der Menschen und der Einrichtungen kommen.

Von diesem Werthurtheil, das bei keinem grofsen Historiker fehlt, hängt ein guter Tlieil seiner Wirksamkeit und Bedeutung ab. In diesem Werthurtheil zeigen sich die innersten Vorgänge seines Gemüthslebens wie die letzten Wurzeln seiner Bildung, seiner Begabung, seiner geistigen Gröfse, zeigt sich die Art, wie sein Genius in seinejr Zeit wurzelt, seine Zeit ver- steht und sie erhebt.

Wir werden also auch Sybel und Treitschke nur verstehen können, wenn wir versuchen, sie nicht nur als Gelehrte und Forscher, sondern auch als Charaktere und Vertreter einer bestimmten Weltanschauung zu begreifen und wenn wir so zugleich den Punkt finden , um sie selbst in den Zusammenhang des deutschen Geisteslebens und der groDsen nationalen Ereignisse einzureihen. Das scheint am leichtesten, wenn wir ein Wort über Ranke vorausschicken, um die Beiden in ihrem Zusammenhang, wie in ihrem Gegensatz zu ihm zu begreifen.

Ranke* s Weltanschauung wurzelte in der weltbürgerlichen Humanität, der romantisch-philosophischen und aesthetischen Stimmung der Zeit, welcher Goethe und Hegel den Stempel aufgedrückt; seine stärkste Überzeugung war doch wohl die religiöse. Eusebianisch-augustinische Gedankengänge

8 6. Schholleb:

verbinden sich in ihm mit dem lebendigsten lutherischen Protestantismus. In der deutsehen Reformation sieht er, der sonst in solchen Äuiserungen so vorsichtige, den Finger Gottes; hier glaubt er den Plänen der göttlichen Weltregung zu lauschen. Er beherrscht die ganze Philosophie seiner Zeit, die Litteratur der Alten und der Renaissance; und indem er dazu eine unglaubliche Menge neuer aus den Archiven geholter, auf iliren ächten Gehalt zurückgeführter Kenntnisse fugt, möchte er einerseits die Welt- geschichte in ihrer Einheit, das Wechselspiel der romanischen und ger- manischen Völker vom 15.-18. Jahrhundert in seiner Totalität erkennen, wie er als 3 3 jähriger schreibt: die Entdeckung der imbekannten Welt- geschichte wäre mein gröfstes Glück, und andererseits verurtheilt er jede Construction, findet jedes philosophische System unbefriedigend, be- tont er nüchtern stets wieder die engen Gränzen unseres Wissens, will über die grofsen Männer, denen er seine ganze Forschung gewidmet, nur schüchtern ein Urtheil wagen. Er verwirft jeden Strich der Zeichnung, den er nicht quellenmäfsig belegen kann. Ganz philosophisch angelegt, wird er doch zum Begründer der kritischen Methode, ist ganz realistisch, verfahrt ganz empirisch. Er sagte einmal, er wolle zur Erföllung seines universalhistorischen Zweckes gelangen durch den Weg, den Niebuhr ein- schlug, und zugleich durch die Tendenz, die Hegel vorschwebte. Nur ein so ganz aufserordentlicher Geist konnte so weit auseinander Liegendes in sich vereinigen, konnte auf der einen Seite so klar, voraussetzungslos und nüchtern die politischen Machtentwickelungen und Charaktere zeichnen, auf der anderen so kulm versuchen, die letzten Ursachen alles historischen Geschehens in grandiosen Ideenbildern, Ideenkämpfen wie Ideenevolutionen zusammenzufassen. P> erschien darum dem Einen als Mystiker, dem An- dern als sittlich und politisch indifferenter Realist. Es lag in seinem Wesen das höchste Mafs von historischer Objectivität, aber aufgebaut auf einer religiös -philosophischen, von der Gegenwart abgewandten quietistischen Stimmung. Wie er an keinen geistig- sittlichen Fortschritt glaubte, so hat er den Einflufs der grofsen Männer später immer geringer geschätzt gegen- über den allgemeinen geistigen Tendenzen und von einer Geschichtschreibung der Gegenwart wenig wissen wollen, weil kein Mitlebender den Standpunkt hoch genug greifen könne. Vollends die Messung der historischen Er- scheinungen an den politischen Theorien der Gegenwart erschien ihm als schlechtweg verwerflicher Doctrinarismus.

Gedächimßrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. TreUschke. 9

Das waren Anschauungen , die 1 8 1 5-1 840 entstehen konnten, ja mufsten, die aber in dem Geschlecht, das 18 30- 1860 heranreifte, nicht fortzudauern vermochten. An die Stelle der weltbürgerlichen Humanität trat deutscher Patriotismus, an die Stelle einer philosophisch-aesthetischen eine politisch- verfassungsgeschichtliche Atmosphaere, an die Stelle einer Empirie, die nur den Zusammenhang der Ereignisse und der Ideen untersucht, eine solche, welche Recht, Verfassung, Kunst, Litteratur, sociale Zustände und Verwaltungseinrichtungen ebenso ergreifen will. Nicht mehr Abwendung von der Gegenwart, sondern Leben in ihr und Wirken auf sie mufste die Losung der jüngeren Generation werden. Auch die, welche wie Duncker und Droysen noch ganz mit der Philosophie begannen, wendeten sich bald der realistischen Erfassung der historischen Thatsächen zu. Dahl-: mann's energischer patriotischer Charakter wurde das Vorbild für die besten Köpfe und die edelsten Gemüther. Deutschland mulste eine ganze Sclmle politisch-nationaler Historiker erhalten, die in Duncker, Droysen, Häusser, Sybel und Treitschke ihre Führer und Höhepunkte hatte.

n.

Heinrich von Sybel war 1817 geboren; er stammte aus gebildeter, wohlhabender Familie; väterlicherseits aus Soest, wo seine Ahnen nach- weisbar als Patricier seit dem 15. Jahrhundert lebten, um später zum Pfarrerberuf überzugehen , während sein Vater ein angesehener Jurist von starkem Selbstgefühl war; mütterlicherseits aus Elberfelder Fabrikanten- und Kaufmannskreisen. Er kam 1834 nach Berlin, um Geschichte und Jura zu studiren, als eben das gebildete rheinische Bürgerthum in Hanse- mann*s Schrift »Frankreich und Preufisen 1833« die altvaterische Berliner Bureaukratie belehrt hatte, dafs die rheinisch- constitutionellen Ideen Einflufs im Staate begehrten. Die Hansemann, von der Heydt, Kamphausen, Mevissen, die von nun an über ein Menschenalter die Spuren ihrer Wirk- samkeit dem preufsischen Staate aufdrückten, waren die Freunde seines Vaters auf den rheinischen Landtagen und wurden bald seine eigenen. Wenn man sagen kann, die Auseinandersetzung zwischen den rheinisch- liberalen Ideen und den altpreufsischen aristokratisch -feudalen habe die innere Geschichte des preufsischen Staates 1830- 1870 beherrscht, so wird man auch behaupten dürfen, Heinrich von Sybel sei der wissenschafl- Gedäehim/kreden. 1896. L 2

10 G. Schmoller:

liclie Vorkäini)fer dieses rheinischen mafsvoUen, etwas kaufinännisch-aristo- kratisch gefärbten Constitutionalismus geworden.

Zunächst ging er durch die Schule von Ranke und Savigny. Der Letztere gab ihm. wie er selbst sagt, »jenes volle Quantum juristischer Bildung, das die unerläfsliche Bedingung fiir die Erkenntnifs und Dar- stellung politischer Geschichte ist« ; in den umfangreichen juristischen Studien vollendete sich seine rationelle Verständigkeit, seine logische Klar- heit und dialektische Gewandtheit. Noch gröfseren Einflufs aber gewann doch Ranke; von ihm übernahm er die streng kritische wissenschaftliche Methode, den Sinn fiir imiversale Bildung, die Abneigung gegen das historische Specialistenthum; wie Ranke hat er gleichmäfsig in antiker, mittelalterlicher und neuer Geschichte gearbeitet; er theilt mit ihm die idealistische Grundstimmung, die reinen sittlichen Empfindungen. Und doch stand der kunst- und scharfsinnige , bei aller Gemüthsweichheit schlag- fertige und kampflustige junge Rheinländer seinem thüringischen tiefsinnig contemplativen Lehrer von Anfang an als eine gänzlich andere Natur gegenüber. Niebuhr und Burke hatten als Charaktere und politische Köpfe doch eigentlich noch tiefern Eindruck auf ihn gemacht. Sybel hatte ein ganz anderes Bedürfhifs, die Dinge realistisch zu fassen, den Mechanismus des Verfassungs- und Wirthschafbslebens zu verstehen. »Übel war es«, sagt er selbst von seiner Studienzeit, »dafs ich nicht gleichen Fleifs wie auf die juristischen Studien auf die Philosophie verwandte;« er gesteht, dafe er Hegel nicht recht habe bewältigen können. Die letzten und grofsen Fragen der Philosophie sind ihm stets fern geblieben; ja er hatte eine förmliche Abneigung gegen alles Speculative, wie es doch in Ranke immer wieder durchbricht. Religiös nicht indifferent, war er neben Ranke doch das heitere lebensfreudige, in der sonnigen Helle rheinischer Kunst und Lebenslust erwachsene Weltkind, dem Pfaffengezänk, Glaubensdruck und weltliche Priesterherrschaft zeitlebens das Unerträglichste dünkte.

Es will mir scheinen, man fasse sein geistiges Wesen am richtigsten so zusammen: eine erstaunliche Dosis gesunden Menschenverstandes, eine scharfe, durchdringende Mensch enkenntnifs, ein förmlicher Spürsinn für alle Feinheit diplomatischer Verschlingungen und komplicirter politischer Vor- gänge , ein freier, klarer Blick für das Grofse und das Kleine der mensch- lichen Dinge, unbestechliche Wahi'heitsliebe, kampflustige Schärfe und feine Ironie, vornehme Urbanität, Glück und Geschick in der eigenen

Gedächtnifsrede auf Heimich v. Sybel und Heinrich v. Treitsclike. 11

Lebensföhrung, im Haus und auf dem Katheder, in den Geschäften und in der Politik: so war Heinrich von Sybel. Von Haus aus mehr gesetzt als lebhaft, ursprünglich kein geborener Redner, im Stil stets einfach, zunickhaltend, meist einer leidenschaftslosen Ruhe beflissen, ist er doch durch Fleifs und Selbstzucht, durch angeborenes feines Gefühl und künst- lerische Phantasie der feinste und klarste historische Erzähler, einer der glücklichsten akademischen Lehrer und politischen Redner geworden. Poli- tisches Interesse und Patriotismus haben ihn immer wieder der Wissen- schaft zu entfuhren gesucht: ein freundliches Geschick hat ihn immer wieder der schriftstellerisch -historischen Thätigkeit zurückgegeben. Nur hat er seine Aufgaben immer mehr der Gegenwart und ihren grofsen politischen Interessen angepafst.

Es ist erstaunlich, zu sehen, wie er in seinen jungen Jahren, ja bis in die Tage des Culturkampfes , jeden Moment bereit ist, in den öflfent- lichen Kampf der Geister einzutreten, unbarmherzig alles, was ihm dunkel, mystisch, unklar dünkt, zu bekämpfen, in scharfer Polemik dem Gegner zu Leibe zu gehen. Klingen doch schon die Thesen , die er seiner Doctor- dissertation anhängt, halb wie kampflustige Ironie gegen seinen Meister. Er erklärt, man müsse Geschichte »cum ira et studio« schreiben; Personen, nicht Einrichtungen bestimmten die Geschicke der Völker. Seine erste grofee wissenschaftliche Schrift über den ersten Kreuzzug will den romantischen Nimbus, den die Sage und Legende um Peter von Amiens und Gottfried von Bouillon gewunden, zerstören. Eine »bissige« Kritik Schlosser's, wie er sie selbst nennt, will den philisterhaften Moralisten treffen; da sie Eichhorn gefällt, verschafft sie ihm die aufeerordentliche Professur. Mit der Schrift über den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenähten Röcke (1844) will er der damaligen Agitation der ültramontanen und der ganzen mittelalterlichen Weltanschauung entgegen- treten, wie bald darauf mit der Broschüre über die politischen Parteien im Rheinlande (1847). Und indem er nun in mehrjähriger Arbeit seine mittelalterlichen Verfassungsstudien in der Schrift über die Entstehung des deutschen Königthums zusammenfafst, so ist auch hier die Polemik nicht zu verkennen; sie ist gegen die romantische Deutschthümelei ge- richtet, die die alte germanische Verfassung statt aus der realen Erkennt- nifs wirthschaftlicher und socialer Zustände aus einem bevorzugten ger- manischen Volksgeist ableiten, nicht anerkennen will, welch grofse Wir-

2*

12 G. Schmoller:

kungen das römische Staatswesen auf das spätere germanische Königthum geübt habe.

Auch in Marburg und München bleibt er im Vordertreffen der poli- tischen Kämpfe und Aspirationen. Er sagt dem ihm so freundlich gesinnten König Maximilian, dafs die von ihm in's Auge gefafste politische Triasidee ein Unsinn sei, und in fast unhistorischer Identificirung der alten deutschen Kaiserzüge nach Italien mit den Tendenzen habsburgischer Hauspolitik erklärt er den fiir deutsches Kaiserthum schwärmenden Bajuwaren, dafs diese ritterlichen Züge nach Italien falsch, weil nicht national sondern auf Weltherrschaft gerichtet gewesen seien. Und nach Bonn zurückgekehrt theilt er viele Jahre hindurch seine Zeit zwischen- Wissenschaft und Politik, nicht ohne zeitweise dem Parteipolitiker die Herrschaft über den wissen- schaftlichen Denker einzuräumen. Von seiner Oppositionsthätigkeit in den Jahren 1 862- 1864 hat er später selbst ähnlich gedacht, wie seine meisten wissenschaftlichen Freunde schon damals. Er sollte und wollte im Januar 1864 für die Mehrheit des Abgeordnetenhauses dem Ministerium Bismarck die 12 Millionen Thaler zum Krieg gegen Dänemark verweigern; daran hinderte ihn ein Diphtherieanfall. Er verzeichnet selbst später das Ereignifs mit den Worten »der Himmel war so gnädig, mich an weiterer Blamage zu hindern«. Der Ausspruch ehrt ihn nur, denn er zeigt seine Wahrheits- liebe und seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Im Ganzen aber dürfen wir auch von seiner politischen Thätigkeit sagen, dafs sie durch Takt, Lebensklug- heit, diplomatische Gewandtheit, wie durch grofsen Blick und weites histo- risches Urtheil sich auszeichnete. Es waren dieselben Eigenschaften, die ihn zum Archivleiter, Herausgeber der historischen Zeitschrift, zum Orga- nisator so vieler wissenschaftlicher Unternehmungen und Editionen grofsen Stils besonders befähigten.

Aber so Vieles er so praktisch und politisch leistete, wir feiern ihn heute hier nicht wegen dieser Verdienste, sondern als Gelehrten. Für uns ist er in erster Linie der Verfasser der Geschichte des Revolutionszeitalters und der Begründung des Deutschen Reiches. In diesen Werken, besonders im ersteren, liegt seine eigentliche Lebensarbeit, seine Gröfse und sein wissenschaftliches Verdienst.

Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm enthält die Geschichte der preufsisch- deutschen auswärtigen Politik von 1858 bis zum Ausbruch des Krieges von 1870 in sieben Bänden; an der Fertig-

Gedächimßrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitsciüce. 13

Stellung hat der Tod den Verfasser gehindert. Die deutsche Nation kann dem Verfasser nicht dankbar genug sein, ^ da& er ihr diese musterhafte Dar- stellung nach den preufsischen Acten geliefert hat; persönliche Erlebnisse und Eigenschaften, wie amtliche Stellung befähigten ihn, wie keinen anderen, zu dieser grolsen Leistung. Viele Theile des Werkes, wie die Schilderung des Feldzuges von 1866 und der Bismarck 'sehen Staatskunst von 1863 bis 1866 werden für alle Zeiten zu den Perlen der historischen Litteratur zählen. Wir werden ähnlich wie in Bezug auf Ranke's Weltgeschichte immer wieder bewiuidernd ausrufen müssen, welche Kraft, die nach dem 70. Jahre Derartiges vollenden konnte. Aber die Bedeutung seines anderen Haupt- werkes kann das Buch doch nicht beanspruchen. Die innere Politik Deutsch- lands wird in demselben nur da und dort gestreift; das Ganze ist mehr nur eine äufsere Erzählung, als eine Herleitung aus den innersten bewe- genden Kräften ; das Urtheil ist zurückhaltender, die Darstellung noch glatter als in seinen früheren Werken; sie mufs über Vieles weggleiten, redet sie doch von den lebenden und regierenden Personen der Gegenwart und des eigenen Staates. Ohne Sybel 's Kunst und Discretion wäre das Buch gar nicht möglich gewesen. Aber unüberwindliche Schranken lagen hier auch für den freiesten Geist und den geschicktesten Historiker vor. Über Vieles wird erst die Zukunft und die Eröffiimig der fremden Archive volle Aufklärung bringen. Auch das Urtheil über die handelnden Personen wird anders werden, selbst über Bismarck, den Sybel ja voll anerkennt und bewundert, über dessen Conflicte mit dem König und dem Hof er aber nichts sagt. Selbst von befreundeter Seite äufserte man, in seiner Darstellung komme der Löwe nicht zum Ausdruck : von anderer Seite meinte man gar, er habe aus einer Tiger- eine zahme Hauskatze gemacht. Auch darin lag eine Schranke, dafs der 70jährige die Erreichung seiner poli- tischen Lebensideale erzählt; wer in dieser Lage ist, kann für die neuen gährenden Elemente der nachdrängenden Zukunft kein volles Verständnifs haben.

In welch anderer Lage war da Sybel dem Revolutions-Zeitalter gegen- über. Die volle Kraft seiner besten Jahre hat er dieser Aufgabe gewidmet. Er stand diesem gröfsesten politischen Ereignifs der neueren europäischen Geschichte mit der vollen Theilnahme des Mannes gegenüber, der noch unter ihren Nachwirkungen lebt, aber andererseits hatte er die volle Un- befangenheit des Deutschen und des Forschers, der durch 60-70 Jahre

14 G. Schmolle»:

von dem abgelaufenen Zeitalter getrennt ist. Er war zu dem Ergreifen dieses Themas auch durch einen praktisch -politischen Anlafis gekommen; es waren 1848- 1850 wieder communistische Ideen aufgetaucht. Sybel wollte das Fiasco derselben in der französischen Revolution den Zeitgenossen vor- führen. Aber seine Studien führten ihn weiter; er durchsuchte die euro- päischen Archive und die Zeitungen und Broschüren jener Tage; seine kritische Methode nöthigte ihn immer weiter in's Einzelne einzudringen, den Gregenstand von allen Seiten zu fassen. So wurde aus der beabsich- tigten Broschüre ein grofses erst dreibändiges Werk, das die sechs Jahre 1 789-1 795, später ein fünf bändiges , das 11 Jahre 1 789-1 800 behandelte. Fast 30 Jahre seines Lebens, 1 850-1 880, hat er dieser im ganzen so kurzen Epoche gewidmet. Immer wieder hat er neue Archivalien herangezogen, seine Darstellung revidirt, in Streitschriften mit den Gegnern verthei- digt. Aber was hat er auch damit erreicht! Die anerkannt erste ganz wahrheitsgetreue Berichterstattung über die Revolution, die Zerstörung aller der Legenden und politisch -tendenziösen Erzählungen, die haupt- sächlich in Frankreich bisher geherrscht hatten. Eine Darstellung, die nicht blofs auf Grund einiger Gesandtschafksberichte , wie es Ranke liebte, in wenigen grofsen Strichen ein neues Bild gab, sondern die Schritt für Schritt durch Einzeluntersuchung und Heranziehung eines fast unübersehbaren Materials die ganze innere und äufsere, die wirthschaftliche , sociale, ad- ministrative, finanzielle und Verfitssungsgeschichte Frankreichs nebst allen Be- ziehungen zum Auslande und den kriegerischen Ereignissen giebt; aber er beschränkt sich als acht Ranke'scher Schüler nicht blofs auf die direc- ten Beziehungen Frankreichs zu dem Ausland; er erkennt, dafs man die französische Revolution nicht blofs aus sich, sondern ebenso aus den ge- sammten Beziehungen und Spannungen Frankreichs zum übrigen Europa verstehen lernen mnts. Und so verknüpft er in äufserst geschickter Gnip- pirung des Stoffes die französische Geschichte mit der Schilderung der ganzen damaligen europäischen Staatenwelt. Er fuhrt uns diese Staaten in grofs gehaltenen Umrissen, ihre Fürsten und Staatsmänner, ihre poli- tischen Tendenzen vor. Wir sehen den Zusammenhang der französischen und der russischen Kriegsabsichten, wir begreifen so, wie der Untergang des französischen Feudalstaates und die Revolution mit der Auflösung des deutschen Reiches und der Zertheüung Polens zusammenhängt, wie es sich um einen grofsen einheitlichen europäischen Zersetzungsprocefs han-

Gedächtnifsrede auf Heinrich ü. Sybel und Heinrich v. TreUsMe. 1 5

delt; es liegt in der Aufdeckung dieser Zusammenhänge die eigenartigste Leistung SybeFs.

Und wenn die damaligen politischen Vorstellungen und Neigungen Sybel's in das greise monumentale Werk naturgemäfs mit eindrangen, wenn wir seine socialen und volkswirthscLaftlichen ürtheile heute nicht mehr ganz theilen, wenn wir heute fordern würden, dafs das Urtheil sich ebenso sehr auf einer Vergleichung von 1700 und 1790, wie auf einer solchen von 1790 und 1850 aufbaue, wenn die heutige Forschung bereits die Schuld der einzelnen mitwirkenden Personen und Parteien wieder etwas anders beurtheilt, so thut das doch der Gröfse des Werkes keinen Eintrag. Sybel's Revolutionszeitalter bleibt ein epochemachendes Werk nach Form und Inhalt. Seit der erste Band erschienen ist, sind 41 Jahre verflossen. Kein anderes grofees deutsches Werk über neuere Geschichte hat es nach allen Seiten hin übertroffen; nur Treitschke's deutsche Geschichte ist in der Darstellung glänzender, in der Wirkung bedeutungsvoller. Die ganze seitherige Forschung imd Geschichtschreibung über das Revolutionszeitalter ruht auf Sybel, knüpft an ihn an, auch in Frankreich. Taine's berühmtes Buch über die Entstehung des neuen Frankreich läfst sich eigentlich mit Sybel nicht vergleichen; denn dieser will als Historiker den geschicht- liehen Verlauf erzählen, jener will eine politische und sociale Psychologie, eine sociologische Schilderung der Zustände und Einrichtungen jener Tage geben. Dabei bleibt Sybel stets ruhiger Berichterstatter, Taine schildert viel anschaulicher, bewegter, drastischer, mit französischer Beredsamkeit und mit französischem Geist. Im Grunde aber sind sie in den Ergebnissen eins und Taine ist der, welcher aus Sybel gelernt hat. Ja man könnte sagen, die Grundzüge seines politischen Urtheils habe er aus Sybel entnommen. Denn das ist ja doch auch bei Sybel der springende Punkt, der rothe Faden, der durch AUes hindurchgeht: er will zeigen, wohin der Radi- calismus, die Volkssouveränetät, die Rousseau'schen und communistischen Staatstheorien praktisch faliren; er will stets zugleich beweisen, dafs eine freie Staatsverfassung mit Erhaltung einer geordneten Staatsgewalt möglich sei. Und weil er nicht blofs Historiker, sondern zugleich PoUtiker, Finanz-, Verfassungstheoretiker und Jurist ist, wufste er die rechten Fragen zum ersten Male gegenüber diesem gröfsesten politischen Stoffe der neueren Zeit zu stellen und Antworten zu geben, die fiir seine Zeit einen aulser- ordentlichen Fortschritt bedeuteten.

16 G. Schmoller:

Es ist das der Punkt, wo wir sehen, wie enge sein gröfstes Lebens- werk — freilich auch viele seiner kleinen schönen Aufsätze, auf die wir hier leider nicht eingehen können mit seinen politischen Grundprin- cipien und seiner Weltanschauung und diese mit seiner Methode und seiner Persönlichkeit zusammenhingen.

Mit seinem optimistischen Idealismus und seiner 'klaren Verständigkeit war sein fester Glaube an die kritische Methode und an jenen mafs vollen Liberalismus gegeben, der von starkem Staatsgeföhl und Patriotismus ge- tragen ist. Mit der kritischen Quellenprüfiing nach Niebuh r's und Ranke's Vorbild und mit seiner Kenntnifs der Politik glaubte er die vollen Gesetze des historischen Wissens zu besitzen, nicht blols den Schlüssel, um descriptiv die historischen Vorgänge wahrheitsgetreu zu schildern, sondern auch um ihren inneren Zusammenhang, ihre causale VerknOpfiing ohne Rest zu verstehen. Sein politischer, kirchlicher, socialer Standpunkt war ihm nur denkbar als Consequenz der rechten Methode; seine Urtheile von diesem Standpunkt aus schienen ihm so sicher, wie die unumstöfslichen Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung. Alle ältere Betrachtungsweise, selbst die Ranke 'sehe, verurtheilt er. Fast hart spricht er 1856 von der vornehmen Neutralität, die ohne Rettung seelenlos oder affectirt werde, die nie zu der Fülle, der Wärme und der Freiheit der wahren Natur sich zu erheben vermöge. Er jubelt, dals es mit der weltbürgerlichen Ruhe, die einst Johannes von Müller zur Mode gemacht habe, nun in der deutschen Geschichtschreibung fiir immer vorbei sei imd es nur noch religiöse und atheistische, protestantische und katholische, liberale und conservative, aber keine objectiven unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker mehr gebe. Aber er fügt in dieser merkwürdigen Rede »über den Stand der neueren deutschen Geschicht- schreibung« gleich bei, dafs er diese verschiedenen Richtungen nicht für gleichwerthig halte. Nur die ist ihm die wahre, welche die grofsen politischen Gegensätze in sich ausgeglichen habe ; die liberale , soweit sie die radicalen Elemente ausgestofsen , die conservative, soweit sie liberal geworden. Er ruft: die grofsen Historiker, Mommsen und Duncker, Waitz und Giesebrecht, Droysen und Häusser, gehören alle diesem Centrum an; was weiter rechts und weiter links steht, was die extremen Parteien daneben neuerlich geleistet haben, kommt »nach wissenschaftlichem Werth« gar nicht in Betracht. Und in ähnlicher Weise verkündet er in dem Vorwort

Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Syhel und Heinrich v. TreUschke. 17

zur historischen Zeitschrift 1859, sie solle die wahre Methode historischer Forschung vertreten, nicht antiquarisch und nicht politisch sein. Aber aus der geschichtlichen Betrachtung, aus der Erkenntnifs der sittlichen Gesetze und dem Wesen der Entwickelung der Staats-. und Cultiu-formen folgert er, dafs ihr politisches Urtheil bekämpfen müsse »den Feudalismus, welcher dem fortschreitenden Leben abgestorbene Formen aufnöthige, den Radicalismus, welcher die subjective Willkür an die Stelle des organischen Verlaufs setze, den Ultramontanismus, welcher die nationale und geistige Entwickelung der Autorität einer äufseren Kirche unterwerfe«.

Ich möchte mich methodologisch mit all diesen Sätzen keineswegs identificiren. Sie scheinen mir die Gränzen zwischen gesichertem empiri- schen Wissen und dem aus einer bestimmten Weltanschauung folgenden Urtheil, den mit Hilfe einer solchen versuchten grofsen Conceptionen ganz zu verkennen. Aber ich gebe Sybel Recht, dafs 1 840-1 880 die von ihm und den genannten Historikern vertretene Weltanschauung die wissen- schaftlich und sittlich höchststehende und darum kräftigste, berechtigtste, siegreiche war. Und SybeTs grofse Bedeutung liegt mit darin, dafs er von diesem Standpunkt aus Geschichte schrieb und Werthurtheile abgab, dass er damit den Schritt von der blofs descriptiven Wissenschaft zur causal erklärenden, zu der die grofsen Zusammenhänge aufhellenden in seiner Art vollzog. In dem Dienste des grofsen Problems, wie in dem modernen Grofsstaat die Befreiung des Individuums verträglich sei mit einer festen, starken, nationalen Regierung, hat Sybel gleichsam stets gestanden; er wollte es durch empirische zuverlässige Untersuchung fördern, von dieser Einzeluntersuchung aus zu allgemeinen Wahrheiten kommen. Nicht darauf, ob er dabei in jedem einzelnen Punkte mit seinen Generalisirungen das Richtige getroffen, kommt es an, sondern darauf, dafs Sybel nach seiner Natur und seiner Zeit sich als Historiker keine gröfsere Aufgabe stellen konnte und dafs er bei der Beantwortung des grofsen Problems auf das rechte Ziel gerichtet war. Nicht umsonst sagte Ranke von ihm, wohl im Gegensatz zu anderen seiner Schüler, er sei stets auf dem rechten Wege, auf dem Boden der richtigen Methode geblieben.

Er würde das wohl von Treitschke nicht behauptet haben, wiewohl er seine Gröfse noch erlebte und mit wachsendem Beifall doch seine deutsche Geschichte in sich aufnahm.

Gedäcktnifsredm. 1896. I. 3

18 G. Schmoller:

m.

Heinrich von Treitschke ist in dem Jahre geLoren, in welchem Sybel die Universität bezog. Als Kind einer sächsischen adeligen Offiziers- familie, die einst um ihres Glaubens willen hatte Böhmen verlassen müssen, ist er in Dresden aufgewachsen. Seine patriotisch gesinnte Mutter und die Ereignisse von 1 840-1 855 bestimmten sein erstes politisches Denken; der kernhafte ritterliche Vater war ein ausgezeichneter Officier und der Sohn würde, wie er oft erzählte, dieser Laufbahn gefolgt sein, wenn ihn nicht ein frühes Gehörleiden daran gehindert hätte. Er war nach körper- lichen \md geistigen Eigenschaften zu einem Leben der Tliat, der Ent- schlossenheit, des Handelns geboren; freilich hatte ihm eine gütige Fee zugleich die Gaben des Dichters iii die Wiege gelegt, eine kräftige lebendige Phantasie, ein wunderbares Form- und Sprachgefühl, einen enthusiastischen Schwung der Seele, eine himmelstürmende Leidenschaft fiir grofse Ideale. Er hat noch lange in seiner Studienzeit zwischen dem Beruf des Gelehrten und des Dichters geschwankt, Simrock immer wieder seine poetischen Producte vorgelegt. Zunächst hatte er in der trefflichen Kreuzschule in Dresden das Gymnasium durchlaufen und dann in Bonn begonnen Staats- wissenschaften und Geschichte zu studiren , doch so , dafs während seiner ganzen akademischen Laufbahn in Bonn, Leipzig, Tübingen, Heidelberg und Göttingen die nationaloekonomische und staatswissenschaftliche Tliätig- keit vorwog. Immerhin hatte Dahlmann den gröfsesten Eindruck auf ihn geübt und nachdem er sich in Leipzig als Pocent mit einer staats- wissenschaftlichen Abhandlung über die Gesellschaftswissenschaft (1859), die gegen Robert von Mohl gerichtet war, habilitirt hatte, drängten ihn doch bald das politische Interesse und der Erfolg seiner Vorlesungen über neuere Geschichte vollends ganz zur Historie hinüber. Aber daneben be- hielt er stets die Verfassungsfragen in erster Linie im Auge ; die Geschichte der politischen Theorien und die Politik blieben seine Lieblingsvorlesungen. Treitschke ist so noch mehr als Sybel staatswissenschaftlich- politischer Historiker. Aber von den staatswissenschaftlichen Fragen traten doch nur die über die politische Freiheit, über die constitutionelle Verfassung, über das Königthum und die nationalen Einheitsstaaten in das innerste Centrum seines Denkens und Strebens.

Sie wurden für ihn das grofse Thema seines Lebens; sie suchte er als publicistischer Schriftsteller, als Staatstheoretiker, als Docent, als Ge-

Gedächtnifsrede auf Hemrich t?. Syhel und Heinrich v. Treitschke. 19

Schichtschreiber, als Abgeordneter des Parlaments zu fördern, auszuge- stalten, zu vertiefen, immer zugleich praktisch und theoretisch wirkend, immer zugleich als Künstler gestaltend, als Patriot mahnend und handelnd, als Lehrer die Jugend begeisternd, als Historiker seine Nation belehrend und erziehend. Es wird erst eine eingehende Biographie uns schildern können, wie die gährenden und theilweise widersprechenden Elemente in ihm sich ausgleichen und zu jener grofsen Wirkung kommen konnten, die theils schon bei seinen Lebzeiten und noch mehr in der Zukunft den Eindruck des Genialen und Titanenhaften gemacht haben und machen werden.

Schon äufserlich mufste er Jedem , der ihn zum ersten Male mit seinen breit.en Schultern, seiner grofsen kühnen Stirn und Nase sah, den Ein- druck des gewaltigen Kämpen machen. Aber wer in diese treuen tiefen Augen sah, der empfand sofort, dafs zugleich ein Mann von seltener Herzensgüte, von vornehmstem Edelmuth, von sinnigem, tief bewegtem Gemüthsleben vor ihm stand. Kein Falsch war in seiner Seele; ohne Egoismus und Ehrgeiz ging er durch's Leben, so stark sein Selbstgeftihl auch war; er setzte von allen Menschen das Beste voraus; selbst die Taubheit hat ihn nie zu dem natürlichen Fehler der Tauben, zum Miß- trauen gegen andere gebracht. Aber wo er auf Widerspruch, auf (Je- meinheit, auf Lehren stiefs, die er für falsch und verderblich hielt, da konnte er in wildester, fast berserkerartiger Leidenschaft losbrechen, un- barmherzig mit Keulen dreinschlagen. Er liebte und hafste mit elemen- tarer, fast vulkanischer Gewalt; und das hielt er für sein gutes Recht; er konnte sich keinen rechten Mann denken ohne solchen Hafs und ohne solche Liebe. »So gewifs der Mensch nur versteht, was er liebt«, mit diesen Worten hat er uns den 5. Band der deutschen Geschichte übergeben, »ebenso gewils kann nur ein starkes Herz, das die Geschicke des Vater- landes wie selbsterlebtes Leid und Glück empfindet, der historischen Er- zählung die innere Wahrheit geben«. In dieser Macht des Gemüthes, fugt, er bei, liegt die Gröfse der Geschichtschreiber des Alterthums. Früher schon hatte er sich mal auf die Frage, »Wen zählen alle Völker mit Vor- liebe unter ihre grofsen Redner und Schriftsteller?« die Antwort gegeben »doch gewifs jene streitbaren Naturen, die etwas vom Helden in sich tragen und deren Worte klingen wie Trompetengeschmetter«.

Und in dieser seiner Eigenart hat ihn nun notliwendig sein Schick- sal gesteigert. Zunächst die erzwungene Einsamkeit, zu der ihn seine

20 6. Sc HH oller:

Taubheit venirtheilte. Er konnte nicht mehr in lebendiger Rede und Gegenrede seine Urtheile abschleifen und modüiciren ; auf sich selbst con- centrirt, lebte er ein doppelt innerliches Leben, die Glut seines Herzens immer nachhaltiger sammelnd, auf grofse Ziele hinrichtend. Er wufste durch kluges reiches Beobachten um so mehr in sich aufzunehmen, er wufste aus einem Worte ganze Zusammenhänge zu errathen, er las, er sammelte lun so mehr, je weniger er mehr hörte; aber all das hob die That- sache nicht auf, dafs er wie kaum ein Anderer seinen Schwerpunkt allein in sich selber fand. Wenn sein Inneres sich öffnete zu einem jener Mono- loge, die wir alle so gern, oft mit Beifall, oft mit Kopfschütteln hörten, so empfand Jeder, welche ungewöhnliche lang gesammelte und zurückge- haltene Kraft hier gährte.

Die schwersten Kämpfe mit Vaterhaus und Heimat wurden ihm, dem glühenden Preufsenverehrer, nicht erspart. Auch sonst hat sein warmes Herz viel Schweres erdulden müssen. Er hat sich in Demuth vor dem Schicksal gebeugt, ist nie dadurch auf die Dauer verbittert ge- worden, er blieb stets des Lebens froh, des Vertrauens auf seinen Gott voll bis zuletzt; das schwerste Schicksal hat ihm nur den kühnen Muth gestärkt, auf sich selbst stehend sich ganz auszuleben, eigenartig und kraftvoll durch die Welt zu schreiten. Die »That« war ihm nun ein- mal das Lebensideal.

Er war sich wohl bewufst, dafs dies eigentlich in Widerspruch stehe mit kühler Untersuchung, mit abwägender Gelehrsamkeit. »Es ist«, sagt er einmal, »der Mehrheit der Menschen nicht gegeben, sich selber und ihr eigenes Thun nur als historisch bedingte Erscheinungen zu begreifen « . Aber er fand doch immer wieder den Weg, das Ideal des handelnden und des forschenden Menschen zur Harmonie zu verbinden. »Es ist« ruft er aus »eine höchste Blüthe feiner und dennoch kräftiger Bildung möglich, welche mit dem raschen Muthe der That die überlegene Milde des Histo- rikers verbindet. Es ist möglich, fest zu stehen und um sich zu schla- gen in dem schweren Kampf der Männer und dennoch das Geschehende wie ein Geschehenes zu betrachten, jede Erscheinung der Zeit in ihrer Nothwendigkeit zu begreifen und mit liebevollem Blicke auch unter der wunderlichsten Hülle der Thorheit das liebe traute Menschenangesicht auf- zusuchen. Diese zugleich thätige und betrachtende Stimmung des Geistes, welche in jedem Augenblicke reif und bereit ist, abzuschliefsen mit

Gedächtm/srede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treilschke. 21

dem Leben, soll einem geistreichen Volke immer als ein Ideal vor Augen schweben. «

So hat er zeitlebens in sich gerungen; immer reiner hat ein edler sittlicher Idealismus das unbändige Temperament in ihm beherrscht, immer schöner hat die Muse der Geschichte und der Genius des Künstlers in ihm die Leidenschaft gedämpft. Aber er war und blieb und darauf beruhte vor Allem seine grolse Wirkung auf die Jugend ein stürmischer Redner; auch wo er an den Verstand sich wenden wollte, appellirte er zuletzt an die Gefühle. Auch sein geschriebenes Wort war im Sinne der Rede und der Überredung gehalten. Alles, was er schrieb, hatte etwas Rhetorisches; aber jedes Wort war aus seinem Innern entsprungen, wahr- haftig erlebt. Immer in vollen Akkorden erging sich sein Stil, vorwärts drängend, wie seine Gedanken, immer farbenreich und pointirt, dem älteren Leser oft zu unruhig, zu wenig zu schlichter Erzählung, zu objectiver verstandesmäfsiger Auseinandersetzung gelangend. Da Alles in ihm lebendig widerklang, so konnte er nur schwer anders als impulsiv reden; die Ein- drücke des Tages, seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen kann man oft zwischen den Zeilen lesen. Ich möchte sagen , die starken Bewe- gimgen seiner Künstlerseele kamen nur dadurch zur Ruhe , dafs er sie zu Mahnworten und Reden, zu Gestalten und Bildern umformte, dafs er das Empfundene und Durchdachte zu geist- und lebensvoller Darstellung brachte. Auch wo er mehr theoretisch verfahrt, ist der intuitive Blick, der rälsch, springend zu scharf ausgeprägten Resultaten kommt, das Wesentliche. Wo er schildert, weifs er mit schlagenden Metaphern, mit glücklichen Vergleichen, mit einer Häufung anschaulicher Beiworte das Vergangene vor die Augen zu zaubern, als ob wir dabei wären. Er gibt als Historiker meist mehr Farbe, als Zeichnung; helle Lichter und dunkle Schatten stehen neben einander, die Mitteltöne fehlen. Die Urtheile lauten gern absolut, eine Generalisirung wird ausgesprochen , um damit die Behauptung zu dem Range einer höheren eindringlicheren Wahrheit zu erheben, auch wo nur ein oder ein paar Beispiele dem Redner als Beweis vorschweben. Meist ist es schwer, aus seinen Schriften Auszüge zu geben, weil das Gerippe ohne die Sprache und Farbe des Autors nicht mehr als sein Gedanke erscheint.

Doch müssen wir, wenn wir ihn nun als Schriftsteller ganz verstehen wollen, scheiden zwischen seinen kleinen Schriften einerseits, seiner deutschen Geschichte andererseits.

22 6. Schmoller:

Treitschke's kleinere Schriften, die uns in den drei Bänden histo- rischer und politischer Aufsätze, in den »zehn Jahren deutscher Kämpfe« und in zahlreichen Aufsätzen der preufsischen Jahrbücher und anderer Zeitschriften, sowie in selbständigen Broschüren vorliegen, zerfallen in drei Gruppen.

Die erste enthält Reden und Aufsätze über einzelne Persönlichkeiten, Fürsten, Staatsmänner, Politiker, Dichter und Scliriftsteller. Auf biogra- phischer Grundlage werden farbenreiche hinreifsende Portraits der Be- treffenden uns vorgeföhrt, die mit seltener Kraft auf den 'Hörer und Leser wirken. Vielleicht gehören diese Bilder zum Formvollendetsten und Le- bendigsten, was er geschaffen: Seine Reden über Luther und Gustav Adolph, seine Aufsätze über Pufendorf und Milton sind Meisterstücke lapidarer grofser Personenschilderung. Und seine Aufsätze über deutsche Dichter, über Lessing und Kleist, über Uhland und Hebbel gehören fiir mich zu dem Besten und Packendsten, was die deutsche Litteratur- geschichte geschaffen. Man spürt, dafs ein Berichterstatter redet, der alle Geheimnisse der Dichter- und Künstlerseele kennt. Auch hier freilich gelingt ihm das am besten, was ihm ganz congenial ist, wie die Schilderung der Poesie des politischen Hasses bei Kleist. Er lehrt uns verstehen, wie der gewaltige Dichter mit Mordgedanken gegen Napoleon umgehen konnte und wie er die Germania jene furchtbaren Worte an ihre Kinder richten läfst:

»Schlagt ihn todt, das Weltgericht Fragt Euch nach den Gründen nicht«.

Die zweite Gruppe hat er selbst einmal bezeichnet als Studien ver- gleichender Staatswissenschaft, wobei ihm die Art vorschwebte , wie Dahl- mann in seinen Vorlesungen über Politik Durchschnittsbilder des venetiani- schen oder anderweiten Verfassungslebens gab. Er ist sich wohl bewufst, dafs sie nicht unter den Begriff der untersuchenden und erzählenden Geschichte fallen; sie wollen bestimmten Zuständen und Formen des Staatslebens ihre Stelle im Zusammenhange der Geschichte anweisen , die Berechtigung dieser Formen, die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalls ergründen. Solche Studien gehen, sagt er, von einem Durchschnitt des Geschehenen aus ; aber, fiigt er bei , sie lüften dafiir zuweilen den Vorhang, welcher die unabänderlichen Naturgesetze des Völkerlebens dem Auge des Forschers verbirgt.

Gedächtnifsrede auf Heinrich t?. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 23

Hauptsächlich die Arbeiten über Cavour (1869), über die Republik der vereinigten Niederlande (1869), über Frankreichs Staatsleben und den Bona- partismus (1869), welch letzteres fiust ein selbständiges Buch bildet, gehören hieher, aber auch die über das deutsche Ordensland PreuiSsen (1862) und manches Andere. In gewissem Sinne fallen auch erhebUche Theile seiner publicistischen Schriften in dieses Bereich, sofern in dieselben Schilde- rungen der schweizerischen oder amerikanischen Bundesverfassung und Ahnliches einverleibt und zu vergleichenden Betrachtungen benutzt sind.

Die PoUtik des Aristoteles, die Staatslehren von Macchiavell, Bodinus, Pufendorf, die ganze neuere politisch-theoretische Litteratur, hauptsächlich Dahlmann, Gneist, da und dort auch Lorenz von Stein, gaben ihm die Kategorien, nach denen er den Stoff ordnete, vielfach auch den Mafsstab, nach dem er urtheilte. Das Wesentliche aber sind die leben- digen Anschauungen, die er in das Gerüste dieser Kategorien einordnet. Da er sehr deutliche , immer lebensvolle , klare Vorstellimgen über Land und Leute, wirthschaftliche und sociale Verhältnisse, geistige und kirchliche Zustande der verschiedenen Staaten in Vergangenheit und Gegenwart hatte, so gelangte er vielfach zu richtigeren Schlüssen , zu schlagenderen Verglei- chen als andere Gelehrte, die im Übrigen ihm vielleicht überlegen waren, aber in das Getriebe ihrer Überlegungen keinen so anschaulichen Stoff, keine so lebensvolle Erfassung der Realitäten hineingehen konnten. Die wesent- lichsten Resultate dieser Studien sind ähnliche wie bei der dritten Gruppe seiner kleinen Schriften, welche der deutschen Tagespolitik dienten.

Hier erhebt er sich zu seiner ganzen Gröfse. Er ist der erste, vor- nehmste deutsche Publicist in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Hier lebt er sein Naturell voll aus, hier zeigt er ganz die Fähigkeit, sein sittliches Pathos und seine historischen und staatswissenschaftlichen Keimt- nisse in den Dienst der grofsen politischen Action zu stellen; hier ent- hüllt er den Blick des denkenden, scharfsichtigen Politikers, der sah, wo die Macht und die gesunde Staatsbildung lag, durch welche Mittel die Zu- kunft Deutschlands zu retten sei.

Gewifs trug er die Fahne der klein -deutschen Politik nicht allein. Seit den Tagen Gustav Pfizer's, dann hauptsächlich in der Frank- furter Paulskirche waren bei Gagern, Dahlmann, Beseler, Duncker, Droysen die Gedanken gereift, denen damals die preufsische Staatsleitung wie Bismarck noch feindlich gegenüberstand. In der schweren Zeit von

24 G. Schmoller:

1850 an, seit der Schmach von Ohnütz, hatte die Sehnsucht nach der Ein- heit Deutschlands dann alle Patrioten ergriffen. Aber Niemand wufste das erlösende Wort zu sprechen. Zweifelnd stand die Nation vor der neuen Ära und dem Bismarck' sehen Regiment. Treitschke gehörte nicht zu denen, welche sofort diesem Staatsmann zustimmten; er hatte sich deshalb Juli 1863 von den preufsischen Jahrbüchern losgesagt. Aber schon 1864 sah er die Berechtigung der preufsischen Politik gegen Dänemark ein. In diesem Jahre erschien das glänzendste Product seiner publicistischen Feder, die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat; 1866 die Broschüre über die Zukunft der Mittelstaaten; 1 869-1 871 die Arbeit über das constitutio- nelle Königthum in Deutschland. In dem Bande Zehn Jahre deutscher Kämpfe sind 50 Aufsätze vereinigt, die sich auf die Tagespolitik von 1865 bis 1879 beziehen. Die Jahre 1 863-1 870 hat er überwiegend dieser Thätig- keit gewidmet. In dieser Zeit hat er, ein zweiter Pufendorf, sein ausge- reift;es politisches Glaubensbekenntnifs mit solcher Kraft verkündet, so unerbittlich die schiefen radicalen und föderalistischen Gedanken bekämpft, so durchschlagend die Mission der preufsischen Monarchie vertheidigt, dafs man ihn mit Recht den Propheten des neuen deutschen Reiches genannt hat. Vor allem die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat von 1864 ist die Vollendung der Träume von 1848, ist der Höhepunkt der ganzen publicistischen und historisch -politischen Schule, ohne deren Hilfe das deutsche Reich nicht zu Stande gekommen wäre. Sie ist ein Muster von Wahrheit und Unerschrockenheit, hinreifsender historischer und staatsrecht- licher Beweisfahrung. Nie ist schöner auf wenigen Seiten die preufsische Geschichte erzählt und gedeutet worden. Ich kenne keine glänzenderen historischen Parallelen, als die hier zwischen Preufsen und Italien, Deutsch- land und der Schweiz durchgeführten. Sie wird immer ein Ruhmestitel deutscher Publicistik bleiben , wird immer wieder gelesen werden , obwohl Treitschke den deutschen Einheitsstaat verlangte, während dann 1866 und 1870 nur der Bundesstaat zu Stande kam.

Die politischen Gedanken, ftir welche Treitschke in diesen, wie in seinen staatsvergleichenden Schriften auftrat, lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Er ging ursprünglich wie Sybel von einem etwas optimistischen Liberalismus aus. In dem Essay über die Freiheit (1861) konnte er schreiben: »Alles Neue, was das 19. Jahrhundert geschaffen, ist nur ein Werk des Liberalismus«. Ja er fugt die Worte der amerika-

Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 25

nischen Bundesverfassung bei: »Die gerechten Gewalten der Regierung kommen her von der Zustimmung der Regierten«. Aber schon damals pries er die politische Freiheit nicht, wie J. St.' Mill oder Laboulaye, um ihrer selbst willen, sondern weil sie die beste Staatsgesinnung erzeuge. Schon damals beschäftigte ihn, wie die anderen politischen Historiker vor Allem das Räthsel, wie die Volksfreiheit sich versöhnen lasse mit der Staatsmacht. Schon damals schien ihm jede Freiheit werthlos, die nicht im national geeinten Staate die Richtung auf die grofsen Ziele des ein- heitlichen Nationalstaates erhalte. Schon damals verachtet er tief die man- chesterlich- liberale Auffiussung, die- im Staate nur ein Mittel filr die egoistisch- wirthschaftlichen Zwecke der Einzelnen oder gär ,der Reichen sieht. Ganz wie Sybel bekämpft er die Lehre von der Volksspuveränität und der Ge- waltentheilung, er weifs, dass der deutsche Staat durch Königthum, Heer und Beamtenthum geschaffen sei, dafis die wahre politische Freiheit mehr auf einer gesunden Selbstverwaltung und auf einem ausgebildeten, gericht- lich ^geschützten Verwaltungsrecht, als auf der Macht des Parlaments be- ruhe. Immer denkt er noch 1866 so hoch von den Rechten des Abge- ordnetenhauses, dass er ein Anerbieten Bismarck's, in Berlin als Professor in seinem Sinne zu wirken, ablehnt, weil er über den Verfassungsbruch noch denkt, wie die Liberalen. Aber den Gedanken betont er stets: der Staat mufs Macht sein, eine kraftvolle selbständige Spitze haben; sie bleibt freilich nur im Recht, wenn sie sittliche Macht bleibt, über den socialen Classeninteressen steht. Und das ist von der deutschen Monarchie sicherer zu erwarten, als von einer englii^chen Adels-, einer französischen Bourgeois- herrschaft oder einer Herrschaft der unteren Classen, sei sie direct oder durch eine Tyrannis ausgeübt.

In der Frage der deutschen Bundesverfassung war sein Axiom, ein wirklicher Bundesstaat setze kleine, gleichgrofse , demokratische Gemein- wesen voraus, die sich gegenseitig respectiren; die ganze deutsche Ge- schichte sei monarchisch und sei in einer Stufenreihe von Annexionen verlaufen, wie sie in der Schweiz und den Vereinigten Staaten niemals vorgekommen. Das letzte Ziel sei daher der monarchische Einheitsstaat oder, wie er sich nach 1870 ausdruckte, die nationale Monarchie mit bündischen Formen: die kleinen deutschen Staaten haben für ihn keine Souveränität mehr, da ihnen die Kriegsherrlichkeit sowie die Vertretung nach Aufsen genommen sei und sie einer Ausdehnung der Bundeskompetenz, Qedächtmfareden. 1896. L 4

26 G. Schmoller:

trotz der fiir Einzelne formal bestehenden Reservatrechte , sich nicht wider- setzen könnten.

Überall beherrscht ihn der stolze Gedanke, wer die deutsche und preufsische Geschichte kenne, müsse sich losreifsen von den abstracten politischen Phrasen Westeuropas, müsse verstehen, welch eigenartiges poli- tisches Geschick uns zu Theil geworden, welch eigenthümliche Verfassung das Deutsche Reich durch Preußsen, durch die Hohenzollern , durch Bis- marck erhalten habe. Der Stolz auf die Macht und die Gröfse des Vater- landes hat ihn von der ersten Zeile an, die er schrieb, bis zur letzten erfüllt. Die bewundernde Verehrung fiir den grofsen Staatsmann, der das Deutsche Reich geschaffen , blieb in seinen späteren Jahren die Axe seines politischen Glaubensbekenntnisses.

Wenn er im Einzelnen seiner politischen und sonstigen Überzeugungen oft geschwankt hat, im Ganzen immer conservativer und religiöser wurde, jedenfalls später die Betonung der liberalen Seite seiner Gedanken immer mehr fallen liefs, so ist er im innersten Kern seiner sittlichen und poli- tischen Principien doch immer derselbe geblieben. Auch in Bezug auf seine religiöse Seite gilt dies. Wenn er in seiner Jugend jede Orthodoxie und jede Dogmatik schroff bekämpfte, und später seinen Trost in dem hingehendsten Glauben an eine persönliche Gottesregierung fand, so ist er doch stets ein frommes Gemüth gewesen ; er fand nur früher die wahre Frömmigkeit ausschliefslich bei den Männern humaner Bildung, bei den »Weltlichen« und sehr wenig bei denen, die sich gern und laut zum Dogma bekennen. Und eine freie Geistesrichtung in religiösen Dingen hat er sich bis in's Grab bewahrt. Er gehörte zu jener grofsen Gemeinde acht religiöser, aber über den Confessionen und Dogmen stehender Männer, die seit den Tagen der Reformation die gröfsten Geister Westeuropas um- fafst hat. Was seinen Wechsel in den politischen Aussprüchen betrifft, so dürfen wir nur nicht vergessen, dafs es zum Wesen des Politikers und noch mehr des Publicisten gehört, unter dem Eindruck der Tagesereig- nisse und Tagesstimmungen- die grofsen Ziele und die einzelnen kleinen Mittel zu scheiden, in den ersteren fest, in den letzteren belehrbar und anpassungsfähig zu sein. Wer auf die öffentliche Meinung wirken will, wie ein Publicist, mufs heute mehr die liberale, morgen mehr die con- servative Richtung seiner Gedanken betonen. Und so weit Treitschke's Stimmung thatsächlich später nach rechts rückte, war es eine Verschiebung,

Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. TreHschke. 27

die nicht blofs bei den meisten politisch Denkenden mit dem Alter sich vollzieht, sondern die gerade auch durch die deutsche Geschichte von 1 860-1 890 ähnlich bei Millionen sich vollzog. Nur Eins bleibt fiir ihn eigenthümlich: der Einflufs seines impulsiven Gemüthslebens, seiner grossen Empfänglichkeit und die unvermittelte Umsetzung seiner Gemüthserregungen in Urtheile und Schlüsse. Mit dieser Eigenschaft kam er in den Schriften zur Tagespolitik immer wieder zu schärferen Accenten, als er sie später selbst für richtig fand; er mufete immer wieder das, was ihm jetzt die Haupt- sache schien, absoluter formuliren, als es der Historiker in ihm eigentlich gestattete. Aber es ist deshalb doch falsch, ihm grofse Vorwürfe daraus zu machen, dafs er 1864 die Waitz'sche Bundesstaatstheorie billigte und 1874 verwarf, dafs er erst den Culturkampf mitmachte, später ihn ver- ürtheilte, dafe er einmal die deutschen Universitäten einer deutschen Cen- tralgewalt unterordnen wollte und später für diesen Punkt doch die Fort- existenz der deutschen Einzelstaaten richtig fand.

Ich föge ein Wort über seine wirthschaftlichen und socialen Ansichten und deren Wechsel bei. Sie beruhten auf einem nicht ganz in ihm aus- geglichenen Gegensatz zwischen den praktischen Idealen der Gewerbe- und Handelsfreiheit einerseits , die er in den fünfziger Jahren rückhaltlos in sich aufiiahm und nie später durch Specialstudien modificirte, die er deshalb auch nicht so voll und ganz in ihrer begränzten Bedingtheit verstehen lernte, imd der Verachtung andererseits, die ihm seine ideale Staatsauffassung fiir die theoretischen Grundlagen des Manchesterthums einflöfste, ohne dalfi ihm dabei doch ganz klar wurde, wie diese zugleich das Fundament der politisch- Volks wirthschafllichen Ideale des älteren Liberalismus bildeten. So kam er dazu, die liberalen wirthschafllichen Gesetze Hardenberg' s und den Segen und die Gerechtigkeit der liberalen deutschen Bundesgesetze von 1867-1875 zu überschätzen. So konnte er noch 1874 zornig den staatlichen Arbeiterversicherungszwang und das Staatseisenbahnsystem ab- weisen. Aber die Lehre von der Interessenharmonie hat er stets als einen falschen Aberglauben verurtheilt, wie er mit souveräner Verachtung von der ganzen mammonistischen Richtung unserer besitzenden Classen und von Buckle's banausischem Worte sprach, dass aller Fortschritt auf der Liebe zum Gelde beruhe. Er hat stets einer energischen Fabrikgesetzgebung das Wort geredet und warnende Worte gegen den Geiz der Fabrikanten und die Verkennung der einfachsten socialen Pflichten durch zahlreiche

28 G. Sghmoller:

Rittergutsbesitzer niemals zurückgehalten. Er hat die heutige Bewegung der unteren Classen nie recht und voll verstanden, weil er sie nie genauer kennen gelernt hat. Darum war sein Urtheil über die Socialdemokratie übertrieben und einseitig, obwohl er andererseits ein warmes Herz fiir die Leiden der kleinen Leute und ein tiefblickendes Verständnifs fiir die tüchtigen Eigenschaften des Gemüths, des natürlichen Verstandes, der körperlichen Rüstigkeit hatte, wie sie die unteren Classen auszeichnen; er nennt sie mit Recht den Jungbrunnen der Gesellschaft. Aber er hält schroff an dem Gedanken fest, dafs jede Gesellschaftsgliederung eine aristo- kratische sein müsse. Als 1872 der Verein fiir Socialpolitik gegründet wurde , drückte er mir mit Begeisterung seine Zustimmung aus. Als aber nach dem Katzenjammer der Gründerperiode die deutsche Arbeiterbewegung ihre häfslichsten Seiten einseitig hervorkehrte, entstanden wohl mit auf das Drängen einiger wirthschaftlich linksliberaler Freunde, die ihm weis gemacht hatten , auf allen Kathedern ertöne der Ruf nach einem vier- bis sechsstündigen Arbeitstag, jene Aufsätze über den Socialismus und seine Gönner, die gegen mich und meine socialpolitischen Gesinnungsgenossen gerichtet waren, obwohl Treitschke auch damals uns viel näher stand, als Männern wie Bamberger und Herr von Eynern, die er in Schutz nahm. Er glaubte nur, uns könne ein kalter Wasserstrahl nicht schaden, und es müfste gesagt werden, dafs die Verrohung der unteren Classen die ganze deutsche Gesittung bedrohe. Er hat diese Aufsätze selbst später als das bezeichnet, was sie in ihren Spitzen sind: als einen momentanen Stimmungsausdruck, an dem er so wenig festhielt \ wie an seiner damali- gen Verurtheilung des Versicherungszwangs oder an seiner absolut frei- händlerischen Stimmung. Zu den politischen Grundgedanken freilich dieser Aufsätze hat er sich stets bekannt. Und man wird auch nicht leugnen können, dafe sie, sofern man die dort ausgesprochenen absoluten Sätze mehr in den Flufs der historischen Entwickelung versetzt, grofse social- politische Wahrheiten aussprechen und zwar in der glänzendsten Form. Ich habe nie verkannt, dafs sie zu den bedeutsamsten staatswissenschaft- lichen Leistungen der Gegenwart gehören, und dafs wir damals wie später in Bezug auf die Forderungen einer energischen monarchischen

* Er meinte wohl scherzend, ich würde wohl so wenig als er an jedem damaligen Worte festhalten, die Wahrheit werde zwischen uns in der Mitte liegen.

, Gedächtnifsrede auf Beinrich v. Sybel und Heinrich v. TreUschke. 29

Socialreform auf demselben principiellen Boden standen. Er hat es, wie ich sicher weifs, in den letzten Jahren tief beklagt, daßs Fürst Bismarc k, der einst unter dem verantwortlichen Gefühl der Ministerstellung imd dem persönlichen Einflufs des Geh. Raths Hermann Wagener Socialpolitik grofsen Stils getrieben hatte, nun aus dem Amte geschieden, seinem Organe gestattete, sich in die Reihen jener Vertreter einseitig egoistischer agrarischer und grofsindustrieller Interessen zu stellen , welche jede weitere Socialreform verdammen und hindern, die Leidenschaften der höheren Classen gegen die Arbeiter entflammen, die Staatsgewalt zu einer einseitigen und schroffen Stellungnahme gegen die Arbeiter bringen wollen. Treitschke sah in diesen Tendenzen immer überwiegend die erwerbssüchtige Herzenshärte, welche in Zeiten, wie die unserige leider ist, so leicht einen Theil der be- sitzenden Classen ergreift.

Alle die Gedanken und Erörterungen, die in Treitschke's Staates- wissenschaftlichen und publicistischen Aufsätzen zerstreut zu Tage treten, hat er in seiner Vorlesung über Politik einheitlich und systematisch zu- sammenzufassen gesucht. Es war sein Lieblingsgedanke, nach Vollendung seiner deutschen Geschichte an ein erneutes Studiimi dieser Dinge heran- zutreten , alles was seit den letzten 2 5 Jahren auf diesem Gebiete erschienen sei, durchzuarbeiten und so mit der zu publicirenden Politik zu vollenden, was einst Dahlmann und Waitz versucht hatten; er traute sich zu, die Gedanken des Aristoteles im Sinne unserer heutigen Staatserkenntnifs nicht blofs zu vertiefen, sondern umzubilden und zu einer neuen Wissen- schaft zu gestalte.n; er meinte wohl, das sei seine eigenste wissenschaftliche Bedeutung. Ich konnte ein sehr gutes Heft seiner Vorlesung aus den achtziger Jahren durchsehen. Die Vergleichung, Beurtheilung und Be- sprechung der Verfassungsformen ist ihr Höhepunkt. Sie ist voll geist- reicher Bemerkungen und lehrreicher Schlufsfolgerungen , bespricht alle politischen Tagesfragen mit Glück und Nachdruck. Was aus ihr geworden wäre, wenn Treitschke's Hoffnungen auf eine Vollendung sich erfüllt hätten, ist schwer zu sagen. Offenbar ist auch aus dem besten nach- geschriebenen Heft mit seinen kurzen Notizen nur ein matter Abglanz dessen zu verspüren, was sein zündendes Wort bedeutet hatte. Im Ganzen aber habe ich doch den Eindruck, dafs die Grimdgedanken dieselben sind, wie in seinen Aufsätzen, und dafs sie dort in der Treitschke's Wesen entprechen- deren Form auftreten. In den Reden und Aufsätzen schadet die aphori-

30 G. Sghmoller:

stische Form so wenig, als die scharfe Zuspitzung zu praktischen Zwecken; hier sind wir nicht enttauscht, wenn mehr eine Fülle von Gedanken- blitzen, als erschöpfende Untersuchungen ims entgegentreten. Hier ge- statten wir dem handelnden Politiker viel mehr als in einem theoretischen Werke die Tendenz, neue Gedanken, um sie zum Siege zu fuhren, als ab- solute Wahrheiten hinzustellen , sie zu überschätzen , wie er das selbst als die Kehrseite jedes praktisch wirkenden Staatstheoretikers bezeichnet hat. Am angezeigtesten erschiene mir daher der Versuch, einzelne der besten Capitel seiner Politik nach stenographischen Niederschriften zu redigiren und sie, soweit sie sich nicht mit den Aufsätzen decken, der Sammlung derselben einzuverleiben.

Aber nicht blofs für seine Politik, auch ftlr sein grolses Lebenswerk, seine deutsche Geschichte, waren die sämmtlichen kleineren Schriften eigent- lich nur Vorarbeiten. Und dieses Ziel hat Treitschke wenigstens zu einem grofsen Theile erreicht. Fünf umfangreiche Bände derselben sind 1 879-1 894 erschienen. Von Anfang der siebziger Jahre an hat Treitschke fast ausschliefslich an diesem Werke gearbeitet. Es ist das eigentliche Vermäch tnifs des Historikers an sein Volk. Voll ausgereift und abgeklärt kam er an die Aufgabe. Fehlte ihm zum Staatstheoretiker doch etwas die leidenschaftlose Ruhe des abstracten juristischen und staatswissen- schaftlichen Denkers , brachen bei seiner Publicistik immer wieder die Ein- drücke des Tages mit ihren Erregungen durch : um dem deutschen Volke die Geschichte seiner Entwickelung im 19. Jahrhundert zu erzählen und zwar im Stile des nationalen Stolzes und der nationalen Erziehimg zugleich, dazu hatte ein gütiges Geschick alle Erfordernisse mit verschwenderischer Hand auf ihn gehäuft.

Als der erste Max Duncker gewidmete Band 1879 erschien, der einen Überblick der deutschen und preufsischen Geschichte bis 1 8 1 5 gibt, wirkte er doch gleich wie ein grofses Ereignifs. Nicht blofs ebenbürtig, sondern sie weit überragend trat das Buch neben Häusser's deutsche Ge- schichte jener Zeit, indem Treitschke die innere Entwickelung des preufsi- schen Staates und die grofsen Wandlungen des geistigen Lebens in den Vordergrund rückte. Auch die Widerstrebenden beugten sich nun vor dieser unvergleichlichen Kraft. Ranke gehörte selbst zu ihnen; er war noch halb erstaunt und halb abwehrend gegenüber dieser Art der Geschichtsbehand- lung, aber er fugte doch schon bei »ja es muls auch solche Werke geben«.

Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 31

Jeder weitere Band wuMe von der ganzen Nation mit Spannung er- wartet und sofort in einer Weise verschlungen, gelesen, besprochen und angegriffen, wie es keinem anderen deutschen Geschichtswerke je begegnete. Und doch erzählten diese weiteren vier Bände nicht groise Eriegsthaten und Staatsveränderungen, sondern die lange stille Friedenszeit von 1815 bis 1848; die Epoche, welche die ältere Generation noch miterlebt hatte und darum zu kennen glaubte, über welche die jüngere Generation längst vom Standpunkt vorangeschrittener Theorien und Ideale glaubte den Stab definitiv haben brechen zu dürfen. Diesem scheinbar spröden und un- dankbaren Stoff wufste Treitschke ein Leben einzuhauchen, wie es nur den gröfsesten Historikern aller Zeiten mit den gröfsesten Stoffen gelungen war; und dies Wunder gelang ihm dadurch, dafs er, der stürmisch -leiden- schaftliche, sich die för ihn doppelt harte, entsagungsreiche, sein Augenlicht fast mit Vernichtung bedrohende Arbeit auferlegte, 25 Jahre seines Lebens den Staub der Archive zu schlucken, den empirisch -kritischen Weg voll und ganz zu betreten, den uns Ranke gelehrt hatte, und daCs er nun zur Ausgestaltung des so erworbenen Stoffes seine reiche politische Er- fahrung, seine tiefgreifenden Staats wissenschaftlichen Studien, seine histo- rische sittliche Weltanschauung und eine Künstlerseele, eine Phantasie mit heranbrachte, wie sie in dieser Kraft, mit dieser Anschaulichkeit entfernt keiner der anderen deutschen Historiker, auch Ranke nicht besessen hatte.

Es lag in der Natur des Stoffes, der geschilderten Zeit, dafs Treitschke, welcher so gern davon redete , daCs die wahre Geschichte nur die Geschichte der Staats- und Machtbildung, der grofsen Staatsmänner und Generale sei, doch ims eigentlich eine Culturgeschichte bietet. Die ganze Geschichte des geistigen und kirchlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Littera- tur, der gewerblichen und Handelsverhältnisse wird uns neben der poli- tischen vorgeführt. Und das ist nicht zufallig. Einen der Grundgedanken des ganzen Werkes könnte man so fassen: Treitschke will zeigen, dafs die Neubildung Deutschlands im 19. Jahrhundert aus zwei Wurzeln und ihrer Vereinigung erwachsen sei: aus der gesunden staatlichen Organisation Preufsens und aus dem geistigen und wissenschaftlichen Leben , das zuerst wesentlich aufserhalb Preufsens entstanden, erst nach 1806 von diesem anerkannt und aufgenommen worden sei. Die Versöhnung des preufsischen Staates mit der Freiheit deutscher Bildung, das, sagt er, ist die grofse Wendung, welche den Gang unserer Geschichte bestimmt hat. Und es

32 G. ScH molleb:

ist deshalb kein Zufall, wenn er stets neben einander die Helden des Schwertes und die der Feder auftreten läfst, in demselben Capitel Stein, Hardenberg und Scharnhorst, Schleiermacher, Fichte, Goethe und Kleist schildert, wenn er neben die Wiederherstellung des preufsi- schen Staates ;8 15 -1830 und die damaligen süddeutschen Verfassungs- . kämpfe die Romantiker jener Tage und die burschenschaftlichen Bewe- gungen stellt.

Sybel pflegte im Scherze öfters zu sagen: er weifs zu viel, er weifs zu viel. Ich möchte sagen, ohne diese seltene Vielseitigkeit, hauptsächlich ohne die eingefügte Geistesgeschichte würde es nicht möglich gewesen sein, den Stoff so zu beleben. Und eine vollendete Einheitlichkeit bleibt dadurch gewahrt, dafs der Verfasser doch Alles auf einen Pimkt bezieht und dem entsprechend ordnet, auf die Frage, wie haben alle einzelnen Elemente und Vorgänge dazu mitgewirkt, aus Deutschland wieder eine grofse einheitliche Nation und einen grofsen Staat zu machen. Eben des- halb stellt er auch die politische und verfassungsrechtliche, die innere und geistige Geschichte Preufsens und die der Mittel- und Kleinstaaten stets neben einander. Ihre Wechselwirkung, ihre Kämpfe mufste er in erster Linie schildern; ihre Versöhnung im Jahre 1866 und 1870 darzu- legen, war ihm leider so wenig mehr vergönnt, als die Geschichte Preufsens von 1 848-1 866 zu schreiben, die wir neben Sybel's Erzählung so gern von ihm erhalten hätten. Aber das wenigstens hat er erreicht: die Zeit 18 15-1840 erscheint ims jetzt nicht mehr als eine traurige träge Zeit verlorener Hoffnungen, sondern als eine Zeit der Sammlung, 'der Vor- bereitung, der Ausbildung grofser geistiger und sittlicher Kräfte; und die Jahre 1 840-1 848, die man auch früher schon öfter als die bewegteste Zeit unserer neueren deutschen Geschichte bezeichnet, mit dü*n Tagen vor der Reformation verglichen hat, jetzt (frst verstehen wir sie voll und ganz in ihrer grundlegenden Bedeutung; jetzt erst sehen wir, wie alle die grofsen Männer, die uns bis 1890 regiert haben, damals ihre Lehrjahre durchgemacht, ihren Stempel erhalteij haben. Es ist ein unersetzlicher Verlust, dafs Treitschke diese Erzählung nicht wenigstens bis 1857 vollenden konnte.

Der Zusammenhang der deutschen mit -der europäischen Politik wird von Treitschke ebenso berücksichtigt, wie die innerdeutsche Politik. Auf beiden Gebieten bringt er uns eine Fülle neuer Aufklärungen, bringt er

Gedachtnißrede au/ Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitsclüce. 33

die Wahrheit auf Grund der ächten Quellen, der authentischen Überliefe- rung und auf weite Strecken als der Erste zu Tage. Aber es liegt ebenso im Wesen der nicht durch Kriege und grofse diplomatische Actionen be- wegten Zeit, als in dem des Autors, dafs nicht sowohl die fortlaufende Erzählung der Ereignisse als die Schilderung der Menschen, der Zustände, der Einrichtungen im Vordergrunde steht. Und dabei kommt, da stets nur summarische Endergebnisse, Durchschnitte gegeben werden können , eben- so viel oder noch mehr auf die Kunst des Historikers an, als auf seine Quellenforschung.

Die Schilderung, die Treitschke von allen wichtigeren deutschen Landschaften, von dem Volkscharakter ihrer Bewohner, von einzelnen Städten, von den Verfassungs- und Verwaltungszuständen zu geben wcifs, ist unübertreflFlich , und man könnti* fast sagen, er male die Rhein- und Neckarlande, Weimar und das Regiment Karl August's, seine sächsische Heimat mit noch mehr Vorliebe, mit stimmungsvollerem Pinsel und mehr innerer Wärme aus, als Preufsen und Berlin. Und doch ist das der Pimkt, der ihm so viele Feinde gemacht hat. Der particularistische Territorial- und Localpatriotismus war nirgends ganz zufrieden mit dem, was er sagte.

Freilich meist deshalb, weil er rückhaltlos die Wahrheit verkündigte. Ich möchte behaupten, die politischen Stimmungs- und Verwaltungsbilder aus den deutschen Mittel- imd Kleinstaaten gehörten zum Besten des ganzen Werkes. Gerade auch die kurze Geschichte Sachsens im dritten Bande ist ein historisches Meisterwerk ersten Ranges; ebenso sind die Schilderungen der bayrischen und württembergischen Zustände im Ganzen ebenso an- ziehend, als wahr. Treitschke war der erste, der es erklärte, warum Preufsen von 1815-1848 mit dem aufgeklärt rationalen und büreaukratisch- constitutionellen Regiment dieser Südstaaten sich so viel besser als mit den in ständischer Reaction verharrenden norddeutschen Staaten, Sachsen und Hannover, verständigen konnte.

Aber eins bleibt dabei wahr. Der politische Standpunkt des Ver- fassers läfst ihn in der Farbengebung und im Urtheil oft etwas zu weit gehen, und theil weise konnte er auch nicht über alle Menschen und Vor- gänge, besonders die in den kleinen deutschen Staaten, gleichmäfsig gut unterrichtet sein.

Bei einem Werk, wie das von Treitschke, das den Gesammtgang der deutschen Geschichte einheitlich vorführen will, ist es ganz ausge- Qedächtnifareden, 1896, L 5

34 G. Schmoller:

sclilossen, dafs der Geschieh tschreiber alle Archivalien voll erschöpft haben sollte. Er hätte iür jedes Jahr, das er schildert, und jede Specialfrage ein ganzes Leben archivalischen Forschens einsetzen müssen, wenn er vorher alle Acten lesen wollte. Aufserdem waren ihm bestimmte Archive überhaupt verschlossen. Er mufste also seine archivalische Forschung auf gewisse Hauptpunkte und erreichbare Positionen einschränken, im Übrigen versuchen, aus der sonstigen besten TJberliefei*ung zu schöpfen. Dafs er deshalb in manchen Neben- und Aufsenpunkten bald berichtigt werden würde, war nicht zu venneiden. Es ist deshalb aber auch kein Vorwurf ftir ihn, wenn z. B. ein agrarischer Specialist wie F. G. Knapp die grofsen Agrargesetze von 1 807 und 1 8 1 1 anders und wahrheitsgetreuer dargestellt hat, wenn Süddeutsche auf Grund archivalischer Studien ihn da und dort corrigiren.

Der Vorwurf Hermann Baumgarten's gegen ihn, er hätte da, wo er auf einseitig preulsisclie Acten sich stützt, vorsichtiger urtheilen sollen, bezieht sich zugleich auf die Art seiner Schilderung, auf die Werthurtheile, die er abgibt. Er kann nicht anders schildern , als durch starke , plastische Beiworte und Vergleiche; da mufs mancher subjective Zug mit unterlaufen; und er kann nicht anders urtheilen als unter Anlegung moralischer Mafsstäbe und politischer Ideale. Seine schroflf abgegebenen Urtheile heben den Einen auf Kosten des Andern empor, verdunkeln auch oft die Causalzusammen- hänge etwas, legen oft in frühere Zeiten Forderungen des Patriotismus und Nationalgefuhls hinein , die nicht ganz gerecht sind. Die unitarische Politik wird zu oft als einziges Kriterium verwertliet, wie er z. B. in einer seiner kleinen Schriften dem beustischen und augustenburgischen Particularismus sogar die sächsische und holstein'sche Socialdemokratie in die Schuhe schieben will. Die Schilderung König Friedrich's von Württemberg hat von einem durchaus preufsisch gesinnten Gelehrten G. Rümelin* auf Grund der Acten mit Recht Widerspruch erfahren; es wird gezeigt, dafs Treitschke hier einfach dem Zerrbild Häusser's ohne selbständige Nachprüfung folgte. Die Regierung dieses Königs wird von Treitschke als ein Sündenregiment bezeichnet, wie es der deutsche Boden noch nie gesehen, er selbst als der geistvollste aber auch ruchloseste der Satrapen Napoleons. Und doch war der aufgeklärte Despotismus dieses in Preufsen grofs gewordenen Fürsten

Reden und Aufsätze, dritte Folge, 1894, S.39.

GedäcJitmfsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v, Treitschke. 35

wesentlich nur eine Nachahmung der Fridericianischen Regierungsweise. Seine rücksichtslose Unificirung der verschiedenen Landestheile war ein Stück in dem sonst von Treitschke stets gebilligten Kampf gegen die politische Krähwinkelei ; er gibt auch zu, dais es eine »noth wendige Re- volution« gewesen sei. Wesentlich Vorwürfe aus seinem Privatleben dienen Treitschke zur Begründung des harten Urtheils. Im Übrigen gibt er zu, dafs dieser König der einzige der Rheinbundförsten war, der Napoleon Achtung abnöthigte ; sagte der Korse doch von ihm , wenn er i ooooo Mann hätte, so müfste ich einen Krieg mit ihm fähren.

Hier, wie an anderen ähnlichen Stellen ist nicht sowohl die Schil- derung an sich falsch, sondern der Künstler in Treitschke hat nur, um die Gegensätze lebendiger zu machen, die Lichter und die Schatten scliärfer vertheilt, als billig war. Man sieht das besonders in Bezug auf Erschei- nungen, die er mehrmals berührt. Seine Dresdener Mitbürger beehrt er häufig mit dem Beiwort der Bedientenhaftigkeit, aber an anderer Stelle redet er so wahr und so schön auch von den guten Seiten des Dresdener Lebens, dafs man sieht, es sei nicht so schlimm gemeint. Durch charakte- ristische Anekdoten seine Gegner zu ironisiren, kann er sich nicht ver- sagen, wie er z, B. den Leipziger Anatomen lur ewig dem Gelächter preis- gegeben hat, der bei Napoleon 's Einzug sogar die »Todten« ein durch Illumination hervorgebrachtes Vivat rufen liefs. Und doch ist er so häufig stolz auf die Leipziger Gelehrten, vor Allem auf jene Reihe streitbarer sächsischer Geister, denen es, wie Pufendorf und Thomasius, Lessing und Fichte, Moritz Haupt und Richard Wagner in Leipzig und in Sachsen, wie ihm selbst, zu enge wurde. In behaglicher Stunde beim Glase Wein konnte er sogar seine Liebe zur Heimat in stärkster Betonung der sächsischen Stammesvorzüge äufsem und citirte dann mit Vorliebe das Verslein:

»Womit salzte man das deutsche Land,

Wenn der Herr uns Sachsen nicht erfand!«

Wenn man so von einzelnen scharfen Worten, Anekdoten und Ur- theilen absieht und die Erzählung Treitschke 's im Ganzen ansieht und nachprüft, so hat man sie stets in allen Hauptpunkten streng wahrheits- getreu gefunden. Sybel hat bei Gelegenheit der Verleihung des Verdun- preises die wichtigsten Treitschke gemachten Vorwürfe im Einzelnen genau untersucht und war in seinem ausfiihrlichen Gutachten darüber er-

36 G. Schmoller:

ftillt von. der Umsicht und Vorsicht, der Zuverlässigkeit und Praecision der Forschung. Und andere neuere Untersuchungen, z. B, die von Stern, scheinen auch in allem Wesentlichen trotz des verschiedenen politischen Standpunktes die Ergebnisse Treitschke's zu bestätigen.

Freilich wird man nicht erwarten dürfen, dafs spätere Forscher die Dinge und die Menschen immer wieder genau ebenso beurtheilen. Wenn Treitschke Friedrich Wilhelm III. günstiger auffafste, als z. B. Max Leh- mann oder Hans Delbrück, so liegt die Ursache hievon nicht darin, dafs die Forschung verschieden weit ginge, verschieden zuverlässig wäre, sondern darin, dafs das psychologische und politische Werthurtheil über Fürsten immer je nach der Weltanschauung, nach den angelegten ver- schiedenen Mafsstäben, nach der psychologischen Fähigkeit, fremde Men- schen zu erfassen und zu verst.ehen, ein verschiedenes sein wird. An Furcht- losigkeit, auch die HohenzoUem wahr imd ohne Schminke zu zeichnen, hat es jedenfalls Treitschke nicht gefehlt. Das tragische, so überaus gelungene Bild Friedrich Wilhelms IV. im letzten Bande zeigt den vollen edlen Freimuth des seines Richteramtes sich bewufsten Historikers.

Aber das Richteramt, das er flr sich in Anspruch nimmt, ist aller- dings ein anderes, als es Ranke und anderfe Historiker verstanden haben. Es kann eben jeder Historiker nur urtheilen vom Standpunkt seiner höch- sten Ideale, seiner Weltanschauung. Ranke ging von gewissen Vorstellun- gen über die Entwickelung der Religionen und Ideen in der Weltgeschichte und über die persönlichen Kräfte , die in den Dienst der Ideen treten , aus ; imseren politischen Historikern gaben gewisse verfassungsgeschichtliche und patriotische Ideale ihren Standpunkt; speciell für Treitschke trat Alles zurück gegenüber der Einheit des Vaterlandes und den politischen Ge- danken und Formen , die er für die unerläfsliche Bedingung dieser Einheit und der Gröfse Deutschlands hielt. Sein Patriotismus war seine Weltan- schauung. Und diesen Patriotismus hatte er zugleich erfiillt mit dem Glau- ben an das Walten der sittlichen Mächte, an den Sieg der grofsen Ideale, wie sie von den Tagen der Reformation bis zur Gegenwart Deutschland emporgefiihrt hatten.

Sein Idealismus, seine Weltanschauung, sein frommer kindlicher Glaube an Gottes Walten in der Geschichte, an den Sieg der Vernunft über die Unvernunft in ihr war nicht der eines kritischen Philosophen oder eines entwickelungsgeschichtlichen Theoretikers; es war mehr die Weltanschauung

Gedächinifsrede auf Heinrich v. Sybel tmd Heinrich v. TreHschke. 37

eines tiefen Gemüthsmenschen und einer Künstlerseele. Aber jedenfalls war es der Standpunkt eines grossen vollen Menschen, eines tapferen Charakters, eines klaren politischen Denkers und eines Historikers ersten Ranges.

Unserer Akademie hat er nur ganz kurz angehört. Seine Taubheit und manche anderen zufalligen Umstände wirkten mit, dafs er später als viele andere gewählt wurde; man hat wohl auch gemeint, sein ganzes Wesen passe nicht in den Rahmen der Akademie. Und gewils, einige der gewöhnlichen Gelehrteneigenschaften hatte er nicht, aber um so mehr jene grofsen Eigenschaften des Geistes und des Gemüthes, des Charakters und des Intellects, die ihn weit über das durchschnittliche Niveau des Ge- lehrten hinausheben, die ihn zu einem der groisen Männer des 19. Jahr- hunderts machen.

IV.

Darf ich zum Schlufs nochmal auf die Fragen zurückkommen, mit denen ich begann, und damit versuchen, zusammenfassend Sybel und Treitschke ihre Stellung in der Entwickelung des deutschen Geisteslebens und der deutschen Geschichtswissenschaft anzuweisen, so kann ich das freilich nur von meinem methodologischen und allgemein wissenschaftlichen Standpunkt aus. Mir scheint die Sache so zu liegen:

Die Zeit von 18 15-1840 war politisch fiir Deutschland eine Epoche der Ruhe und Sammlung , wissenschaftlich eine solche tiefer Studien , ern- ster Anläufe, allgemeinster Bildung, aber zugleich der Romantik und der Schwärmerei. Von 1 840-1 870 steigerten sich die politischen und socialen Kämpfe; es war eine Zeit der höchsten Anspannung und der gröfsten Er- folge. Wissenschaftlich eine Epoche, in welcher die Nebel sanken, der vomelmaste Idealismus sich mit nüchterner Klarheit verband, die einzelnen Wissenschaften ihre gröfsten Triumphe feierten. Ich glaube, man wird nicht zuviel behaupten , wenn man sagt , Deutschland habe ein so geistes- starkes Geschlecht von Männern der That und der Wissenschaft seit Jahr- hunderten nicht gehabt. Es war natürlich, dafs nun, nach Erreichung so gro&er Resultate, von 1 870-1 890 an eine gewisse Erschlaffung eintrat, die Spannung der Geister nachliefs. Stets macht nach grofsen Zeiten die ge- meine Natur des Menschen sich geltend ; man will nun eine Zeit lang leben und leben lassen ; die fähigsten Köpfe traten nicht mehr wie bisher in den

38 Gr. Schmoller:

Dienst des Vaterlandes und der Wissenschaft, sondern in den des Erwerbs- lebens.

In der wissenschaillichen Bewegung, wenigstens in der der Geistes- wissenschaften, mu&te die von 1815 bis zur Gegenwart sich vollziehende Hinwendung von grofsen Idealen und allgemeiner Bildung zur Arbeits- theilung und empirischen Eiiizelforschung in verschiedenen Stadien ver- laufen, verschiedene Combinationen erzeugen. Es wird keinen gesicherten Fortschritt in der Wissenschaft geben können , ohne den siegreichen Fort- schritt der Empirie und ohne die Specialisirung. Aber es ist auch klar, dafs der Specialist und Detailforscher, indem er am Einzelnen kleben bleibt, gar leicht den Überblick verliert und sich so um die Möglichkeit bringt, die grofsen Zusammenhänge zu verstehen, an ihrer Lösung mitzuwirken. Es ist die Tragik des G^lehrtenlebens , das sich opfert, im Detail untergeht, um späteren Generationen, die die Früchte der Detailforschung ohne deren Schattenseiten geniefsen, wieder das Aufsteigen zu einem höheren Stand- punkt zu gestatten.

In der deutschen Geschichtswissenschaft wufste Ranke noch die volle Universalität einer philosophischen Epoche zu verbinden mit dem Beginn einer kritischen Detailforschung. Seine nächsten Nachfolger gehörten einer Zeit noch an, die gleich kühn, gleich geistesmuthig nach den höchsten Zielen griff, zwar seine universale Bildung nur theilweise bewahren , dafür aber den politischen Theil der Geschichte viel kräftiger und congeiiialer erfassen konnte; die Forscher setzten mit ihren Studien breiter und tiefer an den Stellen ein, auf die sie sich concentrirten. Wenn die heutigen Rankeschwärmer oft die ganze Generation der politischen Historiker, vor Allem auch Sybel und Treitschke, als einen Rückschritt bezeichnen, so verkennen sie ebenso die Gesetze des Wandels der geistigen Richtungen, wie den Werth der wissenschaftlichen Kräfteconcentration. Wenn Sybel, Treitschke und die anderen politischen und rechtsgeschichtlichen Historiker auf der einen Seite unter Ranke stehen, so stehen sie auf der anderen über ihm. Ihre Thätigkeit war so nothwendig und so heilsam als die Ranke's; sie ergänzte seine Ideengeschichte und seine Geschichte einzelner Personen und Ereignisse durch eine empirische Geschichte der Institutionen und Zustände, die er wohl auch berührt, aber nicht erschöpft, ja kaum ernstlich in Angriff genommen hatte. Die Forschung wurde durch sie langsamer, umständlicher, aber auch sicherer. Wo Ranke Andeutungen

GedäxMnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. TreüscJike. 39

und Ahnungen gibt, gewähren sie Sicherheit. Wenn Ranke alle paar Jahre ein neues grolses Werk erscheinen lassen konnte, so blieben sie ein halbes Menschenleben an einem begränzten Stoffe, den sie nicht ein- mal von allen Seiten fassen wollten. Aber indem Mommsen die römische Geschichte, Waitz die deutsche Verfassungsgeschichte vom Standpunkt des Rechtshistorikers schrieb, indem Nitzsch von dem des Wirthschafts- historikers das deutsche Mittelalter, Burckhardt von dem des Cultur- historikers die italienische Renaissance beschrieb, indem Droysen die grofeen spätgriechischen Reiche, Duncker das griechische Alterthum, Sybel, Droysen, Häusser, Treitschke die neuere Geschichte vom Standpunkt des Politikers abfafsten, so eriedigten sie historische Fragen ersten Ranges, die Ranke offen gelassen, gewannen sie ganze Provinzen der historischen Herrschaft. Sie kehrten in gewissem Sinne damit zu einer Betrachtung zurück, die schon Niebuh r erstrebt hatte. Denn er hatte als Staatsmann mit juristischen und staatswirthschaftlichen Kennt- nissen seine römische Geschichte geschrieben, während Ranke als Theo- loge und Philologe, als Freund von Fürsten und Staatsmännern, als Bücherleser und Archivarbeiter zwar sich die universalste Bildung, aber doch nicht alle die Kenntnisse gleichmäfsig erworben hatte, die fiir den Historiker wichtig sind. Gewüs besafsen nun Sybel und Treitschke dafür einzelne grofse Vorzüge, über die Ranke verfiigte, nicht. Aber anders als durch Einseitigkeit ist uns sterblichen Menschen kein Fort- schritt möglich.

Jeder Mensch hat die Fehler seiner Tugenden. Ranke's religiös ge- färbte Weltanschauung war für seine Tage so berechtigt und so hoch- stehend, wie Sybel's rationalistisch -politische und Treitschke 's sittlich- nationale fiir die ihrigen. Keine enthielt allein und fiir sich den Schlüssel zur vollen Wahrheit, jede war ein Versuch, zu einem geschlossenen ein- heitlichen Standpunkt zu kommen, die Einzelerkenntnifs einzuordnen in ein Gedankensystem , das zugleich einen Werthmafsstab gebe. Wie konnten die besten Geister 1840 -1870 sich der Wahrnehmung entziehen, dafs man Geschichte nur verstehen könne, wenn man sie als Verfassungsgeschichte politisch behandele. Der so eingenommene Standpunkt war ein eben- so fruchtbarer, als er daneben in seiner Überspannung auf Irrwege fuhren, falsche Werthurtheile erzeugen konnte. Sybel's Glaube, die Verbindung von Geschichte und Politik ergebe die letzte zu absolut gesicherten Wahr-

40 G. Schmoller:

heiten fuhrende Vollendung der Geschichte, war sicher eine Überschätzung. Noch weniger konnte die ausschliefsliche Anlegung des Mafsstahes patrio- tisch-nationaler Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu gewissen Parteilehren die einzig richtigen historischen Werthurtheile geben. Solcher Einseitigkeit gegenüber hatte Ranke mit seinen kritischen Zweifeln gegenüber dem Urtheil nach den politischen Doctrinen des Tages ganz Recht. Aber anderer- seits sind Patriotismus und richtige politische Einsicht, noch mehr die Fähigkeit politisch richtig zu handeln, seinem Staate die rechte Verfassung zu geben, gewifs Eigenschaften, die man rühmen, zeitweise als die höchsten Tugenden preisen kann. Und wer also in gerechter Weise diesen Mafsstab neben anderen seinem Werthurtheil zu Grunde legt, braucht deswegen nicht zu irren. Und jedenfalls war die genauere Erforschung der politischen Einrichtungen und Verfassungen eine Erweiterung des empirischen Wissens- gebietes und sie war aufserdem, soweit wir die Anfange einer Politik als Wissenschaft seit Aristoteles haben, die Benutzung dieser Wissenschaft zur besseren Causalerklärung der Geschichte. Natürlich sind Verfassung, Ver- waltung und politische Parteikämpfe weder die einzigen Gegenstände und Formen des historischen Lebens, noch sind die hier wirksamen Kräft;e die einzigen Ursachen des geschichtlichen Lebens. Aber es handelt sich doch um einen der wichtigsten Theile desselben, der durch die ganze Schule, hauptsächlich durch die Lebensarbeit Sybel's und Treitschke's in helleres Licht gerückt wurde.

Die Schule hatte das Verdienst, zunächst an einem Punkte die Wissen- schaft der Geschichte in die rechte Verbindung mit den anderen benachbarten Wissenschafl^en zu bringen, die, halb aus ihr, halb aus anderen Erkennt- nifsquellen entsprungen, den Versuch machen, den Stoff, den die Geschichte erzählend vorfiihrt, nach theoretischen Gesichtspunkten und nach Causal- zusammenhängen zu einem selbständigen System von Wahrheiten zu ord- nen. Die Wissenschaften der Sprache, der Religion, der Sitte und des Rechts, der Politik und der Volks wirthschaft müssen, je weiter sie sich ausbilden, desto mehr vom Historiker gekannt, berücksichtigt, verwerthet werden. Es wird damit nichts Fremdes in die Geschichte hineingetragen, sondern nur ein Bestand gesicherten Wissens zur Erklärung verwerthet; darauf verzichten heifst sich die Augen zubinden, heifst Rückschritte machen, ganz ebenso, wie wenn man auf die kritische Prüfting der Quellen verzichten wollte.

Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treüschke. 41

Ob man nun bei solcher Auflfassung der Dinge Ranke oder Sybel oder Treitschke höher stellen wolle, bleibt zuletzt Sache subjectiver Empfindimg. Wenn auch ich geneigt bin, Ranke als Forscher und För- derer der historischen Wissenschaft die erste Stelle zu lassen, zuzugeben, dafs er, begünstigt durch ein langes Leben, durch die Concentration auf reine Gelehrtenthätigkeit, durch die erste Eröffnung der Archive und durch eine Genialität ohne Gleichen, doch noch mehr für die Geschichte that als diese, so stehen sie ihm doch jedenfalls ebenbürtig und ergänzend zur Seite und haben ihn in der Wirksamkeit vielleicht noch überholt. Treitschke's Werke haben auf Tausende gewirkt, wo Ranke auf Hun- derte Einflufs gewann. Sybel und Treitschke haben zugleich der Gegen- wart in einer Weise politisch die Wege gewiesen, wie es Ranke nicht vermochte. Sie gehören zusammen und werden darum mit Ranke an erster Stelle genannt, wenn von dem goldenen Zeitalter der deutschen Geschichtschreibung die Rede ist. Noch neuerdings hat der erste Ranke- kenner A. Dove Niebuhr als den Lessing, Ranke als den Goethe, Treitschke als den Schiller der deutschen Historie bezeichnet.

Und brauchen wir Nachlebende den Muth sinken zu lassen, weil dieses Zeitalter nun zur Rüste geht? Sollen wir den etwas pessimistisch- elegischen Ton anschlagen, den Sybel und Treitschke selbst in den letzten Jahren gern hervorkehrten? Sie haben beide trübe in die Zukunft ihrer Wissenschaft gesehen, manche Wendungen beklagt, die heute sich geltend machen: sie fürchteten beide das historische Specialistenthum, das die Geschichte zu einer zünftigen Fachwissenschaft machen wolle; sie ver- hielten sich kritisch und zweifelnd gegen die zunehmende Bedeutmig der wirthschafts- und socialgeschichtlichen Studien, gegen die Zurückdrängung des persönlichen Heldenthums in der Geschichtserklärung; sie verhielten sich ablehnend gegen das Eindringen entwickelungs- und urgeschichtlicher, anthropologischer, darwinistischer, materialistischer Betrachtungsweisen.

Sie haben vielleicht im Urtheil über einzelne Bücher und Autoren halb oder ganz Recht gehabt. Vielleicht ist ihnen Manches ungünstiger erschienen, weil sie es nicht genauer mehr kennen lernten, weil sie nach ihrer Weltanschauimg dem jüngeren Geschlecht nicht mehr ganz gerecht werden konnten. Jede wissenschaftliche Richtmig mufs, wenn ihre Ver- treter älter werden, doch an ihrem Standpunkt festhalten; das Bündnifs zwischen Politik und Geschichte, die Verknüpfung des praktisch -politi- 9edächtniftredm. 1896. 1. 6

42 G. Schmoller:

sehen Lebens mit der Historie mufste Beiden in zu idealem Lichte er- scheinen.

Recht hatten sie darin, daßs unter ihren Nachfolgern die Zahl der grofsen und erheblichen Geister eine sparsame ist; ein früher Tod hat uns die Besten vor der Zeit hinweggerafTt. An ganz grofse Aufgaben wagte man sich nicht mehr so leicht wie froher. Die Specialforschung, die blofse Kritik nahm auf Kosten der Darstellung grofser historischer Stoffe zu. Und wo ganz neue Richtungen eingeschlagen wurden, da ist von Musterwerken , wie Ranke und die politischen Historiker welche ge- schaffen, doch noch nicht voll die Rede.

Aber der Ruf ist deshalb nicht berechtigt, zum Alten, sei es zu Ranke's, sei es zu Sybel's Standpunkt zurückzukehren. Die neuen Richtungen sind nicht unberechtigt; ebenso wenig die weitere Specialisirung der Forschung und die Wendung zu einer noch realistischeren Behandlung der Geschichte in Darstellung und Causalerklärung. Von den neueren Rich- tungen will ich nur noch ein Wort über die wirthschaftsgeschichtliche sagen; in gewissem Sinne haben Sybel und Treitschke sie mitbegründen helfen, und wenn sie ihr später halb kopfschüttelnd gegenübertraten, so übersahen sie, dafs hier ganz Ähnliches für unsere Zeit erstrebt wird, wie sie es selbst vor 40 Jahren mit der Politik und Verfassungsgeschichte ver- suchten. Gewifs kann damit die Aufrnerksamkeit einseitig auf gewisse Er- scheinungsreihen gelenkt werden; aber anders vollzieht sich kein Fortschritt; wenn nur damit bisher dunkle Gebiete und Zusammenhänge aufgehellt werden , das Gleichgewicht wird sich nachher schon wieder einstellen. Und was die Specialisirung und Arbeitstheilung betrifft, so kann sie natürlich auch Folge einer gewissen Enge des Horizonts und einer philisterhaften Ein- spinnung in byzantinischem Kleinkram sein. Aber sie kann ebenso gut Folge jener gewissenhaften Akribie sein , ohne die der historische Fortschritt nicht möglich ist, und sich verbinden mit weitem Blick, mit der Arbeit auf mehre- ren, besonders benachbarten Gebieten und kann so Grofses schaffen. Und wer wollte leugnen, dafs auch die lebende Generation Namen verzeichnet, die gerade in dieser Richtung das Bedeutendste geleistet haben, uns geschichtliche Werke schenkten, die in ihrer Art der Dahingegangenen würdig sind, ja in gewissem Sinne sie ebenso überholten, wie sie einst die Schriften Ranke's.

Wir sind noch kein mattes Zeitalter der Epigonen. Natürlich wechseln auch in der Geschichte jeder Wissenschafl Berg und Thal. Und wenn wir

Gedäcfiimfsrede auf Heinrich v, Syhel und H&nrich v. Treitschke. 43

heute in der That im Thal angekommen sein sollten, die Kräfte, wieder zu Berge zu fahren, sind da. Und wenn wir mit Sybel wiederholen wollen, da(s nur eine grofse Zeit grolse Historiker habe, so erklären wir stolz, auch die grofsen Tage werden för Deutschland wiederkommen. Die Gröfee Ranke's, Sybel's und Treitschke's legt uns nicht blols unendliche Verpflichtungen für die Zukunft auf, sie wird uns auch den neuen Auf- stieg erleichtem, uns die Bewältigung noch schwierigerer Aufgaben ge- lingen lassen. Wir werden sicher wieder grofse Historiker erhalten und sie werden dann in der Methode die ächten Schüler Ranke's imd Sybel's, in der Weltanschauung und in dem Gebiete ihres Forschens ächte Söhne ihrer Zeit sein , die Gedankenwelt und die Erkenntnisse ihrer Zeit in sich zu- sammenfassen. Denn dabei wird es bleiben: die grofsen Historiker werden immer nicht blols grofse Forscher imd Gelehrte, sondern mehr als das, grofse Charaktere, grofse ihre Zeit beherrschende Denker, die Lehrer und Propheten, die Richter und Pfadfinder ihres Zeitalters sein müssen.

Das ist bedingt durch die centrale Stellung, welche die Geschichte neben der Philosophie im System der Geisteswissenschaften einnimmt, welche sie im System der geistigen Ursachen des praktischen Lebens zu erfüllen hat.

Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz.

Von

EMIL DU BOIS-REYMOND.

Gtdächtfd^areden. 1896. II.

Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 4. Juli 1895

[Sitzungsberichte St. XXIIT. S. 746].

Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 18. Januar 1897.

iLr ist nicht mehr! Wo immer auf Erden die Wissenschaft eine noch so besclieidene Stätte sich bereitete; wohin immer das elektrische Nervensystem der Culturmenschlieit ihr Aligegenwart verlieh; wo dann an jenem ver- liängnifsvollen Septemberahend zwei Männer sich begegneten, die noch so entfernt in irgend einer Beziehung zu irgend einem Punkt der Naturlelire standen: »Wissen Sie es schon?« war ihr bekümmerter Ausruf: »Wissen »Sie es schon? Er ist nicht mehr!«

Wer war es, von dessen vorzeitigem Hingange die Welt dergestalt wschmerzlich ergriffen war? War es ein auf der Menschheit Höhen gekrönt einherschreitender Sterblicher? Ein gewaltiger Staatsmann, dessen Genie und Charakter das Werk unserer Tage ruhmvoll aufrecht erhalten, ja fort- fuhren zu können schien? Ein neuer Schlachtendenker, der an der Spitze von Hunderttausenden das Vaterland nöthigenfalls zu beschirmen, und ihm weithin hier Furcht, dort bewundernde Achtung zu sichern vermocht hätte? War es ein Künstler, dem unerhörte neue Schöpfungen im bildnerisch Schönen gelangen, oder ein Dichter, dessen Gestaltungen und Laute alle Gemüther erschütternd packten? Oder endlich ein Erfinder, der durch sinnreiche Anwendung der Naturkräfte die Macht und die Genüsse unseres Geschlechtes in's Unbegrenzte zu steigern versprach?

Oh nein, das Alles war es nicht. Hermann von Helmholtz, denn von ihm ist die Rede, war einfach ein Forscher und Lehrer, und unserer Genossen Einer. Eine Wirkung nach aufeen üben zu wollen, lag ihm ganz fern, und wenn das Geschick sie ihm in die Hand gab, wie in dem Falle des Augenspiegels, so geschah es nach dem FoNXENELLE'schen Principe, dafs gro&e praktische Funde nicht absichtlich als solche gemacht werden, sondern meist als Folge idealer Bestrebungen nebenher sich ergeben. Was aber abgesehen von dieser rein theoretischen Natur seiner Arbeiten die

4 E. DU Bois-Reymond:

Höhe seines Ruhmes und die allgemeine Theilnahme an seinem frühen Hin- scheiden noch bedeutsamer erscheinen läfst, das ist die Richtung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit. Helmholtz ist der vollkommenste und höchste Typus des theoretischen Naturforschers. Nun können wir uns aber nicht verhehlen, dafs wenigstens in Deutschland das Interesse der weitaus über- wiegenden Mehrheit trotz dem unermefslichen Einflüsse, den die Natur- forschung nach allen Seiten auf das menschliche Leben übt, den geschicht- lichen, litterarischen, künstlerischen Dingen fast ausschliefslich zugewendet ist und bleibt. Man frage sich nur, wie viele Gebildete, die sich nicht ver- zeihen würden, von einem Ciavier- oder Geigen -Virtuosen nicht alles Er- denkliche zu wissen, keine Ahnung haben von der Gröfse eines Gauss, eines Faraday. Zum Theil erklärt sich die beispiellose Anerkennung, deren Helm- holtz genofs , aus der gleich beispiellosen , den ganzen Kreis der theoretischen Naturforschung, von der physiologischen Anatomie bis zur Psychophysik umfassenden Mannigfaltigkeit seiner Leistungen, da denn unter den theore- tischen Naturforschem von Fach selber kaum Einer war, dessen Arbeit nicht in irgend einer Art mit den seinigen zusammentraf. Allein was neben dieser erstaunlichen Vielseitigkeit ihm eine Überlegenheit sonder- gleichen verlieh, das war das unübertroffene Geschick, diejenigen Fragen auszufinden und siegreich zu beantworten, die an jedem Punkte gerade die wichtigsten waren und deren Behandlung den besten Erfolg versprach.

Der hervorragendste Zug in Helmholtz' wissenschaftlicher Gestalt ist indefs neben so vielen anderen Gaben sein transscendentes mathematisches Talent. Dies Talent hat mit dem musikalischen Talent, mit welchem es oft und auch bei ihm vereint gefunden wird, das gemein, dafs es schon in früher Jugend sich verräth , wovon auf der einen Seite Blaise Pascal, auf der anderen Mozart bekannte Beispiele sind. Von Helmholtz wissen wir durch ihn selber, dafs er als Schüler im Gymnasium zu Potsdam wo er am 31. August 182 1 geboren war , manches Mal, wenn die Classe Cicero oder Virgil las, welche beide ihn höchlichst langweilten, unter dem Tische den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope berechnete und dabei schon einige optische Sätze fand, von denen in den Lehrbüchern nichts zu stehen pflegte, die ihm aber nachher bei der Construction des Augen- spiegels nützlich wurden.

Von erblicher Herkunft des mathematischen Talentes ist bei ihm nicht fiiglich die Rede. Helmholtz' Vater war Professor an demselben Gymna-

Gedächinifsrede auf Hermann von HelmJioltz. 5

sium, von Fach Philologe und Philosoph, ein hoch intellectueller, freidenken- der und gebildeter Mann, dessen f]influfs auf seinen Sohn aber vielmehr dahin ging, ihn zum Sprachstudium, zur Philosophie etwa im Sinne Kant's und Fichte's, allenfalls zur Pflege der schönen Litteratur anzuhalten. Diesem Einflufs ist es wohl eher zuzuschreiben, dafs Helmholtz noch als Student die Fabeln des I-.okman in der Ursprache lesen konnte. Ebensowenig ist natürlich daran zu denken, dafs jenes Talent ihm durch seine Mutter zugeflossen sei, von der wir nur wissen, dafs sie, eine geborene Penne, in männlicher Linie von dem bekannten amerikanischen Bürger William Penn, in weiblicher aus einer zum Rffuge gehörigen Familie Sauvage ab- stammte, so dafs, wie die Brüder von Humboldt, Helmholtz zum Tlieil französischen Ursprunges war.

Wenn nun aber dergestalt sein mächtiges Talent gleichsam durch Urzeugung entstand, so ist nicht weniger auffallend, dafs es sich auch ganz selbständig weiter entwickelte, ohne dafs ein bedeutender Lehrer ihm zu Hülfe kam und die Bahn wies. In der That ist nicht einmal etwas von einer mathematischen Vorlesung bekannt, die er gehört hätte. So in der Stille vollzog sich diese Entwickelung, dafs Brücke und ich, seine nächsten Freunde, während wir uns in die dem preufsischen Gymnasiasten heute bekanntlich höheren Ortes untersagte analytische Geometrie auf eigene Hand hineinarbeiteten, nichts von der ungeheuren Stärke ahnten, welche damals noch, wohl ihm selber halb unbewufst, in ihm schlummerte, sondern in ihm nur einen besonders gescheidten Mediciner erblickten.

Die Vermögensverhältnisse seiner Familie erlaubten nämlich unserem Hermann nicht aufser ihm waren noch ein Bruder und zwei Schwestern zu versorgen seinen geistigen Neigungen frei zu folgen. Es war ein merk- würdiges Schicksal, dafs er, anstatt, wie es etwa jetzt der Fall sein würde, durch ein Stipendium dazu in Stand gesetzt zu werden , in das Königliche medicinisch- chirurgische Friedrich -Wilhelms -Institut Aufiiahme fand, eine Anstalt, deren Zöglinge, zu Militär -Ärzten bestimmt, übrigens an der Uni- versität gleich den Medicinstudirenden vom Civil die beste eben verfügbare Bildung erbalten, und dann im Charite- Krankenhause eine Zeit lang lehr- reiche praktische Dienste thun; die Anstalt, aus welcher von bekannteren Forschem neuerlich Meyen und Reichert hervorgingen, und zur selben Zeit wie Helmholtz noch eine glänzende Zierde des gelehrten Berlins, unser Vir- CHow. Ich sage, es war ein merkwürdiges Schicksal, welches Helmholtz

6 E. DU Bois-Rktmond;

diesen Weg fulirte, indem er so die Richtung und die natürliche Grundlage zu physiologischen Arbeiten erhielt, da er sonst wohl unzweifelhaft ein mathe- matischer Physiker ersten Ranges geworden wäre, aber schwerlich zugleich der tiefste Erforscher der Muskeln, Nerven und Sinnesorgane, ein Lehrer der Anatomie, der Physiologie und der Allgemeinen Pathologie, und neben- her sogar ein tüchtiger praktischer Arzt. Er selber wuIste wohl, was er diesem Bildungsgange verdankte, und auch auf dem Gipfel wissenschaft- licher Höhe; zu dem er sich emporschwang, hörte er nicht auf, sich als Mediciner zu fühlen. »Ich betrachte das medicinische Studium«, sagte er in der von ihm am 2. August 1877 zur Feier des Stiftungstages der militär- ärztlichen Bildungsanstalten gehaltenen Rede über 'das Denken in der Me- dicin', »als diejenige Schule, welche mir eindringlicher und überzeugender, »als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller »wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze, so einfach und doch »immer wieder vergessen, so klar und doch immer wieder mit täuschen-

»dem Schleier verhängt Die Medicin ist doch nun einmal das geistige

»Heimathsland, in dem ich herangewachsen bin, und auch der Auswanderer »versteht und findet sich verstanden am besten in der Heimath«. Immer- hin befand er sich als Eleve der Pepiniere in einer wundersam zwiespaltigen Lage: wenn er auf der einen Seite in der Bibliothek des Institutes d'Alem- bebt's Traite de Dynamique entdeckt und mit geistigem Heifshunger ver- schlingt, auf der anderen sich dem Innre ifsenden Zauber von Johannes Müller's anatomisch -physiologischen Lehrvorträgen gefangen giebt, welcher naturgemäfs tür lange Zeit die Oberhand gewinnt.

So kommt es denn, dafs seine erste, in seiner medicinischen Inaugural- Dissertation vom 2. November 1842 niedergelegte Arbeit De Fabrica Systematis nervosi Evertebratoimm ihn uns als mikroskopisch -anatomischen Beobachter voi-föhrt, indem er am Nervensystem von wirbellosen Thieren, vom Blutegel, Krebs u. a., den lange vergeblich gesuchten Zusammenhang der Nervenfasern mit den von Ehrenberg 1833 entdeckten Ganglienkugeln nachwies; ein von Johannes Muller, dem die Dissertation gewidmet ist, als theoretisch nothwendig gefordertes Verhalten, welches seit Kurzem in neuer Gestalt die Histiologen wieder lebhaft in Anspruch nimmt. Es ist rührend zu vernehmen, wie Helmholtz zu dem Mikroskope kam, mit welchem er diese denkwürdige Leistung vollbrachte. Im Charite- Kranken- hause am Typhus daniederliegend, und als Eleve unentgeltlich verpflegt.

GedächJmßrede auf Hermann von HelmhoUz. 7

sah er sich als Reconvalescent im Besitze seiner aufgesparten kleinen Ein- künfte. Mit diesen erwarb er das Mikroskop. Das Instrument war nicht schön; um so mehr gereicht ihm zum Ruhme, was ihm damit gelang.

Hier beginnt die unermefsliche , dichtgedrängte, bis zu semem Tode ununterbrochene Reihe seiner Arbeiten. Da diese oft kurz nach einander, ja zu gleicher Zeit ganz verschiedene Gegenstände betreffen, so ist es unausführbar, davon eine völlig folgerichtige Darstellung zu geben , vollends diese mit der Erzählung seiner Lebensereignisse Schritt halten zu lassen. Es bleibt nichts übrig, als die Arbeiten ohne bestimmte Regel, ohne allzu strenge Rücksicht auf ihren Inhalt, auf Zeit und Ort ihrer Entstehimg, sonst so zweckmäfsig wie möglich an einander zu reihen.

Wir machen den Anfang mit denen, zu welchen Helmholtz einiger- maisen den Anstofs erhielt durch den Kreis von MOlleb*s Jüngern, in welchen er jetzt gerieth und mit dem ihn natürliche Sympathie verband, insofern diese jungen Leute, gleich ihm, wenn auch mit geringerer Be- fähigung, neben der Physiologie der Physik oblagen. In dem CoUoquium bei ihrem Lehrer Gustav Magnus hatten sie sich mit anderen jungen Natur- forschem, Physikern und Chemikern, zusammengefunden, hatten mit diesen die Physikalische Gesellschaft gegründet, und waren glücklich, ihr in Helmholtz offenbar einen aufgehenden Stern erster Grö&e zufuhren zu können, der sich denn auch über ein Jahrzehnd lang an der Bericht- erstattung in den 'Fortschritten der Physik' für Thierische Wärme und för Akustik betheiligte. Die Physikalische Gesellschaft, sowohl als Ganzes, wie durch ihre einzelnen Mitglieder, hat für Helmholtz' Entwickelung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt, zum Beweise wofür es wohl genügt neben den eigentlichen Stiftern der Gesellschaft, neben Gustav Kabsten, Beetz, Brücke, Heintz, Knoblauch und dem Redner, an die Namen Clausius, Kirchhoff, Quincke, Werner Siemens, Tyndall, Wiede- mann u. A. zu erinnern. Ich kann nicht umhin, hier wiederholt zu be- tonen, dafs es ein Fehler ist, der fortwährend begangen wird, und in den seltsamer Weise Helmholtz selber verfallt, zu diesem Kreise von Muller's Schülern auch Ludwig zu zählen, der in Marburg lebte, nie bei Müller hörte, und gerade das Verdienst hat, in dieser Vereinsamung selbständig das Befipeiungswerk aus dem Vitalismus unternommen zu haben.

Es war die Zeit, da Liebig gegen die von Schwann und Cagniard- Latour entdeckte belebte Natur der Hefe und deren Rolle bei der weinigen

8 E. duBois-Retmond:

Gährung zu Gunsten der rein chemischen Theorie von Gfthrung und Fäuhiifs, wie sie Gay-Lussac's Versuchen entnommen wurde, einen erbitterten Krieg filhrte. In Magnus' Privatlaboratorium wurde es Helmholtz vergönnt, den Beweis zu liefern , dafs unter Bedingungen , welche eine chemische Wirkung nicht, wohl aber eine solche durch geformte Fermente ausschliefsen, Gährung und Fäulnifs ausbleiben, woraus die belebte Natur der Fermente auf's Neue sich ergab. Während hier der Vitalismus scheinbar einen Sieg davontrug, bereitete sich von einer anderen Seite her, unter wesentlicher Beihülfe von Helbhioltz, eine Wendung vor, welche sein nahes Ende verkündete. Eine täglich sich mehrende Summe von Thatsachen und Einsichten hatte die Naturforschung gezwungen, die so lange gehegte Vorstellung von der Wärme als einem unwägbaren Stoff, zu deren Prüfung einst Voltaire riesenhafte Versuche angestellt hatte , aufzugeben , und in der Wärme nur noch eine Art von innerer Bewegimg der Materie zu erblicken. Auch ohne Flamme erschien neben Druck, Stofs und Reibung der Chemismus überall als Kraft- und Wärmequell. In diesem Sinne sehen wir Helmholtz nun zunächst bemüht , bei der Muskelaction Stoffverbrauch wie auch Wärme- entwickelung nachzuweisen. Bei dem ersten Unternehmen ist er wohl minder glücklich gewesen , als wir ihn sonst zu finden gewohnt sind. Die Säurung der Muskeln beim Absterben und durch Tetanus entging ihm, doch hat er das Verdienst durch Experimentiren am Frosch die am Warmblüter aus dem Blutumlauf und dem schnellen Absterben entspringenden Schwierig- keiten, und durch Reizung der Muskeln mittels elektrischer Entladungs- schläge etwaige elektrolytische Täuschungen vermieden zu haben. In der Untersuchung über Wärmeentwickelung bei der Muskelaction entfaltet er alsbald sein aufserordentliches technisches Vermögen. Wieder wendet er sich an »die alten Märtyrer der Wissenschaft, die Frösche«. Er lehrt mit deren Gliedmaafsen in mit Wassergas gesättigten Räumen experimen- tiren, um Erkältung und Trocknifs zu verhüten. Einen Thermomultipli- cator von noch kaum dagewesener Empfindlichkeit verwandelte er durch empirische Graduation in ein Thermometer für tausendstel Grade. Indem er dann eine dreigliederige Eisen -Neusilber -Säule in die Muskeln beider Oberschenkel so versenkte, dafs sich je drei zusammengehörige Löthstellen in jedem Oberschenkel befanden, erhielt er beim Tetanisiren des einen Oberschenkels vom Rückenmark aus mittels eines NEEp'schen Magnetelektro- motors Anzeichen einer Temperaturerhöhung, welche zwar äufserst gering

Gedächtnifsrede auf Hermann von Hehnhottz. 9

war, jedoch sicher von nichts herrühren konnte, als von Molecularpro- cessen in den Muskeln selber. An den Nerven war die entsprechende Wirkung, wenn überhaupt vorhanden, gegen die in den Muskeln ver- schwindend klein. In dieselbe Reihe von Arbeiten gehört auch der freilich nur theoretische, jedoch höchst gedankenreiche, Begriffe klärende und er- weiternde Aufsatz übei^ Thierische Wärme im Berliner 'Encyklopaedischen Wörterbuch der medicinischeii Wissenschaften'.

Der diesen Arbeiten zu Gnmde liegende Gedanke wurde, wie gesagt, damals vielfach gehegt, und war unter verschiedener Gestalt schon an 's Ucht getreten. Sadi Carnot, Clapeybon, JuLms Robert Mater, Holtzmann, Franz Ernst Neumann , Joule , Colding hatten ihn schon in einzelnen Fällen mit befriedigender Schärfe , sonst im Allgemeinen auf die blofse Anschauung hin gefafst und verfolgt, und zwischen den Naturvorgängen des Ver- schwindens und des Auftret/Cns von Kraft eine Aequivalenz mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit behauptet, wovon das kühnste Beispiel wohl George Stephenson's , des Erfinders des Eisenbahn -Dampfwagens, genialer Ausspruch ist, »die Kraft seiner Locomotive sei vor Millionen Jahren »in den Steinkohlen auf Flaschen gezogenes Sonnenlicht«.

Hier nun ist es , wo Helmholtz mit einer That einsetzte , welche zu- erst die allgemeine Aufinerksamkeit auf ihn lenkte, und im Laufe der Zeit weltberühmt wurde. Am 23. Juli 1847 trug er in der Physikalischen Gesellschaft seine Abhandlung über die Erhaltung der Kraft* vor, in welcher er sich zu unserem Erstaunen mit Einem Schlage als einen jeder Aufgabe gewachsenen Physico- Mathematiker offenbarte. Unter Erhaltung der Kraft als Bewegungsursache verstand er deren Constanz in der Physik in der- selben Art, wie Constanz der Materie von Lavolsier als Fundamentalprincip der Chemie erkannt worden war. Er unternahm und vollbrachte es, durch das ganze Feld der hinreichend bekannten Naturerscheinungen die Er- haltung der Kraft mathematisch in der Form darzuthun, dafs die Summe der lebendigen und der von ihm sogenannten Spaimkräfte constant sei. Er fand , dafs die Richtigkeit dieses Gesetzes den höchsten Grad von Wahr- scheinlichkeit fiir sich hat, insofern es »keiner der bisher bekannten That- » Sachen der Naturwissenschaften widerspricht, von einer grofsen Zahl der- » selben aber in einer auffallenden Weise bestätigt wird«.

Eine unmittelbare Folge davon ist die Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile. Die sichere Begründung dieser Einsicht ist natürlich an und ftir Gedächtm/sreden, 1896. IL 2

10 E. DU Bois-Reymond:

sich eine Leistung vom höchsten Werth, allein an dieser Stelle hat sie fiir uns noch eine andere Bedeutung. Helmholtz hatte nämlich schon als Knabe aus Gesprächen seines Vaters mit einem mathematischen CJoUegen von der Frage gehört, ob ein Perpetuum mobile möglich sei, und von den vielen ver- geblichen Versuchen ein solches herzustellen. Als er später Stahl's Theorie der Lebenskraft kennen lernte, fand er, dafs diese Theorie jedem lebenden Körper die Natur eines Perpetuum mobile beilegte.

Es wäre ein Wunder gewesen , wenn eine Aufstellung von so unermefs- lieber Tragweite, durch welche die materielle Welt zu einem verständlichen Mechanismus wird, ohne Gegenrede geblieben wäre. Die älteren Berliner Physiker, Magnus , Dove , Riess , wollten nichts davon wissen , selbst Mathe- matiker wie Lejeune-Dirichlet und Eisenstein schüttelten dazu den Kopf, nur Jacobi erwies sich einsichtiger. Pogoendorff verweigerte die Aufnahme der HELMHOLTz'schen Schrift in seine Annalen aus dem Grunde, dafs ihr rein theoretischer Inhalt nicht in deren Rahmen passe. Ich ging aber mit dem Manuscripte zu dem grofssinnigen Verleger meiner damals im Drucke be- fmdlichen 'Untersuchungen über thierische Elektricität', Georg Ernst Reiher, und verbürgte mich bei ihm für den Werth der 'Erhaltung der Kraft'. Sofort wanderte sie in die berühmte Reimer'sche Druckerei , und Helmholtz erhielt sogar emen buchhändlerisch angemessenen Ehrensold. Was ihm aber vielleicht noch mehr Vergnügen machte, war, dafs ihm von hoher militärischer Seite die wärmsten Lobsprüche gespendet wurden fiir die wichtige praktische Richtung, die er seinen Studien zu geben gewufst habe. Sein Gönner hatte nämlich geglaubt, dafe es sich um die Erhaltung einer ganz anderen und fiir den Laien allerdings interessanteren Kraft handele, als der von Helmholtz gemeinten.

Von noch anderer Seite wurde nun zwar Richtigkeit und Wichtigkeit der Lehre zugegeben, jedoch, wie es zu gehen pflegt, Helmholtz das Ver- dienst abgesprochen , sie gefunden zu haben. Er sollte sie dem Heilbronner Arzt« Julius Robert Mayer entlehnt haben , welcher fiinf Jahre früher eine populäre Darstellung in ähnlichem Sinne gegeben, auch schon ein mecha- nisches Wärmeaequivalent herausgerechnet hatte. Diese Anklage hat sich, wie der Ruhm der HELMHOLTz'schen Abhandlung, bis auf den heutigen Tag erhalten , und wird von denen , die es lieben , das Strahlende zu schwärzen, gern geglaubt. Die Tadler bemerken nicht, dafs sie dabei sich selber eine gröbliche Blöise geben. Man kann bedauern, dafs Helmholtz in seiner

QedäcJänifsrede mif Hermann von HelnüioÜz. 11

Schrift es versäumt hat, seine Vorgänger in diesem Gebiete zu erwähnen, welche er übrigens versichert, nicht gekannt zu haben, und denen er später bemüht gewesen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allein die Lehre von der Erhaltung der Kraft gehört Julius Robebt Mayis gerade so wenig wie ihm. Sie ist, mathematisch ganz richtig formulirt, schon im Jahre 1686 von Leibniz ausgesprochen worden, sie findet sich sogar im Anschlüsse an Leibniz 1742 von der Marquise nu Chatelet in ihren Institut tkms physiques adress^es ä Mr. son fik so klar und bündig auseinander- gesetzt, dafs von dem, was sie sagt, nichts zu streichen, und dazu nichts, was sie damals hätte sagen können, hinzuzufögen ist. Es wäre hier nicht der Ort zu untersuchen, wie es hat kommen können, dafe eine so grofse Erkenn tnifs, wie die Erhaltung der Kraft, nachdem sie während der ersten Hälft« des vorigen Jahrhunderts ein Gemeingut der Gelehrtenwelt gewesen war, dann so verloren ging, da£$ sie erst in unserer Zeit wiedergeftmden wurde, und schliefslich von Helmholtz bis auf die ja wohl von Rankine herrührenden Namen der Potential- und der kinetischen Energie ihren end- gültigen Ausdruck erhielt.

Helmholtz selber hat, während seines Aufenthaltes in Königsberg, in einem Vortrage über die Wechselwirkung der Naturkräft« und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik', eine gemeinfafsliche Dar- stellung seiner Lehre gegeben, welche unter einer Fülle geistreicher Bemerkungen in unscheinbarer Form einen seiner grofsartigsten Funde birgt. Eines der gröfsten Räthsel war nämlich bis zu ihm der Ur- sprung der Sonnenwärme, welche hienieden die beiden Kreisläufe unter- hält, von deren einem, abgesehen vom Vulcanismus und von Ebbe und Fluth, alle unorganische Bewegung, von dem anderen alles Leben stammt, den Kreislauf des Wassers durch Wolkenbildung, Niederschläge und Ströme, und den Kreislauf des Lebens durch den Stoffwechsel der Pflanzen und Thiere. Einen gröfseren Gegenstand giebt es nicht. Man wufste genau ge- nug, wie heifs die Sonne sei und wieviel Wärmeeinheiten sie seit ungezählten Jahrtausenden unaufhörlich allerwärts entsende, aber keine irgend stichhaltige Vermuthung über deren Quell liefs sieh ausdenken. Bekanntlich hatten Kant und nach ihm Laplace ein anderes Problem gleicher Erhabenheit glücklich gelöst. Indem sie annahmen , dafs die jetzt in der Sonne und den Planeten nebst ihren Trabanten vertheilte Materie vor unvordenklicher Zeit in Gestalt eines kreisenden Nebelballes den Raum erfüllte, von dessen Umfang die Bahn

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12 . E. DU Bois-Reymond:

des äuCsersten Planeten noch weit entfernt bleibt, und dafs diese Materie durch Gravitation allmählich den Mittelpunkten der heutigen Sonne und der Planeten sich näherte , hatten sie die Entstehung unseres Planetensystemes begreifen gelehrt, dessen Glieder fast säniintlich in dem Sinne, wie einst jener Nebelball, um sich selber und um die Sonne sich drehen. An der Hand der mechanischen Wärmetheorie ergänzte jetzt Helmholtz diese astro- nomische Conception, von der einer seiner populären Vorträge eine vor- treffliche Darstellung giebt, zu einer physikalischen, indem er die Wärme berechnete; welche durch das Zusammenstürzen der Materie entstehep muüste, sofern die durch die Potentiale aller Himmelskörper auf sich selber beim Anlangen in den Mittelpunkten der Sonne und der Planeten geleistete Verdichtungsarbeit in Wärme verwandelt wurde. Für die Sonne ergab sich so, auch wenn man ihr die gröfste bekannte Wärmecapacität, die des Wassers , zuschrieb , die unvorstellbare Temperatur von 2 8 6 1 1 000 hunderttlieiligen Graden, was fiir alle ihre Leistungen eine genügende Er- klärung gab, freilich mit dem wenig tröstlichen Ausblick auf eine Zeit, wo jene ursprüngliche Wärmemitgift der Sonne erschöpft sein wird, und der Menschheit das jüngste Gericht einer ewigen P]iszeit droht., Hinaus- gerückt wird dies durch Lord Kelvin, damals William Thomson, schon vorhergesehene Verhängnifs, wie Helmholtz bemerkte, dadurch, dafs die Sonne bei ihrer Zusammenziehung in Folge der Abkühlung stets wieder einen gewissen Wärmezuschufs erhält. Beiläufig gesagt kein viel besserer Trost, als der, den hinzuzufügen er fiir nöthig hält: »Wie der Einzelne »den Gedanken seines Todes ertragen mufs, mufs es auch das Geschlecht; »aber es hat vor anderen untergegangenen Lebensformen höhere sittliche »Aufgaben voraus, deren Träger es ist, und mit deren Vollendung es »seine Bestimmung erfüllt.«

Die Lehre von der Erhaltung der Kraft, oder, wie wir jetzt zu sagen vorziehen, der Energie, wurde aber auch in der Biologie von bahn- brechender Bedeutung. Sie erklärte den Stoffwechsel im Thierkörper, der dem Vitalismus stets eine unüberwindliche Schwierigkeit geboten hatte, und ertheilte dem Truggebilde einer Lebenskraft den letzten Stofs. Die Gruppe von Müller's Jüngern, zu der Helmholtz sich hielt, war es, welche, obschon zu den Füfsen des Meisters sitzend, sich doch von seinen vita- listischen Träumereien losgesagt hatte und jenes Truggebilde nach allen Richtungen zu erschüttern sich bemühte. Ohne gerade polemisch aufzutreten,

Gedächbiifsrede atif Hennann von HebnhoUz. 1 3

was seiner Natur fem lag, leistete Helmholtz diesen Bestrebungen den mächtigsten Vorschub , indem in der Lehre von der Erhaltung der Energie den BekSmpfern der Lebenskraft eine unschätzbare Bundesgenossin erwuchs.

Es kam Helmholtz sehr zu statten, dafs damals den physikalischen Versuchsweisen durch die Einfuhrung elektrischer Mechanismen eine bisher ungeahnte Bereicherung und Verfeinerung zu Theil ward. Pouillet hatte, ursprünglich zu artilleristischen Zwecken, eine Art angegeben die kürzesten Zeiträume mit vollendeter Genauigkeit durch den Aus- schlag zu messen, welchen ein elektrischer Stromstofs einer Galvano- meternadel ertheilt, unter der Voraussetzung, dals dessen Dauer gegen die Schwingungsdauer der Nadel verschwindet, und dals man Anfang und Ende des Zeitraumes mit denen des Stromstofses zusammenfallen lassen kann. Hier nun gab es wiederum ein Problem von höchstem Interesse zu lösen. Zwischen dem Augenblicke der Reizung eines Nerven und dem der Zuckung des zugehörigen Muskels, ja der durch Reflex übertragenen Zuckimg, kann die gespannteste Aufmerksamkeit keinen Unterschied wahrnehmen. Doch mufs ein solcher vorhanden sein, und es fehlte auch in früherer Zeit nicht ganz an Versuchen, dessen Dauer, oder, was auf dasselbe hinaus- läuft, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung im Nerven zu schätzen. Die latromathematiker von Montpellier glaubten, dafs diese Geschwindigkeit zu der des Blutes in der Aorta sich so verhalten müsse, wie der Quer- schnitt der Aorta zu dem einer Nervenfaser, wonach sie über sechshundert- mal gröfser sein sollte als die des Lichtes. Haller legte die Anzahl der Schwingungen der Zunge beim Aussprechen des Buchstaben R zu Grunde, imd gelangte durch eine Reilie von Schlüssen, deren jeder ein handgreif- licher Fehlschlufs war, merkwüi-digerweise zu einem Ergebnifs, welches der Wirklichkeit, wie wir sie jetzt kennen, ziemlich nahe steht. Johannes MüLLEB durchschaute natürlich die kindische UnvoUkommenheit dieser Be- mühungen, er schrieb aber wegen der Unmöglichheit, mit blofsem Auge einen Zeitunterschied zwischen Reizung und Zuckung wahrzunehmen, dem Nerven- princip wieder eine Geschwindigkeit von gleicher Ordnung mit der des Lichtes oder der Elektricität zu, und hielt dalier, wegen der Kürze der Nervenbahnen in einem Thiere, deren experimentelle Bestimmung fiir un- ausführbar. Das war die Lage der Dinge, als Helmholtz sich ihrer mit jener unbegreiflichen Biegsamkeit des Talentes bemächtigte, vermöge welcher

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er sich an einem winzigen Froschpraeparat, wo es sich um Tausendstel von Secunden handelt, so vollkommen zu Hause fand, wie in den Welt- und Zeiträumen des Planetensystemes. Vor allen Dingen vervollkommnete er PoüttLEx's Methode, indem er an Stelle der empirischen Graduation der chronometrischen Bussole, womit jener sich begnügt hatte, ein theoretisch streng begründetes Verfahren setzte. Sein Versuchsplan war nun der, dafs in demselben Augenblicke, wo ein Öffhungsinductionsstrom von verschwin- dender Dauer ein Nervmuskelpraeparat reizte, der zeitmessende Strom geschlossen werden sollte, um nach der zu bestimmenden Zeit durch die Zuckung selber wieder geöffnet zu werden. In bewunderungswürdig sinn- reicher und einfacher Art brachte Helmholtz Beides zu Stande. Dann traf er solche Einrichtung, dafs er die Reizung des Muskels bald an ihm selber, bald an einem ihm möglichst nahen , bald an einem möglichst weit von ihm entfernten Punkte des Nerven vornehmen konnte. Es zeigte sich, dafis auch bei Reizung des Muskels selber die Zuckung nicht unmittelbar eintrat, sondern erst nach einem kleinen, aber doch merklichen Bruch- theil einer Secunde. Das war das bei dieser Gelegenheit entdeckte Latenz- stadium der Reizung, womit der von Eduard Weber aufgestellte Unter- schied zwischen organischer und animalischer Bewegung hinfallig ward. Die Verzögerung des Reizerfolges wuchs aber, wenn die Reizung am Nerven selber stattfand, und um so mehr, je entfernter vom Muskel er gereizt wurde. Die Länge der Nervenstrecke zwischen den beiden Reizungs- punkten, dividirt durch den Unterschied der beiden letzteren Zeiträume, ist die gesuchte Geschwindigkeit des Nervenprincipes , und zwar wurde sie über zehnmal kleiner gefimden als die Schallgeschwindigkeit in der Luft, so dafe zunächst jede Verwandtschaft zwischen Nervenprincip und Elek- tricität abgeschnitten zu sein schien. Bei niederer Temperatur fiel die Geschwindigkeit noch kleiner aus.

Dabei blieb aber Helmholtz nicht stehen. Der Begriff der durch eine Curve darstellbaren Function war seit Kurzem in seiner Umgebung rein theoretisch in die Biologie eingefiihrt worden, und schon hatte ilm auch Ludwig durch die von James Watt und Thomas Young erfundene auto- graphische Methode mittels seines Kymographions fiir unsere Wissenschaft so fruchtbar gemacht, dafs selbst deren äufsere Gestalt, wie ein Blick in eine physiologische Abhandlung oder ein Handbuch vor und nach jener Zeit lehrt, eine ganz andere ward. Ludwig liefs so den Blutdruck in den

Gedächlmfsrede auf Hermann txm Helmhottz. 15

Geßifsen eines lebenden Thieres seine Schwankungen oder Wellen ver- zeichnen, daher der Name seines Apparates. Helmholtz seinerseits con- struirte ein Myographien, an welchem ein Muskel seine Verkürzung mit solcher Treue aufschrieb, dals man nicht allein zum ersten Mal ein Bild von deren Gesetz erhielt, sondern dafäs auch durch die Verschiebung der vom Muskel selber, und von zwei Punkten des Nerven aus gezeichneten Curven gegen einander die dabei in Betracht kommenden Zeitverhältnisse mit aller Sicherheit wahrgenommen wurden.

Der Muskel zeichnete diese Curven mittels einer Stahlspitze auf einem berufsten Glascylinder über einem weifsen Grunde. Den dem Augenblick der Reizung entsprechenden Punkt auf dem Umfang des Gylinders erfuhr man, indem man den Muskel bei so langsam aus der Hand gedrehtem Cylinder reizte , dafe der auf- und der absteigende Schenkel der Zuckungs- curve mit einander zu einer senkrechten Geraden verschmolzen. Ein ein- ziger Versuch , dessen Ergebnils Helmholtz überdies noch leicht und sicher beliebig lange aufbewahren lehrte, liefs so mit Einem Blick alles das er- kennen, wozu es bei dem PouiLLEx'schen Verfahren einer ganzen Versuchs- reihe bedurft hätte, und eine Fülle von Fragen drängte sich jetzt zur Be- antwortung, an welche früher nicht einmal hatte gedacht werden können. So stellte Helmholtz fest, dafs die, eine secundäre Zuckung erzeugende negative Schwankung des Muskelstromes früher eintritt als die Zusammen- ziehung des Muskels; dafs der Elektrotonus der Nerven dagegen nicht später eintritt als der ihn erregende elektrische Strom. Er untersuchte was bei einer doppelten Reizung, d. h. bei zwei einander so dicht fol- genden Reizungen sich begiebt, dafs ihre Wirkungen sich summiren; endlich wann die reflectirten Zuckungen eintreten, von denen man früher meinte, dafs sie von der Reizung durch gar keinen merklichen Zeitraum getrennt seien. Im geraden Widerspruch damit zeigte sich , dafs bei den scheinbar blitzschnell eintretenden Strychninreflexen die Übertragung der Reizung im Rückenmarke eine mehr als zwölfinal so grofse Zeit beansprucht als die Lei- tung in den zu- und abfahrenden Nerven.

Dies Alles geschah noch am Frosch. Nun aber wandte sich Helm- holtz auch an Muskeln und Nerven des lebenden Menschen, zuerst in der Weise, dafs der Experimentirende auf eine augenblickliche elektrische Reizung einer mehr oder weniger vom Gehirne entfernten Hautstelle mit einer bestimmten Handlung zu antworten hatte, welche um so später ein-

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trat, je länger die sensible Bahn zum Gehirne gewählt war. In später mit Hrn. N. Baxt aus Petersburg angestellten Versuchen wurde aber an einer motorischen Nervenbahn und den zugehörigen Muskeln ganz wie am Frosch verfahren, wobei sich, in vollkommener Übereinstimmung mit dem dort Wahrgenommenen, ergab, dafs die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Rei- zung in den Nerven bei höherer Temperatur, beispielsweise des Armes, über doppelt so grofs ausfiel, als bei niederer. Noch später wurde wiederum mit Hrn. Baxt die Zeit bestimmt, welche fiir das Bewufstwerden eines mehr oder minder zusammengesetzten Gesichtsbildes nöthig ist. Diese Versuche sind der Ausgangspunkt gewesen für die wichtigen Er- mittelungen besonders von Donders über die Zeit, welche verschiedene Vorgänge im Gehirne fiir ihren Ablauf beanspruchen. Aus dieser Art von Bestimmungen und dem WEBER-FECHNER'schen Grundgesetze besteht zur Zeit das empirische Material der sogenannten Psychophysik. Übrigens hat Helmholtz das Ganze der von ihm hier erfimdenen und meisterhaft an- gewandten Methoden der Messung kleinster Zeittheile und ihrer Anwen- dung für physiologische Zwecke zum Gegenstande eines gemeinfafslichen Vortrages gemacht.

Mittlerweile hatte Brücke die Anatomie des Auges in einem monumen- talen Werke zu hoher Vollkommenheit gebracht. Zwei Entdeckungen waren es vorzuglich, durch die er dabei der physiologischen Optik neue Wege eröffnete, und einen mächtigen Fortschritt, wenn auch nicht selber vollendete, doch ermöglichte und anbahnte. Die erste dieser Entdeckungen war die Erkenntnifs, dafs der bis dahin als Corpus ciliare beschriebene Körper zwischen dem Schlemm 'sehen Kanal und der Zonula Zinna ein Muskel von völlig gleicher Beschaffenheit mit der Iris sei. Mit mehr Emphase als man sonst bei ihm gewohnt ist, sagt Brücke: »der Muskel »ist sehr leicht zu finden, denn er ist nichts anderes als der hellgraue »Ring, welchen man auf der äufseren Fläche des vorderen Theiles der »Chorioidea nach Ablösung der Sklerotika findet und der bis jetzt in der »Anatomie unter dem Namen Ligamentum ciliare j Orbiculus ciliariSj Circulus *ciliariSj Plexus ciliaris^ Ganglion ciliare u. s. w. eine so traurige Rolle ge- » spielt hat«. Wir nennen ihn nach seiner Function Tensor Chorioideae oder mit Donders seinem Entdecker zu Ehren Musculus Briickianus; seine physiologische Bedeutung hat Helmholtz aufgeklärt. Denn auch hier

Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 17

gab es ein ftindamentales Problem zu lösen, welches seit langer Zeit den Bemühungen der ausgezeichnetsten Forscher getrotzt hatte, das Pro- blem der Accommodation des Auges für das Sehen in verschiedene Ent- fernungen. Alle nur denkbaren Gestaltveränderungen, Verschiebungen, sogar substantiellen Wandlungen des Augapfels, bez. seiner Theile , waren seit Kefleb und Scheiner zur Erklärung der Accommodation ersonnen und herangezogen worden. Einiges Richtige fand sich darunter, nichts hatte seiner Zeit völlig befriedigt, geschweige sich dauernd bewährt. Nur zweierlei stand fest. Durch einen classischen Versuch hatte Thomas Yoüng bewiesen, dafs keine Veränderung der Cornea die Accommodation begleite. Andererseits wufste man längst, dafe bei der Accommodation für die Nähe die Pupille sich verengere, doch liefs sich damit zur Erklärung des deut- lichen Sehens in die Nähe nichts Rechtes anfangen. Dagegen hatten Max Langenbeck und der Holländer A. Crameb in Groningen einen Weg betreten, der sie, namentlich den letzteren, über kurz oder lang wohl zum Ziele gefiihrt hätte, wäre nicht Helmholtz auf eben demselben Wege ihnen erfolgreich zuvorgekommen. Dieser Weg bestand darin, anstatt Ge- staltveränderung oder Verschiebung der optischen Medien des Auges bei der Accommodation unmittelbar zu beobachten, vielmehr die von deren Flächen entworfenen drei Spiegelbilder, welche falschlich statt nach Pübkine, nach dem englischen Augenarzte Sanson genannt werden, zum Gegenstande der Untersuchung zu machen. Cbameb hatte dazu ein Ophthalmoskop angegeben, Helmholtz aber schuf mit siegreicher Überlegenheit sein Ophthalmometer, ein Instrument von astronomischer Feinheit, mit welchem er jene Bildchen so genau zu messen vermochte, dafs sie ihm von der veränderlichen Krüm- mung der Augenmedien und ihrer Lage im Augapfel sichere Kunde brachten. Es ergab sich, dafs die Linse im Zustande der Rulie des Auges, wo es in die Ferne deutlich sieht, merkwürdigerweise nicht ihre natürliche Gestalt hat, sondern durch benachbarte Gebilde plattgedräckt gehalten wird, dafs ihr aber durch den Zug des BBÜCKE'schen Muskels gestattet wird, vermöge ihrer Elasticität ihre stärker gekrümmte natürliche Gestalt und gröfsere Dicke anzunehmen, und so das Auge fiir das Sehen in die Nähe zu be- fähigen. Die aus den Messungen berechnete optische Wirkung genügte zur Erklärung der Accommodation , und die ausgeschnittenen KrystalUinsen von Leichen zeigten dieselben Mafse wie die Linsen von Lebenden im accommodirten Auge.

Gedächtm/kreden. 1896. IL 3

18 E. duBois-Reymond:

Bbücke's zweite Entdeckung betraf das sogenannte Leuchten der Augen. Es war natürlich jederzeit bekannt, dafs die Augen gewisser Thiere, ins- besondere der nächtlichen Räuber, wie Katzen und Eulen, im Dunkeln leuchten , imd noch 1 8 n hatte unser Pallas davon die Erklärung gegeben : vielleicht sehe man dabei die nackte Elektricität der Nervenhaut forte rmdum electrum retinae nervosae. Aber schon Johannes Müller hatte über- zeugend die Richtigkeit der Lehre Hassenstein's dargethan, dafs die so- genannten leuchtenden Augen nicht wirklich leuchten, sondern nur Licht reflectiren, so dafs sie in einem wahrhaft dunkeln Räume nicht leuchten, und es fand sich auch, dafs die Nervenhaut der stärker leuchtenden Augen in einem sogenannten Tapetum einen hellen, zur Zurückwerfung des Lichtes besonders geeigneten Hintergrund habe. Brücke stellte nun zuvörderst die Art fest, wie man am besten die Augen leuchten sieht, nämlich indem man in einem sonst dunklen Räume eine Blendlaterne auf das zu beobachtende Auge richtet, und an ihr vorbei in das Auge blickt. So weit gekommen, begab er sich Nachts mit seiner Interne in die Ställe des Zoologischen Gartens , und fismd , dafs er bei passender Stellung die Augen aller Thiere zum Leuchten bringen konnte. Diese Tliatsache und gewisse Erinnerungen erweckten in ihm die Vermuthung, dafs auch die Augen des Menschen leuchten möchten. Aus dem Hause seiner Pflegeeltern in Stralsund war ein Dienst- mädchen entfernt worden, weil man dessen Augen hatte leuchten sehen, wodurch es ihnen unheimlich wurde. So liefs er mich denn eines Abends ihm in passender Weise meine Augen darbieten, die auch wirklich die ersten menschlichen Augen waren, welche ein wissenschaftlicher Beobachter zweckbewufst leuchten sah. Denn nun fand es sich, dafs schon einer unserer Studiengenossen, Hr. Dr. Carl von Erlach aus Bern, welcher ge- legentlich eine Hohlbrille trug, bei gewissen Stellungen ihrer Gläser die Augen von Menschen hatte leuchten sehen, was auch seitdem bei gehöriger Anleitung jedem Brillenträger gelang.

Damit begnügten wir uns ; der weiter blickende und tiefer überlegende Helmholtz aber sagte sich , dafs das von der Nervenhaut diflfus reflectirte Licht mittels passender optischer Medien dazu gebracht werden könne , ein deutliches Bild zu entwerfen, und daraus ward, zunächst nach Analogie des GALiLErschen Femrohres, der Augenspiegel, der neben der Lehre von der Erhaltung der Kraft wohl am meisten dazu beigetragen hat, den Ruhm seines Erfinders zu begründen und zu verbreiten.

Gedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoÜz. 19

Noch nie hatte sich wie bei Helmholtz die vollendetste Kenntnifs der physikalisch -mathematischen Optik mit eben so genauer und lebendiger Anschauung der anatomischen Bedingungen des Sehens verbunden. In jener bewährte er sich nebenher als vollkommener Meister, indem er in der Theorie des Mikroskopes mit Hrn. Abbe in Jena wetteiferte, und die theoretische Grenze für die Leistungsfähigkeit der Mikroskope zog, wie auch, indem er durch eine tiefgehende Untersuchung die erst unlängst von Chbistiansen in Copenhagen entdeckte, von August Kündt weiter verfolgte paradoxe Erscheinung der anomalen Dispersion auf Grund der Sellmeter- schen Annahme verständlich machte, dafs in den Aether ponderable, des Mitschwingens fähige Molekeln eingelagert sind. Von Helmholtz' späteren, das Verhältnifs zwischen Licht und Elektricität betreffenden optischen Ar- beiten kann hier noch nicht die Rede sein. Interessant ist seine Äuiserung, da& das Auge, trotz seiner bewundernswürdigen Leistungen, als optisches Werkzeug so voll arger Fehler sei, dafs er einem Künstler, der ihm ein solches Instrument brächte, die Thüre weisen wurde. Nachdem er aber einmal, wie wir sahen, in der physiologischen Optik Fufs gefafst hatte, hörte er sobald nicht wieder auf, sich mit hervorragenden, Punkten dieser ihn offenbar besonders fesselnden Disciplin zu beschäftigen. Sofort finden wir ihn bei dem Gegenstande thätig, der ihn lange auf das Lebhafteste beanspruchen sollte, bei der Zusammensetzung der Farben, besonders der Spectralfarben. Er klärte die Begriffe von der Farbenmischung auf, indem er zeigte, dafs nicht, wie die Maler jederzeit glaubten, und wie jeder Schulknabe nach Aussage seines Tuschkastens beschwören würde, Gelb und Blau Grün geben, sondern Weifs. Er widerlegte Bbewsteb's neue Analyse des Sonnenlichtes. Er machte das ultraviolette Licht sichtbar. Er berichtigte die Erklärung des Glanzes. Er studirte auf seine Weise Nachbilder und Farbenblindheit. Er zerstreute das Trugbild der Irradiation. Er entdeckte die Fluorescenz der Hornhaut, Linse und Netzhaut. Er be- wältigte die schwierige Aufgabe der Augenbewegungen und ihrer Be- ziehungen zum binocularen Sehen, mit Inbegriff der sogenannten Rad- drehung des Auges. Auch sie ist dem Willen unterworfen, sobald sie nöthig ist, »um der einzig möglichen Willensintention zu dienen, welche »für die Augenbewegungen gebildet werden kann, nämlich die: einfach »und deutlich zu sehen«. Er erfand das Telestereoskop. Er löste voll- ständig das altberühmte Problem des Horopters, von dessen hyperboloi-

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20 E. DU Bois-Re ymond:^

daler Fläche einst Vieth und Johannes Möller einen einzelnen Kreis er- kannt hatten. Er wiederbelebte endlich Thomas Young's Lehre von den drei Urfarben, als welche er Roth, Grün und Violet bestimmte.

Doch es ist unmöglich, ihm weiter in die unzähligen Einzelheiten zu folgen, mit welchen er die physiologische Optik bereicherte. Aber hier lernen wir mit Einem Male Helmholtz von einer neuen Seite kennen. In einem umfangreichen, einheitlichen, doch auf das Feinste gegliederten Werke, seinem 'Handbuche der physiologischen Optik' stellte er diesen Zweig der Physiologie systematisch und litterar -geschichtlich in gröfster Voll- ständigkeit dar, von den mathematischen Anfangsgründen der geometrischen Optik bis zu den letzten erkenntnifstheoretisclien und aesthetischen Gesichts- punkten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dafs keine wissenschaftliche Litteratur irgend einer Nation ein Buch besitzt, welches diesem an die Seite gestellt werden kann , von w^elchem Hr. Prof. Abthur König die noch von Helmholtz begonnene zweite Auflage vollenden wird; nur ein zweites Werk von Helmholtz selber kann daneben genannt werden; nur er selber kam ihm selber gleich.

Man erräth, dafs von seiner 'Lehre von den Tonempfindungen als physiologischer Grundlage fiir die Theorie der Musik' die Rede sein soll. Während er gänzlich in die physiologische Optik versenkt erschien, zeitigte er zugleich dies noch merkwürdigere^Werk , merkwürdiger, weil es dem erfahrungsmäfsigen wie dem theoretischen Inhalt nach neuer und ori- gineller erscheint, als das optische Seitenstück. Auch hier traten ihm zunächst gewisse physiologische Fragen entgegen, deren Interesse nicht wenig erhöht wurde theils durch das ehrwürdige Alter, welches sie un- gelöst erreicht hatten, theils durch ihre Bedeutung fär Musik und Sprach- wissenschaft. Vor allen Dingen indefs stellt er sich wieder als eben solcher Meister in der physikalischen Akustik dar, wie vorher in der physikalischen Optik. In einer umfangreichen Untersuchung von grenzenloser Tiefe giebt er eine Theorie der Luftschwingungen in Röhren mit offenen Enden , welche mit Berücksichtigung des von seinen Vorgängern vernachlässigten Überganges der Schwingungen in den freien Raum , wie auch der Reibung in der Luft und an den Wänden, besser als deren Bestimmungen mit der Erfahrung pafst. Zu den von Sorge früli entdeckten Combinationstönen , die er als Differenztöne unterscheidet, fiigt er eine zweite Classe, die der Summations- töne, deren Schwingungszahl gleich ist der Summe der primären Töne.

Qedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoÜz. 21

Er findet, dafs man es in den akustischen Untersuchungen mit Functionen zu thun hat, die unter gewissen Voraussetzungen in die Formen der elek- trischen Potentialfunctionen übergehen imd mit diesen eine ganze Reihe von interessanten Eigenschaften gemein haben.

Was nun jene in erster Linie sich zudrangenden physiologischen Fragen betrifft, so steht obenan die nach dem Wesen der fälschlich sogenannten Klangfarbe, deren Namen er jedoch beibehalten hat. Wenn die Stärke des Klanges von der Amplitude der Schwingungen, seine Höhe und Tiefe von deren Anzahl in der Zeiteinheit herrülirt, so schien nichts näher zu liegen, als die Klangfarbe abhängig zu machen von der scheinbar letzten noch übrigen Variablen , der Gestalt der die Schwingungen darstellenden perio- dischen Curve. Helmholtz fand eine andere schon von Willis vorbereitete und von Georg Simon Ohm weiter entwickelte Auskunft, indem er die Zu- sammensetzung der gewöhnlichen Klänge aus einem Grundton und einer in der Norm harmonischen Reihe von Obertönen darthat, welche durch einfach pendelartige oder sinusoide Schwingungen der Lufttheilchen zu Stande kommen , und durch ihre verschiedene Anzahl und relative Stärke die Klangfarbe bedingen. Als Typus von Klängen verschiedener Farbe erscheinen namentlich die durch dasselbe musikalische Instrument, den menschlichen Kehlkopf, erzeugten Vocale. Sie sind durch gewisse Eigen- töne charakterisirt, welche zum Theil von der Gestaltung der Mundhöhle als des Ansatzrohres eines membranösen Zungenwerkes herrühren. Die doppelte Art, wie Helmholtz dies bewies, nämlich synthetisch durch den ihm vom Könige Maximilian von Bayern geschenkten Stimmgabelapparat, und analytisch mittels seiner Resonatoren, ist so allgemein bekannt, dafs es genügt, hier daran zu erinnern. Bei der synthetischen Darstellung gesungener Vocale mittels der elektromagnetisch erregten Stimmgabeln konnte er die Phasen der Schwingungen der Obertöne ohne Einflufs auf die Klangfarbe gegen einander verschieben, eine wichtige Thatsache, woraus die Unrichtigkeit der Erklärung der Klangfarbe aus der Gestalt der Schwingungscurve sich besonders deutlich ergiebt, und auf welcher, wie Redner gezeigt hat, die Möglichkeit des Telephonirens beruht.

Von nicht leicht vorauszusehender Bedeutung und bezeichnend für Helmholtz' stetj? allumfassende Forschung ist nun aber seine Erläuterung der Function der Schnecke und der Akusticusfasem beim Hören überhaupt und insbesondere bei dem der Klangfarben. Seine Vorstellung knüpft an

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Johannes Muller's berühmte Lehre von der specifisehen Energie der Ner- ven an, welche so durch Helmholtz endgültig aus den gesammten Nerven in die einzelnen Fasern und weiter in das Centralorgan verlegt wurde. Er denkt sich zunächst, dafs jedes Element des CoRTi'schen Organes oder, wie man jetzt annimmt, jede Falte der Membrana basilaris nur durch eine bestimmte sinusoide Schwingung in Mitschwingung versetzt wird. Die mit dem Element oder der Falte verbundene Akusticusfaser wird dadurch erregt und überträgt ihre Erregung auf eine zur Empfindung einer gewissen Ton- höhe vorgerichtete diminutive Provinz der seitdem durch Hrn. Hermann MuNK ermittelten Hörsphaere des Centralorganes. Der Vorgang in jeder Nervenfaser ist dabei qualitativ ganz und stets der nämliche, nur nach den Umständen quantitativ verschieden, entsprechend der Thatsache, dafs alle Nervenfasern mikroskopisch, cliemisch und physikalisch sich ganz gleich verhalten. Durch die Erregung jener bestimmten Provinz der Hörsphaere gelangt eben nur die bestimmte Sinusoide mit der entsprechenden In- tensität zur Wahrnehmung. Bei Erregung mehrerer Elemente des Corti- schen Organes oder mehrerer Basilarfalten werden gleichzeitig, obschon völlig von einander getrennt, die zugehörigen Akusticusfasern und weiterhin die entsprechenden Provinzen der Hörsphaere erregt, und so die betreffenden Sinusoiden, beispielsweise die Sinusoiden der charakteristischen Obertöne eines gegebenen Vocales, zur Walirnehmung gebracht. Der ganze Mecha- nismus des Hörens wird dergestalt auf das Princip des Mitschwingens zurückgeführt. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dafs zur selben 2^it wo Helmholtz diese Dinge enträthselte, Hr. Victor Hensen in Kiel bei seinen Studien über das Gehörorgan der Dekapoden das von Helm- holtz mit geistigem Auge Gesehene mit leiblichem Auge zu sehen bekam. Er sah, wie von den Hörhärchen am Schwänze von Mj/sis gewisse Töne eines Klapphornes einzelne in starke Vibration versetzten, andere Töne andere Härchen. Durch die Beachtung der Obertöne berichtigte auch Helmholtz die Grenze der Hörbarkeit tiefer Töne, indem er zeigte, wie sich durch die Obertöne der an sich unhörbaren Schwingungen die Beob- achter, unter ihnen Savart, hatten täuschen lassen.

Ein zweites fundamentales Problem, welches sich hier Helmholtz darbot, ist die Deutung der bekanntlich schon von Pythagoras gemachten Ent- deckung, dafs Schwingungen von einfachem Zahlenverhältnifs , wie Octave, Quint, Duodecime, grofee Terz, einen angenehmen Eindruck hervorbringen.

Gedächtnißrede auf Hermann von Hebnholtz. ^ 23

daher die Reihe der in solchem Vorhältnifs einander folgenden Obertöne harmonisch genannt wird, während die Töne von mehr verwickeltem Verhältnifs der Schwingungszahl, wie die Septime, dissonant sind. Man pflegte davon die Erklärung zu geben, dafs die Seele an dem einfachen Verhältnife der Schwingungen Vergnügen empfinde. Erst nach mehr als zweitausend Jahren hat Helmholtz an die Stelle dieser, um das Geringste zu sagen, höchst unbefriedigenden Erklärung eine andere gesetzt. Er hat be- obachtet, dafs die Obertöne der consonirenden Töne mit denen des Grund- tones entweder noch zusammenfallen oder mit ihnen harmonisch erklingen, dagegen die Obertöne der dissonirenden Grundtöne Schwebungen erzeu- gen, welche dem Ohr einen widrigen Eindruck machen, wie dem Auge das unerträgliche Flackern eines Lichtes. Unläugbar ist so ein wichtiger Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz aufgedeckt. Doch verdient zweierlei bemerkt zu werden, erstens dafs man den himmlischen Wohl- klang eines König' sehen Stimmgabel -Accordes noch vernimmt und im Wesentlichen ungestört geniefst, wenn auch dicht daneben gefeilt, gesägt oder gehämmert wird, zweitens dafs auch zugegeben, dafs die Schwebungen der Grund der Dissonanz seien , dadurch doch nur erklärt würde , weshalb dissonirende Töne unangenehm , nicht aber, weshalb consonirende angenehm seien, so dafs unmusikalischerseits gespöttelt werden konnte, Helmholtz habe ja wohl jetzt erklärt, weshalb nicht alle Musik unangenehm sei.

Wie dem auch sei, auf seiner erschöpfenden Renntnifs der bis zu ihm nur unvollständig beobachteten Partial- oder Obertöne führte nun Helmholtz ein System der Akustik in physikalisch - mathematischer, physiologischer und aesthetischer Hinsicht auf, von welchem hier eine einigermafsen zutreffende Darstellung zu geben auch dann kamn möglich sein würde, wenn der Gegenstand dem Redner so vertraut wäre, wie er ihm leider, wenigstens in der letzten Richtung, fremd geblieben ist. Wie in der Optik kann hier nur erinnert werden an einige der hervorragendsten Leistungen, durch die auch auf diesem Gebiete Helmholtz' Name der Ge- schichte der Wissenschaft unauslöschlich eingeprägt ist. Der Physiko- Mathematiker Helmholtz, welcher in den Beilagen zu dem in Rede stehenden Werke sich in den höchsten rechnerischen Regionen ergeht, legt zimächst, .durch seine medicinische Schulung befähigt, selber Hand an die überaus schwierige feinere Anatomie des inneren Ohres, und er- läutert mittels der von ihm beschriebenen und verstandenen Einrichtungen

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den Mechanismus der Schwingungen des Trommelfelles und der Gehör- knöchelchen. Das Gelenk zwischen Ambofs und Hammer vergleicht er den Gelenken der mit Sperrzähnen versehenen Uhrschlüssel, welche in einer Richtung frei drehbar, in der anderen, wenn sich ihre Sperrzahne auf einander stemmen, nicht die kleinste Drehung erlauben. Die Folge davon ist, dafs, wenn der Hammer mit seinem Stiel nach innen gezogen wird, er den Ambofs fest packt und mitnimmt. Wird er nach aufsen getrieben, so braucht der Ambofs nicht mitzugehen. Dies hat den sehr grofsen Vortheil, dafs der Steigbügel nicht aus dem ovalen Fenster ge- rissen werden kann, wenn die Luft im Gehörgang erheblich verdünnt wird. Eintreibung des Hammers durch Verdichtung der Luft im Gehör- gange ist ebenfalls ohne Gefahr, da sie durch die Spannung des trichter- förmig eingezogenen Trommelfelles selber kräftig gehemmt wird. Nicht minder tief und fein hat Helmholtz die Bewegungsart des Trommelfelles ergründet, wovon sich aber ohne Abbildungen keine Vorstellung geben läfst. Die Musik betreffend fiihrt Helmholtz in die Lehre von der Melodie den Begriff der Klangverwandtschaft ein, welche darin besteht, dafs zwei Klänge gleiche Partialtöne haben. Doch vermifst man ungern die Er- örterung der Rolle, welche der Rhythmus oder Takt in der Melodie spielt. Nach einem von Lissajous gemachten Anfang construirt er ein Vibrations- mikroskop, mittels dessen er die merkwürdige Schwingungsform der Violinsaiten festzustellen vermag. Er lehrt einfache Töne herstellen und ein Harmonium in natürlicher reiner Stimmung bauen. Er entwickelt die schon von Dove vervollkommnete Sirene Cagniard-Latour's zu seiner mehr- stimmigen Sirene. Dabei beherrscht er vollständig die Geschicht-e der Musik in ihrer Erscheinung zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern. Die Lehre von den Tonleitern und den Tonarten, die Gesetze der Stimm- führung, allgemeine Betrachtungen über das Wesen des musikalischen Ge- nusses beschliefsen das Werk. Von seiner Thätigkeit während dieser seiner Arbeitsperiode giebt es ein Bild, dafs er gelegentlich des Telephones mir schrieb, »die Sache sei ihm so selbstverständlich erschienen, dafs er es nicht »ftir nöthig gehalten habe, eine Theorie davon zu geben; aber freilich, er »sei Jahre lang mit FouRiER'schen Reihen im Kopfe zu Bett gegangen und »wieder aufgestanden, und dürfe in diesem Falle keinen Schlufs von sich »auf Andere machen«. Von welchen Abenden jedoch wohl die auszu- nehmen sind, an denen er auf dem von den HH. Steinway in New York

Gedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoÜz. 25

in begeisterter Anerkennung seiner Verdienste um die Musik ihm verehrten Flügel durch BAcn'sche Fugen seinen rastlos arbeitenden Verstand zur Ruhe gewiegt hatte, oder wo er den köstlichen Versuch anstellte, eine geübte Sängerin in den Flügel bei gehobenem Dämpfer auf irgend einen Saiten- ton die Reihe der Vocale kräftig singen zu lassen , die dann der Flügel wieder aus sich heraus singt.

Zu Helmholtz' pliysiologisch- akustischen Studien gehören noch seine Versuche über das schon von dem alten Grimaldi, später von Wollaston imd Paul Erhan beobachtete, die Muskelzusammenziehung begleitende Geräusch. Trotz seiner Bedeutung fiir die Lehre von den Herztönen wurde es erst von Helmholtz genauer untersucht, welcher zunächst zeigte, dafs der willkürlich tetanisirte Muskel i8— 20 Stöfse in der Secunde giebt, so dafs nur seine Obertöne hörbar sind. Dann aber den elektrisch teta- nisirten Muskel behorchend vernahm er den Ton des in einem durch zwei geschlossene Thüren getrennten Zimmer befindlichen, 240 Schwingungen vollziehenden Inductoriums. So wui'de Eduard Weber's auch schon durch den secundären Tetanus untergrabene Auffassung des Tetanus als eines zweiten Gleichgewichtszustandes der Muskelsubstanz vollends unmöglich gemacht, und die innere Arbeit des tetanisirten Muskels auf's Neue er- wiesen.

Es wird hier der beste Ort sein, um von einigen kleineren physio- logischen Arbeiten Helmholtz' Nachricht zu geben. So sei denn angeführt, wie er in einem Anfall von Heufieber, woran er zu leiden pflegte, patho- gene Algen auf seiner eigenen Nasenschleimhaut nachwies, und mit Chinin erfolgreich bekämpfte, zu einer Zeit, wo von Antisepsis noch kaum die Rede war; wie er die Temperaturerliöhung seines eigenen Körpers durch das Besteigen des Königsstuhles von Heidelberg aus durch die höhere Temperatur des auf dem Gipfel gelassenen Harnes mafs; wie er sich mit Lord Kelvin in dem Vorschlage begegnete, die Schwierigkeit der Urzeu- gung auf Erden durch das Herüberfliegen von Keimen in Meteoriten aus schon belebten Welten zu beseitigen ; endlich wie er in die seit Hamberger und Haller schwebende Controverse über die Fimction der Zwischenrippen- muskeln eingriflT, und die Wirkungen der Muskeln der oberen Extremität einer genauen Musterung unterwarf, unter Anderem auf die bisher nicht beachtete Rotation der ersten Phalangen um ihre eigene Axe aufmerksam machte, welche bei gebogener Stellung durch die M. interossei zu Stande kommt. Gedächtnißreden. 1896, IL 4

26 E. duBois-Reymond:

Wenn wir nun zu elektrischen Untersuchungen unseres Forschers übergehen , so ist zunächst wieder zu bemerken , dafs auch in diesem Felde physiologische Fragen anfanglich seinen Gang bestimmten. Er war Zeuge und Theilnehmer meiner Versuche über thierische Elektricität gewesen, und hatte sich sogar bemüht, aus Silber in Silbersalzlösung unpolarisir- bare Elektroden herzustellen, was nicht gelang. Die einzigen seitdem entdeckten unpolarisirbaren Elektroden aus verquicktem Zink in Zinklösung sind theoretisch unverstandlich, konnten folglich auch nicht theoretisch vorhergesehen, sondern nur durch glücklichen Zufall gefunden werden. Helhholtz hat die Ergebnisse meiner Versuche in einem eigenen gemein- fafslich gehaltenen Aufsatze zusammengestellt. Ich stiefs bei diesen Unter- suchungen fortwährend und überall auf die Aufgabe, in unregelmäfsig ge- stalteten Leitern, in denen elektromotorische Kräfte thätig gedacht werden, die daraus entspringende Stromvertheilung zu erschlielsen. Die Gesetze der Stromvertheilung in nicht prismatischen Leitern waren zwar schon durch KiECHHOFF für zwei, durch Willem Smaasen für drei Dimensionen ermittelt worden, doch reichte dies nicht hin, um sich in so verwickelten Verhältnissen, wie die der thierischen Erreger, zurechtzufinden. Es handelte sich darum, aus der anderweitig gerechtfertigten Annahme den Muskel erfüllender peripolar -elektromotorischer Molekeln die an seiner Oberfläche hervortretenden Potentialunterschiede abzuleiten. Dies gelang wohl für die Ströme zwischen Längs- und Querschnitt, nicht aber für die sogenannten schwachen Ströme zwischen Punkten des Längsschnittes oder des Quer- schnittes allein. Diesem Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung stand ich um so rathloser gegenüber, als die scheinbar gesetzwidrigen Ströme auch an meinen elektromotorischen Muskelmodelleri aus Kupfer, Zink und verdünnter Schwefelsäure sich kundgaben.

Hier nun kam mir Helmholtz' überlegene Zergliederung zu Hülfe. Durch Weiterentwickelung der Lehre von der Stromvertheilung in nicht prismatischen Leitern gelangte er zu mehreren Sätzen, von denen an dieser Stelle nur das Princip der elektromotorischen Oberfläche und das Theorem von der gleichen gegenseitigen Wirkung zweier elektromotorischer Flächen- elemente erwähnt werden können, mittels welcher die früher unüberwind- lichen Aufgaben fast zu elementaren wurden. An ihrer Hand zeigte er, dais bei meiner Annahme die ganze Muskelmasse durchsetzender überall gleich starker peripolar- elektromotorischer Molekeln in der That keine schwachen

Gedächtnifsrede auf Hermanfi von Helmlioltz, 27

Ströme am Längsschnitt und am Querschnitt zu Stande kommen dürften, und dafs auch nicht, wie ich gefunden hatte, der Potentialunterschied zwischen Längs- und Querschnitt mit den Dimensionen des Muskels wachsen würde. Er deutete aber zugleicli an, dafe diese Abweichungen zwischen den Thatsachen und meiner Vermuthung über den elektromotorischen Bau des Muskels einfach daher rühren könnten, dafe »die oberflächlichen TheUe »der thierischen Gebilde, welche der Eintrocknung, der Berührung der »Luft und fremdartiger Flüssigkeiten ausgesetzt sind, ihre elektromotorischen »Kräfte nicht ungeschwächt erhalten«, und dafs diese Kräfte vielleicht, sicher aber die der Muskelmodelle, durch Polarisation inconstant seien, wodurch gleichfalls jene Abweichungen erklärt würden. Durch meine Ver- suche über die innere Polarisirbarkeit der Muskeln und ihre von Hm. LuDiMAR Hermann festgestellte Oberflächenzehning ist somit die früher hier waltende Schwierigkeit gehoben.

Es ist mir, beiläufig gesagt, unverständlich, wie der verstorbene DoNDERS in einer Helmholtz gewidmeten Festrede ihm als ein ganz besonders bewundernswerthes Verdienst habe anrechnen können, dafe er schon in der Art, wie später ein bekannter Physiologe, die Praeexistenz der elektrischen Kräfte des Muskels geläugnet habe. Helmholtz giebt allerdings an, dafs am unverletzten Muskel zwisclien Längsschnitt und natürlichem Querschnitt kein Strom nachweisbar sei, übersieht aber dabei, wie er mir mündlich bedauernd zugestand , dafe dies auf einem Mifeverständnifs beruhe , und nur ein seltener Ausnahmefall sei; dafe man vielmehr den unversehrten natür- lichen Querschnitt bald schwach negativ, bald unwirksam, bald sogar schwächer positiv gegen den Längsschnitt finde. So wenig dachte aber Helmholtz daran , die Praeexistenz der elektrischen Muskelkräfte zu läugnen, dafe er im Gegentheil in dem hier in Rede stehenden Aufsatze meine Hypo- these peripolar- elektromotorischer Molekeln als Ursache des Muskelstromes vollständig gelten läfet, emphatisch billigt, und sogar unumwunden es ausspricht: »dafe . . . die elektrischen Kräfte der stromumflossenen Molekeln »in einer Theorie ihrer Bewegungen mit in Betracht gezogen werden müssen, »versteht sich von selbst«. Ja noch mehr, Helmholtz hat offenbar aus- drücklich darüber nachgedacht, wie dies wohl am Besten geschehen könne, imd hat auch wirklich eine seiner ganz würdige, ungemein sinnreiche und ansprechende Vermuthung über die Theilnahme der elektromotorischen Kräfte der Molekeln an der Zusammenziehung, mit Berücksichtigung der

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negativen Schwankung, zu Stande gebracht, welche er mir gleichsam zum Geschenk machte und zur Publication überliefs , da ich sie denn bei nächster Gelegenheit veröffentlichen werde.

Helmholtz war es, der, um meine thierisch- elektrischen Vei-suehe seinen Königsberger Zuhörern vorzufuhren, zuerst das so schöne und so nützlich gewordene Verfahren anwandte , einen mit dem astatischen Systeme verbundenen Spiegel einen Lichtstrahl auf eine an der Wand befindliche weithin sichtbare Tlieilung zurückwerfen zu lassen. Ihm gelang es auch, an dem bekannten Schlitteninductorium eine wesentliche Verbesserung anzu- bringen , nämlich die physiologischen Wirkungen des Schliefsungs- und des Offnungs-Inductionsstromes nach Bedürfnifs einander dadurch gleich zu machen, dais der Wagner' sehe Hammer nicht durch Schliefsen und Öffnen des primären Stromes, sondern durch Offnen und Schliefsen einer Neben- leitung zu diesem Strom in Gang erhalten wird, so dafs der durch das Ver- schwinden des primären Stromes inducirte Extracurrent das Sinken des Stromes ebenso verzögert, wie der durch das Entstehen inducirte sein Ansteigen.

Eine elektrische Arbeit unseres Forschers sodann , welche ihn immer noch in naher Beziehung zur Physiologie zeigt, ist seine Theorie der Dauer und des Verlaufes der so vielfach physiologisch und therapeutisch angewandten Inductionsströme. Er berichtigt dabei einen Fehler, in welchen Marianini und ich selber in Folge mangelhafter Isolation an unseren In- ductorien verfallen waren , indem wir fanden , dafs in der secundären Rolle noch ein Strom entsteht, auch wenn sie erst eine gewisse Zeit nach dem Öffnen der primären Rolle geschlossen wird. In Hinblick auf die Um- gestaltung des WAGNER'schen Hammers habe ich übrigens die Helmholtz- sche Theorie auf den Fall ausgedehnt, dafs die Induction durch Öffnen und Schliefsen einer Nebenleitung zu Stande kommt. Hier knüpfen sich Untersuchungen an über die physiologische Wirkung kurz dauernder elek- trischer Schläge im Inneren von ausgedehnten leitenden Massen, Ober elek- trische Oscillationen und über die Gesetze der inconstanten elektrischen Ströme in körperlich ausgedehnten Leitern. Helmholtz wurde dazu ge- führt theils durch die Ergebnisse an Frosclipraeparaten , theils durch die Erfahrungen der Elektrotherapeuten , und wohl auch durch gewisse Ver- suche von Brücke am Menschen. Hierher gehört nebenher ein Unter- nehmen, welches er nicht zu Ende brachte, weil ihm Kirchhoff darin zuvorkam, nämlich die numerische Bestimmung der in den Formeln von

Gedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoÜz. 29

F. E. Neumann und von W. Weber vorkommenden Constanten e, von welcher die Intensität inducirter elektrischer Ströme abhängt. Ich erwähne dies, weil bei dieser Gelegenheit sich uns wieder die erstaunliche Vielseitigkeit und Beweglichkeit seines wissenschaftlichen Interesses offenbarte. Von den zu jener Bestimmung nöthigen Rechnungen und Versuchen erholte er sich von Zeit zu Zeit, indem er mit dem Fernrohr aus dem Fenster seines in einem Thürmchen an der Dorotheen- und Sommerstrafsen-Ecke gelegenen Laboratoriums die Bewegungen der durch das Brandenburger Thor aus- und eingehenden Personen beobachtete und sie mit den Darstellungen in dem classischen WEBER'schen Werke über die menschlichen Gehwerkzeuge verglich. Er entdeckte in der Art, wie die WEBER'schen Figuren den Fufs aufsetzen, einen Fehler von einiger praktischen Bedeutung, sofern daraufhin Tausende von Recruten zu unnatürlicher Haltung ihrer Füfse beim Parade- marsch gezwungen werden, und seine Bemerkung wurde lange nachher durch die Augenblicksphotographie bestätigt.

Es folgen nun elektrische Arbeiten, welche sich mehr auf die Ent- stehung von Strömen und auf deren Wirkungen im Kreise selber beziehen : über galvanische Polarisation in gasfreien Flüssigkeiten, über die Elektro- lyse des Wassers , über galvanische Ströme verursacht durch Concentrations- unterschiede , mit Folgerungen aus der mechanischen Wärmetheorie; über elektrische Grenzschichten, über Bewegungsströme am polarisirten Platin, über galvanische Polarisation des Quecksilbers und darauf bezügliche neue Versuche des Prof Arthur König, wobei das LippMANN'sche Capillar- elektrometer zur Sprache kommt. Hier tritt naturgemäfs die mathema- tische Behandlung etwas zurück gegen die inductorisch- experimentelle, da wir denn Helmholtz auch in solcher Forschung als Meister bewundern lernen. Der Grundgedanke, der in diesen Arbeiten immer wieder durch- blickt, ist die Erhaltung der Energie auch unter oft sehr dunklen und verwickelten Bedingungen. Eine neue elektrische Versuchsweise schuf Helmholtz, indem er aus der Wärmelehre in die Elektricitätslehre den Begriff der Convoction übertrug, worunter er hier dem dortigen Gebrauch entsprechend die Fortfiihrung der Elektrlcität durch Bewegung ihrer pon- derablen Träger versteht. Sie wurde in seinem Laboratorium durch Hrn. Henry A. Rowland in's Werk gesetzt; ihre Bedeutung besteht unter Anderem darin, dafs die so gewonnenen Convectionsströme gleichsam ein Surrogat liefern für die Elektricitätsbewegung in ungeschlossenen Leitern,

30 E- öü Bois-Reymond:

und dadurch zur Entecheidung wichtiger theoretischer Fragen die Möglich- keit eröffnen, hinsichtlich deren, wie Helmholtz sagt, noch die üppigste Flora von Hjrpothesen wuchert. Eine andere Gattung von Convections- strömen sind die elektrolytischen, bei welchen in der elektrolytischen Flüssigkeit gelöste Gase eine Rolle spielen, worauf hier nicht näher ein- gegangen werden kann.

Ein weiteres neues Moment in Helmholtz' Polarisationsarbeiten wurde ihm durch die von Thomas Graham entdeckte Occlusion der Gase in Me- tallen, besonders des Wasserstoffes in Platin und Palladium, geboten. Am schönsten und einfachsten springt dieser wunderbare Erfolg in die Augen in dem von Helmholtz dem Dr. Elihu Root aus Boston an die Hand ge- gebenen Versuche, ob der durch Elektrolyse gegen die eine Seite einer dünnen Platinplatte gefahrte Wasserstoff nach einiger Zeit sich auch an der entgegengesetzten Seite dadurch bemerkbar machen würde, dafs er auch dort galvanische Polarisation hervorbringe, d. h. das Platin positiver erscheinen lasse: wie sich das in der That herausstellte.

Hier schliefst sich eine längere Reihe von mathematisch -physikalischen Abhandlungen über die Theorie der Elektrodynamik an. Es handelt sich darin vorwiegend um die Vergleiclmng der verschiedenen fiir die elektro- dynamischen Kräfte aufgestellten Gesetze, des AMPERE'schen und des Neu- MANN'schen, sowie des auf einer bisher in der Physik unbekannten Vor- stellungsweise beruhenden WEBER'schen Gesetzes, welches nämlich die Fernkräfle der Elektricität aufser von deren Entfernung und Menge von ihrer Geschwindigkeit und ihrer relativen Beschleunigung abhängen läfst. In wiederholten Auseinandersetzungen zeigt Helmholtz, dafs dies letztere Gesetz unhaltbar ist, indem es, im Widerspruch mit der Erhaltung der Energie, das Gleichgewicht der ruhenden Elektricität zu einem labilen macht, und weiterhin zu unendlicher Geschwindigkeit und zu noch anderen Un- möglichkeiten fiihrt. Er spricht sich, unter gewissen Vorbehalten, für das NEüMANN'sche Potentialgesetz aus, und übt gelegentlich an einigen Gegnern eine sonst nicht in seinen Gewohnheiten liegende Kritik. Die Theorie der ungeschlossenen Ströme und der sogenannten Gleitstellen wird erörtert, und der Begriff der ponderomotorischen Kräfte im Gegensatz zu solchen, welche nur zwischen elektrischen Theilchen thätig sind, wird eingefahrt. In diese Gruppe von Arbeiten gehört auch noch eine Studie über absolute Maafs- systeme för elektrische und magnetische Gröfsen und deren Dimensionen.

Gedächtnifsrede auf Hemicmn von Hehnholtz. 31

So weit etwa reicht bei ihm und überwiegt offenbar noch die alte Lehre von der Elektricität, wie sie durch Coulomb im Anschlufs an die NEWTON'sche Gravitation, und unter dem Anschein entstanden war, daJs die elektrischen Fernkräfte sich gleich der Schwere durch den leeren Raum fortpflanzen, und dafs ihre Leistung mit dem Product der auf einander wirkenden Elektricitätsmengen wächst, mit der Entfernung in dem Mals ab- nimmt, wie deren Quadrat zunimmt. Mittlerweile hatte jenes außerordent- liche experimentelle Genie, welches angeblich zwar kein Binom zu quadriren verstand, aber des tiefsten Einblicks in die Naturgeheimnisse theilhaftig war, Faraday hatte sich, auf Newton selber sich berufend, über die seit einem Jahrhundert herrschende Gravitationslehre abfällig geäulsert, und an Stelle der nach deren Vorbild aufgestellten Lehre von der Elektricität und dem Magnetismus polarisirte Kraftlinien gesetzt und nachgewiesen. Ein Mathe- matiker ersten Ranges, in diesem Felde Helmholtz woIü ebenbürtig zu nennen, James Clerk Maxwell, hatte diese Theorie, die sich kurz als die der dielektrischen Polarisation beschreiben läßst, in eine mathematische Form gegossen , und zu der Theorie des Lichtes in der Art in Beziehung gebracht, dafs beide, Licht und Elektricität, fortan auf Aetherschwingungen als auf den nämlichen letzten Grund zurückgeführt, und als wesentlich einerlei erkannt waren. Noch fehlte fiir diese Synthese der handgreif- liche, experimentelle Beweis. Wenn er nicht von Helmholtz selber ge- liefert wurde, so geschah es doch durch denjenigen seiner Schüler, der ilim in diesem Gebiete nach Richtung und vielleicht nach Begabung am nächsten stand, durch den leider kurz nach dem hier von ihm erfochtenen Siege verstorbenen Heinrich Hertz. Dieser zeigte, dafs von elektrischen Funken ausgehende Strahlungen ganz wie die Aetherschwingungen des Lichtes interferiren , reflectirt, gebrochen und polarisirt werden; sie pflanzen sich mit einer der des Lichtes vergleichbaren, wenn nicht gleichen Geschwin- digkeit fort; genug, sie sind transversale Aetherschwingungen gleich denen des Lichtes, nur ungleich länger. Helmholtz hat sich denn auch in seinen späteren Arbeiten der Faraday -MAXwELL'schen Theorie rückhaltlos ange- schlossen , ja er hat die elektrische Theorie des Lichtes in einem wichtigen Punkte vervollständigt, indem er die elektromagnetische Theorie der Farben- zerstreuung entwickelte, wobei er die zur Erklärung der anomalen Dis- persion schon früher von ihm angenommene SELLMEVER'sche Hypothese von pouderablen, des Mitschwingens fähigen Molekeln im Aether zu Grunde legt.

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Er hat auch in einem vor der Cfiemical Society gehaltenen Vortrage Faeaday's neue Auffassung der Elektricität dargestellt, und zugleich die elektrische Theorie der chemischen Verbindungen und die Theorie der Elektrolyse in ihrer neuen Gestalt abgeleitet, wobei er als Grundvoraussetzungen das Gesetz von der Constanz der Energie und die strenge Gültigkeit von Faraday's elektrolytischem Gesetze festhielt. Letzterem entsprechend kann Elektricität aus der Flüssigkeit an die Elektroden nur unter aequivalenter chemischer Zersetzung übergehen, was aber nur dann möglich ist, wenn die Zerlegung der chemischen Verbindungen durch die vorhandenen elek- trischen Kräfte geleistet werden kann. Dafs diese hierzu ausreichen, er- giebt sich aus der von Helmholtz berechneten überraschenden Gröfse der bei diesen Processen ausgetauschten elektrischen Aequivalente.

Helmholtz hat später, als das sogenannte Princip der kleinsten Action seine Aufmerksamkeit fesselte, die Theorie der Elektrodynamik auch aus diesem abgeleitet. Er hat auch in seinen 'Folgerungen aus Maxwell's Theorie über die Bewegungen des reinen Aethers' unter der Voraus- setzung, dafs der reine Aether eine reibungslose, incompressible Flüssig- keit ohne Beharrungsvermögen sei, gefunden, dafs die von Maxwell aufgestellten, von Hertz vervollständigten Gesetze in der That ge- eignet seien, Aufschlufs über die im Aether auftretenden Bewegungen zu geben.

Wenn wir endlich noch hinzufiigen, dafs Helmholtz eine den Schwan- kungen des Erdmagnetismus entzogene elektrodynamische Wage construirte, zu der hin und von der fort in sinnreicher Weise Streifen von Rauschgold die Ströme leiteten , so dürfte das Vorige bei aller UnvoUkommenheit wohl für ein ziemlich vollständiges Bild von Helmholtz' elektrischen Arbeiten gelten. Dabei konnte dieser aber nicht stehen bleiben. Es liegt in der Natur der Dinge, dafs, wie er die Rolle der Elektricität in den chemischen Vorgängen aufgeklärt hatte, er ebenso, und noch viel unmittelbarer, die der Wärme in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen mufste. Die von Claustos vervollständigte mechanische Wärmetheorie fiihrt er in die Theorie der chemischen Vorgänge ein. Er lehrt dabei die in's Spiel kommende gesammte innere Energie eines körperlichen Systemes in zwei Theile trennen, in die freie und die gebundene Energie, von denen die erste freier Verwandlung in reversible Arbeitsformen fähig ist, die zweite als zum Theil irreversible Wärme zu Tage treten mufs. Seine Bestimmungen

Gedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoUz. 33

entsprechen im Allgemeinen den von Clausius aufgestellten Begriffen der Energie und der ICntropie, und Clausius' Ergal heifst bei Helmholtz die Quantität der Spannkräfte. Doch es ist unmöglich , bei dieser Gelegenheit tiefer in diese äufserst schwierigen und verwickelten Dinge einzugehen. Es genüge, daran zu erinnern, dafs diese unscheinbaren Ermittelungen es sind, welche schliefslich zu der schon oben angedeuteten tragischen Einsicht fahren, dafs die Welt, wenn auch erst nach unendlicher Zeit, als ein Eis- klumpen von einer nur unendlich wenig über dem absoluten Nullpunkt erhabenen Temperatur enden werde.

Von hier ab fehlt es noch mehr als bisher an einem die Helmholtz- schen Arbeiten stetig verknüpfenden Faden, und wir gehen ohne wei- teres zu einigen seiner Leistungen im Gebiete der allgemeinen Physik über. An ihrer Spitze steht die berühmte Abhandlung über Integrale der den Wirbelbewegungen entsprechenden hydrodynamischen Gleichungen, durch welche er unstreitig einen der ersten Plätze unter den Physico- Mathematikern aller Zeiten einnahm, und eine Fülle wunderbarer That- sachen an's Licht zog, die dadurch noch bedeutsamer erscheinen, dafe zwischen den Wirbelbewegungen des Wassers und den elektromagneti- schen Wirkungen elektrischer Ströme eine auffallende Analogie stattfindet. Wirbellinien nennt er Linien, welche durch die Flüssigkeitsmasse so ge- zogen sind, dafs ihre Richtung überall mit der Richtung der augenblick- lichen Rotationsaxe der in ihnen liegenden Wassertheilchen zusammentrifft. Wirbelfäden nennt er dann Theile der Wassermasse, welche man dadurch aus ihr herausschneidet, dafs man durch alle Punkte des Umfanges eines unendlich kleinen Flächenelementes die entsprechenden Wirbellinien con- struirt. Die Wirbelfäden müssen innerhalb der Flüssigkeit in sich zurück- laufen, endigen können sie nur an deren Grenzen. Geschieht das erstere, so entstehen in reibungsloser Flüssigkeit Wirbelringe, in welchen die lebendige Kraft der Zeit nach constant ist. Haben zwei Wirbelringe gleiche Axe und Rotationsrichtung, so schreiten sie beide in gleichem Sinne fort; es wird der vorangehende sich erweitern, dann langsamer fortschreiten, der nachfolgende sich verengern, dann schneller fortschrei- ten, schliefslich bei nicht zu verschiedener Fortpflanzungsgeschwindigkeit den anderen einholen, ja durch ihn hindurchgehen. Dann wird sich das- selbe Spiel mit dem anderen wiederholen, so dafs die Ringe abwechselnd Gedächtnifsreden. 1896, IL 5

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der eine durch den anderen hindurchgehen. Haben die Wirbehdnge gleiche Radien, gleiche und entgegengesetzte Rotationsgeschwindigkeit, so werden sie sich einander nähern und sich gegenseitig erweitern, so dafs schliefs- lich ihre Bewegung gegen einander immer schwächer wird, die Erweite- rung dagegen mit wachsender Geschwindigkeit geschieht.

Wegen einiger Punkte in dieser Darlegung wurde Helmholtz von dem Pariser Akademiker Hrn. Bertrand mehrfach angegriffen , es ward ihm aber leicht , nachzuweisen , dafs dessen Kritik nur auf Mifsverstandnissen beruhe. Besser erging es seinen Ergebnissen in England. Lord Kelvin gründete nämlich auf die von Helmholtz eingefahrte Vorstellung der Wirbelringe eine eigene Theorie der Constitution der Materie. Er stellte sich vor, dafs die Atome kleinste, von Ewigkeit her und in Ewigkeit fort sich drehende Wirbel- ringe seien, und dafs die chemische Verschiedenheit der Atome darin be- stehe, dafs wir es in ihnen mit verschiedentlich geknoteten Wirbelringen zu thun haben. Wir werden später sehen, wie merkwürdig Helmholtz selber Lord Kelvin's AufiTassung auszugestalten versuchte.

In einer besonderen Abhandlung über discontinuirliche Flüssigkeits- bewegungen geht Helmholtz aus von der oben erwähnten Übereinstim- mung zwischen den hydrodynamischen Gleichungen und den fiir stationäre Ströme von Elektricität oder Wärme bestehenden, und sucht die trotz dieser scheinbaren Analogie doch vorhandenen, in vielen Fällen leicht erkennbaren und sehr eingreifenden Unterschiede auf, welche sich nament- lich auffallend zeigen , wenn die Strömung durch eine Öffnung mit scharfen Rändern in einen weiteren Raum eintritt.

Eine andere für die hydrodynamischen Theorien grundlegende Forde- rung war die genauere Bestimmung der Reibung tropfbarer Flüssigkeiten. Helmholtz unternahm diese in zwei Arbeiten, deren eine sich die Ver- vollkommnung der Tlieorie der stationären Ströme in reibenden Flüssig- keiten vorsetzt, die andere, bei welcher Dr. G. von Piotrowski ihm experi- mentell zur Seite stand, die Frage nach den Vorgängen an der Grenze der Flüssigkeit und der sie umschliefsenden Wandungen näher in's Auge fafst. Diese Untersuchung geschah , indem eine mit verschiedenen Flüssig- keiten gefällte, innen polirte und vergoldete Kugel mittels eines besonderen Apparates in reine Schwingungen um ihre senkrechte Aufhängungsaxe versetzt, und die durch die Flüssigkeit bewirkte Verzögerung der mit Spiegel und Fernrohr beobachteten Schwingungen gemessen wurde. Leider

Gedächinifsrede auf Hermann von HelmhoÜz. 35

zeigte der Erfolg, dafs die gewöhnliche, durch Poiseuille's Versuche an sehr langen und dünnen Röhren scheinbar bestätigte Annahme, wonach die oberflächlichste Schicht der Flüssigkeit den Wänden des Gefafses fest anhaftet, für die wässerigen Flüssigkeiten in polirten und vergoldeten MetÄllgefafsen nicht zutrifft, während dies fiir Alkohol und Aether aller- dings nahehin der Fall ist.

Zu den Überraschungen, welche man beim Durchmustern der Helmholtz- schen Arbeiten erfährt, gehört es wohl, dafs man den Mathematiker und Experimentator, den wir bisher in ihm kennen gelernt haben, plötzlich der geographischen Physik und der Meteorologie mit gleicher Liebe und Meisterschaft sich zuwenden sieht. Seine erste Leistung in diesem Sinne betrifft das Eis und die Gletscher, und sie verdankt ihre Entstehung sicht- lich zweierlei Umstanden , erstens den von Helmholtz unternommenen Gletscherwanderungen, zweitens den gerade damals aufgestellten Gletscher- theorien, und den daran sich knüpfenden Erörterungen über die Eisbildung. Farad AY hatte entdeckt, dafs zwei an einander geprefste Eisstücke von Null Grad zusammenfrieren und sich fest vereinigen, und James Thomson hatte dies durch die Erniedrigung des Gefrierpunktes erklärt, welche nach ihm den Druck begleitet. Es entstand aber die Schwierigkeit, dafs Faraday die Jtegelation auch bei sehr kleinem Drucke, freilich erst im Laufe einiger Stunden, eintreten sah. Diese Thatsachen waren von hohem Interesse, in- dem dadurch die von Rendu, Forbes, Tyndall erkannte Ähnlichkeit der Bewegung der Gletscher mit einem Strome zähflüssiger Substanz ihre Er- klärung zu finden schien. Durch eine Reihe von zweckmäfsig ersonnenen Versuchen, in welchen gefrorenes Wasser in allen erdenklichen Zuständen verschiedenem Druck ausgesetzt wurde, gelang es Helmholtz, das Entstehen des charakteristischen Gletschereises aus dem Firn mit überzeugender Treue nachzuahmen.

Die Abhandlung 'über ein Theorem, geometrisch ähnliche Bewegungen flüssiger Körper betreffend, nebst Anwendung auf das Problem , Luftballons zu lenken', knüpft noch an die Hydrodynamik an,, indem sie lehrt, an einer Flüssigkeit und an Apparaten von gewisser Gröfse und Geschwindigkeit gewonnene Beobachtungsresultate zu übertragen auf eine geometrisch ähn- liche Masse einer anderen Flüssigkeit und Apparate von anderer Gröfse und anderer Bewegungsgeschwindigkeit, beispielsweise aus den Bewegungen eines Schiffes auf die eines Luftballons zu schliefsen. Vögel anlangend.

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erscheint es wahrscheinlich, dafs im Modell der grofsen Geier die Natur schon die Grenze erreicht habe, welclie mit Muskeln, als arbeitleistenden Organen, und bei möglichst günstigen Bedingungen der Ernährung, fiir die Gröfse eines Geschöpfes erreicht werden kann, das sich durch Flügel selber heben und längere Zeit in der Höhe erhalten soll. Unter diesen Um- ständen ist es nach Helmholtz kaum als wahrscheinlich zu betrachten, dafs der Mensch auch durch den allergeschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, in den Stand ge- setzt werden würde, sein eigenes Gewicht in die Höhe zu heben und dort zu erhalten. Neuere Versuche von Hrn. S. P. L angle y und Hm. 0. Lilien- thal über den Luftwiderstand wenig geneigter ebener Flächen bei starker horizontaler Bewegung lassen jedoch diesen Schlufs vorläufig noch als nicht ganz unbedenklich erscheinen.

Die Reihe von Helmholtz' meteorologischen Arbeiten begiimt mit einem gemeinfafslichen Vortrage über 'Wirbelsturm und Gewitter , der aber zur Erläuterung des Vorgangs der Bildung von Wirbelstürmen einen merk- würdigen schematischen Versuch enthält, in welchem durch eine kreisende Wassermasse eine senkrechte mit Luft gefüllte Röhre sich bildet, genau von der Form, in der man die Wasserhosen darzustellen pflegt. Dem- nächst hat es den Anschein, als hätte eine zufällig vom Gipfel des Rigi. aus Helmholtz sich darbietende Wolken- und Gewitterbildung seine Auf- merksamkeit diesen Naturerscheinungen zugelenkt. Zwei gewaltige Ab- handlungen *über atmosphaerische Bewegungen' und eine dritte über 'die Energie der Wogen und des Windes' enthalten in meist streng mathema- tischer Form die Ergebnisse, zu denen Helmholtz gelangte, und welche hier nicht näher dargelegt werden können. Der Grundgedanke ist indessen der, dafs eine ebene Wasserfläche, über die ein gleichmäfsiger Wind hin- streicht, sich in einem Zustande labilen Gleichgewichtes befindet, und da£§ die Entstehung von Wasserwogen wesentlich diesem Umstände zuzuschreiben ist. Der gleiche Vorgang mufs sich auch an der Grenze verschieden schwerer und an einander entlang gleitender Luftschichten wiederholen, hier aber viel gröfsere Dimensionen annehmen. Da wir bei den am Erdboden vor- kommenden mäfsigen Windstärken oft genug Wellen von einem Meter Länge haben, so würden dieselben Wellen in die Luftschichten von lo® Tempe- raturdifferenz übersetzt, 2 bis 5^™ Länge erhalten. Gröfseren Meereswellen von 5 bis 10™ würden Luftwellen von 15 bis 30^" entsprechen, die schon

Gedächinißrede auf Hermann von Hebnhoiiz. 37

das ganze Firmament des Beschauers bedecken könnten. An den Grenz- flächen verschieden schwerer Luftschichten müssen dergleichen Wellen- systeme aufserordentlich häufig vorkommen, wenn sie uns auch in den meisten Fällen unsichtbar bleiben. Der Vorgang wird gelegentlich nur sichtbar durch die gestreiften CiiTuswolken, welche sich zeigen, wenn an der Grenze der beiden Schichten Nebel niedergeschlagen werden. Unter solchen Bedingungen, wo wir Wasserwellen branden und Schaumköpfe bilden sehen, werden zwischen den Luftschichten sich ausgiebige Mischun- gen herstellen mässen. Um uns Helmholtz' wissenschaftliche Gestalt voll- ständig zu vergegenwärtigen , darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, dafs er die Meteorologie keinesweges so zu sagen am Schreibtische trieb, son- dern beispielsweise es nicht verschmähte , auf dem Cap d' Antibes mit einem kleinen tragbaren Anemometer selber Beobachtungen über Windstärke und Wellengang anzustellen, und seine Formeln mit der Wirklichkeit zu ver- gleichen.

Diese Arbeiten von Helmholtz sind die letzten, welche im engeren Sinne als naturwissenschaftlich bezeichnet werden können, insofern darin von Darstellung, Beobachtung und Deutung von Naturerscheinungen die Rede ist. Es folgen nun zunächst fünf Studien zur Statik monocyklischer Systeme, welche lediglich analytisch -mechanischen Inhaltes sind. Mono- cyklische Systeme sind solche, in deren Innerem eine oder mehrere stationäre , in sich zurücklaufende Bewegungen vorkommen , die aber, wenn deren mehrere sind, nur von Einem Parameter abhängen. Das Haupt- interesse solcher Untersuchungen liegt darin, dafs auch die Wärmebewegung, wenigstens in ihren nach aufSsen beobachtbaren Wirkungen, die wesent- lichen Eigen thümlichkeiten eines monocyklischen Systemes zeigt, und dafs namentlich die beschränkte Verwandlungsfthigkeit der in die Form von Wärme übergegangenen Arbeitsaequivalente unter gewissen Bedingungen auch fiir die Arbeit der monocyklischen Systeme gilt.

Denselben analytisch -mechanischen Charakter haben die Aufsätze 'über die physikalische Bedeutung' und 'zur Geschichte des Princips der kleinsten Action*. Dies von Maüpertuis aufgestellte Princip besagt, dafs das von Leibniz Action genannte Product aus der Zeit in die lebendige Kraft stets ein Minimum sei, so daCs man aus der Bedingung für das Minimum Bahn und Geschwindigkeit der bewegten Masse eindeutig erhalte. Maupektuis legte indefs seinem Principe eine ungemeine Wichtigkeit ganz anderer Art

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V)ei, indem er darin den sichersten und unwiderleglichsten Beweis fiir das Dasein Gottes erblickte. Er vermochte aher nicht einmal einen mathe- matisch stichhaltigen Beweis för das Princip zu gehen, welches somit, wie seiner Zeit das Princip der Erhaltung der Energie, lange unter dem Vorurtheile litt, dafs es nur eine halb metaphysische Fiction sei. Zwar hatte eine Reihe von Mathematikern ersten Ranges, von Euler bis zu Jacobi, sich schon bemüht, es correct zu gestalten. Es ist aber ein eigenes Zusammentreffen, dafs es Helmholtz, der schon dem Principe der Erhaltung der Energie solchen Dienst leistete, vorbehalten war, nun auch noch dem Principe der kleinsten Action die höchste Weihe zu ertheilen.

Was uns jetzt noch von Helmholtz' Arbeiten zu betrachten bleibt, fuhrt uns wieder in ein ganz neues, diesmal sogar dem gewöhnlichen Naturforscher einigermaafsen fremdes Gebiet, in welchem aber jener sich mit gleichem Vermögen und gleichem Beilagen bewegt, wie vorhin in der Mechanik, der Physik, der Physiologie: in das Gebiet der ErkenntniCs- theorie. Auf dreifachem W>ge kam er dazu, sich damit zu beschäftigen. Einmal, indem er den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinnes- eindrücke als blofser Zeichen, nicht etwa Abbilder, der äufseren Gegenstände klarzulegen suchte. Dann , indem er die der Geometrie zu Grunde liegen- den Thatsachen auf die Richtigkeit der ihnen als Axiome zugeschriebenen Bedeutung prüfte. Endlich, indem er in dem Aufsatze über Zählen und Messen erkenntnifstheoretisch betrachtet* das Nämliche mit den Axiomen der Arithmetik vornahm. Wie in dem Vorigen das Princip der Erhaltung der Energie uns stets als sicherer Leitfaden durch Helmholtz' Gedanken- wege diente, so fehlt es auch in diesem Abschnitt nicht an einem ähn- lichen Führer. Der diese Untersuchungen beherrschende Gedanke ist die empiristische Weltanschauung, welcher Helmholtz huldigt, im Gegensatze zu der von ihm verworfenen nativistischen. Es ist dies derselbe Gegen- satz, der schon im siebzehnten Jahrhundert zwischen der LEiBNiz'schen praestabilirten Harmonie und dem LocKESchen Sensualismus bestand, dem aber dann Kant eine entschiedene Wendung zu Gunsten der ersteren Lehr- meinungen gab. Der Königsberger Weltweise behauptete bekanntlich, dafs seine zwölf Kategorien des Verstandes , insbesondere das Causalgesetz, dafs die Anschauung der Zeit, des Raumes mit seinen drei Dimensionen, und die geometrischen Axiome, transscendentalen Ursprunges, dafs sie uns a priori vertraute, eingel)orene Einsichten seien. Gegen diesen von ihm sogenann-

Gedächtnifsrede aiif Hermann von Ilelmhottz. 39

teil Nativismus erhob sich Helmholtz sichtlich aus dem Grunde, dafs er einen supernaturalistisclien Ursprung voraussetze, und somit gegen jenes erste, in der 'Erhaltung der Kraft* von ihm an die Spitze gestellte Princip verstofse, »dafs die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu be- » greifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse«. Er zieht also vor, sich zu denken, dafs das neugeborene Thier, dafs der Säugling durch die zunächst ganz zufölligen und zwecklosen Bewegungen seiner Gliedmaafsen und Sinnesorgane und die dadurch bewirkten Verän- derungen von Sinneseindrücken zur Vorstellung der Aufsenwelt gelange. Übrigens bemerkt er, dafs der einzige Einwurf, der gegen die empiristische Erklärung »vorgebracht werden könnte, die Sicherheit der Bewegung vieler »neugeborener oder eben aus dem Ei gekrochener Thiere ist. Je weniger »geistig begabt dieselben sind, desto schneller lernen sie das, was sie über-

»haupt lernen können Das neugeborene menschliche Kind dagegen

»ist im Sehen äufserst ungeschickt, es braucht mehrere Tage, ehe es lernt, »nach dem Gesichtsbilde die Richtung zu beurtheilen, nach der es den »Kopf wenden mufs, um die Brust der Mutter zu erreichen. Junge Tliiere »sind allerdings von individueller Erfahrung viel unabhängiger. Was aber »dieser Instinct ist, der sie leitet, ob directe Vererbung von Vorstellungs- » kreisen der Eltern möglich ist, .... darüber wissen wir Bestimmtes noch »so gut wie nichts«.

Eine hierher gehörige Betrachtung scheint aber Helmholtz entgangen zu sein. Vielleicht hat in unserer Übersicht seiner Arbeiten der Eine oder Andere mit Befremden eine Äufserung über das gröfste in diesem Zeitraum die Biologie bewegende Erei^nifs vermifst: über Darwin's Theorie des Ursprunges der Arten. Nun, wo immer dazu Gelegenheit war, hat Helm- holtz nicht versäumt, sogar eifriger als es sonst seine Art ist, sein Ein- verständnifs mit der neuen Lehre und seine Bewunderung der Grofsthat des Britischen Forschers und Denkers an den Tag zu legen. Hier jedoch, in der Streitfrage zwischen Nativismus und Empirismus, dürfte er die durch den Darwinismus herbeigefiihrte Veränderung der Sachlage über- sehen oder doch nicht gebührend gewürdigt haben. Denn so bedenklich der Nativismus klingt, wenn er so verstanden wird, dafs eine Generation auf die nächstfolgende unmittelbar der Wirklichkeit entsprechende Vor- stellungen vererbe, so annehmbar gestaltet er sich, wenn man eine all- mähliche Entwickelung durch eine beliebig ausgedehnte Reihe von Ge-

40 E. DU Bois-Reymond:

schlechtem zu Hülfe nimmt. Dies ist die von Hrn. Hehbeht Spencer und dem Redner unabhängig von einander vorgeschlagene Versöhnung zwischen Nativismus und Empirismus, welche mindestens ebenso berechtigt erscheint, wie nach Darwinistischen Principien die Entstehung eines Auges oder Ohres. Von supernaturalistischer Einmischung ist dabei keine Rede mehr. Viel schwieriger als solch nativistisches Werden einer Thierseele ist es jedenfalls sich empiristisch vorzustellen, wie ein eben erst der Larve ent- schlüpfter Schmetterling in der kurzen Frist seines neubewufsten Daseins den Raum mit seinen drei Dimensionen, die Gravitation, den Luftwider- stand, das Aussehen der ihm vortheilhafte Gelegenheiten darbietenden Blumen erfahrungsmäfsig erkennen solle. Seine Erlebnisse als Raupe werden ihm dabei kaum von Nutzen sein. Und da Helmholtz selber ge- neigt scheint, in dieser Art von Thatsachen eine Schwierigkeit für den Empirismus anzuerkennen, so wird es vielleicht am Platze sein, weiter zu fragen, wie das Menschenkind während der ersten drei Lebensmonate, von denen es, wohl bemerkt, etwa elf Zwölftel schlafend verbringt, des dummen Vierteljahres, wie unsere Wärterinnen es nennen , den Gebrauch seiner Augen und Hände durch Tastversuche sich aneignen könne, die, um es zu belehren, eigentlich die Vorstellungen, schon vor- aussetzen, welche sie nach der empiristischen Theorie erst erwecken sollen. Womit nicht gesagt sein soll, dafs es nicht Fälle gebe, in denen der empiristischen Auffassung der Vorzug mit vollem Rechte gebühre. Es wird ja wohl hier, wie an so vielen Stellen, das Vorsichtigste und Richtigste sein, wenn man beide Vorstellungsweisen im Auge behält und nach den Umständen bald der einen, bald der anderen den Vorzug schenkt. .

Der besondere Gesichtspunkt nunmehr, aus welchem Helmholtz die beiden Weltanschauungen einander vergleichend gegenüberstellt, und auf ihre Berechtigung prüft, ist die oben schon erwähnte KANx'sche Auflassung des Raumes und der geometrischen Axiome. Zunächst fuhrt er an die Stelle der üblichen geometrischen Betrachtungsweise, welche mancherlei Täuschungen ausgesetzt ist, die analytische Behandlung ein, aus der sich eine neuere rechnende Geometrie ergiebt. Sodann wird gezeigt, dafs aus Thatsachen wie die Selbstverständlichkeit der Axiome und die Unmöglich- keit, uns eine vierte Dimension voranstellen, keineswegs auf den transscen- dentalen, aprioristischen Ursprung unserer Anschauungen zu schliefsen sei.

Gedächtmfsrede auf Hennann von HebnhoUz. 41

Mau kann sich nämlich verstandbegabte Wesen denken, welche, anstatt in einem dreidimensionalen Räume, auf der Oberfläche irgend eines unserer festen Körper lebten und nicht die Fähigkeit hätten, irgend etwas aufser- halb dieser Oberfläche wahrzunehmen, wohl aber vermöchten, den unserigen ähnliche Wahrnehmungen innerhalb der Ausdehnung der Fläche zu machen, in der sie sich bewegen. Wenn sich solche Wesen ihre Geometrie aus- bildeten, so würden sie ihrem Räume natürlich nur zwei Dimensionen zu- schreiben. Sie würden in diesem Räume, den wir uns im einfachsten Falle als eine unendliche Ebene denken können , gewisse Axiome unseres Raumes auffinden und för angeborene Einsichten halten, wie dafs zwischen zwei Punkten nur eine Gerade, durch einen dritten Punkt nur eine Parallele mit jener möglich sei, u. s. w. Aber sie würden von einem weiteren räum- lichen Gebilde, was entstände, wenn eine Fläche sich aus ihrem flächen- haflen Räume herausbewegte, sich ebensowenig eine Vorstellung machen können, als wir es können von einem Gebilde, das durch Herausbewegung aus dem uns bekannten Räume entstände. Man kann dergestalt neben unserer Geometrie, welche als die EuKLinische zu bezeichnen ist, mehrere andere Geometrien entwickeln, welche die auf die Oberfläche bestimmter räimilichen Gebilde beschränkten intelligenten Wesen sich construiren wür- den: aufser jener der unendlichen Ebene entsprechenden, welche mit un- serer Planimetrie zusammenfiele, eine sphaerische Geometrie, welche die gedachten Wesen auf einer Kugelfläche, eine pseudosphaerische Geometrie, welche sie auf einer sattelförmigen Fläche ersinnen würden u. d. m. Solche Nicht-EüKLinische Geometrien sind schon vor längerer Zeit von Lobatschewsku in Kasan, später von Hrn. Beltrami in Bologna ausgearbeitet worden, während von Gauss selber und dem früh verstorbenen Riemann der Grund zu den metamathematischen Untersuchungen gelegt wurde, in welchen neben unserem Räume von gekrümmten Räumen die Rede ist. Dieser Ideenkreis höchster mathematischer und erkenntnifstheoretischer Speculation ist es, aus welchem Helmholtz zu dem Schlüsse gelangt, dafs Kant's Annahme einer Kenntnifs der Axiome aus transscendentaler Anschauung erstens eine unerwiesene, zweitens eine unnöthige, drittens eine für die Erklärung un- serer Kenntnifs der wirklichen Welt gänzlich unbrauchbare Hypothese ist. Der Raum kann übrigens transscendental sein, ohne dafs es die Axiome sind, und das Gausalgesetz ist wirklich ein a priori gegebenes transscenden- tales Gesetz, worin also Helmholtz von Johannes Müller abweicht, der Gedaehtm/sreden. 1896. IL 6

42 E. duBois-Reymond:

gerade umgekehrt an dem Begriff der Causalität seine eigene empiristische Auffassung der Verstandeskategorien entwickelt.

Wir haben nunmehr einen zwar äufserst flüchtigen, übrigens ziem- lich vollständigen Überblick über Helmholtz' wissenschaftliches Lebenswerk erlangt, ausreichend um das Eingangs Gesagte zu begründen, dafs dies Werk von der physiologischen Anatomie bis zur ErkenntniJfetheorie alles theoretisch Zugängliche umfasse, und haben dabei überall neben der feinsten Technik in Beobachtung und Versuch den Gipfel mathematischer und meta- physischer Befähigung zu bewundern gefunden. Um ein Beispiel solcher unerhörten Allseitigkeit im Wissen und Können anzutreffen, mufs man um zwei Jahrhunderte, bis zu den Riesengestalten eines Leibniz, eines Descartes zurückgehen, wobei aber zu bemerken ist, wie unvergleichlich reicher und bunter, und also schwieriger zu bewältigen seit deren Tagen der Inhalt der Wissenschaft ward. Von denen, die es vergeblich unternahmen, die unerme&liche Reihe von Helmholtz' Schöpfungen in den drei Bänden seiner gesammelten wissenschaftlichen Abhandlungen sich anzueignen, wird viel- leicht mancher DmEKOx's Empfindung theilen, der von Leibniz sagt: »Wenn »man auf sich zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen »eines Leibniz vergleicht, wird man versucht, die Bücher von sich zu »werfen und in irgend einem versteckten Weltwinkel ruhig sterben zu »gehen.« Und doch geben diese streng wissenschaftlichen Aufsätze, von deren Seiten Differentialgleichungen und Integrale einer grofsen Mehrzahl von Lesern abschreckend entgegenstarren, von Helmholtz' geistiger Pro- ductionskraft noch keine entsprechende Vorstellung. Denn nebenher läuft damit vielfach eng zusammenhängend eine Reihe gemeinfafslicher, Vorträge und Reden, welche bei verschiedenen Gelegenheiten bald hier, bald dort gehalten , in willkommener Weise die Ergebnisse jener schwierigen Dar- legungen vor Augen fuhren. Von einigen unter ihnen ist im Obigen schon die Rede gewesen; von anderen, wie 'über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen', 'über das Sehen des Menschen*, 'über das Verhältnifs der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft;en*, über die Axiome der Geometrie', 'über die Thatsachen in der Wahrnehmung*, 'Opti- sches über Malerei', können hier nur die Titel angefahrt werden. Noch andere, wie die Rede 'zum Gedächtnifs an Gustav Magnus', die Rectorats- rede 'über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten', die 'Rede beim Empfang der Graefe- Medaille', die 'bei der hundertjährigen Gedenk-

Gedächtnifsrede auf Hemumn von Helmhokz. 43

feier von Joseph Fraünhofer's Gehurt', die Rede 'über Goethe's natur- wissenschaftliche Arbeiten' vom Jahre 1853, die über Goethe's Vor- ahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen' vom Jahre 1892, stehen mehr selbständig da. Darunter werden naturgemäfs die beiden letztgenannten am meisten anziehen , mit um so gröfserem Rechte, als sie, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, über den Dichter als Naturforscher zu weit aus einander gehenden Urtheilen gelangen. Denn wahrend in der ersten Rede Helmholtz mit dem Verfasser der Farbenlehre und fanatischen Gegner Newton's in's Gericht geht, preist er in der zweiten ebenso rück- haltlos den prophetischen Scharfblick, mit welchem Goethe die grofsen Grundgedanken der vergleichenden Anatomie erfafste und ihre Folgerungen voraussah. In allen diesen Aufsätzen, welche zwei ansehnliche BSnde föUen, erfreuen nicht minder die durch tiefste Sachkenntnifs ermöglichten sinn- reichen Gedankenwendungen , wodurch die schwierigsten Combinationen leicht verständlich werden, als der stets völlig natürliche, gelenkige und doch klangvolle Stil.

Wer nun von Helmholtz nur als Gelehrtem wüfste, tröstete sich viel- leicht, um den allzu peinlichen Eindruck einer so überwältigenden Über- legenheit einigermaafsen zu mildern, mit der Vorstellung, jener habe, um Kraft und Mufse filr eine solche Fülle vollendeter Leistungen zu erübrigen, so zu sagen nichts Anderes zu thun gehabt, mit anderen Worten er habe stets ruhig bei der Stange bleiben können, wie man sich dies von manchem deutschen Universitätslehrer, im Auslande etwa von einem Cuviek, Ber- ZELiTTs, Faraday ZU denken geneigt ist. Allein dies wäre ein vollkommener Irrtlium, wie sich alsbald ergiebt, wenn man, wozu es jetzt an der Zeit ist, Helmholtz' äufsere Lebensschicksale in Augenschein nimmt.

Wir verliefsen den Dr. Hermann Helmholtz, als so eben promovirten Zögling des medicinisch- chirurgischen Friedrich Wilhelms -Institutes, und müssen ihm zunächst, als Charite-Chirurgus in das bekannte grofse Kranken- haus, das Jahr darauf, im October 1843, als Escadron-Chirurgus in die Caserne des Königlichen Leib-Garde-Husaren-Regimentes in Potsdam folgen. Hier führte er 1845 seine Versuche über den StoflFverbrauch bei der Muskel- action aus, wozu ich ihm eine von Halske mit eigner Hand für mich zu einer unterbliebenen Malapterurus- Reise gebaute tragbare Wage hinüber- brachte. Am I.Juni 1847 wurde er in das Königliche Regiment der Gardes-

6*

44 E. duBois-Reymond:

du 'Corps, gleichfalls in Potsdam, versetzt. In dieser Stellung hielt er im Juli desselben Jahres in der Physikalischen Gesellschaft den epochemachenden Vortrag über Erhaltung der Kraft. Ein Jahr später, am 30. September 1848, hatte er so volle sechs Jahre als Militärarzt gedient und es bis zum Ober- arzt gebracht. Inzwischen hatte das Revolutionsjahr eine glückliche Ver- änderung in seiner Lage herbeigefiilirt, wenn auch nicht durch seine po- litische Bewegung. Doch giebt es einen Begriff von den damaligen Stim- mungen, dafs nach dem 18. März unser Freund von Potsdam herüberkam, um nach Bköcke und mir zu sehen, und durch Kufs und Händedruck seine tiefe Erregung verrieth.

Bkücke, welcher Lehrer der Anatomie bei der Akademie der Künste und Assistent an der anatomisch -zootomischen Sammlung war, erhielt nun aber einen Ruf als Bürdach's Nachfolger fiir die Professur der Physiologie und Allgemeinen Pathologie in Königsberg. Da mein Vater die Güte hatte, trotz seinen beschränkten Vermögensverhältnissen, mich, ohne auf prakti- sche Ziele zu drängen, in meinen thierisch- elektrischen Untersuchungen gewähren zu lassen, und ich somit fiir den Augenblick genügend versorgt schien, so wurde unter uns verabredet, dafs Helbiholtz Brücke's Stellen erhalten sollte. Es kostete wenig Mühe, um mit Hülfe des damals über die Berliner wissenschaftlichen Geschicke waltenden guten Genius Alexan- DER*s VON Humboldt, Helmholtz von seinen noch übrigen drei pflichtmäfsigen Dienstjahren zu befreien und ihn an Brücke's Stelle bei der Kunstakademie und der anatomisch-zootomischen Sammlung unterzubringen. Die Akademie und Johannes Müller waren es zufrieden; allein der Zustand wurde nicht von Dauer, denn schon ein Jahr später erhielt Brücke den fiir seine ganze I^ufbahn entscheidenden Ruf als Professor der Physiologie nach Wien, Helmholtz folgte ihm 1 849 auch in seiner Königsberger Stellung, und ich selber nahm nun seine hiesigen Stellungen ein. In Königsberg hatte Helm- holtz also als Bürdach's und Brücke's Nachfolger Physiologie und Allge- meine Pathologie zu dociren. Dort war es, wo er mehrere seiner bedeu- tendsten Jugendarbeiten ausfiihrte, die Geschwindigkeit des Nervenprincipes maafs, die Muskelzuckung sich aufschreiben liefs, den Augenspiegel erfand. Sieben Jahre später, 1856, als Aug. Franz Jos. Karl Mayer in Bonn die Professur der Physiologie und Anatomie niederlegte, ward Helmholtz dessen Nachfolger. In dieser Stelhmg entstanden seine anthropotomischen Arbeiten über die Muskeln des Brustkastens und die Wirkungen der Muskeln des

Gedächtmfsrede auf Hermann von HelmhoUz. 45

Armes. Aber schon das Jahr darauf, 1857, wurde er nach Heidelberg be- rufen, um die dort neubegröndete Professur der Physiologie und die Leitung des physiologischen Institutes zu übernehmen. Sein dortiges Zusammen- wirken mit Henle als Anatomen, Kirchhoff als Physiker, Bünsen als Chemiker war für die süddeutsche Universität eine Zeit des Glanzes, wie sie selten für irgend eine da war und nicht leicht wiederkehren wird. Aus Heidelberg sind die Vorreden zu den ersten Ausgaben des Handbuches der physiologischen Optik und der Lehre von den Tonempfin- dungen gezeichnet.

In Heidelberg war endlich Helmholtz eine rein physiologische Lehr- thätigkeit, ohne anatomische, geschweige pathologische Beimischung zu Theil geworden , doch hatte er noch lange nicht die ihm durch das Geschick zugedachte Höhe erreicht. Im April 1870 starb Gustav Magnus, und die Professur der Physik an der Berliner Universität wurde frei. Als damaliger Rector der Universität erhielt ich von dem Minister von MChlek den ehren- vollen Auftrag mich nach Heidelberg zu begeben, und nach dem Beschluß der hiesigen philosophischen Facultät in erster Linie Kikchhoff, oder wenn dieser nicht zu haben wäre, Helmholtz fiir mis zu gewinnen. Kikchhoff wurde von der Grofsherzoglich Badischen Regierung festgehalten, dagegen Helmholtz, dessen Wünschen der Minister mit dankenswerther Freigebigkeit entgegenkam , der unserige ward. So geschah das Unerhörte, dafe ein Me- diciner und Professor der Physiologie den vornehmsten physikalischen Lehr- stuhl in Deutschland erhielt, und so gelangte Helmholtz, der sich selber einen geborenen Physiker nannte, endlich in eine, seinem specifischen Ta- lente und seinen Neigungen zusagende Stellung, da er damals, wie er mir schrieb, gegen die Physiologie gleichgültig geworden war und eigentliches Interesse nur noch far die mathematische Physik hatte. Es versteht sich, dals er nach seiner Übersiedelung hierher aus einem auswärtigen Mit- gliede der Akademie, was er seit dem i. Juni 1870 war, statutenmäßig am I.April 1871 unser ordentliches Mitglied wurde.

Doch sollte noch einmal, und noch viel wesentlicher als bisher, seine Lage sich ändern. Es kam die Zeit, wo unser grofeer Freund, Wekner VON SniMENS, zum Theil mit eigenen, nur ihm möglichen riesigen Geld^ opfern, die Gründung einer Physikalisch -Technischen Reichsanstalt in Char- lottenburg zuwege brachte. Nun war uns nicht unbekannt, dafs Siemens

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immer mit Bedauern sah, wie Helmholtz einen grofsen Theil seiner Zeit und Kraft, anstatt der Fortfiihrung seiner unvergleiclilieheu Arbeiten, seinem Lehramte widmen mufste; und so blieb uns auch nicht verborgen, dafs er Helmholtz die Stelle eines Praesidenten jener Anstalt zugedacht hatte, als eine solche, welche ihn von jeder anderen, als einer wissenschaftlichen Tliätigkeit befreien würde, eine Lage, wie nur ein reiner Akademiker sie sich als Ideal träumen könnte. Seine gute Absicht wurde aber nur unvoll- kommen erreicht. Da Helmholtz aus gewissen Gründen Universitätsprofessor bleiben mufste, so mufste er nothwendig auch noch Vorlesungen halten, wenn auch zwei Stunden wöchentlich genügten , um seine Verpflichtungen zu erfiillen. So las er bis zu seinem Tode kleinere SpecialcoUegia , wie über die mathematische Theorie der oscillatorischen Bewegungen, über die Theorie der Elektrodynamik, über mathematische Optik, über die mathe- matische Wärmetheorie u. d. m., welche stenographirt eine höchst werth- volle Ergänzung zu seinen systematischen Schriften bilden. Dann aber liegt es in der Natur der Dinge, dafs der Praesident eines so umfang- reichen, vielfach gegliederten, zum Theil den Charakter einer Unterrichts- anstalt, zum Theil den einer Fabrik tragenden Institutes mit einem Per- sonal von fünfzig Beamten, eine gewaltige Menge von täglich sich erneuern- den Verwaltungsgeschäften zu erledigen hat, welche weit entfernt Helm- holtz im Vergleich zu seinen bisherigen Beschäftigungen eine Erleich- terung zu gewähren, durch ihre Neuheit und Fremdartigkeit ihn vielmehr erst recht belasteten. Dieser Übergang von Helmholtz zu dem ihm von Siemens geschaffenen Wirkungskreise fand im October 1887 statt. Drei Jahre später, den 13. December 1890, gab er eine * Denkschrift über die bisherige Thätigkeit der Physikalisch -Technischen Reichsanstalt' heraus, die, zur Kenntnifsnahme durch den Reichstag bestimmt, Zeugnifs davon ablegt, mit welchem Eifer und welcher Thatkraft er auch in dieser Stel- lung allen Anforderungen zu genügen vermochte. Diese Denkschrift, zwei- undzwanzig enggedruckte Seiten stark, zerfällt, wie die Reichsanstalt selber, in zwei Abtheilungen. Die erste, physikalische, umfafst Thermometrische Fundamentalarbeiten, und handelt imter dieser Aufschrift vom Normal- Quecksilberthermometer, der Auswahl der Röhren, der Herstellung der Theilung, der Abweichung der Capillare von der idealen Cylindergestalt, den Verbesserungen fiir den Fundamentalabstand und wegen des inneren und äuCseren Druckes; dann von Barometrischen Untersuchungen, Ausdeh-

Gedächtnifsrede auf Hermann von HelmhoUz. 47

ninigsl)estimmungen, Nonnalge wicliten, Elektrischen Fundamentalarbeiten. Die zweite, technische AV)theilung beschäftigt sich unter der Aufschrift 'Thermometrische Arbeiten* mit der Prüfung ärztlicher Thermometer, deren nahezu 25000 in den drei Jahren des Bestehens der Reichsanstalt von dieser geprüft und gestempelt worden waren; dann der Thermometer ftir wissenschaftliche und solcher für chemische Zwecke, der Alkoholthermometer fiir niedere Temperaturen. Es folgt die Prüfung von Quecksilberbarometern und Aneroiden, von Manometern und Petroleumprobem und von Schmelz- ringen, von elektrischen Mefsgeräthen , worüber eine besondere Bekannt- machung in der 'Zeitschrift für Instrumentenkunde' Auskunft giebt. Dann kommen auf Herstellung einer unveränderlichen Lichteinheit gerichtete photometrische Arbeiten, ebenso zur Erzeugung von Normal^ Stimmgabeln geeignete Versuche, endlich auf Einfuhrung einheitlicher Schraubengewinde abzielende Studien, die Anlauffarben der Metalle, Störungen der Libellen. Diese sehr unvollständige Aufzählung genügt wohl schon, um einen Begriff von der Art von Untersuchungen zu geben, welche Helmholtz zur Ab- wechselung von seinen erkenntnilstheoretischen Speculationen jetzt gleich- sam zur Pflicht gemacht wurden.

Bedarf es mehr, um das Irrthümliche der Meinung in's Licht zu stellen, dafs er durch die ruhige und gleichmäfsige Natur seiner Berufs- arbeiten in seiner productiven Thätigkeit begünstigt, gewesen sei? Sieht man nicht, dafs er im Gegen theil ungleich öfter als die meisten Universitäts- lehrer in die kraftr und zeitraubende Lage gekommen ist, nicht bloCs Ort und Umgebung, sondern sogar Lehrauftrag und Natur seines Unterrichtes von Grund aus zu ändern? Das Geheimnifs seiner dennoch auch in der Fülle der Erzeugnisse beispiellosen Productivität lag denn auch vielmehr, wie kaiun gesagt zu werden braucht, in seinem unermüdlichen Fleifse und seiner Fähigkeit, eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Thatsachen und Gedanken sich stets gegenwärtig und gleichsam zum Zugreifen und zum Verwerthen bereit zu halten.

Dafs die letztere Eigenschaft, verbunden mit einer wissenschaftlichen Erfahrung und einem geistigen Überblick ohne Gleichen, ihn auch zu einem der wirksamsten Lehrer machte, versteht sich von sich selber. Auf dem Katheder wie im I^boratorium gab er in eindringlicher Weise das Beste, was er hatte, aber freilich mehr an die Minderzahl sich wendend, welche im Stande war, es zu empfangen und zu würdigen. Nie liefs er, wozu

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es ihm doch an Gelegenheit nicht fehlte , Andere seine Überlegenheit pein- lich fühlen, und es war nur deren eigene richtige Empfindung, wenn sie ihnen doch zum BewuTstsein kam.

Nichts wäre aber irriger, als sich nun vorzustellen, dais Helmholtz durch seine wissenschaftliche Thätigkeit völlig in Anspruch genommen gewesen sei. Neben dem Allen war er ein ganzer Mensch. Er hatte sich firüh, 1849, in Potsdam mit Fräulein Olga von Velten verheirathet, die er aber kurz nach seiner Niederlassung in Heidelberg verlor. Von den beiden Kindern aus dieser Ehe starb die Tochter als Grattin des Professors der Geologie Hm. Branco, der Sohn lebt in München als angesehener Techniker. 1861 schlols Helkholtz in Heidelberg eine neue Ehe mit Fräulein Anna von Mohl, aus der berühmten Württembergischen Gelehrten- Familie, welche nicht allein sein Leben fortan wieder verschönte, sondern auch durch ihre hervorragende Persönlichkeit sein Haus zu einem Mittel- punkte bedeutender Geselligkeit machte. Von den aus dieser Verbindung entsprossenen Kindern wurde ihm der ältere Sohn leider durch den Tod entrissen , als er eben anfing , als Physiker sich seines Namens würdig zu zeigen; durch eine Tochter ist seine enge Beziehung zu Wernek von SiEHENS ein verwandtschaftliches Verhältnifs geworden.

Helmholtz' Äulseres zu schildern, würde in diesem Kreise, dem er so lange angehörte, überflüssig sein. Der Mit- und Nachwelt wird es in Bildnifs und Büste durch die besten Deutschen Künstler vergegenwärtigt und aufbewahrt. Für die, denen es fremd geblieben sein sollte, sei hier gesagt, dafs es ganz seiner inneren Gröfse entsprach. Ein fest über- mächtiger Schädel, aber von reinster Form, barg das wundervolle Denk- organ, ein Paar herrlicher Augen liefs nicht erkennen, welches gefähr- liche Maafs von Anstrengung in subjectiven Versuchen es ohne Schaden ertragen hatte, während die untere Hälfte des bräunlichen Antlitzes durch die Kleinheit und Zierlichkeit die Feinheit seiner geistigen Neigungen spiegelte.

Er war von mehr als mittlerer Gröfse, kräftigem Wuchs und edler Haltung, ein rüstiger Bergsteiger, und als Sohn der Havel ein tüchtiger Schwimmer. Weite Spaziergänge, an welche er in Potsdams schöner Um- gebung durch seinen Vater früh gewöhnt worden war, hatten, wie er be- richtet, fOx ihn noch eine andere als hygienische Bedeutung erlangt. Es

Gedächtnifsrede auf Hermann von Helm/u>Uz. 49

war beim geinächlicheu Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter, (lafs ihm über die ilni gerade beschäftigenden Probleme Aufschlüsse kamen, die ihm mit der Feder in der Hand am Schreibtische versagt blieben. Durch Reisen , welche sich gelegentlich bis über die Meerenge von Gibraltar und über den Atlantischen Ocean erstreckten, erhielt er sich frisch und seinen erstaunlichen Leistungen gewachsen. Wie die Natur, war auch die Kunst für ihn ein Element der Abspannung und des heiteren Genusses. Von seinem Sinn fiir Musik war schon oben die Rede, und zwar gehörte er zu Richard Wagner's Be wunderem. In der Malerei hatte er seine Freude an Böcklin's phantastischen Fischgestalten.

Von den unzähligen Auszeichnungen aller Art, welche ihm im In- und im Auslande von allen Seiten zu Theil wurden, seien schliefslich hier nur zwei erwähnt.

Des Kaisers und Königs Majestät verliehen Helmholtz durch Erhebung in den Adelstand und durch Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rathe die höchsten bürgerlichen Ehren und geruhten die Errichtung seines Stand- bildes auf öflfentlichem Platze zu befehlen.

Die andere Ehrung, welche Helmholtz in ihrer Art als die stolzeste erschien, die ihm erwiesen werden konnte, war die Gründung der inter- nationalen Stiftung, welche bei der Königlichen Akademie der Wissen- schaften seinen Namen trägt, und aus der in gemessenen Zeiträumen eine mit seinem Bilde und Namen bezeiclinete Medaille einem hervorragenden Gelehrten und Forscher in einem seiner zahlreichen Arbeitsgebiete als Preis verliehen wird. Die jedesmalige Wahl des Preisträgers ist bis auf Weiteres Helmholtz vorbehalten. Ich selber hatte so das unschätzbare Glück, aus Helmholtz' eigener Hand das erste von ihm verliehene Exemplar seiner Medaille entgegennehmen zu dürfen.

Sein früher Tod, der am S.September 1894 durch Hirnblutung ihn aus voller Schaflfenskraft hinwegraflfte, ist nicht blofs, wie Eingangs geschil- dert, als ein für die Wissenschaft unsagbarer Verlust, sondern sogar als nationales Unglück empftmden worden. Wir aber, die Königlich Preufsische Akademie der Wissenschaften , sind es , welche dieser Verlust am schmerz- lichsten triflft. Wir wissen am besten, was wir an ihm besafsen und was wir von ihm noch erhoffen durften. Der Glanz seines Namens bestrahlte unsere Körperschaft, der Ruhm alles dessen, was er vollbracht hatte, kam uns in ihm zu Gute. Nichts verhindert uns zu träumen, dafs, nachdem Qedächtni/sredm. 1896. IL 7

50 E. DU Bois-Reymond: Gedächtnifsrede auf Uermcmn von HelmhoÜz.

mit seiner Hülfe Licht und Elektricität als einerlei erkannt worden waren, es ihm auch noch glücken würde , das seit Newton scheinbar ewig dunkle Wesen der Gravitation in Etwas zu enthüllen.

Er ist nicht mehr. Nichts bleibt uns, als jener zweifelhafte Trost des Dichters: Er war unser. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen; ja es ist die Frage, ob eine Gestalt, wie die seinige, je wieder zum Vor- schein kommen kann.

PHYSIKALISCHE

ABHANDLUNGEN

DER

KONIGUCHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu BERLIN.

AUS DEM JAHRE

1896.

MIT 4 TAFELN.

BERLIN.

VKRLAG DEK KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

1896.

GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI.

IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.

Inhalt.

Engl er: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im V^er-

hältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.). . Abh. 1. S. 1 28.

Derselbe: Über die geographische V^erbreitung der Zygophyllaceen im

Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.). » II. S. 1 36.

über die geogi*aphische Verbreitung der Rutaceen im Verhältnifs zu ihrer systematischen GUederung.

Von

ADOLF ENGLER.

Fhys.Abh. 1896. I.

Gelesen in der Sitzung der phys. - matli. Classe am 16. Januar 1896

[Sitzungsberichte St. II. S. 5]. Zum Druck eingereicht am 9. April, ausgegeben am 2. Juni 1896.

^Systematisch botanische Studien gewinnen erheblich an allgemeiner Be- deutung, wenn bei einem zweifellos natürlichen Formenkreis nach Er- mittelimg der phylogenetischen Stufenfolge die Gruppirung der Gattungen der letzteren möglichst angepafst und zugleich die geographische Ver- breitung der einzelnen Gruppen sorgfütig beachtet wird. Es ergeben sich dann oft so auffallende Correlationen zwischen der geographischen Verbreitung imd der systematischen Gruppirung, dafs wenigstens einzelne Momente aus der Entwickelungsgeschichte der untersuchten Formenkreise deutlich hervortreten. Allerdings sind dies nur einzelne, vielfach nur die hauptsächlichsten Grundzüge in der Entwickelung, während über den zahl- reichen Einzelvorgängen, welche die Formenentwickelung imd die Formen- verbreitung bewirkt haben, ein Schleier liegt, den wir nur selten in be- friedigender Weise werden lüften können. Aber jeder Monograph einer Familie oder gröfseren Gattung macht die Erfahrung, dafs die scheinbar so trockenen Herbarstudien durch die Aufdeckung der Verwandtschafts- verhältnisse und das Eingehen auf die Verbreitung der einander nahe stehenden Verwandtschaftskreise erheblich an Reiz gewinnen. Leider sind aber immer noch wenig systematische Botaniker geneigt, diesen Fragen eine gröfsere Beachtung zu schenken und sie mit demselben Interesse zu behandeln, das sie den Nomenclaturfrage^ entgegenbringen.

Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte ich mich mit der über einen grofsen Theil der Erde verbreiteten und etwa 750 Arten zählenden Familie der Rutaceen und den ihr zunächst stehenden Familien beschäftigt, und in den letzten Jahren hatte ich diese Familie för die Bearbeitung in den von mir herausgegebenen »Pilanzenfamilien« noch genauer studirt.

4 A. Engler:

Die Familie ist bekanntlich, wie ich vor 21 Jahren gezeigt habe, in ihren Blüthenmerkmalen nicht scharf geschieden von den nahestehenden Familien der Geraniaceen, Zygophyllaceen , Simarubaceen , Burseraceen und Melia- ceen; sie ist jedoch sehr scharf charakterisirt durch die in den Stengeln und Zweigen oder Laubblattern, oft auch in den Blüthenphyllomen vor- kommenden lysigenen Öldrüsen , welche bei den Dictj/olomeae durch mehr- zellige Öldrüsen mit nicht resorbirten Wänden vertreten sind. In den Blüthen ist bekanntlich als constantes, aber auch anderen Geraniaks zu- kommendes Merkmal die Stellung der Samenanlagen mit ventraler Raphe und nach oben gekehrter Mikrophyle zu beachten; diese Stellung ist in- sofern constant, als bei Vorhandensein einer einzigen Samenanlage dieselbe stets und bei Vorhandensein von zwei oder mehreren Samenanlagen in einem Carpell wenigstens eine oder einige in der angegebenen Weise orientirt sind. Sehen wir zunächst von dem vielfach mit den klimatischen Verhält- nissen im vollsten Einklang stehenden , bei der weiten Verbreitung in allen tropischen und subtropischen Gebieten aber sehr verschiedenen Habitus der Rutaceen ab, so treten als rein morphologische und theilweise auch bio- logische, aber vom Klima unabhängige Merkmale in den Vordergrund: die Entwickelung der Blüthenhüllen, die Zahl der Samenanlagen in den Car- pellen , der Vereinigung der Carpelle , die Entwickelung der Frucht zu einer in meist aufspringende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp zerfal- lenden oder zu einer Steinfrucht oder Flügelfrucht oder zu einer Beere, die Erhaltung des Nährgewebes in den Samen bis zur Keimung oder die vollständige Aufzehrung desselben durch den Keimling. Auf den in diesen Verhältnissen sich darbietenden morphologischen Fortschritten basirt die von mir in den Pflanzenfamilien (III. 4 S. iio, in) gegebene Gliederung der Familie; ich mufs jedoch erklären, dafs ich die 3 bei der Familie auftretenden Hauptformen der Fruchtbildung ftir vollkommen gleichwerthig ansehe, dafs ich unter den jetzt lebenden Rutaceen nicht die beerenfrüch- tigen oder die steinfrüchtigen oder die kapselfruchtigen als die weiter vor- geschrittenen anzusehen vermag; jede dieser 3 Fruchtformen ist ftlr die Verbreitung der Samen geeignet imd somit auch zur Erhaltung befähigt gewesen, und in jeder der 3 durch ihre Fruchtbildung charakterisirten Sippen finden sich Gattungen mit auf niederer Stufe stehenden Blüthen und solche mit vorgeschrittenerem Blüthenbau. Es ist femer zwar sehr wohl denkbar und der Differenzirung der Gewebe entsprechend, dafs die

über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 5

Früchte zunächst mit fleischigem Pericarp versehen waren, dafs dann bei einem Theil der Rutaceen das Pericarp sich in ein fleischiges Mesocarp und ein hartes Endocarp sonderte und dafs schliefslich das pergamentartig gewordene Endocarp die Fähigkeit, sich elastisch abzulösen und die Samen herauszuschleudern, erlangte; aber es fehlt an Anhaltspunkten dafür, daß; irgendwelche Gattungen mit verschiedenartiger Frucht unter einander in näherer verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als die Gattungen mit gleich- artiger Fruchtentwickelung. Sodann fällt aber noch ein anderer Umstand bei den Erwägungen über einen etwaigen Fortschritt in der Fruchtbildung erheblich in's Gewicht. Die kapselfrüchtigen Rutaceen stehen zwar in der Entwickelung des Pericarpes höher als die steinfrüchtigen und beeren- früchtigen; aber sie nehmen eine niedere, d. h. dem urspünglichen Verhalten näher stehende Stufe ein hinsichtlich der Vereinigung der Carpelle. Diese ist bei den mit aufspringenden Kapselfrüchten versehenen Rutaceen eine oft sehr geringe , in sehr vielen Fällen nur vor der Befruchtung durch die Vereinigung der Griffel bewirkte, während bei den steinfrüchtigen und beerenfrüchtigen Rutaceen die Carpelle entweder gänzlich oder mit ihren Ovarien imter einander vereint sind, also gerade mit dem Theil, welcher bei den kapselfrüchtigen entweder von Anfang an frei ist oder bei der Fruchtreife frei wird. Man kann also die Hauptmasse der Rutaceen auf 3 Unterfamilien vertheilen : i . Rutoideae mit bei der Reife getrennten Car- pellen und vorzugsweise aufspringenden Früchten, 2. Toddaüoideae mit syncarpem Gynäceum und Steinfrüchten, 3. Aurantioideae mit syncarpem Gynäceum und Beerenfrüchten. Es bleiben dann noch einige Gattungen übrig, welche theils sich einer dieser 3 Unterfamilien, theils aber aueli einer der mit den Rutaceen verwandten Familien nähern. Die nur 2 Arten zählende Gattung Dictyoloma DC. besitzt das Gynäceum der Rutoideae; aber die in den Blättern vorhandenen Öldrüsen sind nicht lysigen, die Blätter doppelt gefiedert, die Staubblätter am Grunde mit Schüppchen versehen, wie bei vielen Simarubaceen und Zygophyllaceen und vor Allem fehlt dieser im tropischen Amerika vorkommenden Gattung irgend welcher Anschlufs an eine andere jetzt lebende, sie ist aufserdem durch mehreiige Carpelle charakterisirt, welche bei den zunächst stehenden Rutoideae verhältnifsmäfsig selten und bei keiner der amerikanischen Rutaceen vorkommen; diese Gattung muls also im Rutaceenstamm von Anfang an eine selbständige Stellung eingenommen haben und stellt daher eine eigene Unterfamilie

6 A. Engleb:

Dktyolomoideae dar. Ähnlich ist es mit den Flindersioideae, Flindersia R. Br. und Chloroxylon DC, die man früher zu den Meliaceen gestellt hatte ;^ sie haben die lysigenen Drüsen der Rutaceen, vor der Befruchtung vollständig vereinte Carpelle, eine fachspaltig oder scheidewandspaltig aufspringende Kapsel mit bleibendem Endocarp und mehrere Samen in den Fächern. Sie sind also eine Art Bindeglied zwischen den Rutaceen und Meliaceen, wegen ihrer lysigenen Drüsen aber entschieden der ersteren zuzurechnen. Endlich findet sich auf den Inseln West -Indiens eine Gattung Spathelia L., die im Habitus mit einzelnen Fagara^ aber auch mit gewissen Bursera und BoswelUa übereinstimmt, mit lysigenen Drüsen nur an den Blatträndern versehen ist, ein Gynäceum wie die ToddaUoideae besitzt, bei der Frucht- reife aber durch eine geflügelte Steinfrucht mit einem 3 -fächerigen Stein- kem ausgezeichnet ist. Zudem kommen auch hier am Grunde der Staub- blätter bisweilen schuppenfbrmige Bildungen vor, wegen deren man auch die Gattung zu den Simarubaceen stellen wollte.^ Endlich ist auch noch als anatomische Eigenthümlichkeit constatirt worden, dafs in der Rinde und dem Mark ölführende Secretzellen zerstreut vorkommen. Alles dies rechtfertigt die Absonderung der Gattung Spathelia von den übrigen Ruta- ceen als Vertreter einer Unterfamilie SpatheUoideae.

Rutoideae - Xanthoxyleae.

Wenden wir uns nun der Hauptmasse der übrigen Rutaceen zu, so finden wir unter den Rutoideae zunächst 2 Gruppen dadurch ausgezeichnet, dafs bei ihnen noch Gattungen auftreten, die in ihren Garpellen mehr als 2 Samenanlagen besitzen, während bei allen übrigen Rutoideen und nament- lich bei allen, die gewisse morphologische Fortschritte in der Blüthe aufzuweisen haben, die Zahl der Samenanlagen nicht über 2 hinausgeht. Diese beiden Gruppen sind die Xatühoxyleae und Ruteae. Wir fassen zunächst die Xanthoxyleae in's Auge, i. weil zu ihnen eine Gattxmg, Xanihoxylum L. selbst, gehört, die nur eine einfache Blüthen- hüUe besitzt, mit welcher die darauf folgenden Staubblätter altemiren, 2. weil diese gattungsreiche Gruppe eine grofse Zahl von Gattungen mit

^ Bentham et Hooker, Gen. pl. I. 340. ' Bentham et Hooker, Gen. pl. 1. 315.

über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh, zu ihrer syst Gliederung. 7

nur schwach coroUinischer Ausbildung der Blüthenhüllen enthält. Xantho- xylunij durch die einfache Blüthenhülle auf niederer Stufe stehend, ist aber wegen ihrer stets 2-eiigen Carpelle weiter vorgeschritten als 3 andere Gattungen, Pagetia F. Muell., Bauchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell. mit mehreiigen Carpellen. Die Sonderstellung von Xcmthoxylum l^ommt auch in ihrer geographischen Verbreitung zum Ausdruck. Zwar finden sich einige ihrer Arten im subtropischen Amerika und subtropischen Asien ; aber die übrigen gehören dem temperirten Ost -Asien und dem atlantischen Nord -Amerika an, es convergiren diese Verbreitungsgebiete erst im Polar- gebiet, wie es bei so vielen Gattungen der Fall ist, welche sicher in der Tertiärperiode existirten und von den Polarländem aus einerseits das nord- östliche Asien, andererseits das atlantische Nord -Amerika oder auch das pacifische Nord -Amerika besiedelten. Die 3 bereits genannten Xanthoxyleen- gattungen Pagetia F. Muell., Bouchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell., welche durch mehreiige Carpelle vor allen anderen ausgezeichnet sind, bei der Reife aber nur 2 {Bouchardatia) oder i Samen in denselben enthalten, welche femer alle gegenständige Blätter besitzen, sind auf die Uferwälder Ost-Australiens in dem kleinen Küstenstrich 2 3-J-®-30® s. Br. beschränkt. In diesem selben Gebiet kommt auch die ebenfalls mit gegenständigen, aber einfachen Blättern versehene Gattung Pleiococca F. Muell. vor, die sich dadurch auszeichnet, dafs die Zahl der Carpelle die der Kelchblätter über- steigt. Die Zahl der Samenanlagen beträgt hier aber schon nur 2, wie bei allen folgenden Gattungen der Xanthoa^gleae-EvodUnae. Von diesen be- sitzen Melicope Forst., Sarcomelicope Engl., Pentaceras Hook. f. und Pelea A. Gray ebenfalls 2 Staubblattkreise, wie die 4 genannten ost-australischen Gattungen, hingegen Fagara L., Geijera Schott, Evodia Forst., Boninia Planch., Orixa Thunb. nur einen Staubblattkreis; innerhalb der Gattung Melicope treten aber auch Arten mit 4 Staminodien an Stelle der epipetalen Staub- blätter auf, und es ist kaum zweifelhaft, dafs die haplostemonen Gattungen sich aus obdiplostemonen Formen entwickelt haben. Dafs bei einzelnen Gattungen die Blätter gegenständig, bei anderen die Blätter wechselständig sind, ist nicht von Belang, da diese Verschiedenheit bei unserer Familie auch innerhalb derselben Gattung angetroffen wird. In dem Verbreitungs- gebiet der 4 zuerst besprochenen Gattungen kommen auch noch Pentaceras Hook. f. und einige Arten von Geijera vor, doch ist letztere noch weiter ver- breitet, südwärts bis Victoria und von da nach Süd- und West^Australien,

8 A. Engler:

und endlich kommt eine Art G. capliflora H. Baill. in Neu-Kaledonien vor, das zugleich aus der Gruppe der Xanthoxyleae-Evodünae eine endemische Gattung Sarcomelicope besitzt, welche durch ein sehr dickes Mesocarp ausgezeichnet ist. Weiter ab von Australien werden wir gefuhrt , wenn wir der Verbreitung der Gattungen Melicopej Evodiaj Boniniaj OrixGj Pelea und Fagara nachgehen. Im subtropischen Ost -Australien stoisen wir noch auf 4 Arten von MeUcope^ von denen 3 zwei Staubblattkreise besitzen, i einen Staubblattkreis und einen Staminodialkreis ; sodann kennen wir 2 Arten in Neu -Seeland, i auf den Philippinen, i auf Bomeo und 2 auf Malakka. Von Melkope nur sehr wenig durch klappige Knospenlage der Blüthenblätter verschieden ist die artenreiche Gattung Pelea ^ von der 3 Arten in Neu-Kaledonien, i auf Madagaskar und 18 auf den Sandwich -Inseln wachsen, wobei noch zu bemerken ist, dafs die Arten jeder Inselgruppe fiir sich eine durch wenige Merkmale charakterisirte Section bilden. Der grofee Artenreich thum von Peka auf den Sandwich-Inseln findet seine Analogie in dem Verhalten vieler anderer daselbst vorkommender Gattungen. Die Melicope ebenfalls nahe- stehende Gattung Evodia Forst, besitzt etwa 45 Arten in 2 Sectioneri. Zu der durch einfache oder gedreite Blätter und nur wenig vereinte Carpelle aus- gezeichneten Section Lepta (Lour.) gehören 6 ebenfalls in Ost-Australien vor- kommende Arten, i auf der Lord Howes-Insel, 3 in Neu-Kaledonien,

9 in Hinter- Indien, darunter E. triphylla DG. auf den Philippinen, in China und Süd -Japan, E, glabra Blume auch auf Java, E. Rosdmrghiana Benth. auch in Cochinchina, auf Java und den Fidschi -Inseln, femer 2 nur auf Sumatra, I nur auf Java, i nur auf Bomeo. 3 Arten, wie die vorigen mit gedreiten Blättern, kommen in Kaiser Wilhelms-Land auf Neu -Guinea vor und E. hör- tensisYoTst. ist auf den Fidschi -Inseln, den Wallis -Inseln, den Neuen He- briden und auf Neu -Guinea constatirt worden. Zu diesen, wie wir sehen, auf den Inseln des indischen Archipel verbreiteten Arten kommen aber andere, mit einfachen Blättern versehene, welche von dem Gentrum der gedreitblättrigen noch weiter entfernt sind, nämlich 3 Arten auf Mada- gaskar und 2 auf den Maskarenen , endlich 7 auf den sonst an endemischen Arten so armen Gesellschafls- Inseln. Die zweite Section von Evodiaj Te- tradium (Lour.) umfafst 4 Arten mit gefiederten Blättern und stärker ver- einten Carpellen, welche im Himalaya, im mittleren China und Cochin- china, theilweise auch im südlichen Japan nachgewiesen wurden. Die bemerkenswertheste Thatsache der Verbreitung von Evodia ist das Vor-

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kommen auf den Gesellschafts- Inseln, den Maskarenen und Madagaskar, das Fehlen an der afirikanischen Küste und in Vorder-Indien.

Nur wenig von Evodia verschieden ist die auf den Bonin -Insehi mit 2 Arten vertretene Gattung Boninia Flanch. und die vorzugsweise durch eingeschlechtliche Blüthen, sowie durch eineiige Carpelle charakterisirte Gattung Orixa Thunb., deren einzige Art vom mittleren China bis in das mittlere Japan vorkonmit. Die artenreichste Gattung der Rutaceen ist Fagara L., die lange Zeit mit Unrecht zu Xanthoan/lum L. gerechnet wurde und, wie aus der Verbreitungskarte ersichtlich, in fast allen tropischen Ländern verbreitet ist. Es dürften etwa 140-150 Arten bekannt sein, von denen die meisten auf die Section Macqaeria mit 5- oder 4-theiligen Blüthen und mit sich ablösendem Endocarp entfallen; dieselben sind so- wohl im tropischen Asien wie im tropischen Afrika und Amerika zahl- reich , und zwar herrschen im Allgemeinen in der alten Welt Arten mit 4-gliedrigen Blüthen, in der neuen Welt solche mit 5-gliedrigen Blüthen vor; ein durchgreifender Unterschied ist jedoch nicht vorhanden; beachtens- werth ist aber, dafs die kleine 9 Arten zählende Gruppe Pterota (P. Browne), welche 4-theilige Blüthen und geflügelte Blattstiele besitzt, sich von Para- guay imd Argentinien, sowie von den angrenzenden südlichen Provinzen Brasiliens durch die Anden nach West-Indien und Central -Amerika, sowie bis nach Florida erstreckt, dagegen im mittleren und nördlichen Brasilien, sowie in Guiana fehlt. Neben Macqueria sind als kleinere, aber gut charakterisirte Sectionen zu nennen: Mayu Engl, mit i Art auf Juan Fer- nandez, Tobinia Desv. mit etwa 13 Arten, die durch 3-theilige Blüthen ausgezeichnet sind, auf den west-indischen Inseln und in Columbien; femer in der alten Welt BlacJämmia Forst., ausgezeichnet durch nur theilweise sich ablösendes Endocarp, mit 6 Arten in Nord- Ost-Australien, von denen eine auch auf der Lord Howes Insel vorkommt, und mit 6 sehr variablen Arten auf den Sandwich -Inseln. Diese Arten sind auch dadurch inter- essant, dafe nicht selten die gefiederten Blätter in gefingerte übergehen und von den 4 Blüthenblättem bisweilen je 2 mit einander verwachsen. So sehen wir also an der Peripherie des ausgedehnten Areals von Fagara eigenartige Gruppen dieser Gattung auftreten.

Dieser Überblick über die Xanthexyleae-Evodünae zeigt uns deutlich, dafs diese Gruppe vorzugsweise auf den Inseln und dem westlichen Küsten- gelände des stillen Oceans entwickelt ist, und dafs nur einzelne Gattungen Phys.Ahh. 1896. L 2

10 A. Engler:

weiter nach Westen und Osten vorgedrungen sind , das continentale Afrika und Amerika haben nur Vertreter der Gattung Fagara^ letzteres auch noch solche der Gattung Xanthoxylum aufzuweisen. Bei der grofsen Verbreitung einzelner Arten und Gattungen auf entfernten Inseln und Inselgebieten ist es wichtig, die Verbreitungsmittel dieser Gruppen kennen zu lernen. Die Früchte besitzen nur äufeerst selten ein fleischiges Mesocarp, das Vögel zum Genufs verlocken könnte, es fehlt gänzlich an Haftapparaten, welche ein Verschleppen der Früchte bewirken könnten, und die Samen sind, wie bei allen Rutaceen , so schwer, dafs eine Verbreitung durch den Wind über groise Meeresstrecken hinweg gänzlich ausgeschlossen ist. Aber die Früchte springen auf, und die stets glatten kugeligen, sehr ofl durch starken Metall- glanz und stahlblaue Färbung ausgezeichneten Samen, welche bei der Reichblüthigkeit der Blüthenstände in grofser Zahl producirt werden , liegen offen da in den aufgesprungenen Früchten , festgehalten durch den Funi- culus und oft auch an diesem heraushängend. Die meist recht dicke Samenschale gewährt sicheren Schutz dem reichlichen Nährgewebe und dem in demselben eingeschlossenen Embryo. Leider fehlt es gänzlich an Nachrichten darüber, ob diese Samen von Vögeln aufgesucht, verschluckt und dann in noch keimfähigem Zustande wieder herausgegeben werden; es ist aber kaum anders möglich, dafs dem so ist, denn nur auf diese Weise ist es denkbar, dafs die Verbreitung dieser Pflanzen auf den vul- kanischen Inseln des stillen und indischen Oceans eine so ausgedehnte werden konnte. Wäre die Verbreitung der Xanthoxyleen- Gattungen nicht auf diesem Wege erfolgt, dann bleibt nur die Annahme übrig, dafs alle vulkanischen Inseln des stillen und indischen Oceans einst einem ver- sunkenen Continente angehört haben. Es wäre leichtfertig, diese Annahme auf die geographische Verbreitung der Pflanzen allein zu gründen, bevor man nicht genau über die Verbreitungsmittel der die Inseln bewohnenden Pflanzen unterrichtet ist. Nach meiner Ansicht spricht aber auch noch ein anderer Umstand fiir die erste Annahme, das ist der, daß; vorzugsweise andere Arten auf den oceanischen Inseln wachsen, als auf den Continenten und auf den jetzt insularen, ehemals continentalen Gebieten des indischen Archipels, desgleichen auch die Thatsache, dafs auf einzelnen Inselgebieten, wie den Sandwich -Inseln und den Gesellschafts- Inseln einzelne Gattungen zu einem grofsen Formenreich thum gelangt sind. Daraus ergiebt sich , dals die Besiedelung der vulkanischen Inseln mit den Inlandformen, welche in

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den südlichen Randländern des stillen Oceans ihren Ursprung hatten , sich nicht so oft wiederholt hat wie bei den Arten der Strandformationen, deren Samen und Früchte immer wieder vom Meer herangespült werden. Aus der grofsen Anzahl von nahestehenden Arten einer Insel oder eines Inselgebietes auf ein sehr hohes Alter der Einwanderung zu schlieiäen, halte ich nicht für gerechtfertigt; denn wir sehen nicht selten in Cultur genommene Arten unter neuen Verhältnissen sich in eine grofse Zahl neuer Formen spalten , und es ist auf Inselgebieten mit verhältnüsmäfsig geringer Zahl von concurrirenden Formen ftir eine Art, welche dort geeignete Existenz- bedingungen findet, die Möglichkeit gegeben, sich in einer grö&eren Zahl von Varietäten zu erhalten. Wenn also auch die oceanischen Inseln erst in der Tertiärperiode emporgestiegen sein sollten, so würde die seit der- selben verflossene Zeit sehr wohl zur Entwickelung der auf diesen Inseln vorkommenden endemischen Arten ausreichend gewesen sein. In der Tertiär-* periode waren aber sicher auch im südlichen Australien , auf den südlichen oceanischen Inseln imd in den Süd-Folarländeru die Bedingungen för eine subtropische Vegetation gegeben, so dafs Arten der in Ost -Asien und Australien entstandenen Gattungen auch nach Süd-Amerika gelangen konn- ten, sofern ihre Samen nur von Insel zu Insel verbreitet werden konnten. An die Xanthaxt/leae-Evodiinae schliefen sich an die Lunasünaey die Bemtropidinaey die Choisyinae und Pitaviinae^ die ersteren mit sehr kleinen Blüthen in kleinen kopflförmigen Knäueln und auf die Sunda- Inseln be- schränkt, habituell durch ihre abwechselnden, langgestielten, dünnkrautigen, lanzettlichen und am Rande welligen Blätter mehr an Euphorbiaceen als an die übrigen Rutaceen erinnernd, und die 3 letzteren in den Blättern mit den Evodiinae übereinstimmend, aber mit weifeen Blüthen, sowie die meisten Evodiinae mit Nährgewebe im Samen und mit flachen Keimblättern. Die Decatropidinae und Choisyinae haben wie alle anderen Xanthoxyleae auf- springende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp; die Pitaviinae da- gegen unterscheiden sich von allen anderen Xanthoxt/kae durch steinfrüchtige Theilfrüchte ; sodann sind die Choisyinae durch abfallende Kelchblätter und ziemlich grofse weifse Blumenblätter charakterisirt. Nur die letztere Gruppe ist durch die Gattungen Medicosma Hook. f. und Dataülyea Baill. noch im australischen Gebiet vertreten; erstere findet sich auch in Ost- Australien, letztere auf Neu-Kaledonien. Duiaülyea Baill. weicht von den übrigen Choisyinae dadurch ab, dafs nur ein Staubblattkreis vorhanden ist, stimmt

12 A. Engleb:

aber darin mit mehreren Evodünae überein. Die verwandtschaftlichen Be- ziehungen Ost- Australiens zu den Sandwich-Inseln, welche schon bei Fagara Scott, Blackbumia und Peka hervortraten, zeigen sich auch in der Gruppe der Choisyinae darin, da£s auf den Sandwich -Inseln eine Gattung Phtydesma Mann vorkommt, welche Medicosma Hook. f. nahesteht; sie ist hauptsäch- lich durch verwachsene Staubblätter charakterisirt. Von den 3 noch übrigen Gattungen der Choisymae finden sich PeÜostigmaVfvX^. und Choisya Eunth ziemlich unter denselben Breiten wie Platydemia^ Choisya in Mexiko, Pelto- Stigma auf Jamaika, während die mit Choisya sehr nahe verwandte Gattung Astrophyllum Torr, et Gray in Arizona vorkommt. Auf Central -Amerika sind auch die 3 von Hooker AI. aufgestellten Gattungen der Decatropp- dinaej DecatropiSj Poh/aster und MegasHg^na beschränkt, während die durch steinfrüchtige Theilfrüchte charakterisirte Gattung Püavia Molina nur im mittleren Chile vorkommt. Die meisten dieser Gattungen sind mono- typisch; es würde zu überflüssigen Hypothesen fuhren, wenn wir versuchen wollten, för dieselben irgend einen bestimmten Anschluls bei den Evodünae zu ermitteln; wir begnügen uns mit der feststehenden Thatsache, dafe sie denselben näher stehen als anderen Rutaceen, und wie ihre Verbreitung zeigt, aus dem alten Xanthoxyleenstamm hervorgegangen sind, welcher zur reich- sten Entwickelung von Gattungen an den Gestaden des stillen Oceans und ursprünglich wohl an den dem Südpol zunächst gelegenen gelangt ist.

Ruioideae - Buteae.

Die Ruteae sind mit Ausnahme des im Damara-Land vorkommenden Thamnosma africanum Engl, alle der nördlich gemäfsigten Zone eigenthüm- lich; die Areale der Gattungen convergiren nach den nördlichen Gestaden des stillen Oceans, obwohl gegenwärtig der gröiste Artenreichthum der Gruppe im Mittelmeergebiet anzutreffen ist. Von den Rutinae ist Boenning- hatisenia Rchb. von den Grenzen Afghanistans bis nach Japan verbreitet, die nahestehende Gattung Psilopeganum Hemsley findet sich in der Mitte der Areale von Boenninghausenia in Hupeh im mittleren China. In den Blüthen- merkmalen ist von Psilopeganum Hemsley die ebenfalls bicarpelläre Gattung Thamnosma Torr, kaum verschieden, und die 4 Arten dieser Gattimg haben die eigenartigste Verbreitung in der ganzen Familie : Th. montanum Torr.

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findet sich im südlichen Kalifornien, in Utah und Nord -Amerika, eine zweite Art 2Ä. texanum (Gray) Torr, in Texas, eine dritte Th. socotranum Balf. f. auf Socotra und eine vierte Th. africarmm Engl, im Damara-Land; dabei stimmt die letztere Art mit der socotraner zwar in der Beschaffen- heit der Samen, im Habitus aber mehr mit den amerikanischen Arten überein. Ein diphyletischer Ursprung ist wahrscheinlich die Ursache dieser eigenartigen Verbreitung der heutigen Gattung ThamnosTim Torr. Die nord- amerikanischen Arten, welche wir als Untergattung Euthamnosma Engl, bezeichnen können, dürften wie Psäopeganum von einer mit Boenmnghauserm verwandten Rutacee abstammen, Th. socotranum Balf. f. und Th. afrioanvm Engl., welche die Untergattung Palaeothamnosma ^ngl. ausmachen, dürften aus RtUa oder den nächsten Vorfahren von iSt/Zä hervorgegangen sein. Das isolirte Vorkonmien der süd-afirikanischen Art Th. africanum Engl, zeigt, wie weit entfernt vom Entwickelungscentrum einer Gruppe einzelne Arten der- selben noch auftreten können, wenn solche erst wieder die eigenartigen Existenzbedingungen wiederfinden, welche in dem ersteren dargeboten wurden. Die artenreichste Gattung der Gruppe, Ruta L., ist von Dahurien bis nach den kanarischen Inseln verbreitet, sie ist bekanntlich im Mittel- meergebiet überall anzutreffen und in den Steppengebieten desselben mit der sehr formenreichen Secüon Haplophj/Uum vertreten, welche auch noch ganz besonders dadurch interessant ist, daüs bei ihr eine Reduction in der Zahl der Samenanlagen von 6 auf 2 und auch geschlossene Theil- früchte an Stelle der aufspringenden vorkommen. Entsprechend den kli- matischen Verhältnissen finden wir bei RtUa alle Übergänge von der Staude zum Halbstrauch und auf den kanarischen Inseln sogar eine Art Rtäa pinnata L. f., die wie so viele kanarische Arten mediterraner Gattungen unter dem Einflnüs des gleichmäCsigen Klimas sich zu einem Strauch ent- wickelt hat. Endlich ist noch den RuHnae die durch i Carpell, gegen- ständige Blätter und strauchigen Wuchs ausgezeichnete Gattung Cneoridium Hook. f. zuzurechnen, welche auf das südliche Kalifornien beschränkt ist. Wir sehen also die Mehrzahl der Gattungen der RuHnae auf der nörd- lichen Hemisphaere in den Ländern zu beiden Seiten des stillen Oceans. Die auf dem Höhepunkt der Entwickelung stehende Gattung RtUa ist aller- dings in Ost -Asien nicht durch Arten vertreten, welche so wie die medi- terranen echten Ritta den Ausgangspunkt ftu* die in dieser Gattung auf- getretenen Umgestaltungen bilden konnten , und es ist daher nicht imwahr-

14 A. En6L£b:

scheinlich, dafs Rvia von einer ost- asiatischen Stammform abstammt, aus der anderseits Boenninghausenia hervorgegangen ist. Die Dktamninae ent- halten nur I Art Dictainnus albush., von der allerdings verschiedene Varietäten unterschieden werden können; aber es ist nicht möglich, dieselben schärfer zu begrenzen. Wie aus dem Verbreitungskärtchen zu ersehen ist, ist das Areal von Dictamnus etwas weiter nach Norden vorgeschoben, als das- jenige von Ruta und reicht auch noch etwas weiter nach Osten. Dic- tamnus ist keineswegs sehr nahe mit den Ruteae verwandt, der Habitus ist ein anderer als bei diesen und die wenn auch schwache Zygomorphie der ansehnlichen Blüthen ist ein hervorragendes Merkmal; durch das sich ablösende Endocarp nähern sich die Dtctamninae mehr den Xanthoxyleae als die RuHnae, und es ist ganz zweifellos, dafs Dictamnus neben den Rutinae selbständig entstanden ist imd nicht dem Zweig der vorher besprochenen Gattimgen angehört.

Rutoideae - Boronieae.

Unter den übrigen Gruppen der Rutoideae sind zunächst die Boronieae zu betrachten, meist Halbsträucher imd Sträucher mit gegenständigen oder wechselständigen, bisweilen gedreiten oder gefiederten Blättern und mit ziemlich ansehnlichen, coroUinisch gefärbten Blüthen. Die zahlreichen (17) Gattungen, welche zusammen etwa 145 Arten umfassen, gehören zu den charakteristischen Bestandtheilen der Gesträuchflora in den Küstenländern von Ost-, Süd- und West -Australien, namentlich auch der gebirgigen Gegenden. Da sie alle in ihren Samen Nährgewebe besitzen und ab- gesehen von den corollinischen Blüthen sich von den Xanthoxyleae-Evo- diinae vorzugsweise durch den stielrunden Embryo mit schmalen Keim- blättern unterscheiden, so ist ganz sicher, dafs die Boronieae nichts weiter, als etwas vorgeschrittene XantJioxyleae - (Evodiinae) sind, welche sich in Australien und auch nach dem benachbarten ehemals wohl mit Australien verbundenen Neu-Kaledonien ausgebreitet haben, im Übrigen niu* noch mit einer Art in Neu -Seeland vertreten sind. Die Blüthen Verhältnisse com- pliciren sich in dieser durchweg auf Insectenbestäubung angepafsten Gruppe erheblich; die Staubblätter sind bald in 2 Kreisen fertil, bald nur in dem einen, bald auf einen einzigen Kreis beschränkt. Innerhalb der beiden

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grössten Untergruppen, der Boroniinae mit gegenstandigen Blättern und der Eriosiemaninae mit wechselständigen Blättern stehen sich die Gattungen aufserordentlich nahe , so dais dieselben auch verschieden begrenzt werden. In Süd- und West -Australien treten die Boronieae sparsamer auf als in Ost- Australien, und hier sind auch Gattungen mit weiter voi^schrittenen Blfithen und Blüthenständen entstanden, die als Vertreter eigener Untergruppen zu gelten haben. Bei Cornea, die auf das südliche Australien beschränkt ist, finden wir vollständige Sympetalie der Blumenkrone, dasselbe auch bei Nemor tolepis Turcz. im südlichen West- Australien, doch kommt hier noch hinzu, dais die Staubblätter mit Ligularbildungen versehen sind wie bei der Gattung Chorilaena Endl., welche auch nur auf einen kleinen Theil West-Australiens beschränkt ist. Bei den ebenfalls nur in West-Australien entwickelten Diplolaenifiae, welche ebenso wie die Nematolepidinae sich mehr an die Erio- stemaninae und am meisten an die Gattungen Phebalium A. Juss. anschlieisen, sind die Blüthen der einzelnen Blüthenstände dicht köpfchenförmig zusam- mengedrängt, die Tragblätter der Inflorescenz zu einem dreireihigen In- volucrum vereinigt und die inneren Blätter coroUinisch ; in Correlation mit dieser Vergröiserung der Tragblätter steht die gSnzliche Verkümmerung der Kelchblätter und eine erhebliche Verkleinening der Blumenblätter, während die Staubblätter und Griflfel sehr stark verlängert sind. Auf diese Weise hat der Blüthenstand grofee Ähnlichkeit mit einer Einzelblüthe bekommen. Ein Blick auf die Darstellung der Verbreitung der Boronieae zeigt, dafs die- selben mit Ausnahme von Boroma Smith und PMloiheca Rudge auch in Nord -Australien fehlen; sie gedeihen am besten in den extratropischen Gebieten Australiens. Dafs sie auch auf Neu-Kaledonien mit mehreren Arten und theilweise endemischen Gattungen vertreten sind, dürfte auf den auch durch andere Verbreitungserscheinungen höchst wahrscheinlich gemachten einstigen Zusammenhang dieser Insel mit dem australischen Fest- Land zurückzuführen sein. Die einzige neuseeländische Boroniee Phdxilium nvr dum Hook f. steht dem ost- australischen Ph. elatius F. Müll, sehr nahe; es ist daher nicht ganz unwahrscheinlich, dafs diese Art aus Ost-Australien in Neu- seeland eingewandert ist. Im Allgemeinen liegen bei den Boronieae die Verhältnisse für die Verbreitung der Samen durch Vögel nicht so günstig wie bei den XanthoxyJeae , da die Samen nach dem Aufspringen der Früchte bald ausfallen , während sie bei den XantJioxyleae meist lange Zeit von dem Funiculus festgehalten werden.

16 A. Engler:

Die ungemein formenreiche Entwickelung der Boronieae auf Australien mit sparsamerer Vertretung auf Neu-Kaledonien hat bekanntlich ihr Ana- logen bei zahlreichen anderen Familien oder Unterfamilien, von denen einzelne auch auf Australien beschränkt sind, ich erinnere nur an die AsphodeUndeae-Johnsomeaej Dasypogonmej Lomandreuej Calectasieae; an die Casiuirinaceaej an die Proteaceae-Persoonioideae-Persoonieaej Franklandieae und Conospermeaej Gre^iMeoideae-GremUeeas und Banksieae; an die Euphar- biaceae^Stenolobeae; an die StercuUaceae-Lasiopetaleae; an die Diüeniaceae' Hibbertieae; an die Myrtaceae-Leptospermeae und Chamaelaucieae; an die La- biatae-Prostantheroideae. Es ist aber auch darauf aufinerksam zu machen, dafs in ähnlicher Weise wie die Boronieae Australiens sich morpholo- gisch an die weiter verbreiteten Xanlhoxyleae anschlie&en, auch mehrere der genannten Pflanzengruppen mit anderen weiter verbreiteten Gruppen derselben Familien nahe verwandt sind, und femer ist hervorzuheben, dals in ähnlicher Weise wie bei den Boronieae -Nematolepidinae und Dir plolaeninae auch bei mehreren der anderen Pflanzengruppen sehr gedrängte Blüthenstände , theilweise mit reducirten Blüthen auftreten. So finden wir bei den Johnsonieaej Dasypogoneae und Lomandreae gedrängte ähren- förmige oder köpfchenförmige Blüthenstände, bei welchen die Blüthen mehr oder weniger von Hochblättern bedeckt \md mit häutigen oder hoch- blattartigen Blüthenhüllen versehen sind. Unter den australischen Protea- ceae sind die Banksieae durch sehr gedrängte, zusammengesetzte, ahren- förmige oder kopfi&rmige Blüthenstände ausgezeichnet, während die ihnen nahestehenden und weiter verbreiteten GremUeeae vielfach noch weniger gedrängte Blüthenstände aufzuweisen haben. Die Lasiopetaleae sind nach Schumann (in Engler-Prantl, Pflanzenfam. IV. 6 S. 90) mit den weit verbreiteten BüUnerieae nahe verwandt und speciell mit der nicht blofs in Australien, sondern auch auf Madagascar vorkommenden Gattung Rvr lingia; ihre Blumenblätter sind klein und schuppenförmig oder fehlen ganz; hier sind die Blüthen reducirt, während der Blüthenstand bei den meisten noch ein lockerer ist. Bei den australischen Dilleniaceae- Hibbertieae finden sich häufig unterhalb der einzeln stehenden Blüthen mehrere Vorblätter, welche darauf schliefsen lassen, dafs ursprünglich dichasiale Blüthenstände vorhanden waren, von denen nur die Endblüthe zur Entwickelung gelangt ist. Die in Australien so ungemein reich entwickelten Myrtaceae-Lepto- spermoideae sind mit wenigen Arten auch im indisch -malayischen Gebiet

über die geogr.Verhreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 17

und im Kapland vertreten; aber die Gruppe der Chamaehucieae ist auf Australien beschränkt; sie ist zugleich diejenige, bei welcher die Familie der Myrtaceae die weitestgehende Reduction erreicht hat, indem das Gynft- ceum auf ein Carpell reducirt ist, das meist nur wenige Samenanlagen und bei der Reife nur einen Samen enthält; bei der zu dieser Gruppe gehörigen Gattung Darwinia sehen wir die Kelchblätter und Blumenblätter in der mannigfachsten Weise entwickelt, bisweilen ganz reducirt und schliefelich bei Darmnia macrostegia (Turcz.) Benth. und einigen anderen Arten einen köpfchenförmigen Blüthenstand mit hochentwickelten coroUi- nischen Involucralblättern. Endlich ist auch noch darauf hinzuweisen , dafs bei allen genannten Gruppen mit gedrängten Blüthenständen oder reducirten Blüthen die meisten Arten in West- und Süd -Australien anzutreffen sind, wo eben auch die gedrängtblüthigen Boronieae vorkommen. Es hängt dies wohl damit zusammen, dafs in Süd- und West -Australien auf die Zeit der Winterregen ein langer regenloser Sommer erfolgt, der der Entwickelimg geschlossener Blüthenstände mit sitzenden Blüthen besonders günstig ist. Dafe auch unter anderen klimatischen Verhältnissen und in anderen Erd- theilen Pflanzen mit verkürztet Blüthenständen häu% genug vorkonmaen, ist ja bekannt; hier handelt es sich blofs darum, zu zeigen, dafs bei einem Theil der Australien eigenthümlichen Gruppen eine bestimmte Entwicke- lungsrichtung in West -Australien häufiger ist als in Ost-Australien.

Rutoideae - Diosmeae.

Wir kommen mm zu den Diosmeae^ die mit nahezu i8o Arten in Süd -Afrika auf einen viel kleineren jSaum eingeschränkt sind als die Bo- ronieae in Australien. Die Frucht zeigt äufserlich dieselbe Beschaffenheit wie bei den Xanthoxyleae und Boronieae^ aber das Nährgewebe wird hier frühzeitig vom Embryo aufgenommen, und die reifen Samen enthalten nur den letzteren mit dicken fleischigen Keimblättern; es sind somit die Dios- meae in ihrer Samenentwickelung weiter vorgeschritten als die Boronieae imd die meisten Xanihoxyleae; auch im Andröceum ist meistens der Fort- schritt eingetreten , dass die vor den Blumenblättern stehenden Staubblätter staminodial geworden oder ganz abortirt sind. Es sind 3 Untergruppen zu unterscheiden, die Calodendrinae mit der monotypischen Gattung Calo- Phys. Ahh, 1896. L 3

18 A. Ekgler:

dendron Thunb., ein schöner Baum mit grofsen, schwach zygomorphen Blüthen und theil weise anhaftendem Endocarp in den Früchten, vom öst- lichen Theil der Kapkolonie bis Natal verbreitet und auch im Hochland von Leikipia, die sehr zahlreichen Diosminaej meist kleine Straucher mit einfachen Blättern, oft von heidekrautartigem Habitus, meist mit zahlreichen bimten för Insectenbefruchtung eingerichteten Blüthen, und die Empleurinae, eine sehr kleine Gruppe mit eingeschlechtlichen Blüthen, die bei Empleu- Tum Soland. blumenblattlos geworden sind und, wenn sie weiblich sind, nur ein einziges fertiles Carpell entwickeln. Diese Diosmeae stehen den Xanthaxf/leae-EvodÜTuie nicht so nahe wie die Boromeae^ aber sie kommen doch dieser Untergruppe der Xanthoxyhae näher als jeder anderen , zumal gerade einzelne Gattungen der Evodiinae auch nährgewebslose Samen be- sitzen; irgend welche engere Verbindung mit einer der jetzt lebenden Gat- tungen der Evodiinae ist aber nicht zu constatiren ; sie müssen sich daher von ihnen sehr frühzeitig abgezweigt haben. Noch mehr als bei den Boronieae tritt bei den Diosmeae im Gegensatz zu den Evodiinae die con- tinentale Verbreitung hervor, welche darauf beruht, dafe, wie bei den So- ronieae, die Samen aus den sich öfl&ienden Früchten bald herausfallen und nicht, wie bei den Evodiinae, lange Zeit den Vögeln zugänglich sind, dem- nach auch nicht über das Meer hinweg transportirt werden können.

Rutoideae - Cu^arieae.

Eine dritte von den Xanthoxykae abzuleitende Gruppe ist die der Cusparieae im tropischen Amerika. Bei den Pilocarpinae mit den Gattungen Püocarptis Vahl, Esenbeckia H. B. Kunth und Metrodorea St. Hil. finden wir noch Blüthen mit schwach corollinischer Ausbildung, wie sie etwa bei Fagara L. imd Evodia Forst, vorkommen. Ein engerer Anschlufe dieser Gattungen an die im tropischen Süd -Amerika so reich entwickelte Gattung Fagara L. ist nicht vorhanden ; dagegen dürften diese Cusparieae von dem Xanthoxyleen-Stamm herzuleiten sein, aus dem die hauptsächlich in Central- Amerika und West -Indien heimischen Chovsyiruxe entstanden sind, sicher aber nicht direct von den Choisyinae\ denn in der Ausbildung der Blumen- krone stehen die Cusparieae - Pilocarpinae auf niederer Stufe als die Choisyinae, durch die Entwickelung nährgewebsloser Samen stehen sie auf höherer

über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 19

Stufe als diese. Von den 3 Gattungen der Püocarpinae nimmt wieder Püocarpus Vahl, welche nur wenig über das continentale Süd -Amerika hinaus verbreitet ist, durch die traubige Anordnung der Blüthen und die bei der Reife weitergehende Trennung der Carpelle eine Sonderstellung gegenüber den beiden Gattungen Esenbeckia H. B. Kunth und Meirodorea St. Hil. ein, welche unter einander näher verwandt sind. Meirodorea St. Hil. ist auf einen kleinen Bezirk im süd- östlichen Brasilien beschränkt, Esenbeckia H. B. Kunth dagegen ist über Süd- Amerika hinaus bis nach West -Indien und Mexiko verbreitet. Bei Päocarpm Vahl finden wir fiede- rige Blätter, gedreite und einfache, während bei den beiden anderen Gat- tungen ausschlieXslich gecjreite Blätter vorkommen, welche auch bei den meisten amerikanischen Toddalieae angetroffen werden; da nun diese auch ziemlich kleine, grünliche oder grünlich weifse Blüthen besitzen, so sind dieselben im blühenden Zustande oft den Esenbeckien sehr ähnlich,. und es ist bei Fehlen von Früchten Unsicherheit bezüglich der systematischen Stellung vorhanden.

Die zweite Untergruppe der Cusparieaey die Ouspariinae, um&fst aulser der einzigen einjährigen Gattung der Familie, aulser Monmeria L. zahlreiche Gattungen kleiner Bäumchen und Sträucher, welche entsprechend ihrem ausschliefslichen Vorkommen in den feuchten Tropenwäldem Amerikas groisentheils sehr ansehnliche gefingerte oder gedreite oder auch auf ein Blättchen reducirte Blätter besitzen. Während die Fruchtbildung ganz mit der der Pilocarpinae übereinstimmt, der Embryo auch wie dort stark ge- krümmt ist, tritt in den Blüthen der Cusparieae eine so weitgehende fort- schreitende Entwickelung hervor, wie bei keiner anderen Gruppe der Familie. Die Blütenaxe stellt nicht selten einen concaven Becher oder einen hohlen Cylinder dar, welcher den unteren Theil des Fruchtknotens umschlieist und bisweilen mit den Staubblättern abwechselnde Effigurationen besitzt; bei der stark zygomorphen Blüthe von Monnieria L. wird der Discus ein- seitig. Die Kelchblätter zeigen bei Erythrochüon sehr weitgehende Ver- wachsung und corollinische Färbung, während bei Ravenia Vell. und Monr nieria L. die frei bleibenden äufseren Kelchblätter sich auffallend vergröisern. Die Blumenblätter sind bei allen lineal- lanzettlich oder länglich und auf- gerichtet; bei Leptothyrsa Hook, f., Almeidea St. Hil. und Spircmthera St. Hil. sind sie noch frei; aber bei den zahlreichen übrigen Gattungen hat die aufrechte Stellimg der seitlich an einander liegenden Blumenblätter zu

20 A. Enoleb:

vollständiger Sympetalie gefuhrt, wie bei Correa. Die Blüthen waren nach dieser Gestaltung vorzugsweise zur Bestäubung durch Insecten mit Rüssel geeignet. Es ist nun durchaus wahrscheinlich, dafe mit dem Fortschritt der Insectenbefruchtimg in dieser Gruppe die Zygomorphie weiter vorge- schritten ist und sich namentlich auch auf das Andröceum erstreckt hat. Vielfach finden wir 2 hinten stehende Staubblätter, das mediane und ein seitliches kräftiger entwickelt als die übrigen 3, oder sie sind allein fertil, und die 3 vorderen Staubblätter in Staminodien umgewandelt. Auch bei dieser Gruppe fallen die reifen, ziemlich grofsen Samen bald aus; es ist somit auch hier mehr die continentale Verbreitung begünstigt. Die Gattungen Erythrochüon Nees et Mart., Raputia Aubl. imd RaveniaYeVL, sind am weitesten verbreitet , wenn auch arm an Arten ; alle übrigen Gattungen überschreiten nicht die Landenge von Panama; am artenreichsten und verbreitetsten ist unter diesen Ctisparia, während die meisten anderen Gattungen nur kleine Bezirke einnehmen. Die ganze geographische Verbreitung der Ctisparünae und ihre eigenartige morphologische Entwickelung zeigt, dafe ihre Ver- breitung von Süd -Amerika ausgegangen ist; sie müssen sich frühzeitig von dem Stamm der Xanthoxt/leae , aus dem die Pihcarpinae hervorgegangen sind, abgezweigt haben. Für ein sehr hohes Alter der Cuspariinae spricht auch der Umstand, dafs die Areale der gröfeeren Gattungen sehr unter- brochen sind.

Toddalioideae.

Es bleiben uns nun von den gröfseren Gruppen der Rutaceen noch die Toddalioideae und Aurantioideae übrig, beide mit weitergehender Ver- einigung der Carpelle als die Rutoideae\ die ersteren steinfrüchtig mit nur theil weise saftigem Pericarp oder mit trockenen Flügelfioichten, die letzteren mit ganz fleischigem Pericarp, somit beide zur Verbreitung durch Vögel geeignet. Bei den steinfrüchtigen Toddalioideae ist der Same im Magen des Vogels durch das steinige oder krustige Endocarp mehr geschützt als bei den Aurantioideae^ doch ist bei letzteren die Samenschale meist dicker als bei den ersteren. Die Toddalioideae sondern sich in die pluricarpellären Toddaliinae imd Pteleinae und in die unicarpellären Amyridinae, Die Tod- daliinae sind in fast allien tropischen und subtropischen Ländern, wenn auch nirgends in grofser Zahl anzutreffen.

über die geogr. Verbreit. d. Ruiaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 21

Im nördlichen extratropischen Eüstengelände des stillen Oceans haben wir zunächst die Grattung Phellodendron Rupr. im Amurland und auf Japan» vom Habitus der in Ost -Asien vorkommenden i^a^^ara- Arten und dadurch von den übrigen Toddalieae abweichend; im tropischen Eüstengelände des stillen Oceans finden wir im Westen und zum Theil weit nach Indien und China verbreitet die Gattung Acront/chia Forst, mit etwa 17 Arten, und an sie schliefsen sich die ebenfalls mit einfachen Blättern versehenen Gattungen Skimmia Thunb. und Haifordia F. Muell. an, die erstere von der Grenze Afghanistans an durch den Himalaya bis Hupeh verbreitet imd dann auch in Japan und auf Sachalin, die letztere im tropischen Ost- Australien und auf Neu-Kaledonien i^usammen mit Acronychia. Sodann erreicht ebenfalls die Küsten des stillen Oceans die kletternde Toddalia aculeaia Lam., welche auch im Himalaya, in den Gebirgen Vorder -Indiens, auf den Mascarenen, auf Madagascar und in den Gebirgen Ost- Afrikas nicht selten ist; das zerstreute Vorkommen dieser Art in von einander entfernten tropischen Gebirgsländem ist auf keinen Fall anders zu erklären als durch den von Vögeln bewirkten Transport. Mit Toddalia verwandt sind Toddaliopsis Engl, und Vepris Comm., von denen die erstere nur an der Ostküste Afirikas, die andere in Ost- Afrika, auf Madagascar, den Mascarenen und im west- lichen Vorder -Indien mit 6 Arten vertreten ist. Au&er diesen 3 \mter einander ziemlich nahe verwandten, in Afrika vorkommenden Gattungen ist im westlichen tropischen Afrika noch eine neue Gattung Araliopsis Engl, endemisch, die durch 2 -sämige Steinkerne charakterisirt ist, ein Verhalten, welches auch bei der süd- amerikanischen Gattimg Hortia Vandelli vor- kommt, doch hat diese mit Araliopsis sonst nichts gemein. Mit den alt- weltlichen Gattungen der Toddaliinae stimmen auch die einander ziemlich nahe stehenden Gattungen Sargentia Wats. und Casimiroa Llav. et Lex. nur in den allgemeinen Blüthen Verhältnissen überein, dagegen weichen sie von den altweltlichen Gattungen hauptsächlich durch ihr sehr fleischiges Sarcocarp ab, und Casimiroa, deren Samen wir kennen, ist ganz besonders durch die grofsen Früchte mit nährge webslosen Samen und dicken Eotyle- donen charakterisirt. Man wollte Casimiroa aus diesem Grunde auch zu den Aurantioideae stellen; aber die Früchte von Casimiroa besitzen krustige Steinkerne, wie sie bei den Aurantioideae nie vorkommen; die Beschaffen- heit der Samen ist bei den Toddalioideae ebenso wie bei den Xanthoxyleae eine ungleiche. Jedenfalls stehen die amerikanischen Toddaliinae in keiner

22 A. Engleb:

nahen Verwandtschaft zu denen der alten Welt ; es ist daher sehr wahr- scheinlich, dafs sie sowohl in der alten wie in der neuen Welt gleich- zeitig entstanden sind. Die Gruppe der Ptekinae dagegen, welche durch geflügelte Trockenfrüchte charakterisirt ist, fehlt in der alten Welt gänz- lich; die beiden Gattungen Balfaarodendron Hook. f. und Helietta Tul. sind auf das tropische Amerika, Pteka L. auf das extratropiscbe Nord -Amerika beschränkt. Irgend welcher Übergang zwischen dieser Untergruppe und der der Toddaliinae in der Fruchtbildung existirt nicht. Den ToddaUeae sind auch die Amyridinae anzureihen, welche sich von den nShrgewebs- losen Toddalünae nur dadurch unterscheiden, dafs das Gynäceum ein einziges Carpell enthält; im tropischen und extratropischen Afiika haben wir nur die 6 Arten zählende Gattung Teclea Delile, welche von Abyssinien bis Natal, auf Madagascar und den Comoren verbreitet ist, in West -Indien imd Central -Amerika, sowie in den angrenzenden Gebieten die Gattung Amyris (P. Br.) L. mit etwa 14 Arten. Ein Übergang von den unicarpel- lären Amyridinae zu den pluricarpellären Toddaliinae ist nicht vorhanden; mir scheint es wahrscheinlich, dafs diese Gruppe diphyletisch ist, denn die afrikanischen Teclea haben habituell mit den amerikanischen Amyris wenig Merkmale gemein und anderseits sind die Teclea, abgesehen von der Entwickelung nur eines Carpelles, den Gattungen Vepris und Toddaliopsis recht nahestehend.

Aurantioideae.

Die Aurantioideae sind, wie die Verbreitungskärtchen angeben, aus- schlielslich in der alten Welt und zwar vorzugsweise im indisch -malayischen Gebiet heimisch, namentlich auch in dem hierzu gehörigen tropischen Austra- lien. Die Aurantieae können wir in 2 Untergruppen spalten, in die Li- monnnae und Ciirinae, erstere nur mit je 2 Samenanlagen in jedem Fach des Fruchtknotens, letztere mit mehreren Samenanlagen. Unter den Li- moniinae haben die Gattungen Micromelum Bl., Clausena Burm., Glycosmis Correa, Luvunga Ham. den Habitus der Xanthoxykae-Evodiinae und nur kleine Beerenfrüchte; besonderes Interesse gewährt von diesen Gattungen hinsichtlich der Verbreitung nur Clausena Burm., die über Vorder -Indien hinaus im tropischen und südlichen Afrika ausgedehnte Verbreitung ge-

über die geogr. Vet^breit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 23

funden hat. Für die Gattung Triphasia Lour., die durch 3-gliedrige mittel- gTotsBy weifee Blüthen ausgezeichnet ist, habe ich kein Verbreitungskärtchen entworfen, da über die Heimat dieser in Vorder -Indien häufigen, im tropischen Asien imd auch in West -Indien cultivirten Pflanze noch Zweifel bestehen. Anschaulichere Blüthen kommen bei Murraya L. und Limonia Burm. vor, von welcher Gattung ich auch 4 Arten im tropischen Afrika nachweisen konnte. Bei AtalarUia Correa und Paramignya Wight, welche nur einfache Blattspreiten besitzen wie die meisten Citrus ^ auch wie diese nicht selten auffallende Verdorrung der ersten Blatter ihrer Knospen zeigen, treten ebenfalls gröfeere Blüthen mit weüDsen Blimienblättem auf; AtalanMa Correa kommt auch den Cürinae noch dadurch näher, dafs die Staubfäden wie bei Citrus stark verbreitert sind und bisweilen mit einander verwachsen. Trotzdem möchte ich aber nicht annehmen, da£s die Cilrinae von den Xt- monänae abzuleiten seien , vielmehr halte ich es f&r das Wahrscheinlichere, dafs die älteren Aurantioideae sich in solche mit vieleiigen und zweieiigen Carpellen gesondert haben. Dazu konmit noch, daCs die Cürifuw die Nei- gung besitzen, eine gröfsere Anzahl von Carpellen zu entwickeln, als Blumenblätter vorhanden sind, und dafs auch bei Citrus bisweilen Neigung zur Apocarpie beobachtet wird; es zeigen also die Citrinae in ihrem Gynä- ceum sehr ursprüngliche Verhältnisse. Unter den Citrinae nimmt dann wieder eine sehr eigenartige Stellung die in Vorder-Indien verbreitete Fe- ronia ElepharOuin Correa ein, da die Carpellränder nicht vollständig zu- sammenschlieXsen, und die parietalen Placenten mit zahlreichen an den Flächen stehenden Samenanlagen besetzt sind. Bei Aegle Correa und Citrus L. stehen die Samenanlagen in 2 Reihen; aber auch diese beiden Gattungen sind nicht sehr nahe verwandt, denn Aegle hat die höchst auffallende Eigenschaft, dals die Samen behaart sind, und die Polyandrie des Andrö- eeums scheint nicht auf Spaltung von Primordien zu beruhen, wie sie bei Citrus beobachtet wird. Eine ziemlich auffallende Verbreitungserscheinung ist die, dafs au&er der in Ost- Indien verbreiteten Aegle Marmelos{L.) Correa noch eine zweite Art A. Barteri Hook. f. im Nigergebiet des tropischen Afrika vorkommt. Über die Heimat der cultivirten Götmä- Arten herrscht noch grofse Ungewi&heit, da sie in den wärmeren Ländern, wo sie ein- mal cultivirt werden, auch verwildem; auf unserem Kärtchen sind nur diejenigen Gebiete eingezeichnet, in denen das Vorkommen von Citrus ein sicher oder höchst wahrscheinlich spontanes ist. (Vergl. hierüber Citrus

24 A. Engler:

in Engler-Pranti, Die natürlichen Pflanzenfamilien III 4, S. 196-200, sowie auch für die übrigen Gattungen die dort gemachten Verbreitungs- angaben.)

Wenn wir die Verbreitungserscheinungen innerhalb der Familie der Rutaceen imd die Entwickelung der einzelnen Gruppen noch einmal über- blicken, so treten uns als Ergebnisse von allgemeinerer Bedeutung folgende entgegen:

I. Einige Gruppen zeigen einen grofsen Reichthum nahe ver- wandter Formen auf beschränktem Gebiet. Dies ist im höchsten Grade der Fall bei den Rutoideae-Diosmeae und Rutoideae-Boronieae. Ihre Gattungen und in diesen die Arten stehen einander so nahe, dafs wir diese Gruppen als auf dem Höhepunkt der Entwickelung befindlich an- sehen können. Nichtsdestoweniger bleiben sie auf engere Gebiete be- schränkt wegen ihrer Organisation. Beide Gruppen enthalten subtropische dauerblättrige Sträucher und Halbsträucher, welche einerseits von den aus- gesprochenen Xerophytengebieten , anderseits von den Gebieten der Hydro- megathermen ausgeschlossen sind. Der Ursprung dieser Gruppen mufs in den südlichen extratropischen Gebieten gewesen sein; sie haben sich nicht weiter nach dem Aequator hin verbreiten können, weil einerseits ein Klima mit länger andauernder Feuchtigkeit imd Wärme, anderseits ein Klima mit sehr langer Trockenperiode ihrer Verbreitung entgegentrat; da sie femer ihre Samen bald auswerfen , und dieselben wohl nur selten im keimfähigen Zustande über das Meer gelangen, so sind sie auf enge Gebiete beschränkt geblieben. Bei diesem Verhalten der Diosmeae und Boronieae ist sowohl die Existenz von Calodendron in den Gebirgen von Leikipia wie das Vor- kommen einiger eigenthümlicher Gattungen d^tv Boronieae in Neu-Kaledonien sehr beachtenswerth. Calodendron ist, wie mehrere andere kapländische Arten und Gattungen, in Ost -Afrika nur auf den Gebirgen anzutreffen, welche einstmals unter einander und mit denen Süd -Afrikas in gröfserem Zusammenhang standen als jetzt. Somit ist das disjuncte Vorkommen von Calodendron dadurch zu erklären, dafs in dem ehemals mehr zusammen- hängenden Areal Lücken entstanden sind. Dafs von den Boronieae einige eigenthümliche Gattungen in Neu-Kaledonien vorkommen, trotzdem die Boronieae sich im Allgemeinen nicht über das Meer hinweg verbreiten,

über die geogr. VerbreU. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 25

spricht dafür, dafs einst ein indirecter Zusammenhang zwischen Australien und Neu-Kaledonien bestand. Es wird von Suefs (Antlitz der Erde U. 203) darauf aufinerksam gemacht, daCs nach Clarke die östliche Fortsetzung des australischen Festlandes durch eine jüngere Senkung abgeschnitten sei, da die die Südküste Australiens begleitenden Meeresablagerungen der ganzen Ostküste fehlen, und daüs auf Lord Ho wes- Insel sich Reste riesiger Land- thiere, von Eidechsen, gefimden haben, welche daselbst in noch sehr junger Zeit lebten. Die groise Verwandtschaft der neu-kaledonischen Flora mit der von Australien macht es durchaus wahrscheinlich, dafs über die Lord Howes-Insel hinweg eine Verbindung Australiens mit Neu-Kaledonien be- standen hat. Wir finden femer in einzelnen Gebieten eine ganz besonders reiche Entwickelimg einer Gattung oder einer Gattungssection ; solche zeigt Fagara Sect Tobinia in West- Indien und Columbien, welches oreographisch durch den Inselbogen der Antillen und nicht durch die Landenge von Pa- nama mit Mexiko verbunden ist, Fagara Sect. BhcJdmmia mit einem sehr eigenartigen und Neubildungen zeigenden Formenschwarm auf den Sand- wich-Inseln, Platydesma mit 4 Arten und Pelea Sect. Eupelea ebenda, Rvia Untergattung UaplaphyUum mit etwa 50 Arten vorzugsweise im östlichen Mittelmeergebiet und Central- Asien und zwar mit Arten, welche so ver- schiedenartige Carpell- und Fruchtbildung aufweisen, daCs, wenn einstmals die Bindeglieder verschwunden sein sollten, mit Leichtigkeit mehrere Gat- tungen daraus gemacht werden könnten , Metrodorea im südlichen Brasilien, ein Theil der Gusparieae (CusparüZj Galipea^ Ticoreä) in Süd -Amerika, Amyris mit etwa 13 Arten auf dem schon oben erwähnten Bogen, der von Mexiko über die Antillen nach Columbien filhrt, Teclea im tropischen Afrika, Gly- cosmis im indisch -malayischen Gebiet. Diese Thatsachen sind fiir die Ent- wickelung der Arten ganz besonders lehrreich, weil sie zeigen, wie in einem Gebiet, welches einem Typus besonders zusagende Bedingungen ge- währt, derselbe sich in ähnlicher Maimigfaltigkeit ausgestalten kann, wie bisweilen eine Culturpflanze , von welcher auf einem ihr zusagenden Terrain durch künstliche Femhaltung der Concurrenten zahlreiche Varietäten er- halten werden.

2. Einige Gruppen zeigen auf beschränktem Gebiet eine

ziemlich grofse Zahl entfernt stehender Formen oder Gattungen,

so die Xanthoxyleae'Evodiinae (6 Grattungen) in Ost -Australien, die Xan-

thoxyleae-Decatropidinae (3 meist monotypische Gattungen) in Mexiko und

Phys.Abh, 1896, L 4

26 A. Engler:

West -Indien, die Choisyinae (3 Gattungen) in Mexiko und West -Indien, die Xanthoxt/leae- Lunasiinae und die Aurantieae im indisch -malayischen Gebiet. Diese Gruppen stehen gerade im Gegensatz zu denen der vorigen Kategorie ; es sind Gruppen, welche ein hohes Alter besitzen müssen, da die Binde- glieder zwischen den jetzt noch existirenden Grattungen fehlen.

3. Einige Gruppen und Gattungen besitzen ± zahlreiche Formen in von einander entfernten Gebieten, so XafUhoxylum in der nördlichen Hemisphaere , Fagara in der nördlichen und südlichen Hemi- sphaere, Evodia mit Boninia und Orixa auf der östlichen Halbkugel, Clausena und Toddalia im palaeotropischen Gebiet Dies sind entweder Gattungen, deren Samen oder Früchte zur transoceanischen Verbreitung durch Vögel geeignet sind , oder es sind sehr alte Gattungen , welche früher mehr pol- wärts existirt haben müssen und, gegen den Aequator hin gewandert, nun- mehr durch grölsere Zwischenräume von einander getrennt sind. Das erste triflft für die meisten XarUhoxykae-Evodünae zu, das zweite auiserdem fiir die Gattung XarUhoxylum.

4. Einzelne Gruppen und Gattungen enthalten nur wenige Formen, die in weit von einander entfernten Gebieten vorkommen. Hier sei erinnert an die Choisyinae y zu denen ich auJser 2 central -ameri- kanischen Gattungen und einer west- indischen auch noch einige pacifische rechne; femer an das disjuncte Vorkommen der Arten von Thamnosma, BapiUiaj Erytiirochitorij Ravenia, an die getrennten Areale der 3 Gattungen der Pteleinae und der zahlreicheren Toddalnnae. Man ist oft geneigt, in solchen Fällen anzunehmen, dafs man Reste von früher weiter verbreiteten und formenreicheren Gruppen oder Gattungen vor sich habe; es ist dies aber bei den genannten Rutaceen schwerlich durchweg der Fall; viel mehr hat bei einigen Gattungen die Annahme fiir sich, dafs ältere ausgestorbene Gattungen einer weiter verbreiteten Gruppe an entfernten Stellen der Erde zu ähnlichen Bildungen gelangt sind. So ist es imwahrscheinlich , dafs die flügelfrüchtigen Pteleinae alle direct von einer gemeinsamen Stammform der ToddaÜeae abstammen; es kann die Flügelbildung sehr wohl dreimal, in Nord -Amerika (Ptelea), in Central -Amerika (Heliettd) und in Süd -Amerika {Balfourodendron) , eingetreten sein. Namentlich aber bei Thamnosma ist es höchst unwahrscheinlich, dafs die 4 bekannten Arten die Reste einer einst in der alten und neuen Welt mit zahlreichen Arten vertretenen Gat- tung seien. Die beiden altweltlichen Arten, welche habituell recht ver-

über die geogr. Verbreit. d. Rtctaceen im Verh. zu ihrer syst GHederung. 27

schieden sind, haben beide stachelige, die beiden neuweltlichen dagegen haben glatte Samen. Nun sind aber diese neuweltlichen Arten auch noch dadurch ausgezeichnet, dafe ihr Fruchtknoten deutlich gestielt ist; der Grund, weshalb alle 4 Arten zu einer Gattung gerechnet werden, liegt darin , dafs bei ihnen allein unter den Rutinae der Fruchtknoten bicarpellär ist. Es ist aber sehr wohl denkbar, dafs die Verminderung der Glieder im Gynäceum bei 2 verschiedenen älteren Gattungen der Rutinae einge- treten ist, und dafe der Unterschied in der Samenschale auch wichtig genug ist, um 2 Gattungen Thamnosma und Paki£othamru>sma zu unterscheiden, von denen die erstere sich mehr an BoenmrigMuserda und Psüopegarmm, die letztere mehr an Ruta anschlieisen dürfte. Hingegen sind die anderen oben erwähnten Gattungen Erythrochitorij Ravenia und Raputia in allen ihren Arten von anderen Gattungen der Cusparieae so verschieden, daß; man jede als eine natürliche Gattung ansehen kann, die jetzt nur noch in einer geringen Zahl von Arten in weit von einander entfernten Gebieten erhalten ist.

5. Endlich rechnen wir zu den Rutaceen noch einige morpholo- gisch innerhalb der Familie ganz isolirte und formenarme Gat- tungen wie SpatheliOj Ckloroxylonj Dictj/oloma, von denen man annehmen mufs, dafs sie nicht aus einer der gröfseren und weiter verbreiteten Gruppen hervorgegangen, sondern vielmehr neben diesen entstanden und nicht zu weiterer Entwickelung gelangt sind.

ErklSning der 3 Tafeln.

Die Verbreitung der einzelnen Gattungen ist durch grüne oder rotlie Färbung ihrer Areale angedeutet, und zwar wurde bei den Gattungen mit grünlichen oder grunlich-weifsen Blumenblättern grün, bei den Gattungen mit lebhafter gefärbten Bluthen roth verwendet. In der Gruppe der Rutinae jedoch wurde für Ruta ebenfalls grün gewählt, um das Areal dieser Gattung neben dem der übrigen besser hervortreten zu lassen.

KPreuss. AkaxL cL Mssensd.

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Über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im Verhältnils zu ihrer systematischen Gliederung.

Von

H" ADOLF ENGLER.

Fhys.Ahh. 1896. IL

Gelesen in der Gesammtsitzung am 26. November 1896

[Sitzungsberichte St. XLVIII. 8.1303].

Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 1896.

In meiner Abhandlung über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung (Abh. d. K. Preufs. Akad. d. Wiss. 1896) handelte es sich um eine grofse, in allen wärmeren Gebieten der Erde und auch noch in den gemäfsigten Zonen vertretene Familie, deren Unterfamilien und Gruppen grofsentheils auf ein gröfseres Mails von Wärme und Feuchtigkeit angewiesene Pflanzen, anderseits aber auch mehrere Xerophyten umfassen, welche zu den übrigen Rutaceen in so naher ver- wandtschaftlicher Beziehung stehen, dafs mehrfach eine Ableitung der hydromesothermen Typen von hydromegathermen und xerophytischer von hydromesothermen möglich ist. Die Zygophyllaceen dagegen, bekanntlich den Rutaceen so nahe stehend, dafs früher vor der Werthschätzung ana- tomischer Merkmale för die Systematik einzelne ihrer Gattungen bei jenen untergebracht wurden, sind eine Familie von 24 Gattungen, welche alle mehr oder weniger xerophytische oder auch haloxerophytisclie Arten ent- halten. Es gewährt daher ein ganz besonderes Interesse, die Verwandt- schaftsverhältnisse dieser in allen wärmeren Theilen der Erde zerstreuten Gattungen festzustellen und die Entwickelungscentren der durch ihre Merk- male abgegrenzten Gattungsgruppen zu ermitteln. Vielfach neigt man zu der theil weise auch wohlbegründeten Ansicht, die von den Xerophyten urtd namentlich den Haloxerophyten bewohnten Gebiete als verhältnifs- mäfsig junge Landbildungen anzusehen. Wäre diefs richtig, dann müfsten alle Bewohner der Steppen und Wüsten sich verwandtschafllich eng an Pflanzen der auf länger anhaltende Feuchtigkeit angewiesenen Fonnationen anschliefsen. Es ist daher wichtig, den verwandtschaftlichen Beziehungen

4 A. Engler:

einer so ausgesprochen xerophytischen Pflanzengruppe, wie die Zygophyl- laceen sind, genau nachzugehen.

Da die Zygophyllaceae seit langer Zeit (1814) als selbständige Familie angesehen wurden, so ist schon von vorn herein ziemlich wahrscheinlich, dafs dieselben nicht von einer anderen Familie abgeleitet werden können und ein hohes Alter besitzen; jedoch soll diese Frage noch eingeliender erörtert werden. Die zweite Frage wird die sein, wie sich die zu unserer Familie gestellten Gattungen morphologisch und geographisch zu einander verhalten. Scharfe Abgrenzung von Gattungsgruppen und isolirte Stellung einzelner Gattungen würde mit Sicherheit auf hohes Alter hinweisen. Eine dritte Frage ist die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver- breitung; diese Frage hat aber bei unserer Familie ein ganz besonderes Interesse deshalb, weil die Zygophyllaceen alle Bewohner von Wüsten und Steppen (im weitesten Sinne) sind, diese Formationen aber gegenwärtig in den verschiedenen Erdtheilen theilweise von einander sehr entfernt auf- treten. Es wird sich daher vor Allem auch um eine Untersuchung der Verbreitungsmittel handeln, um zu entscheiden, ob die Beschaffenheit der- selben die gegenwärtige Vertheilung der Arten ermöglichen konnte; es wird aber auch ferner die frühere Configuration der Erdtheile in Betracht zu ziehen sein, um zu entscheiden, ob diese eine Wanderung einzelner Arten in höherem Grade als die heutige gestattete.

Die ZygophyUaceae {ZygophyUeoe) wurden zuerst von R. Brown im Jahre 1814 (Flinders Voy. 11, App. 3, 545; Verm. bot. Schrift. I, 34) als selbständige Familie hingestellt; bis dahin war diese Pflanzengruppe, ent- sprechend der Anschauung A. L. de Jussieu's, mit den Rutaceen vereinigt worden; ja bei diesem Autor umfafste die Familie der Rutaceen sogar we- niger echte Rutaceengattungen (4), als Zygophyllaceengattungen {5). Auch, nachdem de Candolle (Mem. Mus. IX (1822), 139 und Prodr. I, 703) die Zygophyllaceen als selbständige Familie anerkannt hatte, wurden dieselben wieder von A. Jussieu (Mem. Mus. XII (1825), 394. 450) als Unterfamilie der Rutaceen behandelt, und in neuerer Zeit hat sogar noch Bai Hon (Hist. des plantes IV (1873), 4^ 5 ff-) dasselbe gethan, zugleich aber auch die Cneo- raceen und Simarubaceen in dieselbe Familie eingeschlossen. Diese An- schauungen basirten auf einer Überschätzung der in den Blüthenverhält- nissen dieser Pflanzen bestehenden Übereinstimmung. Ein ganz wesentlicher Fortschritt wurde erreicht, als Bentham und Hooker, den hohen syste-

Die geogr. Verbreä. d. ZygophyUaceen m Verh, zu ihrer syst. QUederung. 5

matischen Werth der Stellung der Samenanlagen erkennend, eine der un- natürlichsten Pflanzengruppen, die Terehinihiiiae , beseitigten und in ihrer Reihe der Geraniales die Zygophylhceaej Rutaceae^ Simarubaceaej Burseraceae neben einander stellten, die Anacardiaceae aber in eine Parallelreihe, die- jenige der SapiTidaleSj verwiesen. Ein zweiter wesentlicher Fortschritt wurde durch dieselben Autoren eingeleitet, indem sie die Aurantieae mit den Ä«i- taceae vereinigten. Hierdurch war auf einmal der hohe Werth eines ana- tomischen Merkmales, der lysigenen Drüsen, in's helle Licht gesetzt, und es bedurfte nur noch einer consequenteren Berücksichtigung dieses Merk- males, um die Familie der Rutaceen natürlich zu umgrenzen. Die Probe auf die Richtigkeit dieses Verfahrens ergab sich dann aber auch dadurch, dafs nun die Nachbarfamilien der Simarubaceae und Zygophyllaceae bei Be- rücksichtigung der anatomischen Verhältnisse sich einheitlicher gestalteten. Aber selbst dann, wenn man auf die lysigenen Drüsen der Rutaceen nicht so grofsen Werth legen wollte, würde man keine Zygophyllacee in irgend welche nähere Verbindung mit einer Rutaceengattimg bringen können ; auch die Gattungen Peganum und TetradicliSy welche Bentham und Hooker noch bei den Rutaceen führten und welche ich zu den ZygophyUaceen ver- weise, bieten keinerlei Anhaltspunkte zu irgend welcher Verknüpfung mit einer Rutacee. Auch von den isolirt stehenden Gruppen der Rutaceen, den . Spat/ielioideaej Dictyohmoideae und Flindersündeae ^ welche von der Haupt- masse dieser Familie erheblicli abweichen, steht keine den ZygophyUaceen nahe. Wie steht es nun mit Anknüpfimgspunkten zwischen Zygophyllaceae und Simarvbaceae'f Ein durchgreifendes anatomisches Merkmal kommt der letzteren Familie nicht zu (vergl. meine Bearbeitung in den Nat. Pflanzen- familien III. 4, S. 203), und ebenso wenig ist dies bei den ZygophyUaceen der Fall; ferner gehört zu den Simarubaceen eine Gruppe Simarubotdeae-Sima" ruheae, bei welcher am Grunde der Staubfäden Ligularschuppen vorkom- men, wie bei sehr vielen ZygophyUaceen. Dazu sind die Simarubaceen keineswegs völlig einheitlich, sondern ich mulste hier 4 Unterfamilien unter- scheiden, von denen ich (a. a. 0. S. 206) erklärte, es könnten dieselben auch als eigene Familien angesehen werden. Man könnte also erwarten, hier vielleicht bei einer oder der anderen dieser Unterfamilien nähere Bezie- hungen zu den ZygophyUaceen zu finden; bei letzteren aber wird man von den dahin gestellten Gattungen hauptsächlich diejenigen zum Vergleich heranziehen, welche nicht die für die echten ZygophyUaceen so charakte-

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ristischen paarig - gefiederten Blätter besitzen. Dies ist der Fall bei den Chitonioideae^ Peganoideaej Nitrarioideae und den Zygophylhideae-Fagoniinae (vergl. Nat. Pflanzenfamilien III. 4, S. 78. 354). Die Zj/gopht/Uoideae-Fagonünae und die Peganoideae umfassen krautartige Pflanzen, und solche finden sich unter den Simarubaceen gar nicht; ferner haben die Fagonünae in ihren Carpellen an einem dünnen Funiculus hängende Samenanlagen und auf- springende Carpelle, was beides bei den Simarubaceen nicht vorkommt. Die Peganoideae aber haben in ihren später aufspringenden Carpellen zahl- reiche Samenanlagen und können deshalb mit keiner Simarubacee in Verbin- dung gebracht werden. Auch für die Nitrarioideae sieht man sich vergeblich nach Anknüpfung an irgend eine Simarubacee um; denn die einzigen Gat- tungen der letzteren, welche einfache Blätter besitzen, die Suriana^ Cadellia, Castehj Holacantha, haben lange freie Griflfel, während bei Nitraria, wie bei allen anderen Zygophyllaceen , die Griffel vereint sind und aufserdem die Narben mit denjenigen der Zj/gophylloideae - Tribuleae übereinstimmen. So bleiben noch die Chitonioideae übrig. Chitonia Moq. et Sesse besitzt un- paarig-gefiederte (oder gedreite) Blätter, wie sie bei den Simarubaceen so häufig sind, sodann aber vollständig verwachsene Carpelle mit mehreren Samenanlagen; letzteres kommt bei keiner Simarubacee vor. Ebenso ist bei Viscainoa Greene und bei Sericodes A. Gray das Gynäceum vollkom- men syncarp; ein solches besitzen unter den Simarubaceen nur Picramnia und Alvaradoa; bei beiden sind jedoch noch die Griffel frei; zudem hängen bei Picramnia die Samenanlagen vom Scheitel des Faches herunter und bei Alvaradoa sind sie sogar gi-undständig, ihre Mikropyle nach unten kehrend, während bei Viscainoa und Sericodes die Samenanlagen, wie bei anderen Zygophyllaceen, ziemlich in der Mitte des Faches ansitzen. Aus alledem ergiebt sich, dafs auch bei den Simarubaceen ebenso wenig wie bei den Rutaceen ein engerer Anschlufs für die Zygophyllaceen geftmden werden kann, d.h.: die Zygophyllaceen sind eine alte Familie von Xero- phyten und Haloxerophyten.

Was nun die zweite und dritte der oben gestellten Fragen betrifft, die nach dem morphologischen und geographischen Verhalten der Gattungen zu einander sowie die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver- breitung, so bilden diese den Hauptgegenstand dieser Abhandlung. Indem ich mich auf meine in den Pflanzenfamilien gegebene Beschreibung der Zygophyllaceen beziehe, werde ich hier hauptsächlich die pflanzengeogra-

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phisclien und phylogenetischen Verhältnisse der einzelnen Unterfamilien und Gruppen behandeln und zugleich auch noch einige Verbesserungen der phylo- genetisch-systematischen Eintheilung der ZygophyUaceen rechtfertigen.

Zygophylloideae 'LygophyUeae.

Die Gruppe der Zygophylleae kann, weil sie die Mehrzahl der Gat- tungen umfafst, als die typische der Familie gelten, ohne dafs sie darum als die älteste angesehen wird. Charakteristisch für diese Gruppe ist, dafs bei ihr im Gegensatz zu den Trämkae die Samen mit Nährgewebe versehen sind, welches allerdings bei Seetzenia nur sehr dünn ist: ein wichtiges Mo- ment ftlr die Samen Verbreitung, weil das Nährgewebe um den Keimling herum einerseits eine Schutzhülle gewährt, anderseits demselben bei der ersten Entwickelung die nothwendigsten Nährstoffe darbietet.

Von den übrigen Zygophylleae sondern sich leicht ab wegen ihrer ge- dreiten Blätter, die bisweilen auf das Mittelblättchen reducirt sein können, die Fagoniinae mit den beiden Gattungen Fagonia Tourn. und Seetzenia R. Br. Bei beiden Gattungen sind die Samen* im feuchten Zustande schleimig und klebrig. Bei Fagonia liegt der Keimling in einem 2-3 -schichtigen hornigen Nährgewebe mit sehr stark verdickten, von Tüpfelkanälen durchzogenen Wänden, deren Durchmesser das Lumen der Zellen häufig übertrifft, und die Samenschale besteht meist aus 2 Zelllagen, einer inneren mit kleinen rechteckigen, braun wandigen, rhombische Einzelkrystalle fuhrenden Zellen und einer äufseren mit im Wasser sehr stark aufquellenden, farblosen, völlig durchsichtigen Zellen, welche die Zellen der inneren Schicht 6-iomal an Grö&e übertreffen; an den Ecken dieser im gi'oben Umrifs rechteckigen Zellen finden sich in den Grübchen zwischen den nach aufsen gewölbten Aufsen wänden concentrisch strahlige, rundliche Körper, die von einem dünnen Häutchen überzogen sind; ebenso /inden sich solche bisweilen an der Oberfläche der Aufsenwände. Nach Behandlung mit Salzsäure bleiben an Stelle der kugeligen Körper helle, aber feinkörnige Massen zurück. Bei

* Eine vollständige vergleichende Untersuchung der ZygophyUaceen - Samen, insbeson- dere ihrer Samenschalen, lag jetzt nicht in meiner Absicht, sondern ich wollte mich mit Rücksicht auf die i)(lanzengeosraphischen Fragen nur insoweit unterrichten, als es nothig war, um die Möglichkeit der Samen Verbreitung festzustellen. Die nothigen Praeparate wurden unter meiner Aufsicht von meinem derzeitigen Assistenten Hrn. Dr. Di eis angefertigt.

8 A. Engler:

Seetzenia dagegen ist ein äufserst dünnes Nährgewebe vorhanden ; die innere Schicht der Samenschale besteht aus braunwandigen rechteckigen, nicht cubischen, in radialer Richtung etwas mehr gestreckten, ebenfalls Einzel- kry stalle fiihrenden Zellen; hierauf folgt eine ebenso dicke, den ganzen Samen überziehende feinkörnige Schleimschicht und hierauf eine Lage von in radialer Richtung bedeutend gestreckten, 3-5 mal so langen als breiten, stark nach aufsen gewölbten, vollkommen durchscheinenden Zellen, die im trockenen Zustande eine zähe, feste, fast lederige Schicht bilden. Die beim Aufquellen der Aufsenschicht entstehende Schleimhülle bietet zunächst wie bei vielen anderen Samen den Vortheil, dafs das aufgenommene Wasser för längere Zeit festgehalten wird und bei der Keimung von Vortheil ist; so- dann aber ist auch klar, dafs die kleberige Beschaffenheit der Samen leicht einen Transport derselben durch Vögel begünstigt, an deren Füfsen die Samen haften bleiben. Auch ist wahrscheinlich, dais die Samen beider Gattungen von Vögeln verzehrt werden und der Samenkern unversehrt durch ihren Darmkanal hindurchgeht. Hierzu kommen noch folgende Momente: I. Alle Fagonia- Arten und auch Seetzenia orientalis Decne. wachsen auf sterilem Wüsten- und Steppenterrain in grofsen Mengen gesellig. 2. Alle diese Arten blühen sehr reichlich und erzeugen eine grofse Anzahl von Früchten. 3. Bei beiden Gattungen lassen die reifen Theilfrüchte ihre Samen bald heraustreten, indem sie sich an der Bauchseite öffnen, und bei Fagonia wird die Entleerung der Theilfrüchte noch dadurch begünstigt, dafs das Endocarp sich von dem Exocarp zuerst theilweise, dann gänzlich ablöst und sich zusammenrollend dazu beiträgt, den Samen herauszustofsen. Durch diese Verbreitungsmittel erklärt sich leicht die Verbreitung der Gat- tung Fagonia auf der östlichen Hemisphaere, auf welcher die Arten dieser Gattung sicher einen noch gröfseren Raum einnehmen, als durch die auf unserem Kärtchen angegebenen, bis jetzt bekannten Fundstellen angedeutet ist. Es werden gegenwärtig 19 Arten unterschieden, die gröfstentheils ein- arider sehr nahe stehen, so nahe, dafs man ebenso gut durch Zusammen- ziehen einzelner in Boissier's Flora orientalis unterschiedener Arten die genannte Zahl vermindern, wie anderseits auch durch die Erhebung man- cher Varietäten zu Arten vermehren könnte. Die gröfsere Hälfte der Arten (10) findet sich in Aegypten, namentlich in Unteraegypten , einige davon werden auch in den benachbarten Gebieten Arabien (4), Syrien, Palaestina und Persien (3), in Algier (3) angetroffen ; andere sind bis Nubien und Abes-

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sinien (2) verbreitet, i (F, arabica L.) auch bis Socotra und Ostindien. Auch in mehreren der genannten Länder treten aufser den verbreiteteren Arten endemische auf, so F. socotrana (Balf. f.) Engl, auf Socotra, F. fruHcans Coss. in Algier, F. myriacantha Boiss. und F, tenuifolia Höchst, et Steud. in Arabien , F. acerosa Boiss. in Persien , F. grandißora Boiss. in Persien und Syrien, F. subinermis Boiss. in Siidpersien und an der Somaliküste. Die wei- teste Verbreitung hat F. crrtica L. im Mittelmeergebiet erreicht; sie ist die einzige Art, welche aufser in Nordafrika (Aegypten, Tunis, Algier, Marokko, Canaren), auch weiter nördlich auf Cypern und Greta, in Spanien und dem südlichen Portugal, ja sogar im Mündungsgebiet der Wolga bei Astrachan und auch im Somaliland in dem Gebiet von Ogaden angetroffen wird. Von ganz besonderem Interesse ist aber, dafs einige Formen, die ich nur als Varietäten der Fagonia cretica L. ansehen kann, in Nord- und Südamerika vorkommen, nämlich var. caUfomica (Benth.) Engl, mit kleineren Früchten, schmaleren Blättchen und von kurzen, sehr zerstreuten Borsten und etwas rauhem Stengel im südlichen Califomien (San Diego, Los Angeles Bay) imd Nordmexiko (Val de las Palmas), var. chilensis (Hook, et Am.) Engl, mit kleineren Früchten und kahlem Stengel im nördlichen Chile (Coquimbo, Tarapaca, Atacama u. s. w.), var. aspera (Gay) Engl, mit kleineren Früchten, breiten Blättern und rauhem Stengel, ebenda (Quebrada de Gaihuano). Diese Pflanzen kann ich nur als Abkommen der mediterranen F. cretica L. an- sehen, deren Samen mit Waarenballen u. dergl. auf Schiffen von Spanien und Portugal sowohl nach Californien und Nordmexiko, wie nach Chile gelangt sind. Dafis dorthin die Verbreitung durch Vögel erfolgt sei, ist durch die Lage ausgeschlossen. Ebenso halte ich es für unwahrscheinlich, dafs das Vorkommen der F. cretica L. var. caUfomica in Californien aus vor- historischer Zeit datire und etwa so ^u erklären sei, wie das Auftreten von Pistacia in Mexiko, d. h. aus einer ehemaligen weiteren Verbreitung der Gattung durch Asien. Dagegen spricht das absolute Fehlen von Fagonia in den centralasiatischen Steppen, in deren südlichen Theilen Fagonia-Arten doch recht gut gedeihen könnten. Auch die im Hereroland vorkommende F. minutistipula Engl, schliefst sich ziemlich eng an F. cretica L. an.

Besonders reich an Gattungen ist die Gruppe der ZygophyUeae-Zygo- phyllinae, bei denen wir vorherrschend paarig -gefiederte Blätter mit einem bis mehreren Blattpaaren finden, während seltener einfache, ungetheilte Blätter auftreten.

Phys.Äbh. 1896, IL 2

10 A. Engleb:

Die sehr artenreiche Gattung Zygophyllum L. gliedert sich in einige theils scharf, theils schwächer begrenzte Sectionen, welche auf engere Ge- biete beschränkt sind. Die Areale einiger Sectionen treffen in Vorderasien zusammen.

Auf die Steppen- und Wüstengebiete des westlichen und centralen Asiens beschränkt, nur mit Z. Fabago L. auch nach den nördlichen Ge- staden des Schwarzen Meeres und nach Tunis reichend, finden wir die durch fachspaltige Kapseln ausgezeichnete Section Fabago^ deren Verbrei- tungsgebiet auf dem Kärtchen durch zusammenhängende rothe Flecke be- zeichnet ist, während 19 andere in verschiedenen Theilen der central- asiatischen Steppen zerstreute Arten sich in den durch ein rothes + bezeichneten Gebieten finden. Die meisten der hierher gehörigen Arten be- sitzen ein kräftiges ausdauerndes Rhizom von fleischiger Beschaffenheit, aus dem alljährlich Sprosse mit ziemlich dicken fleischigen oder lederartigen Blättern hervortreten; die letzteren sind stets paarig -gefiedert und theils 4-3 -paarig (Z, macropterurn C. A. Mey., Z. mucronatum Maxim., Z. subtri- jugum C. A. Mey.), theils 2 -paarig (Z. turcomankum Fisch., Z. Potaninü Maxim., Z. pterocarputn Bunge, Z. Karelinii Fisch, et Mey., Z. miniatum Cham, et Schlecht., Z. Melongena Bunge), meistens i -paarig (Z. Fabago L., Z. furcatum C. A. Mey., Z. brachypterum Kar. et Kir., Z. Rosowii Bunge, Z. latifolium Schrenk, Z. gobicum Maxim., Z. ovigerum Fisch, et Mey., Z. Ekhwaldii C. A. Mey., Z. stenopterum Schrenk). Die meisten Arten ent- halten in ihren Fruchtfächern 3 Samen, Z. Melongena Bunge und Z. ste- nopterum C. A. Mey. nur i Samen. Die Verbreitung derselben ist wie bei Fagoma durch eine Schicht grofser (hier cylindrischer) verschleimender Zellen begünstigt, imter denen eine Schicht kleiner, rhombische Einzel- krystalle enthaltender Zellen sich befindet. Die verschleimenden Zellen er- scheinen innen mit einem eigenartigen Netzfasersystem versehen, in welchem man bisweilen 2 von einander getrennte Spiralen erkennen kann, zwischen denen mehrfach gleich dicke und dünnere Verbindungsfasern auftreten. In jungen Zellen dieser Quellungsschicht sind die Fasern einander mehr ge- nähert j in älteren sind sie mehr von einander entfernt; es ist kein Zweifel, dafs diese Fasern, ebenso wie die weiter unten bei der Section Capensia und Roeperia zu besprechenden Spiralfasern, durch einen eigen thümlichen Spaltungsprocefs der Innenlamelle entstanden sind, der von Nägeli (Sitzungs- berichte der Königl. Bayr. Akad. der Wissensch. 1864, 9. Juli, Botanische

Die geogr. Verbreit. d. ZygophyUaceen im Verh. zu ihrer syst GUedenmg. 1 1

Mittheilungen , II. Bd. Nr. 1 7) für die Epidermiszellen der Fruchtwandung von Sahia Aethiopis L., S, Ilorminum L., für die Epidermiszellen der Samen von Colhmia- Arten und für Samenhaare von Dipteracanthus dliattis Nees nachgewiesen wurde. Trotz der Befähigung zur Verbreitung sind, aulser dem weit verbreiteten Z. Fabago, die meisten Arten auf kleinere Gebiete beschränkt; so kommen i Art {Z. pterocarpum Bunge) nur am Altai, 8 in der Songarei, 3 in der Wüste Gobi, i in Kansu, 6 nur in der Turkmenen- steppe vor, darunter 3 einander sehr nahe stehende Arten {Z. aoigervm, Z. furcatum und Z. Eichwaldii) mit schmal linealischen Fiederblättchen. Im Anschlufs an die Section Fabago sei hier auch gleich die Gattung Mür tianthus Bunge genannt, welche habituell und durch ihre langen Früchte den Zygophyllen der Section Fabago sehr nahe steht, sich aber durch das fleischige Pericarp der letzteren und den Abort der Blumenblätter auszeich- net; es ist wohl kaum zu bezweifeln, dafs die auf die Wüste zwischen Buchara und Komnine beschränkte Pflanze MiÜiantkus portulacoides (Cham, et Schlecht.) Bunge sich aus einer Art von Zygophyllum Section Fabago entwickelt hat. Innerhalb des Areals der genannten Section liegt auch dasjenige der Section Sarcozygium (Bimge), mit der einzigen Art Z. xantho- xylum (Bunge) Engl.; es ist das ein kahler Strauch mit holzigen Zweigen und kleinen kurzen Dornästen, welche i- paarige Blätter mit schmalen linea- lischen Blättchen tragen. Zwar enthalten die Fruchtknoten in ihren Car- pellen mehrere Samenanlagen, aber bei der Reife sind sie i -sämig, breit geflügelt und nicht aufspringend; die Samenschale ist ganz ähnlich be- schaffen wie bei der vorigen Section, Wir haben also hier zunächst eine fiir die Verbreitung vortheilhafte Anpassung, welche bei der ersten Section fehlte, nämlich Flügelfruchtbildung, die bei Steppenpflanzen so häufig vor- kommt und zur Erweiterung ihres A reales beiträgt, aufserdem aber auch die vortheilhafte Einrichtung der vorigen Section, welche bei der Verbrei- tung der frei gewordenen Samen und bei deren Keimung sich von Vortheil erweist. Z. xanthoxylum (Bunge) Engl, ist ein Salzsteppenstrauch, der bis jetzt aus dem westlichen Theil der Wüste Gobi bekannt, aber vielleicht auch noch weiter verbreitet ist.

Ebenfalls monotypisch ist die Section Halimiphyllum (Engl.) mit Z, atrir plicoides Fisch, et Mey., einer strauchigen Art von Xycmm- artigem Habitus, mit ebenfalls weifslichen Zweigen wie bei Z, xanthoxylwn und mit läng- lichen oder verkehrt -eiförmigen grauen Blättern, sowie mit breit geflü-

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12 A. Engler:

gelten Früchten mit i -sämigen aufspringenden Fächern. Abgesehen von dem eigenartigen Habitus (Langtriebe mit gegenstandigen, von verkehrt -eiför- migen Blättern bedeckten Kurztrieben) ist kein hervorragender Unter- schied gegenüber Fahago vorhanden, da auch zu dieser Section einzelne Arten mit i -sämigen Fächern gehören. Auch die Samenschale zeigt die- selbe Beschaffenheit wie bei den Sectionen Fahago und Sarcozygium. Diese aufifallende Art ist von Persien und Kurdistan bis Beludschistan und Afgha- nistan verbreitet.

Wir kommen nun zu der artenreichen, in Afrika, Arabien und dem nordwestlichen Vorderindien verbreiteten Section Agrophyllurn Neck., bei welcher im Gegensatz zu den fachspaltigen Früchten, von Fabago die Kap- seln scheidewandspaltig sind. Vielleicht wird es später nothwendig werden, diese Section noch mehr zu spalten; denn die dahin gehörigen Arten sind habituell ziemlich verschieden. Nur eine der zu Agrophyllurn gestellten Arten, das einjährige Z. simplex L., hat eine weite Verbreitung erlangt; es ist sehr häufig zu beiden Seiten des Nil von Suez bis Kordofan, bis zum Somaliland und auf Socotra, in Arabien und den Wüstengebieten des nord- westlichen Vorderindiens, auf den Cap Verden und Comoren, im Küstenland von Benguella, im Hereroland, Namaland und Buschmannland etwas süd- lich vom Oranjeflufs. Auffallend ist das Fehlen dieser Art in Algier. Die Theilfrüchte und erst recht die kleinen Samen sind so leicht, dafs sie sicher von heftigen Wüstenwinden auf gröfsere Strecken fortgetrieben werden, während anderseits auch hier die kleberige aufquellende Aufsenschicht des Samens das Anheften der feuchten Samen an den Füfsen der Vögel ge- stattet. Eine Spaltung der inneren Membranschicht der Epidermiszellen in Spiral- oder Netzfasern ist bei dieser Art nicht zu beobachten; aber auch hier liegt unter der verschleimenden Zellschicht eine krystallfuhrende. Mehr oder weniger prismatische oder verkehrt- pyramidale Früchte und einfache Blätter besitzen auch noch einige andere Arten, welche in dem trockenen Küstenland von Mossamedes bis zur Saldanha-Bay vorkommen, Z. orbiaulatumWelw, (Mossamedes), Z. Pfeilii Engh (Deutsch- Süd westafrika, Port NoUoth-Oakup), Z. cordifolium L. f. (Olifant- River bis Saldanha-Bay), Arten mit grofsen rundlichen sitzenden Blättern, ferner Z, paradoxum Schinz (Angra Pequena) und Z. prismatocarpiim E. Mey. (südlich vom Oranje- flufs), mit verkehrt-eiförmigen bis spatelfömiigen Blättern. Ähnliche Früchte, wie die vorigen, aber i- paarige Blätter haben 7 andere Arten, darunter 5

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einander sehr nahe stehende mit stielrundlichen Blättern, die auf Nord- afrika, Arabien und Scindh beschränkt sind. Alle diese Arten wachsen namentlich in den Salzwüsten in gewaltigen Mengen gesellig, blühen und fruchten ungemein reichlich, so da& ihre Verbreitung sehr begünstigt wird. Z. coccineum L. finden wir in Aegypten, Arabien und Scindh, Z. album L. in Cypem, Aegypten, Arabien und auf Socotra, die sehr nahe stehenden Z. corrmtum Coss. und Z. Geslinii Coss. in Algier, Z. Webbianum CJoss. in Marokko und auf den Canaren. Flache Blättchen haben dagegen das aegyptische Z. decumbens Delile und Z. cinereum Schinz in Angra Pequena. Sodann stelle ich vorläufig zu Agrophyllum auch noch eine Anzahl Arten mit breit geflügelten Fruchtfächem und i- paarigen Blättern, Die eine dieser Arten, Z. dumosum Boiss., welche in Syrien und Palaestina nicht selten vorkommt, schliefst sich in der Ausbildung der Blättchen an die Artengruppe des Z. coccineum an, während 4 andere Arten, Z. Margsana L., Z. Stapfii Schinz, Z. latialatum Engl, und Z. fnicrocarpum Lichtenst., flache rundliche bis lanzettliche Blättchen besitzen.

Von den zahlreichen Arten dieser Gruppe wurden 2 nordafrikanische, Z. coccineum und Z. aBmm, sowie 2 südwestafrikanische, Z. latiahium und Z. microcarpum^ auf ihre Samenschale hin untersucht. Bei allen 4 Arten ergab sich, dafs in den Zellen der äufseren Quellschicht die innere Mem- bran in steil aufsteigende, hier und da netzförmig verbundene Fasern zer- fällt; nur in einigen Fällen und zwar an noch ziemlich jungen Samen- schalen, bildeten die verschleimenden Zellen eine Schicht, in der man jedoch neben einzelnen Faserzellen auch andere ohne Fasern bemerkt. An etwas älteren Samenschalen sieht man von den faserlosen Zellen nichts, dagegen haben die Anfangs cylindrischen Zellen eine abgestutzt kreiseiförmige Ge- stalt, nicht selten mit ringsum übergebogenem Rand angenommen, und die Längsfasern sind häufig am Ende umgebogen. Nicht selten ist auch die verschleimende Zelle am Scheitel eingesenkt, so dafs sie beinahe die Form einer mit einem Fufs versehenen tiefen Schale erlangt.

Eine neue Sectioii von Zygophyllum^ die ich Melocarpum nenne, um- fafst bis jetzt 2 Arten des Somalilandes, Z. Robecchii Engl, und Z. Hilde- hrandtii Engl.; es sind dies holzige Sträucher mit einfachen flachen und lederartigen rundlichen oder verkehrt- eiförmigen graugrünen Blättern und mit kurz -eiförmigen, stumpf gelappten, melonenförmigen , wahrscheinlich septiciden Früchten; aufserdem weichen diese Arten von den übrigen Zygo-

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phyllen durch das Fehlen von Ligularschuppen am Grunde der Staubblätter ab. Reife Samen standen leider nicht zur Verfugung.

Dieser Section entspricht im Karroogebiet des Caplandes, südlich vom Oranjeflufs, die Section Capensia Engl, mit etwa 20 halbstrauchigen , ein- ander meist sehr nahe stehenden, ziemlich grofsblumigen Arten, deren Staub- blätter am Grunde mit Ligularschuppen versehen sind. Merkwürdigerweise besitzen die zahlreichen in unseren Herbarien befindlichen Exemplare dieser Arten nur äufserst selten Früchte ; vollkommen reife fand ich nur von Z. sessili' foliumJj. und Z.ßextwsum^.Mey.; sie sind eiförmig und 5-lappig, in jedem Fach mit je einem ziemlich dicken eiförmigen Samen, dessen Samenschale zu äul^erst mit einer Schicht dicht an einander schliefsender cylindrischer und zuletzt verschleimender Zellen versehen ist, in denen die innerste Membran- schicht sich in i oder 2 einander anliegende Spiralen spaltet, deren Windungen einander Anfangs genähert sind, später von einander abstehen. Interessant ist bei dieser Section die in so vielen Gattungen des Caplandes hervortre- tende weitgehende Artenbildung auf verhältnifsmäfsig kleinem Raum, welche durch die zahlreichen Gebirge des Landes begünstigt wird.

Es bleiben nun noch 7 australische Arten übrig, von denen die in älterer Zeit bekannten von A. Jussieu zu einer besonderen Gattung Roepera vereinigt wurden. Es sind jedoch diese Arten in ihrer Fruchtbildung ziemlich heterogen, so dafs ich dieselben auf 2 Sec.tionen der Gattung Zygophyllum vertheilen zu müssen glaube. Z. fruticulosum DG. [Roepera fdbagifolia A. Juss.) ist ein niedriger, sparrig verzweigter Strauch mit ein- paarigen Blättern und schief länglichen oder lanzettlichen Blättchen, mit 4-theiligen Blüthen, mit Staubblättern ohne Ligula und mit nicht auf- springenden, breit geflügelten Früchten mit i- sämigen Fächern. Leider konnten reife Samen dieser Art nicht untersucht werden. Die 6 anderen Arten Australiens sind meist Kräuter, nur Z. apiculatwn F. Muell. ist ein Halbstrauch; sie haben meist 4-theilige, aber auch 5-theilige Blüthen, theils mit Ligula versehene, theils derselben entbehrende Staubblätter, immer aber nicht geflügelte, loculicid aufspringende Kapseln mit sich ab- lösendem Endocarp. Die Fächer enthalten meist einen, bei Z. glaucescem F. Muell. jedoch 2-3, manchmal auch 4-5 Samen. Höchst auffallend ist an vollkommen reifen Samen die Beschaffenheit der Samenschale, deren Oberfläche mit zahlreichen Spiralfasern von der Länge des Samendurch- messers besetzt ist. Diese Spiralfasern entsprechen denen des capensi-

Die geogr. Verhreü. d. Zygtyphyüaceen im Verh. zu ihrer syst GUederung. 1 5

sehen Zygophyllurn sessilifoliam L., haben aber das Charakteristische, dafe sie nach Verschleimung der primären Membran erhalten bleiben und sich lang aufrollen. Zu dieser Artengi'uppe gehört auch Z, Billardierü DC, welches von A. Jussieu als Roepera (Mem. Mus. Par. XII, 454) bezeichnet wurde und demnach als erste Art der Section Roepera oder richtiger Roeperia angesehen werden kann.

Interessant ist bei dem Verhalten der einzelnen Sectionen zu einander, dafs die 3 asiatischen, Fabago^ Sarcozygiurn und HalimiphyUum, in der Be- schaffenheit der Samenschale am meisten übereinstimmen, dafs die Section Agrophyllum, welche in Nord- und Südafrika vertreten ist, Arten enthalt, bei denen die innere Membranschicht der Samenepidermiszellen auch netz- faserig, aber doch wieder in anderer 'Art als bei den 3 erstgenannten Sectio- nen zerfällt, dafs dagegen die Sectionen Capensia und Roeperia in der spirali- gen Faserung ihrer Samenepidermiszellen übereinstimmen. Es ist zweifellos das Verhalten der inneren Membranschicht der Samenepidermiszellen von gröfster Bedeutung för die phylogenetisch -systematische Gruppirung der Arten von Zygophyllurn, und ich bin überzeugt, dafs ich, wenn mir erst von mehr Arten Samen zur Untersuchung vorliegen werden, zu weiteren werth vollen Ergebnissen bezüglich der Gruppirung der Zygophyllurn- Arten gelangen werde.

An die Zygophyllinae schliefse ich jetzt auch die Gattung Augea Thunb. an. In den »Pflanzenfamilien« hatte ich dieselbe als Repraesentant einer selb- ständigen Unterfamilie angesehen, die ich Augeoideae nannte; ich that dies einerseits mit Rücksicht auf das aus 10 Garpellen gebildete Gynäceum und den eigenthümlichen Zerfall der dünnwandigen, zugleich Scheidewand- und fachspaltigen, das Endocarp abwerfenden Frucht, anderseits, und zwar vor- zugsweise mit Rucksicht auf das Nährgewebe, das nach Bentham und Hook er 's und anderer Angabe fehlen sollte. Nachdem aber nun reife Früchte im Berliner Herbarium sich gefunden haben, habe ich mich davon überzeugt, dafs Augea eine ähnliche Beschaffenheit der Samen wie Zygo- phyUum, Section Capensia und Roeperia, besitzt. Es ist ein ziemlich dickes Nährgewebe vorhanden, dessen Zellmembran ebenso wie bei Zygophyllurn sehr dick und mit Tüpfelkanälen versehen ist. Die krystallfiihrende Zell- schicht der Samenschale verhält sich wie bei Zygophyllurn, und von den Epidermiszellen bleiben nach Verschleimung der äufseren Membranschicht sehr dicke Spiralfasern zurück, die sich so wie bei der Section Roeperia

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aufrollen. Es findet also in dieser Beziehung ein Anschlufs au die Section Capensia statt, obwohl habituell Augea etwas mehr einzelnen Arten der Section Agrophyllum ähnlich ist.

Wenden wir uns nun nach Amerika, so finden wir dort eine gröfsere Anzahl strauchiger und baumartiger Gattungen der Zygophylleae, die zwar recht gut charakterisirt sind, aber doch unter einander in ziemlich naher verwandtschaftlicher Beziehung stehen, so dafs ich sie als Gtuzjacinae zu- sammenfassen wollte. Ich wollte dies namentlich deshalb thun, weil einige der hierher gehörigen Gattungen aufserhalb der krystallfiihrenden Zellschicht der Samen einige oder mehrere Schichten von im trockenen Zustande col- labirenden, angefeuchtet rasch aufquellenden Zellen besitzen. Von einem derartigen Verhalten konnte ich mich bei den Samej;;! der Gattungen GW- j(wwm, Porlieria, Larrea überzeugen; weitere Untersuchungen aber ergaben die aufiallende Thatsache, dafs bei BvJnesia (untersucht wurden B. Retama (Gill. et Hook.) Griseb., B. Schickendantzii Hieron., B. SarmierUi Lorentz) nur eine einschichtige Lage von aufquellenden Zellen vorhanden ist und dafs die langgestreckten Zellen dieser Schicht eine ganz ausgezeichnet netz- faserige Structur ihrer inneren Membran aufweisen, dafs also hier ein ganz ähnliches Verhalten auftritt, wie bei den altweltlichen Zyffophyllum- Arten. Am längsten bekannt sind die beiden blau blühenden Gattungen Guajacum L. und Porlieria L. , die sich von einander nur sehr wenig durch das Ver- halten der Staubblätter imterscheiden, welche bei Porlieria mit Ligular- schuppe versehen sind, bei Guajacum derselben entbehren. Guajacum um- fafst jetzt nur 4 Arten, welche in Gentralamerika, auf der Südspitze von Florida, in Westindien und Venezuela zumeist an trockenen Küstenstrichen, aber auch im Gebirge vorkommen. Ausser den beiden bekannten, das offici- nelle Guajakholz liefernden G. officinale L. und G. sanctum L. giebt es auch noch 2 Arten, G. parvifolium Planch. und G. Coulteri Gray in Mexiko. Schon in Mexiko und Texas tritt eine Porlieria, P. angustifolia (Engelm.) A. Gray, auf, welche als XJbergangsglied zwischen Guajacum und Porlieria angesehen werden kann, da die Staubblätter nur kurze Anhängsel besitzen. Sodann kommt im südlichen Peru und nördlichen Chile die bekannte Porlieria hygro^ metrica Ruiz et Pav. vor, während in den Steppen Argentiniens von den Anden bis Cordoba P. Lorentzii Engl, sehr häufig ist, welche sich von der P. hygrometrica hauptsächlich durch kleinere Früchte auszeichnet; es sind also die Areale der 3 Arten von Porlieria durch grofse Zwischenräume von

Die geogr. Verbreü. d. ZygophyUaceen im Verh, zu ihrer syst GUedenmg. 17

einander getrennt. Sowohl bei Guajacum wie bei Porlieria besitzen die Früchte ein dünnes fleischiges Exocarp, das Vögel zum Genuls wohl an- locken und somit die weite Verbreitung beider Gattungen in Amerika be- wirkt haben kann.

Diesen beiden mit blauen Blüthen versehenen Gattungen stehen mehrere andere fiust gänzlich auf Südamerika beschrankte gelb blühende gegenüber, welche sich vorzugsweise durch die Früchte von einander unterscheiden. Die in der Provinz Atacama des nördlichen Chile vorkommende Pintoa chilensis Gay zeigt in der Fruchtentwickelung ein ursprünglicheres Verhalten als die übrigen Gattungen, insofern nämlich die längliche Frucht dünnwandig und scheidewandspaltig ist; auch sind in den einzelnen Fächern einige kantige Samen enthalten, während bei den übrigen Gattungen dieses Verwandtschafts- kreises die Fächer oder Theilfrüchte einsamig sind. Leider habe ich solche Früchte nicht selbst untersuchen können.

Bulnesia Gay hat breit geflügelte i- sämige Theilfrüchte, zeigt also Anpassung an Windverbreitung in offenen Terrains, in Steppen. Wir kennen 7 Arten, darunter 6 in den Steppengebieten Argentiniens verbreitete, wäh- rend I Art, B. arborea (Jacq.) Engl., in den Savannen Columbiens und Vene- zuelas vorkommt. Dafs die Flügelfrüchte chilenischer oder argentinischer Bulnesien über die südamerikanischen Waldgebiete hinweg nach Columbien und Venezuela gelangt seien, ist nicht wahrscheinlich, vielmehr dürften die venezuelisch-columbische und die argentinisch -chilenischen sich gesondert aus einem ehemals weiter verbreiteten Typus entwickelt haben. Bei den argentinischen Arten macht sich eine ziemlich grofse Verschiedenheit in der Ausbildung der Blätter bemerkbar; besonders auffallend ist B. Retama (Gill. et Hooke) Griseb. , da ihre 2-3 -paarigen Blätter frühzeitig abfallen und die nun spartiumähnliche Pflanze allein mit ihren langen Stengelintemodien assimilirt.

Bei den 3 Gattungen Larrea Cav., Metharme Phil, und Plectrocarpa Gillies sind die Früchte ziemlich klein und mit langen dickwandigen Haaren besetzt, sie zerfallen bei den beiden ersten Gattungen schliefslich in 5 einsamige, nicht aufspringende Theilfrüchte. Dafs dieselben durch ihre Behaarung leicht an- haften, kann man nicht behaupten. Nun haben wir aber bei Larrea die eigen- thümliche Verbreitungserscheinung, dafs X. mexicana Moric. vom Golorado- gebiet Californiens bis zum westlichen Texas und im trockeneren Mexiko verbreitet ist, während 3 andere Arten in den Sandsteppen und Salz wüsten Phys.Äbh. 1896, IL 3

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Argentiniens von den Anden bis Cordoba in ausgedehnten Beständen auf- treten. Diese Arten sind sowohl von einander, wie auch von der mexikani- schen sehr verschieden, so dafs die Entstehung derselben sehr alten Datums sein und eine gröfsere Anzahl von ausgestorbenen Formen angenommen werden mufs, welche sowohl morphologisch wie räumlich die jetzt lebenden Larrea- Arten mehr verknüpften. Metharme lanaia Phil, und auch die durch einstachelige Theilfrüchte ausgezeichnete Plectroearpa tetracantha Gill. stehen Larrea so nahe, dafs sie als frühzeitige Abzweigungen des iarr^- Typus an- gesehen werden können. Vergleichen wir das Auftreten der ZygophylUnae in der alten und in der neuen Welt, so verdient hervorgehoben zu werden , dafs in der alten Welt bei der Gattung Zygophyllum sich eine weitgehende Formen- entwickelung bemerkbar macht, die mit der dort jetzt bestehenden Ausdeh- nung der Steppen- und Wüstengebiete im Zusammenhang steht, dafs dagegen in der neuen Welt eine gröfsere Anzahl von Gattungen mit wenigen, meist scharf geschiedenen Arten vorkommt, welche als Reste einer ehemaligen for- menreicheren Entwickelung anzusehen sind ; nur Bulnesia zeigt eine gröfsere Reihe nahestehender Arten.

Versuchen wir auf Grund der angeführten Thatsachen, uns eine Vor- stellimg von der Entwickelung der ganzen Gruppe der Zygophylleae zu machen, so stofsen wir zunächst auf eine grofse Schwierigkeit bezüglich ihrer Ver- theilung auf der östlichen und westlichen Hemisphaere. Zwar findet sich Fa- gonia auf beiden Hemisphaeren, jedoch sind die amerikanischen Vorkommnisse höchstwahrscheinlich nur Folgen von Einsclileppung. Sodann bleiben uns in Amerika 7 Gattungen, auf der östlichen Hemisphaere 3, von denen Zygophyllmn offenbar mit der amerikanischen Gattung Bulnesia sehr nahe verwandt ist. Irgend welche sichere Anhaltspunkte dafür, dafs in der während der Tertiär- periode den nördlichen pacifischen Ocean umgebenden ostasiatischen und west- amerikanischen Landmasse der Ausgangspunkt für die neuweltlichen und alt- weltlichen Gattungsgruppen zu suchen sei, sind nicht vorhanden. In Nord- amerika finden sich nur wenige Repraesentanten von 3 in Südamerika stärker vertretenen Gattungen , im pacifischen Ostasien fehlen die Zygophylleen ganz und erst in der Wüste Gobi finden wir von Osten kommend die ersten Vertreter von Zygophyllum. Wollte man anderseits annehmen, dafs das alt- weltliche Areal der Zygophylleae mit dem amerikanischen durch Afrika in Ver- bindung gestanden habe, so müfste man auf die Juraperiode zurückgehen, während welcher nach der Ansicht mehrerer Geologen der brasilianisch-

IHe geogr. Vei^breit. d. Zygopliyllaceen im Verh, zu ihrer syst Gliederung. 1 9

aethiopische Continent existirte. Könnte eine solche Landverbindung noch für die Kreideperiode angenommen werden, dann würde sehr wohl die Ent- wickelung der Zygophylkae in den brasilianisch -aethiopischen Continent ver- legt werden können. Die morpliologischen und geographischen Verhältnisse unserer Familie sind einer solchen Annahme durchaus günstig; denn Bulnesia ist wegen der oben erwähnten Beschaffenheit ihrer Samenschale offenbar nächstverwandt mit Zygophyllu7n, Es ist diese eben angeföhrte pflanzen- geographische Thatsache um so beachtenswerther, weil auch bei den Sima- rubaceen und Burseraceen, die ich in späteren Abhandlungen zu besprechen gedenke, ebenfalls sehr nahe verwandte Gattungen und derselben Gattung angehörige Arten in Afrika und Südamerika vertreten sind.

Jedenfalls weisen diese Übereinstimmung einer südamerikanischen Gat- tung mit einer altweltlichen und die scharfe Begrenzung mehrerer ameri- kanischen Gattungen der Zyyophylleae auf ein recht hohes Alter dieser Gruppe hin. Befriedigender gestalten sich unsere Anschauungen von der Entwicke- lung der Gattungen Fagonia, Seeizenia und Zygophyllum. Die Verbreitungs- areale der Fagoniinae convergiren in Mittelaegypten, diejenigen der Zygophyl- linae in Aegypten und dem westlichen Vorderasien , also in Gebieten, welche zwar selbst während der Kreideperiode und der Tertiärperiode grofsentheils vom Meer bedeckt waren, sicli aber in nächster Nachbarschaft derjenigen Theile von Afrika und Arabien befinden, welche nie unterseeisch waren und im Inneren auch schon frühzeitig Steppenflora beherbergen mufsten.

Wie wir oben gesehen haben, stehen Miltianthus und von Zygophyllum die Sectionen Fabayo, Sarcozygimn und Halirniphyllum in nächster verwandt- schaftlicher Beziehung; fast das ganze Areal von Zygophyllum Fahago liegt auf Neuland, welches am Ende der Tertiärperiode oder nach derselben ge- bildet wurde, und auch die meisten anderen Arten kommen in Steppen vor, welche erst am Ende der Tertiärperiode entstanden sind, während vordem in denselben Gebieten insulares Klima herrschte. Dafs dieser Typus ehemals weiter südlich eine reichere Entwickelung gehabt hätte, ist keines- falls anzunehmen, da die klimatischen Verhältnisse daselbst erheblich von denjenigen verschieden sind, unter denen jetzt die erwähnten Zygophyllen gedeihen, welche gröfstentlieils während des Winters Schneedeckung ver- langen. Das grofse Ar(*al der Section AgrophyUuin, auf unserem Kärtchen von einer gewellten grünen Linie umrandet, enthält die meisten Arten in Nordafrika und Südwestafrika, theilweise auf Terrain, welches nie vom

3*

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Meer bedeckt war, theilweise auf solchem, welches seit der Kreidezeit oder seit der Tertiärperiode vom Meer entblöfst ist. Im nördlichen Arabien dürfte sich das ursprüngliche Areal dieser Section mit demjenigen der Section Fabago berührt haben; die klebrige Beschaffenheit angefeuchteter Samen ermöglichte die Verbreitung derselben über den Aequator hinweg nach Südafrika, und während im Norden neben Agrophyllum die Section Melocarpum (im Somaliland) sich abzweigte, entwickelte sich im Süden auch noch die Section Capensia. Recht schwer verständlich ist das Auftreten en- demischer Zygophyllum- Arten in Australien. Wie wir gesehen haben, be- sitzen die australischen Arten der Section Roeperia, ebenso wie die zwei Arten aus der Section Capensia , deren Samenschale ich bis jetzt untersuchen konnte, spiralfaserige Structur der Innenwand, allerdings noch mit der Steigerung, dafs die Spiralfaser sich abrollt und ganz aus der Schleimhülle heraustritt. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dafe die Section Roeperia und wahrscheinlich auch Roeperiopsis von der Section Capensia abstammt oder mit dieser gleichen Ursprung hat. Die Reconstructionen der Conti- nente, welche uns bis jetzt die Geologen bei ihren Darstellungen der Ver- breitung von Wasser und Land in der Kreide - und Tertiärperiode gegeben haben, lassen nicht erkennen, dafs einstmals eine Landverbindung zwischen Südafrika und Australien bestanden habe. Es ist aber sehr fraglich, ob alle die ziemlich starken verwandtschaftlichen Beziehungen, welche zwischen der Flora des südlichen Afrikas und derjenigen Australiens bestehen, sich durch transoceanische Verbreitung von Samen und Früchten erklären lassen werden. Im vorliegenden Fall jedoch ist die Möglichkeit gegeben, dafs von Südafrika aus einmal schleimige Samen eines Zygophyllwn nach Austra- lien gelangt sind und dafs sich dann dort eine neue Gruppe mit einigen Arten entwickelt hat. Es hat diese Hypothese um so mehr Wahrschein- lichkeit, als sich in Australien auch 2 Arten von Pelargonium finden, einer Gattung, die bekanntlich in Südafrika ganz aufserordentlicli formenreich, in Ostafrika mit einer geringeren Zahl von Arten auftritt. P. amtrak Willd. ist in Australien von Neu -Süd -Wales über Victoria, Tasmanien und Süd- Australien bis West -Australien verbreitet und steht sehr nahe dem ca- pensischen P. anceps Ait, , welches auch für eine Varietät des daselbst vorkommenden P. grosmUirioides Ait. angesehen wird. Eine Varietät, ero- dioides (Hook.) Benth., die von Neu -Süd -Wales bis Tasmanien und auch in Neu -Seeland vorkommt, und eine auf Tristan d'Acunha waclisende Pflanze

Die geogr. Verbreä. d. ZygophyUaceen im Verh. zfi ihrer st/st Gliederung. 21

(P. ocugnaHcum Thouars) sind nach Bentham (Flora Austral. I. 299) von dem oben genannten P. anceps Ait. nicht zu trennen, so dafs also kaum daran zu zweifeln ist, dafs das Auftreten von Pelargonium in Australien auf transoceanischen Transport von Samen aus Südafrika zurückzufuhren ist. Die zweite australische Art, P. Rodneyanum LindL, steht einer andern capensischen Art, dem P. reniforme Curt., nahe; es würde also auch dieser Fall für transoceanischen Transport und im neuen I^nd erfolgte Umwand- lung sprechen.

l^gophylloideae - Tribuleae.

Die Tribuleae sind, wie aus dem Verbreitungskärtchen ersichtlich, die- jenige Gruppe der Familie, welche die weiteste Verbreitung erlangt hat. Allgemein bekannt ist die einjährige krautige Pflanze T. terrester L., welche namentlich in den wärmeren Ländern der östlichen Hemisphaere zwischen 48^ n. Br. und 40^ s. Br. vorzugsweise auf trockenen und sandigen Plätzen, vielfach auch auf brachliegendem Culturland häufig beobachtet wird und diese weite Verbreitung den reich bestachelten, sowohl im Gefieder der Vögel, wie auch im Pelz der Vierfüfsler und in den Umhüllungen der Waarenballen leicht anhaftenden Früchten verdankt, deren zähe holzige Frucht Wandung um die nährgewebslosen und dünnschaligen Samen eine ausreichende Schutzhülle bildet. Ein wochenlanger Transport durch Vögel, Landthiere und Schiffe kann der Keimfähigkeit der geschützten Samen keinen Eintrag thun. T. terrester L. gehört zu den veränderlichsten Pflanzen hinsichtlich der Behaarung, der Zahl und Gröfse der Blättchen, der Gröfse der Blumenblätter, der Bestachelung der Früchte, sowie der Zahl der Samen in den Theilfrüchten. Es sind demzufolge von mehreren Autoren eine gröfse Anzahl unhaltbarer Arten aufgestellt worden, welche höchstens als Varietäten und Sub Varietäten unterschieden werden können. Im Allgemeinen wird r. terrester L. in wärmeren Ländern und namentlich in den trockeneren Ge- bieten der Tropen grofsblumiger; diese grofsblumige Pflanze mit Blumen- blättern, welche 2-3 -mal so grofs sind als die Kelchblätter, ist von Linne als 1\ cistoides beschrieben, von F. vonMueller und Oliver zuerst als Varietät der T. terrester hingestellt worden. Demnach kann man zunächst unter- scheiden r. terrester L. var. parviflorus^ die gewöhnliche Pflanze des Medi- terrangebietes und überhaupt der gemäfsigten Zonen, welche übrigens auch

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noch mehrfach in den Tropen vorkommt, und T. terrester L. var. cistoides (L.) Oliv. Zu var. parviflorus Engl, sind als Subvarietäten zu rechnen : T. himu" cronohts Yiv.y ausgezeichnet durch am Rücken mehr abgerundete und häufig nur zweidornige Theilfrüchte , von Aegypten bis Afghanistan, T. orientalis Kerner mit 1-3 -sämigen, in der Mitte am Rücken fast gekielten Theil- früchten, in Ungarn bei Budapest, T. lanuginosus L. mit mehr oder weniger dichter Behaarung der Blätter und der am Rücken etwas abgerundeten, stumpfhöckerigen, meist nur 2 - stacheligen Theilfrächte, in Beludschistan und Vorderindien, bisweilen durcli etwas gröfsere Blumenblätter und Heder- blättchen auch an die var. cistoides (L.) Oliv, erinnernd. Innerhalb der var. cistoides (L.) Oliv, sind hauptsächlich folgende Subvarietäten zu unterschei- den: subv&r' medius Y,ngl,, abstehend behaart und mit verkehrt- eiförmigen Blumenblättern, die 2 -2+- mal so lang sind als die Kelchblätter, von Somaliland bis Deutsch-Ostafrika und auf Sansibar; subvar. Zeyheri {Sond.) Schinz, abstehend behaart und mit sehr grofsen verkehrt- eiförmigen Blumen- blättern von der dreifachen Länge der Kelchblätter, in Südwestafrika und Südafrika; subvar. oblongipetaltis ¥,ngh , ziemlich kahl oder angedrückt be- haart, mit grofsen länglich- verkehrt- eifönnigen Blumenblättern, besonders häufig im tropischen Amerika, aber auch auf Madagascar, im tropischen Asien und auf den Sandwich -Inseln. Eng schliefst sich durch seine grofsen Blätter an T, terrester L. var. Zeyheri (Sond.) Schinz T. Pechuelii 0. Ktze. aus dem Hereroland an, bei dem nur noch bisweilen an den jungen Theil- frächten Stacheln beobachtet werden, während in den meisten Fällen die Theilfrächte weder Stacheln noch starke Höcker besitzen, sondern nur schwach grubig sind; die fraher von mir (Bot. Jahrb. X. 32) unterschie- denen Arten T. inermis und erectus gehen auch in T. Pechuelii auf Ganz besonders charakteristisch und wichtig liir diese Art sind aber die auf- rechten und auch verholzenden Stengel. Durch diese Eigenschaft wird einigermafsen zu den beiden nachher zu besprechenden in Afrika ende- mischen Zygophylleen- Gattungen, Kelleronia und Sisyndite, bezüglich des Wachsthums ein Übergang vermittelt. T. Pechuelii 0. Ktze. ist entsprechend der Nichtentwickelung von Stacheln, die als Haftorgane dienen könnten, in seiner Verbreitung auf das Hereroland besclu'änkt. Eine ganz andere Fruchtent Wickelung als bei den bisher betrachteten Arten von Tribulus finden wir bei T. alatus Delile, T. pteropJuyrus Presl., T, maci*opterus Boiss. und T, ptei'ocarpics Ehrenb., deren Theilfrüchte jederseits mit 2 Flügeln ver-

Die geogr. Verbreit d. Zygophyüaceen im Verh. zu ihrer syst OUederung. 23

sehen sind, die eine leichtere Verweh ung derselben durch den Wind er- möglichen. Sowohl bei dem in Aegypten, Arabien und Scinde verbreiteten T. ahtus Delile , wie bei dem im nordwestlichen Capland vorkommenden T. pterophorus Presl. (incl. T. cristatus Presl.) sehen wir an den Theiljfrüchten jederseits an Stelle der pfriemenförmigen Stacheln breite, steife, deutlich- gezähnte Flügel, die nicht blofs iiir die Windverbreitung von Bedeutung sind, sondern auch mitunter das Anhängen am Pelz von Vierfiilslern oder im Gefieder von Vögeln gestatten. Bei T. macropterus Boiss. hingegen sind die Theilfröchte fast noch breiter als bei J\ alatus Del. geflügelt und mit mehreren Zähnen versehen; diese Art hat sich von Oberaegypten durch Arabien bis nach Persien ver])reitet. Bei T. pterocarpus Ehrenb. endlich, welche in Nubien von Dongola ostwärts bis gegen Suakin vorkommt, finden wir breite, dünne, fast halbkreisförmige Flügel, die am Rande nur schwach gezähnt oder gewellt sind. Alle diese Arten besitzen auch dichte graue Be- haarung, die sie als Bewohner des trockenen Wüstenbodens kennzeichnet.

Die jungen Fruchtknoten von Trtbulus sind mit steifen, aufwärts ge- richteten Haaren besetzt, welche bei vielen Arten später ganz abfallen; bei 3 anderen afrikanischen Gattungen der Tribideae, bei KeHeronia Schinz, Neoliideritzia Schinz und Sisyndüe E. Mey. machen sich diese Fruchtknoten- haare ganz besonders bemerkbar.

Bei Kelhronia Schinz (in Bull. Herb. Boissier III. 400, t. IX) sind zu der Zeit, wo die Antheren noch nicht ausgestäubt haben, die Fruchtkjioten- haare noch ziemlich kurz, nur -J-^ so lang wie die Staubfäden; wenn aber die Antheren sich öflFnen, dann haben diese Haare die Länge der Staubfäden und ein Theil des entleerten Pollens liegt den Spitzen der Haare auf. Während bei Tribulus während der Fruchtreife die die Haare tragenden Ilöckerchen des Pericarps sich vergröfsern, bleiben bei Kelleronia diese im Wachsthum mehr zurück, die von ihnen getragenen Haare ver- längern sich aber dafür um so mehr. Bei der vollständigen Reife werden jedoch die Haare ganz abgestofsen und die nunmehr 9-10°*"' im Durch- messer haltende 5 -lappige Frucht besteht aus 5 Theilfrüchten , die ebenso wie die gewöhnlichen Formen des Tribulus terre^ter mit 2-4 einsamigen Querfächern versehen sind. Die nahe Verwandtschaft mit Tribulus ist nun recht in die Augen springend; aber auch sonst ist dieselbe nicht zu ver- kennen, obwohl K. spkndens Schinz ein ansehnlicher, über i"' hoher, mit aufrechter, in <ler Jugend längsfurchiger, im Alter mit mehrschichtiger

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subepidermal entstehender Korklage versehener Strauch ist, und die 3-4- paarigen, mit 1-2*'" langen und 6-12'"" breiten Blättchen versehenen Blätter meist abwechselnd stehen. Hier und da sind die Blätter auch gegenständig, wie bei Tribulus, und die Blüthen mit etwa 3""*" langen hell- gelben Blumenblättern erinnern stark an die grofsen Blüthen von TrSmlus Pechuelü 0. Ktze. Kelleronia splendens wächst im inneren Somalilande an krautreichen Plätzen der inneren Plateaulandschaften, bei Abdallah (C. Keller), am Gananeflufs bei Malkao und Nogal ; sie ist offenbar auch ein Xerophyt, aber ein Xerophyt offener Buschgehölze und die einzige strauchige Zygo- phyllacee der alten Welt, welche in der Gröfse ihrer Blättchen an die mit gröfseren Blattflächen versehenen Formen der neuen Welt, an die Bulnesia- Arten und beinahe auch an Guajacum sanctum herankommt.

Während Kelleronia durch ihre quergefächerten Carpelle der Gattung Tribulus noch sehr nahe steht, weichen Neoluederitzia Schinz (in Bull. Herb. Boiss. IL 191, t. II) und Sisyndite E. Mey., die im Namaland endemisch sind, durch ihre einfächerigen einsamigen, bei der Reife an der Bauchnaht auf- springenden Carpelle von den bisher genannten Gattungen der Trämleae und auch von Kallstroemia Scop. ab. Man kann die anderen Gattungen als Tribulinae und diese beiden als Neoluederitziinae bezeichnen. Schinz hält es bei dem dürftigen und unvollkommenen Material, welches jetzt von Neoluederitzia vorliegt, für schwierig, derselben eine Stellung im System an- zuweisen und glaubt, dafe einzelne Verhältnisse auf die Chitonioideae-Seri- codeae hinweisen ; es besteht aber jetzt fiir mich auch nicht der geringste Zweifel daran, dafs die Pflanze die nächste Verwandte von Sisyndite und eine Tribulee ist. Neoluederitzia ist ein über mannshoher Strauch vom Fisch- flufs in Grofs -Namaland und besitzt wie Kelleronia eine gelbe Korkschicht und abwechselnd stehende, 3-4 -paarige Fiederblätter; aber dieselben sind hier meist noch mit einem unpaarigen Endblättchen versehen, wie es bei den centralamerikanischen Chitonieae die Regel ist; jedoch darf darauf för die systematische Stellung nicht allzuviel Werth gelegt werden, da es wahr- scheinlich ist, dafs das ursprüngliche Zygophyllaceenblatt unpaarig gefiedert gewesen ist. Wichtig ist die Haarbekleidung des heranwachsenden Frucht- knotens, welche sich genau so verhält wie bei Kelleronia, Was aber die vor den Kelchblättern stehenden 3"" langen zungenförmigen, am Grunde zusammenhängenden Schuppen betrifft, so können diese einerseits den 5 birnförmigen Discuseffigurationen bei Kelleronia und den 5 vor den Kelch-

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blftttem stehenden 3 -spaltigen Schüppchen von Sisyndüe entsprechen, oder aber Ligularscliuppen verkümmerter Staubblätter sein. Beide Deutungen, von denen jetzt keine mit absoluter Sicherheit gegeben werden kann, sprechen nicht gegen die Zugehörigkeit von Neoluederüzia zu den Trir bideae.

Was nun die Gattung Sisyndüe E. Mey. betriflft, so gewährt diese inner- halb der Familie durch ihren spartiumartigen Habitus, wegen dessen die ein- zige bekannte Species S. spartea E. Mey. genannt wurde, einen recht fremd- artigen Anblick, und die Verwandtschaft mit Tribuius scheint zunächst nicht einleuchtend. Die graugrünen Zweige streben unter spitzem Winkel nach oben , und erst bei genauer Betrachtung erkennt man, dafs nicht kleine, auf ein geringes Mafs reducirte, sondern sogar ziemlich hoch entwickelte Blätter vorhanden sind. Es sind Fiederblätter da wie bei Tribuius^ und zwar haben dieselben eine bedeutende lilnge, bis zu i*"; aber von dem Blatt ist vorzugs- weise die stielrunde stengelähnliche Rhachis entwickelt, an welcher Paare sehr kleiner Blättchen in grofeer Entfernung von einander stehen. Die Blü- then erinnern an die von Kelleronia^ und zur Zeit der Fruchtentwickelung ist der Fruchtknoten von langen Haaren dicht bedeckt, wie bei Neolaederitzia; die Frucht besteht wie bei dieser Gattung aus 5 an ihrer Bauchnaht sich öflF- nenden einsamigen Theilfrüchten. Es sei hier darauf hingewiesen , dafs auf der westlichen Hemisphaere in den trockenen Gebieten Argentiniens eine Zygophyllacee von etwas ähnlichem Habitus wie Sisyndite spartea zur Ent- wickelung gekommen ist; es ist dies Bulnesia Retama (Gill. et Hook) Griseb.

Es bleibt nun noch die Gattung Kattstroemia Scop. übrig, welche der Gattung Trümbis näher steht, als alle anderen bisher angeführten und auch von vielen Autoren mit der letzteren vereinigt wird. Da aber hier, soweit ich constatiren konnte\ die Theilfrüchte, wenn sie reif abfallen, ein Mittel- säulchen mit dem ganzen Griffel zurücklassen, so halte ich es für zweck- mäfsig, die Trennung beider Gattungen aufrecht zu erhalten. Da ich nicht alle australischen Arten und namentlich nicht im Fruchtzustande gesehen habe, da ferner die vorhandenen Beschreibungen der australischen Arten recht kümmerliche sind, namentlich nicht das f&r die Gattung entscheidende Verhalten des Griffels bei der Fruchtreife berücksichtigen, so vermag ich vorläufig nicht zu entscheiden, ob aufser dem TrUmlus terrester auch noch

^ Von den australischen Arten der Gattung habe ich leider nur 3 zu sehen bekommen. Phys.Ahh. 1896, IL 4

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andere der bisher als TrUmltis angesehenen Zygophyllaceen Australiens dahin oder zu Kallstroemia gehören. T. ranuncuUflorus F. MuelL, T, hystrix R. Br., T. macroearpus F. Muell., T. astrocarpus F. Muell. dürften vielleicht noch echte Tribulus sein, zumal die erste Art, bei welcher auch noch 2 -sämige gefächerte Früchte vorkommen. Auch bei den beiden strauchigen Arten T. plalypterus Benth. und T, hirsutus Benth., welche ich in meiner Bearbeitung der Zt/gopht/l- laceae in eine Section von Kallstroemia, Thamrvozygmm vereinigt habe, konnte ich über das Verhalten bei der Fruchtreife keinen Aufschlufs erhalten. Da- gegen stimmen T.pentandrus Benth., T. bkohr F. Muell., T. Solandri F. Muell., T. minutas Leichhardt mit den amerikanischen Kallstroemia bezüglich des Griffels überein, und es sind daher diese Arten ganz sicher als Kallstroemia zu bezeichnen. Es ist wahrscheinlich, dafs in Australien die Abzweigung der Kallstroemia von Tribuhis aufgetreten ist, da T. ranuncuUflorus F. Muell. oder Kallstroemia ranunculiflora (F. Muell.) mitunter noch quergeftcherte Theil- früchte erzeugt, bei den amerikanischen Arten aber solche nie beobachtet werden. Von den beiden amerikanischen Kallstroefnia , welche meistens ein lo-carpelläres Gynäceum besitzen, ist K. tribuloides (Mart.) Wight et Am. auf das andine Argentinien und Brasilien beschränkt, während die andere, durch kleinere Blüthen ausgezeichnete K. maxima (L.) Torr, et Gray von den bolivianischen Anden nordwärts durch Centralamerika und Westindien bis in die südlichen vereinigten Staaten verbreitet ist. Da die Theilfrüchte von Kallstroemia sich ziemlich ähnlich, wie die Theilfrüchte einer Malva verhalten, so ist wahrscheinlich, dals ihre Verbreitung in ähnlicher Weise leicht erfolgt wie die von Maba rotundifolia L. und ihren Verwandten. Bei der ausge- dehnten Verbreitung der Tribuleae mufs man über ihr Entstehungsgebiet auch im Zweifel sein ; aber es giebt doch einige Anhaltspunkte dafür, die es uns wahrscheinlich erscheinen lassen, dafs dasselbe in Afrika gelegen sei. In ganz Europa und Asien, wo TrSndus terrester sich in allen wärmeren Steppen- gebieten verbreitet hat, ist keine ausgesprochen endemische Form vorhanden, dagegen finden wir in Nordafrika den gewöhnlichen T. terrester L. und die ihm zunächst stehenden Varietäten Zeyheri und cistoides, welche letztere in den wärmeren Ländern, auch in Australien und Amerika, sich Terrain erobert hat, dank der für die Verbreitung vortheilhafVen Stachelentwickelung an den Früchten ; wir finden dann femer sowohl im Nilgebiet und seinen Nachbar- gebieten, wie in Südwestafrika, andere ausgezeichnete Arten von TribuhiSj sodann im Somaliland die endemische Gattung Kelleronia, in Südostafrika

Die geogr. Verbreä. d. ZygopJiyUaceen im Verk zu Hirer syst Gßederung. 27

die Gattungen Sisyndüe und Neoltiederüzia, die letzteren beiden mit so anderer Fruchten twickelung als bei TrSmlus und Kelleronia, dafs för sie eine schon fi*ühzeitige Absonderung vom TribultiS'Tyjyns angenommen werden miils. Was nun das Vorkommen von Tribulus in Australien betrifft, so liegt darin nichts Aufi&Uiges, da die Verbreitung dorthin sowohl von Asien her, wie von Afrika aus, erfolgen konnte. Wie schon oben angedeutet wurde, ist daim wahr- scheinlich in Nordaustralien die Gattung Kallstroemia entstanden, welche nicht blofs in Australien sich weiter ausbreitete, sondern auch nach Süd- amerika gelangte, wo 2 Arten sich ein weites Gebiet eroberten.

Es bleiben nun noch einige von den Zygophyüoideae mehr oder weniger erheblich abweichende ünterfamilien übrig, die zum Theil monotypisch sind.

ChUomoideae.

Die Chüonioideae mit den Gattungen Chitonia TAoq. etSesse., Viscainoa Greene und Sericodes A.Gray weichen von dem gewöhnlichen Zygophyllaceen- Typus dadurch ab, dafs die Blätter abwechselnd und entweder länglich un- getheilt {Viscainoaj Sericodes) oder unpaarig gefiedert (Chitoniä) sind. An die Zygophyllaceae werden wir aber durch die scheidewandspaltigen Kapseln aller 3 Arten und dadurch erinnert, dafs bei Sericodes die Kelchstaubblätter mit tief 2 -spaltigem Anhängsel versehen sind. Bei allen 3 Gattungen be- sitzen die Samen Nährgewebe; es nähert sich diese Unterfamilie dadurch den Zygophylloideae-Zygophylleae; aber jedenfalls stellt sie einen ganz selb- ständigen centralamerikanischen Zweig der Familie dar, wie etwa bei den Rutaceen die tropisch amerikanischen Biciyolainoideae und Spathelioideae.

Peganoideae.

Die bekannte Gattimg Peganum L. weicht von den echten Zygophylloi- deae sehr erheblich ab, so dafs viele Autoren sie zu den Rutaceen neben Rida gestellt haben. Jedoch ist auch zu keiner Gattung dieser Familie eine engere Verwandtschaft nachzuweisen, selbst dann nicht, wenn man auf das })ei den Rutaceen nun allgemein als wesentlich anerkannte Merkmal der lysigenen Drusen, die eben bei Peganum fehlen, weniger Werth legen wollte. Die unregelmäfsig zerselilitzten Blätter })esitzen am Grunde kleine

28 A. Engler:

borstenähnliche Stipeln und zeigen nur dadurch eine kleine Übereinstim- mung mit den Blättern der ZygophyUoidme. Dais die Staubblätter keine Anhängsel besitzen, ist nicht so wichtig, da solche auch mehrfach bei Zygophyllum fehlen; auffallender ist, dafs nicht selten 15 Staubblätter an- statt 10 vorkommen, jedoch begegnet uns dieses Verhalten auch wieder bei Nüraria. Ganz besonders abweichend von dem Verhalten der übrigen Zygophyllaceae ist aber der Umstand, dafs in dem Fruchtknoten an den Placenten zahlreiche Samenanlagen mit sehr kurzem Funiculus ansiteen und radienförmig ausstrahlen, während sonst die Samenanlagen an längerem Funi- culus von der centralwinkelständigen Placenta herunterhängen. Dagegen erinnern die langen, am Griffel herunterlaufenden Narbenleisten entfernt an die Narben der Trämleae, Aus alledem geht hervor, dafs Peganum inner- halb der Zygophyllaceen eine isolirte Stellung einnimmt und in derselben nur als Repraesentant einer eigenen Unterfamilie, der Peganoideae, gefilhrt werden kann. Von den 4 Arten der Gattung besitzt die weiteste Verbrei- tung das bekannte Peganum Harmala L., von Marokko bis nach dem nord- westlichen Indien und der Songarei, nordwärts bis Budapest und Sarepta, wobei jedoch zu beachten ist, dafs erst von den östlichen Theilen der Balkanhalbinsel bis nach der Songarei ein geschlosseneres Areal vorhanden ist, während weiter westlich die Pflanze nur an sehr entfernten Localitäten vorkommt, im südöstlichen Steppengebiet Spaniens, in Unteritalien bei Po- tenza und bei Budapest. Im östlichen Asien, in der östlichen und süd- lichen Mongolei tritt dann das mit P. Harmala L. sehr nahe verwandte P. Nigellastnim Bunge auf und im nördlichen Mexiko das mit der chine- sisch-mongolischen Art sehr nahe verwandte P. mexicanu7n A.Gray. Diese disjuncte Verbreitung dreier einander nahe stehenden Arten entspricht der Verbreitung von Pistada und von Cercis und ist wahrscheinlich darauf zurück- zufuhren, dafs in früheren Perioden die Gattung Peganum weiter nördlich verbreitet war und bei der Wanderung nach Süden sich in den drei ge- nannten Steppengebieten erhielt. P. crühmifolium Eichwald, vorzugsweise ausgezeichnet durch 2 -fächerige Beerenfrüchte, ist eine auf das östliche Gestade des Kaspischen Meeres beschränkte Art, die Fischer und Meyer zur Aufstellung der Gattung Malacocarpus Veranlassung gab, aber natur- gemäfs nur eine Section bilden kann; sie ist offenbar unter dem Einflufs eines sehr salzreichen Bodens und wahrscheinlich erst in jüngerer Zeit entstanden.

Die geogr. Verbreit. d. Zygophjüaceen im Verh, zu ihrer syst QUedening. 29

Tetradiciidoideae.

Eine andere, von Bentham und Hooker (Genera pl. I. 288) zu den Rutaceen, aber schon von Ehrenberg (IJnnaea IV. 403) mit Recht zu den Zygophyllaceen, später von Bunge (Linnaea XIV. 177) zu den Crassu- laceen gestellte Gattung ist Tetradiclis Stev., ein höchst eigenartiges ein- jähriges, succulentes Pflänzchen, unten mit gegenständigen, weiter oben mit abwechselnden Stengelblättern, von denen die unteren fiederschnittig, die oberen fiederschnittig oder zerschlitzt sind, und mit sehr zahlreichen, kleinen, in Wickeln stehenden haplostemonen, vollkommen isomeren Blflthen, deren tief gelapptes Gynäceum sich bei der Fruchtreife in höchst eigen- artiger Weise verhält, anderseits aber doch auch an andere Zygophyllaceen erinnert. Der centrale Griffel entspringt am Grunde der Carpelle, wie es bei Simarubaceen häufiger vorkommt, und besitzt am Ende 3-4 linealische herunterlaufende Narben, wie bei den Tribuleae. Die Samenanlagen sind länglich und mit langem Funiculus versehen, sind aber in jedem Carpell an eine frei au&teigende Placenta befestigt; zu dieser Eigenthümlichkeit kommt noch die andere, dafe jedes Carpell durch Ausbuchtung der Seiten- wände in 3 communicirende Kammern getlieilt wird und dafs die mittlere Kammer die frei aufsteigende Placenta mit 4 Samenanlagen, jede seitliche Kammer nur i Samenanlage einschliefst. So complicirt dieses Verhalten ist, so erinnert es doch an die bei Tribulus und Kelleronia vorkommende Querfächerung der Carpelle. Bei der Reife springt jedes Carpell nach innen fachspaltig auf, imd zugleich löst sich das Epicarp von den Scheide- wänden ab, welche sich erst später spalten. So werden nun die beiden Epicarptheile jedes Carpells, welche je einen Samen einschliefsen, frei und herausgeworfen, während die 4 (durch Abort bisweilen weniger) Samen des Mittelfaches zunächst an der aufsteigenden Placenta hängen bleiben, dann aber von derselben abfallen. Die Samen der Seitenkammem sind nun jeder von einer Endocarphälfte eines Faches eingeschlossen, der auf der convexen Seite noch Reste des Mesocarpes anhängen, sie sind demzufolge mit einer Hülle versehen, die dem Wind eine genügende Angriffsfläche darbietet und die Verbreitung eines Theiles der producirten Samen durch den Wind ermöglicht, während die im Mittelfach entwickelten und dann herausfallenden Samen meist am Platze der Mutterpflanze bleiben. Das interessante Pflänzchen wächst herdenweise auf im Frühjahr feuchtem

30 A. Engler:

Bittersalzboden der Wüsten und Steppen Unteraegyptens, Vorderasiens und Centralasiens ; wie aus unserem Kärtchen zu ersehen, sind die jetzt be- kannten Fundstatten ziemlich getrennt; aber die Pflanze, welche in einem Monat ihre ganze Entwickelung von der Keimung bis zur Samenreife be- endet, dürfte auch noch an mancher anderen Stelle zwischen den bekannten Fundstätten existiren. Eine Ähnlichkeit mit den Zygophylloideae tritt na- mentlich bei den mit langem Funiculus versehenen Samenanlagen und bei der Keimung hervor, wo die ersten Blätter noch gegenständig sind. Durch den complicirten Bau des Gynäceums erscheint Tetradiclis morphologisch mehr vorgeschritten gegenüber Zygophyllum; an eine directe Abstammung vom Zygophyllum 'Typus, wie etwa bei Augea, ist aber nicht zu denken, denn einmal ist die Haplostemonie der Blüthe sehr auffällig und dann be- sitzt die Samenschale keine krystallfuhrende Zellschicht, wie sie bei den altweltlichen Zygophylleae regelmäfsig vorkommt; auch ist die Samenepi- dermis anders beschaflfen, als bei Fagonia und Zygophyüvm, indem dieselbe hier aus papillenartigen, bienenkorbähnlichen, in eine kurze Spitze endenden und nur wenig verschleimenden Zellen gebildet ist, so dafs nicht an eine directe Abstammung von Zygophyüum, sondern an eine solche von einem älteren ausgestorbenen Zygophylleen -Typus zu denken ist, bei welchem auch in den Carpellen mehrere Samenanlagen eingeschlossen waren. Dafs Tetradiclis auch im Süden des tertiären Mittelmeeres entstanden ist, ist wohl kaum zu bezweifeln.

Nitrarioideae.

Während bei den bisher besprochenen Gruppen das Gynäceum und die Frucht mehr oder weniger gelappt ist, finden wir bei den beiden letzten monotypischen Gruppen, den Nitrarioideae und Balanitoideae ein vollkom- men syncarpes ungelapptes Gynäceum und Steinfrüchte. Bei den Nitrari- oideae mit der Gattung Nitraria L. treten die augenfälligen habituellen Zygo- phyllaceenmerkmale nur sehr schwach hervor. Die dünnen holzigen Zweige erinnern durch ihre dünne graue Rinde an die Zweige von Zygophyllum Sect. Sarcozygiam und Halimiphyllu?n; aber die Blätter stehen in Kurztrieben, welche auf theils verdornenden, theils in einen Blüthenstand endigenden Langtrieben spimlig angeordnet sind; an den Kurztriehen stehen 2-3 keil- förmige ungestielte Blätter in einem Büseliel, und jedes der Blätter ist mit

Die geogr. Verbreä. d. ZygophyUaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 31

2 kleinen Nebenblättern versehen; es erinnern also die einzelnen Blätter etwas an die Blätter des Zyyophyllurn atriplicoides Fisch, et Mey. In den Bluthen ist, wie schon oben bei Peganum hervorgehoben wurde, das Andrö- ceum häufig aus einem lO- und einem 5-gliedrigen Kreise gebildet. Der syncarpe längliche Fruchtknoten geht allmählich in einen kegelförmigen Griffel über, der mit 3 herunterlaufenden Narben versehen ist, wie wir sie bei den Trdmleae fanden. Auch die sehr längliehe und an fadenförmigem Funiculus hängende Samenanlage ist denen der meisten ZygophyUaceen nicht unähnlich. Während wir aber bei allen. anderen ZygophyUaceen eine gleich- mäfsige Samenentwickelung in allen Fächern eines Gynäceums wahrnahmen, kommt in jeder Frucht von Nitraria nur ein einziger Same zur Reife. Die Fruchtwandung sondert sich in ein steinhartes, unten grubiges Endocarp, ein dünnfleischiges Mesocarp und ein dünnes gelbes oder rothes Epicarp. Nach den Angaben von Maximowicz (Enumeratio plantarum hucusque in MongoUa nee non adjacente parte Turkestaniae sinensis lectarum, Fase. i. (1889) p. 122) sind bei der asiatischen N, Scfioberi L. Gröfse, Gestalt und Farbe der Frucht sehr veränderlich; im AUgemeinen hat die in den kas- pischen Steppen vorkommende Pflanze (var. caspia Pall.) länger zugespitzte Früchte, die songarische und westmongolische weniger zugespitzte, die bai- kaUsche und ostmongolische (var. sUnrica Pall.) kleinere eiförmige schwarze oder bläuliche und wenig zugespitzte Früchte; auch soll die kleinfrüchtige ostmongolische Pflanze nur 1-2 Fufs hoch, die grofsfrüchtige westliche bis 5 Fufs, die südliche bis 8 Fuls hoch werden; doch kann die klein- früchtige Pflanze je nach dem Boden auch kräftiger werden. Auch hat Maximowicz von Ordos am Hoang-ho eine grofse Anzahl verschiedener Früchte von Nitraria Schoben erhalten, unter denen er 3 Formen zu unter- scheiden vermochte, eine zur var. caspia gehörige lange mit reichlichem Fruchtfleisch, und 7 kleinfrüchtige schwarze, zur var. sibirica gehörige, davon die eine mit wenig, die andere mit reichlichem Fruchtfleisch. Von den Chinesen sollen jedoch, wahrscheinlich nach dem Geschmack der Früchte, noch mehr Varietäten unterschieden werden. Aus aUedem geht hervor, dafs K Schoberi sich im Stadium einer reichen Formenbildung befindet. Auch kommen nach Maximowicz (Flora tangutica p. 102) Formen mit Blüthen vor, welche zur Eingeschlechtlichkeit neigen. Bei der geringen Anzahl saftiger Fi-üehte in den Wüsten- und Steppengebieten Centralasiens ist es nicht zu verwundem, dafs Menschen, Quadrupeden und Vögel den salzig-

32 A. Engler:

süfslich, bisweilen auch angenehm süfs schmeckenden Früchten der N. Schoben nachstellen; nach den Angaben von Przewalski (in Maximowicz, Flora tangutica p. 102) sollen sogar alljährlich im Herbst die Bären von Tibet nach Tsaidam kommen und sich an iV/^raria- Frachten delectiren. Alles dies erklärt leicht die grolse Verbreitung der Nitraria Schoberi in den Steppen und Wüsten Asiens. Da aber centndasiatische Zugvögel im Winter bis nach Australien vordringen und der in dem Endocarp eingeschlossene Same hin- länglich geschützt ist, so erklärt sich die eigenthümUche Thatsache, daß N. Schoberi L. auch im südlichen und westlichen Australien vorkommt; es wurde diese australische Pflanze, welche ebenfalls mit gelben, rothen und dunkelbraunrothen Früchten variirt, früher als eigene Species N. LabiUardieri DC. angesehen ; aber gegenwärtig kann die australische Pflanze nicht einmal als Varietät von der asiatischen abgetrennt werden. Hingegen hat Maxi- mowicz (Enum. plant, hucusque in Mongolia etc. p. 122) eine im südlichen Theil der Wüste Gobi und südlich von Hami vorkommende Pflanze N. sphae- rocarpa Maxim, der N, Schoberi L. als Species gegenübergestellt, weil die Steinfrüchte kugelig sind und einen mit tiefen löchern versehenen Steinkern besitzen. Den beiden genannten und nahe verwandten Arten steht eine dritte, N. rehisa (Forsk.) Aschers, gegenüber, welche in den Salzwüsten Palae- stinas, Nordarabiens, Algiers und Senegambiens bis 2°" hohe, dichte Büsche bildet. Es ist diese Art von N. Schoberi L. durchaus verschieden durch die breiteren, keilförmigen, bisweilen gestielten Blätter und die häufig abfallen- den Nebenblätter; ihre Früchte werden ebenso wie die der centralasiatischen Art. gewonnen, und das zerstreute Vorkommen der Pflanze in den Wüsten des cisaequatorialen Afrikas weist auch auf eine Verbreitung durch Vögel und andere Thiere hin ; offenbar besitzt aber diese Art ein gröfseres Wärme- bedürfnifs als N. Schoberi^ da sie sich nicht weiter nach Asien verbreitet hat. Da N. retusa von Senegambien bis Syrien verbreitet ist und sehr bald östlich von diesem Areal das Gebiet der N. Schoberi anschliefst, letztere auch vor- zugsweise auf jungem Land vorkommt, das in der Tertiärperiode vom Meer bedeckt war, so ist auch fiir die Gattung Nitraria mit ziemlicher Wahr- scheinlichkeit anzunehmen, dafs sie im nordöstlichen Afrika entstanden ist.

Die geogr. Verbreit d. ZygophyÜaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 33

Bakmitoideae.

Die Gattung Balanites Delile, welche auf Ximenia aegyptiaca L. gegründet wurde und nur eine von Afrika bis Ostindien und Burma verbreitete Art, B. aegyptiaca {L.)T)^\\\e, umfafst, wurde von de CandoUe 1824 im ersten Bande des Prodromus (p. 708) ganz richtig zu den Zygophyllaceen gestellt, von Endlicher (Gen. pl. 1043 ^»5498) als eine den Olacaceen nahe ste- hende Gattung bezeichnet, von Planchon (Ann. sc. nat. 4. ser. HI. 249) zu den Meliaceen gestellt, von Bentham und Hooker (Gen. L 315) zu den Simarubaceen gebracht. Letztere Autoren geben an: »Folia bijuga, epunctata, Stigmata simplicia et flores hermaphroditi Zygophylleis accedunt, a quibus Balanites differt foliis altemis, staminibus esquamatis, ovuUs soli- tariis fructuque drupaceo«. Nun kommen aber abwechselnde Blätter, wie wir sehen, mehrfach bei den Zygophyllaceen vor, bei einzelnen Tribuleae^ bei den Chüonioideae^ Peganoideae und Nitrarioideae; femer sind Staubblätter ohne Anhängsel auch nicht selten, selbst innerhalb der Gattung ZygophyUurn^ endlich kommen einzelne Samenanlagen in den Fächern der Frucht mehr- fach vor, bei mehreren Zygophyllum^ bei Kallstroemia^ Sisyndite^ Neoluederitzia^ SericodeSj Nitraria. Dafs von den ursprünglich vorhandenen Samenanlagen nur eine zu Samen wird, ist ebenfalls bei Nitraria der Fall. Also können diese Merkmale von Balanites keinen Grund bieten, die Gattung von den Zygophyllaceen auszuschliefsen ; auffallend könnte nur der dicke, ringförmige, die Basis des Fruchtknotens umgebende Discus sein. Endlich ist auch noch zu berücksichtigen, dafs an jungen Zweigen zu beiden Seiten der Blattstiele kleine, sehr bald abfallende Nebenblätter vorhanden sind. Es ist also Bala- nites zweifellos eine Zygophyllacee, aber ebenso wie Nitraria ohne engeren Anschlufs an irgend eine andere Gattung. Die Fruchtentwickelung findet in ähnlicher Weise wie bei Nitraria statt; aber es kommt hier zur Aus- bildung einer recht grofsen (3-4*"°* langen) gelblichen Steinfrucht mit flei- schigem, öligem Sarcocarp und sehr dickem, schwach 5 -kantigem, knochen- hartem, I- fächerigem Steinkem. Wie bei Nitraria, ist auch hier der Same ohne Nährgewebe. Die Verbreitung der Früchte erfolgt wohl weniger durch Vögel als durch Vierföjfeler und Menschen; letztere geniefsen in Afrika vielfach die süfsen Früchte, auch wird aus ihnen von den Negern Liqueur bereitet. Auf unserem Verbreitungskärtchen erscheinen die bekannten Fund- orte von einander sehr entfernt, aber es ist wohl anzunehmen, dafs Bala- Phys.Ahh, 1896. IL 5

34 A. Engler:

nites in Nordafrika noch häufiger vorkommt und ebenso in Arabien. Die ostindische Pflanze, welche sich durch behaarte Blumenblätter auszeichnet, hat Planchon als eigene Art B, Roxburghii beschrieben; aber sie kann wegen dieses geringfögigen Merkmals doch nur als Varietät angesehen werden. Auch für BaUmites ist ebenso wie fiir Nitraria das nordöstliche Afrika als Heimat anzunehmen.

Unter Berücksichtigung der in dieser Abhandlung hervorgehobenen morphologischen und geographischen Thatsachen dürfte das phylogenetisch- systematische System am besten folgendermafsen zum Ausdruck kommen.

A, Frucht fach- oder scheidewandspaltige, oder zugleich fach- und scheidewandspaltig sich öffnende Kapsel, oder in i— mehrsamige geschlossene Theilfrfichte (Coccen) zerfallend, selten beeren artig.

a. Blätter alle abwechselnd, vielspaltig. Frucht kugelig, mit mehrsaoiigen Fächern, fach- spaltige Kapsel oder beerenartig I. M^^mwMBidteae

1. Pßfftmum L.

b. Blätter alle abwechselnd, einfach oder unpaarig gefiedert II. CMfoitlol«i^«ie

a, Blätter entfernt stehend. Frucht eine scheidewand- spaltige Kapsel I. Chitonieae

2. Chitoma Moq. et Sesse, 3. Sericodes A.Gray.

ß, Blätter in Kurztrieben. Frucht in einsamige Theil-

fr Achte zerfallend 2. Sericodeae

4. Sericodes A. Gray.

r. Die untersten Blätter gegenstandig, die oberen wechselstän- dig. Biüthen haplostemon. Jedes Fach des tief 3— 4 -lap- pigen Fruchtknotens durch Ausbuchtung der Seitenwände mit3 kleinen communicirenden Kammern, mit einer keulen- förmigen, in der mittleren Kammer aufsteigenden Placenta, von welcher je 4 Samenanlagen in die mittlere Kammer, je I in die seitliche Kammer herabhängen. Nährgewebe ziemlich dflnnwandig III. TeiretMeU^t^Meme

5. Tetradiclis Stev.

d. Blätter alle gegenständig oder bisweilen oberwärts am Stengel wechselständig, einfach oder gedreit oder (meist

paarig) gefiedert IV , Ky^M^h^iiaidimme

a, Samen mit Nährgewebe, dasselbe dickwandig, nur

bei Seetsenia schwach entwickelt i. Zygophylleae

I. Kräuter oder niedrige Sträucher mit gedreiten, oder in Folge von Verkümmerung der Seiten- blättchen nur ein Blättchen tragenden Blättern . la Fagoniinae

6. Fagania Tourn., 7. Seetzenia K. Br.

Die geogr. Verbreit. d. Zygophyüaceen im Verh. zu ihrer syst Gliederung. 35

II. Kräuter oder Str&ucher mit ungetheilten oder

paarig gefiederten Blättern ib Zygophyllinae

8. ZygophyUum L., 9. Miltianthus Bunge, 10. Augea Thunb., 1 1. Quajacum L., 12. Ptn'- lieria Ruiz et Pav., 13. Pintoa Gay, 14. Bid- nesia Gay, i^.Piecirocarpa Gillies, 16. Larrea Cav., 17. Metharme Phil.

ß, Samen ohne Nährgewebe, Blätter bisweilen wechsel- ständig 2. Tribuleae

I. 5 Theilfrüchte, vom Mittelsäulchen sich ablosend,

i-samig, an der Bauchnaht aufspringend . . la Neoluederitziinae

1 8. Neohtederiizia Schinz, 1 9. SisyndUe E. Mey.

II. 5 oder 10 Theilfrüchte, i—mehraamig, geschlossen ib Tribulinae

20. Kdleronia Schinz, 21. Tnbulus Tourn.,

22. KaUstroemia Scop.

B, Frucht steinfruchtartig, mit harten einsamigen Steinkemen. Blätter abwechselnd. Sträucher. a, Blätter I- paarig V^ ^«toftlf olife«ie

23. Balanües Delile.

6. Blätter ungetheilt VI. Uriirari^Uieme

24. Nüraria L.

Ihrer Stellung nach noch durchaus zweifelhaft: Teiraena Maxim.

Durch diese Art der Anordnung werden die von den typischen Zygo- phyllaceen am meisten abstehenden Gruppen an den Anfang gestellt; die typischen Gruppen kommen in die Mitte, und am Ende haben die beiden Gruppen ihren Platz gefunden, welche zwar unzweifelhaft auch den Zygo- phyüaceen zugehören, aber innerhalb der Familie etwas isolirt stehen.

Die genaue Verfolgung der Verbreitung der einzelnen Gruppen der Zygophyüaceen hat also im Wesentlichen zu dem Resultat gefiihrt, dafs fiir die altweltUchen Zygophylloideae {Zygophylkae'Fagonünae und Zygophyllinae zum Theil), fiir die TrUmleae und Auyeeae, desgleichen für die Tetradiclidoi- deaej Nitrarioideae und Balanitoideae das erste Entwickelungsgebiet im nord- östUchen Afrika und Arabien zu suchen ist und dafs von da aus die weitere Verbreitung einzelner Typen nach Norden hin erst nach der Bildung der west- und centralasiatischen Steppen erfolgte, dafs auch die Besiedelung australischer Steppen durch Zygophyüaceen von dem afrikanischen Conti- nent ausging. Trotzdem diese Zygophyüaceen zum Theil nach ihren moi*pho-

36 A. Engler: Die geogr.Verbreü. cL Zygophyliaceen u,s.w.

logischen Merkmalen, namentlich hinsichtlich ihrer Fruchtbildung sehr aus einander gehen, so kann doch über ihre Zusammengehörigkeit zu einer Familie kein Zweifel bestehen ; ebenso sicher ist, dafs die genannten Gruppen schon existirten, bevor die Gattung Zygophyllum ihre heutige Formenent- wickelung in Asien erlangte, also wahrscheinlich in der Tertiärperiode. Da nun die genannten altweltlichen Gruppen der Zygophyllaceen alle in Afrika entstanden sein müssen, so ist es wahrscheinlich, dafs die ameri- kanischen Zygophyllinae einstmals, als noch das heutige Südamerika und Afrika zusammenhingen, mit den afrikanischen Zygophylleae in engerer Be- ziehung gestanden haben. Ganz besonders spricht hierfür das Verhalten der Samenepidermis von Bulnesia. Die Peganoideae und Chitomoideae stehen nur in entfernter verwandtschaftlicher Beziehung zu den übrigen ZygophyU loideae und dürften schon neben diesen existirt haben, als die eigentlichen Zygophylloideae sich weiter spalteten.

KPratss Akiid- d.Wissensch.

Il^.Alh. 1836.

Zy^ophylloideae

Xeohieduitiüoae

Tribiilcae-Tribulinae

Engler: Geographische Verbreitung der Zygophyllaceen

Otogr^UtKAnA. u StMndrr'CZ mi^iriüi S

PHILOSOPHISCHE UND HISTORISCHE

ABHANDLUNGEN

DER

KÖNIGLICHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu BERLIN.

AUS DEM JAHRE

1896.

MIT 10 TAFELN.

BERLIN.

VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

1896.

GEDRUCKT IN DER REICUSDRUCKEREL

IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.

Inhalt.

Wein hold: Zur Geschichte des heidnischen Ritus Abh. 1. S. 1 50.

Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy- rus 3024 der Königlichen Museen herausgegeben. (Mit 10 Tafeln.) II. S. 1 77. Stumpf: Die pseudo - ai*istoteIischen Probleme über Musik .... III. S. 1 85.

Zur Geschichte des heidnischen Ritus.

Von

H"^ KARL WEINHOLD.

IMos.-hi»tor. Äbh, 1896. I.

Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 9. April 1896

[Sitzungsberichte St. XIX. S. 415].

Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 30. April 1896.

Je mehr die Bedeutung des Cultns und der mit ilim zusammenhängenden Riten f&r die Religionsgeschichte erkannt wird, um so mehr lockt es zur allein förderlichen Einzeluntersuchung den Spaten in den Boden zu stofsen, der sich über den alten Trümmern aufgeh&ufl; hat. Man wird hier sehr bald auf verschiedene Zeitschichten gerathen und überrascht sein, dais sich in den mysteriösen Gebräoeken auch der cultivirtesten Völker des Alterthums und der Gegenwart starke Reste einer praehistorischen wilden Periode erhalten haben, die ihr Entsprechendes in den Anschauungen und Riten der sogenannten Naturvölker noch jetzt finden. Man wird dann erkennen, dafs diese zur beleuchtenden Vergleichimg herbeigezogen werden müssen und dals die Beschränkung der Untersuchung auf ein einzelnes Volk unmöglich ist, wenn die Gebräuche eines solchen auch mit Vortheil in den Vordergrund gestellt werden.

Wer in den deutschen Aberglauben auch nur leicht hineingräbt, wird sehr bald darauf sto&en, dals die Personen, welche gewisse geheimnifs- volle Handlungen vornehmen, nackt sein müssen; und wer sich dann bei anderen Völkern und in anderen Zeiten umschaut, wird derselben Forde- rung häufig begegnen. Hier haben wir denn sogleich einen Überrest aus uralter Vergangenheit, in welcher die Nacktheit eine völlig andere Be- deutung hatte als später, nichts Anstöüsiges war, sondern, um es kurz zu sagen, etwas Geheiligtes, das aus diesem Grimde in den Culthandlungen verschiedenster Art auftritt.

Merkwürdiger Weise hat man sie von diesem Gesichtspunkt aus wenig beachtet. Meine hier vorgelegte Untersuchung soll für Deutschland das Versäumte nachholen und für andere Länder wenigstens Beiträge liefern.

4 K. Weinhold:

Allerdings haben einige Forscher nach dem Grunde jener Nacktheit gefragt. 6. L. Gomme hat sie in seiner Ethnology in Folk-lore bei Er- wägung der Godiva- Legende (S. 39. 177) als a survival of a rüde pre- historic cult erkannt. Adolf Wuttke in seinem Buche: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart (Berlin 1869) § 249 sagt: »der Grund der Nacktheit bei Zauber und Weissagung ist ein ähnlicher wie bei Bevor- zugung der Dämmei-ung; der Mensch mufs das Alltägliche , dem natürlich- bürgerlichen Leben Angehörige , imd gewissermafsen seine Einzelheit ab- streifen und in einem gewissen Sinne opfern , um unbehindert in den allgemeinen Zusammenhang des All- Lebens einzutreten; muß; das för ge- wöhnlich Verborgene offenbar machen, um das verborgene Walten des Schicksals und der Natur offenbar zu machen; mit dem Abstreifen der leiblichen Hüllen fallen auch die Hüllen des Geistes, des Schicksals und des geheimnüs vollen All -Lebens; es liegt eine thatsächliche Poesie darin und hat in mancher Beziehung eine ähnliche Bedeutung wie das Preis- geben der Jungfrauschafb in manchen heidnischen Religionen«.

Richard Heim (Incantamenta magica graeca-latina: Supplemen- tum XIX. Annal. philolog. p. 507. Lips. 1892) und W. Crooke (An intro- duction to the populär religion and folk-lore of Northern India. Allahabad 1 894. p. 40) finden den Grund der ritualen Nacktheit in ihrem obscoenen oder indecenten Element, welches magische Wirkung auf die bösen Geister übe, eine ganz einseitige und, wie ich zu erweisen hoffe, falsche Auf- fassung.

Man mufs zimächst die Handlungen, bei denen die rituale Nacktheit gefordert wird, als das beurtheilen, was sie ursprünglich waren, als gottesdienstliche Acte, durch welche die Gnade der Gott^ heit, ihr Segen fiir das Leben in Menschen, Thieren und Gewächsen, ihr Schutz gegen feindliche Kräfte imd Wesen erwirkt werden sollte. Zu solchen Zwecken mufste sich der bittende und opfernde Mensch in mög- lichster Ablösimg von dem unreinen gewöhnlichen Leben nahen. Wie in dem römischen Gultus nach Numa's Ordnung die castitas, die innere und äuisere Reinheit, von dem Beter und Opferer gefordert ward, so überhaupt in den ältesten Religionen. Der naive Ausdruck davon ist die Abstreifung der Gewänder und der Schuhe. Hierauf gründet sich die Barfüfsigkeit der israelitischen Priester, die Exodus 3, 5, Josua 5, 15 ge- fordert wird; das Ablegen der Sandalen bei den Muhamedanem, wenn sie

2iür Qeschichiß des heidnischen Raus. 5

feierlich beten oder die Moschee betreten; die Reinigung des Heiligthums der Athene im nachhomerisehen Troja durch barföfsige Jungfrauen;^ die römischen Nudipedalia, die Barföfserprozession bei anhaltender Trockenheit;* die BarftUsigkeit kappadokischer Weiber beim Feldzauber (Plin. h. n. 28, 23) und der kimbrischen Priesterinnen beim Menschenopfer (Strabo VII. 2, 3). Eine anglicanische Secte, die society of S. Osmund, schreibt in ihrem Ritual für die Charwoche vor, da& die »clercs« bei der Verehrung des heiligen Kreuzes unbeschuht (with feet unshod) sein müssen (Folk-loreVII,5o). Wenn hier nur die Nacktheit der Fäfse, die den geweihten Boden betreten, vorgeschrieben ist, so ist das eine Beschrankung der Entblölsung des ganzen Leibes auf einen Theil, der wir auch an einem anderen Gliede später begegnen werden. Eigentlich muCste der ganze Mensch sich der vom Verkehr mit dem Irdischen befleckten Hüllen vor dem Göttlichen ent- ledigen. Der nackte Mensch versetzt sich in den Zustand des noch nicht bekleideten, von dem Leben noch nicht befleckten Kindes. Er nShert sich aber andererseits den göttlichen Wesen, besonders der unteren Stufe, welche eine Vermittelung zwischen Erde und Himmel bilden und mit den vom Leibe getrennten Seelen zusammenhängen. Die altindischen Apsaras, die den germanischen Wasser- und Wolkenmädchen entsprechen (den Schwan- jungfrauen und Walküren), sind in ihrer eigensten Erscheinung nackt, ebenso die deutschen Wassergeister und jene elementaren Dämonen, die noch in unserem Aberglauben als Alpe und Druden leben. Nicht minder stellt sich die Bevölkerung von Bengalen die bösartigen Baumgeister, die Bhütas, welche nächtlich die Felder umirren, nackt vor (Crooke Folk-lore of Nortliem India 152), ganz wie der Hellene und der Italer die mannig- fachen Bamn- und Wald-, Berg- und Bach -Dämonen. Ja selbst die höchste künstlerische Erfassung der groCsen Gottheiten weiCs keine vollendetere Bildung zu finden, als die des unverhüllten Menschenleibes. Wer also eine über menschliche Kraft reichende Handlung vollziehen will, den Göttern gleich wirken möchte, versetzt sich in ihre Erscheinungsform, wird nackt. So heilst denn der indische Gott Qiva, der Gott des Zauberwesens, Nagna, der nackte, auch digambara, digvastra, digväsas, der splitternackte.'

* Röscher, Lexik, d. Mythol. i, 138.

' Hierzu gehört Petron. cena Trimalch. 44 von dem Bittgang der stolatae niidis pedihus in cliviim passis capillis.

* Gütige Mittheiliing von Pi*of. R. Pischel.

6 K. Weinhold:

Daraus erklärt sich nun auch, dafs die, die vom göttlichen Geist ergriffen werden, sich entkleiden. So König Saul, als er zu Samuel kommt , dem Vorsteher des Chors der Propheten. Da kommt über ihn , wie vorher über seine Boten, der Geist Gottes, imd er zieht seine Kleider aus, weissagt imd liegt den ganzen Tag und die ganze Nacht nackt (i. Samuelis 19,24). Die Nacktheit der Kassandra in der troischen Schreckensnacht, die durch viele antike Bildwerke bezeugt ist, darf wohl (wie Ferd. Dümm- 1er, Philol. LUX, 208 vermuthet) mit ihrer Prophetie in Verbindung gebracht werden. Von göttlichem Wahnsinn ergriffen {/icuvofJLevcu) durch der Kypris Zorn liefen die Proitostöchter nach Aelian (var. bist. UI, 42) nackt umher. Eine unscheinbare süddeutsche Sage dürfen wir diesen antiken Beispielen anreihen: In der Westenvorstadt in Eichstätt sind zwei Felshöhlen, das Hohloch und das Hexenloch. Im Hexenloch sitzt am Morgen des Johannis- tages (24. Juni) das Drudenweibel nackt auf einem Baumast (oder einer Stange), singt ein Gesänglein und wiegt den Tag ab.* Dieses Druden- weibel ist eine halbgöttliche Prophetin.

Bei einem grofsen Qivafeste der Malabaren in Indien sah A. Bastian 1865 ungefähr siebzig junge Frauen nackt bis auf das Hüfttuch und mit aufgelösten Haaren vor dem Tempel. Nachdem sie mit Asche bestreut waren, geriethen manche bei rauschender Musik in ekstatische Verzückungen und gebärdeten sich wie Besessene. Das war das Zeichen besonderer Gnade des Gottes. Die nicht besessen wurden, hatten dem Qiva durch Fasten und Opfer nicht genügt (Bastian, Die Welt in ihren Spiegelungen. S. 59. Berlin 1887).

Hier knüpfen sich auch die deutschen volksthümlichen Bräuche an, die auf einen Einblick in die Zukunft und die Erkenntnifs geheimnifsvoller Erscheinungen zielen, und bei denen die Nacktheit Fordeining ist.

In der heiligen Zeit der Wintersonnenwende suchen die Madchen durch ganz Deutschland ihren künftigen Gatten im Schattenbilde zu schauen. Die eigentliche heilige Zeit ist daför nach vor- und rückwärts allmählich aus- gedehnt worden: sie beginnt mit dem Andreiusabend und reicht über Thomas-, Christ- und Sylvesterabend hier und da bis Pauli Bekehrung (25. Januar) und Mathiastag (25. Februar). Die Gebräuche im Einzelnen,

* Fr. Panzer, Bayrische Sagen und Brauche 2, 201. MQnchen 1855.

Zur Geschichte des heidnischen Rihis. 7

durch welche das Bild des Ersehnten herbeigelockt werden soll, sind ver- schieden, wesentlich aber ist die Nacktheit des Mädchens, die bis in die Ge- genwart hinein noch häufig vorkommt. Ich verweise daför auf A. Wuttke, Aberglaube §§348. 352. 358. 360-365; fernerauf Grimm, D. Mythol. 107 1; U.Jahn, Opfergebräuche 255; Hexenglaube 159 f.; Wolf, Niederländ. Sa- gen Nr. 273; Kuhn, WestßQ. Sagen 2, 123; Mülhause, ürreligion 96. 98; Witzschel, Sagen aus Thüringen 1,155. '80; Chemnitzer Rockenphilosophie 170 ff.; Schroller, Schlesien 3, 394; Schönwerth, Aus der Oberpfalz I, 141. 143; K. Stieler, Kulturbilder aus Bayern 104; Wolf-Mannhardt, Zeitschr. f. deutsche Mythol. 4, 48; E. Meier, Sagen aus Schwaben 455; Birlinger, Aus Schwaben i, 381; Birlinger, Volksthümliches aus Schwa- ben I, 343.

Ich will nur zwei der Litteratur angehörige Zeugnisse ausheben. Abraham a. S.Clara erzählt im Judas, dem Erzschelm 2, 283: »Am Abend des h. Thomas hat im Algäu eine Magd sich ganz allein in ihre Kammer gesperrt, dieselbige ganz ohne Kleydung doch zuruckwerts ausgekehrt und den einstigen Gatten erblickt«. Und Daniel Stoppe aus Hirsch- berg in Schlesien reimt in seinem Parnass im Sattler (S. 338): »Jocaste kniet mit gleichem Sinn Ganz nackend vor ihr Bette hin. Um Sanct An- dreCsen zu bewegen, Ihr ihres Bräutigams Gestalt Durch seine träumende Gewalt In ihre Phantasie zu legen. Hier zehlt man Holz, dort schifft die Nufs, Man deckt den Tisch, man schüttelt Zäume, Und schweigt der Himd, so fällt der Schlufs, Man bleibe noch diefs Jahr daheime«.

Bemerkt mag werden, daXis in den Aufzeichnungen unserer Sitten- und Sagensammler die Nacktheit bei diesen Zukunflsforschungen die übrigens immer ohne Zeugen vorgenommen werden häufig aus einem tischen Anstandsgefühl verschwiegen wird. Sie ist zuweilen auch nicht mehr vollständig: so im norwegischen Lister- und Mandals-Amt, wo sich die am Weihnachtabend nach der künftigen Ehehälfte neugierig um- schauenden Personen beiderlei Geschlechts in weifsen Laken auf den Weih- nachtstuhl setzen. Zuweilen setzt sich die Mannsperson ohne Laken (wohl ganz nackt?) auf eine vollständige Frauenkleidung, das neugierige Mädchen auf eine vollständige Männerkleidung (Liebrecht, Zur Volkskunde 325).

Auch Beschränkung der Entblöfsung auf die Fülse kommt vor: In einem thüringischen Dorfe drehte sich vor einigen Jahren ein Mann am Andreasabend mit dem nackten rechten Fu&e auf einem Thaler, der auf

8 K. Weinhold:

die Thürschwelle gelegt war, dreimal von links nach rechts unter Her- sagung eines Verses herum. Dann legte er sich in den Raum hinter dem Stubenofen (in der Hölle) schlafen. Um Mittemacht sprang er plötzlich mit einem Schrei auf und lief barfufs nach Hause. Er hat später erzShlt, dafe ihm ein Mädchen erschienen sei, ihn an der rechten grofsen Zehe gepackt und mit sich fortgezogen habe. Dieses Mädchen hat er später geheirathet (M. Lehmann-Filhes in der Zeitschrift des Vereins für Volks- kunde V, 97).

Wenn nach schwäbischem Glauben die Mädchen, die in der Christ- nacht in den Ofentopf (den Höllhafen) sehen, den künftigen Gatten nackt darin erblicken (Zeitschr. för deutsche Mythologie 4, 48), so erinnert dies daran, dafe der aus der Feme herbeigezauberte Liebste nackt erscheint (Aus Prätorius Weihnachtfratzen bei Grimm, Deutsche Sagen Nr. 116).

Einer der tollsten abergläubischen Gebräuche ist das Barziehen im bajuvarischen Gebiete.* Es soll dadurch der Einblick in verborgene Ge- heimnisse gewonnen wetden, die sehr verschieden sein können. Die Nackt- heit der Theilnehmenden ist dabei bezeugt.

E. von Leoprechting erzählt in seinem Buche »Aus dem Lechrain« (München 1855) S. 45, daCs sich um das Jahr 1845 fönf Männer aus Utting am Ammersee zusammenthaten , um die Glücksnummem im Lotto zu er- fahren. Sie betraten faselnackt mit dem Glockenschlag der Mittemacht den Freithof, gruben das Grab einer im ersten Kindbett mit dem Kind vei^ storbenen Wöchnerin* auf, hüben den Sarg heraus und legten einen von sich, nackt wie er war, in das Grab. Dann trugen die andern vier in höchstem Stillschweigen den Sarg dreimal um den Freithof und beschworen die abgeleibte Seele, die fünf Nummern anzuzeigen, die in der drittnächsten Lottoziehung gezogen werden würden. Darum hatten sie dem im Grabe liegenden aUe 90 Nummern der Lotterie, deutlich auf einen Zettel ge- schrieben, in den Mund gelegt, in der Meinung, dafe die fünf Glücksnum- mem erlöschen würden. Alles geschah ohne Widergang. Fünf Nummern waren wirklich erloschen und wurden hoch besetzt. In der betreffenden Ziehung kamen sie auch wirklich mit sehr hohen Gewinnen heraus. Aber

^ vonWlislocki, Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner, S. 141 f. berichtet es auch von den siebenbürgischen Zigeunern.

' Einer solchen steht der Himmel offen; das Kind wird ihr in den Arm gegeben, Jungfrauen tragen sie zu Grabe und ein Jungfernkronlein wird auf ihr Grab gestellt

Zwr Geschichte des heidnischen Ritus. 9

die Sache war ruchbar geworden. Die fünf Beschwörer wurden gef&ng^ich eingezogen und ihr Einsatz fiir ungiltig erkl&rt.

Bei dem Todtenbahrziehen im steirisch'en Ennsthal und wax Eisenerz, bei dem es eben&lls gilt, viel Geld zu gewinnen (meine Weihhachtspiele S. 28 f.) habe ieh die Nacktheit nicht erwähnt gefunden; ebenso sagt J. Zingerle (Sitten,. Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkeö, Nr^ 312. 880) nichts davon , wo er von dem Herumtragen eines Sarges oder der Todteni- bahre um die Kirche zu Mittemacht oder in einer heiligen Nacht spricht, das auch einen Schatz verschaffen soll.

Zur Schatzhebung ist überhaupt die Nacktheit ein nachweisliches Mittel. So wird aus Nieder-Osterreich berichtet, daßs auf dem Wendelgupf bei Lilien- feld ein goldener Wagen versunken ist. Nur in der Christnacht während der Mette ragt die Deichsel heraus. Wer nun zu dieser Zeit nackt, ohne von Jemand gesehen zu werden, auf den Berg gelängt, wird den Wagen leicht an der Deiehsel herausziehen können (Leeb, Sagen aus Nieder -Öster- reich Nr. 78).

Mit dem Grabe einer Wöchnerin, das als besonders geheiligt und wirkungsvoll gut, wird auch abergläubischer Unfug getrieben, um einen Zauberspiegel zu gewinnen. Im westlichen Thüringen meint man (Wucke, Sagen von der mittleren Werra, 2. A. Nr. 577): um einen Erdspiegel zu erhalten, mufis man ohne zu feilschen einen kleinen Schiebespiegel kaufen, dann Nachts 1 1 Uhr ganz nackt über die Kirchhofmauer springen und ein Loch in das Grab einer am Charfreitag begrabenen Wöchnerin machen. In dieses Loch steckt man den Spiegel, das Glas nach unten, und entfernt sich dann. im Namen Gottes,, rückwärts gehend, die Augen auf das Grab ge- richtet. Solches thut man drei Nächte hintereinander. In. der dritten Na(3ht zieht man den Spiegel in drei Teufels Namen heraus , drückt ihn fest an den Leib und geht rückwärts ab, ohne sich durch die Mifshandlungen des Teufels irren zu lassen, und springt wieder über die Kirchhofinauer. In dem Spiegel kann man nun verborgene Schätze, Diebe, Hexen u. s. w. erkennen.

Andere Weisen, an dem Grabe einer Wöchnerin (auch eines Selbst- mörders) einen Erdspiegel zu bekommen, aber ohne Erwähnung der Nackt- heit, berichtet Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2, 218. Jedenfalls ge- hörte auch hier die Nacktheit- zu der Handlung.

Der Erdspiegel verhilft, wie eben gesagt, auch zur Entdeckung der Hexen. Man braucht ihn aber da^. gar nicht, wenn ^man sich nui* Phäo8.'ki8tor. Äbh. 1896. I. 2

10 K. Weinhold:

nackt im Thau wälzt. So thaten ein Paar junge Knechte im Schleswig- schen. Sie gingen in der Johannisnacht auf eine Wiese, zogen sich aus und w&lzten sich im Thau. Sonntags darauf gingen sie in die Hüttener Kirche und sahen manche Weiber mit einer Milchbütte auf dem Kopf. Das waren die Hexen (Müllenhoff, Schlesw.-holst.-lauenb. Sagen Nr. 290).^

Bei den Südslaven geschieht es so: wer wissen will, welche Frauen Hexen seien, geht in der Georgsnacht vor Sonnenaufgang auf eine Wiese, entkleidet sich ganz, wendet die Kleider um und zieht sie so an. Dann schneidet man ein grünes Rasenstück aus imd legt es sich auf den Kopf, oder man duckt sich mit dem Rasen bedeckt hinter die Stallthür. Dann sieht man die Hexen, diese aber können den lauschenden nicht sehen (Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven. Münster 1890 S. 120).^

Wenn man den Teufel in seinem Thun beobachten will, soll man nach Mecklenburger Recept Folgendes machen: man mxBt sik ganz nackt uttrecken un dörch de Bein kiken. Denn kann man seihn wo de Düvel towt, ob he 'n Wiw oder 'n Kirl to faten het (Zeitschr. d. Vereins f. Volks- kunde 5, 443).

Ist in diesen abergläubischen Handlungen die Nacktheit eine Bedingung, um den Einblick in die Dftmonenwelt zu gewinnen , so erscheint sie anderer- seits als ein Schutzmittel gegen dieselbe. Die Geister und Gespen- ster scheuen den nackten Menschen.

Kein Gespenst wagt nach isländischem Glauben einen ganz nackten Mann anzugreifen. Daher empfiehlt sich, wenn man ein Gespenst erwartet, sich völlig zu entkleiden (nach Jon Arnarson, Islenzk. Thiodsögur II.; Liebrecht, zur Volksk. 370). Im Erzgebirge glaubt man sogar, dafe Ringe, die ein Schmied nackt aus Sargnägeln schmiedet, die in der Charfreitag- nacht vom Kirchhof geholt sind, gegen Geister schützen (Wuttke § 186).

Leute, die ofl von bösen Träumen heimgesucht werden, können sich dagegen wehren , wenn sie beim Schlafengehen sich in der Mitte der Stube

^ Über Mittel, die Hexen zu erkennen, A. Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 28 f. Wuttke, Aberglauben § 373 ff.

* Hier ist die Nacktheit verdrangt durch einen naiven Versuch, sich durch Umdrehen der Kleider unkenntlich zu machen. Verstümmelt, nur atif die Umdrehung der Kleider be- schrankt, wird dieses Mittel aus Ostpreufsen berichtet; auf das Rasenstück beschrankt aus Schlesien und Brandenburg, Wuttke § 376.

Zw Geschickte des heidmschen Raus. 11

ganz entkleiden und rückwärts zu Bett gehen (Bartsch, Sagen aus Mecklen- burg 2, 314).

An Stelle der völligen Nacktheit kommt nun auch die beschränkte vor.

Der Schloisgeist von Ober-Gösgen in Solothurn hinderte einmal die FlöCserknaben, das Treibholz aus der Aare zu fischen. Da vertrieb ihr Vater, der alte Flöfser, den Geist, indem er ihm den blofsen Hintern zeigte (Rochholz, Naturmythen 65).

Wenn Einer den rothglühenden Drachen niedrig ziehen sieht, muis er sich unter ein Dach^ stellen und ihm das nackte GesäCs zukehren. Da platzt der Drache und seine Ladung fällt herab. Thut man das aber im freien Felde , so bewirft Einen der Kobold mit ünrath , und den Gestank wird man sein Leben lang nicht mehr los. (Müllenhoff, Schlesw.- holst-lauenb. Sagen Nr. 280; Kuhn-Schwartz, Nordd. Sagen Nr. 5. 421; Wuttke 49).

Durch diese Wirkung menschlichex Nacktheit auf überirdische Wesen fällt nun auch Licht auf eine entscheidende Stelle in der indischen Ge- schichte von Purüravas und ürvaQL Im Qatapatha-Brähmana 11, 5, i. wird sie so erzählt:^ Urvaci war eine Apsaras und hatte sich in den Purü- ravas, den Sohn der Idä, verliebt. Unter den Bedingungen, die sie bei ihrer Vereinigung stellte, war: »auch will ich dich nicht nackt sehen, das ist so Mode bei uns«. Sie lebte lange mit ihm. Da sprächen die Gandharven zu einander: »Zu lange f&rwahr hat diese UrvaQi bei den Menschen gelebt; man sollte auf etwas sinnen, dais sie wieder zurück- kehre«. — An ihrem Bett hatte sie ein Schaf mit zwei Lämmern an- gebunden. Die Gandharven raubten ein Lämmchen, Urvaci merkte es und rief: »Man stiehlt mir mein Kind, als gäbe es hier zu Lande keine Männer«. Dann raubten die Gandharven das zweite. Sie rief wieder also. Da dachte Purüravas: »Wie sollte es dort keine Männer geben, wo ich bin?« und nackt wie er war, sprang er aus dem Bett und nach, denn es däuchte ihn zu lange, sein Kleid anzulegen. Da erzeugten die Gan- dharven einen Blitzstrahl und Urvaci erblickte den Purüravas nackt, so deutlich wie am hellen Tage, und da verschwand sie.

^ Unter der Dachtraufe ist man nach allgemeinem Glauben gegen den Teufel und alle bösen Geister geschützt. Wuttke §§ 107. 494. Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 446; Zeitschr. f. Ethnol. 26, 568.

* A. Weber, Indische Streifen i, 16; Geldner in den Vedischen Studien i, 244.

2*

12 K. Weinhold:

Die Umkehr der Wirkung der Nacktheit, dafe liamlich der Mensch die Unsterblichen nicht in ihrer eigensten Gestalt sehen darf, \XD,d dafe sie ihm, wenn es geschieht, entfliehen, ist bekannter, am bekanntesten durch das Märchen von Amor und Psyche. Hierher gehört die Melusinensage, eine schlesische Nixensage ^ und alle jene über die ganze Welt verbreiteten Geschichten von der Verbindung eines Menschen mit einem geisterhaften oder verzauberten Wesen, das er in seiner eigensten Gestalt nicht sehen darf^

Ich schliefse hier am besten die Verwandlungen an, die nach ur- altem Glauben der Mensch, gleich den Göttern, an sich zu vollziehen ver- mag, und bei denen die Nacktheit als natürliche Voraussetzung erscheint. Die Verwandlungsfahigkeit beruht auf dem im Totemismus der Natur- völker zum Dogma ausgebildeten Glauben, dafe Alles in der Welt lebendig sei und dafs alles Lebendige seine Gestalt wechseln , also sich verwandeln könne. Der Mensch kann demnach auf einige Zeit zum Thier werden, wie die Götter sich in Menschen oder Thiere wandeln; das Lebendige kann auch zum Stein oder Baum werden, scheinbar starr und leblos erscheinen, aber, dennoch seine lebendige Menschheit im innersten der xmbeweglichen Masse bewahren. Die Märchen und die mythischen Sagen der kultivirte- sten Völker bezeugen diesen Totemismus aller Orten. Der Mensch kann sich durch eigene Kunst selbst verwandeln, er kann aber auch durch einen Zauberer in eine beliebige Gestalt verwünscht werden. Festgehalten ist aber immer, dafe, wenn er wieder zum Menschen wird, er nackt erscheint, und dafs er vor der Verwandlung ganz unbekleidet sein mufs.

In dem altnordischen Heidenthum war der Glaube an die Verwandlungs- fahigkeit (at skipta hgmum, at hamaz) sehr verbreitet.^ Gewöhnlich wird 'der Gestaltenwechsel in naiv sinnlicher Art gedacht als das Hineinschlüpfen in eine andere HüUe. Wie die Walküren in eine Schwanen- oder Krähen- haut, Freyja in eine Falkenhülle schlüpfen und damit zu Schwänen, Krähen, Falken werden, so die Menschen, die nicht eingestaltig (einhamir) sind, in ein Wolfe-, Bären-, HundefeU, oder sie legen wenigstens einen Gürtel aus Wolfsfell an und werden zu diesen Thieren mit deren wilden Eigenschafben.

^ Meine Abhandlung: Beitrag zur Nixenkunde, in der Zeitech. d. Vereins f. Volks- kunde 5, 126.

' J. Kohler, Der Ursprung der Melusinensage. Leipzig 1895.

? K.Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes 2,101—118.

Zw Geschichte de^'Jteidnilschen Baus. 13

Es sind nicht Bloüs Heroengesohlecilitem ängehöilj§pe:MeBsdien^ /gleich den Wolsungen, sondern auch aus gewöhnlichen Sippen entsprossene. Die Ver- wandlung dauerte gewöhnlieh neun Tage, die mythische alte Zeitfiri^t; am zehnten bekam der Verzauberte seine eigene Gestalt wieder. Und dafs er dann nackt dastund oder dalag, hat wenigstens das jüngere Hyndlamärchen treu bewahrt, das E. Maurer in seinen Isländischen Volkssagen der Gegeii- wart (Leipzig 1860 S. 315 f.) erzählt hat. Die von ihrei^ hexenartigen Stief- mutter in einen Hund verzauberte Königstochter Sign^ durfte j^de neimt^ Nacht des Huhdefells ledig werden; dann lag sie nackt auf freieni; Felde, das Fell neben ihr. .

So steht denn auch der entzauberte Lukios des griechischen Romaas vom Eselmenschen nackt vor aller Augen, und in den späteren und heute noch lebenden Fortsetzungen dieses Märchens ist die Nacktheit nach der Rückkehr in die Menschengestalt nicht vergessen/ Der Werwolf , dieses uralte Geschöpf westarischer totemistischer Pho^ntasie , wird noch nach deut- schen Volkssagen durch Berührung mit Eisen oder Stahl oder Lösung des Gürtels in seine nackte Menschenniatur zurückgewandelt.^ Er wird auch wieder zum nackten Menschen, wenn man ihn dreimal bei, seinem Taufiiamen ruft.

Grajiz dasselbe glaubt man von dem Alp oder der Drud, die sü^ in allerlei Gestalten wandeln können, in Strohhalme, Federn, Schuhe, und die festgehalten,: eingeklenmit, angenagelt oder zerdrückt, dann in M^ahrer Ge- stalt meist als nacktes Weibsbild erscheinen. In Bamberg warf der ypn der Drud geplagte Schustergesell den Strohhalm, den er ergreift und zer- reifst, zum Fenster hinaus. Am andern Morgen lag ein nacktes Weib mit gebrochenem Halse auf der StraiJse (Panzer, Bayrische Sagen 2, 165). Im Brandenburgischen hat ein Knecht die Marte, die ihn immer dröckte, gefangen, nachdem er alle Löcher in der Stube bis auf eins verstopft hatte. Als licht gemacht war, sah er ein junges nacktes Mädchen vor sich» .49^ hat er geheirathet und Kinder mit ihm gehabt. Einmal zeigte er ihr dßs Astloch in der Stuben wand, durch das sie hereingekpmm.en war und *Qg den Pflock heraus. Da ist sie sofort verschwimden gewesen. Aber sie kam noch eine Zeit lang SoÄntags wieder, unsichtbar, und besorgte die

^ Meine Abhandlung in den Sitzungsberichten unserer Akademie 1893 S. 475—488. ' W.Hertz, Der Werwolf, Beitrag zur Sagengeschichte. Stuttgart i86a S. 79. 85. 91.97; Wuttke§405.

14 K. Weinhold:

Kinder, bis er dem Prediger Alles erzählte. Sie war aus England, wie sie aussagte.^

An diesen beiden Alpgeschichten mag es genügen. Ganz dasselbe gilt aber auch von den Hexen. Wird der Zauber durch irgend Etwas gelöst, so steht die Hexe splitternackt vor Einem oder stürzt aus den Wetterwolken nackt herunter. Stahl oder Eisen , Brotkugeln, Rufen des Namens, Glocken- geläut, Werfen oder Schiefsen mit geweihten Dingen berauben die Hexen ihrer Macht und entzaubern sie. Nur einige Beispiele.

Nach einer badischen Sage schofs einmal bei einem sehr lange stehenden Gewitter ein Jäger mit einer geweihten Kugel in die schwärzeste Wolke. Da stürzte ein nacktes Weib todt herunter, und das Wetter zog sogleich fort (Mone, Anzeiger f Kunde deutscher Vorzeit 4, 309). Bei einem fürchter- lichen Gewitter in Neumarkt in der Oberpfalz schofs ein Kapuziner in die Wetterwolke, und herunter stürzte ein mutternacktes Weibsbild^ das war die Hexe, die immer im Wetter drin ist (Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2, 1 26). In Feldkirch in Vorarlberg verspätete sich eine Hexe auf ihrem Ritte und, als sie gerade über dem Kapuzinerkloster war, begann das Glöcklein das Aveläuten. Sie stürzte herab und lag splitternackt und todt im Kloster- garten (Zingerle, Sagen aus Tirol 2.A. S. 674). In Forchheim in Ober- franken hielten die Franziskaner bei einem furchtbaren Donnerwetter einen Umgang im Klostergarten. Beim ersten Segen mit der Monstranz stürzte eine nackte Frau aus den Wolken herab (Panzer, Bayrische Sagen 2, 167). Wenn man in einen Staubwirbel einen Rosenkranz oder sonst was Geweihtes wirft, sieht man die Hexe splitternackt vor sich stehen (Stöber, Alsatia. 1856/7 S. 133). In Westfalen nennt man das : die Hexe blank maken (Kuhn, WestfÄl. Sagen 2, 31).

Zur Vergleichung sei nur aus finnischer Mythologie beigebracht, wie das Goldmädchen (Alten Arga) den Werbungen des Alten Aira in einem Federgewand (d. i. als Vogel) entflieht. Er schlägt mit der Peitsche nach ihr, und das Federhemd platzt.* Da stürzt sie nackt herunter (Castreen, EthnoL Forschungen S. 187. Petersb. 1837).

Aber nicht blofs bei der Aufhebung der Verwandlung, auch bei dem Beginn der magischen Handlung ist die Nacktheit Bedingung. Das be-

' Diese merkwürdig erhaltene Sage von einer Eibin , die sich einem Manne vermählte, bei Kuhn-Schwartz, Norddeutsche Sagen Nr. 102 mit Anm.

* Wie bei dem Werwolf das Fell oder der Wolfsgurtel platzt.

Ziir Geschichte des heidnischen Ritus. 15

richtet Petroii (cena Trimalch. 62) von dem Soldaten, der sich in einen Wolf wandelt. In der Normandie herrscht der Glaube, dais lebende Frauen als Irrlichter (fourolles) umgehen können, wenn sie sich auf dem Felde in der Nacht nackt ausziehen und auf die Erde legen. Die Seele wird dann auf einige Zeit zum Irrlicht. (Am. Bosquet, La Normandie ro- manesque 247.)

Das Hexenfest ist eine orgiastische Opferfeier, auf Bergeshöhen gehalten, wohin die verzückten Weiber, nachdem sie in Nacktheit zu Thieren sich ver- wandelten, durch die Lüfte sich erhoben. Wilder Tanz, Menschenopfer und Genuls von Menschenfleisch sind Acte des Festes, die aus dem deutschen Hexenglauben sich deutlich ergeben.

Ganz wie die thrakischen Weiber, deren geheimes Treiben Apulejus (Metam. 3, 21) schildert, salben sich die deutschen Unholden den nackten Körper und fahren dann entweder in Weibesgestalt ^ oder in Vögel (Gänse, Ejiten, Elstern, Eulen) oder rasche Vierfö&ler (Hasen, Ratzen, Geifse, Wölfe, Pferde) verwandelt, durch die Lüile nach dem bestimmten test- platz, der in den verschiedenen Lindern ganz verschieden ist, gleich der Zeit, Ar welche allerdings Walpurgis, also eine Frühlingsnacht, am meisten genannt wird. Der zum Opferfest gehörige Reigen, der Hexentanz, ist in allen volksthümlichen Schilderungen der Hexennacht festgehalten; ebenso die Opfermahlzeit. Dafs es ein Menschenopfer war, und die Hexen Men- schenfleisch und namentlich die Herzen verzehrten, überliefern allerdings nur filtere Zeugnisse, so das Salische Recht (1. Sal. 64, 3, Cod. 5. 6. 10 emend.); das langobardische (ed. Roth 376) und das KarFsche Capitulare für Sachsen (c. 5), beide als sträflichen Aberglauben; ebenso namentlich vom Herzessen der Indiculus superstit. et paganiarum von 743 und der Corrector des Burchard von Worms (Friedberg S. 97). Mit ihm fast gleichzeitig weils auch Notker Teutonicus, dafs hier zu Lande die Hexen (hazessa) wie die Menschenfresser (manezon) thun sollen.^ Genügend ist also för die deutschen Feste orgiastischer Natur das Menschenopfer bezeugt.

' In Centralindien ist der Glaube an die Hexen noch jetzt ganz fest. Den 14., 15. und 39. jeden Monats sind die Hexennächte; dann fahren die Hexen weiber, nachdem sie sich entkleidet, auf Tigern oder anderen wilden Thieren, wohin sie wollen; haben sie zu einer Wasserfahrt Lust, bieten sich ihnen die Alligators dar. Am Morgen kehren sie nach Hause zurück. Crooke, Introduction to the populär religion and folkloi-e of Northern India 353 f.

' Anderes bei J. Grimm, D. Mythol. 1034 f.

liß K. Weinhoxd:

In dem indischen Kathä Sarit Sägara I. c. 20^ finden wir nun die ErzaMung, daCs König Ädityaprabha, von der Jagd heimkehi'end, die Wäehter des Harems über seine Ankunft bestürzt findet, in das Innere eindringt und die Königin Kuvalayavali in Verehrung der Götter findet, ganz nackt, mit aufgelöstem Haar, die Augen halb geschlossen, mit einem gro&en rothen Fleck auf der Stirn, ihre zitternden Lippen murmeln Zauberfoimeln. Sie stand mitten in einem Kreise, der mit bunten Pul- vern bestreut war, und sie hatte ein Opfer von Blut und Menschen- fleisch, gebracht. Als der König eintrat, ergriff sie ihre Gewänder, und nachdem sie ihn um Verzeihung gebeten för das, was er gesehen, sprach sie: »Ich habe diese Ceremonien vollzogen in der Absicht, Euch Glück zu erwirken, und ich will Euch, mein Gebieter, erzählen, wie ich diese Gebräuche erlernt und das Geheimnifs meiner Zauberkunst er- worben«. Und sie erzählte, dafs sie durch ihre Freundinnen ^ als sie iloch im Vaterhause war, gehört, dafs Mädchen durch die Verehrung des Granesa (des Gottes des Glücks) einen passenden Gratten bekommen könnten, und weiter, dafs sie später gesehen, wie ihre Freundinnei^ sich plötzlic^i aus eigener Kraft in die Lüfte erhoben und sich darin belustigten. Diese Freimdinnen sagten ihr, dafe man diesen Hexen- zauber durch den Genuis von Menschenfleisch erlange, ihre Lehrerin sei eine Brahmanin, Kalavatri genannt. Die Königin erzählt dann weiter, dafe dieses Scheusal sie in der Zauberkunst unterrichtete. Nachdem sie gebadet und den Ganesa verehrt, mufste sie sich ganz entkleiden und, in einen Kreis gestellt, eine förchterliche Ceremonie zu Ehren des Siva in seiner schreckhaften Gestalt verrichten. Darauf ward sie mit Wasser besprengt,. Kalavatri lehrte sie verschiedene Zauberformeln und dann mufste sie als Opfer Menschenfleisch verzehren. Unmittelbar darnach flog sie, nackt wie sie war, in den Himmel empor, und nachdem sie sich mit ihren Freundinnen erlustigt, kam sie wieder zu ihrem Vater- hause herunter. »So ward ich in meinen Mädchenjahren eine Genossin der Hexen, und bei unseren Zusammenkünften haben wir die Körper vieler Männer verzehrt.«

Diese indische Geschichte ist von grofser Wichtigkeit för die Beur- theilimg der Hexenfeste als in der Volkserinnerung festgehaltener heid-

^ Übersetzung von C. G. Tawney in der Bibliotheca Indica I, 154 ff. Calcutta 1880.

Zur Geschichte des heidnischen Raus. 17

nischer Opferfeste germanischer Weiber, die ihr Entsprechendes in den Culten der verschiedensten Völker und Zeiten finden. Vorzüglich wird man an die arkadischen Opferfeste des Zeus Lykaios denken, blutige Sühn- feste auf dem Grenzberge zwischen Arkadien und Messenien, bei denen Menschen und Thiere als Opfer fielen und Verwandlungen der Opfernden in Wölfe nach dem Glauben geschahen, nachdem sie von dem Opferfleische genossen hatten.

Eng verwandt mit diesen Opferfesten sind die thrakischen orgiastischen Feste auf Bergen^ gewesen, bei denen zwar meines Wissens nicht die Nackt- heit der Theilnehmenden, wohl aber die Umhüllungen mit Thierfellen (Nach- ahmung der Thierverwandlung) erwähnt werden. Auch an die dionysischen Feiern mag man sich erinnern, bei denen die Weiber ganzer Gegenden von ekstatischer Tanzwuth ergriffen wurden (Roh de a. a. 0. 328-333), was wieder an den epidemischen Tanzwahnsinn erinnert, den wir in Deutsch- land im 14. und 15. Jahrhundert auftreten sehen.

Orgiastischer Natur war auch in ältester Zeit die Bestattungsfeier in den vornehmen attischen Geschlechtem. Das weibliche Trauergefolge, aus freien Frauen der Familie gebildet, ging unbekleidet, laut wehklagend hinter der Leiche. Es ist dies aber schon vor Solon abgekommen.'

Im alten Israel gingen die Trauernden nackt, wie aus Jesaia 32, ii; Micha I, 8 sich deutlich ergiebt,' und dazu stimmt, daCs auch für die Araber der vorislamischen Zeit die Nacktheit in der Trauer erwiesen ist.*

In Dörfern von Nordindien ist es noch jetzt Brauch, dafs am Ende des Jahres, in dem ein Familienglied gestorben ist, der nächste männ- liche Verwandte nackt mit einem blofsen Schwerte in der Hand einen ganzen Tag und eine Nacht zum Trommelschlage tanzt. Den zweiten Tag wird ein Büffel geopfert, indem er mit indischem Hanf und Schnaps be- täubt und dann mit' Knüppeln todt geschlagen wird (Crooker, Introduct. to the populär reUgion of Northern India iii).

^ E. Roh de, Psyche 301—14.

* F. Dümmler im Philologiis LIII, 21a; Brückner, Athen. Mittheil. XVIIl, 102 if.

* Fr. Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel. Gie&en 1892 S. 11.

^ Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten III, 107. IMa8.'kistar.ÄbL 1896. I. 3

18 K. Weinhold:

Gewifs wird sich Entsprechendes mehr aus den Trauergebräuchen er- geben. Aus Deutschland wüfste ich keine Spur der Zerreißung der Ge- wänder und theilweiser oder ganzer Nacktheit in dem Begräbnilsritus auf- zuweisen.

Der altattische Leichenzug, in dem nackte Frauen freien Standes ein- herschreiten, leitet zu gottesdienstlichen Aufzügen über, bei denen die Nacktheit gerade der Weiber bezeugt ist. Plinius berichtet h. n. 22, 2, dafs die verheiratheten Frauen (conjuges nurusque) der Britten bei gewissen gottesdienstlichen Festen ganz entkleidet, nur mit dunkeln Farben den Körper bemalt, einherschreiten. Dazu stimmt merkwürdig eine Procession der Frauen an der Goldküste in Afijka, die sie noch jetzt halten, wenn die Männer im Kriege sind. Täglich ziehen sie ganz nackt, die schwarzen Leiber über und über mit weifser Farbe bestrichen, und mit Perlen und Amuletten behängt, durch das Dorf Sie fuhren dabei Kriegsspiele auf Kein Mann darf während des Au&uges im Orte sein.^ £s scheint ein Bittgang für das Leben ihrer Männer und den glücklichen Ausgang des Krieges. Die Bemalung dieser Negerinnen ist gleich der der alten Brittinnen nicht als Verdeckung der Nacktheit zu deuten, sondern sie entspricht der in antiken und wilden Mysterien der Gegenwart nachzuweisenden Be- streichung mit Lehm als Symbol der Unreinheit oder Befleckung, die nach der rituellen Handlung entfernt wird; der von Sünde befleckte Mensch ist dadurch rein geworden, entsühnt^.

Wir haben eine weitere Parallele in einem südindischen, hauptsäch- lich von Schafhirten und Parias begangenen ländlichen Feste der Göttin Pötrai. Am dritten und vierten Tage, die den persönlichen Opfern, die in Rindern und Schafen gebracht werden, und dem Wohl der einzelnen Familien und dem Feldsegen gelten, ziehen manche Frauen zur Erföllung ihrer Gelübde nackt, mit grünen Zweigen bedeckt und von ihren weib- lichen Verwandten umringt, zu dem Tempel.'

^ Uartland, The Science of Fairy Tales. London 1891 p. 86.

* Andr. Lang» Myüies, Cultes et Religion; traduit par L. Marillier. Paris 1896 p. 263 ff.

' Nach W. EUiot, Journal Ethnological Soc. NS. 1, 97—100; mitgetheilt von Gomme, Etiinology in Folk-lore 32 f. 39.

Zur Qeschichte des heidniscfien Rätis. 19

Die Nacktheit ist hier Erfüllung eines Gelübdes , und dies hat den bekannten englischen Forscher' Edw. Sidn. Hartland an die Legende von der Lady Godiva erinnert,' die er durch jene indische Procession er- läutert sieht.

Die Geschichte vom nackten Ritt der Lady wird zuerst von dem englischen Chronisten Roger von Wendover (Anfang des 13. Jahrhunderts) in seinen Flores historiae zum Jahre 1057 erzählt. Godiva oder eigentlich Godgifu, die Gattin des Earl Leöfric von Mercia, hatte denselben wiederholt gebeten, den Einwohnern von Coventry einen lästigen Zoll zu erlassen, um ihrer Bitten ledig zu werden, erklärte er schliefslich, er wolle thun was sie wünsche, wenn sie nackt vor allem Volke von einem Ende der Stadt zum andern reiten werde. Zum Erstaunen des Earl that es seine Frau, nur von ihrem langen aufgelösten Haar verhüllt, so dals man von ihrem Körper nur die schönen Beine sah. Earl Leöfric hielt sein Ver- sprechen.

Hartland hat das Ungeschichtliche dieser Geschichte nachgewiesen, obschon Lady Godiva selbst eine historische Persönlichkeit bleibt. In Co- ventry ward die Erinnerung an die Wohlthäterin des Ortes durch eine jährliche Procession, great Fair genannt, die am Tage nach Frohnleichnam statthatte, erhalten, wobei ein Mädchen im ungefähren Costüm der Lady Godiva dieselbe vorstellte. Das älteste Zeugnifs för die wirkliche Aus- föhrung dieses Aufzuges stammt erst von 1678. Damals vertrat übrigens ein Knabe oder Jüngling (Ja. Swinnertons son) die Lady (Hartland a. a. O. 75).

Auch im Dorfe Southam bei Coventry ist diese Procession gehalten worden, und hier ritten zwei Godivas, eine weüse und eine schwarze, in dem Zuge.*

Endlich haftete eine verwandte Sage, nach Rudders History of Gloucestershire (1779), an dem Orte St. Briavels in Gloucestershire. Hier soll die Gemahlin des Earl of Hereford unter denselben Bedingungen wie die des Earl von Mercia von ihrem Gatten för die Bewohner von St. Briavels die Freiheit erlangt haben, in dem Forest of Dean holzen zu dürfen. Die Hauswirthe des Dorfes mulsten aber noch eine kleine Steuer dafür zahlen,

* Über diese Legende hat Mr. Hartland in seiner Science of Fairy Tales p. 71— 92 sehr gut gehandelt

* Genaueres ist nicht bekannt, Hartland 85.

3*

20 K. Weinhold:

von der eine Vertheilung von Brod und Käse am WeiXsensonntag in der Kirche geschah.^

Mit Recht hat £. S. Hartland in der historischen Legende die Erinnerung eines heidnischen Festes zu Ehren einer germanischen Göttin erkannt, von dem die Manner ausgeschlossen waren (a. a. O. S. 92). Ich will näher darauf eingehen.

Die great Fair von Coventry und St. Briavels fällt um Pfingsten, war also Theil eines Sommerfestes. Die Pfingstumzüge mit Umföhrung eines nackten , laubumhüllten Menschenkindes geben aus deutschen und slavischen Landschaften eine Menge von Vergleichungen. Ich meine nicht den fest- lichen Eintritt der Vertreter der Sommergottheiten, sondern jene Bitt- und Opferfeste, welche die Erweckung des für das Gedeihen von Feld und Weide nöthigen Frühlingsregens zum Ziele hatten: der Süd- und mitteldeutsche Umzug des Wasservogels und der deutsche und slavische de& Regenmädchens.

Die Einkleidung eines Jünglings oder Knaben in Laub, Schilf und Blumen, die Umfuhrung desselben im Dorfe, schlieislich seine Be- giefsung oder sein Sprung oder Sturz in das Wasser sind die Acte des gewöhnlich zu Pfingsten stattfindenden Brauchs.* In Bayern heilst die Hauptperson desselben gewöhnlich der Wasservogel.^ Im angrenzenden Schwaben kommt dieser Name nur in den Orten vor, die mit altbayri- schen in nahem Verkehr stehen; der Brauch selbst ist, obschon mit anderen Pfingstbräuchen gemengt, lebendig (Panzer, 2, 83-90; Birlinger, Aus Schwaben 2,109. 112; Schmid, Schwab. Wörterb. 518), ebenso in Öster- reich, wo der Pfingstkönig, der Vertreter des alten Frühlingsgottes, in das Wasser geworfen wird (J. Grimm, D. Mythol. 562). In niederbayrischen Orten (Niederaltaich , Niederpöring, auch in Wehring im bayrischen Kreise Schwaben, Panzer, i, 235 f 2,83) heilst der laubiunhüllte Knabe der Pfingstl, in der Pfalz der Pfingstquak (Panzer, i, 238). In Niederpöring wird der Pfingstl, der, nach dem Bericht zu schlieisen, ganz nackt, nur mit Laub

^ Whitsunday heilst in England der Pfingstsonntag (Hampson, Caiendarium II, 392), während in Deutschland der Sonntag Invoeavit darunter verstanden wird.

' Sofern ein stattlicher Umritt dabei gehalten wird, sind Theile des Sommereinzugs eingemischt.

' Über ihn hat Fr. Panzer, Bayerische Sagen u. Bräuche 1,226 ff. 2, 81 ff. 444 ff. ausführlich gehandelt.

Zw Oeschichie des heidnisdien Raus. 21

und Wasserpflanzen bekränzt, einherschritt und dabei fortwährend begossen ward, sehlierslich in den Bach gefiihrt und von einem seiner Begleiter (Weiser) mit einem Schwerte scheinbar geköpft (Panzer, 1,236).

Auch in Thüringen hat sich der uralte Brauch bis in neue Zeit er- halten. Hier heilst der hiubumhüllte und mit Bändern geschmückte Bursche, der während des Pfingstumzuges mit Wasser begossen und am Ende in's Wasser gestürzt ward, das Laubmännchen. In Dörfern um Mühlhausen ward der dem österreichischen Pfingstkönig entsprechende Schofsmeier, der mit Blumen und Laub geschmückt einreitet, auch in's Wasser geworfen, also auch hier Mischung zweier verschiedener Scenen des Sommerfestes. Die Bedeutung der Handlung für den Feldsegen erweist sich auch dadurch, dals in Grofsvargula die Hauptperson der Graskönig heilst, und die Zweige der Pappelpyramide, unter der er einreitet, um die Flachsfelder gesteckt werden, damit der Lein hoch wachse (Witzschel, Sagen, Sitten und Ge- bräuche aus Thüringen 2, 203. Wien 1878). Im Usingischen in Nassau heilst der umkränzte Knabe die Laubpuppe (Kehr ein, Volkssprache und Yolkssitte in Nassau 2, 156).

Bei den Winden in Kärnten und Krain wird am Georgstage (24. April) ein Frühlingsfest gefeiert, das sich diesen deutschen vergleicht. Die Haupt- person des Aufzuges der männlichen und weiblichen DorQugend ist ein über und über in grünes Birkenlaub gehüllter junger Bursche , der grüne Georg (ielene Jury) nach dem Tagespatron genannt. Er ward in 's Wasser zum Schluls geworfen ; jetzt geschieht es nicht mehr mit dem Menschen selbst, sondern mit einer rasch untergeschobenen Puppe. Doch wird mancher Orten noch der Bursche selbst in dem Flusse oder Teiche gebadet, und der Glaube herrscht im Volke, dafe dadurch im Sommer genügender Regen för die Felder erwirkt werde. ^

Für die Laubeinkleidung eines Mädchens und das Bad desselben im Flusse, um Regen zu gewinnen, haben wir fSr Deutschland das älteste Zeugnils im 1 9. Buche der Canonessammlung Bischofs Burckard von Worms (f 1024), welches auf mittelrheinischem Volksbrauche beruht. Der Beichtiger fragt, ob die Beichtende Theil nehme an dem Brauche,* bei Regenmangel sich zusammen zu thun und ein kleines Mädchen zu erwählen, es nackt aus-

^ Mannhardt, Wald- und Feldculte 1,31 3 f. Über einen entsprechenden russischen Brauch am Georgstage t, 317.

' Friedberg, Aus deutschen Bufsbüchern S. loi.

22 K. Weinhold:

zuziehen und zu einer Stelle auTser dem Dorfe zu führen, wo Bilsenkraut wächst. Dort mufs das nackte Kind eine Bilsenpflanze mit dem kleinen Finger der rechten Hand entwurzeln, die darauf an die kleine Zehe des rechten Fufses gebunden wird. Zweige in den Händen, fuhren sie dann die Kleine in den nächsten Bach , besprengen sie mit den in*s Wasser getauchten Zweigen, indem sie dazu ein Zauberlied singen, und fuhren darauf rückwärts gehend^ das nackte Mädchen in das Dorf zurück. Sie hoffen dadurch Regen zu bekommen.

Man beachte, dafs in diesem ältesten Bericht über das Regenmädchen keiner Laubverhüllung gedacht wird; die älteste Weise des Regenopfers ist hier deutlich zu erkennen. Das Mädchen wird ganz nackt, nachdem es ein Zauberkraut nach ritueller Vorschrift ausgegraben hat und ihm dasselbe an dem entblöfsten Leibe befestigt ist,* mit weihendem Wasser besprengt und dann in das Wasser unter liedartigem Gebet untergetaucht, d. h. wie wir zeigen werden, ursprünglich getödtet als Opfer des Regengottes.

Längst ist hierzu von Jac. Grimm in seiner Mythologie 561 der serbische Brauch der Dodola verglichen worden. Ein Mädchen, Dödola ge- nannt, (wie es scheint, nach dem Refrain des dabei gesungenen Liedchens: oj dödo oj dödo le), wird ganz entkleidet und mit Gras, Kräutern und Blumen umwunden. Unter Tanz^ und Liedern f&hren Jungfrauen die Dodola durch den Ort, und die Hausfrauen begieüsen sie.

Dem serbischen Brauche entspricht ganz der bulgarische, der bei Dürre geübt wird. Das Regenmädchen heilst hier Djuldjul oder Peperuga; ferner der walachische um Mediasch in Siebenbürgen , wo das Mädchen Papaluga genannt wird (Grimm 560; Mannhardt i, 329), und der neugriechische der Pyperuna, den Grimm ebenfalls schon nach Th. Kinds rparf^Sia rfis veas 'GXKdSos S. 13 erzählt hat (a. a. 0. 561). Wenn längere 25eit Dürre herrscht, wird ein kleines Mädchen, meist ein armes Waisenkind, ganz entkleidet, von Kopf bis Fufs mit Kräutern und Feldblumen umhüllt, im Dorf lunher- gefuhrt und voA den Hausmüttern mit Wasser begossen.

' Das Rückwärtsgehen war bei Zauberhandlungen Brauch, auch im Norden, Maurer, Bekehrung 2,137; Grimm, D.Mythol. 3^,417; Wuttke, Aberglauben §950.

* An eine Zehe des linken Fufses hat der nackte Bllweifs die Sichel gebunden, womit er das Getreide fremder Felder für sich schneidet

' Das von Tanz begleitete Lied heifst prporysche, der ganze Umzug prpatz, nach Vuks Serb. Wörterb, neue Ausg.: Grimm, Mythol. II1\ 169.

Zw Geschichte des heidnischen Raus. 23

Aus der Bukowina, bei Rumänen wie bei Ruthenen, ist der Brauch ▼om Ende des i8. Jahrhunderts bezeugt, bei anhaltender Dürre nackte Weiber in das Wasser zu werfen, um den Regen zu erzwingen. Im Gou- ▼emement Chersson badeten am Johannistage 1884 Weiber bekleidet im Flusse und begossen dabei eine aus Zweigen und Kräutern gemachte Puppe, um Regen zu schaffen. In Podolien ist zum selben Zweck ein Pope im Ornat auf die Erde geworfen und mit Wasser beschüttet worden (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 3, 85).

Prüfen wir nun diese alten weit verbreiteten Gebräuche, deren Ab- sicht ist, in dürrer Zeit den ersehnten Regen zu erwecken, so finden wir die Anschauung darin, durch Besprengen oder BegieXsen eines Menschen oder eines Gegenstandes könne das hinmilische Wasser aus den ver- schlossenen Wolken befreit werden. Alle sogenannten Zauberhandlungen versuchen durch menschliche Nachahmung eines Naturvorganges die über- oder unterirdischen Mächte zu veranlassen , denselben in der Natur zu voll- ziehen. Es ist der homöopathische Grundsatz similia similibus, der im ent- gegen gesetzten Falle bei Regenüberflufs dazu föhrt, das Wasser oder ein Wasserthier zu vergraben. In Nordindien sammelt man, um den Regen zu stillen , Wasser aus sieben Häusern in einem irdenen Topf und vergräbt es. Oder eine Jungfrau bedeckt eine Stelle mit Kuhdfinger und vergräbt einen Frosch darin (Folk-lore VH, 95).

Als ein einfaches Mittel, den Regen hervorzurufen, dient die Berührung einer Quelle mit einem Zweige oder Stabe.

Beim Regenmangel im Peloponnes ging der Priester des Zeus Lykaios auf dem lykaüschen Berge nach einem Gebete zu einer heiligen Quelle des Berges und berührte das Wasser mit einem Eichenzweige, worauf das Wasser in Aufruhr kam und ein Nebel daraus au&tieg» der Wolken bil- dete und den Regen brachte. Ganz wie dieser Zeuspriester verfahren die deutschen Wettermacher. Sie schlagen so lange in Bäche oder Teiche mit Gerten, bis Nebel aufsteigen und Wolken sich bilden, auf denen dann die Hexen hin&hren, wenn sie den Feldern schaden wollen (Grimm, Mythol. 1041 nach Hexenacten des 16. und 17. Jahrhunderts). Eine hessische Hexe bekennt 1596, mit einem weüsen Stecken im Bach gerührt zu haben, darauf es gedonnert und ein Wetter worden (Wolf, Zeitschr. f. deutsche Mythol. 2, 76). In dem Marburger Hexenprocelis von 1546 bekennt ein windisches Weib, sie habe einmal auf einer Wegscheide eine Wasserlacke mit einer

24 K. Weinhold:

Ruthe geschlagen und angesprochen , darauf Schauer und Regen über die Weingärten gegangen sei (Mittheil, des histor. Vereins für Steiermark XXVn, 125). Das Pemmererweiblein rifs einen Tannenzweig ab, rührte in einer Lacke, und im Nu stiegen die Wetterwolken auf (Zingerle, Sagen aus Tirol, Nr. 786, 2. A.). Ein Knabe, der von einer Magd Wettermachen ge- lernt, zeigte seinem Vater, wie er das mache. Er holte ein Schaff mit Wasser, schnitt einen Stecken vom Baum, zog einen Kreis um das Schaff und rührte darin. Bald war das Wasser verschwunden, es bildete sich eine Wolke und hagelte über den Kreis herunter (Zingerle, Nr. 778). Bei Sterzing in Tirol zeigte ein Zigeunerbube, den der Kurat zu sich genommen hatte, demselben, wie man ein Hagelwetter mache. Er ging in ein Wasser, streckte die Hände aus, sprach allerlei, und das Wetter kam (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde i , 69). In West&len herrscht jetzt noch der Glaube, in der Heuernte dürfen die Mäher keinen Rechen ip das Wasser tauchen, sonst komme Regen (Wuttke, §663).

Eine andere Weise, Regen (und Hagel) zu erzeugen, ist Wasser auf Steine zu gieisen oder Steine in ein Wasser zu werfen. Durch Chrestiens von Troies und Hartmanns von Aue Iwein ist der Brunnen von Berenton im Walde Breceliande bekannt.

Gols man aus diesem Brunnen Wasser auf die Steine, so erhob sich sofort Regen und Unwetter. Der Glaube daran dauert noch heute dort fort. Bei anhaltender Dürre wird eine kirchliche Procession zu dem Brun- nen gehalten und es genügt, dafs der Maire seine Füise kreuzweise in die Quelle tauche, um Regen zu bekommen (Grimm, Mythol. 562).

Bei dem vorhin erwähnten Hexenprocefs zu Marburg an der Drau von 1546 sagen die windischen Weiber aus, wenn sie ein Wetter machen wollten, hätten sie bei einem Wasser neun Steine wohl geputzt; nach welcher Rich- tung sie dieselben in's Wasser geworfen , dahin sei zur Stund der Schauer gegangen (Mittheil. d. bist. Vereins f Steiermark XXVTI, 124).

Bekannt ist der im Alterthimi wie im Mittelalter und noch jetzt ver- breitete Glaube, dafs in gewisse Seen und Teiche kein Stein geworfen werden dürfe, es entstünde sonst sofort Regen und Unwetter.*

Die Nacktheit der Wettermacher ist in den angeführten Beispielen, nicht besonders erwähnt. Dass sie aber wie bei allem Zauber uranf&nglich

* PHdIus, Hist nat n, 44; Pompon. Mela 1,8; Grimm, D. Mythol. 564; Liebrecht, Gervas. 146; Zingerle, Sagen aus Tirol, 2. A. Nr. 165. 250 mit Anm.

Zvr GescJdcJUe des hädmschen Raus. 25

Bedingung war, bezeugt noch Manches. Zunächst erinnere ich daran, daXs wenn der von Hexen erregte Wetterzauber zerstört wird, die Hexen nackt aus den Wolken herunterstürzen. Dann an den Holzschnitt vor der Pre- digt von den Unholden und Hexen in Geileres Emeis (Strafsburg 15 17 fol. 37^). Drei Hexen sind beim Wettersieden dargestellt: die linke und mittlere sind ganz nackt bis auf das Haarnetz, die rechte ist bekleidet, Dämpfe steigen aus dem Topf, den die linke in der Hand trSgt. Ein rothes Tuch schwebt über ihnen.

In Bernau in der Mark Brandenburg machte ein nacktes Weib Ge- witter (Märkische Forschungen 1,256).

In der Oberpfalz wird erzählt, dafs einmal ein wandernder Hand- werksbursch (die nach der Volksmeinung mehr wissen als andere Leute) einem Bauer zeigte, wie man beim heitersten Hinmiel ein Unwetter machen könne. Er ging in eine Wiese, wo ein BrunnfluCs war und stiefs dreimal mit dem nackten Hintern in das Wasser. Sogleich stieg Rauch auf, der sich zu einer schwarzen Wolke verdichtete , und ein schreckliches Wetter brach los. Der Handwerksbursche aber war verschwunden (Schönwerth, Aus der Oberpfalz 3, 184).

Wie die Wettermacher so ist auch der die Ernte schädigende Bilmis- schnitter bei seinem Werke nackt, wenn er durch das reifende Kornfeld, mit der Sichel am Fufs und Zaubersprüche murmelnd, schreitet (J. Grimm, D. MythoL 444; Schönwerth, Aus der Oberpfalz 1,427).

Die Erregung des Wassers zur Nebel- und Wolkenbildung und dadurch zur Erzeugung des Regens geschah zwar mit Gebet und bestimmtem Brauch, aber die zuletzt angeföhrten Nachweise sprechen (abgesehen von der neueren kirchlich umgestalteten Procession von Berendon) nur von einzelne^ Wetter- machem. Feierlicher und allgemeiner wird die Handlung, wenn sie von der ganzen Dorfgemeinde vollzogen wird mit festlichem Auf- und Umzug, Gesang und Tanz und mit Opfer, wie das in den Pfingstbräuchen und der weiblichen Procession mit dem Regenmädchen entwickelt ist.

Diese Aufzüge sind die Reste theils eines groj&en Frühlingsfestes, welches die Gimst der Gottheit fiir fruchtbares Wetter zum Sommer durch das Höchste, ein Menschenopfer, erwirken sollte, theils einer durch Dürre bedingten Nothprocession. Aus mythischer Überlieferung wissen wir, dafs die Schweden bei mehrjährigem Mifs wachs und dadurch entstandener Hun- gersnoth, in der viel Volk verdarb, den ersten Herbst Rinder opferten, Phüos.'hütor. Äbh. 1896. I. 4

26 K. Weinhold:

den zweiten Menschen, den dritten den König (Heimskr. Yngl. S. c. i8). Bei den Kaffem wird , wenn kein Viehopfer zum Regen verholfen hat, von den Zauberern ein (gewöhnlich reicher) Mann als Verhinderer des Regens bezeichnet (er habe sich auf den Kopf gestellt und dem Himmel seinen Hintern gezeigt). Derselbe wird geopfert und seine Herden weggenommen (von Andrian, Wetterzauberei S. 54). W. Mannhardt (Wald- und Feld- culte I, 356. 360 ff.) hat aus Mexiko, ferner von Indianern und Afrikanern Menschenopfer bei Frühlings- und Erntefesten nachgewiesen und dabei, trotzdem ihm sein Vegetationsdämon sehr unbequem wird, dem Schlüsse nicht ausweichen können, dafs der »Laubmann« in den deutschen Pfingst- bräuchen eigentlich ein Menschenopfer bedeute. Dais der Pfingstl, Ffingst- könig, Schoüsmeier oder wie der laubumhüllte Bursche heifse, gewaltsam in den Bach oder Teich geworfen wird, dafs in Niederpöring in Baiem der Pfingstl dabei noch geköpft wird (Panzer, i, 236) macht diese Auf- fassung ganz unabweislich. Thieropfer für Regen sind aus Westfalen und Böhmen als noch bestehend nachgewiesen : wenn man Regen bedarf, wird in Westfalen ein Frosch (ein Regenthier und Prophet) getödtet (Kuhn, Westf. Sagen 2, 80, Nr. 244), in Böhmen eine Schlange (Wuttke, Aber- glauben §153). Die Ersetzung des Menschen durch ein Menschenbild, eine Puppe, wie bei dem grünen Georg der Slovenen, und wie bei dem Todaustreiben in Mitteldeutschland und angrenzenden slavischen Land- schaften, ist von Griechen und Römern imd von heutigen Naturvölkern, sowie aus fortdauernden europäischen Volksgebräuchen bekannt.^

Die Umhüllung des ursprünglich nackten Knaben oder Jünglings oder des nackten Regenmädchens mit Laub und Kräutern hatte ursprünglich nicht die schamhafte Verdeckung der Nacktheit zum Grunde, sondern ist die Bekränzung des Opfers. Nach Burchard von Worms ging das mittel- rheinische Regenmädchen ganz nackt in dem Aufzuge der begleitenden Jungfrauen. Dafs die zum Opfer bestimmten Menschen ganz entkleidet wurden, kann das klassische Beispiel der Polyxena in Euripides Hekuba555 beweisen.

^ Marquardt, Alterth. 3, 186; K. Fr. Herrmann, Antiqu. 2, 159 ff.; Andr. Lang, Mythes, Cultes et Religion (trad. par L. Mariliier) p. 346 ff.

Zar QescJdchte des heidnischen Ritus. 27

Es liegt mir nicht ob, überhaupt über den segnenden und fruchtbaren Wassergub zu handeln. Ich habe ihn nur berühren mü||en, weil die dabei nachweisbare Nacktheit darauf föhrte. Diese Nacktheit erscheint nun auch bei anderen Gebräuchen, die Segen oder Schaden von Feld und Weide bezwecken.

Wir wollen das Pflugziehen* voranstellen, weil es sich auch mit dem Wassergufs und dem Waten in einem Fluls verbunden zeigt. Es ist eine uralte weitverbreitete Sitte der Feldbauer, die von der Wintersonnen- wende an bis zur Feldbestellung nachzuweisen ist und durch eine Cult- handlung die Befruchtung des Ackers erwirken will.

Thomas Kirchmair (Naogeorgus 151 1- 1587) schildert in seinem

Regnum papisticum (Ed. 1559 S. 144) auch die Fastnachtgebräuche und

erzählt unter dem Aschermittwoch Folgendes:

Mutuo se capiunt alii ac in flumina portant contis impositos, ut fesü quicquid inhaesit stuld, toUatur mersum fluvialibus undis. est ubi se sociant juvenes tibicine sumpto et famulas rapiunt ex aedibus et ad aratrum jungunt, quas scutica pellitque ac dirigit unus. unu8 item stivam tenet, at tibicen aratri considet in medio ridendasque occinit odas. unus item sequitur sator, is vel spargit arenam vel fatuo cinerem gestu vultuque severo. postquam luserunt ita per fora perque plateas, per rivum tandem ancillas et ducit aratrum rector et ad coenam madidas vocat atque choreas.

Für denselben Brauch in Oberschwaben am Aschermittwoch zeugt der Verfasser der Zimmem'schen Chronik: mediin und megt, auch die jimgen gesellen zogen zu Scheer einst eine egge durch die Donau (Barack's Ausg. V. 1 869 II, 1 1 7). Andere Zeugnisse fiir das Pflugumziehen im Vor- frühling, wobei besonders die ledig gebliebenen Mädchen vorgespannt wur- den, geben: Das Fastnachtspiel die Egen (Keller, Nr. 30), Hans Sachs, Die Hausmaide im Pflug (Keller's Ausg. V, 179) und Sebast. Franck (nach Joannes Boemus) im Weltbuch. Der alte zum Fastnachtscherz ge- wordene Frühlingsritus hat sich mit natürlichen Änderungen in Tirol, Fran- ken, Schlesien, in den windischen Gegenden von Kärnten und Krain, in

Dänemark und England erhalten.

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> Mannhardt, Wald- und Feldculte i, 553 if.

28 K. Weinhold:

Die Nacktheit der vorgespannten Frauenzimmer mufis im 15. und 16. Jahrhundert schon aufgegeben worden sein , jedenfalls weil sich nicht mehr blofs weibliche Festgenossen an dem Brauche betheiligten. Aber sie wird als nothwendig zu diesem Zauberritus anderswoher bezeugt. In Böhmen war es nach Krolmus Staro6eske povfesti Brauch, daJGs die Bauern in der Zeit der Frühlingssaat in grofsem Aufzuge zur Nachtzeit einen Pflug, vor dem ein nacktes Madchen und ein schwarzer Kater gingen, auf das Feld zogen, wo sie den Kater lebendig vergruben. In ander^i Dörfern waren drei nackte Weiber vor den Pflug gespannt (Mannhardt, 1,561).

Bei Zeiten der Dürre und dadurch entstandener Hungersnoth findet noch jetzt in Indien ein ganz entsprechender Umzug durch Weiber statt, der auch für die deutschen Bräuche den Zweck, Regen für das Frucht- jahr zu erwirken, beweist. Bei der groüsen Hungersnoth in Gorakhpur von 1873/74 zogen, um Regen zu schaffen, die Frauen ganz nackt bei Nacht einen Pflug kreuz und quer über die Felder. Kein Mann durfte ihnen begegnen, sonst war nicht blofs die Ceremonie fruchtlos, sondern auch Unglück über das Dorf gebracht (aus Panjab Notes and Queries HI, 41. 115 bei Hartland, Science of Fairy Tales S. 84). Während der groben Dürre, die im Sommer 1892 im District Mirzapur in Nordindien herrschte, ward in der Nacht des 24. Juli in Chunar folgende Ceremonie vollzogen. Zwischen 9-10 Uhr Abends ging das Weib des Bartscherers von Haus zu Haus und forderte die Frauen zum Pflügen auf. Dieselben sammelten sich auf einem Felde, das kein Mann betreten durfte. Drei Weiber aus einer Bauernfamilie entkleideten sich , zwei spannten sich gleich Ochsen vor einen Pflug und das dritte lenkte sie. Sie thaten als ob sie pflügten. Die Pflug- führerin rief dann aus: »0 Mutter Erde, bringe geröstetes Korn, Wasser und Spreu. Unsere Magen zerbrechen vor Himger und Durst!« Dann näherte sich der Gutsbesitzer und der Verwalter und legten etwas Korn, Wasser und Spreu auf das Feld. Die drei Frauen kleideten sich wieder an und gingen heim. Unmittelbar hierauf änderte sich das Wetter und es fiel reichlich Regen (aus North Indian Notes and Queries I. 210 bei Crooke, Folk-lore of N. India43). In Madras tanzt bei Dürre ein häjßs- liches altes Weib, zuweilen nackt, mit einem brennenden Holzscheit und sieht gegen die Wolken, um den Sonnengott durch ihren Anblick zum Rückzuge zu zwingen (Crooke, 46). Von Wassergufs oder Besprengung ist weder bei diesem indischen noch dem vorangehend erwähnten czechi-

Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 29

sehen Pflugumziehen etwas gesagt, aber ich glaube mit Mr. Frazer (Gol- den Bough I, 17), dafs der Zauber unvollständig ist, ohne das Eintauchen oder Besprengen des Pfluges oder der Pflugzieherinnen. Dafür spricht auch Folgendes. In Westfalen war es noch um 1830 hier und da Sitte, dafis die Weibsbilder die Ackerleute, wenn sie zmn ersten Male im Jahre mit dem Pfluge vom Felde heimkamen, mit Wasser begossen (Kuhn, Westf&l. Sagen 2,153) ^^^ S*^ dasselbe ist aus Brandenburg (Engelien und Lahn, Der Volksmund in der Mark Brandenburg S. 270), vom Eichs- felde (Wald mann, Eichsfeldische Gebräuche und Sagen. Heiligenstadt 1864 S. 11) und aus dem Hennebergischen (Zeitschr. f. Deutsches Alterth! 3,361) bekannt. Auf dem Eichsfeld werden auch die Mädchen begossen, wenn sie das erste Mal im Frühjahr mit einer Tracht Gras heimkommen.

Ich wende mich mm zu den magischen Handlungen, ohne Wasser- gufs und Pflug, bei denen Frauen in Nacktheit auftreten, seltener Männer, imd welche sich auf den Feldbau beziehend, theils den Gedeih der Saat oder Pflanzung, theils die Abwehr schädigender Einflüsse zur Absicht haben. Sie bestehen noch heute in Deutschland oder sind erst vor Kurzem ver- schwunden. Gleiches aus anderen Völkern wird beigebracht.

In Ostpreufsen säen manche Bauern in der Nacht nackt den Samen in den Acker (Wuttke, § 653). Im Saalfeldischen umtanzten nach dem Journal von und für Deutschland von 1790 (Mannhardt, Wald- und Feld- culte I, 484) nackte Mädchen die Flachsfelder, damit er hoch wachse, und wälzten sich im Flachs. In Schlesien ist es noch jetzt verbreitete Sitte, dafs die Bauersfrau oder auch die Mädchen des Hauses zu Fastnachtabend vom Tische springen ; so hoch sie springen, so hoch wird der Flachs werden. Die Nacktheit der Mädchen (ledige Frövelker) bezeugt Schroller (Schlesien 3, 291. 403) aus der Goldberger und der Striegauer Gegend. Dasselbe ist fllr das Voigtland verbürgt (Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 368), wo in manchen Orten die Hausfrau zu jenem Zweck zu Fastnacht um Mittemacht oder vor Sonnenaufgang nackt vom Tische springt. Aus Ost- preufsen wird die Nacktheit nicht erwähnt, die Sprünge geschehen beim Tanze der Hausmutter mit dem Hausvater oder der Töchter, wobei die Tänzer dieselben möglichst hoch zum Sprunge zu heben suchen. Auch in

30 E. Weinhold:

Böhmen ist der Sprung beim Tanze üblich (Wuttke, Abergl. §657). In dem von Grimm , Mythol. 11 89 aus Lsisiez citirten samogitischen Brauch ist noch Gebet, Speise- und Trankopfer als zu dem Flachssprung gehörig erhalten. Durch die Betheiligung von Männern ist die Nacktheit natürlich ausgeschlossen worden, denn im Allgemeinen war sie nur bei den Riten zulässig (wie durch Beispiele genug im Vorangehenden belegt ist), welche die Frauen allein vollziehen.

Das Ganze war ursprünglich eine Opferhandlung der Frauen zum Ge- deihen des Flachses, der ihnen besonders werthen Feldfrucht. Der sym- bolische Sprung erhielt sich daraus am längsten.

In Ghatapur in Nordindien legen, wenn Regen flillt, die Hausfrau und ihre Schwägerin alle Kleider ab und werfen sieben Kuhfladen in ein schlammiges Wasserbecken, damit das Getreide wachse (for storing grain). Gewöhnlich geschieht es Sonntags oder Mittwochs. Der Mann und sein Mutterbruder könne diese symbolische Düngung des Ackers auch vorneh- men; aber meist geschieht es durch jene Frauen (Crooke, Introd. to Folk- lore of N. India 41). Um die Fruchtbarkeit des Feldes zu fördern, streuen die Manghs nackt Stücke von Weihfleisch (holy meat) auf den Acker (Crooke, ebd. 40).

Wir kommen nun zu Gebräuchen ganz orgiastischer Natur, die Frauen und Männer gemeinsam begehen und die natürlich nicht von dem Stand- punkt feinerer Cultur zu beurtheilen sind, sondern nur als Reste sehr ur- sprünglicher Zustände.

In dem Zeitpimkte der höchsten Blüthe des Naturlebens, zu Mitt- sommer, sind Feste gefeiert worden, bei denen an die Tänze nackter Weiber sich geschlechtliche Vereinigung ungescheut anschlols. Noch im vorigen Jahrhimdert tanzten in Esthland am Johannisabend um ein Feuer, in das Opfergaben geworfen wurden , unfruchtbare ganz entblö£ste Weiber, während die andere Gesellschaft den Opferschmaus hielt und schlieüslich Unzucht trieb.*

Aus Polen ergiebt sich durch Synodalbeschlüsse unter Bischof Laskari, dafe gegen wilde Tänze mit geschlechtlichen Ausschweifungen eingeschritten

^ Nach Böcler der Esthen abergläubische Gebrauche (1854) bei Wuttke, §429. Von einem etwas gemilderten Johannisbrauche auf der esthnischen Insel Moon spricht Mannhardt. Wald- und Feldcnlte i, 469 nach den Verhandl. d. esthn. Gesellschafl Dorpat, 1872 VII, 63 f.

Zur Qeschichte des heidnischen Ritus. 31

werden mufste, die am Johannis- und am Peterpaulsabend Brauch waren. In der Ukraine, Wolhynien und Podolien konmit es noch vor, dafs sich zu Johannis Paare auf den Getreidefeldern wSlzen, um eine gute Ernte zu erwirken, und dasselbe wird von Paaren wie von Einzelnen auch aus Thüringen und Hessen, sowie aus England berichtet (Mannhardt, Wald- und Feldculte i, 480-88). Das sind eben nur Abschwächungen jenes ritualen Actes alter Wildheit, der durch indische Zeugnisse weiter ver- bürgt wird. Im alten Indien wurden am Mah&vratatage (Sonnenwendtag) die Frauen mehr als sonst zu den Opferhandlungen herangezogen. Sie trugen Wassereimer um das Feuer und schlugen die Laute. Dann ward ein Paar ausgewählt aus einer bestimmten Kaste, das südlich von dem groüsen Feuer sich gefchlechtlich vereinigte (A. Hillebrandt, Die Sonnen- wendfeste in Alt -Indien: Romanische Forschungen V, 336). Ganz verwandt ist der Vorgang bei dem südafrikanischen Volke der Eimbunde : an' dem Erntefeste derselben tanzen nackte Frauen um die brennenden Holzstölse und geschlechtliche Orgien schlielsen sich an (Mittheilung A. Bastians nach Magyar).

Auf denselben Grundgedanken geht ein javanischer Brauch zurück. Zur Erzielung reicher Reisernte laufen nächtlich Männer und Frauen die Felder entlang und opfern linga und yoni (d. i. begatten sich). Selbst bei den christlichen Amboinesen geschieht es noch , dafs bei Anzeichen magerer Obsternte der Besitzer des Baumgartens Nachts in denselben geht, sich entkleidet und an einem Baume stehend, die Gebärde des Coitus macht, damit der Baum fruchtbar werde (Wilken, Vergl. Volkenkunde van Nederl. Indie. Leiden 1893 S. 550).

Zu vergleichen ist dazu, dafs in Bijapur in Nordindien unfruchtbare Weiber, um empfänglich zu werden, eine nackte weibliche Figur verehren (Crooke, Introd. to Folk-lore of N. India 40), und dafs in Bombay unfrucht- bare Frauen früh Morgens in den Tempel des nichtarischen Gottes Haneman gehen, sich entkleiden und das Götzenbild umarmen (Crooke, ebd. 46).

Wir gehen von den positiven zu den negativen Riten über, denen, welche Schaden verhüten sollen, der über den Acker und seine Früchte kommen könnte. Die Nacktheit der Weiber zeigt sich auch hier als alte

32 K. Weinhold:

Forderung, zuweilen auch, dafs die Handlung während der Menstruation geschehe.*

Zur Abwehr der Dürre kommt bei den Szeklem. in Siebenbürgen vor, dafs der Bauer ein Weib, gewöhnlich eine Zigeunerin, dazu gewinnt, dafe es sich nackt am Johannismorgen auf den Acker legt und der Sonne^ zu- ruft: Junger Sonnenherr, thu mir und dem, was lun mich ist, keinen Schaden (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 403).

Gegen Ungeziefer strebte man vor Allem die Feldfrüchte zu schützen. Plinius berichtet (Hist. nat. 28, 23),^ dafs ein Mittel gegen saatenschädliche Würmer und Käfer die Umschreitung der Feldgränzen durch nackte Weiber sei. Nach Metrodorus Scephius geschehe das in Eappadokien gegen die zahlreichen Eanthariden und zwar, indem die Weiber die Kleider über das Gesäfs heraufheben imd so die Saaten durchschreiten. Anderwärts seien sie zwar bekleidet, aber mit abgethanem Gürtel, gelösten Haaren und bar- fiils. Die Ersetzung der Nacktheit, von der wir wiederholt sprachen, ist hier recht deutlich.

Belege aus neuerer Zeit schlieiäen sich an.

Nach dem um Belluno in Venezien herrschenden Aberglauben müssen sich zur Vertreibung der Raupen ein nacktes Mädchen und ein Priester früh Morgens in dem vom Frais heimgesuchten Felde begegnen (Bastanzi, Superstizioni religiöse nelle provincie di Treviso e di Belluno. Firenze 1887).

Im Meininger Oberlande läuft am ersten Markttage nach Bartholomae ein Weib vor Sonnenaufgang nackt dreimal um den vom Raupenfrafs heim- gesuchten Krautacker; dadurch werden die Raupen von der Ecke aus, in der der Lauf begann, von dem Kohl weg nach dem Markte vertrieben (Witzschel, Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen 2,217).

In der Mark ist die Nacktheit vergessen, aber die dreimalige Um- schreitung des Raupenfeldes vor Sonnenaufgang durch die Hausfrau (auch den Hausvater) bewahrt. Der Bannspruch: »Rupen, packt ju, de Man geit weg, de Sunn kümt!« zeigt, wie das Ungeziefer als etwas Geisterhaftes ge- fafst ist (Kuhn, Märkische Sagen S. 382).

^ Über die magische Wirkung des Menstruationsblutes Plofs -Bartels, Das Weib. 13,275—285; Lammert, Voiksmedicin in Bayern S. I46f.; G. Pitre, Medicina popolare siciiiana (Torino 1896) p. 132.

* Vergl. hierzu R. Heim, Incantamenta magica p. 508.

Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 33

Bei dem Indianerstamm der Algonkin geht die Hausfrau Nachts bei wolkigem Himmel nackt um das Feld, um es gegen Insecten, Eichhörnchen und Mehlthau zu schützen (Mannhardt, Wald- und Feldculte i, 560 Anm., ergänzt durch eine Mittheilung A. Bastian 's).

Bei den masurischen Polen herrscht der Glaube, da(s zum Schutze des Erbsenfeldes vor Mehlthau ein nacktes Frauenzimmer vor der Saat das Feld umgehen muls, oder es muis wenigstens sein* Hemd ^ darum getragen werden (M. Toeppen, Aberglaube aus Masuren, 2. A. S. 93. Danzig 1867).

Namentlich gegen VogelfraCs ist unser Mittel bewährt. In der Johannis- nacht geht man in Mecklenburg nackt in das Kornfeld und mäht an jeder Ecke einige Halme ab: es ist das ein Opfer für die Vögel, die das Feld dann schonen, so wie in Masuren beim Säen eine Handvoll Körner för die Vögel ausgeworfen wird (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 161).

Wer das Saatfeld gegen Vogelfrals schätzen will , so meint der Sieben- bürger Sachse, gehe Morgens ganz früh auf den Acker, ziehe sich nackt aus, gehe dreimal ohne rückwärts zu sehen und ohne zu sprechen um das Getreide, bete das Vaterunser, dann ziehe er sich wieder an, mache etwas Schwefeldampf, nehme eine Kornähre in den Mund und gehe, ohne mit Jemand zu reden, nach Hause. In Martinsberg geschieht es, wenn das Getreide kömert, in Halwelagen in der Johannisnacht 11- 12 Uhr. In anderen Dörfern umschreitet die Bäuerin vor Sonnenaufgang nackt den Acker (in Jaad bei Bistritz trägt sie dabei ein licht in der Hand) und streut von Zeit zu Zeit dabei Erde mit Asche über das Feld. In manchen Orten wird Erde von drei oder sieben oder neun Kirchhofsgräbem* dazu genommen, was auch von den siebenbürgischen Rumänen geschieht . (G. Ad. Heinrich, Agrarische Sitten und Gebräuche unter den Sachsen Sieben- bürgens. Hermannstadt 1880 S. 14 und Haltrich-Wolff, Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen S. 280). In magyarischen Gegenden umschreitet der Bauer in der Laurentiusnacht nackt das Hirsefeld zum Schutz gegen die Sperlinge. Im Torda-Aranyoser Bezirk holt der Bauer in der Georgs- nacht nackt von einem frischen Grabe Erde und streut dieselbe gegen Vogel- fi^fs über den Acker (Zeitschr. d. Vereins f Volkskunde 4, 398, 405).

^ Bei den Siebenbürger Sachsen dieselbe Vertretung der Nacktheit bei Besprechung der Feuersbrunst, vergl. S. 35.

* Über die abwehrende Kraft der Graberde meine Bemerkungen in meiner Zeitschrift 4" f.

PMlo8.'higlar. Ahh. 1896. L 5

34 K. Weinhold:

Gegen Brand im Getreide schützt nach siebenbürgisch- sächsischer Mei- nung, wenn die Hausfrau in der nächsten Vollmondnacht nach der Aussaat von dem Hause bis zum Acker nur in ein Leintuch gehüllt geht, am Acker das Tuch abwirft und nun ganz nackt ihn umschreitet (Heinrich, Agrar. Sitten S. 15).

Auch gegen Ungeziefer im Hause hilft eine von nacktem Weibsbild ausgeführte magische Handlung. In vielen Orten des sächsischen und bayrischen Voigtlands kehrt die Frau oder die Magd zur Fastnacht vor Sonnenaufgang nackend die Stube und den Hausflur aus und schüttet das Kehricht vor eine fremde Hausthür. Dadurch werden z. B. alle Flöhe auf das andere Haus übertragen (E. Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 369).

Um die Wanzen zu vertreiben, geht »man« in Thüringen am Char- freitag vor Sonnenaufgang ganz nackt an drei Wänden der Stube herum und spricht: Wanz in der Wand, Wanz in der Wand, die Ostern sind vor der Hand (Witzschel, 2, 195).

In Ostpreulsen gehen in der Ostemacht vier nackte Mädchen an die vier Ecken des Hauses, klopfen an die Wand und sprechen: Ratz, Ratz aus der Wand! Ostern ist im Land! (E. Lemke, Volksthümliches in Ost- preufsen. Mohrungen 1884 1,14).

Gefahrlicher als Raupen- und Würmerfrafs wird den Feldern Sturm und Hagelschlag und Grewitter. Schon Plinius, Hist. nat. 28, 23 erwähnt, dafs die elementaren Gefahren durch ein nacktes Weib, wenn es in seiner Zeit ist, abgewendet werden können; Unwetter zur See auch aulser dieser Periode.

. Zum Schutze gegen Gewitter wird in Oberungarn zu Johannis ein nacktes Mädchen in einen Brunnen hinabgelassen, worein es Stahl und Feuerstein wirft (meine Zeitschr. 4, 402).

In Südungam läuft in der Georgsnacht die Bäuerin nackt um die Äcker, um sie für den Sommer gegen Hagel zu schützen. Urinirt dabei der Mann auf den vier Ecken der Felder, so hat er keine Überschwem- mung dies Jahr zu ftirchten (meine Zeitschr. 4, 398).

Bei den Huzulen in Ostgalizien beschwört der Wetterbeschwörer den Hagel far das ganze Jahr, indem er in der Weihnacht nackt auf dem Felde seinen Zauber treibt. Auch Weiber besprechen so den Jahreshagel, indem sie die Schürzen über den Kopf schwenken und den Hagel zu einer folgenden Mahlzeit einladen.

Zur Qeschkhte des heidnischen Baus. 35

Bei heraufziehendem Hagel stellen sich nackte Huziilinnen auf das Feld ; in einer Hand halten sie geweihte Weidenpalmen, einen Besen, Schürhaken oder Ofenschaufel, in der anderen ein mit der Schneide aufwärts gekehrtes Beil. Wenn gar nichts hilft, bücken sich die 2^uberinnen und zeigen dem Hagel den blolsen Hintern (Eaindl, Die Ruthenen 2, 90).

Unter den Siebenbürger Sachsen ist Folgendes als Mittel gegen Blitz- feuer, wie auch gegen andere Feuersbrunst noch 1887 von abergläubischen Weibern vollzogen worden. Eine Mutter übertrug ihre Kunst auf die Tochter also: die Tochter legte sich in derLaurentiusnacht (10. August)^ ganz nackt in freiem Felde rücklings nieder und die Mutter zog mit glühenden Kohlen einen Kreis um sie, überschritt sie drei Mal und tropfte ihr drei Blutstropfen in die linke offene Hand. Dadurch erlangte die Tochter die Macht, eine Feuersbrunst sofort zu löschen, ob sie auch vom Blitz er^ zeugt wäre, wenn sie die Brandstätte drei Mal nackt umlief. Es genügte aber auch, dals ein Kleidungsstück von ihr um das Feuer getragen wurde (Wlislocki, Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen S. 81). Wahrscheinlich ist das Hemde gemeint, als das dem nackten Körper nächste Grewand, wie in Masuren beim Schutz gegen Mehlthau (oben S. 33).

Auch bei den magischen Handlungen, welche i. Krankheit ab- wehren, oder 2. die Gesundheit sichern und stärken sollen, ist die Nacktheit zu erweisen.

I . Plinius giebt hist. nat. 26, 60 als ein kräftiges Mittel gegen Geschwulst nach vieler Leute Erfahrung an, dafs eine nackte Jungfrau nüchtern dem nüchternen Kranken das Pflaster auflegt, ihn mit dem Handrücken* berührt und dann nach Umkehr der Hand spricht: »Apollo verbietet der Krankheit (pestis), bei demjenigen zu wachsen, dem eine nackte Jungfrau sie erstickt«. Hierauf mufs sie und der Kranke ausspucken.

Verwandt ist ein Recept gegen elbische Besessenheit in einer Mün- chener Handschrift des 15. Jahrhunderts (Analecta Graecensia, Graz 1893 S. 43 Nr. 28). Wenn der Besessene einen Vater oder eine Mutter hat (auch

^ Der h. Laurentius, als auf dem Rost gebraten, schützt gegen FeuersbrCInste.

* Mit umgekehrter Hand, d. h. mit dem Handrücken streicht die oberösterreichische Bäuerin den Frühlingsthau über die Kühe, um ihnen reichlich Milch zu verschnffen: Am. Baumgarten, Aus d. volksth. Überlieferung der Heimat i, 29.

5*

36 E. Weinhold:

können es sich Gratten gegenseitig thiin), so soll der Kranke nackt auf dem nackten Beine des Heilenden eine gute Weile sitzen, und der Gesunde soll mit seiner Zunge dem Kranken über die Nase fahren. Schmeckt die Nase gesalzen, so rührt die Krankheit von den Eiben her. Ein ander Zeichen dafür ist, wenn die Augen und Adern des Leidenden zwinkern (zwiddem).

Auch gegen Thierkrankheiten ist bei Anwendung der Mittel des Arztes Nacktheit heilsam, wie nordindische Bräuche zeigen. Wird ein Thier krank, so zieht sich der Heilende in Jalandhar nackt aus und geht mit einem brennenden Strohwisch oder Rohrfasern um das Thier herum (Crooke^ 42). Wenn in Sirsa ein Rofs erkrankt, tödtet man einen Vogel oder eine GeÜs imd lälst das warme Blut in das Maul des Pferdes rinnen. Ist das nicht gut zu machen, so genügt, dafs sich ein Mann ganz entkleidet und mit seinem Schuh sieben Mal auf die Stirn des Rosses schlagt (Crooke, 41). In beiden Fällen Austreiben der Krankheitgeister unter Anwendung von Nacktheit.

Um sich von einem unheilbaren Leiden zu befreien , muCs der Kranke nach jütischem Glauben, wShrend der Priester auf der E^anzel steht, ganz nackt in die Kirche treten, dreimal auf die Altarstufen laufen und di*eimal den Namen der Krankheit, an der er leidet, laut sagen (Kr. Nyrop, Navns- magt S. 68 f 97).

Als französischer Aberglaube wird aus dem 17. Jahrhundert berichtet, dals Frauen und Mädchen, um vom Fieber geheilt zu werden, sich ganz nackt der aufgehenden Sonne zeigten und eine gewisse Zahl von Vater- unser und Ave Maria beteten (Liebrecht, Gervas. otia imper. S. 254 aus J. B. Thiers, Traite des superstitions. Par. 1697).

Gegen die Nesselsucht ist ein probates Mittel in Pommern, in einen frisch ausgeschütteten Mehlsack nackt rückwärts zu kriechen (U. Jahn, Hexenwesen 154).

Wenn man sich am Maitag vor Sonnenaufgang nackt im Thau wälzt,^ wird man von jeder Krankheit, namentlich von Krätze und Läusen befreit (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 266).

Wer am Schwindel leidet, laufe nach Sonnenuntergang nackt dreimal um ein Flachsfeld , dann wird der Schwindel (Brand) auf den Flachs über- tragen (Kuhn, Märkische Sagen S. 386).

* Über die Wirkungen des Maithaues S. 40 f.

Zur Geschichte des heidnischen RUus. 37

Ein Eand mit englischen Gliedern lege man am Johannismorgen nackt in den Rasen mid säe Leinsamen darüber. Wenn die Saat zu laufen (auf- gellen) beginnt, f)ingt auch das Kind zu laufen an (aus Oldenburg, Wuttke

§ 543).

Ein uraltes, weit verbreitetes Mittel zur Heilung eines Leidens war und

ist das Durchkriechen durch ein Loch oder eine Öffnung in der Erde, in

Felsen oder Bäumen, oder durch eine künstlich gebildete Höhlung. Es ist

eine rituale Handlung, die wohl nicht das Abstreifen der Krankheit und

die Übertragung auf den Stein oder den Baum u. s. w. bezweckt, wie manche

angenommen haben,' sondern welche die symbolische Wiedergeburt als

gesunder Mensch bedeutet. Da& dabei zugleich an eine sittliche Reinigung

gedacht sei, wie Kr. Nyrop (Dania 1,21.23.29) meint, scheint mir zu

weit gegangen.

Da& die Handlung als Opferritus zu nehmen ist, beweisen die von den Durchgekrochenen oder Durchgezogenen gebrachten Opfer an Kleidungs- stücken^ oder Kleiderfetzen, die sich neben den Spaltbäumen noch jetzt oft aufgehängt finden. Der Brauch ist aus Indien, Syrien, Kamtschatka, aus Afrika, aus Frankreich (schon durch eine Predigt des h. Eligius aus dem 7. Jahrhundert), Belgien, Deutschland, England, den skandinavischen Ländern bezeugt^ und wird noch heute geübt. In Frankreich findet das Durchkriechen nicht selten unter den Altären kirchlicher Heiligen statt, und dasselbe ist aus katholischen Landschaften in Bayern erwiesen : zur Heilung von Rückenschmerzen werden Höhlungen durchkrochen am Grabe des h. Otto in Banz, des h. Ejilian in Würzburg, des h. Nonnosus in Freising (Lammert, Volksmedicin in Bayern. Würzburg 1869 S. 269).

Mir kommt es hier besonders darauf an nachzuweisen, dafs die ur- sprünglich allgemein bei diesem Situs vorauszusetzende Nacktheit sich noch jetzt erhalten hat.

In einem Walde bei Fakse auf Seeland steht eine grofse Eiche mit einem Loche, weit genug, daCs ein Mensch durchkrieche. Es wird gegen

^ U.a. J. Grimm, D. Mythol. 2*, 1119; Gaidoz, Un vieux rite m^dicale. Paris 1892 S. 78 f.

Grimm, Mythol. 1118; Gaidoz (vergl. oben); Nyrop, Dania 1,1— 31; Th.A.Müller, Dania III, 139 f.; Hammarstedt, Om smögning og därmed befryndade bruk. Stockh. 1893; A. Hock, Croyance et remedes popul. Li^ge 1888 S. 30. 571; Wuttke, § 121. 503; Zeitechr. d. Vereins f. Volkskunde I, loi. II, 81. 111,36; Panzer, Bayrische Sagen 2, 201. 301. 428; Schmidtkonz, Der Deichbaum (Mittheil, zur bayrischen Volkskunde. 1895 Nr. 2).

38 K. Weinhold:

Gicht und Halsdrüsen noch jetzt benutzt; der Kranke mu& ganz nackt dabei sein. Es werden Späne in gewisser Zahl aus dem Baume geschnitten/ die zusammen mit einem Kleidungsstück oder wenigstens einem Lappen am Fufs der Eiche niedergelegt werden. Alles muCs schweigend nach Sonnenuntergang geschehen (Nyrop, Danial, 9-15).

In Mecklenburg ist das Durchkriechen oder Durchziehen durch enge Löcher, namentlich die von einem Doppelbaum gebildete Öffitiung,^ gegen Lähmungen, Rheumatismen, Brüche sehr üblich gewesen und auch heute noch in Anwendung. Manche Bäume (gewöhnlich sind es Eichen) sollen nur wirken, wenn der Kranke nackt durchkriecht; andere wirken auch durch die Kleider durch (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 321 f.).

Bei den Südslaven findet sich eine hierher zu stellende Entzauberung bei Krankheiten. Nach vorausgegangenen Sprüchen und. Handlungen legt die Zauberin zwei Rasenstücke auf den Boden, so dafs Raum bleibt, zwischen- durch zu schreiten ; auf einer Seite legt sie vier, auf der anderen fünf Huf- eisen zu dem Rasen , stellt je ein Glas Wasser und ein Stückchen von einer Weihnachtkerze hinzu, und legt zwei trockene Stäbchen, hier von Kornel- kirsche , dort von Elsenholz (Faulbaum) hinzu. Dann schreitet der Kranke nackt dreimal zwischen den Rasenstücken hindurch, während das 2^uber- weib eine Beschwörung der Geister spricht (Fr. Kr aufs, Volksglaube der Südslaven 52).

Aus Dänemark ist berichtet, dafs ein Mädchen sich för die Zukunft leichtes Gebären sichern kann, wenn es um Mittemacht nackt durch die ausgespannte Geburtshaut eines Füllen hindurchkriecht. Aber die Geister verlangen daftlr ein Opfer: die Knaben werden Werwölfe und die Mädchen Maren (Alpe): Thiele, Danmarks Folkesagn U, 279. UI, 186.' Dieses Durchkriechen kann aber auch höheres Wissen verleihen. So wurden jüngst im Dorfe Kleinsölk in Obersteiermark zwei Bauern belauscht, als sie

^ Bei dem Milchzauber schneidet die nackte Hexe drei Späne aus dem Thore der Nachbarin, Grimm, Mythol. 3*, 417.

* Abbildung eines Zwieselbaumes (Doppelbuche) ausEldena in Pommern, von E. Friedel, in meiner Zeitschrift II, 81.

* Anmerken will ich hier einen steirischen Brauch , bei dem zwar das Durchkriechen nicht vorkommt, der sich aber auf kommenden Kindersegen bezieht. Die Nacht vor der Trauung soll das Mädchen in einen Wasserbottich steigen und darin niedertauchen. So oft sie es thut, so viel Kinder wird sie kriegen (Schlossar, in der Germania 36,404).

Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 39

nackt durch eine gespaltene Buche krochen, in der Meinung, darnach hexen zu können (Meine Zeitschrift 5, 410).

Alle aufgeführten Fälle betrafen die Krankheit einzelner Personen. Wichtiger noch sind die Versuche, grofse Seuchen abzuwehren.

Nach dem Glauben der polabischen Wenden schützte gegen die Pest, wenn ein nackter Mann bei Sonnenaufgang mit dem Eesselhaken seines Herdes um seinen Hof oder auch um das ganze Dorf Hef, und dann den Haken unter seiner Thürschwelle oder unter der Brücke , die zum Dorfe filhrt vergrub. Dadurch ward der Pestgeist von dem Dorfe oder dem Hause ausgeschlossen. So erzählte der wendische Bauer Johann Parum aus Süten im Lüneburgischen um die Mitte des 17. Jahr- hunderts in seiner Chronik (J. Grimm, MythoL 1 138 f.). Der Eesselhaken ist wohl Vertreter des heiligen Herdfeuers , aufserdem schützt Eisen über- haupt gegen böse Geister.*

Die Umfiirchung eines Orts mit dem Pflug als Abwehr gegen Seuchen erweisen russische Bräuche, bei denen auch die Nacktheit der vor den Pflug gespannten Weiber nicht überall verschwunden ist. Da die Geist- lichkeit den alten Heidenritus in manchen Orten in eine kirchliche Pro- cession umwandelt, ist die Nacktheit theils ganz beseitigt, theils durch Einhüllung in wei&e Hemden ersetzt (Mannhardt, Wald- und Feldculte

1,561 f.).

In ihren Wanderings of a pilgrim in search of the Picturesques er- zählt Mrs. Fanny Parkes Folgendes von einer Ceremonie der Hindufrauen zum Schutz gegen die Cholera. Am Abend um 7 Uhr ungef&hr versam- meln sich zuweilen einige Hundert Weiber, jede mit einem GefSUs, worin Wasser, Zucker und Gewürze sind. Daraus bereiten sie ein Getränk. Dann fuhren sie, indem sie ihr leichtes Gewand möglichst hoch um die Hüften heben, einen wilden Tanz auf, während in ihrem Kreise fünf oder sechs ganz nackte tanzen und die Hände bald über dem Kopf, bald am Rücken zusammenschlagen. Das Geschrei der Frauen, die Musik der Männer, die sich in einiger Feme halten, machen einen wahnsinnigen Lärm, der mit allem übrigem den Choleradämon verscheuchen soll (Crooke, Folk-lore of Northern India 41 f.). Dals auch die XJmpflügung in Nordindien ge-

* Über allerlei Talismane zur Absperrung der Seuchen von Ortschaften bei den Natur- völkern M. Bartels, Die Medicin der Naturvolker S. 250fr.

40 K. Weinhold:

schiebt, erhellt aus dem jüngst aus Berar berichteten Gebrauch, dafs man, wenn die Cholera in einem Dorfe ist, dasselbe rings umfurcht, aber eine Lücke laust, durch die der Cholerageist entschlüpfen soll. Dort wird ein Vogel und eine Greifs geopfert und vergraben, der Pflugbaum und das Joch werden in die Erde eingegraben und verehrt. (Aus North Indian Notes and Queries vol. IV, in Folk-lore VII, 93. 1896.)

2. Alles das waren abwehrende Mittel gegen Krankheiten und leib- liche Schäden, bei denen die Nacktheit gefordert ward. Sie la&t sich aber auch nachweisen, wenn sich der gesunde Mensch die Gesundheit und damit noch verbundene Schönheit sichern wollte.

Die Kraft des W^assers, dieses reinen und reinigenden Urelements, das nichts Unreines und Böses duldet, kannte und benutzte die Menschheit von Anfang an. Vorzüglich aber mu&te das sanfte Nafs des Himmels, der die Pflanzenwelt erquickende und befruchtende Thau, auch Menschen und Thieren heilsam erscheinen.

In Oberösterreich (unteres Mühlviertel) war es noch in den ersten Jahr- zehnten des 19. Jahrhunderts Brauch, am Morgen des Georgitags (23. April) thaufangen oder thaufischen gehen. Das Weibsbild, das es that, ging vor Sonnenaufgang nackt auf W^iese oder Feld und streifte »das« Thau in einen Krug. Zu Hause fuhr sie mit der thaunassen umgekehrten Hand den Kühen über den Rücken, die dadurch erstaunlich viel Milch gaben. Thau in das Futter gegeben schützte gegen Verhexung des Viehs. Aber auch die Hexen gingen thaufangen , weil sie den Thau zur Hexensalbe brauchten. (Am. Baumgarten, Aus der Heimat i, 29.) Das beweist die magische Kraft des Frühlingsthaus.

Auch nach holsteinischem und oberpfälzischem Glauben kann man durch Maithau reichlich Butter gewinnen (Wuttke, § 88).

Durch das Abstreifen des Thaues werden nach der Meinung in Thüringen und an der Rhön die Hände heilkräftig. Man soll es in der Ostemacht Schlag 12 Uhr thun imd dabei sagen: »Was ich aufesse, ge- deihe! was ich berühre, verschwinde!« (Witzschel, Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen 2, 198).

Die Nacktheit wird hier nicht erwähnt. Bestreichen der Hände oder Waschen tritt an die Stelle des Thaubades. So in Woldegk in Mecklen- burg, wo die Mägde am Osterabend Linnen im Garten ausbreiten und sich mit dem darauf gefallenen Thau, Regen oder Schnee am Morgen

Zwr Geschichte des heidnischen Rütis. 41

waschen. Das bewahrt das ganze Jahr vor Krankheit (Kuhn-Schwartz, Norddeutsche Sagen 374).

Weit verbreitet ist in ganz Deutschland und auch sonst die Meinung, dais Abreibung des Gesichts mit Maithau gegen alle Hautunreinheiten, Blattern, Sommersprossen schütze (Wuttke, § 113; Lammert, Volks- medicin in Bayern 179. Questionnaire de Folk-lore. Lüge 30). Auch wenn man im Thau barfuis geht, zieht es alle Unreinheit aus dem Körper (SchOnwerth, Aus der Oberpfalz 2,133). Maithau giebt Gesundheit und schützt gegen böse Geister nach dem Glauben der Bewohner der ur- sprünglich irischen Insel Man (Moore, The Folk-lore of the Isle of Man. London 1891 S. iii).

Aber auch die alte Nacktheit bei dem Thaubade läfst sich noch aus vielen deutschen Landern nachweisen. Die Folge ist Schutz gegen Haut- krankheiten, Ungeziefer, überhaupt Gesundheit und schöne Haut (Wuttke, §§ 88.113; Bartsch, Mecklenb. Sagen 2,266). Sogar die verlorene Jung- frauschaft soll das Mittel wiederbringen (Schönwerth, Aus der Ober- pfalz 2,133).

In Böhmen legt man sich Nachts gegen das Fieber nackt unter einen Kirschbaum und schüttelt den Thau auf den Rücken (Wuttke, § 529). In Schlesien (Striegau, Freiburg, Schweidnitz) gehen die Mädchen vor Sonnenaufgang in die bethauten Weizenfelder und wälzen sich nackt darin, weil das schön weils macht (Schroller, Schlesien 3^331). Ganz ebenso w&lzen sich in Poitou die Mädchen entkleidet im Mai im thaunassen Grase, um schönen Teint zu bekommen (L. Pineau, Le Folk-lore de Poitou 498). Auf Island gilt der Thau der Johannisnacht für so heilsam, dafs Jeder, der sich nackt darin wälzt, von jeder Krankheit, welche es auch sei, genese (Isländische Volkssagen aus der Sammlung von Jon Arnason, übersetzt von M. Lehmann-Filhes 2, 264).

Abseits dieser Heilmittel mit Frühlingsthau liegt ein sympathetisches Mittel, das beim Zahnen der Kinder in Thüringen, Schlesien, der Altmark und Ostpreufeen angewandt wird. Wenn eine Mutter ihr Kind entwöhnt und ihm steinharte Zähne sichern will, so mufs sie sich unter dem Einläuten zum Gottesdienst mit bloisem Gesäfs auf einen Stein (am Besten auf einen Grenz- stein) setzen. Soll das Kind leicht zahnen, so soll sie sich nach Wetterauer Meinung ebenso setzen, aber dem Kinde einen Stofs geben, so dafs es auf dazu hingelegtes weiches und weifses Brot falle (Wuttke, § 601). Phüoa.'MsUn'. Abh. 1896. J. 6

42 K. Weinhold:

Bei den weitverbreiteten , aus der antiken Welt hauptsachlich durch die Luperealien und das Fest der Fauna oder Bona Dea bekannten Bräuchen, dafs zu gewissen Zeiten (Jahresbeginn, Frühlingsanfang) durch Herum- sch wärmende die Begegnenden mit Ruthen , Peitschen , Riemen geschlagen werden, um ihnen Gesundheit und Fruchtbarkeit durch Austreibung hin- dernder Dämonen zu verleihen, ist mir die Forderung der Nacktheit, ab- gesehen von den römischen Luperci, nicht bekannt; denn die muthwilligen oder rohen Entblöfsungen , die dabei mitunter vorkamen, gehören nicht hierher. Die Prügelweihe des Bräutigams und das Schlagen der Braut, das landschaftlich bei den Hochzeiten vorkommt, geschieht in der oben bezeichneten Absicht.

Über diese Bräuche hat W. Mannhardt ausführlich gehandelt in den Mythologischen Forschungen 8.72-152 und in den Wald- und Feldculten 1,252-303.

Dies Schlagen mit der Lebensrute, wie Mannhardt es nannte, wird beim ersten Austrieb der Herden Im Frühjahr ebenfalls vollzogen. Auch hier kann ich nicht die Nacktheit des Hirten nachweisen, wohl aber bei anderen Bräuchen, die sich auf den Gedeih des Viehes und den Nutzen von demselben beziehen.

In Mecklenburg setzte man ein nacktes neugeborenes Kind männlichen Geschlechts auf ein Pferd und führte es auf demselben auf dem Hofe herum. Dadurch werden alle Rosse, die ein solcher Knabe besteigen wird, den besten Dägen (Gedeih) haben, und selbst kranke Thiere, die er besteigen wird, sollen alsbald heil werden (Ackermann, Mecklenb. Monatschr. 1792 S. 345; bei Bartsch, Mecklenb. Sagen 2,41).

Soll eine Kuh zum ersten Male kalben, so mufs eine nackte Frau um sie herumgehen, ihr Hemd über den Rücken des Thieres hinübergeben und unter seinem Bauche wieder hervorziehen (Haltrich-Wolff, Zur Volks- kunde der Siebenbürger Sachsen. Wien 1885 S. 279).

In manchen magyarischen Gegenden Ungarns läuft die Hausfrau drei- mal um das Vieh nackt herum, um es gegen die Bösen zu schützen (Zeitschr. d. Vereins f Volkskunde 4, 398).

Schlagen die Kühe beim Melken aus, so muCs sich die Magd mit nacktem Hintern auf den Melkschemel setzen; die Kühe werden sofort ruhig (Brandenburg, meine Zeitschr. i, 185).

Zw Geschichte des heidnischen Ritus. 43

Die Tolmescher im Siebenbürger Sachsenlande treiben an einem ge- wissen Tage zu Mittemacht ihre Schweine unter Geschrei und Peitschen- knall zum Dorfe hinaus auf einen bestimmten Platz. Dort wird die Herde von dem nackten Cremeindehirten (früher von alten nackten Weibern) drei- mal im Kreise umsprungen. Dadurch wird Krankheit und Schaden für das ganze Jahr von den Schweinen nicht blofs, sondern auch von allen Theil- nehmem am Spectakel abgewehrt.

In anderen sächsischen Dörfern kommt es vor, daCs der Hirt, wenn er die Schweine zum ersten Mal im Jahre austreibt, nackt sein mufs. Als ein Pfarrer das abschaffen wollte, fragte ihn der Ortsvorstand, ob er alle Schweine, die dann verreckten, bezahlen wolle (Haltrich-Wolff a.a.O. 279).

Nach althebräischer Meinung muls eine nackte Jungfrau die Henne zur Brut setzen, wenn die Küchlein besonders gedeihen sollen (H. Lewy, in meiner Zeitschr. 3, 38).

Reichlicher Milch- und Buttergewinn ist der Wunsch jeder Bäuerin. Folgende südslavische Zauberhandlung ist wegen ihrer ausfuhrlichen Be- schreibung (Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven S. 55) besonders lehrreich.

Am S. Georgsabend, d.i. am Vorabend, nach Sonnenuntergang ent- kleidet sich die Bauersfrau und liest nackt im Walde eine Bürde Holz, trägt sie um das Dorf und dann nach Hause. Früh vor Sonnenaufgang löst sie die Bürde auf und legt die Theile des zerschnittenen Bürden- stricks und die Holzstücke über den Weg, auf dem das Vieh ausgetrieben wird. Aus dem Wege sticht sie dann ein Rasenstück , legt es um das Butterfafe, und bindet es mit einem Stricke fest. Sie ist dabei nackt. Dann betet sie: »Leih, lieber Gott, deinen Beistand, und auch du, Mutter Gottes ! Früher stellt sich bei mir die Butter ein, als die heifse Sonne aufgeht. Eher kommt zu mir die Butter, als ein Vogel über das Wasser fliegt. Eher trabt die Butter zu mir herein, als ich mich lungürten kann. Eher trollt sich die Butter her zu mir, ehe die ganze Welt frühstückt. Eher zeigt sich die Butter, als ich aufathme«.

Darauf bläst sie dreimal in das Butterfafs, rührt die Milch und spricht: »Nackt, barhäuptig rühre ich um; lauter nackte, barhäuptige Butter möge ich ausrühren!« Dann fafst sie und schlägt sich an die Hinterbacken und sagt: »Dem ganzen Dorfe einen Auswuchs! mir aber sei dies nur ein Streich mit Bast«. Dann nimmt sie die fertige Butter

6*

44 K. Weinhold:

heraus und legt sie in Wasser, das sie später in einen Henkeltopf gieCst. Am darauffolgenden Sonntag im Neumond gieM sie dieses Wasser auf die Stelle, wo die Strick- und Holztlieile am Georgsabend lagen und spricht: »Dem ganzen Dorfe Spülich und Schwemmich, mir aber den Genufs und die Butter«.

Auch nach deutscher Meinung müssen die Weiber beim Milchzauber ganz nackt sein. Es ist das eine Bedingung fiir den Buttergewinn.* Auch die Kräuter, die sie am Walpurgistage auf den Wiesen sammeln, von denen die Kühe reichliche Milch bekommen, pflücken sie nackt. Wenn sie die- selben heimgebracht, setzen sie ein Stühlchen auf den Herd,^ besteigen es nackt und beschwören jedes Kräutchen (Schönwerth, Aus der Oberpfidz ^9 379 f-)' Wenn Weiber oder Dirnen in der Walpurgisnacht im Kuhstall nackt wachen und früh Morgens Kräuter auf den Wiesen und Reiser auf dem Düngerhaufen suchen, sind es sicher Hexen (Schönwerth, i, 367). Eine oberpfälzische Drud ging um das Rührfafis nackt herum und sprach beim Rühren: »Rührl, dau di zam. Von Rengsburg bis af Ram (Rom), Von jeda Kou a Leflferl voU, Nau wird man ganzs Röyarfofs voU (Schön- werth, I, 382).

Aus einer St. Florianer Handschrift (Oberösterreich) theilte J. Ghmel folgendes Mittel mit, wie die Hexen es am Sunwendtag machen, um den Nachbarinnen die Milch ab- und sich zuzuwenden: An dem sunbenttag do get eine ersling auf allen vieren mit plossem leib zu irer nachtparin tor und mit den fiizzen steigt sy ersling an dem tor auf und mit ainer haut halt sy sich und mit der andern sneyt sy drey span aus dem tor imd zu dem ersten span spricht sy: »ich sneyt den ersten span Nach aller milich wan«, zu dem anderen auch also, zu dem dritten spricht sy: »ich sneyt den dritten span Nach aller meiner nachpaurinnen wan«. und get ersling auf allen viem herwider dan heim (J. Grimm, Mythol. 3*, 417).

Hier haben wir also Nacktheit, Rückwärtsgehen und Spanschneiden verbunden. Der Span diente in Norwegen und auf Island zum »Losen«, er hiels blötspann, Opferspan (Maurer, Bekehrung 2,132). In der Ober^ pfalz hebt das Mädchen in der Thomasnacht drei Späne auf und horcht dann auf das Geräusch, das den künftigen Gatten anzeigt (Wuttke, § 341).

* Wuttke, Aberglaube §217; Schönwerth, i, 369 ff. 382 f.

* Erinnert an den nordischen Seidhjallr.

Zur Geschichte des fieidnischen Raus. 45

Im Erzgebirge, YogÜand und Thüringen rnufe aus dem Tragkorbe , mit dem eine Fremde in die Kinderstube kommt, ein Span geschnitten und in die Wiege gelegt werden, damit dem Kinde nicht die Ruhe mit dem Korbe fortgetragen werde (Wuttke, § 586).

Aus anderen auf Thiere bezüglichen Zauberbräuchen weifs ich nur von den Bienen etwas beizubringen: Wenn die Bienen schwärmen, wer- den sie dadurch in den Stock zurückgebracht, dais ihnen ein Weibsbild nachläuft und ihnen das bloise Gesäfs zeigt (A. Höfer in PfeiflFer's Ger- mania I, 109). Wir haben dieselbe Gebärde schon mehrfach angeföhrt; es ist nichts Anderes herauszudeuten, als dafs sie ein bequemer Ersatz far das volle Entkleiden ist. Ein Bienensegen wird ursprünglich dazu gehört haben, dessen Wirkung die Entblößsung nur verstärken sollte.

Denn die Nacktheit ist durch ihre magische Kraftbegleitung ritualer Handlungen gewissermalsen etwas Geisterhaftes, das eine Steigerung der- selben hervorbringt. So nur ist sie zu fassen bei den wenigen Fällen des Bahrgerichts, in denen sie erwähnt wird. Sie gehören beide in späte Zeit, in das 16. Jahrhundert, und fallen beide der Schweiz zu. Den einen Fall erzählt P. Etterlin in seiner Chronik zum Jahre 1503.

Gegen Hans Spiefs von Willisau, der beschuldigt war, sein Weib er- stickt zu haben, »ward mit urteil erkant, dais man die guoten frowen usgraben solte, in bescheren^ und nackent über sie füren. Do alle ding also geordnet waren, stund der arm man nackent und blols als fern von der bar dais er die eben sehen mocht und hatt im der Henker ein seil an die bein gelegt glicher wise als eim schwin oder su « (J. Baech- told in den Romanischen Forschungen 5, 226 f.).

Nach dem Luzemer Formelbuche von 1542 von Beat Rippel wurde die Bahre auf eine Ebene unter freiem Himmel gestellt, so dais kein Un- berufener darauf sehen konnte. Der Verdächtige ward am ganzen Leibe beschoren, damit er keine Zauberei im Haar verborgen trüge. Nackt bis auf ein neues Untergewand, ein geweihtes licht in der Linken, in Begleitung der Gerichtspersonen trat er auf die rechte Seite der Bahre, kniete nieder und betete mit den Urkundpersonen fünf Paternoster, Ave

^ Wie die Hexen und Zauberer beim Inquiriren.

46 K. Weinholb:

Maria und den Glauben, auf daJfe Gott ein Zeichen der Wahrheit zum Bei- stand thun wolle. Darauf legte er die rechte Hand auf die Brust des Todten, der um Wunde, Herz und Mund entblö&t war, und sprach das Gebet, dafs Gott ein Zeichen seiner Schuld oder Unschuld gebe. Hierauf beschauten sieben Männer die Leiche. Bluteten die Wunden, so war der Thäter entdeckt (Segesser, Rechtsgeschichte der Schweiz 2,702).

Bei der Beurtheilung des Bahrgerichts ,^ das bekanntlich am frühesten aus dem 12. Jahrhundert \md aus Frankreich bezeugt ist, schlielse ich mich Konr. Maurer an, der es als Inquisitionsmittel fiUst und der zauber- haften Erforschung des Thäters, wie durch Siebdrehen, vergleicht. Die Nacktheit ist Verstärkung des Wunderbaren.

Als Verstärkung des Eides erscheint sodann die (gemilderte) Nackt- heit, bei der dem skandinavischen Rasen gange zu vergleichenden Procedur bei Grenzstreitigkeiten, die aus dem polnischen Oberschlesien, aus Ungarn und Siebenbürgen nachgewiesen ist. Die Zeugen schwören, in einer Grube barfufs stehend oder kniend , im Hemd oder mit gelöstem Gürtel, ein Rasen- stück auf dem Kopfe (Grimm, Rechtsalterth. 120; Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 3, 224. 4, 214).

Zum Schlufs stelle ich eine Reihe von Fällen zusammen, bei denen die Nacktheit die Mittel verstärken soll, die auf Gewinn von besonderen Kräften, von Glück, von Liebe zielen.

Ein nordindischer Glaube ist: wer eine Eule (das geheimnilsvolle Zauberthier) in einen Raum sperrt, nackt zu ihr geht und bei verschlossener Thür sie die ganze Nacht mit Fleisch föttert, erlangt Zauberkraft. So er- zählt Mr. Crooke (Introduct. S. 175), der einen eingeborenen Schreiber hatte, von dem es hiefe , er habe das gethan und der deshalb sehr gefiirchtet war.

Wer in der Johannisnacht Famkraut nackt holt, kann damit AUes erreichen, das er wünscht (J. Chr. Männlingen, Albertäten S. 238).' Hier ist allerdings der Farnsame, der in der Johannisnacht reif wird, das eigent- lich Glück schaffende, der Wünschelsame (der wünschelsäme des varmen

^ Vergl. darüber K. Lehmann, Das Bahrgericht, in den Germanist. Abhandlungen für Konr. von Maurer. Göttingen 1893 S. 23—45.

' Nach A. Schultz, Alltagsleben einer deutschen Frau des 18. Jahrhunderts S. 241.

Zur Oeschichte des heidnischen Ritus. 47

j. Titur. 4221, 2) aber die Nacktheit gehört dazu, den Farn zu finden, was sonst sehr schwer ist (Grimm, Mythol. 1160; Wuttke, §123).

Wenn man am Johannistag vor Sonnenaufgang nackt die Krauter Eisenkraut und Aberraute sucht, dieselben in Essig kocht und den Gewehr- lauf damit ausspült, so gewinnt man einen unfehlbaren Schufs (Aus Böhmen, Wuttke, § 714).

Wer ein Freischütz werden will (also" stets Treffer schiefsen), mufs sich ganz nackt ausziehen.^ Unter Gebeten und Beschwörungen weihen ihn darauf der Altmeister und zwei Freischützen ein. Zeigt er dabei Furcht, so wird er bis auf's Blut gegeifselt und fortgejagt (U. Jahn, Volks- sagen aus Ponmiem Nr. 413).

Einige griechische Beweise für die bei Zauberhandlungen erforderliche Nacktheit mögen die modernen Beispiele gewissermafsen veredeln.

Als der groiäe Dulder Odysseus, von Kalypso endlich freigegeben, auf seinem Flolse dem Phäakenlande sich naht, zerbricht ihm der er- grimmte Poseidon Mast und Steuer. Dem Verzweifelten erscheint Ino- Leukothea und giebt ihm den Befehl, sich zu entkleiden und den gött- lichen Schleier, den sie ihm reicht, um die Brust zu schlingen und getrost in die Flut zu springen. Sei er dann am Lande, solle er den Schleier mit abgewandtem Antlitz (also rückwärts) in das Meer werfen (Odyss. 5,

343-350).

Um sich unverwundbar zu machen, reibt sich Jason auf Medea's Rath, nachdem er sich entkleidet (yvfivwOeis) mit einer Salbe die Haut ein (Apoll. Argon. 3, 1042 f.).

Selbst die Göttinnen, was hier als Nachtrag zu den Hexenfahrten (S. I5f.) gegeben sei, gewinnen die Fähigkeit zu raschen Reisen in die Feme und Höhe nur nach dem uns, bekannten Ritual: Entkleidung, Sal- bung, plötzliche Auffahrt. So Hera, als sie zur Liebesifeier mit Zeus auf den Ida eilt (Iliad. 14, 170 f) und Aphrodite, da sie von Sehnsucht nach Anchises erfiillt, von Paphos nach Troja fliegt (Hymn. in Aphrod. 45 ff.).

* Den Grund dafür fand jüngere (militairische) Deutung darin, er solle auf Fehler- losigkeit untersucht werden.

48 K. Weinhold:

Beim Liebeszauber wird die Nacktheit öfter gefordert.

Die älteste schriftliche Erwähnung aus Deutschland findet sich bei Burchard von Worms. Damach lie&en sich Frauen, welche ihre Männer ver- liebter haben wollten, indem sie niederknieten, auf ihrem entblö&ten Ge- säCse Brotteig kneten und gaben von diesem Brote ihrem Gatten zu essen (Grimm, Mythol. 3^,409; Friedberg, Aus deutschen Bulsbüchem 97). Wir können dazu einen samländischen Brauch vergleichen, wenn auch nichts von Entblöfsung dabei gesagt ist (Grimm a. a. 0. 2^ 922): Beim Brotkneten legt das Weib, das ihres Mannes liebe erkalten fühlt, neun- mal etwas vom Teige zurück und bäckt ihm daraus einen Fladen.

Verwandt ist femer ein von K. von den Steinen aus Gigaba (Unter den Naturvölkern in Gentral-Brasilien S. 558) berichteter Liebeszauber. Will eine Frau die Liebe eines Mannes gewinnen , so setzt sie sich nackt in eine gro&e Blechschüssel mit Wasser und zerbricht über ihren Schultern ein Ei , das mm über ihren Rücken in die Schüssel hinabläuft. Sie nimmt das Dotter mit der Hand aus dem Wasser und mischt es unter die Speise des Mannes.

Bei den Liebestränken habe ich die Nacktheit der Bereitenden nicht erwähnt gefunden, zweifellos war sie aber ursprünglich Forderung für ihre Wirkung. Auch bei anderen Arten des Liebeszaubers, die von Plofs- Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde i', 352-364, von A. Wuttke, Deutscher Aberglaube, §§ 548-555 und von E. Sidney Hartland, The Legend of Perseus 11,117-131 vorgeführt werden, ist sie fast vergessen.

Mit Augen sehen wir sie auf einem schönen Gemälde aus der flan- drischen Schule des 15. Jahrhunderts im Leipziger Museum, worauf ein nacktes Mädchen in reich ausgestattetem Zimmer dargestellt ist, das auf ein (wächsernes) Herz, das in einer kleinen Truhe liegt, mit Stahl und Feuerstein Funken schlägt. Die Thür öffnet sich, und ein junger Mann tritt herein, der dadurch aus der Ferne herbeigezaubert ist.

Sicher war die Nacktheit gefordert bei dem Todtenbahrziehen in Steiermark, wenn es zu Liebeszwecken vorgenommen wird, da, wie wir früher bei anderen Zielen dieses Aberglaubens erwähnten, die Ausführung durch nackte Personen vorgeschrieben ist. Will ein Mädchen sich die Treue ihres Liebhabers festbannen, so geht es Nachts auf den Freithof, sammelt Todtenbeine in einem Korbe, setzt diesen auf die Todtenbahre

Zwr Geschichte des heidtdschen Ritus. 49

und zieht, sieben Schädel aus dem Beinhause in der Schürze , die Bahre siebenmal über die Gräber hin und her, indem es sagt: »Lieber Seppl, bleib deinem Diemdl treu! sonst werden die Todten in deine Kammer kommen und dich und das falsche Diemdl erwürgen«. (AuCseichnung von 1813.)

Erhalten ist die Nacktheit in einigen aulserdeutschen Belegen:

Wenn auf Lesbos ein junges Mädchen einen Mann ohne Erwiderung liebt, so reitet die Mutter ganz nackt auf einem Stabe, mit einer Spindel und einem Aschensack bewaffnet, dreimal um ein allein liegendes Haus und ruft vor dessen Thür den Namen des spröden Liebhabers. Die Mutter kann sich durch ein anderes Weib vertreten lassen (Georgeakis et Pineau, Le Folk-lore de Lesbos. Paris 1894 S. 346).

Will eine Zigeunerin die Liebe eines Mannes erlangen, so zieht sie sich ganz aus, spricht einen Spruch und stiehlt dem Manne im Schlafe eine Locke, die sie zusammengebunden in einem Beutel oder an einem Ringe bei sich trägt. Sie hat dann volle Gewalt über den Mann (Hart- land, Legend of Perseus 11, 121 nach Leland Gips. Sorc. 134).

Auf den muhamedanischen Seranglao- und Grorong- Inseln setzt sich die Frau oder der Mann, die Jemand in sich verliebt machen wollen, nackt in's Wasser, beschwören die Gestirne, blasen dann zweimal in die Hände und benetzen sich dreimal den Kopf mit Wasser (Plofs-Bartels, Das Weib i', 357 f.).

Die Liebe verkehrt sich oft in tOdtlichen Hafis; dasselbe Weib, das durch Zauber die Leidenschaft des Mannes wecken wollte, will ihn tödten. In dem 1 9. Buche der Ganones des Burchard vom Worms steht neben den Beichtfragen über den Liebeszauber, auch die: ob das beichtende Weib etwa nach Gewohnheit der Weiber gethan, ihren nackten Körper mit Honig bestrichen und sich dann auf einem mit Weizenkörnem bestreuten Leintuche gewälzt, dann die anklebenden Kömer abgelesen, sie in die Mühle geschickt und in der rückwärts gegen die Sonne gestellten Mühle habe mahlen lassen. Ob sie aus diesem Mehle ein Brot gebacken und dem Manne davon zu essen gegeben habe, damit er hinschwinde und sterbe (Grimm, MythoL 3^,410; Friedberg, Aus Bulsbüchem S. 100).

PMhs.'hüiar. Abh. 1896. I.

50 K. Wein hold: Zvt Geschichte des heidnischen Ritus.

Die uralte Bedeutung und die weite Verbreitung der Nacktheit in den gottesdienstlichen Riten und in dem Zauberwesen wird durch das Vorgetragene genügend erwiesen sein. Die ethnologischen Parallelen waren nöthig zur Beleuchtung der deutschen Gebräuche. Ohne diese Verglei- chungen würde das Meiste unverstandlich sein. Vom Boden der Gegen- wart wäre es nur falsch zu beurtheilen. Aus einer untergegangenen Welt kommt das licht för das geheinmifsvoUe Treiben, das sich vor der Sonne des Tages verbirgt, und einst voll grolser Bedeutung auf das Leben des Volkes gewesen ist.

Eins wird sich nebenbei auch wieder erwiesen haben, daüs das mytho- logische Quellenmaterial nicht nach dem Alter der schriftlichen Aufzeich- nung abzuschätzen ist. Was niemals aufgeschrieben war imd nur in der mündlichen Überlieferung sich erhalten hat, läfst sich oft (freilich nicht in Bausch und Bogen) als Best vorhistorischer, urältester Zeit beweisen.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Aus dem Papyrus 3024 der Königlichen Museen.

Von H"' ADOLF ERMAN.

PMlo8.-hi8tor.Abh, 1896. II.

Gelesen in der Gesammtsitzung am 21. Mai 1896

[Sitzungsberichte St. XX\a. S. 599].

Zum Druck eingereicht am 30. Juli, ausgegeben am 16. Deceinber 1896.

Einleitung.

Wer es versucht, die uns überkommenen Reste der weltlichen Litteratur der Aegypter zu ordnen, gewinnt den Eindruck, als habe sie gegen den Ausgang des dritten Jahrtausends, im sogenannten mittleren Reiche, in besonderer Blüthe gestanden. Noch viele Jahrhunderte später werden Schriften dieser Epoche den Schülern als Musterstücke vorgelegt, und die eigenthümliche Phraseologie, die \ms in den Texten des mittleren Reiches begegnet, lälst sich noch bis in die späteste Zeit hinein verfolgen.

Auch einö andere Beobachtimg spricht daför, dafs jene alte Zeit ein reges litterarisches Leben gesehen hat. Seit dem Anfange des mittleren Reiches tritt in den meisten Inschriften eine gesuchte Poesie auf, die in auffälligem Gegensatz zu dem schlichten Tone der Inschriften des alten Reiches steht. Es ist die Zeit, wo sich ein hoher Officier in seiner Grab- schrift »das warme Zimmer des Frierenden« und »die Amme des Säug- lings« nennen darf\ ohne lächerlich zu erscheinen, imd wo ein Beamter nicht die Leute im Zaum hält, sondern »seine Furcht in die Mitte der Menge schleudert«*. Eine solche Unnatur würde schwerlich zur allge- meinen Sitte geworden sein , wenn sie nicht von einer in Ansehen stehenden und ebenso gearteten Litteratur getragen gewesen wäre. Und in der That zeigen ja die erhaltenen Dichtungen des mittleren Reiches zumeist einen ähnlichen Charakter; auch sie ge&llen sich in gesuchten Wendungen und in unablässiger spielender Variirung desselben Gedankens.

Wir sind hier in Berlin in der glücklichen Lage, vier grofse Papyrus litterarischen Inhalts zu besitzen, die noch im mittleren Reiche selbst (also etwa um 2000 v. Chr.) geschrieben sind. Die eine Handschrift hat uns die Geschichte des Sinuhe erhalten, zwei andere die Klagen des Bauern, die

* Louvre C i. « R. I. H. 14.

4 A. Erman:

vierte P 3024 harrt bis heute in ihrem Haupttheile^ noch der Be- arbeitung, trotzdem ihr Facsimile schon vor vier Jahrzehnten von Lepsius^ veröffentlicht worden ist der Text steht in dem Rufe, so gut wie un- verständlich zu sein.

Von den älteren Aegyptologen haben sich, soviel ich weiXs, nur Ghabas und Goodwin mit ihm beschäftigt. Jener, der Entdecker des Sinuhe und der Bauerngeschichte, schreibt ihm kurz »un sujet anecdotique«, d. h. einen erzählenden Inhalt zu^, dieser fuhrt 1873 gelegentlich eine Stelle daraus an, aus der sich nichts über seine Auffassung des Ganzen ergiebt*.

In neuerer Zeit hat sich Maspero über den Inhalt unseres Buches geäufsert; er hatte schon 1879 (vergl. Etudes egyptiennes I p. 73) bemerkt, dafe der Text ein Gespräch zwischen einem Aegypter und seiner Seele sei und hat ihn jüngst genauer^ bezeichnet als »la fin d'un dialogue philo- sophique entre un Egyptien et son äme, celle-ci s'applique ä demon- trer que la mort n'a rien d'eflfrayant pour l'homme«. Diese Inhaltsangabe ist in der That im Wesentlichen richtig, nur ist das Verhältnifs gerade das umgekehrte, und nicht die Seele wünscht den Tod herbei, sondern der Mensch •.

Sonst haben sich, soweit mir bekannt, nur noch die HH. Ludw. Borchardt und H. 0. Lange ernstlich um diese Handschrift bemuht, und ich verdanke insbesondere dem letzteren sehr wesentliche Berichtigungen meiner Lesung, für die ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank aus- spreche''. Auch in der allgemeinen Auffassung des Inhalts stimme ich mit Hm. Lange überein.

Ich erwähnte schon oben, dafs das Buch in dem Rufe besonderer Dunkelheit steht, und in der That kommt hier allerlei zusammen, was uns

^ Der Papyrus ist Palimpsest, und ein nicht weggewaschenes Bruchstück des ur- sprünglichen Textes (der Geschichte eines Hirten, der eine Gottin baden sah) ist von Maspero, Etudes egyptiennes I, 73 80 übersetzt worden.

' LD. VI, III 112; dies Facsimile ist freilich an den undeutlicheren Stellen vielfach mifsrathen.

' Les papyrus hieratiqaes de Berlin (Chalon sur Saone 1863) p. 3.

* ÄZ. 1873, 16.

* Histoire egyptienne (Paris 1895) I p. 399.

* Ebenda giebt Maspero auch eine freie Übersetzung der Zeilen 130—140.

^ Ich habe im Kommentar die Lesungen Lange's als solche gekennzeichnet.

Gespräch eines Lebensmüden seiner Seek. 5

sein Verständnils erschwert. Der Text \st voll von unbekannten Worten ; wir haben nur eine einzige Handschrift, die augenscheinlich sehr fehlerhaft ist und der fehlt überdies der Anfang. Mit diesem Anfang aber ist uns die ganze Erzählung verloren gegangen , an die sich das seltsame Gespräch zwischen dem Menschen \md der Seele knüpftie, und damit dann auch das wichtigste Hülfsmittel, tmi dieses Gespräch zu verstehen.

Bei unseren heutigen Sprachkenntnissen müssen wir einem derartigen Texte gegenüber natürlich auf eine zusammenhängende Übersetzung ver- zichten ; eine solche könnte heute nur als ein geistreiches Spiel gelten. Wir müssen uns darauf beschränken, das, was sicher oder leidlich verständlich ist, herauszuheben und es vorsichtig zu einem Gesammtbilde zu vereinigen; das ist es, was ich in dem folgenden Abschnitt dieser Arbeit versucht habe. Für die grofse Menge der unverständlichen Stellen aber beschränkt sich unsere Aufgabe darauf, die vorliegenden Schwierigkeiten darzulegen ; es ist dies im Kommentare geschehen , den ich überhaupt für alle Einzel- fragen zu vergleichen bitte.

Der Inhalt

Während andere Schrift;en des mittleren Reiches rein erzählende Dich- tungen sind oder rein lehrhafte Form haben, gehört das hier behandelte Buch, ebenso wie die Geschichte des Bauern, formell einer besonderen Gattung an. Eine kurze Erzählung dient in ihnen als Grundlage zu langen Gesprächen, die eine bestinmite Tendenz zum Ausdruck bringen sollen. In der Bauern- geschichte ist diese Tendenz vielleicht formulirt in jenem schönen Worte^ das Re selbst gesagt hat: Sprich die Wahrheit j thue die Wahrheü^; was unser Buch bezweckt, spricht es unzweideutig in den dreiunddreifsig Versen aus, die seinen eigentlichen Beschlufs bilden : wer die Verderbtheit der Menschen und den Liauf der Welt gesehen hat, für den hat der Tod keinen Schrecken mehr; er ist ihm eine Heimkehr aus fremdem Lande, eine Genesung nach schwerer Krankheit.

Wer der Unglückliche ist , den seine Schicksale zu einer so traurigen Auffassung des Lebens gefiihrt haben, ist aus dem erhaltenen Theile der

^ Bauer, Rs. 62. In der Bauerngeschichte kommt noch hinzu, dafs der Bauer sich besonderer Wohlredenheit erfreut; man zwingt ihn daher, neun Mal eine Klagerede zu halten und läfst diese Reden zuletzt aufschreiben. Aber der letzte Zweck des Buches ist doch wohl der Inhalt der neun Reden und nicht ihre schone äufsere Form.

6 A. Ermak:

Schrift nicht mehr zu ersehen. Nur aus seinen Klagen und aus einzelnen Andeutungen kann man noch ungefähr erschliefsen ^ was sein Loos gewesen sein mulis. Er war ein sanftmuthiger Mann und nicht einer der Frechen, denen Alles glückt (XXXI) ^, aber als er ins Unglück gerieth und, wie es scheint, von schwerer Krankheit befallen war (XXXV), da liefsen ihn Bruder und Freunde schändlich im Stich (XXIX, XXXV, XXXVIII). Niemand hielt ihm die Treue (XLI, XLIII), was er gestern gethan hatte, war ver- gessen (XXXVI), man beraubte ihn (XXX, XXXIX), man verurtheilte ihn ungerecht (VII), imd aller Welt ward sein Name zum Abscheu (XXI-XXVIII).

Diesem Unglücklichen steht nun in unserem Gedichte als Widerpart seine eigene Seele ^ gegenüber; während er des Lebens müde ist und den Tod als Erlöser begrüfst, will sie im Grunde noch nichts vom Sterben wissen und räth ihm sogar, es mit dem Leichtsinn und dem Vergnügen zu versuchen (XVI).

Wenn dieser einfache, rein menschliche Widerstreit uns in der ersten Hälfte des Buches (I-XIX) nicht so klar entgegentritt wie in der zweiten (XX ff.) , so liegt das an der seltsamen Fabel , die der Dichter fiir sein Buch ersonnen hat und in die wir Modernen uns nur schwer hineindenken können*. Nicht nur, dafs er ims die Seele als ein selbständiges Wesen schildert, das seinem Herrn auch bei Lebzeiten entrinnen kann, wenn es will, sondern er hat auch den Konflikt zwischen dem Menschen und der Seele auf einen besonderen Punkt zugespitzt, der nach unserem Gefiähle für einen Lebensmüden ein ziemlich gleichgültiger ist, auf die Frage seiner

^ Ganz sicher sind diese Schlilsse freilich nicht, denn wenn man auch natnrgentiäfs seine Klagen über die Menschen auf seine eigenen Erlebnisse unter ihnen beziehen wird, so ist es doch immerhin möglich, dafs er in seiner Klage auch über die eigenen Leiden hin- ausgeht.

' Die beigefilgten Ziffern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Abschnitte des Kommentars, denen der betreffende Zug entnommen ist.

Gewohnheitsmafsig übertragen wir das Wort ^?§ ^tr, das hier steht, mit »Geist« und verwenden »Seele« zur Übersetzung von <^^ bf» Ich bin von dieser, übrigens willkür- lichen, Sitte hier abgewichen, da man bei Verwendung des männlichen Wortes »Geist« in der Übersetzung ofl nicht hätte erkennen können, ob sich ein »er« oder »sein« auf den Geist oder auf den Menschen bezog.

* Auch die im Folgenden vorgetragene Auffassung dieser Fabel erhebt natürlich keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit, wie denn überhaupt jeder Deutungsversuch der Abschnitte I XIX so lange problematisch bleiben wird, als uns der Anfang des Buches fehlt.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 7

Bestattung. Den Unglücklichen, der sich nach dem Tode sehnt, quält die Sorge, ob denn seine Leiche auch die richtige Behandlung finden werde. Um das recht zu verstehen , müssen wir uns der aegyptischen An- schauungen über die Toten erinnern , auf deren Boden auch der Verfasser unseres Buches steht*: fiir das Wohlergehen eines Verstorbenen ist es nöthig oder doch nützlich , dafs bestimmte Ceremonien und Opfer an seiner

Leiche vollzogen werden, der S/Bj» der ^^ und der fl^v müssen ihres

Amtes bei ihm walten oder es mufs doch wenigstens einer der Hinter- bliebenen, ein »(noch) auf Erden befindlicher«, wie unser Text sagt, dem Toten diesen letzten Dienst erweisen. Nun hat aber unser Unglücklicher keinen Hinterbliebenen, keinen, »der an seinem Sarge stände «^ die Brüder und Freunde haben ihn ja im Stich gelassen, und so fällt es ihm schwer aufs Herz, wie es ihm wohl im Tode ergehen werde.

In dieser Noth scheint ihm nun die Seele zuerst gerathen zu haben', doch den Flammentod zu wählen, vielleicht weil ein zu Asche verbrannter Leichnam keiner weiteren Fürsorge bedürfe. Aber es ist nicht zu diesem Tode gekommen, denn als der Mensch den furchtbaren Rath ausfthren wollte, da befiel die Seele selbst ein Grauen, und sie entfloh ihrem Herrn (lü und V). So war ihm dieser Ausweg abgeschnitten.

Noch gab es aber für ihn einen anderen Weg, der ihn sicher zum Totenreiche fiihren mufste. Wenn seine Seele sich entschliefsen wollte, ihrerseits anstatt der treulosen Anverwandten einzutreten, wenn sie ihm die Opfer und Gebräuche vollziehen wollte, die sonst ein Hinterbliebener dem Toten vollzieht*, so konnte er auf dieselbe Weise wie alle anderen Menschen glücklich den »Westen«, das Jenseits, erreichen*. Indessen als er dies von seiner Seele forderte, als er sie bat, wieder zu ihm zurück- zukehren und ihm diesen letzten Dienst zu erweisen, da wies sie seine

* Wenigstens äufserlich ; bei der ketzerischen Rede , die er die Seele über diese Dinge halten läfst, kann man freilich fragen, ob es ihm selbst denn auch ernst damit gewesen sei.

' Dies läfst sich aus X und XII sicher schliefsen.

Dals es die Seele war, die ihn zum Verbrennen antrieb, ergiebt sich aus IV, falls wir dies richtig verstehen. Aufser in IV wird auch in LV auf die Verbrennung angespielt.

* Dafs die Seele dem Menschen die Totengebräuche vollziehen soll, erscheint uns so wunderlich , dafs man gern das Gedicht von einer solchen Seltsamkeit befreien würde. Aber in XII ist diese Aufforderung an die Seele klar ausgesprochen und auch in V ist auf sie angespielt.

s Vergl. X und XL

8 A. Erman:

Aufforderung zurück; das Sterben war ihr überhaupt leid geworden, sie wollte sich nicht im Totenreiche »niederlassen« neben ihrem Herrn.

Hier beginnt heute unser Buch, Seele und Mensch streiten mit ein- ander und zwar in Gegenwart irgend welcher Zeugen\ Von einer ersten Rede der Seele sind uns nur noch einige unverständliche Schlufeworte er- halten (I). Der Mensch aber öffnete seinen Mund zu seiner Seele und beanl- wortetej was sie gesagt hatte (11). Er wirft ihr zunächst vor, dafe sie nicht mit ihm rede, d. h. wohl, dafs sie ihm nicht Antwort stände, sondern sich an andere wende. Sie sei fortgegangen und sei am Tage des Unglücks geflohen (DI). Und mm wendet auch er sich an die Zeugen des Streites und beschwert sich zuerst über die Seele: seht^ meine Seele vergeht sich

gegen mich ; tu zieht mich zum TodCj indem r*^j nicht zu ihm komme;

su wirft fmiekj aufs Feuerj um mich zu verbrennen (IV). Dann stellt er seine Forderung an die Ungetreue: sie nahe mir am Tage des Unglücks j sie stehe auf jener Seite da ... (V); sie soll ihm eben den letzten Dienst erweisen. Sie soll davon abstehen, einen Traurigen im Leben zurückzuhalten, sie soll ihn lieber zum Tode föhren und es ihm im Westen^ dem Totenreiche, wohlgehen lassen (VI), Denn der Westen ist ja nichts Schlimmes, es ist der einzige Ort, wo auch ein Unglücklicher sein Recht findet: Thoth richtet michj der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt michj der wahrhaftige Schreiber; Re hörtj wenn ich rede . . . .y Isdes vertheidigt mich . . . (VII) die Götter sind nicht so hartherzig wie die Menschen.

Was die Seele auf diese Rede des Menschen erwidert, sind nur wenige ironisch klingende Worte, die ich nicht verstehe (VIII); vielleicht deutet sie ihm darin an: wenn er denn so sehr sich nach dem Westen sehne, so könne er ja doch wohl auch allein dorthin gehen und sie auf Erden zurücklassen. Denn er scheint ihr energisch zu antworten, er werde nicht ohne sie aus dem Leben gehen, sondern werde sie mitnehmen, wie jeder es thue; das sei nun einmal ilir Los zu sterben und sich an dem Fortleben des Namens genügen zu lassen. Der Westen sei die Stätte für sie, an der sie sich bei ihm niederzulassen habe (IX). Sie habe dabei auch nichts zu befurchten, denn er werde ihr trotz seiner traurigen Verlassenheit doch

^ Dafs das Gesprach vor anderen Personen geführt wird, zeigt I und IV. Ich be- zeichne in der Übersetzung, wie üblich, Unsicheres durch kleine Schrift. Was in eckigen Klammern ergänzt ist, ist in der Handschrift ausgelassen oder zerstört; in runden Klammem stehen einzelne Worte, die ich zur Erleichterung des Verständnisses beigefilgt habe.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seek. 9

eine glückliche Existenz im Totenreiche schaflfen, er werde sie den Westen so erreichen lassen, wie einer j der in seiner Pyramide ruht und an dessen Sarge ein Hinterbliebener gestanden hat (X). Sie soll es nicht so schlimm haben, wie eine andere Seele j die müde ist oder eine andere Seele, der zu heifs ist oder eine andere Seele, die Hunger hat (XI). Daher soll sie ihn auf diese Weise zum Tode fiihren : Sei so ^mmdueh, meine Seele und Bruder, mein Butautr zu wer- den, der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird am Tage des Be- gräbnisses, damit er mir das Bett des Friedhofes b^nue (XII). Aber die Seele, der es nicht mehr um das Sterben zu thun ist, macht neue Ausflüchte; sie bemerkt ihm, auch das beste Begräbnifs tauge doch nichts: Wenn du des Begräbnisses gedenkst das ist Trauer; das ist, was Thränen bringt und den Menschen betrübt macht; das ist, was den Menschen aus seinem Hause reifst und ihn auf den Hügel wirft. Nie wirst du wieder hinauf kommen, um die Sonne zu sehen (XIV). Die da aus Granit bauten, die das .... als Pyramide

errichteten, die in dieser schönen Arbeit Schönes leisteten, ihre

Opfersteine sind ebenso leer^ wie die der Müden, die auf dem Uferdamm sterben ohne Hinterbliebenen, (von dtn^nj sich das Wasser sein Ende fortgenommen hat und ebenso die Hitze, zu denen die Fische des Ufers reden (XV) ^. Höre auf mich sieh, es ist dern Menschen gut, wenn er hört folge dem Vergnügen, vergifs die Sorge (XVI).

Dieser letzten Aufforderung, das Leben zu geniefsen, fugt die Seele noch zwei Beispiele an, die gewifs ihre Meinung belegen sollen, die uns aber unverständlich bleiben. Das eine von dem geringen Mann^ der sein Grundstück pflügt, seine Ernte in das Schiff ladet und es, wenn ich recht verstehe, selbst schleppen mufs. Frau und Kinder werden ihm, wie es scheint, von Kj'okodilen zerrissen (XVII), er(?) aber spricht die räthsel- haften Worte: ^^ nicht weine ich wegen jener Dirne da; sie hat keinen Ausgang aus dem Westen zu einer andern auf Erden. Ich habe Sorge wegen ihrer Kin- der, die im Ei zerbrochen sind, die das Gesicht des Krokodiles sehen, die da nicht leben werden* (XVIII). Und ebenso wenig läfst sich errathen, was das zweite Beispiel besagen soll von dem geringen Mann, der bettelt, und von seinem Weibe (XIX).

^ Gemeint ist, dafs die schlechten Hinterbliebenen es bald unterlassen, die Opfersteine mit Speisen zu belegen.

^ Das heifst: an deren Leiche die Fische nagen.

Philos,'histor. Abh. 1896. II. 2

10 A. Erman:

Damit hat die Seele Alles erschöpft, was sie beibringen konnte, um den Unglficklichen von seinem Entschlüsse abzubringen; er aber Öffnete seinen Mund zu semer Seele und beantwortete^ was sie gesagt hatte (XX):

Siehj mein Name wMx

siehj mehr als der Geruch von Vögeln

an Sommertagenj wenn der Himmel hei/s ist. (XXI.)*

Siehj mein Name uji^

siehj mehr als ein Fudm^ßtngtrj

am Tage des Fanges, wenn der Himmel hei/s ist. (XXII.)

Siehy mein Name wird tmwantchi,

siehj mehr als der Geruch von Vögehj

mehr als der Weidenhügel mit den Gänsen. (XXIII.)

Siehj mein Name wird fmwantektj

siehj mehr als der Geruch der Fischer,

mehr als die ... . der Sümpfe, nachdem sie gefischt hohen. (XXIV.)

Sieh, mein Name wMx

sieh, mehr als der Geruch der Krokodile,

mehr als zu sitzen unter den .... mit den Krokodilen. (XXV.)

Sieh, mein Name wird x

sieh, mehr als ein Weib,

gegen das zu dem Manne Lüge gesagt wird. (XXVI.)

Sieh, mein Name wirdmrwomdu,

sieh, mehr als ein starkes Kind,

gegen das .... gesagt wird (XXVII.)

Sieh, mein Name wird vmeoMeht,

sieh, mehr als eine Stadt des ,

die EmpÖTmtg Md»t und deren Rücken man siefU. (XXVIII.)

Zur sachlichen Erklärung dieser Verse bitte ich den Kommentar zu vergleichen.

Gefach eines Lebensmüden mit seiner Seek. 11

Zu wem spreche ich heutef

die Brüder sind schlecht^

die Freunde von heute .... nicht UAen. (XXIX.)

Zu iioem spreche ich heutef

die Herzen sind /rmAj,

ein jeder nimmt die Habe seines Nächsten. (XXX.)

Zu wem sprecJie ich heutef der Sanfte geht zu Grunde^ der Trotzige kommt zu allen Leuten hin. (XXXI.)

Zu wem spreche ich heutef

der mit ruhigem Gesicht ist elendj

vernachlässigt wird das Gute an allen Orten. (XXXII.)

Zu wem spreche ich heittef

urmm einer (dich) durch seine Schlechtigkeit ^cm^nd mxwht^

so ^bringt er fdun^j sein böses Thun alle Leute zum Lachen. (XXXIII.)

Zu wem spreche ich heutef

man raubtj

ein Jeder nimmt /«. hoU] jeines Nädisten. (XXXIV.)

Zu wem spreche ich heutef

der Sicekt ist trmj

der Bruderj der mit ihm istj wird zum Feinde. (XXXV.)

Zu wem spreche ich heutef

man erinnert sich nicht an gestern^

man thut nicht .... in dieser Stunde. (XXXVI.)

Zu wem spreche ich heutef die Briidej' sind schlecht^ (XXXVII.)

12 A. Ekman:

Za wem spreche ich heiUef

die Gesichter vergeherij

ein Jeder hat ein Gesicht als das seiner Brüder. (XXXVIII.)

Zu wem spreche ich heute?

die Herzen sind /reckj

der Mann, auf den man sich »tarn, hat kein Herz. (XXXIX.)

Zu wem spreche ich heute?

Es giebt keine Gerechten^

die Erde ist ein Beispiel von Ubelthätem. (XL.)

Zu wem spreche ich heute?

Es fehlt an Tr^^

..... ak Unwissenden zu dem^ was er gelehrt hat. (XLI.)

Zu wem spreche ich heuJte?

Es gieht Mm- keinen Zufriedenen^

geJie mit ihm, so ist er nicht da. (XLII.)

Zu wem Sprech ich heute? ich bin mit Elend beladen^ ohne einen Trmun, (XLIII.)

Zu wem spreche ich heute?

dm Böse schlägt das Landj

und es hat kein Ende. (XLIV.)

So beklagt er sein Los und den Jammer der Welt, um dann den Tod als den Erlöser von aller Noth zu begrüfsen:

Der Tod steht heute vor mir,

wie wenn ein Kranker gesund wird,

wie wenn man ausgeht nach der Krankhtu. (XLV.)

Der Tod steht heute vor mir wie der Gerach der Myrrfum^ wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt. (XL VI.)

Gespräch eines Ijebensmüden mit seiner Seele. 13

Der Tod steht heute vor mir

wie der Geruch der Lotushlumen^

wie wenn man auf dem Ufer der Trunkenheit sitzt. (XLVII.)

Der Tod steht heute vor mir

wie ein Regenbcek^

wie wenn einer aus dem Kriegsschiff zu seinem Hausse kommt. (XLVIIL)

Der Tod steht heute vor mir

wie eine HimmelsauuMhmgj

wie eincTj den kk . . . zu dem^ was er nicht wufste. (XLIX.)

Der Tod steht heute vor mir^

wie jemand sein Haus wiederzusehen wünschtj

nachdem er viele Jahre in Gt^angm$eha/t verbracht hat. (L.)

Denn wer dahingegangen ist, oder wie man aegyptisch sagt, wer dort istj der ist dem Sonnengotte nahe, dem Regierer der Welt, und kann mit ihm das Gute fördern:

Wer dort istj wird ja

.... als ein lebender Gott

und iiraft die Sünde an dem^ der sie thut. (LI.)

Wer dort istj wird ja

im sonnmschiff Stehen

und verleiht das Erlesenste an die Tempel. (LH.)

Wer dort istj wird ja

ein Gelehrter seiUj dem man nicht gewehrt hatj

und bittet den Rcj wann er redet. (LIII.)

Was die Reden des Mannes nicht erreicht haben, erreichen diese Verse, die Seele giebt ihren Widerstand auf. Lafs nur deine Klagen unterwegs , erwidert sie etwa (LIV) ; wenn ich dir auch bisher den Westen verweigert habe, so sollst du jetzt doch zu dem Westen gelangen j dein Leib wird zur Erde kommen und ich lasse mich niedeTj nachdem du ruhst. Wir wollen zusammen eine Stätte haben (LV.).

14 A. Ebman:

So schliefst das Gedicht ; die Seele hat sich in den Willen des Menschen gefugt, und dieser wird nun mit ihrer Hülfe den Weg ins Totenreich ge- funden haben, den er begehrte. Er ist also gestorben; wie es kommt, dafs er uns trotzdem selbst seinen Streit in der ersten Person berichtet ^ darüber enthält man sich am besten jeder Vermuthung. Denn wir stehen ja (wie es das Obige wohl zur Genüge gezeigt hat) hier einem Dichter gegenüber, der seiner Phantasie freies Spiel erlaubt; es ist daher nicht zu ermessen, wie er sich das weitere Schicksal seines Helden gedacht hatte.

Und ich glaube, dafs wir überhaupt immer dieses poetischen Charakters unseres Buches eingedenk sein müssen, wenn wir es richtig würdigen wollen und wenn es uns nicht irre leiten soll; wer seine Angaben allzu nüchtern und allzu wörtlich auffafste, der würde zu seltsamen Ergebnissen ge- langen*.

Vergegenwärtigen wir uns schliefslich noch einmal, was unser Gedicht enthält, wenn wir sein Beiwerk bei Seite lassen. Bis zum Gedanken des Selbstmordes hat den Unglücklichen die Verzweiflung getrieben, aber als er den letzten Schritt thun will, da sträubt sich »seine Seele» dagegen. Sie schaudert vor dem Flammentode zurück (sie »entflieht«) und will auch sonst nichts von dem Tode wissen oder zu ihm helfen; sie klammert sich an das Leben, das ja immer noch Freuden zum Geniefsen biete. Aber als der Unglückliche ihr noch einmal die Schrecken des Lebens vorführt, da verstummen ihre Einreden und sie hält ihn nicht mehr vom Tode zurück.

Was der Dichter uns schildert, ist also der furchtbare Widerstreit, der die Bi-ust jedes Verzweifelten erfüllt. Er ist entschlossen , in den Tod zu gehen, und doch im letzten Augenblicke klammert er sich wieder an das Leben, bis dann die Erinnerung an all das erlittene Elend und Un- recht ihn endlich doch dem Tode zutreibt.

^ Im Original steht ja auch in den Überschriften der Abschnitte stets die erste Per- son: ich öffnete meinen Mund oder was er zu mir sagte u. s. w. (II. VIII. IX. XIII. XX. LIV), was sich in der vorstehenden Übersicht des Inhalts nicht nachahmen liefs.

* Wir wollen also nicht etwa (um ein Beispiel anzuführen) aus unserem Buche schlielsen, dafs nach aegyptischer Vorstellung die Seele schon bei Leba^iten aus dem Men- schen habe entfliehen können; wer das aus ihm entnähme, der konnte ebenso gut auch aus dem Faust folgern , dafs Goethe die Existenz zweier Seelen in der Brust des Menschen an- genommen habe. Auch dem Gebrauche des Wortes ^5^ für die Seele kann ich keinen tieferen Grund beimessen; vergl. das zu II Bemerkte.

Gespräch eines Lebensmüden mit semer Seek. 15

Freilich tritt in unserem Gedichte die Tragik dieses inneren Streites wenig hervor. Der seltsame Gedanke, dafs die Seele ihrem Herrn den letzten Dienst erweisen soll, um ihm so den Tod zu erleichtem, hat sich in den Vordergrund gedrängt, und auch bei den Reden, die die beiden Streitenden föhren, kann man vielfach vergessen, um wie schreckliche Dinge es sich handelt; besonders die Worte der Seele scheinen mehr pointirt und geistreich als ernst zu sein.

Der Stoff ist also sehr anders behandelt, als es unserem heutigen Empfinden entspricht. Gewifs aber hat das Buch dem Empfinden des Publikums entsprochen, für das es einst vor 4000 Jaliren geschrieben wor- den ist, und in der That reiht es sich gut ein unter die anderen Erzeugnisse jener alten Zeit. Denn nicht tiefe Gedanken in schlichten Worten weist ims ja die Litteratur des mittleren Reiches auf, was sie kennzeichnet, sind gesuchte Gedanken in geistreicher Form.

Kommentar.

Der Papyrus ^P. 3024 hat eine Länge von 3,50 m und ist heute in 7 Tafeln zerlegt; die Höhe beträgt wie bei allen diesen Papyrus des m. R. 16 cm. Er ist aus 1 1 Blättern von meist 44 cm Länge zusammengeklebt \ deren jedes etwa 28 Zeilen enthält; da* die erste Klebung jetzt bei Zeile 14 liegt, so dürfte die Länge des verlorenen Anfangs entweder 14, oder 42, oder 70 u. s. w. Zeilen betragen.

Der Papyrus war schon einmal beschrieben und zwar von anderer Hand; der neue Schreiber hat den alten Text nur so weit abgewaschen, als er Baum für sein Buch nöthig hatte, und es sind uns daher 25 Zeilen von jenem übrig geblieben, die Geschichte des Hirten, der eine Göttin sah^.

Der neue Text ist von einer geübten Hand geschrieben , die besonders gegen das Ende auch kursive Schriftformen benutzt. An Schreibfehlern

' Neben fünf Blättern dieser gewöhnlichen Länge finden sich auch vier abnorme : das dritte von 58 cm (zwischen Z. 42 und 78), das siebente von 12 cm, das achte von 41cm. das neunte von 12 cm, das zehnte von 40 cm; das letzte hat wieder 44 cm. Der Papyrus war, wie das ofl vorkommt, liniirt, und zwar mit 6 horizontalen Linien von 2,5 2,8 cm Abstand. Doch hat schon der erste Schreiber dieselben als fiir senkrechte Zeilen unnütz meist fortgewaschen.

* Zwischen dem neuen Text und dem alten ist ein Zwischenraum von 24 cm; hinter dem alten noch ein leerer, abgewaschener Raum von 13cm.

16 A. Erman:

ist leider kein Mangel, und ich glaube noch etwa 30 Fehler in den 155 Zeilen nachweisen zu können, obgleich wir sie doch nur an den uns verständ- lichen Stellen zu erkennen vermögen \

Die Abschnitte des Textes sind nicht durch Rubren bezeichnet; da- gegen hat der Schreiber seine Schlufsformel so hervorgehoben.

Im Folgenden habe ich den Text der besseren Übersicht halber in Abschnitte zerlegt; ob ich dabei an den unverstandlichen Stellen immer das Richtige getroffen habe, stehe dahin. Dem aegyptischen Text habe ich Bemerkungen zur Lesung beigefügt, der Übersetzung Anmerkungen grammatischer Natur, wobei zumeist Verweise auf die Paragraphen meiner »Aegyptischen Grammatik« genügten.

Bei den lexikaliachen Erörterungen ist mir wieder zum Bewufstsein gekommen, wie traurig es mit unserer Kenntnifs des Wortschatzes aussieht; sobald wir einmal, wie in unserm Texte, aus den ausgetretenen Bahnen herausgehen, stofsen wir überall auf mangelhaft oder gar nicht bekannte Worte. Gerade in diesem Punkte dürfen wir aber von der Zeit eine Er- weiterung unserer Kenntnisse und damit auch ein besseres Verstandnife dieses Buches erwarten.

Gern hätte ich die Bearbeitung der Abschnitte I-XIX und LIV-LV nur auf die einigermafsen verständlichen Stellen beschränkt, denn es ist nicht eben erfreulich , immer wieder mühsam das Eine festzustellen , dafs fast nichts davon zu verstehen ist*. Aber da der inhaltlich so merkwürdige Text noch manche Bearbeiter finden dürfte, so schien es mir doch angebracht, för diese das lexikalische und grammatische Material zusammenzustellen: viel- leicht sind sie in seiner Verwerthung glücklicher als ich. Und auch der Hinweis auf die grammatischen Schwierigkeiten und auf die Schäden des Textes wird seinen Nutzen haben, denn auch ein ruhiger und geschulter Bearbeiter sieht ja bei einem aegyptischen Text nur zu leicht über solche Hindemisse hinweg.

* Die frei gelassene Stelle in XXXI deutet darauf, dafs der Schreiber sehr gedankenlos eine nicht gut lesbare Vorlage abschrieb.

Ich brauche wohl auch nicht zu betonen, dafs die Übersetzung derartiger Stellen durchaus nicht beansprucht, den richtigen Sinn zu geben; sie soll nur veranschaulichen, wie diese sich uns bei unseren heutigen Sprachkenntnissen etwa darstellen. Wo die Über- setzung nur zusammenhanglose oder widersinnige Worte ergiebt, liegt die Schuld gewifs häufiger an unseren mangelhaften Kenntnissen als an der Verderbnifs des Textes.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 17

L ^

Tll', . ,

, , tn r dd: j n nm^n nMn; dbiw^ n nm^n nSM.

I. Man könnte u.a. Il) ^ "^^^ lesen oder (I ^^ir>. Dahinter ein Zeichen,

das man fQr^ni (wie in 2ie]Ie 44) halten könnte. 2. Das c ^* j (Lange) in etwas selt-

samer Form, wie auch sonst in dieser Handschrift.

. , . ihr werdet sagen: und^ ihre Zunge .... nicht; Ersatz

und^ ihre Zunge .... nicht.

Es ist der Schlufs einer Rede der Seele, die sich an mehrere Per- sonen richtet, die Zeugen des Streites sein müssen (vergl. oben S. 8).

IJbfw ebenso geschrieben auch Bauer, Rs. 62. Auch nm^ mit dem- selben Determinativ findet sich ebenda (zweite Handschrift Z. 104), anschei- nend als etwas Böses.

E

ko topni rfi n ifyiwty wSbt ddtnf.

Ich öffnete^ meinen Mund zu meiner Seele und^ beantwortetCj was sie ge- sagt hatte*.

Dieselbe Formel am Anfang der Abschnitte XIII, XX. Das uop-rf »Mund öffnen« ist wie ein Verbum des Sagens mit n konstruirt; loSb mit Objekt »etwas beantworten« findet sich auch in der Bauerngeschichte (Z. 151).

^ Aegypt. Gramm. § 198. DafQr, dafs das n nicht zu fu gehört, spricht die Schreibung Q^ Kahun, Hymni, 7; Eb. 85,17. Das n von ns wird wohl nur ausgeschrieben, wenn

auch das /gesetzt ist ( ^ 19 Bauer, zweite Us. 91).

* Gramm. § 222.

* Gramm. §174.

* Gramm. § 291.

Phao8.'hMtor.Abh. 1896. IL 3

18 A. Erman:

Die Bezeichnung der Seele, die hier zum ersten Male vorkommt, bedarf einer eingehenderen Erörterung.

Es handelt sich zunächst darum, wie das Wort, das die Handschrift i^^ schreibt, zu lesen ist; man kann insbesondere zwischen wu^^^ 6/ und 0^^ i^w schwanken. Ich gestehe, dafs ich zeitweise an der von den HH. Lange undBorchardt gegebenen Lesung @^ i^w gezweifelt habe, da die Art, wie das ® hier im Hieratischen ausgedrückt ist, anstöfsig erschien. Indessen läfst sich zum Glück beweisen, dafs diese hieratische Gruppe wirk- lich die mittlere Reich -Form fär ^^^ darstellt; auf dem Grabstein C 14 des Louvre sind die ^^ 1 mit "^ "^^ 1 wiedergegeben , und der Grabstein

C 3 derselben Sammlung schreibt ftlr M^'^ »verklären« sogar R ^ . Man hat also damals aus dem ® und dem Vogel gleichsam ein zusammengesetztes Zeichen für i^w gebildet.

Des weiteren könnte man sich fragen, ob das w^, das dem Worte in unserem Text fast durchweg folgt, das Suffix i sg. andeuten soll oder ob es nur als Personendeterminativ steht. Die Frage wird durch die Stellen Z. 44. 47-49 gelöst, wo von einer »anderen Seele« die Rede ist und wo das ^ nicht gesetzt ist. Das w^ ist daher, wo es steht, nicht bedeutungsloses Deter- minativ und ®^^^ Dfiufs mit »meine Seele« übersetzt werden ^

Das andere Zeichen , das unserem Worte folgt , ^ ist das Determi- nativ fiir »sterben« und bezeichnet demnach die Seele als die eines Verstor- benen*. Das stimmt zu dem Gebrauche des Wortes iljw in der alten Toten- litteratur, wo es von der Seele des Verstorbenen gebraucht wird, die »im Himmel den ifj>w (Glanz) empfangen hat«. Es ist der selige Geist des Menschen, der in verklärter Gestalt als eine Art Gott unter den Göttern am Himmel lebt. Dem entspricht dann weiter, dafs {fyw von den spukenden Geistern Verstorbener gebraucht wird, wie ja auch noch im Koptischen i;e die unreinen Geister der Besessenen bezeichnet.

Wenn aber nun so der i^w der Geist eines Verstorbenen ist, wie

kann das zu unserem Texte passen, in dem doch der Eigenthümer dieser

Seele ohne Zweifel noch am Leben ist?

^ »Meine Seele« steht 4. 5. 7. 11. 17. 30. 39. 52. 55. 86; auch 148 wird so zu ver- bessern sein.

Auch Westcar 7,25 wird die Seele ^5ji^ j^j geschrieben.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 19

Nach dem was ich in der Einleitung (S. 1 4) über den allgemeinen Charakter unseres Buches bemerkt habe, kann ich diesen Widerspruch nur fiir einen scheinbaren halten. Wir Modernen behandeln in der Dichtung Worte, wie Seele, Geist, Herz, Sinn als gleichbedeutend, und ich sehe nicht ein, warum die Litteratur irgend einer Epoche darin anders verfahren sein soll. Gewifs mögen die alten religiösen Texte Aegyptens mit dem 6/, dem i^w, dem A:/ u. s. w. feste Vorstellungen verknüpft haben , aber dafs die Aegypter auch aufserhalb dieses besonderen Gebietes diese feinen Unter- schiede festgehalten hätten , wäre doch erst zu beweisen. Ich glaube viel- mehr — und ich stehe mit dieser Ansicht nicht allein , dafs die Vor- stellungen über diese und ähnliche Dinge nur in ihrer Theologie genauer ausgebildet gewesen sind; im Übrigen werden die Aegypter sich ebenso mit unklaren Vorstellungen und Ausdrücken für die Seele , ihr Leben und ihr Fortleben begnügt haben, wie andere Völker auch.

in.

iw nl uor ri m min^ n mdw ihwi Jj^n^i^ im grt wr r ^6^(?), iw mt wsf

{ . . .j im ifiwlj ^l}.^f nihrs /, nn ^ . m/ . . ./ m Mi m Snw nwj^j

nn fjpr m^f^ ndf hrw fcmt,

I. Auch in Z.15 ist das © ebenso kursiv wie hier gestaltet. 2. Die vorhandenen

Spuren widersprechen (lieser Ergänzung nicht. 3. Die Lücke ist schmal für den zu er-

wartenden Vogel. 4. Man möchte (I ^v )^ lesen , doch safse das m zu tief; die Reste

N /www n

fuhren eher auf (I ^ "• ^- 5- Nicht intw, 6. Die Ergänzung nach Z.15, sie

fallt genau die Lücken.

3*

20 A. Erman:

Dies ist heut größer ick, meine Seele redet nicht mit mir, es ist aber

gröfser ah lügen, e>s ist une ein Fauler meine Seele geht fort; sie stehe

für mich auf ihr ; m ... nicht . . . ihr . . in meinem

Leibe als und Strick; iWmi .... nicht durch sie entsteht; sie flieht am

Tage des Unglücks.

Wir haben zunächst drei mit hjo beginnende Sätze, deren einer das neutrische /i/^ zum Subjekt hat, während die beiden anderen unpersönlich sind*. Das Praedikat ist zweimal wr r, und da dieses das erste Mal doch mit »gröfser als« zu übersetzen sein wird, wird man es auch das zweite Mal so fassen müssen. Diese drei Sätze werfen wohl der Seele vor, dafs sie dem Menschen auf seine Rede nicht einmal antworte.

Von dem, was dann folgt', ist zunächst verständlich, dafs die Seele den Mann verlassen hat. Des weiteren beachte man das f y. Kc^ ^ ^1 ^i</ nt fyrs »sie stehe mir auf ihr«, eine Aufforderung an die Seele, die noch zweimal ähnlich wiederkehrt. Zunächst in V als i y. >^-=w^^ i

^i,^f m pf gi »sie stehe auf jener Seite« ; sodann in XII, wo es heifst, die

Seele solle ihm ein Bestatter werden, <^A D'^v ^ I w "mi

drptfij ^h^^tß Jj^r liH »der da opfert und der da steht auf der ^// am Tage des Begräbnisses«. Nimmt man dazu, dafs auch in X hervorgehoben wird, wie bei jemand, der in der Pyramide regelrecht begraben ist, f yx '^'^'^^ ^

F=? i^T ^ P^'^ ^^^^ ^^-'^ i^ ff^^f "ein Hinterbliebener (?) bei seinem Begraben gestanden hat«, so sieht man, dafs hier ein wesentlicher Punkt des Streites berührt wird. Der Mann, den alle Freunde und Brüder im Stich gelassen hatten (vergl. oben S. 6), hatte wohl seine Seele, die allein ihn noch nicht verlassen hatte, gebeten, ihm den letzten Liebesdienst zu erweisen, für ihn auf die ^'^ ^ (die ja etwa die Totenbahre ist, vergl. zu XII) zu treten, aber diese bricht ihm nun auch die Treue und entflicht .

Über min »heute« s. das zu XXIX Bemerkte.

In ^ fl J 0^ möchte man nach den von Brugsch (Wb. Suppl. s.v.)

gesammelten Beispielen nur einen gewählten Ausdruck far »Lüge« sehen.

* Westcar, Gramm. §96; Aegypt Gramm. §94.

* Gramm. §168; iw mi »es ist wie« ist auch sonst häufig; zu äo wr »es ist grofs« vergl. unten Z. 123 tvo iw -es ist leer- und Eb. 86,8 iw i^w -es ist nützlich«.

Für die beiden Sätze mit ^^^^^ sind nach Gramm. §366. 367. 369 drei Auffassungen möglich: -nicht wird es entstehen«, »indem es nicht entsteht« und -es giebt kein Entstehen«.

Gespräch eines Lebensmüden seiner Seek. 21

In Snw nwjjk ist uns nwjjk »Striek« (auch »binden« als Verbum) be- kannt, und vielleicht hat das gleich determinirte Sn/w eine ähnliche Bedeu- tung. Ein ganz gleich geschriebenes Wort kommt in der Amosisinschrift (LD. in, i2rf, 5) vor, wo der junge unverheirathete Mann auf einem y ^v ^

|| A ö v^ ^ ZU schlafen scheint. Vielleicht darf man auch an gm«

»Netz« denken, fiir das Brugsch nur eine Stelle aus Denderah (Q^ö) beigebracht hat.

Die Verbindung J}pr m^ kennen .wir aus Eb. 20, 17: »Krankheiten J^prt m^ entstanden durch Würmer«, aus LD. 11, 1226: »alle Frohnden Jr Ijfpr mH geschahen durch mich«, aus Louvre C i : Jvpri ^^. 'T^^ ^^^ »das durch mich Geschehene«, sowie aus Eb. 69, 17: »ich habe (diese Wirkung des Mittels) gesehen, iw Jypr mH wrt es ist oft durch mich ge- schehen « .

Da rwl im Sinn von »etwas entgehen« auch mit dem Objekt kon- struirt wird, so könnte man auch übersetzen »siQ entrinnt dem Tage des Unglücks«.

Der »Unglückstag« föhrt in der Unterweisung des Amenemhet den- selben Namen: »ein Mann hat keine Freunde ILJ ©Y'^^vv^I ^^ Ario n

<3> I N C^ I I I

khU am Tage des Unglücks« (Millingen i, 6). Und ebenso heifst es in einer späten Stelle, die nach Griffith's Vermuthung daraus abgeleitet ist, »ich fand keinen Freund '^'^^^ >^3 t^^ ^ hrw km am Tage des Unglücks« (Pianchi 73).

IV.

ciW. ex ><Ä^ L J

7ntn/ ifiwt Jj^r thtij n id^ni nf; hr St)H r mtj n it[t7\nf; hr $/^[/?] Jr J^ r imimti mntf.

I. Sic, dieselbe seltsame Schreibung auch Z. 70. 2. 3. Es ist wohl beidemal gi

ausgelassen. 4' lA ^°" Lange erkannt. 5. Man konnte gut lesen und ^ \

wie in 31. 32 erganzen. 6. Lange.

22 A. Erman:

Seht\ meine Seele vergeht sich gegen mich und ich höre nicht auf sie^ zieht mich zum Tode^ indem [iehj nicht zu ihm komine^ wirft (m$ehj auf das Feuer j um micJi zu verbrennen

Den Bau der Stelle kann man ohne Gewaltsamkeit nicht anders auf- fassen, als dafs die drei Infinitive mit l^r als Praedikate zu dem gemein- samen Subjekt i^yyt »meine Seele« gehören; sie geben an, was die Seele Unrechtes an dem Menschen gethan hat.

^ , das dem ersten dieser Infinitive beigefügt

ist, wird man zunächst den bekannten Ausdruck der Nebenhandlung (Gramm. §198) sehen; allenfalls könnte man auch erklären: »nachdem ich nicht auf sie gehört hatte« (Gramm. §197).

Der zweite Zusatz n itnf lautet in der ähnlichen Stelle, Zeile 19,

,^-fwö(j ^^ n iH nf und so wird auch hier zu lesen sein. Man hat

dann »indem^ ich nicht zu ihm komme« ; die ungeänderte Stelle ergäbe »indem er nicht gekommen war«.

|—| ^ y^ bedeutet gewöhnlich »überschreiten« (die Grenze oder einen

Befehl), doch kommt es, wenigstens im Neuaegyptischen , auch im Sinne von »jemanden schädigen« vor. So rühmt sich Ramses III., dals unter ihm

eine Frau gehen könne, wohin sie wolle: m^^'^ a r '^^^-^ wfew

^ f ^^ »andere thun ihr nichts unterwegs «^ und ebendahin gehört

es wohl auch, wenn das Wort im Abbott vom Erbrechen und Zerstören der Gräber gebraucht wird*. Danacli wird man th auch hier* aufzufassen haben.

Die Konstruktion ^/^ i^r »auf etwas hinwerfen« findet sich auch in XIV und Abbott 4, 3.

Dafs hn^m »töten« hier »verbrennen« bedeuten soll, ist nur durch das Determinativ angedeutet; das Wort findet sich ebenso auch Totb. ed.

^ Gramm. § 243.

* Gramm. § 283. 285. Ob die Negation in solchen Fällen c--iW oder zu lanten hat, weifs ich nicht.

» Harr. 1, 78,9.

* Abb. 3,2; 4,6 und besonders 6,2.

* Und eben so wohl in der Baiierngesciiichte, Rs. 25.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seek. 23

Nav. 17. 44, meist in Schreibungen wie -*-^|^|^(J , "^k^'' von dem Sonnenauge, das die Feinde des Osiris verbrennt. Die gleiche Art, durch ein in der Schrift zugefügtes Q den Sinn auf Verbrennung zu

beschranken, findet sich auch bei 00-^" Ol (Mar., Earn. ii, 9; Totb. 1. 1. als Variante) »[mit Verbrennen] bestrafen«.

T.

tknf(?) imt hrw i^kit, ^$</ m pf gS mi ir nijkpw; p) U pw prXj inf kuo rf.

I. So liest Lange die nur in Spuren erhaltenen Zeichen, doch ist der Raum etwas niedrig dafür. 2. Das h ist als Auslaut des n^i gesichert; in der darauf folgenden Ligatur

ist das v\ sicher, aber was davor steht läfst noch andere Deutungen zu : ^ ?

^? 5S ^ ? (g^ ^ ? Die angenommene Lesung D ^ ergiebt wenigstens ein mögliches Wort, doch kommt eine so kursive Form des D sonst in unserer Handschrifl nicht vor.

Sie nah$ mir am Tage des Unglücks j sie stehe auf jener^ Seite da, wu der .... ümt^^ das ist niimlich der mroMgdmdt, m bringe äeh zu ihm*.

Über den muthmafslichen Sinn der Stelle ist schon oben zu III ge- sprochen ; das Einzelne ist sehr fraglich.

Bei ''^ir:^ könnte man an das bei Br., Wb. Suppl. belegte seltene ^zip^

denken, das etwa »überschreiten« bedeuten mufs, aber wir brauchen wohl nicht so weit zu gehen. Denn unser tk ist wohl nur ein Schreib-

^ Die ungewohnte Determinirung hat die meisten Handschriften das Wort verkennen lassen , so dafs nur eine die übliche spatere Orthographie Z, ^^. ^v f Ä hergestellt hat.

Daher auch die weitere Entstellung zu n^^ljl Totb. ed Leps. 17, 37.

* Gramm. §89^; wie Kahun Med. 3, 25 zeigt, kommt diese ausnahmsweise Stellung des Demonstrativs auch aufserhalb der religiösen Texte bei besonderer Betonung vor.

* Nach Gramm. § 190 sollte man erwarten .

* Wohl nicht das hervorhebende r/ (Gramm. § 348. 349), das wohl vor dem I ^ stehen würde.

24 A. Ermam:

o

fehler ffir das bekannte Verbum ikrif das unten Z. 71 richtig ^ ge

schrieben ist. Sicher wäre diese Vermuthung, wenn wir der Lesung gewilis wären, denn tkn wird ja mit m konstruirt.

Das Wort ;^ ? 1^ v ^ ^ ' dessen Lesung freilich nicht sicher ist, ist nicht bekannt; wir kennen nur ein nllip, das »Töpfe machen« bedeutet. Unwillkürlich denkt man an ne^ne »klagen«, das gut passen würde und dessen alte Form noch unbekannt ist; wenn man dem demotischen (aJ^

trauen dürfte, so hätte freilich tiegne ein [1] gehabt und nicht ein 8, wie unser Wort, doch beweist das Demotische in dieser Frage nur wenig ^ Des weiteren bleibt die Auffassung des ^ zweifelhaft; ist es nur Personen- determinativ (wozu ja die EndAng w stimmen würde ^)? oder ist es Possessiv- suffix »mein nl^pw^?

Der Ausdruck pf pw »dies ist . . . «^ ist einmal (Totb. 154, 2 ed. Nav. = 154, 3 ed. Leps.) zur Einfiihrung einer erklärenden Glosse gebraucht: » Atum , dessen Leib nicht vergeht A^ '^ D %s '^ ^ M ^ ^"^ pf pw itt-ikf^ dies ist der Zerstörungslose«. Da nun in unserer Stelle dem p^ pw noch das ebenfalls erläuternde U beigefügt ist, so kommt man auf den Gedanken, ob p) U pw prr nicht etwa auch eine Erklärung von rifypw darstellt: »wie der nljkpw (das ist nämlich der Herausgehende) thut«. Gefördert wären wir freilich damit auch nicht, denn wir wissen nicht, ob prr hier in seiner ur- sprünglichen Bedeutung steht oder in irgend einer übertragenen*.

VI

* Wie demotische Texte h und ^ mit ein&nder vertauschen, zeigen Beispiele wie tojir (neben irÄr) «Hund«, nhm (fiir nhm) »erretten«, ^t (neben hi) »Gatte«, rkh (für rkfi) «brennen« u. a. m.

* Gramm. § 96, 3.

' Eigentlich mit Betonung des «dieser« (Gramm. § 335), die aber in den mir vor- liegenden Beispielen (z.B. Louvre C30; Math. Hdb. 57; Bauer 19) nicht mehr stark sein kann.

* Aus Pianchi 30 und Prisseio, 7 ergiebt sich z. B. mit Wahrscheinlichkeit eine Verwendung des Wortes für «zanken, poltern« o. a.

Gespräch eines Lebensmüden mt seiner Seele. 25

ijmij wl^f r sd^ ih Jjir ^n/ij ihm tot r mtj n itt nf; inim ni imnt. in iw fsSnt pwf phrt pw ^n^. iw jAr ^rin^ Ifnd rk t^r i&ftj wijf, miir.

I. ^ ziemlich sicher. a. Lange. 3. Das o ist ein Schreibfehler. 4. Lange.

Meine Seele\ uni»rUuM •$, einen Tratiemden im Leben zu . . . ./ ßAr» mich zum Todej indem ich nicht zu ihm komme^. Mache mir den Westen angenehm. Ist «r etwas Schlimmes^ f Eine umiau/Mt ist das Leben^. Die Bäume (pflegen zu) faUen^; schreite^ Ober die Sünde hinweg; der unglückliche.

Dafe >>®T^^"^^ '^b^ »unwissend« bedeutet, ist bekannt und gut belegt', und so könnte man auch hier übersetzen »mein unwissender (thö- richter) Geist«. Aber da das r sdf^ dann in der Luft hinge, ist mir wahr- scheinlicher, dals M?^/ hier ein Verbum ist, von dem r sd^ abhängt, und dafs tc^/ r sdl!^ parallel zu dem folgenden ihm wi steht, etwa so: »unterlasse es, den Leidenden im Leben zu ... . »führe mich zum Tode«. Auch das Seitenstück zu wlf^ ®^^*'''^^^ »nicht wissen« findet sich ähnlich gebraucht:

.^A-^ ® ^ '^''^ jT ^^ ^"^^ ^ b^nf stt nf mw »er unterliefs es nicht, ihm (seinem Vater) Wasser zu sprengen« (Paheri 9, 52)®.

Das Wort | ^^ ^^* nicht bekannt. Brugsch, Wb. Suppl., hat

neben _ ? | »öffnen« noch ein ? -^^^ , das Louvre C 26, 1 1 vorkommt

^ Gramm. § 342 Ende.

* Vergl. oben zu IV.

* Gramm. §357.

* Gramm. § 335.

* Gramm. § 337.

* Gramm. § 257.

^ Ein gutes Beispiel auch Bauer, Rs. 31: »es giebt keinen ® ^\ «^-A.^, den du nicht

wissend gemacht hättest, und keinen ^^T^^^^*> den du nicht erzogen hattest«.

* Vergl. auch ^i. ® ^V^ "* Ö^if •ohne ihn- Plane hi 13. 69.

PMlos.'histar.Äöh. 1896. IL * 4

26 A. Erman:

(sdfi rmn n li:i', , . »der den Ann des Hoch .... igen «), und ein

verdächtig aussehendes ^^ \s (I^ü^»-> Temp.-Inschr. 79,28). Wir

haben kein Recht, eines dieser Worte mit unserem sdi^ zu identificiren.

Für '^^nH "^^ ist die Bedeutung »Traurigkeit« gut belegt; als Verbum findet es sich E b. 1 06, 1 4, und P ri s s e 7 , 6 bietet ^^ H] % "^ » der Traurige « .

Für (j f-g ^ ^ ^^^^ steht Z. 49 pg (| ^ ^ n Mm ; ein Mm läfst sich über- haupt sonst nicht nachweisen; ein ihm^ mit "^^ determinirt, bedeutet etwas wie »traurig«^ und hat nichts mit unserem Worte zu thun. Ein ürD^^ a » das die Wörterbücher bieten, sieht verlockend aus, ist aber sehr imsicher, denn es beruht nur auf Totb. ed. Leps. 64,18, während Totb. ed. Nav. 64,35 dafür MfLl^^^T;^^ (var.: »o /Am««) hat. Dafs das Wort ihm in unseren Stellen etwas wie »hinbringen nach« bedeuten muis, ist nach dem Zusanmienhang wahrscheinlich; ein gewöhnliches Wort, wie »fiihren«, wird es aber nicht sein, dagegen spricht schon das Determinativ.

Das sndm ni imnt »mache mir den Westen angenehm« erfährt viel- leicht eine Erläuterung durch eine Stelle des Totenbüchs (ed. Nav. 64,10 = ed. Leps. 64,6): »mache mir deine Wege angenehm und mache mir deine Pfade weit, damit ich die Erde durchwandere«. Danach könnte man denken, dafs indm ni imrU bedeute: »mache mir den Westen gangbar«, d. h. bringe mich dorthin.

Bemerkenswerth ist, dafs der Westen hier und im Folgenden noch imnt heifst und noch nicht imntt »die westliche (Gegend)«.

Den Fragesatz »ist es etwas Schlimmes?« wird man zunächst auf den »Westen« beziehen; doch ist es auch möglich, dafs er auf »das Leben« geht, und dafs das folgende Sätzclien dazu gehört: »ist es (das Leben) etwas Schlimmes?« (»nein« oder »ja«) »das Leben ist eine phrt^.

Für das seltene Wort phrt hat Brugsch zwei Beispiele beigebracht. In dem einen heifst der Sonnengott ^^37 Y/t. i^^ HH^ »Herr der Zeit, gedeihend an phrtit* (Mar. Abyd. 1,6,36); in dem anderen heifst es, die lange Regierungszeit eines Königs werde sein ^^n T* . ^^GO

»die phriÜ der Ruhelosen (Sterne)«. Es ist also ein Wort für den ewigen Lauf der Gestirne; phr bedeutet ja auch »kreisen«. Aber was soll das hier in unserer Stelle?

^ Kahun, Vet. 44 steht es von der Gemütlisstimmung eines kranken Ochsen.

Gespräch eines Lehensmüdeti mit seiner Seek. 27

Völlig räthselhafl ist das Folgende, das, wie die Verbalform hjof idmf

zeigt, ein allgemeiner Satz ist. Dafe o I ohne weitere Determinirung

für einen Schreiber des m.R. »Bäume« heifst, wird durch Sinuhe 83 belegt, aber was sollen Leben und Bäume und Sünde zusammen?

Die Konstruktion von Iffid mit hr (statt des gewöhnlich folgenden Objekts) findet sich auch Bauer 2 und Kahun, Hymn 2,20 mit der Be- deutung »über etwas hinwegschreiten«.

Das ir/i/i mfir gehört vielleicht zum Folgenden; das vieldeutige wfh erlaubt die verschiedensten Vermuthungen. Im Ganzen müssen die letzten Sätze den Gedanken enthalten, dafe es im »Westen«, im Totenreiche, dem Unglücklichen, dem m/^r, besser gehe als im Leben, ein Gedanke, den dann der folgende Abschnitt näher ausfährt.

vn.

I 1 1^:^ I .

wd^ wt ßliwtij htp ntrWj Jisf QhMjd Tiri, sS m 7nf% sdm R<j mdwtj, sg wtfj Ifsf 'IS(Is hrt in ^t dsrt{?) .... i^iri wdn . . .^ ßnf ni ndm ^f ntr n m hti(?).

I. Lange. 2. In der von Grifflth (ÄZ. 1891, 54) nachgewiesenen Ligatur.

3. Lange. 4. Das hier stehende hieratische Zeichen ist mir so nicht bekannt. Der breite

Kopf erinnert an die Form von ^, wie sie z.B. Eb. 76, 8 vorkommt, doch hat unsere

Handschrift dafQr gleich nachher (Z. 29) die korrekte alte Form. Jedenfalls stellt unser Zeichen einen sitzenden Mann dar, der etwas in der erhobenen Hand hält. 5. Das

2^ichen über . dem Schiff konnte man an und fiir sich auch ^ lesen , ich vermuthe aber,

dafs das Ganze ein Sonnenschiff }-^-^ darstellen soll, vergl. das zu 144 Bemerkte. 6. So

Lange, doch kann ich \^ im alteren Hieratisch sonst nicht nachweisen. 7. Lange,

4*

28 A. Erman:

wohl richtig. 8. ^$\ und i ^ i noch ganz erhalten, von Ä ein Theil; die Lesung

ergiebt sich aus 149. 9. Man mochte wie in 24 | lesen, doch hat unser Schreiber

den glatten Strich nur für /vwvna.

Thoth richtet michj der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt mich, der wahrhaftige Schreiber; Re hörtj wenn ich rede, .... das sonnmschiff; 7Sds ver- theidigt mich im Hause j mein Unrecht .... und er trägt mir . . ange- nehm . . die QiM$r wtkrm dat Sehunsrig« rnrnnst LeSbeS ab.

Vier Götter sind genannt, die sich des Toten annehmen werden. Die beiden ersten sind die bekannten Mond- und Weisheitsgötter, die Schreiber und Richter der Götter; der dritte ist der Sonnengott, der himmlische Leiter der Welt. Der vierte ist eine obskure Gottheit, die uns aber schon , und zwar in derselben seltsamen Schreibung uU 5 c^ » aus Totenbuchtexten bekannt ist. Einmal (ed. Leps. 145, 39) wird auf einen Vorgang aus der Göttersage angespielt, bei dem l^ds »eintrat, um den Set zu ... ("t^^SA) in dem verborgenen Hause«; das andere Mal (ed. Nav. 17, 41) werden »Set (var. Thoth) und 'I^ds, der Herr des Westens,« als die »Herren der Wahrheit« bezeichnet; an der dritten Stelle (ed. Nav. 18, 24) heifst es, der grofse Gerichtshof auf. dem Wege der Toten bestehe aus Thoth, Osiris, Anubis und lids. Das deutet auf eine ge- rechte, richtende Gottheit, wie sie auch imsere Stelle verlangt.

Dem Thoth und dem Chons sind Beiworte beigefugt, die sich freilich nur erkennen lassen, weil sie auch sonst bekannt sind. Denn Thoth heifst Dam., Temp.-Inschr. XXII: ^ dl^tp ntrw »der die Götter be-

friedigt«, und Chons heifst ebenda 3^^^^^ ^^nb sS mf^t »Herr der (?)

Schreiber der Wahrheit«. Demnach ist an unserer Stelle sicher fl

I o G

zu verbessern und wohl auch das m vor mf^t zu streichen.

Man darf danach vermuthen, dafs auch den anderen beiden Göttern Beinamen zugefugt waren und dafs der des Re in den Worten sg wti steckt. Man würde auf »der das SonnenschiflF lenkt« oder Ähnliches rathen, doch ist ein Verbum, das diesem sg ähnlich sähe, nicht bekannt'^.

^ Das Determinativ ist hergenommen von ^ »Krug«.

* T-r f^W, 492 scheint -begiefsen« zu heifsen. An neuaegyptisch ü^ S ^^. ^ ^ An. I, 23, 2 wird man nicht denken.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 29

Was Thoth dem Toten erweisen soll, ist natürlich ein gerechtes Ge- richt. Freilich fugt man in der Bedeutung »richten« dem %^^ [Jq

wd^ sonst noch ein mdw »Wort« bei, doch findet es sich wohl auch nur mit dem Objekt der Person, so Totb. ed Leps. 123, i (= 139,1) wd^ rlli^iwi vom Thoth, der den Streit zwischen Horus und Set schlichtet.

Chons und Tidfe »wehren von ihm (die Widersacher) ab«; dals fySf c. c. §r dies bedeutet, läCst sich zum Glück durch eine Stelle des »Amduat« belegen (ed. Jequier p. ioi)\ Dagegen greift Re als höchster Gott nicht selbst zum Heile des Toten ein ; er erhört nur, wenn er ihn bittet. Auch am Schlufs des Buches (LIII) wird es als ein Glück der Toten bezeichnet, dafs sie im Sonnenschiffe dem Re so nahe sind und zu ihm beten, wann sie reden.

Alles Folgende ist wieder unklar, hauptsächlich der Lücken wegen. Das Wort Ocq]'^ Y\ "^ findet sich als 0^^.(1 >\ ^^ ^^ der Bauern- geschichte Z. 69 (ähnlich 100. 135), wo der Bauer den Fürsten anfleht: »thue Gerechtigkeit . . . vertreibe das ^y/r«; es wird also wohl das »Un- recht« bezeichnen, das ihm zugefögt ist. Auch Totb. 64, 23 kommt das Wort in einer unverständlichen Stelle vor. Ob das ^ hier das Suff, i sg. bezeichnet oder ob es einen Personennamen (»Sünder«) andeutet, ist nicht zu entscheiden.

Das Wort wdn »lasten« findet sich auch in LIV wieder. Zu über- setzen »er bringt mir Angenehmes« geht schwerlich an, denn dann würde es wohl ndmw heifsen*.

Liest man, wie es bei unserem Schreiber am nächsten liegt, | ' , SO hat man ^ n/r n »Gott straft den ..«, wobei der einzelne »Gott« etwas verdächtig ist. Liest man 1 ' , so erhält man »die Götter wehren ab den . .«. Bei St^-ht ist wieder die Auffassung des ^ fraglich; es

^ Es heifst hier: ^/ Cippt fir Rc «den Apophis vom Re abwehren«. Übrigens kommt auch ein anderes l^fhr vor, das im Namen des Thürhüters fftf-ir-cSi-iru) »Schwatzer- abwehrer« vorliegt (Totb. ed. Nav. 147,26; ed. Leps. 147,18).

* Das Determinativ '^ nach ^v<i^> zeigt an, dafs man dies ^v U<z> ^^u lesen

hat; also !/ ^^. ^ mfir u. s.w. Es kommt dies wohl von einem Worte her, das sowohl als

'^<=>^'g\^ (LD. II136Ä), ^^ (Sinuheso) als auch als (| <=>^ tr^ (Louvre

(' 26) nacliziiweisen ist.

' Gramm. §§ III, i; 131.

30 A. Erman:

kann Personendeterminativ sein (»der am Leib schwierige«) und Suff, i sg. (»der Schwierige meines Leibes«). Bei beiden Auffassungen bleibt das Pluralzeichen hinter W unbequem; wäre der Plural von äU beabsichtigt, so würde auch dessen Endung w ausgeschrieben sein, die Verwendung des I I I bei Singularen zur Verallgemeinerung des Determinativs ist aber, so- viel ich sehen kann, in den Handschriften dieser Zeit nur bei ^ , ^ u. ä. , d. h. bei Stoflfhamen imd Kollektiven , gebräuchlich.

vm.

ddtn ni ifywi: n ntk ü Sj iwk tr . . ^nlitj tr kmk mfiiik lyr , . . . mi rüh^h^,

I. Lange. 2. Die Lesung ^ wird durch die gleiche Konstruktion von Z. 78

gesichert.

Was meine Seele zu mir sagte: »Dw bist nicht mn$ Pvton; bist du denn . . Lebens- lande? vollendest du denn ... J du sorgst dich wegen . . . wie einer ^ der Schätze hat* .

Ebenso wie hier ist auch Z. 147 die Rede der Seele eingefiihrt; beide Mal sind es kürzere Reden, während der langen Rede Z. 55 die vollstän- dige Formel: »meine Seele öflFnete mir ihren Mund u. s. w.« vorhergeht. Das d(Ün ni ijiwi bedeutet »das, was meine Seele sagte«' und bildet wohl eigentlich mit der folgenden direkten Rede einen Nominalsatz : » was meine Seele sagte (war): du bist kein Mann«. Ein solcher Gebrauch von ddtn . . findet sich auch Der Rifeh VII, 34, wo in der Erzählung eines Tempel- baues die bewundernde Rede der Leute durch ^^ ^ | ^^ ^v ^1 »was

die Jugend sagt« eingeleitet wird. Einem ähnlichen Gebrauch verdankt auch kopt. nefiLd^q aus pi-iddf seine Entstehung.

Der erste Satz findet seine Erklärung durch zwei Stellen der Pyra- midentexte (P 582 und P3i5=M62 3), in denen die Konstruktion ^^^t^

IJA^^ljnX^ ^. . . h ^ Y^^ . . . bedeutet: »nicht X hört . . . (son-

^ Gramm. § 291.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 31

dern) Y hört«. Dieselbe Konstruktion^ ist es, wenn es Weste. 9, 5 heifst: ^ ^ H P A n^s. »ich werde es dir nicht bringen«, worauf

der König sogleich fragt: (|>vw^/w^v (1 jV ^ '"^ "^^^ ^^^^ ^^

mir (dann) bringen«, als habe Dedi bei seiner Rede die zweite Hälfte fort- gelassen. Demnach ist sicher auch an unserer Stelle zu übersetzen »du bist kein Mann«, mit Betonung des du; der dazu gehörige Gegensatz scheint nicht ausgesprochen zu sein.

Was aber damit gemeint ist, ist nicht zu errathen ; ^ ist das farblose Wort, das man meist mit »(männliche) Person« oder mit »jemand« wieder- geben kann.

Die Partikel ^ \ kennen wir aus Fragesätzen aller Art^, und so

möchte man auch hier zwei Fragesätze annehmen, die freilich sonst nicht als solche gekennzeichnet wären. Die Schwierigkeit ist nur, dafs tr das zweite Mal den Satz beginnen würde, während es doch sonst stets enkli- tisch dem ersten Worte folgt.

Das »Lebensland« ^n^ ist die bekannte Bezeichnung des Westens, in dem die Sonne versinkt und in dem die Toten wohnen.

Für r i^i^ j ist die Bedeutung »(eine Zeit oder eine Zahl) vollmachen«

gut belegt, und ebenso auch die substantivische Verwendung far »Zeit«'*.

Ebenso sicher steht die Bedeutung »sich sorgen« für mi, imd die Be- deutung »Haufen, d. h. Reichthum« für ^i^^*.

Da auch unten (XVI) die Seele dem Menschen räth, »die Sorge zu vergessen « , so darf man annehmen , dafs der Unglückliche nicht nur gegen- wärtige Leiden erduldete, sondern auch künflige befiirchtete. Vielleicht darf man weiter in den letzten Worten den Gedanken finden, dafs ein armer Mann, wie er, die Sorgen den Reichen überlassen solle, die far ihre Schätze furchten müssen.

* Das Pronomen absolntuin der jüngeren Form entspricht ja dem (1 wwva mit Substantiv.

' Gramm. §363. Vergl. auch P 298 ff. Totb. ed. Leps. 58, i ; 64, 20. 24; 113,3; 122, ij 125,47, sowie Bauer 114. 179. 200. Merkwürdig Math. Hdb. 67. Anscheinend nicht im Fragesatz Sinuhe 114.

* Ein gutes Beispiel Louvre C 26, 22 (poetisch).

* Vergl. z. B. Prisse 13, 6, wo der früher Arme reich geworden ist und nun cftf be- sitzt. Es ist das gewifs «».go »thesaurus« , eine Bildung wie cnoq, g^pooT u. s. w.; der Plur. «^gcoiop ist mir freilich unverständlich.

32

)

1

A. Ebman

K.

^i-Tk^i''ll^_v

T

:T^ifl»i

A-^"

*^ö^?^^^-i^-T^"fl^^<

ttJ>-

-^^g'f.i^^

^0 1

^ni'

:^^^N^7^.1--

5 J 1

ddt: n Smij iw r U^ rüym nti(?) iir tßÜj nn nwtkj l^nrt nb Jji^r dd: iißt r Utkj iw grtk mtj mk ^n^j St nfi nt J^ntj . ./rf{?) nt (b, dmi pvo imnt^ hntU ... *r(?).

I. Es wird ^^ oder zu lesen sein, wenn auch der kleine Strich weder dem ^

noch dem ^ gleicht. 2. Das (^ kann natürlich auch s sein. 3. Der Strich n?

oder ein A*? Auch das d hat eine seltsame Form. 4. Neben ll stand kein zweites

Zeichen, so dafs die Ergänzung i^ M B nicht wahrscheinlich ist. 5. T wahrscheinlich.

Ich sagte: ich gehe nicht fortj «wm Jene^ da auf Erden ist; .... wird,

wer da .... ohu ßir tseh tu »org^n. Jeder sagt: Ich werde dich fortführen,

dein [Lm] ist ja zu sterben, indem dein Name lebt. Jenes ist der Ort des sich Niederlassens, das . ... des Herzens, eine Stätte ist der Westen, . . . fahren

Da Z. 39 schon zu der Antwort des Mannes gehört, so kann diese

nur hier beginnen , wenn auch die Einleitung durch ein einfaches ^^ ^

auffaUig ist\

Der Ausdruck r W im Sinne von »auf Erden« findet sich auch P 164,

wo es heifst: »Pepi fliegt fort von den Menschen, ^'■^^l v'^^-^'^'^'^H V

P fl <cr> ^ er ist nicht auf Erden, er ist am Himmel«.

Im folgenden Sätzchen ist nhm das aktivische oder passivische Ver-

I wird zu verbessern sein.

Nim bedeutet bekanntlich sowohl »rauben« als »erretten«. Für das, in der älteren Sprache bisher nicht belegte, tßi hat schon Chabas (voyage

^ Es ist gebraucht, wie man sonst ^cif verwendet, vergl. Gramm. § 175.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 33

p. 141) Stellen gesammelt; wiederholt steht es vom »Schlagen« des un- ruhigen Herzens, in anderen Beispielen bleibt es unverstandlich. Nach dem Determinativ mag es etwa »hüpfen« bedeuten \

Ein ebenfalls mit ^ determinirtes Verbum nw kenne ich aus P risse 7, 1 1 wo nwf i^k etwa bedeutet: »er (dein Sohn) besorgt deine Sachen«^;

es wird das dasselbe Wort sein, das d*Orb, 8, 3 zweimal als ^^^ ^

^ ^ ^ mit anscheinend gleicher Bedeutung vorkommt. Ob unser mjotk

der Infinitiv ist (dich besorgen), die substantivirte Form (indem du be- sorgst) oder das Passiv (du wirst besorgt), ist nicht zu ersehen *; der Ge- brauch von *'^^* würde zu der ersteren Auffassung: »ohne dich zu besor- gen« passen.

Das Substantiv fynrt kommt als a/Su ä ^ ^ j^nr auch in der Bauem-

geschichte 121 vor, wo es vielleicht parallel zu "^äcsj^^k-c^ »der Be-

sitzlose« steht; ebenda 122 scheint es ® ÜÄfflJ ^n? geschrieben zu sein. Mit einem der anderen Worte fynr darf man es wohl nicht identificiren, da das Determinativ ^ zu keinem derselben pafst.

Das unverständliche ® ^ ist wohl nicht in "^ ^ ^^3^ »dein An-

theil« zu verbessern, sondern grt ist die bekannte Partikel^ und hinter ihr hat der Schreiber das Substantiv ausgelassen, zu dem das Suffix ^z::* gehört. Also etwa »dein [Los] ist ja zu sterben«.

Das oft besprochene Wort ® 1^ wird von Vögeln und Insekten

gebraucht, die sich aus der Luft auf etwas »niederlassen« •; es steht daher

auch von der vogelgestaltigen Seele ^v , die auf dem Baume am Grabe

* Im Tellamarnahymnus (p. 39 ed. Breasted) steht es vom Springen der Fische, falls die Lesung richtig ist.

* Aufserdem in einer mir unverständlichen Stelle Brugsch, Thesaur. S. 1201. Das

Determinativ ist von (g^ nwt »Faden« (Benihasan II, 13) hergenommen.

* Gramm. §§ 266. 280; 285. 286; 171.

* Gramm. § 366. ' Gramm. § 321.

* Besonders deutlich W 477, wo der in einen Käfer verwandelte Tote ^^^^ v^h^c*^ ^^. llJ V^ *®^®^' "^®d®r^*^st auf einen leeren Thron«, der im Sonnenschiff steht.

Philos.'hktar. Äbh. t896. IL 5

34 A. Erman:

sitzt\ Und so steht es auch gleich nachher in XII, sowie unten in LV; an der letzteren Stelle heifst es etwa: wenn der Leib bestattet ist, so soll sich die Seele bei ihm »niederlassen«; sie sollen »zusammen eine Statte

cz^iaQll ^ machen«. Damit erklärt sich auch unsere Stelle: »der Westen

ist die Stätte c^i^ivll . «, in der Leib und Seele zusammen hausen sollen,

»der Ort«, wo sich die Seele »niederläfst«, die »Lieblingsstätte (?)« oder

wie sonst das verderbte "^ _ Y herzustellen ist.

Ich habe c^ü(|^ allgemein mit »Stätte« wiedergegeben, während

es sonst stets die »Stadt« bezeichnet. Aber es mufs in der That auch eine allgemeinere Bedeutung haben, denn im Grabe des Paheri von el KaV recitirt der Priester beim Begräbnifs, während ein Boot mit dem Bilde des Toten

(?in em^ Kapelle) gezogen wird TZ!^E^?MQ~^flT^I^ J ^ M AwvNA '^^ "^y F==;i ; ich kann das nicht ganz übersetzen, aber es

heifst doch gewifs, dafs für die Mumie »eine Stätte, ein Wohnort o. ä. gemacht ist« im Heiligthum des Anubis. Auch Bauer loi kommt irt dmi vor, doch ist die Stelle mir unverständlich.

Bei dem weiter noch erhaltenen Worte hnt »fahren« könnte man u. a. an die Überfahrt bei dem Begräbnifs denken imd könnte demnach das folgende i^ zu iri ergänzen.

Ich möchte natürlich unter allem Vorbehalt für den Abschnitt folgende Auflfassung vorschlagen. In VII hat der Mensch seiner Seele geschildert, wie gut es der Tote im Westen hat, und darauf könnte sie ihn in VIII. gefragt haben, ob er denn nicht auch allein, auch ohne sie dorthin gehen könne. Dagegen sträubt er sich nun: »ich gehe nicht fort, wenn das da^ (d. h. die ungehorsame Seele) auf der Erde bleibt«. Der ist übel daran, der aus der Welt läuft, ohne sich imi dich zu bekümmern. Jeder .... sagt zu seiner Seele: »ich werde dich mit fortnehmen, du mu&t sterben und dir an dem Nachruhm genug sein lassen. Der Westen ist der rechte Wohnort für dich«. Aber noch einmal, es ist ebenso gut möglich, dafs ganz anderes in der Stelle steckt.

* Louvre C 55.

' Taf. 5 der Ausgabe des Egypt exploration ftind.

* Nft wäre hier verächtlich gebraucht, wie es so oft ist; filr den letzten Satz pafst diese Auflfassung freilich nicht.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 35

ir idmni if^wt, n j twt tbf fyn^ij iwf r 7n^r{?); rdä phf imnt mi

ntt m mrfj ^T),^n hfi-U lyr Ipr&f.

I. Man konnte wohl auch (J^ lesen. 2. Unter .^jl^ stand noch ein schmales Zeichen, vielleicht /ww. 3. Lange ^^^-^'^p^D^^ » ^^^ möglich ist, wennschon

das D nicht ganz die richtige Form hat. Für o kann man auch <z>, für ^Ks. auch

lesen.

Wenn meine Seele auf mkJi hörtj so wird nicht Wer sein Herz

mit mir . . . ., wird glücklich sein; icJi lasse ihn den Westen erreichen j so wie einenj der in semer Pyramide istj und Ober dessen Sarge ein Bbuvhtubmtr gestan- den hat\

Für das Verbum ft/?/ sind die Bedeutungen : i. »versammeln«, 2. »ähnlich sein« gut belegt; was es aber vom Herzen gebraucht heifst, ist nicht bekannt.

Für ^v '^Ki^ hat Goodwin (ÄZ. 1876, 103) eine Bedeutung

wie »glücklich« nachgewiesen; das Wort könnte wohl ein Derivat von rtod »wachsen« sein (mrwd?) und »gedeihend« bedeuten. '- Zu iwf r »er wird etwas sein« vergl. Gramm. §253.

Der Ausdruck ^ri-tf »einer, der auf der Erde ist«, ist sonst nicht be- kannt; da es sich hier und in XV augenscheinlich um eine Person handelt, die dem Toten die letzte Ehre erweist, so ist die vorgeschlagene Bedeutung wahrscheinlich.

Dafs man in Icrs hier | P @ den Sarg zu sehen hat und nicht

das Verbum, wird durch den Vergleich von Z. 53 wahrscheinlich; hier wie dort ist die Stellung des Bestattenden durch ^1^^ lyr »stehen über . . « bezeichnet.

' Gramm. § 396.

36 A. Ebman:

Wenn ich recht verstehe , verlangt der Mensch , seine Seele möge ihm nur vertrauen ; auch wenn er nicht glänzend bestattet werde, so werde er ihr doch einen guten Eintritt in den Westen verschaflFen. Der folgende Abschnitt giebt dann wohl an , auf welche Weise er dies erreichen will.

XL

iwi r irt niii . . . hitk, sddmk kii ^tD[nti?] m nnw; iwl r irt niii, i^ im/ ^aw, sddmk M idw nt\{\ Uw; horit rnw ^r bfbit, isH iw . ., sd[d\mk kit i^w ntt ^^.

I. Das hieratisclie Zeichen ist mir nicht bekannt. Man kunnte an l^ , an^, '^'' \|/

denken, doch stimmt es zu keinem genau. Ob es etwa T (das sp&tere ^| ist? In nM

könnte das ^KS. auch wohl ^v sein, in 45 ist es undeutlich. 2. Es fehlt wohl

nichts. 3. So wird 1''^ zu lesen sein, vei^l. die &hnliche AbkQrzung von ^^-i :

\^ Sinuhe 22; in Z. 72 hat unser Text die gewöhnliche Form. 4. ^ hinter nt

scheint ausgewischt. 5. t=^ kann natürlich auch <:::> sein. 6. K sicher, (I

wahrscheinlich, unter dem runden Zeichen noch ein verwischtes 1 1 1 o. ä. 7. Sic.

Ich werde ein ... . wtnim . . . deinem uiehum; du eine andere Seele,

als müde. Ich werde ein w»rdm, möge er nicht frieren, du eine

andere Seele, weither heiß ist. Ich trinke Wasser aus dem sinm», ich vub* . . . , du eine andere Seele, welche Hunger hat.

Wenn das Zeichen hinter niit sicher ein i^ wäre, so dürften wir

an das Wort A*^ wö, A'fc. /^ ^^w? denken; was ein »Steinbock« hier sollte, wäre freilich schwer zu ersehen. Sonst giebt es nur noch ein ahn-

Gespräch eines Lebefismüden mit seiner Seele.

37

liches Wort (1 '^ Ä den »Schnupfen«. Anstatt »ich werde ein n/// werden«,

kann man eben so gut auch übersetzen »ich werde ein ntH machen«.

Auch das andere für das Verständnifs der Stelle wesentliche Wort sddm ist neu und unbekannt; auf die Existenz eines solchen Verbalstammes

deuteten schon das Wort ^^^vo"^ »Haufen« (?als Mafe) und der Stadt- name ^^^^ (Brugsch, Dict. Geogr. p. icx)6)\

Bei hit denkt man hier zunächst an den .»Leichnam« (d. h. also an den zu der Seele gehörigen Körper) ; doch hat das Wort auch , wo es so wie hier determinirt ist, eine allgemeinere Bedeutung, vergl. Eb. 8, 13, wo es Unrath im Leibe des Menschen bezeichnet.

Die genaue Bedeutung von JjkSw ergiebt sich aus Stellen wie Bauer 244, wo der klare Himmel »alle 8 00%^ 1^3 W wie Feuer erwärmt« und

LouvreCi wo der Im ^^U ®^^^^ »warmen Zimmers« bedarf.

Aus der bibit oder, wie man vollständiger sagt, der U wSääjÖ ^^^^^ ^ -efl /www 1 <=:>

jKakÄÄÄÄX »der hbt des Stromes« wünschen die Toten auch sonst zu trin- ken*; was die bibH eigentlich ist, weifs ich nicht*.

Wir haben offenbar drei parallele Sätze von gleichem Bau

M r irt tdH

ich werde ein täii werden

M r kt fM

ich werde ein n^i werden

iwrt mw ir bfbft

ich trinke Wasser aus dem

.... ^tk

. . . dein Leichnam

^ im/ fisw

möge er nicht frieren

isü.... ich ....

addmk kU tfyx> m nnw du . . . eine andere Seele als müde

sddmk ktt ^u> fUt thß du ... eine andere Seele, welche heifs ist

«ddmk kH ^u> tut ^kr du .... eine andere Seele, welche hungert.

Nach dem, was vorhergeht, zu urtheilen, müssen diese Sätze ausfuhren, wie die versprochene gute Existenz der Seele sein wird ; ich vermuthe dem-

* Totb. ed. Nav. 64, 15 kommt auch ein ^( ^^ vor, worin aber vielleicht ^rf »sprechen« steckt

* Z. B. Berlin 2074 ; die Formel stammt weder aus den Totenbuchtexten noch aus den Pyramidentexten. ;Sitrr^ ^r heifst auch sonst »trinken aus«, vergl. Paheri 9,4.

' Die übliche Ul)ersetzung »Strudel« beruht wohl auf der unbewiesenen Zusammen- stellung mit dem Verbum ^ee&e«

38 A. Erman:

nach, dafs ihr Schlufs bedeutet: du wirst herabsehen auf andere Seelen, die müde, heiüs und hungrig sind, so gut ^virst du es haben. In dem An- fang dieser Sätze müJGste dann stehen, dafs die Seele munter, kühl und ge- sättigt sein wird; bei dem dritten Satze ist dies in der That der Fall, ob auch «ich werde ein niH^ diese Gedanken ausdrücken kann, wird nur sagen können, wer die Bedeutung dieses Wortes ermittelt.

Von dem mittleren Theil ist nur das »möge er nicht fideren«* ver- ständlich; das könnte heifsen, dafs die Seele es auch nicht zu kalt haben wird.

xn.

ir Mmk wi r mt m pi (ct^ nn ^dfnk{?) fyntk hrs m imnt; wih(?) ibk^ i^wi snh r Ijpr . . n^ wtj drptfij ^T^^tß ftr l^it hrw Iprk, kiUf lyakM nt hrt-ntr.

I. Die Lesung ziemlich sicher, kirn ist wohlaus ihm (Z. 19) verschrieben. 2. Die

Reste des Zeichens führen eher auf ^ als auf | . 3. Ergänzung durch die Ligatur gefor- dert. 4. Von ^^. noch Spuren. 5. Das zweite ^ klein , vielleicht hineinkorrigirt.

6. Das in einem Zug mit dem M. Dann, durch die wechselnde Farbe der Tinte

gekennzeichnet, ein neues seltsames Zeichen; man könnte an a denken (i»f), doch hat dies Z.74 die korrekte Form; eben so wenig pafst D (pnc). Das o^ ist ungewöhnlich grofs.

7. So zu lesen und nicht ^-J, da die Handschrift statt ^ ^ noch n schreibt. Auch 0 D ist ausgeschlossen, da dies in Z.54 anders gestaltet ist. 8. Lange, gewifs richtig;

eine ähnliche Gestalt hat U auch Sinuhe 191. 9. Das o^ ist mit dem | zusammengeflossen.

Wenn du mich in dieser^ Weise zum Tode phrn, so wirst^ du nicht . . . .^ da/*^ du dich darauf im Westen niederläfst Sei w /rmmdudkj meine Seele und Bruder,

* Gramm. §§182. 376.

* Gramm. § 90.

* Zu einer futurischen Übersetzung pafst auch die Form der Negation, vergl. Gramm. § 366.

^ Gramm. § 284.

Gespräch eines Lebensmüden seiner Seele. 39

fnein BMtmutr zu werdenj der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird am Tage des Begräbnisses , damit er mir das Bett des Friedhofes

Über Mm oder ihm ist schon zu VI gesprochen worden.

Dem lyntk geht ein Verbum auf m vorher, das ohne Determinativ geschrieben werden kann; es pafst dies sowohl auf whm » wiederholen «^ als auf idm »hören«. Die letztere Lesung, die palaeographisch wohl näher liegt, erg&be etwa »du wirst nicht hören, dafe du dich niederl&fet«, die erstere: »du wirst dich nicht aufs Neue niederlassen«. Und worauf be- zieht sich das ^ u Jjiri »auf ihr, darauf«? etwa wie das in ^^^ ni JjLri in m auf die *// »die Bahre«?

Dals wijji, ib zu lesen ist, ist klar, und ebenso, daüs diese Redensart hier optativisch steht und daß; r fypr von ihr abhängt ^ Aber die genaue Bedeutung von wib (b ist nach meinem Gefühl noch nicht festgestellt, wenn ich auch glaube, dafs Brugsch's Übertragung »mildthätig« der Wahrheit nahe kommt.

Das Wort-, das auf Ijpr folgt, muJGs den Bestattenden bezeichnen, ist aber augenscheinlich verderbt. Auf die richtige Spur fiihrt sein Schluls X,

der gewils die alte Bezeichnung der Totenpriester X (so allein z. B. LD. U, 4) ist; demnach werden die davorstehenden Zeichen aus dem ^^a verderbt sein, das gewöhnlich davor steht. Man gebraucht diesen Ausdruck ebenso wie hier auch mit PossessivsufSfixen, vergl. T 169 = M 178 ^=a. ^ J^ »dein Bestatter«.

Drp »opfern« ist gut belegt; über ^$^ hr »stehen bei« vergl. das zu X Bemerkte.

Daiä das i,H eine Stätte bei den Bestattungsceremonien ist, zeigt zu- nächst ein alter Priestertitel in Siut (1,331): ^ P^^^^ 1''''^ J^^jl ?

Geheimnife des Osiris an seiner Stätte, der grofsen hit^ die ihren Herrn, den üennofre, besitzt(?)«. Ebenfalls mit Bezug auf das Begräbnifs steht es in den von Brugsch (Wb. Suppl. S. 780) angefiihrten Stellen Leiden I, 344, 2, 7; 7, 8. Genauer ergiebt sich seine Bedeutung aus dem bei Brugsch, Wb. S. 234 citirten späten Sarge, auf dem es '^^^^'J^ geschrieben ist

^ Über die Stellung der Anrede »inein Geist mein Bruder« vergl. Gramm. § 342.

40 A. Erman:

und ohne Zweifel von der Bahre gebraucht wird , auf der die Mumie für die Totenklage und andere Ceremonien aufgestellt ist. Indeis ist vielleicht die Bedeutung eigentlich doch eine etwas allgemeinere \

Für hrw Jfri wird hrw n hri zu lesen sein, denn Infinitive werden mit hrw im Genetiv mit n verbunden'.

DaCs das i)Uf i,nMt etwa »er bereite mir das Bett« bedeutet, ist klar,

aber ein mit t\ determinirtes ii findet sich nur einmal (Louvre C 174)', augenscheinlich mit ganz anderer Bedeutung.

xm.

iw wpn rd ijwi rif, wihf ddint.

Meine Seele öffnete ihren Mund zu mir und beantwortetej was ich gesagt Iiatte.

xnr.

ir sfyik Jf^rij i,it-{b pw; int-rmüt pw mÜnd s; Sdt s pw m prfj ^i^ fyr i^it; nn pmk r hrwj mtk K (?).

z. Reste zweier schmaler Zeichen , das untere etwa ■■ fl (oder 1 l i); das obere vier- eckig, vielleicht für j^^. 2. Das ^gs. durch einen zufälligen Strich unklar.

* Sehr allgemein giebt der demotische Übersetzer der Rhindpapyrus das ^\B^ ^KS. (1 (1

A^Nsi^ ^ A^ÄAAA ^"^ »das Ä. der thebanischen Nekropole« mit »die Halle (wsM) der

Nekropole« wieder. Vergl. Brugsch, H. Rhind's zwei bilingue Papyri 5, 3; ähnlich ib. 15» 9.

* So hrw n mrU »Tag des Sterbens« (Sinuhe 310; Siut I, 267; d'Orb. 19, 7), kno n st tki •Tag des Lichtanzündens« (Siut I, 279) u. s. w.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 41

Wenn du des Begrabem gedenkst^ das ist Trauer j das ist toas Thronen hringt\ wm den Menschen betrübt macht, das ist was den Menschen aus seinem Harne fortmmmt^ und auf die Höhe wirft. Nicht gehst du nach oben, dafs du die Sonne sehest.

Der Abschnitt bietet ausnahmsweise keine lexikalischen Schwierig- keiten. Dafs i^f nicht nur »sich erinnern« (an etwas früher Geschehenes) bedeutet, sondern schlechtweg »an etwas denken«, ist vielfach zu belegen. So »denkt« jemand schon bei seinen Lebzeiten an seinen Tod (Siut I, 267), der Zerstreute »denkt an etwas Anderes« (Ebers 102, 16), der König »denkt« an die fernen Goldländer (Kuban 8), und als der arme Bauer auf den Fürsten Meruitensi hofft, wirft ihm sein Peiniger vor: ich bin es, der mit dir redet, und an den Meruitensi »denkst du« (Bauer 21).

Für ^it »Traurigkeit« und ind »traurig« genügt es, auf die von Brugsch beigebrachten Belege zu verweisen; Sd »fortnehmen«* und ^f^ »hinwerfen«' sind gewöhnlich, ^ii »Höhe« ist uns meist in späteren Schreibungen wie

'^ K^S^''^ bekannt; dieselbe Schreibung, die wir hier haben, findet sich auch Totb. ed. Nav. 71, 15 (Pb).

Der Satz enthält eine merkwürdige Ellipse; er müfste vollständig lauten : » wenn du des Begrabens gedenkst (so gedenkst du an nichts Gutes), es ist etwas Trauriges« u. s. w.

Den Sätzchen int pw »das ist das Bringen« und Sdt pw »das ist das Fortnehmen« folgt je ein sie ausführender Zusatz ohne pw. Der zweite ^y^ $r ^// wird einen Infinitiv enthalten, dessen Objekt »ihn« als selbst- verständlich übergangen ist^: »das ist das Fortnehmen und das (ihn) auf die Höhe werfen « . Auch den ersteren m Mnd s möchte man ähnlich fassen : »das ist das Thränenbringen und das den Menschen Betrüben«, aber dem widerspricht das vor Hnd stehende m. Sieht man in diesem m die Prae- position, so erhält man: »es ist das Thränenbringen, wenn es (oder da- durch dafs es) den Menschen betrübt macht«, d. h. es macht traurig, wenn es traurig macht ein Widersinn. Ist daher der Text in Ordnung, so

^ Eigentlich Infinitive: das ist Thränen bringen; das ist fortnehmen und werfen.

' Für id m »fortnehmen aus« vergl. Eb. 23, 20.

' Eine gute Parallelstelle ist Abb. 4,3, wo die aus den Särgen gerissenen Mumien

I w^ A ^^^ »auf den Boden geworfen« sind.

Gramm. §354. niilo8.-hütar. Abh. 1896. IL 6

42 A. Ekman:

wird man münd als ein Wort zu fassen haben, als eine Substantivbildung mit dem Praefix m: mÜnd »der Betrüber«; freilieh wäre diese Schreibung des Praefixes sehr alterthümlich.

Der letzte Satz enthält kleine Anstöfse. Die n-Form ist wegen der nachdrücklichen Versicherung gebraucht S aber soviel ich weifs, mufs in solchem Fall die einfache Negation -.-n-,, stehen; die gleiche Absonderlich- keit auch unten. Ebenso ist mir das Pluraldeterminativ hinter K verdächtig.

Der Sinn der Stelle ist: das Begräbnife, zu dem ich dir verhelfen soll, ist wirklich nichts, was du dir wünschen solltest. Es ist traurig, wenn der Mensch statt seines Hauses ein Grab auf dem Berge bewohnen muls^ imd die Sonne nie mehr sehen darf. Die Seele hat also sehr ketzerische Ansichten über das Begraben; im Folgenden führt sie weiter aus, dafs auch das beste Grab dem Toten nichts nützt.

IT.

AAAAAA AAAAAA

isdw m inr n mH, lywi . . . m mr^ nfrw m kH \{\n nfrt, f^pr Slf^dw m ntrWj ^biw iri wSw mi nnw mt lyr mriitj n giw fLfi-tij iffn nwü pifi, .... m mül irij mdw nin rmw spt n mw.

I. Das Determinaüy von i^dto gleicht genau der hieratischen Form des ^ (vergl. z.B. £b. 107, 10); das von Jedu> hat nur einen Arm. Indessen stehen beide gewifs ungenau för andere Zeichen, das zweite für | ^. 2. Lange. 3. An /vvwva darf man wohl nicht

* Gramm. § 196.

* Mehr soll wohl der verächtliche Ausdruck >auf die Höhe werfen« nicht besagen.

Oespräck eines Lebensmüden mit seiner Seele. 43

denken. Ob etWR \\\ gemeint ist? 4. Statt lies, mit Streichung eines kleinen

Striches, 5. Lange, das m ist dem Schreiber mifsglflckt. 6. Es ist gewifs 7

gemeint, wie auch Lange annimmt, doch steht das Zeichen y* 7* ^1^ ^^^ wohl nicht

wvvvv lesen.

Die da hauen am rothem Granit j die das .... ah Pyramide mauern,

die in dieser schönen Arbeit schönen , die als Götter , ihre Opfersteine

sind leer^ wie (die)^ der Müden , die auf dem Damme sterben, ohne einen BbutriMbmm, nachdcm^ das Wasser sein Ende fortgenominen hat und die Ghak des- gleichen, zu denen die Fische des Ufers reden.

Die interessante Stelle ist leider besonders verderbt. Dem fxho M^^jra*^ v^i (denn so ist natürlich zu lesen) mülste ein pluralisches hwiw entsprechen, es steht aber nur Atri, und was darauf folgt, ist gewife auch die Entstellung eines bekannten Wortes. Ebenso rathlos stehe ich dem lipr ikdw m ntrw gegenüber; da es dem nfrw m kit in nfrt entsprechen wird, räth man, dafe sie sich Bauten »geschaffen« haben wie für »Grötter«, aber wenn man sich an den vorliegenden Text hält, so spricht er nicht von Bauten, sondern von irgend welchen Personen.

Anstatt °J^5t^'^^i' »Scepter« ist ohne Zweifel ^ '^J^Jt^'^

v^ö »Opfersteine« zu lesen; ^bfw irt »die Opfersteine davon« steht

natürlich fiir ^fc/türf» »ihre Opfersteine«.

^ bedeutet Eb. 67, 3 das »Ausgehen« der Haare; es wird weiter von zerstörten Stellen von Inschriften oder Handschriften gebraucht und im Koptischen ist itoTC^ der Ausdruck für »ohne«- geworden.

Für n giw »ohne«, das auch in XLIV gebraucht ist, genügt es, auf Brugsch, Wb. Suppl. S. 1287 und 1058 zu verweisen; über i^r^-// vergl. das zu X Bemerkte.

AA^AnA ^^ N N AAAAnA

qVä\(|(|/vwvva ist ein allgemeines poetisches Wort, etwa wie unser

»Jluth« ; dafs das ihm parallele Wort m^ etwas wie »Gluth« oder »Dürre« bezeichnet, lälst sich ja aus seiner Schreibung* vermuthen, doch weifs ich nicht, wie diese Abkürzung hier zu lesen ist.

^ Gramm. § 244; toiio ist 3 pl. des Pseudoparticip , § 212.

* §35'.

* §197-

* Das J^ deutet auf eine göttlich gedachte Gluth.

44 A. Bbman:

Die Genetivkette rmw ipt n mw »Fische des Wasserrandes« ist etwas verdächtig; lies rmw ^? oder rmw ^?

Der Schlafe der Stelle von "-'■^ *^ an läfst sich nicht wohl anders

übersetzen und ergiebt ja auch so einen Sinn: die Leiche liegt am Ufer, halb im Wasser und halb im Trockenen; Fluth und Hitze haben sich in sie getheilt und sich jede «ihr Ende« davon genommen. Die Fische aber kommen und nagen an ihr und stofsen mit ihren Köpfen an sie, als wollten sie mit ihr sprechen.

Der Gedanke, dafs auch der Besitz des herrlichsten Grabes nur ein eingebildeter Gewinn sei, da es doch bald genug vernachlftssigt werde, pafst scheinbar wenig zu den aegyptischen Anschauungen. Aber der ver- nachlässigten Gräber, auf deren Opfersteine niemand mehr Speisen legte, die verfallen \md beraubt waren, waren ja zu allen Zeiten mehr als der gepflegten; der sündhafte Gedanke, dafs eigentlich wenig darauf ankonune, wie man begraben werde, mufste daher jedem Verständigen nahe liegen.

xn

^..jw flSy

idm rk n(, mk nfr sdm n rmij Sm& hrw nfr, im§ mh, I. Statt s=^ kann man natflrlich auch o lesen.

Köte^ auf mich sieh^ das Hören ist den Menschen ffut^ j folge dem frohen Tag^ vergifs die Sorge.

Die Bemerkung über die Nützlichkeit des »Hörens» mag etwa ein Sprichwort sein; sie erinnert an den entsprechenden Abschnitt im Papyi-us

Prisse (16,3 flf.), der ganz ähnlich beginnt: ^ *_^^s. ''''''^^^^ *&^ Sdm n sf »das Hören ist dem Sohne nützlich« und der auch versichert. nfr idm r ntt nbt »Hören ist besser als Alles«.

' Gramm. § 257. ' Gramm. § 331.

. A^^AA O O O

Oe^äch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 45

Die Ermahnung zum Genüsse des Lebens findet sich ganz ähnlich in den Trinkliedern wieder, die ja auch davor warnen , vom Tode noch Freude zu erhoffen: »feiere den frohen Tag, folge deinem Herzen, setze die Sorge nicht in dein Herz« ist ihr Thema ^

xvn.

ftc nds ikif iduf; twf ^[t]pf imwf r Jymjo dpt^ itfif iidwtj ibf tkn, minf prt u)^ nt mtkUtj ri m dpt^ K l^r ^ij pr J^n^ l^mtfj niswf n ^Id tp i in m grjjk hr mrUt

I. Am Schlufs der Zeile ein zufälliger Fleck. 2. Sic. 3. Vergl. oben Z. 12.

4. Lange.

Der geringe Mann pflügt'^ sein Grundstück; er ladet^ seine Ernte in das Innere des Schiffes, er schleppt die Fahrt; sein Fest hmmth^m; er sah das Herauskommen •»' der Nacht der Fkuh; «r wachte im Schiffe auf, in der Abend- dämmerung; «r ging heraus mit seiner Frau und seinen Kindern u,4gm des Zu- grundegehens auf dem See, .... in der Nacht mur den Krokodilen.

^ Eine Zusammenstellung dieser Lieder bei Maspero, Etudes egyptiennes p. 172 ff.; ober ihre Stellung in der aegyptischen Litteratur vergl. mein Aegypten und aegyptisches Leben S. 516. Die oben angefilhrte Stelle ist einer besonders merkwürdigen Variante des alten Liedes entnommen , die sich auf einem Grabstein vom Jahre 42 v. Chr. findet, wo sie als Rede der verstorbenen jungen Gattin an ihren Wittwer, den Hohenpriester von Memphis benutzt ist (vergl. Maspero I. l.p. 187; Brugsch, Thesaurus S. 926); dafs ein so gottloser und so poetischer Text, wie es diese Grabschrift ist, ein selbständiges Erzeugnifs des ptolemäischen Aegypterthums sei, möchte ich nicht glauben.

' Gramm. §§ 225. 226.

' Gramm. §117; aber gilt dies auch für wlji »Nacht«? Vielleicht gehört prt wJ^ zusammen.

46 A. Ekkan:

Das Wort Sdivo bezeichnet nach den Beispielen Paheri 9, 15: Der Rifeh Vn, 23 nicht den Acker im Allgemeinen, sondern den Theil des- selben, der jemandem gehört.

'^^ ^_jo mit dem Objekt des verladenen Gegenstandes (»etwas

aufladen auf etwas«) findet sich auch Harr. I, 77,12; 78, 3; för gewöhn- lich bedeutet es ja: «etwas beladen mit etwas«.

Den Ausdruck sU ifcdwt kann ich sonst nicht belegen; da stf das Wort fiir das Ziehen (»Treideln«) der Schiffe ist und da i^rf »(im Schiffe) fahren« bedeutet, so wird die Wendung wohl nur besagen, dafs der Mann das Schiff mit dem Korne selbst zu schleppen hat.

Der Nominalsatz ibf tkn »sein Fest kommt heran *(?)« ist vielleicht eine Zeitbestimmung för die folgenden Sätze.

Das Wort mfiiit ist so geschrieben, dafs man nicht weife, ob der Schreiber die »Nacht des Nordwindes« meint oder die »Nacht der Fluth«.

In dem Ausdruck R^ hr ^Jj: »die Sonne tritt ein« liegt eine Zeit- bestimmung vor, die auch sonst vorkommt. Sali. 2, 5, 2 ist »das Ein- treten der Sonne« die Tageszeit, wo der Arbeiter sich müde hinsetzt, also das Ende des Tages. Wie der Ausdruck entstehen konnte, ergiebt sich aus dem »Amduat« buche, wo die erste Stimde der Nacht, d. h. die Dämmerung, damit beginnt, dafs »dieser Gott eintritt« in das Reich des Westens.

Das Wort x ^^er^ kommt auch in der Bauemgeschichte (129) vor; in

(j(j'Ä wird man auf Grund von XXV einen Namen des Krokodils

sehen dürfen.

Die subjektlosen Verba ri und pr erklären sich vielleicht durch die Ellipse des Subjekts in lebhafter Erzählung*; man hätte sie also als Fort-

Setzungen des -^ ^ anzusehen.

Was hier auf die Aufibrderung zum Lebensgenüsse (XVI) folgt, sind zwei kleine Texte (XVII-XIX), die das Schicksal eines »geringen Mannes« nds be- handeln und die keine Berührung mit dem sonstigen Inhalt unseres Buches haben. Es müssen Beispiele sein, die die Seele zur Unterstützung ihrer Meinung anfuhrt und dazu scheint auch ihre Form zu passen. Ob auch

^ Ich kann freilich nicht belegen, dafs Hen von der Zeit gebraucht wird. * Gramm. § 353.

Gespräch eines Lebensmüden mU seiner Seele. 47

ihr Inhalt dazu pa£st, kann ich freilich nicht sagen; ich verstehe von dem zweiten Beispiel (XIX) so gut wie gar nichts und von dem ersten nur das, was aus dem Schluß von XVIII wahrscheinlich ist, dali) dem Bauern unterwegs Weib und Kind von Krokodilen gefressen werden. Aber wenn er dann um die Kinder sorg^ und um die Frau nicht weint was beweist das für die Behauptungen der Seele?

xvm

I ^ A^^^AA *\ ^^AAA

drinf l!im§j psSf m ^rw Jr dd: n rmi n tff mitj nn ns prt m imnt r kt ikr tij mbH ^r mkos sdw m swl^tj mfw Jr n ^ntij n ^nfytin.

I. Hinter ^e»i. hatte der Schreiber noch zwei senkrechte Zeichen geschrieben, hat sie aber wieder ausgelöscht.

er sitzt, er tkäu , . SHmmej indem sie sagt^: i^nicht weine ick

wegen^ jener Dirne da; sie hat keinen Atisgang aus dem Westen zu einer anr deren auf Erden. Ich habe Sorge wegen^ ihrer KindeTj die im Ei zerbrochen sind^j die das Gesicht des KrokodHes sehen^j die da nicht leben werden^ ^.

Der Ausdruck drinf ist schon aus Weste. 6, 1 1 bekannt, wo drinf m^ 24. vielleicht heifst »(das Wasser) erreichte 24 Ellen«; hier scheint es wie ein Hülfsverbum mit l^mS verbunden zu sein.

^ Sollte das nur einfach die direkte Rede einführen («mit den Worten«), so würde wohl r ^ stehen (Gramm. § 276).

* n »wegen« steht besonders gern nach Ausdrücken der Gemüthsbewegung. ' So ist m^ auch oben VIII konstruirt

* Gramm. § 212. 218. ^ Gramm. § 258.

* Gramm. § 293. 294.

48 A. Erman:

Was psS »theilen« mit m konstruirt bedeutet, ist mir nicht bekannt; man könnte wegen des folgenden ^rw hr dd rathen, dafs es etwas heifst, wie: »er vernimmt eine Stimme, welche sagt«. Oder auch: »er hat (wie- der) Gewalt über die Stinune und sagt« , d. h. sobald er seines Schmerzes so weit Herr ist, um sprechen zu können.

Die Bezeichnung mjlt för die Frau kann ich nur noch einmal belegen, und zwar in einem neuaegyptischen Lehrerbrief (An. 4, 12, 4), wo sie als lTjn(|(lJ) die verächtliche Bezeichnung einer Dirne zu sein scheint. Dafs

das Wort auch hier eine solche verächtliche Bedeutung hat, wird durch das davorstehende tff wahrscheinlich.

Zu nn n& prt vergleiche neuaegyptisch ^^^^ Q\ nn nw tord

»sie (die Schiffe) haben keine Ruhe« (Harr, i, 5, i; ähnlich ib. 75, 3).

Bei kt Jr // haben wir zu denken an »eine andere Frau, die noch lebt« vergl. oben X, XV If^ri ti muthmaislich für »Hinterbliebene« aber was soll das hier?

Das Wort fyi%H als Name des Krokodils war uns schon, allerdings in sehr verwahrloster Gestalt, aus Sali. 2, 8, 2 bekannt.

Das Verbum sd wird u. a. vom Zerbrechen eines Eies gebraucht (Totb. ed. Nav. 85, 1 3 ; ed. Leps. 85, 9; Tellamamahymnus ed. Breasted p. 44), hier ist es indefs nicht auf das Ei, sondern auf die Kinder zu beziehen, die »im Ei zerstört« werden. Der Gebrauch von «1?^/ »Ei« für den Mutterleib ist ja gewöhnlich, doch steht m swfjkt auch nur als poetische Hyperbel för »in früher Jugend«, so besonders klar Sinuhe 68, wo ein König »im Ei« schon Etoberungen macht. Und so wird es auch hier zu fassen sein, denn die Kinder sind ja vorher schon neben der Mutter als lebend erwähnt, ganz abgesehen davon, dafs wir sonst die arme Frau wegen des Plurals miw mindestens mit Drillingen schwanger gehen lassen müfsten.

Die Stelle ist gelegentlich des Wortes ^nH schon 1873 ^^^ Goodwin angeführt worden; er übersetzt das miw fyr n ^nti^ n ^nfytin mit: »they see the face of the Crocodilegod and they do not live« und bemerkt: »the passage appears to refer to children who have died in the womb, owing to their mother being terrified by a crocodile«\

* ÄZ. 1873S. 16. Er glaubte hinter ^n^ in den ausgelöschten Zeichen ein ^ zu sehen,

daher seine Übersetzung »Krokodilgott«; »they see* übersetzte er wohl, weil er an die neuaegyptische 3 plur. des Verbums dachte.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 49

XIX.

iw nds dbl),f mSrwt; iw lymif ddi nf iw r mMit; iwf prf r ^ntw r ii . . r H; ^nnf Mjd r prf, iwf mi kUj imtf Jr iif nf, n ^mnf nA i . nf, wi (b n topwtko.

I. 2. So Lange; über dem scheinbaren <=> steht ein Pünktchen, wie es die Hand- schrift bei "^^ zuweilen hat (z. B. 84. iii), und auch das J^^ scheint mir nicht ganz un- bedenklich. 3. Sic. 4. 5. Es liegt wohl an beiden Stellen dasselbe Wort vor:

I. . . "^^1 das fragliche Zeichen ist wohl nicht <*-», auf das man zunächst rath.

Der geringe Mann bettelt^ um Abendessen, sein Weib sagt^ zu ihm: »

bis zum Abendbrot^. Er geht^ hmaus, um zur Stunde. Wenn^ er sich um-

wendet zu seinem Hause, so ist er wie ein anderer, kuim sein Weib ihn . . . ., nicht hört er ou/hs, er den Boten.

Da dieser Abschnitt ebenso wie XVII mit schildernden Verbalformen beginnt, so enthält er wohl ein zweites Beispiel, das freilich nicht ver- ständlicher ist als das erste.

Wie z. B. aus Totb. 94 ersichtlich ist, wird »etwas von jemandem

erbitten« ausgedrückt durch dbl^ cc. obj. et m^; man möchte daher das ^v

- fl, das auf cB)/if folgt, als die Praeposition fassen und übersetzen »er er- bittet von den «, wobei freilich ein Objekt fehlen würde. Doch wird die

Lesung mSrwt »Abendessen«' richtig sein, da auch gleich nachher ein auf den

Abend bezügliches Wort m] Mljü ^ vorkommt. Dafe dieses mSüt auch

aufserhalb des Kultus eine abendliche Zeit bezeichnet, erhellt aus Sinuhe 12

^ Gramm. § 225. 226. * Gramm. § 188.

' Für minoi »Abendessen« vergl. W. 512 und 513, wo daneben noch eine Morgen- und eine Nachtmahlzeit genannt sind.

PhUas.-hi8tor,Ahh. 1896, IL 7

50 A. Ebman:

und Millingen I, 1 1 ; da es als Speise detenninirt ist, so wird es, wie auch Griffith an der letzteren Stelle übersetzt, das Abendbrot bedeuten^

Was das iw r vor miät ist, weifs ich nicht, vielleicht ist das irgend eine Redensart.

Dafs prt r ^nho »ausgehen« (aus dem Hause) bedeutet, erhellt mit Wahrscheinlichkeit aus XLV, wo es das Ausgehen des genesenden Kran- ken bezeichnet.

Das Wort Sii bedeutet mit m konstruirt »etwas wissen« ; hier folgt ihm n, was auf eine andere Bedeutung deutet.

Das imleserliche Wort, das die Stelle enthält, mufs das erste Mal mit nn beginnen; da man, falls man <=>n »zu ihr« lesen wollte, eine unrichtige Wortstellung erhielte. Dagegen wird man das zweite Mal, worauf auch die Stellung der Zeichen in der Zeile deutet, das erste S zu dem n ziehen dürfen. Das Wort läge also einmal als Kausativ und ein- mal als Simplex vor.

WS-'ß) »herzensleer« ist unbekannt.

XX.

ftr wpni rH n ifyjotj wSbt ^nf.

Ich öffnete meinen Mund zu meiner Seele und beantwortete^ was me. gesagt hatte.

Vergl. das zu II Bemerkte.

Die letzte Rede des Menschen, die hier beginnt, ist schon durch ihre strenge poetische Form als der Haupttheil des Buches gekennzeichnet. Es sind vier einzelne Gedichte, von 8, i6, 6 und 3 Versen; jeder Vers be- steht aus zwei kurzen und einer dritten längeren Zeile. In jedem dieser Gedichte beginnen alle Verse mit einer gleichen Zeile, im ersten mit »mein Name wird verwünscht (?)«, im zweiten mit »zu wem rede ich heute«, im dritten mit »der Tod steht heute vor mir«, im vierten mit »wer dahin- gegangen ist, wird sein«. Auch mag es nicht zufällig sein, daüs von den beiden ersten Gedichten, die das Elend des Lebens schildern, das eine 8

» T 343 = P 222 steht dem [tj^^^ ^ ein (| ^^^ ^ gegenüber, das das

Murgenbrot bedeuten wird und das auch Kahun, Med. 2, 5 zur Bezeichnung der Tages- zeit dient.

Gespräch eines Lehensmüden seiner Seele. 51

und das andere i6, d. h. 2x8 Verse hat; dagegen haben das dritte und vierte Gedicht, die den Tod preisen, 6, d. h. 2 X 3 Verse und 3 Verse.

Bei einer so durchgebildeten poetischen Form sucht man unwillkürlich auch nach einem metrischen Bau, und mit einigem guten Willen könnte man in der That auch eine gleiche Anzahl von Haupttonstellen für viele Verse herausfinden, doch ist hier der Willkür des Untersuchenden Thor und Thür geöffnet, da wir ja nicht wissen, in wie weit die Praeposition vor dem Nomen, das Verb vor dem Subjekt, das erste Nomen im Genetiv seinen Ton behalten hat.

XXL

mk l^ik mtj nüc r Sit Ovo m krw SmWj pt tit

Siehj mein Naine wird twwüntekt, siehj mehr als der Geruch von vögOn an Sommertagenj wenn der Himmel heiß ist^.

Das Wort J "§''^^50 ^^» ^^ ^^ ^^^ ^^^^ beginnenden Gedicht

jeden Vers eröffnet, ist unbekannt. Aus dem Determinative des Fisches

darf man nicht auf seine Bedeutung schliefsen, denn dieses ist nur von

einem Fischnamen b^l^ hergenommen, der J 8 _ n ^^ gelautet haben

mufe'. Auch das Wort b^lh »überschwemmen« ist ja diesem Fische zu Liebe

einmal so determinirt in der mehrfach citirten Stelle y— jox

1 ^ ^ f ^ ^ X ^ - o Dl I I

l wfe^ ^ b^iif^tpt dffw er sei überschwemmt mit Opfern und Speisen « *,

und ebenso sind Geister in Abydos, die den Toten speisen, einmal -]r^

J X (Mar., Ab. U, 22) geschrieben. Da in allen Versen gesagt ist, der Name sei noch mehr b^JjL (Passiv*) als irgend etwas Stinkendes oder Wider- wärtiges, und da das Wort das Determinativ des Sprechens hat, so dürfen

^ Gramm. § 245.

* Stern, ÄZ. 1874,91. Die angenommene Identität mit vo^ scheint mir unbegründet.

' Louvre C3. Die eigenthümliche akkusativische Konstruktion von hc^ auch P362: *isnnf ihOy hcjjkif mJjMDi »er athmet Wind, er ist überfluthet mit Nordwind«.

^ Dafs ein endungsloses Passiv (Gramm. § 206) vorliegt, wird durch die Wortstellung wahrscheinlich; wäre das Wort intransitiv, so würde man nach §243 erwarten mk rni hch,

7*

52 A. Erman:

wir annehmen, dafe es »verwünscht sein, verhaist sein« oder etwas Ähn- liches bedeutet.

Die eigenthümliche Wiederholung von mk »siehe« kenne ich sonst nicht; sie ist wohl nur rhetorischer Natur.

Auch die ^ß^f'®^^' ^^ si^d ein neues Wort; in 92 ist für ipdw

»Vögel« ''^D ' v^^^ ' ^^^ geschrieben, und man ist daher versucht, auch unsere Stelle für eine Verlesung aus ipdw zu halten.

Die Beispiele üblen Geruches, die in diesem und den folgenden Versen aufgeführt werden, sind zumeist vom Fisch- und Vogelfang hergenommen, der ja im Leben des aegyptischen Volkes eine grofee Rolle spielte.

XXE

mk l<Jjk mij mk [r] isp ihnw m hrw rsfj pt tH. I. Sic.

Sieh, mein Name wird v^rwümehtj sieh, mehr [als] ein raehempfänger

am Tage des Fanges , wenn der Himmel heifs ist

Der Fischname Sbnw ist neu; dafs nicht eine falsche Lesimg vorliegt, zeigt die Schreibung des Verbums M J ^^ j\ (Bauer220)nfly /. (Br. , Wb. 336), bei der die Konsonanten ibn mit dem Fisch determinirt sind. Das Wort rsf wird bald mit dem Fisch, bald mit dem Vogel, bald mit beiden zugleich determinirt und bezeichnet den »Ertrag des Flusses« an Fischen oder Vögeln ; uns fehlt dieser Begriff und ein entsprechendes Wort.

Bei dem isp ibnw »Fischempfänger« könnte man an einen Mann denken, der den Fang sortirt und vertheilt, aber eben so gut auch an einen Fischkorb oder ein anderes Geräth.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 53

mk h^JjL mtj mk r Sit ipho (sic)^ r bwft nt tri hr mütt. I. Lange. a. Lange.

Siehj mein Name mrd vtrwttMektj siehj mehr als der Gertich von Vögebij mehr als die Anhöhe der Weiden mit den Gänsen,

Für ipko ist wohl fpdw zu lesen. Dafs bwft^ wie man annimmt, die Anhöhe bedeutet, ist schon wegen 6m?/ »hoch« (o. ä.) wahrscheinlich; auch das j-jO^^ÖiI'^Tä »hohe Anhöhe« als Name von Edfu spricht dafiir.

Die Pflanze tri wird im Berliner med. Pap. 6, 2 ^ M l 1 ^ ^^^ ^^^ in der Metternich- Stele (77) ^ || A geschrieben. Auch »das grüne c^ ^^3 twr^ (Eb. 55, 16) könnte wohl damit identisch sein. Bei dem letzteren

denkt Stern im Glossar wegen des 3 an ein »genus arundinis«, und auch die Worte des Berliner medicinischen Papyrus und der Metternichstele, die dem unseren so ähnlich sind, haben ja ebenfalls dieses Detenninativ, das auf »Rohr« deutet. Trotzdem möchte ich an der üblichen Zusammenstellung des Wortes mit Tiope »Weidenbaum« festhalten, da nach der angeführten Stelle der Metternichstele der Phönix auf dem ^ j|A geboren ist, was doch auf einen Baum deutet \ Eine höhere Stelle im Simfipf, die mit Weiden bestanden ist und auf der wildes Geflügel nistet, wäre demnach hier gemeint.

Die (li M ö ö ^^ sind , wie aus den Vogellisten Pap. Harr. I hervorgeht, eine Sorte efsbaren Geflügels, wohl irgend eine Gänseart.

XXIT.

mk bch mi mk r stt JiimWj r fyfsw nw siw JjLimnhi.

I. Sic. Es fehlt W . 2. Lange.

I I I

^ Ein bekanntes Bild aus einem Grab in Hau (Wilkinson 111,349; Erman, Aegypten 368) zeigt in 3er l'hat den Phönix auf einem weidenähnlichen Baum über dem Osirissarge.

54 A. Erman:

Siehj mein Name wird vtruHuuektj sieh, mehr ah der Geruch der Fischerj mehr ak die .... der Sümpfsj nochdmn^ sie gefischt haben.

Ich übersetze Jj^im mit »fischen«, denn das ist die gewöhnliche Be- deutung (z. B. Berscheh I, 20; el Kab, Grab des Paheri IV), doch kommt auch dieses Wort vom Vogelfang vor (Berscheh I, 8).

Das Wort ^/«, das nach dem Determinativ eine Ortsbezeichnung sein muTs, ist wohl identisch mit dem ® T M %^ cv>:n:ü ^/rfu?, das Dümichen, Hist. Ins. II, i6db in einer unverständlichen Stelle vorkommt, und mit dem Orts- namen Im %^^ (Br., Dict. Geogr. 1014; I295)^ Man hat vielleicht an den Rand des Sumpfes zu denken, auf dem die Netze entleert werden und der daher nach dem Fischzug mit allerlei schnell verwesendem Unrath bedeckt ist.

XXV.

<==>! I l<IXZ> 1 1 I I I

mk b^(k mtj mk r iti m&ifWj r Jjbm&t hr . . . hr mrüt.

Siehj mein Name wird MnotaeAo ^K mehr als der Geruch der Kro- kodile j mehr als zu sitzen unter den . . . mit den KMtodam.

Die richtige Auffassung des ftmit ergiebt sich aus XL VI und XL VII ; wie dort »das Sitzen« an einem erfreulichen Ort angeführt wird , so hier »das Sitzen« an einem widerhchen. Was dieser letztere aber fiir ein Ort ist,

bleibt wieder unklai*, denn das Maskulinum , ist mir so wenig be- kannt als das Wort mriit^ das schon oben (XVII) vorkam und das nach dem Determinativ ja doch wohl ein Name der Krokodile sein wird. Ent- sprechend dem bwH . . . hr m&ät »der Anhöhe mit den GSnsen« in XXIII muTs man wohl auch hier übersetzen »der . . . ort mit den Krokodilen«.

^\m

XXVL

"J 8<«^=^yg>|^^^— ^

I^J>"£i-

^ Gramm. § 197. Oder relativisch?

IP,

* Das weibliche ] |l ist wohl davon zu trennen.

Gespräch eines Lebensmüden seiner Seele. 55

mk b<h mij mk r st-imtj dd grg ri n tiU.

Siehj mein Name wird tmeümehtj siehj mehr ab ein Weibj gegen das zu dem Manne Lüge gesagt wirdK

Gemeint ist wohl eine Ehefrau, die bei ihrem Gatten angeschw&rzt wird, doch setzt der Dichter nicht limt und hiUy sondern die das Ge- schlecht bezeichnenden Worte st-imt und ffW^.

xxvn

mk b^Jjk mij mk r hrd iuj dd rfj iuf n miduf. I. Wohl nicht . 2. Irrig wiederholt

Sieh^ mein Name wird vtrufan$ehtj siehj mehr ah ein starkes Kindj gegen das . . . gesagt wirdj indem es

Das dd rf wird man ebenso wie im vorigen Verse auffassen müssen, das Subjekt scheint irrig ausgelassen zu sein. Bei iwf n vnhdwf denkt man an Tnid »hassen«, aber was sollte das fiir eine Form sein? Das »starke Kind« könnte etwa eine bestimmte Altersstufe bezeichnen.

xzvm.

mk ¥1} mtj mk [r] drni n . . .j Snn bStWj mi) sff. I. Sic. 2. Sic.

Siehj mein Name wird vrwantehtj siehj [mehr] als eine Stadt des

die Empörwg rtdtt und deren Rücken gesehen wird.

^ Gramm. § 206 , das endungslose Passiv ist hier wohl relativisch gebraucht

' Auch bei Petrie, Koptos XII, 2 ist der Gatte ebenso als ^Us -ihr Mann* bezeichnet.

56 A. Erman:

Die Richtigkeit des Textes ist sehr fraglich; das ^^ sieht aus, als sei es nur der Schlufs eines ausgefallenen Wortes. Ist etwa nach Bauer 129

dmt in \ Y ^^e^] zu lesen?

Bit (alt bil) ist das Wort für Empörung. Da es nun ein Wort 9 ^

giebt, das etwa »aussprechen« bedeutet \ so möchte man übersetzen »eine Stadt, die Empörung redet, deren Rücken (aber) gesehen wird«, d. h. deren grofssprecherische Auflehnung mit der Flucht endet. Die grammatische Konstruktion des 7n}} s}fw&re dieselbe, wie von dd grg\ dafs es im endungs- losen Passiv wirklich m^i heifsen müfste, bestätigt mir Sethe. Aber auf- fallend ist die Endung v^ in bitw^ die auf eine Personenbezeichnung (Em- pörer) deutet^.

YYTY

ddi n m minf Snw biUj ^nmiw nw min, n mmi(?).

I. Das \v ist auffallend verlängert, aber doch nicht wohl anders zu lesen.

Zu wem spreche ich heute f die Brüder sind schlecht j die Freunde von heute .... nicht lieben.

In dem hier beginnenden zweiten Gedichte wird jeder Vers mit dem Fragesatz', ddt n m min eröffnet, der wohl besagen soll: mit welchen Menschen habe ich in der Welt von heute zu thun ? Es ist eine rhetorische Frage, auf die nirgends eine direkte Antwort folgt.

Mit »die Brüder sind schlecht« beginnt auch XXXVII.

* Vergl. Sinuhe 74: ^^ ^ ^ 80'ff ^^^^^'^^^"^ I *'*®^^ keine Lästerung (?) gegen seine Miyestat« ; dies tci ist das Wort, das wir jetzt in der Formel i^ä /wwva aawsa

•Fluch seinem Namen« aus dem Petrie' sehen Antefdekret kennen. Sodann als X ^

d'Orb. 5, 4.

* Gramm. § 96, 2. *^ ' Gramm. §358; Aber die Stellung des ndn vergl. § 337.

Oespräch eines Lebertsmüden mit seiner Seek. 57

DaXs min wirklich, wie Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) nachgewiesen hat, »heute« bedeutet, zeigen aulser den dort angeführten Belegen auch die Stellen Totb. ed. Nav. 84, 9 und Mettemichstele 210, in denen das Wort im Gegensatz zu H äf »gestern« steht. Auch in unserem Text wfirde

die früher angenommene Bedeutung »täglich« nicht passen \

Daß gA von mr »lieben« kommt, ist klar, aber die seltsame

Bildung auf ist verdächtig. Ist der Text richtig, so bietet sich nur

Q *^ hwni, die Nebenform för /iw »schlagen« (z. B. LD. III, 65a; M Il-

lingen 2, 2; Sali. 4, 2, 7), zum Vergleich. Höchstens könnte man noch zwei ebenso fremdartige Verbalformen auf n, die auf der bekannten Stele C 1 4 des Louvre vorkommen , heranziehen. Der Künstler, dessen Grab- stein diese war, erzählt uns von einer besonderen Kunst, die er verstand;

er verstand es, (|^^(|(|j^ zu "»»"^ten. LSUl'^'^^.T'.^'^ ^^^'■'^

»fallende (??) Sachen«, ohne sie vom Feuer brennen zu lassen «^a^(|^ 0

^ c^ n i^-n n mw grt »und doch (??) nicht mit (?) Wasser

abwaschbar (??)«. Danach könnte man denken , unsere Stelle besage: die Freunde von heute sind nicht » Hebens werth«. oder etwas dem Ähnliches'.

XXX.

ddi n m minf ^wn ibwj s nb J},r Ut tfyt inmofi.

Zu wem sprecJie ich heute? die Herzen sind /reekj ein jeder nimmt die Sachen seines Nächsten fort.

^ Diese hat man dem Worte wohl auch nur des üLuHne wegen zugesehrieben , das

^ zurQckgeht und nicht mit dem Maskulinum ndn identisch sein

kann. Bei mm möchte man an neuaeg. mi-nf »hier«, kopt. Ait&i denken; es könnte das- selbe Wort sein , das von Zeit und Ort gebraucht wSre.

^ Es giebt übrigens auch Formen auf -n, -n^, die von Substantiven abs^eleitet sind,

vergl. r^-— ^^ 5, ^^^.

JMm.- Autor. Abh. 1896. II. »

58 A. Erman:

Was das Verbum ^wn an und für sich bedeutet, stehe dahin; die verständlichste Stelle ist noch Bauer 230: ^i^- fl"^"- flS ^^^ '^

, die doch gewifs bedeutet: »bringe den Armen nicht um seine

Habe«*. Die hier vorkommende Verbindung ^wn-ih scheint etwa »frech« zu bedeuten, vergl. Bauer 116: »du bist stark und kräftig ~"

j\ ^ Kzz:^ 0 ^^ fl, dein Arm ist gewaltthätig(?), dein Herz ist

^vm, die Milde geht an dir vorbei, weh dem Armen, den du vernichtest«. Diese Frechheit hat aber meist den Beigeschmack des Rauberischen. So steht ^wn-ih Totb. 125, 16 (ed. Leps.) zwischen ^wi »rauben« und // »stehlen«, und ebenso duldete Hapzefai keinen ^wf »Räuber« in seinem Gau und keinen ^wn-ib in seinem Heer (Sinti, 23I)^ Auch Prisse 10, 5-6 ist ^wn-ä) eine Sünde, die man bei »Theilungen« »gegen seine Angehörigen« begehen kann.

In XXXIX steht im ersten Versglied nicht ^wn ibw wie hier, sondern ffyw ^tmij und man würde auch hier diese Satzform erwarten, die ja fiir alle Schilderungen die gewöhnliche ist^. Indessen kann ja auch ein ^tvn ttw in Beschreibungen stehen*, so dafe es nicht nöthig ist, den Text zu ändern.

Das grammatisch korrekte hinwfi^ steht auch in XXXIV; über die Schreibung von hmw vergl. Gramm. §145 Anm. A.

XXXL

[Schlafe der^Zeie leer geWn]««^!) ^ w || ^ ^ g^^^ril^ [ddt n 7n minf] iw sf ihj nf^-i^r hiw n bw nb,

I. Der Schreiber hatte wohl eine Lücke in seiner Vorlage, die er nicht ausfallen mochte; freilich schreiben wir ihm mit dieser Erklärung eine besondere Gedankenlosigkeit zu , denn was hier fehlte, war doch nicht zu bezweifeln. 2. Unter bto ein ausgelöschtes

Zeichen.

^ Es einfach mit «rauben« oder »betrügen« zu übersetzen, geht aber auch nicht an, denn Totb. ed. Leps. 93, 5 bezeichnet es irgend ein allgemeineres Unrecht.

' Dafs es im neuen Reich auch eine Truppe gegeben hat, die sich cwrU-ib nannte (Der RifehIV, ^y, 45), spricht nicht dagegen.

' Gramm. § 243. 244.

* Gramm. § 176.

* Gramm. § 78.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seek. 59

fZu wem spreche ich heutef] Der Sanfte geht zu Grtmdej der mit starkem Gesicht kommt zu aüen Leiüen hin.

Der Gegensatz zwischen dem 0*^^^^/) "^^d dem ^"^^ »dem Star- ken« auch Prisse lo, 7. Der hier stehende Ausdruck w^/-^r »stark an Gesicht« wird »frech« bedeuten und dem $^-$r des folgenden Verses gegenüber stehen; dazu scheint mir auch die andere Stelle, wo ich njä-jyr belegen kann (Bauer 166), wohl zu passen.

H) ist eigentlich ja »herabsteigen«, doch kommt es auch sonst ahn* lieh wie hier vor; vergl. üna 10 vom gestatteten Eintritt in den Harem, und Benihasan 11, 7 vom Hintreten des Hirten vor den ihn kontrollirenden Beamten.

xxxn.

.cm o

ddi n m mini i^tp-i^r hin, rdt rf bw nfr r t} m it nbt.

Zu wem spreche ich heutef der mit ruhigem Gesieht ist elendj ver- nachlässigt wird^ das Gute an allen Orten.

DaiSs hin hier nicht, wie in XXIX und XXX VIT moralisch »schlecht« bedeutet, sondern so wie Prisse 5, 2 »unglücklich«, eftiHtt, ist klär.

Der Ausdruck rdi r tf »zu Boden legen«, der sonst vom Erlassen einer Forderung (Sinti, 293; ib. V, 11) und vom Begnadigen eines Verbrechers (Benihasan II, 7 zweimal) gebraucht wird, wird hier im bösen Sinne yet: wendet sein.

xxxnL 1 .

ddi n m minf S^r s m spf htn^ SSbtf bw nb kof liw. I. So wird zu lesen sein, doch kann ich fiir Q diese Form >^ nicht belegen. 2. Eher ^ als

Gramm. § 348.

60 A. Erman:

2^ wem spredie ich heute? Macht ein Mensch wüOmnd durch seine SchMir tigkeitj m> bringt er alle Leute fdurehj sein böses Schlechtes zum Lachen.

Falls li^r richtig gelesen ist, so ist dies das gut belegte Wort für

»wüthen« , das ich freilich nicht mit S\ determinirt kenne. Dem »wüthend

machen« entspräche dann in der zweiten Hälfte gut das dib »lachen machen« \ Spf bin hat man nach dem Sprachgebrauch eher mit »seine schlechte Handlimg«^ zu übersetzen, als mit »sein schlechtes Wesen« und iw ist ein Ausdruck fiir Böses, Sündhaftes, der Totb. 17,4; 64, 7, dem

gewöhnlichen '^^ gleichsteht. Trotzdem also alle vorkommenden Worte

bekannt sind , bleibt der Vers doch unverständlich , vermuthlich weil der Text verderbt ist. Man könnte das zweite Glied etwa so herstellen ^ib[w]f bw nb [m] iwf hw »er macht alle Leute lachen durch sein böses Schlechtes« und könnte den Vers dann dahin auflassen: Wenn der Böse (uns) durch sein Thun erzürnt, dem grofsen Haufen erscheinen seine Schlechtigkeiten nur als etwas Belustigendes.

XXXIV.

ddi n m minf iw l^^d^tWj s nb hr iff [^^?] innwß.

Zu wem spreche ich heute? mw raubt j ein Jeder nimmt fdieSacHmj seinem Nächsten fort

Das seltene Wort ^^(^y, das schon von Maspero, Rec. II, 49 besprochen ist, wird verständlich durch die jetzt in sicherer Lesung vorliegende Stelle SiutIV, 33, wo es von der wohl beherrschten Stadt heifst: es giebt keinen

Kampf, man schlägt die Leute nicht § H "^ ^ _^ ^s. [p » es

giebt keinen, der etwas aus dem Hause (?der Strafse?) raubt«. Und ebenso

heifst es ib. IV, 12, man sei ausgezogen <=> "t" >^^a^ ^ | ^i*^^^ ^ '*^

i&^(^y, »um den Räubern zu wehren«, womit wohl innere Feinde gemeint sind.

* Vecgl. die Belege för so »lachen« cü>&e bei Brugsch, Wb. Siippl. ' Z.B. Mar., Mon. div. 14; Ainenemlieb 23.

Gespräch eines Lebensmüden mit semer Seele. 61

Die Stelle liefse sich ja zur Noth auch in der vorliegenden Gestalt übersetzen, ist aber wohl zweifach verderbt; hinter Jj^^ditw wird ein Sub- stantiv fehlen und #das zweite Glied ist gewifs nach 105 zu verbessern: »ein jeder nimmt [die Sachen] seines Nächsten fort«.

XXXT.

ddt n m min? hiffw (?) m ^^-Ä^ ki irr Wf bp^ ^ bft^-

I. So wird man wohl zu umschreiben haben; auch Kahun, Hvmna, i6 steht dies hieratische Zeichen als Determinativ für Feinde.

Zu wem spreclie ich heute? Der sim^ ist trm, der Bruder, der mit ihm ist^j wird zum Feinde.

J*-^-* ^ "Uffl^ ist uns aus den Stellen Eb. 41,15; Kahun, Med. Pap. II, 1 8 ; Prisse 10, 2 und aus der Mettemich- Stele (ÄZ. 1879, 4) nur als eine all- gemeine Bezeichnung verschiedener schwerer Krankheiten bekannt.

Der seltene Ausdruck "^^ y% ^, der auch in XLI und XLIII wiederkehrt, steht in zwei von Br., Wb. Suppl. S. 288 angefiihrten Beispielen parallel zu ^jPT'^'^''^' wird also etwa »treu« bedeuten^.

<^>^ im Sinne von »sich befinden« ist oft belegt (z. B. Berscheh 14, 10; Amenemheb 30; üna 34; Prisse 9, 10).

Der Sinn könnte sein : selbst der hülflose Kranke kann sich auf seinen natürlichen Pfleger nicht verlassen und wird von ihm verrathen.

XXXVl

ddi n m minf n ihH ifj, n irt n ir m tf it.

* Gramm. § 260; über die Schreibung von (r vergl. § 259, 2.

* Man darf dies ck-ib nicht zusammenwerfen mit dem häufigeren ckf-ib »mit richtigem

Herzen«, und auch das "k^^ ä ^, das die Rosettanea mit fftpovrl^tov Mp übersetzt, braucht nicht mit unserer Redensart zusammenzuhängen.

62 A. Erman:

I. Vergl. die gleiche Schreibung P risse 5, i und Bauer 108; hier geht durch das O noch ein, wohl zufalliger, Strich, der es unkenntlich macht. 2. Wohl o, fiir <=> wSrc es klein.

Zu wem spreche ich heute f Man erinnert sich nicht an gestern; man thut nicht .... in dieser Stunde.

Der Sinn könnte sein: was ich gestern Gutes gethan habe, liat die Welt heute vergessen.

Zu dem räthselhaften aa^/^aa vft vergl. Bauer 108: j^S Jjll^ gA

<!:> n "^-a- ^4^-® 1 ^^^^"^ -ca>"A/NAAAA'^^^^<:i>^3'^^^; ich verstehe

das auch nicht, aber, wie man sieht, steht auch hier das ir n irt einem »gestern« gegenüber.

xxxvn.

118 f^\\ ^O

ddi n m minf hiw btn, inntw m drdrw r mtrl nt ib, I. Lange. 2. Für <I> Ci kann man auch ^o lesen.

Zu wem spreche ich heute f die Bruder sind schlecht; mm bringt nu zur läckügkmt dcs HeTzcns.

Der gleiche Versanfang in XXIX, wahrend das zweite Glied dieses Verses dem in XLI entspricht; dadurch ist die Richtigkeit des Textes gewährleistet.

Den wenigen Stellen, in denen das Wort drdr sonst noch nachzu- weisen ist\ ist nichts für seine Bedeutung zu entnehmen.

Was die »Richtigkeit des Herzens« ist, weife ich nicht; der Ausdruck kommt auch Mar., Ab. II, 31 vor, wo das Verhältnife von Thutmosis I zu Osiris so geschildert wird: »du bist ihm geboren^, er hat dich gemacht

(d. h. erzeugt) ^v \ \ ^^ "^ ' m mtt^ nt Üf in der Richtigkeit seines

Herzens« (damit du Alles ftir ihn auf Erden thuest, seinen Tempel bauest u. s. w.).

^ Sinuhe 20a; Sali. 4, 3, 2; Maximes d'Anii 6, 7. ' D. h. sein echter Sohn, vergl. LD. II, 136Ä.

' Zwischen und 1 1 scheint früh eine Verwirrung eingetreten zu sein.

Gespräch emes Lebenen^den mit semer Seek. 63

xxxvm.

ddi n m mtnf Jj^rw JjJmj s rA m fyr m hrw r Snwf.

Zu wem sfpreche. ich hevief die Gesichter vergehen, ein jeder hat^ ein Gesicht urfm- ak (das)^ seiner Brüder.

Auch Totb. ed. Nav. 64, 17 steht, freilich in einer mir unverständ- lichen Stelle: ^ '^/ww.^ ^ v\ ^ »eure Gesichter sind unten« (?) und

I I II I iJS^<z> Ji I 11 es liegt darin eine gewisse Gewähr fiir die Richtigkeit unseres Textes.

Der Sinn wäre etwa: es giebt kein menschliches Antlitz mehr, einer sieht immer schlimmer aus als der Andere.

Aber eben so gut kann m hr auch die Praeposition »Angesichts von« sein und mhrw könnte wohl auch ein Wort sein. Ein solches m^rw ist mehr&ch zu belegen' als irgend ein Ortsausdruck (»Tiefe«?). Gegen diese letztere Annahme spricht indessen das einfache ^^ , denn man erwartet

in unserer Handschrift schon die Schreibung ^^ för dieses Praefix.

XXXIX.

c=S3\ El JS^ 6 O I 1 i A^^vw>A /} /^/yv^A^ a/vvv>a I ££ I /vvwv<

ddi n m minf ihvo ^wn^ nn tvn & n Sj rhntw Tyrf.

Zu wem spreche ich heute? Die Herzen sind fr^; der Mannj auf den man sich muztj hat kein^ Herz.

^ Gramm. § 307, 3. Eigentlich »ein jeder ist mit einem Gesicht versehen« ; ein gutes Seitenstück P178 ^i^ m rim cpr «die Geister mit ihrem ausgestatteten Munde«, d.h. die einen solchen Mund haben.

Gramm. § 352.

* ^^® ^^ _ _ ^^ Zeile 157 unserer Handschrift, in der Geschichte von dem Hirten

und der Göttin; als -^s^ ^ Weste. 12, 34; als ^v ^ Louvre C 3. ^ Gramm. § 369.

64 A. Eruan:

Klagte der vorige Vers über das Gesicht der heutigen Menschen , so rügt dieser ihr Herz.

Über ^wn-ib siehe das zu XXX Bemerkte. Der Gebrauch von um mit n im Sinne von »jemand hat etwas« ist auch sonst zu belegen (Siut 1,272; Pianchi 13). Für rhu /ir »sich stützen auf« vergl. Berschehl, 14, 5, wo das Wort freilich anders determinirt ist*.

XL.

r o I I I

ddt n m minf nn mi^Hw, ti sp n irw Üft.

I. Er hatte erst f^ geschrieben.

Zu wem spreche ick heute? Es gieht keine^ Gerechten; die Erde ist ein Fall von übeühätem.

Man möchte lesen sp n Üft »ein Fall des Sündethuns«, was eine

gewöhnliche Wendung ergäbe. Der Sinn ist in beiden Fällen: die ganze Welt ist nichts als Sünde und Unrecht.

zu

ddi n m minf iw Sw m ^h-ih^ inntw m hmm r kr}j/lnf.

Zfu voem spreche ich tievief Es fehü an Trwen, »m» bringt au Un-

wissenden zu denij ums er kennen lehrte

3

' In rbn ^r mw »auf Wasser .... - (Totb. ed. Nav. 125 Conf. 36) pafst allerdings diese Bedeutung nicht.

* Gramm. § 369. ^ Gramm. § 291.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seek. 65

über den unpersönlichen Gebrauch von iw siehe oben zu HI Anm. Über die muthmafsliche Bedeutung von ^^-Ä siehe zu XXXV. Die zweite Hälfte ist der in XXXVII gleich gebildet und ebenso unverständlich wie diese.

XLE

ddi n m minf nn hr-ib pßj im i^n^f, nn Sw vm.

Zu wem spreche ich heute? Es gid)t kim- keinen Zufriedenen; gehe mit ihmj (so) ist er nicht da.

Die Verbindung 1 v*^^ "^^ ^®*' ^^^^^ da« ist meines Wissens

neu, indels nicht aufTallend; wie man für das einfache »es giebt

nicht« auch -^^ ohne Änderung der Bedeutung sagt (Gramm. § 369),

so ist auch hier dem gewöhnlichen 1^ »er ist nicht da« noch ein

bedeutungsloses tvn beigefugt.

Dafs pfi hier das Ortsadverb »hier« und nicht das Demonstrativ »dieser« ist, schlie&e ich aus der Unmöglichkeit, es grammatisch als De- monstrativ hier unterzubringen. Das nn . . . pfi »es giebt hier nicht« entspricht wohl der häufigen Verbindung nn . . . i'ni »es giebt dort nicht«.

Ist die vorgeschlagene Aufi&ssung des Verses richtig, so ist der Sinn: auch der anscheinend Zufriedene zeigt sich bei näherer Bekanntschaft als ein Unzufriedener.

XLm.

ddi n m minf twt Hphwt hr miir n giw ^ic-ib.

I. Das (I in seltsamer Form, die vielleicht durch Korrektur entstanden ist.

Zu wem spreche ich heuief ich bin mit Elend beladen^ ohne einen Trmun. PhUoa.'hisUyr. Abh. 1896, IL 9

66 A. Erman:

Vielleicht darf man »Armuth« anstatt »Elend« setzen, denn mHr und sein ständiger Gegensatz wir »stark« scheinen auch, wie Brugsch hervor- gehoben hat, für Anne und Reiche gebraucht zu werden,

über n g^w siehe zu XV, über ^i-ib zu XXXV.

XLIV.

ddi n m minf nf fyto iij nn wn pimfi.

I. Nicht "^ , er scheidet/ und d deutlich. 2. Diese Umschreibung entspricht dem

hieratischen Zeichen , doch zweifele ich nicht, dafs es, wo immer es fQr ^ »schlagen« steht, eigentlich anders umschrieben werden müfste; aber wie? denn ^ hatschon einen anderen Ver- treter im Hieratischen; vielleicht gab es einmal ein Zeichen rP)? 3. Sic, nicht ^.

Zu wem spreche ich heutef das BmscMägt das Land; es hat keinEnde.

Will man das nf nicht in nd verbessern , so wird man für nf an das späte Wort \\ ^ 1 denken müssen, das man freilich bisher nicht ohne Wahr- scheinlichkeit mit »jene« identificirt hat.

Grammatisch bietet der Satz eine scheinbare Schwierigkeit ; man glaubt einen Nominalsatz vor sich zu haben und erwartet nun, da iw transitiv ist (nach Gramm. § 242): nf 6>r i>wt U. Ähnliche Sätze finden sich aber auch sonst in der Poesie (z. B. Eahun, Hymn. I, 7-8) imd sind gewifs nichts als gewöhnliche Verbalsätze mit hervorgehobenem Subjekt, die nur durch die Nichtsetzung des sonst bei der Hervorhebung des Subjektes übli- chen in (Gramm. § 350) abweichen. Der Sinn ist: das jetzige Elend der Welt wird immer dauern.

ILV.

iw mt m fyrt m (sie) rninj \mi\ inb mr, nd prt r Jyntw r &} hÜ. I. ito Korrektur. 2. Sic. 3. Oder y%?

Gespräch eines Lehensmüden mit seiner Seek. 67

Der Tod. steht heuie vor mir [wie] ein Kranker gesund wvrdj wie das Ausgehen nach der Kmkhmt.

In dem hier beginnenden dritten Gedicht, das die Sehnsucht nach dem Tode ausspricht, lautet der Anfang jedes Verses iw fnt m l^ri min mi »der Tod ist heute vor mir wie«\ Zu m Jkr »Angesichts von« vergl. z. B. Mar., Ah. n, 31 ; Pianchi 82; Mar., Karn. 11, 13; Pj. T. 2, i. Übrigens hat der Schreiber hier, wo ihm diese Foimel zum ersten Male vorkam , zwei Fehler in ihr gemacht.

Der Ausdruck prt r hntw eigentlich: »nach vom gehen« kam schon oben (XIX) vor und hat gewifs die hier angenommene Bedeutimg.

Das Wort ist so seltsam geschrieben (mit dem t zwischen den Determinativen), dals man einen Fehler annehmen möchte. Indessen kommt

Pl] 1] (j ci ^ JjMt Eb. 40, 11; 14 wirklich als Name einer Magenkrankheit vor.

Maspero's sehr freie Übersetzung der Stelle »tel le retour ä la sante du malade qui sort pour aller a la cour apres son tourment« beruht wohl auf einer Verwechselung von Jfntw mit hnw »Hof«.

XLVL

iw mt m Jirt min, mi sti ^ntiWj mi hmSt hr i^tfw hrw tfw.

Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der Myrrhen, wie unter dem Segel am windigen Tage zu sitzen.

Dafs ifitiw das Segel des Schiffes ist, hat Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) nachgewiesen. Hier könnte man versucht sein , es von einem Vorhang oder einer Matte zu verstehen, die man sich im Garten als Schutz gegen den Wind aufstellt^, aber diese Bedeutung wüfste ich nicht zu belegen, imd

' Maspero, der in seiner »Histoire ancienne« p. 399 die folgenden Verse flbersetzt hat, giebt dies frei wieder mit: «Je me dis chaque jour, tel .... teile la mort«. Das •chaque jour« ist die herkömmliche unrichtige Übersetzung von min\ vergl. das zu XXIX Bemerkte.

* So wohl auch Maspero, der >rideau tendu* übersetzt.

9*

68 A. Erman:

ansprechender ist auch die einfache Deutung auf das Segel: Wenn der kühle Nordwind, die höchste Freude des Aegypters, weht, so geniefst ilm der am besten, der unter dem Segel sitzt, denn dort streicht er am frische- sten durch. Der Gebrauch von kr »unter« ist in beiden Fällen auffallend. Hinter hrw erwartet man das genetivische n, das in dem Ausdrucke »Tag des . . zu stehen pflegt; die gleiche auffallende Verbindung auch oben in XII. Maspero überträgt den »Tag des Windes« mit »ce jour li«, er hat wohl das ^^^^ in ü%s verlesen.

XLvn.

iw mt m J^ri mtnj mi iH sSnWj nd Jtm&t fyr mriit nt tfU.

Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der LotusblumeUj wie auf dem Ufer der Trunkenheit zu sitzen.

Der »Uferdamm der Trunkenheit« (oder wenn man das Determinativ nur auf tf^t bezieht: »des Trunkenheitslandes«) ist ein für uns unklares Bild. Der Ausdruck, der aussieht, als ob er aus einem Liede stamme, spielt wohl an auf die Gelage, die man am See im Garten oder zwischen den Papyrusbüschen und Lotusblumen der wilden Gewässer zu feiern liebt. In Maspero's freier Übersetzung: »conmie respirer l'odeur d'un parterre de fleurs, comme s'asseoir sur la berge du Pays d'ivresse, teile la mort«, bringt das »parterre de fleurs«, das die Lotusblumen ersetzt, einen etwas anderen Sinn hinein.

XLvm.

I I I I iw mt m fyri min mi wft iwlüj mt iuo s m mS^ r prSn.

I. Oder ^? siehe zu XLIV. 2. Korrektur, dabei verwischt.

Der Tod steht heute vor mir wie ein Regenweg j wie jemand in dem Kriegsschiff zu seinem Hause kommt.

Gespräch eines Lebensmüden seiner Seek. 69

Der »Regen weg« ist wohl der nach dem Gewitterregen plötzlich in der Wüste strömende Bach, der sSl, dessen beglückendes Erscheinen uns Klun- zinger* so schön geschildert hat. Maspero übersetzt »la route que par- court un flot d'inondation« , doch wird hwilt (ebenso wie sein Derivat gcooT) in der Regel vom Regen gebraucht; vergl. meine Bemerkungen zu Weste. 11,12-18, wozu noch die guten Beispiele Pianchi 52 und Metternich- stele 55 zuzufügen sind.

J),^ wird auch Berscheh 18 von der Ankunft der heimkehrenden Schiffer gebraucht.

Merkwürdig ist die kollektive Behandlung von »Person« ; es steht

hier wörtlich »wie ein Mann zu ihrem (Plur.) Hause kommt« und ebenso in XLIX »wie ein Mann ihr (Plur.) Haus zu sehen wünscht, nachdem er Jahre verbracht hat«. Unsere Übersetzimg kann dies nicht nachahmen.

^^t^ »Kriegsschiff« ist uns durch die »XJna« -Inschrift (41. 42) und durch Sinuhe 38 bekannt. Maspero 's Übersetzung »comme un homme qui va en soldat ä qui nul ne resiste« beruht wohl auf irrigen Lesungen.

Die fröhliche Heimkehr einer Schiffsmannschaft wird auch in der bil- denden Kunst der Aegypter verschiedentlich dargestellt^; hier ist das »Kriegsschiff« wohl gewählt, um auf eine besonders weite Reise über's Meer hinzudeuten.

XLIX.

iw mt m Jjiri min rrd kft j)tj mi s s^ im r ^mtnf.

Der Tod steht heute vor mir wie eine Himmelsemwmmg^ wie jemand, den ich zu dem, was er nicht wufste.

Die Bedeutung »entblöfeen«, die Brugsch dem "TT beilegt, dürfte richtig sein ; das Wort wird aber wohl auch vom Entwölken des Himmels

^ Bilder aus Oberaegypten (2. Aufl.) S. 226.

' Im alten Reich im Grab des Pehenuka LD. II, 450.6.; im neuen Reich in den Gräbern des Paheri (Taf. III der Publikation des Exploration Fund), des Chaemhet LD. III, 76 a und wohl noch oft.

70 A. Erman:

gebraucht: »er fuhr stromauf 11 f^ßifpt und entwölkte (?) den

Himmel, das ganze Land war mit ihm u. s. w.« (SiutIV,ii; von dem siegreich vordringenden, das Land beglückenden König) \ Freilich ist der wolkenlose Himmel für den Aegypter nicht das, was er für uns Nord- länder ist, und das macht diese Erklärung unserer Stelle, die Mas per o auch theilt^, doch etwas fraglich.

Die bekannten Bedeutungen des Verbums s^it »weben, Vogel stellen, Ziegel streichen« sind hier schwerlich am Platze, und auch das Determina- tiv r-w-^ deutet auf etwas Abstraktes. Ein ganz ebenso geschriebenes Wort

kommt in den imklaren Stellen Prisse 6, 7 und 6, 9 vor.

«^'(©^M)

Maspero's Übertragung »comme un homme parti pour chasser au filet et qui se trouverait soudain dans un canton qu'il ignore« ist mir un- verständlich; selbst wenn man dem sfit trotz des ^->"^ die Bedeutung »Vogel- steller« gäbe, erhielte man höchstens »wie jemand ein Vogelsteller dort zu dem was er nicht wufste« also zusammenhangslose Worte.

i.

iw mt m hri min mi ^bb s mi) pr^j tmf mpt ^SH m ndrt I. Dies irrig wiederholte Wort hat der Schreiber selbst ausgelöscht.

Der Tod steht heute vor mir^ wie jemand sein Haies zu sehen u>ünscht\ nachdem^ er viele Jahre in Gß/angmw^ verbracht hat.

Über die Behandlung des ^ . als Collectivum siehe oben zu XLVII.

Die gewöhnliche Bedeutung »schlagen« pafst hier nicht fiir ndr, und

man sucht in ndrt vielmehr einen Ausdruck fär Gefangenschaft. Wenn ich

^ Anders steht es mit dem Beispiele Pianchi 73 und dem von Brugsch aus einem •Pap. Murray« angeführten, wo die »Wolken« und die »Finsternifs« das Objekt zu kf bilden.

' Er übersetzt «un rass^r^nement du ciel«.

' Gramm. § 190.

^ Gramm. §197.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 71

nun auch diese Bedeutung selbst für das Wort nicht nachweisen kann, so doch wenigstens nah verwandte :

^ o<o<— 5 ndrt r shr irff »Festhalten ziun Melken« (LD. II, 66, über dem Hirten, der die Kuh am Vorderbein festhält).

© £:i«> ^ ndrt mfw »Fangen der Gazellen« (Benihasan I, 30, über Kindern, die Grazellen haschen).

-- ""^^^^ jr ndrt ng »Fangen des Stiers« (LD. II, 14, über den Ar- beitern, die den wüthenden Schlachtstier umzuwerfen suchen).

€k ■^"□□ffiSn ndr wnS gjis »der Wolf fÄngt die Gazelle« (Beni-

hasanll, 13, über diesem Bilde; ebenso vom Löwen ib. II, 13; H, 4; vom Hund, der die angeschossene Antilope packt, ib. 11, 4).

LL

w

wnn ms nH im (Ö) m ntr ^n^^ ^r f^f iw n irr sw.

I. Das Wort ist nachtraglich zwischen den Zeilen 141 und 142 eingefiigt und dürfte in 142 einzuschieben sein, doch bleibt mir seine Stelle fraglich. Hinter dem iJ^i steht ein

schräger Strich, der (falls er nicht nur der Rest eines weggewaschenen Zeichens ist) wohl angeben konnte, dais hier das Wort einzufügen sei. 2. Durch Korrektur entstellt.

Wer dort istj wird^ ja ak Uhender Gottj indem er die Sünde

ttrqtt an demj der sie tkut^.

Jeder Vers dieses vierten Gedichtes beginnt mit der Zeile tvnn ms nMim »wer dort ist, wird sein«, die zweite Zeile giebt darauf an, was er sein wird, mid die dritte fugt mit einem | hinzu, was er thun wird.

Der Euphemismus ntt im »wer dort ist« (d. h. wer im Totenreich ist), ist bekannt. Die enklitische Partikel ms kennen wir bisher nur aus dem Westcar'; sie kann nur eine sehr leichte Nuance ausdrücken; fiir zwei

* Futurisch, vergl. Gramm. § 187.

* §259.2.

' Vergl. meine Sprache des Westcar § 188.

72 A. Erman:

der Stellen des Westcar pafst unser eingeschaltetes »ja«, das das Ge- sagte als eine bekannte Walirheit hinstellt.

Dafe der selige Tote ein »lebender Gott« ist, findet sich auch sonst,

so Totb. ed. Leps. i, 17. Falls das ^^ ^ vor dem m rar ^n^ einzu- schieben ist, muis es, wie das ^^^^ des nächsten Verses, als Praedikat zu wnn gehören. Setzt man es erst hinter das ntr ^n^^ so ist dieses das

Praedikat das dann , wie im dritten Vers , durch m eingeleitet ist. Was "-'^

*^ »fortnehmen« hier überhaupt soll, sehe ich nicht.

QSf ((^ n bedeutet sonst »jemanden bestrafen« ; ich vermuthe, daCs hier diese Redensart in ihrer vollständigen Form, »die Sünde an jemandem strafen«, vorliegt; das i^ »etwas« in ihrer gewöhnlichen Form stände also Ar das Vergehen: »etwas an jemandem strafen«.

Über ^ ^ ^^ vergl. das zu XXXIII Bemerkte.

Der Sinn dieses Verses ist: der Tote ist wie ein Gott und straft die Bösen.

UL

IT"*™xilk?:;i"k^1V??T"P>

<=>|cm I I I II I I wnn ms im ^^^ m wiij Jyr rdtt dtt itpt im r rfw-pru).

I. Der Schreiber hat schon Z. 26 ein seltsames Determinativ bei wif verwendet, das sich als eine Kombination von O und ä^S^ erklären läfst; was hier steht kann weder einem O noch einem ^^£g entsprechen.

Wer dort ist^ wird ja im sonmnschiff stehen j indem er das Erlesenste in die Tempel gehen läfst.

Mag man das seltsame Zeichen bei wt^ lesen wie man will, daüs vom Schiff der Sonne die Rede ist, in dem der Tote mitfahren darf als Ge- nosse des höchsten Gottes, ist nicht wohl zu bezweifeln.

Während rdÜ »geben« allein genügen würde, steht rdit dit »geben lassen«, wobei das dit natürlich kurze Schreibung fiir ditw ist^ Man ist geneigt, das dtt zu streichen, doch findet sich diese kausative Wendung

^ Gramm. §171. 180. 207.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 73

auch sonst, wo sie kaum nöthig ist. In der Bauerngeschichte heifst es

;^f^i:^T 0 ^ ^^^^ »du wirst ihm die Brote geben lassen.

ohne dafe er erfährt, dafs du es bist, der sie ihm giebt ( )«. Und

noch merkwürdiger in dem Erlafs Thutmosis' I. (ÄZ. 1891, 117): ^z^

_V^^T ® §^ »mache, dafe man macht, dafs der Eid bleibt« för »mache, dais der Eid bleibt«, wo die Richtigkeit der Lesung durch ein neues von Borchardt in Nubien gefundenes Exemplar bestätigt wird*.

Unt«r stpt hat man wohl, wie sonst, die Schenkel der Opferstiere zu verstehen.

Lin.

vmn ms nti im m rh-ifit n b&fntfj ftr Spr n r^j Jjfl mdwf.

Wer dort istj wird ja ein QMwter seinj dem nicht gewehrt worden istj indem er den Re bittet ^ wann er redet.

Der rfh'tfit »der etwas Wissende« steht Siut I, 223. 225 oder d'Orb. 11,4 parallel zu dem jig^ »Schreiber« und ist der Ausdruck fiir den »Weisen«, den Gelehrten. Die Bemerkung, dafs der Tote »den Re bittet, wann er redet«, geht wohl darauf, dafs er jetzt unmittelbar mit dem Sonnen- go tte verkehrt; jedes Wort, das er spricht, wird auch von Re vernommen und ist ein Gebet. Ein ähnlicher Gedanke ist ja auch in VII ausgesprochen. Was soll aber der Zusatz »der nicht abgewehrt worden ist«? Unwillkürlich kommt man auf den Gedanken, dafs auch in diesen Versen LI-LIII An- spielungen auf besondere Schicksale unseres Mannes vorliegen, und dafs Alles, was er hier als Recht des Toten bezeichnet, ihm selbst im Leben versagt worden ist.

LIV.

ddtn ni i^w: imi rk njiwt hr ä//, nSw pn^ hd.

^ Es hängt das zusammen mit dem allmählichen Verblassen der Kausativbedeutung von rdi^ das sich auch sonst beobachten läfst. So z. B. Brugsch, Thes. 1153 rdU smnho unnütz fiir hnnt oder d'Orb. S^S ^ dmtw unnütz für dm,

Phüos.'kistor. Äbh. 1896, IL 10

74 A. Erman:

Was der Geist zu mir sagte: Lege das Jairmiem auf das . . . .^ du Ange- höriger j niein Bruder.

Dafs hier nur ilfw anstatt ifyiw »mein Geist* steht, ist wohl ein Schreib- fehler, vergleiche das zu II Bemerkte.

Das Wort ^ V ^ ^-^' findet sich ebenso geschrieben im Anfang der Bauemgeschichte (Z. 29); der Beamte verbietet dem Bauern zu jam- mern und dieser sagt darauf: »du raubst mir die nljwt aus meinem Munde« ; er nennt also seine Klagen so.

Es findet sich dann weiter als ^ flA in einem Texte des neuen Reiches:

l^^l^i?«IIäi PiTlV^^."^ ^imw^rn^wininnwrsndf

»die Asiaten sich (dativisch) wegen der Gröfse der Furcht vor ihm«

(LD. in, 223c; parallel: »sie werden ohnmächtig wegen seines Namens, jedes Mal, dafs sie an ihn denken«). Man vermuthet »jammern über sich« oder ähnlich.

Dazu stimmt dann auch eine weitere Stelle der Bauerngeschichte, wo der Bauer dem ungerechten Fürsten sagt: »du bist stark und trotzig . . .,

die Müde geht an dir vorüber. Ti^J^M^^^ Pl^fl^S o weh des Armen, den du zu Grunde richtest« oder ähnlich \

Endlich wird in der Mettemichstele 47 das Jammern der Göttinnen als

® V^ bezeichnet, parallel zu dem |%Ps|^| »dem lauten Klage- geschrei« der Götter.

Zwei andere Stellen, in denen das Wort noch vorkommt. Sali. 2^^ 8, 9 ® ^m) "^^ Totb. 113 ( ® U) ed. Nav., Zeile 12 = ^ \\|j) ed. Leps., Zeile 8) sind mir nicht verständlich ^

Ein Wort hff mit k^-t^ determinirt ist mir unbekannt; man darf wohl vermuthen, dafs »lege die Klage auf das A//« eine Redewendung ist für »höre auf zu klagen«. Der Sinn ist jedenfalls: du brauchst nicht noch weiter zu janmiern, ich werde dir deinen Willen thun.

* Bauer 116 und ebenda 203 wiederholt. Vergl. über das Wort jetzt auch die während des Druckes erschienenen Bemerkungen Spiegelberg*s, ÄZ. 1896, 16.

* Mit den Worten |g| -^^^ gA Leyden V, 4 und .^^^ Benihasan I, 25, 1 14 hat unser

nl^wt nichts zu thun, denn diese sind unvollständige Schreibungen von n^nt und n^n.

* rdi ^ ist der gewöhnliche Ausdruck fiir -etwas auf etwas legen«.

Gespräch eines Lebensmüde^i mit seiner Seek. 75

In ^ 1 (ö^ n-iu7, das nach dem beigefilgten pn ein Substantiv sein mufs, liegt wohl ein Seitenstück vor zu dem Ausdruck jl^ ti-iw »Ge- nosse«. Wie jener bedeutet es eigentlich »der zu ihm Gehörige«*, seinen weiteren Gebrauch zeigt das Beispiel:

'^^^TPt ^ l(5^no'*Y"r==aM^;zi5* sik pw niwj it kfk »er ist dein Sohn, der Angehörige, den du^ erzeugt hast« (Prisse 7, ii).

IV.

]64n o -<Ä3- nns -^

1c--=i I I *S I

wdnk J^r ^^^ c&w^Ä i/ir ^nf^j mi ddkj mr toi ^i wtn nk imntj mr i,m pjf,k imntj iih h^k tij Ifnii r i) wrdkj ijj im dmi n sp.

I. Ob das Zeichen wirklich so zu umschreiben ist, ist mir selbst zweifelhaft, da j^ auch in den Handschriften des mittleren Reiches (Sinuhe 127. 293; Kahun, Hymn 2,13;

Kahun, Medic. Pap. 2, 4) nie ganz so gestaltet ist. 2. Unter ^^ noch ein, wohl zufälli-

ger, Strich.

Bu uutMt auf dem Feuerbe^keUj du auf dem Leben j wu du sagst

Wenn ich dir auch Mtw den Westen verweigert habe^ to gelangst du doch zu dem Westen^ deine Glieder erreichen die ErdCj ich lasse mich nieder j nachdem du lULhst. Lafs uns zusammen eine Stätte machen.

Diese Schlußworte des Geistes, die fiir das Verstandniss des Buches so wichtig sein würden, bleiben leider zum grofsen Theil unverstandlich.

' Über H-, H-sw vergl. meine Bemerkungen ÄZ. 1892, 80; über das in n^ vorliegende Praefix n- vergl. Set he, ÄZ. 1895, 73.

' Eigentlich -dein Ka«. Der Ausdruck ist interessant, weil erzeigt, wie bedeutungs- los das Wort M oft ist.

76 A. Ebman:

Das Wort wdn kam schon in VII vor; ob es richtig ist, es hier wie sonst mit »lasten« zu übersetzen, stehe dahin ^

Das »Feuerbecken« (denn nur in dieser substantivischen Bedeutung ist ^^ ^ys zu belegen) erinnert an das »auf das Feuer werfen« und das »Verbrennen«, von denen auch in IV die Rede war.

Ein Verb dmi mit dieser oder einer ähnlichen Schreibung ist mir nicht bekannt; auch das gewöhnliche Verb dmi, das wohl richtige zu B. T(OMi; TiOM »anheften« gestellt wird, ergäbe keinen Sinn.

Da sich die Sätze wdnk hr ^(i und dmik hr ^n^ anscheinend ent- sprechen, so kommt man auf den Gedanken, ob sie nicht einen Gegen- satz ausdrücken sollen, etwa: »verbrennen kannst du nicht und leben willst du nicht« o. ä.

Das rrd ddk lä&t sich jedenfalls so, wie angegeben, übersetzen* und an das Vorhergehende anschliefsen ; der Sinn ist dann: »das Feuer .... du und das Leben [verabscheust?] du, wie du (selbst) sagst« * die Seele hält dem Menschen seine Reden und Klagen vor. Nothwendig ist diese Auffassung indessen nicht*.

In dem doppelt gesetzten qa steckt wohl etwas Grammatisches;

jedenfalls gehören die beiden so beginnenden Sätze zusammen und der zweite steht, wie das Am* zeigt, in einem leichten Gegensatz zum ersten. Ich vermuthe, dafs sie etwa besagen: »wenn ich dir auch bisher den Westen verweigert habe, so kommst du (jetzt) doch zum Westen«. Dafs

^(1 o-_iJ etwa »zurückweisen« bedeutet, ergiebt sich aus den Stellen

Totb. ed. Nav. 154, 3; Pianchi 7; ib. 143. Die Partikel (?) ^^^^^ijd^

ist hier so räthselhaft wie an allen anderen Stellen und wird auch hier nur eine sehr schwache Nuance bezeichnen^.

' Jedenfalls ist der Sinn nicht »du drQckst schwer auf das Fenerbecken«, denn in dieser Bedeutung wird wdn mit r konstruirt; vergl. Harri, 79,1.

* Vergl. z. B. Prisse 2, 5.

' Man könnte auch denken , das mt ddk leite eine direkte Rede ein und das Folgende {mr wi Cf u. s. w.) wären Worte des Menschen, die die Seele ihm anführte. Wahrscheinlich ist das freilich nicht, denn dann blieben nur wenig Worte für die Seele übiig, die doch ihr Schlufswort nicht zu kura fassen darf.

* Vergl. meine »Sprache des Westcar« § 187, wozu noch das gute Beispiel P 303 kommt, das ich Sethe verdanke.

' Vergl. Sethe, ÄZ. 1893, 107.

Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele, 77

Die grammatische Konstruktion erinnert an einen Satz mit hervor-

gehobenem pronominalem Subjekt , wie es ^ ^(J o-_iJ nwk win

nk »ich bin es, der dir verweigere« sein würde; da hier aber nicht das för die Hervorhebung nöthige jüngere Pronomen absolutum, sondern das alte (wt/^ steht, so kann es sich hier nicht um eine wirkliche Hervor- hebung handeln. Vielleicht ist es das Twr, das diese seltsame Konstruktion bedingt.

Für den Ausdruck i/ij ti ist von Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) die Be- deutung »landen« belegt worden, und da das gewöhnliche Wort für »lan- den« mni als Euphemismus fiir »sterben« gebraucht wird , so könnte man denken, auch sifjk t) solle hier den Tod bezeichnen. Nach dem Zusammen- hang der Stelle ist es indessen wahrscheinlicher, dafs sfi, ti hier eine ge- wählte Wendung für »begraben werden« etwa: zur Erde kommen ist.

Über Ifn »sich niederlassen« und dmi »Statte« ist zu IX ausfuhrlich gehandelt worden.

Der Sinn des Abschnittes ist jedenfalls der, dafs die Seele nachgiebt und sich nicht mehr sträubt, ihrem Herrn in den Tod zu fblgen.

LTl

iwf pwj h^tf r pd^fij nd gmUt m sS. Als Rubrum.

Aist/srägj von Anfang bis zu Ende^ wie daSj was geschrieben vorgefunr den ist

Die übliche Schlufsformel der Handschriften, fiir die Griffith (ÄZ. 1896,49) jetzt die Erklärung »this is its arrival« (at the end) vorschlägt. Diese Erklärung läfst dem J\^ jedenfalls seine gewöhnliche Bedeutung »herbeikommen«, während die herkömmliche Deutung der Formel »es ist dahingegangen« diesem Verbum eine Bedeutung zuschiebt, die es meines Wissens niemals hat.

* Gramm. § 350. ' Gramm. § 80.

mio8.'histor, Abh. 1896. IL 11

Ä'. Preu/s. Akad. d. Wissensch.

Phä.-hisi. Äbh. 1896.

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Er man: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel 1 (Zeile 1-16).

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Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel 2 (Zeile 17-32).

K. Prmfs. Akad. d. Wissensch.

PhiL'hist Äbh. 1896.

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Erman: (jespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel 8 (ZeUe 33-47).

K, Preitfs. Akad, d. Wissenseh.

Phä.'hi8t,Ahh. 1896.

Erman: (lespräoh eines LebensmClden mit seiner Seele.

Tafel 4 (Zeile 48-63).

K. Breu/s. Akad. d. Wissensch,

IM.'hi9t.Abh. 1896.

Erman: Gespräoh eines Lebensmaden mit seiner Seele.

Tafel 6 (Zeile 64-78).

K, Breu/s. Akad. d. Wissensch.

Phä.'MstÄbh. 1896.

Erman: Gespräoh eines Lebensmaden mit seiner Seele.

Tafel 6 (Zeile 79-94).

JT. Breu/s. Akad. d. Wissensch.

Pha,'hMt. Äbh. 1896.

Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel? (Zeile 95-110).

K. Preuß. AJcad. d. Wissensch,

Pha.'hisi. Äbh. 1896.

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Erman: Gespräch eines Lebensmflden mit seiner Seele.

Tafel 8 (Zeile 111-125).

K, Prmß. Akad. d. Wias&nsch.

Pha.'hist Äbh. 1896.

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Erman: (jespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel 9 (Zeile 126-140).

K, Prm/s, Akad. d, Wissensch.

PhiL'hist. Äbh. 1896.

Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.

Tafel 10 (Zeile 141-155).

Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik.

Von

H™ CARL STUMPF.

PhOos.-histor. Abh. 1896. III.

Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 23. April 1896

[Sitzungsberichte St. XXI. S. 483].

Zum Diiick eingereicht am 17. März 1897, ausgegeben am 8. Mai 1897.

His ist hier meine Absicht, den Inhalt der 19. Section der unter den Werken des Aristoteles überlieferten Problemensammlung neu zu untersuchen und ihn so darzustellen, dafs sich ein übersichtliches Bild der darin nieder- gelegten Auffassungen vom Wesen und den Wirkungen der Musik ergiebt. Von vornherein ist allerdings im Auge zu behalten , dafs nach bestimmten Anzeichen (wir kommen auf die Autorfrage zuletzt) an dieser Section minde- stens zwei Autoren betheiligt sind. Im Ganzen aber ergiebt sich aus den fragmentarischen und regellos durcheinander gewürfelten Ausfuhrungen eine wol zusammenhängende Gesamtanschauung, und es offenbart sich darin ein tieferer Blick in die letzten musikalischen Prinzipienfragen als in irgend einer anderen Schrift des Altertums. Auf die enge Verwandtschaft mit den Forschungen der Gegenwart hat v. Helmholtz bereits gelegentlich Bezug genommen, aber sie reicht weiter als er dachte, ja sie ermöglicht es uns, mehrere bisher ganz unverständliche Stellen zu interpretiren und anscheinend unheilbare Textverderbnisse richtigzustellen. Aufser den gemeinsamen Grund- lagen treten aber auch die unterscheidenden Eigentümlichkeiten der antiken Musik deutlich hervor, und auch in dieser Hinsicht läfst sich das Material noch besser ausnützen, als es bisher der Fall war.

Die 19. Section als die sachlich bedeutendste und zugleich schwierigste und corrupteste der ganzen Sammlung ist mehrfach herausgegeben oder übersetzt und commentirt worden: von Chabanon I779S Bojesen 1836*,

^ Memoires de rAcadeoiie des Inscriptidns T. 46 (herausgegeben 1793) p. 285. * De Problematis Aristotelis. Diss. Kopenhagen 1836 (commentirt speciell nur die 19. Section).

4 C. Stumpf:

Ruelle i89i\ d'Eichthal und Reinach I892^ K. v. Jan I895^ Bar- th elemy Saint-Hilaire übersetzte und commentirte sie 1891 mit den übrigen Problemen*. Eine neue Ausgabe mit Übersetzung, philologischem und musikwissenschaftlichem Commentar wird von F. A. Gevaert in Ver- bindung mit anderen Gelehrten vorbereitet^.

* Revue des Etudes grecqnes. IV p. 233: Problemes musicaux d*Aristote (Ubersetziinji; und kritische Durcharbeitung:). Dazu in der Revue de Philologie XV (1891): Corrections anciennes et nouvelles dans le texte des probl. mus. d'Aristote.

* Revue des Etudes grecques. V p. 22: Not*5s sur les probl. mus. dits d'Aristote.

In dieser Arbeit sind die Musikprobleine zum ersten Male nach sachlichen Gesichts- puncten in G nippen geordnet. Ich habe sie aus zufälligen Ursachen erst vor wenigen Mo- naten kennen gelernt, als meine Abhandlung, deren Grundzüge aus dem Jahre 1892 stammen, bereits zum Drucke fertiggestellt war. Natürlich kann man solche Gruppirungen Je nach dem Standpunct der Betrachtung in verschiedener Weise vornehmen; es inufs dem Leser überlassen bleiben, welche ihm besser zusagt. 80 sind denn auch Probleme, die dort nur kurz gestreift werden , hier sehr ausführlich behandelt und umgekehrt. Die Arbeit der bei- den Gelehrten scheint übrigens seltsamer Weise auch v, Jan entgangen zu sein; wenigstens föhrt er sie in dem Litteraturverzeichnis (p. 59 seiner sogleich zu erwähnenden Ausgabe) nicht auf und nimmt nirgends Bezug darauf, wogegen er Ruelle's »Corrections« in die Revue des Etudes g^ecques 1892 verlegt.

Die beiden Autoren gehen nun allerdings in der Annahme von Entstellungen aller Art bedenklich weit. Nicht blos Wiederholungen, Auslassungen, Itacismen, Rand- und loter- linearglossen werden in Fülle zu Hilfe genommen, sondern auch Umstellungen derart, dafs wiederholt die Losung eines Problems mit der Fragestellung eines anderen verbunden wäi-e. Es bleibt von dem ganzen Bau sozusagen kein Stein auf dem anderen; und oft genug wii*d, wo all dies nicht hilfl, einfach die Sinnlosigkeit (galimaüas, ineptie) constatirt.

Aber die Meisterschaft in der philologischen Chirurgie verführt leicht dazu, mehr zu schneiden als der Patient verträgt. Der Nichtphilologe hält sich vielleicht wieder zu ängst- lich an den vorliegenden Text. Doch glaube ich nicht, dafs dabei soviel Sinnlosigkeiten stehen geblieben sind. Nur in einzelnen Fällen habe ich die Änderungen der beiden scharf- sinnigen Gelehrten nützlich gefunden, in den meisten Fällen unnötig, und es schien mir in diesen Fällen nach der positiven Erklärung meist auch nicht nötig, die Veränderungsvor- schläge im Einzelnen zu besprechen.

' Musici Scriptores Graeci. p. 39 (mit Einleitung und kurzen Anmerkungen).

* Les Problemes d'Aristote. II p. 36 (Übersetzung und Commentar). Diese Arbeit läfst an Exactheit viel zu wünschen.

* Man findet bereits in Gevaert's Histoire de la Musique de TAnticjuite 1875— 188 1 vielfach Erläuterungen zu einzelnen Problemen , teils von Gevaert selbst , teils von A. Wagen er herrührend. Auch Westphal hat verschiedene Probleme ausführlich be- sprochen, da sie ihm als wesentlichste Stützen für seine Auffassung der griechischen Musik erschienen. Endh'ch habe ich in meiner Tonpsychologie (1883 und 1890) die Probleme öfters herangezogen und Erläuterungen dazu gegeben; s. das Register zum II. Bd. unt«r »Ari- stoteles«.

Die pseudO' aristotelischen Probleme über Musik. 5

Wir gehen mm also im Folgenden von der überlieferten Reihenfolge vollständig ab und bilden nach sachlichen Gesichtspuncten Gruppen, inner- halb deren wir bei den schwierigeren oder wichtigeren Puncten nach Be- darf verweilen. Es ist vorausgesetzt, dafs der Leser den griechischen Text stets zur Seite hat, wenn wir auch an einzelnen besonders schwierigen Stellen zusammenhängende Sätze daraus einfugen. Die Übersetzungen sollen zugleich als Interpretation vieler Ausdrucke und Wendungen des Textes dienen, bei denen eine sonstige Erläuterung aufser der hierdurch schon gegebenen nicht erforderlich scheint. Bei den Überschriften der einzelnen Problemgruppen werden immer nur diejenigen Probleme als dazugehörig angeführt, deren Fragestellung ausdrücklich auf den bezüglichen Gegen- stand gericlitet ist. Die in der Darstellung selbst bei jeder Gruppe be- sprochenen Probleme sind durch fetten Druck kenntlich gemacht. Eine Tabelle am Schlufs der Abhandlung giebt eine Übersicht der Stellen, an denen jedes einzelne Problem erwähnt ist.

I. Von den Eigentümlichkeiten des Octayenintervalls.

' Hierauf bezieht sich eine grofse Anzahl von Problemen von hervor- ragendem Interesse fuv die Musiktheorie. Zum Verständnis ist es not- wendig, sich die allgemeine Auffassung des ConsonanzbegriflFes zu vergegen- wärtigen, wie sie sich den Problemen entnehmen und durch Ausfuhrungen des Aristoteles erläutern läfstV

Es werden, wie überhaupt in der altgriechischen Musik, nur drei Grund- consonanzen angenommen, Octave, Quinte, Quarte. Dazu kommen die ab- geleiteten, welche durch Hinzufugung der Octave zu einer von diesen dreien entstehen. Das Wesen der Consonanz ((rvfi<f>wviä) wird im Probl. 38 de- finirt. Sie ist »die Verschmelzung entgegengesetzter, in einem (bestimmten)

* In einer Arbeit, die ich 1893 in der Juni -Sitzung der Münchener Akademie der Wissenschaften vortrug, aber wegen äufserer Abhaltungen erst kürzlich in den Druck geben konnte, habe ich auch den Consonanzbegriff der Probleme und die unten folgende Erklä- rung des Probl. 14 bereits erwähnt. Aus dieser Abhandlung wird man den Zusammenhang der bezüglichen Lehren mit denen der übrigen alten Schriftsteller noch deutlicher ersehen; wie sie aucii in vielen anderen Punct«n sich mit der gegenwärtigen ergänzt. (Geschichte des Consonanzbegriffes. Erster Teil. Die Definition der Consonanz im Altertum. Abhand- lungen der Münchener Akad. d. Wiss. I. Cl. Bd. XXI.)

6 C. Stumpf:

Zahlenverhältnis zu einander stehender Töne : Kpaa-is €<m Xo'yov k^ovr^av kvavriwv irpos aXKtiXa.

Dafs consonante Töne hier (wie auch im Pr. 39^ am Schlufs) als ent- gegengesetzt bezeichnet werden , mag uns wunderlich vorkommen. Die Be- zeichnung stammt aus der pythagoreisch -heraklitischen Zeit. Die Pytha- goreer definirten nach Aristoteles (De anima p. 407, 6, 30) die Harmonie als Kpäais Kai cnivOeais kvavritßv. Ähnlich Heraklit nach Plato (Symp. 187,6). In anderen sonst gleichlautenden Definitionen des Altertums wird statt des Gegensatzes nur eben die Verschiedenheit der Tonhöhe ver- langt.

Von dem \070s ist ebenfalls seit den Anfangen der pythagoreischen Schule die Rede. Auch Aristoteles definirt mehrfach die Consonanz als \d70s, specieller \070s äpiOfiwv. Welche Zahlenverhältnisse gemeint sind, sagen andere Stellen der Probleme, wo sie entsprechend den Lehren der Pythagoreer angegeben werden.

Auch im Probl. 39** (nach Jan's Bezeichnung) ist von dem Verhältnis der consonirenden Töne die Rede; es wird hier als Verhältnis der Be- wegung bezeichnet: oi kv rp crvfiifxovia <f>d6yyoi Xoyov e^ova-i Kiinicews Trpos airrovs.

Ferner findet sich eine ausdrückliche Definition im Probl. 4 1 , die an- nähernd mit der ersten Obereinstimmt: (rvfi<f><i)via evXoyov e^ovrwv <f>06yyov Tvpos oKK^Xovs ccttL Aber hier kann der Bekker'sche Text nicht ohne Emendation stehen bleiben, da er sonst überhaupt keinen Sinn giebt. Ich vermute, dass Kpacis oder fju^is ausgefallen ist und das Ganze geschrieben werden mufs: (rvfi<f>wvia Kpacis evXoyws exQvrwv <f>d6yywv irpos aXXrjXovs €(ttL Zu evXoyws vergl. Aristoteles De sensu p. 439, b, 31: fiev yap ev äpidfioTs evXoyiiTTOis xP^f^^"^^^ KaBdicep €K€i ras (rvfiKfxovias^ ,

* Man konnte allenfalls den Satz auch schreiben: a-v^<t>tavia evKoytos exovrwv <f>06yyos K. T. \., und sich filr den Singular <f>06yyos auf Arist. De An. p.426, a, 27 (o-vfiiptovia ^wvif Tis itmv) und auf Stephanus* Commentar zur aristotelischen Rhetorik berufen, wo apfiovia als tftOoyyoa e( 6(eos icat ßapeos definirt, unter apfiovia aber eine melodische Aufeinanderfolge von Tonen verstanden wird (Commentatorenausgabe d. Berl. Akad. Bd. 31 S.308, 25). Immerhin ist diese Ausdrucksweise ungewöhnlich.

(f>B6yy<av, das durch zwei Handschriften gestützt und von der Aldina minor, auch von Bojesen aufgenommen ist, würde auch nicht gerade notwendig Kpams als regierendes Sub- stantiv verlangen; man könnte verstehen: »Symphonie besteht zwischen...«, und es liefsen sich Analogien für solche Diction aus Aristoteles anführen. Aber näher liegt doch die

Die pseudo-aristotetischen Probleme über Musik, 7

Über die Kpäcis oder, wie er lieber sagt, fxT^is der consonanten Töne handelt Aristoteles ausführlich in der Schrift De sensu c. 7. Er sagt, dafs Nete und Hypate, die Octaventöne, einander gegenseitig verdecken (aif>avL- ^€iv oKk/iKovs p. 447, a, 20), dafs eine gewisse Einheit daraus resultire {ev Ti yiyverai). Ausdrücklich hebt er noch hervor (449, 0, 19), dafe es sich dabei um gleichzeitige Töne handle.

So ist nun auch gewifs die Kpäo-is in der Definition der Probleme zu verstehen; wie sie denn von fast allen Musikschriftstellern des Alter- tums in diesem Sinne behauptet wird. Diese Mischung oder Verschmel- zung bei gleichzeitigem Erklingen ist nach ihnen etwas allen Consonanzen Gemeinsames und ihr constitutives Merkmal in psychologischer Beziehung, während das Zahlenverhältnis sie nach der physischen Seite charakterisirt. Natürlich darf man nicht schliefsen, dafs die Probleme und die alte Musik- theorie überhaupt nur bei gleichzeitigen Tönen Consonanz statuirten. Die- selben Töne, die gleichzeitig erklingend verschmelzen, werden auch in der Aufeinanderfolge als consonant (symphon) bezeichnet.

Dafs auch Gradunterschiede der Verschmelzung gemäfs den Gradunter- schieden der Consonanz stattfinden müssen, liegt in der Consequenz der Definition , und man könnte wol sagen, dafs solche Unterschiede schon dem Aristoteles vorschweben, wenn er einerseits die Octave stets als Bei- spiel der Verschmelzung gebraucht und die gegenseitige Verdeckung der Töne speziell von ihr behauptet, andererseits doch auch den übrigen Consonanzen Verschmelzung im Allgemeinen zuschreibt. Bei der Octave ist eben die Annäherung an das wirkliche Unisono am stärksten und auf- fälligsten \

Mit Hilfe dieser Lehren verstehen wir nun die grundlegenden Eigen- tümlichkeiten der Octave und die daraus abgeleiteten, wie sie den Gegen- stand verschiedener Probleme bilden:

Analogie der vorher erwähnten und vieler anderen Definitionen, die Kpaa-is zum Subject haben.

Endlich lesen Bqjesen und Andere \6yov statt evKoyov, wodurch die Übereinstimmung mit Pr. 38 noch vollständiger, die Definition selbst freilich unvollständiger würde.

* Über das Thatsächliche in Hinsicht der Verschnielzungserscheinungen vergl. meine Tonpsychologie II (1890); über ihre Verwendung zur Consonanzdefinition die demnächst im Druck folgende, am 25. Februar 1897 vorgetragene Abhandlung »Zur Theorie der Con-

8 C. Stumpf:

I. Verschmelzung der Octaventöne. Probl. 14.

Die Frage des Probl. 14 lautet im überlieferten Text: üiiä ri \av9dvci To Siä Tractov koi 8ok€7 öfi6(f>wvov €ivai oTov ev rw <f>oiviKi(f koI €v t5 ävdpdirw; Wörtlich also: Warum verbirgt sich die Octave und scheint homophon zu sein, wie bei dem Phoenikion und dem Menschen?

Bojesen nennt dieses Problem »obscurum« und tröstet sich mit seinem Vorgänger Chabanon, der völlig daran verzweifelte. Darin stimmen alle Erklärer überein , dafs sie unter dem <f>oiviKiov ein phönizisches Instrument verstehen, da ein Instrument von wenigstens ähnlichem Namen (\v/)o^O(- wf , \vpo<f>omKiov) bei Athenaeus und PoUux im 2. Jahrhundert n. Chr. erwähnt werde. Aber wie kann das Instrument durch »und« mit dem Menschen verknüpft werden? Eine handschriftliche Randbemerkung schlägt darum statt ävBpwTVio ärpoTrw vor, womit ein anderes Instrument Namens arpoTTOS gemeint wäre, von dem aber in der ganzen Litteratur nichts vorkommt\ Barthelemy St.-Hilaire will ävdpwirw mit »voix humaiiie« übersetzen. Aber »Mensch« zu sagen, wenn man die menschliche Stimme meint, wäre doch eine starke Licenz. Auch ist in den Problemen, in der musikalischen wie in anderen Sectionen, oft genug von der menschlichen Stimme und nie anders als mit (fxovriy ävdpdTTov (fxivrj die Rede (vergl. Pr. 10). Und schliefslich weifs man noch immer nicht, was sowol das Phoenikion als der Mensch oder seine Stimme mit der scheinbaren Homo- phonie der Octave zu thun haben.

Eine schon vorhin teilweise benützte Stelle der aristotelischen Schrift De sensu kommt uns hier zu Hilfe. Aristoteles setzt da' die Farbenmischun- gen mit denen der Töne in Parallele. »Diejenigen Farben, die in leicht- fafelichen Zahlen Verhältnissen gemischt sind, werden, wie dort (bei den Tönen) die Consonanzen, als die angenehmsten erscheinen, z. B. das äkovp- yov und das (j>oiviKovv (das dunklere und hellere Purpur) und einige wenige derartige; wefswegen auch der Consonanzen nur wenige sind« (p. 439, 6, 31).

Die beiden hier genannten Farben, die Aristoteles auch sonst öfters in Verbindung miteinander nennt, besonders aber das <f>oiviKovv, dienen ihm als

' Die alte Übersetzung des Th. Gaza (im III. Bande der Berliner Aristoteles -Ausgabe abgedruckt) folgte dieser Lesart. Chabanon schlofs sich ihr an und führte gelehrte Unter- suchungen über die beiden geheimnisvollen Instrumente.

Die psetido-aristoieüsclien Probleme über Musik. 9

Lieblingsbeispielo ffirMischferben/ Hienach zweifle ich nicht, dafs in unserem Problem zu lesen ist: oJov iv tw <f>oiviK(o Koi €v rw äXovpyS. Wie Aristo- teles dort die Farbenmischung durch die (k)nsonanz der Töne erläutert, so will der Verfasser dieses Problems die Verschmelzung der Octaventöne durch den Hinweis auf die Mischfarben erläutern. Das Xavddveiv der Octaventöne wird in der genannten aristotelischen Schrift (447,0, 20) als äi^avi^€iv aKKriKa bezeichnet. In der pseudo- aristotelischen Schrift irepi äKov<rr<av heifst es (801,6,20) ganz ähnlich: äTroKpvTrrea-Bai im oKKriKiov.

Hienach ist zu hoffen, dafs die beiden Instrumente <f>omiciov und arpoTtos aus den Verzeichnissen der alten Musikinstrumente verschwinden wenden. Zur Bestätigung mag noch dienen, dafs auf die von uns benützte Stelle De sensu auch Porphyrius . in seinem Commentar zur ptolemaeischen Harmonik einmal Bezug nimmt, um die Annehmlichkeit und die geringe Zahl der Consonanzen zu erläutern (Wallis Op. math. 111,328). Zugleich sieht man aber daran, dafs in einer solchen Berührung der Probleme mit ganz spe- ziellen Äufserungen des Aristoteles noch kein Beweis liegt, dafs sie von Aristoteles selbst herrühren.

Unser Autor fährt nun fort, indem er, wieder ganz in aristotelischer Weise, zunächst einen Punct der Fragestellung durch einen Zusatz erläutert: TCL jap €v ToTs ö^ectv omra ovx öfi6<f>wva äW' ävoKoyov aXKnXois 8ia rraarwv, »Denn die Endpuncte der Octave sind nicht etwa homophon sondern nur einander analog.« Er meint: Hypate und Nete sind nicht der nämliche Ton, wie man glauben könnte (und wie ja auch heute manche Psychologen be- haupten, spricht man doch auch von Unisono, weim in Octaven gesungen wird), sondern sie sind zwei verschiedene Töne; nur ihre Stellung in der Leiter und ihre Bedeutung in der Melodie ist die nämliche, sie sind einander analog^. Darum ist es eben ein Problem, warum sie bei gleichzeitigem Erklingen doch wie Einer klingen.

* Man sehe im Index Aristo telicus unter tpoiviKovs, Ein Teil der Stellen gehört aller- dings der pseiido-aristotelischen Schrift über die Farben an; aber da diese sicher in der Schule des Aristoteles entstanden ist, wie die Probleme, so sind die Stellen hier ebenso beweisend wie die echt -aristotelischen.

' Cf. Probl. 17: tj ort ov^ i «vt^ ^ avfi<f>tavos rp avfi<f>tav<ä tiamp ev tw Sia Traowv enre/vi; yap ev tw ßapet avaKoyoVj Ss ij 6{€ta iv nw of«. Näheres S. u. S. 12 f.

Zum Analogie -Begriff vergl. Aristoteles 1016,^,32 (ev kot oväKoyiav) 1131,0,31 {ava- \oyia SS itronis \oyo»v).

Philo8.'hi8tor. Abh. 1896, IIL 2

10 C. Stumpf:

Dafs dies der Sinn des Satzes, scheint mir unverkennbar; aber der Text ist auch hier nicht sogleich vollkommen durchsichtig. Bei ev Toiis ö^daiv denkt man natürlich zunächst an irgend eine den hohen Tönen innewohnende Eigenschaft. Aber wozu soll der Autor nun von speziellen Eigenschaften der hohen Töne reden, nachdem er doch vorher vom Zu- sammenklang eines hohen mit einem tiefen Ton gesprochen, und was soll es heifsen, dafs »das in den hohen Tönen« nicht homophon, sondern nur einander analog sei^? Es scheint mir, dafs unter ö^ea hier nicht die hohen Töne, sondern die beiden Endpuncte des Octavenintervalls zu ver- stehen sind, von welchem ja in diesem Problem die Rede ist. Dadurch erhält auch das am Schlufs des Satzes nachhinkende Sia iraaüv, das hier gar keinen Sinn hat, eine mögliche Erklärung: wahrscheinlich hat ein früher Interpret, der iv roTs ö^ecriv ebenso auffafete wie wir, zur Er- läuterung an den Rand geschrieben: {tov) 8iä iraaüv, und ist der Zusatz später an dieser Stelle des Textes statt unmittelbar nach ö^eciv eingefugt worden. Sonst gebrauchen die Probleme für die Endpuncte der Octave axpa (Pr. 43 u. ö.). Da aber der Terminus Si' ö^eiwv für die Quinte (Siä Ttdinre) hier sehr gebräuchlich ist, unter ö^ea also dabei die End- puncte der Quinte verstanden werden, so hat es nichts Befremdendes, dafs auch bei der Octave einmal ö^ea im Sinne der beiden Grenztöne ge- braucht wird; wie denn auch die nämliche Metapher »Spitzen« bei axpa und bei ö^ea zu Grunde liegt.

Die Lösung des Problems knüpft nun an diesen Gedanken an und ist unmittelbar verständlich: fi ori &(nr€p ö avros eivai SokcT <f>06yyos^ Siä ro ävaXoyov icortis hrl (wir lesen la-orvira) <f>06yy(ov^ ro S' Icov rov €v6s. »Etwa weil der Ton gleichsam der nämliche zu sein scheint, indem das Analoge der Töne als Gleichheit, das Gleiche aber als Eines (zu Einem gehörig) erscheint«*.

Der letzte Satz des Problems endlich: y^ravro Se rovro koI €v ra7s avpiy^iv e^cnrarwvrai^, scheint anfanglich die alte Lesart (fyoiviKiw (s. o.) zu begünstigen, indem er dem Phoenikion und dem Menschen noch die Syrinx zur Seite stellt, bei der die gleiche Täuschung stattfinde. Er würde frei- lich dann nicht an diese Stelle, sondern in die Problemstellung gehören,

^ Jan ergansst zu ea^aXoyov: rots ßapeaiv. Aber es steht ja ausdrücklich und ist auch von ihm im Text beibehalten: aKKij\ot$.

' Zu den letzten Worten vergl. Aristot. Met. p. 1054, 6, 3: aW* ev tvvtdis if ivortiM evonfs.

Die psetidO' aristotelischen Probleme über Musik. 11

etwa nach Sia TracüvK Man müfste also doch wol annehmen, dafs es sich auch hier nm eine Randbemerkung handle, die später an unrechter Stelle eingefügt wurde , womit dann aber ihre Beweiskraft för <l>oivuciw als den ursprünglichen Wortlaut hinwegfSUt; und die Entstehung dieser Be- merkung selbst wurde ich mir daraus erklären , dafs ihr Urheber das Be- dürfnis fohlte, die Ton Verschmelzung auch an einem bekannteren Instru- mente als dem »Phoenikion«, von dem der ihm vorliegende verdorbene Text sprach, zu erläutern.

Aber der Satz läfst sich auch anders, und zwar in unmittelbarem An- schlufs an den vorausgehenden verstehen: »Dieselbe Täuschung näm- lich dafs das Analoge för gleich gehalten wird findet auch bei den Syringen Statt«. Man verwechselt in der That öfters die Octaventöne mit einander, und zwar ist es eine von der neueren Akustik wieder bemerkte Thatsache, dafs besonders leicht bei Flötenpfeifen und ähnlichen relativ einfachen Klängen ein Ton för seine tiefere Octave gehalten wird^. Der Autor erläutert also nach dieser Auffassung hiermit nicht die Fragestel- lung sondern die Prämisse, die ihm soeben zur Lösung der Frage ge- dient hat, und zeigt sich dabei als Kenner akustischer Dinge.

2. Zahlenverhältnis 1:2. Probl. 23, 50.

Wie in der Definition der Consonanzen überhaupt, so spielt auch speziell bei der Charakteristik der Octave das Zahlenverhältnis eine wesentliche Rolle. Obschon das Verhältnis 1:2, wie überhaupt die Verhältnisse der drei Grundconsonanzen, längst feststand, wird seine Begründung doch zweimal in den Problemen zum Gegenstand der Frage und Antwort gemacht. Es wird hingewiesen auf die Saitenteilung und auf die MafsverhSltnisse bei den Flöten und den offenen Gefafsen, die zum Tönen gebracht werden^.

^ Im Probl. 23 werden die Syringen mit einer ähnlichen Wendung (o/kmVos Se Sx^t Km M -mv oT/p/yycüv) , zur Bestätigung herangezogen, nachdem vorher von Saiteninstrumenten die Rede war, um das Verhältnis 1:2 för die Octave an beiderlei Instrumenten zu erweisen. Aber hier ist die Heranziehung durch den Gedankengang vollkommen klar motivirt und an rechter St«lle angebracht.

* Vergl. m. Tonpsychologie II 407—409, 562 unt«n (Gevaert).

' Vergl. die vier Berechnungsweisen, die Theo v. Smyrna (2. Jahrhundert n. Chr.) auf- fuhrt: aus Gewichten, aus (Saiten-) Längen, aus den Bewegungen und aus den Gefafsen. Theonis Smyrn. Expositio, rec. Hillerp. 59.

2*

12 C. Stumpf:

Inhaltlich bedürfen die Probleme 23 und 50 nicht der Erläuterung. Dafs im Probl. 23 in der Fragestellung nicht mit den Handschriften 17 v^rri Tfis VTrarris, sondern mit Wagener umgekehrt rfis i^t>;s 17 inraTti zu lesen, ergiebt sich aus der Lösung des Problems, die sonst nicht dazu stimmen würde. Auch im Probl. 12 heifst es, dafs zwei Netai auf eine Hypate gehen, nämlich nach der Saitenteilung (ti} SiaXn\lr€i).

Im Probl. 35' (nach Jan's Bezeichnung) wird allerdings die Nete das Doppelte der Hypate genannt. Diese Auffassung bezieht sich statt auf die Saitenlänge auf die Schnelligkeit der Saitenbewegungen und der dadurch be- wirkten Luftstöfse. Es war den Alten nicht unbekannt und wird sowol in früheren Schriften (bei Plato) als in den Problemen (39^) erwähnt, dafs die Bewegungen bei der Nete doppelt so schnell sind^

Die Zahlenverhältnisse 2:3 für die Quinte, 3:4 für die Quarte, 4:9 für die Doppelquinte u. s. w. werden in anderen Problemen (vergl. 41) gelegent- lich erwähnt, bilden aber nicht selbst den Gegenstand eines Problems.

3. Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Probl. 19.

Wenden wir uns nun von den psychologisch und physikalisch grundlegen- den Bestimmungen zu den (im Sinne der Probleme) abgeleiteten Eigentümlich- keiten der Octave, so drängt sich zuerst die Ähnlichkeit der Octaventöne auf. Diese hat Probl. 19 zu seinem Gegenstand. Es schliefst seine Fragestellung un- mittelbar an die Lösung des Probl. 1 8 an (auf welches wir, unserem synthe- tischen Gange gemäfs, erst später kommen). Dort war daraufhingewiesen, dafs die antiphonen Töne, womit die der Octave gemeint sind, einund- denselben Ton geben, mögen sie zusammen oder allein angegeben werden; jeder wird als Vertreter des anderen und des Ganzen aufgefafst. Warum findet sich dies, fragt nun unser Problem, nur bei den Octaven tönen? Die

* Riielle will mit Berufung auf Pr. 35» auch für Pr. 23 die Fragestellung der Hand- schriften festhalten, und legt dieses Problem so aus, dafs durch Aufsetzen des Fingers auf die Mitte der Hypate (TeiUmg der H.) zwei Netai entstehen; wie dies ja auch in Pr. 12 direct so ausgesprochen ist. Aber in solchem Falle nennt man doch nicht die Nete das Doppelte der Hypat« sondern umgekehrt! Nur wenn wir den Autor einer recht nachlässigen Ausdrucks- weise zeihen oder wenn wir etwa annehmen, dafs er eine überlieferte Frage, die sich auf üeschwindigkeitsverhältnisse bezog, irrtümlicherweise von den Saitenläiigen verstand, könnte man die alte Lesart in Pr. 23 festhalten. Aber wenn sie dann airch historisch erklärt wäre, sachlicli gerechtfertigt wäre sie keinesfalls, und icii wurde sa,y;en, wir müssen den Lapsus nachträglich gut machen.

Die pseudO'OristoteUscften Probleme über Musik, 13

Antwort ist: »weil diese allein gleich weit von der Mese abstehen. Diese Mittellage {ßAecorvis , nämlich eben der Mese) bewirkt eine Art von Ähnlich- keit der Töne, und das Gehör scheint (infolge dessen) zu sagen, dafs es derselbe Ton ist (die Hypate nämlich und die Net«) und dafs beides Grenz- töne sind (im Verhältnis zur Mese)«.

Dieses Problem hat den Auslegern viele Schwierigkeit bereitet, weil doch die Nete um 4, die Hypate nur um 3 Stufen von der Mese absteht (e/ a e). Man hat ein (Tx^Sov vor Icrov einschieben wollen (Ruelle), wodurch aber der Mangel der Beweisführung erst recht in's Licht treten würde. Denn genau gleich weit wie die Hypate steht doch, wenn wir schon Stufen zählen, nur die Paranete von der Mese ab (rf* a e). Also müfste die Paranete noch viel mehr wie einundderselbe Ton mit der Hypate erscheinen , während sie umgekehrt unter allen Tönen der Leiter am verschie- densten vom Grundton zu sein scheint, sowol im Zusammenklang, als in der Aufeinanderfolge. Im Probl. 47, wo von der 7 -tonigen Leiter ohne Nete die Rede ist (rf' e), heifst es denn auch ganz correct, die Mese sei so genannt, weil sie zugleich das Ende des einen und den Anfang des anderen Tetrachords bilde und gleiches Verhältnis (Lage, Abstand) zu den Endpuncteti habe. Aber in unserem Problem sind ja ausdrücklich die Octaventöne als Endpuncte bezeichnet.

Die neuere Tonpsychologie ermöglicht, wie ich glaube, auch hier das Verständnis, und zwar ohne jede Textänderung. Sie lehrt, dafs der Begriff des Intervalls imd der der Tondistanz (des Grades der Unähnlichkeit zweier Töne) keineswegs zusammenfallen und dafs man den Abstand zweier Töne nicht durch das Intervall oder die Summe der zwischenliegenden Intervalle messen kann. Wenn wir den Schritt von 6? zu a und den von a zu dem höheren e^ fiir ungleich erklären, weil der eine ein Quarten-, der andere ein Quintenintervall darstellt, so ist diese Betrachtungsweise von der Abzah- lung der musikalischen Leiterstufen hergenommen. Wenn wir aber ohne Abzahlung der Stufen und ohne Rücksicht auf die danach gebildeten Ausdrücke uns fragen , wie sich die beiden Abstände bei directem Übergang zwischen den drei Tönen verhalten, so kann das Gehör in der That dazu kommen, die Abstände e a und a e^ als gleiche und a als Mitte aufzufassen. Wir haben in der neueren Musik, um unter vielen Beispielen eines heraus- zugreifen, in den ersten Tacten der sog. Dudelsacksymphonie Haydn's einen solchen Fall: der Schritt von d^ nach a^ und der darauffolgende von d^

14 C. Stumpf:

nach a' erscheint in der momentanen musikalischen Auffassung gleich grofs\

Dieser gleiche Abstand von der Mese nun, meint unser Problem, bewirkt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den äufseren Tönen. Diese »gewisse Ähn- lichkeit« ist offenbar dasselbe, was wir in Probl. 14 als » Analogie« kennen lernten, und was auch in Probl. 17 so bezeichnet wird (eKeivri yap ev tS ßapei ävoKoyov^ ois 17 b^ela kv o^ei' üxnrep ovv ri aimi eariv afia koi oAXi;). Es ist die Gleichheit des Verhältnisses und der musikalischen Be- deutung. Als Ähnlichkeit wird sie auch im Probl. 42 bezeichnet und dadurch erl&utert, dafs man nach der Nete die Hypate leicht singen könne (s. u.).

Können wir so ein Verständnis fiir den Gedankengang des Problems gewinnen, so ist nun freilich in sachlicher Hinsicht sehr die Frage, ob das Gleichheitsurteil f5r die beiden Tonabstände sich bestätigt, wenn wir aufser- halb des musikalischen Zusammenhangs die drei Töne vergleichen und wenn wir uns auch zugleich von jedem nachwirkenden Einflufs musikalischer Erfah- rungen unabhängig zu machen suchen. Zunächst ist dieses sogenannte Distanz- urteil doch wesentlich bestimmt durch die musikalische Bedeutung und Func- tion der Töne. Im obigen Beispiel erscheint uns der Schritt von der Tonica rf' nach der oberen Quinte a' und dann nach der unteren Quarte a' gleich grofs, weil es sich in beiden Fällen um den Schritt zur Dominante handelt, weil er gleiche Bedeutung fiir unsre augenblickliche Tonauffassung besitzt. Fassen wir dagegen a' und a* als Tonica (und dies wird das nächstliegende sein, wenn die Tonbewegimg mit einem von beiden beginnt), so werden wir nicht rf' sondern e^ als Mitte fassen (also die Paramese), weil nun eben p' Dominante und damit wichtigster Ton zwischen a' und 0' ist. Dies war denn auch das Ergebnis ausgedehnter Versuchsreihen über Mitteschätzungen, die vor einigen Jahren im Leipziger psychologischen Institut ausgeführt wurden. Sie stimmen mit den Angaben unsres Problems insofern überein, als auch hier eine Quarte und eine Quinte, die sich zur Octave ergänzten, einander als gleich geschätzt wurden. Aber den Urteilenden erschien nicht ea = ae'

* Theoretische Ausführungen ober diese Fragen finden wir ini Altertum allerdings nicht, sie sind uns als Fragen erst in der neuesten Zeit zum Bewuüstsein gekommen. Aber eine analoge Aufserung der unmittelbaren musikalischen Auffassung wie in den Problemen finden wir in einer Stelle bei Eusebius von Emesa, von dessen Zeit die der Probleme viel- leicht nicht zu fern liegt. Er sagt, dafs die Mese mit der Hypate und der Nete -Kara rrjv 7<rviv avTio-vainv zusammenklinge (s. den Schlufs der S. 5 erwähnten Abhandlung).

Die pseudO' aristotelischen Probleme über Musik. 15

sondern ehz^he\ Nach meinem Dafürhalten ist die eine wie die andere Schätzung nicht unabhängig genug gegenüber den Nachwirkungen der prak- tischen Musik, und ihr Auseinandergehen ist ein Zeichen dafür*.

Daher würde man , wie ich glaube , bei genauer Verfolgung der Sache im Probl. 19 einen Cirkel entdecken. Nicht darum erscheinen uns die Octaven- töne als einundderselbe Ton, weil sie von der Mese gleich weit abstehen, sondern umgekehrt: die scheinbare Gleichheit des Abstandes rührt davon her, dafs uns die Octaventöne ihrer musikalischen Bedeutung nach als identisch gelten; und dies selbst bleibt noch zu erklären.

4. Resonanz. Probl. 24, 42»

Wie dem Merkmal der Verschmelzung, wodurch sich die Octave ftir unsere Wahrnehmung auszeichnet, das einfache Zahlenverhältnis als phy- sisches Merkmal zur Seite steht, so entspricht der Ähnlichkeit der Octaven- töne in der Darstellung der Probleme die physikalische Erscheinung der Resonanz.

Probl. 24 firagt, warum, wenn einer die Nete angiebt und dann die Saite festhält, die Hypate allein zu resoniren scheint {SoKei ävrri^^eiv). Die Lösung wird in der Verwandtschaft der Töne (Bewegungen) gefimden.

Hinsichtlich der Erscheinung selbst hat Jan bereits das Nötige zur Erläuterung bemerkt. Es ist ganz richtig beobachtet, dafs bei den Saiten die tiefere Octave durch die höhere zum Mitschwingen gebracht wird. Aber sie schwingt dann nicht als Ganzes, sondern in zwei Abteilungen, deren jede den höheren Ton giebt, so dafs der Ton der tieferen Saite selbst nicht zu hören ist. Dies scheint dem Verfasser des Problems entgangen zu sein, wenigstens erwähnt er es nicht; aber das Versehen wäre begreiflich und ist noch neuerdings Hugo Riemann begegnet^.

Eine feine Beobachtung scheint in dem Ausdruck crway^dvea-Oai an- gedeutet: das Mitschwingen erlangt in der That erst successive seine volle Stärke. Ebenso wird physikalisch richtig beigefugt, dafs das Mitschwingen der übrigen Saiten wegen der Geringfügigkeit unmerklich sei. Es erfolgt

* Vergl. meine Abhandlung »Über Vergleich ung von Tondistansen«, Zeitschr. f. Psycho- logie und Physiologie der Sinnesorgane I (1890), besonders S. 419—427, S. 43i(a), S. 459-463.

^ Musikalische Syntaxis 1877. Hier citirt Riemann 8.123 auch das Zeugnis des Probl. 42, das wir sogleich besprechen (*<lt$6yyov qvt^b okovovtvs«). Vergl. über die Frage der > Untertöne« m. Tonpsych. II 364 f.

16 (). Stumpf: .

hier nur ein Anfang der Bewegung. Die Erklärung des Mitscliwingens aus der Verwandtschaft oder Ähnlichkeit der Tonbewegungen mufs uns freilich zu vag erscheinen.

Probl. 42 giebt eine viel weitläufigere Erklärung derselben Erscheinung. Es beruft sich darauf, dafs die Nete beim Nachlassen {Xrrfovcra koi fiapai- vofJLevri) in die Hypate übergehe. Darunter ist hier offenbar nicht die Ände- mng der gehörten Tonhöhe , sondern die Reduction der Bevsregung auf die halbe Geschwindigkeit verstanden\ »Da wir nun von der festgehaltenen Nete wissen, dafs sie sich nicht mehr bewegt, die nicht festgehaltene Hy- pate aber (bewegt) sehen und einen Ton von ihr hören , glauben wir, dafs die Hypate (von Anfang und allein) ertöne.« Wie es denn solcher Sinnes- täuschungen noch viele gebe. Femer gerate durch die Schwingung der am stärksten gespannten Nete der Steg und durch ihn alle Saiten in einige Bewegung; während aber die übrigen der Nete fremd seien, sei die der Hypate ihr verwandt, und so glaubten wir, wenn die (aus der Verlang- samung der Nete -Bewegung entstehende) Eigenbewegung der Hypate noch dazu kommt, nun ausschliefslich diese zu hören , während der geringfügige Klang der anderen dagegen verschwinde.

Auch hier spricht ein scharfer Beobachter, wenn auch die theoreti- schen Auseinandersetzungen viel zu wünschen übrig lassen.

5. Die Octave allein giebt durch Verdoppelung wieder eine Consonanz. Probl. 34, 41.

Der Bekker'sche Text von 34 ist ganz unmöglich. Mit Recht schalten alle Neueren vor den Worten Sls SV ö^ciwv (in der Lösung) ein ov oder noch besser ovSe ein^. Zwischen Terrdpwv und ecrrlv lesen Ruelle und

^ Wir finden diese physikalisch unhaltbare Vorstellung zuerst im platonischen Timaeus C.37 p.8oa. Über die Vorgänge bei der Fortpflanzung des Schalles vergl. auch die XI. Sec- tion der Probleme, Nr. 6 und 20, sowie die von Busseniaker herausgegebenen Probleme Sect.ll, 92 (Aristoteles - Ausgabe bei Didot Bd. IV), wo eine scheinbare Erhöhung (ohne spe- ziellen Bezug auf die Octave) zu erklären versucht wird. Endlich ist Probl. 35^ unserer Section zu vergleichen, welches aber gleichfalls nicht sj)eziell von der Octave, sondern von kleineren Erhöhungen und Vertiefungen des Tons handelt (s. unten 11, 8, b).

In den erläuternden Sätzen , die der Verfasser des obigen Problems bei fugt, sind starke Texteorruptionen , die mir auch durch alle Vorschläge nicht genügend beseitigt scheinen. (Über eine Umstellung in dem Satz. <n\fie7oy Se s. u.) In dem Satz t^v fiev ydp, den wir im Text wortlich übersetzen, liest Jan gewifs richtig on ov statt ov.

' Letzteres ist, wie ich Ruelle entnehme, auch durch drei Handschriften gestützt.

Die pse9tdO' aristotelischen Probleme über Musik. 17

Jan eKijJLopiov, eine strengere Gedankenverbindung wird aber hergestellt durch Bojesen's Vorschlag, statt kariv jm lesen: \6yov e^ei. Als zulässiger \070s für Consonanzen galten den Pythagoreem, deren Lehre hier mafs-

gebend ist, nur der \070s TroWaTrXacr^os j j und kTrifiopios ( j. Vergl.

Euclides Sect. can. in Jan's Mus. script. p. 149, 23. Da Quarte und Quinte verdoppelt keinen solchen \070s geben, geben sie nicht Consonanzen.

Im Probl. 41 wird das Nämliche weitläufiger ausgeführt. Hier heifst es ausdrücklich: oi axpoi irpos äXXiiXovs ovSeva \6yov e^ovoriv ovre yap eniixopioi ovT€ TroXKaTrXdcrioi ecrovrai.

Bemerkenswert ist die ausschliefslich arithmetische Begründung, ohne jede Bezugnahme auf die Aussagen des Gehörs.

6. Der tiefere Ton der Octave beherrscht den höheren und ist Träger des Melos. Probl. 8, 12, (13,) 49.

Probl. 8: »Warum beherrscht (ia-jfve«) der tiefe den höheren Ton? Etwa weil das Tiefe gröfser ist; denn es gleicht dem stumpfen Winkel, jenes aber dem spitzen.«

Das Problem schliefst sich wieder an das Lösungsprincip des ihm voran stehenden (7) an, indem es dieses zum Gegenstand eines neuen Problems macht, ebenso wie Probl. 19 gegenüber 18. Im Probl. 7 aber war die Rede von Hypate und Nete, und so dürfen wir annehmen, dafs auch hier diese beiden Töne gemeint sind, oder besser gesagt Octaventöne, fiir welche Hypate und Nete immer als Beispiel gebraucht werden. Die Erscheinung selbst, von der der Verfasser spricht, ist allerdings eine allgemeinere, aber sie ist in der That bei Octaventönen am auffalligsten und am besten zu beobachten.

Wenn zwei Töne zusammenklingen, hat das Tongemisch als solches eigent- lich keine Höhe, sondern jeder Ton die seinige. Wenn wir indessen beide Töne nicht von einander unterscheiden , vielmehr den Klang als Einheit auffassen, wie dies namentlich bei der Octave wegen ihrer starken Verschmelzung leicht geschieht, so wird der Klang für unsre Auffassung auch eine gewisse einheitliche Höhe besitzen, mögen wir sie übrigens in Worten angeben können oder nicht. Und in solchem Fall neigen wir dazu, den höheren Ton. wenn er nicht gerade an Stärke überwiegt, gewisserniafsen zu ignoriren und die Höhe des tieferen Tons zugleich als die Höhe des ganzen Klanges zu nehmen. Aber selbst wenn beide Töne unterschieden werden, verrät Philos.'lMtar. AbL 1896. III. 3

18 C. Stumpf:

sich in unsrer unmittelbaren sinnlichen Auffassung eine Neigung, dem Zu- sammenklang als solchem auch eine^Höhe zuzuschreiben, obschon wir uns bei logischer Reflexion sagen müfsten, dafs jeder Bestandteil seine eigene Höhe hat; und zwar erscheint wiederum auch hier die Höhe des tieferen Tons zugleich als Höhe des ganzen Klanges. Am auffallendsten ist dies auch hier bei der Octave. Ich bitte jeden, dem es um das Verständnis der Worte aus der Sache zu thun ist, zwei im Octavenverhältnis stehende Stimm- gabeln auf Resonanzkästen oder zwei gedackte Pfeifen zugleich erklingen zu lassen , hierauf einmal den höheren , ein andermal den tieferen Ton in Weg- fall zu bringen: im ersten Fall verändert der Klang seine Höhe für die Auf- fassung nicht, während er im zweiten Fall plötzlich in die höhere Octave überspringt. Ich habe darüber in der Tonpsychologie II, 382 f. und 410 ver- handelt \md die Erscheinung gleichfalls auf die räumlichen Eigenschaften unsrer Tonempfindungen zurückgeführt, mit welchen ja auch unsre Metaphern »tief und hoch« ebenso wie die griechischen ßapv und 6^ zusammenhängen. Das Breite, Schwere, Tiefe wird als Grundlage und Träger des Ganzen (Basis, Bass), das Spitze, Leichte, Hohe als Überbau gefafst. Über die Her- kunft der räumlichen Vorstellungen selbst s. dort I, 207 f., 22 if, II, 56f, und bei Aristoteles De an. II, 8. p. 420, a, 29 \

Bei harmonisch begleiteten Melodien der gegenwärtigen Musik liegt allerdings die Melodie meistens in der Höhe und wird auch vom Ohr ge- wohnheitsmäüsig da gesucht. Aber dies ist die Folge der historischen Ent- wickelung, der Ausbildung der Mehrstimmigkeit und der Harmonie, und es läfst sich auch psychologisch unschwer zeigen, wie diese Umstände dahin drängen mufsten. Gehen wir aber auf die elementaren Erscheinungen zurück , namentlich auf isolirte Octaven , so können auch wir den von den Problemen betonten Zug der sinnlichen Auffassung nur bestätigen.

Der Sinn des Ausdruckes ia-xyei in unsrem Problem dürfte nach dieser Beschreibung der Erscheinung selbst wol genügend deutlich sein, obschon der Ausdruck nicht leicht zu übersetzen ist^. Ich würde sagen »übertönt«,

* Jan citirt Script, p. 12 auch eine Stelle des Sextus Empiriciis (Adv. mus. 40) über die Metaphern ofv und ßapv, die mir entgangen war und zugleich einen interessanten Bei- trag zur Klangfarbenlehre bei den Alten giebt (^v^ fxeKatva koi \wicif).

* Die Übersetzung »beherrscht« hat in der Ausdrucksweise Wundt's für derartige Ver- hältnisse unsrer Empfindungsinhaltf^^ ihr Analogon (»80 ist in einem Klang der tiefste Ton das herrschende Element- Logik' 1, 14). Wundt hat dabei allerdings einen Grundton im Auge, der zugleich stärker ist als die übrigen Teiltöne.

Die pseiido' aristotelischen Probletne über Mvsik. 19

wenn sich dies nicht vorwiegend auf eine gröfsere Intensität bezöge, die hier nicht gemeint ist. Der Verfasser selbst hat eine ungewöhnliche Wen- dung gewählt, da Itr^veiv mit Accusativ sonst wol kaum vorkommt \

Probl. 12: »Warum nimmt unter den Saiten die tiefere immer das Melos? .... Etwa weil das Tiefe grofs, daher stärker ist, und weil das Kleine im Grofsen eingeschlossen ist. Sind doch auch nach der (Saiten-) Teilung zwei Netai in der Hypate eingeschlossen.«

Dieses bisher besonders dunkle Problem (s. Bojesen dazu) wii-d klar, wenn wir annehmen , dafs darin im Wesentlichen dieselbe Erscheinung wie im Probl. 8 besprochen wird, wie ja auch die Erklärung dieselbe ist; daüs also fieKos hier nicht zunächst Melodie sondern Tonhöhe bedeutet und dafs von der scheinbaren Tonhöhe bei einem Zusammenklang die Rede ist. Allerdings bringt die fragliche Erscheinung mit sich , dafs auch bei einer in Zusammenklängen (seien es auch nur Octaven) sich bewegenden Musik die Melodie vorzugsweise als solche der tieferen Stimmlage aufgefafst werden wird, solange nicht etwa noch andere Motive mit- und entgegenwirken. Und man mag immerhin annehmen , dafs der Verfasser bei Pr. 8 lediglich den isolirten Zusammenklang als solchen, bei Pr. 1 2 dagegen den Zusammen- klang als Glied einer (in Octavenparallelen ausgefiihrten) Melodie im Auge hat. Dadurch ergiebt sich eine Annäherung an die gewöhnliche Deutung dieser Probleme (s. besonders Westphal, Griech. Harmonik^ S. 36, Aristo- xenus- Ausgabe XXXIV f.).

Ich habe das Problem in obigem Sinne bereits in m. Tonpsychologie II 3 90 f. commentirt und die fragliche Auslegung von fieKos = Tonhöhe durcli andere Stellen erläutert'^. Auch die daselbst erwähnte Formulirung eines Problems bei Plutarch (Quaest. conv. 1. IX. qu. 8), dessen Lösung fehlt, ist ein

^ Eichthal und Reinach vermuten, el)en weil ia^vetv sonst nur als Verbum neutnim vorkomme, 7a-xet, Der Sinn der Fragestellung wäre dann nur: warum ist der höhere Ton im tieferen enthalten? (cf. Pr. 12.) Aber die Antwort auf diese ohnedies nicht sehr sinnvolle Frage wäre vollkommen tautologisch : weil der tiefere grösser ist. In der That ein »jeu de mots«, worin man Frage und Antwort ebensogut vertauschen könnte. Wenn aber ohne Text- änderung ein besserer Sinn herauskommt, so scheint es mir doch richtiger, anzunehmen, dass laxvet hier elien, um ein eigentilmliches Verhältnis zu bezeichnen , in eigentümlicher Weise gebraucht ist

" Vergl. auch noch Alexander Aphrod. im Supplementum Aristotelicum unsrer Aka- demie II, I p. 26, 5: ev yap imq arvvdeavt fAeKwv re icoi pvßfuiv ^ apfAovla wo apfioviOy wie auch sonst, Melodie, /ie\»v aber Töne nach ihren Höhenunterschieden bedeutet: »Die Melodie besteht in einer gewissen Zusanunen fugung von Tonhöhen und Rhythmen.«

3*

20 C. Stumpf:

Beweis unsrer Auffassung: Siä ri rwv avfiipwvwv ofxov Kpovoficvwv tov ßapv- repov yiverai ro ficXos. Denn offenbar ist hier von dem gleichzeitigen Angeben zweier consonanten Töne die Rede, wie denn auch das Kapitel, worin dies Problem vorkam, betitelt war: ris airia av/iipwvricrcws. Eine weitere Parallele liefert Plutarch Conjug. praec. 1 1 (p. 139 c): &(nr€p av <f}B6yyoi 8vo aijp<f}wvoi XriipOwcri, tov ßapvrepov yiverai ro fieXos, ovrw iräcra npä^is kv oiKia awippouova'ri TTparreTai pev im* äpipOTepwv ofiovo- ovvTWVj eiTKpaivei Se ttiv tov ävSpos rjyefioviav koi npouipca-iv wo im Nach- satz auch eine hübsche Illustration zu dem /leya und Kparepov in der Lösung unsres Problems gegeben ist. Hienacli kann, glaube ich. kein Zweifel mehr bestehen, dafs dieses Problem sich inhaltlich mit dem 8. deckt.

Zugleich sieht man aus den beiden letzterwähnten Parallelen , dafs auch in unsrem Problem gewifs vorzugsweise die consonanten Intervalle gemeint sind, obschon die Fragestellung allgemeiner gehalten ist; und der Schlufs des Problems zeigt, dafs dem Verfasser in erster Linie die Octave vorschwebt.

Das Problem hat aber in der überlieferten Fassung noch eine Ein- schaltung \ die der Form nach zur Erläuterung der Fragestellung bestimmt ist (av yäp . .), der Sache nach sie aber, wenigstens im vorliegenden Wortlaut, verdunkelt. Es ist da vom Singen der Paramese zur gespielten Mese die Rede, also vom Zusammenklang zweier nur um eine Stufe verschiedenen Töne, in welchem Falle die fragliche Erscheinung kaum irgend deutlich (aujfeer unter ganz besonderen Versuchsumständen) zu beobachten ist und auch praktisch keine Rolle spielt. Wunderlich ist aufserdem, dafs die Er- läuterung von Stimme und Saite, die Fragestellung aber nur von Saiten redet. Ich versuchte a. a. 0. auch diese Einschaltung so gut es ging zu commentiren , finde es aber jetzt wahrscheinlich , dals sie von einem Späteren herrührt, der das Problem nicht mehr recht verstand. Mögen wir sie indefs beibehalten oder nicht: jedenfalls empfiehlt sich die Conjectur Fetis', die auch Wagener, Gevaert un4 Ruelle gutheifsen: irapavriTviv statt Tvapa- fieariv. Dann ist von dem Zusammenklang a d\ also von einer Quarte die Rede und lautet die ganze Einschaltung: »Denn wenn man die Para- nete zur gespielten Mese singen mufs, resultirt (fiir die Auffassung des Hörenden) nichtsdestoweniger die Mese {ro fiecrov steht hier entschieden fiir >/ fieariy wie Probl. 8 to ßapv kurz nach 17 ßapeiä). Wenn aber beide

* av yap SeriTai qcnu t^v irapafieaiiv avv y/riKp rfj fieari, yiverm to fietrov ovßev tJttov eav Se Ttlv fieoTiv 0€ov afA<pü}, '^t\a ov yiverai.

Die pseudo-aristoteUsc/ien Probleme über Musik. 21

(Spieler und Sänger hier wol ä/iipoTv für aptipw zu lesen) die Mese an- geben sollen, entsteht nicht etwa Instrumentales«. Mit dem letzten Satz will der Verfasser sagen: der instrumentale Ton überwiegt nicht als solcher; nicht daran liegt es, dafs die Mese vom Instrument, die Paranete von der Stimme angegeben wird, denn wenn sie beide denselben Ton geben, hört man das Instrument nicht vorwiegend. Gleiche Stärke ist natürlich bei dem Versuch vorausgesetzt \

Auch die Lösung von Probl. 13 ist hier noch anzuziehen, obschon die Fragestellimg uns erst nachher begegnen wird: »Am meisten ist (bei der Octave) das Melos beider Töne in beiden, wenn aber nicht, in dem tiefen; denn er ist gröfser.« Der Verfasser meint, wenn man nach der Tonhöhe eines Zusammenklangs gefragt wird, mufs man in erster Linie natürlich sagen, dafs er zwei Tonhöhen hat. Will man das aber nicht, so wird man die Höhe des tieferen Tons angeben.

Endlich gehört hieher Probl. 49; allerdings unter der Voraussetzung, da.Es wir mit Bojesen zweimal pidKcucwTepos in fieXuctoTepos umändern, welche Änderung aber ohnedies notwendig ist, wenn nicht das Ganze sich in den sinnlosesten Tautologien herumdrehen soll. Durch das mehrmalige Vor- kommen von fioXaKOv im Text war die Verwechselung dem Abschreiber nahegelegt. Wir übersetzen also: »Warum liegt unter den die Consonanz be- wirkenden Tönen in dem tieferen das Melodiemäfsigere (= mehr das Melos)? Etwa weil das Melos seiner Natur nach weich und ruhig ist und erst durch Beimischung des Rhythmus rauh und aufregend wird. Da nun der tiefe Ton ruhig ist, der hohe aufregend, so dürfte auch von den Tönen, die das nämliche Melos haben, der tiefere es mehr haben, da ja das Melos selbst weich ist.«

Wir finden hier die nämliche Erscheinung auf ein anderes Prinzip zurückgeführt, nicht auf die räumlichen Eigenschaften, sondern auf die Charakter- oder Klangfarbenunterschiede des hohen und tiefen Tons, denen

^ Eichtiial und Reinach schlagen wieder durchgreifende Änderung der kranken Stelle vor; sie lesen: av yap r^v wapafieaiiv avfiyjffiKfi (Tis) r^ /'^<^t yiverat ro fieKos ouBhv ^rrov eav Se rriv fiiiniv (rfj wapafA€€rtf) , ov ytverat, Sie erwähnen selbst, dafs ovplraKKw sonst nicht vor- kommt; dagegen ist y^iKos öfters technischer Ausdruck für den Instrumentaiton (s. Jan), avfi" y^nKfji ist im Ubngen allerdings leicht möglich. Aber zuletzt reicht diese und die übrigen Correcturen immer noch nicht hin, wie die £in- und Ausschaltungen zeigen; ganze Wort- complexe (Ui\Tai qvm, Seov afi<^ y/riXa) müssen als Randglossen hinausgeschafft werden.

22 C. Stumpf:

zufolge der tiefe mehr Verwandtschaft hat mit dem tonalen Element der Melodie, das hier von dem rhythmischen geschieden und speziell als Melos bezeichnet wird^ Sachlich kann man die Lösung nicht eben besser finden als die andere, aber sie ist nun vollkommen durchsichtig.

7. Octaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer Melodie gebraucht werden. Probl. 18, 39^.

»Warum fragt Probl. 18 wird die Octaven-Consonanz allein gesungen? Denn diese magadisirt man, keine andere.« Als Grund wird die schon liesprochene Eigentümlichkeit der Octaventöne angegeben. da(s sie gewifsermassen einen und denselben Ton geben, mögen sie allein oder zusammen gesungen oder auch einer gesungen und der andere gespielt werden. »Darum wird die Octave allein zur Melodie gebraucht (fieXwSeiTai), weil die antiphonen Töne den Klang Einer Saite haben«.

Hier handelt es sich nun in der Fragestellung sicher nicht mehr um einen einzelnen Zusammenklang, sondern um die Ausführung einer Melodie in Octavenparallelen, wie dies auchBojesen bereits erkannt hat. Der Gebrauch ariderer Zasammenklänge war wol auch in der alten Musik nicht schlechthin ausgeschlossen; eine Andeutung darüber werden wir auch in den Problemen finden. Aber die Octave allein durfte in Parallelen gebraucht werden, in- sofern ganze Melodien damit ausgefiihrt wurden; wie dies ja ebenso fiir die gegenwärtige Musik gilt. Den Grund findet der Verfasser in der beson- deren Klangeinheit der Octave.

In der Fragestellung bedarf der erläuternde Zusatz hinsichtlich des Magadisirens nach Böckh's Untersuchung über die Magadis (PindariOp. 1, 2 5 8 f.) kaum noch einer Bemerkung. Darunter war eine Lyra mit sehr zahlreichen (bei Anakreon 20) Saiten verstanden , auf der man eine Melodie in Doppel- griffen spielen konnte^ Eben dies nun: »die gleichzeitige Ausführung einer Melodie auf zwei verschiedenen Tonhöhen« wird hier als

^ Eine ähnliche Gegenüberstellung und Charakterisirung des rhythmischen und des melodischen (rein tonalen) Elements in der Melodie finden wir auch bei Aristides Quinti- lianus, Meib. 43, Jahn 28, 11: Tives Se tuv waKaiiav t6v fikv pvd/iov appev oiretcaKoWj ro Se fieKos OfiXv. To fiev jap fieXoM avcpyiyrov ve €<m Kai aa-xmicmtrrov , .... 6 Äe pvO/ios irKaTret re avro Kai Kivei Terayfi€V(05 , woiaihrros Xoyov ewe^tav irpos ro irotovfAevoy.

^ Westphal glaubt nicht an Doppelgriffe, weil die Saiten nicht gezupft sondern mit dem Piektrum geschlagen wurden. Docli scheint mir hierin kein mechanisches Hindernis zu liegen.

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Musik. 23

fiayaSl^eiv bezeichnet. Unser Satz weist also darauf hin, dafs in solchen Fällen nur <Ue Octave gebraucht wird*.

Als ProbL39** bezeichne ich mit Jan den mit ^fiayaSi^ovci^ beginnenden Abschnitt des Probl. 39 (p. 921,0, 12), welches bis dahin als 39' numerirt wird. Bereits Gaza hat in seiner Übersetzung diesen Abschnitt als be- sonderes Problem (40 nach seiner Numerirung) abgetrennt. Allerdings fehlt nun die Fragestellung. Gaza verwandelte, um sie zu gewinnen, fiayaSi^ovai 84 in 8iä ri fiayaSl^ovci , und so mufste sie ja jedenfalls lauten. Man könnte wol immerhin den Abschnitt nur als Erläuterung des voran- gehenden fassen , worin von der Annehmlichkeit der Octave die Rede war. Auch hier kommt der Verfasser ja zuletzt auf die Annehmlichkeit zu sprechen. Andrei-seit« verhalten sich aber öfters, wie wir schon gesehen, zwei aufein- anderfolgende Probleme so, dafs das folgende einen Punct des voran- gehenden näher erläutert. Ich ziehe daher die Trennung vor.

Die Hauptsache ist, dafs wir den Inhalt des Abschnittes in sich ge- nügend verstehen. Abgesehen von einigen corrupten aber weniger wesent- lichen Stellen scheint mir dies nicht zu schwer:

Man magadisirt in der Octave, weil die zahlenmäfsig geregelten Be- wegungen, die bei den Consonanzen ebenso wie bei den Rhythmen sich finden , nur bei der Octave von der Art sind , dafs sie nach Ablauf einer Periode (Karaarpoi^Yi) des langsameren Tons zusammentreffen. Jeder ganze

Dafs es auch eine Magadisflöte gab, wird von Graf (De Graecorum vetenim re musica, Marburger Hab. Schrift 1889 S. 28 f.) ))ezweifelt. Jedenfalls existirten Doppelfloten von grofsem Tonumfang, mit deren beiden Teilen man Octavengänge blasen konnte. Böckh citirt die Beschreibung von PoUux: «v ya/iiyX/a» avK^fMart Svo avKoi fonv, avfiij>ütviav fiiav (so liest Bockh fiir fiev und bezieiit /iiav auf die Octave) cnroreKowTes, fiei^tov S^ arspos, ort fiel^ova xph "^^ avSpa elvat, Varro sagt (De re rust. 1, 2, 16, cf. Gevaert Hist I, 364), die kleinere (linke) der beiden Teil- floten, die die höhere Octave gab, vermähle sich mit der gröfseren, indem sie zur Begleitung diene: eine weitere Bestätigung, dafs der tiefere Octaventon als Hauptträger der Tonhöhe, also auch der ganzen Melodie, gefafst wurde. Das Ehe - Gleichnis hörten wir auch bereits oben bei Plutarch (S. 20).

* Indem wir dem Ausdruck -Magadisiren« diese allgemeinere Bedeutung beilegen, erklärt sich das yap in der Problemstellung. Bezieht man das Magadisiren nur auf die Instini- mentalmusik selbst, so würde yap hier immerhin etwas nachlässig stehen und etwa noch ein Kai einzuschalten sein. Dann wäre aber auch der Inhalt des Problems etwas eingeschränkter zu verstehen: »Octaven parallelen sind allein zulässig sowol beim Singen als beim Spielen«. Dagegen wäre eine Art »Organum« damit noch nicht ausgeschlossen, bei welchem etwa der Gesanji; in Octavcn erfolgte, die Flöte oder Lyra aber in der dazwisciienHegenden Quarte (Quinte) spielte, mehr um die KlangHille zu erhöhen*

24 C. Stumpf:

Stofs der Hypate endigt gleichzeitig mit zwei ganzen der Nete (1:2), wäh- rend bei anderen Consonanzen immer ganze mit halben Perioden zusammen- treffen (i:i-J-, I-J-: 2)\

Nun bringt der Verfasser eine Analogie, um zu erläutern, warum man das Zusammentreffen von solchem, das eine Weile auseinandergegangen, liebt:

»Indem nun (bei den Octaven) die zwei Bewegungen, nachdem sie nicht dasselbe gethai^ haben, doch in demselben Punct zusammentreffen, thun sie eine gemeinschaftliche Arbeit, wie die, welche zum Gesang spielen^. Denn auch diese erfreuen, wenn sie nach vorherigem Auseinandergehen beider Stimmen zusammentreffen, durch diesen Abschlufs mehr, als sie vorher durch die Verschiedenheiten betrübten.«^

Endlich erfolgt die Anwendung dieser Praemissen auf den Fragepunct, von dem man ausgegangen war: »Das Magadisiren aber erfolgt aus (in) entgegengesetzten Tönen. Daher magadisirt man in Octaven«.

»Entgegengesetzt« steht hier, wie schon oben, statt »ungleich an Ton- höhe, nichthomophon«. Unter den nichthomophonen Tönen werden nur die in Octaven Verhältnissen stehenden zur Ausfuhrung von Melodien ver- wandt, weil nur bei ihnen jenes Zusammentreffen nach zeitweiliger Trennung stattfindet. Es ist hier nicht etwa gemeint, dafs beim Magadisiren ein

' Dies der Sinn bis zum Satz TvKmnwams, Der Satz •oSam Se avtcroi, Sia^opa (Simpepovin?) TJ €U<rBif(nty KaSawep iv to7% ^opois ev tw KaniKveiv fiei^ov oKKtav <l>8eyyo/ji€vots hariy* ist arg ver- dorben. Wahrscheinlich soll darin gesagt sein , dafs die Ungleichheit bei den Verhältnissen I : li und T-)- : 2 sich fQr unsre Sinneswahrnehmung durch das schärfere Auseinandertreten der Töne (geringere Verschmelzung) kundgebe, ähnlich wie wenn beim Chorgesang einer am Schlufs stärker als die anderen singt. Der folgende Satz dagegen bedarf nur einer ganz geringen Correctur, es mufs offenbar statt en ^ heifsen: r^ Se.

* über den Ausdruck viro rfjv aSfiv Kpoiktv vergl. Gevaert I, 359, 365. Gevaert bezieht mit Westphal den Ausdruck darauf, dafs die Instrumentalnoten unter die Singnoten kamen. Dagegen Graf in der vorhin erwähnten Schrift S. 71— 75; wo auf Proclus' Bemerkung ver- wiesen wird, dafs bei den Alten tnro häufig soviel wie fiera (zugleich mit) bedeute. Jeden- falls sind aber die zum Gesang gespielten Tone bei dieser Vortragsweise von den Gesang- tonen selbst verschieden; dies ergiebt sich aus dem Gegensatz zu dem irp6<rxopSa xpovetv und aus der Vergleichung von Plato*s Leg. VII p. 812. In den von Plutarch De mus. c. 19 angeführten Beispielen liegen sie aber in der That über der Singstimme.

' Das hier noch folgende nw to e«r Sta<l>6ptav t6 kwvov ijStorov ck tov Sia wn<rwv ylveBeu ist wieder schwer in sich zu reimen. Der Sinn scheint: »indem das ans dem Verschiedenen resultirende Gemeinschaftliche als angenehmstes empfunden wird«. Aber das ex tov Äa immv befremdet, nachdem doch schon bk ^ta<f>6ptov steht. Vielleicht ein spaterer Zusatz. Im Ubngen ist das Satzclien für den Zusammenhang entbehrlich.

Die psetido -aristotelischen Probleme über Musik. 25

Auseinandergehen der Melodie fiir die höhere und tiefere Stimme statt- finde, wie beim Kpoveiv xmo rfjv o^rjv. Dieses war nur als Analogie oder Gleichnis herangezogen worden. Das Auseinandergehen und Zusammen- treffen bezieht sich vielmehr hier nur auf die Töne jedes einzelnen Zu- sammenklangs während der ganzen Melodie, genauer auf die diesem Zu- sammenklang zu Grunde liegenden Bewegungen.

Man sieht, dafs die Erklärung eine ziemlich gewundene und in letzter Instanz statt auf Thatsachen der Sinneswahmehmung nur auf arithmetische Verhältnisse der äufseren Bewegungen gegründet ist (vergl. zu Probl. 41). Das Zusammentreffen zweier Luftbewegimgen soll uns besonderes Vergnügen machen, obschon wir nichts davon wahrnehmen, sondern nur durch die Theorie davon wissen. Und schliefslich trifft doch auch bei der Quinte der je zweite mit dem dritten , bei der Quarte der je dritte mit dem vierten Stofs zusammen. Die herangezogenen Gleichnisse des gesprochenen oder getanzten, also wahrgenommenen Rhythmus, des Stärkersingens beim Schlufs eines Chores, des Verhaltens zweier gleichzeitigen Melodien hinken sämmt- lich gerade an der entscheidenden Stelle.

8. Die Octave allein dient zur Antiphonie. Probl. 17, 13.

Diese Lelire gehört zu den bedeutsamsten der Probleme, ist aber noch nirgends, soviel ich sehe, hinreichend gewüi'digt oder auch nur richtig erkannt worden.

AvTi(f>wPov eivai, ävriifxoveiv heifst bei den Classikern teils Wider- sprechen, teils Antworten*, wie ja auch heute die Bedeutungen »Gegen- satz«, »Wechsel« und »Wiederholung« manchmal ineinander übergehen und in »Erwiedern« verknüpft sind. Bei Plato bedeutet aber ävTKJxoveTv

^ Vergl. die Lexikographen. Hesychiiis: arrtifMava a= evaimot^va, Suidas: avti^coMu a-oi «== iyyviafiat am (spondeo tibi), inifiaivei Se Kai avnXeyoi trot. Stephanus: avrtif>(av4<o contra sono, ohloquor . . . repeto (mit Belegstellen). cnn-i<t>(avot contrariam vocem edeos.

Chappell sucht in seiner History of Mnsic (XXIV f., iif.) den Beweis zu fiihi-en, dafs avii im musikalischen Gebrauche Oberall soviel als »mit« »l>egleitend" bedeute, und glaubt in der gegenteiligen Meinung eine Hauptquelle von irrtümlichen Auffassungen über griechische Musik 7.U finden. Aber seine Beweise überzeugen nicht im Geringsten. Unter anderem filhrt er die Stelle aus (Pseudo-) Demetrius Phalereus tt. epfirivems c. 7 1 an , wo es heifst, dafs die ägyptischen Priester die sieben Vocale der Reihe nacii singen, Kai av-n avKoO Kai ovri xiSapas twv ypa/nfiaTtov rovrtov 6 tjxos oKoverai inr €u<l>tovias. Aber die Stelle ist schwierig und hat eine Menge von Auslegungen hervorgerufen. Ich fasse sie so auf: die gesungenen X'ocale besitzen IMo8.'Mstar, Abh. 1896. IIL 4

26 C. Stumpf:

stets Widersprechen, abwechselnd mit Siaiptoveiv, 'AvTi<f>wvos kommt nur in den Leges vor und zwar einmal = entgegengesetzt (p.jiy,^), einmal im speziell -musikalischen Sinne = dissonant, als Gegensatz zu avfiifxßvos (p. 8i2,{2). Sonst gebraucht Plato dafür Stdipwvos.^ In den echten Schrif- ten des Aristoteles findet sich das Wort nicht. Als technischer Ausdruck erscheint es, abgesehen von den Problemen, erst im i.- 2. Jahrhundert nach Chr. (s.u. S.3if.).

In den Problemen nun hat es offenbar eine völlig andere Bedeu- tung als bei Plato, da ja gerade die stärkste Consonanz, die Octave, als antiphon bezeichnet wird. Andrerseits würde man aber auch fehlgehen, wollte man annehmen (wie dies doch allgemein der Fall zu sein scheint"), dass »Octavenintervall« und »antiphones Intervall« hier nur zwei Ausdrücke für einen identischen Begriff, für einunddieselbe Thatsache wären. Denn welchen Sinn hätte es in diesem Fall, mit Probl. 1 7 zu fragen, warum man in der Quinte nicht antiphon singe (also nach obiger Auffassung: warum man in der Quinte nicht Octaven singe!), oder mit Probl. 13, warum bei der Octave der tiefere Ton dem höheren antiphon sei, aber nicht umgekehrt? Soll der tiefere die Octave des höheren und gleichwol dieser nicht die Octave des tieferen sein?

Wol wird öfters der Ausdruck »Antiphones (Intervall)« für den Aus- druck Diapason gesetzt, z. B. Probl. 18 und 19 (s. o.). Aber dies kann auch geschehen, wo es sich um convertible Begriffe handelt, die darum nicht identisch zu sein brauchen. Und so ist es hier. Antiphon zu sein, wird als eine Eigentümlichkeit der Octave hingestellt (ISiov in der Sprache der aristotelischen Logik), als charakteristisches Folge -Merkmal ihres Begriffes, das aber nicht als essentielles Merkmal darin eingeschlossen ist.

einen solchen Wollaut, dafs sie selbst gegen die Flöte und gegen die Kithara gehört werden, d. h. das Ohr mehr anziehen als diese gleichzeitig ertönenden Instrumente. Der Verfasser spricht nämlich c. 68 77 von der crvyirpovois, d. h. der raschen Verbindung zweier Vocalc im Sprechen, z. B. ieXios statt liKtos, und findet darin etwas besonders Musiknlisches.

^ Man hat durch Hineintragung der in den Problemen und in der späteren Litteratur vorliegenden Bedeutung von wni^vos in die platonische Stelle sich ganz unnötige Schwierig- keiten bereitet. Vergl. zu der Stelle der Leges die S. 5 erwähnte Abhandlung, S. i8f.

' Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet ein ungenannter Freund Bojesens, welchen die unten zu besprechenden Pr. 16 18 auf eine ähnliche Vermutung brachten, wie sie sich mir als unumgängliche Voraussetzung des Verständnisses aufdrängte (Bojesen 1. c. p. 86 : anti- phoniis lioc quidem loco et probl. seipi. »igriificari melodias a choris per diapason vicissim decantatas).

Die psetuio' aristotelischen Probleme über Musik. 27

Welche Eigentümlichkeit also ist hier gemeint? Es scheint mir ein Verständnis der einschlägigen Probleme nur möglich, wenn wir voraus- setzen, dafs Antiphonie im Sinne ihres Sprachgebrauches bedeutet: die Wiederholung einer Melodie auf einer anderen Tonhöhe*. Anti- phon werden die Töne genannt, die bei einer solchen Wiederholung den früheren Tönen entsprechen. Und es wird behauptet, dafs zu solcher Wiederholung nur die Octave geeignet sei; ebenso wie sie allein zu Parallelen bei gleichzeitigem Singen derselben Melodie und zum Maga- disiren geeignet ist^.

Probl. 17: »Warum singt man die Quinte^ nicht antiphon? Etwa weiL hier der eine consonante Ton mit dem anderen* nicht identisch ist, wie bei der Octave. Denn dort ist der tiefere Intervallton das Analoge, was der höhere in der Höhe ist. Er ist so gewissermafsen zugleich derselbe und ein anderer. Die Intervalltöne bei der Quinte und Quarte verhalten sich nicht so; daher erscheint (sc. wenn die Melodie in einem Quinten- oder Quartenintervall wiederholt wird) nicht der Ton der antiphonen Stimme, denn es ist nicht der nämliche.«

Das hier wörtlich übersetzte Problem bedarf nach dem Vorausge- schickten keiner weiteren Erläuterung mehr.

Eine Stelle des oben besprochenen Probl. 42 ist wol ebenfalls auf die Antiphonie in dem hier definii-ten Sinne zu beziehen. Der Verfasser sagt, die Nete versetze die Hypate in Mitschwingung, und erklärt es daraus, dafs die Nete sich beim Nachlassen in die Hypate verwandle; wobei er die physikalischen Bewegungen im Auge hat. Ein Zeichen dafür findet er aber auch in der Sinnesempfindung selbst: arifieTov Sc {arifieiov im aristo- telischen Sinne, nicht Beweis, sondern eine mit der Behauptung überein-

* avTi<t>(ovia und avTi<fuav€iv selbst, die Bezeichnungen für das Abstractuin des Antipho- nirens, kommen allerdings nicht in den Problemen vor; wir müssen aber zuerst diesen Be- griff definiren, um das Concretum arn^wvos zu verstehen.

* Über Probl. 39», wo scheinbar das Antij)hone geradezu durch die Octave definirt wird (»das Antiphone ist ein Symphones in der Octave«) s. unter III, 5.

* Hier ist sUtt irevre natürlich mindestens Sm irevre zu lesen, besser ev ru Bta irevre (vergl. im folgenden Satz w tw Sta vao-Stv), In der Losung wird aber auch die Quarte er- wähnt, und in der That gehört sie als dritte Consonanz auch in die Problemstellung. Des- halb schlägt Bonitz (Index Arist. sub avTi<fMovos) vor: ev to Sta reo-auptov § Sta irevre. Doch mag immerhin der Verfasser in der Frage die Quinte als X'ertreterin dieser beiden Conso- nanzen allein genannt haben.

^ Hier lese ich mit Jan rfi ovfi<l>tovto statt rfj aitfufxovia.

28 C. Stumpf:

stimmende Folgeerscheinung) t6 cnro Tfjs inrdrris rriv vearriv SwacOai aSeiv ' WS yap ovcris avTfjs wSfjs veaTtis Trjv bfioioTtira Xafißdvovav äir avTrjs. Dafs es hier umgekehrt heifisen mufs: äiro Trjs vearris ttiv inrarriv, er- giebt sich erstlich aus der unmittelbar vorhergehenden Fragestellung, wo, angegeben ist, dafs die Hypate auf die Nete resonire, zweitens aus der Begründung (axr ydp . . .), wonach man von der Nete die Ähnlichkeit ab- nimmt, d. h. die Hypate nach ihrer Ähnlichkeit mit der Nete intonirt. Hiemit ist aber wol nicht das Anstimmen eines einzelnen Tons nach einem einzelnen gemeint, sondern das Anstimmen einer Melodie nach dem Schlufs- ton einer vorhergesungenen , in der Weise der Antiphonie. Es scheint hie- bei vorausgesetzt zu sein, dafs eine Melodie zuerst in einer höheren, dann in einer tieferen Octave gesungen wurde, ferner, dafs sie von der Hypate ausging und zu ihr zurückkehrte. Die Hypate der oberen Octave, mit welcher die Melodie endigte, war dann zugleich Nete der tieferen Octave. Nach ihr wurde leicht die Hypate der tieferen Octave intonirt, mit wel- cher dann die Melodie wieder anfing, ws yap ovaris airrfis (rfis) wSfis veamis kann ich nur so verstehen: »da sie zugleich der letzte Ton des Liedes ist«.

Die hier vorausgesetzte Melodiebewegung nach oben und wieder zu- rück konnte selbstverständlich niclit als allgemeine Regel gelten ; vielmehr mögen manche Melodien sich auch sogleich von oben nach unten bewegt haben (vgl. zu Pr. 33), in welchem Falle natürlich die Intonation noch leichter war, da man den Schlufiston selbst als Ausgangston der Wiederholung benutzen konnte. Der Verfasser meint also nur: wo Melodien die obige Structur haben, da finden wir in der Leichtigkeit der Intonation, infolge der Ähn- lichkeit der Töne, ein Zeichen für die behauptete physikalische Ähnlich- keit, durch welche die Nete die Hypate in Bewegung setzt {rrj öfioioTvfri Tfiv xmarviv ri vrtrvi SokcT kivcTv).

Probl. 13 spricht wieder ausdrücklich von der Antiphonie: »Warum ist bei der Octave der tiefere Ton antiphon dem höheren , aber nicht um- gekehrt? — Etwa weil das Melos am meisten zwar in beiden Tönen zugleich ist, wenn (sofern) aber nicht, im tieferen; denn er ist gröfser«.

Aus der Lösung ersehen wir, dafs hier vorausgesetzt wird, die Melodie werde zuerst zweistimmig in Octa venparallelen gesungen (s.o. S. 22). Weim dann eine antiphonirende Wiederholung stattfinden soll, so erfolgt sie nach Angabe des Problems in der tieferen Octave allein. Denn beim Zusammen-

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Mtisik. 29

singen war die Tonhöhe zwar eigentlieli sowol durch die höhere wie durch die tiefere Stimme gegeben (und insofern findet in solcliem Fall bei ein- stimmiger Wiederholung doch Vex'änderung der Tonhöhe, also Antiphonie Statt), aber sofern man von Einer Tonhöhe reden will, liegt sie in der tieferen Stimme; gemäfs den früheren Erörterungen (S. 17 f.). Wegen dieses Vorwiegens wird, um den Eindruck der Wiederholung zu erzielen, die tiefere der beiden Octaven dazu benützt.

Auch wenn in Probl. 7, um die Beibehaltung der Hypate in der 7 tonigen Leiter zu rechtfertigen, gesagt wird, dafs sie beim Zusammen- klang die Nete beherrscht und darum auch »mehr als diese das Antiphone hergiebt« (fiaXKov ri inrarvi aTreSiSov t6 ävriK^wvov 17 ii vrirrO^ so stimmt dies genau mit dem eben Erörterten zusammen.

Wir ersehen hieraus also zugleich einen neuen Zug der griechischen Musikpraxis. Auch andere Probleme, die sich auf die Gefühlswirkung des Antiphonirens beziehen, werden uns auf Grund dieser Auslegungen ver- stAndlich und liefern dadurch weitere Bestätigungen, s. u. III, 5.

Abstract gesprochen gab es ja von dem aufgestellten Begriff des Anti- phonirens aus noch verschiedene Möglichkeiten; die Melodie konnte zuerst in der höheren, dann in der tiefereu Octave vorgetragen werden, oder um- gekehrt, oder sie konnte zuerst in Octavenparallelen gesungen und dann in der höheren oder in der tieferen der beiden Octaven wiederholt werden u. s. f. In Wirklichkeit scheint nach dem, was wir soeben hörten und noch weiter hören werden, der erste und namentlich der letzte dieser Fälle vor- zugsweise vorgekommen zu sein. Der letzte wird in den Problemen meistens vorausgesetzt, wenn von Antiphonie die Rede ist. Und es erklärt sich dies genugsam aus der uralten Sitte, dafs das Lied durch Instrumente (wie die Magadis) vorher in Octavengängen gespielt und dann durch Männerstimmen unisono in der tieferen der beiden Octaven gesungen wurde (s. sogleich unten). Von da aus wird die Vortragsweise auch auf den Gesang selbst übergegangen sein.

Ist der aufgestellte Begriff der Antiphonie durch den Wortlaut der Probleme, wie ich hoffe, bereits hinreichend bestätigt, so wollen wir nun auch auf die Zeugnisse hinweisen , die sich aus der Praxis und der Theorie des Altertums sonst über diese musikalische Vortragsweise beibringen lassen.

Die älteste, aber leider zugleich fast die einzige Andeutung antiphoner Vortragsweise aus der früheren Zeit liegt in zwei kurzen bei Athenaeus or-

30 C. Stumpf:

haltenen Fragmenten Pindar*s\ Pindar bezeichnete die Magadis als xlraXfios ävri(f>6oyyos, weil man darauf ebenso wie beim Zusammensingen der Manner und Knaben (Frauen) gleichzeitig Octaven erzeugen könnet Sodann sagen einige Verse, dafs Terpander das Barbiton gefunden habe, indem er zuerst bei den Gastmählern der Lyder den xlraXfios äirriff^ßoyyos der Pektis gehört habe (welche nach Athenaeus' Ansicht mit der Magadis zusammenfällt)^. Böckh übersetzt: pulsationem respondentem altae pectidis audiens. Und es ist in der That kaum anders anzunehmen, als dafs es sich hiebei um eine Abwechselung des zuerst allein in Octaven spielenden Instrumentes mit dem einstimmigen (auch wol unisono begleiteten) Gesang der Tafelnden handelte. Das Instrument mochte die Melodie, wie es auch bei unsren Symposien geschieht, als Vor- und Zwischenspiel vortragen.

Anakreon sagt in der schönen Ode auf seine Leier: Käyi) fikv ^Sov äOXovs 'HpcucXeovs' \vpti Se ''Gporras ävTeKfxoveL Seinem inneren Ohr tönt Heldengesang vor, aber die Leier tönt (wie ein verwandeltes Echo) Liebes- gesang entgegen. Es ist hier entschieden das Verhältnis des »Gegengesangs«, das dem Ausdruck zu Grunde liegt, nur natürlich nicht gerade in Octaven. Die Entgegnung erfolgt nicht in anderer Tonhöhe sondern sozusagen in anderer Klangfarbe. Immerhin ein Analogon.

Eine Hindeutung auf das Antiphoniren in älterer Zeit möchte ich auch in der Bezeichnung der Octaventöne als »entgegengesetzter« (evavrioi) er- blicken, die sich bei Heraklit und den Pythagoreern findet und in den Problemen nachwirkt (vgl. o. S. 6). Denn der Ursprung dieser Bezeich- nung kann wol nur in dem Umstände liegen, dafs die Octave zum Gegen- singen eines Männer- und eines Knaben- oder Frauenchores benützt wurde, wobei die nacli Alter oder Geschlecht »entgegengesetzten« Chöre sich na- türlich auch räumlich gegenüberstanden. An sich sind die Töne der Octave einander doch nichts weniger als entgegengesetzt.

' Böckh Pindari op. II, 2 S. 617; dazu 1,2 S. 262. Chrisfs Pindarausgabe S. 222« Die Stellen bei Athenaeus XIV p. 6356 und d.

^ Trjv fiayahv ovofidiravra y/raXfiov avrli^OoyyoVy Sta ro Svo yev&v Sfta Koi Sta wbotov S^etv Ttiv ovytpStav avSpüv re Ktu muStüv (so Böckh statt ywaiK&v). Hier ist yev^v, wie Böckh zweifel- los richtig bemerkt, nicht auf die ToDgeschlechter (diatonisches ete.) sondern auf die zwei Gattungen der Töne, hohe und tiefe, zu deuten.

T6v pa TepiravSpos iroB' 6 Aea-ßtos evpe irptivos ev SeiirvoTtri AvSüv yfräKfiov avrt<l>ßoyyov infftjKas oKoviov irtiKTtSos.

Die pseudo-amtoießschen I^obleme über Musik. 31

Sonst ist allerdings wol kaum eine Spur des Antiphonirens aus der ält/eren griechischen Zeit in der Litteratur aufzutreiben. Aber die Gepflogen- lieiten des antiken Chorgesanges stimmen sehr wol mit dem, was wir den Problemen entnehmen, äberein. Wir wissen, dafs Manner und Knaben (Pr. 39') oder Jünglinge und Jungfrauen sich an den Chorgesängen beteiligten, dafs auch zwei Chöre neben einander auftraten, dals zwischen beiden Chören sowie zwischen einem Chor und seinem Leiter Wechselgesa nge stattfanden. Solche Gelegenheiten bildeten neben der Instrumentalbegleitung die natür- lichen Quellen antiphoner Wiederholungen.

Wie kommt es aber, dafs die Theoretiker bis zu den Problemen diese Vortragsweise ganzlich ignoriren? Ihr Stillschweigen ist nicht so un- begreiflich. Dafs man wiederholte, und zwar in der Octave, mochte ihnen selbstverständlich und nicht besonderer Erklärung bedürftig scheinen. Geht es doch heute noch Vielen so; ebenso wie man auch den einheitlichen Eindruck der Octave beim Zusammenklang ohne besondere Verwunderung hinnimmt. In den Problemen werden überhaupt zum ersten Male die Eigentümlichkeiten der Octave zum Gegenstand des Fragens und Erklärens gemacht, und so erfahren wir denn auch hier zum erstenmal Bestimmtes und Unzweideutiges über die praktische Übung des Antiphonirens; aber selbst hier wird die Sache so sehr als bekannt vorausgesetzt, dafs wir ihr Dasein und Wesen erst durch Combination der Stellen erschliefsen können.

Abgesehen von den Problemen finden wir Angaben über diese Vor- tragsweise und zugleich ein Zeugnis fiir die technisch -musikalische Ver- wendung des Ausdrucks Antiphonie zuerst bei Philo Judaeus (i. Jahrh. nach Chr.), wo er den Gesang der Therapeuten nach ihren gemeinschaft- lichen Mahlzeiten beschreibt. Dabei wechselte ein Gesang, der von Männern und Frauen in Octavenparallelen vorgetragen wurde, mit der Absingung derselben Melodie von Männern oder Frauen allein*. Philo deutet hier

* De vita contempl. §io— ii (Leipziger Ausg. der Werke 1828 Bd. VS. 321, Frank- furter Ausg. S. 901 902: rp fiev irvvrixovvTeSj rij Se Kai avTt<j><avots apfioviais {apfiovta

hier wie sonst s: Melodie) emxeipovofiowres Kai eirop\ovfievoi Tomo fiaKta-ra aTreiKovtarOets

6 7x5v SepainvTÜv xat BepairevrplStovt fieXeo-tv mmjxots Koi avTKJxavots irpos ßapw rixov twv avSptJv 6 ywtUK&v 6{vs avaKptvafievos (uuifs sicher heifsen avaxtpvafievos), evapfiovtov (rvfKJxoviav arroTeXet Kai fiova-iKriv ovTtas. Zu avaxipvafievos vgl. «laniblichus In Nicouiachi arithmeticam introd. ed. PistelU p. 119; Chi-ysostouuis Hom. in Ps. 150 (beide Stellen in meiner S. 5 erwälint«n Ab- handhing. Dason)st am Schlüsse über evapfiovtos avfi<l>(avia). Die Beschreibung, die Philo von dem ganzen Arrangement giebt, erinnert sehr an das altgriechische Chorwesen.

32 C. Stumpf:

auf den Gesang von Moses und Mirjam mit dem Volke, und es ist wol kein Zweifel, dafs wirklich in der althebräischen Musik das Antiphoniren in ähnlicher Weise im Gebrauch war. Die syrischen Christen werden es sowol aus dieser wie aus der hellenischen Quelle übernommen haben; und schliefslich gehen ja beide Quellen auf Eine, auf die orientalische Musik, zurück , wie das Wort Pindar's andeutet , dafs Terpander den xlraXfios dm- <f>6oyyos bei den Lydem vorgefunden habe.

Aus der griechischen Kirche, speziell aus Antiochia, kam der antiphone Gesang durch Ambrosius in die lateinische^ Später wurde allerdings auch die homophone Wiederholung beim Psallireu der Mönche und noch andere Modificationen mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet (Antiphon = einleiten- der Vorgesang ohne melodische Identität mit dem Folgenden, darum auch gelegentlich von Anteponere hergeleitet).

So dienen die Probleme, die dunklen Ursprünge des antiphonischen Gesanges, der in der christlichen Musik eine so fondamentale Rolle spielen sollte, besser als bisher aufzuhellen. Für die Aufnahme meiner Inter- pretation ist es aber vielleicht nützlich, wenn ich hinzufüge, dafs sie nicht etwa durch solche Rücksichten beeinflujfet war. Sie ist mir vielmehr aus- schliefslich durch das Bedürfnis des Verständnisses der Probleme selbst aufgedrängt worden, zu einer Zeit, als ich diese noch fiir echt aristotelisch hielt und an mögliche Beziehungen zum christlichen Antiphonengesang absolut nicht dachte.

Nun wird uns aber auch der Sprachgebrauch und die Lehre der grie- chischen Tlieoretiker der späteren Jahrhunderte verständlich, namentlich wenn wir die Entstehung der Problemensammlung selbst an den Anfang unserer Zeitrechnung verlegen. Der Ausdruck ävrii^wvos erscheint nämlich

^ S. Gevaert Les Origines du Chant liturgiqiie de TEglise latine (1890). La Melopee antique dans le Chant de TEglise latine (1895) p. 83 f.

Aus der Urzeit des Christentums kommt noch die Stelle bei Plinius in Betracht, wo er über die Christen an Trajan schreibt (Ep. 96 al. 97): »essent soliti ... Carmen deo dicere secum invicem«. Ferner eine Stelle in dem Bruchstück des Evangeliums und der Apokalypse des Petrus (Hamack, Texte u. Untersuchungen zur altchristl. Litteraturgeschichte Bd. IX, Heft 2 S. 18), auf welche mich Hr. Harnack aufmerksam macht: •fua ^v? •roi' Kvpiov Beov av{T)ev(l>iifiow ev<l>p<nv6fievoi ev eicelvta nw roina* , Hier ist allerdings av-rev^if/iow für avev^jf/iow eine Conjectur Preuschen's, hat aber gewifs viel für sich. Dafs speciell die Octave bei diesen Wechselgesangen eine Rolle spielte, liefse sich aus den beiden Stellen fflr sich allein freilich nicht entnehmen.

Die psetidO' aristotelischen Probleme über Mtisik. 3S

seit dem I.Jahrhundert n. Chr. öfters in technisch -musikalischer Verwen- dung; und zwar wird das Antiphone ohne Weiteres als ein besonderer Fall des Symphonen gefafst: die Consonanz der Octave (und Doppeloctave) wird damit bezeichnet. So beiläufig bei Plutarch' (wo wenigstens aller Wahr- scheinlichkeit nach die Octave gemeint, ävritfxova aber zugleich noch deutlich im Sinne der »Gegen töne« verstanden ist, die auf merkwürdige Weise beim Zusammenklang ähnlich würden); und ganz ausdrücklieh beiTheov.Smyrna, bez. dem von ihm ausgeschriebenen Thrasyll (Theo ed. Hiller p. 48).

Wir können wol verstehen, wie aus der Bedeutung des Wortes in den Problemen sich dieser Sprachgebrauch entwickeln konnte; ist er doch dort selbst schon an einzelnen Stellen vorgebildet. Der Name, der zuerst eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit der Octave anzeigte, ist auf die Octave selbst übergegangen; wie Ähnliches ja so oft in der Sprach- geschichte vorkommt. Auch bei Theo weist die Wendung ra Kar ävri- (fxavov avfji(f>wva (p. 48, 21, vgl. 51, 14-15 ttiv avrfiv . . . aviuufxöviav Kar ävTi<f>wvov) noch deutlich auf diesen Ursprung hin. Theo selbst freilich begründet die Subsumtion des Antiphonen unter das Symphone durch eine nichtssagende Tautologie^; aber wiederum sieht man aus seiner Äufserung, dafs der Begriff des ävTiKeifievov noch dem des äirTi(f>wvov anhaftet. Auch Porphyrius überlegt sich die Motive für die Übertragung dieses Ausdrucks auf die Octave und verweist auf Falle wie ävTiSeos ftir icoBeos^. Übrigens gebraucht er (und ebenso Gaudentius) den Ausdruck nur ganz vorüber- gehend. Bei den byzantinischen Musikschriftstellem tritt äirritfxavos in dieser Verwendung mehr in den Vordergrund.

n. Von den Leitern und den Gesängen.

I. Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge.

Pr. 28, 32, 25, 44, 47. Diese terminologischen Probleme finden am besten als Einleitung zu den sachlichen Erörterungen dieser Gruppe ihre Stellung.

* De aniic. mult. C. 6, 960: 4 /^^ yop fr^pt y/räKfiovs Kai <^6pfuyyas apfiovia Si* avTtil><avtav ex€t To (rvfitfxüvoVf ofurtiai Kai ßapvrria^v afitaa-ymas 6fiot6rr\Tos eyytvofievris.

' p. 48 , 2 1 : ra ve yap Kar avritfxavov irvfA<f>(ava ea"nv , eireiföv to avriKeifievov rfj 6{vrrin ß&pos OV/i^Ofvf.

Commentar zur ptolemaeischen Harmonik in Wallis' Op. math. 111, p.277. Fhüos.'Msk»'. Abh. 1896. HL 5

34 C. Stumpf:

Probl. 28 untersucht den Ursprung des Ausdrucks vofJtos für bestimmte Gesänge und fiihrt ihn wunderlich genug auf den Umstand zurück, dafs man vor der Kenntnis der Buchstabenschrift die Gesetze gesungen habe, um sie nicht zu vergessen.

Probl. 32 handelt vom Ursprung des Ausdrucks Siä Tvaaciv statt Si OKTw (Octave), wie nach Analogie von 8ia irevre und Sia reo'a'dpwv zu erwarten wäre. Als Grund wird angegeben, dafs Terpander's Lyra, worin die Trite fehlte, in 7 Tönen das Ganze der Tonreihe (einschliefslich der Nete) darstellte.

Probl. 25 und 44 untersuchen die Herkunft des Ausdrucks fieari, da doch die Achtzahl (der Töne von der Nete bis zur Hypate) keine Mitte besitze. In beiden Problemen wird zunächst wörtlich dieselbe Lösung gegeben: dafs die alte Leiter eben nur 7 Töne umfafste.

Pr. 44^ fiigt aber, mit dieser einfachen historischen Erklärung nicht zufrieden, noch eine rationelle Erwägung bei, aus 'welcher das Recht hervor- gehen soll, auch jetzt, in der 8-tonigen (7-stufigen) Leiter die sog. Mese mit eben diesem Namen zu bezeichnen. Die Erwägung läuft darauf hinaus, dafs man Mese hier in einem weiteren und nicht blos mathematischen Sinn verstehen mufs; ähnlich wie auch wir z. B. von einem Verkehrscentrum oder vom Gravitationsmittelpunct reden. Es handelt sich in solchen Fällen um einen innerhalb gewisser Grenzpuncte liegenden Teil, der den übrigen gegenüber in irgend einer Weise dynamisch, der Function nach ausge- zeichnet ist. Er wird vielfach in der Nähe der geometrischen Mitte liegen (wo überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann), braucht aber nicht genau damit zusammenzufallen. Diese Erwägung ist unnötigerweise in eine schulmäfsig-syllogistische Form gekleidet und das Verständnis da- durch nur erschwert, doch wird es uns nun fast ohne Textänderungen möglich sein^.

* In dessen Fragestellung man mit Bojesen r&v fiev «rra streichen mufs.

' ^71 hni3rj 7WV fievafu r&v oKptov to fieanv fiovov apxv etmv (eain yap rwv [eis] Oare- pov T&v aKptov vevovrwv ev rtvt Siafmifiaji ava fiearov ov apx^)t tovt earai fietrov. eiret ^' Samara fA€V [statt fiea-ov] ea-nv apfiovias vearti Kai virarrj, tovtcov Se ava fiea-ov oi Koino} iffßoyyoi, wv jj fieo"!! KoKovfi^vti fiovri apx^i ««rn Saripov rerpaxopSoVj StKaitos fieo'ri KaKeTrui. iwv yap fieva^ nviav aicptüv ro fi€<rov tjv apxn fiovov. Unter den zahlreichen Veränderungen des Bekker*schen Textes, die vorgeschlagen wurden, scheinen mir nur die beiden hier eingefügten notwendig («es mit Gaza und Bojesen einfügen, fie<rov mit Jan durch /lev ersetzen), alle übrigen vielmehr störend.

Zu ava fiea-ov ass /irrafv s. Index Aristotelicus p. 457, a, 51,

Die pseiido-aristoteUscfien Probleme über Musik, 35

Zunächst das Princip: »Da unter dem, was zwischen zwei Endpuncten liegt, das Mittlere allein eine Art äp^^ ist (denn es giebt unter dem, was in irgendeinem Zwischenraum nach den beiden Grenzpuncten hinstrebt, ein gegen die Mitte hin liegendes, das äpxii ist), so wird dieses (nämlich die äp^ri) Mittelpunct sein«. Wenn man das fiovov im Vordersatz beachtet, wird man hierin zwar eine sehr umständliche Ausdrucksweise, aber nicht eine Tautologie finden. Der Nachsatz ist in der That eine Folgerung aus dem Vordersatz: Da die äp^ti immer gegen die Mitte hin liegt, so bezeichnet man sie nicht mit Unrecht als pecov. Es soll eben der weitere Sprach- gebrauch bezüglich pecov gerechtfertigt werden. Freilich würde man statt »immer« (/lovoi^) richtiger sagen »meistens« oder nur »vielfach«; und dies würde zur Erklänmg des Sprachgebrauchs hinreichen. Ausdrücke wie Verkehrscentrum sind in der That darum entstanden, weil das in irgend einer Beziehung »Herrschende« doch eben vielfach gegen die Mitte des Ganzen hin liegt.

Nun wird dieses allgemeine Princip (das an sich auf mechanische, aesthetische, moralische Verhältnisse u. s. f. ebensowol zutrifft), auf die Musik angewandt. Es giebt auch eine musikalische Mitte, die aber wiederum nicht mit der mathematischen zusammenzufallen braucht: »Da nun die Endpuncte der Saitenstimmung (Leiter) Nete und Hypate sind, die übrigen Töne aber gegen die Mitte dieser beiden hin liegen , und unter ihnen die sogenannte Mese allein äp^tl für jedes Tetrachord (auch im »un verbundenen System« und der 8-tonigen Leiter) ist, so wird sie mit Recht Mese genannt.« Der Schlufssatz bringt dann nur noch einmal den Ausgangspunct der Er- wägung in Erinnerung und könnte wol eine Randglosse sein.

Wir sehen leicht, dafs dieser Erwägung der nämliche Gedanke zu Grunde liegt, wie der oben besprochenen Behauptung (S. 12), dafs die Hypate und Nete von der Mese scheinbar gleichweit abstehen. Ich habe selbst seinerzeit aus dem Begriff der »musikalischen Mitte« die Ergebnisse der oben erwähnten experimentellen »Mitteschätzungen« hergeleitet. Die Quinte ist für uns die musikalische Mitte der Octave , die grofse Terz die musikalische Mitte der Quinte. Beides ist nur dynamisch, der musikalischen Bedeutung nach, nicht mathematisch zu verstehen.

Dafs hier das unverbundene System e e^ gemeint ist, ist in dem Problem nicht direct ausgesprochen , dürfte aber in der Fragestellung liegen, wo von den 8 Tönen die Rede ist. An sich- könnte die nämliche Erwä-

36 C. Stumpf:

guiig für das verbundene System und die alte Leiter e d' platzgreifen. Aber erst gegenüber der 8 -tonigen entstellt überhaupt die Paradoxie, die gelöst werden soll.

Am Schlüsse des Pr. 47 ist von der Benennung Mese wiederum die Rede. Sie wird daraus abgeleitet, dafs dieser Ton das Ende des oberen und den Anfang des unteren Tetrachords bildete und (darum) ein mitt- leres Verhältnis zu den Endpuncten hatte. Hier ist das verbundene System vorausgesetzt, worin die Mese auch als iTvvaf^r\ bezeichnet wurde. Schon in der Fragestellung wird ein Verfahren der äpxcuoi als Gegenstand des Pro- blems bezeichnet (s. die sogleich folgende Besprechung dieses Problems), während Pr. 44 in seinem zweiten Teil den gegenwärtigen Sprachgebrauch vom gegenwärtigen Standpunct rechtfertigen will.

Diese Probleme sind von sachlichem Interesse insofern, als sie uns auf die weiteren Betrachtungen über die musikalische Bedeutung der Mese vor- bereiten.

2. Bildung der siebensaitigen Leitern. Pr. 7, 47.

Diese beiden Probleme stellen gleichlautend die Frage, »warum die Vorfahren, als sie die Leitern 7 -saitig gestalteten, die Hypate darin liefsen, nicht aber die Nete?« Aber beidemale wird sogleich die in der Frage vorausgesetzte Thatsache selbst bezweifelt oder corrigirt. Pr. 7: »Oder blieben die beiden Töne und wurde die Trite weggenommen?« Pr.47: »Oder haben sie nicht die Nete*, sondern die jetzt sogenannte Paramese [ttiv vvv irapafiecriv KaXovfievtiv) und die Ganztonstufe (zwischen ihr und der Mese) weggenommen ? «

Die älteste griechische Leiter (Saitenstimmung, äpfiovia) war die der verbundenen dorischen Tetrachorde: e f g a b e^ d\ Terpander fugte aber als oberen Abschlufs die Nete e' hinzu und strich dafür, der Siebenzahl zu Liebe, die damalige Trite b (vgl. Pr. 32). Diese wurde später, als man zur 8 -tonigen Lyra e e^ überging, durch h ersetzt und als Paramese bezeichnet. Es ist daher die Abweichung zwischen Pr. 7 und 47 in Bezug auf den gestrichenen Ton nur eine scheinbare^.

* Hier ist sicherlich mit Bojesen u. A., denen auch Jan folgt, vrJTtiv statt vtotijv zu lesen. Jan's Einfügung von fiovov und xal dagegen scheint mir wieder den Sinn zu alteriren.

Siehe Wagener und Oevaert in des Letzteren Hist. II, 257 und 634.

Die pseudO'CaistoteUschen Probkme über Musik. 37

Jan bemerkt (Scr. mus. p. 8i), dafs in der Problemstellung selbst die historische Ordnung umgekehrt werde , indem nicht zuerst 8 , sondern von vornherein nur 7 Saiten da waren. Immerhin wird, wenn auch die Saiten der Lyra nicht über d hinausgingen, dem musikalischen Bewufstsein doch die Nete als oberer Abschlufs der I^iter schon ursprünglich nicht gefehlt haben. Die Octave ist das Fundament aller Leiterbildung, aller Musik im eigentlichen Sinne des Worts, und es ist psychologisch unmöglich, dafs dies jemals anders gewesen wäre. Durch sie allein wird eine aus festen Stufen bestehende Tonreihe in sich zu einem Ganzen zusammenge- schlossen (vgl. Pr. 32 über 8ia TraiTwv), Insofern lafst sich sagen, dafs die 8 -tonige (7 -stufige) Leiter früher war als die 7 -tonige (6 -stufige). Viel- leicht hat dies dem Verfasser des Problems bei der Fragestellung vorge- schwebt.

Die Lösung knüpft nun in beiden Problemen doch wieder an die an- fänglich gestellte Frage an. Pr. 7 verweist auf das Übergewicht der Hy- pate im Zusammenklang (s. o. 17)^ Pr. 47 hebt hervor, dafs man die Mese als Anfang des einen und als Ende des anderen Tetrachords (im verbun- denen System) nötig hatte. Wir müssen wol hiezu den Gedanken ergänzen, dafs durch die Mese auch die Paramese bedingt war, wenn anders das obere Tetrachord dem unteren analog sein sollte.

3. Grösserer Melodienreichtum der älteren Componisten. Pr.31.

Pr. 31: »Warum waren die Zeitgenossen des Phrynichus productiver an Melodien? Etwa weil damals die Gliederung der Versmafse in den Tragödien manichfaltiger war«*.

Die Lösung wird gewöhnlich ganz anders aufgefafst: die ßiKri seien damals TroKKairKdiTia gewesen gegenüber den fxerpa, Jan interpretirt : Varios novosque modos .... illi creaverunt, posteri satis habuerunt pari quodam modo metra decantare. Aber dies wäre keine Erklärung, sondern eine blofse Wiederholung der zu erklärenden Thatsache. Ruelle übersetzt: parce que . . . les chants tenaient plus de place que les metres (les vers declames).

' Die Schlufsphrase des Probl. 7 : hvei ro o^ . . . klammert Jan mit Recht ein, sie mufs (lurcli ein Mis Verständnis dahin gekommen sein (aus Pr. 37).

* Am Ol mp\ 4>pvvtxov tjcrav fiaXKov fieXoTotoi; yt Sta ro iroKKawKaa-ta elvat rdre ra fieKtj ev rats rpaytaStcus iwv fierptav.

38 C. Stumpf:

Ähnlich Eichthal und Reinach. Dies wäre eine auffallend schlechte Er- klärung, denn die zahlreicheren gesungenen Verse konnten auch auf wenigen Melodien gesungen werden; man sieht nicht ein, warum der Melodien reich- tum selbst gröfser sein mufste. Zudem ist fraglich, ob man fieKri und fierpa so deuten kann.

Dagegen scheint mir die obige Übersetzung sowol mit dem Wort- laut verträglicher als auch eine bessere sachliche Lösung einzuschliefsen. Die Vergleichung , die in TrdKKairKao'ia liegt, bezieht sich hienach nicht auf die ßeKri gegenüber den fierpa, sondern auf die fieKri (im Sinne von Teilen, vielleicht aber auch fxepYi zu lesen) tS>v fxirpwv, wie sie damals waren [totc)^ gegenüber den gegenwärtigen; genau so wie auch in der Fragestellung paXKov fieXoTroioi gemeint ist gegenüber den gegenwärtigen. Auch sachlich aber ist diese Lösung gut zu verstehen und von psycho- logischer Wahrheit: durch die gröfsere rhythmische Manichfaltigkeit der Texte wurden die Componisten auch zu reicherer Erfindung in tonaler Hin- sicht angeregt \

4. Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33.

Pr. 33: »Warum ist es passender von der Höhe zur Tiefe zu gehen als umgekehrt? Etwa weil dies heifst vom Anfang anfangen* (denn die Mese ist zugleich Führerin und höchster Ton des Tetrachords) , während der umgekehrte Gang vom Ende anfinge? Oder weil das Tiefe nach dem Hohen edler und wolklingender ist?«

Wir können hieraus entnehmen, dafs in den Melodien jener Zeit die Bewegung von der Mese gegen die Hypate (a gegen e) besonders natur- gemäfs erschien^. Vielleicht bezieht sich die Bemerkung überhaupt nur auf

* Von der grofseren Manichfaltigkeit der Rhythmen bei den »Alten- spricht auch PhitAfch De miis. c. 21 (ed. Westph. p. 15, 26 f.). Aber er formulirt den Gegensatz so: oi fiw jap vuv ^f\oTovoi, oi Se rore <^i\6ppvßfiot. Phryniclius, der nach Siiidcis den Tetraineter in die Tragödie einführte, wird in den Scholien zu Aristophanes zugleich fieXoirotos und ffSvs ev ficKea-t genannt (Bojesen).

airo rfjs apxns apxetrOat, wo apx4 zugleich Anfang und Prinzip bedeutet, wie der Aus- druck fjyefuav im Schaltsatz zeigt

Vgl. die Bemerkungen Gevaerfs Hist. I 378 zu diesem Problem. Die Pindarische Melodie, die ein schönes Beispiel sein würde, mochte gegenwärtig auch Gevaert nicht mehi* bedingungslos für echt halten (Melopee nntique, 1895, p. 32); mindestens die Notation könne

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Musik. 39

Melodien kleinsten Umfangs, die zwischen diesen beiden Tönen lagen, wie solche in den einfachsten Gesängen bei allen Völkern gegeben sind. Betrifft sie auch solche Melodien, die die ganze Octave beanspruchten, so scheint doch der Gang von der Mese aufwärts weniger definitive Befriedigung gewährt zu haben als der abwärts, man empfand ihn nicht als ebenso ge- eignet zum Abschlufs einer Melodie oder eines Melodieabschnittes.

Die Wendung »vom Anfang anfangen« darf nicht wol auf den Anfang der Melodie schlechthin bezogen werden, sondern nur auf relative An- fänge: auf die Bewegung von der Mese gegen die Hypate hin, mochte sie am Anfang oder im Verlauf oder am Schlufs der Melodie vorkommen. Dies ergiebt sich so wol aus der Natur der Sache \ als aus den erhaltenen Melodien. Namentlich die gut erhaltenen gröfseren Melodien, der Hymnus auf den Helios und der auf die Nemesis, bestätigen es: fast jeder Melodie- abschnitt endigt mit einer solchen Abwärtsbewegung zur Hypate^. Hiebei mag noch dahingestellt bleiben, ob die Hypate der Alten als Tonica auf- zufassen ist. War die Mese Tonica, die Hypate Dominante, so haben wir doch auch gegenwärtig Melodien , die in der Dominante schliefsen. Diese Art des Schlusses findet sich heute mehr in Moll- als in Durmelodien; und die Haupttonart der Alten, das Dorische, würden wir ja von unsrem Stand- punct ebenfalls als ein Moll bezeichnen. Immerhin würde das gegenwartige Musikbewufstsein noch mehr Fühlung mit dem alten haben, wenn wir die Hypate in unsrem Problem, und nicht die Mese, als Tonica auffassen dürfen. Diese Erwägungen leiten nun sogleich auch zu den Mese -Problemen.

erst aus der alexandrinischen Zeit stammen, vielleicht aber auch die Melodie selbst. Immer- hin würde sie uns auch als Document aus dem späteren Altertum wertvoll sein, und an dieser Stelle umsomehr, wenn die Probleme aus der nämlichen Zeit stammen.

^ Was Settala nnfiihrt (von Ruelle citirt): «Inditur a natura omnibus hominibus, ut quotidiana etiam docet experientia, ut cum priinum canere incipiunt ab acute expediantur et in grave descendant« ist vollkommen richtig und in dem physiologischen Umstand begründet, dafs man mit vollem Athem beginnt. Aber dieser Umstand beeinilufst doch wesentlich nur die kurzen Ruf-Wendungen (vgl. ui. Bemerkungen über die absteigende kleine Terz beim Rufen, Vierteljahrsschr. f. Musikwissenschaft 1 1885, S. 284), nicht die eigent- lichen Melodien, deren Bau von vielen anderen Umstanden mitbedingt ist. Hier konnte man eher, wenn überhaupt von einem vorherrschenden Typus gegenüber der ungeheuren Fülle gesprochen werden kann, mit E.Naumann ein Aufsteigen und dann wieder Absteigen als solchen hinst-ellen.

' S. die auch in anderen Beziehungen (Hervortreten der Dreiklangstöne bei den Partial- schlüssen) höchst interessanten Analysen Gevaert*s, Melopee antique p. 39 f.

40 C. Stumpf:

5. Function des Mitteltons. Pr. 20, 36,

Pr. 20 fragt, warum bei einer Verstimmung^ der Mese in der Aus- tuhrung einer Melodie auch alle anderen Saiten verstimmt erscheinen , bei der Verstimmung einer anderen Saite dagegen nur diese selbst. Der Ver- fasser findet dies wolbegründet , da man die Mese in allen guten Melodien häufig gebrauche und , wenn man sie verlassen habe , immer schnell wieder zu ihr zurückkehre. Sie sei den Bindewörtern der Sprache vergleichbar, ohne die kein \6yos 'GXXriviKos möglich sei.

Pr. 36 stellt etwas kürzer die nämliche Frage und betont, dafs von der Mese alle anderen Saiten ilire Stimmung, Tonlage (ex^iv ttws irpos rfiv ßiea-ffv), ihre Anordnung und ihren Zusammenhang empfangen^. Hier ist noch tiefer auf den Grund der Sache eingegangen.

Zur Vergleichung und Unterstützung kann die Stelle in Aristoteles' Metaphysik p. 1018, ft, 26 dienen, wo die Mese ebenfalls als äp^ii be- zeichnet und ihre Stellung mit der des Chorführers (Kopv(f>aios) verglichen wird. Dafs auch Pol. I, 5 p.1254, a, 32, wo eine äpx^i der Harmonie (Ton- leiter) erwähnt wird, die Mese gemeint ist, scheint mir hienach unzweifel- haft*. In einem ganz anderen Sinn wird zwar auch die Digsis gelegentlich als äpxri bezeichnet, nämlich im Sinne der Mafseinheit (äp^il koI fxerpov p. 1053, a, 12, s.u.); aber in der Politikstelle ist die Rede vom Unterschied des apxov und des äpxofjtevov, der sieh in der belebten wie unbelebten Natur finde, und in diesem Sinn, = Herrschendes, kann doch nicht wol die DiSsis gemeint sein.

^ Ktv^ofi könnte an sich wol auch eine Umstimmung im Betrag einer oder mehrerer Tonstufen bedeuten, aber der Ausdruck \vin7, mit dem die Wirkung bezeichnet wird , sowie das analoge <l>^p6fi€vai im Prob). 36 lehren, dafs es sich um eine blofse Verstimmung (Un- reinheit) handelt. Auch wilrde ja durch eine Umstimmung der Mese ihr Ton mit dem einer anderen Saite zusammenfallen.

rifimv nach lav^trjf ändert Reinach gewifs richtig in fiovriv. Am Schlüsse des Problems scheint mir Ruelle*s Vermutung aWtav för koK&v die glücklichste.

Starck's Änderung von ipOeyyofievat in <^ßetp6fievai (bei Helmholtz Tonenipf.* 395) ist sehr einleuchtend und von allen Neueren aufser Eichthal und Reinach angenomi^ien. An einigen anderen Stellen des Problems ist der Text auch nicht ganz in Ordnung, aber in- haltlich gleirhwol durchsichtig.

Vgl. Jan Scr. p. 17. (In der Stelle der Metaphysik ist üln-igens nicht zu erganzen w apxv' yevet ecrri, sondern, wie aus dem Context vom Beginn des Kapitels an evident her- vorgeht: wporepa Ktu virrepa Xeyerui.)

Die pseudo-caisMeäschen Probleme über Musik. 41

Eine hieliergehörige Äufserung findet sich ferner bei Dio Chrysosto- nnis. VsV sagt*, dafs man bei der Lyra zuerst den mittleren Ton feststelle, dann nach ihm die übrigen stimme (die ganze Lyra wurde ja auf die Ton- art gestimmt). Ähnlich müsse man sich im Leben einen höchsten Zweck setzen und alle Handlungen danach einrichten.

Helmholtz und Westphal haben gleichzeitig aus den obigen Pro- blemen den Schlufs gezogen, dafs die Mese für die Alten die Bedeutung und Function der Tonica gehabt habe, des Haupttons jeder Leiter, der allen übrigen Tönen erst ihren musikalischen Sinn giebt'\

Man kann fragen, ob die Beschreibung nicht auch auf unsre Domi- nante passen würde. Die Ausdrücke rfyefiwv (in dem vorhin besprochenen Pr. 33) und äpx^ (sowol Ausgangspunct als Princip bedeutend, s. S. 34 zu Pr. 44 und S. 38 Anm. 2) lielsen sich ebenfalls durch «Dominante« erläutern. Doch wäre es immerhin befremdlich , wenn der Begriff der Dominante (in unsrem Sinn) so sehr in den Vordergrund gestellt und der ihm zu Grunde liegende der Tonica, von der aus allein jener definirt werden kann, gar nicht erwähnt würde.

Aber noch eine dritte Auffassung wäre zu erwägen: es könnte ein- fach die Function gemeint sein, die bei uns dem Stimmton a' zukommt, dem festen Ausgangspunct der Abstimmung, einerlei, was far Tonleitern und Melodien wir gerade gebrauchen. Dann würde freilich hier nur über einen ziemlich äufserlichen technischen Umstand berichtet sein , womit die ganze Art der Beschreibung doch nicht gut zu vereinigen ist^.

* Or. 68 am Schlnfs (ed. Dindorf II, 234): xp'i ^ wrmp ev Kvpq tov fiea-ov t^Bayyov Kara- cmfcravTBs emira vpos tovtov apfiorrovrou rovs aKKovs, et Se fiti^ ovSefiiav ouieirore apftovtav awoSei' ^ov<rtVf ovTu>8 ev tu ßtoi k. r. \.

Ptoletnaeus unterschied eine thetische und eine dynamische Mese. Die dynamische ist nach Westphal die obere Quarte des tiefsten Tons (e) der dorischen Tonart, also a, und dieser nämliche Ton wird dann auch hei den übrigen Tonarten , innerhalb deren er eine sehr verschiedene Stellung einnimmt, als Mese bezeichnet (man konnte sie absolut« Mese nennen). Dagegen die thetische Mese ist in jeder Tonart die Quarte des tiefsten Tons (rela- tive Mese). Auf sie bezieht Westphal die Mese der Probleme.

Dafs der Neupythagoreer Nikomachus die Mese mit der Sonne im Planetensystem ver- gleicht, kann man mit Helmholtz hier auch anfuhren; doch lag die nächste Veranlassung dazu in der raumlichen Stellung, nicht in der hervorragenden Bedeutung, der Sonne.

' Eichthal und Heinach folgen sowol dieser als der ersten Auslegung (p. 41 : -l'auteur veut dire que la mkse sert de base pour Taccord des autres cordes; eile donne le /«• .... •Os deux problemes ... attribuent a la mese uii role assez analogue a celui qui, dans la mUas.-histor. Abh. 1896, HL 6

42 C. Stumpf:

Eine Anschauung endlich, die sich mit beiden zuletzt erwähnten be- rührt, hatGevaert, der fräher der Westpharschen zustimmte, sich neuer- dings gebildet ^ Hienach würde es sich in der That um einunddenselben feststehenden Ton handeln, um die dorische Mese a (die »dynamische Mese« nach Westphal's Ptolemaeus -Interpretation). Nur legt Gevaert nicht so sehr Gewicht darauf, dafs nach diesem Ton gestimmt wurde, als darauf, dafs dieser Ton, und nur dieser, in allen Melodien wiederkehrt und alle Ton- arten (besonders auch bei Modulationen innerhalb einer Melodie) unter ein- ander verbindet. Es existirte hienach , wenn ich so sagen soll , für die Alten eine universelle Dominante. Wie die unsrige zwei Tonarten mit einander verbindet, so verbindet die absolute dorische Mese sämmtliche Tonarten der Alten; freilich nicht infolge von »Verwandtechaftsverhältnissen«, son- dern nur infolge ihrer centralen Lage auf der Lyra und den sonstigen Instrumenten. Immerhin kommt doch auch bei uns, wenn zwei Accorde aufeinanderfolgen, schon der Umstand, dafs sie einen beliebigen Ton ge- meinschaftlich besitzen, mit in Betracht. Ein ahnliches Prinzip wurde also, melodisch gefafst, dem Wechsel der Tonarten bei den Alten und der Function der dorischen Mese zu Grunde liegen.

Gevaert hat noch keine eingehendere Erläuterung und Begründung seiner neuen Anschauung gegeben. Wenn er sich darauf beruft, dafs die »thetische Onomasie« allen Schriftstellern vor Ptolemaeus unbekannt ge- wesen sei, so würde dieser Grund für uns weniger Gewicht besitzen, wenn wir (wie unten geschieht) die Probleme selbst nahe an die Zeit des Ptole- maeus verlegen; vielmehr würde eher ein Gegengrund und ein Argument für die »thetische (relative) Mese« daraus werden*^. Aber Gevaert stützt sich, wie er mir brieflich mitzuteilen die Güte hatte, hauptsächlich auf die Analyse der vorhandenen Reste griechischer Melodien , in denen nicht die Mese, son- dern die Hypate als Hauptton erscheint^, und von mehr als looo liturgischen Gesängen vor dem 1 1. Jahrhundert, deren unmittelbaren Anschlufs an die antike Melodienbildung er in seinem Werk auseinandersetzt. Er habe unter

cadence des meludies modernes, est joue par la tonique«). Aber beide Auslegungen schiiefsen sich doch gegenseitig vollkominen aus.

^ M^lopee antiqiie p. 12 unter I] und Anm. 4, ferner Appendix II (1896) p. 467 Anm.

' Westphal selbst findet übrigens (Griecli. Harm.^ 170) Andeutungen der tiietischen Onomasie schon bei Aristoxenus.

' S. besonders Melop^e ant. p. 39-40.

Die pseudo-aristoteßschen Probleme über Musik. 43

diesen nicht Eine gefunden, worin der firagliche Ton fehlt, und es sei dieser Ton zugleich der einzige, auf den solches zutrifft.

Ich kann mich vorläufig noch nicht zu dieser Auffassung entschliefsen. Jener gemeinschaftliche Ton hätte trotz allem, was wir noch eben zur psychologischen Erläuterung beizubringen versuchten, für die jeweilige Melodie und das die Töne einer Melodie unter einander verknüpfende Bewufstsein doch eine verhältnismäJ&ig geringe Bedeutung, und man müfste sagen, dafs Aristoteles, die Probleme und Dio Chrysostomus zu viel Wesens daraus gemacht haben. Ich möchte daher über diese sehr wichtige Frage hier keine definitive Meinung aussprechen und hoffe, dafs der ausgezeichnete Musikhistoriker ihr in der bevorstehenden Ausgabe der Musik -Probleme eine eingehende Behandlung widmen wird.

6. Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Nomoi. Probl. 15.

Pr. 15: »Warum sind die Nomoi nicht antistrophisch, während die übrigen Gesänge, die des Chors, es sind*?«

Antwort, etwas gekürzt: Die Nomoi wurden von Bühnendarstellern vorgetragen , die sich in lang ausladender Rede und entsprechend manich- faltiger Melodie ergehen mufsten. Darum haben auch die Dithyramben, seit sie mimisch wurden, ihre antistrophische Form verloren. Für die Chor- sänger bedarf es schon wegen ihrer Menge, aber auch wegen des zu be- wahrenden Ethos einfacherer Weisen, wie solche der antistrophische Bau mit seinem gleichen Rhythmus bietet^.

7. Gebrauch der Tonarten in der Tragödie. (Antistrophie und

Ethos der Tonarten.) Pr. 30, 48.

Pr. 30: »Warum findet weder die hypodorische noch die hypophry- gische Tonart in der Tragödie als Chortonart Anwendung? Etwa weil sie

* Modern gesagt etwa: Warum sind die Arien diirchcoinponirt, die Chorlieder aber in Strophenf brin 1* Der Begriff des Nomos deckt sich nicht ganz, doch wol annähernd mit dem der Arie; zugleich deutet der Ausdruck auf die Existenz bestimmter »Weisen* hin, die traditionell geworden waren.

' Der Text des Problems ist nur an zwei weniger hervorragenden Stellen strittig, wo mir die Lesungen kv fua apfiovUt (Chabanon und Ruelle) und «fs pvOfiot yap (Ruelle) die besten scheinen.

6*

44 C. Stumpf:

nicht Antistrophie (wörtlich : nicht Antistrophes) besitzen. Dagegen werden sie von der Bühne aus gebraucht; denn sie ist handelnd.«*

Der äufserst kurze Text wird je nach den vorausgesetzten Subjeeten u. s. w. verschieden übersetzt, scheint mir aber auf diese Art, die auch sprachlich sich wol am besten rechtfertigt, einen gut vei*ständlichen Sinn zu geben , wenn wir nur erst wissen , was Antistrophie in Bezug auf Ton- arten bedeutet. Denn das Übrige, dafs die Bühnensftnger wegen ihrer mimischen Functionen nicht antistrophiren , darum also jene Tonarten ge- brauchen können, ist uns aus dem Vorangehenden bekannt und verständlich.

Dafs man äirri<rTpo(f>ov nicht mit Reinach in ävOpwTriKOv nach Pr. 48 ändern darf, geht aus eben dieser engen Beziehung des letzten Satzes zu Pr. 1 5 hervor. Auch ist der Ausdruck ävßpwTrucov dort von dem rtavx^ov rjOos gewisser Tonarten gebraucht, nicht von den Tonarten selbst, und würde darum hier doch allzu kühn stehen. Bojesen hilft sich einfach: »hoc problema propter brevitatem minus perspicuum copiosius explicatur probl. 48«, und interpretirt ävrio-Tpoijyov durch die dort stehende Wendung: fiiKos fiKurra e^ovai. Wie so? mufs man fragen. Auch Andere verweisen kurz auf Pr. 48. In Wahrheit wird im Pr. 48, wie öfters in den Parallel- problemen, eine total andere Lösung der Frage gegeben, es wird auf das Ethos der Tonarten hingewiesen, von dem hier nicht mit einer Silbe die Rede ist.

Vergleichen wir die beiden im Pr. 30 genannten Tonarten in Hinsiclit ihrer Structur mit den übrigen, so zeigt sich ein Unterschied, der hier sehr wol gemeint sein kann. In jeder von beiden sind die zwei Tetrachorde, in die sie zerlegt werden kann, hinsichtlich der Aufeinanderfolge der Stufen ungleich, dagegen in der lydischen, phrygischen, dorischen Tonart sind sie gleich. Bezeichnen wir die Ganztonstufen mit i, die Halbtonstufen mit 4-< so erhalten wir, von unten nach oben gehend, folgende Anordnungen:

Hypodorisch : i , -§-, i -J-, i , i . Hypophrygisch : 1,1,^ i , -J-, i .

Lydisch: i, i, -J- i, i, 4-- Phrygisch: 1,^,1 i, -J-, i. Dorisch: i, I, I i, I, I.

Man könnte fragen, warum die hypolydische und die mixolydische Tonart nicht neben der hypodorischen und hypophrygisch en genannt seien, da doch auch sie ungleiche Tetrachorde besitzen (Hypolydisch : 1,1,1

* /^ta Tt ovSe inroStoptOTi ov^ \nro<j>pvyta'ri ovk e<mv ev rpaytoSia j(optK6v; "W ort ovk e^^t avnaTpo<l>ov' o\\* airo <jki;v^$, fiiftijTtKri yap. Zu fufitfriKii vgl. das vorherbesprochene Problem.

Die psetido' aristotelischen Prohlen^e über Musik, 45

I, 1, ^, Mixolydisch: -J-, i, i i, i, i). Aber hier schliefst schon der Umstand, dafsdas eine der beiden Tetrachorde statt durch eine Quarte durch den Tritonus abgegrenzt ist (weshalb beide Tetrachorde von ein- ander statt durch einen Ganzton nur durch einen Halbton getrennt sind), die Melodienbildung innerhalb dieses Tetrachords von vornherein aus^ Um viertonige Melodien aber, wie sie zu den einfachsten Chorgesängen gebraucht werden (vgl. das vorher besprochene Pr. 15), scheint es sich hier zu handeln. Darum hat der Verfasser es nicht fiir nötig gehalten , diese beiden Ton- arten besonders zu erwähnen.

Nehmen wir nun an, dafs unter der Antistroj^hie der Tonarten verstanden ist: die genaue Gleichheit der beiden Tetrachorde in Hinaicht der Aufeinanderfolge ihrer Tonstufen, so erkennen wir sogleich die nahe Beziehung zu der vorhin besprochenen Antistrophie der Ge- sänge. Denn eben durch jene Eigenschaft war es möglich, eine Melodie, die sich im Spielraum eines Tetrachords bewegte, bei der Antistrophe in das andere Tetrachord zu übertragen. Auch wenn sie diesen Spielraum nach oben oder unten gelegentlich überschritt, konnte dies meist in gleicher Weise in der zweiten Hälfte ausgeföhrt werden. Tonarten werden also hienach antistroph genannt, wenn und weil sie sich infolge ihres Baues zu antistrophen Gesängen eignen , und diese selbst werden so genannt, nicht blos weil sie den gleichen Rhythmus (Pr. 15), sondern auch weil sie die gleichen Ton stufen in der Melodie aufweisen, zugleich aber durch die Transposition in das zweite (obere) Tetrachord ein Gegen- stück zur Strophe darbieten.

Dafs die Chorgesänge sich in geringem Umfange bewegten, ist nach der in Pr. 15 betonten Einfachheit und nach den Äufserungen des Pr. 33, wo die Mese nur in Verbindung mit dem unteren Tetrachord betrachtet wird, wahrscheinlich. Von einer Transposition der Tonhöhe bei der Anti- strophe ist uns zwar sonst nichts direct berichtet ; aber eben unser Problem, das bei aller Wortkargheit eine sehr bestimmte und praecise Sprache fuhrt, an der sich kein Wort irgend plausibel ändern läfst, wüfste ich in keiner

^ 8. die Forderung des Aristoxenus (Meib. p. 54, Marq. p. 78 mit 169), dais die beiden Tetracikorde Ton für Ton mit einander consoniren müssen. Ebenso Nikomachus Enchir. mus. c. 7 (Jan Mus. 8cr. p. 249). Vgl. bei Westphnl, Musik des griech. Altertums S. 326: »Die Tone b und e (der Tritonus) können nicht wesentliche Bestandteile eines und desselben melodischen Abschnittes sein, am wenigsten die Grenze eines solchen«.

46 C. Stumpf:

anderen Weise zu deuten; und man wird zugestehen müssen, dafs eine Transposition aus dem einen in das andere Tetrachord das näclistliegende und wirksamste Mittel war, um ohne Gomplication doch Abwechslung in den Gesang zu bringen.

Als ein Widerspruch gegen diese Auslegung erscheint zunächst jmr die Ijehre, dafs die Octave allein zur Antiphonie diene (s. o.). Denn die antistrophische Wiederholung der Melodie, mit Erhöhung des Ganzen um eine Quinte scheint ja zugleich unter den oben definirten Begriff der Anti- phonie zu fallen; sie erscheint vergleichbar mit der Wiederholung eines Thema's auf der Dominante, was doch, wie wir hörten, in der alten Musik ausgeschlossen war.

Dieser Widerspnich löst sich aber vollkommen dadurch, dass die Trans- position in das obere Tetrachord eben nicht als eine Wiederholung der Melodie empfunden wurde. Wir hörten ja, dafs nur Octaventöne jene Ähn- lichkeit miteinander besitzen, derzufolge der eine als Stellvertreter des anderen gelten kann. In der That erscheint aucli nach unsrer Auffassung die obere Hälfte der Octave, solange die Tonica die nämliche bleibt, keineswegs als gleichbedeutend oder gleichwertig mit der unteren. Die beiden Gänge bei i. in A-moU gedacht

'^^i ^^rr iirrrf^

stellen zwar die gleiche Aufeinanderfolge von Stufen dar, aber der zweite wird nicht als Wiederholung des ersten aufgefasst, wie es ]>ei 2. der Fall ist. Bei I. hat jeder Ton der zweiten Hälfte eine andere Bedeutimg und Function gegenüber dem entsprechenden der ersten Hälfte, weil er eine andere Stellung zur Tonica besitzt. Erst wenn wir die Tonica wechseln, d. h. die zweite Hälfte in E-moll denken, werden beide Gänge einander analog und kann der zweite als Wiederholung des ersten gelten. Dafs aber ein Wechsel der Tonica, eine Modulation in die Dominante nach unsrer Bezeichnung, zwischen Strophe und Antistrophe stattgefunden liätt<^, davon ist nirgends eine Andeutung gegeben \

* Auiserdein unterscheidet die Antistrophie von der Antiphonie noch der Umstand, dafs die antistrophe Wiederholung keine gena<ie zu sein hrniicht (s. sogleich im Text), ferner dafs bei der Antiphonie die MehKÜe, die dann in der tieferen Octave wiederholt wurde.

Die pseudo-aristotelisc/ien Probleme über Musik. 47

Ist so diese Scliwierigkeit einfach zu lieben, so entsteht aus der Lösung sell)st die neue, dafs im Tetrachord der Antistrophe die Mese gar nicht vorkommt, während sie in einer guten Melodie sehr oft vorkommen soll (Pr. 20).

Auch hierauf können wir, glaube ich, unschwer antworten. Die Melodie bewegte sich eben nicht genau und streng innerhalb eines Tetrachords, son- dern ging auch häufig eine Stufe tiefer; dazu diente der »Proslambanome- nos«. Gevaert nimmt diesen Zug geradezu unter die Prinzipien der antiken Melodiebildung auf: »Afin de donner un peu plus de jeu aux termi- naisons melodiques et un point d'appui au degre final, on permit ä la me- lodie de descendre un echelon de plus. Cett« pratique etait dejä sanction- nee ä l'epoque classique« *. Er weist diesen Zug namentlich an der Hymne auf den Helios nach (p. 39-41). Analogien dazu lassen sich auch in Fülle aus den Kirchengesängen, aus exotischen, aber auch aus modern- euro- paeischen Melodien kleinsten Umfangs (Tetrachordmelodien) beibringen. Bei der Transposition in das die Mese nicht enthaltende Tetrachord muCste nun in solchem Falle die Mese auftauchen. Namentlich dürfte dies bei Schlufswendungen vorgekommen sein. Lassen wir nach Anleitung des Pr. 33 die Melodie der Strophe durch Absteigen nach der Hypate, mit dem Proslam banomenos als Wechselnote, schliefsen, so erscheint bei der Antistrophe als Wechselnote die Mese, etwa so:

Jj o iirrrrr

Übrigens darf man sich die Übertragung der Tonstufen selbst gewifs nicht als eine sklavisch gebundene vorstellen, sie wird im Einzelnen schon durch das Bedürfnis des Ausdrucks und durch die grammatische Fügung des Textes, aber auch durch rein musikalische Bedürfnisse modifizirt worden sein. Wurde z. B. das Tetrachord in der Strophe nach einer Richtung hin überschritten, so mochte bei der entsprechenden Stelle der Antistrophe, gerade um Ungleichheit der Tonstufen zu vermeiden und zugleich das

gewohnlich zuerst in beiden Octaven vorgetragen wurde, während bei der Antistrophie nicht etwa entsprechende Quinten- oder Quartenparallelen vorausgingen.

* Melopc'C ant. p. 13 (mit Bezugnahme nuf den Coinnientator Plato's, dem Aristides Quintilianus folgt).

48 C. Stümpfe

Tonicabewufetsein besser zu wahren , die Tonbewegung vorübergehend nach der anderen Seite gelenkt werden ; z. B. wenn die Stroplie a h a hattt* (mit Überschreitung des Tetrachords nach oben), so mochte die Antistrophe e^ d^ e^ statt e^ /' e^ setzen. Auch hiefiir bietet die Musik aller Zeiten auf Schritt und Tritt Analogien. So konnte man nun auch am Schlafs, wenn es in der Strophe etwa wie vorhin hiefs e d e^ in der Antistrophe durch h & a die Mese zu Gehör bringen und mit ihr sogar schliefsen.

Endlich ist es möglich, dafs dem Tonica- (bez. Mese-) Bedürfnis auch durch die Instrumentalbegleitung Genüge geschah; wie dies Westphal für die ganze Classe der Melodien annimmt, die auf der Hypate (nach seiner Auffassung = Dominante) endigten ^ Gerade in den Problemen ist ja auch die heterophone Krusis, die von den Gesangtönen abweichende Instrumental, begleitung, vorausgesetzt (39^). Lag die Melodie im unteren Tetrachord, so mochte die Nete, lag sie im oberen, die Mese (bez. ihre höhere Oc- tave) besonders in der Begleitung berücksichtigt werden.

So konnte auf vielerlei Weise dafür gesorgt werden , dafe die Mese bei der Antistrophe zu Gehör kam. Im Übrigen ist aber jene Forderung des Pr. 20 , dafs die Mese in allen guten Melodien vielfach vorkomme, vielleicht nicht einmal so wörtlich zu nehmen; meinen doch auch bei uns Manche falschlich, dafs die Tonica in der Melodie vorkommen oder gar dafs sie eine hervorragende StelUmg einnehmen müsse. Nur fiir das Be- wufstsein des Hörenden gilt diese Forderung, nicht für seine Ohren oder für die geschriebenen Noten.

Hienach dürfte der vorgetragenen Auslegung nichts entgegenstehen und sich damit ein gewisser Einblick in die Structur antiker Chormelodien eröflfhen, wenngleich sich bei der Kürze des Textes nur eine begrenzte Wahrscheinlichkeit daför gewinnen läfst. Es tritt dieses Ergebnis aber auch in Verbindung mit den vielfaltigen Untersuchungen über die orch es ti- schen Bewegungen und über die Teilung des Chors. Dafs bei der Strophe und Antistrophe der gleiche Rhythmus der Verse auch durch gleiche oder besser symmetrisch-entgegengesetzte Bewegungen ausgedrückt wurde, ist kaum zu bezweifeln. Diesen symmetrischen Bewegungen ent- sprach nun nach akustischer Seite die Transformation der Melodie durch

\'gi. seine Aristoxenus- Ausgabe LXXXIV und sonst.

Die pseudO' aristotelischen Probleme über Musik. 49

ihre Versetzung in das andere Tetrachord. Dafs ferner Strophe und Anti- strophe durch verschiedene Abteilungen des Chors vorgetragen wurden, ist für manche Falle sicher, för andere strittig*. Wie nun in unsren Fugen Dux und Comes, das ursprüngliche und das auf die Dominante versetzte Thema, von verschiedenen Teilen des Chors vorgetragen werden (ohne dafs wir übrigens die Vergleichung weiterfahren wollen), so liegt auch in der me- lodischen Antistrophie , auf die wir uns geführt sehen, ein Hinweis mehr auf die Verteilung der Strophe und Antistrophe an verschiedene Halbchöre. Natürlich konnten aber nicht blos Teile des Chors unter einander, sondern auch Einzelne mit dem Chor oder mit Einzelnen in solcher Weise abwech- seln, etwa die Chorführer (Kopv<l>cuoi) oder ihre Seitenmänner {itapatTTaTai) oder auch handelnde Personen. Dafs die Verteilung durch die melodische Antistrophie notwendig bedingt wäre, läfst sich freilich nicht behaupten; und der Zusammenhang des Textes scheint sie häufig zu verbieten.

Soviel über die Problemlösung im Pr. 30.

Auf die nämliche Frage nun, warum man im tragischen Chor jene bei- den Tonarten nicht gebrauche, giebt Pr. 48 aus einem ganz anderen Gesichts- punct eine redseligere Antwort, deren kurzer Sinn ist, dafs diese Tonarten erstlich am wenigsten Melodie (ixiKos) haben, zweitens aber und dies wird besonders in den Vordergrund gestellt dafs sie ein praktisches und grofsartiges Ethos haben, während fiir den Chor als wolwoUenden Zu- schauer mehr ein passives Ethos zieme, wie es den übrigen Tonarten eigne*.

Sachlich können wir dazu kaum etwa^ sagen , da wir über die Gründe des Ethos der griechischen Tonarten in Ermangelung hinreichender Musik- beispiele zu wenig urteilen können. Durch den Inhalt der Begründung gehört dies Problem zugleich zur HI. Gruppe (über Gefühlswirkung).

^ V. Christ, Teilung des Chora im attischen Drama, Abh. der bayrischen Akad. d. Wiss. I. Cl. XIV, 2 S. 159, bes. S. 198 f. MuflF, Chorische Technik des Sophokles (1877). Wecklein, Fieckeisen's Jahrbücher Siippl. XIII, S. 2i5f. (nimmt fiir die Antistrophe bei Aeschylus nur eine orchestische Bedeutung in Anspruch). R. Arnuldt's Schriften über die chorische Technik des Aristophanes und des Euripides. Zielinsky, Gliedemng der alt- attischen Komödie S. 249 f. (giebt die Teilung nur fiir die Komödie, nicht für die Tragödie zu). Für die Alkmanischen Strophen s. Diels , Alkmans Partheneion , Hermes XXXI, 339. ' Unter aligemeiner Zustimmung verändert Bojesen p.922, 6, 21 viro<f>pvyi<rTi in <f>pvyiairi und lugt die aus Ga/.a's Übersetzung zu entnehmenden Worte fAa\i<mx 5e ^ /iifoXi/Äa-n ein. Den sanft-traurigen Charakter des Mixolydischen bezeugen auch Plato, Aristoxenus (s. Jan p. 108) und Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, ft, i.

Philos.-Msiar, Abh. 1896. III. 7

50 C. Stumpf:

8. Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe beim Singen. Pr. 2 2, 45, 35 ^ 37, 21, 26, 46, 3, 4.

Von diesen auf die AusfiShrung von Gesangmelodien bezüglichen Pro- blemen bieten nur die zwei letzten erheblichere Schwierigkeiten.

a) Ein grofser Chor hält den Rhythmus besser ein als ein kleiner. Pr. 22, 45.

Pr. 22: »Warum halten viele Sänger leichter den Rhythmus als wenige? Etwa weil sie sich mehr nach £inem, dem Führer, richten und lang- samer tanzen*, so dals sie leichter das Nämliche treffen, denn im Schnellen fehlt man eher.«

Pr. 46 fugt nach fast wörtlicher Wiederholung des Vorigen noch bei, dafs bei geringer Zahl leichter die Versuchung, för sich zu glänzen, an den Einzelnen herantrete.

b) Man detonirt am Beginn und Schliifs eines Tons(?). Pr. 35^. Wir bezeichnen mit den Neueren als Pr. 35^ den mit Sia Travros (p. 920, a, 38) beginnenden Abschnitt des Pr. 35. Es fehlt hier aber, wie bei 39^*, die Problemstellung. Ich vermute, dafs die in unsrer Überschrift bezeichnete Erscheinung den Gegenstand bildete. Es wird nämlich darauf hingewiesen, dafs jede Bewegung langsamer auffingt und endigt, in der Mitte aber am schnellsten ist^ Darum müsse auch die Stimme im mittleren Abschnitt (des gesungenen Tons) am höchsten sein. Ganz Iiervorragende Sänger dürfte allerdings das Problem, wenn dies sein Inhalt, nicht im Auge haben.

e) Es ist anstrengender hoch zu singen als tief. Pr. 37. Pr. 37 findet dies merkwürdig, da doch das Hohe dem Kleinen und darum Schnellen, das Tiefe dem Grofsen und Langsamen entspreche. In der Lösung wird die Thatsache nur fiir die zugegeben , die nicht von Natur, aus Schwäche, eine hohe Stimme haben. Im Übrigen sei zum Hochsingen Kraft nötig, um die schnelle Bewegung (der Luft) zu erzeugen.

^ Der überlieferte Text lautet ßapvrepov apxovrat. Die Neueren lesen mit Gaza ein- stiuunig ßpa^frnpov. Aber auch Grafs Änderung von apxovrat in opxovvrai (s. Jan) scheint mir gerechtfertigt.

KflTtt fiifTfiv im ersten Satz ist offenbar nicht (mit Jan) auf die Mitte der Saite zu beziehen sondei*n auf die zeitliche Mitte der ganzen Bewegungs -(Ton-) Dauer.

Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 51

d) Falschsingen wird bei den tiefen Stimmen leichter merklich als bei den hohen; ebenso sind rhythmische Abweichungen leichter merklich bei lang- samem als bei schnellem Rhythmus. Fr. 21.

Zwei Erklärungen werden in Pr. 21 versucht: entweder weil die gröfsere

Zeit (wie sie der tiefere Ton erfordert) als Wahrnehmungs-Inhalt in sich

selbst merklicher ist, oder weil sich innerhalb der gröfseren Zeit auch die

-Wahmehmungs-Thätigkeit besser entfalten kann.

e) Man singt öfter zu hoch als zu tief. Pr. 26, 46.

Pr. 26 wörtlich: »Warum singen die Meisten nach der Höhe zu falsch (eirl t6 6^ aTraSovcriv)? ^ Man mufs nicht übersetzen: »in der Höhe«. Darum widerspricht das Problem nicht, wie man gemeint hat, den Pr. 21 und 37. Die zu hohe Intonation kann einen tiefen ebenso wie einen hohen Ton betreffen; es wird hier nur überhaupt eine Neigung nach der Plus- Seite behauptet. Die Erklärung ist wieder doppelt: entweder weil das Hochsingen leichter ist als das Tiefsingen (was nun allerdings dem Pr. 2 1 widersprechen würde, wenn man nicht etwa »zu hoch« und »zu tief« interpretiren will, wobei dann aber die Erkläi*ung nahe an Tautologie streift), oder weil die Erhöhung schlimmer ist, ein Fehlgriff aber in der Ausübung des Schlechteren besteht. Hiemit meint der Verfasser offenbar, dafs die Abweichung nach der Höhe nicht geradezu häufiger oder durch- schnittlich gröfser sei, sondern nur merklicher und unangenehmer.

Pr. 46 giebt auf die nämliche Frage nur die erste Lösung, mit dem Zusatz: infolgedessen singt man mehr das Hohe und fehlt in dem, was man singt (wozu man beim Singen neigt).

/) Die Parhypate ist schwer, die Hypate leicht zu treffen. Pr. 3, 4.

Ich will sogleich vorausschicken, was mir als Inhalt dieser beiden ziemlich schweren Probleme erscheint. Sie beziehen sich, so nehme ich mit Bojeseu an', auf die onharmonische Leiter. Deren drei tiefste Töne, e (Hypate) e (Parhypate) / (Lichanos) , waren durch je ein Viertelton-Inter-

^ Die Begründung dafür liegt im Wortlaut des folgenden, mit dem gegenwartigen in- tegrirend verbundenen Problems , wo die DiSsis ausdrücklich erwähnt ist (s. u.). Aber auch das gegenwärtige Problem, die Frage sowol als die Antwort, wird so bedeutend verständ- licher als wenn die diatonische Leiter gemeint ist. Die sogleich im Text zu erwähnende Parallele aus Aristoteles* Metaphysik spricht ebenfalls von der DiSsis, doch ist fraglich, ob Aristoteles selbst hierunter nicht etwa eine Halbtonstufe verstand. Vergl. n. S. 54.

52 C. Stumpf:

vall, eine Diesis, getrennt; dann folgte mit einem Sprung von zwei Gan?-

X

tönen a (Mese). Analog im oberen Tetrachord: h (Paramese), h (Trite), c (Paranete), e (Nete).

Pr. 3 setzt nun voraus, dafs man von der Hypate aufwärts singt, und fragt: »Warum reifst die Stimme so leicht ab, wenn man die Parhypate singt, nicht weniger als wenn man die Nete und die hohen Töne singt, wobei aber das Intervall gröfser ist?«*

Wir begreifen ohne weiteres, dafs die Parhypate schwer zu treffen und festzuhalten war. Diese Scliwierigkeit wird verglichen mit der bei der Intonation hoher Töne: Die Nete ist auch verhaltnismäfsig schwer zu singen, wegen ihrer absoluten Höhe, obschon das Intervall (zwischen ihr und der Paranete c) gröfser ist.

Lösung: »Etwa weil man diese am schwersten singt und sie Princip ist. Das aber ist schwer wegen der Anspannung und Pressung der Stimme. In diesem aber liegt Anstrengung. Was aber Anstrengung kostet, misglückt leichter. « *

Unter Tavrriv kann hier, wenn irgend ein Sinn herauskommen soll, nicht die Parhypate oder die Nete verstanden werden , sondern Tavrriv tv\v Sidcrracriv, das Intervall nämlich, worauf die Fragestellung sich bezog, die Diesis zwischen Hypate und Parhypate. Sie wird auch äp^rj genannt, als das Element, die Mafseinheit der enharmonischen Leiter. So bezeichnet auch Aristoteles Met. p. 1053, ^^ die Diesis als äp^h koi fierpov. In der Astronomie habe man eine Einheit als äpxii und fierpov in der gleich- förmigen und schnellsten Bewegung der äufsersten Himmelssphäre, wodurch alle anderen Bewegungen gemessen werden, und in der Musik die Diesis, weil sie das Kleinste und das Element (cTToixeiov) für die Stimme sei".

* A<a TT rifv wapvwartiv qSovres ßiahtarm aTroppifyvvvTat , ov^ rjrrov tj Trjv vifn/v Ktu ra avio^ fiera 8e Sia<rTa<re<os wKetovos ; *^H on j^oXeircaTtiTa Twi/Tiyv qSovm^ Kai avrri ap^rj, to Se ;^a\eirov ^m TTiv emraa-iv koi mea-iv rijs ifxov^s' ev tovtois Se irovos* irovovvTa 8e fiaWov ^aK^Beipevai,

* Vgl. noch andere die Diesis betreffende Äufserungon des Aristoteles in Jan's Zu- sammenstellung Mus. Scr. p. 15.

Aristoxenns polemisirt gegen solche Auffassung und Darstellung des Tonreiches von Seiten der »Harmoniker« (die die Musiktheorie auf Rechnung grilnden). Wir können doch unmöglich, sagt er (Meib. p. 28, Marquard's Ausg. p. 38), achtundzwanzig aufeinanderfolgende DiSsen singen, wie dies vorausgesetzt wird, wenn man die Leiter aus solchen constniirt; wir können nicht einmal drei nacheinander treffen. Das Tonbereich, wie es unsrer Stimme und nnsrem Gehör gegeben ist, ist also nicht aus Diesen zusammengesetzt. Aristoxenns be- ruft sich hier wie überall auf das Ohr und die wirkliche Musik.

Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 53

In ähnlichem Sinne bezeichnet auch Theo Smyrnaeus nach dem Peripa- tetiker Adrast den Ganzton und das Limma als äp^cu av/KfxovlcLS ^ weil daraus die Consonanzen sich zusammensetzen (Theo ed. Hiller p. 75, 16). Vielleicht schwebt aber unsrem Autor bei dem Ausdruck äp^tj auch noch der Gedanke vor, dafs die DiSsis das Charakteristikum des enharmonischen Geschlechts bildet, ähnlich wie wir grofse und kleine Terz als »charak- teristisches Intervall«, als Prinzip för Dur und Moll bezeichnen.

Dafs nun die DiPsis unter den Intervallen am schwersten zu singen ist, begreift sich; auch kommt es, weil sie zugleich äpxfi ist, am meisten auf ihre richtige Ausfuhrung an und ist eine Abweichung, indem man etwa sogleich den Lichanos intonirt, am empfindlichsten. Die gestellte Frage ist also hiemit beantwortet. Der Verfiasser geht aber noch auf die zur Vergleichung herangezogene Intonation der Nete ein: t6 S4, das aber, nämlich das Treffen der Nete und der hohen Töne*, ist schwer wegen der Anspannung der Stimme. '€v tovtois, d. h. in diesen beiden Um- ständen, das einemal in der Kleinheit des Intervalls, das anderemal in der Höhe des Tons, liegt Anstrengung u. s. w. Es sind also zunächst zwei verschiedene Erklärungsgründe für das häufige Misglücken der reinen In- tonation in beiden Fällen ; aber das Gemeinsame liegt in der Anstrengung, zu der wir beim Intoniren genötigt sind.

Das folgende Pr. 4 (wieder ein Fall, wo zwei sachlich engverbundene Probleme auch unmittelbar nebeneinander stehen) beziehe ich mit Bojesen auf das Abwärts-Singen. Wenigstens ist auf keine andere Weise schon die Fragestellung begreiflich: »Warum aber ist diese (die Parhypate) schwer zu singen, die Hypate dagegen leicht, während doch eine DiSsis von jeder der beiden (zur anderen fuhrt)? «^

Wiederum wird man die Thatsache, so verstanden, nur richtig finden, und bereits Helmholtz hat es als eine feine Beobachtung des Verfassers gerühmt, dafs der Leitton (die »note sensible«) schwer und der Schlufs- ton leicht zu intoniren sei. Als Leitton aber sei die Parhypate darum zu fassen, weil die griechischen Gesänge nach Pr. 33 wahrscheinlich nach der Hypate absteigend geschlossen hätten^. Nur bezieht Helmholtz die Äufse-

^ Gaza und Bojesen beziehen td Sd auf das Singen der Parhypate oder der Di^sis, wobei aber schon das 84 ungerechtfertigt wäre oder etwa stehen mfllste: ;^a\«rov 84, ^ Aiä ri 8e vavTtiv ;^a\ejrEüS, rrfv Se vmzn/v paSitas, Kolrot Stetris eKarepas; ' Helmholtz, Lehre v. d. Toneinpf.* S.396 und 463.

54 C. Stumpf:

rung wol mit Unrecht auf die diatonische Scala. Der Ausdruck Diesis wurde zwar in den älteren Zeiten auch fiir den Halbton gebraucht, seit der Zeit des Aristoxenus aber kaum anders als für den enharmonischen Viertelton \

Die Lösung geht hier tief in's Psychologische ein und ist wiederum ])ereits von Helmholtz ihrem Sinne nach trefflich wiedergegeben*. Aber die Tiefe hat Textcorruptionen zur Folge gehabt, die nicht ganz sicher zu heilen sind. Wir können mit einigen Conjecturen übersetzen: »Etwa weil die Hypate mit Nachlassen gesungen wird und das Nachgeben nach der Anspannung leichter ist. Daher vermutlich bezieht sich, was man von der Gewalt sagt, auf diese oder die Paranete (Paramese?). Denn man mufs (um einen Ton leicht und sicher zu treffen, ihn intoniren) mit Über- legung (d. h. mit einer vorherigen genauen Vorstellung davon) und mit einer dem Bewufstsein ganz vertrauten Verfassung in der Richtung des Willens.«^

* In den aristotelischen Scliriften findet sich eine Äufsening über die Diesis, die in Hinsicht unsres Problems nicht uninteressant ist. De sensu p.446, 0,1: 6 ev rj äcW <l>06yyos Kavßavei, Kairoi amfe^ovs ovros aicovei rov fieKovs iravros' tp Se Sta<rni/Aa to tov fierapf TTpos Toifs ea-xarovs \avSavei. »Der Tx>n in der Diesis wird nicht gesondert WAhr^enoinmen, obschon man die ganze continiiirliche Tonbewegnn^ hört. Das Intervall des Zwischentons zu den äufseren entgeht uns.« Hier spricht Aristoteles wahrscheinlich von dem stetigen Übergang der Stimme von / nach e (durcii Hinüberziehen, wie es auch unsre Sänger t>eini I^itton häufig verüben). Darin kam natürlich der Ton der enharmonischen Diesis (i) vor, al>er er wurde nicht für sich wahrgenommen, weil die Stimme nicht darauf Halt macht«.

* A. a. 0.397: »In dem Leitton ist die Anstrengung fühlbar, welche mit seinem Über- gang in den Grundton (Schlufston) aufhört.« 463: »Die Hypat« wei'de, sagt Aristoteles, mit Nnchlafs der Anstrengung gesungen. Und dann fügt er hinzu, dafs neben der Über- legung, welche den Willen zur Folge habe, auch noch die Art der Willensanstrengung dem Geiste ganz heimisch und bequem sein müsse, wenn nämlich das Beabsichtigte leicht eri*eicht werden solle. Die Anstrengung, welche wir fühlen, wenn wir den Leitton singen, liegt eben nicht im Kehlkopfe, sondern darin, dafs es schwer ist, die Stimme durch den Willen auf ihm festzustellen, während uns schon ein anderer Ton im Sinne liegt, auf den wir über- gehen wollen und durch dessen Nähe wir den Leitton gefunden haben. Erst in dem Schlufs- tone fühlen wir uns heimisch und beruhigt und singen diesen deshalb ohne Willensan- strengung.«

7/ on fier avea-e<os ^ VTrany, Kai a/ia fiera rrjv avwaa-iv (Ruelle statt avirratriv) iAxt- <l>pov TD avaxaKav (so Jan statt des sinnlosen avta ßaWetv); Sia ravTo Sc eoixe Koi ra Tpos ßiav (so Bussemaker, .Arist. op. Didot IV 206 statt fitav) Xeyofieva irpos vavrriv rj irapav^rrtv (irapafi€<rriv?) , Set yap fiera trwvoias koi KaTaa-rdiretos otKetoTaiijs rta ijO& rrpos rffv ßovKija-iv. Die

Die pseudo-aristoteKscfien Probleme über Musik. 55

Der erste Satz enthält das klare Princip der Lösung. Die Hypate als ein im Tonsystem ausgezeichneter Punet schwebt dem Bewufstsein schon während des Singens der Parhypate vor, auf der man sich darum schwer halten kann. Sie übt eine Art Anziehungskraft, und man hat, um sie zu treffen, weiter nichts zu thun, als dieser Gewalt nachzugeben.

Der zweite Satz scheint nun auf eine uns des Näheren unbekannte sprachliche Wendung Bezug zu nehmen, worin von dieser ßia die Rede ist. Vielleicht war es ein in dem erwähnten Umstand begründeter Ausdruck unter den praktischen Musikern (die ja auch heute ihre besonderen Hand- werksausdrücke haben), dafe bestimmte Töne einen Druck oder Zug auf die Stimme üben. Von der Paranete (r) des enhannonischen Systems konnte Ahnliches gesagt werden bei dem aufsteigenden Gang A, A, c. Ebenso von der Paramese (h) beim Absteigen. Da in unsrem Problem sonst absteigende Richtung vorausgesetzt ist und die Paramese dabei das genaue Analogon der Hypate darstellt, hätte diese Änderung etwas für sich. Allenfalls liefse sich auch irpos vrrrv\v lesen, da die Nete von oben her auch eine Anziehung übt, die freilich im enharmonischen System wegen der Lücke bei d stark in die Ferne wirken mu&.

Den letzten Satz endlich können wir uns durch die Einschaltungen in der Übersetzung erläutern und unter der so umständlich verclausulirten Karaarrains die Bedingung verstehen, dafs der Wille des Sängers durch die Gewohnheit eine Disposition erlangt haben mufs, den vorgestellten Ton auch in die entsprechende Muskelthätigkeit zu übersetzen. In der That gehören diese zwei Bedingungen zur richtigen Intonation: genaue Vorstellung des Tons und Gewöhnung des Willens an die richtige Ausföhrung. Diese Willens- verfassung ist uns aber am vertrautesten bei denjenigen Tönen, die den Grundstock des musikalischen Systems bilden, die uns beim Singen und Hören beständig als Orientirungspuncte vorschweben. Nur scheinbar stellt diese ßovhjfiais mit der ßia, von der vorher die Rede war, im Widerspruch : denn die anziehende Gewalt der Hypate deckt sich mit der gewohnheits-

hierauf noch folgende Frage: rov ^ Brj fiera <rvfi<pa>vias m f\ alria; setzt Jan mit Recht, wenn sie so lautete, in eckige Klammern; sie erscheint als ein späterer Zusatz, der mit der Sache gar nichts zu thun hat, bestenfalls als eine Aporie, die irgend ein Punct dieses Problems noch bei seinem Verfasser oder einem darüber Nachgrübelnden zurückgelassen hat. In dieser Hinsicht würde sich crwvwas (aus dem Vorangehenden) statt cnyi^v/as em- pfehlen.

56 C. Stumpf:

m&fsigen Richtung des Willens, sie ist in dieser Seelenverfassung mit ein- geschlossen; sie wirkt ja nicht als äufsere Gewalt, sondern als die unsrem Bewufstsein gegenwärtige Ton Vorstellung, die den Willen determinirt.

in. Grefühlswirkung der Musik.

I. Lust an der Musik überhaupt. Pr. i.

Pr. 1: »Warum spielen sowol die Sorgenvollen als die Geniefsenden die Flöte? Etwa damit jene ihre Unlust vermindern, diese ihre erhöhen«. Das Problem hat in dieser Form unleugbar etwas Triviales und wird gern zum Beleg dafür verwendet, dafs Aristoteles nicht der Verfasser der Pro- bleme sein kann. In die Frage selbst nun kommt die Trivialität für unsren Geschmack eigentlich nur durch die Flöte, die man indessen hier als Ver- treterin der Musik Oberhaupt verstehen mag. Bedenklich flach ist allerdings die Antwort. Aber wir gedenken ja auch nicht die Echtheit der Pro- bleme zu verfechten.

2. Freude an bekannten Melodien. Pr. s, 40.

Dafs uns bekannte Melodien lieber sind als unbekannte, erklärt Pr. 5 zunächst daraus, dafs der Singende uns wie einer erscheint, der ein Ziel triflFt, und dafs wir das Treffen besser controliren können, wenn wir das Gesungene kennen. Dies aber (das Treffen des Zieles) sei angenehm zu beobachten\ Eine zweite Erklärung stützt sich darauf, dafs es (das Wieder- Hören) angenehmer ist als das Lernen^, weil dieses ein Erlangen, jenes ein Gebrauchen (der Kenntnis) und ein Wiedererkennen ist. Ferner sei auch das Gewohnte angenehmer als das Ungewohnte.

Pr. 40 wiederholt die Frage und die erste Lösung fast wörtlich. Als zweite fögt es bei: »weil der Hörer durch den, der Bekanntes singt, in

* Unter dem Ziel ist hier wol nicht nur die Tonhohe, sondern der ganze Vortrag gemeint. Das Satzchen tovto 5e ist nur dann nicht überflQsslg, sondern ein Glied der .Schlufs- folgerung, wenn man das Subject wie oben im Text fafst.

' Der Text rj on fiSv to fiavSAvetv ist, wie schon Bonitz bemerkte, unmöglich. Die kleinste Änderung wäre J&ov tov fiavßavmv, wobei das Subject aus der Fragestellung in obiger Weise zu ergänzen ist.

Die pseudo-arislot^kschen Probleme über Musik. 57

Mitleidenschaft gezogen wircV; er singt (innerlich) mit ihm, und Jeder singt mit Vergnügen, wenn er nicht durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen wird«. Bei der letzteren Wendung dürfte der Verfasser nicht an Sänger von Profession denken, sondern an den* psychischen Vorgang, der dem eben beschriebenen sympathischen Mitsingen entgegengesetzt ist. Wenn wir eine neue Melodie innerlich mitzusingen suchen , unterliegen wir einer ävarfKYi\ bestandig kommen unerwartete Töne, die uns in ihre Bahnen zwingen. Bei den alten hingegen lenken unsre eigenen Vorstellungen, wie sie sich eine nach der anderen gedächtnismäisig einstellen, von selbst unser Thun; dieses erfolgt, mit den Worten des Pr. 4 zu sprechen, iiera (Tvvvoias KOI Karacrrdcrews oiKeioTarris tw fißei Tvpos rtiv ßov\fi<riv.

Die Sauberkeit der psychologischen Zergliederung ist in beiden Pro- blemen bemerkenswert.

3. Freude an Rhythmus, Melos und Consonanz. Pr. 38.

»Warum fragt Pr. 38 freuen sich alle am Rhythmus, am Melos und endlich^ an den Consonanzen? Etwa weil wir uns über die natür- lichen Bewegungen natürlicherweise freuen, wovon schon neugeborene Kinder ein Beispiel geben. Durch Gewohnheit aber freuen wir uns an den Formen der Melodien^. Am Rhythmus aber freuen wir uns, w^eil er ein erkenn- bares" und geordnetes Zahlenverhältnis besitzt und uns geordnet bewegt; denn verwandter ist uns von Natur die geordnete Bewegung als die un-

* Vgl. Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, a, 12: en Se oKpofo/ievoi rav fufi^a-etov ylyvovvat Trdvres avfivaBeis (hier speziell vom Dramatischen gesagt).

^ o\a>s steht hier wunderlich , da doch Consonanz nicht der Gattungsbegriff der beiden anderen ist und es auch Rhythmus ohne Consonanz giebt, wenngleich Melodien im eigent- lichen Sinn nicht ohne consonante Intervalle möglich sind. Bussemaker übersetzt mit Gaza «denique«, und ich glaube auch, dafs man das intendirte Verhältnis der drei Be- griffe dadurch am besten wiedergiebt: in der Consonanz fafst sich gewissermafsen Rhyth- mus und Melodie zusammen, sie ist Rhythmus in Hinsicht der zu Grunde liegenden regel- mafsigen Bewegungen, sie ist Melodie, sofern aus den Consonanzen die Intervalle sich er- geben {Swafiei),

' Der Ausdruck rpowot fieK&v ist hier bezeichnend. Es liegt darin , dafs gewisse melo- dische Wendungen traditionell werden (man denke nur an die stereotypen Wendungen der Recitative, aber auch an Vieles in den Liedern) tmd dafs ihnen so auch allmälig eine Wirkung zuwächst, die ihnen in sich selbst nicht oder nicht in demselben Mafse zukäme. In rpoms liegt immer etwas von •hergebracht- (vgl. die rpotrot der Skeptiker u. A.).

IMos.-histar. Abh. 1896. II L 8

58 C. Stumpf:

geordnete, daher auch von Natur angenehmer\ (Ein Zeichen dessen ist, dafs wir durch geordnete Nahrung beim Arbeiten die physische Kraft er- halten und mehren, durch ungeordnete sie zu Grunde richten; denn die Krankheiten sind Veränderungen der natürlichen Ordnung des Körpers.) An der Consonanz aber freuen wir uns, weil sie eine Mischung des Ent- gegengesetzten ist, das ein (Zahlen-) Verhältnis zu einander besitzt. Das Verhältnis ist eine Ordnung, die, wie gesagt, von Natur angenehm ist^. Das Gemischte aber ist stets angenehmer als das Ungemischte (Einfache), zumal wenn die beiden Elemente gleichmäfsig wahrnehmbar sind.«^

^ Hier miifs nach fiaXKov notwendig stehen 4^, oder jjf&ov statt fiäWov. Gleich darauf beruft sich ja auch der Verfasser darauf, dafs er gesagt habe, das Geordnete sei von Natur angenehm, was nur auf diese Stelle gehen kann. S. die folgende Anm.

^ o ^v <t>v<r€t fi^. Das linperfect steht hier nur als Rückweisung auf vorher Gesagtes. S. Bojesen zu der Stelle.

* Aus dem Nachsatz: a\\<os re kov ala-ßriTov ov afÄ<f>oiv roTv axpoiv ef Ya-ov t^v Swafitv exot ev rfi arvfA<fMovia 6 \oyos habe ich in die Übersetzung nur das aufgenommen, was zweifel- los seinen inhaltlichen Kern bildet. Die beiden Tone müssen , wenn ihr Verhältnis zur Gel- tung kommen soll, gleichmäfsig wahrnehmbar sein. Ist der eine z. B. viel stärker, so nehmen wir eben den anderen und damit auch das Verhältnis zwischen beiden nicht wahr. Vgl. aus Pr. 43: To /lefuyfievov vov afilicrov SjBiov eo-nv, töv afi<f>o7v afia t^v aitrOfiaiv tts Xafißav^, Ferner s. unten S. 67 die Erläuterung zu Pr. 1 6. Auch Aristoteles betont die gieichmäfsige Stärke als Bedingung fär die fu(ts, infolge deren zwei Eindrücke gleichzeitig erfafst werden können, und wendet dies speziell auf die consonanten Töne an, De sensu c. 7 p. 447, a, 21 f. Ferner vgl. Theophrast in Porphyrius' Commentar zur ptolemaeischen Harmonik Waü. p. 243 oben.

Im Übrigen ist allerdings dieser Nachsatz nicht eindeutig. Man kann die einzelnen Ausdrücke in verschiedener Weise aufeinander beziehen. HerrVahlen war so gütig, mir Folgendes als seine Ansicht mitzuteilen: »Vielleicht sind die Worte so zu verbinden: oKKias TB Kav 6 \6yos e^ot ttjv Swafitv afi<^6iv Toiv axpotv ef Ytrov aio-Ofirov ov ev TJ tn/fit/xavia = zumal wenn das Verhältnis in der Consonanz die Qualität beider Endtöne gleichmäfsig als ein wahrnehmbar Seiendes hat (enthält, gewährt, exot = impexoi) oder freier: zumal das V^er- hältnis ein solches ist, welches die Qualität beider Endtöne gleichmäfsig vernehmbar macht in der Consonanz«.

Will man Conjecturen versuchen , so liefse sich aia-SriTwv ovrwv lesen und nun über- setzen: «zumal wenn bei einer gleich mäfsigen Wahrnehmbarkeit beider Grenzt^ne das Zahlen- verhältnis im Zusammenklang zur Geltung kommt«. Doch wäre t^v Swa/uv exot in diesem Sinn immerhin ein etwas eigentümlicher Ausdruck.

Vom logischen Standpunct hat es etwas Störendes, dafs der besondere Fall der Sym- phonie erwähnt wird, wo es doch nur gilt, die allgemeinen Prinzipien anzugeben, auf denen die vorher gegebene Erklärung für die Wirkung der Symphonie beruht. Man könnte daher auch annehmen, dafs die letzten Worte: ev rfjv a-vfi<f>(üviq 6 \6yos ähnlich wie die Schlufsworte verschiedener Probleme nur eine sj)ätor in den Text gekonnnene Glosse wären. Dann würde man am besten ai(rBtirov ov auf das vorhei'gehende iceKpa^evov beziehen und so

Die pseudo-aristoteliscfien Probleme über Musik. , 59

Das erste Erklärungsprincip , das der »naturgemäfsen Bewegungen«, soll für alle di'ei Seiten der Musik gemeinsam gelten. Bezüglich der Melodie wird nur noch besonders hervorgehoben , dafe die Bevorzugung bestimmter melodischer Formen auf der Gewohnheit (musikalischen Erziehung) ruhe, woran gewifs auch viel Richtiges ist. Bezüglich des Rhythmus wird das intellectuelle Moment erwähnt, die Wahrnehmung der regelmäfsigen Ver- hältnisse ; hauptsächlich aber wird die directe physiologische Wirkung geord- neter Bewegungen (des Sinnesorgans) betont, da diese unter den Begriff der »naturgemäfsen Bewegungen« fallen. Der Verfasser meint (um uns etwas moderner auszudrücken), dafs rhythmische Einwirkungen auf die Sinnes- nerven den Bedürfiiissen des Organismus angepafst seien, ebenso wie die rhythmischen Bewegungen der Glieder beim Tanz. Man mag hier Herbert Spencer's Lehre vom Rhythmus vergleichen. Dafs sogar die geordnete (den physiologischen Vorgangen angepafste) Nahrung zur Stütze der Erklärung herbeigezogen wird , zeigt deutlich , dafs es sich um eine solche physiolo- gische Auffassung der rhythmischen Wirkungen handelt.

Die Consonanz endlich wirkt durch die zwei in ihrer Definition ange- gebenen Momente: durch die im Zahlenverhältnis gegebene Ordnung (der Bewegungen) und durch die Verschmelzung (der Töne). Auch hier ist die Wirksamkeit der geordneten Bewegungen, wie aus der Rückweisung er- hellt, als eine pliysiologische aufzufassen, nicht etwa als vermittelt durch eine, sei es auch unbewulste, Wahrnehmung und Erkenntnis der Zahlen- verhältnisse von Seite des Hörenden (Leibniz und Euler)\ Auch die Ver-

übersetzen: »zumal wenn es (das Gemischte als solches) wahrnehmbar ist und die Natur der beiden Element« gleichmäfsig enthält-,

' Man könnte vielleicht aus der Bemerkung, dafs die Mischtmg besonders dann an- genehm sei, wenn beide Tone gleichmäfsig darin wahrnehmbar sind, schiiefsen wollen, dafs liiedurch doch ein intellectuelles Moment in die Lust am Zusnuunenklang komme. Aber erstlich würde dies nicht eine Freude an der Wahrnehmung von Bewegungen sein, sondern von Tönen; zweitens aber ist nicht einmal diese aus der obigen Stelle zu er- schliefsen. Der Unterschied, auf welchen das aWa>s re hindeutet, ist nicht der zwischen Mischungen, deren Bestandteile nur empfunden (percipirt) aber nicht wahrgenommen werden, und Mischungen, deren Bestandteile auch wahrgenommen (appercipirt) werden, sondern zwischen solchen, wo sie gleichmäfsig (speziell gleichstark), und solchen, wo sie ungleichmäfsig in der Empfindung vertreten sind. Für die Alten existirte der Unter- schied zwischen »Empfindung- und »Wahrnehmung- überhaupt nicht (abgesehen von An- deutungen). Man kann atirOave<rßai bei Aristoteles und so auch in den Problemen ebenso wol mit dem einen wie dem anderen Ausdruck übersetzen.

8*

60 C. Stumpf:

Schmelzung wirkt nicht, sofern sie Gegenstand einer Wahrnehmung ist, durch das intellectuelle Vergnügen, das etwa die Vergleichung der ver- schiedenen Verschmelzungsstufen oder die daran geknüpften Ideenverbin- dungen gewähren, sondern unmittelbar, durch ihr Dasein in der Sinnes- empfindung. Es wird als ein allgemeines und letztes psychophysisches Princip hingestellt, dafs das Gemischte angenehmer sei als das Einfache. Das Princip findet sich ebenso wie das der geordneten und dem Organ angepafsten Bewegungen auch bei Aristoteles öfters und speziell fiir die Consonanz verwertet^

Bemerken wir noch, dafs der Verfasser, indem er das Mischungs- princip heranzieht, olBfenbar die Wirkung der consonirenden Töne im Zusammenklang erklären will, was ja im Grunde auch schon aus der Trennung der Symphonie vom Melos hervorgeht, denn aufeinanderfolgende (jonsonanzen wären in der Melodie schon eingeschlossen. Kein Zweifel also, dafs den Alten auch Zusammenklänge unter Umständen als an- genehm galten.

4. Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz hat

aber keines. P. 27, 29. Pr. 27: »Warum hat das Akustische allein unter den Sinnesempfin- dungen Ethos? Auch ohne Worte hat ja die Melodie Ethos, während weder Farben noch Gerüche noch Geschmäcke ein solches besitzen. Etwa weil das Akustische allein Bewegung hat, womit aber nicht die gemeint ist, durch welche der Schall auf uns wirkt denn solche findet sicli auch bei den übrigen Sinnen , wie bei den Farben , sondern die einem solchen (äufseren) Schall nachfolgende Bewegung, die wir empfindend Diese aber hat Ähnlichkeit^ (mit imsren willkürlichen Bewegungen) sowol

^ Vgl. De sensu c. 3, p. 439, &, 31. De an. 111,2, p. 426, a, 2 7 f. Zu beiden Stellen meine o. 8. 5 erwähnte Abhandlung. Zum Mischungsprincip TorstrikArist.de anima p. 168. Am allgemeinsten ist es De sensu p. 442, a, 12 ausgesprochen: wa-irep S^ ra xp^f^'^ ^»^ Kwkov KOt fitXavos fii^tas ^cttiv, oxrrws oi X'V^' ^"^ yKvtceos lau mKpov, xai icara \6yov Sij tw fioKKov Kai rJTTov €Kaa-roi eitrtv, eire Kar apidfiovs nvas rijs fu^ean Kai Ktv^a-ets, ehe Koi aopta-rcas. oi Se t^v fiSovtjv irotovvres fuywfjievot, ovroi iv aptSfioTt fiovov.

' Ich habe hier in der Übersetzung die Anakolutlüe beseitigt.

^ Es ist gar kein Grund, hier mit Wagener (bei Gevaert I, 357) o/mKortiTa statt ofiotorrim zu lesen, der ganze Zusammenhang würde vielmehr gestört; man mufs nur die in unsrer Ubersetznn;j^ eingeklammerte Ergänzung dazudenken, welche sich aus dem letzten Satz

Die pseudo-aristoteUsc/ien Probleme über Mtisik. 61

in den Rhytiimen als in der Anordnung der Töne nach Höhe und Tiefe nicht aber in der Mischung , die CJonsonanz vieknehr hat kein Ethos ; während bei den übrigen Sinnesempfindungen dies (die erwähnte Ähnlich- keit) nicht stattündet. Diese Bewegungen sind aber handelnder Art {irpOK- Tuccu)y und die Handlungen sind ein Zeichen (a-fniaa-id) des Ethos.«

Pr. 29 wirft von vornherein die Frage nur für Rhythmus und Melos' auf und antwortet kurz: »Etwa weil sie Bewegungen sind, ähnlich wie die Handlungen (wairep Koi ai irpa^eis). Die Thätigkeit* ist aber etwas EÜiisches und bewirkt Ethos. Die übrigen Sinnesempfindungen wirken nicht in gleicher Weise«.

Zu Pr. 27 ist Manches zu erläutern. Vor allem: unter der dem Schall nachfolgenden Bewegung sind nicht etwa die physiologischen Bewegungen im Organismus verstanden*, sondern die empfundenen Veränderungen der Intensität und Höhe der Töne, worin Melodie und Rhythmus selbst be- stehen. Darum heifst es: Kivria-iv e^ei {to cucovo-tov). Wol liegen nach den Anschauungen der aristotelischen' Schule allen Empfindungen physio- logische Bewegungen zu Grunde. Aber was der Verfasser hier im Auge hat, ist nicht die physiologische, sondern die psychologische Seite der Sache, die Modificationen der Gehörsempfindungen selbst, wie sie unsrem Bewufstsein gegeben sind. Das Wort Kivficis wird also hier weder im physisch -räumlichen Sinne (wogegen der Verfasser selbst sich verwahrt), noch im physiologischen, sondern in einem geistigen, übertragenen Sinne gefafst; wie wir solchen Sprachgebrauch auch bei Plato und Aristoteles öfters finden. Doch kann nicht jede Veränderung der Empfindung gemeint sein, da auch bei anderen Sinnen Veränderungen nach Intensität und Qua- lität vorkommen, sondern nur wieder geordnete Veränderungen. Nur bei den akustischen Eindrücken lassen sich, meint der Verfasser, feste Abstu- fungen sowol in zeitlicher Hinsicht (Rhythmus) wie in qualitativer (musika-

des Problems {al Se Ktv^trets ovrat irpatcnicat eia-iv) ergiebt. Denn dieser Satz, ist es, der den Kettenschluls folgerichtig weiterfuhrt,

^ Der Zusatz t^vti oSa-a bedeutet wol: worin der Gesang besteht (Gaza: »qui voces sunt«, Bussemaker: »qui ad vocem pertinent-).

' Mpyeia verstehe ich hier niclit mit Jan iui Sinne der aristotelischen Form (Wirklich- keit) als Gegensatz zu den nur Swafiet existirenden geschriebenen Gesängen, sondern einfach und ohne Metaphysik als das Thätigsein, ivepyeiv.

* wie sie z.B. Plato im Timaeus p. 67,6 und 80,0 beschreibt und zur Erkl&rung von Consonanz und Dissonanz verwendet.

62 C. Stumpf:

lische Intervalle) durchfahren. Man mag vielleicht auch hierüber mit dem Verfasser rechten und einen blos graduellen Unterschied gegenüber anderen Sinnen finden wollen, aber es wird sich nicht leugnen lassen, dafs das Gehör wenigstens durch die Feinheit und Vielgestaltigkeit der rhythmischen und qualitativen Abstufungen weit über allen anderen Sinnen steht. Wir können also seine Behauptung auch sachlich würdigen.

Diese im Zeitverlauf sich abspielenden Modificationen der akustischen Sinnesempfindungen nun, die er kurz Bewegungen nennt, haben Ähnlichkeit mit den Handlungen, den willkürlichen Bewegungen, den körperlichen Äufse- rungen unsrer Willensthätigkeit (Kiv^aeis irpaKTUcai); und in den Handlungen selbst wieder zeigt, sich der Charakter der Menschen. Infolgedessen wirken Rhythmus und Melos als Bilder des Ethos, des Charakters. Es haben sich, würden wir sagen, durch die genannten Mittelglieder Vorstellungen des Sittlichen damit associirt.

Die Lehre findet sich in ganz ähnlicher Weise bei Aristoteles, wo u. A. in Pol. Vm, 5 p.1340, flf, 28 auch der Gegensatz gegen die übrigen Sinnes- empfindungen hervorgehoben wird; nur bei den Gesichtseindrucken komme sporadisch etwas Verwandtes vor, doch seien auch sie dann nicht eigentlich öfioiwfiaTay sondern nur (Tfnieta rwi^ riBwv^. Auch sonst ist die Anschauung den alten Schriftstellern geläufig.

Ist nun alles insoweit verständlich und auch nach unsren Vorstellungen schön gesagt, so mag die Parenthese über die Consonanz um so mehr Ver- wunderung erregen. Dafs auch hier Consonanz im Zusammenklange der Töne gemeint ist, ist unbestreitbar, ovfKfxovia wird ebenso wie in Pr.38 von ficKos unterschieden. Aber dort hiefs es doch, dafs wir uns an der Sym- phonie freuen. Jan findet denn auch einen Widerspruch zwischen beiden Problemen. Namentlich könnte man darauf hinweisen, dafs im Pr. 38 da« Vergnügen an der Consonanz unter anderem auf die to^is zurückgeführt wird, woi-unter nach dem sonstigen Wortlaut des Problems nur die Ord- nung der der Consonanz zu Grunde liegenden Bewegungen verstanden sein kann. Wenn nun aber, nach Pr. 27, an geordnete Bewegungen eine ethische

^ a-tifietov, Zeichen, ist der allgemeinere Begriff; auch das Ähnliche ist ein Zeichen für das Ähnliche, aber nicht jedes Zeichen braucht dem Bezeichneten ähnlich zu sein; es mufs nur regelmäfsig daran geknüpft sein; wofdr Aristoteles an derselben Stelle als Beispiel die körperlichen Bewegungen anführt, die an die Affect« geknüpft sind. So werden auch Pr. 27 am Schlufs die Handlungen ijdovs a-tifiaa-ta genannt.

Die pseudo-aristoteUschm Probleme über Mtisik. 63

Wirkung geknüpft ist, sollte man eine solche auch von der Consonanz erwarten.

Aber wir müssen hier wol unterscheiden. Es handelte sich im Pr. 38 um eine Entstehungsweise von Lustgefühlen, bei der die Vorstellungsassocia- tion keine Rolle spielt, um den sogenannten »directen Factor«, mit Fechner zu reden. Der Verfasser stutzt sich dort einfach auf das Gesetz, dafs an gewisse physiologische Vorgänge, die er als »geordnete« oder »natürliche« Bewegungen bezeichnet, weil sie mit den Lebensbedingungen des Organismus übereinstimmen, eine instinctive Lust geknüpft ist. Hier hingegen sind erstlich Bewegungen in ganz anderem Sinn gemeint, empftmdene Verände- nmgen der Intensität und Qualität der Töne, zweitens wird auf die Ver- knüpfung dieser Empfindungsmodificationen mit Handlungen und Charakter- eigenschaft^en in unsrem Bewufstsein hingewiesen. Im Pr. 38 ist mit keiner Silbe davon die Rede, dafs jene Bewegungen als Bilder von etwas auf unser Gemüt wirken sollen; dort war eben nicht die Frage nach dem Ethos gestellt. Als eine Ergänzung zu 38 also müssen wir Pr. 27 be- trachten, aber keineswegs als einen Gegensatz\

Obgleich nun aber die hier entwickelte Anschauung von der Wirkung der Consonanz in sich vollkommen verständlich und mit keiner anderen in den Problemen in Widerspruch ist, so bleibt doch ein eclatanter Wider- spruch gegen unser gegenwärtiges musikalisches Gefühl.

Diese wenigen Worte ii (rvfii^wvia ovk c^ei ridos ent- halten im Kern den ganzen Unterschied der alten und der neuen Musik.

Für uns ist auch an die Consonanz und Dissonanz des Zusammen- klangs ein Ethos geknüpft, und es ist so fein und manichfaltig durch- gebildet wie das der Rhythmen und der melodischen Bewegung. Der Zu- sammenklang der Octave hat einen anderen »Charakter« als der der Quinte oder der Terz oder Septime. Wenn sich auch dieser Charakter (ebenso wie der der Rhythmen und melodischen Wendungen) schwer in Worten wiedergeben läfst und wenn er durch den musikalischen Zusammenhang wesentlich mitbedingt ist, so braucht man doch nur die Beschreibungen

^ Noch inisverstaDdlicher sagt Jan: *fii(is sonorum Uirbare et obscurare carminis ethos Graecis videbatnr« und fahrt dafür die Stelle aus der Schrift tt. atcova-jwv an, wo es heifst, dafs die Tone !>ei der Consonanz sich gegenseitig verbergen. Damit ist überhaupt nicht eine GefQhlswirkung gemeint, ebensowenig wie bei Aristot. De sensu c. 7. 8. oben S. 9.

64 C. Stumpf:

musikalischer Wirkungen anzusehen , um sich zu überzeugen , dafs diese Art und Seite der Gefühlswirkung för uns durchaus im Vordergrunde steht*.

Vielleicht möchte einer doch nicht ohne Weiteres einen Unterschied der musikalischen Empfindung selbst, sondern nur einen der Musiktheorie aus unsrer Stelle ableiten. Der Verfasser dieses Problems habe eben kein Verständnis fftr die ethische Wirkung des Zusammenklangs als solchen besessen; mehr lasse sich zunächst nicht schliefsen. Gewifs wenn uns sonst nichts Ober die alte Musik und über die spätere Musikentwickelung bekannt wäre. Aber alles, was wir hierüber wissen, stimmt vollkommen mit der Aussage unsres Problems überein. Wir dürfen dieses als Ausflufs und als correcten Ausdruck des wirklichen MusikgefUhls seiner Zeit an- sehen.

Für die Alten existirte nur die sinnliche Annehmlichkeit der Zusammen- klänge, und auch diese offenbar nur wenig differenzirt. Von ihr allein ist im Pr. 38 und sonst die Rede, wenn Consonanz als solche angenehm ge- nannt wird^.

Woher dieser Unterschied kommt, wie sich der Sinn för das Ethos der Zusammenklänge entwickelt hat und wie hiemit die gesammte Umgestaltung der Musik zusammenhängt, das mufs natürlich hier auf sich beruhen.

^ Dazu gehört besonders auch alles was mit der sog. Auflosung der Dissonanzen , all- gemeiner gesagt mit der Stirn nifQhning zusammenhängt. Ich kann daher Westphal (Griech. Harm. 3 180) nicht zugeben, dafs in Pr. 39^ (s. o. S. 24) genau die Eindrucke beschrieben seien, welche wir bei Dissonanzen und bei den auflösenden Consonanzen des Abschlusses empfinden. Bei der sg. Auflösung kommt es durchaus auf die richtige Stimmführung an, nicht blos darauf, dafs auf irgend eine Dissonanz irgend eine Consonanz der bezüglichen Tonart oder gar eine Homophonie folgt, z.B. auf/— ^ c—g oder blos c. Dais die Alten etwas wie Stimmführung, dafs sie Polyphonie in diesem Sinne gehabt hätten, davon ist nichts überliefert.

' Plato allerdings unterscheidet einmal hinsichtlich der Consonanz, nachdem er aus- drücklich von der Verschmelzung der hohen und tiefen Bewegung zu einem einheitlichen Zustand, also von gleichzeitigen Eindrücken, gesprochen, eine sinnliche Lust, die sie den Unverständigen gewähre, und ein Wolgefallen -durch Nachahmtmg der göttlichen Harmonie in vergänglichen Bewegungen« bei den verständigen Hörern (Timaeus p. 80, h). Es ist sehr fraglich, ob Plato hier aus dem wirklich erlebten Gefühl heraus spricht und nicht vielmehr seiner Metaphysik zu Gefallen, die alles in der Welt auf Nachahmung der Ideen gründet Wäre das erstere der Fall, so hätten wir hier die erste Vorahnung künftiger Entwickelungen.

Aristoteles erwähnt, wo er von der aesthetischen Wirkung der Musik spricht, immer nur Rhythmus und Melos (oder apfiovta, was ebendasselbe bedeutet), vgl. Pol. VHI, c. 5 p. 1340,0, 13 (wozu Jan's Correctur Mus. scr. p. 26, 12); p. 1340,6, 17; c. 7 p. 1341,6,19.

Die pseudo-arisioteüsclien IVobleme über Musik. 65

5. Vorrang der Octave vor den übrigen Symphonien und der Antiphonie vor der Symphonie und Homophonie. Pr. 35*, 16, 39'.

a) Pr. 35* (bis zu Sia Travros, s.o. S. 50): »Warum ist die Octave die schönste Consonanz?« Die Antwort verweist zunächst auf arith- metische Verhältnisse (dafs nur bei der Octave, wenn der tiefere Ton als I gesetzt wird, der höhere ohne Bruch ausgedrückt werden kann). Aufeer- dem sei die Octave die vollkommenste Consonanz, da sie sich aus den beiden anderen (Quinte und Quarte) zusammensetze. Endlich sei sie das Mafs der Melodie; womit wahrscheinlich gemeint ist, dafs die Melodie sich innerhalb dieser Grenze bewege.

Wir sehen aus der Fragest-ellung, dafs unter den Consonanzen, die nach dem Vorangehenden (S.58) gegenüber dem einfachen Ton als angenehmer gelten, auch noch Gradunterschiede der Annehmlichkeit* statuirt werden. Nach unsrem Geföhl würden wir in dieser Hinsicht wol die Terz voran- stellen, jedenfalls den unbedingten Vorrang der Octave nicht zugestehen, ob- schon wir sie natürlich nach wie vor als vollkommenste Consonanz, d.h. als Zusammenklang von stärkster Verschmelzung erkennen. Auch diese Wand- lung l&fst sich historisch -psychologisch begreifen.

6) Pr. 16: »Warum ist das Antiphone angenehmer als das Sym- phone? Etwa weil (dabei) das Symphoniren besser deutlich wird, als wenn man zur Symphonie singt. Denn (es wäre sonst) notwendig, dafs die eine der Stimmen im Einklang sänge, sodafs zwei gegen eine Stimme stehen und die andere (nämlich diese isolirte) unterdrücken«^.

Bojesen vermutet einen Fehler im Text der Fragestellung, da nirgends sonst in den Problemen Antiphones und Symphones sich entgegen gesetzt, vielmehr das erstere unter dem letzteren mitbegriflfen werde. Er will mit Rücksicht auf Pr. 39* (s. u.) in der Frage statt (rvfJL<f>wvov öfio<f>wvov lesen. Dieselbe Änderung nahmen schon Bürette und Chabanon , neuerdings wieder Bussemaker und Barthelemy St.-Hilaire in ihren Übersetzungen vor. Aber

* Äw\X/<my, das an sich vielleicht etwas mehr als ^Ä'cmy bedeuten könnte, mochte ich mit Rücksicht auf das Vorangehende und auf Pr. 39*, wo das gegenwärtige offenbar citirt wird (s. u.), doch mit j/äVti; synonym fassen.

' Ata Tt tjBtov t6 avTiffuovov rov av/KJxavov; *H oti fiäKKov StaSriKov yivercu ro <rvfA<JMüve7vj 5 OTwv trpos T^v av/i<l>(avtav aÄy. avayicri yap t^v erepav ofiotfuaveiv, wcrne Bvo vpos /iiav ffxovrjv ytvofievai a^Hxvt^ovirt riiv mpav,

Philfts.'histar. Abh, 1896. II L 9

66 C. Stumpf:

in der Lösung ist nur von der Symphonie die Rede; und was überhaupt mit der Deutung des Ganzen anfangen?

Gevaert, Ruelle und Jan verstehen ohne Textänderung die Frage dahin y warum die Octave angenehmer sei als die Quinte und Quarte. Aber dafs die Octave, das Hauptbeispiel der Symphonie, der Quinte und Quarte als »dem Symphonen» gegenübergestellt würde, wäre ein Wider- spruch zu dem sonstigen Sprachgebrauch der Probleme und des ganzen Altertums , höchstens den Ptolemaeus ausgenommen , der in der That nur Quinte und Quarte als Symphonien, die Octaven aber auch nicht als Anti- phonien, sondern als Homophonien bezeichnet' . Und was soll uns wiederum die Lösung, das irpos tviv (rvfKJxovlav aSri und der letzte Satz? Man mufs in den Übersetzungen und Commentaren nachsehen, welche Künst- lichkeiten und Unmöglichkeiten der Auslegung dabei vorkommen.

Eichthal und Reinach meinen, dafs die Lösung überhaupt keine Be- ziehung zur Fragestellung habe, und ergänzen eine neue Fragestellung dazu, nämlich: »Warum ist es angenehmer, einen Gesang mit Begleitung einer einzigen, als zweier Instrumentalpartien zu hören?« Als Lösung dieser seltsamen Frage erblicken sie in unsrem Problem den Gedanken, dafs im zweiten Falle »de tonte necessite« eine der beiden Instrumental* stimmen mit dem Gesang unison sein müsse, sodafs der so verdoppelte Ton den anderen unterdrücke. Aber diese »toute necessite« ist nicht im mindesten vorhanden. Von den beiden Instrumenten kann das eine in einer höheren, das andere in einer tieferen Octave mitgehen, oder beide in verschiedenen höheren Octaven; sie können auch an einzelnen Stellen die Quarte und die Octave zu dem gesungenen Ton angeben (solche Drei- klänge sind uns mehrfach bezeugt). Und schliefslich , wenn wirklich der Gesang durch ein damit unisones Instrument verstärkt wird, kann man ja das zweite Instrument, das den symphonen Ton giebt, auch noch durch ein drittes verstärken , dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt. Eben darum nannten wir schon die vermutete Fragestellung seltsam. Endlich ist im Wortlaut mit keiner Andeutung von Instrumentalbegleitung die Rede, sondern wird immer nur vom Singen und von der Stimme gesprochen.

Auch dieses Problem wird nach seinem ganzen Wortlaut verständlich, wenn wii' die obigen Erläuterungen über den Antiphonie - Begriff der Probleme

^ Bei Theo Smyrn. (bez. Thrasyll) ist das <nifi<p(avov mr* avrt<fMavov eine besondere Art des Symphonen, wird ihm also auch nicht gegenübergestellt.

Die pseudo- aristotelischen Problerne Ober Musik, 67

zu Hilfe nehmen und uns den Vorgang , von dem hier die Rede ist , so denken : Zwei Sänger bez. Chöre singen zuerst eine Melodie in Octavengängen , dann wiederholt ein dritter sie in der tieferen der beiden Oetaven. Diese Aus- föhrungs weise , meint der Verfasser, läfst das Symphoniren (der Oetaven) besser hervortreten , als wenn er, der dritte, zur Symphonie (zur Oetave) mitsänge. Denn dann möfste er, da nach Pr. 1 8 nur in Oetaven mehrstimmig gesungen werden darf, im Einklang mit einem der beiden singen , wodurch der andere zu sehr zurückgedrängt würde*. Wir wissen ja, dafs bei der Symphonie viel auf die gleiche Stärke der beiden Töne ankommt (s. o. S. 58). Ist einer zu stark vertreten, so hört man eben nur diesen, nicht eine Consonanz. Bei der Argumentation ist vorausgesetzt, dafs drei Säuger oder Chor- abteilungen gegeben sind und beschäftigt werden müssen. Nach dem, was wir aus anderen Problemen und sonstigen Mitteilungen der Alten wissen, sangen bei vielen Gelegenheiten ein Männer- und ein Knaben- (oder Frauen-) Chor in Oetaven. Der Männerchor übernahm nun die antiphone Wieder- holung (die nach Pr. 1 3 in der tieferen der beiden Oetaven stattfand). Er wurde, so müssen wir wol annehmen, zu diesem Zweck verdoppelt, die eine Hälfte (rifiixopiov) sang mit den Knaben in Oetaven, die andere nach- her allein. Diese Anordnung scheint auch das sogleich zu besprechende Probl. 39* im Auge zu haben, wonach Knaben, Jünglinge und Männer das Antiphone herstellen. Indem nun der Verfasser die traditionell stärkere Besetzung des Männerchors als eine gegebene Sache hinnimmt, kommt er zu der Fragestellung, warum diese Verteilung der Kräfte besser wirkt, als wenn die ganze Masse sogleich zusammensänge. Die Antwort ist nach diesen Voraussetzungen einleuchtend.

c) Pr. 39*: »Warum ist das Antiphone (im Text: Symphone) ange- nehmer als das Homophone? Etwa weil das Antiphone aus einer Oc- tavenconsonanz wird (im Text: eine Octavenconsonanz ist). Denn das Anti- phone entsteht aus (dem Gesang von) Knaben, Jünglingen und Männern, deren Stimmen sich wie die Nete zur Hypate verhalten. Jede Sym- phonie ist aber angenehmer als der einfache Ton warum, ist gesagt

^ Er konnte zwar an und für sich aucli in der dritten Oetave mitsingen, aber dies wilrde 7M Unbequemlichkeiten in Hinsiclit der Stimmlage fiihren tmd den strengen Bedingungen, die sich die Alten fQr die Grenze des Stimmgebrauchs setzten (nicht über 2^ Oetaven), wider- sprechen.

9*

68 C. Stumpf:

worden* , und unter ihnen ist die der Octave die angenehmste. Das Homophone aber enthält nur einfachen Ton.«^

In der Frage dieses Problems ist nun wirklich eine Änderung des handschriftlichen Textes unvermeidlich, die ich auch, da sie seit Gaza fast allgemein acceptirt ist, sogleich in die Übersetzung aufgenommen habe. Die Handschriften haben (rvfi<f>ü)vov statt ävritfxovov. Der strenge Zusam- menhang der Lösung, worin dem Homophonen durchaus das Antiphone gegenübergestellt und das Symphone nur als Hilfsbegriff der Beweisführung gebraucht wird, verlangt ävTl<f>wvov auch far die Fragestellung^.

Wenn uns andere Probleme über Antiphonie nicht erhalten wären, könnte man nach diesem wol zu der Meinung kommen, dafs Antiphones nichts weiter bedeute als eben Octaventöne. Es wäre dann gemeint, dafs ein Gesang in Octavenparallelen angenehmer sei als ein blofs einstimmiger. Die Umständlichkeit der Beweisfiihrung bliebe freilich zu verwundern : denn der zweite Satz der Lösung wäre überflüssig. Um die gleiche Bedeutung zweier Ausdrücke {ävriifxovov und Siä iraträv) zu rechtfertigen , braucht man nicht eine Entstehungsgeschichte der Sache beizufügen, höchstens eine Er- läuterung über die Entstehung der Ausdrücke. Ebenso bliebe der letzte Satz seltsam : denn wenn Homophones nichts weiter bedeutet als einfacher Ton, so kann man doch nicht gut sagen: das Homophone hat einfachen Ton.

Nun gehört aber zweifellos dieses Problem eng mit dem eben be- sprochenen Pr. 1 6 zusammen ; die Fragestellung ist ganz analog. Es ist des- halb von vornherein kaum anzunehmen , dafs hier ein anderer Begriff von Antiphonie zu Grunde läge, als wir ihn dort und auch in sonstigen Problemen gefunden. In der That läfst sich dieser auch hier festhalten. Der Verfasser meint: es ist angenehmer, wenn die Melodie zuerst in Octavengängen ge- sungen und dann einstimmig in einer von beiden Tonhöhen (der tieferen) wiederholt wird , als wenn Ausführung und Wiederholung auf der nämlichen Tonhöhe stattfinden. Die antiphone Wiederholung ist angenehmer als die

* im Pr. 38. Dies ist die einzige Verweisung innertialb der XIX. Section.

' Ata Ti fSiov €0"n TTO avTiiJHOvov (statt aiJfi<fMavov) rov ofioifxavov; ^i ort (statt «11) ro fiev avTiifttavov €k avfuptüvtov €0"n (statt <rvfi<lxav6v 60*71) Sia 7ra<r<av. ix muStjv yap {Ktu) vdtav kcu avSp^v ytverat td avrtijxovov, oi Steo'Taat rots tovois ü>s yifn; irpos vwarriv. trvfi(p(avia Se irao-a riSttov cnrKov <t>06yyov 81* a Scf etptirat , Kai vovrav ^ Sta waaxiv ^Sia^' to ofioi^vov Se airKovv exet <pB6yyov.

' Im Text der Lösung ist die Änderung von xat in on (Ruelle, Jan) einleuchtend, Ruelle's Einschaltung von icat vor vetav wenigstens sehr plausibel (Parallele imi^v icat vetav bei Philodem De mus.). Über e«r a-vfjitptoviDv sogleich nachher.

Die pseudo-aristoteUschen Probleme über Musik. 69

homophone. Dafs der Leser unter dem »Gegengesang« eine Wiederholung der Melodie verstehe, setzt der Verfasser voraus und hält es nur för nötig, zu erinnern , worin das Unterscheidende der antiphonen und der homophonen Wiederholung bestehe.

Die Antiphonie beruht auf dem Gebrauch der Symphonie , und zwar der Octave. Sie entsteht durch das Zusammenwirken der Knaben-, Jünglings- und Männerstimmen (indem sie bald zugleich , bald einzeln singen). Da nun der symphone Klang und vorab die Octave angenehmer ist als der Einzel- klang, die homophone Vortragsweise (mit Wiederholung auf der gleichen Tonhöhe) aber nur einfache Töne besitzt (in keinem ihrer beiden Teile Symphonien enthält), so begreift sich, dafs die antiphone angeneh- mer ist.

Diese Auslegung setzt noch die kleine Textänderung kic ovfKfxovcov eari voraus. Wir salien bereits, dafs im Text des Problems sich mehrere kleine Fehler eingeschlichen haben, die nur aus dem Sinn heraus, auf diesem Grunde aber mit großer Sicherheit verbessert werden können. Das Nämliche gilt luer. Mit dieser leichten Änderung wird alles durchsichtig. Es fällt nun auch der Anschein hinweg, als wenn hier eine Definition der Antiphonie gegeben wäre, die alle übrigen Probleme über Antiphonie in baaren Unsinn verwandeln würde (vgl. o. S. 26); und es ist zugleich der denkbar engste Anschlufs dieses Satzes an den folgenden, wo die Elntstehung der Anti- phonie näher erläutert wird, hergestellt*.

Zur Not könnte man allenfalls auch ohne die kleine Correctur aus- kommen, wenn man den Satz nur dahin verstände, dafs im Begriff der Antiphonie der der Octave enthalten sei (ohne sich damit zu decken), und dann weiterhin die eben gegebene Auslegung beibehielte. Aber gezwungen bliebe diese Auffassung des eaTi sicherlich und könnte zu einem Abend- malilstreit im Kleinen fuhren. Auch wäre der nächste Satz wieder weniger gut motivirt.

* Zu eJvat i( im Sinne von »entstehen- vgl. u. A. Aristoteles Pol. II, 2 p. 1261,0, 18: ir\ijBos yap n r^v <l>vtriv io-rlv ^ ttoXis, yivofievrj re fila /iaWov oiKia fiev ^k TroXectis, avOpwiros S* cf oiKias ea-rat (wenn der Staat noch mehr Eins würde Aristoteles spricht hier von den commimistischen Traumereien , so würde aus dem Staat eine Familie und aus der Familie ein Individuum).

70 C. Stumpf:

6. Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und

ihrer Verbindung.

d) Die Stimme und die Instrumente. Pr. lo.

Pr. 10: »Warum, wenn die menschliche Stimme angenehmer ist, ist sie es doch ohne Text nicht, wie z. B. wenn sie eine andere Klangquelle nachahmt \ sondern ist vielmehr die Flöte oder Lyra (selbst) angenehmer? Oder ist auch dies"^ (die Instrumente), wenn es nachahmt, nicht in gleicher Weise angenehm? Doch nicht! sondern wegen der Leistung (epyov) selbst. Die Menschenstimme ist zwar an sich angenehmer, aber zum Spielen sind die Instrumente besser geeignet (Kpovirrucä Se fiaXKov) als der Mund. Darum ist es angenehmer zu spielen als mit dem Mund das Spielen nachzuahmen. «

Der zweite Teil der Frage » Oder . . . « ist zugleich eine problematische Lösung, indem vermutet wird , dafs vielleicht jede Klangquelle , wenn sie zur Nachahmung anderer benützt wird , weniger angenehm wirke. Diese Vermu- tung wird dann aber nicht acceptirt. Der Grund liege vielmehr in der speziellen Beschaffenheit des menschlichen Stinunwerkzeugs , dem es eben nicht hin- reichend gelinge, das Eigentümliche der instrumentalen Tongebung wieder- zugeben. Dieses Mislingen, diese Halbheit so müssen wir ergänzen verursacht Unbefriedigung und verringert den Genufs.

b) Gesang mit Begleitung. Fr. 9, 43. Pr. 9: »Warum hören wir einen Einzelgesang lieber, wenn einer zur Flöte oder Lyra singt? Und doch spielt das Instrument im Einklang mit der Stimme. Denn^ wenn man an und fiir sich Freude daran hätte, dafs Mehrere das Nämliche vortragen, so müfste es noch angenehmer sein, wenn einer zu vielen Flöten sänge. (Lösung:) Etwa weil einer, der zur Flöte oder Lyra singt, deutlicher das Ziel trifft (besser intonirt). Der Gesang zu vielen Flöten aber ist deswegen nicht angenehmer, weil sie die Stimme unterdrücken.«

* Über repert^eiv s. Jan u. A.

^ Statt exet lese ich mit Jan exeivo, beziehe es aber nicht mit ilim auf die Stimme, sondern auf die Instrumente. So verlangt es der Sinn, und sprachlich ist die Wendung (der Singular) zwar nicht schön, aber immer noch weniger hart und nachlässig, als es etcei wäre. Obrigens könnte ich auch exet, wenn man es beibehalten will, auf nichts anderes als auf das Spiel der Instrumente beziehen.

' Seil.: »Hierin liegt eine Schwierigkeit; denn u. s. f.«.

Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 71

Bedarf keines weiteren Commentars*.

Das lange Pr. 43 wirft nun eine äufserlicli gleichlautende, aber doch (wie bereits Bqjesen hervorhebt) wesentlich verschiedene Frage auf: »Warum ist der Einzelgesang angenehmer, wenn man zur Flöte als wenn man zur Lyra singt?« Es handelt sich also wieder um begleiteten Gesang, aber nicht um begleiteten gegenüber dem unbegleiteten , sondern um den Unter- schied zwischen Flöte und Lyra in der Begleitung*. Dies ergiebt sich evident aus der Lösung. Es hat den Anschein, als ob der Verfasser dieses Problems das Pr. 9 vor sich gehabt, aber die Frage misverstanden hätte. So ist in Wahrheit nicht blos eine neue Lösung, sondern ein neues Problem entstanden.

Der Grund wird i . darin gefunden , dafs die Flöte an sich angenehmer ist als die Lyra, weshalb denn auch die Mischung der Stimme mit ihr angenehmer ist; oder 2. darin, dafs die Mischung als solche gleichmäßiger ist; oder endlich 3. darin, dafs die Flöte durch ihren (dauernderen) Klang und ihre (gröfsere) Ähnlichkeit (mit der Stimme) viele Misgriffe der Stimme verdeckt, während die Lyraklänge, die sich mit der Stimme weniger mischen und ihrerseits genau (abgestimmt) sind, das Fehlgreifen der Stimme wie ein Mafsstab offenbar machen. Wenn nun viele Misgriffe im Gesang vor- kommen, mufs notwendig der Gesammteindruck (to koivov ef äfjL<f>oTv) schlechter ausfallen.«

Die erste und dritte Erklärung, die hier unverkürzt wiedergegeben sind, bed.ürfen keiner Erläuterung. Die zweite haben wir vorläufig in nuce

* Es ist mir unbegreiflich, wie Ruelle dieses Problem so ganz misverstehen könnt«, nachdem Reinach, den er anfahrt, es bereits klar gemacht hatte. Im Text ist der über- lieferte Satz ei yap en fiaKKov t6 avvo, wK4ov ^Sei irpos iroWovs av\i;Tn$, xa) Sn tjSiov etvat (mit dieser Interpunction bei Bekker) so nicht möglich. Jan's Lesung: ei yap erepire fiahKov ro avTo rrKeiovas aSeiv, SSet wpos mWovs avKtiras Kai «r. r. \. giebt den Sinn am besten wieder. Doch könnte man auch ohne die etwas kühne Änderung evepire mit on statt en auskommen, indem man dann zu fiaWov ergänzt fiSv (wie in Pr. 38 s. o. S. 58). Das Übersehen von qSeiv Hefse sich aus dem daraufTolgenden eSei wol begreifen. Andrerseits} ist aber qSetv as Tongebung überhaupt (auch der Instrumente) nngebrSuchiich, und es könnte das Verbum schon ursprünglich (ebenso wie IfSv) im Satze gefehlt haben, dergleichen Elisionen kommen in den Problemen wie schon bei Aristoteles selbst vor.

' Dei* Unterschied tritt hervor, wenn man in die Fragestellung bei diesem Problem das dazu im Grunde notwendige irpos einschaltet, das darum auch Jan einfügt: Ata ri tjStov rfjs fiovfoSias aicovofiev^ eav vrpos mKov r) (irpos) \vpav q^;

Die Wendung eav q^ mit Auslassung des Subjectes ebenso in Pr. 16 und i8.

72 C. Stumpf:

angegeben; der Verfasser kommt da einigermafsen vom Hundertsten in's Tausendste. »Das Gemischte ist angenehmer als das Ungemischte, wenn man beide (Elemente der Mischung) zugleich wahrnimmt. « Zunächst dieses Princip ist uns aus S. 58 bekannt. Um nun aber das Weitere zu verstellen, mufs man in Gedanken den Satz einschalten: Unter dem Gemischten ist wieder ein Unterschied. »Denn Wein ist angenehmer als Essighonig \ weil das von der Natur Gemischte sich inniger mischt (durchdringt) als das von uns Gemischte. Es ist nämlich auch der Wein gemischt aus saurem und süfsem Geschmack, wie dies die weinigen Granatäpfel zeigen. Die Stimme und der Flötenton nun mischen sich durch Älinlichkeit, da beide durch den Athem erzeugt werden". Der Ton der Lyra dagegen, da er nicht durch den Athem erzeugt wird und^ weniger wahrnehmbar ist als der der Flöte*, vermischt sich weniger mit der Stimme. Indem er aber einen Unterschied fiir die Wahrnehmung hervorbringt^, wirkt er weniger angenehm; wie solches bezüglich der Geschmäcke gesagt wurde.«

c) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6.

Pr. 6: »Warum wirkt die Parakataloge in den Oden tragisch? Etwa wegen der Ungleichformigkeit (ävwiuLdKiav). Denn pathetisch ist das Un- gleichförmige und in der Gröfse des Geschicks oder der Trauer Bestehende. Das Gleichförmige ist weniger rührend {yowSes),*^

Unter der Parakataloge ist nach fast allgemeinem Dafürhalten® der melo- dramatische Vortrag, die Verbindung der gesprochenen Rede mit Instru-

^ Hiezii vgl. die von Bussemaker herausgegebenen Probleme, Aristot. op. Didot IV, p.328, Nr. 20, wo darüber verhandelt wird, warum Essig und Honig zusammenpassen. Ferner vgl. Sextus Empiricus Bekk. p. 757, 10 und den Neuplatoniker Aelianus bei Porphyrius in seinem Commentar zu Ptolemaeus' Harmonik, Wallis p. 218, wo die Verschmelzung der Töne bei der Consonanz mit der Mischung von Wein und Honig verglichen wird.

' Ihre Mischung ist insofern einer «natürlichen« Mischung zu vergleichen.

' Hier lese ich statt das nach allgemeiner Ansicht keinen Sinn giebt, xah

* Dies beziehe ich auf die Bedingung der gleichen Starke für die Mischungselemente (s. o. S. 58 und 65 f.). Der dürftige Ton der Lyra ist neben der Stimme kein ebenbürtiges Element.

' wot&v Se Sia<l>opav rp ata-ß^a'ei. Darunter ist wahrscheinlich die ungleiche Dauer, das rasche Verschwinden des Tons aus der Mischung mit der Stimme verstanden.

" Vgl. Jan zu der Stelle. Ausführlich Christ, Abhandl. d. bayrischen Akad. d. Wiss. I. Cl. Bd. XIII (1875). Zielinsky, Gliederung der altattischen Komödie S.313 fafst die Para- kataloge als «begleitetes Rezitativ«. Für die Auslegung unsres Problems würde dies keinen wesentlichen Unterschied machen.

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Musik. 73

mentalbegleitung, zu verstehen. Die Alten schrieben ihr hienach eine hervor- ragend tragische, pathetische und röhrende Wirkung zu, und wir können dies vollkommen nachf&hlen , wenn wir etwa an Schumann's Manfred- oder Beethoven*s Egmont- Musik denken. Die Erklärung freilich ist zu kurz, lun ganz verständlich oder gar überzeugend zu sein. Unter der ävoo/jiäXia ist wol die Verschiedenheit zwischen dem Sprechen mit seinen nichtfixirten, stetig veränderlichen Tönen und der Musik mit ihren festen Intervallen ver- standen, welcher Unterschied von den Alten öfters hervorgehoben wird. Ge- rade diese Ungleichheit der Elemente, die fiir den sinnlichen Eindruck einen Nachteil ihrer Mischung bildet, erscheint dem Verfasser in höherer aesthe- tischer Rücksicht, in Verbindung nämlich mit der Gröfise und Herbigkeit des dargestellten Schicksals, als ein Vorzug. So wenigstens lielse sich der Gedanke fassen und könnte leicht psychologisch weiter ausgeführt werden, doch mag dies hier wieder auf sich beruhen.

Zur Lehre von der Gefühlswirkung der Musik gehört aus den Problemen sonst noch: das auf S. 38 besprochene Pr. 33 über die ansprechenderen Gänge nach der Tiefe, die Ausfuhrungen des Pr. 48 über das Ethos der Tonarten und die S. 24 und 64 erwähnte Stelle aus Pr. 39^ über die poly- phone Art der Begleitung, die von der Stimme abweichende Melodieföhrung des Instruments. Vgl. auch das sogleich (S. 74 Anm. i) zu besprechende Pr. 9 1 aus der Bussemaker*schen Sammlung.

IV. (Anhang.) Über physikalische EigenschaJPten des Schalles. Pr.2, 11.

Diese beiden Probleme stehen fremdartig neben den übrigen der 19. Section, die sonst nur von spezifisch -musikalischen Dingen {^ocra Ttepl äpiioviav^) handelt ^ Sie gehören zu dem Gedankenkreis der 11. Section (ocra irepi i^iavris) sowie der falschlich dem Alexander Aphrodisiensis zu-

^ Die Lehre von den Zahlen verh&ltnissen bei den Consonanzen (Pr. 23, 50) betrachte ich nicht als eine rein physikalische. Sie betrifft die Beziehung gewisser Empfindungstliat- sachen zu physikalischen Vorgängen, also das, was wir heute psychophysische Gesetze nennen. Und diese Beziehung wird in den Problemen als so wesentlich f&r die Beschreibung der Empfindungsthatsachen selbst aufgefaist, dals sie in die Definition der Consonanz mit aufgenommen wird.

Das Mitschwingen der Hypate auf die Nete (Pr. 24, 42) ist allerdings an sich eine rein physische Thatsache; aber wie sie hier behandelt wird, in engstem Zusammenhang mit Sinnes- PhOos.'Mstor. Abh. 1896. 111. 10

74 C. Stumpf:

geschriebenen akustischen Probleme \ die sich auf die Modificationen der Stimme durch alleriei äufsere oder organische Umstände sowie auf die physi- kalischen Eigenschaften des Schalles beziehen. Sie seien darum hier nur ganz kurz charakterisirt.

Pr. 2 erblickt eine Schwierigkeit darin, dafs man weiter gehört wird, wenn man mit anderen singt oder ruft als wenn allein. Die Schwierigkeit ergiebt sich auf Grund der alten Physik, die den Schall nicht als Wellen- bewegung sondern als fortschreitende bez. mitgeteilte Bewegung gestofsener Luftteile au£fa(ste^.

Das 11. Problem bezieht sich auf die Erhöhung des Tones beim Echo, eine Erscheinung, die auch von gegenwärtigen Physikern mehrfach besprochen ist'.

täuschnngen und anderen psychischen Vorgängen, fällt sie noch in den Rahmen der psycho- logischen Akustik.

Jedenfalls aber beziehen sich sowol Pr.23 und 50 wie 24 und 42 auf spezifisch -musi- kalische Facta, nicht auf Eigenschaften, die für jeden beliebigep Schall oder Ton oder Tonverhältnis in gleicher Weise gelten. Darum gehören sie zu denen irepi äpfioviav,

* S. Bussemaker in Didofs Ausgabe des Aristoteles IV 307 309 (Sect. II, Nr. 82 96). Usener, Jahresbericht des Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859, S. 19— 21.

Ein einziges aus dieser Gruppe ist musik-aesthe tischen Inhalts und in dieser Richtung nicht uninteressant: Nr. 91. »Warum erweckt die Syrinx und der hohe Ton an und für sich gleichsam den Schein der Einsamkeit (awKas &<nrep epijfiiav wote? <t>aivea'ßai)? Etwa weil der hohe Ton weit reicht und nicht in die Breite zerfliefst {M ttoXv Staxetnu), wie die sonstigen Töne?« aw\as bedeutet hier wol: soweit nicht andere Umstände, die Situa- tion, die Nebeneinflüsse, der Zusammenhang diese Wirkung aufheben. Dafs die holien Töne weiter gehört werden als die tiefen, wird auch in anderen Problemen besprochen (XI, 19, 47; vgl. zur Sache m. Tonpsych. I 208, 426). Dafs sie etwas Spitziges haben, ist schon im Namen 6^ angedeutet, auch in unsren Problemen besprochen (o. S. 17 f.)*

' Vgl. Sect. XI, pr. 6 (gegen den Schlufs: 6 y^o^os aifp eo-nv wßov/ievos vrro äepot).

Sect. XI pr. 52 ist das nämliche Problem wie XIX, 2 behandelt und zwar in gleichem Sinne (man mufs das •«n-ra \6yov berücksichtigen). In beiden Problemen wird hervor- gehoben, dafs zwar eine Verstärkung stattfinde, aber nicht im Verhältnis zur Anzahl der Stimmen, und wird dies daraus erklärt, dafs sich die Luflbewegungen in der Nähe der Schall- quelle gegenseitig beeinflussen, weiter hinaus aber nicht.

Dass übrigens unter Umständen auch für uns hier noch ein Problem liegen kann, möge man aus meiner Tonpsychologie II 430 ei'sehen.

° Die Erklärung finden wir allerdings nicht auf blos physikalischem Gebiete. Vgl. auch dazu Tonpsych. I 242.

Die Erhöhung des Tons mit der Entfernung überhaupt wird auch Probl. XI, 6 und 20, sowie in den von Bussemaker edirten II, 92 besprochen.

Gaza übersetzt in unsrem obigen Problem innfxovfra mit vox desinens; auch Andere fassen den Ausdruck so, und es kommt ja in der That 4x^ ^^ Klang im Allgemeinen vor

Die pseudO' aristotelischen Probleme über Musik. 75

Ursprung und Entstehnngszeit der Musik -Probleme.

Wenn auch zu einer allseitigen und abschlielsenden Untersuchung der hiehergehörigen schwierigen Fragen alle Sectionen der Problemen- sammlung herangezogen werden müssen, so bietet doch unsre Section auch schon für sich allein so viele Indizien , dafs wir uns über das Wesent- lichste, wie ich glaube, mit ziemlicher Bestimmtheit aussprechen dürfen \

Die von jeher bemerkte Erscheinung, daCs die nämliche Frage mehr- fach wiederkehrt und dabei öfters eine verschiedene Lösung erf&hrt, ist nicht dieser Section eigentümlich, aber doch hier besonders aufifällig. Folgende Problem -Paare haben wörtlich oder nahezu wörtlich die nämliche Fragestellimg: 5 mit 40, 7 mit 47, 9 mit 43*, 12 mit 49, (16 mit 39^, 18 mit 39^^, 20 mit 36, 22 mit 45, 24 mit 42, 25 mit 44, 27 mit 29*,

30 mit 48 , 34 mit 41.

,

(Probl. XIX, 24, 25 u. ö.). Dennoch halte ich es aus sachlichen Rücksichten für wahi*scheinlich, dafs der Verfasser hier speziell das Echo im Auge hat (XI, 51 sowie das Parallelproblem bei Bussemaker II 93 behandeln ebenfalls eine das Echo speziell betreffende Frage). In der Losung wird dann allerdings die Schwächung* des zurückkommenden Schalls als Grund der Erhöhung angegeben, also die Erscheinung derjenigen bei der blofsen Entfernung coordinirt. Ebenso wird XI, 6 das Echo als besonderer Fall der allgemeinen Regel erklärt.

' Über die aristotelischen Probleme überhaupt vgl. Prantl, Abb. d. bayrischen Akad. I. Cl.VI (1851). E. Richter, De Arist. probl. Bonner Dissert. 1885. Jan, Mus. scr. p. 39f. Dber die dem Alexander Aphrod. zugeschriebenen Probleme: Usener im Jahresbericht d. Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859.

Richter nimmt hauptsächlich drei Autoren an, die in verschiedener Weise den Theo- plu'ast benützten; aufserdem einen vierten, der jene vor sich hatte (z.B. für das Mese- Problem 25), und einen mehr hypothetischen fünften (p. 25 26) für die Probleme, die man keinem der viere' mit genügenden Gründen zuschreiben könne. Über die Zurückfuhrung der Probleme auf Theophrast vgl. Jan p. 43f. In der Unterscheidung der Autoren scheint mir Richter doch etwas spitzfindig zu werden.

Bojesen trat noch für die Autorschaft des Aristoteles ein, ebenso neuerdings Barthe- lemy St.-Hilaire. Aber auch Westphal und Gevaert, in deren Darstellung der griechi- schen Musik die Probleme eine grundlegende Rolle spielen, schreiben sie immer noch un- bedenklich dem Aristoteles zu.

' Bei 9 und 43 ist die Fragestellung dem Wortlaut nach dieselbe, aber dem Sinne nach verschieden (oben S. yof.). Die Pr. 16 und 39» sind nur in dem weiteren Sinn parallel, dafs die Fragen bei vollkommen analoger äufserer Structur nahe inhaltliche Verwandtschaft besitzen. Das eine Mal wird die Antiphonie der Symphonie, das anderemal (wo die Hand- schriften überdies statt Antiphonie Symphonie haben) wird sie der Homophonie gegenüber- gestellt. Bei 18 imd 39^ ist die Parallelität insofern hypothetisch, als wir zu 39^ die Frage- stellung ergänzen mulsten.

10*

76 C. Stumpf:

Aus dem Vorkommen von Parallelproblemen an und ftlr sich wurde ich nun noch nicht auf eine Mehrheit von Verfassern schliefsen. Bei solchen vorlftufigen Erklärungen, wie sie in den Problemen versucht werden, ist es wol denkbar, dafe einundderselbe Forscher auf die nämliche Thatsache öfters und zwar auch von verschiedener Seite zu- rückkommt. Man denke an Kant's nachgelassene RejQexionen und Ähn- liches.

Nun kommt aber hinzu, dafs es sich in unsrer Section immer nur um Paare solcher Parallelprobleme handelt, dafs nicht auch gelegentlich drei- oder viermal die nämliche Frage ventilirt wird*. Deutet schon dieser Umstand darauf hin, dafs hauptsächlich zwei Verfasser an unsrer Section gearbeitet haben, so wird diese Annahme durch gewisse Unterschiede in methodischer und in sachlicher Hinsicht, die sich nicht blos bei Parallel- problemen sondern auch sonst in der musikalischen Section finden, be- stätigt.

Ein Teil der musikalischen Probleme zeichnet sich durch prägnante Kürze aus, andere sind nicht blos ausfuhrlicher (was durch die Sache be- dingt sein könnte), sondern ziemlich weitschweifig, wobei zugleich meistens starke Textverderbnisse auffallen; und zwar zeigt sich dieser Unterschied häufig gerade bei solchen mit gleicher Fragestellung.

Femer bedienen sich einige Probleme einer ausschliefslicli mathema- tischen Betrachtungsweise , indem sie sich begnügen , auf gewisse Analogien der objectiven Bewegungen oder ihrer Zahlenverhältnisse mit der zu er- klärenden psychologischen Erscheinung hinzuweisen, während andere sich durch eine eminent psychologische Tendenz auszeichnen, die das Mathe- matische nur nebenbei heranzieht; und wiederum zeigt sich dieser Unter- schied mehrfach bei Problemen mit gleicher Fragestellung.

In sachlicher Hinsicht wird da, wo mathematische Verhältnisse be- sprochen sind, bald die Saitenlänge zu Grunde gelegt, bald die Geschwin- digkeit der Bewegungen, wonach die Hypate einmal als das Doppelte, einmal als die Hälfte der Nete bezeichnet wird*. Femer wird, ohne dafs

^ Wenn auch Pr. 8 nach unsrer Auslegung wesentlich dieselbe Frage behandelt wie die Parallelprobleme 1 2 und 49, so ist die Frage doch sozusagen dort unter einen anderen BegrifT gefafst {ia-xvetv)^ jedenfalls anders ausgedrflckt.

* Vgl. über die beiden Berechnungsweisen im Altertum Jan, Mus. scr. zu Euclid's Sectio canonis.

Die pseudo' aristotelischen Probleme über MnsÜk. 11

dies ausdrücklich bemerkt würde, bald die enharmonische, bald die dia- tonische Leiter, und wieder bei der diatonischen Leiter bald die getrennten, bald die verbundenen Tetrachorde vorausgesetzt (wobei die Mittelstellung der Mese das einemal aus dem scheinbaren directen Abstand, das andere- mal aus der Stufenzahl hergeleitet wird). Bald endlich scheint sich ein Problem auf Melodien innerhalb eines Tetrachords , bald auf solche inner- halb eines Octavenumfangs zu beziehen.

Als das Entscheidendste aber erscheint mir (mit Jan p. 57), dafs der Verfasser des 43. Problems in der offenbaren Absicht, die im 9. Problem gestellte Frage zu wiederholen, sie vollkommen misversteht, wie dies aus seiner Antwort hervorgeht. Er kann darum auch die Antwort des Probl. 9, wenn sie ihm vorlag, nicht verstanden haben. Natürlich könnte das Mis- verst&ndnis auch in umgekehrter Richtung stattgefiinden haben , doch dünkt mich dies weniger wahrscheinlich.

Man kann nun aber nicht blos auf eine Mehrheit von Verfassern im Allgemeinen schliefsen, sondern, wenn wir alle vorhin genannten Kriterien zusammennehmen, mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dafs speziell die Probleme vom 35. an einen anderen Verfasser haben als die vorhergehenden. In dieser letzten Abteilung allein finden sich die relativ weitschweifigen, mit weniger klarem und geonlnetem Gedankengang und mit längeren starken Textcorruptionen. Hier allein finden sich die auf verbundene Tetrachorde bezüglichen Probleme (44, 47) und die Beziehung der Zahlen Verhältnisse auf die Bewegungsgeschwindigkeit (35', vgl. auch 39**, 42). In der ersten Abteilung allein wiederum finden sich diejenigen Probleme, die das enharmonische System voraussetzen (3, 4), und die, welche sich auf Tetrachordmelodien zu beziehen scheinen (30, 33). Diese beiden Kriterien sowie die Berechnung aus der Saitenlänge (23) könnten wol auch den weiteren Schlufs nahe legen, dafs die erste Abteilung ganz oder teilweise einem früheren Verfasser angehört. Aber dies möchte ich wieder weniger zuversichtlich behaupten.

Obschon man femer die Verschiedenheit der Erklärungen bei Parallel- problemen an sich nicht notwendig auf eine Verschiedenheit der Verfasser deuten mufs, wird doch in einzelnen Fällen der Schlufs durch die be- sonderen Umstände zwingender, so namentlich bei Pr. 30 und 48 , wo man doch erwarten müfste, dafs die ausfuhrliche Behandlung im Probl. 48 von dem im Pr. 30 kurz angedeuteten Elrkiärungsgrund irgendwie Notiz nähme.

78 C. Stumpf:

Wahrscheinlich hat der Verfasser von Pr. 48 die Lösung im Pr. 30 wieder gar nicht verstanden \

Ziehen wir endlich in Betracht, dafs von den vielen Parallelproblemen mit einer einzigen Ausnahme (27 mit 29)^ durchgängig das eine unsrer ersten, das andere unsrer zweiten Abteilung angehört, so gewinnt nun- mehr allerdings auch dieser Umstand , die Existenz so zahlreicher Parallel- probleme, eine entscheidendere Bedeutung, und wir dürfen darum nun auch die wenigen Probleme innerhalb jeder Abteilung, bei denen man sonst zweifelhaft sein könnte, nach diesem Gesichtspunct beurteilen. So könnte das sehr knapp gehaltene Pr. 46 seinem Charakter nach ebensogut dem Verfasser der ersten Gruppe angehören; aber da es mitten unter anderen steht, auf welche die obigen Merkmale zutreffen imd sein Parallelproblem in der anderen Abteilung hat, so werden wir auch jenes dem Verfasser der zweiten Abteilung zuschreiben.

Mit Rücksicht auf das Prinzip der Parallelprobleme ist es auch bereits geschehen, dafe wir den Schnitt zwischen Pr. 34 und 35 und nicht etwa zwischen 33 und 34 verlegten: denn 34 hat sein Parallelproblem in der zweiten Abteilung (41). Man mufs in solchen Erwägungen natürlich alle Kriterien zusammennehmen.

In Bezug auf die Entstehungszeit endlich kann man den Anhängern des aristotelischen Ursprungs ohne Weiteres zugeben (wie dies auch Jan thut), dafs die musikalischen Probleme in Bezug auf den Geist der Unter- suchung und den allgemeinen Charakter der Diction mit wenigen Aus- nahmen dem Aristoteles zugeschrieben werden könnten, und dafs kaiun

^ Auch bei Problemen wie 16 und 39», die an sich recht wol von Einem Verfasser stAininen konnten, Hegt, nachdem wir einmal zu zwei Gruppen gefuhrt sind, die Auffassung nahe, dafs hier einunddieselbe Frage von V^erschiedenen in solcher Weise transformirt wurde. Wie bei 9 und 43 unter Beibehaltung der wörtlich gleichen Fassung der Sinn der Frage verändert ist, während in anderen Fällen ohne Alteration des Sinnes kleine sprachliche Ab- weichungen stattfanden, so konnte auch eine Frage sowol dem Sinne als dem Wortlaute nach in eine nahverwandte Frage übergeführt werden, und dies sowol absichtlich als un- absichtlich.

* Wegen dieses einzigen Falles einen dritten Autor anzunehmen , kann man zwar Nie- mand verwehren , aber auch Niemand zumuten. Doch liefse sich allenfalls auch das V^or- kommen des dritten Parallelproblems 8 zu 12 und 49 (o. S. 76 Anm. i) auf den dritten Autor deuten, zumal dort ebenso wie bei 27 und 29 die Fragestellung doch nicht so wörtlich wie sonst unter Parallelproblemen übereinstimmt.

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Musik. 79

irgendwo ein Widerspruch \ dagegen in äufserst zahlreichen Fällen die engste Berührung mit den aristotelischen Schriften stattfindet. Aufser den Co- incidenzen, auf die Jan aufmerksam macht, haben sich \ms noch verschie- dene andere imd besonders die bei Pr. 14 besprochene ergeben.

Aber alles dies beweist strenggenommen doch nur, dais die Verfasser in den Schriften des Aristoteles zu Hause waren und seine Anschauungen und Denkweise sich zu eigen gemacht hatten. Eine gröfsere Anzahl dieser Probleme, etwa die erste Abteilung, dem Aristoteles selbst zuzuschreiben, trage ich schon darum einiges Bedenken, weil es mir fraglich scheint, ob man dem grofsen Denker trotz seiner imgeheuren Sachkenntnis auf sehr verschiedenen Gebieten eine so eingehende Kenntnis der technischen Einzel- heiten der Musik zuschreiben darf, wie sie sich hier findet. In seinen Schriften, auch in der ausftihrlichen Abhandlung im 8. Buch der Politik, halt er sich doch nur an das, was jedem Gebildeten damals bekannt sein muCste. Er zeigt keine selbständigen Anschauungen über intern -musika- lische Fragen und keine Neigung, sich in solche zu vertiefen.

Es giebt aber eine Reihe speziellerer Erwägungen, die mich Schritt für Schritt zu der Überzeugung gebracht haben, dafs diese Probleme ihrer Hauptmasse nach einer viel späteren Zeit, frühestens dem ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus, angehören.

Unmöglich ist die Autorschaft des Aristoteles, aber auch des Theo- phrast oder anderer Schriftsteller jener frühen Zeit, zxmächst fiir diejenigen Probleme, die von der Antiphonie handeln, und fiär solche, die eng da-

^ Vielleicht w&re in Bezug auf die Lehre der Probleme von der Kpaa-ts gegenflber der Lehre von der fu(ts bei Aristoteles De sensu ein gewisser Unterschied zu bemerken : Aristo- teles will die beiden Töne eigentlich doch nur als Einen fitir die Empfindung gelten lassen, während sie in den Problemen trotz der Verschmelzung als zwei unterschiedene Tone gelten. Doch ist Aristoteles hierüber auch mit sich selbst kaum vollkommen einig, wenn man andere Stellen seiner Werke vergleicht.

Ebenso liegt wol eine Abweichung darin, dafs die Symphonie bei Aristoteles immer nur als Koyos apiß/i&v bezeichnet wird, hier dagegen auch als Koyos irivifo-ecos, was mit der späteren Berechnungsweise, aus den Geschwindigkeiten statt aus den Saitenlängen, zu- sammenhängen mag.

Jan verweist auf den Widerspruch des Pr. 43 , welches die Flöte als angenehmer gegen- über der Lyra bezeichnet, mit den abfalligen Äulserungen des Aristoteles über die Flöte Pol. VIII, 6. Aber hier liefse sich wieder sagen, dafs der Tadel des Aristoteles sich nicht so sehr auf den sinnlichen Eindruck als auf den Mangel einer ethischen und bildenden Wir- kung des Flötenspieis bezieht.

80 C. Stumpf:

mit zusammenhängen. Denn unmöglich können wir annehmen, dafs von Plato und zwar von den platonischen Leges bis zu Aristoteles eine so vollständige Umwandlung des Sprachgebrauchs in Bezug auf die technische Bedeutung von ävriifxovos sich vollzogen hätte. Wir dürfen darum den Ursprung dieser Probleme (wovon die Mehrzahl unsrer ersten Abteilung angehört) auch nicht einmal sehr nahe an Aristoteles heranrücken. Viel- mehr fögen sie sich in den historischen Entwickelungsgang nur unter der Bedingung, dais wir sie der angegebenen Zeit zuweisen, da erst von da an der Begriff der Antiphonie in den theoretischen Schriften zu Tage tritt (S. 31-33). Wäre wirklich dKx/ii^wi'Os = Octaventon von Aristoteles oder Theophrast als eine allgemein bekannte technische Bezeichnung gebraucht worden, so wäre es ganz unbegreiflich, warum 3CX) Jahre lang, auch bei Aristoxenus , bei Euklid , keine Spur von dieser Verwendung sich f&nde. Aber nicht blos aus diesem groüsen Silentium argumentiren wir hier, son- dern gerade auch aus dem Vorkommen des Ausdi-ucks bei Plato in einer musikalisch -technischen, aber gänzlich anderen Bedeutung.

Ähnlich verhält es sich mit den Äufserungen über das Melos sym- phonirender Töne. »Dafs das Melos in beiden zusammen liegt, primär aber in dem tieferen« von dergleichen ist vor Plutarch nie und nirgends die Rede, bei Plutarch aber findet sich die genaue Parallele und zwar auch in Problemform ; und von da an wird dann wieder öfters von derselben Sache in denselben Ausdrücken gesprochen , bei dem Platoniker Aelian , bei Porphyrius, bei Aristides, Bacchius, Gaudentius Schriftstellern, die sämtlich den Jahrhunderten nach Christus angehören.

Das Nämliche gilt drittens von den Äufserungen über das Mit- schwingen. Meines Wissens existirt abgesehen von den Problemen kein Zeugnis, dafs dieses Phänomen vor dem Anfang unsrer Zeitrechnung be- kannt gewesen wäre. Dagegen findet es sich in den Schriften vom i. und 2. Jahrhimdert an unmer wieder erwähnt: so bei dem Peripatetiker Adrast, dem Dichter Agathias, dem Musiker Dionysius (Pseudo- Bacchius), dem Kirchenvater Synesius, in der pseudo -galenischen Schrift Flpos Favpov, bei Aristides Quintilianus , bei Macrobius\

* Vgl. die Zusammenstellung in der S. 5 erwähnten Arbeit unter Nr. 11. Auch die Äufserungen Aber das Melos symphonii-ender Tone und die über die Ähnlichkeit sind dort bei Erwähnung der einzelnen Schriftsteller besprochen.

Die pseudo' aristotelischen Probleme über Musik. 81

Auch die Ähnlichkeit zwischen den Tönen des Octavenintervalls wird erst von dieser Zeit an hervorgehoben. So gelegentlich bei Plutarch (De amic. mult.), der sie als Folge des Zusammenklingens aufiafst, dann ausdrücklich bei Ptolemaeus, der die Ähnlichkeit zur Definition der Con- sonanz überhaupt verwendet. Plato hatte wol (Tim. 80 , a) die Ähnlichkeit der Bewegungen der Nete und der Hypate, aber nicht die Ähnlichkeit der Empfindungen behauptet. Vielmehr wurden Nete und Hypate seit Heraklit mit Vorliebe als entgegengesetzte Töne bezeichnet ^

Hiezu kommen noch eine Reihe von Berührungspuncten mit Schriften der ersten christlichen Jalirhimderte , die, ohne einzeln genommen be- weisend zu sein, das Gewicht der bisherigen Gründe noch verstärken. Von der Mese als äpx^i ist zwar schon bei Aristoteles die Rede, aber eine genaue Parallele zu den Äufserungen der Probleme findet sich doch nur bei Dio Chrysostomus (S. 40). Den scheinbar gleichen Abstand der Mese von der Nete und der Hypate berührt Eusebius von Emesa (S. 14). Die Gegenüberstellung von Melos und Rhythmus als dem weichen und dem harten Element der Melodie (Pr. 49) hat ihre Parallele bei Aristides Quin- tilianus (S. 22); der Vergleichung der hohen und tiefen Töne als harter und weicher (Pr. 49) entspricht das Ehegleichnis bei Plutarch , Varro und PoUux (S. 20, 23). Die aristotelische Stelle über das aXovpyou und <f>oivucovv wird , wie im Pr. 1 4, von Porphyrius zur Erläuterung der Consonanz heran- gezogen (S. 9). Die Verwertung des Honiggleichnisses zur Erläuterung der Klangmischungen finden wir, wenn auch das ö^fieXi selbst bereits dem Hippokrates bekannt ist, doch erst bei Aelian und bei Sextus Em- piricus (S. 72). Über die verschiedenen Methoden zur Bestimmung der mathematischen Verhältnisse der Consonanzen , speziell die durch die offenen Gef&fse, berichtet \ms erst Theo Smyrnaeus (S. 1 1)*. Die Erzählung von

* Eine Äufserung des Theophrast (bei Porphyrius Wall. 243 oben) bezieht sich nicht, wie man gemeint hat, auf die qualitative Gleichheit der Octaventöne sondern auf die er- forderliche Gleichheit ihrer St&rke, wenn anders Consonanz wahrnehmbar sein soll. S. da- selbst unter Nr. 5.

^ Da(s die Methoden seihst teilweise alten Ursprungs wai*en, verschlSgt hiebei natür- lich nichts, es kommt uns hier auf die. Erwähnung in der Litteratur an.

Beim Pr. 41 konnte es auffallen und schien mir zuerst ein Hinweis auf eine frühere Entstehungszeit dieses Problems, dafs nur das noKKarrKacriov und das em/ioptov als \6yoi be- zeichnet werden, während das, w«S unter den Begriff des hn/ißpes (""^^"^'*) fallen würde, gar keinen \6yos besitzen soll {oMva \oyov Sfovanv). Da nun bei*eits der Mathematiker Euklid Philos.-histor. Abh. 1896. IIL 11

82 C. Stumpf:

den Veränderungen, welche die iraXaioi an der Leiter durch Auslassung der Trite vornahmen, hat ihre Parallele bei Plutarch De musica\ Der Hinweis auf die Musik und Musiklehre der iraXaioi ist überhaupt in jener Zeit öfters zu finden, vgl. Aristides ed. Jahn p. 43. Theo Smyrn. ed. Hiller p. 66. Dazu kommen endlich noch einzelne Wendungen , wie die im Pr.42 (nachdem von gewissen Sinnestäuschungen die Rede war): »wie sich Solches fiir uns oft ereignet, wo wir weder durch Schlufsfolgerung noch durch Sinneswahmehmung das Genaue ermitteln können«. Dies kann meiner Meinimg nach Aristoteles nicht gesagt haben; es pafst dagegen genau in die Zeit der Skeptiker und Eklektiker. Auch der Ausdruck dKaroAiyTTTOS in demselben Problem scheint dahin zu weisen.

Je mehr man sich solchergestalt in die Einzellieiten vertieft, um so mehr vervielfältigen sich die Berührxmgspuncte ; und ich zweifle nicht, dafs Andere, sobald sie den Gedanken an diese späte Entstehungszeit ein- mal ernstlich in's Auge gefafst haben, zu der gleichen Überzeugung kommen werden.

Wol mochten bestimmte Fragestellungen seit langer Zeit traditionell geworden sein und verschiedene Forscher ihren Witz daran versuchen, wie wir denn auch für unsre Section mindestens zwei Verfasser vermuten. Und so mag das eine oder andere Musikproblem, wenigstens die Fragestel- lung, bis auf Theophrast, ja auf Aristoteles zurückgehen, der nach eigenen Äufserungen Problemsammlungen angelegt hatte und mit dessen Methode der »Aporien« diese ganze Untersuchungs weise zusammenhängt. Aber die grofse Masse der Musikprobleme stammt sicherlich nicht aus dieser Zeit.

im 3. Jahrh. vor Chr. den \6yos emfiepifs den beiden anderen \6yoi coordinirt (Sect. can. bei Jan p. 149, 12), so könnte man denken, das Pr. 41 müsse noch vor Etiklid's Zeit entstanden sein. Aber auch hiezii finden wir eine Erklärung und eine Parallele bei Theo. Er sagt zuerst (ed. Hiller p. 74): oi jjm (Koyoi) woWarrKaa-tot ^ ot Se emfiopioiy ol Se ovBerepot, Darauf aber (p. 75): Keyovrat Se nves ev apiBfAt\nKf\ \6yot aptß/iijv ov fiovov TroKKairKdatot tcal hnfioptoi^ flWa Koi hrtfiepeis. Hienach rechnete man in jener Zeit das emfiepes bald noch unter die \6yot (im engeren Sinn) bald nicht. Und so läfst sich aus der Ausdrucksweise des Pr. 41 in Verbindung mit Theo's Sätzen eher wieder eine Bestätigung der späten Datirung ableiten. ' Auch hier wolle man nicht einwenden , dafs Plutarch seinen Bericht aus alten Quellen (Aristoxenus) schöpfte, aus deren Zeit auch die Probleme stammen könnten. Gewifs ist diese Deutung an sich ebenfalls möglich. Aber zusammengenommen mit so vielen anderen Parallelen macht doch auch diese mehr den Eindruck, dafs sowol die Probleme als Plutarch aus gemeinschaftlichen alten Quellen schöpften , nachdem man zu jener Zeit auf die historische Bedeutung solcher Nachrichten aufmerksam geworden war.

Die pseudo-aristoteUscfien Probleme über Musik. 83

Genauere Bestimmungen als die obigen sind natürlich nur Sache der Vermutung. Wenn ich etwa das Ende des i. und den Anfang des 2. Jahr- hunderts n. Chr. für die wahrscheinlichste Zeit ansehe, so geschieht es hauptsächlich wegen der sehr auffälligen Beröhrungspuncte mit Plutarch und den bei ihm vorfindlichen Problemen, sowie im Hinblick auf den Charakter der peripatetischen Schupp jener Zeit. Sie war zu reger Thätig- keit erwacht, die Werke des Meisters wurden geordnet, herausgegeben, commentirt. Zugleich machten sich aber auch Einflüsse anderer Schulen, wie der pythagoreischen, geltend. Speziell im Gebiet der Musiktheorie beobachten wir dies bei Adrast, und ebenso tritt es uns in den Problemen entgegen.

Dennoch möchte ich hiemit nur einen Terminus a quo angeben. Für denkbar, obwol weniger wahrscheinlich, mufs ich es halten, dafs die voll- ständige Zusammenstellung der überlieferten Musikprobleme ein oder zwei Jahrhunderte später vollzogen wäre; nur dafe sie früher entstand, scheint mir in keinem Falle glaublich.

Wenn nun auch mehrere Hände an der Sammlung gearbeitet haben und wenn sie zum gröfsten Teil ziemlich spät entstanden ist: sie erscheint uns gleich wol, wie zum Schlufs wiederholt werden mag, im Grofsen und Ganzen als ein aus echt aristotelischem Geist geflossenes und eben darum auch als ein relativ einheitliches Werk. Gerade je weiter die Zeit ihrer Entstehung von Aristoteles abliegt oder je gröfser die Zeiträume sind, auf die sich ihre Entstehung verteilt, um so glänzender zeigt sich die Herr- scherkraft des Fürsten der antiken Wissenschaft, der es vermocht hat, auf Jahrhunderte hinaus die Seinigen auch auf so entlegenen Gebieten an eine solche Schärfe des logischen Denkens, ein so festes und sicheres Anfassen der Schwierigkeiten, eine solche Feinheit der psychologischen Beobachtung und eine solche Praecision des Ausdruckes zu binden.

84

C Stumpf

Register.

(Die fetten Zahlen bedeuten die Seiten, auf läutert wird, während es an den

Sect. XIX.

Pr. I

2

3

4

5 6

7 8

9

lO

II

12

13 14

15 16

17 18

19

30 21 22 23

24

25 26

27 28 29 30 31 32 33

S.56 73

51, 77

5t» 57, 77

56, 75

72

17, 29, 36, 75

17, 19, 76, 78

70, 71, 75, 77

70

73

12, 19, 75, 76, 78

21, 26, 28, 67

5, 8, 14, 79, 81

43, 44, 45

26, 58, 65, 68, 71, 75» 78

14, 26, 27

12, 22, 26, 67, 71, 75

12, 26

40, 47» 48, 75

51 (zweimal)

50, 75

10, 12, 73, 77

15, 78, 75

34, 75 (zweimal)

51

60, 75» 78 34

61, 75» 78 43, 75, 77 37

34, 36, 37

38, 41» 45» 47» 53» 73» 77»

denen ein Problem oder eine Stelle daraus er- übrigen Orten nur kurz erwähnt ist.)

Pr.34 S.16, 75, 78

. 35» . 12, 65, 77» 78 - 35^ 16, 50

36 40, 75

37 37» 50, 51 .38 .5, 57, 62, 68, 71

39* 27, 31, 65, 67, 67, 73i 75. 78 . 39t - 6, 12, 23, 48» 64, 75, 77

40 . 56, 75 .41 12, 6, 17, 75, 81 . 42 . 14, 16, 27, 73, 75» 77» 82 . 43 . 10, 58, 71, 75, 77, 79

44 -34, 36, 75, 77

45 50, 75 »46 51, 78

47 13, 36 (zweimal), 75, 77 48 . 44, 49, 73, 75» 77

49 21, 75» 76, 78, 81 . 50 . 12, 73

Sect XL

Pr. 6 S. 16, 74 (zweimal), 75

. 19 . 74

20 16, 74

47 74

51 -75

52 »74

Sect. II der von Bussemaker herausgegebenen Probleme (Aristot. op. Didot. IV).

Pr. 20 S. 72

91 73» 74 . 92 16, 74

93 -75

Die psetido' aristotelischen Probleme über Musik. 85

Inhalt.

Seite

Einleitung 3

1. Von den Eigentümlichkeiten des Octavenintervalls 5

Definition der Consonanz in den Problemen. Pr. 38, 39^ . .' 5

1. Verschmelzung der Octaventöne. Pr. 14 8

2. ZahlenverhÜtnis 1:2. Pr. 23, 50 11

3. Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Pr. 19 12

4. Resonanz. Pr. 24, 42 15

5. Die Octave allein giebt durcli Verdoppelung wieder eine Consonanz. Pr.34,41 16

6. Der tiefere Ton der Octave beherrscht den höheren und ist Trager des Melos. Pr. 8, 12,(13), 49 .17

7. Octaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer Melodie ge- braucht werden. Pr. 18, 39^ 22

8. Die Octave allein dient zur Antiphonie, und zwar ist der tiefere Ton anti- phon dem höheren. Pr. 17, (42), 13, (7) 25

II. Von den Leitern und den Gesängen.

1. Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge. Pr. 28,32, 25,44,47 33

2. Bildung der siebensaltigen Leitern. Pr. 7, 47 36

3. Gröfserer Melodienreichtnm der älteren Componisten. Pr. 31 37

4. Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33 38

5. Function des Mitteltons. Pr. 20, 36 40

6. Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Nomoi. Pr. 15 ..... 43

7. Gebrauch der Tonarten in der Tragödie. (Antistrophie und Ethos der Tonarten.) Pr. 30, 48 43

8. Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe beim Singen. Pr. 22,45, 35^, 37,21,26,46,3,4 50

IIL Gefühlswirkung der Musik.

1 . Lust an der Musik überhaupt. Pr. i 56

2. Freude an bekannten Melodien. Pr. 5, 40 56

3. Freude an Rhythnms, Melos und Consonanz. Pr. 38 57

4. Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz jedoch hat keines.

Pr. 27, 29 60

5. V'orrang der Octave vor den übrigen Consonanzen und der Antiphonie vor der Symphonie und Homophonie. Pr. 35*, 16, 39» 65

6. Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und ihrer Verbindung:

a) Die Stimme und die Instrumente. Pr. 10 70

b) Gesang mit Begleitung. Pr. 9, 43 70

c) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6 72

IV. (Anhang), über physikalische Eigenschaften des Schalls. Pr.2,11 . 73

Ursprung und Entstehungszeit der Musikprobleme 75

Register 84

Philos.-histor. Abh. 1896. IIL 12

ANHANG ZU DEN

ABHANDLUNGEN

DER

KÖNIGLICHEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

zu JiERLIN.

ABHANDLUNGEN NICHT ZUR AKADEMIE GEHÖRIGER GELEHRTER.

AUS DEM JAHRE

1896.

MIT 2 TAFELN.

BERLIN.

VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

1896.

GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI.

IN COMMISÖION BEI GEORG REIMER.

Inhalt.

Heymons: Grundzüge der EntwickelunK und des Körperbaues von

Odonaten und Epliemeriden. (Mit 2 Tafeln.) Abb. 1. S. 1— 66.

PHYSIKALISCHE ABHANDLUNGEN.

Grundzüge der Entwickelung und des Körperbaues von Odonaten und Ephemeriden.

Von

Dr. RICHARD HEYMONS,

Privatdocent und Assistent am Zoologischen Institut in Berlin.

Phtfs. Abh, nicht zur Akad, yehör. Gelehrter. 1896. l

Vorgelegt in der Sitzung der phys.-math. Classe am 22. October 1896

[Sitzungsberichte St. XL. S. 1032].

Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 1896.

Unter den amphibiotisch lebenden Insecten sind es besonders die Libellen und die Eintagsfliegen, welche sowohl durch ihre auffallenden Körper- formen wie durch ihre biologischen Eigenthümlichkeiten die AuAnerksam- keit auf sich zu lenken pflegen.

Der anatomische Bau und die Morphologie dieser Thiere ist gleich- wohl noch nicht zur Genüge bekannt. Hinsichtlich der Entwickelungs- geschichte gilt diefs in noch weit höherem Mafse, denn seit dem Er- scheinen der Arbeiten von Brandt (69) und Packard (71), somit seit nun 25 Jahren, hat die Embryologie der Tabellen keinen Bearbeiter ge- funden, während über Entwickelungsstadien von Ephemeriden bisher über- haupt erst äufserst wenige Mittheilungen vorliegen.

Die Vernachlässigung der genannten Insectenabtheilungen im Gegen- satze zu vielen anderen darf eigentlich kaum als berechtigt gelten. Hatten doch gerade die interessanten Ergebnisse von Brandt über die Bildung der Keimhüllen von Calopteryx zu mannigfachen Speculationen und Theo- rien Veranlassung gegeben, die gewifs schon längst eine erneute Prüfiing der Entwickelungsvorgänge bei nahe stehenden Insecten als wünschens- werth erscheinen lassen mufsten.

Aufserdem haben wir in den Odonaten, ebenso wie in den ihnen ver- hältnifsmäfsig nahe vorwandten Ephemeriden, zweifellos noch relativ ein- fach organisirte , niedrig siehende Insecten typen vor Augen. Auch in geo- logischer Hinsicht sind diesell)en bekanntlich zu den ursprünglichsten Formen zu zählen, indem ihre directen Vorläufer bereits in der palaeozoi- schen Erdepoche gelebt haben. Schon aus diesem Grunde dürften daher die genannten »Amphibiotica« ein besonden^s Interesse beanspruchen.

4 R. Heymons:

In der vorliegenden Arbeit bringe ich einige Beobachtungen zur Kennt- nifs, welche hauptsächlich vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkte aus gewisse Fragen bezüglich des Aufbaues und der Zusammensetzung des Odonatenkörpers behandeln, wobei dann, soweit es thunlich, gleichzeitig auch die Ephemeriden zum Vergleich herangezogen werdeji. Es soll nur in grofsen Zügen ein Überldick gegeben werden, der aber vielleicht als Grundlage für weitere Untersuchungen dienen mag.

Als Material haben mir fiir meine Studien aufser den Imagines ver- schiedener Libellen und Ephemeriden zur Verfiigung gestanden theils die Larven, theils die Emlnyonalstadien von EpitJieca bimaculata Charp , Li- hellula quadrimaculata L., Sympetrum flaveolum L., Aijrlon (pnelUt L.?), Eph^*- mera tmlgata L. und Caenis grisea P.

1. Über die Eier von Libellen und Ephemeriden.

Über die Art und Weise der Eiablage, sowie über die Form der Eier selbst sei hier Folgendes bemerkt.

Epitheca bhnaculata und L'Mlula quadrimaculata pflegen ihre Eier in Gestalt umfangreicher Laichmassen abzulegen , voraussichtlich wird letzteres wohl auch noch far andere Arten der genannten Gattungen zutreffen.

Bei den Odonaten ist dieser Modus der Eiablage aber ein immerhin recht aufsergewöhnlicher und bisher nur in ganz wenigen Fällen bekannt geworden. Für Epitheca bimaculata liegen in dieser Hinsicht schon einige kurze Angaben vor, die wir Welt n er (89) zu verdanken haben.

Der Epitheca-L^Aoh bildet einen Gallertstrang von beträchtlicher Länge, den man mitunter frei im Wasser flottirend antrifft, der aber meistens um Wasserpflanzen herumgeschlungen ist, wie diefs auch Fig. 18 zeigt. Der daselbst abgebildete Laich besafs im ausgestreckten Zustande eine Länge von 32''"' bei einer Breite von oTS-i"". In der anfänglich durchsichtigen, später mehr trüben und weifslichen Gallertsubstanz liegen mehrere hundert kleiner länglicher Eier von gelblich])rauner Färbung eingebettet. Die Farbe derselben rührt ausschliefslich von der harten* und sehr festen Eischale her, während die von dieser umschlossene Dottersubstanz vollkommen farb- los bleibt. Der Längsdurchmesser der frisch abgelegten Eier beträgt oT*75, ihr Querdurchmesser o"'.'"4. Fast sämmtliche Eier sind so angeordnet, dafs ihr lüngsdurchmesser parallel zur Längsachse des Stranges gerichtet ist.

Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 5

Die Eier befinden sich in unregehnäfsigen Abständen von einander und zwar liegen sie hauptsächlich in den peripheren Theilen der Gallerte, während die Achse des Stranges frei bleibt. Die Eier sind auch nicht direct in die Gallertsubstanz eingebettet, sondern in kleinen länglichen, kapselartigen Hohlräumen derselben eingeschlossen. Bei einer genaueren Untersuchung ist noch ein eigenthümlicher chalazenartig gewundener Strang zu bemerken, der von einem jeden Ei ausgeht und sich an die Wandung des Hohlraumes anheftet, bez. in die Gallerte übergeht.

Die Deutung der einzelnen Theile ergibt sich meiner Auffassung nach folgendermafsen. Die braungelbe harte Eischale entspricht dem Chorion (Endochorion) anderer Insecteneier. Dieses Chorion ist ganz (oder theil- weise) von einer zarten hyalinen Schicht mnhüUt, die in den erwähnten Strang übergeht. Ein Vergleich mit den Eiern anderer Odonaten lehrt, dafs wir in dem betreflfenden Strang eine Art Micropyleaufsatz zu erblicken haben, mithin einen Apparat, der dem Spermatozoon den Zugang zur Micropyle ermöglicht. Die letztere befindet sich an dem vorderen Pol des Eies und durchbohrt daselbst das Endochorion. Die gemeinsame Gallertc endlich, durch welche die eigentliche Laichmasse selbst gebildet wird, dürfte den stark vergröfserten und mit einander verschmolzenen Exochoria der einzelnen Eier entsprechen.

Von Libellula quadrimaculata habe ich einen I^ich zur Verfiigung gehabt, der in einem See in der Umgebung Berlins aufgefischt wurde. Die betreffende Laichmasse bildete im Gegensatze zu der von Epüheca keinen isolirten Strang, sondern breitete sich in Form eines unregelmäfsigen Überzuges über ein Convolut von Wasserpflanzen und Algen aus. Im Vergleich mit Epüheca trat auch die gemeinsame Gallerte an Masse bedeutend zurück, sie bildete nur eine dünne, die einzelnen Eier mit einander verklebende oder verkittende Schicht. Im übrigen zeigt sich aber bei Libellula ganz ähnlich wie bei EpUheca eine grofse Zahl von gelblichen Eiern in der Gallerte vertheilt. Der Längsdurchmesser der jungen, noch unentwickelten Eier beträgt o'".'"5.

Bei Sympetrum ßaveolum kommt keine Laichbildung zu Stande. Das Weibchen läfst die Eier einzeln oder zu mehreren nach und nach in das Wasser fallen, in dem sie sich sogleich zerstreuen und zu Boden sinken \

* Teil habe den Vor)ü;ang nur an eingefan^enen Weibclien von Sympetrum beobachten können.

6 R. Heyuons:

Ein jedes Ei besitzt auch hier aufser der eigentlichen Schale (Endochorion) noch eine zarte farblose, membranöse Hülle (Exochorion). An dem einen (hinteren), den Micropyleapparat tragenden, Eipol bemerkt man ferner einen schornsteinartigen Aufsatz (Micropyleaufsatz), welcher von einer farblosen, hyalinen Substanz gebildet wird, die ohne Grenze in das Exochorion über- geht. Deutlich ist in dem Micropyleaufsatz ein enger Kanal sichtbar, der zu der am Grunde befindlichen Micropyle hinfiihrt.

Die Eier sind von rundlich ovoider Gestalt und besitzen einen Durch- messer von etwa oT*5. Das (Endo-) Chorion , welches Anfangs weifelich ist, nimmt schon einige Stunden nach der Ablage eine tiefbraune Färbung an, so dafs damit die Beobachtung der inneren Entwickelungsvorgänge sehr wesentlich erschwert wird.

Die Agrioniden versenken ihre Eier wie die Calopterygiden mit Hülfe eines Legestachels in das Parenchym von Pflanzen.

Über die Eiablage und die Gestalt der Eier von Epliernera vulgata liabe ich schon an anderer Stelle einige Mittheilungen gemacht (96*). Die läng- lichen , weifslichen Eier von Ephetnera sind ebenfalls von einer besonderen Gallerthülle (Exochorion) umgeben, die eine klebrige Beschaffenheit besitzt, so dafs die Eier gelegentlich an einander backen , in der Regel aber einzeln an festen Körpern, Pflanzen oder dergl. hängen bleiben.

Bei Caenis zeigt sich wiederum eine Art Laichlnldung, jedoch in etwas eigenthümlicher Weise. Von der Peripherie der einzelnen Eier, an deren Oberfläche eine regelmäfsige durch sechsseitige Felderchen bedingte Sculptur sichtbar ist, gehen bei Coenis zahlreiche feine Fädchen aus, die das Ei umspinnen, sich mit den Fädchen benachbarter Eier mannigfach durch- kreuzen und durchflechten und schliefslich mit einer feinen knopfartigen Verdickung frei endigen. Die von einem Weibchen abgelegten liier bleiben auf diese Weise alle mit einander in Zusammenhang: in einer geradezu un- entwirrbaren Masse zahlloser weifslicher Fädchen , die eine ziemlich derbe Consistenz besitzen, sind die kleinen dunkelbraunen Eier eingebettet.

Der Laich kommt also bei Caenis im Vergleich zu den oben besprochenen Libellen in etwas anderer Weise zu Stande. An die Stelle der gemeinsamen Gallerte treten die Fädchen. Diese letzteren wurden bereits früher bei den Ovarialeiern mehrerer Ephemeridenarten vonLeuckart(55), Grenacher(68) und Palmen (84) beobachtet, und ihre Herkunft von Seiten der FoUikel- epithelzellen der Eiröhren festgestellt. Audi über die Bedeutung der

Entunckelung und Körperbau von Odonaten und Hphemeriden. 7

Fädchen hat sich Grenacher bereits in völlig zutreffender Weise dahin ausgesprochen, dafs man sie wahrscheinlich als Ankerapparate au&ufassen habe. Diese Deutung ist richtig. Nach Ablage der Eier wickeln sich nämlich die Fadchen sehr leicht um Wasserpflanzen oder um andere feste Gegenstände herum, die ganze Laichmasse wird dadurch festgehalten und kann in Folge dessen von der Strömung nicht fortgetrieben werden.

Es zeigt sich hiermit, dafs bei den Ephemeriden und Odonaten die frei ins Wasser abgelegten Eier nicht einfach zu bleiben pflegen, sondern dafs bei ihnen das Chorion noch mit allerlei gallertigen oder fadigen Hüllen ver- sehen ist. Derartige exochorionale Bildungen scheinen zum mindesten sehr weit verbreitet zu sein. Sie verfolgen offenbar einen doppelten Zweck, einmal dem Ei im Wasser einen besseren Schutz zu verleihen und aufser- dem in vielen Fällen ihm gleichzeitig noch einen festen , vor Verschlammung u. s. w. gesicherten Platz zu verschaffen.

Die einfachen Gallertscheiden von Sympetrum und Ephemera kenn- zeichnen somit im wesentlichen nur eine niederere Entwickelungsstufe als die umfangreichen zur Laichbildung fuhrenden Exochoria von Libellula und Epäheca. Die gallertigen Umhüllungen aber entsprechen sich, indem sie offenbar stets die gleiche physiologische Bedeutung besitzen.

Es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dafs die fädigen Bildungen vieler Ephemerideneier nur als eine besondere Modification der genannten gallertigen HüUorgane zu betrachten sind. Die Fadenanhänge werden bereits im Eierstocke ausgebildet, und die Absondeining der exochorionalen Umhüllungen bei Odonateneiern von Seiten der FoUikelepithelzellen der Ei- röhren darf ebenfalls als sehr wahrscheinlich gelten.

2. Die Bildung und die Form des Eeimstreifens.

Die ersten Entwickelungsvorgänge sowie die Bildung des Embryonal- körpers wurde von mir besonders bei Libellula quadriniaculata studirt. Die rundlich ovalen Eier dieses Insects sind von einem harten gelblichen Cho- rion (Endochorion) umgeben. Der vordere und liintere Eipol sind nahezu übereinstimmend geformt, doch ist der erstere ein wenig spitzer, und es zeigt sich an ihm eine sehr kleine kegelförmige Erhebung von bräunlicher Färbung, an deren Spitze die Micropyle sich befindet.

8 R. Heymons:

Die FurcLungszellen vertheilen sich annähernd gleichmäfsig im Nah- rungsdotter und gelangen dann ziemlich gleichzeitig an verschiedenen Punk- ten zur Oberfläche des Eies. An letzterer ist ein selbständiges Keimhaut- blastem ebenso wenig wie bei den Eiern der Orthopteren nachweisbar.

Die Dotterzellen gehen aus Furchungszellen hervor, die im Innern des Eies zurückbleiben.

Am hinteren Eipol findet dann ventralwärts in üblicher Weise eine etwas lebhaftere Theilung der Blastodermzellen statt, wodurch es daselbst zur Anlage des Keimstreifens kommt. Eine derartige junge, noch in Bil- dung begriffene Embryonalanlage gibt Fig. 20 wieder. Die vielfach in Theilung begriffenen Zellen des Embryonalkörpers unterscheiden sich be- reits durch ihre Kleinheit von den angrenzenden grofsen (späteren Serosa-) Zellen. Die Embiyonalanlage erstreckt sich noch bis über die Mitte der Ventralfläche des Eies. Ihr Hinterende reicht bis zum hinteren Eipol.

Schon in diesem Stadium wird eine, allerdings nur undeutliche me- diane Rinne bemerkbar, von deren Rändern aus Zellen in das Innere ein- dringen. Die einwandernden Zellen liefern das Mesoderm. Am vorderen Ende der Rinne befindet sich eine flache Grube, deren Boden von relativ grofsen Zellen gebildet wird. Diese Grube entspricht der späteren Mund- öffiiung.

Der Procefs der Mesodermbildung läfst sich am besten natürlich an Schnittserien controUiren. Ich gebe einen solchen in Fig. 28 wieder. Die Rinne ist an dem betreffenden Schnitt nicht deutlich zu sehen, wohl aber bemerkt man in der Medianlinie den sich einschiebenden Wulst von Me- sodermzellen. Anscheinend kommen letztere aber nicht ausschliefslich in der Medianlinie zur Absonderung, denn verschiedene Schnitte zeigen, dafe auch in den lateralen Partien des Keimstreifens die regelmäfsige epitheliale Anordnung der Zellen vielfach Störungen erleidet, wobei einzelne Zellen von der Oberfläche abgedrängt werden. Offenbar wandern letztere eben- falls in das Innere ein, um an der Bildung des Mesoderms auch ' noch An- theil zu nehmen.

Die Mesodermbildung der Libellen, wenigstens bei der hier bespro- chenen Gattung Libeüula^ schliefst sich somit ganz an diejenige der Grillen und speciell an Gryllus domesticus an, bei denen ich diesen Vorgang frü- her schon (95*) genauer beschrieben habe. An gewisse Entwickelungs- vorgänge bei Gryllm erinnert endlich auch eine intensive Einwanderung

EniwicJcelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 9

von Zellen am hintersten Ende des Zeft^/Zt^- Keimstreifens. Obwohl sieh diese Zellen nicht merklich von anderen Körperzellen unterscheiden, so glaube ich sie doch als spätere Genitalzellen deuten zu dürfen, besonders im Hinblick auf die ganz übereinstimmende Bildungsweise derselben bei den Orthopteren.

Wenn die Mesodermbildung annähernd ihren AbschluüTs gefunden, prägt sich die typische Form des Keimstreifens, dessen Vorderende nun durch die beiden grofsen Scheitel- odet Kopflappen ausgezeichnet ist, deutlicher aus. Bei dem jetzt eintretenden Längenwachsthum greift der Körper, den hinteren Eipol umfassend, etwas auf die Dorsalseite über. Dort angelangt, bohrt sich das Abdominalende sogleich in den Dotter ein. In diesem Augen- blick erscheint die hintere Amnionfalte.

In Fig. 1 4 ist ein derartiges Stadium im optischen Schnitt dargestellt. Man bemerkt, dafs das Hinterende des Abdomens bereits eine Strecke in den Dotter eingedrungen ist, und dafs mit der fortschreitenden Einstülpung auch das Wachsthum der Amnionfalte noch Schritt gehalten hat. Der freie Rand des hinteren Amnions reicht bis zu dem Punkte hin, an welchem der Embryonalkörper in das Innere des Eies sich einsenkt.

Vordere Amnionfalten sind noch nicht vorhanden, sie entwickeln sich erst später und treten dann am Rande der Kopflappen auf.

Es beginnt nunmehr eine Periode raschen Längenwachsthums.

Der Keimstreifen dehnt sich an der Dorsalfläche des Eies nach hinten aus, wobei natürlich das in den Dotter versenkte Abdominalende ebenfalls immer weiter nach hinten geschoben werden mufs (Fig. 1 5). Ist das letz- tere in die Nähe des vorderen Eipoles gelangt, so hat das Ij^ngenwachs- thum des Körpers einstweilen einen Abschlufs geftmden. Die Körperregio- nen treten hervor. Kopf, Tliorax und Abdomen werden an den ihnen eigen- thümlichen Anhängen erkennbar.

Der Keimstreifen ist jetzt im allgemeinen ein superficieller zu nennen, insofern als Kopf, Thorax und das Abdomen bis zum 6. Segment der Eioberfläche anliegen und als nur der hinterste AMominaltheil noch in das Innere verlagert ist.

An diesem hinteren Körperabschnitt ist inzwischen die von mir früher

als Caudalkrümmung beschriebene Umbiegung eingetreten , dergestalt, (\afs

die letzten Segmente, vom neunten an, wieder in entgegengesetzter Richtung

verlaufen. Die Mündung des inzwischen entstandenen Enddarms ist daher

Phys. Äbh, nichi zur Akad. gehör. Gelehrter, 1896. L 2

10 R. Heymons:

gegen die Oberfläche des Eies gewendet. Fig. i6 wird diese Verhältnisse klar legen, besser als es eine lange Beschreibung vermag.

Ich habe hier die Entwickelungsvorgänge eines Ltbellula-Eies so be- schrieben, wie sie sich bei der Mehrzahl der von mir untersuchten Em- bryonen beobachten lassen. Abweichungen von dem geschilderten Verhalten sind aber gar nicht selten. Hier seien nur zwei der auffälligeren Modifi- cationen genannt.

Bisweilen kommt es nämlich vor, dafs am Vorderende des Eies un- gefähr in der Thorakalregion Dotter zwischen Amnion und Serosa eindringt. Ein solcher Keimstreifen ist dann abwechselnd superficiell und immers. Der Kopf liegt oberflächlich, der Thorax ist von Dotter umhüllt. Die vor- dere Partie des Abdomens liegt wieder oberflächlich, während die hintere in den Dotter eingesenkt ist.

In sehr vielen anderen Fällen gelingt es aber der Abdominalspitze überhaupt nicht, sich in die offenbar zähe Dottermasse einzubohren. Bohr- versuche werden jedoch anscheinend immer gemacht, denn sehr häufig dreht und krümmt sich bei diesen fruchtlosen Versuchen das Abdomen, oder legt sich ganz auf eine Seite, so dafe diese dann dem Chorion, die andere Lateralseite dem Dotter zugewendet ist.

Ist die Einsenkung in den Dotter gänzlich mifsglückt, so wächst der Keimstreifen gleichwohl in typischer Weise aus und legt sich dann in Form einer unvollkommenen Spiralwindung der Aufsenfläche des Dotters an. Wir haben es im letzteren Falle daher mit einem rein superficiellen Keimstreifen zu thun (Fig. 1 3).

Es könnte nahe liegen, die zuletzt beschriebenen Erscheinungen für pathologische zu halten und sie auf die Entwickelung unter den anormalen Lebensbedingungen (in den Aquarien) zurückzuföhren. Ich bemerke hierzu, dafs bis auf einen ganz verschwindend geringen Bruchtheil die Libeüular Eier zu normalen Larven sich entwickelt haben.

Bei Epitheca sind so weitgehende Variationen in der Form und Lage des Keimstreifens nicht bemerkbar. Einen solchen zeigt Fig. 7. Es fallt in erster Linie auch bei Epitheca eine eigenartige Krümmung der Embryonal- anlage auf, welche etwa die Form eines S angenommen hat. Kopf und Thorax liegen noch oberflächlich, das Abdomen geht mitten durch den Dotter hindurch zur Ventralfläche des Eies hinüber, und der hintere Ab- dominalabschnitt krümmt sich wieder zur Dorsalseite des Eies zurück.

Eniunckelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 11

Diese letztere Einkrümmung des hinteren Abdominaltheiles ist als Caudal- krümmung aufzufassen.

Es ist zu bemerken , dafs bei Epüheca während des Einwachsens des Keimstreifens in den Dotter keine Unterschiede im Vergleich zu Libellula sich zu erkennen geben. Auch die späteren Lagerungsverhältnisse sind ganz ähnlich wie bei dem letztgenannten Insect. Fig. i6 könnte beinahe schon als Schema fiir Epüheca angesehen werden, wenn man berücksichtigt, dafs bei dieser Form in dem entsprechenden Stadium das ganze Abdomen in den Dotter eingekrümmt ist, während bei LibeUida, wie die Figur zeigt, die Einkrümmung erst bei dem 6. Abdominalsegmente stattfindet. Die .fi^YA^ca-Keimstreifen schlielsen sich somit etwas mehr an den Typus immerser Insectenembryonen an.

Sympetrum stimmt fast vollkommen mit Libellula überein. Einen aus- wachsenden Keimstreifen des ersteren Insects zeigt Fig. 12.

Es erübrigt jetzt noch, die Embryonen der Ephemeriden zu besprechen. Bei diesen steht indessen sowohl die Bildung wie auch die spätere Lagerung des Keimstreifens in so nahem Zusammenhang mit den soeben bei den Odonaten besprochenen Verhältnissen, dass ich auf eine Schilderung im einzelnen verzichte.

In Fig. 10 ist die Embryonalanlage von Ephemera vulgata wiedergegeben. Mit Ausnahme der am Hinterende des Eies liegenden Scheitellappen und der darauf folgenden vorderen Kopfpartie ist der Körper vollständig von der Dottermasse eingehüllt. Da die Einsenkung in die letztere gleich hinter dem Kopf beginnt, so erklärt es sich, dafs selbst in späteren Stadien bis zur Umrollung auch der mittlere Abschnitt des Embryonalkörpers noch vom Dotter bedeckt bleibt.

Ein mit dem dargestellten Ephemeridenei nahezu vollkommen über- einstimmendes Bild ergibt sich bei einer Untersuchung der Embryonen von Caenis. Bei den bereits mehr der Kugelform sich nähernden Eiern des genannten Insects ist, wie Fig. 1 1 zeigt, der Keimstreifen ebenfistUs ein immerser.

Die Embryonalanlagen der genannten Insecten bilden mit ihren mannigfachen Krümmungen gewissermafsen Ubergangs- formen zwischen superficiellen und immersen Insectenkeim- streifen. Regelmäfsig gelangt der ursprünglich stets ober- flächlich liegende Embryonalkörper erst durch ein Auswachsen

2*

12 R. Heymons:

nach hinten in die Dpttermasse. hinein. Von letzterer wird je- doch immer nur der hintere Abschnitt des Körpers umhüllt. Bei Ephemera bleibt der Kopf, bei Epitheca Kopf und Thorax, bei Sympetrum und Libellula aufserdem noch ein Theil des Ab- domens dauernd an der Oberfläche zurück. Die Einkrümmung des Körpers in den Dotter pflegt stet« während der Anfangsstadien der Ent- wickelung am besten ausgeprägt zu sein, später verliert sie an Deutlich- keit, einmal weil die eingesenkte Abdominalpartie zum vorderen Eipol geschoben wird, und dann, weil der inzwischen erfolgten Caudalkrümmung wegen das hinterste Körperende sich wieder zur Oberfläche des Eies zu- rück wendet.

Es liegt wohl nahe, die Frage aufzuwerfen, wie weit die hier mit- getheilten Befimde mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen an Odo- naten — für Ephemeriden sind ja bisher noch keine specielleren Angaben gemacht worden im Einklang stehen. In dieser Hinsicht ist zu be- merken, dafs bei Calopteryx die Verhältnisse in der That zum Theil etwas anders liegen.

Der Keimstreifen wird bei letzterem Insect, nach den Mittheilungen von Brandt (69), ungemein frühzeitig, schon während seiner Bildung in das Innere des Eies eingesenkt. Er umwächst also nicht erst den hinteren Eipol, so dafs wir die bei den oben genannten Insecten beschriebenen cha- rakteristischen Krümmungen gänzlich vermissen. Völlig gerade gestreckt, mit Ausnahme natürlich der eingebogenen hinteren Segmente, liegt viel- mehr der Cö/opferyx-Keimstreifen inmitten der Dottermasse, ohne an irgend einem Punkte die Oberfläche direct zu berühren.

Diplax und Perithemis stimmen, nach der allerdings nur sehr kurzen Beschreibung von Packard (71) zu urtheilen, wohl im wesentlichen mit Calopteryx überein.

Die Ergebnisse von Brandt an Calopteryx haben ein allgemeineres Interesse erweckt. Schienen sie doch darauf hinzudeuten , dafs gerade die Libellen in den Krümmungserscheinungen ihrer Keimstreifen den unmittel- baren Anschlufs der Insecten an die Myriopoden vermitteln sollten.

Ahnlich wie diefe oben filr die Libellen beschrieben wurde, so sind auch die Keimstreifen mancher Myriopoden und zwar speciell die der Di- plopoden in den Nahrungsdotter des Eies eingesenkt. Im Hinblick hierauf glaubte man den Schlufs ziehen zu können, dafs die Invagination des

Eniwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 13

Keimstreifens, wie sie sich bei den Odonaten vollzieht, noch direct von myriopodenartigen Vorfahren übernommen worden sei. Da ferner bei Cafo- pteryx die Embryonalhüllen in dem Zeitpunkt auftreten, in welchem sich der Keimstreifen in das Innere einzusenken beginnt, so lag die weitere Annahme nahe, dals gerade die besprochene Einsenkung des Keimstreifens zur Bildung der Amnionfalte die eigentliche Veranlassung gegeben habe. Es sollte also mit anderen Worten nicht nur die Invagination des Keim- streifens von den Myriopoden her sich vererbt haben, sondern diese leztere sollte dann weiter bei den Insecten gleichzeitig auch noch zimi Ausgangs- punkt fiir die Keimhüllenbildung geworden sein. Auf Grund dieser An- schauungen hat man dann überhaupt bei den Insecten die Form des inva- ginirten Keimstreifens allgemein als die älteste und ursprünglichste erklärt.

Gegen diese mehrfach vertretene Annahme und den damit ausgespro- chenen Vergleich zwischen Libellen und Myriopoden habe ich mich schon an anderer Stelle gewendet (95*). Auch nach meinen jetzigen Beobach- tungen kann icli die Ähnlichkeit zvischen einem invaginirten Libellen- und Myriopodenkeimstreif nur für eine rein äufeerliche halten.

Die Krümmungen vollziehen sich in beiden Fällen in verschiedener Weise. Bei den Myriopoden wird durch eine in der Körpermitte auftretende ventrale Knickung der Embryonalkörper in das Innere versenkt und verbleibt bis zum Ausschlüpfen in dieser Lage. Bei den von mir untersuchten Libellen und Ephemeriden handelt es sich dagegen um ein Einwachsen des Hinterleibes in den Dotter, welches zu einer mehr oder minder vollständigen Inversion (dorsalen Krümmung) des gesammten Embryo fuhrt, der dann erst später durch einen Umrollungsprocefs seine normale Lage wieder gewinnt. Das Gleiche gilt auch fiir die von Brandt untersuchten Catopferj/a;-Embryonen, bei denen die entsprechende Einsenkung sich schon etwas frühzeitiger vollzieht.

Von derartigen Wachsthums- und Umrollungsprocessen ist dagegen bei den Myriopoden nichts zu bemerken. Die Diplopoden dürften überhaupt wegen ihrer entfernten verwandtschaftlichen Beziehung zu den Insecten als Vergleichsobjecte kaum geeignet sein. Eher könnten die Chilopoden in Frage kommen, diese besitzen indessen im Stadium der dorsalen Krümmung rein superficielle Keimstreifen.

Der invaginirte (dorsal gekrümmte) Keimstreif der Insecten leitet sich demnach nicht von dem invaginirten Keimstreif der Myriopoden ab, denn in beiden Fällen handelt es sich um ganz

14 R. Hetmons:

andersartige Vorgänge, Wir werden vielmehr zu der Annahme geführt, dafs die bei denlnseeten sich zeigende frühzeitige In- vagination des Keimstreifens selbständig (ohne Vererbung) zu Stande gekommen ist.

Der ursprünglichste und einfachste Keimstreiftypus wird bei den Insecten wie bei den Chilopoden wohl zweifellos der superfi- ciellegewesen sein\ DieserEntwickelungsmodus kommt indessen bei den Libellen und Ephemeriden nur noch unvollkommen oder gar nicht mehr zum Ausdruck. Es bilden demnach diese Insecten in der Form und Lagerung ihrer Kein^streifen keine Übergangs- stufe zu den Myriopoden, sondern sie weisen in dieser Hinsicht meiner Auffassung nach bereits abgeleitete Verhältnisse auf.

Unter diesen Umständen erscheint es mir nicht gerechtfertigt, eine so charakteristische und wesentliche Einrichtung, wie es unstreitig die Bildung von Embryonalhüllen für die Insectenembryonen ist, von dem Einflufe einer angeblich von den Vorfahren her vererbten Einsenkung des Körpers in den Dotter abhängig zu machen.

Betrachtet man den Entwickelungsprocefs der Hüllmembranen bei den jetzigen Insecten, so liegt es nahe, die Bildungsursache des Amnions in anderen Veranlassungen zu suchen, auf welche vielleicht nicht immer das genügende Gewicht bisher gelegt worden ist.

Die erste Voraussetzung, die noth wendiger Weise erfüllt sein mufs, damit es überhaupt zur Bildung von Hüllen kommen kann, ist natürlich das Vorhandensein einer selbständigen zelligen Haut an der Oberfläche des Insecteneies, des sogenannten Blastoderms, welches unabhängig von den darunter befindlichen , im Dotter verbliebenen , zelligen Elementen ist. Die Bildung einer solchen Haut ist als das Resultat der unvollkommenen, d. h. nicht mehr totalen, Furchung anzusehen, welche bekanntlich bei weitem die Mehrzahl aller Insecteneier erleidet.

Eine zweite und sehr wichtige Vorbedingung beruht ferner in der relativen Kleinheit, die ursprünglich die jungen Insectenkeimstreifen ini Verhältnils zur Gesammtgröfse des Eies besitzen. Die Insectenkeimstreifen werden meist nicht sogleich in ihrer definitiven Länge angelegt, sondern

* Zu dieser schon früher von mir vertretenen Ansicht ist neuerdings auch Knower durch Beobachtungen an Termiteneiern gelangt.

Eniuoickekmg und Körperhau von Odonaten und Ephemeriden. 15

sind gezwungen , sich nachträglich auszudehnen. Dieses Auswachsen geht nun in der Richtung von vom nach hinten vor sich, und es ist nicht schwer zu beobachten, wie dabei die oben erwähnte zellige Haut ganz naturgemälüs von dem hinteren Körperende in Form einer Falte aufge- worfen wird. Damit ist der erste Anstofs zur Bildung der hinteren Am- nionfalte ertheilt.

Bei dem Längenwachsthum des nach hinten sich ausdehnenden Körpers findet aber beinahe stets eine geringe Rückwärtsbewegung auch des Kopf- endes statt. Auf die mit diesem Abschnitt verbundene Blastodermpartie mufe hierbei unbedingt eine Zugwirkung ausgeübt werden, und diese letz- tere ist es wohl, durch welche der erste Autrieb zur Bildung der vorde- ren Amnionfalten gegeben wird.

Die betreffenden Vorgänge lassen sich gerade sehr deutlich bei den- jenigen Ltbettula-KeimstTeifen verfolgen, welche, wie oben gesagt, dauernd superficiell bleiben. Ungeachtet der fehlenden Einstülpung findet hier die Keimhüllenbildung ganz normal in der oben beschriebenen Weise statt.

Abgesehen von den Embryonen der in Rede stehenden libelluliden und Ephemeriden sind auch diejenigen der meisten Orthopteren, wenn wir uns an eine frühere, von Gräber (90) herrfihrende , Bezeichnung halten wollen, brachyblastisch , kurzteimig, d. h. sie bedecken Anfangs nur einen ganz geringen Theil der Eioberfl|U;he. Die oben erwähnten durch das nachträgliche Auswachsen des Körpers bedingten Lageveränderungen geben sich daher hier auch immer ganz besonders klar zu erkennen. Erst in dem Moment, in welchem der Embryo auf den mit dem Blastoderm bedeckten Ei sich zu bewegen beginnt, pflegen die Faltungen des Blasto- derms (Amnionfalten) aufzutreten. Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob der Embryo sich in den Dotter einsenkt oder nicht.

Bei der Bildung der Embryonalhüllen sowohl der Orthopteren, wie der Odonaten, Ephemeriden und vieler anderer Insecten beobachtet man, dafs stets Amnion und Serosa von vornherein eine aufifallende Ver- schiedenheit besitzen. Die Serosa besteht aus grofsen flachen Zellen, das Amnion dagegen aus kleinen rundlichen Elementen , die den Ektoderm- zellen des Körpers vollständig gleichen und wie diese sich lebhaft kinetisch theilen , was bei den Serosazellen niemals der Fall ist. Diefs deutet darauf hin, dafs die durch den auswachsenden Körper aufgeworfene Blastoderm- falte nur die Serosa selbst liefert. Das Amnion ist dagegen als ein Derivat

16 R. Heymons:

des eigentlichen Embryonalköri)ers zu betrachten, der das Bestreben hat, mit dem Blastoderm in continuirlichem Zusammenhange zu bleiben. Die unmittelbare Veranlassung zu den Th eilungen der Amnionzellen ist in den oben erwähnten Zugwirkungen zu suchen.

Die Lageveränderungen der Keimstreifen auf den mit einer zelligen Blastodermschicht bekleideten Eiern sind es also, welche bei vielen Insecten den unmittelbaren Anstoss zur Entwickelung der Embryonalhüllen geben. Selbstverständlich ist es, dafs stets während der Umwachsung durch die Hüllen ein geringfögiges Einsinken des Körpers unter das Oberflächenniveau stattfindet. Letzteres wird wohl dadurch ermöglicht, dafs unmittelbar imter dem Körper der Dotter zuerst verflüssigt wird. Findet die Resorption des Dotters in sehr intensivem Mafse statt, so kann der Keimstreifen sogar bereits vor dem eintretenden Längen wachsthum in den Dotter einsinken, wie sich beispielsweise bei vielen Lepidopteren beobachten läfst.

Sucht man sich die phyletische Entwickelung von Hüllmembranen bei den Insecten anschaulich zu machen, so hat man demnach in letzter Instanz die Bildungsursache in dem zunehmenden Reichthum an Dotter- material zu erblicken, welches im Laufe der Zeit die Insecteneier erlangt haben.

Die erste Folge des reichlichen Nahrungsdotters mufste zweifellos die Unmöglichkeit sein, denselben bei der Furchung sogleich in Zellen aufzu- nehmen. Die Segmentation des Eies konnte nicht mehr total bleiben, und das nur einzelne freie Zellen enthaltende Reservematerial wurde proviso- risch mit einer zelligen Membran, der späteren Serosa, bekleidet. Bei den auf diese Weise, gewissermafsen secundär durch Aufspeicherung von Nähr- material, imifangreich gewordenen Insecteneiern besafs der Embryo im Verhältniüs zur GröJfee des Eies anfangs nur eine geringe Länge, und als er sich dann im Laufe seiner weiteren Entwickelung nachträglich aus- zudehnen bestrebte, mufsten die oben geschilderten Falten bez. Hüllen- bildungen der Serosa die natürliche Folge sein. Auch eine schnellere Re- sorption der Dottersubstanz von Seiten des Keimstreifens wird in manchen Fällen zu einem Einsinken des Körpers und darauf folgender Umwachsung durch das Blastoderm (Serosa) gefiihrt haben.

Zu Gunsten dieser Annahmen spricht der Umstand, dafs gerade bei den Eiern niederer Insecten die Lageveränderungen der Keimstreifen stets

Entwickelung und Körperbau ton Odonaten und Ephemeriden. 17

sehr deutlich hervorzutreten pflegen und für diese überhaupt als ganz charakteristisch angesehen werden müssen. Selbst bei zahlreichen höheren Insecten sind sie noch nachweisbar (viele Coleopteren) oder wenigstens an- deutungsweise vorhanden; hier dürfte dann die Bildung von Hüllorganen sich wohl auch durch Vererbung schon genügend gefestigt haben.

Die Keimstreifen der Myriopoden erleiden, soweit wir wenigstens bis- her wissen, keine entsprechenden Verschiebimgen an der Eioberfläche und sie entbehren bekanntlich auch vollständig der embryonalen Hüllmembranen.

Mit diesen Erklärungsversuchen trete ich in einen gewissen Gegen- satz zu den bisherigen Theorien, welche die Bildung von Amnion und Serosa bei den Insecten verständlich machen wollten. Vielfach glaubte man, dafs der Hüllenbildung andere mechanische Ursachen zu Grunde lägen, und man vermuthete, dafs die Embryonalhäute deswegen aufge- treten seien, weil die Insectenembryonen einen besonderen Schutz gegen Druck oder gegen etwaige andere widrige Einflüsse nöthig gehabt hätten. Als ausreichend ist diese Erklärung jedoch nicht anzusehen, denn es ist bekannt, dafs viele andere, ähnlich gestaltete Arthropodenembryonen (My- riopoden, Spinnen) durch die resistente Eischale allein schon hinlänglich geschützt sind.

In anderen Fällen suchte man die Ursache zu dem Auftreten der Em- bryonalhüllen in besonderen, nicht näher bestimmten, physikalischen oder chemischen Einwirkungen. Vielfach wiederum hat man eine von den My- riopoden übernommene Invagination des Körpers in den Eidotter verant- wortlich zu machen versucht. Wie oben gesagt, fehlen aber gerade zu einer derartigen Annahme zur Zeit noch alle Anhaltspunkte. Die bei den Insecten zur Hüllenbildung fuhrenden Ursachen sind nicht so complicirter Art, als dafs man zu weittragenden Theorien zu greifen brauchte.

3. Die Entwiekelung der Eörpergestali

Die Auflösung der Embryonalhüllen spielt sich bei den Odonaten und Ephemeriden gerade so wie bei Orthopteren ab. Bei der Umwachsung des Dotters geht das Amnion zu Grunde. Die Serosa zieht sich auf dem Rücken zusammen und wird schliefslich in Form eines kleinen zelligen Säckchens am Vorderende hinter dem Kopf in den Dotter eingestülpt, wo sie ebenfalls der Rückbildung dann anheimfallt.

Phifs. Abh. nicht zur Äkad. gehör. Gelehrter. 1896, L 3

18 R. Heymons:

Mit dem Einreifsen der Embryonalhäute ist eine Umrollung des Em- bryo verbunden, der gleichzeitig damit seine definitive Lagerung im Ei gewinnt, d. h. mit dem Kopfende nunmehr am vorderen den Micropyle- apparat tragenden Eipol sich befindet.

Eine interessante Ausnahme von diesem Verhalten, welches überhaupt fär die Insecten im allgemeinen als Regel gelten kann, macht Sympetrufn flmeolum. Die reifen Embryonen dieses Thieres liegen mit dem Kopf an dem dem Micropyleapparat gerade entgegengesetzten Eipole\

Die hinteren Abdominalsegmente werden nach der Umrollung gegen die Ventralseite hin umgeschlagen (B*ig. 17), so dafs das hintere Körper- ende nach vom gerichtet ist, und die sich entwickelnden Schwanzstacheln zwischen den Antennen zu liegen kommen.

Die Umbiegungsstelle im Abdominaltheil befindet sich sehr weit vorn. Bei Epitheca und LibelhUa zwischen dem 4. und 5. Segment.

Bei Ephemera liegt die Knickung sogar schon zwischen dem 2. und 3. Abdominalsegment. Die Einkrümmung geht hier schon von Statten, ehe noch an der betreffenden Stelle die Umwachsung des Dotters vollendet ist. Es wird also bei Ephemera das aus der Amnionhöhle herausgezogene Abdomen wieder in die Dottermasse eingedrückt, so dafs dann später in den eingekrümmten Abdominaltheil eine Partie des Nahrungsdotters mit eingeschlossen wird.

Die Bildung der Körpergestalt folgt im allgemeinen dem auch bei anderen Insecten, insbesondere Orthopteren, üblichen Schema. Noch während der Embryo sich inmitten der Dottermasse befand, waren bereits am Kopf die Gliedmafsen aufgetreten.

Frühzeitig erscheinen die Antennen zu den Seiten der Mundöffnung (Fig. 16 Ant). Sie sind nach hinten gewendet und neigen sich hinter der Oberlippe mit ihren distalen Enden ein wenig gegen einander. Die Mandibeln treten als zwei kleine rundliche Höckerchen hervor.

Bei der Entwickelung der Maxillen fällt es auf, dafs die Differenzirung der Ladentheile sehr spät erst stattfindet. Während bei den Orthopteren lobus internus und extemus beinahe gleichzeitig mit dem Taster angelegt werden, und die Laden an der medialen Seite des letzteren als selbständige Höcker hervorknospen, so hat bei den Libellen die Maxille von vornherein nur die Gestalt eines einfachen Höckers oder Zapfens.

^ Über einen ähnlichen Fall bei Eutermes hat Knower(96) kürzlich berichtet.

Entwickehmg tmd Körperbau von Odonaten und Epliemeriden. 19

Erst spater gliedert sich von der Aufsenseite der Maxille eine kleine rundliche Erhebung ab, welche die Anlage des Tasters darstellt (Fig. 19 palp mXj), während das in der directen Fortsetzung des ursprünglichen Maxillenzapfens liegende Endstück zur Lade (lobus) wird.

Berücksichtigt man die Gröfse der auf diese Weise zur Absonderung gelangten Lade im Verhältnifs zum ganzen Maxillenstamm , so wird es klar, dafs der bei den Libellen einfach bleibende I^bus den getrennten Laden an den Maxillen anderer Insecten entspricht, dafs er mithin den vereinigt bleibenden lobus internus und externus repraesentirt. Bereits Gerstaecker (73) hatte den Maxillen der Libellen diese Deutung gegeben, welche so- mit auch durch die Entwickelungsgeschichte bestätigt wird.

Von Interesse ist femer die Anlage des 2. Maxillenpaares. Die hin- teren Maxillen sind Anfangs durchaus beinartig gestaltet, so dafs man auf den ersten Blick geneigt sein könnte, sie für wirkliche Beinanlagen zu halten (Fig. 16 ifr,).

Weiterhin macht sich dann eine undeutliche Gliederung in vier Abschnitte an ihnen geltend, und sie legen sich mit ihren Basalstücken an einander. In diesem Stadium sind die bereits zur Unterlippe an einander gefiigten hinteren Maxillen in Fig. 24 abgebildet. Die Abbildung bezieht sich auf einen Embryo von EpUheca kurz nach vollzogener Umrollung. Nur die Basalglieder des Labiums sind vorläufig vereinigt, die drei distalen Glieder noch getrennt, abgesehen von dem Grunde des zweiten Gliedes, an dem eine Verbindung sich bereits vollzogen hat. Das vierte oder Endglied ist auffallend klein, aber deutlich von dem dritten abgesetzt.

Später ändert sich das beschriebene Verhalten, und noch während der letzten Epoche des Embryonallebens kurz vor dem Ausschlüpfen bildet sich das Labium zu der sogenannten Fangmaske um (Fig. 21). Die junge Larve ist daher von vornherein in den Stand gesetzt, einer räuberischen Lebensweise obzuliegen. An dem zweiten und dritten Gliede des Labiums macht sich eine auffallende Verbreiterung geltend. Durch diese Verbrei- terung hat eine vollkommene Verschmelzung der beiderseitigen zweiten Glieder stattgefunden, die zu einer annähernd dreieckigen Platte sich ver- einigen.

Die Spitze des Dreiecks stellt die Verbindung mit dem Basalgliede des Labiums dar, die breite Basis ist distalwärts gewendet und trägt, in der Mitte zwei kleine Zähnchen, zu deren Seiten einige kurze Borsten

20 R. Heymons:

stehen. Auch der Innenrand des stark verbreiterten dritten Gliedes ist mit acht grölseren Zacken besetzt, die in späteren Stadien noch Borsten tragen. Das vierte oder Endglied des Ijabiums ist auffallend klein ge- blieben und macht bei flüchtiger Betrachtung nur den Eindruck einer starken Borste. Die Täuschung ist um so leichter, als daneben eine sehr kräftige Borste sich findet, die an Grö&e das Endglied sogar noch über- triflft. Erst eine genauere Untersuchung lehrt, dafs es sich bei letzterem thatsächlich um ein wirkliches Glied handelt, welches gegen das vorher- gehende durch eine Gelenkverbindung deutlich abgesetzt ist. Fig. 2 1 ver- anschaulicht das Labium einer jungen, eben ausgeschlüpften Epitheca-hairve.

Die Verschiedenheit zwischen dem Labium der Libellenlarven und der Unterlippe bei Orthopteren ist eine sehr auft'ällige. Indem man aber von der Anschauung ausgieng, dafs die einzelnen Abschnitte der Fangmaske bei den Libellenlarven den Theilen der Unterlippe bei kauenden Insecten homolog sein müfsten, hat man doch mehrfach schon Vergleiche zwischen beiden angebahnt und das Libellenlabium von dem Orthopterenlabium ab- zuleiten versucht.

Die Erklärungsversuche sind allerdings recht verschiedenartig ausge- £a.llen. Da gesonderte I^den an dem Labium der Libellen nicht zu unter- scheiden sind, so handelte sich die Frage hauptsächlich darum, ob, wie bei den Maxillen, AuHsen- und Innenladen mit einander verschmolzen wären, oder ob bei der Unterlippe der lobus extemus sich mit dem palpus ver- einigt habe.

Soweit entwickelungsgeschichtliche Ergebnisse hierbei in Betracht ge- zogen werden können, scheint mir die Gerstaecker'sche Ansicht wohl die einleuchtendste zu sein. Dieser zufolge wären nämlich an dem Labium der Libellen die inneren Laden von den äufseren getrennt, während die Aufsenladen ihrerseits mit dem Taster verwaclisen seien.

Die Deutung Gerstaecker's (73), welche sich auf die Mundtheile der Imagines bezog, kann im wesentlichen bereits bei den Larven eine Anwen- dung finden. Freilich handelt es sich bei AuDsenlade und Taster wohl we- niger um eine Verschmelzung, als vielmehr um eine unvollkommene bez. um eine unterbliebene Trennung. Die Mundtheile der Libellen verharren eben dauernd in einem Stadium der unvollständigen DifFerenzirung, womit auch die oben hervorgehobene späte DifFerenzirung von Laden und Tastern bei den Maxillen im Gegensatze zu vielen anderen Insecten in J^inklang steht.

Entwickelung und Körperbau vo?i Odonaten und Ephemeriden. 21

An dem Labium der Libellen kommen eigentliche lobi überhaupt nie- mals zur vollständigen Absonderung. Die mit den lobi extemi anderer Insecten zu vergleichenden Theile werden beim Embryo nur in Form einer medianen Verbreiterung der dritten Glieder (Fig. 24 Lab^) angelegt. Ent- sprechende Verbreiterungen an den zweiten Gliedern stellen die lobi in- terni dar. Noch während der Embryonalzeit legen sich diese in der Me- dianlinie an einander und verschmelzen. Bei den Larven von Libellula^ Epitheca u. A. sind daher die lobi intemi mit einander vereinigt (Fig. 21). Die beim Embryo bereits sehr frühzeitig erfolgende Verbindung zwischen den proximalen Abschnitten der zweiten Glieder (Fig. 24) liefert später das als mentum bekannte Stück, während als Rudiment eines palpus wohl ohne Zweifel das kleine vierte (oder End-) Glied des Labiums (Lab^) zu betrachten ist.

Unter den drei Höckei-paaren, die auch bei Ephemera die erste Anlage der Mundwerkzeuge darstellen, fallen die vordersten, die späteren Mandi- beln, von vornherein durch bedeutendere Grölse auf.

Das hinterste Höckerpaar legt sich schon frühzeitig zur Bildung des Labiums zusammen, an dem ganz im Gegensatze zu den Odonaten bereits zur Zeit der Umrollung getrennte lobi interni und externi, sowie kurze palpi labiales zur Entwickelung gelangen.

Späterhin macht sich dann eine Art Abgliederung auch an den vorderen Maxillen und an den Mandibeln geltend. Diese Verhältnisse lassen sich aber am besten erst an den jungen, eben ausgeschlüpften Larven studiren (Fig. 29).

Bei letzteren sind die Labialtaster noch kurz, ungegliedert und gehen in eine starke Chitinborste aus.

An den Maxillen der jungen Ephemera-harve fällt die Gröfse der Kau- lade auf, die in einer Anzahl starker, wohl als Zähnchen fungirender Sta- cheln endigt.. An der Basis der Maxille befindet sich lateral ein unbedeu- tender kleiner, höekerartiger Vorsprung: die erste Andeutung des palpus maxillaris.

Die Mandibel besteht aus zwei Stücken, die von einer gemeinsamen Basis entspringen. Ein breites mediales Stück functionirt als Kaulade und besitzt am distalen Ende einige starke kräftige Zähne. Lateral von der Kaulade trifft man als zweites Stück einen hornartigen Fortsatz an, der an seinem Ende in einige C^hitinstacheln ausläuft (Fig. 29 Mdp).

22 R. Heymons:

Die hornartigen Fortsätze der beiden Mandibeln convergiren und be- rühren sich bei geschlossenen Mundtheilen beinahe in der Medianlinie. Diefs gilt aber nur für die jungen Larven, während später ein anderes Verhalten hervortritt.

Die hornartigen Mandibularfortsätze gehen bei älteren Larven beinahe in rechtem Winkel von der Kaulade ab, sie sind nach vorn gewendet und enden mit einer einfachen Spitze, wodurch sie ein tasterartiges Aussehen gewinnen.

Der Hypopharynx entsteht bei Ephemera auf ähnliche Weise wie bei den Orthopteren. Auch an ihm findet eine Art Gliederung statt, derge- stalt, dafs von der eigentlichen Hauptmasse zwei laterale vordere Zapfen abgetrennt werden, die mit kleinen Härchen bedeckt sind, während der eigentliche Hypopharynx am Ende einen Besatz von feinen (Sinnes-) Bor- sten trägt.

Vergleicht man die Entstehung der Ephemera-'MundÜieile mit derje- nigen der Orthopteren, so ist die übereinstimmende Bildung des Labiums bei den beiden Gruppen nicht zu verkennen.

Auffallend ist an den Maxillen von Ephemera das späte Auftreten des palpus, der nur als ein einfacher lateraler Auswuchs des Maxillenstammes angelegt wird.

Der hornartige Fortsatz der Mandibeln kommt auch noch anderen Ephemeridenlarven zu und ist bekanntlich nicht als eine besondere Eigen- thümlichkeit der Gattung Ephemera zu betrachten. Bei den jungen Larven von Caenis ist das entsprechende Gebilde vorhanden. Berücksichtigt man die Entstehungsweise des Mandibularfortsatzes, so ist wohl nicht zu ver- kennen, dafs er ähnlich wie ein Taster ursprünglich angelegt wird. Es könnte der hornartige Fortsatz morphologisch also noch am ehesten mit einem modificirten palpus (mandibularis) verglichen werden.

Auf die Gliederung der Antennen, sowie auf diejenige der Thorax- beine gehe ich hier nicht näher ein. Erwähnt seien nur noch zwei eigen- artige kleine Hörnchen, die am Scheitel der jungen i^jpÄÄ«»- Larven zu beobachten sind.

Diese hornartigen Zapfen sind ein besonderes Charakteristicum der Gattung Epithem, der sie auch ihren Namen gegeben haben. Sie entstehen erst spät, am Schlüsse der Embryonalzeit, und stellen einfache Haut- ausstülpungen dar; irgend ein bestimmter morphologischer Werth kann

Eniwickekmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 23

ihnen mithin nicht zugeschrieben werden. Im Innern sind die Kopfhörner hohl, ihre Wand besteht aus grollen Hypodermiszellen. Der gleiche Bau kommt übrigens auch den kleinen Scheitelhörnern der CbrcMia- Larven zu. Bei jungen Larven von Epitheca sind die Homer zweigliedrig (Fig. 2 SAÄ), auf einem langen Basalabschnitt erhebt sich ein kurzes eiförmiges Endglied, welches einige lange Borsten trägt. Dafe die Hörner bei den jungen Larven die Bedeutung von Sinnesapparaten haben, ist wohl als wahr- scheinlich anzunehmen.

Bei älteren Larven verschwindet das Endglied. Die Scheitelhömer werden im weiteren Entwickelungsverlauf relativ kürzer und stellen schlieft- lieh abgerundete , wenig erhabene Fortsätze dar, die keine Borsten tragen. Bei lAbeUula und Sympetrum fehlen besondere Fortsätze am Scheitel. Der Kopf der jungen Larven ist nur mit einigen langen Chitinhaaren besetzt.

Während die Brustbeine schon am Embryo eine sehr beträchtliche Länge erreichen, sind im Gregensatze zu den meisten Orthopteren die Ab- dominalextremitäten sowohl der Odonaten wie der Ephemeriden nur küm- merlich entwickelt. Sie haben die Form kleiner, wenig erhabener, rund- licher Höcker, in denen anfangs die mesodermalen Cölomsäcke sich befinden.

Eine Differencirung der Extremitäten> des i. Abdominalsegmentes zu drüsigen Organen findet nicht Statt. Am 1 1 . Abdominalsegment wachsen die Extremitäten zu den cerci aus, sie wenden sich nach hinten und er- langen eine beträchtliche I^Ange. Auch im Umkreis des hinter dem 1 1 . Ab- dominalsegment befindlichen Afters erscheinen insbesondere bei den Odo- naten eigenartige Fortsätze, die indessen erst im nächsten Abschnitte eine eingehendere Berücksichtigung finden sollen.

Wenn der Embryo sonach allmählich in den Besitz der verschieden- artigen Extremitäten und Körperanhänge gelangt ist, und wenn auch die innere Organisation entsprechende Fortschritte gemacht hat, so bereitet sich das junge Thierchen zum Ausschlüpfen vor.

Der Procels des Ausschlüpfens ist in diesem Falle, d. h. besonders bei Epühecä und LibelhUa, kein leichter. Gilt es doch aufser der harten Eischale auch noch die darum gelagerte zähe Gallertmasse zu durch- brechen, um ins Freie zu gelangen. Die Eischale ist übrigens insofern verstärkt, als auch die Serosa eine farblose chitinöse Haut abgeschieden hat, welche den Embryo rings umhüllt und unter dem braungelben Chorion sich befindet.

24 R. Heymons:

Um diese Hindernisse überwinden zu können, ist der Embryo im Besitze eines eigenthümlichen Apparates, den ich im folgenden für Epi- theca beschreiben will.

Wenn die Umwachsung des Dotters sich vollzogen hat, und wenn von der Körperhaut eine dünne Chitincuticula bereits producirt ist, so fällt am Kopfe des Embryo eine mediane über die ganze Stirn sich hin- ziehende Leiste von gelblicher Farbe auf (Fig. 1 7 CM). Diese Chitinleiste beginnt unmittelbar hinter dem Clypeus und reicht bis zum Scheitel, wahrend sie hinten flacher wird und dort allmählich in die Körpercuticula übergeht, so endet sie vorn an einer verdickteiv, aber nicht mehr er- habenen Chitinplatte Die Leiste ist nicht homogen, sondern von feinen radiär verlaufenden Porenkanälchen durchsetzt. Die zwischen den Kanäl- chen befindlichen Strebepfeiler sind distalwärts durch eine solide Chitin- lamelle verbunden, und zwar derartig, dafs über den Pfeilern die Lamelle etwas erhaben, zwischen ihnen aber etwas eingesenkt ist. Der Aufsen- kontur der Leiste zeigt daher einen fein welligen Verlauf.

Die physiologische Bedeutung dieser wie ein scharfer Kamm über den Kopf sich hinziehenden Leiste wird ohne weiteres klar, wenn der Procefs des Ausschlüpfens aus dem Ei sich vollzieht. Mehrfach habe ich Gelegenheit gehabt, diesen Vorgang bei Epäheca direct beobachten zu können. Es öffnet sich hierbei das zum Schlufs spröde und brüchig gewordene Chorion in Form eines Längsrisses. Dieser Rifs wird, wie es scheint, ausschliefslich durch den Druck veranlafst, den der im Innern befindliche Embryo allseitig auf die Eischale ausübt.

Die Öffnung in dem Chorion zeigt sich zuerst ventralwärts am Vorder- ende des Eies, verlängert sich aber bald in Form einer Längsspalte nach hinten. Durch den so entstandenen Spalt kommt der Kopf des jungen Thierchens hervorgequollen, der übrige Leib folgt langsam nach, lediglich in Folge der Ausdehnung des bisher im Innern des Eies eingekrümmten und zusammengeprefsten Körpers, denn irgend welche activen Bewegungen sind an dem hervortretenden jungen Thiere noch nicht bemerkbar. Letzteres kann auch noch nicht als Larve bezeichnet werden, es handelt sich vielmehr um einen ausschlüpfenden Embryo, dessen Extremitäten noch mit einander verklebt sind und dem Körper fest anliegen. In diesem Stadium hat nun auch die oben beschriebene Leiste (Fig. 3. Chi) in Wirksamkeit zu treten, sie dient dazu, um gewissermafsen wie ein Messer die vor dem Kopf des

Entuoickelung und Körperbau ton Odonaten %md Epliemeriden. 25

Thieres befindliche (lallertmasse zu durchschneiden und somit freie Bahn liir den nachfolgenden Körper zu schaffen,

Diefs erscheint um so nothwendiger, als in sehr vielen Fällen die Gallerte nicht ihre einfache homogene Beschaffenheit bewahrt hat, sondern in Folge des langen Aufenthaltes im Wasser von allerlei Algenföden, Dia- tomeen u. s. w. durchwachsen ist. Die Leiste hat alle diese Hindemisse bei Seite zu schieben. Ein scliarfer spitzer Eizahn dagegen, wie er z. B. bei Forßcula und bei manchen Käfern vorkommt, würde hierzu gar nicht im Stande sein , vielmehr den Kopf des Thieres unfehlbar in dem Algen- gewirr verstricken \

Der Austritt aus der Gallerte ist andererseits bei Epitheca deswegen wieder etwas erleichtert, weil die meisten Eier sich bereits in den peri- pheren Partien des Gallertstranges befinden. Sind übrigens die Hinder- nisse beim Durchbrechen der Gallertschicht sehr grofse, so vollziehen sich schliefslich auch seh wache, durch Contractionen der Längsmuskeln hervor- gerufene nutirende Bewegungen des gesammten Körpers, wobei dann die Leiste ähnlich wie ein Messer hin und her bewegt wird.

Sobald der Embryo sich hervorgearbeitet hat und an die Oberfläche der Laichmasse gelangt ist, wird die Körpercuticula dorsal wärts am Thorax gesprengt. Die junge Larve schlüjjfl heraus, sie kann ihre Gliedmafsen nunmehr gebrauchen und sie lafst die leere Chitinhülle, an welcher auch die Leiste sitzen bleibt, zurück.

Der fiir Epitheca beschriebene Chitinapparat zum Durchbrechen der Gallertsubstanz findet sich in gleicher Weise auch bei LibelMa ausgebildet. Etwas anders verhält es sich dagegen bei Sympetrum, bei welchem Insect die Eier nicht in Form eines zusammenhängenden, gallertartigen Laiches abgelegt werden. Die Embryonen weisen ganz vorn an der Stirn eine ebenfalls in der Medianlinie befindliche aber nur sehr kurze und schwache Chitinerhebung auf. Obwohl es sich also im Princip offenbar um die gleiche Einrichtung wie bei Epitheca handelt, so ist doch bei Sympetrum in Zu-

* Der bei früherer Gelegenheit von mir (93) bei Forficula l)eschriebene cuticulare Ei- zahn nimmt im übrigen aber eine ganz entsprechende Lage am Kopf des Thieres ein wie die soeben geschilderte Leiste gewisser Odonaten.

Dia genannten Cnticiilargebilde sind also trotz ihrer abweichenden Gestalt und ihrer etwas andersartigen Function einander als homolog zu betrachten.

Phi/s. Abh. nicht zur Akad, (/shär. Gelehrter. 1896. L 4

26 R. Heymons:

sammenliang mit der Zartheit des das Ei umgebenden Exochorions auch die Leiste nur sehr unvollkommen ausgebildet.

Ein Apparat zum Offnen der Eischale fehlt den von mir untersuchten Ephemeriden. Den Vorgang des Ausschlüpfens habe ich schon früher (96') fav Ephemera geschildert.

4. Über die Hinterleibsanhänge.

a. Die Abdominalanhänge der Larven.

Die Gliederung des Abdomens bei den Libellen ist deswegen von einem besonderen Interesse, weil sie im Vergleich zu anderen Insecten noch verhältnifsmälsig einfache und ursprüngliche Verhältnisse zu erkennen giebt. Letztere sind am klarsten und deutlichsten natürlich in frühen Entwickelungsstadien ausgeprägt, und es ist daher am zweckmafsigsten von der Betrachtung der Larvenformen auszugehen.

In Fig. t gebe ich die Abbildung einer noch ganz jugendlichen Larve von Epitheca bimaculata. Schon bei flüchtiger Ansicht zeigen sich 1 1 Ab- dominalsegmente, von denen ein jedes eine Rückenplatte, ein Tergit, und eine Bauchplatte, ein Sternit, besitzt.

Die ersten drei Segmente sind ziemlich kurz, die hinteren werden immer länger und breiter bis zu dem achten hin , welches das gröfste ist. Das 10. Segment des Abdomens ist bedeutend schmaler und kürzer als das vorhergehende, und das elfte ist etwas abweichend gestaltet, so. dafs es einer besonderen Besprechung bedarf.

Das Tergit des 1 1 . Abdominalsegmentes ist nämlich verlängert und läuft hinten in einen umfangreichen mit einigen langen Borsten besetzten Fortsatz aus. Das 1 1 . Sternit ist sehr sclimal und deutlich zweigetheilt (Fig. 4 Stern,,).

Den Hälften der 1 1 . Bauchplatte sind zwei lange nach hinten ge- wendete Fortsätze angeheftet , die ebenfalls dem 1 1 . Abdominalsegment noch angehören. Es sind die Cerci, auf deren Entwickelung beim Embryo schon oben hingewiesen wurde. Die Cerci (Fig. 2 app lat) sind unge- gliedert, in ihrem Aussehen stimmen sie ganz mit dem Rückenfortsatz des betreffenden Segmentes überein.

Der Körper der jungen Larve läuft auf diese Weise hinten in drei lange Schwanzanhänge bez. Schwanzstachebi aus, von denen die beiden

Entuoickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 27

seitlichen den Cerci, der mittlere dorsale dem verlängerten ii.Tergit entspricht.

Hinter den drei genannten Fortsätzen , die ich appendices caudales bezeichnen will, treten aber noch weitere Anhänge hervor, die einem 12. Abdominal- oder Endsegment des Körpers zugerechnet werden müssen.

Wir können hier wiederum im wesentlichen drei Fortsätze unter- scheiden, einen unpaaren, median gelegenen, dorsalen und zwei laterale. Da zwischen diesen Fortsätzen die Afteröjffnung sich befindet, so bezeichne ich sie insgesammt als laminae anales.

Die lateralen laminae (Fig. 2 lam sub) sind kräftig entwickelt, ziem- lich breit und schalenförmig ausgehöhlt. Ihre concave Seite wenden sie dabei nach innen, gegen den After, ihre convexe Seite nach aulsen. Sie reichen bis zur Ventralseite hinab und stofsen dort in der Medianlinie an einander, so dafs der After von unten (ventral) durch sie bedeckt wird. Man kann die lateralen laminae anales deshalb auch als laminae subanales bezeichnen.

Ihnen steht gegenüber die unpaare imd dorsale lamina supraanalis. Letztere (Fig. 2 lam sup) ist kürzer als die laminae subanales und wird ge- wöhnlich von dem verlängerten 11. Tergit vollständig bedeckt, so dafe sie sich der Beobachtung leicht entzieht. Die lamina supraanalis stellt eine einfache nur wenig gewölbte Platte dar, die am hinteren Rande abgestutzt ist und dort einige Ghitinhaare trägt.

Die gegebene Schilderung von der Zusammensetzung des Abdomens bezieht sich zunächst auf EpUhecüj ich kann aber hinzufugen, dafs die Be- schaffenheit des Hinterleibes bei den jungen Libelhila- und Sympetrum-Lsirven eine ganz entsprechende ist. Auch hier folgt auf die zehn ersten überein- stimmend gebauten Segmente ein 1 1 . Segment mit den appendices caudales laterales (Cerci) und dem entsprechend gestalteten verlängerten 1 1 . Tergit (appendix caudalis dorsalis). Das zweigetheilte 1 1 . Sternit habe ich bei den beiden genannten Insecten nicht entwickelt gefunden, seine Bestandtheile sind vollkommen mit den appendices laterales verschmolzen. Auch während der späteren Larvenentwickelung von Epitheca vollzieht sich eine Vereini- gung zwischen dem 1 1 . Sternit und den beiden appendices laterales.

Die etwas eigenartige Gestaltung des Abdomens, welche voraussieht^ lieh wohl für alle jungen Libellulidenlarven Gültigkeit haben wird, legte es nahe, noch andere Odonaten zum Vergleich heranzuziehen. Ich wählte

28 R. Heymons:

hierfür Vertreter aus der Gruppe der Calopterygier, die man gegenwärtig als eine besondere Unterordnung {Zygopterd) den Libelluliden und den da- mit verwandten Formen (Anisopiera) gegenüberzustellen pflegt. Uberdiefs werden die Zygoptera^ deren Larven durch den Besitz äufserer Tracheen- kiemen ausgezeichnet sind, in der Regel als die ursprünglichsten Reprae- sentanten der ganzen Ordnung der Odonaten angesehen.

Für meine Zwecke standen mir sämratliche Larvenstadien von Agrian, unmittelbar vom Verlassen des Eies an , zur Verfugung. Caloptert/x selbst stimmt übrigens in allen wesentlichen Punkten vollkommen mit Agrkm überein.

An dem cylindrischen Abdomen von Agrion fSllt die Gleichmäfeigkeit der ersten zehn Segmente auf, die unter einander von beinahe gleicher Gestalt und Gröfee sind. Hinter dem lo. Segment folgen drei lange Schwanz- faden (Fig. 9). Letztere sind bei den jugendlichen Larven drehrund, werden aber im späteren Entwickclungsverlauf blattförmig und stellen dann die bekannten äufseren Tracheenkiemen der Larve dar.

Umgeben von den drei Kiemen treffen wir wiederum drei kleine Er- hebungen an, die den Afler unmittelbar einschliefsen , wegen ihrer ver- borgenen Lage aber leicht übersehen werden können. Die Deutung ergibt sich ohne weiteres. Die beiden lateralen Tracheenkiemen (Fig. 9 app lat) sind die Homologa der beiden seitlichen SchwanzanhSnge (appendices caudales) von EpUheca und Ltbellula und lassen sich wie diese auf Cerci zurückführen. Die mittlere dorsale Kieme {app dors) wird bei Agrkm, Cahpteryx u. s. w. von dem verlängerten Tergit des 1 1 . Abdominalsegmentes dargestellt. Über- reste eines 1 1 . Stemites habe ich bei den genannten Calopterygiern nicht nachweisen können.

Die drei laminae anales sind bei Agrion nicht sehr stark ausgebildet und erinnern in ihrer Form an diejenige vieler Orthopteren. Die beiden lateralen laminae sub- oder richtiger adanales befinden sich zu den Seiten des Aflers, reichen aber nicht so weit zur Ventralseite wie bei Epäheca, Die unpaare lamina supraanalis ist eine rundliche Platte, die unter der mittleren Tracheenkieme liegt (Fig. 9).

Bei der ziemlich nahen Verwandtschaft zwischen den Odonaten und speciell der Odonatengruppe der Zygopteren einerseits und den Ephemeriden andererseits liefs es sich wolil von vornherein erwarten, dafs auch hei den letzteren ähnliche Verhältnisse obwalten würden. Hatte man doch

Entunckelung und Körperhau von Odonaten und Ephemeriden. 29

schon längst die äufseren Tracheenkiemen der Odonatenlarven mit den Schwanzfaden der Ephemeriden verglichen.

Die entwickeliingsgeschichtlichen Untersuchungen, welche ich an Ephemera vulgata angestellt habe, ergaben die Berechti- gung dieser Auffassung. Bei den Ephemeriden und Odonaten sind die in Rede stehenden Abdominalfortsätze einander ho- molog. Die drei Schwanzfäden der Ephemeriden gehören eben- falls dem elften Abdominalsegmente an. Die beiden lateralen Schwanzfäden sind auf die Cerci zurückzuführen, der dorsale geht aus dem ii. Tergit hervor.

Auch die laminae anales treffen wh' an dem äufserlich zehngliedrigen Abdomen der jungen Ephemeridenlarven an. Die lamina supraanalis ist eine kleine hall)mond£ormige Platte, die unter dem dorsalen Schwanzfaden verborgen liegt und die Afleröffnung von oben bedeckt (Fig. 5 lam sup). Sie scheint bisher stets übersehen worden zu sein. Die laminae subanales bleiben dagegen nicht selbständig wie bei den Odonaten, sondern ver- wachsen vorn mit dem 10. Stemite. Das 11. Sternit geht bei Ephemera und Caenis gerade wie bei Calopteryx und Agrion zu Grunde. Nur die hin- teren Partien der laminae subanales bleiben auf diese Weise frei, sie erhe- ben sich deutlich über das Niveau des 10. Sternites und bilden die vor- dere Begrenzung für den After (Fig. 5 lam sub).

Die Gliederung des Abdomens, welche soeben geschildert wurde, weicht bei den Ephemeriden, besonders aber bei den Odonaten, in ungewöhnlicher Weise von der Körpergliederung bei allen anderen bisher untersuchten In- sectenlarven ab. Hauptsächlich sind es die eigenartigen am Hinterende des Abdomens befindlichen Fortsätze, welche die Aufinerksamkeit auf sich lenken. Auf sie möchte ich hier auch ganz besonders hinweisen , einmal, weil die Abdominalanhänge bei den jungen Odonatenlarven bisher über- haupt noch niemals eingehend studirt worden sind, und zweitens, weil gerade die hier zu Tage tretenden Verhältnisse ganz besonders geeignet erscheinen, um Aufklärung in die vielumstritt^ne Frage nach der Zusam- mensetzung des Insectenabdomens zu bringen.

Auf Grund vergleichend -embrj'ologischer Untersuchungen war ich frü- her für die primäre Zwölfgliedrigkeit des Hinterleibes der Insecten einge- treten. In einer Arbeit (95), welche speciell die Segmentirung behandelte, sind von mir die Gründe, welche mich zu dieser Auffassung gefuhrt haben.

30 R. Hetmons:

ausfuhrlich dargelegt. Es genügt, hier zu recapituliren, dafs bei den Em- bryonen der Orthopteren elf typische Abdominalsegmente angelegt werden, von denen ein jedes die Anlage eines besonderen Sternites und eines ent- sprechenden Tergites zu besitzen pflegt. Hinter dem 1 1 . Abdominalseg- ment folgt dann der After, der dem zuletzt genannten Segmente also nicht mehr angehört, sondern sich im Bereiche eines häufig noch deutlich entwickelten Analabschnittes befindet. Stets pflegen später im Umkreis der Afteröffnung eigenartige Wucherungen aufeutreten, aus denen die bekannten drei Afterklappen bez. laminae anales hervorgehen. Die Aflerklappen re- praesentiren somit dauernd die Bestandtheile eines 12. abdominalen End- oder Analabschnittes.

Vergleicht man mit diesen besonders an Orthopteren gewonnenen Er- gebnissen die Befunde bei den Odonaten- und Ephemeridenembryonen, so ist der gemeinsame Plan, nach dem in übereinstimmender Weise in beiden Fällen der Körper aufgebaut wird, gar nicht zu verkennen.

Zur Veranschaulichung der in Rede stehenden Verhältnisse weise ich nochmals auf Fig. 1 6 hin. An dem Embryo von Xtbeüuia erkennt man ebenfalls elf deutliche Abdominalsegmente, an denen die paarigen Glied- mafsenanlagen hervortreten. Unter diesen zeichnen sich diejenigen des 1 1 . Segmentes bereits durch einen etwas gröfseren Umfang aus, sie werden, wie schon erwähnt, später zu den appendices laterales und lassen sich also mit den Cerci der Orthopteren vergleichen.

Es fällt ferner an der genannten Figur der bereits ziemlich umfang- reiche Enddarm auf, der von der Afteröffnung ausgehend in den Dotter ein- gedrungen ist und sich an die eingebogenen drei letzten Körpersegmente angelegt hat. Bei einer genaueren Untersuchung kann man sich leicht da- von überzeugen, dafs die Afteröffnung sich deutlich hinter dem ii.Ab- dominalsternit befindet.

In späteren Stadien wird der Enddarm von den sich dorsalwärts schlie- Isenden drei letzten Segmenten überwachsen und damit in das Körperinnere aufgenommen. Die hintersten Körpersegmente sind nunmehr fertiggestellt und besitzen aufser den Bauchplatten auch vollkommene Rückenplatten oder Tergite. Das Tergit des 1 1 . Abdominalsegmentes wächst zur appendix dorsalis aus, welche die gleiche Form gewinnt wie die appendices laterales. Der Körper geht sodann hinten in drei übereinstimmend gebaute Fortsätze aus, die sich fest an einander schliefsen. In diesem Stadium erscheinen in

EntwicJcehmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 31

der unmittelbaren Umgebung des Anus die drei laminae anales, welche gewissermalsen en miniature die Haupttheile des 1 1 . Segmentes wieder- holen.

Man könnte an dieser Stelle vielleicht den Einwand erheben , dafe die drei laminae anales kein besonderes Segment repraesentiren , sondern dafe sie nur Anhänge oder Diflferenzirungsproducte des 1 1 . Segmentes darstellen.

Gegen die letztere Annahme mufs jedoch geltend gemacht werden, da& das ii. Abdominalsegment bereits im Besitze aller charakteristischen Bestandtheile eines Körpersegmentes ist. Es besitzt eine Rückenplatte, eine Bauchplatte und zwei Extremitäten, weitere Anhänge pflegen über- haupt keinem primären Körpersegmente eigen zu sein. Überdiefe föUt, wie schon besonders betont wurde, die Darmöffiiung gar nicht in das Bereich des 1 1 . Segmentes mehr hinein. Wenn sich nun später in der unmittel- baren Umgebung des Afters die laminae entwickeln, so müssen diese so- mit einem 12. (End-) Segmente zugesprochen werden. Das Endsegment als solches ist bei den Embryonen der hier betrachteten Insecten wie auch bei denen mancher Orthopteren allerdings sehr wenig entwickelt, in ande- ren Fällen dagegen {Gryüotalpa) und besonders bei den Embryonen mancher Käfer ist es deutlich und grofs, und an seiner Natur als selbständiger Endabschnitt (Telson) des Körpers kann alsdann überhaupt gar kein Zwei- fel obwalten'. Das verhältniCsmäfsig späte Auftreten der laminae, welches man bei den Odonaten und vielen Orthopteren beobachtet, findet damit eine Erklärung, dafs die Körperdifferenzirung stets sich in der Richtung von vom nach hinten vollzieht. Es können daher die Bestandtheile des Analsegmentes erst zuletzt von denjenigen des 11. Abdominalsegmentes abgetrennt werden.

Anhänge von einer derartigen Gröfse und Selbständigkeit, wie sie uns in den laminae anales der Libellenlarven (Fig. 2) entgegentreten, sind den übri- gen Körpersegmenten vollkommen fremd, und wenn man sagt, die lami- nae wären lediglieh Anhänge des 1 1. Segmentes, so würde man mit dem- selben Rechte auch behaupten können , dafs das Oralsegment ein vorderer Anhang des Antennensegmentes sei, oder dafs das 1 1. Abdominalsegment ein Anhängsel des zehnten , bez. dieses ein Fortsatz des neunten u. s. w. wäre.

* Bei den Insecten herrscht im allgemeinen die Tendenz vor, das Endsegment rück- ziibilden und zu unterdrücken. Diese Tendenz macht sich auch in dem noch zu schildernden weiteren Entwickelungsverlauf der Odonaten und Ephemeriden besonders geltend.

32 R. Heymons:

Der Discussion offen könnte allein die Frage bleiben, in wie weit durch die laminae anales ein eigenes und besonderes 12. »Segment« des Hinterleibes dargestellt wird. In dieser Hinsicht habe ich in meiner bereits citirten Arbeit schon die Gründe erörtert, wegen welcher weder der erste noch der letzte Körperabschnitt (Oral- und Analsegment ^) den übrigen Körpersegmenten der Insecten als gleich werthig betrachtet werden dürfen. Ich bin deshalb vollkommen damit einverstanden, wenn man sagt, dafs das Ihsectenabdomen nicht aus zwölf Segmenten besteht, sondern nur aus elf und den darauf folgenden laminae anales zusammengesetzt ist.

Hierbei wird man sich natürlich vor Augen halten müssen, daß» die laminae anales der Insecten das Rudiment eines ehemals selbständigen Anal- stückes oder Telsons darstellen, welches bei vielen anderen Arthropoden dauernd noch als solches erhalten bleibt.

Die beschriebene Zusammensetzung des Körpers hat sich freilich bei den Insecten bisher immer nur während einer gewissen Epoche des Embryonal- lebens nachweisen lassen, um nachher einem durch Verschmelzung verschie- dener Abschnitte bedingten , sehr viel einfacheren Verhalten Platz zu machen. Das Abdomen der jungen Orthopteren, wie auch dasjenige anderer Insecten- larven weicht daher von dem ursprünglichen Zustande, in dem es anfang- lich angelegt wurde, mehr oder minder erheblich ab.

Hier bei den Odonatenlarven tritt uns aber eine Körper- gliederung vor Augen, welche die primäre Segmentirung des Insectenabdomens noch in beinahe ganz reiner, unverfälschter Weise zur Anschauung bringt. Die Zwölfgliedrigkeit des Ab- domens, welche bisher nur bei jungen Embryonen beobachtet werden konnte, ist in vielen Fällen bei Odonaten selbst noch an der Larve deutlich erhalten.

Wenn man hierbei die einfache Körperorganisation der Odonaten im allgemeinen berücksichtigt, und wenn man auch das muthmafslich hohe phylogenetische Alter dieser Thiere, auf welches schon am Eingange dieser Arbeit hingewiesen wurde, in Betracht zieht, so dürfte damit wolil die Ansicht an Boden gewinnen, dafs die Zwölfgliedrigkeit des Abdomens

^ Die Bezeichnungen Oral- und Analsegment sind von mir nur des leichteren Ver- ständnisses wegen statt der ursprünglich von mir gebrauchten Ausdrücke Oral- und Anal- stück gewählt worden.

Entwickelung md Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 33

thateächlich das primäre und ursprüngliche Verhalten für die Insecten darstellt.

Die bei den jungen Odonatenlarven noch zu Tage tretende Zusammen- setzung des Hinterleibes ist bisher nicht erkannt worden, wie überhaupt unsere Kenntnisse über den Köi*perbau dieser Thiere zur Zeit noch recht dürftige genannt werden müssen.

Von den genannten Hinterleibsanhängen sind speciell die drei lami- nae anales, ihrer Kleinheit und verborgenen I.*age wegen, von früheren Beobachtern fast stets übersehen worden. Meines Wissens hat nur Calvert (93) die Beobachtung gemacht, dafs am Abdominalende junger Libellen- larven noch »a pair of chitinous pieces« vorhanden wäre, womit offenbar die laminae subanales gemeint sind.

Haase (89) sind die laminae anales ebenfalls entgangen. In seiner Abhandlung über die Abdominalanhänge der Insecten erwähnt er, gerade wie diefs bei den meisten in systematischen Werken enthaltenen Besclurei- bungen der Fall ist, niu* fiinf Fortsätze am Hinterleibsende der Libellen- larven. Die appendices (caudales) laterales wurden von ihm als »imtere Afterklappen « angesehen.

Auch in der morphologischen Deutung der Schwanzfllden bez. der Tracheenkiemen, weiche ich von der bis jetzt üblichen Auffassung ein wenig ab. Bisher hatte man immer, sowohl bei den Eintagsfliegen und zumeist wohl auch bei den Odonaten, die mittlere dorsale Schwanzborste oder Kieme als die verlängerte lamina analis oder Afterdecke angesehen. Das ist nicht richtig. Die eigentliche Afterklappe oder lamina supraanalis zeigt sich vielmehr, wie schon gesagt wurde, in Form einer kleinen Platte ganz deutlich erst unterhalb bez. hinter dem mittleren Schwanzfaden, und dieses Verhalten, wie auch vor allem die Entwickelung deutet darauf hin, dafs die an der betreffenden Stelle befindliche Platte der lamina analis ent- spricht, während der dorsal gelegene Schwanzfaden als ein verlängertes Tergit angesehen werden mufs.

Wir haben gesehen, dafs dem 1 1. Abdominalsegmente der Anisop- teren, Zygopteren und Ephemeriden drei appendices caudales zukommen, die bei den verschiedenen Gruppen bald die Form von Schwanzstacheln, Tracheenkiemen oder von Schwanzfaden annehmen. Von diesen drei ap- pendices caudales, welche unter einander ganz übereinstimmend gebaut sind, entsprechen stets die beiden lateralen den Cerci, während die mittlere dor- Pht/s. ÄbL nicht zur Ahad. gehör. Gelehrter, 1896, L 5

84 R. Heymons:

sale Appendix eine verlängerte Rückenplatte des 1 1 . Abdominalsegmentes repraesentirt.

Man könnte vielleicht eine gewisse Schwierigkeit darin erblicken, dafs bei den hier erwähnten Insecten ganz übereinstimmend gestaltete Anhänge gleichwohl eine verschiedenartige morphologische Bedeutung besitzen sollen. Ich glaube, dafs man in dieser Hinsicht die Plasticität und die Bildungs- fthigkeit des Insectenkörpers nicht unterschätzen darf. Gerade wie bei allen anderen Arthropoden, so ist auch bei den Insecten der Körper im Stande, an, wie es scheint, wohl allen beliebigen Stellen Hautfortsätze zu produciren.

Diese Hautfortsätze., die bald aus Extremitäten, bald dagegen nur aus einfachen Segmentplatten oder dergleichen hervorgehen, pflegen dann trotz ihres verschiedenartigen Ursprungs einander oft sehr ähnlich gestaltet zu sein. In der Regel wird es sich hierbei wohl um einfache fadenförmige, gegliederte oder ungegliederte Hypodermisausstülpungen handeln, die keine oder nur ganz schwache Muskeln enthalten, nicht selten mit langen Borsten und Haaren besetzt sind und dadurch in ihrem Habitus eine gewisse Ähn- lichkeit mit Antennen bekommen können. Mit solchen sind sie auch häufig genug schon verglichen worden \

Es ist bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, dafs auch die Antennen im wesentlichen nur Hautfortsätzen entsprechen. Der charak- teristische funiculus oder Geifseltheil an den Antennen stellt wenigstens bei vielen Insecten nichts anderes als eine Hypodermisausstülpung dar, gerade wie sie auch gelegentlich an anderen Körperstellen zur Entwickelung gelangen kann. Erst der die kräftige Bewegungsmusculatur umschlieiäende Basalabschnitt der Antenne repraesentirt den eigentlichen Extremitäten- stummel, von dem die Geifsel nur eine Ausstülpung bildet. Ähnlich

' In die Kategorie derartiger Hautfortsätze gehören beispielsweise auch die antennen- artigen Organe, die als anormale Bildungen gelegentlich an den Beinen oder an anderen Korpertheilen der Insecten beobachtet sind. Einen hierhin gehörenden Fall bei Düophus hat Wheeler (96) vor kurzem mitgetheilt.

Selbst künstlich können derartige antennenahnliche Hautfortsätze hervorgerufen wer- den. Durch die bekannten Experimente von Herbst (96) wissen wir, dafs nach Amputation des Augentheiles podophthalmer Crustaceen ein antennenartiges Organ aus dem Augenstiel hervorwuchern kann. Herbst selbst hat meiner Ansicht nach schon mit vollem Rechte gel- tend gemacht, dafs diese Erscheinung durchaus nicht auf die ehemalige Extremitätennatu^ des Augenstieles hinzudeuten bi-aucht.

Entwiekelung und Körperbau vou Odonaten und Ephemeriden. 35

verhält es sich mit den Cerci und Styli, nur dafe hier der Basalabschnitt mit dem Körper vereinigt und daher zu Grunde gegangen ist.

Man sieht, es wird in vielen Fällen gar nicht leicht sein, eine scharfe Grenze zwischen Extremität und Hypodermisfortsatz zu ziehen. In der That hat man ja auch vielfach daran gezweifelt, ob die Antennen, die Cerci u. s. w. Gliedmafsen entsprächen oder nicht.

In derartigen Fällen ist es nun aber, wie ich schon früher betont habe (96), mit Hülfe der Entwickelungsgeschichte wohl fast immer mög- lich, die Natur des fraglichen Anhanges klarzulegen. Gebilde, die vom anatomischen Standpunkte betrachtet, lediglich nur noch Hautfortsätze sind, verdanken häufig genug ihren Ursprung ehemaligen Gliedma&en und geben sich ontogenetisch auch noch ganz sicher als Überreste oder Umwand- lungen von Extremitätenanlagen zu erkennen. Diefs trifft z. B. für die Cerci der Orthopteren, für die seitlichen Tracheenkiemen der Sialis- Larven u. s. w. zu. In vielen anderen Fällen ist dagegen , wie die Ent- wickelungsgeschichte lehrt, eine solche Zurückführung auf Extremitäten nicht statthaft. Hier handelt es sich dann nur um ähnliche Hypodennis- wucherungen, die gelegentlich eine gewisse gliedmai^enähnliche Gestaltung annehmen können (Gonapophysen der Insecten), die aber trotzdem mit den segmentalen Extremitätenanlagen nichts zu thun haben.

Bei den genannten Hinterleibsfortsätzen der Odonaten und Epheme- riden lassen sich die Verhältnisse ziemlich klar übersehen. Die seitlichen Anhänge (appendices caudales laterales) lassen sich unzweifelhaft auf die embryonalen Cerci zurückfiihren. Diese Cerci wachsen aber dann aufser- ordentlich stark in die Länge und stellen anatomisch betrachtet eigentlich nur noch Ilautauswüchse dar. In dieser Beziehung sind sie dem mittleren Schwanzanhang, oder appendix dorsalis, aequivalent, welche aus der gleich- falls ausgewachsenen und verlängerten Rückenplatte hervorgeht.

Entwickelungsgeschichtlich sind also die beiden lateralen Schwanz- anhänge von ExtremitStenaidagen , der mittlere Schwanzanhang dagegen von einem Tergit abzuleiten , und man wird wohl mit der Annahme nicht fehlgehen, dals auch die phyletische Entwiekelung, die allmähliche Aus- bildung dieser Fortsätze bei den Vorfahren der Eintagsfliegen und Libellen in entsprechender Weise sich vollzogen haben wird.

Dafs thatsächlich eine morphologische DiflTerenz zwischen den beiden lateralen und dem medialen Schwanzanhang (appendix) vorliegt, gibt sich

5*

36 R. Heymons:

auch in dein Verhalten mancher junger Ephemeridenlarven (z. B. Hepta- genta, Chloeon) zu erkennen, bei denen, wie wir durch die Untersuchungen von Vayssiere (82) und Lubbock (64) wissen, zwar die beiden latei-alen Schwanzborsten (Cerci) entwickelt sind, während die mittlere Schwanz- borste fehlt und das 1 1 . Tergit somit noch keine entsprechende Ent- faltung zeigt. Auch bei manchen Larven von Odonaten, z.B. bei denen von Cahpteryx bleibt die mittlere , auf das 1 1 . Tergit zurückzuführende Kieme kleiner und kürzer als die beiden lateralen, von den Cerci abzu- leitenden Tracheenkiemen.

Wenn die AbdominalanhSnge der Libellenlarven bisher so unvoll- ständig erkannt und überhaupt sehr wenig erst berücksichtigt worden sind, so findet diefs zum Theil darin eine Begründung, dafs nur in frühen Larven- stadien die Verhältnisse mit der geschilderten Deutlichkeit hervortreten. Bei älteren Larven dagegen, die bisher hauptsächlich den Gegenstand der spärlichen Untersuchungen gebildet haben , kommen weitere ComjJicationeii hinzu, die die richtige Auffassung wesentlich erschweren.

Zwei fernere Fortsätze erscheinen nämlich am Hinterrande des 10. Ab- dominalsegmentes. Sie schieben sich zwischen die beiden appendices late- rales und die mediane appendix dorsalis ein und bilden dann zwei konische nach hinten gewendete Zapfen. Processus caudales will ich zum Unterschied diese nachträglich gebildeten Anhänge nennen. Sie sind deutlich an dem in Fig. 8 abgebildeten Hinterleibsende der Larve von Aeschna zu erkennen.

Derartige processus caudales kommen sowohl bei den Larven der Anisopteren, wie bei denen der Zygopteren zur Entwickelung, sie finden sich bei beiden Geschlechtern und sind stets kürzer als die oben be- schriebenen drei appendices caudales. Im Gegensatze zu letzteren lassen sie sich also auch nicht auf bestimmte embryonale Bildungen zurückfuhren, sondern erscheinen erst bei älteren Larven nachträglich als Hautaus- stülpungen.

Die ursprünglichen appendices caudales werden nun sehr viel gröfser, sie gewinnen bei den Zygopteren die charakteristische blattförmige Gestalt und übernehmen als äufsere Tracheenkiemen die Functionen der Respi- ration. Bei den Larven der Anisopteren werden die appendices caudales zu den drei grofsen stachelartigen Klappen, die die Aufgabe haben, bei Gefahr den Eingang in die das Athmungsorgan bergende Darmhöhle fest zu versperren, aufserdem pflegt sich ihrer das Thier auch noch gelegeiit-

Entwickebmg und Köi-perbau von Odonaten und Epheineriden, 37

lieh als Waffe zum Stechen zu bedienen, wie man leicht constatiren kann, wenn man eine lebende gröfsere Aeschnidenlarve in die Hand nimmt.

In Verbindung mit der stlrkeren Ausbildung der appendices caudales steht eine allmähliche Ruckbildung der drei dem Endsegmente angehören- den laminae anales.

Bei den Anisopteren werden die laminae in der Regel weichhäutig, bleiben aber gleichwohl deutlich erkennbar. Sie sind es, die selbst bei weit geöflfheten und gespreizten Schwanzstacheln (appendices) das rhyth- mische Öffnen und Schliefsen des Afters besorgen. Fig. 8, welche das Abdomen einer A^^cAmr- Larve, von hint'Cn gesehen, wiedergibt, läfst die drei häutigen laminae anales erkennen.

Bei den Larven der Zygopteren erhalten sich besonders die laminae sub- oder adanales längere Zeit hindurch stärker chitinisirt, ich finde sie selbst noch bei älteren, schon mit langen Flügelansätzen, Legescheide u. s. w. versehenen Larven von Agrion deutlich ausgeprägt.

Aufser den soeben besprochenen, am Hinterleibsende befindlichen Ab- dominalanhängen gelangen sowohl bei den Odonaten wie bei den Ephe- meriden auch noch an anderen Abdominalsegmenten Fortsätze zur Ent- wickelung. Diese letzteren dienen dann entweder zur Vermittelung des (rasaustausches , oder sie sind dazu bestimmt, bei dem Fortpflanzungs- geschäft (Copulation, Eiablage) gewisse Functionen zu erfiillen.

Anhänge der ersteren Art stellen die seitlichen Tracheenkiemen der Ephemeridenlarven dar. Ihre Entwickelung habe ich an Epfiemera vulgata studirt und bereits an anderer Stelle (96*) darüber Mittheilung gemacht.

Die respiratorischen Anhänge gehen bei Ephemera aus sechs Paar lateral gelegener Hypodermisverdickungen hervor, in denen die letzten Überreste der Extremitätenanlagen des 2. bis 7. Abdominalsegmentes zu erblicken sind. Fig. 5 zeigt die genannten Verdickungen {Trk) einer jungen Ephemera -Ls,rve kurz nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei.

In dem darauf folgenden Larvenstadium gehen die Hautverdickungen in einfache zipfelförmige Ausstülpungen über, die sich im weiteren Ent- wickelungsverlauf gabeln und seitliche Fiedern bekommen. Schliefslich entsteht auch noch in den Seitentheilen des ersten Abdominalsegmentes ein einfacher Kiemenfaden.

Die an den hinteren Abdominalsegmenten der Odonaten zur Ent^ Wickelung gelangenden Gonapophysen sollen ebenfalls hier keine speciellere

38 R. Heymons:

Berüeksichtigung finden. Erwähnt sei nur, dafs in völliger Übereinstim- mung mit den Orthopteren auch bei den mit einer Legeröhre versehenen weiblichen Odonaten (z. B. Agrion, Calopterj/x, Aeschnä) drei Paar Ge- sehlechtsanhänge zu unterscheiden sind.

Dieselben stallen auch hier einfache Hypodermiswucherungen dar. Bei weiblichen Larven von Agrion sprofst zuerst am 9. Abdominalsegment^ ein Höckerpaar hervor, welches die Gestalt spitzer, nach hinten gerichteter Zapfen annimmt. In fortgeschritteneren Larvenstadien entsteht zwischen dem I. Zapfenpaar ein 2., und ein 3. Paar wuchert endlich noch am Hinterende des 8. Segmentes hervor.

Gerade wie bei den Orthopteren, so gehört also auch bei den Odo- naten das eine Gonapophysenpaar dem 8., die beiden anderen Paare dem 9. Hinterleibssegmente an. Ihre Bildung erinnert sehr an die früher (96) von mir bei Gryllus beschriebene Bildung der Legeapparate. Irgend eine Beziehung der Gesehlechtsanhänge zu den embryonalen Extremitätenan- lagen ist nicht vorhanden. Die Gonapophysen entstehen ganz selbständig und nehmen auch schon bei ihrer ersten Anlage einen unverhältnifsmäfsig gröfseren Raum ein, als die ursprünglichen Gliedmafsenhöcker besafsen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse im männlichen Geschleclite. Es ent- stehen hier Hypodermisverdickungen am 9. Hinterleibssegmente, aus denen bei der Imago die zu den Seiten der männlichen Geschlechtsöffnung be- findlichen Erhebungen und Fortsätze hervorgehen (Fig. i gon).

b. Die Abdominalanhänge der Imagines.

Die Kenntniss der larvalen Ilinterleibsanhänge ist natürlich von grofser Wichtigkeit fiir die richtige Beurtheilung der abdominalen Anhänge bei den Imagines. Die complicirten Anhangsgcbilde , die man am Hinterleibsende unserer ausgebildeten Libellen vorfindet, sind ja schon recht verschieden- artigen Deutungen ausgesetzt gewesen und haben, was auch recht störend und verwirrend ist, von den verschiedenen Autoren mannigfaltige Bezeich- nungen l)ereits erhalten. Ich will zuerst meine eigenen Resultate folgen lassen und dann erst zur Besprechung früherer Ergebnisse übergehen.

Bei den Libellen, sowohl den Zygopteren (Calopterygiden, Agrioniden), wie Anisopteren (Libelluliden, Aeschniden u. s. av.) trifft man in beiden Ge- schlechtern am Hinterleibsende zumeist zwei relativ lange, dorsal, d. h. ober- halb des Afters gelegene, ungegliederte Fortsätze au. In denselben haben

Erdwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephefneriden. 39

wir die processus caudales zu erkennen, somit diejenigen Anhänge, welche erst während des Larvenlebens am Hinterende des lo. Abdominalsegmentes entstanden waren. In der Litteratur findet man die processus caudales in der Regel als »obere appendices anales«, »superior terminal appendages«, als »Afterraife« u. s. w. beschrieben.

Hinter diesen grofsen processus caudales folgt die Afteröfinumg, die im weiblichen Cieschlechte häufig von drei Höckern oder Platten umgeben ist. In dem dorsalen dieser Höcker liegt im wesentlichen die appendix dorsalis oder das Tergit des 1 1 . Abdominalsegmentes vor. Die beiden lateralen Höck-er oder lateralen Platten entsprechen den appendices caudales laterales, somit bei den Zygopteren den Überresten der lateralen Kiemen, bei d«n Anisopteren den Rudimenten der lateralen Schwanzklappen.

Die drei laminae anales, die schon bei den Nymphen theilweise rüek- gebildet waren , sind bei den Imagines meistens zu Grunde gegangen bez. fiast gänzlich mit den drei vorhin genannten Gebilden, den Resten der appenilioes caudales, verschmolzen.

Im männlichen Geschlechte liegen die Verhältnisse etwas anders. Bei den Anisopteren ist nämlich im Gegensatze zu den Weibchen die appendix dorsalis kräflig ausgebildet und stellt den mittleren unpaaren Anhang dar, der die Afteröffnung von oben bedeckt (untere appendix analis der Autoren). Bei den männlichen Zygopteren ist die appendix dorsalis rückgebildet, dagegen liaben sich die beiden appendices laterales wohl entwickelt und die Form zweier zu den Seiten der Aft^eröffhimg befindlicher etwa griffel- fÖrmig gestalteter Anhänge angenommen, die als Hülfsapparate bei der Gopulation zu fungiren haben (vergl. Kolbe 8i) und welche man als »untere appendices anales« oder als »inferior terminal appendages« beschrieben findet.

Die geschilderten Verhältnisse veranschaulichen die Abbildungen Fig. i und 6. Als Vertreter der Zygopteren mag das Männchen von Calopteryx splendens Harr, dienen. Die processus caudales sind die grofsen dorsalen, schwarz chitinisirten Anhänge, die am distalen Ende verdickt sind (Fig. 6 proc caud). Etwas oberhalb (dorsal) von ihnen liegt unter dem grünen, metallisch glänzenden Tergit des lo. Segmentes der als appendix dorsalds anzusehende Tiieil verborgen, soweit man überhaupt von einem solchen noch reden kann. Er ist nämlich weichhäutig geworden, und nur in der an der betreffenden Stelle liegenden, noch ein wenig dunkler grau gefärbten Haut- partie (Fig. 6 app dors) hat man den letzten Überrest der mittleren Tracheenkieme

40 R. Heymons:

bez. des 1 1 . Tergites vor Augen. Die appendices laterales (Cerci bez. laterale Tracheenkiemen) sind dagegen wohl entwickelt. Sie bilden das ventral gele- gene Paar von Hinterleibsfortsätzen, endigen mit abgerundeter Spitze und sind auf ihrer dorsalen Seite schwarz , auf der ventralen gelb gefärbt. Gesonderte laminae anales sind beim Männchen von Calopteryx nicht zu erkennen.

Ähnlich verhält es sich bei dem Weibchen. Die processus caudales sind hier kürzer und enden zugespitzt. Das Rudiment des 1 1 . Tergites (appendix dorsalis) ist deutlicher und zeigt sich in Form eines kleinen Zapfens. Die appendices laterales haben die Gestalt einfecher, halbmondförmiger Platten angenommen, welche die mediane Afterspalte zwischen sich fassen.

Einfachere und ursprünglichere Verhältnisse geben sich indessen noch bei vielen Anisopteren zu erkennen. Als Beispiel gebe ich die Abbildung eines Hinterleibsendes von Gomphus üulgatissinrns (Fig. i). Beim Männchen fallen auch hier zunächst wieder als dorsale, am Ende etwas verdickte Anhänge die processus caudales ins Auge. Ventralwärts von ihnen bemerkt man eine breite schwarze Chitinplatte, welche distal in zwei Hörner aus- läuft. Es ist die stark entwickelte appendix dorsalis, deren Gabelung am Ende als eine specielle Eigenthümlichkeit von Gomphus zu betrachten ist.

Die gleichfalls dem 1 1 , Abdominalsegmente angehörenden appendices laterales sind vollkommen abgeflacht, dabei etwa halbmondförmig gestaltet und schliefsen sich hinten an das lo. Sternit an. Ihr nach hinten gerichteter dunkel gefärbter Rand ist mit schwarzen Chitinhaaren besetzt.

Auch die dem Endsegmente angehörenden laminae anales sind beim GompAt^-Männchen noch erhalten (Fig. i htm sup und sitb). Es sind drei blafs gefärbte und schwächer chitinisirte Platten, die zwischen den appendices liegen und den After umrahmen.

Vergleicht man die Gestaltung des Hinterleibes ausgebildeter Libellen mit derjenigen junger Larven, so fällt also in erster Linie eine mehr oder minder weitgehende Rückbildung der in dem vorigen Abschnitt besprochenen Hinter- leibsfortsätze auf. Die drei langen Kiemenanhänge der Zygopteren, die drei grofsen Schwanzstacheln der Anisopteren sind verschwunden oder doch zu kleinen, verhältnifsmäfsig unbedeutenden, meistens plattenförmig gestalteten Gebilden verkümmert. Ihre Stelle wird bei den Imagines gewissermafsen durch die um so stärker entfalteten beiden processus caudales eingenommen.

Die nach Verkümmerung der appendices laterales übrig gebliebenen abgeflachten Platten sind als das zweigeth eilte ii. Sternit zu betrachten.

Erdwickelung und Körperbau von Odonaten und E^hemeriden. 41

Gerade wie bei den Orthopteren die Cerci sich auf den Seitenhälften der 1 1 . Bauchplatte erheben, so ist diefs auch bei den appendices laterales der Odonatenlarven der Fall. Nach erfolgter Rückbil- dung der appendices sind daher bei dem ausge- bildeten Insect die lateralen Theile der 1 1 . Bauch- platte allein noch erhalten geblieben. Die beiste- hende schematische Figur wird diefs verdeutlichen.

Einer noch weitergehenden Rückbildung sind aber bei der Imago die Bestandtheile des Analseg- mentes anheimgefallen. Die laminae anales, soweit sie als solche sich überhaupt erhalten haben, stel- len kleine zipfelförmige Gebilde dar, die oft in ihrer ganzen Ausdehnung mit den Überresten der drei appendices verschmolzen sind, bisweilen sich aber von diesen {Gomphus- Männchen) auch noch deutlich getrennt erhalten können. Stets sind die la- minae anales fast gänzlich weichhäutig geworden und haben demnach ihre frühere Chitinisirung, die bei jungen Larven noch deutlich war, verloren.

Die Ausbildung der einzelnen Abdominalfortsätze bei den Imagines der beiden groCsen Odonatengruppen mag folgende Übersicht veranschaulichen.

Sehema der hinteren AbdominiÜBter- nite einer uiisopteren Libelle. Die bei der Inuigo sn Onude gegangenen Theile ■ind ponkürt, die laminae analea aehraf- llrt. ap SS appendieea lateralea.

Zygcptera 9

Zygoptera^

AnisopUra 9

Äniscptera ^

Processus caudales

vorhanden

vorhanden

vorhanden

vorhanden

(•obere appendices

anales-) nebst Tergit

und Sternit des i o. Seg-

mentes

appendix dorsalis

fehlt

fehlt

normal ent-

stark entwickelt

(= Tergit des ii. Seg-

wickelt

und zu einem

mentes)

(II. Tergit)

plattenf5rmigen Anhang gewor- den (»untere ap- pendix analis")

appendices laterales

zweigetheiltes

stark ausgebil-

zweigetheiltes

zweigetheiltes

(Cerci)

1 1. Sternit

det und meist hakenförmig ge- staltet («untere appendices anales«)

II. Sternit

II. Sternit

laminae anales

fehlen

fehlen

wenig ent- wickelt oder fehlen

wenig ent- wickelt oder fehlen

Fkys. Abh, nicht zur AJcad. gMr. Gelehrter. 1896. L

42 R. Heymons:

Ich bemerke hierzu, dafe die vorstehende Tabelle nur in grofsen Um- rissen ein Bild von der Entwickelung gewähren soll, welche die betreflfen- den Theile genommen haben. Es ist mir bekannt, dafs Abweichungen vor- kommen, dafs auch bei manchen Zygopterenmännchen die appendices late- rales klein und unscheinbar sind, oder dafs in anderen Fällen bei männ- lichen Anisopteren die appendix dorsalis nicht plattenformig ist, sondern sich am Ende gabeln kann (Gomphus, CorduUa aenea).

Auf derartige specielle Eigenthümlichkeiten konnte hier keine Rück- sicht genommen werden. Die Übersicht ergibt aber, dafs bei den Zygop- teren im allgemeinen sich eine weitergehende Rückbildung der einzelnen Abdominalabschnitte zu vollziehen pflegt, während bei den Anisopteren ur- sprünglichere Verhältnisse in dieser Hinsicht bestehen bleiben. Bei den Angehörigen der letzteren Gruppe wird man wenigstens in sehr vielen Fällen (GomphuSj Sympetrum u. a.) aufser den ersten lo typischen Abdo- minalsegmenten noch die Bestandtheile des 1 1 . Segmentes (Tergit, median gespaltenes Stemit) sowie diejenigen des Endsegmentes (laminae anales) erkennen können.

Letzteres Verhalten darf deswegen ein besonderes Inter- esse beanspruchen, als damit sich Fälle zeigen, in denen bei den Insecten selbst bis zur Imago hinauf noch deutliche An- zeichen einer ursprünglichen Zusammensetzung des Abdomens aus 12 Segmenten sich erhalten haben.

Die hier gegebene Beschreibung des Odonatenabdomens weicht von der bisherigen Auffassung in mancher Beziehung ab. Besonders gilt diefs in Hinblick auf die laminae anales. Die geringe Entwickelung dieser Theile ist wohl die Veranlassung gewesen, weswegen sie bisher bei den Imagines noch nicht beschrieben und von früheren Autoren überhaupt noch niemals als solche erkannt worden sind. Da man aber natürlich schon längst nach Afterklappen bei den Libellen gesucht hat, so wurden nicht selten die Reste der appendices laterales (ii. Sternit) als valvulae anales in Anspinich ge- nommen.

Als Beispiel citire ich in dieser Hinsicht Peytoureau (95), der mit dieser Deutung in einen Irrthum verfallen, welcher freilich um so mehr entschuldbar ist, als die betreffenden Hälflen der 1 1 . Bauchplatte den lami- nae anales anderer Insecten, denen sie wohl auch zum Theil physiologisch entsprechen, in der That sehr ähnlich gestaltet sind, und als vor allem

Entuyickehmg und Körperbau ton Odonaten und Ephemeriden. 43

über die Entwickelung der genannten Theile seiner Zeit noch nichts be- kannt gewesen war\

Die Hinterleibsfortsätze der Libellen sind femer in neuerer Zeit noch von Calvert (93), dem besten Kenner der neuweltlichen Odonaten, studirt worden. Der americanische Forscher hat das Verdienst, bereits darauf hin- gewiesen zu haben, daCs die processus caudales («superior terminal appen- dages«) erst während des Larvenlebens angelegt werden.

Hinsichtlich der männlichen Odonaten machte Calvert darauf auf- merksam, dals eine Homologie zwischen den Hinterleibsanhängen nicht vor- liege, indem die »inferior appendages« bei den beiden Gruppen [Zygoptera und Anisoptera) sich nicht entsprächen. Es liegt wohl auf der Hand, dafs hiermit zwei Gebilde mit einander verglichen und mit demselben Namen belegt worden sind, welche nichts mit einander zu thun haben.

Als inferior appendage ist bei den Anisopteren ein Theil bezeichnet worden , welcher die appendix dorsalis oder das 1 1 . Tergit darstellt. Die inferior appendages der Zygopteren entsprechen dagegen den oben von mir appendices laterales genannten Sehwanzanhängen.

Wenn man daher berücksichtigt, dafs die Anhänge des 1 1. Abdominal- segmentes, die appendices caudales, sich bei Anisopteren und Zygopteren verschieden stark entwickelt haben, wie diefs in der obigen Übersicht zum Ausdruck gebracht wurde, so wird es nicht schwer fallen, eine zutreffende Homologisirung zwischen den verschiedenen Bestandtheilen bei den beiden Gruppen herauszufinden.

Noch in einem anderen Punkte haben meine Untersuchungen zu einem abweichenden Ergebnifs gefuhrt.

Die sehr weit verbreitete und gegenwärtig wohl ziemlich allgemein eingebürgerte Ansicht, dafs die ausgebildeten Libellen regelmäfsig im Besitze zweier Cerci oder Afterraifen seien, hat sich nicht als richtig herausgestellt.

* Peytoureaii hat in seinem Werke (p. 170) bereite in treffender Weise darauf auf- merksam gemacht, dafs das Abdomen der Libellen (Pseudo-Nevropteres) selbst im imaginalen Zustande noch elf wohl entwickelte Segmente besitzt. Diese Angabe hat jedoch von Seiten mancher Autoren nicht die gebührende Beachtung gefunden, denn man begegnet sogar gegen- wartig noch der Meinung, dafs das Abdomen eines ausgebildeten Insectes nur aus zehn Segmenten bestehen könne. Ein derartiger Standpunkt scheint besonders noch von Verhoeff (Zoolog. An- zeiger Bd. 19 Nr. 512) vertreten zu werden, der erst neuerdings an der Existenz eines it. Ab- dominalsegmentes bei den Insecten gezweifelt hat.

44 R. Hetmons:

Die als Raife betrachteten Anhänge (»obere appendices anales«) ent- sprechen den von mir processus caudales genannten Gebilden, welche erst während der Larvenzeit sich entwickelnde Hautwucherungen sind und, wie auch schon Calvert richtig hervorhob, dem lo. Abdominalsegmente an- gehören, während die Cerci der Orthopteren als die dem 1 1 . Segmente zu- kommenden Anhänge betrachtet werden müssen und sich auf embryonale Extremitäten zurückföhren lassen.

In der Gruppe der Odonaten sind bei den Imagines mit den Cerci anderer Insecten allenfalls zu vergleichende Bildungen nur an männlichen Zygopteren entwickelt und stellen bei letzteren die sogenannten »unteren appendices anales«, von mir appendices laterales bezeichneten (Fig. 6 app lat) Anhänge dar. Indessen dürfte es selbst hier sehr zweifelhaft sein, ob eine wirkliche Homologie zwischen den genannten Anhängen und den Cerci vor- liegt. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.

Auf eine genauere Beschreibung des Hinterleibsendes bei den Epheme- riden glaube ich Verzicht leisten zu können. Die Bildung des Abdomens läfst sich bei den Imagines ungezwungen auf diejenige der Larven beziehen, welche bereits oben fiir Ephemera vulgata geschildert wurde.

Das I o. Abdominalsegment pflegt im imaginalen Zustande stets wohl erhalten und mit Tergit und Sternit versehen zu sein. Das 1 1. Sternit fehlt vollkommen. Das 1 1 . Tergit erhält sich meistens in Form des mittleren Schwanzfadens oder als Rudiment eines solchen. Die lateralen Schwanz- fSden oder Cerci bleiben erhalten. Laminae anales sind bei Epliemera vulgata nicht mehr nachzuweisen und auch bei anderen Ephemeriden sind sie in der Regel sehr stark reducirt.

Die sogenannten Haltezangen der männlichen Ephemeriden stellen Hypo- dermisfortsätze dar, die am Hinterende des 9. Abdominalsegmentes zur Ent- wickelung gelangen und sehr häufig eine Gliederung gewinnen.

5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme.

Trotzdem bei den Odonaten und Ephemeriden sich die Bildung der inneren Organsysteme, des Nervensystems, der Musculatur u. s. w. ganz an den bei den Orthopteren bekannt gewordenen Typus anschliefst, so zeigen sich doch im einzelnen geringfiigige Abweichungen. Niu* einige Punkte mögen

Entanckehmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 45

noch eine Erwähnimg finden, eine erschöpfende Behandlung des Gegenstandes liegt hierbei jedoch nicht in meiner Absicht.

Das Mesoderm gliedert sich £rühzeitig in die Ursegmente, welche gerade wie bei den Orthopteren die Höhlen der Extremitäten auskleiden. Von Interesse ist, dafs bei Epitheca selbst noch im 1 1 . Abdominalsegmente ein Paar von Coelomsäckchen sich vorfindet. Letzteres ist an Totopraeparaten eigentlich noch deutlicher als an Schnitten zu erkennen.

Die 1 1 . abdominalen Ursegmente liegen etwas weiter medial als in den vorhergehenden Segmenten und bestehen natürlich nur aus wenigen Zellen. Die Ursegmenthöhle ist dementsprechend auch klein, gleichwohl aber deutlich ausgeprägt. An Schnittserien gelingt der Nachweis deswegen schwerer, weil wegen der Kleinheit des Objectes und der in der Regel asymmetrischen Krümmimg des hinteren Abdominaltheiles sich die richtige Orientirung durchaus nicht leicht erzielen läfst. Immerhin habe ich mich auch an Schnitten von der charakteristischen epithelialen Anordnung der Mesodermzellen im 1 1 . Abdominalsegment mit Bestimmtheit überzeugen können imd zweifle nicht, dafs aufser bei Epitheca auch bei anderen Libel- luliden elf abdominale Coelomsäckchenpaare vorhanden sind.

Es ist diefs ein Verhalten, welches im allgemeinen bei den Insecten nur sehr selten sich findet und bisher Oberhaupt nur bei Phyllodrofnia ger- fnanira bekannt geworden ist. Nachdem sich aber gezeigt hat, dafs die Segmentirung des Abdomens bei den Odonaten noch recht ursprüngliche Verhältnisse aufweist, kann es natürlich nicht überraschen, wenn das 1 1. Abdominalsegment, dessen Natur als typisches Körpersegment ich be- reits bei früherer Gelegenheit betont hatte, auch noch mit den Attributen eines solchen ausgestattet ist.

Die weitere Differenzirung der Ursegmente, die Bildung des Pericardial- septums, des Herzens, der Muskeln u. s. w. schlielst sich nach meinen Be- obachtungen sehr eng an diejenige der Orthopteren an. Auch die Entstehung des Nervensystemes kann ich kurz erledigen. Gehirn und Bauchmark werden frühzeitig angelegt, wobei wie bei anderen Insecten grofse Ganglienmutter- Zellen oder Neuroblasten in Thätigkeit treten. Selbst im ii. Abdominal- segment werden einzelne Ganglienzellen gebildet.

Eine Concentration der gesammten Bauchganglienkette geht nur in geringem Mafse vor sich, doch verschmelzen die letzten Abdominalganglien mit einander. Bei den Ephemeriden vereinigt sich auch während des

46 R. Heymons:

Embryonallebens das erste Abdominalganglion mit dem dritten thorakalen, während bei den Odonaten diefs nicht der Fall ist. Bei den jungen I^rven der letzteren enth&lt daher das Bauehmark aufser dem suboesophagealen und den drei thorakalen Ganglien noch acht freie Abdominalganglien (Fig. 3 und 4), bei den Ephemeriden nur sieben.

Vom Vorderdarm aus wird das ganglion frontale angelegt, welches besonders bei Ephemera und Agrion stark entwickelt ist. Es steht durch den nervus recurrens mit einigen kleineren dem Vorderdarm aufgelagerten Schlundganglien in Zusammenhang.

Die bei Coleopteren und Orthopteren von verschiedenen Beobachtern nachgewiesenen Oenocyten, die in segmentaler Anordnung aus der Hypo- dermis sich loslösen und in das Innere einwandern, werden bei den hier besprochenen Insecten vermifst. Wenigstens kommen sie nicht während des Embryonallebens zur Entwickelung.

Nach Wheeler(92) sollen jedoch im Verlaufe des Larvenlebens einige durch ihre Gröfse auffallende Hypodermiszellen in das Innere vorspringen und den Oenocyten anderer Insecten entsprechen. Ähnliche in der Hypo- dermis liegende grofse Zellen habe auch ich beobachtet, doch ist nach meinen Erfahrungen der Nachweis, ob solche Zellen später in das Innere einwandern und ob sie den echten Oenocyten thatsächlich gleich zu setzen sind, wohl recht schwer zu erbringen. Jedenfalls ist hervorzuheben, dafs bei den Odo- natenlarven {Agrion, Epitheca, Aeschna u. a.) zu keiner Zeit irgend eine seg- mentale Anordnung grofser Ektodermzellen sich bemerkbar macht, wie sie bei der Bildung der typischen Oenocyten anderer Insecten charakteristisch zu sein pflegt. Auch in dem Fettkörpergewebe treten entsprechende 2^11en nicht hervor.

Als Suboesophagealkörper deute ich zwei Zellenanhäufungen (Fig. 2 2 sök), die man bei Embryonen und jungen Larven von Ephemera dem unteren Schlundganglion aufgelagert zur Seite des Vorderdarmes antrifft. Sie bestehen aus grofsen blassen Zellen, welche bekanntlich auch fiir das in Rede stehende Organ bei Orthopteren charakteristisch zu sein pflegen. Bemerkenswerth ist, dafs bei Ephemeriden der Suboesophagealkörper selbst noch bei der Larve paarig ist, während er bei den Orthopteren schon während der Embryonal- zeit durch Verschmelzung zu einem unpaaren Gebilde wird.

Bei den Odonaten habe ich den Suboesophagealkörper nicht aufgefunden. Eine ähnliche Bedeutung haben aber möglicher Weise auffallend grofse kuge-

EntwicJcekmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 47

lige Zellen, die man bei älteren Embryonen von Epüheca in gröfeerer Zahl im Körper zerstreut und zwar hauptsächlich in der Kopfpartie antrifft. Ich vermute, dafs sie mesodermaler Herkunft sind.

Die Mundeinstülpung kommt schon zum Vorschein, noch ehe der Keim- streifen sich in den Dotter eingesenkt hat. Der After folgt erst etwas, später nach. Von Mund und After wachsen "Stomo- bez. Froktodaeum als sack- förmige Gebilde ins Innere. Zur Zeit der UmroUung entstehen bei den von mir untersuchten Odonaten am blinden proximalen Ende des Prokto- daeums einige kleine Divertikel, die zu den Malpighi'schen Gefäfsen werden. Stets sind anfangs nur ein mittleres dorsales und zwei laterale vasa Mal- pighi vorhanden, die unter einander alle von gleicher Länge sind. Fig. 25 zeigt ihre Einmündung in den Darm.

Bei den mannigfachen Übereinstimmungen, die sich zwischen Odonaten und Ephemeriden vorfinden, hätte man vielleicht erwarten können, daßs nun auch bei letzteren Insecten drei Malpighi'sche Gefäfse sich zeigen würden. Das ist aber nicht der Fall. Bei den Embryonen von Ephemera gelangen ursprünglich nur zwei lateral gelegene vasa Malpighi zur Ent- wickelung, ohne fiir das erste überhaupt einen Zuwachs zu erhalten. Bei den jungen Larven von Ephemera sind die Malpighi'schen Gefä&e noch aufserordentlich kurz, nach vom gewendet und bestehen aus grofsen blassen Zellen, wodurch sie ziemlich leicht erkennbar werden.

Auch in dem nächstfolgenden Larvenstadium, wenn bereits seitliche zipfelförmige , aber noch un verästelte , Tracheenkiemen entstanden sind, dauert der beschriebene Zustand noch unverändert an.

Meine Vermuthung, dals nun vielleicht in einer späteren Larvenepoche das dritte unpaare Gefafs der Odonaten noch nachträglich erscheinen würde, hat sich soweit ich die Entwicklung verfolgen konnte nicht be- stätigt. Bei älteren, mit gefiederten Tracheenkiemen versehenen Epheme- ridenlarven sprofst vielmehr sogleich ein weiteres Paar von Gefäfsen an der Vereinigimgsstelle von Mittel- und Enddarm hervor. Diese neuen vasa Malpighi treten etwas weiter dorsal als die zuerst entstandenen auf, so dafe nunmehr im ganzen vier, symmetrisch angeordnete und lateral ge- legene Gefäfse vorhanden sind, ein Verhalten, welches ganz demjenigen der meisten jungen Orthopteren entspricht. Der in Fig. 26 dargestellte Querschnitt zeigt die vier Malpighi'schen Gefäfse einer jungen Ephemera- Larve. Die neu hervorgesproisten vasa pflegen anfangs immer noch aus

48 R. Heymons:

kleinen Zellen mit dunkleren Kernen zu bestehen, und diese fligentliüin* liehkeit ist, wie die Abbildung zeigt, auch noch an dem zuletzt gebil- deten dorsalen Gefäfspaar zu erkennen. Die Zellen des ventralen Paares dagegen stimmen in ihrem Habitus vollkommen mit den Zellen des vorderen Abschnittes des Enddarms überein. An der linken Seite der Figur ist die Einmündung eines ventralen GefaCses in das Darmlumen bemerkbar.

In späteren Stadien erst, wenn die Kiemen der Ephefnera-lMwe zwei- Ästig geworden, imd wenn auch am i. Abdominalsegment ein feiner Kie- menfaden hervorgesprofst ist, kommt es zur Bildung eines unpaaren, me- dianen vas Malpighi. Dieses letztere liegt aber nicht dorsal, wie bei den Odonaten, sondern ventral.

Gleichzeitig damit beginnen auch die zuerst entstandenen vasa Mal- pighi Seitenäste zu treiben, so dafs damit das Bild ein immer complicir- teres wird. Das unpaare 5. vas Malpighi ist bei dem in Fig. 23 darge- stellten Schnitt getroffen worden. Durch die Kleinheit seiner Zellen unter- scheidet es sich noch auf den ersten Blick von den vier paarigen Ge- fäfsen.

Bei Caenis scheint die Entwickelung in ganz entsprechender Weise vor sich zu gehen, denn anfangs kommen ebenfalls nur zwei laterale 6e- fifse zur Anlage.

Bei den Odonaten bleibt die junge Larve ziemlich lange in dem Be- sitz von nur drei Malpighi 'sehen Gefäfsen. Letztere wurden bereits von Calvert bei Gomphus exüis und Ubellula pulchella beobachtet und in einer kurzen Mittheilung (95) über die Anatomie der jungen Larve beschrieben. Bei den von mir untersuchten Formen ist das Verhalten ein derartiges, dafs bei Agrion die drei vasa Malpighi in annähernd geradem Verlauf bis ins 10. Abdominalsegment ziehen, während sie bei Epitheca und LibeUula geschlängelt sind und nach kurzem Verlaufe nach hinten, sich wieder nach vorn umbiegen. Diese Erscheinung hangt vielleicht mit der Darmathmung bei den letztgenannten Formen zusammen, wegen welcher der Raum in dem hinteren Abdominaltheil zunächst wohl ausschliefslich fiir den erwei- terungsbedürftigen Enddarm reservirt bleiben mufs.

Die hier mitgetheilten Thatsachen genügen wohl, um zu zeigen, dafs bei der Anlage der Malpighi'schen Gefäfse der Insecten ziemlich weit gehende Variationen eintreten können.

Efntuoickehmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 49

Besonders der Umstand, dafs bei den Odonaten die vasa Malpighi ur- sprünglich unpaar sind und in Dreizalil angelegt werden, ist bemerkens- werth. Dieses Verhalten contrastirt nämlich mit allem , was über die Bil- dung der Malpighi'schen Gefäfse bisher bekannt geworden ist. Letztere pflegen im allgemeinen von Anbeginn paarig zu sein und werden, nach den bisherigen Angaben zu urtheilen, wohl bei der Mehrzahl der Insecten in Vierzahl angelegt.

Die ursprüngliche Zahl von vier Malpighi 'sehen Gefäfsen ist beispiels- weise die typische för zaldreiche jugendliche Orthopteren, Dermapteren, Coleopteren, Neuropteren, Hymenopteren, Dipteren u. s. w.

Auch den Ahnenformen der Insecten, dem hypothetischen Urinsect oder Protentomon, hat man bereits ohne Bedenken den Besitz von vier Harn- kanälchen zugesprochen. Von anderer Seite wiederum, z. B. von Wheeler (93), wurde dagegen die Sechszahl der Malpighi 'sehen Gefäfse als die primäre för die Insecten betrachtet. Hauptsächlich hat man aber stets ein besonderes Gewicht auf die Paarigkeit der vasa Malpighi gelegt und aus diesem Grunde auch schon mehrfach Veranlassung genommen, sie mit anderen paarigen Organen, z. B. Tracheeneinstülpungen, mit den segmentalen Oenocytenansammlungen, mit Nephridien u. dergl. in Beziehung zu setzen bez. die Harnkanälchen von solchen abzuleiten.

Die Bildung der vasa Malpighi bei den Ephemeriden und Odonaten zeigt aber wohl in überzeugender Weise, auf wie schwankendem Boden alle derartigen weitgehenden Hypothesen beruhen.

Meiner Ansicht nach kann eine Zurückfuhrung der Malpighi 'sehen Röhren auf Segmentalorgane, Tracheen u. s. w. gar nicht in Frage kommen. Nichts spricht daför, dafs solche Organe, die doch frei an der Körper- oberfläche ausmünden, einmal durch den After hindurch in das Innere des Körpers verlagert und zu Harnkanälchen umgestaltet wären. Im Gegen- theil, es zeigt sich, dafs bei niederen Insecten, z. B. Campodea, wo eigent- liche Malpighi'sche Gefäfse noch fehlen, doch schon an der charakteri- stischen Stelle, d. h. am proximalen Ende der Enddarm wandung, Drüsen- zeUen entwickelt sind. Bei höheren Formen kommt es dann daselbst zur Ausstülpung der drüsigen Elemente und damit zur Bildung der Malpi- ghi'sehen Gefäfse selbst.

Diese letzteren sind also lediglich als löcale Ausstülpungen der End- darmwandung anzusehen. Ihrer so häufig zu beobachtenden Paarigkeit ist /%*. Äbh. nicht zur Mad. gehör. Gelehrter, 1896. I. 7

50 R. Heymons:

sicherlich keine tiefer gehende Bedeutung beizumessen, sie steht eben nur in Einklang mit der symmetrischen Gestaltung des Insectenkörpers über- haupt. Über die Zahl der Malpighi'schen Gefafse bei den Vorfahren der Insecten fehlt uns vorläufig noch jeder Anhalt. Wir wissen nur, dafe ihre Zahl bei den heutigen Insectengruppen eine variabele ist, innerhalb einer und derselben Gruppe aber anfänglich, d. h. bei jugendlichen Repraesen- tanten immer annähernd constant zu sein scheint.

Wenn die jungen Larven das Ei verlassen haben, so steht, sowohl bei den Ephemeriden wie bei den Odonaten, ihre innere Organisation noch auf einer relativ niederen Stufe. Nur das Nervensystem und die Musculatur, das Herz sowie Vorder- und Enddarm sind schon deuthch differenzirt. Der Mitteldarm ist im Innern mit Dotter geföUt, bis zu dessen Resorption, die oft mehrere Stunden, ja selbst Tage in Anspruch nehmen kann, die jungen Thiere noch keine Nahrung zu sich nehmend

Im Innern der Leibeshöhle zwischen Darm und Körperwand bemerkt man im wesentlichen nur ein Gewirr von ziemlich gleichartigen Strängen und Zellen, aus denen sich erst allmählich der Fettkörper, die feineren Tracheen Verzweigungen sowie die Geschlechtsorgane differenziren.

Verglichen mit den jungen Larven der Orthopteren und Dermapteren befinden sich daher diejenigen der Odonaten und Ephemeriden noch recht weit in der Entwickelung zurück. Diese Erscheinung ist jedenfalls durch die eigenartigen biologischen Verhältnisse bedingt worden, denen ja über- haupt die gesammten Fortpflanzungsprocesse der ^ AmphUnotica^ angepafst erscheinen. Die vielen Gefahren, denen die Larven der genannten Insecten gerade bei ihrem Wasseraufenthalte ausgesetzt sind, indem sie durch zahl- reiche Raubinsecten, durch ungünstige Wasser- und Strömungsverhältnisse bedroht werden, bringen es wohl mit sich, dafs diese Thiere zur Erhal- tung ihrer Art eine sehr beträchtliche Anzahl von Eiern produciren müs- sen. Die letzteren können daher natürlich nur klein sein und geben auch Larven von sehr geringer Körpergröfse den Ursprung. Die Entwickelung innerhalb des Eies vermag somit nicht in allen Punkten so weit fortzu- schreiten, wie diefs bei den grofsen Eiern der meisten Landinsecten der FaU ist.

^ Auf das eigenartige Verhalten die Dotterzellen, welche sich bei den Libellen an der Bildung des Mitteldarmes betheiligen, beabsichtige ich, an einer anderen Stelle ausführlicher einzugehen.

EniwicJcelung und Körperbau wn Odonaten tmd Ephemeriden. 51

Im übrigen ist das Verhalten aber nicht so zu verstehen, als ob den jungen Larven gewisse Organe noch gänzlich fehlten. Man hat angege- ben, dafs die jüngsten I^rvenstadien der Libellen noch keine Geschlechts- organe, keine Tracheen, Speicheldrüsen und Blutgef&fssystem besitzen sollten.

Das ist nicht richtig, und auch für die Ephemeriden habe ich ähnlich lautende Angaben bereits zurückgewiesen (96*). Die angeführten Organe sind sämmtlich bereits vorhanden , nur ihrer Kleinheit und geringen Diffe- renzirung wegen schwer zu erkennen.

Die Anlage der Speicheldrüsen, geht bei den von mir untersuchten Formen sicher schon während der Embryonalzeit vor sich , denn selbst bei den jüngsten eben ausgeschlüpften Larven kann man die Drüsenanlagen trotz ihrer Kleinheit an Schnittserien ganz gut erkennen. Ein besonders hierzu geeignetes Object ist Agrion.

Die Speicheldrüsen bestehen anfangs nur aus wenigen grofeen blassen Zellen, die vom an der Basis der vorderen Maxillen mit der Hypodermis in Verbindung stehen, an welcher Stelle sich, wie es scheint, auch später eine Ausmündung befindet. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dafs ganz im Anfange die kleinen Speicheldrüsen noch nicht functioniren, erst bei älteren Larven dürften sie in Thätigkeit treten und fallen dann auch sogleich durch ihre charakteristischen grofsen Kerne ins Auge. 'Übrigens zeigt sich bei den jungen Odonatenlarven noch insofern ein etwas primitives Verhalten, als ein Aar die beiden Drüsen gemeinsamer unpaarer Endabschnitt des Ausfuhrungs- ganges noch fehlt. Einen solchen habe ich an Schnittserien niemals auf- finden können. Er wir<l offenbar erst im weiteren Verlaufe der larvalen Entwickelung angelegt und mündet dann am Grunde des Labiums zwischen diesem und dem Hypopharynx aus. Das Gleiche ist, wie bereits durch die Untersuchungen von Poletaiew (81) festgestellt wurde, noch bei der Imago der Fall.

Die Ausmündung der Speicheldrüsen an der bezeichneten Stelle durch einen unpaaren Gang steht mit dem Verhalten der Speicheldrüsen bei den Orthopteren in Übereinstimmung. Bei letzteren werden allerdings nicht nur die Drüsen selbst, sondern auch ihr Ausfuhrungsgang im Laufe des Em- bryonallebens bereits vollkommen fertig gestellt. Diefs gilt z. B. fiir die Blattiden und Grylliden. Bei letzteren Insecten erstreckt sich der Speichel- gang gleichfalls bis zur Basis des Labiums, ohne dafs, wie ich früher (95*)

52 R. Heymons:

an einer Stelle angegeben hatte, eine Communication mit dem Oesophagus zu Stande kommt.

Das Tracheensystem der Odonaten wird ebenfalls bereits bei den Em- bryonen angelegt, an welchen die typischen lo Stigmenpaare zu beobachten sind. Bei den jungen Larven sind freilich nur erst die gröfseren Tracheen- stamme fertig gestellt, die ursprunglich noch keine Luft enthalten, und deren Wandungen schwärzlich pigmentirt sind. Die kleineren Ti-acheenäste bestehen anfänglich noch aus einfachen, spindelförmigen an einander ge- reihten Zellen, die sich erst später differenziren.

Ein anscheinend specifisch larvales Organ habe ich regelmSfsig bei jugendlichen Odonatenlarven angetroffen. Es ist paarig und besteht aus einer Anzahl farbloser, blasser Zellen, die mit grofsen Kernen versehen sind und in Form eines Bandes oder eines Stranges in den hinteren Abdo- minalsegmenten ventralwärts vom Darm liegen. Bei Epitheca'laLT\en findet es sich im 9. und 10. Segmente vor und seine beiden Hälften (Fig. 27/jpA) stehen hinten durch eine ventrale Querbrücke mit einander in Zusammen- hang. Der histologischen Structur nach zu urtheilen, gehört das Gebilde in die Reihe der lymphoiden Organe und ist vermuthlich den Pericardial- zellen anderer Insecten, den paracardialen LymphplSttchen der Forficuliden u. s. w. homolog zu setzen.

Zum Schlufs noch einige Worte Ober die Genitalorgane. Daßs diesel- ben bei den jungen Odonatenlarven sich noch in einem Stadium aufser- ordentlich wenig fortgeschrittener Differenzirung befinden, wurde schon oben hervorgehoben. Thatsächlich ist es mh* bei den jüngsten eben aus- geschlüpften Larven noch nicht möglich gewesen, die Geschlechtsorgane mit Sicherheit aufzufinden. In der Leibeshöhle trifft man zwar zwischen den Bindegewebs-, FettkörperzeUen und Tracheen Zellengruppen an, die ihrer Lage nach den späteren Genitalzellen möglicherweise entsprechen, die sich aber doch noch nicht deutlich als solche zu erkennen geben.

Erst wenn die junge Larve selbständig Nahrung zu sich nimmt, und wenn auch noch eine Häutung vorüber gegangen ist, kann man zu den Seiten des Darmes die Genitalorgane mit Bestimmtheit ausfindig machen. Es sind sehr kleine spindelförmige Gebilde, die nur auis we- nigen Zellen zusammengesetzt sind, deren Kerne durch hellere Farbe von den umliegenden Bindegewebs- und Fettkörperzellkernen sich untei*- scheiden.

Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 53

An das hintere Ende jeder Genitalanlage schlieften sich einige feine langgestreckte Zellen an, die man nur mit vieler Mühe durch das in der Leibeshöhle befindliche Convolut von Tracheen, Malpighi 'sehen Gefafsen u. s. w. hindurch bis zur Hypodermis verfolgen kann. Sie stellen die An- lage des Ausfiihrungsganges dar.

In dem verschiedenartigen Verhalten der Ausfuihrungsgänge tritt auch bereits ein sexueller Unterschied zu Tage. Beim Männchen lassen sich näm- lich die Geschlechtsgänge bis zur Hypodermis des 9. Abdominalsternites verfolgen. Beim Weibchen reichen sie nur bis ins 7. Abdominalsegment, um sich ungefähr in der Mitte desselben (EpUheca^ Cordulia) oder in der hinteren Hälfte {Agriori) an die Hypodermis anzusetzen. Die fiSr die Or- thopteren so charakteristischen Anschwellungen am Ende der Geschlechts- gange, die sogenannten Ampullen, sind bei den Odonaten nicht entwickelt.

Die Zellen der Geschlechtsdrüsen selbst sehen in beiden Geschlechtern bei den jungen Larven noch vollkommen gleichartig aus. Irgend ein Merk- mal, ob eine männliche oder eine weibliche Keimdrüse aus ihnen hervor- gehen wird, existirt noch nicht. Selbstverständlich ändert sich im weiteren Entwickelungsverlauf das geschilderte Verhalten. Die sexuelle Differenzi- nmg tritt später ein, und bei alten Larven lassen sich bei einiger Sorg- falt die Geschlechtsgänge sogar makroskopisch praepariren.

Bei den eben ausgeschlüpften Larven von Ephemera vulgata sind die Geschlechtsorgane zwei überaus kleine spindelföiinige Gebilde, die man im 2. Abdominalsegmente dorsalwärts vom Darme antriflTt. Ihre Ausfiihi-ungs- gange sind anfangs noch nicht deutlich zu verfolgen. Sie heften sich in späteren Stadien beim Männchen an das 9., beim Weibchen an das 7. Ab- dominalstemit an.

In der Entwickelung der Genitalorgane tritt im wesentlichen eine Über- einstimmung mit den Orihopiera genuina zu Tage. Freilich ist zu berück- sichtigen, dafs bei den Odonaten und Ephemeriden die DifFerenzirung der Geschlechtsdrüsen nicht beim Emliiyo, sondern erst bei der Lai-ve sich ab- spielt. Hierauf ist aber wohl kein sehr grofses Gewicht zu legen, denn es hat sich gezeigt, dafs auch bei anderen Organen ähnliche Erscheinun- gen sich geltend machen.

Es ist mir nicht möglich gewesen, bei den Odonaten und Epheme- riden Spuren von doppelten Anlagen der Ausfiihmngsgänge, der Oviducte l)ez. vasa deferentia, nachzuweisen. Bei den Orthopteren kommen derartige

54 R. Heymons:

Bildungen bekanntlich recht häufig vor, und man trifft dann beim Männchen im 7., beim Weibchen im 9. oder 10. Abdominalsegment gar nicht selten Gabelungen der definitiven Geschlechtsgänge oder selbständige rudimentäre Abschnitte des ausfiihrenden Systemes an.

Bei den hier berücksichtigten Insecten habe ich niemals in anderen, als in den oben angegebenen Segmenten Anlagen von Geschlechtsausfuh- rungsgängen nachzuweisen vermocht. Die Untersuchung stöfst allerdings auch auf ganz aufserge wohnliche Schwierigkeiten. Die geringe Gröfse der Embryonen, sowie der jungen Larven, vor allem aber der geringe Grad der Differenzirung innerhalb der einzelnen Gewebe machen es vollständig unmöglich, schon in so frühen Stadien wie bei den Orthopteren die Bil- dung der Geschlechtsgänge zu verfolgen.

Wenn bei den jungen männlichen Larven der Odonaten und Ephe- meriden die vasa deferentia bis ins 9. Abdominalsegment reichen, so ist möglicher Weise hierin bereits ein etwas modificirtes Verhalten zu erblicken. Bei den männlichen Orthopterenembryonen reichen die Geschlechtsgänge bis ins 10. Abdominalsegment und werden erst nachträglich ins 9. Segment verlagert. Der Nachweis, dafs bei den Odonaten bez. Eintagsfliegen ähn- liche Verhältnisse obwalten, läfst sich nicht erbringen. Eine nachträgliche Verschiebung der Endstücke der vasa deferentia mufs im letzteren Falle auch aus dem Grunde als etwas unwahrscheinlich angesehen werden, weil bei den Orthopteren die erwähnte Verlagerung mit der stets mehr oder minder weit gehenden Reduction des 10. Abdominalsternites Hand in Hand geht, während bei den hier behandelten Insecten, wie wir gesehen, das betreffende Sternit selbst nach dem Ausschlüpfen noch ganz intact bestehen bleibt.

6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systematische Stellung der Odonaten und Ephemeriden.

Mit den in den vorhergehenden Abschnitten dieser Arbeit mitgetheilten Befunden hoffe ich, wenigstens in den Grundzügen ein Bild von dem Auf- bau des Körpers bei Odonaten und Ephemeriden gegeben zu haben. Weiter fortgefiilirte Beobachtungen an anderen Formen werden in dieser Hinsicht sicherlich noch manche Ergänzungen liefern und zahlreiche interessante Details zu Tage fördern können. Da aber nach den bisherigen Erfalirungen

Entuoickelung und Körperbau von Odonaien und Ephemeriden. 55

der morphologische Aufbau des Körpers innerhalb einer und derselben Inseetengruppe im wesentlichen immer constant zu bleiben pflegt, so ist wohl nicht anzunehmen , dafs die hier erhaltenen allgemeineren Ergebnisse durch weitere Untersuchungen eine wichtige Modification erleiden werden.

£s hat sich das Resultat gezeigt, dals die bei den Ephemeriden und Odonaten im Princip zwar völlig übereinstimmende Körperbildung in mancher Beziehung auch Abweichungen zu erkennen gibt, und dafs nicht nur bezüglich der äufseren Körperform, sondern theilweise auch hinsichtlich der Entwicke- lung innerer Organsysteme derartige Differenzen zu Tage treten. Zieht man die zur Zeit in entwickelungsgeschichtlicher und morphologischer Hinsicht ver- hältjiifsmäfsig gut bearbeiteten Orthopiera genuina ebenfalls in den Kreis der Betrachtung hinein , so wird sich fernerhin nicht verkennen lassen , dafs bei diesen Thieren die Körperentwickelxmg wieder nach einem zum Theil selbständigen und besonderen Typus vor sich geht.

Schon bei einer Betrachtung der Malpighi 'sehen GefSfse dürfte das Gesagte klar werden. Die Zahl der vasa Malpighi hat von jeher als ein wichtiges Charakteristicum und Unterscheidimgsmerkmal far die verschie- denen Insectengruppen gegolten , obwohl es vielleicht nicht ausgeschlossen ist, daJDs man theilweise den Werth dieses Unterscheidungsmittels etwas überschätzt hat.

Als ein gemeinsames Merkmal der Orthoptera {genuina), Odonata und Ephemerida wird man nun stets hervorgehoben finden, dafs die Zahl der Malpighi'schen GeflUse bei ihnen eine »grofse« ist. Letzteres ist auch vollkommen zutreffend, sofern man lediglich die ausgebildeten Insecten berücksichtigt. Richtet man dagegen auch die Aufinerksamkeit auf die Jugendstadien, so treten jedoch gewisse unverkennbare Unterschiede hervor. In dieser Hinsicht verdient besonders erwähnt zu werden, dafs bei den Odonaten die Malpighi'schen Gefafse ursprünglich stets in Dreizalil an- gelegt werden.

Diese Zahl ist von Calvert bei den jungen Larven zweier Libelluliden- arten, von mir bei einer Anzahl anderer verschiedener Formen sowohl im embryonalen wie im larvalen Zustande beobachtet worden, und zwar scheinen Anisopteren und Zygopteren in dieser Hinsicht sich ganz übereinstimmend zu verhalten.

Bei Caenis und Ephemera, den einzigen bis jetzt genauer untersuchten Ephemeridenembryonen , habe ich dagegen nur zwei Malpighi'sche Gefäfse

56 R. Heymons:

coustatirt und fernerhin feststellen können, dafs die weitere Vermehrung derselben keine Möglichkeit bietet, um directe Vergleiche mit den Excre- tionsgefäfsen der Odonaten zuzulassen.

Auch bei den Orthopteren hat man noch in keinem Falle eine unpaare Zahl Malpighi'scher Gefäfse bisher auftreten sehen. Letztere pflegen viel- mehr fast ausnahmslos in Vierzahl angelegt zu werden, wahrend in ver- einzelten Fällen anfangs nur zwei Malpighi'sche Gefäfse entstehen, oder von vornherein sogleich sechs derselben (bei den Acrididae) gebildet werden sollen.

Die bei der Entwickelung von Orthopteren zur Ausbildung gelangenden Rudimente segmentaler Geschlechtsgänge, sowie die bei Orthopteren meistens ebenfalls stark hervortretenden Endampullen der vasa deferentia und Ovi- ducte waren bei Ephemeriden und Odonaten nicht bemerkbar.

Wenn in der Ausbildimg des Darmes, des Herzens, des Nerven- systemes u. s. w. bei den drei genannten Gruppen im wesentlichen eine Übereinstimmung herrscht, so darf diese zu gunsten etwaiger verwandt- schaftlicher Beziehungen nicht überschätzt werden. Auch bei zahlreichen anderen Insectengruppen vollzieht sich die Anlage der betreffenden Theile in ganz entsprechender Weise.

Eine sehr augenfällige Verschiedenheit zwischen Geradflüglern, Ein- tagsfliegen und Libellen ergibt sich jedoch noch in der Zusammensetzung der Mundwerkzeuge. War man zwar auch schon längst auf die in dieser Hinsicht sich zeigenden Unterschiede bei den Imagines und Larven auf- merksam geworden, so haben doch meine Untersuchungen noch insofern eine Ergänzung liefern können, als sie zeigten, dafs die Differenz bereits in sehr frühen Embryonalstadien sich vollzieht. Es ist also nicht etwa eine Art von Orthopterenstadium vorhanden, welches die Ephemeriden und Libellen durchlaufen, und in dem ihre Mundtheile nach dem Typus der- jenigen der Orthopteren gebaut wären. Nur in der ersten primitiven An- lage der Kieferpaare, welche in Form von sechs einfachen Höckern auf- treten, stimmen die drei Gruppen überein. Eine solche Übereinstimmung erstreckt sich aber auch noch auf andere Insectengruppen, z. B. Rhynchoten, luid kann demnach wohl zweifelsohne überhaupt als ein Insectencharakter betrachtet werden.

Von einem besonderen Interesse fiir die Beurtheilung der verwandt- schaftlichen Beziehung zwischen den drei in Rede stehenden Gruppen dürfiie

ErUmcTcelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden, 57

femer die Körpersegmentiriing sein. Hauptsächlich mache ich hier auf die divergirende Entwickelung aufinerksam, welche das Abdominalende ge- nommen hat, zumal die in dieser Beziehung zu Tage tretenden Unterschiede bisher noch nicht in ihrer Bedeutung erkannt worden «ind.

Die erste Anlage des Abdomens vollzieht sich stets in übereinstim- mender Weise. Es werden ursprünglich beim Embryo, sowohl demjenigen der Ephemeriden wie dem der Odonaten und Orthopteren elf Abdominal- segmente angelegt, hinter denen das kleine Analsegment in Form der laminae anales zur Entwickelimg gelangt.

Bei den genuinen Orthopteren vollzieht sich nun ausnahmslos eine beträchtliche Reduction der hinteren Abdominalsegmente. Sogar das lo. Ab- dominalsegment wird hierbei in Mitleidenschaft gezogen. Sein Stemit pflegt selbst beim Embryo wieder zu verschwinden. Stets geht auch das II. Tergit, soweit es als distincte Platte überhaupt noch hervorgetreten war, wieder zu Grunde. Es unterliegt dann endlich noch der mittlere Theil des 1 1 . Stemites einer Rückbildung, so dafe damit von diesem ganzen Segment dann lediglich noch die Cerci erhalten bleiben. Diese persistiren und sind somit bei der Imago als die einzigsten Überreste des 1 1 . Seg- mentes anzusehen.

Im Gegensatz zu der weitgehenden Rückbildung des 1 1 . Abdominal- segmentes pflegen bei den Orthopteren die laminae anales während des ganzen Lebens in ihrer charakteristischen Gestalt und Ausbildung erhalten zu bleiben.

Bei den Odonaten und Ephemeriden hat die Entwickelung vielfach abweichende Bahnen eingeschlagen.

Zunächst bleibt im Gegensatz zu den Orthopteren das lo. Abdominal- segment völlig intact bestehen. Im ii. Abdominalsegment erhalten sich, wenigstens während der Larvenzeit, die Cerci bez. die diesen entsprechen- den Bildungen (laterale Schwanzfäden, laterale Tracheenkiemen, appendices laterales). Der mediane Theil des 1 1 . Stemites geht zwar wieder schon beim Embryo zu Grunde, statt dessen findet sich aber bei Odonaten und Ephemeriden ein 1 1 . Tergit vor. Letzteres gewinnt sogar eine bedeutende Entfaltung, es wächst nach hinten aus und erinnert dadurch in seinem Habitus an die Cerci. Diese eingerechnet sind dann also am Hinterende des Abdomens drei lange Fortsätze entstanden, die man wenigstens bei der Larve fast regelmälsig daselbst antreffen kann.

Phys. Ahh. nicht zur Akad. pehör. GeU>Ärter. 1896. I, 8

58 R. H E Y M o N s :

Mit der starken Ausbildung, welche diese drei dem ii. Segment an- gehörenden Fortsätze gewinnen, scheint es in einem gewissen Zusammen- hange zu stehen, dafs die drei laminae anales im Vergleich mit den Or- thopteren nur eine sehr dürftige Entwickelung aufweisen. Macht es auch keine Schwierigkeiten, die Afterklappen beim Embryo oder der jungen Larve von Eintagsfliegen oder Libellen aufzufinden, so sind sie doch in späteren Stadien nahezu oft vollkommen verschwunden.

Im Gegensatz zu den Orthopteren tritt uns also bei Odo- naten und Ephemeriden die Tendenz entgegen, das Endsegment allmählich rückzubilden oder ganz zu unterdrücken.

Ich habe bisher besonders die Übereinstimmungen zwischen Odonaten und Ephemeriden hervorgehoben, und es läfst sich auch gar nicht verkennen, dafs solche in Jugendstadien thatsächlich vorhanden sind. Namentlich fällt bei einer Betrachtung von Zygopterenlarven und Ephemeridenlarven die Ähnlichkeit im äufseren Habitus sogleich ins Auge. Die drei hinteren Schwanzborsten und drei hinteren Tracheenkiemen, die dem Thiere das charakteristische Aussehen verleihen, sind einander homolog.

Unterschiede machen sich hauptsächlich erst bei den Imagines gel- tend. Bei den Ephemeriden bleiben die dem 1 1 . Abdominalsegmente zu- gehörenden Anhangsgebilde (lateraler und meist auch mittlerer Schwanz- faden) dauernd erhalten, bei den Odonaten verkümmern sie. Es ist bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, daCs die appendices late- rales der Odonaten sich in einer Hinsicht überhaupt etwas abweichend von den lateralen Schwanzfäden der Ephemeriden verhalten. Letztere rucken nämlich nach der Dorsalseite empor und werden schliefslich annähernd rückenständige Anhänge, gerade wie diefe bei den Cerci der Orthopteren der Fall ist.

Die appendices laterales der Odonaten nehmen niemals eine rücken- ständige Lage ein , ihre breite Basis bleibt dauernd an der Ventralfläche des Körpers zurück. Wenn dann später bei den Imagines der Odonaten eine Rückbildung der eigentlichen appendices erfolgt, schliefsen sich ihre Basalabschnitte unmittelbar an das lo. Stemit an, und man kann dann ohne Bedenken die Rudimente der lateralen appendices, wie diefs bereits oben S. 41 ausgeführt ist, als Seitentheile eines 1 1 . Abdominalsternites auffassen, dessen medianer Abschnitt schon beim Embryo verloren gieng. Letzteres gilt auch fiir männliche Zygopteren, deren hakenförmige Anhänge

Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 59

(»untere appendices anales« der Autoren) wohl kaum den Cerci anderer In- secten ohne weiteres als homologe Gebilde gelten können, sondern höchst- wahrscheinlich als phyletisch später erworbene, speciell zur Copulation dienende Einrichtungen zu betrachten sind.

Man kann deshalb sagen, dafs die Odonaten im entwickelten Zustande von den Ephemeriden und Orthopteren sich durch das Fehlen der Cerci unterscheiden.

Es liegt sehr nahe, auch die Abdominalgliederung der Perliden ver- gleichsweise zu berücksichtigen, weil diese Thiere meistens als nahe Ver- wandte der Odonaten und Ephemeriden betrachtet zu werden pflegen. Obwohl es mir aus Mangel an Untersuchungsmaterial leider nicht möglich war, auch die Entwickelung der Plecopteren eingehender zu verfolgen, so ist doch andererseits die Segmentirung gerade bei diesen Insecten eine so einfache und übersichtliche, dafs ein Vergleich keine Schwierigkeiten bereitet.

Bei den Larven von Perla bicaudata L. und von Chloroperla rivulorum Pict. finde ich zehn abdominale Sternite (deren erstes allerdings zu Grunde gegangen und mit dem Metasternum des Thorax vereinigt ist) und zehn Tergite. Es sind ferner zwei Cerci und zwei kleine, ziemlich unscheinbare mit Kiemenfaden besetzte laminae subanales vorhanden.

Ganz entsprechend ist die Segmentirung auch bei den Imagines. Das lo. abdominale Sternit ist hier zweigetheilt, die laminae subanales treten sehr viel deutlicher hervor.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Plecopteren einer- seits, Odonaten und Ephemeriden andererseits beruht also in dem Fehlen des ii. Tergites bei den ersteren bereits in ganz frühen Stadien.

Durch diese Eigenthümlichkeit nähern sich die Plecopteren unver- kennbar den Orthopteren, denen sie auch in vielen anderen Beziehungen, z. B. in der Bildung der Mundtheile, offenbar sehr nahe stehen.

Zur Erleichterung des Verständnisses habe ich den Versuch gemacht, in der folgenden Tabelle einen Überblick darüber zu geben, in welcher Weise im grofsen und ganzen die Ausbildung der hinteren Abdominal- segmente sich bei den verschiedenen Insectengruppen gestaltet hat. Die Übersicht mag gleichzeitig darthun, in wie weit meiner Auffassung nach eine wirkliche Homologie zwischen den einzelnen Bestandtheilen des Ab- dominalendes angenommen werden darf.

8*

60

R. Heymons:

Mit Ausnahme der letzten Spalte beziehen sich die gemachten An- gaben auf Imagines. Nur das im AUgmeinen als typisch anzusehende Ver- halten sollte selbstverständlich zum Ausdruck gebracht werden. Ausnahmen, wie z. B. die Rückbildung der Cerci bei mehreren Orthopteren und Pleco- pteren u. a. m., mufsten hierbei naturgemäls unberücksichtigt bleiben.

lo. Segment

II. Segment

Analsegment

Sternum

Tergum

Cerci

Tergum

laminae anales

Orihoptera gemdna

fehlt

vorhanden

vorhanden

fehlt

vorhanden

Becoptera (Perlaridä)

vorhanden

vorhanden

vorhanden

fehlt

vorhanden (laminae sub- anales)

Ephemerida

vorhanden

vorhanden

vorhanden

meist entwickelt

(mittlerer Schwanzfaden)

fehlen oder sehr wenig entwickelt

Odonata (Anisoptera)

vorhanden

vorhanden

fehlen (statt dessen zweigetheiltes II. Sternum)

vorhanden

wenig ent- wickelt oder fehlen

Odonata (Zygoptera)

vorhanden

vorhanden

fehlen (statt dessen zweigetheiltes II. Sternum)

fehlt

fehlen

1

Jugendliche Libellen- larven (Anisoptera und Zygoptera)

vorhanden

vorhanden

vorhanden

vorhanden

vorhanden

Wiewohl es meine Absicht ist, erst bei einer späteren Gelegenheit, die Segmentirung der Thysanuren zu besprechen, so will ich doch schon jetzt darauf aufmerksam machen, dafs die Gliederung der Machiliden und Lepismiden ohne weiteres einen directen Vergleich namentlich mit der Segmentirung junger Odonatenlarven zuläfst^

Abgesehen von dem Umstände, dafs bei der Larve von Lepisma das lo. Ab- dominalsternit gerade wie bei den Orthopterenlarven bereits rückgebildet ist, so findet man sowohl die beiden Cerci (seitliche Schwanzborsten) wie auch das verlängerte 1 1 . Tergit (mittlere Schwanzborste) wieder, welche zu- sammen den drei appendices caudales der Larven von Odonaten und Ephe-

^ Auch hinsichtlich der Embi-yonalentwickelung vermitteln die Lepismiden den Über- gang zu höheren Insecten, wie das von mir nachgewiesene (96^) Vorhandensein der Embiyonalhullen bei Lepisma zeigt.

Enlwickehmg und Körperhau von Odonaten und Ephemeriden. 61

meriden homolog zu setzen sind. Endlich ist bei der i^yiwwa- Larve auch noch das Endsegment in Form der drei laminae anales vorhanden.

Stellt man sich die Segmentirung von Lepismiden als das der Gliede- i*ung höherer Insecten zu Grunde liegende Schema vor, so kann man von derselben Basis ausgehend zwei Hauptgruppen bei den hier in Rede stehenden Insecten unterscheiden. Die eine, dargestellt durch die Orthopteren und Plecopteren, ist charakterisirt durch die Rückbildung des 1 1 . Tergites und Entwickelung der laminae anales. Die Mundwerkzeuge sind relativ einfach gestaltet und ziemlich noch nach dem Typus von Thysanurenmundtheilen ge- baut. Die andere Hauptgruppe wird repraesentirt durch Odonaten und Ephe- meriden. Hier zeigt sich wenigstens zum grofsen Theile noch eine starke Entfaltung des ii.Tergums, dafür tritt aber eine allmähliche Reduction der laminae anales ein. Die Mundtheile sind fast durchweg stark specialisirt.

Eine Untersuchung der genannten niederen Insectenabtheilungen hat den Beweis geliefert, dafs die Segmentirung des Abdomens während der frühen ontogenetischen Stadien in allen Fällen eine nahezu vollkommen übereinstimmende und identische ist. Erst weiterhin macht sich eine diver- girende Entwickelung geltend und fahrt schliefslich zu den tiefgreifenden Unterschieden, die man bei den ausgebildeten Insectenformen antriflft. Zieht man dagegen besonders die Jugendstadien in Betracht, so fallt es nicht schwer, noch gemeinsame Beziehungen und Anknüpfungspunkte an die ent- sprechende Körperbildung der Thysanuren herauszufinden.

Für die von Brauer (85) und von Grassi (88) vertretene Ansicht, dafs der gemeinsameUrsprungderOdonaten, Ephemeriden, Plecopteren und Ortho- pteren s. Str. bei thysanurenartig gestalteten Formen zu suchen sei, dürfte durch die mitgetheilten Ergebnisse somit eine weitere Bestätigung gewonnen sein.

Trotz dieser in letzer Hinsicht wohl unzweifelhaft einheitlichen Ab- stammung wird man aber, wie diefs auch von Brauer betont wurde, die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den vier Gruppen sich gegen- wärtig nicht mehr als allzu nahe vorzustellen haben, denn die Trennung in selbständige Zweige oder Stämme wird zweifelsohne schon in aufser- ordentlich frühen Erdepochen, jedenfalls lange vor dem Auftreten meta- bolischer Insecten erfolgt sein.

Aus diesem Grunde wird man auch nicht umhin können, den Odonaten, Ephemeriden, Orthopteren und Plecopteren den Rang von selbständigen Insectenordnungen zuzusprechen.

62 R. Heymons:

Die Unterschiede, die in den Abweichungen der inneren Organisation, in der verschiedenartigen Entwickelung der Mundtheile und des äufseren Körperbaues bei den vier genannten Ordnungen hervortreten, sind unver- kennbare und offenbar zu weitgehende, um es gerechtfertigt erscheinen lassen zu können, die Odonata, Ephemerida und Plecoptera, wie man früher zu thun pflegte, als *Amphibiotica^ zusammenzufassen und sie als solche dann in die Insectenordnimg der Orthopteren einzuschliefsen.

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Erklänmg der Figuren.

Tafel L

Fig. I. Hinterleibsende eines männlichen Gomphus vulgaiissimus L., hnago. Von der Ventralseite betrachtet. Vergr. 6.

Fig. 2. Junge Larve von Epitheca bimacu- lata Charp., einige Stunden nach dem Aus- schlüpfen. Am Hinterende erkennt man die Bestandtheile des 11. Abdominalsegmentes (ap- pendices laterales und Tergit\ sowie diejeni- gen des 12. Segmentes (laminae anales). Die Borsten an dem verlängerten ii.Tergit (ap-

pendix dorsalis) sind ebenso wie diejenigen der lamina supraanalis der Deutlichkeit halber fortgelassen. Die appendix dorsalis (TVr^i,) ist künstlich bei Seite geschoben, wodurch sich die etwas asymmetrische Stellung des betr. Anfanges erklärt. Vergr. 50.

Fig. 3. Aus dem Ei geschlüpfter reifer Embryo von EpUhe-ca bimaculata Charp. Am Kopf ist die zum Durchdringen der Gallerte dienende Chitinleiste {CM) sichtbar. Die Beine sind bei der Praeparation aus einander gezo- gen worden. Vergr. 62.

64

R. Heymons:

Fig. 4. Abdomen einer jugendlichen Larve von Epitheca bimacukUa Charp. Bemerkens- werth ist das zweigetheilte ii.Stemit. Ver- gr. 62.

Fig. 5. JuTigehsirve von Ephemeravulgatalj., von der Vcntralseite betrachtet. Am 2.-7. Abdominalsegment sind die Anlagen der spä- teren Tracheenkiemen in Gestalt kleiner in der Hypodermis befindlicher Verdickungen (TVAr) zu erkennen (dieselben sind bei der Reproduction der Zeichnung leider nicht mit der gewünschten Klarheit zum Ausdruck ge- kommen). Vergr. 68.

Fig. 6. Abdominalende von Cakpteryx splen- dens Harr., Imago (f von hinten betrachtet. Die Processus caudales (»ol>ere appendices anales«) sind aus einander gebogen. Vergr. 7.

Fig. 7. Ei von Epühecabima^kUaChtLTp., von der rechten Lateralseite betrachtet, um die Lage des Keimstreifens im Ei zu zeigen. F=s Vorderende des Eies, dem erst in spä- teren Stadien nach der Umrollung der Kopf des Embryo anliegt. Die Ventralfläche des Keimstreifens ist im Ko])f und Thoraxab- schnitt noch der Dorsalseite des Eies {Dors) zugekehrt. Vergr. 48.

F i g. 8. Hinterleibsende einer ausgewachse- nen Larve von Aeschna spec. Die Schwanz- klappen (appendices caudales) sind stark aus einander gebogen, um die AfterofTnung zu zeigen. Im Umkreis der letzteren treten die drei weichhäutigen laminae anales hervor. Vergr. 4.

Fig. 9. Hinterleibsende einer jungen Larve von AffHon (ptteUaL.?), von der Ventralseite gesehen. Erkennbar sind aufser den drei noch drehrunden äulsei*en Tracheenkiemen (appendices), welche dem 11. Abdominalseg- mente angehören, noch drei das Analsegnient repraesentirende laminae anales. Vergr. 1 20.

Fig. IG. Ei von Ephemera tmlgaUi L. Be- merkenswerth ist der S- formig gekrümmte Keimstreifen. Vergr. 120. Die Orientirung des Eies ist hier wie bis zur Fig. 1 5 so ge- wählt wie bei dem in Fig. 7 dargestellten Ei.

F i g. 1 1 . Ei von Caenis grisea P. Vergr. 125.

Fig. 12. Ei von Sympetrum flaowlum L. Das Hinterende des Keimstreifens ist in den Dotter eingewachsen. Vergr. 48.

Fig. 13. Ei von Libeäula quadrimaculata L. Der Keimstreifen ist anormaler Weise nicht in den Dotter eingedrungen, sondern super- ficiell geblieben. Vergr. 48.

Fig. 14. Ei von lAbeüula ^luadrimaculata L. Der Keimstreifen ist im Begriff, sich mit dem Hinterende in den Dotter einzusenken, die hintere Amnionfalte (am) erscheint. Vergr. 48.

Fig. 15. Ei von LibeUula quadrimaculaia L. Weiter fortgeschrittenes Entwickelungssta- dium als in der vorigen Figur. Vergr. 48.

Tafel IL

Fig. 16. Ei von lAbdhila quadrimaculaia L. Der Keimstreifen ist im Besitze sämmtlicher Extremitäten anlagen. Vergr. 145.

Fig. 17. Ei von EpUhecahimaculaiaChvLV^. mit reifem Embryo, von der Ventralseite be- trachtet. Vergr. 62.

Fig. 18. Laich von Epi^eea himaculata Charp. Natürliche Grofse.

Fig. 19. Kopf eines Keimstreifens von Epitheca bimaculaia Charp. Die Mundtheile sind angelegt. Als kleiner hockerartiger Vor- sprung ist an den vorderen Maxillen die Tasteranlage sichtbar. Vergr. 125.

Fig. 20. Ei von LibeUula quadrimaculaia L., von der Ventralseite betrachtet. An der Eui- bryonalanlage ist eine mediane Rinne (Meso- dermbildung) bemerkbar. Am V^orderende derselben die Einsenkung für das Stomodaeum (0). Vergr. 116.

Fig. 21. Fangmaske (Labium) einer jun- gen Larve von EpUheca bimaculaia Charp. Vergr. 1 20.

Fig. 22. Schnitt durch die hintere Kopf- partie einer jungen Larve von Ephemera, Dem unteren Schlundganglion ist der paarige Suboesophagealkorper aufgelagert. Verg. 270.

Fig. 23. Querschnitt durch das Abdomen einer bereits mit zweiästigen Tracheenkiemen versehenen Larve von Ephemera, Es sind fQnf Malpighi'sche Geßlfse vorhanden, bei

Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 65

drei derselben ist die EinmQndung in den Darm sichtbar. Die Mündung der beiden dorsalen Gefäfse zeigte sich an dem nächst- folgenden Schnitt. M(ilp^ =: das zuletzt ent- standene unpaare vas Malpighi. Vergr. 145.

Fig. 24. Fangmaske (Labium) eines Em- bryo von EpUheca himacuUUa, Vergr. 160.

Fig« 25. Querschnitt durch das Abdomen einer EpUKeca-hKrve, Es ist die Anhefltung der drei vasa Malpighi an den Darm erkenn- bar. Vergr. 50.

Fig. 26. Querschnitt durch das Abdomen einer Ephemera-hKrve mit vier Malpighi-

schen Gefäfsen. Die beiden zuletzt gebildeten dorsalen zeichnen sich noch durch geringere Grofse aus. Vergr. 270.

Fig. 27. Querschnitt durch das 9. Abdo- minalsegment einer jungen Larve von Epi- theca, Vergr. 195.

Fig. 28. Querschnitt durch die Embryonal- anlage von Libellula qwidrimcusukUa im Stadium der Mesodermbildung. Vergr. 270.

Fig. 29. Mundtheile einer jungen Larve von Ephemera rmlgata. Der Deutlichkeit hal- I ber etwas schematisirt. V^ergr. 195.

A =s Anus

Abd s= Abdomen

abxi = Extremitatenanlagen des I. Abdominalsegmentes

abxit = Extremitatenanlagen des II. Abdominalsegmentes (Cerci = appendices latera- les)

am =s Amnionfalte

AfU =B Antenne

Aor sss Aorta

app dors =s appendix (caudalis) dorsalis (ss ii.Tergit)

o^ kU ^ appendices (cauda- les) laterales (=s Cerci)

C= Rackengefäfs (Herz)

CA/ =s Chitinleiste

cl SS Clypeus

D = Dotter

Dars SS Dorsalseite des Eies

Ed =s Enddarm

F =3 Facetten äuge

ggl SS Ganglion

ggl term ss hinterstes Bauch- marksganglion

gon SS Gonapophysen

Baehstabenerklänmg.

H SS Hinterende des Eies

TT , 1 ^ i Theil des ffyp/ = lateraler

Hvpm = medialer/ , ^^ V pliarynx

Int SS Mitteid arm

Lab = Labium (Fangmaske)

Labj.^ = I. (proximales) bis 4.

(distales oder End-) Glied

der Fangmaske lam 8ub SS laminae sub- seu ad-

anales lam 8up SS lamina supraanalis Iph SS lymphoides Organ der

Odonatenlarven üfo^ SS Malpighi 'sehe Ge-

fäfse Md =s Mandibel Mdk SB Kaulade der Mandibel Mdp SS hornartiger Mandibu-

larfortsatz mes SS Mesoderm msk SS Muskeln Mxi =s vordere Maxille Mx^ SS hintere Maxille (La- bium) 0 SS Mundoffnung

Oh = Oberlippe

palp mxx SS palpus maxillaris

pcdp. mxz SS palpus labialis

pers SS Pericardialseptum

proc caud ss processus cauda- les

Seh SS Kopflappen (Scheitel- lappen

ser SS Serosa

Shh SS Scheitelhörner

9ök SS Suboesophagealkorper

Sterfii.xt =: Abdominalsternit (i. bis II.)

Tergi.ii = Abdominaltergit (i. bis II.)

Terg^i = Tergit des 11. Abdo- minalsegmentes (ss appen- dix dorsalis)

Thxi.^ = Thoraxextremitat (i. bis 3.)

Tr SS Tracheen

Trk SS Anlage der Tracheen- kieinen

V s= Vorderende des Eies

Vd SS Vorderdarm

Vent SS Ventralseite des Eies.

Fhys. Ahh, nicht zur Akad, gehör. Gelehrter, 1896. L

66 R. Heymons: Entwickel u. Körperbau von Odonaten u. Ephemeriden.

Inhaltsübersiehi

Seite

Einleitung 3

1. Über die Eier von Libellen und Ephemeriden 4

2. Die Bildung und Form des Keimstreifens 7

3. Die Entwickelung der Kdrpergestalt 17

4. Die Hinterleibsanhänge 26

a) Die Abdominalanhänge der Larven 26

b) Die Abdominalanhänge der Imagines 38

5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme 44

6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systematische Stellung der Odo- naten und Ephemeriden 54

Litteraturverzeichnifs 62

Erklärung der Figuren 63

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